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Full text of "Kapital und Kapitalzins"

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33) 

E.  VON  BÖHM  -  BAWERK 


KAPITAL  UND  KAPITALZINS 

I 

GESCHICHTE  UND  KRITIK 
DER  KAPITALZINS -THEORIEN 


VIERTE  AUFLAGE 


(S 


]ena,  Oustav  Fischer 


Geschichte  und  Kritik 

der 

Kapitalzins-Theorien 


Kapital  und  Kapitalzins 


von 


Eugen  von  Böhm-Bawerk 

Professor  an  der  Universität  Wien,  k.  k.  Minister  a.  D. 

Erste  Abteilung 

Geschichte  und  Kritik  der  Kapitalzins-Theorien 


Vierte,  unveränderte  Auflage 
Mit  einem  Geleitwort  von  Prof.  Dr.  Friedrich  Wieser,  Wien 


Jena 

Verlag  von  Gustav  Fischer 

1921 


Geschichte  und  Kritik 


der 


Kapitalzins-Theorien 


von 


Eugen  von  Böhm-Bawerk 

Professor  an  der  Universität  Wien,  k.  k.  Minister  a.  D. 


Vierte,  unveränderte  Auflage 
Mit  einem  Geleitwort  von  Prof.  Dr.  Friedrich  Wieser,  Wien 


Jena 

Verlag  von  Gustav  Fischer 

1921 


G.  Pätz'sche  Buchdrnckerel  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 
Manuldruck   ^oii   F.  Ullmann  (i.  in.  b.  H.,  Zwickau  Sa. 


331 


Geleitwort 

zur  vierten  Auflage. 


0. 

-4  Die  4,  Auflage  der  „Geschichte  und  Kritik  der  Kapitalzinstheorien", 

(p  die  hiemit  der  Öffentlichkeit  übergeben  wird,  ist  ein  unveränderter  Abdruck 
der  3.  Auflage,  der  "letzten,  die  noch  vom  Autor  selbst  besorgt  wurde. 
Schon  in  der  3.  Auflage  hat  E.  Böhm-Bawerk  die  Zusätze,  zu  denen  er 
sich  entschloß,  auf  das  knappste  gehalten,  und  wenn  man  die  Gründe 
überlegt,  weshalb  er  dies  tat  —  er  hat  sich  hierüber  im  Vorwort  zur  3.  Auf- 
lage ausgesprochen,  dessen  entscheidende  Sätze  der  Leser  weiter  unten 
abgedruckt  findet  —  so  wird  man  wohl  zu  dem  Schlüsse  kommen  müssen, 
daß  es  in  seinem  Sinne  geschieht,  wenn  in  einer  nach  seinem  Tode  er- 
scheinenden neuen  Auflage  weitere  Zusätze  überhaupt  unterlassen  werden. 
Dies  gilt  ohne  Zweifel  für  Zusätze  über  die  neue  Kapitalliteratur. 
Für  E.  Böhm-Bawerk  war  die  Hauptsache  in  seinem  Buche,  wie  er  in 
dem  erwähnten  Vorwort  sagt,  die  in  großen  Zügen  zusammenfassende 
Geschichte  und  nicht  die  sich  in  Einzelheiten  verlierende  Chronik  über  die 
Tageserscheinungen.  Welcher  Herausgeber  dürfte  es  aber  verantworten, 
irgend  etwas  an  der  Fassung  zu  ändern,  welche  der  Autor  selbst  der  in 
großen  Zügen  zusammenfassenden  Geschichte  der  Zinstheorien  gegeben 
hat?  E.  Böhm-Ba WERKS  „Geschichte  und  Kritik  der  Kapitalzinstheorien" 
ist  ein  abgeschlossenes  Meisterwerk,  das  dazu  bestimmt  ist,  als  eines  der 
klassischen  Werke  der  ökonomischen  Wissenschaft  erhalten  zu  bleiben. 
Die  ökonomische  Wissenschaft  besitzt  keine  zweite  dogmengeschichtliche 
Darstellung,  die  an  ihre  Höhe  heranreicht,  und  es  dürfte  sich  kaum  in 
irgend  einer  Wissenschaft  eine  dogmengeschichtliche  Darstellung  finden, 
die  sie  überträfe.  E.  Böhm-Bawerk  besaß  die  seltene  Gabe  fruchtbarer 
Kritik.  Er  ging  nicht  darauf  aus,  den  Irrtum  um  des  Irrtums  willen  auf- 
zudecken, sondern  ihm  war  es  darum  zu  tun,  Irrtum  und  Wahrheit  zu 
^  dem  Zwecke  zu  sondern,  um  die  tragfähigen  Unterlagen  abschließender 
Erkenntnis  zu  finden.  Sein  Scharfblick  erkannte,  daß  die  Erklärungen, 
die  man  für  die  Zinserscheinung  gefunden  haben  wollte,  an  entscheidenden 
Punkten  auf  der  Oberfläche  geblieben  waren,  und  daß  man  durch  die 
täuschenden  Hüllen  der  gangbaren  Wortvorstellungen  bis  auf  den  festen 
Grund   der   theoretisch   so   schwer   zugänglichen   Tatsachen   vordringen 


VI  Geleitwort  zur  yierten  Auflage. 

mußte,  um  das  Zinsproblem  so  zu  stellen,  daß  man  erwarten  durfte,  es 
ohne  Best  lösen  zu  können. 

Da  auch  ich  zu  den  Autoren  gehöre,  deren  Zinserklärung  durch 
E.  Böhm-Bawerk  als  unzulänglich  abgelehnt  wird,  so  möchte  es  vielleicht 
scheinen,  die  rückhaltlose  Anerkennung,  die  ich  seinem  Werke  ausspreche, 
schließe  das  Zugeständnis  in  sich,  daß  ich  mich  seinem  urteil  füge  und 
meine  Zinserklärung  zurücknehme.  Das  ist  aber  doch  nicht  der  Fall. 
Meine  Zinserklärung  geht  in  gewissen  Punkten  auf  Tatsachen  zurück,  die 
meines  Erachtens  von  E.  Böhm-Bav^erk  nicht  recht  gewürdigt  wurden, 
die  aber  so  abseits  liegen,  daß  der  Aufbau  seines  kritischen  Systems  im 
übrigen  in  keiner  Weise  berührt  ist,  auch  wenn  er  mit  seiner  Kritik  hierin 
nicht  im  Rechte  sein  sollte.  In  andern  wesentlichen  Punkten  aber  habe 
ich  mich  ihm  und  seiner  Problemstellung  durchaus  angeschlossen  und  ich 
darf  wohl  sagen,  daß  ich  es  nur  seiner  Führung  verdanke,  wenn  ich  von 
schweren  Irrtümern  bewahrt  geblieben  bin,  die  vor  ihm  alle  die  besten 
Denker  unserer  Wissenschaft  getäuscht  haben. 

Wien,  Juli  1921. 

F.  Wieser. 


Aus  dem  Vorwort 

zur  ersten  Auflage. 

Daß  ich  es  unteraommen  habe,  über  „Kapital  und  Kapitalzins"  zu 
schreiben,  bedarf  bei  dem  heutigen  Zustande  der  nationalökonomischen 
Wissenschaft  über  diese  Materie  kaum  einer  besonderen  Rechtfertigung, 
Es  zweifelt  niemand,  daß  diese  Materie  zu  den  wichtigsten  gehört,  deren 
Erforschung  unserer  Wissenschaft  obliegt;  es  zweifelt  niemand,  daß  sie 
auch  zu  den  schwierigsten  zählt;  und  leider  dürfte  auch  niemand  zweifeln, 
daß  sie  zu  denjenigen  Objekten  unserer  Wissenschaft  zählt,  die  bis  jetzt 
am  wenigsten  zufriedenstellend  bearbeitet  sind.  Ich  wüßte  kaum  einen 
wichtigen  Begriff  —  von  dem  des  Kapitales  selbst  angefangen  —  und 
kaum  einen  wichtigen  Lehrsatz  der  Kapitaldoktrin  zu  nennen,  der  der 
Kontroverse  endgültig  entrückt  wäre,  und  über  die  wichtigsten  Punkte 
sind  die  Ansichten  in  einer  Weise  zerspalten,  daß  die  erstaunliche  Zahl 
der  Lehrmeinungen  nur  überboten  wird  durch  die  noch  erstaunlichere 
Weite  des  Gegensatzes,  der  zwischen  ihnen  klafft.  Hier  nach  Kräften 
der  einigenden  Wahrheit  entgegenzustreben,  schien  mir  zugleich  Lust 
und  Pflicht. 

Zweckmäßigkeitsgründe  bestimmten  mich,  meine  Arbeit  in  zwei 
selbständige  Abteilungen  zu  trennen.  Die  erste,  welche  in  den  Händen 
des  Lesers  sich  befindet,  enthält  die  „Geschichte  und  Kritik  der  Kapital- 
zinstheorien"; die  zweite,  welche  ich  in  kurzem  zu  vollenden  hoffe,  wird 
die  „positive  Theorie  des  Kapitales"  bringen. 

Ich  entschloß  mich  zu  jener  Zweiteilung  nicht  leicht  und  nicht  gerne. 
Dogmengeschichten  zählen  an  sich  zu  den  sprödesten  Stoffen  der  wissen- 
schaftlichen Forschung.  Sie  unterliegen  diesem  Übelstande  in  dem  Grade 
mehr,  als  ihr  Umfang  bedeutender  wird,  als  die  Zahl  der  Einzeltheorien 
zunimmt,  die  sie  zu  entwickeln  hat,  und  deren  jede  an  den  Leser  die 
mühsam  zu  erfüllende  Anforderung  stellt,  sich  in  die  Denkweise  ihres 
Autors  einzuleben  —  eine  Denkweise,  die  man  im  nächsten  Augenblicke 
wieder  verlassen  und  gegen  die  Gedankenwelt  eines  neuen  Autors  ver- 
tauschen soll;  endlich,  je  treuer  und  sorgfältiger  der  Dogmenhistoriker 
eben  diese  individuellen  Gedankenwelten  darzustellen  für  nötig  erachtet. 
In  keinem  dieser  Stücke  bringt  die  Dogmengeschichte  des  Kapitalzinses 
ihrem  Autor  eine  Erleichterung,  in  jedem  nur  noch  weitere  Erschwerung, 


yUI  Aus  dem  Vorwort  zur  ersten  Auflage. 

Dennoch  glaubte  ich  die  Aufgabe  auf  mich  nehmen  zu  sollen,  eine 
zusammenhängende  kritische  Dogmengeschichte  des  Kapitalzinses  zu 
schreiben.  Vielleicht  hätte  hierfür  schon  der  äußere  Umstand  maßgebend 
werden  können,  daß  auffallender  Weise  unsere  Literatur,  die  sonst  so 
reich  mit  dogmengeschichtlichen  Arbeiten  ausgestattet  ist,  eine  solche 
für  das  Gebiet  des  Kapitalzinses  noch  völlig  entbehrt.  Für  mich  gaben 
indes  andere,  innere  Gründe  den  Ausschlag. 

Unter  den  Einzelfragen,  die  in  die  Lehre  vom  Kapitale  einschlagen, 
ist  keine  wichtiger,  aber  auch  keine  verworrener  als  die  Frage  des  Kapital- 
zinses. Wer  sich  die  Mühe  nimmt,  wird  leicht  ein  Dutzend,  vielleicht 
wohl  auch  zwei  Dutzend  verschiedener  Zinstheorien  auszählen  können. 
Sollte  ich  nun  einfach  auf  die  vorhandenen  vierundzwanzig  Theorien  eine 
fünfundzwanzigste  setzen?  Das  hätte  wahrscheinlich  den  Meinungs- 
wirrwarr nicht  zu  verkleinern,  sondern  zu  vergrößern  geholfen.  Was  mir 
vielmehr  der  augenblickliche  Stand  der  Dinge  am  dringendsten  zu  er- 
fordern schien,  war  eine  eindringende  und  umfassende  kritische  Sichtung 
des  vorhandenen  enormen  Materiales.  Eine  solche  Sichtung  hat  bis  jetzt 
in  ganz  unzureichendem  Maße  stattgefunden.  Nicht  daß  es  an  kritischen 
Arbeiten  ganz  gefehlt  hätte;  aber  sie  dienten  mehr  dazu  den  Streit  zu 
erbittern,  als  zu  entscheiden.  Warum  das  so  kam,  will  ich  hier  nicht  aus- 
führlich erörtern;  nur  so  viel  sei  gesagt,  daß  mir  unter  den  vielen  Gründen, 
welche  einer  fruchtbaren  Erledigung  der  Kontroverse  bisher  hindernd  in 
den  Weg  traten,  zwei  obenan  zu  stehen  scheinen:  einerseits  die  Über- 
wucherung des  rein  theoretischen  durch  das  leidenschaftlich  erregte  sozial- 
politische Interesse,  das  man  an  der  Frage  nahm;  und  andererseits  die 
vorwiegend  historische  Richtung  der  neueren  Nationalökonomie,  die  in 
erster  Linie  das  Interesse,  dann  aber  auch  die  Befähigung  derselben  für 
die  Bewältigung  streng  theoretischer  Probleme  herabsetzte. 

Hatte  ich  mich  einmal  aus  guten  Gründen  entschlossen,  der  Kritik 
der  Kapitalzinstheorien  eine  besondere  Sorgfalt  zuzuwenden,  so  stand 
auch  alsbald  fest,  daß  dies  nur  in  einem  selbständigen  Buche  geschehen 
konnte.  Denn  der  enorme  Umfang  der  hier  zu  berücksichtigenden  Literatur 
mußte,  wenn  die  Kritik  nur  einigermaßen  eingehend  und  vollständig 
sein  sollte  —  und  mit  einer  lückenhaften  und  an  der  Oberfläche  bleibenden 
Beurteilung  wäre  der  Sache  nicht  gedient  gewesen  —  den  Umfang  der 
kritischen  Erörterungen  viel  zu  sehr  schwellen,  als  daß  ich  sie  mit  guter 
Art  in  die  dogmatische  Darstellung  des  Gegenstandes  hätte  einschalten 
können.  Ebenso  ergab  es  sich  von  selbst,  daß  die  umfassende  Kritik  zu 
einer  ,, Geschichte  und  Kritik"  der  Kapitalzinstheorien  zu  erweitern 
war:  der  geringe  Mehraufwand  an  Mühe  mußte  sich  ja  reichlich  durch 
die  Unterstützung  lohnen,  welche  aus  dem  hinzutretenden  historischen 
Verständnis  auch  für  die  kritische  Einsicht  zu  gewinnen  war. 

Über  die  Art,  in  der  ich  meine  Aufgabe  auffaßte,  habe  ich  wenig 


Aus  dem  Vorwort  zur  ersten  Auflage.  IX 

hinzuzusetzen.  Nach  dem  Gesagten  ist  es  selbstverständlich,  daß  der 
kritische  Teil  der  Aufgabe  mir  die  Hauptsache  war.  Ich  hoffe  indes  auf 
das  Urteü,  daß  ich  auch  den  historischen  Teil  nicht  vernachlässigt  habe. 
Zwar  darf  ich  nicht  erwarten,  das  ^historische  Material  lückenlos  vorge- 
führt zu  haben.  Schon  deshalb  nicht,  weil  ich  die  Stütze,  die  mir  Vor- 
arbeiten Früherer  hätten  gewähren  können,  fast  gänzlich  entbehren 
mußte.  Relativ  die  erheblichsten  Dienste  leisteten  mir  noch  die  trefflichen 
Arbeiten  Endemanns  über  die  kanonistische  Zinsdoktrin,  die  sich  freilich 
nur  auf  ein  sehr  kleines  Feld  erstrecken,  und  Pierstorffs  Lehre  vom 
Unternehmergewinn,  deren  dogmengeschichtliches  Material  sich  indes 
auch  nur  zum  geringen  Teile  mit  dem  Stoffe  meiner  Untersuchungen  deckt. 
So  mußte  ich  denn  rücksichtlich  des  weitaus  größten  Teiles  meines  Gegen- 
standes als  Erster  von  vorne  beginnen.  Trotzdem  hoffe  ich,  daß  die  vor- 
handenen Lücken  nur  das  Detail,  nicht  das  Gesamtbild  der  Entwicklung 
betreffen:  man  wird  manchen  einzelnen  Autor,  aber  schwerlich  eine 
theoretische  Richtung,  oder  auch  nur  einen  wirklich  charakteristischen 
Repräsentanten  einer  solchen  übergangen  finden. 

Mit  reiflicher  Überlegung  bin  ich  sowohl  in  der  historischen  Dar- 
stellung als  in  der  kritischen  Erörterung  oft  und  mit  Genauigkeit  auf 
theoretisches  Detail  eingegangen.  Ich  weiß  genau,  daß  ich  dadurch  die 
ohnedies  bedeutenden  Schwierigkeiten,  die  aus  der  Sprödigkeit  des  Stoffes 
für  die  Darstellung  erwachsen,  nicht  unwesentlich  vermehrte.  Dennoch 
brauche  ich  mein  Verfahren  vor  Kennern  kaum  zu  rechtfertigen.  Diese 
wissen,  daß  in  der  Physiognomie  von  Theorien  gar  oft  kleine  Züge  die 
charakteristischen  sind;  daß  ein  Kritiker  niemals  hoffen  darf,  einen  Gegner 
zu  überzeugen,  wenn  er  ihm  nicht  schon  durch  die  Art  der  Kritik  die 
Gewißheit  bietet,  daß  er  die  angegriffene  Lehre  auch  bis  zum  Grunde 
gekannt,  verstanden  und  gewürdigt  hat;  und  daß  es  kein  schlimmeres 
Laster  eines  Kritikers  gibt,  als  über  ungenau  vorgetragene  Lehren  in 
seichter  Allgemeinheit  abzuurteilen. 

Innsbruck,  im  Mai  1884. 


Aus  dem  Vorwort 

zur  zweiten  Auflage. 

Die  zweite  Auflage  der  „Geschichte  und  Kritik  der  Kapitalzins- 
theorien" weist  gegenüber  der  ersten  mehrfache  Änderungen  und  Zu- 
sätze auf. 

Die  Änderungen  sind  nicht  erheblich.  Sie  beschränken  sich  auf  einige 
wenige  Verbesserungen  in  der  Fassung  und  auf  einige  gleichfalls  nicht 
zahlreiche  Berichtigungen  unterlaufener  Versehen.  Dagegen  hatte  ich 
reichlichen  Anlaß  zu  neuen  Zusätzen,  die  denn  auch  den  Umfang  des 
Buches  um  mehr  als  ein  Dritteil  geschwellt  haben. 

Einerseits  galt  es  nämlich,  vereinzelte  Lücken  auszufüllen,  welche 
die  erste  Auflage  in  der  Darstellung  der  älteren  Literatur  gelassen  hatte. 
Der  erheblichste  Zusatz  dieser  Art  betrifft  den  Canadier  John  Rae. 
Ich  hoffe,  daß  die  eingehende  Vorführung  der  Ideen  dieses  äußerst  origi- 
nellen, aber  durch  ein  seltsames  Geschick  bis  jetzt  fast  ganz  unbekannt 
gebliebenen  Denkers  von  den  Freunden  der  Theorie  als  eine  willkommene 
Bereicherung  des  dargebotenen  Stoffes  angesehen  werden  wird.  Anderer- 
seits hatte  ich  die  in  der  ersten  Auflage  mit  dem  Jahre  1884  abgeschlossene 
„Geschichte  und  Kritik"  bis  auf  die  neueste  Zeit  fortzuführen.  Von  dieser 
Seite  hätte  sich  ein  schier  überreicher  neuer  Stoff  dargeboten,  da  gerade 
in  den  letzten  fünfzehn  Jahren  die  Kapitalforschung  ungemein  emsig 
betrieben  wurde.  Selbst  wenn  ich  mich  daher  hier  im  allgemeinen  mit 
einer  orientierenden  Übersicht  begnügen,  und  eine  kritische  Auseinander- 
setzung nur  mit  ganz  wenigen,  besonders  markanten  Lehrmeinungen  der 
Gegenwart  pflegen  wollte,  konnte  ich  Zusätze  von  erheblicher  Ausdehnung 
nicht  vermeiden. 

Was  die  formelle  Behandlung  dieses  neu  zugewachsenen  Stoffes 
betrifft,  so  hatte  ich  zu  wählen,  ob  ich  die  Darstellung  der  neuesten  Lehr- 
meinungen je  nach  ihrer  Zugehörigkeit  zu  der  einen  oder  der  anderen 
Theoriengruppe  sofort  den  betreffenden,  jene  Theoriengruppen  behandeln- 
den Kapiteln  meines  Buches  angliedern,  oder  aber,  ob  ich  dem  möglichst 
unveränderten  alten  Bestände  meines  Buches  eine  zusammenhängende 
Übersicht  über  den  neuesten  Stand  der  Forschung  in  der  Form  eines 
selbständigen  Anhanges  folgen  lassen  wollte.  Ich  entschloß  mich  nach 
reiflicher  Überlegung  für  den  letzteren  Vorgang.     Wie  immer  man  über 


Aus  dem  Vorwort  zur  zweiten  Auflage.  XI 

den  Wert  meines  Werkes  urteilen  mag,  so  mußte  doch  schon  die  bloße 
Existenz  eines  Werkes,  welches  in  umfassenderer  Weise  als  irgendeine 
ältere  Arbeit  die  sämtlichen  Kapitalsprobleme  in  historischer,  kritischer 
und  dogmatischer  Weise  erörterte,  einen  gewissen,  zum  mindesten  zur 
Reaktion  anregenden  Einfluß  auf  die  nachfolgenden  Erörterungen  desselben 
Gegenstandes  ausüben,  zumal  mein  Werk  das  Glück  hatte,  fast  unmittelbar 
nach  seinem  Erscheinen  eine  unerwartet  rasche  und  weite  Verbreitung 
zu  erlangen.  Wo  nun  tatsächlich  innere  Beziehungen  zwischen  der  von 
mir  schon  in  der  ersten  Auflage  geübten  Kapitalkritik  und  gewissen  neuesten 
Fassungen  oder  Formulierungen  der  Kapitaltheorie  bestanden,  würde 
eine  Art  verwirrender  Anachronismus  darin  gelegen  sein,  wenn  ich  auch 
diese  neuesten  Formulierungen  unter  dasjenige  historische  Material  ge- 
mischt hätte,  welches  mir  seinerzeit  bei  der  Bildung  meines  kritischen 
ürteiles  vor  Augen  gestanden  war.  Ich  glaube  vielmehr  diejenigen,  die 
sich  für  den  historischen  Werdegang  der  Ideen  über  die  Kapitalprobleme 
interessieren,  sowohl  die  Orientierung  als  auch  die  unbefangene  Würdigung 
der  einzelnen  Lehrmeinungen  dadurch  nicht  unwesentlich  zu  erleichtern, 
daß  ich  das  der  ersten  umfassenden  Kapitalkritik  vorausgegangene  von 
dem  nachfolgenden  Materiale  schon  in  der  äußeren  Anordnung  deutlich 
auseinander  halte.  Von  diesem  Grundsatz  sah  ich  mich  nur  eine  Ausnahme 
zu  machen  gezwungen:  sie  betrifft  die  Ausbeutungstheorie,  bezüglich 
welcher  eine  ganz  feigenartige  chronologische  Abnormität  dadurch  ge- 
schaffen wurde,  daß  die  beim  Erscheinen  der  ersten  Auflage  meines  Buches 
im  Manuskript  schon  vorhandenen  Fortsetzungsbände  des  MxRxschen 
„Kapital"  erst  viele  Jahre  später  zur  Veröffentlichung  gelangten. 

Noch  weniger  als  an  den  Einzelheiten  meiner  kritisch-historischen 
Arbeit  fand  ich  an  der  grundsätzlichen  Auffassung  zu  ändern,  mit  der  ich 
an  diese  Arbeit  herangetreten  war.  Es  könnte  dies  vielleicht  selbstver- 
ständlich erscheinen,  da  ich  aus  der  überwiegend  so  freundlichen  Auf  nähme, 
die  meinem  Buche  zuteil  geworden  ist,  ja  doch  sicherlich  eine  gewisse 
Beruhigung  darüber  schöpfen  durfte,  daß  ich  mich  mit  meiner  Auffassung 
von  der  Aufgabe  eines  kritischen  Dogmenhistorikers  nicht  allzuweit  und 
zum  mindesten  nicht  in  der  Hauptsache  verfehlt  haben  konnte.  Dennoch 
habe  ich  das  Bedürfnis  mich  hierüber  auch  ausdrücklich  auszusprechen. 
Unter  denjenigen  Stimmen,  welche  sich  in  dissentierendem  Sinne  erhoben 
haben,  finde  ich  nämlich  die  Vota  einiger  Gelehrter,  die  ich  überhaupt 
zu  hoch  schätze,  als  daß  ich  an  ihren  Einwürfen  achtlos  oder  gleichgültig 
vorübergehen  möchte;  und  sie  haben  zudem  ihren  Tadel  in  einer  Richtung 
hoben,  in  der  ich  es  am  allerwenigsten  erwartet  oder  gewünscht  hätte. 

Es  werfen  mir  nämlich  Fr.  Walker  in  recht  harten,  Prof.  Alfred 
Marshall  in  weit  milderen,  aber  immerhin  genug  ernsten  Worten  vor, 
daß  ich,  kurz  gesagt,  meine  Vorgänger  in  der  Kapitaltheorie  zu  wenig 


XII  Aus  dem  Vorwort  zur  zweiten  Auflage. 

generös  kritisiert  hätte.  Statt  mit  Toleranz  und  Wohlwollen  —  meint 
Walker  —  dem  nachzuspüren,  was  die  einzelnen  Autoren  in  Wahrheit 
gemeint  und  auszudrücken  versucht  hatten,  wäre  ich  vielmehr  darauf 
ausgegangen,  ihnen  bloße  Unvollkommenheiten  in  der  Darstellung  und 
Versehen  in  der  Ausdrucksweise  („Wunders  of  expression")  zu  ihrem 
Nachteil  auszulegen i);  und  Prof.  Marshall  gibt  zu  verstehen,  daß  ich 
nicht  selten  mit  Unrecht  das  Dasein  differierender  und  zwar  einseitiger 
Meinungen  angenommen  hätte,  während  tatsächlich  nicht  viel  mehr  als 
eine  bloße  Ungleichmäßigkeit  in  der  Darstellung,  eine  durch  besondere 
Absichten  des  Schriftstellers  oder  durch  einen  Mangel  an  Systematik 
hervorgerufene  unverhältnismäßige  Hervorhebung  einzelner  und  Zurück- 
stellung anderer  —  im  Geiste  des  Autors  gleichfalls  vorhandener  — 
Elemente  der  Erklärung  vorgelegen  sei.  Prof.  Marshall  hält  sich  sohin 
zu  der  Meinung  berechtigt,  daß  die  Darstellung,  die  ich  „von  den  naiven 
Produktivitätstheorien,  den  Nutzungstheorien  usw."  gegeben  habe,  „von 
den  älteren  Schriftstellern  selbst  kaum  als  wohl  ausgeglichene  und  voll- 
ständige Vorführung  ihrer  betreffenden  Lehrmeinungen  akzeptiert  worden 
wäre"  2). 

Würde  es  sich  bei  diesen  Einwürfen  wirklich  nur,  wie  es  auf  den  ersten 
Blick  vielleicht  scheinen  möchte,  um  eine  strittige  Auslegung  der  wahren 
Meinung  dritter  Autoren,  also  um  Fragen  handeln,  die  für  den  kritischen 
Dogmenhistoriker  technische  Detailfragen  sind,  so  wäre  es  wenig  passend 
und  wohl  auch  kaum  der  Mühe  wert,  sie  an  dieser  einleitenden  Stelle  zu 
erörtern.  Ich  könnte  und  würde  vielmehr  mit  Beruhigung  den  Inhalt 
der  folgenden  Blätter  für  sich  selbst  sprechen  lassen.  Ich  baue  ja  meine 
kritischen  Urteile  überall  vor  den  Augen  des  Lesers  auf,  und  zwar  auf  Grund 
einer  überwiegend  w^örtlichen  Wiedergabe  der  seitens  der  betreffenden 
Autoren  zum  Gegenstande  vorliegenden  Äußerungen,  einer  Wiedergabe, 
von  welcher,  wie  ich  glaube,  auch  keiner  meiner  Gegner  in  Abrede  zu 
stellen  geneigt  sein  wird,  daß  sie  sorgfältig  und  treu  ist. 

Es  handelt  sich  aber  in  Wahrheit  um  etwas  ganz  anderes.  In  den 
Meinungsdifferenzen  über  den  Inhalt  und  Wert  der  Äußerungen  anderer 
Autoren  spiegelt  sich  nur  die  grundverschiedene  eigene  Auffassung  von 
den  vorliegenden  Kapitalproblemen  und  von  den  Bedingungen  einer 
wirklichen  Lösung  derselben.  Nur  zum  Scheine  steht  zwischen  mir  und 
meinen  Opponenten  die  Frage,  ob  ich  meine  Vorgänger  generös  oder  nicht 
generös  kritisiere:  in  Wahrheit  dreht  sich  die  Frage  darum,  ob  Mr.  Walker 
und  Prof.  Marshall,  oder  ob  ich  die  zutreffendere  Vorstellung  davon 
habe,  worin  der  Kern  des  Zinsproblems  liegt  und  was  eine  wirkliche  Lösung 
desselben  erfordert.    Diese  Frage  aber  läßt  sich  sowohl  leicht  als  schicklich 

')  „Dr.  Boehm-Bawerks  theory  of  interest"  im  Quarterly  Journal  of  Eco- 
nomics,  Juli  1892,  S.  339ff.,  besonders  401—405. 

*)  Principles  of  Economics,  3.  Aufl.  S.  142  u.  664. 


Aus  dem  Vorwort  zur  zweiten  Auflage.  XIII 

schon  am  jetzigen  Platze  erledigen.  Meine  Opponenten  haben  nämlieh 
ihr  Tadelsvotum  mit  einigen  Bemerkungen  begleitet,  welche  die  Gründe 
enthüllen,  aus  welchen  sie  zu  einer  von  mir  abweichenden  dogmengeschicht- 
lichen Auffassung  gelangt  sind;  und  ich  hoffe,  daß  ein  kurzer  Blick  auf 
diese  Gründe  genügen  wird,  um  schon  zu  allem  Anfang  deutlich  zu  machen, 
daß  es  meinerseits  nicht  wohlgetan  gewesen  wäre,  wenn  ich  mir  die  Auf- 
fassung meiner  Opponenten  hätte  zu  eigen  machen  wollen. 

Von  handgreiflicher  Klarheit  ist  dies  wohl  im  Falle  Walkers.  Walker 
ist  ein  ebenso  überzeugter  als  theoretisch  genügsamer  Anhänger  der  Pro- 
duktivitätstheorie. Er  ist  von  der  Einfachheit  des  Zinsproblems  und  von 
dem  völMgen  Genügen  des  Gedankenschatzes  der  Produktivitätstheorie 
zur  Erklärung  desselben  so  gänzlich  durchdrungen,  daß  er  den  Gedanken 
nicht  fassen  kann,  daß  irgendein  bedeutenderer  Geist  auf  einem  anderen 
Wege  die  Erklärung  des  Zinsproblems  gesucht  haben  sollte.  Er  spricht 
daher  alles  Ernstes  die  Meinung  aus,  daß  z.  B.  die  Nutzungstheorie  und 
die  Abstinenztheorie  als  von  den  Produktivitätstheorien  verschiedene 
Theorien  gar  nie  existiert  hätten  und  von  mir  nur  irrtümlich  und  un- 
gerechtfertigt als  solche  angesehen  und  ausgegeben  worden  seien.  „Kein 
Ökonomist  von  Rang,  der  dem  Kapitalzinse  ein  mehr  als  vorübergehendes 
Nachdenken  widmete",  habe  die  von  mir  statuierte  Nutzungstheorie 
jemals  in  einem  anderen  Sinne  behaupten  wollen,  „als  daß  der  Gebrauch 
des  Kapitales  produktiv  in  dem  Sinne  sei,  in  welchem  die  Produktivitäts- 
theoretiker diesen  Ausdruck  anwenden"^).  Und  den  schlechterdings  denn 
doch  heterogenen  Gedankeninhalt  der  Abstinenztheorie  will  Walker  auf 
dem  Wege  aus  dem  Spiele  bringen,  daß  er  meint,  daß  die  betreffende 
Gedankenreihe  im  Sinne  ihrer  Urheber  nur  als  eine  sozialpolitische  Recht- 
fertigung des  Zinses  gemeint  gewesen  sei,  ,, welche  wahrscheinKch  keiner 
von  ihnen  jemals  fälschlich  für  eine  wissenschaftliche  Feststellung  der 
Ursache  des  Zinses"  —  also  für  eine  theoretische  Erklärung  —  „ange- 
sehen hat"  2). 

Im  Sinne  Walkers  wären  es  also  bloße  „Versehen  im  Ausdruck" 
gewesen,  welche  z.  B.  in  den  Lehren  Hermanns  und  G.  Mengers  den 
Anschein  erwecken  konnten,  als  ob  diese  Autoren  eine  eigenartige,  von 
den  Produktivitätstheorien  verschiedene  Theorie  hätten  vortragen  wollen; 
und  wiederum  habe  nur  durch  eine  zweckwidrige,  irreführende  Ausdrucks- 
weise Seniors  der  Eindruck  entstehen  können,  als  ob  dieser  eminente 
Theoretiker  durch  seinen  Hinweis  auf  die  Abstinenz  als  auf  einen  preis- 
bestimmenden Kostenbestandteil  auch  zur  theoretischen  Erklärung  des 


1)  A.  a.  0.  S.  405. 

^)  A.  a.  0.  S.  404ff.:  „They  thüs  reached  a  social  justification  of  interest,  which 
no  one  of  them  probably  ever  mistook  for  a  scientific  ascertainement  of  the  cause  of 
interest." 


XIV  Aus  dem  Vorwort  zur  zweiten  Auflage. 

Zinses  habe  beitragen  wollen;  meinerseits  aber  war  es  eine  ungeneröse 
Ausnützung  solcher  „Fehler  im  Ausdruck",  wenn  ich  diesen  und  anderen 
Gelehrten  überhaupt  eigenartige,  tiefgedachte  Theorien  zuschrieb!  — 
Ich  glaube,  ich  brauche  wohl  kaum  ein  Wort  darüber  zu  verlieren,  daß 
es  umgekehrt  eine  sehr  ungeneröse,  ja  für  einen  treuen  Historiker  geradezu 
unmögliche  Darstellung  des  wirklichen  Sachverhaltes  gewesen  wäre,  wenn 
ich  die  Nutzungs-  und  Abstinenztheorien  aus  der  Entwicklungsgeschichte 
der  Zinstheorie  hätte  einfach  hinwegwischen  und  statt  dessen  aus  den 
verschiedensten  Erklärungsgängen  ein  ewiges  Einerlei  von  Produktivitäts- 
theorien hätte  herauslesen,  oder  richtiger,  gewaltsam  in  sie  hätte  hinein- 
deuten wollen!^) 

Aber  auch  der  Fall  Prof.  Marshalls  scheint  mir  zwar  recht  sehr  dem 
Grade  nach,  aber  eigentlich  nicht  der  Art  nach  sich  von  dem  Walkerb 
zu  unterscheiden.  Auch  Prof.  Marshall  hat  eine  Vorliebe  für  eine  bestimmte 
theoretische  Kombination,  und  auch  er  wünscht,  vermöge  eines  äußerst 
ehrenwerten  Zuges  von  Generosität  in  der  Auslegung,  den  Besitz  dieser 
bestimmten,  vermeintlich  besten  theoretischen  Kombination  auch  schon 
möglichst  zahlreichen  der  älteren  Autoren  zuzuschreiben.  Aber 
er  befindet  sich  dabei  nicht  minder  bezüglich  zweier  Punkte  in  einer 
Täuschung,  über  die  sich  auch  Walker  —  dieser  allerdings  viel  gröber  — 
getäuscht  hat;  nämlich  erstens  über  den  Erklärungswert  der  favorisierten 
theoretischen  Kombination  und  zweitens  über  das  tatsächliche  Verhältnis, 
in  welchem  die  verschiedenen  Theoriengruppen  zu  dieser  ihnen  imputierten 
Meinungskombination  sich  befinden. 

Prof.  Mars  HALL  stützt  nämlich  seine  eigene  Erklärung  des  Kapital- 
zinses auf  zwei  zusammenwirkende  Faktoren  auf:  auf  die  Produktivität 
des  Kapitales,  welche  die  Nachfrage  nach  dem  Kapitale  bestimme,  und 
auf  seine  „prospectiveness",  die  zeitliche  Entlegenheit  seiner  Genuß- 
früchte, welche  das  Angebot  daran  beeinflusse  und  beschränke.  Diese 
beiden  Gedanken  —  meint  nun  Prof.  Marshall  —  seien  schon  längst  im 
Sinne  der  Leute  gelegen.  Die  verschiedenen  Schriftsteller  hätten  nur  bald 
auf  die  Nachfrage-  und  bald  auf  die  Angebotseite  das  größere  Gewicht 
gelegt.  Aber  es  sei  auch  jenen,  die  auf  die  Produktivität  des  Kapitales 
den  Nachdruck  legten,  die  geringere  Geneigtheit  der  Leute  zu  sparen 
und  die  Gegenwart  der  Zukunft  zu  opfern,  ganz  gut  bekannt  gewesen; 
und  umgekehrt  hätten  jene,  die  ihr  Nachdenken  vorzugsweise  dieser 
letzteren  Seite  zugewendet  hatten,  auch  die  produktiven  Vorteile  eines 
Kapitalvorrates  als  eine  ganz  selbstverständliche  Sache  angesehen.  Und 
offenbar  daran  Anstoß  nehmend,  daß  ich  vermeintlich  den  betreffenden 
älteren  Autoren  nicht  jedesmal  beide   Gedankenhälften  zugleich  zuge- 


>)  Siehe  auch  meine  Entgegnung  gegen  Walker  im  Quarterly  Journal  of  Eco- 
nomics,  April  1895,  S.  236ff. 


Aus  dem  Vorwort  zur  zweiten  Auflage.  XV 

schrieben  hätte,  tadelt  er  meine  Darstellung  der  naiven  Produktivitäts- 
theorie, der  Nutzungstheorie  und  anderer  Theoriengruppen  —  ich  weiß 
nicht,  wie  viele  und  welche  Theoriengruppen  sonst  noch  Prof.  Marshall 
in  das  diese  Aufzählung  fortsetzende  „etc."  einschließen  wollte  —  als 
einseitig  und  unzutreffend, 

Nun,  damit  daß  schon  längst  die  Verbindung  des  Kapitalzinses  mit 
beiden  Erscheinungsreihen  eine  einleuchtende,  und  als  solche  fast  jedem 
Beobachter  sich  aufdrängende  Sache  war,  hat  Prof.  Marshall  sicherlich 
ganz  recht.  Er  hätte  eine  diesen  seinen  Ausspruch  bestätigende,  oder 
eigentlich  vorausnehmende  Äußerung  auch  in  meinem  eigenen  Buche 
finden  können.  „Kein  Unbefangener"  —  sagte  und  sage  ich  in  dem  die 
„Eklektiker"  behandelnden  Kapitel  —  „konnte  sich  dem  Eindruck  ent- 
ziehen, daß  die  Existenz  des  Zinses  mit  der  größeren  Ergiebigkeit  der 
kapitalistischen  Produktion,  oder,  wie  man  sagte,  mit  der  Produktivität 
des  Kapitales,  doch  irgend  etwas  zu  tun  haben  müsse."  Aber  ebensowenig 
ließ  sich  „leugnen,  daß  die  Entbehrung,  die  das  Sparen  gewöhnlich  kostet, 
nichts  ganz  Gleichgültiges  für  die  Entstehung  und  Höhe  des  Zinses  sein 
kann".  Aber  diese  allerdings  schon  längst  in  den  Köpfen  der  Leute  sich 
vorfindende  doppelte  Erkenntnis  reicht  zur  theoretischen  Erklärung  des 
Kapitalzinses  noch  lange  nicht  aus.  Geradeso  wenig  —  ich  habe  mich 
dieses  Gleichnisses  schon  einmal  bei  einer  verwandten  Gelegenheit  gegen- 
über Walker  bedient^)  —  als  es  eine  ausreichende  wissenschaftliche 
Erklärung  der  Erscheinung  des  Kegenbogens  ist,  wenn  man  weiß  und  aus- 
sagt, daß  die  letzten  Ursachen  für  die  Entstehung  des  Regenbogens  der 
Sonnenschein  und  eine  regnende  Wolke  sind,  auf  die  jener  in  einem  be- 
stimmten Winkel  auffällt.  Was  der  Wissenschaft  zu  schaffen  macht,  ist 
nicht  die  Feststellung  daß  die  interessante  Erscheinung  des  siebenfarbigen 
Regenbogens  mit  dem  Auffallen  der  Sonnenstrahlen  auf  eine  regnende 
Wolke  zu  tun  hat,  sondern  die  spezielle  Darlegung  der  Art,  wie  und  durch 
welche  Zwischenvorgänge  hindurch  jene  auf  der  Hand  liegenden  empirischen 
Ursachen  gerade  zu  dieser  Art  der  Wirkung  führen;  eine  Darlegung,  die 
z.  B.  im  Sinne  der  älteren  Emissionstheorie  des  Lichtes  ganz  anders  aus- 
fällt, als  im  Sinne  der  modernen  Undulationstheorie,  wiewohl  beide 
Theorien  über  die  Tatsache  der  Verknüpfung  des  Regenbogens  mit  Sonnen- 
schein und  regnender  Wolke  sicherlich  völlig  einmütig  waren. 

Ganz  ebenso  stellt  in  unserem  Falle  die  allgemeine,  ich  möchte  sagen, 
rahmenhafte  Erkenntnis,  daß  der  Kapitalzins  seine  Entstehung  der  Er- 
giebigkeit der  kapitalistischen  Produktion  und  der  zeitlichen  Entlegenheit 
ihrer  Früchte  verdankt,  überhaupt  noch  keine  wirkliche  Erklärung  des 
Kapitalzinses,  keine  Besiegung  oder  auch  nur  ernstliche  Anfassung  der 


')  Siehe  meinen  oben  zitierten  Aufsatz  im    Quarterly  Journal  of  Economics, 
April  1896,  S,  260. 


XVI  Aus  dem  Vorwort  zur  zweiten  Auflage. 

hier  so  reichlich  vorliegenden  Erklärungsschwierigkeiten  dar.  Vielmehr 
ergibt  sich  auch  hier  innerhalb  der  einmütigen  Anerkenntnis,  daß  jene 
beiden  Umstände  an  der  Verursachung  des  Kapitalzinses  einen  Anteil 
haben,  einerseits  die  Notwendigkeit,  auch  noch  den  Zwischenweg  erklärend 
darzulegen,  auf  welchem  jene  Ursachen  dieses  Wirkungsbild  hervorrufen 
sollen;  und  hierbei  ergibt  sich  andererseits  wieder  ein  Spielraum  nicht 
etwa  für  eine  einzige,  sondern  für  eine  ganze  Reihe  von  Erklärungsweisen 
oder  Theorien,  welche  wahrhaftig  nicht  bloße  Variationen  eines  und  des- 
selben Gedankens  in  verschiedenen  Ausdrucksweisen,  sondern  von  wesent- 
lich verschiedenem  Gedankeninhalt  sind,  indem  sie  eine  ganz  andere  Art 
der  Verkettung  zwischen  jenen  letzten  Ursachen  und  der  Erscheinung 
des  Kapitalzinses,  den  Eintritt  und  die  Wirksamkeit  wesentlich  ver- 
schiedener Zwischenursachen  behaupten. 

Es  fällt  mir  schwer,  anzunehmen,  daß  Prof.  Marshall  dies  nicht 
wenigstens  bezüglich  einzelner  der  hier  in  Betracht  kommenden  Theorien- 
gruppen erkannt  haben  und  nicht  z.  B.  zuzugestehen  geneigt  sein  sollte, 
daß  die  Nutzungstheorie  Mengers,  die  Abstinenztheorie  Seniors  und  die 
verschiedenen  ,, Arbeitstheorien"  französischer  und  deutscher  Schrift- 
steller Theorien  von  essentiell  verschiedenem  Inhalt  sind,  obwohl  sie  alle 
sowohl  das  Moment  der  ,,prospectiveness",  als  auch  jenes  der  größeren 
Ergiebigkeit  der  kapitalistischen  Produktion  in  irgendeiner  Form  in  ihren 
Gedankengang  aufgenommen  haben  —  geradeso,  wie  auch  meine  eigene 
Zinstheorie  beide  Momente  aufnimmt  und  verwertet.  Soweit  jedoch 
Prof.  Marshall  dieses  Verhältnis  anders  beurteilt  —  und  er  gibt  ja  deutlich 
zu  erkennen,  daß  er  es  in  ziemUch  weitem  Umfang  abweichend  beurteilen 
will  —  hat  er  sich  augenscheinlich  durch  eine  Überschätzung  des  Er- 
klärungswertes jenes  gemeinsamen  Rahmens  täuschen  lassen:  die  irrige 
Meinung,  daß  die  gemeinsamen  Voraussetzungen  schon  das  Wesentliche 
der  Erklärung  in  sich  schließen,  mußte  ihn  natürlich  zu  dem  weiteren 
Irrtum  verleiten,  daß  das  nicht  Gemeinsame,  das  Differenzierende,  nur 
einem  nebensächlichen  Bereiche  angehören  könne,  dem  Bereich  der  bloßen 
Form,  des  Ausdrucks  oder  der  Darstellungsweise. 

Prof.  Marshalls  Tadel  spitzt  sich  jedoch  in  einer  bestimmten 
Richtung  noch  besonders  zu.  Er  tadelt  insbesondere,  daß  ich  jenen  Theorien, 
welche  die  ,, Angebotseite"  oder  „prospectiveness"  besonders  hervor- 
gehoben haben,  nicht  auch  einen  entsprechenden  Bedacht  auf  die  ,, Pro- 
duktivität" des  Kapitales,  und  jenen,  welche  eben  diese  Produktivität 
besonders  hervorgehoben  haben,  keinerlei  Bedacht  auf  die ,, prospectiveness" 
zugeschrieben  habe.  Ganz  konkret  bezeichnet:  Mars  hall  will  in  meiner 
Darstellung  der  Nutzungs-,  Abstinenz-  und  Arbeitstheorie,  von  denen  er 
die  erste  ausdrücklich  nennt  und  die  beiden  letzteren  offenbar  durch  das 
beigefügte  ,,etc."  in  den  Tadel  einbeziehen  wollte,  den  gebührenden  Bezug 
auf  die  Produktivität  des  Kapitales,  und  in  meiner  Darstellung  der  — 


Aus  dem  Vorwort  zur  zweiten  Auflage.  XVII 

ausdrücklich  genannten  —   naiven  Produktivitätstheorie  den  Bezug  auf 
die  „prospectiveness"  vermissen. 

]5ieser  Tadel  beruht  in  seiner  ersten  Hälfte  auf  einem  Mißverständnisse, 
in  seiner  zweiten  ist  er  sachlich  unbegründet. 

Ein  Mißverständnis  ist  es,  wenn  Marshall  meint,  daß  ich  jenen 
erstgenannten,  die  „Angebotseite"  besonders  charakteristisch  entwickeln- 
den Theoriengruppen  keinen  Bedacht  auf  die  Produktivität  des  Kapitales 
zugeschrieben  habe.  Ich  habe  im  Gegenteile  nie  daran  gezweifelt,  daß 
alle  jene  Theorien  eine  technische  oder  physische  Produktivität  des 
Kapitales  —  ähnlich  wie  sie  Prof.  Marshall  selbst  vor  Augen  hat  — 
gleichfalls  in  ihren  Gedankengängen  vorausgesetzt  haben  und  sogar  voraus- 
setzen mußten.  Es  ist  mir  dies  z.  B.  speziell  hinsichtlich  der  Nutzungs- 
theorie, die  Prof.  Marshall  ausdrücklich  als  Beispiel  einer  einseitigen 
Darstellung  meinerseits  herausgreift,  so  deutlich  vor  Augen  gestanden, 
daß  ich  in  einer  Reihe  ausdrücklicher  Äußerungen  —  die  Prof.  Marshall 
vielleicht  entgangen  sind  —  die  Nutzungstheorie  geradezu  als  einen  bloßen 
Zweig  der  Produktivitätstheorien  hinstellte,  der  erst  allmählich  sich  zu 
einer  gewissen  Selbständigkeit  entwickelt  hat^).  In  meiner  Darstellung 
der  einzelnen  Formulierungen  der  Nutzungstheorie  habe  ich  dann  dieser 
Seite  der  Sache  in  demselben  Verhältnis  Raum  gegönnt,  als  dies  die  be- 
treffenden Autoren  taten.  Bei  der  Darstellung  der  Lehren  Says  und 
Hermanns  z.  B.  habe  ich  recht  viel  von  der  Produktivität  des  Kapitales 
gesprochen,  bei  den  Lehren  Schäffles  und  Mengers  recht  wenig  Bei 
der  Darlegung  des  charakteristischen  Kernes  der  Nutzungstheorie  natürlich 
wiederum  recht  wenig,  weil  die  technische  Ergiebigkeit  des  Kapitales  zwar 
zum  selbstverständlichen  theoretischen  Milieu  der  Nutzungstheorie  gehört, 
die  charakteristisphe  Pointe  der  letzteren  aber  nach  einer  anderen  Seite 
hinaus  geht.  Ich  glaube,  wenn  ich  alles,  was  Prof.  Marshall  in  seiner 
äußerst  sorgfältigen,  bis  ins  Detail  ausgearbeiteten  Weise  über  die  tech- 
nische Ergiebigkeit  des  Kapitales  und  ihren  Einfluß  auf  die  „Nachfrage- 
seite" sagt,  z.  B.  Menger  hätte  in  den  Mund  legen  wollen  —  ich  durfte 
dies  natürlich  nicht  tun,  da  Menger  selbst  diese  Dinge  nicht  gesagt  hatte  — 
so  wäre  zwar  meine  Darstellung  wortreicher,  mehr  mit  Detail  beladen, 
aber  es  wäre  der  theoretische  Charakter  der  dargestellten  Lehre  dadurch 
nicht  im  mindesten  geändert  worden:  ein  zusammenfassendes  Resume 
derselben  hätte  nicht  mehr  und  nicht  andere  Worte  enthalten  müssen, 
als  ich  sie  in  der  Schilderung  jener  Theorie  tatsächlich  gebraucht  habel 

Dasselbe  Verhältnis  wiederholt  sich  in  analoger  Weise  gegenüber 
der  Abstinenztheorie.  Es  wird  sich  dies  später  noch  in  drastischer  Weise 
illustrieren,  und  zwar  gerade  an  der  eigenen  Theorie  Marshalls  selbst. 
Ich  werde  nämlich  im  Verlaufe  dieses  Buches  die  mit  allen  Detailaus- 


')  Siehe  z.  B.  S.  89ff.,  226,  227  Abs.  2,  227  am  Ende,  228ff.  der  ersten  Auflage. 
Böhra-Bawerk,  Kapitalzins.    4    Aufl.  H 


X^YJII  Aus  dem  Vorwort  zur  zweiten  Auflage. 

führungen  über  die  Rolle  der  Produktivität  ausgestattete  Theorie  Mar- 
shalls dennoch  genau  demselben  theoretischen  Typus  beizählen  und  ihr 
auch  in  meiner  Kritik  nicht  weniger  entgegenhalten  müssen,  als  ich  dies 
gegenüber  der  —  vermeintlich  unvollständig  und  einseitig  geschilderten  — 
Abstinenztheorie  der  Älteren  seinerzeit  zu  tun  bemüßigt  war! 

Marshall  irrt  also,  wenn  er  meint,  daß  ich  den  die  Angebotseite 
charakteristisch  entwickelnden  Zinstheorien  eine  Gedankenlücke  in  Bezug 
auf  die  Nachfrageseite  zugeschrieben  und  sie  dadurch  gegenüber  der 
Kritik  in  Nachteil  gesetzt  hätte. 

Wenn  aber  Prof.  Marshall  mir  weiter  daraus  einen  Vorwurf  machen 
will,  daß  ich  umgekehrt  gewissen,  die  Produktivität  des  Kapitales  exklusiv 
betonenden  Theorien  nicht  auch  eine  Berücksichtigung  der  „Angebot- 
seite" zugeschrieben  habe,  und  als  Objekt  dieses  Vorwurfes  ausdrücklich 
die  „naiven  Produktivitätstheorien"  nennt,  so  habe  ich  folgendes  zu  be- 
merken. Die  meisten  und  bedeutendsten  der  von  mir  unter  dieser  Stich- 
marke erwähnten  Schriftsteller  (wie  z.  B.  Say,  Röscher,  Rossi,  Leroy- 
Beaulieü,  Cauwes  und  Andere)  haben  tatsächlich  auch  die  „Angebot- 
seite" ausdrücklich  berührt,  was  von  mir  aber  auch  nicht  weniger  aus- 
drücklich, und  hie  und  da,  z.  B.  gegenüber  der  wichtigen  Theorie  von 
J.  B.  Say,  sogar  auch  recht  ausführlich  festgestellt  wurde.  Selbst  wo  sich 
bei  einem  Produktivitätstheoretiker  auch  nur  die  leiseste  Hindeutung 
auf  ein  konkurrierendes  Opfermotiv  u.  dgl.  vorfand,  war  ich  darauf  bedacht, 
diese  Hindeutung  jedesmal  getreulich  zu  verzeichnen  (wie  z.  B.  bei  Mal- 
THus).  Je  deutlicher  freilich  jene  Beziehungen  auf  ein  konkurrierendes 
Opfer  an  Kapitalnutzungen,  an  „Abstinenz",  an  Ersparungsarbeit  u.  dgl. 
waren,  destoweniger  fügten  sie  sich  inhaltlich  mit  dem  gewöhnlich  sehr 
dezidierten  Hinweise  auf  eine  ,, selbständige",  keineswegs  von  der  kapital- 
erzeugenden Arbeit  bloß  abgeleitete,  „wertschaffende"  Produktivkraft  des 
Kapitales  zu  einem  harmonischen,  oder  auch  nur  vereinbaren  Ganzen 
zusammen,  und  deshalb  war  ich  veranlaßt,  die  meisten  jener  Schriftsteller, 
unter  ausdrücklicher  Berücksichtigung  ihrer  zur  Angebotseite  vorge- 
brachten Äußerungen,  unter  die  Eklektiker  zu  stellen. 

Andere  der  „naiven"  Produktivitätstheoretiker  aber  haben  ihre 
emphatische  Betonung  der  selbständigen  Produktivkraft  des  Kapitales 
auch  nicht  mit  der  leisesten  Hindeutung  auf  den  Einfluß  der  „prospec- 
tiveness"  oder  irgendeines  Opfermotivs  verbrämt.  Hätte  ich  da  einen 
bewußten  theoretischen  Bedacht  auf  diese  Motive  in  ihre  Lehre  hinein- 
deuten sollen  oder  dürfen?  Wohlgemerkt,  nicht  etwa  bloß  die  selbstver- 
ständliche Kenntnis  von  der  ja  schon  Adam  Smith  geläufigen  Tatsache, 
daß  die  kapitalistische  Produktion  ihre  Früchte  erst  in  der  Zukunft  bringt, 
oder  daß  das  Kapital  nur  durch  Ersparung  gebildet  und  vermehrt  werden 
kann,  sondern  den  bewußtt  Gedanken,  daß  für  die  Entstehung  des 
Kapitalzinses  erst  dieses  Moment  —  neben  und  trotz  der  Produktivität 


Aus  dem  Vorwort  zur  zweiten  Auflage.  XIX 

des  Kapitalos  —  den  Ausschlag  gibt?  Und  bejahenden  Falles,  hätte  ich 
ihnen  jenen  Gedanken  nur  in  der  nebelhaften  Allgemeinheit,  daß  über- 
haupt die  „prospectiveness"  etwas  mit  der  Entstehung  des  Kapitalzinses 
zu  tun  haben  müsse,  oder  aber  schon  als  ausgestalteten  Bedacht  auf  einen 
bestimmten,  in  dieser  „prospectiveness"  steckenden  Opferkern,  auf  ein 
Opfer  an  separaten  Nutzungen,  an  Abstinenz,  an  Ersparungsarbeit  usw., 
zuschreiben  sollen?  und,  in  letzterem  Falle,  als  Bedacht  auf  welchen 
dieser  doch  recht  verschiedenartigen  Kerne? 

Ich  glaube,  was  immer  ich  anderes  getan  hätte  als  ich  tatsächlich 
getan  habe,  so  hätte  ich  historisch  untreu  und  zugleich  gegen  die  be- 
treffenden Schriftsteller  ungerecht  werden  müssen.  Historisch  untreu: 
denn  ich  glaube,  daß  eine  gewisse,  einst  ziemlich  populäre,  heute  freilich 
gründlich  aus  der  Mode  gekommene  Ideenrichtung  wirklich  mit  dem 
Hinweis  auf  die  Existenz  einer  selbständigen  wertschaffenden  Kraft  des 
Kapitales  das  Zinsproblem  für  theoretisch  erledigt  hielt;  eine  Ideenrichtung, 
die  innerlich  verwandt  und  zeitlich  in  der  Mitte  stehend  ist  zwischen  der 
alten  Physiokratenmeinung  von  der  privilegierten  wertschaffenden  Kraft 
des  Bodens  und  dem  neueren,  aber  wie  ich  glaube,  allemeuestens  auch 
schon  im  Niedergange  begriffenen  Sozialistenvorurteil  von  der  privi- 
legierten wertbildenden  Kraft  der  Arbeit. 

Aber  auch  ungerecht  gegen  die  Schriftsteller  selbst  hätte  ich  mit 
jenem  Hineindeuten  unausgesprochener  Motive  werden  müssen.  Denn 
ich  hätte  sie  dann  tadeln  müssen  für  Dinge,  die  sie  gar  nicht  gesagt  und 
höchstwahrscheinlich  auch  gar  nicht  gedacht  haben.  Hätte  ich  ihnen 
nämlich  nur  jenen  allgemeinsten,  rahmenhaften  Bedacht  auf  die  „pro- 
spectiveness" zugeschrieben,  so  hätte  ich  ihnen  ja  sofort  entgegenhalten 
müssen,  daß  damit  noch  nicht  einmal  der  Versuch  einer  wirklichen  Er- 
klärung gemacht  sei.  Statt  einer  zwar  verfehlten,  aber  immerhin  charakte- 
ristischen, im  Geiste  ihrer  Zeit  gelegenen  wirklichen  Theorie  hätte  ich 
ihnen  eine  verschwommene,  die  Schwierigkeiten  und  den  springenden 
Punkt  des  Problems  gar  nicht  erkennende,  gewissermaßen  eine  theorielose 
Meinung  zuschreiben  müssen  —  und  ich  weiß  nicht,  ob  dies  in  den  Augen 
des  Kritikers  als  ein  höher  stehender  Grad  der  Erkenntnis  anzusehen 
gewesen  wäre.  Daß  ich  aber  jenen  schweigsamen  Autoren  innerhalb  jenes 
Rahmens  eine  zu  Ende  gedachte  wirkliche  Theorie,  also  etwa  eine  kom- 
plette Nutzungs-,  oder  Abstinenz-,  oder  Arbeitstheorie  u.  dgl.  hätte  zu- 
schreiben sollen,  wäre  offenbar  ein  völlig  unzulässiges  Ansinnen.  Denn 
das  hätte  nicht  etwa  nur  geheißen,  ein  von  den  Autoren  weiß  gelassenes 
Blatt  aus  eigener  Phantasie  vollzuschreiben,  sondern  es  hätte  geheißen, 
ein  Gebüde  eigener  Phantasie  an  einer  SteUe  einzuschalten,  an  der  die 
Autoren  selbst  höchstwahrscheinlicherweise  nicht  einmal  ein  weißes  Blatt 
hatten  lassen  wollen.  Und  für  jene  aus  freier  Phantasie  angedichtete 
Nutzungs-,  oder  Arbeits-,  oder  Abstinenztheorie  —  und  wäre  sie  selbst 

II* 


XX  Aus  dem  Vorwort  zur  zweiten  Auflage. 

eine  vollständige  und  genaue  Kopie  der  so  wohlbedächtig  zusammen- 
gefügten MARsHALLschen  Theorie  gewesen  —  hätte  ich  überdies  jene 
Autoren  erst  recht  zur  kritischen  Verantwortung  ziehen  müssen,  da  ich 
ja  keine  jener  Erklärungen  für  zutreffend  zu  halten  in  der  Lage  bin.  Es 
liegt  aber  auf  der  Hand,  daß  ich  durch  einen  solchen  Vorgang  gerade 
jene  Vorwürfe,  die  mir  jetzt  Mr.  Walker  und  Prof.  Marshall  mit  Un- 
recht gegen  mich  zu  erheben  scheinen,  mit  vollstem  Recht  und  in  vollster 
Schwere  auf  mich  geladen  hätte:  denn  wenn  es  irgend  etwas  gibt,  was  den 
Namen  einer  weder  getreuen  noch  wohlwollenden  Dogmengeschichte  ver- 
dient, wäre  es  doch  die  Manier,  einen  Schriftsteller  eines  Irrtumes  zu  zeihen, 
für  dessen  tatsächliches  Vorhandensein  sich  in  seinen  Schriften  auch  nicht 
die  leiseste  Andeutung  findet. 

Alles  in  allem  glaube  ich,  daß  Prof.  Mars  hall  keines  dieser  Ansinnen 
an  mich  gestellt  hätte,  wenn  ihn  nicht  die  außerordentliche  Klarheit  und 
Schärfe,  die  ihn  sonst  im  Entwurf  und  in  der  Durchführung  seiner  theo- 
retischen Ideen  auszuzeichnen  pflegt,  leider  gerade  in  demjenigen  Teile 
seines  bewunderungswürdigen  Werkes  im  Stiche  gelassen  hätte,  welcher 
dem  Probleme  des  Kapitales  gewidmet  ist.  Wie  ich  schon  früher  andeutete: 
der  Quellpunkt  seiner  abweichenden  und,  wie  ich  glaube,  unzutreffenden 
dogmenhistorischen  Urteile  ist  seine  eigene  nicht  genug  klare  und  tiefe 
Erfassung  des  Problemes.  Er  unterschätzt  seine  Schwierigkeit,  er  gewahrt 
allerlei  sachliche  und  logische  Klippen  nicht,  die  semer  befriedigenden 
Lösung  im  Wege  stehen  —  es  wird  sich  dies  alles  auch  noch  an  der  eigenen, 
positiven  Zinstheorie  Marshalls  erproben,  über  die  ja  der  Leser  im  Laufe 
dieses  Werkes  gleichfalls  Gelegenheit  erhalten  wird  zu  urteilen  —  und- 
er  ist  darum  geneigt,  Bestrebungen,  die  auf  die  Auf  Weisung  und  Über- 
windung jener  Klippen  gerichtet  sind,  als  überflüssige  Subtilitäten  gering 
zu  schätzen,  oder  sogar  —  zumal  dem  kritisierenden  Dogmenhistoriker  — 
geradezu  übel  zu  nehmen.  Einen  so  großen  Wert  ich  daher  sonst  darauf 
lege,  mich  mit  dem  hochgeschätzten  Verfasser  der  „Principles  of  Eco- 
nomics"  in  Übereinstimmung  zu  wissen,  so  glaube  ich  doch,  daß  ich  be- 
züglich der  hier  in  Diskussion  stehenden  Probleme  nur  dann  eine  Chance 
habe,  dieselben  zutreffend  zu  beurteilen,  wenn  ich  sie  anders  beurteile 
als  dies  Mr.  Walker  und  Prof.  Marshall  getan  haben. 

Wien,  im  August  1900. 


Vorwort 

zur  dritten  Auflage. 

Auch  für  die  vorliegende  dritte  Auflage  habe  ich  den  Text  meiner 
„Geschichte  und  Kritik  der  Kapitalzinstheorien"  wieder  einer  durch- 
greifenden und  sorgfältigen  Überprüfung  unterzogen  und,  wo  es  nötig 
schien,  bessernd  und  ergänzend  Hand  angelegt.  Doch  war  ich  diesmal 
im  Ausmaß  der  neuen  Zusätze  möglichst  zurückhaltend,  um  den  schon 
in  der  zweiten  Auflage  so  sehr  angewachsenen  Umfang  meines  Buches 
nicht  ins  Übermaß  schwellen  zu  lassen.  So  suchte  ich  insbesondere  dem 
Vielen,  was  die  überaus  rege  Entwicklung  der  Kapitalliteratur  mir  neuer- 
dings während  der  Jahre  seit  1900  an  Stoff  zubrachte,  zumeist  nur  durch 
knappe,  wo  möglich  in  die  Noten  verlegte  Erwähnungen  gerecht  zu  werden, 
während  ich  mich  zu  umfangreicheren  Einschaltungen  in  den  Text  selbst 
nur  in  ganz  vereinzelten  Fällen,  wie  z.  B.  gegenüber  der  Zinstheorie 
OswALTs  entschloß.  Denn  ich  möchte  den  Historiker  in  diesem  Werke 
nicht  durch  den  Chronisten  ersticken  lassen.  Das  Schwergewicht  meines 
Buches  scheint  mir  auch  heute  noch  in  seinen  eigentlich  historischen 
Partien  zu  liegen,  mit  denen  ich  vor  nunmehr  30  Jahren  an  die  Öffentlich- 
keit trat.  Die  Fortführung  einer  Chronik  über  die  Tageserscheinungen 
ist  eine  Sache  anderer  Art.  Sie  war  vielleicht  in  einem  Ausnahmsfall, 
in  welchem  30  Jahre  nach  dem  Erscheinen  des  ursprünglichen  Werkes 
nicht  bloß  der  Autor,  sondern  auch  sein  Buch  noch  am  Leben  war,  nicht 
ganz  zu  vermeiden;  aber  die  Hauptsache  in  diesem  Buche  soll  doch  die 
in  großen  Zügen  zusammenfassende  Geschichte  bleiben,  und  nicht  eine 
sich  in  Einzelheiten  verlierende  Chronik. 

Wien,  im  Juni  1914. 

E.  Böhm-Bawerk. 


Inhaltsyerzeiebnis. 


Seit« 


I.  Das  Problem  des  Kapitalzinses. 

Inhalt  des  theoretischen  Zinsproblemes.  Seine  Unterscheidung  vom 
Bozialpolitischen  Zinsproblem.  Gefahren  der  Vermischung  beider  —  Vor- 
läufige Erklärung  einiger  Grundbegriffe 1 — 8 

II.  Die  antik-philosopfaisehe  und  kanonistisehe  Gegnerschaft  des  Lelh- 
alnses. 

Der  Darlehenszins  das  erste,  und  sehr  lange  das  einzige  Objekt  der  Zins- 
theorie. Die  Zinsfeindlichkeit  der  niederen  Kulturstufen.  Gesetzliche  Zins- 
verbote  der  alten  Welt.  Die  antiken  Philosophen.  Aristoteles.  Die  christ- 
liche Kirche  erneuert  das  Zinsverbot.  Theoretische  Grundlagen  der  kano- 
nistischen  Lehre 9—19 

III.  Die  Verteidiger  des  Leihzinses  Tcm  IC  bis  Ins  18.  Jahrhundert.   Der 
Niedergang  der  kanonistischen  Lehre. 

Widerstand  der  Praxis  gegen  das  kanonistisehe  Zinsverbot.  Dieses 
durch  zahlreiche  Ausnahmen  durchbrochen.  Beginn  einer  prinzipiellen 
Opposition.  Calvin.  Molinaeus.  Ihre  ersten  Nachfolger.  Besold. 
Baoon.  Durchbruch  der  zinsfreundlichen  Lehre  in  den  Niederlanden. 
Hugo  Grotius  und  Salmasids.  Die  Lehre  des  Letzteren.  —  Allmählidies 
Durchgreifen  der  zinsfreundlichen  Richtung  auch  in  den  übrigen  Ländern. 
Charakter  der  Entwicklung  in  Deutschland.  Justi,  Sonnenpels.  In 
England.  Locke,  Steuabt,  Hume,  Benthax.  Zurückbleiben  der  roma- 
nischen Länder.  Italien.  Galiani,  Beccakia.  Frankreich.  Hartnäckiges 
Festhalten  seiner  Gesetzgebung  und  Literatur  an  der  kanonistischen  Lehre. 
PoTHiEK,  MiRABEAU.    Endlicher  Sieg  Türoots.  —  Rückblick 20—52 

IV.  Turgots  Fruktilikationstheorie. 

Die  Zeit  vor  Türgot  der  Erforschung  des  ursprünglichen  Kapitalzinses 
angünstig.  Gründe  davon.  Auch  die  älteren  Physiokraten  untersuchen 
ihn  noch  nicht.    Turgot  stellt  die  erste  allgemeine  Zinstheorie  auf.    Ihr 

Charakter.    Ihre  Fehler.    Sie  erklärt  im  Zirkel 53—60 

V.  Das  Zinsproblem  bei  Adam  Smith.    ÜberbUek  über  die  fernere  Ent- 
wicklang. 

Mangel  einer  deutlich  ausgeprägten  Theorie  bei  Smith.  Widersprechende 
Bemerkungen.  Sie  enthalten  die  Keime  der  wichtigsten  späteren  Theorien. 
Smith  theoretisch  und  sozialpolitisch  neutral.  —  Wachsende  praktische 
Bedeutung  des  Zinsproblemes.  Sie  gibt  den  Anstoß  zu  einer  regeren  theo- 
retischen  Bearbeitung   desselben.      Zerfahrenheit  der  Nach-Smithschen 

Literatur.    Ihre  fünf  Hauptrichtungen 61 — 69 

VI.  Farblose  Theorien. 

Die  „Farblosen"  in  der  älteren  deutschen  Literatur  besonders  zahlreich. 
SoDEif,  LoTZ,  Jakob,  Fulda,  Eiselen,  Rau  u.  a.  Englische  Literatur. 
Ricardo,  Torrens,  McCullogh,  McLeod  u.  a.  Vergleichsweise  seltenes 
Auftreten  „farbloser"  Lehren  in  der  französischen  Literatur.  Ursache 
davon.    G.  Garnier,  Gakard,  Dsoz 70 — 95 


XXVI  Inhaltsverzeichnis. 

Seite 
zu  erbringen.  Untersuchung  jenes  Satzes.  Hinfälligkeit  des  Autoritäten- 
beweises, der  auf  Smith  und  Ricardo  gestützt  zu  werden  pflegt.  Unter- 
suchung und  Widerlegung  der  Gründe,  die  Marx  zu  seinen  Gunsten  vor- 
bringt. Untersuchung  des  Erfahrungsmateriales.  Dieses  widerspricht 
gleichfalls  dem  Arbeitswertgesetze.  Gänzliche  Unhaltbarkeit  des  letzteren. 
—  Die  nachgelassenen  Bände  des  MARXschen  Systemes.  Die  Lehre  von 
den  „Produktionspreisen"  und  der  „Durchschnitteprofitrate".  Ihr  Selbst- 
widerspruch mit  den  Grundlagen  der  MARXschen  Theorie 367 — 391 

C.  Die  MARXSche  Lehre  im  Munde  seiner  Nachfolger.  Um- 
deutungsversuche  von  Sombart  und  C.  Schmidt.  Kritik  derselben.  Bern- 
stein. —  Schlußergebnisse 398—41« 

XIII.  Die  Eklektiker. 

Allgemeiner  Charakter  und  Beurteilung  des  Eklektizismus.  Einzelne 
Gruppen  des  letzteren.  Mischungen  der  Produktivitäts-  und  Abstinenz- 
theorie. Rossi,  MoLiNARi,  Lepoy-Beaülieu,  Röscher  u.  a.  Cossa, 
Jevons.  —  Kombinationen  mit  der  Arbeitstheorie.  Read,  Gerstner, 
Cauwes,  J.  Garnier.  —  Mischungen  zinsfreundlicher  mit  zinsfeindlichen 
Theorien.    Hoffmann,  J.  St.  Mill,  Schäffle 414 — 421 

XIV.  Zwei  neuere  Versuche. 

Einleitung 430 

a)  Georges  jüngere  Fruktifikationstheorie.  Darstellung  der- 
selben. Sie  leitet  den  Zins  aus  der  schaffenden  Ej-aft  der  Natur  ab.  Ein- 
wendungen. Sie  wiederholt  den  physiokratischen  Irrtum.  Sie  läßt  auch 
den  Zins  der  natürlich  fruchtbaren  Güter,  um  so  mehr  den  der  sonstigen 
Kapitalgüter  unerklärt 430 — 43* 

b)  Schellwiens  modifizierte  Abstinenztheorie.  Darstellung 
derselben.  Kritik.  Doppelspiel  mit  dem  Begriffe  ,, Konsumtion  des  Kapi- 
tales". Verhältnis  Schellwiens  zur  Arbeitswerttheorie.  Die  Gefahren 
falscher  Idealisierung  der  natürlichen  Grundlagen  der  Wirtschaft  ....     436 — 44 

XV.  Schlußbetrachtungen. 

Die  drei  Grundauffassungen  des  Zinsproblemes.  Das  letztere  weder  ein 
reines  Produktions-,  noch  ein  reines  Verteilungs-,  sondern  ein  Wertproblem. 
Die  Rangstufen  der  Entwicklung.  Die  niedrigste  Stufe.  Das  Vorurteil  von 
den  wertechaffenden  Kräften  und  seine  Geschichte.  Höhere  Stufen.  Die 
Richtlinie  der  Entwicklung.    Der  Ausgangspunkt  für  die  endliche  Lösung 

des  Problemes 444 — 4ö( 

Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Gegenwart  (1884 — 1914). 

I.  Überblick 451— 4a 

II.  Die  Agiotheorie  und  einige  andere  neue  Erklärungsversuche  .   .    .     453 — 46! 

III.  Nutzungsiheorien.    Insbesondere  die  Theorie  Oswalts 464 — 48( 

IV.  Die  Abstinenztheorie.     Fortbildung  derselben  insbesondere  durch 
Macvane  und  Marshall.     Ein  Umdeutungsversuch  Carvers   .    .     480 — 50i 

V.  Arbeitstheorien.    Die  Theorie  Stolzmanns 603 — 61- 

VI.  Motivierte  Produktivitätstheorien.    Insbesondere  jene  Wiesers  .   .     514 — 63( 
VII.  Die   Ausbeutungstheorie   und   ein   „vulgär-ökonomischer  Ableger" 

derselben.     Dietzel,  Lexis,  Oppenheimer,  Tugan-Baranowsky    530 — 531 
VIII.  Eklektische  Theorien.  Eine  grundsätzliche  Verteidigung  des  Eklekti- 
zismus durch  Dietzel 535 — 53( 

IX.  Heutiger  Stand  der  Meinungen 539 — 54< 

Autorenregister 643 — 54( 


I. 
Das  Problem  des  Eapitalzinses. 

Wer  ein  Kapital  besitzt,  ist  in  der  Regel  imstande,  sieh  aus  dem- 
selben ein  dauerndes  reines  Einkommen  zu  verschaffen,  welches  in  der 
Wissenschaft  den  Namen  Kapitalrente  oder  Kapitalzins  im  weiteren  Sinne 
des  Wortes  führt. 

Dieses  Einkonunen  zeichnet  sich  durch  einige  merkwürdige  Eägen- 
schaften  aus. 

Es  entsteht  unabhängig  von  irgendeiner  persönlichen  Tätigkeit  des 
Kapitalisten;  es  fließt  ihm  zu,  auch  wenn  er  keine  Hand  zu  seiner  Ent- 
stehung gerührt  hat,  und  scheint  daher  in  ausgezeichnetem  Sinne  dem 
Kapitale  zu  entspringen,  oder  —  nach  einem  uralten  Vergleiche  —  von 
diesem  gezeugt  zu  werden.  Es  kann  aus  jedem  Kapital  erlangt  werden, 
gleichviel  aus  welchen  Gütersorten  dieses  besteht:  aus  natürlich  frucht- 
baren Gütern  so  gut  wie  aus  unfruchtbaren,  aus  verbrauchlichen  so  gut 
wie  aus  dauerbaren,  aus  vertretbaren  so  gut  wie  aus  nicht  vertretbaren, 
aus  Geld  so  gut  wie  aus  Waren.  Es  fließt  endlich,  ohne  das  Kapital,  aus 
dem  es  hervorgeht,  jemals  zu  erschöpfen,  und  ohne  daher  in  seiner  Dauer 
an  irgendeine  Grenze  gebunden  zu  sein:  es  ist,  soweit  man  sich  in  irdischen ' 
Dingen  überhaupt  dieses  Ausdruckes  bedienen  darf,  einer  ewigen  Dauer 
fähig. 

So  bietet  die  Zinserscheinung  im  ganzen  das  merkwürdige  Bild  einer 
immerwährenden  und  unerschöpflichen  Güterzeugung  des  leblosen  Kapi- 
tales. Und  diese  merkwürdige  Erscheinung  tritt  im  Wirtschaftsleben  ndt 
so  großer  Regelmäßigkeit  auf,  daß  man  nicht  selten  sogar  den  Begriff 
des  Kapitales  auf  sie  begründet  hat.  So  definiert  Hermann  in  seinen 
„Staats wirtschaftlichen  Untersuchungen"  das  Kapital  als  ein  „Vermögen, 
das  seine  Nutzung,  wie  ein  immer  neues  Gut,  fortdauernd  dem  Bedürfnis 
darbietet,  ohne  an  seinem  Tauschwert  abzunehmen"^). 

Woher  und  warum  empfängt  der  Kapitalist  jenen  end- 
und  mühelosen  Güterzufluß?  Diese  Worte  enthalten  das  theoretische 
Problem  des  Kapitalzinses.  Es  wird  gelöst  sein,  wenn  die  geschilderte 
Tatsache  des  Zinsenbezuges  mit  allen  ihren  wesentlichen  Merkmalen  voll- 
ständig erklärt  sein  wird.    Vollständig  dem  Umfange  wie  der  Tiefe  nach; 

»)  2.  Aufl.  S.  111. 
Böbm-Bawerk,  Kapitalzins.    4.  Aufl. 


2  I.  Das  Problem  des  Kapitalzinses. 

vollständig  dem  Umfange  nach,  indem  alle  Formen  und  Varietäten  des 
Zinsenempfanges  ihre  Erklärung  finden;  vollständig  der  Tiefe  nach,  indem 
diese  Erklärung  lückenlos  geführt  wird  bis  an  die  Grenze  nationalökono- 
mischer Untersuchung;  mit  anderen  Worten,  indem  die  Erklärung  zurück- 
geführt wird  bis  auf  jene  letzten,  einfachen  und  anerkannten  Tatsachen, 
an  denen  die  nationalökonomische  Erklärung  überhaupt  endet,  auf  welche 
die  Nationalökonomie  sich  stützt,  ohne  sie  weiter  zu  beweisen,  und  deren 
fernere  Erklärung,  wenn  sie  gefordert  wird,  angrenzenden  Wissenschaften, 
zumal  der  Psychologie  und  den  Naturwissenschaften  zur  Last  fällt. 

Vom  theoretischen  ist  das  sozialpolitische  Zinsproblem  genau  zu 
unterscheiden.  Während  das  theoretische  Problem  fragt,  warum  der 
Kapitalzins  da  ist,  fragt  das  sozialpolitische  Zinsproblem,  ob  der  Kapital- 
zins  da  sein  soll;  ob  er  gerecht,  billig,  nützlich,  gut,  und  ob  er  darum  bei- 
zubehalten, umzugestalten  oder  aufzuheben  ist.  Während  das  theoretische 
Problem  sich  ausschließlich  für  die  Ursachen  des  Kapitalzinses  interessiert, 
interessiert  sich  das  sozialpolitische  hauptsächlich  für  seine  Wirkungen. 
Während  das  theoretische  Problem  sich  nur  um  die  Wahrheit  kümmert, 
achtet  das  sozialpolitische  Problem  vor  allem  auf  die  Zweckmäßigkeit. 

So  verschieden  die  Natur  beider  Probleme,  so  verschieden  ist  auch 
der  Charakter  der  Argumente,  die  bei  jedem  derselben  Anwendung  finden, 
und  die  Strenge  in  der  Beweisführung.  Wahrheitsgründe  allein  sind  dort, 
Opportunitätsgründe  sind  vorwiegend  hier  die  entscheidenden;  Während 
in  der  Frage  nach  dem  Warum?  des  Zinses  nur  eine  Wahrheit  gefunden 
werden  kann,  deren  Anerkennung  sich  bei  korrekter  Anwendung  der 
Denkgesetze  bei  jedermann  erzwingen  läßt,  bleibt  die  Entscheidung,  ob 
der  Zins  gerecht,  billig  und  nützlich  sei,  notwendig  in  erheblichem  Grade 
Ansichtssache;  auch  die  triftigste  Argumentation  wird  hier  zwar  viele 
Andersdenkende  überzeugen,  nie  aber  alle  Andersdenkenden  überführen 
können.  Wer  z.  B.  durch  die  triftigsten  Gründe  wahrscheinlich  zu  machen 
weiß,  daß  eine  Aufhebung  des  Kapitalzinses  unabwendbar  einen  Rück- 
gang des  materiellen  Wohlstandes  der  Völker  nach  sich  ziehen  müßte, 
hat  noch  gar  keinen  Vorteil  über  jenen  errungen,  der  nach  seinem  sub- 
jektiven Ermessen  den  materiellen  Wohlstand  überhaupt  für  keine  große 
Sache  hält;  etwa  deshalb,  weil  das  irdische  Leben  nur  ein  kurzer  Moment 
im  Vergleich  zur  Ewigkeit  sei,  und  weil  der  materielle  Reichtum,  der  durch 
den  Kapitalzins  genährt  wird,  die  Erreichung  der  ewigen  Bestimmung 
eher  hindere  als  fördere. 

Es  ist  ein  dringendes  Gebot  der  Vorsicht,  daß  die  beiden  so  grund- 
verschiedenen Probleme  auch  in  der  wissenschaftlichen  Untersuchung 
scharf  auseinander  gehalten  werden.  Zwar  stehen  sie  unleugbar  in  naher 
Beziehung  zueinander.  Insbesondere  scheint  mir  ein  richtiges  Urteil 
darüber,  ob  dar  Zins  gut  ist,  durch  nichts  besser  befördert  werden  zu 
können  als  durch  eine  richtige  Einsicht  in  die  Ursachen,  aus  denen  er 


Die  beiden  Zweige  des  Problems.  3 

da  ist.  Allein  dieser  Zusammenhang  berechtigt  doch  nur  dazu,  die  Re- 
sultate in  Beziehung  zu  bringen,  nicht  auch  dazu,  die  Untersuchungen  zu 
vermischen. 

Der  letztere  Vorgang  wird  im  Gegenteil  die  richtige  Lösung  beider 
Probleme  in  Gefahr  bringen.  Aus  mehreren  Gründen.  Einerseits  kommen 
bei  der  sozialpolitischen  Frage  naturgemäß  allerlei  Wünsche,  Neigungen 
und  Leidenschaften  ins  Spiel,  die,  wenn  beide  Probleme  in  einem  Atem 
untersucht  werden,  nur  ajlzu  leicht  auch  in  den  theoretischen  Teil  der 
Untersuchung  Eingang  finden  und  hier  durch  ihr  Gewicht  parteiisch 
eine  der  Wagschaleu  zum  Sinken  bringen;  vielleicht  diejenige,  welche, 
wenn  nur  Gründe  abgewogen  worden  wären,  die  leichtere  geblieben 
wäre.  Was  man  gerne  glaubt,  sagt  ja  ein  altes,  wahres  Sprichwort,  das 
glaubt  man  leicht.  Ist  aber  das  Urteil  über  das  theoretische  Zinsproblem 
ein  schiefes,  so  wird  hierdurch  rückwirkend  natürlich  auch  die  Richtigkeit 
des  praktisch-politischen  Urteils  beeinträchtigt. 

Sodann  birgt  derselbe  Vorgang  eine  stetige  Gefahr,  daß  auch  von 
an  sich  berechtigten  Argumenten  ein  unberechtigter  Gebrauch  gemacht 
werde.  Wer  beide  Probleme  vermischt  oder  wohl  gar  verwechselt,  und 
über  sie  nach  Einem  Verfahren  Ein  Urteil  fäUt,  wird  leicht  auch  die  beiden 
Gruppen  von  Argumenten  vermischen,  und  jedem  von  ihnen  einen  Ein- 
fluß auf  das  ganze  Urteil  einräumen.  Das  heißt,  er  wird  sein  Urteil  über 
die  Ursachen  der  Zinserscheinung  zum  Teil  von  Zweckmäßigkeitsgründen 
leiten  lassen,  was  unbedingt  vom  Übel  ist,  und  er  wird  sein  Urteil  über 
die  Güte  der  Institution  des  Kapitalzinses  zum  Teü  unmittelbar  durch 
rein  theoretische  Erwägungen  leiten  lassen,  was  wenigstens  vom  Übel 
sein  kann.  Es  kann  z.  B.  bei  einer  Vermischung  beider  Probleme  leicht 
vorkommen,  daß  jemand  deshalb,  weü  die  Existenz  des  Kapitalzinses 
von  nützlichen  Folgen  für  den  Ertrag  der  nationalen  Produktion  begleitet 
ist,  geneigter  wird  einer  Theorie  zuzustimmen,  welche  die  Ursache  des 
Zinses  in  einer  produktiven  Kraft  des  Kapitales  erblickt;  oder  es  kann 
vorkommen,  daß  jemand,  weil  er  die  theoretische  Einsicht  gewonnen 
hat,  daß  der  Kapitalzins  einem  durch  die  Konkurrenzverhältnisse  zwischen 
Kapital  und  Arbeit  verursachten  Abzüge  am  Arbeitsertrage  seine  Entstehung 
verdanke,  deshalb  ohne  weiteres  die  Existenz  des  Zinsinstitutes  verdammt 
und  das  letztere  aufgehoben  wissen  wül.  Eines  ist  so  ungehörig  wie  das 
andere.  Ob  die  Existenz  des  Zinses  nützliche  oder  schädliche  Folgen  für 
die  volkswirtschaftliche  Produktion  hat,  hat  absolut  nichts  mit  der  Frage 
zu  tun,  warum  der  Zins  da  ist;  und  die  Erkenntnis  der  Quelle,  aus  der 
der  Kapitalzins  stammt,  darf  wieder  absolut  nicht  allein  über  die  Frage 
entscheiden,  ob  der  Kapitalzins  beibehalten  oder  aufgehoben  werden  solL 
Mag  die  Quelle  des  Zinses  was  immer  für  eine,  mag  sie  sogar  eine  recht 
trübe  sein:  so  wird  man  sich  für  die  Aufhebung  des  Kapitalzinses  doch 
nur  dann  und  nur  deshalb  entscheiden  dürfen,  wenn  und  weil  die  berech- 

1* 


4  I.  Das  Problem  des  Kapitalzinses. 

tigten  Wohlfahrtsinteressen  des  Volkes  durch  die  Aufhebung  des  Zinses 
besser  fahren  würden. 

Die  Vorsieht,  die  beiden  verschiedenen  Probleme  in  der  wissenschaft- 
lichen Behandlung  zu  trennen,  ist  von  vielen  Schriftstellern  außer  acht 
gelassen  worden.  Obwohl  dieser  Umstand  die  Quelle  vieler  Irrungen, 
Mißverständnisse  und  Vorurteile  geworden  ist,  besitzen  wir  kaum  ein 
Recht,  ihn  zu  beklagen:  denn  das  praktische  Zinsproblem  hat  das  Schlepp- 
tau geboten,  an  dem  das  theoretische  in  die  wissenschaftliche  Behandlung 
eingeführt  wurde.  Durch  die  Verquickung  beider  Probleme  —  es  ist  wahr  — 
mußte  das  theoretische  Problem  unter  Umständen  bearbeitet  werden, 
die  der  Elrforschung  der  Wahrheit  nicht  günstig  waren;  aber  ohne  jene 
Verquickung  wäre  es  von  sehr  vielen  tüchtigen  Schriftstellern  gar  nicht 
bearbeitet  worden.  Desto  wichtiger  ist  es,  aus  solchen  Erfahrungen  der 
Vergangenheit  für  die  Zukunft  Nutzen  zu  ziehen. 

Ich  habe  in  absichtlicher  Selbstbeschränkung  mir  die  Aufgabe  gestellt, 
in  den  folgenden  Blättern  die  kritische  Geschichte  des  theoretischen 
Zinsproblemes  zu  i  shreiben.  Ich  werde  versuchen,  die  wissenschaftlichen 
Bestrebungen,  welche  der  Erforschung  des  Wesens  und  Ursprungs  des 
Kapitalzinses  galten,  in  ihrer  historischen  Entwicklung  darzustellen  und 
die  Richtigkeit  der  verschiedenen  Ansichten,  die  hierüber  zutage  getreten 
sind,  einer  kritischen  Prüfung  zu  unterwerfen.  Dagegen  werde  ich  Urteile 
darüber,  ob  der  Zins  gerecht,  nützlich  und  billigenswert  sei,  nur  insoweit 
in  den  Kreis  meiner  Darstellung  ziehen,  als  es  unerläßlich  ist,  um  den  in 
ihnen  enthaltenen,  theoretischen  Kern  auslösen  zu  können. 

Trotz  jener  Selbstbeschränkung  brauche  ich  um  Stoff  für  meine 
kritische  Geschichte  nicht  verlegen  zu  sein:  weder  für  die  Geschichte, 
noch  für  die  Kritik.  Denn  es  hat  sich  über  das  Thema  des  Kapitalzinses 
eine  Literatur  angesammelt,  die  an  Umfang  von  wenigen,  an  Vielseitigkeit 
der  in  ihr  zutage  getretenen  Meinungen  von  gar  keinem  anderen  Einzel- 
zweige der  nationalökonomischen  Literatur  erreicht  wird.  Nicht  eine, 
nicht  zwei  oder  drei,  sondern  ein  reichliches  Dutzend  von  Zinstheorien 
geben  Zeugnis  von  dem  Eifer,  mit  dem  sich  die  Nationalökonomen  der 
Erforschung  des  merkwürdigen  Problems  zugewandt  haben. 

Ob  diese  Bemühungen  ebenso  glücklich  als  eifrig  waren,  mag  mit 
einigem  Grunde  bezweifelt  werden:  Tatsache  ist,  daß  von  den  zahlreichen 
Ansichten,  die  über  das  Wesen  und  den  Ursprung  des  Kapitalzinses  auf- 
gestellt wurden,  keine  einzige  ungeteilten  Beifall  zu  erlangen  imstande 
war.  Wenn  auch  jede  von  ihnen,  wie  natürlich,  innerhalb  eines  gewissen, 
bald  größeren,  bald  kleineren  Anhängerkieises  den  Glauben  voller  Über- 
zeugung fand,  so  ließ  doch  auch  jede  von  ihnen  Bedenken  genug  übrig, 
um  ein  vollkommen  siegreiches  Durchgreifen  zu  hindern.  Dabei  erwiesen 
sich  auch  jene  Theorien,  welche  nur  schwache  Minoritäten  auf  sich  zu 
vereinigen  vermochten,  zähe  genug,  um  sich  nicht  ganz  verdrängen  zu 


Grundbegriffe.  5 

lassen.  Und  so  weist  der  heutige  Stand*)  der  Tlieorie  des  Kapitalzinses 
eine  bunte  Musterkarte  der  verschiedenartigsten  Meinungen  auf,  von 
denen  keine  zu  siegen  imstande,  und  keine  sich  für  besiegt  zu  geben  willens 
ist,  deren  Vielzahl  allein  aber  dem  Unparteiischen  anzeigt,  welche  Masse 
Irrtums  notwendig  in  ihnen  walten  muß. 

Vielleicht  ist  es  mir  vergönnt,  durch  die  nachfolgenden  Blätter  die 
Sache  der  Einigung,  die  heute  noch  in  weitem  Felde  scheint,  um  einige 
Schritte  näher  zu  bringen. 


Ehe  ich  mich  memer  eigentlichen  Aufgehe  zuwenden  kann,  muß 
ich  mich  mit  meinen  Lesern  kurz  über  einige  Begriffe  und  Unterscheidungen 
verständigen,  deren  wir  uns  in  der  Folge  vielfach  zu  bedienen  haben  werden. 

Unter  den  vielen  Bedeutungen,  welche  dem  Namen  „Kapital"  in 
der  leider  so  stark  dissentierenden  Terminologie  unserer  Wissenschaft 
beigelegt  werden,  werde  ich  mich  für  den  Bereich  dieser  kritischen  Unter- 
suchung an  diejenige  halten,  in  welcher  Kapital  bedeutet  einen  Komplex 
produzierter  Erwerbsmittel,  d.  i.  einen  Komplex  von  Gütern,  die 
durch  eine  vorausgegangene  Produktion  entstanden,  und  nicht  zu  un- 
mittelbarer Genußkonsumtion,  sondern  zur  Erwerbung  weiterer  Güter  zu 
dienen  bestimmt  sind.  Außerhalb  des  Kapitalbegriffes  stehen  daher  für 
uns  Gegenstände  des  unmittelbaren  Genußgebrauches  einerseits,  und  der 
gesamte  (nicht  produzierte)  Grund  und  Boden  andererseits. 

Daß  ich  gerade  dieser  Bedeutung  den  Vorzug  gegeben  habe,  will  ich 
einstweilen  nur  durch  ein  paar  Zweckmäßigkeitsgründe  rechtfertigen. 
Erstlich  bleibe  ich  so  mit  dem  Sprachgebrauche  wenigstens  der  relativen 
Majorität  der  Schriftsteller,  deren  Ansichten  ich  darzustellen  haben  werde, 
in  Harmonie;  und  zweitens  entspricht  diese  Abgrenzung  des  Kapitalbegriffs 
auch  am  besten  den  Grenzen  des  Problems,  mit  dem  wir  uns  beschäftigen 
wollen.  Wir  beabsichtigen  ja  nicht  die  Theorie  der  Grundrente,  sondern 
nur  die  theoretische  Erklärung  jenes  Gütererwerbes  zu  verfolgen,  der 
sich  aus  anderweitigen  Güterkomplexen,  mit  Ausschluß  des  Grundes  und 
Bodens,  ableitet.  —  Eine  eingehendere  Entwicklung  des  Kapitalbegriffes 
behalte  ich  mir  für  den  zweiten,  dogmatischen  Hauptteil  dieses  Werkes  vor. 

Innerhalb  des  allgemeinen  Kapitalbegriffes  sind  femer  bekanntlich 
zwei  Nuancen  zu  unterscheiden:  der  volks-(sozial-)wirtschaftliche  Kapital- 
begriff, der  die  Mittel  zu  volkswirtschaftlichem  Erwerbe  und  nur  diese 
umfaßt;  und  der  individualwirtschaftliche  Kapitalbegriff,  der  die  Mittel 
individualwirtschaftlichen  Erwerbs,  d.  i.  die  Güter  umschließt,  durch  die 
ein  Individuum  Güter  für  sich  erwirbt,  gleichviel  ob  die  ersteren  im  Sinne 
der  ganzen  Volkswirtschaft  Erwerbs-  oder  Genußmittel,  Produktiv-  oder 


')  Geschrieben  im  Jahre  1884. 


g  I.  Das  Problem  des  Kapitalzinses. 

Konsumtivgüter  sind.  So  werden  z.  B.  die  Bücher  einer  Leihbibliothek 
zwar  unter  den  individualwirtschaftlichen,  nicht  aber  unter  den  volks- 
wirtschaftlichen Kapitalbegriff  fallen.  Der  Umfang  des  letzteren  wird  sich 
—  wenn  man  von  den  wenigen  ins  Ausland  entgeltlich  verliehenen  Gegen- 
ständen unmittelbaren  Genußgebrauches  absieht  —  mit  den  produ- 
zierten Produktionsmitteln  eines  Landes  decken.  Die  Zinstheorie 
hat  mit  beiden  Nuancen  des  Kapitalbegriffes  zu  tun.  Eigentlich  sollte 
sie,  da  der  Zins  eine  Form  des  individualwirtschaftlichen  Gütererwerbes 
darstellt,  auch  hauptsächlich  an  den  individualwirtschaftlichen  Kapital- 
begriff anknüpfen.  Besondere  Umstände  haben  es  jedoch  mit  sich  ge- 
bracht, daß  in  den  meisten  Erörterungen  des  Zinsproblems  gleichwohl 
der  volkswirtschaftliche  Kapitalbegriff  im  Vordergrund  des  Interesses 
steht.  Wir  werden  daher  gewöhnlich  den  letzteren  im  Sinne  haben,  wenn 
wir  das  Wort  Kapital  ohne  weiteren  Zusatz  gebrauchen. 

Das  aus  dem  Kapitale  fließende  Einkommen  werde  ich  Kapitalrente 
oder,  gewöhnlich,  Kapitalzins  nennen,  das  letztere  Wort  in  seiner 
weiteren  Bedeutung  verwendend. 

Der  Kapitalzins  tritt  wieder  in   mehrfacher  Elrschelnungsform   aut 

Zunächst  ist  zu  unterscheiden  zwischen  rohem  Kapitalzinse  (Brutto- 
zins) und  reinem  Kapitalzins  (Nettozins).  Der  erste  stellt  ein  Gemenge 
heterogener  Einnahmen  dar,  die  nur  äußerlich  ein  Ganzes  bilden.  Er 
umfaßt  den  Bruttoertrag  der  Kapitalverwendung,  in  dem  sich  neben 
dem  wahren  Kapitalzinse  gewöhnlich  ein  Teilersatz  für  aufgewendete 
Kapitalsubstanz,  dann  für  allerlei  laufende  Kosten,  Reparaturauslagen, 
Risikoprämien  u.  dgl.  findet.  So  ist  der  Mietzins,  den  der  Hauseigentümer 
für  vermietete  Wohnungen  einnimmt,  ein  Bruttozins,  von  welchem  eine 
gewisse  Quote  für  die  laufenden  Erhaltungskosten  und  für  den  einstigen 
Wiederaufbau  des  im  Laufe  der  Zeit  verfallenden  Hauses  abgezogen  werden 
muß,  um  das  darin  enthaltene  wahre  Kapitalseinkommen  zu  ermitteln.  — 
Der  reine  Zins  ist  dagegen  eben  dieses  wahre  Kapitalseinkommen,  wie  es 
sich  nach  Ausscheidung  jener  heterogenen  Elemente  aus  dem  rohen  Zinse 
darstellt.  Die  Zinstheorie  hat  es  natürlich  mit  der  Elrklärung  des  reinen 
Kapitalziuses  zu  tun. 

Ferner  ist  zu  unterscheiden  der  ursprüngliche  vom  ausbedun- 
genen Kapitalzins  oder  Leihzins. 

In  den  Händen  desjenigen,  der  ein  Kapital  zur  Produktion  verwendet, 
äußert  sich  nämlich  der  Nutzen  des  Kapitales  darin,  daß  die  Gesamtheit 
der  mit  Hilfe  des  Kapitales  hergestellten  Produkte  regelmäßig  einen 
höheren  Wert  besitzt,  als  die  Gesamtheit  der  in  der  Produktion  aufge- 
wendeten Kosteugüter.  Der  Wertüberschuß  bildet  den  Kapitalgewinn 
oder  den  ursprünglichen  Kapitalzins,  wie  wir  ihn  nennen  wollen. 

Der  Eigentümer  von  Kapitalien  verzichtet  jedoch  häufig  darauf  den 
ursprünglichen  Kapitalzins  selbst  zu  gewinnen,  und  zieht  es  vor,   die 


Grundbegrifie.  7 

temporäre  Benützung  des  Kapitales  einem  anderen  gegen  ein  bestimmtes 
Entgelt  zu  überlassen.  Dieses  Entgelt  führt  im  vulgären  Sprachgebrauch 
verschiedene  Namen.  Es  heißt  Miet-  oder  Pachtzins,  wenn  das  überlassene 
Kapital  aus  dauerbaren  Gütern  bestand.  Es  heißt  Zinsen  oder  Interessen, 
wenn  das  Kapital  aus  verbrauchlichen  oder  vertretbaren  Gütern  bestand. 
Alle  diese  Varietäten  lassen  sich  indes  passend  unter  dem  einheitUchen 
Namen  des  ausbedungenen  Kapitalzinses  oder  Leihzinses  zu- 
sammenfassen. 

Während  der  Begriff  des  Leihzinses  überaus  einfach  ist,  bedarf  der 
Begriff  des  ursprünglichen  Kapitalzinses  noch  einer  näheren  Bestimmung. 
Es  kann  nämlich  mit  Recht  fraglich  erscheinen,  ob  der  gesamte  Gewinn, 
den  der  Unternehmer  einer  Produljtion  aus  letzterer  zieht,  auf  Rechnung 
seines  Kapitales  zu  setzen  ist.  Zweifellos  ist  dies  nicht  der  Fall,  wenn  der 
Unternehmer  zugleich  den  Platz  eines  Arbeiters  in  seiner  eigenen  Unter- 
nehmung ausgefüllt  hat;  dann  ist  ohne  Zweifel  ein  Teil  des  „Gewinnes" 
einfacher  Arbeitslohn  des  Unternehmers.  Aber  auch  wenn  er  am  VoUzug 
des  Produktionswerkes  sich  nicht  persönlich  beteiligt,  so  steuert  er  doch 
an  geistiger  Oberleitung,  am  Entwurf  der  Pläne  für  das  Geschäft,  oder 
doch  wenigstens  am  Willensakt,  durch  den  er  über  seine  Produktionsmittel 
zugunsten  einer  bestimmten  Unternehmung  disponiert,  ein  gewisses  Maß 
persönlicher  Bemühung  bei.  Es  fragt  sich  nun,  ob  nicht  dem  entsprechend 
im  Gesamtgewinn,  der  aus  der  Unternehmung  fließt,  zwei  Quoten  zu 
unterscheiden  seien,  eine  Quote,  die  als  Erfolg  des  beigesteuerten  Kapitales, 
als  Kapitalgewinn,  aufzufassen  wäre,  und  eine  zweite,  die  als  Erfolg  der 
Unternehmertätigkeit  zu  betrachten  kommt  ? 

Die  Meinungen  über  diesen  Punkt  sind  geteilt.  Die  Mehrzahl  der 
Nationalökonomen  zieht  einen  solchen  Unterschied.  Sie  sondert  aus  dem 
Gesamtgewinn  des  Produktionsuntemehmens  einen  Teil  als  Kapital- 
gewinn, einen  anderen  als  Unternehöiergewinn  aus.  Natürlich  läßt  sich 
nicht  mit  mathematischer  Genauigkeit  feststellen,  wieviel  in  jedem  einzelnen 
Fall  der  sachliche  Faktor,  das  Kapital,  und  wieviel  der  persönliche  Faktor, 
die  Unternehmertätigkeit,  zur  Bildung  des  Gesamtgewinns  beigetragen 
hat.  Um  dennoch  beide  Anteile  ziffermäßig  scheiden  zu  können,  entlehnt 
man  einen  Maßstab  von  anderen  Umständen.  Man  sieht  nämlich  darauf, 
was  sonst  ein  Kapital  von  bestimmter  Größe  gewöhnlich  trägt.  Dies  stellt 
sich  am  einfachsten  in  dem  Zinsfuß  dar,  den  man  bei  vollkommen  sicherer 
Verleihung  von  Darlehenskapitalien  landesüblich  erzielt.  Man  schreibt 
daher  von  dem  Gesamtgewinn  der  Unternehmung  jenen  Betrag,  der  der 
landesüblichen  Verzinsung  des  in  der  Unternehmung  investierten  Kapitales 
gleichkommt,  auf  Rechnung  des  letzteren,  während  man  den  Rest  als 
„Untemehmergewinn"  auf  Rechnung  der  Tätigkeit  des  Unternehmers 
setzt.  Erzielt  z.  B.  eine  Unternehmung,  in  der  ein  Kapital  von  100000  fL 
investiert  ist,  einen  Jahresgewinn  von  9000  fl.,  und  beträgt  der  landes- 


^  I.  Das  Problem  des  Kapitalzinses. 

Übliche  Zinsfuß  5%,  so  werden  5000  fl.  als  Kapitalgewinn,  und  die  rest- 
lichen 4000  fl.  als  Unternehmergewinn  angesehen. 

Eine  Anzahl  anderer  Nationalökonomen  ist  dagegen  der  Ansicht, 
daß  eine  solche  Scheidung  unstatthaft,  und  daß  der  sogenannte  Unter- 
nehmergewinn mit  dem  Kapitalgewinn  homogen  ist^). 

Die  Entscheidung  darüber,  welche  dieser  Meinungen  die  richtige  ist, 
bildet  den  Gegenstand  eines  selbständigen  Problems  von  nicht  geringer 
Schwierigkeit,  des  Problems  des  Unternehmergewinnes. 

Die  Schwierigkeiten,  welche  unser  spezielles  Objekt,  das  Zinsproblem, 
umgeben,  sind  so  bedeutend,  daß  mir  nicht  daran  gelegen  sein  kann,  sie 
durch  die  Komplikation  mit  einem  zweiten  schwierigen  Problem  zu  ver- 
mehren. Ich  werde  daher. auf  eine  Untersuchung  und  Entscheidung  des 
Problems  des  Untemehmergewinnes  absichtlich  nicht  eingehen;  ich  werde 
nur  dasjenige  als  Kapitalzins  behandeln,  über  dessen  Zinsnatur  alle  Par- 
teien einig  sind;  nämlich  den  ausbedungenen  Kapitalzins  ganz 2),  und 
vom  „ursprünglichen"  Gewinn  der  Unternehmungen  so  viel,  als  der  landes- 
üblichen Verzinsung  des  Untemehmungskapitales  entspricht.  Die  Frage 
dagegen,  ob  der  sogenannte  Untemehmergewinn  ein  Kapitalgewinn  ist 
oder  nicht,  werde  ich  absichtlich  offen  lassen.  Glücklicherweise  liegen 
die  Verhältnisse  so,  daß  ich  ohne  Schaden  für  unsere  Untersuchung  so 
vorgehen  darf:  denn  diejenigen  Erscheinungen,  deren  Zinsnatur  feststeht, 
machen  im  schlimmsten  Falle  so  sehr  die  Hauptmasse  und  den  charakte- 
ristischen Kern  des  Zinsphänomens  aus,  daß  man  an  ihnen  das  Wesen 
und  den  Ursprung  desselben  mit  Sicherheit  erforschen  kann,  auch  ohne 
daß  jene  Grenzstreitigkeit  zuvor  entschieden  zu  werden  braucht. 

Ich  brauche  wohl  kaum  ausdrücklich  hervorzuheben,  daß  ich  nicht 
der  Meinung  bin,  mit  den  vorstehenden  knappen  Bemerkungen  eine  er- 
schöpfende, oder  auch  nur  eine  vollkommen  korrekte  Darstellung  der 
Grundbegriffe  der  Kapitaltheorie  gegeben  zu  haben:  mir  war  nur  darum 
zu  tun,  mit  möglichst  wenig  Aufenthalt  eine  brauchbare  und  sichere  Ter- 
minologie festzustellen,  auf  Grund  deren  wir  uns  in  dem  kritisch-histo- 
rischen Teile  dieser  Arbeit  verständigen  können. 


')  Siehe  über  die  ganze  Frage  u.  a.  Pierstorff,  Die  Lehre  vom  Untemehmer- 
gewinn, Berlin  1875.  In  neuester  Zeit  hat  wohl  die  Entwicklung  der  „Zurechnungs- 
theorie" einen  entscheidenden  Beitrag  zur  Lösung  der  alten  Streitfrage  geliefert. 

')  natürlich,  soweit  er  überhaupt  ein  reiner  Zins  ist. 


n. 

Die  antik-philosophische  nnd  kanonistische  Gegner- 
schaft des  Leihzinses. 

Es  ist  eine  sehr  gewöhnliche  Erscheinung,  daß  nicht  allein  unser 
"Wissen  von  den  fragwürdigen  Dingen,  sondern  auch  unser  Fragen  nach 
ihnen  sich  erst  allmählich  entwickeln  muß.  Nur  in  den  seltensten  Fällen 
wird  eine  Erscheinung  bei  derjenigen  Gelegenheit,  bei  der  sie  zum  ersten 
Male  unsere  Aufmerksamkeit  rege  macht,  auch  schon  in  ihrem  ganzen 
Umfange,  in  der  ganzen  Vollzahl  ihrer  innerlich  zusammengehörigen 
Einzelfälle  überblickt  und  zum  Gegenstande  Einer  umfassenden  Frage 
gemacht.  Viel  häufiger  ist  es  anfangs  nur  ein  besonders  greller  Einzelfall, 
der  das  Nachdenken  der  llenschen  auf  sich  zieht,  und  erst  allmählich 
gelangt  man  dazu,  auch  die  minder  auffälligen  Glieder  derselben  Er- 
scheinungsgruppe als  gleichartig  zu  erkennen  und  in  das  wachsende 
Problem  einzubeziehen.  So  ist  es  auch  mit  der  Erscheinung  des  Kapital- 
zinses gegangen.  Er  ist  den  Menschen  zuerst  nur  unter  der  einen  Gestalt 
des  Leihzinses  zum  Gegenstand  der  Frage  geworden,  und  man  hatte 
schon  volle  2000  Jahre  über  das  Wesen  des  Leihzinses  theoretisiert,  ehe 
man  die  Frage  nach  dem  Warum?  und  Woher?  auch  rücksichtlich  des 
ursprünglichen  Kapitalzinses  zu  stellen  für  nötig  erachtete,  und  damit 
dem  Problem  des  Kapitalzinses  endlich  seinen  vollen  natürlichen  Um- 
fang gab. 

Daß  dies  so  kam,  ist  durchaus  begreiflich.  Was  am  Kapitalzinse 
überhaupt  zum  Nachdenken  herausfordert,  ist  sein  arbeitsloses  Hervor- 
quellen aus  einem  gleichsam  zeugenden  Muttergut.  Diese  charakte- 
ristischen Merkmale  stechen  am  Leihzinse  in  so  greller,  und  speziell  am 
lieihzinse  aus  natürlich  unfruchtbaren  Geldsummen  überdies  in  so  pikanter 
Weise  hervor,  daß  sie  auch  ohne  geregeltes  Nachdenken  auffallen  und  zur 
Frage  reizen  mußten.  Der  ursprüngliche  Kapitalzins  wird  dagegen  zwar 
freilich  nicht  durch  die  Arbeit,  aber  doch  unter  Mitwirkung  von  Arbeit 
des  Untemehmerkapitalisten  erworben,  was  bei  oberflächKcher  Be- 
trachtung leicht  verwechselt  oder  doch  nicht  scharf  genug  auseinander- 
gehalten werden  konnte,  um  das  befremdliche  Moment  des  arbeitslosen 
Erwerbs  auch  im  ursprünglichen  Kapitalzinse  wieder  zu  erkennen.  Damit 


10  II*  l^ic  antik-philosoph.  u.  kanonistische  Gegnerschaft  des  Leihzinses. 

es  dazu  und  zur  sachgemäßen  Erweiterung  des  Zinsproblems  kommen 
konnte,  mußte  erst  das  Kapital  selbst  und  seine  Anwendung  im  volks- 
wirtschaftlichen Leben  sich  viel  weiter  entwickelt,  und  mußte  namentlich 
eine  systematisch  forschende  Untersuchung  über  die  Quellen  des  Ein- 
kommens begonnen  haben,  die  sich  nicht  damit  begnügt  zu  finden,  was 
in  greller  Auffälligkeit  am  Wege  liegt,  sondern  auch  die  schlichteren 
Erscheinungsformen  ans  Licht  zu  ziehen  weiß.  Diese  Bedingungen  waren 
aber  erst  einige  Jahrtausende  nach  dem  ersten  Befremden  über  den  „vom 
unfruchtbaren  Gelde  gezeugten"  Leihzins  erfüllt. 

Die  Geschichte  des  Zinsproblemes  beginnt  daher  mit  einer  sehr  langen 
Epoche,  in  der  erst  der  Leihzins  allein,  oder  noch  euger  begrenzt,  in  der 
der  Darlehenszins  allein  Gegenstand  der  Untersuchung  ist.  Diese 
Epoche  beginnt  tief  im  Altertum  und  reicht  bis  in  das  18.  Jahrhundert 
unserer  Zeitrechnung.  Sie  wird  von  zwei  einander  bekämpfenden  Lehr- 
meinungen ausgefüllt:  die  erste,  ältere,  ist  dem  Leihzins  abhold,  die  zweite, 
jüngere,  verteidigt  ihn.  Der  Verlauf  dieses  Streites  ist  kulturhistorisch 
in  hohem  Grade  interessant,  und  hat  auch  auf  die  praktische  Entwicklung 
des  Wirtschafts-  und  Rechtslebens  einen  höchst  bedeutenden  Einfluß 
genommen,  dessen  Spuren  sich  noch  heutzutage  vielfach  zeigen.  Für  die 
Entwicklung  des  theoretischen  Zinsproblems  ist  aber  die  ganze  Epoche 
trotz  ihrer  laugen  Dauer  und  trotz  der  Unzahl  der  Schriftsteller,  die  in 
ihr  tätig  waren,  wenig  fruchtbar  gewesen.  Man  stritt  eben  nicht  um  den 
Kern,  sondern,  wie  wir  sehen  werden,  um  einen  theoretisch  ziemlich 
untergeordneten  Vorposten  des  Zinsproblems.  Auch  stand  die  Theorie 
viel  zu  knechtisch  im  Dienste  der  Praxis.  Es  handelte  sich  den  meisten 
Beteiligten  nicht  so  sehr  darum,  das  Wesen  des  Leihzinses  um  seiner  selbst 
willen  zu  ergründen,  als  zu  einer  aus  religiösen,  moralischen  oder  wirt- 
schaftspolitischen Gründen  festgewurzelten  Meinung  über  Güte  oder 
Verwerflichkeit  des  Zinses  eine  passende  theoretische  Handhabe  zu  finden. 
Da  überdies  die  Blütezeit  dieses  Streites  mit  der  Blütezeit  der  Scholastik 
zusammenfiel,  so  läßt  sich  denken,  daß  mit  der  Zahl  der  Gründe  und 
Gegengründe  nicht  auch  die  Erkenntnis  des  AVesens  des  Gegenstandes, 
um  den  man  stritt,  parallel  ging. 

Ich  werde  mich  daher  in  der  Darstellung  dieser  frühesten  Ent- 
wicklungsphase unseres  Problems  sehr  kurz  fassen.  Ich  darf  dies  um  so 
eher,  als  über  dieselbe  Periode  bereits  mehrere  und  zum  Teil  treffliche 
Bearbeitungen  vorliegen,  in  denen  der  Leser  weit  mehr  an  Detail  finden 
kann,  als  für  unseren  Zweck  vorzuführen  nötig,  oder  auch  nur  zweckmäßig 
ist^).  —  Ich  wende  mich  zunächst  zur  Darstellung  jener  Richtung,  welche 
dem  Leihzinse  feindlich  war. 


')  Aus  der  reichen  Literatur,  die  das  Zins-  und  Wucherwesen  der  älteren  Zeit 
behandelt,  hebe  ich  hervor:  Böhmer,  Jus  ecclesiasticum  Protestantium,  Halle  1736, 


Die  ahtiken  Philosophen.  H 

Wie  Röscher  treffend  bemerkt  hat,  stellt  sich  auf  niedrigen  Stufen 
wirtschaftlicher  Kultur  regelmäßig  eine  lebhafte  Abneigung  gegen  das 
Zinsnehmen  ein.  Der  Produktivkredit  ist  alsdann  wenig  entwickelt,  fast 
alle  Darlehen  sind  Konsumtiv-,  zumal  Notdarlehen.  Der  Gläubiger  ist 
gewöhnlich  reich,  der  Schuldner  arm,  und  jener  erscheint  im  gehässigen 
Lichte  eines  Mannes,  der  von  dem  wenigen  des  Armen  im  Zins  noch  einen 
Teil  abpreßt,  um  ihn  seinem  überflüssigen  Reichtum  beizulegen.  Es  ist 
daher  nicht  zu  verwundern,  daß  sowohl  die  antike  Welt,  die  trotz  einigen 
volkswirtschaftlichen  Aufschwungs  doch  das  Kreditwesen  nie  sehr  ent- 
wickelt hatte,  als  vollends  das  christliche  Mittelalter,  das  sich  nach  dem 
Untergang  der  römischen  Kultur  im  Wirtsehaf ts wesen  wie  in  so  vielen 
anderen  Dingen  auf  den  Zustand  primitiver  Anfänge  zurückgeworfen 
sah,  dem  Darlehenszins  äußerst  mißgünstig  war. 

Diese  Mißgunst  hat  in  beiden  Zeitaltern  urkundliche  Denkmäler 
zurückgelassen. 

Die  zinsfeindlichen  Äußerungen  der  antiken  Welt  sind  nicht  gerade 
arm  an  Zahl,  aber  von  geringer  Bedeutung  für  die  dogmengeschichtliche 
Entwicklung.  Sie  bestehen  zum  Teüe  aus  einer  Anzahl  legislativer  Akte, 
welche  das  Zinsnehmen  verboten,  und  von  denen  einige  in  eine  sehr  frühe 
Zeit  hinaufreichen^);  zum  anderen  Teüe  aus  mehr  oder  weniger  gelegent- 
lichen Äußerungen  philosophischer  oder  philosophierender  Schriftsteller. 

Die  gesetzlichen  Zinsverbote  können  zwar  als  Ausdruck  einer  starken 
und  verbreiteten  Überzeugung  von  der  praktischen  Verwerflichkeit  des 
Zinsnehmens  gelten,  haben  aber  schwerlich  eine  ausgeprägte  Theorie  zur 
Unterlage  gehabt,  und  jedenfalls  eine  solche  nicht  überliefert.  Die  philo- 
sophierenden Denker  hinwieder,  wie  Plato,  Aristoteles,  die  beiden 
Cato,  Cicero,   Seneca,  Plaütüs  und  andere,  streifen  das  Thema  des 


V.  Band,  Titel  19;  Rizy,  Über  Zinstaxen  und  Wuchergesetze,  Wien  1869;  Wiskemann, 
Darstellung  der  in  Deutschland  zur  Zeit  der  Reformation  herrschenden  nationalöko- 
nomischen Ansichten  (Preisschriften  der  f ürstl.  jABLONOwsKischen  Gesellschaft,  X.  Band 
Leipzig  1861);  Laspeyees,  Geschichte  der  volkswirtschaftlichen  Ansichten  der  Nieder- 
länder (Bd.  XI  der  eben  genannten  Preisschriften,  Leipzig  1863);  Neumann,  Geschichte 
des  Wuchers  in  Deutschland,  Halle  1865;  Funk,  Zins  und  Wucher,  Tübingen  1868; 
EInies,  Der  Credit,  I.  Hälfte,  Berlin  1876  S.  328ff.;  und  vor  allem  die  ausgezeichneten 
Arbeiten  Endemanns  über  die  kanonistische  Wirtschaftslehre:  Die  nationalökonomischen 
Grundsätze  der  kanonistischen  Lehre,  Jena  1863,  und  Studien  in  der  romanisch-kano- 
nistischen  Wirtschafts-  und  Rechtslehre,  I.  Band,  Berlin  1874,  IL  Band  1883. 

*)  z.  B.  das  Zinsverbot  der  mosaischen  Gesetzgebung,  die  indes  nur  das  Zins- 
nehmen zwischen  Juden  untereinander,  nicht  auch  gegenüber  Fremden  untersagte: 
Exodus  22,  25;  Leviticus  25,  35—37;  Deuteronomium  23,  19—20.  —  In  Rom  wurde, 
nachdem  die  XII  Tafeln  ein  unciarium  foenus  erlaubt  hatten,  durch  die  lex  Genucia 
(322  V.  Chr.)  das  Zinsnehmen  zwischen  römischen  Bürgern  gänzlich  verboten,  und  dieses 
Verbot  später  durch  die  Lex  Sempronia  und  die  Lex  Gabinia  auch  auiE  die  socii  und  auf 
die  Geschäfte  mit  Provinzialen  ausgedehnt.  Vgl.  Knies  a.  a.  0.  S.  328ff.  und  die  da- 
selbst zitierten  Schriftsteller. 


12         11.  Die  antik-philosoph.  u.  kanonistische  Gegnerschaft  des  Leihzinses. 

Zinsnehmens  gewöhnlich  so  kurz,  daß  sie  auf  eine  theoretische  Begründ'ing 
ihres  zinsfeindlichen  Urteils  gar  nicht  eingehen,  und  überdies  oft  in  einem 
solchen  Zusammenhange,  deiß  es  zweifelhaft  wird,  ob  sie  dem  Zinsnehmen 
wegen  eines  ihm  anhaftenden  besonderen  Makels,  oder  nur  wegen  seines 
allgemeinen  Erfolges,  den  verachteten  Keichtum  zu  nähren,  abhold  sind^). 

Eine  einzige  Stelle  aus  der  antiken  Literatur  hat  meines  Erachtens 
einen  direkten  dogmengeschichtlichen  Wert,  indem  sie  eine  bestimmte 
Ansicht  ihres  Verfassers  über  das  wirtschaftliche  Wesen  des  Kapitalzinses 
abzuleiten  gestattet:  das  ist  die  vielzitierte  Stelle  im  1.  Buche  von 
Aristoteles'  Politik.  Aristoteles  sagt  da  (III,  23):  „Da  dieselbe  (die 
Tätigkeit  des  Vermögenserwerbes),  wie  gesagt,  eine  doppelte  ist,  die  eine 
zum  Handel,  die  andere  zum  Hauswesen  gehörig,  und  diese  für  notwendig 
und  für  löblich  gehalten,  die  auf  den  Umsatz  bezügliche  aber  von  Rechts 
wegen  getadelt  wird  (denn  sie  ist  nicht  naturgemäß,  sondern  auf  gegen- 
seitige Übervorteilung  gegründet),  so  ist  mit  vollstem  Recht  das  Wucher- 
handwerk verhaßt,  weü  von  dem  Gelde  selbst  der  Erwerb  gezogen  und 
es  nicht  dazu  gebraucht  wird,  wozu  es  erfunden  worden  ist.  Denn  es 
ward  des  Warenumsatzes  wegen  erfunden,  der  Zins  aber  vergrößert  es, 
woher  denn  auch  dieser  den  Namen  (rdxog)  erhalten  hat;  denn  die  Ge- 
borenen sind  jhren  Erzeugern  ähnlich.  Der  Zins  aber  ist  Geld  vom  Gelde, 
so  daß  von  allen  Erwerbszweigen  dieser  der  naturwidrigste  ist." 

Der  dogmatische  Kern  dieses  Urteils  läßt  sich  kurz  in  die  Worte 
fassen:  das  Geld  ist  seiner  Natur  nach  nicht  fähig  Früchte  zu  tragen.  Der 
Gewinn,  den  der  Gläubiger  aus  seiner  Verleihung  zieht,  kann  daher  nicht 


')  Ich  will  einige  der  meist  berufenen  Äußerungen  zusammenstellen.     Plato, 
de  legibus  V,  742:  „Geld  bei  jemandem  zu  hinterlegen,  dem  man  nicht  traut,  oder  auf 

Zinse  anzuleihen,  soll  auch  nicht  angehen."  Aristoteles,  Nikom.  Ethik,  IV,  1:  „ die- 

j  ugen,  welche  eines  freien  und  gebildeten  Mannes  unwürdige  Geschäfte  betreiben: 
Hurenwirte  und  dergleichen,  Geldwucherer,  die  kleine  Summen  für  großen 
Zins  ausleihen;  denn  alle  diese  nehmen  aus  Quellen,  woher  sie  nicht  sollten  und  mehr 
als  sie  sollten."  (Eine  andere  Stelle  des  Arist.  siehe  unten.)  Cato  der  Ältere  bei  Cicero, 
de  officiis,  IL  am  Ende:  „Ex  quo  genere  comparationis  illud  est  Catonis  senis:  a  quo 
cum  quaereretur,  quid  maxime  in  re  familiari  expediret,  respondit,  Bene  pascere.  Quid 
secundum?  Satis  bene  pascere.  Quidtertium?  Male  pascere.  Quidquartum?  Arare. 
Et  cum  ille,  qui  quaesierat,  dixisset,  Quid  foenerari?  Tum  Cato,  Quidhominem, 
inquit,  occidere?"  Cato  der  Jüngere,  de  re  rustica,  prooem.:  „Majores  nostri  sie 
habuerunt  et  ita  in  legibus  posuerunt,  furem  dupli  condemnare,  foeneratorem 
quadrupli.  Quanto  pejorem  civem  existimarunt  foeneratorem  quam  furem,  hinc 
licet  existimari."  Plautus,  Mostellaria,  III.  Act,  1.  Scene:  „Videturne  obsecro  hercle 
idoneus,  Danista  qui  sit?  genus  quod  improbissimum  est .  .  .  Nullum  edepol  hodie 
genus  est  hominum  tetrius,  nee  minus  bono  cum  jure  quam  Danisticum."  Seneca, 
de  beneficiis  VII,  10:  ,,.  .  .  quid  enim  ista  sunt,  quid  fenus  et  calendarium  et  usura, 
nisi  humanae  cupiditatis  extra  naturam  quaesita  nomina?  .  .  .  quid  sunt  istae  tabellae, 
quid  computationes  et  venale  tempus  et  sanguinolentae  centesimae  ?  voluntaria  mala 
ex  constitutione  nostra  pendentia,  in  quibus  nihil  est,  quod  subici  oculis,  quod  teneri 
manu  possit,  inanis  avaritiae  somnia." 


Die  antiken  Philosophen.  ]^3 

aus  der  eigenen  wirtschaftlichen  Kraft  des  Geldes,  sondern  nur  aus  einer 
Übervorteilung  des  Schuldners  kommen  („sTt'  W.iqXiov  iarlv"),  und  der 
Zins  ist  also  ein  mißbräuchlicher  und  unrechtmäßiger  Übervorteilungs- 
gewinn. 

Daß  die  SchriftsteUer  des  heidnischen  Altertums  sich  nicht  tiefer 
auf  die  Frage  des  Leihzinses  einließen,  erklärt  sich  am  ungezwungensten 
daraus,  daß  diese  Frage  zu  ihrer  Zeit  nicht  mehr  praktisch  war.  Die 
staatliche  Autorität  hatte  sich  im  Laufe  der  Zeit  mit  dem  Zinsnehmen 
wieder  versöhnt.  In  Attika  war  dasselbe  längst  freigegeben  gewesen.  Das 
römische  Weltreich  hatte,  ohne  daß  jene  strengen  Gesetze,  durch  welche 
das  Zinsnehmen  gänzlich  verboten  worden  war,  förmlich  aufgehoben 
worden  zu  sein  scheinen,  dasselbe  erst  geduldet,  dann  durch  gesetzliche 
Zinstaxen  förmlich  sanktioniert  i).  In  der  Tat  waren  die  Wirtschafts- 
verhältnisse zu  kompliziert  geworden,  um  mit  bloß  unentgeltlichem  Kredit- 
verkehr,  welcher  der  Natur  der  Sache  nach  immer  ein  sehr  beschränkter 
bleiben  muß,  das  Auslangen  finden  zu  lassen.  Die  Geschäftsleute  und 
Praktiker  standen  sicher  ausnahmslos  auf  der  zinsfreundlichen  Seite. 
Für  den  Zins  zu  schreiben,  war  unter  solchen  Verhältnissen  überflüssig; 
gegen  ihn  zu  schreiben,  aussichtlos,  und  es  entspricht  dieser  Sachlage 
sehr  gut,  daß  fast  die  einzigen  Stätten,  auf  die  sich  der  resignierte  Tadel 
des  Zinsnehmens  zurückgezogen  hat,  die  Werke  philosophischer  Schrift- 
steller sind. 

Ungleich  mehr  Anlaß  zu  gründlicher  Beschäftigung  mit  dem  Thema 
des  Leihzinses  erwuchs  den  Schriftstellern  des  christlichen  Zeitalters. 

Die  schlimmen  Zeiten,  welche  dem  Zusammenbruche  des  römischen 
Weltreiches  vorangingen  und  folgten,  hatten  auch  einen  Rückschlag  in 
den  wirtschaftlichen  Dingen  gebracht,  der  seinerseits  wieder  eine  Steigerung 
der  zinsfeindlichen  Tendenz  des  Zeitalters  zur  naturgemäßen  Folge  hatte. 
In  derselben  Richtung  wirkte  der  eigentümliche  Geist  des  Christentums: 
die  Ausbeutung  armer  Schuldner  durch  reiche  Gläubiger  mußte  demjenigen 
in  besonders  gehässigem  Lichte  erscheinen,  den  seine  Religion  einerseits 
lehrte,  Milde  und  Barmherzigkeit  unter  die  wichtigsten  Tugenden  zu 
zählen,  und  andererseits  die  Güter  dieser  Erde  überhaupt  mit  Gering- 
schätzung zu  betrachten.  Was  aber  das  Wichtigste  war,  es  hatten  sich 
in  den  heiligen  Schriften  des  Neuen  Bundes  gewisse  Stellen  gefunden, 
die  in  der  Auslegung,  die  man  ihnen  allgemein  gab,  ein  direktes  göttliches 
Verbot  des  Zinsennehmens  zu  enthalten  schienen.  Namentlich  gilt  dies 
von  der  berühmt  gewordenen  Stelle  im  Evangelium  des  Lucas:  „mutuum 
date  nihil  inde  sperantes"^).  Die  mächtige  Stütze,  welche  der  zinsfeind- 
liche Zeitgeist  so  an  Aussprüchen  der  göttlichen  Autorität  fand,  gab  ihm 

»)  Vgl.  Knies  a.  a.  0.  330f. 

*)  Ev.  Luc.  VI,  32 f.  Siehe  über  den  wahren  Sinn  dieser  Stelle  indes  Knies  a.  a.  0. 
S.  333ff. 


X4         n.  Die  antik-philosoph.  u.  kanonistische  Gegnerschaft  des  Leihzinses. 

die  Kraft,  noch  einmal  die  Gesetzgebung  in  seinem  Sinne  zu  lenken.  Die 
christliche  Blirche  lieh  ihren  Arm  dazu.  Schritt  für  Schritt  wußte  sie  das 
Zinsenverbot  in  die  Gesetzgebung  einzuführen.  Erst  wurde  das  Zinsen- 
nehmen bloß  kirchlicherseits  und  bloß  den  Klerikern  verboten;  dann 
auch  allen  Laien,  aber  noch  immer  nur  von  seite  der  Kirche;  endlich 
gab  auch  die  weltliche  Gesetzgebung  dem  Einfluß  der  Kirche  nach,  und 
stimmte  unter  Zurückdrängung  des  römischen  Rechtes  in  ihre  strenge 
Satzung  ein^). 

Diese  Wendung  gab  der  zinsfeindlichen  Literatur  für  anderthalb 
Jahrtausende  reichliche  Nahrung.  Die  alten  heidnischen  Philosophen 
hatten  ihr  Verdammungsurteil  ohne  viel  Begründung  in  die  Welt  schleudern 
können,  weil  sie  ihm  keine  weitere  praktische  Folge  zu  geben  geneigt 
oder  imstande  waren:  als  „platonischer"  Ausspruch  von  Idealisten  wog 
es  in  der  Welt  der  Praxis  viel  zu  leicht,  um  im  Emstkampf  angegriffen 
und  einer  ebenso  ernsten  Verteidigung  bedürftig  zu  werden.  Jetzt  war 
die  Sache  aber  wieder  praktisch  geworden.  Erst  handelte  es  sich  darum, 
dem  Worte  Gottes  auch  auf  Erden  zum  Siege  zu  verhelfen,  und  als  dies 
gelungen  war,  mußte  die  Gerechtigkeit  der  neuen  Gesetze  gegen  die  An- 
feindungen, die  sich  alsbald  einstellten,  verteidigt  werden.  Diese  Aufgabe 
fiel  naturgemäß  der  theologischen  und  juristischen  Literatur  der  Kirche 
zu;  und  so  entstand  eine  literarische  Bewegung  über  das  Thema  des  Leih- 
zinses, welche  das  kanonistische  Zinsverbot  von  seinen  frühesten  Keimen 
bis  zu  seinen  letzten  Ausläufern,  tief  ins  18.  Jahrhundert  hinein,  begleitete. 

In  dem  Charakter  dieser  Literatur  bildet  etwa  das  12.  Jahrhundert 
unserer  Zeitrechnung  einen  bemerkenswerten  Wendepunkt.  Vor  diesem 
Jahrhundert  liegt  die  Sache  vornehmlich  in  der  Hand  der  Theologen, 
und  auch  die  Art,  in  der  sie  geführt  wird,  ist  wesentlich  theologisch:  zum 
Beweis  der  Ungerechtigkeit  des  Leihzinses  beruft  man  sich  auf  Gott  und 
seine  Offenbarung,  auf  Stellen  der  heiligen  Schrift,  auf  das  Gebot  der 
Nächstenliebe,  der  Gerechtigkeit  u.  dgl. ;  nur  selten,  und  dann  in  den  allge- 
meinsten Ausdrücken,  auf  juristische  und  wirtschaftliche  Erwägungen. 
Am  eingehendsten,  aber  eben  auch  nicht  sehr  eingehend,  sprechen  sich 
noch  die  Kirchenväter  über  die  Sache  aus  2). 

Seit  dem  12.  Jahrhundert  dagegen  wird  die  Erörterung  auf  immer 
breiterer  wissenschaftlicher  Basis  geführt;  zu  dem  Autoritätenbeweise  aus 
der  Offenbarung  gesellen  sich  Berufungen  auf  die  Autorität  angesehener 
Kirchenväter,  Kanonisten  und  Philosophen  —  auch  heidnischer  — ,  alter 
und  neuer  Gesetze,  sowie  Deduktionen  aus  dem  „jus  divinum",  „jus 


')  Über  die  Ausbreitung  des  Zinsverbotes  siehe  Endemann,  Nationalökonomische 
Grundsätze  S.  8ff.,  Studien  in  der  romanisch-kanonistischen  Wirtschafts-  und  Rechts- 
lehre, S.  lOff. 

''')  Siehe  unten. 


Die  kanonistische  Lehre.  15 

humanuni"  und  —  für  uns  besonders  wichtig,  weil  auch  die  wirtschaftliche 
Seite  der  Sache  berührend  —  aus  dem  „jus  naturale".  Dementsprechend 
greifen  niBben  den  Theologen  immer  mehr  die  Juristen,  erst  die  Kanonisten, 
dann  auch  die  Legisten,  in  die  Bewegung  ein. 

Diese  so  viel  sorgfältigere  und  umfassendere  literarische  Pflege  des 
Zinsthemas  hat  ihren  Hauptgrund  wohl  darin,  daß  das  Zinsverbot  je  später 
desto  härter  drückte,  und  gegen  den  Gegendruck  des  bedrängten  Verkehres 
einer  kräftigeren  Verteidigung  bedurfte.  Anfänglich  einer  Volkswirtschaft 
aufgelegt,  die  noch  tief  genug  stand,  um  das  Zinsverbot  leicht  ertragen  zu 
können,  hatte  dieses  überdies  während  der  ersten  Jahrhunderte  seines 
Bestandes  noch  über  so  wenig  äußeren  Nachdruck  verfügt,  daß  die  Praxis, 
wo  sie  sich  durch  dasselbe  beengt  fühlte,  ohne  viel  Gefahr  sich  einfach 
darüber  hinaussetzen  konnte.  Später  aber  erstarkte  nicht  allein  die  Volks- 
wirtschaft, deren  zunehmendes  Kreditbedürfnis  sich  durch  das  Zinsverbot 
zunehmend  gehemmt  fühlen  mußte,  sondern  es  erstarkte  auch  dieses 
letztere  selbst,  indem  es  an  Ausbreitung  und  Wucht  der  Übertretungs- 
folgen gewann.  So  mußten  seine  Konflikte  mit  der  Volkswirtschaft  doppelt 
zahlreich  und  doppelt  schwer  werden;  seine  natürlichste  Stütze,  die  öffent- 
liche Meinung,  die  ihm  ursprünglich  im  vollsten  Maß  zur  Seite  gestanden 
war,  begann  von  ihm  zu  weichen,  und  es  bedurfte  um  so  dringender  der 
Unterstützung  der  Theorie,  die  es  denn  auch  von  der  heranwachsenden 
Wissenschaft  bereitwillig  erhielt^). 

Von  den  beiden  Phasen  der  kanonistischen  Zinsliteratur  ist  die  erste 
fast  ohne  allen  dogmengeschichtlichen  Wert:  ihre  theologisierenden  und 
moralisierenden  Ausführungen  gehen  über  den  einfachen  Ausdruck  des 
Abscheus  vor  dem  Zinsennehmen  und  über  Autoritätenbeweise  wenig 
hinaus  ^V 


•)  Vgl.  Endemann,  Studien  S.  11—13,  löf. 

•)  Um  den  Lesern  eine  beiläufige  Vorstellung  von  dem  Tone  zu  geben,  in  dem  die 
Kirchenväter  die  Sache  behandelten,  will  ich  eine  Auslese  der  meist  zitierten  Aussprüche 
derselben  vorführen:  Lactantius  lib.  6.  Divin.  Inst.  c.  18  sagt  von  einem  gerechten 
Manne:  ,,Pecuniae,  si  quam  crediderit,  non  accipiet  usuram:  ut  et  beneficium  sit  in- 
colume  quod  succurrat  necessitati,  et  abstineat  se  prorsus  alieno;  in  hoc  enim  genere 
officii  debet  suo  esse  contentus,  quem  oporteat  alias  ne  proprio  quidem  parcere,  ut 
bonum  faciat:  plus  autem  accipere,  quam  dederit,  injustum  est.  Quod  qui 
facit,  insidiatur  quodam  modo,  ut  ex  alterius  necessitate  praedetur."  Ambrosius, 
de  bono  mortis  c.  12:  „Si  quis  usuram  acceperit,  rapinam  facit,  vita  non  vivit." 
Derselbe,  de  Tobia  c.  3:  „Talia  sunt  vestra,  divitesl  beneficia.  Minus  datis,  et  plus 
exigitis.  Talis  humanitas,  ut  spolietis  etiam  dum  subvenitis.  Foecundus  vobis  etiam 
pauper  est  ad  quaestum.  Usurarius  est  egenus,  cogentibus  nobis,  habet  quod  reddat: 
quod  impendat,  ncn  habet";  und  ebenda  c.  14:  „.  .  .  .  Ideo  audiant  quid  lex  dicat: 
Neque  usuram,  inquit,  escarum  accipies,  neque  omnium  rerum."  Chryso- 
stomus  in  cap.  Matthaei  17.  Homil.  56:  ,,Noli  mihi  dicere,  quaeso,  quia  gaudet 
et  gratiam  habet,  quod  sibi  foenore  pecuniam  colloces:  id  enim  crudelitate  tua  coactus 
fecit . . ."  Augustinus  in  Psalmum  128:  „Audent  etiam  foeneratores  dicere,  non  habeo 


X6         II.  Die  antik-philosoph.  u.  kanonistische  Gegnerschaft  des  Leihzinses. 

Von  größerem  Belang  ist  die  zweite  Phase,  wenn  auch  weder  im 
Verhältnisse  zu  der  Zahl  der  in  ihr  tätigen  Schriftsteller,  noch  zu  der  sehr 
stattlichen  Zahl  der  gegen  den  Zins  vorgebrachten  Argumente  i).  Denn 
nachdem  einige  Schriftsteller  originell  vorangegangen  waren,  beteten  die 
anderen  bald  sklavisch  nach,  und  der  von  den  früheren  gesammelte  Argu- 
mentenschatz ging  bald  wie  ein  unantastbares  Erbgut  durch  die  Werke 
aller  späteren.  Aus  den  Argumenten  selbst  ist  aber  die  größere  Zahl 
Autoritätenberufung,  oder  moralisierenden  Charakters,  oder  ganz  nichtig; 
und  nur  eine  verhältnismäßig  kleine  Zahl  derselbeii  —  zumeist  Deduktionen 
aus  dem  „jus  naturale"  —  kann  auf  dogmatisches  Interesse  Anspruch 
erheben.  Wenn  auch  von  diesen  wieder  manche  einem  heutigen  Leser 
sehr  wenig  überzeugend  scheinen  werden,  so  darf  man  nicht  vergessen, 
daß  ihnen  schon  damals  nicht  das  Amt  zufiel,  eine  Überzeugung  erst 
hervorzurufen.  Was  man  zu  glauben  hatte,  stand  schon  von  vornherein 
fest.  Der  eigentlich  wirkende  Überzeugungsgrund  war  das  Wort  Gottes, 
das,  wie  man  annahm,  den  Zins  verdammt  hatte.  Die  Vernunftgründe, 
die  man  in  derselben  Richtung  ausfindig  zu  machen  wußte,  waren  nicht 
viel  mehr  als  eine  wünschenswerte  Verbrämung  jenes  Hauptgrundes,  die, 
weil  sie  nicht  die  Hauptlast  der  Überzeugung  zu  tragen  hatte,  auch  leichteren 
Schlages  sein  durfte  2). 

Ich  will  jene  Vernunftgründe,  die  für  uns,  Interesse  haben  können, 
in  folgendem  in  gedrängter  Kürze  hervorheben,  und  mit  ein  paar  Zitaten 
aus  solchen  Schriftstellern  belegen,  die  ihnen  einen  deutlichen  und  wirk- 
samen Ausdruck  gegeben  haben. 

Vor  allem  begegnen  wir  wieder  dem  Aristotelischen  Beweisgrund  von 
der  Unfruchtbarkeit  des  Geldes;  nur  daß  bei  den  Kanonisten  die  dogmatisch 
wichtige*  Pointe,  daß  der  Zins  ein  Schmarotzen  vom  Erträgnis  fremden 
Fleißes  sei,  schärfer  herausgekehrt  wird.  So  Gonzalez  Tellez  ):„...  So- 
dann deshalb,  weil  das  Geld  kein  Geld  gebiert;  darum  ist  es  wider  die 
Natur,  etwas  über  die  Darlehenssumme  hinaus  zu  nehmen;  und  man 
könnte  richtiger  sagen,  daß  es  vom  Fleiße  genommen  werde 
als  vom  Gelde,  das  ja  nicht  zeugt,  wie  schon  Aristoteles  berichtet .  .  ." 
Und  mit  einer  noch  deutlicheren  Wendung  Covasrüvias*):  „Der  vierte 

aliud  unde  vivam.  Hoc  mihi  et  latro  diceret,  deprehensus  in  fauce:  hoc  et  effractor 
diceret  ...  et  leno  ...  et  maleficus."  Derselbe  (zitiert  im  Decret.  Grat.  c.  1  Causa 
XIV  qu.  III):  „.  .  .  si  plus  quam  dedisti  exspectas  accipere  foenerator  es, 
et  "in  hoc  improbandus,  non  laudandus." 

')  MoLiNAEUS  erwähnt  in  einem  im  Jahre  1546  erschienenen  Werke  einen  Schrift- 
steller, der  unlängst  nicht  weniger  als  25  ( !)  Argumente  gegen  den  Zins  aufgehäuft  habe 
(Tract.  contract.  Nr.  528). 

')  Vgl.  Endemann,  Grundsätze  S.  12,  18. 

*)  Commentaria  perpetua  in  singulos  textus  quinque  librorum  Decretalium 
Gregorii  IX.  Tom.  V.  cap.  3  de  usuris  V.  19  Nr.  7. 

*)  Variarum  resolutionum  liber  III.  Cap.  I.  Nr.  5. 


Die  kanonistische  Lehre.  17 

Grund ...  ist  der,  daß  das  Geld  aus  sich  keine  Früchte  bringt,  noch 
gebiert:  deshalb  ist  es  unerlaubt  und  unbülig,  etwas  über  die  dargeliehene 
Sache  hinaus  für  den  Gebrauch  derselben  zu  nehmen,  da  dies  nicht  so 
sehr  vom  Gelde  genommen  würde,  das  ja  keine  Früchte  bringt,  als  viel- 
mehr vom  fremden  Fleiße." 

Einen  zweiten  „naturrechtlichen"  Beweisgrund  gab  die  Consump- 
tibilität  des  Geldes  und  anderweitiger  Darlehensgüter  ab.  Dieser  Beweis- 
grund wird  schon  von  Thomas  von  Aqdin  mit  großer  Gründlichkeit 
durchgeführt.  Er  führt  aus,  daß  es  gewisse  Dinge  gibt,  deren  Gebrauch 
im  Verbrauch  der  Sachen  selbst  besteht,  wie  z.  B.  Getreide  und  Wein. 
An  solchen  Dingen  kann  man  deshalb  den  Gebrauch  von  der  Sache  selbst 
nicht  trennen,  und  wenn  man  jemandem  ihren  Gebrauch  übertragen  will, 
muß  man  ihm  notwendigerweise  die  Sache  selbst  übertragen.  Eben  darum 
wird  auch  bei  Verleihung  solcher  Sachen  jedesmal  das  Eigentum  an  den- 
selben übertragen.  Es  wäre  nun  offenbar  ungerecht,  wenn  jemand  den 
Wein  verkaufen  wollte,  und  abgesondert  davon  auch  noch  den  Gebrauch 
des  Weines:  er  würde  damit  entweder  dieselbe  Sache  zweimal  verkaufen, 
oder  er  würde  etwas  verkaufen,  was  gar  nicht  existiert.  Ganz  ebenso 
ungerecht  ist  es,  wenn  man  derlei  Dinge  verzinslich  verleiht.  Auch  hier 
begehrt  man  für  eine  Sache  zwei  Preise:  die  Rückerstattung  einer  gleichen 
Sache,  und  den  Gebrauchspreis,  den  man  Zins  (usura)  nennt.  Da  nun 
auch  der  Gebrauch  des  Geldes  in  seinem  Verbrauche  oder  in  seiner  Ver- 
ausgabung liegt,  so  ist  es  aus  denselben  Gründen  an  sich  unerlaubt,  für 
den  Gebrauch  des  Geldes  einen  Preis  zu  heischen^).  —  Im  Sinne  dieser 
Argumentation  erscheint  also  der  Zins  als  ein  Preis,  erschlichen  oder 
erpreßt  für  eine  in  Wahrheit  gar  nicht  existierende  Sache,  den  selbständigen 
„Gebrauch"  verbrauchlicher  Güter. 

Zu  einem  ähnlichen  Resultat  kommt  ein  dritter  stereotyp  wieder- 
kehrender Beweisgang.  Da  das  Darlehensgut  in  das  Eigentum  des 
Schuldners  übergeht,  so  ist  der  Gebrauch  desselben,  für  den  der  Gläubiger 
sich  den  Zins  bezahlen  läßt,  der  Gebrauch  einer  fremden  Sache,  aus  dem 
er  nicht  ohne  Ungerechtigkeit  Gewinn  ziehen  kann.  So  Gonzalez  Tellez 
1.  c:  „Denn  der  Gläubiger,  der  einen  Gewinn  aus  der  fremden  Sache 
zieht,  bereichert  sich  mit  dem  Schaden  eines  Andern."  Und  noch  schärfer 
Vaconius  a  Vacuna^):  „Wer  daher  aus  jenem  Gelde  eine  Frucht  nimmt, 


')  Summa  totius  theologiae,  II,  2.  quaest.  78  art.  1.  Ganz  ähnlich  Covarruvias 
1.  c:  „. .  . .  accipere  lucrum  aliquod  pro  usu  ipsius  rei,  et  demum  rem  ipsam,  iniquum 
est  et  prava  commutatio,  cum  id  quod  non  est  pretio  vendatur  .  .  .  aut  enim  cre- 
ditor  capit  lucrum  istud  pro  sorte,  ergo  bis  capit  ejus  aestimationem,  vel  capit  injustum 
sortis  valorem.  Si  pro  usu  rei,  is  non  potest  seorsum  a  sorte  aestimari,  et  sie  bis  sors 
ipsa  venditur." 

•)  Lib.  I.  nov.  declar.,  jus  civ.  14;  zitiert  in  Böhmers  Jus  eccles.  Prot.  Halae 
1736  S.  340. 

Böhm   Bawerk,  Eapitalzins.  4.  Anfl.  2 


18         II.  Die  antik-philosoph.  u.  kanonistische  Gegnerschaft  des  Leihzinses. 

seien  es  Geldstücke  oder  etwas  anderes,  nimmt  von  einer  Sache, 
die  nicht  ihm  gehört,  und  es  ist  daher  gerade  so,  als  ob  er 
sie  stehlen  würde." 

Ein  recht  seltsames  Argument  endlich,  das,  wie  ich  glaube,  Thomas 
VON  Aquin  zuerst  dem  kanonistischen  Argumentenschatz  einverleibt  hat, 
sieht  den  Zins  als  den  gleißn'erisch  erschlichenen  Kaufpreis  für  ein  Gemein- 
gut aller,  für  die  Zeit  an.  Die  Zinswucherer,  die  um  den  Betrag  des  Zinses 
mehr  empfangen  als  sie  hingegeben  haben,  suchen  nach  einem  Vorwand, 
um  das  abgeschlossene  Geschäft  dennoch  als  ein  billiges  erscheinen  zu 
lassen.  Diesen  Vorwand  bietet  ihnen  die  Zeit.  Sie  wollen  nämlich  die 
Zeit  als  die  Gegengabe  angesehen  wissen,  für  welche  sie  die  im  Zinse 
liegende  Mehreinnahme  empfangen.  Diese  ihre  Absicht  geht  daraus  hervor, 
daß  sie  ja  die  Zinsforderung  erhöhen  oder  verringern,  je  nachdem  die 
Zeit,  für  welche  ein  Darlehen  gegeben  wird,  verlängert  oder  verkürzt  wird. 
Die  Zeit  ist  aber  ein  Gemeingut,  das  keinem  besonders  zugehört,  sondern 
von  Gott  allen  gleichmäßig  gegeben  wird.  Indem  daher  der  Zinswucherer 
die  Zeit  als  Preis  für  ein  empfangenes  Gut  bezahlen  will,  übt  er  einen  Betrug 
am  Nächsten,  dem  die  verkaufte  Zeit  ebensogut  gehört  als  ihm  selbst, 
und  an  Gott,  für  dessen  freies  Geschenk  er  einen  Preis  fordert^). 


Resumiren  wir:  den  Kanonisten  gilt  der  Darlehenszins  durchaus  als 
ein  Einkommen,  das  der  Zinsgläubiger  betrüglich  oder  erpresserisch  aus 
den  Hilfsquellen  des  Schuldners  zieht.     Er  läßt  sich  im  Zinse  Früchte 

')  Thomas  von  Aquin,  im  Schriftchen  „De  usuris"  I.  pars.  cap.  4;  die  Echtheit 
dieses  Schriftchens  wird  indes  neuerdings  angezweifelt.  —  Ich.  entnehme  einer  sehr  inter- 
essanten dogmengeschichtlichen  Notiz,  die  der  Wiener  Theologe  Prälat  Dr.  Franz  M. 
Schindler  in  einem  Aufsatz  ,,Über  das  Kapitalzinsproblem"  in  der  Zeitschrift  „Die 
Kultur",  Jahrgang  1903  8.  Heft  S.  594ff.  veröffentlicht  hat,  daß  dieses  Argument  des 
h.  Thomas  schon  innerhalb  der  juristisch-theologischen  Literatur  des  16.  und  17.  Jahr- 
hunderts selbst  viel  diskutiert  und  auch  mehrfach  bekämpft  wurde,  und  daß  im  Munde 
der  Gegner  (unter  anderen  des  hervorragenden  Erzbischofs  Caramuel  f  1682)  schon 
damals  die  Formel  auftauchte,  daß  gegenwärtiges  Geld  wertvoller  sei  als  zukünftiges. 
Als  Gründe  für  diese  Behauptung  wurden  nach  Schindler  a.  a.  0.  S.  604  von  ihren 
Verteidigern  geltend  gemacht,  „daß  man  mit  Gegenwartsgeld  im  laufenden  und  folgenden 
Jahre,  mit  nächstjährigem  Zukunftsgeld  aber  nur  in  diesem  nächsten  Jahre  Gewinn 
machen  könne  und  daß  das  Schuldgeld  größere  Gefahr  habe  als  Bargeld."  Diese  bei- 
gegebene Begründung  scheint  mir  allerdings  den  zinstheoretischen  Wert  jener  Formel 
sehr  wesentlich  herabzusetzen.  Denn  das  Risiko  kann  wohl  eine  Risikoprämie,  aber 
keinen  echten  Kapitalzins  begründen,  und  der  Hinweis  auf  den  größeren  Zwischen- 
gewinn, den  man  mit  einer  früher  verfügbaren  Geldsumme  machen  kann,  setzt  die 
Möglichkeit  eines  solchen  Zwischengewinnes,  also  eines  ursprünglichen  Kapitalzinses, 
als  Tatsache  schon  voraus,  ohne  ihn  irgendwie  zu  erklären.  Mir  scheint  daher  diese 
Episode  im  kanonistischen  Zinsstreit  weit  mehr  innere  Verwandtschaft  mit  den  im 
folgenden  Abschnitt  zu  besprechenden  Anschauungen  von  Salmasius  und  seinen  Ge* 
nossen,  als  mit  der  modernen  „Agiotheorie"  zu  besitzen,  mit  der  sie  Schindler  in  Ver- 
bindung bringt. 


Die  kanonistische  Lehre.  19 

bezahlen,  die  das  unfruchtbare  Geld  nicht  bringen  kann;  er  verkauft 
einen  „Gebrauch",  der  nicht  existiert;  oder  einen  Gebrauch,  der  dem 
Schuldner  ohnehin  schon  gehört;  er  verkauft  endlich  die  Zeit,  die  dem 
Schuldner  so  gut  wie  dem  Gläubiger  und  allen  Menschen  gehört.  Kurz, 
wie  man  die  Sache  auch  wendet,  immer  erscheint  der  Zins  als  ein  Schma- 
rotzergewinn,  abgepreßt  oder  abgelistet  dem  übervorteilten  Schuldner. 

Den  aus  der  Verleihung  dauerbarer  Güter,  z.  B.  von  Häusern, 
Möbeln  usw.,  fließenden  Kapitalzins  traf  dieses  Urteil  nicht  mit.  Ebenso- 
wenig den  durch  Eigenbewirtschaftung  erzielten  ursprünglichen  Kapital- 
gewinn. Daß  der  letztere  ein  vom  Arbeitsverdienst  des  Unternehmers 
verschiedenes  Einkommen  sei,  fiel,  zumal  zu  Anfang  der  Periode,  noch 
wenig  auf,  und  auch  insofern  es  auffiel,  machte  man  sich  darüber  wenig 
Gedanken.  Jedenfalls  wurde  diese  Gattung  des  Kapitalgewinnes  nicht 
prinzipiell  verworfen.  So  bedauert  z.  B.  der  Kanonist  Zabarella^)  die 
Existenz  des  Leihzinses  unter  anderen  auch  deshalb,  weil  die  Landwirte, 
den  „sicheren  Gewinn"  aufsuchend,  verleitet  würden,  ihr  Geld  lieber  auf 
Zinsen,  als  auf  die  Produktion  auszulegen,  wodurch  die  Ernährung  des 
Volkes  leiden  würde:  ein  Gedankengang,  der  offenbar  nichts  Anstößiges 
daran  findet,  Kapital  im  Landbau  zu  investieren  und  daraus  einen  Gewinn 
zu  ziehen.  Ja  man  forderte  nicht  einmal,  daß  der  Eigentümer  des  Kapitales 
dieses  persönlich  bewirtschafte,  wenn  er  nur  das  Eigentum  daran  nicht 
aus  der  Hand  gegeben  hatte.  So  wurde  der  Kapitalgewinn  aus  einer  nur 
in  Geld  bestehenden  Sozietätseinlage  wenigstens  nicht  verboten  2);  und 
der  Fall,  in  welchem  jemand  einem  Andern  eine  Geldsumme  anvertraut, 
aber  das  Eigentum  daran  zurückbehält,  wird  vom  strengen  Thomas  von 
Aqüin  dahin  entschieden,  daß  jener  den  aus  der  Geldsumme  fließenden 
Gewinn  unbedenklich  sich  zueignen  könne.  Es  fehle  ihm  nicht  an  einem 
gerechten  Titel  dazu,  „weil  er  gleichsam  die  Frucht  der  eigenen  Sache 
empfange";  freilich  nicht,  wie  der  hl.  Thomas  vorsichtig  hinzusetzt,  eine 
unmittelbar  aus  den  Münzen  stammende  Frucht,  wohl  aber  eine  Frucht, 
die  aus  jenen  Sachen  stammt,  die  man  in  gerechtem  Tausche  für  die 
Münzen  erworben  hat"). 

Wo,  wie  es  nicht  selten  vorkommt,  trotzdem  auf  selbst  erwirtschafteten 
Kapitalgewinn  ein  Tadel  fällt,  gilt  dieser  nicht  so  sehr  dem  Kapital- 
gewinn als  solchem,  als  der  anstößigen  konkreten  Weise  seiner  Elrwirt- 
schaftung,  z.  B.  durch  allzu  gewinnsüchtig  oder  gar  betrügerisch 
betriebenen  Handel,  oder  durch  verpönten  Geldhandel  u.  dgl. 

')  „Secundo  (nsura  est  prohibita)  ex  fame,  nam  laborantes  rustici  praedia  colentes 
libentius  ponerent  pecuniam  ad  usuras,  quam  in  laboratione,  cum  sit  tutius  lucrum, 
et  sie  non  curarent  homines  seminare  seu  metere."  Siehe  Endemann,  National-öko- 
nomische Grundsätze  S.  20. 

»)  Endemann,  Studien  I.  S.  361. 

')  De  usuris  II.  pars  cap.  IV.  qu.  1. 


m. 

Die  Yerteidiger  des  Leihzinses  vom  16.  bis  ins  18.  Jahrh. 
Der  Niedergang  der  kanonistischen  Lehre. 

Die  kanonistische  Zinsdoktrin  hatte  den  Höhepunkt  äußeren  An- 
sehens etwa  seit  dem  13.  Jahrhundert  erreicht.  Ihre  Prinzipien  beherrschten 
jetzt  unbestritten  die  Gesetzgebung;  nicht  allein  die  geistliche,  sondern 
auch  die  weltliche.  Ein  Papst  Clemens  V.  konnte  im  Anfange  des  14.  Jahr- 
hunderts so  weit  gehen,  daß  er  auf  dem  Konzil  zu  Vienne  (1311)  weltliche 
Obrigkeiten,  welche  zinsfreundliche  Gesetze  erlassen  oder  die  erlassenen 
nicht  binnen  drei  Monaten  wieder  aufheben,  mit  der  Exkommunikation 
bedrohte^).  Die  von  der  kanonistischen  Lehre  inspirierten  Gesetze  be- 
gnügten sich  ferner  nicht,  dem  Zins  in  seiner  nackten,  unverhüllten  Gestalt 
entgegenzutreten,  sondern  hatten  unter  reichem  Aufwand  an  scharfsinniger 
Kasuistik  auch  Anstalt  getroffen,  ihn  auf  vielen,  freilich  nicht  auf  allen 
den  Schleichwegen  zu  verfolgen,  die  man  zur  Umgehung  des  Zinsverbotes 
einschlagen  konnte'^).  Nicht  minder  als  die  Gesetzgebung  beherrschte 
jene  Lehre  endlich  auch  die  Literatur,  in  der  sich  jahrhundertelang  keine 
Spur  einer  prinzipiellen  Opposition  zu  regen  wagte.    • 

Nur  einen  Gegner  hatte  sie  nie  ganz  unterzubeugen  vermocht:  die 
volkswirtschaftliche  Praxis.  Trotz  aller  himmlischen  und  irdischen  Strafen, 
die  darauf  gesetzt  waren,  dauerte  in  der  Praxis  das  Zinsnehmen  fort,  teils 
unverhüllt,  teils  in  mannigfachen  Verkleidungen,  die  der  erfinderische 
Geist  der  Geschäftsleute  ersonnen  hatte,  um  in  ihnen,  aller  Kasuistik  der 
zinsfeindlichen  Gesetze  zum  Trotz,  durch  die  Maschen  der  letzteren  hin- 
durch zu  schlüpfen.  Und  je  blühender  der  Zustand  der  Wirtschaft  in 
einem  Lande  war,  desto  stärker  reagierte  die  Praxis  gegen  die  noch  allein 
herrschende  Theorie. 

Der  Sieg  in  diesem  Kampfe  blieb  dem  zäheren  Teile,  und  das  war 
hier  die  um  ihre  Lebensinteressen  ringende  Praxis. 

Einen  ersten  Erfolg,  der  äußerlich  wenig  pompös,  sachlich  aber  von 
großer  Bedeutung  war,  wußte  sie  bereits  zu  einer  Zeit  zu  erzielen,  in  der 

*)  Clem.  c.  un.  de  usuris,  5,  5. 

•)  Vgl.  Endemann,  Grundsätze  S.  9ff.,  21ff. 


Die  Praxis.  21 

die  kanonistische  Doktrin  noch  auf  dem  Gipfel  äußeren  Ansehens  stand. 
Zu  schwach,  um  schon  einen  offenen  Kampf  gegen  das  Prinzip  der  Zins- 
losigkeit  zu  wagen,  wußte  sie  wenigstens  zu  verhindern,  daß  es  von  der 
Gesetzgebung  in  alle  seine  praktischen  Konsequenzen  verfolgt  würde, 
und  setzte  eine  Reihe  teils  direkter,  teils  indirekter  Ausnahmen  vom  Zins- 
verbote durch. 

Als  direkte  Ausnahmen  können  wir  unter  anderem  die  Privilegien 
der  Montes  pietatis,  die  Duldung  der  Geschäftsführung  sonstiger  Banken, 
und  die  sehr  ausgedehnte  Nachsicht  betrachten,  die  man  gegenüber  der 
Wucherpraxis  der  Juden  übte;  eine  Nachsicht,  die  hier  und  da,  von  der 
weltlichen  Gesetzgebung  wenigstens,  bis  zu  einer  förmlichen  Gestattung 
des  Zinsennehmens  ausgedehnt  wurde  ^). 

Indirekte  Ausnahmen  eröffneten  sich  durch  die  Benützung  des  In- 
stituts des  Rentenkaufs,  der  Satzung,  der  Wechselgeschäfte,  der  Sozietäts- 
verhältnisse,  namentlich  aber  durch  die  Möglichkeit,  sich  das  „Interesse" 
an  der  verspäteten  Zahlung,  das  damnum  emergens  und  lucrum  cessans, 
vom  Schuldner  vergüten  zu  lassen.  An  sich  hätte  der  Gläubiger  einen 
Anspruch  auf  Vergütung  des  Interesse  freilich  nur  für  den  Fall  eines  ver- 
schuldeten Saumsais  in  der  Erfüllung  der  Vertragsverbindlichkeiten,  einer 
mora  des  Schuldners  gehabt;  und  das  Vorhandensein  und  die  Größe  eines 
Interesse  hätte  von  Fall  zu  Fall  erst  nachgewiesen  werden  müssen.  Aber 
hier  ließ  sich,  freilich  unter  dem  Protest  der  rigoroseren  Kanonisten,  durch 
ein  paar  Vertragsklauseln  nachhelfen.  Mittelst  einer  Klausel  stimmte  der 
Schuldner  im  voraus  zu,  daß  der  Nachweis  seiner  mora  dem  Gläulfiger 
erlassen  sein  soUe;  und  mittelst  einer  anderen  Klausel  einigte  man  sich  im 
voraus  über  eine  bestimmte  Höhe,  in  der  das  Interesse  dem  Gläubiger 
vergütet  werden  sollte.  Praktisch  lief  dann  die  Sache  darauf  hinaus,  daß 
der  Gläubiger  dem  Schuldner  das  Darlehen  zwar  nominell  unverzinslich 
gab,  unter  dem  Titel  des  „Interesse"  aber  für  die  ganze  Darlehensdauer, 
für  die  der  Schuldner  künstlich  in  mora  versetzt  worden  war,  regelmäßige 
perzentuelle  Zinsen  erhielt  2). 

Solchen  praktischen  Erfolgen  kamen  endlich  auch  prinzipielle  nach. 

Aufmerksame  Beobachter  der  Menschen  und  Dinge  mußten  auf  die 
Länge  der  Zeit  doch  zweifelhaft  werden,  ob  der  stetige  und  immer  an- 
wachsende Widerstand  der  Praxis  wirklich  nur,  wie  die  Kanonisten 
meinten,  in  der  Bosheit  und  Herzenshärte  der  Menschen  ihren  Grund 
hatte.  Wer  sich  die  Mühe  nahm,  tiefer  in  die  Technik  des  Geschäftslebens 
einzudringen,  mußte  zur  Einsicht  kommen,  daß  die  Praxis  sich  den  Zins 
nicht  bloß  nicht  nehmen  lassen  wollte,  sondern  auch  nicht  nehmen  lassen 


')  Die  viel  verbreitete  Meinung,  daß  die  Juden  überhaupt  von  dem  kirchlichen 
Wucherverbote  eximiert  gewesen  seien,  ist  nach  der  neuesten  ausführlichen  Darstellung 
Ekdemanns  (Studien  II.  S.  383 ff.)  irrig. 

»)  Vgl.  Endemann,  Studien  II.  S.  243ff.,  S.  366ff. 


22  ni.  Verteidiger  des  Leihzinses  bis  ins  18.  Jahrhundert  usw. 

konnte;  daß  der  Zins  die  Seele  des  Kredites  ist;  daß,  wo  dieser  in  einiger- 
maßen beträchtlichem  Umfang  bestehen  soll,  jener  nicht  verwehrt  werden 
darf;  daß  den  Zins  unterdrücken  auch  wenigstens  neun  Zehntel  der  Kredit- 
geschäfte unterdrücken  heißt;  daß  mit  einem  Worte  der  Zins  in  jeder 
halbwegs  entwickelten  Volkswirtschaft  eine  organische  Notwendigkeit  ist. 
Es  konnte  nicht  fehlen,  daß  solche  Erkenntnisse,  die  bei  den  Praktikern 
längst  zu  Hause  waren,  endlich  auch  in  jene  Kreise  eindrangen,  welche 
die  Feder  führten. 

Die  Wirkung,  welche  sie  hier  ausübten,  war  eine  verschiedene. 

Ein  Teil  ließ  sich  in  seiner  theoretischen  Überzeugung,  daß  der  Leih- 
zins ein  Schmarotzergewinn  und  vor  einem  strengen  Richter  nicht  zu 
verteidigen  sei,  nicht  erschüttern,  verstand  sich  abe!r  zu  einem  praktischen 
Kompromiß  mit  der  UnvoUkommenheit  der  Menschen,  der  man  die  Schuld 
an  der  Unausrottbarkeit  des  Zinses  gab.  Vor  dem  Standpunkt  einer  idealen 
Weltordnung  könne  der  Zins  freilich  nicht  bestehen;  allein,  da  die  Menschen 
einmal  so  unvollkommen  sind,  lasse  er  sich  füglich  nicht  ausrotten,  und 
so  sei  es  besser,  ihn  innerhalb  gewisser  Schranken  zu  dulden.  Das  ist  der 
Standpunkt,  auf  den  sich  unter  anderen  einige  der  großen  Reformatoren 
stellen:  so  Zwingli^),  so  Luther  in  seinen  späteren  Lebensjahren,  während 
er  früher  ein  schonungsloser  Gegner  des  Zinswuchers  gewesen  war^);  und, 
mit  noch  größerer  Zurückhaltung,  Melanchthon^). 

Daß  so  einflußreiche  Männer  sich  für  die  Toleranz  in  der  Zinsfrage 
erklärten,  übte  natürlich  auf  die  Gestaltung  der  öffentlichen  Meinung,  und 
damit  indirekt  auch  auf  die  spätere  Rechtsentwicklung  einen  wichtigen 
Einfluß  aus.  Da  sie  sich  aber  in  ihrem  Auftreten  nicht  durch  prinzipielle, 
sondern  ausschließlich  durch  opportunistische  Motive  leiten  ließen,  kommt 
ihrer  Richtung  keine  tiefere  dogmengeschichtliche  Bedeutung  zu,  und  ich 
gehe  nicht  weiter  auf  sie  ein. 

Ein  anderer  Teil  denkender  und  beobachtender  Männer  ging  aber 
weiter.  Durch  die  Erfahrung  von  der  Notwendigkeit  des  Leihzinses  über- 
wiesen, begannen  sie  auch  die  theoretischen  Grundlagen  des  Zinsverbotes 
zu  revidieren,  fanden  sie  nicht  stichhaltig,  und  eröffneten  eine  prinzipielle 
literarische  Opposition  gegen  die  kanonistische  Lehre. 

Diese  Opposition  beginnt  gegen  die  Mitte  des  16.  Jahrhunderts, 
schwillt  im  Laufe  des  17.  rasch  und  mächtig  an,  und  erlangt  bis  zum 
Schlüsse  desselben  so  entschieden  das  Übergewicht,  daß  sie  im  Laufe 
des  18.  nur  mehr  mit  vereinzelten  Nachzüglern  der  kanonistischen  Doktrin 
zu  kämpfen  hat;  wer  diese  aber  noch  nach  dem  Ende  des  18.  Jahrhunderts 


1)  WiSKEMANN,  Darstellung  der  in  Deutschland  zur  Zeit  der  Reformation  herr- 
schenden national-ökonomischen  Ansichten,  Preisschriften  der  JABLONOwsKischen 
Gesellschaft,  Bd.  X  S.  71. 

')  WiSKEMANN  a.  a.  0.  S.  54—56;  Neumann,  Geschichte  des  Wuchers  S.  480ff. 

')  WiSKEBiANN  a.  a.  0.  S.  65. 


Die  Reformatoren.    Calvin.  23 

mit  ihren  spezifischen  Argumenten  hätte  verfechten  wollen,  wäre  im  Lichte 
eines  nicht  ernst  zu  nehmenden  Sonderlings  erschienen. 

Die  ersten  Vorkämpfer  der  neuen  Richtung  waren  der  Reformator 
Calvin  und  der  französische  Jurist  Dümoülin  (Carolüs  Molinaeüs). 

Calvin  hat  zu  unserer  Frage  in  einem  Briefe  an  seinen  Freund  Öko- 
lampadius^)  Stellung  genommen.  Er  behandelt  sie  nicht  umfangreich, 
aber  entschieden.  Er  verwirft  zunächst  die  übliche  autoritative  Begrün- 
dung des  Zinsverbotes,  indem  er  nachzuweisen  sucht,  daß  die  Schrift- 
stellen, auf  die  man  sich  für  jenes  zu  berufen  pflegte,  teils  in  anderem 
Sinn  zu  deuten  sind,  teils  wegen  der  völlig  geänderten  Verhältnisse  ihre 
Geltung  verloren  haben 2). 

Nachdem  er  so  den  Autoritätenbeweis  abgetan,  wendet  er  sich  gegen 
die  übliche  rationale  Begründung  des  Zinsverbotes.  Ihr  wichtigstes  Argu- 
ment, das  von  der  natürlichen  Unfruchtbarkeit  des  Geldes  hergeholt  ist 
(Pecunia  non  parit  pecuniam),  findet  er  „leichten  Gewichtes".  Es  steht 
mit  dem  Gelde  nicht  anders  als  mit  einem  Haus  oder  einem  Acker.  Auch 
Dach  und  Wände  eines  Hauses  sind  nicht  imstande  eigentlich  Geld  zu 
erzeugen;  aber  indem  man  den  Nutzen  der  Wohnung  gegen  Geld  ver- 
tauscht, kann  man  einen  legitimen  Gelderwerb  aus  dem  Hause  ziehen. 
Ebenso  kann  das  Geld  fruchtbar  gemacht  werden.  Indem  man  um  Geld 
ein  Grundstück  kauft,  ist  es  recht  eigentlich  das  Geld,  welches  in  den 
Einkünften  des  ersteren  andere  Geldsummen  jährlich  erzeugt.  Müßiges 
Geld  ist  freilich  unfruchtbar;  aber  müßig  läßt  es  der  Schuldner  nicht 
liegen.  Der  Schuldner  ist  darum  nicht  übervorteilt,  wenn  er  Zins  zahlen 
soU,  sondern  er  zahlt  sie  „ex  proventu",  aus  dem  Erwerb,  den  er  mit  dem 
Gelde  macht. 

Daß  die  Zinsenforderung  des  Gläubigers  im  Geiste  der  Billigkeit, 
aus  dem  Calvin  überhaupt  die  ganze  Frage  beurteilt  wissen  will,  wohl 
begründet  sein  kann,  führt  er  dann  an  einem  Beispiele  eingehend  aus. 

Ein  Reicher,  der  mit  Grundbesitz  und  Einkünften  wohl  ausgestattet 
ist,  aber  wenig  Bargeld  hat,  geht  einen  anderen,  der  weit  weniger  ver- 
möglich ist,  aber  über  einen  größeren  Barvorrat  verfügt,  um  ein  Geld- 
darlehen an:  der  Gläubiger  könnte  mit  dem  Gelde  sich  selbst  ein  Grund- 
stück kaufen;  oder  er  könnte  begehren,  daß  das  mit  seinem  Gelde  erkaufte 
Grundstück  ihm  als  Hypothek  überlassen  werde,  bis  die  Schuld  getilgt 
ist.  Wenn  er  sich  statt  dessen  mit  dem  Zinse,  der  Frucht  des  Geldes  be- 
gnügt, wie  soll  dies  verdammenswert  sein,  da  doch  jene  weit  härterer 


1)  ep.  383  in  der  Sammlung  seiner  epistolae  et  responsa,  Hannover  1597. 

*)  „Ac  primum  nuUo  testimonio  Scripturae  mihi  constat  usuras  omnino  damnatas 
esse.  lUa  enim  Christi  sententia,  quae  maxime  obvia  et  aperta  haberi  solet:  Mutuum 
date  nihil inde  sperantes,  male  huc  detorta  est . . .  Lex  vero  Mosis  politica  cum  sit, 
non  tenemur  illa  ultra  quam  aequitas  ferat  atque  humanitas.  Nostra  conjunctio 
hodie  per  omnia  non  respondet . . ." 


24  jn.  Verteidiger  des  Leihzinses  bis  ins  18.  Jahrhundert  usw. 

Kontraktfonnen  gebilligt  würden?  Das  hieße,  wie  Calvin  sich  kräftig 
ausdrückt,  ein  kindisches  Spiel  mit  Gott  treiben  wollen:  „et  quid  aliud 
est  quam  puerorum  instar  ludere  cum  Deo,  cum  de  rebus  ex  verbis  nudia, 
ac  non  ex  eo  quod  inest  in  re  ipsa  judicatur?" 

So  kommt  er  denn  zum  Schlüsse,  daß  das  Zinsnehmen  keineswegs 
ini  allgemeinen  zu  verdammen  ist.  Freilich  aber  auch  nicht  allgemein 
zu  gestatten.  Sondern  soweit  zu  gestatten,  als  es  nicht  der  Billigkeit 
und  Barmherzigkeit  widerstreitet.  Die  Ausführung  dieses  Grundsatzes 
fordert  die  Aufstellung  einer  Keihe  von  Ausnahmen,  in  denen  die  Zins- 
nahme  nicht  zu  gestatten  ist.  Die  bemerkenswertesten  sind,  daß  man 
Menschen,  die  in  dringender  Not  sind,  keine  Zinsen  abfordere;  daß  man 
auf  die  „pauperes  fratres"  gebührende  Rücksicht  nehmen;  daß  man  auf 
den  „Nutzen  des  Staates"  sehen,  und  daß  man  nie  jenes  Maß  der  Zinsen 
überschreiten  solle,  welches  die  Staatsgesetze  festgestellt  haben. 

Wie  Calvin  der  erste  Theologe,  so  ist  Molinaeüs  der  erste  Jurist, 
der  sich  aus  inneren  Gründen  gegen  das  kanonistische  Zinsenverbot  auf- 
lehnt. Beide  begegnen  sich  in  den  Gründen,  unterscheiden  sich  aber  in 
der  Manier  sie  vorzubringen,  so  weit  als  ihre  Berufe.  Calvin  geht  kurz 
und  geradezu  auf  dasjenige  los,  was  er  als  den  Kern  der  Sache  ansieht, 
ohne  sich  um  nebensächliche  Einwendungen  der  Gegner  und  ihre  Wider- 
legung zu  kümmern.  Er  schöpft  dabei  seine  Überzeugung  mehr  aus  Ein- 
drücken, als  aus  dialektischen  Beweisgängen.  Molinaeüs  dagegen  ist 
unerschöpflich  in  Distinktionen  und  Kasuistik,  und  folgt  ebenso  unermüd- 
lich den  Gegnern  in  alle  ihre  scholastischen  Wendungen  und  Windungen 
nach,  um  ihre  punktweise  formelle  Widerlegung  sorgfältig  bemüht. 
Übrigens  ist  auch  Molinaeüs,  wenngleich  im  Ausdruck  vorsichtiger  als 
der  rücksichtslose  Calvin,  voll  Freimut  und  kerniger  Geradheit. 

Molinaeüs'  einschlägige  Hauptschrift  ist  der  1546  erschienene 
Tractatus  contractuum  et  usurarum,  redituumque  pecunia  constitutorum^). 
Der  Anfang  seiner  Ausführungen  hat  —  vielleicht  zufällig  —  große  Ähnlich- 
keit mit  dem  Gedankengange  Calvins.  Nach  einigen  einleitenden  Begriffs- 
auf Stellungen  Vendet  auch  er  sich  zur  Untersuchung  des  jus  divinum  und 
findet,  daß  die  einschlägigen  Stellen  der  heiligen  Schrift  mißdeutet  werden. 
Sie  wollen  nicht  das  Zinsnehmen  überhaupt,  sondern  nur  ein  solches 
Zinsnehmen  verbieten,  durch  das  die  Barmherzigkeit  und  Nächstenliebe 
verletzt  wird.  Und  nun  bringt  er  wieder  das  schon  von  Calvin  benützte 
wirksame  Beispiel  von  dem  Reichen,  der  mit  geborgtem  Geld  einen  Ackör 
kauft  2). 

Weiterhin  wird  aber  die  Beweisführung  viel  reichhaltiger  als  bei 


*)  Vorangegangen  war  schon  (in  demselben  Jahre)  Extricatio  labyrinthi  de  eo 
quod  interest,  worin  die  Frage  des  interesse  schon  freisinnig  behandelt,  aber  in  der 
Zinsfrage  noch  nicht  offen  Partei  ergriffen  war.   Vgl.  Endemann,  Studien  I.   S.  63. 

8)  Traktatus  Nr.  10. 


Molinaeus.  25 

Calvin.  Er  weist  (Nr.  75)  eingehend  nach,  daß  fast  bei  jedem  Darlehen 
ein  „interesse"  des  Gläubigers  ins  Spiel  komme,  ein  verursachter  Schaden 
oder  ein  versäumter  Nutzen,  dessen  Vergütung  gerecht  und  wirtschaftlich 
notwendig  sei;  diese  Vergütung  sei  eben  der  „Zins",  die  „usura"  im  rechten 
und  eigentlichen  Sinn  des  Wortes.  Daß  die  Justinianeischen  Gesetze  den 
Zins  billigen  und  nur  sein  Maß  begrenzen,  ist  daher  nicht  allein  nicht 
ungerecht,  sondern  sogar  im  eigenen  Interesse  der  Schuldner,  die  jetzt 
für  mäßige  Zinsen  die  Gelegenheit  zu  einem  größeren  Gewinne  sich  ver- 
schaffen können  (Nr.  76). 

Später  (Nr.  528  ff.)  läßt  Molinaeus  die  Hauptgründe  der  Kanonisten 
gegen  das  Zinsnehmen  Revue  passieren  und  begleitet  sie  mit  eingehenden 
Widerlegungen, 

Gegen  den  alten  Einwand  des  Thomas  von  Aquin,  daß  der  Gläubiger, 
der  Zins  nimmt,  entweder  dasselbe  zweimal,  oder  etwas  verkauft,  das  gar 
nicht  existiert  (siehe  oben  S.  17),  führt  Molinaeus  aus,  daß  der  Gebrauch 
des  Geldes  einen  selbständigen  Nutzen  gebe  neben  dem  Geldkapitale, 
und  daher  auch  selbständig  verkauft  werden  dürfe.  Man  dürfe  eben  nicht 
bloß  die  erste  augenblickliche  Verausgabung  des  Geldes  als  dessen  Gebrauch 
ansehen;  sondern  dieser  bestehe  auch  in  dem  darauffolgenden  Gebrauch 
jener  Güter,  die  man  vermittelst  des  geliehenen  Geldes  erworben  oder  in 
seinem  Vermögen  erhalten  hat  (Nr.  510  und  530).  Wenn  ferner  behauptet 
wurde,  daß  mit  dem  Gelde  selbst  auch  der  Gebrauch  desselben  in  das 
juristische  Eigentum  des  Schuldners  übergegangen  sei,  und  diesem  daher 
für  den  Zins  seine  eigene  Sache  verkauft  werde,  so  wirft  Molinaeus 
(Nr.  530)  ein,  daß  man  auch  eine  fremde  Sache  gerechterweise  dann  ver- 
kaufen könne,  wenn  sie  dem  Verkäufer  geschuldet  werde;  das  sei  aber 
eben  der  Fall  mit  dem  Gebrauch  der  geschuldeten  Geldsumme:  „usus 
pecuniae  mihi  pure  a  te  debitae  est  mihi  pure  a  te  debitus,  ergo  vel  tibi 
vendere  possum."  Auf  den  Beweisgrund  der  natürlichen  Unfruchtbarkeit 
des  Geldes  endlich  erwidert  Molinaeus  (Nr.  530),  die  tägliche  Erfahrung 
des  Geschäftslebens  zeige,  daß  der  Gebrauch  einer  beträchtlichen  Geld- 
summe einen  nicht  geringen  Nutzen  abwerfe,  der  in  der  Rechtssprache 
auch  als  „Frucht"  des  Geldes  bezeichnet  werde.  Daß  das  Geld  für  sich 
allein  keine  Früchte  hervorbringen  könne,  das  habe  nichts  zu  sagen:  denn 
auch  ein  Acker  bringt  nichts  hervor  durch  sich  allein,  ohne  Aufwand, 
Anstrengung  und  Fleiß  des  Menschen.  Ganz  ebenso  aber  bringt  das  Geld, 
unterstützt  von  der  Bemühung  der  Menschen,  ansehnliche  Frucht.  — 
Der  Rest  der  Polemik  gegen  die  Kanonisten  hat  wenig  dogmatisches 
Interesse. 

Auf  solche  allseitige  Betrachtung  des  Gegenstandes  gestützt,  pro- 
klamiert endlich  Molinaeus  (Nr.  535)  formell  seine  These:  „Erstlich 
sei  es  notwendig  und  nützlich,  daß  ein  gewisser  Gebrauch 
des  Zinsnehmens  beibehalten  und  geduldet  werde  .  .  ."     Die 


26  III-  Verteidiger  des  Leihzinses  bis  ins  18.  Jahrhundert  usw. 

entgegengesetzte  Meinung,  daß  der  Zins  an  sich  unbedingt  verwerflich 
sei,  ist  töricht,  verderblich  und  abergläubisch  (stulta  illa  et  non  minus 
perniciosa  quam  superstitiosa  opinio  de  usura  de  se  absolute  mala,  Nr.  534). 

Durch  solche  Worte  hatte  sich  Molinaeüs  in  den  schroffsten  Gegen- 
satz zur  kirchlichen  Lehre  gesetzt.  Um  denselben  einigermaßen  zu  mildem, 
was  für  einen  Katholiken  schon  aus  äußeren  Kücksichten  dringend  geboten 
sein  mochte,  ließ  er  sich,  ohne  indes  im  Prinzip  etwas  nachzugeben,  zu 
einigen  praktischen  Konzessionen  herbei.  Deren  wichtigste  liegt  darin, 
daß  er  aus  Opportunitätsgründen,  um  der  eingerissenen  Mißbräuche  willen, 
das  kirchliche  Verbot  des  nackten  Zinsnehmens  bei  kündbaren  Darlehen 
für  sein  Zeitalter  billigt,  und  nur  die  mildere  und  humanere  Form  des 
Rentenkaufs  aufrechterhalten  wünscht,  die  er  aber  mit  Recht  als  eine 
„wahre  Art  des  Zinsgeschäftes"  ansieht  i). 

Das  Auftreten  Calvins  und  Molinaeüs'  blieb  eine  Zeitlang  noch 
recht  vereinzelt.  Begreiflich  genug.  Um  etwas  für  gerecht  zu  erklären, 
was  Kirche,  Gesetzgebung  und  Gelehrtenwelt  aus  Einem  Munde  und  mit 
einem  aus  allen  Arsenalen  zusammengetragenen  Argumentenschatz  als 
verwerflich  verdammten,  dazu  gehörte  nicht  allein  eine  seltene  Unab- 
hängigkeit des  Verstandes,  sondern  auch  eine  ebenso  seltene  Stärke  des 
Charakters,  die  auch  Verdächtigungen  und  Verfolgungen  nicht  scheute. 
Daß  diese  nicht  ausblieben,  zeigte  das  Schicksal  der  Vorkämpfer  deutlich 
genug.  Von  Calvin  ganz  zu  schweigen,  der  ja  der  katholischen  Welt 
noch  ganz  anderes  Ärgernis  gegeben,  hatte  Molinaeüs  und  sein  Werk,  so 
maßvoll  und  vorsichtig  es  auch  geschrieben  war,  genug  zu  erdulden  gehabt. 
Er  kam  ins  Exil,  sein  Buch  auf  den  Index.  Trotzdem  machte  das  letztere 
seinen  Weg,  wurde  gelesen,  zitiert,  wieder  und  wieder  aufgelegt,  und  streute 
so  einen  Samen  aus,  der  endlich  fruchtbar  aufgehen  sollte  2). 

Aus  der  spärlichen  Zahl  der  Männer,  die  noch  im  16.  Jahrhundert 
für  die  Statthaftigkeit  des  Zinses  aus  wissenschaftlichen  Gründen  auf- 
zutreten wagten,  sind  —  abgesehen  von  den  unmittelbaren  Schülern 
Calvins,  die  natürlich  der  Anschauung  ihres  Meisters  beipflichteten  — 


>)  „Ea  taxatio  (die  mit  einer  prinzipiellen  Gestattung  des  Zinses  verbundene 
Festsetzung  eines  Zinsmaximums  im  Justinianeischen  Recht)  nunquam  in  se  fuit  iniqua. 
Sed  ut  tempore  suo  summa  et  absoluta,  ita  processu  temporis  propter  abusum  hominum 
nimis  in  quibusdam  dissoluta  et  vaga  inventa  est,  et  omnino  super  foenore  negociativo 
forma  juris  civilis  incommoda  et  perniciosa  debitoribus  apparuit.  Unde  merito  abro- 
gata  fuit,  et  alia  tutior  et  commodior  forma  inventa,  videlicet  per  abalienationem 
sortis,  servata  debitori  libera  facultate  luendi.  Et  haec  forma  nova,  ut  mitior  et  civilior, 
ita  minus  habet  de  ratione  foenoris  propter  alienationem  sortis,  quam  forma  juris  civilis. 
Est  tarnen  foenus  large  sumptum,  et  vera  species  negociationis  foenora- 
toriae  . . ."  (Nr.  536). 

*)  Vgl.  Endemann,  Studien  I.  S.  64f.  Endemann  unterschätzt  übrigens  den 
Einfluß,  den  Molinaeüs  auf  die  spätere  Entwicklung  genommen.     Siehe  unten. 


Besold.    Bacon.  27 

besonders  hervorzuheben  der  Humanist  CamerariusI),  Bornitz^),  und 
vor  allen  Besold,  der  in  seiner  1598  erschienenen  Dissertation  „Quaestionea 
aliquot  de  usuris",  mit  der  er  seine  überaus  fruchtbare  Schriftstellerlauf- 
bahn eröffnete,  ausführlich  und  geschickt  gegen  die  kanonistische  Wucher- 
lehre polemisiert  3). 

Besold  erblickt  den  Ursprung  des  Zinses  im  Institut  des  Handels- 
und Geschäftsbetriebes  (negociationis  et  mercaturae).  Denn  in  Rücksicht 
auf  diesen  ist  das  Geld  nicht  mehr  unfruchtbar.  Deshalb,  und  weil  es 
gestattet  sein  muß,  seinem  eigenen  Vorteil  nachzugehen,  soweit  es  ohne 
Unrecht  gegen  den  anderen  möglich  ist,  steht  die  natürliche  Billigkeit 
dem  Zinsnehmen  nicht  entgegen.  Wie  vor  ihm  schon  Molinaeus,  den 
er  oft  zustimmend  zitiert,  hebt  er  zugunsten  des  Zinses  die  Analogie  hervor, 
die  zwischen  dem  verzinslichen  Darlehen  und  der  entgeltlichen  Miete 
besteht.  Das  verzinsliche  Darlehen  steht  zu  dem  unverzinslichen  in  keinem 
anderen  Verhältnis,  als  die  —  vollkommen  erlaubte  —  entgeltliche  Miete 
zur  unentgeltlichen  Leihe  (commodatum).  Sehr  hübsch  sieht  er  ein,  wie 
die  Höhe  des  Leihzinses  jederzeit  mit  der  Höhe  des  ursprünglichen  Kapital- 
zinses korrespondieren  muß,  der  ja  der  Grund  und  die  Quelle  des  Leih- 
zinses ist:  er  sagt,  daß  man  an  jenen  Orten,  an  denen  man  mittels  des 
Geldgebrauches  einen  größeren  Gewinn  zu  machen  pflegt,  auch  ein  höheres 
Ausmaß  des  Leihzinses  gestatten  solle  (S.  32 f.).  Endlich  läßt  er  sich  durch 
die  als  Zinsverbote  gedeuteten  Stellen  der  heiligen  Schrift  ebensowenig 
imponieren  (S.  38ff.),  als  durch  die  Argumente  der  „Philosophen",  die 
vielmehr,  wenn  man  die  Sache  nur  vom  richtigen  Standpunkt  beti  achtet, 
als  hinfällig  erscheinen  (S.  32). 

Man  wird  aus  diesem  kurzen  Auszug  erkennen,  daß  Besold  ein  frei- 
mütiger und  geschickter  Anhänger  des  Molinaeus  ist,  aus  dem  er,  wie 
seine  zahlreichen  Zitate  beweisen,  offenbar  den  besten  Teil  seiner  Lehre 
geschöpft  hat*).  Einen  Fortschritt  über  Molinaeus  hinaus  wird  man 
dagegen  in  seinen  Ausführungen  kaum  finden  können  s). 


')  in  seinen  Noten  zu  Aristoteles'  Politik;  siehe  Rosoher,  Geschichteter  National- 
ökonomik in  Deutschland,  S.  54. 

»)  Röscher,  a,  a.  0.  S.  18ö. 

')  Besold  hat  seine  Dissertation  später,  in  vermehrter  und  verbesserter  Gestalt, 
wie  er  sagt,  in  ein  anderes  Werk  ,,Vitae  et  mortis  Consideratio  politica"  (1623)  aufge- 
nommen, in  dem  sie  das  V.  Kapitel  des  I.  Buches  ausfüllt.  Mir  stand  nur  dieses  letztere 
Werk  zu  Gebote,    auf   das  sich  auch  die  folgenden  Zitate  im  Texte  beziehen. 

*)  Ein  ausführliches  Zitat  findet  sich  schon  im  I.  Kap.  des  I.  Buches  (S.  6);  im 
V.  Kap.  sind  die  Zitate  häufig. 

*)  Ich  glaube,  daß  Röscher  (Geschichte  der  Nat.-Ök.  S.  201  A.  2)  Besold  zu  viel 
Ehre  antut,  wenn  er  in  einer  Parallele  mit  Salmasius  und  Hugo  Grotius  ihm  den 
ehrenvollen  Posten  eines  Vorgängers  zuweist,  gegen  den  Salmasius  kaum  mehr  einen 
Fortschritt  gemacht,  Grotius  sogar  zurückgeblieben  sei.  Röscher  hätte  hier  statt 
Besolds,  der  selbst  aus  zweiter  Hand  geschöpft  hat,  Molinaeus  nennen  müssen. 


28  III.  Verteidiger  des  Leihzinses  bis  ins  18.  Jahrhundert  usw. 

Noch  weniger  gilt  dies  von  dem  großen  englischen  Philosophen  Bacon, 
der  sich  fast  gleichzeitig  mit  Besold  über  das  Thema  des  Zinses  geäußert 
hat^).  Er  hat  genug  Geistesfreiheit  und  Verständnis  für  die  Bedürfnisse 
des  Wirtschaftslebens,  um  unbeirrt  durch  die  alten  Bedenken  über  die 
„Unnatur"  des  Zinsnehmens  dessen  Vor-  und  Nachteile  unparteiisch 
gegeneinander  abzuwägen  und  den  Zins  für  eine  wirtschaftliche  Not- 
wendigkeit zu  erklären;  aber  es  ist  doch  nur  eine  opportunistische  Duldung, 
die  er  ihm  entgegenbringt:  „Da  einmal  die  Menschen  notwendigerweise 
Geld  zu  Darlehen  geben  und  nehmen  müssen;  und  da  sie  so  harten  Herzens 
sind  (sintque  tam  duro  corde),  daß  sie  es  nicht  umsonst  ausleihen  wollen: 
so  erübrigt  nichts,  als  daß  man  Zinsen  gestattet." 

Eine  ungleich  ergiebigere  Förderung  erfuhr  die  neue  Lehre  im  Laufe 
des  17.  Jahrhunderts,  und  zwar  zunächst  auf  niederländischem  Boden. 
Hier  waren  die  Bedingungen  für  einen  Fortschritt  der  Theorie  besonders 
günstig.  In  den  politischen  und  religiösen  Wirren,  unter  denen  der  junge 
Freistaat  geboren  wurde,  hatte  man  sattsam  gelernt  sich  von  den  Fesseln 
sklavischer  Autoritätenfolge  zu  emanzipieren.  Dazu  kam,  daß  die  alternde 
Theorie  der  Kirchenväter  und  Scholastiker  mit  den  Bedürfnissen  der 
Wirklichkeit  nirgends  greller  kontrastierte  als  hier,  wo  die  hochentwickelte 
Volkswirtschaft  sich  ein  ausgebildetes  Kredit-  und  Bankwesen  geschaffen 
hatte,  wo  infolgedessen  der  Zinsenverkehr  in  allgemeiner,  regelmäßiger 
Übung  stand,  und  überdies  die  weltliche  Gesetzgebung,  dem  Druck  der 
Praxis  nachgebend,  die  Zinsnahme  längst  zugestanden  hatte'').  Unter 
solchen  Verhältnissen  war  der  Fortbestand  einer  Theorie,  die  den  Zins 
gleichwohl  für  eine  gottlose  Übertölpelung  des  Schuldners  erklärte,  eine 
Unnatur,  der  unfehlbar  ein  baldiges  Ende  drohte. 

Als  Vorbote  des  Umschwungs  kann  Hugo  Grotiüs  gelten.  Er  nimmt 
zu  unserer  Frage  eine  eigentümliche  Zwitterstellung  ein.  Auf  der  einen 
Seite  erkennt  er  bereits  klar,  daß  die  dogmatische  „naturrechtliche"  Be- 
gründung des  Zinsenverbotes,  wie  sie  von  den  Kanonisten  gehandhabt 
wurde,  unhaltbar  ist.  Er  läßt  den  Grund  von  der  natürlichen  Unfrucht- 
barkeit des  Geldes  nicht  gelten;  denn  „auch  Häuser  und  andere  von  Natur 
unfruchtbare  Dinge  hat  die  Kunst  der  Menschen  fruchtbringend  gemacht"; 
auch  auf  das  Argument,  daß  der  Gebrauch  des  Geldes,  da  er  in  dessen 
Verbrauch  bestehe,  sich  vom  Gelde  selbst  nicht  scheiden  lasse  und  daher 
auch  nicht  selbständig  zu  vergüten  sei,  findet  er  eine  geschickte  Ent- 
gegnung und  überhaupt  scheinen  ihm  die  Gründe,  die  den  Zins  als  wider 
das  Naturrecht  gehend  darstellen  sollen,  nicht  derart  zu  sein,  daß  sie  „die 
Zustimmung  erzwingen  könnten"  („non  talia  ut  assensum  extorqueant"). 

Besold  ist  nicht  origineller,  und  sicherlich  viel  weniger  gewandt  und  geistvoll  als 
Salmasius. 

1)  Sermones  fideles  Cap.  XXXIX  (1597). 

*)  Vgl.  Grotius  de  iure  pacis  ac  belli  Lib.  II.  Cap.  XII,  22. 


Die  Niederländer.    Hugo  Grotius.  29 

Allein  auf  der  anderen  Seite  hält  er  die  den  Zins  verbietenden  Stellen  der 
heiligen  Schrift  doch  zweifellos  für  verbindlich,  so  daß  er  im  Resultate 
auf  der  Seite  der  Kanonisten  stehen  bleibt;  wenigstens  prinzipiell:  praktisch 
freilich  gab  er  vom  Prinzip  des  Zinsenverbotes  viel  mit  der  auch  sonst 
beliebten  Auskunft  nach,  daß  er  allerlei  „zinsähnliche"  Vergütungen  für 
Schaden,  Gewinnentgang,  Bemühung  und  Risiko  des  Gläubigers  duldet 
und  gutheißt  1). 

So  steht  Grotiüs  zwischen  alter  und  neuer  Lehre  in  schwankender 
Mittel). 

Sein  unentschiedener  Standpunkt  wurde  rasch  überüolt.  Schon  nach 
wenigen  Jahren  warf  man  nicht  allein,  wie  er  es  getan  hatte,  die  rationa- 
listische Begründung  des  Zinsenverbotes,  sondern  auch  das  Zinsenverbot 
selbst  offen  über  Bord-  Die  entscheidende  Wendung  geschah  kurz  vor 
dem  Jahre  1640.  Als  ob  die  Schranken  einer  lang  geübten  Zurückhaltung 
mit  Einem  Male  fortgerissen  wären,  brach  um  diese  Zeit  eine  Flut  von 
Schriften  los,  in  denen  das  Zinsnehmen  mit  der  größten  Entschiedenheit 
verteidigt  wurde;  und  diese  Flut  verminderte  sich  nicht  eher,  als  bis  das 
Prinzip  der  Zinsnahm  e  —  wenigstens  in  den  Niederlanden  —  zum  Siege 
gelangt  war.  Unter  der  Vielzahl  dieser  Schriften  nehmen  der  Zeit  wie  dem 
Range  nach  den  ersten  Platz  die  berühmten  Schriften  von  Claudius 
Salmasiüs  ein.  Die  wichtigsten  derselben,  die  von  1638  an  einander  in 
kurzen  Intervallen  folgten,  sind:  De  usuris  (1638),  de  modo  usurarum 
(1639),  defoenoretrapezitico  (1640);  woran  sich  noch  eine  unter  dem 
Pseudonym  Alexius  a  Massalia  erschienene  kürzere  Streitschrift  reiht: 
diatriba  de  mutuo,  mutuum  non  esse  alienationem  (1640)  3).  Sie  haben 
Richtung  und  Inhalt  der  Zinstheorie  für  mehr  als  hundert  Jahre  fast  aus- 
schließlich bestimmt,  und  selbst  in  der  heutigen  Doktrin  sind,  wie  wir 
sehen  werden,  noch  manche  Nachwirkungen  der  Sabnasianischen  Lehre 
erkennbar.    Diese  verdient  deshalb  eine  eingehende  Würdigung. 

Salmasius'  Ansichten  über  den  Zins  sind  am  prägnantesten  zu- 


')  De  jure  pacis  ac  belli,  Lib.  II  Cap.  XII,  20—21. 

')  Nach  dem  Gesagten  geht  es  wohl  nicht  an,  Gbotius  als  einen  Bahnbrecher 
der  zinsireundlichen  Theorie  zu  betrachten.  Letztere  u.  a.  von  Neümann,  Geschichte 
des  Wuchers  in  Deutschland  S.  499  und  Laspetbes  a.  a.  0.  S.  10  und  257  geteilte 
Meinung  mit  gutem  Grund  berichtigt  von  Endemann,  Studien  I  S.  66f. 

■)  Die  Zahl  der  Schriften,  in  denen  sich  unser  überaus  fruchtbarer  Schriftsteller 
über  das  Thema  des  Zinses  ergeht,  ist  durch  die  im  Text  genannten  Arbeiten  keineswegs 
erschöpft.  So  existiert  z.  B.  aus  dem  Jahre  1645  eine  „disquisitio  de  mutuo  qua  pro- 
batur  non  esse  alienationem",  deren  Autor  sich  nur  mit  den  Initialen  S.  D.  B.  bezeichnet, 
die  indes  ebenso  wie  die  ganze  Schreibweise  deutlich  auf  Salmasiüs  (Dijonicus  Bur- 
gundus)  hinweisen.  Ferner  findet  sich  aus  demselben  Jahre  eine  anonyme,  aber  ohne 
Zweifel  gleichfalls  auf  S.  zurückzuführende  „Confutatio  diatribae  de  mutuo  tribus 
disputationibus  ventilatae  Auetore  et  praeside  Jo.  Jacobo  Yissembachio"  et«.  Die  im 
Texte  genannten  Schriften  waren  indes  die  bahnbrechenden. 


30  III.  Verteidiger  des  Leihzinses  bis  ins  18.  Jahrhundert  usw. 

sammengefaßt  im  VIII.  Kapitel  seines  Buches  de  usuris.  Er  beginnt  damit, 
daß  er  seine  eigene  Zinstheorie  entwickelt.  Der  Zins  ist  ein  Lohn  für  den 
Gebrauch  geliehener  Geldsummen.  Das  Darlehen  gehört  zu  jener  Klasse 
von  Rechtsgeschäften,  in  denen  vom  Eigentümer  einer  Sache  der  Gebrauch 
derselben  einem  andern  überlassen  wird.  Geschieht  dies  an  einer  nicht 
verbrauchlichen  Sache  und  ist  die  Gebrauchsüberlassung  unentgeltlich,  so 
ist  das  Rechtsgeschäft  ein  commodatum;  ist  sie  entgeltlich,  so  ist  das 
Geschäft  eine  locatio  conductio.  Geschieht  es  an  einer  verbrauchlichen 
oder  vertretbaren  Sache,  so  entsteht  bei  Unentgeltlichkeit  das  unverzins- 
liche Darlehen,  mutuum,  bei  Entgeltlichkeit  das  verzinsliche  Darlehen, 
foenus.  Das  verzinsliche  Darlehen  steht  daher  zum  unverzinslichen  in 
genau  demselben  Verhältnis,  wie  die  Miete  zum  Leihvertrag,  und  ist  ebenso 
berechtigt  wie  jene^). 

Der  einzige  denkbare  Grund,  über  die  Zulässigkeit  eines  Entgelts 
bei  dem  commodatum  anders  zu  urteilen  als  bei  dem  mutuum,  könnte  in 
der  verschiedenen  Natur  liegen,  die  der  Gebrauch  bei  den  Gegenständen 
des  mutuum  einerseits  und  des  commodatum  andererseits  hat.  Bei  den 
Gegenständen  des  Darlehens  besteht  nämlich  der  Gebrauch  in  einem 
gänzlichen  Verbrauch,  und  man  könnte  einwenden,  daß  darum  hier  der 
Gebrauch  von  der  Sache  selbst  nicht  separiert  werden  könne.  Allein 
diesem  Einwand  begegnet  Salmasiüs  mit  zwei  Gegengründen:  erstlich 
würde  jene  Argumentation  auch  zur  Verdammung  und  Vernichtung  des 
unverzinslichen  Darlehens  führen,  indem  man  dann  verbrauchliche  Sachen 
überhaupt  nicht,  also  auch  nicht  unentgeltlich,  einem  anderen  zum 
„Gebrauche",  dessen  Existenz  ja  angezweifelt  wird,  überlassen  könnte. 
Und  ferner  liege  in  der  Verbrauchlichkeit  der  Darlehensgüter  im  Gegenteil 
ein  Grund  mehr  für  die  Entgeltlichkeit  des  Darlehens.  Denn  in  der  Miete 
kenn  der  Eigentümer  seine  Sache  in  jedem  Augenblick  zurückziehen, 
weil  er  eben  Eigentümer  geblieben  ist;  im  Darlehen  kann  er  es  nicht,  weil 
sie  durch  den  Verbrauch  untergegangen  ist.  Der  Geldverleiher  leidet 
daher  Verzögerungen,  Besorgnisse  und  Schäden,  um  deren  willen  die 
Entgeltlichkeit  des  Darlehens  in  noch  höherem  Grade  der  Billigkeit  ent- 
spricht als  die  des  commodatum. 

Nach  dieser  Exposition  der  eigenen  Meinung  wendet  sich  Salmasiüs 
zu  den  Argumenten  der  Gegner,  um  sie  Punkt  für  Punkt  zu  widerlegen. 
Wenn  man  diese  Widerlegungen  liest,  so  begreift  man,  daß  Salmasiüs 
so  glänzend  gelang,  was  hundert  Jahre  früher  Molinaeüs  nicht  gelungen 


')  „Que  res  facit  ex  commodato  locatum,  eadem  praestat  ut  pro  mutuo  sit  foenus, 
nempe  merces.  Qui  eam  in  commodato  probant,  cur  in  mutiio  improbent.  nescio,  nee 
ullam  hujus  diversitatis  rationem  video.  Locatio  aedium,  vestis,  animalis,  servi,  agri, 
operae,  operis,  licita  erit:  non  erit  foeneratio  quae  proprie  locatio  est  pecuniae,  tritioi, 
hordei,  vini,  et  aliarum  hujusmodi  specierum,  frugumqne  tarn  arentium  quam  humi 
darum  ?" 


Salmasius.  31 

war:  die  Überzeugung  der  Zeitgenossen.  Die  bezüglichen  Ausführungen 
sind  äußerst  wirksam  geschrieben,  wahre  Kabinettstücke  glänzender 
Polemik.  Der  Stoff  zu  dieser  war  freilich  zum  guten  Teile  schon  von  den 
Vorgängern,  namentlich  von  Molinaeüs,  geliefert  worden i);  aber  Sal- 
masius verarbeitet  diesen  Stoff  in  so  glücklichem  Gewände  und  bereichert 
ihn  durch  so  viele  packende  Einfälle,  daß  seine  Polemik  alles  Voran- 
gegangene bei  weitem  hinter  sich  läßt. 

Vielleicht  wird  es  einigen  meiner  Leser  nicht  unwillkommen  sein, 
ein  paar  ausführliche  Proben  daraus  kennen  zu  lernen;  teils  um  eine 
genauere  Vorstellung  von  dem  Geiste  zu  erhalten,  in  dem  man  während 
des  17.  und  tief  bis  ins  18.  Jahrhundert  unser  Problem  zu  behandeln  pflegte, 
teils  um  die  intimere  Bekanntschaft  eines  Schriftstellers  zu  machen,  den 
man  heutzutage  sehr  häufig  zu  zitieren,  aber  äußerst  selten  zu  lesen  pflegt. 
Ich  will  daher  ein  paar  Bruchstücke  seiner  Polemik  im  Wortlaute  in  die 
Anmerkung  setzen  2). 


>)  Zur  Feststellung  des  Verhältnisses,  in  dem  Salmasius  zu  Molinaeüs  steht, 
dürfte  es  nach  Endemanns  ausdrücklicher  Bemerkung,  daß  Salm,  den  Mol.  nicht 
zitiere  (Studien  I  S*  65),  nicht  überflüssig  sein  zu  konstatieren,  daß  solche  Zitate -aller- 
dings in  ziemlich  großer  Zahl  existieren.  Das  den  Werken  des  Salm,  beigegebene  Autoren- 
register weist  für  das  Buch  „de  usuris"  drei,  für  „de  modo  usurarum"  zwölf,  und  für 
„de  foenore  trapezitico"  ein  Zitat  des  Molinaeüs  auf.  Diese  Zitate  beziehen  sich 
überwiegend  auf  das  einschlägige  Hauptwerk  des  letzteren,  den  „tractatus  contractuum 
et  usurarum";  eines  derselben  (de  usuris,  S.  221)  geradezu  auf  eine  Stelle,  die  im  Zentrum 
der  entscheidenden  Ausführungen  steht  (tractatus  Nr.  629:  die  Nr.  528ff.  enthalten 
die  Darstellung  und  Widerlegung  der  antik-philosophischen  und  kanonistischen  Argu- 
mente gegen  den  Zins).  Es  kann  daher  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  Salm,  die 
Schriften  des  Mol.  genau  gekannt  hat,  und  fast  ebenso  zweifellos  ist  es  —  wie  ja  auch 
seine  sachliche  Übereinstimmung  vermuten  läßt  —  daß  er  aus  ihnen  geschöpft  hat. 
Wenn  in  der  oben  (S.  29)  zitierten  Confutatio  diatribae  einmal  erwähnt  wird  (S.  290), 
daß  Salmasius  zur  Zeit,  als  er  unter  dem  Pseudonym  Alexius  a  Massalia  die  diatriba 
de  mutuo  verfaßte,  die  übereinstimmenden  Ausführungen  des  Mol.  in  seinem  tractatus 
de  usuris  noch  nicht  gekannt  habe,  so  bezieht  sich  diese  Äußerung  entweder  nur  auf 
die  Unkenntnis  jener  ganz  speziellen  Stellen  des  Mol.,  in  denen  dieser  die  Natur  des 
Darlehens  als  einer  Veräußerung  negiert,  oder  sie  ist  nach  dem  Dargestellten  einfach 
unrichtig. 

2)  Salmasius  beginnt  mit  dem  Argument  von  der  ungehörigen  Doppelforderung 
für  eine  Ware.  Die  Gegner  hatten  eingeworfen,  daß  wer  etwas  über  den  geliehenen 
Hauptstamm  hinaus  nehme,  dies  nur  nehmen  könne  entweder  für  den  Gebrauch  einer 
Sache,  die  schon  verbraucht  sei,  also  für  gar  nichts ;  oder  für  den  Hauptstamm  selbst, 
dann  verkaufe  er  dieselbe  Sache  zweimal.  Darauf  entgegnet  Salmasius:  ,,Quae  ridicula 
sunt,  et  nullo  negotio  difflari  possunt.  Non  enim  pro  sorte  usura  exigitur,  sed  pro  usu 
sortis.  Usus  autem  ille  non  est  nihilum  nee  pro  nihilo  datur.  Quod  haberet  rationem, 
si  alicui  pecuniam  mutuam  darem,  ea  lege  ut  statim  in  flumen  eam  projiceret  aut  alio 
modo  perderet  sibi  non  profuturam.  Sed  qui  pecuniam  ab  alio  mutuam  desiderat,  ad 
necessarios  sibi  usus  iUam  expetit.  Aut  enim  aedes  inde  comparat,  quas  ipse  habitet,. 
ne  in  conducto  diutius  maneat,  vel  quas  alii  cum  fructu  et  compendio  locet:  aut  funduni 
ex  ea  pecunia  emit  salubri  pretio,  unde  fructus  et  reditus  magnos  percipiat:  aut  servum, 
ex  cujus  operis  locatis  multum  quaestus  faciat:  aut  ut  denique  alias  merces  praestinet. 


32  in.  Verteidiger  des  Leihzinses  bis  ins  18.  Jahrhundert  usw. 

Von  geringerem  Interesse  für  den  dogmengeschichtlichen  Entwick- 
lungsgang ist,  was  weiter  folgt.  Zunächst  ein  langatmiger,  und  trotz  aller 
Spitzfindigkeit  doch  recht  lahmer  Beweis  dafür,  daß  im  Darlehen  keine 
Veräußerung  (alienatio)  des  Geliehenen  liege  —  ein  Thema,  dem  auch  die 


quas  vili  emptas  pluris  vendat"  (S.  195)  Und  nachdem  er  ausgeführt  hat,  daß  der 
Gläubiger  auf  eine  Untersuchung,  ob  das  Geld  vom  Schuldner  wirklich  nützlich  ange- 
wendet wird,  ebensowenig  einzugehen  braucht,  als  der  Vermieter  eines  Hauses,  fährt 
er  weiter  fort:  ,,Hoc  non  est  sortem  bis  vendere,  nee  pro  nihilo  aliquid  percipere.  An 
pro  nihilo  computandum,  quod  tu  dum  meis  nummis  uteris,  sive  ad  ea  quae  tuae  postu- 
lant  necessitates,  sive  ad  tua  compendia,  ego  interim  his  careo  cum  meo  intcrdum  damno 
et  jactura  ?  Et  cum  mutuum  non  in  sola  sit  pecunia  numerata,  sed  etiam  in  aliis  rebus 
quae  pondere  et  mensura  continentur,  ut  in  frugibus  humidis  vel  aridis,  an,  qui  indigenti 
mutuum  vinum  aut  triticum  dederit,  quod  usurae  nomine  pro  usu  eorum  consequetur, 
pro  nihilo  id  capere  existimabitur  ?  Qui  fruges  meas  in  egestate  sua  consumpserit,  quas 
care  emere  ad  victum  coactus  esset,  aut  qui  eas  aliis  care  vendiderit,  praeter  ipsam 
mensuram  quam  accepit,  si  aliquid  vice  mercedis  propter  usum  admensus  fuerit,  an  id 
injustam  habebitur?  Atqui  poteram,  si  eas  servassem,  carius  fortasse  in  foro  vendere, 
et  plus  lucri  ex  illis  venditis  efficere,  quam  quantum  possim  percipere  ex  usuris  quas 
mihi  reddent"  (S.  196f.).  —  Besonders  drastisch  ist  seine  Erwiderung  auf  das  Argument 
von  der  Unfruchtbarkeit  des  Geldes:  ,,Facilis  responsio.  Nihil  non  sterile  est,  quod 
tibi  sterile  esse  volueris.  Ut  contra  nihil  non  fructuosum,  quod  cultura  exercere,  ut 
fructum  ferat,  institueris.  Nee  de  agrorum  f  er  tili  täte  regeram,  qui  non  essent  feraces 
nisi  humana  industria  redderet  tales.  .  .  .  Magis  mirum  de  aere,  et  hunc  quaestuosum 
imperio  factum.  Qui  dis^tx6v  imposuerunt  vectigal  singulis  domibus  Constantinopolitani 
imperatores,  aerem  sterilem  esse  pati  non  potuerunt.  Sed  haec  minus  cum  foenore 
conveniunt.  Nee  mare  hie  sollicitandum,  quod  piscatoribus,  urinatoribus  ac  nautis 
ad  quaestum  patet,  ceteris  sterilitate  occlusum  est.  Quid  sterilius  aegroto  ?  Nee  ferre 
se,  nee  movere  interdum  potest.  Hunc  tamen  in  reditu  habet  medicus.  Una  res  est 
aegroto  sterilior,  nempe  mortuus  .  .  .  Hie  tamen  sterilis  non  est  pollinctoribus,  neque 
sardapilonibus,  neque  vespillonibus,  neque  fossariis.  Immo  nee  praeficis  olim,  nee  nunc 
sacerdotibus,  qui  eum  ad  sepulcrum  cantando  deducunt.  Quae  corpus  alit  corpore, 
etiamsi  liberos  non  pariat,  non  tamen  sibi  infecunda  est.  Nee  artem  hie  cogites;  natura 
potius  victum  quaerit.  Meretricem  me  dicere  nemo  non  sentit  ...  De  pecunia  quod 
ajunt,  nihil  ex  se  producere  natura,  cur  non  idem  de  ceteris  rebus,  et  frugibus  omne 
genus,  quae  mutuo  dantur,  asserunt?  Sed  triticum  duplici  modo  frugiferum  est,  et 
cum  in  terram  jacitur,  et  cum  in  foenus  locatur.  Utrobique  foenus  est.  Nam  et  terra 
id  reddit  cum  foenore.  Cur  natura  aedium,  quas  mercede  pacta  locavero,  magis  potest 
videri  foecunda,  quam  nummorum  quos  foenore  dedero?  Si  gratis  eas  commodavero, 
aeque  ac  si  hos  gratis  mutuo  dedero,  tum  steriles  tam  hi  quam  illae  mihi  evadent.  Vis 
seire  igitur,  quae  pecunia  proprie  sterilis  sit  dicenda,  immo  et  dicta  sit?  illa  certe,  quae 
foenore  non  erit  occupata,  quaeque  nihil  mihi  pariet  usurarum,  quas  et  propterea 
Graeci  i6xov  nomine  appellarunt"  (S.  198f.).  —  Auch  das  dritte  Hauptargument  der 
Gegner  —  daß  das  Darlehen  nicht  verzinslich  sein  solle,  weil  die  dargeliehenen  Sachen 
ein  Eigentum  des  Schuldners  werden  —  findet  Salmasius  „lächerlich":  „At  injustum 
est,  ajunt,  me  tibi  vendere  quod  tuum  est,  videlicet  usum  aeris  tui.  Potens  sane 
argumentum.  Atqui  non  fit  tuum,  nisi  hac  lege,  ut  pro  eo,  quod  accepisti  utendum, 
certam  mihi  praestes  mercedem,  usurae  nomine,  absque  qua  frustra  tuum  id  esse 
cuperes.  Non  igitur  tibi,  quod  tuum  est,  vendo,  sed,  quod  meum  est,  ea  conditione 
ad  te  transfero,  ut  pro  usu  ejus,  quamdiu  te  uti  patiar,  mihi,  quod  pactum  inter  nos 
est,  persolvas.'' 


Salmasius'  Nachfolger.    Die  Niederlande.  33 

ganze  diatriba  de  mutuo  gewidmet  ist;  weiter  die  Bekämpfung  einiger 
Billigkeits-  und  Opportunitätsgründe  der  Kanonisten:  daß  es  unbillig  sei, 
dem  Schuldner,  auf  den  sofort  die  Gefahr  der  empfangenen  Geldsumme 
übergehe,  auch  noch  durch  den  Zins  zu  beschweren,  und  die  Frucht  des 
Geldes  einem  anderen  zu  überlassen,  der  die  Gefahr  nicht  trage;  und  daß 
der  Zinswucher  zum  Schaden  des  Gemeinwesens  eine  Vernachlässigung 
des  Ackerbaues,  des  Handels  und  der  anderen  „bonae  artes"  bewirken 
würde.  Die  Bekämpfung  des  letzteren  Argumentes  gibt  Salmasius  u.  A. 
Gelegenheit,  den  Nutzen  der  Konkurrenz  anzupreisen:  je  mehr  foeneratores 
es  gebe,  desto  besser;  sie  werden  durch  ihren  Wetteifer  den  Zinsfuß  herab- 
drücken. Weiter  folgt  —  vom  IX.  Kapitel  ab  —  mit  außerordentlichem 
Aufwand  von  G«ist  und  Wissen,  mit  vielen  Wendungen  voll  schlagender 
Beredsamkeit,  aber  auch  mit  endloser  Weitschweifigkeit  die  Widerlegung 
des  Arguments,  daß  der  Zins  „unnatürlich"  sei.  Ganz  zum  Schluß  wird 
endlich  (Cap.  XX.  De  usuris)  untersucht,  ob  der  vor  dem  jus  naturale 
gerechtfertigte  Zins  auch  dem  jus  divinum  entspricht,  was  natürlich 
bejaht  wird. 

Dies  sind  die  wesentlichen  Grundzüge  von  Salmasius'  Lehre.  Sie 
bezeichnet  nicht  allein  einen  Fortschritt,  sondern  für  lange  Zeit  auch 
einen  Höhepunkt  des  Fortschritts.  Für  mehr  als  hundert  Jahre  bestand 
die  weitere  Entwicklung  fast  in  nichts  anderem,  als  daß  man  Salmasius' 
Lehre  immer  allgemeiner  annahm,  mit  mehr  oder  minder  geschickten 
Variationen  vortrug,  und  seinen  Argumenten  den  jeweils  zeitgemäßen 
Zuschnitt  gab.  Über  ihn  hinausgekommen  ist  man  aber  im  Grunde  nicht 
bis  auf  die  Zeit  von  Smith  und  Turgot. 


In  demselben  Maß,  als  die  von  Salmasius  vertretene  Lehre  Anhang 
gewann,  bröckelte  die  Zahl  derer  ab,  die  noch  an  der  kanonistischen  Lehre 
festhielten.  Dieser  Niedergang  erfolgte  aus  leicht  begreiflichen  Gründen 
rascher  in  den  Reformationsländern  und  den  Ländern  germanischer  Zunge, 
langsamer  in  den  Ländern  des  reinen  Katholizismus  und  romanischer 
Zunge. 

In  den  Niederlanden  wurden,  wie  schon  oben  erwähnt,  Salmasius' 
Werke  fast  unmittelbar  von  einer  ganzen  Reihe  geistesverwandter  Schriften 
gefolgt.  Noch  in  das  Jahr  1640  fallen  die  Werke  von  Kloppenburg, 
BoxHORN,  Maresius,  GraswinckelI).  Etwas  später  (seit  1644)  gab  der 
„Tafelhalterstreit"  2)  Anlaß  zu  einer  hitzigen  literarischen  Fehde  beider 
Parteien,  die  1658  praktisch  mit  dem  Sieg  der  Zinsfreunde  endigte.  Aus 
der  nächstfolgenden  Zeit  ragt  unter  den  immer  zahlreicheren  Anhängern 


')  Laspeykes  a.  a.  0.  S.  257. 

*)  Ausführlich  geschildert  von  Laspeyres  a.  a.  0,  S.  268ff. 
Böhm-ßawerk,  Kapitalzins.    4.  Aufl. 


34  III.  Verteidiger  des  Leihainses  bis  ins  18.  Jahrhundert  usw. 

der  letzteren  Richtung  besonders  der  berühmte  und  einflußreiche  Jurist 
Gerhard  Noodt  hervor,  der  in  seinen  libri  tres  de  foenore  et  usuris  die 
ganze  Zinsfrage  sehr  eingehend  mit  großer  Sach-  und  Literaturkenntnis 
erörtert^).  Noch  später  scheinen  die  zinsfeindlichen  Emanationen  zumal 
aus  dem  Kreise  der  Fachgelehrten  immer  seltener  zu  werden;  doch  kommen 
solche  vereinzelt  noch  bis  in  die  zweite  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  vor  2). 
In  Deutschland,  dessen  Nationalökonomik  während  des  17.  und 
selbst  während  des  18.  Jahrhunderts  nicht  viel  zu  bedeuten  hatte,  vollzog 
sich  die  Rezeption  der  Salmasianischen  Lehre  langsam,  ohne  interessante 
Zwischenfälle  und  ohne  jeglichen  Gewinn  für  die  Entwicklung  der  rezi- 
pierten Lehre.  Auf  deutschem  Boden  zeigte  sich  recht  deutlich,  daß  die 
Praxis  diejenige  Macht  war,  deren  Andrängen  man  den  Umschwung  zu 
danken  hatte,  während  die  Theorie  den  Reformen  der  öffentlichen  Meinung 
und  der  Gesetzgebung  schwerfällig  nachhinkte.  Ein  halbes  Jahrhundert, 
ehe  in  Besolds  Person  der  erste  deutsche  Jurist  sein  Gutachten  zugunsten 
des  Zinses  abgegeben  hatte,  war  in  manchem  deutschen  Partikularrecht 
die  Zinsnahme,  oder  doch  wenigstens  die  Forderung  eines  festen  voraus 
bedungenen  „Interesse",  was  praktisch  auf  das  gleiche  hinauskam,  ge- 
stattet worden  3);  und  als  1654  die  deutsche  Reichsgesetzgebung  sich 
diesem  Vorgehen  anschloß*),  waren  noch  immer  erst  wenige  Männer  der 
Theorie  auf  die  Seite  von  Besold  und  Salmasiüs  getreten;  ein  Adam 
CoNTZEN  konnte  noch  1629  fordern,  daß  Zinsgläubiger  wie  Diebe  peinlich 
gestraft  und  alle  Juden  als  „venenatae  bestiae"  aus  dem  Lande  gejagt 
werden  sollen  s).  Erst  seit  dem  Ende  des  17.  Jahrhunderts  scheint  die 
Überzeugung  von  der  prinzipiellen  Statthaftigkeit  des  Zinses  in  der  Theorie 
allgemeiner  zu  werden.  Daß  so  hervorragende  Männer  wie  Pofendorf«) 
und  Leibnitz')  der  neuen  Lehre  beitraten,  beschleunigte  ihren  Sieg,  und 


')  Noodt  wird  in  der  gelehrten  Literatur  des  18.  Jahrhunderts  besonders  gerne 
als  Autorität  zitiert;  z.  B.  von  Boehmer,  Protest.  Kirchenrecht  V,  19  passim.  Bar- 
BEYRAC,  der  Herausgeber  mehrerer  Auflagen  des  Hugo  Grotius,  sagt,  es  gebe  über 
die  Materie  des  Zinses  ein  „opus  absolutissimum  et  plenissimura"  eines  ,,summi  juris- 
consulti  et  non  minus  judicio,  quam  eruditione,  insignis,  Clariss.  Noodtii."  (De  jure 
Belli  ac  Pacis  von  Grotius,  Ausgabe  von  Amsterdam  1720,  S.  384.) 

*)  Laspeyres  a.  a.  0.  S.  269. 

^)  Neumann,  Geschichte  des  Wuchers  in  Deutschland,  S.  646,  erwähnt  partikular- 
rechtliche Gestattungen  von  Konventionalzinsen  von  den  zwanziger  Jahren  des  16.  Jahr- 
hunderts an.  Endemann  (Studien  II,  316f.,  366f.)  will  diese  Gestattungen  allerdings 
nur  auf  das  stipulierte  „interesse",  das  wenigstens  prinzipiell  von  den  eigentlichen 
Zinsen,  usurae,  verschieden  war,  gedeutet  wissen.  Jedenfalls  hatte  dadurch  praktisch 
das  Zinsnehmen  die  Duldung  des  Staates  erlangt. 

♦)  Im  jüngsten  Reichsabschied.  Über  die  gleichfalls  streitige  Auslegung  der  ein- 
schlägigen Stelle  siehe  Neumann  a.  a.  0.  S.  659ff. 

»)  Eoscher  a.  a.  0.  S.  205. 

«)  Röscher  a.  a.  0.  S.  312f. 

')  Röscher  S.  338f. 


Deutschland.     Justi,  Sonnenfels.  35 

im  Laufe  des  18.  Jahrhunderts  wird  sie  endlich  allmählich  der  Kontro- 
verse entrückt. 

In  diesem  Zustande  finden  wir  sie  bei  den  zwei  großen  Kameralisten, 
die  am  Ende  unserer  Periode  stehen,  Jüsti  und  Sonnenfels.  Justis 
Staatswirtschaft  1)  enthält  nicht  eine  Zeile  mehr  über  die  große  Frage, 
über  die  man  früher  so  viele  dicke  Bände  geschrieben  hatte;  freilich  auch 
nicht  eine  Zeile,  die  sich  überhaupt  als  Zinstheorie  deuten  ließe.  Er  findet 
es  stillschweigend  für  selbstverständlich,  daß  man  für  Darlehen  Zinsen 
zahlt,  und  wenn  er  in  ein  paar  kurzen  Bemerkungen  (I,  §  268)  sich  gegen 
den  Wucher  wendet,  versteht  er  hierunter,  wieder  stillschweigend,  nur 
ein  Übermaß  der  Zinsforderung. 

Sonnenfels  ist  über  die  Materie  des  Zinses  nicht  so  schweigsam  als 
Justi.  Aber  auch  er  berührt  in  den  früheren  Auflagen  seiner  Handlungs- 
wissenschaft 2)  die  Kontroverse  über  die  prinzipielle  Statthaftigkeit  des 
Zinses  mit  keiner  Silbe.  In  einer  späteren  Auflage  (der  fünften,  vom  Jahre 
1787)  gedenkt  er  ihrer  zwar,  aber  in  einer  Form  und  in  einem  Tone,  in 
welchem  man  gänzlich  abgetane  Sachen  zu  behandeln  pflegt.  In  einer 
bloßen  Anmerkung  nämlich  (S.  496)  verwirft  er  in  einigen  entschiedenen 
Worten  die  Zinsverbote  der  Kanonisten,  verspottet  ihre  absurden  Schrift- 
beweise, und  findet  es  ungereimt,  6%  Zinsen  für  Geld  zu  verbieten,  während 
man  bei  dem  Umsatz  des  Geldes  in  Ware  100%  verdienen  kann. 

Daß  Sonnenfels  so  wegwerfend  über  die  Kanonistendoktrin  urteilt, 
ist  um  so  höher  anzurechnen,  als  er  sonst  auf  den  Zins  keineswegs  gut  zu 
sprechen  ist.  Von  Forbonnais  beeinflußt,  sieht  er  den  Ursprung  des 
Zinses  in  einer  Hemmung  des  Geldumlaufes  durch  die  geldanhäufenden 
Kapitalisten,  aus  deren  Händen  sich  das  Geld  nur  durch  einen  im  Zinse 
dargebotenen  Tribut  wieder  hervorlocken  läßt»).  Er  sagt  dem  Zinse 
allerlei  schädliche  Folgen  nach;  daß  er  die  Ware  verteuere,  den  Gewinst 
der  Emsigkeit  vermindere  und  den  Besitzer  von  Geld  an  demselben  teil- 
nehmen lasse*).  Ja  er  bezeichnet  einmal  die  Kapitalisten  als  die  Klasse 
derjenigen,  „die  nichts  arbeiten  und  sich  von  dem  Schweiße  der  arbeitenden 
Klassen  nähren"«). 

Neben  solchen  Äußerungen  schlägt  aber  doch  wieder  die  rezipierte 
Salmasianische  Lehre  durch.  Einmal  nennt  Sonnenfels,  ganz  im  Geiste 
von  Salmasiüs,  als  Gründe  der  Zinsforderung  der  Kapitalisten  die  Ab- 
wesenheit ihres  Geldes,  die  Gefahr,  und  den  Nutzen,  den  sie  sich  mit 
Ankauf  fruchtbringender  Sachen  verschaffen  konnten«);  ein  anderes  Mal 


')  2.  Auflage,  1758. 

*)  so  in  der  zweiten,  Wien  1771. 

»)  2.  Auflage,  S.  419,  425f. 

*)  Ebenda  S.  427. 

»)  a.  a.  O.  S.  430. 

•)  a.  a.  0.  S.  426f. 

'       3* 


36  m.  Verteidiger  des  Leihzinses  bis  ins  18.  Jahrhundert  usw. 

erkennt  er,  daß  eine  Herabsetzung  des  gesetzlich  gestatteten  Zinsfußes 
nicht  das  geeignete  Mittel  ist,  dem  Übel  hoher  Zinsen  zu  steuern  i);  wieder 
ein  anderes  Mal  findet  er,  da  die  oben  genannten  Bestimmgründe  des  Zinses 
variabel  sind,  eine  feste  gesetzliche  Zinstaxe  überhaupt  unpassend;  sie 
sei  entweder  überflüssig  oder  schädlich^). 

Das  tiefe  Schweigen,  in  das  sich  Jüsti  hüllt,  in  Verbindung  mit  der 
widerspruchsvollen  Beredsamkeit,  die  Sonnenfels  über  denselben  Punkt 
entwickelt,  scheint  mir  ein  charakteristischer  Beleg  für  die  doppelte  Tat- 
sache zu  sein:  daß  erstlich  zur  Zeit  dieser  Männer  die  Salmasianische  Lehre 
in  Deutschland  schon  so  festen  Fuß  gefaßt  hatte,  daß  selbst  jene  Schrift- 
steller, die  dem  Zins  am  unfreundlichsten  gesinnt  waren,  nicht  mehr  daran 
denken  konnten,  auf  den  strengen  kanonistischen  Standpunkt  zurück- 
zugreifen; dann  aber  auch,  daß  bis  hierher  die  Rezeption  mit  keinerlei 
weiterer  Entwicklung  der  Theorie  verbunden  gewesen  war. 

England  scheint  dasjenige  Land  gewesen  zu  sein,  in  welchem  die 
Abstreifung  der  kanonistischen  Lehre  mit  der  geringsten  literarischen 
Aufregung  verbunden  war.  Durch  den  Aufschwung  seines  Handels  und 
seiner  Gewerbe  war  es  frühzeitig  für  die  Zinswirtschaft  reif  geworden, 
und  seine  Gesetzgebung  hatte  den  Bedürfnissen  des  Wirtschaftslebens 
frühzeitig  nachgegeben.  Heinrich  VIIL  hatte  schon  1545  das  Verbot 
des  Zinsnehmens  aufgehoben  und  durch  eine  bloße  Zinstaxe  ersetzt.  Vor- 
übergehend wurde  es  allerdings  unter  Eduard  VL  wieder  hergestellt, 
allein  schon  1571  wurde  es  durch  Königin  Elisabeth  abermals  auf- 
gehoben, und  blieb  es  für  diesmal  für  immer  3).  So  war  die  Prinzipienfrage, 
ob  der  Leihzins  gerechtfertigt  sei,  in  England  praktisch  erledigt,  ehe  es 
dort  eine  theoretische  volkswirtschaftliche  Literatur  gab,  und  als  eine 
solche  sich  endlich  entwickelte,  hatte  die  abgetane  Sache  für  sie  wenig 
Interesse  mehr.  In  desto  höherem  Grade  wurde  dieses  durch  eine  neue 
Streitfrage  gefesselt,  zu  der  die  Änderung  der  Gesetzgebung  Anlaß  gegeben 
hatte;  durch  die  Frage  nämlich,  ob  und  in  welcher  Höhe  Zinstaxen 
am  Platze  seien. 

Diese  Verhältnisse  haben  der  englischen  Zinsliteratur  des  17.  und 
18.  Jahrhunderts  ihren  Stempel  aufgedrückt.  Man  diskutiert  mit  großem 
Eifer  und  in  zahlreichen  Schriften  über  die  Höhe  der  Zinsen,  über  ihre 
Vor-  und  Nachteile,  und  über  das  Passende  oder  Unpassende  einer  gesetz- 
lichen Beschränkung  derselben,  aber  man  berührt  nur  noch  selten,  und 
dann  gewöhnlich  nur  ganz  flüchtig  die  Frage  ihrer  Gerechtigkeit. 

Ich  will  ein  paar  Proben  dieser  Entwicklung  kurz  herausheben. 

Bacons,  der  dem  Zeitalter  der  Zinsverbote  noch  ganz  nahe  stand, 

')  a.  a.  0.  S.  432ff. 

')  5.  Auflage,  S.  497. 

»)  Vgl.  Schanz,  Englische  Handelspolitik,  Leipzig  1881,  l.  Band  S.  652ff. 


England.    Bacon,  Culpeper,  Child,  North,  Petty,  Vau^an.  37 

und  sich  aus  recht  kühlen  praktischen  Gründen  zugunsten  des  Zinses 
erklärt  hatte,  haben  wir  schon  oben  gedacht^).  Etwa  zwanzig  Jahre  später 
wagt  selbst  ein  heftiger  Gegner  der  Zinsen,  Thomas  Colpeper,  nicht  mehr, 
die  kanonistischen  Gründe  gegen  den  Zins  in  eigenem  Namen  anzuführen, 
sondern  geht,  recht  charakteristisch,  über  die  Sache  mit  der  Wendung  hinaus, 
daß  er  es  den  Theologen  überlasse,  die  Ungerechtigkeit  des  Zinses  zu  be- 
weisen, während  er  selbst  sich  darauf  beschränken  wolle  zu  zeigen,  wieviel 
Übel  der  Zins  stiftet  2).  Im  weiteren  Verlauf  richtet  er  aber  seine  Angriffe 
nicht  so  sehr  gegen  den  Zins  überhaupt,  als  nur  gegen  hohe  Zinsen  3). 

Ein  anderer  dem  Zins  recht  unfreundlich  gesmnter  Schriftsteller, 
JosiAH  Child,  will  sich  auf  die  Frage  nach  der  Gerechtigkeit  des  Zinses 
gleichfalls  nicht  mehr  einlassen,  sondern  verweist  den  Leser,  der  nähöres 
erfahren  will,  lediglich  auf  eine  ältere,  wie  es  scheint,  anonyme  Schrift, 
die  unter  aem  Titel  „the  English  usurer"  1634  erschienen  war«).  Er  nennt 
ferner  den  Zins,  was  gerade  keine  tiefe  Einsicht  in  sein  Wesen  verrät, 
häufig  „Preis  des  Geldes",  spricht  gelegentlich  die  Meinung  aus,  daß  durch 
ihn  der  Gläubiger  sich  auf  Kosten  des  Schuldners  bereichere  5),  begnügt 
sich  aber  dennoch  für  die  Ermäßigung  der  gesetzlichen  Zinstaxe,  und 
nicht  für  die  gänzliche  Abschaffung  des  Zinses  zu  plaidieren.  Sein  zins- 
freundlicher Gegner  North  wieder  faßt,  ganz  nach  Art  des  Salmasius, 
den  Zins  auf  als  „rent  for  stock",  parallel  mit  der  Rente  von  Grund  und 
Boden;  weiß  aber  zur  Erklärung  beider  nichts  weiter  anzuführen,  als  daß 
eben  die  Eigentümer  von  ihrem  überflüssigen  Boden  und  Kapital  an  solche 
vermieten,  welche  dessen  bedürftig  sind"). 

Einen  interessanten  Gedanken  haben  Petty  und  Vaughan  in  die 
Diskussion  geworfen,  indem  sie,  wenn  auch  nur  in  flüchtigen,  nicht  genauer 
aufgeführten  Bemerkungen,  eine  Parallele  zwischen  dem  mit  Rücksicht 
auf  eine  Differenz  in  der  Zeit  zu  bezahlenden  Zinse  und  dem  mit  Rück- 
sicht auf  eine  Differenz  im  Orte  zu  bezahlenden  Aufgeld  im  Wechselverkehr 
zogen.  Wir  werden  denselben  Gedanken  ein  Jahrhundert  später  in  breiterer 


1)  Siehe  oben  S.  28. 

*)  Tract  against  the  high  rate  of  usury  1621.  Ich  hatte  nur  eine  französische  Über- 
setzung dieses  Traktats,  Amsterdam  und  Berlin  1754,  zur  Verfügung.  Die  im  Text 
aitierte  Stelle  findet  sich  auf  S.  441  dieser  Übersetzung. 

»)  z.  B.  S.  447,  wo  nur  jener  Zins  als  ungerecht  getadelt  wird,  ,,qui  ronge  et  qui 
d^truit";  also  der  allzu  hohe  Zins. 

*)  Diese  Schrift  konnte  ich  leider  nicht  ausfindig  machen.  Die  obige  Bemerkung 
Childs  findet  sich  in  der  Einleitung  zu  seinen  Abhandlungen  über  den  Handel,  S.  9 
einer  französischen  Übersetzung  aus  dem  Jahre  1754. 

*)  New  discourse  of  trade,  1690.  Mir  lag  davon  nur  dieselbe  französische  Über- 
setzung von  1754  vor,  die  auch  Röscher  in  seinem  Aufsatz  „Zur  Geschichte  der  eng- 
lischen Volkswirtschaf  tslehre"  (Abhandlungen  der  königl.  sächs.  Ges.  der  Wissenschaf  ten 
III.  Bd.  1857)  benützte.    Siehe  Röscher  S.  59ff. 

•)  Röscher  a.  a.  0.  S.  89f. 


38  ni.  Verteidiger  des  Leihzinses  bis  ins  18.  Jalirhundert  usw. 

Ausführung  bei  Galiani  und  Turgot  wieder  auftauchen  sehen,  und  wir 
dürfen  in  ihm  vielleicht  überhaupt  die  allererste  Anmeldung  einer  Idee 
erblicken,  aus  der  sich  abermals  um  ein  Jahrhundert  später  eine  zu  breitem 
systematischen  Ausbau  gelangte  moderne  Zinstheorie,  die  sogenannte 
„Agiotheorie",  entwickelte^). 

Eine  etwas  ausführlichere  E^rwähnung  verdient  in  diesem  Zusammen- 
hange der  Philosoph  John  Locke. 

Locke  hat  uns  eine  sehr  merkwüiliige  Ausführung  über  den  Ursprung 
des  Leihzinses  hinterlassen.  Er  beginnt  mit  einigen  Sätzen,  die  sehr  an 
den  Standpunkt  der  Kanonisten  erinnern.  „Geld",  sagt  er 2),  „ist  ein 
unfruchtbares  Ding  (barren  thing)  und  bringt  nichts  hervor;  es  überträgt 
nur  durch  Vertrag  den  Gewinn,  der  die  Arbeit  Eines  Mannes  belohnt,  in 
die  Tasche  eines  Andern."  Dennoch  findet  Locke  den  Leihzins  für  gerecht- 
fertigt. Als  Beweisgrund  und  Brücke  dient  ihm  die  vollständige  Analogie, 
die  zwischen  dem  Leihzins  einerseits  und  dem  Pachtzins  für  ein  Grund- 
stück andererseits  stattfindet.  Die  nächste  Ursache  beider  ist  die  ungleiche 
Verteilung.  Weil  der  Eine  mehr  und  der  Andere  weniger  Geld  hat  als  er 
braucht,  findet  derErstere  einen  ,Mieter"  für  sein  Geld'),  geradeso,  wie 
der  Grundherr  deshalb,  weil  er  zu  viel  und  ein  Anderer  zu  M^enig  Grund- 
stücke besitzt,  einen  Pächter  für  seinen  Boden  findet.  Warum  aber  willigt 
der  Borger  ein,  für  das  geliehene  Geld  einen  Zins  zu  bezahlen  ?  —  Wieder 
aus  demselben  Grunde,  aus  dem  der  Pächter  für  den  Gebrauch  des  Grund- 
stückes eine  Rente  zu  bezahlen  einwilligt.  Denn  das  Geld  ist,  allerdings 
nur  durch  die  Tätigkeit  des  Borgers,  wie  Locke  ausdrücklich  hinzusetzt, 
im  Stande,  im  Handel  dem  Borger  mehr  als 6% ,, hervorzubringen",  gerade  so 
wie  der  Boden  „durch  die  Arbeit  des  Pächters"  im  Stande  ist  mehr  Früchte 
hervorzubringen,  als  seine  Pachtrente  beträgt.  Wenn  demnach  auch  der 
Leihzins,  den  der  Kapitalist  bezieht,  als  die  Frucht  der  Arbeit  eines  Andern 
anzusehen  ist,  so  trifft  dies  bei  ihm  in  keinem  höheren  Grade  zu  als  bei  der 
Bodenrente.  Ja  im  Gegenteile,  in  geringerem  Grade.  Denn  die  Boden- 
rente läßt  dem  Pächter  gewöhnlich  von  der  Frucht  seines  Fleißes  viel 
weniger  übrig,  als  der  Borger  einer  Geldsumme  aus  dem  mit  ihr  gemachten 
Gewinn  nach  Bezahlung  des  Leihzinses  erübrigen  kann.    Und  so  kommt 


')  Über  PfiTTY  und  Vaughan,  sowie  überhaupt  über  die  englische  Zinsliteratur 
dieser  Periode  siehe  jetzt  die  reichhaltigen  und  interessanten  Literaturnachweise  bei 
Cassel,  Nature  and  necessity  of  interest,  1903,  S.  9 — 16,  besonders  S.  14f.  In  der 
Wertung  der  Leistungen  dieser  Periode  für  die  Entwicklung  der  Zinstheorie  kann  ich 
Cassel  allerdings  nicht  völlig  beipflichten. 

*)  Considerations  of  the  consequences  of  the  lowering  of  interest  and  raising  the 
value  of  money,  1691,  S.  24.  Ich  zitiere  nach  der  Gesamtausgabe  von  Lookes  Werken, 
London  1777,  II.  Band. 

»)  Auch  an  anderen  Stellen  (z.  B.  a.  a.  O.  S.  4)  nennt  Locke  den  Zins  einen  Preis 
für  die  ,, Miete  des  Geldes"  (hire  of  money). 


Locke.  39 

denn  Locke  zu  dem  Schlüsse:  „Geld  gegen  Zinsen  zu  borgen  ist  nicht 
allein  durch  die  Anforderungen  des  Geschäftslebens  für  manche  Leute 
unvermeidlich;  sondern  der  Empfang  eines  Gewinnes  aus  dem  Verleihen 
von  Geld  ist  auch  so  billig  und  gesetzmäßig,  als  der  Empfang  von  Boden- 
rente, und  dabei  für  den  Schuldner  leichter  zu  ertragen ..." 

Daß  diese  Theorie  besonders  gelungen  ist,  wird  man  kaum  behaupten 
können.  Ausgangspunkt  und  Schlußergebnis  stehen  in  zu  greller  Dis- 
harmonie: wenn  es  wahr  ist,  daß  der  Leihzins  den  wohlverdienten  Lohn 
der  Arbeit  Eines  Mannes  in  die  Tasche  eines  Andern  leitet,  der  selbst 
nichts  arbeitet  und  dessen  Geld  überdies  unfruchtbar  ist,  dann  ist  damit 
absolut  nicht  zusammenzureimen,  daß  der  Leihzins  dennoch  „billig  und 
gesetzmäßig"  sein  soll.  Daß  eine  unzweifelhafte  Analogie  mit  dem  Gewinn 
aus  Pachtrenten  besteht,  hätte  konsequent  bei  dieser  Sachlage  höchstens 
zu  dem  Ergebnis  leiten  dürfen,  die  Grundrente  in  das  Verwerfungsurteil 
mit  einzubeziehen.  Für  eine  solche  Ausdehnung  des  letzteren  hätte  die 
Theorie  Lockes  auch  Anhaltspunkte  genug  geboten,  da  er  ja  ausdrücklich 
auch  die  Grundrente  für  eine  Frucht  des  Fleißes  eines  Andern  erklärt. 
Ihre  Gerechtigkeit  scheint  indes  für  Locke  über  jeden  Zweifel  erhaben 
gewesen  zu  sein. 

So  wenig  befriedigend  die  Zinstheorie  Lockes  aber  auch  sein  mag, 
so  verleiht  ihr  ein  Umstand  ein  bedeutendes  dogmengeschichtliches 
Interesse:  in  ihrem  Hintergrunde  steht  nämlich  der  Satz,  daß  die  mensch- 
liche Arbeit  es  ist,  welche  alle  Güter  hervorbringt.  Hier  hat  Locke  diesen 
Satz  nicht  so  sehr  ausgesprochen  als  angewendet,  und  zwar  nicht  eben 
glücklich  angewendet.  An  einem  andern  Orte  hat  er  ihm  aber  einen 
deutlichen  Ausdruck  gegeben,  wenn  er  sagt:  „Denn  es  ist  die  Arbeit  in 
der  Tat,  welche  jeder  Sache  ihren  verschiedenen  Wert  gibt"^).  Wir  werden 
sehen,  welch  große  Tragweite  dieser  Satz  in  einem  viel  späteren  Zeitalter 
für  die  Entwicklung  des  Zinsproblems  noch  erlangen  sollte  2). 

Eine  gewisse  Verwandtschaft  mit  Lockes  Auffassung  vom  Leihzinse 
zeigt  etwas  später  James  Steüart.  „Das  Interesse",  schreibt  er,  „das 
sie  für  das  geborgte  Geld  bezahlen,  ist  unbeträchtlich,  wenn  man  es  mit 
dem  Wert  vergleicht,  den  sie  durch  die  Anwendung  ihrer  Zeit  und 
Gaben  (gleichsam  erst)  erschaffen." 

„Sagt  man,  dieses  sei  ein  unbestimmter  Satz,  der  durch  keinen  Beweis 
unterstützt  werde;  so  antworte  ich,  daß  der  Wert  der  Arbeit  eines 
Mannes  durch  die  Proportion  zwischen  der  Manufaktur,  wenn 
sie  auf  den  Markt  gebracht  wird,  und  zwischen  dem  Grundstoff  ge- 
schätzt werden  könne"  3).    Die  durch  den  Druck  hervorgehobenen  Worte 

')  Of  civil  government,   Buch  II,  Kap.  V,  §  40.    Vgl.  Röscher  a.  a.  0.  S.  95f. 
*)  Siehe  unten  Abschnitt  XII. 

»)  Untersuchung  der  Grundsätze  von  der  Staatswirtschaft.  Übersetztim  Cottaschen 
Verlag,  Tübingen  1769—1772  IV,  S.  50. 


40  ni.  Verteidiger  des  Leihzinses  bis  ins  18.  Jahrhundert  usw. 

bezeugen,  daß  Steüart  so  wie  Locke  den  ganzen  durch  die  Produktion 
erzielten  Wertzuwachs  als  Produkt  der  Arbeit  des  Schuldners,  und  dem- 
nach auch  den  Leihzins  als  eine  Frucht  dieser  Arbeit  ansieht. 

Wenn  indes  auch  Locke  und  Steüart  über  die  Natur  dessen,  was 
wir  heute  den  ursprünglichen  Kapitalgewinn  des  Schuldners  nennen,  noch 
ganz  im  Unklaren  waren,  so  waren  sie  doch  weit  davon  entfernt  die  Tat- 
sache zu  verkennen,  daß  der  Leihzins  in  diesem  Gewinn  seinen  Ursprung 
und  seine  Begründung  findet.  So  schreibt  Steüart  an  einer  andern 
Stelle  ausdrücklich:  „Je  nachdem  die  Vorteile  beschaffen  sind,  die  man 
von  dem  geborgten  Gelde  einernten  kann,  desto  mehr  oder  weniger  werden 
die  Borger  für  die  Benutzung  desselben  anbieten"  i). 

Überhaupt  hat  sich  die  englische  Zinsliteratur  mit  der  Erörterung 
des  Zusammenhanges  zwischen  Leihzins  und  Kapitalgewinn  viel  Mühe 
gegeben,  wobei  sie  die  Salmasianische  Lehre  zwar  nicht  an  prinzipieller 
Klarheit  überbot,  aber  durch  Erweiterung  der  Detailkenntnisse  bereicherte. 
Besonders  beliebt  war  die  Untersuchung,  ob  ein  hoher  Leihzins  Ursache 
oder  Wirkung  eines  hohen  Gewinnes  sei.  Hüme  entscheidet  die  Kontro- 
verse dahin,  daß  eine  Wechselwirkung  beider  stattfinde.  „Es  ist  über- 
nüssig",  sagt  er  2),  „zu  untersuchen,  welcher  dieser  beiden  Umstände, 
flämlich  niedrige  Interessen  oder  niedriger  Gewinn,  die  Ursache, 
und  welcher  die  Wirkung  ist.  Sie  entstehen  beide  aus  einem  ausgebreiteten 
Handel  und  fördern  einander  wechselseitig.  Niemand  wird  sich  mit  einem 
niedrigen  Gewinn  begnügen,  wo  er  hohe  Interessen  bekommen  kann;  und 
niemand  wird  sich  mit  niedrigen  Interessen  begnügen,  wo  er  einen  hohen 
Gewinn  erlangen  könnte." 

Wertvoller  als  dieses  nicht  eben  tiefgehende  Urteil  ist  eine  andere 
Erkenntnis,  die  sich  an  Hümes  Namen  knüpft.  Er  schied  nämlich  zuerst 
in  völlig  klarer  Weise  die  Begriffe  Geld  und  Kapital,  und  zeigte,  daß  die 
Höhe  des  Zinsfußes  in  einem  Lande  nicht  von  der  Masse  der  Münzen,  die 
es  besitzt,  sondern  von  der  Größe  seiner  Gütervorräte  (riches,  Stocks) 
abhänge  3).  Für  die  Ergründung  des  Ursprungs  des  Kapitalzinses  wurde 
diese  wichtige  Entdeckung  freilich  erst  in  einem  späteren  Zeitalter  aus- 
gebeutet. 

Wie  fremd  inzwischen  den  geschäftsgewohnten  Engländern  des  18.  Jahr- 


')  a.  a.  0.  S.  24. 

•)  Of  Interest;  Essays  and  treatises  on  several  subjects,  Basil.  1793,  II.  Bd.  S.  60. 

»)  a.  a.  0.  passim.  Für  die  eine  Hälfte  dieser  Einsicht  hat  Hume  schon  in  Nicholas 
Barbon  einen  bemerkenswerten  Vorläufer  gehabt,  welcher  den  Zins  als  ,,rent  of  stock" 
erklärt,  und  die  Bemerkung  beifügt,  daß  der  Zins  gewöhnlich  als  für  Geld  geleistet 
angesehen  werde;  dies  sei  jedoch  ein  Irrtum,  der  Zins  werde  vielmehr  eigentlich  für 
das  Kapital  (stock)  gezahlt,  da  das  geliehene  Geld  zum  Ankauf  von  Waren  ausgelegt 
werde.  (A  Discourse  of  trade,  1690  S.  31f.;  siehe  Stephan  Bauers  Aufsatz  über 
Barbon  in  Conrads  Jahrbüchern  N.  F.  Bd.  XXI  [1890]  S.  561ff.,  besonders  573.) 


Steuart.    Hume.    Bentham.  41 

hunderts  die  einst  so  verbreitete  kanonistische  Lehre  geworden  -war,  mag 
zum  Schlüsse  noch  die  Art  und  Weise  dartun,  in  der  Bentham  in  seiner 
—  freilich  erst  1787  erschienenen  —  „defence  of  usury"  das  Thema  des 
Zinsnehmens  behandeln  konnte.  Von  einer  ernsten  Verteidigung  des 
letzteren  ist  keine  Rede  mehr.  Die  Gründe  der  Alten  und  der  Kanonisten 
werden  nur  erwähnt,  um  einen  dankbaren  Stoff  für  witzige  Bemerkungen 
zu  bieten;  und  Aristoteles  wird  als  Erfinder  des  Grundes  von  der  Sterilität 
des  Geldes  mit  den  Worten  persifliert,  daß  er  „niemals  im  Stande  gewesen 
sei,  an  einem  Geldstücke  irgend  welche  Organe  zu  entdecken,  die  zur 
Erzeugung  anderer  solcher  Stücke  hätten  dienen  können"  usw.  (Letter.  X)^). 

Italien  stand  unmittelbar  unter  den  Augen  der  römischen  Kirche. 
Italien  war  aber  auch  dasjenige  Land  in  Europa,  das  am  frühesten  zu  einer 
reichen  Blüte  des  Handels  und  Geschäftslebens  gelangt  war,  und  das 
darum  auch  am  frühesten  den  Druck  des  kanonistischen  Zinsverbotes  als 
unerträglich  empfinden  mußte.  Die  Art,  in  der  man  sich  zu  diesem  stellte, 
wußte  beiden  Umständen  Rechnung  zu  tragen*  nirgends  in  Europa  ist 
das  Zins  verbot  der  Tat  nach  unwirksamer  geblieben,  aber  nirgends  in 
Europa  wagten  es  die  Theoretiker  später,  der  kirchlichen  Satzung  offen 
entgegenzutreten. 

Was  sich  hinter  dem  Rücken  des  formell  gültigen  Zinsverbotes  gegen 
dasselbe  tun  ließ,  geschah;  und  es  scheint,  daß  beinahe  alles,  was  die 
Praxis  brauchte,  sich  so  tun  ließ.  Die  bequemsten  Umgehungsformen  bot 
der  Wechselverkehr,  der  ja  in  Italien  seine  Heimat  hatte,  und  die  Stipu- 
lation von  ,,Entschädigungs"-Interessen.  Die  weltliche  Gesetzgebung 
leistete  solcher  Umgehung  bereitwillig  Vorschub,  indem  sie  schon  früh- 
zeitig die  vertragsmäßige  Vorausbestimmung  des  ,, Interesse"  mit  einem 
festen  Perzentsatze  des  Darlehenskapitales  gestattete,  und  nur  ein  Maxi- 
mum der  Interessen  festsetzte,  das  von  den  Parteien  nicht  überschritten 
werden  durfte  2). 

Dagegen  scheint  kein  italienischer  Schriftsteller  vor  dem  18.  Jahr- 
hundert einen  offenen  prinzipiellen  Angriff  gegen  die  kanonostische  Lehre 
unternommen  zu  haben.  Galiani  zitiert  im  Jahre  1750  den  Salmasiüs 
als  den  Ersten,  der  eine  vollkommene  Darstellung  der  Zinslehre  in  zins- 
freundlichem Sinne  geschrieben  habe,  und  gedenkt  aus  der  seitherigen 
italienischen  Literatur  nur  der  Fehde,  die  unlängst  zwischen  dem  Marchese 
Maffei  und  dem  Predigermönch  Fra  Daniello  Concina  über  das  Zins- 
thema entbrannt  war  3).  Auch  andere  hervorragende  Schriftsteller  der- 
selben Zeit  pflegen  als  bemerkenswerte  Vorgänger  hauptsächlich   Sal- 


')  Von  Bentham,  der  als  Schriftsteller  schon  einer  späteren  als  der  hier  behandelten 
Epoche  angehört,  wird  auch  noch  an  anderer  Stelle  die  Rede  sein. 

*)  Vgl.  die  historischen  Ausführungen  von  Vasco,  L'usura  libera  (Scrittori  Classici 
Italiani,  Parte  moderna  Bd.  34)  S.  182ff.,  besonders  195,  198ff.,  210ff. 

»)  Galianj,  DeUa  moneta  (Scritt.  Class.  Ital.,  Parte  mod.  Bd.  4,  S.  240f.). 


42  m.  Verteidiger  des  Leihzinses  bis  ins  18.  Jahrhundert  usw. 

MASiüs  und  einige  andere  Ausländer,  wie  Locke,  Hüme,  Montesquieu 
und  Forbonnais,  von  Einheimischen  dagegen  keinen  Früheren  als  den 
Marchese  Maffei^)  zu  zitieren.  So  hat  denn  wohl  auch  für  die  zinsfreund- 
liche Literatur  der  Italiener  kein  anderer  als  Salmasius  die  Grundlage 
gebildet. 

Die  späte  Rezeption,  die  seine  Lehre  hier  fand,  scheint  mit  keiner 
sonderlichen  Bereicherung  verbunden  gewesen  zu  sein.  Nur  ein  Schrift- 
steller ist  von  diesem  Urteil  auszunehmen,  Galiani.  Dieser  legt  sich  die 
Frage  nach  dem  Wesen  und  der  Gerechtigkeit  des  Leihzinses  in  durchaus 
eigenartiger  Weise  zurecht. 

Wäre  der  Zins  wirklich  das,  führt  er  aus  2;,  wofür  man  ihn  gewöhnlich 
hält,  nämlich  ein  Gewinn  oder  Vorteil,  den  der  Darleihende  mit  seinem 
Gelde  macht,  so  wäre  er  in  der  Tat  verwerflich:  denn  „jeder  Gewinn,  ob 
groß  oder  klein,  den  das  seiner  Natur  nach  unfruchtbare  Geld  abwirft, 
ist  tadelnswert;  auch  kann  man  solchen  Gewinn  nicht  eine  Frucht  von 
Bemühungen  nennen,  denn  die  Bemühung  leistet  jener,  der  das  Darlehen 
nimmt,  nicht  jener,  der  es  gibt"  (S.  244).  Aber  der  Zins  ist  gar  kein  wahrer 
Gewinn,  sondern  nur  eine  Ergänzung  dessen,  was  zur  Gleichstellung 
zwischen  Leistung  und  Gegenleistung  fehlt.  Gerechter  Weise  sollen  beide 
gleichwertig  sein.  Da  der  Wert  das  Verhältnis  ist,  in  dem  die  Sachen  zu 
unseren  Bedürfnissen  stehen,  so  wäre  es  ganz  irrig,  die  Äquivalenz  in  einer 
Gleichheit  des  Gewichtes,  der  Stückzahl  oder  der  äußeren  Gestalt  zu 
suchen;  es  kommt  vielmehr  einzig  darauf  an,  daß  eine  Gleichheit  des 
Nutzens  bestehe.  In  dieser  Rücksicht  sind  nun  gegenwärtige  und  künftige 
Geldsummen  von  gleicher  Größe  nicht  gleichwertig,  gerade  so  wie  im 
Wechselverkehr  gleich  große  Geldsummen  an  verschiedenen  Orten  nicht 
gleichwertig  sind.  Und  geradeso  wie  der  Wechselgewinn  (cambio)  trotz 
seiner  scheinbaren  Gestalt  eines  Aufgeldes  (soprapiü)  in  Wahrheit  eine 
Ausgleichung  ist,  die,  bald  dem  örtlich  gegenwärtigen,  bald  dem  entfernten 
Gelde  beigefügt,  die  Gleichheit  des  inneren  Wertes  beider  herstellt,  ebenso 
ist  der  Darlehenszins  nichts  anderes  als  die  Ausgleichung  des  verschiedenen 
Wertes  gegenwärtiger  und  zeitlich  entfernter  Geldsummen  (S.  243  ff.). 

Mit  diesem  interessanten  Gedanken  —  der  in  flüchtigerer  Erwähnung 
allerdings  auch  schon  vor  ihm  berührt  worden  war  3)  —  hat  Galiani  einen 
neuen  Weg  der  Rechtfertigung  des  Leihzinses  eingeschlagen,  der  ihn 
unter  Anderem  einer  gewissen  mißlichen  Beweisführung  überhebt,  der 


1)  Impiego  del  danaro  1744.  Ich  hatte  das  Buch  nicht  selbst  zur  Hand.  Wie  mir 
jedoch  der  verstorbene  Prof.  LuiGi  Cossa  mitzuteilen  die  Güte  hatte,  ist  der  Inhalt 
des  Buches  zum  größten  Teile  aus  einem  im  Jahre  zuvor  erschienenen  Werke  des  zins- 
ireundlichen  holländischen  Theologen  Broedersen  (De  usuris  licitis  et  illicitis,  1743) 
geschöpft. 

*)  a.  a.  0.  V.  Buch,  I.  Kap. 

^)  Von  Petty  und  Vaughan;  siehe  oben  S.  37. 


Galiani.    Beccaria.  43 

sich  seine  Vorgänger  hatten  unterziehen  müssen.  Salmasiüs  und  seine 
Nachfolger  hatten  nämlich,  um  dem  Vorwurf  der  Verletzung  der  Gleich- 
heit zwischen  Leistung  und  Gegenleistung  zu  entgehen,  sich  auf  den 
Beweis  einlassen  müssen,  daß  es  auch  an  verbrauchlichen,  und  möglicher- 
weise schon  zu  Beginn  der  Darlehensfrist  wirklich  verbrauchten  Sachen 
einen  fortdauernden  Gebrauch  gebe,  für  dessen  separate  Überlassung  ein 
separates  Entgelt,  der  Zins,  mit  Recht  gefordert  werde.  Diese  immer 
etwas  fatale  Beweisführung  wurde  durch  Galianis  Wendung  überflüssig. 

Leider  ist  aber  der  Abschluß,  den  der  Gedanke  bei  Galiani  findet, 
sehr  wenig  befriedigend.  Er  erblickt  nämlich  den  Grund  dafür,  daß  gegen- 
wärtige Geldsummen  regelmäßig  mehr  wert  sind  als  künftige,  ausschließ- 
lich in  dem  verschiedenen  Grad  ihrer  Sicherheit.  Eine  Forderung  auf 
künftige  Zahlung  einer  Geldsumme  ist  allerlei  Gefahren  ausgesetzt,  um 
deren  Willen  man  sie  geringer  schätzt,  als  eine  gleich  große  präsente  Summe. 
Indem  der  Zins  zur  Ausgleichung  dieser  Gefahren  bezahlt  wird,  erscheint 
er  im  Lichte  einer  Assekuranzprämie.  Galiani  gibt  dieser  Auffassung 
drastischen  Ausdruck,  wenn  er  einmal  die  „sogenannte  Frucht  des  Geldes" 
für  einen  Preis  des  „Herzklopfens"  (prezzo  del  batticuore)  erklärt  (S.  247), 
und  ein  andermal  geradezu  sagt,  daß  jenes  Ding,  das  man  Frucht  des 
Geldes  nennt,  passender  Versicherungspreis  (prezzo  dell'  assicurazione) 
ieißen  könnte  (S.  252).  Damit  war  freilich  das  Wesen  des  Darlehenszinses 
gründlich  verkannt. 

Die  Art,  in  der  die  späteren  italienischen  Autoren  des  18.  Jahrhunderts 
das  Zinsproblem  behandelten,  ist  in  geringerem  Maß  erwähnenswert. 
Auch  die  hervorragenderen  unter  ihnen  —  wie  Genovesi^)  und  Bec- 
caria 2)  —  sowie  jene,  die  die  Materie  des  Zinses  monographisch  bearbeiteten, 
wieVAsco3),  bewegen  sich  überwiegend  in  den  Geleisen  der  seit  Salmasiüs 
traditionell  gewordenen  Lehre. 

Am  bemerkenswertesten  sind  noch  die  Ausführungen  Beccarias. 
Er  unterscheidet  scharf  zwischen  Interesse  und  Zins  (usura):  das  erstere 
ist  der  unmittelbare  Nutzen  einer  Sache,  der  Zins  dagegen  „der  Nutzen 
des  Nutzens"  (1'  utilitä  dell'  utilitä).  Einen  unmittelbaren  Nutzen  (Inter- 
esse) geben  alle  Güter.  Speziell  das  Interesse  des  Geldes  besteht,  da  das 
Geld  allgemeines  Wertmaß  und  Repräsentant  des  Wertes  aller  anderen 
Güter  ist,  aus  dem  Nutzen,  den  die  repräsentierten  Güter  geben  können. 
Da  insbesondere  jede  Geldsumme  ein  bestimmtes  Stück  Land  repräsentiert 
oder  repräsentieren  kann,  so  wird  auch  das  Interesse  der  Geldsumme 


>)  Lezioni  di  Economia  Civile  1769  (Scritt.  Cl.  Ital.  part.  mod.  Bd.  9)  II.  Teil, 
Kap.  XIII. 

«)  Elementi  di  Economia  Pubblica;  verfaJBt  1769—1771,  zuerst  abgedruckt  1804 
n  der  Sammlung  der  Scritt.  Cl.  It.  part.  mod.  Bd.  11  u.  12;  insbesondere  IV.  Teil, 
Kap.  6  und  7. 

*)  Usura  libera;  Bd.  34  der  obigen  Sammlung  (parte  mod.). 


44  III.  Verteidiger  des  Leibzinses  bis  ins  18.  Jahrhundert  usw. 

durch  den  jährlichen  Ertrag  dieses  Landes  repräsentiert.  Es  ändert  sich 
daher  auch  mit  der  Größe  dieses  Ertrages,  und  der  mittlere  Satz  des  Geld- 
interesse wird  dem  mittleren  Ertrag  des  Grundes  und  Bodens  gleichkommen 
(S.  116ff.). 

Da  in  dieser  Auseinandersetzung  das  Wort  „Interesse"  offenbar 
dasselbe  bedeutet,  was  wir  den  ursprünglichen  Kapitalgewinn  nennen 
würden,  so  können  wir  in  der  obigen  Stelle  einen  freilich  äußerst  primitiven 
Versuch  erblicken,  die  Existenz  und  Größe  des  ursprünglichen  Kapital- 
zinses aus  der  Möglichkeit  von  Bodenkäufen  zu  erklären.  Wie  wir  indes 
später  sehen  werden,  hatte  derselbe  Gedanke  schon  einige  Jahre  zuvor 
durch  einen  anderen  Schriftsteller  eine  viel  vollkommenere  Ausführung 
erlangt. 

Einmal  berührt  Beccaria  auch  das  von  Galiani  angeschlagene 
Motiv  vom  Einfluß  der  Zeit,  und  von  der  Analogie  des  Wechselzinses,  der 
ein  Interesse  des  Ortes  sei  (S.  122);  aber  er  geht  darüber  viel  flüchtiger 
hinweg. 

Das  katholische  Frankreich  war  unterdessen  in  Theorie  und  Praxis 
zurückgeblieben.  Seine  staatliche  Zinsengesetzgebung  genoß  durch  Jahr- 
hunderte den  Ruf,  die  strengste  in  Europa  zu  sein.  Zu  einer  Zeit,  in  der 
man  anderwärts  übereinstimmend  dazu  gekommen  war,  das  Zinsnehmen 
entweder  ganz  offen,  oder  doch  in  der  sehr  durchsichtigen  Maske  der 
voraus  stipulierten  Interessen  zu  gestatten,  fand  es  Ludwig  XIV.  für 
passend,  das  bestehende  Zinsenverbot  in  solcher  Ausdehnung  zu  erneuern, 
daß  auch  die  Handelszinsen  untersagt  wurden:  der  einzige  Markt  von 
Lyon  wurde  von  diesem  Verbote  ausgenommen  i).  Hundert  Jahre  später, 
als  man  anderwärts  die  längst  überwundenen  Zinsenverbote  bereits  im 
Tone  eines  Sonnenfels  und  Bentham  zu  bespötteln  anfing,  standen  sie 
vor  den  Gerichtshöfen  Frankreichs  noch  immer  in  unheilvoller  Geltung; 
und  erst  dem  Jahre  1789  war  es  beschieden,  wie  mit  so  vielen  anderen, 
so  auch  mit  dieser  Institution  des  mittelalterlichen  Geistes  aufzuräumen: 
durch  ein  Gesetz  vom  12.  Oktober  1789  wurde  das  Zinsenverbot  förmlich 
aufgehoben  und  durch  eine  Zinstaxe  von  5%  ersetzt. 

Wie  die  Gesetzgebung,  so  hielt  auch  die  Theorie  Frankreichs  am 
strengen  kanonistischen  Standpunkte  am  zähesten  fest.  Wie  wenig  um 
die  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  Molinaeus  durchzugreifen  vermochte, 
haben  wir  bereits  gesehen.  Am  Ende  des  16.  Jahrhunderts  findet  ein  sonst 
so  erleuchteter  Schriftsteller,  wie  Johannes  Bodinus,  die  Zinsenverbote 
völlig  gerechtfertigt,  lobt  die  Gesetzgeber,  die  sie  erlassen,  wegen  ihrer 
Weisheit,  und  hält  es  für  das  Sicherste,  den  Zins  mit  Stumpf  und  Stiel 
auszurotten  (,,usurarum  non  modo  radices  sed  etiam  fibras  omnes  am- 
putare")^).  Im  17.  Jahrhundert  schrieb  allerdings  der  Franzose  Salmasiu» 

1)  Vasco  a.  a.  0.  S.  205?. 

«)  De  Republica  II.  Aufl.  1591  V.  II,  S.  799ff. 


Frankreich.    Bodin,  Law,  Melon,  Montesquieu,  Pothier.  45 

glänzend  für  den  Zins,  aber  er  tat  es  außerhalb  Frankreichs.  Im  18.  Jahr- 
hundert mehrt  sich  endlich  die  Zahl  der  zinsenfreundlichen  Schriftsteller. 
Ein  Law  kämpft  bereits  für  die  gänzliche  Befreiung  des  Zins  Verkehres, 
auch  von  den  Zinstaxen i);  ein  Melon  erklärt  den  Zins  für  eine  unabweis- 
bare gesellschaftliche  Notwendigkeit,  und  überläßt  es  den  Theologen,  ihre 
moralischen  Skrupel  mit  dieser  Notwendigkeit  auseinanderzusetzen  2).  Ein 
Montesquieu  erklärt,  daß  es  zwar  eine  sehr  gute  Handlung  sei,  einem 
anderen  sein  Geld  ohne  Zinsen  zu  leihen;  allein  dies  könne  doch  nur  Gegen- 
stand eines  religiösen  Rates,  und  nicht  eines  bürgerlichen  Gesetzes  sein  3). 
Aber  immer  noch  fanden  sich  auch  Schriftsteller,  die  ihnen  zugunsten 
der  alten  strengen  Lehre  Widerpart  hielten. 

Unter  diesen  späten  Verfechtern  der  kanonistischen  Doktrin  ragen 
besonders  zwei  hervor;  der  hoch  angesehene  Jurist  Pothier  und  der 
Physiokrat  Mikabeau. 

Pothier  verstand  es,  aus  dem  Wust  der  kanonistischen  Argumente 
die  haltbarsten  herauszulesen  und  mit  großem  Geschick  und  Scharfsinn 
zu  einer  Lehre  zu  verarbeiten,  in  der  sie  in  der  Tat  zu  sehr  wirksamer 
Geltung  gebracht  wurden.  Ich  lasse  die  charakteristische  Kemstelle,  die 
schon  die  Aufmerksamkeit  mehrerer  Bearbeiter  der  Zinslehre  auf  sich 
gezogen  hat,  in  der  Anmerkung  folgen*). 


*)  z,  B.  IL  Memoire  sur  les  banques;  Economistes  financiers  du  XVIII.  Sidde, 
Ed.  Daire,  Paris  1861  S.  571. 

•)  Essai  politique  sur  le  commerce,  ebenda  S.  742. 

»)  Esprit  des  lois  XXIL 

*)  Die  Stelle  findet  sich  bereits  bei  Rizy,  über  Zinstaxen  und  Wuchergesetze, 
von  dem  der  nachstehende  Auszug  herrührt,  und  bei  Knies,  Kredit,  I  S.  347.  Sie  lautet: 
„Es  ist  eine  Forderung  der  Billigkeit,  daß  die  Leistungen,  welche  bei  entgeltlichen 
Verträgen  von  der  einen  und  anderen  Seite  gemacht  werden,  von  gleichem  Werte  seien, 
und  daß  kein  Teil  mehr  gebe  als  er  empfangen,  oder  mehr  empfange  als  er  gegeben  hat. 
Alles  also,  was  der  Darleiher  von  dem  Schuldner  über  das  ihm  zugezählte  Kapital  ver- 
langen möchte,  ist  ungebührlich  verlangt;  denn  schon  mit  der  Zurückzahlung  des 
Kapitals  allein  empfängt  er  genau  dasjenige,  was  er  gegeben  hat.  Bei  unvertretbaren 
Sachen  zwar,  welche  man  gebraucht,  ohne  sie  zu  zerstören,  mag  allerdings  ein  Mietzins 
unbedenklich  bewilligt  werden,  weil  hier  der  Gebrauch  jederzeit  (in  Gedanken  wenigstens) 
von  der  Sache  selbst  ganz  wohl  getrennt  werden  kann,  folglich  auch  einer  Schätzung 
unterliegt  und  einen  Preis  hat,  der  von  dem  Preise  der  Sache  unterscheidbar  und  unter- 
schieden ist.  Wenn  ich  daher  jemandem  eine  solche  Sache  zum  bloßen  Gebrauche  über- 
geben habe,  so  steht  nichts  entgegen,  daß  ich  mir  nebst  der  ZurücksteUung  des  in  meinem 
Eigentum  verbliebenen  Gegenstandes  auch  einen  Mietzins  bedinge,  welcher  den  Preis 
für  den  an  der  Sache  gestatteten  Gebrauch  darstellt.  Ganz  anders  ist  es  jedoch  mit 
denjenigen  Gegenständen,  welche  die  Rechtsgelehrten  als  vertretbare  Sachen  zu 
bezeichnen  pflegen.  Denn  da  diese  durch  den  Gebrauch  notwendig  zerstört  werden, 
so  ist  es  uimiöglich,  sich  rücksichtlich  derselben  einen  Gebrauch  vorzustellen,  der  von 
der  Sache  selbst  verschieden  wäre  und  einen  andern,  als  den  durch  die  Sache  repräsen- 
tierten Wert  besäße.  Hieraus  folgt  aber  mit  Notwendigkeit,  daß  man  die  Benutzung 
einer  vertretbaren  Sache  einem  andern  gar  nicht  überlassen  kann,  ohne  ihm  zugleich 
die  Sache  selbst  eigentümlich  zu  überlassen.    Wenn  ich  Dir  eine  Summe  Gelds  untere 


46  ni.  Verteidiger  des  Leihzinses  bis  ins  18.  Jahrhundert  usw. 

Ihm  sekundierte,  freilich  mit  mehr  Eifer  als  Glück,  der  Verfasser 
der  Philosophie  rurale^),  Mirabeau.  Seine  Ausführungen  über  den  Zins 
gehören  zu  dem  Konfusesten,  was  je  über  diese  Materie  geschrieben  worden 
ist.  Er  ist  ein  fanatischer  Gegner  des  Leihzinses  und  an  Gründen,  die 
gegen  diesen  sprechen  sollen,  unerschöpflich.  Er  führt  unter  anderm 
aus,  daß  es  an  jedem  rechtmäßigen  Titel  dafür  fehle,  das  Geld  entgeltlich 
zu  vermieten.  Erstlich  habe  das  Geld  gar  keinen  natürlichen  Gebrauch, 
sondern  repräsentiere  nur.  „Aus  seinem  repräsentativen  Charakter 
Gewinn  ziehen,  heißt  aber  in  einem  Spiegel  die  Figur  suchen,  die  er  dar- 
stellt". Sodann  komme  den  Geldbesitzern  auch  der  Grund  nicht  zu  statten, 
daß  sie  vom  Ertrage  ihres  Geldes  leben  müssen:  denn  dem  ließe  sich  so 
abheKen,  daß  sie  das  Geld  in  andere  Güter  verwandeln  und  dann  vom 
Ertrag  ihrer  Vermietung  leben  könnten!  Endlich  finde  beim  Gelde  nicht 
ebenso  wie  bei  Häusern,  Möbeln  u.  dgl.  eine  Abnützung  statt;  es  dürfe 
darum  gerechter  Weise  dafür  auch  keine  Abnützungsgebühr  erhoben 
werden  2). 

Man  wird  wahrscheinlich  schon  diese  Gründe  herzlich  schwach  finden. 
Aber  Mirabeau  steigt  in  seinem  blinden  Eifer  noch  tiefer.  Er  kann  sich 
der  Einsicht  nicht  entziehen,  daß  der  Schuldner  aus  der  Verwendung  des 
Geldes,  dem  „emploi",  die  Mittel  ziehen  kann,  um  für  die  geborgten  Kapi- 
talien einen  Zins  zu  bezahlen.  Aber  auch  diese  Einsicht  wendet  er  gegen 
den  Zins!  Erführt  aus,  daß  die  Borger  immer  den  Schaden  haben  müssen, 
weil  es  unmöglich  sei,  ein  Gleichgewicht  zwischen  Zins  und  emploi  her- 
zustellen. Man  weiß  nicht,  wieviel  die  Landwirtschaft  dem  borgenden 
Landwirt  eintragen  wird,  es  kommen  unvorhergesehene  Unfälle,  und 
darum  (!)  wird  der  Borger  immer  (!)  zu  kurz  kommen 3).  Ja,  noch  mehr! 
Einmal  leitet  Mirabeau  aus  der  sehr  natürlichen  Tatsache,  daß  jeder 
Private  lieber  Zinsen  bekommt  als  zahlt,  alles  Ernstes  ein  Argument 
dafür  ab,  daß  das  Zinsenzahlen  dem  Schuldner  schädlich  sein  muß!*) 

Auf  solche  Gründe  gestützt,  läßt  er  an  Schärfe  des  Verdammungs- 
urteils gegen  den  Geldzins  nichts  fehlen.   „AUes  in  allem",  sagt  er'),  „der 


der  Verbindlichkeit  übergebe,  mir  nach  Ablauf  einer  bestimmten  Zeit  eine  gleiche  Summe 
zurückzustellen,  so  erhältst  Du  von  mir  einzig  jene  Summe  Geldes  und  nichts  darüber. 
Der  Gebrauch,  den  Du  vom  Gelde  machst,  ist  in  der  Ausübung  des  Eigentumsrechtes 
eingeschlossen,  das  ich  Dir  über  die  dargeliehenen  Geldstücke  übertragen  habe.  Es  ist 
nichts  Besonderes,  nichts,  was  Du  noch  außer  der  übergebenen  Summe  empfangen 
hättest.  Ich  habe  Dir  nur  diese  Summe  und  nichts  als  diese  Summe  gegeben;  ich  kann 
also  auch  rechtlicherweise  nichts  als  den  dargeliehenen  Betrag  von  Dir  zurückverlangen; 
denn  das  Recht  befiehlt,  daß  nur  das  erstattet  werde,  was  gegeben  worden  ist." 

^)  Amsterdam  1764. 

")  a.  a.  0.  S.  269ff. 

»)  S.  257—262. 

*)  S.  267. 

»)  S.  284. 


Mirabeau.  47 

Geldzins  ruiniert  die  Gesellschaft,  indem  er  die  Einkünfte  in  die  Hände 
von  Leuten  bringt,  die  weder  Grundeigentümer,  noch  Produzenten,  noch 
Industrielle  sind,  und  die  .  .  .  nur  als  Hornisse  angesehen  werden  können, 
die  von  der  Plünderung  des  Bienenstockes  der  Gesellschaft  leben." 

Und  dennoch  ist  selbst  Mirabeau  nicht  im  Stande,  die  Berechtigung 
des  Zinsnehmens  in  gewissen  Fällen  zu  leugnen.  Er  muß  daher,  sehr  gegen 
seine  Neigung,  das  Prinzip  des  Zinsverbotes  durch  einige  Ausnahmen 
durchbrechen,  deren  Auswahl  sich  auf  ganz  willkürliche  und  haltlose 
Distinktionen  gründet^). 

Es  kann  selten  eine  dankbarere  Aufgabe  gegeben  haben,  als  in  der 
zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  die  Widerlegung  einer  Lehre  war, 
die  längst  überlebt,  längst  innerlich  zerfallen,  von  den  einen  verabscheut, 
von  den  andern  verspottet,  wie  eine  morsche  Ruine  in  diö  Gegenwart 
hereinragte,  und  die  jetzt  zu  allem  "Ül)erflusse  zu  so  kläglichen  wissen- 
schaftlichen Stützen  ihre  Zuflucht  zu  nehmen  gezwungen  war.  Diese 
überaus  dankbare  Aufgabe  wurde  von  Türgot  ergriffen,  und  mit  ebenso 
außerordentlichem  Geschick  als  glänzendem  Erfolge  gelöst.  Sein  Memoire 
sur  les  prets  d'argent^)  ist  ein  ebenbürtiges  Seitenstück  zu  Salmasiüs* 
Wucherschriften.  Zwar  wird  der  heutige  Forscher  in  seinen  Räsonnements 
neben  einigen  guten  gar  nicht  wenige  schlechte  Gründe  finden.  Aber  gute 
und  schlechte  Gründe  werden  mit  so  viel  Geist  und  Scharfsinn,  mit  so 
großer  rhetorischer  und  dialektischer  Kunst  und  mit  so  schlagenden 
Wendungen  vorgetragen,  daß  die  Wirkung  auf  ihr  Zeitalter  keine  andere 
als  eine  siegreiche  sein  konnte. 

Da  der  Reiz  der  Arbeit  nicht  so  sehr  in  den  vorgetragenen  Gedanken 
selbst,  die  sich  vielmehr  zum  größten  Teil  mit  den  althergebrachten  Argu- 
menten der  Vorgänger  decken,  als  in  der  packenden  Einkleidung  derselbe^ 
liegt,  so  wäre  ein  genaues  Eingehen  auf  den  Inhalt  des  Memoire  nur  dann 
lohnend,  wenn  ich  bedeutende  Bruchstücke  desselben  im  vollen  Wortlaute 
reproduzieren  würde,  worauf  ich  aus  Raumrücksichten  verzichten  muß. 
Ich  begnüge  mich  daher,  einige  markantere  Züge  aus  den  Ausführungen 
TüRGOTS  hervorzuheben. 

Als  wichtigsten  Rechtfertigungsgrund  des  Zinses  sieht  er  das  Eigen- 
tumsrecht an,  das  der  Gläubiger  an  seinem  Gelde  hat.  Kraft  desselben 
hat  er  ein  „unverletzliches"  Recht,  über  dasselbe  zu  disponieren  wie  er 
will,  und  auf  seine  Veräußerung  und  Vermietung  Bedingungen  zu  legen, 
wie  er  sie  für  gut  findet,  z.  B.  die  Entrichtung  eines  Zinses  (§  23  f.).  Offen- 
bar ein  schiefes  Argument,  mit  dem  man  ebensogut  wie  die  Rechtmäßigkeit 
eines  Zinses  überhaupt,  auch  die  Rechtmäßigkeit  eines  Wucherzinses  von 
100%  beweisen  könnte  I 

')  Siehe  besonders  S.  276,  290,  292f.,  298f. 

*)  Verfaßt  im  Jahre  1769,  veröffentlicht  zwanzig  Jahre  später,  1789.  Ich  zitiere 
nach  der  Gesamtausgabe  der  Werke  Turgots  durch  Daire,  Paris  1844, 1.  Bd.  S.  106 — 162. 


48  ni.  Verteidiger  des  Leihzinses  bis  ins  18.  Jahrhundert  usw. 

Den  Einwand  von  der  Unfruchtbarkeit  des  Geldes  tut  Turgot  mit 
denselben  Gründen  ab  wie  seine  Vorgänger  (§  25). 

Besondere  Mühe  nimmt  sich  Türgot  mit  dem  oben  reproduzierten 
Räsonnement  Pothiers.  Die  These  Pothiers,  daß  Leistung  und  Gegen- 
leistung billiger  Weise  einander  gleich  sein  sollen,  was  im  verzinslichen 
Darlehen  nicht  zutreffe,  weist  er  durch  die  Ausführung  zurück,  daß  Gegen- 
stände, die  man  freiwillig,  ohne  Betrug  oder  Zwang,  gegen  einander  aus- 
tauscht, in  gewissem  Sinn  immer  gleichen  Wert  haben.  Auf  das  fatale 
Gegenargument,  daß  an  verbrauchlichen  Sachen  sich  nicht  auch  noch 
«in  von  der  Sache  selbst  gesonderter  Gebrauch  denken  lasse,  erwidert  er 
mit  dem  Vorwurf  juristischer  Spitzfindigkeit  und  unzulässiger  meta- 
physischer Abstraktion,  und  führt  die  altbeliebte  Analogie  zwischen  der 
Vermietung  des  Geldes  und  der  Vermietung  einer  ausdauernden  Sache, 
etwa  eines  Diamanten,  durch:  „Was!  man  soll  von  mir  für  den  winzigen 
Nutzen,  den  ich  aus  einem  Möbelstück  oder  einem  Geschmeide  ziehe, 
eine  Bezahlung  verlangen  können;  und  es  soll  ein  Verbrechen  sein,  mich 
für  den  ungeheueren  Vorteil  etwas  zahlen  zu  lassen,  den  ich  vom  Gebrauch 
einer  Summe  Geldes  während  derselben  Zeit  ziehe?  und  das,  weil  der 
subtile  Verstand  eines  Rechtsgelehrten  in  dem  einen  Fall  den  Gebrauch 
einer  Sache  von  dieser  selbst  sondern  kann,  und  im  anderen  Fall  dies 
nicht  kann?    Das  ist  in  Wahrheit  zu  lächerlich"  (S.  128). 

Unmittelbar  darauf  scheut  freilich  auch  Türgot  selbst  nicht  meta- 
physische Abstraktion  und  juristische  Spitzfindigkeit.  Um  nämlich  den 
Grund  abzuwehren,  daß  der  Schuldner  Eigentümer  des  geborgten  Geldes 
wird  und  daher  auch  dessen  Gebrauch  ihm  gehöre,  konstruiert  er  ein 
Eigentum  am  Wert  des  Geldes  und  unterscheidet  es  vom  Eigentum  am 
Stück  Metall:  dieses  gehe  allerdings  auf  den  Schuldner  über,  aber  jenes 
bleibe  bei  dem  Gläubiger  zurück. 

Sehr  bemerkenswert  sind  endlich  einige  Ausführungen,  in  denen 
Türgot,  dem  Vorbild  Galianis  folgend,  den  Einfluß  der  Zeit  auf  die 
Wertschätzung  der  Güter  hervorhebt.  Einmal  zieht  er  die  uns  schon 
bekannte  Parallele  zwischen  dem  Wechselgeschäft  und  dem  Darlehen. 
Geradeso  wie  man  im  Wechselgeschäft  weniger  Geld  an  einem  Orte  gibt, 
um  eine  größere  Summe  an  einem  anderen  Orte  zu  bekommen,  gibt  man 
im  Darlehen  weniger  Geld  in  einem  Zeitpunkt,  um  mehr  Geld  in  einem 
anderen  Zeitpunkt  zu  bekommen.  Der  Grund  beider  Erscheinungen  liegt 
darin,  daß  „die  Differenz  der  Zeit,  wie  die  des  Ortes,  eine  reelle  Differenz 
im  Werte  des  Geldes  hervorbringt"  (§  23).  Ein  andermal  weist  er  auf 
die  notorische  Differenz  hin,  die  zwischen  dem  Werte  einer  gegenwärtigen 
und  einer  erst  in  einem  entfernten  Zeitpunkte  zu  erlangenden  Summe 
besteht  (§  27),  und  etwas  später  ruft  er  aus:  „Wenn  diese  Herren  voraus- 
setzen, daß  eine  Summe  von  1000  Francs  und  ein  Versprechen  von 
1000  Francs  genau  denselben  Wert  besitzen,  so  stellen  sie  eine  noch  ab- 


Rückblick.  49 

surdere  Voraussetzung  auf;  denn  wenn  diese  beiden  Dinge  von  gleichem 
Wert  wären,  warum  würde  man  denn  überhaupt  borgen?" 

Leider  hat  auch  Turgot  diesen  fruchtbaren  Gedanken  nicht  weiter 
verfolgt:  er  ist  in  seine  anderen  Ausführungen,  ich  möchte  sagen,  un- 
organisch eingestreut,  und  steht  mit  denselben  eigentlich  im  Widerspruche. 
Denn  wenn  erst  Zins  und  Kapitalrückerstattung  zusammen  das  Äquivalent 
des  geliehenen  Kapitales  bilden,  der  Zins  also  ein  Teiläquivalent  der 
Hauptsumme  selbst  ist,  wie  kann  er  dann  ein  Entgelt  für  einen  separaten 
Gebrauch  der  Hauptsumme  sein,  um  dessen  Nachweis  sich  Turgot  früher 
soviel  Mühe  genommen  hat? 

Die  Kontroverse  Turgots  gegen  Pothier  können  wir  als  den  Schluß- 
akt des  dreihundertjährigen  Kampfes  ansehen,  den  die  Jurisprudenz  und 
Nationalökonomie  gegen  die  alte  kanonistische  Zinsdoktrin  geführt  hatte. 
Seit  Turgot  ist  diese  für  den  Bereich  der  Nationalökonomie  abgetan. 
Innerhalb  der  Theologie  fristete  sie  noch  ein  paar  Dezennien  länger  ein 
Scheinleben  fort,  bis  endlich  im  19.  Jahrhundert  auch  diesem  ein  Ende 
gemacht  wurde.  Indem  die  römische  Pönitentiarie  den  Zinsenbezug  auch 
ohne  besonderen  Zinstitel  für  erlaubt  erklärte,  hatte  die  Kirche  selbst  die 
Niederlage  ihrer  einstigen  Doktrin  ratifiziert^). 


Halten  wir  einen  Augenblick  still,  um  einen  prüfenden  Rückblick 
auf  die  durchmessene  Periode  zu  werfen.  Welche  Ergebnisse  hat  sie  ge- 
bracht, und  wieviel  ist  in  ihr  von  der  Wissenschaft  für  die  Erklärung  des 
Zinsproblemes  gewonnen  worden? 

Die  Alten  und  die  Kanonisten  hatten  gesagt:  der  Leihzins  ist  eine 
ungerechte  Übervorteilung  des  Schuldners  durch  den  Gläubiger;  denn 
das  Geld  ist  unfruchtbar,  und  überdies  existiert  gar  kein  besonderer 
„Gebrauch"  des  Geldes,  den  der  Gläubiger  gerechterweise  gegen  ein 
separates  Entgelt  verkaufen  dürfte.  Dem  gegenüber  lautet  die  neue  Lehre: 
der  Leihzins  ist  gerecht;  denn  erstlich  ist  das  Geld  nicht  unfruchtbar, 
indem  man  bei  passender  Anlegung  mit  demselben  einen  Gewinn  machen 
kann,  auf  dessen  Erzielung  der  Gläubiger  zu  Gunsten  des  Schuldners  ver- 
zichtet; und  zweitens  gibt  es  einen  vom  Kapital  selbst  zu  trennenden 
und  separat  verkäuflichen  Gebrauch  desselben. 

Sehen  wir  vom  letzteren,  mehr  formellen  Punkte  voiläufig  ab  —  er 
wird  uns  später  in  einem  anderen  Zusammenhange  nochmals  begegnen  — 
so  liegt  der  Schwerpunkt  der  neuen  Erklärung  in  dem  Hinweis,  daß  das 
Kapital  dem,  der  es  verwendet,  Früchte  bringt.   Es  ist  damit  in  der  neuen 


*)  Funk,  Zins  und  Wucher,  Tübingen  1868  S.  116.  Über  die  Aufnahme,  die  diese 
liberale  Entscheidung  Roms  (vom  18.  August  1830)  bei  einem  Teil  der  französischen 
Geistlichkeit  fand,  siehe  Molinari,  Cours  d'Economie  Politique,  2.  Aufl.  I  S.  333. 
Böhm-Bawerk,  Kapitalzins.    4.  Aufl.  4 


ÖO  III.  Verteidiger  des  Leihzinses  bis  ins  18.  Jahrhundert  usw. 

Lehre  unter  einem  enormen  Aufwand  von  Scharfsinn,  Dialektik  Polemik 
und  Worten  im  Grunde  genommen  derselbe  Gedanke  zum  Durchbruch 
gekommen,  den  etwas  später  Smith  in  seiner  wunderbar  einfachen  Weise 
in  die  wenigen  Worte  faßte,  mit  denen  er  die  ganze  Frage  nach  der  Be- 
rechtigung des  Leihzinses  für  erledigt  hielt:  „as  something  can  every- 
where  be  made  by  the  use  of  money,  something  ought  everywhere  to  be 
paid  for  the  use  of  it"^).  In  unsere  moderne  Terminologie  übersetzt,  würde 
derselbe  Gedanke  lauten:  Es  gibt  einen  Leihzins,  weil  es  einen 
ursprünglichen  Kapitalzins  gibt. 

So  läuft  die  Theorie  des  Salmasius  und  seiner  Nachfolger  im  Grunde 
darauf  hinaus,  daß  sie  den  ausbedungenen  oder  den  Leihzins  erklären 
aus  der  Tatsache  der  Existenz  eines  ursprünglichen  Kapital- 
zinses. 

Wieviel  ist  damit  für  die  Erklärung  des  Zinsproblems  gewonnen?  — 
Gewiß  nicht  ganz  wenig.  Dafür  spricht  schon  der  Umstand,  daß  eine 
Geistesarbeit  von  Jahrhunderten  nötig  war,  um  der  neuen  Lehre  gegen 
widerstrebende  Eindrücke  und  Vorurteile  Glauben  zu  verschaffen.  Aber 
ebenso  gewiß  ist,  daß  mit  jener  Erklärung  noch  lange  nicht  alles  getan 
war.  Das  Problem  des  Leihzinses  war  nicht  gelöst,  sondern  nur  zurück- 
geschoben. Auf  die  Frage:  warum  erhält  der  Gläubiger  ein  immerwährendes 
müheloses  Einkommen  aus  seinem  Leihkapital?  war  die  Antwort  gegeben: 
weil  er  es  auch  bei  eigener  Verwendung  desselben  hätte  erhalten  können. 
—  Aber  warum  hätte  er  dies?  —  Diese  Frage,  die  offenbar  erst  auf  den 
wahren  Ursprung  des  Zinses  zielt,  wird  in  unserer  Epoche  nicht  allein 
nicht  gelöst,  sondern  nicht  einmal  gestellt. 

Alle  Erklärungsanläufe  gelangen  bis  zur  Tatsache,  daß  der,  welcher 
ein  Kapital  in  der  Hand  hat,  damit  einen  Gewinn  machen  kann.  Aber 
hier  erlahmen  sie.  Sie  nehmen  dies  als  eine  Tatsache  hin,  ohne  im  mindesten 
den  Versuch  zu  machen,  sie  selbst  weiter  zu  erklären.  So  Molinaeüs 
mit  dem  Satz,  daß  das  Geld  unterstützt  von  der  Bemühung  der  Menschen 
Frucht  bringt,  und  mit  seiner  Berufung  auf  die  tägliche  Erfahrung.  So 
Salmasius  selbst  mit  seinem  köstlichen  Plaidoyer  für  die  Fruchtbarkeit 
des  Geldes,  in  dem  er  aber  wieder  die  Tatsache  nur  anruft,  ohne  sie  zu 
erklären.  So  aber  auch  noch  die  letzten  und  vorgeschrittensten  National- 
ökonomen der  ganzen  Periode;  ein  Locke,  ein  Law,  ein  Hume,  ein  James 
Steuart,  ein  Justi,  ein  Sonnenfels.  Sie  bieten  bisweilen  überaus  klare 
und  eingehende  Darlegungen,  wie  aus  der  Möglichkeit,  einen  Kapitalgewinn 
zu  machen,  mit  Notwendigkeit  der  Leihzins  hervorgehen,  und  in  der  Größe 
jenes  auch  das  Maß  der  eigenen  Größe  finden  müsse 2)  —  aber  zur  Frage 
nach  dem  Warum  jenes  Kapitalgewinnes  kommt  keiner  von  ihnen*). 

')  Wealth  of  nations,  II.  Buch,  IV.  Kap. 

»)  z.  B.  Sonnenfels  Handlung  5.  A.  S.  488,  497.   Steuart  4.  Buch  I.  Teil  S.  24; 
HüME  a.  a.  0.  S.  60.    Vgl.  oben  S.  35  und  40. 

•)  Einige  Dogmenhistoriker,  die  zugleich  Anhänger  der  später  zu  besprechenden 


Rückblick.  5) 

Das  Verhältnis  dessen,  was  Salmasius  und  seine  Zeit  für  das  Zins- 
problem geleistet,  kann  nicht  besser  illustriert  werden  als  durch  eine 
Parallele  mit  dem  Grundrentenproblem.  Salmasius  hat  —  allerdings 
unter  sehr  erschwerenden  Nebenumständen  —  für  das  Zinsproblem  das 
geleistet,  was  für  das  Grundrentenproblem  als  allzu  selbstverständlich 
gar  nie  geleistet  zu  werden  brauchte:  nämlich  den  Nachweis,  daß  der 
Pächter  die  ausbedungene  Pachtrente  zahlt,  weü  das  Pachtgut  sie  trägt. 
Salmasius  hat  dagegen  für  das  Zinsproblem  nicht  geleistet,  ja  gar  nicht 
zu  leisten  versucht,  was  auf  dem  Gebiet  der  Grundrente  allein  eine  wissen- 
schaftliche Tätigkeit  erheischte:  nämlich  die  Erklärung,  warum  das  Pacht- 
gut in  den  Händen  des  Besitzers  eine  Eente  trägt. 

So  bestand  alles,  was  in  der  oben  betrachteten  Periode  geleistet  worden 
war,  gleichsam  in  der  Zurückdrängung  eines  vorgeschobenen  Postens  auf 
die  Hauptposition.  Das  Leihzinsproblem  wird  so  weit  verfolgt,  bis  es 
mit  dem  allgemeinen  Kapitalzinsproblem  zusammentrifft:  diese  Haupt- 
position wird  aber  weder  genommen,  noch  auch  nur  angegriffen,  und 
der  Kern  des  Zinsproblems  ist  am  Ende  unserer  Epoche  noch  so  gut  wie 
unberührt. 

Dennoch  verging  die  Epoche  auch  für  die  Lösung  des  Hauptproblems 
nicht  ganz  unfruchtbar:  sie  bereitete  seine  künftige  Bearbeitung  wenigstens 
vor,  indem  sie  sein  Objekt,  den  ursprünglichen  Kapitalzins,  aus  ver- 
schwommenen Vorstellungen  heraushob  und  allmählich  zu  klarer  An- 
schauung brachte.  Die  Tatsache,  daß  jemand,  der  mit  einem  Kapital 
arbeitet,  einen  Gewinn  macht,  war  längst  bekannt  gewesen.  Aber  sehr 
lange  unterschied  man  die  Natur  dieses  Gewinnes  nicht  klar  und  war 
geneigt,  den  ganzen  Gewinn  auf  Rechnung  der  Tätigkeit  des  Unternehmers 
zu  setzen.   So  selbst  noch  Locke,  wenn  er  die  Interessen,  die  der  Schuldner 


Produktivitätstheorie  sind,  wie  Röscher,  Funk  und  Endemann,  lieben  es,  den  Schrift- 
stellern der  in  Rede  stehenden  Epoche  „Ahnungen",  oder  wohl  auch  eine  „Einsicht" 
in  die  „Produktivität  des  Kapitales"  zuzuschreiben,  und  sie  damit  als  Vorläufer  für  die 
Produktivitätstheorie  in  Anspruch  zu  nehmen.  Ich  halte  dies  für  ein  Mißverständnis. 
Jene  Schriftsteller  sprechen  freilich  von  der  ,, Fruchtbarkeit"  des  Geldes  und  allerlei 
anderer  Dinge ;  allein  dieser  Ausdruck  dient  in  ihrem  Munde  vielmehr  dazu,  die  Tatsache, 
daß  gewisse  Dinge  einen  Gewinn  bringen,  zu  benennen,  als  zu  erklären.  Sie  nennen 
einfach  alle  Dinge,  die  einen  Gewinn  oder  eine  ,, Frucht"  abwerfen,  eben  deshalb  „frucht- 
bar", ohne  daß  es  ihnen  in  den  Sinn  käme,  damit  eine  förmliche  theoretische  Erklärung 
des  Ursprungs  jener  Gewinne  geben  zu  wollen.  Das  geht  recht  deutlich  aus  den  bezüg- 
lichen Ausführungen  von  Salmasius  hervor.  Wenn  Salmasius  die  Luft,  die  Krankheit, 
den  Tod  und  die  Prostitution  „fruchtbar"  nennt  (siehe  oben  S.  32  in  der  Note),  so  ist 
das  offenbar  nur  eine  drastische  Aussagefonn  für  die  Tatsache,  daß  der  Staat,  der  die 
Luft  besteuert,  daß  die  Ärzte,  Totengräber  und  Prostituierten  aus  den  genannten  Dingen 
einen  Gewinn  ziehen.  Aber  ebenso  offenbar  dachte  Salmasius  nicht  im  mindesten 
daran,  den  Totengräbersold  ernstlich  aus  einer  produktiven  Kraft  abzuleiten,  die  dem 
Tode  innewohnt.  Und  viel  ernster  ist  auch  die  Fruchtbarkeit  des  Geldes  nicht  zu  nehmen, 
die  Salmasius  eben  durch  die  Parallele  mit  jenen  Beispielen  erläutern  wollte. 

4* 


0,  OF  lU-  LIB, 


Ö2  III'  Verteidiger  des  Leihzinses  bis  ins  18.  Jahrhundert  usw. 

dem  Gläubiger  zahlt,  als  die  „Frucht  von  eines  anderen  Mannes  Arbeit" 
ansieht,  und  die  zugestandene  Möglichkeit,  daß  das  geborgte  Geld,  in 
Geschäften  angelegt,  Früchte  bringen  kann,  ausdrücklich  auf  die  Be- 
mühung des  Schuldners  zurückführt.  Indem  man  nun  behufs  der  Recht- 
fertigung des  Leihzinses  veranlaßt  war,  den  Einfluß,  den  das  Kapital 
auf  die  Entstehung  solcher  Gewinne  nimmt,  stärker  hervorzuheben,  mußte 
es  endlich  zur  klaren  Einsicht  kommen,  daß  ein  Teil  der  Unternehmer- 
gewinne ein  vom  Ertrag  der  Arbeit  wohl  zu  unterscheidender  Einkommens- 
zweig sui  generis,  ein  eigentlicher  Gewinn  vom  Kapitale  sei.  Diese  Ein- 
sicht, deren  deutliche  Keime  sich  schon  bei  Molin aeus  und  Salmasius 
finden,  steht  am  Ende  der  Periode  in  den  Schriften  eines  Hume  und  anderer 
in  voller  Schärfe  da.  War  aber  einmal  für  das  Phänomen  des  ursprünglichen 
Kapitalzinses  die  Aufmerksamkeit  erregt,  dann  konnte  es  nicht  fehlen, 
daß  man  früher  oder  später  auch  nach  den  Ursachen  dieses  Phänomens 
zu  fragen  anfing.  Hiermit  tritt  aber  die  Geschichte  des  Kapitalzins- 
problems in  eine  neue  Epoche. 


IV. 

Turgot's  Fruktiflkationstheorie. 

Soweit  meine  Kenntnis  der  volkswirtschaftlichen  Literatur  reicht, 
muß  ich  TuRGOT  für  den  ersten  halten,  der  auch  für  den  ursprünglichen 
Kapitalzins  eine  wissenschaftliche  Erklärung  gesucht,  und  damit  das 
Problem  des  Kapitalzinses  in  seinem  vollen  äußeren  Umfange  gestellt  hat. 

Die  Zeit  vor  Türgot  war  einer  wissenschaftlichen  Untersuchung  des 
ursprünglichen  Kapitalzinses  vollkommen  ungünstig  gewesen.  Einerseits 
war  man  erst  kürzlich  zu  klarem  Bewußtsein  darüber  gekommen,  daß 
man  es  hier  mit  einem  selbständigen  eigenartigen  Einkommenszweig  zu 
tun  habe.  Sodann  aber  —  und  das  fiel  noch  mehr  ins  Gewicht  —  fehlte 
es  an  einem  äußeren  Anlaß,  seine  Natur  in  Diskussion  zu  ziehen.  Das 
Problem  des  Leihzinses  war  so  frühzeitig  bearbeitet  worden,  weil  der 
Leihzins  aus  dem  Leben  heraus  angegriffen  worden  war;  und  er  wurde 
so  frühzeitig  angegriffen,  weil  zwischen  den  am  Leihzins  Verhältnisse 
beteiligten  Parteien,  Gläubiger  und  Schuldner,  eine  feindliche  Spannung 
der  Interessen  von  jeher  bestanden  hatte.  AU  das  stand  anders  bei  dem 
ursprünglichen  Kapitalzins.  Man  hatte  ihn  kaum  vom  persönlichen 
Arbeitsverdienst  des  Unternehmers  sicher  scheiden  gelernt,  und  sah  ihn 
jedenfalls  noch  indifferent  an.  Die  Kapitalmacht  war  noch  gering;  zwischen 
ihr  und  der  Arbeit,  den  beiden  am  ursprünglichen  Kapit^ins  beteiligten 
Parteien,  war  ein  Gegensatz  kaum  entwickelt,  jedenfalls  zu  keinem  Klassen- 
gegensatz zugeschärft.  Es  feindete  daher  einstweilen  niemand  diese  Form 
des  Kapitalgewinnes  an,  und  es  hatte  in  weiterer  Folge  auch  niemand 
äußeren  Anlaß,  ihn  zu  verteidigen,  oder  überhaupt  seine  Natur  eingehender 
zu  erforschen.  Wenn  unter  solchen  Verhältnissen  überhaupt  jemand  auf 
den  Gedanken  kommen  sollte,  dies  zu  tun,  so  mußte  es  ein  Systematiker 
sein,  dem  das  theoretische  Bedürfnis  den  äußeren  Anlaß  ersetzte:  echte 
Systematiker  der  National-Ökonomie  gab  es  aber  bis  dahin  noch  nicht. 

Erst  diö  Physiokraten  brachten  ein  wahres  System.  Aber  auch  sie 
gingen  eine  Zeit  lang  noch  achtlos  an  unserm  Problem  vorüber.  Qüesnay, 
der  Stifter  der  Schule,  hat  das  Wesen  des  ursprünglichen  Kapitalzinses 
noch  so  wenig  erfaßt,  daß  er  in  ihm  mehr  einen  Kostenersatz,  eine  Art 
Verlustreserve,  aus  der  die  Abgänge  am  abgenützten  Kapital  und  die 


54  IV.  TuTgots  Fruktilikationstheorie. 

unvorhergesehenen  Schäden  zu  bestreiten  sind,  als  ein  reines  Einkommen 
des  Kapitalisten  erblickt^).  Richtiger  erkannte  Mercier  de  la  RivjiRE*), 
daß  das  Kapital  einen  reinen  Gewinn  bringt;  aber  er  beweist  nur,  daß  ein 
solcher  dem  im  Landbau  verwendeten  Kapitale  nicht  fehlen  dürfe,  damit 
der  Landbau  nicht  zugunsten  anderer  Gewerbe  verlassen  werde;  auf  eine 
Untersuchung,  warum  das  Kapital  überhaupt  Zins  einbringt,  geht  er 
nicht  ein.  Ebensowenig  tut  dies  Mirabeau,  der  über  das  Thema  des 
Kapitalzinses  zwar  sehr  viel,  aber,  wie  wir  wissen,  auch  sehr  schlecht 
geschrieben  hat*). 

So  ist  denn  Turgot,  der  größte  der  Physiokraten,  auch  der  erste 
unter  ihnen  gewesen,  der  für  die  Tatsache  des  ursprünglichen  Kapital- 
zinses eine  weitere  Erklärung  suchte.  Auch  seine  Art,  das  Problem  zu 
behandeln,  ist  noch  bescheiden  und  naiv  genug:  man  sieht  deutlich,  daß 
ihm  nicht  der  Feuereifer  für  ein  großes  soziales  Problem,  sondern  nur  das 
Bedürfnis  eines  reinlichen  Zusammenschlusses  der  Ideen  die  Feder  in 
die  Hand  gedrückt  hatte  —  ein  Bedürfnis,  das  sich  nötigenfalls,  wenn  nur 
eine  plausible  Form  gefunden  wurde,  schon  durch  eine  Erklärung  von 
mäßiger  Tiefe  zufriedenstellen  ließ. 

Während  Turgot  in  dem  uns  schon  bekannten  Memoire  sur  les  prets 
d'argent  lediglich  die  Frage  des  Darlehenszinses  behandelt,  ist  seine  um- 
fassendere Zinstheorie  in  seinem  Hauptwerk  R^flexions  sur  la  formation 
et  la  distribution  des  richesses*)  entwickelt,  oder,  richtiger  gesagt,  nicht 
so  sehr  entwickelt,  als  nur  enthalten.  Denn  Turgot  wirft  die  Frage  nach 
dem  Ursprung  des  Kapitalzinses  formell  gar  nicht  auf;  ebensowenig  widmet 
er  ihr  sonst  eine  zusammenhängende  Betrachtung,  sondern  er  streut  nur 
in  einer  Anzahl  getrennter  Paragraphen  (§§  57,  58,  59,  61,  63,  68  und  71) 
eine  Reihe  von  Bemerkungen  ein,  aus  denen  wir  uns  seine  Theorie  über 
den  Ursprung  des   Kapitalzinses  erst  zusammensetzen  müssen  ß).      Ich 


^)  ,,Les  int6rgts  des  avances  de  rötablissement  des  cultivateurs  doivent  donc 
etre  compris  dans  leurs  reprises  annuelles.  Ils  servent  ä  faire  face  ä  ces  grands 
accidents  et  k  l'entretien  journalier  des  richesses  d'exploitation,  qui 
demandent  ä  etre  r6par6es  sans  cesse."  (Analyse  du  Tableau  ficonomique. 
Ed.  Daire  S.  62.)  Vgl.  auch  die  ausführlichere,  dem  Zitat  unmittelbar  vorhergehende 
Darlegung. 

*)  L'Ordre  Naturel.    Ed.  Daire  S.  459. 

*)  Über  seine  Stellung  zum  Leihzins  siehe  oben  S.  46f.  Was  den  ursprünglichen 
Kapitalzins  angeht,  so  billigt  er  den  Zinsenbezug  von  den  im  Landbau  investierten 
Kapitalien  (Philosophie  rurale  S.  83f.,  dann  295),  ohne  ihn  tiefer  zu  erklären;  den  im 
Handel  und  Gewerbe  errungenen  sieht  er  aber  in  schwankenden  Ausdrücken  mehr  wie 
eine  Frucht  der  Tätigkeit,  ,,de  la  profession",  als  des  Kapitals  an  (S.  278). 

*)  1766  verfaßt,  1769  (in  den  „Ephömörides  du  Citoyen")  veröffentlicht.  Ich 
zitiere  nach  der  Daireschen  Gesamtausgabe  von  Turgots  Werken,  Paris  1844  I.  Bd. 

•)  Die  äußere  Formlosigkeit  der  TuRGOTSchen  Zinserklärung  hat  einen  sonst 
genauen  Erforscher  seiner  Werke  zu  der  Behauptung  verleitet,  daß  Turgot  den  Zins 
überhaupt  nicht  erkläre  (Sivers,  Turgots  Stellung  usw.,  Hildebrands  Jahrbücher 


Turgots  Ideengang.  55 

schlage  für  diese  Theorie  als  kurze  Bezeichnung  den  Namen  Frukti- 
fikationstheorie  vor,  weil  sie  den  gesamten  Kapitalzins  auf  die  dem 
Eigentümer  offenstehende  Möglichkeit  gründet,  für  sein  Kapital  eine  ander- 
weitige Fruktifikation  durch  Ankauf  rentetragenden  Grundes  und  Bodens 
zu  finden. 

Der  Gedankengang  ist  der  folgende: 

Der  Besitz  von  Grundstücken  gewährt  in  der  Grundrente  ein  dauern- 
des, ohne  eigene  Arbeit  zu  gewinnendes  Einkommen.  Da  die  beweglichen 
Güter  auch  unabhängig  von  den  Grundstücken  eine  Benützung  zulassen 
und  ihnen  daher  ein  selbständiger  Wert  zukommt,  so  kann  man  den  Wert 
beider  Gütergattungen  vergleichen,  Grundstücke  in  beweglichen  Gütern 
schätzen  und  gegen  sie  vertauschen.  Der  Tauschpreis  hängt  dabei,  wie 
der  aller  Güter,  vom  Verhältnis  von  Angebot  und  Nachfrage  ab  (§  57), 
Derselbe  bildet  jederzeit  ein  Multiplum  der  aus  dem  Grundstück  zu 
ziehenden  Jahreseinkünfte,  und  pflegt  auch  häufig  durch  diese  Beziehung 
bezeichnet  zu  werden.  Ein  Grundstück,  sagt  man,  verkauft  sich  um  den 
denier  vingt,  denier  trente,  denier  quarante,  wenn  der  Kaufpreis  das 
zwanzigfache,  dreißigfache  oder  das  vierzigfache  der  jährlichen  Guts- 
rente beträgt.  Die  Höhe  des  Multiplums  hängt  wieder  vom  Verhältnis 
des  Angebotes  und  der  Nachfrage,  d.  i.  davon  ab,  ob  mehr  oder  weniger 
Leute  Landgüter  kaufen  und  verkaufen  wollen  (§  58). 

Vermöge  dieser  Verhältnisse  ist  jede  Geldsumme  und  überhaupt  jedes 
Kapital  als  Äquivalent  eines  Grundstücks,  welches  ein  einem  gewissen 
Prozentsatz  des  Kapitals  gleichkommendes  Einkommen  einbringt  (§  59). 

Da  auf  diese  Weise  der  Eigentümer  eines  Kapitales  in  der  Lage  ist, 
sich  aus  demselben  durch  den  Ankauf  von  Grundstücken  eine  fortlaufende 
jährliche  Einnahme  zu  verschaffen,  so  wird  er  nicht  geneigt  sein,  sein 
Kapital  in  einer  gewerblichen  (§  61),  landwirtschaftlichen  (§  63)  oder 
kommerziellen  Unternehmung  (§68)  anzulegen,  falls  er  nicht  auch  hier, 
abgesehen  von  der  Erstattung  aller  sonstigen  Kosten  und  Mühen,  noch 
ebenso  großen  Kapitalgewinn  erwarten  kann,  als  er  sich  durch  den 
Ankauf  von  Grundstücken  verschaffen  könnte.  Es  muß  darum  das  Kapital 
n  allen  den  genannten  Unternehmungszweigen  einen  Gewinn  abwerfen. 

Auf  diese  Weise  erklärt  sich  zunächst  die  wirtschaftliche  Notwendig- 
keit des  ursprünglichen  Kapitalzinses.  Der  Leihzins  leitet  sich  dann  von 
letzterem  einfach  in  der  Weise  ab,  daß  der  kapitallose  Unternehmer  sich 
gerne  bereit  findet,  und  wirtschaftlicherweise  auch  bereit  finden  kann, 
demjenigen,  der  ihm  ein  Kapital  anvertraut,  einen  Teil  des  Gewinnes  ab- 
zutreten, den  das  dargeliehene  Kapital  bringt  (§  71).  —  So  werden  schließ- 
ich  alle  Formen  des  Kapitalzinses  als  notwendige  Folgen  des  Umstandes 


Bd.  22,  S.  175,  183{.).  Das  ist  ein  Irrtum.  Nur  ist  freilich,  wie  sich  zeigen  wird,  seine 
Erklärung  keine  besonders  tief  gehende. 


56  IV.  Turgots  Fruktifikationstheorie. 

erklärt,  daß  man  mit  Kapital  ein  rentetragendes  Grundstück  eintauschen 
kann. 

Wie  man  sieht,  stützt  sich  Turgot  in  diesem  Gedankengang  auf  einen 
Umstand,  auf  den  sich  die  Verteidiger  des  Leihzinses  schon  seit  einigen 
Jahrhunderten,  von  Calvin  angefangen,  gern  berufen  hatten.  Aber  Turgot 
macht  von  diesem  Umstand  einen  wesentlich  anderen,  viel  weitergehenden 
Gebrauch.  Die  Früheren  bedienten  sich  seiner  gelegentlich  und  beispiels- 
weise; Turgot  macht  ihn  zum  systematischen  Angelpunkt.  Jene  erblickten 
darin  nicht  den  einzigen  Grund  des  Tieihzinses,  sondern  koordinierten 
ihm  die  Möglichkeit,  im  Handel,  in  den  Gewerben  usw.  aus  dem  Kapitale 
Gewinn  zu  ziehen:  Turgot  setzt  ihn  allein  an  die  Spitze.  Jene  hatten 
sich  endlich  nur  zur  Erklärung  des  Leihzinses  seiner  bedient:  Turgot 
erklärt  aus  ihm  die  gesamte  Kapitalzinserscheinung.  So  formte  Turgot, 
wenngleich  aus  altem  Stoff,  eine  neue  Lehre,  die  erste  allgemeine  Theorie 
des  Kapitalzinses  ^). 

Für  den  wissenschaftlichen  Wert  dieser  Theorie  ist  das  Schicksal 
sehr  bezeichnend,  das  sie  gefunden  hat:  ich  kann  mich  nicht  erinnern, 
jemals  eine  förmliche  Widerlegung  gegen  sie  gelesen  zu  haben,  aber  man 
hat  sie  stillschweigend  für  ungenügend  erklärt,  indem  man  fortfuhr,  nach 
anderen  Erklärungen  zu  suchen.  Zur  Widerlegung  schien  sie  zu  plausibel, 
zur  Beruhigung  zu  seicht;  sie  ließ  die  Empfindung  übrig,  daß  durch  sie 
noch  nicht  die  letzte  Wurzel  des  Kapitalzinses  bloßgelegt  sein  könne, 
auch  wenn  man  sich  nicht  genau  Rechenschaft  zu  geben  wußte,  an  welchem 
Punkt  der  Mangel  gelegen  war. 


')  Cassel,  Nature  and  necessity  of  Interest,  S.  24,  glaubt  Turgot  in  ungewöhnlich 
lebhaften  Ausdrücken  dagegen  in  Schutz  nehmen  zu  sollen,  daß  er  mit  dem  im  Texte 
vorgeführten  Gedankengang  eine  Erklärung  des  Kapitalzinses  zu  geben  beabsichtigt 
hätte.  Ich  glaube,  völlig  mit  Unrecht.  Die  Turgot  zugeschriebene  „Fruktifikations- 
theorie" ist  nicht  nur  vollkommen  deutlich  bei  ihm  ausgeprägt,  wie  die  oben  zusammen- 
gestellten Textstellen  mit  ihrem  unverkennbaren  inneren  Zusammenhange  wohl  schon 
für  sich  allein  ausreichend  erkennen  lassen,  sondern  sie  ist  auch  ganz  im  Geiste  der 
physiokratischen  Lehre  gelegen.  Die  Bodenrente,  das  als  „pur  don"  der  Natur  erklärte 
„arbeitslose  Einkommen"  —  von  Turgot  in  seinem  §  14  selbst  so  charakterisiert  — 
ist  gewissermaßen  ein  feststehender  archimedischer  Punkt  der  physiokratischen  Ver- 
teilungslehre. An  diesen  archimedischen  Punkt  sucht  und  findet  nun  Turgot  den 
Anschluß  über  die  §§31  und  69  hinüber,  in  deren  ersterem  er  vom  Kapitalzinse  als 
von  einer  zweiten  Sorte  von  arbeitslosem  Einkommen  spricht,  dessen  Ursprung  zu 
erforschen  und  mit  dem  bisher  skizzierten  Verteilungssystem  in  Beziehung  zu  bringen 
sei,  worauf  dann  §  59  den  Ankauf  rentetragender  Grundstücke  als  „erste"  Anwendung 
der  Kapitalien  (premier  emploi  des  capitaux)  voranstellt:  alle  einzelnen  Arten,  Kapital- 
zins zu  erlangen,  werden  dann,  wie  ich  schon  im  Texte  schilderte,  in  vollkommen  par- 
alleler und  symmetrischer  Weise  durch  dieses  Zwischenglied  hindurch  mit  der  MögUch- 
keit,  das  primäre  arbeitslose  Einkommen  der  Bodenrente  sich  zu  verschaffen,  in  logische 
Verbindung  gebracht.  Für  diese  Zusammenhänge  scheint  indes  Cassel,  dessen  dogmen- 
geschiclttliche  Urteile  mir  auch  sonst  durch  starken  Subjektivismus  getrübt  zu  sein 
scheinen,  kein  Auge  gehabt  zu  haben. 


Kritik.  57 

Auf  solche  genaue  Rechenschaft  nachträglich  einzugehen,  scheint  mir 
auch  heute  noch  keineswegs  überflüssig.  Ich  werde  damit  nicht  bloß  eine 
Fonnalität  erfüllen,  die  das  Versprechen,  eine  kritische  Dogmengeschichte 
zu  schreiben,  mir  abnötigt,  sondern  indem  ich  zeige,  wo  und  wie  Türgot 
fehlte,  hoffe  ich  zugleich  den  Kern  des  Problems,  in  den  jeder  ernste 
Lösungsversuch  eindringen  muß,  deutlicher  herauszuheben  und  damit 
unserer  ferneren  Aufgabe  fruchtbar  vorzuarbeiten.  Auch  zeigt  das  Beispiel 
eines  sehr  geistvollen  Schriftstellers  unserer  Tage,  daß  uns  Turggts 
Gedankengang  auch  heute  noch  gar  nicht  so  ferne  steht,  als  man  vielleicht 
meinen  möchte^). 

TüRGOTs  Erklärung  des  Kapitalzinses  ist  ungenügend,  weil  sie  im 
Zirkel  erklärt.  Der  Zirkel  wird  nur  dadurch  verhüllt,  daß  Turgot  seine 
Erklärung  an  demjenigen  Punkte  abbricht,  dessen  —  unerläßliche  — 
weitere  Erklärung  wieder  zum  Ausgangspunkte  zurückkehren  würde. 

Die  Sache  steht  so.  Turgot  sagt:  Ein  bestinmites  Kapital  muß  einen 
bestimmten  Zins  tragen,  weil  man  damit  auch  ein  Grundstück  von  be- 
stimmter Rente  erkaufen  könnte.  Um  uns  eines  konkreten  Beispieles  zu 
bedienen:  ein  Kapital  von  100000  Fr.  muß  5000  Fr.  Zins  tragen,  weil 
man  dafür  ein  Grundstück  mit  5000  Fr.  2)  Rente  kaufen  könnte.  Diese 
Kauf  möglichkeit  ist  indes  selbst  noch  keine  letzte,  unmittelbar  einleuchtende 
Tatsache;  deshalb  müssen  wir  weiter  fragen:  warum  kann  man  mit  einem 
Kapital  von  100000  Fr.  ein  rententragendes  Grundstück  überhaupt,  und 
ein  Grundstück  mit  5000  Fr.  Rente  insbesondere  kaufen?  —  Auch  Turgot 
fühlt,  daß  diese  Frage  gestellt  werden  kann  und  muß,  denn  er  versucht  eine 
Antwort  darauf  zu  geben.  Er  beruft  sich  auf  das  Verhältnis  von  Angebot 
und  Nachfrage,  das  jedesmal  ein  bestimmtes  Preisverhältnis  zwischen 
Kapital  und  Boden  begründe'). 

Ist  damit  aber  unsere  Fragelust  und  Fragepflicht  erschöpft?  Gewiß 
nicht.    Denn  wßr  auf  die  Frage  nach  der  Ursache  einer  Preiisgestaltung 


')  Siehe  unten  (Abschnitt  XIV)  die  „jüngere  Fruktifikationstheorie"  Henry 
Georges. 

•)  Gewöhnlich  ist  die  Rente  des  Grundstückes  etwas  niedriger  als  der  Zins  des 
Kaufpreises.  Dieser  auch  von  Tubgot  Reflex.  §  84ff.  ausführlich  erklärte  Umstand 
hat  aber  auf  das  Prinzip  gar  keinen  Einfluß  und  kann  hier  einfach  vernachlässigt  werden. 

*)  „Si  quatre  boisseaux  de  blö,  produit  net  d'un  arpent  de  terre,  valaient  six 
moutons,  l'arpent  lui-meme  qui  les  produisait  aurait  pu  etre  donn6  pour  une  certaiae 
valeur,  plus  grande  k  la  v6rit4,  mais  toujours  facile  k  däterminer  de  la  mSme  maniöre 
que  le  prix  de  toutes  les  autres  marchandises,  c'est-&-dire,  d'abord 
par  le  dSbat  entre  les  deux  contractants,  et  ensuite  d'aprds  le  prix 
courant  itabli  par  le  concours  de  ceux  qui  veulent  dchanger  des  terres  contre  des 
bestiaux,  et  de  ceux  qui  veulent  donner  des  bestiaux  pour  avoir  des  terres"  (§  57). 
„II  est  encore  övident  que  ce  prix  ou  ce  denier  doit  varier  suivant  qu'il  y  a  plus  ou 
moins  de  gens  qui  veulent  vendre  ou  acheter  des  terres,  ainsi  que  le  prix  de  toutes  les 
autres  marchandises  varie  k  raison  de  la  diffövente  proportion  entre  Toffre 
et  la  demande"  (§  58). 


58  IV.  Turgots  Fniktifikationslehre. 

„Angebot  und  Nachfrage"  nennt,  bietet  Schalen  statt  eines  Kernes.  Das 
mag  in  hundert  Fällen  statthaft  sein,  in  denen  man  voraussetzen  kann, 
daß  der  Fragende  den  Kern  sattsam  kennt  und  aus  Eigenem  ergänzen 
kann.  Das  genügt  aber  nicht,  wenn  es  sich  um  die  noch  nicht  gelungene 
Erklärung  einer  problematischen  Erscheinung  handelt.  Sonst  könnte  man 
sich  ja  schließlich  mit  dem  ganzen  Zinsproblem,  das  sich  durchwegs  auf 
Preiserscheinungen  bezieht  —  z.  B.  auf  die  Tatsache,  daß  der  Borger 
einen  Preis  für  die  „Kapitalnutzung"  zahlt,  oder  auf  die  Tatsache,  daß  der 
Preis  des  fertigen  Produktes  höher  ist  als  der  Preis  der  Kostengüter,  wo- 
durch eben  dem  Unternehmer  ein  Kapitalgewinn  erübrigt  —  einfach  durch 
die  Formel  abfinden,  Angebot  und  Nachfrage  reguliere  eben  die  Preise 
aller  Güter  so,  daß  für  den  Kapitalisten  immer  ein  Gewinn  übrig  bleibt. 
Hierin  würde  aber  gewiß  niemand  eine  genügende  Erklärung  erblicken. 

Wir  müssen  daher  weiter  fragen:  Welche  tieferen  Ursachen  stehen 
hinter  „Angebot  und  Nachfrage"  und  lenken  deren  Bewegungen  so,  daß 
man  regelmäßig  für  ein  Kapital  von  100000  Fr.  ein  rentetragendes  Grund- 
stück überhaupt,  und  ein  Grundstück  mit  5000  Fr.  Rente  insbesondere 
eintauschen  kann?  —  Auf  diese  Frage  gibt  Turgot  keine  Antwort  mehr, 
wenn  man  nicht  etwa  die  vagen  Eingangsworte  des  §  57  als  solche  ansehen 
will,  die  dann  aber  auch  keinesfalls  befriedigen  könnte:  „Jene,  die  viele 
bewegliche  Güter  hatten,  konnten  sie  nicht  allein  im  Anbau  von  Grund- 
stücken, sondern  auch  in  den  verschiedenen  Tätigkeiten  der  Industrie 
verwenden.  Die  Leichtigkeit,  solche  Gütermassen  anzuhäufen  und  aus 
ihnen  auch  unabhängig  vom  Grund  und  Boden  einen  Gebrauch  zu  ziehen, 
bewirkte,  daß  man  die  Grundstücke  selbst  abschätzen  und  ihren  Wert 
mit  jenem  des  beweglichen  Vermögens  vergleichen  konnte." 

Setzen  wir  aber  an  Turgots  Stelle  die  vorzeitig  abgebrochene  Er- 
klärung nur  ein  kleines  Stück  weiter  fort,  so  werden  wir  die  Entdeckung 
machen,  daß  derselbe  Kapitalzins,  der  als  Wirkung  des  Austauschverhält- 
nisses zwischen  Boden  und  Kapital  erklärt  werden  sollte,  in  Wahrheit 
die  Ursache  dieses  Austauschverhältnisses  ist.  Ob  man  nämlich  für  ein 
Grundstück  das  zwanzig-,  dreißig-  oder  vierzigfache  seiner  Jahresrente 
begehrt  oder  anbietet,  hängt  vornehmlich  davon  ab,  wieviel  Prozente  das 
Kaufkapital  sonst  eintragen  würde.  Dasselbe  Grundstück,  das  5000  Fr. 
Rente  trägt,  wird  100000  Fr.  wert  sein,  wenn  und  weil  der  Kapitalzins 
5%  beträgt,  50000,  wenn  und  weil  er  10%  beträgt,  und  200000  Fr., 
wenn  und  weil  das  Kapital  nur  2^%  Zinsen  trägt.  Statt  daß  daher 
die  Existenz  und  Höhe  des  Kapitalzinses  durch  das  Tauschverhältnis 
zwischen  Boden  und  Kapital  erklärt  werden  könnte,  muß  umgekehrt 
dieses  Tauschverhältnis  selbst  durch  die  Existenz  und  Höhe  des  Kapital- 
zinses erklärt  werden.  Für  die  Erklärung  des  letzteren  ist  also,  da  der 
ganze  Beweisgang  sich  im  Zirkel  herumdreht,  nichts  geleistet. 

Ich  würde  meine  kritischen  Bemerkungen  über  Turgots  Lehre  getrost 


Kritik.  59 

an  dieser  Stelle  schließen,  wenn  ich  mich  nicht  überall  dort,  wo  es  sich 
um  den  Charakter  kausaler  Wechselbeziehungen  zwischen  volkswirtschaft- 
lichen Erscheinungen  handelt,  zu  einer  ganz  besonderen  Sorgfalt  ver- 
pflichtet hielte.  Denn  ich  weiß,  daß  es  bei  der  Verschlungenheit  der  wirt- 
schaftlichen Erscheinungen  überaus  schwierig  ist,  den  Anfangspunkt 
einer  kausalen  Kette  von  Wirkungen  und  Gegenwirkungen  mit  Sicherheit 
zu  bestimmen,  und  daß  solche  Entscheidungen  der  Fährlichkeit  dialek- 
tischer Täuschungen  in  besonders  hohem  Grade  ausgesetzt  sind.  Ich 
möchte  daher  das  Urteil,  daß  Turgot  in  diesem  Stücke  geirrt,  dem  Leser 
nicht  aufnötigen,  ohne  durch  eine  nochmalige  Probe  jeden  Skrupel  be- 
seitigt zu  haben,  zumal  da  diese  Probe  eine  erwünschte  Gelegenheit  bieten 
wird,  den  Charakter  unseres  Problemes  in  helleres  Licht  zu  setzen. 

Die  Grundstücke  bringen,  von  Zufälligkeiten  abgesehen,  ihre  Rente 
immerfort,  durch  eine  praktisch  unendliche  Reihe  von  Jahren.  Ihr  Besitz 
sichert  dem  Eigentümer  und  seinen  Erben  den  Betrag  der  Jahresnutzung 
nicht  bloß  zwanzig  oder  vierzig,  sondern  viele  hundert,  ja  fast  unendlich 
viele  Male.  Wenn  wir  nun  sehen,  daß  diese  unendliche  Nutzungsreihe, 
die  addiert  eine  kolossale  Einnahmssumme  repräsentiert,  regelmäßig  um 
einen  kleinen  Bruchteil  der  letzteren,  um  das  zwanzig-  bis  vierzigfache 
der  Jahresnutzung  veräußert  wird,  so  ist  das  eine  Tatsache,  die  erklärt 
werden  will. 

Dazu  kann  es  nicht  genügen,  schlankweg  auf  den  Stand  von  Angebot 
und  Nachfrage  hinzuweisen.  Denn  wenn  Angebot  und  Nachfrage  allezeit 
so  stehen,  daß  jenes  auffällige  Resultat  zutage  tritt,  so  muß  diese  regel- 
mäßige Wiederkehr  auf  tieferen  Gründen  ruhen,  die  zu  erforschen  sind.  — 
Nur  ganz  im  Vorbeigehen  will  ich  der  Hypothese  begegnen,  die  jemandem 
beifallen  könnte,  als  ob  der  niedrige  Kaufpreis  darin  seinen  Grund  haben 
könnte,  daß  der  Eigentümer  nur  jene  Nutzungen  in  Anschlag  bringt,  die 
er  selbst  zu  ziehen  hoffen  kann,  und  was  darüber  hinausliegt,  vernach- 
lässigt. Wäre  diese  Hypothese  richtig,  so  müßte,  da  das  durchschnittliche 
Lebensalter  der  Menschen  und  also  auch  der  Grundbesitzer  in  historischer 
Zeit  sich  nicht  sehr  geändert  hat,  auch  die  Proportion  des  Grundwertes 
zur  Grundrente  ziemlich  gleich  geblieben  sein.  Das  ist  aber  keineswegs 
der  Fall:  vielmehr  sehen  wir  jene  Proportion  —  in  bekanntem  Zusammen- 
hange mit  dem  jeweiligen  Kapitalzinsfuße  —  zwischen  dem  Zehn-  und 
Fünfzigfachen  variieren. 

Jene  auffällige  Erscheinung  muß  daher  einen  anderen  Grund  haben. 

Ich  glaube  allgemeiner  Zustimmung  zu  begegnen,  wenn  ich  als  wahren 
Grund  den  Umstand  bezeichne,  daß  wir  bei  der  Schätzung  eines  Grund- 
stückes eine  eskomptierende  Tätigkeit  vornehmen.  Wir  schätzen  die 
vielhundertjährigen  Nutzungen  eines  Grundstückes  deshalb  bei  einem 
5%  Zinsfuß  nur  gleich  dem  Zwanzigfachen,  und  bei  einem  4%  Zinsfuß 
nur  gleich  dem  Fünfundzwanzigfachen  der  Jahresnutzung,  weil  wir  den 


60  IV.  Turgots  Fruktifikationstheorie. 

Wert  der  künftigen  Nutzungen  nur  eskomptierend,  das  ist  mit  einem 
pro  rata  temporis  et  usurarum  geringeren  Betrag  in  die  heutige  Wert- 
schätzung einstellen;  genau  nach  demselben  Prinzip,  nach  welchem  wir 
den  heutigen  Kapitalswert  einer  Rentenforderung  von  bestimmter  oder 
ewiger  Dauer  anschlagen. 

Ist  das  aber  so  —  und  ich  glaube  nicht,  daß  irgend  jemand  es  be- 
zweifeln wird  —  so  ist  die  von  Türgot  zur  Erklärung  des  Zinsphänomens 
berufene  Kapitalschätzung  der  Grundstücke  selbst  nichts  anderes  als  eine 
der  vielen  Formen,  in  denen  jenes  Phänomen  uns  im  Wirtschaftsleben 
begegnet.  Dasselbe  ist  eben  vielgestaltig.  Es  begegnet  uns  bald  als  aus- 
drückliche Zahlung  eines  Darlehenszinses,  bald  als  Zahlung  eines  Miet- 
zinses, der  nach  Abzug  der  Abnützungsquote  dem  Eigentümer  noch  eine 
„reine  Nutzung"  übrig  läßt;  bald  als  Preisdifferenz  zwischen  Produkt 
und  Kosten,  die  dem  Unternehmer  als  Kapitalgewinn  zufällt;  bald  als 
Vorausabzug  des  Gläubigers  an  der  dem  Schuldner  bewilligten  Darlehens- 
summe; bald  als  Erhöhung  des  Kaufpreises  bei  hinausgeschobener  Zahlung; 
bald  als  Restringierung  des  Kaufpreises  für  noch  nicht  fällige  Forderungen, 
Gerechtsame,  Vorteile,  bald  endlich  —  dem  nahe  verwandt,  ja  im  Wesen 
mit  ihm  zusammenfallend  —  als  Erniedrigung  des  Kaufpreises  für  die  im 
Grundstück  verkörperten  Nutzungen  einer  späteren  Zeit. 

Den  Kapitalgewinn  in  Handel  und  Gewerben  auf  die  Möglichkeit 
zurückzuführen,  für  begrenzte  Kapitalsummen  Boden  zu  erwerben,  heißt 
also  nichts,  als  von  einer  Erscheinungsform  des  Kapitalzinses  auf  eine 
andere  verweisen,  welche  nicht  minder  erklärungsbedürftig  ist  als  die 
erste.  Warum  erhalten  wir  Kapitalzins?  und  warum  eskomptieren  wir 
den  Wert  künftiger  Zahlungs-  und  Nutzungsraten?  —  das  sind  offenbar 
nur  zwei  verschiedene  Fragformen,  die  auf  dasselbe  Rätsel  zielen.  Und 
für  seine  Lösung  kann  durch  einen  Erklärungsgang  nichts  gewonnen  sein, 
der  bei  der  ersten  Frage  anhebt,  um  vor  der  zweiten  stehen  zu  bleiben. 


Das  Zinsproblem  bei  Adam  Smith.    Überblick  über 
die  fernere  Entwicklung. 

Es  ist  wohl  keinem  Gründer  eines  wissenschaftlichen  Systems  gegönnt 
gewesen,  auch  nur  alle  wichtigeren  Gedanken,  die  jenes  zusammensetzen, 
bis  zu  Ende  zu  denken.  Dazu  reicht  keines  einzelnen  Menschen  Kraft 
und  Leben.  Genug,  wenn  einige  wenige  Ideen,  die  als  Hauptpfeiler  den 
Gedankenbau  zu  stützen  berufen  sind,  bis  zum  sicheren  Grunde  verfolgt 
und  in  ihren  mannigfachen  Verzweigungen  und  Verschlingungen  bloß- 
gelegt werden;  viel,  wenn  darüber  hinaus  noch  einigen  anderen  bevorzugten 
Gliedern  des  Systems  gleiche  Sorgfalt  zuteil  wird:  immer  aber  wird  auch 
der  ausgedehnteste  Geist  sich  bescheiden  müssen,  gar  viel  ins  Unsichere 
zu  bauen  und  Gedanken  nach  flüchtiger  Probe  in  sein  System  einzufügen, 
die  zu  erschöpfen  ihm  nicht  vergönnt  war. 

Dies  muß  man  sich  gegenwärtig  halten,  wenn  man  die  Haltung  richtig 
würdigen  will,  die  Adam  Smith  unserem  Problem  gegenüber  eingenom- 
men hat. 

Smith  hat  das  Problem  des  Kapitalzinses  nicht  übersehen,  aber  er 
hat  es  auch  nicht  bearbeitet.  Er  behandelt  es,  wie  überhaupt  ein  großer 
Denker  einen  wichtigen  Stoff  behandeln  mag,  dem  er  öfters  begegnet, 
den  er  aber  tiefer  zu  erforschen  nicht  Zeit  oder  Anlaß  hat.  Er  hat  sich  eine 
gewisse  naheliegende,  aber  auch  vage  Erklärung  zurecht  gelegt.  Je  un- 
bestimmter diese  ist,  desto  weniger  bindet  sie  ihn  an  strenge  Konsequenz 
und  da  er  als  vielseitiger  Geist  sich  in  zerstreuten  Gelegenheiten  keine 
der  verschiedenen  Anschauungsweisen  entgehen  läßt,  deren  das  Problem 
überhaupt  fähig  ist,  zugleich  aber  die  Selbstkontrolle  einer  ausgeprägten 
Theorie  entbehrt,  so  entschlüpfen  ihm  mancherlei  schwankende  und  wider- 
sprechende Äußerungen.  So  tritt  die  eigentümliche  Erscheinung  ein,  daß 
Smith  eine  bestimmte  Theorie  des  Kapitalzinses  gar  nicht  aufgestellt  hat, 
daß  man  aber  in  seinen  zerstreuten  Bemerkungen  mehr  oder  minder 
deutlich  die  Keime  fast  aller  späteren  sich  widersprechenden  Kapitalzins- 
theorien auffinden  kann  —  eine  Erscheinung,  die  sich  bei  Smith  auch  in 
manchen  anderen  Fragen  analog  wiederholt. 

Derjenige   Gedankengang,   den   Smith  hauptsächlich  als  Erklärung 


62  V.  Das  Zinsproblem  bei  Adam  Smith.    Überblick  usw. 

des  ursprünglichen  Kapitalzinses  angesehen  zu  haben  scheint,  wiederholt 
sich  in  sehr  ähnlicher  Redewendung  zweimal,  im  VI.  und  im  VIII.  Kapitel 
des  I.  Buches  der  „Untersuchungen".  Er  läuft  darauf  hinaus,  daß  ein 
Kapitalgewinn  existieren  muß,  weil  sonst  der  Kapitalist  kein  Interesse 
daran  hätte,  sein  Kapital  in  der  produktiven  Beschäftigung  von  Arbeitern 
zu  verwenden^). 

In  solcher  Allgemeinheit  hingestellt,  ohne  jede  tiefere  Begründung, 
wie  man  sich  die  wirksamen  Mittelglieder  zwischen  dem  psychologischen 
Interessenmotiv  des  Kapitalisten  und  der  schließlichen  Feststellung  der 
Marktpreise  vorzustellen  habe,  die  eine  Differenz  zwischen  Kosten  und 
Erlös  und  damit  den  Kapitalgewinn  offen  lassen,  können  diese  Äußerungen 
wohl  keinen  Anspruch  erheben,  als  fertige  Theorie  zu  gelten  2),  Wohl  aber 
kann  man  in  ihnen  im  Vereine  mit  einer  späteren  Stelle  3),  in  der  Smith 
den  „künftigen  Gewinn",  der  den  Entschluß  der  Kapitalisierung  lohnt, 
dem  „gegenwärtigen  Genuß"  der  unmittelbaren  Güterverzehrung  scharf 
gegenüberstellt,  die  ersten  Keime  jener  Theorie  erblicken,  die  später 
Senior  unter  dem  Namen  der  Abstinenztheorie  ausgebildet  hat. 

Gleichwie  Smith  die  behauptete  Notwendigkeit  des  Kapitalzinses 
ohne  tiefere  Begründung  läßt,  so  geht  er  auch  gegenüber  der  wichtigen 
Frage,  aus  welcher  Quelle  der  Kapitalgewinn  des  Unternehmers  stammt, 
in  keine  systematische  Untersuchung  ein,  sondern  begnügt  sich  dieselbe 
in  gelegentlichen,  nicht  weiter  begründeten  Bemerkungen  zu  streifen. 
Und  zwar  gibt  er  hiervon  an  verschiedenen  Stellen  zwei  einander  wider- 
sprechende Versionen.  Nach  einer  Version  fließt  der  Kapitalgewinn  daraus, 
daß  um  der  Gewinnansprüche  des  Kapitalisten  willen  die  Käufer  sich 
dazu  verstehen  müssen,  die  Ware  über  demjenigen  Wert  zu  bezahlen,  der 
ihr  mit  Rücksicht  auf  die  hineinverwendete  Arbeit  zukäme.  Hiernach 
wäre  die  Quelle  des  Kapitalzinses  ein  —  nicht  weiter  erklärter  —  Wert- 
zuwachs des  Produktes  über  den  durch  Arbeit  geschaffenen  Wert.    Nach 


')  „In  exchanging  the  complete  manufacture  either  for  money,  for  labour,  or 
for  other  goods.over  and  above  what  may  be  sufficient  to  pay  the  price  og  the  matcrials 
and  the  wages  of  the  workmen,  something  must  be  given  for  the  profits  of  the 
undertaker  of  the  work,  who  hazards  his  stock  in  this  adventure.  .  .  .  He  could  have 
nointerestto  employ  them,  unless he  expected  from  the  sale  of  their  work  something 
more  than  what  was  sufficient  to  replace  his  stock  to  him;  and  he  could  have  no 
interest  to  employ  a  great  stock  rather  than  a  small  one,  unless  his  profits 
were  to  bear  some  proportion  to  the  extent  of  his  stock"  (Mc  Cullochs  Ausgabe  von 
1863  S.  22).  Die  zweite  Stelle  (S.  30)  lautet:  „.  .  .  and  who  would  have  no  interest 
to  employhim,  unless  he  was  to  share  in  the  produce  of  his  labour,  or  unless  his  stock 
was  to  be  replaced  to  him  with  a  profit." 

»)  Vgl.  auch  PiERSTORFF,  Lehre  vom  Unternehmergewinn,  Berlin  1875  S.  6, 
und  Platter,  Der  Kapitalgewinn  bei  Adam  Smith  (HiLDESRANDSche  Jahrbücher 
Bd.  25  S.  317f ). 

*)  Buch  II  Kap.  1  (S.  123  in  McCullochs  Ausgabe). 


Mangel  einer  eigenen  Theorie.  63 

der  zweiten  Version  fließt  der  Zins  dagegen  aus  einem  Abzug,  den  der 
Kapitalist  zu  seinen  Gunsten  am  Ertrage  der  Arbeit  macht,  so  daß  die 
Arbeiter  nicht  den  voUen  durch  sie  geschaffenen  Wert  erhalten,  sondern 
diesen  mit  dem  Kapitalisten  teilen  müssen.  Nach  dieser  Version  wäre  die 
Quelle  des  Kapitalgewinnes  ein  rückbehaltener  Teü  des  durch  die  Arbeit 
geschaffenen  Wertes. 

Beide  Versionen  finden  sich  in  einer  großen  Anzahl  von  Stellen,  die 
seltsamerweise  bisweilen  ganz  knapp  aneinander  stehen.  So  namentlich 
im  VI.  Kapitel  des  I.  Buches. 

Smith  hat  hier  zuerst  von  einem  —  freilich  mythischen  —  Zeitalter 
gesprochen,  in  dem  der  Boden  noch  nicht  appropriiert,  und  eine  Kapital- 
bildung noch  nicht  eingetreten  gewesen  sei,  und  dazu  bemerkt,  daß  damals 
die  zur  Erzeugung  der  Güter  erforderte  Arbeitsmenge  der  einzige 
Bestimmungsgrund  ihres  Preises  gewesen  sei.  Hierauf  fährt  er  fort:  „So- 
bald sich  nun  in  den  Händen  einzelner  ein  gewisses  Kapital  angesammelt 
hat,  werden  einige  derselben  es  natürlich  gebrauchen,  um  betriebsame 
Leute  zur  Arbeit  anzustellen,  die  sie  mit  dem  nötigen  versehen,  um  aus 
dem  Verkauf  ihrer  Erzeugnisse  oder  des  erhöhten  Wertes,  den  ihre  Arbeit 
dem  Stoffe  gibt,  einen  Gewinn  zu  erzielen.  Beim  Austausch  der  fertigen 
Ware,  sei  es  gegen  Geld,  gegen  Arbeit  oder  gegen  andere  Waren,  muß 
über  dasjenige  hinaus,  was  zur  Bezahlung  des  Preises  der  Rohstoffe 
und  des  Arbeitslohnes  erfordert  wird,  noch  etwas  gegeben  werden, 
um  dem  Unternehmer  einen  Gewinn  für  das  in  das  Unter- 
nehmen gesteckte  Kapital  zu  gewähren." 

Dieser  Satz  drückt,  zumal  zusammengehalten  mit  der  gegensätzlichen 
Bemerkung  des  vorigen  Absatzes,  daß  im  Urzustand  Arbeit  der  einzige 
Bestimmungsgrund  des  Preises  gewesen,  deutlich  die  Meinung  aus,  daß 
der  Zinsanspruch  des  Kapitalisten  eine  Steigerung  des  Preises  der  Pro- 
dukte bewirkt,  und  aus  ihr  befriedigt  wird.  Aber  Smith  fährt  in  unmittel- 
barem Anschlüsse  fort:  „In  solchem  Falle  löst  sich  demnach  der  Wert, 
welchen  der  Arbeiter  dem  Stoffe  hinzufügt,  in  zwei  Teile  auf, 
deren  einer  seinen  Lohn,  der  andere  den  Gewinn  des  Arbeitgebers  auf  die 
von  ihm  vorgeschossenen  Stoffe  und  Löhne  büdet."  Hier  wird  wieder 
der  Preis  des  Produktes  als  ausschließlich  durch  die  aufgewendete  Arbeits- 
menge bestimmt  angesehen,  und  der  Zinsanspruch  mit  seiner  Befriedigung 
auf  eine  Quote  des  von  den  Werkleuten  erarbeiteten  Ertrages  gewiesen. 

Noch  greller  kehrt  derselbe  Gegensatz  eine  Seite  später  wieder. 

„Unter  solchen  Verhältnissen",  sagt  hier  Smith,  „gehört  nicht  immer 
der  ganze  Ejrtrag  der  Arbeit  dem  Arbeiter,  sondern  er  muß  ihn  gewöhnlich 
mit  dem  Eigentümer  des  Kapitals,  der  ihm  Arbeit  gibt,  teilen."  —  Eine 
deutliche  Paraphrase  der  zweiten  Version;  aber  unmittelbar  daran 
schließen  sich  die  folgenden  Worte: 

„Ebensowenig  ist  die  zur  Erwerbung  oder  Erzeugung  einer  Ware 


64  ^*  ^&s  Zinsproblem  bei  Adam  Smith.    Überblick  usw. 

aufgewendete  Arbeitsmenge  das  einzige  Element  zur  Bestimmung  der 
Menge,  wogegen  man  kaufen  oder  eintauschen  kann:  vielmehr  muß 
offenbar  noch  etwas  mehr  gegeben  werden,  zur  Gewährung 
des  Gewinnes  für  das  Kapital,  welches  den  Arbeitslohn  vorschoß  und 
den  Rohstoff  lieferte."  Deutlicher  hätte  Smith  eine  preissteigernde 
Wirkung  des  Zinsanspruches,  die  eine  Verkürzung  des  Arbeitslohnes  über- 
flüssig macht,  nicht  zum  Ausdruck  bringen  können! 

Später  heißt  es  abwechselnd:  „Da  es  in  einem  zivilisierten  Lande  nur 
wenige  Waren  gibt,  deren  Tauschwört  nur  aus  Arbeit  entsteht, 
indem  Bodenrente  und  Kapitalgewinn  bei  den  meisten  in  großem  Maße 
mitwirken,  so  reicht  auch  der  jährliche  Ertrag  der  Arbeit  immer  hin" 
usw.^).    (Erste  Version.) 

„Einem  solchen  Gewinnabzuge  unterliegt  der  Ertrag  fast  einer  jeden 
anderen  Arbeit.  In  fast  allen  Handwerken  und  Fabrikunternehmungen 
bedürfen  die  meisten  Arbeiter  eines  Brotherrn,  der  ihnen  die  Materialien 
zu  ihrer  Arbeit  gibt  und  ihnen  bis  zu  deren  Vollendung  Lohn  und  Unter- 
halt vorschießt.  Er  nimmt  einen  Teil  des  Ertrages  ihrer  Arbeit 
oder  des  Wertes,  welchen  diese  zu  den  von  ihm  gelieferten  Materialien 
hinzutat,  und  in  diesem  Anteil  liegt  sein  Gewinn"  2).     (Zweite  Version.) 

„Hohe  oder  niedrige  Löhne  und  Gewinne  sind  die  Ursachen 
hoher  oder  niedriger  Preise;  hohe  oder  niedrige  Rente  ist  deren 
Wirkung"  3).    (Erste  Version.) 

Solche  Widersprüche  eines  so  ausgezeichneten  Denkers  lassen  wohl 
nur  die  einzige  Deutung  zu,  daß  Smith  das  Zinsproblem  überhaupt  nicht 
tiefer  durchdacht  hatte,  es  eben  deshalb,  wie  man  ja  in  unvollkommen 
beherrschten  Gebieten  zu  tun  pflegt,  mit  der  Wahl  des  Ausdruckes  wenig 
genau  nahm,  und  sich  unbefangen  den  wechselnden  Eindrücken  hingab, 
die  die  Sache  ihm  machen  konnte  und  mußte. 

Smith  selbst  hat  also  keine  ausgebildete  Theorie  vom  Kapitalzinse  *). 
Allein  seine  hingeworfenen  Bemerkungen  sollten  sämtlich  auf  einen  frucht- 
baren Boden  fallen.  Gleichwie  seine  flüchtige  Bemerkung  über  die  Not- 
wendigkeit des  Zinses  zur  späteren  Abstinenztheorie  ausgebildet  wurde, 
so  wurden  auch  beide  Versionen,  die  er  über  die  Quelle  des  Kapitalzinses 


1)  I.  Buch  VI.  Kap.  gegen  Ende. 

')  I.  Buch  VIII.  Kap. 

»)  I.  Blich  XI.  Kap. 

*)  Wenn  Platter  in  dem  oben  (S.  62  Anm.  2)  erwähnten  Aufsatze  zu  dem  Resultate 
kommt,  daß  nach  dem  „streng  SMiXHSchen  System  der  Kapitalgewinn  als  ungerecht- 
fertigt erscheint",  so  war  dasselbe  nur  dadurch  zu  erreichen,  daß  Platter  bloß  auf 
die  eine  Hälfte  der  SMiTHschen  Äußerungen  Gewicht  legt,  die  andere  aber,  als  mit  seinen 
sonstigen  Grundsätzen  in  Widerspruch  stehend,  außer  Betracht  ließ.  Ähnlich  wie 
Platter  urteilt  auch  Cannan  in  seiner  verdienstvollen  ,,History  of  the  theories  of 
production  and  disti-ibution"  (London  1894,  S.  202),  ohne  mich  von  der  Richtigkeit 
seiner  subjektiven  Auffassung  überzeugen  zu  können. 


Smiths  neutrale  Stellung.  Q5 

gibt,  von  Nachfolgern  aufgenommen,  konsequent  weitergebildet,  und  zu 
Grundlagen  selbständiger  Zinstheorien  erhoben.  An  die  Version,  daß  der 
Zins  aus  einem  Wertzusatz  gezahlt  wird,  den  die  Kapitalsverwendung 
hervorruft,  knüpfen  die  späteren  Produktivitätstheorien,  an  die  Version, 
daß  der  Zins  aus  dem  Arbeitsertrag  gezahlt  wird,  die  sozialistischen  Theorien 
vom  Kapitalzinse  an.  So  können  die  wichtigsten  der  späteren  Theorien 
ihren  Stammbaum  auf  Adam  Smith  zurückführen. 


Die  Stellung,  welche  Adam  Smith  gegenüber  der  Frage  des  Kapital- 
zinses eingenommen  hatte,'läßt  sich  als  die  einer  vollkommenen  Neutralität 
bezeichnen.  Er  war  neutral  in  seiner  theoretischen  Erklärung;  denn  er 
bringt  die  Keime  der  verschiedenen  Theorien  nebeneinander,  ohne  einer 
vor  der  anderen  entschiedenen  Vorzug  zu  geben.  Und  er  war  neutral  in 
seiner  praktischen  Beurteilung;  denn  er  beobachtet  die  gleiche  Zurück- 
haltung, oder  vielmehr  das  gleiche  widerspruchsvolle  Schwanken  auch 
in  Absicht  auf  Lob  und  Tadel  des  Kapitalzinses,  indem  er  die  Kapitalisten 
bald  als  Wohltäter  des  Menschengeschlechtes  und  als  Stifter  fortdauernden 
Segens  preist^),  bald  wieder  als  eine  Klasse  hinstellt,  die  von  Abzügen 
am  Ertrag  der  Arbeit  anderer  lebt,  und  sie  in  deutliche  Parallele  mit 
Leuten  stellt,  „die  zu  ernten  lieben,  wo  sie  nie  gesäet  haben"  2). 

Zu  Smiths  Zeiten  hatten  die  Verhältnisse  der  Theorie  und  des  Lebens 
solche  Neutralität  noch  gestattet.  Seine  Nachfolger  konnten  sie  bald 
nicht  mehr  üben.  Geänderte  Umstände  legten  —  gewiß  nicht  zum  Nachteil 
der  Wissenschaft  —  den  Zwang  auf,  auch  in  der  Zinsfrage  offen  Farbe 
zu  bekennen. 

Schon  die  eigenen  Bedürfnisse  der  Theorie  konnten  es  sich  an  un- 
entschiedenen Auskünften  nicht  mehr  genügen  lassen.  Smith  hatte  sein 
Leben  verbraucht,  um  die  Fundamente  seines  Systemes  zu  legen.  Seine 
Nachfolger,  die  die  Fundamente  schon  vorfanden,  hatten  Atem  übrig, 
um  auch  bisher  übergangene  Fragen  zu  verfolgen.  In  diese  Verfolgung 
das  Zinsproblem  einzubeziehen,  war  durch  die  Entwicklung,  welche  die 
verwandten  Probleme  der  Grundrente  und  des  Arbeitslohnes  genommen 
hatten,  ungemein  nahegelegt:  man  hatte  eine  reichhaltige  Theorie  der 
Grundrente;  man  hatte  eine  kaum  minder  reichhaltige  Theorie  des  Arbeits- 
lohnes: nichts  war  natürlicher,  als  daß  die  Systematiker  endlich  auch 
rücksichtlich  des  dritten  großen  Einkommenszweiges,  des  Einkammens 
aus  Kapitalbesitz,  ernsthaft  nach  dem  Woher?  und  Warum?  zu  fragen 
begannen. 

')  Buch  II  Kap,  III. 

*)  Buch  I  Kap.  VI  S.  23.  Der  Satz  wird  zwar  zunächst  nur  von  den  Grundeigen- 
tümern ausgesprochen,  allein  im  ganzen  Kapitel  wird  Kapitalzins  und  Grundrente 
gegenüber  dem  Arbeitslohn  parallel  behandelt. 

Böbm-Bawerk.  Eapitalzins.    <.  Anfl.  ^ 


6Q  V.  Das  Zinsproblem  bei  Adam  Smith.    Überblick  usw. 

Diese  Frage  begann  aber  endlich  auch  das  Leben  zu  stellen.  Das 
Kapital  war  allmählich  eine  Macht  geworden.  Die  Maschinen  hatten  ihren 
Einzug  gehalten  und  ihre  großen  Siege  erfochten;  sie  halfen  überall  den 
Betrieb  ins  Große  dehnen  und  verliehen  der  Produktion  immer  mehr 
kapitalistischen  Zuschnitt.  Aber  gerade  die  Einführung  der  Maschinen 
hatte  auch  einen  Gegensatz  bloßzulegen  begonnen,  der  mit  der  Entwick- 
lung des  Kapitals  ins  wirtschaftliche  Leben  eingedrungen  war  und  täglich 
an  Bedeutung  wuchs:  den  Gegensatz  zwischen  Kapital  und  Arbeit. 

In  den  Handwerken  hatten  Unternehmer  und  Lohnarbeiter,  Meister 
und  Geselle,  nicht  sowohl  verschiedenen  sozialen  Klassen,  als  nur  ver- 
schiedenen Generationen  angehört.    Was  der  eine  war,  konnte  und  sollte 
der  andere  werden.    Mochten  ihre  Interessen  auch  temporär  divergieren, 
so  überwog  im  Ganzen  doch  das  Gefühl,  eines  Standes  zu  sein.    Anders 
jetzt  im  kapitalistischen  Großbetrieb.    Der  Unternehmer,  der  das  Kapital 
beisteuert,  war  selten  oder  nie  Arbeiter  gewesen,  und  der  Arbeiter,  der 
Arm  und  Hand  beisteuert,  wird  selten  oder  nie  Unternehmer  werden. 
Sie  wirken  an  einem  Werke,  wie  Meister  und  Geselle,  aber  sie  sind  nicht 
bloß  zweierlei  Ranges,  wie  diese,  sondern  sie  sind  zweierlei  Art.  Sie  gehören 
zwei  verschiedenen   Ständen   an,   deren   Interessen   sowenig    ineinander 
fließen  als  ihre  Personen.    Das  Beispiel  der  Maschinen  hatte  im  Gegenteil 
gezeigt,  wie  grell  die  Interessen  von  Kapital  und  Arbeit  kollidieren  können: 
dieselben  Maschinen,  die  den  Unternehmer-Kapitalisten  goldene  Früchte 
getragen,  hatten  bei  ihrer  Einführung   tausende  von  Arbeitern  aus  dem 
Brote  getrieben.     Aber  auch  nachdem  solche  erste  Wehen  überwunden, 
blieb  des  Gegensatzes  genug.    Kapitalist  und  Arbeiter  teilen  sich  in  das 
Erträgnis  der  Unternehmung:  aber  so,  daß  der  Arbeiter  gewöhnlich  wenig, 
ja  sehr  wenig,  der  Unternehmer  viel  erhält.    Das  Mißbehagen  über  den 
kleinen  Anteil  wird  nicht,  wie  einst  beim  Handwerksgehilfen,  durch  die 
Aussicht  gemildert,  dereinst  selbst  sich  des  Löwenanteils  zu  erfreuen, 
denn  solche  Aussicht  hat  der  Arbeiter  des  Großbetriebes  nicht;  dagegen 
verschärft  durch  den  Anblick,  daß  ihm  für  kargen  Lohn  die  härtere  Arbeit, 
dem  Unternehmer  für  seinen  reichen  Anteil  nur  die  leichtere  Mühe,  oft 
gar  keine  persönliche  Bemühung  zufällt.    Kam  zu  allen  diesen  Kontrasten 
des  Schicksals  und  der  Interessen  noch  der  Gedanke,  daß  im  Grunde  die 
Arbeiter  die  Produkte  zur  Entstehung  gebracht  hätten,  aus  denen  der 
Unternehmer  seinen  Gewinn  zieht  —  und  diesen  Gedanken  hatte  Smith 
in  seinem  rasch  verbreiteten  System  an  vielen  Stellen  ungemein  nahe 
gelegt  —  so  konnte  es  nicht  ausbleiben,  daß  ein  Anwalt  des  „vierten 
Standes"  dieselbe  Frage  rücksichtlich  des  ursprünglichen  Kapitalzinses 
zu  stellen  begann,  die  man  viele  hundert  Jahre  früher  zu  Gunsten  der 
Schuldner  über  den  Leihzins  gestellt  hatte:  ist  der  Kapitalzins  gerecht? 
Ist  es  gerecht,  daß  der  Unternehmer- Kapitalist,  auch  wenn  er  keine  Hand 
rührt,  unter  dem  Titel  Kapitalgewinn  einen  ansehnlichen  Teil  dessen 


Zunchmeüde  Macht  des  Kapitale«.  07 

erhält,  was  die  Arbeiter  durch  ihre  Bemühung  hervorgebracht  haben, 
oder  sollte  nicht  vielmehr  den  letzteren  das  ganze  Produkt  zufallen? 

Diese  Frage  wurde  seit  der  Wende  vom  18.  ins  19.  Jahrhundert  erst 
leise,  dann  immer  lauter  gestellt:  und  dem  Umstände,  daß  sie  gestellt 
wurde,  hat  die  Theorie  des  Kapitalzinses  eine  ungemeine  und  nachhaltige 
Belebung  zu  verdanken.  Das  Zinsproblem,  das  immerhin  schlummern 
mochte,  solange  es  nur  Theoretiker  und  nur  zu  theoretischen  Zwecken 
interessiert  hatte,  war  jetzt  zum  Range  eines  großen  sozialen  Problems 
emporgehoben,  an  dem  die  Wissenschaft  weder  vorübergehen  konnte  noch 
woUte.  Und  so  spärlich  und  dürftig  bis  Adam  Smith  die  Betrachtungen 
über  die  Natur  des  ursprünglichen  Kapitalzinses  gewesen  waren,  so  zahl- 
reich und  angelegentlich  wurden  sie  nach  ihm. 

Freilich  auch  nicht  weniger  zerfahren  als  zahlreich.  Bis  Adam  Smith 
war  die  wissenschaftliche  Meinung  des  Zeitalters  durch  eine  einzige  Theorie 
repräsentiert  gewesen.  Seit  ihm  fielen  die  Meinungen  in  eine  Reihe  wider- 
streitender Theorien  auseinander,  um  mit  seltener  Beharrlichkeit  wider- 
streitend zu  bleiben  bis  auf  den  heutigen  Tag.  Sonst  pflegen  sich  neue 
Theorien  an  die  Stelle  der  alten  zu  setzen,  die  ihnen  allmählich  den  Platz 
überlassen.  In  unserer  Frage  gelang  es  aber  jeder  neuen  Theorie  nur, 
sich  neben  die  alten  zu  setzen,  die  ihren  eigenen  Platz  mit  Zähi^eit 
festzuhalten  wußten.  Unter  solchen  Umständen  bietet  die  äußere  Ent- 
wicklung seit  Smith  nicht  so  sehr  das  Bild  einer  reformatorischen  Wand- 
lung, als  einer  schismatischen  Häufung  der  Theorien. 

Unsere  fernere  Aufgabe  ist  uns  durch  die  Natur  der  Sache  klar  vor- 
gezeichnet. Sie  wird  darin  bestehen,  daß  wir  die  sämtlichen  divergierenden 
Lehrmeinungen  in  ihrer  Entstehung  und  Ausbildung  bis  auf  die  Gegen- 
wart verfolgen,  und  über  Wert  oder  Unwert  jeder  einzelnen  von  ihnen 
uns  ein  kritisches  Urteil  zu  bUden  suchen.  Da  die  Entwicklung  der  Theorie 
von  hier  an  gleichzeitig  in  verschiedenen  Geleisen  erfolgt,  so  halte  ich  es 
für  zweckmäßig,  die  bisher  beobachtete  chronologische  Ordnung  der 
Darstellung  zu  verlassen  und  den  Stoff  nach  Theorien  zu  gruppieren. 

Zu  diesem  Ende  will  ich  versuchen,  zunächst  einen  ordnenden  Über- 
blick über  die  ganze  Literaturmasse,  die  uns  beschäftigen  wird,  zu  erlangen. 
Dies  wird  am  raschesten  gelingen,  indem  wir  die  charakteristische  Kern- 
frage des  Problems  in  den  Mittelpunkt  stellen.  Wir  werden  alsbald  sehen, 
wie  sich  an  ihr  die  Theorie,  gleichwie  das  Licht  am  Prisma,  zu  bunter 
Mannigfaltigkeit  gebrochen  hat. 

Gegenstand  der  Erklärung  ist  die  Tatsache,  daß  bei  produktiver 
Verwendung  von  Kapital  in  den  Händen  des  Unternehmers  regelmäßig 
ein  der  Größe  des  verwendeten  Kapitales  proportionaler  Überschuß  zurück- 
bleibt, der  dadurch  vermittelt  wird,  daß  der  Wert  der  mit  Hilfe  von 
Kapital  erzeugten  Güter  regelmäßig  größer  ist  als  der  Wert  der  in  ihrer 


68  V.  Das  Zinsproblem  bei  Adam  Smith.    Überblick  usw. 

Erzeugung  verzehrten  Kostengüter.  Die  Frage  ist  nun:  Warum  existiert 
ein  solcher  ständiger  Wertüberschuß  oder  Mehrwert? 

Auf  diese  Frage  hatte  Türgot  geantwortet:  Der  Überschuß  muß  sein, 
weil  die  Kapitalisten  sonst  ihr  Kapital  zu  Grundkäufen  verwenden  würden. 
Smith  hatte  geantwortet:  Der  Mehrwert  muß  sein,  weil  der  Kapitalist 
sonst  kein  Interesse  hätte,  sein  Kapital  produktiv  zu  verwenden. 

Wir  haben  beide  Antworten  schon  als  nicht  ausreichend  gewürdigt.  — 
Was  antworten  nun  die  Späteren? 

Ihre  Antworten  erscheinen  mir  zunächst  nach  fünf  Hauptrichtungen 
auseinander  zu  gehen. 

Ein  Teil  begnügt  sich  mit  den  von  Türgot  und  Smith  gegebenen 
Antworten,  und  bleibt  bei  ihnen  stehen.  Ich  will  diese  im  Anfang  des 
19.  Jahrhunderts  noch  sehr  beliebte,  seither  aber  mehr  und  mehr  ver- 
lassene Richtung  zusammenfassen  unter  dem  Namen  der  farblosen 
Theorien. 

Ein  zweiter  Teil  sagt:  das  Kapital  produziert  den  Überschuß. 
Diese  in  der  Literatur  reich  vertretene  Richtung  kann  passend  mit  dem 
Gesamtnamen  „Produktivitätstheorien"  bezeichnet  werden.  —  Schon 
an  dieser  Stelle  wiU  ich  bemerken,  daß  wir  die  Produktivitätstheorien 
in  ihrer  weiteren  Entwicklung  sich  wieder  in  mehrere  Varianten  werden 
spalten  sehen:  in  Produktivitätstheorien  im  engeren  Sinne,  die  eine  direkte 
Uberschußproduktion  des  Kapitals  annehmen,  und  in  „Nutzungstheorien", 
die  die  Entstehung  des  Mehrwertes  auf  dem  Umwege  deduzieren,  daß  die 
produktive  Kapitalnutzung  ein  besonderes,  gleichwie  jeder  andere 
Kostenbestandteil  Vergütung  heischendes  Kostenelement  bilde. 

Ein  dritter  Teil  antwortet:  Der  Mehrwert  ist  das  Äquivalent 
eines  in  den  Preis  eingehenden  Kostenbestandteiles  „Ent- 
haltsamkeit". Denn  indem  der  Kapitalist  sein  Kapital  zur  Produktion 
widmet,  muß  er  auf  den  gegenwärtigen  Genuß  desselben  verzichten. 
Dieser  Genußaufschub,  diese  „Abstinenz",  ist  em  Opfer,  und  als  solches 
ein  Vergütung  heischender  Bestandteil  der  Produktionskosten.  —  Ich 
werde  diese  Richtung  Enthaltsamkeits-  oder  Abstinenztheorie 
nennen. 

Ein  vierter  Teil  erblickt  im  Mehrwert  den  Lohn  für  eine  vom 
Kapitalisten  beigesteuerte  Arbeit.  Für  diese,  im  Einzelnen  wieder 
reich  gegliederte  Lehre  werde  ich  den  Namen  Arbeitstheorie  gebrauchen. 

Ein  fünfter  Teil  endlich  —  vorwiegend  der  sozialistischen  Partei 
angehöri^  —  antwortet:  Der  Mehrwert  entspricht  gar  keinem  natür- 
lichen Überschuß,  sondern  entsteht  nur  durch  Abknappung 
am  gerechten  Lohn  der  Arbeiter.  Ich  werde  diese  Theorie  als  Aus- 
beutungstheorie bezeichnen. 

Dies  die  Hauptrichtungen.  Schon  sie  sind  zahlreich  genug.  Dennoch 
drücken  sie  noch  lange  nicht  die  ganze  Mannigfaltigkeit  aus,  zu  der  sich 


Spaltung  der  Theorie.  69 

die  Zinstheorie  entwickelt  hat.  Wir  werden  vielmehr  sehen,  daß  manche 
der  Hauptrichtungen  sich  wieder  in  eine  Mehrheit  wesentlich  verschiedener 
Typen  verzweigt;  daß  manchmal  Elemente  mehrerer  Theorien  zu  einer 
neuen  eigentümlichen  Kombination  verbunden  wurden;  und  daß  endlich 
innerhalb  eines  und  desselben  theoretischen  Typus  die  Verschiedenheiten 
in  der  Formulierung  des  gemeinsamen  Grundgedankens  oft  so  stark  und 
so  charakteristisch  sind,  daß  eine  Anerkennung  der  einzelnen  Nuancen 
als  eigenartiger  Theorien  nicht  ungerechtfertigt  wäre.  Daß  die  hervor- 
ragenden Denker  unserer  Wissenschaft  auf  so  vielen  verschiedenen  Wegen 
um  die  Entdeckung  der  Wahrheit  sich  mühten,  legt  ein  beredtes  Zeugnis 
dafür  ab,  daß  ihre  Entdeckung  nicht  weniger  wichtig  als  schwierig  ist. 
Beginnen  wir  mit  einem  Überblick  über  die  farblosen  Theorien. 


VI. 

Farblose  Theorien. 

Der  am  Schluß  des  vorigen  Abschnitts  beschriebene  Umschwung, 
der  aus  der  lang  gering  geschätzten  Frage  des  Kapitalzinses  ein  soziales 
Problem  ersten  Ranges  herausbilden  sollte,  vollzog  sich  nicht  so  plötzlich, 
als  daß  nicht  auch  nach  Adam  Smith  noch  eine  Reihe  von  Schriftstellern 
Zeit  gefunden  hätte,  sich  mit  der  etwas  patriarchalischen  Behandlung 
zufrieden  zu  stellen,  die  der  Stoff  bei  Turgot  und  Smith  erfahren  hatte. 
Man  würde  sehr  irren,  wenn  man  unter  diesen  Nachzüglern  bloß  unselb- 
ständige Geister,  Größen  zweiten  und  dritten  Ranges  anzutreffen  meinte. 
Allerdings  gehört  ihnen  jener  Kreis  wenig  selbständiger  Autoren,  die  nach 
dem  Auftreten  eines  bahnbrechenden  Genies  stets  zahlreich  zu  erscheinen 
und  in  der  bloßen  Popularisierung  der  neuen  Lehre  ihre  Mission  zu  finden 
pflegen,  fast  vollzählig  an;  daneben  finden  wir  aber  auch  manchen  aus- 
gezeichneten Denker,  der  nur  aus  ähnlichen  Motiven  wie  Smith  selbst  an 
unserem  Problem  vorüberging. 

Begreiflicherweise  haben  die  Meinungen,  welche  diese  „farblosen" 
Schriftsteller,  wie  ich  sie  nennen  will,  über  den  Kapitalzins  ausgesprochen 
haben,  auf  die  Entwicklung  der  Theorie  im  Ganzen  wenig  Einfluß  geübt. 
Dieser  Umstand  wird  es  rechtfertigen,  wenn  ich  rücksichtlich  der  Mehrzahl 
derselben  auf  eine  eingehende  Darstellung  verzichte,  und  eine  solche  nur 
jener  Minderheit  zuteil  werden  lasse,  die  entweder  durch  ihre  Person,  oder 
durch  die  Eigenart  ihrer  Lehre  unser  Interesse  stärker  zu  fesseln  vermag. 

Wer  mit  dem  Charakter  der  deutschen  Nationalökonomik  zu  Ende 
des  18.  und  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  vertraut  ist,  wird  sich  nicht 
wundem,  in  ihr  einer  besonders  großen  Zahl  von  „farblosen"  Schrift- 
stellern zu  begegnen. 

Ihr  Indifferentismus  ist  nicht  ohne  eine  gewisse  Mannigfaltigkeit. 
Einige,  die  sich  überhaupt  treu  an  Smith  anzulehnen  gewohnt  sind, 
kopieren  auch  seine  vagen  Andeutungen  über  den  Zins  in  fast  wörtlicher 
Wiederholung;  insbesondere  seine  Bemerkung,  daß,  wenn  der  Zins  nicht 
existieren  würde,  der  Kapitalist  kein  Interesse  hätte,  sein  Kapital  pro- 


Deutschland.    Sartorius,  Lueder,  Kraus  usw.  71 

duktiv  zu  verwenden.  So  Sartorius i),  Lueder*)  und  Kraus»).  Andere 
variieren  dasselbe  Motiv  in  freierer  Bewegung,  wie  Hufeland*)  und 
Seutter*).  Noch  andere  setzen  den  Zins  als  selbstverständlich  voraus, 
ohne  auch  nur  ein  Wort  zu  seiner  Erklärung  zu  verlieren,  wie  z.  B.  Pölitz«) 
und  etwas  später  Mürhard').  Wieder  andere  liefern  zwar  eigenartige 
Begründungen,  die  aber  so  flach  und  bedeutungslos  sind,  daß  sie  auf  den 
Ehrennamen  von  Theorien  kaum.Anspruoh  erheben  können.  So  Schmalz, 
der  das  Dasein  des  ursprünglichen  Ks^italzinses  mittelst  eines  groben 
Zirkels  aus  der  Möglichkeit  erklärt,  das  Kapital  anderen  auf  Zinsen  aus- 
zuleihen 8).  .^ 

Außerordentlich  naiv  ist  die  Erklärung,  die  Graf  Cancrin  von  der 
Sache  gibt.  Ich  will  die  kurze  Stelle  der  Kuriosität  halber  im  Wortlaute 
anführen.  „Jedermann  weiß,"  sagt  er»),  „daß  das  Geld  Zinsen  trägt, 
aber  warum?  Wenn  zwei  Besitzer  von  Sachenkapital  ihre  Pro- 
dukte vertauschen  wollen,  ist  jeder  gestimmt  für  die  Mühe 
der  Aufbewahrung  und  als  Gewinn  so  viel  über  den  eigentlichen 
Wert  seines  Produktes  zu  fordern,  als  ihm  der  andere  zu- 
gestehen will;  der  Bedarf  läßt  jedoch  beide  in  der  Mitte 
zusammenkommen.  Nun  aber  stellt  das  Geld  das  Sachenkapital  vor; 
es  kann  mit  ihm  ein  Gewinn  gemacht  werden,  und  daher  die  Zinsen."  Die 
durch  den  Druck  hervorgehobenen  Worte  sollen  hier  das  Dasein  des 
ursprunglichen  Zinses,  der  Rest  das  Dasein  des  Leihzinses  erklären;  und 
der  Autor  hält  diese  Erklärung  für  so  ausreichend,  daß  er  an  einem  späteren 
Ort  mit  Befriedigung  auf  sie  zurückweist:  „Warum  ein  Kapital  Zinsen 


')  Handbuch  der  Staatswirtschaft,  Berlin  1796;  besonders  §  8  und  23.  Auch  seine 
späteren  „Abhandlungen  die  Elemente  des  Nationalreichtums  und  die  Staatswirtschaft 
betreffend"  (Göttingen  1806)  sind  in  unserer  Frage  nicht  selbständiger. 

*)  Über  Nationalindustrie  und  Staatswirtschaft,  1800 — 1804;  siehe  besonders 
S.  82,  142  usw. 

')  Staatswirtschaft,  herausgegeben  von  Auerswald  1807 — 1811;  siehe  besonders 
I  S.  24,  150f.,  und  die  sehr  naiven  Ausführungen  III,  126f. 

*)  Neue  Grundlegung,  Wien,  1815  S.  221. 

*)  Die  Nationalökonomie,  Ubn  1823,  S.  145.  Vgl.  auch  S.  164,  wo  mit  "Verdrehung 
<les  Kausalzusammenhanges  der  ursprüngliche  Kapitalzins  aus  dem  Leihzins  abge- 
leitet wird. 

*)  Staatswissenschaften  im. Lichte  unserer  Zeit,  II.  Teil  (Leipzig  1823)  S.  90. 
PöLirz  bemüht  sich  hier  nur  zu  beweisen,  daß  der  als  existierend  schon  voraus- 
gesetzte Kapitalgewinn  dem  Eigentümer  des  Kapitales  zufallen  müsse. 

')  Tlieorie  des  Handels,  Göttingen  1831. 

*)  Handbuch  der  Staatswirtschaft,  Berlin  1808,  §  110  und  120.  Vgl.  auch  §  129, 
wo  die  ausbedungenen  ,, Renten"  selbst  gar  nicht  mehr  erklärt,  sondern  einfach  als 
Tatsachen  besprochen  werden.  Auch  Schjcalz'  andere  Schriften  sind  nicht  inhalts- 
reicher. 

•)  Die  Ökonomie  der  menschlichen  Gesellschaften  und  das  Finanzwesen,  Stutt- 
gart 1845,  S..  19. 


72  VI.  Farblose  Theorien. 

trage,  bei  Geldwerten  in  bestimmten  Prozenten,  bei  dem  Sachenkapitale 
in  den  Preisen  der  Dinge,  ist  schon  erörtert!"  (S.  103). 

Bemerkenswerter  sind  einige  Autoren,  die  jenem  Teil  der  SMiXHSchen 
Äußerungen,  wonach  der  Kapitalgewinn  ein  dem  Kapitalisten  zuge- 
wendeter Anteil  am  Produkte  der  Arbeit  sein  soll,  eine  lebh^tere  Be- 
tonung gaben. 

Unter  ihnen  setzt  Graf  Soden  i)  das  Kapital  als  bloßen  Stoff,  an 
dem  die  „produktive  Kraft"  sich  betätigt,  der  letzteren  scharf  entgegen. 
Den  Kapitalgewinn  führt  er  darauf  zurück,  daß  der  Besitzer  von  „Kapital- 
stoff" im  Stande  ist,  „fremde  Kraft  für  sich  in  Bewegung  zu  setzen,  also 
den  Gewinn  an  dieser  Kraft  mit  dem  isolierten  Produzenten,  dem  Lohn- 
arbeiter zu  teilen"  (I  S.  65).  Daß  eine  solche  Teilung  stattfindet,  sieht 
Soden  für  eine  selbstverständliche  Folge  der  Konkurrenzverhältnisse  an. 
Ohne  sich  die  Mühe  einer  formellen  Erklärung  zu  nehmen,  läßt  er  wiederholt 
die  Ansicht  durchblicken,  daß  die  geringere  Zahl  der  Kapitalisten  im 
Vergleich  mit  der  großen  Zahl  der  Lohnarbeiter  es  den  Ersteren  immer 
ermöglichen  muß,  die  Lohnarbeit  um  einen  Preis  zu  kaufen,  der  ihnen 
eine  Rente  übrig  läßt  (S.  61,  138).  Er  billigt  dies  auch  durchaus  (z.  B. 
S.  65 ff.)  und  rät  davon  ab,  eine  Erhöhung  des  Lohnes  durch  Lohntaxen 
anzustreben:  „denn  findet  der  Stoff besitzer  in  dem  Regulator  keinen 
Gewinn  an  fremder  Kraft  mehr,  so  läßt  er  allen  Stoff,  den  er  nicht  selbst 
bearbeiten  kann,  tot"  (S.  140).  Nur  wünscht  Soden,  daß  der  „Preis" 
des  Lohnes  auf  den  Grad  seines  „wahren  Wertes"  gebracht  werde.  Welche 
Lohnhöhe  diesem  „wahren  Wert"  entspricht,  bleibt  aber  trotz  der  ein- 
gehenden Erörterung,  die  der  Verfasser  der  Frage  nach  dem  Wert  der 
Produktivkraft  widmet  (S.  132 ff.),  ziemlich  im  Dunkeln:  gewiß  ist  nur, 
daß  nach  seiner  Meinung  auch  dann,  wenn  die  produktive  Kraft  nach 
ihrem  vollen  Werte  vergütet  wird,  für  den  Kapitalisten  noch  eine  Rente 
übrig  bleiben  muß  2). 

Man  wird  aus  diesen  Ausführungen  wohl  den  Eindruck  empfangen, 
daß  der  erste  Teil  derselben,  in  dem  der  Zins  für  einen  Gewinn  an  fremder 
Kraft  erklärt  wird,  ein,en  ganz  anderen  Ausgang  erwarten  läßt,  als  der 
zweite  Teil  ihn  bringt;  sowie  daß  die  Motivierung  dieser  Frontveränderung 
viel  zu  vag  ist,  um  befriedigen  zu  können. 

Zu  ähnlichen  Bemerkungen  gibt  Lotz  Anlaß. 

Dieser  scharfsinnige  Schriftsteller  spricht  sich  in  seinem  Handbuch 
des  Staatswirtschaftslehre  (Mangen  1821)  eingehend  über  das  Thema 
des  Kapitalzinses  aus.  Er  polemisiert  mit  Entschiedenheit  gegen  die 
inzwischen  von  Say  aufgestellte  Lehre,  daß  die  Kapitale  eine  selbständige 
produktivfe  Kraft  besitzen:  „An  sich  sind  alle  Kapitale  tot",  und  „mit 

')  Die  Nationalökonomie  (Leipzig  1805 — 1808,  ein  Nachdruck  davon  Wien  1815; 
ich  zitiere  nach  letzterem). 

*)  Folgerung  aus  S.  140  al.  3  und  5. 


Lotz.  73 

ihrer  selbständigen  Arbeit  ist  es  zuverlässig  nichts";  sie  sind  vielmehr 
immer  nur  Werkzeuge  der  menschlichen  Arbeit  (I  S.  65f.).  Dieser  Gesichts- 
punkt wird  später  in  einer  sehr  bemerkenswerten  Stelle  für  die  Beurteilung 
der  Kapitalrente  verwendet. 

Wenn  nämlich  die  Kapitalien  nur  Förderungsmittel  der  Arbeit  sind 
und  keine  Arbeit  selbst  leisten,  so  findet  Lotz,  daß  der  Kapitalist  „vom 
Ertrag  der  Arbeit  und  den  durch  sie  gewonnenen  oder  hervorgebrachten 
Gütermassen  nichts  weiter  zu  fordern  hat,  als  nur  den  Betrag  des  Güter- 
aufwandes, den  ihm  diese  Darreichung  veranlaßt  hat,  oder  deutlicher: 
den  Betrag  der  Unterhaltungskosten  des  Arbeiters,  den  Betrag  der  diesem 
abgegebenen  rohen  Stoffe,  und  den  Betrag  der  von  dem  Arbeiter  bei 
seiner  Arbeit  verbrauchten  Werkzeuge  im  eigentlichen  Sinne;  .  .  .  dieses 
wäre  eigentlich  streng  genommen  die  angemessene  Kapital- 
rente, welche  der  Kapitalist  von  dem  Arbeiter,  der  für  ihn  arbeitet, 
fordern  kann;  und  weiter  ist  dieses  eigentlich  die  angemessene  Quote, 
welche  dem  ersteren  von  der  durch  den  Arbeiter  hervorgebrachten  oder 
der  Natur  abgewonnenen  Gütermasse  gebühren  mag.  Von  einem  Kapital- 
gewinn im  eigentlichen  Sinne,  d.  h.  von  einem  solchen  Lohne 
des  Kapitalisten  für  jene  Darreichung,  der  einen  Überschuß 
über  den  dabei  gehabten  Güteraufwand  gewährt,  kann  also 
hiernach  nicht  die  Rede  sein.  Erträgt  die  Arbeit  mehr,  als 
dieser  Aufwand  betragen  mag,  so  gehört  dieser  Ertrag  und 
alles  daraus  hervorgehende  Einkommen  eigentlich  nur  dem 
Arbeiter,  als  Lohn  seiner  Arbeit;  denn  wirklich  ist  es  nicht  der  Kapitalist, 
der  die  Erzeugnisse  des  Arbeiters  schafft,  sondern  alles,  was  der  Arbeiter 
mit  Hülfe  der  Darreichungen  des  Kapitalisten  hervorgebracht,  oder  der 
Natur  abgewonnen  haben  mag,  gehört  diesem;  oder  wenn  man  die 
Kraft,  welche  im  Arbeiter  bei  seiner  Arbeit  sich  tätig  zeigt,  als  einen  der 
ganzen  verkehrenden  Menschenmasse  angehörenden  Naturfonds  ansieht, 
der  gesamten  Menschheit"  (S.  487 f.). 

Mit  dieser  ebenso  scharfen  als  merkwürdigen  Äußerung  ist  Lotz  der 
späteren  Ausbeutungstheorie  der  Sozialisten  ganz  nahe  gekommen.  Plötz- 
lich bricht  er  aber  diesem  Gedankengange  die  Spitze  ab  und  schwenkt  in 
die  alte  farblose  Erklärungsweise  Smiths  zurück,  indem  er  fortfährt: 
„Indes  würde  der  Kapitalist  bloß  nur  auf  einen  solchen  Wiederersatz 
dessen  beschränkt,  was  er  dem  Arbeiter  bei  dessen  Arbeit,  zum  Behuf 
derselben,  von  seiner  aufgestapelten  Gütermasse  dargereicht  haben  mag, 
—  würde  man  den  Kapitalisten  so  strenge  behandeln,  —  so  würde  er  sich 
wohl  schwerlich  je  entschließen,  von  seinem  Gütervorrate  dem  Arbeiter 
zum  Behuf  seiner  Arbeit  etwas  darzureichen.  Er  würde  sich  vielleicht 
ganz  und  gar  nie  entschließen,  Kapitale  zu  sammeln;  denn  wirklich  würden 
gar  manche  Kapitale  gar  nicht  gesammelt  werden,  hätte  der  Sammler 
nicht  in  den  zu  hoffenden  Zinsen  einigen  Lohn  für  die  Mühe  dieses  Sammeins 


74  VI.  Farblose  Theorien. 

vor  dem  Auge.  Will  also  der  Arbeiter,  dem  es  an  jenen  zu  seiner  Kraft- 
übung nötigen  Erfordernissen  und  Vorbedingungen  fehlt,  hoffen  und 
erwarten,  daJß  der  Kapitalbesitzer  sich  zu  solchen  Darreichungen  verstehe, 
und  ihm,  dem  Arbeiter,  die  Übung  der  ihm  innewohnenden  produktiven 
Kraft  möglich  mache  oder  erleichtere,  so  muß  der  letztere  sich  notwendig 
dazu  bequemen,  dem  Kapitalisten  von  dem  Ertrage  seiner  Arbeit  etwas 
abzulassen." 

Im  folgenden  erweitert  Lotz  diese  vage  Erklärungsformel  noch  etwas, 
indem  er  als  Billigkeitsgrund  für  die  Forderung  des  Kapitalisten  den 
Umstand  anführt,  daß  der  Arbeiter  ohne  die  Unterstützung  des  Kapitals 
die  Arbeit,  welche  den  zu  verteilenden  Ertrag  gewährt,  entweder  gar  nicht, 
oder  doch  nicht  so  gut  zu  Stande  gebracht  haben  würde.  Dieser  Rücksicht 
entnimmt  er  auch  einen  Maßstab  für  den  „wahren  angemessenen  Stand" 
der  Kapitalrente:  diese  soll  nämlich  nach  dem  Verhältnisse  der  Unter- 
stützung berechnet  werden,  die  der  Arbeiter  durch  den  Gebrauch  des 
Kapitals  bei  der  Arbeit  genossen  hat.  Indem  Lotz  diese  Berechnungs- 
weise durch  einige  Beispiele  erläutert,  zeigt  er,  wie  nahe  sich  die  Extreme 
berühren  können:  während  er  nämlich  einige  Seiten  vorher  erklärt  hat, 
daß  der  ganze  „Ertrag  der  Arbeit  und  alles  daraus  hervorgehende  Ein- 
kommen eigentlich  nur  dem  Arbeiter,  als  Lohn  seiner  Arbeit  gehört", 
führt  er  jetzt  aus,  wie  unter  Umständen  der  Eigentümer  einer  arbeit- 
sparenden Maschine  gerechter  Weise  sogar  neun  Zehnteile  des  Arbeits- 
ertrages für  sich  in  Anspruch  nehmen  könne! 

Wie  man  sieht,  ist  der  Kontrast  zwischen  Ausgangs-  und  Endpunkt 
hier  noch  greller  als  bei  Soden,  und  das  Mittelstück,  das  die  Schwenkung 
zu  erklären  berufen  ist,  kaum  inhaltsvoller.  Es  wird  darin  im  Grunde 
nichts  anderes  gesagt,  als  daß  die  Kapitalisten  gern  einen  Zins  bekommen 
wollen,  und  daß  die  Arbeiter  sich  den  Abzug  desselben  gefallen  lassen 
können:  wie  weit  diese  ,, Erklärung"  aber  von  einer  wirklichen  Theorie 
des  Kapitalzinses  entfernt  ist,  illustriert  sich  drastisch  durch  einen  Ver- 
gleich mit  dem  Grundrentenproblem.  Sie  leistet  für  das  Zinsproblem 
genau  dasselbe,  was  auf  dem  Gebiete  der  Grundrente  geleistet  würde, 
wenn  man  sagt,  daß  die  Grundeigentümer  eine  Grundrente  beziehen  müssen, 
weil  sie  sonst  ihren  Boden  lieber  brach  liegen  lassen  würden,  und  daß  die 
Feldarbeiter  sich  billiger  Weise  den  Abzug  einer  Grundrente  gefallen  lassen 
können,  weil  sie  ohne  Mitwirkung  des  Bodens  den  zu  verteilenden  Ertrag 
gar  nicht  oder  doch  nicht  so  gut  zu  Stande  gebracht  hätten!  —  Daß  mit 
einem  solchen  Erklärungsgang  das  Wesentliche  des  Problems  noch  gar 
nicht  berührt  wird,  wurde  von  Lotz  augenscheinlich  nicht  geahnt  i). 


')  Schon  in  Lotz'  älterem  Hauptwerk,  der  Revision  der  Grundbegriffe  (1811 
bis  1814),  finden  sich  einige  nicht  uninteressahte,  aber  gleichfalls  widerspruchsvolle 
Bemerkungen  über  unser  lliema;  unter  anderem  eine  scharfe  Zurückweisung  der  Pro- 
duktivitätstheorien (III    S.  190f.);  eine  Erklärung  des  Zinses  als  eines  „willkürlichen 


Jakob,  Fulda,  Eiselen.  75 

Eine  letzte  Gruppe  farbloser  Schriftsteller  ist  endlich  zwischen  der 
SMiTHschen  Anschauungsweise  einerseits,  und  der  mittlerweise  von  Say 
aufgestellten  Produktivitätstheorie  andererseits  in  schwankender  Mitte 
stehen  geblieben,  hat  von  jeder  der  beiden  Anschauungen  einige  Züge 
aufgenommen,  aber  keine  zu  einer  eingehenden  Theorie  durchgebildet. 
Von  Say  nehmen  diese  Autoren  gewöhnlich  die  Anerkennung  des  Kapitales 
als  eines  selbständigen  Produktionsfaktors,  und  allenfalls  die  eine  oder  die 
andere  auf  die  „produktive  Kraft"  des  Kapitales  anspielende  Redensart, 
von  Smith  die  Berufung  auf  das  Interessenmotiv  des  Kapitalisten  an, 
gehen  aber  insgesamt  einer  präzisen  Formulierung  des  Zinsproblems  aus 
dem  Wege. 

In  ihrer  Reihe  begegnen  wir  unter  anderen  Jakob  i),  der  bald  als 
letzte  Quelle  aller  nützlichen  Dinge  nur  die  Natur  und  den  Gewerbefleiß 
anerkennt  (§  49),  und  den  Kapitalgewinn  auf  ein  Mehrerträgnis  zurück- 
führt, das  die  Arbeit  hervorbringt  (§  275,  280);  bald  aber  wieder  als  Kapital- 
gewinn dasjenige  bezeichnet,  „was  durch  ein  Kapital  über  seinen 
Wert  hervorgebracht  wird"  (§  277),  das  Kapital  in  der  SAvschen 
Ausdrucksweise  ein  „produktives  Instrument"  nennt  (§  770),  und  oftmals 
die  Kapitalbesitzer  als  unmittelbare  Produzenten  ansieht,  die  wegen  des 
direkten  Anteils,  den  sie  an  der  Gütererzeugung  durch  Beisteuerung  des 
Kapitales  genommen  haben,  an  der  ursprünglichen  Verteilung  des  Er- 
trages teilzunehmen  berufen  sind^).  Wir  treffen  ferner  Fulda  3),  der 
das  Kapital  als  eine  besondere,  freilich  abgeleitete  Güterquelle  ansieht, 
und  im  übrigen  mit  einer  Maschine  vergleicht,  „durch  deren  zweckmäßige 
Verwendung  sie  nicht  nur  in  ihrem  Gange  erhalten,  sondern  noch  etwas 
mit  ihr  gewonnen  werden  kann",  ohne  hierfür  weiter  nach  einer  Erklärung 
zu  suchen  (§  135);  ferner  Eiselen*),  dessen  Unklarheit  schon  dadurch 
illustriert  wird,  daß  er  erst  nur  zwei  letzte  Quellen  der  Güter,  Natur  und 
Arbeit  anerkennt  (S.  11),  später  aber  Arbeit,  Natur  und  Kapital  als 


Zusatzes  zu  dem  notwendigen  Schaf fungskostenbe trage"  und  als  einer  „Abgabe,  welche 
der  Eigennutz  des  Kapitalisten  dem  Konsumenten  abzwingt"  (S.  338);  diese  Abgabe 
wird  zwar  nicht  notwendig,  aber  „sehr  billig"  gefunden  (S.  339);  und  ein  anderes  Mal 
gieht  LoTz  es  geradezu  als  eine  ,,Vervorteilung"  des  Kapialisten  durch  den  Arbeiter  an, 
wenn  der  erstere  nicht  so  viel  an  Kapitalzins  erhält,  „als  er  fordern  zu  können  berechtigt 
sein  mag  nach  dem  Einflüsse  jener  vom  Arbeiter  benutzten  Werkzeuge  auf  dessen  Be- 
triebsamkeit und  deren  rohen  Ertrag"  (S.  323).  —  Auffallend  ist,  daß  Lorz  in  der  vor- 
letzten der-zitierten  Stellen  den  Kapitalzins  auf  Rechnung  des  Konsumenten,  in 
der  letzten  aber  auf  Rechnung  des  Arbeiters  gehen  läßt;  er  kopiert  damit  genau  die 
Schwankungen,  die  sich  bei  Adam  Smith  über  denselben  Punkt  finden. 

')  Grundsätze  der  Nationalökonomie,  Halle  1805,  3.  Auflage,  Halle  1825.  Ich 
zitiere  nach  der  letzteren  Auflage. 

-)  §  211,  711,  765,  und  besonders  markant  in  §  769. 

^)  Grundsätze  der  ökonomisch-politischen  oder  Kameralwissenschaften,  2.  Auf- 
lage, Tübingen  1820. 

*)  Die  Lehre  von  der  Volkswirtschaft,  Halle  1843. 


76  ^I-  Farblose  Theorien. 

„Grundkräfte  der  Produktion"  ansieht,  aus  deren  Zusammenwirken  der 
Wert  aller  Produkte  hervorgeht  (§  372);  der  im  übrigen  das  Amt  des 
Kapitales  darin  sieht,  den  Ertrag  der  Arbeit  und  der  Naturkräfte  zu  er- 
höhen (§  497  und  öfters),  zur  Erklärung  des  Kapitalzinses  schließlich  aber 
nichts  anderes  zu  sagen  weiß,  als  daß  der  Zins  notwendig  ist,  damit  ein 
Antrieb  zur  Kapitalsbildung  geschaffen  werde  (§  491;  ähnlich  §  517,  555 
und  öfters).  Weiter  treffen  wir  in  dieser  Gruppe  aber  auch  den  wackeren 
Altmeister  Rau. 

Es  ist  eigentümlich,  wie  Raü  bis  zum  Ende  seiner  langen  wissenschaft- 
lichen Laufbahn,  und  ungeachtet  er  inzwischen  eine  stattliche  Reihe  aus- 
geprägter Kapitalzinstheorien  hatte  entstehen  sehen,  an  jener  schlichten 
Erklärungsweise  festhielt,  die  zur  Zeit  seiner  Jugend  üblich  gewesen  war. 
Noch  in  der  achten  und  letzten  Auflage  seiner  Volkswirtschaftslehre,  die 
im  Jahre  1868  erschien,  begnügte  er  sich,  das  Zinsproblem  mit  einigen 
flüchtigen  Bemerkungen  zu  streifen,  die  im  Wesentlichen  das  alte,  von 
Adam  Smith  eingeführte  Interessenmotiv  enthalten.  „Soll  er  (der  Kapi- 
talist) sich  entschließen  Güter  überzusparen,  zu  sammeln  und  zu  Kapital 
zu  machen,  so  muß  ihm  ein  Vorteil  anderer  Art,  nämlich  ein  jährliches 
Einkommen  zufließen,  welches  so  lange  fortdauert  als  sein  Kapital.  Auf 
diese  Weise  wird  das  Eigentum  eines  Kapitales  für  den  Einzelnen  ...  die 
Quelle  eines  Einkommens,  welches  Kapital-,  Stamm-  oder  Zinsrente  heißt  ^)." 

Die  reiche  Entwicklung,  welche  die  Zinsliteratur  bis  1868  genommen 
hatte,  hat  in  Raus  Werken  fast  gar  keine  Spuren  zurückgelassen.  Von  der 
SAYSchen  Produktivitätstheorie  hat  er  nur  so  viel  angenommen,  daß  er 
das  Kapital,  gleich  Say,  als  eine  selbständige  Güterquelle  anerkennt:  aber 
er  schwächt  dieses  Zugeständnis  sofort  ab,  indem  er  den  von  Say  für  die 
Mitwirkung  dieser  Güterquelle  gebrauchten  Ausdruck  „Produktivdienst" 
als  unpassend  verwirft,  und  die  Kapitale,  im  Gegensatz  zu  den  güter- 
erzeugenden Kräften,  unter  die  „toten  Hilfsmittel"  stellt  (I  §  84).  Und 
einmal  zitiert  er  in  einer  Anmerkung  die  SENioRsche  Enthaltsamkeits- 
th^orie,  aber  ohne  daran  weder  ein  Wort  der  Zustimmung,  noch  des  Tadels 
za  knüpfen  (I  §  228). 

Wenden  wir  uns  von  Deutschland  nach  England,  so  wird  unsere 
Aufmerksamkeit  vor  allem  durch  Ricardo  in  Anspruch  genommen. 

Bei  diesem  ausgezeichneten  Denker  wiederholt  sich  die  schon  bei 
Smith  beobachtete  Erscheinung,  daß  er,  ohne  selbst  eine  Zinstheorie 
aufzustellen,  einen  tiefgehenden  Einfluß  auf  die  Entwicklung  der  Zins- 
theorie genommen  hat.  Ihn  selbst  muß  ich  unter  die  farblosen  Schrift- 
steller zählen;  denn  wenn  er  sich  auch  in  ziemlichem  Umfange  mit  dem 
Thema  des  Kapitalzinses  beschäftigt,  so  behandelt  er  diesen  doch  nur  wie 


')  Volkswirtschaltslehre  1  §  222.    Ähnlich,  nur  noch  allgemeiner  I  §  138. 


England.    Ricardo.  77 

eine  selbstverständliche  oder  nahezu  selbstverständliche  Erscheinung,  über 
deren  Ursprung  er  mit  einigen  flüchtigen  Bemerkungen  hinweg  geht,  um 
sieh  desto  ausführlicher  mit  allerlei  konkreten  Detailfragen  zu  befassen; 
und  auch  diese  behandelt  er,  wiewohl  höchst  gründlich  und  geistvoll,  doch 
so,  daß  aus  ihrer  Untersuchung  auf  die  theoretische  Hauptfrage  kein  Licht 
zurückfällt.  Aber  geradeso  wie  bei  Smith  finden  sich  auch  in  seiner  Lehre 
Sätze,  auf  die  sich,  wenn  man  sie  nur  in  aUe  ihre  Konsequenzen  entwickelte, 
ausgeprägte  Theorien  bauen  ließer;  diese  wurden  später  in  der  Tat  aus- 
gebaut, und  fanden  keine  ihrer  geringsten  Stützen  in  der  Autorität 
Ricardos,  auf  den  man  sich  wie  auf  ihren  geistigen  Urheber  zu  berufen 
liebte. 

Die  Ausführungen,  in  denen  Ricardo  des  Kapitalzinses  gedenkt,  sind 
sehr  zahlreich.  Sie  finden  sich,  abgesehen  von  zerstreuten  Bemerkungen, 
hauptsächlich  in  den  Kapiteln  I,  VI,  VII  und  XXI  seiner  Grundsätze 
der  politischen  Ökonomie  und  Besteuerung  i).  Ihr  Inhalt  läßt  sich,  soweit 
es  für  unsem  Zweck  nötig  ist,  am  besten  überblicken,  wenn  man  drei 
Gruppen  unterscheidet.  In  die  erste  Gruppe  will  ich  die  direkten  Bemer- 
kungen Ricardos  über  den  Ursprung  des  Kapitalzinses,  in  die  zweite 
seine  Ansichten  über  die  Ursachen  seiner  Höhe,  in  die  dritte  die  Ansichten 
über  den  Zusammenhang  des  Kapitalzinses  mit  dem  Güterwert  stellen. 
Vorauszuschicken  ist  noch,  daß  Ricardo,  wie  die  meisten  Engländer, 
zwischen  Kapitaizins  und  Unternehmergewinn  nicht  unterscheidet,  son- 
dern beide  zusammen  unter  dem  Namen  „profif    begreift. 

Die  erste  Gruppe  ist  sehr  spärlich  vertreten.  Sie  umfaßt  einige  wenige 
gelegentliche  Bemerkungen  des  Inhalts,  daß  der  Kapitalzins  existieren 
müsse,  weil  sonst  die  Kapitalisten  kein  Motiv  zur  Bildung  von  Kapitalien 
hätten  2).  Diese  Bemerkungen  schließen  sich  sichtlich  an  die  bekannten 
analogen  Äußerungen  von  Adam  Smith  an,  und  sind  ebenso  zu  beurteilen 
wie  diese.  Man  mag  in  ihnen  mit  einiger  Berechtigung  die  ersten  Keime 
erblicken,  aus  denen  sich  später  die  Abstinenztheorie  entwickelt  hat;  sie 
selbst  stellen  aber  noch  keine  Theorie  vor. 


^)  London  1817,  3.  Auflage  1821.  Ich  zitiere  nach  dem  in  der  Gesamtausgabe 
von  Ricardos  Werken,  London  1871,  enthaltenen  Abdruck  der  3.  Auflage. 

•)  Die  ausführlichste  dieser  Bemerkungen  lautet:  „.  .  .  Denn  nicht  ein  einziger 
Mensch  sammelt  sich  anders  als  in  der  Aussicht  Kapitalien,  um  sie  hervorbringend  zu 
machen,  und  bloß  bei  dieser  Verwendung  wirken  sie  auf  den  Gewinst.  Ohne  diesen 
Beweggrund  kann  es  keine  Kapitalansammlung  geben  und  folglich  nie 
ein  solcher  Stand  der  Preise  (der  dem  Kapitalisten  gar  keinen  Gewinn  übrig  ließe) 
stattfinden.  Der  Pachter  und  Gewerksmann  kann  ebensowenig  ohne  Ge- 
winn, als  der  Arbeiter  ohne  Lohn  leben.  Ihre  Lust  zur  Kapitalansammlung  wird 
mit  jeder  Verringerung  des  Gewinnes  abnehmen  und  wird  vollends  verschwinden,  wenn 
ihre  Gewinste  so  klein  sind,  daß  sie  ihnen  nicht  einmal  eine  genügsame  Vergütung 
für  ihre  Mühe  und  ihr  Wagnis  einbringen,  auf  welche  sie  bei  der  hervorbringenden  An- 
wendung ihres  Kapitales  notwendig  eingehen  müssen,". (Chapt.  VI  S.  68,  ähnlich  in 
demselben  Kapitel  S.  67,  Chapt.  XXI  S.  175,  und  öfter.«.) 


78  VI.  Farblose  Theorien. 

Ähnliches  gilt  von  einer  anderen  Bemerkung  Ricardos,  die  hier  zu 
erwähnen  ist.  Ricardo  erklärt  einmal,  daß  der  Wert  von  Gütern,  deren 
Produktion  eine  länger  dauernde  Verwendung  von  Kapital  erfordert, 
größer  sein  müsse  als  der  Wert  von  Gütern,  die  genau  ebensoviel  Arbeit, 
aber  eine  kürzer  dauernde  Kapitalverwendung  erfordert  haben,  und 
schließt:  „Die  Wertdifferenz  ...  ist  nur  eine  gerechte  Vergütung 
für  die  Zeit,  durch  welche  der  Gewinn  vorenthalten  wurde"^). 
—  Wenn  man  will,  kann  man  in  diesen  Worten  einen  noch  direkteren  An- 
klang an  die  Abstinenztheorie  erblicken:  eine  fertige  Theorie  enthalten 
aber  auch  sie  nicht. 

Sehr  anziehend  sind  durch  Originalität  und  Geschlossenheit  die 
Ansichten,  die  Ricardo  über  die  Höhe  des  Kapitalgewiimes  entwickelt 
(hauptsächlich  in  den  Kapiteln  VI  u.  XXI).  Sie  wachsen  aus  seiner  Grund- 
rententheorie heraus,  der  die  Darstellung  ein  Stück  weit  folgen  muß. 

Nach  Ricardo  werden  im  Anfange  von  den  Menschen  die  frucht- 
barsten Grundstücke  in  Kultur  genommen.  So  lange  an  Boden  „erster 
Qualität"  Überfluß  besteht,  wird  dem  Grundeigentümer  keine  Grundrente 
gezahlt,  und  der  ganze  Ertrag  fällt  den  Bebauern  als  Arbeitslohn  und 
Kapitalgewinn  zu. 

Späterhin  zwingt  bei  zunehmender  Bevölkerung  der  gesteigerte 
Bedarf  nach  Bodenprodukten  die  Kultur  auszudehnen;  dies  geschieht, 
indem  teils  die  bisher  verschmähten  Grundstücke  minderer  Qualität  neu 
in  Anbau  genommen,  teils  die  schon  bisher  bebauten  Grundstücke  erster 
Qualität  intensiver  bebaut,  mit  einem  stärkeren  Autwand  von  Kapital 
und  Arbeit  bewirtschaftet  werden.  In  beiden  Fällen  kann  —  bei  unver- 
ändertem Stand  der  landwirtschaftlichen  Technik  —  der  Zuwachs  an 
Bodenprodukten  nur  mit  erhöhten  Kosten  gewonnen  werden,  und  die 
neu  hinzugetretenen  Kapital-  und  Arbeitsverwendungen  sind  daher  weniger 
ergiebig;  in  dem  Maße  weniger,  als  die  günstigeren  Anbaugelegenheiten 
sukzessive  sich  erschöpfen,  und  ungünstigere  aufgesucht  werden  müssen. 

Das  ungleiche  Erträgnis,  das  alsdann  die  verschieden  günstig  pla- 
cierten Kapitalien  erzielen  heKen,  kann  auf  die  Dauer  nicht  am  Kapitale 
als  solchem  haften  bleiben;  sondern  die  Konkurrenz  der  Kapitalisten  wird 
alsbald  den  Gewinnsatz  aller  in  der  Landwirtschaft  beschäftigten  Kapitalien 
auf  das  gleiche  Niveau  stellen;  und  zwar  wird  das  Richtmaß  durch  den 
in  der  mindest  ergiebigen  Kapitalverwendung  zu  erzielenden  Gewinn 
angegeben,  während  aller  Mehrertrag,  den  die  günstiger  placierten  Kapi- 
talien vermöge  der  besseren  Qualität  der  kooperierenden  Bodenkräfte 
liefern,  den  Eigentümern  der  letzteren  als  Grundrente  in  den  Schoß  fällt. 

Das  Ausmaß  von  Kapitalgewinn  und  Arbeitslohn  zusammengenommen 
wird  daher  stets  durch  den  Ertrag  der  mindest  ergiebigen  Kapitalver- 


')  Chapt.  I  Sect.  V  S.  25. 


Ricardo.  79 

Wendung  bestimmt;  denn  dieser  Ertrag  zahlt  keine  Grundrente  und  wird 
zur  Gänze  als  Kapitalgewinn  und  Arbeitslohn  verteilt. 

Von  diesen  beiden  Faktoren  folgt  nun  der  Arbeitslohn  einem  festen 
Gesetze.  Er  stellt  sich  nämlich  auf  die  Dauer  notwendig  gleich  dem  Be- 
trage der  notwendigen  Subsistenzkosten  des  Arbeiters.  Er  ist  hoch,  wenn 
der  Wert  der  Subsistenzmittel  ein  hoher  ist ;  er  ist  niedrig,  wenn  der  Wert 
der  Subsistenzmittel  ein  geringer  ist.  Indem  dann  der  Kapitalist  erhält, 
was  übrig  bleibt,  so  findet  der  Kapitalgewinn  den  ausschlaggebenden 
Bestimmungsgrund  seiner  eigenen  Höhe  in  der  jeweiligen  Höhe  des 
Arbeitslohnes.  In  diesem  Zusammenhange  zwischen  Zins  und  Lohn 
findet  Ricardo  das  wahre  Gesetz  des  Kapitalzinses,  das  er  an  zahlreichen 
Stellen  emphatisch  hervorhebt,  und  der  älteren,  zumal  von  Smith  ver- 
tretenen Ansicht  gegenüberstellt,  daß  der  Kapitalgewinn  durch  die  Menge 
und  Konkurrenz  der  Kapitalien  in  seinem  Ausmaß  bestimmt  werde. 

Kraft  dieses  Gesetzes,  folgert  Ricardo  nun  weiter,  muß  der  Kapital- 
gewinn die  Tendenz  haben,  mit  zunehmender  wirtschaftlicher  Kultur 
immer  mehr  zu  sinken.  Denn  um  für  die  zunehmende  Bevölkerung 
Nahrungsmittel  zu  erlangen,  muß  man  zu  immer  ungünstigeren  Anbau- 
gelegenheiten übergehen,  und  das  verminderte  Produkt  läßt  nach  Abzug 
des  Arbeitslohnes  immer  weniger  für  den  Kapitalgewinn  über.  Zwar  der 
Wert  des  in  seiner  Masse  abnehmenden  Produktes  sinkt  nicht.  Denn  der 
Wert  der  Produkte  richtet  sich  nach  Ricardos  bekanntem  Wertgesetz 
jederzeit  nach  der  Menge  der  auf  ihre  Erzeugung  verwendeten  Arbeit. 
Bringt  daher  in  einem  späteren  Zeitpunkt  die  Arbeit  von  zehn  Männern 
nur  150  Quarter  Weizen  hervor,  während  sie  früher  180  Quarter  hervor- 
gebracht hat,  so  werden  jetzt  150  Quarter  genau  denselben  Wert  haben, 
als  früher  180  hatten,  weil  in  beiden  die  gleiche  Quantität  von  Arbeit, 
nämlich  die  Jahresarbeit  von  zehn  Männern  enthalten  ist.  Natürlich  wird 
dabei  aber  jetzt  der  Wert  des  einzelnen  Quarters  Weizen  steigen.  Damit 
steigt  notwendig  der  Wertbetrag,  den  der  Arbeiter  zur  Deckung  seiner 
Subsistenz  benötigt,  und  in  weiterer  Folge  muß  auch  sein  Arbeitslohn 
steigen.  Muß  aber  von  dem  gleichen  Wertbetrag,  den  die  verminderte 
Produktenmasse  repräsentiert,  ein  höherer  Arbeitslohn  gezahlt  werden, 
so  erübrigt  natürlich  ein  geringerer  Betrag  für  den  Kapitalgewinn. 

Würde  man  endlich  den  Anbau  auf  so  unfruchtbare  Grundstücke 
ausdehnen,  daß  das  abnehmende  Produkt  ganz  für  die  Subsistenz  der 
Arbeiter  in  Anspruch  genommen  wird,  so  würde  der  Kapitalgewinn  auf 
Null  sinken.  Das  ist  indes  nicht  möglich,  weil  die  Aussicht  auf  Gewinn 
das  einzige  Motiv  der  Kapitalsbildung  ist,  und  dieses  Motiv  sich  mit  zu- 
nehmender Erniedrigung  des  Profits  abschwächt,  so  daß  schon  vor  Er- 
reichung des  Nullpunktes  die  fernere  Kapitalbildung,  damit  aber  auch 
der  Fortschritt  des  Reichtums  und  der  Bevölkerung  zum  Stillstand  kommt. 

Die  Konkurrenz  der  Kapitalien,  auf  die  Smith  so  großes  Gewicht 


80  VI.  Farblose  Theorien. 

legt,  kann  nach  Ricardo  nur  vorübergehend  den  Kapitalgewinn  ernie- 
drigen, indem  zwar^)  durch  die  gesteigerte  Menge  der  Kapitalien  anfänglich 
der  Arbeitslohn  erhöht  wird,  aber  gar  bald  die  Arbeiterbevölkerung  sich 
im  Verhältnis  zur  gesteigerten  Arbeitsnachfrage  vermehrt,  wodurch  der 
Lohn  auf  das  frühere  Niveau  zu  sinken,  der  Kapitalgewinn  zu  steigen 
tendiert.  Nur  dadurch,  daß  man  für  die  gesteigerte  Volkszahl  nunmehr 
nur  durch  Anbau  unergiebigerer  Ländereien  mit  gesteigerten  Kosten  die 
nötigen  Unterhaltsmittel  erlangen  kann,  wobei  das  verminderte  Produkt 
einen  geringeren  Überschuß  über  den  notwendigen  Arbeitslohn  läßt,  wird 
endgültig  der  Kapitalgewinn  sinken:  nicht  infolge  der  Konkurrenz,  sondern 
infolge  der  Nötigung  zu  einer  unergiebigeren  Produktion  zu  schreiten. 
Nur  von  Zeit  zu  Zeit  erfährt  die  Tendenz  des  Kapitalgewinnes,  mit  fort- 
schreitender wirtschaftlicher  Entwicklung  zu  sinken,  eine  Hemmung  durch 
Fortschritte  in  der  landwirtschaftlichen  Technik,  die  es  gestatten,  gleiche 
Produktenmengen  mit  weniger  Arbeit  zu  erlangen  als  bisher. 

Heben  wir  aus  dieser  Theorie  den  Kern  heraus,  so  erklärt  Ricardo 
die  Höhe  des  Kapitalgewinnes  aus  der  Höhe  des  Arbeitslohnes: 
diese  ist  die  Ursache,  die  Gewinnhöhe  ist  die  Wirkung  2). 

Die  Kritik  kann  sich  dieser  Theorie  von  verschiedenen  Seiten  nähern. 
Sie  hat  natürlich  gar  keinen  Bestand  für  denjenigen,  der  schon  Ricardos 
Grundrententheorie  prinzipiell  für  falsch  hält  3).  Jenes  Stück  des  Beweis- 
ganges ferner,  das  sich  auf  die  Lohnfondtheorie  stützt,  wird  allen  Ein- 
wendungen ausgesetzt  sein,  die  sich  gegen  die  letztere  Theorie  erheben. 
Ich  lasse  indes  alle  Einwendungen  bei  Seite,  welche  die  äußeren  Voraus- 
setzungen der  Zinstheorie  angehen,  und  lege  die  Kritik  lediglich  an  diese 
selbst.  Ich  frage  demnach:  Wird  durch  Ricardos  Theorie,  die  Richtigkeit 
der  Grundrenten-  und  Lohnfondtheorie  vorausgesetzt,  die  Höhe  des 
Kapitalgewinnes,  oder  wohl  gar  auch  sein  Dasein  selbst  wirklich  erklärt? 

Die  Antwort  wird  lauten:  Nein!  und  zwar  deshalb  nicht,  weil  Ricardo 
bloße  Begleitumstände  der  zu  erklärenden  Erscheinung  irrtümlich 
für  ihre  Ursache  gehalten  hat.  —  Die  Sache  steht  so: 

Es  ist  gan^  richtig,  das  Lohn,  Gewinn  und  Produktionsertrag  — 
nach  Abzug  der  etwaigen  Grundrente  —  in  einer  eisernen  Verbindung 
stehen.     Es  ist  ganz  richtig,  daß  der  Kapitalgewinn  nie  mehr  und  nie 


')  Nach  der  bekannten  „Lohnfondtheorie". 

'}  Dasselbe  ursächliche  Verhältnis  drückt  Ricardo  an  einer  anderen  Stelle  drastisch 
aus,  wenn  er  im  Eingange  der  Sect.  IV  des  I.  Kap.  die  Höhe  des  „Wertes  der  Arbeit" 
als  eine  zweite  Ursache  des  Güterwertes  neben  der  Menge  der  zur  Produktion  aufge- 
wendeten Arbeit  nennt,  und  dabei  den  Einfluß  im  Sinn  hat,  den  die  Gewinnanspräche 
der  Kapitalisten  auf  den  Güterwert  ausüben.  Die  Höhe  des  Gewinnes  gilt  ihm  eben  nur 
als  eine  unselbständige  Zwischenursache,  statt  deren  er  lieber  die  Endursache  des  ganzen 
Verhältnisses  einsetzt,  die  er  in  der  wechselnden  Höhe  des  Arbeitslohnes  erblickt. 

')  wie  z.  B.  PiERSTORPP,  Lehre  vom  Unternehmergewinn,  S.  12 ff. 


Ricardo.  81 

weniger  ausmachen  kann  als  die  Differenz  Ertrag  minus  Lohn.  Aber  es 
ist  falsch,  diese  Verbindung  so  auszulegen,  als  ob  Ertragshöhe  und  Lohn- 
höhe das  bestimmende,  und  die  Gewinnhöhe  lediglich  das  bestimmte 
wäre.'  Ebensogut  als  Ricardo  die  Gewinnhöhe  für  eine  Folge  der  Lohn- 
höhe erklärt  hat,  hätte  er  umgekehrt  auch  die  Lohnhöhe  für  eine  Folge 
der  Gewinnhöhe  erklären  können.  Er  hat  das  nicht  getan,  weil  er  mit 
Recht  erkannte,  daß  die  Höhe  des  Arbeitslohnes  auf  selbständigen,  dem 
Faktor  Arbeit  eigentümlichen  Bestimmgründen  ruht.  Was  Ricardo  aber 
für  den  Arbeitslohn  erkannte,  das  hat  er  bei  dem  Kapitalgewinn  übersehen. 
Auch  der  Kapitalgewinn  hat  Bestimmgründe  seiner  Höhe,  die  aus  seinen 
eigenen  Verhältnissen  hervorgehen.  Er  nimmt  nicht  einfach,  was  übrig 
bleibt,  sondern  er  weiß  sich  einen  angemessenen  Anteil  zu  erzwingen. 
Eine  wirkliche  Erklärung  des  Eapitalgewinnes  hätte  nun  eben  jene 
Momente  hervorheben  müssen,  die  auf  Seite  des  Faktors  „Kapital"  vor- 
handen sind  und  sich  der  Absorption  des  Kapitalgewinnes  durch  den 
Arbeitslohn  ebenso  wirksam  entgegenstellen,  als  z.  B.  die  Rücksicht  auf 
den  nötigen  Unterhalt  der  Absorption  des  Arbeitslohnes  durch  den  Kapital- 
zins widersteht.  Diese  Hervorhebung  der  spezifischen  Bestimmgründe 
der  Kapitalzinshöhe  läßt  aber  Ricardo  vollständig  venmssen. 

Bei  einer  einzigen  Gelegenheit  nimmt  er  von  der  Existenz  solcher 
Gründe  Notiz:  wenn  er  nämlich  bemerkt,  daß  der  Kapitalgewinn  nie  auf 
NuU  sinken  könne,  weil  dann  das  Motiv  der  Kapitalbüdung,  und  damit 
diese  selbst  zum  Stillstand  käme^).  Aber  er  gibt  diesem  Gedanken,  der 
konsequent  ausgebildet  den  Stoff  zu  einer  urwüchsigen  Zinstheorie  hätte 
abgeben  können,  keine  weitere  Folge,  sondern  fährt  fort,  die  Bestimmgründe 
für  die  Höhe  des  Kapitalgewinnes  ausschließlich  im  Lager  der  konkur- 
rierenden Faktoren  zu  suchen,  indem  er  unablässig  bald  auf  die  Höhe 
des  Arbeitslohnes,  bald  auf  den  Grad  der  Produktivität  der  unergiebigsten 
Arbeit,  bald  sogar,  etwas  physiokratisch  angehaucht,  aber  in  Überein- 
stimmung mit  der  ganzen  eben  entwickelten  Lehre,  auf  die  natürliche 
Fruchtbarkeit  des  Bodens  als  die  entscheidenden  Ursachen  der  Gewinn- 
höhe hinweist*). 

Die  kritische  Ausstellung,  die  ich  hier  gegen  Ricardo  richte,  scheint 
allerdings  selbst  einem  naheliegenden  Einwand  ausgesetzt  zu  sein.  Wenn 
nämlich,  wie  wir  im  ganzen  Gedankengange  im  Sinne  Ricardos  ange- 
nommen haben,  der  Arbeitslohn  ein  absolut  bestimmtes  Maß  —  den  Betrag 
der  Unterhaltskosten  —  für  sich  in  Anspruch  nimmt,  so  scheint  es,  als 
ob  damit  der  Betrag,  der  für  den  Kapitalgewinn  erübrigt,  schon  so  fest 
bestimmt  sei,  daß  für  eine  Wirksamkeit  selbständiger  Motive  auf  Seite 
des  Kapitalgewinnes  gar  kein  Spielraum  übrig  bleibt.  Nehmen  wir  z.  B. 
an,  der  zur  Verteilung  gelangende  Produktionsertrag  sei  100  Quarter. 

')  Chapt.  VI  S.  67  und  öfters. 
«)  Chapt.  VI  gegen  Ende  (S,  70). 
Böhm-Bawerk,  Kapitalzins.    4.  Aofl.  6 


82  VI.  Farblose  Theorien. 

Brauchen  die  an  seiner  HeFvorbringung  beteiligten  Arbeiter  80  Quarter, 
so  sei  der  Betrag  von  20  Quarter  als  Anteil  des  Kapitales  schon  bestimmt, 
und  könne  durch  keine  auf  seiner  Seite  tätigen  Motive  verändert  werden. 

Dieser  denkbare  Gegeneinwurf  hält  indes  nicht  Stich.  Denn  —  um 
ganz  in  der  Denkweise  Ricardos  zu  bleiben  —  der  Ertrag,  den  die  mindest 
ergiebige  Arbeit  abwirft,  ist  nichts  fest  bestimmtes,  sondern  elastisch 
und  einer  Beeinflussung  durch  die  unabweislichen  Ansprüche  des  Kapitals 
und  der  Arbeit  fähig.  Gerade  so  gut  als  die  Ansprüche  der  Arbeiter  ver- 
hindern können  und  faktisch  verhindern,  daß  der  Anbau  bis  auf  einen 
Punkt  ausgedehnt  wird,  an  dem  die  Arbeit  nicht  einmal  ihre  eigenen 
Subsistenzkosten  deckt,  geradeso  können  sich  auch  die  Ansprüche  des 
Kapitales  einer  übermäßigen  Ausdehnung  der  Anbaugrenze  entgegen- 
stellen, und  stellen  sich  wirklich  entgegen.  Erfordern  z.  B.  jene  Motive, 
denen  der  Zins  überhaupt  seinen  Ursprung  verdankt  und  die  Ricardo 
leider  so  wenig  aufklärt,  für  ein  Kapital  von  bestimmter  Größe  einen 
Gewinnanteil  von  30  Quarter,  und  benötigen  die  mit  diesem  Kapitale 
beschäftigten  Arbeiter  zu  ihrer  Subsistenz  zusammen  80  Quarter,  so 
wird  eben  der  Anbau  an  jener  Stelle  Halt  machen  müssen,  an  der  die 
Arbeit  so  vieler  Leute,  als  mit  80  Quarter  sich  erhalten  können,  noch 
110  Quarter  abwirft.  Würden  die  „motives  of  accumulation"  nur  einen 
Gewinn  von  10  Quarter  erfordern,  so  würde  der  Anbau  so  weit  ausgedehnt 
werden  können,  daß  die  unergiebigste  Arbeit  noch  90  Quarter  fördert. 
Der  Anbau  noch  unergiebigerer  Grundstücke  wird  aber  jedesmal  ökonomisch 
unmöglich  und  damit  die  Grenze  für  die  weitere  Ausbreitung  der  Be- 
völkerung einstweilen  erreicht  sein^). 

Daß  die  Ansprüche  des  Kapitales  eine  solche  begrenzende  Wirkung 
üben  können,  gibt  Ricardo,  wie  wir  gesehen  haben,  für  jenen  extremsten 
Fall,  in  dem  der  Kapitalgewinn  gänzlich  zu  versiegen  droht,  selbst  zu. 
Natürlich  üben  aber  jene  Verhältnisse,  denen  der  Kapitalgewinn  überhaupt 
seine  Entstehung  verdankt,  ihre  Spannkraft  nicht  bloß  in  den  äußersten 
Fällen,  sondern  permanent  aus;  sie  hindern  nicht  bloß  das  gänzliche  Ver- 
schwinden des  Gewinnes,  sondern  sie  halten  ihn  in  jedem  Augenblick  im 
Wettkampf  mit  den  anderen  Faktoren  empor,  und  helfen  die  Höhe  ent- 
scheiden, bis  zu  welcher  er  aufragt,  so  daß  der  Kapitalgewinn  nicht  minder 
auf  selbständigen  Bestimmgründen  ruht,  als  man  dies  vom  Arbeitslohn 

')  Der  aufmerksame  Leser  wird  sich  leicht  überzeugen,  daß  das  Resultat  das 
gleiche  bleibt,  wenn  wir,  die  Form  der  Betrachtung  variierend,  statt  der  Masse  des 
Produktes  und  Arbeitslohnes  deren  Wert  in  Betracht  ziehen.  Alsdann  erscheint  zwar 
der  Ertragswert  als  stabile  (vgl.  oben  S.  79),  dagegen  der  Arbeitslohn  als  elastische 
Größe;  und  der  im  Text  ausgedrückte  Satz  wird,  nur  in  den  Worten,  nicht  in  der  Sache 
verändert,  lauten:  der  Anbau  muß  an  demjenigen  Punkt  Halt  machen,  an  welchem 
der  durch  die  steigenden  Kosten  des  Anbaues  gesteigerte  Arbeitslohn  dem  Kapitalisten 
vom  Werte  des  Produktes  nicht  mehr  genug  übrig  läßt,  um  seine  Gewinnansprüche 
zu  befriedigen. 


Ricardo.  83 

sagen  kann.  Diese  selbständigen  Bestimmgründe  völlig  vernachlässigt 
zu  haben,  ist  der  entscheidende  Fehler  Ricardos. 

Die  eigentümliche  Natur  dieses  Fehlers  erklärt  auch  auf  das  natür- 
lichste die  sonst  frappierende  Erscheinung,  daß  die  umfangreichen  Unter- 
suchungen, die  ein  so  ausgezeichneter  Denker  wie  Ricardo  der  Frage  nach 
der  Höhe  des  Kapitalgewinnes  widmet,  so  gänzlich  unfruchtbar  für  die 
Hauptfrage  nach  den  Ursachen  des  Gewinnes  selbst  geblieben  sind. 

Eine  dritte  Gruppe  von  Bemerkungen,  die  den  Kapitalgewinn  be- 
treffen, ist  endlich  mit  den  Ansichten  Ricardos  über  den  Güterwert 
verflochten.  Es  ist  dies  ein  Thema,  das  überhaupt  den  Schriftstellern 
Gelegenheit  gibt,  sich  über  die  Provenienz  des  Kapitalgewinnes  direkt 
oder  indirekt  zu  äußern.  Wird  der  Tauschwert  der  Güter  um  der  Gewinn- 
forderung  der  Kapitalisten  willen  ein  höherer  als  er  sonst  gewesen  wäre, 
oder  nicht?  Im  ersten  Fall  wird  der  Kapitalgewinn  ohne  Verkürzung 
der  Inhaber  der  kooperierenden  Produktivkräfte,  insbesondere  ohne  Ver- 
kürzung der  Lohnarbeiter,  aus  einem  besonderen  „Mehrwert"  entrichtet, 
im  letzten  Fall  fließt  er  auf  Kosten  der  anderen  Partizipanten. 

Auch  Ricardo  äußert  sich  bei  dieser  (Gelegenheit,  und  zwar  spricht 
er  sich  zu  Gunsten  eines  durch  die  Kapitalverwendimg  verursachten  Zu- 
schlages zum  Güterwerte  aus;  jedoch  in  etwas  rückhältiger  Weise. 

Er  unterscheidet  nämlich  zwei  verschiedene  Epochen  der  Gesellschaft. 
In  der  ersten,  primitiven  Epoche  —  so  lange  ea  ganz  wenig  Kapital  und 
noch  kein  privates  Grundeigentum  gibt  —  wird  der  Tauschwert  der  Güter 
ausschließlich  durch  die  Menge  der  in  sie  hineinverwendeten  Arbeit  be- 
stimmt^). In  der  zweiten  Epoche,  der  die  moderne  Volkswirtschaft  an- 
gehört, tritt  durch  die  Kapitalverwendung  eine  Modifikation  ein.  Die 
Unternehmer-Kapitalisten  sprechen  nämlich  für  ihr  in  der  Produktion 
beschäftigtes  Kapital  den  üblichen  Gewinnsatz  nach  Maßgabe  der  Größe 
des  Kapitals  und  der  Dauer  seiner  Verwendung  an.  Größe,  Verwendungs- 
dauer und  damit  der  Gewinnanspruch  sind  aber  in  den  verschiedenen 
Produktionszweigen  verschieden,  je  nachdem  der  eine  mehr  zirkulierendes 
Kapital,  das  sich  im  Produktwert  rasch  wieder  ersetzt,  der  andere  mehr 
fixes  Kapital  erfordert,  und  dieses  wieder  in  größerer  oder  geringerer 
Dauerbarkeit,  zu  welcher  die  Raschheit  des  Ersatzes  im  Produktwert 
im  umgekehrten  Verhältnis  steht.  Die  verschieden  großen  Gewinnansprüche 
der  Kapitalisten  werden  nun  dadurch  beglichen,  daß  für  jene  Güter,  deren 
Erzeugung  eine  verhältnismäßig  stärkere  Beteiligung  des  Kapitales  er- 
fordert hatte,  eine  relative  Erhöhung  ihres  Tauschwertes  eintritt  2). 

In  dieser  Ausführung  neigt  sich,  wie  man  sieht,  Ricardo  entschieden 
der  Ansicht  zu,  daß  der  Kapitalzins  aus  einem  besonderen  Mehrwert 
entspringt.  Allein  der  Eindruck  solcher  Entschiedenheit  wird  durch  etliche 

')  Chapt.  I  Sect.  I. 

«)  Chapt.  I  Sect  IV  und  V. 

6* 


g4  VI.  Farblose  Theorien. 

andere  Stellen  nicht  wenig  abgeschwächt:  teils  durch  die  zahlreichen 
Stellen,  in  denen  Ricardo  Gewinn  und  Arbeitslohn  in  Zusammenhang 
bringt  und  die  Erhöhung  des  einen  Faktors  aus  der  Einbuße  und  Ver- 
kürzung des  andern  hervorgehen  läßt;  teils  durch  die  vorangegangene 
Aufstellung  des  abweichenden  reinen  „Arbeitsprinzips"  für  die  uranfäng- 
liche Wirtschaftsepoche;  zumal  er  diesem  letzteren  Prinzip  eine  viel 
wärmere  innere  Begründung  beigibt  als  seiner  kapitalistischen  Modifikation, 
was  unwillkürlich  den  Eindruck  erweckt,  als  halte  er  jenen  ursprünglichen 
Zustand  der  Dinge  für  den  naturgemäßen.  In  der  Tat  haben  die  späterer 
sozialistischen  Schriftsteller  das  „Arbeitsprinzip"  als  die  wahre  Meinung 
BicAKixos,  die  Zulassung  der  kapitalistischen  Modifikation  desselben  als 
eine  bloße  Inkonsequenz  des  Meisters  hingestellt^). 

So  sehen  wir  denn  auch  in  der  Frage  nach  der  Provenienz  des  Kapital- 
gewinnes Ricardo  in  unentächiedener  Haltung;  nicht  so  greU  schwankend, 
wie  sein  Meister  Smith  geschwankt  hatte,  aber  unentschieden  genug,  um 
auch  ihn  nicht  aus  der  Reihe  der  farblosen  Theoretiker  heraustreten  zu 
lassen  2). 

Ricardos  großer  Zeitgenosse  Malthüs  hat  sich  um  wenig  bestimmter 
als  Ricardo  selbst  über  den  Kapitalzins  ausgesprochen.  Immerhin  finden 
sich  in  seinen  Schriften  einige  Äußerungen,  die  ihn  aus  den  völlig  farblosen 
Schriftstellem  auszuscheiden  und  unter  die  Produktivitätstheoretiker  zu 
stellen  gestatten. 

Desto  mehr  trifft  das  Merkmal  der  Farblosigkeit  wieder  bei  Torrens  ') 
zu.  Dieser  breitspurige  und  wenig  weitblickende  Schriftsteller  bringt  seine 
Meinung  über  den  Kapitalzins  der  Hauptsache  nach  bei  Gelegenheit  einer 
Polemik  vor,  die  er  gegen  die  vor  kurzem  von  Malthus  aufgestellte  Theorie 
richtet,  daß  der  Kapitalgewinn  einen  Bestandteil  der  Produktionskosten  und 
damit  des  natürlichen  Preises  der  Güter  bilde.  Dagegen  wendet  Torrens 
mit  vollem  Recht,  aber  auch  mit  ungeheurer  Weitschweifigkeit  ein,  daß 
der  Gewinn  einen  Überschuß  über  die  Kosten,  nicht  einen  Teil  der  letzteren 
darstelle.    Er  selbst  setzt  jedoch  nichts  besseres  an  die  Stelle. 

Er  unterscheidet  zwischen  Marktpreis  und  natürlichem  Preis.  Markt- 
preis ist  das,  was  wir  geben  müssen,  um  ein  Gut  im  Austausch  auf  dem 
Markte  zu  erlangen;  natürlicher  Preis  ist  das,  was  wir  geben  müssen, 

')  Ähnlich  auch  Bernhardi,  „Kritik  der  Gründe  usw.",  1849,  S,  SlOff.  Siehe 
dagegen  Verrun  Stuart,  „Ricardo  en  Marx",  'sGravenhage  1890,  und  meine  Be- 
sprechung dieser  Schrift  in  Conrads  Jahrbüchern  III.  Folge  Bd.  I  (1891)  S.  877ff. 

*)  Höher  scheint  Ricardos  Verdienste  um  das  Zinsproblem  Natoli  anzuschlagen 
in  seiner  gründlichen  und  sorgfältigen  Arbeit  über  „II  principio  del  valore",  Palermo 
1906.  Vielleicht  liest  Natoli  aber  auch  hier  etwas  zu  viel  von  den  modernen  Erkennt- 
nissen in  den  großen  alten  Klassiker  hinein,  ähnlich  wie  ihm  auch  dessen  Arbeitswert- 
theorie fähig  scheint,  in  geeigneter  Redaktion  die  moderne  Theorie  des  Grenznutzens 
in  sich  aufzunehmen. 

«)  An  essay  on  the  production  of  wealth,  London  1821. 


Torrens.  g5 

um  ein  Gut  „aus  dem  großen  Warenlager  der  Natur"  zu  erlangen,  oder 
was  dasselbe  ist,  er  ist  der  Aufwand  an  Produktionskosten,  unter  welchem 
Ausdruck  Torrens  den  Belauf  des  zu  Prodüktionszwecken  ausgegebenen 
Kapitals  versteht^).  Marktpreis  und  natürlicher  Preis  streben  keineswegs, 
wie  man  gewöhnlich  behauptet,  sich  durchschnittlich  auf  das  gleiche 
Niveau  zu  stellen;  da  vielmehr  der  Gewinn  kein  Element  der  Produktions- 
kosten, also  auch  kein  Element  des  natürlichen  Preises  bildet,  der  Markt- 
preis aber,  wenn  die  Unternehmung  nicht  eingestellt  werden  soU,  dem 
Unternehmer  den  üblichen  Gewinnsatz  bringen  muß,  so  muß  der  Markt- 
preis prinzipieU  und  dauernd  höher  stehen  als  der  natürliche  Preis,  und 
zwar  höher  um  den  Belauf  des  üblichen  Gewinnsatzes  2). 

Torrens  hat  so  den  Kapitalgewinn  aus  den  Bestimmgründen  des 
natürlichen  Preises  eliminiert  und  dafür  in  die  Bestimmgründe  des  Markt- 
preises eingeführt.  Diese  Veränderung  ist,  wie  man  leicht  sieht,  eine  rein 
formeUe;  sie  beruht  lediglich  auf  dem  Gebrauch  einer  anderen  Terminologie. 
Die  angegriffenen  Ökonomisten  hatten  gemeint,  daß  der  Kapitalgewinn 
einen  Bestimmgrund  für  die  Höhe  des  durchschnittlichen  Preises  der  Güter 
bilde,  und  hatten  diesen  Durchschnitts-  oder  Dauerpreis  natürlichen  Preis 
genannt.  Torrens  meint  genau  dasselbe,  nur  daß  er  die  Dauerpreise 
Marktpreise  nennt,  und  den  Namen  natürlicher  Preis  für  etwas  reserviert, 
was  gar  kein  Preis  ist,  nämlich  für  den  Produktionsaufwand  an  Kapital- 
substanz. 

Für  die  sachliche  Hauptfrage:  warum  die  faktischen  Güterpreise, 
mag  man  sie  nun  natürliche  oder  Marktpreise  nennen,  einen  Kapital- 
gewinn übrig  lassen,  tut  Torrens  so  gut  wie  gar  nichts.  Er  hält  den 
Kapitalgewinn  offenbar  für  etwas  so  selbstverständliches,  daß  eine 
detaillierte  Erklärung  ganz  unnötig  wäre,  und  begnügt  sich  mit  einigen 
recht  entfernt  andeutenden  Schlagworten,  die  überdies,  da  sie  zu  ganz 
verschiedenen  Gedankengängen  einladen,  untereinander  in  Widerspruch 
stehen.  Ein  Schlagwort  ist  die  öfter  wiederkehrende  Bemerkung,  daß  der 
Kapitalist  einen  Gewinn  machen  muß,  weü  er  sonst  keinen  Antrieb  hätte, 
Kapital  zu  bilden  oder  in  einer  produktiven  Unternehmung  anzulegen»); 
ein  zweites  Schlagwort,  das  in  eine  ganz  andere  Kichtung  leitet,  ist  die 
Erklärung,  daß  der  Kapitalgewinn  eine  durch  die  Kapitalverwendung 
erzeugte  „neue  Schöpfung"  ist*).  Darüber  freilich,  wie  der  Kapital- 
gewinn „geschaffen"  wird,  werden  wir  völlig  im  Unklaren  gelassen:  es 
bleibt  beim  Schlagwort,  eine  Theorie  fehlt. 


>)  S.  34:  „the  amount  of  capital  or  the  quantity  of  accomiilated  labonr  expended 
in  production." 

*)  S.  60ff. 

»)  S.  63  und  392. 

*)  „a  new  creation  brought  into  existence  in  consequence  of  this  expense"  (S.  61); 
„they  create  it .  .  .  It  is  essentially  a  sorplns,  a  new  creation"  (S.  64). 


86  VI.  Farblose  Theorien. 

Kein  Glied  der  englischen  Schule  hat  aber  wohl  den  Kapitalzins  so 
unbehilflich  urd  unglücklich  behandelt  alsMcCuLLocH^),  Er  nähert  sich  an 
eine  Reihe  divergierender  Meinungen  an.  Er  läßt  sich  auf  jede  tief  genug 
ein,  um  mit  sich  selbst  in  flagranten  Widerspruch  zu  geraten,  entwickelt 
aber  keine  genug,  um  eine  halbwegs  zusammenhängende  Theorie  des 
Kapitalzinses  zu  bieten.  Ein  einziges  Mal  macht  er  eine  Ausnahme: 
aber  die  Theorie,  die  er  hier  durchführt,  ist  die  ungereimteste,  auf  die 
ein  Denker  nur  verfallen  konnte,  und  er  gibt  sie  in  den  späteren  Auflagen 
seiner  Werke  selbst  wieder  auf  —  nicht  ohne  auch  von  ihr  Reste  stehen 
zu  lassen,  die  gleich  sehr  mit  der  Wirklichkeit  wie  mit  der  Umgebung,  in 
der  sie  stehen,  kontrastieren.  So  sind  McCüllochs  Äußerungen  über  den 
Kapitalzins  eine  Blumenlese  der  Halbheit,  der  Urteilslosigkeit  und  des 
Widerspruchs. 

Da  McCüllochs  Ansichten  trotzdem  eine  bedeutende  Verbreitung 
und  ein  gewisses  Ansehen  erlangt  haben,  kann  ich  mich  der  etwas  uner- 
quicklichen Aufgabe,  mein  obiges  Urteil  genauer  zu  motivieren,  nicht 
entziehen. 

McCüLLocH  proklamiert  vor  allem  den  Satz,  daß  die  Arbeit  die 
einzige  Quelle  des  Vermögens  ist.  Der  Wert  der  Güter  wird  durch  die 
Quantität  der  Arbeit  bestimmt,  die  zu  ihrer  Erzeugung  erfordert  wird. 
Dies  gilt  nicht  allein  für  den  Urzustand,  sondern  auch  für  das  moderne 
Wirtschaftsleben,  in  dem  neben  unmittelbarer  Arbeit  auch  Kapital  zur 
Produktion  verwendet  wird;  denn  das  Kapital  ist  selbst  nichts  anderes 
als  das  Produkt  früherer  Arbeit.  Man  -hat  nur  nötig,  die  im  Kapital 
steckende  zu  der  unmittelbar  aufgewendeten  Arbeit  hinzuzurechnen:  diese 
Summe  bestimmt  auch  heutzutage  den  Wert  aller  Produkte  2),  und  Arbeit 
allein  macht  demnach  auch  heutzutage  die  gesamten  Produktionskosten 
aus  3). 

Aber  wenige  Zeilen,  ehe  McCülloch  die  Kosten  für  „identisch  mit 
der  Arbeitsmenge"  erklärt,  nimmt  er  neben  der  Arbeit  auch  den  Kapital- 
gewinn unter  die  Kosten  auf*);  und  fast  unmittelbar  nachdem  er  erklärt 
hat,  daß  die  Menge  der  Arbeit  allein  den  Wert  bestimmt,  geht  er  dazu 
über,  zu  erklären,  wie  auch  ein  Steigen  des  Lohnes  der  Arbeit  verbunden 


')  Principles  of  Political  Economy,  1.  Auflage,  Edinburgh  1825;  5.  Auflage  1864- 

»)  S.  61,  216,  289f.  der  1.,  S.  6  und  276  der  5.  Aufl. 

^)  The  cost  of  producing  commodities  is,  as  will  be  afterwards  shoon,  identical 
with  the  quantity  of  labour  required  to  produce  them  and  bring  them  to  market 
(1.  Aufl.  S.  260).  Fast  gleichlautend  in  der  6.  Aufl.,  gleichfalls  S.  260:  The  cost,  or  real 
value  of  commodities  is,  as  already  seen,  determined  by  the  quantity  of  labour  etc. 

*)  But  is  quite  obvious,  that  if  any  commodity  were  brought  to  market  and  ex- 
cbanged  for  a  greater  amount  either  of  other  commodities  or  of  money,  than  was  required 
to  defray  the  cost  of  its  production,  including,  in  that  cost,  the  common  and 
average  rate  of  net  profit  at  the  time  .  .  .  etc.  1;  Aufl.  S.  249.  In  der  Hauptsache 
gleichlautend  in  der  5.  Aufl.  S.  250. 


McCulloch.  87 

mit  einem  Sinken  des  Kapitalgewinnes  den  Tauschwert  der  Güter  ver- 
schiebt, den  Wert  jener  Güter  steigert,  bei  deren  Produktion  Kapital  von 
unterdurchschnittlich  großer  Dauerhaftigkeit,  und  den  Wert  jener  Güter 
senkt,  bei  deren  Produktion  Kapital  von  überdurchschnittlich  großer 
Dauer  in  Verwendung  gestanden  ist^). 

Und  wieder  definiert  McGulloch  den  Kapitalgewinn  ohne  Skrupel 
als  einen  „excess  of  produce",  als  „surplus",  als  „the  po^tion  of  the  produce 
of  industry,  accruing  to  the  capitalist  after  all  the  produce  expended  by 
them  in  produetion  is  fully  replaced":  kurz  als  einen  reinen  Überschuß, 
obschon  er  ihn  gar  nicht  lange  vorher  als  einen  Bestandteil  der  Kosten 
erklärt  hat.    Fast  ebenso  viel  Widersprüche  also,  als  Sätze! 

Trotzdem  gibt  sich  McCülloch,  wenigstens  in  der  ersten  Auflage 
seiner  Principles,  viel  Mühe  konsequent  zu  erscheinen.  Als  Mittel  dazu 
dient  ihm  eine  Theorie,  durch  die  er  den  Kapitalgewinn  auf  Arbeit  zurück- 
führt. Kapitalgewinn  ist,  wie  er  auf  S.  291  der  ersten  Auflage  mit  gesperrten 
Lettern  drucken  läßt,  nur  ein  anderer  Name  für  „Lohn  der  aufgehäuften 
Arbeit".  Diese  Erklärung  gibt  ihm  die  Handhabe,  auch  jene  Fälle,  in 
denen  der  Kapitalgewinn  einen  Einfluß  auf  den  Wert  der  Güter  nimmt, 
unter  sein  Gesetz  zu  beugen,  daß  aller  Güterwert  durch  Arbeit  bestimmt 
wird.    Aber  wie  sieht  die  Durchführung  dieser  Erklärung  aus! 

„Gesetzt",  sagt  er^),  „ein  Faß  neuen  Weines,  welches  50  Pfund  kostet, 
wird  in  einen  Keller  gelegt  und  ist  nach  Ablauf  von  zwölf  Monaten  55  Pfund 
wert,  so  entsteht  die  Frage:  Soll  der  dem  Wein  gegebene  Wertzuwachs 
von  5  Pfund  als  eine  Vergütung  für  die  Zeit  angesehen  werden,  während 
welcher  der  Kapitalwert  von  50  Pfund  eingeschlossen  gewesen  war,  oder 
soll  er  als  der  Wert  einer  additioneilen  Arbeit  betrachtet  werden,  die 
tatsächlich  auf  den  Wein  ausgelegt  worden  ist?"  McCulloch  entschließt 
sich  zur  letzteren  Ansicht;  deshalb,  weil  der  Wertzuwachs  nur  bei  einem 
unreifen  Wein  eintritt,  in  dem  also  noch  eine  Veränderung  oder  eine 
Wirkung  hervorgebracht  werden  muß,  und  nicht  auch  bei  einem  Wein, 
der  schon  seine  volle  Reife  erlangt  hat.  Das  scheint  ihm  nämlich  ein  „un- 
widerleglicher" Beweis,  „daß  der  Wertzuwachs  des  Weines  nicht  eine 
Vergütung  für  die  Zeit,  sondern  für  die  Wirkung  oder  die  Veränderung  ist, 
die  auf  ihn  hervorgebracht  wurde".  Denn  „die  Zeit  kann  aus  sich  selbst 
gar  nichts  hervorbringen,  sie  gibt  nur  den  Spielraum  ab,  innerhalb  dessen 
die  wahrhaft  wirksamen  Ursachen  tätig  werden  können,  und  es  ist  deshalb 
klar,  daß  sie  nichts  mit  dem  Wert  zu  tun  haben  kann". 

Mit  diesen  Worten  schließt  McCulloch  in  verblüffender  Naivität 
seinen  Beweis  ab.  Er  scheint  gar  nicht  zu  ahnen,  daß  zwischen  dem,  was 
er  beweisen  sollte,  und  dem,  was  er  bewiesen  hat,  ein  gewaltiger  Unter- 
schied besteht.     Er  wollte  beweisen,  daß  der  Wertzuwachs  durch  einen 

')  1.  Aufl.  S.  298ff.,  6.  Aufl.  283ff. 
»)  1.  Aufl.  S.  313. 


88  VI.  Farblose  Theorien. 

Zusatz  von  Arbeit,  von  menschlicher  Tätigkeit,  verursacht  wurde;  und 
er  hat  im  besten  Falle  bewiesen,  daß  der  Wertzuwachs  nicht  durch  die 
Zeit  bewirkt  wurde,  sondern  durch  irgendeine  „Veränderung"  am  Weine. 
Daß  diese  Veränderung  selbst  aber  durch  einen  Zusatz  von  Arbeit  herbei- 
geführt wurde,  ist  nicht  allein  nicht  bewiesen, -sondern  durch  die  Voraus- 
setzung des  Falles  geradezu  ausgeschlossen:  der  Wein  lag  ja  während  der 
ganzen  Zwischenzeit  unberührt  im  Keller. 

Ein  wenig  scheint  er  indes  die  Schwäche  dieses  ersten  Beweises  selbst 
zu  fühlen;  denn  er  häuft,  „um  diesen  Satz  noch  besser  zu  illustrieren", 
noch  eine  Reihe  weiterer  Beispiele  an,  die  freilich,  je  genauer  sie  die  These 
beweisen  wollen,  nur  desto  schlimmere  Ungeheuerlichkeiten  enthalten. 

Im  nächsten  Beispiel^)  setzt  er  ein  Individuum  voraus,  das  zwei 
Kapitalien  hat,  „eines  bestehend  aus  neuem  Wein  im  Wert  von  1000  Pfund, 
und  das  andere  bestehend  aus  Leder  im  Wert  von  900  Pfund,  und  Greld 
im  Wert  von  100  Pfund.  Nehmen  wir  nun  an,  daß  der  Wein  in  einen 
Keller  gelegt  wird,  und  daß  die  100  Pfund  einem  Schuhmacher  gezahl 
werden,  der  damit  beschäftigt  wird,  das  Leder  in  Schuhe  zu  verwandeln. 
Nach  Ablauf  eines  Jahres  wird  der  Kapitalist  zwei  gleich  große  Werte 
haben;  vielleicht  einen  Wert  von  1100  Pfund  in  Wein,  und  einen  Wert 
von  1100  Pfund  in  Schuhen."  Folglich,  schließt  McCülloch,  sind  beide 
Fälle  parallel,  und  Schuhe  und  Wein  sind  das  Resultat  von  gleichviel 
Arbeit. 

Ohne  Zweifel!  Aber  ist  damit  bewiesen,  was  doch  bewiesen  werden 
wollte,  daß  der  Wertzuwachs  des  Weines  die  Folge  aufgewendeter  mensch- 
licher Arbeit  war?  —  Nicht  im  mindesten.  Parallel  sind  beide  Fälle;  aber 
sie  sind  auch  darin  parallel,  daß  jeder  einen  von  McCülloch  nicht  er- 
klärten Wertzuwachs  von  100  Pfund  in  sich  schließt.  Das  Leder  war 
900  Pfund  wert.  Die  100  Pfund  Geld  werden  gegen  Arbeit  von  gleichem 
Wert  vertauscht,  die  —  sollte  man  meinen  —  dem  Rohstoff  auch  100  Pfund 
an  Wert  hinzufügt;  folglich  sollte  das  Gesamtprodukt,  die  Schuhe,  1000 
Pfund  wert  sein.  Es  ist  aber  1100  Pfund  wert.  Woher  der  Mehrwert? 
Doch  nicht  aus  der  Arbeit  des  Schuhmachers  ?  Denn  alsdann  hätte  dieser, 
mit  100  Pfund  bezahlt,  dem  Leder  einen  Mehrwert  von  200  Pfund  zu- 
gefügt, und  der  Kapitalist  in  diesem  Stück  mit  einem  Gewinn  von  vollen 
100%  gearbeitet,  was  wider  die  Voraussetzung  ist.  Woher  also  der  Mehr- 
wert ?  —  Das  erklärt  McCülloch  im  Beispiel  vom  Leder  nicht,  und  das 
ist  daher  noch  weniger  für  das  Beispiel  vom  Wein  erklärt,  das  ja  erst 
durch  die  Analogie  hätte  erläutert  werden  sollen. 

Aber  McCüllooh  gibt  sich  noch  mehr  Mühe.  „Der  Fall  mit  Baum- 
stämmen (timber)  gibt  ein  noch  besseres  Beispiel" 

„Gesetzt,  daß  ein  Baum,  dra-  jetzt  25  oder  30  Pfund  wert  ist,  vor 

')  1.  Aufl.  S.  314. 


McCulloch.  89 

hundert  Jahren  mit  einer  Auslage  von  einem  Schilling  gepflanzt  wurde, 
so  läßt  sich  leicht  zeigen,  daß  der  jetzige  Wert  des  Baumes  ganz  der  Menge 
von  Arbeit  zu  verdanken  ist,  die  auf  ihn  angelegt  wurde.  —  Ein  Baum  ist 
zugleich  ein  Stück  Zimmerholz  (timber)  und  eine  Maschine  zur  Erzeugung 
von  Zimmerholz;  und  obwohl  die  ursprünglichen  Kosten  dieser  Maschine 
nur  klein  sind,  wird  das  in  ihr  angelegte  Kapital  doch,  da  sie  dem  Verderben 
nicht  ausgesetzt  ist,  am  Ende  eines  langen  Zeitraumes  einen  beträchtlichen 
Erfolg  hervorgebracht,  oder,  in  anderen  Worten,  einen  beträchtlichen 
Wert  erzeugt  haben.  Wenn  wir  voraussetzen,  daß  eine  Maschine,  die  nur 
einen  Schilling  kostet,  vor  hundert  Jahren  schon  erfunden  worden  ist; 
daß  diese  Maschine  unverwüstlich  war  und  daher  keine  Reparatur  er- 
forderte; und  daß  sie  während  der  ganzen  Zeit  mit  dem  Weben  einer  von 
der  Natur  umsonst  hervorgebrachten  Quantität  Garns  beschäftigt  war, 
das  erst  jetzt  vollendet  wurde,  so  mag  dieses  Tuch  jetzt  25  oder  30  Pfund 
wert  sein;  aber,  was  für  einen  Wert  immer  es  besitzen  mag,  es  ist  evident  (!), 
daß  es  denselben  zur  Gänze  von  der  fortgesetzten  Tätigkeit  der  Maschine, 
oder  in  anderen  Worten,  von  der  auf  ihre  Erzeugung  aufgewendeten 
Arbeitsmenge  ableitet"^). 

Also:  ein  Baum  kostet  ein  paar  Stunden  Arbeit,  die  einen  einzigen 
Schilling  wert  ist.  Jetzt  ist  derselbe  Baum,  ohne  daß  inzwischen  andere 
menschliche  Arbeit  auf  ihn  gewendet  worden  wäre,  nicht  etwa  1  Schilling, 
sondern  25  bis  30  Pfund  wert.  Und  das  führt  McGdlloch  vor  nicht  als 
Bekämpfung,  sondern  als  einen  Beweis  des  Satzes,  daß  der  Wert  der 
Güter  sich  ohne  Ausnahme  nach  der  Menge  der  Arbeit  richtet,  die  ihre 
Erzeugung  gekostet  hat.    Ein  weiterer  Kommentar  ist  wohl  überflüssig*)! 

In  den  späteren  Auflagen  seiner  Principles*)  hat  denn  auch  McCulloch 


1)  1.  Aufl.  S.  317. 

')  Eine  gewisse  Milderung  unseres  Urteils  würde  McCulloch  zustatten  kommen, 
wenn  wir  annehmen  könnten,  er  habe  in  den  obigen  Beweisgängen  das  Wort  „Arbeit" 
in  jenem  vagen  rmd  verschwommenen  Sinne  gebraucht,  in  dem  er  später  (Note  I  zur 
SiOTE-Ausgabe,  Edinburgh  1863,  S.  436f.)  unter  Arbeit  „jede  Art  von  Tätigkeit"  ver- 
steht, sowohl  die  von  Menschen,  als  auch  die  von  Tieren,  Maschinen  und  Naturkräften 
ausgeübte.  Freilich  würde  seine  Werttheorie  durch  eine  solche  Yerwässerung  ihres 
Chrundbegriffes  jedes  eigenartigen  Gepräges  entkleidet  und  zu  einer  nichtigen  Spielerei 
mit  Worten  herabgedrückt;  aber  wenigstens  könnte  man  ihm  dann  den  Vorwurf  logischen 
Unsinns  ersparen.  Indes  ist  nicht  einmal  diese  bescheidene  Milderung  zulässig.  Denn 
McCulloch  spricht  sich  zu  oft  und  zu  entschieden  dahin  aus,  daß  der  Zins  auf  die  zur 
Kapitalerzeugung  verwendete  menschliche  Arbeit  zurückzuführen  ist.  So  z.  B. 
in  der  Note  1  auf  S.  22  der  oben  erwähnten  SiUTH-Ausgabe,  wo  McCulloch  den  Zins 
für  „den  Lohn  jener  Arbeit  erklärt,  die  ursprünglich  auf  die  Bildung  des  Kapitales 
verwendet  worden  ist",  worunter  offenbar  die  „Arbeit"  der  Maschine  selbst  unmöglich 
verstanden  werden  kann ;  und  namentlich,  wenn  er  (5.  Auflage  der  Principles,  S.  292 — 294) 
rücksichtlich  des  Beispieles  vom  Wein  ausdrücklich  erklärt,  daß  der  Mehrwert  des 
letzteren  nicht  durch  die  unentgeltlich  wirkenden  Naturkräfte  erzeugt  werde. 

*)  Mir  lag  nur  die  5.  Auflage  vor;  ich  entnehme  jedoch  Cansans  vortrefflichwr 


90  VI.  Farblose  Theorien. 

seine  ganze  ungeheuerliche  Detailausführung  des  Satzes,  daß  Eapital- 
gewinn  Arbeitslohn  ist,  fallen  gelassen.  An  der  korrespondierenden  Stelle 
des  Buches  (in  der  5.  Auflage  S.  292—294)  erwähnt  er  zwar  gleichfalls 
das  Beispiel  vom  Weine,  das  ihm  offenbar  eine  gewisse  Verlegenheit 
bereitet;  aber  er  begnügt  sich  negativ  zu  erklären,  daß  der  Mehrwert 
nicht  durch  die  Tätigkeit  der  Naturkräfte  erzeugt  wird,  die  ja  unentgeltlich 
wirken.  Positiv  sagt  er  nur,  daß  der  Wertzuwachs  eine  Folge  des  Ge- 
winnes ist,  der  dem  zur  Durchführung  des  Prozesses  erforderten  Kapitale 
zuwächst  —  ohne  die  Natur  dieses  Gewinnes  weiter  zu  erklären.  Auf 
S.  277  ist  freUich  der  Satz,  daß  der  Kapitalgewinn  nur  ein  anderer  Name 
für  „Lohn  früherer  Arbeit"  (wages  of  prior  labour)  ist,  unverändert  stehen 
geblieben! 

*  Um  die  theoretische  Haltlosigkeit  McCullochs  vollends  zu  charak- 
terisieren, will  ich  endlich  noch  zweier  Äußerungen  desselben  gedenken. 

Wie  um  das  Durcheinander  zusammenhangloser  Meinungen  noch 
vollständiger  zu  gestalten,  nimmt  er  einmal  auch  das  bekannte,  von 
Adam  Smith  eingeführte  Interessenmotiv  auf^);  und  als  ob  es  an  der 
Konfusion,  die  in  seiner  Lehre  vom  Kapitalzinse  herrscht,  noch  nicht 
genug  wäre,  und  er  auch  noch  die  leidlich  geklärte  Theorie  des  Arbeits- 
lohnes in  sie  verwickeln  wollte,  erklärt  er  den  Arbeiter  selbst  für  ein  Kapital,' 
für  eine  Maschine,  und  seinen  Lohn  als  Kapitalgewinn  nebst  einem  Zuschlag 
für  Abnützung  der  „Maschine,  genannt  Mensch"  2), 

Eine  Reihe  anderer  Schriftsteller  übergehend,  die  wie  Whately, 
Chalmers  und  Jones  nichts  Belangreiches  über  unseren  Gegenstand 
bringen,  gelange  ich  zu  MacLeod3). 

Dieser  exzentrische  Gelehrte  zeichnet  sich  durch  die  merkwürdige 
Naivität  aus,  mit  der  er  noch  in  den  fünfziger  Jahren,  ja  sogar  noch  in  den 
siebziger  Jahren  des  19.  Jahrhunderts  das  inzwischen  mächtig  ange- 
wachsene Zinsproblem  behandelt.  Ein  Problem  existiert  für  ihn  gar  nicht; 
der  „Gewinn"  (profit)  ist  ihm  einfach  eine  selbstverständliche  und  not- 
wendige Tatsache.  Der  Preis  verkaufter  Waren,  die  Mietrente  verliehener 
Kapitalstücke,  der  Leihzins  geborgter  Geldsummen  „muß"  über  Kosten, 
Amortisation  und  Risikoprämie  hinaus  den  „notwendigen"  Gewinn 
tragen*).    Warum?  wird  nicht  einmal  auf  das  oberflächlichste  untersucht. 

Wenn  MacLeod  einmal  die  Entstehung  des  Darlehenszinses  schüdert. 


„History  of  the  theories  of  production  and  distribution"  (London  1894,  S.212  Note  2), 
daß  dieselbe  Änderung  schon  in  der  zweiten,  1830  erschienenen  Auflage  durchgeführt 
wurde. 

^)  1.  Auflage  S.  221  in  der  Note  und  ganz  ähnlich  6.  Auflage  S.  240  am  Ende. 

*)  1.  Auflage  S.  319,  5.  Auflage  294  und  296. 

*)  Elements  of  Political  Economy,  London  1858;  Principles  of  Economical  Philo- 
Bophy,  2.  Auflage,  London  1872. 

*)  Vgl.  Elements  S.  76,  77,  81,  202,  226  und  öfters. 


McLeod.  91 

80  wählt  er  die  näheren  Umstände  des  vorgeführten  Beispieles  geflissentlich 
80,  daß  er  die  Gewinnung  eines  Zuwachses  (increase)  uus  dem  dargeliehenen 
Kapitale  als  eine  natürliche,  selbstverständliche  Saclie  hinstellen  kann: 
er  läßt  den  Kapitalisten  Saatkorn  und  Schafe  verleihen  i);  für  ebenso 
selbstverständlich  sieht  er  aber  das  Eintreten  eines  „Zuwachses"  auch 
sonst  an,  wenn  es  sich  um  ein  Kapital  handelt,  das  gerade  nicht  in  natürlich 
fruchtbaren  Gegenständen  besteht.  Daß  man  den  Kapitalgewinn  auch 
nicht  für  selbstverständlich  halten,  daß  man  wohl  gar  seine  Berechtigung 
bezweifeln  kann,  davon  scheint  er  trotz  der  weiten  Verbreitung,  die  die 
sozialistischen  Ideen  zu  seiner  Zeit  schon  hatten,  noch  keine  Ahnung  zu 
haben;  denn  ihm  ist  es  „vollkommen  klar",  daß  ein  Mann,  der  sein  Kapital 
in  seinem  eigenen  Geschäft  verwendet,  berechtigt  ist,  den  ganzen  aus 
dieser  Verwendung  fließenden  Gewinn  für  sich  zu  behalten,  mag  der 
Gewinn  nun  20%,  oder  100%,  oder  auch  1000%  betragen;  und  wenn 
jemand,  der  eine  nützliche  Maschine  erfunden  hat,  sein  Kapital  auf  die 
Erzeugung  solcher  Maschinen  verwendet  und  daraus  „ungeheuren  Gewinn" 
zieht  und  ein  „glänzendes  Vermögen"  anhäuft,  so  wird  ihm  dies  niemand, 
„der  im  regelmäßigen  Besitz  seiner  Sinne  ist",  mißgönnen^). 

Dabei  spielt  MacLeod  gegenüber  fremden  Zinstheorien  den  strengen 
Kritiker:  er  verwirft  die  Lehre,  daß  der  Gewinn  ein  Bestandteil  der  Pro- 
duktionskosten sei 3);  er  polemisiert  gegen  die  Lehre  Ricardos,  daß  die 
Höhe  des  Gewinnes  durch  den  Stand  des  Arbeitslohnes  bedingt  sei*);  er 
verurteilt  in  gleicher  Weise  McCüllochs  sonderbare  Arbeits-  und  Seniors 
scharfsinnige  Abstinenztheorie  *). 

Daß  er  sich  nicht  einmal  durch  solche  kritische  Ausfälle  anregen 
ließ,  an  die  Stelle  der  bekämpften  Meinungen  irgend  eine  eigene  positive 
Ansicht  zu  setzen,  scheint  mir  durch  zwei  Eigentümlichkeiten  seiner  Lehre 
verschuldet  worden  zu  sein.  Die  erste  derselben  liegt  in  der  außerordent- 
lichen Vagheit  seines  Kapitalbegriffes,  der  im  ersten  und  ursprünglichen 
Sinne  soviel  als  Zirkulationsmacht  (circulating  power)  bedeuten,  und  nur 
in  einem  „sekundären  und  metaphorischen  Sinn"  auf  Güter  (commodities) 
angewendet  werden,  dann  aber  so  verschiedenartige  Dinge  wie  Werkzeuge 
und  Waren,  Geschicklichkeiten,  Fähigkeiten,  Erziehung,  Grund  und 
Boden  und  guten  Charakter  umfassen  soll«):  eine  Vielseitigkeit,  die  es 
freilich  schwer  macht,  das  Einkommen,  das  aus  so  verschiedenartigen 
Dingen  fließt,  unter  einen  Hut  zu  bringen  und  durch  eine  ausgeprägte 
Theorie  zu  erklären.     Die  zweite  jener  Eigentümlichkeiten  ist  aber  die 


>)  Elements  S.  62f. 

»)  Elements  S.  216. 

')  Economical  Philosophy  I,  638. 

*)  Elements  S.  145. 

»)  Principles  of  Ec.  Phil.  1  S.  634  und  II  S.  62. 

•)  Elements  S.  66,  dann  69i 


92  VI.  Farblose  Theorien. 

übertriebene  Meinung,  die  er  vom  theoretischen  Werte  der  Formel  von 
Angebot  und  Nachfrage  für  die  Erklärung  der  verschiedenen  Preis- 
erscheinungen hegte.  Wenn  es  ihm  nur  gelang,  irgend  eine  Werterscheinung 
auf  das  Verhältnis  von  Angebot  und  Nachfrage,  oder  wie  er  sich  in  seiner 
Sprache  gerne  ausdrückt,  auf  das  Verhältnis  zwischen  der  „Intensität 
des  geleisteten  Dienstes  und  der  Macht  des  Käufers  über  den  Verkäufer" 
zurückzuführen,  da  glaubte  er  schon  genug  getan  zu  haben.  Und  so  mochte 
er  es  vielleicht  auch  schon  rücksichtlich  des  Kapitalgewinnes  für  genügend 
halten,  wenn  er  einmal  erklärte:  „Aller  Wert  geht  ausschließlich  aus  der 
Nachfrage  hervor;  und  aller  Gewinn  entsteht  daraus,  daß  der  Wert  eines 
Gutes  seine  Produktionskosten  übersteigt"*). 

Während  in  Deutschland  und  England  verhältnismäßig  viele  hervor- 
ragende Schriftsteller  und  verhältnismäßig  lange  eine  unentschiedene 
Haltung  gegenüber  dem  Zinsprobleme  bewahrten,  haben  wir  in  der  Lite- 
ratur Frankreichs  nur  wenige  farblose  Schriftsteller  zu  verzeichnen. 
Der  Grund  dieser  Verschiedenheit  ist  hauptsächlich  in  dem  Umstände 
zu  suchen,  daß  hier  schon  einer  der  ersten  Vermittler  der  SMiTHSchen 
Lehre,  J.  ß.  Say,  eine  ausgeprägte  Zinstheorie  schuf,  die  sich  gleichzeitig 
mit  der  SMiTHschen  Lehre  popularisierte,  während  dort  für  die  allgemeine 
literarische  Entwicklung  durch  geraume  Zeit  Smith  selbst  und  nächst 
ihm  Ricard o  leitend  blieb,  die  beide  das  Zinsproblem  in  bekannter  Weise 
vernachlässigten. 

Ich  habe  daher  aus  der  französischen  Literatur  hier  nur  drei  Schrift- 
steller hervorzuheben,  von  denen  zwei  dem  Auftreten  Says  noch  voran- 
gehen: Germain  Garnier,  Canard  und  Droz. 

Garnier^),  er  noch  halb  in  der  Lehre  der  Physiokraten  befangen  ist, 
erklärt,  gleich  diesen,  die  Erde  für  die  einzige  Quelle  alles  Reichtums, 
und  die  Arbeit  für  das  Mittel,  durch  das  die  Menschen  aus  dieser  Quelle 
schöpfen  (S.  9f .).  Das  Kapital  identifiziert  er  mit  den  Vorschüssen  (avances), 
die  der  Unternehmer  machen  muß,  und  den  Kapitalgewinn  definiert  er 
als  die  Entschädigung,  die  man  für  die  Vorschüsse  erhält  (S.  35).  Einmal 
bezeichnet  er  ihn  dann  noch  etwas  prägnanter  als  die  „Entschädigung  für 
eine  Entbehrung  und  für  ein  Risiko"  (indemnit^  d'une  privation  et  d'un 
risque,  S.  27);  ein  tieferes  Eingehen  auf  die  Sache  wird  indes  überall  ver- 
mieden. 

Um  Canards^)  Ableitung  des  Kapitalzinses  darzustellen,  muß  ich 
mit  ein  paar  Worten  auf  die  allgemeinen  Grundlagen  seiner  Lehre  zurück- 
greifen. 


')  Principles  of  Ec.  Phil.  II  S.  66. 

^)  Abr6ge  61ementaire  des  principes  de  rficonomie  Politique,  Paris  1796. 

*)  Principes  d'ficonomie  Politique,  Paris  1801. 


Garnier.    Caoard.  93 

Canabd  erblickt  in  der  Arbeit  des  Menschen  das  Mittel  zu  seiner 
Erhaltung  und  Entwicklung.  Ein  Teil  der  öienschlichen  Arbeit  muß  bloß 
zur  Erhaltung  des  Menschen  aufgewendet  werden;  ihn  nennt  Canabd 
., notwendige  Arbeit".  Glücklicherweise  ist  aber  nicht  die  ganze  Arbeit 
des  Menschen  hierzu  nötig:  der  Rest,  die  „überflüssige  Arbeit",  kann  zur 
Erzeugung  von  Gütern  aufgewendet  werden,  die  über  das  unmittelbar 
nötige  hinausgehen,  und  die  ihrem  Erzeuger  einen  Anspruch  verschaffen, 
im  Tauschweg  über  ebensoviel  Arbeit  zu  verfügen,  als  ihre  eigene  Erzeugung 
gekostet  hat.  Arbeit  ist  also  die  Quelle  alles  Tauschwertes;  die  tausch- 
werten  Güter  sind  nichts  anderes  als  angehäufte  überflüssige  Arbeit  (accu- 
mulation  de  travail  superflu). 

Der  Möglichkeit  überflüssige  Arbeit  anzuhäufen  verdanken  die  Menschen 
alle  wirtschaftlichen  Fortschritte.  Durch  die  Anhäufung  überflüssiger 
Arbeit  werden  Ländereien  urbar  gemacht,  Maschinen  gebaut,  und  über- 
haupt alle  die  tausend  Mittel  erworben,  welche  dazu  dienen,  das  Produkt 
der  menschlichen  Arbeit  zu  vermehren. 

Angehäufte  überflüssige  Arbeit  ist  nun  auch  die  Quelle  aller  Renten. 
Sie  kann  solche  in  drei  Verwendungsarten  bringen.  Erstlich  durch  Ur- 
barung  und  Meliorierung  von  Grund  und  Boden;  der  diesem  entspringende 
Reinertrag  ist  die  Grundrente  (rente  fonciere).  Zweitens  durch  Erwerbung 
persönlicher  Geschicklichkeiten,  Erlernung  einer  Kunst  oder  eines  Hand- 
werkes; die  durch  solchen  Aufwand  zustande  kommende  „gelernte  Arbeit" 
(travail  appris)  muß  dann  außer  dem  Lohn  der  „natürlichen"  Arbeit  noch 
eine  Rente  des  Fonds  einbringen,  den  man  zur  Erwerbung  der  Kenntnisse 
aufopfern  mußte.  Endlich  müssen  alle  aus  den  beiden  ersten  „Renten- 
quellen" hervorgegangenen  Arbeitsprodukte  entsprechend  verteilt  werden, 
um  von  den  einzelnen  Individuen  zur  Bedürfnisbefriedigung  verwendet 
werden  zu  können.  Das  erfordert,  daß  eine  dritte  Klasse  von  Eigentümern 
„überflüssige  Arbeit"  in  die  Anstalten  des  Handels  investiert.  Auch  diese 
angehäufte  Arbeit  muß  eine  Rente  tragen,  die  „rente  mobiliere",  gewöhnlich 
Geldzins  genannt. 

Warum  aber  die  angehäufte  Arbeit  in  diesen  drei  Formen  eine  Rente 
trägt,  darüber  erfahren  wir  von  Ganard  so  gut  wie  gar  nichts.  Die  Grund- 
rente nimmt  er  als  eine  natürliche,  nicht  weiter  zu  erklärende  Tatsache 
hin^);  ebenso  die  rente  industrielle,  rücksichtlich  deren  er  sich  einfaeh 
zu  sagen  begnügt,  daß  die  „gelernte  Arbeit"  die  Rente  der  Kapitalien, 
die  man  zur  Erwerbung  der  Kenntnisse  aufgeopfert  hat,  hervorbringen 
muß  (S.  10).   Und  bei  der  rente  mobiliere,  unserem  Kapitalzins,  schmückt 


')  „Die  Erde  ist  nur  deshalb  in  Anbau  genommen  worden,  weil  ihr  Produkt 
imstande  war,  nicht  allein  die  jährliche  Kulturarbeit  zu  vergüten,  sondern  auch  noch 
für  den  Vorschuß  an  Arbeit  zu  entschädigen,  den  ihre  erste  Urbarung  gekostet  hat 
Dieser  Überfluß  (superflu)  ist  es,  der  die  Grundrente  bildet"  (S.  6). 


94  "VI.  Farblose  Theorien. 

er  mit  Partikeln,  die  eine  Erklärang  zu  begleiten  bestimmt  sind,  einen  Satz 
aus,  der  gar  keine  Erklärang  enthält.  „Der  Handel  setzt  demnacii,  wie 
die  beiden  anderen  Rentenquellen,  eine  Anhäufung  überflüssiger  Arbeit 
voraus,  die  folglich  eine  Rente  tragen  muß"  („qui  doit  par  cons6quent 
produire  une  rente"  S.  12).  „Par  eons6quent?"  —  Es  ist  aber  gar  nichts 
zu  einem  „folglich"  Berechtigendes  vorangegangen,  wenn  Canard  nicht 
etwa  den  Umstand  allein,  daß  Arbeit  angehäuft  worden  ist,  als  aus- 
reichenden Grand  für  einen  Rentenbezug  ansieht,  was  er  aber  bis  jetzt 
auch  nirgends  ausdrücklich  erklärt  hat:  er  hat  wohl  gesagt,  daß  alle  Renten 
auf  angehäufte  Arbeit  zurückzuführen  sind,  nicht  aber  auch,  daß  jede 
aufgehäufte  Arbeit  eine  Rente  bringen  müsse,  was  jedenfalls  etwas  ganz 
anderes  ist,  und  nicht  allein  zu  behaupten,  sondern  auch  zu  beweisen 
gewesen  wäre. 

Wenn  man  noch  eine  später  (S.  13ff.)  folgende  Auseinandersetzung, 
daß  alle  drei  Rentengattungen  im  Gleichgewicht  stehen  müssen,  in  Berück- 
sichtigung zieht,  so  kann  man  allerdings  eine  gewisse  Motivierung  des 
Kapitalzinses  konstraieren,  die  Canard  übrigens  auch  nicht  ausdrücklich 
ausgesprochen  hat;  eine  Motivierang,  die  im  wesentlichen  mit  Turgots 
Fraktifikationstheorie  übereinkommt.  Wenn  es  nämlich  eine  natürliche 
Tatsache  ist,  daß  ein  in  Grand  und  Boden  investiertes  Kapital  eine  Rente 
trägt,  so  müssen  auch  alle  anderweitig  angelegten  Kapitalien  eine  Rente 
bringen,  weil  man  sonst  die  Investierung  in  Grand  und  Boden  vorziehen 
würde.  Das  Ungenügende  dieser  einzigen  Erklärang,  die  sich  bei  Ganard 
wenigstens  zwischen  den  Zeilen  lesen  läßt,  haben  wir  indes  schon  gegen- 
über TuRGOT  nachgewiesen. 

Droz^),  der  einige  Dezennien  später  schreibt,  hat  zwischen  der 
englischen  Anschauung,  wonach  die  Arbeit  die  einzige  Produktivkraft  ist, 
und  der  Theorie  Says  zu  wählen,  wonach  das  Kapital  eine  selbständige 
Produktivkraft  darstellt.  Er  findet  indes  an  jeder  der  beiden  Anschauungen 
etwas  auszusetzen,  nimmt  keine  an,  sondern  stellt  eine  dritte  Meinung 
auf,  kraft  welcher  er  an  Stelle  des  Kapitales  die  Sparsamkeit  (l'^pargne) 
zur  elementaren  Produktivkraft  erhebt.  Er  erkennt  sonach  drei  Produktiv- 
kräfte an:  die  Arbeit  der  Natur,  die  Arbeit  des  Menschen  und  die  Spar- 
samkeit, welche  die  Kapitalien  bildet  (S.  69 ff.). 

Wenn  Droz  diesen  Gedanken,  der  zunächst  der  Lehre  von  der  Pro- 
duktion der  Güter  angehört,  auch  auf  das  Gebiet  der  Verteilung  verfolgt, 
und  zur  genaueren  Untersuchung  der  Natur  des  Kapitaleinkommens 
verwertet  hätte,  so  wäre  er  wohl  zur  AufsteUujig  einer  eigenartigen  Zins- 
theorie gelangt.  Dazu  ist  es  aber  nicht  gekommen.  Er  widmet  in  seiner 
Verteilungslehre  den  besten  Teil  seiner  Aufmerksamkeit  dem  ausbedungenen 


')  £conomie  Politiqae,  Paris  1829. 


Droi.  95 

Darlehenszinse,  an  dem  nicht  viel  zu  erklären  ist,  und  tut  den  ursprüng- 
lichen Kapitalzins,  an  dem  alles  zu  erklären  wäre,  mit  ein  paar  Worten 
ab,  in  denen  er  jeder  tieferen  Erforschung  seiner  Natur  aus  dem  Wege 
geht:  er  behandelt  ihn  nämlich  als  Darlehensinteressen,  die  der  Unter- 
nehmer sich  selbst  bezahlt  (S.  267f.).  So  tritt  Droz  trotz  des  originellen 
Anlaufes,  den  er  mit  der  Kreierung  der  Produktivkraft  „Sparsamkeit" 
genommen,  nicht  aus  der  Reihe  der  farblosen  Schriftsteller  heraus. 


VII. 

Die  Produktiyitätstheorien. 

1.  Unterabschnitt. 
Orientierende  Yorbemerktingen. 

Einige  der  nächsten  Nachfolger  von  Adam  Smith  begannen  den 
Kapitalzins  aus  der  Produktivität  des  Kapitales  zu  erklären.  J.  B.  Say 
ging  damit  1803  voran,  Lord  Lauderdale  folgte,  von  Say  unabhängig, 
im  nächsten  Jahre  nach.  Die  neue  EIrklämng  fand  Anklang.  Sie  wurde 
in  immer  weiteren  Kreisen  angenommen  und  zugleich  sorgfältiger  aus- 
geführt, wobei  sie  sich  in  mehrere  ziemlich  stark  divergierende  Äste  teilte. 
Obgleich  auch  mehrfach,  zumal  von  sozialistischer  Seite  angegriffen,  wußte 
sich  die  „Produktivitätstheorie"  doch  andauernd  zu  behaupten,  und  heute  ^) 
ist  wohl  die  Mehrheit  derjenigen  Schriftsteller,  die  sich  zum  Kapitalzins 
nicht  ganz  gegnerisch  verhalten,  in  irgendeiner  Nuance  ihr  ergeben. 

Der  Gedanke,  daß  das  Kapital  seinen  Zins  selbst  produziere,  scheint 
—  ob  wahr  oder  falsch  —  doch  wenigstens  klar  und  eiiäach  zu  sein.  Man 
möchte  daher  erwarten,  daß  die  Theorien,  die  auf  jenem  Grundgedanken 
aufgebaut  sind,  sich  durch  die  besondere  Bestimmtheit  und  Durchsichtig- 
keit ihrer  Gedankenfolge  auszeichnen  werden.  In  dieser  Erwartung  wird 
man  sich  indes  vollkommen  getäuscht  finden.  Unglücklicherweise  leiden 
nämlich  die  wichtigsten  Begriffe,  mit  denen  die  Produktivitätstheorien 
zu  operieren  haben,  in  seltenem  Grade  an  Unbestimmtheit  und  Mehr- 
deutigkeit, und  dies  ist  zur  überreichen  Quelle  von  Dunkelheiten,  Miß- 
verständnissen, Verwechslungen  und  trügerischen  Schlüssen  aller  Art 
geworden.  Die  Produktivitätstheorien  sind  von  ihnen  so  voll,  daß  ich  es 
nicht  darauf  ankommen  lassen  darf,  ihnen  völlig  unvorbereitet  zu  be- 
gegnen und  die  Orientierung  erst  jedesmal  im  Flusse  der  Einzeldarstellung 
suchen  zu  müssen.  Ich  bitte  daher  den  Leser,  es  sich  nicht  verdrießen 
zu  lassen,  wenn  ich  zunächst  daran  gehe,  den  Gedankenschauplatz,  auf 
dem  sich  die  Darstellung  und  Kritik  der  Produktivitätstheorien  bewegen 
muß,  durch  ein  paar  Vorbemerkungen  abzugrenzen  und  zu  erleuchten. 

*)  geschrieben  im  Jahre  1884. 


Begriff  der  Produktivität.  97 

Namentlich  zwei  Dinge  scheinen  mir  der  Klarstellung  dringend  zu 
bedürfen:  die  Bedeutung,  oder  richtiger  die  Vielzahl  der  Bedeutungen 
des  Namens  „Produktivität  des  Kapitals";  und  sodann  die  Natur  der 
theoretischen  Aufgabe,  welche  in  den  Produktivitätstheorien  der  Pro- 
duktivität des  Kapitales  zugewiesen  wird. 

Zunächst,  was  soll  das  heißen:  „das  Kapital  ist  produktiv?" 
In  einem  allgemeinsten  und  schwächsten  Sinn  kann  dieser  Ausdruck 
nur  so  viel  besagen  wollen,  daß  das  Kapital  überhaupt  zur  Gütererzeugung 
dient  —  im  Gegensatz  zur  unmittelbaren  Bedürfnisbefriedigung.  Es  würde 
dann  das  Prädikat  „produktiv"  dem  Kapitale  nur  in  demselben  Sinn 
beigelegt,  in  dem  man  in  der  allgemeinen  Einteilung  der  Güter  von  „Pro- 
duktivgütem"  im  Gegensatz  zu  „Genußgütern"  spricht;  und  schon  der 
geringste  Grad  einer  produktiven  Wirkung,  auch  wenn  das  Produkt  nicht 
einmal  den  eigenen  Wert  des  aufgewendeten  Kapitales  erreicht,  würde 
zur  Erteilung  dieses  Prädikates  berechtigen.  —  Es  ist  von  vornherein 
klar,  daß  eine  Produktivität  in  diesem  Sinn  unmöglich  die  zureichende 
Ursache  der  Entstehung  des  Kapitalzinses  sein  könnte. 

Die  Anhänger  der  Produktivitätstheorien  legen  denn  auch  der  Pro- 
duktivität des  Kapitales  eine  kräftigere  Meinung  bei.  Sie  verstehen  — 
ausdrücklich  oder  stillschweigend  —  dieses  Wort  in  dem  Sinne,  daß  man 
mit  Hilfe  des  Kapitales  mehr  produziert,  daß  das  Kapital  die  Ursache 
eines  besonderen  produktiven  Mehrerfolges  ist. 

Auch  diese  Deutung  spaltet  sich  wieder.  „Mehr  produzieren",  „pro- 
duktiver Mehrerfolg"  kann  zweierlei  bedeuten:  entweder  mehr  Güter 
produzieren,  oder  mehr  Wert  produzieren,  was  keineswegs  identisch  ist. 
Um  die  verschiedene  Sache  auch  im  Namen  auseinanderzuhalten,  will  ich 
die  Fähigkeit  des  Kapitals,  mehr  Güter  hervorzubringen,  als  physische 
oder  technische  Produktivität,  seine  Fähigkeit,  mehr  Wert  hervor- 
zubringen, als  Wertproduktivität  des  Kapitales  bezeichnen.  —  Es  ist 
vielleicht  nicht  unnötig  zu  bemerken,  daß  ich  an  dieser  Stelle  die  Frage, 
ob  das  Kapital  solche  Fähigkeiten  wirklich  besitzt  oder  nicht,  noch,  ganz 
offen  lasse;  ich  registriere  nur  die  verschiedenen  Bedeutungen,  die  dem 
Satze  „das  Kapital  ist  produktiv"  gegeben  werden  könnon  und  gegeben 
worden  sind. 

Die  physische  Produktivität  äußert  sich  in  einem  gesteigerten  Quantum 
von  Produkten,  oder  wohl  auch  in  einer  verbesserten  Qualität  derselben. 
Ich  will  sie  durch  das  bekannte,  von  Röscher  gebrachte  Beispiel  vom 
Fischfang  illustrieren:  „Denken  wir  uns  ein  Fischervolk  ohne  Privat- 
eigentum und  Kapital,  das  nackt  in  Höhlen  wohnt  und  sich  von  Seefischen 
nährt,  welche,  bei  der  Ebbe  in  Uferlachen  zurückgeblieben,  mit  bloßer 
Hand  gefangen  werden.  Alle  Arbeiter  mögen  hier  gleich  sein,  und  jeder 
täglich  3  Fische  sowohl  fangen  als  verzehren.  Nun  beschränkt  ein  kluger 
Mann  100  Tage  lang  seinen  Konsum  auf  2  Fische  täglich  und  benutzt  den 

Böhm-Bawerk,  Kapitalzins.    4.  Aofl.  ■ 


98         VII.    Die  Produktivitätstheorien.    1.  Unterabschnitt.    Vorbemerkungen. 

auf  solche  Art  gesammelten  Vorrat  von  100  Fischen  dazu,  50  Tage  lang 
seine  ganze  Arbeitskraft  auf  Herstellung  eines  Bootes  und  Fischnetzes  zu 
verwenden.   Mit  Hilfe  dieses  Kapitals  fängt  er  fortan  30  Fische  täglich"  i). 

Die  physische  Produktivität  des  Kapitals  äußert  sich  hier  darin, 
daß  der  Fischer  mit  seiner  Hilfe  mehr  Fische  erlangt,  als  er  sonst  erlangt 
hätte,  dreißig  statt  drei.  Oder,  richtiger,  etwas  weniger  als  dreißig  statt 
drei.  Denn  die  dreißig  Fische,  die  jetzt  an  einem  Tag  gefangen  werden, 
sind  das  Erträgnis  von  mehr  als  einem  Arbeitstage.  Um  richtig  zu  rechnen, 
muß  man  der  Fangarbeit  noch  eine  Quote  derjenigen  Arbeit  zurechnen, 
die  auf  die  Verfertigung  von  Boot  und  Netz  gerichtet  gewesen  war.  Dauert 
Boot  und  Netz  z.  B.  durch  100  Tage  aus  und  haben  sie  zu  ihrer  Anfertigung 
50  Tage  Arbeit  erfordert,  so  erscheinen  die  3000  Fische,  die  in  jenen  100 
Tagen  gefangen  werden,  als  das  Erträgnis  von  150  Arbeitstagen.  Das 
Mehr  an  Produkten,  das  man  der  Kapitalverwendung  zu  danken  hat, 
stellt  sich  also  für  die  ganze  Periode  heraus  mit  3000—450  =  2550  Fischen, 
für  jeden  einzelnen  Tag  mit  20—3  =  17  Fischen.  In  diesem  Mehr  an 
Produkten  äußert  sich  die  physische  Produktivität  des  Kapitales. 

Und  wie  würde  sich  das  Produzieren  von  „mehr  Wert*'  äußern?  — 
Dieser  Ausdruck  ist  abermals  mehrdeutig,  weil  das  „mehr"  an  verschie- 
denen Vergleichungsobjekten  gemessen  werden  kann.  Es  kann  bedeuten, 
daß  man  mit  Hilfe  des  Kapitals  eine  Wertmenge  erzeugt,  die  größer  ist 
als  jene,  die  man  ohne  Hilfe  von  Kapital  hätte  erzeugen  können; 
auf  unser  Beispiel  angewendet,  daß  die  mit  Hilfe  des  Kapitals  durch 
Tagesarbeit  gefangenen  zwanzig  Fische  mehr  wert  sind  als  die  ohne  Kapital- 
verwendung zu  fangenden  drei  Fische.  —  Jener  Ausdruck  kann  aber 
auch  bedeuten,  daß  man  mit  Hilfe  des  Kapitals  eine  Wertmenge  produziert, 
die  größer  ist  als  der  Wert  des  Kapitales  selbst;  mit  anderen  Worten, 
daß  das  Kapital  einen  produktiven  Ertrag  gibt,  der  größer  ist  als  sein 
eigener  Wert,  so  daß  ein  Mehrwert  über  den  in  der  Produktion  aufge- 
zehrten Kapitalswert  erübrigt.  In  unserem  Beispiel  würde  sich  das  so 
darstellen,  daß  die  2700  Fische,  die  der  mit  Boot  und  Netz  ausgerüstete 
Fischer  in  100  Tagen  mehr  fängt,  als  er  ohne  Boot  und  Netz  gefangen 
hätte,  und  die  sich  daher  als  (Brutto-)Ertrag  der  Kapitalverwendung 
herausstellen,  mehr  wert  sind  als  Boot  und  Netz  selbst,  wodurch  nach 
deren  Untergang  noch  ein  Wertüberschuß  zurückbleibt. 

Von  diesen  beiden  möglichen  Deutungen  ist  es  die  letztere,  welche 
die  Schriftsteller,  die  dem  Kapital  Wertproduktivität  beilegen,  gewöhnlich 
vor  Augen  haben.  Ich  werde  darum  auch,  wenn  ich  das  Wort  „Wert- 
produktivität" ohne  weiteren  Zusatz  gebrauche,  darunter  stets  die  Fähig- 
keit des  Kapitales  verstehen,  einen  seinen  eigenen  Wert  übersteigenden 
Mehrwert  hervorzubringen. 


>)  Röscher,  Grundlagen  der  Nationalökonomie  10.  Aufl.  §  189. 


Begriff  der  Produktivität.  99 

So  haben  wir  für  den  scheinbar  so  einfachen  Satz  „das  Kapital  ist 
produktiv"  nicht  weniger  als  vier  von  einander  deutlich  verschiedene 
Bedeutungen  gefunden,  die  ich  der  Übersicht  halber  noch  einmal  neben 
einander  stellen  will.     Es  kann  jener  Satz  heißen  —  entweder: 

Das  Kapital  hat  überhaupt  die  Fähigkeit  zur  Gütererzeugung  zu 
dienen;  oder 

das  Kapital  hat  die  Kraft,  zur  Erzeugung  von  mehr  Gütern  zu 
dienen,  als  man  ohne  dasselbe  hätte  erzeugen  können;  oder 

das  Kapital  hat  die  Kraft,  zur  Erzeugung  von  mehrWertzu  dienen, 
als  man  ohne  dasselbe  hätte  erzeugen  können;  oder  endlich 

das  Kapital  hat  die  Kraft  zur  Erzeugung  von  mehr  Wert  als  es 
selbst  hat^). 

Es  sollte  sich  wohl  von  selbst  verstehen,  daß  man  so  verschiedene 
Gedanken,  auch  wenn  sie  zufällig  durch  denselben  sprachlichen  Ausdruck 
bezeichnet  werden,  deshalb  nicht  identifizieren,  und  noch  weniger  in 
Beweisgängen  einander  beliebig  substituieren  darf.  Es  sollte  sich  z.  B. 
von  selbst  verstehen,  daß,  wenn  man  eine  Fähigkeit  des  Kapitales  zur 
Gütererzeugung  überhaupt;,  oder  zur  Erzeugung  von  mehr  Gütern 
zu  dienen,  bewiesen  hat,  man  deshalb  noch  nicht  berechtigt  ist,  eine  Kraft 
des  Kapitales  zur  Erzeugung  von  mehr  Wert,  als  man  sonst  hätte  er- 
zeugen können,  oder  wohl  gar  von  mehr  Wert,  als  es  selbst  hat,  für 
bewiesen  zu  halten.     Die  letzteren  Begriffe  im  Beweisgang  den  ersteren 

^)  Es  wäre  mir  ein  Leichtes,  die  obige  Liste  noch  zu  verlängern.  So  lassen  sich 
innerhalb  der  , .physischen  Produktivität"  wieder  zwei  Nuancen  unterscheiden.  Die 
erste,  im  Texte  ausschließlich  berücksichtigte,  liegt  dann  vor,  wenn  der  kapitalistische 
Produktionsprozeß  im  ganzen,  d.  i.  die  vorbereitende  Erzeugung  des  Kapitales  selbst 
und  die  weitere  Erzeugung  mit  HiUe  des  Kapitales  zur  Erzeugung  von  mehr  Gütern 
geführt  hat.  Es  kann  aber  auch  sein,  daß  die  erste  Phase  des  Gesamtprozesses,  die 
Kapitalbildung,  ein  so  starkes  Defizit  aufweist,  daß  der  kapitalistische  Gesamtprozeß 
passiv  endigt,  während  allerdings  die  zweite  Phase,  die  Erzeugung  mit  dem  Kapitale, 
für  sich  allein  betrachtet  ein  Mehr  an  Gütern  ergäbe.  Gesetzt  z.  B.  Boot  und  Netz, 
die  100  Tage  dauern,  hätten  zu  ihrer  Erzeugung  2000  Tage  erfordert,  so  fängt  man 
unter  Benutzung  von  Boot  und  Netz  in  zusammen  2100  Arbeitstagen  nur  100  x  30 
=  3000  Fische,  während  man  mit  der  bloßen  Hand  in  der  gleichen  Zeit  2100  x  3  =  6300 
gefangen  hätte.  Sieht  man  dagegen  die  zweite  Phase  isoliert  an,  so  zeigt  sich  das  einmal 
vorhandene  Kapital  allerdings  ,, produktiv",  man  fängt  mit  seiner  Hilfe  in  100  Tagen 
3000,  ohne  seine  HiKe  nur  300  Fische.  Spricht  man  um  dessentwillen  auch  hier  von 
einem  produktiven  Mehrerfolg  und  von  einer  Produktivität  des  Kapitales  —  wie  man 
es  in  der  Tat  zu  tun  pflegt  — ,  so  ist  das  nicht  unberechtigt;  nur  legt  man  jetzt  diesen 
Ausdrücken  einen  ganz  anderen  und  viel  schwächeren  Sinn  bei  als  früher.  —  Ferner 
verbindet  man  mit  der  Anerkennung  der  Produktivität  des  Kapitales  oft  die  Neben- 
bedeutung, daß  das  Kapital  eine  selbständige  Produktivkraft  sei;  nicht  bloß  die 
Zwischenursache  einer  produktiven  Wirkung,  die  in  letzter  Linie  auf  die  kapitalbildende 
Arbeit  zurückzuführen  ist,  sondern  ein  durchaus  selbständiges  Element  neben  der 
Arbeit.  —  Ich  bin  auf  diese  Nuancen  im  Texte  geflissentlich  nicht  eingegangen,  weil 
ich  den  Leser  nicht  mit  Unterscheidungen  belasten  wollte,  von  denen  ich,  vorläufig 
wenigstens,  keinen  Gebrauch  zu  machen  gedenke. 

7* 


100      VII.  Die  Produktivitätstheorien.    1.  Unterabschnitt.    Vorbemerkungen. 

unterzuschieben,  hätte  offenbar  den  Charakter  der  Erschleichung  eines 
nicht  erbrachten  Beweises.  So  selbstverständlich  diese  Erinnerung  auch 
ist,  so  muß  ich  sie  doch  ausdrücklich  hervorheben,  weil,  wie  wir  sehen 
werden,  unter  den  Produktivitätstheoretikern  nichts  gewöhnlicher  ist,  als 
die  willkürliche  Verwechslung  jener  Begriffe. 

Ich  wende  mich  nun  zu  dem  zweiten  Punkte,  dessen  Klarstellung 
mir  an  dieser  einleitenden  Stelle  am  Herzen  liegt:  zur  Natur  der  theo- 
retischen Aufgabe,  welche  die  „Produktivität  des  Kapitales"  in  den  Pro- 
duktivitätstheorien zu  leisten  hat. 

Diese  Aufgabe  läßt  sich  sehr  einfach  mit  den  Worten  bezeichnen: 
Die  Produktivitätstheorien  sollen  und  wollen  den  Kapital- 
zins aus  der  Produktivität  des  Kapitales  erklären.  In  diesen 
einfachen  Worten  liegt  aber  allerlei  eingeschlossen,  das  genauer  hervor- 
gehoben zu  werden  verdient. 

Gegenstand  der  Erklärung  ist  der  Kapitalzins.  Da  es  feststeht,  daß 
der  ausbedungene  Kapitalzins  (Leihzins)  sich  der  Hauptsache  nach  auf 
den  ursprünglichen  gründet,  und,  wenn  erst  dieser  befriedigend  erklärt 
ist,  leicht  durch  eine  sekundäre  Zweigerklärung  getroffen  werden  kann, 
so  läßt  sich  das  Objekt  der  Erklärung  enger  begrenzen  auf  den  ursprüng- 
lichen Kapitalzins.  Der  Tatbestand,  der  diesem  zugrunde  liegt,  ist, 
kurz  beschrielDen,  folgender: 

Wo  immer  Kapital  in  einer  Produktion  verwendet  wird,  so  zeigt  die 
Erfahrung,  daß  im  regelmäßigen  Verlaufe  der  Dinge  der  Ertrag  oder 
Ertragsanteil,  den  das  Kapital  seinem  Eigner  verschafft,  einen  größeren 
Wert  hat,  als  die  zu  seiner  Erlangung  aufgezehrten  Kapitalteile. 

Diese  Erscheinung  tritt  sowohl  in  jenen  verhältnismäßig  seltenen 
Fällen  auf,  in  denen  Kapital  allein  an  der  Bildung  eines  Ertrages  beteiligt 
war,  wie  z.  B.  bei  der  Verwandlung  jungen  Weines  durch  Abliegen  in 
besseren  alten  Wein;  als  auch  in  den  viel  häufigeren  Fällen,  in  denen  Kapital 
mit  anderen  Produktionsfaktoren  —  Boden  und  Arbeit  —  kooperiert. 
Die  wirtschaftenden  Menschen  pflegen  dann  aus  zwingenden  Gründen, 
deren  Erörterung  nicht  hieher  gehört,  das  Gesamtprodukt,  obwohl  es 
aus  ungetrennter  Kooperation  entstanden  ist,  doch  nach  getrennten 
Anteilen  zuzurechnen.  Ein  Teil  wird  dem  Kapital  als  spezifischer  Kapital- 
ertrag, ein  Teil  der  Natur  als  Bodenertrag,  Bergwerksertrag  usw.,  ein  Teil 
endlich  der  kooperierenden  Arbeit  als  Arbeitsertrag  zugeschrieben^).    Die 


')  Ob  die  im  praktischen  Wirtschaftsleben  den  einzelnen  Produktionsfaktoren 
zugerechneten  Anteile  sich  genau  mit  den  Quoten  decken,  die  jeder  von  ihnen  am 
Gesamtprodukt  hervorgebracht  hat,  ist  eine  sehr  bestrittene  Frage,  der  ich  an  dieser 
Stelle  nicht  präjudizieren  darf.  Ich  habe  darum  die  im  Texte  gebrauchte  unverfängliche 
Ausdrucksweise  gewählt.  Übrigens  ist  zu  bemerken,  daß  die  Mehrwerterscheinung 
nicht  nur  zwischen  einzelnen  zugerechneten  Ertragsteilen  und  ihren  korrespondierenden 
Ertragsquellen,  sondern  auch  zwischen  den  hervorgebrachten  und  hervorbringenden 


Natur  der  theoretischen  Aufgabe.  101 

Erfahrung  zeigt  nun,  daß  die  auf  den  Anteü  des  Kapitales  entfallende 
Quote  des  Gesamtproduktes,  der  Bruttoertrag  des  Kapitales,  in  aller 
Regel  mehi  wert  ist,  als  der  zu  seiner  Erlangung  gemachte  Kapitalaufwand. 
Hiedurch  erübrigt  ein  Wertüberschuß,  ein  „Mehrwert",  der  in  den 
Händen  des  Kapitaleigentümers  zurückbleibt  und  seinen  ursprünglichen 
Kapitalzins  konstituiert. 

Wer  daher  den  Kapitalzins  erklären  will,  muß  das  Auftreten  des 
„Mehrwertes"  erklären.  Das  Problem  wird  also  genauer  bestimmt  lauten: 
warum  ist  der  Bruttoertrag  des  Kapitales  regelmäßig  mehr  wert,  als  die 
in  seiner  Erlangung  aufgezehrten  Kapitalteile?  oder  mit  noch  anderen 
Worten:  warum  besteht  eine  ständige  Wertdifferenz  zwischen 
dem  aufgewendeten  Kapitale  und  seinem  Ertrage?^)  —  Gehen 
wir  weiter. 

Diese  Wertdifferenz  sollen  und  wollen  die  Produktivitätstheorien  aus 
der  Produktivität  des  Kapitales  erklären. 

Erklären,  das  heißt  ihre  volle  zureichende  Ursache  aufdecken,  nicht 
etwa  bloß  eine  Bedingung  nennen  neben  anderen  unaufgeklärten  Bedin- 
gungen. Nachweisen,  daß  ohne  Produktivität  des  Kapitales  der  Mehr- 
wert nicht  existieren  könnte,  hieße  so  wenig  ihn  aus  der  Produktivität 
des  Kapitales  erklären,  als  es  heißt  die  Grundrente  erklären,  wenn  man 
nachweist,  daß  sie  nicht  ohne  Fruchtbarkeit  des  Bodens  existieren  kann, 
oder  als  man  behaupten  könnte,  den  Regen  erklärt  zu  haben,  wenn  man 
nachgewiesen  hat,  daß  das  Wasser  ohne  seine  Schwerkraft  nicht  zur  Erde 
fallen  könnte. 

Soll  der  Mehrwert  aus  der  Produktivität  des  Kapitales  erklärt  sein, 
so  ist  dazu  nötig,  daß  eine  derartige  produktive  Kraft  des  Kapitales  be- 
wiesen oder  einleuchtend  gemacht  wird,  die  entweder  für  sich  allein  oder 
in  Verbindung  mit  anderen  Faktoren,  die  dann  aber  gleichfalls  in 
die  Erklärung  einzubeziehen  sind,  die  volle  zureichende  Ursache 
der  Entstehung  des  Mehrwertes  abzugeben  imstande  ist. 

Dieses  Verhältnis  könnte  denkbarerweise  in  dreierlei  Gestalt  er- 
füllt sein: 

1.  Wenn  nachgewiesen  oder  einleuchtend  gemacht  wäre,  daß  das 
Kapital  eine  Kraft  in  sich  besitzt,  die  geradezu  auf  die  Kreierung 
von  Wert  gerichtet  ist,  eine  Kraft,  durch  die  das  Kapital  den  Gütern, 
an  deren  physischer  Herstellung  es  beteiligt  ist,  auch  den  Wert  gleichsam 


Gütern  im  ganzen  platzgreift.  Die  Gesamtheit  der  in  ein  Produkt  verwendeten  Pro- 
duktionsmittel, Arbeit,  Kapitalien  und  Bodennutzungen,  hat  regelmäßig  einen  kleineren 
Tauschwert,  als  später  das  fertiggestellte  Produkt  —  ein  Umstand,  der  es  schwer  macht, 
die  Erscheinung  des  ,, Mehrwertes"  auf  bloße  Verhältnisse  der  Zurechnung  innerhalb 
des  Ertrages  zurückzuführen. 

')  Über  die  Problemstellung  vgl.  auch  meine  „Rechte  und  Verhältnisse",  Inns- 
bruck 1881,  S.  107ff. 


102       VII.  Die  Produktivitätstheorien.    1.  Unterabschnitt.     Vorbemerkungen. 

aJs  wirtschaftliche  Seele  einzuhauchen  imstande  wäre.   (Wertproduktivität 
im  buchstäblichsten  und  denkbar  ausgezeichnetsten  Sinne.) 

2.  Wenn  nachgewiesen  oder  einleuchtend  gemacht  wäre,  daß  das 
Kapital  durch  seine  Dienste  zur  Erlangung  von  mehr  oder  brauchbareren 
Gütern  verhilft,  und  es  zugleich  unmittelbar  einleuchtend  wäre, 
daß  die  mehreren  und  besseren  Güter  auch  mehr  wert  sein  müssen  als  das 
zu  ihrer  Erzeugung  verbrauchte  Kapital.  (Physische  Produktivität  mit 
Mehrwertentstehung  als  selbstverständlicher  Folge.) 

3.  Wenn  nachgewiesen  oder  einleuchtend  wäre,  daß  das  Kapital 
durch  seine  Dienste  zur  Erlangung  von  mehr  oder  brauchbareren  Gütern 
verhilft,  und  zugleich  ausdrücklich  nachgewiesen  wird,  daß  und 
warum  die  mehreren  und  besseren  Güter  auch  mehr  wert  sein  müssen, 
als  das  zu  ihrer  Erzeugung  verbrauchte  Kapital.  (Physische  Produktivität 
mit  ausdrücklich  motivierter  Mehrwertwirkung.) 

Dies  sind  meines  Erachtens  die  einzigen  Modalitäten,  unter  denen  die 
Produktivität  des  Kapitales  als  zureichender  Grund  des  Mehrwertes 
erscheinen  kann.  Eine  Berufung  auf  die  Kapitalsproduktivität,  die  außer- 
halb dieser  Formen  geschähe,  würde  von  vornherein  keine  erklärende  Kraft 
haben  können.  Wenn  man  sich  z.  B.  auf  die  physische  Produktivität 
des  Kapitales  beruft,  es  aber  weder  selbstverständlich  noch  ausdrücklich 
bewiesen  wäre,,  daß  den  vermehrten  Gütern  auch  ein  ,, Mehr  wert"  ent- 
spricht, so  wäre  eine  solche  Produktivität  offenbar  keine  adäquate  Ursache 
der  zu  erklärenden  Wirkung. 

Die  historische  Entwicklung  der  wirklichen  ist  hinter  dem  abstrakten 
Schema  der  möglichen  Produktivitätstheorien  an  Gestaltenreichtum  nicht 
zurückgeblieben:  jeder  der  möglichen  Erklärungstypen  unseres ' Schemas 
hat  im  historischen  Verlaufe  seine  Vertretung  gefunden.  Die  starke  innere 
Verschiedenheit,  die  zwischen  den  einzelnen  typischen  Richtungen  besteht, 
legt  es  nahe,  auch  zum  Zweck  der  Darstellung  und  Kritik  die  Produk- 
tivitätstheorien nach  Gruppen  zu  teilen.  Die  Gruppierung  wird  sich  an 
unser  Schema  anlehnen,  aber  ihm  nicht  ganz  genau  folgen.  Jene  Pro- 
duktivitätstheorien, welche  die  beiden  ersten  Typen  repräsentieren,  haben 
nämlich  in  ihrer  Erscheinung  so  viel  gemeinsames,  daß  sie  vom  Dogmen- 
historiker zweckmäßig  vereinigt  zu  behandeln  sind;  während  sich  inner- 
halb des  dritten  Typus  so  bedeutende  Differenzen  zeigen,  daß  hier  eine 
weitere  Abteilung  angemessen  erscheint. 

1.  Jene  Produktivitätstheorien,  welche  eine  direkte  wertzeugende 
Kraft  des  Kapitales  behaupten  (1.  Typus),  sowie  jene,  welche  zwar  von 
der  physischen  Produktivität  des  Kapitales  ihren  Ausgang  nehmen,  aber 
mit  dieser  die  Erscheinung  des  Mehrwertes  selbstverständlich  und  not- 
wendig verbunden  glauben  (2.  Typus),  kommen  darin  überein,  daß  sie 
von  der  behaupteten  Produktivität  unmittelbar  und  ohne  erklärendes 
Zwischenglied  auf  den  „Mehrwert"  schließen.      Sie  behaupten  einfach, 


Zweige  der  Produktivitätstheorie.  103 

daß  das  Kapital  produktiv  sei,  fügen  allenfalls  eine  Schilderung  seiner 
produktiven  Wirksamkeit  hinzu,  die  indes  in  ganz  äußerlicher  Weise 
gehalten  ist,  und  endigen  sehr  rasch  damit,  daß  sie  den  Mehrwert  auf  die 
Rechnung  der  behaupteten  Produktivität  setzen.  Ich  werde  diese  Lehren 
unter  dem  Namen  der  „naiven  Produktivitätstheorien"  zusammen- 
fassen. Die  Knappheit  der  Motivierung,  zu  der  dieselben  ihrer  Natur  nach 
hinneigen,  wird  nicht  selten  so  groß,  daß  es  nicht  einmal  klar  wird,  ob  der 
Verfasser  dem  ersten  oder  dem  zweiten  Typus  anhängt;  ein  Grund  mehr, 
um  beide  ineinander  fließenden  Richtungen  auch  in  der  dogmengeschicht- 
lichen Betrachtung  zu  vereinigen, 

2.  Jene  Theorien,  welche  ihren  Ausgangspunkt  bei  der  physischen 
Produktivität  des  Kapitales  nehmen,  aber  es  nicht  für  selbstverständlich 
ansehen,  daß  die  Ergiebigkeit  an  Produkten  auch  mit  einem  „Mehrwert" 
verbunden  sei,  und  demgemäß  ihre  Erklärung  noch  auf  das  Gebiet  des 
Wertes  hinüberzuspinnen  für  notwendig  erachten,  werde  ich  motivierte 
Produktivitätstheorien  nennen.  Sie  zeichnen  sich  dadurch  aus, 
daß  sie  der  Behauptung  und  Schilderung  der  Produktivität  des  Kapitales 
einen  mehr  oder  weniger  gelungenen  (ledankengang  anfügen,  der  den 
Zweck  hat  darzutun,  daß  und  warum  die  produktive  Ejaft  des  Kapitales 
zur  Eastenz  eines  dem  Kapitalisten  zufallenden  Mehrwertes  führen  müsse. 

3.  Von  den  motivierten  Produktivitätstheorien  löst  sich  endlich  eine 
Gruppe  von  Theorien  ab,  welche  zwar,  wie  jene,  an  die  physische  Pro- 
duktivität des  Kapitales  anknüpfen,  aber  den  Nachdruck  der  Erklärung 
auf  die  selbständige  Existenz,  Wirksamkeit  und  Aufopferung  von 
Nutzungen  des  Kapitales  legen.  Ich  werde  diese  Theorien  Nutzungs- 
theorien nennen.  Da  sie  in  der  Produktivität  des  Kapitales  zwar  eine 
Bedingung,  aber  nicht  mehr  die  Hauptursache  der  Entstehung  des  Mehr- 
wertes erblicken,  verdienen  sie  den  Namen  Produktivitätstheorien  nicht 
mehr  voll.  Ich  habe  es  daher  vorgezogen,  sie  auch  äußerlich  von  jenen  zu 
trennen  und  ihnen  einen  selbständigen  Abschnitt  zu  widmen. 


2.  Unterabschnitt. 
Die  naiven  Produktivitätstheorien. 

Ihr  Begründer  ist  J.  B.  Say. 

Die  Ansichten  Says  über  den  Ursprung  des  Kapitalzinses  darzu- 
stellen, gehört  zu  den  unerquicklichsten  Aufgaben  des  Dogmenhistorikers. 
Denn  während  dieser  Schriftsteller  durch  glatte,  runde  Worte,  die  er 
meisterlich  zu  setzen  weiß,  seiner  Meinung  in  hohem  Grade  den  äußeren 
Anschein  von  Klarheit  zu  geben  versteht,  läßt  er  es  in  Wahrheit  an  einem 
scharfen  Ausdruck  dessen,  was  er  denkt,  gänzlich  fehlen,  und  die  zahl- 


104     VII.  Produkfcivitätstheorien.    2.  U.-A.  Die  naiven  Produktivitätstheorien. 

reichen  Bemerkungen,  in  die  er  seine  Zinstheorie  zersplittert,  zeigen  leider 
nicht  geringe  Widersprüche.  Es  scheint  mir  nach  sorgfältiger  Prüfung 
überhaupt  unmöglich,  dieselben  als  Ausfluß  einer  dem  Geist  des  Schrift- 
stellers vorschwebenden  Theorie  zu  deuten;  sondern  Sa y  schwankt  zwischen 
zwei  Theorien,  von  denen  er  keine  in  besonderer  Klarheit  ausführt,  die 
aber  jedenfalls  von  einander  zu  sondern  sind.  Eine  derselben  ist  ihrem 
Wesen  nach  eine  naive  Produktivitätstheorie;  die  andere  enthält  den 
ersten  Keim  der  Nutzungstheorien.  So  nimmt  Say  trotz  der  Unklarheit 
seiner  Ansichten  eine  hervorragende  Stellung  in  der  Dogmengeschichte 
des  Kapitalzinses  ein.  Er  bildet  eine  Art  Knotenpunkt,  an  dem  zwei  der 
wichtigsten  theoretischen  Richtungen  ihren  Anfang  nehmen. 

Für  die  Darstellung  von  Says  Ansichten  muß  von  seinen  beiden 
Hauptwerken,  dem  Trait6  d'Economie  politique^)  und  dem  Cours  complet 
d'Economie  politique  pratique^)  fast  ausschließlich  das  erste  als  Quelle 
dienen.  Denn  der  Cours  complet  weicht  allen  prägnanten  Äußerungen 
fast  vollständig  aus. 

Nach  Say  entstehen  alle  Güter  durch  das  Zusammenwirken  dreier 
Faktoren:  der  Natur  (agents  naturels),  des  Kapitals  und  der  menschlichen 
Arbeitskraft  (facult§  industrielle).  Diese  Faktoren  erscheinen  als  die 
„produktiven  Fonds",  aus  denen  alle  Güter  einer  Nation  stammen,  und 
die  das  Grundvermögen  (fortune)  derselben  ausmachen  3).  Die  Güter 
entstehen  indes  nicht  unmittelbar  aus  den  Fonds.  Sondern  jeder  Fonds 
erzeugt  zunächst  ,, produktive  Dienste"  (services  productifs),  und  erst  aus 
diesen  gehen  dann  die  eigentlichen  Produkte  hervor. 

Die  produktiven  Dienste  bestehen  in  einer  Tätigkeit  (action)  oder 
Arbeit  (travail)  des  Fonds.  Der  fonds  industriel  leistet  seinen  Dienst  durch 
die  Arbeit  des  produzierenden  Menschen;  die  Natur  durch  die  Tätigkeit 
der  Naturkräfte,  durch  die  Arbeit  des  Bodens,  der  Luft,  des  Wassers, 
der  Sonne  usw.*);  wie  endlich  die  produktiven  Dienste  des  Kapitals  vor- 
zustellen seien,  darüber  erhalten  wir  eine  weniger  scharf  bezeichnende 
Auskunft,  Say  sagt  in  seinem  Traitö  einmal  recht  vage:  „Sie  (die  Kapi- 
talien) müssen  sozusagen  mit  der  menschlichen  Tätigkeit  zusammenarbeiten, 
und  diese  Mittätigkeit  nenne  ich  den  produktiven  Dienst  der  Kapitalien" 
(c'est  ce  concours  que  je  nomme  le  service  productif  des  capitaux^)). 
Er  verheißt  dabei  allerdings  für  späterhin  eine  genauere  Aufklärung  über 
die  produktive  Wirksamkeit  der  Kapitalien,  beschränkt  sich  aber  bei  der 
Erfüllung  dieses  Versprechens  darauf,  die  Veränderungen  (transformations) 
zu  beschreiben,  welche  die  Kapitalien  in  der  Produktion  erleiden.    Auch 

')  Erschienen  1803;  ich  zitiere  nach  der  7.  Auflage,  Paris,  Guillaumin  &  Cie.,  1861. 

')  Paris  1828  und  1829. 

")  Cours  I  S.  234ff. 

*)  Traite  S.  68f. 

»)  I.  Buch  III.  Kap.  S.  67  a.  E. 


Say.  105 

der  Cours  complet  gibt  keine  vollkommene  Anschauung  von  der  Arbeit 
des  Kapitales,  Er  sagt  einfach,  ein  Kapital  arbeitet,  wenn  man  es  in  pro- 
duktiven Operationen  verwendet  (On  fait  travailler  un  capital.  lorsqu'on 
l'emploie  dans  des  Operations  productives;  I  S.  239).  Nur  indirekt  erfahren 
wir  aus  den  häufig  wiederkehrenden  Parallelen,  daß  Say  sich  die  Arbeit 
des  Kapitals  vollkommen  gleichartig  mit  der  Arbeit  des  Menschen  und 
der  Naturkräfte  vorstellt.  —  Wir  werden  noch  sehen,  wie  die  Unbestimmt- 
heit, in  der  Say  solcherart  den  vieldeutigen  Ausdruck  „service"  rücksicht- 
lich der  Mitwirkung  des  Kapitals  zurückläßt,  ihre  üblen  Früchte  tragen 
sollte.  — 

Ein  Teil  der  ,,agents  naturels"  ist  nicht  ins  Privateigentum  genommen 
und  leistet  seine  produktiven  Dienste  umsonst:  das  Meer,  der  Wind,  die 
physischen  und  chemischen  Wechselwirkungen  der  Stoffe  usw.  Die  Dienste 
der  anderen  Faktoren,  der  menschlichen  Arbeitskraft,  des  Kapitals  und 
der  appropriierten  Naturkräfte  (zumal  des  Grundes  und  Bodens)  müssen 
aber  ihren  Eigentümern  vergolten  werden.  Die  Vergeltung  geschieht  aus 
dem  Wert  der  durch  jene  Dienste  hervorgebrachten  Güter.  Dieser  Wert 
wird  unter  alle  jene  verteilt,  die  —  durch  Beisteuer  von  Services  productifs 
ihrer  Fonds  —  an  seiner  Erzeugung  mitgewirkt  haben.  Nach  welchem 
Verhältnis  ?  —  darüber  entscheidet  schließlich  das  Verhältnis  von  Angebot 
und  Nachfrage  nach  den  einzelnen  Arten  von  Diensten.  Als  Organ  der 
Verteilung  fungiert  der  Unternehmer,  der  die  zur  Produktion  nötigen 
Dienste  ankauft  und  nach  der  Marktlage  bezahlt.  Auf  diese  Weise  erhalten 
die  Services  productifs  einen  Wert,  der  vom  Wert  des  Fonds  selbst,  von 
dem  sie  ausgehen,  wohl  zu  unterscheiden  ist  2). 

Die  „Dienste"  bilden  auch  das  wahre  Einkommen  (revenu)  ihrer 
Eigentümer.  Sie  sind  das,  was  ein  Fonds  seinem  Eigentümer  in  Wahrheit 
trägt.  Wenn  er  sie  verkauft  oder  im  Wege  der  Produktion  Produkte  dafür 
„eintauscht",  so  ist  das  nur  eine  Formveränderung,  die  das  Einkommen 
erleidet. 

Alles  Einkommen  ist  aber,  der  Dreiheit  der  produktiven  Dienste 
entsprechend,  dreierlei  Art:  es  ist  teils  Arbeitseinkommen  (profit  de 
l'industrie),  teils  Grundrente  (profit  du  fonds  de  terre),  teils  Kapital- 
gewinn (profit  oder  revenu  du  capital).  Zwischen  allen  drei  Zweigen 
herrscht  eine  eben  so  vollständige  Analogie  wie  zwischen  den  verschiedenen 
Arten  der  Services  productifs  selbst');  alle  stellen  den  Preis  eines  produktiven 
Dienstes  dar,  dessen  sich  der  Unternehmer  bedient  hat,  um  ein  Produkt 
zu  schaffen. 

Hiemit  hat  Say  eine  äußerlich  recht  glatte  Erklärung  des  Kapital- 
gewinnes gegeben.    Das  Kapital  leistet  produktive  Dienste;  diese  müssen 

*)  Kap.  X  des  I.  Buches. 
»)  Traitö  S.  72,  343f. 
•)  Cours  IV,  64. 


106     VII.  Produktivitätstheorien.    2.  U.-A.  Die  naiven  Produktivitätstheorien. 

seinem  Eigentümer  honoriert  werden:  das  Honorar  ist  der  Kapitalgewinn. 
Das  Plausible  dieses  Gedankenganges  wird  noch  wesentlich  erhöht  durch 
die  überall  gesuchte  Anlehnung  an  den  ganz  einleuchtenden  Vorgang, 
der  im  Arbeitslohn  liegt.  Das  Kapital  arbeitet,  geradeso  wie  der  Mensch, 
seine  Arbeit  muß  geradeso  honoriert  werden  wie  die  des  Menschen;  der 
Kapitalzins  ist  ein  getreues  Abbild  des  Arbeitslohnes. 

Geht  man  jedoch  tiefer  ein,  so  beginnen  die  Schwierigkeiten  und  damit 
auch  die  Widersprüche  Says. 

Wenn  die  Produktivdienste  des  Kapitales  durch  eine  aus  dem  Produkt- 
werte zu  entnehmende  Wertmenge  honoriert  werden  sollen,  so  muß  vor 
allem  eine  zu  diesem  Zweck  disponible  Wertmenge  überhaupt  da  sein. 
Es  drängt  sich  nun  die  naheliegende  Frage  auf,  auf  welche  die  Zinstheorie 
jedenfalls  Bescheid  zu  geben  verpflichtet  ist:  warum  ist  denn  jene 
Wertmenge  jedesmal  da?  Konkreter  gesprochen:  warum  besitzen 
jene  Produkte,  an  deren  Entstehung  Kapital  mitgewirkt  hat,  regelmäßig 
einen  so  hohen  Wert,  daß  aus  demselben,  nachdem  die  anderen  koope- 
rierenden Services  productifs,  Arbeit  und  Bodennutzung,  nach  dem  üblichen 
Marktpreise  honoriert  sind,  für  die  Entlohnung  der  Kapitaldienste  noch 
etwas  übrig  bleibt  ?  und  zwar  genug  übrig  bleibt,  um  diese  Dienste  gerade 
im  Verhältnis  zur  Größe  und  Dauer  der  Kapitalanwendung  zu  entlohnen  ? 
Warum  wird  z.  B.  ein  Gut,  welches  zu  seiner  Erzeugung  Arbeit-und  Boden- 
nutzungen im  Werte  von  1000  Fr.  erfordert,  und  dessen  Herstellung  so 
lange  dauert,  daß  der  für  den  Ankauf  jener  Dienste  gemachte  Kapital- 
vorschuß von  1000  Fr.  sich  nach  einem  Jahre  ersetzt,  nicht  1000  Fr., 
sondern  mehr  als  1000  Fr.,  etwa  1050  Fr.  wert  sein?  Und  warum  wird 
ein  anderes  Gut,  das  genau  gleichviel  Arbeit  und  Bodennutzungen  gekostet 
hat,  dessen  Herstellung  aber  doppelt  so  lange  dauert,  nicht  1000  oder 
1050  Fr.,  sondern  1100  Fr.  wert  sein,  wodurch  es  möglich  wird,  die  Services 
productifs  des  Kapitales  von  1000  Fr.  für  zwei  Jahre  angemessen  zu  be- 
lohnen ?i)  —  Man  wird  leicht  wahrnehmen,  daß  dies  eine  der  SAYSchen 
Theorie  angepaßte  Formulierung  der  Frage  nach  dem  ,, Mehrwert"  ist, 
die  den  Kern  des  Zinsproblems  ausmacht.  Letzterer  ist  durch  das,  was 
wir  bis  jetzt  von  Say  gehört,  noch  gar  nicht  berührt,  wir  schreiten  erst 
jetzt  an  ihn  heran. 

Say  spricht  sich  über  den  Existenzgrund  jenes  Wertes  nicht  mit  der 
wünschenswerten  Unzweideutigkeit  aus.  Seine  Äußerungen  lassen  sich 
in  zwei  Gruppen  scheiden,  zwischen  denen  ein  ziemlich  scharfer  Kontrast 
besteht.  In  einer  Gruppe  legt  Say  dem  Kapital  eine  direkt  wertschaffende 
Kraft  bei:  der  Wert  ist  da.  weil  das  Kapital  ihn  geschaffen  hat,  und  die 
produktiven  Dienste  des  Kapitals  werden  honoriert,  weil  der  dazu  nötige 

^)  Ich  führe  im  Beipsiele  neben  dem  Aufwand  an  Arbeit  und  Bodennutzungen 
keinen  separaten  Aufwand  an  verbrauchter  Kapitalsubstanz  auf,  weil  sich  der  letztere 
nach  Say  gänzlich  in  den  Aufwand  an  elementaren  Produktivdiensten  auflösen  läßt. 


Say.  107 

Mehrwert  geschaffen  ist.  Hier  ist  also  die  Honoriening  der  Produktiv- 
dienste  des  Kapitals  die  Folge  des  Daseins  von  Mehrwert. 

In  der  zweiten  Gruppe  von  Äußerungen  kehrt  dagegen  Say  das  Kausal- 
verhältnis just  um,  indem  er  die  Honorierung  der  Kapitaldienste  als  die 
Ursache,  als  den  Existenzgrund  des  Mehrwertes  hinstellt.  Die  Produkte 
haben  überhaupt  Wert  deshalb,  weil  die  Eigentümer  der  Services  pro- 
duetifs,  aus  denen  sie  entstehen,  eine  Honorierung  verlangen,  und  sie 
haben  speziell  einen  genug  hohen  Wert,  um  einen  Kapitalgewinn  übrig 
zu  lassen,  weil  die  Mitwirkung  des  Kapitals  nicht  umsonst  zu  erlangen  ist. 

In  die  erste  Gruppe  fällt  abgesehen  von  den  zahlreichen  Äußerungen, 
in  denen  Say  allgemein  von  einer  ,,facult6  productive"  und  einem  „pouvoir 
productif"  des  Kapitales  spricht,  namentlich  eine  polemische  Anmerkung 
im  rV.  Kapitel  des  I.  Buches  seines  „Trait§"  (S.  71  Anm.  2).  Say  pole- 
misiert hier  gegen  Smith,  der  die  produktive  Macht  der  Kapitalien  ver- 
kannt habe,  indem  er  den  vermittelst  des  Kapitals  erzeugten  Wert  der 
Arbeit  zuschreibe,  durch  die  das  Kapital  selbst,  z.  B.  eine  Ölmühle  einst 
hervorgebracht  worden  war.  ,, Smith  täuscht  sich;  das  Produkt  dieser 
vorausgegangenen  Arbeit  ist,  wenn  man  will,  der  Wert  der  Mühle  selbst; 
aber  der  Wert,  der  täglich  durch  die  Mühle  erzeugt  wird, 
ist  ein  anderer  ganz  neuer  Wert,  gerade  so  wie  der  Pachtnutzen  eines 
Grundstückes  ein  anderer  Wert  ist,  als  der  des  Grundstückes  selbst,  ein 
Wert,  den  man  verzehren  kann,  ohne  den  des  Grundstückes  zu  vermindern." 
Und  nun  fährt  Say  fort:  „Wenn  ein  Kapital  nicht  in  sich  selbst 
eine  Produktivkraft  hätte,  die  unabhängig  ist  von  der  Arbeit,  die 
es  geschaffen  (si  un  capital  n'avait  pas  en  lui-meme  une  facult§  productive 
ind^pendente  de  celle  du  travail  qui  l'a  cr§6),  wie  könnte  es  geschehen, 
daß  ein  Kapital  in  alle  Ewigkeit  ein  Einkommen  einbringt,  unabhängig 
vom  Gewinn  der  industriellen  Tätigkeit,  die  es  beschäftigt?"  Also,  das 
Kapital  schafft  Wert  und  diese  Fähigkeit  ist  die  Ursache  des  Kapital- 
gewinnes.  Und  mit  einer  ähnlichen  Wendung  sagt  Say  ein  andermal: 
„Le  capital  emploiö  paie  les  Services  rendus,  et  les  Services  rendus 
produisent  la  valeur  qui  remplace  le  capital  employ6"^). 

In  die  zweite  Gruppe  reihe  ich  zunächst  eine  Äußerung,  die  zwar 
nicht  den  Kapitalgewinn  direkt  angeht,  aber  ganz  analoge  Anwendung 
auch  auf  ihn  finden  muß.  „Jene  natürlichen  Kräfte",  sagt  Say  einmal*), 
„welche  der  Appropriation  unterliegen,  werden  zu  wertschaffenden  Fonds 
(deviennent  des  fonds  productifs  de  valeur),  weil  sie  ihre  Mitwirkung 
nicht  ohne  Vergeltung  bieten  ..."  Femer  wird  der  Preis  der  Produkte 
wiederholt  in  Abhängigkeit  gesetzt  von  der  Höhe  der  Vergütung  der 
Services  productifs,  die  zu  ihrer  Entstehung  mitgewirkt:  „Ein  Produkt 


')  Buch  II  Kap.  VIII  §  2,  S.  396  Anm.  1. 
«)  Buch  I  Kap.  IV  am  Ende. 


108      VII.  Produktivitätstheorien.    2.  U.-A.  Die  naiven  Produktivitätstheorien. 

wird  also  desto  teurer  sein,  je  nachdem  seine  Erzeugung  nicht  allein  mehr 
produktive  Dienste,  sondern  auch  höher  vergütete  (plus  fortement 
r^tribü^s)  produktive  Dienste  erfordert,"  „Der  Preis  wird  sich  desto 
höher  erheben,  ein  je  lebhafteres  Bedürfnis  die  Konsumenten  nach  dem 
Genüsse  des  Produktes  fühlen,  je  mehr  Zahlungsmittel  sie  besitzen,  und 
eine  je  höhere  Vergütung  die  Verkäufer  der  produktiven 
Dienste  zu  heischen  in  der  Lage  sind"^). 

Den  Kapitalgewinn  speziell  geht  aber  endlich  eine  markante  Stelle  im 
Anfang  des  VIII.  Kapitels  des  IL  Buches  an:  „Die  Unmöglichkeit,  ein 
Produkt  ohne  die  Mitwirkung  eines  Kapitals  zu  erlangen,  zwingt  die 
Konsumenten  für  jedes  Produkt  einen  Preis  zu  bezahlen,  der  genügend 
ist,  damit  der  Unternehmer,  der  die  Erzeugung  auf  sich  nimmt,  den  Dienst 
jenes  notwendigen  Instrumentes  kaufen  kann."  Also  der  oben  zitierten 
Stelle^)  gerade  entgegengesetzt:  während  dort  die  Entlohnung  des  Kapi- 
talisten aus  dem  Dasein  des  „geschaffenen"  Mehrwertes  erklärt  wurde, 
wird  hier  das  Dasein  des  Mehrwertes  aus  der  unvermeidlichen  Entlohnung 
des  Kapitalisten  erklärt.  Dieser  letzteren  Auffassung  entspricht  es  auch, 
daJä  Say  den  Kapitalgewinn  als  einen  Bestandteil  der  Produktionskosten 
auffaßt  3). 

Solche  Widersprüche  sind  die  ganz  natürliche  Folge  der  Unsicherheit, 
die  Say  in  seiner  ganzen  Werttheorie  "zeigt,  in  der  er  ebenso  oft  gegen 
die  von  Smith  und  Eicakdo  vertretene  Kostentheorie  polemisiert,  als 
er  selbst  in  sie  verfällt.  Recht  bezeichnend  für  diese  Unsicherheit  ist  unter 
anderem  auch,  daß  Say  einerseits  in  den  oben  zitierten  Stellen  (Traite 
S.  315  und  316)  den  Wert  der  Produkte  aus  dem  Wert  ihrer  Services  pro- 
ductifs,  ein  andermal  dagegen  umgekehrt  den  Wert  der  fonds  productifs 
wieder  aus  dem  Wert  der  Produkte  ableitet,  die  aus  ihnen  entstehen: 
„leur  valeur  (des  fonds  productifs)  vient  donc  de  la  valeur  du  produit  qui 
peut  en  sortir*)!"  —  Eine  wichtige  Stelle,  auf  die  ich  bei  einer  späteren 
Gelegenheit  noch  zurückkommen  werde. 

Ich  glaube  nach  dem  Gesagten  Say  nicht  Unrecht  zu  tun,  wenn  ich 
annehme,  daß  er  sich  über  den  letzten  Grund  des  Kapitalzinses  keine 
klare  Meinung  gebildet  hatte,  sondern  unsicher  zwischen  zwei  Meinungen 
schwankt:  kraft  der  einen  entsteht  der  Kapitalzins,  weil  das  Kapital  ihn 
produziert,  kraft  der  anderen,  weil  der  Kostenbestandteil  „Services  pro- 
ductifs des  Kapitales"  eine  Vergütung  heischt. 

Zwischen  beiden  Meinungen  herrscht  eine  starke  innere  Verschieden- 
heit, eine  stärkere,  als  man  auf  den  ersten  Blick  vielleicht  meinen  möchte. 
Die  erste  behandelt  die  Zinserscheinung  überwiegend  als  Produktions- 


')  Buch  II  Kap.  I  S.  316f. 
«)  Trait6  S.  71  Anm.  2. 
»)  Trait6  S.  396. 
•)  Trait6  S.  338. 


.  Say.  109 

problem,  die  zweite  als  Verteilungsproblem.  Die  erste  schließt  ihren 
Erklärungsgang,  indem  sie  sich  einfach  auf  eine  Produktionstatsache 
beruft:  das  Kapital  produziert  den  Mehrwert,  darum  ist  er  da,  jede  weitere 
Frage  ist  überflüssig.  Die  zweite  Theorie  stützt  sich  nur  nebenbei  auf  die 
Mitwirkung  des  Kapitales  an  der  Produktion,  die  sie  allerdings  voraus- 
setzt; ihren  Schwerpunkt  findet  sie  jedoch  in  Gründen,  die  auf  die  Ver- 
hältnisse der  gesellschaftlichen  Wert-  und  Preisbildung  Bezug  nehmen. 
Mit  der  ersten  Meinung  steht  Say  in  der  Reihe  der  reinen  Produktivitäts- 
Theoretiker,  mit  der  zweiten  eröffnet  er  die  Reihe  der  hochinteressanten 
und  theoretisch  bedeutenden  „Nutzungstheorien"  ^). 

Dem  angenommenen  Darstellungsplane  folgend,  sehe  ich  von  Says 
Nutzungstheorie  einstweilen  ab,  um  den  Entwicklungsgang  weiter  zu  ver- 
folgen, den  die  naive  Produktionstheorie  nach  Say  genommen  hat. 

Genau  genommen  kann  von  einer  Entwicklung  hier  nicht  die  Rede 
sein.  Denn  da  das  hervorstechendste  Merkmal  der  naiven  Produktivitäts- 
Theorien  in  der  Schweigsamkeit  liegt,  mit  der  sie  über  die  ursächliche 
Beziehung  der  Produktivität  des  Kapitals  zu  ihrer  angeblichen  Wirkung, 
dem  „Mehrwert"  der  Produkte,  hinweggehen,  so  fehlt  es  an  einem  Substrat, 
an  dem  sich  eine  Entwicklung  hätte  vollziehen  können.  Der  historische 
Verlauf  der  naiven  Produktivitätstheorien  bietet  daher  nichts  als  eine 
etwas  monotone  Reihe  von  Variationen  des  einfachen  Gedankens,  daß 
das  Kapital  den  Mehrwert  produziert,  während  eine  wahrhafte  Ent- 
wicklung erst  auf  der  nächstfolgenden  Stufe,  auf  der  der  motivierten 
Produktivitätstheorien,  zu  erwarten  ist. 

Die  naive  Produktivitäts-Theorie  hat  die  stärkste  Zahl  ihrer  Anhänger 
in  Deutschland  gefunden;  nächstdem  in  Frankreich  und  Italien,  während 
die  Engländer,  deren  Geistesrichtung  den  Produktivitätstheorien  überhaupt 
nicht  günstig  zu  sein  scheint,  und  die  überdies  schon  seit  Lord  Lauderdale 


')  Cassel,  dessen  dogmenhistorische  Urteile  den  meinigen  fast  immer  diametral 
entgegengesetzt  sind,  erblickt  auch  bei  Say  in  dem,  was  mir  als  Zwiespältigkeit  und 
widerspruchsvolles  Schwanken  seiner  Erklärungen  erscheint,  nur  eine  rühmenswerte 
Vollständigkeit  derselben  und  ein  geniales  Erfassen  der  Idee  der  „wechselseitigen  Ab- 
hängigkeit" der  ökonomischen  Erscheinungen  (Nature  and  necessity  of  interest,  S.  26f., 
dann  55ff.,  besonders  60).  Über  die  letztere  Frage  habe  ich  mich  schon  vorlängst  in 
meinem  Aufsatz  über  „Wert,  Kosten  und  Grenznutzen"  in  Conrads  Jahrbüchern 
3.  Folge  Bd.  3  (1892)  S.  359f.  und  neuerdings  im  Exkurs  VIII  zur  3.  Aufl.  meiner  „Posi- 
tiven Theorie"  S.  235ff.  ebenso  deutlich  als  ausführlich  ausgesprochen.  Auch  sonst 
scheinen  mir  zwei  widersprechende  Hälften  kein  Ganzes  zu  bilden.  Cassel  pflegt  aber 
—  was  ja  bis  zu  einem  gewissen  Grade  ganz  natürlich  ist  —  seine  dogmenhistorischen 
Urteile  nach  dem  Verhältnis  zu  orientieren,  in  welchem  die  beurteilten  Lehren  zu  seinen 
eigenen  Ansichten  stehen  oder  ihm  zu  stehen  scheinen,  und  stößt  sich  darum  nicht  an 
Fehlem,  die  —  nach  meinem  Urteile  wenigstens  —  auch  Fehler  seiner  eigenen  Theorie 
sind;  über  diese  letztere  siehe  meinen  Exkurs  XIII  S.  438ff. 


110     VII.  Produktivitätstheorien.    2.  U.-A.  Die  naiven  Produktivitätstheorien. 

eine   motivierte  Produktivitäts-Theorie   besaßen,    die  Phase  der   naiven 
Theorie  ganz  übersprungen  haben. 

In  Deutschland  kam  das  von  Say  ausgegebene  Schlagwort  von  der 
„Produktivität  des  Kapitals"  rasch  in  Aufnahme.  Wenn  man  anfangs 
auch  noch  keine  ausgebildete  Zinstheorie  darauf  gründete,  so  wurde  es 
doch  bald  gebräuchlich,  das  Kapital  als  dritten  selbständigen  Produktions- 
faktor neben  Natur  und  Arbeit  anzuerkennen,  und  die  Dreiheit  der  Eia- 
kommenszweige  Grundrente,  Arbeitslohn  und  Kapitalrente  mit  der  Drei- 
heit der  Produktionsfaktoren  in  erklärende  Verbindung  zu  bringen.  Etliche 
Schriftsteller,  die  dies  in  noch  unentschiedener  Weise  tun,  und  die  auch 
noch  Vorstellungen  von  einem  anderweitigen  Ursprung  des  Kapitalzinses 
darunter  mischen,  habe  ich  im  vorigen  Abschnitt  unter  den  „farblosen" 
Theoretikern  aufgeführt. 

Bald  begann  man  aber  den  Gedanken  Says  entschiedener  zur  &- 
klärung  des  Kapitalzinses  zu  verwenden.  Dies  geschieht  bereits  durch 
Schön  1).  Er  macht  die  Erklärung  noch  sehr  kurz.  Er  nimmt  zunächst, 
in  ziemlich  gemäßigten  Worten,  für  das  Kapital  die  Eigenschaft  einer 
„dritten  eigentümlichen,  wenn  auch  mittelbaren  Güterquelle"  in  Anspruch 
(S.  47).  Damit  gilt  es  ihm  aber  auch  schon  für  ausgemacht  und  evident, 
daß  das  Kapital  eine  Kente  abwerfen  muß.  Denn  „der  Ertrag  gehört 
ursprünglich  denen,  die  zu  seiner  Hervorbringung  zusammenwirkten" 
(S.  82),  und  „es  ist  klar,  daß  der  Nationalerlös  so  viele  eigentümliche 
Renten  absetzen  müsse,  als  es  Kategorien  produktiver  Kräfte  und  Mittel 
gibt"  (S.  87).  Eine  weitere  Begründung  wird  —  sehr  charakteristisch  — 
nicht  für  nötig  gehalten.  Sogar  die  Gelegenheit  einer  Polemik,  die  Schön 
gegen  Smith  führt,  entlockt  ihm  keine  umständliche  Motivierung  der 
eigenen  Meinung.  Er  begnügt  sich  in  allgemeinen  Redewendungen  Smith 
zu  tadeln,  daß  er  nur  die  unmittelbaren  Arbeiter  als  Teilnehmer  der  Pro- 
duktion betrachtet,  und  den  produktiven  Charakter  von  Kapital  und 
Grundstücken  übersehen  habe,  wodurch  er  zu  der  irrigen  Meinung  ge- 
kommen sei,  daß  die  Kapitalrente  in  einer  Schmälerung  des  Arbeits- 
lohnes ihren  Grund  habe  (S.  85 ff.). 

Ausführlicher  und  mit  großer  Entschiedenheit  vertritt  Riedel*) 
die  neue  Lehre.  Er  widmet  ihrer  Darstellung  einen  besonderen  Paragraphen, 
dem  er  die  Überschrift  „Produktivität  des  Kapitales"  gibt,  und  in  dem 
er  sich  unter  anderem  folgendermaßen  äußert:  „Die  Produktivität, 
welche  das  Kapital  in  der  Kapitalsanwendung  im  allgemeinen  besitzt, 
wird  aus  der  Wahrnehmung  erkannt,  daß  sachliche  Werte,  welche 
zwecks  einer  Produktion  zur  Unterstützung  der  Natur  und  der  Arbeit 
verwendet  worden,  in  der  Regel  nicht  nur  selbst  hergestellt  werden,  sondern 
auch  zu  einem  Überschusse  sachlicher  Werte,  welcher  ohne  sie 

')  Neue  Untersuchung  der  Nationalökonomie,  Stuttgart  und  Tübingen  183B. 
')  Nationalökonomie  oder  Volkswirtschaft,  Berlin  1838. 


Deutschland.     Schön,  Riedel,  Röscher.  Hl 

nicht  entstanden  sein  würde.,  verhelfen.  .  .  .  Produkt  des  Kapital- 
aufwandes ist  der  jedesmalige  Erfolg  einer  Kapitalanwendung  für  die 
Entstehung  sachlicher  Werte  nach  Abzug  des  Wertes  der  Beihilfe,  welche 
die  Natur  und  die  Arbeit  zur  Anwendung  des  Kapitales  geleistet.  .  .  . 
Immer  ist  es  unrichtig,  das  Produkt  eines  Kapitales  mit  auf  Rechnung 
der  wirkenden  Kräfte  zu  schreiben,  deren  es,  um  in  Anwendung  zu  kommen, 
bedarf,  der  Natur-  oder  der  Arbeitskräfte.  Das  Kapital  ist  eine  selb- 
ständige Größe,  wie  diese  es  sind,  und  bedarf  ihrer  in  den  meisten 
Fällen  auch  nicht  mehr,  wie  sie  seiner  bedürfen"  (I  §  366). 

Höchst  bezeichnend  ist  hier,  daß  Riedel  die  Produktivität  des 
Kapitales  an  der  Wahrnehmung  des  Wertüberschusses  „erkennt".  Mehr- 
wert und  Produktivität  scheinen  ihm  so  unzertrennlich  und  selbstver- 
ständlich zusammen  zu  gehören,  daß  er  aus  der  Tatsache  des  Mehrwertes 
auf  die  Produktivität  des  -Kapitales,  gleich  wie  auf  die  einzig  denkbare 
Ursache  des  ersteren,  zurück  schließt.  Bei  dieser  Sachlage  dürfen  wir  uns 
nicht  wundem,  daß  auch  Riedel  mit  der  bloßen  Nennung  des  Schlag- 
wortes „Produktivität  des  Kapitales"  die  Frage  nach  dem  Existenzgrund 
des  ursprünglichen  Kapitalzinses  für  vollkommen  erledigt  hält  und  nirgends 
auf  eine  genauere  Motivierung  des  letzteren  mehr  eingeht. 

Mehr  als  irgend  ein  anderer  Schriftsteller  hat  aber  wohl  Wilhelm 
Röscher  zur  Popularisierung  der  Produktivitätstheorie  in  Deutschland 
beigetragen. 

Dieser  ausgezeichnete  Gelehrte,  dessen  wesentlichste  Verdienste 
freilich  nicht  auf  dem  Gebiete  scharfer  dogmatischer  Untersuchungen 
liegen,  hat  auf  die  theoretische  Durchführung  der  Lehre  vom  Kapitalzins 
leider  eine  sehr  geringe  Sorgfalt  verwendet.  Dies  zeigt  sich  schon  äußerlich 
an  allerlei  auffälligen  Mißgriffen  und  Inkongruenzen.  So  definiert  er  z.  B. 
im  §  179  seines  Hauptwerkes^)  den  Kapitalzins  als  Preis  der  Kapital- 
nutzungen, wiewohl  diese  Definition  offenbar  nur  auf  die  ausbedungene, 
nicht  auch  auf  die  „natürliche"  Kapitalrente  paßt,  die  Röscher  doch  im 
selben  Paragraph  als  eine  Art  des  Kapitalzinses  nennt.  So  erklärt  er  im 
§  148,  daß  der  ursprüngliche  Betrag  aller  Einkommenszweige  „offenbar" 
den  ausbedungenen  Betrag  derselben,  also  auch  der  Betrag  der  natürlichen 
Kapitalrente  den  Betrag  der  ausbedungenen  Kapitalrente,  bestimme. 
Trotzdem  löst  er  im  §  183  die  Frage  nach  der  Höhe  des  Zinsfußes  nicht 
an  der  maßgebenden  ursprünglichen  Kapitalrente,  sondern  an  der  nicht 
maßgebenden  Leihzinsrente.  Er  läßt  den  Preis  der  Kapitalnutzungen 
abhängen  von  Angebot  und  Nachfrage  „zunächst  der  umlaufenden  Kapi- 
talien"; die  Nachfrage  wieder  „von  der  Menge  und  Zahluijgsfähigkeit 
der  Begehrenden,  zumal  der  Nichtkapitalisten,  also  Grundbesitzer 
und  Arbeiter";  so  daß  es  in  Roschers  Darstellung  den  Anschein  gewinnt. 


')  Grundlagen  der  Nationalökonomie,  10.  Auflage,  Stuttgart  1873. 


112     VII.  Produktivitätstheorien.    2.  U.-A.  Die  naiven  Produktivitätstheorien. 

als  ob  die  Höhe  der  Kapitalrente  zunächst  durch  die  Verhältnisse  des 
Leihmarktes  für  den  ausbedungenen  Zins  bestimmt  und  erst  von  da  — 
vermöge  des  Gesetzes  des  Gleichgewichtes  der  Kente  in  allen  Verwendungs- 
arten —  auf  den  ursprünglichen  Kapitalzins  übertragen  würde,  während 
eingestandenermaßen  gerade  das  umgekehrte  Verhältnis  sta,tt  hat.  Endlich 
behandelt  Röscher  die  hochwichtige  theoretische  Grundfrage  nach  dem 
Ursprung  des  Kapitalzinses  im  theoretischen  Teil  seiner  Untersuchungen 
gar  nicht,  sondern  streift  sie  nur  obenhin  in  dem  praktischen  Anhang 
über  Zinspolitik,  bei  Gelegenheit  der  Frage  nach  der  Rechtmäßigkeit  des 
Kapitalzinses. 

Nach  dem  Inhalt  der  hier  niedergelegten  Bemerkungen  ist  Röscher 
Eklektiker.  Er  bildet  sich  seine  Meinung  aus  einem  Gemisch  von  naiver 
Produktivitäts-  und  von  SENioRscher  Abstinenztheorie.  Er  spricht  im 
Text  des  §  189  dem  Kapitale  „wirkliche  Produktivität"  zu,  und  lobt  in 
der  Note  die  Ausdrucksweise  der  Griechen,  die  den  Kapitalzins  TÖxog 
das  Geborene,  nennen,  als  „sehr  passend".  In  einer  späteren  Note  pole- 
misiert er  angelegentlich  gegen  Marx  und  dessen  ,, neuesten  Rückfall  in 
die  alte  Irrlehre  von  der  Unproduktivität  der  Kapitalien",  wobei  er  unter 
anderem  die  Wertzunahme  von  Zigarren,  Wein,  Käse,  überhaupt  von 
Gütern,  „die  auch  ohne  den  mindesten  neuen  Arbeitszusatz  durch  bloßen 
Aufschub  der  Verzehrung  einen  beträchtlich  höheren  (Gebrauchs-  und 
Tausch-)Wert  erlangen  können",  als  zwingenden  Beleg  für  die  Produk- 
tivität des  Kapitales  vorführt.  Im  Texte  desselben  Paragraphen  wird 
diese  durch  das  bekannte  Beispiel  des  Fischers  illustriert,  der  erst,  bloß 
mit  der  Hilfe  der  Hand,  täglich  nur  drei  Fische,  dann  aber,  nachdem  er 
durch  Sparsamkeit  einen  Vorrat  von  hundert  Fischen  aufgestapelt  und 
während  der  Aufzehrung  des  letzteren  ein  Boot  und  Netz  hergestellt  hat, 
mit  Hilfe  dieses  Kapitals  täglich  dreißig  Fische  fängt. 

Da  RoscHERs  Ansicht  in  allen  diesen  Beispielen  offenbar  dahin  geht, 
daß  das  Kapital  durch  seine  eigentümliche  Produktivkraft  den  Mehrwert 
unmittelbar  hervorbringt,  und  er  sich  gar  keine  Mühe  nimmt,  eine  kom- 
pliziertere Erklärung  für  die  Entstehung  des  letzteren  zu  suchen,  so  muß 
ich  ihn  der  naiven  Richtung  der  Produktivitäts-Theorien  beizählen. 

Wie  übrigens  schon  angedeutet,  hat  er  diese  Richtung  nicht  rein 
bewahrt,  sondern  formell  und  materiell  koordiniert  er  ihr  die  Abstinenz- 
theorie. Er  nennt  als  zweite  „unzweifelhafte"  Grundlage  des  Kapital- 
zinses das  „wirkliche  Opfer,  das  in  der  Enthaltung  vom  Selbstgenusse 
der  Kapitalien  liegt";  er  hebt  hervor,  daß  bei  der  Festsetzung  des  Preises 
für  die  Nutzung  des  Fischerbootes  die  Rücksicht  auf  die  hundertfünfzig- 
tägige  Entbehrung  des  Sparenden  ein  wichtiges  Motiv  sein  werde,  und 
daß  man  den  Kapitalzins  auf  dieselbe  Art  eine  Belohnung  der  Enthaltsam- 
keit nennen  kann,  wie  den  Arbeitslohn  eine  Belohnung  des  Fleißes.  — 
Auch  sonst  fehlt  es  nicht  an  manchem  nur  schlecht  verhülltem  Wider- 


Röscher,  Kleiow&chter.  113 

Sprache.  Unter  anderem  stimmt  es  zu  der  von  Röscher  angenommenen 
selbständigen  Produktivität  der  Kapitalien  sehr  schlecht,  wenn  er  (§  183) 
den  „Gebrauchswert  der  Kapitalien  in  den  meisten  Fällen  für  gleich- 
bedeutend mit  der  Geschicklichkeit  der  Arbeiter  und  Reichlichkeit  der 
Naturkräfte"  erklärt,  welche  damit  verbunden  werden. 

Offenbar  ist  die  Autorität,  welche  der  gefeierte  Name  Roschers 
unter  den  Volkswirten  Deutschlands  genießt,  auch  seiner  Zinstheorie 
zustatten  gekommen.  Denn  obschon  diese  nach  dem  gesagten  auf  die 
wichtigsten  theoretischen  Vorzüge  der  Einheitlichkeit,  Konsequenz  und 
Tiefe  der  Auffassung  nur  in  sehr  bescheidenem  Maße  Anspruch  erheben 
darf,  hat  sie  doch  vielfache  Zustimmung  und  Nachahmung  gefunden. 

Ich  darf  die  ziemlich  beträchtliche  Zahl  von  Schriftsteilem,  die  seit 
RoscHer  die  Lehre  von  der  Produktivität  des  Kapitales  einfach  rezipiert 
haben,  ohne  sie  zu  bereichern,  wohl  übergehen  ^)  und  hebe  aus  der  deutschen 
Literatur  nur  noch  einen  Schriftsteller  hervor,  der  jene  Lehre  zwar  kaum 
mit  größerem  Glück,  aber  doch  mit  größerer  Gründlichkeit  und  Sorgfalt 
bearbeitet  hat,  Friedrich  Kleinwächter. 

Kleinwächter  hat  sich  über  die  Sache  bei  verschiedenen  Gelegen- 
heiten ausgesprochen;  zuerst  ausführlich  in  einem  selbständigen  Aufsatz 
„Beitrag  zur  Lehre  vom  Kapital''-^),  später  nur  flüchtig  im  Handbuch 
der  politischen  Ökonomie  von  Schönberg. 

In  der  selbständigen  Abhandlung  beginnt  Klein  Wächter  damit,  daß 
er  zunächst  einige  relevante  Vorbegriffe  feststellt,  wobei  er  die  Produktion 
als  „Wertschaffung"  und  diese  wieder  —  Wert  mit  Nützlichkeit  iden- 
tifizierend —  als  die  „Erzeugung  von  Mitteln  zur  Befriedigung 
menschlicher  Bedürfnisse"  definiert  (S.  322).  Die  Fähigkeit  zur 
Produktion  oder  die  Produktivität  ist  „kein  ausschließliches  Prärogativ 
des  Menschen,  indem  sowohl  die  Tiere  als  die  Pflanzen  sowie  die  leblose 
Natur  Produkte  hervorzubringen  vermögen,  welche  die  Fähigkeit  besitzen, 
einem  menschlichen  Bedürfnisse  zu  dienen.  So  produziert  z.  B.  das  Pferd 
Kraft(!),  die  Kuh  Milch,  das  Schaf  Wolle  usf."  (S.  325).  Demzufolge 
besitzt  auch  das  Kapital  Produktivität.  Ja  die  produktive  Fähigkeit 
scheint  Kleinwächter  ein  so  hervorstechender  Zug  im  Charakter  des 
Kapitals,  daß  er  auf  sie  die  ganze  Begriffsbestimmung  des  letzteren  baut: 
„Hält  man  daran  fest,  daß  es  unmöglich  ist,  neue  Stoffe  (d.  i.  neue  Urstoffe 
im  Sinne  des  Chemikers)  hervorzubringen,  daß  unsere  ganze  Produktion 
nur  ^ne  Hervorbringung  von  Werten  ist,  daß  aber  die  Fähigkeit,  Werte 
zu  produzieren,  nicht  bloß  dem  Menschen  eigen  ist,  sondern  daß  die  ganze 
Natur,  und  zwar  die  leblose  wie  das  Tier  und  die  Pflanze  in  gleicher  Weise 


')  Unter  ihnen  befindet  sich  auch  Schulze-D elitzsch.  Dessen  Lehre,  die  gleich 
jener  Roschers  ziemlich  eklektisch  und  nicht  widerspruchsfrei  ist,  siehe  in  dem  ,, Kapitel 
zu  einem  deutschen  Arbeiterkatechismus",  Leipzig  1863,  S.  24ff. 

«)  HiLDEBRANDsche  Jahrbücher  9.  Band  (1867)  S.  310—326  und  369—421. 

Böhm-Bawerk,  Eapitalzins.    4.  Aafl.  S 


114    VII.  Produktivitätstheorien.    2.  Ü.-A.  Die  naiven  Produktivitätstheorien. 

Wert  produzieren  kann  wie  der  Mensch  —  so  definiert  sich  von  selbst  das 
Kapital  als  dasjenige  Vermögen,  welches  Werte  produziert" 
(S.  372). 

In  dieser  Definition  bedeutet,  wie  Kleinwächter  in  einer  Anmerkung 
(S.  373  Anm.  2)  „zur  Vermeidung  jedes  Mißverständnisses"  ausdrücklich 
hervorhebt,  Wert  noch  immer  nichts  anderes  als  „die  Eigenschaft  eines 
Gegenstandes,  einem  menschlichen  Bedürfnisse  dienen  zu  können".  Nach 
den  bisherigen  Erläuterungen  hat  daher -die  Wertproduktivität  eines 
Kapitalstücks,  z.  B.  einer  Maschine  oder  eines  Rohstoffes  nichts  anderes 
zu  besagen,  als  daß  man  mit  seiner  Hilfe  brauchbare  Gegenstände,  z.  B. 
Tuch  oder  Kleider  hervorbringen  könne.  Einen  Bezug  darauf^,  daß  die 
erzeugten  Gegenstände  mehr  wert  sein  müssen,  als  das  Kapitalgut,  das 
sie  hervorgebracht,  und  daß  sie  insbesondere  einen  größeren  Tausch- 
wert haben  müssen,  kurz  einen  Bezug  darauf,  daß  das  Produkt  einen 
Tauschwertüberschuß  liefern  muß,  hat  die  Wertproduktivität  im 
bisherigen  Sinn  in  keiner  Weise. 

Es  kommt  daher  sehr  überraschend,  daß  Klein  Wächter,  ohne  an 
seinen  Begriffsaufstellungen  etwas  zu  ändern,  dennoch  die  Kapitalrente 
direkt  aus  der  Wertproduktivität  des  Kapitales  ableitet.  „Unter  Rente 
im  allgemeinen",  sagt  er  S.  382,  „versteht  man  ein  dauerndes  Einkommen, 
welches  aus  einer  ständigen  Quelle  fließt.  Da  nun  hier  das  Kapital  als 
ein  Vermögen  definiert  wurde,  welches  Werte  produziert,  so  ergibt  sich 
von  selbst,  daß  die  Kapitalrente  in  den  von  dem  Kapitale 
produzierten  Werten  besteht." 

Es  liegt  auf  der  Hand,  dsiß  Klein  Wächter  in  den  Schlußworten 
den  „vom  Kapitale  produzierten  Werten"  einen  Sinn  beilegt,  den  diese 
Worte  bis  jetzt  nie  hatten.  Würde  er  sie  jetzt  in  demselben  Sinne  gebrauchen 
wie  früher,  so  wären  „die  vom  Kapitale  produzierten  Werte"  gleich- 
bedeutend mit  den  d.  i.  mit  allen  aus  dem  Kapitale  hervorgegangenen 
Gütern,  nach  ihrem  Gebrauchswert  (=  Nützlichkeit)  angeschlagen.  Das 
wäre  aber  der  Bruttoertrag  des  Kapitales  und  nifcht  seine  Rente.  Um, 
wie  es  jetzt  geschieht,  die  „vom  Kapitale  produzierten  Werte"  auf  die 
Rente  deuten  zu  können,  muß  man  gegenüber  dem  früheren  Gebrauch 
dieser  Worte  Umdeutungen  vornehmen.  Man  muß  erstlich  Wert  als 
Tauschwert  deuten  statt  als  „Gebrauchswert";  denn  einen  Gebrauchswert 
im  KLEiNwÄCHTERschen  Sinne  haben  ja  auch  freie  Güter  wie  Luft, 
Wasser  u.  dgl.,  die  doch  gewiß  keine  Kapitalrente  konstituieren  können; 
und  man  muß  zweitens  das  Wertproduzieren  als  „mehr  Wert"  produzieren, 
als  Hervorbringen  eines  Wertüberschusses  deuten;  denn  nicht  das 
ganze  Kapitalprodukt,  sondern  nur  der  Wertüberschuß  desselben  bildet 
die  Rente. 

Schien  sich  Kleinwächters  Theorie  durch  die  einleitenden  genaueren 
Ausführungen  über  die  „Wertproduktivität"  über  das  Niveau  der  „naiven" 


Kleinwächter.  115 

Produktivitäts-Theorien  zu  erheben,  so  wird  sie  durch  die  Aufdeckung 
des  obigen  Mißverständnisses  wieder  auf  dasselbe  herabgedrückt.  Denn 
diejenige  „Wertproduktivität",  die  Kleinwächter  bewiesen  hat,  reicht 
absolut  nicht  aus,  um  die  Entstehung  eines  Mehrwertes  zu  erklären,  und 
eine  solche  Wertproduktivität,  die  imstande  wäre,  die  Entstehung  eines 
Mehrwertes  zu  erklären,  hat  Kleinwächteb  nicht  bewiesen;  es  bleibt 
also  nichts,  als  die  nackte  Behauptung,  daß  das  Kapital  seine  Rente 
produziert.  — 

Im  ScHöNBERGschen  Handbuch  hat  unser  Autor  den  Gegenstand 
zu  flüchtig  berührt,  um  den  späteren  Stand  seiner  Ansichten  mit  voller 
Genauigkeit  erkennen  zu  lassen.  „Die  Frage  nach  der  Produktivität  des 
Kapitales",  sagt  er  ziemlich  reserviert,  „ist  die  Frage,  ob  das  Kapital  bei 
der  Produktion  von  Sachgütem  tätig  mitwirkt.  Die  Frage  ist  insofern  zu 
bejahen,  als  das  Kapital  Arbeitsinstrument  (Produktionswerkzeug)  ist. 
Als  Produktionswerkzeug  ist  das  Kapital  produktiv,  weil  es  bei  der  Pro- 
duktion von  Sachgütern  die  Arbeit  in  doppelter  Weise  unterstützt.  Es 
bewirkt:  1.  daß  der  Mensch  mit  Hilfe  des  Produktionswerkzeuges  bei 
gleichem  Kraftaufwand  mehr  Güter  produzieren  kann,  als  er  produzieren 
würde,  wenn  er  das  Werkzeug  entbehren  müßte  (Produktivität  des  Kapi- 
tales in  quantitativer  Hinsicht),  2.  daß  der  Mensch  mit  Hilfe  des  Werk- 
zeuges Produkte  erzeugen  kann,  die  er  ohne  Arbeitsinstrumente  nicht 
herzustellen  vermag  (Produktivität  des  Kapitales  in  qualitativer  Hinsicht)." 

In  diesen  Worten  ist  von  einer  Kraft  des  Kapitales,  unmittelbar 
„Wert  zu  schaffen",  nicht  mehr  die  Rede.  Immerhin  führt  Kleinwächter 
auch  jetzt  noch  die  Kapitalrente  auf  die  Produktivität  des  Kapitales 
zurück.  „Beide,  Kapital  und  Arbeit,  sind  tatsächliche  und  berechtigte 
Einkommensquellen,  weil  nur  durch  das  Zusammenwirken  beider 
die  Produkte  entstehen,  der  Ertrag  der  Produktion  somit 
unter  diese  Faktoren  zu  teilen  ist"i). 

In  Frankreich  erwarb  sich  Says  Produktivitäts-Theorie  keine  geringere 
Popularität  als  in  Deutschland.  Sie  wurde  hier  förmlich  Modetheorie, 
deren  Verbreitung  auch  die  heftigen  Angriffe  wenig  Eintrag  taten,  die 
seit  den  vierziger  Jahren  von  den  Sozialisten,  zumal  von  Proudhon, 
gegen  sie  gerichtet  wurden.  Eigentümlich  ist  es  jedoch,  daß  die  Pro- 
duktivitätstheorie von  französischen  Schrifsstellern  selten  in  voller  Rein- 
heit bewahrt  wurde:  fast  alle,  die  sie  annahmen,  vermischten  sie  eklektisch 
mit  Elementen  einer  oder  auch  mehrerer  fremdartiger  Theorien;  so,  um 
nur  einige  der  einflußreichsten  Schriftsteller  zu  nennen,  Rossi,  so  Molinari, 


1)  Handbuch  der  politischen  Ökonomie,  herausgegeben  von  Schönberg,  Tübingen 
1882, 1.  Bd.  S.  179f .  Noch  etwas  reservierter  äußert  sich  Kleinwächter  in  den  späteren 
Auflagen  des  ScHÖNSERGschen  Handbuches  und  in  dem  seither  erschienenen  Werke 
über  „das  Einkommen  und  seine  Verteilung",  Leipzig  1896. 

8* 


116      VII.  Produktivitätstheorien.    2.  Ü.-A.  Die  naiven  Produktivitätstheorien. 

SO  Joseph  Garnier,   und  in  der  neuesten  Zeit^)  CaüwiSs  und  Leroy- 
Beaülieü. 

Da  die  Produktivitätstheorie  unter  den  Händen  dieser  Gelehrten 
keine  wesentliche  Änderung  erfuhr,  brauche  ich  auf  eine  detaillierte  Dar- 
stellung ihrer  Lehren  hier  wohl  nicht  einzugehen;  um  so  weniger,  als  wir 
den  hervorragendsten  derselben  in  einem  späteren  Abschnitt  unter  den 
Eklektikern  noch  einmal  begegnen  werden. 

Nur  einer  besonders  drastischen  Äußerung  des  zuletzt  genannten 
Schriftstellers  will  ich  gedenken  zum  Belege  dafür,  wie  kräftig  die  Pro- 
duktivitätstheorie trotz  aller  sozialistischen  Kritik  auch  heute  noch  in  der 
französischen  Wissenschaft  fortlebt.  In  seinem  „Essai  sur  la  r^partition 
des  richjesses",  der  angesehensten  französischen  Monographie  über  das 
Sujet  der  Güterverteilung,  die  binnen  zwei  Jahren  zwei  Auflagen  erlebt 
hat,  schreibt  Leroy-Beaülieü:  „Das  Kapital  erzeugt  (engendre) 
Kapital,  das  ist  unbestreitbar."  Und  ein  wenig  später  verwahrt  er 
sich  gegen  die  Auffassung,  daß  das  Kapital  etwa  nur  im  juristischen  Sinne 
und  durch  die  Willkür  der  Gesetze  Interessen  erzeuge  (engendre  un  int^ret): 
„dies  geschieht  vielmehr  natürlich  und  wirklich:  die  Gesetze 
haben  hier  nur  die  Natur  kopiert"  („c'est  naturellement,  mat^rielle- 
ment;  les  lois  n'ont  fait  ici  que  copier  la  nature"^)). 

Aus  der  italienischen  Literatur  unserer  Richtung  will  ich  endlich 
statt  vieler  nur  eines  Schriftstellers  gedenken,  dessen  Behandlungsweise 
mit  ihrem  Gemenge  von  Einfachheit  in  der  Form  und  Dunkelheit  in  der 
Sache  für  die  naive  Produktivitätstheorie  als  typisch  gelten  kann,  des 
vielgelesenen  Scialojas). 

Dieser  stellt  sich  vor,  daß  die  Produktionsfaktoren,  zu  denen  er  auch 
das  Kapital  rechnet  (S.  39),  ihren  „virtuellen"  oder  „Potenzialen"  Wert, 
der  auf  ihrer  Fähigkeit  zur  Produktion  beruht,  ihren  Produkten  mit- 
teilen oder  auf  sie  übertragen;  und  daß  ferner  der  Anteil,  den  jeder 
Produktivfaktor  an  der  Werterzeugung  genommen  hat,  ohne  weiteres 
auch  für  die  Verteilung  des  Produktes  unter  die  mitwirkenden  Faktoren 
maßgebend  ist,  so  daß  jeder  Faktor  bei  der  Verteilung  so  viel  an  Wert 
erhält,  als  er  davon  erzeugt  hat;  wenn  sich  auch  freilich  dieser  Anteil 
nicht  a  priori  ziffermäßig  feststellen  läßt  (S.  100).  Im  Einklang  mit  dieser 
Vorstellung  erklärt  er  dann  speziell  den  ursprünglichen  Kapitalzins  als 
jene  „Portion"  des  Gesamtgewinnes  eines  Unternehmers,  „welche  die 
produktive  Wirksamkeit  des  Kapitales  während  der  Dauer 
der  Produktion  repräsentiert"  (S.  125). 

Wenden  wir  uns  von  der  Darstellung  zur  Kritik. 


^)  1884  geschrieben! 

*)  Essai  sur  la  r6partition  des  richesses,  2.  Aufl.  Paris  1883,  S.  234  und  239. 

')  Principi  della  Economia  sociale,  Napoli  1840. 


Kritik.  117 

Zu  diesem  Zwecke  muß  ich  jene  beiden  Äste  der  naiven  Produktivitäts- 
theorie,  die  ich  in  der  historischen  Darstellung  vereinigt  hatte,  wieder 
scheiden.  Alle  vorgetragenen  Lehren  kommen  nämlich  zwar  darin  überein, 
daß  sie  den  Mehrwert  ohne  weitere  Zwischenmotivierung  aus  der  pro- 
duktiven Kraft  des  Kapitales  hervorgehen  lassen.  Allein  der  überein- 
stimmenden Redewendung  können,  wie  ich  oben  in  unseren  orientierenden 
Vorbemerkungen  ausgeführt  habe,  zwei  wesentlich  verschiedene  Gedanken 
zugrunde  liegen.  Entweder  man  versteht  die  angerufene  produktive  Kraft 
des  Kapitales  im  buchstäblichen  Sinne  als  Wertproduktivität,  als  eine 
Fähigkeit  des  Kapitales,  unmittelbar  Wert  zu  schaffen,  oder  man  versteht 
sie  zunächst  nur  als  physische  Produktivität,  als  eine  Fähigkeit  des  Kapi- 
tales, besonders  viele  oder  besonders  nützliche  Güter  hervorzubringen, 
unterläßt  aber  eine  weitere  Motivierung  des  Entstehens  des  Mehrwertes 
deshalb,  weil  man  es>  für  ganz  selbstverständlich  hält,  daß  die  besonders 
vielen  oder  nützlichen  Güter  auch  einen  Wertüberschuß  enthalten  müssen. 

Die  meisten  naiven  Produktivitätstheoretiker  sind  in  der  Darstellung 
ihrer  Lehre  so  wortkarg,  daß  es  leichter  ist  festzustellen,  was  sie  gedacht 
haben  können,  als  was  sie  wirklich  gedacht  haben,  und  wir  können 
oft  bloß  mutmaßen,  welcher  der  beiden  möglichen  Vorstellungsweisen 
der  eine  und  welcher  der  andere  von  ihnen  angehangen  hat:  So  läßt  Says 
„produktive  Kraft"  gleichmäßig  beide  Auslegungen  zu;  ebenso  Riedels 
„Produktivität";  Scialoja  und  Kleinwächter  scheinen  dagegen  mehr 
der  ersten,  Röscher  mit  seinem  Beispiel  vom  ergiebigen  Fischfang  mehr 
'der  zweiten  Vorstellung  zuzuneigen.  An  einer  genauen  Feststellung  dieses 
Verhältnisses  ist  übrigens  auch  nichts  gelegen;  denn  wenn  wir  jede  der 
beiden  denkbaren  Meinungen  unserer  Kritik  unterziehen,  so  wird  auf 
jeden  Fall  allen  ihr  Recht. 

Ich  glaube,  daß  die  naive  Produktivitätstheorie  in  beiden  Varianten 
sehr  weit  davon  entfernt  ist,  den  Anforderungen  zu  genügen,  die  man 
an  eine  wissenschaftliche  Erklärung  des  Kapitalzinses  zu  stellen  be- 
rechtigt ist. 

Seit  den  scharfen  kritischen  Angriffen,  die  von  Seite  der  sozialistischen 
und  „sozialpolitischen"  Schule  gegen  die  Produktivitätstheorie  gerichtet 
worden  sind,  ist  die  Einsicht  in  die  Unzulänglichkeit  der  letzteren,  wenig- 
stens in  der  deutschen  Wissenschaft,  so  weit  verbreitet,  daß  ich  fast  be- 
sorgen muß,  offene  Türen  einzurennen,  wenn  ich  mein  obiges  Urteil  ein- 
gehend zu  begründen  unternehme.  Dennoch  darf  ich  darauf  nicht  ver- 
zichten. Teils,  weil  gerade  in  den  jetzt  behandelten  Ideenkreisen  so  viel 
durch  Ungründlichkeit  und  Voreiligkeit  der  Überzeugung  gesündigt  worden 
ist,  daß  ich  als  Kritiker  mich  am  wenigsten  desselben  Fehlers  schuldig 
machen  darf;  teils  und  hauptsächlich,  weil  ich  die  naive  Produktivitäts- 
theorie mit  Argumenten  anzugreifen  gedenke,  die  von  den  Argumenten 


118    VII.  Produktivitätstheorien.    2.  U.-A.  Die  naiven  Produktivitätstheorien. 

der  sozialistischen  Kritik  wesentlich  verschieden  sind  und  die  mir  den 
Kern  der  Sache  näher  zu  berühren  scheinen. 
Beginnen  wir  mit  der  ersten  Variante. 

Wenn  uns  zugemutet  wird  zu  glauben,  daß  der  Kapitalzins  seine 
Entstehung  einer  eigentümlichen  auf  die  Kreierung  von  Wert  gerichteten 
Kraft  des  Kapitales  verdanke,  so  muß  -sich  uns  vor  allem  die  Frage  auf- 
drängen, welche  Belege  denn  dafür  vorliegen,  daß  das  Kapital  eine  solche 
Kraft  wirklich  besitzt?  Eine  unbewiesene  Versicherung  hierüber  könnte 
ja  doch  kein  ausreichendes  Fundament  einer  ernsthaften  wissenschaft- 
lichen Theorie  bieten. 

Wenn  wir  die  Schriften  der  naiven  Produktivitätstheoretiker  durch- 
blättern, so  werden  wir  in  ihnen  wohl  manche  Belege  für  eine  physische 
Produktivität,  aber  so  gut  wie  gar  nichts  finden,  das  sich  als  Versuch  eines 
Existenzbeweises  für  eine  unmittelbar  wertschaffende  Kraft  des  Kapi- 
tales deuten  ließe.  Sie  behaupten  sie,  aber  sie  kümmern  sich  nicht  darum 
sie  zu  beweisen  —  mit  Ausnahme  eines  einzigen  Gedankenganges,  in 
welchem  die  Tatsache,  daß  auf  die  produktive  Verwendung  von  Kapital 
regelmäßig  die  Entstehung  eines  Wertüberschusses  nachfolgt,  als  eine 
Art  Erfahrungsbeweis  für  die  Wertproduktivität  des  Kapitales  ausgelegt 
wird.  Auch  dieser  Gedanke  ist  übrigens  nur  ganz  flüchtig  angedeutet 
worden.  Relativ  am  deutlichsten  noch  von  Say,  wenn  er  in  der  oben  (S.  107) 
zitierten  Stelle  fragt,  wie  denn  ein  Kapital  in  alle  Ewigkeit  ein  selbständiges 
Einkommen  einbringen  könnte,  wenn  es  nicht  eine  selbständige  Pro- 
duktivität besäße,  und  von  Riedel,  wenn  er  die  Produktivität  des  Kapitales 
an  der  Entstehung  von  Wertüberschüssen  „erkennt"  i). 

Wie  sieht  es  nun  mit  der  Kraft  dieses  Erfahrungsbeweises  aus?  Ent- 
hält die  Tatsache,  daß  auf  die  Anwendung  von  Kapital  regelmäßig  die 
Entstehung  eines  Wertüberschusses  nachfolgt,  wirklich  einen  voUgiltigen 
Beweis  dafür,  daß  das  Kapital  eine  wertschaffende  Kraft  besitzt? 

Ganz  gewiß  nicht.  Genau  ebensowenig,  als  die  Tatsache,  daß  im 
Hochgebirge  auf  den  Eintritt  eines  Schneefalles  während  der  Sommer- 
monate regelmäßig  ein  Steigen  des  Barometers  nachfolgt,  ein  voUgiltiger 
Beweis  dafür  ist,  daß  dem  Sommerschnee  eine  magische  Kraft  innewohnt, 
die  Quecksilbersäule  in  die  Höhe  zu  drücken  —  eine  naive  Theorie,  die 
man  im  Munde  der  Gebirgsbewohner  nicht  selten  hören  kann.  Der  wissen- 
schaftliche Fehler,  der  hier  gemacht  wird,  liegt  auf  der  Hand.  Man  ver- 
wechselt bloße  Hypothesen  mit  bewiesenen  Tatsachen.  In  beiden  Fällen 
liegt   zunächst   ein   gewisser   erfahrungsmäßiger   Zusammenhang   zweier 


^)  Der  Versuch  Kleinwächters,  die  „Werterzeugung"  des  Kapitales  eingehend 
zu  demonstrieren,  gehört  nicht  hierher,  weil  Kleinwächter  vermöge  seiner  abweichen- 
den Terminologie  unter  jenem  Ausdruck  nur  die  Erzeugung  von  brauchbaren  Gütern 
versteht. 


Kritik.  119 

Tatsachen  vor,  dessen  Ursache  noch  unbekannt  ist  und  erst  ge- 
sucht wird.  An  sich  sind  in  beiden  Fällen  sehr  viele  Ursachen  für  die 
zu  erklärende  Wirkung  denkbeir.  In  beiden  Fällen  konnte  und  kann  man 
daher  sehr  viele  Hypothesen  über  die  wirkliche  Ursache  aufstellen;  und 
es  ist  nur  eine  unter  den  vielen  möglichen  Hypothesen,  wenn  man  die 
Ursache  des  Barometersteigens  in  eine  spezifische  Kraft  des  Sommer- 
schnees, die  Ursache  des  Mehrwertes  der  Kapitalprodukte  in  eine  spezifische 
wertschaffende  Kraft  des  Kapitales  setzt.  Es  ist  dies  um  so  mehr  eine  bloße 
Hypothese,  als  über  die  EIxistenz  der  angenifenen  „Kräfte"  sonst  nichts 
bekannt  ist  und  man  sie  erst  zu  dem  konkreten  Erklärungszwecke  postu- 
lieren mußte. 

Unsere  verglichenen  Fälle  ähneln  aber  nicht  bloß  darin,  daß  sie  Bei- 
spiele bloßer  Hypothesen  darstellen,  sondern  auch  darin,  daß  sie  Beispiele 
schlechter  Hypothesen  bieten.  Die  Glaubhaftigkeit  einer  Hypothese 
hängt  davon  ab,  ob  sie  auch  außerhalb  des  Tatbestandes,  der  ihre  Auf- 
stellung veranlaßt  hat,  Unterstützung  findet,  und  zumal,  ob  Gründe 
innerer  Wahrscheinlichkeit  für  sie  sprechen.  Daß  dies  rücksichtlich  der 
naiven  Hypothese  der  Gebirgsbewohner  nicht  der  Fall  ist,  ist  bekannt, 
und  darum  glaubt  kein  gebildeter  Mensch  an  das  Märchen,  daß  das  Steigen 
der  Quecksilbersäule  durch  eine  mystische  Kraft  des  Sommerschnees 
verursacht  werde.  Aber  auch  um  die  Hypothese  von  der  wertschaffenden 
Kraft  des  Kapitales  steht  es  nicht  besser:  sie  wird  einerseits  durch  keine 
einzige  anderweitige  Tatsache  unterstützt  —  sie  ist  eine  vollkommen 
unbeglaubigte  Hypothese,  und  sie  widerspricht  andererseits  der 
Natur  der  Dinge  —  sie  ist  eine  unmögliche  Hypothese. 

Dem  Kapitale  eine  buchstäblich  wertzeugende  Kraft  zuschreiben, 
heißt  das  Wesen  des  Wertes  einerseits,  und  das  der  Produktion  anderer- 
seits von  Grund  aus  mißverstehen.  Der  Wert  wird  überhaupt  nicht  pro- 
duziert, kann  nicht  produziert  werden.  Was  produziert  wird,  sind  immer 
nur  Formen,  St  off  gestalten,  Stoff  kombinationen,  also  Sachen,  Güter. 
Diese  können  allerdings  Güter  von  Wert  sein,  aber  sie  bringen  den  Wert 
nicht  fix  und  fertig,  als  etwas  inhärentes  aus  der  Produktion  mit,  sondern 
sie  erlangen  ihn  immer  erst  von  außen  —  aus  den  Bedürfnissen  und 
Deckungsverhältnissen  der  Wirtschaftswelt.  Der  Wert  stammt  nicht  aus 
der  Vergangenheit  der  Güter,  sondern  aus  ihrer  Zukunft;  er  kommt  nicht 
aus  den  Werkstätten,  in  denen  die  Güter  entstanden  sind,  sondern  von 
den  Bedürfnissen,  denen  sie  noch  dienen  werden.  Der  Wert  kann  nicht 
geschmiedet  werden  wie  ein  Hammer,  oder  gewoben  werden  wie  ein  Stück 
Leinwand;  könnte  er  das,  so  blieben  unseren  Volkswirtschaften  jene  furcht- 
baren EjTschütterungen  erspart,  die  wir  Krisen  nennen,  und  die  aus  keiner 
anderen  Ursache  stammen,  als  daß  Produktenmassen,  bei  deren  Erzeugung 
keine  Regel  der  Kunst  versäumt  wurde,  den  gehofften  Wert  nicht  finden 
können.     Was  die  Produktion  leisten  kann,  ist  eben  nie  etwas  anderes. 


120     VII.  Produktivitätstheorien.    2.  U.-A.  Die  naiven  Produktivitätstheorien. 

als  daß  sie  Güter  schafft,  von  denen  man  hoffen  kann,  daß  sie  nach  den 
voraussichtlichen  Verhältnissen  von  Bedarf  und  Deckung  Wert  haben 
werden.  Sie  ahmt  gewissermaßen  den  Bleicher  nach.  Wie  dieser  seine 
Linnen  in  den  Sonnenschein  legt.,  so  wendet  die  Produktion  ihre  Tätigkeit 
an  solche  Dinge  und  Orte,  wo  sie  für  ihre  Erfolge  Wert  erhoffen  kann. 
Sie  schafft  aber  den  Wert  so  wenig,  als  der  Bleicher  den  Sonnenschein 
geschaffen  hat. 

Ich  glaube  nicht  nötig  zu  haben,  weitere  positive  Beweise  für  diesen 
Satz  anzusammeln:  er  scheint  mir  zu  selbstverständlich,  um  dessen  zu 
bedürfen.  Dagegen  wird  es  vielleicht  nicht  überflüssig  sein,  ihn  gegen 
einige  Bedenken  zu  verteidigen,  die  bei  flüchtiger  Betrachtung,  aber  auch 
nur  bei  flüchtiger  Betrachtung,  seiner  Wahrheit  zu  widerstreiten  scheinen. 

So  mag  die  bekannte  Tatsache,  daß  der  Wert  der  Güter  in  einem 
gewissen,  freilich  nicht  ganz  genauen  Zusammenhang  mit  ihren  Pro- 
duktionskosten steht,  den  Eindruck  erwecken,  als  ob  dennoch  der  Güter- 
wert aus  den  Produktionsverhältnissen  hervorginge.  Allein  man  darf 
nicht  übersehen,  daß  dieser  Zusammenhang  nur  unter  gewissen  Voraus- 
setzungen Platz  greift,  von  denen  man  die  eine  bei  Formulierung  des 
Kostenwertgesetzes  ausdrücklich  auszusprechen,  die  andere  stillschweigend 
anzunehmen  pflegt,  und  die  beide  mit  der  Produktion  gar  nichts  zu  tun 
haben:  die  erste  Voraussetzung  ist,  daß  die  produzierten  Güter  auch 
nützlich  sind,  und  die  zweite  ist,  daß  sie  im  Vergleich  mit  dem  Bedarf 
nach  ihnen  auch  selten  sind  und  bleiben. 

Daß  nun  gerade  diese  beiden  Umstände,  die  so  bescheiden  im  Hinter- 
grunde des  Kostengesetzes  stehen,  und  nicht  die  Kosten  die  wahrhaft 
regierenden  Bestimmgründe  des  Wertes  sind,  zeigt  sich  sehr  einfach  aus 
der  Gegenprobe:  so  lange  man  Kosten  auf  die  Erzeugung  von  Dingen 
wendet,  die  entsprechend  nützlich  und  selten  sind,  so  lange  also  die  Kosten 
selbst  in  Harmonie  mit  der  Nützlichkeit  und  Seltenheit  der  Güter  stehen, 
stehen  sie  auch  in  Harmonie  mit  dem  Wert,  und  scheinen  ihn  zu  regieren. 
Sowie  man  dagegen  Kosten  auf  Dinge  wendet,  die  nicht  nützlich  genug 
oder  nicht  selten  genug  sind,  z.  B.  auf  Herstellung  von  Uhren,  die  nicht 
gehen,  oder  von  Holz  in  einer  Gegend  mit  natürlichem  Holzüberfluß, 
oder  auf  Herstellung  eines  Übermaßes  von  guten  Uhren,  deckt  der  Wert 
die  Kosten  nicht  mehr,  und  es  verschwindet  auch  der  Schein,  als  ob  die 
Dinge  ihren  Wert  aus  den  Umständen  ihrer  Produktion  mitbrächten. 

Ein  zweites  Bedenken.  Wir  produzieren,  es  mag  sein,  zunächst  nur 
Güter.  Da  aber  ohne  die  Erzeugung  der  Güter  auch  deren  Wert  nicht  zur 
Entstehung  gelangen  würde,  so  setzen  wir  durch  die  Erzeugung  von  Gütern 
offenbar  auch  den  Wert  derselben  in  die  Welt.  Wenn  jemand  Güter  im 
Wert  von  einer  Million  Gulden  produziert,  so  hat  er  ganz  offenbar  die 
Entstehung  eines  Wertes  von  einer  Million  Gulden  veranlaßt,  der  ohne  die 
Produktion  nie  entstanden  wäre;  das  scheint  ein  handgreiflicher  Beweis 


Kritik.  121 

für  die  Richtigkeit  des  Satzes  zu  sein,  daß  auch  der  Wert  durch  Produktion 
entsteht. 

Gewiß  hat  dieser  Satz  seine  Richtigkeit,  nur  in  einem  ganz  anderen 
Sinn  als  in  dem,  um  den  es  sich  in  unserer  Streitfrage  handelt.  Er  ist 
richtig  in  dem  Sinn,  daß  die  Produktion  eine  Ursache  der  Wertentstehung 
ist;  er  ist  aber  nicht  richtig  in  dem  Sinn,  daß  die  Produktion  die  Ursache 
der  Wertentstehung  ist,  d.  h.  daß  der  volle  zureichende  Ursachenkomplex 
der  Wertentstehung  in  den  Produktionsverhältnissen  liegt. 

Zwischen  beiden  Bedeutungen  liegt  ein  gewaltiger  Unterschied,  den 
ich  durch  ein  Beispiel  noch  besser  illustrieren  will.  Wenn  man  mit  einem 
Dampfpflug  einen  Komacker  pflügt,  so  ist  es  unstreitig,  daß  der  Dampf- 
pflug eine  Ursache  des  hervorgebrachten  Korns,  und  damit  auch  des 
Wertes  des  hervorgebrachten  Kornes  ist.  Ganz  ebenso  unstreitig  ist  es 
aber  auch,  daß  die  Entstehung  des  Komwertes  bei  weitem  nicht  voll 
erklärt  ist,  wenn  man  in  diesem  Sinne  sa^:  der  Dampfpflug  hat  ihn 
produziert.  Eine  Ursache  für  die  Entstehung  des  Kornes  und  damit  des 
Kornwertes  war  ja  doch  auch  der  Sonnenschein;  wer  aber  woUte  auf  die 
Frage,  warum  der  Metzen  Korn  einen  Wert  von  5  fl.  hat,  die  Antwort 
als  vollgiltig  hinnehmen:  der  Sonnenschein  hat  den  Wert  produziert?! 
Oder  wer  wollte  die  bekannte  Streitfrage,  ob  Talente  angeboren  sind  oder 
erst  erworben  werden,  zu  Gunsten  der  ersten  Meinung  mit  dem  Argument 
entscheiden  lassen,  daß,  wenn  der  Mensch  nicht  geboren  würde,  auch  seine 
Talente  nicht  existieren  würden,  und  daß  folglich  zweifellos  die  Geburt 
die  Ursache  der  Talente  sei! 

Und  nun  zur  Nutzanwendung  auf  unsere  Streitfrage.  Unsere  Pro- 
duktivitätstheoretiker haben  Unrecht,  weil  sie  allzusehr  Recht  haben  wollen. 
Würden  sie  sich  damit  begnügen,  von  einer  wertschaffenden  Kraft  des 
Kapitales  in  dem  Sinne  zu  reden,  daß  das  Kapital  eine  Ursache  der  Wert- 
entstehung abgibt,  so  wäre  nichts  dagegen  einzuwenden.  Freilich  wäre 
damit  auch  für  die  Erklärung  des  Mehrwertes  noch  so  gut  wie  gar  nichts 
geschehen;  man  hätte  nur  ausdrücklich  genannt,  was  nahezu  selbstver- 
ständlich ist,  und  müßte  natürlich  fortfahren,  die  übrigen  —  weniger 
selbstverständlichen  —  Teüursachen  der  Mehrwertbildung  aufzuklären. 
Statt  dessen  meinen  jene  Theoretiker  die  Ursache  der  Wertentstehung 
genannt  zu  haben.  Sie  prätendieren  mit  den  Worten:  „das  Kapital  hat 
kraft  seiner  Produktivität  den  Wert  oder  Mehrwert  geschaffen"  eine  so 
abschließende  Vollerklärung  für  das  Dasein  des  letzteren  gegeben  zu  haben, 
daß  es  gar  keiner  ergänzenden  Erklärung  mehr  bedürfe:  und  damit  haben 
sie  sich  gröblich  ins  Unrecht  begeben. 

Das  Gesagte  läßt  aber  noch  eine  zweite  wichtige  Nutzanwendung 
zu,  die  ich  sofort  hier  anknüpfen  will,  obschon  sie  ihre  Spitze  nicht  gegen 
die  Produktivitätstheorie  kehrt.  Was  nämlich  dem  einen  recht  ist,  muß 
dem  andern  billig  sein,  und  wenn  das  Kapital  keine  wertschaffende  Kraft 


122     VII   Produktivitätstheorien.    2.  U.-A.  Die  naiven  Produktivitätstheorien. 

besitzen  kann,  weil  der  Wert  überhaupt  nicht  „geschaffen"  wird,  so  kann 
aus  demselben  Grund  auch  keinem  andern  Produktionselement  ein  solches 
Privilegium  zustehen,  weder  dem  Grund  und  Boden,  noch  der  menschlichen 
Arbeit.  Das  hat  jene  weitverbreitete  Richtung  übersehen,  welche  ihre 
schärfsten  kritischen  Waffen  gegen  die  Annahme  einer  wertschaffenden 
Kraft  des  Grundes  und  Bodens  sowie  des  Kapitales  richtet,  um  mit  noch 
größerem  Nachdruck  eine  eben  solche  Kraft  für  die  Arbeit  in  Anspruch 
zu  nehmen^). 

Ich  glaube,  diese  Kritiker  haben  nur  einen  Götzen  gestürzt,  um  einen 
anderen  dafür  aufzurichten.  Sie  haben  nur  ein  umfassenderes  Vorurteil 
bekämpft,  um  ein  einseitigeres  dafür  anzunehmen.  Die  menschliche  Arbeit 
hat  so  wenig  ein  Privilegium,  Wert  zu  schaffen,  wie  irgend  ein  anderer 
Faktor.  Auch  was  sie  schafft,  sind  Güter  und  nur  Güter,  die  ihren  Wert 
erst  aus  der  Gestalt  der  Wirtschaftsverhältnisse,  denen  sie  dienen  sollen, 
erwarten  und  erhalten.  Daß  sich  ein  leidlich  —  keineswegs  vollkommen  — 
gesetzmäßiger  Zusammenhang  zwischen  Arbeitsquantum  und  Wert  der 
Produkte  findet,  hat  seinen  Grund  in  ganz  anderen  Dingen  als  in  einer 
„wertzeugenden"  Gabe  der  Arbeit,  die  es  nicht  gibt  und  nicht  geben  kann; 
in  Dingen,  die  ich,  höchst  flüchtig  allerdings,  schon  oben  angedeutet  habe, 
als  ich  vom  beiläufigen  Zusammenhang  von  Kosten  und  Wert  sprach. 

Für  die  Entwicklung  der  Theorie  sind  alle  diese  Vorurteile  ein  be- 
klagenswertes Hindernis  geworden.  Sie  verleiteten  dazu,  sich  mit  den 
schwierigsten  Problemen  der  Wissenschaft  viel  zu  billig  abzufinden.  Wenn 
Wertbildungen  zu  erklären  waren,  so  verfolgte  man  die  Reihe  ihrer  Ur- 
sachen ein  Stück,  oft  ein  sehr  kleines  Stück  weit,  um  sich  dann  bei  dem 
falschen  und  vorurteilsvollen  Ausspruch  zu  beruhigen:  das  Kapital  oder 
die  Arbeit  hat  den  Wert  geschaffen.  Darüber  versäumte  man  aber,  den 
wahren  Ursachen  weiter  nachzugehen  und  das  Problem  in  jene  Tiefen 
zu  verfolgen,  in  denen  erst  seine  eigentlichen  Schwierigkeiten  liegen. 

Wenden  wir  uns  nun  zur  zweiten  Auslegung,  deren  die  Lehre  der 
naiven  Produktivitäts-Theoretiker  fähig  ist.  Ihr  zufolge  ist  die  produktive 
Kraft,  die  dem  Kapitale  beigelegt  wird,  zunächst  nur  als  technische  oder 
physische  Produktivität  zu  verstehen,  d.  h.  als  eine  Fähigkeit  des  Kapitales, 
zur  Erzeugung  von  mehr  oder  besseren  Gütern  zu  verhelfen,  als  man  ohne 
seine  Beihilfe,  hätte  erlangen  können;  es  wird  aber  als  selbstverständlich 
vorausgesetzt,  daß  das  vermehrte  Produkt  außer  dem  Ersatz  der  auf- 
gewendeten Kapitalkosten  noch  einen  Mehrwert  in  sich  schließen  muß.  — 
Wie  steht  es  mit  der  Überzeugungskraft  dieser  Variante? 

Ich  gebe  ohne  weiteres  zu,  daß  das  Kapital  die  ihm  zugeschriebene 
physische  Produktivität  wirklich  besitzt,  d.  h.  daß  mit  seiner  Hilfe  wirklich 

')  Auch  außerhalb  der  Reihen  der  eigentlichen  Sozialisten  ist  diese  Anschauung 
weit  verbreite*.    Siehe  z.  B.  Pierstorfp,  Lehre  vom  Unternehmergewinn,  S.  22f. 


Kritik.  123 

mehr  Güter  erzeugt  werden  können,  als  ohne  dieselbe  i).  Ich  will  auch 
zugeben  —  obschon  hier  der  Zusammenhang  nicht  mehr  ganz  so  zwingend 
ist  —  daß  die  mehreren  mit  der  Kapitalhilfe  hervorgebrachten  Güter  einen 
größeren  Wert  haben,  als  die  wenigeren  Güter,  die  ohne  seine  Hilfe  hätten 
erzeugt  werden  können.  Aber  darauf,  daß  jene  mehreren  Güter  auch  mehr 
wert  sein  müssen  als  die  in  ihrer  Erzeugung  aufgebrauchte  Kapital- 
substanz —  und  darin  liegt  die  zu  erklärende  Elrscheinung  des  Mehr- 
wertes — :  darauf  deutet  nicht  ein  einziger  Zug  in  dem  ganzen  Verhältnisse. 

Um  mit  RoscHERs  bekanntem  Beispiele  konkret  zu  sprechen.  Ich 
gebe  gerne  zu  und  begreife,  daß  man  mit  Hilfe  von  Boot  und  Netz  täglich 
30  Fische  fängt,  während  man  ohne  dieses  Kapital  nur  drei  gefangen  hätte. 
Ich  gebe  gerne  zu  und  begreife,  daß  die  30  Fische  mehr  wert  sind,  als 
ehedem  die  drei  gewesen  waren.  Aber  daß  die  30  Fische  mehr  wert  sein 
müssen  als  die  zu  ihrem  Fange  vernutzte  Quote  von  Boot 
und  Netz,  das  ist  eine  Annahme,  die  durch  die  Voraussetzungen  des 
Falles  nicht  im  mindesten  vorbereitet  oder  nahe  gelegt,  geschweige  denn 
einleuchtend  gemacht  ist.  Wüßten  wir  nicht  aus  der  Erfahrung,  daß  der 
Wert  des  Kapitalertrages  regelmäßig  größer  ist,  als  der  Wert  der  vernutzten 
Kapitalsubstanz  selbst  —  die  Theorie  unserer  naiven  Produktivitäts- 
theoretiker würde  uns  nicht  einen  einzigen  Anhaltspunkt  bieten,  der  uns- 
dieses  Verhältnis  als  notwendig  anzusehen  zwänge.  Es  könnte  ganz  gut 
auch  anders  sein.  Warum  sollen  z.  B.  die  Kapitalgüter,  die  einen  großen 
Ertrag  liefern,  nicht  mit  Rücksicht  auf  denselben  selbst  hoch  geschätzt 
werden,  so  hoch,  daß  ihr  Kapitalwert  dem  Wert  des  daraus  fließenden 
reichlichen  Produktes  gleich  kommt  ?  Warum  soll  z.  B.  ein  Boot  und  Netz, 
die  während  der  Zeit  ihres  Bestandes  einen  Mehrertrag  von  2700  Fischen 
vermitteln,  nicht  eben  diesen  2700  Fischen,  deren  Erlangung  sie  vermitteln, 
im  Werte  gleichgehalten  werden  ?  Alsdann  wäre  aber  —  bei  aller  physischen 
Produktivität  —  doch  kein  Mehrwert  vorhanden. 

Merkwürdigerweise  finden  sich  auch  bei  einigen  der  hervorragendsten 
Vertreter  der  naiven  Produktivitätstheorie  positive  Aussprüche,  die 
gerade  dieses  letztere  Ergebnis,  also  das  Fehlen  eines  Mehrwertes,  als 
das  natürliche  erscheinen  ließen.  Mehrere  unserer  Autoren  lehren  nämlich 
geradezu,  daß  der  Wert  der  Kapitalsubstanz  die  Tendenz  hat,  sich  dem 
Werte  des  aus  ihm  hervorgehenden  Produktes  anzupassen.     So  schreibt 


')  Ich  verzichte  hier  geflissentlich  auf  die  Untersuchung,  ob  die  eingeräumte 
physische  Produktivität  des  Kapitales  eine  originäre  Kraft  desselben,  ist,  oder  ob 
die  durch  das  Kapital  vermittelten  produktiven  Erfolge  nicht  vielmehr  auf  Rechnung 
derjenigen  produktiven  Kräfte  zu  setzen  sind,  durch  welche  das  Kapital  selbst  entstanden 
ist;  zumal  auf  Rechnung  der  kapitalbildenden  Arbeit.  Ich  verzichte  auf  jene  Unter- 
suchung gefUssentlich,  um  die  Entscheidung  der  Streitfrage  nicht  von  demjenigen  Felde 
abzudrängen,  auf  dem  allein  meines  Erachtens  das  Zinsproblem  endgiltig  gelöst  werden 
kann:  von  dem  Felde  der  Werttheorie. 


124    VII.  Produktivitätstheorien.    2.  U.-A.  Die  naiven  Produktivitätstheorien. 

Say  (Trait6  S.  338),  daß  der  Wert  der  fonds  produetifs  von  dem  Wert 
des  Produktes  herstammt,  das  daraus  hervorgehen  kann;  Riedel  ent- 
wickelt in  §  91  seiner  Nationalökonomie  ausführlich  den  Satz,  daß  „der 
Wert  der  Produktionsmittel"  —  also  auch  der  Kapitalstücke  —  der  Haupt- 
sache nach  „auf  ihrem  Produktionsvermögen  oder  auf  einer  ihnen  in 
unwandelbaren  Grundgesetzen  der  Produktion  verbürgten  Fähigkeit,  zur 
Hervorbringung  von  sachlichen  Werten  eine  größere  oder  geringere  Bei- 
hilfe zu  leisten"  beruht;  und  Röscher  sagt  in  §  149  der  „Grundlagen": 
„Übrigens  haben  die  Grundstücke  mit  anderen  Produktionsmitteln  das 
gemein,  daß  ihr  Preis  wesentlich  von  dem  ihrer  Produkte  be- 
dingt wird." 

Wie  nun,  wenn  diesen  Anschauungen  entsprechend  der  Wert  der 
Kapitalstücke  dem  Werte  der  Produkte  sich  vollständig  akkommodiert, 
sich  ihm  völlig  gleichstellt?  Und  warum  soll  er  es  nicht?  Wo  aber  bliebe 
dann  dei  Mehrwert^)? 

Mag  also  der  Mehrwert  auch  tatsächlich  mit  der  physischen  Pro- 
duktivität des  Kapitals  verbunden  sein,  selbstverständlich  ist  er  es  gewiß 
nicht,  und  eine  Theorie,  die  ihn  ohne  ein  Wort  der  Erklärung  wie  eine 
selbstverständliche  Folge  hinnimmt,  hat  ihre  Schuldigkeit  nicht  getan. 

Resümieren  wir. 

Die  naive  Produktivitätstheorie  versagt  in  jeder  der  beiden  Aus- 
legungen, die  man  der  zur  Erklärung  angerufenen  Produktivität  des 
Kapitales  geben  mag,  den  Dienst.  Behauptet  sie  eine  direkt  wertschaffende 
Kraft  des  Kapitales,  so  behauptet  sie  unmögMches.  Es  gibt  keine  Macht 
was  immer  für  eines  Produktionselementes,  seinen  Produkten  unmittelbar 
oder  notwendig  Wert  einzuflößen.  Ein  Produktionsfaktor  kann  nie  end- 
giltige  Wertquelle  sein.  Sondern  wo  immer  der  Wert  auftritt,  hat  er  seine 
letzte  Ursache  in  den  Verhältnissen  des  menschlichen  Bedarfes  und  seiner 
Deckung.  Eine  haltbare  Erklärung  des  Kapitalzinses  muß  bis  auf  diese 
letzte  Quelle  zurückgehen.  Die  Hypothese  der  wertschaffenden  Kraft 
sucht  aber  über  dieses  letzte  und  schwierigste  Stück  des  Erklärungsganges 
durch  eine  ganz  haltlose  Präsumtion  hinüberzutäuschen. 

Versteht  aber  die  kritisierte  Richtung  die  angerufene  Produktivität 
nur  als  physische  Produktivität,  dann  täuscht  sie  sich  darin,  daß  sie  den 
Mehrwert  als  eine  selbstverständliche  Begleiterscheinung  derselben  be- 
handelt. Indem  sie  dem  vermeintlich  Selbstverständlichen  kein  Wort 
der  weiteren  Begründung  mehr  mitgibt,  bleibt  sie  wieder  das  wichtigste 
und  schwierigste  Stück  der  Erklärung  schuldig. 

Trotz  dieser  Mängel  ist  der  starke  Anhang,  den  die  naive  Produkti- 
vitätstheorie gefunden  hat,  vollkommen  begreiflich.     Denn  es  läßt  sich 

*)  Vgl.  hierzu  meine  Ausführungen  in  „Rechte  und  Verhältnisse  vom  Stand- 
punkte der  volkswirtschaftlichen  Güterlehre",  Innsbruck  1881,  S.  104ff.,  besonders 
S.  107—109. 


Kritik.  125 

nicht  leugnen,  daß  sie  für  den  ersten  Eindruck  etwas  ungemein  Be- 
stechendes hat.  Das  Kapital  hilft  unstreitig  produzieren,  und  hilft  un- 
streitig „mehr"  zu  produzieren.  Zugleich  sieht  man,  daß  am  Ende  jeder 
Produktion,  an  der  Kapital  beteiligt  ist,  dem  Unternehmer  ein  Mehr,  ein 
„surplus"  übrig  bleibt,  und  daß  die  Größe  desselben  eine  regelmäßige 
Proportion  zur  Größe  des  angewendeten  Kapitales  und  zur  Dauer  seiner 
Anwendung  einhält.  Unter  solchen  Umständen  liegt  in  der  Tat  nichts 
näher,  als  die  Existenz  dieses  „Mehr"  mit  jener  im  Kapitale  liegenden 
produktiven  Kraft  in  Verbindung  zu  bringen.  Es  wäre  fast  ein  Wunder 
gewesen,  wenn  man  die  Produktivitätstheorie  nicht  aufgestellt  hätte. 

Die  Dauer  ihrer  Herrschaft  hängt  dann  freilich  an  einem  Umstand: 
wie  früh  oder  wie  spät  man  anfängt,  über  den  Sinn  des  Wortes  „produktiv" 
kritisch  zu  reflektieren.  Solange  man  nicht  reflektiert,  scheint  die  Theorie 
das  getreue  Abbild  der  Wirklichkeit;  die  Theorie,  möchte  man  mit  den 
Worten  Lergy-Beaülieus  sagen,  .,n'a  fait  ici  que  copier  la  nature". 
Reflektiert  man  aber  —  so  erweist  sich  dieselbe  Theorie  als  ein  Gewebe 
dialektischer  Erschleichungen,  vermittelt  durch  den  Mißbrauch  des  viel- 
deutigen Wortes  vom  „produktiven  Mehrerfolg"  des  Kapitales. 

Darum  ist  die  naive  Produktivitätstheorie,  ich  möchte  sagen,  die 
prädestinierte  Zinstheorie  eines  primitiven  und  halbreifen  Zustandes  der 
Wissenschaft.  Sie  ist  aber  auch  prädestiniert  zu  verschwinden,  sowie  die 
Wissenschaft  aufhört,  „naiv"  zu  sein;  und  daß  sie  noch  bis  auf  den  heutigen 
Tagi)  eine  so  weite  Verbreitung  besitzt,  ist  kein  Umstand,  auf  den  die 
moderne  Nationalökonomie  Ursache  hat  stolz  zu  sein. 


3.  Unterabschnitt. 
Die  motivierten  Produktivitätstheorien. 

Die  motivierten  Produktivitätstheorien  kommen  mit  den  naiven 
darin  überein,  daß  auch  sie  den  letzten  Grund  des  Kapitalzinses  in  einer 
produktiven  Kraft  des  Kapitales  erblicken.  In  der  Verarbeitung  dieses 
Grundgedankens  weisen  sie  aber  einen  doppelten  Fortschritt  auf.  Erstlich 
halten  sie  sich  vom  Mystizismus  der  „wertschaffenden"  Kräfte  frei,  und 
verstehen,  auf  dem  Boden  der  Tatsachen  bleibend,  die  Produktivität  des 
Kapitales  stets  nur  als  physische  Produktivität.  Und  zweitens  sehen  sie 
es  nicht  mehr  für  selbstverständlich  an,  daß  die  physische  Ergiebigkeit 
von  einem  Überschuß  an  Wert  begleitet  sein  muß.  Sie  fügen  daher  in  ihre 
Ausführungen  ein  charakteristisches  Mittelstück  ein,  dessen  spezielle  Auf- 
gabe es  ist  zu  motivieren,  warum  die  gesteigerte  Menge  der  Produkte 
auch  zu  einem  Überschuß  an  Wert  führen  muß. 


^)  Im  Jahre  1884  geschrieben. 


126     VII.  Produktivitätstheorien.    3.  U.-A.  Motivierte  Produktivitätstheorien. 

Natürlich  hängt  der  wissenschaftliche  Wert  aller  dieser  Theorien 
davon  ab,  ob  die  vermittelnde  Motivierung  Stich  hält  oder  nicht.  Da  in 
der  Art  der  letzteren  die  Autoren  unserer  Gruppe  ziemlich  erheblich 
differieren,  werde  ich  die  Darstellung  und  Kritik  der  Einzellehren  in  diesem 
Abschnitte  viel  individueller  gestalten  müssen,  als  es  gegenüber  den  fast 
uniformen  „naiven"  Theorien  notwendig  war.  Ich  bürde  dadurch  zwar 
mir  und  meinen  Lesern  kein  geringes  Stück  Mühe  auf;  allein  ich  könnte 
es  uns  nicht  anders  ersparen,  als  wenn  ich  zugleich  auf  eine  ehrliche  und 
solide  Kritik  verzichten  wollte.  Wer  etwas  besonderes  zu  sagen  hat,  den 
muß  der  ehrliche  Kritiker  auch  besonders  zu  Worte  kommen  lassen  und 
ihm  besonders  antworten,  nicht  aber  das  Besondere  mit  einer  allgemeinen 
Phrase  abtun  wollen. 

Die  Reihe  der  motivierten  Produktivitätstheorien  nimmt  ihrpn  Anfang 
bei  Lord  Lauderdale^). 

Lauderdale  ist  für  die  Dogmengeschichte  des  Kapitalzinses  eine 
ziemlich  wichtige  Persönlichkeit.  Er  erkennt  die  Tatsache,  daß  hier  ein 
großes  Problem  zu  lösen  ist,  so  deutlich  wie  keiner  seiner  Vorgänger.  Er 
stellt  zuerst  das  Problem  förmlich  und  mit  ausdrücklichen  Worten  auf, 
indem  er  fragt:  „Was  ist  die  Natur  des  Kapitalgewinnes  und  auf  welche 
Weise  kommt  er  zur  Entstehung?"  Er  übt  an  den  wenigen  Schriftstellern, 
die  sich  vor  ihm  über  die  Materie  des  ursprünglichen  Kapitalzinses  aus- 
gelassen haben,  eine  wohldurchdachte  Kritik,  und  er  ist  endlich  der  erste, 
der  auch  der  äußeren  Darstellungsform  nach  statt  zerstreuter  Bemerkungen 
eine  zusammenhängende  und  geschlossene  Theorie  bietet. 

Er  leitet  seine  Zinstheorie  damit  ein,  daß  er,  abweichend  von  Smith, 
das  Kapital  neben  Boden  und  Arbeit  für  eine  dritte  ursprüngliche  Quelle 
des  Reichtums  erklärt  (S.  121).  Später  unterzieht  er  die  Art  und  Weise, 
in  der  er  als  Güterquelle  wirkt,  einer  sehr  eingehenden  Betrachtung 
(S.  154—206),  und  hier  nimmt  er  gleich  anfangs  an  einer  bemerkenswerten 
Stelle  Anlaß,  in  aller  Form  das  Zinsproblem  aufzuwerfen,  dessen  Wichtig- 
keit und  Schwierigkeit  er  wohl  erkennt 2). 

Die  Meinungen,  die  seine  Vorgänger  aufgestellt,  können  ihn  nicht 
befriedigen;  und  er  verwirft  ausdrücklich  sowohl  die  Lehre  von  Locke 
und  Smith,  die  dazu  neigan,  den  Zins  aus  dem  Wertzuwachs  abzuleiten. 


*)  An  Inquiry  into  the  nature  and  origin  of  public  wealth.    Edinburgh  1804. 

2)  „By  what  means  Capital  or  Stock  contributes  towards  wealth  is  not  so  apparent 
(als  bei  Land  und  Arbeit).  What  is  the  nature  of  the  profit  of  stock?  and  how 
does  it  originate?  are  questions  the  answers  to  which  de  not  immediately  suggest 
themselves.  They  are,  indeed,  questions  that  have  seldom  been  discussed  by  those 
who  have  treated  on  political  economy;  and  important  as  they  are,  they  seem 
nowhere  to  have  received  a  satisfactory  Solution"  (S.  156).  Ich  will  hier  be- 
merken, daß  Lauderdale,  ebenso  wie  Smith  und  Kicardo,  den  eigentlichen  Kapital- 
zins vom  Unternehmergewinn  nicht  trennt,  sondern  beide  unter  dem  Namea  „profit" 
begreift. 


Lauderdale.  127 

den  der  Arbeiter  durch  seine  Tätigkeit  an  den  KapitaJgütern  hervorbringt, 
als  auch  die  Lehre  Turgots,  der  —  viel  zu  oberflächlich  —  den  Zins  mit 
der  Möglichkeit  in  Verbindung  bringt,  sich  durch  Grundkauf  eine  Kente 
zu  verschaffen. 

Dem  entgegen  formuliert  Lauderdale  seine  eigene  Theorie  dahin, 
„daß  in  jedem  Falle,  in  dem  ein  Kapital  gewinnbringend  beschäftigt  ist, 
der  Gewinn  übereinstimmend  hervorgeht  entweder  daraus,  daß  das  Kapital 
eine  Quantität  von  Arbeit  ersetzt  (supplant),  die  sonst  durch  Menschen- 
hand hätte  verrichtet  werden  müssen;  oder  daraus,  daß  dasselbe  eine 
Quantität  Arbeit  verrichtet,  deren  Vollführung  ganz  außer  dem  Bereich 
der  persönlichen  Anstrengung  von  Menschen  gelegen  ist"  (S.  161). 

Indem  Lauderdale  so  die  arbeitersetzende  Kraft  des  Kapi- 
tales als  Ursache  des  Kapitalgewinnes  proklamiert,  bezieht  er  sich  unter 
etwas  geändertem  Namen  auf  eben  dieselbe  Tatsache,  die  wir  als  physische 
Produktivität  des  Kapitales  zu  bezeichnen  übereingekommen  sind.  In 
der  Tat  nennt  denn  auch  Lauderdale  selbst  mehrmals  und  mit  Nach- 
druck das  Kapital  „produktiv"  und  „produzierend"^). 

Aber  die  Hauptfrage  steht  noch  aus:  in  welcher  Weise  wird  die  Ent- 
stehung des  KapitaJgewinnes  aus  der  arbeitersetzenden  Kraft  des  Kapitales 
vermittelt?  —  Nach  den  weiteren  Auskünften,  die  Lauderdale  hierüber 
gibt,  geschieht  dies  dadurch,  daß  der  Eigentümer  des  Kapitalstückes  in 
die  Lage  kommt,  sich  die  Löhne  jener  Arbeiter,  die  durch  das  erstere  ersetzt 
werden,  ganz  oder  wenigstens  teilweise  zu  seinem  Vorteil  aufzurechnen. 
„Setzen  wir  z.  B.  den  Fall,"  sagt  Lauderdale  in  einem  der  vielen 
Beispiele,  durch  die  er  die  Richtigkeit  seiner  Theorie  zu  erhärten  sucht*), 
„daß  ein  Mann  mit  einem  Wirkstuhl  im  stände  ist,  täglich  drei  Paar  Strümpfe 
zu  machen,  und  daß,  um  dasselbe  Werk  in  derselben  Zeit  und  mit  gleicher 
Vollkommenheit  zu  vollbringen,  6  Handstricker  nötig  waren,  so  ist  es 
offenbar,  daß  der  Eigentümer  des  Wirkstuhles  für  die  Anfertigung  seiner 
3  Paar  Strümpfe  den  Lohn  von  5  Strickern  verlangen  könnte  und  ihn 
auch  erhalten  würde,  da  der  Konsument,  wenn  er  ihm  den  Vorzug  vor 
den  Strickern  gibt,  bei  dem  Kauf  der  Strümpfe  noch  immer  den  Lohn 
von  einem  Stricker  in  Ersparung  bringen  würde"  (S.  165). 

Ein  naheliegendes  Bedenken  bemüht  sich  Lauderdale  sofort  selbst 
zu  entkräften.  „Der  kleine  Gewinn,  welchen  die  Eigentümer  von  Maschinen 

1)  Inquiry  S.  172,  177,  206. 

')  Lauderdale  führt  mit  großer  Greduld  und  Gründlichkeit  seine  Theorie  für  alle 
möglichen  Verwendungsarten  des  Kapitales  durch,  deren  er  fünf  unterscheidet:  Bau 
und  Anwendung  von  Maschinen,  Kapitalverwendung  im  Inlandhandel,  im  auswärtigen 
Handel,  in  der  Landwirtschaft  und  in  der  „Zirkulation"  oder  im  Umlaufswesen  des 
Landes.  Das  im  Text  zitierte  Beispiel  gehört  der  ersten  der  bezügUchen  fünf  Teilunter- 
suchungen an.  Ich  habe  es  ausgewählt,  weil  in  ihm  die  Art  und  Weise  am  klarsten 
versinnhcht  ist,  in  der  sich  Lauderdale  den  Zusammenhang  des  Kapitalgewinnes 
mit  der  arbeitersetzenden  Kraft  des  Kapitales  vorstellt. 


128     VII.  Produktivitätstheorien.    3.  U.-A.  Motivierte  Produktivitätstheorien. 

gewöhnlich  erlangen,  im  Vergleich  mit  den  Löhnen  der  Arbeit,  die  die 
Maschine  ersetzt,  mag  vielleicht  einen  Verdacht  gegen  die  Kichtigkeit 
dieser  Meinung  erregen.  Manche  Pumpwerke  z.  B.  ziehen  täglich  mehr 
Wasser  aus  einer  Kohlengrube,  als  auf  den  Schultern  von  300  Mann  heraus- 
geschafft werden  könnte;  .  .  .  dabei  verrichtet  ein  Pumpwerk  seine  Arbeit 
unzweifelhaft  für  eine  viel  geringere  Ausgabe,  als  der  Lohn  jener  beträgt, 
deren  Arbeit  sie  so  ersetzt.  Dies  ist  in  Wahrheit  bei  allen  Maschinen  der 
Fall." 

Diese  Erscheinung  darf  indes,  wie  Laüderdale  erklärt,  nicht  irre 
machen.  Sie  kommt  einfach  daher,  daß  der  Gewinn,  der  aus  dem  Gebrauch 
einer  Maschine  zu  ziehen  ist,  eben  auch  dem  universellen  Preisregulator, 
dem  Verhältnis  von  Angebot  und  Nachfrage,  unterworfen  ist.  „Der  Fall 
eines  Patentes  oder  eines  ausschließlichen  Privilegiums  auf  den  Gebrauch 
einer  Maschine  .  ,  .  wird  dies  weiter  ins  Klare  setzen." 

„Wenn  ein  solches  Privileg  für  die  Erfindung  einer  Maschine  gegeben 
wird,  die  durch  die  Arbeit  eines  Mannes  ein  Werk  vollbringt,  das  sonst 
die  Arbeit  von  vier  Männern  in  Anspruch  zu  nehmen  pflegte,  so  wird  — 
da  der  Besitz  des  ausschließlichen  Privilegiums  alle  Konkurrenz  in  der 
Verrichtung  des  Werkes  abhält  mit  Ausnahme  jener,  die  aus  der  Hand- 
arbeit der  vier  Männer  hervorgeht,  —  der  Lohn  der  letzteren,  solange  das 
Patent  dauert,  offenbar  die  Richtschnur  für  die  Forderung  (charge)  des 
Patentinhabers  bilden;  das  heißt,  um  sich  Beschäftigung  zu  sichern, 
braucht  er  nur  um  eine  Kleinigkeit  weniger  zu  fordern,  als  den  Lohn  jener 
Arbeit,  die  durch  seine  Maschine  ersetzt  wird.  Aber  wenn  das  Patent 
erlischt,  treten  andere  Maschinen  derselben  Art  in  Konkurrenz;  und  nun 
muß  seine  Forderung  sich  nach  demselben  Prinzip  richten  wie  alles  andere, 
nämlich  nach  der  Häufigkeit  der  Maschinen,  oder  (was  dasselbe  ist)  nach 
der  Leichtigkeit,  sich  Maschinen  zu  verschaffen,  im  Verhältnis  zur  Nach- 
frage nach  ihnen." 

Hiermit  glaubt  Laüderdale  endgiltig  erwahrheitet  zu  haben,  daß 
in  der  Tat  die  Ursache  und  Quelle  des  Kapitalgewinnes  in  einer  Ersparung 
von  Arbeit,  beziehungsweise  von  Arbeitslöhnen,  gelegen  ist. 

Ist  ihm  diese  Erwahrheitung  wirklich  gelungen?  Hat  Laüderdale 
durch  seine  vorstehenden  Ausführungen  die  Entstehung  des  Kapitalzinses 
wirklich  erklärt?  —  Eine  aufmerksame  Prüfung  seiner  Argumente  wird 
uns  diese  Frage  sehr  bald  verneinen  lassen. 

Zwar  der  Ausgangspunkt,  den  er  für  seine  Argumentation  nimmt, 
ist  untadelig.  Es  mag  —  um  die  Sache  an  dem  von  Laüderdale  selbst 
gewählten  Beispiel  durchzuführen  —  ganz  richtig  sein,  daß  ein  Mann  mit 
einem  Maschinenstuhl  täglich  ebensoviele  Strümpfe  anfertigen  kann  als 
sechs  Handstricker.  Es  ist  auch  ganz  richtig,  daß  der  Besitzer  des  Ma- 
schinenstuhles, falls  dieser  Gegenstand  eines  Monopoles  ist,  für  dessen 
Tagesarbeit  leicht  den  Lohn  von  fünf  Strickern,  im  Falle  unbeschränkter 


Lauderdale.  229 

Konkurrenz  allerdings  entsprechend  weniger  „aufrechnen"  kann,  wobei 
er  nach  Abzug  des  Lohnes  für  den  Mann,  der  die  Maschine  bedient,  täglich 
vier  Arbeitslöhne  —  bei  freier  Konkurrenz  abermals  entsprechend  weniger, 
aber  jedenfalls  etwas  —  auf  seinen  Anteil  übrig  behält.  Es  ist  damit  in 
der  Tat  ein  Wertanteil  des  Kapitalisten  erwiesen. 

Aber  dieser  wirklich  erwiesene  Kapitalistenanteil  ist  nicht  der  zu 
erklärende  reine  Kapitalzins  oder  „profit",  sondern  erst  der  Brutto- 
ertrag der  Kapitälbenützung.  Die  fünf  Löhne,  die  der  Kapitalist  auf- 
rechnet, beziehungsweise  die  vier,  die  er  nach  Bezahlung  des  Bedienungs- 
mannes übrig  behält,  sind  die  Gesamteinnahme,  die  er  mit  seiner  Maschine 
macht.  Um  den  darin '  enthaltenen  Reingewinn  zu  erhalten,  muß  man 
offenbar  vorher  noch  die  Abnützung  der  Maschine  selbst  in  Abzug  bringen. 
Dies  hat  Lauderdale,  der  in  seinem  ganzen  Gedankengang  immerfort 
auf  den  „profit"  abzielt,  entweder  übersehen  —  also  Rohzins  und  Reinzins 
verwechselt  —  oder  er  hat  es  für  ganz  selbstverständlich  gehalten,  daß 
von  dem  Rohzins  nach  Abzug  der  Abnützungsquote  etwas  als  Reinzins 
übrig  bleibe.  Im  ersten  Fall  hat  er  geradezu  geirrt,  im  zweiten  gerade 
denjenigen  Punkt  beweislos  präsumiert,  der  am  schwierigsten,  ja  der 
allein  schwierig  zu  erklären  ist:  daß  und  warum  vom  Bruttoertrage  des 
Kapitales  nach  Abzug  des  Aufwandes  an  Kapitalsubstanz  noch  etwas 
als  Mehrwert  erübrigen  müsse,  das  ist  ja  eben  die  große  Frage  des  Zins- 
problems. 

Um  den  Punkt,  um  welchen  sich  alles  dreht,  durch  eine  ziffernmäßige 
Aufstellung  in  möglichst  deutliches  Licht  zu  stellen,  wollen  wir  annehmen, 
der  Taglohn  eines  Arbeiters  betrage  1  fl,  und  die  Maschine  dauere  bis 
zu  ihrer  gänzlichen  Abnützung  ein  Jahr.  Alsdann  wird  die  einjährige 
Bruttonutzung  der  Maschine  sich  auf  4  x  365  d.  i.  1460  fl.  stellen;  und 
um  den  allenfalls  darin  enthaltenen  Reinzins  zu  ermitteln,  muß  man 
offenbar  den  ganzen  Kapitalwert  der  im  Gebrauchsjahr  sich  vollständig 
abnützenden  Maschine  in  Abzug  bringen.  Wie  hoch  wird  dieser  Kapitals- 
wert nun  sein  ?  —  Offenbar  liegt  hier  die  Entscheidung.  Ist  der  Kapitals- 
wert weniger  als  1460  fl.,  so  bleibt  ein  Reinzins  übrig,  ist  er  gleich  oder 
höher  als  1460  fl.,  so  kann  kein  Gewinn  bleiben. 

Über  diesen  entscheidenden  Punkt  hat  nun  Lauderdale  weder  einen 
Beweis,  noch  auch  nur  eine  Annahme  gegeben.  Kein  Zug  seiner  Theorie 
hindert  uns  anzunehmen,  daß  der  Kapitaiswert  der  Maschine  1460  fl. 
voll  erreicht.  Im  Gegenteile,  wenn  wir  die  Maschine  mit  Lauderdale 
als  Gegenstand  eines  Monopoles  denken,  haben  wir  eine  gewisse  Berech- 
tigung, einen  recht  hohen  Preis  derselben  zu  erwarten.  Die  Erfahrung 
freilich  belehrt  uns,  daß  Maschinen  und  Kapitalstücke  überhaupt,  mag 
ihr  Monopolpreis  auch  noch  so  hoch  getrieben  werden,  doch  nie  ganz  soviel 
kosten  können,  als  sie  tragen.  Aber  das  sagt  uns  eben  nur  die  Erfahrung 
und  nicht  Lauderdale,  und,  was  das  Entscheidende  ist,  jedenfalls  sagt 

Böhm-Ba werk,  Kapitalzins.    4.  Anfi.  9 


130      VII.  Produktivitätstheorien.    3.  U.-A.  Motivierte  Produktivitätstheorien. 

uns  LauderdAle  kein  Wort  zur  Erklärung  dieser  Erfahrungstatsache; 
damit  hat  er  aber  auch  den  Kern  des  Zinsproblems  unberührt  gelassen. 

In  jener  Variante  des  Beispiels,  in  der  Lauderdale  die  volle  freie 
Konkurrenz  eröffnet  annimmt,  könnten  wir  freilieh  den  Wert  der  Maschine 
wenigstens  als  relativ  fixiert  ansehen  mit  dem  Betrage  ihrer  Erzeugungs- 
kosten. Allein  dafür  gerät  jetzt  wieder  der  andere  maßgebende  Faktor, 
der  Betrag  der  Bruttonutzung,  ins  Schwanken.  Ist  z.  B.  der  Kostensatz 
und  damit  der  mutmaßliche  Kapitalwert  der  Maschine  100  fl.,  so  wird 
das  Erübrigen  eines  Reinzinses  davon  abhängen,  ob  die  tägliche  Brutto- 
nutzung der  Maschine  ^""/ses  ^1-  übersteigt  oder  nicht.  Wird  sie  diesen 
Satz  übersteigen?  Lauderdale  sagt  uns  darüber  nichts,  als  daß  sich  die 
Forderung  des  Kapitalisten  „nach  demselben  Prinzip  richten  muß  wie 
alles  andere",  nach  dem  Verhältnis  von  Angebot  und  Nachfrage.  Das 
heißt,  er  sagt  uns  gar  nichts. 

Und  doch  wäre  es  sehr  notwendig  gewesen,  etwas  zu  sagen  und  das 
Gesagte  überdies  auch  zu  erklären.  Denn  daß  die  Bruttonutzung  höher 
ist  als  der  durch  freie  Konkurrenz  auf  den  Kostensatz  herabgedrückte 
Kapitalswert  der  Maschine,  ist  wieder  nicht  im  mindesten  selbstverständ- 
lich. Gerade  wenn  im  Gebrauche  der  Maschine  volle  freie  Konkurrenz 
herrscht,  drückt  sie  ja  auch  auf  den  Wert  der  Kapitalprodukte,  in  unserem 
Fall  der  Strümpfe,  und  drückt  damit  auch  den  Bruttoertrag  der  Maschine 
herunter.  Solange  nun  die  Maschine  noch  mehr  trägt,  als  sie  kostet,  bleibt 
dem  Unternehmer  ein  Gewinn,  und  das  Dasein  eines  Gewinnes,  sollte 
man  meinen,  werde  solange  als  Anreiz  zur  weiteren  Vermehrung  der 
Maschinen  wirken,  bis  durch  die  gesteigerte  Konkurrenz  endlich  der  Extra- 
gewinn völlig  verschwindet.  Warum  soll  die  Konkurrenz  früher  Halt 
machen?  Warum  soll  sie  z.  B.  schon  Halt  machen,  wenn  die  Brutto- 
nutzung einer  Maschine,  die  100  fl.  kostet,  auf  110  oder  auf  105  fl.  gesunken 
ist,  und  damit  einen  Reinzins  von  10  oder  5  %  gewähren  ?  Das  verlangt 
seine  vollwichtige  Erklärung,  zu  der  Lauderdale  nicht  ein  Wort  ge- 
liefert hat. 

Lauderdales  Erklärung  hat  also  neben  das  Ziel  geschossen.  Was 
sie  wirklich  erklärt,  ist  etwas,  was  der  Erklärung  gar  nicht  bedurft  hätte: 
nämlich  die  Tatsache,  daß  das  Kapital  einen  Rohzins,  einen  Rohertrag 
liefert.  Was  aber  der  Erklärung  gar  sehr  bedurft  hätte,  nämlich  das  Er- 
übrigen eines  Reinertrages  im  Rohertrage,  bleibt  so  dunkel  wie  zuvor. 

An  diesem  Urteil  wird  wohl  auch  die  Gegenprobe  nichts  ändern, 
durch  welche  Lauderdale  die  Richtigkeit  seiner  Theorie  zu  bekräftigen 
sucht,  und  auf  die  er  großes  Gewicht  legt.  Er  demonstriert,  daß  überall 
da,  wo  eine  Maschine  keine  Arbeit  erspart,  wo  die  Maschine  z.  B.  3  Tage 
für  Anfertigung  eines  Paares  Strümpfe  braucht,  während  der  Handarbeiter 
dasselbe  Werk  mit  2  Arbeitstagen  herstellt,  auch  der  „profit"  fehlt.    Daa 


Lauderdale,  Malthus.  131 

sei,  meint  Lauderdale,  ein  deutlicher  Beleg,  daß  in  der  Tat  der  profit 
aus  der  arbeitersetzenden  Kraft  des  Kapitales  kommt  (S.  164 f.). 

Die  Gegenprobe  ist  schwach.  Sie  beweist  allerdings,  daß  die  arbeit- 
ersetzende Kraft  der  Maschine  eine  unentbehrliche  Bedingung  des  profit 
ist  —  was  übrigens  ziemlich  selbstverständlich  ist,  da  ja  ohne  diese  Eigen- 
schaft die  Maschine  gar  keine  Nützlichkeit  hätte  und  nicht  einmal  ein  Gut 
wäre.  Aber  sie  beweist  bei  weitem  nicht,  daß  der  Zins  in  jener  Kraft 
seine  volle  Erklärung  finde.  Mittelst  einer  ganz  analogen  Gegenprobe 
hätte  Lauderdale  auch  die  Wahrheit  einer  gerade  entgegengesetzten 
Theorie  beweisen  können,  daß  der  Kapitalgewinn  aus  der  Tätigkeit  des 
Arbeitsmannes  hervorgeht,  der  die  Maschine  bedient.  Denn  bedient 
niemand  die  Maschine,  so  steht  sie  stül,  und  steht  sie  still,  so  gibt  sie  nie 
einen  Profit.    Folglich  hat  der  Arbeiter  den  Kapitalgewinn  erzeugt? 

Ich  habe  die  Irrgänge,  in  die  Lauderdales  Erklärungsweg  hinein- 
führt, geflissentlich  mit  größerer  Genauigkeit  beleuchtet;  denn  die  Kritik 
galt  nicht  Lauderdale  allein;  sie  gilt  allen,  die  im  Versuche,  den  Kapital- 
zins aus  der  Produktivität  des  Kapitales  zu  motivieren,  auf  denselben 
Irrweg  geraten  sind.  Und  wie  wir  sehen  werden,  ist  die  Zahl  derer,  die 
so  ihre  Kritik  voraus  empfangen  haben,  nicht  klein  und  umschließt  manchen 
berühmten  Namen. 

Seinen  ersten  bedeutenden,  aber  keineswegs  entschiedenen  Nachfolger 
fand  Lauderdale  an  Malthus^). 

In  seiner  bekannten  Vorliebe  für  genaue  Definitionen  hat  Malthus 
auch  die  Natur  des  Kapital gewinnes  sorgsam  festgestellt:  „Der  Kapital- 
gewinn besteht  in  der  Differenz  zwischen  dem  Werte  des  Vorschusses, 
der  nötig  ist,  um  ein  Gut  zu  erzeugen,  und  dem  Werte  des  fertigen  Pro- 
duktes" (S.  293).  „Die  Gewinnrate",  fährt  er  mehr  genau  als  wohlklingend 
fort,  „ist  das  Verhältnis,  in  welchem  die  Differenz  zwischen  dem  Werte 
des  Vorschusses  (advances)  und  dem  Wert  des  fertigen  Produktes  zum 
Werte  des  Vorschusses  steht,  und  sie  verändert  sich  mit  den  Veränderungen 
des  Wertes  des  Vorschusses  im  Verhältnis  zum  Wert  des  Produktes" 
(S.  294). 

Nach  solchen  Worten  wäre  die  Frage  wohl  naheliegend  gewesen, 
warum  denn  überhaupt  eine  solche  Wertdifferenz  zwischen  Vorschuß  und 
Produktwert  bestehen  muß?  Leider  kommt  Malthus  nicht  dazu,  diese 
Frage  ausdrücklich  zu  stellen.  Indem  er  seine  ganze  Sorgfalt  der  Unter- 
suchung über  die  Höhe  des  Kapitalzinses  widmet,  hat  er  für  die  Frage 
nach  seinem  Ursprung  nur  einige  ziemlich  dürftige  Andeutungen  übrig. 

In  der  ausführlichsten  derselben  weist  Malthus  ganz  ähnlich  wie 
vor  ihm  Lauderdale  auf  die  Produktivität  des  Kapitales  hin.     Durch 


^)  Principles  of  Political  Economy,  London  1820. 

9* 


132     VII.  Produktivitätstheorien.    3.  U.-Ä.  Motivierte  Produktivitätstheorien. 

Kapitalvorschüsse  an  Werkzeugen,  Nahrungsmitteln  und  Werkstoffen 
wird  der  Arbeiter  in  den  Stand  gesetzt,  acht  oder  zehnmal  mehr  zu  er- 
zeugen, als  er  ohne  solche  Unterstützung  gekonnt  hätte.  Das  scheint  auf 
den  ersten  Blick  den  Kapitalisten  zu  berechtigen,  die  ganze  Differenz 
zwischen  der  Wirksamkeit  der  ununterstützten  und  der  unterstützten 
Arbeit  für  sich  in  Anspruch  zu  nehmen.  Aber  die  verstärkte  Wirksamkeit 
der  Arbeit  zieht  ein  verstärktes  Angebot  an  Produkten  und  dieses  eine 
Senkung  des  Preises  derselben  nach  sich.  Infolge  davon  muß  auch  die 
Vergütung  für  das  Kapital  bald  sinken,  bis  auf  jenes  Maß,  „das  bei  dem 
bestehenden  Zustande  der  Gesellschaft  notwendig  ist,  um  die  Artikel, 
zu  deren  Produktion  das  Kapital  angewendet  wird,  noch  auf  den  Markt 
bringen  zu  können."  Der  Lohn  der  Arbeiter  wird  dabei  ungefähr  der 
gleiche  bleiben,  da  weder  ihre  Anstrengung  noch  ihre  Geschieküchkeit 
wesentlich  größer  wird,  als  wenn  sie  ohne  Kapitalunterstützung  gearbeitet^ 
hätten.  „Es  ist  daher",  führt  Malthus  seinen  Standpunkt  durch  eine 
polemische  Bemerkung  präzisierend  fort,  „nicht  ganz  richtig,  den  Kapital- 
gewinn, wie  Adam  Smith  es  tut,  als  einen  Abzug  vom  Produkt  der  Arbeit 
hinzustellen.  Er  ist  nur  eine  billige  Vergütung  für  den  Teil,  den  der  Kapi- 
talist zur  Produktion  beigetragen  hat"^). 

Man  wird  in  dieser  Auseinandersetzung  unschwer  die  Hauptgedanken 
der  LAUDERDALEschen  Produktivitätstheorie  wiedererkennen,  die  nur  in 
etwas  modifizierter  Form  und  mit  etwas  geringerer  Präzision  vorgetragen 
werden.  Nur  ein  Zug  deutet  in  eine  andere  Richtung:  nämlich  die  wenn 
auch  leise  Hervorhebung,  daß  der  Drang  der  Konkurrenz  einen  Anteil 
des  Kapitalisten,  „so  viel  als  notwendig  ist,  um  die  Artikel,  zu  deren 
Produktion  Kapital  angewendet  wird,  auf  den  Markt  bringen  zu  können", 
doch  immer  übrig  lassen  muß.  Zwar  hat  sich  Malthüs  auf  die  Motivierung 
dieser  Nuance  noch  mit  keinem  Worte  eingelassen.  Allein  schon  darin, 
daß  er  sie  überhaupt  angebracht  hat,  prägt  sich  die  Empfindung  aus, 
daß  an  der  Bildung  des  Kapitalgewinnes  neben  der  Produktivität  des 
Kapitales  noch  ein  anderes  Etwas  beteiligt  sein  muß. 

Kräftiger  kommt  derselbe  Gedanke  darin  zum  Ausdruck,  daß  Malthus 
den  Kapitalgewinn  direkt  für  einen  Bestandteil  der  Produktions- 
kosten erklärt  2). 

Die  förmliche  Proklamierung  dieses  Satzes,  zu  dem  schon  Smith  und 
Ricardo  hinneigten,  ohne  ihn  ausdrücklich  auszusprechen »),  ist  ein  lite- 

M  Principles  S.  80f. 

*)  Principlea  S.  84  und  oft;  Definitions  in  Political  Economy,  Nr.  40  und  41. 

^)  Eine  gewisse  Note,  die  sich  am  Ende  der  Sect.  VI  des  I.  Kap.  von  Ricabdos 
Principles  findet  (S.  30  der  Ausgabe  von  1871),  hat  bisweilen  die  Meinung  veranlaßt, 
als  ob  schon  Ricardo  den  obigen  Satz  ausdrücklich  aufgestellt  hätte.  Das  ist  indes 
nicht  der  Fall.  Er  legt  hier  jene  Meinung  nur  Malthus  in  den  Mund,  der  sie  in  der  Tat 
geäußert  hatte.  Vgl.  Wollembobg,  Intorno  al  costo  relativo  di  produzione,  Bologna 
1882,  S.  26f. 


Malthus.  133 

Tarisches  Ereignis  von  ziemlicher  Wichtigkeit  geworden.  Sie  gab  nämlich 
den  Anstoß  zu  einer  sehr  anregenden  Kontroverse,  die  zunächst  in  der 
englischen,  dann  aber  auch  in  anderen  Literaturen  durch  einige  Dezennien 
mit  großer  Lebhaftigkeit  geführt  wurde,  und  die  der  Entwicklung  der 
Zinstheorie  indirekt  sehr  zu  statten  kam.  Denn  indem  man  mit  Eifer 
diskutierte,  ob  der  Kapitalgewinn  zu  den  Produktionskosten  gehöre  oder 
nicht,  konnte  es  nicht  fehlen,  daß  man  überhaupt  zu  einer  eingehenderen 
Untersuchung  seiner  Natur  und  seines  Ursprunges  veranlaßt  wurde. 

Den  Satz,  daß  der  Kapitalzins  ein  Bestandteil  der  Produktionskosten 
sei,  wird  der  Dogmatiker  wesentlich  anders  beurteilen  als  der  Dogmen- 
historiker. Der  erstere  wird  ihn  für  einen  groben  Mißgriff  erklären,  wie 
dies  von  Malthus'  Zeitgenossen  schon  Torrens*),  und  neuestens  wieder 
in  harten,  ich  glaube,  in  allzuharten  Worten  Pierstorff^)  getan  hat: 
denn  der  Kapitalgewinn  ist  kein  Opfer,  das  die  Produktion  erfordert, 
sondern  ein  Anteil  an  ihren  Früchten.  Ihn  für  ein  Opfer  zu  erklären,  war 
nur  durch  eine  ziemlich  grobe  Verwechslung  des  volkswirtschaftlichen 
Standpunktes  mit  dem  individualwirtschaftlichen  des  einzelnen  Unter- 
nehmers möglich,  der  die  Auszahlung  der  Zinsen  für  geborgte  Geschäfts- 
kapitalien allerdings  als  ein  Opfer  empfindet. 

Aber  in  der  verunglückten  Form  steckt  doch  ein  bedeutungsvoller 
Gedanke,  der  über  die  unzureichende  Produktivitätstheorie  hinausweist, 
und  den  Malthus  offenbar  im  Sinn  gehabt  hat:  der  Gedanke  nämlich, 
daß  die  Opfer  der  Produktion  sich  nicht  mit  der  Arbeit  erschöpfen,  die 
teils  direkt,  teils,  in  der  Kapitalsubstanz  verkörpert,  indirekt  auf  die 
Produktion  verwendet  wird  sondern  daß  außerdem  noch  ein  besonderes 
Opfer  von  Seite  des  Kapitahsten  erfordert  wird,  das  gleichfalls  seine 
Vergütung  erheischt.  Malthus  war  allerdings  noch  nicht  imstande,  die 
Natur  dieses  Opfers  näher  zu  bezeichnen.  Immerhin  wird  der  Dogmen- 
historiker in  der  etwas  seltsamen  Bezeichnung  des  Kapitalgewinnes  als 
Kostenbestandteil  ein  interessantes  Mittelglied  erkennen  zwischen  den 
ersten  Andeutungen  bei  Adam  Smith,  daß  der  Kapitalist  einen  Gewinn 
haben  müsse,  weil  er  sonst  kein  Interesse  zur  Kapitalbildung  hätte,  und 
den  präziseren  Theorien  eines  Say,  der  die  Services  productifs,  eines 
Hermann,  der  die  Kapitalnutznng",  und  namentlich  eines  Senior,  der 
die  „Enthaltsamkeit"  des  Kapitalisten  als  Vergütung  heischendes  Opfer 
und  Kostenbestandteil  erklärt.  Bei  Malthus  klingen  freilich  die  Anfänge 
dieser  Lehren  noch  zu  leise  an,  um  die  gröbere  Erklärung,  die  er  nach 
Laüderdales  Vorbild  aus  der  Produktivität  des  Kapitales  herleitet,  zu 
übertönen. 

Daß  übrigens  weder  die  eine,  noch  die  andere  Erklärung  bei  Malthus 


1)  Siehe  oben  S.  84 f. 

«)  Lehre  vom  Untemehmergewinn,  S.  24. 


134      VII.  Produktivitätstheorien.    3.  U.-A.  Motivierte  Produktivitätstheorien. 

recht  in  Fleisch  und  Blut  übergegangen  ist,  beweisen  seine  Ausführungen 
über  die  Höhe  des  Kapitalgewinnes  (S.  294ff.).  Statt,  wie  es  natürlich 
gewesen  wäre,  die  jeweilige  Höhe  des  Kapitalzinses  aus  dem  Spiel  der- 
selben Kräfte  herzuleiten,  die  den  Zins  überhaupt  zur  Existenz  bringen, 
erklärt  er  sie  aus  ganz  heterogenen  Einflüssen,  nämlich  aus  der  Höhe  der 
Arbeitslöhne  einerseits  und  aus  dem  Preis  der  Kapitalprodukte  andererseits. 

Er  kalkuliert  nämlich  folgendermaßen.  Der  Gewinn  ist  die  Differenz 
zwischen  dem  Wert  des  Kostenvorschusses  und  dem  Wert  des  Produktes. 
Die  Gewinnrate  wird  daher  desto  größer  sein,  je  kleiner  der  Kostenvorschuß 
und  je  größer  der  Produktwert  ist.  Da  nun  der  größte  und  wichtigste 
Teil  des  Kostenvorschusses  in  den  Arbeitslöhnen  besteht,  so  erscheinen 
als  die  zwei  maßgebenden  Bestimmgründe  der  Gewinnrate  die  Höhe  des 
Arbeitslohnes  einerseits  und  der  Preis  der  Produkte  andererseits. 

So  logisch  diese  Art  der  Erklärung  auch  zu  sein  scheint,  so  dringt 
sie  doch,  wie  sich  leicht  zeigen  läßt,  in  das  Wesen  der  Sache  gar  nicht  ein. 
Es  sei  mir  gestattet,  mich  eines  Vergleiches  zu  bedienen.  Gesetzt,  es 
handelt  sich  darum  die  Ursache  zu  nennen,  welche  über  die  Größe  des 
Abstandes  entscheidet,  in  dem  die  Gondel  eines  schwebenden  Luftballons 
vom  letzteren  selbst  sich  befindet.  Es  ist  auf  den  ersten  Blick  klar,  daß 
diese  Ursache  in  der  Länge  des  Seiles  zu  suchen  ist,  welches  die  Gondel 
mit  dem  Ballon  verbindet.  Was  würde  man  aber  dazu  sagen,  wenn  jemand 
die  Untersuchung  folgendermaßen  führen  würde:  ,,Der  Abstand  ist  gleich 
der  Differenz  der  absoluten  Höhe  von  Ballon  und  Gondel;  er  wird  daher 
vergrößert  durch  alles,  was  die  absolute  Höhe  des  Ballons  vergrößert 
und  die  absolute  Höhe  der  Gondel  verringert,  und  verringert  durch  alles, 
was  die  absolute  Höhe  des  Ballons  verringert,  und  die  absolute  Höhe 
der  Gondel  vergrößert."  Und  nun  würde  der  Erklärer  alle  möglichen 
Momente,  die  auf  die  absolute  Erhebung  von  Ballon  und  Gondel  Einfluß 
haben  können  —  Dichtigkeit  der  Atmosphäre,  Gewicht  von  Ballonhülle 
und  Gondel,  Zahl  der  in  letzterer  befindlichen  Personen,  Dünne  des  zur 
Füllung  verwendeten  Gases  usw.  —  zur  Erklärung  heranziehen,  nur  die 
Länge  des  Verbindungsseiles  nicht! 

Und  geradeso  geht  Malthus  vor.  Er  forscht  in  seitenlangen  Unter- 
suchungen, warum  der  Arbeitslohn  hoch  oder  niedrig  ist;  er  polemisiert 
mit  unermüdlicher  Ausdauer  gegen  Ricardo,  daß  die  Schwierigkeit  oder 
Leichtigkeit  der  Bodenproduktion  nicht  die  einzige  Ursache  eines  hohen 
oder  niederen  Arbeitslohnes  ist,  sondern  daß  auf  diesen  auch  die  jeweilige 
FüUe  von  Kapital,  das  zur  Nachfrage  nach  Arbeit  verwendet  wird,  einen 
Einfluß  nimmt;  er  wird  ebensowenig  müde  zu  versichern,  daß  das  Ver- 
hältnis von  Angebot  und  Nachfrage  nach  Produkten,  indem  es  den  Preis 
der  letzteren  höher  oder  niedriger  stellt,  zur  Ursache  eines  hohen  oder 
niedrigen  Kapitalgewinnes  wird:  aber  er  vergißt  die  einfachste  Frage  zu 
stellen,  auf  die  alles  ankommt:  welche  Kraft  hält  Arbeitslöhne  und 


Malthus,  Carey.  1^ 

Produktpreis  auseinander,  so  daß  sie,  gleichviel  in  welchem  abso- 
luten Niveau  sie  sich  bewegen,  einen  Zwischenraum  zwischen  sich  lassen, 
den  der  Kapitalgewinn  ausfüllt? 

Nur  ganz  schwach,  schwächer  noch  als  bei  ähnlicher  Gelegenheit 
KicARDo,  spielt  auch  Malthus  auf  die  Existenz  einer  solchen  Kraft  an, 
wenn  er  die  Bemerkung  macht,  daß  die  allmähliche  Verringerung  des 
Gewinnsatzes  endlich  „die  Kraft  und  den  Willen  der  Kapitalbildung"  zum 
Stillstand  bringen  müsse  i).  Aber  er  weiß  so  wenig  wie  Ricardo  dieses 
Element  für  die  Erklärung  der  Gewinnhöhe  auszubeuten. 

Vollends  kraftlos  wird  Malthus'  Erklärung  endlich  dadurch,  daß  er 
für  die  Höhe  eines  der  beiden  für  maßgebend  erklärten  Faktoren,  nämlich 
für  die  Höhe  der  Produktenpreise,  keinen  inhaltsvolleren  Bestimmgrund 
anzugeben  weiß,  als  das  Verhältnis  von  Angebot  und  Nachfrage  2).  Damit 
hat  die  Erklärung  einen  Ausgang  gefunden,  in  dem  sie  freilich  unanfechtbar 
ist,  in  dem  sie  aber  auch  gar  nichts  mehr  sagt.  Denn  daß  die  Höhe  des 
Zinses  vom  Verhältnis  zwischen  Angebot  und  Nachfrage  nach  gewissen 
Gütern  beeinflußt  wird,  ist  bei  dem  Umstand,  als  der  Zins  selbst  ein  Preis 
oder  eine  Preisdifferenz  ist,  allzu  selbstverständlich  8). 

Nach  Malthus  wurde  die  Theorie  von  der  Produktivität  des  Kapitales 
in  England  nur  noch  durch  Read*)  fortgepflanzt,  der  sie  indes  mit  anderen- 
Theorien  vermischt  hat,  weshalb  wir  ihn  später  unter  den  EUektikem 
wiederfinden  werden.  Dagegen  finden  wir  sehr  ähnliche  Anschauungen 
etwas  später  in  den  Schriften  einiger  berühmter  nordamerikanischer 
Schriftsteller,  zumal  Henry  Careys  und  Peshine  Smiths. 

Carey  6)  gibt  in  unserer  viel  verworrenen  Materie  eines  der  aller- 
übelsten  Beispiele  von  Verworrenheit.  Was  er  über  den  Kapitalzins  sagt, 
ist  eine  Kette  von  unglaublich  plumpen  und  leichtfertigen  Irrungen,  von 
denen  es  kaum  begreiflich  ist,  wie  sie  jemals  in  der  wissenschaftlichen 
Welt  Ansehen  erringen  konnten.  Ich  würde  dieses  Urteil  nicht  in  so  harte 
Worte  kleiden,  wenn  Careys  Zinstheorie  nicht  auch  heute  noch«)  bei 


')  a.  a.  0.  S.  303;  ähnlich  Ö.  299  und  öfters. 

*)„...  the  latter  case  .  .  .  shews  at  once  how  mach  profits  depend  upon 
thepricesofcommodities  and  upon  the  cause  which  detennines  these  prices  namely 
the  supply  compared  with  the  demand"  (S.  334). 

')  Ich  glaube  die  Details  der  langwierigen  und  unfruchtbaren  Kontroverse,  die 
Malthus  gegen  Ricardos  Zinstheorie  führt,  übergehen  zu  können.  Sie  bietet  viele 
schwache  Punkte.  Wer  eine  genaue  Beurteilung  lesen  wiU,  findet  sie  bei  Pierstorff 
a.  a.  0.  S.  23ff. 

*)  An  inquiry  into  the  natural  grounds  of  right  to  vendible  property  or  Wealth, 
Edinburgh  1829. 

')  Sein  Hauptwerk  sind  die  Principles  of  social  science,  1858.  Ich  zitiere  nach  der 
deutschen  Übersetzung  von  Adler,  ,,  Grundlagen  der  Sozialwissenschaft",  München  1863. 

*)  1884  geschrieben. 


136     VII.  Produktivitätstheorien.    3.  U.-A.  Motivierte  Produktivitätstheorien. 

vielen  eine  Wertschätzung  genösse,  die  ich  für  sehr  übel  angebracht  halte. 
Es  ist  eine  jener  Theorien,  die  nach  meiner  Ansicht  nicht  bloß  ihren  Autor, 
sondern  auch  die  Wissenschaft  diskreditieren,  die  sich  zur  gläubigen 
Annahme  verleiten  läßt;  nicht  deshalb,  weil  sie  irrt,  sondern  wegen  der 
unverzeihlichen  Art  der  Verstöße,  durch  die  sie  irrt.  Ob  ich  zu  hart  urteile, 
davon  mögen  die  Leser  aus  dem  folgenden  sich  selbst  überzeugen. 

Carey  hat  seinen  Ansichten  über  den  Ursprung  des  Kapitalzinses 
keine  abstrakte  Formulierung  gegeben.  Wie  er  es  überhaupt  liebt,  die 
Erklärung  wirtschaftlicher  Phänomene  aus  der  Vorführung  elementarer 
Situationen  des  Kobinsonlebens  zu  ziehen,  so  begnügt  er  sich  auch  hier, 
die  Entstehung  des  Kapitalzinses  zu  schildern,  wobei  er  seine  Meinung 
über  die  Ursachen  des  Vorganges  nur  durch  die  charakteristischen  Züge 
zu  erkennen  gibt,  mit  denen  er  den  Vorgang  ausstattet.  Aus  solchen 
Schilderungen  müssen  wir  Careys  Theorie  herauslesen. 

Carey  behandelt  unsere  Materie  ex  professo  im  41.  Kapitel  seiner 
„Grundlagen",  betitelt  „Lohn,  Gewinn  und  Zins".  Nach  einigen  ein- 
leitenden Worten  findet  sich  in  §  1  dieses  Kapitels  folgende  Schilderung: 

„Freitag  besaß  kein  Kanoe  und  hatte  auch  nicht  das  zur  Produktion 
eines  solchen  Werkzeuges  erforderliche  geistige  Kapital  erworben.  Hätte 
Crusoe  ein  Kanoe  besessen  und  hätte  Freitag  dasselbe  entlehnen  wollen, 
so  hätte  ihm  wohl  der  erstere  geantwortet:  „In  einiger  Entfernung  von 
der  Küste  gibt  es  eine  Menge  von  Fischen,  in  unserer  unmittelbaren  Nähe 
dagegen  sind  sie  selten.  Wenn  Du  ohne  die  Hufe  meines  Kanoes  arbeitest, 
wirst  Du  kaum  mit  all  Deiner  Arbeit  die  zur  Erhaltung  des  Lebens  not- 
wendige Nahrung  gewinnen;  mit  dem  Kanoe  dagegen  kannst  Du  in  der 
halben  Zeit  so  viele  Fische  fangen,  als  wir  beide  brauchen.  Gib  mir  drei 
Vierteile  von  allen,  die  Du  fängst,  und  Du  sollst  den  Kest  für  Deine  Dienste 
haben.  Dies  wird  Dir  einen  reichlichen  Vorrat  von  Nahrung  verschaffen 
und  es  wird  Dir  immer  noch  ein  großer  Teil  Deiner  Zeit  frei  bleiben,  die 
Du  dann  anwenden  kannst,  um  Dir  eine  bessere  Wohnung  und  bessere 
Kleidung  zu  verschaffen."  So  hart  diese  Bedingungen  auch  scheinen 
mögen,  hätte  Freitag  doch  das  Anerbieten  angenommen  und  von  Crusoes 
Kapital  Gewinn  gezogen,  obwohl  er  die  Nutzung  desselben  teuer  bezahlen 
mußte"!). 

Bis  hieher  ist,  wie  man  sehen  kann,  Careys  Theorie  eine  ziemlich 
getreue  Kopie  von  Laüderdale.  Wie  dieser  geht  auch  Carey  davon 
aus,  daß  das  Kapital  die  Ursache  eines  produktiven  Mehrerfolges  wird. 
Dieser  Umstand  wird  zur  Veranlassung,  daß  der  Kapitalist  für  den  Gebrauch 
seiner  Kapitalstücke  einen  Preis  erhält,  und  dieser  Preis  wird  —  wie  aus 
vielen  Stellen  hervorgeht  —  von  Carey  ganz  so  wie  von  Laüderdale 
ohne  weiteres  mit  dem  zu  erklärenden  Kapitalzins  identifiziert,  wiewohl 


1)  III,  128;  ähnlich  I,  193. 


Carey.  137 

er  ganz  offenbar  nur  die  Bruttonutzung  des  Kapitales  repräsentiert. 
Daß  Carey,  -hierin  von  Laüdekdale  abweichend,  das  Kapital  nicht  als 
selbständigen  Produktionsfaktor,  sondern  nur  als  ein  Werkzeug  der 
Produktion  ansieht^),  tut  nichts  zur  Sache:  es  bleibt  doch  der  wesentliche 
Zug,  daß  der  produktive  Mehrerfolg,  der  sich  an  die  Kapitalverwendung 
knüpft,  als  die  Ursache  des  Kapitalzinses  hingestellt  wird.    ' 

Während  aber  Lauderdale  nur  die  eine  Verwechslung  von  Roh- 
und  Reinnutzung  zur  Last  fallt,  spielt  Carey  mit  einer  ganzen  Reihe  von 
Begriffen  Fangball.  Er  wirft  nicht  allein  rohe  und  reine  Nutzung,  sondern 
diese  beiden  Begriffe  wieder  mit  den  Kapitalstücken  selbst  durcheinander; 
und  das  nicht  bloß  gelegentlich,  sondern  prinzipiell,  indem  er  mit  vollem 
Bewußtsein  die  Ursachen  eines  hohen  oder  niederen  Kapitalzinses  mit 
den  Ursachen  eines  hohen  oder  niederen  Wertes  der  Kapitalstücke 
identifiziert,  und  die  Höhe  des  Zinsfußes  geradezu  aus  der  Höhe  des  Wertes 
der  Kapitalstücke  ableitet! 

Diese  kaum  glaubliche  Begriffsverwirrung  zieht  sich  durch  alle  Stellen, 
an  denen  Carey  vom  Kapitalzinse  handelt.  Ich  benütze  zur  Darlegung 
seines  Gedankenganges  vorzugsweise  die  Kapitel  VI  (über  den  Wert) 
und  XLI  (über  Lohn,  Gewinn  und  Zins),  in  denen  er  sich  über  unseren 
Stoff  am  zusammenhängendsten  äußert. 

Nach  Careys  bekannter  Werttheorie  bemißt  sich  der  Wert  aUer 
Güter  nach  der  Größe  der  Kosten,  die  ihre  Reproduktion  erfordert.  Die 
zunehmende  wirtschaftliche  Entwicklung,  die  in  nichts  anderem  besteht, 
als  in  einer  zunehmenden  Beherrschung  der  Natur  durch  den  Menschen, 
setzt  diesen  in  den  Stand,  die  benötigten  Güter  mit  immer  geringeren 
Kosten  herzustellen.  Dies  gilt  unter  anderm  auch  von  jenen  Werkzeugen, 
welche  das  Kapital  des  Menschen  bilden;  das  Kapital  hat  daher  die  Tendenz, 
mit  zunehmender  Kultur  immer  mehr  im  Werte  zu  fallen.  „Die  Arbeits- 
quantität, die  zur  Reproduktion  des  vorhandenen  Kapitals  und  zur 
weiteren  Vermehrung  der  Quantität  des  Kapitals  erforderlich  ist,  nimmt 
mit  jedem  Stadium  des  Fortschritts  ab.  Die  früheren  Ansammlungen 
sinken  stets  im  Werte,  und  ebenso  beständig  steigt  die  Ai^beit  im  Vergleich 
zu  denselben"  2). 

Als  Begleiterscheinung  und  Folge  der  Abnahme  am  Werte  des  Kapi- 
tales tritt  auch  eine  Abnahme  an  der  Höhe  des  Preises  ein,  der  für  seinen 
Gebrauch  gezahlt  wird.  Dieser  Satz  wird  von  Carey  nicht  eigentlich 
bewiesen  —  dazu  hält  er  ihn  offenbar  für  zu  selbstverständlich,  was  er- 
richtig verstanden,  in  der  Tat  auch  ist  —  sondern  er  nimmt  ihn  in  einfach 
referierendem  Tone  in  die  Schilderungen  der  wirtschaftlichen  Entwicklung 
Robinsons  auf.  Er  erzählt,  wie  der  Besitzer  der  ersten  Axt  für  das  Aus- 
leihen derselben  mehr  als  die  Hälfte  des  Holzes  hätte  verlangen  können, 

')  III.  47,  78  und  oft. 

*)  III,  S.  130.    Ähnlich  Bd.  I  Kap.  VI  passim. 


138      VII.  Produktivitätstheorien.    3.  U.  A.  Motivierte  Produktivitätstheorien. 

das  man  damit  fällen  konnte,  während  später,  wenn  man  sich  bessere  Äxte 
um  billigeren  Preis  verschaffen  kann,  auch  für  ihren  Gebrauch  nur  mehr 
ein  relativ  geringerer  Preis  bezahlt  wird^). 

Auf  diese  vorbereitenden  Tatsachen  baut  Garey  sodann  sein  großes 
Gesetz  des  Kapitalzinses  auf.  Es  lautet,  daß  mit  zunehmender  wirtschaft- 
licher Kultur  die  Rate  des  Kapitalgewinnes,  das  ist  der  Zinsfuß, 
sinkt,  während  die  absolute  Quantität  des  Kapitalgewinnes 
steigt.  Die  Art,  wie  Garey  zu  diesem  Gesetz  gelangt,  kann  nur  dann 
gebührend  gewürdigt  werden,  wenn  man  seine  bezüglichen  Ausführungen 
im  Wortlaut  kennt.  Der  Leser  möge  daher  das  etwas  längere  wörtliche 
Zitat  entschuldigen,  das  ich  nun  folgen  lasse: 

„So  wenig  Arbeit  auch  mittelst  der  steinernen  Axt  verrichtet  werden 
konnte,  war  ihr  Dienst  für  den  Besitzer  gleichwohl  sehr  groß.  Es  war  ihm 
deshalb  klar,  daß  der  Mann,  dem  er  sie  lieh,  für  die  Nutzung  derselben 
einen  hohen  Preis  bezahlen  müsse.  Auch  konnte  dieser  wohl  diesen  Preis 
zahlen,  wie  wir  leicht  begreifen.  Da  er  mit  der  Axt  in  einem  Tage  mehr 
Holz  fällte,  als  er  ohne  dieselbe  in  einem  Monat  fällen  konnte,  mußte  er 
durch  ihre  Hilfe  noch  gewinnen,  wenn  ihm  auch  nur  der  zehnte  Teil  seines 
Arbeitsprodukts  gelassen  wurde.  Sobald  ihm  aber  erlaubt  wird,  den 
vierten  Teil  zu  behalten,  sieht  er  seinen  Lohn  bedeutend  erhöht  trotz 
der  ansehnlichen  Quote,  die  sein  Nachbar  Kapitalist  als  Gewinn  in 
Anspruch  nimmt." 

„Die  Axt  von  rohem  Erz,  welche  darnach  erlangt  wird,  erweist  sich 
weit  nützlicher  und  ihr  Besitzer  muß  nun,  wenn  die  Nutzung  derselben 
von  ihm  begehrt  wird,  den  Umstand  im  Auge  behalten,  daß  nicht  nur  die 
Produktivität  der  Arbeit  beträchtlich  zugenommen  hat,  sondern  zugleich 
auch  die  Arbeitsquantität,  die  man  auf  die  Produktion  einer 
Axt  verw-enden  muß,  sehr  abgenommen  hat,  daß  also  die  Macht 
des  Kapitales  über  die  Arbeit  gesunken  ist,  während  die  Macht  der  Arbeit 
zum  Behufe  der  Reproduktion  des  Kapitals  gestiegen  ist.  Er  verlangt 
deshalb  nicht  mehr  als  zwei  Dritteile  von  dem  Preise  des  wirksameren 
Werkzeuges.  .  .  .  Wird  diese  Übereinkunft  abgeschlossen,  so  stellen  sich 
die  Wirkungen  der  früheren  Verteilungen  im  Vergleich  zu  den  späteren 
wie  folgt: 


Gesamt- 

Anteil des 

Anteil  des 

ertrag 

Arbeiters 

Kapitalisten 

4 

1 

3 

8 

2,66 

5,33" 

Erste  Verteilung 
Zweite        „ 

„Kommt  nun  die  Axt  von  Eisen,  so  wird  eine  neue  Verteilung  not- 
wendig, da  die  Kosten  der  Reproduktion  abermals  abgenommen 


1)  I,  193.    Ähnlich  des  öfteren. 


Carey.  139 

haben,  während  die  Proportionen  der  Arbeit  im  Vergleich  zum  Kapital 
zugenommen  haben.  Das  neue  Werkzeug  spaltet  doppelt  so  viel  Holz, 
als  man  mit  der  Axt  von  Erz  spalten  konnte;  und  doch  sieht  sich  der 
Besitzer  desselben  genötigt,  sich  mit  der  HäKte  des  Produkts  zu  begnügen. 
Die  folgenden  Ziffern  geben  eine  vergleichende  Übersicht  über  die  ver- 
schiedenen Arten  der  Verteilung: 


Gesamtertrag 

Arbeiter 

Kapitalist 

Erste  Verteilung 

4 

1 

3 

Zweite       „ 

8 

2,66 

5,33 

Dritte        „ 

16 

8 

8" 

„Durch  die  Axt  von  Eisen  und  Stahl,  die  hierauf  folgt,  wird  der  Ertr^ 
abermals  verdoppelt,  unter  weiterer  Verminderung  der  Reproduktions- 
kosten; und  jetzt  muß  sich  der  Kapitalist  mit  einer  geringeren  Quote  be- 
gnügen, und  die  Verteilung  wird  folgende: 

Vierte  Verteilung  32  19,20  12,80" 

„Der  Anteil  des  Arbeiters  hat  zugenommen;  und  da  auch  der  Ge- 
samtertrag bedeutend  zugenommen  hat,  ist  die  Vermehrung  seiner 
Quantität  eine  sehr  bedeutende.  Der  Anteil  des  Kapitalisten  hat  zwar 
verhältnismäßig  abgenommen;  allein  da  der  Ertrag  so  sehr  zugenommen 
hat,  ist  diese  Herabsetzung  der  Proportion  von  einer  bedeutenden  Ver- 
mehrung der  Quantität  begleitet.  So  ziehen  beide  großen  Gewinn  aus 
den  Verbesserungen,  welche  bewerkstelligt  wurden.  Mit  jeder  weiteren 
Bewegung  in  derselben  Richtung  werden  immer  wieder  dieselben  Resultate 
gewonnen:  die  Quote  des  Arbeiters  steigt  mit  jeder  Zunahme  der  Pro- 
duktivität der  Arbeit,  die  Quote  des  Kapitalisten  nimmt  ebenso 
regelmäßig  ab,  unter  beständiger  Zunahme  der  Quantität  und  ebenso 
beständiger  Tendenz  zur  Gleichheit  unter  den  verschiedenen  Teilen,  aus 
welchen  die  Gesellschaft  besteht." 

„So  lautet  das  große  Gesetz,  das  die  Verteilung  der  Arbeitsprodukte 
vorschreibt.  Von  allen  im  Buch  der  Wissenschaft  verzeichneten  Gesetzen 
ist  es  vielleicht  das  schönste,  da  es  ein  Gesetz  ist,  vermöge  dessen  eine 
vollkommene  Harmonie  der  reellen  und  wahren  Interessen  der  verschie- 
denen Klassen  der  Gesellschaft  begründet  wird"^). 

Ich  bitte  den  Leser,  an  dieser  Stelle  des  Zitats  einen  Augenblick  inne 
zu  halten  und  genau  festzustellen,  was  von  Carey  bis  jetzt  behauptet, 
und  zwar  nicht  strenge  bewiesen,  aber  doch  wenigstens  anschaulich  ge- 
macht worden  ist.  Der  Gegenstand,  den  Carey  verfolgte,  war  der  Preis, 
der  für  die  Überlassung  des  Gebrauches  der  Axt  gezahlt  wird,  also  ihr 
Mietzins.     Die  Größe  dieses  Mietzinses  wurde  in  Vergleichung  gezogen 

»)  III,  131—133. 


140      VII.  Produktivit&tstheorien.    3.  U.-A.  Motivierte  Produktivitätstheorien. 

mit  der  Größe  des  Gesamtertrages,  den  ein  Arbeiter  mit  Hilfe 
der  Axt  hervorbringen  kann.  Das  Ergebnis  der  fortgesetzten  Ver- 
gleichung  war,  daß  mit  zunehmender  Kultur  der  Mietzins,  der  für  ein 
Kapitalstück  gezahlt  wird,  eine  immer  kleinere  Quote  jenes  Gesamt- 
ertrages bildet.  Das  und  nichts  anderes  ist  der  Inhalt  des  Gesetzes, 
welches  Carey  bis  jetzt  entwickelt  und  bewiesen  hat  und  das  er  in  abge- 
kürzter Form  mit  den  Worten  auszudrücken  liebt:  „die  Quote  des  Kapi- 
talisten sinkt." 

Hören  wir  Carey  weiter. 

„Daß  das  Gesetz,  welches  in  Bezug  auf  den  Ertrag  des  in  Äxten 
angelegten  Kapitals  aufgestellt  wurde,  ebenso  richtig  ist  in  Bezug  auf 
alle  anderen  Arten  von  Kapital,  wird  dem  Leser  bei  einigem  Nachdenken 
begreiflich  werden."  Er  demonstriert  seine  Wirksamkeit  zuerst  am  Sinken 
des  Mietzinses  alter  Häuser  —  worüber  nichts  besonderes  zu  bemerken 
ist  —  und  fährt  dann  fort:  „Ebenso  verhält  es  sich  mit  dem  Gelde.  Brutus 
nahm  beinahe  fünfzig  Prozent  für  die  Nutzung  desselben  und  zur  Zeit 
Heinrichs  VIII.  war  dem  Geldverleiher  eine  Quote  von  nur  zehn 
Prozent  gestattet.  Seit  dieser  Zeit  ist  sie  beständig  gefallen  und  vier 
Prozent  ist  in  England  so  allgemein  der  feste  Zinsfuß  geworden,  daß  das 
Eigentum  immer  auf  fünfundzwanzig  Jahresrenten  geschätzt  wird;  trotz- 
dem ist  aber  die  Zunahme  der  Kräfte  des  Menschen  so  bedeutend  gewesen, 
daß  der  gegenwärtige  Empfänger  von  einem  Fünfundzwanzigstel  eine 
Summe  von  Annehmlichkeit  und  Komfort  dafür  erhalten  kann,  die  doppelt 
so  groß  ist  als  die,  welche  seine  Vorgänger  für  ein  Zehntel  erhalten  konnten. 
In  diesem  Sinken  der  für  die  Nutzung  des  Kapitales  erhobenen 
Quote  finden  wir  den  stärksten  Beweis  für  den  verbesserten  Zustand 
des  Menschen"  (III,  135). 

In  diesen  Worten  hat  Carey  plötzlich  eine  kühne  Wendung  voll- 
zogen. Er  stellt  sich  auf  einmal  an,  als  ob  der  im  vorausgegangenen  geführte 
Be'  is  dem  Zinsfuße  gegolten  hätte,  und  sieht  es  fortan  und  immer  als 
bewiesene  Sache  an,  daß  die  Herabminderung  des  Wertes  des  Kapitales 
eine  Herabminderung  des  Zinsfußes  bewirke!^) 

Diese  Wendung  der  Sache  beruht  auf  einer  Erschleichung,  wie  sie 
gröber  kaum  gedacht  werden  kann.  Im  ganzen  vorausgegangenen  Beweis- 
gang war  der  Zinsfuß  nicht  mit  einem  Worte  erwähnt,  geschweige  denn 
zum  Gegenstand  eines  Beweises  gemacht  worden.  Um  diesen  dennoch 
auf  den  Zinsfuß  zu  deuten,  mußte  Carey  eine  doppelte  Sinnverdrehung 
begehen;  die  erste  mit  dem  Begriff  „Nutzung",  die  zweite  mit  dem  Begriff 
„Quote". 


^)  z.  B.  III  S.  141:  „Die  Quote  des  Kapitalisten  (=  Gewinn  oder  Zins,  wie  die 
folgenden  Zeilen  zeigen)  sinkt  .  .  ,  wegen  der  großen  Arbeitsersparung";  S.  149 
am  Ende:  „Verminderung  der  Kosten  der  Reproduktion  und  daraus  entpringende 
Herabsetzung  des  Zinsfußes''  usw. 


Carey.  141 

Im  Laufe  des  Beweisgangs  hatte  er  die  Worte  Gebrauch  oder  Nutzung 
des  Kapitals  stets  im  Sinne  von  „Bnittonutzung"  gebraucht.  Wer  eine 
Axt  vermietet,  verkauft  deren  Bruttonutzung;  der  Preis,  den  er  dafür 
erhält,  ist  ein  Mietzins  oder  Rohzins.  Jetzt  gebraucht  er  aber  das  Wort 
Nutzung  auf  einmal  im  Sinn  von  reiner  Nutzung,  der  der  reine  (Geld-) 
Zins  entspricht.  Während  also  allenfalls  bewiesen  war,  daß  der  Rohzins 
die  Tendenz  zu  einer  relativen  Abnahme  hat,  deutet  Carey  das  Beweis- 
resultat so  um,  als  ob  diese  Tendenz  für  den  reinen  Zins  bewiesen  wäre. 

Aber  noch  gröber  ist  die  zweite  Verdrehung. 

Im  Laufe  des  Beweisgangs  hatte  das  Wort  „Quote"  sich  stets  auf  das 
Verhältnis  des  Zinsbetrages  zum  Gesamtertrage  der  mit  Hilfe  des 
Kapitales  zu  verrichtenden  Arbeit  bezogen.  Jetzt,  bei  der  Aus- 
nützung des  Beweisresultats,  deutet  Carey  das  Wort  Quote  so  um,  daß 
es  ein  Verhältnis  des  Nutzungsbetrages  zum  Wert  des  Kapitalstocks, 
mit  anderen  Worten  den  Zinsfuß  ausdrückt.  Er  spricht  von  einer  „Quote 
von  10%",  wobei  er  nicht  mehr  10%  des  mit  Hufe  des  geliehenen  Kapitals 
zu  erarbeitenden  Ertrages,  sondern  10%  des  Kapitalstocks  meint;  und 
er  sieht  in  dem  Herabgehen  des  Zinsfußes  von  10  auf  4%,  „in  diesem 
Sinken  der  für  die  Nutzung  des  Kapitales  erhobenen  Quote",  eine  einfache 
Nutzanwendung  des  früher  bewiesenen  Gesetzes  vom  Sinken  der  „Quote", 
ohne  zu  ahnen,  daß  die  „Quote"  früher  etwas  ganz  anderes  bedeutet 
hatte  als  jetzt. 

Damit  der  Leser  sich  überzeuge,  daß  es  sich  in  diesem  Vorwurf  nicht 
um  ein  Spiel  mit  Subtilitäten  handelt,  bitte  ich  ihn,  das  folgende  konkrete 
Beispiel  in  Erwägung  zu  ziehen,  das  ich  dem  CAREvschen  Gedankengange 
so  genau  als  möglich  anpasse. 

Gesetzt,  mit  einer  stählernen  Axt  kann  ein  Arbeiter  in  einem  Jahre 
1000  Baumstämme  gewinnen.  Wenn  eine  einzige  solche  Axt  vorhanden 
ist  und  keine  gleich^tige  beschafft  werden  kann,  mag  ihr  Eigentümer  für 
die  Überlassung  ihres  Gebrauches  einen  starken  Bruchteil  des  Gesamt- 
ertrages fordern  und  erhalten,  z.  B.  die  Hälfte.  Der  Kapitalwert,  den  die 
einzige  Axt  selbst  unter  solchen  Umständen  erlangt,  wird  vermöge  des 
Monopoles  gleichfalls  ein  hoher  sein,  z.  B.  dem  Wert  von  so  viel  Stämmen, 
als  man  in  zwei  Jahren  damit  fällen  kann,  also  2000  Stämmen,  gleich- 
kommen. Der  Preis  von  500  Stämmen,  der  für  den  jährlichen  Gebrauch 
der  Axt  gezahlt  wird,  stellt  in  diesem  Fall  eine  Quote  von  50%  des  jähr- 
lichen Gesamtertrages,  aber  nur  eine  Quote  von  25%  des  Kapitalwertes 
dar.  Schon  das  beweist,  daß  beide  Quoten  nicht  identisch  sind.  —  Sehen 
wir  aber  weiter. 

Später  lernt  man  Stahläxte  in  beliebiger  Menge  erzeugen,  ihr  Kapital- 
wert sinkt  auf  die  Höhe  der  jetzigen  Reproduktionskosten.  Betragen  diese 
beispielsweise  18  Arbeitstage,  so  wird  eine  Stahlaxt  ungefähr  ebensoviel 
wert  sein  als  50  Baumstämme,  deren  Gewinnung  gleichfalls  18  Arbeitstage 


142      VII.  Produktivitätstheorien.    3.  U.-A.  Motivierte  Produktivitätstheorien. 

erfordert.  Natürlich  wird  der  Eigentümer  der  Axt  jetzt  auch  beim  Ver- 
leihen derselben  mit  einer  viel  kleineren  Quote  der  tausend  Stämme  vorlieb 
nehmen,  die  man  mit  ihr  jährlich  fällen  kann;  er  erhält  allenfalls,  statt 
wie  früher  die  HäKte,  jetzt  nur  mehr  ein  Zwanzigstel,  also  50  Stämme. 
Diese  50  Stämme  repräsentieren  einerseits  fünf  Prozent  des  Gesamt- 
ertrags, und  andererseits  hundert  Prozent  des  Kapitalwerts 
der  Axt. 

Was  zeigt  sich  also?  Während  eine  Quote  von  50%  des  Gesamt- 
ertrages nur  25  %  des  Kapitalwerts  der  Axt  repräsentierte,  stellt  jetzt  die 
kleinere  Quote  von  nur  5%  des  Gesamtertrages  100%  des  Kapitalwertes 
dar.  Während  mit  anderen  Worten  die  Quote  des  Gesamtertrages  auf 
ein  Zehntel  des  ursprünglichen  Ausmaßes  sank,  konnte  der  Zinsfuß, 
den  dieselbe  Quote  repräsentiert,  auf  das  Vierfache  steigen.  So 
wenig  brauchen  die  „Quoten",  die  Carey  so  leichthin  miteinander  ver- 
wechselt, auch  nur  parallel  zu  gehen  und  so  gar  nichts  beweist  das  von 
Carey  durchgeführte  Gesetz  vom  „Sinken  der  Quote  des  Kapitalisten" 
für  den  Gang  des  Zinsfußes,  auf  den  er  es  immerfort  umdeutet! 

Daß  Careys  Ausführungen  für  die  Erklärung  des  Kapitalzinses  voll- 
kommen wertlos  sind,  braucht  nach  dem  Gesagten  kaum  mehr  ausgeführt 
zu  werden.  Das  eigenthche  Problem,  die  Aufklärung,  warum  der  auf  den 
Anteil  des  Kapitales  fallende  Ertrag  mehr  wert  ist,  als  das  in  der  Erziehung 
desselben  aufgezehrte  Kapital,  ist  nicht  einmal  berührt,  und  die  plumpe 
Scheinlösung,  die  Carey  gibt,  vermag  auch  nicht  den  bescheidensten 
Anforderungen  zu  genügen.  Daß  diese  Scheinlösung  dennoch  Eingang 
in  die  Schriften  mancher  hochachtbarer  Schriftsteller  unserer  und  fremder 
Nationen  gefunden  hat,  ist  ein  Beweis  der  geringen  Gründlichkeit  und 
Schärfe,  mit  der  man  unsere  so  wichtige  Materie  leider  zu  behandeln  liebt. 

Um  wenig  oder  nichts  korrekter  als  Carey  selbst  ist  sein  Schüler 
E.  Peshine  Smith,  dessen  Manual  of  Political  Economy  (1853)  seit  kurzem 
durch  Stöpels  Übersetzung^)  in  Deutschland  große  Verbreitung  ge- 
funden hat. 

Peshine  Smith  läßt  den  KapitaJgewinn  aus  einem  Gesellschafts- 
vertrag zwischen  Arbeiter  und  Kapitalisten  hervorgehen.  Der  Zweck  der 
Gesellschaft  ist,  „die  Form  der  von  dem  Kapitalisten  beigesteuerten 
Waren  zu  verändern  und  ihren  Wert  durch  eine  neue  Anwendung  von  Arbeit 
zu  erhöhen".  Der  Ertrag,  „der  neu  produzierte  Gegenstand",  wird  geteilt 
und  zwar  so,  daß  der  Kapitalist  mehr  als  den  Ersatz  des  beigesteuerten 
Kapitales  erhält,  also  einen  Gewinn  macht.  Daß  dies  so  sein  müsse,  hält 
Smith  offenbar  für  selbstverständlich.     Denn  ohne  sich  die  Mühe  einer 


^)  Handbuch  der  politischen  Ökonomie  von  E.  Peshine  Smith,    deutsch  von 
Stöpel,  Berlin  1878.    Diese  Übersetzung  liegt  auch  meiner  Darstellung  zu  Grunde. 


Carey,  Peshine  Smith.  143 

förmlichen  Erklärung  zu  nehmen,  begnügt  er  sich,  ganz  allgemein  anzu- 
deuten, daß  der  Handel  „die  Interessen  beider  befördern"  soll,  und  daß 
„sowohl  der  Kapitalist  als  der  Arbeiter  einen  entsprechenden  Anteil  am 
Gewinn  ihrer  Handelsgesellschaft  erwarten"^).  Im  übrigen  aber  beruft 
er  sich  einfach  auf  die  Tatsache:  „und  tatsächlich  gewinnen  sie  auch", 
sagt  er,  „wie  lang  immer  die  Reihe  der  Umformungen  und  Täusche  sein 
mag,  ehe  geteilt  wird"  (S.  99  f.). 

Eine  bloß  formelle  Verschiedenheit  des  Kapitalgewinnes  tritt  ein,  je 
nachdem  im  Gesellschaftsvertrag  der  Kapitalist  oder  aber  der  Arbeiter 
das  Risiko  auf  sich  nimmt.  Im  ersten  Fall  „wird  der  Anteil  des  Arbeiters 
au  dem  Produkt  Lohn  genannt,  und  der  Wertunterschied  zwischen  den 
Materialien,  wie  sie  dem  Arbeiter  eingehändigt  werden  .  .  .  sowie  der  Ab- 
nutzung der  angewandten  Werkzeuge  einerseits,  und  dem  vollendeten 
Produkt  andererseits  wird  Gewinn  genannt.  Wenn  der  Arbeiter  das 
Risiko  auf  sich  nimmt,  so  heißt  der  Anteil,  den  er  dem  Kapitalisten  über 
den  Ersatz  des  geliehenen  Kapitales  hinaus  gibt,  Rente"  (S.  101). 

Die  Oberflächlichkeit,  mit  welcher  P.  Smith  an  dieser  Stelle,  in  der 
er  doch  den  Kapitalgewinn  in  sein  System  einführt,  über  jede  tiefere 
Erklärung  desselben  hinübergleitet,  läßt  deutlich  erkennen,  daß  er  das 
zu  lösende  Problem  gar  nicht  erfaßt  hat.  Immerhin  sind  seine  bisherigen 
Ausführungen,  wenn  auch  von  geringem  Gehalt,  so  doch  nicht  inkorrekt. 

Dem  folgenden  läßt  sich  auch  dieser  bescheidene  Vorzug  nicht  mehr 
nachrühmen. 

Smith  geht  nämlich  jetzt  zur  Untersuchung  der  Wirkungen  über, 
welche  die  Zunahme  des  Kapitales  auf  die  Höhe  des  Kapitalgewinnes 
ausübt,  und  kopiert  hierbei  getreulich  nicht  allein  die  Darstellungsweise 
und  die  Schlußergebnisse,  sondern  auch  alle  Irrtümer  und  Verstöße  Careys. 

Seine  Untersuchung  schlägt  folgenden  Gang  ein: 

Zunächst  führt  Smith,  ganz  nach  der  Art  Careys,  ein  paar  Wirt- 
schaftsbilder aus  dem  Urzustände  vor.  Ein  Wilder  kommt  zum  Besitze 
einer  steinernen  Axt,  und  erlangt  die  Erlaubnis,  die  Axt  benützen  zu 
dürfen  unter  der  Bedingung,  daß  er  ein  Boot  für  sich,  und  ein  anderes 
für  den  Eigentümer  der  Axt  baue.  Eine  Generation  später  sind  kupferne 
Äxte  eingeführt,  mit  denen  sich  dreimal  mehr  ausrichten  läßt,  als  mit  einer 
Axt  von  Stein.  Von  den  sechs  Booten,  die  jetzt  der  Arbeiter  in  gleicher 
Zeit  baut,  kann  er  vier  für  sich  behalten,  während  zwei  der  Kapitalist 
in  Anspruch  nimmt.  Der  AnteU  des  Arbeiters  hat  dabei  absolut  und  relativ 
zugenommen,  der  des  Kapitalisten  absolut  zugenommen,  dagegen  relativ 
abgenommen:  er  ist  von  der  Hälfte  auf  ein  Drittel  des  Produkts  herab- 
gesunken. In  einer  noch  späteren  Epoche  stehen  endlich  die  ausgezeichneten 

^)  Der  letztere  Aussprach  ist  mit  einem  „daher"  eingeleitet,  welches  durch  das 
Vorangehende  so  wenig  motiviert  ist,  daß  der  Gedanke  an  eine  Korrumpiemng  der 
Stelle  durch  den  Übersetzer  nahe  liegt. 


144       ^I*  Prodaktivitötstheorien.    3.  U.-A.  Motivierte  Produktivitätstheorieii< 

amerikanischen  Äxte  der  Jetztzeit  im  Gebrauch.  Mit  ihnen  kann  abermals 
dreimal  so  viel  geleistet  werden  als  früher  mit  den  kupfernen  Äxten  und 
von  den  18  Booten  oder  sonstigen  Arbeitsprodukten,  ^e  jetzt  der  Borger 
einer  Axt  anfertigen  kann,  wird  er  vier  für  die  Benützung  der  Axt  zahlen 
müssen,  während  ihm  vierzehn  als  Anteil  seiner  Arbeit  verbleiben.  Hiemit 
ist  abermals  im  Verhältnis  der  Anteil  des  Arbeiters  gestiegen  und  der  des 
Kapitalisten  gesunken. 

Hier  angelangt,  fängt  Smith  an,  die  gewonnenen  Regeln  dem  modernen 
Wirtschaftsleben  und  seinen  Formen  anzupassen. 

Zunächst  wird  der  Vertragsform  der  Wilden  der  moderne  Leihvertrag 
substituiert. 

„Die  angeführten  Fälle  stellen  den  Kapitalisten  als  geneigt  dar,  von 
dem  gemeinsamen  Produkt  des  Kapitals,  das  er  dem  Arbeiter  anvertraut, 
und  der  mechanischen  Kraft  des  letzteren  einen  festen  Lohn  zu  zahlen. 
Er  läuft  dabei  Gefahr,  daß  der  Arbeiter  sich  nicht  nach  vollen  Kräften 
anstrengt,  und  daß  der  nach  Bezahlung  des  Lohnes  übrig  bleibende  Rest, 
von  dem  sein  Gewinn  abhängt,  geringer  sein  kann,  als  er  berechnete. 
Um  sich  gegen  diese  Möglichkeit  zu  schützen,  sucht  er  natürlich  einen 
geringeren  Lohn  zu  vereinbaren,  als  die  fleißige  und  ehrliche  Anstrengung 
des  Arbeiters  ihm  ohne  Schmälerung  des  erwarteten  Gewinnes  zu  zahlen 
erlauben  würde.  Der  Arbeiter  aber,  welcher  weiß,  was  er  leisten  kann 
und  sich  einer  Reduktion  nicht  unterwerfen  will,  zieht  es  vor,  für  den 
Gewinn,  den  der  Kapitalist  wünscht,  Garantie  zu  leisten  und  selbst 
das  Risiko  zu  übernehmen,  daß  das  Produkt  einen  hinreichenden  Gewinn 
ergibt,  um  die  Löhne  zu  zahlen,  die  der  Kapitalist  zu  gewähren  sich  sträubt. 
So  entsteht  ein  Leihvertrag," 

Der  aufmerksame  Leser  wird  bemerken,  daß  in  diesen  Worten  nicht 
nur  der  älteren  die  neue  Vertragsform,  wogegen  nichts  einzuwenden  ist, 
sondern  unversehens  auch  dem  Nutzungspreise,  von  dem  früher  stets  die 
Rede,  und  der  ein  Rohzins  war,  jetzt  der  „Gewinn"  (Reinzins)  substituiert 
wird,  wogegen  sehr  viel  einzuwenden  ist. 

Aber  Smith  geht  noch  weiter.  Er  substituiert  auch  ohne  Bedenken 
der  Quote  des  Produkts  die  Quote  des  Kapitalstocks  oder  den  Zins- 
fuß. Carey  hatte  dieselbe  Verwechslung  blindlings  gemacht;  Smith 
macht  sio,  was  noch  seltsamer  und  noch  schwerer  zu  entschuldigen  ist, 
mit  Überlegung.  „Die  Menschen  berechnen  ihren  Gewinn  durch  eine 
Vergleichung  zwischen  ihrem  früheren  Besitz  und  dessen  Zunahme.  Der 
Kapitalist  berechnet  seinen  Nutzen  nicht  nach  seinem  Anteil  am  Produkt, 
den  er  durch  die  Kombination  mit  der  Arbeit  gewann,  sondern  nach  dem 
Verhältnis  der  Zunahme  seines  früheren  Kapitals.  Er  sagt,  er  habe  so  viel 
Prozente  auf  sein  Kapital  gemacht;  er  leiht  es  für  soviel  Prozente  jährlich. 
Der  Unterschied  liegt  nur  in  der  arithmetischen  Bezeich- 
nung,  nicht   in   der   Sache.      Wenn  sein  Anteil  am  Produkt, 


Peshine  Smith,  Thünen.  145 

der  aus  dem  ursprünglichen  Kapital  und  dem  Zuwachs  be- 
steht, gering  ist,  wird  auch  das  Verhältnis  des  letzteren 
zum  Kapital  gering  sein"  (S.  107). 

Also  eine  geringe  Quote  des  Produkts  und  ein  geringer  Zinsfuß  sollen 
materiell  identisch,  und  nur  verschiedene  arithmetische  Bezeichnungen 
desselben  Tatbestandes  sein!  Zur  Beurteilung  dieser  wunderlichen  Doktrin 
brauche  ich  dem  Leser  nur  das  oben  gegen  Carey  vorgeführte  Beispiel 
in  die  Erinnerung  zurückzurufen.  Wir  haben  gesehen,  daß  die  Hälfte 
des  Produkts  25%  des  Kapitales,  und  daß  ein  Zwanzigstel  des  Produkts 
100%  vom  Kapitale  darstellen  kann.  Das  ist  doch  etwas  mehr  als  ein 
bloßer  Unterschied  in  der  mathematischen  Bezeichnung! 

Auf  solche  Substitutionen  gestützt  kann  Smith  endlich  Careys 
„großes  Gesetz  ,  daß  mit  zunehmender  Kultur  der  Anteil  des  Kapitalisten, 
das  will  sagen,  der  Zinsfuß,  sinke,  proklamieren,  durch  die  historische 
Tatsache,  daß  in  reichen  Ländern  der  Zinsfuß  herabgeht,  verifizieren 
(S.  108),  und  damit  ein  Beispiel  geben,  wie  man  einen  ziemlich  wahren 
Satz  auch  aus  einer  sehr  falschen  Motivierung  ableiten  kann. 

Zu  der  leichtfertigen  Manier  der  zuletzt  geschilderten  amerikanischen 
Schriftsteller  büdet  die  schlichte,  aber  gewissenhafte  und  tief  durchdachte 
Weise,  in  der  der  deutsche  Forscher  v.  ThünejjI)  unser  Problem  behandelt 
hat,  einen  wohltuenden  Gegensatz. 

Auch  Thünen  untersucht,  ganz  ähnlich  wie  Carey,  den  Ursprung 
des  Kapitalzinses  genetisch.  Er  geht  auf  die  primitivsten  wirtschaftlichen 
Verhältnisse  zurück,  verfolgt  die  ersten  Anfänge  der  Kapitalbildung,  und 
erforscht,  auf  welche  Weise  und  unter  welchen  Modalitäten  hier  der  Kapital- 
zins entsteht,  sowie  nach  welchen  Gesetzen  er  sich  weiterhin  entwickelt. 
Ehe  er  seine  Untersuchung  selbst  beginnt,  ist  er  darauf  bedacht,  alle  tat- 
sächlichen Voraussetzungen,  von  denen  er  ausgeht,  sowie  die  Terminologie, 
deren  er  sich  bedienen,  will,  mit  minutiöser  Genauigkeit  festzustellen 
(S.  74—90)  —  ein  Vorgang,  der  für  uns  ein  charakteristisches  Symptom 
von  Thünens  gewissenhafter  Gründlichkeit,  für  ihn  selbst  ein  wertvolles 
Mittel  der  Selbstkontrolle  war. 

Ich  entnehme  aus  dieser  Einleitung,  daß  Thünen  einen  mit  allen 
Fähigkeiten,  Kenntnissen  und  Geschicklichkeiten  der  Zivilisation  aus- 
gerüsteten, aber  noch  absolut  kapitallosen  Volksstamm  voraussetzt,  der 
unter  einem  Himmelsstrich  von  tropischer  Fruchtbarkeit,  ohne  Verbindung 
mit  anderen  Völkern  lebt,  so  daß  die  Kapitalbildung  von  innen  heraus, 
ohne  einen  äußern  Einfluß  vor  sich  gehen  muß.  Grund  und  Boden  hat 
noch  keinen  Tauschwert,  alle  Glieder  des  Volksstammes  sind  gleich  gestellt, 


*)  Der  isolierte  Staat.  2.  Aufl    Rostock  1842 — 1863.  Die  im  Texte  zitierten  Seiten- 
zahlen beziehen  sich  auf  die  1.  Abteilung  des  IL  Teiles  (1850). 

Böhm-Bawerk,  Kapitalzins.    4.  Aufl.  10 


146     VII.  Produktivitätstheorien.    3.  U.-A.  Motivierte  Produktivitätstheorien. 

gleich  tüchtig  und  sparsam,  und  erwerben  durch  Arbeit  ihren  Lebens- 
unterhalt. Als  Wertmaß  benützt  Thünen  für  den  Bereich  der  Unter- 
suchung die  Subsistenzmittel  der  Arbeiter,  und  zwar  als  Einheit  den 
100.  Teil  der  Subsistenzmittel,  die  ein  Arbeiter  für  ein  Jahr  bedarf.  Der 
Jahresbedarf  heißt  S,  der  100.  Teil  c,  so  daß  S  =  100  c. 

„Gesetzt"  —  beginnt  Thxjnen  seine  Untersuchung  (S.  90)  —  „der 
Arbeiter  kann,  wenn  er  fleißig  und  sparsam  ist,  durch  seiner  Hände  Arbeit 
10%  mehr  als  er  zu  seinem  notwendigen  Unterhalt  bedarf,  also  1,  1  S 
oder  110  c  im  Jahre  hervorbringen,  so  erübrigt  er  nach  Abzug  dessen, 
.was  er  zu  seinem  Lebensunterhalt  verwenden  muß,  110  c— 100  c  =  10  c." 

„Er  kann  also  im  Verlauf  von  10  Jahren  einen  Vorrat  sammeln,  wovon 
er  während  eines  Jahres  leben  kann,  ohne  zu  arbeiten;  oder  er  kann  auch 
ein  ganzes  Jahr  hindurch  seine  Arbeit  auf  die  Verfertigung  nützlicher 
Gerätschaften,  also  auf  die  Schaffung  eines  Kapitals  wenden." 

„Folgen  wir  ihm  jetzt  bei  der  kapitalschaffenden  Arbeit." 

„Mit  einem  zerschlagenen  Feuerstein  bearbeitet  er  das  Holz  zu  Bogen 
und  Pfeü;  eine  Fischgräte  dient  dem  Pfeil  zur  Spitze.  Aus  dem  Stamm  des 
Pisangs  oder  der  faserigen  Schale  der  Kokosnuß  werden  Stricke  und  Bind- 
faden gemacht  und  erstere  zur  Sehne  des  Bogens,  letztere  zur  Verfertigung 
von  Fischernetzen  verwandt." 

„Im  folgenden  Jahre  wendet  er  sich  dann  wieder  der  Erzeugung 
von  Lebensmitteln  zu;  aber  er  ist  jetzt  mit  Bogen,  Pfeilen  und  Netzen 
versehen,  seine  Arbeit  wird  mit  Hilfe  dieses  Gerätes  viel  lohnender,  sein 
Arbeitsprodukt  viel  größer." 

„Gesetzt,  sein  Arbeitserzeugnis  —  nach  Abzug  dessen,  was  er  auf  die 
Erhaltung  des  Gerätes  im  gleich  guten  Zustande  verwenden  muß  —  steige 
dadurch  von  110  c  auf  150  c,  so  kann  er  in  einem  Jahre  50  c  erübrigen,  und 
er  braucht  jetzt  nur  zwei  Jahre  der  Erzeugung  von  Lebensmitteln  zu 
widmen,  um  wiederum  ein  ganzes  Jahr  auf  die  Verfertigung  von  Bogen 
und  Netzen  zu  verwenden." 

,,Er  selbst  kann  hievon  zwar  keine  Anwendung  machen,  da  die  im 
früheren  Jahre  verfertigten  Geräte  für  sein  Bedürfnis  genügen;  aber  er 
kann  dasselbe  an  einen  Arbeiter  verleihen,  der  bisher  ohne  Kapital  ar- 
beitete." 

„Dieser  zweite  Arbeiter  brachte  bisher  hervor  110  c;  leiht  derselbe 
nun  das  Kapital,  woran  der  kapitalerzeugende  Arbeiter  die  Arbeit  eines 
Jahres  gewandt  hat,  so  ist  sein  Erzeugnis,  wenn  er  das  geliehene  Gerät 
im  gleichen  Wert  erhält  und  wieder  abliefert^),  150  c.  Das  Mehrerzeugnis 
vermittelst  des  Kapitales  beträgt  also  40  c." 


^)  „Wie  kann  aber  der  verliehene  Gegenstand  in  gleicher  Beschaffenheit  und 
gleichem  Wert  erhalten  und  wieder  abgeliefert  werdep  ?  Dies  geht  freihch  bei  einzelnen 
Gegenständen  nicht  an,  wohl  aber  bei  der  Gesamtheit  der  in  einer  Nation  verliehenen 
Gegenstände.    Wenn  jemand  z.  B.  100  Gebäude  von  hundertjähriger  Dauer  vermietet' 


Thänen.  147 

„Dieser  Arbeiter  kann  also  für  das  geliehene  Kapital  eine  Rente 
zahlen  von  40  c,  welche  der  kapitalerzeugende  Arbeiter  für  seine  einjährige 
Arbeit  dauernd  bezieht" 

Hier  treffen  wir  auf  den  Ursprung  und  Grund  der  Zinsen  und  auf  ihr 
Verhältnis  zum  Kapital.  Wie  sich  der  Lohn  der  Arbeit  verhält  zu  der 
Größe  der  Rente,  die  dieselbe  Arbeit  schafft,  wenn  sie  auf  Kapitalerzeugung 
gerichtet  wird,  so  verhalten  sich  Kapital  und  Zinsen." 

„In  dem  vorliegenden  Fall  ist  der  Lohn  für  1  J.  A.  =  110  c;  die 
Rente,  die  das  aus  der  Arbeit  eines  Jahres  hervorgegangene  Kapital  bringt, 
betraf  40  c." 

„Das  Verhältnis  ist  also  wie  110  c :  40  c  =  100 :  36,4,  und  der  Zins- 
satz ist  36,4%."  - 

Das  Folgende  geht  nicht  so  sehr  den  Ursprung,  als  die  Höhe  der 
Zinsen  an.  Wir  wollen  daraus  in  knappem  Auszuge  nur  einige  Grund- 
gedanken noch  kennen  lernen,  die  geeignet  sind,  Thünens  Auffassungs- 
weise weiter  zu  illustrieren. 

Mit  der  Vermehrung  des  Kapitals  nimmt  nach  Thünen  dessen  pro- 
duktive Wirksamkeit  ab,  in  der  Art,  daß  jeder  neue  Kapitalzuwachs  das 
Arbeitsprodukt  des  Menschen  in  geringerem  Grade  vermehrt  als  das  zuvor 
angelegte  Kapital.  Wenn  z.  B.  das  erste  Kapital  den  Arbeitsertrag  von 
110  c  um  40  c,  d.  i.  auf  150  c  vermehrte,  so  wird  das  zweite  hinzukommende 
Kapital  eine  weitere  Vermehrung  nur  um  36  c,  das  dritte  nur  um  32,4  c 
usw.  hervorrufen.    Aus  zwei  Gründen: 

„1.  Wenn  die  wirksamsten  Geräte,  Maschinen  usw.,  woraus  das 
Kapital  besteht,  in  genügender  Menge  vorhanden  sind,  so  muß  ...  die 
fernere  Kapitalerzeugung  sich  auf  Gerätschaften  von  minderer  Wirk- 
samkeit richten. 

2.  Im  Landbau  führt  der  Zuwachs  an  Kapital,  wenn  derselbe  überall 
eine  Anwendung  finden  soU,  zum  Anbau  von  minder  ergiebigen,  minder 
günstig  gelegenen  Ländereien,  oder  auch  zu  einer  intensiveren  mit  größern 
Kosten  verbundenen  Wirtschaft  —  und  in  diesen  Fällen  bringt  das  zuletzt 
angelegte  Kapital  eine  geringere  Rente,  als  das  zuvor  angelegte^)." 

In  dem  Maß  als  der  durch  die  Wirksamkeit  des  Kapitales  hervor- 
gerufene Mehrertrag  sinkt,  sinkt  natürlich  auch  der  Preis,  der  für  die 
überlassene  Nutzung  des  Kapitales  gezahlt  werden  will  und  kann,  und 
da  nicht  für  das  erst  und  später  angelegte  Kapital  zwei  verschiedene 


anter  der  Bedingung,  daß  der  Mieter  jährlich  ein  neues  Grebäude  errichtet,  so  behalten 
die  100  Grebäude  trotz  der  jährlichen  Abnutzung  doch  gleichen  Wert.  Bei  dieser  Unter- 
suchung müssen  wir  notwendig  unseren  BUck  auf  das  Ganze  richten,  und  wenn  hier 
nur  zwei  Personen  als  handelnd  dargestellt  sind,  so  ist  dies  bloß  ein  Bild,  wodurch  die 
Bewegung,  die  gleichzeitig  in  der  ganzen  Nation  vor  sich  geht,  anschauhch  gemacht 
werden  soll."  (Anmerkung  TntJNENs.) 
1)  S.  195.    Ausführlicher  S.  93ö. 

10> 


148     VII.  Produktivttätstheorien.    3.  U.-A.  Motivierte  Produktivitätstheorien. 

Zinsraten  neben  einander  bestehen  können,  richtet  sich  der  Zins  des  ganzen 
Kapitales  nach  der  „Nutzung  des  zuletzt  angelegten  Eapitalteilchens" 
(S.  100).  Durch  diese  Verhältnisse  empfängt  der  Zinsfuß  die  Tendenz, 
mit  dem  Anwachsen  des  Kapitales  zu  sinken,  und  die  dadurch  entstehende 
Verminderung  der  Rente  kommt  dem  Arbeiter  zu  gute,  indem  sie  den 
Lohn  seiner  Arbeit  erhöht  (S.  101). 

Wie  man  sieht,  nimmt  Thünen  seinen  Ausgangspunkt  mit  großer 
Entschiedenheit  von  der  produktiven  Wirksamkeit  des  Kapitales:  diese 
gibt  nicht  allein  überhaupt  Anlaß  zur  Entstehung  des  Kapitalzinses, 
sondern  ihr  jeweiliger  Grad  bestimmt  auch  genau  die  Höhe  des  Zinsfußes. 

Für  den  Wert  dieser  Lehre  kommt  nun  alles  darauf  an,  in  welcher  Art 
die  Verknüpfung  zwischen  der  größeren  Ergiebigkeit  der  durch  Kapital 
unterstützten  Arbeit  und  dem  Bezug  eines  Wertüberschusses  durch  den 
Kapitaleigentümer  dargestellt  wird. 

Von  zwei  gefährlichen  Klippen  hält  sich  Thünen  glücklich  fern:  er 
fabuliert  nichts  von  einer  wertschaffenden  Kraft  des  Kapitales,  sondern 
mutet  diesem  nur  zu,  was  es  in  der  Tat  bewährt,  nämlich  die  Fähigkeit, 
zur  Erzeugung  von  mehr  Produkten  zu  helfen,  oder  mit  anderen  Worten, 
physische  Produktivität.  Sodann  ist  Thünen  glücklich  der  fatalen  Ver- 
wechslung von  Roh-  und  Reinzins  entgangen:  was  er  Reinzins  nennt, 
die  40  c,  36  c,  32,4  c  usw.,  die  der  Kapitalist  empfängt,  ist  in  der  Tat 
Reinzins,  weil  nach  einer  ausdrücklichen  Voraussetzung  (S.  91  am  Ende) 
der  Schuldner  außerdem  noch  die  volle  Wiederherstellung  des  Wertes 
des  Kapitalstückes  leistet. 

Gerade  mit  der  letzten  Voraussetzung  hat  aber  Thünen  seiner  Zins- 
theorie nach  einer  anderen  Seite  eine  Blöße  gegeben. 

Die  Gedankenstationen,  die  im  Sinn  der  TnüNENschen  Theorie  von 
der  physischen  Produktivität  des  Kapitales  zum  „Mehrwertsbezug"  des 
Kapitalisten  hinüberleiten,  lassen  sich  folgendermaßen  herausheben: 

1.  Die  mit  Kapital  unterstützte  Arbeit  kann  eine  größere 
Menge  von  Produkten  erzielen.  —  Diese  Voraussetzung  ist  unzweifel- 
haft richtig. 

2.  Das  Plus,  das  auf  die  Kapitalverwendung  zuTück- 
zuführen  ist,  setzt  sich  in  Thünens  Beispiel  aus  zwei  Kom- 
ponenten zusammen;  erstlich  aus  den  40,  36  oder  32,4  c,  die  der 
Kapitalist  in  Subsistenzmitteln  erhält,  und  zweitens  aus  der  Wieder- 
herstellung des  in  der  Verwendung  abgenützten  Kapitalstückes  selbst. 
Erst  beide  Komponenten  zusammen  machen  das  Bruttoerträgnis  der 
Kapitalverwendung  aus.  —  Zum  Beleg,  daß  dieser  wichtige,  aber  von 
Thünen  nicht  deutlich  hervorgehobene  Satz  in  der  Tat  in  Thünens  Lehre 
enthalten  ist,  will  ich  eine  kleine  Rechnung  einschalten.  Na,ch  Thünen 
bringt  ein  Arbeitsjahr  ohne  Kapitalunterstützung  110  c  hervor.     Ein 


Thfinen.  149 

Arbeitsjahr  unterstützt  von  Kapited  genügt,  um  nicht  allein  das  Eapit^J, 
so  weit  es  Abnutzung  erfahren  hat,  zu  erneuern,  sondern  auch  noch  150  c 
hervorzubringen.  Die  Differenz  beider  Leistungen,  welche  das  durch  die 
Kapitalverwendung  verursachte  Plus  darstellt,  weist  also  in  der  Tat  40  e 
und  die  Redintegrierung  des  Kapitales  selbst  auf.  Es  mag  hier  noch  die 
Bemerkung  Platz  finden,  daß  Thünen  das  Dasein  der  zweiten  Komponente 
ziemlich  ins  Dunkel  gestellt  hat,  indem  er  sie  —  außer  an  zwei  Stellen 
der  S.  91  —  nicht  wieder  erwähnt,  und  namentlich  bei  Aufstellung  der 
späteren  Tabellen  (S.  98,  110  usw.)  unberücksichtigt  läßt.  Die  Exaktheit 
der  letzteren  wird  hiedurch  nicht  unwesentlich  beeinträchtigt.  Denn  es 
läßt  sich  denken,  daß,  wenn  einmal  Kapitalien  von  6  oder  10  Jahresarbeiten 
in  Verwendung  stehen,  die  jährlich  auf  ihre  Wiederherstellung  aufzu- 
wendende Arbeit  einen  beträchtlichen  Teil  der  ganzen  Arbeitskraft  ab- 
sorbieren muß. 

3.  Das  durch  die  Kapitalverwendung  hervorgerufene 
Mehrerträgnis^)  (= Redintegrierung  +  40,  beziehungsweise  36  oder 
32,4  c)  fällt  dem  Kapitalisten  als  solchen  zu.  —  Diese  Voraussetzung 
Thünens  ist  im  großen  und  ganzen  meines  Erachtens  vollkommen  richtig, 
wenn  auch  der  Preiskampf  den  Anteil  des  Kapitalisten  im  einzelnen  Falle 
oft  modifizieren  mag. 

4.  Dieses  dem  Kapitalisten  zufallende  Bruttoerträgnis 
des  Kapitales  ist  regelmäßig  mehr  wert,  als  der  in  seiner 
Erzielung  verzehrte  Kapitalteil,  so  daß  ein  Reinerträgnis,  ein 
Wertüberschuß,  ein  reiner  Kapitalzins  erübrigt.  —  Dieser  Satz  bildet 
das  natürliche  Schlußglied  der  Gedankenkette.  Thünen  hat  ihn  eben 
so  wenig  als  die  früheren  Thesen  in  Form  eines  allgemeinen  Lehrsatzes 
ausgesprochen.  Er  stellt  ihn  nur  in  der  Form  auf,  daß  er  sein  konkretes 
Beispiel  mit  einem  regelmäßigen  Mehrwert  des  vom  Kapitalisten  Emp- 
fangenen über  das  von  ihm  Hingegebene  ausgehen  läßt,  was  allerdings, 
da  das  gewählte  Beispiel  ein  typisches  sein  sollte,  der  ausdrücklichen 
Formulierung  des  Lehrsatzes  meritorisch  gleichkommt;  um  so  mehr,  als 
Thünen  einen  permanenten  Mehrwert  des  Kapitalertrages  über  das  Kapital- 
opfer behaupten  und  erklären  mußte,  wenn  er  den  in  eben  diesem  Mehr- 
wert bestehenden  Kapitalzins  erklären  wollte. 

Wir  sind  hier  an  der  letzten,  entscheidenden  Station  des  bisher  im 
wesentlichen  untadelhaften  Gedankenganges  Thünens  angelangt  Aber 
in  eben  diesem  entscheidenden  Punkt  erweist  sieht  seine  Theorie  als  schwach. 

Wenn  wir  fragen:  auf  welche  Weise  motiviert  und  erklärt  Thünen 
das  Dasein  jenes  Mehrwerts?  so  müssen  wir  antworten:  er  erklärt  es  gar 


1)  Um  Mißverstlmdiiisse  zu  vermeiden,  hebe  ich  ausdrücklich  hervor,  daß  Thünen 
das  Mehrerträgnis  des  letzten  angelegten  Kapitalteildiens  für  die  ganze  Kapitalmasse 
als  maßgebend  annimmt. 


150    VII.  Produktivitätstheorien.    3.  U.-A.  Motivierte  Produktivitätstheorien. 

nicht,  sondern  er  präsumiert  es.  Und  zwar  ist  die  entscheidende  Prä- 
sumtion an  jener  sehr  wenig  auffälligen  Stelle  unterlaufen,  an  der  Thünen 
davon  spricht,  daß  der  Besitz  eines  Kapitals  den  Arbeiter  befähigt,  nach 
Abzug  dessen,  was  nötig  ist,  um  das  Kapital  „im  gleich 
guten  Zustand"  und  „im  gleichen  Wert"  zu  erhalten,  noch  ein 
Mehrprodukt  von  40  oder  36  c  usw.  zu  erzeugen.  Ziehen  wir  den  Inhalt 
dieses  scheinbar  höchst  harmlosen  Satzes  genauer  ans  Licht,  so  enthält 
er  die  Voraussetzung,  daß  das  Kapital  die  Kraft  hat,  1.  sich  selbst  und 
seinen  eigenen  Wert  wieder  zu  erzeugen,  und  2.  darüber  hinaus  noch  etwas 
zu  erzeugen.  Ist,  wie  hier  vorausgesetzt  wird,  das  Produkt  des  Kapitales 
allezeit  eine  Summe,  von  der  schon  das  erste  Glied  gleich  dem  ganzen 
Kapitalopfer  ist,  dann  ist  es  freilich  selbstverständlich,  daß  die  ganze 
Summe  jnehr  wert  sein  muß,  als  jenes  Opfer,  und  Thünen  hat  ganz  Recht, 
sich  mit  einer  weiteren  Erklärung  dieses  Verhältnisses  nicht  länger  auf- 
zuhalten. Aber  die  Frage  ist,  ob  Thünen  berechtigt  war,  eine  solche  Wirk- 
samkeit des  Kapitales  vorauszusetzen. 

Ich  glaube,  diese  Frage  ist  entschieden  zu  verneinen.  Zwar  in  der 
konkreten  Situation,  in  die  uns  Thünen  zu  Anfang  seiner  Hypothese 
versetzt,  kann  uns  auch  jene  Voraussetzung  ganz  plausibel  erscheinen. 
Wir  finden  gar  nichts  ungehöriges  darin,  anzunehmen,  daß  der  mit  Bogen 
und  Pfeil  ausgerüstete  Jäger  imstande  ist,  in  einem  Jahre  nicht  allein 
um  40  Stück  Wild  mehr  zu  erlegen  als  ohne  jene  Waffen,  sondern  auch 
noch  Zeit  genug  zu  erübrigen,  um  Bogen  und  Pfeile  in  gutem  Stande  zu 
erhalten,  beziehungsweise  zu  erneuern,  so  daß  sein  redintegriertes  Kapital 
am  Ende  des  Jahres  so  viel  wert  ist  als  am  Anfang.  Aber  darf  man  analoge 
Voraussetzungen  auch  für  einen  komplizierten  Zustand  der  Wirtschafts- 
führung machen?  namentlich  für  einen  Zustand,  in  dem  das  Kapital  zu 
mannigfaltig  und  die  Arbeitsteilung  zu  ausgebildet  ist,  um  die  Redinte- 
grierung  des  Kapitals  durch  den  dasselbe  benützenden  Arbeiter  selbst  zu 
gestatten?  Ist  es,  wenn  dieser  die  Redintegrierung  des  Kapitales  be- 
zahlen muß,  selbstverständlich,  daß  das  mit  der  Kapitalshilfe  erzielte 
Mehr  an  Produkten  die  Kosten  der  Redintegrierung,  beziehungsweise  den 
Wert  des  verzehrten  Kapitalteiles  übersteigt? 

Gewiß  nicht.  Es  sind  im  Gegenteile  zwei  Möglichkeiten  denkbar,  durch 
die  der  Mehrwert  verwischt  werden  könnte.  Erstlich  ist  es  denkbar,  daß 
der  große  produktive  Nutzen,  den  der  Besitz  des  Kapitalstücks  sichert, 
auch  die  Wertschätzung  dieses  letzteren  steigert,  so  sehr,  daß  sein  Wert 
dem  Wert  seines  erwarteten  Produktes  gleich  kommt;  daß  z.  B.  Bogen 
und  Pfeile,  die  während  der  ganzen  Dauer  ihres  Bestandes  um  100  Stücke 
Wild  mehr  zu  erlegen  gestatten,  im  Wert  diesen  100  Stücken  gleichgestellt 
werden.  Alsdann  würde  der  Jäger  für  den  Ersatz  der  verbrauchten  Waffen 
dem  Waffenfabrikanten  den  ganzen  Mehrertrag  von  100  Stück  Wild 
beziehungsweise  deren  Wert  geben  müssen,  und  behielte  nichts  übrig,  um 


Thünen.  151 

dem  Eigentümer,  der  ihm  die  Waffen  geliehen,  einen  Mehrwert  darüber 
hinaus,  einen  Kapitalzins  zu  zahlen. 

Oder,  die  Konkurrenz  in  der  Erzeugung  von  Waffen  ist  so  stark,  daß 
sie  deren  Preis  unter  jene  höchste  Wertschätzung  drückt.  Wird  aber 
dieselbe  Konkurrenz  nicht  auch  die  Ansprüche,  die  der  Kapitalist  bei 
Verleihung  der  Waffen  stellen  kann,  drücken  müssen?  Lauderdale  hat 
einen  solchen  Druck  vorausgesetzt,  Carey  gleichfalls,  und  die  Erfahrung 
des  Wirtschaftslebens  läßt  keinen  Zweifel,  djJ3  er  in  der  Tat  ausgeübt  wird. 
Wir  fragen  nun  hier  gerade  so,  wie  wir  bei  Lauderdale  gefragt  haben: 
warum  soll  der  Druck  der  Konkurrenz  auf  den  Anteü  des  Kapitalisten  nie 
so  stark  werden  können,  daß  er  den  Wert  dieses  Anteils  auf  den  Wert  des 
Kapitalstückes  selbst  herabdrückt?  Warum  erzeugt  und  verwendet  man 
nicht  so  viel  Exemplare  einer  Kapitalsart,  bis  diese  Verwendung  gerade 
nur  mehr  den  nackten  Ersatz  des  Kapitalstücks  einträgt?  Sowie  dies 
geschähe,  wäre  aber  wieder  der  Mehrwert  und  mit  ihm  der  Zins  eliminiert. 

Kurz,  ich  sehe  drei  Möglichkeiten  im  Verhältnis  zwischen  dem  Wert 
des  Kapitalprodukts  und  dem  Wert  dejs  dasselbe  hervorbringenden  Kapitals. 
Entweder  der  Wert  des  Produkts  zieht  den  Wert  des  Kapitalstücks  zu 
sich  hinauf;  oder  der  Wert  des  Kapitalstücks  zieht  durch  Konkurrenz 
den  Wert  des  Kapitalertrages  zu  sich  herunter;  oder  endlich  der  Kapital- 
anteil am  Produkt  bleibt  über  dem  Wert  des  Kapitalstücks  stehen.  Thünen 
präsumiert  den  dritten  Fall,  ohne  ihn  weder  zu  beweisen,  noch  —  und  dies 
ist  der  entscheidende  Mangel  —  zu  erklären;  damit  hat  er  aber  auch  das 
ganze  Phänomen,  um  dessen  Erklärung  es  sich  handelt,  den  Kapitalzins, 
statt  zu  erklären,  präsumiert. 

Wir  müssen  daher  unser  EndurteU  folgendermaßen  fällen:  Thünen 
gibt  eine  feinere,  durchdachtere  und  gründlichere  Version  der  Produk- 
tivitätstheorie als  irgend  einer  ihrer  früheren  Vertreter;  aber  in  dem  gefähr- 
lichsten Schritte  strauchelt  auch  er:  wo  es  sich  darum  handelt,  aus  der 
physischen  Produktivität  des  Kapitales,  aus  dem  Mehr  an  Produkten, 
den  Mehrwert  abzuleiten,  nimmt  er  das  zu  Erklärende  in  seine  Voraus- 
setzung auf^). 


^)  Um  die  Darstellung  im  Texte  nicht  durch  noch  mehr  subtile  Gedankengänge, 
als  ich  ohnedies  dem  Leser  schon  vorzuführen  gezwungen  war,  aufzuhalten,  will  ich 
einige  Ergänzungen  zur  obigen  Kritik  in  die  Anmerkung  verlegen.  Thünens  Schrift 
weist  zwei  Ansätze  auf,  die  man  möglicherweise  als  Versuche,  jene  Präsumtion  zu  recht- 
fertigen, also  als  Ansätze  zu  einer  wirklichen  Erklärung  des  Zinses  deuten  kann.  Der 
erste  Ansatz  liegt  in  der  wiederholt  (z.  B.  S.  111  und  149)  gemachten  Bemerkung,  daß 
der  höchste  Belauf  an  Kapitalrente  bei  einer  gewissen  Größe  der  Kapitalanlage -eintritt, 
und  bei  Überschreitung  der  letzteren  sinkt,  so  daß  die  Kapitalerzeuger  kein  Inter- 
esse haben,  die  Kapitalerzeugung  über  diesen  Punkt  fortzusetzen.  Man 
köimte  diesen  Satz  möglicherweise  als  eine  Erklärung  dafür  deuten,  daß  das  Angebot 
an  Kapitalstücken  sich  nicht  so  sehr  steigern  könne,  um  den  Reinzins  auf  Null  herab- 
zudrücken.     Allein  jene   Rücksicht  auf  den   Gesamtnutzen  des   Kapitalisten- 


X52     VII.  Produktivitätstheorien.    8.  U.-A.  Motivierte  Produktivitätstheorien. 

Thünens  Weise  bezeichnet  einen  Gipfelpunkt  solider  und  tiefdurch- 
dachter Forschung.  Leider  wurde  die  durch  ihn  angezeigte  Höhe  auch  in 
der  deutschen  Literatur  sehr  bald  wieder  verlassen.  Schon  sein  nächster 
Nachfolger  in  der  jetzt  geschilderten  Richtung,  Glaser  i),  läßt  bei  viel 
gutem  Willen  einen  entschiedenen  Rückschritt  in  der  Tiefe  der  Auffassung 
und  in  der  Schärfe  der  Gredankenführung  beobachten. 

Das  Kapital,  das  er  ganz  richtig  als  „Anwendung  indirekter  Arbeit" 


Standes  hat  nichts  Zwingendes,  ja  kaum  irgendeinen  Einfluß  auf  die  Handlungsweise 
der  einzelnen  Kapitalisten,  und  kann  daher  da  weitere  Wachsen  des  Kapitales  nicht 
hindern.  Jeder  schreibt  —  mit  Recht  —  dem  durch  seine  persönliche  Sparsamkeit 
gebildeten  Kapitalzuwachs  eine  unendlich  kleine  Wirkung  auf  die  Höhe  des  Zinsfußes 
im  Lande,  dagegen  eine  sehr  merkliche  Wirkung  auf  die  Erhöhung  seines  individuellen 
Zinseinkommens  zu  —  und  darum  wird  jeder,  der  überhaupt  Neigung  und  Möglichkeit 
zu  sparen  hat,  unbeirrt  sparen;  geradeso  wie  jeder  Grundbesitzer  seinen  Boden  melioriert 
und  sein  Verfahren  verbessert,  wie  er  kann,  auch  wenn  er  die  theoretische  Einsicht  hat, 
daß,  wenn  alle  Grundbesitzer  ihr  Verfahren  verbessern,  dies  bei  ungeändertem  Stand 
der  Bevölkerung  eine  Senkung  der  Produktenpreise,  und  ungeachtet  der  verminderten 
Kosten  eine  Senkung  der  Grundrente  nach  sich  ziehen  muß.  —  Der  zweite  Ansatz 
könnte  in  der  oben  (S.  146  u.  147)  abgedruckten  Anmerkung  Thünens  zu  jener  Stelle  ge- 
funden werden,  in  der  er  von  der  Redintegrierung  des  Kapitales  durch  den  Schuldner 
spricht.  Thünen  verweist  hier  darauf,  daß  man  „bei  dieser  Untersuchung  den  Blick 
immer  aufs  Ganze  richten"  müsse.  Denkbarer  Weise  könnte  man  diese  Mahnung  als 
Versuch  eines  Beweises  dafür  deuten,  daß  die  im  Text  angenommene  Erscheinung, 
wonach  der  Benutzer  eines  Kapitalstückes  dieses  durch  seine  Arbeit  redintegriert  und 
noch  außerdem  ein  Mehrprodukt  erzielt,  unter  allen  wirtschaftlichen  Umständen  ihre 
Giltigkeit  behaupte,  wenn  man  nur  dem  Individuum  das  Volksganze  substituiert;  es 
werde  nämlich,  auch  wenn  das  einzelne  Individuum  das  von  ihm  benützte  Kapital  nicht 
durch  seine  persönliche  Arbeit  redintegrieren  kann,  doch  immer  innerhalb  des  ganzen 
Volkes  das  Verhältnis  zutreffen,  daß  die  Mensdien  durch  Benutzung  von  Kapital  im 
Stande  sind,  ein  Mehrprodukt  zu  erzielen  und  außerdem  —  mit  einem  Teil  der  ersparten 
Arbeit  —  das  verbrauchte  Kapital  wieder  herzustellen.  In  diesem  Gedankengang 
könnte  man  sodann  eine  Entkräftung  des  von  mir  im  Texte  gemachten  Einwandes 
erblicken,  durch  den  ich  die  Voraussetzung  Thünens  nur  für  die  einfachsten  Verhältnisse 
zutreffend,  dagegen  für  kompliziertere  Verhältnisse  unstatthaft  erklärte.  Ich  glaube 
nicht,  daß  jene  Meinung,  aufs  Ganze  zu  blicken,  von  Thünen  in  diesem  Sinne  gemeint 
war.  Wenn  aber  auch,  so  vermag  sie  meinem  Einwand  nichts  von  seiner  Kraft  zu  nehmen. 
Denn  in  Fragen  der  Verteilung  —  und  die  Frage  nach  dem  Kapitalzinse  ist  eine  solche 
—  darf  man  eben  nicht  in  jeder  Beziehung  auf  das  „Ganze"  blicken.  Daraus,  daß  die 
Gesellsdiaft  im  ganzen  im  Stande  ist,  mit  Hilfe  des  Kapitales  dieses  selbst  zu  erneuern, 
und  doch  darüber  hinaus  mehr  Produkte  zu  «rzeugen,  folgt  noch  gar  nichts  für  die 
Existenz  eines  Kapitalzinses.  Denn  dieses  Plus  an  Produkten  könnte  ebensogut  als 
Mehrlohn  an  die  Arbeiter,  die  ja  zur  Erzielung  desselben  ebenso  unentbehrlich  waren 
als  das  Kapital,  statt  als  Zins  an  die  Kapitalisten  «rfolgt  werden.  Der  Kapitalzins  als 
Mehrwert  des  Individualertrages  über  den  individuellen  Kapitalaufwand  hängt  vielmehr 
davon  ab,  daß  das  Individuum  seine  Kapitalstücke  dauernd  zu  einem  Preise  bekommt, 
der  niedriger  ist,  als  der  Wert  des  damit  erzielten  Mehrproduktes.  Das  ist  aber  durch 
jenes  Verhältnis  in  der  Gesamtheit  nicht  ohne-  weiteres  gewährleistet,  jedenfalls  nicht 
selbstverständlich.  Wäre  es  dieses,  so  gäbe  es  wahrhaftig  nicht  so  viele  Theorien  üb'er 
eine  selbstverständliche  Sachet 

^)  Die  allgtsueine  Wirtsdiaftslehre  (>der  ^Nationalökonomie,  Berlin  1858. 


Glaser.  153 

auffaßt,  gilt  ihm  zweifellos  als  produktiv.  Den  Einwand,  daß  das  Kapital 
ein  totes  Instrument  sei,  das  nur  durch  die  Airwendung  von  Arbeit  belebt 
und  fruchtbar  gemacht  werde,  weist  er  damit  zurück,  daß  man  mit  eben 
so  viel  Recht  auch  umgekehrt  sagen  könnte,  „die  Arbeit  sei  tot  und  werde 
erst  durch  das  Kapital  belebt"  ^).  Ebenso  gilt  es  ihm  als  ausgemacht,  daß 
der  Kapitalgewinn  seinen  Ursprung  in  der  Produktivität  des  Kapitales 
finde.  „Der  Kapitalgewinn",  sagt  er,  „hat  seinen  Grund  darin,  daß  durch 
das  Kapital  ein  Teü  der  Produktion  bewirkt  wird,  und  ist  nur  ein  Lohn 
für  diese  Mitwirkung".  Er  stimmt  ausdrücklich  Say  zu,  der  bereits  dasselbe 
behauptet  habe,  wirft  ihm  aber,  mit  vollem  Rechte,  vor,  daß  er  die  „Art 
der  Mitwirkung  des  Kapitales"  nicht  habe  dartun  können. 

Diese  Aufgabe,  die  Glaser  für  nicht  besonders  schwierig  hält,  unter- 
nimmt er  nunmehr  selbst  zu  lösen.  Leider  tut  er  dies  auf  eine  Weise,  die 
seinen  theoretischen  Scharfblick  eben  in  kein  günstiges  Licht  stellt. 

Glaser  geht  davon  aus,  daß  alles  Kapital  die  Frucht  von  Arbeit  ist» 
daß  der  Wert  des  Kapitales,  wie  der  aller  Güter,  sich  nach  der  Quantität 
der  Arbeit  bemißt,  die  zu  seiner  Erzeugung  nötig  war,  und  daß  die  An- 
wendung des  Kapitals  nur  als  die  Anwendung  einer  indirekten  Arbeit  an- 
zusehen ist.  „Ob  ich  100  Arbeiter  ein  Jahr  beschäftige  oder  das  Produkt, 
welches  100  Arbeiter  hervorgebracht  haben,  anwende,  ist  für  die  Sache 
ganz  gleichgiltig."  Der  Kapitalist  verlangt  daher  mit  vollkommenem 
Rechte,  daß  ihm  eben  so  viel  aus  der  Produktion  zuteü  werde,  als  ob  er 
die  Arbeiter,  die  sein  Kapital  erzeugt  haben,  zur  Produktion  gestellt  hätte. 
Besteht  z.  B.  das  Kapital  aus  einer  Maschine,  wert  die  Arbeit  von  100 
Arbeitern  während  eines  Jahres,  und  erfordert  die  Herstellung  eines  be- 
stimmten Produktes  noch  fernere  500  Arbeiter,  so  ist  dieses  Produkt  als 
das  Erzeugnis  von  600  Arbeitern  anzusehen,  und  der  Kapitalist  hätte  den 
Anteil  von  100  Arbeitern,  also  ein  Sechsteil  des  ganzen  Produkts  für  sich 
zu  fordern. 

Bis  hieher  wird  man  den  Gedankengang  Glasers  kaum  beanständen, 
aber  auch  kaum  absehen,  wie  es  unter  den  gemachten  Voraussetzungen 
zu  einem  Gewinn  des  Kapitalisten  kommen  kann.  Glaser  selbst  fragt: 
„Wenn  nun  das  Produkt  gerade  den  Wert  von  600  Arbeitern  (?)  hat,  wie 
kann  dem  Kapitalisten  da  noch  Gewinn  erwachsen?" 

Die  Lösung  dieses  Rätsels  findet  er  darin,  daß  durch  die  Anwendung 
des  Kapitales  mehr  erzeugt  wird  als  ohne  dasselbe.  Dadurch  wird  ein 
Fonds  beschafft,  aus  welchem  eine  Entschädigung  für  die  Kapitalnutzung 
gewonnen  werden  kann.  Dieser  Fonds  wird  indes  nur  zum  Teil  dem  Kapi- 
talisten zugewendet,  zum  andern  Teil  den  Arbeitern,  deren  Lage  sich  durch 
die  Kapitalanwendung  ebenfalls  verbessert,  wie  denn  überhaupt  die  ganze 
Gesellschaft  aus  dem  Mehrertrag  Nutzen  zieht.    Die  Verteilung  geschieht 

*)  Si  69  und  203.  Die  weiteren  im  Texte  vorgeführten  Auseinandersetzungen 
Glaskbs  finden  sich  a.  a.  0.  S.  203ff. 


154     VII.  Produktivitätstheorien.    3.  U.-A.  Motivierte  Produktivitätstheorien. 

nach  dem  Grundsatze,  daß  das  Kapital  als  indirekte  Arbeit  anzusehen, 
und  diese  eben  so  zu  entlohnen  ist,  wie  direkte  Arbeit.  „Wenn  z.  B.  die 
Arbeiter,  welche  das  Kapital  erzeugt  haben,  ein  Sechsteil  aller  Arbeiter 
wären,  so  würde  von  dem  gesamten  Produkte  ein  Sechsteil  —  vorausgesetzt, 
das  gesamte  Kapital  würde  bei  der  Verwendung  zur  Produktion  auch 
zerstört  —  dem  Kapitalisten  zufallen."  „Dieses  Sechsteil",  schließt 
Glaser  seine  Auseinandersetzung,  „würde  mehr  sein,  als  zur  Zurück- 
erstattung des  Kapitals  nötig  wäre,  und  das  Mehr  würde 
eben  den  Kapitalgewinn  ausmachen." 

Dieser  Schlußsatz  enthält  eine  vollkommen  unmotivierte  Präsumtion. 
Glaser  behauptet  hier,  daß  das  Sechstel  des  Kapitalisten  mehr  sein  würde, 
als  zur  Zurückerstattung  des  Kapitales  nötig  wäre.  Aber  er  hat  diese 
Behauptung  nicht  allein  mit  keinem  Worte  bewiesen,  sondern  sie  steht 
im  Gegenteile  mit  allen  Prämissen  im  direkten  Widerspruch:  es  folgt  aus 
allem  Gesagten  umgekehrt,  daß  das  ganze  Sechsteil  des  Kapitalisten 
nötig  ist,  um  das  Kapital  zu  ersetzen  und  daß  kein  Gewinn  übrig  bleiben 
kann.    Der  Beweis  ist  leicht  zu  erbringn. 

Es  ist  undenkbar  und  nach  der  Voraussetzung  auch  ausdrücklich 
ausgeschlossen,  daß  die  Arbeiter,  welche  das  Kapital  erzeugen,  auf  die 
Dauer  nach  einem  niedrigeren  Satze  entlohnt  werden,  als  die  direkten 
Arbeiter;  ist  aber  der  Arbeitslohn  des  indirekten  Arbeiters  ebenso  hoch 
als  der  des  direkten,  und  bekommen  die  fünfmal  so  zahlreichen  direkten 
Arbeiter  fünf  Sechsteile  des  gesamten  Produkts,  so  werden  die  indirekten 
Arbeiter  für  ihre  Arbeit  den  fünften  Teil  vom  Lohn  jener,  also  ein  Sechsteil 
des  gesamten  Produkts  erhalten  müssen;  damit  ist  das  ganze  Produkt  unter 
die  Arbeiter  aufgeteilt,  und  für  den  Kapitalisten  bleibt  —  nichts.  Ziffer- 
mäßig veranschaulicht:  Nehmen  wir  an,  100  Arbeiter  bauen  eine  Maschine 
und  500  andere  erzeugen  damit  ein  Jahresprodukt  von  300000  fl.  Wert; 
so  entfallen  nach  Glasers  Verteilungsschlüssel  fünf  Sechstel  =  250000  fl. 
auf  die  500  direkten  Arbeiter,  von  denen  daher  jeder  einen  Jahreslohn 
von  500  fl.  erhält,  und  das  sechste  Sechstel  =  50000  fl.  erhält  der  Kapi- 
talist, der  die  Maschine  beisteuert.  Die  Maschine  geht  aber  angenommener 
Weise  in  einem  Jahre  zu  gründe,  und  der  Kapitalist  muß  sie  aus  dem 
Erträgnisse  ersetzen.  Wie  viel  kostet  ihn  der  Ersatz?  Offenbar  nicht 
weniger  als  50000  fl.;  denn  er  muß  zu  ihrer  Herstellung  100  Leute,  die 
einen  Jahreslohn  von  je  500  fl.  beanspruchen,  durch  ein  Jahr  beschäftigen; 
macht  50000  fl.  Auslage,  welche  die  50000  fl.  Einnahme  völlig  erschöpfen, 
und  von  einem  Gewinn  kann  keine  Rede  sein. 

Dies  ist  indes  nicht  der  einzige  Widerspruch,  in  dem  jene  aus  der 
Luft  gegriffene  Behauptung  Glasers  mit  seinen  früheren  Prämissen  steht. 
So  hat  er  früher  ausdrücklich  angenommen,  daß  der  Wert  aller  Güter, 
auch  des  Kapitals,  sich  nach  der  Quantität  Arbeit  richtet,  die  ihre  Er- 
zeugung gekostet  hat.     Steckt  nun  in  dem  zur  Verteilung  gelangenden 


Glaser,  Roesler.  155 

Gesamtprodukt  eine  Summe  von  600  Arbeitsjahren,  so  muß  das  Sechsteil, 
das  hievon  dem  Kapitalisten  zufällt,  offenbar  einen  Wert  besitzen,  der 
100  Arbeitsjahren  entspricht.  Da  aber  die  Herstellung  seines  Kapitals 
ebenfalls  100  Arbeitsjahre  gekostet  hat,  so  müssen  das  Kapital  selbst  und 
der  Kapitalsertrag  offenbar  genau  gleichwe»1ig  sein  und  ein  Gewinn  ist 
unmögüch. 

Auf  alle  diese  nahe  liegenden  Erwägungen  hat  aber  Glaser  nicht 
geachtet  und  ist  blindlings  den  Verlockungen  gefolgt,  welche  vom  zwei- 
deutigen Wörtchen  „mehr"  ausgingen;  wer  sich  die  Mühe  nimmt,  seine 
Ausführungen  im  Zusammenhange  zu  lesen,  wird  nicht  ohne  Ergötzen 
verfolgen,  wie  das  „Mehr",  das  Anfangs  noch  ganz  richtig  ein  „Mehr  an 
Produkten"  bedeutete,  sich  später,  schon  zweideutig,  aber  noch  zulässig, 
in  ein  „Mehr  des  Ertrages",  dann  in  „Vorteil",  dann  in  „Gewinn"  ver- 
wandelt, bis  es  endlich  in  der  entscheidenden  Schlußstelle  geradezu  als 
Mehrwert  gedeutet  und  auf  den  Kapitalgewinn  bezogen  wird. 

Ist  schon  Glaser  wegen  seiner  zu  geringen  Vorsicht  im  Gebrauch 
doppelsinniger  Begriffe  zu  tadeln,  so  zeigt  vollends  Roesler  einen  be- 
dauerlichen Rückfall  in  die  Manier,  mit  unklaren  Begriffen  leichtfertig 
umzuspringen,  sie  bald  in  diesem,  bald  —  wie  es  dem  Autor  eben  paßt  — 
in  einem  ganz  andern  Sinn  zu  gebrauchen,  und  so  dem  geduldigen  Wort 
eine  Übereinstimmung  abzupressen,  die  in  der  Sache  wahrhaftig  nicht  üegt. 

Da  diese  Art  hauptsächlich  durch  Mißbrauch  der  Worte  sündigt,  so 
läßt  sich  ein  Urteil  über  sie  nicht  leicht  ohne  Vorführung  des  Wortlautes 
begründen,  den  ich  daher  in  größerer  Ausführlichkeit,  als  mir  lieb  ist, 
werde  zitieren  müssen.  Vielleicht  wird  sich  übrigens  der  Leser  durch  das 
Lehrreiche  der  Sache  entschädigt  finden:  Roesler  gibt  ein  höchst  in- 
struktives Beispiel  dafür,  wie  viele  Fallstricke  unsere  gebräuchliche  wissen- 
schaftliche Terminologie  dem  folgerichtigen  Denken  legt,  und  welch' 
hoher  —  leider  so  selten  geübter!  —  Grad  kritischer  Wachsamkeit  un- 
erläßlich ist,  wenn  man  sich  unserem  schwierigen  Problem  gegenüber  nicht 
in  widerspruchsvolle  Phrasen  verlieren  will. 

Roesler  gibt  in  seinen  drei  wichtigsten  volkswirtschaftlichen  Schriften 
drei  ziemlich  erheblich  differierende  Versionen  über  den  Ursprung  des 
Kapitalzinses.  In  der  ersten,  der  „Kritik  der  Lehre  vom  Arbeitslohn" 
(1861),  bringt  er  ein  wenig  origiaeUes  Durcheinander  von  Produktivitäts-, 
Nutzungs-  und  Abstinenztheorie,  das  wir  füglich  übergehen  können^). 
Am  eingehendsten  und  lehrreichsten  behandelt  er  unser  Thema  in  der 
zweiten  Schrift,  den  „Grundsätzen  der  Volkswirtschaftslehre"  (1864). 

Roesler  führt  hier  die  Produktivität  des  Kapitals  mit  folgenden 
Worten  ein  (S.  104): 

')  Die  Hauptstellen  findet  der  Leser  auf  S.  1,  4,  7,  8  und  39  der  oben  genannten 
Schrift. 


166     VII.  Produktivitätstheorien.    3.  U.-A.  Motivierte  Produktivitätstheorien. 

„Die  Produktivität  des  Kapitals  beruht  auf  seinen  zu  produktiven 
Zwecken  verwendbaren  Eigenschaften,  welche,  wie  wir  gesehen  haben, 
sehr  mannigfaltiger  Art  sind.  Jedes  Kapital  enthält,  wie  die  Natur 
oder  die  Arbeit,  ein  bestimmtes  Maß  von  Kräften  in  sich, 
deren  Benützung  das  Kapitalprodukt  zur  Folge  hat.  Durch 
das  Kapital  werden  entweder  Stoffe  für  die  Arbeit  geliefert  oder  die  Vier- 
richtungen  der  Arbeiter  in  hohem  Grade  erleichtert  oder  abgekürzt.  Was 
man  bei  jeder  produktiven  Tätigkeit  der  Mitwirkung  des  Kapitals  verdankt, 
ist  als.  Kapitalprodukt  anzusehen.  Wer  z.  B.  mit  der  bloßen  Hand 
schwimmend  im  Wasser  Fische  fängt,  hat  in  den  gefangenen  Fischen  nur 
Natur-  und  Arbeitsprodukt,  sofern  nicht  das  Wasser  oder  die  Fische  erst 
künstlich  hervorgebracht  wurden;  bedient  man  sich  dabei  eines  Bootes 
oder  eines  Netzes  oder  einer  Angel,  so  wirkt  die  Kapitalkraft  mit,  und 
was  man  dabei  mehr,  leichter  oder  schneller  fängt,  ist  Wir- 
kung dieser  letzten  Produktivkraft.  Das  Kapital  ist  also  eine 
selbständige  Güterquelle,  wie  die  beiden  anderen,  aber  es  muß  in  der 
Regel,  je  nach  der  Natur  jedes  produktiven  Geschäfts,  mehr  oder  wieniger 
mit  jenen  verbunden  werden,  um  seine  Wirkung  äußern  zu  können. 
Manche  Kapitalien  vermögen  aber  auch  für  sich  allein  produktiv  zu  wirken; 
80  kann  man  Wein  in  Flaschen  jahrelang  ohne  Zutat  von  Arbeit  liegen 
lassen,  und  was  der  Wein  durch  die  fortgesetzte  Gärung  an  vermehrter 
Annehmlichkeit  oder  Stärke  gewinnt,  ist  lediglich  Kapitalprodukt." 

In  dieser  Auseinandersetzung  schreibt  Roesler  —  wie  man  sieht  -— 
dem  Kapital  eine  selbständige  Produktivität  zu,  die  er  vorläufig  als 
physische  Produktivität  versteht,  indem  er  sie  auf  den  Umstand  gründet, 
daß  man  mit  Hilfe  von  Kapital  mehr,  besser  und  schneller  produziert  als 
ohne  Kapital.  —  Schon  hier  möchte  ich  die  Aufmerksamkeit  des  Lesers 
darauf  lenken,  daß  Roesler  das  Wort  „Kapitalprodukt"  in  etwas  unbe- 
stimmtem Sinn  zu  gebrauchen  liebt.  So  bedeutet  in  dem  Satze  „was 
man  bei  jeder  produktiven  Tätigkeit  der  Mitwirkung  des  Kapitals  ver- 
dankt, ist  als  Kapitalprodukt  anzusehen"  das  letztere  Wort  das  gesamte 
aus  der  Kapital  Verwendung  hervorgehende  Produkt,  also  den  Brutto- 
ertrag des  Kapitales;  im  Beispiel  vom  Weine  wird  aber  nur  der  Gewinn 
des  Weines  an  vermehrter  Annehmlichkeit  und  Stärke,  also  der  Netto- 
ertrag des  Kapitales  als  Kapitalprodukt  bezeichnet.  Wir  werden  später 
sehen,  welch  wichtigen  Dienst  der  Doppelsinn  dieses  Wortes  für  Roeslers 
Theorie  zu  leisten  berufen  ist. 

„Den  Naturkräften  und  der  Arbeit,"  äußert  sich  Roesler  später 
(S.  135),  „wurde  wohl  zu  aDen  Zeiten  die  Eigenschaft  der  Produktivität 
zuerkannt,  nicht  so  aber  dem  Kapital.  Erst  beim  Ausgange  des  Mittel- 
alters dämmerten  allmählig  richtigere  Ansichten  über  die  produktive 
Bedeutung  des  Kapitals. 

Aber  noch  Adam  Smith  und  mehrere  seiner  Anhänger  spraclien 


Roesler.  J_57 

eigentlich  dem  Kapital  die  produktive  Eigenschaft  ab,  indem  sie  glaubten, 
die  Kapitalrente,  welche  der  Kapitalist  für  die  Mitwirkung  des  Kapitals 
bei  der  Produktion  erhält,  werde  aus  dem  Arbeitsertrage  genommen. 
Die  Irrigkeit  dieser  Ansicht  springt  auf  den  ersten  Blick  in  die 
Augen;  denn  ohne  Kapital  würde  jeder  Arbeiter  weniger  oder  schlechter 
oder  langsamer  produzieren,  und  was  man  so  an  Menge,  Güte  oder  Zeit- 
ersparnis gewinnt,  ist  ein  reeller  Vorteil,  den  man  nur  der  Mitwirkung 
des  Kapitales  verdankt,  und  ohne  welchen  die  Mittel  der  Bedürfnis- 
befriedigung unzweifelhaft  auf  einer  tieferen  Stufe  sich  befinden  würden." 

Hier  bestärkt  Roesler  die  früher  ausgesprochene  Behauptung  der 
selbständigen  Produktivität  des  Kapitals,  und  gibt  zugleich  zu  erkennen, 
daß  er  dieselbe  für  die  zweifellose  Quelle  der  Kapitalrente  hält,  die,  wie 
er  ein  anderes  Mal  (S.  471)  sagt,  „nicht  vom  Unternehmer  oder  Kapitalisten 
produziert"  wird,  sondern  „die  mühelose  Folge  der  im  Kapital  selbst 
liegenden  Produktivkraft"  ist. 

Auf  welche  Weise  geht  aber  die  Rente  aus  der  Produktivität  des 
Kapitales  hervor?  Dieses  auszuführen  ist  der  Zweck  folgender  merk- 
würdiger Auseinandersetzung  (S.  448),  die  am  zweckmäßigsten  satzweise 
vorzuführen  und  zu  glossieren  ist. 

„Was  durch  Verwendung  des  Kapitales  bei  der  Produktion  hervor- 
gebracht wird,  ist  Produkt  oder  Ertrag  des  Kapitales." 

Hier  ist  Ertrag  des  Kapitales  ersichtlich  im  Sinne  von  Bruttoertrag 
gebraucht. 

„Dieser  Erfolg  der  Kapitalverwendung  besteht,  wie  bei  der  Arbeit, 
in  der  Hervorbringung  eines  Gutes  oder  einer  neuen  Brauchbarkeit,  deren 
Dasein  man  bloß  der  Mitwirkung  des  Kapitales  verdankt,  und  muß  in 
Gedanken  wohl  ausgeschieden  werden  von  den  Teilen  des  ganzen  Pro- 
duktionsertrages, welche  durch  Arbeit  oder  Mitwirkung  freier  Näturkräfte 
entstanden  sind." 

Hier  ist  zu  beachten,  daß  Roesler  den  Erfolg  der  Kapitalverwendung 
in  die  Hervorbringung  eines  Gutes  oder  einer  Brauchbarkeit  setzt;  von 
einer  Hervorbringung  von  Wert  ist  weder  hier,  noch  sonst  früher  die  Rede 
gewesen. 

„Ist  also  der  Wert  eines  bestimmten  Produktes,  z.  B.  eines  Scheffels 
Getreide,  zu  bestimmen,  so  kommt,  da  die  freien  Naturkräfte  keinen  Wert 
haben,  nur  ein  Teil  auf  Rechnung  des  Kapitales,  der  andere  auf  Rechnung 
der  dazu  gelieferten  Arbeit,  und  genau  in  demselben  Verhältnis,  als  Kapital 
hierbei  mitwirkt,  wird  sein  Wert  mit  Rücksicht  auf  Kapital  bestimmt 
oder  als  Ertrag  des  dabei  aufgewendeten  Kapitales  angesehen." 

Ist  denn  „Wert"  auf  einmal  gleichbedeutend  mit  „Gut"  geworden, 
daß  jetzt  die  Hervorbringung  des  Wertes  so  unter  die  mehreren  Faktoren 
aufgeteilt  wird,  wie  im  früheren  Satz  die  Hervorbringung  des  Gutes,  und 
daß  jetzt  auf  einmal  „sein",  des  Scheffels,  „Wert"  als  Ertrag  des  dabei 


158     VII.  Produktivitätstheorien.    3.  U.-A.  Motivierte  Produktivitätstheorien. 

angewendeten  Kapitales  gilt,  statt  wie  bisher  ein  Gut  oder  eine  Brauch- 
barkeit? —  Aber  hören  wir  weiter. 

„Manche  Produkte  können  auch,  in  einem  gegebenen  Zeitpunkte, 
ausschließlich  als  Kapitalertrag  angenommen  werden." 

Hier  besteht  der  Kapitalertrag  wieder  aus  Produkten  oder  Gütern. 

„Legt  man  z.  B.  jungen  Wein  in  den  Keller  und  bringt  die  Arbeit 
des  Einlegens  als  Wertzuschlag  zum  Wert  des  Weines,  Fasses,  Kellers  in 
Ansatz,  so  bildet  die  durch  die  Gärung  nach  Umfluß  eines  Jahres  bewirkte 
Verbesserung  der  Güte  das  Kapitalprodukt,  des?en  Wert  sich  in 
dem  Unterschied  des  Most-  und  Weinpreises  offenbart." 

Was  ist  hier  Kapitalprodukt?  —  Die  „Verbesserung".  Das  sagt 
zweierlei:  „Verbesserung"  bedeutet  erhöhte  Brauchbarkeit  und  nicht 
erhöhten  Wert;  und  „Verbesserung"  bedeutet  ferner  nicht  den  ganzen 
Erfolg  der  Kapitalverwendung,  wie  oben,  sondern  nur  das  Plus,  das  über 
die  bisherige  Brauchbarkeit  des  Kapitalgutes  Most  hinzugewonnen  wurde. 
Also  „Nettoertrag  an  Brauchbarkeit."  Sofort  aber  wird  durch  die  Worte 
„dessen  Wert  sich  in  dem  Unterschied  des  Most-  und  Weinpreises  offen- 
bart", der  Nettoertrag  an  Brauchbarkeit  in  einen  Nettoertrag  an  Wert 
umgewandelt. 

Und  nun  zieht  Roesler  sein  Resultat  mit  den  abschließenden  Worten: 
„dieser  Ertrag  ist  die  Rente." 

Welcher  Ertrag?  ist  man  da  wohl  versucht  zu  fragen;  der  Brutto- 
ertrag an  Gütern,  den  das  Wort  Kapitalertrag  am  Anfang  der  Stelle 
bedeutet  hat?  oder  der  Nettoertrag  an  Wert,  den  es  zuletzt  bedeutete? 
oder  vielleicht  der  Bruttoertrag  an  Wert  oder  der  Nettoertrag  an 
Brauchbarkeit,  den  es  in  der  Mitte  abwechselnd  bedeutet  hatte?  — 
Man  würde  wirklich  nicht  klar,  welchem  Gegenstande  der  ganze  Beweis 
eigentlich  gilt,  wenn  man  nicht  sonst  schon  wüßte,  daß  die  Rente  ein 
Wertüberschuß  ist.     Diesen  also  wollte  Roesler  erklären. 

Und  hat  er  ihn  erklärt  ?  —  Ich  wüßte  nicht  wann  und  wie. 

Er  behauptet  „die  Rente  ist  die  mühelose  Folge  der  im  Kapitale 
selbst  liegenden  Produktivkraft."  Zum  Beweis  dieser  Behauptung  ist  er 
die  Erklärung  schuldig,  wieso  die  Produktivität  des  Kapitales  zu  einem 
Wertüberschuß  des  Produktes  über  den  eigenen  Wert  des  Kapitales  führt. 
Wo  soll  er  diese  Erklärung  geliefert  haben?  —  In  den  ersten  Zitaten,  in 
denen  er  das  Wesen  der  Produktivkraft  des  Kapitales  schildert,  gewiß 
nicht;  denn  hier  behauptet  er  nur,  daß  man  mit  Hilfe  des  Kapitales  mehr 
Produkte  und  Brauchbarkeiten  erzeugt  als  ohne  Kapital;  es  ist  eine  Pro- 
duktivität, die  auf  „mehr  Güter  als  sonst"  geht,  die  hier  besprochen  wird, 
keine,  die  auf  „mehr  Wert  als  das  Kapital  selbst"  ginge. 

Aber  im  Schlußzitat,  das  der  Erklärung  der  Rente  eigens  gewidmet 
ist?  —  Wer  dieses  Zitat  mit  Aufmerksamkeit  liest,  wird  bemerken,  daß 
auch  hier  die  Entstehung  des  „Mehrwertes"  aus  der  Produktivität  des 


Roesler.  169 

Kapitales  mit  keinem  Wort  erklärt  ist.  Eine  Verbindung  ist  freilich 
zwischen  ihnen  hergestellt,  aber  nur  dadurch,  daß  Roesler  inmitten 
seiner  Auseinandersetzung  auf  einmal  anfängt  „Wert"  zu  sagen,  wo  er 
früher  „Gut"  gesagt  hat,  und  so  tut,  als  ob  Produkt  und  Wert,  mehr 
Produkt  und  mehr  Wert,  noch  dazu  '„mehr  Produkt  als  sonst"  und  „mehr 
Wert  als  das  Kapital  selbst"^  schlechthin  identisch  wären,  und  als  ob  mit 
dem  Beweise,  daß  das  Kapital  mehr  Produkt  erzeugt,  auch  schon  bewiesen 
wäre,  daß  die  Produktivität  des  Kapitales  die  spendende  Quelle  des  Mehr- 
wertes ist.  Aber  so  steht  die  Sache  nicht.  Das  Kapital  hilft  zur  Entstehung 
von  mehr  Produkten  als  man  sonst  bekäme:  das  ist  eine  Tatsache.  Und 
diese  mehreren  Produkte  haben  mehr  Wert  als  das  zu  ihrer  Erzeugung 
aufgewendete  Kapital:  da^  ist  eine  zweite,  von  der  ersten  ganz  unter- 
schiedene Tatsache,  die  ihrer  eigenen  Erklärung  bedarf.  Und  diese  Er- 
klärung ist  Roesler  schuldig  geblieben  —  wie  so  viele  seiner  Vorgänger. 

Auch  in  den  Ansichten,  die  Roesler  über  die  Höhe  der  Kapital- 
zinsen äußert,  setzt  er  das  bisherige  Spiel,  falsche  Schlüsse  auf  den  Ge- 
brauch zweideutiger  Ausdrücke  zu  stützen,  unverändert  fort.  Ich  würde 
meinen  Lesern  und  mir  selbst  die  wenig  dankbare  Aufgabe,  Roeslers 
dialektischen  Irrungen  noch  weiter  nachzugehen,  gerne  erlassen,  wenn 
nicht  gerade  diesem  Teile  seiner  Ausführungen  ein  erhöhtes  theoretisches 
Interesse  zukäme.  Sie  beleuchten  nämlich  drastisch  die  Verlegenheit,  in 
die  nicht  bloß  Roesler,  sondern  jede  Produktivitätstheorie  kommen  muß, 
wenn  es  gilt,  ihre  Lehre  vom  Ursprung  des  Kapitalzinses  auch  mit  den 
tatsächlichen  Erscheinungen  der  Zinshöhe  zusammenzureimen. 

Die  Ursache  des  Kapitalzinses  liegt  den  Produktivitätstheorien  zu- 
folge in  der  Produktivität  des  Kapitales.  Nun  läßt  sich  kaum  in  Abrede 
stellen,  daß  diese  mit  zunehmender  wirtschaftlicher  Entwicklung  immer 
mehr  steigt^).  Man  sollte  daher  erwarten,  daß  mit  dem  Wachsen  der 
Ursache  auch  die  Wirkung  wachsen,  also  mit  zunehmender  wirtschaftlicher 
Entwicklung  auch  der  Zinsfuß  immer  mehr  in  die  Höhe  gehen  werde. 
Bekanntlich  zeigt  aber  die  Erfahrung  das  gerade  Gegenteil:  der  Zinsfuß 
steigt  nicht,  sondern  sinkt  in  dem  Maße,  als  die  wirtschaftliche  Kultur 
vorschreitet.  —  Wie  ist  das  mit  der  Lehre  zusammenzureimen,  daß  die 
Produktivität  des  Kapitales  die  wirkende  Ursache  des  Kapitalzinses  ist? 

Roesler  hat  die  Verlegenheit,  die  hieraus  erwächst,  deutlich  erkannt, 
die  Versuche  einiger  Früherer,  zumal  Careys  in  zutreffender  Kritik  als 
unzureichend  verworfen,  und  sucht  nun  seinerseits  nach  einem  Ausweg  2). 
Fr  wiU  ihn  darin  finden,  daß  gerade  die  größere  Produktivität  des  Kapi- 


*)  „Daß  diese  Produktivität  immer  mehr  zunimmt,  lehrt  ein  Blick  auf  die  Fort- 
schritte der  Technik;  man  vergleiche  Pfeil  und  Bogen  mit  einem  Schießgewehr,  die 
Verbesserungen  der  Spinnmaschine,  der  Webstühle,  der  Pflüge  usw."  Roesler  a.  a.  0. 
S.  460. 

»)  S.  458ff. 


160     VII.  Produktivitätstheorien.    3.  U.-A.  Motivierte  Produktivitätstheorien. 

tales  es  sei,  die  den  Zins  herabdrückt.  „Je  ergiebiger  die  Kapitalverwen- 
dung, desto  geringeren  Wert  besitzt  das  daraus  erzielte  Produkt.  Der 
sinkende  Zinsfuß  ist  nicht  eine  Folge  der  Schwierigkeit,  sondern  der 
Leichtigkeit  der  Produktion;  nicht  eine  Folge  oder  ein  Zeichen,  sondern 
ein  Hindernis  der  Teuerung." 

Zur  Begründung  dieser  Sätze  entwickelt  Koesler  folgende  Theorie, 
die  ich  wieder  satzweise  vorführen  und  kritisieren  will 

„Der  Gebrauchswert  des  Kapitales  kann  nur  in  dem  seines  Produktes 
bestehen." 

Gewiß  sehr  richtig.  Zu  bemerken  ist,  daß  Roesler  hier  vom  Wert 
und  Produkt  des  Kapitales  spricht,  nicht  der  Kapitalnutzung.  Kapital- 
produkt ist  daher  das  Bruttoprodukt  der  Kapitalverwendung. 

„Dieser  muß  aber  sinken,  je  leichter  und  wohlfeiler  man  mittelst 
Kapitalverwendung  Bedürfnisse  befriedigen  kann." 

Das  ist  schon  falsch.  Wächst  das  Produkt  der  Kapitalverwendung, 
so  wird  allenfalls  das  einzelne  Stück  des  Produktes  im  Gebrauchswert 
sinken,  aber  gewiß  nicht  das  ganze  Produkt,  von  dem  die  Rede  ist. 
Wenn  ich  mit  gleichem  Kapitalaufwand  erst  500,  dann  1000  Zentner  Zucker 
zu  erzeugen  lerne,  so  mag  im  zweiten  Fall  zwar  ein  einzelner  Zentner  einen 
geringeren  Gebrauchswert  haben,  als  früher  ein  einzelner  Zentner  gehabt 
hat,  aber  sicher  werden  die  1000  Zentner  zusammen,  das  jetzige  „Produkt 
des  Kapitales"  mehr  Gebrauchswert  haben,  als  die  600  Zentner  zusammen- 
genommen hatten. 

„Es  scheint  näher  zu  liegen,  um  so  mehr  für  die  Nutzung  einer 
Produktivkraft  zu  bezahlen,  je  mehr  man  mittelst  derselben  hervor- 
bringen kann.  Allein  dies  wäre  eine  Verwechslung  zwischen  Größe  und 
Wert  des  Ertrages  und  man  muß  sich  erinnern,  daß  Menge  und  Wert  in 
diametralem  Gegensatze  stehen." 

Dieser  Satz  bietet  Anlaß  zu  einer  Reihe  von  Bemerkungen.  Zunächst 
fällt  auf,  daß  Roesler  auf  einmal  vom  Kapitale  selbst  auf  die  Nutzung 
desselben  überspringt.  Daß  man  sodann  Größe  und  Wert  des  Ertrages 
nicht  verwechseln  darf,  ist  eine  sehr  richtige  Mahnung,  die  von  Roesler 
selbst  in  seinen  früheren  Auseinandersetzungen  (siehe  oben  S.  157  f.)  mit 
Nutzen  hätte  beachtet  werden  können.  Ebenso  ist  es  in  gewissem  Sinne 
richtig,  daß  Menge  und  Wert  in  diametralem  Sinne  entgegengesetzt  sind 
—  nur  nicht  in  dem  Sinne,  den  Roesler  der  Sache  gibt.  Richtig  ist  näm- 
lich, daß  je  mehr  Exemplare  es  von  einer  Güterart  gibt,  desto  weniger  — 
caeteris  paribus  —  das  einzelne  Exemplar  wert  ist;  nicht  richtig  ist 
es  aber,  daß  je  mehr  Exemplare  es  von  einer  Güterart  gibt,  desto  weniger 
diese  zusammen  wert  sind.  Beträgt  die  Ernte  10  Millionen  Metzen 
Getreide  statt  5  Millionen,  so  gebe  ich  gerne  zu,  daß  1  Metzen  Getreide 
weniger  wert  sein  wird  als  zuvor.    Aber  ich  zweifle,  daß  die  10  Millionen 


Roesler.  161 

zusammen  weniger  wert  sein  werden,  als  die  ö  Millionen  es  waren,  am 
wenigsten  an  Grebrauchswert,  von  dem  Roesleb  ja  spricht. 

Setzen  wir  uns  aber  über  alle  diese  Bedenken  hinweg  und  nehmen 
wir  mit  Roesler  an,  es  sei  wahr:  je  mehr  Produkte  das  Kapital  erzeugt, 
desto  weniger  ist  die  Summe  dieser  Produkte  wert.  Folgt  daraus  irgend 
etwas  für  die  Erniedrigung  des  Zinsfußes? 

Ich  sehe  nicht  ein,  wie.  Roesler  hat  selbst  gesagt,  daß  der  Gebrauchs- 
wert des  Kapitales  in  dem  seines  Produktes  besteht.  Ist  jetzt  das  Produkt 
weniger  wert,  so  wird  dies  seine  natürliche  Wirkung  darin  äußern,  daß 
auch  das  Kapital  weniger  wert  sein  wird;  mit  anderen  Worten,  daß  der 
Kapitalwert  der  verschiedenen  Produktivmittel,  der  Fabriken,  Maschinen, 
Rohstoffe  usw.  sinkt.  Daß  dabei  der  Zinsfuß  sinken  muß,  ist  nicht  im 
mindesten  einleuchtend  gemacht.  Die  Frage  ist  ja,  wie  man  Roesler 
mit  seinen  eigenen  Worten,  die  er  gegen  Carey  gerichtet  hatte,  vorhalten 
kann:  „zu  beantworten,  nicht  warum  für  eine  Maschine,  die  früher  100, 
jetzt  80  kostet,  jetzt  4  statt  früher  5  an  Zins  gegeben  werden,  sondern 
warum  der  Zins  für  einen  Wert  von  100  früher  5,  jetzt  4  beträgt." 

Sollte  der  Minderwert  des  „Kapitalprodukts"  für  den  Zinsfuß  etwas 
zu  bedeuten  haben,  so  kann  es  nur  sein,  wenn  man  Kapitalprodukt  wieder 
in  einem  ganz  anderen  Sinne,  nämlich  als  Nettoprodukt  des  Kapitales 
auffaßt.  Die  Größe  dieses  Produktes  steht  allerdings  in  direktem  Zu- 
sammenhange mit  dem  Zinsfuß.  Es  scheint  nun  in  der  Tat,  daß  Roesler 
vermöge  einer  seiner  beliebten  Begriffsschwankungen  in  diesem  Gedanken- 
gang —  wie  früher  öfter  schon  —  Kapitalprodukt  wieder  als  Nettoprodukt 
versteht*). 

Aber  hiemit  gibt  sich  Roesler  wieder  nach  einer  anderen  Seite  eine 
Blöße.  Er  irrt  nämlich  sehr,  wenn  er  den  Produktionsüberschuß  für  eine 
hermetisch  abgeschlossene  Größe  hält,  deren  Wert  sich  selbständig  nach 
Zahl  und  Brauchbarkeit  der  in  ihr  enthaltenen  Stücke  bestimmt:  in  der 
Art,  daß  der  Überschuß  groß  sei,  wenn  und  weil  die  darin  enthaltenen 
Stücke  selten  und  darum  wertvoll  sind,  während  er  klein  wird,  wenn  und 
weil  die  darin  enthaltenen  Stücke  zahlreich  und  darum  geringwertig  sind. 

Eine  solche  Auffassung  verkennt  das  Wesen  des  Überschusses  von 
Grund  aus.  Der  Überschuß  ist  das  unselbständigste  Ding  von  der  Welt, 
über  dessen  Wert,  ja  über  dessen  Existenz  Faktoren  entscheiden,  die 
durchaus  nicht  in  ihm  selbst  liegen.  Ob  ein  Überschuß  überhaupt  existiert 
und  wie  groß  sein  Wert  ist,  hängt  allemal  von  zwei  Dingen  ab :  einerseits 


^)  Dies  geht  namentlich  aus  der  auf  S.  462  folgenden  Stelle  hervor:  „Sollte  der 
Zins  je  auf  Null  sinken,  so  wäre  dieses  nicht,  weil  die  Produktivität  des  Kapitales  ver- 
schwunden, sondern  weil  diese  so  sehr  gestiegen  wäre,  daß  Kapitalprodukte  keinen 
Wert  mehr  hätten."  Der  Nullpunkt  des  Kapitalgewinnes  wird  eben  erreicht,  wenn  der 
Wert  der  Überschußprodukte  gleich  Null  ist;  nicht  auch  wenn  das  Gesamtprodukt 
des  Kapitales  gleich  Null  ist;  denn  dann  läge  Verlust  des  ganzen  Kapitalstockes  vor. 
B  ö  h  m  •  B  »  w'e  r  k ,  Kapitalzins.    4.  Aufl.  11 


162     VII.  Produktivitätstheorien.    3.  U.-A.  Motivierte  Produktivitätstheorien. 

von  dem  Gesamtwert  des  Bruttoproduktes  einer  Kapitalverwendung^ 
und  andererseits  von  dem  Wert  der  hiebei  verzehrten  Kapitalteile.  Ist 
die  erste  Summe  größer  als  die  zweite,  so  ist  ein  Überschuß  da,  und  zwar 
ein  um  so  größerer,  je  mehr  die  erste  Summe  überwiegt.  Damit  ist  dann 
auch  mit  bestimmt,  wie  viel  Stücke  von  wie  großem  Einzel- 
wert in  den  Überschuß  fallen.  Beileibe  aber  nicht  umge- 
kehrt: daß  Zahl  und  Einzelwert  der  in  den  Überschuß  fließen- 
den Stücke  bestimmen  könnte,  wie  groß  der  Überschuß  sein 
soll.  Der  Menge  und  dem  Einzel  wert  der  im  Überschuß  enthaltenen 
Stücke  einen  verursachenden  Einfluß  auf  Dasein  und  Größe  desselben 
einräumen,  hieße  auf  die  Frage:  Warum  ist  etwas  übrig  geblieben?  zur 
Antwort  geben:  Weil  etwas  übrig  geblieben  ist;  und  auf  die  Frage: 
Warum  ist  viel  übrig  geblieben?  antworten:  Weil  viel  übrig  ge- 
blieben ist. 

So  bietet  denn  Roeslers  Lehre  der  Kritik  einen  wunden  Punkt  um 
den  andern.  Unbefriedigend,  wie  sie  vom  Anfang  bis  zum  Ende  ist,  läßt 
sie  auch  den  Widerspruch,  den  der  sinkende  Zinsfuß  und  die  steigende 
Produktivität  des  Kapitales  bilden,  ohne  befriedigende  Versöhnung,  und 
mit  diesem  Widerspruch  bleibt  auch  ein  bedenkliches  Zeugnis  gegen  die 
Richtigkeit  aller  Theorien  in  Kraft,  welche  den  Zins  als  eine  reine  Frucht 
der  Kapitalsproduktivität  erklären  wollen. 

In  einer  späteren  Publikation,  den  1878  erschienenen.  „Vorlesungen 
über  Volkswirtschaft",  hat  Roesler  seine  Ansichten  nicht  unwesentlich 
modifiziert,  ohne  indes  einer  haltbaren  Lösung  des  Problems  näher  zu 
kommen. 

Das  Kapital  (der  Besitz)  erscheint  ihm  jetzt  nicht  nur  als  produktiv, 
sondern  sogar  als  allein  produktiv,  während  die  Arbeit,  „die  dienende 
Kraft  des  im  Kapital  liegenden  Besitzes",  selbst  nicht  produktiv  ist^). 
Seine  Produktivität  beruht  auf  der  Herrschaft  über  die  Naturkräfte,  in  der 
sein  Wesen  liegt,  und  die  durch  die  Dienste  der  —  ihm  untergeordneten  — 
Arbeit  vermittelt  wird^).  Der  Wert  gilt  Roesler  als  das  „Maß  der  pro- 
duktiven Kraft  des  Besitzes"  3).  Da  letztere  immerfort  zunimmt,  hat  auch 
der  Wert  die  Tendenz,  immerfort  zu  steigen*),  und  ebenso  der  Preis  aller 
Güter,  der  ja  „den  Wert  der  Güter  bezahlt"  &).  Ganz  irrig  ist  es,  die  allge- 
meine Steigerung  der  Preise  auf  ein  Sinken  des  Wertes  der  Edelmetalle 
zurückzuführen,  deren  Wert  vielmehr  gleichfalls  immerfort  steigt«).  Die 
Kapitalrente  wird  überall  als  eine  natürliche  Frucht  der  Produktivität  des 


1)  Vgl.  S.  141,  143,  148,  219,  295,  426,  431  usw. 

«)  Siehe  S.  75,  76,  127,  131,  148  usw. 

»)  S.  222,  223,  224  usw. 

*)  S.  224. 

»)  S.  289ff. 

•)  S.  292. 


Roesler.  \Q^ 

Kapitales  behandelt,  ohne  daß  nach  ihrem  Ursprang  ausdrücklich  gefragt 
würde.  Die  Abnahme  des  Zinsfußes  wird  endlich  sehr  sonderbar  damit 
erklärt,  daß  bei  zunehmender  Produktivität  alle  Werte  steigen,  also  auch 
„der  Kapitalstamm  als  Wertvermögen  in  die  Höhe  geht",  woraus  angeblich 
folgen  soll,  daß  auch  ein  zunehmender  Kapitalertrag  eine  geringere  Quote 
des  Kapitalstammes  repräsentieren  muß.  „Der  Anteil  des  Kapitales  muß, 
wie  der  der  Arbeit,  im  Verhältnis  stehen  zur  Zunahme  der  produktiven 
Leistung;  da  aber  mit  dieser  zugleich  der  Kapitalstamm  als  Wertvermögen 
in  die  Höhe  geht,  so  ergibt  sich  daraus  die  Notwendigkeit  einer  relativen 
Abnahme  der  Kapitalrente.  Wenn  die  Kente  von  5  auf  10  steigt  und  der 
Boden-  oder  Kapitalwert  von  100  auf  300,  so  wird  nun  der  neue  Kapital- 
ertrag im  Verhältnis  von  10  zu  300  zu  beurteilen  sein;  in  Prozenten  be- 
rechnet wäre  dann  der  Zinsfuß  von  5  auf  3%  herabgegangen."  (S.  437.) 

Warum,  darf  man  hier  wohl  fragen,  könnte  nicht  ebensogut  der 
„Anteil  des  Kapitales"  von  5  auf  15,  und  dabei  der  Wert  des  Kapital- 
stammes nur  von  100  auf  200  steigen?  Daß  der  Wert  des  Kapitalstammes 
mit  zunehmender  Produktivität  in  einem  stäriceren  Verhältnis  steigen 
muß,  als  die  Rente,  das  hat  ja  Roesler  nicht  mit  einem  einzigen  Wort 
behauptet,  geschweige  denn  erklärt  oder  bewiesen.  Alsdann  wäre  aber 
der  Zinsfuß  nicht  gesunken,  sondern  von  5  auf  7^%  gestiegen! 

Dieser  kurze  Auszug  zeigt  wohl  schon  zur  Genüge,  daß  Roesler  in 
der  neuesten  Gestalt  seiner  Lehre  von  einer  befriedigenden  Auffassung 
unseres  Problems  wo  möglich  noch  weiter  entfernt  geblieben  ist  als  zuyor. 

Inzwischen  waren  die  Produktivitätstheorien  ein  Gegenstand  ernster 
und  wuchtiger  Angriffe  geworden.  Rodbertüs  hatte  ihnen  in  einer  rahigen 
sachlichen  Kritik  vorgeworfen,  daß  sie  Fragen  der  Verteilung  und  Fragen 
der  Produktion  verwechseln;  daß  sie  mit  der  Annahme,  als  ob  der  als 
Kapitalgewinn  zugewiesene  Teil  des  Gesamtproduktes  ein  spezifisches 
Produkt  des  Kapitales  sei,  eine  petitio  principii  begingen;  daß  vielmehr 
die  einzige  Quelle  aller  Güter  die  Arbeit  sei.  Lassalle  und  Marx  hatten 
dann  dieses  Thema,  jeder  in  seiner  Weise,  variiert,  jener  mit  Ungestüm 
und  Witz,  dieser  mit  derber  Rücksichtslosigkeit. 

Diese  Angriffe  riefen  eine  Erwiderung  aus  dem  Lager  der  Produk- 
tivitätstheoretiker hervor,  mit  welcher  ich  diesen  überlangen  Abschnitt 
beschließen  will.  Obwohl  sie  aus  der  Feder  eines  noch  sehr  jungen  Ge- 
lehrten hervorging,  verdient  sie  unser  voUes  Interesse:  teils  wegen  der 
Stellung  des  Autors,  der  als  Mitglied  des  staatswissenschaftlichen  Seminares 
in  Jena  zu  den  damals  leitenden  Persönlichkeiten  der  historischen  Schule 
in  Deutschland  in  naher  wissenschaftlicher  Beziehung  stand  und  daher 
wohl  als  Repräsentant  der  in  dieser  Schule  herrschenden  Meinungen  ange- 
sehen werden  kann;  teils  wegen  ihres  Entstehungsanlasses.  Indem  sie 
nämlich  in  voUer  Kenntnis  und  zur  Widerlegung  der  wuchtigen  Angriffe 
geschrieben  wurde,  die  soeben  Marx  in  seinem  „Kapital"  gegen  die  Lehre 

11* 


164     VII.  Produktivitätstheorien.    3.  Ü.-A.  Motivierte  Produktivitätstheorien. 

von  der  Produktivität  des  Kapitales  gerichtet  hatte,  sind  wir  zur  Erwartung 
berechtigt,  daß  sie  das  Beste  und  tJberzeugendste  enthält,  was  ihr  Autor 
nach  voller  kritischer  Überlegung  zu  Gunsten  der  Produktivitätstheorie 
zu  sagen  im  Stande  war. 

Diese  Erwiderung  findet  sich  in  zwei  Aufsätzen,  die  K.  Strasburger 
im  Jahre  1871  unter  dem  Titel  „Zur  Kritik  der  Lehre  Marx'  vom  Kapitale" 
und  „Kritik  der  Lehre  vom  Arbeitslohn"  in  Hildebrands  Jahrbüchern 
für  Nationalökonomie  und  Statistik  veröffentlichte^). 

Den  Kern  seiner  Lehre  hat  Strasbürger  im  zweiten  der  genannten 
Aufsätze 2)  in  folgenden  Worten  zusammengefaßt:  „Das  Kapital  führt 
Naturkräfte  zu,  welche  zwar  für  jeden  zugänglich  sind,  welche  aber  oft 
nur  mit  Hilfe  von  Kapital  zu  einer  bestimmten  Produktion  angewendet 
werden  können.  Nicht  jeder  besitzt  die  Mittel,  sich  die  Naturkräfte  zu 
unterwerfen;  die  Kraft  desjenigen,  welcher  mit  einem  geringen  Kapital 
arbeitet,  wird  zu  Operationen  in  Anspruch  genommen,  welche  für  einen 
anderen,  reich  mit  Kapital  ausgestatteten,  Naturkräfte  verrichten.  Des- 
halb ist  die  Leistung  der  Naturkräfte,  wenn  sie  durch  Ver- 
mittlung des  Kapitales  herbeigeführt  wird,  kein  Geschenk 
der  Natur;  sie  wird  beim  Tausche  mit  in  Anschlag  gebracht 
und  wer  kein  Kapital  besitzt,  muß  das  Produkt  seiner  eigenen 
Arbeit  für  die  Leistung  der  Naturkräfte  dem  Kapitalisten 
überlassen.  Das  Kapital  produziert  also  Werte,  aber  seine  Eolle 
bei  der  Produktion  ist  eine  völlig  verschiedene  von  der,  welche  die  Arbeit 
bei  derselben  spielt." 

Und  etwas  später »)  sagt  er:  „Schon  aus  dem  vorher  Gesagten  zeigt 
sich,  wie  wir  die  Produktivität  des  Kapitales  verstehen.  Das  Kapital 
produziert  Werte,  indem  es  Naturkräften  die  Arbeit  aufbürdet, 
welche  sonst  der  Mensch  selbst  verrichten  müßte.  Die  Produk- 
tivität des  Kapitals  beruht  also  darauf,  daß  es  sich  von  der  lebendigen 
Arbeit,  was  seine  Tätigkeit  bei  der  Produktion  anbetrifft,  unterscheidet. 
Wir  haben  gesagt,  daß  die  Leistung  der  Naturkräfte  im  Tausche  als  ein 
Äquivalent  der  menschlichen  Arbeit  betrachtet  wird.  Marx  behauptet 
das  Gegenteil.  Wird  ein  Arbeiter  mehr  als  ein  anderer  durch  Naturkräfte 
bei  seiner  Arbeit  unterstützt,  so  schafft  er,  meint  Marx,  mehr  Gebrauchs- 
wert, das  Produktenquantum  wird  größer,  die  Leistung  der  Naturkräfte 
erhöht  aber  nicht  den  Tauschwert  der  von  ihm  produzierten  Waren.  Es 
genügt  zur  Widerlegung  dieser  Ansicht  an  das  zu  erinnern,  was  wir  schon 
oben  erwähnt  haben,  daß  nämlich  nicht  jeder  dieselben  Mittel  besitzt, 
sich  die  Naturkräfte  zu  unterwerfen;  diejenigen,  welche  kein  Kapital 
besitzen,  müssen  sich  die  Leistungen  des  letzteren  mittelst  ihrer  eigenen 

1)  Band  16,  S.  93 ff.;  Band  17,  S.  298ff. 
»)  Jahrbücher  17.  Band  S,  325  am  Ende. 
»)  S.  329. 


Süasba^er.  166 

Arbeit  erkaufen,  oder  wenn  sie  mit  Hilfe  des  Kapitals  eines  andern  arbeiten, 
diesem  einen  TeU  des  hervorgebrachten  Wertes  überlassen.  Dieser  Teil 
des  neuproduzierten  Wertes  ist  der  Kapitalgewinn;  das  Beziehen  eines 
gewissen  Einkommens  durch  den  Kapitalisten  ist  in  der  Natur  des 
Kapitales  begründet." 

Ziehen  wir  aus  diesen  Worten  die  Grundgedanken  noch  knapper 
heraus,  so  ergibt  sich  folgender  Erklärungsgang. 

Die  Naturkräfte  sind  zwar  an  sich  frei,  aber  ihre  Benützung  ist  oft 
nur  mit  Hilfe  von  Kapital  möglich.  Da  femer  das  Kapital  nur  in  be- 
schränkter Menge  vorhanden  ist,  so  kommen  die  Kapitalbesitzer  in  die 
Lage,  für  die  Mitwirkung  der  durch  ihr  Kapital  vermittelten  Naturkräfte 
eine  Bezahlung  zu  erlangen.  Diese  Bezahlung  ist  der  Kapitalgewinn. 
Der  letztere  wird  also  erklärt  aus  der  Notwendigkeit,  die  Mitwirkung 
der  Naturkräfte  zu  Gunsten  des  Kapitalisten  zu  honorieren.— 

Wie  steht  es  mit  der  erklärenden  Kraft  dieser  Lehre? 

Ich  will  im  Zugeständnisse  der  Prämissen,  von  denen  Strasbürger 
ausgeht,  nicht  spröde  sein.  Ich  will  ohne  weiteres  zugeben,  daß  viele  Natur- 
kräfte nur  durch  Vermittlung  von  Kapital  utilisiert  werden  können,  und 
ich  will  auch  zugeben,  daß  wegen  der  beschränkten  Menge  von  Kapital 
die  Besitzer  des  letzteren  in  die  Lage  kommen  können,  sich  für  die  Mit- 
wirkung der  vermittelten  Naturkräfte  bezahlen  zu  lassen.  Aber  was  ich 
nicht  zugeben  kann,  ist,  daß  aus  diesen  Prämissen  irgend  etwas  für  die 
Entstehung  des  Kapitalzinses  folgt.  Es  ist  eine  voreilige  und  unmotivierte 
Annahme  Strasburgers,  daß  der  Kapitalzins  als  Wirkung  jener  Prä- 
missen hervorgehe,  indem  diese  ihrer  Natur  nach  ihre  Wirkung  in  ganz 
anderen  wirtschaftlichen  Erscheinungen  finden  müssen. 

Ich  hoffe  den  Irrtum  Strasbürgers  nicht  allzu  schwer  aufdecken 
zu  können. 

Es  ist  von  zwei  Dingen  nur  eines  möglich:  entweder  ist  das  Kapital 
in  so  beschränkter  Menge  vorhanden,  daß  die  Kapitalisten  eine  Hono- 
rierung der  vermittelten  Naturkräfte  erlangen  können,  oder  nicht.  Stras- 
burgers Theorie  setzt  den  ersten  FäU  voraus,  nehmen  also  auch  wir  ihn 
als  gegeben  an. 

Untersuchen  wir  nun:  wie  ist  der  wirtschaftliche  Vorgang  beschaffen, 
durch  den  der  Kapitalist  das  Honorar  für  die  Naturkräfte  erlangen  kann  ? 

Es  wäre  eine  voreilige  petitio  principii,  zu  antworten:  durch  das 
Einstreichen  des  Kapitalgewinnes.  Eiae  kurze  Überlegung  wird  vielmehr 
klar  machen,  daß,  wenn  der  Kapitalzins  überhaupt  aus  der  Honorierung 
von  Naturkräften  hervorgeht,  er  sich  erst  als  sekundäre  Folge  aus  kom- 
plizierteren wirtschaftlichen  Vorgängen  herausschälen  kann.  Da  die 
Naturkräfte  nämlich  am  Kapitale  hangen,  so  können  sie  offenbar  nur  gleich- 
zeitig mit  der  Verwertung  der  Dienste  des  Kapitales  selbst  verwertet 
werden.    Da  ferner  aber  das  Kapital  durch  Arbeitsaufwand  entstanden 


166      VII;  Produktivitätstheorien.    3.  U.-A.  Motivierte  Produktivitätstheorien. 

ist  und  durch  den  Gebrauch  entweder  mit  einem  Schlage  untergeht  oder 
doch  allmäJilich  sich  abnutzt,  so  ist  es  klar,  daß  bei  einer  Verwertung 
der  Kapitaldienste  auch  die  Arbeit,  die  im  Kapitale  steckt,  honoriert 
werden  muß.  Es  kann  daher  das  Honorar  für  Naturkräfte-  dem  Kapi- 
talisten nur  als  Bestandteil  eines  Bruttoertrages  zufließen,  der  außer 
jenem  Honorar  noch  ein  zweites  Honorar  für  Arbeitsaufwand  enthält. 

Genauer  präzisiert:  der  wirtschaftliche  Vorgang,  durch  den  der 
Kapitalist  die  Honorierung  seiner  Naturkräfte  erlangt,  ist  der  Verkauf 
der  Dienste  seines  Kapitales  um  einen  höheren  Preis,  als  er  dem  Arbeits- 
aufwand entspricht,  der  zur  Erzeugung  der  betreffenden  Kapitalstücke 
gemacht  wurde.  Wenn  z.  B.  eine  Maschine,  die  ein  Jahr  dauert,  mit  einem 
Arbeitsaufwand  von  365  Tagen  erbaut  wurde,  und  der  übliche  Taglohn 
1  fl.  beträgt,  so  würde  ein  Verkauf  der  täglichen  Dienste  der  Maschine 
um  einen  Gulden  nur  knapp  die  Arbeit  honorieren,  die  in  der  Maschine 
steckt  und  es  fiele  noch  nichts  für  die  Naturkräfte  ab,  deren  Benützung 
jene  vermittelt.  Ein  Honorar  für  diese  letzteren  stellt  sich  erst  dadurch 
ein,  daß  die  Tagesdienste  der  Maschine  mit  mehr  als  einem  Gulden, 
z.  B.  mit  1  fl.  10  kr.  honoriert  werden. 

Dieser  allgemeine  Vorgang  kann  sich  nun  wieder  in  mehreren  ver- 
schiedenen Einzelformen  vollziehen. 

Eine  derselben  tritt  dann  ein,  wenn  der  Eigentümer  des  Kapitales 
dieses  selbst,  als  Produktionsunternehmer,  gebraucht.  Alsdann  besteht 
zunächst  die  Honorierung  der  gesamten  Kapitaldienste  in  jener  Quote 
des  Produkts,  die  nach  Abschlag  des  anderweitigen  Produktionsaufwands, 
für  Bodennutzung  und  unmittelbare  Arbeit,  zurückbleibt,  und  die  den 
„rohen  Kapitalertrag"  ausmacht.  Beträgt  der  letztere,  auf  den  Tag  be- 
rechnet, 1  fl.  10  kr.,  und  ist  zur  Honorierung  der  Arbeit,  die  das  in  einem 
Tag  vernutzte  Kapital  erzeugt  hat,  nur  ein  Gulden  erforderlich,  so  stellt 
der  Überschuß  von  10  kr.  täglich  das  Honorar  für  Naturkräfte  dar.  — 
Daß  dieser  Überschuß  Kapitalgewinn  sei,  ist  damit  noch  nicht  gesagt: 
die  Entscheidung  darüber  werden  wir  erst  später  fällen. 

Auf  einem  zweiten  direkteren  Wege  können  die  Kapitaldienste  durch 
Vermietung  Honorierung  erlangen.  Erzielt  unsere  Maschine  eine  Tages- 
miete von  1  fl.  10  kr.,  so  wird  in  ganz  gleicher  Weise  der  Teilbetrag  von 
1  fl.  das  Honorar  der  zum  Maschinenbau  verwendeten  Arbeit,  der  Über- 
schuß von  10  kr.  wieder  die  Honorierung  der  Naturkräfte  repräsentieren. 

Es  gibt  aber  noch  einen  dritten  Weg,  auf  dem  man  die  Dienste  des 
Kapitales  veräußern  kann:  indem  man  nämlich  das  Kapitalstück 
selbst  veräußert,  was  wirtschaftlich  einer  kumulativen  Veräußerung  aller 
Dienste  gleichkommt,  die  das  Kapitalstück  zu  leisten  imstande  ist';. 
Wird  sieh  nun  bei  dieser  Form  der  Veräußerung  der  Kapitalist  mit  der 

1)  Vgl.  Knies,  der  Kredit,  II.  Hälfte  S.  34f.,  dann  771:.  Siehe  auch  unten  Ab- 
schnitt VIII. 


strasburger.  167 

Vergütung  der  Arbeit  begnügen,  die  in  der  Maschine  steckt,  oder  wird 
er  nicht  auch  eine  Vergütung  für  die  Naturkräfte  verlangen,  deren  Be- 
nutzung er  vermittelt?  —  Ohne  allen  Zweifel  das  letztere.  Es  ist  absolut 
kein  Grund  einzusehen,  warum  er  bei  einer  sukzessiven  Veräußerung  der 
Maschinendienste  sich  für  Naturkräfte  sollte  bezahlen  lassen,  bei  einer 
kumulativen  Veräußerung  nicht,  zumal  wir  mit  Strasbürger  voraus- 
gesetzt haben,  daß  die  Menge  des  Kapitales  so  beschränkt  ist,  daß  er  eine 
solche  Honorierung  erzwingen  kann. 

In  welcher  Form  wird  sich  nun  hier  die  Honorierung  der  Naturkräftß 
äußern?  —  Ganz  natürlich  darin,  daß  der  Kaufpreis  der  Maschine  über 
denjenigen  Betrag  steigt,  der  der  üblichen  Honorierung  der  zur  Erzeugung 
der  Maschine  verwendeten  Arbeit  entspricht;  also,  wenn  die  Maschine 
365  Arbeitstage  ä  1  fl.  gekostet  hat,  darin,  daß  ihr  Kaufpreis  mehr  als 
365  fl.  beträgt.  Und  da  kein  Grund  abzusehen  ist,  warum  bei  kumulativer 
Veräußerung  der  Kapitaldienste  die  Naturkraft  billiger  veräußert  werden 
soll,  als  bei  sukzessiver,  so  können  wir,  analog  unseren  früheren  Suppo- 
sitionen,  auch  hier  eine  Honorierung  der  Naturkraft  mit  10%  des  Arbeits- 
h  onorares  annehmen.  Demzufolge  würde  sieh  der  Kapitalpreis  der  Maschine 
auf  365  +  36.5  =  401.5  fl.  stellen. 

Wie  sieht  es  nun  unter  diesen  Voraussetzungen  mit  dem  Kapitalzins 
aus?  —  Das  ist  leicht  zu  sehen.  Der  Eigentümer  der  Maschine,  der  sie 
in  seiner  Unternehmung  verwendet  oder  vermietet,  bezieht  für  ihre  Dienste 
während  des  Jahres,  das  sie  dauert,  täglich  1  fl.  10  kr.  Das  ergibt  eine 
Gesamteinnahme  von  365  x  1  fl.  10  kr.  =  401.5  fl.  Da  aber  während  des 
Gebrauchsjahres  die  Maschine  selbst  durch  Abnützung  zugrunde  gegangen 
ist  und  ihr  Kapitalwert  volle  401.5  fl.  beträgt,  so  erübrigt  als  Überschuß, 
als  reiner  Kapitalzins  —  nichts.  Obwohl  also  der  Kapitalist  sich  hat 
Naturkräfte  bezahlen  lassen,  existiert  doch  kein  Kapitalzins  —  ein  deut- 
licher Beleg  dafür,  daß  die  Ursache  desKapitalzinses  doch  in  etwas  anderem 
liegen  muß,  als  in  der  Honorierung  von  Naturkräften. 

Ich  bin  darauf  gefaßt,  daß  man  mir  an  dieser  Stelle  einen  Gegen- 
einwand machen  wird.  Man  wird  sagen,  es  ist  nicht  möglich,  daß  der 
Wert  der  Kapitalstücke  so  hoch  stehen  bleibt,  daß  ihr  Erzeuger  im  Ver- 
kaufspreis noch  eine  Prämie  für  Naturkräfte  bezieht:  es  würde  nämlich 
alsdann  die  Kapitalerzeugung  zu  lohnend  sein,  und  dies  müßte  eine  Kon- 
kurrenz hervorrufen,  die  endlich  den  Wert  der  Kapitalstücke  auf  den 
Wert  der  zu  ihrer  Erzeugung  verwendeten  Arbeit  herabdrückt.  Fände 
z.  B.  eine  Maschine,  die  365  Arbeitstage  gekostet  hat,  wegen  Honorierung 
von  Naturkräften,  die  sie  vermittelt,  einen  Preis  von  401.5  fl.,  so  würde 
—  bei  einem  sonstigen  Stand  des  Tagelohns  von  1  fl.,  —  die  auf  die  Er- 
zeugung solcher  Maschinen  gerichtete  Arbeit  lohnender  als  jede  andere; 
in  Folge  davon  würde  dieser  Erwerbszweig  zahlreich  ergriffen  und  die 
Erzeugung  solcher  Maschinen  so  lang  vervielfältigt,  bis  die  gesteigerte 


168      VII.  Produktivitätstheorien.    3.  U.-A.  Motivierte  Produktivitätstheorien. 

Konkurrenz  ihren  Preis  auf  365  fl.  für  das  Stück,  und  damit  den  an  ihr 
zu  erzielenden  Arbeitsverdienst  auf  das  normale  Maß  herabgedrückt 
hätte.  —  Ich  gebe  die  Möglichkeit  eines  solchen  Vorganges  ohne  weiteres 
zu.  Aber  ich  frage  entgegen:  Wenn  die  Maschinen  so  zahb*eich  geworden 
sind,  daß  wegen  allzustarker  Konkurrenz  ihr  Erzeuger  beim  Verkauf  mit 
einer  knappen  Vergütung  seiner  Arbeit  vorlieb  nehmen  und  für  die  Natur- 
kräfte, deren  Benützung  er  vermittelt,  nichts  aufrechnen  kann,  wie  soll 
er  auf  einmal  bei  der  Vermietung  oder  beim  Eigengebrauch  derselben 
Maschinen  etwas  für  die  Naturkräfte  erlangen  können?  Entweder  — 
oder!  Entweder  sind  die  Maschinen  selten  genug,  um  eine  Aufrechnung 
für  Naturkräfte  zu  gestatten  —  dann  wird  ihnen  die  Seltenheit  beim 
Verkauf  so  gut  wie  bei  der  Vermietung  zu  statten  kommen,  und  der 
Kapitalwert  steigt  bis  zur  Absorption  des  Rohzinses  —  falls  ihn  nichts 
anderes  zurückhält."  Oder,  die  Maschinen  sind  so  zahlreich,  daß  eine 
Aufrechnung  für  Naturkräfte  durch  den  Druck  der  Konkurrenz  unmöglich 
gemacht  wird;  dann  wird  sie  es  bei  der  Vermietung  so  gut  sein  wie  beim 
Verkauf,  und  der  Rohzins  sinkt,  bis  er  abermals  von  der  Amortisation 
absorbiert  wird  —  falls  wieder  nichts  anderes  beide  Größen  auseinander 
hält,  was  mit  der  Honorierung  der  Naturkräfte  nichts  zu  tun  hat. 

Es  ist  ein  eigentümlicher  Zufall,  daß  die  motivierten  Produktivitäts- 
theorien nach  fast  70 jähriger  Entwicklung  beinahe  an  demselben  Punkte 
enden,  an  dem  sie  ausgegangen  sind.  Was  Strasburger  im  Jahre  1871 
lehrt,  ist  im  Wesen  fast  genau  dasselbe,  was  Latjderdale  im  Jahre  1804 
gelehrt  hatte.  Die  „arbeitersetzende  Kraft"  des  Kapitales,  die  wegen 
ihrer  Seltenheit  und  im  Maße  ihrer  Seltenheit  dem  Kapitalisten  zu  einer 
Honorierung  verhilft,  ist  nur  dem  Namen  nach  verschieden  von  den  Natur- 
kräften, die  der  Besitz  des  Kapitales  vermittelt,  und  die  gleichfalls  im 
Maß  der  Seltenheit  des  Kapitales  Honorierung  erzwingen.  Hier  wie  dort 
dieselbe  Konfundierung  von  Rohzins  und  Kapitalwert  einerseits,  und 
Reinzins  andererseits,  dieselbe  Mißdeutung  der  wahren  Wirkungen  der 
angenommenen  Prämissen,  dieselbe  Vernachlässigung  der  wahren  Ursachen 
des  zu  erklärenden  Phänomens. 

An  der  Rückkehr  zum  Ausgangspunkt  zeigt  sich  die  ganze  Unfrucht- 
barkeit der  dazwischen  liegenden  Entwicklung.  Diese  Unfruchtbarkeit 
war  kein  Zufall.  Es  war  nicht  bloß  ein  unglücklicher  Zufall,  daß  keiner 
das  erlösende  Wort  fand,  das  die  geheimnisvolle  Ejitstehung  des  KapitaJ- 
zinses  aus  der  Produktivität  des  Kapitales  aufzudecken  die  Kraft  hat. 
Das  lösende  Wort  konnte  nicht  gefunden  werden,  weil  der  Ausgangspunkt 
des  Weges  zur  Wahrheit  verfehlt  war.  Es  war  von  vornherein  ein  hoffnungs- 
loses Bemühen,  aus  einer  produktiven  Kraft  des  Kapitales  den  Zins  ganz 
und  voll  erklären  zu  wollen.  Ja,  wenn  es  eine  Kraft  gäbe,  die  ebenso,  wie 
auf  dem  Acker  Weizen  wächst,  direkt  einen  „Mehrwert"  wachsen  lassen 


Schlußergebnisse.  169 

könnte!  Aber  eine  solche  Kraft  gibt  es  nicht.  Was  die  produktive  Kraft 
leisten  kann,  ist  nur  Schaffung  von  viel  Produkt,  damit  auch  allenfalls 
Schaffung  von  viel  Wert,  aber  nie  Schaffung  von  mehr  Wert.  Der  Kapital- 
zins ist  ein  Überschuß,  ein  Rest,  den  der  Minuend  „Kapitalprodukt"  über 
den  Subtrahend  „Wert  des  verzehrten  Kapitalstücks  selbst"  übrig  läßt. 
Die  produktive  Kraft  des  Kapitales  kann  ihre  Wirkung  darin  finden,  daß 
sie  den  Minuend  groß  macht.  Aber  so  weit  es  auf  sie  allein  ankommt, 
kann  sie  es  nicht,  ohne  zugleich  den  Subtrahend  ganz  eben  so  groß  zu 
machen.  Denn  sie  ist  unleugbar  der  Grund  und  der  Maßstab  auch  für  den 
Wert  des  Kapitalstückes  selbst,  in  dem  sie  liegt.  Kann  man  mit  einem 
Kapitalstück  nichts  produzieren,  so  ist  es  auch  selbst  nichts  wert.  Kann 
man  mit  ihm  wenig  produziereh,  so  ist  es  auch  selbst  wenig  wert;  kann 
man  mit  ihm  viel  produzieren,  so  ist  es  auch  selbst  viel  wert  u.  zw.  immer 
desto  mehr,  je  mehr  man  mit  seiner  Hilfe  hervorbringen  kann,  je  größer 
der  Wert  seines  Produkts  ist.  Mag  daher  die  produktive  Kraft  des  Kapitales 
noch  so  groß  sein,  so  mag  sie  zwar  den  Minuend  enorm  hoch  heben,  aber, 
so  weit  es  auf  sie  ankommt,  wird  der  Subtrahent  ganz  eben  so  hoch  ge- 
hoben, und  ein  ßest  —  ein  Überschuß  —  bleibt  nicht. 

Es  sei  mir  zum  Schlüsse  noch  ein  Vergleich  gestattet.  Wenn  man 
in  ein  fließendes  Wasser  eine  schwimmende  Querbarre  einsenkt,  so  wird 
das  Niveau  des  Flusses  unterhalb  der  Barre  niedriger  sein  als  oberhalb 
derselben.  Wenn  man  nach  der  Ursache  fragt,  warum  das  Wasser  oberhalb 
höher  steht  als  unterhalb,  wird  jemand  auf  die  WasserfüUe  des  Flusses 
als  die  Ursache  raten?  Gewiß  nicht!  Denn  obgleich  die  WasserfüUe  die 
Ursache  ist,  daß  das  Wasser  oberhalb  der  Barre  hoch  steht,  tendiert  sie 
zugleich,  soweit  es  auf  sie  ankommt,  das  Niveau  unterhalb  der  Barre  eben 
so  hoch  zu  steDen.  Sie  ist  die  Ursache  des  „hoch",  aber  die  Ursache  des 
„höher"  ist  nicht  sie,  sondern  die  Barre. 

Nun,  was  für  den  Niveauunterschied  des  Wassers  die  WasserfüUe, 
das  ist  für  den  Mehrwert  die  Produktivität  des  Kapitales.  Sie  mag  voU- 
gütige  Ursache  sein,  daß  der  Wert  des  Kapitalproduktes  hoch  ist,  aber  sie 
kann  nicht  die  voUgiltige  Ursache  sein,  daß  er  höher  ist  als  der  Wert  des 
Kapitalstückes  selbst,  dessen  Niveau  sie  ebenso  speist  und  hebt  wie  das 
des  Produktes.  Die  wahre  Ursache  des  „Mehr"  ist  auch  hier  —  eine  Barre, 
welche  von  der  eigentlichen  Produktivitätstheorie  nicht  einmal  genannt 
wird,  welche  von  einer  Reihe  anderer  Theorien  in  verschiedenen  Dingen 
—  bald  im  Opfer  einer  Nutzung,  bald  in  einem  Opfer  an  Enthaltsamkeit, 
bald  in  einem  Opfer  an  Arbeit  der  Kapitalbüdung,  bald  einfach  in  dem 
ausbeutenden  Druck  der  Kapitalisten  gegen  die  Arbeiter  —  gesucht  wird, 
deren  Wesen  und  Wirken  bisher  aber  überhaupt  nicht  in  zufriedensteUender 
Weise  erkannt  ist^). 

*)  Es  wird  sich  mancher  meiner  Leser  wundern,  warum  ich,  während  ich  mich 
als  entschiedenen  Gregner  der  Produktivitätstheorie  zeige,  mich  mit  keinem  Worte 


170     VII.  Produktivitätstheorien.    3.  U.-A.  Motivierte  Produktivitätstheorien. 

jener  kräftigen  Unterstützung  bediene,  welche  die  sozialistische  Kritik  gegen  dieselbe 
Theorie  so  reichlich  an  die  Hand  gibt;  mit  anderen  Worten,  warum  ich  die  Produktivitäts- 
theorie nicht  mit  dem  Argument  von  der  Hand  weise,  daß  das  Kapital  selbst  Arbeits- 
erzeugnis und  somit  seine  alUällige  Produktivität  keine  originäre  ist.  Ich  ließ  dieses 
Argument  einfach  deshalb  außer  dem  Spiel,  weil  ich  ihm  für  die  theoretische  Erklärung 
des  Kapitalzinses  nur  eine  sekundäre  Bedeutung  beilege.  Die  Sache  scheint  mir  folgender- 
maßen zu  liegen.  Es  steht  wohl  außer  Zweifel,  daß  das  Kapital,  einmal  fertiggestellt, 
eine  gewisse  produktive  Wirkung  äußert;  daß  z.  B.  eine  Dampfmaschine  allerdings  die 
Ursache  einer  gewissen  produktiven  Wirkung  ist.  Die  primäre  theoretische  Erklärungs- 
frage, zu  der  dieser  Tatbestand  Anlaß  gibt,  ist  nun:  „ist  jene  produktive  Fähigkeit 
des  —  fertig  vorhandenen  —  Kapitales  die  vollwichtige  Ursache  des  Kapitalzinses?" 
Wäre  diese  Frage  zu  bejahen,  dann  wäre  allerdings  in  zweiter  Linie  die  Frage  zu  stellen, 
ob  die  Produktiv  kraft  des  Kapitales  eine  selbständige  Ej-aft  des  Kapitales,  oder  aber 
nur  von  der  Arbeit,  welche  das  Kapital  erzeugt  hat,  abgeleitet  ist  ?  Mit  anderen  Worten: 
ob  nicht  durch  das  Medium  des  Kapitales  hindurch  die  (manuelle)  Arbeit  als  die  wahre 
Quelle  des  Kapitalzinses  anzusehen  ist  ?  Da  ich  indes  schon  die  erste  Frage  verneinte, 
hatte  ich  keine  Veranlassung,  mich  auf  die  Eventualfrage  nach  der  Originalität  der 
Produktivkraft  des  Kapitales  einzulassen.  —  Übrigens  werde  ich  noch  in  einem  späteren 
Abschnitt  (XII)  Gelegenheit  haben,  auch  zu  der  letzteren  Frage  Stellung  zu  nehmen. 
Seit  dem  Erscheinen  der  ersten  Auflage  dieses  Werke«  sind  noch  verschiedene 
Versuche  unternommen  worden,  die  Produktivitätstheorie  in  der  einen  oder  anderen 
Variante  zu  vertreten.  Der  bemerkenswertesten  dieser  Versuche  soll  noch  unten  in  dem 
die  Zinsliteratur  der  Cregenwart  behandelnden  Anhange  gedacht  werden. 


VIII. 

Die  Nutzimgstheorien. 

Die  Nutzungstheorien  sind  ein  Abstämmling  der  Produktivitäts- 
theorien, der  sich  bald  zu  selbständiger  Eigenart  entwickelt  hat. 

Sie  knüpfen  gerade  an  denjenigen  Gedanken  an,  der  die  eigentlichen 
Produktivitätstheorien  zum  Scheitern  bringt:  an  die  Einsieht  von  der 
Existenz  eines  genauen  kausalen  Zusammenhangs  zwischen  dem  Wert 
der  Produkte  und  dem  ihrer  Produktivmittel.  Ist,  wie  man  anzuerkennen 
begann,  der  Wert  jedes  Produktes  prinzipiell  identisch  mit  dem  Werte 
der  darein  verwendeten  Produktivmittel,  so  mußte  jede  Erklärung  des 
„Mehrwerts"  aus  der  Produktivität  des  Kapitales  fehl  gehen;  denn  je 
höher  diese  den  Wert  des  Produktes  höbe,  desto  höher  müßte  sie  auch 
den  —  prinzipiell  identischen  —  Eigenwert  des  Kapitales  heben;  dieser 
müßte  sich  mit  der  Treue  eines  Schattens  an  jenen  heften  und  könnte  nicht 
die  kleinste  Kluft  zwischen  beiden  entstehen  lassen. 

Die  Kluft  besteht  aber  dennoch.    Warum? 

Dafür  bot  sich  in  dem  eben  entwickelten  (Jedankengang  fast  von 
selbst  ein  neuer  &klärungsweg  an. 

Wenn  es  nämlich  einerseits  wahr  ist,  daß  der  Wert  jedes  Produktes 
mit  dem  Wert  der  aufgeopferten  Produktivmittel  identisch  ist,  und  wenn 
man  andererseits  wahrnimmt,  daß  dennoch  der  Wert  des  Kapitalproduktes 
regelmäßig  größer  ist  als  der  Wert  der  in  seiner  Erlangung  aufgeopferten 
Kapitalgüter,  so  drängt  sich  fast  von  selbst  der  Gedanke  auf,  daß  die 
Kapitalgüter  vielleicht  nicht  das  ganze  Opfer  ausmachen,  das  zur  Er- 
langung des  Kapitalproduktes  gebracht  wird;  daß  vielleicht  neben  ihnen 
noch  irgend  ein  anderes  Etwas  im  Spiele  ist,  das  gleichfalls  aufgewendet 
werden  muß,  und  das  einen  Bruchteü  des  Produktwertes  —  eben  den 
rätselhaften  „Mehrwert"  —  für  sich  absorbiert 

Man  suchte  und  fand  ein  solches  Etwas.  Ja  sogar  mehr  als  eines. 
Indem  sich  über  die  Natur  jenes  Etwas  drei  verschiedene  Meinungen 
entwickelten,  wuchsen  auch  aus  dem  gemeinsamen  Grundgedanken  drei 
verschiedene  Theorien  heraus:  die  Nutzungstheorie,  die  Abstinenz- 
theorie und  die  Arbeitstheorie.     Diejenige  unter  ihnen,  welche  den 


172  VIII.  Die  Nutzungstheorien, 

Produktivitätstheorien  am  nächsten  blieb,  ja  anfänglich  bloß  als  eine 
Bereicherung  derselben  erschien,  ist  die  Nutzungstheorie. 

Sie  beruht  auf  folgenden  Grundgedanken: 

Neben  der  Substanz  des  Kapitales  ist  auch  der  Gebrauch  desselben 
oder  seine  Nutzung  ein  Gegenstand  von  selbständiger  Wesenheit  und 
selbständigem  Wert.  Um  einen  Kapitalertrag  zu  erlangen,  genügt  es 
nicht,  bloß  ein  Opfer  an  der  Substanz  des  Kapitales  zu  bringen,  sondern 
man.  muß  auch  die  „Nutzung"  des  angewendeten  Kapitales  für  die  Dauer 
der  Produktion  aufopfern.  Da  nun  prinzipiell  der  Wert  des  Produktes 
gleich  ist  der  Summe  des  Wertes  der  zu  seiner  Erzeugung  aufgewendeten 
Produktivmittel,  und  da  in  Gemäßheit  dieses  Satzes  die  Kapitalsubstanz 
und  die  Kapitalnutzung  erst  zusammen  genommen  dem  Werte  des  „Kapital- 
produktes" äquiparieren,  so  muß  dieser  natürlich  größer  sein  als  der 
Wert  der  Kapitalsubstanz  allein.  Auf  diese  Weise  erklärt  sich  die  Erschei- 
nung des  Mehrwerts,  der  nichts  anderes  ist  als  der  Wertanteil  des  Teil- 
opfers  „Kapitalnutzung". 

Daß  das  Kapital  produktiv  sei,  setzt  diese  Theorie  allerdings  voraus, 
aber  nur  in  einem  wenig  nachdrücklichen  und  ganz  unverfänglichen  Sinne; 
in  dem  Sinne  nämlich,  daß  das  Hinzutreten  des  Kapitales  zu  einer  ge- 
gebenen Arbeitsmenge  zur  Erlangung  eines  (an  Masse)  größeren  Produktes 
hilft,  als  die  ununterstützte  Arbeit  allein  erlangen  könnte.  Schon  nicht 
notwendig  ist,  daß  dabei  der  kapitalistische  Produktionsprozeß  i  m  G  a  n  z  e  n , 
der  die  Bildung  und  Benützung  des  Kapitales  begreift,  ein  vorteilhafter 
war^).  Wenn  man  z.  B.  mit  100  Tagen  Arbeit  ein  Netz  anfertigt  und  dann 
mit  Hilfe  desselben  in  anderen  100  Tagen,  während  derer  das  Netz  dauert, 
500  Fische  fängt,  während  man  ohne  Netz  täglich  3  Fische  hätte  fangen 
können,  so  ist  offenbar  der  Gesamtprozeß  ein  nachteiliger  gewesen.  Man 
hat  trotz  der  Kapitalverwendung  mit  Aufwand  von  200  Arbeitstagen  nur 
500  Fische  gefangen,  während  man  sonst  600  hätte  fangen  können.  Dennoch 
wird  im  Sinne  der  Nutzungstheorie  —  wie  es  ja  auch  tatsächlich  der  Fall 
ist  —  das  einmal  fertig  gestellte  Netz  Kapitalzins  tragen  müssen.  Denn, 
einmal  fertig  gestellt,  hilft  es  doch  mehr  Fische  fangen,  als  man  ohne  Netz 
fangen  könnte  und  das  genügt,  um  zu  bewirken,  daß  der  Mehrertrag  von 
200  Fischen  ihm  zugerechnet  wird.  Er  wird  ihm  aber  nur  zugerechnet 
in  Gemeinschaft  mit  seiner  Nutzung.  Es  wird  also  ein  Teilbetrag  vielleicht 
von  190  Fischen,  beziehungsweise  deren  Wert,  der  Substanz  des  Netzes, 
der  Rest  der  Nutzung  des  Netzes  zugeschrieben,  womit  ein  Mehrwert  und 
ein  Kapitalzins  zur  Entstehung  gelangt. 

Wenn  so  nur  ein  sehr  bescheidener  Grad  von  physischer  Produktivität 
des  Kapitales  zur  Entstehung  des  Mehrwerts  im  Sinne  der  Nutzungs- 
theorie genügt,  so  ist  es  selbstverständlich,  daß  sie  eine  direkte  Wert- 


^)  Vgl.  oben  S.  99  Anm.  1. 


Verhältnis  zur  Froduktivitätstheorie.  173 

Produktivität  in  keiner  Weise  voraussetzt:  ja,  richtig  verstanden, 
schließt  sie  dieselbe  sogar  prinzipiell  aus. 

Das  Verhältnis  der  Nutzungstheorien  zur  Produktivität  des  Kapitales 
wird  man  indes  in  den  Schriften  der  Nutzungstheoretiker  selbst  nicht  so 
abgeklärt  finden,  als  ich  es  an  dieser  Stelle  abzuklären  bemüht  war.  Eher 
im  Gegenteile.  Die  Berufungen  auf  die  Produktivität  des  Kapitales  gehen 
lange  genug  parallel  mit  der  Entwicklung  der  eigentlichen  Nutzungs- 
theorie und  erfolgen  gar  nicht  selten  in  einem  Tone,  der  uns  zweifeln  läßt, 
ob  der  Autor  zur  Erklärung  des  Mehrwertes  mehr  auf  die  Produktivität 
des  Kapitales,  oder  auf  die  der  Nutzungstheorie  eigentümliche  Argu- 
mentation vertraut.  Erst  allmählich  haben  sich  die  Nutzungstheorien 
aus  solcher  Vermischung  mit  der  Produktivitätstheorie  losgelöst  und  in 
voUer  Reinheit  entfaltet^). 

Ich  werde  im  folgenden  den  Weg  einschlagen,  daß  ich  zunächst  die 
Entwicklung  der  Nutzungstheorien  in  historischer  Darstellung  schildere. 
Die  Kritik  werde  ich  teilen.  Solche  kritische  Notizen,  welche  bloß  auf 
individuelle  Mängel  der  vorgeführten  Einzeltheorien  Bezug  nehmen, 
werde  ich  sofort  in  die  historische  Darstellung  einflechten.  Dagegen  behalte 
ich  die  kritische  Würdigung  der  ganzen  Richtung  einer  zusammenhängenden 
Schlußbetrachtung  vor. 


1.  Unterabschnitt. 
Dogmenhistorische  Darstellung. 

Die  Entwicklung  der  Nutzungstheorie  knüpft  sich  hauptsächlich  an 
drei  Namen:  J.  B.  Say,  der  zu  ihr  den  ersten  Anstoß  gab,  Hermann,  der 
sie  durch  eine  ausführliche  Lehre  von  der  Natur  und  dem  Wesen  der 
Nutzungen  auf  eine  feste  Grundlage  stellte;  und  Meng  er,  der  ihr  die 
höchste  Ausbildung  gegeben  hat,  deren  sie  meines  Erachtens  überhaupt 
fähig  ist.  Alle  dazwischen  liegenden  Bearbeitungen  schließen  sich  an  das 
eine  oder  das  andere  Vorbild  an,  und  treten,  wenn  auch  einige  von  ihnen 
recht  verdienstlich  sind,  an  Bedeutung  hinter  jene  zurück.  Dabei  gibt  die 
Liste  der  Autoren,  die  hier  tätig  waren,  zu  zwei  auffälligen  Beobachtungen 
Anlaß.  Erstlich  ist,  wenn  man  von  der  einzigen  Person  Says  absieht,  der 
Ausbau  der  Nutzungstheorie  ausschließlich  durch  die  deutsche  Wissen- 


^)  Die  schwankende  Ausdrucksweise  vieler  Nutzungstheoretiker  hat  es  zum  großen 
Teil  verschuldet,  daß  man  auf  die  selbständige  Existenz  der  „Nutzungstheorien"  bis 
jetzt  so  wenig  geachtet  hat.  Man  pflegt  ihre  Vertreter  mit  den  Anhängern  der  eigent- 
lichen Produktivitätstheorien  einfach  zusammenzuwerfen  und  glaubt  auch  jene  schon 
widerlegt  zu  haben,  wenn  man  nur  die  Produktivitätstheoretiker  widerlegt  hat.  Das 
ist  nach  dem  im  Texte  gesagten  vollkommen  irrig;  die  beiden  Tbeoriengruppen  beruhen 
auf  wesentlich  verschiedenen  Grundgedanken. 


174      VIII.  Die  Nutzungstheorien.    1.  U.-A.  Dogmenhistorische  Darstellung. 

Schaft  geleistet  worden.  Und  sodann  scheint  innerhalb  der  letzteren  wieder 
die  Nutzungstheorie  die  besondere  Vorliebe  unserer  gründlichsten  und 
scharfsinnigsten  Denker  auf  sich  gezogen  zu  haben:  wir  finden  wenigstens 
die  besten  Namen  der  deutschen  Wissenschaft  hier  auffallend  zahlreich 
vertreten. 

Die  Lehre  Says,  des  Begründers  dieser  Richtung,  habe  ich  bereits 
oben^)  ausführlich  dargestellt.  In  ihr  sind  Produktivitäts-  und  Nutzungs- 
theorie noch  völlig  verwachsen;  so  sehr,  daß  keine  der  anderen  über-  oder 
untergeordnet  erscheint  und  daß  dem  Dogmenhistoriker  nichts  erübrigt, 
als  Sa Y  als  Vertreter  beider  Theorien  zu  registrieren.  Um  eine  Grundlage 
für  das  Folgende  zu  gewinnen,  will  ich  den  Gedankengang  jener  Ideen- 
reihen, die  der  Nutzungstheorie  zugehören,  im  knappsten  Auszuge  reka- 
pitulieren. 

Der  fonds  productif  Kapital  liefert  produktive  Dienste.  Diese  besitzen 
ökonomische  Selbständigkeit  und  werden  Gegenstand  selbständiger  Wert- 
schätzung und  Veräußerung.  Weil  dieselben  einerseits  bei  der  Produktion 
nicht  zu  entbehren  und  andererseits  von  ihren  Eigentümern  nicht  ohne 
Vergütung  zu  erlangen  sind,  muß  sich  der  Preis  aller  Kapitalprodukte 
—  vermittelst  des  Spieles  von  Angebot  und  Nachfrage  —  derart  akko- 
modieren,  daß  er  über  die  Vergütung  der  anderen  Produktionsfaktoren 
hinaus  auch  noch  die  übliche  Vergütung  der  produktiven  Kapitalsdienste 
in  sich  schließt.  So  entsteht  der  „Mehrwert"  der  Kapitalprodukte  und  der 
Kapitalzins  aus  der  Notwendigkeit,  das  selbständige  Produktionsopfer 
„Kapitaldienste"  auch  selbständig  zu  honorieren. 

Die  auffälligste  Schwäche  dieser  Lehre  —  wenn  man  von  der  be- 
ständigen Durchkreuzung  derselben  durch  widersprechende  Äußerungen 
der  naiven  Produktivitätstheorie  absieht  —  liegt  wohl  in  der  Verschwom- 
menheit, in  der  Say  den  Begriff  der  produktiven  Dienste  zurückläßt.  Wer 
die  selbständige  Existenz  und  Honorierung  von  produktiven  Diensten  des 
Kapitales  zum  Angelpunkt  seiner  Zinstheorie  macht,  ist  doch  wohl  schuldig, 
sich  deutlich  darüber  auszusprechen,  was  man  sich  unter  jenem  Namen 
vorzustellen  hat.  Das  hat  indes  Say,  wie  ich  schon  oben  gezeigt  habe, 
nicht  allein  nicht  getan,  sondern  die  wenigen  Anhaltspunkte,  die  er  über- 
haupt gibt,  weisen  überdies  in  eine  falsche  Richtung. 

Aus  der  oft  wiederholten  Analogie,  die  Say  zwischen  den  Kapital- 
diensten einerseits  und  der  menschlichen  Arbeit  sowie  der  Tätigkeit  der 
natürlichen  Fonds  andererseits  zieht,  läßt  sich  nämlich  schließen,  daß 
Say  unter  jenen  die  Betätigungen  der  natürlichen  Kräfte  ver- 
standen wissen  wollte,  die  in  den  Kapitalgütern  ruhen;  z.  B.  die  physischen 
Aktionen  des  Zugtieres,  der  Maschine,  die  Betätigungen  der  Heizkraft 
der  Kohle  usw.  Wenn  deni  aber  so  ist,  dann  bewegt  sich  der  ganze  Beweis- 


1)  Siehe  S.  lOaff. 


Say,  Storch.  175 

gang  in  einem  falschen  Geleise.  Denn  jene  Betätigungen  sind  nichts  anderes, 
als  was  ich  an  einem  andern  Orte  die  „Nutzleistungen"  der  Güter  genannt 
habe^);  sie  sind  dasselbe,  was  in  dem  sonst  herrschenden,  wenig  bezeichnen- 
den und  bedauerlich  unklaren  Sprachgebrauch  unserer  deutschen  Wissen- 
schaft zwar  als  Nutzung,  aber  als  rohe  Nutzung  des  Kapitales  zu  be- 
zeichnen ist,  und  dasselbe,  was  durch  den  ungeschmälerten  Brutto- 
betrag des  Pacht-  oder  Mietzinses  der  Kapitalstücke  vergolten  wird:  sie 
sind  mit  einem  Wort  das  Substrat  des  rohen,  nicht  des  reinen  Kapital- 
zinses, um  den  es  sich  handelt.  Hat  Sat  also  in  der  Tat  sie  unter  den 
Services  productifs  gemeint,  dann  hat  seine  ganze  Theorie  ihr  Ziel  verfehlt; 
denn  dann  folgt  aus  der  Notwendigkeit,  die  Services  productifs  zu  hono- 
rieren, natürlich  auch  nur  das  Dasein  eines  Rohzinses  und  gar  nichts 
für  das  Dasein  des  zu  erklärenden  Reinzinses.  Hat  er  aber  unter  den 
Services  productifs  etwas  anderes  gemeint,  dann  hat  er  uns  über  die  Natur 
dieses  anderen  absolut  im  unklaren  gelassen  —  was  die  auf  seine  Existenz 
gebaute  Theorie  mindestens  unvollständig  macht. 

In  jedem  Fall  ist  also  Says  Theorie  unvollkommen.  Immerhin  war 
durch  sie  ein  neuer  Weg  gewiesen,  auf  dem  man  bei  gehöriger  Ausbildung 
dem  Kern  des  Zinsproblems  um  sehr  viel  näher  kommen  konnte,  als  mit 
den  unfruchtbaren  eigentlichen  Produktivitätstheorien. 

Die  beiden  ersten  Nachfolger  Says  brachten  freilich  eine  solche  Ent- 
wicklung noch  nicht  Einer  derselben,  Storch,  ist  sogar  von  der  geringen 
Höhe,  die  durch  Says  Theorie  bezeichnet  wird,  noch  eine  staxke  Stufe 
niedergestiegen. 

Storch^  lehnt  sich  äußerlich  an  Say  an,  den  er  öfter  zitiert,  hat  aber 
von  dem,  was  Say  seinen  Resultaten  an  Begründung  hinzufügte,  nichts 
herüber  genommen  und  den  Mangel  auch  aus  eigenem  nicht  ergänzt.  Für 
die  Unfruchtbarkeit,  mit  der  er  unsern  Gegenstand  behandelt,  ist  es  ein 
charakteristisches  Symptom,  daß  er  nicht  den  Darlehenszins  aus  dem 
ursprünglichen  Kapitalzins,  sondern  umgekehrt  diesen  aus  jenem  erklärt. 

Er  geht  davon  aus,  daß  das  Kapital  neben  Natur  und  Arbeit,  den 
beiden  primären  Güterquellen,  eine  dritte  sekundäre  „Quelle  der  Pro- 
duktion" ist  (S.  212).  Die  Produktionsquellen  werden  zu  Einkommens- 
quellen, indem  sie  oft  verschiedenen  Personen  angehören  und  erst  durch 
einen  Leihvertrag  demjenigen,  der  sie  zum  produktiven  Zusammenwirken 
vereinigt,  zur  Verfügung  gestellt  werden  müssen.  Hiebei  erzielen  sie  ein 
Entgelt,  das  zum  Einkommen  des  Verleihers  wird.  „Der  Preis  eines  ver- 
liehenen Grundstückes  heißt  Pacht;  der  Preis  verliehener  Arbeit  heißt 
Lohn;  der  Preis  eines  verliehenen  Kapitales  heißt  bald  Zins,  bald  Miete"  *). 

Nachdem  Storch  so  zu  verstehen  gegeben  hat,  daß  das  Verleihen 

*)  Vgl.  meine  „Rechte  und  Verhältnisse"  S.  57ff.  (Jenaueres  hierüber  siehe  unten. 
*)  Cours  d'Economie  Politique,  Tome  I,  Paris  1823. 
*)  Die  letzten  Worte  sind  ein  Zitat  aus  Sat. 


176      VIII.  Die  Nutzungstheorien.    1.  U.-A.  Dogmenhistorische  Darstellung. 

der  Produktivkräfte  der  reguläre  Weg  ist,  sieh  ein  Einkommen  zu  ver- 
schaffen, setzt  er  anhangweise  hinzu,  daß  man  doch  auch  dann,  wenn 
man  seine  Produktivkräfte  selbst  verwendet,  ein  Einkommen  erlangen 
könne.  „Ein  Mann,  der  einen  ihm  gehörigen  Garten  auf  eigene  Kosten 
bebaut,  vereinigt  in  seinen  Händen  das  Grundstück,  die  Arbeit  und  das 
Kapital.  Trotzdem  (das  Wort  ist  für  Storchs  Auffassung  bezeichnend!) 
zieht  er  vom  ersten  eine  Grundrente,  von  der  zweiten  seinen  Unterhalt, 
vom  dritten  eine  Kapitalrente."  Denn  der  Verkauf  seiner  Produkte  muß 
ihm  einen  Wert  einbringen,  der  wenigstens  dem  Entgelt  gleichkommt, 
das  er  für  Grundstück,  Arbeit  und  Kapital  im  Wege  des  Verleihens  hätte 
bekommen  können:  sonst  würde  er  aufhören,  den  Garten  zu  bebauen  und 
würde  seine  Produktivkräfte  vermieten^). 

Warum  aber  soll  es  möglich  sein,  für  vermietete  Produktivkräfte, 
speziell  für  vermietetes  Kapital  ein  Entgelt  zu  bekommen?  —  Auch  mit 
der  Beantwortung  dieser  Frage  gibt  sich  Storch  nicht  viel  Mühe.  „Da 
jeder  Mensch,"  sagt  er  S.  266,  „gezwungen  ist  zu  verzehren,  bevor  er  ein 
Produkt  erlangen  kann,  findet  sich  der  Arme  in  der  Abhängigkeit  vom 
Reichen  und  kann  weder  leben  noch  arbeiten,  wenn  er  nicht  von  ihm 
schon  existierende  Nahrungsmittel  erhält,  die  er  ihm  dann  zurückzustellen 
verspricht,  wenn  sein  Produkt  vollendet  sein  wird.  Diese  Darlehen 
können  nicht  unentgeltlich  sein,  denn  der  Vorteil  davon  wäre  sonst 
ganz  auf  der  Seite  des  Armen,  während  der  Reiche  an  ihrem  Abschluß 
gar  kein  Interesse  hätte.  Um  ihre  Zustimmung  dazu  zu  gewinnen, 
mußte  man  daher  übereinkommen,  daß  der  Eigentümer  des 
angehäuften  Überflusses  oder  des  Kapitales  eine  Rente  oder 
einen  Gewinn  bezieht,  der  mit  der  Größe  jenes  Vorschusses  im  Ver- 
hältnis steht."  Eine  Erklärung,  die  an  wissenschaftlicher  Präzision  ziemlich 
alles  zu  wünschen  übrig  läßt. 

Von  einem  zweiten  Nachfolger  Says  läßt  sich  wenigstens  nicht  sagen, 
daß  er  dessen  Theorie  verschlechterte.    Es  ist  dies  Nebenius. 

Nebenius  hat  in  seinem  ausgezeichneten  Werke  über  den  öffent- 
lichen Kredit'')  auch  unserem  Gegenstand  eine  kurze  Betrachtung  ge- 
widmet, in  der  er  sich  eine  etwas  eklektische  Erklärung  des  Kapitalzinses 
zurechtlegt.  Der  Hauptsache  nach  folgt  er  der  Nutzungstheorie  Says. 
Er  hat  dessen  Kategorie  der  produktiven  Dienste  des  Kapitales  acceptiert  ^) 


^)  Auch  bei  der  Frage  nach  der  Höhe  der  Kapitalrente  kehrt  die  Verdrehung  des 
Verhältnisses  von  ursprünglichem  und  Darlehenszins  wieder.  Auf  S.  286  läßt  Storch 
den  Kapitalzins  bestimmen  durch  das  Verhältnis  zwischen  dem  Angebote  der  Kapi- 
talisten, die  Kapitalien  zu  verleihen  haben,  und  der  Unternehmer,  die  sie  zu  mieten 
wünschen.  Und  auf  S.  286  sagt  er,  daß  die  Höhe  des  Einkommens  jener  Personen,  die 
ihre  Produktivkräfte  selbst  anwenden,  sich  jener  Taxe  anpaßt,  die  durch  Angebot 
und  Nachfrage  für  die  verliehenen  Produktivkräfte  bestimmt  wird. 

*)  Ich  zitiere  nach  der  2.  Auflage  1829. 

»)  Siehe  z.  B.  S.  19  und  20. 


Nebenius,  Mario.  177 

und  gründet  den  Kapitalzins  auf  den  Umstand,  daß  diese  Dienste  einen 
Tauschwert  erlangen.  Zur  Begründung  des  letzteren  zieht  er  aber  als  neues 
Moment  auch  den  Hinweis  auf  die  ., schmerzlichen  Entbehrungen  und 
Anstrengungen"  heran,  welche  die  Kapitalbildung  erfordert^).  Endlich 
fehlt  es  auch  nicht  an  Anklängen  an  die  Produktivitätstheorie.  So  be- 
merkt er  einmal,  man  könne  das  Mietgeld,  welches  der  Schuldner  für  ein 
erborgtes  fruchtbar  angelegtes  Kapital  zu  entrichten  hat,  als  Frucht 
dieses  Kapitales  selbst  betrachten  (S.  21);  und  ein  anderesmal  betont 
er,  daß  „in  der  gegenseitigen  Abschätzung,  woraus  die  Bestimmung  des 
Mietgeldes  hervorgeht,  die  Produktivkraft  der  Kapitalien  das 
Hauptmoment  bildet"  (S.  22). 

Auf  eine  genauere  Entwicklung  seiner  Zinstheorie  läßt  sich  Nebenius 
indes  nicht  ein;  ebensowenig  auf  eine  Analyse  des  Wesens  der  produktiven 
Dienste  des  Kapitales,  die  er  offenbar  als  fertige  Kategorie  von  Say  über- 
nommen hat. 

Ich  will  an  dieser  Stelle  sofort  noch  eines  dritten  Schriftstellers  ge- 
denken, der,  obwohl  bedeutend  später,  lange  nach  Hermann  schreibend, 
ziemlich  genau  auf  dem  SAYschen  Standpunkt  stehen  geblieben  ist.  Es 
ist  dies  Marlo  in  seinem  „System  der  Weltökonomie"  2). 

Zu  der  großartigen  Anlage  dieses  Werkes  und  zur  hervorragenden 
Bedeutung,  ^e  nach  seiner  Tendenz  gerade  das  Zinsproblem  für  dasselbe 
haben  mußte,  steht  die  überaus  dürftige  Behandlung,  die  diesem  zu  teil 
geworden,  in  auffallendem  Kontrast.  Man  wird  in  den  mächtigen  Bänden 
vergebens  nach  irgend  einer  zusammenhängenden  und  eingehenden  Unter- 
suchung über  den  Ursprung  des  Kapitalzinses,  nach  irgend  einer  wirklichen 
Zinstheorie  suchen.  Wenn  Marlo  nicht  durch  polemische  Ausführungen 
gegen  Andersdenkende,  zumal  gegen  die  Lehre  von  der  Arbeit  als  alleiniger 
Wertquelle»),  seinen  Standpunkt  einigermaßen  gekennzeichnet  hätte: 
seine  positiven  Ausführungen  würden  kaum  ausreichen,  um  über  seine 
Meinung  auf  das  Oberflächlichste  zu  orientieren,  geschweige  denn,  um 
einen  Uneingeweihten  in  das  Wesen  des  Problems  einzuführen. 

Marlos  Meinung  ist  ein  von  Say  abgeleitetes  Gemisch  von  Nutzungs- 
und Produktivitätstheorie.     Er  erkennt,  unter  besonderer  Betonung  der 


^)  „Die  Notwendigkeit  und  Nützlichkeit  der  Kapitalien  für  die  Geschäfte  der 
Produktion  in  den  mannigfaltigsten  Beziehungen  auf  der  einen  und  die  Schwierigkeit 
der  Entbehrungen,  welchen  man  die  Anhäufung  verdankt,  auf  der  anderen  Seite,  sind 
die  Grundlage  des  Tauschwertes  der  Dienste,  die  sie  leisten.  Sie  finden  ihre  Vergütung 
in  einem  Anteile  des  Wertes  der  Produkte,  zu  dessen  Hervorbringung  sie  mitgewirkt 
haben"  (S.  19).  „Die  Dienste  der  Kapitalien  und  der  Industrie  haben  notwendig 
einen  Tauschwert;  jene,  da  die  Kapitahen  nur  durch  mehr  oder  weniger  schmerzliche 
Entbehrungen  oder  Anstrengungen  gewonnen  werden,  denen  man  sich  zu  unterziehen 
nur  durch  einen  angemessenen  Vorteil  veranlaßt  sein  kann  .  .  ."  (S.  22). 

«)  Cassel  1850—57. 

3)  I.  Bd.  II.  Abt.  S.  246ff.,  und  öfter. 
Böhm-B  awerk,  Kapitalzins.    i.  Aufl.  12 


178       VIII.  Die  Nutzungstheorien.    1.  U.-A.  Dogmenhistorische  Darstellung. 

Notwendigkeit  ihres-  Zusammenwirkens^),  zwei  Güterquellen  an,  Natur- 
imd  Arbeitskraft,  wobei  er  das  Kapital  als  „ausgebildete  Naturkraft" 
auffaßt*).  Den  beiden  Güterquellen  entsprechend  gibt  es  auch  zwei  Arten 
von  Einkommen,  Zins  und  Lohn.  ,J)er  Zins  ist  die  Vergütung  für  die 
produktive  oder  konsumtive  Benützung  von  Vermögensstämmen."  „Ver- 
wenden wir  Vermögensteile  als  Werkmittel,  so  tragen  sie  zur  Produktion 
bei  und  leisten  uns  dadurch  einen  Dienst;  verwenden  wir  sie  zu  konsum- 
tiven Zwecken,  so  konsumieren  wir  nicht  nur  sie  selbst,  sondern  auch  den 
Dienst,  welchen  sie  bei  produktiver  Verwendung  zu  leisten  vermöchten. 
Verwenden  wir  fremde  Vermögensteile,  so  müssen  wir  den  Eigentümern 
den  produktiven  Dienst,  welchen  sie  leisten  können,  vergüten.  Die  Ver- 
gütung für  denselben  ist  der  Zins,  welcher  auch  Zinsen,  Interessen, 
Kapitalrente  genannt  wird.  Verwenden  wir  eigene  Güter,  so  beziehen 
wir  den  Zins,  den  sie  tragen,  selbst" »).  Fürwahr  ein  kümmerlicher  Auszug 
der  alten  SATschen  Lehre! 

Noch  verwunderlicher  erscheint  diese  ärmliche  Wiedergabe  längst 
gesagter  Dinge,  wenn  man  bedenkt,  daß  die  Ausbildung  der  Nutzungs- 
theorie in  der  Zwischenzeit  einen  mächtigen  Schritt  nach  vorwärts  getan 
hatte:  durch  Hermanns  „staatswirtschaftliche  Untersuchungen",  die  im 
Jahre  1832  erschienen  waren. 

Dieses  Werk  bildet  den  zweiten  Markstein  in  der  Entwicklung  der 
Nutzungstheorie.  In  ihm  hat  Hebmann  aus  den  knappen  und  wider- 
spruchsvollen Andeutungen  Says,  die  er  voll  lobender  Anerkennung  über- 
nahm*), eine  stattliche  Theorie  aufzubauen  gewußt,  die  ebensowohl  in 
ihren  Grundlagen  sorgfältig  ausgearbeitet,  als  auch  in  alle  Details  verfolgt 
ist.  Und,  was  gar  nicht  gering  anzuschlagen  ist,  diese  wohlausgebildete 
Theorie  ist  ihm  auch  in  Fleisch  und  Blut  übergegangen.  Sie  durchdringt 
das  ganze  weitläufige  Werk  äußerhch  und  innerlich:  es  weist  keinen  Ab- 
schnitt auf,  in  dem  nicht  ihrer  Darstellung  oder  Anwendung  ein  ansehn- 
licher Platz  gegönnt  wäre,  und  an  keiner  Stelle  desselben  gestattet  sich 
der  Verfasser,  den  Gesichtspunkten  untreu  zu  werden,  zu  deren  Einhaltung 
die  Nutzungstheorie  ihn  verpflichtet. 

Ich  will  im  folgenden  die  Hauptgedanken  der  HERMANNschen  Theorie, 
die  eine  eingehendere  Bekanntschaft  wohl  verdient,  im  Auszuge  ent- 
wickeln. Ich  halte  mich  dabei  überwiegend  an  die  fast  vierzig  Jahre  nach 
der  ersten  erschienene  zweite  Auflage  der  staatswirtschaftlichen  Unter- 
suchungen, da  diese  die  Theorie  im  Wesen  fast  unverändert,  und  dabei 
in  der  Form  schärfer  und  ausführlicher  wiedergibt»). 

1)  II.  Bd.  S.  214  und  öfter. 
«)  II,  266. 
»)  III,  633,  660. 

*)  Siehe  I.  Aufl.  S.  270  in  der  Note. 

»)  Die  zweite  Auflage  erschien  1870,  ein  unveränderter  Abdruck  derselben  1874. 
Ich  zitiere  nach  dem  letzteren. 


Hermann.  279 

Die  Grundlage  der  Lehre  Hebmanns  bildet  sein  Begriff  der  selb- 
ständigen Gütemutzung.  Ganz  im  Gegensätze  zu  Sat,  der  über  die  Natur 
seiner  Services  productifs  mit  ein  paar  Analogien  und  metaphorischen 
Redensaxten  hinüber  zu  gleiten  trachtet,  verwendet  Hermann  auf  die 
Erklärung  seines  Grundbegriffes  alle  mögliche  Sorgfalt. 

Er  führt  ihn  zuerst  in  der  Güterlehre  ein,  wo  er  von  den  verschiedenen 
Arten  der  Brauchbarkeit  der  Güter  spricht  „Die  Brauchbarkeit  kann 
eine  vergängliche  oder  eine  dauernde  sein.  Teils  die  Art  des  Gutes,  teils 
die  Art  des  Gebrauches  ist  hier  maßgebend.  Vergänglich,  oft  nur  momentan, 
ist  die  Brauchbarkeit  frisch  bereiteter  Speise,  manches  Gretränkes;  eine 
Dienstleistung  hat  bloß  momentanen  Grebrauchswert,  doch  kann  ihre 
Wirkung  eine  dauernde  sein,  wie  es  beim  Unterricht,  beim  Rat  des  Arztes 
der  Fall  ist.  Grundstücke,  Gebäude,  Geräte,  Bücher,  Geld  haben  dauernden 
Gebrauchswert.  Ihr  Gebrauch,  während  dessen  sie  fortbestehen, 
wird  ihre  Nutzung  genannt,  die  dann  wie  ein  eigenes  Gut 
aufgefaßt  werden  kann,  welches  für  sich  selbst  Tausehwert 
erlangen  mag,  den  man  Zins  nennt." 

Aber  nicht  bloß  dauerbare,  sondern  auch  vergängliche,  verbrauchliche 
Güter  sind  imstande,  eine  dauernde  Nutzung  abzugeben.  Da  dieser  Satz 
von  kardinaler  Bedeutung  für  die  HERMANNsche  Theorie  ist,  gebe  ich  seine 
Veranschaulichung  im  vollen  Wortlaut 

„Die  Technik  ist . . .  imstande,  bei  der  Umwandlung  und  Kombination 
der  Brauchbarkeit  der  Güter  die  Summe  ihrer  Tauschwerte  unvermindert 
zu  erhalten,  so  daß  Güter,  obwohl  successiv  in  neuen  Formen,  doch  im 
Gleichwerte  fortbestehen.  Eisenstein,  Kohle,  Arbeit  erlangen  im  Roh- 
eisen eine  kombinierte  Brauchbarkeit,  zu  der  sie  alle  drei  chemische  und 
mechanische  Elemente  beitragen;  wenn  dann  das  Roheisen  den  Tausch- 
wert der  drei  verwendeten  Tauschgüter  besitzt,  so  besteht  die  frühere 
Gütersumme  in  der  neuen  Brauchbarkeit  qualitativ  verbunden,  im  Tausch- 
werte quantitativ  addiert  fort." 

„Den  materiellen  vergänglichen  Gütern  verleiht  die  Technik  gerade 
durch  Umwandlung  wirtschaftiiche  Beständigkeit  und  Fortdauer.  Dieser 
Fortbestand  von  Brauchbarkeit  und  Tauschwert  in  vergänglichen  Gütern 
durch  ihre  technische  Umgestaltung  ist  für  die  Wirtschaft  von  der  größten 
Bedeutung  ,  .  .  Die  Masse  der  dauernd  nutzbaren  Güter  wird  dadurch 
sehr  viel  größer;  auch  materiell  vergängliche  und  bloß  temporär 
brauchbare  Güter  lassen  sich  durch  beständigen  Form- 
wechsel unter  Fortbestand  des  Tauschwertes  so  in  Fluß 
bringen,  daß  sie  für  den  Gebrauch  Beständigkeit  erlangen. 
Dann  läßt  sich,  wie  bei  den  dauerbaren,  auch  bei  den  Gütern, 
welche  unter,  Fortbestand  ihres  Tauschwertes  qualitativ  ihre 
Form    ändern,    dieser    Gebrauch    als    ein    Gut   für    sich,    als 

12* 


180       VIII.  Die  Ntttzungstheorien.    1.  U.-A.  Dogmenhistorische  Darstellung. 

Nutzung  auffassen,  die  selbst  Tauschwert  erlangen  kann"^). — 
Ich  werde  auf  diese  merkwürdige  Stelle  später  zurückkommen. 

Hermann  benützt  diese  Auseinandersetzung  dazu,  um  sofort  auch 
seinen  Kapitalbegriff  einzuführen,  der  sich  ganz  auf  den  der  Nutzung 
stützt:  „Beständige  oder  dauerbare  Güter  und  wandelbare,  die  ihren 
Wert  im  Wechsel  der  Form  behaupten,  lassen  sich  damit  unter  einen  und 
denselben  Begriff  bringen:  eine  dauernde  Grundlage  einer  Nutzung  zu 
sein,  die  Tauschwert  hat.     Solche  Güter  nennen  wir  Kapitale"*). 

Die  Brücke  zwischen  diesen,  einleitenden  Begriffsaufstellungen  und 
der  eigentlichen  Zinstheorie  Hermanns  bildet  der  Satz,  daß  die  Kapital- 
nutzungen den  Tauschwert,  dessen  sie  als  selbständige  Größen  fähig  sind, 
im  Wirtschaftsleben  in  aller  Regel  auch  wirklich  genießen.  Hermann 
behandelt  diesen  Satz  nicht  mit  jenem  Nachdruck,  der  seiner  Wichtigkeit 
entspräche.  Obwohl  alles  weitere  auf  ihm  beruht,  spricht  er  ihn  weder 
in  solenner  Form  aus,  noch  gibt  er  ihm  eine  ausgeführte  Begründung  mit. 
Letztere  fehlt  zwar  nicht;  aber  sie  steht  mehr  zwischen  den  Zeilen,  als 
in  ihnen.  Sie  läuft  darauf  hinaus,  daß  die  Nutzungen  deshalb  Tauschwert 
besitzen,  weil  sie  wirtschaftliche  Güter  sind;  eine  Auskunft,  die  zwar 
kurz  angebunden,  aber  am  Ende  auch  ohne  weiteren  Kommentar  ge- 
nügend ist  3). 

Die  weitere  Erklärung  des  Kapitalzinses  schlägt  dann  folgenden 
Weg  ein. 

Die  tauschwerten  Kapitalnutzungen  bilden  in  fast  allen  Produktionen 
einen  unentbehrlichen  Teil  des  Produktionsaufwandes.  Dieser  setzt  sich 
aus  drei  Teilen  zusammen:  1.  aus  der  Auslage  des  Unternehmers,  d.  i. 


1)  S.  109fi. 

2)  S.  111.  —  Dem  hier  entwickelten  Kapitalbegriffe  bleibt  Hermann  allerdinp 
nicht  immer  ganz  treu.  Während  er  hier  die  Güter  selbst,  welche  Grundlage  einer 
dauernden  Nutzung  sind,  Kapitale  nennt,  liebt  er  es  späterhin,  das  Kapital  als  etwas 
von  den  Gütern  verschiedenes,  gleichsam  über  ihnen  schwebendes,  hinzustellen;  so  z,  B. 
wenn  er  auf  S.  605  sagt:  „Vor  allem  muß  man  den  Gegenstand,  worin  sich  ein 
Kapital  darstellt,  vom  Kapital  selbst  unterscheiden.  Kapital  ist  Grund- 
lage dauernder  Nutzung,  die  bestimmten  Tauschwert  hat;  es  besteht  ungeschmälert 
fort,  so  lange  die  Nutzung  diesen  Wert  behält  und  es  ist  hierbei  gleichgiltig,  ob  die  Güter, 
welche  das  Kapital  bilden,  bloß  als  Kapital  oder  noch  anderweitig  brauchbar  sind, 
überhaupt  in  welcher  Form  sich  das  Kapital  darstellt."  Wenn  man  hier  fragt,  was  ist 
das  Kapital  denn,  wenn  es  nicht  der  Inbegriff  der  Güter  ist,  in  denen  es  sich  „darstellt", 
80  dürfte  eine  ehrliche  Antwort,  die  nicht  bloß  mit  den  Worten  spielt,  schwer  genug 
werden. 

»)  Hermann  hielt  augenscheinlich  den  Tauschwert  der  Nutzungen  für  etwas  zu 
selbstverständliches,  um  sich  zu  einer  förmlichen  Erklärung  desselben  veranlaßt  zu 
sehen.  Auch  die  im  Texte  erwähnte  äußerst  knappe  Erklärung  gibt  er  gewöhnlich  nur 
indirekt,  dabei  aber  ausreichend  deutlich;  so  wenn  er  S.  607  sagt:  „Für  die  Nutzung 
des  Bodens  kann  der  Komproduzent  keine  Vergeltung  im  Preise  erhalten,  so  lange 
sie  als  freies  Gut  jedem  in  beliebiger  Menge  sich  darbietet," 


Hermann.  281 

aus  dem  Aufwand  an  schon  vorher  vorhandenen  Vermögenswerten,  z.  B. 
Haupt-,  Neben-  und  Hilfsstoffen,  eigener  und  fremder  Arbeit,  Verautzungen 
der  Werkgebäude  und  Geräte  usw.;  2.  aus  der  Leistung  der  Intelligenz 
und  Sorgfalt  des  Unternehmers  bei  der  Inswerksetzung  und  Leitung  des 
Unternehmens,  und  3.  aus  den  Nutzungen  der  zur  Produktion  notwendigen 
fixen  und  flüssigen  Kapitale  während  deren  Anwendung  bis  zum  Absatz 
des  Produktes^). 

Da  nun  der  Preis  des  Produktes  wirtschaftlicher  Weise  die  gesamten 
Produktionskosten  decken  muß,  so  muß  er  auch  hoch  genug  sein,  „um 
neben  den  Auslagen  zugleich  die  Aufopferung  des  Unternehmers  an  Kapital- 
nutzungen,  dann  Intelligenz  und  Sorgfalt"  zu  ersetzen;  oder,  wie  man  es 
gewöhnlich  ausdrückt,  er  muß  über  die  Vergeltung  der  Auslagen  einen 
Gewinn  (Kapitalgewinn  und  Untemehmergewinn)  abwerfen.  Der  letztere 
ist,  wie  Hermann  seinen  Gedanken  noch  genauer  erläuternd  hinzusetzt, 
keineswegs  „bloß  ein  im  Kampfe  der  Preisbestimmung  zufällig  sich  er- 
gebender Vorteü".  Der  Gewinn  ist  vielmehr  „ebensogut  Vergeltung  einer 
wirklichen  Hingabe  von  Tauschwert  besitzenden  Gütern  ins  Produkt  wie 
die  Auslagen.  Nur  macht  der  Unternehmer  die  letzteren  für  die  Bei- 
schaffung und  Zusammenhaltung  anderweitig  vorhandener  Elemente  von 
Tauschwert  für  das  Produkt;  die  Nutzungen  der  anzuwendenden  Kapitale 
und  seine  eigene  Leitung  des  Geschäftes  gibt  er  selbst  während  der  Pro- 
duktion neu  in  das  Werk.  Er  benützt  die  Auslagen,  um  zugleich  für  diese 
seine  neue  Zugabe  möghchst  hohe  Vergeltung  zu  erlangen;  diese  Vergeltung 
ist  der  Gewinn"  (S.  314). 

Zum  Abschluß  dieser  Erklärung  des  Kapitalgewinnes  fehlt  noch  eines, 
das  ist  die  Veranschaulichung,  wieso  man  zur  Produktion  außer  der  Kapital- 
auslage auch  noch  Kapitalnutzungen  aufopfern  muß?  —  Diese  Auf- 
klärung gibt  Hermann  an  einer  anderen  Stelle,  an  der  er  zugleich  den 
Nachweis  führt,  daß  sich  alle  Produkte  schließlich  auf  Arbeitsleistungen 
und  Kapitalnutzungen  zurückführen  lassen,  mit  großer  Umständlichkeit. 
Da  Hermann  hiebei  auch  über  den  Charakter  der  „Gütemutzung",  so 
wie  er  sich  ihn  vorstellt,  interessante  Aufschlüsse  gibt,  will  ich  auch  diese 
Stelle  im  vollen  Wortlaut  geben. 

Hermann  analysiert  die  Aufopferungen,  welche  die  Herstellung 
gesalzener  Fische  erfordert.  Er  zählt  auf:  Arbeit  des  Fanges,  Nutzung 
und  Abnutzung  der  Geräte,  Schiffe;  die  Arbeit  der  Salzgewinnung  und 
abermals  die  Nutzung  von  allerlei  Geräten,  Fässern  u.  dgl.;  er  löst  dann 
das  Schiff  auf  in  Holz,  Eisen,  Tauwerk,  Arbeit  und  Nutzung  von  Arbeits- 
geräten; das  Holz  wieder  in  Nutzung  des  Waldes  und  Arbeit,  das  Eisen 
in  Nutzung  des  Bergwerkes  usw.  „Mit  dieser  Reihenfolge  von  Arbeiten 
und  Nutzungen  ist  aber  der  Betrag  der  Aufopferungen  für  die  Lieferung 


1)  S.  312ff.,  412Ö. 


182      VIII.  Die  Nutzongstheorien.    1.  U.-A.  Dogmenhistorische  Darstellong. 

der  Salzfisohe  nicht  vollständig  dargelegt.  Es  muß  nämlich  noch  die 
Dauer  in  Anrechnung  kommen,  während  welcher  jedes  Element  von 
Tauschwert  dem  Produkt  einverleibt  ist.  Denn  von  dem  Augenblicke  an, 
wo  eine  Arbeit  oder  eine  Nutzung  in  ein  Produkt  verwendet  wird,  ist  die 
anderweitige  Verfügung  über  dieselben  aufgehoben;  statt  sie  selbst  zu 
benützen,  wirkt  man  durch  sie  lediglich  zur  Herstellung  und  Überlieferung 
des  Produktes  an  den  Konsumenten  mit.  Um  einen  richtigen  Einblick 
in  diese  Leistung  zu  gewinnen,  ist  zu  bedenken,  daß  Arbeiten  und  Nutzungen 
sobald  sie  in  das  Produkt  verwendet  sind,  quantitativ  als  Bestandteil  in 
das  flüssige  Kapital  mit  dem  Tauschwerte  eintreten,  den  sie  vermöge  ihrer 
Preisbestimmung  zur  Zeit  ihrer  Verwendung  besaßen.  Mit  diesem  werden 
sie  flüssiges  Kapital.  Eben  dieser  Wertbetrag  ist  es  aber,  auf  dessen 
anderweiten  eigenen  Gebrauch  man  verzichtet,  bis  das 
Produkt  vom  Käufer  vergolten  wird.  Wie  mit  der  Gewinnung, 
Bearbeitung,  Aufbewahrung  und  Verfrachtung  das  flüssige  Kapital  durch 
immer  neue  Arbeiten  und  Nutzungen,  die  in  dasselbe  verwendet  werden, 
anwächst,  ist  es  selbst  Vermögen,  dessen  Nutzung  man  den  Konsumenten 
in  jedem  neuen  Wertzugang  bis  zur  Überlieferung  des  Produktes  an  den 
Abnehmer  überläßt.  Und  es  ist  nicht  ein  bloßer  Verzicht  auf  den 
eigenen  Gebrauch,  der  ihm  aufgerechnet  wird,  nein,  es  ist 
eine  wirkliche  neue  eigentümliche  Nutzung,  die  ihm  mit  dem 
Vermögen  selbst  überl||sen  wird;  die  Zusammenfassung  und 
Zusammenhaltung,  Be^hrung  und  Bereithaltung  aller  tech- 
nischen Elemente  der  Produktion,  von  der  Gewinnung  seiner 
ersten  Naturgrundlage  an  durch  alle  technischen  Wandlungen  und  kom- 
merziellen Vorgänge  hindurch  bis  zur  Überlieferung  an  dem  Ort,  zu  der 
Zeit  und  in  der  Quantität,  wo  er  das  Produkt  begehrt.  Diese  Zusammen- 
haltung der  technischen  Elemente  des  Produktes  ist  der 
Dienst,  die  objektive  Nutzung  des  flüssigen  Kapitales"*). 

Wenn  wir  die  Gestalt,  die  Hermann  der  Nutzungstheorie  gegeben, 
mit  der  SAYSchen  Lehre  vergleichen,  so  finden  wir  zwar  in  den  allgemeinsten 
Umrissen  Identität.  Beide  erkennen  die-Eüstenz  selbständiger  Leistungen 
des  Kapitales  an,  beide  erblicken  in  deren  Benutzung  zur  Produktion  ein 
selbständiges  Opfer  neben  dem  Aufwand  an  Kapitalsubstanz  und  beide 
erklären  den  Zins  als  die  —  notwendige  —  Vergütung  dieses  selbständigen 
Opfers.  Dennoch  bedeutet  Hermanns  Lehre  einen  wesentlichen  Fort- 
schritt gegen  Say.  Denn  dieser  hatte  u\  der  Tat  nur  Umrisse  einer  Theorie 
gegeben,  innerhalb  derer  die  wichtigsten  Dinge  im  Unklaren  blieben;  seine 
Services  productifs  sind  nichts  als  ein  vieldeutiger  Name  und  die  so  wichtige 
Einsicht,  wieso  ihre  Aufopferung  ein  selbständiges  Produktionsopfer  neben 
der  aufgeopferten  Kapitalsubstanz  begründe,  wird  so  gut  wie  ganz  derPhan- 

1)  S.  286  f. 


Hermann.  ]B8 

tasie  des  Lesers  anheimgestellt.  Indem  Hermann  diese  beiden  Kardinal- 
punkte  mit  echt  deutscher  Gründlichkeit  ins  Klare  zu  arbeiten  suchte, 
hat  er  den  von  Say  übernommenen  Umrissen  erst  einen  festen  Inhalt  und 
dadurch  dem  Ganzen  den  Rang  einer  soliden  Theorie  gegeben.  —  Ein 
nicht  zu  unterschätzendes  negatives  Verdienst  ist  es  auch,  daß  Hermann 
sich  der  bei  Say  so  anstößigen  Parallelerklärungen  aus  der  Produktivität 
des  Kapitales  strenge  enthält;  er  führt  zwar  diesen  Ausdruck  gleichfalls 
im  Munde,  allein  in  einem  wenn  auch  nicht  glücklichen,  so  doch  unver- 
fänglichen Sinne  ^). 

Von  allen  Inkongruenzen  hat  Hermann  freilich  auch  seine  Formu- 
lierung der  Nutzungstheorie  nicht  freizuhalten  gewußt.  Insbesondere 
bleibt  auch  bei  ihm  zweifelhaft,  welcher  Art  der  Zusammenhang  zwischen 
dem  Tauschwert  der  Kapitalnutzungen  und  dem  Preise  der  Kapital- 
produkte ist.  Ist  der  Preis  der  Produkte  hoch,  weil  der  Tauschwert  der 
Nutzungen  hoch  ist?  Oder  ist  umgekehrt  der  Tauschwert  der  Nutzungen 
hoch,  weil  der  Preis  der  Produkte  hoch  ist?  —  Diese  Frage,  in  der  Say 
sich  in  die  grellsten  Widersprüche  verwickelt*),  hat  auch  Hermann  nicht 
vöUig  ins  Reine  gebracht.  Während  er  in  den  oben  vorgeführten  und  in 
vielen  anderen  Stellen  offenbar  zur  ersten  Ansicht  neigt,  also  den  Preis 
der  Produkte  als  beeinflußt  durch  den  Wert  der  Kapitalnutzungen  hin- 
stellt»), fehlt  es  auch  nicht  an  Äußerungen,  die  gerade  den  umgekehrten 
Gang  der  Verursachung  voraussetzen.  So  bemerkt  Hermann  einmal 
(S.  296),  daß  die  Preisbestimmung  der  Produkte  „selbst  erst  wieder  auf 
den  Preis  der  Arbeiten  und  Nutzungen  zurückwirkt,"  und  ähnlich  schreibt 
er  ein  andermal  (S.  559)  nicht  den  Kostenbestandteüen,  die  ein  Zwischen- 
produkt erzeugen  geholfen,  sondern  den  Endprodukten,  die  schließlich 
daraus  hervorgehen,  einen  bestünmenden  Bbfluß  auf  den  Preis  der 
Zwischenprodukte  zu.  —  Es  war  erst  Menger  vorbehalten,  in  dieser 
schwierigen  Frage  volle  Klarheit  zu  schaffen. 

Bis  jetzt  haben  wir  lediglich  die  Lehre  Hermanns  über  den  Ursprung 
des  Kapitalzinses  ins  Auge  gefaßt.  Wir  dürfen  aber  auch  die  durchaus 
eigenartigen  Ansichten  nicht  übergehen,  die  er  über  die  Ursachen  der 
verschiedenen  Höhe  des  Zinsfußes  entwickelt. 

Hermann  geht  von  dem  früher  nachgewiesenen  Satze  aus,  daß  „die 
Gesamtmasse  der  Produkte",  in  ihre  einfachen  Bestandteile  aufgelöst, 
„eine  Summe  von  Arbeiten  und  Kapitalnutzungen"  ist.  Hält  man  hieran 
fest,  so  ist  zunächst  klar,  daß  alle  Tauschakte  in  dem  Austausch  von 
Arbeiten  und  Kapitalnutzungen  der  Einen  (direkt  oder  in  Produkten 


*)  Siehe  unten. 
»)  Siehe  oben  S.  106f. 

')  Siehe  auch  S.  560:  „Die  Kapitahiutzungen  sind  daher  ein  Bestimmungsgrand 
der  Preise." 


184        VIII.  Die  Nutzungstheorien.    1.  U.-A.  Dogmenhistorische  Darstellung. 

verkörpert)  gegen  Arbeiten  und  Nutzungen  (direkt  oder  in  Produkten 
verkörpert)  Anderer  bestehen  müssen.  Was  man  dabei  an  fremden  Arbeiten 
und  Nutzungen  für  eigene  Arbeit  erhält,  ist  der  Tauschwert  der  Arbeit 
oder  der  Lohn;  und  „was  man  an  Arbeiten  und  Kapitalnutzungen  von 
Anderen  für  ausgebotene  eigene  Nutzungen  erhält,  begründet  den  Tausch- 
wert von  diesen  oder  den  Kapitalgewinn."  Arbeitslohn  und  Kapitalgewinn 
müssen  so  die  Gesamtmasse  aller  zu  Markt  kommenden  Produkte  er- 
schöpfen^). 

Wovon  hängt  nun  die  Höhe  des  Kapitalgewinnes,  oder  was  dasselbe 
ist,  die  Höhe  des  Tauschwertes  der  Kapitalnutzungen  ab?  —  Zunächst 
natürlich  von  der  Menge  fremder  Arbeiten  und  Nutzungen,  die  man  dafür 
erhält.  Diese  hängt  aber  selbst  wieder  hauptsächlich  ab  von  dem  Ver- 
hältnis, in  dem  die  beiden  Partizipanten  am  Gesamtprodukt,  Arbeiten 
und  Nutzungen,  gegen  einander  ausgeboten  und  begehrt  werden.  Und 
zwar  tendiert  jede  Vermehrung  des  Ausgebotes  der  Arbeit  auf  eine  Er- 
niedrigung des  Lohnes  und  eine  Erhöhung  des  Kapitalgewinnes,  und  jede 
Vermehrung  am  Ausgebot  der  Nutzungen  auf  eine  Erhöhung  des  Lohnes 
und  eine  Erniedrigung  des  Gewinnes.  Das  Ausgebot  jedes  dieser  beiden 
Faktoren  kann  aber  wieder  durch  zwei  Umstände  vermehrt  werden;  teils 
durch  die  Vermehrung  der  Masse,  in  der  er  vorhanden  ist,  teils  durch 
seine  größere  Ergiebigkeit.  Diese  Umstände  kommen  auf  folgende  Art 
zur  Wirkung. 

„Mehrt  sich  die  Masse  der  Kapitale,  so  werden  mehr  Nutzungen 
feilgeboten,  mehr  Gegenwerte  für  dieselben  gesucht.  Diese  können  nur 
Arbeit  oder  Nutzungen  sein.  Soweit  man  für  die  vermehrten  Kapital- 
nutzungen andere  dergleichen  verlangt,  findet  man  wirklich  eine  größere 
Masse  von  Gegenwerten  disponibel;  da  also  Angebot  und  Begehr  gleich- 
mäßig vermehrt  ist,  so  kann  der  Tauschwert  der  Nutzungen  sich  nicht 
ändern.  Ist  aber,  wie  hier  angenommen  sei,  die  Masse  der  Arbeiten  im 
ganzen  nicht  gestiegen,  so  finden  die  Kapitalbesitzer  für  mehr  Nutzungen, 
die  sie  gegen  Arbeit  zu  vertauschen  suchen,  nur  den  vorigen,  also  einen 
ungenügenden  Gegenwert;  der  Tauschwert  der  Nutzungen  wird  daher 
gegen  Arbeit  sinken,  oder  der  Arbeiter  wird  mit  gleicher  Leistung  mehr 
Nutzungen  kaufen.  Beim  Umtausch  von  Nutzung  gegen  Nutzung  erhalten 
nun  die  Kapitalisten  den  vorigen  Gegenwert,  an  Arbeiten  aber  weniger; 
es  muß  also  der  Gewinnbetrag  im  Verhältnis  zum  Gesamtkapital  oder  der 
Gewinnsatz  sinken.  Die  ganze  Masse  der  produzierten  Güter  ist  zwar 
vermehrt,  die  Zunahme  hat  sich  aber  unter  die  Kapitalisten  und  Arbeiter 
verteUt." 

„Vergrößert  sich  die  Ergiebigkeit  der  Kapitale  oder  ge- 
währen sie  in  gleicher  Zeit  mehr  Befriedigungsmittel  der  Bedürfnisse,  so 


^)  Hermann  begreift  auch  Grund  und  Boden  unter  dem  Kapital. 


Hermann.  185 

bieten  die  Kapitalbesitzer  mehr  Gebrauchsgüter  aus  als  früher,  verlangen 
also  mehr  Gegenwerte.  Diese  erhalten  sie,  so  weit  jeder  für  seine  vergrößerte 
Nutzung  andere  Nutzungen  sucht.  Mit  dem  Begehr  ist  hier  das  Angebot 
gestiegen;  der  Tauschwert  muß  also  unverändert  bleiben,  d.  h.  die  Nutzung 
gleicher  Kapitale  in  gleicher  Zeit  gegeneinander  vertauscht  werden;  aber 
der  Gehalt  dieser  Nutzung  an  Brauchlichkeit  ist  ein  höherer  als  früher. 
Setzt  man  aber  voraus,  die  Arbeit  sei  nicht  vermehrt,  so  finden  nicht  alle 
Nutzungen,  mit  denen  man  Arbeit  kaufen  will,  den  bisherigen  Gegenwert; 
dies  muß  den  Wettbegehr  nach  Arbeit  steigern,  den  Tauschwert  der 
Nutzungen  gegen  Arbeit  senken.  Die  Arbeiter  erhalten  nun  für  ihre  vorige 
Leistung  mehr  Nutzungen,  finden  sich  also  besser  gestellt;  die  Kapital- 
eigner genießen  nicht  die  ganze  Frucht  der  vermehrten  Ergiebigkeit  der 
Kapitale  allein,  sondern  müssen  sie  mit  den  Arbeitern  teilen.  Das  Sinken 
des  Tauschwertes  der  Nutzungen  bringt  ihnen  aber  keinen  Nachteil,  da 
er  doch  mehr  Genußgüter  begreifen  kann,  als  vorher  der  höhere." 

Aus  analogen  Gründen,  die  wohl  nicht  mehr  ausgeführt  zu  werden 
brauchen,  zeigt  Hermann,  daß  der  Gewinnsatz  sich  erhöht,  wenn  die 
Masse  oder  die  Ergiebigkeit,  der  Arbeit  zunimmt. 

Der  auffälligste  Zug  in  dieser  Theorie  ist  wohl,  daß  Hermann  in  der 
Zunahme  der  Produktivität  des  Kapitales  einen  Erniedrigungsgrund  des 
Kapitalzinses  erblickt.  Er  tritt  damit  in  direkten  Gegensatz  einerseits  zu 
Ricardo  und  seiner  Schule,  die  die  Hauptursache  des  sinkenden  Zinsfußes 
in  der  Abnahme  der  Ergiebigkeit  der  Kapitalien  fanden,  welche  an 
schlechteren  Boden  gewendet  werden  müssen;  andererseits  aber  auch  zu 
den  Produktivitätstheoretikern,  die  nach  der  Natur  ihrer  Lehre  gleichfalls 
eine  gerade  Proportion  zwischen  Produktivitätsgrad  und  Zinshöhe  an- 
nehmen mußten^). 

Ob  der  Kern  der  HERMANNschen  Nutzungstheorie  haltbar  ist,  will 
ich  vorläufig  noch  dahingestellt  sein  lassen.  Daß  aber  jene  Anwendung, 
die  ihr  Hermann  auf  die  Erklärung  der  Höhe  des  Zinsfußes  gegeben  hat, 
nicht  richtig  ist,  glaube  ich  schon  im  gegenwärtigen  Stadium  unserer  Unter- 
suchungen dartun  zu  können. 

Es  scheint  mir  nämlich,  daß  Hermann  in  diesem  Teil  seiner  Lehre 
zwei  Größen  zu  wenig  auseinander  gehalten  hat,  die  sehr  auseinander  zu 
halten  waren:  Verhältnis  der  Gesamtgewinne  zum  Gesamtlohne 
und  Verhältnis  des  Gewinnbetrages  zu  seinem  Kapitale  oder 
Zinsfuß.  Was  Hermann  ausgeführt  hat,  ist  trefflich  imstande,  eine 
Erniedrigung  oder  Erhöhung  des  Gesamtgewinnes  im  Verhältnis  zu  dem 
Arbeitslohne  zu  erklären  und  zu  erweisen,  aber  es  erklärt  und  erweist 
nichts  für  die  Höhe  des  Gewinnsatzes  oder  des  Zinsfußes. 


^)  z.  B.  RosCHEB  §  183.  Eine  Ausnahme  macht  nur  Roesler,  der  der  HERMiNN- 
cjchen  Ansicht,  wenn  auch  mit  etwas  geänderter  Motivierung,  gefolgt  ist.  Siehe  oben 
S.  169ff. 


186       VIII.  Die  Nutzongstheorien.    1.  U.-A.  Dogmenhistorische  Darstellung. 

Die  Quelle  des  Versehens  liegt  darin,  daß  Hermann  die  sonst  be- 
rechtigte Abstraktion,  kraft  deren  er  in  den  Produkten  nichts  sieht  als 
die  Arbeiten  und  Nutzungen,  aus  denen  sie  entstanden  sind,  auch  auf  ein 
Gebiet  ausgedehnt  hat,  wo  sie  übel  angebracht  war,  nämlich  auf  das  Gebiet 
des  Tauschwertes.  Gewohnt,  Nutzungen  und  Arbeiten  als  Repräsentanten 
aller  Güter  anzusehen,  meinte  Hermann  auch  nur  auf  diese  Repräsentanten 
sehen  zu  dürfen,  wenn  es  sich  darum  handelt,  ob  irgend  eine  Größe  hohen 
oder  niedrigen  Tauschwert  hat.  Er  kalkuliert:  Nutzungen  und  Arbeiten 
sind  die  Repräsentanten  aller  Güter.  Kauft  daher  die  Nutzung  gleich 
viel  Nutzungen  und  dabei  weniger  Arbeiten  als  zuvor,  so  ist  ihr  Tausch- 
wert schlechthin  kleiner.  Das  ist  falsch.  Der  Tauschwert  (im  Sinne  von 
Tauschkraft,  in  dem  Hermann  das  Wort  stets  gebraucht)  eines  Gutes 
bemißt  sich  nicht  bloß  an  den  Quantitäten  von  einer  oder  zwei  bestimmten 
Güterarten,  die  man  dafür  eintauschen  kann,  sondern  am  Durchschnitt 
aller  Güter,  unter  die  hier  alle  Produkte  zu  zählen  sind,  jedes  einzelne 
gleichberechtigt  mit  dem  Gute  „Arbeit"  und  dem  Gute  „Kapitalnutzung", 
So  versteht  man  den  Tauschwert  im  Leben  und  in  der  Wissenschaft,  und 
so  versteht  ihn  auch  Hermann  selbst,  wenn  er  auf  S.  432  ausdrücklich 
erklärt:  „Bei  solcher  Verschiedenheit  der  Preisgüter  ist  die  Aufstellung 
eines  Durchschnittspreises,  wie  wir  ihn  zur  Bestimmung  des  Tauschwertes 
verlangten,  unstatthaft,  aber  darum  die  Auffassung  des  Tauschwertes 
nicht  unmöglich.  Man  erhält  ihn  im  Überblick  aller  Durchschnitts- 
preise, die  auf  demselben  Markte  in  allen  Preisgütern  über  ein  Gut 
geschlossen  werden;  er  ist  eine  Reihe  von  Gleichungen  desselben 
Gutes  gegen  viele  andere  Güter.  Wir  wollen  den  so  bestimmten 
Tauschwert  eines  Gutes  zum  Unterschied  von  dem  Durchschnittsbetrag 
der  Geldpreise  oder  dem  Geldwerte,  den  Sachwert  des  Gutes  nennen." 

Es  läßt  sich  nun  leicht  zeigen,  daß  die  Tauschkraft  der  Kapitalnutzung 
gegen  Produkte  ganz  andere  Wege  geht,  als  ihre  Tauschkraft  gegenüber 
anderen  Nutzungen  und  Arbeitsleistungen.  Steigt  z.  B.  die  Ergiebigkeit 
aller  Nutzungen  und  Arbeitsleistungen  vollkommen  gleichmäßig  auf  das 
Doppelte,  so  wird  die  Tauschkraft  zwischen  Nutzungen  und  Arbeits- 
leistungen unter  einander  gar  nicht  verschoben;  dagegen  die  Tauschkraft 
beider  gegenüber  den  Produkten,  die  man  daraus  gewinnt,  sehr  bedeutend 
verschoben,  nämlich  auf  das  Doppelte  gesteigert. 

In  der  Frage  des  Zinsfußes  handelt  es  sich  nun  offenbar  um  ein  Ver- 
hältnis der  Tauschkraft  der  Kapitalnutzungen  zur  Tauschkraft  einer  ganz 
bestimmten  Produktengattung,  des  Kapitalstückes  nämlich,  das  die 
„Nutzung"  abgibt.  Ist  die  Tauschkraft  der  Maschinennutzung  zwanzigmal 
geringer  als  die  Tauschkraft  des  Produktes  Maschine,  „kauft"  die  Ma- 
schinennutzung 100  fl.,  während  die  Maschine  selbst  2000  fl.  als  Gegenwert 
erzielt,  dann  entspricht  dieses  Verhältnis  einem  Zinsfuß  von  5%.  Ist  die 
Tauschkraft  der  Maschinennutzung  dagegen  nur  zehnmal  kleiner  als  die 


Hermann.  187 

des  Produktes  ., Maschine",  kauft  jene  200  fl.,  während  dieses  2000  fL 
kauft,  dann  entspricht  dieses  Verhältnis  einem  Zinsfuß  von  10%. 

Da  nun  gar  kein  Grund  zur  Annahme  vorhanden  ist,  daß  der  Tausch- 
wert der  Kapitalstücke  sich  anders  bestimme  als  der  Tauschwert  sonstiger 
Produkte,  und  da,  wie  wir  gesehen  haben,  der  Tauschwert  der  Produkte 
gegenüber  dem  Tauschwert  der  Nutzungen  überhaupt  sich  in  einem  anderen 
Verhältnis  verändern  kann,  als  sich  der  Tauschwert  zwischen  Nutzungen 
und  Arbeitsleistungen  unter  einander  verändert,  so  folgt,  daß  auch 
das  Verhältnis  zwischen  der  Tauschkraft  der  Eapitatnutzungen  und  jener 
der  Eapitalstücke,  mit  anderen  Worten  der  Zinsfuß,  sich  anders  verschieben 
kann,  als  das  Tauschwertverhältnis  zwischen  Nutzungen  und  Arbeits- 
leistungen.   Hermanns  Regel  ist  also  nicht  ausreichend  begründet^). 

Zum  Schlüsse  noch  ein  paar  Worte  über  die  Stellung,  die  Hermann 
zur  „Produktivität  des  Kapitales"  einnimmt.  Ich  habe  schon  erwähnt, 
daß  er  diesen  Ausdruck  häufig  gebraucht,  aber  durchaus  nicht  im  Sinne 
der  Produktivitätstheorie;  er  ist  so  weit  davon  entfernt,  den  Kapitalzins 
vom  Kapital  direkt  produzieren  zu  lassen,  daß  er  ja  im  Gregenteil  eine  hohe 


^)  Vielleicht  ist  es  nicht  überflüssig,  den  sehr  abstrakten  Gedankengang  des  Textes 
durch  ein  konkretes  Beispiel  zu  unterstützen.  Nehmen  wir  an,  bei  einem  gegebenen 
Stande  der  Volkswirtschidt  betrage  der  Zinsfuß  6%.  Eine  Maschine  im  Werte  von 
2000  fl.  gebe  also  eine  Nutzung  im  Werte  von  100  fl.  Nun  steige  mit  einem  Schlage 
die  Ergiebigkeit  aller  Eiapitalien,  auch  unserer  Maschine,  sowie  aller  Arbeitsleistungen 
genau  auf  das  Doppelte.  Natürlich  wird  jetzt  jede  Nutzung  und  jede  Arbeitsleistung 
doppelt  so  viele  Produkte  kaufen  als  zuvor,  während  das  Tauschverhältnis  beider 
untereinander  unverändert  bleibt.  Nehmen  wir  an,  daß  das  Produkt  „Greld"  in  genau 
demselben  Verhältnisse  im  Tauschwert  sinkt  wie  alle  anderen  Produkte,  so  können  wir 
das  Resultat  ziffernmäßig  so  ausdrücken,  daß  die  Nutzung  einer  Maschine  im  Werte 
von  2000  fl.  (der  mit  Geld  verglichene  Wert  der  Maschine  bleibt  unverändert,  da  die 
Maschine  ebeniso  wie  das  G«ld  und  alle  anderen  Produkte  jetzt  doppelt  so  billig  her- 
gestellt wird)  Produkte  im  Werte  von  200  fl.  kauft,  was  einer  Erhöhung  des  Zinsfußes 
von  6  auf  10%  entspricht.  Nach  Hermanns  Theorie  hätte  aber,  da  sich  die  Tauschkraft 
von  Nutzungen  und  Arbeitsleistungen  untereinander  nicht  verschoben  hat,  der  Zinsfuß 
unverändert  auf  6%  verharren  sollen  1  —  Das  letztere  Resultat  könnte  nur  unter  zwei 
Eventualitäten  eintreten;  entweder,  wenn  wir  annehmen,  daß  auch  der  Geldwert  der 
Maschine  von  2000  auf  4000  fl.  steigt;  dazu  ist  aber  in  der  Sachlage  absolut  kein  zu- 
reichender Grund  vorhanden;  oder,  wenn  wir  annehmen,  daß  die  Vermehrung  der 
(reell)  billiger  gewordenen  Maschinen  auch  die  Tauschkraft  ihrer  Nutzung  gegenüber 
anderen  Produkten  durch  Mehrangebot  herabdrückt,  so  daß  die  Nutzung  einer  Maschine 
im  Werte  von  2000  fl.  nur  mehr  Produkte  für  100  fl.  kauft.  Allein  ich  bemerke,  daß  auch 
dieses  Ergebnis  eine  Widerlegung  von  Hermanns  Theorie  in  sich  schließt:  unter  dieser 
Annahme  ist  nämlich  nicht  bloß  die  Ergiebigkeit,  sondern  auch  die  Masse  der  Kapitalien 
größer  geworden.  Da  von  beiden  Umständen  nur  der  erstere  durch  die  gleichzeitige 
Vergrößerung  der  Ergiebigkeit  der  Arbeit  kompensiert  ist,  so  müßte  nach  Hermanns 
Theorie  in  diesem  Falle  eine  Verminderung  des  Tauschwertes  der  Kapitalnutzungen 
gegenüber  den  Arbeitsleistungen,  und  damit  ein  Sinken  des  Zinsfußes  eintreten;  ein 
Postulat,  dem  durch  das  unveränderte  Verharren  des  Zinsfußes  auf  5%  wieder  nicht 
entsprochen  ist. 


188         VIII.  Die  Nutzungstheorien.    1.  U.-A.  Dogmenhistorische  Darstellung, 

Produktivität  für  einen  Erniedrigungsgrund  des  Zinses  hält.  Auch  ver- 
wahrt er  sich  (S.  542)  ausdrücklich  dagegen,  daß  der  Kapitalgewinn  eine 
Vergeltung  für  die  „tote  Nutzung"  sei;  vielmehr  erfordert  das  Kapital 
zu  seiner  Befruchtung  „Plan,  Sorgfalt,  Aufsicht,  überhaupt  geistige  Tätig- 
keit." Einen  besonders  klaren  Begriff  hat  er  übrigens  mit  dem  Ausdruck 
„Pi-oduktivität"  selbst  nicht  verbunden.  Er  definiert  ihn  mit  den  Worten: 
„Die  Gesamtheit  der  Anwendungsarten  und  das  Verhältnis  des  Pro- 
duktes zum  Aufwand  bildet  das,  was  man  die  Produktivität  der  Kapitale 
nennt" ^).  Meint  er  hier  das  Verhältnis  des  Wertes  des  Produktes  zum 
Wert  des  Aufwandes?  Dann  wäre  hohe  Produktivität  nur  bei  hohem 
Zins  vorhanden,  während  sie  ja  niedrigen  Zins  herbeiführt.  Oder  das 
Verhältnis  der  Masse  des  Produktes  zur  Masse  des  Aufwandes?  Aber 
auf  die  Masse  kommt  es  im  Wirtschaftsleben  überhaupt  nicht  an.  Oder 
das  Verhältnis  der  Masse  des  Produktes  zum  Wert  des  Aufwandes? 
Aber  Masse  auf  der  einen  und  Wert  auf  der  anderen  Seite  sind  inkommen- 
surabel. Kurz,  es  scheint  mir  jene  Definition  einer  scharfen  Ausdeutung 
überhaupt  unfähig.  Im  ganzen  dürfte  Hermann  eine  Art  physischer 
Produktivität  im  Sinne  gehabt  haben. 

Die  HERMANNSche  Nutzungstheorie  fand  bei  vielen  angesehenen 
Schriftstellern  Deutschlands  Aufnahme  und  liebevolle  Pflege. 

Ein  sehr  einsichtsvoller  Nachfolger  Hermanns  ist  Bernhardi''). 
Ohne  die  Nutzungstheorie  weiter  auszubilden  —  er  begnügt  sich,  zur 
beifällig  zitierten  Lehre  Hermanns  seine  Zustimmung  zu  erklären»)  — 
beweist  er  seine  Originalität  und  Gedankentiefe  durch  eine  Reihe  schöner 
Kritiken,  die  er  vornehmlich  gegen  die  englische  Schule  richtet  *).  Übrigens 
findet  er  auch  gegen  die  Antipoden  der  letzteren,  die  blinden  Produktivitäts- 
theoretiker, ein  tadelndes  Wort,  indem  er  den  „seltsamen  Widerspruch" 
rügt,  dem  toten  Werkzeug  eine  selbständige  lebendige  Wirksamkeit  zuzu- 
schreiben (S.  307). 

Auf  HsRMANNschem  Boden  steht  ferner  Mangoldt\),  der  nur  in 
unbedeutenden  Einzelheiten  von  Hermann  abweicht.  So  darin,  daß  er 
die  Bedeutung  der  „Produktivität  des  Kapitales"  für  die  Zinsbildung  noch 
mehr  zurücktreten  läßt,  ja  jenen  Ausdruck  sogar  als  inkorrekt  bemängelt, 
ohne  freilich,  „der  Kürze  wegen",  sich  seines  Gebrauches  selbst  zu  ent- 
halten«); ferner  darin,  daß  er  die  Höhe  des  Zinses  nicht  wie  Hermann 

^)  S.  541.    Gleichlautend  mit  der  1.  Aufl.  8.  212. 

*)  Versuch  einer  Kritik  der  Gründe,  die  für  großes  und  kleines  Grundeigentum 
angeführt  werden.     St.  Petersburg  1849. 

=>)  z.  B.  236f. 

*)  S.  306ff. 

*)  Volkswirtschaftslehre,  Stuttgart  1868,  besonders  S.  121f.,  137,  333,  dann 
446  usw. 

«)  S.  122  und  432. 


Mangoldt,  Mithoff,  Schäffle.  189 

in  verkehrte,  sondern  in  gerade  Proportion  mit  der  Produktivität  des 
Kapitales  setzt,  und  zwar,  die  Formel  Thünens  annehmend,  mit  der 
Produktivität  des  „letzten  angelegten  Kapitalteilchens".  —  Ebenso  hat 
sich  Mithoff  in  der  Darstellung,  die  er  im  ScHöNBERoschen  Handbuche 
von  der  volkswirtschaftlichen  Verteilung  dör  Güter  gab,  in  allen  wesent- 
lichen Zügen  an  Hermann  angeschlossen  i). 

Eine  eigentümliche  Stellung  nimmt  Schäffle  zur  Nutzungstheorie 
ein.  Einer  der  hervorragendsten  Förderer  jener  kritischen  Richtung,  die 
seit  dem  Auftauchen  des  wissenschaftlichen  Sozialismus  ins  Leben  getreten 
ist,  machte  Schäffle  auch  als  einer  der  ersten  jene  Gärung  der  Ansichten 
durch,  welche  die  natürliche  Folge  des  Aufeinandertreffens  zweier  so 
verschiedener  Auffassungsweisen  ist.  Diese  Gärung  hat  in  seinen  Äuße- 
rungen über  den  Zins  sehr  charakteristische  Spuren  zurückgelassen.  Ich 
werde  später  zeigen,  daß  sich  in  Schäffles  Schriften  nicht  weniger  als 
drei  deutlich  verschiedene  Erklärungsarten  des  Zinses  verfolgen  lassen; 
eine  derselben  gehört  noch  der  älteren,  zwei  der  jüngeren  „kritischen" 
Auffassung  an.  Jene  erste  Erklärung  schlägt  in  die  Gruppe  der  Nutzangs- 
theorien  ein. 

In  seinem  älteren  Hauptwerk,  dem  „Gesellschaftlichen  System  der 
menschlichen  Wirtschaf t"  2)  führt  Schäffle  seine  ganze  Zinstheorie  noch 
auf  Grund  der  Terminologie  der  Nutzungstheorie  durch ;  der  Kapitalgewinn 
ist  ihm  ein  Gewinn  aus  der  „Kapitalnutzung",  der  Leihzins  ein  Nutzungs- 
preis, seine  Höhe  hängt  ab  von  der  angebotenen  und  nachgefragten  Masse 
von  Leihkapitalnutzungen:  die  Nutzungen  sind  ein  selbständiges  Kosten- 
element usw.  Aber  an  deutlichen  Spuren  zeigt 'sich  schon,  daß  er  im  Be- 
griffe steht,  die  äußerlich  gehandhabte  Theorie  zu  verlassen.  Er  gibt 
wiederholt  dem  Worte  „Nutzung"  eine  Deutung,  die  von  der  Meinung 
weit  abweicht,  die  Hermann  damit  verbunden  hat.  Ej"  erklärt  die  Kapital- 
nutzung für  ein  Wirken  des  wirtschaftenden  Subjektes  durch  das 
Vermögen,  für  eine  „Benützung"  des  Vermögens  zu  fruchtbarer  Pro- 
duktion, für  eine  „Widmung",  für  eine  „Anwendung"  eines  Vermögens, 
für  eine  „Leistung"  des  Unternehmers  3) :  Ausdrücke,  die  in  der  Nutzung 
weniger  ein  sachliches,  vom  Kapitale  ausgehendes,  als  vielmehr  ein  per- 
sönliches, vom  Unternehmer  ausgehendes  Produktionselement  erblicken 
lassen.  Diese  Auffassung  wird  noch  dadurch  bekräftigt,  daß  Schäffle 
den  Kapitalgewinn  wiederholt  als  Prämie  eines  volkswirtschaftlichen 
Berufes  bezeichnet.  Ferner  polemisiert  Schäffle  nachdrücklich  gegen 
die  Ansicht,  daß  der  Kapitalprofit  ein  Produkt  der  zum  Produktions- 
prozeß beigetragenen  Kapitalnutzung  sei  (II,  389),  sowie  gegen  Hermann, 
dem  er  imputiert,  seine  Theorie  zu  sehr  im  Sinne  einer  selbständigen 

1)  Schönbergs  Handbuch,  I.  Aufl.,  I  S.  437f.,  484ff. 

»)  3.  Auflage,  Tübingen  1873. 

»)  Ges.  System  3.  Aufl.,  I  S.  266ff.,  II,  458. 


190         VIII.  Die  Nutzangstheonen.    1.  U.-A.  Dogmenhistorische  Darstellung. 

Produktivität  des  Kapitales  gefärbt  zu  haben  (II,  459).  Allein  auf  der 
anderen  Seite  gebraucht  er  dpch  wieder  das  Wort  Nutzung  oft  auch  so, 
daß  es  nur  in  objektivem,  also  HERMANNschen  Sinne  gedeutet  werden 
kann;  z.  B.  wenn  er  von  Angebot  und  Nachfrage  nach  Leihkapital- 
nutzungen spricht;  und  einmal  macht  er  ausdrücklich  das  Zugeständnis, 
daß  in  der  Nutzung  neben  dem  persönlichen  auch  ein  sachliches  Element, 
der  „Kapitalgebrauch",  enthalten  sei  (II,  458).  Auch  enthält  er  sich, 
trotz  des  gegen  Hermann  gerichteten  -  Tadels,  selbst  nicht  davon,  der 
Kapitalnutzung  gelegentlich  „Fruchtbarkeit"  zuzuschreiben  (I,  268). 
So  hat  er  den  Boden  der  Nutzungstheorie  weder  völlig  angenommen,  noch 
völlig  verlassen. 

Auch  in  seinem  jüngeren  systematischen  Hauptwerk,  dem  „Bau  und 
Leben  des  sozialen  Körpers"^),  haben  sich  SchIffles  Ansichten  noch 
nicht  zu  einer  völlig  einheitlichen  Theorie  abgeklärt.  Während  er  sich 
in  einer  Beziehung  von  der  alten  Nutzungstheorie  entfernt,  hat  er  sich 
in  einer  andern  ihr  angenähert.  Auch  jetzt  sieht  er  nämlich  den  tatsächlich 
auftretenden  Kapitalzins  formell  noch  immer  als  „Ertrag  der  Kapital- 
nutzung" an,  welche  jederzeit  einen  wirtschaftlichen  Wert  behauptet. 
Dabei  hat  er  die  subjektive  Deutung  der  Nutzung  aufgegeben  und  behandelt 
diese  jetzt  unzweideutig  als  rein  objektives,  von  den  Gütern  dargebotenes 
Element,  indem  er  die  Nutzungen  als  „Güterfunktionen",  als  „Äquivalente 
der  nutzbaren  Stoffe  an  lebendiger  Arbeit",  als  „lebendige  Energien  der 
unpersönlichen  Sozialsubstanz"  bezeichnet.  Sogar  im  Sozialistenstaat 
würde  diese  objektive  Nutzung  ihren  selbständigen  Wert  und  damit  an 
sich  ihre  Fähigkeit  bewahren,  einem  Kapitalzins  die  Entstehung  zu  geben: 
die  Erscheinung  des  letzteren  kann  nur  dadurch  verschwinden,  daß  im 
Sozialistenstaat  die  Gesamtheit,  welche  Kapitalbesitzerin  ist,  die  wertvolle 
Kapitalnutzung  unentgeltlich  beisteuern,  und  so  der  Ertrag  derselben 
dem  gansen  sozialen  Körper  zu  gute  kommen  würde  (III,  491  f.).  —  Da- 
gegen weicht  ScHÄFFLE  nunmehr  von  der  älteren  Nutzungstheorie  darin 
ab,  daß  er  die  Kapitalnutzung  nicht  mehr  als  ein  letztes,  originäres  Pro- 
diürtionselement  anerkennt,  sondern  alle  Produktionskosten  auf  Arbeit 
allein  zurückführt  (III,  273  und  274).  Damit  hat  er  eine  Erklärungs- 
richtung eingeschlagen,  die  ich  später  in  einem  anderen  Zusammenhange 
eingehend  zu  erörtern  haben  werde. 

Während  die  bis  jetzt  genannten  Nachfolger  Hermanns  dessen 
Theorie  nicht  so  sehr  ausgebildet  als  nur  verbreitet  haben,  darf  Knies 
für  sich  das  Verdienst  in  Anspruch  nehmen,  sie  nicht  unwesentlich  ver- 
bessert zu  haben.  Zwar  in  ihren  Grundgedanken  hat  er  keine  Veränderung^ 
vorgenommen;  aber  er  hat  diesen  Grundgedanken  einen  viel  reineren  und 
unzweideutigeren  Ausdruck  gegeben,  als  Hermann  selbst.    Daß  die  Her- 


1)  2.  Auflage,  Tübingen  1881. 


Schäffle,  Knies.  191 

MANNsche  Theorie  einer  solchen  Verbesserung  dringend  bedurfte,  beweisen 
die  vielen  Mißverständnisse,  denen  sie  ausgesetzt  war.  Daß  SohIffle 
Hermann  für  einen  Produktivitätstheoretiker  hielt,  habe  ich  schon  oben 
bemerkt.  Noch  bezeichnender  ist  es  aber,  daß  Knies  selbst  in  Hermann 
nicht  einen  Vorgänger,  sondern  einen  Gregner  zu  erblicken  glaubte^). 

Knies  war. nicht  von  Anfang  an  IS^utzungstheoretiker.  In  den  im 
Jahre  1859  veröffentlichten  „Erörterungen  über  den  Kredit"*)  sah  er 
die  Kreditgeschäfte  als  Tauschgeschäfte,  respektive  als  Kaufgeschäfte  an, 
„in  welchen  die  Leistung  des  einen  in  die  Gegenwart,  die  Gregenleistung 
des  andern  in  die  Zukunft  fällt"  (S.  Ö68).  In  der  weiteren  Konsequenz 
dieser  Auffassung  wäre  es  gelegen,  den  Kapitalzins  nicht  als  Äquivalent 
einer  im  Darlehen  übertragenen  Nutzung,  sondern,  ähnlich  wie  Galliani 
es  lange  vorher  getan  hatte»),  als  ein  Teiläquivalent  des  Darlehensstammea 
selbst  anzusehen.  Später  aber  hat  Knies  diese  Auffassung  ausdrücklich 
zurückgenommen,  da  zu  einer  solchen  Neuerung  gar  keine  Nötigung 
vorhanden  sei,  und  im  Gegenteile  vieles  dringlich  von  ihr  abmahne*);  und 
noch  etwas  später  hat  er  in  einer  ajisführlichen  polemischen  Auseinander- 
setzung sich  ganz  direkt  dahin  geäußert,  daß  die  Rücksicht  auf  den  ver- 
schiedenen Wert,  den  gegenwärtige  und  künftige  Güter  derselben  Art 
w^en  der  größeren  Dringlichkeit  des  augenblicklichen  Bedarfes  haben 
können,  zwar  „nicht  ganz  unfruchtbar",  aber  entschieden  nicht  aus- 
reichend sei,  um  die  Hauptsache  der  Zinserscheinung  zu  erklären^). 

Statt  dessen  entwickelte  Knies  nunmehr  eine  ungemein  klar  und 
gründlich  gedeichte  Nutzungstheorie,  die  in  seinem  umfassenden  Werke 
über  „Geld  und  Kredit"«)  niedergelegt  ist  Obwohl  er  nach  dem  Zwecke 
dieses  Werkes  nur  den  ausbedungenen  Kapitalzins  zu  untersuchen  hatte, 
führt  er  diese  Untersuchung  doch  von  einem  so  allgemeinen  Standpunkt, 
daß  sich  aus  dem  über  den  ausbedungenen  Kapitalzins  Gesagten  leicht 
seine  Meinung  über  den  ursprünglichen  Kapitalzins  ergänzen  l&ßt. 

In  den  Grundgedanken  begegnet  er  sich  mit  Hermann.  Er  faßt, 
ganz  ähnlich  wie  dieser,  die  Nutzung  als  „den  durch  eine  laufende  Zeit 
andauernden  und  durch  Zeitmomente  begrenzbaren  Gebrauch"  eines 
Gutes,  der  von  dem  Gute  selbst,  dem  „Nutzungsträger",  wohl  zu  unter- 
scheiden und  zu  wirtschaftlicher  Selbständigkeit  befähigt  ist.     Der  für 


^)  Knies,  Geld  und  Kredit,  II,  2.  Abt.  S.  35.  Vgl.  Nasses  Rezension  in  Bd.  35 
der  Jaiirbächer  für  Nationalökonomie  and  Statistik  (1880),  S.  94. 

')  Zeitschr.  für  die  gesamte  Staatswissenschaft,  15.  Bd.,  S.  559ff. 

*)  Siehe  oben  S.  42  f. 

«)  Der  Kredit,  1.  Hälfte  S.  11. 

*)  Der  Kredit,  II.  Hälfte  S.  38ff.  Ich  darf  vielleicht  die  Vermatong  aassprechen, 
daß  der  hochgeehrte  Forscher  za  der  obigen  Polemik  darch  den  Inhalt  einer  Arbeit 
veranlaßt  worden  war,  die  ich  einige  Jahre  vorher  in  seinem  volkswirtschaftlichen 
Seminar  verfaßt  and  in  der  ich  eben  die  bekämpften  Ansichten  aufgestellt  hatte. 

•)  I.  Abt.  Das  Geld,  Berlin  1873;  II.  Abt.  Der  Kredit,  1.  Hälfte  1876, 2,  Hälfte  1879. 


192         Vin.  Die  Nutzuilgstheorien.    1.  U.-A.  Dogmenhistorische  Daxstellang. 

die  Nutzungstheorie  wichtigen  Frage,  ob  eine  selbständige  Nutzung  und 
deren  Übertragung  auch  an  verbrauchlichen  Gütern  denkbar  und 
durchführbar  sei,  widmet  er  eine  eingehende  Untersuchung,  die  mit  einer 
entschiedenen  Bejahung  der  Frage  endet  i).  Eine  andere  Kardinalfrage 
der  Nutzungstheorie  geht  dahin,  ob  und  warum  die  selbständige  Kapital- 
nutzung auch  einen  Tauschwert  besitzen  und  eine  Vergütung  erlangen 
müsse,  die  dann  zum  Kapitalzins  wird?  —  Diese  Frage  hat  Hermann, 
wie  wir  wissen,  zwar  nicht  unbeantwortet  gelassen,  aber  er  hat  die  Ant- 
wort mit  so  wenig  Nachdruck  und  in  einer  so  unscheinbaren  Form  gegeben, 
daß  man  sie  nicht  selten  ganz  übersehen  hat^).  Statt  dessen  erklärt  Knies 
mit  ausführlicher  Motivierung,  daß  „das  Auftreten  und  die  wirtschaftliche 
Berechtigung  eines  Nutzungspreises  im  Zins  durch  dieselben  Verhältnisse 
begründet  ist,  welche  die  Sachgüterpreise  begründen":  Die  Nutzung  ist 
eben  geradeso  wie  ein  Sachgut  ein  Befriedigungsmittel  menschlicher 
Bedürfnisse,  ein  „wirtschaftswertiges  und  gewertetes  Objekt"»).  —  Füge 
ich  noch  hinzu,  daß  Kn^ies  nicht  bloß  jeden  Rückfall  in  die  Produktivitäts- 
theorie selbst,  sondern  auch  jeden  Schein  eines  solchen  Rückfalles  zu  ver- 
meiden wußte,  und  daß  er  seiner  Lehre  einige  sehr  bemerkenswerte  Kritiken, 
zumal  gegen  die  sozialistischen  Zinstheorien  beigegeben  hat,  so  glaube  ich 
die  wesentlichsten  Verdienste  bezeichnet  zu  haben,  die  sich  jener  durch 
Scharfsinn  und  Gewissenhaftigkeit  der  Forschung  gleich  ausgezeichnete 
Denker  um  die  Ausbildung  der  HEBMANNSchen  Nutzungstheorie  er- 
worben hat. 

Ich  gelange  nunmehr  zu  jenem  Schriftsteller,  welcher  der  Nutzungs- 
theorie die  vollkommenste  Gestalt  verliehen  hat,  deren  sie  wohl  überhaupt 
fähig  war:  es  ist  dies  «Karl  Menger  in  seinen  „Grundsätzen  der  Volks- 
wirtschaftslehre" *). 

Menger  ist  allen  seinen  Vorgängern  dadurch  überlegen,  daß  er  seine 
Zinstheorie  auf  eine  weit  vollkommenere  Werttheorie  aufbaut,  welche 
insbesondere  auch  über  die  so  schwierige  Frage  nach  dem  Verhältnis 
zwischen  dem  Wert  der  Produkte  und  dem  ihrer  Produktivmittel  aus- 
führliche und  zufriedenstellende  Aufschlüsse  gibt.  Hängt  der  Wert  der 
Produkte  von  dem  ihrer  Produktivmittel,  oder  hängt  umgekehrt  der  Wert 
der  Produktivmittel  von  dem  ihrer  Produkte  ab?  —  über  diese  Frage 
war  man  bis  auf  Menger  so  ziemlich  im  Dunkeln  umhergetappt.  Eine 
Reihe  von  Schriftstellern  hatte  wohl  gelegentliche  Äußerungen  von  sich 
gegeben,  wonach  der  Wert  der  Produktivmittel  durch  den  Wert  ihres 


^)  Das  Geld,  S.  61  ff.,  71ff.  Auf  das  Detail  dieser  Untersuchung  werde  ich  weiter 
unten,  bei  der  Kritik  der  Nutzungstheorie  im  Ganzen,  noch  zurückkommen. 
«)  Vgl.  oben  S.  180 f. 
3)  Kredit,  II.  Hälfte  S.  33 f.  und  öfters. 
«)  Wien  1871. 


Menger.  193 

voraussichtlichen  Produktes  bedingt  sei;  so  z.  B.  Say,  Riedel,  Hermann, 
Röscher^),  Allein  diese  Äußerungen  waren  nie  in  der  Form  eines  allge- 
meinen Gesetzes  und  noch  weniger  mit  einer  strengen,  allgemein  giltigen 
Motivierung  vorgebracht  worden.  Überdies  finden  sich,  wie  wir  uns  über- 
zeugt haben,  bei  denselben  Schriftstellern  auch  Äußerungen,  die  den 
entgegengesetzten  Gang  der  Wertleitung  andeuten;  und  dieser  zweiten 
Ansicht  pflichtet  vollends  die  große  Masse  der  nationalökonomischen 
Literatur  bei,  die  den  Satz,  daß  die  Kosten  der  Güter  den  Wert  derselben 
bestimmen,  als  fundamentales  Wertgesetz  anerkennt. 

So  lange  man  aber  in  dieser  Vorfrage  nicht  klar  sah,  konnte  auch  die 
Behandlung  des  Zinsproblems  sich  über  das  Niveau  eines  unsicheren 
Umhertastens  kaum  erheben.  Denn  wie  soll  man  in  sicheren  Zügen  eine 
Wertdifferenz  zwischen  zwei  Größen,  zwischen  Kapitalaufwand  und 
Kapitalprodukt,  erklären  können,  wenn  man  nicht  einmal  weiß,  auf 
welcher  Seite  des  Verhältnisses  man  die  Ursache  und  auf  welcher  die 
Wirkung  zu  suchen  hat? 

Menger  kommt  nun  das  große  Verdienst  zu,  jene  Vorfrage  mit  Ent- 
schiedenheit gelöst  und  damit  den  Punkt,  an  dem,  und  die  Richtung,  in 
der  das  Zinsproblem  zu  lösen  ist,  für  alle  Zeit  sichergestellt  zu  haben. 
Er  löst  jene  Frage  dahin,  daß  der  Wert  der  Produktivmittel  (der 
„Güter  höherer  Ordnung"  in  der  Terminologie  Mengers)  stets  und  aus- 
nahmslos bedingt  ist  durch  den  ihrer  Produkte  (der  „Güter 
niederer  Ordnung")  —  nicht  umgekehrt.  Er  kommt  zu  dieser  Lösung 
mittelst  folgenden  Gedankenganges  2): 

Wert  überhaupt  ist  die  Bedeutung,  „welche  konkrete  Güter  oder 
Güterquantitäten  für  uns  dadurch  erlangen,  daß  wir  in  der  Befriedigung 
unserer  Bedürfnisse  von  der  Verfügung  über  dieselben  abhängig  zu  sein 
uns  bewußt  sind."  Die  Größe  des  Wertes  eines  Gutes  hängt  jederzeit 
ab  von  der  Größe  der  Bedeutung  jener  Bedürfnisse,  deren  Befriedigung 
durch  die  Verfügung  über  das  Gut  bedingt  ist.  Da  die  Güter  „höherer 
Ordnung"  (Produktivmittel)  uns  überhaupt  nur  durch  das  Medium  der 
Güter  ,, niederer  Ordnung"  (Produkte)  dienen,  die  aus  ihnen  hervorgehen, 
so  ist  es  klar,  daß  jenen  nur  insofern  eine  Bedeutung  für  unsere  Bedürfnis- 
befriedigung zukommen  kann,  als  diese  eine  solche  Bedeutung  besitzen: 
Produktivmittel,  deren  ausschließlicher  Nutzen  in  der  Hervorbringung 

1)  Vgl.  oben  S.  124  und  182f. 

*)  Ich  muß  mir  leider  versagen,  an  dieser  Stelle  mehr  als  das  dürftigste  Gerüste 
der  MENGERschen  Wertlehre  vorzuführen,  wodurch  freilich  die  Vorzüge  der  letzteren 
—  die  ich  zu  den  schönsten  und  zuverlässigsten  Errungenschaften  der  modernen  National- 
ökonomie zähle  —  nicht  zur  gebührenden  Geltung  kommen  können.  Erst  im  II.  Bande 
werde  ich  Gelegenheit  haben,  der  Sache  näher  zu  treten.  Einstweilen  verweise  ich  rück- 
sichtlich der  genaueren  Begründung  der  im  Texte  nur  höchst  lapidarisch  vorgeführten 
Sätze  auf  die  ungemein  lichtvolle  und  überzeugende  Darstellung  Mengers  selbst  in 
seinen  ,, Grundsätzen"  passim.     Besonders  S.  77ff. 

Böhm-Bawerk,  Kapitalzins.    4.  Aufl.  13 


194         VIII.  Die  Nutzungstheorien.    1.  U.-A.  Dogmenhistorische  Darstellung. 

wertloser  Güter  bestände,  könnten  offenbar  in  keiner  Weise  für  uns  einen 
Wert  erlangen.  Da  femer  zwischen  jenem  Bedürfniskreise,  dessen  Be- 
friedigung durch  ein  Produkt  bedingt  ist,  und  demjenigen,  dessen  Be- 
friedigung durch  die  Summe  der  Produktivmittel  des  letzteren  bedingt  ist, 
eine  offenbare  Identität  besteht,  so  muß  auch  die  Größe  der  Bedeutung, 
welche  ein  Produkt  und  welche  die  Summe  seiner  Produktivmittel  für 
unsere  Bedürfnisbefriedigung  besitzt,  prinzipiell  identisch  sein.  Aus  diesen 
Gründen  wird  der  voraussichtliche  Wert  des  Produktes  maßgebend  nicht 
allein  für  das  Dasein,  sondern  auch  für  die  Größe  des  Wertes  seiner  Pro- 
duktivmittel. Da  endlich  der  (subjektive)  Wert  der  Güter  auch  die  Grund- 
lage des  Preises  derselben  ist,  so  folgen  auch  die  Preise,  beziehungsweise 
der  (von  anderen)  sogenannte  „volkswirtschaftliche  Wert"  der  Güter  der 
obigen  Relation. 

Auf  dieser  Grundlage  gewinnt  das  Zinsproblem  folgende  Gestalt:  Ein 
Kapital  ist  nichts  anderes  als  ein  Inbegriff  „komplementärer"  Güter 
höherer  Ordnung.  Wenn  nun  dieser  Inbegriff  seinen  Wert  ableitet  von 
dem  Werte  seines  voraussichtlichen  Produktes,  wie  kommt  es,  daß  er 
diesen  Wert  nie  ganz  erreicht,  sondern  immer  hinter  demselben  um  eine 
bestimmte  Quote  zurückbleibt?  Oder  warum  schätzt  man,  wenn  schon 
der  voraussichtliche  Wert  des  Produktes  Quelle  und  Maßstab  des  Wertes 
seiner  Produktivmittel  ist,  die  Kapitalgüter  nicht  ganz  so  hoch  als  ihr 
Produkt? 

Menger  gibt  darauf  folgende  scharfsinnige  Antwort^): 

Die  Umgestaltung  von  Produktivmitteln  in  Produkte  oder  die  Pro- 
duktion erfordert  jederzeit  einen  gewissen,  bald  längeren,  bald  kürzeren 
Zeitraum.  Es  ist  zum  Zwecke  der  Produktion  notwendig,  daß  man  die 
Produktivgüter  nicht  bloß  in  einem  einzelnen  Momente  innerhalb  dieses 
Zeitraumes  zu  seiner  Verfügung  hat,  sondern  daß  man  sie  während  des 
ganzen  Zeitraumes  in  seiner  Verfügung  behält  und  im  Produktions- 
prozesse bindet.  Es  tritt  daher  in  die  Reihe  der  Produktionsbedingungen 
ein  die  Verfügung  über  Quantitäten  von  Kapitalgütern  durch 
bestimmte  Zeiträume.  In  diese  Verfügung  setzt  Menger  das  Wesen 
der  Kapitalnutzung. 

Die  so  beschaffenen  Kapitalnutzungen  oder  Kapitalverfügungen 
können  nun,  insoferne  sie  nicht  in  hinreichender  Menge  vorhanden  sind 
und  angeboten  werden,  einen  Wert  erlangen,  oder  mit  anderen  Worten 
ein  wirtschaftliches  Gut  werden.  Geschieht  dies  —  und  es  ist  in  aller  Regel 
so  der  Fall  —  so  partizipiert  außer  den  sonstigen  Produktivmitteln,  die  in 
einer  konkreten  Produktion  aufgewendet  werden,  also  außer  den  Roh- 
stoffen, Hilfsmitteln,  Arbeitsleistungen  usw.,  auch  noch  die  zur  Produktion 
erforderte  Verfügung  über  diese  Güter,  oder  die  Kapitalnutzung,  an  der 

>)  S.  133—138. 


Menger.  195 

Wertsumme,  deren  Träger  das  voraussichtliche  Produkt  sein  wird,  und 
da  demnach  von  dieser  Wertsumme  für  das  wirtschaftliche  Gut  „Kapital- 
nutzung" etwas  erübrigen  muß,  so  können  die  anderweitigen  Produktiv- 
mittel nicht  den  vollen  Wertbelauf  des  künftigen  Produktes  erreichen.  — 
Dies  der  Ursprung  der  Wertdifferenz  zwischen  den  in  die  Produktion 
eingeworfenen  Kapitalgütern  und  dem  Produkte,  und  zugleich  der  Urspmng 
des  Kapitalzinses*). 

In  dieser  Lehre  Mengers  hat  die  Nutzungstheorie  endlich  ihre  volle 
theoretische  Reinheit  und  Reife  erlangt.  In  ihr  ist  nicht  bloß  jeder  sach- 
liche Rückfall,  sondern  auch  jede  verfängliche  Reminiszenz  an  die  alten 
Produktivitätstheorien  abgestreift,  und  das  Zinsproblem  endgiltig  aus 
einem  Produktionsproblem,  das  es  nicht  ist,  übergeführt  in  ein  Wert- 
problem, das  es  in  der  Tat  ist.  Das  Wertproblem  ist  zugleich  so  klar  und 
scharf  gestellt  und  durch  die  Ausführungen  über  das  Wertverhältnis 
zwischen  Produkt  und  Produktionsmittel  so  glücklich  -  instruiert,  daß 
Menger  dadurch  nicht  bloß  seine  Vorgänger  in  der  Nutzungstheorie  über- 
troffen, sondern  eine  bleibende  Grundlage  geschaffen  hat,  auf  der  von  nun 
an  wohl  alle  ernstlichen  Bemühungen  um  das  Zinsproblem  werden  weiter- 
bauen müssen. 

Die  Aufgabe  des  Kritikers  nimmt  daher  .gegenüber  Menger  eine 
wesentlich  andere  Gestalt  an,  als  gegenüber  seinen  Vorgängern.  Die  Lehre 
der  letzteren  habe  ich  bis  jetzt,  die  Frage  nach  der  Berechtigung  des 
Grundgedankens  der  Nutzungstheorie  geflissentlich  beiseite  lassend,  ledig- 
lich in  der  Richtung  geprüft,  ob  sie  diesen  Grundgedanken  in  mehr  oder 
weniger  vollkommener  Weise,  mit  mehr  oder  weniger  innerer  Konsequenz 
und  Deutlichkeit  zur  Darstellung  brachten;  ich  habe  bisher  gewissermaßen 
die  konkreten  Nutzungstheorien  an  der  idealen  Nutzungstheorie,  aber  nicht 
die  letztere  an  der  Wahrheit  geprüft.  Gegenüber  Menger  kann  es  sich 
nur  mehr  um  das  letztere  handeln.  Ihm  gegenüber  bleibt  nur  eine,  freilich 
die  entscheidendste  kritische  Frage  zu  tun:  Ist  die  Nutzungstheorie 
überhaupt  fähig,  uns  eine  befriedigende  Erklärung  des  Zins- 
problems zu  vermitteln? 

Ich  werde  die  Untersuchung  dieser  Frage  so  führen,  daß  sie  nicht 
bloß  eine  Spezialkritik  der  MENGERSchen  Formulierung,  sondern  ein 
Urteil  über  die  ganze  in  ihm  gipfelnde  theoretische  Richtung  gewähren  soU. 

Indem  ich  in  diese  Untersuchung  eintrete,  bin  ich  mir  bewußt,  eine 
der  schwierigsten  kritischen  Aufgaben  übernommen  zu  haben.  Schwierig 
schon  durch  die  allgemeine  Beschaffenheit  des  Stoffes,  der  ja  seit  so  vielen 
Dezennien  die  Bemühungen  hervorragender  Geister  auf  die  Probe  stellt; 
schwierig  insbesondere  deshalb,  weil  ich  gezwungen  sein  werde,  gegen 

')  An  Menqer  schließt  sich  im  wesentlichen  auch  Mataja  in  seiner  schönen  Arbeit 
aber  den  „Untemehmergewinn"  (Wien  1884)  an;  vgl.  besonders  SS.  124,  127,  129f., 
168  A.  2,  186f.,  192«.,  196ff. 

13* 


196  Vin.  Die  Nutzungstheorien.    2.  Unterabschnitt.    Kritik. 

Meinungen  zu  opponieren,  welche  von  den  besten  Denkern  unserer  Nation 
nach  sorgfältiger  Prüfung  aufgestellt  und  mit  bewunderungswürdigem 
Scharfsinn  begründet  worden  sind;  schwierig  endlich  auch  darum,  weil 
ich  gezwungen  sein  werde,  Vorstellungen  zu  bekämpfen,  die,  in  längst" 
vergangener  Zeit  schon  einmal  heftig  umstritten,  damals  den  glänzendsten 
Sieg  über  ihre  Widersacher  davontrugen.,  und  seither  wie  ein  Dogma 
gelehrt  und  geglaubt  werden.  Ich  bitte  daher  meine  Leser,  mir  für  die 
folgenden  Ausführungen  ganz  besonders  ein  offenes  Gehör,  Geduld  und 
Aufmerksamkeit  zu  schenken. 


2.  Unterabschnitt. 
Kritik, 

Alle  Nutzungstheorien  beruhen  auf  der  Voraussetzung,  daß  neben  den 
Kapitalgütern  selbst  ihre  „Nutzung"  als  ein  selbständiges  wirtschaftliches 
Gut  mit  selbständigem  Werte  existiert  und  daß  dieser  ihr  Wert  zusammen 
mit  dem  Werte  der  Kapitalgüter  selbst  den  Wert  des  Kapitalproduktes 
erfüllt. 

Ich  behaupte  nun  im  Gegensatz  hiezu: 

I.  Eine  derartige  selbständige  „Kapitalnutzung",  wie  sie 
von  den  Nutzungstheoretikern  postuliert  wird,  existiert 
nicht,  kann  daher  auch  keinen  selbständigen  Wert  haben 
und  nicht  durch  ihr  Hinzutreten  die  „Mehrwerterscheinung" 
verursachen.  Ihre  Annahme  ist  vielmehr  nur  das  Produkt 
einer  unstatthaften,  der  Wirklichkeit  widersprechenden 
Fiktion^). 

IL  Auch  wenn  die  Kapitalnutzung  in  der  von  den 
Nutzungstheoretikern  vorausgesetzten  Beschaffenheit  exi- 
stieren würde,  würden  sich  durch  sie  die  tatsächlichen  Zins- 
erscheinungen noch  immer  nicht  befriedigend  erklären  lassen. 
Die  Nutzungstheorien  beruhen  daher  auf  einer  der  Wirklich- 
keit widersprechenden  und  dabei  zugleich  zur  Erreichung 
ihres   Erklärungszweckes  ungenügenden   Hypothese. 

Von  diesen  beiden  Gegenthesen  ist  es  namentlich  die  erste,  deren 
Nachweis  ich  in  ungünstiger  literarischer  Position  beginnen  muß.  Während 
die  Diskussion  über  die  zweite  These  sich  auf  jungfräulichem,  von  lite- 


^)  Um  einem  unliebsamen  Mißverständnisse  von  vornherein  zu  begegnen,  bemerke 
ich  ausdrücklich,  daß  es  mir  nicht  beifällt,  die  Existenz  von  ,, Kapitalnutzungen"  über- 
haupt zu  leugnen.  Wohl  aber  muß  ich  die  Existenz  desjenigen  speziellen  Etwas  leugnen, 
das  die  Nutzungstheoretiker  als  Kapitalnutzung  bezeichnen  und  mit  allerlei  Attributen 
ausstatten,  die  meines  Erachtens  der  Natur  der  Dinge  zuwiderlaufen.  Das  Genauere 
siehe  unten. 


FeststeDang  der  Kontroversponkte.  197 

rarischem  Streit  noch  unberührtem  Boden  bewegt,  scheine  ich  mit  der 
ersten  eine  res  judicata  aufzugreifen,  die  längst  durch  alle  Instanzen  ver- 
folgt und  die  längst  und  endgütig  gegen  mich  entschieden  worden  ist.  Es 
handelt  sich  ja  im  Grunde  um  dieselbe  Sache,  die  in  vergangenen  Jahr- 
hunderten zwischen  den  Kanonisten  und  den  Verteidigern  des  Leihzinses 
im  Streite  war.  Die  Kanonisten  behaupteten:  Das  Eigentum  einer  Sache 
umfaßt  alle  aus  ihr  zu  ziehenden  Nutzungen;  es  kann  demnach  keine 
separate  Nutzung  geben,  die,  außerhalb  des  Gutes  stehend,  sich  neben 
diesem  im  Darlehen  übertragen  ließe.  Und  die  Verteidiger  des  Leihzinses 
behaupteten:  Ja!  es  gibt  dennoch  eine  solche  selbständige  Nutzung!  Und 
sie  wußten,  Salmasius  an  der  Spitze,  ilire  Meinung  mit  so  wirksamen 
Argumenten  zu  bekräftigen,  daß  ihnen  alsbald  die  öffentliche  Meinung 
der  wissenschaftlichen  Welt  zufiel  und  daß  man  heutzutage  höchstens 
ein  Lächeln  mehr  für  die  „kurzsichtige  Pedanterie"  der  alten  Kanonisten 
übrig  zu  haben  pflegt. 

Nun,  ich  behaupte  im  vollen  Bewußtsein,  daß  ich  dadurch  den  Schein 
der  Absonderlichkeit  auf  mich  lade:  in  diesem  Stücke  hatte  die  verrufene 
Lehre  der  Kanonisten  dennoch  Recht ;  die  umstrittene  selbständige  Nutzung 
des  Kapitales  existiert  wirklich  nicht.  Und  ich  hoffe  zuversichtlich,  daß 
es  mir  geüngen  wird,  den  Nachweis  zu  liefern,  daß  das  Urteil  der  ersten 
Instanzen  in  diesem  literarischen  Prozesse,  so  einstimmig  es  auch  gefällt 
wurde,  in  der  Tat  ein  irriges  war, 

I.  Beweisthema. 

Daß  die  von  den  Nutsungstheoretikern  postulierte  Kapüälnuteu/ng  nicht 

existiert. 

Vor  allem  wird  es  sich  natürlich  darum  handeln,  den  Streitgegenstand 
zu  fixieren.  Was  soll  denn  die  Nutzung  sein,  deren  selbständige  Existenz 
von  den  Nutzungstheoretikem  behauptet  und  von  mir  geleugnet  wird? 

Über  die  Natur  der  Nutzung  herrscht  unter  den  Nutzungstheoretikem 
selbst  keine  Übereinstimmung.  Insbesondere  gibt  Menger  von  ihr  eine 
wesentlich  andere  Begriffsbestimmung  als  seine  Vorgänger.  Hierdurch 
wird  es  unvermeidlich,  daß  auch  ich  meine  Untersuchung  in  wenigstens 
zwei  Äste  teile,  von  denen  der  erste  sich  mit  dem  Nutzungsbegriff  der 
SAY-HERMANNschen  Richtung,  der  zweite  mit  dem MENGERschen Nutzungs- 
begriff zu  beschäftigen  hat. 

A.  Kritik  des  Nutzungsbegriffes  der  SAY-HERjcANNschen 

Richtung. 

Auch  innerhalb  der  SAv-HERMANNschen  Richtung  herrscht  keines- 
wegs eine  genaue  Übereinstimmung  in  der  Schilderung  und  Definition 


198  VIII.  Die  Nutzungstheorien.    2.  Unterabschnitt.     Kritik. 

der  „Nutzung".  Diese  Differenzen  sind  aber  meines  Erachtens  nicht  so 
sehr  auf  eine  wirkliche  Meinungsverschiedenheit  über  den  Gegenstand, 
als  vielmehr  auf  den  allgemeinen  Mangel  einer  klaren  Vorstellung  über  sein 
Wesen  zurückzuführen:  nicht  weil  man  verschiedene  Gegenstände  im 
Auge  hat,  schwankt  man  in  der  Bezeichnung,  sondern  weil  man  von  dem 
einen  Gegenstand,  den  alle  im  Auge  haben,  nur  unsichere  Vorstellungen 
hat.  Ein  Beleg  hierfür  liegt  darin,  daß  die  einzelnen  Nutzungstheoretiker 
fast  ebenso  oft  mit  ihren  eigenen,  als  mit  den  Nutzungsdefinitionen  ihrer 
Kollegen  in  Widerspruch  geraten.  Sammeln  wir  einstweilen  die  wichtigsten 
dieser  Begriffsbestimmungen. 

Say  spricht  von  produktiven  Diensten,  Services  productifs  des  Kapi- 
tales und  erläutert  sie  als  eine  „Arbeit",  die  das  Kapital  leistet.  Hermann 
definiert  einmal  (S.  109)  die  Nutzung  der  Güter  als  deren  Gebrauch;  er 
wiederholt  diesen  Gedanken  auf  S.  111,  wo  er  sagt,  daß  der  Gebrauch 
materiell  vergänglicher  Güter  sich  als  ein  Gut  für  sich,  als  „Nutzung" 
auffassen  läßt.  Werden  hier  Gebrauch  und  Nutzung  einfach  identifiziert, 
so  geschieht  dies  wieder  nicht  in  einer  Stelle  auf  S.  125,  wo  Hermann 
sagt,  daß  der  Gebrauch  die  Verwendung  der  Nutzung  ist.  Auf  S.  287 
endlich  erklärt  Hermann  ,, die  Zusammenhaltung  der  technischen  Elemente 
des  Produktes"  als  den  Dienst,  die  „objektive  Nutzung  des  flüssigen 
Kapitales".  Knies  identifiziert  ebenfalls  Gebrauch  und  Nutzung i). 
ScHÄFFLE  definiert  die  Nutzung  einmal  als  „Anwendung"  der  Güter 
(ges.  System  3.  A.  S.  143);  ähnlich  auf  S.  266  als  ,, Erwerbsanwendung": 
auf  S.  267  als  „ein  Wirken  des  wirtschaftlichen  Subjektes  durch  das 
Vermögen,  eine  Benützung  des  Vermögens  zu  fruchtbarer  Produktion"; 
auf  derselben  Seite  als  eine  ,, Widmung"  vqn  Vermögen  zur  Produktion, 
womit  es  wenig  stimmt,  daß  Schäffle  auf  der  nächsten  Seite  von  einer 
Widmung  der  Kapitalnutzung,  also  von  einer  Widmung  der  „Widmung" 
spricht.  Im  „Bau  und  Leben"  endlich  erklärt  Schäffle  die  Nutzungen 
einmal  (III,  258)  als  „Güterfunktionen",  etwas  später  (g.  259)  als  „Äqui- 
valente der  nutzbaren  Stoffe  an  lebendiger  Arbeit",  während  er  auf  S.  260 
die  Nutzung  definiert  als  die  ,, Auslösung  des  Nutzens  aus  den  Sachgütern". 

Wenn  man  diese  etwas  bunte  Reihe  von  Definitionen  und  Erläute- 
rungen schärfer  betrachtet,  kann  man  gewahren,  daß  in  ihr  zwei  Deutungen 
des  Nutzungsbegriffes  zum  Ausdruck  kommen:  eine  subjektive  und  eine 
objektive.  Diese  beiden  Deutungen  entsprechen  ziemlich  genau  dem 
Doppelsinne,  in  dem  das  Wort  „Nutzung"  überhaupt  im  Sprachgebrauche 
lebt.  Er  bezeichnet  einerseits  die  subjektive  Tätigkeit  des  „Nutzenden" 
und  heißt  dann  so  viel  als  „Benützung",  oder  „Gebrauch"  im  subjektiven 
Sinne  dieses  gleichfalls  mehrdeutigen  Wortes,  oder  noch  prägnanter 
„Gebrauchshandlung".    Und  es  bezeichnet  andererseits  eine  objektive 

*)  Geld  S.  61.  Nutzung  =z  der  durch  eine  laufende  Zeit  andauernde  und  durch 
Zeitmomente  begrenzbare  Gebrauch  des  Gutes. 


Der  Begriff  der  Nutzung.  199 

Funktion  des  nützenden  Gutes,  einen  vom  Gute  ausgehenden  Dienst. 
Die  subjektive  Deutung  klingt  leise  bei  Hermann  an  in  der  Identifikation 
von  Nutzung  und  Gebrauch,  sehr  stark  in  dem  älteren  Werke  Schäffles. 
Die  objektive  Deutung  herrscht  entschieden  bei  Sa  y,  fast  ebenso  entschieden 
bei  Hermann  vor,  der  ja  einmal  ausdrücklich  von  der  „objektiven  Nutzung" 
des  Kapitales  spricht,  und  ihr  wendet  sich  in  seinem  jüngsten  Werke  auch 
ScHÄFFEE  zu,  indem  er  die  Nutzung  nunmehr  als  „Güterfunktion"  deutet. 

Es  ist  leicht  einzusehen,  daß  von  beiden  Deutungen  einzig  und  allein 
die  objektive  dem  Charakter  der  Nutzungstheorie  entspricht.  Denn,  um 
nur  auf  das  nächstüegende  zu  greifen,  es  ist  schlechterdings  unmöglich, 
den  Kapitalnutzungen,  die  der  Darlehensschuldner  vom  Gläubiger  kauft 
und  mit  den  Darlehenszinsen  bezahlt,  eine  subjektive  Deutung  zu  geben. 
Eine  Benützungshandlung  des  Gläubigers  können  sie  nicht  sein,  denn 
dieser  leistet  keine  solche;  eine  Benützungshandlung  des  Schuldners 
können  sie  auch  nicht  sein,  denn  dieser  nimmt  eine  solche  zwar  vor,  braucht 
aber  seine  eigene  Handlung  natürüch  nicht  dem  Gläubiger  abzukaufen. 
Von  einer  Übertragung  von  Kapitalnutzungen  im  Darlehen  zu  sprechen, 
hat  also  nur  dann  einen  Sinn,  wenn  man  unter  jenen  Worten  objektive 
Nutzelemente  irgend  einer  Art  versteht.  Ich  glaube  daher  berechtigt  zu 
sein,  die  subjektiven  Deutungen  der  Nutzung,  die  sich  sporadisch  bei 
einzelnen  Nutzungstheoretikem  finden,  als  Inkonsequenzen,  die  mit  dem 
Geiste  der  eigenen  Theorie  im  Widerspruch  stehen,  außer  acht  zu  lassen, 
und  mich  ausschließhch  an  die  objektiven  Deutungen  zu  halten,  die  ja 
auch  die  überwiegenden  und  durch  die  letzte  Wendung  Schäffies  sogar 
die  alleinherrschenden  geworden  sind. 

Wir  haben  uns  daher  unter  der  Nutzung  im  Sinne  der  Say-Hermann- 
Bchen  Richtung  jedenfalls  ein  objektives  Nutzelement  vorzustellen, 
das  von  den  Gütern  ausgeht  und  selbständige  wirtschaftliche 
Existenz  sowie  selbständigen  wirtschaftlichen  Wert  erlangt. 

Es  kann  nun  nichts  gewisser  sein,  als  daß  es  in  der  Tat  gewisse  objektive 
Nutzdienste  der  Güter  gibt,  die  wirtschaftliche  Selbständigkeit  erlangen 
und  nicht  unpassend  auch  mit  dem  Namen  „Nutzungen"  bezeichnet 
werden  können.  Ich  habe  mich  mit  denselben  an  einem  anderen  Orte 
bereits,  einmal  ausführlich  beschäftigt^)  und  mir  damals  alle  Mühe  ge- 
geben, ihr  wahres  Wesen  so  genau  und  gründlich  als  möglich  darzulegen. 
Seltsamerweise  steht  dieser  mein  Versuch  in  der  nationalökonomischen 
Literatur  fast  völlig  isoliert  da.  Ich  sage  piit  gutem  Bedacht  „seltsamer- 
weise": oder  gehört  es  nicht  zu  den  größten  Wunderlichkeiten,  wenn  in 
einer  Wissenschaft,  die  von  Anfang  bis  zu  Ende  sich  um  die  Bedürfnis- 
befriedigung durch  Güter,  um  die  Nutzbeziehung  zwischen  Mensch  und 
Gut  als  um  ihren  Angelpunkt  dreht,  die  technische  Struktur  des  Güter- 

*)  Siehe  meine  „Rechte  und  Verhältnisse  vom  Standpunkte  der  volkswirtschaft- 
lichen Güterlehre",  Innsbruck  1881,  S.  61ff. 


200  VIII.  Die  Nutzungstheorien.    2.  Unterabschnitt.     Kritik. 

nutzens  gar  nicht  einmal  untersucht  wird  ?  oder  wenn  in  derselben  Wissen- 
schaft, in  der  über  gar  manchen  anderen  Begriff  Seiten,  Kapitel,  ja  Mono- 
graphien angefüllt  werden,  der  grundlegende  Begriff  „Gebrauch  eines 
Gutes"  nicht  einmal  mit  zwei  Zeilen  definiert  oder  erläutert,  sondern  in 
der  ganzen  irreführenden  Verschwommenheit  und  Vieldeutigkeit,  in  der 
er  im  Volksmunde  lebt,  auch  in  allen  theoretischen  Untersuchungen  mit- 
geschleppt wird? 

Da  für  unsere  jetzige  Aufgabe  alles  darauf  ankommt,  eine  zuverlässige 
Vorstellung  von  den  Nutzfunktionen  der  Güter  zu  erhalten,  so  muß  ich 
hier  abermals  mit  einiger  Genauigkeit  auf  die  Sache  eingehen  und  ich 
bitte  den  Leser,  die  folgenden  Ausführungen  nicht  als  eine  Abschweifung 
vom  Thema,  sondern  als  streng  zur  Sache  gehörig  zu  betrachten^). 

Alle  Sachgüter  nützen  dem  Menschen  durch  die  Betätigung  der  Natur- 
kräfte, welche  in  ihnen  liegen.  Sie  sind  ein  Teil  der  materiellen  Welt  und 
darum  muß  all  ihr  Wirken,  auch  ihr  nützendes  Wirken,  denselben  Charakter 
tragen,  den  überhaupt  das  Wirken  in  der  materiellen  Welt  trägt:  es  ist 
ein  Wirken  von  Naturkräften  nach  Naturgesetzen.  Was  das  Wirken  der 
Sachgüter  vor  dem  Wirken  der  sonstigen  indifferenten  oder  schädlichen 
Naturdinge  auszeichnet,  ist  der  einzige  Umstand,  daß  die  naturgesetzlichen 
Wirkungen  jener  eine  (gleichfalls  innerhalb  des  Rahmens  der  Naturgesetze 
sich  vollziehende)  Lenkung  zum  Vorteile  der  Menschen  zulassen.  Es 
sind  nämlich  zwar  alle  Dinge  schlechthin  mit  wirkenden  Naturkräften 
begabt;  die  Erfahrung  zeigt  jedoch,  daß  die  letzteren  eine  Lenkung  zu 
einem  bestimmten  nützlichen  Zwecke  nur  dann  gestatten,  wenn  der  mit 
ihnen  begabte  Stoff  gewisse  die  Lenkbarkeit  seiner  Kräfte  begünstigende 
Formen  angenommen  hat.  Die  Schwerkraft  wohnt  z.  B.  aller  Materie  ohne 
Ausnahme  inne:  allein  während  die  Menschen  mit  der  Schwerkraft  eines 
Berges  nichts  anzufangen  wissen,  wird  ihnen  dieselbe  Schwerkraft  nützlich, 
wenn  die  Materie,  der  sie  innewohnt,  die  bevorzugte  Gestalt  eines  Uhrpendels 
eines  Beschwersteines,  eines  Hammers  angenommen  hat.  Oder  ebenso 
sind  die  Naturkräfte,  die  im  Kohlenstoffe  liegen,  für  jedes  Molekül  dieses 
Stoffes  identisch.  Einen  unmittelbaren  Wirtschaftsnutzen  erlangen  wir 
indes  aus  den  Wirkungen  jener  Kräfte  nur,  wenn  der  Kohlenstoff  beispiels- 
weise die  Form  von  Holz  oder  Kohle  angenommen  hat,  nicht  auch,  wenn 
er  als  Gemengteil  der  atmosphärischen  Luft  existiert.  —  Wir  können  daher 
das  Wesen  der  Sachgüter  im  Gegensatz  zu  den  nicht  nützhchen  materiellen 
Dingen  darein  setzen,  daß  jene  solche  ausgezeichnete  Gestaltungen 
der  Materie  sind,  w<elche  eine  Lenkung  der  in  ihnen  wohnenden 
Naturkräfte  zum  Vorteil  des  Menschen  gestatten. 

*)  Ich  darf  mir  wohl  erlauben,  meine  Ausführungen  in  den  ,, Rechten  und  Ver- 
hältnissen", die  ich  schon  damals  mit  Rücksicht  auf  ihre  jetzige  Verwendung  formulierte, 
zum  Teil  in  wörtlicher  Wiederholung  zu  benützen. 


Charakter  des  Güternutzens.  201 

Aus  dem  Gesagten  ergeben  sich  zwei  wichtige  Folgerungen,  von  denen 
die  eine  den  Charakter  der  Nutzfunktionen  der  Sachgüter,  die  andere  den 
Charakter  des  Gebrauches  der  Güter  betrifft. 

Die  Funktion  der  Güter  kann  in  nichts  anderem  bestehen,  als  in  einer 
Abgabe  von  Kraftäußerungen  oder  Kraftleistungen.  Sie  weist  nach  der 
natürlichen  Seite  einen  vollständigen  Parallelismus  mit  dem  Charakter 
der  Nutzfunktion  eines  Handarbeiters  auf:  geradeso  wie  ein  Lastträger 
oder  Schanzarbeiter  durch  Betätigung  der  seinem  Körper  innewohnenden 
Naturkräfte  in  der  Form  der  Abgabe  von  nützlichen  Leistungen  nützt, 
geradeso  sind  es  auch  seitens  aller  Sachgüter  konkrete  Betätigungen 
der  in  ihnen  liegenden  lenkbaren  Naturkräfte,  oder  wahre 
Kräfteleistungen,  durch  welche  der  Sachgüternutzen  dem  Menschen 
zugeht. 

Der  Gebrauch  eines  Gutes  vollzieht  sich  dann  in  der  Weise,  daß 
der  Mensch  die  eigentümlichen  Kräfteleistungen  des  Gutes,  um  die  es 
ihm  zu  tun  ist,  im  geeigneten  Augenblicke  hervorruft,  „auslöst",  —  wofern 
sie  nicht  ohnedies  von  freien  Stücken  unausgesetzt  dem  Gute  entströmen,  — 
und  sodann  mit  demjenigen  Objekte,  an  welchem  der  Nutzeffekt  zur 
Darstellung  kommen  soll,  in  zweckgemäße  Verbindung  bringt.  Um  z.  B. 
die  Lokomotive  zu  gebrauchen,  wird  der  Mensch  sie  durch  Wasserfüllung 
und  Heizung  zur  Abgabe  von  Bewegungsleistungen  veranlassen  und  mit 
den  Waggons  in  Verbindung  setzen,  welche  die  beförderungsbedürftigen 
Personen  oder  Sachen  bergen.  Oder  es  wird  das  Buch  oder  das  Haus, 
welchen  ihre  eigentümlichen  Lichtbilder  und  Schutzleistungen  ohne 
Unterlaß  entströmen,  mit  seinem  Auge  oder  seiner  ganzen  Person  in  zweck- 
dienliche Berührung  bringen.  Ein  Sachgütergebrauch,  der  nicht 
in  dem  Empfange  nützlicher  Kräfteleistungen  seitens  der 
gebrauchten  Sachgüter  bestände,  ist  dagegen  absolut  nicht 
zu  denken. 

Daß  die  bis  jetzt  entwickelten  Thesen  einer  wissenschaftlichen  Oppo- 
sition begegnen  könnten,  glaube  ich  nicht  befürchten  zu  müssen.  Einer- 
seits ist  die  in  ihnen  niedergelegte  Auffassung  der  nationalökonoraischen 
Literatur  nicht  mehr  fremd  ^),  und  andererseits  ist  ihre  Annahme  bei  dem 
heutigen  Stande  der  Naturwissenschaften  wohl  eine  unabweisbare  Not- 
wendigkeit geworden.  Sollte  jemand  vielleicht  einwenden,  daß  jene  Auf- 
fassung eine  naturwissenschaftliche  und  keine  wirtschaftliche  sei,  so 
efwidere  ich,  daß  in  diesen  Fragen  eben  die  Wirtschaftswissenschaft  der 
Naturwissenschaft  das  Wort  lassen  muß.    Der  Grundsatz  der  Einheit  aller 


1)  Insbesondere  hat  Schäffle  im  IIL  Bande  seines  „Bau  und  Leben"  denselben 
Standpunkt  sehr  schön  vertreten.  Schäffle  bildet  überhaupt  eine  rühmliche 
Ausnahme  von  der  oben  gerügten  Gewohnheit,  sich  um  die  Elemente  des  Güterwirkens 
nicht  zu  kümmern.  In  derselben  Richtung  sind  jetzt  auch  noch  John  Rae  (siehe  unten 
Abschn.  XI)  und  neuestens  Irving  Fisher  zu  nennen. 


202  VIII.  Die  Nutzungstheorien.    2.  Unterabschnitt.    Kritik, 

Wissenschaft  fordert  dies.  Die  Wirtschaftswissenschaft  erklärt  so  wenig 
wie  irgend  eine  andere  Wissenschaft  die  ihrem  Gebiete  angehörigen  Tat- 
sachen bis  zu  Ende,  sondern  sie  löst  nur  ein  Stück  des  Kausalzusammen- 
hanges, der  die  Erscheinungen  der  Dinge  verbindet,  und  überläßt  es 
anderen  Wissenschaften,  diö  Erklärung  fortzusetzen.  Der  Erklärungs- 
bereich der  Wirtschaftswissenschaft  ist  eingebettet  zwischen  die  Erklärungs- 
bereiche der  Psychologie  einerseits  und  der  Naturwissenschaften  anderer- 
seits —  von  anderen  Grenzwissenschaften  ganz  zu  schweigen.  Um  ein 
konkretes  Beispiel  zu  geben,  so  wird  die  Wirtschaftswissenschaft  die 
Erklärung  des  Umstandes,  daß  Brot  einen  Tauschwert  besitzt,  etwa  so 
weit  führen,  daß  sie  darauf  hinweist,  daß  Brot  imstande  ist,  das  Nahrungs- 
bedürfnis zu  befriedigen,  und  daß  die  Menschen  ein  Bestreben  haben,  die 
Befriedigung  ihrer  Bedürfnisse,  nötigenfalls  unter  Opfern,  sicher  zu  stellen. 
Daß  und  warum  die  Menschen  dieses  Streben  haben,  erklärt  nicht  mehr 
die  Wirtschaftswissenschaft,  sondern  die  Psychologie;  daß  und  warum 
die  Menschen  ein  Nahrungsbedürfnis  haben,  das  zu  erklären  fällt  in  die 
Domäne  der  Physiologie;  daß  und  warum  endlich  das  Brot  imstande  ist, 
jenes  Bedürfnis  zu  stillen,  fällt  wiederum  in  das  Gebiet  der  Physiologie, 
die  aber  mit  der  Erklärung  auf  eigenem  Gebiete  abermals  nicht  zu  Ende 
kommt,  sondern  die  allgemeineren  Naturwissenschaften  zu  Hilfe  nehmen 
muß. 

Es  ist  nun  klar,  daß  alle  Erklärungen  der  Wirtschaftswissenschaft 
nur  unter  der  Bedingung  einen  Wert  haben,  daß  sie  von  den  Nachbar- 
wissenschaften fortgesetzt  werden  können.  Jene  darf  in  ihren  Erklärungen 
sich  auf  nichts  stützen,  was  ihre  Nachbarwissenschaften  als  unwahr  oder 
unmöghch  erklären  müssen:  sonst  ist  von  vornherein  der  Erklärungsfaden 
zerrissen.  Sie  muß  darum  in  den  Grenzgebieten  mit  den  Nachbar  Wissen- 
schaften genaue  Fühlung  halten,  und  ein  solches  Grenzgebiet  ist  eben  die 
Frage  nach  dem  Wirken  der  materiellen  Güter. 

Der  einzige  Umstand,  den  ich  vielleicht  zu  besorgen  habe,  ist,  daß 
die  Anwendung  jener  naturalistischen  Auffassung  auf  eine  gewisse  Minorität 
von  Sachgütern,  zumal  auf  die  sogenannten  „Idealgüter",  im  ersten 
Augenblicke  etwas  Befremdliches  für  die  Empfindung  manches  Lesers 
haben  kann.  Daß  z.  B.  ein  unbewegt  stehendes  Wohnhaus,  ein  Band 
Gedichte  oder  ein  Gemälde  Rafaels  uns  durch  Betätigung  von  Natur- 
kräften nützen  soll,  mag  in  der  Tat,  ich  gestehe  es  gerne,  für  den  ersten 
Eindruck  etwas  seltsam  erscheinen.  Einige  Überlegung  wird  indes  auch 
diese  Skrupel,  die  ihrem  Ursprung. nach  mehr  Gefühls-  als  Verstandes- 
skrupel sind,  bald  zum  Schweigen  bringen. 

Alle  die  genannten  Dinge  treten  nämlich  in  der  Tat  in  das  Gutsver- 
hältnis nur  ein  vermöge  der  eigentümlichen  Naturkräfte,  die  sie  besitzen, 
und  zwar  in  eigentümlicher  Anordnung  besitzen.  Daß  ein  Haus  schützt 
und  wärmt,  ist  nichts  als  eine  Wirkung  der  Schwer-,   Kohäsions-  und 


Die  sachlichen  Natzleistangen.  203 

Widerstandskräfte,  der  Undurchdringlichkeit,  der  schlechten  Wärme- 
leitung  des  Baustoffes.  Daß  die  Gedanken  und  Empfindungen  des  Dichters 
sich  in  uns  wiedererzeugen,  wird  auf  eine  geradezu  physikaüsche  Weise 
vermittelt  durch  Licht,  Farbe  und  Gestalt  von  Schriftzeichen  und  dieser 
physikalische  Teil  der  Vermittlung  ist  eben  das  Amt  des  Buches.  Es  muß 
freilich  ein  Dichtergeist  Ideen  und  Empfindungen  erweckt  haben,  und 
nur  abermals  in  einem  Geiste  und  durch  geistige  Kräfte  können  sie  wieder- 
erweckt werden;  aber  der  Weg  von  Geist  zu  Geist  führt  ein  Stück  weit 
durch  die  Naturwelt,  und  auf  diesem  Stücke  muß  sich  auch  das  Geistige 
des  Vehikels  der  Naturkräfte  bedienen.  Solch  ein  natürliches  Vehikel  ist 
das  Buch,  ist  das  Gremalde  oder  das  gesprochene  Wort;  sie  geben  aus  sich 
nur  eine  physikaüsche  Anregung,  nicht  mehr;  was  von  Geistigem  dazu- 
kommt, geben  wir  bei  der  Aufnahme  der  Anregung  aus  unserem  Eigenen 
hinzu;  und  sind  wir  zu  einer  fruchtbaren  Aufnahme  nicht  vorbereitet, 
können  wir  nicht  lesen,  oder  können  wir  zwar  lesen,  aber  nicht  verstehen 
oder  nicht  empfinden,  so  bleibt  es  einfach  bei  der  physikalischen  Anregung. 

Ich  denke,  ich  darf  nach  diesen  Ejrläuterungen  es  für  eine  außer  Zweifel 
gestellte  Tatsache  ansehen,  daß  die  materiellen  Güter  ihren  wirtschaftlichen 
Nutzen  durch  Betätigung  der  in  ihnen  wohnenden  Naturkräfte 
äußern. 

Ich  schlage  vor,  die  einzelnen  von  den  Sachgütem  zu  gewinnenden 
nutzbaren  Betätigungen  ihrer  Naturkräfte  als  „Nutzleistungen"  der 
Sachgüter  zu  bezeichnen^).  An  sich  wäre  zwar  auch  der  Name  „Nutzungen" 
hiefür  nicht  unpassend.  Allein  einerseits  würde  damit  unser  Begriff  der 
ganzen  Unklarheit  überantwortet,  welche  jetzt  leider  an  dem  vieldeutigen 
Namen  der  Nutzung  hängt ;  und  andererseits  scheint  mir  der  Name  Nutz- 
leistung in  der  Tat  außerordentlich  prägnant  zu  sein:  es  sind  im  eigent- 
lichen Wortsinn  nützliche  Kräfteleistungen,  die  von  den  Sachgütem 
ausgehen  2). 

Der  Begriff  der  „sachlichen  Nutzleistung"  ist  meines  Erachtens 
berufen,  einer  der  wichtigsten  Elementarbegriffe  der  Wirtschaftslehre  zu 
werden.  Ej  steht  dem  Begriffe  des  „Gutes"  an  Wichtigkeit  nicht  nach. 
Leider  hat  er  aber  bis  jetzt  noch  wenig  Beachtung  und  Ausbildung  erlangt. 
Unsere  Aufgabe  macht  es  unerläßlich,  daß  wir  dieses  Versäumnis  zum  Teil 


^)  Ich  habe  diesen  Namen  bereits  in  meinen  „Rechten  und  Verhältnissen"  ein- 
geführt; noch  früher  gebrauchte  ich  ihn  in  einer  1876  verfaßten,  aber  nicht  ziun  Drucke 
gelangten  Arbeit.  Knies  bedient  sich  seiner  einigemale  in  der  IL  Hälfte  seines  Kredits, 
allein  leider  in  demselben  zweideutigen  Sinne,  in  dem  er  sonst  den  Namen  „Nutzung" 
anwendet. 

*)  Die  SAYsche  Begriffsaufstellung  der  Services  productifs  ist  viel  deshalb  ange- 
feindet worden,  weil  sie  ein  Bild,  eine  Metapher  zu  einem  wissenschafthchen  Grundbegriff 
machen  wollte.  Nur  eine  Person,  nicht  eine  Sache  könne  „Dienste"  leisten.  Nach  allen 
im  Texte  gemachten  Auseinandersetzungen  glaube  ich  den  gleichen  Vorwurf  gegen  meine 
Kategorie  der  Nutzleistungen  nicht  befürchten  zu  müssen. 


204  VIII.  Die  Nutzungstheorien.    2.  Unterabschnitt.    Kritik. 

nachholen  und  einige  der  wichtigsten  Beziehungen  entwickeln,  in  welche 
die  Nutzleistungen  im  Wirtschaftsleben  eintreten. 

Zunächst  ist  es  klar,  daß  jedes  Ding,  welches  auf  den  Namen  Gut 
Anspruch  erheben  will,  imstande  sein  muß,  Nutzleistungen  abzugeben  und 
daß  mit  der  Erschöpfung  dieser  seiner  Fähigkeit  auch  seine  Gutsqualität 
erlischt:  es  tritt  aus  dem  Kreise  der  Güter  in  den  Kreis  der  einfachen 
Dinge  zurück.  Eine  Erschöpfung  dieser  Fähigkeit  ist  denkbar  nicht  als 
eine  Erschöpfung  ^er  Fähigkeit,  Kräfteleistungen  überhaupt  von  sich 
zu  geben  —  denn  so  unvergänglich  als  die  Materie  selbst,  sind  auch  die  in 
ihr  wohnenden  Kräfte,  die  nie  aufhören  zu  wirken  oder  Leistungen  aus- 
zuströmen; wohl  aber  können  die  immer  fortdauernden  Kräfteleistungen 
aufhören,  Nutzleistungen  zu  sein,  indem  das  anfängliche  Gut  im  Zuge 
der  Abgabe  seiner  Nutzleistungen  eine  solche  Veränderung,  eine  solche 
Trennung,  Verschiebung,  Verbindung  seiner  Teile  mit  anderen  Körpern 
erfahren  hat,  daß  es  in  seiner  veränderten  Gestalt  sich  der  Lenkung  seiner 
ferneren  Kräfteleistungen  zu  den  Nutzzwecken  der  Menschen  nicht  mehr 
günstig  zeigt.  Nachdem  z.  B.  der  Kohlenstoff  des  im  Hochofen  verbrannten 
Holzes  sich  im  Verbrennungsprozeß  mit  Sauerstoff  verbunden  hat,  läßt 
er  eine  nochmalige  Verwendung  seiner  unausgesetzt  fortdauernden  und 
natürlich  fortwirkenden  Kräfte  zur  Schmelzung  des  Erzes  nicht  mehr  zu. 
Das  zerbrochene  Pendel  behält  seine  Schwerkraft,  erzeugt  durch  sie  nach 
wie  vor  Wirkungen,  aber  der  Verlust  der  Pendelform  ist  der  Lenkung 
dieser  Naturkräfte  zur  Regulierung  des  Uhrenganges  ungünstig.  —  Die 
durch  den  Gebrauch  der  Güter  herbeigeführte  Erschöpfung  ihrer  Nutz- 
leistungsfähigkeit pflegt  man  den  Verbrauch  oder  die  Konsumtion 
derselben  zu  nennen. 

Während  so  alle  Güter  darin  übereinkommen  und  übereinkommen 
müssen,  daß  sie  Nutzleistungen  abzugeben  haben,  gehen  sie  in  der  Zahl 
der  Nutzleistungen,  die  sie  abzugeben  haben,  wesentlich  auseinander. 
Hierauf  ruht  die  bekannte  Unterscheidung  der  Güter  in  verbrauchliche 
und  nicht  verbrauchliche,  wohl  besser  „ausdauernde"^)  Güter.  Viele 
Güter  sind  nämlich  so  geartet,  daß  sie,  um  überhaupt  den  ihnen  eigentüm- 
lichen Nutzen  zu  stiften,  ihre  ganze  Nutzkrait  mit  einem  Schlage,  in  einer 
einzigen  mehr  oder  intensiven  Nutzleistung  ausgeben  müssen,  so  daß 
schon  ihr  erstmaliger  Gebrauch  ihre  Nutzleistungsfähigkeit  völlig  erschöpft 
und  zum  Verbrauche  wird.  Dies  sind  die  sogenannten  verbrauchlichen 
Güter,  wie  Nahrungsmittel,  Schießpulver,  Brennstoffe  u.  dgl.  Andere 
Güter  wieder  sind  durch  ihre  Natur  zu  einer  Mehrheit  von  Nutzleistungen 
in  der  Art  befähigt,  daß  sie  dieselben  innerhalb  eines  kürzeren  oder  längeren 


*)  Auch  die  sogenannten  ,, nicht  verbrauchhchen"  Güter  sind,  wenn  auch  nur 
langsam,  verbrauchlich.  Die  Bezeichnung  „dauerbar"  hinwiederum  drückt  weniger 
den  Gegensatz  zur  raschen  Verzehrung  der  Güter  durch  den  Gebrauch,  als  zur  raschen 
Verderbnis  derselben  ohne  Rücksicht  auf  den  Gebrauch  aus. 


Die  sachlichen  Nutzleistungen.  205 

Zeitraumes  nacheinander  abgeben  und  auf  diese  Weise  auch  nach  einem 
ersten  oder  selbst  mehrmaligen  Gebrauchsakte  ihre  Fähigkeit  zur  Abgabe 
weiterer  Nutzleistungen  und  damit  ihre  Gutsqualität  bewahren  können. 
Dies  sind  die  ausdauernden  Güter,  wie  z.  B.  Kleider,  Häuser,  Werkzeuge, 
Edelsteine,  Grundstücke  usw. 

Wo  ein  Gut  eine  Mehrheit  von  Nutzleistungen  nacheinander  abgibt, 
kann  dies  wieder  in  einer  doppelten  Form  geschehen:  entweder  heben  sich 
die  einander  folgenden  Nutzleistungen  in  ihrer  äußeren  Erscheinung  als 
deutlich  markierte  Einzelakte  von  einander  ab,  so  daß  man  sie  leicht 
unterscheiden,  abgrenzen  und  zählen  kann,  z.  B.  die  einzelnen  Schläge 
eines  Prägehammers  oder  die  Leistungen  der  automatischen  Druckerpresse 
eines  großen  Journals;  oder  es  entströmen  die  nützhchen  Kiäfteleistungen 
dem  Gute  in  unterbrechungsloser  gleichförmiger  Folge,  wie  z.  B.  die 
geräuschlosen  und  lange  dauernden  Schutzleistungen  eines  Wohnhauses. 
Wül  man  hier  die  kontinuierliche  Masse  der  Nutzleistungen  dennoch 
auseinanderhalten  und  teilen  —  und  das  praktische  Bedürfnis  erfordert 
dies  oft  —  so  schlägt  man  denselben  Ausweg  ein,  den  man  überhaupt  bei 
Teilung  kontinuierlicher  Größen  betritt:  man  entlehnt  die  Teilungsmarke, 
die  sich  in  der  Erscheinung  des  zu  Teilenden  selbst  nicht  darbietet,  von 
irgend  einem  äußeren  Umstände,  z.  B.  dem  Ablauf  einer  bestimmten  Zeit, 
indem  man  etwa  dem  Mieter  eines  Hauses  die  innerhalb  eines  Jahres 
von  demselben  ausgehenden  Nutzleistungen  überantwortet. 

Ein  anderer  wesentlicher  Zug,  der  uns  bei  der  Analyse  der  Nutz- 
leistungen entgegentritt,  ist  ihre  Fähigkeit,  volle  wirtschaftliche  Selb- 
ständigkeit zu  erlangen.  Der  Ursprung  dieser  Erscheinung  liegt  darin, 
daß  in  sehr  vielen,  ja  sogar  in  den  meisten  Fällen  zur  Befriedigung  eines 
konkreten  menschlichen  Bedürfnisses  nicht  die  Erschöpfung  des  ganzen 
Nutzinhaltes  eines  Gutes,  sondern  nur  die  Auslösung  einer  einzelnen  Nutz- 
leistung erforderüch  ist.  Hiedurch  erlangt  diese  zunächst  eine  selbständige 
Bedeutung  für  unsere  Bedürfnisbefriedigung,  der  dann  auch  im  praktischen 
Wirtschaftsleben  die  Anerkennung  nicht  versagt  wird.  Wir  zollen  sie, 
indem  wir  einerseits  isoherten  Nutzleistungen  eine  selbständige  Wert- 
schätzung zuwenden,  andererseits  sie  sogar  zu  selbständigen  Objekten  von 
Verkehrsakten  erheben.  Letzteres  geschieht,  indem  wir  einzelne  Nutz- 
leistungen oder  Gruppen  von  Nutzleistungen  losgelöst  von  den  Gütern 
selbst,  aus  denen  sie  fließen,  verkaufen  oder  vertauschen.  Die  Wirtschafts- 
praxis und  das  Recht  hat  eine  Reihe  von  Formen  geschaffen,  in  denen 
dies  verwirklicht  werden  kann:  ich  nenne  als  die  wichtigsten  die  Ver- 
hältnisse des  P achtes,  der  Miete  und  der  Leihe  (commodatum) ^), 
weiter  die  Institute  der  Dienstbarkeiten,  des  Erbpachtes  und  Erb- 
zinses (Emphyteusis  und  Superficies).    Man  wird  sich  leicht  überzeugen. 


^)  Nicht  des  Darlehens;  siehe  unten. 


206  VIII.  Die  Nutzungstheorien.    2.  Unterabschnitt.    Kritik. 

daß  in  der  Tat  alle  diese  Verkehrsgestaltungen  darin  übereinkommen,  daß 
ein  Teil  der  Nutzleistungen,  deren  ein  Gut  fähig  ist,  ausgeschieden  und 
selbständig  übertragen  wird,  während  der  —  größere  oder  kleinere  — 
Rest  der  noch  anzuhoffenden  Nutzleistungen  mit  dem  Eigentum  am 
Körper  des  Gutes  bei  dem  bisherigen  Herrn  der  Sache  zurückbleibt^). 

Von  großer  theoretischer  Wichtigkeit  ist  endlich  die  Feststellung  des 
Verhältnisses,  das  zwischen  den  Nutzleistungen  einerseits  und  den  Gütern, 
aus  denen  sie  stammen,  andererseits  besteht.  Hierüber  lassen  sich  drei 
Kardinalsätze  aufstellen,  die  mir  sämtlich  so  einleuchtend  erscheinen, 
daß  sie  einer  ausführlichen  Begründung  an  dieser  Stelle  entraten  können, 
die  ich  übrigens  an  einem  anderen  Orte  eingehend  motiviert  habe^). 

Es  scheint  mir  1.  klar,  daß  wir  die  Güter  überhaupt  nur  wegen  der 
Nutzleistungen,  die  wir  von  ihnen  erwarten,  schätzen  und  begehren.  Die 
Nutzleistungen  bilden  gleichsam  den  wirtschaftlichen  Kern,  um  den  uns 
zu  tun  ist,  die  Güter  selbst  nur  seine  körperliche  Schale.  —  Hieraus  ergibt 
sich  —  und  scheint  mir  ebensowenig  einem  Zweifel  begegnen  zu  können 
—  daß 

2.  auch  dort,  wo  ganze  Güter  erworben  und  übertragen  werden,  der 
wirtschaftliche  Kern  dieser  Transaktionen  im  Erwerb  und  der  Übertragung 
von  Nutzleistungen,  und  zwar  jeweils  der  Gesamtheit  der  Nutzleistungen 
der  Güter  liegt,  während  die  Übertragung  der  letzteren  selbst  hiebei  eine 
zwar  durch  die  Natur  der  Sache  nahe  gelegte,  aber  dennoch  nur  begleitende 
und  abkürzende  Form  bildet:  ein  Gut  kaufen  kann  wirtschaftlich  nichts 
anderes  heißen,  als  alle  seine  Nutzleistungen  kaufen  3).  —  Hieraus  geht 
aber  endlich 

3.  die  wichtige  Konsequenz  hervor,  daß  auch  der  Wert  und  Preis 
eines  Gutes  nichts  anderes  als  der  in  eine  Summe  zusammengezogene 
(Pauschal-) Wert  und  Preis  aller  seiner  Nutzleistungen  und  daß  demnach 
der  Wert  und  Preis  jeder  Einzelnutzleistung  im  Werte  und  Preise  des 
Gutes  selbst  inbegriffen  ist*). 

Illustrieren  wir  noch,  ehe  wir  weitergehen,  diese  drei  Sätze  an  einem 
konkreten  Beispiele.  Ich  glaube,  alle  Leser  werden  mir  zustimmen,  wenn 
ich  behaupte,  daß  ein  Tuchfabrikant  Webstühle  in  der  Tat  nur  deshalb 


^)  Vgl.  meine  „Rechte  und  Verhältnisse",  S.  70ff. 

*)  Siehe  meine  „Rechte  und  Verhältnisse",  S.  60ff.,  wo  insbesondere  auch  der 
Charakter  der  Nutzleistungen  als  primärer  Elemente  unserer  Wirtschaftsführung  und 
die  Ableitung  des  Güterwertes  vom  Wert  der  Nutzleistungen  dargelegt  wird. 

3)  Dieser  Gedanke  ist  in  etwas  abweichender  Terminologie  ausdrücklich  anerkannt 
von  Knies  „Der  Kredit",  2.  Hälfte,  S.  34f.,  dann  77  und  78.  Er  nennt  ausdrücklich 
den  Verkaufspreis  eines  Hauses  den  Preis  des  andauernden  Gebrauches  des 
Hauses  im  Gegensatz  zum  Mietpreise,  der  der  Preis  des  zeitweiligen  Gebrauches 
desselben  Gutes  ist.  Vgl.  auch  dessen  „Geld"  S.  86ff.;  dann  Schäffle  (Bau  und  Leben, 
2.  Aufl.  Bd.  III),  der  die  Güter  als  „Vorräte  nutzbarer  Spannkräfte"  bezeichnet  (S.  258). 

*)  Das  Genauere  siehe  in  meinen  „Rechten  und  Verhältnissen",  S.  64ff. 


„Nutzungen"  und  „Nutzleistungen"  nicht  identisch.  207 

schätzt  und  begehrt,  weil  er  von  ihnen  ihre  eigentümlichen  nützlichen 
Kjäfteleistungen  zu  empfangen  hofft;  daß  er  in  der  Tat  nicht  bloß  dann, 
wenn  er  einen  Webstuhl  mietet,  sondern  auch  dann,  wenn  er  ihn  kauft, 
es  dabei  auf  die  Erwerbung  seiner  Nutzleistungen  abgesehen  hat,  während 
der  Miterwerb  des  Eigentums  am  Körper  der  Maschine  nur  zur  größeren 
Sicherung  der  Erlangung  der  Nutzleistungen  dient,  und,  mag  er  auch 
juristisch  als  das  Primäre  hervortreten,  wirtschaftUch  gewiß  nur  das 
Sekundäre  ist;  und  daß  endlich  der  Nutzen,  den  die  ganze  Maschine 
bringt,  in  der  Tat  nichts  anderes  als  der  in  eine  Summe  zusammengezogene 
Nutzen  aller  ihrer  Nutzleistungen,  desgleichen  der  Wert  und  Preis  der 
ganzen  Maschine  nichts  anderes  als  der  in  eine  Summe  zusammengezogene 
Wert  und  Preis  aller  ihrer  Nutzleistungen  ist  und  sein  kann. 

Kehren  wir  nunmehr,  nachdem  wir  das  Wesen  und  die  Struktur  des 
Güternutzens  ausreichend  geklärt,  zu  unserem  Hauptthema  zurück,  zur 
kritischen  Prüfung  des  Nutzungsbegriffes  der  Nutzungstheoretiker. 

Fragen  wir  zunächst:  Sind  die  „Nutzungen"  der  SAY-HERMANNSchen 
Nutzungstheorie  vielleicht  identisch  mit  den  unzweifelhaft  existierenden 
„Nutzleistungen"  der  Güter?  —  Es  kann  kein  Zweifel  sein,  daß  sie  nicht 
identisch  sind.  Jenes  Etwas,  das  die  Nutzungstheoretiker  Nutzung  nennen, 
soll  die  Grundlage  und  das  Äquivalent  des  reinen  Kapitalzinses  sein.  Die 
Nutzleistungen  dagegen  sind  bald  —  bei  ausdauernden  Gütern  —  Grund- 
lage des  den  Reinzins  und  einen  Teil  des  Kapitalwertes  selbst  umschließen- 
den Rohzinses,  bald,  bei  verbrauchlichen  Gütern,  sogar  die  Grundlage 
des  ganzen  Kapitalwertes.  Wenn  ich  die  Nutzleistungen  eines  Wohn- 
hauses kaufe,  so  zahle  ich  für  die  Nutzleistungen  eines  Jahres  den  ein- 
jährigen Mietzins,  der  ein  Bruttozins  ist.  Wenn  ich  die  Nutzleistungen 
eines  Zentners  Kohle  kaufe,  so  zahle  ich  sogar  für  die  Nutzleistungen  der 
einzigen  Stunde,  in  der  die  Kohle  zu  Asche  verbrennt,  den  ganzen  Kapitals- 
wert derselben.  Dagegen  wird  das  Ding,  das  die  Nutzungstheoretiker 
Nutzung  nennen,  ganz  anders  honoriert.  Die  Nutzung,  die  ein  Zentner 
Kohle  während  eines  ganzen  Jahres  abgibt,  erzielt  noch  keinen  höheren 
Preis,  als  etwa  ein  Zwanzigstel  des  Kapitalwertes:  „Nutzung"  und  „Nutz- 
leistung" müssen  also  offenbar  zwei  ganz  verschiedene  Größen  sein.  — 
Hieraus  wird  unter  anderem  klar,  daß  jene  Schriftsteller,  die,  indem  sie 
unsere  Nutzleistungen  definierten  und  ihre  Existenz  nachwiesen  ^  die  Grund- 
lage des  reinen  Kapitalzinses  zu  definieren  und  zu  beweisen  meinten,  sich 
einer  erheblichen  Täuschung  hingaben.  Dieses  Urteil  trifft  namentlich 
die  Services  productifs  von  Say  und  die  jüngeren  Nutzungsdefinitionen 

SCHÄFFLES. 

Und  nun  gelange  ich  zur  entscheidenden  Frage:  Wenn  die  Nutzun- 
gen der  Nutzungstheoretiker  etwas  anderes  als  die  ,, Nutz- 
leistungen" der  Güter  sind,  können  sie  dann  überhaupt  noch 
etwas  Reelles  sein?    Ist  es  denkbar,  daß  uns  zwischen,  neben 


208  VIII.  Die  Nutzungstheorien.    2.  Unterabschnitt.    Kritik. 

oder    innerhalb     der     Nutzleistungen     noch     etwas     anderes 
Nützendes  von  den  Gütern  zukommt? 

Ich  kann  auf  diese  Frage  keine  andere  Antwort  als  das  entschiedenste 
Nein  finden,  und  ich  glaube,  daß  jedermann  zu  dieser  Antwort  gezwungen 
ist,  der  zugibt,  daß  die  Sachgüter  Gegenstände  der  materiellen  Welt  sind, 
daß  materielle  Wirkungen  nicht  anders  als  durch  Äußerungen  von  Natur- 
kräften hervorgebracht  werden  können  und  daß  auch  das  „Nützen"  ein 
Wirken  ist:  innerhalb  dieser  Prämissen,  von  denen  wohl  keine  eine  An- 
fechtung erfahren  dürfte,  scheint  mir  schlechterdings  keine  andere  Art  des 
Nutzens  von  Sachgütern  denkbar,  als  durch  Betätigungen  ihrer  eigentüm- 
lichen Naturkräfte  oder  durch  Abgabe  von  „Nutzleistungen".  —  Indes 
ich  habe  gar  nicht  notwendig,  an  die  Logik  der  Naturwissenschaften  zu 
appellieren.  Ich  appelliere  einfach  an  die  Vorstellung  des  Lesers.  Versinn- 
lichen wir  uns  an  ein  paar  Beispielen,  was  und  wie  die  Güter  nützen. 
Eine  Dreschmaschine  z.  B.  findet  unzweifelhaft  ihren  wirtschaftlichen 
Nutzen  in  der  Beihilfe  zum  Ausdreschen  des  Kornes.  Wie  stiftet  sie,  wie 
kann  sie  diesen  Nutzen  stiften?  Nicht  anders  als  durch  mechanische 
Kräfteleistungen,  die  sie  abgibt,  eine  nach  der  andern,  so  lange  bis  ihr 
abgenützter  Mechanismus  die  Abgabe  weiterer  analoger  Kräfteleistungen 
weigert.  Oder  kann  sich  irgend  ein  Leser  den  Einfluß,  den  die  Dresch- 
maschine auf  die  Aussonderung  der  Getreidekörner  aus  den  Ähren  übt, 
unter  einem  anderen  Bilde  als  dem  einer  mechanischen  Kräfteleistung 
vorstellen?  Kann  er  sich  auch  nur  ein  Atom  von  Dreschnutzen  vorstellen, 
das  die  Maschine  nicht  durch  Kjäfteleistungen,  sondern  durch  eine  ander- 
weitige ,, Nutzung"  gewirkt  haben  könnte?  Ich  zweifle  sehr:  die  Dresch- 
maschine drischt  entweder  durch  physikalische  Kraftleistungen,  oder  sie 
drischt  gar  nicht. 

Man  weise  ja  nicht,  um  doch  eine  anderweitige  Nutzung  konstruieren 
zu  können,  auf  allerlei  mittelbaren  Nutzen  hin,  den  man  von  der  Dresch- 
maschine ziehen  kann.  Unser  ausgedroschenes  Getreide  z.  B.  ist  gewiß 
mehr  wert  als  das  unausgedroschene  war  und  der  Wertzuwachs  ist  ein 
Nutzen,  der  uns  von  der  Maschine  zukam.  Aber  es  ist  leicht  zu  sehen, 
daß  dies  kein  Nutzen  neben  den  Nutzleistungen  der  Maschine,  sondern 
ein  Nutzen  durch  dieselben,  daß  es  geradezu  ihr  eigener  Nutzen  ist. 
Es  ist  geradeso,  wie  wenn  mir  jemand  500  fl.  schenkt  und  ich  mir  ein 
Reitpferd  dafür  kaufe.  So  wenig  ich  hier  zwei  Geschenke  nebeneinander 
empfangen  habe,  500  fl.  und  ein  Reitpferd,  ebensowenig  darf  man  den 
mittelbaren  Nutzen  der  Nutzleistungen  selbst  als  einen  von  ihnen  ver- 
schiedenen zweiten  Nutzdienst  der  Güter  auffassen^). 

^)  Spitzfindige  Gegner  könnten  vielleicht  noch  darauf  hinweisen,  daß  der  Besitz 
guter  Maschinen  dem  Fabrikanten  etwa  zu  einem  guten  Kredit,  zu  gutem  Renommee, 
zu  guter  Kundschaft  u.  dgl.  verhilft.  Der  aufmerksame  Leser  wird  auch  solche  Ein- 
wendungen leicht  zurückschlagen.  Auf  dasselbe  Blatt  gehört  auch  der  ,,  Gebrauch 
durch  Tausch". 


Nichtexistenz  der  „Nutzung".  209 

Und  vollends  bei  den  verbrauchlichen  Gütern!  Was  erlange  ich  von 
einem  Zentner  Kohle?  Die  wärmeerzeugenden  Kräfteleistungen,  die  er 
während  seiner  Verbrennung  abgibt,  und  die  ich  mit  dem  Kapitalpreise 
der  Kohle  bezahle,  und  sonst  nichts,  gar  nichts!  Und  mein  Gebrauch 
von  der  Kohle  besteht  darin,  daß  ich  jede  Nutzleistungen,  während  sie  der 
Kohle  entströmen,  in  Verbindung  mit  irgend  einem  Objekt  setze,  an  dem 
ich  eine  Veränderung  durch  Wärme  hervorrufen  will;  der  Gebrauch  dauert 
dabei  so  lange  als  das  Entströmen  der  Nutzleistung  aus  der  verbrennenden 
Kohle.  —  Und  was  erlangt  der  Schuldner  aus  dem  Zentner  Kohle,  den  ich 
ihm  auf  ein  Jahr  leihe  ?  Ebenfalls  die  wärmeerzeugenden  Kräfteleistungen, 
die  der  Kohle  während  ein  paar  Stunden  entströmen,  und  sonst  wieder 
nichts,  absolut  nichts.  Und  sein  Gebrauch  der  Kohle  ist  gleichfalls  in 
denselben  wenigen  Stunden  erschöpft.  Ja,  kann  er  denn  nicht  —  wird 
man  vielleicht  fragen  —  die  Kohle  noch  kraft  des  Darlehensvertrages 
durch  ein  ganzes  Jahf  gebrauchen  und  nützen?  —  Der  Eigentümer  hat 
freilich  nichts  dagegen,  wohl  aber  die  Natur  der  Sache.  Diese  erheischt 
unerbittlich,  daß  Gebrauch  und  Nutzung  nach  ein  paar  Stunden  vorüber 
sind.  Was  dann  aus  dem  Vertrage  noch  bleibt,  ist,  daß  der  Schuldner  erst 
in  einem  Jahre  gehalten  sein  soll,  einen  anderen  Zentner  Kohle  zurück- 
zustellen. Es  ist  aber  wohl  eine  der  seltsamsten  Begriffsverwirrungen, 
daß  man  der  Tatsache,  daß  jemand  an  Stelle  eines  verbrannten  Zentners 
Kohle  erst  in  einem  Jahre  einen  anderen  Zentner  Kohle  zurückgeben 
muß,  die  Deutung  gegeben  hat,  daß  an  dem  verbrannten  Zentner  Kohle 
noch  durch  ein  ganzes  Jahr  eine  objektive  Nutzung  fortdauere! 

So  bleibt  denn  für  eine  „Nutzung"  der  Güter,  die  etwas  anderes 
sein  soU  als  ihre  natürlichen  „Nutzleistungen",  kein  Raum  übrig,  weder 
in  der  Welt  der  Wirklichkeit,  noch  in  der  Welt  logischer  Gedanken. 

Vielleicht  darf  ich  hoffen,  daß  mancher  Leser  schon  die  bisherigen 
Auseinandersetzungen  für  ausreichend  überzeugend  hält.  AEein  die  Sache 
ist  zu  wichtig  und  die  gegnerische  Meinung  zu  tief  gewurzelt,  als  daß  ich 
es  schon  dabei  bewenden  lassen  dürfte;  und  so  wiU  ich  denn  noch  mehr 
Beweise  gegen  die  Existenz  der  von  den  Nutzungstheoretikem  postulierten 
Nutzung  vorzubringen  suchen.  Zwar  läßt  die  Natur  meines  Beweisthemas, 
das  ein  negatives  ist,  einen  handgreiflichen  Beweis  nicht  zu;  ich  kann  die 
Nichtexistenz  eines  Dinges  nicht  so  vor  die  Sinne  stellen,  als  man  umgekehrt 
die  Existenz  eines  Dinges  den  Sinnen  dartun  könnte.  Dennoch  fehlt  es 
nicht  an  entscheidenden  Überzeugungsmitteln,  und  zwar  müssen  gerade 
die  Gregner  sie  mir  bieten.  In  folgender  Art.  Kriterien  eines  wahren  Satzes 
sind,  daß  er  durch  einen  richtigen  Beweisgang  gewonnen  ist  und  daß  er 
auf  richtige  Konsequenzen  führt.  Ich  will  nun  nachweisen,  daß  bei  der 
gegnerischen  Behauptung  einer  selbständigen  Nutzung  keines  dieser 
Kriterien  zutrifft.     Ich  will  den  doppelten  Beweis  antreten: 

1.    daß    in    allen    Schlußfolgerungen,    durch    welche    die 

Böbm-Bawerk,  Kapitalzins.    4.  Aufl.  14 


210  VIII.  Die  Nutzungstheorien.    2.  Unterabschnitt.    Kritik. 

Nutzungstheoretiker  das  Dasein  der  behaupteten  Nutzung 
zu  beweisen  meinten,  ein  Irrtum  oder  ein  Mißverständnis 
unterlaufen  ist,   und 

2.  daß  die  Annahme  einer  selbständigen  Nutzung  mit 
Notwendigkeit   auf  unhaltbare   Konsequenzen   führt. 

Ist  mir  dieser  Beweis  gelungen,  dann  wird  im  Vereine  mit  der  schon 
durchgeführten  Darlegung,  daß  für  eine  andere  objektive  Nutzung  neben 
den  Nutzleistungen  kein  Raum  ist,  wohl  die  vollste  Evidenz  für  meine 
These  erbracht  sein,  die  sich  überhaupt  erreichen  läßt. 

Von  den  hervorragenden  Vertretern  der  Nutzungstheorie  haben  sich 
zwei  mit  dem  Beweise  für  die  Existenz  einer  selbständigen  Nutzung  be- 
sondere Mühe  gegeben:  Hermann  und  Knies.  Ihre  Beweisführung  werde 
ich  denn  auch  hauptsächlich  zum  Gegenstand  meiner  kritischen  Prüfung 
machen.  Außerdem  verdient  noch  das,  was  Say,  der  Nestor  der  Nutzungs- 
theorie, und  was  Schäffle  über  die  Sache  bringt,  kritische  Beachtung. 
Ich  beginne  mit  den  beiden  letzteren  Schriftstellern,  rücksichtlich  deren 
das  Mißverständnis,  dem  sie  zum  Opfer  gefallen  sind,  sich  mit  wenigen 
Worten  nachweisen  lassen  wird. 

Say  schreibt  dem  Kapital  die  Leistung  von  produktiven  Diensten, 
oder,  wie  er  sich  öfter  ausdrückt,  die  Leistung  von  „Arbeit"  zu;  diese 
Arbeit  soll  die  Grundlage  des  Kapitalzinses  sein.  Man  mag  allenfalls  an 
dem  Ausdruck  Dienste  und  Arbeit  makein,  der  mehr  für  die  Aktion  per- 
sönlicher Wesen,  als  unpersönlicher  Kapitalgüter  paßt:  in  der  Sache  hat 
aber  Say  unzweifelhaft  Recht,  das  Kapital  leistet  „Arbeit".  Aber  es 
scheint  mir  ebenso  unzweifelhaft,  daß  jene  Arbeit,  die  das  Kapital  wirklich 
leistet,  in  dem  besteht,  was  ich  als  die  „Nutzleistungen"  der  Güter  be- 
zeichnet habe,  und  was  die  Grundlage  des  Rohzinses,  beziehungsweise 
des  Kapitalwertes  der  Güter  bildet.  Daß  das  Kapital  auch  von  den  Nutz- 
leistungen verschiedene  Dienste  abgibt,  die  die  separate  Grundlage  eines 
reinen  Zinses  werden  könnten,  scheint  Say  zwar  stillschweigend  anzu- 
nehmen, gibt  aber  nicht  den  mindesten  Beweis  dafür  —  wohl  deshalb, 
weil  er  die  schillernde  Zweideutigkeit  seines  Begriffes  der  Services  productifs 
gar  nicht  bemerkt  hat. 

Ähnliches  gilt  von  Schäffle.  Ich  übergehe  die  subjektiven  Deutungen 
seines  älteren  Werkes,  die  zum  Charakter  der  Nutzungstheorie  überhaupt 
nicht  passen,  und  die  er  in  der  jüngsten  Auflage  seines  „Bau  und  Leben" 
ja  stillschweigend  zurückgenommen  hat.  Im  letzteren  Werke  aber  nennt 
er  die  Güter  „Vorräte  nutzbarer  Spannkräfte"  (III,  258)  und  die  Nutzungen 
„Güterfunktionen",  „Äquivalente  der  nutzbaren  Stoffe  an  lebendiger 
Arbeit"  (III,  258,  259),  „lebendige  Energien  der  unpersönlichen  Sozial- 
substanz" (313):  Alles  ganz  richtig,  nur  daß  die  Güterfunktion,  die  Aus- 
gabe aus  dem  Vorrat  nutzbarer  Spannkräfte,  wieder  in  nichts  anderem 


Mißverständnisse  der  Nutzungstheoretiker.    Say,  Schäffle,  Hermann.        211 

als  unseren  Nutzleistuuj^en  besteht,  die  wieder  nicht  im  reinen  Kapital- 
zinse,  wie  Schäffle  annimmt,  sondern  im  Rohzinse,  beziehungsweise  im 
Kapitalwerte  der  verbrauchlichen  Güter  ihr  Äquivalent  finden.  Say  und 
Schäffle  verfehlen  also  durch  ein  Mißverständnis  das  ganze  Objekt  des 
Existenzbeweises. 

Psychologisch  interessant  ist  die  Art,  wie  Hermann  zu  seiner  selb- 
ständigen „Nutzung"  kommt. 

Die  erste  Einführung  des  Nutzungsbegriffes  geschieht  unter  der  Flagge 
der  Nutzung  ausdauernder  Güter.  „Grundstücke,  Gebäude,  Geräte, 
Bücher,  Geld  haben  dauernden  Gebrauchswert.  Ihr  Gebrauch,  während 
dessen  sie  fortbestehen,  wird  ihre  Nutzung  genannt,  die  dann  wie  ein 
eigenes  Gut  aufgefaßt  werden  kann,  welches  für  sich  selbst  Tauschwert 
erlangen  mag,  den  man  Zins  nennt"  ^).  Ein  eigentlicher  Beweis  für  die 
Existenz  einer  selbständigen  Nutzung  mit  selbständigem  Wert  wird  hier 
nicht  geführt,  braucht  auch  nicht  geführt  zu  werden,  weil  jedermann  weiß, 
daß  in  der  Tat  der  Grebrauch  eines  Grundstückes  oder  eines  Hauses  selb- 
ständig bewertet  und  verkauft  werden  kann.  Aber  —  und  das  muß  nach- 
drücklich hervorgehoben  werden  —  was  sich  in  diesem  Zusammenhange 
jeder  Leser  unter  Nutzung  vorstellen  wird  und  vorstellen  muß,  das  ist 
die  Bruttonutzung  der  ausdauernden  Güter,  das  Substrat  des  Pacht- 
zinses bei  Grundstücken,  des  Mietzinses  bei  Häusern;  oder  dasselbe,  was 
ich  oben  als  Nutzleistungen  der  Güter  bezeichnet  habe.  Es  leuchtet  ferner 
die  selbständige  Existenz  dieser  „Nutzung"  neben  dem  Nutzungsträger 
deshalb  und  nur  deshalb  ein,  weil  die  jetzt  in  Rede  stehende  Nutzung  das 
Gut  selbst  nicht  erschöpft;  man  ist  gezwungen  zuzustimmen,  daß  die 
Nutzung  etwas  vom  Gute  verschiedenes,  selbständiges  ist,  weil  das  Gut 
mit  einem  noch  unberührten  Teile  seines  Nutzinhadtes  daneben  fort- 
besteht. 

Der  zweite  Schritt,  den  Hermann  unternimmt,  ist,  daß  er  eine  Analogie 
zwischen  dem  Gebrauche  ausdauernder  und  verbrauchlicher  Güter  zieht 
und  auch  bei  den  letzteren  das  Dasein  einer  selbständigen  Nutzung  mit 
selbständigem  Werte  neben  dem  Gutswerte  nachzuweisen  sucht.  Er  findet 
nämlich  2),  daß  auch  verbrauchliche  Güter  durch  technische  Umformung 
ihre  Brauchbarkeit  bewahren,  und,  wenn  auch  in  veränderter  Gestalt, 
„für  den  Gebrauch  Beständigkeit  erlangen"  können.  Wenn  z.  B.  Eisenstein, 
Kohle  und  Arbeit  zu  Roheisen  umgestaltet  werden,  so  tragen  sie  hiebei 
die  chemischen  und  mechanischen  Elemente  zu  einer  neuen  kombinierten 
Brauchbarkeit  bei;  „und  wenn  dann  das  Roheisen  den  Tauschwert  der 
drei  verwendeten  Tauschgüter  besitzt,  so  besteht  die  frühere  Gütersumme 
in  der  neuen  Brauchbarkeit  qualitativ  verbunden,  im  Tauschwert  quan- 
titativ addiert  fort."  Sind  aber  die  verbrauchlichen  Güter  ebenso  eines 


^)  Staatswirtschaftliche  Untersuchungen,  2.  Aufl.  S.  109. 
*)  S.  llOf.;  siehe  das  Zitat  oben  S.  179. 

14* 


212  VIII.  Die  Nutzungstheorien.    2.  Unterabschnitt.    Kritik. 

dauernden  Gebrauches  fähig,  „dann"  —  fährt  Hermann  fort  —  „läßt 
sich  wie  bei  den  dauerbaren,  auch  bei  den  Gütern,  welche  unter  Fort- 
bestand ihres  Tauschwertes  qualitativ  ihre  Form  ändern,  dieser  Gebrauch 
als  ein  Gut  für  sich,  als  Nutzung  auffassen,  die  selbst  Tauschwert  erlangen 
kann." 

Damit  ist  Hermann  allerdings  am  gewünschten  Ziel,  dem  Nachweis 
eines  neben  dem  Gute  selbst  existierenden  Gebrauches  auch  der  verbrauch- 
lichen Güter,  angelangt.  Besehen  wir  uns  indes  die  vorgebrachten  Beweis- 
gründe etwas  näher. 

Vor  allem  ist  festzustellen,  daß  die  einzige  Stütze,  auf  der  jener  Nach- 
weis ruht,  ein  Analogieschluß  ist.  Die  Existenz  eines  selbständigen 
Gebrauches  verbrauchlicher  Güter  kann  keineswegs,  wie  die  Nutzung 
ausdauernder  Güter,  eine  sinnliche  Wahrnehmung  und  die  praktische 
Wirtschaftserfahrung  als  Zeugen  für  sich  anrufen.  Niemand  hat  gesehen, 
daß  sich  ein  selbständiger  Gebrauch  von  einem  verbrauchlichen  Gute 
losscbält,  und  wenn  jemand  dies  gesehen  zu  haben  meint,  indem  ja  doch 
in  jedem  Darlehen  der  Gebrauch  verbrauchlicher  Güter  übertragen  werde, 
80  irrt  er  sich:  er  sieht  hier  keinen  selbständigen  Gebrauch,  sondern  er 
schließt  auf  ihn.  Was  er  sieht  ist  nur,  daß  A  100  fl.  empfängt,  um  nach 
einem  Jahre  105  fl.  zurückzugeben.  Daß  hiebei  100  fl.  für  die  Darlehens- 
summe und  5  fl.  für  den  Gebrauch  derselben  gegeben  werden,  ist  eine 
Auslegung,  die  das  Wahrgenommene  erfährt,  nicht  eine  unmittelbare 
sinnliche  Wahrnehmung.  Jedenfalls  kann  man  sich,  wenn  die  Existenz 
eines  selbständigen  Gebrauches  verbrauchlicher  Güter  überhaupt  in  Frage 
steht,  nicht  auf  den  Darlehensfall  berufen:  denn  so  lange  jene  Existenz 
in  Frage  steht,  steht  natürlich  auch  die  Berechtigung  in  Frage,  den  Dar- 
lehensakt als  eine  Gebrauchsüberlassung  auszulegen;  und  jenes  durch 
dieses  beweisen  zu  wollen,  wäre  eine  offenbare  Präsumtion  des  Beweis- 
themas selbst. 

Wenn  daher  die  Existenz  einer  selbständigen  Nutzung  verbrauchlicher 
Güter  mehr  als  eine  unbewiesene  Behauptung  sein  soll,  so  kann  sie  es  nur 
sein  durch  die  Kraft  eines  Analogiebeweises,  den  Hermann  zwar  nicht 
der  Form,  aber  der  Sache  nach  in  der  oben  zitierten  Stelle  angetreten  hat. 
Der  Überzeugungsgang  ist  dabei  der  folgende:  Die  ausdauernden  Güter 
sind,  wie  jedermann  weiß,  der  Abgabe  einer  selbständigen  Nutzung  neben 
dem  Gute  selbst  fähig;  die  verbrauchlichen  Güter  lassen,  wenn  man  genau 
zusieht,  einen  ebenso  dauernden  Gebrauch  zu,  wie  die  ausdauernden: 
folgHch  werden  und  müssen  auch  die  verbrauchlichen  Güter  der  Abgabe 
einer  selbständigen  Nutzung  neben  dem  Gute  selbst  fähig  sein. 

Dieser  Analogieschluß  ist  falsch;  denn  wie  ich  sofort  dartun  werde, 
besteht  gerade  in  dem  entscheidenden  Punkte  keine  Analogie. 

Ich  gebe  ohne  weiteres  zu,  daß  die  verbrauchhchen  Güter  durch  tech- 
nische Umformung  wirklich  eines  dauernden  Gebrauches  fähig  werden. 


Eüritik  der  Hennaimschen  Beweisführong.  213 

Ich  gebe  zu,  Kohle  und  Eisenstein  wird  erstmals  zur  Erzeugung  von  Eisen 
gebraucht;  ich  gebe  zu,  der  Gebrauch,  den  dann  das  Eisen  gibt,  ist  nichts 
als  eine  Weiterwirkung  der  Kräfte  jener  ersten  Dinge,  die  also  im  Eisen 
zum  zweiten  Male  gebraucht  werden  und  weiter  im  Nagel,  den  man  aus 
dem  Eisen  macht,  zum  dritten  Male  und  im  Hause,  das  der  Nagel  zusammen- 
halten hilft,  zum  vierten  Male,  also  überhaupt  dauernd.  Allein  es  ist 
sehr  zu  beachten,  daß  die  Dauer  hier  auf  einem  ganz  anderen  Grunde 
beruht  und  einen  ganz  anderen  Charakter  trägt  als  bei  den  ausdauernden 
Gütern.  Diese  gebraucht  man  wiederholt,  indem  man  durch  jeden  Ge- 
brauchsakt nur  einen  Teil  ihres  Nutzinhaltes  erschöpft,  neben  dem  noch 
ein  anderer  unberührter  Teü  für  künftige  Gebrauchsakte  übrig  bleibt. 
Jene  aber  gebraucht  man  wiederholt,  indem  man  dasselbe  Ganze  wieder- 
holt ausschöpft,  indem  man  jeweils  den  ganzen  Nutzinhalt  einer  Güter- 
gestalt erschöpft,  aber,  da  dieser  Nutzinhalt  zur  Bildung  einer  neuen 
Gütergestalt  führt,  den  erschöpfenden  Gebrauch  an  dieser  wiederholt. 
Beide  Gebrauchsweisen  unterscheiden  sich*,  wie  das  kontinuierliche  Aus- 
gießen von  Wasser  aus  einem  Wasserreservoir  von  einem  ebenso  kon- 
tinuierlichen Umgießen  von  Wasser  aus  einem  Kruge  in  den  andern 
und  wieder  zurück,  oder,  um  ein  Beispiel  aus  der  Wirtschaftswelt  zu  ge- 
brauchen, wie  die  Erzielung  eines  wiederholten  Erlöses  aus  der  Veräußerung 
eines  Grundstückes  durch  stückweisen  Verkauf  desselben  von  der 
Erzielung  eines  wiederholten  Erlöses  dadurch,  daß  man  den  Kaufpreis 
des  ganzen  Grundstückes  zu  einem  neuen  Einkaufe  verwendet  und 
den  eingekauften  Gegenstand  wieder  verkauft  usf. 

Ein  paar  Worte  mehr  werden  das  Hinkende  der  HERMANNSchen 
Gegenüberstellung  noch  schärfer  charakterisieren.  —  Zu  dem  „Dauer- 
gebrauch", den  Hermann  an  den  verbrauchlichen  Gütern  nachweist, 
existiert  nämlich  wirklich  ein  vollkommenes  Analogen  auch  an  den  aus- 
dauernden Gütern:  Hermann  hat  aber  statt  seiner  etwas  anderes  in  die 
Parallele  gesetzt.  Wir  haben  es  hier  mit  einem  jener  Punkte  zu  tun,  an 
denen  sich  die  Vernachlässigung,  welche  die  Wissenschaft  sich  gegenüber 
dem  Begriffe  des  „Gebrauches  der  Güter"  zu  Schulden  kommen  ließ,  an 
der  Wissenschaft  gerächt  hat.  Hätte  Hermann  den  Begriff  des  Gebrauches 
genauer  untersucht,  so  hätte  er  wahrgenommen,  daß  man  mit  jenem 
Namen  zwei  ziemlich  verschiedene  Dinge  zusammenfaßt,  die  ich  in  Er- 
mangelung eines  besseren  Ausdruckes  als  den  unmittelbaren  und  den 
mittelbaren  Gebrauch  der  Güter  auseinander  halten  wül.  Der  unmittel- 
bare Gebrauch  (der  vielleicht  besser  allein  auf  den  Namen  Gebrauch  An- 
spruch erheben  sollte)  besteht  im  Empfang  der  Nutzleistungen  eines 
Gutes;  der  mittelbare  (der  vielleicht  richtiger  gar  nicht  als  „Gebrauch" 
bezeichnet  werden  sollte)  besteht  im  Empfange  der  Nutzleistungen  jener 
anderen  Güter,  die  erst  durch  die  Nutzleistungen  des  zunächst  „ge- 
brauchten" Gutes  zur  Entstehung  kommen;  weiter  jener  Güter,  die  wieder 


214  VIII.  Die  Nutzungstheorien.    2.  Unterabschnitt.    Kritik. 

aus  den  Nutzleistungen  der  ersten  entspringen,  usf.  Mit  anderen  Worten, 
der  „mittelbare  Gebrauch"  besteht  im  Empfang  der  entfernteren  —  und 
möglicherweise  bis  zum  jüngsten  Tage  sich  abrollenden  —  Glieder  jener 
Kette  von  Ursachen  und  Wirkungen,  die  mit  dem  ersten  unmittelbaren 
Gebrauch  ihren  Anfang  nimmt. 

Ich  will  nun  nicht  behaupten,  daß  es  geradezu  falsch  ist,  den  Gebrauch 
dieser  entfernten  Wirkungen  eines  Gutes  als  einen  Gebrauch  des  Gutes 
selbst  zu  bezeichnen;  jedenfalls  haben  aber  beide  Arten  des  Gebrauches 
einen  recht  verschiedenen  Gharald;er.  Mag  man  etwa  immerhin,  wenn  ich 
auf  einem  Pferde  reite,  dies  einen  Gebrauch  des  Grases  nennen,  das  mein 
Pferd  gefressen  hat  —  jedenfalls  steht  fest,  daß  dies  eine  vom  unmittel- 
baren Gebrauche  des  Grases  vollkommen  verschiedene  Gebrauchsart  ist, 
die  in  wesentlichen  Stücken  ganz  anderen  Bedingungen  unterliegt. 

Will  man  daher  das  Verhalten  zweier  Güter  oder  Güterarten  gegen- 
über dem  Gebrauche  in  Analogie  ziehen,  so  darf  man  sich  dabei  offenbar 
auch  nur  auf  gleichartige  Gebrauchsweisen  beziehen:  man  mag  den 
uimiittelbaren  Gebrauch  eines  Gutes  mit  dem  des  anderen,  und  wieder 
den  mittelbaren  Gebrauch  beider  Güter,  nicht  aber  den  unmittelbaren 
Gebrauch  eines  Gutes  mit  dem  mittelbaren  des  anderen  in  Parallele 
stellen;  zumal  nicht,  wenn  man  aus  dieser  Parallele  weitere  wissenschaft- 
liche Schlüsse  ableiten  will.  Dagegen  hat  nun  Hermann  gefehlt.  Sowohl 
ausdauernde  als  verbrauchliche  Güter  lassen  nämlich  beide  Arten  des 
Gebrauches  zu.  Die  Kohle,  ein  verbrauchliches  Gut,  hat  ihren  unmittel- 
baren Gebrauch  im  Verbrennen,  ihren  mittelbaren,  wie  Hermann  ganz 
richtig  ausweist,  im  Gebrauch  des  Eisens,  das  sie  bereiten  hilft.  Ebenso 
hat  aber  auch  jedes  ausdauernde  Gut,  z.  B.  jede  Spinnmaschine  neben 
ihrem  unmittelbaren  Gebrauch  —  der  in  der  Erzeugung  von  Garn  besteht 
—  auch  einen  mittelbaren,  der  im  Gebrauch  des  Garnes  zur  Erzeugung 
von  Tuch,  im  Gebrauch  des  Tuches  zur  Erzeugung  von  Kleidern,  im  Ge- 
brauch der  Kleider  selbst  usf.  besteht.  Richtig  gepaart  wäre  nun  offenbar 
der  unmittelbare  Gebrauch  der  ausdauernden  Güter  mit  dem  momentanen 
Verbrauch  der  verbrauchlichen  ^),  und  der  dauernde  mittelbare  Gebrauch 
der  verbrauchlichen  mit  dem  ebenso  dauernden  mittelbaren  Gebrauche 
der  ausdauernden  Güter  in  Analogie  zu  stellen  gewesen.  Hermann  aber 
hat  die  Paare  vergriffen,  indem  er  die  Analogie  vom  unmittelbaren  Ge- 
brauche der  ausdauernden  Güter  zu  dem  ganz  und  gar  nicht  analogen 
mittelbaren  Gebrauch  der  verbrauchlichen  Güter  gezogen  hat;  verieitet 


^)  Um  sich  von  dem  Zutreffenden  dieser  Analogie  zu  überzeugen,  braucht  man 
sich  nur  die  Stufenleiter  von  Übergängen  vorzustellen,  die  von  den  ausdauerndsten 
Gütern,  etwa  Grundstücken,  Edelsteinen  usw.,  über  immer  weniger  ausdauernde  Güter 
—  Gebäude,  Möbel,  Kleider,  Wäsche,  Kerzen,  papierne  Hemdkragen  u.  dgl.  —  endhch 
bis  zu  den  ganz  verbrauchlichen  Gütern  —  Zündhölzchen,  Speisen,  Getränken  usw.  — 
hinführt. 


Kritik  der  Hermannschen  Beweisführung.  215 

durch  den  Umstand,  daß  beide  Gebrauchsarten  „dauernd"  sind,  und 
übersehend,  daß  eben  diese  „Dauer"  in  beiden  Fällen  auf  höchst  verschie- 
denen Grundlagen  ruht. 

So  viel,  glaube  ich,  ist  durch  die  bisherigen  Auseinandersetzungen 
jedenfalls  klar  geworden,  daß  die  von  Hermann  gezogene  Analogie  im 
„dauernden"  Gebrauche  ausdauernder  und  verbrauchlicher  Güter  keine 
vollständige  ist.  Es  ist  aber  weiter  leicht  zu  zeigen,  daß  die  Unähnlichkeit 
gerade  den  entscheidenden  Punkt  trifft.  Warum  kann  man  sich  denn  an 
ausdauernden  Gütern  einen  selbständigen  Gebrauch  mit  selbständigem 
Werte  neben  dem  Gute  selbst  vorstellen?  —  Nicht  schlechthin  deshsdb, 
weil  der  Gebrauch  ein  dauernder  ist,  sondern  deshalb,  weil  der  begonnene 
Gebrauch  von  dem  Gute  und  Gutswerte  noch  etwas  übrig  läßt;  weil  man 
im  ausgelösten  und  in  dem  noch  nicht  ausgelösten  Teile  des  unmittelbaren 
Nutzinhaltes  zwei  verschiedene  Dinge  hat,  die  neben  einander  existieren 
und  deren  jedes  gleichzeitig  seinen  wirtschaftlichen  Wert  hat.  Von  alledem 
trifft  aber  bei  den  verbrauchlichen  Gütern  das  gerade  Gegenteil  zu.  Der 
jedesmalige  Gebrauch  erschöpft  hier  den  Nutzinhalt  der  jedesmaligen 
Gutsgestalt  völlig  und  sein  Wert  ist  immer  identisch  mit  dem  ganzen 
Werte  des  Gutes  selbst.  Man  hat  in  keinem  Momente  zwei  Dinge  von 
Wert  nebeneinander,  sondern  man  hat  nur  dasselbe  Ding  von  Wert  zweimal 
nacheinander.  Indem  man  Kohle  und  Eisenstein  zur  Bereitung  von  Eisen 
gebraucht,  verbraucht  man  sie;  man  bezahlt  für  diesen  Gebrauch  den 
ganzen  Kapitals  wert  jener  Güter,  und  rettet  von  ihnen  nicht  den 
kleinsten  Splitter,  der  neben  und  nach  diesem  Verbrauche  mit  einem 
selbständigen  Werte  noch  fortbestände.  Und  geradeso  ist  es,  wenn  man 
das  Eisen  wieder  zur  Bereitung  von  Nägeln  gebraucht.  Man  verbraucht 
es,  man  bezahlt  dafür  den  ganzen  Kapitalswert  des  Eisens  und  es  bleibt 
von  diesem  wieder  nicht  der  mindeste  Splitter  daneben  bestehen.  Man 
hat  nie  in  einem  Momente  die  Sache  und  ihren  Gebrauch  nebeneinander, 
sondern  man  hat  nur  die  Sachen  „Kohle  und  Eisenstein",  „Eisen"  und 
„Nägel"  durch  ihren  jeweiligen  Gebrauch  nacheinander.  Bei  dieser 
Sachlage  ist  aber  weder  per  analogiam  noch  sonst  irgendwie  einzusehen, 
wie  der  „Gebrauch"  eineg  verbrauchlichen  Gutes  zu  einer  selbständigen 
Existenz  und  zu  einem  selbständigen  Werte  neben  dem  Gute  gelangen  soll. 

Hermanns  Analogieschluß  ist  in  Wahrheit  nicht  korrekter,  als  wenn 
er  folgenden  Schluß  gezogen  hätte:  Aus  einem  großen  Wasserbehälter 
kann  ich  eine  Stunde  lang  jede  Sekunde  einen  Liter  Wasser  abfließen 
lassen.  Jeder  der  3600  ausgegossenen  Liter  hat  eine  selbständige  Existenz 
für  sich  und  ist  ein  ganz  verschiedenes  Ding  sowohl  von  dem  Wasser, 
deis  vorher  ausgegossen  worden  ist,  als  von  dem  Wasser,  das  in  dem  Be- 
hälter noch  zurückbleibt.  Wenn  ich  nur  einen  einzigen  Liter  Wasser 
habe,  aber  diesen  beständig  aus  einem  Grefäß  in  das  andere  umgieße,  so 
kann  ich  gleichfalls  es  zustande  bringen,  daß  eine  Stunde  lang  jede  Sekunde 


216  VIII.  Die  Nutzungstheorien.    2.  Unterabschnitt.    Kritik. 

ein  Liter  abfließt:  Folglich  —  muß  es  auch  in  diesem  Falle 3600  selbständige 
Liter  geben,  die  sich  aus  unseren  Gefäßen  ausschütten  lassen! 

Hermann  unternimmt  aber  endlich  einen  dritten  Schritt:  er  löst 
den  Gebrauch  ausdauernder  Güter  in  zwei  Elemente  auf;  in  ein  Element, 
das  allein  den  Namen  Gebrauch  oder  Nutzung  verdient,  und  in  ein  zweites 
Element  „Abnützung".  —  Ich  muß  gestehen,  daß  mich  dieser  letzte  Schritt 
lebhaft  an  das  bekannte  Münchhausensche  Stücklein  erinnert,  in  dem 
Münchhausen  sich  mittelst  eines  Strickes  vom  Monde  herabläßt,  indem 
er  denselben  immer  über  seinem  Kopfe  abschneidet,  um  ihn  unten  wieder 
anzuknüpfen.  Hermann  hat  geradeso  anfangs  die  ganze  (rohe)  Nutzung 
von  ausdauernden  Gütern  als  Nutzung  behandelt:  so  lange,  bis  er  durch 
einen  darauf  gebauten  Analogieschluß  eine  Nutzung  auch  bei  verbrauch- 
lichen Gütern  nachgewiesen  hat.  Kaum  hat  er  diese  gewonnen,  so  reißt 
er  seinen  anfängüchen  Nutzungsbegriff  in  Stücke,  unbekümmert  darum, 
daß  er  damit  auch  den  Stützpunkt  zerstört,  an  den  er  seinen  späteren 
selbständigen  Nutzungsbegriff  geknüpft  hat,  und  daß  dieser  nun  ganz  in 
der  Luft  hängt. 

Zu  welchen  Inkonsequenzen  dieser  Vorgang  noch  überdies  führt, 
davon  ein  wenig  später.  Hier  begnüge  ich  mich  festzustellen,  daß  die 
auf  den  ersten  Blick  in  der  Tat  bestechenden  Ausführungen  Hermanns 
bei  genauerer  Prüfung  keine  bessere  Stütze  aufweisen,  als  eine  falsche 
Analogie.  — 

Meine  Kritik  würde  eine  wesentliche  Lücke  lassen,  wenn  ich  sie  nicht 
auch  auf  die  gründlichen  und  gewissenhaften  Bemühungen  ausdehnen 
würde,  welche  Knies  an  die  Sache  gewendet  hat.  Die  Ausführungen 
dieses  ausgezeichneten  Gelehrten  haben  eine  doppelte  Ähnlichkeit  mit  der 
HERMANNschen  Lehre:  sie  wirken  gleich  dieser  auf  den  ersten  Blick  außer- 
ordentlich überzeugend,  und  sie  verdanken  diese  Überzeugungskraft  einer 
wirksamen  Verwendung  von  Analogien  —  die  ich  indes  gleichfalls  für 
falsche  Analogien  werde  erklären  müssen. 

Knies  stößt  auf  unser  Thema  bei  Gelegenheit  der  Erörterung  der 
Frage  nach  der  wirtschaftlichen  Natur  des  Darlehens.  Er  huldigt  der 
Ansicht,  daß  das  Wesen  des  Darlehens  in  einer  Übertragung  der  Nutzung 
der  Darlehenssumme  liege;  und  indem  er  diese  Auffassung  mit  gewohnter 
Sorgfalt  zu  motivieren  sucht,  wird  er  veranlaßt,  auch  auf  die  Frage  der 
Existenz  oder  Nichtexistenz  einer  selbständigen  Nutzung  an  verbrauch- 
lichen Gütern  sich  einzulassen. 

Er  geht  in  einer  einleitenden  Betrachtung  von  dem  Gedanken  aus, 
daß  es  wirtschaftliche  „Übertragungen"  gibt,  die  mit  der  Übertragung 
von  Eigentumsrechten  nicht  zusammenfallen.  Als  solche  erscheinen 
namentlich  die  Übertragungen  des  bloßen  Gebrauches  von  Gütern  oder 
von  Güternutzungen.  Er  erwähnt  sodann  des  Unterschiedes  zwischen 
verbrauchlichen    und    nichtverbrauchlichen    Gütern,    und    wendet    sich 


Kritik  des  Kniesschen  Nutzungsbeweises.  217 

zunächst  zu  einer  ausführlichen  Betrachtung  der  Übertragung  von  Nutzun- 
gen aus  nicht  verbrauchlichen  Gütern  —  die  ihm  ähnlich  wie  Hermann 
als  Brücke  für  die  Erklärung  der  heikligeren  Phänomene  an  der  Nutzung 
verbrauchlicher  Güter  dienen  müssen.  Er  stellt  hier  unter  anderem  den 
Unterschied  fest,  der  zwischen  der  „Nutzung"  als  dem  „durch  eine  laufende 
Zeit  andauernden  und  durch  Zeitmomente  begrenzbaren  Gebrauch  des 
Gutes"  zu  ziehen  ist,  und  dem  Gute  selbst  als  dem  „Träger  der  Nutzung". 
Das  wirtschaftliche  Prinzip  der  in  Frage  kommenden  Übertragungen  sei, 
daß  eine  Nutzung  übertragen  werden  soll,  daß  aber  der  Träger  der  Nutzung 
nicht  übertragen  werden  soll.  Indes  macht  die  Natur  der  Sache  es  not- 
wendig, daß  die  Übertragung  der  Nutzungen  von  Gütern  jederzeit  gewisse 
Einräumungen  rücksichtlich  des  Trägers  der  Nutzung  nach  sich  zieht. 
Der  Eigentümer  eines  verpachteten  Ackers  z.  B.  muß  denselben  dem 
Pächter,  falls  dieser  ihn  soll  benutzen  können,  auch  physisch  überliefern. 
Das  Maß  dieser  Einräumungen  und  die  Gefahr  des  Verlustes  sowie  der 
Deteriorierung  des  Nutzungsträgers,  die  hiemit  verbunden  ist,  sind  je 
nach  der  Verschiedenheit  der  Dinge  und  des  einzelnen  Falles  verschieden; 
bei  der  Miete  ist  beispielsweise  eine  gewisse  Deteriorierung  und  die  Ge- 
stattung derselben  durch  den  Eigentümer  sogar  notwendig^). 

Nachdem  Knies  dann  auch  noch  die  Bedeutung  der  juristischen 
Kategorien  von  vertretbeuren  und  nichtvertretbaren  Gütern  erläutert  hat, 
wirft  er  die  folgende  Frage  auf  (S.  71):  „Ist  nicht  auch  das  sachlich  möglich 
und  als  Intention  eines  Vertrages  wohl  begreiflich,  daß  die  Nutzung  eines 
vertretbaren  und  sogar  verbrauchlichen  Gutes  übertragen  werde?" 

In  diesem  Satze  fragt  Knies  implicite  nach  der  Existenz  einer  selb- 
ständigen Nutzung  verbrauchlicher  Güter.  —  Er  beantwortet  die  gestellte 
Frage  durch  folgende  Ausführung,  die  ich  wörtlich  wiedergebe: 

„Ein  Zentner  Getreide  ist  ein  solches  vertretbares  und  verbrauch- 
liches Gut.  Der  Eigentümer  kann  unter  Umständen  einen  solchen  Zentner 
Getreide  selbst  nicht  veräußern,  nicht  vertauschen  und  nicht  verkaufen 
woUen,  etwa  weil  er  ihn  selbst  nach  sechs  Monaten  verbrauchen  muß 
oder  will.  Aber  bis  zu  dieser  Frist  braucht  er  ihn  denn  doch  auch  nicht. 
Er  könnte  sich  deshalb  allerdings  wohl  darauf  einlassen,  den  Gebrauch 
dieses  Zentners  Getreide  während  der  nächsten  sechs  Monate  einem  anderen 
zu  überlassen,  wenn  er  nur  nach  Ablauf  derselben  sein  Gut  wieder  be- 
kommen würde.  Wenn  dann  aber  ein  anderer,  der  das  Getreide  begehrt, 
aber  nicht  ertauschen  oder  kaufen  kann,  erklären  muß,  daß  er  eine  Nutzung 
des  Zentners  Getreide  als  eines  verbrauchlichen  Gutes  nicht  erlangen  könne, 
außer  durch  den  Verbrauch  des  Getreides  selbst,  z.  B.  als  Samenkorn, 
er  woUe  aber  einen  anderen  Zentner  aus  der  durch  die  übertragene  Nutzung 
erzielten  Ernte  zurückstellen,  so  kann  der  Eigentümer  dies  seinem  wirt- 


1)  Geld,  S.  69ff. 


218  VIII.  Die  Nutzungstheorien.    2.  Unterabschnitt.    Ejritik. 

schaftlichen  Interesse  vollkommen  genügend  finden,  da  es  sich  ja  hier 
gerade  um  ein  vertretbares  Gut  handelt." 

„In  dieser  Darlegung  enthält  nicht  ein  kleinstes  Fragment  eines 
Gedankens  etwas  Unmögliches,  Gesuchtes,  Erkünsteltes.  Ein  solcher 
Vorgang  aber  für  sich  genommen,  d.  h.  die  Übergabe  eines  Zentners  Ge- 
treide unter  der  Bedingung  der  Wiedergabe  eines  Zentners  Getreide  nach 
6  Monaten  —  gehört  unbezweifelbar  zu  denen,  welche  ein  „„Darlehen"" 
genannt  werden.  .  .  .  Demgemäß  stellen  wir  das  Darlehen  in  die  Reihe 
der  Übertragungen  einer  Nutzung,  nämlich  der  Nutzung  aus  vertretbaren 
Gütern,  die  zur  Gebrauchsbefügnis  des  Eigentümers  übergehen,  mittels 
eines  gleichen  Quantums  zurückgestellt  werden.  Natürlich  ist  es  gerade 
bei  dem  Darlehen  von  größtem  Belang,  scharf  festzuhalten,  daß,  wie 
groß  auch  der  Umfang  der  Einräumungen  gegenüber  dem  Träger  der 
Nutzung  sein  mag,  doch  nicht  in  ihnen  das  Prinzip  des  Vorganges  liegt. 
Diese  Einräumungen  werden  vielmehr  immer  entsprechend  der  jeweils 
obwaltenden  Nötigung  zur  Gewinnung  der  Nutzung  abgegrenzt  und  eben 
deshalb  gegenüber  einem  verbrauchlichen  Gute  auch  bis  zur  Verbrauchs- 
gewalt des  Eigentümers  ausgedehnt,  ohne  daß  irgendwo  —  auch  an  dieser 
letzten  Stelle  nicht  —  etwas  anderes  maßgebender  Grundgedanke  wäre 
als:  Übertragung  einer  Nutzung.  Es  ist  also  im  Darlehen  die  Übertragung 
des  Eigentumsrechtes  unvermeidlich  —  und  doch  nur  begleitend." 

Ich  gestehe  gerne,  daß  diese  Auseinandersetzungen  auf  jeden,  der 
nicht  ganz  genau  zusieht,  einen  vollkommen  überzeugenden  Eindruck  zu 
machen  geeignet  sind.  Knies  hat  nicht  allein  die  schon  von  den  alten 
Gegnern  der  Kanonisten  benutzte  Analogie  zwischen  Pacht  und  Miete 
einerseits  und  dem  Darlehen  andererseits  mit  ungewöhnlicher  Geschicklich- 
keit verwertet,  sondern  sie  noch  durch  einen  neuen  höchst  wirksamen 
Zug  bereichert.  Denn  durch  die  Hinweisung  auf  die  bei  allen  Nutzungs- 
übertragungen unvermeidlichen  Einräumungen  gegenüber  dem  Nutzungs- 
träger selbst  hat  er  gerade  dasjenige  Moment,  das  sonst  die  Analogie 
zwischen  Darlehen  und  Miete  am  stärksten  zu  stören  schien,  nämlich 
die  gänzliche  Übertragung  des  Eigentumes  an  Darlehensgütem,  sogar  in 
eine  weitere  Stütze  dieser  Analogie  umzuwandeln  gewußt. 

Wer  sich  indes  von  diesen  brillanten  Analogien  nicht  im  Fluge  mit- 
reißen läßt  und  kritisch  zu  überlegen  beginnt,  wird  leicht  bemerken,  daß 
die  Statthaftigkeit  und  damit  die  Beweiskraft  aller  dieser  Analogien  von 
der  Bejahung  einer  Vorfrage  abhängt:  ob  nämlich  an  verbrauchlichen 
Gütern  eine  selbständige  Nutzung,  die  dann  im  Darlehen  übertragen 
werden  könnte,  überhaupt  existiert;  und  wird  genauer  zusehen,  was  für 
Beweise  Knies  speziell  für  diese  Vorfrage  beibringt,  die  den  Schlüssel  zu 
seiner  ganzen  Darlehenstheorie  büdet. 

Hier  wird  man  nun  die  überraschende  Entdeckung  machen,  daß 
Knies,  die  Existenz  oder  auch  nur  die  Denkbarkeit  einer  selbständigen 


Kritik  des  Kniesschen  Nutznngsbeweises.  219 

Nutzung  verbrauchlicher  Güter  mit  keinem  Worie  bewiesen,  sondern  diese 
Hauptklippe  seiner  Theorie  mittelst  eines  Doppelspieles  umschifft  hat, 
dessen  Gegenstand  das  Wort  „Nutzung"  ist.  —  Ich  wül  diese  Irrung  auf- 
zudecken suchen. 

Knies  identifiziert  selbst  (S.  61)  die  Nutzung  mit  dem  Gebrauche 
von  Gütern.  Er  weiß  ferner  (siehe  ebenfalls  S.  61),  daß  an  verbrauchlichen 
Gütern  kein  anderer  Gebrauch  möglich  ist  als  ein  Verbrauch.  Er  muß 
daher  auch  wohl  wissen,  daß  an  verbrauchlichen  Gütern  die  Nutzung 
identisch  ist  mit  dem  Verbrauch  derselben.  Andererseits  gebraucht  er 
aber  das  Wort  „Nutzung"  in  der  Stellung  des  Problems  und  dann  in  der 
Schlußsentenz:  „Demgemäß  stellen  wir  das  Darlehen  in  die  Reihe  der 
Übertragungen  einer  Nutzung  usw."  offenbar  in  einem  Sinne,  in  dem  es 
nicht  mit  Verbrauch  identisch,  sondern  als  dauernde  Nutzung  gemeint  ist. 
Zu  dieser  seiner  Schlußsentenz  kommt  nun  Knies,  indem  er  in  seiner  Aus- 
führung Zug  um  Zug  die  Nutzung  im  ersten  Sinne  mit  der  Nutzung  im 
zweiten  Sinne  verwechselt,  um  dann  aus  einer  Reihe  von  Sätzen,  die  nur 
dann  richtig  sind,  wenn  man  sie  auf  die  Nutzung  im  ersten  Sinne  bezieht, 
die  Konklusion  zu  ziehen,  daß  es  eine  Nutzung  im  zweiten  Sinne  gibt. 

Der  erste  Satz  lautet:  „Der  Eigentümer  kann  unter  Umständen  einen 
solchen  Zentner  Getreide  selbst  nicht  veräußern,  nicht  vertauschen  und 
nicht  verkaufen  wollen,  etwa  weil  er  ihn  selbst  nach  sechs  Monaten  ver- 
brauchen muß  oder  will.  Aber  bis  zu  dieser  Frist  braucht  er  ihn  denn 
doch  auch  nicht." 

In  diesem  Satz  ist  als  die  beabsichtigte  und  nach  der  Natur  der  Sache 
allein  zu  beabsichtigende  Nutzungart  ganz  richtig  der  Verbrauch  des 
Gutes  bezeichnet.  —  Dann  fährt  er  fort: 

„Er  könnte  sich  deshalb  allerdings  wohl  darauf  einlassen,  den  Ge- 
brauch dieses  Zentners  Getreide  während  der  nächsten  sechs  Monate 
einem  anderen  zu  überlassen,  wenn  er  nur  nach  Ablauf  derselben  sein  Gut 
wieder  bekommen  würde." 

Hier  beginnt  die  Zweideutigkeit:  Was  bedeutet  hier  „Gebrauch"? 
Bedeutet  dieses  Wort  „Verbrauch"?  oder  bedeutet  es  eine  durch  eine 
sechsmonatliche  Periode  andauernde  Nutzungsart?  —  Denkbar  ist  der 
Gebrauch  selbstverständlich  nur  als  Verbrauch,  aber  die  Worte  „Gebrauch 
während  der  nächsten  sechs  Monate"  sind  geeignet,  eine  Vorstellung  von 
einem  andauernden  Gebrauche  hervorzurufen,  und  hiemit  beginnt  das 
quid  pro  quo. 

Nun  folgt  der  dritte  Satz: 

„Wenn  dann  aber  ein  anderer,  der  das  Getreide  begehrt,  aber  nicht 
ertauschen  oder  kaufen  kann,  erklären  muß,  daß  er  eine  Nutzung  des 
Zentners  Getreide  als  eines  verbrauchlichen  Gutes  nicht  erlangen  könne, 
außer  durch  den  Verbrauch  des  Getreides  selbst  z.  B.  als  Samenkorn, 
er  wolle  aber  einen  anderen  Zentner  aus  der  durch  die  übertragene  Nutzung 


220  VIII.  Die  Nutzongstheorien.    2.  Unterabschnitt.    Kritik. 

erzielten  Ernte  zurückstellen,  so  kann  der  Eigentümer  dies  seinem  wirt- 
schaftlichen Interesse  vollkommen  genügend  finden,  da  es  sich  ja  hier 
gerade  um  ein  vertretbares  Gut  handelt." 

Dieser  Satz  enthält  die  entscheidende  Verwechslung.  Während  nämlich 
Knies  in  demselben  Atem  den  Darlehenswerber  geradezu  erklären  läßt, 
daß  eine  Nutzung  an  verbrauchlichen  Gütern  nicht  anders  als  identisch 
mit  dem  Verbrauche  derselben  sein  kann,  gebraucht  und  setzt  er  die 
Worte  „Nutzung"  und  „Verbrauch"  dennoch  so,  daß  die  beiden  Begriffe 
auseinander  gehalten  werden,  und  nicht  identisch  zu  sein  scheinen,  und 
schmuggelt  auf  diese  Weise,  je  offener  desto  unvermerkter,  in  dialektischer 
Selbsttäuschung  die  VorsteÜung  von  einer  dauernden  Nutzung  an  ver- 
brauchlichen Gütern  in  den  Gedankengang  ein.  Ist  dann  gleich  darauf 
von  der  „durch  die  übertragene  Nutzung  erzielten  Ernte"  die  Rede,  so 
dürfte  man  sich  in  korrekter  Weise  als  das  die  Ernte  Erzielende  abermals 
nur  den  Nutzgebrauch  =  Nutz  verbrauch  des  Saatgetreides  vorstellen; 
man  ist  aber  durch  den  Anklang  der  „übertragenen  Nutzung"  an  die 
Nutzungstibertragungen",  die  man  von  früher  her  im  Ohr  hat  und  die  den 
Gegensatz  zur  „Übertragung  der  Nutzungsträger"  bedeutet  hatten,  un- 
willkürlich veranlaßt,  hiebei  an  eine  dauernde  Nutzung  nach  Analogie 
der  Nutzung  an  ausdauernden  Gütern  zu  denken.  Ein  Skrupel  über  die 
Denkbarkeit  einer  solchen  Nutzung  kann  dabei  um  so  schwerer  auftauchen, 
als  von  dieser  zugleich  ausgesagt  wird,  daß  durch  sie  eine  Ernte  erzielt, 
also  etwas  höchst  Reelles  bewirkt  wird:  ein  Existenzbeweis,  den  der  in 
der  Verwechslung  einmal  begriffene  Leser  natürlich  der  „dauernden 
Nutzung"  zugute  kommen  läßt. 

Nun  zieht  Knies  die  Früchte  aus  der  Verwechslung.  Nachdem  er 
erklärt  hat:  „in  dieser  Darlegung  enthält  nicht  ein  kleinstes  Fragment 
eines  Gedankens  etwas  Unmögliches,  Gesuchtes,  Erkünsteltes"  —  was 
freilich  unter  der  Voraussetzung  ganz  richtig,  dann  aber  für  seine  These 
ganz  ohne  Folgen  ist,  wenn  man  für  die  Worte  Gebrauch  oder  Nutzung 
an  den  zweideutigen  Stellen  jedesmal  das  Wort  „Nutzverbrauch"  inter- 
poliert —  zieht  er  den  Schluß:  Also  gehört  das  Darlehen  in  die  Reihe  der 
Übertragungen  einer  bloßen  Nutzung. 

Dieser  Schluß  ist  einfach  ein  Trugschluß.  Denn  der  Beweis,  dessen 
Erbringung  Aufgabe  war,  ist  in  Wahrheit  gar  nicht  geführt  worden;  viel- 
mehr wurde  das  zu  Beweisende  unvermerkt  als  ein  Vorausgesetztes  in  die 
Deduktion  eingeführt  und  von  der  „Nutzung"  im  prätendierten  Sinne 
wie  über  eine  vertraute  Tatsache  gesprochen,  ohne  daß  auch  nur  ein 
Wort  über  die  —  zu  beweisende  —  Existenzmöglichkeit  einer  solchen 
Nutzung  geäußert  worden  wäre.  Die  Aufdeckung  dieses  fundamentalen 
Beweisfehlers  wird  aber  durch  zwei  Umstände  sehr  erschwert;  erstlich 
dadurch,  daß  die  Flagge  der  Nutzung  im  echten  Sinne  auch  den  unechten 
Namensbruder  deckt:  man  versäumt,  gegen  die  Existenz  der  „Nutzung" 


ünhaltbarkeit  der  Konseqaenaen.  221 

ZU  protestieren,  weil  man  sie  —  Dank  der  geschickten  dialektischen  Rede- 
wendungen —  von  der  unzweifelhaft  existierenden  echten  Nutzung  nicht 
auseinander  hält;  und  zweitens  geradezu  durch  das  Naive  der  Suggestion. 
Ohne  nänüich  auch  nur  mit  einem  Worte  auf  das  Problem  —  ob  eine 
dauernde  Nutzung  an  verbrauchlichen  Gütern  denkbar  sei  —  wirklich 
einzugehen,  läßt  Knies  den  Eigentümer  und  den  Darlehenswerber  über  die 
Übertragung  der  „Nutzung"  in  einem  solchen  Tone  der  Sicherheit  ver- 
handeln, als  ob  die  Ekistenz  solcher  Nutzungen  eine  ausgemachte  Sache 
sei  —  eine  Sicherheit,  die  sich  fast  dann  unwillkürlich  auch  dem  Leser 
mitteilt^).  — 

Werfen  wir  einen  vergleichenden  Rückblick  auf  die  Bemühungen, 
welche  die  einzelnen  Schriftsteller  der  SAY-HERMANNSchen  Richtung  um 
den  Nachweis  ihrer  eigentümlichen  Kapitabiutzung  entwickelt  haben,  so 
gewahren  wir  bei  aller  Verschiedenheit  im  einzelnen  eine  sehr  lehrreiche 
Übereinstimmung  im  ganzen. 

Alle  Autoren,  von  Say  bis  auf  Knies,  beziehen  sich,  wenn  sie  von  der 
Kapitalnutzung  zu  reden  anfangen,  zuerst  auf  die  wirklich  existieren- 
den Nutzleistungen,  und  erlangen  unter  ihrer  Flagge  von  den  Lesern 
das  Zugeständnis,  daß  die  „Kapitalnutzung"  in  der  Tat  existiert,  daß  sie 
als  ein  selbständiges  wirtschaftliches  Element  existiert  und  auch  einen 
selbständigen  wirtschaftlichen  Wert  besitzt.  Daß  diese  Selbständigkeit 
nicht  die  eines  zweiten  Ganzen  neben  dem  Gute,  sondern  nur  die  eines 
selbständig  loslösbaren  Teües  des  Gutsinhaltes  ist,  womit  es  weiter  zu- 
sammenhängt, daß  die  Ablösung  der  Nutzleistung  jedesmal  mit  einer 
Wertverminderung  des  Gutes  selbst  verbunden,  und  das  Entgelt  für  die 
Nutzleistung  ein  Brutto zins  ist,  wird  dabei  im  Dunkeln  gelassen. 

Kaum  hat  man  aber  so  die  Anerkennung  der  „selbständigen  Kapital- 
nutzung" erlangt,  so  schiebt  man  den  echten  Nutzleistungen,  unter  deren 
Deckmantel  man  sie  erlangt  hat,  die  imaginäre  Nutzung  eigener  Faktur 
unter,  dichtet  ihr  eine  Selbständigkeit  des  Wertes  außerhalb  des  vollen 
Gutswertes  an  und  schlägt  zum  Schlüsse  gar  noch  die  echten  Nutzungen, 
die  der  falschen  als  Schemel  gedient  hatten,  in  Stücke.  Say  und  Schäffle 
geben  diesen  Prozeß  nur  in  flüchtiger  Abbreviatur,  indem  sie  stillschweigend 
das  Substrat  des  Rohzinses  in  ein  Substrat  des  Reinzinses  umdeuten; 
Hermann  und  Knies  aber  wickeln  ihn  vor  unseren  Augen  in  voller  Aus- 
führlichkeit ab.  —  Solche  Irrungen  zeigen,  wie  dringend  das  Bedürfnis 
ist,  daß  die  so  beliebten  „Revisionen  der  Grundbegriffe"  sich  endlich 
auch  dem  unscheinbaren  Begriffe  des  „Gebrauches"  und  der  „Nutzung" 


^)  Knies  hat  in  späteren,  der  ersten  Auflage  dieses  Werkes  nachgefolgten  Schriften 
einen  Versuch  gemacht,  seine  Auffassung  gegen  meine  obenstehenden  Einwendungen 
zu  verteidigen.  Ich  werde  an  einer  dazu  geeigneten  Stelle  des  zweiten,  positiven  Teiles 
meiner  Arbeit  auf  diesen  Versuch  zurückkommen;  siehe  meine  „Positive  Theorie" 
3.  A.  S.  489ff.,  4.  A.  S.  364. 


222  "VIII.  Die  Nutzungstheorien.    2.  Unterabschnitt.    Kritik. 

der  Güter  zuwenden  mögen.    Ich  für  meinen  Teil  habe  versucht,   hiezu 
einen  ersten  Beitrag  zu  liefern. 

Ich  glaube  durch  die  vorstehenden  Ausführungen  den  angekündigten 
Beweis  erbracht  zu  haben,  „daß  in  allen  Schlußfolgerungen,  durch  welche 
die  Nutzungstheoretiker  der  SAY-HERMANNschen  Richtung  das  Dasein 
der  behaupteten  Nutzung  zu  beweisen  vermeinten,  ein  Irrtum  oder  ein 
Mißverständnis  unterlaufen  ist." 

Aber  die  Annahme  jener  selbständigen  Nutzung  ist  nicht  allein  absolut 
unerwiesen,  sondern  sie  führt  auch,  wie  ich  nunmehr  beweisen  will,  mit 
Notwendigkeit  auf  innere  Widersprüche  und  unhaltbare  Konsequenzen. 

Es  ist  im  Kreise  der  Nutzüngstheoretiker  und  auch-  sonst')  üblich, 
eine  rohe  Nutzung,  welche  die  Grundlage  des  rohen  Pacht-  oder  Miet- 
zinses ist,  von  einer  reinen  Nutzung  zu  unterscheiden,  welche  die  Grund- 
lage des  reinen  Kapitalzinses  ist.  Merkwürdigerweise  haben  wir  alle  uns 
gewöhnt  diese  Unterscheidung  arglos  nachzusprechen,  ohne  daß  es 
jemandem  aufgefallen  ist,  daß  sie  ein  unlösbares  Rätsel  enthält. 

Nutzung  soll  nach  der  einstimmigen  Versicherung  der  Beteiligten 
gleichbedeutend  sein  mit  Gebrauch,  im  objektiven  Sinne  dieses  Wortes 
genommen.  Soll  es  nun,  indem  es  eine  rohe  und  eine  reine  Nutzung  gibt, 
zwei  Nutzungen,  zwei  Gebräuche  desselben  Gutes  geben?  Und  zwar 
wohlverstanden,  nicht  zwei  sukzessive,  oder  zwei  alternative  Gebrauchs- 
weisen; sondern  zwei  gleichzeitige  kumulative  Gebräuche,  die  in  der 
elementarsten  Gebrauchshandlung  neben  oder  ineinander  empfangen 
werden  ? 

Daß  ein  Gut  nacheinander  zwei  Gebräuche  abgibt,  wäre  einzusehen; 
daß  ein  Gut  alternativ  zwei  Gebrauchsweisen  zuläßt,  Holz  zum  Baue  oder 


^)  Ich  muß  ausdrücklich  bemerken,  daß  ich  in  meiner  Polemik  über  den  Nutzungs- 
begriff nicht  allein  gegen  die  eigentlichen  Nutzungstheoretiker,  sondern  fast  gegen  die 
gesamte  nationalökonomische  Literatur  anzukämpfen  habe.  Die  von  mir  bekämpfte 
Auffassung  der  Kapitalnutzung  ist  seit  den  Tagen  des  Salmasius  die  allgemein  ver- 
breitete. Auch  Schriftsteller,  welche  den  Ursprung  des  Kapitalzinses  durch  ganz  andere 
Theorien,  z.  B.  durch  die  Produktivitätstheorie,  wie  Röscher,  durch  die  Abstinenz- 
theorie, wie  Senior,  durch  eine  Arbeitstheorie,  wie  Courcelle-Seneuil  oder  Wagner, 
erklären,  fassen  den  Darlehenszins  regelmäßig  als  ein  Entgelt  für  eine  überlassene  ICapital- 
nutzung  (use,  usage),  und  hie  und  da  sogar  den  ursprünglichen  Kapitalzins  als  eine 
Frucht  derselben  Kapitalnutzung  auf.  Der  Unterschied  zwischen  ihnen  und  den  eigent- 
lichen Nutzungstheoretikern  liegt  nur  darin,  daß  jene  sich  solcher  Wendungen  naiv, 
in  der  Ausübung  eines  populär  gewordenen  Sprachgebrauches,  und  ohne  sich  um  die 
weiteren  Prämissen  und  Konsequenzen  dieser  Auffassung  zu  kümmern  —  die  bisweilen 
mit  ihrer  sonstigen  Zinstheorie  sogar  in  Widerspruch  steht  —  bedienen,  während  die 
Nutzungstheoretiker  ihre  eigenartige  Theorie  gerade  auf  die  Konsequenzen  jener  Auf- 
fassung aufbauen.  Die  fast  universelle  Verbreitung  des  Irrtums,  gegen  den  ich  anzu- 
kämpfen suche,  mag  ein  weiterer  Rechtfertigungsgrund  für  die  Weitläufigkeit  sein, 
mit  der  ich  es  tue. 


Unhaitbarkeit  der  Konsequenzen.  223 

zum  Verbrennen,  ist  gleichfalls  einzusehen;  sogar,  daß  ein  Gut  gleichzeitig 
nebeneinander  zwei  Gebrauchsweisen  zuläßt,  die  dann  aber  auch  ver- 
schiedenen, doppelten  Nutzen  stiften,  ist  zu  begreifen ;  z.  B.  daß  eine  schöne 
Gitterbrücke  zugleich  als  Verkehrsmittel  und  als  Objekt  ästhetischen 
Genusses  dient.  Daß  ich  aber  dann,  wenn  ich  ein  Haus  oder  eine  Wohnung 
miete  und  durch  Bewohnung  benütze,  durch  eine  und  dieselbe  Serie  von 
Gebrauchshandlungen  zwei  verschiedene  Gebräuche  soll  ausgeübt  und 
empfangen  haben,  einen  weiteren,  für  den  ich  den  ganzen  Mietzins  und 
einen  engeren,  für  den  ich  den  im  Mietzins  steckenden  Reinzins  bezahle; 
daß  ich  mit  jedem  Federzuge,  den  ich  über  das  Papier  führe,  daß  ich  mit 
jedem  Bücke,  den  ich  auf  ein  Gemälde  werfe,  daß  ich  mit  jedem  Schnitte, 
den  mein  Messer  führt,  kurz,  daß  ich  mit  jedem  einfachsten  Nutzen,  den 
ich  von  einem  Gute  erlange,  allemal  zwei  Gebräuche  in  oder  nebeneinander 
soll  empfangen  haben:  das  widerstreitet  der  Natur  der  Dinge  und  jeder 
gesunden  Vorstellung.  Wenn  ich  ein  Gemälde  ansehe  oder  ein  Haus  be- 
wohne, so  mache  ich  davon  einen  Gebrauch,  und  wenn  ich  dabei  doch 
zwei  Dinge  Gebrauch  oder  Nutzung  nenne,  so  muß  eines  derselben  diesen 
Namen  mit  Unrecht  tragen. 

Welches  ? 

Darüber  kursiert  nun  wieder  eine  höchst  seltsame  Ansicht.  Die  be- 
treffenden Theoretiker  scheinen  nämlich  das  Ungehörige  zweier  Nutzungen 
neben  einander  in  der  Tat  ein  wenig  empfunden  zu  haben.  Denn  obschon 
sie  in  der  Regel  für  beide  Dinge  den  Namen  Nutzung  im  Munde  führen, 
nehmen  sie  bisweilen  einen  Anlauf,  um  eine  derselben  verschwinden  zu 
machen;  und  zwar  wird  die  rohe  Nutzung  eliminiert,  indem  sie  in  reine 
Nutzung  +  partielle  Wiedererstattung  des  Kapitales  aufgelöst 
wird.  So  Röscher,  den  wir  wohl  als  Vertreter  der  landläufigen  Meinung 
zitieren  dürfen^):  ,,Man  darf  die  Nutzung  eines  Kapitales  nicht  mit  dessen 
partieller  Wiedererstattung  verwechseln.  So  muß  z.  B.  in  der  Hausmiete 
außer  der  Zahlung  für  den  Gebrauch  des  Hauses  noch  eine  hin- 
reichende Summe  zur  Ausbesserung,  ja  sogar  zur  allmählichen  Sammlung 
eines  Neubaukapitales  enthalten  sein."  Also  das,  wofür  ich  den  reinen 
Zins  zahle,  das  soll  in  Wahrheit  ein  Gebrauch  sein,  und  wofür  ich  den 
rohen  Zins  zahle,  das  soll  man  nur  durch  eine  irrtümliche  Ungenauigkeit 
Gebrauch  nennen. 

Ich  glaube,  man  könnte  die  Vertreter  dieser  wunderlichen  Ansicht 
durch  nichts  in  größere  Verlegenheit  setzen,  als  durch  die  Aufforderung, 
eine  Definition  von  dem  zu  geben,  was  sie  unter  Gebrauch  verstehen. 
Was  kann  denn  der  Gebrauch  anderes  sein,  als  der  Empfang,  oder  wenn 
man  dem  Gebrauche  eine  objektive  Deutung  geben  will,  die  Darbietung 
der  nützlichen  Leistungen,  deren  ein  Gut  fähig  ist?    Oder,  wenn  man 


')  Grundlagen,  10.  Aufl.  S.  401  f. 


224'  VIII.  Die  Nutzungstheorien.    2.  Unterabschnitt.    Kritik. 

gegen  meinen  Ausdruck  „nützliche  Leistungen"  etwas  hat,  mag  man  mit 
Say  „nützliche  Dienste",  oder  mit  Schäffle  „Auslösung  des  Nutzens 
aus  den  Sachgütern"  oder  „Empfang  nützlicher  Wirkungen"  oder  sonst 
wie  immer  sagen.  Man  mag  aber  den  Gebrauch  definieren  wie  man  will, 
Eines  scheint  mir  unwiderleglich  zu  sein:  wenn  man  jemandem  ein  Haus 
zur  temporären  Bewohnung  überläßt  und  er  bewohnt  es,  so  hat  man  ihm 
den  Gebrauch  des  Hauses  überlassen,  und  er  hat  auch  den  Gebrauch  des 
Hauses  ausgeübt;  und  wenn  er  etwas  dafür  bezahlt,  so  hat  er  kein  Atom 
des  Mietzinses  für  etwas  anderes  bezahlt,  als  dafür,  daß  er  sich  der  nützlichen 
Eigenschaften  und  Kräfte  des  Hauses  bedienen  durfte,  mit  anderen  Worten 
für  den  ihm  überlassenen  Gebrauch. 

Ja,  vielleicht  doch!  Hat  er  denn  nicht  auch  einen  Bruchteil  des 
Wertes  des  Hauses  selbst  konsumiert,  und  hat  man  ihm  also  nich£ 
neben  dem  Gebrauche  des  Hauses  einen  Teil  des  Hauswertes  selbst  über- 
lassen? —  Wer  das  meinen  Ayürde,  der  würde  auf  eine  sehr  seltsame  Weise 
zwei  Seiten  eines  Ereignisses  für  zwei  Ereignisse  halten.  Die  Sache^ 
liegt  einfach  so,  daß  der  Mietsmann  nur  den  Gebrauch  des  Hauses  erhalten, 
aber  durch  die  Ausübung  desselben  den  Wert  des  Gutes  vermindert  hat; 
er  hat  aus  einem  Vorrate  von  „Spannkräften"  einige  zur  Auslösung  er- 
halten, hat  nichts  getan,  als  „ausgelöst",  als  gebraucht,  aber  natürlich 
ist  dadurch  der  Wert  des  Restes  der  Spannkräfte  vermindert  worden. 
Das  so  auszulegen,  als  ob  der  Mietsmann  zwei  Dinge  nebeneinander, 
Gebrauch  und  teilweisen  Kapitalwert,  erhalten  hätte,  kommt  mir  eben 
80  vor,  als  wenn  man  im  Zukaufe  eines  passenden  vierten  Pferdes  zu  drei 
vorhandenen  eine  Erwerbung  von  zwei  separaten  Dingen  erblicken  wollte; 
erstens  eines  Pferdes,  und  zweitens  der  Kompletierung  des  Viergespanns, 
und  wenn  man  dann  behaupten  wollte,  von  den  500  fl.,  die  der  Käufer 
gezahlt  hat,  sei  nur  ein  Teil,  z.  B.  250  fl.,  der  Preis  des  Pferdes,  die  übrigen 
250  fl.  seien  der  Preis  für  die  Kompletierung  des  Viergespanns!  Oder  als 
wenn  man  von  einem  Dachdecker,  der  auf  dem  Kirchturme  das  Turm- 
kreuz aufrichtet  und  dadurch  den  Turmbau  vollendet,  sagen  wollte,  er 
habe  zwei  Akte  vorgenommen:,  erstens  das  Turmkreuz  aufgerichtet,  und 
zweitens  den  Turmbau  vollendet,  und  wenn  er  im  ganzen  hiebei  eine 
Stunde  tätig  war,  so  habe  er  zum  Aufrichten  des  Turmkreuzes  höchstens 
drei  Viertelstunden  brauchen  können,  denn  ein  Teil  des  gesamten  Zeit- 
aufwandes, eine  Viertelstunde  etwa,  müsse  doch  auf  den  zweiten  Akt,  die 
Vollendung  des  Turmbaues,  entfallen! 

Wer  aber  trotzdem  nicht  die  Bruttonutzung,  sondern  ein  schwer 
definierbares  anderes  Etwas  als  Gebrauch  anerkennen  will,  der  sage  doch, 
worin  der  Gebrauch  einer  Speise  besteht.  Im  Essen?  —  Das  kann  nicht 
sein,  denn  das  ist  eine  den  ganzen  Kapitalwert  verschlingende  Brutto- 
nutzung, die  ja  mit  dem  wahren  „Gebrauch"  nicht  verwechselt  werden 
darf.    Worin  aber  sonst  ?   In  einem  aliquoten  Teile  des  Essens  ?    Oder  in 


Unhaltbarkeit  der  Konsequenzen.  225 

etwas  ganz  anderem?  —  Die  Pflicht,  hier  eine  Antwort  zu  geben,  trifft 
zum  Glück  nicht  mich,  sondern  die  Nutzungstheoretiker. 

Wenn  daher  den  Worten  Gebrauch  und  Nutzung  nicht  ein  Sinn 
gegeben  werden  soll,  der  der  Sprache  und  dem  Leben,  den  Vorstellungen 
der  Praxis  und  der  Wissenschaft  gleich  sehr  entgegen  ist,  so  kann  man  der 
rohen  Nutzung  die  Eigenschaft  einer  wahren  Nutzung  nicht  absprechen. 
Kann  es  aber  nicht  zwei  Nutzungen  geben,  und  ist  die  rohe  Nutzung  jeden- 
falls als  eine  berechtigte  Trägerin  des  Nutzungsbegriffes  anzuerkennen, 
dann  ergibt  sich  von  selbst  der  Schluß  gegen  die  reine  Nutzung  der 
Nutzungstheoretiker. 

Aber  lassen  wir  all  das  beiseite  und  halten  wir  uns  nur  an  das  Folgende. 
Mag  die  rohe  Nutzung  eine  ^chte  Nutzung  sein  oder  nicht,  etwas  ist  sie 
doch  unzweifelhaft.  Und  etwas,  wollen  die  Nutzungstheoretiker,  soll  die 
reine  Nutzung  gleichfalls  sein.  Diese  beiden  Größen  müssen  nun,  wenn 
sie  beide  wirklich  existieren,  jedenfalls  in  irgend  einem  Verhältnis  zu  ein- 
ander stehen.  Entweder  muß  die  reine  Nutzung  ein  Teil  der  rohen  sein, 
oder  sie  ist  kein  Teil  von  ihr:  ein  drittes  gibt  es  nicht.  Sehen  wir  nun  zu. 
Wenn  wir  auf  die  ausdauernden  Güter  blicken,  dann  gewinnt  es  den 
Anschein,  als  ob  die  reine  Nutzung  ein  Teil  der  rohen  wäre;  denn  da  das 
Entgelt  der  ersten,  der  Reinzins,  im  Entgelt  der  zweiten,  dem  Rohzinse 
inbegriffen  ist,  so  muß  wohl  auch  das  erste  Kaufobjekt  im  zweiten  inbe- 
griffen, ein  Teil  des  letzteren  sein ;  wie  dies  ja  auch  die  Nutzungstheoretiker 
selbst  behaupten,  indem  sie  die  rohe  Nutzung  in  eine  Summe,  reine 
Nutzung  +  partielle  Wiedererstattung  des  Kapitales,  zerlegen.  Sehen 
wir  aber  jetzt  auch  die  verbrauchlichen  Güter,  Den  Reinzins  zahle  ich 
hier  nicht  für  den  Verbrauch:  denn  wenn  ich  für  ein  verbrauchliches 
fremdes  Gut  momentan  das  vertretbare  Äquivalent  zurückstelle,  so  brauche 
ich  gar  keinen  Zins  zu  zahlen.  Ich  zahle  ihn  vielmehr  nur  für  die  Ver- 
zögerung in  der  Rückstellung  des  Äquivalentes,  also  für  etwas,  das  im 
Verbrauche,  dieser  intensivsten  Bruttonutzung,  nicht  inbegriffen  ist, 
sondern  ganz  außerhalb  derselben  steht.  Folglich  ist  die  reine  Nutzung 
zugleich  Teil  und  Nichtteil  der  rohen  Nutzung?  Wie  können  die  Nut- 
zungstheoretiker diesen  Widerspruch  erklären? 

Ich  könnte  die  Reihe  von  Rätseln  und  Widersprüchen,  in  die  die  An- 
nahme der  selbständigen  reinen  Nutzung  führt,  noch  lange  fortsetzen. 
Ich  könnte  die  Nutzungstheoretiker  fragen,  was  ich  mir  z.  B.  unter  der 
zehnjährigen  Nutzung  oder  dem  zehnjährigen  Gebrauche  einer  Flasche 
Wein  vorstellen  soll,  die  ich  am  ersten  Tage  des  ersten  Jahres  ausgetrunken 
habe?  Existieren  muß  sie  ja  doch,  da  ich  sie  durch  ein  auf  zehn  Jahre 
abgeschlossenes  Darlehen  kaufen  und  verkaufen  kanni  Ich  könnte  darauf 
hinweisen,  wie  seltsam,  ja  ans  Komische  streifend  die  Annahme  ist,  daß 
in  dem  Augenblicke,  als  ein  Gut  durch  seinen  gänzlichen  erschöpfenden 
Verbrauch  faktisch  zu  nützen  aufhört,  es  eine  perpetuierliche  Nutzung 

Böhm-Bawerk,  Kapitalzins.    4.  Aufl.  lo 


226  VIII.  Die  Nutzungstheorien.    2.  Unterabschnitt.    Kritik. 

abzugeben  erst  recht  anfangen  soll;  und  daß  der  Schuldner,  der  eine 
geliehene  Flasche  Wein  nach  einem  Jahre  zurückzahlt,  weniger  verzehrt 
haben  soll  als  jener,  der  die  Flasche  Wein  erst  nach  zehn  Jahren  zurück- 
zahlt, indem  der  erste  die  Flasche  Wein  und  ihre  einjährige  Nutzung, 
der  zweite  die  Flasche  Wein  und  ihre  zehnjährige  Nutzung  konsumiert 
hat,  während  es  doch  auf  der  Hand  liegt,  daß  beide  von  der  Flasche  Wein 
denselben  Nutzen  gezogen  haben,  und  daß  die  früher  oder  später  ein- 
tretende Pflicht  zur  Rückzahlung  einer  anderen  Flasche  Wein  mit  der 
kürzeren  oder  längeren  Fortdauer  objektiver  Nutzungen  der  ersten 
Flasche  absolut  nichts  zu  tun  hat  usw.  usw.  Doch  ich  glaube  schon  mehr 
als  genug  zur  Überzeugung  gesagt  zu  haben. 

Fassen  wir  zusammen. 

Ich  glaube  dreierlei  bewiesen  zu  haben. 

Ich  glaube  erstens  bewiesen  zu  haben,  daß  das  Wesen  der  Güter 
als  stofflicher  Träger  nutzbarer  Naturkräfte  die  Denkbarkeit  jeder  „Nut- 
zung" ausschließt,  die  nicht  in  der  Betätigung  ihrer  nutzbaren  Naturkräfte 
besteht,  die  also  nicht  mit  den  „Nutzleistungen"  der  Güter  identisch 
ist,  welche  letzteren  nicht  die  Grundlage  des  reinen,  sondern  die  des 
rohen  Zinses,  beziehungsweise  —  bei  verbrauchlichen  Dingen  —  des 
ganzen  Kapitalwertes  der  Güter  sind. 

Ich  glaube  zweitens  bewiesen  zu  haben,  daß  alle  Versuche  der 
Nutzungstheoretiker,  die  Existenz  oder  die  Denkbarkeit  einer  von  den 
Nutzleistungen  verschiedenen  „reinen  Nutzung"  zu  demonstrieren,  irr- 
tümlich oder  mißverständlich  sind; 

und  ich  glaube  drittens  bewiesen  zu  haben,  daß  die  Annahme  der 
von  den  Nutzungstheoretikern  postulierten  reinen  Nutzung  mit  Not- 
wendigkeit auf  absurde  und  widerspruchsvolle  Konsequenzen  hinführt. 

Ich  glaube  daher  mit  voller  Berechtigung  behaupten  zu  dürfen,  daß 
jene  reine  Nutzung,  auf  deren  Existenz  die  Nutzungstheoretiker  der  Say- 
HERMANNSchen  Richtung  ihre  Erklärung  des  Kapitalzinses  gründen,  in 
Wahrheit  nicht  existiert,  daß  sie  vielmehr  nur  das  Produkt  einer  irre- 
führenden Fiktion  ist. 

Auf  welchem  Wege  kam  aber  diese  merkwürdige  Fiktion  überhaupt 
in  unsere  Wissenschaft?  Und  wie  kam  man  dazu,  sie  mit  einer  Wirklich- 
keit zu  verwechseln?  —  Indem  ich  noch  auf  diese  historischen  Fragen 
kurz  eingehe,  hoffe  ich  die  letzten  Zweifel  zu  zerstreuen  und  insbesondere 
auch  das  Präjudiz,  das  man  aus  dem  einstigen  Siege  der  Theorie  des 
Salmasiüs  ziehen  möchte,  auf  seinen  wahren  Wert  zurückzuführen. 

Wir  haben  es  hier  mit  einem  jener  nicht  ganz  seltenen  Fälle  zu  tun, 
in  denen  eine  auf  juristischem  Gebiete  entstandene  und  ursprünghch  im 
vollen  Bewußtsein  des  Fiktiven  für  praktische  juristische  Zwecke  geübte 
Fiktion  auf  das  Gebiet  der  Volkswirtschaft  übertragen  wurde,  wobei  das 
Bewußtsein  der  Fiktion  unterwegs  verloren  ging.    Die  Jurisprudenz  hat 


Unhaltbarkeit  der  Konsequenzen.  227 

von  jeher  ein  starkes  Bedürfnis  nach  Fiktionen  gehabt.  Um  mit  verhältnis- 
mäßig wenigen  und  einfachen  Rechtsregeln  für  die  ganze  mannigfaltige 
Wirklichkeit  des  Rechtslebens  auszulangen,  sieht  sie  sich  oft  veranlaßt, 
Fälle,  die  mit  anderen  nicht  wesensgleich  sind,  aber  zweckmäßig  in  der 
Praxis  gleichartig  behandelt  werden  können,  durch  eine  Fiktion  den 
ersteren  völlig  gleichzustellen.  So  sind  die  formulae  fictitiae  des  römischen 
Zivilprozesses,  so  die  juristischen  Personen,  so  die  „res  incorporales"  und 
so  unzählige  andere  Fiktionen  der  Rechtswissenschaft  entstanden. 

Bisweilen  kam  es  nun  vor,  daß  eine  recht  eingealterte  Fiktion  schließ- 
lich zu  einem  ernsthaft  geglaubten  Lehrsatz  versteinerte:  hatte  man  sich 
durch  Jahrhunderte  daran  gewöhnt,  in  Theorie  und  Praxis  ein  Ding  so 
zu  behandeln,  als  ob  es  mit  einem  andern  wirklich  wesensgleich  wäre,  so 
konnte  man,  wenn  sonst  die  Umstände  günstig  waren,  endlich  ganz  ver- 
gessen, daß  man  das  alles  nur  fingiert  hatte.  So  ist  es,  wie  ich  an  einem 
anderen  Orte  nachgewiesen  habe,  mit  den  res  incorporales  des  römischen 
Rechtes,  und  so  ist  es  auch  mit  der  selbständigen  Nutzung  verbrauchlicher 
und  vertretbarer  Güter  gegangen.  Noch  läßt  sich  der  Weg,  auf  dem  die 
Versteinerung  der  Fiktion  in  einen  Lehrsatz  stattfand,  Schritt  für  Schritt 
verfolgen. 

Es  gibt  Güter,  an  deren  Individualität  nichts  liegt,  die  nur  nach  Art 
und  Menge  in  Betracht  kommen,  „quae  pondere  numero  mensura  con- 
sistunt".  Es  sind  dies  die  soojenannten  fungiblen  oder  vertretbaren  Sachen. 
Da  auf  ihre  Individualität  nichts  ankommt,  so  füllen  die  „vertretenden" 
Güter  die  Stelle  der  „vertretenen"  vollkommen  aus,  und  man  konnte  für 
gewisse  Zwecke  des  praktischen  Rechtslebens  sie  ohne  weiteres  als  identisch 
behandeln.  Insbesondere  lag  es  nahe,  dies  in  solchen  Rechtsgeschäften 
zu  tun,  in  denen  es  sich  um  ein  Hingeben  und  Rückempfangen  vertretbarer 
Güter  handelt.  Hier  lag  es  nahe,  die  Rückstellung  einer  gleichen  Menge 
vertretbarer  Güter  als  eine  Rückstellung  eben  derselben  Güter  auf- 
zufassen; mit  anderen  Worten,  die  Identität  der  rückgestellten  mit  den 
hingegebenen  vertretbaren  Gütern  zu  fingieren. 

So  viel  mir  bekannt  ist,  haben  die  alten  römischen  Rechtsquellen 
diese  Fiktion  noch  nicht  formell  aufgestellt:  sie  sprechen  ganz  korrekt 
davon,  daß  im  Darlehen  „tantundem"  oder  „idern  genus"  —  nicht 
schlechthin  „idem"  —  zurückgestellt  wird;  wohl  aber  findet  sie  sich 
bereits  der  Sache  nach.  Wenn  z.  B.  das  sogenannte  „depositum  irreguläre", 
bei  welchem  der  Depositar  die  ihm  zur  Verwahrung  übergebene  Geld- 
summe für  sich  verwenden  und  die  Rückerstattung  in  anderen  Geld- 
stücken leisten  durfte,  als  depositum  behandelt  wurde ^),  so  läßt  sich 
diese  Konstruktion  nur  so  erklären,  daß  man  die  Fiktion  der  Identität 
der  zurückgestellten  Geldstücke  mit  den  zur  Verwahrung  übergebenen 


»)  Siehe  1.  31  Dig.  loc.  19.  2,  und  1.  25  §  1  Dig.  dep.  16.  3. 

15* 


228  VIII.  Die  Nutzungstiieorien.    2.  Unterabschnitt.    Kritik. 

ZU  Hilfe  nahm.  Die  moderne  Jurisprudenz  ist  hie  und  da  weiter  gegangen 
und  hat  geradezu  von  einer  „rechtlichen  Identität"  vertretbarer  Güter 
gesprochen  1). 

Von  dieser  ersten  Fiktion  war  nur  ein  Schritt  zu  einer  zweiten.  Sah 
man  nämlich  die  Sache  einmal  so  an,  als  ob  im  Darlehen  und  verwandten 
Geschäften  dieselben  Güter,  die  der  Schuldner  empfangen  hat,  wieder 
zurückgegeben  werden,  so  mußte  man  konsequent  auch  zur  weiteren 
Vorstellung  gelangen,  daß  der  Schuldner  die  empfangenen  Güter  inzwischen 
während  der  ganzen  Darlehensfrist  behalten,  ununterbrochen 
besessen  und  ununterbrochen  benützt  habe;  daß  er  also  an  ihnen 
einen  dauernden  Gebrauch  ausübe  und  den  allfälligen  Zins  für  eben  diesen 
dauernden  Gebrauch  bezahle. 

Die  Juristen  machten  diesen  zweiten  fiktiven  Schritt  in  der  Tat. 
Sie  wußten  dabei  anfangs  ganz  gut,  daß  es  sich  nur  um  eine  Fiktion 
handle.  Sie  wußten  ganz  gut;  daß  die  rückgegebenen  Güter  mit  den 
empfangenen  Gütern  nicht  identisch  sind;  daß  der  Schuldner  die  letzteren 
nicht  während  der  ganzen  Darlehensfrist  behält  und  besitzt,  da  er  sich 
im  Gegenteil,  um  den  Zweck  des  Darlehens  zu  erreichen,  ihrer  in  der  Regel 
sehr  bald  gänzlich  entäußern  muß;  sie  wußten  endlich  ganz  gut,  daß  aus 
demselben  Grunde  der  Schuldner  auch  keinen  fortdauernden  Gebrauch 
an  den  Darlehensgütern  ausübt:  aber  für  die  praktischen  Zwecke  und 
Bedürfnisse  beider  Parteien  ist  es  gerade  so  gut,  als  ob  alles  wirklich  so 
wäre,  wie  es  nur  fingiert  wird,  und  darum  darf  der  Jurist  es  fingieren. 
Die  Juristen  geben  für  den  Bereich  ihrer  Wissenschaft  dieser  Fiktion 
Ausdruck,  indem  sie  den  schon  in  der  Volkssprache  auf  Grund  der  näm- 
lichen Fiktion  eingebürgerten  Ausdruck  „usura",  Gebrauchsgeld,  für  den 
Darlehenszins  ratifizieren,  indem  sie  lehren,  daß  der  Zins  für  den  Gebrauch 
der  Darlehenssumme  entrichtet  wird,  und  indem  sie  auch  an  verbrauch- 
lichen Gütern  einen  Ususfructus  konstruieren:  freilich  nur  einen  Quasi- 
Ususfructus,  weil  sie  eben  ganz  gut  wissen,  daß  sie  nur  mit  einer  Fiktion 
operieren;  sie  haben  das  einmal  sogar  ausdrücklich  hervorgehoben,  indem 
sie  einen  Akt  der  Gesetzgebung  korrigierten,  der  der  Fiktion  einen  allzu 
realistischen  Ausdruck  gegeben  hatte  ^). 


^)  Goldschmidt,  Handbuch  des  Handelsrechtes,, 2.  Aufl.  (Stuttgart  1883),  II.  Bd. 
1.  Lieferung,  S.  26  in  der  Note. 

*)  Ulpian  zitiert  bekanntlich  in  1.  de  usufructu  earum  rerum  quae  usu  consumuntur 
vel  minuuntur  Dig.  7,  5  ein  Senatuskonsult,  das  die  Legierung  des  ususfructus  an 
verbrauchlichen  Gütern  eingeführt  hat.  Hiezu  bemerkt  Gaius:  „Quo  senatus  consulto 
non  id  effectum  est,  ut  pecuniae  usufructus  proprie  esset;  nee  enim  naturalis  ratio 
auctoritate  Senatus  commutari  potuit:  sed,  remedio  introducto,  coepit  quasi 
ususfructus  haberi."  Ich  glaube  nicht,  wie  Knies  (Geld  S.  75)  meint,  daß  Gaius  sich 
nur  an  dem  formellen  Mangel  gestoßen  hat,  daß  ein  regulärer  ususfructus  nur  an  einer 
fremden  Sache  möglich  sei,  während  der  Legatar  die  legierten  verbrauchhchen  Güter 


Entstehung  der  Fiktion.  229 

Nachdem  man  endlich  durch  viele  Jahrhunderte  gelehrt  hatte,  daß 
die  „usura"  ein  Gebrauchsgeld  sei,  und  nachdem  sich  inzwischen  auch  der 
beste  Teil  des  lebendigen  Geistes  der  klassischen  Jurisprudenz  verflüchtigt 
hatte,  und  dafür  eine  um  so  größere  Ehrfurcht  vor  den  überlieferten 
Formeln  an  die  Stelle  getreten  war,  da  ereignete'  es  sich,  daß  die  Kanonisten 
die  Berechtigung  des  Darlehenszinses  scharf  angriffen.  Eine  ihrer  schärfsten 
Waffen  war  eben  die  Aufdeckung  der  Fiktion,  die  man  mit  dem  usus 
verbrauchlicher  Sachen  trieb.  Ihre  sonstige  Argumentation  schien  so 
zwingend,  daß  der  Darlehenszins  nicht  zu  retten  schien,  wenn  man  ihnen 
die  Prämisse  einräumte,  daß  ein  selbständiger  Gebrauch  verbrauchlicher 
Sachen  nicht  existiere.  So  erlangte  jene  Fiktion  auf  einmal  eine  Bedeutung, 
die  sie  nie  vorher  gehabt  hatte.  An  die  leibhaftige  Existenz  jenes  usus 
glauben,  wurde  gleichbedeutend  mit  der  Billigung  des  Kapitalzinses;  an 
sie  nicht  glauben,  schien  zur  Verdammung  desselben  zu  zwingen.  In  diesem 
Dilemma  gab  man,  um  den  Zins  zu  retten,  lieber  der  juristischen  Formel 
mehr  Ehre  als  sie  verdiente,  und  Salmasius  und  seine  Genossen  mühten 
sich  um  Gründe  ab,  die  ihnen  gestatten  sollten,  die  Formel  für  die  Wirk- 
lichkeit* zu  halten.  Die  Gründe,  die  sie  fanden,  waren  gerade  gut  genug, 
um  Leute  zu  überzeugen,  die  gerne  überzeugt  sein  wollten,  weil  sie  durch 
die  sonstige,  wirklich  ausgezeichnete  Beweisführung  bereits  dafür  gewonnen 
waren,  daß  Salmasils  im  ganzen  das  B^cht  auf  seiner  Seite  hatte; 
während  man  den  Gegnern,  die  in  der  Hauptsache  offenbar  Unrecht  hatten, 
auch  in  dem  mißtraute,  worin  sie  ausnahmsweise  Recht  hatten.  So  wurde 
—  nicht  zum  ersten  und  gewiß  auch  nicht  zum  letzten  Male  —  unter  dem 
Hochdrucke  praktischer  Exigenzen  eine  schiefe  Theorie  geboren  und  die 
alte  Fiktion  der  Juristen  als  Wirklichkeit  proklamiert. 

Dabei  ist  es  denn  seither  auch  gebheben.  Wenigstens  in  der  National- 
ökonomie. Während  die  neuere  Jurisprudenz  sich  von  der  Salmasianischen 
Lehre  überwiegend  wieder  zurückzog,  behielt  die  moderne  National- 
ökonomie das  alte  Inventarstück  des  juristischen  Formelwesens  gerne  bei. 
Denn  dieses  Heß  sich  ebensogut,  als  es  im  17.  Jahrhundert  zur  Stütze  der 
praktischen  Rechtfertigung  des  Zinses  gedient  hatte,  im  19.  Jahrhur dert 
als  Handhabe  zu  seiner  theoretischen  Erklärung  verwenden,  mit  der  man 
sonst  in  Verlegenheit  gekommen  wäre.  Man  hatte  nun  den  rätselhaften 
„Mehrwert"  zu  erklären.  Er  scheint  in  der  Luft  zu  hängen.  Man  sucht 
einen  Träger  für  ihn.  Und  da  bietet  sich  auf  das  willkommenste  wieder  die 
alte  Fiktion  der  Juristen  dar.  Den  gesteigerten  theoretischen  Anforde- 
rungen entsprechend  wird  sie  mit  allerlei  neuen  Zutaten  ausgeschmückt, 
und  so  wird  sie  endlich  würdig,  unter  dem  Namen  der  „Nutzung"  den 


im  Eigentum  als  res  suae  besitzt.  Der  Appell  an  die  naturalis  ratio  hat  schwerlich 
der  Rehabilitierung  einer  verletzten  formalen  Definition  des  ususfructus,  sondern  un- 
endlich wahrscheinlicher  der  ärger  verletzten  Naturwahrheit  gegolten. 


230  VIII.  Die  Nutzungstheorien.    2.  Unterabschnitt.    Kritik. 

Gipfelpunkt  der  Ehre  zu  besteigen:  sie  wird  zum  Grundstein  einer  ebenso 
eigenartigen  als  umfassenden  Theorie  des  Kapitalzinses. 

Vielleicht  ist  es  diesen  Blättern  beschieden,  den  Bann  lösen  zu  helfen, 
in  den  eine  vielhundertjährige  Gewohnheit  unsere  Auffassung  geschlagen 
hat.  Vielleicht  wird  man  die  „reine  Nutzung"  des  Kapitales  endlich  wieder 
in  jenes  Reich  zurückverweisen,  aus  dem  sie  besser  nie  hätte  heraustreten 
sollen:  in  das  Reich  der  Fiktion,  der  Metapher,  die,  wie  Basti at  einmal 
nur  allzuwahr  bemerkt,  die  Wissenschaft  so  oft  schon  vom  rechten  Wege 
abgelenkt  hat.  Man  wird  dabei  freilich  manche  tief  gewurzelte  Anschauung 
aufgeben  müssen:  nicht  allein  die  Nutzungstheorie  im  engeren  und  eigent- 
lichen Sinne  des  Wortes,  die  die  Nutzung  zum  Grundpfeiler  der  Erklärung 
des  Kapitalzinses  macht,  sondern  auch  eine  Reihe  anderer  Anschauungen, 
die  auch  außerhalb  der  Reihen  der  Nutzungstheoretiker  allgemein  ver- 
breitet sind  und  jenen  Begriff  nebenher  benützen;  unter  anderem  wird 
man  der  so  behebten  Konstruktion  des  Darlehens  als  einer  Übertragung 
von  Nutzungen,  als  eines  Analogons  von  Pacht  und  Miete,  entsagen  müssen. 

Was  aber  an  die  Stelle  setzen? 

Darauf  zu  antworten,  ist  streng  genommen  nicht  mehr  Sathe  der 
Kjritik.  die  uns  hier  beschäftigt,  sondern  Sache  der  positiven  Darstellung, 
die  ich  dem  IL  Bande  dieser  Arbeit  vorbehalten  habe.  Da  man  indes  mit 
Recht  von  mir  erwarten  kann,  daß  ich,  wenn  ich  die  alte  Lehre  der  Kano- 
nisten  in  einem  Hauptpunkte  in  Schutz  nehme,  schon  jetzt  wenigstens 
einen  Ausweg  zeige,  auf  dem  man  den  offenbar  falschen  Resultaten  der 
Kanonisten  entrinnen  kann,  will  ich  meine  Ansicht  über  das  Wesen  des 
Darlehens  schon  hier  flüchtig  andeuten;  natürlich  mit  dem  Vorbehalte, 
im  nächsten  Bande  dieses  Werkes  in  genauerer  Ausführung  darauf  zurück- 
zukommen, und  mit  der  Bitte,  daß  die  Leser  ihr  endgiltiges  Urteil  über 
meine  Darlehenstheorie  bis  zu  jenem  Zeitpunkte  aufschieben  mögen,  in 
welchem  ich  sie  ausführlicher  und  im  einheitlichen  Zusammenhange  mit 
der  gesamten  Kapitalzinstheorie  werde  dargelegt  haben. 

Ich  knüpfe  am  besten  an  den  alten  Kanonistenstreit  selbst  an. 

Nach  meiner  Ansicht  haben  im  Resultate  die  Kanonisten  allein,  in 
der  Motivierung  der  Resultate  beide  Teile  Unrecht  gehabt ;  und  zwar  sind 
die  Kanonisten  dadurch  im  Unrecht  geblieben,  daß  sie  in  ihren  Beweisen 
nur  einen  Fehler  gemacht  haben,  während  Salmasius  ihrer  zwei  machte, 
von  denen  der  zweite  den  Schaden  des  ersten  wieder  ausglich,  so  daß  nach 
einem  sehr  tumultuarischen  Oberlauf  seine  Beweisführung  am  Ende  doch 
in  die  Wahrheit  ausmündet.     Und  das  folgendermaßen: 

Beide  Teile  sehen  es  übereinstimmend  für  ein  Axiom  an,  daß  die  nach 
Ablauf  des  Darlehensvertrages  zurückgestellte  Kapitalsumme  das  Äqui- 
valent, und  zwar  das  genaue  und  volle  Äquivalent  der  hingegebenen 
Kapitalsumme  sei.  Diese  Annahme  ist  so  falsch,  daß  man  sich  in  der  Tat 
wundern  muß,  daß  sie  nicht  längst  schon  als  ein  Aberglaube  aufgedeckt 


Entstehung  der  Fiktion.  231 

wurde.  Jeder  Nationalökonom  weiß,  daß  der  Wert  der  Güter  nicht  einfach 
von  ihrer  physischen  Qualität,  sondern  in  hohem  Grade  auch  von  den 
Umständen  abhängt,  unter  denen  sie  zu  menschlicher  Bedürfnisbefriedigung 
zur  Verfügung  stehen.  Es  ist  bekannt,  daß  Güter  derselben  Art,  z.  B.  Korn, 
unter  wechselnden  Verhältnissen  einen  sehr  verschiedenen  Wert  behaupten. 
Zu  den  wichtigsten  Umständen,  die  außer  der  physischen  Beschaffenheit 
der  Güter  deren  Wert  beeinflussen,  gehört  unter  anderem  Ort  und  Zeit 
ihrer  Disponibilität.  So  verwunderlich  es  nun  wäre,  wenn  Güter  bestimmter 
Art  an  allen  Orten,  an  denen  sie  sich  befinden  mögen,  genau  denselben 
Wert  hätten,  so  verwunderlich  es  z.  B.  wäre,  wenn  10  Klafter  Holz  im 
Walde  genau  denselben  Wert  wie  10  Klafter  Holz  auf  der  Bahnstation 
und  diese  wieder  genau  denselben  Wert  wie  10  Klafter  Holz  an  der  Feuer- 
stelle hätten,  gerade  so  verwunderlich  wäre  es,  wenn  100  fl.,  die  mir  heute 
verfügbar  sind,  genau  äquivalent  sein  sollten  mit  100  fl.,  die  ich  ein  Jahr 
später,  die  ich  zwei  Jahre  später,  die  ich  zehn  oder  gar  hundert  Jahre 
später  erhalten  werde.  Es  ist  im  Gegenteil  klar,  daß,  wenn  eine  und  dieselbe 
Güterquantität  einem  wirtschaftenden  Subjekte  in  verschiedenen  Zeit- 
punkten zur  Verfügung  kommt,  sie  in  aller  Regel  auch  einen  verschiedenen 
Einfluß ,  auf  seine  Wirtschaftslage,  und  demgemäß  einen  verschiedenen 
Wert  erlangen  wird.  Eine  vollständige  Äquivalenz  zwischen  den  im  Dar- 
lehen gegebenen  präsenten  Gütern  und  den  in  einem  entlegenen  Zeitpunkt 
zurückerstatteten  Gütern  gleicher  Zahl  und  Art  wird  daher  unmöglich, 
wie  die  Kanonisten  und  Salmasius  es  tun,  als  selbstverständliche  Regel 
vorausgesetzt  werden,  sondern  im  Gegenteil  nur  eine  höchst  seltene  zu- 
fällige Ausnahme  bilden  können. 

Es  ist  sehr  durchsichtig,  aus  welcher  Quelle  beide  Parteien  die  ganz 
unwissenschaftliche  Meinung  von  der  Äquivalenz  der  gegebenen  und 
rückempfangenen  Kapitalsumme  geschöpft  haben :  es  ist  die  alte  juristische 
Fiktion  der  Identität  vertretbarer  Güter  von  gleicher  Art  und  Zahl.  Faßt 
man  das  Darlehen  kraft  dieser  Fiktion  so  auf,  als  ob  dieselben  100  fl.,  die 
der  Gläubiger  dem  Schuldner  vorstreckt,  nach  Ablauf  der  Darlehensfrist 
vom  Schuldner  dem  Gläubiger  wieder  zurückgegeben  werden,  dann  muß 
man  natürlich  auch  diese  Erstattung  als  die  vollkommen  äquivalente  und 
gerechte  ansehen.  Daß  die  Kanonisten  und  ihre  Gegner  diesem  ersten 
Teile  der  juristischen  Fiktion  in  die  Falle  gegangen  sind,  das  bildet  ihren 
gemeinsamen  Fehler,  den  einzigen  der  Kanonisten,  den  ersten  des  Sal- 
masius.   Das  weitere  liegt  dann  einfach  so: 

Die  Kanonisten  blieben  im  Unrecht,  weil  dieser  Fehler  ihr  einziger 
war.  Nachdem  sie  ihn  begangen  haben,  fangen  sie  nämlich  zur  Unzeit 
an  scharfsichtig  zu  sein  und  den  vermeintlichen  selbständigen  Gebrauch 
der  Darlehensgüter  als  eine  Fiktion  zu  enthüllen.  Damit  fiel  jedes  Substrat 
weg,  für  das  der  Zins  rechtlicher  Weise  hätte  gegeben  werden  können  und 
sie  mußten  ihn  —  falsch,  aber  konsequent  —  für  ein  Unrecht  erkläien. 


232  VIII.  Die  Nutzungstheorien.    2.  Unterabschnitt.    Kritik, 

Salmasius  aber  machte  den  ersten  Irrtum,  den  er  mit  der  Fiktion  der 
Identität  zwischen  Kapitalempfang  und  Kapitabückzahlung  begangen 
hatte,  durch  einen  zweiten  wieder  gut,  indem  er  auch  die  Fortsetzung 
jener  Fiktion  noch  für  bare  Münze  nimmt,  und  daran  glaubt,  daß  der 
Schuldner  während  der  ganzen  Darlehensfrist  den  „Grebrauch"  der  ge- 
liehenen Güter  besitzt. 

Die  Wahrheit  liegt  abseits  von  beiden  Konstruktionen.  Das  Dar- 
lehen ist  ein  wahrer  Tausch  gegenwärtiger  gegen  künftige 
Güter.  Da  aus  Gründen,  die  im  II.  Bande  ausführlich  zur  Darstellung 
gelangen  werden,  gegenwärtige  Güter  in  aller  Regel  einen  größeren  Wert 
besitzen  als  künftige  von  gleicher  Art  und  Zahl,  so  kann  eine  bestimmte 
Summe  gegenwärtiger  Güter  in  aller  Regel  auch  nur  durch  eine  größere 
Summe  künftiger  Güter  erkauft  werden.  Gegenwärtige  Güter  bedingen 
ein  Aufgeld,  ein  Agio  in  künftigen  Gütern.  Dieses  Agio  ist  der  Zins. 
Er  ist  nicht  ein  separates  Äquivalent  für  einen  undenkbaren  separaten 
dauernden  Gebrauch  der  Darlehensgüter,  sondern  ein  aus  praktischen 
Gründen  abgesondertes  Teiläquivalent  der  Darlehenssumme,  deren  volles 
Äquivalent  erst  die  „Kapitalerstattung"  nebst  dem  Zinse  bildet^).  — 

Meine  bisherigen  Auseinandersetzungen  haben  dem  Nachweis  ge- 
golten, daß  eine  selbständige  Güternutzung  in  jener  Gestalt,  in  welcher 
sie  von  der  SAY-HERMANNSchen  Richtung  der  Nutzungstheorie  und  nach 
ihrem  Beispiel  von  fast  allen  Nationalökonomen  der  Gegenwart  gedacht 
wird,  nicht  existiert.  Es  erübrigt  noch  der  Nachweis,  daß  der  Nutzung 
auch  in  jener  wesentlich  verschiedenen  Gestalt,  die  Menger  ihr  zu  geben 
versuchte,  eine  selbständige  Existenz  nicht  zukommen  kann. 

B.  Kritik  des  MENGERschen  Nutzungsbegriffes. 

Wählend  die  SAY-HERMANNsche  Richtung  die  „reine  Nutzung"  als 
ein  objektives  von  den  Gütern  sich  loslösendes  Nutzelement  sich  vorstellte, 
erklärt  sie  Menger  als  eine  Verfügung,  und  zwar  als  „Verfügung  über 
Quantitäten  ökonomischer  Güter  innerhalb  bestimmter  Zeiträume"  2). 
Insoferne  diese  Verfügung  für  wirtschaftende  Subjekte  ein  Mittel  zur 
besseren  und  vollständigeren  Befriedigung  ihrer  Bedürfnisse  ist,  gewinnt 
sie  nach  Mengers  Anschauung  den  Charakter  eines  selbständigen  Gutes, 
das  gewöhnlich  wegen  seiner  relativen  Seltenheit  zugleich  ein  wirtschaft- 
liches Gut  sein  wird^). 


^)  Die  Keime  dieser  Anschauungsweise,  die  ich  für  die  allein  richtige  halte,  finden 
sich  schon  bei  Galiani  und  Turgot  (siehe  oben  S.  42 f.  und  48),  später  bei  Bentham 
imd  John  Rae  (siehe  unten  Absch.  XI),  und  in  der  neueren  Zeit  bei  Knies,  der  freilich 
dieselbe  später  als  irrig  ausdrücklich  zurückgenommen  hat. 

*)  Grundsätze  S.  132ff. 

»)  S.  132. 


Der  Nutzungsbegriff  Mengers.  233 

Es  scheint  mir  nun  schon  an  sich  eine  sehr  gewagte  Konstruktion  zu 
sein,  die  Verfügung  über  ein  Gut,  also  ein  Verhältnis  zu  einem  Gute,  selbst 
für  ein  Gut  zu  erklären.  Ich  habe  an  einem  anderen  Orte^)  die  Gründe 
ausführlich  dargelegt,  die  mir  es  speziell  unstatthaft  erscheinen  lassen, 
Verhältnisse  als  waire  Güter  im  Sinne  der  Volkswirtschaftslehre  anzu- 
erkennen. 

Ich  möchte  dem  damals  Gesagten  hier  nur  wenige  Bemerkungen 
beifügen. 

Man  könnte  geneigt  sein,  gegen  meine  Auffassung  einzuwenden,  und 
ich  habe  in  der  Tat  dies  einwenden  gehört:  Verhältnisse  gewisser  Art,  wie 
z.  B.  Erwerbsgelegenheiten,  Kundschaften  u.  dgl.,  können  keine  bloßen 
„Phantome"  sein;  denn  man  sehe  aUe  Tage  ihre  Realität  daran,  daß  man 
sie  verkaufen  kann,  daß  ein  Preis  für  sie  gezahlt  wird.  Ich  glaube,  dieses 
Argument  nimmt  irrtümlich  den  Rang  einer  wirklichen  Wahrnehmung, 
die  allerdings  etwas  beweisen  könnte,  für  eine  bloße  Auslegung  in  Anspruch, 
die  für  unsere  Frage  nichts  beweisen  kann. 

Ich  wiU  zunächst  die  Natur  der  unterlaufenen  Irrung  an  einigen 
verwandten  Beispielen  zu  illustrieren  suchen,  in  denen  sie  leichter  zu 
erkennen  ist.  Eis  im  Polarmeer  ist  wertlos-,  Eis  in  New  York  ist  wertvoll: 
..Sehe"  ich  da  nicht,  daß  die  „Gegenwart"  oder  der  „Ort"  des  Eises  bezahlt 
wird?  Mit  Schlacke  vermischtes  Erz  ist  unbrauchbar;  reines  Metall  ist 
brauchbar.  „Sehe"  ich  nicht,  daß  eigentlich  die  „Reinheit"  des  Metalles 
den  Hochofenbesitzern,  die  sie  hervorbringen,  bezahlt  wird?  Wird  nicht 
ganz  ebenso  dem  Holzschnitzfr,  der  aus  einem  wertlosen  Stückchen  Holz 
eine  Statuette  anfertigt,  augenscheinlich  die  „Form",  und  dem  Färber, 
welcher  den  Kattun  indigoblau  färbt,  die  „Farbe"  des  Kattuns  bezahlt? 
Und  wenn  wir  für  „Ort",  „Reinheit",  „Form",  „Farbe"  einen  Preis  zahlen 
„sehen",  ist  damit  nicht  handgreiflich  bewiesen,  daß  alle  diese  Kategorien 
keine  bloßen  „Phantome",  sondern  echte,  reelle  Güter  und  selbständige 
Wirtschaftsobjekte  sein  müssen? 

Man  sieht  leicht,  wohin  diese  Schlußweise  führt,  und  daß  sie  zu  weit 
führt.  Es  ist  auch  nicht  schwer,  den  trügerischen  Punkt  in  dieser  Schluß- 
weise aufzudecken.  W^as  man  in  diesen  Beispielsfällen  wirklich  sieht,  ist 
nur,  daß  ein  reeller  Preis  für  irgend  ein  Etwas  bezahlt  wird;  daß  aber 
dieses  Etwas  die  abstrakten  Kategorien  von  Ort,  Form,  Farbe,  Reinheit 
usw.,  und  nicht  etwa  die  konkreten  Güter  Eis,  MetaU,  Statuette,  Kattun 
seien,  das  sieht  man  keineswegs,  sondern  das  deutet  man  subjektiv  in 
den  wahrgenommenen  Vorgang  hinein,  und  zwar  mittels  einer  mehr  oder 
weniger  bildlichen  Redewendung.  Und  ganz  ebenso  reicht  in  unserem 
Falle  der  Kundschaften  u.  dgl.  der  wirkliche  Augenschein  nicht  weiter, 
als  daß  ein  reeller  Preis  für  irgend  ein,  und  zwar  in  diesem  Falle  nicht  ganz 


^)  Siehe  meine  „Rechte  und  Verhältnisse"  pa^sim;  besonders  S.  124ff. 


234  VIII.  Die  Nutzungstheorien.    2.  Unterabschnitt.    Kritik. 

leicht  zu  bestimmendes  Etwas  bezahlt  wird.  Daß  aber  dieses  verkaufte 
Etwas  just  und  buchstäblich  ein  „Verhältnis",  und  nicht  z.  B.  nach  Analogie 
eines  Hoffnungskaufes  einfach  die  Summe  der  aus  der  Kundschaft  er- 
hofften Gütergewinne  sein  solle,  das  „sieht"  man  nicht,  sondern  so  deutet 
man  nur  den  wahrgenommenen  Vorgang  aus.  Ob  diese  Deutung  richtig 
und  zulässig  ist,  ob  sie  die  Naturwahrheit  für  sich  hat  oder  aber  gleichfalls 
nur  eine  bildliche  Redewendung  darstellt;  ist  aber  eben  die  Frage,  welche 
aus  allgemeineren  wissenschaftlichen  Erwägungen  zu  beantworten  ist  und 
die  man  nicht  löst,  sondern  abschneidet,  wenn  man  sich  auf  einen  ver- 
meintlichen Augenschein  beruft. 

Geht  man  aber  der  Sache  bis  zum  letzten  Grunde  nach,  so  trifft  man 
auf  eine  Frage  von  beinahe  metaphysischem  Charakter,  die  jedoch  trotz 
dieses  ihres  Charakters  glücklicherweise  eine  sehr  bestimmte  Entscheidung, 
wenigstens  nach  der  hier  in  Betracht  kommenden  Seite,  zuläßt.  Es  gibt 
Agentien,  welche  Erscheinungen  hervorrufen.  Über  die  wahre  Natur 
dieser  Agentien  wissen  wir  nichts.  Mit  unseren  Begriffen  und  unserer 
Sprache  suchen  wir  von  verschiedenen  Seiten  her  an  sie  heranzukommen. 
Wir  nennen  bald  die  Dinge  selbst  (Stoff,  Materie,  Körper,  Substanz), 
bald  ihre  Kräfte,  bald  ihre  Eigenschaften,  bald,  dem  ganz  nahe 
verwandt,  ihre  Verhält-nisse.  Ding,  Kraft,  Eigenschaft  bedeutet  gewiß 
keinen  reellen  Trialismus  im  Seienden,  sondern  nur  drei  verschiedene 
Anschauungsweisen  desselben  einen  Seienden.  Welche  dieser  Anschauungs- 
weisen die  richtige  ist  (und  selbst  ob  eine  von  ihnen  die  richtige  ist),  muß 
dahingestellt  bleiben.  Weder  die  Physik  noch  die  Metaphysik  weiß  eine 
sichere  Antwort.  Aber  eines  ist  doch  sicher  und  einleuchtend:  man  darf 
aus  der  Existenz  verschiedener  subjektiver  Anschauungs-  und  Ausdrucks- 
weisen nicht  einen  Beweis  für  die  objektive  Existenz  mehrerer  Gattungen 
von  Seiendem  ziehen  wollen.  Die  Unentschiedenheit  unserer  Auffassung 
darf  nicht  als  ein  Beweis  für  eine  reale  Pluralität  in  den  Gegenständen 
genommen  werden.  Man  darf  zweifeln,  ob  Stoffe,  oder  Kräfte,  oder 
Eigenschaften  und  Verhältnisse  das  wahre  Nützende  an  dem  sind,  was 
wir  Güter  nennen;  aber  aus  dieser  Ungewißheit  in  uns  eine  Gewißheit 
dafür  ableiten  wollen,  daß  es  Stoffe  und  Kräfte  und  Eigenschaften  und 
Verhältnisse  als  separate  Realitäten  gibt,  ist  ein  Vorgang,  dessen  Unzu- 
lässigkeit in  die  Augen  springt^). 

Würde  es  sich  nun  bloß  darum  handeln,  daß  wir  bei  der  Inventari- 
sierung unserer  Wohlfahrtsursachen  oder  Güter  uns  schwankender  Namen 
für  dieselbe  Sache  bedienen,  so  wäre  dies  ein  geringes,  leicht  zu  tolerierendes 
und  vielleicht  auch  gar  nicht  zu  vermeidendes  Übel.  Es  wäre  eine  In- 
konsequenz in  der  Terminologie,  aber  keine  materiell  wahrheitsschädliche 
Lehre.     Ich  glaube,  die  Wissenschaft  kommt  öfters  in  die  Lage,  solche 


^)  Vgl.  auch  schon  meine  „Rechte  und  Verhältnisse"  S.  34  Anmerkung  23. 


Der  Nutzungsbegriff  Mengers.  235 

kleine  termiDologische  Inkonsequenzen  dulden  und  selbst  begehen  zu 
müssen;  schon  deshalb,  weil  sie  nicht  eine  vom  Grund  aus  neue,  voll- 
kommen exakte  Sprache  für  sich  erfinden  kann  und  will  und  mit  dem  Ge- 
brauch der  volkstümhchen  Sprache  wohl  oder  übel  auch  allerlei  dieser 
im  Blute  liegende  Ungenauigkeiten  und  Inkonsequenzen  mit  in  den  Kauf 
nehmen  muß.  Solche,  ich  möchte  sagen,  terminologische  Schönheitsfehler 
muß  und  kann  die  Wissenschaft  nicht  immer  abstellen,  sondern  sie  tut 
ihnen  gegenüber  nötigenfalls  schon  ausreichend  ihre  Pflicht,  wenn  sie  nur 
gleichsam  ein  Warnungszeichen  aussteckt,  indem  sie  sich  die  Inkorrektheit 
als  solche  zum  Bewußtsein  bringt  und  sich  zugleich  sorgfältig  hütet,  an 
ihr  auch  im  Ernstfall  festzuhalten ;  das  ist  dort,  wo  nicht  bloß  die  bequeme, 
sprachliche  Benennung  des  Gegenstandes,  sondern  das  Ziehen  sachlicher 
Konsequenzen  aus  seiner  wahren  Natur  in  Frage  kommt.  In  diesem  Sinne 
habe  ich  seinerzeit  meine  Untersuchungen  über  die  angebhche  Gutsnatur 
der  Rechte  und  Verhältnisse  mit  dem  Zugeständnis,  abgeschlossen,  daß 
nicht  nur  die  Praxis,  sondern  auch  die  Theorie  ruhig  fortfahren  solle,  an 
dem  eingebürgerten,  wenn  auch  inkorrekten  Sprachgebrauch,  der  jene 
Kategorien  zu  Gütern  erhebt,  für  gewöhnlich  festzuhalten,  und  daß  sie 
sich  nur  die  exakte  Wahrheit  überhaupt  klar  machen  solle,  um  sie  allemal 
dann  aus  der  Rüstkammer  hervorzuziehen,  wann  und  wo  Schärfe  nottut  ^). 
Eigentlich  liegt  ja  eine  terminologische  Inkonsequenz  selbst  schon 
darin,  daß  man,  wie  auch  ich  es  tue,  die  beiden  Kategorien  von  Sach- 
gütern und  sachlichen  Nutzleistungen  nebeneinander  nennt  und  an- 
erkennt. Es  wäre  konsequenter  und  vielleicht  auch  richtiger,  statt  der 
Sachgüter  „Nutzleistungssummen"  in  das  Güterinventar  einzustellen; 
oder  umgekehrt,  falls  man  an  der  Kategorie  der  Sachgüter  festhalten  will, 
die  Nutzleistungen  ihnen  als  ,,Sachgüterteile"  gegenüberzustellen.  Allein 
beides  stößt  auf  Inkonvenienzen.  Einerseits  läßt  sich  unsere  Auffassung 
und  Sprache  die  Körper  selbst,  die  Sachgüter,  am  allerwenigsten  als 
Realitäten  rauben,  zumal  ja  auch  der  längst  und  fest  geprägte  terminus 
„Güter"  in  erster  Linie  auf  Dinge  oder  Substanzen  abzielt;  andererseits 
aber  entsprechen  die  Nutzleistungen,  welche  die  Sachgüter  abgeben, 
keineswegs  bestimmten  ausgeschiedeneu  Teilen  des  Gutskörpers;  sie  sind 
kleinere  wirtschaftliche  Einheiten  als  das  „Sachgut",  aber  sie  sind  nicht 
buchstäblich  Teile  des  Gutskörpers.  Unter  diesen  Umständen  erscheint 
es  als  die  kleinste  Inkonvenienz,  eine  schillernde  Terminologie  anzuwenden 
und  die  Benennung  des  Ganzen  einer  anderen  Vorstellungskategorie  zu 
entnehmen  als  die  seiner  Teüe,  dabei  aber  das  wahre,  sachliche  Verhältnis 
beider  Kategorien  zu  einander  durch  eine  ausdrückliche  Erläuterung  fest- 
zulegen; nämlich  festzustellen,  daß  Sachgüter  und  Nutzleistungen  nicht 
zwei  verschiedene,  nebeneinander  bestehende  und  wirkende  Arten  von 


1)  Rechte  und  Verhältnisse  S.  148f. 


236  VIII.  Die  Nutzungstheorien.    2.  Unterabschnitt.    Kritik. 

Wohlfahrtsursachen,  sondern  dieselben  Arten  von  Wohlfahrtsursachen 
darstellen,  die  nur  abwechselnd  in  verschiedener  Quantität,  bald  als 
Ganzes,  bald  als  Teil,  oder  wenn  man  lieber  will,  bald  als  Summe,  bald 
als  einzeln^  Einheit  ins  Auge  gefaßt  werden.  Wenn  man  unter  Beob- 
achtung dieser  Vorsicht  sowohl  Sachgüter  als  „Nutzleistungen"  „Güter" 
nennt,  so  begeht  man  eine  Inkonsequenz,  die  nicht  schlimmer  und  auch 
nicht  schädlicher  ist,  als  wenn  ein  Kaufmann  bei  Aufstellung  seiner  nach 
Kategorien  von  Aktivposten  geordneten  Vermögensbilanz  einen  Teil  der 
in  seinem  Besitz  befindlichen  Banknoten,  vielleicht  die  kleinen  Appoints, 
die  im  täglichen  Verkehr  als  Zirkulationsmittel  zu  dienen  pflegen,  in  die 
Rubrik  „Bargeld",  und  einen  anderen  Teil,  vielleicht  eine  10000  Pfund- 
Note,  die  er  besitzt,  in  die  Rubrik  „Forderungen"  einstellt.  Man  wird 
dem  Manne  allenfalls  einwenden  können,  daß  seine  Rubrizierung  von 
anfechtbarer  Konsequenz,  aber  gewiß  nicht,  daß  seine  Bilanz  deshalb 
falsch  ist. 

Ganz  anders  aber  natürlich,  wenn  unser  Kaufmann  durch  die  schillernde 
Zwitternatur  der  Banknote,  die  sich  aus  einem  gewissen  Gesichtspunkt 
als  „Bargeld",  und  aus  einem  anderen  als  „Forderung"  auffassen  läßt, 
sich  dazu  verleiten  ließe,  eine  und  dieselbe  Banknote  sowohl  als  Bargold, 
als  auch  als  Forderung,  also  zweimal  in  seine  Vermögensbilanz  einzustellen: 
das  wäre  keine  harmlose  terminologische  Inkonsequenz  mehr,  sondern 
eine  sachlich  falsche  Bilanz.  Gerade  um  eine  solche  sachliche  Bilanzfrage 
handelt  es  sich  aber,  wenn  für  die  Zwecke  einer  Nutzungstheorie  die 
Existenz  eines  selbständigen  Verhältnisgutes  „Verfügung"  behauptet  wird. 
Denn  die  Argumentation  geht  ja  hier  geradezu  dahin,  daß  im  Sachgut 
selbst  und  in  der  Verfügung  darüber  zwei  verschiedene  Güter  neben- 
einander aufgeopfert  werden  und  daher  auch  in  der  Kostenbilanz  der 
Produktion  nebeneinander  als  zwei  separate  Posten  aufgerechnet  werden 
müssen.  Hiemit  scheint  mir  allerdings  für  das  Verfügungsverhältnis  die 
Gutsnatur  in  jenem  denkbar  ernstesten  und  weittragendsten  Sinne  ange- 
sprochen zu  werden-,  gegen  welchen  sich  die  oben  vorgetragenen  prin- 
zipiellen Bedenken  am  entschiedensten  kehren. 

Um  so  schweren  inneren  Bedenken  das  Gleichgewicht  zu  halten, 
müßten  der  MENOERSchen  Hypothese  sehr  schwerwiegende  positive 
Anhaltspunkte  zur  Seite  stehen.  Ich  zweifle,  daß  dies  in  ausreichendem 
Maße  der  Fall  ist.  Von  einem  direkten  Beweise,  etwa  von  einer  sinnlichen 
Überführung  davon,  daß  die  Verfügung  wirklich  ein  Gut  ist,  kann  bei  dem 
eigentümlichen  Charakter  des  Beweisthemas  natürlich  von  vornherein 
nicht  die  Rede  sein.  Es  kann  sich  nur  daium  handeln,  ob  jene  Hypothese 
durch  ein  Zusammentreffen  ausreichend  zahlreicher  und  bezeichnender 
indirekter  Anhaltspunkte  beglaubigt  wird.   Und  das  muß  ich  bezweifeln. 

Es  scheint  mir  nämlich,  daß  es  eigentlich  bloß  einen  einzigen  indirekten 
Anhaltspunkt  für  jene  Hypothese  gibt;  und  dieser  ist  die  Existenz  des 


Der  Nufczungsbegriff  Mengers.  237 

sonst  unerklärten  Mehrwertes.  Ähnlich  wie  Astronomen  aus  gewissen 
sonst  unerklärlichen  Störungen  der  Bahnen  bekannter  Planeten  auf  die 
Existenz  störender  noch  unbekannter  planetarischer  Körper  geschlossen 
haben,  ebenso  postuliert  Menger  die  Existenz  eines  Trägers  des  sonst 
unerklärten  Mehrwertes.  Und  da  ihm  die  Verfügung  über  Güterquantitäten 
während  bestimmter  Zeiträume  in  einem  gesetzmäßigen  Zusammenhange 
mit  dem  Auftreten  und  der  Größe  des  Mehrwertes  zu  stehen  scheint,  steht 
er  nicht  an,  die  Hypothese  aufzustellen,  daß  diese  Verfügung  der  gesuchte 
Träger  und  als  solcher  ein  selbständiges  Gut  von  selbständiger  Wesenheit 
sei.  Würde  dem  ausgezeichneten  Denker  die  Möglichkeit  einer  anderen 
Erklärung  vor  Augen  gestanden  sein,  so  bin  ich  überzeugt,  daß  er  auf  die 
Aufstellung  jener  Hypothese  ohne  weiteres  verzichtet  hätte. 

Ist  nun  jener  einzige  indirekte  Anhaltspunkt  für  die  selbständige 
Gutsqualität  der  „Verfügung"  zwingender  Natur? 

Ich  habe  zwei  Gründe,  diese  Frage  zu  verneinen.  Ich  hoffe  einerseits 
im  nächsten  Bande  den  Nachweis  zu  erbringen,  daß  sich  die  Mehrwert- 
erscheinung auch  ohne  diese  Hypothese  in  vollkommen  befriedigender 
Weise  erklären  läßt  —  und  zwar  erklären  läßt  in  Bahnen,  welche  Menger 
selbst  durch  seine  klassische  Werttheorie  gewiesen  hat  — ;  und  ich  will 
andererseits  dem  Leser  sofort  einige  Betrachtungen  vorlegen,  die  meines 
Erachtens  einen  zwingenden  Gegenbeweis  gegen  die  selbständige  Guts- 
natur der  fraglichen  „Verfügung"  darstellen. 

Im  Sinne  der  MENGERschen  Theorie  ist  das  Darlehen  als  eine  Über- 
tragung von  Güterverfügungen  anzusehen.  Die  Quantität  des  über- 
tragenen Gutes  „Verfügung"  ist  dabei  natürlich  desto  größer,  je  länger 
die  Darlehensfrist  läuft.  In  einem  Darlehen  auf  zwei  Jahre  wird  mehr 
Verfügung  als  in  einem  Darlehen  auf  ein  Jahr,  in  einem  Darlehen  auf  drei 
Jahre  mehr  Verfügung  als  in  einem  Darlehen  auf  zwei  Jahre  usf.,  in  einem 
Darlehen  auf  hundert  Jahre  eine  nahezu  unbegrenzte  Menge  von  Ver- 
fügung übertragen.  Würde  endlich  die  Kückerstattung  des  Kapitales 
nicht  bloß  sehr  weit  hinausgeschoben,  sondern  gänzlich  aufgehoben,  so 
würde  vollends  eine  wahrhaft  unbegrenzte  Menge  von  Verfügung  auf  den 
Empfänger  übergehen.  Dies  wird  z.  B.  der  Fall  sein,  wenn  eine  Güter- 
summe nicht  dargeliehen,  sondern  geschenkt  wird. 

Es  fragt  sich  nun,  wie  viel  an  Wert  empfängt  in  einem  solchen  Falle 
der  Beschenkte?  —  Es  kann  kein  Zweifel  sein,  daß  er  so  viel  empfängt, 
als  die  geschenkte  Sache  Kapitalswert  besitzt.  —  Und  der  Wert 
der  mitgeschenkten  immerwährenden  Verfügung?  —  Ist  offenbar  in  dem 
Kapitalswert  der  Sache  selbst  inbegriffen.  Daraus  schließe  ich  nun  — 
und  ich  glaube  gewiß  keinen  Trugschluß  zu  begehen  — :  wenn  das  Plus, 
nämlich  der  Wert  der  immerwährenden  Verfügung,  im  Kapitalwerte  des 
Gutes  selbst  inbegriffen  ist,  so  muß  auch  das  darin  enthaltene  Minus,  die 
temporäre  Verfügung  über  ein  Gut,  im  Werte  des  Gutes  selbst  inbegriffen 


238  VIII.  Die  Nutzungstheorien.    2.  Unterabschnitt.     Kritik, 

sein;  die  temporäre  Verfügung  kann  also  nicht  in  der  Art,  in  der  Menger 
es  annimmt,  ein  selbständiger  Wertträger  neben  dem  Werte  des  Gutes 
an  sich  sein^). 

IL  Beweisthema. 

Daß  aiich  unter  der  Voraussetzung,  daß  die  Hypothese  von   der  Existenz 

einer   selbständigen   reinen  Nutzung    richtig    ist,    die  Nutzungstheorie   z%i 

keiner  befriedigenden  Erklärung  des  Kapitalzinses  führen  Tcann. 

Ich  glaube  erwiesen  zu  haben,  daß  jene  Nutzung,  deren  selbständige 
Existenz  die  Nutzungstheorie  als  Tatsache  annimmt,  in  Wahrheit  nicht 
existiert.  Allein  auch  wenn  sie  existieren  würde,  vermöchte  man  mit  ihrer 
Hilfe  die  tatsächUchen  Zinserscheinungen  nicht  befriedigend  zu  erklären. 
Ich  hoffe  diese  These  mit  Aufwand  von  wenigen  Worten  erweisen  zu  können. 

Die  Nutzungstheorie  wird  durch  ihren  eigentümlichen  Erklärungs- 
gang darauf  geführt,  zwischen  einem  Werte,  den  die  Güter  an  sich 
haben,  und  einem  Werte,  den  die  Güternutzung  hat,  zu  unterscheiden. 
Sie  geht  dabei  überall  von  der  stillschweigenden  Voraussetzung  aus,  daß 
der  gewöhnliche  Schätzungs-  oder  Kaufwert,  den  ein  Kapitalgut  erzielt, 
den  Wert  des  Gutes  an  sich,  ausschließlich  des  Wertes  seiner  Nutzung, 
repräsentiert:  denn  die  Mehrwerterklärung  basiert  ja  eben  darauf,  daß 
der  Wert  der  Nutzung  als  ein  neues  Element  zum  Wert  der  Kapital- 
substanz hinzutritt  und  erst  mit  diesem  zusammen  den  Wert  des  Produktes 
erfüllt. 

Diese  Voraussetzung  steht  aber  mit  den  tatsächlichen  Erscheinungen 
der  Wirtschaftswelt  in  Widerspruch. 

Es  ist  bekannt,  daß  eine  Obligation  einen  dem  vollen  Kurswerte 
gleichkommenden  Kaufpreis  nur  dann  erzielt,  wenn  sie  mit  allen  zuge- 
hörigen Koupons  versehen  ist;  mit  anderen  Worten,  wenn  dem  Käufer 
zugleich  die  Verfügung  über  alle  ihre  künftigen  „Nutzungen"  —  um  im 

^)  Noch  drastischer  kann  man  vielleicht  das  Inbegriffensein  des  Wertes  der  Ver- 
fügung im  Gutswert  erweisen,  wenn  man  den  Fall  des  Beispieles  etwas  variiert.  Nehmen 
wir  an,  A  leiht  dem  B  eine  Sache  zuerst  unverzinslich  auf  20  Jahre,  schenkt  ihm  also 
das  Gut  ,, Verfügung  auf  20  Jahre";  und  dann,  ein  paar  Tage  nach  dem  Abschluß  des 
Darlehensvertrages,  schenkt  er  ihm  die  Sache  selbst.  Hier  hat  er  in  zwei  Akten  die 
zwanzigjährige  Verfügung  und  die  Sache  selbst  geschenkt.  Würde  die  Verfügung  ein 
Ding  von  selbständigem  Werte  neben  der  Sache  selbst  sein,  so  müßte  der  Gesamtwert 
des  Geschenkes  offenbar  den  Wert  der  Sache  selbst  übersteigen:  was  ebenso  offenbar 
nicht  der  Fall  ist.  —  Legt  man  sich  aber  die  Sache  so  zurecht,  daß  die  nachträgUch 
geschenkte  Sache,  von  welcher  die  zwanzigjährige  Verfügung  schon  abgetrennt  war, 
nicht  mehr  ihren  vollen  ursprünglichen  Sachwert,  sondern  nur  einen  um  den  Wert 
der  abgetrennten  Verfügung  verringerten  Wert  hatte,  so  gesteht  man  damit  erst  recht 
zu,  daß  die  Verfügung  mit  ihrem  Werte  nicht,  wie  Mengers  Theorie  postuliert,  außer- 
halb, sondern  höchstens  innerhalb  der  Sache  und  des  Sachwertes  gestanden  sein  kann. 


Die  Nutzungstheorie  unzulänglich.  239 

Stile  der  Nutzungstheoretiker  zu  reden  —  mit  übertragen  wird.  Fehlt 
dagegen  ein  oder  der  andere  Koupon,  so  wird  der  Käufer  allemal  an  dem 
Preise,  den  er  für  die  Obligation  zahlt,  einen  entsprechenden  Abzug  machen. 
Eine  analoge  Erfahrung  kann  man  auch  bei  allen  anderen  Gütern  machen. 
Behalte  ich  mir  beim  Verkaufe  eines  Landgutes,  das  sonst  einen  Kauf- 
wert von  100000  fl.  hätte,  die  Nutzung  desselben  durch  ein  oder  mehrere 
Jahre  vor,  oder  verkaufe  ich  ein  eben  solches  Landgut,  das  etwa  vermöge 
eines  Legates  mit  einem  mehrjährigen  Fruchtgenußrechte  eines  Dritten 
behaftet  ist,  so  ist  kein  Zweifel,  daß  der  für  das  Landgut  erzielbare  Preis 
hinter  dem  Betrage  von  100000  fl.  um  eine  Summe  zurückbleiben  wird,  die 
den  vorbehaltenen  oder  einem  Dritten  gehörigen  „Nutzungen"  entspricht. 
Diese  Tatsachen  —  die  sich  beliebig  vervielfältigen  ließen  —  lassen 
meines  Erachtens  nur  eine  Auslegung  zu:  daß  nämlich  der  gewöhn- 
liche Schätzungs-  oder  Kaufwert  der  Güter  nicht  bloß  den 
Wert  der  Güter  „an  sich",  sondern  auch  schon  jenen  ihrer 
künftigen  „Nutzungen"  —  falls  solche  existieren  —  um- 
schließti). 

^)  Margolin,  Kapital  und  Kapitalzins,  Berlin  1904,  S.  104,  meint,  ich  hätte  bei 
dieser  Argumentation  ,, merkwürdigerweise"  außer  acht  gelassen,  daß  beim  Kaufe  ein 
beiderseitiger  Austausch  von  Gütern  stattfinde,  daß  das  eingetauschte  Gut  ebensowohl 
wie  das  ausgetauschte  die  weitere  Benützung  als  Kapitalgut  zulasse  und  daß  darum 
im  FaUe  des  Kaufes  auch  keiner  der  beiden  Kontrahenten  die  Möglichkeit  der  Benutzung 
des  eingetauschten  Gutes  als  Kapitalgut  besonders  zu  vergüten  brauche.  Ich  kann 
erwidern,  daß  ich  auch  dieses  Gegenargument  mir  schon  bei  der  Niederschrift  der  ersten 
Auflage  dieses  Werkes  als  denkbar  ausdrücklich  vor  Augen,  eine  vorbeugende  Abwehr 
aber  deshalb  für  unnötig  gehalten  hatte,  weil  es  mir  aUzu  unwahrscheinlich  schien, 
daß  jemand  dasselbe  im  Ernste  werde  vertreten  wollen.  Es  führt  nämlich  einerseits 
durchaus  nicht  aus  allen  oben  geschilderten  Verlegenheiten  der  Nutzungstheorie  heraus, 
dafür  aber  andererseits  in  die  gekünsteltsten,  um  nicht  zu  sagen  abstrusesten  Konstruk- 
tionen der  einfachsten  Verkehrsvorgänge  hinein.  Nur  ein  Fingerzeig  statt  vieler.  Zu- 
nächst müßte  man  in  Mabgolins  Sinne  schon  in  jedem  Kauf  ein  Doppelgeschäft  er- 
blicken, in  dessen  einer  Hälfte  Güter  gegen  Güter,  in  dessen  anderer  Hälfte  aber  Ewig- 
nutzungen gegen  Ewignutzungen  vertauscht  werden,  wobei  nur  dann,  wenn  auf  der 
einen  Seite,  z.  B.  wegen  eines  fehlenden  Koupons  oder  einer  vorbehaltenen  zeitlichen 
Nutzung  an  der  Ewignutzung  etwas  fehlt,  eine  Kompensation  durch  eine  Extrazahlung 
geleistet  werden  müßte.  Aber  nicht  genug  an  dem:  wenn  hier  oder  sonst  Nutzungen 
gegen  Güter  vertauscht  oder  mit  Gütern  bezahlt  werden,  so  würde  es  ja  wieder  für  die 
an  letzteren  hängenden  Ewignutzungen  an  einem  Äquivalent  fehlen,  wenn  Margolin 
nicht  unerschrocken  weiter  postuliert,  daß  auch  auf  der  anderen  Seite,  an  den  durch 
Güter  vergoltenen  Nutzungen  selbst  wieder  eine  ebensolche  Kette  von  Ewignutzungen 
hänge,  die  das  Äquivalent  jener  bilde;  dann  müßte  aber  natürlich  dasselbe  auch  wieder 
von  den  Nutzungen  dieser  Nutzungen  und  so  weiter  fort  ohne  Ende  gelten,  d.  h.  man 
müßte  annehmen,  daß  an  jedem  einzelnen  Gliede  jeder  endlosen  Nutzungsreihe  wieder 
eine  ebensolche  endlose  Nutzungsreihe  hängt,  und  an  jedem  Ghede  dieser  abermals 
und  so  ohne  jedes  Ende  fort;  und  wir  kämen  schheßlich  dazu,  jeden  simpelsten  Tausch- 
akt uns  als  die  Übertragung  endloser  ineinander  geschachtelter  Welten  von  Ewig- 
nutzungen vorstellen  und  ausdeuten  zu  müssen  —  und  dies  mit  allen  den  unentkräfteten 
logischen  und  tatsächlichen  Bedenken  im  Rücken,  welche  gegen  die  Realität  solcher 


240  VIII.  Die  Nutzungstheorien.    2.  Unterabschnitt.    Kritik. 

Damit  versagt  aber  die  Nutzung  eben  jenen  Erklärungsdienst,  den 
die  Nutzungstheorie  von  ihr  erwartet.  Diese  will  die  Tatsache,  daß  der 
Wert  eines  Kapitales  von  100  fl.  in  seinem  Produkte  auf  105  fl.  anschwillt, 
damit  erklären,  daß  ein  neues  selbständiges  Element  im  Werte  von  5  fl. 
hinzugekommen  ist.  Diese  Erklärung  verschließt  sich  in  dem  Momente, 
als  die  Nutzungstheorie  anerkennen  muß,  daß  im  Kapitalwerte  von  100  fl. 
die  künftige  Nutzung  selbst  schon  mitberücksichtigt  und  mitenthalten 
war.  Mag  man  die  Existenz  solcher  Nutzungen  immerhin  zugestehen,  so 
wird  dadurch  das  Rätsel  des  Mehrwertes  nicht  gelöst,  sondern  nur  seine 
Frageform  ein  wenig  verschoben.  Sie  wird  jetzt  lauten:  wie  kommt  es, 
daß  der  Wert  der  Elemente  eines  Kapitalproduktes,  Kapitalsubstanz 
und  Kapitalnutzungen,  die  vorher  zusammen  100  fl.  wert  waren, 
während  des  Produktionsverlaufes  auf  105  fl.  anschwillt?  —  Ja,  die  Zahl 
der  Rätsel  ist  jetzt  sogar  gewachsen;  denn  zu  dem  ersten  Rätsel,  das  die 
Natur  der  Erscheinungen  jeder  Zinstheorie  aufgibt,  und  das  da  lautet: 
warum  schwillt  der  Wert  der  Elemente  um  den  Mehrwert? 
hat  die  Nutzungstheorie  noch  ein  selbstgeschaffenes  zweites  Rätsel  hinzu- 
gefügt: auf  welche  Weise  kombinieren  die  künftigen  Nutzungen 
eines  Gutes  zusammen  mit  dem  Werte  des  „Gutes  an  sich" 
den  gegenwärtigen  Kapitalwert  des  Gutes?  —  und  das  ist  ein 
Rätsel,  dessen  dornenvolle  Lösung  kein  Nutzungstheoretiker  auch  nur 
versucht  hat. 

So  endet  die  Nutzungstheorie  vor  mehr  Rätseln,  als  sie  vorgefunden  hatte. 

Wenn  es  aber  der  Nutzungstheorie  auch  nicht  geglückt  ist,  ihr  Ziel 
vollends  zu  erreichen,  so  hat  sie  doch  mehr  als  irgend  eine  andere  Zins- 
theorie dazu  beigetragen,  die  Wege  zum  Ziele  zu  ebnen.  Während  gar 
manche  andere  Theorie  auf  völlig  unfruchtbaren  Pfaden  umherirrte, 
gelang  es  der  Nutzungstheorie,  manche  hochwichtige  Erkenntnis  zu 
pflücken.  Ich  möchte  sie  mit  gewissen  älteren  naturwissenschaftlichen 
Theorien  vergleichen:  mit  jener  altertümlichen  Verbrennungstheorie,  die 
mit  dem  mystischen  Elemente  „Phlogiston",  mit  jener  älteren  Wärme- 
theorie, die  mit  einem  „Wärmefluidum"  operierte.  Phlogiston  und  Fluidum 
erwiesen  sich  als  fabelhafte  Wesen,  nicht  anders  als  sich  die  „reine  Nutzung" 
als  ein  solches  erweist.  Aber  das  Symbol,  mit  dem  man  einstweilen  die 
störende  Lücke  füllte,  in  der  ein  noch  unerkanntes  Etwas  stand,  half 
doch  ähnlich,  wie  das  in  unseren  Gleichungen  mitgeführte  x,  eine  Menge 
wertvoller  Beziehungen  und  Gesetze  entdecken,  die  sich  um  jenes  unbe- 
kannte Etwas  drehen.  Es  bezeichnete  die  Wahrheit  noch  nicht,  aber  es 
half  sie  bringen. 

,, Nutzungen"  überhaupt  sprechen  l  Es  kam  mir  deshalb  einigermaßen  überraschend, 
daß  in  unseren  Tagen  auch  ein  Autor  wie  Oswalt  Marqolins  Konstruktion  Beifall 
zollen  und  dabei  noch  meinen  konnte,  eine  mit  solchen  Vorstellungen  arbeitende  Theorie 
sei  ,, einfach"  und  „natürhch"  und  die  „Scholastik"  in  einem  anderen  Lager  zu  suchen  l 


IX. 

Die  Abstinenztheorie. 

Als  Begründer  der  Abstinenztheorie  ist  N.  W.  Senior  anzusehen. 
Er  hat  sie  zuerst  in  seinen  an  der  Universität  Oxford  gehaltenen  Vor- 
lesungen, später  in  seinen  Outlines  of  the  Science  of  Political  Economy^) 
niedergelegt. 

Um  Seniors  Abstinenztheorie  richtig  zu  würdigen,  müssen  wir  uns 
für  einen  Augenblick  den  Zustand  vergegenwärtigen,  in  dem  sich  die 
Doktrin  des  Kapitalzinses  zu  Anfang  der  dreißiger  Jahre  in  England  befand. 

Die  Häupter  der  modernen  Richtung  in  der  National-Ökonomie, 
Smith  und  Ricardo,  hatten,  ersterer  mit  geringerer,  letzterer  mit  größerer 
Bestimmtheit,  die  Arbeit  für  die  alleinige  Quelle  alles  Güterwertes  erklärt. 
Ene  konsequente  Durchführung  dieses  Gedankens  konnte  für  die  Er- 
scheinung des  Kapitalzinses  überhaupt  keinen  Raum  lassen.  Dennoch 
bestand  der  Zins  als  Tatsache  und  übte  einen  unleugbaren  Einfluß  auf 
den  relativen  Tauschwert  der  Güter.  Smith  und  Ricardo  nehmen  von 
dieser  Ausnahme  des  „Arbeitsprinzipes"  Notiz,  ohne  ernstlich  zu  ver- 
suchen, weder  die  störende  Ausnahme  mit  der  Haupttheorie  zu  versöhnen, 
noch  sie  durch  ein  selbständiges  Prinzip  zu  erklären.  So  bildet  der  Kapital- 
zins bei  Smith  und  Ricardo  eine  prinzipwidrige  unerklärte  Ausnahme. 

Das  begann  die  nachfolgende  literarische  Generation  zu  empfinden 
und  sie  machte  den  Versuch,  den  Einklang  zwischen  Theorie  und  Wirklich- 
keit herzustellen.  Auf  zwei  verschiedenen  Wegen.  Ein  Teil  suchte  die 
Wirklichkeit  der  Theorie  zu  accomodieren;  sie  hielten  das  Prinzip,  daß 
die  Arbeit  allein  den  Wert  schaffe,  unverändert  aufrecht  und  mühten  sich 
ab,  auch  den  Kapitalzins  als  Erfolg  und  Lohn  von  Arbeit  hinzustellen, 
was  natürlich  schlecht  genug  gelang.  Die  wichtigsten  Vertreter  dieser 
Richtung  sind  James  Mill  und  McCulloch^).  Ein  anderer  Teil  verstand 
sich  —  richtiger  —  dazu,  die  Theorie  der  Wirklichkeit  zu  accomodieren. 
Auch  dies  geschah  in  mehrfacner  Weise.  Lauderdale  erklärte  das  Kapital 
für  produktiv,  fand  aber  bei  seinen  Landsleuten  wenig  Anklang,  weü 

^)  Separatabdruck  aus  der  Encyclopaedia  Metropolitana,  London  1836.  Ich 
zitiere  nach  der  6.  Auflage,  London  1863. 

2)  Siehe  oben  S.  86ff.,  und  unten  Abschnitt  X. 
Böhm -Ba werk,  Kapitalzins.    4.  Aafl.  16 


242  IX.  Die  Abstinenztheorie. 

diese  —  schon  seit  Locke  —  sich  mit  dem  Gredanken,  daß  das  Kapital 
selbst  aus  Arbeit  hervorgeht,  viel  zu  tief  vertraut  gemacht  hatten,  um 
einer  Anerkennung  des  Kapitales  als  selbständiger  Produktivkraft  zu- 
gänglich zu  sein.  Andere  wieder,  Malthus  an  der  Spitze,  ergriffen  den 
Ausweg,  daß  sie  den  Kapitalgewinn  neben  der  Arbeit  für  einen  Bestandteil 
der  Produktionskosten  erklärten.  Hiemit  war  wenigstens  formell  die 
Zinserscheinung  mit  der  herrsehenden  Werttheorie  in  Harmonie  gebracht: 
Die  Kosten,  sagte  man,  regieren  den  Wert;  zu  den  Kosten  gehört  auch 
der  Kapitalzins;  folglich  müssen  die  Produkte  einen  genug  hohen  Wert 
haben,  um  außer  der  Vergütung  der  Arbeit  auch  noch  einen  Kapitalgewinn 
übrig  zu  lassen.  Materiell  freilich  ließ  diese  Erklärung  alles  zu  wünschen 
übrig.  Denn  es  war  allzu  deutlich,  daß  der  Kapitalgewinn  ein  Überschuß 
über  die  Kosten  und  nicht  ein  Bestandteil  derselben,  ein  Erfolg  und  nicht 
ein  Opfer  sei. 

So  konnte  keine  der  wissenschaftlichen  Positionen,  die  man  damals 
in  der  Zinstheorie  einnahm,  recht  befriedigen;  jede  hatte  ihre  Anhänger, 
aber  noch  zahlreichere  Gegner,  denen  die  empfindlichen  Schwächen  der 
vorgetragenen  Lehre  eine  willkommene  Gelegenheit  zu  ihrer  Bekämpfung 
gaben;  eine  Gelegenheit,  die  denn  auch  reichlich  ausgenützt  wurde.  Die 
eine  Partei  mußte  sich  mit  vernichtender  Logik  sagen  lassen,  daß  ein 
Überschuß  keine  Ausgabe  ist,  die  andere  mußte  ihre  Behauptung  ins 
Lächerliche  gezogen  sehen,  daß  der  Wertzuwachs,  den  ein  Faß  Wein  durch 
Abliegen  im  Keller  erfährt,  auf  Arbeit  zurückzuführen  sei.  Und  während 
so  zwei  Parteien  über  die  richtige  Begründung  des  Kapitalzinses  im  Streite 
lagen,  begann  sich,  wenn  auch  erst  nur  leise,  eine  dritte  hörbar  zu  machen, 
welche  den  Kapitalzins  für  gar  nicht  begründet,  für  eine  Beeinträchtigung 
der  Arbeiter  erklärte^). 

In  dieser  unruhigen  und  unfruchtbaren  Brandung  der  Meinungen 
trat  nun  Senior  mit  einer  Lehre  auf,  in  der  er  ein  neues  Prinzip  des 
Kapitalzinses  proklamierte:  er  soll  eine  Vergütung  der  Enthaltung  des 
Kapitalisten  (reward  for  abstinence)  sein. 

Vereinzelte  Anklänge  an  diesen  Gedanken  waren  wiederholt  schon 
vor  Senior  aufgetaucht.  Entferntere  Spuren  desselben  können  wir  in  den 
öfters  wiederkehrenden  Bemerkungen  von  Smith  und  Ricardo  erblicken, 
d£iß  der  Kapitalist  einen  Zins  erhalten  müsse,  weil  er  sonst  kein  Motiv 
zur  Bildung  und  Bewahrung  des  Kapitales  hätte;  sowie  in  der  hübschen 
Gegenüberstellung  des  „künftigen  Gewinnes"  zum  „gegenwärtigen  Genüsse",, 
die  sich  an  einer  anderen  Stelle  des  SniTHschen  Werkes  findet 2),  Deut- 
lichere Anklänge  bringt  namentlich  der  Deutsche  Nebenius  und  der 
Engländer  Scrope. 

^)  Seit  dem  Auftreten  Gouwins,  Thompsons  und  anderer;  siehe  unten  im  Ab- 
schnitt XII. 

•)  Siehe  oben  S.  62f. 


Seniors  Vorläufer.    Nebenius.     Scrope.  243 

Nebenius  stützt  die  Erklärung  des  Tauschwertes  der  Dienste  der 
Kapitalien  unter  anderem  darauf,  daß  die  „Kapitalien  nur  durch  mehr 
oder  weniger  schmerzliche  Entbehrungen  oder  Anstrengungen 
gewonnen  werden,  denen  man  sich  zu  unterziehen  nur  durch  einen  ange- 
messenen Vorteil  veranlaßt  sein  kann".  Allein  er  gibt  diesem  Gedanken 
keine  weitere  Ausbildung,  sondern  zeigt  sich  der  Hauptsache  nach  als 
Anhänger  einer  in  die  Produktivitätstheorie  hinüberspielenden  Nutzungs- 
theorie i). 

Noch  direkter  streift  Scrope  2)  jenen  Gedanken.  Nachdem  er  vorher 
auseinandergesetzt  hat,  daß  dem  Kapitalisten  über  den  Ejsatz  des  in 
der  Produktion  verzehrten  Kapitales  selbst  noch  etwas  Mehreres  (some 
surplus)  übrig  bleiben  müsse,  weil  es  nicht  der  Mühe  wert  wäre,  sein  Kapital 
produktiv  anzuwenden,  wenn  man  dadurch  nichts  gewinnen  könne,  erklärt 
er  (S.  146)  ausdrücklich:  „Der  Gewinn,  den  der  Eigentümer  eines  Kapitales 
aus  dessen  produktiver  Beschäftigung  zieht,  ist  im  Lichte  eines  Lohnes 
zu  betrachten  dafür,  daß  er  sich  für  einige  Zeit  der  Verzehrung 
jenes  Teiles  seines  Eigentumes  zu  seinem  persönlichen  Ge- 
nüsse enthält."  Im  folgenden  wendet  er  freiüch  diesen  Gedanken  so, 
als  ob  eigentlich  die  „Zeit"  den  Gegenstand  des  Opfers  des  Kapitahsten 
bildete,  polemisiert  lebhaft  gegen  McCulldch  und  James  Mill,  welche 
die  Zeit  für  ein  bloßes  Wort,  für  einen  leeren  Schall  erklärt  hatten,  der 
nichts  tun  könne  und  nichts  sei,  und  steht  sogar  nicht  an,  die  Zeit  für 
einen  Bestandteil  der  Produktionskosten  zu  erklären:  „Die  Produktions- 
kosten eines  Artikels  umfassen  erstens  die  Arbeit,  das  Kapital  und  die 
Zeit  (!),  die  man  bedarf,  um  jenen  zu  erzeugen  und  auf  den  Markt  zu 
bringen  .  .  ."'). 

Sentor  hat  nun  denselben  Gedanken,  bei  dessen  flüchtiger  Berührung 
seine  genannten  Vorläufer  es  bewenden  ließen,  zum  Mittelpunkt  einer 
wohl  ausgebildeten  Zinstheorie  gemacht,  der  man,  wie  immer  man  auch 
über  die  Eichtigkeit  ihrer  Ergebnisse  denken  mag,  die  Anerkennung  nicht 
wird  versagen  können,  daß  sie  sich  unter  dem  theoretischen  Wirrwarr  der 
damaligen  Zeit  durch  systematische  Geschlossenheit,  imponierende  Kon- 
sequenz und  vertiefende  Behandlung  des  Stoffes  auf  das  vorteilhafteste 
auszeichnete.    Ein  Auszug  der  Lehre  wird  dieses  Urteil  bestätigen. 

Senior  unterscheidet  zwei  „primäre"  Produktionsinstrumente,  Arbeit 
und  Naturkräfte.  Diese  können  aber  nicht  zu  voUer  Wirksamkeit  gelangen, 
wenn  sie  nicht  durch  ein  drittes  Element  unterstützt  werden.  Als  dieses 
dritte  Element  bezeichnet  Senior  die  Enthaltung  (abstinence),  worunter 
er  das  „Benehmen  einer  Person"  versteht,  „die  entweder  sich  des  un- 
produktiven Gebrauches  der  ihr  verfügbaren  Mittel  enthält,  oder  die 

^)  Siehe  oben  S.  176  f. 

»)  Principles  of  Political  Economy,  London  1833. 

»)  S.  188. 

16* 


244  IX.  Die  Abstinenztheorie. 

Hervorbringung  entfernter  Produktionserfolge  jener  von  unmittelbaren 
Erfolgen  absichtlich  vorzieht"  (S.  58). 

Fein  und  geistvoll  motiviert  Senior,  warum  er  nicht,  wie  man  ge- 
wöhnlich zu  tun  pflegt,  das  Kapital  als  drittes  Produktionselement  nennt. 
Das  Kapital  ist  nämlich  kein  einfaches,  ursprüngliches  Instrument;  es  ist 
in  den  meisten  Fällen  selbst  das  Resultat  des  Zusammenwirkens  von  Arbeit. 
Naturkräften  und  Enthaltung.  Will  man  daher  das  eigentümliche,  von 
den  Produktivkräften  Arbeit  und  Natur  verschiedene  Element  nennen, 
das  im  Kapitale  wirksam  wird  und  das  zum  Kapitalgewinn  in  eben  dem 
Verhältnisse  steht,  wie  die  Arbeit  zum  Arbeitslohne,  so  darf  man  nichts 
anderes  als  die  Enthaltung  nennen  (S.  59). 

Über  die  Art  und  Weise,  in  der  das  Element  „abstinence"  an  der 
Kapitalbildung  und  damit  mittelbar  an  den  Produktionserfolgen  teil- 
nimmt, gibt  Senior  wiederholt  ausführliche  Illustrationen,  von  denen  ich 
eine  der  kürzesten  im  Wortlaute  vorführen  will.  „In  einem  vorgeschrittenen 
Zustande  der  menschlichen  Gesellschaft  ist  das  gemeinste  Gerät  das 
Resultat  der,  Arbeit  vergangener  Jahre,  vielleicht  vergangener  Jahr- 
hunderte. Das  Werkzeug  eines  Zimmermanns  gehört  zu  den  einfachsten, 
die  uns  begegnen  können.  Aber  welch'  eine  Aufopferung  von  gegen- 
wärtigem Genüsse  mußte  der  Kapitalist  auf  sich  nehmen,  der  zuerst  das 
Bergwerk  aufschloß,  dessen  Erzeugnis  die  Nägel  und  der  Hammer  des 
Zimmermanns  sind!  AVie  viel  auf  entfernte  Erfolge  gerichtete  Arbeit 
mußte  von  jenen  aufgewendet  werden,  welche  die  Werkzeuge  formten, 
mit  denen  das  Bergwerk  bearbeitet  wurde!  In  der  Tat,  .  .  .  wir  können 
den  Schluß  ziehen,  daß  es  nicht  einen  einzigen  Nagel  gibt  .  .  .,  der  nicht 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  das  Resultat  einer  auf  entfernte  Erfolge 
gerichteten  Arbeit,  oder,  in  unserer  Ausdrucksweise,  einer  Enthaltung  ist, 
der  man  sich  vor  der  Eroberung^  oder  vielleicht  noch  vor  der  Heptarchie 
unterzogen  hat"  (S.  68). 

Das  „Opfer",  das  im  Genußverzicht  oder  Genußaufschub  liegt,  er- 
heischt nun  eine  Entschädigung.  Diese  liegt  im  Kapitalgewinn.  Aber 
wieso  —  muß  man  fragen  —  ist  der  Kapitalist  imstande,  den  moralischen 
Anspruch  auf  Entschädigung,  den  er  allenfalls  hat,  in  der  Wirtschaftswelt 
auch  durchzusetzen?  —  Die  Antwort  auf  diese  wichtige  Frage  gibt  Senior 
in  seiner  Preistheorie. 

Der  Tauschwert  der  Güter  hängt  nach  ihm  ab  teils  von  der  NützHch- 
keit  der  Güter,  teils  von  der  Beschränktheit  des  Angebotes  (limitation 
of  suppiy)  derselben.  Bei  der  Mehrzahl  der  Güter  (ausgenommen  sind 
jene,  bei  denen  irgend  ein  natürliches  Monopol  ins  Spiel  kommt)  besteht 
die  Schranke  des  Angebotes  nur  in  der  Schwierigkeit  Personen  zu  finden, 
die  bereit  sind,  die  zu  ihrer  Erzeugung  nötigen  Kosten  aufzuwenden. 
Indem  die  Produktionskosten  so  die  Größe  des  Angebotes  bestimmen, 
werden  sie  der  Regulator  des  Tauschwertes  und  zwar  zunächst  in  der  Art, 


Die  Theorie  Seniors.  245 

da£  die  Produktionskosten  des  Käufers,  das  ist  das  Opfer,  mit  welchem 
der  Käufer  die  Güter  selbst  erzeugen  oder  sich  verschaffen  könnte,  die 
Obergrenze,  die  Produktionskosten  des  Verkäufers  die  Untergrenze  des 
Tauschwertes  büden.  Beide  Grenzen  nähern  sich  aber  bei  jener  Mehrzahl 
der  Güter,  die  der  freien  Konkurrenz  unterliegen.  Bei  ihnen  bilden  also 
die  Produktionskosten  eine  einlache  wertbestimmende  Größe. 

Die  Produktionskosten  bestehen  aber  aus  der  Summe  der  Arbeit 
und  der  Enthaltung,  die  zur  Produktion  von  Gütern  erforderlich  ist. 
Mit  diesem  Ausspruch  ist  der  theoretische  Zusammenhang  der  Zins-  und 
Preislehre  hergestellt.  Wenn  das  Opfer  „Enthaltsamkeit"  ein  Bestandteil 
der  Produktionskosten  ist  und  diese  den  Güterwert  regeln,  so  muß  letzterer 
allemal  groß  genug  sein,  um  eine  Vergütung  der  Enthaltsamkeit  übrig 
zu  lassen;  damit  ist  der  Mehrwert  der  Kapitalprodukte  und  damit  der 
ursprüngliche  Kapitalzins  formell  erklärt. 

Mit  den  letzten  Ausführungen  verbindet  Senior  eine  Kritik  der 
Zinstheorie  einiger  seiner  Vorgänger,  die  geradezu  mustergiltig  genannt 
zu  werden  verdient.  Er  deckt  unter  anderem  in  schlagender  Weise  den 
Mißgriff  auf,  den  Malthus  mit  der  E^inführung  des  Kapitalgewinnes 
unter  die  Kosten  begangen  hat.  Er  begnügt  sich  aber  nicht,  ihn  zu  tadeln, 
sondern  klärt  auch  sehr  hübsch  die  Art  und  Weise  auf,  wie  Malthus  zu 
seinem  Mißgriff  gekommen.  Malthus  habe  richtig  empfunden,  daß  es 
außer  der  Arbeit  noch  ein  anderes  in  der  Produktion  zu  bringendes  Opfer 
gebe;  da  er  aber  keinen  Ausdruck  zur  Bezeichnung  desselben  gehabt  habe, 
habe  er  es  mit  dem  Namen  seiner  Vergütung  benannt,  ähnlich  wie  manche 
andere  den  Arbeitslohn,  der  die  Vergütung  für  das  Arbeitsopfer  ist,  statt 
der  Arbeit  selbst  als  Kostenbestandteil  nennen.  Torrens  hinwieder,  der 
Malthus  gleichfalls  schon  dessen  Fehler  vorgeworfen,  habe  selbst  eine 
Unterlassungssünde  begangen.  Er  habe  mit  Kecht  den  „profit"  aus  den 
Produktionskosten  eliminiert,  aber  die  Lücke  durch  gar  nichts  auszufüllen 
gewußt. 

Da  die  erste  Formulierung,  welche  die  Abstinenztheorie  durch  Senior 
empfangen  hat,  auch  die  beste  geblieben  ist^),  werden  wir  uns  unser 
kritisches  Urteil  über  die  ganze  Richtung  am  zweckmäßigsten  an  der 
SENioRschen  Theorie  bilden  können.  Ehe  ich  meine  eigenen  Ansichten 
hierüber  darlege,  scheint  es  mir  passend,  mit  ein  paar  Worten  einiger 
anderer  Kritiken  zu  gedenken,  die  in  unserer  Wissenschaft  eine  weite 


1)  Erst  in  der  allerneuesten  Zeit  hat  Marshall  einige  Nuancen  hinzugefügt, 
welche  vielleicht  als  eine  Verbesserung  der  Formulierung  angesehen  werden  können; 
sie  betreffen  aber  nicht  so  sehr  den  charakteristischen  Kern  der  Zinstheorie  selbst,  als 
vielmehr  nur  die  Preistheorie,  in  welche  die  Zinstheorie  eingeschaltet  wird.  Das 
Crenauere  siehe  unten  in  dem  die  neueste  Zinsliteratur  behandelnden  Anhang  dieses 
Bandes. 


246  IX.  Die  Abstinenztheorie. 

Verbreitung  gefunden  haben  und  in  denen,  wie  ich  glaube,  die  SENioRsche 
Lehre  viel  zu  hart  beurteilt  worden  ist. 

So  hat,  um  mit  einem  der  Zeit  nach  uns  näher  stehenden  Urteile  zu 
beginnen,  Pierstorff  in  seiner  verdienstvollen  „Lehre  vom  Unternehmer- 
gewinn" ^)  sich  in  äußerst  abfälligen  Worten  über  Seniors  Theorie  ge- 
äußert. Er  geht  so  weit  zu  erklären,  daß  Seniors  Weise  gegenüber  der 
Anschauungsweise  seiner  Vorgänger  eine  Entartung,  einen  Verzicht  auf 
ernste  wissenschaftliche  Untersuchung  bezeichne  und  er  imputiert  Senior, 
„die  wirtschaftlichen  Gründe  der  Erscheinungen  durch  eine  für  das  Be- 
dürfnis zugeschnittene  Wirtschafts-  und  Sozialtheorie"  ersetzt  zu  haben. 

Ich  muß  gestehen,  daß  ich  diese  Äußerung  kaum  begreife,  zumal  im 
Munde  eines  Dogmenhistorikers,  der  auch  bloß  relative  Vorzüge  zu  würdigen 
wissen  sollte.  Senior  ist  im  Gegenteile  seinen  Vorgängern  in  der  Zinslehre 
an  Vertiefung,  Systematik  und  wissenschaftlichem  Ernst  unendlich  über- 
legen. Auf  Ricardo  oder  Malthüs,  auf  einen  McCulloch  und  James 
MiLL  mag  es  passen,  wenn  man  ihre  Weise  einen  Verzicht  auf  ernste  wissen- 
schaftliche Untersuchung  des  Zinsproblems  nennt.  Sie  stellen  das  Problem 
teils  gar  nicht  auf,  teils  lösen  sie  es  mit  einer  offenbaren  petitio  principii, 
teUs  mit  sonderbaren  Abgeschmacktheiten;  und  selbst  ein  Ladderdale, 
den  Pierstorff  leider  gar  nicht  besprochen  hat,  bleibt  trotz  eines  ernst- 
haften Ansatzes  im  Vorhofe  des  Problems  stehen,  indem  er  die  Erklärung 
der  Zinserscheinung  aus  der  Werttheorie  durch  ein  grobes  Mißverständnis 
vollkommen  vergreift.  Dem  gegenüber  hat  Senior  mit  tiefem  Blick  er- 
kannt, nicht  aUein,  daß  ein  Problem  da  ist,  sondern  auch  wo  es  zu  lösen 
ist,  und  wo  die  Schwierigkeiten  dieser  Lösung  liegen.  Alle  Scheinlösungen 
verschmähend,  geht  er  auf  den  Kern  der  Sache,  auf  den  Grund  des  Mehr- 
wertes der  Kapitalprodukte  über  den  Kapitalaufwand  ein,  und  wenn  er 
die  volle  Wahrheit  nicht  gefunden  hat,  so  liegt  es  gewiß  nicht  an  einem 
Mangel  an  wissenschaftlichem  Ernst.  Schon  die  feinen  und  tiefdurch- 
dachten kritischen  Bemerkungen,  die  Senior  so  häufig  einstreut,  hätten 
ihn  vor  so  harten  Vorwürfen  schützen  sollen. 

Ebenso  scheinen  mir  die  bekannten  Worte  weit  über  das  Ziel  zu 
schießen,  mit  denen  seinerzeit  Lassalle  in  seiner  hinreißend  beredten, 
aber  auch  deklamatorisch  übertreibenden  Weise  die  SENioRsche  Lehre 
verspottet  hat:  „Der  Kapitalprofit  ist  der  „„Entbehrungslohn""!  Glück- 
liches Wort,  unbezahlbares  Wort!  Die  europäischen  Millionäre  Asketen, 
indische  Büßer,  Säulenheilige,  welche  auf  einem  Bein  auf  einer  Säule 
stehen,  mit  weit  vorgebogenem  Arm  und  Oberleib  und  blassen  Mienen 
einen  Teller  ins  Volk  streckend,  um  den  Lohn  ihrer  Entbehrungen  ein- 
zusammeln! In  ihrer  Mitte  und  hoch  über  alle  seine  Mitbüßer  hinaus- 
ragend als  Hauptbüßer  und  Entbehrer  das  Haus  Rothschild!    Das  ist 


»)  Berlin  1875,  S.  47f. 


Kritik  der  Seniorschen  Lehre.  247 

desf  Zustand  der  Gesellschaft!  Wie  ich  denselben  nur  so  verkennen 
konnte  1"^) 

Ich  glaube,  daß  trotz  dieses  brillanten  Angriffes  in  der  Lehre  Seniors 
ein  Kern  von  Wahrheit  steckt.  Es  läßt  sich  nicht  leugnen,  daß  sowohl 
die  Bildung  als  die  Bewahrung  jedes  Kapitales  in  der  Tat  eine  Enthaltung 
von  momentanem  Genüsse,  einen  Genußaufschub  erfordert,  und  es  scheint 
mir  auch  keinem  Zweifel  zu  unterliegen,  daß  die  Rücksicht  auf  diesen 
Genußaufschub  jene  Produkte  verteuert,  die,  aus  einem  kapitalistischen 
Produktionsprozesse  hervorgehend,  nicht  ohne  größeren  oder  geringeren 
Genußaufschub  erlangt  werden  können.  Wenn  z.  B.  zwei  Güter  zu  ihrer 
Erzeugung  genau  gleich  viel  Arbeit,  jedes  etwa  100  Tage,  benötigt  haben, 
das  eine  aber  gleich  nach  Absolvierung  dieser  Arbeit  zum  Genüsse  reif 
ist,  während  das  andere,  etwa  Most,  dann  noch  ein  Jahr  abliegen  muß, 
80  zeigt  die  EIrfahrung,  daß  das  später  genußreife  Gut  ungefähr  um  den 
Betrag  des  Kapitalzinses  höher  im  Preise  stehen  wird,  als  das  sofort  genuß- 
reif gewordene.  Ich  zweifle  nun  gar  nicht,  daß  der  Grund  dieser  Verteuerung 
wirklich  in  nichts  anderem  als  eben  darin  liegt,  daß  man  hier  den  Genuß 
von  der  geleisteten  Arbeit  aufschieben  muß.  Würde  nämlich  das  sofort 
und  das  später  genußreife  Gut  gleich  hoch  im  Werte  stehen,  so  würden 
alle  Leute  es  vorziehen,  ihre  100  Tage  Arbeit  dorthin  zu  wenden,  wo  sie 
sich  sofort  lohnt.  Diese  Tendenz  muß  ein  stärkeres  Angebot  in  den  sofort 
genußreifen  Gütern  und  dieses  wieder  eine  Erniedrigung  ihres  Preises 
gegenüber  den  spät  reifen  Gütern  hervorrufen.  Hiedurch  wird  endlich 
den  Produzenten  der  letzteren  ein  Plus  über  die  normale  Entlohnung  der 
Arbeit  —  die  ja  in  allen  Produktionszweigen  sich  auf  dasselbe  Niveau  zu 
stellen  tendiert  —  mit  anderen  Worten  ein  Kapitalzins  gesichert. 

Freilich  ist  es  ebenso  gewiß  —  und  daher  schreibt  sich  der  große  Ein- 
druck, den  Lassalle  mit  seinem  polemischen  Angriff  erzielt  hat  —  daß 
das  Dasein  und  die  Höhe  des  Zinses  keineswegs  immer  mit  dem  Dasein 
und  der  Größe  eines  „Enthaltungsopfers"  korrespondiert.  Man  erlangt 
Zins  auch  dort,  wo  ausnahmsweise  gar  kein  individuelles  Enthaltungsopfer 
vorlag;  man  erlangt  oft  hohen  Zins,  wo  das  Opfer  der  Enthaltung  sehr 
gering  ist  (—  siehe  Lassalles  Millionäre  — ),  und  man  erlangt  oft  niedrigen 
Zins,  wo  das  Opfer,  das  die  Enthaltung  kostet,  sehr  groß  ist:  der  sauer 
ersparte  Gulden,  den  der  Dienstbote  in  die  Sparkasse  legt,  trägt  absolut 
und  relativ  niedrigere  Zinsen,  als  die  leicht  entbehrten  Hunderttausende, 
die  der  BörsenmiUionär  im  „Kostgeschäfte"  fruktifiziert.  Diese  Erfahrungs- 
tatsachen scheinen  übel  zu  einer  Theorie  zu  passen,  welche  den  Zins  ganz 
allgemein  für  einen  „Lohn  der  Enthaltung"  erklärt,  und  mußten  in  den 
Händen  eines  Mannes,  der  sich  so  gut  wie  Lassalle  auf  polemische  Rhetorik 
verstand,  ebensoviele  spitzige  Angriffswaffen  gegen  jene  Theorie  liefern. 


^)  Kapital  und  Arbeit,  Berün  1864,  S.  110. 


248  IX.  Die  Abstinenztheorie. 

Gleichwohl  scheint  mir  ihre  entscheidende  Schwäche  nicht  hierin, 
nicht  in  dem  Mangel  einer  durchgreifenden  Harmonie  zwischen  der  Größe 
des  behaupteten  Opfers  und  des  dafür  erlangten  Lohnes  zu  liegen.  Denn 
wo  überhaupt  Kosten  oder  Opfer  den  Preis  von  Gütern  bestimmen,  pflegen 
ja  bekanntlich,  falls  verschiedene  Teile  des  Angebotes  zu  ungleichen  Kosten 
auf  den  Markt  gebracht  werden,  jeweils  die  höchsten  zur  Versorgung  des 
Marktes  noch  notwendigen  Kosten  über  die  Höhe  des  ganzen,  einheitlichen 
Marktpreises  zu  entscheiden.  Wo  immer  aber  ungleiche  Kosten  durch 
einen  einheitlichen  Preis  vergütet  werden,  ist  es  grundsätzlich  gar  nitht 
möglich,  daß  die  Vergütung  in  jedem  einzelnen  Falle  harmonische  Fühlung 
mit  der  Größe  des  gebrachten  Opfers  halten  könnte,  sondern  offenbar 
werden  jene  Produzenten,  welche  mit  geringeren  als  den  höchsten  maß- 
gebenden Opfern  ihr  Angebot  auf  den  Markt  bringen,  immer  für  ihre  Opfer 
verhältnismäßig  reichlicher  belohnt  werden  als  ihre  minder  günstig 
situierten  Konkurrenten.  So  auffällig  daher  dem  Grade  nach  das  Miß- 
verhältnis zwischen  der  Zinseneinnahme  von  Millionären  und  ihrem  lächer- 
lich geringfügigen  „Enthaltungsopfer"  sein  mag,  so  wäre  es  der  Art  nach 
für  den  Theoretiker  nicht  befremdlicher  als  die  jedem  Theoretiker  familiäre 
Tatsache,  daß  derselbe  hohe  Preissatz,  den  die  Produktionskosten  der 
unfruchtbarsten  in  Kultur  genommenen  Grundstücke  erfordern,  auch  den 
Besitzern  der  fruchtbareren  .Grundstücke  bezahlt  werden  muß,  welche 
die  gleichen  Bodenprodukte  zu  geringeren  Kosten,  oder  selbst  ganz  kosten- 
los hervorbringen^). 

Die  wirklichen  und  entscheidenden  Mängel,  an  denen  Seniors  Theorie 
leidet,  glaube  ich  vielmehr  nach  reifhcher  Erwägung  auf  folgende  zwei 
Punkte  zurückführen  zu  müssen. 

Erstens  hat  nach  meiner  Meinung  Senior  einen  an  sich  richtigen 
Gedanken  zu  grob  generalisiert  und  zu  schablonenhaft  verwendet.  Es 
unterliegt  für  mich  keinem  Zweifel,  daß  das  Moment  des  Genußaufschubes, 
das  Senior  in  den  Vordergrund  stellt,  in  der  Tat  auf  die  Entstehung  des 
Zinses  einen  gewissen  Einfluß  ausübt;  allein  dieser  Einfluß  ist  weder  so 
einfach,  noch  so  unmittelbar,  noch  so  ausschließlich,  als  daß  man  den 
Kapitalzins  schlechthin  als  „Lohn  der  Enthaltung"  erklären  könnte.   Eine 


^)  Der  diesem  Gregeneinwand  zu  Grunde  liegende  Gedanke  ist  im  wesentlichen 
schon  von  Lorta  (La  Rendita  fondiaria,  Mailand  1880,  SS.  610 — 624)  ausgeführt  worden ; 
Marshall  hat  denselben  systematisch  gefaßt  und  verwertet  und  auf  ihn  die  inter- 
essanten Begriff  e  des,,Producers  surplus"  und  „savers  surplus"  gebaut  (siehe  unten  den 
die  neueste  Zinsliteratur  behandelnden  Anhang);  zum  ausdrücklichen  Gegeneinwand 
hat  ihn  neuestens  Macfarlane  formuliert  (Value  and  distribution,  Philadelphia  1899, 
S.  175 — 177).  In  der  ersten  Auflage  dieses  Werkes  hatte  ich,  obwohl  ich  meine  eigenen 
Einwendungen  gegen  die  Abstinenztheorie  durchaus  auf  andere  Erwägungen  stützte, 
auch  Lassalles  Einwendung  eine  teilweise  Berechtigung  zugesprochen.  Ich  glaube 
jedoch  in  diesem  Punkte  der  Ansicht  der  oben  genannten  Autoren  beitreten  zu  müssen. 


Kritik  der  Seniorschen  Lehre.  249 

genauere  Nachweisung  hierüber  ist  an  dieser  Stelle  noch  nicht  möglich 
und  muß  dem  zweiten  Hauptteile  dieser  Arbeit  vorbehalten  bleiben. 

Zweitens  hat  Senior  dem  materiell  richtigen  Teüe  seiner  Theorie 
eine  formelle  Einkleidung  verheben,  die  jedenfalls  der  Anfechtung  unter- 
liegt. Ich  halte  es  nämhch  für  einen  logischen  Fehler,  den  Genußverzicht, 
den  Genußaufschub  oder  die  Enthaltung  als  ein  zweites  selbständiges 
Opfer  neben  der  in  der  Produktion  aufgeopferten  Arbeit  hinzustellen. 

Ich  werde  am  zweckmäßigsten  verfahren,  wenn  ich  die  nicht  ganz 
leichte  Sache  zunächst  an  einem  konkreten  Beispiele  entwickele  und  erst 
dann  sie  prinzipiell  zu  fassen  suche. 

Stellen  wir  uns  einen  Landbewohner  vor,  der  überlegt,  auf  welche 
Weise  er  den  heutigen  Arbeitstag  verwenden  soll.  Es  stehen  ihm  hierzu 
vielleicht  hundert  verschiedene  Möghchkeiten  offen.  Um  nur  einige  der 
einfachsten  zu  nennen,  könnte  er  fischen,  oder  jagen,  oder  Früchte  ein- 
sammeln. Alle  drei  Beschäftigungsarten  kommen  darin  überein,  daß  sie 
ihren  Erfolg  momentan,  noch  am  Abende  desselben  Arbeitstages  ein- 
bringen. Gesetzt,  unser  Landbewohner  entscheidet  sich  für  das  Fischen 
und  bringt  am  Abend  drei  Fische  heim.  Welches- Opfer  hat  ihn  ihre  Er- 
langung gekostet? 

Wenn  wir  von  der  minimalen  Abnützung  des  Fischzeuges  absehen, 
offenbar  einen  Arbeitstag,  und  sonst  nichts.  —  Es  ist  indes  möghch, 
daß  unser  Landbewohner  dieses  Opfer  auch  unter  einem  anderen  Gesichts- 
punkte ansieht.  Es  ist  möglich,  daß  er  es  an  dem  Genüsse  bemißt,  den 
er  sich  bei  einer  anderen  Verwendung  des  Arbeitstages  hätte  verschaffen 
können,  und  den  er  jetzt  entbehren  muß.  Er  kann  folgendermaßen  kalku- 
lieren: hätte  ich  heute  gejagt  statt  zu  fischen,  so  hätte  ich  höchstwahr- 
scheinlich drei  Hasen  erlegt.  Was  mich  meine  Fische  in  Wahrheit  kosten, 
sind  die  drei  Hasen,  auf  deren  Genuß  ich  jetzt  verzichten  muß. 

Ich  glaube,  daß  diese  Art  der  Berechnung  des  Opfers  gleichfalls  nicht 
unrichtig  ist.  Man  sieht  hier  einfach  die  Arbeit  als  ein  bloßes  Mittel  zum 
Zweck  an  und  setzt,  über  das  Mittel,  das  man  zunächst  opfert,  hinweg- 
sehend, sofort  den  Zweck  ein,  den  man  durch  das  Mittel  aufopfert.  Die- 
selbe Kalkulationsmethode  gebrauchen  wir  oftmals  im  Wirtschaftsleben. 
Wenn  ich  eine  Geldsumme  von  300  fl.  definitiv  zur  Ausgabe  bestimmt 
habe,  aber  zwischen  zwei  Verwendungen  schwanke,  und  mich  endlich 
für  die  eine  entscheide,  z.  B.  für  eine  Vergnügungsreise  statt  für  den  An- 
kauf eines  persischen  Teppichs,  so  wird  sich  mir  wahrscheinlich  das  end- 
gütige Opfer,  das  mich  die  Vergnügungsreise  gekostet  hat,  unter  dem  Bilde 
des  jetzt  entbehrten  persischen  Teppichs  darstellen. 

Jedenfalls  ist  es  aber  einleuchtend,  daß  man  bei  Berechnung  des 
Opfers,  das  man  für  einen  wirtschafthchen  Zweck  gebracht  hat,  das  direkte 
Opfer  an  Mitteln,  die  man  zunächst  aufopfert,  und  das  indirekte  Opfer 
an  anderweitigen  Vorteilen,  die  man  vermöge  des  aufgeopferten  Mittels 


250  IX.  Die  Abstiiienztlieorie. 

sonst  hätte  erlangen  können,  immer  nur  alternativ,  nie  kumulativ  in 
Rechnung  bringen  darf.  Als  Opfer  meiner  Vergnügungsreise  mag  ich 
entweder  die  300  fl.,  die  sie  direkt  gekostet  hat,  oder  den  persischen 
Teppich,  den  sie  indirekt  geleistet  hat,  nie  aber  die  300  fl.  und 
den  Teppich  ansehen.  Ganz  ebenso  wird  unser  Landbewohner  als  das 
Opfer,  das  ihn  die  Erlangung  der  drei  Fische  kostet,  entweder  den  direkt 
aufgewendeten  Arbeitstag,  oder  die  indirekt  aufgeopferten  drei  Hasen, 
beziehungsweise  deren  Genuß,  nie  aber  Arbeitstag  und  Hasengenuß 
betrachten  dürfen.  —  Ich  glaube,  das  ist  klar. 

Unserem  Landbewohner  standen  aber  neben  jenen  Beschäftigungen, 
die  ihm  den  aufgewendeten  Arbeitstag  noch  am  selben  Tage  vergelten, 
auch  solche  offen,  die  ihr  Genußresultat  erst  später  bringen.  Er  konnte 
z.  B.  auch  Weizen  säen,  wovon  er  die  Frucht  erst  in  einem  Jahre,  oder 
Obstbäume  pflanzen,  wovon  er  die  Frucht  erst  in  zehn  Jahren  gewinnen 
kann.  Gesetzt,  er  wählt  das  letztere:  was  hat  er  —  wenn  wir  von  Grund 
und  Boden  und  der  minimalen  Werkzeugbenutzung  wieder  absehen  — 
für  die  Erlangung  der  Obstbäume  aufgeopfert? 

Mir  kommt  die  Antwort  nicht  zweifelhaft  vor.  Wiederum  einen 
Arbeitstag,  und  nichts  weiter.  Oder,  wenn  man  die  indirekte  Kom- 
putationsmethode vorzieht,  mag  man  statt  des  Arbeitstages  den  sonstigen 
Genuß  aufrechnen,  den  er  bei  anderweitiger  Verwendung  desselben  sich 
hätte  verschaffen  können:  also  den  sofortigen  Genuß  von  drei  Fischen, 
oder  von  drei  Hasen,  oder  eines  Korbes  von  Früchten.  Jedenfalls  scheint 
mir  aber  wieder  einleuchtend,  daß,  wenn  man  den  Genuß  als  Opfer  auf- 
rechnet, den  man  sich  durch  die  Arbeit  hätte  verschaffen  können,  man 
kein  Atom  der  Arbeit  daneben  aufrechnen  darf;  und  daß,  wenn  man  die 
Arbeit  als  Opfer  aufrechnet,  man  daneben  kein  Atom,  des  versäumten 
anderweitigen  Genusses  aufrechnen  darf.  Täte  man  dies  dennoch,  so 
beginge  man  eine  Doppelrechnung,  die  geradeso  falsch  ist,  als  wenn  man 
in  unserem  früheren  Beispiele  die  Kosten  der  Vergnügungsreise  mit  den 
300  fl.,  die  sie  wirklich  gekostet  hat,  und  dazu  noch  mit  dem  persischen 
Teppich  in  Anschlag  brächte,  den  man  sonst  um  die  300  fl.  hätte  anschaffen 
können. 

Eine  solche  unzulässige  Doppelrechnung  hat  nun  Senior  begangen. 
Freilich  nicht  so  grob,  daß  er  den  ganzen  anderweitigen  Genuß  von  der 
Arbeit  neben  der  Arbeit  aufgerechnet  hätte;  aber  schon  indem  er  den 
Genußaufschub,  die  Genuß enthaltung,  neben  der  Arbeit  selbständig 
rechnete,  hat  er  die  zulässige  Grenze  überschritten^).    Denn  es  ist  klar, 

^)  Es  ist  mir  unverständlich,  wie  trotz  dieser,  im  gleichen  Wortlaut  schon  in  der 
ersten  Auflage  enthaltenen  Stelle  Landry,  L'int6ret  du  capital,  1904,  S.  181f.  und 
S.  189  (in  der  Note)  mir  vorwerfen  konnte,  ich  hätte  vermöge  einer  , .inexakten"  zu 
,, engen  und  buchstäblichen"  Interpretation  Senior  den  Fehler  zugemutet,  daß  er 
neben  der  aufgewendeten  Arbeit  noch  den  ganzen  verlorenen  anderweitigen  Genuß 
(peine  depens^e  +  jouissances  perdues)  in  Rechnung  gestellt  habe. 


Kritik  der  Senior  sehen  Lehre.  251 

daß  im  Opfer  der  Arbeit  bereits  das  Opfer  des  ganzen  Vorteiles,  den 
man  sich  durch  anderweitige  Verwendung  der  Arbeit  hätte  verschaffen 
können,  eingeschlossen  liegt;  des  ganzen  Vorteiles,  mit  Inbegriff  aller  am 
Hauptvorteile  etwa  noch  hängenden  partiellen  oder  sekundären  Vorteils- 
nuancen. Wer  300  fl.  für  eine  Vergnügungsreise  opfert,  opfert  nicht  neben, 
sondern  in  den  300  fl.  sowohl  den  persischen  Teppich,  den  er  sonst  darum 
hätte  kaufen  können,  als  das  Vergnügen,  das  er  an  dessen  Besitz  gefunden 
hätte,  als  unter  anderem  auch  den  besonderen  Vorteil,  der  in  der  langen 
Zeitdauer  dieses  Besitzes  und  Genusses  gelegen  wäre.  Und  ganz  ebenso 
opfert  der  Landbewohner,  der  einen  Arbeitstag  des  Jahres  1914  zur  Baum- 
pflanzung opfert,  die  im  Jahre  1924  ihre  Früchte  bringen  wird,  in  und  nicht 
neben  diesem  Arbeitstage  sowohl  die  drei  Fische,  die  er  sich  mittelst 
desselben  hätte  verschaffen  können,  als  auch  das  besondere  Vergnügen, 
das  er  etwa  am  Fischgeschmacke  empfindet,  als  auch  den  Vorteil,  der 
daraus  entspringt,  daß  er  den  Fischgenuß  bereits  im  J^hre 
1914  hätte  erlangen  können.  Die  besondere  Aufrechnung  des  Genuß- 
aufschubes enthält  daher  eine  Doppelrechnung. 

Ich  darf  wohl  hoffen,  für  die  vorstehenden  Raisonnements  die  Zu- 
stimmung der  meisten  meiner  Leser  gefunden  zu  haben.  Dennoch  kann 
ich  die  Sache  noch  nicht  für  erledigt  halten.  Seniors  Anschauungsweise 
hat  nämlich  unleugbar  etwas  ungemein  Bestechendes,  und  wenn  man  sich 
den  in  unserem  Beispiele  benutzten  Fall  in  einem  gewissen,  der  SENioRschen 
Auffassung  günstigsten  Lichte  vorstellt,  scheint  derselbe  sogar  ein  geradezu 
schlagendes  Argument  gegen  mich  und  für  Senior  zu  bieten.  Mit  diesem 
Argument  muß  ich  noch  rechnen. 

Ziehen  wir  die  Parallele  folgendermaßen.  Verwende  ich  den  heutigen 
Arbeitstag  zum  Fang  von  Fischen,  so  kosten  mich  diese  einen  Tag  Arbeit. 
Das  ist  klar.  Verwende  ich  aber  den  heutigen  Arbeitstag  zur  Pflanzung 
von  Obstbäumen,  die  erst  in  zehn  Jahren  Früchte  bringen,  so  habe  ich 
mich  nicht  bloß  einen  Tag  lang  geplagt,  sondern  muß  obendrein  auf  den 
Genuß  meiner  Arbeit  zehn  Jahre  lang  warten,  was  mich  vielleicht  recht 
viel  Selbstüberwindung  und  Seelenpein  kostet.  Also  —  scheint  es  — 
bringe  ich  in  der  Tat  ein  Opfer,  das  über  einen  Arbeitstag  hinausgeht; 
nämlich  einen  Tag  Arbeitsplage  und  noch  die  Last  eines  zehnjährigen 
Genußaufschubes. 

So  scheinbar  diese  Wendung  auch  ist,  so  ruht  sie  doch  auf  einem  trüge- 
rischen Grunde.  Ich  will  zuerst  durch  einige  Konsequenzen  zeigen,  daß 
man  sich  täuscht,  und  dann  aufdecken,  wo  die  Quelle  der  Täuschung  liegt. 
Letztere  Aufklärung  wird  mir  auch  Gelegenheit  geben,  die  ganze  Sache 
von  der  prinzipiellen  Seite  zu  fassen. 

Stellen  wir  uns  folgenden  Fall  vor  Augen.  Ich  arbeite  einen  Tag 
lang  an  der  Pflanzung  von  Obstbäumen,  in  der  Erwartung,  daß  sie  mir 
nach  zehn  Jahren  Früchte  bringen  werde.    In  der  darauffolgenden  Nacht 


252  IX.  Die  Abstinenztheorie. 

kommt  ein  Unwetter  und  zerstört  die  junge  Pflanzung  völlig.  Wie  groß 
ist  das  Opfer,  das  ich  vergeblich  gebracht  habe?  —  Ich  glaube,  jedermann 
wird  sagen:  ein  verlorener  Arbeitstag,  und  nichts  weiter.  Und  nun  frage 
ich,  wird  mein  Opfer  etwa  dadurch  größer,  daß  das  Unwetter  nicht  kommt 
und  die  Bäumchen  ohne  alles  weitere  Zutun  von  meiner  Seite  in  zehn 
Jahren  Früchte  bringen  ?  Opfere  ich  mehr  auf,  wenn  ich  einen  Arbeitstag 
darbringe  und  auf  den  Genuß  davon  10  Jahre  warten  muß,  als  wenn  ich 
einen  Arbeitstag  darbringe  und  auf  den  Genuß  davon  wegen  des  zerstören- 
den Unwetters  in  alle  Ewigkeit  warten  muß  ?  Dies  zu  bejahen  ist  unmöglich. 
Und  doch  will  es  Senior  so:  denn  während  im  zweiten  Falle  das  Opfer  nur 
mit  einem  Arbeitstage  angegeben  werden  kann,  gibt  er  es  im  ersten  Falle 
mit  einem  Arbeitstage  +  einer  zehnjährigen  Genußenthaltung,  also 
größer  an! 

Welch'  seltsame  Gestalt  müßte  auch  nach  Seniors  Anschauung  die 
Progression  des  Opfers  bei  fortschreitender  Entfernung  des  Nutzens 
gewinnen !  Wenn  sich  eine  Arbeit  augenblicklich  lohnt,  ist  das  Opfer  nur 
die  aufgewendete  Arbeit.  Lohnt  sie  sich  nach  einem  Jahre,  so  ist  das 
Opfer  =  Arbeit  -|-  ein  Jahr  Enthaltung.  Lohnt  sie  sich  nach  zwei  Jahren, 
so  ist  das  Opfer  =  Arbeit  -j-  zwei  Jahre  Enthaltung.  Lohnt  sie  sich  nach 
zwanzig  Jahren,  so  wächst  das  Opfer  auf  Arbeit  +  zwanzig  Jahre  Ent- 
haltung. Und  wenn  sie  sich  gar  nie  lohnt?  Muß  da  nicht  das  Opfer  an 
Enthaltung  auf  den  denkbar  höchsten  Gipfel,  auf  die  Größe  ,, unendlich" 
steigen  und  den  krönenden  Abschluß  der  Progression  nach  oben  bilden  ?  — 
0  nein!  Hier  sinkt  das  Enthaltungsopfer  auf  Null,  die  Arbeit  wird  allein 
als  Opfer  gezählt,  und  das  Gesamtopfer  ist  nicht  das  größte,  sondern  das 
kleinste  in  der  ganzen  Keihe! 

Ich  denke,  diese  Resultate  zeigen  deutlich  an,  daß  in  allen  Fällen 
das  einzige  wirkliche  Opfer  in  der  dargebrachten  Arbeit  bestand,  und  daß 
wenn  wir  daneben  noch  ein  zweites  Opfer  im  Genußaufschub  anerkennen 
zu  müssen  meinten,  wir  durch  irgend  eine  irreführende  Vorstellung  getäuscht 
worden  sein  mußten. 

Was  verleitet  uns  aber  zu  jener  —  ich  gestehe  es  —  überaus  nahe- 
liegenden Täuschung? 

Die  Quelle  derselben  liegt  einfach  darin,  daß  das  zeitliche  Moment 
wirklich  nichts  Gleichgiltiges  ist.  Nur  übt  es  seine  Wirkung  in  einer  etwas 
anderen  Richtung  aus,  als  Senior  und  die  meisten  Laien  meinen.  Statt 
nämlich  das  Material  zu  einem  zweiten  selbständigen  Opfer  zu  bieten, 
fällt  es  vielmehr  bei  der  Bestimmung  der  Größe  des  einen  wirklich  ge- 
brachten Opfers  ins  Gewicht.  Um  dies  vollkommen  klar  zu  legen,  muß  ich 
etwas  weiter  ausholen. 

Alle  wirtschaftlichen  Opfer,  die  wir  bringen,  finden  ihr  Wesen  in  einer 
Einbuße  an  Lebenswohlfahrt,  die  wir  erleiden,  und  ihre  Größe  bemißt 
sich  nach  der  Größe  der  Wohlfahrtseinbuße,  die  uns  widerfährt.     Diese 


Kritik  der  Seniorschen  Lehre.  253 

Einbuße  kann  doppelter  Art  sein:  positiver  Art,  indem  wir  positive 
Leiden,  Schmerzen  oder  Mühen  auf  uns  nehmen;  oder  negativer  Art. 
indem  wir  einer  Freude  oder  Befriedigung,  die  wir  uns  sonst  hätten  ver- 
schaffen können,  verlustig  gehen.  Bei  den  meisten  wirtschaftlichen  Opfern, 
die  wir  für  einen  bestimmten  Nutzzweck  bringen,  kommt  nur  eine  der 
beiden  Einbußgattungen  in  Fiage,  und  hier  ist  auch  der  Kalkül  des  ge- 
brachten Opfers  sehr  einfach.  Lege  ich  z.  B.  für  irgend  einen  Nutzzweck 
Geld  aus,  etwa  300  fl,  so  berechnet  sich  mein  Opfer  einfach  nach  den 
Genüssen,  die  ich  mir  sonst  mit  jenen  300  fl.  verschafft  hätte  und  nun 
entbehren  muß. 

Anders  steht  es  mit  dem  Opfer  „Arbeit".  Die  Arbeit  bietet  für  die 
wirtschaftliche  Betrachtung  zwei  Seiten  dar.  Sie  ist  einerseits  eine  (nach 
der  Empfindung  der  meisten  Menschen)  mit  einem  positiven  Leid  ver- 
bundene Anstrengung,  und  sie  ist  andererseits  ein  Mittel  zur  Erreichung 
vielseitiger  Genußzwecke.  Wer  also  Arbeit  zu  einem  bestimmten  Nutz- 
zwecke anwendet,  bringt  einerseits  das  positive  Opfer  an  Pla^e,  anderer- 
seits das  negative  Opfer  an  anderweitigen  Genüssen,  die  man  mit  derselben 
Arbeit  hätte  erreichen  können.  Es  fragt  sich  nun,  wie  wird  hier  das  für 
einen  konkreten  Nutzzweck  gebrachte  Opfer  richtig  zu  berechnen  sein? 

Man  muß  zusehen,  wie  der  Stand  an  Lust  und  Leid  gewesen  wäre, 
wenn  wir  die  Arbeit  nicht  zu  unserem  konkreten  Nutzzweck  verwendet, 
sondern  sonst  rationell  über  sie  verfügt  hätten.  Die  Differenz  weist  offen- 
bar die  Wohlfahrtseinbuße  auf,  welche  unser  Nutzzweck  uns  kostet.  Hand- 
haben wir  diese  Differenzmethode,  so  können  wir  uns  sehr  bald  über- 
zeugen, daß  das  durch  Aufwendung  der  Arbeit  gebrachte  Opfer  bald 
nach  der  positiven  Plage,  bald  nach  dem  negativen  Genußentgang,  nie 
aber  nach  beiden  zugleich  zu  bemessen  ist. 

Es  kommt  nämlich  darauf  an,  ob  wir  uns  mittelst  des  aufge- 
wendeten Arbeitstages  auch  sonst  hätten  einen  Genuß  ver- 
schaffen können,  der  größer  ist,  als  das  Leid,  welches  uns 
die  eintägige  Arbeitsplage  verursacht  —  oder  nicht.  Gesetzt 
wir  empfinden  die  Plage  eines  Arbeitstages  als  ein  Leid,  dessen  Größe  sich 
durch  die  Verhältniszahl  10  bezeichnen  läßt;  wir  verwenden  faktisch  den 
Arbeitstag  zum  Fange  von  drei  Fischen,  die  uns  einen  Genuß  verschaffen, 
dem  die  Verhältniszahl  15  entspricht,  und  wir  fragen  nach  der  Größe  des 
Opfers,  das  uns  die  Erlangung  der  drei  Fische  kostet:  so  werden  wir  unter- 
scheiden müssen,  ob  uns,  wenn  wir  uns  nicht  auf  den  Fischfang  begeben 
hätten,  die  Mögüchkeit  offen  gestanden  wäre,  mittelst  des  Arbeitstages 
uns  eine  anderweitige,  die  Verhältniszahl  10  übersteigende  Befriedigung 
zu  verschaffen  oder  nicht.  Stand  uns  eine  solche  Möglichkeit  nicht  offen, 
so  hätten  wir  es  offenbar  vorgezogen,  ganz  zu  ruhen.  Was  uns  unsere 
drei  Fische  in  diesem  Falle  kosten,  ist  das  Arbeitsleid  von  der  Größe 
10-,  dem  wir  uns  sonst  nicht  unterzogen  hätten.    Eine  Einbuße  an  ander- 


254  IX.  Die  Abstinenztheorie. 

weitigen  Genüssen  kommt  dagegen  hier  nicht  in  Frage,  weil  wir  auch 
sonst  keine  solchen  uns  verschafft  hätten.  —  Stand  uns  dagegen  die 
Möglichkeit  offen,  auch  außerhalb  des  Fischfanges  einen  die  Verhältnis- 
zahl 10  übersteigenden  Genuß  mittelst  des  Arbeitstages  zu  erlangen, 
konnten  wir  z.  B.  durch  eintägige  Jagd  uns  drei  Hasen  im  Werte  von 
12  verschaffen,  dann  wären  wir  vernünftiger  Weise  auf  keinen  Fall  müßig 
geblieben,  sondern  hätten  statt  zu 'fischen  gejagt.  Was  uns  jetzt  unsere 
Fische  in  Wahrheit  kosten,  ist  nicht  das  positive  Arbeitsleid  mit  der 
Größe  10  —  denn  dieses  hätten  wir  auch  sonst  auf  uns  genommen  — 
sondern  die  negative  Einbuße  eines  Gütergenusses  von  der 
Größe  12,  den  wir  uns  andernfalls  verschafft  hätten.  —  NatürUch  dürfen 
wir  aber  endlich  nie  den  Genußentgang  und  das  Arbeitsleid  kumulativ 
aufrechnen:  denn  so  wenig  wir,  wenn  wir  nicht  auf  den  Fischfang  gezogen 
wären,  uns  das  Arbeitsleid  hätten  ersparen  und  doch  den  Wildgenuß  hätten 
erlangen  können,  ebensowenig  werden  wir,  wenn  wir  auf  den  Fischfang 
ziehen,  durch  ihn  beider  Vorteile  verlustig. 

Das  Gesagte  gibt  den  Stoff  zu  einer  allgemeinen  Regel,  die  im  prak- 
tischen Leben  ebenso  rasch  als  sicher  gehandhabt  wird,  und  die  sich  in 
folgende  Worte  kleiden  läßt:  Wenn  wir  für  einen  Nutzzweck  Arbeit 
aufwenden,  so  ist  das  hiemit  gebrachte  Opfer  jedesmal  an 
derjenigen  von  den  zwei  in  Betracht  kommenden  Wohlfahrts- 
einbußen zu  berechnen,  welche  an  Größe  überwiegt;  am 
Arbeitsleid,  wenn  kein  überwiegender  anderweitiger  Genuß- 
nutzen in  Aussicht  stand;  an  letzterem,  falls  die  Möglichkeit 
eines  solchen  sich  zeigte;  nie  an  beiden  zugleich.  —  Da  nun 
ferner  im  heutigen  Wirtschaftsleben  nicht  nur  die  Möglichkeit,  sondern 
für  die  meisten  Menschen  auch  die  Nötigung  zu  bestehen  pflegt,  ihre 
Arbeit  jedenfalls  zu  irgend  welchen  Erwerbszwecken  zu  verwerten,  so 
tritt  der  erste  der  bezeichneten  Fälle  nur  selten  und  ausnahmsweise  ein: 
wir  schätzen  also  heutzutage  das  Arbeitsopfer  ganz  -überwiegend  nicht 
nach  der  Arbeitsplage,  sondern  nach  dem  entgangenen 
Gewinn^). 

Hiemit  habe  ich  endlich  den  Punkt  erreicht,  an  dem  sich  der  wirkliche 
Einfluß  des  zeitlichen  Moments  auf  die  Opfergröße  nachweisen  läßt.  Es 
ist  nämlich  eine  Tatsache  —  auf  welchem  Grunde  sie  beruht,  gehört  noch 
nicht  hieher  — ,  daß  wir  unter  sonst  gleichen  Umständen  einen  gegen- 
wärtigen Genuß  einem  künftigen  vorziehen.  Haben  wir  daher  die  Aus- 
wahl, ein  Befriedigungsmittel,  z.  B.  Arbeit,  entweder  zur  Befriedigung 
eines  gegenwärtigen  oder  eines  künftigen  Bedürfnisse^  zu  verwenden,  so 


^  Vgl.  hierüber  meinen  Aufsatz  über  den  ,, letzten  Maßstab  des  Güterwertes" 
in  der  Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Sozialpolitik  und  Verwaltung,  III.  Band  S.  186 ff., 
besonders  201ff.;  ferner  auch  den  Abschnitt  „Wert"  und  speziell  dessen  Unterabschnitt 
VIII  in  der  zweiten  Hauptabteilung  dieses  Werkes. 


Kritik  der  Seniorschen  Lehre.  255 

wird  das  Lockende  des  momentanen  Genusses  die  Entscheidung  zu  Gunsten 
des  künftigen  Nutzens  erschweren.  Entscheiden  wir  uns  aber  den- 
noch für  ihn,  so  wird,  indem  wir  die  Größe  des  hiefür  ge- 
brachten Opfers  an  der  Größe  des  entgangenen  Nutzens 
messen,  der  Lockreiz  des  Augenblicklichen,  der  an  dem 
letzteren  haftet,  die  Wagschale  beschweren,  und  uns  das 
Opfer  als  ein  härteres  erscheinen  lassen,  als  es  uns  außerdem 
erschienen  wäre.  Nicht  als  ob  wir  hierin  ein  zweites  Opfer  brächten. 
Ob  wir  zwischen  zwei  gegenwärtigen,  oder  zwischen  zwei  künftigen,  oder 
zwischen  einem  gegenwärtigen  und  einem  künftigen  Nutzen  zu  wählen 
haben:  wir  bringen  immer  nur  das  eine  Opfer  Arbeit.  Aber  da  wir,  wie 
oben  auseinandergesetzt,  die  Größe  dieses  Opfers  in  aller  Regel  an  der 
Größe  des  entgangenen  Nutzens  messen,  fheßt  bei  dieser  Schätzung  die 
Rücksicht  auf  den  Reiz  der  früheren  Befriedigung  mit  ein  und  hilft  den 
Anschlag  des  einen  Opfers  höher  heben,  als  er  sonst  gewesen  wäre.  Dies 
ist  der  wahre  Tatbestand,  dem  Senior  in  seiner  Theorie  eine  fehlerhafte 
Auslegung  gegeben  hat^). 

^)  Auch  in  jener  Minderzahl  von  Fällen,  in  denen  das  Arbeitsopfer  am  Arbeits- 
leid gemessen  wird,  kann  das  zeitliche  Moment  des  Grenußauf Schubes  kein  zweites 
selbständiges  Opfer  begründen.  Denn  die  Schätzung  nach  dem  Arbeitsleid  tritt,  wie 
wir  uns  überzeugt  haben,  nur  dann  ein,  wenn  das  letztere  jeden  anderweitigen  aus  der 
Arbeit  zu  erzielenden  Nutzen  —  einschließlich  aller  Reize  des  Momentanen,  die  an  ihm 
haften  mögen  —  übersteigt,  und  weim  daher  die  Wahl  vernünftiger  Weise  nur  schweben 
konnte  zwischen  dem  konkreten  künftigen  Nutzzweck,  dem  die  Arbeit  wirklich  zuge- 
wendet wurde,  und  der  gänzlichen  Ruhe.  Da  also  hier  ein  anderweitiger  früherer  Güter- 
genuß gar  nicht  in  Frage  stand,  kann  er  natürlich  auch  in  keinerlei  Weise  ein  Element 
der  Opferschätzung  werden.  —  Macfarlanes  gegenteilige  Meinung  (value  and  dis- 
tribution  S.  179),  welcher  grundsätzlich  das  mit  der  Arbeit  verbundene  Leid  und  daneben 
noch  ,,an  additional  allowance"  für  den  Genußaufschub  als  Opfer  rechnen  zu  dürfen 
und  zu  müssen  glaubt,  scheint  mir  schlechterdings  nicht  haltbar  zu  begründen;  siehe 
auch  noch  die  Besprechung  der  MARSHALLSchen  Zinstheorie  im  Anhang  dieses  Bandes.  ■ — 
In  der  ersten  Auflage  dieses  Werkes  hatte  ich  endlich  einen  weiteren  Einwand  gegen 
Seniors  Abstinenztheorie  auch  noch  daraus  abgeleitet,  daß  Seniors  Zinstheorie  in  eine 
Kostenwerttheorie,  welche  notorisch  nur  für  einen  Teil  der  Güter,  nämlich  für  die  be- 
liebig reproduzierbaren  Güter,  Geltung  haben  kann,  eingeschaltet  sei,  und  daher  besten- 
falls selbst  keine  universelle,  sojidern  nur  eine  partikuläre  Zinstheorie  sein  könnte. 
In  der  Erwägung,  daß  das  Feld,  auf  dem  der  landesübliche  Zinsfuß  sich  feststellt,  gerade 
die  den  Nivellieningstendenzen  offenen  Untemehmungszweige  sind,  glaube  ich  —  hierin 
ebenfalls  einer  Anregung  Macfarlanes  (a.  a.  0.  S.  181)  folgend  —  jenen  Einwand 
nicht  weiter  aufrecht  erhalten  zu  sollen.  Derselbe  hatte  übrigens  in  meiner  Schätzung 
keineswegs,  wie  in  den  Augen  Macfarlanes  (a.  a.  0.  S.  224)  als  die  ,,most  serious  ob- 
jection",  sondern  nur  als  ein  ziemlich  nebensächlicher  Einwand  gegolten,  während  ich 
den  durchschlagendsten  Grund  gegen  die  Abstinenztheorie  damals  wie  jetzt  in  der 
sachlich  wie  logisch  unzulässigen  Doppelrechnung  mit  einem  schon  in  einem  anderen 
Kostenelement  enthaltenen  und  berücksichtigten  Faktor  erblicke:  es  ist  ein  Fehler 
von  derselben  logischen  Struktur,  wie  mir  ihn  die  Nutzungstheorie  mit  ihrer  separaten 
Aufrechnung  einer  doch  schon  im  Gutswert  inbegriffenen  Gutsnutzung  zu  begehen 
scheint  I 


256  IX-  I^i®  Abstinenztheorie. 

Ich  bitte  den  geneigten  Leser  zu  entschuldigen,  daß  ich  ihn  bei  diesen 
abstrakten  Ausführungen  so  lange  festgehalten  habe.  Sie  enthalten  indes 
das  wichtigste  theoretische  Moment  gegen  eine  sehr  ernsthaft  zu  nehmende 
Lehre,  die  man  bis  jetzt  zwar  oft  verworfen,  aber  meines  Erachtens  noch 
niemals  widerlegt  hat,  und  ich  für  meine  Person  halte  es  für  den  kleineren 
Fehler,  übergenau  zu  untersuchen,  ehe  man  abspricht,  als  abzusprechen, 
ohne  untersucht  zu  haben. 

Seniors  Abstinenztheorie  hat  unter  den  zinsfreundlichen  National- 
ökonomen große  Popularität  errungen;  wie  es  indes  scheint,  nicht  so  sehr 
wegen  ihrer  relativen  theoretischen  Vorzüge,  als  weil  sie  dem  Bedürfnisse 
der  Zeit,  dem  hart  angegriffenen  Kapitalzinse  eine  Stütze  zu  bieten, 
günstig  entgegenkam.  Ich  schüeße  auf  dieses  Verhältnis  aus  dem  eigen- 
tümlichen Umstände,  daß  die  überwiegende  Mehrzahl  ihrer  späteren 
Vertreter  sich  nicht  zu  ihr  ausschließlich  bekannt,  sondern  nur  Elemente 
der  Abstinenztheorie  zu  anderen  zinsfreundüchen  Theorien  eklektisch 
hinzugefügt  hat.  Es  ist  dies  ein  Vorgang,  der  einerseits  auf  eine  gewisse 
Geringschätzung  des  streng  theoretischen  Momentes,  das  man  durch  eine 
buntscheckige  Häufung  widersprechender  Erklärungen  gröblich  zu  ver- 
letzen keinen  Anstand  nimmt,  und  andererseits  auf  eine  Bevorzugung  des 
praktisch-politischen  Standpunktes  deutet,  dem  damit  gedient  war,  wenn 
nur  recht  viele  Gründe  für  die  Rechtmäßigkeit  des  Zinses  ins  Treffen 
geführt  wurden,  sei  es  auch  auf  Kosten  der  theoretischen  Einheit  und 
Konsequenz. 

Wir  werden  daher  der  Mehrzahl  der  Bekenner  von  Seniors  Abstinenz- 
theorie später  unter  den  Eklektikern  begegnen.  Ich  nenne  vorläufig 
unter  den  Engländern  John  Stuart  Mill  und  den  scharfsinnigen  Jevons, 
unter  den  Schriftstellern  französischer  Sprache  Rossi,  Molinari  und 
Josef  Garnier,  unter  den  Deutschen  vor  allen  Röscher  mit  seinem 
zahlreichen  Anhange,  dann  Scnüz  und  Max  Wirth. 

Unter  denjenigen  Schriftstellern,  welche  die  Abstinenztheorie  reiner 
bewahrten,  wäre  etwa  hervorzuheben  der  Engländer  Cairnes,  der  sich 
in  seiner  geistvollen  Abhandlung  über  die  Produktionskosten  i)  im  wesent- 
lichen auf  Seniors  Standpunkt  stellt;  der  Schweizer  Cherbuliez^),  der 
allerdings,  indem  er  den  Zins  als  ein  Entgelt  für  die  „Anstrengung  der 
Enthaltung"  (les .  eff orts  de  l'abstinence)  erklärt,  auf  der  Grenzscheide 
zwischen  der  Abstinenztheorie  und  einer  eigentümlichen  Variante  der  Arbeits- 
theorien steht,  die  wir  im  nächsten  Abschnitte  genauer  kennen  lernen 
werden;  der  Italiener  Wollemborg,  der  nach  dem  Vorgange  von  Senior 
und  Cairnes  das  Wesen  der  Produktionskosten  scharfsinnig  untersucht 

1)  Some  leading  Principles  of  Political  Economy  1874  (neuer  Abdruck,  London 
1883);  Chapt.  III. 

^)  Pröcis  de  la  Science  Economique,  Paris  1862;  besonders  Band  I  S.  161,  402ff. 


Seniors  Nachfolger.    Bastiat.  257 

hat^);  und  aus  den  Deutschen  Karl  Dietzel,  der  freilich  das  Problem 
nur  gelegentlich  und  flüchtig  streift  2). 

Da  keiner  der  letztgenannten  Schriftsteller  die  SENioRsche  Abstinenz- 
theorie durch  einen  wesentlichen  neuen  Zug  bereichert  hat,  ist  ein  genaues 
Eingehen  auf  ihre  Lehre  nicht  notwendig.  Dagegen  muß  ich  in  diesem 
Abschnitte  noch  eines  Schriftstellers  ausführlich  gedenken,  dessen  Theorie 
seinerzeit  großes  Aufsehen  erregte  und  bis  auf  den  heutigen  Tag  3)  einen 
bedeutenden  Einfluß  behauptet:  Frederic  Bastiat. 

Bastiats  vielumstrittene  Zinstheorie  läßt  sich  als  eine  in  die  Formen 
der  BASTiATSchen  Werttheorie  eingezwängte  und  bei  dieser  Gelegenheit 
stark  verschlechterte  Kopie  der  SENioRschen  Abstinenztheorie  charakte- 
risieren. Der  Grundgedanke  ist  bei  beiden  identisch:  der  Genußaufschub  — 
Senior  sagt  „abstinence",  Bastiat  bald  „delai",  bald  „privation"  — 
ist  ein  Opfer,  das  eine  Vergütung  heischt.  In  der  weiteren  Verknüpfung 
gehen  sie  etwas  auseinander. 

Senior,  der  den  Wert  der  Güter  aus  den  Produktionskosten  ableitet, 
erklärt  einfach  jenes  Opfer  für  einen  Bestandteil  der  Produktionskosten, 
und  ist  damit  am  Ziele.  Bastiat,  der  als  Grundlage  des  Güterwertes 
ausschließlich  ausgetauschte  „Dienste"  anerkennt,  erhebt  auch  den  Auf- 
schub zu  einem  Dienst:  „Der  Aufschub,  an  sich  allein,  ist  ein  spezieller 
Dienst,  da  er  dem,  der  ihn  gewährt,  ein  Opfer  auferlegt,  und  dem,  der  ihn 
begehrt,  einen  Vorteil  zubringt"  *).  Dieser  „Dienst"  muß  nach  dem  großen 
Gesetze  der  Gesellschaft,  das  da  lautet  „Dienst  für  Dienst",  besonders 
bezahlt  werden.  Die  Bezahlung  geschieht,  falls  der  Kapitalist  sein  Kapital 
einem  anderen  geborgt  hat,  durch  den  Darlehenszins  (int§ret).  Aber 
auch  außerhalb  des  Darlehensfalles  muß  jener  Dienst  vergütet  werden; 
denn  es  muß  ganz  allgemein  jeder,  der  eine  Befriedigung  empfängt,  auch 
die  sämtlichen  Lasten  tragen,  welche  die  bezügliche  Produktion  erfordert 
hat,  mit  Inbegriff  des  Aufschubes.  Letzterer  wird  als  ein  „oneroser  Um- 
etand"  angesehen  und  bildet  darum  ganz  allgemein  ein  Element  der 
Schätzung  der  Dienste,  und  damit  auch  der  Wertbildung  der  Güter  s).  — 
Dies  ist,  knapp  zusammengefaßt,  der  Kern  dessen,  was  Bastiat   mit 

*)  Intorno  al  costo  relative  di  produzione  etc.,  Bologna  1882. 

*)  System  der  Staatsanleihen,  Heidelberg  1885,  S.  48:  „Der  Darleiher  des  Kapitales 
gründet  seinen  Anspruch  auf  eine  Vergütung  für  die  überlassene  Benutzung  desselben 
einerseits  darauf,  daß  er  darauf  verzichtete,  seine  eigene  Arbeitskraft  an  dem  Gegen- 
stande zu  verwerten,  andererseits  darauf,  daß  er  darauf  verzichtete,  ihn  selbst  oder 
seinen  Wert  sofort  zu  unmittelbarem  Genuß  zu  konsumieren.  Hierauf  beruht  der  Eapital- 
zins,  der  uns  jedoch  an  dieser  Stelle  nicht  weiter  interessiert." 

')  Geschrieben  im  Jahre  18841 

*)  Harmonies  Econoraiques  (Band  VI  der  oeuvres  complötes)  III.  Aufl.,  Paris  1855, 
S.  210.  Vergl.  auch  die  unmittelbar  vorausgehenden  Ausführungen  auf  S.  207 — 209, 
und  überhaupt  den  ganzen  Abschnitt  VII. 

»)  VII,  213. 
Böbm-Bawerk  ,  Eapitalzins.   4.  Aufl.  17 


258  IX.  Die  Abstinenztheorie. 

rhetorischer  Weitsch  ;veif igkeit  und  häufigen  Wiederholungen  über  unseren 
Gegenstand  lehrt. 

Ich  nannte  seine  Lehre  eine  stark  verschlechterte  Kopie  Seniors. 
Wenn  ich  von  jenen  Mängeln  ganz  absehe,  die  der  BASxiATschen  Zins- 
theorie nicht  aJs  solcher,  sondern  nur  wegen  ihrer  Einkleidung  in  die  — 
meines  Erachtens  sehr  mangelhafte  —  Werttheorie  Bastiats  anhaften, 
so  bezieht  sich  die  Verschlechterung  namentlich  auf  zwei  Punkte. 

Erstlich  darauf,  daß  Bastiat  seine  Aufmerksamkeit  und  Beweis- 
führung fast  ganz  auf  eine  Nebensache,  nämlich  auf  die  Erklärung  des 
ausbedungenen  Kapitalzinses  beschränkt,  und  darüber  die  Hauptsache, 
die  Erklärung  des  ursprünglichen  Kapitalzinses,  vernachlässigt.  Sowohl 
in  seinen  Harmonies  Economiques  als  auch  in  seiner  dem  Zinsprobleme 
speziell  gewidmeten  Monographie  Capital  et  Rente  ^)  wird  er  nicht  müde, 
sich  in  seitenlangen  Ausführungen  über  die  Erklärung  und  Rechtfertigung 
des  Darlehenszinses  zu  ergehen.  Zur  Erklärung  des  ursprünglichen  Kapital- 
zinses wendet  er  dagegen  seine  Theorie  nur  ein  einzigesmal  und  auch  da 
nur  im  flüchtigen  Vorbeigehen  an:  in  der  oben  zitierten  Stelle  (Harmonies, 
3.  Aufl.  S.  213),  die  an  Deutlichkeit  und  Ausführlichkeit  gar  manches  zu 
wünschen  übrig  läßt. 

Die  Folgen  dieser  Vernachlässigung  machen  sich  namentlich  darin 
fühlbar,  daß  das  Hauptmotiv  der  Zinserklärung,  das  Opfer  des  Aufschubes, 
bei  Bastiat  in  seinem  Wesen  lange  nicht  so  klar  gestellt  wird  als  bei 
Senior.  Indem  nämlich  Bastiat  den  Kapitaleigentümer  dem  borgenden 
Schuldner  gegenüberstellt,  weist  er  als  Opfer  des  Ersten  gewöhnlich 
den  Entgang  des  produktiven  Nutzens  auf,  der  in  der  Zwischenzeit  vom 
geliehenen  Kapitale  hätte  gezogen  werden  können  2),  Das  hat  einen  ganz 
guten  Sinn,  wenn  man  nichts  anderes  beabsichtigt,  als  was  einst  Sal- 
MAsiüs  gegen  die  Kanonisten  darzulegen  beabsichtigt  hatte;  zu  erklären 
nämlich,  daß,  wenn  man  mit  einem  Kapitale  einen  ursprünglichen  Gewinn 
machen  kann,  es  selbstverständlich  und  gerecht  ist,  auch  für  geliehene 
Kapitalien  einen  Zins  zu  fordern.  Dagegen  ist  der  Hinweis  auf  jenes  Opfer 
offenbar  ganz  ungeeignet,  den  ursprünglichen  KapitaJzing  selbst  und  damit 
überhaupt  das  Zinsphänomen  endgiltig  zu  erklären:  denn  man  setzt 

^)  1849  erschienen.    Oeuvres  complötes,  4.  Aufl.  V.  Bd.  S.  22ff. 

•)  Si  l'on  penötre  le  fond  des  choses,  on  trouve  qu'en  ce  cas  le  c§dant  se  prive 
en  faveur  du  cessionaire  ou  d'une  satisfaction  imm6diate  qu'il  recule  de  plusieurs 
annöes,  ou  d'un  instrument  de  travail  qui  aurait  augmentö  ses  forces,  fait  con- 
courirlesagentsnaturels,  etaugment^,  kson  profit,  lerapportdes  satisfactions 
aux  efforts."  (VII,  209.)  „II  ajoume  la  possibilitö  d-une  production  . .  .'- 
„Je  l'emploierai  pendant  dix  ans  sous  une  forme  productive."  (XV,  446f.)  Ähnlich 
oft  in  der  Schrift  „Capital  et  Rente";  z.  B.  S.  44.  Jacques,  der  einen  Hobel  ange- 
fertigt und  ihn  nun  an  Guillaume  für  ein  Jahr  verliehen  hat,  macht  als  Grund  für 
seine  Zinsforderung  geltend:  „J'en  attendais  un  avantage,  un  travail  plus  achev^  et. 
mieux  retribu6,  une  am61ioration  dans  mon  sort.  Je  ne  puis  te  c6der  tout  cela  gra- 
toitement." 


Bastiat.  35Q 

dabei  die  Exsitenz  des  ursprünglichen  Eapitalzinses  bereits  als  gegebene 
Tatsache  voraus. 

Für  die  tiefere  Erklärung  des  Eapitalzinses  kann  vidmehr  offenbar 
nur  jenes  andere  Opfer  Bedeutung  haben,  auf  das  sich  Senior  beruft  und 
das  im  Aufschub  von  Bedürfnisbefriedigungen  besteht.  Von  diesem  Opfer 
spricht  nun  Bastiat  allerdings  auch,  aber  die  Einmischung  jenes  ersten 
Opfers  verwirrt  seine  Lehre;  und  zwar,  wie  mir  scheint,  nicht  bloß  für 
seine  Leser,  sondern  auch  für  ihn  selbst.  Wenigstens  finden  sich  in  seinen 
Schriften,  zumal  in  der  Abhandlung  über  Kapital  und  Rente,  gar  nicht 
wenige  Stellen,  in  denen  er,  von  seiner  Abstinenztheorie  abspringend,  sich 
dem  Standpunkte  der  naiven  Produktivitätstheoretiker  bedenklich  an- 
nähert. Statt  daß  er,  wozu  er  in  der  wiederholt  berufenen  Stelle  der  „Har- 
monies"  den  Weg  gewiesen  hatte,  den  Mehrwert  des  kapitalistisch  er- 
zeugten Produktes  aus  der  Notwendigkeit  erklären  würde,  daß  die  Käufer 
des  Produktes  neben  der  darin  steckenden  Arbeit  auch  den  „onerosen 
Umstand"  des  Grenußaufschubes  vergüten  müssen,  sieht  er  es  nicht  selten 
als  selbstverständlich  an,  daß  das  Kapital  wegen  der  produktiven 
Kraft,  die  in  ihm  liegt,  seinem  Besitzer  zu  einem  „Vorteil",  zu  einem 
„Gewinn",  zu  erhöhten  Produktionspreisen  und  zu  einer  Verbesserung 
seines  Loses,  mit  einem  Worte  zu  einem  Kapitalgewinn  verhelfen  muß^). 
Das  heißt  aber,  wie  wir  bereits  wissen,  den  Kapitalzins  nicht  erklären, 
sondern  präsumieren. 

Es  ist  denn  in  der  Tat  schon  mehrfach  gegen  Bastiat  der  Vorwurf 
erhoben  worden,  daß  er  der  Hauptsache,  der  Erklärung  des  ursprünglichen 
Kapitalzinses,  ganz  aus  dem  Wege  gegangen  sei:  ein  Vorwurf,  der  zwar 
nicht  ganz  richtig,  aber  nach  dem  Gesagten  sehr  leicht  erklärlich  ist*). 

Dies  die  erste  Verschlechterung  gegenüber  Senior.  Die  zweite  Ver- 
schlechterung besteht  in  einer  wunderlichen  Zugabe.  Bastiat  gibt  nämlich 
neben  der  dargestellten  Erklärung  des  Zinses  noch  eine  zweite,  die  so 
heterogener  Art  und  dabei  zugleich  so  offenbar  vergriffen  ist,  daß  ich  nicht 
einmal  eine  Vermutung  darüber  aufstellen  kann,  wie  sich  Bastiat  das 
Verhältnis  dieser  zweiten  Erklärung  zu  seiner  Haupterklärung  dachte. 

Jede  Produktion,  erklärt  Bastiat,  ist  ein  Inbegriff  von  Anstren- 


^)  So  setzt  z.  B.  Bastiat  in  „Capital  et  Rente"  S.  40  voraus,  daß  der  geliehene 
Sack  Saatgetreide  den  Schuldner'  in  den  Stand  setzt,  une  valeur  snp^rieure  zu  er- 
zeugen. Auf  S.  43  macht  er  die  Leser  in  aüsdräcklichen  Worten  darauf  aufmerksam, 
daß  „die  Grundlage  der  Lösung"  der  Zinsfrage  die  im  Werkzeug  liegende  Macht 
ist,  die  Produktivität  der  Arbeit  zu  erhöhen.  Weiter  sagt  er  auf  S.  46:  „nous 
pouvons  conclure  qn'il  est  dans  la  nature  du  capital  de  produire  un  intSrIt";  auf 
S.  64:  „. . .  l'outil  met  Temprunteur  a  m&ne  de  faire  des  prof its."  Auch  ist,  wie  aus 
der  Einleitung  zur  Broschüre  Capital  et  Rente  hervorgeht,  die  Tendenz  der  letzteren, 
die  „Produktivität  des  Kapitales"  gegen  die  Angriffe  der  Sozialisten  zu  verteidigen. 

•)  Vgl.  z.  B.  Rodbkbtus,  Zur  Beleuchtung  der  sozialen  Frage  I,  116f.,  Pier- 
8TOBFF  a.  a.  0.  S.  202f. 

17* 


2G0  IX.  Die  Abstinenztheorie. 

gungen.  Aber  innerhalb  der  letzteren  ist  eine  wesentliche  Unterscheidung 
zu  ziehen.  Eine  Kategorie  von  Anstrengungen  kommt  nämlich  bloß  der 
Entstehung  "eines  einmaligen  Produktes,  der  Leistung  eines  einmaligen 
Dienstes,  zu  Gute ;  eine  zweite  Kategorie  von  Anstrengungen  hilft  dagegen 
einer  unbestimmten  Reihe  von.  Produkten  oder  Diensten  zur  Entstehung. 
In  die  erste  Kategorie  gehören  z.  B.  die  täglichen  Anstrengungen  des 
Wasserträgers,  die  direkt  auf  die  Beförderung  des  Wassers  gerichtet  sind; 
oder,  im  Gebiete  der  Landwirtschaft,  die  Arbeiten  des  Säens,  Jätens, 
Pflügens,  Eggens,  Erntens,  Dreschens,  die  sich  sämtlich  nur  auf  das  Zu- 
standekommen einer  einzelnen  Ernte  beziehen.  In  die  zweite  Kategorie 
gehört  dagegen  die  Arbeit,  die  der  Wasserträger  auf  die  Verfertigung 
seines  Karrens  und  seiner  Tonne,  der  Landwirt  auf  Einhegungen,  Ur- 
barungen,  Entwässerungen,  Bauten,  überhaupt  auf  Verbesserungen  ver- 
wendet: alle  diese  Arbeiten,  die,  wie  die  Ökonomisten  sagen,  zur  Ent- 
stehung eines  fixen  Kapitales  führen,  kommen  einer  ganzen  Reihe  von 
Kunden,  beziehungsweise  von  Ernten  zu  Gute^). 

Bastiat  wirft  nun  die  Frage  auf,  wie  nach  dem  großen  Gesetze  „Dienst 
um  Dienst"  diese  beiden  Kategorien  von  Bemühungen  geschätzt  und 
entlohnt  werden  sollen?  Er  findet  das  rücksichtlich  der  ersten  Kategorie 
sehr  einfach:  die  ihr  angehörigen  Dienste  müssen  zur  Gänze  von  denjenigen 
vergütet  werden,  denen  sie  zugute  kommen.  Das  geht  aber  bei  der  zweiten 
Kategorie,  die  zur  Entstehung  eines  „fixen  Kapitales"  führt,  nicht  an; 
denn  die  Reihe  derer,  denen  dieses  Kapital  zugute  kommt,  ist  unbestimmt. 
Würde  der  Produzent  sich  dasselbe  von  den  ersten  Kunden  bezahlen 
lassen,  so  wäre  das  ungerecht;  denn  erstlich  würden  unbilligerweise  die 
Ersten  für  die  Letzten  zahlen,  und  außerdem  müßte  ein  Zeitpunkt  ein- 
treten, in  dem  der  Produzent  zugleich  das  noch  nicht  verzehrte  Anlage- 
kapital und  auch  schon  seine  Vergütung  hätte,  was  wieder  eine  Unge- 
rechtigkeit in  sich  schließt 2).  Folglich  —  schließt  Bastiat  mit  einem 
gewaltigen  logischen  Salto  mortale  —  läßt  sich  die  Repartition  auf  die 
unbestimmte  Kundenzahl  nicht  anders  vollziehen,  als  indem  man  das 
Kapital  selbst  nicht  repartiert,  dafür  aber  die  Kunden  mit  den  Interessen 
des  Kapitales  belastet;  ein  Auskunftsweg,  den  Bastiat  für  den  einzig 
denkbaren  zur  Lösung  jenes  Problemes  erklärt  3),  und  der,  von  dem  „in- 
geniösen" natürlichen  Gesellschaftsmechanismus  von  selbst  dargeboten, 
uns  der  Mühe  überhebt,  ihm  einen  künstlichen  Mechanismus  zu  sub- 
stituieren *). 

1)  VII,  214ff. 

»)  VII,  216. 

•)  ,,....  et  je  d§fie  qu'on  puisse  imaginer  une  teile  repartition  en  dehors  du  m6ca- 
nisme  de  Tint^ret"  VII,  217. 

*)  ,,Reconnaissons  donc  que  le  m6canisme  social  naturel  est  assez  ing6nieux  pour 
qua  nous  puissions  nous  dispenser  de  lui  substituer  un  m^canisme  artificiel"  (S.  216 
am  Ende). 


Bastiat.  261 

So  erklärt  denn  Bastiat  die  Zinsen  als  die  Form,  in  der  ein  Kapital- 
Vorschuß  auf  eine  Gesamtheit  von  Produkten  repartiert  wird:  „C'est  lä, 
c'est  dans  cette  r^partition  d'une  avance  sur  la  totalit^  des  produits, 
qu'est  le  principe  et  la  raison  d'etre  de  l'Int^ret"  (VII,  205). 

Es  ist  wohl  jedem  Leser  schon  während  der  Lektüre  dieser  Zeilen 
aufgefallen,  daß  Bastiat  in  seiner  Auseinandersetzung  in  einige  un- 
glaublich grobe  Irrungen  verfallen  ist.  Es  ist  erstens  eine  grobe  Irrung, 
daß  man  nicht  imstande  sein  soll,  das  Anlagekapital  selbst  auf  die  Kunden 
zu  repartieren.  Jeder  Geschäftsmann  weiß,  daß  das  möglich  ist,  und 
weiß  auch,  daß  und  wie  das  praktisch  gehandhabt  wird.  Man  berechnet 
einfach  die  wahrscheinliche  Dauer  des  Anlagekapitales,  und  schreibt  nach 
dem  Ergebnisse  dieses  Anschlages  jeder  einzelnen  Betriebsperiode  oder 
jedem  einzelnen  Produkte  eine  entsprechende  Abnützungs-  oder  Amorti- 
sationsquote zur  Last.  Indem  die  Kunden  im  Kaufpreise  der  fertigen 
Ware  die  Amortisationsquote  des  fixen  Kapitales  mitbezahlen,  ist  aller- 
dings „das  Kapital  selbst"  auf  sie  repartiert  Freilich  nicht  absolut  „ge- 
recht", weil  man  sich  in  der  Berechnung  der  wahrscheinlichen  Dauer  des 
Anlagekapitales  und  in  der  darauf  gestützten  Berechnung  der  Abnützungs- 
quote irren  kann:  aber  im  großen  Durchschnitt  werden  die  sukzessiven 
Kundenleistungen  allerdings  dem  zu  amortisierenden  Anlagskapitale 
entsprechen. 

Und  eine  zweite  grobe  Irrung  ist  es,  anzunehmen,  daß  die  Produ- 
zenten den  Kapitalzins  anstatt  des  unrepartierbaren  Kapitales  selbst 
empfangen:  sie  empfangen  vielmehr,  wie  jedermann  weiß,  einerseits  in 
den  Amortisationsquoten  das  Anlagekapital  selbst  zurück,  und  anderer- 
seits, solange  ein  Teil  des  letzteren  noch  aussteht,  daneben  den  Zins, 
der  daher  auf  einer  von  der  Kapitalamortisation  völlig  verschiedenen 
Grundlage  ruht.  Es  ist  wirklich  schwer  begreifhch,  wie  Bastiat  in  so 
einfachen  und  allbekannten  Dingen  sich  irren  konnte. 

Nur  im  Vorübergehen  wiU  ich  zum  Schlüsse  noch  bemerken,  daß 
Bastiat  sein  praktisches  Zinsgesetz,  daß  mit  dem  Anwachsen  des  Kapi- 
tales der  absolute  Anteil  der  Kapitalisten  am  Gesamtprodukt  sich  ver- 
mehrt, und  ihr  relativer  Anteil  sich  vermindert^),  von  Cabey  entlehnt 
hat,  und  in  den  theoretisch  völlig  wertlosen  Versuchen,  den  Beweis  für 
dieses  „Gesetz"  zu  erbringen,  gleich  Carey  die  Begriffe  ,J*rozentsatz 
des  Gesamtproduktes"  und  „Prozentsatz  vom  Kapitale"  (=  Zinsfuß) 
unterschiedslos  durcheinander  wirft. 

Im  ganzen  scheint  mir  sonach  der  Wert  der  BASTiAxschen  Zins- 
doktrin tief  unter  dem  Rufe  zu  strfien,  den  sie,  wenigstens  in  gewissen 
Kreisen,  so  lange  genossen  bat. 

1)  a.  a.  0.  S.  223. 


Die  Arbeitstheorien. 

Unter  diesem  Namen  fasse  ich  eine  Reihe  von  Theorien  zusammen, 
die  darin  übereinkommen,  daß  sie  den  Kapitalzins  als  den  Lohn  einer 
vom  Kapitalisten  dargebrachten  Arbeit  erklären. 

Über  die  Natur  der  „Arbeit",  welche  den  Entlohnungsanspruch  des 
Kapitalisten  begründen  soll,  gehen  die  Ansichten  wieder  ziemlich  erheblich 
auseinander.  Ich  muß  hienach  innerhalb  der  Arbeitstheorien  drei  selb- 
ständige Gruppen  unterscheiden,  die  ich,  weil  sich  zufälligerweise  ihr 
Anhängerkreis  ziemlich  scharf  nach  Nationalitäten  abgrenzt,  als  die 
englische,  die  französische  und  die  deutsche  Gruppe  bezeichnen  will. 


A.  Englische  Gruppe. 

Die  erste  Gruppe  führt  ihre  Zinserklärung  auf  jene  Arbeit  zurück, 
durch  welche  die  Kapitalgüter  selbst  zur  Entstehung  gekommen  sind. 
Diese  Gruppe  wird  hauptsächlich  durch  James  Mill  und  McCulloch 
repräsentiert. 

James  Mill^)  stößt  auf  das  Zinsproblem  in  der  Lehre  vom  Preise 
der  Güter.  Er  hat  den  Satz  aufgestellt,  daß  die  Produktionskosten  den 
Tauschwert  der  Güter  regeln  (S.  93).  Als  Bestandteile  der  Produktions- 
kosten zeigen  sich  auf  den  ersten  Blick  Kapital  und  Arbeit.  Da  aber,  wie 
Mill  genauer  ausführt,  das  Kapital  selbst  durch  Arbeit  entstanden  ist,  so 
lassen  sich  alle  Produktionskosten  auf  Arbeit  allein  zurückführen:  Arbeit 
ist  also  auch  der  alleinige  Regulator  des  Güterwertes  (S.  97). 

Mit  diesem  Satze  scheint  jedoch  die  bekannte  schon  von  Ricardo 
besprochene  Tatsache  nicht  zu  harmonieren,  daß  auch  der  Zeitaufschub 
einen  Einfluß  auf  die  Güterpreise  hat.  Wenn  z.  B.  in  einer  und  derselben 
Saison  ein  Faß  Wein  und  20  Sack  Mehl  mit  der  gleichen  Menge  von  Arbeit 
hervorgebracht  worden  sind,  so  werden  sie  am  Ende  der  Saison  allerdings 


^)  Elements  of  Politicäl  Economy.  Ich  zitiere  nach  einem  im  Jahre  1844  er- 
schienenen Abdruck  der  3.  Auflage  vom  Jahre  1826.  Die  beiden  ersten  Auflagen  (1821 
und  1824)  standen  mir  leider  nicht  zu  Grebot«. 


James  Mill.  263 

auch  den  gleichen  Tauschwert  haben.  Wenn  aber  der  Eigentümer  des 
Weines  diesen  in  den  Keller  legt  und  ein  paar  Jahre  aufbewahrt,  so  wird 
dann  das  Faß  Wein  mehr  wert  sein  als  die  20  Sack  Mehl,  und  zwar  mehr 
wert  sein  um  den  Betrag  des  Kapitalgewinnes,  der  für  die  zwei  Jahre 
entfällt. 

James  Mill  findet  sich  nun  mit  dieser  Störung  seines  Gesetzes  da- 
durch ab,  daß  er  den  Kapitalgewinn  selbst  für  einen  Arbeitslohn  erklärt, 
und  zwar  für  eine  Vergütung  mittelbarer  Arbeit.  „Warum  müssen 
Kapitalgewinne  gezahlt  werden?"  fragt  er.  „Darauf  gibt  es  nur  eine 
Antwort,  daß  sie  die  Vergütung  für  Arbeit  sind;  für  Arbeit,  die  nicht 
unmittelbar  auf  das  in  Frage  stehende  Gut  verwendet  wird,  sondern  darauf 
verwendet  wird  vermittelst  anderer  Güter,  welche  die  Frucht  von  Arbeit 
sind."  Dieser  Gedanke  wird  dann  durch  folgende  Auseinandersetzung 
genauer  erläutert: 

„Ein  Mann  hat  eine  Maschine,  das  Produkt  von  100  Tagen  Arbeit 
Indem  er  die  Maschine  verwendet,  verwendet  der  Eigentümer  ohne  Zweifel 
Arbeit  —  wenn  auch  in  einem  Nebensinne  (secondary  sense)  —  da  er  ja 
etwas  verwendet,  was  nur  durch  das  Medium  der  Arbeit  zu  erlangen  war. 
Setzen  wir  voraus,  daß  die  Dauer  der  Maschine  sich  genau  auf  10  Jahre 
berechnet.  Dann  wird  in  jedem  Jahre  ein  Zehntel  der  Früchte  von  100 
Tagen  Arbeit  ausgegeben,  was  in  Absicht  auf  Kosten  und  Wert  auf  dasselbe 
hinauskommt,  als  wenn  man  sagt,  daß  10  Tage  Arbeit  ausgegeben  worden 
sind.  Der  Eigentümer  muß  für  die  100  Tage  Arbeit,  die  die  Maschine  ihn 
kostet,  nach  der  üblichen  Rate  von  so  und  so  viel  per  Jahr  d.  i.  mit  einer 
zehnjährigen  Annuität  bezahlt  werden,  die  im  Werte  dem  ursprünglichen 
Werte  der  Maschine  gleichkommt^).  Daraus  geht  hervor  (!),  daß  der 
Profit  einfach  eine  Vergütung  für  Arbeit  ist.  Er  mag,  ohne  der  Sprache 
Gewalt  anzutun  (?),  sogar  kaum  ohne  eine  Metapher  zu  gebrauchen,  Lohn 
genannt  werden:  ein  Lohn  jener  Arbeit,  die  nicht  unmittelbar  durch  die 
Hand,  sondern  mittelbar  durch  die  Werkzeuge  geleistet  wird,  welche  die 
Hand  hervorgebracht  hat.  Und  wenn  man  den  Belauf  der  unmittelbaren 
Arbeit  am  Belauf  der  Löhne  bemißt,  so  kann  man  den  Belauf  jener  anderen 
sekundären  Arbeit  am  Belauf  dessen  messen,  was  der  Kapitalist  empfängt." 

Hiemit  meint  James  Mill  sowohl  den  Kapitalzins  befriedigend 
erklärt,  als  auch  sein  Gesetz,  daß  Arbeit  allein  den  Wert  der  Güter  be- 
stimme, unversehrt  erhalten  zu  haben.  Es  liegt  indes  auf  der  Hand,  daß 
ihm  keines  von  beiden  gelungen  ist. 

Es  mag  hingehen,  daß  er  das  Kapital  angehäufte  Arbeit,  daß  er  die 
Anwendung  des  Kapitales  Anwendung  einer  mittelbaren  sekundären 
Arbeit  nennt,  und  daß  er  die  Ausnützung  der  Maschine  als  ratenweise 

^)  Der  Verfasser  meint,  wie  aus  einer  Parallelstelle  S,  100  hervorgeht,  Annuitäten, 
die  den  ursprünglichen  Wert  der  Maschine  in  10  Jahren  ersetzen  und  zugleich  nach 
dem  durch  die  Marktlage  festgesetzten  Zinsfuß  verzinsen. 


264  X'  I^iß  Arbeitstheorien.    A.  Englische  Gruppe. 

Ausgabe  der  angehäuften  Arbeit  ansieht:  aber  waram  wird  denn  jede 
Rate  der  angehäuften  Arbeit  mit  einer  Annuität  bezahlt,  die  mehr  als  den 
ursprünglichen  Wert  derselben  Arbeit,  nämlich  den  ursprünglichen  Wert 
plus  dem  üblichen  Zinssatze  davon  enthält?  Zugegeben,  die  Entlohnung 
des  Kapitales  ist  die  Entlohnung  mittelbarer  Arbeit:  warum  wird  aber 
die  mittelbare  Arbeit  zu  einem  höheren  Satze  als  die  unmittelbare  gelohnt» 
indem  diese  den  nackten  Lohnsatz,  jene  eine  um  den  Zins  höhere  Annuität 
empfängt?  Mill  löst  diese  Frage  nicht,  sondern  benützt  die  Tatsache, 
daß  ein  Kapital  nach  dem  Stande  der  Konkurrenz  auf  dem  Markte  einer 
gewissen,  den  Zins  schon  einschließenden  Annuitätenreihe  gleich- 
wertig ist,  wie  einen  festen  Pol,  als  ob  er  nicht  den  Profit,  also  auch  den 
Profitzusatz,  der  in  der  Annuität  steckt,  erst  zu  erklären  sich  vorgenommen 
hätte. 

Er  sagt  freilich  im  Tone  der  Erklärung:  Gewinn  ist  Arbeitslohn. 
Er  täuscht  sich  aber  sehr  über  die  Erklärungskraft  dieser  Phrase.  Sie 
könnte  allenfalls  genügen,  wenn  Mill  zeigen  könnte,  daß  eine  Arbeit  da 
ist,  die  ihren  normalen  Lohn  noch  nicht  hat  und  ihn  erst  durch  den  Profit 
erhalten  soll;  aber  sie  genügt  keineswegs,  um  eine  Lohnerhöhung  für 
eine  Arbeit  zu  erklären,  welche  schon  durch  die  in  den  Annuitäten  ent- 
haltenen Amortisationsbeträge  normal  entlohnt  ist.  Es  bleibt  hier  eben 
immer  die  Frage  offen,  warum  soll  denn  mittelbare  Arbeit  höher  entlohnt 
werden  als  unmittelbare  Arbeit?  —  eine  Frage,  zu  deren  Lösung  Mill 
auch  nicht  die  kleinste  Andeutung  gegeben  hat. 

Dabei  hat  er  von  seiner  gekünstelten  Konstruktion  nicht  einmal  den 
Vorteil,  daß  er  mit  seiner  Werttheorie  im  Einklang  bliebe:  denn  offenbar 
wird  das  Gesetz,  daß  die  Menge  der  Arbeit  den  Preis  aller  Güter  bestimmen 
soll,  gröblich  verletzt,  wenn  ein  Teil  des  Preises  nicht  auf  die  Menge 
der  geleisteten  Arbeit,  sondern  auf  die  größere  Höhe  des  Lohnes,  den 
sie  empfängt,  zurückgeführt  wird.  Mills  Theorie  bleibt  also  in  jeder 
Beziehung  hinter  dem,  was  sie  leisten  sollte,  erheblich  zurück.  — 

Eine  sehr  ähnliche  Theorie  hat  McCulloch  in  der  ersten  Auflage 
seiner  Principles  of  Political  Economy  (1825)  aufgestellt,  aber  in  den 
späteren  Auflagen  dieses  Werkes  wieder  verlassen.  Ich  habe  dieselbe 
bereits  bei  einer  früheren  Gelegenheit  zur  Darstellung  gebracht,  der  ich 
nichts  mehr  hinzuzufügen  habe^).  —  Flüchtiger  streifen  denselben  Ge- 

^)  Siehe  oben  S.  86ff.  Über  das  Prioritätsverhältnis  zwischen  James  Mill  und 
McCulloch  entnehme  ich  der  inzwischen  (1894)  erschienenen  „History  of  the  theories 
production  and  distribution"  von  Edwin  CAiraAN  S.  206 — 212  folgende  Aufschlüsse. 
Die  erste  Erwähnung  des  Grundgedankens  ihrer  gemeinsamen  Theorie  findet  sich  bei 
McCulloch  in  dessen  Artikel  über  Political  Economy  in  dem  1823  erschienenen  Supp- 
lement zur  Encyclopaedia  Brittannica.  James  Mill  nimmt  denselben  Gedanken  dann 
in  breiterer  Ausführung  in  die  1824  erschienene  zweite  Auflage  seiner  Elements  auf; 
der  im  Text  zitierte,  gegenüber  der  zweiten  Auflage  mehrfach  abgeänderte  Wortlaut 
gehört  der  dritten  Auflage  (1826)  an. 


Courcelle-Seneuil.  265 

danken  endlich  noch  der  Engländer  Read  und  der  Deutsche  Gerstner, 
deren  ich  später  unter  den  Eklektikern  zu  gedenken  haben  werde. 

B.  Französische  Gruppe. 

Eine  zweite  Gruppe  von  Arbeitstheoretikern  erklärt  den  Kapitalzins 
als  den  Lohn  derjenigen  Arbeit,  die  im  Aufsparen  des  Kapitales  liegt 
(travail  d'epargne).  Diese  Theorie  ist  am  eingehendsten  durchgeführt  von 
Courcelle-Seneuil^). 

Nach  Courcelle-Seneuil  gibt  es  zwei  Arten  von  Arbeit:  „Muskel- 
arbeit" und  „Ersparungsarbeit"  (S.  85).  Letzteren  Begriff  erläutert  er 
folgendermaßen:  Damit  ein  einmal  geschaffenes  Kapital  erhalten  werde, 
bedarf  es  einer  fortwährenden  Bemühung  an  Voraussicht  und  Ersparung, 
indem  man  einerseits  an  die  künftigen  Bedürfnisse  denkt,  und  anderer- 
seits, um  dieselben  mit  Eülfe  der  gesparten  Kapitalien  befriedigen  zu 
können,  sich  von  dem  gegenwärtigen  Genüsse  der  letzteren  enthält.  In 
dieser  „Arbeit"  liegt  ein  Akt  der  Intelligenz,  das  „pr6voir",  und  ein  Akt 
des  Willens,  das  Sparen,  das  „sich  enthalten  vom  Genüsse  durch  eine 
gegebene  Zeit". 

Allerdings  scheint  es  auf  den  ersten  Blick  seltsam,  dem  Sparen  den 
Namen  einer  Arbeit  zu  geben.  Allein  dieser  Eindruck  kommt  nach  der 
Ansicht  des  Autors  nur  daher,  weil  wir  gewöhnlich  zu  sehr  nur  auf  das 
Materielle  sehen.  Denkt  man  dagegen  einen  Augenblick  unbefangen  nach, 
so  wird  man  erkennen,  daß  es  dem  Menschen  ebenso  mühsam  (penible) 
ist,  sich  von  der  Verzehrung  eines  geschaffenen  Gutes  zu  enthalten,  als 
mit  seinen  Muskeln  und  seinem  Verstände  zu  arbeiten,  um  ein  gewünschtes 
Gut  zu  erwerben;  und  daß  es  wirklich  einer  besonderen  künstlichen  An- 
strengung von  Verstand  und  Willen,  eines  willkürlichen  Aktes  bedarf,  der 
dem  natürlichen  Hang  zur  Genußsucht  und  Trägheit  entgegenarbeitet, 
wenn  die  Erhaltung  der  Kapitalien  erreicht  werden  soll.  —  Nachdem  der 
Verfasser  diesen  Gedankengang  durch  einen  Hinweis  auf  die  Gewohnheiten 
wilder  Völker  zu  bekräftigen  gesucht  hat,  schließt  er  mit  der  formellen 
Erklärung:  „Wir  betrachten  also  mit  Recht,  und  nicht  bloß  vermöge  einer 
Metapher  das  Sparen  als  eine  Form  industrieller  Arbeit,  und  folglich  als 
eine  produktive  Kraft.  Es  erfordert  eine  Anstrengung,  die  allerdings, 
es  ict  wahr,  von  rein  moralischer  Art,  aber  immerhin  mühsam  ist;  und  es 
trägt  daher  mit  demselben  Rechte  wie  eine  Anstrengung  der  Muskel  den 
Charakter  einer  Arbeit." 

Die  „Spararbeit"  macht  nun  ebensowohl  auf  Entlohnung  Anspruch» 
als  die  „Muskelarbeit".  Während  diese  durch  das  „salaire"  entlohnt  wird, 
findet  jene  die  Entlohnung  im  int§ret,  dem  KapitaJzins  (318).    Daß  dies 

^)  Trait6  tbSorique  et  pratique  d'flconomie  Politiqae  I,  Paris  1858. 


266  X.  Die  Arbeitstheorien.    B.  Französische  Gruppe. 

SO  sein,  und  daß  insbesondere  der  Lohn  der  Spararbeit  ein  wenig  dauernder 
sein  müsse,  erklärt  Coürcelle  folgendermaßen: 

Der  Wunsch,  die  Versuchung,  zu  verzehren,  ist  eine  fortdauernd 
wirkende  Kraft:  man  kann  ihre  Tätigkeit  nicht  anders  hemmen,  als  indem 
man  sie  durch  eine  andere  Kraft  bekämpft,  die  gleichfalls  ewig  dauert. 
Es  ist  klar,  daß  jeder  so  viel  als  möglieh  verzehren  würde,  wenn  er  nicht 
ein  Interesse  hätte  (s'ü  n'avait  pas  int6ret),  sich  der  Verzehrung  zu 
enthalten.  Er  würde  von  dem  Momente  an  aufhören  sich  zu  ent- 
halten, in  dem  er  aufhören  würde,  dieses  Interesse  zu  haben,  welches 
ohne  Unterbrechung  dauern  muß,  damit  die  Kapitalien  immer  erhalten 
bleiben  können:  darum  sagen  wir,  daß  der  Zins  („l'intör^t";  man  beachte 
das  Wortspiel!)  der  Lohn  der  Arbeit  des  Sparens  und  Enthjdtens  ist,  ohne 
den  die  Kapitalien  nicht  dauern  könnten,  und  der  eine  notwendige  Be- 
dingung des  industriellen  Lebens  ist"  (S.  322). 

Die  Höhe  dieses  Lohnes  regelt  sich  „nach  dem  großen  Gesetze  des 
Angebotes  und  der  Nachfrage":  sie  hängt  ab  von  dem  Wunsch  und  der 
Fähigkeit,  eine  Kapitalsumme  reproduktiv  anzuwenden  einerseits,  und 
von  dem  Wunsche  und  der  Fähigkeit  diese  Summe  aufzusparen  andererseits. 

Ich  glaube,  daß  alle  Mühe,  die  sich  der  Verfasser  damit  gegeben  hat, 
die  Spararbeit  als  eine  wahre  Arbeit  darzustellen,  nicht  imstande  ist,  den 
Stempel  des  Erkünstelten  zu  verwischen,  den  diese  Theorie  auf  ihrer  Stirn 
trägt.  Das  Nichtverzehren  eines  Vermögens  eine  Arbeit,  das  mühelose 
Einstreichen  der  Kapitalzinsen  ein  angemessener  Arbeitslohn!  Welch 
dankbares  Feld  für  einen  Kritiker,  der  darauf  ausgehen  wollte,  in  der  Art 
eines  Lassalle  sich  an  die  Eindrücke  und  Stimmungen  des  Lesers  zu 
wenden!  Ich  will  indes,  statt  zu  perorieren,  daß  Coürcelle  Unrecht  hat, 
lieber  durch  Verstandesgründe  auseinander  legen,  warum  er  Unrecht  hat. 

Vor  allem  ist  es  klar,  daß  Coürcelles  Theorie  nur  eine  etwas  ab- 
weichend eingekleidete  Variante  der  SENioRschen  Enthaltungstheorie  ist. 
Überall  wo  Senior  sagt  „Enthaltung"  oder  „Opfer  der  Enthaltung",  sagt 
Coürcelle  „Arbeit  der  Enthaltung";  der  Sache  nach  verwerten  aber 
beide  dieselbe  Grundidee  in  identischer  Weise.  Deshalb  unterliegt  Coür- 
celles Arbeitstheorie  von  vornherein  einem  guten  Teil  der  Einwendungen, 
die  sich  gegen  Seniors  Enthaltungstheorie  erheben,  und  um  derenwillen 
wir  bereits  die  letztere  als  ungenügend  beurteilt  haben. 

Überdies  unterliegt  aber  die  neue  Einkleidung  Coürcelles  noch 
ihren  speziellen  Bedenken. 

Es  ist  zwar  richtig,  daß  Voraussehen  und  Aufsparen  eine  gewisse 
moralische  Mühe  kostet:  aber  das  Vorkommen  einer  Arbeit  bei  einer  Sache, 
in  der  eine  Einnahme  erzielt  wird,  rechtfertigt  es  noch  lange  nicht,  die 
betreffende  Einnahme  als  Arbeitslohn  zu  erklären.  Um  das  zu  können, 
müßte  man  imstande  sein  darzulegen,  daß  die  Einnahme  in  der  Tat  für 
die  Arbeit  und  nur  um  der  Arbeit  willen  gemacht  wird.  Dies  wird  sich 


Courcelle-Seneuil.  267 

wieder  am  hiesten  daraus  ersehen  lassen,  daß  die  Einnahme  dort  auftritt, 
wo  die  Arbeit  geleistet  wird,  dort  fehlt,  wo  die  Arbeit  fehlt,  hoch  ist,  wo 
viel,  niedrig  ist,  wo  wenig  Arbeit  der  bezeichneten  Art  geleistet  wurde. 
Von  einer  solchen  Übereinstimmung  der  vermeintlichen  Ursache  des 
Kapitalzinses  mit  dem  wirklichen  Auftreten  desselben  ist  aber  kaum  eine 
Spur  zu  entdecken:  wer  gedankenlos  die  Coupons  eines  Millionenvermögens 
abschneidet,  oder  auch  durch  seinen  Sekretär  abschneiden  läßt,  nimmt 
einen  „Arbeitslohn"  von  Zehntausenden  oder  Hunderttausenden  von 
Gulden  ein;  wer  sich  durch  eine  wirkliche  Plage  an  Vorbedacht  und  Ent- 
haltung 50  Gulden  erübrigt  hat,  die  er  in  die  Sparkasse  legt,  kaum  ein 
paar  Gulden;  und  wer  sich  mit  ebensoviel  Plage  50  Gulden  erübrigt  hat, 
aber,  weü  ein  drängendes  Bedürfnis  in  Aussicht  steht,  es  nicht  wagen 
kann,  die  50  Gulden  aus  seiner  Hand  zu  geben,  bekommt  vollends  gar 
keinen  „Arbeitslohn". 

Warum  das  alles?  Warum  fällt  der  Lohn  so  verschieden  aus?  Ver- 
schieden für  die  einzelnen  Klassen  der  Spararbeiter  unter  einander  und 
verschieden  gegenüber  der  Entlohnung  der  Muskelarbeit?  Warum  trägt 
das  „Arbeitsjahr"  dem  Eigentümer  von  20  Millionen  1  Million  Gulden, 
und  dem  Handarbeiter,  der  sich  plagt  und  nichts  erspart,  500  Gulden, 
und  dem  Handwerker,  der  sich  plagt  und  dabei  50  Gulden  erspart  hat, 
für  Muskelarbeit  und  Spararbeit  zusammen  502  Gulden?  Das  müßte 
eine  Theorie,  die  den  Zins  als  Arbeitslohn  erklärt,  doch  etwas  genauer 
aufzuklären  unternehmen.  Statt  dessen  fertigt  Courcelle  die  heikle 
Frage  nach  der  Höhe  der  Zinsen  einfach  mit  der  Generalberufung  auf  das 
„große  Gesetz"  von  Angebot  und  Nachfrage  ab. 

Man  könnte  wirklich  ohne  alle  Ironie  sagen,  daß  Courcelle  mit  un- 
gefähr der  gleichen  theoretischen  Berechtigung  die  körperliche  Arbeit 
des  Zinseneinstreichens  oder  des  Couponabschneidens  als  den  Bezugsgrund 
des  Kapitalzinses  hätte  erklären  können:  eine  Arbeit,  die  der  Kapitalist 
leistet,  ist  sie  auch,  und  wenn  man  es  sonderbar  finden  sollte,  daß  nach 
dem  Gesetze  von  Angebot  und  Nachfre^e  diese  Sorte  Arbeit  so  unge- 
wöhnlich hoch  entlohnt  wird,  so  wäre  dies  doch  kaum  sonderbarer,  als 
daß  die  geistige  Mühe  des  Millionenerben  jährlich  mit  so  und  so  viel 
Hunderttausend  Gulden  bezahlt  wird.  So  gut  man  von  dieser  letzteren 
Arbeit  sagen  kann,  es  haben  eben  so  ausnehmend  wenige  Leute  den 
„Wunsch  und  die  Fähigkeit"  Millionenkapitalien  aufzubehalten,  daß  bei 
der  bestehenden  Nachfrage  nach  Kapitalien  der  Lohn  dafür  so  hoch  aus- 
fallen muß:  ebensogut  kann  man  auch  sagen,  daß  nur  so  überaus  wenige 
Leute  den  „Wunsch  und  die  Fähigkeit"  haben,  Zinsen  von  Hundert- 
tausenden einzustreichen.  Am  „Wunsch"  wird  es  in  beiden  Fällen  kaum 
irgend  jemandem  fehlen,  und  was  die  „Fähigkeit"  anbelangt,  so  beruht 
sie  in  beiden  Fällen  doch  hauptsächlich  darauf,  daß  man  so  glücklich  ist, 
ein  Millionenkapital  zu  besitzen. 


268  X.  Die  Arbeitstheorien.    B.  Französische  Gruppe. 

Wenn  es  nach  diesen  Ausführungen  noch  einer  direkten  Widerlegung 
der  CouRCELLEschen  Arbeitstheorie  bedürfen  sollte,  so  stelle  man  sich 
folgenden  Fall  vor  Augen.  Der  Kapitalist  A  leiht  dem  Fabrikanten  B  eine 
Million  Gulden  zu  5%  für  ein  Jahr.  Der  Fabrikant  verwendet  die  Million 
produktiv  und  erzielt  dabei  einen  Gesamtgewinn  von  60000  fl.,  wovon 
er  50000  fl.  als  Schuldzinsen  dem  A  abführt,  und  10000  fl.  als  Unternehmer- 
gewinn für  sich  behält.  Nach  Courcelle  sind  die  50000  fl.,  die  A  erhält, 
der  Lohn  dafür,  daß  er  die  künftigen  Bedürfnisse  vorausbedacht,  und  den 
Versuchungen,  die  Million  sofort  zu  verzehren,  durch  einen  auf  die  Genuß- 
enthaltung gerichteten  Willensakt  entgegengearbeitet  hat.  Hat  aber  B 
nicht  genau  dieselbe,  ja  sogar  eine  noch  größere  Arbeit  geleistet?  Ist 
nicht  auch  B,  nachdem  er  die  geliehene  Million  in  Händen  hatte,  in  Ver- 
suchung gestanden,  sie  sofort  zu  verzehren?  Hätte  er  nicht  z.  B.  die 
Million  verjubeln  und  dann  Krida  machen  können?  Hat  nicht  auch  er 
dieser  Versuchung  durch  einen  Willensakt  der  Enthaltung  widerstanden? 
Hat  er  nicht  an  Voraussicht. und  Vorsorge  für  künftige  Bedürfnisse  noch 
mehr  geleistet  als  A,  indem  er  nicht  bloß  wie  dieser  im  allgemeinen  an 
künftige  Bedürfnisse  dachte,  sondern  der  Gütermasse,  die  in  seinen  Händen 
war,  diejenige  positive  Verwendung  gegeben  hat,  in  der  sie,  umgewandelt 
in  Produkte,  künftige  Bedürfnisse  wirklich  zu  befriedigen  geeignet  wird? 
Und  doch  erhält  A  für  die  Arbeit  der  Konservierung  seiner  Million  50000  fl., 
und  B,  der  dieselbe  geistige  und  moralische  Arbeit  an  derselben  Million 
in  noch  erhöhtem  Maße  geleistet  hat,  bekommt  nichts;  denn  die  10000  fl., 
die  seinen  Unternehmergewinn  ausmachen,  sind  die  Entlohnung  für  eine 
andere  Sorte  von  Tätigkeit. 

Man  w^nde  ja  nicht  ein,  B  habe  die  Million  nicht  verzehren  dürfen, 
weil  sie  ni..ht  sein  Eigentum  gewesen  sei;  in  seiner  Ersparung  liege  daher 
kein  entlohnungswürdiges  Verdienst.  Denn  auf  das  Verdienst  kommt  es 
bei  dieser  Theorie  überhaupt  nicht  an.  Der  Ersparungslohn  ist  groß, 
wenn  nur  die  ersparte  und  bewahrte  Summe  groß  ist,  und  ohne  die  mindeste 
Rücksicht  darauf,  ob  die  Bewahrung  viel  oder  wenig  moralische  An- 
strengung erfordert  hat.  Daß  aber  der  Schuldner  B  die  Million  wirklich 
bewahrt  und  die  Versuchungen,  sie  zu  verzehren,  überwunden  hat,  läßt 
sich  absolut  nicht  leugnen.  Warum  bekommt  er  keinen  Ersparungslohn?  — 
Ich  glaube,  die  Auslegung  dieser  Tatsachen  kann  nicht  zweifelhaft  sein; 
sie  lautet:  man  bekommt  den  Kapitalzins  eben  nicht  dafür,  daß  man 
dabei  eine  Arbeit  leistet,  sondern  einfach,  weil  man  Eigentümer  ist; 
der  Kapitalzins  ist  kein  Arbeits-,  sondern  ein  Besitzeinkommen.  — 

Eine  etwas  schüchterne  Vertretung  hat  Coürcelle-Seneüils  Theorie 
späterhin  durch  Gauwes^)  gefunden. 

Dieser  Autor  trägt  sie  zwar  vor,  aber  nicht  als  ausschließliche  Zins- 


4 


»)  Pr6cis  du  Cours  d'Economie  Politique,  2,  Auflage,  Paris  1881  und  1882. 


Ursprung  der  deutschen  Arbeitstheorien.  269 

theorie  und  nicht  ohne  gewisse  Klauseln  und  Redewendungen,  die  deutlich 
verraten,  daß  er  die  Konstruktion  der  Spararbeit  doch  nicht  unbedenklich 
findet.  „Da  die  Erhaltung  des  Kapitales  eine  Willensanstrengung  und  in 
vielen  Fällen  auch  industrielle  oder  finanzielle  Kombinationen  von  gewisser 
Schwierigkeit  voraussetzt,  so  konnte  man  sagen,  daß  sie  eine  wahrhafte 
Arbeit  darstellt,  die  man  bisweilen  nicht  ohne  Berechtigung  travail 
d'^pargne  genannt  hat"  (I  S.  183).  Und  ein  anderesmal  begegnet  Caqwes 
dem  Zweifel,  ob  dem  Kapitalisten  ein  Zins  gebühre,  da  ja  doch  das  Dar- 
leihen keine  Arbeit  koste,  die  einen  Zinsanspruch  begründen  könnte,  mit 
den  Worten:  „Im  Darleihen  liegt  keine  Arbeit,  es  mag  sein;  aber  sie  liegt 
in  dem  beharrlichen  Willen  das  Kapital  zu  erhalten,  und  in  der  verlängerten 
Enthaltung  von  jedem  Akte  der  Verzehrung,  des  Genusses  gegenüber 
dem  Werte,  den  es  repräsentiert.  Es  ist,  wenn  der  Ausdruck  nicht 
zu  bizarr  erscheint,  eine  Spararbeit,  welche  durch  den  Zins  entlohnt 
wird"^).  Daneben  trägt  aber  Cauwes  auch  andere  Begründungen  des 
Kapitalzinges,  namentlich  eine  Lehre  von  der  Produktivität  des  Kapitales 
vor,  weshalb  wir  ihm  noch  unter  den  Eklektikern  begegnen  werden. 

Eine  flüchtige  Annäherung  an  die  Arbeitstheorie  Coubcelles  findet 
sich  noch  bei  einigen  anderen  Schriftstellern  französischer  Zunge;  so  bei 
Cherbuliez^),  der  den  Kapitalzins  als  Lohn  für  die  „efforts  d'abstinence" 
erklärt;  und  bei  Josef  Garnier,  der  in  seine  sehr  buntscheckige  Erklärung 
des  ZLnsphänomens  auch  das  Schlagwort  von  der  „Ersparungsarbeit" 
einmischt^).  Doch  verfolgen  die  Letztgenannten  den  Gedanken  nicht  tiefer. 

C.  Die  deutsche  Gruppe. 

Von  demselben  Motive,  das  in  Frankreich  den  Stoff  zu  einer  ge- 
quälten, bis  ins  Detail  ausgeführten  Zinstheorie  abgab,  hat  auch,  aller- 
dings in  freieren  Zügen,  eine  hervorragende  Gruppe  deutscher  National- 
ökonomen Gebrauch  gemacht:  die  Gruppe  der  „Katheder-Sozialisten", 
wie  ich  sie,  einem  eingebürgerten  Sprachgebrauche  folgend,  kurz  nennen 
will.  Die  Arbeitstheorie  der  deutschen  Katheder-Sozialisten  ist  indes  mit 
der  französischen  Variante  nur  durch  die  Gemeinsamkeit  des  Grundge- 
dankens lose  verwandt.  In  der  Art  seiner  Verwertung  geht  sie  ihre  eigenen 
Wege,  wie  sie  auch  in  ihrem  Ursprünge  von  jener  durchaus  unabhängig  ist. 

AlsVorläufer  der  deutschen  Arbeitstheorie  kann  Rodbertüs-Jagetzow 
angesehen  werden,  welcher  die  Grundidee  derselben  in  einigen  gelegent- 
lichen Bemerkungen  streift.  Rodbertüs  spricht  einmal  von  der  Denk- 
barkeit eines  Gesellschaftszustandes,  in  dem  zwar  Privateigentum  über- 


1)  II,  S.  189;  vgl.  auch  I,  S.  236. 
»)  Siehe  oben  S.  256. 

»)  Trait6  d'Economique  Politique,  8.  Aufl.,  Paris  188C,  S.  522:  le  loyer  „römunöre 
et  provoque  les  efforts  ou  le  travail  d'6pargne  et  de  conservation". 


270  -X.  Die  Arbeitstheorien.    C.  Deutsche  Gruppe. 

haupt,  aber  kein  rentetragendes  Privateigentum  bestünde,  und  in  dem 
daher  alles  existierende  Einkommen  Arbeitseinkommen  in  der  Gestalt 
von  Gehalten  oder  Löhnen  wäre.  Ein  solcher  Zustand  wäre  dann  vor- 
handen, wenn  einerseits  die  Produktionsmittel,  Grund  und  Kapital,  im 
gemeinschaftlichen  Eigentum  der  ganzen  Gesellschaft  stünden,  anderer- 
seits aber  an  den  Einkommensgütem,  die  jeder  nach  Maßgabe  seiner 
Arbeitsleistungen  zugewiesen  erhielte,  ein  Privateigentum  anerkannt 
würde.  Zu  dieser  Ausführung  merkt  dann  Rodbertus  in  einer  Note  an, 
daß  man  in  wirtschaftlicher  Beziehung  überhaupt  das  Eigentum  an  Pro- 
duktionsmitteln wesentlich  anders  beurteilen  müsse,  als  das  Eigentum 
an  Einkommensgütern.  „Dem  Einkommenseigentum  wird  schon  wirt- 
schaftlich genügt,  wenn  es  nur  hauswirtschaftlich  konsumiert  wird.  Das 
Grund-  und  Kapitaleigentum  ist  aber  zugleich  eine  Art  Amt,  das  national- 
ökonomische Funktionen  mit  sich  führt,  Funktionen,  die  eben  darin 
bestehen,  die  ökonomische  Arbeit  und  die  ökonomischen  Mittel  der  Nation 
dem  nationalen  Bedürfnis  entsprechend  zu  leiten,  also  diejenigen  Fun- 
tionen  zu  üben,  die  in  dem  vorausgesetzten  Gesamteigentumszustande 
durch  nationale  Beamte  geübt  werden  würden.  Die  günstigste  Seite  also, 
die  man  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  der  Rente  —  der  Grundrente 
wie  dem  Kapitalgewinne  —  abgewinnen  kann,  ist  die,  daß  sie  die  Ge- 
hälter solcher  Beamten  vertritt,  daß  sie  eine  Gehaltsform  vorstellt, 
bei  der  der  Beamte  an  der  richtigen  Übung  seiner  Funktionen  auch 
pekuniär  stark  interessiert  ist"^). 

Ähnlich  äußert  sich  Rodbertus  ein  anderesmal^),  daß  nicht  bloß 
Kenntnisse,  sondern  auch  moralische  Kraft  und  Tätigkeit  dazu  gehören, 
um  in  einer  bestimmten  Produktion  die  Teilung  der  Operationen  einer 
Menge  von  Arbeitern  mit  Erfolg  zu  leiten.  Diese  Art  von  Diensten  können 
die  produktiven  Arbeiter  selbst  nicht  leisten,  sie  seien  aber  dennoch  in  der 
nationalen  Produktion  absolut  notwendig.  Insofeme  nun  diese  nützlichen 
und  notwendigen  Dienste  von  den  Kapitalisten,  Grundbesitzern  und 
Unternehmern  geleistet  werden,  werde  niemand  zweifeln,  daß  sie  für 
dieselben  „ebensogut  ihre  Vergeltung  verlangen  können,  wie  jeder  andere 
für  Dienste  anderer  nützlicher  Art.  Sie  können  es  allerdings  mit  demselben 
Rechte,  wie  es  z.  B.  ein  Minister  des  Handels  und  der  öffentlichen  Arbeiten 
kann,  gesetzt,  daß  er  seine  Schuldigkeit  tut." 

Rodbertus  selbst  war  indes  keineswegs  gewillt,  auf  diese  Idee  eine 
Theorie  des  Kapitalzinses,  d.  i.  eine  Erklärung  derjenigen  Form  des 
Kapitalisteneinkommens  zu  stützen,  welche  wir  im  tatsächlichen  Leben 
beobachten.  Er  weist  im  Gegenteil  diesen  Gedanken  ausdrücklich  ab, 
indem  er  wiederholt  hervorhebt,  daß  der  heutige  Kapitalzins  eben  nicht 

^)  Zur  Erklärung  und  Abhilfe  der  heutigen  Kreditnot  des  Grundbesitzes.   Zweite 
Ausgabe  1876,  II,  S.  273f. 
*)  Soziale  Frage  S.  146. 


Ursprung  der  deutschen  Arbeitstheorien.    Schäffle.  271 

den  Charakter  einer  solchen  Vergeltung  für  geleistete  Dienste,  einer  im 
Wege  der  „abgeleiteten  Güterverteilung"  zu  erlangenden  Besoldung, 
sondern  die  Natur  eines  unmittelbaren,  schon  bei  der  „ursprünglichen 
Güterverteilung"  sich  realisierenden  Anteils  am  Nationalprodukt  habe; 
und  die  Ursache  dieser  Partizipation  erblickt  Kodbertus  in  ganz  anderen 
Verhältnissen,  nämlich  in  einem  kraft  des  Grund-  und  Kapitaleigentums 
gegenüber  den  Arbeitern  geübten  Zwange  i). 

Dieselbe  Idee,  welche  so  von  Rodbertüs  flüchtig  gestreift,  jedoch 
absichtlich  ohne  Nutzanwendung  auf  die  Zinstheorie  gelassen  worden  war, 
taucht  nun  später  bei  einigen  hervorragenden  Katheder-Sozialisten  wieder 
auf,  um  diesmal  in  breiterer  Ausführung  für  das  Zinsproblem  verwertet 
zu  werden. 

Zunächst  von  Schäffle.  Schon  in  der  dritten  Auflage  seines  älteren 
Hauptwerkes,  des  gesellschaftliehen  Systemes  der  menschlichen  Wirt- 
schaft (1873),  nimmt  er  den  Gedanken,  daß  der  Kapitalzins  ein  Entgelt 
für  Dienstleistungen  des  Kapitalisten  ist,  in  seine  formelle  Zinsdefinition 
auf.  „Der  Gewinn",  schreibt  er,  „ist  anzusehen  als  die  Vergeltung,  welche 
der  Unternehmer  für  den  volkswirtschaftlichen  Beruf  der  selb- 
ständigen wirtschaftlichen  Zusammenfassung  der  Produktivkräfte  mittelst 
spekulativer  Kapitalnutzung  beanspruchen  darf"  2).  Diese  Auffassung 
kehrt  auch  sonst  an  zahlreichen  Stellen  des  Werkes  wieder;  und  zwar 
gewöhnlich  an  solchen,  in  denen  der  Kapitalzins  von  einem  weiteren 
Gesichtspunkte  aus  betrachtet  wird.  Auch  verteidigt  sie  Schäffle  einmal 
als  die  einzig  berechtigte  gegenüber  den  anderen  Zinstheorien,  die  er 
sämtlich  verwirft^).  Eigentümlicher  Weise  führt  aber  Schäffle  die 
intimeren  Details  der  Zinslehre,  z.  B.  die  Frage  nach  der  Höhe  des  Zins- 
fußes usw.,  nicht  an  der  Hand  dieses  Grundgedankens,  sondern  mit  dem 
technischen  Rüstzeug  der  Nutzungstheorie  durch,  die  er  freilich  durch  die 
subjektive  Färbung,  die  er  dem  Nutzungsbegriff  gibt,  jener  anderen  Auf- 
fassung angenähert  hat*). 

In  seinem  jüngeren  Hauptwerke,  dem  „Bau  und  Leben  des  sozialen 
Körpers",  tritt  die  Auffassung  des  Zinses  als  Entgelt  einer  „funktionellen 
Leistung"  des  Kapitalisten  noch  entschiedener  hervor.  Sie  gewährt 
Schäffle  die  Möglichkeit,  den  Kapitalzins  wenigstens  für  die  Jetztzeit 
und  insolange  zu  rechtfertigen,  als  man  nicht  imstande  ist,  durch  eine 
zweckmäßigere  Organisation  die  kostspieligen  Dienstleistungen  der  Privat- 
kapitaJisten  entbehrlich  zu  machen  ß).   Aber  auch  jetzt  werden  die  Details 


^)  Soziale  Frage  S.  75  und  146;  siehe  auch  unten  Abschnitt  XII. 
«)  II,  S.  468. 
»)  II,  S.  459f. 
*)  Siehe  oben  S.  189f. 

*)  „Hienach  kann  ich  allerdings  der  absoluten  Verurteilung  des  Kapitales  und 
Kapitalprofites  als  „.„reiner  Mehrwert- Aneignung" "  nicht  zustimmen;  es  ist  eine 


272  X.  Die  Arbeitstheorien.    C.  Deutsche  Gruppe. 

der  Zinserscheinungen  nicht  aus  dieser  Auffassung  heraus  erklärt,  und 
auch  jetzt  bleiben  noch  Reste  der  Nutzungstheorie  stehen,  deren  Nutzungs- 
begriff überdies  objektiv  geworden  ist^).  So  hat  Schäffle  gleichsam  den 
Grundton,  aber  auch  nur  den  Grundton  einer  Arbeitstheorie  angeschlagen: 
zu  einem  ins  einzelne  gehenden  Ausbau  derselben,  wie  er  sich  bei  Cour- 
celle-Seneuil  findet,  ist  er  nicht  gekommen. 

Ein  wenig,  aber  auch  nur  ein  wenig  weiter  ist  Wagner  gegangen. 
Auch  ihm  sind  die  Kapitalisten  „Funktionäre  der  Gesamtheit  für  die 
Bildung  und  Beschäftigung  des  nationalen  Produktionsmittelfonds"  2),  und 
der  Kapitalgewinn  ist  ein  Einkommen,  daß  sie  für  diese,  oder  wenigstens 
in  dieser  Funktion  beziehen  (S.  594).  Er  charakterisiert  aber  die  Leistungen 
der  Kapitalisten,  die  in  der  „Bildung  und  Verwendung  von  Privat- 
kapitalien", in  „Disponier-  und  Spartätigkeiten"  liegen,  bestimmter,  als 
dies  Schäffle  getan  hat,  als  eigentliche  „Arbeiten"  (S.  111,  592,  630),  die 
einen  Teil  der  gesamten  zur  Güterproduktion  aufzuwendenden  Kosten 
und  insoweit  ein  „konstitutives  Wertelement"  bilden  (S.  630).  Auf  welche 
Weise  dieses  Element  zur  Bildung  des  Güterwertes  beiträgt,  wie  sich  aus 
seiner  Wirksamkeit  die  Proportionalität  des  Zinses  zu  den  Kapitalsummen, 
die  Höhe  des  Zinsfußes  u.  dgl.  ableiten  läßt,  darauf  ist  Wagner  ebenso- 
wenig eingegangen  als  Schäffle:  auch  er  hat  also,  wenn  auch  etwas 
bestimmter  als  jener,  nur  den  Grundton  der  Arbeitstheorie  angeschlagen. 

Bei  dieser  Sachlage  wage  ich  nicht  mit  Bestimmtheit  zu  behaupten, 
ob  die  Katheder- Sozialisten  mit  jener  Gedankenreihe  überhaupt  eine 
theoretische  Erklärung,  oder  aber  nur  eine  sozialpolitische  Rechtfertigung 
des  Kapitalzinses  zu  geben  vermeinten.  Für  die  erste  Auffassung  spricht 
die  Aufnahme  des  Arbeitsmotives  in  die  formelle  Definition  des  Kapital- 
zinses; weiter  der  Umstand,  daß  wenigstens  Wagner  sich  gegen  alle 
anderen  Zinstheorien  ablehnend  verhält,  so  daß  er,  wenn  auch  die  Arbeits- 
theorie nicht  die  seinige  wäre,  den  Zins  theoretisch  ganz  unerklärt  gelassen 
hätte;  endlich  daß  Wagner  die  „Arbeit"  des  Kapitalisten  ausdrücklich 
für  einen  Bestandteil  der  Produktionskosten  und  für  ein  „konstitutives 
Wertelement"  erklärt,  was  wohl  schwer  anders  zu  deuten  ist,  als  daß  er 


Funktion  von  kardinaler  Bedeutung,  die  das  Privatkapital  jetzt  leistet,  indem  es  sich 
des  „„sich  selbst  überlassenen  Verkehrs""  (Rodbertus)  doch  immerhin  aus  welchen 
Motiven  immer  annimmt."  (2.  Aufl.  III,  S.  386.)  ,, Historisch  kann  denn  auch  der 
Kapitalismus  vollauf  gewürdigt,  der  Kapitalprofit  gerechtfertigt  werden.  Den  letzteren 
aufzuheben,  ohne  vorher  eine  bessere  Organisation  der  Produktion  gefunden  zu  haben, 
ist  unsinnig."  ,,Man  darf  daher  erst  dann  den  Kapitalprofit  als  ,,  „Mehrwert"  "-Aneignung 
praktisch  verdammen,  wenn  man  den  volkswirtschaftlichen  Dienst  des  Privatkapitales 
durch  eine  positiv  nachgewiesene,  vollkommenere  und  weniger  ,,,, Mehrwert 
schluckende""  öffentliche  Organisation  zu  ersetzen  vermag."    (III,  S.  422f.) 

1)  Siehe  oben  S.  190. 

*)  Allgemeine  oder  theoretische  Volkswirtschaftslehre,  I.  Teil,  Grundlegung, 
2.  Ausgabe,  Leipzig  und  Heidelberg  1879,  S.  40,  594. 


Kritik.  273 

die  Erscheinung  des  „Mehrwertes"  auf  den  Vergütung  heischenden  Arbeits- 
aufwand des  Kapitalisten  als  theoretische  Ursache  zurückführt. 

Für  die  zweite  Auffassung,  wonach  die  Katheder-Sozialisten  auf  die 
„Dienste"  der  Kapitalisten  nur  als  Rechtfertigungsgrund  für  den  be- 
stehenden Kapitalzins  hingewiesen  hätten,  ohne  damit  sein  Dasein  erklären 
zu  wollen,  spricht  der  Mangel  jeder  theoretischen  Detailausführung,  der 
Umstand,  daß  Schäffle  wenigstens  zur  Detailerklärung,  soweit  er  sie 
überhaupt  gibt,  sich  einer  anderen  Zinstheorie  bedient,  endlich  überhaupt 
das  große  Übergewicht,  welches  in  den  Schriften  der  katheder-sozia- 
listischen  Gruppe  auf  das  politische  Element  gegenüber  dem  theoretischen . 
gelegt  wird^). 

Unter  solchen  Umständen  halte  ich  es  für  angemessen,  meine  kritischen 
Bemerkungen  in  eine  hypothetische  Form  zu  kleiden. 

Für  den  Fall,  ali  die  Katheder-Sozialisten  durch  den  Hinweis  auf 
die  „Arbeitsleistungen"  der  Kapitalisten  das  Dasein  des  Kapitalzinses 
nur  sozialpolitisch  rechtfertigen  wollten,  sind  ihre  Ausführungen  in 
höchstem  Grade  beachtenswert.  Auf  diese  Seite  der  Frage  tiefer  einzu- 
gehen, liegt  indes  außerhalb  der  Aufgabe,  die  ich  in  diesem  Teile  meines 
Werkes  verfolge. 

Für  den  Fall  jedoch,  daß  die  Katheder-Sozialisten  durch  jenen  Hin- 
weis das  Dasein  des  Kapitalzinses  theoretisch  zu  erklären  beab- 
sichtigten, müßte  ich  das  Urteil  gänzlicher  Unzidänglichkeit,  das  ich  über 
die  französische  Variante  der  Arbeitstheorie  fällte,  auch  auf  den  deutschen 
Zweig  derselben  ausdehnen.  —  Es  ist  im  Laufe  der  dogmengeschichtlichen 


^)  Seit  i.ch  diese  Zeilen  niedergeschrieben  habe  (1884),  ist  der  in  ihnen  ausgedrückte 
Zweifel  von  einem  der  beteiligten  Autoren  für  seine  Person  durch  eine  ausdrückliche 
Erklärung  gelöst  worden.  A.  Wagner  hat  nämlich  in  der  3.  Auflage  seiner  „Grund- 
legung" (II.  Teil,  1894,  S.  289ff.,  §  134)  erklärt,  daß  er  mit  den  fraglichen  Ausführungen 
nicht  eine  theoretische  „Erklärung"  des  Kapitalzinses,  sondern  eine  „Begründung" 
desselben  im  Sinne  einer  „sozialpolitischen  Rechtfertigung"  zu  geben  gewillt  gewesen 
sei.  Was  die  theoretische  Frage  anbelangt,  so  glaubt  Wagner  meine  inzwischen  auf- 
gestellte Erklärung  des  Zinses  aus  dem  „Einfluß  des  Zeitmomentes  auf  die  menschliche 
Wertschätzung  der  Güter"  als  „im  ganzen  gelungen"  ansehen  zu  dürfen,  betont  jedoch, 
daß  dies  meine  theoretische  Erklärung  noch  keine  unmittelbare  „Rechtfertigung  und 
Begründung  des  Privatkapitales  als  Institution  der  Rechtsordnung"  enthalte,  weshalb 
die  von  ihm  vertretene  Auffassung  zu  meiner  „Erklärung"  noch  hinzutreten  müsse, 
um  eine  volkswirtschaftliche  Begründung  auch  im  letzteren  Sinne  zu  geben.  In  seiner 
allemeuesten  Äußerung  zur  Sache  (Theoretische  Sozialökonomik  I.  Abt.  1907,  S.  322ff.) 
hat  aber  Wagner  seine  Meinung  abermals  und  zwar  dahin  modifiziert,  daß  er  die  „Er- 
gänzungsbedürftigkeit" meiner  Theorie  „doch  noch  etwas  mehr  vertrete  als  er  es  früher 
tat"  und  für  die  „sozialökonomische  Seite  des  Problems  an  der  Arbeitstheorie  festhalte." 
Diese  liefere  nicht  bloß  für  die  Rechtfertigung,  sondern  auch  für  die  „Erklärung  und  • 
Begründung  des  Zinses  als  rein  ökonomische  Kategorie  die  noch  erforderliche  Ver- 
vollständigung". —  In  ganz  unzweideutiger  Weise  hat  sich  in  der  Zwischenzeit  Stolz- 
XANN  (Die  soziale  Kategorie,  Berlin  1896,  S.  421f.)  auf  den  Boden  der  Arbeitstheorie 
gestellt;  siehe  noch  unten  im  Anhang. 

"Böhm-Bawerk,  Eapltalzins.  4.  Aufl.  18 


274  X.  Die  Arbeitstheorien.    C.  Deutsche  Gruppe. 

Entwicklung  so  oft  geschehen,  daß  man  sozialpolitische  Rechtfertigung 
mit  theoretischer  Erklärung  des  Zinses  verwechselte,  daß  es  sich  wohl 
der  Mühe  verlohnen  mag,  den  Unterschied  zwischen  beiden  einmal  recht 
deutlich  ins  Licht  zu  stellen.  Ich  will  zu  diesem  Ende  dem  Leser  eine 
Parallele  vorführen,  die,  wie  ich  hoffe,  zugleich  Gelegenheit  geben  wird, 
mit  einem  Schlage  auch  die  Unzulänglichkeit  der  Arbeitstheorie  darzutun. 

Mit  dem  ersten  Erwerb  von  Grund  und  Boden  ist  regelmäßig  eine 
gewisse  Bemühung  oder  Arbeit  des  Erwerbers  verbunden;  entweder  mußte 
er  den  Boden  erst  urbar  machen,  oder  er  mußte  doch  an  seine  Besitz- 
ergreifung eine  gewisse  Mühe  wenden,  die  unter  Umständen,  z,  B.  wenn 
ein  längeres  Suchen  nach  dem  für  die  Niederlassung  geeigneten  Platze 
vorherging,  nicht  gering  sein  kann.  Das  Grundstück  trägt  nun  seinem 
Erwerber  eine  Grundrente.  Kann  man  das  Dasein  der  Grundrente  aus 
der  Tatsache  des  ursprünglichen  Arbeitsaufwandes  erklären?  Das  hat, 
mit  Ausnahme  Careys  und  einiger  weniger  Genossen  seiner  verschrobenen 
Ansichten,  niemand  zu  behaupten  gewagt.  Es  läßt  sicK  auch  von  Nie- 
mandem behaupten,  der  für  den  Zusammenhang  der  Dinge  nicht  ganz 
blind  ist.  Es  ist  sonnenklar,  daß  eine  fruchtbare  Talniederung  nicht  deshalb 
eine  Rente  trägt,  weil  ihre  Okkupation  einst  Arbeit  gekostet  hat,  und  daß 
eine  felsige  Berglehne  nicht  deshalb  rentelos  ist,  weil  ihre  Okkupation 
ohne  Mühe  vor  sich  gegangen  ist.  Es  ist  ferner  unbestreitbar,  daß  zwei 
gleich  fruchtbare  und  gleich  gut  gelegene  Grundstücke  gleich  viel  Rente 
tragen,  auch  wenn  das  eine,  schon  von  Natur  aus  fruchtbar,  mit  geringer 
Mühe  bloß  okkupiert,  das  andere  erst  mit  großem  Arbeitsauf  wände  ge- 
urbart  werden  mußte;  es  ist  ferner  klar,  daß  200  Joch  nicht  deshalb 
doppelt  so  viel  Rente  tragen  als  100  Joch,  weil  ihre  einstige  Besitzergreifung 
doppelt  so  mühsam  war;  es  ist  endlich  klar,  daß,  wenn  die  Grundrente  mit 
zunehmender  Bevölkerung  steigt,  dies  mit  dem  Uraufwande  an  Arbeit 
nicht  das  mindeste  zu  tun  hat:  kurz,  das  Auftreten  der  Grundrente  und 
vollends  das  Ausmaß  derselb(!n  harmoniert  so  ganz  und  gar  nicht  mit  dem 
Vorkommen  und  der  Größe  des  ursprünglich  an  die  Besitzergreifung 
gewendeten  Arbeitsaufwandes,  daß  in  letzterem  unmöghch  das  erklärende 
Prinzip  für  die  Erscheinung  der  Grundrente  gefunden  werden  kann. 

Wesentlich  anders  steht  die  Frage,  ob  man  das  Dasein  der  Grundrente 
mit  jenem  Arbeitsauf  wände  nicht  rechtfertigen  kann.  In  dieser  Richtung 
läßt  sich  ganz  wohl  der  Standpunkt  vertreten,  daß  derjenige,  der  ein 
Grundstück  geurbart  oder  auch  nur  als  Pionier  der  Kultur  zuerst  okkupiert 
hat,  sich  hiedurch  ein  Verdienst  erworben  hat,  das  eines  ebenso  dauernden 
Lohnes  wert  ist,  als  die  Vorteile,  die  daraus  der  menschlichen  Gesellschaft 
erwachsen,  dauernd  sind;  daß  es  gerecht  und  billig  ist,  wenn  derjenige, 
der  ein  Grundstück  für  alle  Zeit  der  Kultur  überliefert  hat,  in  der  Gestalt 
der  Grundrente  auch  für  alle  Zeit  einen  Teil  seines  Erträgnisses  erhält. 
Ich  will  nicht  behaupten,  daß  diese  Rücksicht  für  das  Institut  des  Privat- 


Kritik.  275 

eigentums  an  Grund  und  Boden  und  für  den  darauf  basierenden  Grund- 
rentenbezug Privater  unter  allen  Umständen  entscheidend  sein  muß,  aber 
sie  kann  es  unter  Umständen  sicherlich  werden.  Es  ist  z.  B.  sehr  wohl 
denkbar,  daß  eine  Kolonialregierung  weise  handelt,  wenn  sie,  um  die 
Besiedelung  des  Territoriums  zu  beschleunigen,  als  Prämie  für  die  Arbeits- 
leistung der  Urbarung  und  ersten  Okkupierung  das  Eigentum  an  den  in 
Kultur  genommenen  Ländereien  und  damit  das  Kecht  auf  immerwährenden 
Bezug  der  Grundrente  verheißt.  —  So  kann  also  die  Rücksicht  auf  den 
Arbeitsaufwand  des  ersten  Besitzergreifers  allerdings  ein  ganz  plausibler 
Rechtfertigungsgrund  und  ein  ausschlaggebendes  sozialpolitisches 
Motiv  für  die  Einführung  und  Beibehaltung  der  Grundrente  bilden,  während 
sie  absolut  kein  zureichender  Erklärungsgrund  für  dieselbe  war. 

Und  ganz  ähnhch  steht  es  auch  mit  dem  Verhältnis  der  „Spar-  und 
Disponiertätigkeiten"  der  Kapitalisten  zu  dem  Kapitalzinse.  Insoferne 
man  in  diesen  Tätigkeiten  einerseits  das  wirksamste  Mittel  zur  Bildung 
und  zweckmäßigen  Verwendung  eines  ausreichenden  Nationalkapitales 
erbhckt,  und  andererseits  nicht  erwarten  kann,  daß  dieselben  in  aus- 
reichender Menge  von  Privaten  dargebracht  werden,  wenn  ihnen  dafür 
nicht  auch  dauernde  Vorteile  in  Aussicht  gestellt  werden:  kann  die  Rück- 
sicht auf  jene  Leistungen  der  Kapitalisten  einen  höchst  triftigen  Recht- 
fertigungsgrund und  ein  ausschlaggebendes  legislatives  Motiv  für  die  Ein- 
führung oder  Aufrechterhaltung  des  Kapitalzinses  abgeben.  Aber  eine 
hievon  ganz  verschiedene  Frage  ist  es,  ob  das  Dasein  des  Kapitalzinses 
mit  dem  Hinweis  auf  jene  „Arbeit"  auch  theoretisch  erklärt  werden  kann.^ 
Wenn  dies  der  Fall  sein  sollte,  so  müßte  sich  doch  irgend  ein  regelmäßiges 
Verhältnis  zwischen  der  angebUchen  Wirkung,  dem  Kapitalzinse,  und 
ihrer  vermeintlichen  Ursache,  dem  Arbeitsaufwande  des  Kapitalisten, 
nachweisen  lassen.  Aber  ein  solches  Verhältnis  wird  man  in  der  Welt 
der  Wirkhchkeit  vergebens  suchen.  Eine  Million  trägt  50000  fl.  Zinsen, 
gleichviel,  ob  die  Ersparung  und  Verwendung  der  Million  ihrem  Besitzer 
viel,  wenig  oder  gar  keine  Mühe  gekostet  hat;  eine  Million  trägt  zehn- 
tausendmal so  viel  Zinsen,  als  eine  Summe  von  100  fl.,  wenn  auch  an  der 
Ersparung  der  100  fl.  unendlich  mehr  Sorge  und  Plage  hängen  sollte  als 
an  der  Ersparung  der  MUhon;  der  Schuldner,  der  fremdes  Kapital  bewahrt 
und  verwendet,  erhält  trotz  dieses  „Arbeitsaufwandes"  keinen  Zins;  der 
Eigentümer  erhält  ihn,  auch  wenn  seine  „Arbeit"  gleich  Null  ist.  Muß 
doch  ScHÄFFLE  selbst  einmal  zugestehen:  „Eine  Verteilung  nach  Ver- 
hältnis des  Umfanges  und  der  Verdiensthchkeit  der  Leistung  findet  weder 
für  die  Kapitalisten  untereinander,  noch  für  die  Arbeiter  gegenüber  dem 
Kapitale  statt.  Sie  ist  weder  Prinzip,  noch  ist  sie  zufällige  Folge"  ^). 

Wenn  aber  erfahrungsgemäß  der  Kapitalzins  außer  allem  Verhältnis 


')  Bau  und  Leben,  III,  451. 

18» 


276  X.  Die  Aibeitstheorien.    C.  Deutsche  Grappc. 

ZU  der  vom  Kapitalisten  geleisteten  Arbeit  steht,  wie  soll  vernünftiger- 
weise in  der  letzteren  sein  erklärendes  Prinzip  gefunden  werden  können? 
Ich  glaube,  die  Wahrheit  jst  zu  deutlich  in  den  Tatsachen  ausgeprägt,  um 
eines  langen  Hinweises  zu  bedürfen:  so  gleichgiltig  der  Kapitalzins  gegen 
einen  Arbeitsaufwand  des  Kapitalisten  ist,  so  genau  steht  er  im  Verhältnis 
zur  Tatsache  des  Besitzes  und  zur  Größe  des  Besitzes;  der  Kapitalzins  ist, 
ich  wiederhole  meine  früheren  Worte,  kein  Arbeits-,  sondern  ein  Besitz- 
einkommen. 

So  erweist  sich  die  Arbeitstheorie  in  allen  Varianten  unfähig,  eine 
stichhältige  theoretische  Erklärung  des  Kapitalzinses  zu  liefern.  Kein 
Unbefangener  konnte  wohl  auch  ein  anderes  Ergebnis  erwarten.  Wer 
nicht  an  gekünstelten  Auslegungen  besondere  Freude  hat,  für  den  konnte 
es  keinen  Augenblick  zweifelhaft  sein,  daß  die  wirtschaftliche  Macht  des 
Kapitales  doch  einen  anderen  Hintergrund  hat  als  ein  „Arbeitsvermögen" 
des  Kapitalisten,  daß  der  Kapitalzins  nicht  bloß  dem  Namen,  sondern 
auch  der  Sache  nach  etwas  anderes  ist  als  ein  Arbeitslohn, 

Daß  man  dennoch  auf  allerlei  Arbeitstheorien  verfiel,  erklärt  sieh 
nur  aus  der  seit  Smith  und  Ricardo  eingerissenen  Mode,  allen  Wert  auf 
Arbeit  zurückzuführen.  Um  auch  den  Kapitalzins  in  die  Einheitlichkeit 
dieser  Theorie  zu  zwängen  und  ihm  den  vermeintlich  einzig  legitimen 
Ursprung  zuschreiben  zu  können,  scheute  man  dann  auch  vor  den  er- 
künsteltsten Konstruktionen  nicht  zurück  i). 


^)  Im  Anhang  an  diesen  Abschnitt  möchte  ich  noch  J.  G.  Hoffmanns  mit  ein 
paar  Worten  gedenken.  Auch  er  deutet  nämlich  den  Kapitalzins  als  Lohn  für  gewisse 
Arbeiten.  „Auch  diese  Renten",  sagt  er,  die  Kapitalrenten  im  Sinne  führend,  ,,sind 
nur  einLohnfürArbeiten,  und  zwar  für  sehr  gemeinnützige ;  denn  mit  ihrem  Empfang 
ist  wesentlich  und  vorzüglich  die  Verpflichtung  zu  freier  Tätigkeit  für  öffentliche  Wohl- 
fahrt, für  Wissenschaft  und  Kunst,  für  alles  verbunden,  was  das  menschliche  Leben 
erleichtert,  adelt  und  schmückt."  (Über  die  wahre  Natur  und  Bestimmung  der  Renten 
aus  Boden-  und  Kapitalcigentum  in  der  Sammlung  kleiner  Schriften  staatswirtschaft- 
lichen Inhalts,  Berlin  1843,  S.  566).  —  Hoffmann  gegenüber  ist  wohl  in  noch  höherem 
Grade  als  gegenüber  den  Kathedersozialisten  der  Zweifel  berechtigt,  ob  seine  obigen 
Worte  als  eine  theoretische  Erklärung  des  Kapitalzinses  gemeint  waren.  Waren  sie  es, 
so  ist  seine  Theorie  ohne  Frage  noch  unzulänglicher  als  alle  anderen  Arbeitstheorien; 
waren  sie  es  nicht,  so  liegt  es  außerhalb  meiner  Aufgabe,  ihre  Berechtigung  nach  einer 
anderen  Richtung  zu  prüfen. 


XL 

John  Rae. 

John  Rae^)  gehört  zu  den  nicht  ganz  wenigen  National-Ökonomen 
hervorragenden  Ranges,  welche  von  ihren  Zeitgenossen  fast  völlig  un- 
beachtet blieben  und  deren  Bedeutung  erst  von  späteren  Greneratioiien 
erkannt  wurde,  nachdem  ihre  verschollenen  Entdeckungen  inzwischen  von 
anderer  Seite  wiederentdeckt  und  unter  günstigeren  Zeitumständen  zu 
allgemeinerer  Beachtung  und  Diskussion  gebracht  worden  waren. 

Rae  hat  speziell  auf  dem  Gebiete  der  Kapitaltheorie  eine  Anzahl 
äußerst  origineller  und  bemerkenswerter  Einsichten  besessen,  die  zum 
Teile  eine  unverkennbare  Ähnlichkeit  mit  Ansichten  aufweisen,  die  un- 
gefähr ein  halbes  Jahrhundert  später  von  Jevons  und  vom  Schreiber 
dieser  Zeilen  entwickelt  wurden.  Seine  Zeitgenossen  gingen  aber  gerade 
an  dem  originellen  Teile  seiner  Lehren  achtlos  vorüber.  Zwar  kam  Rae 
ein  Umstand  zu  statten,  von  dem  man  meinen  sollte,  er  hätte  seiner  Lehre 
die  größte  und  rascheste  Verbreitung  sichern  müssen;  sein  Buch  wird 
nämlich  von  dem  glänzendsten  und  meistgelesenen  nationalökonomischen 
Schriftsteller  seiner  Zeit,  von  J.  St.  Mill,  viel  und  ausführlich  zitiert 
Aber  eigentümlicher  Weise  hat  Mill  in  seine  zahlreichen  Zitate  nichts 
von  dem  aufgenommen,  was  den  originellen  Kern  der  Anschauungen 
Raes  ausmacht;  er  zitiert  vielmehr  nur  ornamentierendes  Beiwerk,  und 
zwar  solches,  welches  sich  ebensogut  auch  zur  Illustrierung  der  herkömm- 
lichen, von  Mill  selbst  vorgetragenen  Lehren  brauchen  ließ  2).  Da  nun 
das  RAEsche  Buch  auch  nur  von  äußerst  wenigen  Personen  im  Original 
gelesen  worden  zu  sein  scheint^),  so  blieb  gerade  der  interessanteste  Teil 


^)  Statement  of  some  new  principles  on  the  subject  of  Political  Economy,  ex- 
posing the  fallacies  of  the  Systems  of  free  trade,  and  of  some  other  doctrines  maintained 
in  the  „Wealth  of  Nations",  Boston  1834. 

*)  Siehe  den  unten  genannten  Aufsatz  Mixters,  S.  165. 

^)  Hierauf  deutet  die  große  Seltenheit  dieses  Buches.  Ich  habe  mich  vergeblich 
bemüht,  ein  käufliches  Exemplar  aufzutreiben,  und  habe  erst  kurz  vor  der  Veröffent- 
lichung der  zweiten  Auflage  meines  Buches  durch  die  Güte  Prof.  C.  Mengers,  dem  die 
Erwerbung  eines  Exemplars  für  seine  durch  ihre  Vollständigkeit  berühmt«  Bibliothek 
gelungen  war,  Einblick  in  das  Werk  erhalten.  Seither  hat  Prof.  Mixter  im  Jahre  1906 
einen  Neudruck  des  zu  posthumer  Berühmtheit  gelangten  Werkes  unter  dem  ver- 


278  XI.  John  Rae. 

seines  Inhaltes  schon  seinen  Zeitgenossen,  und  umsoraehr  den  Späteren 
unbekannt,  welche  durch  Mills  Zitate  kaum  auf  die  Wichtigkeit  des 
Buches  aufmerksam  und  zu  Nachforschungen  nach  dem  rasch  verschollenen 
Buche  veranlaßt  werden  konnten.  So  erklärt  es  sich,  daß  selbst  ein  in 
F^ngland  lebender  gründlicher  Literaturkenner  wie  Jevons  das  Buch  nicht 
gesehen  zu  haben  scheint;  wenigstens  konnte  ich  in  seinem  Werke  keine 
Spur  einer  Bekanntschaft  mit  ihm  entdecken,  die  im  anderen  Falle  bei  der 
nahen  Verwandtschaft  mancher  Ansichten  beider  Autoren  und  bei  der 
großen  Gewissenhaftigkeit  von  Jevons  gewiß  nicht  hätte  fehlen  können. 
Auch  mir  war  das  Buch  bei  der  Herausgabe  der  ersten  Auflage  meines 
Werkes  über  „Kapital  und  Kapitalzins"  unbekannt.  Ich  kannte  lediglich 
Mills  Zitate  daraus,  ohne  ihm  auf  Grund  derselben  eine  weiterreichende 
Bedeutung  beizumessen^).  Erst  unlängst  wurde  Rae  aus  seiner  Ver- 
schollenheit durch  seinen  Landsmann  C.  W.  Mixter  hervorgezogen,  der 
in  einer  au'^führhchen  Abhandlung  2)  den  wesentlichen  Inhalt  seines  Werkes 
reproduzierte  und  der  Meinung  Ausdruck  gab,  daß  die  wesentlichsten 
Punkte  derjenigen  modernen  Kapitalstheorie,  die  später  vom  Verfasser 
dieses  Werkes  entwickelt  wurde,  schon  von  Rae  antizipiert  worden  seien, 
und  zwar  sogar  in  vollständigerer  und  vorwurfsfreierer  Weise  ^). 

Ich  ergreife  gerne  die  Gelegenheit,  die  mir  die  neue  Auflage  der  „Ge- 


änderten Titel  „The  sociological  theory  of  capital"  herausgegeben,  wobei  er  auch  au 
der  Reihenfolge  des  —  im  übrigen  wörtlich  abgedruckten  —  Textes  starke  Änderungen 
vornahm  (New-York,  Macmillan  Comp.  1905).  Seltsamerweise  ist  das  in  seiner  Heimat 
unbeachtet  gebliebene  Werk  zwanzig  Jahre  nach  seinem  Erscheinen  in  das  Italienische 
übersetzt  und  in  die  Bibliotheca  dell'  Economista  Vol.  XI  (Turin  1856)  aufgenommen 
worden,  was  aber  gleichfalls  zu  seiner  Verbreitung  in  der  italienischen  Literatur  nicht 
viel  beigetragen  zu  haben  scheint.  Luigi  Cossa  widmet  ihm  in  seiner  ,,Introduzione 
allo  Studio  dell'  Economia  Politica"  (Mailand  1892)  S.  483  fünf  Zeilen  des  Inhalts,  daß 
Rae  gute,  von  Stuart  Mill  aufgenommene  Bemerkungen  über  die  Akkumulation 
des  Kapitals  gemacht  habe  —  eine  Bemerkung,  die  mir  darauf  zu  deuten  scheint,  daß 
auch  Cossa,  trotz  des  Bestandes  der  italienischen  Übersetzung,  von  Rae  nur  soweit 
Notiz  genommen  hat,  als  Mills  Zitate  reichten. 

^)  In  einer  kurzen  Übersicht,  die  ich  in  der  ersten  Autlage  meiner  ,, Positiven 
Theorie"  (S.  249  Note  1)  über  die  bisherige  literarische  Behandlung  des  Themas  der 
Zeit  in  der  Volkswirtschaft  gab,  konstatierte  ich  demgemäß  nur,  daß  sich  ,,bei  dem  von 
J.  St.  Mill  ausführlich  zitierten  Rae"  „gute  Bemerkungen"  über  jenes  Thema  finden, 
während  ich  Jevons  als  den  ersten  ansah,  der  dasselbe  ex  professo  behandelt  habe. 
In  der  ersten  Auflage  der  ,, Geschichte  und  Kritik  der  Kapitalzinstheorien"  habe  ich, 
da  mir  eine,  aus  Mills  Zitat  eben  nicht  ersichtliche  Zinstheorie  Raes  nicht  bekannt 
war,  Rae  gar  nicht  genannt. 

-)  „A  forerunner  of  Böhm-Bawerk"  im  Quarterly  Journal  of  Economics  Vol.  XI, 
Januar  1897,  SS.  161—190. 

^)  a.  a.  0.  S.  190:  ,,.  .  .  he  anticipated  Böhm-Bawerks  theory  of  interest,  in  the 
substance  of  its  leading  features  and  in  many  of  its  details,  and  even  to  a  great  extent 
in  the  exact  form  of  its  expression.  He  did  more;  he  expanded  that  theory  on  some 
sides  in  which  it  was  lacking,  he  avoided  its  greatest  errors." 


Darstellung  seiner  Lehre.  279 

schichte  und  Kritik  der  Kapitalzinstheorien"  bietet*),  um  eine  zweifellose 
Lücke,  welche  die  erste  Auflage  meines  Werkes  gelassen  hatte,  durch  eine 
ausführliche  Darstellung  der  Lehre  Raes  auszufüllen.  Allerdings  würde 
ich  glauben,  meine  Aufgabe  unvollständig  zu  erfüllen,  wenn  ich  nicht 
auch  gegenüber  Rae,  geradeso  wie  gegenüber  jedem  anderen  in  diesem 
kritisch-historischen  Werke  besprochenen  Autor,  der  Darstellung  seiner 
Ansichten  eine  kritische  Würdigung  derselben  folgen  ließe,  welche  nicht 
in  allen  Punkten  mit  dem  Urteile  Mixters  wird  übereinstimmen  können. 

A.  Darstellung. 

Rae,  ein  na^h  Canada  ausgewanderter  Schotte,  hat  sein  theoretisches 
Werk  zur  Fundierung  praktischer  Folgerungen  geschrieben.  In  der  Frei- 
handelsfrage, die  im  Verhältnis  von  Canada  zum  Mutterlande  eine  be- 
sonders wichtige  Rolle  spielte,  war  er  ein  entschiedener  Gegner  von  Adam 
Smith,  Um  seinen  Widerspruch  stichhaltig  zu  begründen,  holte  er  zu  tief- 
gehenden theoretischen  Untersuchungen  aus,  in  denen  er  sich  insbesondere 
über  „die  Natur  des  Kapitales  (stock)  und  die  seine  Vermehrung  oder 
Verminderung  beherrschenden  Gesetze"  verbreitet.  Diesem  Thema  ist 
das  uns  vornehmlich  interessierende  zweite  und  längste  Buch  (S.  78—357) 
seines  Werkes  gewidmet,  während  das  weit  kürzere  erste  Buch  (S.  7—77) 
dem  Nachweise  gewidmet  ist,  daß  „individuelle  und  nationale  Interessen 
nicht  identisch  sind",  und  das  ebenfalls  kurze  dritte  Buch  (S.  358—386) 
unter  dem  Titel  ,,the  Operations  of  the  legislator  on  National  stock"  die 
Nutzanwendung  der  Theorie  auf  die  Praxis  enthält  2). 

Aus  dem  ersten  Buche  genügt  es  für  unsere  Zwecke,  wenige  Be- 
merkungen zu  reproduzieren.  Rae  erörtert  zunächst,  daß  diejenigen 
Mittel  und  Wege,  durch  welche  individueller  Reichtum  erworben  und 
vermehrt  werden  kann,  keineswegs  dieselben  sind,  welche  ein  Volk  als 
Ganzes  reich  machen.  Individuen  bereichern  sich  durch  bloße  Erwerbung 
schon  vorhandener  Güter,  Völker  nur  durch  Produktion  von  Gütern,  die 
vorher  nicht  existierten.  „Die  beiden  Prozesse  unterscheiden  sich  dadurch, 
daß  der  eine  ein  Ansichziehen  (acquisition),  der  andere  ein  Schaffen 
(creation)  ist"  (S.  12).  Schon  in  den  einleitenden  Bemerkungen  hebt  Rae 
die  ungeheure  Bedeutung  der  geistigen  Fortschritte,  der  Erfindungen  und 
Verbesserungen  für  den  Wohlstand  der  Nationen  hervor.  Mit  einer  etwas 
rhetorischen  Wendung  erklärt  er  die  Erfindung  (invention)  für  die  einzige 

^)  Geschrieben  im  Jahre  1900  gelegentlich  des  Erscheinens  der  zweiten  Auflage 
meines  Buches. 

-)  Ich  zitiere  nach  der  Originalausgabe  von  1834.  Die  Besitzer  des  MixTEBschen 
Neudrucks  finden  auf  S.  484  desselben  einen  „Readers  Guide",  welcher  erkennen  läßt, 
welche  Seitenzahlen  des  Originals  und  des  (die  Reihenfolge  umstellenden  1)  Neudruckes 
einander  entsprechen. 


280  XI.  John  Rae. 

Kraft  auf  Erden,  der  man  wirkliches  Schaffen  zuschreiben  könne  und  dem- 
zufolge könne,  im  Unterschied  vom  Reichtum  einzelner,  der  nationale 
Wohlstand  nicht  ohne  Beihilfe  der  „erfinderischen  Fähigkeit"  (inventive 
faculty)  gesteigert  werden  (15). 

Den  Ursachen,  durch  welche  dieser  Nationalreichtum  entsteht,  ver- 
mehrt und  vermindert  werden  kann,  spürt  nun  Rae  in  seinem  zweiten 
Buche  mittelst  eines  streng  systematischen,  einen  Punkt  nach  dem  anderen 
wohlbedächtig  entwickelnden  Untersuchungsganges  nach. 

Er  beginnt  mit  den  Elementen  der  Güterproduktion.  Der  Mensch 
hat  die  Fälligkeit,  „den  Gang  der  Ereignisse  und  ihre  gegenseitige  Ver- 
kettung" zu  begreifen.  Diese  ihn  von  den  niederen  Tieren  unterscheidende 
Fälligkeit  setzt  ihn  in  den  Stand,  einerseits  seine  künftigen  Bedürfnisse 
vorauszusehen,  und  andererseits  für  ihre  künftige  Befriedigung  dadurch 
vorzusorgen,  daß  er  durch  sein  Eingreifen  das  Entstehen  geeigneter  Be- 
friedigungsmittel  sicherstellt.  In  die  Natur  sowohl  der  Güterproduktion, 
als  des  Güterwirkens  zeigt  Rae  hiebei  eine  vollkommen  klare  Einsicht. 
Er  bezeichnet  die  Güter  ganz  richtig  als  „Stoffgestalten",  „arrangements 
of  matter"  (81),  bemerkt,  daß  wir  zwar  nicht  „die  Natur  der  Dinge",  wohl 
aber  die  Form  derselben  ändern  können,  und  daß  wir  auf  diesem  Wege 
„in  den  Gang  der  von  ihnen  ausgehenden  oder  abhängenden  Wirkungen" 
derart  eingreifen  können,  daß  schließlich  entweder  sie  selbst  in  taugüche 
Befriedigungsmittel  für  künftige  Bedürfnisse  umgebildet,  oder  mit  ihrer 
Hilfe  solche  Befriedigungsmittel  gebildet  oder  in  unsere  Gewalt  gebracht 
werden  können  (81—82). 

Als  eigentümlichen  technischen  Ausdruck  führt  er  den  Namen  „In- 
strumente" ein,  worunter  er  —  in  einem  viel  weiteren  als  dem  in  der  Volks- 
sprache damit  verknüpften  Sinne  —  alle  durch  menschliche  Arbeit 
entstandenen  Produkte  begreift,  welche  einer  künftigen  Bedürfnisbefrie- 
digung dienen;  also  nicht  nur  Produktivgüter,  sondern  auch  Genußgüter, 
falls  sie  nur  noch  der  Zukunft  zu  dienen  bestimmt  sind;  also  selbst  ver- 
brauchliche Genußgüter,  wie  Brot,  bis  zum  Augenblick  der  wirküchen 
Konsumtion  (S.  88),  und  ausdauernde  Genußgüter,  wie  Hüte  (S.  93), 
oder  Reitpferde  (105),  selbst  nachdem  sie  schon  in  Gebrauch  genommen 
und  nur  noch  nicht  völlig  abgenützt  sind^).    Im  Gegensatze  zu  den  In- 


^)  Vgl.  auch  S.  171,  wo  Rae  den  gesamten,  alle  Instrumente  umfassenden  „stock" 
in  den  „stock  for  immediate  consumption"  und  in  „capital"  unterteilt,  und  als  dem 
ersteren  angehörende  „Instrumente"  beispielsweise  IQeider,  Wohnhäuser,  Möbel, 
Gärten,  Spielplätze  etc.  aufzählt.  Seine  Kapitaldefinition,  sowie  seine  Unterteilung 
des  Kapitales  in  fixes  und  zirkulierendes  hält  sich  ganz  in  dem  damals  landläufigen 
Stile  und  ist  ebensowenig  glücklich  als  sie  originell  ist;  indem  sie  nach  damaliger  Sitte 
das  Schwergewicht  darauf  legt,  daß  die  das  Kapital  bildenden  oder  mit  seiner  Hilfe 
herzustellenden  Güter  für  den  Tausch  verkehr  bestimmt  sein  müssen  (the  Instruments, 
to  which  this  term  [capital]  applies,  supply  the  future  wants  of  the  individuals  owning 
them,  indirectly,  either  from  being  themselves  commodities  thatmaybe  exchanged 


Darstellung  seiner  Lehre.  281 

Strumenten  stehen  die  reinen  Naturgaben,  die  als  „Materialien"  für  die 
menschliche  Arbeit  in  Betracht  kommen  (92,  93,  99). 

Gewisse  Eigenschaften  sind  notwendigerweise  allen  Instrumenten 
gemein.  Alle  Instrumente  sind  direkt  oder  indirekt  durch  Arbeit  ent- 
standen (91).  Alle  bringen  femer  Leistungen  (events)  hervor,  oder 
helfen  solche  Leistungen  hervorbringen,  welche  menschliche  Bedürfnisse 
befriedigen,  und  werden  dann  „erschöpft"  (exhausted).  Ihre  Kraft,  solche 
Leistungen  hervorzubringen  oder  den  Betrag  (amount)  von  ihnen,  den 
sie  hervorbringen,  nennt  Rae  „capacity"  (92)^).  Endlich  ist  es  allen 
Instrumenten  gemeinsam,  daß  zwischen  ihrer  Bildung  und  Erschöpfung 
ein  Zeitraum  verstreicht.  „Dies  muß  notwendig  so  sein,  weil  ja  alles 
Greschehen  (all  events)  sich  in  der  Zeit  vollzieht"  (93).  Der  Zeitraum  kann 
kurz  oder  lang  sein,  Jahre,  Monate,  oder  jioch  kürzere  Perioden  umfassen, 
aber  immer  muß  er  existieren  2). 


for  articles  directly  suited  to  their  needs,  or  by  their  capacity  of  producing  commo- 
dities  which  may  be  so  exchanged"  S.  171),  schließt  sie  dem  Wortlaute  nach  der 
Produktivgüter  der  Eigenproduzenten,  also  den  Pflug,  das  Grespann  und  die  Dresch- 
maschine des  Landwirtes,  der  sein  Produkt  in  der  eigenen  Wirtschaft  verbraucht,  vom 
Begriffe  des  Kapitales  ausi  Wie  jedoch  Mixtek  (a.  a.  0.  S.  1691)  ganz  zutreffend  be- 
merkt, macht  Rae  im  Verlaufe  seines  Werkes  von  dem  engeren  Be^iff  des  „Kapitales" 
so  gut  wie  keinen  Gebrauch,  sondern  arbeitet  stets  mit  dem  weiteren,  alle  Instrumente 
umfassenden  Begriffe  des  „stock",  so  daß  seine  übel  geratene  Kapitaldefinition  ohne 
schädliche  Konsequenten  bleibt.  —  Dagegen  ist  mir  nicht  verständlich,  wieso  Mixteb 
(a.  a.  0.  S.  169f.)  diesen  weiteren  Begriff  des  stock  oder  der  „instruments"  mit  meinem 
Begriffe  der  „Zwischenprodukte"  identifizieren  zu  sollen  glaubt.  Daß  sowohl  Rae 
als  ich  die  „warehouse-goods"  in  unsere  beiderseitigen  Begriffe  einbeziehen,  stellt  die 
Identität  der  letzteren  noch  keineswegs  her,  da  mein  Begriff  der  „Zwischenprodukte" 
die  reifen  Genußgüter  (die  warehouse-goods  sind  nach  meiner  Auffassung  eben  noch 
nicht  völlig  genußreif)  grundsätzlich  ausschließt,  während  Rae  sie  in  den  Begriff 
der  instruments  ebenso  grundsätzlich  einschließt,  auch  wenn  sie  schon  zum  Konsu- 
menten gelangt,  und  von  diesem  nur  noch  nicht  gänzlich  konsumiert  sind.  Auch  die 
Unterhaltsmittel  fallen,  entgegen  der  von  Mixteb  geäußerten  Ansicht,  nach  der  De--» 
finition  und  Erläuterung  Raes  wohl  zweifellos  in  seinen  Begriff  der  „instruments" 
hinein.  Letzterer  Begriff,  dessen  vorstechendstes  Merkmal  die  Widmung  für  ein  künftiges 
Bedürfnis  ist,  scheint  mir  vielmehr  am  nächsten  mit  dem  Kapitalbegriff  Tubgots 
und  Knies'  verwandt  zu  sein.  —  Seither  hat  Mixtee  die  ihm  mehrfach  unterlaufenen 
Mißverständnisse  selbst  zugegeben;  siehe  dessen  spätere,  am  Schlüsse  dieses  Abschnittes 
zitierte  Abhandlung  „Böhm-Bawerk  on  Rae". 

^)  Dieser  Ausdruck  wäre  am  besten  durch  „Leistungsvermögen"  zu  übersetzen. 
Ich  bin  gleich  Mixteb  (a.  a.  0.  S.  168)  der  Meinung,  daß  Raes  Begriff  und  Auffassung 
der  nützlichen  „events"  genau  mit  meinen  sachlichen  „Nutzleistungen"  (siehe  oben 
S.  200ff.)  zusammenfällt. 

*)  Hier  taucht  das  Element  der  Zeit  zum  erstenmale  bei  Rae  auf.  Es  ist  mir  aller- 
dings wieder  nicht  recht  klar,  wieso  Mixteb  diesen  von  Rae  bezogenen  zeitlichen 
Zwischenraum,  der  zwischen  der  Bildung  und  Erschöpfung  der  Instrumente  vergeht, 
mit  demjenigen  Zeiträume  identifizieren  konnte,  auf  welchen  ich  meinen  Begriff  der 
kapitalistischen  Produktionsumwege  gründete.  Rae  sagt:  ,,Between  the  forma tion 
and  the  exhaustion  of  instruments  a  space  of  time  intervenes";  und  Mixteb  meint, 


282  XI.  John  Rae. 

Es  besteht  nun  die  Notwendigkeit,  meint  Rae,  einen  Maßstab  zu 
besitzen,  um  das  Leistungsvermögen  (capacity)  oder  die  Erträge  (returns) 
der  Instrumente  mit  der  direkten  und  indirekten  Arbeit  vergleichen  zu 
können,  welche  zu  ihrer  Entstehung  aufgewendet  wurde.  Rae  nimmt  als 
diesen  Maßstab  die  Arbeit  an;  demgemäß  „werden  die  durch  ein  Instrument 
zustande  gebrachten  Leistungen  (the  events  brought  to  pass  by  any 
instrument)  nach  dem  Betrage  der  Arbeit  geschätzt,  welchem  sie  vom 
Eigentümer  des  Instruments  im  Werte  gleichgesetzt  werden  (are  esteemed 
equivalent)"  (92).  Rae  ist  der,  wie  wir  noch  sehen  werden,  nicht  ganz 
richtigen  Meinung,  daß  diese  Auffassungsweise  eine  bloß  terminologische 
Bedeutung  habe  (has  no  other  effect  than  that  of  giving  distinctness  to 
our  nomenclature).  Zur  Rechtfertigung  derselben  weist  er  übrigens  unter- 
stützend auch  noch  darauf  hin,  daß  in  häufigen  Fällen  die  Erträge  der 
Instrumente  tatsächlich  mit  Arbeit  verglichen  werden,  weil  sie  unmittelbar 
Arbeit  ersparen.  Wasserleitungsröhren  z.  B.  ersparen  die  Arbeit  des 
Wassertragens,  „und  daher  kann  man  von  dem  Instrument,  das  die  Röhren 
darstellen,  ganz  gleichbedeutend  sagen  (may  be  said  indifferently)  ent- 
weder, daß  es  eine  bestimmte  Menge  Wasser  liefert,  oder  daß  es  eine  be- 
stimmte Menge  Arbeit  erspart"  (92).  Rae  macht  von  dieser  alternativen 
Ausdrucksweise  auch  im  folgenden  öfters  Gebrauch  (z.  B.  S.  171). 

Bei  einer  späteren  Gelegenheit  (S.  98)  fügt  er  endlich  noch  hinzu, 
daß  bei  dieser  Verwendung  der  Arbeit  als  Maßstab  für  die  Berechnung 
der  Leistungsfähigkeit  der  Güter  man  sich  eigentlich  nicht  auf  die  körper- 
liche und  geistige  Anstrengung  des  Arbeiters,  sondern  auf  den  Lohn,  den 
er  hiefür  erhält,  beziehe.  Diesen  Lohn  betrachtet  Rae,  unter  Vernach- 
lässigung der  ihm  wohlbekannten  Schwankungen  desselben,  für  den  Bereich 
seiner  theoretischen  Untersuchung  als  eine  gegebene,  unveränderliche 
Größe  (S.  97). 

Außer  den  oben  erwähnten  drei  Umständen,  die  allen  Instrumenten 
tatsächlich  gemeinsam  sind  (Entstehung  durch  Arbeit,  Fähigkeit  zu  nütz- 
lichen Leistungen,  Zeitintervall  zwischen  Bildung  und  Erschöpfung), 
glaubt  aber  Rae  für  den  Bereich  seiner  Untersuchungen  noch  einen  vierten 


das  sei  ,ithe  same  tliing  as  saying  that  the  capitalistic  process  is  a  roundabout  process'' 
(a.  a.  0.  S.  169).  Das  ist  ein  offenbares  Mißverständnis.  Denn  ich  habe  denjenigen 
Zeitraum  im  Auge,  welcher  bei  der  ka^pitalistischen  Produktion  zwischen  dem  Einsätze 
der  originären  Produktivkräfte  und  der  Herstellung  der  Produkte  verstreicht;  also, 
um  in  RJVES  Sprache  zu  reden,  den  Zeitraum,  welcher  bis  zur  „formation"  der  instru- 
ments  verstreicht.  R\e  bezieht  sich  dagegen  auf  den  hievon  wesentlich  verschiedenen 
Zeitraum,  welcher  zwischen  der  ,, formation"  und  der  ,,exhaustion"  der  In- 
strumente verstreicht.  Wenn  Robinson  mit  der  Arbeit  einiger  Stunden  aus  plattigen 
Steinen  eine  steinerne  Ruhebank  herstellt,  so  mag  diese  zwanzig  oder  selbst  hundert 
Jalire  dauern  und  wird  daher  eine  sehr  ansehnliche  ,,period  between  formation  and 
cxhaustion"  im  Sinne  Raes,  dagegen  eine  äußerst  kurze  Produktionsperiode  in  meinem 
Sinne  aufweisen!    Siehe  auch  hiezu  den  Schluß  der  Note  auf  S.  281f. 


Darstellung  seiner  Lehre.  283 

Umstand  als  gemeinsam  annehmen  zu  müssen,  der  es  tatsächlich  nicht 
im  vollen  Maße  sei.  Wenn  wir  nämlich  das  Leistungsvermögen  verschie- 
dener Instrumente,  die  derselben  Gattung  von  Bedürfnissen  dienen,  unter- 
einander vergleichen,  so  messen  wir  dieselben  sehr  oft  nach  dem  Verhältnis 
des  technischen  Leistungseffektes  (by  the  relative  physical  effects),  den 
die  Instrumente  hervorbringen.  Kann  z.  B.  mit  einer  Klafter  Brennholz 
gewisser  Gattung  gerade  eine  doppelt  so  große  Hitze  erzeugt  werden,  als 
mit  einer  Klafter  Brennholz  einer  anderen  Gattung,  so  ist  die  „capacity" 
der  ersteren  doppelt  so  groß  als  die  der  letzteren,  und,  wenn  die  erstere 
vier  Arbeitstagen  gleichgesetzt  wird,  wird  die  zweite  gerade  zwei  Arbeits- 
tage wert  sein  (if  the  one  be  equivalent  to  four,  the  other  will  be  equivalent 
to  exactly  two  days  labour).  Es  gibt  jedoch  zahlreiche  Ausnahmsfälle, 
in  welchen  die  „relative  capacity"  von  Instrumenten  derselben  x\rt  von 
anderen  Ursachen  als  ihren  rein  physikalischen  Eigenschaften  abhängt^). 
Trotzdem  glaubt  Rae  wegen  der  Schwierigkeit,  den  Gegenstand  anders 
als  unter  dieser  Voraussetzung  behandeln  zu  können,  seiner  weiteren 
theoretischen  Entwicklung  die  hypothetische  Annahme  unterlegen  zu 
müssen,  daß  die  capacity  immer  nach  den  physischen  Qualitäten  der 
Instrumente  bestimmt  werde;  gerade  so,  \vie  bei  der  wissenschaftlichen 
Untersuchung  mechanischer  Probleme  die  Existenz  rein  mathematischer 
Linien  und  die  Abwesenheit  der  Reibung  voraussetzungsweise  ange- 
nommen werden  darf  und  muß  (94). 

Es  ergibt  sich  aber  noch  eine  weitere  interessante,  in  Ziffern  zu 
kleidende  Größenkombination,  wenn  man  in  die  Vergleichung  zwischen 
der  capacity  der  Instrumente  und  der  zu  ihrer  Bildung  aufzuwendenden 
Arbeit,  oder  zu  den  Kosten  ihrer  Bildung  (S.  100),  als  drittes  Element 
auch  noch  die  Zeit  einbezieht,  die  zwischen  der  Bildung  und  Erschöpfung 
der  Instrumente  verstreicht.  Alle  drei  Elemente  lassen  sich  in  Ziffern 
ausdrücken;  und  je  nach  dem  wechselnden  Verhältnis,  das  bei  den  ver- 
schiedenen Instrumenten  zwischen  denselben  besteht,  läßt  sich  eine  ,, Serie 
von  Ordnungen"  aufstellen,  in  welche  sich  alle  bestehenden  Instrumente 
einreihen  lassen  müssen.  Rae  erklärt  den  Aufbau  dieser  „Serie",  die  auf 
nichts  anderes  hinausläuft,  als  auf  eine  Reihung  der  Güter  nach  dem 
Gewinnprozent,  das  ihre  Erzeugung  oder  ihr  Besitz  einbringt,  in  ebenso 
eigenartiger  als  abstrakter  Weise.  Er  schickt  die  Bemerkung  voraus,  daß 
,,in  Konsequenz  eines  später  zu  erklärenden  Prinzipes"  nur  solche  In- 

^)  Die  Ausnahmsfälle,  auf  welche  Rae  hier  und  später  noch  einmal  auf  S.  259 
anspielt,  werden  von  ihm  im  XL  Kapitel  über  den  Luxus  entwickelt  und  bestehen 
darin,  daß  Leute  häufig  aus  Eitelkeit  kostbare  Güter,  die  ihren  reellen  Bedürfnissen 
gar  nicht  besser,  oder  nur  um  wenig  besser  dienen,  gleichwohl  weit  höher  schätzen,  als 
Einige  Güter,  die  ihnen  dieselben  oder  fast  dieselben  Dienste  leisten  w^ürden.  Würde 
nicht  die  Eitelkeit  mehr  oder  weniger  die  Ausgaben  der  Leute  beeinflussen,  so  würden 
wir  —  meint  Rae  —  finden,  daß  die  Dinge  nur  nach  ihren  physischen  Qualitäten  ge- 
schätzt würden  (283;  vgl.  auch  die  Inhaltsangabe  zum  Kapitel  Luxus  auf  S.  XV). 


284  XI.  John  Rae. 

Strumente  absichtlich  erzeugt  werden,  deren  capacity  größer  ist  als  der 
Betrag  ihrer  Arbeitskosten.  Er  macht  femer  vorläufig  die  vereinfachende 
Annahme,  daß  sowohl  die  Erzeugung  als  auch  die  Erschöpfung  jedes 
Instrumentes  sich  in  je  einem  einzigen  bestimmten  Zeitpunkt  vollziehe. 
„Unter  diesen  Voraussetzungen  muß  jedes  Instrument  seinen  Platz  an 
irgend  einer  Stelle  einer  Reihe  finden  können,  deren  Güeder  (orders)  sich 
nach  der  Größe  des  Zeitraumes  bestimmen,  innerhalb  dessen  die  in  sie 
gereihten  Instrumente  sich  in  Leistungen  vom  doppelten  Werte  ihrer 
Erzeugungsarbeit  umsetzen  (issue  in  events  equivalent  to  double  the  labor 
expended  in  forming  them),  oder  umsetzen  würden,  falls  sie  nicht  schon 
vorher  erschöpft  wären  (or  would  issue,  if  not  before  exhausted).  Diese 
Glieder  oder  Ordnungen  mögen  durch  die  Buchstaben  A,  B,  C  . . .  Z,  a,  b,  c, 
usw.  repräsentiert  werden."  In  der  Ordnung  A  stehen  jene  Instrumente, 
welche  sich  schon  in  einem  Jahre  in  Leistungen  vom  doppelten  Werte 
der  Erzeugungsarbeit  umsetzen,  oder  umsetzen  würden,  falls  nicht  ihre 
Erschöpfung  vorher  einträte;  in  der  Klasse  B  jene,  welche  binnen  zwei 
Jahren  Leistungen  vom  doppelten  Werte  der  Erzeugungsarbeit  abgeben 
und  dann  erschöpft  werden;  in  der  Klasse  C  beträgt  die  Zeit,  nach  welcher 
die  Verdopplung  der  Erzeugungskosten  erreicht  wird,  drei  Jahre,  in  der 
Klasse  D  vier  Jahre,  in  der  Klasse  Z  26  Jahre  usw.  Allgemein  nennt  Rae 
die  Klassen  mit  geringerer  Verdopplungsperiode,  also  die  Klasse  A  und 
die  ihr  benachbarten,  „the  more  quickly  returning  orders",  die  späteren 
der  Klasse  Z  benachbarten  Klassen  die  „more  slowly  returning  orders"  ^). 
In  der  Praxis  geht  die  Sache  allerdings  selten  mit  den  glatten  runden 
Ziffern  dieses  abstrakten  Schemas  aus:  teils  bemessen  sich  die  Perioden, 
nach  welchen  die  Instrumente  sich  erschöpfen,  selten  gerade  nach  ganzen 
Jahren,  sondern  umfassen  häufig  auch  Bruchstücke  von  Jahren;  teils  ist 
die  gesamte  capadty  des  Instrumentes  nicht  gerade  dem  Doppelten  seiner 
Kosten  gleich,  sondern  größer  oder  kleiner  als  das  Doppelte.  Nichtsdesto- 
weniger bleibt  das  Schema  anwendbar;  es  sind  nur  gewisse  Reduktionen 
nötig,  zu  welchen  Rae  folgende  Anleitung  gibt.  Ist  die  capacity  gerade 
gleich  dem  doppelten  Betrag  der  Kosten,  aber  geht  die  Zeitperiode  nicht 
nach  ganzen  Jahren  aus,  dann  gehört  das  betreffende  Instrument  in  eine 
Mittelklasse,  die  an  der  entsprechenden  Stelle  des  Schemas  einzuschalten 
ist.  Dauert  ein  Instrument  z.  B.  7  ^  Jahre,  dann  gehört  es  in  eine  Mittel- 
klasse zwischen  den  Klassen  G  und  H.  Ist  ferner  das  Leistungsvermögen 
eines  Instrumentes  schon  erschöpft,  bevor  dasselbe  den  doppelten  Belauf 
der  Erzeugungskosten  erreicht,  so  muß  man  sich  die  Dauer  des  Instru- 
mentes verlängert  denken,  und  zusehen,  nach  welchem  Zeiträume  seine 
Leistungen  bis  zum  doppelten  Kostenbetrag  anwachsen  würden,  falls  ihr 
Überschuß  über  die  Erzeugungskosten  im  bisherigen  Verhältnis  weiter 

^)  Diese  Ausdrücke  lassen  sich  wohl  nicht  anders  korrekt  übersetzen  als  mit 
„kurzer"  und  „langer  Verdopplungsperiode".    Vgl.  Mixter  a.  a.  0.  S.  177. 


Daratellang  seiner  Lehre.  285 

wachsen  würde.  Gesetzt  z.  B.,  jemand  formt  ein  Instrument  mit  einem 
Kostenaufwand  im  Werte  von  zwei  Arbeitstagen,  und  dieses  Instrument 
erschöpft  sich  nach  sechs  Monaten,  indem  es  bis  zu  diesem  Augenblicke 
einen  Ertrag  im  Werte  von  2.828  Arbeitstagen  geliefert  hat:  so  würde, 
wenn  der  Überschuß  der  capacity  über  die  Kosten  in  demselben  Ver- 
hältnis weiter  wachsen  würde,  die  capacity  bis  zum  Ablaufe  des  zwölften 
Monats  auf  vier  gewachsen  sein;  „denn  2.828  ist  ein  verhältnismäßiges 
(geometrisches)  Mittel  zwischen  2  und  4".  Und  das  Instrument  würde 
daher  in  die  Klasse  A  gehören,  welche  in  einem  Jahre  das  Doppelte  der 
Kosten  erreicht  (102,  103).  Analog  muß  man  bei  Instrumenten,  deren 
gesamte  Leistungssumme  mehr  als  den  doppelten  Kapitalbetrag  erreicht, 
den  Fortschritt  ihrer  capacity  zurückverfolgen,  und  zusehen,  nach  welchem 
Zeiträume  dieselbe,  bei  gleichmäßigem  Fortschritt,  gerade  den  doppelten 
Betrag  der  Kosten  erreicht  hätte.  Dieser  Zeitraum  entscheidet  über  die 
Einreihung  in  die  Klassen  des  Schemas  (103). 

Endlich  kann  eine  Komplikation  noch  dadurch  eintreten,  daß  die 
Bildung,  oder  die  Erschöpfung,  oder  beide,  nicht,  wie  anfangs  voraus- 
gesetzt, je  in  einem  einzigen  Zeitpunkte  sich  vollziehen,  sondern,  wie  es 
in  der  Tat  gewöhnlich  der  Fall  ist,  sich  über  einen  längeren  Zeitraum  aus- 
dehnen. Allein  solche  Zeiträume  haben  stets  gleichsam  einen  zeitlichen 
Schwerpunkt  ^),  um  welchen  die  betreffenden  Leistungen  sich  so  gruppieren, 
daß  die  ihm  gegenüber  stattfindende  Verfrühung  eines  Teiles  der  Leistungen 
sich  mit  der  Verspätung  eines  anderen  Teiles  gerade  kompensiert.  Diese 
Punkte  stellen  dann  „die  wahre  Periode"  der  Bildung^),  beziehungsweise 
Erschöpfung  dar  (104,  105).  Rae  resümiert  schließlich  alle  auf  die  Ein- 
reihung der  Instrumente  in  das  Ertragsschema  wirkenden  Einflüsse  dahin, 
daß  ein  Instrument  einer  desto  günstigeren  Ertragsklasse  angehört,  je 
größer  sein  Leistungsvermögen,  je  kleiner  seine  Kosten  und  je  kürzer 
dabei  der  Zeitraum  zwischen  der  Büdung  und  Erschöpfung  ist  (108). 

Wie  der  aufmerksame  Leser  leicht  sieht;  läßt  sich  diese  ganze  Klassen- 
einteilung auch  noch  mittelst  einer  viel  familiäreren  Vorstellungs-  und 
Ausdrucksweise  schüdem,  welche  Rae  auch  selbst,  jedoch  erst  an  einer 
späteren  Stelle  seines  Buches,  anwendet  (S.  195).  In  die  Klasse  A  gehören 
nämlich  einfach  jene  Güter,  deren  Ertragsüberschuß  über  ihre  Erzeugungs- 
kosten, auf  ein  Jahr  reduziert,  100%  ausmacht,  und  somit  den  Anfangs- 

^)  Das  Wort  findet  sich  nicht  bei  Rae. 

*)  Augenscheinlich  ist  jener  längere  Zeitraum,  über  den  sich  die  zur  Bildung 
eines  Instruments  aufgewendeten  Arbeitsleistungen  verteilen,  identisch  mit  der  „Pro- 
duktionsperiode" meiner  Elapitalstheorie ;  sie  trifft  also  mit  dem  zusammen,  was  Rae 
„period  of  formation"  nennt.  Rae  interessiert  sich  aber  im  weiteren  nicht  mehr  für 
diesen  Begriff,  sondern  nur  für  den  Zwischenraum  zwischen  der  „period  of  formation" 
und  ,, period  of  exhauStion",  wobei  er  überdies  in  den  letzteren  Ausdrücken  das  Wort 
„period"  oft  (z.  B.  S.  104)  gar  nicht  zur  Bezeichnung  eines  wirklichen  Zeitraumes, 
sondern  zu  der  eines  Zeitpunktes  anwendet.    Siehe  oben  S.  281,  Anm.  2. 


286  XI.  John  Rae. 

wert  in  einem  Jahre  verdoppelt;  die  Instrumente  der  Klasse  B  tragen 
41%  per  annum,  die  der  Klasse  C  26,  der  Klasse  G  10%,  der  Klasse  N 
5%  usf.  ^).  Das  RAEsche  System  stellt  also  einfach  eine  Reihung  der 
Güter  nach  der  Höhe  des  Gewinnprozentes  dar,  das  sie  einbringen.  — 

Nachdem  Rae  in  diesen  vorbereitenden  Ausführungen  die  Elementar- 
lehre von  den  Instrumenten  entwickelt  hat,  nähert  er  sich  derjenigen 
Frage,  auf  welche  nach  dem  Zwecke  seines  Werkes  das  Hauptinteresse 
fallen  muß.  Er  fragt  nämlich  nach  den  Ursachen,  welche  die  Masse  der 
Instrumente  bestimmen,  die  ein  Volk  bildet  und  besitzt,  in  welcher  Masse 
sich  ja  eben  die  Größe  des  Nationalreichtums  widerspiegelt. 

Rae  glaubt  vier  solche  Ursachen  feststellen  zu  können: 

1.  Die  Quantität  und  Qualität  der  „Materialien",  welche  das  Volk 
besitzt,  also  der  Naturschätze,  über  die  es  verfügt. 

2.  Die  Stärke  des  wirksamen  Ansammlungs-  oder  Ersparungstriebes 
(the  strength  of  the  effective  desire  of  accumulation). 

3.  Die  Höhe  des  Arbeitslohnes. 

4.  Den  Fortschritt  der  Erfindungskraft  (inventive  faculty;  S.  109). 
Über  die  erste  und  dritte  Ursache  hat  Rae  nicht  viel  zu  sagen  ^).  Desto 

ausführlicher  und  origineller  sind  seine  Erörterungen  über  den  Ansamm- 
lungstrieb. Ihnen  schickt  er  jedoch  noch  eine  gleichfalls  theoretisch  sehr 
interessante  Konstatierung  eines  Erfahrungsgesetzes  voraus,  das  teils  an 
die  Lehre  Thünens,  teils  an  moderne  Kapitalstheorien  zu  erinnern  ge- 
eignet ist. 

Unter  der  Voraussetzung,  daß  die  Kenntnis  der  Menschen  von  den 
Kräften  und  Eigenschaften  der  Stoffe  unverändert  bleibt,  kann  die  capa- 
city,  welche  den  Stoffen  durch  ihre  Umbildung  zu  Instrumenten  verliehen 
wird,  nicht  ins  Unbestimmte  gesteigert  werden,  ohne  gleichzeitig  die 
geformten  Instrumente  in  der  Serie  A,  B,  C  usw.  beständig 
weiter,  also  in  Klassen  von  immer  längerer  Verdopplungsperiode, 
oder,  wie  wir  familiärer  sagen  können,  von  immer  geringeren  perzen- 
tuellen  Erträgnissen,  zu  rücken  (the  capacity  .  .  .  cannot  be  indefini- 
tely  increased  without  moving  the  Instruments  formed  continually  on- 


*)  Bei  der  Berechnung  der  Verdopplungsperiodc  aus  diesem  Zinsfuß  rechnet 
Rae  natürlich  mit  einer  geometrischen  Progression,  also  mit  Zinseszins. 

^)  Die  Beschaffenheit  und  Menge  der  Materialien  sieht  Rae  als  eine  wichtige, 
aber  letzte  Tatsache  (important  but  ultimate  fact)  an,  die  keinen  Gegenstand  seiner 
Untersuchung  zu  bilden  liabe  (130);  ähnliches  gilt  von  dem  Stande  des  Arbeitslohnes, 
den  er  ebenfalls  als  „an  existing  circumstance"  anzunehmen  erklärt,  und  von  dem  er 
nur  kurz  erklärt,  daß  ein  niedriger  Stand  des  Arbeitslohnes  in  derselben  Richtung 
wirkt,  wie  eine  Verbesserung  der  Qualität  der  zu  bearbeitenden  Materialien,  oder  ein 
Fortschritt  in  der  technischen  Erfindung.  Alle  diese  Umstände  ermöglichen  nämlich 
in  gleicher  "Weise,  denselben  Ertrag  mit  einer  geringeren  Auslage  zu  erzielen.  Rae 
versäumt  jedoch  nicht  anzumerken,  daß  sich  in  anderen  Beziehungen  die  Wirksamkeit 
der  genannten  Momente  sehr  wesentlich  unterscheide  (130,  131). 


Darstellung  seiner  Lehre.  287 

wards  in  the  series  A,  B,  C  etc.);  dagegen  läßt  sich  auch  bei  stationärem 
Stand  der  Kenntnisse,  wenn  diese  nur  einmal  einen  einigermaßen  großen 
Umfang  erreicht  haben,  die  capacity,  die  den  Materialien  verliehen  werden 
kann,  ohne  absehbare  Grenze  steigern,  ohne  die  Instrumente  ganz 
aus  der  Serie  A,  B,  C  usw.  hinauszudrängen,  mit  anderen  Worten, 
ohne  den  Überschuß  ihrer  capacity  über  die  Kosten,  oder  einen  perzentuellen 
Reinertrag,  ganz  zum  Schwinden  zu  bringen  (but  there  is  no  assignable 
limit  to  the  extent  of  the  capacity  which  a  people  having  attained  con- 
siderable  knowledge  of  the  qualities  and  powers  of  the  materials  they 
possess,  can  communicate  to  them  without  carrying  them  out  of  the 
series  A,  B,  C  etc.,  even  if  that  knowledge  remain  stationary,  S.  109). 

Die  erste  Hälfte  dieses  Gesetzes  begründet  Rae  folgendermaßen. 
Die  capacity  der  Instrumente  kann  entweder  durch  eine  Steigerung  ihrer 
Dauer,  oder  durch  Steigerung  ihrer  Wirksamkeit  (efficiency)  gesteigert 
werden:  entweder  dadurch,  daß  die  Zeit  verlängert  wird,  durch  welche 
sie  nützKche  Leistungen  abgeben,  oder  dadurch,  daß  die  Menge  der 
Leistungen  vermehrt  wird,  die  sie  in  der  gleichen  Zeit  abgeben. 

Die  Dauerhaftigkeit  der  Instrumente  kann  in  der  Regel  nur  durch 
einen  größeren  Arbeitsaufwand  bei  ihrer  Herstellung  gesteigert  werden. 
Wird  nun  beispielsweise  durch  einen  Zusatz  von  Erzeugungsarbeit  die 
Dauer  eines  Wohnhauses,  das  sonst  30  Jahre  gedauert  hätte,  auf  60  Jahre 
erhöht,  so  ist  dieser  Vorgang  geradeso  aufzufassen,  als  ob  man  mit  jenem 
Arbeitszusatz  ein  zweites  Haus  von  30 jähriger  Dauer  hergestellt  hätte, 
welches  nach  dem  Untergang  des  ersten  zur  Benützung  kommt.  Da  aber 
der  Arbeitszusatz  schon  jetzt  geleistet  werden  muß,  so  stehen  die  Erträge, 
die  der  Arbeitszusatz  einbringt,  vom  Aufwand  der  betreffenden  Kosten 
zeitlich  sehr  weit  ab,  und  führen  daher,  auch  wenn  sie  die  Kosten. über- 
steigen, doch  erst  nach  einer  langen  Periode  zur  Verdopplung.  Der  Vorgang 
kommt  daher  der  Bildung  eines  Instrumentes  gleich,  welches  einem  „order 
of  slower  retum"  angehört.  Dies  würde  nur  dann  nicht  zutreffen,  wenn 
der  Arbeitszusatz,  der  zu  einer  bestimmten  Verlängerung  der  Dauer  führt, 
sieb  immerfort  in  einer  geometrischen  Progression  vermindern  ließe;  dies 
würde  aber,  wie  Rae  richtig  bemerkt,  auf  die  Dauer  zu  einer  Absurdität 
führen'). 

Was  aber  die  Steigerung  der  Wirksamkeit  anbelangt,  die  den 
Materialien  durch  Bearbeitung  mitgeteilt  werden  kann,  so  stößt  diese 
Steigerung  auf  die  Dauer  auf  vermehrte  Schwierigkeiten,  die  nur  durch 
einen  größeren  Aufwand  von  Arbeit  überwunden  werden  können.     Die 


*)  „If,  therefore,  continual  additions  be  made  to  the  durability  of  an  Instrument, 
it  cannot  be  preserved atan  order'of  equally  quick  return  unless  the  several  augmentations 
be  communicated  to  it  by  an  expenditure  diminishing  in  a  geometrical  ratio;  that  is, 
in  a  ratio  becoming  indefinitely  less,  as  it  is  continued.  This,  however,  cannot  happen, 
for,  it  would  imply  an  absurdity"  (S.  112). 


288  XI.  John  Rae. 

Leute  werden  nämlich  zuerst  jene  Materialien  in  Bearbeitung  nehmen, 
deren  Kräfte  am  leichtesten  in  Bewegung  gesetzt  werden  können,  und 
welche  die  gewünschten  Effekte  am  reichlichsten  und  raschesten  bringen. 
Da  aber  der  Vorrat  an  Materialien,  die  eine  Gesellschaft  besitzt,  ein  be- 
schränkter ist,  so  müssen  die  Mitglieder  derselben,  sofern  einerseits  ihre 
Kenntnisse  nicht  wachsen,  und  sie  andererseits  doch  die  Masse  der  In- 
strumente, die  sie  aus  jenen  Materialien  bilden,  beständig  vermehren 
wollen,  auf  die  Dauer  zu  solchen  Materialien  ihre  Zuflucht  nehmen,  welche 
entweder  nur  mit  größerer  Schwierigkeit  sich  bearbeiten  lassen,  oder  die 
gewünschten  Effekte  spärlicher  oder  später  bringen.  In  allen  diesen  Fällen 
muß  die  Wirksamkeit  der  Instrumente  mit  größeren  Kosten  geschaffen 
werden,  das  heißt,  sie  müssen  in  „orders  of  slower  return"  übergehen 
(112,  113). 

Dieser  Übergang  wird  rasch  sein,  so  lange  die  Technik  noch  in  ihrer 
Kindheit  ist,  die  Menschen  nur  erst  wenige  Arten  der  Verwendung  der 
Materialien  kennen,  und  daher  mit  den  ihnen  bekannten  Arten  vorteil- 
hafter Verwendung  bald  zu  Ende  kommen;  sind  dagegen  bei  vorgeschrit- 
tenem Stande  der  Kenntnisse  den  Menschen  sehr  zahlreiche  Wege  und 
Koriibinationen  bekannt,  durch  welche  ein  gewünschtes  Ziel  erreicht 
werden  kann,  so  werden  zwar  immer  einzelne  dieser  Wege  vorteilhafter 
als  andere,  die  Abstufung  aber  eine  sehr  allmälige  sein,  so  daß  der  durch 
die  Erschöpfung  der  vorteilhaftesten  erzwungene  Übergang  zur  nächst 
minder  vorteilhaften  Kombination  zur  Bildung  von  Instrumenten  führen 
wird,  die  in  dem  Schema  der  Kentabilitätsklassen  nicht  viel  weiter  zurück- 
stehen (113). 

Sind  schließlich  sehr  viele  Kräfte  und  Eigenschaften  von  sehr  vielei?. 
Materialien  bekannt,  so  wird  die  Zahl  der  Kombinationen,  in  welchoa 
man  diese  Kräfte  und  Materialien  aufeinander  wirken  lassen  kann,  eine 
praktisch  unbegrenzte  —  analog,  wie  eine  steigende  Zahl  von  Ziffer- 
elementen eine  immer  größere,  und  schließlich  eine  unendlich  große  Zahl 
von  Kombinationen  zuläßt.  Diese  Erwägung  erklärt  die  zweite  Hälfte 
des  obigen  Gesetzes,  daß  nämlich  bei  Nationen  von  beträchtlich  ent- 
wickelter Technik  der  fortwährenden  Vermehrung  ihres  Vorrates  an 
Instrumenten  überhaupt  keine  Schranke  gesetzt  ist,  mit  einziger  Aus- 
nahme dessen,  daß,  wie  der  erste  Teil  des  Gesetzes  aussagt,  die  zuwachsen- 
den Instrumente  sukzessive  in  minder  vorteilhafte  Klassen  des  Schemas 
rücken  müssen  (115).  Diese  abstrakte  Erwägung  findet  Rae  auch  in  der 
Erfahrung  durch  einen  Blick  auf  die  Verhältnisse  von  Großbritannien 
bestätigt,  welches  in  der  Bearbeitung  der  Materialien  seines  beschränkten 
Gebietes  zu  Instrumenten  sicherlich  schon  so  weit  vorgeschritten  sei,  als 
irgend  ein  anderes  Volk  der  Gegenwart;  dennoch  sei  noch  ein  riesiger, 
absehbarer  Weise  nicht  erschöpflicher  Spielraum  für  weitere  Bearbeitungen 
dieser  Art  offen  (116). 


Darstellung  seiner  Lehre.  289 

In  welchem  Maße  von  diesem  Spielraum  praktischer  Gebrauch  ge- 
macht wird,  hängt  nun  bei  stationärer  Technik  von  dem  Stande  desjenigen 
Faktors  ab,  welchen  Rae  die  „Stärke  des  effektiven  Ansammlungstriebes" 
nennt.  Die  Untersuchung  hierüber  füllt  eines  der  interessantesten  Kapitel 
des  RAEschen  Buches  (118  ff.). 

Alle  Instrumente  erfordern  zu  ihrer  Büdung  den  Aufwand  einer 
gewissen  Menge  von  Arbeit  oder  Arbeitsäquivalenten,  und  bringen  eine 
andere  größere  Menge  von  Arbeit  oder  ihren  Äquivalenten  ein.  Die  Bildung 
jedes  Instruments  involviert  daher  das  Opfer  eines  kleineren  gegenwärtigen 
Gutes  zugunsten  der  Erzeugung  eines  künftigen  größeren  Gutes.  Hält 
man  nun  dafür,  daß  die  Erzeugung  dieses  künftigen  größeren  Gutes  die 
Aufopferung  jenes  gegenwärtigen  kleineren  Gutes  wert  ist,  so  wird  das 
Instrument  gebildet  werden,  im  entgegengesetzten  Falle  nicht.  Unter 
diesen  Umständen  wird  jede  Gesellschaft  die  Vermehrung  der  Instrumente, 
die  mit  einem  Vorrücken  derselben  in  Klassen  von  immer  längerer  Ver- 
dopplungsperiode verbunden  ist,  desto  weiter  fortsetzen,  je  länger  die 
Periode  ist,  bis  zu  welcher  die  Geneigtheit  ihrer  Mitglieder  anhält,  ein 
gegenwärtiges  Gut  für  die  Erlangung  eines  doppelt  so  großen  Gutes  nach 
Ablauf  der  Periode  aufzuopfern.  Erstreckt  sich  diese  Geneigtheit  bis  zu 
einem,  zwei,  drei,  zwanzig  Jahren  usw.,  so  wird  die  Bildung  der  Instru- 
mente bis  zu  den  Klassen  A,  B,  C,  T  usw.  fortgesetzt  werden,  und  an  dem 
Punkte,  an  welchem  die  Bereitwilligkeit,  das  Opfer  zu  bringen,  aufhört, 
muß  auch  die  Bildung  von  Instrumenten  Halt  machen.  „Die  Entschlossen- 
heit (determination),  einen  gewissen  Betrag  von  gegenwärtigen  Gütern 
aufzuopfern,  um  einen  anderen  größeren  Betrag  in  einer  künftigen  Periode 
zu  erlangen",  nennt  Rae  „effective  desire  of  accumulation"  (119). 

Im  weiteren  untersucht  Rae  die  Ursachen,  welche  das  Verhalten  der 
Menschen  in  dieser  Frage  und  somit  die  Stärke  ihres  Ansammlungstriebes 
bestimmen.  Er  findet  zunächst  in  der  Unsicherheit  und  Kürze  des  Lebens, 
sowie  in  der  im  Alter  eintretenden  Abnahme  der  Genußfähigkeit  Umstände, 
welche  geeignet  sind,  „in  der  Schätzung  der  meisten  Menschen  die  Gegen- 
wart weit  über  die  Zukunft  zu  stellen".  Warum  sollten  wir  für  Güter  Vor- 
sorgen, die  wir  erst  in  Zeiten  genießen  können,  die  wir  vielleicht,  oder, 
wenn  sie  sehr  entfernt  sind,  sicher  nicht  mehr  erleben  werden,  oder  in 
denen  unsere  Genußfähigkeit  abgenommen  haben  wird?  (119,  120).  Dazu 
kommt,  daß  die  Aussicht  auf  eine  gegenwärtige  Freude  viel  stärker  unsere 
Aufmerksamkeit,  unsere  Vorstellungskraft  und  auch  unsere  Begierde 
anzuregen  pflegt  als  die  Aussicht  auf  eineu  künftigen  Genuß.  „Es  gibt 
vielleicht  niemanden,  dem  nicht  ein  Gut,  das  er  heute  genießen  kann,  von 
einer  ganz  anderen  Bedeutung  erscheinen  würde,  als  ein  völlig  gleichartiges, 
aber  erst  nach  zwölf  Jahren  zu  genießendes  Gut,  selbst  wenn  beide  Genüsse 
gleich  sicher  wären"  (120).  Würden  daher,  meint  Rae,  die  Menschen  nur 
ihr  eigenes  persönliches  Interesse  in  Rechnung  ziehen,  so  würde  die  Stärke 

Böhm- Ba werk,  Kapitalzins.    4.  Aufl.  19 


290  XI'  John  Rae. 

ihres  effektiven  Ansammlungstriebes  eine  geringe  sein,  und  es  würden 
nur  Instrumente  mit  kurzer  Verdopplungsperiode  gebildet  (121).  „Aber 
die  Freuden  der  Mensehen  sind  nicht  zur  Gänze  selbstischer  Natur"  (not 
altogether  selfish).  Die  Menschen  sind  nicht  bloß  auf  ihr  persönlicTies  Wohl, 
sondern  auch  auf  das  ihrer  Familie,  ihrer  Freunde,  ihres  Landes,  ihres 
Stammes  bedacht.  Hiedurch  verlieren  die  künftigen  Güter,  die  man  sich 
für  das  Opfer  eines  gegenwärtigen  Genusses  verschaffen  kann,  „den 
größeren  Teil  ihrer  Unsicherheit  und  Wertlosigkeit"  (uncertainty  und 
worthlessness).  Die  Bedachtnahme  auf  die  HinterbHebenen,  oder,  allge- 
meiner ausgedrückt,  die  ,, sozialen  und  menschenliebenden  Antriebe" 
(social  and  benevolent  affections)  haben  daher  die  Tendenz,  den  wirksamen 
Ansammlungstrieb  sehr  wesentlich  zu  verstärken  (122). 

Ein  anderes  in  dieser  Richtung  einflußreiches  Moment  ist  die  Stärke 
unserer  intellektuellen  Fähigkeiten,  insofern  diese,  im  Gegensatze  zu  den 
Leidenschaften  des  Augenblicks,  uns  die  zukünftigen  Bedürfnisse  und  zwar 
sowohl  unsere  eigenen,  als  die  anderer  Personen,  „in  ihrer  legitimen  Stärke" 
vor  Augen  stellen,  und  so  eine  gehörige  Vorsorge  für  dieselben  unter- 
stützen (122). 

Ferner  müssen  überhaupt  alle  Umstände,  welche  die  Wahrscheinlichr 
keit  erhöhen,  daß  irgend  eine  Vorsorge,  die  wir  für  die  Zukunft  treffen, 
von  uns  oder  anderen  auch  genossen  werden  kann,  die  Stärke  des  An- 
sammlungstriebs befördern.  Solche  Umstände  sind  z.  B.  ein  gesundes 
Klima  oder  ein  gesunder,  sicherer  Lebensberuf.  Umgekehrt  sind  Seeleute, 
Soldaten,  Bewohner  ungesunder  Landstriche  verschwenderisch.  Ähnlich 
wirkt  die  Sicherheit  und  Unsicherheit  der  gesellschaftlichen  Zustände, 
der  Rechtspflege  u.  dgl.  (123), 

Dies  sind  die  hauptsächlichsten  Umstände,  welche  das  Verhältnis  der 
Wertschätzung  zwischen  Gegenwart  und  Zukunft  bei  denjenigen,  die  sich 
überhaupt  durch  bewußte  Motive  leiten  lassen,  in  derjenigen  Zeit  bestimmen, 
in  welcher  sie  ihre  Lebensgewohnheiten  bilden.  Sind  diese  einmal  gebildet, 
dann  sind  sie  es,  welche  das  fernere  Verhalten  regeln  und  gleichsam  ihre 
früheren  Herren  meistern.  Die  große  Menge  der  Leute  bildet  übrigens 
ihre  Gewohnheiten  überhaupt  nicht  auf  Grund  eigener  Wahl  und  Über- 
legung, sondern  folgt  einfach  dem  Beispiele  ihrer  Umgebung  und  der 
allgemeinen  Richtung,  in  welcher  die  Denk-  und  Handlungsweise  der 
ganzen  Gesellschaft  läuft  (123).  Zwischen  verschiedenen  Völkern  bestehen 
in  dieser  Beziehung  sehr  bedeutende  Verschiedenheiten,  welche  ebenso 
große  Verschiedenheiten  in  dem  Grade  nach  sich  ziehen,  bis  zu  welchem 
die  Bildung  und  Anhäufung  von  Instrumenten  bei  ihnen  gebracht  wird, 
was  Rae  an  einer  Reihe  historischer  Beispiele  erläutert  und  darlegt. 

Mittelst  einer  recht  seltsamen  Verknüpfung  geht  Rae  sodann  zur 
Betrachtung  des  Tausches  der  Güter,  seiner  Gesetze  und  seines  Werk- 
zeuges, des  Geldes,  über.    Er  knüpft  daran  an,  daß  jedermann  trachte, 


Darstellung  seiner  Lehre.  291 

die  Leistungsfähigkeit  seiner  Instrumente  so  rasch  als  möglich  zu  er- 
schöpfen, weil  sie  hiebei  ihre  Erträge  schneller  bringen.  Soweit  dies 
gelingt,  gehen  die  Instrumente  in  Klassen  von  kürzerer  Verdopplungs- 
periode über,  und  dies  gibt  der  Ansammlung  und  Vermehrung  der  In- 
strumente einen  stärkeren  Antrieb.  Dies  sei  der  Gesichtspunkt,  aus  welchem 
der  Nutzen  der  Arbeitsteilung  zu  betrachten  sei.  Wenn  jeder  sich  auf 
einen  bestimmten  Produktionszweig  und  demgemäß  auf  die  Bildung 
solcher  Instrumente,  die  zum  Betriebe  desselben  notwendig  sind,  be- 
schränkt, so  liegen  die  Instrumente  nie  müßig,  infolge  davon  verstreicht 
ein  geringerer  Zwischenraum  zwischen  ihrer  Bildung  und  Erschöpfung, 
sie  gehen  in  einen  „order  of  quicker  retum"  über,  woran  sich  die  Möglich- 
keit einer  verstärkten  Akkumulation  und  einer  besseren  Vorsorge  für  die 
künftigen  Bedürfnisse  der  ganzen  GröseUschaft  schließt  (164,  165).  Diese 
nach  unseren  heutigen  Begriffen  wohl  sehr  einseitige  Auffassung  der 
Arbeitsteilung  erscheint  Rae  so  wichtig,  daß  er  ihrer  Verteidigung  sogar 
einen  besonderen  Appendix  (S.  352  ff.)  widmet,  in  welchem  er  gegen 
Adam  Smith  polemisiert,  der  bekanntlich  die  Vorteile  der  Arbeitsteilung 
auf  ganz  andere  Weise  erklärt  hatte. 

Arbeitsteilung  gibt  es  aber  nicht  ohne  Tausch;  deshalb  muß  auch 
dieser  in  die  Untersuchung  einbezogen  werden.  Hiebei  entwickelt  Rae 
eine  kurze,  aber  bemerkenswerte  Preistheorie.  Sie  ist  eine  sehr  vorsichtig 
und  gut  formulierte  Reproduktionskosten-Theorie.  Würden  die 
Dinge  Arbeit  allein  kosten,  so  würden  Dinge,  die  gleich  viel  Arbeit  kosten, 
sich  auf  gleichem  Fuße  gegeneinander  vertauschen.  Aber  nicht  einfach 
deshalb,  weil  sie  so  viel  Arbeit  gekostet  haben,  sondern  weil  sie  Instru- 
mente zur  Befriedigung  künftiger  Bedürfnisse  sind,  und  unter  der  Vor- 
aussetzung, daß  sie  nicht  für  weniger  Arbeit  erlangt  werden  können.  Fehlt 
die  letztere  Voraussetzung,  hat  z.  B.  der  Produzent  nur  aus  Ungeschick 
oder  Stümperei  so  viel  Arbeit  verwendet,  so  wird  der  Käufer  keinen  der 
tatsächlich  aufgewendeten  Arbeitsmenge  entsprechenden  Preis  zahlen. 
Rae  formuliert  daher  sein  Preisgesetz  genauer  dahin,  daß,  soweit  Arbeit 
allein  in  Betracht  kommt,  ein  Ding  gegen  ein  anderes  sich  verkauft  nicht 
im  Verhältnis  der  Arbeit,  die  auf  jedes  von  beiden  verwendet  worden  ist, 
sondern  im  Verhältnis  zur  Arbeit,  die  aufgewendet  werden  muß  (which 
it  necessary  to  bestow),  um  gleich  taugliche  Befriedigungsmittel  hervor- 
zubringen. Rae  hebt  denn  auch  ganz  zutreffend  hervor,  daß  bei  einem 
Fortschritt  in  der  Produktionstechnik  Artikel  nicht  mehr  für  so  viel  Arbeit 
verkauft  werden,  als  sie  tatsächlich  gekostet  haben,  sondern  nur  für  jenen 
geringeren  Betrag  an  Arbeit,  der  für  die  Erzeugung  eines  gleichen  Stückes 
jetzt  noch  erforderlich  ist  (166—169). 

Aber  außer  der  Arbeit  bildet  immer  auch  noch  die  Zeit  ein  in  Rechnung 
kommendes  Element  (one  of  the  items  to  be  taken  into  account).   Beinahe 
immer  werden  nämlich  außer  der  Arbeit  auch  Instrumente,  Stoffe,  Werk- 
le* 


292  ^l-  J"Ji"  ^«• 

zeuge  u.  dgl.  verbraucht  oder  abgenützt.  Diese  müssen  gleichfalls  im 
Preise  der  Waren  vergütet  werden,  und  zwar  nach  einem  Satze,  welcher 
nicht  bloß  auf  die  Arbeit,  die  zu  ihrer  Erzeugung  aufgewendet  wurde, 
sondern  auch  auf  die  Zeit,  nach  deren  Ablauf  die  betreffende  Arbeit  sich 
lohnt,  und  zwar  nach  Maßgabe  der  jeweiligen  Stärke  des  ,.effective  desire 
of  accumulation"  Rücksicht  nimmt.  Hat  z.  B.  ein  Webstuhl,  den  der 
Weber  in  7  Jahren  abnützt,  100  Arbeitstage  gekostet,  und  ist  der  effektive 
Ansammlungstrieb  des  betreffenden  Individuums  von  genügender  Stärke, 
um  ihn  bei  der  Bildung  der  Instrumente  bis  zur  Klasse  G,  mit  sieben- 
jähriger Verdopplungsperiode,  zu  treiben  (,,strength  sufficient  to  carry 
him  to  the  order  G"),  dann  erfordert  die  Mitwirkung  des  Webstuhles  ein 
Entgelt,  welches  200  Arbeitstagen  am  Ende  der  siebenjährigen  Periode, 
oder  falls  es  früher  geleistet  wird,  einem  im  Verhältnis  der  Zeit  geringeren, 
aber  100  Arbeitstage  jedenfalls  übersteigenden  Betrage  gleichkommt. 
Würde  der  Weber  „nicht  eine  moralische  Gewißheit  haben,  so  viel  zu 
erhalten,  so  würde  er  das  Instrument  nicht  gebildet  haben,  und  würde 
ein  solcher  Ertrag  nicht  andauern,  so  würde  er  das  Instrument  nicht  mehr 
erneuern"  (169,  170). 

Aber  auch  dort,  wo  scheinbar  Arbeit  allein  gezahlt  wird,  macht  sich 
der  Faktor  Zeit  in  der  Preisbildung  bemerklich.  Wenn  ein  Arbeiter  z.  B. 
die  Fällung  der  Bäume  einer  Waldparzelle  übernimmt,  und  die  Ausführung 
dieser  Arbeit  drei  Monate  dauert,  so  wird  seine  Bezahlung  verschieden 
groß  ausfallen,  je  nachdem  sie  ihm  am  Beginne,  oder  aber  am  Ende  der 
drei  Monate  geleistet  wird;  „und  die  Differenz  beider  Beträge  wird,  so 
wie  in  anderen  Fällen,  sich  danach  bestimmen,  bis  zu  welchen  Klassen, 
in  der  betreffenden  Situation,  die  Bildung  der  Instrumente  überhaupt 
vorgeschritten  ist"  (by  the  particular  orders  to  which  instruments,  in  that 
particular  Situation,  are  generally  wrought  up;  S.  170). 

Dieser  Gedanke  findet  eine  sehr  interessante  Erläuterung  durch  eine 
andere  Äußerung,  die  Rae  bald  darauf,  allerdings  in  einem  anderen  Zu- 
sammenhange, macht.  Alle  Instrumente  haben  eine  Fähigkeit  zur  Be- 
friedigung von  Bedürfnissen  oder  Ersparung  von  Arbeit^).  Aber  diese 
ihre  Leistungen  liegen  in  der  Zukunft.  Nun  können  wir  unmöglich  die 
gleiche  Menge  von  Bedürfnisbefriedigungen  oder  von  ersparter  Arbeit, 
falls  sie  morgen,  oder  aber,  falls  sie  erst  in  fünf  oder  in  fünfzig  Jahren 
uns  zugute  kommt,  gleich  hoch  schätzen.  Sonst  müßten  wir  100  erwachsene 
Bäume,  die  uns  morgen  100  Klafter  Brennholz  geben  können,  als  gleich- 
wertig mit  100  Schößlingen  ansehen,  die  in  50  Jahren  dieselbe  Quantität 
Brennholz  ergeben  werden.  Den  natürlichen  Maßstab,  um  solche  Güter 
untereinander  zu  vergleichen,  und  für  alle  einen  Ausdruck  in  einer  Quan- 
tität   gegenwärtiger    Arbeit    zu    finden,    gibt    die    verhältnismäßige 


')  Siehe  oben  S.  282 


Darstellung  seiner  Lehre.  293 

Schätzung  ab,  welche  die  betreffenden  Individuen  sich  selbst  in  Bezug 
auf  Gegenwart  und  Zukunft  bilden,  das  ist,  die  Stärke  des  effektiven 
Ansammiungstriebes,  der  in  der  betreffenden  Gesellschaft  herrscht. 
Ist  der  Ansammlungstrieb  von  genügender  Stärke,  um  die  Bildung 
der  Instrumente  bis  zur  Klasse  E  mit  fünfjähriger  Ver- 
dopplungsperiode zu  treiben,  dann  wird  ein  Instrument,  welches  nach 
Ablauf  von  fünf  Jahren  einen  Ertrag  im  Werte  von  zwei  Arbeitstagen 
bringt,  passend  als  gleichwertig  mit  einem  Tage  gegenwärtiger  Arbeit  zu 
schätzen  sein  (171,  172). 

An  einer  späteren  Stelle  (300)  wird  endlich  die  Preistheorie  noch  kurz 
und  bündig  dahin  resümiert,  dajß  die  Waren  ausgetauscht  werden  „für 
gleiche  Quantitäten  von  Arbeit,  gerechnet  nach  der  Zeit  ihrer  Aufwendung 
und  der  tatsächlich  erreichten  Klasse  der  Instrumente"  (for  equal 
quantities  of  labor,  reckoned  according  to  the  time  when  applied,  and  the 
actual  Orders  of  instruments). 

Einem  sehr  aufmerksamen  Leser  wird  vielleicht  nicht  entgangen  sein, 
daß  Rae  in  diesen  verschiedenen  Aussprüchen  den  preisbestimmenden 
Einfluß  der  Zeit  abwechselnd  in  zwei  etwas  verschiedenen,  von  mir  im 
Drucke  hervorgehobenen  Varianten  formuüert.  In  einigen  Aussprüchen 
stellt  er  das  Prinzip  auf,  daß  das  Zeitmoment  eine  Vergütung  nach  der 
Stärke  des  bei  dem  betreffenden  Individuum  oder  in  der  betreffenden 
Gesellschaft  herrschenden  Ansammlungstriebes,  also  nach  dem  Stande  der 
psychologischen  Faktoren  finden  müsse;  nach  anderen  Aussprüchen  ist 
dagegen  der  Vergütungsmaßstab  von  derjenigen  Ertragsklasse  abzu- 
nehmen, bis  zu  welcher  die  Bildung  der  Instrumente  in  der  betreffenden 
Gesellschaft  tatsächlich  gediehen  ist.  Beides  ist,  wie  dies  auch  Rae  sehr 
wohl  bekannt  war,  keineswegs  identisch.  Denn  die  Stärke  des  Ansamm- 
lungstriebes pflegt  der  tatsächlichen  Ansammlung,  die  ja  erst  ihre  Wirkung 
ist,  immer  voraus  zu  sein:  erst  wenn  der  Ansammlungstrieb  genügende 
„Zeit  gehabt  hat  zu  wirken",  könnte  er  von  der  tatsächlichen  Ansammlung 
vollständig  eingeholt  werden  i);  allein  gewisse  Umstände,  unter  denen  die 
neuen  Erfindungen  bei  Rae  eine  besonders  wichtige  RoUe  spielen,  sorgen 
dafür,  daß  immer  von  neuem  wieder  ein  gewisser  Spielraum  zwischen  den 
tatsächlich  erreichten  und  den  durch  den  Stand  der  psychologischen 
Faktoren  gestatteten  Stand  der  Akkumulation  sich  einschiebt.  Ich  merke 
einstweilen  diese  Zwiespältigkeit  in  der  FormuKerung  des  Preisgesetzes 
bloß  an,  und  behalte  mir  vor,  später  bei  der  kritischen  Würdigung  der 
RAEschen  Theorie  darauf  zurückzukommen.  — 


*)  Rae  unterscheidet  z.  B.  auf  S.  172f.  ausdrücklich  Fälle,  „where  the  effective 
desire  of  accumulation  of  a  Community  has  had  opportunity  to  work  up  the  materials 
possessed  by  itinto  instruments  of  an  Order  correspondent  to  its  own  strength"» 
von  jenen  Fällen,  „where  the  accumulative  principle  has  not  yed  had  time  fully  to 
operate"    ähnlich  S.  194  und  264. 


294  XI.  John  Rae. 

J)ie  Einführung  der  Geldrechnung  hat  nun  alle  Rechnungsoperationen, 
die  mit  dem  Ertrag  von  Instrumenten  im  Verhältnis  zu  der  Zeit,  nach  der 
er  einfließt,  zu  tun  haben,  in  einfache  und  gleichartige  Form  gebracht. 
Man  rechnet  nach  Perzenten  per  annum^).  Der  Ertrag  von  Instrumenten, 
die  man  auf  Kredit  verleiht,  heißt  Kapitalzins  (interest),  jener  von  In- 
strumenten, die  man  selbst  behält  und  benützt,  Kapitalgewinn  (profit 
of  stock).  Unter  letzterem  Ausdruck  begreift  man  gewöhnlich  auch  noch 
die  Vergütung  für  die  körperliche  und  geistige  Bemühung  des  Unter- 
nehmers und  für  sein  Risiko.  Scheidet  man  diese  Elemente  aus,  so  kann 
man  den  üblichen  Zinsfuß  (rate  of  interest)  als  einen  passenden  Maßstab 
für  die  reelle  durchschnittliche  Höhe  der  Kapitalgewinne  in  einem  Lande, 
und  folgerichtig  für  die  Klasse  des  Rentabilitätsschemas  ansehen,  bis  zu 
welcher  die  Bildung  der  Instrumente  gelangt  ist  („at  which  Instruments 
are  there  arrived";  195,  196). 

Wiewohl  der  effektive  Ansammlungstrieb  bei  den  verschiedenen 
Individuen  desselben  Volkes  sehr  verschieden  ist,  kann  man  die  Beob- 
achtung machen,  daß  in  einer  und  derselben  Gesellschaft  alle  existierenden 
Instrumente  derselben,  oder  fast  derselben  Rentabilitätsklasse  angehören 
(familiärer  ausgedrückt,  daß  alle  Kapitalien  annähernd  gleich  hohe  Zinsen 
tragen),  Rae  erklärt  dies  in  folgender  Weise.  Verschwender,  oder  über- 
haupt Personen,  deren  „desire  of  accumulation"  schwächer  als  der  gesell- 
schaftliche Durchschnitt  ist,  können  für  die  in  ihrem  Besitze  befindlichen 
Instrumente  im  Austausche  mehr  erlangen,  als  was  sie  nach  ihrer  eigenen 
Schätzung  von  Gegenwart  und  Zukunft  wert  sind,  und  darum  verkaufen 
sie  sie ;  solche  Personen  verarmen  allmählich.  Umgekehrt  würden  Personen 
von  überdurchschnittlich  starkem  Akkumulationstrieb  geneigt  sein,  In- 
strumente von  noch  niedrigerer  als  der  üblichen  Rentabilitätsklasse  zu 
bilden;  aber  das  ist  nicht  nötig,  weil  sie  die  von  den  Verschwendern  abge- 
stoßenen normal  rentierenden  Instrumente  kaufen  können.  „Sie  sind 
die  natürlichen  Abnehmer  der  aus  den  Händen  der  Verschwender  kommen- 
den Vermögensbestandteile;  ihr  Überschuß  an  Vorsorge  hält  dem  Defizit 
bei  den  letzteren  die  Wage  und  erhält  die  Gesamtmasse  der  Instrumente 
in  der  Gesellschaft  ungefähr  in  der  gleichen  Klasse"  (198,  199).  Diese 
Uniformität  der  Ertragsraten,  welche  die  Instrumente  abwerfen,  führt 
dahin,  daß  die  Individuen  jene  herrschende  Ertragsrate  zur  Richtschnur 
für  die  Beurteilung  aller  ihrer  Geschäfte  nehmen;  ein  Geschäft,  welches 
die  übliche  Profitrate  zu  bringen  verspricht,  wird  unternommen  und  gilt 
als  gewinnbringendes,  ein  Geschäft,  das  nicht  den  üblichen  Gewinnsatz 
verspricht,  wird  unterlassen  und  gilt  als  unprofitables,  verlustbringendes 
Geschäft;  Ausdrucksweisen,  die,  wie  Rae  ganz  zutreffend  hinzufügt,  nicht 
ganz  korrekt  sind,  und  jedenfalls  nur  eine  sehr  relative,  auf  ein  bestimmtes 


')  Siehe  oben  S.  292 


Darstellung  seiner  Lehre.  295 

Land  und  einen  bestimmten  Zeitpunkt  eingeschränkte  Berechtigung  haben 
(205,  206).  - 

Neben  dem  Akkumulationstrieb  wirkt  aber  als  zweite  große  Haupt- 
kraft der  Fortschritt  der  Erfindungskraft.  Rae  widmet  diesem 
Faktor  sehr  interessante  allgemeine  und  historische  Betrachtungen.  Für 
unser  Thema  kommt  hauptsächlich  die  Art  und  Weise  in  Betracht,  in 
welcher  technische  Fortschritte  auf  die  Größe  des  Nationalvermögens 
einerseits,  und  auf  die  Höhe  des  Zinsfußes  andererseits  einwirken. 

Das  Wesen  der  technischen  Erfindungen  beruht  zumeist  darauf,  daß 
man  neue  oder  geeignetere  Materialien,  oder  neue  nützliche  Eigenschaften 
oder  Wirkensweisen  derselben  entdeckt,  wobei  zumal  in  letzterer  Beziehung 
die  Fortschritte  der  Wissenschaft  eine  große  Rolle  spielen  (224 ff.).  Die 
nächste  Wirkung  eines  Fortschrittes  ist  stets,  daß  die  Arbeit  ergiebiger 
wird,  indem  man  mit  gleich  viel  Arbeit  einen  größeren  Effekt,  oder  mit 
einem  geringeren  Aufwand  von  Arbeit  den  gleichen  Effekt  erzielt.  Und 
dies  hat  wieder,  so  weit  die  von  Rae  gleich  anfangs  als  notwendig  be- 
zeichnete theoretische  Voraussetzung  gilt,,  daß  die  Instrumente  im  Ver- 
hältnis zu  ihrer  physischen  Leistung  geschätzt  werden  i),  zur  weiteren 
Folge,  daß  die  Instrumente,  wegen  des  verbesserten  Verhältnisses  zwischen 
ihrer  capacity  und  ihren  Kosten,  in  „more  speedily  returning  orders"  über- 
gehen (258,  259).  Und  zwar  pflegt  sich  diese  Wirkung,  obschon  sie  anfangs 
nur  jene  speziellen  Instrumente  ergreift,  auf  welche  sich  die  Erfindung 
unmittelbar  bezieht,  sehr  bald  auf  alle  im  Besitze  der  ganzen  Gesellschaft 
befindlichen  Instrumente  auszubreiten.  Wenn  z.  B.  im  Brotbacken  ein 
Fortschritt  gemacht  wird,  der  es  ermöglicht,  mit  halb  so  viel  Arbeit  und 
Feuerungsaufwand  als  zuvor  ein  ebenso  gutes  Brot  herzustellen,  so  würde 
die  Wohltat  dieses  Fortschrittes  nicht  ausschließlich  den  Bäckern  zugute 
kommen,  sondern  über  die  ganze  Gesellschaft  hin  empfunden  werden. 
„Die  Bäcker  würden  eine  kleine  Erhöhung  ihres  Profites,  aber  die  ganze 
Gesellschaft  würde  Brot  für  etwas  weniger  Arbeit,  und  jeder  Konsument 
von  Brot,  also  jedes  Mitglied  der  Gesellschaft,  würde  von  der  gleichen 
Auslage  einen  etwas  größeren  Ertrag  erlangen.  Die  ganze  Reihe  von 
Instrumenten,  welche  die  Gesellschaft  besitzt,  würde  etwas  produktiver, 
in  eine  Klasse  schnelleren  Ertrages  vorgerückt  werden"  (woidd  be  some- 
what  more  productive,  would  be  carried  to  an  order  of  quicker  return;  259). 

Auf  diese  Weise  vergrößert  jede  Erfindung,  indem  sie  die  ganze 
Masse  der  Instrumente  einer  Volkswirtschaft  in  „more  productive  orders" 
rückt,  diejenige  Größe,  welche  Rae  ihr  „absolutes  Kapital  und  Vermögen" 
(absolute  capital  and  stock)  nennt;  das  heißt,  das  Volkskapital  gemessen 
nach  demjenigen  idealen  Maßstabe,  den  Rae  etwas  früher  (S.  172,  siehe 
oben  S.  292f.)  für  die  Schätzung  aller  der  Zukunft  dienenden  Instrumente 


^)  Vgl.  oben  S.  283. 


296  XI.  John  Rae. 

aufgestellt  hatte.  Schätzt  man  nämlich  die  Instrumente  nach  ihrem 
künftigen  Ertrage,  umgerechnet  auf  gegenwärtige  Arbeit  nach  dem  in 
der  Gesellschaft  herrschenden  Schätzungsverhältnis  zwischen  Gegenwart 
und  Zukunft,  so  muß  eine  durch  den  Fortschritt  bewirkte  Verdopplung 
des  Ertrages,  bei  ungeändertem  „desire  of  accumulation",  auch  zu  einer 
doppelt  so  hohen  Schätzung  der  Instrumente,  oder  zu  einer  Verdopplung 
des  durch  die  Instrumente  repräsentierten  absoluten  Kapitales  führen- 
Allein  gewöhnlich  schätzen  die  Leute  ihre  Instrumente  nach  einem  anderen 
Maßstabe,  indem  sie  nämlich  dieselben  untereinander,  nach  dem  Ver- 
hältnis ihres  gegenseitigen  Austausches,  vergleichen,  wobei  sie  ein  be- 
stimmtes Gut  (das  Geld)  als  Maßstab  annehmen,  mit  welchem  alle  anderen 
Instrumente  verglichen  werden.  Eine  Schätzung  nach  diesem  Maßstabe, 
nach  dem  Tauschwerte  gegenüber  den  anderen  Gattungen  der  Instru- 
mente, führt  zum  Begriffe  des  „relativen  Kapitales  oder  Vermögens" 
(172).  Dieses  relative  Kapital  wird  nun  durch  Erfindungen  unmittelbar 
nicht  vergrößert.  Denn  unmittelbar  wird  durch  eine  Verbesserung  nicht 
die  Masse,  sondern  nur  die  capacity  der  bestehenden  Instrumente  ver- 
größert. Trifft  diese  Vergrößerung  die  verschiedenen  Instrumente  gleich- 
mäßig, so  ist  keine  Ursache  abzusehen,  warum  sie  sich  untereinander  in 
einem  anderen  Verhältnisse  vertauschen  sollten  als  zuvor;  und  auch, 
wenn  sie  von  der  Verbesserung  ungleich  betroffen  werden,  so  wird  man 
zwar  für  manche  Instrumente  im  Austausche  mehr  Instrumente  anderer 
Gattung  erlangen  als  zuvor;  aber  natürlich  ist  dann  der  Tauschwert  dieser 
letzteren  Instrumente  in  demselben  Verhältnis  vermindert,  und  der  ge- 
samte „relative  oder  Tauschwert"  (relative  or  exchangeable  value)  des 
Volksvermögens  bleibt  unverändert  (260). 

Daß  die  Zunahme  des  absoluten  Vermögensstandes  gleichwohl  eine 
reelle  Bedeutung  hat,  zeigt  sich  aber  jedenfalls  an  folgenden  drei  Um- 
ständen: 

1.  haben  die  Mitglieder  der  Gesellschaft  eine  reichlichere  Versorgung 
für  künftige  Bedürfnisse, 

2.  die  betreffende  Volkswirtschaft  wird  im  Vergleich  zu  anderen 
Volkswirtschaften  mächtiger;  und 

3.  wird  indirekt  ein  Zuwachs  in  der  Masse  der  Instrumente  oder 
des  Volksvermögens  bewirkt.  Der  technische  Fortschritt  ermöglicht 
nämlich,  minder  geeignete  oder  widerspenstigere  Materialien,  die  man 
vorher  unbeachtet  ließ,  in  die  Bearbeitung  einzubeziehen;  es  wird  so  der 
Kreis  der  bearbeitungsfähigen  Materialien,  und  in  weiterer  Folge  die  Masse 
der  Instrumente,  die  man  aus  den  Materialien  des  Landes  gewinnt,  ver- 
größert. Damit  wächst  aber  endlich  auch  die  Tausch wertsumme,  welche 
die  vergrößerte  Masse  der  existierenden  Instrumente  repräsentiert,  oder 
das  „relative  Kapital"  des  Volkes.  Wie  groß  dieser  Zuwachs  ausfällt, 
hängt  ganz  von  der  Beschaffenheit  und  Menge  der  Materialien  ab,  die  in 


Darstellung  seiner  Lehre.  297 

den  „nächst  niedrigeren",  durch  die  Verbesserung  in  den  Bereich  der 
Bearbeitung  gerückten  Schichten  (quantity  of  materigds  of  the  next  lower 
grades)  sich  finden.  Bisweilen  kann  schon  eine  kleine  Verbesserung  eine 
große  Menge  von  Materialien  bei  dem  herrschenden  Grade  des  Akkumu- 
lationstriebes in  dessen  Reichweite  rücken,  bisweilen  aber  auch  ein  be- 
trächtlicher Fortschritt  doch  nur  eine  geringfügige  Vermehrung  der  In- 
strumente ermöglichen  (262,  263). 

Die  Einführung  von  Verbesserungen  pflegt,  falls  nicht  entgegenwirkende 
Ursachen  ins  Spiel  treten,  aus  den  geschilderten  Gründen  eine  hohe  Profit- 
rate im  Gefolge  zu  haben.  Eine  aus  solchen  Ursachen  stammende  hohe 
Profitrate  ist  ein  Anzeichen  (indicative)  einer  stattgefundenen  unmittel- 
baren Vermehrung  des  absoluten  Kapitales  der  Volkswirtschaft,  und  führt 
in  der  oben  geschilderten  Art  zu  einer  darauffolgenden  Vermehrung  des 
relativen  Kapitales.  Eine  hohe  Profitrate  muß  sich  aber  auch  in  solchen 
Ländern  einstellen,  in  welchen  der  wirksame  Ansammlungstrieb  schwach 
ist.  Alsdann  ist  sie  jedoch  ganz  anders  zu  beurteilen.  Sie  ist  weder  das 
Anzeichen  eines  Wachstums  des  Einkommens  der  Volksglieder,  noch  eines 
bevorstehenden  Wachstums  ihres  relativen  Kapitales  (263). 

Schließlich  zieht  Rae  auch  noch  die  einer  Vermehrung  des  Volks- 
vermögens feindlichen  Gegentendenzen  in  Betracht;  unter  ihnen  besonders 
den  Luxus  und  die  auf  der  Handlungsweise  Einzelner  oder  der  Staaten 
(Krieg!)  beruhende  Schadenstiftung  (waste).  Von  theoretischem  Interesse 
ist  daraus  die  Scheidung  der  Güter  in  „luxuries"  und  „utüities".  Utilities 
sind  die  Güter,  insofern  sie  nach  ihren  physischen  Eigenschaften  geschätzt 
werden,  die  sie  zur  Befriedigung  reeller  Bedürfnisse  geeignet  machen; 
luxuries.  insofeme  als  sie  nach  ihrer  Eignung  zur  Befriedigung  der  Eitel- 
keit (vanity)  geschätzt  werden  (Inhaltsverzeichnis  S.  XV).  Die  Luxus- 
güter sind  diejenigen,  die  sich  der  von  Rae  zu  Anfang  (S.  94,  siehe  oben 
S.  283)  aufgestellten  theoretischen  Voraussetzung,  daß  die  Güter  unter- 
einander nach  ihren  physischen  Eigenschaften  verglichen  und  geschätzt 
werden,  nicht  fügen;  bei  ihnen  ist  nicht  ihre  Eignung  zur  reellen  Bedürfnis- 
befriedigung, sondern  ihre  Kostbarkeit  der  Grund  der  Schätzung  (305 
und  öfters). 

Eine  Betrachtung  des  Zusammenwirkens  aller  die  Natur  und  Er- 
zeugung der  Güter  berührenden  Umstände  führt  endlich  Rae  noch  auf 
eine  bündige  Gegenüberstellung  der  Wirkensweise  der  beiden  Hauptkräfte, 
des  „inventive  piinciple"  und  des  „accumulative  principle".  Elrsteres 
erweitert  die  menschliche  Macht  und  vermehrt  das  Volksvermögen  auf 
dem  Wege,  daß  es  die  dasselbe  zusammensetzenden  Instrumente  in  Klassen 
of  quicker  return  versetzt.  Das  „accumulative  principle"  führt  die 
Menschen  dazu,  einen  weiteren  Kreis  von  Vorgängen  in  ihre  Operationen 
einzubeziehen  und  vergrößert  das  Vermögen,  indem  es  die  capacity  der 
bereits  gebildeten  Instrumente  erhöht  oder  neue  Materialien  aufarbeitet; 


298  XI-  Jo'>n  Rap. 

hiebei  führt  es,  im  geraden  Gegensatz  zum  „inventive  principle",  die  In- 
strumente in  Klassen  of  slower  return  über  (321,  322). 

B.  Kritik. 

Um  die  Leistungen  Kaes  auf  unserem  Gebiete  unbefangen  zu  be- 
urteilen, muß  man  sich  vor  allem  gegenwärtig  halten,  daß  Raes  Interessen 
und  Absichten  auf  ein  anderes  Ziel  als  auf  die  Erklärung  des  Kapitalzinses 
gerichtet  waren.  Ihn  interessiert  die  Vermehrung  des  Nationalreichtums. 
Er  führt  seine  tiefgehenden  Untersuchungen  überall  so  weit,  bis  sie  ihm 
eine  Nutzanwendung  auf  dieses  sein  Hauptthema  gestatten.  Aus  diesem 
Gesichtspunkt  kommt  er  auch  auf  die  mit  dem  Kapitalzinse  zusammen- 
hängenden Fragen,  und  zumal  auf  sein  Schema  von  Instrumenten  ver- 
schiedener Rentabilitätsklasse  zu  sprechen.  Die  jeweils  erreichte  Ren- 
tabilitätsklasse markiert  den  Zinsfuß;  aber  wichtiger  als  der  Einfluß  auf 
den  Zinsfuß  ist  ihm,  daß  das  Vorrücken  und  Zurückschreiten  der  Renta- 
bilitätsgrenze auf  die  Masse  der  Instrumente,  welche  gebildet  werden 
können,  und  damit  auf  die  Größe  des  Nationalreichtums  einen  Einfluß 
nimmt.  Rae  behandelt  das  Zinsproblem,  aber  nur  weil  und  so  weit  es 
ihm  am  Wege  zu  seinem  Hauptziele  lag.  Eine  Folge  davon  ist  eine  eigen- 
tümliche Ungleichmäßigkeit  in  der  Behandlung.  Jene  Prämissen  der  Zins- 
theorie, welche  zugleich  Prämissen  für  seine  Ansichten  über  die  Ver- 
mehrung des  Volksvermögens  sind,  werden  mit  großer  Ausführlichkeit 
und  Gründlichkeit  herausgearbeitet,  wie  z.  B.  die  Bestimmgründe  des 
effective  desire  of  accumulation.  Jene  Prämissen  dagegen,  welche  nur 
dem  eigentlichen  Zinsproblem  als  Distributionsproblem  dienen  können, 
werden  mit  lakonischer  Kürze  abgefertigt;  wie  z.  B.  die  ganze  Theorie 
der  Tauschwert-  und  Preisbildung  auf  vier  Seiten  (166—170)  zusammen- 
gedrängt, und,  höchst  charakteristischer  Weise,  die  Höhe  des  Arbeits- 
lohnes, die  wegen  ihrer  unverkennbaren  Wechselbeziehung  zur  Höhe  des 
Kapitalzinses  für  das  Distributionsproblem  einen  notwendig  zu  berührenden 
Gegenstand  hätte  bilden  müssen,  geflissentlich  von  jeder  Untersuchung 
ausgeschlossen,  und  einfach  als  eine  gegebene  unveränderliche  Größe  vor- 
ausgesetzt wird  (S.  97,  130f.).  Und  daran  knüpft  sich  in  weiterer  Folge, 
daß  die  phänomenale  Gründlichkeit  und  Geschlossenheit,  mit  welcher  Rae 
seine  Gedanken  auf  seiner  Hauptroute  aneinander  zu  fügen  gewöhnt  ist, 
nicht  immer  auch  auf  den  Gelegenheitsexkursen  zu  finden  ist,  auf  denen 
er  das  Distributionsproblem  des  Kapitalzinses  berührt  und  abtut. 

In  Raes  Äußerungen  über  das  Zinsproblem  lassen  sich  zwei  Gedanken- 
reihen unterscheiden.  Die  eine  Gedankenreihe  erklärt  den  Zins  aus  dem 
Einflüsse  der  Zeit  auf  die  Schätzung  der  Bedürfnisse  und  Güter.  Diese 
Gedankenreihe  ist,  obwohl  sie  von  Rae  nicht  zusammenhängend  vor- 
getragen, sondern  bei  verschiedenen  Gelegenheiten  bruchstückweise  vor- 


Kritik.  299 

gebracht  wird,  doch  inhaltüch  vollkommen  geschlossen.  Sie  läßt  sich  in 
folgende  Sätze  zusammenziehen.  Aus  Gründen,  die  in  unserer  Person 
liegen,  nämlich  wegen  der  Kürze  und  Unsicherheit  des  Lebens,  wegen  der 
voraHszusehenden  Abnahme  unserer  Genußfähigkeit,  endlich  wegen 
unserer  leidenschaftlicheren  Hingabe  an  den  Augenblick,  legen  wir  gegen- 
wärtigen Freuden  und  Bedürfnissen  und  deswegen  auch  den  Befriedigungs- 
mitteln  für  gegenwärtige  Bedürfnisse  eine  größere  Schätzung  bei,  als 
künftigen  Freuden,  Bedürfnissen  und  Befriedigungsmitteln.  Wegen  dieser 
Höherschätzung  der  Gegenwart  würden  wir  uns  für  ein  gegenwärtiges 
Opfer  an  Arbeit  oder  Gütern  nicht  ausreichend  entschädigt  halten,  wenn 
wir  im  Wege  der  Produktion  nur  ebensoviel,  als  wir  in  der  Gegenwart 
geopfert  haben,  in  der  Zukunft  erlangen  würden;  wir  erachten  vielmehr 
ein  gegenwärtiges  Opfer  nur  dann  für  aufgewogen,  wenn  der  künftige 
Produktionserfolg  das  gegenwärtige  Produktionsopfer  mindestens  in  dem- 
jenigen Verhältnisse  an  Wert  übersteigt,  in  welchem  wir  die  Gegenwart 
höher  schätzen  als  die  Zukunft.  Enthält  der  Preis  der  Produkte  nicht 
eine  nach  diesem  Gesichtspunkte  ausreichende  Entschädigung,  so  würde 
die  Produktion  des  betreffenden  Artikels  nicht  unternommen,  beziehungs- 
weise aufgegeben  werden,  und  auf  diese  Weise  wird  auf  die  Dauer  ein 
Preisstand  erzwungen,  welcher  den  Unternehmern  außer  der  Vergütung 
für  ihre  Auslagen  noch  ein  der  gesellschaftlichen  Schätzung  des  Verhält- 
nisses von  Gegenwart  und  Zukunft  und  der  Länge  des  Zeitraumes,  nach 
welchem  sie  für  ihre  Auslagen  entschädigt  werden,  entsprechendes  Mehr- 
erträgnis übrig  läßt.  Dieses  Mehrerträgnis  wird  zum  Kapitalgewinn  ^). 
Diese  Gedankenreihe  enthält  einen  großen  und  originellen  Fortschritt 
gegenüber  verschiedenen  Ansätzen,  die  sich  in  der  älteren  Literatur  fanden. 
Wie  wir  wissen,  hatten  schon  Galiani  und  Turgot  in  gelegentlichen 
schlagwortartigen  Äußerungen  den  Zins  mit  einer  verschiedenen  Schätzung 
gegenwärtigej  und  künftiger  Güter  in  Verbindung  gebracht,  aber  diesen 
Gedanken  weder  durchgeführt,  noch  auch  nur  festgehalten*).  Etwas 
später  hat  —  wie  vielleicht  hier  am  schicklichsten  eingeschaltet  werden 
kann  —  der  berühmte  Utilitarier  Bentham  denselben  Gedanken  mit 
völliger  Deutlichkeit  ausgesprochen,  aber  ebenfalls  noch  nicht  zu  einer 
im  Detail  ausgeführten  Zinstheorie  entwickelt.  Er  stellt  nämlich  in  einer 
seiner  philosophischen  Schriften  mit  voller  Ausdrücklichkeit  die  psycho- 


*)  Dieser  Gredankengang  ergibt  sich  insbesondere  aus  dem  Zusammenhalt  der 
Äußerungen  Raes  auf  S.  118ff.,  172  und  169f.  Seinen  bündigsten  Ausdruck  findet 
er  in  den  zahlreichen  Stellen,  in  welchen  Rae  das  rein  psychologische  Moment,  den 
„strength  of  the  effective  desire  of  accumulation",  mit  der  Preis-  und  Zinsbildung  in 
Verbindung  bringt.  Dagegen  gehört,  wie  wir  sehen  werden,  die  Einführung  des  „actual 
Order  of  instruments"  an  Stelle  des  „strength  of  desire"  als  Regulator  von  Preis  und 
Zins  einer  anderen  Gedankenreihe  an. 

2)  Siehe  oben  S.  43  und  48. 


300  XT.  John  Rae. 

logische  Prämisse  auf,  daß  der  „Wert"  von  Lustgefühlen  unter  anderem 
durch  die  zeitliche  Entfernung  ihres  Auftretens  beeinflußt,  beziehungs- 
weise herabgesetzt  wird^),  und  er  stellt  eine  Gedankenverbindung  zwischen 
(lieser  psychologischen  Tatsache  und  der  Erscheinung  des  Zinses  durch 
die  bei  anderer  Gelegenheit  vorgebrachte  Bemerkung  her,  daß  auch  der 
Wert  zweier  Geldsummen  von  derselben  Größe,  von  welcher  die  eine  ohne 
Verzug,  die  zweite  erst  am  Schlüsse  des  zehnten  Jahres  von  der  Gegenwart 
an  gerechnet  zahlbar  ist,  verschieden  groß,  und  daß  z.  B.  bei  einem  Zinsfuß 
von  5%  der  Wert  der  zweiten  Geldsumme  nur  halb  so  groß  sei  als  jener 
der  ersten*).  Und  in  einer  seiner  ökonomischen  Schriften  findet  sich  der 
hiezu  völlig  passende  lapidare  Satz,  daß  das  Ausleihen  von  Geld  auf 
Zinsen  nichts  anderes  als  der  Austausch  von  gegenwärtigem  Gelde  gegen 
künftiges  sei^).  Da  aber  die  erklärenden  Zwischenglieder,  aie  von  jener 
psychologischen  Prämisse  zu  der  Erscheinung  des  Zinses  und  zumal  des 
ursprünglichen  Kapitalzinses  hinführen,  gar  nicht  weiter  entwickelt 
werden  —  ist  es  ja  doch  fast  zweifelhaft,  ob  Bentham  den  Zins  aus  jener 
psychologischen  Prämisse  oder  umgekehrt  letztere  aus  der  feststehenden 
Existenz  des  Zinses  ableiten  wollte*)  —  so  hat  auch  Bentham  für  die 
Entwicklung  der  Zinstheorie  noch  nicht  wesentlich  mehr  geleistet  als  vor 
ihm  Galiani  und  Türgot.  Wozu  noch  kommt,  daß  infolge  des  zufälligen 
Ganges  der  Dinge  Benthams  interessante  Anregung  fast  ohne  allen  Einfluß 
auf  die  spätere  literarische  Entwicklung  blieb.  So  sehr  Bentham  durch 
seine  hedonistische  Philosophie  auf  die  Geistesrichtung  der  englischen 
Nationalökonomie  seines  Zeitalters  im  großen  wirkte,  so  unbeachtet 
scheint  jener  spezielle  Zug  seiner  psychologischen  Lehre  geblieben  zu  sein. 
Ich  kann  wenigstens  eine  sichere  Spur  seines  literarischen  Einflusses  bei 
keinem  früheren  als  Jevons  entdecken;  ob  speziell  Rae  jene  Äußerungen 
Benthams  überhaupt  kannte  und  ob  er  durch  sie  irgendwie  beeinflußt 
wurde,  muß  in  Ermanglung  bestimmter  Anhaltspunkte  völlig  dahingestellt 
bleiben«). 


^)  Principles  of  Moral  and  Legislation  Ch.  IV. 

*)  Works  IV  S.  540  (Codification  Proposal);  zitiert  nach  Cuhel,  Lehre  von  den 
Bedürfnissen,  §  404.  Verwandt  und  nur  etwas  allgemeiner  gehalten  ist  eine  Stelle  am 
Schlüsse  des  oben  zitierten  Ch.  IV  der  Principles:  „Der  Wert  eines  Vermögensobjektes 
steigt  und  fällt,  wie  man  allgemein  annimmt,  ...  je  nach  der  Nähe  oder  Ent- 
fernung der  Zeit,  zu  welcher  es  ...  in  unseren  Besitz  gelangen  soll". 

')  Defence  of  usury,  Letter  II. 

«)  Siehe  Exkurs  XI  zur  3.  Aufl.  meiner  „Positiven  Theorie"  S.  308f;  4.  Aufl. 
S.  226f. 

*)  Weil  ich  in  der  mir  damals  bekannten  nationalökonomischen  Literatur  von 
einer  Zinstheorie  Benthams  keinerlei  Spuren  fand  (auch  bei  Jevons  fand  ich  ja  Bent- 
HA.M  nur  als  philosophischen  Gewährsmann  für  eine  allgemeine  psychologische  These, 
aber  nicht  als  Autor  einer  Zinstheorie  zitiert!),  habe  ich  in  den  beiden  ersten  Auflagen 
dieses  Werkes  Benthams  nur  ganz  flüchtig  als  eines  Gegners  des  kanonistischen  Zins- 
verbotes gedacht.   Erst  durch  die  im  Jahre  1901  erschienene  Abhandlung  „Zur  Theorie 


Kritik.  301 

Jedenfalls  ist  Rae  der  erste,  der  jenen  Gedankenkeimen  eine  wohl- 
motivierte, geschlossene  Entwicklung  gibt.  Und  mit  dieser  Entwicklung 
füllt  er  zugleich  nach  einer  anderen  Seite  hin  auch  einen  Rahmen  aus, 
dessen  Umrisse  Smith,  Ricardo  und  Malthus  ebenfalls  in  unzureichenden 
schlagwortartigen  Äußerungen  bezeichnet  hatten:  indem  nämhch  diese 
Autoren  darauf  hingewiesen  hatten,  daß  die  KapitaHsten  ein  Interesse 
an  der  Kapitalbildung  und  produktiven  Verwendung  der  KapitaUen  haben 
müssen,  und  daß,  wenn  die  Güterpreise  keinen  Kapitalgewinn  übrig  ließen, 
die  Kapitalbildung  zum  Stillstand  und  zum  Versiegen  käme^).  Alle  diese 
Schlagworte  erhalten  bei  Rae  einen  sie  zur  wirklichen  Theorie  gestaltenden 
Inhalt. 

Und  um  vorgreifend  sofort  auf  die  Stellung  Raes  zu  der  späteren 
Literaturentwicklung  zu  kennzeichnen:  wenn  jene  Gedankenreihe  bei  Rae 
die  einzige  geblieben  wäre,  so  hätte  er  damit  beiläufig  das  antizipiert, 
was  37  Jahre  später  Jevons  im  allgemeinen  über  das  Thema  von  Gegen- 
wart und  Zukunft  lehrte;  er  hätte  genau  das  antizipiert,  was  wiederum 
anderthalb  Dezennien  später  Launhardt  und  Sax,  mit  einer  ziemlich 
mechanischen  Nutzanwendung  der  jEvoNsschen  Ideen,  speziell  über  das 
Thema  des  Kapitalzinses  lehrten;  und  endlich  das,  was  mir  selbst  in  einem 
gewissen  frühesten  Stadium  meiner  Forschungen  nach  den  Ursachen  des 
Kapitalzinses  vorgeschwebt  war,  wobei  ich  mich  jedoch,  als  bei  einer  zur 
vollen  Lösung  des  Problems  unzureichenden  Erklärung,  nicht  beruhigt 
hatte. 

Ich  halte  es  nämlich  zwar  für  einen  vollkommen  richtigen  Gedanken, 
daß  der  Zins  seine  letzte  Wurzel  in  einer  verschiedenen  Schätzung  gegen- 
wärtiger und  künftiger  Güter  hat;  ich  halte  es  ferner  für  vollkommen 
richtig,  daß  an  dieser  verschiedenen  Schätzung  diejenigen  Gründe  rein 
psychologischer  Natur,  welche  Rae  hiefür  anführt,  einen  sehr  wesent- 
lichen Anteil  nehmen;  aber  ich  halte  es  für  ebenso  zweifellos,  daß  diese 
Gründe  die  Erklärung  der  tatsächlichen  Zinsphänomene  nicht  erschöpfen 
können.  Und  das  hat  auch  sowohl  Rae  als  Jevons  schon  gewußt.  Die 
Erfahrungstatsachen  lassen  nämlich  keinen  Zweifel  darüber,  daß  auf  den 
Gang  und  Stand  des  Zinsfußes  nicht  bloß  die  rein  psychologischen  Rück- 
sichten auf  die  Kürze  und  Unsicherheit  unseres  Lebens  und  unserer  Genuß- 
fähigkeit und  auf  die  größeren  Lockreize  des  Augenblicks,  sondern  daß 
auch  Tatsachen  der  Produktionstechnik  hier  ihren  Einfluß  üben:  die- 
jenigen Tatsachen  und  Erfahrungen,  welche  eine  uns  schon  bekannte 
theoretische  Richtung  auf  die  Idee  einer  selbständigen  „Produktivität 
des  Kapitales"  geführt  haben.  Die  Schwierigkeit  —  und  zwar,  wie  ich 
glaube,  zugleich  die  größte  und  die  pikanteste  Schwierigkeit  des  ganzen 

des  Wertes.    Eine  Bentham-Studie"  von  Oskar  Kraus  wurde  ich  auf  Benthams  in- 
teressante Beziehungen  zur  Theorie  des  Zinses  aufmerksam. 
»)  Siehe  oben  S.  62f.,  77,  135. 


302  XL  John  Rae. 

Zinsproblems  —  ist  nur  darzulegen,  in  welcher  Weise  und  durch  welche 
Mittelglieder  hindurch  jene  heterogenen,  teils  objektiv  technischen,  teils 
höchst  subjektiv  psychologischen  Teilursachen  ineinander  und  zum  Schluß- 
ergebnis unseres  erfahrungsmäßigen  einheitlichen  Kapitalzinses  wirken. 
Und  ich  glaube  zum  Verständnis  der  Haltung  Raes  in  dieser  Frage  nicht 
besser  beitragen  zu  können,  als  indem  ich,  mein  Vorgreifen  fortsetzend, 
sofort  mit  ein  paar  Schlagworten  auch  den  Standpunkt  derjenigen  Schrift- 
steller zu  charakterisieren  suche,  welche  nach  Kae  mit  dieser  Frage  sich 
zu  befassen  Anlaß  hatten.  Und  zwar  will  ich,  die  Chronologie  umkehrend, 
mit  meiner  eigenen  Theorie  beginnen. 

Ich  bemühe  mich  darzulegen,  daß  die  Tatsachen  der  Produktions- 
technik, die  ich  unter  den  Gesichtspunkt  einer  größeren  technischen 
Ergiebigkeit  der  zeitraubenden  Produktionsumwege  bringe,  selbst  einen 
Teilgnmd  dafür  abgeben,  daß  gegenwärtige  Güter,  deren  Besitz  uns  das 
Einschlagen  jener  ergiebigen  zeitraubenden  Umwege  gestattet,  höher 
geschätzt  werden  als  künftige.  Nach  dieser  Auffassung  wirken  die  pro- 
duktionstechnischen und  die  psychologischen  Tatsachen  schon  zu  allem 
Anfang  koordiniert,  indem  sie  ihre  Wirksamkeit  zunächst  zu  dem  gemein- 
samen Ergebnisse  vereinigen,  daß  gegenwärtige  Güter  höher  geschätzt 
werden  als  künftige:  dieses  Ergebnis  steht  dann  allein  als  erklärendes 
Zwischenglied  zwischen  den  Teilursachen,  die  es  selbst  hervorbringen,  und 
dem  Kapitalzins,  der  aus  ihm  als  weitere  Folge  hervorgeht^). 

Jevons  scheint  dagegen  keine  Möglichkeit  gesehen  oder  gefunden 
zu  haben,  die  produktionstechnischen  und  die  rein  psychologischen  Tat- 
sachen in  ein  gemeinsames  Erklärungsbett  zu  leiten.  Er  bietet  daher  eine 
eklektische  Doppelerklärung,  wobei  er  mit  keiner  der  beiden  Erklärungs- 
hälften di6  Schranken  der  alten  Schulmeinungen  sprengt.  Die  Heran- 
ziehung der  produktionstechnischen  Tatsachen  geschieht  im  Geleise  der 
alten  Produktivitätstheorie,  wobei  nur  der  Länge  des  zeitlichen  Intervalls 
zwischen  Beginn  und  Beendigung  des  Produktionsprozesses  zutreffend 
ein  ursächlicher  Einfluß  auf  die  Größe  des  technischen  Erfolges  zuge- 
schrieben wird;  die  psychologischen  Momente  aber  werden  schließlich 
unter  dem  alten  Schlagworte  der  ,, Abstinenz"  für  die  Zinserklürung 
fruktifiziert,  während  die  glänzenden  und  originellen  Erkenntnisse  über 
die  psychologischen  Gründe  einer  Minderschätzung  der  künftigen  Güter 
eigentlich  brach  liegen  gelassen  werden 2). 

Launhardt  und  Sax  wieder  scheinen  gar  nicht  die  Notwendigkeit 
gefühlt  zu  haben,  auch  die  produktionstechnischen  Tatsachen  zur  Er- 
klärung der  erfahrungsmäßigen  Zinserscheinung  mit  heranzuziehen,  und 

*)  Wegen  des  genaueren  muß  ich  auf  den  zweiten,  meine  Positive  Theorie  ent- 
haltenden Band  dieses  W^kes  verweisen  (in  der  ersten  Auflage  S.  248ff.  und  273ff., 
in  der  dritten  426ff.  und  453ff.,  in  der  vierten  S.  318ff.  und  338ff.). 

')  Das  genauere  siehe  unten  im  Abschnitt  XIII. 


Kritik.  303 

begnügten  sich,  wohl  sehr  gegen  die  Absicht  ihres  Vorbildes,  damit,  jene 
von  Jevons  bereitgelegten,  aber  unbenutzt  gelassenen  Materialien  einer 
Teilerklärung  als  ausschließliche  Grundlage  für  eine  vermeintliche  Voll- 
erklärung des  Kapitalzinses  zu  benutzen^). 

Rae  endlich  hat  vollkommen  richtig  erkannt,  daß  außer  den  psycho- 
logischen Erwägungen  der  Menschen  auch  gewisse  objektive  Tatsachen 
der  Produktionstechnik  mit  dem  Kapitalzins  etwas  zu  tun  haben  müssen; 
er  weiß  z.  B.  und  merkt  ausdrücklich  an,  daß  bei  vollkommen  ungeändertem 
Stande  der  psychologischen  Momente  die  Auffindung  besserer  technischer 
Produktionsmethoden  den  Zinsfuß  zu  erhöhen  geeignet  ist;  und  deshalb 
hat  er  jener  ersten,  rein  psychologischen  noch  eine  zweite  produktions- 
technische Gedankenreihe  an  die  Seite  gestellt.  Dieselbe  scheint  mir 
jedoch  —  und  hierin  weiche  ich  vom  Urteile  Mr.  Mixters*^)  ab  —  den 
schwachen  Punkt  seiner  Lehre  zu  bilden.  Rae  hat  die  hier  sich  ergebenden 
Schwierigkeiten  des  Problems  nicht  bemeistert.  Wie  so  viele  vor  ihm 
und  wie  selbst  ein  Jevons  nach  ihm  hat  er  zu  leicht  und  leichthin  technische 
Mehrerfolge  der  Produktion  für  vermehrte  Wertüberschüsse  über  die 
Kosten  der  Produktion  genommen,  und  damit  Erklärungsgänge,  die  nur 
ein  Mehr  an  Produkten  zu  begründen  geeignet  waren,  voreilig  als  eine 
zureichende  Erklärung  von  Überschuß-  oder  Zinsphänomenen  gedeutet. 
In  diesem  Teile  der  RAEschen  Ausführungen  macht  sich  besonders  fühlbar, 
was  ich  oben  bemerkte,  daß  nämlich  die  Erklärung  des  Kapitalzinses 
nicht  das  Hauptziel  der  theoretischen  Untersuchungen  Raes  war.  Gewisse 
Untersuchungen,  die  nicht  für  das  Produktionsproblem,  sondern  nur  für 
das  Distributionsproblem  vonnöten  waren,  nimmt  Rae  leicht,  und  hält 
sie  weder  sich,  noch  den  Lesern  in  geschlossener  logischer  Folge  vor  Augen. 
Dabei  konnten  logische  Sprünge,  Inkon^uenzen  zwischen  dem,  bis  wohin 
Rae  bei  einer  früheren  Gelegenheit  gelangt  war,  und  dem,  woran  er  bei 
einer  späteren  Gelegenheit  wieder  anknüpft,  endlich  Widersprüche  viel 
leichter  unbemerkt  bleiben,  als  dies  möglich  gewesen  wäre,  wenn  Rae 
das  Zinsproblem  sich  zum  theoretischen  Hauptvorwurf  genommen,  und 
Glied  für  Glied  die  Gedankengänge  geprüft  und  ineinander  gefügt  hätte, 
die  von  den  empirischen  Grundtatsachen  zur  Erklärung  des  Kapital- 
zinses hinführen. 

Rae  webt  in  seine  psychologische  Zinserklärung  das  produktions- 
technische Moment  an  zwei  Punkten  ein  Er  sucht  erstens  produktions- 
technisch zu  erklären,  warum  die  Leute  bei  zunehmender  Akkumulation 
und  Stillstand  der  Erfindungen  mit  immer  geringeren  Wertüberschüssen 
vorlieb  nehmen  müssen.  Er  erklärt  dies  aus  den  begrenzten,  kargen  Vor- 
räten an  Materialien  bester  Qualität  und  aus  der  Nötigung,  stufenweise 
für  die  Anfertigung  von  Instrumenten  auf  immer  schlechtere  Materialien 

^)  Das  genauere  siehe  unten  im  Anhang  zu  diesem  Bande. 
»)  Siehe  oben  S.  278. 


304  XI.  John  Rac. 

ZU  greifen,  welche  denselben  produktiven  Erfolg  nur  mit  größerem  Arbeits- 
aufwand oder  größeren  Kosten  zu  erreichen  gestatten  und  daher  einen 
geringeren  Überschuß  der  capacity  über  die  Kosten  übrig  lassen^). 

Und  er  bildet  zweitens  mit  einer  produktionstechnischen  Begründung 
die  der  psychologischen  Gedankenreihe  entsprechende  Regel,  daß  der 
Zinsfuß  der  psychologischen  Stärke  des  gesellschaftlichen  Ansammlungs- 
triebes entsprechen  müsse,  in  die  hievon  verschiedene  Regel  um,  daß  der 
Zinsfuß  sich  nach  demjenigen  Ertragsniveau  richtet,  bis  zu  welchem  die 
tatsächliche  Akkumulation  bisher  die  Anfertigung  von  Instrumenten  ge- 
bracht hat.  Hier  läßt  Rae  vornehmlich  die  Erfindungen,  das  „inventive 
principle",  ihre  Rolle  spielen.  Indem  der  Erfolg  der  Erfindungen  darauf 
hinausläuft,  daß  den  Instrumenten  mit  gleicher  Arbeit  eine  größere  capacity 
verliehen  wird,  wird  der  Überschuß  der  capacity  über  die  Kosten  ein 
größerer,  und  es  werden  demnach  die  Instrumente  in  Klassen  kürzerer 
Verdopplungsperiode  oder  höheren  prozentuellen  Ertrags  hinaufgerückt. 
So  lange  es  aber  Instrumente  von  höherer  Rentabilität  zu  bilden  gibt, 
werden  natürlich  auch  jene  Leute,  deren  „strength  of  the  effective  desire 
of  accuraulation"  ihnen  gestatten  würde,  zur  Bildung  von  Instrumenten 
niedrigerer  Rentabilität  herabzusteigen,  dies  nicht  tun,  und  es  wird  inso- 
lange  nicht  der  Stand  des  psychologischen  ,, desire  of  accumulation", 
sondern  der  höhere  faktische  Ertrag  derjenigen  Schichte  von  Instrumenten, 
bis  zu  welcher  man  bei  stufenweiser  Verwertung  der  besten  Produktions- 
gelegenheiten gelangt  ist,  in  allen  geschäftlichen  Berechnungen,  bei  der 
Preisbildung  und  schließlich  bei  der  Festsetzung  des  üblichen  Gewinn- 
satzes die  entscheidende  Rolle  spielen.  Demgemäß  substituiert  Rae  an 
den  meisten  einschlägigen  Stellen  seines  Werkes  dem  „strength  of  the 
effective  desire  of  accumulation"  als  Bestimmgrund  des  Zinses  den  „actual 
Order",  „at  which  Instruments  are  arrived"  oder  „to  which  Instruments 
are  generally  wrought  up"^). 

Wie  man  leicht  sieht,  rückt  hier  Rae  die  produktionstechnischen  Tat- 
sachen in  die  vorderste  Reihe  der  Erklärung,  und  zwar  tut  er  dies,  wie 
gleichfalls  auf  den  ersten  Blick  auffällt,  in  einer  Weise,  welche  mit  den 
einschlägigen  Ausführungen  Thünens  die  frappanteste  Ähnlichkeit  hat. 
Nicht  nur  der  produktionstechnische  Grund  des  sukzessiven  Sinkens  des 
Zinsfußes,  daß  nach  Erschöpfung  der  ergiebigsten  Produktionsgelegen- 

^)  Siehe  oben  S.  288.  Die  ergänzende  Demonstration,  daß  auch  die  Dauerhaftig- 
keit der  Güter  nicht  ins  grenzenlose  gesteigert  werden  kann,  ohne  zu  einer  Verringerung 
des  Grewinnprozentes  zu  führen  (siehe  oben  S.  287),  ist  sachlich  korrekt,  ohne  freilich 
dem  Phänomen  ganz  auf  den  Grund  zu  sehen. 

2)  z.  B.  S.  170,  196,  300  und  oft.  Der  obige  Gedankengang  ist  gleichfalls  aus  zer- 
streuten Äußerungen  Raes  zusammengesetzt.  Die  wichtigsten  Stellen  sind  268ff. 
(Erfindungen),  170  (Preisbildung),  205f.  (übliche  Profitrate);  dann  194  und  172,  wo  sich 
Bemerkungen  darüber  finden,  ob  der  „desire  of  accumulation"  schon  Zeit  gehabt  hat 
zu  wirken. 


Kritik.  306 

heiten  „die  fernere  Kapitalerzeugung  sich  auf  Gerätschaften  von  minderer 
Wirksamkeit  richten  muß",  kehrt  bei  beiden  Schriftstellern  fast  mit  den 
gleichen  Worten  wieder,  sondern  es  ist  auch  die  TnüNENsche  Formel, 
daß  sich  der  herrschende  Zinsfuß  nach  der  Ergiebigkeit  „des  zuletzt  an- 
gelegten Kapitalteilchens"  richtet,  offenbar  nur  eine  andere  Aussageform 
für  den  RAEschen  Gedanken,  daß  die  Rentabilität  derjenigen  Schicht  von 
Instrumenten,  bei  welcher  man  bei  einer  stufenweisen  Ausnützung  der 
vorteilhaftesten  Produktionsgelegenheiten  gerade  angelangt  ist,  für  die 
Höhe  des  üblichen  Zinsfußes  den  Ausschlag  gibt^).  Wir  müssen  nur  hier 
wie  dort  fragen,  ob  die  produktionstechnischen  Prämissen  so  verwertet 
sind,  daß  aus  ihnen  eine  wirkliche,  und  zwar  zureichende  Erklärung  dessen 
abgeleitet  wird,  was  aus  ihnen  erklärt  werden  will?  Thünen  gegenüber 
mußten  wir  diese  Frage  verneinen,  und  auch  gegenüber  Rae  können  wir 
sie  nicht  bejahen. 

Es  ist  das  alte  Lied,  das  wir  von  den  Produktivitätstheorien  her 
kennen:  es  wird  die  physische  und  die  Wertproduktivität  immerfort  durch- 
einander geworfen.  Dieses  Quid  pro  quo  geht  durch  den  ganzen  RAEschen 
Gedankenbau,  und  zwar  eigentümlicherweise  halb  be^Mißt,  halb  unbewußt. 
Der  Träger  der  Konfusion  ist  der  Begriff  der  „capacity"  und  der  hiemit 
oft  synonym  gebrauchte  Begriff  „return".  In  der  offiziellen  Definition 
wird  die  capacity  zunächst  als  ein  rein  technischer  Begriff  definiert.  „Alle 
Instrumente",  heißt  es  auf  S.  92,  „bringen  Leistungen  (events)  hervor, 
oder  tragen  zu  ihrer  Hervorbringung  bei,  welche  Bedürfnisse  der  Menschen 
befriedigen.  Ihre  Kraft,  solche  Leistungen  hervorzubringen,  oder  der 
Betrag  von  ihnen  (the  amount  of  them),  den  sie  hervorbringen,  soll  ihre 
capacity  genannt  werden".  Also  die  capacity  ist  groß  oder  klein,  je  nach- 
dem viele  oder  wenige  Bedürfnisse  befriedigt,  beziehungsweise,  wenn  das 
Instrument  kein  Genuß-,  sondern  ein  Produktivgut  ist,  viele  oder  wenige 
Produkte  mit  seiner  Hilfe  hervorgebracht  werden.  In  demselben  tech- 
nischen Sinne  wird  die  capacity  auch  an  zahlreichen  Stehen  durch  Beispiele 
illustriert.  Ein  Obstbaum  bringt  Früchte,  ein  Feld  Ernten,  eine  Wasser- 
leitung Wasser  (S.  92).  Desgleichen  wird  die  Art  und  Weise,  in  der  die 
capacity  der  Güter  vergrößert  werden  kann,  auf  S.  109  ff.  auf  geradezu 
naturwissenschaftlich-technischer  Grundlage  demonstriert.  Entweder  kann 
man  die  Zeitdauer  verlängern,  durch  welche  die  Instrumente  Leistungen 
abgeben,  oder  man  kann  die  Menge  der  Leistungen  vergrößern,  die  das 
Instrument  in  einem  gegebenen  Zeitraum  abgibt.  Die  größere  capacity 
der  makadamisierten  Straßen  wird  daran  illustriert,  daß  sie  die  Benützung 


^)  Siehe  oben  S.  147.  Ich  halte  es  für  zweifellos,  daß  beide  Schriftsteller  völlig 
anabhängig  von  einander  zu  so  analogen  Ergebnissen  gelangten.  Ihre  Forschungen; 
wenn  auch  nicht  ihre  Publikationen,  waren  ungefähr  gleichzeitig,  und  beide  waren 
nicht  so  sehr  große  Leser,  als  einsame  Denker,  deren  Lehren  vollständig  das  Gepräge 
ureigenster  Gedankenarbeit  tragen. 

Böhm-Bawerk,  Rapitalzins.    4.  Anfl.  20 


306  XI.  John  Rae. 

durch  200000  Wagen  zulassen.  Und  auf  S.  259  illustriert  Kae  den  Satz, 
daß  erfinderische  Verbesserungen  „greater  returns"  mit  derselben  Aus- 
lage hervorbringen,  damit,  daß  die  Leute  mit  einem  verbesserten  Pflug 
bei  gleichem  Aufwand  von  Arbeit  und  Zugvieh  ein  größeres  Stück  Land 
pflügen  können.  Kurz,  die  capacity  ist  eine  technische  Größe,  zu  messen 
an  der  Masse  von  Befriedigungsakten  oder  Produkten,  deren  Erziehung 
sie  vermittelt. 

Daneben  bezieht  aber  Rae  fortlaufend  und  abwechselnd  die  capacity 
auch  auf  die  Wertsumme,  welche  die  durch  ein  Instrument  erzeugten 
Produkte  oder  Leistungen  repräsentieren.  Er  leitet  diese  Umdeutung 
mit  der  Bemerkung  ein,  daß  es  notwendig  sei,  einen  Maßstab  für  die  Ver- 
gleichung  der  capacity  oder  returns  der  Instrumente  mit  der  für  ihre 
Bildung  verausgabten  Arbeit  zu  besitzen.  Indem  er  als  diesen  Maßstab 
die  Arbeit,  und  zwar  nach  ihrem  Tauschwert  oder  Lohn  bemessen,  an- 
nimmt, gilt  ihm  nunmehr  die  capacity  eines  Instrumentes  als  groß  oder 
klein,  je  nachdem  seine  Leistungen  mit  vielen  oder  wenigen  Arbeitslöhnen 
gleichwertig  sind,  also  eine  größere  oder  kleinere  Wertsumme  repräsen- 
tieren. Daß  er  damit  einen  zweiten,  inhaltlich  verschiedenen  Begriff  der 
capacity  konstruiert,  scheint  ihm  zunächst  nicht  bewußt  gewesen  zu  sein, 
weil  er  die  Umdeutung  mit  der  Bemerkung  begleitet,  daß  sie  eigentlich 
nur  eine  Verdeutlichung  der  Terminologie  enthalte  (92).  Später  bringt  er 
jedoch  eine  Bemerkung  vor,  welche  als  bewußte  Rechtfertigung  für  die 
Identifizierung  der  technischen  und  der  Wertproduktivität  der  Instru- 
mente gedeutet  werden  kann,  und  wahrscheinHch  im  Sinne  Raes  auch  als 
eine  solche  Rechtfertigung  zu  deuten  ist:  er  erklärt  nämlich  seinen  theo- 
retischen Auseinandersetzungen  die  Annahme  zu  gründe  legen  zu  müssen, 
daß  die  Menschen  die  Instrumente  nach  ihren  physischen  Qualitäten, 
also  nach  ihrer  technischen  Leistungsfähigkeit  schätzen,  eine  Annahme, 
die  auch  der  Wirklichkeit  —  mit  alleiniger  Ausnahme  der  bloß  der  Eitelkeit 
dienenden  Luxusgüter  —  entspreche^). 

Daneben  stellt  aber  freilich  Rae  innerhalb  seines  Systemes  gleich- 
zeitig auch  noch  eine  entgegengesetzte  Wertregel  auf:  er  lehrt  nämlich, 


1)  S.  93f.,  259,  283,  Contents  XV.  Zu  bemerken  ist,  daß  die  diesem  Gesetze  bei 
seiner  ersten  Erwähnung  (S.  94)  beigegebene  Bemerkung,  daß  die  capacity  von  In- 
strumenten, ,,die  derselben  Sorte  von  Bedürfnissen  dienen",  untereinander 
nach  ihren  physical  effects  verglichen  werde,  nicht  etwa  eine  Einschränkung  des  Gel- 
tungsgebietes jenes  Gesetzes  bedeutet,  sondern  nur  der  selbstverständlichen  Erwägung 
Ausdruck  leiht,  daß  nur  gleichartiges  verglichen  werden  kann.  Bei  den  späteren  Er- 
wähnungen desselben  Gesetzes  wird  jene  Klausel  nicht  mehr  ausdrücklich  erwähnt 
und  es  geht  sowohl  aus  dem  Wortlaute,  als  aus  dem  Kontexte  deutlich  hervor,  daß 
die  Schätzung  nach  den  physical  effects  ein  allgemeines  Schätzungsprinzip  für  alle 
,, Utilities"  sein  soll,  während  das  Schätzungsprinzip  der  ,,luxuries"  die  Kostbarkeit, 
die  Schwierigkeit  der  Erlangung  ist  (siehe  S.  269,  283,  305f.  und  XV  des  Inhaltsver- 
zeichnisses). 


Kritik.  307 

daß  der  Wert  der  Güter  sich  nach -ihren  Reproduktionskosten  be- 
stimme i).  Wie  sich  Rae  das  Verhältnis  zwischen  diesen  kontrastierenden 
Wertregeln  gedacht  haben  mag,  ist  einer  der  zahlreichen  Punkte,  für 
welche  sich  in  den  lakonischen  und  abgerissenen  Äußerungen  Raes  keine 
sichere  Aufklärung  findet.  Ich  halte  es  für  das  wahrscheinlichste,  daß 
Rae  in  der  damals  allgemein  üblichen  Weise  ein  doppelter  Wertbegriff 
vorgeschwebt  ist;  ein  gebrauchswertartiger  —  den  Ausdruck  „Gebrauchs- 
wert" selbst  habe  ich  allerdings  in  seinem  Buche  nirgends  gefunden  — 
auf  den  sich  die  Regel  von  der  Schätzung  nach  den  physischen  Qualitäten 
beziehen  sollte;  und  der  —  von  Rae  auch  geradezu  so  benannte  —  „Tausch- 
wert", welcher  dem  Gesetze  der  Reproduktionskosten  folgt.  Wie  dem 
aber  auch  sei,  zweifellos  entspringt  jenes  Überschußphänomen,  welches 
zum  Kapitalzinse  führt,  einer  Differenz  der  Tauschwerte  von  Produkt 
und  Kosten,  und  ebenso  zweifellos  bewegt  sich  der  Tauschwert  des  Produkts 
bei  veränderten  Produktionsbedingungen  ganz  und  gar  nicht  in  gleicher 
Linie  mit  seiner  technischen  Größe  und  Brauchbarkeit.  Dessenungeachtet 
knüpft  Rae,  verleitet  von  der  Zweideutigkeit,  oder  eigentlich  sogar  Drei- 
deutigkeit  seiner  „capacity"  (technische  capacity,  Gebrauchswertsumme, 
Tauschwertsumme)  an  Prämissen,  die  nur  für  eine  technische  capacity 
etwas  beweisen  könnten,  unvermittelt  Folgerungen  auf  Wertsummeii  und 
Tauschwertüberschüsse  an.  Er  macht  mit  rein  produktionstechnischen 
Prämissen,  wie  Qualität  der  bearbeiteten  Materialien,  Vermehrung  unserer 
Kenntnisse  von  den  Eigenschaften  der  Materialien  und  von  den  Natur- 
prozessen u.  dgl.,  ein  Anwachsen  oder  Herabsinken  der  technischen  capa- 
city plausibel,  und  deutet  dies  dann  ohne  weiteres  auf  ein  entsprechendes 
Anwachsen  oder  Sinken  der  Wertsummen,  auf  ein  Steigen  und  Fallen 
des  Überschusses  dieser  Tauschwertsummen  über  die  Kosten  und  auf  ein 
dementsprechendes  Vor-  und  Zurückrücken  der  betreffenden  Instrumente 
in  seiner  „series  of  Orders"  um,  welche  series  of  orders  ja  nichts  anderes 
als  eine  Reihung  der  Güter  nach  dem  prozentuellen  Wertüberschuß  ist, 
den  dieselben  über  ihren  Eigenwert  hinaus  ihren  Besitzern  einbringen. 

Das  ist  natürlich  vollkommen  falsch,  wie  sich  auch  im  einzelnen  für 
beide  oben  erwähnten  Gedankengänge,  mittelst  deren  Rae  das  produktions- 
technische Element  in  die  Zinstheorie  hineinverwebt,  leicht  und  handgreif- 
lich dartun  läßt. 

Rae  wül  das  Sinken  des  Zinsfußes  bei  zunehmender  Kapitalsansamm- 
lung mit  der  Notwendigkeit  erklären,  zu  immer  spröderen,  schwerer  zu 
bearbeitenden  Materialien  überzugehen,  wobei  Instrumente  von  gleicher 
„efficiency"  nur  mit  größeren  Kosten  hervorgebracht  werden  können. 
„Das  heißt."  —  meint  Rae  —  „sie  müssen  in  Klassen  geringeren  Ertrages 
(of  slower  return)  übergehen". 


»)  Siehe  oben  S.  291  f. 


308  XL  John  Rae. 

„Das  heißt"  aber  in  Wahrheit  etwas  ganz  anderes.  Wenn  die  Leute 
aus  spröderem  Material  Instrumente  bilden,  z.  B.  auf  minder  fruchtbarem 
Boden  Vieh  züchten  oder  Rüben  oder  Getreide  bauen,  so  wird  —  bei 
ungeändertem  Stand  der  technischen  Kenntnisse  —  sicherlich  die  Er- 
zeugung desselben  Quantums  von  „Instrumenten"  oder  Produkten, 
z.  B.  eines  Zentners  Schafwolle  oder  eines  Zentners  Getreide,  mehr  direkte 
und  indirekte  Arbeit  kosten  als  bisher;  aber  dafür  wird  dieser  Zentner 
Schafwolle  oder  Getreide,  wenn  auch  seine  physische  efficiency  oder 
capacity  natürlich  die  gleiche  geblieben  ist,  vermöge  des  von  Rae  gelehrton 
Reproduktionskostengesetzes  jetzt  auch  einen  höheren  Wert  erlangen  als 
zuvor.  Es  steht  also,  wenn  man  die  capacity  —  wiederum  nach  der  eigenen 
Anweisung  Raes  —  nach  der  Menge  von  Arbeit  oder  Arbeitslöhnen,  denen 
sie  gleichgesetzt  wird,  schätzt^),  den  vermehrten  Kosten  auch  eine  ver- 
größerte, durch  die  capacity  der  Instrumente  repräsentierte  Wertsumme 
gegenüber,  und  es  wird  durch  keinen  Zug  der  RAEschen  Lehre  bewiesen 
oder  auch  nur  wahrscheinlich  gemacht,  daß  der  Produktwert  in  einem 
schwächeren  Verhältnis  steigen  müsse,  als  die  Kosten  gestiegen  sind: 
Raes  Reproduktionskostengesetz  ließe  eher  im  Gegenteile  erwarten,  daß 
der  Wert  des  Produktes  in  demselben  Verhältnis  steigen  müsse,  als  seine 
Kosten  gestiegen  sind,  und  dann  würde  natürlich  auch  nicht  einzusehen 
sein,  warum  der  Überschuß  des  Produktwertes  über  die  Kosten  kleiner 
werden,  und  das  Niveau  des  Ertrages,  welchen  die  betreffenden  Instrumente 
einbringen,  sich  erniedrigen  sollte.  Rae  geht  aber  auf  eine  solche  feinere 
Beweisführung,  warum  etwa  der  Wert  des  Produktes  in  einem  schwächeren 
Verhältnis  gestiegen  sein  sollte  als  die  Kosten,  gar  nicht  ein,  weil  er  wegen 
seiner  Verwechslung  der  technischen  und  der  Wert-Capacity  irrtümlich 
glaubt,  schon  am  Ziele  zu  sein,  wenn  er  nur  dargetan  hat,  daß  der  gleichen 
Produktmenge  jetzt  größere  Kosten  gegenüberstehen. 

Ricardo  hatte  hier  weiter  geblickt.  Man  wird  unschwer  in  Raes 
Gedankengang  die  Berufung  auf  dasselbe  „law  of  diminishing  returns" 
erkennen,  aus  dem  auch  Ricardo  die  Tendenz  des  Zinsfußes  zum  Sinken 
erklären  will.  Nur  hat  Rae  jenem  Gesetze  eine  etwas  allgemeinere,  ab- 
straktere Fassung  gegeben,  indem  er  überhaupt  von  der  Notwendigkeit 
sprach,  zu  undankbareren  „Materialien"  überzugehen,  während  Ricardo, 
sich  konkreter  fassend,  nur  auf  den  wichtigsten  Hauptfall  hinwies,  nämlich 
auf  die  Nötigung,  zu  immer  undankbareren  Grundstücken  seine  Zuflucht 
zu  nehmen.  Ricardo  hat  sich  aber  ganz  richtig  gegenwärtig  gehalten, 
daß  die  Steigerung  der  Arbeitsmenge,  die  nunmehr  zur  Erzeugung  desselben 
Produktquantums  aufgewendet  werden  muß,  keineswegs  schon  unmittelbar 
den  Kapitalgewinn  schmälert;  vielmehr  müsse  dann  auch  der  Wert  jenes 
Produktquantums,  und  zwar  in  demselben  Verhältnisse  steigen,  in  welchem 


1)  Siehe  oben  S.  282  und  306f. 


Kritik.  309 

sich  die  zu  seiner  Erzeugung  erforderte  Arbeitsmenge  gesteigert  hat;  und 
nur,  weil  unter  den  gegebenen  Voraussetzungen  überdies  auch  der  Arbeits- 
lohn steigen  müsse,  vermindere  sich  der  Überschuß  des  —  schwächer 
gestiegenen  —  Produktwertes  über  die  —  stärker  gestiegenen  —  Pro- 
duktionskosten, und  damit  die  Gewinnrate^).  Dieser  —  freihch,  wie  wir 
gesehen  haben,  auch  nicht  zum  Ziele  führende  —  Gedanke  ist  aber  Rae 
fremd  geblieben,  welcher  absichtlich  und  ausdrücklich  den  Arbeitslohn 
in  seinen  Auseinandersetzungen  als  eme  gegebene  und  unveränderte  Größe 
vorauszusetzen  erklärt  ^). 

Und  nicht  besser  steht  es  mit  der  erklärenden  Kraft  dessen,  was 
Rae  über  den  Zusammenhang  neuer  Erfindungen  mit  einer  Erhöhung 
des  Gewinnsatzes  vorbringt.  Wenn  durch  eine  glänzende  Erfindung  es 
möglich  gemacht  wird,  mit  derselben  Arbeit  das  zehnfache  technische 
Produkt  hervorzubringen,  so  ist  —  den  Fall  eines  Monopols  ausgenommen, 
den  aber  auch  Rae  nirgends  vor  Augen  hat  —  gar  keine  Rede  davon, 
daß  das  Produkt  auch  eine  zehnfach  größere  Wertsumme  repräsentieren 
und  einen  zehnfach  größeren  Überschuß  über  den  Eigenwert  des  betreffen- 
den Instrumentes  übrig  lassen,  und  dieses  somit  in  der  Erträgnisskala 
um  so  viel  vorwärts  rücken  würde.  Vielmehr  wird,  wieder  in  Konsequenz 
eines  von  Rae  in  seiner  Preislehre  (S.  168)  ausdrücklich  ausgeführten 
Lehrsatzes,  der  Wert  des  Produktes  auf  das  den  verringerten  Arbeits- 
kosten entsprechende  Niveau  herabsinken,  und  es  ist  wiederum  nicht 
ersichtlich,  daß  und  warum  bei  solcher  ebenmäßiger  Verringerung  von 
Wert  und  Kosten  die  Differenz  zwischen  beiden,  die  den  Kapitalgewinn 
ergibt,  größer  geworden  sein  sollte  als  zuvor. 

In  dem  Falle  der  Erfindungen  ist  übrigens  die  Senkung  des  Wertes 
der  von  der  Erfindung  berührten  Artikel  eine  so  auffällige  und  notorische 
Erscheinung,  daß  Rae  nicht  vermeiden  konnte,  von  ihr  Notiz  zu  nehmen. 
Die  betreffende  Stelle  —  von  insgesamt  16  Zeilen  —  ist  deshalb  besonders 
bemerkenswert,  weil  sie  die  einzige  ist,  in  der  Rae  den  eigentlich  kritischen 
Punkt  des  Zinsproblems,  wenn  auch  nur  in  höchst  lakonischer  Weise, 
streift.  Er  bemerkt  nämlich,  daß  die  Wirkungen  von  Verbesserungen 
zwar  „unmittelbar  und  zuerst"  nur  die  verbesserten  Instrumente  ergreifen, 
„aber  sich  sehr  bald  über  die  ganze  Masse  aller  im  Besitze  der  Gesellschaft 
stehenden  Instrumente  ausbreiten".  Und  nun  folgt  das  von  uns  oben 
(S.  295)  wiedergegebene  Beispiel  vom  technischen  Fortschritt  im  Brot- 
backen, der  den  Bäckern  nur  „eine  kleine  Erhöhung  ihres  Profites",  aber 
allen  Gliedern  der  Gesellschaft  ein  billigeres  Brot,  und  damit  für  eine 
gleiche  Auslage  einen  etwas  größeren  Ertrag  einbringe,  und  daher  alle  im 
Besitze  der  Gesellschaft  befindlichen  Instrumente  in  eine  Klasse  größerer 
Rentabilität  rücke. 


1)  Siehe  oben  S.  78ff. 
*)  Siehe  oben  S.  298. 


310  XL  John  Rae. 

Der  tatsächliche  Vorgang,  den  Rae  hiebei  im  Auge  hat,  ist  offenbar 
der,  daß,  dem  entwickelten  Tauschwertgesetze  entsprechend,  der  Wert 
des  Brotes  infolge  seiner  gesunkenen  Erzeugungskosten  sich  herunter- 
nivelliert. In  dem  Maße,  als  diese  Herunternivellierung  sich  vollzieht, 
gehen  natürlich  die  beiden  von  Rae  nicht  unterschiedenen  „capacities" 
auseinander.  Die  technische  capacity  des  Brotes,  seine  Fähigkeit,  die 
Bedürfnisse  der  Leute  zu  stillen,  bleibt  unvermindert,  seine  Wert-Capacity 
geht  herunter  —  nebenbei  bemerkt,  ein  handgreiflicher  Beweis  dafür,  daß 
die  Einführung  des  Wertmomentes  in  den  Begriff  der  capacity  doch  etwas 
mehr  als  eine  bloß  terminologische  Verdeutlichung  bedeutet  hat.  In  dem 
Maße,  als  sich  das  Tauschwertgesetz  durchsetzt,  annullieren  sich  aber 
natürlich  auch  diejenigen  Einflüsse,  durch  deren  Vermittlung  Rae  eine 
Steigerung  des  Zinssatzes  erklären  will.  Denn  indem  der  Tauschwert  des 
Brotes  im  Verhältnis  zu  seinen  verminderten  Kosten  sinkt,  läßt  der  Ertrag 
natürlich  auch  keinen  größeren  Überschuß  über  die  Kosten  als  früher, 
die  Instrumente  der  Brotbereitung  rücken  nicht  in  eine  höhere  Renta- 
bilitätsklasse, und  der  Profitsatz  erfährt  keine  Steigerung. 

Allerdings  fügt  Rae  noch  zwei  Bemerkungen  hinzu,  die  seiner  Meinung 
nach  wahrscheinlich  einen  Ausweg  aus  diesem  für  seine  Theorie  fatalen 
Dilemma  andeuten  sollten,  in  der  Tat  aber  einen  solchen  keineswegs  ent- 
halten. Einerseits  soll  die  zinssteigernde  Wirkung  der  Erfindung,  welche 
durch  die  Herabnivellierung  des  Brotpreises  vom  Brote  abgelenkt  wird, 
sich  dafür  an  allen  übrigen  Instrumenten,  welche  die  Gesellschaft  besitzt, 
fühlbar  machen.  Es  ist  aber  eine  offenbar  unzutreffende  Vorstellung,  daß 
der  Vorteü,  den  das  Publikum  aus  dem  billigeren  Einkauf  des  Brotes 
genießt,  sich  in  die  Gestalt  eines  höheren  Kapitalzinses  von  den  Besitz- 
tümern umsetzen  solle.  Erstens  genießen  jenen  Vorteil  ja  nicht  bloß  die 
Besitzenden,  sondern  auch  die  Arbeiter,  die  durch  die  Verbilligung  eines 
Konsumartikels  eine  reelle  Erhöhung  ihres  Arbeitslohnes  erfahren.  Und 
insoweit  zweitens  wirklich  jener  Vorteil  durch  den  Tausch  von  Besitz- 
tümern vermittelt  wird,  liegt  in  Raes  Gedankengang  gar  nichts,  was  ge- 
eignet wäre,  eine  Erhöhung  des  Ertrages  dieser  Besitztümer  über  ihren 
Eigenwert  erklärlich  zu  machen.  Rae  ist  eben  auch  hier  wieder  der  Selbst- 
täuschung durch  die  Verwechslung  von  technischer  Leistungsfähigkeit 
und  Wertproduktivität  zum  Opfer  gefallen.  Wenn  jeder  im  Austausche 
für  seine  Ware  mehr  Brot  bekommt  wie  früher,  so  läßt  sich  allerdings  in 
einem  gewissen  Sinne  behaupten,  daß  die  technische  capacity  aller 
Waren  eine  größere  geworden  ist,  weU  man  sich  durch  ihre  Hingabe  eine 
größere  Menge  von  Bedürfnisbefriedigungen  verschaffen  kann.  Auch  das 
läßt  sich  allenfalls  noch  behaupten,  daß  der  reelle  Tauschwert  jener 
Waren  sich  gesteigert  hat,  insoferne  das  Tauschverhältnis  jeder  Ware 
gegenüber  einer  Warengattung  (dem  Brote)  gebessert,  und  gegenüber 
allen  übrigen  ungeändert  geblieben,  also  in  der  Gesaratbilanz  um  eine 


Kritik.  311 

Kleinigkeit  gebessert  ist.  Allein  hierin  liegt  noch  gar  kein  Anhaltspunkt 
dafür,  daß  sich  das  für  das  Vorrücken  in  einen  „order  of  more  quicky 
return"  maßgebende  Verhältnis  zwischen  Ertrag  und  Eigenwert  oder 
Kostenweit  der  Instrumente  gebessert  haben  soll.  Denn  ganz  dieselbe 
le)se  Besserung  des  reellen  Tauschwertes,  welche  jede  andere  Produkt- 
gattung außer  dem  Brot  erfährt,  erfahren  ja  auch  die  Kostengüter  dieser 
Produkte,  einschließlich  des  allgemeinsten  Kostengutes  Arbeit,  und  es 
tritt  daher  ganz  dieselbe  Art  und  derselbe  Grad  der  Wertschwellung  auf 
beiden  Seiten  der  Büanz,  auf  Seite  der  Kosten  einerseits,  und  des  „Er- 
trages" andererseits  in  Erscheinung,  und  es  ist  absolut  nicht  einzusehen, 
wie  dieser  Tatbestand  zu  einer  Vergrößerung  des  Überschusses  des  Er- 
trages über  die  Kosten  Anlaß  geben  solle. 

Aber  Rae  macht  noch  eine  zweite  Andeutung.  Er  sagt  nämlich,  die 
Bäcker  würden  eine  kleine  Erhöhung  ihres  Profites  (a  small  additional 
profit)  übrig  behalten.  Mit  diesen  drei  Worten  berührt  Rae,  und  zwar, 
wie  ich  glaube,  das  einzigemal  in  seinem  ganzen  Werke  und  im  Tone  der 
bloßen  Behauptung  denjenigen  Punkt,  welcher  bei  einer  zielbewußten 
Zinstheorie  im  Zentrum  der  Erklärungsversuche  hätte  stehen  müssen. 
Warum,  wenn  es  ein  nivellierendes  Kostengesetz  gibt,  soll  die  nivellierende 
Konkurrenz  bei  einem  Punkte  Halt  machen,  der  noch  über  den  Kosten 
steht?  Das  ist  die  Frage,  die  wir  in  den  verschiedensten,  der  individuellen 
Beschaffenheit  der  betreffenden  Lehren  angepaßten  Tonarten  allen  Pro- 
duktivitätstheoretikern der  Reihe  nach  entgegenhalten  mußten,  von 
Laüderdale  mit  seinen  arbeitersparenden  Wirkstühlen  angefangen  bis 
zu  Strasburger  mit  seiner  Honorierung  für  mitwirkende  Naturkräfte; 
und  die  wir  jetzt  auch  Rae  entgegenhalten  müssen:  warum  sollen  die 
Bäcker  trotz  der  nivellierenden  Konkurrenz  eine  „kleine"  Erhöhung  ihres 
Profits  dauernd*)  übrig  behalten? 

Wahrscheinlich  dachte  Rae,  daß  seine  beiden  Andeutungen  sich. 
gegenseitig  stützen.  Wenn  es  richtig  wäre,  daß  die  Tatsache  des  billigeren 
Broteinkaufes  für  alle  übrigen  Geschäftszweige  eine  unmittelbare  Erhöhung 
ihres  Kapitalgewinnes  bedeutet,  so  Keße  sich  in  der  Tat  einsehen,  daß  dann 
das  Bäckergewerbe  mit  keinem  niedrigeren  Profitsatz  vorlieb  zu  nehmen 
braucht,  als  ihn  alle  anderen  Unternehmungszweige  haben,  und  daß  das 
fernere  Andrängen  von  Kapital,  wodurch  sich  ja  die  nivellierende  Wirkung 
des  Kostengesetzes  vollzieht,  schon  an  einem  Punkte  Halt  macht,  der 
dem  Bäckergewerbe  einen  höheren  Gewinnsatz  als  zuvor,  und  zwar  den- 
selben Gewinnsatz  übrig  läßt,  der  Dank  dem  billigeren  Broteinkauf  jetzt 

*)  d.  i.  auch  nach  Abschluß  des  Niveilierungsprozesses,  der  durch  die  anfänglich 
abnormen  Gewinne  des  Bäckergewerbes  angeregt  wurde.  Ein  Verschwinden  der  Ge- 
winnerhöhung nimmt  Rae  erst  für  denjenigen,  weit  späteren  und  überhaupt  ungewissen 
Zeitpunkt  in  Aussicht,  in  welchem  die  Akkumulation  von  Kapital  vollständig  den 
„desire  of  accumulation"  eingehölt  hat. 


312  XI.  John  Rae. 

auch  in  allen  übrigen  Geschäftszweigen  herrschen  würde.  Aber  da,  wie 
wir  gesehen  haben,  die  letztere  Annahme  hinfällig  ist,  so  kann  sie  auch 
der  ersteren  keine  Stütze  bieten. 

In  sich  selbst  kann  diese  aber  auch  keine  Stütze  finden.  Eine  Stütze 
ist  nämhch  —  und  dadurch  unterscheidet  sich  Raes  Gesamttheorie 
vorteilhaft  von  den  reinen  Produktivitätstheorien  —  zwar  allerdings  dafür 
vorhanden,  daß  die  Konkurrenz  der  Brotpreise  nie  ganz  bis  auf  den  Betrag 
der  Selbstkosten,  bis  auf  die  nackte  Erstattung  des  für  Arbeitslöhne  u.  dgl. 
ausgelegten  Betrages  herabnivellieren  kann:  das  verhüten  in  Raes  Gesamt- 
theorie die  der  „ersten  Gedankenreihe"  ^)  angehörigen  rein  psychologischen 
Motive  und  Kräfte.  Allein  für  eine  weitere  Spannung  der  Preise  über  den 
durch  den  Stand  dieser  Kräfte  geforderten  Punkt  hinaus  —  also  für  das, 
was  Rae  in  seinem  jetzigen  Beispiele  „eine  kleine  Erhöhung  des  Profits" 
nennt,  und  was  in  seiner  allgemeinen  Theorie  durch  die  Substituierung 
des,  ein  höheres  tatsächliches  Ertragsniveau  anzeigenden,  „actual  order 
of  Instruments"  an  Stelle  des  rein  psychologischen  „strength  of  effective 
desire  of  accumulation"  2)  zum  Ausdrucke  kommt  —  fehlt  es  in  Raes 
Theorie  an  jeder  emporhaltenden  Stütze.  Diese  weitere  Spannung  soll 
durch  produktionstechnische  Einflüsse  verursacht  und  erklärt  werden; 
allein  Raes  Gedankengang,  der  sich  hier  ganz  in  den  Fußstapfen  der 
Produktivitätstheoretiker  bewegt,  vermag  ihren  dauernden  3)  Bestand 
nicht  zu  erklären.  Denn  das  physische  Mehr  an  Produkten,  von  dem 
Rae  seinen  Ausgangspunkt  nimmt,  ist  ein  für  allemal  kein  Mehr  an  Wert- 
überschüssen, mit  dem  Rae  seinen  Gedanken  weiterspinnt;  in  derber 
Auffälligkeit  überall  dort,  wo  er  die  verbesserten  Instrumente  selbst, 
entsprechend  ihrer  gesteigerten  technischen  Leistungsfähigkeit,  in  orders 
of  more  quicky  returns  aufrücken  läßt,  weniger  auffällig,  aber  für  den 
genauer  Zusehenden  nicht  weniger  charakteristisch  ausgeprägt  an  der 
einen  merkwürdigen  Stelle,  in  welcher  er  den  herabnivellierenden  Einfluß 
der  Konkurrenz  in  seine  Betrachtung  einbezieht.  Denn  indem  er  statt 
der  einen  Instrumentgattung,  bei  der  die  Verbesserung  eingetreten  ist, 
alle  Instrumente  in  orders  of  more  quicky  return  aufrücken  läßt,  läßt  er  ja 
auch  hier  den  technischen  Mehrerfolg  unmittelbar  in  einen  vermeintüchen 
Wertüberschuß  umschlagen,  der  durch  die  nivellierende  Konkurrenz  weder 
zum  Verschwinden  gebracht,  noch  auch  verkleinert,  sondern  nur  über  die 
ganze  Menge  der  gesellschaftlichen  Instrumente  hin  gleichmäßig  verteilt 
werden  soll! 

Zu  allem  Überflusse  findet  sich  aber  in  Raes  eigener  Lehre  noch  ein 
Lehrsatz  mehr,  welcher  ihn  bei  folgerichtigem  Denken  hätte  abhalten 
müssen,  ein  Mehr  oder  Minder  an  Produkten,  die  durch  Vermittlung  eines 


»)  Siehe  oben  S.  298f. 

«)  Siehe  oben  S.  292f.,  303f. 

»)  Siehe  oben  S.  311,  Anm. 


Kritik.  313 

Instrumentes  geschaffen  werden  können,  in  einen  größeren  oder  kleineren 
Ertragsüberschuß  umzudeuten.  Denn  er  gibt  einmal  die  ausdrückliche 
Anleitung,  daß  der  Wert  der  Instrumente  nach  ihren  künftigen  Leistungen 
unter  entsprechender  Berücksichtigung  ihrer  zeitlichen  Entlegenheit  zu 
schätzen  ist;  dies  sei  ihr  „natürlicher"  Schätzungsmaßstab,  den  auch 
Kae  selbst  in  seinen  folgenden  Untersuchungen  anwenden  zu  wollen  er- 
klärt^). Wendet  man  aber  diesen  Maßstab  an,  so  müßte  ja,  wenn  ein 
Instrument  durch  eine  glückliche  Erfindung  doppelt  so  wirksam  gemacht 
wird,  auch  sein  eigener  Wert  doppelt  so  hoch  geschätzt  werden,  und  dem 
verdoppelten  Ertrage  des  Instrumentes  stünde  der  verdoppelte  Eigenwert 
desselben,  das  ja  durch  Abnützung  in  der  Produktion  zugrunde  geht,  als 
verdoppelter  Kostenaufwand  gegenüber,  so  daß  ein  Wachsen  der  Differenz 
zwischen  Ertrag  und  Kosten  erst  recht  nicht  erklärlich  gemacht  wäre! 
Dies  führt  mich  auf  einen  letzten  Gesichtspunkt,  aus  welchem  —  und 
vielleicht  am  allereinfachsten  und  einleuchtendsten  —  Raes  Fehlgriff  sich 
veranschaulichen--  läßt.  Alle  vorteilhaften  und  nachteiligen  Änderungen 
der  Produktionstechnik,  welche  Rae  einerseits  aus  glücklichen  Erfindungen, 
und  andererseits,  falls  solche  ausbleiben,  aus  der  Nötigung,  zur  Ver- 
arbeitung minder  günstiger  Materialien  zu  schreiten,  ableitet,  laufen  in 
letzter  Linie  auf  Änderungen  in  der  Produktivität  der  Arbeit  hinaus: 
eine  gleiche  Quantität  von  Arbeit  vermag  im  ersten  FaU  einen  größeren, 
im  letzteren  einen  kleineren  technischen  Erfolg  zu  erzielen,  sie  ist  also  im 
ersten  Falle  produktiver,  im  zweiten  weniger  produktiv  als  bisher  2).  Rae 
läßt  nun  alle  Instrumente,  die  durch  diesen  Ergiebigkeitswechsel  berührt 
werden,  in  ihrem  Werte,  sei  es  ihr  Gebrauchswert  oder  ihr  Tauschwert, 
Veränderungen  erleiden,  nur  die  einzige  Arbeit  selbst  nicht:  ob  sie  vermöge 
glücklicher  Erfindungen  doppelt  so  viel,  oder  vermöge  der  Erschöpfung 
der  geeignetsten  Materialien  doppelt  so  wenig  für  die  menschlichen  Be- 
dürfnisse ausrichtet  als  zuvor,  nie  soll  daraus  irgend  eine  Änderung  für 
ihren  eigenen  Wert  hervorgehen.  Der  Wert  und  Lohn  der  Arbeit  wird 
von  Rae  mittelst  einer  ausdrücklich  ausgesprochenen  hypothetischen 
Voraussetzung  für  den  ganzen  Bereich  seiner  theoretischen  Untersuchungen 
als  eine  gegebene  unveränderliche  Größe  behandelt  (S.  97,  131;  siehe  oben 
S.  282,  286).  Das  war  gestattet,  wenn  seine  theoretischen  Ziele  auf  etwas 
anderes  gerichtet  waren,  als  auf  die  Erklärung  von  Wertbildungen,  die 
zum  Wert  der  Arbeit  in  einem  Verhältnis  wechselseitiger  Beeinflussung 
stehen;  das  war  aber  eine  nicht  gutzumachende  methodische  Todsünde, 
wenn  gerade  die  Bildung  von  Differenzen  des  Güterwertes  gegenüber  dem 
Werte  der  Arbeit  —  und  nichts  anderes  ist  ja  seinem  Wesen  nach  der 
Kapitalzins  —  den  Gegenstand  der  Erklärung  bilden  sollte.     Offenbar 

1)  a.  a,  0.  S.  172;  siehe  auch  oben  S.  292. 

*)  Rae  drückt  sich  selbst  dahin  aus,  daß  die  inventive  faculty   „must  render 
the  labour  of  the  members  of  the  society  more  effective"  (S.  258). 


314  XI.  John  Rae. 

müßte  die  vergrößerte  Ergiebigkeit  der  Arbeit  caeteris  paribits  ihren  Wert 

—  sei  es  Gebrauchs-  oder  Tauschwert  —  aus  denselben  Ursachen  und  in 
derselben  Richtung  beeinflussen,  in  welcher  sie  den  Wert  des  durch  die 
Arbeit  gebildeten  Produktes  beeinflußt;  und  ebenso  offenbar  ist  eine 
Theorie  verfehlt,  welche  die  Bildung  eines  Abstandes  zwischen  zwei  in 
derselben  Richtung  bewegten  Größen  einfach  damit  erklärt,  daß  sie  die 
Bewegung  der  einen  als  ungehemmt  sich  vollziehend,  die  andere,  derselben 
Bewegung  unterliegende  Größe  aber  vermöge  einer  selbstgeschaffenen  und 
durch  nichts  berechtigten  Hypothese  als  festgenagelt  annimmt.  — 

Rae  hat  also  Grund  und  Maß  der  Einflüsse,  die  vom  Gebiete  der 
Produktionstechnik  in  das  des  Kapitalzinses  herüberragen,  nicht  richtig 
verstanden  —  und  wohl  auch  nicht  richtig  verstehen  können,  da  ihm  noch 
nicht  das  Werkzeug  einer  ausgebildeten  Werttheorie  zur  Verfügung  stand, 
die,  wie  die  moderne  Theorie  des  Grenznutzens,  gestattet  hätte,  die  Rück- 
wirkung veränderter  Produktmengen  auf  den  Gebrauchs-  und  Tauschwert 
sowohl  der  Produkte  selbst,  als  auch  ihrer  Produktionsmittel  im  Detail 
zu  verfolgen.  Raes  großes  und  originelles  Verdienst  ist  es,  jene  erste 
Gedankenreihe,  welche  die  psychologischen  Gründe  für  eine  verschiedene 
Bewertung  der  Gegenwart  und  Zukunft  enthält,  im  wesentlichen  richtig 

—  auf  Bemängelungen  im  Detail  will  ich  hier  nicht  eingehen  —  dargelegt, 
und  ihr  auch  schon,  hierin  selbst  Jevons  übertreffend,  eine  Anwendung 
auf  die  Erklärung  des  Kapitalzinses  gegeben  zu  haben.  Mit  seiner  zweiten, 
produktionstechnischen  Gedankenreihe  war  Rae  dagegen  unglücklich. 
Wenn  Mr.  Mixter  ihm  auch  hierin  vollkommene  und  zutreffende  Ein- 
sichten zuschreibt^),  so  hat  er  sich  wahrscheinlich  durch  gewisse  Äußer- 
lichkeiten täuschen  lassen,  die  bei  flüchtigem  Zusehen  in  der  Tat  eine 
Täuschung  leicht  hervorrufen  können.  Mr.  Mixter  hatte  nämlich  bereits 
gewisse  im  Detail  ausgeführte  Zinstheorien  vor  Augen,  die  durch  die 
•spätere  Forschung,  und  namentlich  auch  durch  den  Schreiber  dieser  Zeilen 
aufgestellt  worden  waren.  Ein  merkwürdiger  Zufall  fügt  es  nun,  daß  der 
äußere  Apparat,  mit  dem  Rae  arbeitet,  eine  ganze  Reihe  von  Stücken 
aufweist,  welche  eine  frappante  Ähnlichkeit  mit  Ausdrücken,  Gesetzen 
und  methodischen  Behelfen  haben,  deren  sich  die  späteren  Zinstheorien 
bedienen;  freilich  fügt  es  derselbe  Zufall  auch,  daß  die  äußerlich  ähnlichen 
Bestandstücke  in  beiden  Theorien  zumeist  einen  völlig  verschiedenen  Sinn 
und  Inhalt  haben. 

So  operiert  meine  Theorie  mit  einem  „Schema  abnehmender  Mehr- 
erträgnisse" 2),  Rae  mit  einer  ,,series  of  Orders"  mit  abnehmendem  Perzent- 
satz  der  Erträgnisse.  Inhaltlich  haben  freilich  beide  „Reihen"  miteinander 
gar  nichts  gemein:  denn  in  ihnen  werden  verschiedene  Gegenstände  — 

^)  Siehe  oben  S.  278. 

2)  Positive  Theorie.  1.  Aufl.  S.  402,  413ff.,  3.  Aufl.  S.  591,  604ff.,  4.  Aufl. 
S.  441,  451ff. 


Kritik.  315 

bei  mir  die  Bruttoerträgnisse  von  Arbeitseinheiten,  bei  Rae  die  Netto- 
erträgnisse von  Kapitalgütern  —  nach  verschiedenen  Gesichtspunkten  — 
Länge  der  Zeit,  welche  der  Produktionsprozeß  ausfüllt,  und  Länge  der 
Zeit,  innerhalb  deren  eine  Verdopplung  des  Anfangswertes  des  Kapital- 
stückes eintritt  —  und  natürlich  auch  mit  verschiedenen  Ergebnissen 
gruppiert. 

Femer  kennt  meine  Theorie  ein  Gesetz  „abnehmender  Mehrerträg- 
nisse", Raes  Theorie  ein  Gesetz  „of  diminishing  retums"^)  —  von  aber- 
mals völlig  verschiedenem  Inhalt.  Rae  leitet  aus  der  Kargheit  der  Natur- 
dotation an  Materialien  besserer  und  bester  Qualität  das  Gesetz  ab,  daß 
bei  stabilem  Stand  der  Erfindungen  eine  wirkliche  Abnahme  der 
Arbeitserträgnisse  stattfinden  müsse,  so  daß  mit  der  Arbeitseinheit 
ein  geringeres  Quantum  von  Produkten  erzielt  wird.  Meine  Theorie  leitet 
aus  Gründen,  die  mit  der  Kargheit  der  Naturdotation  nichts  zu  tun  haben, 
ein  Gesetz  ab,  nach  welchem  durch  Verlängerung  der  Produktionsperiode 
eine  Arbeitseinheit  ein  immer  größeres  Quantum  von  Produkten  zu  er- 
zielen imstande  ist,  nur  daß  die  Progression,  in  welcher  das  Produkt- 
quantum zunimmt,  allmählich  eine  langsamere  wird  2). 

Meine  Theorie  kreiert  den  technischen  Ausdruck  „Zwischenprodukt", 
Rae  den  Terminus  „Instrument",  von  dem  ich  schon  oben  gezeigt  habe, 
daß  er  einen  anderen  Kreis  von  Gütern  umfaßt  und  von  Mixter  irrtümlich 
für  identisch  mit  meinen  „Zwischenprodukten"  gehalten  wird^). 

Endlich  spielt  in  beiden  Theorien  das  Moment  der  Zeit  eine  hervor- 
ragende RoUe.  Soweit  der  Einfluß  der  Zeit  auf  die  Schätzung  gegen- 
wärtiger oder  künftiger  Bedürfnisse  in  Betracht  kommt,  also  rücksichtlich 
der  oft  erwähnten  „ersten  Gedankenreihe",  besteht  in  der  Tat  ein  voll- 
kommener Paralleüsmus  der  beiderseitigen  Anschauungen.  Auf  dem 
produktionstechnischen  Gebiete  wiederholt  sich  aber  das  Spiel  des  Zufalls 
mit  halb  ähnlichen  Begriffen  und  ähnlichen,  ja  sogar  fast  identischen 
Namen,  die  aber  eine  verschiedene  Bedeutung  haben.  Meine  Theorie 
interessiert  sich  für  die  „Produktionsperiode",  welche  den  Zeitraum  bis 
zur  Herstellung  des  Produktes  umfaßt.  Bei  Rae  findet  sich  gelegentlich 
der  fast  wörtlich  identische  Ausdruck  „period  of  formation";  aber  es  ist 
nicht  diese  zeitliche  Größe,  welcher  Rae  für  seine  Konklusionen  Wichtig- 
keit beilegt,  sondern  vielmehr  die  Größe  des  anderen  Zeitraumes,  welcher 
zwischen  der  Herstellung  des  Produkts  und  seiner  Erschöpfung  verstreicht; 
also  nicht  so  sehr  die  Dauer  des  Werdens,  als  die  des  Seins  der  Güter» 
Und  dementsprechend  kommt  in  Raes   Gedankenkreis  dem  zeitlichen 


^)  Rae  selbst  gebraucht  diesen  Ausdruck  nicht;  Mr.  Mixter  wendet  ihn  jedoch 
bei  seiner  Gregenüberstellung  beider  Theorien  an. 

*)  Daß  diese  zwei  Vergleichsstücke  beider  Theorien  wesentlich  differieren,  hebt 
auch  Mixter  ausdrücklich  hervor  a.  a.  0.  S.  188f. 

»)  Siehe  oben  S.  280,  Note. 


31ß  XI.  John  Rae. 

Zwischenraum  eine  mehr  nur  distributive  Rolle  zu,  indem  sich  danach 
entscheidet,  ob  das  gesamte  Reinerträgnis,  welches  das  Instrument  während 
seiner  Lebensdauer  abwirft  und  das  von  Gnaden  des  erfinderischen  Ge- 
dankens da  ist^),  auf  einen  kurzen  oder  langen  Zeitraum  als  Gewinn  zu 
verrechnen  ist,  und  daher  viele  oder  wenige  Prozente  per  annum  darstellt; 
während  der  wichtige,  schon  bei  Jevons  sich  findende  und  später  in 
meiner  Theorie  zur  Verwebung  der  produktionstechnischen  mit  den  rein 
psychologischen  Einflüssen  verwertete  Gedanke,  daß  der  Dauer  des  Werde- 
prozesses der  Güter  ein  ursächlicher  Einfluß  auf  die  Größe  des  technischen 
Produkts  zukommt,  dem  RAESchen  Gedankenkreise  fremd  ist;  ein  Um- 
stand, den  auch  Mr.  Mixter  nicht  unterläßt  wenigstens  indirekt  hervor- 
zuheben, den  er  aber  Rae  eher  als  Verdienst  anzurechnen  geneigt  ist 2). 
Immerhin  werden  diese  sachlichen  Verschiedenheiten,  ja  Gegensätze, 
erst  dem  genauer  Zusehenden  bemerklich;  und  erwägt  man,  daß  nicht 
bloß  rücksichtlich  der  ganzen  dem  psychologischen  Gebiete  angehörenden 
„ersten  Gedankenreihe",  sondern  auch  rücksichtlich  gewisser  elementarer 
Grundlagen  der  Produktionslehre,  insbesondere  rücksichtlich  des  elemen- 
taren Charakters  der  Produktion  und  des  Güterwirkens  in  der  Tat  eine 
vollständige  Harmonie  zwischen  Raes  und  meinen  Anschauungen  besteht  3) 
und  daß  sich  Rae  über  die  wichtigsten  dem  Zinsprobleme  als  solchem 
dienenden  Gedankenglieder  überhaupt  nur  äußerst  kurz  und  oft  dunkel 
ausgesprochen  hat,  so  ist  es  subjektiv  wohl  begreiflich,  daß  Mr.  Mixter 
sich  zu  der  etwas  voreiligen  Annahme  verführen  ließ,  daß  auch  im  rest- 
lichen Teile  des  Lehrgebäudes  hinter  dem  Gebrauch  ähnlicher  Ausdrücke 
und  Behelfe  sich  übereinstimmende  Gedanken  verbergen  müssen,  und  daß 
er  in  den  produktionstechnischen  Teil  der  RAEschen  Lehre  Gedanken 
hineingedeutet  hat,  die  Rae  tatsächlich  fremd  waren*). 

1)  SiehjB  oben  S.  279f. 

'')  Er  merkt  nämlich  einmal  an,  daß  Rae  den  Einfluß  der  Zeit  auf  die  Erzielung 
eines  größeren  Produktes  nicht  als  einen  unterstützenden  Grund  für  einen  Wertvorzug 
der  gegenwärtigen  über  die  künftigen  Güter  anführt  (a.  a.  0.  S.  173),  und  spricht  ein 
anderesmal  die  Meinung  aus,  daß  Rae  meinem  Satze,  daß  erfahrungsgemäß  die  zeit- 
raubenden Produktionsmethoden  ergiebiger  sind,  „hätte  zustimmen  können"  („Rae 
might  agree"  etc.,  S.  188)  —  also  jedenfalls  nicht  ausdrücklich  zugestimmt  hat;  lobt 
ihn  aber  gleichzeitig  dafür,  daß  er  —  im  Unterschiede  von  mir  —  der  Erfindung 
die  richtige  Stellung  in  der  ganzen  Frage  angewiesen  habe. 

»)  Siehe  oben  S.  280,  281  Anm.  1. 

*)  Prof.  Mixter  hat  nach  dem  Erscheinen  der  zweiten  Auflage  dieses  Werkes 
und  unter  spezieller  Bezugnahme  auf  die  obigen  Ausführungen  in  meinem  Text  mit 
anerkennenswerter  Offenheit  zugestanden,  daß  er  in  der  Tat  in  seiner  älteren  Schrift 
in  einem  erheblichen  Umfange  „Böhm-Bawerk  in  Rae  hineingelesen"  und  eine  größere 
Ähnlichkeit  zwischen  unseren  beiderseitigen  Lehren  angenommen  habe  als  sie  tat- 
sächlich besteht;  siehe  dessen  Aufsatz  ,, Böhm-Bawerk  on  Rae"  im  Querterly  Journal 
of  Economics,  Vol.  XVI  No.  3  (Mai  1902),  S.  385  in  der  Note.  Mixter  sah  sich  dadurch 
veranlaßt,  den  kritischen  Vergleich  beider  Lehren  auf  neuer  Grundlage  zu  wiederholen, 
ohne  jedoch  zu  einer  erheblichen  Änderung  in  den  Ergebnissen  zu  gelangen.   Ich  kann 


Kritik.  317 

Ich  fürchte,  viele  Leser  werden  den  Eindruck  haben,  daß  ich  in  diesem 
Abschnitte  ungebührlich  viel  und  ungebührlich  vorgreifend  nicht  bloß 
von  John  Rae,  sondern  von  meiner  eigenen  Theorie  gesprochen  habe. 
Ich  hätte  es  sicherlich  nicht  getan,  wenn  mir  nicht  die  ganz  besondere 
Gestalt  der  Sachlage  die  Nötigung,  ja  die  Verpflichtung  dazu  auferlegt 
hätte.  Wäre  ich  in -der  Lage  gewesen,  dem  Urteile  Mr.  Mixters  voU- 
inhaltüch  beizupflichten,  so  hätte  ich  die  Priorität  Raes  für  den  pro- 
duktionstechnischen Teil  des  Zinsproblems  ebenso  gerne  und  bereitwillig 
anerkannt,  als  ich  dies  für  den  psychologischen  Teil  hiemit  ausdrücklich 
tue.  Allein  —  amicus  Plato,  sed  magis  amica  veritas !  Und  wenn  ich  als 
dogmenhistorischer  Kritiker  zu  einer  anderen  Auffassung  als  Mr.  Mixter 
gelangte,  so  hielt  ich  mich  in  solchem  Falle  zu  der  genauesten  und  skrupu- 
lösesten Darlegung  des  Sachverhaltes  verpflichtet,  zumal  Raes  äußerst 
selten  gewordenes  Werk  den  meisten  Lesern  unzugänglich  ist,  und  das 
Material  zur  Beurteilung  desselben  ihnen  daher  an  dieser  Stelle  mit  Voll- 
ständigkeit geboten  werden  mußte. 

Alles  in  allem  glaube  ich  über  Rae  sagen  zu  können:  Mit  der  einen 
Hälfte  seiner  Lehren  ist  er  originell  als  Erster  vorangegangen;  mit  der 
anderen  befindet  er  sich,  trotz  mancher  origineller  Details,  in  der  Gefolg- 
schaft der  Produktivitätstheoretiker,  geradeso  wie  sein  ebenbürtiger  Zeit- 
genosse Thünen,  mit  dem  ihn  überhaupt  die  größte  Ähnlichkeit  in  der 
Lehre,  in  der  Geistesrichtung  und  in  der  durch  Leseeinflüsse  uubeirrten 
Selbständigkeit  des  Denkens  verbindet. 


indes  Mixters  Auffassung  jetzt,  nachdem  ein  Teil  ihrer  Voraussetzungen  als  irrig  auf- 
gegeben werden  mußte,  nicht  für  besser  begründet  ansehen  als  zuvor  und  glaube  darum 
meine  im  Text  gegebene,  von  mir  sorgfältig  abgewogene  Kritis  Raes  auch  gegenüber 
der  erneuorten  Darlegung  Mixters  ohne  jede  Änderung  aufrecht  halten  zu  müssen. 


XII. 

Die  Ausbeutungstheorie. 

1.  Unterabschnitt. 
Historischer  Überblick. 

Ich  gelange  nunmehr  zu  jener  denkwürdigen  Theorie,  deren  Auf- 
stellung vielleicht  nicht  zu  den  erfreulichsten,  ganz  gewiß  aber  zu  den 
folgenschwersten  wissenschaftlichen  Ereignissen  des  19-  Jahrhunderts 
zählt;  die  an  der  Wiege  des  modernen  Sozialismus  gestanden  und  mit  ihm 
groß  geworden  ist;  und  die  heute  den  theoretischen  Angelpunkt  bildet, 
um  den  sich  Angriff  und  Abwehr  im  Streite  um  die  Organisation  der 
menschlichen  Gesellschaft  zumeist  bewegen. 

Diese  Theorie  hat  noch  keinen  kurzen  bezeichnenden  Namen.  Wollte 
ich  diesen  von  einer  Eigenschaft  ihrer  hauptsächlichsten  Bekenner  her- 
holen, so  könnte  ich  sie  die  sozialistische  Zinstheorie  nennen,  Wül  ich, 
was  ich  für  zweckmäßiger  halte,  den  theoretischen  Inhalt  der  Lehre  selbst 
für  die  Namengebung  verwerten,  so  erscheint  mir  kein  Name  passender 
als  der  der  Ausbeutungstheorie.  Dieses  Namens  will  ich  mich  fernerhin 
bedienen.  ~  In  ein  paar  Sätze  zusammengedrängt  läßt  sich  das  Wesen 
der  Lehre  vorläufig  folgendermaßen  charakterisieren- 

Alle  Güter  von  Wert  sind  das  Produkt  menschlicher  Arbeit,  und  zwar, 
wirtschaftlich  betrachtet,  ausschließlich  das  Produkt  menschlicher 
Arbeit.  Die  Arbeiter  erhalten  jedoch  nicht  das  ganze  Produkt,  das  sie 
allein  hervorgebracht  haben,  sondern  die  Kapitalisten  benützen  die  ihnen 
durch  das  Institut  des  Privateigentums  gewährleistete  Verfügung  über  die 
unentbehrlichen  Hilfsmittel  der  Produktion,  um  einen  Teil  des  Produktes 
der  Arbeiter  an  sich  zu  ziehen.  Das  Mittel  dazu  büdet  der  Lohnkontrakt, 
vermittelst  dessen  sie  die  Arbeitskraft  der  durch  den  Hunger  zur  Ein- 
willigung gezwungenen  wahren  Produzenten  schon  um  einen  Teil  dessen 
erkaufen,  was  durch  sie  hervorgebracht  wird,  während  der  Kest  des  Pro- 
duktes als  müheloser  Gewinn  den  Kapitalisten  in  den  Schoß  fällt.  Der 
Kapitalzins  besteht  also  in  einem  Teile  des  Produktes 
fremder  Arbeit,  erworben  durch  die  Ausbeutung  der  Zwangs- 
lage der  Arbeiter. 


Ursprung  der  Ausbeutangstheorie.  319 

Die  Entstehung  dieser  Lehre  war  von  langer  Hand  vorbereitet,  ja 
fast  unvermeidHch  geworden  durch  die  eigentümliche  Wendung,  welche 
die  nationalökonomische  Lehre  vom  Werte  der  Güter  seit  Smith,  und 
noch  mehr  seit  Ricardo  genommen  hatte.  Man  lehrte  und  glaubte,  daß 
der  Wert  aller,  oder  wenigstens  weitaus  der  meisten  wirtschaftlichen  Güter 
sich  nach  der  Menge  von  Arbeit  bemesse,  die  in  ihnen  verkörpert  ist,  und 
daß  diese  die  Ursache  und  Quelle  des  Güterwertes  sei.  Bei  dieser  Sachlage 
konnte  es  nicht  ausbleiben,  daß  man  früher  oder  später  zu  fragen  anfing, 
warum  denn  der  Arbeiter  nicht  den  ganzen  Wert  erhalte,  dessen  Ursache 
seine  Arbeit  gewesen  war?  Und  sobald  diese  Frage  gestellt  war,  konnte 
man  im  Geiste  derselben  Werttheorie  keine  andere  Antwort  finden,  als 
daß  ein  Teil  der  Gesellschaft,  die  Kapitalisten,  sich  drohnenartig  einen 
Teü  vom  Werte  des  Produktes  aneigne,  das  der  andere  Teil  der  Gesellschaft, 
die  Arbeiter,  allein  hervorgebracht. 

Die  Urheber  der  Arbeitswerttheorie,  Smith  und  Ricardo,  geben 
freilich,  wie  wir  gesehen  haben,  diese  Antwort  noch  nicht.  Sie  wurde 
auch  noch  von  etlichen  ihrer  ersten  Nachfolger  vermieden,  die  zwar  die 
wertschaffende  Kraft  der  Arbeit  schon  recht  scharf  pointierten,  aber  in 
der  Gesamtauffassung  des  volkswirtschafthchen  Lebens  sich  noch  fest 
im  Geleise  ihrer  Meister  hielten:  wie  die  Deutschen  Soden  und  Lotz. 
Aber  jene  Antwort  lag  doch  schon  als  Konsequenz  in  ihrer  Lehre  einge- 
schlossen, und  es  bedurfte  nur  eines  passenden  Anlasses  und  eines  kon- 
sequenzliebenden Schülers,  um  sie  unfehlbar  früher  oder  später  an  die 
Oberfläche  zu  bringen.  Smith  und  Rtcardo  können  so  als  unfreiwillige 
Paten  der  Ausbeutungstheorie  angesehen  werden.  Sie  werden  als  solche 
auch  von  den  Bekennem  der  letzteren  behandelt.  Sie  und  fast  sie  allein 
werden  auch  von  den  absprechendsten  Sozialisten  mit  einer  gewissen 
Achtung  genannt,  die  den  Entdeckern  des  „wahren"  Wertgesetzes  gezollt 
wird,  und  der  einzige  Vorwurf,  den  man  ihnen  macht,  ist  der,  daß  sie  sich 
durch  Mangel  an  Konsequenz  hätten  hindern  lassen,  selbst  schon  auf  ihre 
Werttheorie  die  Ausbeutungstheorie  zu  pflanzen. 

Wer  es  liebt,  nicht  bloß  für  Familien,  sondern  auch  für  Theorien  alte 
Stammbäume  auszuforschen,  wird  schon  in  vergangenen  Jahrhunderten 
manche  Äußerung  auffinden  können,  die  in  den  Gedankenkreis  der  Aus- 
beutungstheorie einschlägt.  Von  den  Kanonisten  ganz  absehend,  die  doch 
nur  mehr  zufällig  in  den  Resultaten  übereinstimmen,  nenne  ich  Locke, 
der  einmal  sehr  entschieden  auf  die  Arbeit  als  die  Quelle  aller  Güter  hin- 
weist i),  und  ein  anderesmal  den  Zins  als  eine  Frucht  fremder  Arbeit  hin- 


^)  Civil  Grovemement.  Buch  II,  Cap.  V,  §  40.  Die  Stelle,  die  ich  nach  Roschers 
Übersetzung  in  seinem  Aufsatze  „Zur  Geschichte  der  englischen  Volkswirtschafts- 
lehre" gebe,  lautet  im  Zusammenhange  folgendermaßen :  ,,Auch  ist  es  nicht  so  auffallend, 
wie  es  beim  ersten  Blicke  erscheinen  kann,  daß  das  Eigentum  der  Arbeit  imstande 
sein  sollte,  die  Gemeinschaft  des  Bodens  zu  überwiegen.   Denn  es  ist  die  Arbeit  in  der 


320  XII.  Die  Ausbeutungstheorie.    1.  U.-A.  Historischer  Überblick. 

stellt^);  James  Steüart,  der  sich,  weniger  deutlich  ausgeprägt  zwar,  in 
demselben  Gedankenkreise  bewegt^);  Sonnenfels,  der  gelegentlich  die 
Kapitalisten  als  die  JOasse  derjenigen  bezeichnet,  „die  nichts  arbeiten 
und  sich  vom  Schweiße  der  arbeitenden  Klassen  nähren"^):  oder  Busch, 
der  gleichfalls  den  Kapitalzins  (er  handelt  freilich  nur  vom.  ausbedungenen 
Leihzinse)  als  einen  „durch  fremde  Industrie  bewirkten  Ertrag  des  Eigen- 
tumes" ansieht  *).  Es  sind  dies  Beispiele,  die  sich  bei  einer  emsigen  Durch- 
forschung der  älteren  Literatur  sehr  wahrscheinlich  würden  verviel- 
fältigen lassen. 

Dennoch  ist  die  Geburt  der  Ausbeutungstheorie  als  einer  wohl- 
bewußten zusammenhängenden  Lehre  erst  in  eine  spätere  Periode  zu 
setzen.  Ihr  gingen  noch  zwei  vorbereitende  Entwicklungen  voran.  Erstlich, 
wie  oben  erwähnt,  die  Entwicklung  und  Popularisierung  der  Ricardianischen 
Werttheorie,  die  den  theoretischen  Boden  abgab,  aus  dem  die  Ausbeutungs- 
theorie naturgemäß  emporwachsen  konnte;  und  dann- das  siegreiche  Um- 
sichgreifen einer  kapitalistischen  Großproduktion,  die,  indem  sie  einen 
klaffenden  Gegensatz  zwischen  Kapital  und  Arbeit  schuf  und  bloßlegte, 
auch  das  Problem  des  arbeitslosen  Kapitalzinses  in  die  vorderste  Reihe 
der  großen  Gesellschaftsfragen  stellte. 

Unter  solchen  Einflüssen  scheint  unsere  Zeit  ungefähr  seit  den  Zwan- 
ziger Jahren  des  19.  Jahrhunderts  für  die  systematische  Entwicklung  der 
Ausbeutungstheorie  reif  geworden  zu  sein.  Zu  den  ersten  Theoretikern, 
welche  sie  ausführlicher  begründeten  —  von  den  „praktischen"  Kom- 
munisten", deren  Bestrebungen  natürlich  in  ähnlichen  Vorstellungen 
wurzelten,  sehe  ich  in  dieser  Geschichte  der  Theorie  ab  —  zählt  William 
Thompson  in  England  und  Sismondi  in  Frankreich. 

Thompsons)  hat  die  Kardinalsätze  der  Ausbeutungstheorie  kurz,  aber 


Tat,  welche  jeder  Sache  ihren  verschiedenen  Wert  gibt.  Man  bedenke  nur,  was  der 
Unterschied  ist  zwischen  einem  Acker  Landes,  welcher  mit  Tabak  oder  Zucker  bepflanzt, 
mit  Weizen  oder  Gerste  besäet  ist,  und  einem  Acker  desselben  Landes,  aber  ungeurbart, 
und  man  wird  finden,  daß  die  Verbesserung  durch  Arbeit  den  bei  weitem  größeren 
Teil  des  Wertes  bildet.  Ich  denke,  es  wird  eine  sehr  mäßige  Schätzung  sein,  daß  von 
den  für  das  menschliche  Leben  nützlichen  Bodenprodukten  '/jo  Arbeitsresultate  sind; 
ja,  wollen  wir  die  Dinge  richtig  würdigen,  so  wie  sie  in  unseren  Gebrauch  kommen, 
und  berechnen  die  verschiedenen  Ausgaben,  was  rein  der  Natur  und  was  der  Arbeit 
verdankt  wird:  so  werden  wir  finden,  daß  in  den  meisten  von  ihnen  99  Prozent  völlig 
auf  Konto  der  Arbeit  kommen." 

^)  Considerations  of  the  consequences  of  the  lowering  of  interest  etc.  1691.  p.  24. 
Vgl.  oben  Abschnitt  III,  S.  38. 

2)  Siehe  oben  Abschnitt  III,  S.  40. 

^)  Handlungswissenschaft,  2.  Aufl.,  S.  430. 

♦)  Geldumlauf,  III.  Buch,  §  26. 

^)  An  inquiry  into  the  principles  of  the  distribution  of  wealth  most  conducive 
to  human  happiness,  1824.  Über  Thompson  und  seine  unmittelbaren  Vorläufer  Godwin 
und  Hall  siehe  Anton  Menger,  Das  Recht  auf  den  vollen  Arbeitsertrag,  Stuttgart 


Thompson,  Hodgskin.  321 

schon  mit  bemerkenswerter  Klarheit  und  Schärfe  entwickelt.  Wir  finden 
bei  ihm  den  theoretischen  Ausgangspunkt,  daß  die  Arbeit  die  Quelle  alles 
Wertes  ist,  und  die  Nutzanwendung  dieses  Gedankens  dahin,  daß  die 
Erzeuger  den  ganzen  Betrag  dessen",  was  sie  erzeugt  haben,  erhalten  sollen; 
diesem  Anspruch  auf  den  vollen  Arbeitsertrag  gegenüber  wird  konstatiert, 
daß  die  Arbeiter  tatsächlich  auf  einen  zur  Existenzfristung  knapp  aus- 
reichenden Lohn  eingeschränkt  sind,  während  der  Mehrwert  (additional 
value,  surplus  value),  welcher  infolge  des  Gebrauches  von  Maschinen  und 
anderem  Kapital  mit  derselben  Menge  von  Arbeit  erzeugt  werden  kann, 
von  den  Kapitalisten,  die  das  Kapital  angesammelt  und  den  Arbeitern 
vorgeschossen  haben,  in  Anspruch  genommen  wird.  Grundrente  und 
Kapitalzins  stellen  sich  daher  als  Abzüge  vom  vollen,  den  Arbeitern 
gebührenden  Arbeitsertrage  dar^). 

Über  das  Maß  des  Einflusses,  welchen  Thompson  auf  die  spätere 
Literaturentwicklung  genommen  hat,  gehen  die  Ansichten  auseinander. 
Seine  sichtbaren  Spuren  sind  jedenfalls  gering.  In  der  englischen  Literatur 
hat  Thompsons  Richtung  wenig  Fortsetzung  gefunden^),  und  die  hervor- 
ragendsten Sozialisten  der  französischen  und  deutschen  Literatur  knüpfen 
wenigstens  äußerlich  nicht  an  ihn  an.  Ob  die  neuestens  von  Anton  Menger 
mit  großer  Lebhaftigkeit  vertretene  Annahme,  daß  Marx  und  Rodbertüs 
ihre  wichtigsten  sozialistischen  Theorien  von  älteren  englischen  und  fran- 
zösischen Vorbildern  und  speziell  von  Thompson  entlehnt  haben  ^),  be- 

1886,  §§  3 — 6,  und  Held,  Zwei  Bücher  zur  sozialen  Greschichte  Englands,  Leipzig  1881, 
S.  89ff.  und  378ff. 

})  Siehe  Anton  Menger  a.  a.  0.  §  5. 

*)  Derselben  Zeit  und  Richtung  gehören  die  Schriften  Hodgskins  an,  eine  wenig 
bekannte  „Populär  Political  Economy"  und  eine  anonyme  Schrift  unter  dem  bezeich- 
nenden Titel  „LaBour  defended  against  the  claims  of  capital".  Ich  konnte  die  Schriften 
selbs*"  nicht  einsehen,  und  wurde  auf  sie  nur  durch  Zitate  in  anderen  gleichzeitigen 
englischen  Autoren  aufmerksam.  Besonders  Read  und  Scrope  zitieren  sie,  gegen  ihren 
Inhalt  polemisierend,  oft.  Der  vollständige  Titel  der  anonymen  Schrift  ist:  „Labnur 
defended  against  the  claims  of  Capital;  or  the  Unproductiveness  of  capital  proved. 
By  a  labourer,  London  1825."  Daß  Hodgskin  der  Autor  ist,  entnehme  ich  einer  Be- 
merkung von  Scrope,  Principles  of  Political  Economy,  London  1833,  S.  160.  Ein  paar 
charakteristische  Stellen  will  ich  nach  Reads  Zitaten  geben.  „All  the  benefits  attributed 
to  capital  arise  from  co-existing  and  skilled  labour."  (Vorrede.)  Später  wird  zuge- 
geben, daß  man  mit  Hilfe  von  Werkzeugen  und  Maschinen  mehr  und  bessere  Produkte 
erzeugen  kann  als  ohne  jene,  daran  aber  folgende  Betrachtung  geknüpft:  ,,But  the 
question  then  occours  what  produces  Instruments  and  machines,  and  in  what  degree 
do  they  aid  production  independent  of  the  labourer,  so  that  the  owners  of  them  are 
entitled  to  by  far  the  greater  part  of  the  whole  produce  of  the  country?  Are  they 
or  are  they  not  the  produce  of  labour?  Do  they  or  do  they  not  constitute 
an  efficient  means  of  production  separate  from  labour  ?  Are  they  or  are  they  not 
80  much  inert,  decaying,  and  dead  matter,  of  no  utility  whatever, 
possessing  no  productive  power  whatever,  but  as  they  are  guided,  directed 
and  applied  by  skilful  hands?  (S.  14.) ' 

»)  Siehe  Anton  Menger  a.  a.  0.  -Vorrede  S.  V,  dann  S.  63,  79ff.,  97  und  öfters. 
Böhm-Bawerk,  Kapitalzids.    4.  Aufl.  81 


^2  ^I'  I^iß  Ausbeutungstheorie.    1.  U.-A.  Historischer  Überblick. 

gründet  ist,  läßt  sich  schwer  entscheiden.  Ich  halte  diese  Annahme  keines- 
wegs für  zwingend.  Wenn  eine  Lehre  sozusagen  in  der  Luft  liegt,  muß  die 
Erfassung  desselben  Gedankens  keineswegs  immer  als  Entlehnung  gedeutet 
werden,  und  die  Originalität  eines  Schriftstellers  wird  in  solchem  Falle 
nicht  schon  dadurch  begründet  oder  verwirkt,  daß  er  einen  in  der  Luft 
liegenden  Grundgedanken  um  einige  Jahre  früher  oder  später  überhaupt 
ausgesprochen  hat,  sondern  seine  schöpferische  Kraft  erprobt  sich  vielmehr 
daran,  ob  er  durch  originelle  Zutaten  aus  ihm  ein  zusammenhängendes 
lebenskräftiges  Lehrgebäude  zu  gestalten  vermochte.  In  wissenschaftlichen 
Dingen  ist  überhaupt  sehr  oft  —  es  gibt  allerdings  auch  Fälle  des  Gegen- 
teils —  das  „ahnende"  Aussprechen  eines  Gedankens  eine  sehr  viel  leichtere 
und  minder  verdienstliche  Sache,  als  die  beweiskräftige  Begründung  und 
Durchführung  dieses  Gedankens.  Ich  erinnere  an  das  bekannte  Verhältnis 
Darwins  zu  Goethes  Vorahnung  von  Gedanken  der  Entwicklungstheorie; 
oder  aus  unserer  Wissenschaft  an  Adam  Smith,  der  aus  dem  schon  von 
Locke  ausgesprochenen  Gedankenkeime,  daß  die  Arbeit  die  Quelle  allen 
Reichtums  ist,  sein  berühmtes  „Industriesystem"  zu  entwickeln  vermochte. 
In  unserem  Falle  scheinen  mir  nun  Rodbertus  und  Marx  den  durch  die 
Ausbildung  der  Arbeitswerttheorie  längst  gleichsam  auf  die  Zunge  gelegten 
Gedanken  der  Ausbeutung  in  so  eigenartiger  Weise  erfaßt  und  entwickelt 
zu  haben,  daß  ich  für  meine  Person  sie  weder  in  ihrem  Verhältnis  zu  ein- 
ander, noch  im  Verhältnis  zu  Früheren  als  „Entlehner"  auffassen  möchte^). 

Unzweifelhaft  groß  und  weitreichend  ist  dagegen  der  Einfluß  Sis- 
MONDis  geworden. 

Wenn  ich  Sismondi  als  Vertreter  der  Ausbeutungstheorie  anführe, 
so  muß  das  mit  einer  gewissen  Reserve  geschehen.  Sismondi  hat  nämlich 
eine  Lehre  aufgestellt,  die  alle  wesentlichen  Züge  der  Ausbeutungstheorie 
an  sich  trägt  bis  auf  einen:  er  spricht  kein  Verwerfungsurteil  über  den 
Kapitalzins  aus.  Er  ist  eben  der  Schriftsteller  einer  Übergangsperiode: 
im  Wesen  der  Sache  der  neuen  Theorie  ergeben,  hat  er  doch  mit  der  alten 
noch  nicht  so  völlig  gebrochen,  um  nicht  vor  gewissen  äußersten  Konse- 
quenzen des  neuen  Standpunktes  zurückzuscheuen. 

Das  große  und  einflußreiche  Werk  Sismondis,  welches  für  unsere 
Frage  hauptsächlich  in  Betracht  kommt,  sind  seine  Nouveaux  Principes 
d'Economie  politique^).     Sismondi  knüpft  in  demselben  an  Adam  Smith 


*)  Ähnlich  hat  sich  A.  Wagner  ausgesprochen:  „Grundlegung"  3.  Aufl.  I.  Teil 
S.  37,  Note  1,  und  II.  Teil  S.  281. 

»)  1.  Aufl.  1819.  2.  Aufl.  Paris  1827.  Ich  zitiere  nach  der  letzteren.  In  Sismondis 
früherem,  der  klassischen  Lehre  noch  erheblich  näher  stehenden  Werke  „De  la  richesse 
commerciale"  1803  findet  sich  unter  anderem  eine  interessante  Bemerkung  des  Inhaltes, 
daß  in  jeder  Anstellung  eines  produktiven  Arbeiters  ein  Tausch  gegenwärtiger  gegen 
zukünftige  Güter  liege;  der  gegenwärtigen  Güter  nämlich,  die  man  dem  Arbeiter  zum 
Lohne  gibt,  gegen  die  künftigen  Güter,  die  man  als  Produkt  seiner  Arbeit  in  der  Zu- 


Sismondi.  323 

an.  Er  akzeptiert  dessen  Satz,  daß  die  Arbeit  die  alleinige  Quelle  alles 
Reichtums  sei^),  mit  lebhafter  Zustimmung  (S.  51);  er  tadelt,  daß  man 
häufig  die  drei  Gattungen  von  Einkommen,  Rente,  Kapitalgewinn  und 
Lohn,  drei  verschiedenen  Quellen,  der  Erde,  dem  Kapital  und  der  Arbeit 
zuschreibe:  in  Wahrheit  entstamme  alles  Einkommen  der  Arbeit  allein, 
und  jene  drei  Zweige  seien  nur  ebenso  viele  verschiedene  Arten,  an  den 
Früchten  der  menschlichen  Arbeit  teilzunehmen  (S.  8ö).  Der  Arbeiter 
nämlich,  der  durch  seine  Tätigkeit  alle  Güter  hervorbringt,  hat  sich  „in 
unserem  Zustande  der  Zivilisation"  das  Eigentum  über  die  nötigen  Pro- 
duktionsmittel nicht  erhalten  können.  Einerseits  steht  der  Grund  und 
Boden  gewöhnlich  im  Eigentume  eines  anderen,  der  zur  Vergütung  für 
die  Mithilfe  dieser  „Produktivkraft"  dem  Arbeiter  einen  Teil  der  Früchte 
seiner  Arbeit  abheischt;  dieser  Anteil  bildet  die  Grundrente.  Andererseits 
besitzt  der  produktive  Arbeiter  gewöhnlich  keinen  ausreichenden  Vorrat 
von  Lebensmitteln,  von  dem  er  während  der  Ausführung  seiner  Arbeit 
leben  könnte;  ebensowem'g  besitzt  er  die  zur  Produktion  nötigen  Rohstoffe 
und  —  nicht  selten  kostspieligen  —  Werkzeuge  und  Maschinen.  Der  Reiche, 
der  alle  diese  Dinge  besitzt,  erlangt  dadurch  eine  gewisse  Herrschaft  über 
die  Arbeit  des  Armen:  ohne  selbst  an  der  Arbeit  teilzunehmen,  nimmt  er 
zur  Vergütung  für  die  Vorteile,  die  er  diesem  zur  Verfügung  stellt,  den 
besten  Teil  von  den  Früchten  seiner  Arbeit  (la  part  la  plus  importante  des 
fruits  de  son  travail)  vorweg.  Dieser  Anteil  ist  der  Kapitalgewinn  (S.  86 
und  87).  So  hat  durch  die  Einrichtungen  der  Gesellschaft  der  Reichtum 
die  Fähigkeit  erlangt,  sich  durch  fremde  Arbeit  zu  reproduzieren  (S.  82). 

Dem  Arbeiter  aber  bleibt,  obschon  er  durch  seine  Tagesarbeit  weit 
mehr  als  seinen  Tagesbedarf  hervorbringt,  nach  der  Teilung  mit  Grund- 
besitzer und  Kapitalisten  selten  viel  mehr  als  sein  unabweisbarer  Unterhalt, 
den  er  in  Gestalt  des  Lohnes  bezieht.  Der  Grund  davon  liegt  in  der  Ab- 
hängigkeit, in  der  er  sich  gegenüber  dem  kapitalbesitzenden  Unternehmer 
befindet.  Der  Arbeiter  braucht  viel  dringender  seinen  Unterhalt,  als  der 
Unternehmer  seine  Arbeit.  Er  braucht  seinen  Unterhalt,  um  leben  zu 
können,  der  Unternehmer  seine  Arbeit,  nur  um  damit  einen  Gewinn  zu 
machen.  So  fällt  der  Handel  fast  immer  zu  Ungunsten  des  Arbeiters  aus: 
er  muß  sich  beinahe  stets  mit  dem  knappsten  Unterhalt  begnügen,  während 


kunft  erhalten  wird;  a.  a.  0.  S.  53.  Auf  diese  frühzeitige  Erwähnung  eines  Gedankens, 
den  ich  viele  Jahrzehnte  später  in  meiner  Zinstheorie  zu  umfassender  Anwendung 
gebracht  habe  (vgl.  z.  B.  meine  „Positive  Theorie"  3.  A.  S.  503ff.  und  524,  4.  Aufl. 
S.  374ff.  und  391),  wurde  ich  durch  ein  Zitat  bei  Salz,  „Beiträge  zur  Geschichte  und 
Kritik  der  Lohnfondstheorie",  1905,  S.  66,  aufmerksam. 

^)  Ein  Satz,  der  übrigens  von  Smith  selbst  keineswegs  immer  konsequent  fest- 
gehalten wurde.  Neben  „labour"  werden  nicht  selten  auch  „land"  und  „capital"  als 
Güterquellen  genannt. 

21* 


324  ^I-  Di^  Aasbeutungstheorie.    1.  U.-A.  Historischer  Überblick. 

der  Löwenanteil  an  den  Erfolgen  der  durch  die  Arbeitsteilung  gesteigerten 
Produktivität  dem  Unternehmer  zufällt  (S.  91  f.). 

Wer  den  Ausführungen  Sismondis  bis  hieher  gefolgt  ist,  und  in  ihnen 
unter  anderem  auch  den  Satz  gelesen  hat,  daß  „die  Reichen  die  Produkte 
der  Arbeit  der  anderen  verzehren"  (S.  81),  muß  erwarten,  daß  Sismondi 
zum  Schlüsse  den  Kapitalzins  für  einen  ungerechten  Erpressungsgewinn 
erklären  und  verwerfen  werde.  Allein  diesen  Schluß  zieht  Sismondi  nicht, 
sondern  weiß  mit  einer  plötzlichen  Schwenkung  einige  dunkle  und  vage 
Redensarten  zu  Gunsten  des  Kapitalzinses  vorzubringen,  der  am  Ende 
gerechtfertigt  dasteht.  Er  sagt  zunächst  vom  Grundeigentümer,  daß  er 
durch  die  ursprüngliche  Arbeit  der  Urbarung  oder  auch  durch  die  Okku- 
pation eines  herrenlosen  Landes  ein  Recht  auf  die  Grundrente  erworben 
habe  (*S.  110).  Analog  schreibt  er  dem  Kapitaleigentümer  ein  Recht  auf 
den  Kapitalzins  zu,  das  sich  auf  die  „ursprüngliche  Arbeit"  gründet,  der 
das  Kapital  seine  Entstehung  verdankt  (S.  111).  Beiden  genannten  Ein- 
kommenszweigen, die  zusammen  als  Einkommen  vom  Besitz  einen  Gegen- 
satz zum  Einkommen  aus  der  Arbeit  bilden,  weiß  er  nunmehr  nachzu- 
rühmen, daß  sie  ganz  den  gleichen  Ursprung  wie  das  Arbeitseinkommen 
haben;  nur  daß  ihr  Ursprung  in  eine  andere  Epoche  zurückgreift.  Die 
Arbeiter  nämlich  gewinnen  jährlich  ein  neues  Recht  auf  Einkommen  durch 
neue  Arbeit,  während  die  Besitzer  in  einem  früheren  Zeitpunkte  ein  immer- 
währendes Recht  durch  eine  ursprüngliche  Arbeit  erworben  haben,  welche 
die  jährliche  Arbeit  vorteilhafter  gemacht  hat^)  (S.  112).  „Jeder"  —  so 
schließt  er  —  „erhält  seinen  Anteil  am  Nationaleinkommen  nur  nach 
Maßgabe  dessen  was  er  selbst  oder  seine  Stellvertreter  zur  Entstehung 
desselben  beigetragen  haben  oder  beitragen."  —  Ob  und  wie  sich  dieser 
Ausspruch  mit  dem  früheren  zusammenreimen  läßt,  wonach  der  Kapital- 
zins aus  den  Früchten  der  Arbeit  eines  anderen  vorweggenommen  wird, 
muß  freilich  dahingestellt  bleiben. 

Die  Konsequenzen,  die  Sismondi  selbst  aus  seiner  Theorie  noch  nicht 
zu  ziehen  wagte,  wurde  bald  von  Andern  mit  großer  Entschiedenheit 
gezogen.  Er  bildet  die  Brücke  zwischen  Smith  und  Ricardo  einer- 
seits und  dem  nachfolgenden  Sozialismus  und  Kommunismus  andererseits. 
Jene  hatten  mit  ihrer  Werttheorie  die  Veranlassung  zur  Entstehung  der 
Ausbeutungstheorie  gegeben,  die  letztere  aber  selbst  noch  gar  nicht  aus- 
geführt. Sismondi  hat  die  Ausbeutungstheorie  der  Sache  nach  so  gut  wie 
vollständig  durchgeführt,  aber  ohne  ihr  noch  eine  Anwendung  auf  das 
sozialpolitische  Gebiet  zu  geben.  Auf  ihn  folgt  endlich  die  breite  Masse 
des  Sozialismus  und  Kommunismus,  der  die  alte  Wertlehre  in  aUe  ihre 
theoretischen  und  praktischen  Konsequenzen  verfolgt  und  zu  dem  Ende 
kommt:  der  Zins  ist  Erbeutung,  und  darum  soll  er  fallen. 

^)  Wenn  man  will,  kann  man  in  diesen  Worten  einen  höchst  summarischen  Aus- 
dnick  der  James  MiLLschen  Arbeitstheorie  erblicken.    (Siehe  oben  S.  262f.) 


Proudhon.  325 

Es  hätte  keinerlei  theoretisches  Interesse,  wenn  ich  die  massenhafte 
sozialistische  Literatur  des  19.  Jahrhunderts  in  Bezug  auf  alle  Äußerungen 
exzerpieren  wollte,  in  denen  sie  die  Ausbeutungstheorie  verkündet.  Ich 
müßte  in  diesem  Falle  den  Leser  durch  eine  Unzahl  von  Parallelstellen 
ermüden,  die  kaum  in  den  Worten  variierend,  in  der  Sache  eine  wenig 
kurzweilige  Monotonie  aufweisen,  und  die  überdies  zum  weitaus  größten 
Teile  sich  begnügen,  die  Kardinalthesen  der  Ausbeutungstheorie  zu  be- 
haupten, ohne  zu  ihrem  Beweise  mehr  als  eine  Berufung  auf  die  Autorität 
Ricardos  oder  einige  Gemeinplätze  hinzuzufügen.  Es  hat  eben  die  Mehr- 
zahl der  wissenschaftlichen  Sozialisten  ihre  geistige  Kraft  nicht  so  sehr 
in  der  Fundamentierung  der  eigenen,  als  in  der  ätzenden  Kritik  der  gegne- 
rischen Theorien  geübt. 

Ich  begnüge  mich  daher  aus  der  Masse  der  Schriftsteller  mit  sozia- 
listischer Färbung  einige  wenige  Männer  zu  nennen,  die  für  die  Entwicklung 
oder  Ausbreitung  unserer  Theorie  besonders  wichtig  geworden  sind. 

Unter  ihnen  ragt  der  Verfasser  der  „Contradictions  6conomiques", 
P.  J.  Proudhon,  durch  die  Lauterkeit  der  Gesinnungen  und  durch  glänzende 
Dialektik  hervor,  Eigenschaften,  die  ihn  zum  wirksamsten  Apostel  der 
Ausbeutungstheorie  in  Frankreich  machten.  Da  uns  mehr  um  den  Inhalt 
als  um  die  Form  zu  tun  ist,  verzichte  ich  auf  die  Wiedergabe  ausführlicher 
Stilproben,  und  begnüge  mich,  den  Kern  der  PRouoHONschen  Lehre  in 
wenige  Sätze  zusammenzufassen.  Man  wird  sofort  bemerken,  daß  sich 
dieselbe,  abgesehen  von  ein  paar  Eigentümlichkeiten  der  Einkleidung,  von 
dem  anfangs  gegebenen  allgemeinen  Schema  der  Ausbeutung^theorie  sehr 
wenig  unterscheidet. 

Vor  allem  gilt  es  Proudhon  für  ausgemacht,  daß  die  Arbeit  allen 
Wert  schafft.  Der  Arbeiter  hat  darum  einen  natürlichen  Anspruch  auf 
das  Eigentum  an  seinem  ganzen  Produkt.  Im  Lohnkontrakt  zediert  er 
diesen  Anspruch  an  den  Kapitaleigentümer  gegen  einen  Arbeitslohn,  der 
kleiner  ist,  als  das  zedierte  Produkt.  Er  wird  dabei  übervorteilt;  denn 
er  kennt  weder  sein  natürliches  Recht,  noch  den  Umfang  der  Zession, 
die  er  macht,  noch  den  Sinn  des  Kontraktes,  den  der  Eigentümer  mit  ihiri 
schließt.  Und  dieser  bedient  sich  dabei  des  Irrtums  und  der  Überraschung, 
um  nicht  zu  sagen,  der  List  und  des  Betruges  („erreur  et  surprise,  si  meme 
on  ne  doit  dire  dol  et  fraude"). 

So  kommt  es,  daß  heutzutage  der  Arbeiter  sein  eigenes  Produkt 
nicht  erkaufen  kann.  Sein  Produkt  kostet  auf  dem  Markte  mehr  als  was 
er  an  Lohn  erhalten  hat;  es  kostet  mehr  um  den  Betrag  von  allerlei  Ge- 
winnen, die  durch  den  Bestand  des  Eigentumsrechtes  veranlaßt  und  die 
unter  den  verschiedensten  Titeln,  Gewinn,  Zins,  Interesse,  Rente,  Pacht, 
Zehent  usw.  ebensoviele  „ZöUe"  (aubaines)  bilden,  die  auf  die  Arbeit 
gelegt  sind.  Was  z.  B.  20  Millionen  Arbeiter  für  einen  Jahreslohn  von 
20  Milliarden  Franken  erzeugt  haben,  kostet  einschließlich  und  wegen 


326  Xl-f«  I^'®  Ausbeutungstheorie.    1.  U.-A.  Historischer  Überblick. 

jener  Gewinne  25  Milliarden.  Das  bedeutet  aber,  „daß  die  Arbeiter,  welche, 
um  leben  zu  können,  dieselben  Produkte  zurückzukaufen  gezwungen  sind, 
fünf  zahlen  müssen  für  das,  was  sie  um  vier  erzeugt  haben,  oder  daß  sie 
von  je  fünf  Tagen  einen  fasten  müssen".  So  ist  der  Zins  eine  Nachsteuer 
auf  die  Arbeit,  eine  Vorenthaltung  („retenue")  am  Arbeitslöhne'^).  — 

An  Reinheit  der  Absichten  Proudhon  ebenbürtig,  an  Gedankentiefe 
und  Besonnenheit  weitaus  überlegen,  daneben  aber  freilich  an  Darstellungs- 
gabe hinter  dem  heißblütigen  Franzosen  zurückbleibend,  ist  der  Deutsche 
RoDBERTUs.  Für  den  Dogmenhistoriker  ist  er  die  wichtigste  unter  den 
hier  zu  nennenden  Persönlichkeiten.  Man  hat  seine  wissenschaftliche 
Bedeutung  eine  Zeit  lang  verkannt,  merkwürdiger  Weise  gerade  wegen 
der  Wisseuschaftlichkeit,  die  in  seinen  Schriften  vorherrscht.  Weil  er  sich 
nicht  wie  andere  unmittelbar  an  das  Volk  wendete,  weil  er,  sich  über- 
wiegend auf  die  theoretische  Ergründung  der  sozialen  Frage  beschränkend, 
in  praktischen  Vorschlägen,  an  die  sich  das  unmittelbarste  Interesse  der 
großen  Massen  knüpft,  gemäßigt  und  zurückhaltend  war,  blieb  er  eine 
Zeit  lang  an  Ruf  hinter  minder  bedeutenden  Männern  zurück,  die  seine 
Geistesware  in  zweiter  Hand  übernahmen  und  der  interessierten  Volks- 
menge in  ihrer  Art  mundgerecht  machten.  Erst  die  neueste  Zeit  hat 
RoDBERTus,  diesem  liebenswürdigsten  Sozialisten,  volle  Gerechtigkeit 
widerfahren  lassen  und  erkennt  ihn  als  das  an,  was  er  ist,  als  den  geistigen 
Vater  des  modernen  wissenschaftlichen  Sozialismus,  Statt  der  hitzigen 
Ausfälle  und  rednerischen  Antithesen,  durch  die  sich  die  Masse  der  Sozia- 
listen so  gerne  hervortut,  hat  Rodbertüs  eine  tief  und  ehrlich  gedachte 
Theorie  der  Verteilung  der  Güter  hinterlassen,  die,  so  irrig  sie  in  vielen 
Punkten  sein  mag,  des  Wertvollen  genug  enthält,  um  ihrem  Urheber  einen 
bleibenden  Rang  unter  den  Theoretikern  der  National-Ökonomie  zu  sichern. 

Indem  ich  mir  vorbehalte,  auf  seine  Formulierung  der  Ausbeutungs- 
theorie später  ausführlich  zurückzukommen,  wende  ich  mich  zu  zw:eien 
seiner  Nachfolger,  die  sich  ebenso  stark  von  einander,  als  von  ihrem  Vor- 
gänger Rodbertüs  unterscheiden. 

Der  eine  von  ihnen  ist  Ferdinand  Lassalle,  das  beredteste,  aber 
inhaltlich  mindest  originelle  unter  den  Häuptern  des  Sozialismus.  Ich 
erwähne  hier  seiner  nur,  weil  er  durch  seine  glänzende  Beredsamkeit  auf 
die  Ausbreitung  der  Ausbeutungstheorie  einen  großen  Einfluß  genommen 
hat:  zu  ihrer  theoretischen  Ausbildung  hat  er  so  gut  wie  nichts  beigetragen. 
Ich  kann  darum  auch  darauf  verzichten,  seine  Lehre,  die  inhaltlich  die 


'■)  Siehe  Pboudhons  zahlreiche  Schriften  passira.  Insbesondere  „Qu'est  ce  que 
la  propri6t6"  (1840;  in  der  Ausgabe  Paris  1849,  S.  162);  „Philosophie  der  Not"  (deutsch 
von  Wilhelm  Jordan,  II.  Ausgabe)  S.  62,  287f.;  Verteidigungsrede  vor  den  Assisen 
von  Besancon,  gehalten  am  3.  Februar  1842  (Gesamtausgabe  Paris  1868,  II.  Band).  — 
Über  Proudhon  siehe  jetzt  namentlich  das  umfassende  Werk  Diehls  „P.  J.  Proudhon, 
seine  Lehre  und  sein  Leben",  in  drei  Abteilungen,  Jena  1888 — 1896. 


Rodbertas,  Lassalle,  Marx.  327 

Lehre  seiner  Vorgänger  ist,  durch  Zitate  oder  Exzerpte  aus  seinen  Schriften 
zu  reproduzieren  und  begnüge  mich,  auf  einige  der  markantesten  Stellen 
in  der  Note  zu  verweisen^). 

Während  Lassalle  ausschließlich  Agitator  ist,  ist  Karl  Marx  wieder 
Theoretiker  und  zwar  nächst  Rodbertus  der  bedeutendste  Theoretiker 
des  Sozialismus.  Seine  Lehre  berührt  sich  zwar  in  vielen  Punkten  mit 
den  bahnbrechenden  Forschungen  Rodbertus,  ist  aber  mit  unleugbarer 
Originalität  und  mit  einem  hohen  Grade  scharfsinniger  Konsequenz  zu 
einem  eigenartigen  Ganzen  ausgebaut,  das  wir  gleichfalls  in  der  Folge 
eingehend  kennen  zu  lernen  haben  werden.  — 

Wenn  die  Ausbeutungstheorie  auch  vorzugsweise  von  sozialistischen 
Theoretikern  ausgebildet  worden  ist,  so  haben  die  ihr  eigentümlichen  Ideen 
doch  auch  in  andere  Schriftstellerkreise  Eängang  gefunden.  In  verschie- 
dener Art  und  Ausdehnung. 

Manche  machen  die  Ausbeutungstheorie  in  Bausch  und  Bogen  zu  ihrer 
eigenen  und  verweigern  höchstens  ihren  letzten  praktischen  Konsequenzen 
die  Anerkennung.  Auf  diesem  Standpunkte  steht  z.  B.  Gute*).  Er  nimmt 
alle  wesentlichen  Lehrsätze  der  Sozialisten  vollinhaltlich  an.  Die  Arbeit 
gilt  ihm  als  ausschließliche  Wertquelle;  der  Zins  entsteht  dadurch,  daß 
wegen  der  ungünstigen  Konkurrenzverhältnisse  der  Lohn  der  Arbeit  stets 
hinter  ihrem  Produkte  zurückbleibt;  ja.  Gute  steht  sogar  nicht  an,  für 
diesen  Vorgang  den  schroffen  AusÄiick  „Ausbeutung"  als  terminus 
technicus  einzuführen.  Zum  Schlüsse  aber  entzieht  er  sich  den  praktischen 
Konsequenzen  dieser  Lehre  durch  einige  einlenkende  Klauseln.  „Fern  sei 
es  von  uns,  der  Ausbeutung  des  Arbeiters  als  Quelle  des  ursprünglichen 
Profitsatzes  einen  vom  Rechtsstandpunkte  ungerechtfertigten  Akt  zu 
unterstellen;  sie  beruht  vielmehr  auf  einer  freien  Vereinbarung  zwischen 
dem  Arbeitgeber  und  Arbeiter,  die  allerdings  unter  dem  letzteren  in  der 
Regel  ungünstigen  Marktverhältnissen  zustande  kommt."  Das  Opfer, 
welches  der  ausgebeutete"  Arbeiter  bringt,  ist  vielmehr  nur  ein  „Vorschuß 
gegen  Ersatz".     Denn  die  Vermehrung  des  Kapitales  steigert  die  Pro- 


^)  Unter  seinen  zahlreichen  Schriften  ist  „Herr  Bastiat-Schnlze  von  Delitzsch, 
der  ökonomische  Julian,  oder  Kapital  und  Arbeit"  (Berlin  1864)  diejenige,  in  der 
Lassalle  seine  Meinungen  über  das  Zinsproblem  am  kompendiösesten  ausgedrückt 
und  zugleich  sein  agitatorisches  Grenie  am  glänzendsten  entfaltet  hat.  Hauptstellen: 
Die  Arbeit  ist  „Quelle  und  Faktor  aller  Werte"  (S.  83, 122,  147).  Der  Arbeiter  erhält 
aber  nicht  allen  Wert,  sondern  nur  den  Marktpreis  der  als  Ware  betrachteten  Arbeit, 
der  gleich  den  Erzeugungskosten  d.  i,  dem  notdürftigen  Unterhalt  ist  (S.  186ff.).  Aller 
Überschuß  fäUt  auf  das  Kapital  (S.  194).  Der  Kapitalzins  ist  daher  ein  Abzug  vom  Ar- 
beitsertrage des  Arbeiters  (S.  126  und  sehr  drastisch  S.  97).  Gegen  die  Lehre  von 
der  Produktivität  des  Kapitales  S.  21ff.  Gegen  die  Enthaltsamkeitstheorie  S.  82£f. 
und  besonders  S.  llOff.    Vgl.  auch  die  übrigen  Schriften  Lassalles. 

•)  Die  Lehre  vom  Einkommen  in  dessen  Gesamtzweigen,  1869.  Ich  zitiere  nach 
der  2.  Ausgabe  von  1878. 


328  XII.  Die  Ausbeutungstheorie.    1,  U.-A.  Historischer  Überblick. 

dufctivität  der  Arbeit: immer  mehr;  in  Folge  davon  verwoMf eilen  sich  die 
Arbeitsprodukte,  der  Arbeiter  kann  mit  seinem  Lohne  mehr  von  ihm 
kaufen  und  es  steigt  also  sein  Sachlohn;  zugleich  erweitert  sich  anderer- 
seits wegen  „größerer  Nachfrage  der  Beschäftigungskreis  des  Arbeiters, 
wonach  auch  der  Geldlohn  steigt".  Die  „Ausbeutung"  gleicht  daher  einer 
Kapitaleinlage,  die  sich  in  ihrer  mittelbaren  Wirkung  dem  Arbeiter  zu 
steigenden  Prozenten  verzinst^).  —  Auch  Dühring  steht  in  seiner  Zins- 
theorie völlig  auf  sozialistischem  Boden.  „Der  Charakter  des  Kapital- 
gewinnes ist  eine  Aneignung  des  hauptsächlichsten  Teiles 
des  Ertrages  der  Arbeitskraft.  .  .  .  Die  Ertragssteigerung  und  die 
Ersparung  von  Arbeitsleistungen  sind  Wirkungen  der  verbesserten  und 
erweiterten  Produktionsmittel;  aber  der  Umstand,  daß  sich  die  Hindernisse 
und  Schwierigkeiten  der  Hervorbringung  vermindern,  und  daß  sich  die 
nackte  Arbeit,  indem  sie  sich  technisch  ausrüstet,  selbst 
produktiver  macht,  gibt  dem  toten  Werkzeug  keinen  An- 
spruch, auch  nur  das  Geringste  mehr  zu  absorbieren,  als  was 
zu  seiner  Reproduktion  erforderlich  ist.  Der  Kapitalgewinn  ist 
daher  kein  Begriff,  den  man  aus  reinen  Produktivgründen  und  etwa  an 
dem  Schema  eines  einheitlichen  Wirtschaftssubjektes  entwickeln  könnte. 
Er  ist  eine  Aneignungsform  und  eine  Schöpfung  der  Vertejlungsver- 
hältnisse"2). 

Eine  zweite  Gruppe  von  Schriftstellern  nimmt  die  Ideen  der  Aus- 
beutungstheorie eklektisch  zu  ihren  sonstigen  Ansichten  über  das  Zins- 
problem hinzu;  wie  z.  B.  John  Stuart  Mill  und  Schäffle'). 

Wieder  andere  endlich  ließen  sich  durch  den  Eindruck  der  sozia- 
listischen Schriften  zwar  nicht  zur  Anerkennung  ihres  ganzen  Lehr- 
gebäudes, aber  doch  zur  Aufnahme  einzelner  wichtiger  Züge  daraus  be- 
stimmen. Als  das  wichtigste  Ereignis  in  dieser  Richtung  erscheint  es  mir, 
daß  ein  namhafter  Teil  der  deutschen  katheder-sozialistischen  Richtung 
wieder  den  alten  Satz  rezipierte,  daß  die  Arbeit  allein  die  Quelle  alles 
Wertes,  daß  sie  die  einzige  „wertschaffende"  Kraft  sei. 

Dieser  Satz,  dessen  Annahme  oder  Ablehnung  von  enormer  Tragweite 
für  die  Beurteilung  der  wichtigsten  volkswirtschaftlichen  Phänomene  ist, 
hat  ein  eigentümliches  Schicksal  gehabt.  Er  war  ursprünglich  von  der 
englischen  National-Ökonomik  ausgegangen,  und  hatte  in  den  ersten 
Dezennien  nach  dem  Erscheinen  des  SniTHSchen  Systemes  mit  diesem 
zugleich  eine  weite  Verbreitung  gewonnen.    Späterhin  kam  er  unter  dem 


1)  a.  a.  0.  S.  109 ff.,  122ff.    Vgl.  auch  S.  271  ff. 

*)  Kursus  der  National-  und  Sozialökonomie,  Berlin  1873,  S.  183.  Etwas  später 
(S.  185)  erklärt  er,  in  sichtlicher  Anlehnung  an  Proudhons  „droit  d'aubaine",  den 
Kapitalzins  als  einen  „Zoll",  der  für  den  Verzicht  auf  ökonomische  Macht  eingehoben 
wird :  der  Zinsfuß  repräsentiert  den  Bezollungssatz. 

')  Siehe  unten  im  Abschnitt  XIII. 


Plan  der  Darstellung.  329 

EänfluB  der  Lehren  Says,  der  die  Theorie  von  den  drei  Produktivfaktoren 
Natur,  Arbeit  und  Kapital  ausbildete,  dann  Hermanns  und  Seniors  bei 
der  überwiegenden  Mehrzahl  der  National-Ökonomen,  selbst  der  englischen 
Schule,  in  Mißkredit,  und  eine  Zeit  lang  war  es  beinahe  die  Gruppe  der 
sozialistischen  Schriftsteller  allein,  die  ihn  überhaupt  noch  fortpflanzte. 
Indem  ihn  nunmehr  die  deutschen  Katheder-Sozialisten  aus  den  Schriften 
eines  Proüdhon,  Rodbertus  und  Marx  übernahmen,  gewann  er  aber- 
mals eine  feste  Stütze  in  der  gelehrten  Nationalökonomie,  und  es  hat  fast 
den  Anschein,  als  ob  er,  getragen  von  dem  Ansehen,  das  die  ausgezeichneten 
Häupter  jener  deutschen  Schule  genießen,  im  Begriffe  stände,  von  hier 
aus  zum  zweitenmale  den  siegreichen  Rundgang  durch  die  Literatur  aller 
Nationen  anzutreten  i). 

Ob  dies  zu  wünschen  ist,  wird  die  kritische  Prüfung  der  Ausbeutungs- 
theorie zeigen,  der  ich  mich  nun  zuwende. 


2.  Unterabschnitt. 

Kritik. 

Um  das  Amt  eines  Ejitikers  gegenüber  der  Ausbeutungstheorie  aus- 
zuüben, standen  mir  mehrere  Wege  offen.  Entweder  konnte  ich  alle  Ver- 
treter dieser  Theorie  individuell  kritisieren.  Dies  wäre  zwar  der  genaueste 
Weg  gewesen,  hätte  aber  wegen  der  starken  Übereinstimmung  der  Einzel- 
lehren zu  überflüssigen  und  äußerst  ermüdenden  Wiederholungen  geführt. 
Oder  ich  konnte,  ohne  auf  irgend  eine  individuelle  Formulierung  einzu- 
gehen, die  Kritik  an  das  allgemeine  Schema  legen,  das  den  einzelnen 
Darstellungen  gemeinsam  zugrunde  liegt.  Hiebei  wäre  ich  indes  einem 
doppelten  Übelstande  begegnet.  Einerseits  wäre  ich  in  Gefahr  geraten, 
gewissen  individuellen  Nuancierungen  der  Lehre  tatsächlich  zu  wenig 
Rechnung  zu  tragen;  und  andererseits  wäre  mir,  auch  wenn  ich  dieser 
Gefahr  entgangen  wäre,  sicherlich  der  Vorwurf  nicht  erspart  geblieben, 
daß  ich  mir  die  Sache  zu  leicht  gemacht  und  meine  Kritik  statt  an  der 
wirklichen  Lehre  nur  an  einem  willkürlich  konstruierten  Zerrbild  derselben 
geübt  hätte.  So  entschloß  ich  mich  denn  für  die  Betretung  eines  dritten 
Weges;  nämlich  aus  der  Masse  der  Einzeldarstellungen  einige  wenige 
herauszugreifen,  die  ich  für  die  besten  und  vollständigsten  erkannte,  und 
diese  einer  individuellen  Kritik  zu  unterziehen. 


^)  Greschrieben  im  Jahre  1884;  seither  scheint  mir  hierin  eine  Wendung  einge- 
treten zu  sein.  Zwar  hat,  wie  ich  glaube,  die  Arbeitswerttheorie  zunächst  noch  durch 
einige  Jahre,  im  Zusammenhang  mit  der  Ausbreitung  der  sozialistischen  Ideen,  eher 
an  Ausbreitung  gewonnen,  in  der  jüngsten  Zeit  aber  in  den  theoretischen  Kreisen  aller 
Länder  entschieden  an  Terrain  verloren,  und  zwar  hauptsächlich  zu  Gunsten  der  immer 
mehr  zum  Durchbruch  gelangenden  Theorie  des  „Grenznutzens". 


330  XII-  I^i«  Ausbeutungstheorie,    2.  U.-A.  Kritik. 

Ich  wählte  zu  diesem  Zwecke  die  Darstellungen  von  Rodbertus  und 
von  Marx.  Sie  sind  die  einzigen,  die  eine  tiefere  und  zusammenhängende 
Begründung  darbieten:  dabei  ist  jene  nach  meiner  Meinung  die  beste 
diese  die  anerkannteste  Darstellung,  gewissermaßen  die  offizielle  Lehr- 
meinung des  heutigen  Sozialismus.  Indem  ich  beide  einer  eingehenden 
Prüfung  unterziehe,  glaube  ich  die  Ausbeutungstheorie  an  ihrer  stärksten 
Seite  zu  fassen  —  getreu  dem  schönen  Worte  von  Knies  :  „Wer  im  Reiche 
wissenschaftlicher  Forschung  Sieger  bleiben  will,  muß  den  Gegner  in 
sehier  vollen  Rüstung  und  mit  seiner  ganzen  Stärke  vortreten  lassen"^). 

Vorher  noch  eine  Bemerkung  zur  Vermeidung  von  Mißverständnissen. 
Zweck  der  folgenden  Blätter  ist  es  ausschließlich,  die  Ausbeutungstheorie 
als  Theorie  zu  kritisieren,  d.  h.  zu  untersuchen,  ob  die  Ursachen  der 
nationalökonomischen  Erscheinung  des  Kapitalzinses  in  der  Tat  in  jenen 
Umständen  liegen,  welche  die  Ausbeutungstheorie  als  Entstehungs- 
ursachen des  Zinses  angibt.  Dagegen  beabsichtige  ich  an  dieser  Stelle 
nicht,  ein  Urteil  über  die  praktische,  sozialpolitische  Seite  des 
Zinsproblems,  über  Güte  oder  Verwerflichkeit,  Beibehaltung  oder  Ab- 
schaffung des  Kapitalzinses  abzugeben.  Es  fällt  mir  zwar  nicht  ein,  ein 
Werk  über  den  Kapitalzins  zu  schreiben  und  mich  dabei  über  die  wichtigste 
Frage,  die  damit  zusammenhängt,  in  Stillschweigen  zu  hüllen.  Aber  ich 
kann  die  praktische  Seite  des  Gegenstandes  erst  dann  fruchtbar  besprechen, 
wenn  vorher  die  theoretische  völlig  ins  Reine  gebracht  ist,  und  muß  daher 
jene  Untersuchungen  dem  II.  Bande  meiner  Arbeit  aufsparen.  An  dieser 
Stelle  —  ich  wiederhole  es  —  will  ich  bloß  prüfen,  ob  der  Kapitalzins, 
mag  er  nun  gut  oder  schlecht  sein,  aus  denjenigen  Ursachen  da  ist,  welche 
die  Ausbeutungstheorie  darstellt. 

A.  Rodbertus*). 

Der  Ausgangspunkt  für  Rodbertus'  Zinstheorie  ist  der  „von  Smith 
in  die  Wissenschaft  eingeführte  und  von  der  RicARooschen  Schule  noch 
tiefer  begründete"  Satz,  „daß  alle  Güter  wirtschaftlich  nur  als  Produkte 


1)  „Der  Kredit",  2.  Hälfte,  Berlin  1879,  S.  VII. 

*)  Ein  ziemlich  vollständiges  Verzeichnis  der  zahlreichen  von  Dr.  Karl  Rod- 
bertus-Jagetzow  herrührenden  Schriften  findet  sich  bei  Kozak  „Rodbertus'  sozial- 
ökonomische Ansichten",  Jena  1882,  S.  7ff.  Ich  benützte  vorzugsweise  den  2.  und 
3.  Brief  an  v.  Kirchmann  in  dem  (etwas  veränderten)  Abdrucke,  den  Rodbertus  im 
Jahre  1876  unter  dem  Titel  ,,Zur  Beleuchtung  der  sozialen  Frage"  herausgab;  weiter 
die  Schrift  „Zur  Erklärung  und  Abhilfe  der  heutigen  Kreditnot  des  Grundbesitzes" 
(2.  Ausgabe,  Jena  1876)  und  den  aus  Rodbertus'  Nachlasse  von  Adolf  Wagner  und 
KozAK  unter  dem  Titel  „Das  Kapital"  herausgegebenen  4.  sozialen  Brief  an.  v.  Kibch- 
KAiSN  (Berlin  1884).  —  Die  RoDBERTUSsche  Zinstheorie  ist  seinerzeit  durch  Knies 
(Der  Kredit,  II.  Hälfte,  Berlin  1879,  S.  47ff.)  einer  äußerst  eingehenden  und  gewissen- 
haften Kritik  unterzogen  worden,  der  ich  in  den  wichtigsten  Punkten  beipflichte. 
Trotzdem  kann  ich  auf  eine  selbständige  Erneuerung  der  kritischen  Arbeit  nicht  ver- 


Rodbertus.  331 

der  Arbeit  anzusehen  sind,  nichts  als  Arbeit  kosten."  Rodbertus  erläutert 
diesen  Satz,  der  auch  wohl  in  der  Form  ausgedrückt  zu  werden  pflegt, 
„da£  die  Arbeit  allein  produktiv  ist",  näher  dahin,  daß  erstens  nur 
diejenigen  Güter  zu  den  wirtschaftlichen  gehören,  welche  Arbeit  gekostet 
haben,  während  alle  übrigen  Güter,  mögen  sie  auch  noch  so  notwendig 
oder  nützlich  für  den  Menschen  sein,  natürliche  Güter  sind,  die  eine 
Wirtschaft  nichts  angehen;  daß  zweitens  alle  wirtschaftlichen  Güter  nur 
Arbeitsprodukt  sind,  daß  sie  für  die  wirtschaftliche  Auffassung  nicht  als 
Produkte  der  Natur  oder  irgend  einer  anderen  Kraft,  sondern  nur  der  Arbeit 
gelten:  jede  andere  Auffassung  sei  naturgeschichtlich,  aber  nicht  wirt- 
schaftlich; daß  endlich  drittens  die  Güter  wirtschaftlich  genommen  nur 
das  Produkt  derjenigen  Arbeit  sind,  welche  die  materiellen  Operationen, 
die  dazu  nötig  waren,  verrichtet  hat.  Hiezu  gehört  aber  nicht  bloß  die- 
jenige Arbeit,  welche  das  Gut  unmittelbar  herstellt,  sondern  auch  die- 
jenige Arbeit,  welche  erst  das  Werkzeug  herstellt,  das  zur  Herstellung 
von  jenem  Gute  dient.  Das  Getreide  ist  z.  B.  nicht  bloß  das  Produkt  des- 
jenigen, der  denPflug  führte,  sondern  auch  desjenigen,  der  ihn  baute  usw.^). 
Die  materiellen  Arbeiter,  welche  das  ganze  Güterprodukt  schaffen, 
haben  wenigstens  „nach  der  reinen  Rechtsidee"  einen  natürlichen  und 
gerechten  Anspruch,  das  Eigentum  an  ihrem  ganzen  Produkt  zu  erlangen*). 
Mit  zwei  nicht  unwichtigen  Einschränkungen.  Erstlich  macht  das  System 
der  Arbeitsteilung,  unter  dem  Viele  an  der  Erzeugung  eines  Produktes 
mitwirken,  es  technisch  unmöglich,  daß  jeder  Arbeiter  sein  Produkt  in 
natura  erhalte.  Es  muß  daher  dem  Ansprüche  auf  das  ganze  Produkt 
der  Anspruch  auf  den  ganzen  Wert  des  Produktes  substituiert  werden'). 
Ferner  müssen  aus  dem  Nationalprodukte  auch  noch  alle  diejenigen  beteilt 
werden,  welche  der  Gesellschaft  nützliche  Dienste  leisten,  ohne  unmittel- 
bar an  der  materiellen  Entstehung  der  Güter  mitzuwirken,  z.  B.  der  G^ist 
liehe,  der  Arzt,  der  Richter,  der  Naturforscher,  nach  der  Meinung  Rod- 
bertus' auch  die  Unternehmer,  die  „eine  Menge  Arbeiter  mit  einem  Kapital 
produktiv  zu  beschäftigen  verstehen"*).  Allein  solche  nur  „mittelbar 
wirtschaftliche  Arbeit"  wird  ihren  Honorierungsanspruch  nicht  schon  in 
der  „ursprünglichen  Güterverteilung",  an  der  nur  die  Produzenten  teil- 
zunehmen haben,  sondern  erst  in  einer  „abgeleiteten  Güterverteilung" 
zu  stellen  haben.     Der  Anspruch,  den  nach  der  reinen  Rechtsidee  die 


ziehten,  da  ich  im  theoretischen  Standpunkte  von  Knies  weit  genug  differiere,  um  doch 
mancherlei  Dinge  in  wesentlich  verschiedenem  Lichte  zu  betrachten.  —  Vgl.  über 
Rodbertus  jetzt  namentlich  auch  A.  Wagiter  in  seiner  „Grundlegung"  III.  Aufl. 
I.  Teil  §  13,  IL  Teil  §  132,  dann  H.  Dietzel,  C.  Rodbertus,  Jena  1886—1888. 

*)  Zur  Beleuchtung  der  sozialen  Frage  S.  68  und  69. 

«)  Soziale  Frage  S.  56;  Erklärung  und  Abhilfe  S.  112. 

»)  Soziale  Frage  S.  87  und  90;  Erklärung  usw.  S.  111;  Kapital  S.  116. 

*)  Soziale  Frage  S.  146;  Erklärung  und  Abhilfe  II,  S.  109ff. 


332  XII.  Die  Ausbeutungstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

materiellen  Arbeiter  zu  stellen  haben,  geht  hienach  darauf,  in  der  ur 
sprünglichen    Verteilung    den    ganzen    Wert    ihres    Arbeits- 
produktes zu  erhalten  —  unbeschadet  des  sekundären  Salarienings- 
anspruches  anderer  nützlicher  Gesellschaftsglieder. 

Diesen  natürlichen  Anspruch  findet  Rodbertus  in  der  heutigen 
Gesellschaftsordnung  nicht  verwirklicht.  Denn  die  Arbeiter  erhalten  heute 
in  der  ursprünglichen  Verteilung  nur  einen  Teil  des  Wertes  ihres  Produktes 
als  Lohn,  während  der  Rest  den  Grund-  und  Kapitalbesitzern  als  Rente 
zufällt.  Als  solche  definiert  Rodbertus  „alles  Einkommen,  was  ohne 
eigene  Arbeit  lediglich  auf  Grund  eines  Besitzes  bezogen  wird"^).  Sie 
umschließt  zwei  Arten,  die  Grundrente  und  den  Kapitalgewinn. 

„Welche  Gründe,"  fragt  nun  Rodbertus,  „bewirken,  daß,  da  jedes 
Einkommen  nur  Arbeitsprodukt  ist,  Personen  in  der  Gesellschaft  Ein- 
kommen (und  zwar  ursprüngliches  Einkommen)  beziehen,  die  keinen 
Finger  zur  Herstellung  desselben  rühren?"'  —  Hiemit  hat  Rodbertus 
das  allgemeine  theoretische  Problem  der  Rente  gestellt  2).  Er  findet  darauf 
folgende  Antwort. 

Die  Rente  verdankt  ihre  Existenz  der  Verbindung  zweier  Tatsachen, 
einer  wirtschaftlichen  und  einer  positiv  rechtlichen.  Der  wirtschaftliche 
Grund  der  Rente  liegt  darin,  daß  cQe  Arbeit  seit  der  Einführung  der  Arbeits- 
teilung mehr  hervorbringt,  als  die  Arbeiter  zu  ihrem  Lebensunterhalte 
und  zur  Fortsetzung  ihrer  Arbeit  bedürfen,  so  daß  andere  davon  mitleben 
können.  Der  rechtliche  Grund  liegt  in  der  Existenz  des  Privateigentumes 
an  Grund  und  Boden  und  an  den  Kapitalgegenständen.  Indem  durch 
dieses  Privateigentum  die  Arbeiter  von  der  Verfügung  über  die  unentbehr- 
lichen Produktionsbedingungen  ausgeschlossen  sind,  können  sie  überhaupt 
nicht  anders  als  nach  einer  vorhergegangenen  Vereinbarung  und  im  Dienste 
der  Besitzer  produzieren;  und  diese  legen  ihnen  für  die  Darbietung  jener 
Produktionsbedingungen  die  Pflicht  auf,  einen  Teil  des  Produktes  ihrer 
Arbeit  als  Rente  abzutreten.  Ja  diese  Abtretung  erfolgt  sogar  in  der 
erschwerenden  Form,  daß  die  Arbeiter  das  Eigentum  an  ihrem  ganzen 
Produkte  den  Besitzern  überlassen,  und  von  ihnen  nur  einen  Teil  seines 
Wertes,  soviel  als  die  Arbeiter  zum  Lebensunterhalte  und  zur  Fortsetzung 
ihrer  Arbeit  unabweislich  bedürfen,  als  Lohn  zurückempfangen.  Die 
Macht,  die  die  Arbeiter  zur  Einwilligung  in  diesen  Kontrakt  zwingt,  ist 
der  Hunger,  —  Lassen  wir  Rodbertus  selbst  reden. 

„Da  es  kein  Einkommen,  wenn  nicht  durch  Arbeit  hervorgebracht, 
geben  kann,  so  beruht  die  Rente  auf  zwei  unumgänglichen  Vorbedingungen. 
Erstens:  Es  kann  keine  Rente  geben,  wenn  nicht  die  Arbeit  mehr  hervor- 
bringt, als  wenigstens  zur  Fortsetzung  der  Arbeit  für  die  Arbeiter  erforder- 
lich ist,  —  denn  es  ist  unmöglich,  daß,  ohne  ein  solches  Plus,  jemand,  ohne 

»)  Soziale  Frage  S.  32. 
»)  Soziale  Frage  S.  741. 


Rodbertus.  333 

selbst  zu  arbeiten,  regelmäßig  ein  Einkommen  beziehen  kann.  Zweitens: 
Es  kann  keine  Rente  geben,  wenn  nicht  Einrichtungen  bestehen,  die  dies 
Plus  ganz  oder  zum  Teile  den  Arbeitern  entziehen,  und  anderen,  die  nicht 
selbst  arbeiten,  zuwenden  —  denn  die  Arbeiter  sind  durch  die  Natur 
selbst  immer  zunächst  im  Besitze  ihres  Produktes.  Daß  die  Arbeit  ein 
solches  Plus  gibt,  beruht  auf  wirtschaftlichen  Gründen,  solchen,  welche 
die  Produktivität  der  Arbeit  erhöhen.  Daß  dies  Plus  ganz  oder  zum  Teile 
den  Arbeitern  entzogen  und  anderen  zugewandt  wird,  beruht  auf  Gründen 
des  positiven  Rechtes,  das,  wie  es  sich  von  jeher  mit  der  Gewalt  koaliert 
hat,  so  auch  nur  durch  fortgesetzten  Zwang  diese  Entziehung  durchsetzt." 

„Ursprünglich  hat  die  Sklaverei,  deren  Entstehung  mit  der  des  Acker- 
baues und  des  Grundeigentumes  zusammenfällt,  diesen  Zwang  geübt. 
Die  Arbeiter,  die  in  ihrem  Arbeitsprodukt  ein  solches  Plus  hervorgebracht 
haben,  sind  Sklaven  gewesen,  und  der  Herr,  dem  die  Arbeiter  und  damit 
auch  das  Produkt  selbst  gehört  haben,  hat  den  Sklaven  nur  so  viel  gegeben, 
als  zur  Fortsetzung  ihrer  Arbeit  erforderlich  war,  den  Rest  oder  das  Plus 
für  sich  behalten.  Wenn  aller  Boden  des  Landes  ins  Privateigentum  über- 
gegangen ist,  wenn  damit  zugleich  Privateigentum  an  allem  Kapital 
gegeben  ist,  so  übt  das  Grund-  und  Kapitaleigentum  einen  ähnlichen 
Zwang  auch  über  freigelassene  oder  freie  Arbeiter  aus.  Denn  dies  wird 
erstens  noch  ebenso  wie  die  Sklaverei  bewirken,  daß  das  Produkt  selbst 
nicht  den  Arbeitern,  sondern  den  Herren  des  Bodens  und  Kapitales  gehört, 
und  es  wird  zweitens  bewirken,  daß  die  Arbeiter,  die  nichts  besitzen, 
gegenüber  den  Herren,  die  Boden  und  Kapital  besitzen,  froh  sind,  von 
ihrem  eigenen  Arbeitsprodukt  nur  einen  Teil  zur  Unterhaltung  ihres  Lebens, 
d.  h.  wieder  zur  Fortsetzung  ihrer  Arbeit  zu  erhalten.  So  ist  allerdings 
an  die  Stelle  der  Anordnung  des  Sklavenbesitzers  der  Vertrag  des  Arbeiters 
mit  dem  Lohnherrn  getreten,  aber  dieser  Vertrag  ist  nur  formell,  nicht 
materiell  frei,  und  der  Hunger  ersetzt  fast  völlig  die  Peitsche.  Was  früher 
Futter  hieß,  heißt  jetzt  nur  Lohn"^). 

Hienach  ist  also  alle  Rente  eine  Erbeutung^),  oder  wie  sich  Rod- 
bertus bisweilen  noch  schärfer  ausdrückt^),  ein  Raub  am  Produkte 
fremder  Arbeit.  Dieser  Charakter  kommt  allen  Arten  der  Rente  gleich- 
mäßig zu,  der  Grundrente  wie  dem  Kapitalgewinne  und  den  hievon  abge- 
leiteten Bezügen  des  Pachtes  und  der  Leihzinsen.  Letztere  sind  den  Unter- 
nehmern gegenüber,  die  sie  zahlen,  ebenso  rechtmäßig,  als  sie  den  Arbeitern 
gegenüber,  auf  deren  Kosten  sie  in  letzter  Linie  gezahlt  werden,  unrecht- 
mäßig sind*). 


^)  Soziale  Frage  S.  33.    Ähnlich  und  noch  ausführlicher  S.  77—94. 
*)  Soziale  Frage  S.  115  und  oft.  • 

3)  a.  a.  0.  S.  150;  Kapital  S.  202. 

*)  Soziale  Frage  S.  115, 148f.  Vgl.  auch  die  Kritik  gegen  Bastiat  a.  a.  0.  S.  115 
bis  119. 


334  XII.  Die  Ausbeutungstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

Die  Höhe  der  Kente  wächst  mit  der  Produktivität  der  Arbeit.  Denn 
der  Arbeiter  erhält  unter  dem  Systeme  der  freien  Konkurrenz  im  allge- 
meinen und  auf  die  Dauer  stets  nur  den  Betrag  des  notwendigen  Unter- 
haltes, d.  i.  ein  bestimmtes  reales  Produktquantum.  Je  größer  nun  die 
Produktivität  der  Arbeit  ist,  eine  desto  geringere  Quote  des  gesamten 
Produktwertes  wird  durch  dieses  reale  Produktquantum  in  Anspruch  ge- 
nommen, und  eine  desto  größere  Produkt-  und  Wertquote  erübrigt  für 
den  Anteil  der  Besitzer,  für  die  Kente  ^). 

Obwohl  nach  dem  bisher  Gesagten  im  Grunde  alle  Rente  eine  einheit- 
liche Masse  von  vollkommen  homogenem  Ursprünge  bildet,  teilt  sie  sich 
im  praktischen  Wirtschaftsleben  bekanntlich  in  zwei  Zweige:  in  die  Grund- 
rente und  den  Kapitalgewinn.  Den  Grund  und  die  Gesetze  dieser  Teilung 
erklärt  nun  Rodbertüs  in  höchst  eigenartiger  Weise.  Er  geht,  wie  vor- 
ausgeschickt werden  muß,  für  den  ganzen  Bereich  der  bezüglichen  Unter- 
suchung von  der  theoretischen  Voraussetzung  aus,  daß  der  Tauschwert 
aller  Produkte  äqual  ihrer  Kostenarbeit  sei,  mit  anderen  Worten,  daß  alle 
Produkte  sich  in  demselben  Verhältnisse  gegen  einander  austauschen,  in 
welchem  sie  Arbeit  gekostet  haben  2).  Bei  dieser  Annahme  ist  bemerkens- 
wert, daß  RoDBERTus  zwar  weiß,  daß  sie  nicht  genau  der  Wirklichkeit 
entspricht.  Doch  glaubt  er.  daß  die  faktische  Abweichung  in  nichts  anderem 
bestehe,  als  daß  der  „wirkliche  Tauschwert  bald  hüben  bald  drüben"  falle, 
wobei  aber  immer  wenigstens  eine  Gravitation  nach  jenem  Punkte  sich 
zeige,  „der  wie  der  natürliche  so  auch  der  gerechte  Tauschwert  wäre"^). 
Den  Gedanken,  daß  die  Güter  sich  normaler  Weise  nach  einem  anderen 
als  nach  dem  Verhältnisse  der  an  ihnen  haftenden  Arbeit  vertauschen,  daß 
Abweichungen  von  diesem  Verhältnisse  nicht  bloß  das  Ergebnis  zufälliger 
augenblicklicher  Marktschwankungen,  sondern  eines  festen,  den  Wert  nach 
anderer  Richtung  ziehenden  Gesetzes  sein  könnten,  schließt  er  völlig  aus*). 
Ich  mache  auf  diesen  Umstand,  der  sich  später  als  wichtig  herausstellen 
wird,  einstweilen  aufmerksam.  — 

Die  gesamte  Güterproduktion  läßt  sich  nach  Rodbertüs  in  zwei 
Zweige  teilen,  in  die  Rohproduktion,  welche  mit  Hilfe  von  Grund  und 
Boden  Rohprodukte  gewinnt,  und  in  die  Fabrikation,  welche  die  Roh- 
produkte weiter  verarbeitet.  Ehe  die  Arbeitsteilung  eingeführt  war,  wurde 
die  Gewinnung  und  die  weitere  Verarbeitung  der  Rohprodukte  in  unmittel- 
barer Aufeinanderfolge  von  Einem  Unternehmer  vollzogen,  der  dann  auch 
die  gesamte  resultierende  Rente  unterschiedslos  empfing:  in  diesem  Stadium 
der  wirtschaftlichen  Entwicklung  fand  eine  Trennung  der  Rente  in  Grund- 
rente und  Kapitalgewinn  noch  nicht  statt.  Seit  der  Einführung  der  Arbeits- 


^)  Soziale  Frage  S.  123ff. 

*)  a.  a.  0,  S.  106. 

»)  Soziale  Fra^e  S.  107.    Ähnlich  S.  -113,  147,  Erkl.  T,  S.  123. 

*)  Soziale  Frage  S.  148. 


Rodbertns.  335 

teilung  sind  aber  die  Unternehmer  der  Rohproduktion  und  der  sich  daran 
schließenden  Fabrikation  verschiedene  Personen.  Es  fragt  sich  vorläufig, 
in  welchem  Verhältnisse  wird  die  aus  der  Gesamtproduktion  resultierende 
Rente  sich  nunmehr  unter  die  Rohproduzenten  einerseits  und  die  Fabri- 
kationsunternehmer andererseits  teilen? 

Die  Antwort  auf  diese  Frage  geht  aus  dem  Charakter  der  Rente  hervor. 
Die  Rente  ist  ein  Abzug  am  Produktwerte,  eine  Quote  desselben.  Die 
Masse  der  in  einer  Produktion  zu  gewinnenden  Rente  wird  sich  daher 
nach  der  Größe  des  in  dieser  Produktion  geschaffenen  Produktwertes 
richten.  Da  aber  die  Größe  des  Produktwertes  sich  wieder  nach  der  Menge 
der  verwendeten  Arbeit  richtet,  so  werden  sich  Rohproduktion  und  Fabri- 
kation in  die  Gesamtrente  nach  dem  Verhältnisse  der  in  jedem  dieser 
Produktionszweige  aufgewendeten  Kostenarbeit  teilen.  An  einem 
konkreten  Beispiele  entwickelt^).  Wenn  die  Gewinnung  einer  Rohprodukt- 
menge 1000  Arbeitstage  erfordert,  und  die  Verarbeitung  derselben  weitere 
2000  Arbeitstage,  und  wenn  die  Rente  überhaupt  40%  vom  Produktwerte 
zu  Gunsten  der  Besitzer  vorweg  nimmt,  so  wird  auf  die  Rohproduzenten 
das  Produkt  von  400  Arbeitstagen,  auf  die  Fabrikationsunternehmer  das 
Produkt  von  800  Arbeitstagen  als  Rente  fallen.  —  Ganz  indifferent  ist 
dagegen  für  diese  Verteilung  die  Größe  des  in  jedem  Produktionszweige 
angewendeten  Kapitales:  die  Rente  wird  freilich  auf  das  Kapital  be- 
rechnet, bestimmt  sich  aber  nicht  nach  diesem  Kapitale,  sondern  nach 
den  zugesetzten  Arbeitsquantitäten. 

Gerade  der  Umstand  nun,  daß  die  Größe  des  angewendeten  Kapitales 
keinen  verursachenden  Einfluß  auf  die  Masse  der  in  einem  Produktions- 
zweige zu  erlangenden  Rente  hat,  wird  zur  Entstehungsursache  der  Grund- 
rente. In  folgender  Weise.  Die  Rente,  obwohl  Arbeitsprodukt,  wird,  weü 
durch  den  Besitz  von  Vermögen  bedingt,  als  Ertrag  des  Vermögens  ange- 
sehen. Da  in  der  Fabrikation  nur  Kapitalvermögen,  nicht  auch  Grund 
und  Boden  in  Anwendung  steht,  wird  speziell  die  gesamte  in  der  Fabrikation 
zu  erzielende  Rente  als  Ertrag  des  Ka^tales  oder  als  Kapitalgewinn  be- 
trachtet. Indem  man  dann,  wie  es  üblich  ist,  das  Verhältnis  zwischen  der 
Größe  des  Ertrages  und  der  Größe  des  ertraggebenden  Kapitales  berechnet, 
gelangt  man  zur  Konstatierung  eines  bestimmten  perzentuellen  Gewinn- 
satzes, der  in  der  Fabrikation  sich  vom  Kapitale  erzielen  läßt.  Dieser 
Gewinnsatz,  der  sich  vermöge  bekannter  Tendenzen  der  Konkurrenz  in 
allen  Zweigen  annähernd  gleichstellen  wird,  wird  auch  für  die  Berechnung 
des  Kapitalgewinnes  in  der  Rohproduktion  maßgebend  werden;  schon 
deshalb,  weü  in  der  Fabrikation  ein  weit  größerer  Teil  des  Nationalkapitales 
angewendet  wird  als  in  der  Landwirtschaft,  und  weü  begreiflicherweise 
der  Ertrag  des  bei  weitem  größeren  Teües  des  Kapitales  auch  für  den 

^)  Das  sich  bei  Rodbertus  nicht  findet,  und  das  ich  nur  hinzufüge,  um  dea 
schwierigen  Gedankengang  gegen*  Verwechslungen  sicher  zu  stellen. 


336  XI^'  ^^®  Ausbeutungstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

kleineren  den  Satz  diktieren  kann,  nach  welchem  er  seinen  Gewinn  be- 
rechnet erhalten  soll.  Es  werden  daher  die  Rohproduzenten  von  der 
gesamten  in  der  Rohproduktion  erzielten  Rente  sich  so  viel  als  Kapital- 
gewinn berechnen,  als  der  Größe  des  angewendeten  Kapitales  und  der 
Höhe  des  üblichen  Kapitalgewinnsatzes  entspricht.  Der  Rest  der  Rente 
wird  dagegen  als  Ertrag  des  Grundes  und  Bodens  aufgefaßt  und  bildet 
die  Grundrente. 

Eine  solche  Grundrente  muß.  nun  nach  Rodbertus  in  der  Roh- 
produktion allemal  notwendig  übrig  bleiben,  unter  der  einzigen  Voraus- 
setzung, daß  die  Produkte  sich  im  Verhältnisse  der  an  ihnen  haftenden 
Arbeitsmenge  vertauschen.  Rodbertus  begründet  dies  folgendermaßen. 
Die  Größe  der  in  der  Fabrikation  zu  erzielenden  Rente  hängt,  wie  oben 
dargestellt,  nicht  von  der  Größe  der  geraachten  Kapitalauslage,  sondern 
von  der  Menge  der  in  der  Fabrikation  geleisteten  Arbeit  ab.  Diese  summiert 
sich  aus  zwei  Bestandteilen:  einerseits  aus  der  unmittelbaren  Fabrikations- 
arbeit, andererseits  aus  jener  mittelbaren  Arbeit,  „die  wegen  der  vernutzten 
Werkzeuge  und  Maschinen  mit  aufzurechnen  ist."  Von  den  verschiedenen 
Bestandteilen  der  Kapitalauslage  haben  daher  nur  einige  einen  Einfluß 
auf  die  Größe  der  Rente,  nämlich  jene,  die  im  Arbeitslohne  und  im  Auf- 
wände für  Maschinen  und  Werkzeuge  bestehen.  Der  Kapitalauslage  für 
das  Rohmaterial  kommt  dagegen  ein  solcher  Einfluß  nicht  zu,  weil  dieser 
Auslage  keine  im  Stadium  der  Fabrikation  geleistete  Arbeit  entspricht. 
Wohl  aber  vergrößert  dieser  Teü  der  Auslage  das  Kapital,  auf  welches  die 
gewonnene  Rente  als  Ertrag  berechnet  wird.  Die  Existenz  eines  Kapital- 
teiles, der  einerseits  das  Fabrikationskapital,  auf  das  der  abfallende 
Üententeü  als  Gewinn  berechnet  wird,  vergrößert,  andererseits  aber  diesen 
Gewinn  selbst  nicht  vergrößert,  muß  offenbar  das  Verhältnis  des  Gewinnes 
zum  Kapitale,  mit  anderen  Worten,  den  Kapitalgewinnsatz  in  der  Fabri- 
kation herabdrücken. 

Nach  diesem  erniedrigten  Satze  wird  nun  auch  in  der  Rohproduktion 
der  Kapitalgewinn  berechnet.  Hier  stehen  aber  die  Verhältnisse  noch 
günstiger.  Da  nämlich  die  Landwirtschaft  die  Produktion  ab  ovo  beginnt 
und  kein  aus  einer  vorangegangenen  Produktion  herstammendes  Material 
verarbeitet,  so  fehlt  in  ihrer  Kapitalauslage  der  Bestandteil  „Material- 
wert". Sein  Analogon  wäre  nur  der  Boden,  der  indes  von  allen  Theorien 
kostenlos  vorausgesetzt  wird.  Infolge  davon  nimmt  kein  Kapitalteil  an 
der  Repartierung  des  Gewinnes  teil,  der  nicht  auch  auf  seine  Größe  Einfluß 
genommen  hätte,  und  in  weiterer  Folge  muß  das  Verhältnis  zwischen  der 
erzielten  Rente  und  dem  in  Verwendung  gestandenen  Kapitale  in  der  Land- 
wirtschaft günstiger  sein  als  in  der  Fabrikation.  Da  aber  der  Kapital- 
gewinn auch  in  der  Landwirtschaft  nur  nach  dem  niedrigeren  aus  der 
Fabrikation  stammenden  Gewinnsatze  berechnet  wird,  so  muß  allemal 
noch  ein  Überschuß  an  Rente  bleiben,  der  dem  Grundeigentümer  als 


Rodbertus. 


337 


Grundrente  zufällt.    Dies  nach  Rodbertus  der  Ursprung  der  Grundrente 
und  ihrer  Unterscheidung  vom  Kapitalgewinne  i).  — 

Zur  Ergänzung  will  ich  schließlich  noch  kurz  bemerken,  daß  Rod- 
bertus trotz  des  sehr  scharfen  theoretischen  Urteiles,  das  er  über  die 
Beutenatur  des  Kapitalgewinnes  fällt,  dennoch  weder  das  Kapitaleigentum 
noch  den  Kapitalgewinn  abgeschafft  wissen  wilL  Vielmehr  schreibt  er  dem 
Grund-  und  Kapitaleigentüme  „eine  erziehende  Gewalt"  zu,  die  nicht  zu 
entbehren  ist;  „eine  Art  häuslicher  Gewalt,  die  nur  durch  ein  völlig  ver- 
ändertes nationales  Unterrichtssystem,  zu  dem  aber  selbst  noch  wieder 
alle  Vorbedingungen  fehlen,  ersetzt  werden  könnte"  2).  Das  Grund-  und 
Kapitaleigentum  erscheint  ihm  insolange  „als  eine  Art  Amt,  das  national- 
ökonomische  Funktionen  mit  sich  führt,  Funktionen,  die  eben  darin 
bestehen,  die  ökonomische  Arbeit  und  die  ökonomischen  Mittel  der  Nation 
dem  nationalen  Bedürfnisse  entsprechend  zu  leiten".  Die  Rente  aber  kann 
man  von  diesem  —  ihr  günstigsten  —  Gesichtspunkte  als  eine  Form  des 
Gehaltes  ansehen,  das  jene  „Beamte"  für  die  Ausübung  ihrer  Funktionen 
empfangen  3).  Ich  habe  bereits  oben  bemerkt,  wie  Rodbertus  mit  dieser 
ziemlich  gelegentlich  —  in  einer  bloßen  Note  —  abgegebenen  Äußerung 
zuerst  eine  Idee  berührte,  aus  der  Spätere,  zumal  Schäffle,  eine  eigen- 
tümliche Variante  der  Arbeitstheorie  ausgebildet  haben.  — 

Ich  wende  mich  nun  zur  Kritik  des  RoDBERTUsschen  Lehrgebäudes. 
Ohne  Umschweife  spreche  ich  es  sofort  aus,  daß  ich  die  darin  enthaltene 
Kapitalzinstheorie  für  vollkommen  verfehlt  erachte.  Sie  leidet  nach  meiner 
Überzeugung  an  einer  Reihe  schwerer  theoretischer  Gebrechen,  welche 
ich  im  folgenden,  so  klar  und  unbefangen  ich  es  vermag,  darzustellen  mich 
bemühen  werde. 

Die  kritische  Prüfung  muß  schon  an  dem  ersten  Steine,  den  Rod- 
bertus zu  seinem  Lehrgebäude  legt,  Anstoß  nehmen:  an  dem  Satze,  daß 
alle  Güter,  wirtschaftlich  betrachtet,  nur  Produkte  der  Arbeit  sind. 

Vor  allem,  was  soU  das  sagen  „wirtschaftlich  betrachtet?"  Rod- 
bertus erläutert  es  durch  einen  Gegensatz.  Er  stellt  den  wirtschaftlichen 
Standpunkt  in  Gegensatz  zu  dem  naturgeschichtlichen.  Daß  natur- 
geschichtlich die  Güter  Produkte  nicht  nur  der  Arbeit,  sondern  auch  der 
Naturkräfte  sind,  gibt  er  ausdrücklich  zu.  Wenn  dennoch  vom  wirtschaft- 
lichen Standpunkte  die  Güter  nur  Produkte  der  Arbeit  sein  sollen,  so  kann 
das  wohl  nur  einen  einzigen  Sinn  haben:  den  nämlich,  daß  die  Mitwirkung 
der  Naturkräfte  bei  der  Produktion  für  die  Erwägungen  der  menschlichen 
Wirtschaft  etwas  vollkommen  gleichgiltiges  sei.     Rodbertus  gibt  auch 


J)  Soziale  Frage  S.  94ä.,  besonders  S.  109—111;  Erklärung  I,  S.  123. 

«)  Erklärung  II,  S.  303. 

')  Erklärung  II,  S.  273 f.  In  der  nachgelassenen  Schrift  über  das  „Kapital"  spricht 
sich  Rodbertus  allerdings  schärfer  gegen  das  private  Kapitaleigentum  aus,  und  will  es 
zwar  nicht  einfach  aufgehoben,  aber  doch  abgelöst  wissen.    (S.  116ff.) 
Böhm-Bawerk,  Kapitalzins.    4.  Aufl.  22 


338  XII.  Die  Ausbeutungstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

dieser  Auffassung  einmal  drastischen  Ausdruck,  wenn  er  sagt:  „Alle 
übrigen  Güter  (außer  jenen,  die  Arbeit  gekostet  haben),  mögen  sie  auch 
noch  so  notwendig  oder  nützlich  für  den  Menschen  sein,  sind  natürliche 
Güter,  welche  eine  Wirtschaft  nichts  angehen."  „Was  die  Natur 
bei  den  wirtschaftlichen  Gütern  vorgetan  hat,  dafür  mag  der  Mensch 
dankbar  sein,  denn  es  hat  ihm  so  viel  mehr  Arbeit  erspart,  aber  die 
Wirtschaft  berücksichtigt  sie  nur  so  weit,  als  die  Arbeit  das 
Werk  der  Natur  komplettiert  hat''^). 

Das  ist  nun  einfach  falsch.  Auch  rein  natürliche  Güter,  wofem  sie  nur 
im  Vergleiche  zum  Bedarfe  nach  ihnen  selten  sind,  gehen  die  Wirtschaft 
an.  Oder  geht  ein  gediegener  Goldklumpen,  der  als  Meteorstein  einem 
Grundeigentümer  auf  sein  Grundstück  fällt,  oder  eine  Silbermine,  die  er 
zufällig  auf  seinem  Grundstücke  entdeckt,  die  Wirtschaft  nichts  an? 
Wird  der  Eigentümer  das  von  der  Natur  geschenkte  Gold  und  Silber  etwa 
achtlos  liegen  lassen  oder  verschenken  oder  verschwenden,  nur  deshalb, 
weil  es  ihm  von  der  Natur  ohne  seine  Bemühung  geschenkt  ist?  Oder 
wird  er  es  nicht  ebenso  sorgsam  bewahren,  gegen  fremde  Habsucht  in 
Sicherheit  bringen,  umsichtig  auf  dem  Markte  verwerten,  kurz  damit 
haushalten  oder  wirtschaften,  geradeso,  wie  er  es  mit  Gold  und  Silber  täte, 
das  er  sich  durch  seiner  Hände  Arbeit  errungen?  —  Und  berücksichtigt 
die  Wirtschaft  auch  jene  Güter,  die  Arbeit  gekostet  haben,  wirklich  nur 
so  weit,  als  die  Arbeit  das  Werk  der  Natur  komplettiert  hat?  Wenn 
das  der  Fall  wäre,  müßten  die  wirtschaftenden  Menschen  den  Eimer  herr- 
liclisten  Rheinweines  einem  Eimer  gut  gepflegten,  aber  von  Natur  aus 
geringen  Landweines  völlig  gleichstellen:  denn  bei  beiden  hat  die  mensch- 
liche Arbeit  ungefähr  gleich  viel  geleistet!  Daß  dennoch  der  Rheinwein 
oft  die  zehnfache  wirtschaftliche  Wertschätzung  erfährt,  ist  eine  sprechende 
Widerlegung,  die  das  Leben  gegen  Rodbertus'  Theorem  richtet. 

Solche  Einwendungen  liegen  so  nahe,  daß  man  berechtigt  wäre  zu 
erwarten,  Rodbertus  werde  seinen  ersten  und  wichtigsten  Fundamental- 
satz mit  aller  Sorgfalt  gegen  sie  in  Schutz  genommen  haben.  Diese  Er- 
wartung wird  indes  getäuscht.  Allerdings  hat  Rodbertus  zugunsten 
seiner  These  einigen  Überzeugungsapparat  aufgeboten.  Was  derselbe 
bietet,  läuft  indes  teils  auf  einen  nicht  beweiskräftigen  Appell  an  Autori- 
täten, teils  auf  eine  ebensowenig  beweiskräftige  Dialektik  hinaus,  welche 
den  springenden  Punkt  nicht  berührt,  sondern  umgeht. 

In  die  erste  Kategorie  gehört  die  wiederholte  Anrufung  von  Smith 
und  Ricardo  als  Gewährsmännern  für  jenen  Satz,  „über  den  in  der  vor- 
geschrittenen Nationalökonomie  kein  Streit  mehr"  sei,  der  unter  den 
englischen  Nationalökonomen  eingebürgert,  unter  den  französischen  doch 
vertreten,  und,  „was  das  Wichtigste  ist,  gegen  alle  Sophismen  einer  Hinter- 


')  Soziale  Frage  S.  69. 

0 


Rodbertus.  33g 

gedanken  hegenden  Lehre  unauslöschlich  ins  Volksbewußtsein  geprägt" 
sei^).  Wir  werden  indes  etwas  später  die  interessante  Tatsache  festzustellen 
haben,  daß  Smith  und  Ricardo  den  in  Rede  stehenden  Satz  nur  axio- 
matisch  behaupten,  ohne  ihn  irgendwie  zu  begründen;  und  überdies  haben 
beide,  wie  Knies  sehr  hübsch  nachgewiesen  hat 2),  selbst  nicht  einmal 
konsequent  an  jenem  Satze  festgehalten.  Insoferne  nun  in  einer  wissen- 
schaftlichen Diskussion  selbstverständlich  auch  Autoritäten  nicht  durch 
ihren  Namen,  sondern  nur  durch  die  Kraft  der  Gründe  beweisen,  die  von 
ihnen  vertreten  werden,  in  diesem  Falle  aber  gar  keine  Gründe,  ja  nicht 
einmal  eine  konsequente  Behauptung  hinter  den  Namen  steht,  ergibt  sich 
aus  dem  Autoritäten-Appell  keine  materielle  Stärkung  der  Position  von 
Rodbertus;  diese  ruht  vielmehr  lediglich  auf  den  Gründen,  die  Rodbertus 
selbst  für  seine  These  beizubringen  imstande  ist. 

In  dieser  Beziehung  kommt  nun  eine  etwas  längere  Beweisführung 
in  dem  ersten  der  fünf  Theoreme  „zur  Erkenntnis  unserer  staatswirtschaft- 
lichen Zustände",  und  ein  gedrängterer  Syllogismus  in  der  Schrift  „zur 
Erklärung  und  Abhilfe  der  heutigen  Kreditnot  des  Grundbesitzes"  in 
Betracht. 

An  ersterem  Orte  entwickelt  Rodbertus  zunächst  vollkommen  zu- 
treffend, daß  und  waxum  wir  mit  Gütern,  die  Arbeit  kosten,  wirtschaften 
müssen.  Er  stellt  mit  vollem  Recht  das  quantitative  Mißverhältnis  zwischen 
der  „Unendlichkeit  und  Unersättlichkeit  unseres  Begehrungsvermögens" 
oder  unserer  Bedürfnisse  und  der  Beschränktheit  unserer  Zeit  und  Kraft 
in  den  Vordergrund;  erst  in  zweiter  Linie,  und  mehr  andeutungsweise, 
spricht  er  auch  davon,  daß  die  Arbeit  „mühsam",  ein  Opfer  an  „Freiheit" 
u.  dgl.  sei  3).  Desgleichen  führt  er  vollkommen  zutreffend  aus,  daß  und 
warum  ein  Aufwand  von  Arbeit  als  , Kosten"  aufgefaßt  werden  müsse. 
„Man  muß  sich"  —  sagt  er*)  —  „nur  den  Begriff  von  „kosten"  klar  machen. 
In  ihm  liegt  mehr,  als  daß  etwas  zur  Hervorbringung  eines  anderen  nur 
nötig  ist.  Wesentlich  gehört  dazu,  sowohl  daß  ein  Aufwand  gemacht  ist, 
der  deshalb  nicht  mehr  für  anderes  zu  machen  ist,  als  auch,  daß  er  von 
einem  Subjekt  gemacht  wird,  das  durch  die  Unwiederbringlichkeit  des 
Aufwandes  getroffen  wird.  In  dem  letzteren  liegt,  daß  nur  dem  Menschen 
etwas  kosten  kann." 

Vollkommen  richtig!  —  Ebenso  richtig  ist  auch,  daß,  wie  Rodbertus 
weiter  ausführt,  beide  Kriterien  des  Kostens  bei  der  Arbeit  zutreffen. 
Denn  der  Aufwand  von  Arbeit,  den  jedes  Gut  verursacht  hat,  ,.ist  für 


^)  Soziale  trage  S.  71. 
")  Kredit,  II.  Hälfte  S.  60ff. 

*)  Zur  Erkenntnis  unserer  staatswirtschaftlichen  Zustände  (1842)  Erstes  Theorem, 
5  und  6. 

♦)  a.  a.  0.  S.  7. 

22* 


340  ^I^-  ^^^  Ausbeutongstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

kein  andere»  weiter  aufzuwenden"  —  erstes  Kriterium  —  und  „durch 
ihn  wird  keiner  sonst  getroffen  als  der  Mensch,  denn  er  besteht  aus  seiner 
Kraft  und  seiner  Zeit,  und  beide  sind  beschränkt  der  endlosen  Reihe  von 
Gütern  gegenüber"   —  zweites  Kriterium. 

Nun  handelt  es  sich  aber  für  Rodbertus  darum,  auch  noch  zu  be- 
weisen, daß  ein  „kosten"  und  in  weiterer  Folge  ein  Grund  zum  Wirtschaften 
eben  nur  gegenüber  der  Arbeit  allein  und  gegenüber  keinem  anderen 
Elemente  zutreffe.  Er  muß  zuvörderst  einräumen,  „daß  zur  Produktion 
eines  Gutes  noch  ein  anderes  (außer  der  Arbeit)  nötig  und  tätig  ist", 
nämlich  —  abgesehen  von  Ideen,  welche  der  Geist  dazu  leiht  —  ein  Material, 
das  die  Natur  dazu  leiht,  und  Naturkräfte,  welche  „im  Dienst  der  Arbeit 
die  Umwandlung  oder  Aneignung  des  Stoffes  vollbringen  helfen".  Allein 
dem  Anteil  der  Natur  fehlen  beide  Kriterien  des  Kostens.  Denn  die  tätige 
Naturkraft  sei  „unendlich  und  unzerstörbar:  die  Kraft,  welche  die  er- 
forderlichen Substanzen  zu  einem  G«treidekorn  zusammenbildet,  ist  immer 
im  Gefolge  dieser  Substanzen.  Das  Material,  das  die  Natur  zu  einem 
Gute  Jeiht,  ist  allerdings  so  lange  nicht  zu  einem  zweiten  zu  verwenden. 
Allein  man  müßte  die  Natur  personifizieren,  und  von  ihren  Kosten 
sprechen,  wollte  man  deshalb  überhaupt  von  Kosten  sprechen.  Das  Material 
ist  kein  Aufwand,  den  der  Mensch  für  das  Gut  macht;  Kosten  des  Gutes 
sind  für  uns  aber  nur  diejenigen,  welcher  dieser  hat"^). 

Von  den  beiden  Gliedern  dieses  Schlusses  ist  das  erste,  welches  das 
Zutreffen  des  ersten  Kriteriums  in  Abrede  stellen  will,  ganz  offenbar  ver- 
fehlt. Freilich  sind  die  Naturkräfte  ewig  und  unzerstörbar,  aber  für  die 
Fragen  des  Produktionsaufwandes  kommt  es  nicht  darauf  an,  ob  jene 
Kräfte  überhaupt  fortexistieren,  sondern  darauf,  ob  sie  in  einer  Weise 
fortexistieren  und  fortwirken,  welche  sie  zu  einer  abermaligen  produktiven 
Nutzwirkung  geeignet  macht.  Und  in  dieser,  für  unsere  Frage  allein  in 
Betracht  kommenden  Beziehung  ist  von  einer  unzerstörten  Forterhaltung 
keine  Rede.  Wenn  wir  unsere  Kohle  verbrannt  haben,  dauern  freilich  die 
chemischen  Kräfte  des  Kohlenstoffes,  die  durch  ihre  Verbindung  mit  dem 
Sauerstoff  der  atmosphärischen  Luft  die  uns  willkommene  Heizwirkung 
hervorgebracht  haben,  auch  weiterhin  fort:  allein  nunmehr  erschöpft  sich 
ihre  Wirkung  in  der  Festhaltung  der  Sauerstoffatome,  mit  denen  sich  die 
Kohlenstoffatome  zur  Kohlensäure  verbunden  haben,  und  von  einer 
wiederholten  Nutzwirkung  dieser  Kräfte  ist  bis  auf  weiteres  nicht  die  Rede. 
Der  Aufwand  an  chemischen  Kräften,  den  wir  durch  die  Verbrennung  der 
Kohle  zu  gunsten  der  Produktion  eines  Gutes  gemacht  haben,  kann  nicht 
mehr  zu  gunsten  eines  anderen  Gutes  gemacht  werden  2).    Ganz  dasselbe 


1)  a.  a.  0.  S.  8. 

*)  Es  ist  leicht  zu  sehen,  daß  Rodbertus  konsequent  auch  die  Arbeitskraft  für 
etwas  ewiges  und  unzerstörbares  hätte  erklären  müssen,  da  ja  auch  die  im  mensch- 


Rodbertus.  341 

gilt  natürlich  auch  von  den  Materialien  der  Produktion.  Rodbertus 
i*äumt  es  bezüglich  ihrer  eigentlich  auch  ein,  wenn  auch  in  unzureichender 
Weise,  wenn  er  sagt,  daß  sie  „so  lange"  nicht  zu  einem  anderen  Gute  zu 
verwenden  sind.  In  Wahrheit  sind  sie  nicht  bloß  „so  lange",  als  sie  in  dem 
ersten  Gute  darin  stecken,  sondern  regelmäßig  auch  nachher  nicht  zur 
Produktion  eines  zweiten  Gutes  zu  verwenden.  Wenn  ich  Holz  zu  Dippel- 
bäumen  verwende,  so  ist  dasselbe  nicht  bloß  während  der  hundert  Jahre, 
während  derer  es  in  dem  Hause  als  Dippelbaum  dient  und  allmählich 
verfault,  sondern  auch  nach  seiner  Verfaulung  nicht  mehr  zu  einer  Pro- 
duktion eines  anderen  Gutes  zu  gebrauchen,  weil  seine  freilich  fortbestehen- 
den chemischen  Elemente  sich  nunmehr  in  einem  Zustande  befinden,  der 
sie  zur  Lenkung  für  Nutzzwecke  des  Menschen  nicht  mehr  geeignet  macht. 
Etwas  später,  bei  der  Erörterung  eines  selbstgestellten  Einwandes,  läßt 
denn  auch  Rodbertus  selbst  diesen  seinen  ersten  Grund  fallen,  und  stützt 
sich  bloß  noch  darauf,  daß  das  zweite  Kriterium,  die  Beziehung  der  Kosten 
auf  eine  Person,  fehle. 

Aber  auch  hiemit  hat  Rodbertus  Unrecht.  Auch  der  Aufwand  an 
seltenen  Naturgaben  ist  ein  Aufwand,  durch  dessen  Unwiederbringlichkeit 
ein  Subjekt  getroffen  wird,  geradeso  wie  Rodbertus  es  in  seiner  Definition 
des  Kostens  fordert,  und  aus  genau  demselben  Grunde,  den  er  selbst  für 
die  Arbeit  zur  Geltung  bringt.  Welchen  Sinn  hat  es  denn,  wenn  Rod- 
bertus nicht  etwa  das  mit  der  Arbeit  verbundene  Leid,  sondern  mit 
wiederholtem  Nachdruck  die  quantitative  Beschränktheit  der  Arbeit 
gegenüber  der  Unendlichkeit  unserer  Bedürfnisse  als  den  Grund  aufruft, 
der  uns  mit  der  Arbeit  und  ihren  Produkten  zu  wirtschaften  zwingt?  Doch 
keinen  anderen,  als  daß  jede  Vergeudung  der  zur  vollen  Bedürfnisbefrie- 
digung ohnedies  unzureichenden  Arbeit  in  unsere  Bedürfnisbefriedigung 
eine  noch  größere  Lücke  reißen  würde.  Dieses  Motiv  würde  bestehen 
bleiben,  auch  wenn  die  Arbeit  mit  gar  keiner  persönlichen  Leidempfindung, 
Plage,  Zwang  u.  dgl.  verbunden  wäre,  sondern  dem  Arbeiter  ein  reines 
ungetrübtes  Vergnügen  bereiten,  aber  dabei  in  ihrer  Menge  für  die  Er- 
zeugung aller  gewünschten  Güter  doch  unzureichend  sein  würde.  Die 
Person  wird  somit  durch  einen  vergeudeten,  oder  überhaupt  durch  einen 
Arbeitsaufwand  getroffen,  einfach  weil  ihr  dadurch  eine  anderweitige 
Bedürfnisbefriedigung  entgeht^).     Und  ganz  dasselbe  findet  statt,  wenn 

liehen  Organismus  liegenden  chemischen  und  mechanischen  Kräfte  nicht  aus  der  Welt 
verschwinden  1 

^)  Man  denke  z,  B.  noch  daran,  ob  nicht  auch  ein  Gebieter  über  fremde  Arbeit, 
sei  er  nun  Lohnherr,  oder  Familienvorstand,  oder  Sklavenhalter,  vernünftige  Ursache 
hat,  mit  fremder  Arbeit  zu  wirtschaften.  Natürlich  kann  hier  als  die  Ursache  nicht 
mehr  in  Betracht  kommen,  daß  die  Arbeit  seiner  Zeit,  seiner  KIraft  oder  seinem 
persönlichen  Opfer  an  Freiheit  entstamme,  sondern  es  ist  offensichtig  die  im  Texte 
geschilderte  Beziehung  zu  seiner  (oder  seiner  Familie)  Bedürfnisbefriedigung  maß- 
gebend. 


342  XII-  I^ie  Ausbeutungstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

eine  seltene  Naturgabe  vergeudet  oder  überhaupt  aufgewendet  wird. 
Vergeude  ich  mutwillig  oder  durch  Raubbau  ein  wertvolles  Mineral-  oder 
Kohlenlager,  so  vergeude  ich  eben  eine  Summe  von  Bedürfnisbefriedigungen, 
die  ich  bei  wirtschaftlichem  Verhalten  hätte  erlangen  können,  und  die 
ich  durch  unwirtschaftliches  Verhalten  eben  verscherze^). 

RoDBERTus  hält  sich  diesen  —  kaum  zu  übersehenden  —  Einwand 
auch  selbst  vor  Augen.  Man  könne  einwenden,  meint  er,  daß  dem  Besitzer 
eines  Waldes  außer  der  Arbeit,  die  er  auf  das  Holzfällen  usw.  verwendet, 
auch  noch  das  Material  selbst  koste,  „da  es  zu  einem  Gute  verwendet, 
nicht  mehr  zu  einem  andern  zu  verwenden  ist,  und  es  sich  also  als  Aufwand 
darstellt,  durch  den  er,  der  Besitzer,  getroffen  wird"^).  Rodbertus  weicht 
aber  diesem  Einwand  durch  ein  Sophisma  aus.  Er  beruhe,  sagt  er,  auf  einer 
„.Fiktion",  „weil  man  nämlich  ein  Verhältnis  des  positiven  Rechtes  zu 
einer  staatswirtschaftlichen  Grundlage  macht,  da  doch  zu  dieser  nur  statt- 
hafte natürliche  Verhältnisse  dienen  können".  Nur  vom  Standpunkte 
der  bestehenden  positiven  Rechtsordnung  könne  man  annehmen,  daß  es 
an  Naturdingen,  ehe  Arbeit  an  sie  gewendet  worden  ist,  schon  einen  ,, Be- 
sitzer" gebe,  und  die  Sache  würde  sich  sogleich  anders  stellen,  wenn  man 
das  Grundeigentum  aufheben  würde. 

Im  entscheidenden  Punkte  würde  sich  indes  die  Sache  eben  nicht 
anders  stellen.  Ist  das  Holz  am  Stamme  überhaupt  eine  relativ  seltene 
Naturgabe,  so  erfordert,  unabhängig  von  jeder  Rechtsordnung,  schon  die 
Natur  der  Sache,  daß  jede  Vergeudung  der  seltenen  Naturgabe  am  Wohl 
und  Wehe  von  Personen  ausgeht:  die  Rechtsordnung  kommt  nur  für  die 
Auswahl  der  Personen  in  Betracht,  welche  betroffen  werden.  Bei  Bestand 
privaten  Grundeigentums  ist  der  Interessierte  und  somit  Betroffene  der 
Besitzer;  bei  Gemeineigentum  würde  es  der  ganze  Kreis  der  Gesellschafts- 
mitglieder sein,  bei  Abgang  jeder  Rechtsordnung  der  tatsächliche  Gewalt- 
haber, sei  es  jener,  der  zuerst  kommt,  oder  der  Stärkste.  Aber  nie  würde 
sich  vermeiden  lassen,  daß  der  Verlust  oder  der  Aufwand  an  seltenen 
Naturgaben  überhaupt  irgend  eine  Person  oder  einen  Kreis  von  Personen 
in  ihrer  Bedürfnisbefriedigung  trifft  —  außer  man  denkt  etwa  daran,  daß 
der  Wald  überhaupt  keine  menschlichen  Bewohner  hat,  oder  daß  die 
Bewohner  aus  irgend  einem  außer  wirtschaftlichen,  z.  B.  religiösen  Motiv 
sich  grundsätzlich  von  jeder  Antastung  des  Holzes  zurückhalten.  Dann 
wird  freilich  mit  dem  Holz  nicht  gewirtschaftet  werden,  aber  nicht  deshalb, 
weil  reine  Naturgaben  grundsätzlich  nicht  Gegenstand  eines  eine  Person 
ins  Mitleid  ziehenden  Opfers  werden  könnten,  sondern  weil  sie  durch  die 


^)  Die  in  allen  Berggesetzgebungen  vorfindlichen  Bestimmungen  gegen  Raubbau 
sind  eine  handgreifliche  Widerlegung  gegen  Rodbertus,  da  sie  ein  Wirtschaften  mit 
seltenen  Naturgaben  —  aus  sehr  vernünftigen  Gründen  1  —  geradezu  zur  Pflicht  machen. 

2)  a.  a.  0.  S.  9. 


Rodbertus.  343 

konkreten  Umstände  des  Falles  aus  solchen  persönlichen  Beziehungen, 
in  welchen  zu  stehen  sie  an  sich  sehr  wohl  fähig  sind,  ausgeschaltet  worden 
wären.  — 

In  einer  späteren  Schrift  widmet  Rodbertus  seiner  These  nochmals 
eine  kurze  Begründung,  die  augenscheinlich  denselben  Gedanken,  aber 
zum  Teil  in  etwas  anderer  Wendung  verfolgt.  Er  meint,  es  sei  alles  Produkt, 
das  durch  eine  Arbeit  in  ein  Guts  Verhältnis  zu  uns  kommt,  deshalb  wirt- 
schaftlich auf  alleinige  Rechnung  der  menschlichen  Arbeit  zu  setzen,  weil 
Arbeit  die  einzige  Urkraft  und  auch  der  einzige  Uraufwand  ist,  mit  dem 
die  menschliche  Wirtschaft  haushält^).  Dieser  Argumentation  gegenüber 
kann  man  jedoch  erstlich  sehr  zweifeln,  ob  die  in  ihr  benützte  Prämisse 
selbst  richtig  ist,  wie  sie  denn  auch  von  Knies  mit  großer  Entschiedenheit, 
und,  wie  ich  glaube,  auch  mit  triftigen  Argumenten  in  Zweifel  gezogen 
wird^).  Und  zweitens,  wenn  auch  die  Prämisse  richtig  wäre,  so  ist  es  darum 
der  Schlußsatz  noch  nicht:  Auch  wenn  wirklich  die  Arbeit  die  einzige 
Urkraft  wäre,  mit  der  die  menschliche  Wirtschaft  haushält,  so  sehe  ich 
gar  nicht  ein,  warum  die  menschliche  Wirtschaft  nicht  auch  noch  mit  etwas 
anderem  als  mit  den  „Urkräften"  hauszuhalten  Ursache  haben  soll? 
Warum  nicht  auch  mit  gewissen  Ergebnissen  jener  Urkraft,  oder  mit 
Ergebnissen  anderer  Urkräfte?  Warum  z.  B.  nicht  mit  dem  oben  be- 
sprochenen goldenen  Meteor?  Warum  nicht  mit  dem  zufällig  gefundenen 
Edelsteine?  Oder  mit  den  natürlichen  Kohlenlagern?  Rodbertus  faßt 
eben  das  Wesen  und  die  Motive  der  Wirtschaft  zu  enge  auf.  Wir  wirt- 
schaften mit  der  Urkraft  Arbeit,  wie  Rodbertus  ganz  richtig  sagt,  „weil 
diese  Arbeit  nach  Zeit  und  Maß  beschränkt,  einmal  angewendet  auch  auf- 
gewendet, und  endlich  ein  Raub  an  unserer  Freiheit  ist."  Aber  das  sind 
alles  nur  Zwischenmotive,  noch  nicht  das  letzte  Motiv  für  unser  haus- 
hälterisches Benehmen.  Im  letzten  Grunde  halten  wir  mit  der  beschränkten 
und  mühsamen  Arbeit  haus,  weil  wir  durch  eine  unwirtschaftliche  Gebarung 
mit  ihr  eine  Einbuße  an  Lebenswohlfahrt  erleiden  würden.  Ganz  dasselbe 
Motiv  treibt  uns  aber  zum  Haushalten  auch  jedem  anderen  nützlichen 
Dinge  gegenüber,  das  wir,  weil  es  in  beschränkter  Menge  vorhanden,  nicht 
ohne  eine  Einbuße  an  Lebensgenuß  entbehren  oder  verlieren  können: 


>)  Erklärung  und  Abhilfe,  II,  S.  160.    Ähnlich  Soziale  Frage  S.  69. 

-)  Der  Ejredit,  II.  Hälfte,  S.  69:  „Es  ist  einfach  sachlich  nicht  wahr,  was  Rod- 
bertus als  einzigen  Grund  für  sich  anführt,  daß  ,,die  Arbeit  die  einzige  Urkraft  und 
auch  der  einzige  Uraufwand  ist,  mit  dem  die  menschliche  Wirtschaft  haushält!"  Welche 
gerade  bei  einem  Grundbesitzer  so  überraschende  Verblendung,  daß  die  in  unseren 
beschränkten  Grundstücken  wirksame  Bodenkraft  von  unhaushälterischen  Menschen 
nicht  ,,tot  liegend"  gelassen,  nicht  für  den  Erwuchs  von  „Unkraut  vergeudet"  werden 
könne  usw.  usw.  Ein  so  absurdes  Urteil  muß  ja  auch  schließlich  den  Satz  vertreten, 
daß  der  Verlust  von  x  Morgen  Landes  für  einen  Landwirt  von  y  Quadratmeilen  für  eine 
Volkswirtschaft  keine  „wirtschaftliche  Einbuße  bedeute" 


344  XII.  Die  Ausbeutungstheorie.    2.  Ü.-A.  Kritik. 

mag  es  nun  Urkraft  sein  oder  nicht,  mag  es  Urkraft  Arbeit  gekostet  haben 
oder  nicht. 

Vollends  unhaltbar  wird  die  von  Rodbertus  eingenommene  Position 
endlich  durch  den  Zusatz,  daß  die  Güter  sogar  nur  als  Produkte  der  mate- 
riellen Handarbeit  zu  betrachten  seien.  Dieser  Satz,  durch  den  unter 
anderem  sogar  die  unmittelbare  geistige  Leitung  der  Produktionsarbeit 
von  der  Anerkennung  als  wirtschaftlich  produktive  Tätigkeit  ausge- 
schlossen wird,  führt  zu  einer  Fülle  innerer  Widersprüche  und  schiefer 
Konsequenzen,  die  keinen  Zweifel  an  seiner  Unrichtigkeit  aufkommen 
lassen,  und  die  von  Knies  in  so  schlagender  Weise  aufgedeckt  worden  sind, 
daß  es  eine  überflüssige  Wiederholung  wäre,  wenn  auch  ich  nochmals 
auf  die  Sache  eingehen  wollte  i). 

So  ist  denn  Rodbertus  schon  bei  Aufstellung  seines  ersten  Fun- 
damentalsatzes mit  der  Wahrheit  in  Widerspruch  gekommen.  Um  übrigens 
vollkommen  loyal  zu  sein,  muß  ich  an  dieser  Stelle  eine  Einräumung" 
machen,  die  Knies  von  dem  Standpunkte  der  Nutzungstheorie,  den  er 
vertritt,  nicht  machen  konnte.  Ich  räume  nämlich  ein,  daß  mit  der  Wider- 
legung jenes  Fundamentalsatzes  noch  nicht  die  ganze  Zinstheorie  Rod- 
bertus' widerlegt  ist.  Jener  Satz  ist  irrig,  aber  nicht  weil  er  den  Anteil 
des  Kapitales,  sondern  nur  weil  er  den  Anteil  der  Natur  an  der  Güter- 
erzeugung verkennt.  Ich  glaube  nämlich  gleich  Rodbertus,  daß,  wenn 
man  die  Folge  aller  Produktionsstadien  als  ein  Ganzes  betrachtet,  das 
Kapital  keinen  selbständigen  Platz  unter  den  Produktionskosten  behaupten 
kann:  es  ist  nicht  ausschließlich  „vorgetane  Arbeit",  wie  Rodbertus 
meint,  aber  es  ist  teils  und  zwar  gewöhnlich  der  Hauptsache  nach  „vor- 
getane Arbeit",  zum  Reste  ist  es  aufgespeicherte  wertvolle  Naturkraft. 
Wo  letztere  zurücktritt  —  etwa  in  einer  Produktion,  die  durch  alle  Stadien 
hindurch  nur  freie  Naturgaben  und  Arbeit  oder  solche  Produkte  anwendet, 
die  selbst  ausschließlich  aus  freien  Naturgaben  und  Arbeit  entstanden 
sind  —  da  kann  man  in  der  Tat  mit  Rodbertus  sagen,  daß  solche  Güter, 
wirtschaftlich  betrachtet,  nur  Produkte  der  Arbeit  sind.  Indem  sich  sonach 
Rodbertus'  FundamentaJirrtum  nicht  auf  die  Rolle  des  Kapitales,  sondern 
nur  auf  jene  der  Natur  bezieht,  müssen  auch  die  Folgesätze,  die  er  daraus 


^)  Siehe  Knies,  Der  Kredit,  IL  Hälfte,  S.  64ff.;  z.  B.:  „Wer  Steinkohlen  „„pro- 
duzieren"" will,  muß  nicht  bloß  graben,  sondern  er  muß  an  einem  bestimmten  Orte 
graben;  an  Tausenden  von  Orten  kann  er  ganz  erfolglos  dieselbe  materielle  Operation 
des  Grabens  machen.  Wenn  aber  die  schwierige  und  notwendige  Leistung  der  richtigen 
Ortsbestimmung  von  einer  besonderen  Person,  etwa  einem  Geologen  übernommen 
wird;  wenn  ohne  eine  weitere  „geistige  KIraft"  kein  Schacht  zurecht  gebracht  würde 
usw.  —  wie  soll  dann  die  „wirtschaftliche"  Leistung  nur  das  Graben  sein?  Wann 
und  wo  die  Wahl  der  Stoffe,  die  Bestimmung  der  Mengenverhältnisse  u.  dgl.  von  einer 
anderen  Person  ausgeht,  als  von  derjenigen,  welche  das  „Pillendrehen"  besorgt,  soll 
dann  der  wirtschaftliche  Wert  dieses  Sachkörpers,  soll  dieses  Heihnittelfabrikat  als 
solches,  ein  Produkt  nur  der  bezüglichen  Handarbeit  sein?-' 


RodbertuB.  345 

über  die  Natur  des  Kapitalgewinnes  herleitet,  nicht  notwendig  falsch  sein. 
Erst  wenn  sich  auch  in  der  Fortsetzung  seiner  Lehre  wesentliche  Irrtümer 
zeigen,  werden  wir  sie  als  falsch  verwerfen  dürfen.  Solche  Irrtümer  finden 
sich  nun  allerdings. 

Um  von  dem  ersten  Versehen  Rodbertus'  keinen  ungebührKchen 
Nutzen  zu  ziehen,  will  ich  für  die  ganze  folgende  Untersuchung  alle  Voraus- 
setzungen so  stellen,  daß  die  Folgen  jenes  Versehens  vollständig  eliminiert 
werden.  Ich  will  supp'onieren,  daß  alle  Güter  nur  durch  das  Zusammen- 
wirken von  Arbeit  und  freien  Naturkräften  und  unter  ausschließlicher 
Beihilfe  solcher  Kapitalgegenstände  hervorgebracht  werden,  die  selbst  nur 
durch  das  Zusammenwirken  von  Arbeit  und  freien  Naturkräften  ohne 
Dazwischenkunft  tauschwerter  Naturgaben  entstanden  sind.  Unter  dieser 
begrenzenden  Voraussetzung  kann  ich  Rodbertus'  Fundamentalsatz,  daß 
die  Güter,  wirtschaftlich  betrachtet,  nur  Arbeit  kosten,  auch  meinerseits 
gelten  lassen.  —  Sehen  wir  nun  weiter. 

Rodbertus'  nächste  These  läutet,  daß  naturgemäß  und  nach  der 
„reinen  Rechtsidee"  dem  Arbeiter  das  ganze  Produkt,  das  er  allein  hervor- 
gebracht, beziehungsweise  dessen  ganzer  Wert  ohne  Abzug  gehören  müsse. 
—  Ich  stimme  auch  dieser  These,  gegen  deren  Richtigkeit  und  Gerechtig- 
keit sich  unter  der  oben  gemachten  begrenzenden  Voraussetzung  meines 
Erachteüs  kein  Einwand  erheben  läßt,  vollkommen  zu.  Aber  ich  glaube, 
daß  Rodbertus  und  alle  Sozialisten  mit  ihm  von  der  Verwirklichung  dieses 
wahrhaft  gerechten  Satzes  sich  eine  falsche  Vorstellung  machen,  und  durch 
diese  mißleitet  die  Herstellung  eines  Zustandes  begehren,  der  jenem  Satze 
nicht  entspricht,  sondern  widerspricht.  Da  merkwürdigerweise  in  den 
vielen  Widerlegungsversuchen,  die  bisher  gegen  die  Ausbeutungstheorie 
gerichtet  wurden,  dieser  entscheidende  Punkt  höchstens  oberflächlich 
gestreift,  aber  noch  nie  ins  gehörige  Licht  gesetzt  worden  ist,  darf  ich  mir 
wohl  erlauben,  den  Leser  für  die  folgende  Entwicklung  um  einige  Auf- 
merksamkeit zu  bitten,  umsomehr,  als  die  nicht  leichte  Sache  ihrer  dringend 
bedarf. 

Ich  will  den  Fehler,  den  ich  rüge,  erst  nennen,  dann  beleuchten.  Der 
vollkommen  .gerechte  Satz,  daß  der  Arbeiter  den  ganzen  Wert  seines 
Produktes  erhalten  soll,  kann  vernünftiger  Weise  in  sich  schließen,  ent- 
weder daß  der  Arbeiter  den  ganzen  jetzigen  Wert  seines  Produktes  jetzt, 
oder  daß  er  den  ganzen  künftigen  Wert  seines  Produktes  künftig 
erhalten  soll.  Rodbertus  und  die  Sozialisten  legen  ihn  aber  so  aus,  daß 
der  Arbeiter  den  ganzen  künftigen  Wert  seines  Produktes  jetzt  erhalten 
solle,  und  tun  dabei,  als  ob  das  die  ganz  selbstverständliche  und  einzig 
mögliche  Auslegung  jenes  Satzes  wäre. 

Versinnlichen  wir  uns  die  Sache  an  einem  konkreten  Beispiele.  Stellen 
wir  uns  vor,  die  Herstellung  eines  Gutes,  z.  B.  einer  Dampfmaschine, 
kostet  fünf  Arbeitsjahre,  und  der  Tauschwert,  den  die  fertige  Maschine 


346  XII.  Die  Ausbeutungstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

erzielt,  sei  gleich  5500  fl.  Stellen  wir  uns  ferner  —  einstweilen  von  der 
Tatsache  der  Teilung  des  Werkes  unter  Mehrere  abstrahierend  —  vor, 
daß  ein  Arbeiter  allein  durch  die  kontinuierliche  Arbeit  von  fünf  Jahren 
die  Maschine  herstelle,  und  fragen  wir,  was  ihm  im  Sinne  des  Satzes, 
daß  dem  Arbeiter  sein  ganzes  Produkt,  beziehungsweise  der  ganze  Wert 
seines  Produktes  gehören  soll,  als  Lohn  gebührt?  —  Die  Antwort  kann 
nicht  einen  Augenblick  zweifelhaft  sein:  es  gebührt  ihm  die  ganze  Dampf- 
maschine, beziehungsweise  die  ganzen  5500  fl.  Aber  wann?  —  Auch 
darüber  kann  nicht  der  mindeste  Zweifel  sein:  offenbar  nach  Ablauf  der 
fünf  Jahre.  Denn  naturgemäß  kann  er  die  Dampfmaschine  nicht  eher 
empfangen,  als  sie  existiert,  einen  selbstgeschaffenen  Wert  von  5500  fl. 
nicht  eher  in  Besitz  nehmen,  als  bis  er  geschaffen  ist.  Er  wird  in  diesem 
Falle  seine  Entlohnung  nach  der  Formel  empfangen  haben:  das  ganze 
künftige  Produkt,  beziehungsweise  dessen  ganzer  künftiger  Wert  in  einem 
künftigen  Zeitpunkte. 

Aber  es  kommt  sehr  oft  vor,  daß  der  Arbeiter  nicht  warten  kann  oder 
will,  bis  sein  Produkt  völlig  fertig  gestellt  ist.  Unser  Arbeiter  wünscht  z.  B. 
schon  nach  Ablauf  Eines  Jahres  eine  entsprechende  Teilentlohnung  zu 
empfangen.  Es  fragt  sich:  wie  wird  diese  dem  obigen  Grundsatze  ent- 
sprechend zu  bemessen  sein?  —  Ich  glaube,  es  wird  auch  dies  nicht  einen 
Augenblick  zweifelhaft  bleiben  können:  dem  Arbeiter  wird  sein  Recht 
geschehen,  wenn  er  jetzt  das  Ganze  bekommt,  was  er  bis  jetzt  gearbeitet 
hat.  Wenn  er  also  z.  B.  bis  jetzt  einen  Haufen  unfertigen  Erzes,  Eisens 
oder  Stahlmateriales  erzeugt  hat,  so  wird  ihm  sein  Recht  geschehen,  wenn 
man  ihm  eben  diesen  ganzen  Haufen  von  Erz,  Eisen  oder  Stahl  übergibt, 
beziehungsweise  den  ganzen  Wert,  den  dieser  Materialhaufen  hat,  und 
zwar  natürlich  jetzt  hat.  —  Ich  glaube  nicht,  daß  irgend  ein  Sozialist 
an  dieser  Entscheidung  etwas  aussetzen  könnte. 

Wie  groß  wird  dieser  Wert  im  Verhältnisse  zum  Wert  der  fertigen 
Dampfmaschine  nun  sein  ?  —  Dies  ist  ein  Punkt,  an  dem  ein  oberflächlicher 
Denker  leicht  irren  kann.  Der  Arbeiter  hat  nämlich  bis  jetzt  ein  Fünftel 
der  technischen  Arbeit,  die  die  Herstellung  der  ganzen  Maschine  erfordert, 
geleistet:  folglich  —  ist  man  bei  oberflächlicher  Betrachtung  versucht  zu 
folgern  —  wird  sein  jetziges  Produkt  auch  ein  Fünftel  des  Wertes  des 
ganzen  Produktes,  also  einen  Wert  von  1100  fl.  besitzen.  Der  Arbeiter  soll 
also  einen  Jahreslohn  von  1100  fl.  erhalten. 

Dies  ist  falsch.  1100  fl.  sind  ein  Fünftel  des  Wertes  einer  fertigen, 
gegenwärtigen  Dampfmaschine.  Was  aber  der  Arbeiter  bis  jetzt  produziert 
hat,  ist  nicht  ein  Fünftel  einer  Maschine,  die  schon  fertig  ist,  sondern  nur 
ein  Fünftel  einer  Maschine,  die  erst  in  vier  Jahren  fertig  sein  wird.  Und 
das  ist  zweierlei.  Nicht  nur  nach  einer  sophistischen  Wortklauberei, 
sondern  zweierlei  der  Sache  nach.  Jenes  Fünftel  hat  einen  anderen  Wert 
als  dieses,  so  gewiß  eine  ganze  gegenwärtige  Maschine  für  die  heutige 


Rodbertus.  347 

Wertschätzung  einen  anderen  Wert  hat,  als  eine  Maschine,  die  erst  in 
vier  Jahren  verfügbar  sein  wird,  so  gewiß,  als  überhaupt  gegenwärtige 
Güter  heute  einen  anderen  Wert  haben  als  künftige. 

Daß  gegenwärtige  Güter  in  der  Schätzung  der  Gegenwart,  in  der  sich 
die  Wirtschaft  vollzieht,  einen  höheren  Wert  haben  als  künftige  Güter 
derselben  Art  und  Güte,  ist  eine  der  verbreitetsten  und  wichtigsten  wirt- 
schaftlichen Tatsachen.  Über  die  Gründe,  denen  diese  Tatsache  ihren 
Ursprung  verdankt,  über  die  vielverzweigten  Modalitäten,  in  denen  sie 
sich  äußert,  und  über  die  ebenso  vielverzweigten  Konsequenzen,  zu  denen 
sie  im  Wirtschaftsleben  hinführt,  werde  ich  im  zweiten  Bande  dieses  Werkes 
eingehende  Untersuchungen  zu  führen  haben;  Untersuchungen,  die  weder 
so  leicht  noch  so  einfach  sein  werden,  als  die  Einfachheit  des  Grund- 
gedankens es  zu  verheißen  scheint.  Aber  auch  ehe  ich  diese  eingehenden 
Untersuchungen  durchgeführt  habe,  glaube  ich  mich  auf  die  Tatsache, 
daß  gegenwärtige  Güter  einen  höheren  Wert  haben  als  gleichartige  künftige, 
berufen  zu  dürfen ;  denn  ihre  Existenz  wird  schon  durch  die  roheste  Empirie 
des  Alltagslebens  außer  Zweifel  gestellt.  Man  gebe  1000  Personen  die 
Wahl,  ob  sie  lieber  heute,  oder  lieber  in  50  Jahren  ein  Geschenk  von  1000  fl. 
empfangen  wollen,  und  es  werden  alle  1000  den  gegenwärtigen  1000  fl. 
den  Vorzug  geben;  oder  man  frage  1000  andere  Personen,  die  ein  Pferd 
brauchen  und  für  ein  gutes  Tier  200  fl.  zu  geben  geneigt  wären,  wie  viel 
sie  wohl  jetzt  für  ein  ganz  gleich  gutes  Pferd  geben  würden,  das  sie  erst 
in  10  oder  in  50  Jahren  bekommen  sollen;  und  alle  werden,  wenn  über- 
haupt eine,  so  eine  unendlich  geringere  Summe  nennen  und  damit  doku- 
mentieren, daß  die  wirtschaftenden  Menschen  ganz  allgemein  gegenwärtige 
Güter  für  wertvoller  erachten,  als  ganz  gleichartige  Güter  der  Zukunft. 

Es  hat  demnach  das  von  unserem  Arbeiter  im  ersten  Jahre  erarbeitete 
Fünftel  einer  in  vier  Jahren  zu  vollendenden  Dampfmaschine  nicht  den 
ganzen  Wert  eines  Fünftels  einer  schon  vollendeten  Maschine,  sondern 
einen  geringeren.  Einen  um  wie  viel  geringeren?  —  Das  kann  ich,  ohne 
auf  störende  W^eise  vorzugreifen,  jetzt  noch  nicht  erklären.  Es  genüge 
hier  die  Bemerkung,  daß  dies  in  einem  gewissen  erfahrungsmäßigen  Zu- 
sammenhange mit  der  Höhe  des  landesüblichen  Zinsfußes^)  und  mit  der 
Entlegenheit  des  Zeitpunktes  steht,  in  dem  das  ganze  Produkt  vollendet 
sein  wird.  Setze  ich  den  üblichen  Zinsfuß  mit  5  %  an,  so  wird  das  Produkt 
des  ersten  Arbeitsjahres  an  dessen  Schlüsse  ungefähr  1000  fl.  wert  sein*). 
Demgemäß  wird  der  Lohn,  der  dem  Arbeiter  nach  dem  Motto  gebührt,  daß 


^)  Es  fällt  mir  natürlich  nicht  ein,  den  Zinsfuß  hier  als  Ursache  der  Mindet* 
bewertung  der  zukünftigen  Güter  einführen  zu  wollen.  Ich  weiß  ganz  gut,  daß  Zins 
und  Zinsfuß.nur  eine  Folge  jener  primären  Erscheinung  sein  können.  Ich  will  hier  über- 
haupt nicht  erklären,  sondern  Tatsachen  schildern. 

-)  Das  Zutreffende  dieses  auf  den  ersten  Blick  befremdenden  Ziffernansatzes 
wird  sich  sehr  bald  herausstellen. 


348  -XII.  Die  Ausbeatongstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

er  sein  ganzes  Produkt,  beziehungsweise  dessen  ganzen  Wert  erhalten 
soll,  für  das  erste  Arbeitsjahr  den  Betrag  von  1000  fl.  erreichen. 

Wenn  jemand  trotz  der  vorstehenden  Deduktionen  den  Eindruck 
haben  sollte,  daß  dies  zu  wenig  sei,  so  gebe  ich  folgendes  zu  bedenken. 
Niemand  wird  zweifeln,  daß  der  Arbeiter  nicht  verkürzt  wird,  wenn  er 
nach  fünf  Jahren  die  ganze  Dampfmaschine,  beziehungsweise  den  ganzen 
Wert  von  5500  fl.  erhält.  Berechnen  wir,  um  vergleichen  zu  können,  auch 
den  Wert  des  antizipierten  Teülohnes  für  den  Zeitpunkt  nach  Ende  des 
fünften  Jahies.  Da  man  1000  fl.,  die  man  am  Ende  des  ersten  Jahres 
erhalten  hat,  bis  dahin  noch  vier  Jahre  verzinslich  anlegen  und  daher  bei 
einem  Zinsfuße  von  5%  um  weitere  200  fl.  (ohne  Zinseszins)  vermehren 
kann  (eine  Verwendung,  die  ja  auch  dem  entlohnten  Arbeiter  offen  steht), 
so  sind  offenbar  1000  fl.  am  Ende  des  ersten  Jahres  bezahlt  äquivalent  mit 
1200  fl.  am  Ende  des  fünften.  Bekommt  daher  der  Arbeiter  für  ein  Fünftel 
der  technischen  Arbeit  nach  einem  Jahre  1000  fl.,  so  ist  er  offenbar  nach 
einem  Maßstabe  gelohnt,  der  nicht  ungünstiger  ist,  als  wenn  er  für  das 
Ganze  nach  Ablauf  von  fünf  Jahren  5500  fl.  bekommen  hätte. 

Wie  aber  stellen  sich  Rodbertus  und  die  Sozialisten  die  Erfüllung 
des  Satzes  vor,  daß  der  Arbeiter  den  ganzen  Wert  seines  Produktes  erhalten 
solle  ?  —  Sie  wollen,  daß  der  ganze  Wert,  den  das  fertige  Produkt  am  Ende 
der  Arbeit  haben  wird,  zu  Lohnzahlungen  verwendet,  diese  aber  nicht 
erst  am  Schlüsse  der  ganzen  Produktion,  sondern  ratenweise  schon  im 
Laufe  der  Arbeit  flüssig  gemacht  werden.  Man  erwäge  wohl,  was  das  heißt. 
Das  heißt  für  unser  Beispiel,  daß  der  Arbeiter  die  ganzen  5500  fl.,  die  die 
fertige  Dampfmaschine  nach  fünf  Jahren  wert  sein  wird,  im  Durchschnitt 
der  Teilzahlungen  schon  nach  2^  Jahren  empfange.  Ich  muß  gestehen, 
daß  ich  es  für  absolut  unmöglich  halte,  diese  Forderung  aus  jener  Prämisse 
zu  begründen.  Wie  soU  es  naturgemäß  und  in  der  reinen  Rechtsidee  be- 
gründet sein,  daß  Jemand  ein  Ganzes,  das  er  erst  nach  fünf  Jahren  ge- 
schaffen haben  wird,  schon  nach  234  Jahren  bekommt?  Das  ist  so  weiiig 
„naturgemäß",  daß  es  im  Gegenteile  natürlich  gar  nicht  durchführbar  ist. 
Es  ist  selbst  dann  nicht  ausführbar,  wenn  man  den  Arbeiter  aller  Fesseln 
des  vielgeschmähten  Lohnkontraktes  entledigt  und  ihn  in  die  denkbar 
günstigste  Stellung  des  Unternehmers  auf  eigene  Faust  versetzt.  Als 
Arbeiter-Unternehmer  wird  er  freilich  die  ganzen  5500  fl.  bekommen, 
aber  nicht  früher  als  bis  sie  produziert  sind,  d.  i.  nach  fünf  Jahren.  Und 
wie  soll  das,  was  die  Natur  der  Dinge  dem  Unternehmer  selbst  versagt, 
im  Namen  der  reinen  Rechtsidee  durch  den  Lohnkontrakt  zustande  ge- 
bracht werden? 

Was  die  Sozialisten  wollen,  heißt  mit  den  richtigen  Worten  bezeichnet, 
daß  die  Arbeiter  vermöge  des  Lohnkontraktes  mehr  bekommen  sollen,  als 
sie  erarbeitet  haben,  mehr  als  sie  bekommen  könnten,  wenn  sie  Unter- 
nehmer auf  eigene  Rechnung  wären,  und  mehr  als  sie  dem  Unternehmer, 


Rodbertus.  349 

mit  dem  sie  den  Lohnkontrakt  schließen,  verschaffen.  Was  sie  geschaffen 
haben  und  worauf  sie  gerechten  Anspruch  haben,  sind  5500  fl.  nach  fünf 
Jahren.  Aber  5500  fl.  nach  2^4  Jahren,  die  man  für  sie  beansprucht,  sind 
mehr,  sie  sind,  wenn  der  Zins  auf  5%  steht,  ungefähr  so  Wel  wie  6200  fl. 
nach  fünf  Jahren.  Und  dieses  Wertverhältnis  ist  nicht  etwa  eine  Folge 
anfechtbarer  sozialer  Institutionen,  die  den  Zins  geschaffen  und  auf  5% 
festgestellt  hätten;  sondern  eine  unmittelbare  Folge  dessen,  daß  unser 
Aller  Leben  in  der  Zeit  sich  abspielt,  das  Heute  mit  seinen  Bedürfnissen 
und  Sorgen  vor  dem  Morgen  kommt,  und  das  Übermorgen  vielleicht  schon 
uns  überhaupt  nicht  mehr  sicher  ist.  Nicht  nur  die  gewinnsüchtigen 
Kapitalisten,  sondern  auch  jeder  Arbeiter,  überhaupt  jeder  Mensch  macht 
diesen  Wertunterschied  zwischen  Gegenwart  und  Zukunft.  Wie  würde 
der  Arbeiter  über  Übervorteilung  klagen,  wenn  man  ihm  für  10  fl.  seines 
Wochenlohnes,  die  man  ihm  heute  schuldet,  10  fl.  in  einem  Jahre  bieten 
wollte!  Und  was  dem  Arbeiter  nicht  gleichgültig  ist,  soll  dem  Unter- 
nehmer gleichgültig  sein?  Er  soll  5500  nach  2|4  Jahren  geben  für  5500, 
die  er  in  der  Gestalt  des  fertigen  Produktes  erst  nach  5  Jahren  empfangen 
wird?  Das  ist  weder  gerecht  noch  natürlich!  Was  gerecht  und  natürlich 
ist,  ist,  ich  will  es  nochmals  gerne  zugestehen,  daß  der  Arbeiter  die  ganzen 
5500  fl.  nach  fünf  Jahren  bekommt.  Kann  oder  will  er  nicht  fünf  Jahre 
warten,  so  soll  er  noch  immer  den  ganzen  Wert  seines  Produktes  bekommen; 
aber  natürlich  den  jetzigen  Wert  seines  jetzigen  Produktes.  Dieser 
Wert  aber  wird  kleiner  sein  müssen,  als  die  der  technischen  Arbeit  ent- 
sprechende Quote  des  künftigen  Produktwertes,  weil  in  der  Wirtschafts- 
welt das  Gesetz  herrscht,  daß  der  jetzige  Wert  künftiger  Güter  kleiner  ist 
als  der  gegenwärtiger  Güter;  ein  Gesetz,  das  keiner  sozialen  oder  staatlichen 
Institution,  sondern  unmittelbar  der  Natur  des  Menseben  und  der  Natur 
der  Dinge  sein  Dasein  verdankt.  — 

Wenn  irgendwo,  so  dürfte  an  diesem  Platze  Weitläufigkeit  entschuldbar 
sein,  an  dem  die  Widerlegung  einer  so  überaus  folgenschweren  Lehre,  wie 
die  sozialistische  Ausbeutungstheorie  es  ist,  in  Frage  steht.  Ich  will  daher 
auf  die  Gefahr  hin,  manchem  meiner  Leser  langweilig  zu  werden,  noch 
einen  zweiten  konkreten  Fall  vor  Augen  führen,  der,  wie  ich  hoffe,  mir 
Gelegenheit  bieten  wird,  den  Fehler  der  Sozialisten  noch  überzeugender 
nachzuweisen. 

Ich  habe  in  unserem  ersten  Beispiele  von  der  Tatsache  der  Arbeits- 
teilung noch  abstrahiert.  Ich  will  jetzt  die  Voraussetzungen  so  variieren, 
daß  sie  in  diesem  Punkte  der  AVirkhchkeit  des  Wirtschaftslebens  näher 
kommen.  Setzen  wir  also  voraus,  daß  an  der  Anfertigung  der  Maschine 
fünf  verschiedene  Arbeiter  arbeitsteilig  partizipieren,  von  denen  jeder 
eine  einjährige  Arbeit  beisteuert.  Ein  Arbeiter  gewinnt  etwa  im  Bergbau 
das  notwendige  Eisenerz,  der  zweite  bereitet  daraus  Eisen,  der  dritte 
verwandelt  dies  in  Stahl,  der  vierte  fertigt  daraus  die  nötigen  Einzel- 


350  XII-  Diß  Ausbeutungstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

bestandteile  und  der  fünfte  gibt  endlich  diesen  den  nötigen  Zusammen- 
hang und  legt  überhaupt  die  letzte  Hand  an  das  Werk.  Da  jeder  nach- 
folgende Arbeiter  hiebei  nach  der  Natur  der  Sache  sein  Werk  erst  beginnen 
kann,  wenn  seine  Vorgänge  ihr  vorbereitendes  Werk  vollendet  haben,  so 
werden  die  fünf  Arbeitsjahre  unserer  Arbeiter  nicht  gleichzeitig,  sondern 
nur  nacheinander  abgeleistet  werden  können;  die  Anfertigung  der  Maschine 
wird  also  geradeso  wie  im  ersten  Beispiele  fünf  Jahre  dauern.  Der  Wert 
der  fertigen  Maschine  bleibe  wie  bisher  5500  fl.  Was  wird  nach  dem  Satze, 
daß  der  Arbeiter  den  ganzen  Wert  seines  Produktes  zu  erhalten  hat,  jeder 
der  fünf  Teilnehmer  für  seine  Leistung  beanspruchen  können? 

Suchen  wir  diese  Frage  zunächst  für  den  Fall  zu  lösen,  daß  die  Lohn- 
ansprüche ohne  Dazwischenkunft  eines  fremden  Unternehmers  lediglich 
zwischen  den  Arbeitern  untereinander  zu  schlichten,  beziehungsweise  das 
erzielte  Produkt  einfach  unter  die  fünf  Arbeiter  aufzuteilen  ist.  Für  diesen 
Fall  steht  zunächst  zweierlei  fest.  Erstens,  daß  eine  Verteilung  erst  nach 
fünf  Jahren  geschehen  kann,  weil  vorher  nichts  zur  Verteilung  geeignetes 
vorhanden  ist;  denn  wollte  man  etwa  schon  das  Erz  und  Eisen,  das  in 
den  beiden  ersten  Jahren  gewonnen  wurde,  als  Belohnung  an  Einzelne 
weggeben,  so  würde  der  Rohstoff  für  das  folgende  Werk  fehlen;  es  ist 
vielmehr  klar,  daß  das  in  den  ersten  Jahren  gewonnene  Vorprodukt  not- 
wendig jeder  früheren  Verteilung  entzogen  und  bis  zum  Schlüsse  in  der 
Produktion  gebunden  bleiben  muß.  —  Zweitens  steht  fest,  daß  ein 
Gesamtwert  von  5500  fl.  unter  die  fünf  Arbeiter  zur  Verteilung  zu  bringen 
sein  wird. 

Nach  welchem  Schlüssel? 

Gewiß  nicht,  wie  man  auf  den  ersten  oberflächlichen  Blick  leicht 
meinen  möchte,  zu  gleichen  Teilen.  Denn  darin  würde  eine  bedeutende 
Begünstigung  jener  Arbeiter,  deren  Arbeit  in  ein  späteres  Stadium  der 
Gesamtproduktion  fällt,  gegenüber  ihren  vorher  tätigen  Kollegen  liegen. 
Der  Arbeiter,  der  die  Maschine  vollendet,  bekäme  für  sein  Arbeitsjahr 
1100  fl.  unmittelbar  nach  dem  Schlüsse  desselben;  jener,  der  die  Einzel- 
bestandteile der  Maschine  erzeugt,  bekäme  dieselbe  Summe,  müßte  aber 
noch  ein  ganzes  Jahr  nach  Vollendung  seines  Arbeits] ahres  auf  seine  Be- 
lohnung warten;  jener  Arbeiter  vollends,  der  das  Erz  gewinnt,  bekäme 
den  gleichen  Lohn  erst  vier  Jahre  nachdem  er  seinen  Arbeitsteil  geleistet. 
Da  eine  solche  Verzögerung  den  Beteiligten  unmöglich  gleichgültig  sein 
könnte,  so  würde  jeder  die  Schlußarbeit,  die  keinen  Aufschub  im  Lohne 
zu  erleiden  hat,  und  niemand  die  vorbereitenden  Arbeiten  übernehmen 
wollen.  Um  für  diese  doch  Übernehmer  zu  finden,  werden  die  Arbeiter 
der  Schlußstadien  gezwungen  sein,  ihren  das  Werk  vorbereitenden  Kollegen 
zum  Ersatz  für  die  Verzögerung  einen  höheren  Anteil  am  schließlichen 
Produktwerte  zu  bewilligen.  Die  Höhe  desselben  würde  teils  durch  die 
Dauer  des  Aufschubes,  teils  durch  die   Größe  der  Differenz  bestimmt 


Rodbertus.  351 

werden,  die  nach  den  wirtschaftlichen  und  kulturellen  Verhältnissen 
unserer  kleinen  Gesellschaft  zwischen  der  Wertschätzung  gegenwärtiger 
und  künftiger  Güter  besteht.  Beträgt  diese  Differenz  z.  B.  5  %,  so  würden 
die  Anteile  der  fünf  Arbeiter  sich  folgendermaßen  abstufen: 

Der  zuerst  tätige  Arbeiter,  der  auf  seine  Entlohnung  noch  vier  Jahre 
nach  Schluß  seines  Arbeitsjahres  zu  warten  hat,  bekommt  am  Ende 

des  fünften  Jahres 1200 

der  zweite,  der  drei  Jahre  warten  muß 1150 

der  dritte,  der  zwei  Jahre  wartet 1100 

der  vierte,  der  ein  Jahr  wartet 1050 

der  letzte,   der  seinen   Lohn  unmittelbar  nach   Abschluß   seiner 

Arbeit  bekommt 1000 

Summe  5500 

Daß  alle  Arbeiter  den  gleichen  Betrag  von  1100  fl.  erhalten,  wäre 
nur  unter  der  Voraussetzung  denkbar,  daß  die  Zeitdifferenz  ihnen  völlig 
gleichgültig  ist,  und  daß  sie  sich  mit  1100  fl.,  die  sie  drei  bis  vier  Jahre 
später  bekommen,  ganz  ebenso  gut  belohnt  finden,  als  wenn  sie  die  1100  fl. 
unmittelbar  nach  Beendigung  ihrer  Arbeit  erhalten  hätten.  Ich  brauche 
aber  kaum  hervorzuheben,  daß  diese  Voraussetzung  nie  zutrifft  und  nie 
zutreffen  kann.  Daß  sie  aber  je  1100  fl.  unmittelbar  nach  Ableistung 
ihrer  Arbeit  erhalten,  ist,  wenn  nicht  ein  dritter  dazwischen  tritt,  über- 
haupt nicht  möglich. 

Es  ist  wohl  der  Mühe  wert,  im  Vorbeigehen  auf  einen  Umstand  be- 
sonders aufmerksam  zu  machen.  Ich  glaube  nicht,  daß  irgend  jemand 
das  obige  Verteüungsschema  ungerecht  finden  wird,  und  vollends  kann, 
da  die  Arbeiter  ihr  eigenes  Produkt  nur  unter  einander  teilen,  voi:  einer 
durch  Kapitalisten-Unternehmer  begangenen  Ungerechtigkeit  nicht  die 
Rede  sein:  und  doch  bekommt  jener  Arbeiter,  der  das  vorletzte  Fünftel 
der  Arbeit  geleistet  hat,  nicht  ein  volles  Fünftel  des  schließlichen  Produkt- 
wertes, sondern  nur  1050  fl.,  und  der  letzte  Arbeiter  erhält  vollends  nur 
1000  fl.  - 

Nehmen  wir  nunmehr  an,  wie  es  ja  in  der  Wirklichkeit  gewöhnlich 
vorkommt,  daß  die  Arbeiter  auf  ihre  Entlohnung  bis  zum  gänzlichen 
Abschlüsse  der  Maschinenproduktion  nicht  warten  können  oder  wollen, 
und  daß  sie  mit  einem  Unternehmer  in  Unterhandlung  treten,  um  von 
ihm  nach  Ableistung  ihrer  Arbeit  einen  Lohn  zu  erlangen,  wogegen  er 
Eigentümer  des  schließlichen  Produktes  werden  soll.  Nehmen  wir  weiter 
an,  daß  dieser  Unternehmer  ein  vollkommen  gerechter  und  uneigennütziger 
Mann  ist,  der  weit  entfernt  ist,  eine  etwaige  Zwangslage  der  Arbeiter  zu 
einer  wucherischen  Herabdrückung  ihrer  Lohnansprüche  zu  benützen, 
und  fragen  wir,  zu  welchen  Bedingungen  der  Lohnkontrakt  unter  solchen 
Umständen  abgeschlossen  werden  wird? 


352  XII.  Die  Ausbeutungsüieorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

Die  Frage  wird  ziemlich  leicht  zu  beantworten  sein.  Offenbar  werden 
die  Arbeiter  vollkommen  gerecht  behandelt  werden,  wenn  ihnen  der 
Unternehmer  dasselbe  als  Lohn  bietet,  was  sie  im  Falle  der  Produktion 
auf  eigene  Rechnung  als  Verteilungsquote  erhalten  hätten.  Dieser  Satz 
gibt  uns  einen  festen  Anhaltspunkt  zunächst  für  einen  Arbeiter,  nämlich 
für  den  letzten.  Dieser  hätte  sonst  1000  fl.  unmittelbar  nach  Ableistung 
seiner  Arbeit  erhalten,  diese  wird  ihm  also,  um  vollkommen  gerecht  zu 
sein,  der  Unternehmer  auch  jetzt  bieten  müssen.  Für  die  übrigen  Arbeiter 
gibt  der  obige  Satz  keinen  unmittelbaren  Anhaltspunkt.  Denn  da  der 
Zeitpunkt  der  Entlohnung  jetzt  ein  anderer  ist,  als  er  im  Verteilungsfalle 
gewesen  wäre,  können  auch  die  Summen  des  letzteren  nicht  unmittelbar 
maßgebend  sein.  Aber  wir  haben  einen  anderen  festen  Anhaltspunkt.  Da 
nämlich  alle  fünf  Arbeiter  zum  Zustandekommen  des  Werkes  gleich  viel 
geleistet  haben,  gebührt  ihnen  gerechter  Weise  der  gleiche  Lohn ;  und  dieser 
wird  sich  jetzt,  wo  jeder  Arbeiter  unmittelbar  nach  Ableistung  seiner 
Arbeit  entlohnt  wird,  auch  in  einer  gleichen  Summe  ausdrücken.  Es  werden 
also  gerechter  Weise  alle  fünf  Arbeiter  am  Ende  ihres  Arbeitsjahres  je 
1000  fl.  bekommen. 

Wer  etwa  meinen  möchte,  daß  das  zu  wenig  sei,  den  verweise  ich  auf 
das  folgende  einfache  Rechenexempel,  das  dartun  wird,  daß  die  Arbeiter 
so  ganz  denselben  Wert  empfangen,  den  sie  bei  der  —  unzweifelhaft  ge- 
rechten —  Verteilung  des  ganzen  Produktes  unter  sich  allein  empfangen 
hätten.  Der  Arbeiter  Nr.  5  erhält  im  Verteilungsfalle  1000  fl,  unmittelbar 
am  Ende  des  Arbeitsjahres,  im  Falle  des  Lohnkontraktes  dieselbe  Summe 
im  selben  Zeitpunkte.  Der  Arbeiter  Nr.  4  erhält  im  Verteilungsfalle  1050  fl. 
ein  Jahr  nach  Schluß  des  Arbeitsjahres,  im  Falle  des  Lohnkontraktes 
1000  fl.  unmittelbar  nach  Schluß  desselben;  läßt  er  durch  ein  Jahr  diese 
Summe  verzinslich  stehen,  so  kommt  er  genau  in  dieselbe  Lage,  in  die  er 
im  Verteilungsfalle  gekommen  wäre,  er  hat  1050  fl.  ein  Jahr  nach  Vollendung 
seiner  Arbeit.  Der  Arbeiter  Nr.  3  erhält  im  Verteilungsfalle  1100  fl.  zwei 
Jahre  nach  Schluß  seiner  Arbeit,  im  Lohnkontrakt  1000  fl.  sofort,  die, 
verzinslich  angelegt,  bis  zu  jenem  Zeitpunkte  auf  dieselbe  Summe  von 
1100  fl.  anwachsen.  Und  so  äquiparieren  endlich  die  1000  fl,  die  der  1.  und 
2.  Arbeiter  erhalten,  mit  Zurechnung  der  Zwischenzinsen  vollkommen  den 
1200  und  1150  fl,  die  dieselben  im  Verteüungsfalle  vier,  beziehungsweise 
drei  Jahre  nach  Vollendung  ihrer  Arbeit  erhalten  hätten.  Äquipariert 
aber  jeder  einzelne  TeiUohn  der  entsprechenden  Verteilungsquote,  so  muß 
natürlich  auch  die  Summe  der  Teülöhne  der  Summe  aller  Verteilungs- 
quoten äquiparieren:  die  Summe  von  5000  fl,  die  der  Unternehmer  den 
Arbeitern  unmittelbar  nach  Leistung  ihrer  Arbeit  zahlt,  ist  vollständig 
gleichwertig  den  5500  fl,  die  im  anderen  Falle  am  Ende  des  fünften  Jahres 
unter  die  Arbeiter  hätten  verteilt  werden  können^). 

^)  Stolzmann  (Soziale  Kategorie  S.  305 ff.)  hat  diesem  meinem  Illustrations 


Rodbertus.  353 

Eine  höhere  Entlohnung,  z.  B.  eine  Entlohnung  des  Arbeitsjahres 
mit  je  1100  fl.,  wäre  nur  denkbar,  wenn  entweder  das,  was  den  Arbeitern 
nicht  gleichgültig  ist,  nämlich  die  Zeitdifferenz,  dem  Unternehmer  völlig 
gleichgültig  wäre,  oder  wenn  der  Unternehmer  den  Arbeitern  mit  der  Wert- 
differenz zwischen  gegenwärtigen  und  künftigen  1100  fl.  ein  Geschenk 
machen  woUte.  Von  privaten  Unternehmern  ist,  wenigstens  als  Regel, 
weder  das  eine  noch  das  andere  zu  erwarten,  ohne  daß  man  ihnen  deshalb 
den  mindesten  Vorwurf,  und  am  wenigsten  den  der  Ungerechtigkeit,  Aus- 
beutung oder  Beraubung  machen  könnte.    Nur  eine  Person  gibt  es,  von 


beispiel  einige,  wie  ich  glaube,  ziemlich  nebensächliche,  und  überdies  mißverständliche 
Einwendungen  entgegengesetzt.  Von  der  irrigen  Meinung  ausgehend,  ich  hätte  in  meiner 
Arbeitergruppe  eine  Art  Urtypus,  einen  kleinen  Staat  mit  vollständiger,  in  sich  ab- 
geschlossener Wirtschaftsführung  darstellen  woUen  oder  sollen,  wirft  er  ein,  daß  auch 
der  letzte  Arbeiter  „mit  der  fertigen  Maschine  noch  nichts  anfangen,  keinen  Tag  seines 
Lebens  damit  fristen  könnte"  (307),  sowie,  daß  die  von  mir  angenommene  Entlohnung 
des  ersten  Arbeiters  mit  1200  fl.  am  Ende  des  fünften  Jahres  ein  ungenügender  Ersatz 
für  sein  fünfjähriges  Warten  sei;  vielmehr  müsse  dieser,  ,,wenn  er  die  lange  Zeit  nicht 
verhungern  will",  während  er  „die  Hände  nutzlos  und  müßig  in  den  Schoß  zu  legen 
gezwungen  wird",  den  Lohn  für  volle  fünf  Jahre  mit  5000  fl.  erhalten  (308).  —  Ich 
brauche  demgegenüber  nur  festzustellen,  daß  es  eben  ganz  und  gar  nicht  meine  Absicht 
war,  das  Beispiel  eines  geschlossenen  Urtypus  zu  geben,  sondern  daß  ich  eine  mitten 
im  modernen  Wirtschaftsleben  stehende,  lediglich  zu  einem  einzelnen  Produktions- 
geschäft, nämlich  dem  Bau  einer  Maschine  eingegangene  Sozietät  von  fünf  Personen 
schildern  wollte  und  geschildert  habe.  Ich  verweise  auf  den  klaren  Wortlaut  der  von  mir 
auf  Seite  345  entwickelten  Voraussetzungen  meines  Beispieles,  in  dem  unter  anderem 
vom  , .Tauschwert"  der  fertigen  Maschine  die  Rede  ist,  und  von  nichts  anderem  als 
von  der  Arbeitsteilung  —  und  zwar  auch  von  dieser  bloß  vorläufig  und  bloß  in  Bezug 
auf  die  Herstellung  der  Maschine  —  abstrahiert  wird.  Es  ist  daher  auch  von  einem 
Zwang  der  Teilnehmer  an  jener  produktiven  Operation,  während  derjenigen  Zeit,  als 
sie  von  derselben  nicht  in  Anspruch  genommen  werden,  müßig  zu  gehen,  keine  Rede. 
Und  wenn  Stolzmann  weiter  auf  S.  313  mir  einen  „argen  error  dupK"  vorwirft,  wenn 
ich  es  als  möglich  voraussetze,  daß  etwa  auch  einer  der  Arbeiter  seinen  früher  erhaltenen 
Lohnanteil  bis  zum  Ablauf  des  fünften  Jahres  verzinslich  anlegen  könne,  indem  ich 
hiemit  „die  Lohnarbeiter  neben  den  Unternehmern  zu  Kapitalisten  stemple",  so  habe 
ich  zu  bemerken,  daß  ich  durch  kein  Wort  meines  Beispieles  ausgeschlossen  habe, 
daß  der  eine  oder  der  andere  der  Teilhaber  auch  selbst  Mittel  hat,  die  ihm  das  Warten 
gestatten  würden.  Im  Gegenteile  habe  ich  sowohl  auf  S.  346  als  auf  S.  351  (392  u. 
399  der  I.  Aufl.)  ausdrücklich  alternativ  vorausgesetzt,  daß  die  Arbeiter  nicht  warten 
„können  oder  wollen",  welche  Stellen  Stolzmann  auf  S.  307  und  309  aus  einem 
offenbaren  Versehen  unrichtig  mit  „können  und  wollen"  zitiert.  —  Daß  ich  endlich 
mit  meinem  Beispiel  überhaupt  nicht  das  Zinsphänomen  selbst  erklären,  sondern 
nur  einen  bestimmten  Gedankengang  an  der  Hand  gegebener  Tatsachen  illustrieren 
wollte,  habe  ich  schon  oben  in  der  (schon  in  der  I.  Aufl.  enthaltenen)  Note  1  auf  S.  347 
ausdrücklich  angemerkt.  —  Eine  interessante  und  tiefer  in  die  Sache  dringende  Ein- 
wendung wurde  von  Dr.  Robert  Meyer  in  seinem  trefflichen  Werke  über  das  „Wesen 
des  Einkommens"  (Berlin  1887,  S.  270ff.)  erhoben.  Da  die  Aufklärung  seines,  gleich- 
falls mißverständlichen  Bedenkens  nicht  ohne  Vorausnahme  mehrfacher  Details  meiner 
positiven  Kapitals theorie  möglich  wäre,  muß  die  Erörterung  desselben  dem  IT.  Bande 
dieses  Werkes  vorbehalten  bleiben;  siehe  den  Exkurs  VI  zu  dessen  vierter  Auflage. 
Böhm-Bawerk.  Kapitalzins.    4.  Aufl.  23 


354  XII.  Die  Ausbeutungstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

der  die  Arbeiter  ein  solches  Benehmen  als  Regel  erwarten  könnten,  den 
Staat.  Denn  der  Staat  mi\ß  einerseits  als  Wesen  von  ewiger  Dauer  auf  die 
zeitliche  Differenz  in  der  Hingabe  und  Erstattung  von  Gütern  nicht  not- 
wendig so  viel  Rücksicht  nehmen  als  die  kurzlebenden  Individuen;  und 
der  Staat,  dessen  Endzweck  die  Wohlfahrt  der  Gesamtheit  seiner  Glieder 
ist,  kann  andererseits,  wenn  es  sich  um  die  Wohlfahrt  einer  großen  Zahl 
der  Glieder  handelt,  den  strengen  Standpunkt  von  Leistung  und  Gegen- 
leistung verlassen  und  statt  zu  feilschen  schenken.  So  wäre  es  denn  aller- 
dings denkbar,  daß  der  Staat,  freilich  nur  der  Staat,  als  riesiger  Pro- 
duktionsunternehmer auftretend,  den  Arbeitern  den  vollen  künftigen 
Wert  ihres  künftigen  Produktes  schon  jetzt  d.  i.  unmittelbar  nach  Leistung 
ihrer  Arbeit  als  Lohn  darbieten  könnte.  Ob  der  Staat  dies  tun  soll  — 
womit  die  soziale  Frage  praktisch  im  Sinne  des  Sozialismus  gelöst  wäre  — 
ist  eine  Frage  der  Zweckmäßigkeit,  auf  die  an  dieser  Stelle  einzugehen 
nicht  in  meiner  Absicht  liegen  kann.  Aber  das  will  ich  nochmals  mit  allem 
Nachdruck  wiederholen:  wenn  der  Sozialistenstaat  den  Arbeitern  den 
ganzen  künftigen  Wert  ihres  Produktes  schon  jetzt  als  I^ohn  auszahlt, 
so  ist  das  nicht  eine  Erfüllung,  sondern  eine  aus  sozialpolitischen  Gründen 
eingeschlagene  Abweichung  von  dem  Grundsatze,  daß  der  Arbeiter  den 
Wert  seines  Produktes  als  Lohn  empfangen  soll;  so  ist  das  nicht  die  Wieder- 
herstellung eines  Zustandes.  der  an  sich  natürlich  oder  der  reinen  Rechts- 
idee entsprechend  und  derzeit  nur  durch  die  Ausbeutungssucht  der 
Kapitalisten  gestört  wäre,  sondern  ein  künstlicher  Eingriff,  um  etwas 
im  natürlichen  Laufe  der  Dinge  nicht  Durchführbares  dennoch  möglich 
zu  machen,  und  zwar  möglich  zu  machen  durch  ein  verhülltes  perpetuier- 
liches  Geschenk  de*s  großmütigen  Gemeinwesens  Staat  an  seine  ärmeren 
Glieder. 

Und  nun  eine  kurze  Nutzanwendung.  Man  erkennt  leicht,  daß  jener 
Zustand  der  Entlohnung,  den  ich  zuletzt  in  unserem  Beispiele  geschildert 
habe,  derselbe  ist,  der  in  unserer  Wirtschafts  weit  tatsächlich  platzgreift. 
Auch  hier  wird  nicht  der  volle  Wert  des  Arbeitsproduktes,  sondern  nur 
eine  geringere  Summe,  aber  in  einem  früheren  Zeitpunkte,  als  Lohn  verteilt. 
Soferne  nun  die  ratenweise  verteilte  Gesamtsumme  des  Lohnes  hinter 
dem  Endwerte  des  Schlußproduktes  um  nicht  mehr  zurück  bleibt,  als 
nötig  ist,  um  die  herrschende  Differenz  in  der  Wertschätzung  zwischen 
gegenwärtigen  und  künftigen  Gütern  auszugleichen,  mit  andern  Worten, 
so  lange  die  Lohnsumme  hinter  dem  schließlichen  Produktwerte  um  nicht 
mehr  als  um  den  Betrag  der  landesüblichen  Zinsen  zurückbleibt,  werden 
die  Arbeiter  in  ihrem  Ansprüche  auf  den  ganzen  Wert  ihres  Produktes 
nicht  verkürzt;  sie  erhalten  ihr  ganzes  Produkt  nach  der  Bewertung  des- 
jenigen Zeitpunktes,  in  dem  sie  ihren  Lohn  empfangen.  Nur  insoferne 
der  Gesamtlohn  um  mehr  als  den  Betrag  der  landesüblichen  Zinsen  hinter 


Rodbertus.  355 

dem  schließlichen  Produktwerte  zurückbliebe,  kann  darin  unter  Um- 
ständen eine  wirkliche  Ausbeutung  der  Arbeiter  liegen  i). 

Wenden  wir  uns  zu  Rodbertus  zurück.  Der  zweite  entscheidende 
Fehler,  den  ich  ihm  in  den  letzten  Ausführungen  vorgeworfen  habe,  war, 
daß  er  den  zugestandenen  Satz,  der  Arbeiter  solle  den  ganzen  Wert  seines 
Produktes  erhalten,  unberechtigter  und  unlogischer  Weise  dahin  inter- 
pretiert, daß  der  Arbeiter  den  ganzen  Wert,  den  sein  vollendetes  Produkt 
einst  haben  wird,  schon  jetzt  erhalten  solle. 

Forschen  wir  nach,  auf  welchem  Wege  Rodbertus  in  diesen  Irrtum 
geriet,  so  zeigt  sich,  daß  seine  Quelle  ein  anderer  Irrtum  war,  der  dritte 
wichtige  Irrtum,  den  ich  an  seiner  Ausbeutungstheorie  auszustellen  habe. 
Er  geht  nämlich  von  der  Voraussetzung  aus,  daß  der  Wert  der  Güter 
sich  ausschließlich  nach  der  Menge  der  Arbeit  richtet,  die  ihre  Herstellung 
gekostet  hat.  Wäre  dies  richtig,  so  würde  freilich  das  Vorprodukt,  an 
dem  die  Arbeit  eines  Jahres  haftet,  schon  jetzt  ein  volles  Fünftel  des 
Wertes  besitzen  müssen,  den  das  vollendete  Produkt,  an  dem  fünf  Arbeits- 
jahre haften,  besitzen  wird;  und  alsdann  wäre  auch  der  Anspruch,  daß 
der  Arbeiter  schon  jetzt  ein  volles  Fünftel  jenes  Wertes  als  Lohn  erhalten 
solle,  berechtigt. 

Allein  jene  Voraussetzung  ist  in  der  Art,  wie  sie  Rodbertus  aufstellt, 
unzweifelhaft  falsch.  Um  dies  nachzuweisen,  brauche  ich  gar  nicht  das 
berühmte  Wertgesetz  Ricardos,  daß  die  Arbeit  Quelle  und  Maßstab 
alles  Wertes  sei,  in  seiner  prinzipiellen  Geltung  anzuzweifeln;  ich  habe 
bloß  nötig  auf  die  Existenz  einer  durchgreifenden  Ausnahme  von  diesem 
Gesetze  aufmerksam  zu  machen,  die  von  Ricardo  selbst  gewissenhaft 
verzeichnet  und  in  einem  besonderen  Abschnitte  ausführlich  besprochen, 
von  Rodbertus  deigegen  merkwürdigerweise  völlig  außer  Acht  gelassen 

*)  Genauere  Ausführungen  hierüber  behalte  ich  dem  II.  Bande  vor.  Um  mich 
gegen  Mißverständnisse  und  namentlich  gegen  die  Zumutung,  als  ob  ich  jeden  die  landes- 
üblichen Zinsen  übersteigenden  Unternehmergewinn  für  einen  „Beutegewinn"  hielte, 
zu  schützen,  will  ich  nur  folgende  kurze  Bemerkung  einschalten.  In  der  Gresamtdifferenz 
zwischen  Produktwert  und  ausgezahlten  Löhnen,  die  dem  Unternehmer  zufällt,  können 
möglicherweise  vier  von  einander  wesentlich  verschiedene  Bestandteile  vorkommen. 
1.  Eine  Risikoprämie  für  die  Gefahr  des  Mißlingens  der  Produktion.  Diese  wird,  richtig 
ausgemessen,  im  Durchschnitt  der  Jahre  zur  Deckung  tatsächlicher  Verluste  aufgebraucht 
werden,  und  involviert  natürlich  keine  Verkürzung  der  Arbeiter.  2.  Eine  Entlohnung 
für  die  eigene  Arbeit  des  Unternehmers,  die  natürlich  gleichfalls  unanstößig  ist  und  die 
unter  Umständen,  z.  B.  bei  Ausnützung  einer  neuen  Erfindung  des  Unternehmers, 
wird  hoch  ausgemessen  werden  dürfen,  ohne  daß  darin  eine  Ungerechtigkeit  gegen  die 
Arbeiter  läge.  3.  Die  im  Texte  besprochene  Vergütung  für  die  Zeitdifferenz  zwischen 
Lohnzahlung  und  Realisierung  des  Schlußproduktes  geleistet  durch  die  landesüblichen 
Zinsen;  endlich  4.  kann  der  Unternehmer  möglicherweise  einen  Gewinnzuschuß  noch 
dadurch  erlangen,  daß  er  die  Notlage  der  Arbeiter  zu  einer  noch  weitergehenden  wuche- 
rischen Erniedrigung  ihres  Lohnes  ausnützt.  Unter  diesen  vier  Bestandteilen  involviert 
nur  der  letzte  eine  Verletzung  des  Satzes,  daß  der  Arbeiter  den  ganzen  Wert  seines 
Produktes  erhalten  soll. 

23* 


356  XII.  Die  Ausbeutongstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

wird.  Es  ist  dies  die  Tatsache,  daß  von  zwei  Gütern,  die  zu  ihrer  Her- 
stellung gleichviel  Arbeit  gekostet  haben,  dasjenige  einen  höheren  Tausch- 
wert erlangt,  dessen  Vollendung  den  stärkeren  Vorschuß  an  vorbereitender 
Arbeit  oder  den  längeren  Zeitraum  beansprucht.  Ricardo  nimmt  von 
dieser  Tatsache  in  eigentümlicher  Form  Notiz.  Er  führt  aus  (Sect.  IV 
des  I.  Kapitels  seiner  Principles),  daß  „das  Prinzip,  daß  die  Menge  der 
auf  die  Produktion  von  Gütern  verwendeten  Arbeit  deren  relativen  Wert 
bestimme,  eine  erhebliche  Modifikation  erleide  durch  die  Anwendung 
von  Maschinen  und  anderem  fixen  und  dauerhaften  Kapital";  ferner  auch 
(Sect.  V)  „durch  die  ungleiche  Dauer  des  Kapitales  und  durch  die  ungleiche 
Geschwindigkeit,  mit  welcher  es  seinem  Herrn  wieder  eingeht".  Güter 
nämlich,  in  deren  Produktion  viel  fixes  Kapital,  oder  fixes  Kapital  von 
langer  Dauer  angewendet  wird,  oder  die  Umschlagsperiode,  nach  welcher 
das  flüssige  Kapital  dem  Unternehmer  jedesmal  zurückerstattet  wird, 
eine  längere  ist,  haben  einen  höheren  Tauschwert,  als  Güter,  die  gleich 
viel  Arbeit  gekostet  haben,  bei  denen  aber  die  genannten  Umstände  nicht 
oder  in  geringerem  Grade  zutreffen,  und  zwar  einen  Tauschwert,  der 
höher  ist  um  den  Betrag  des  Kapitalgewinnes,  den  der  Unternehmer 
aufrechnet. 

DaJ3  diese  von  Ricardo  beobachtete  Ausnahme  vom  Arbeitswert- 
gesetze wirklich  besteht,  dürfte  auch  von  den  eifrigsten  Verfechtern  jenes 
Gesetzes  nicht  in  Zweifel  gezogen  werden;  ebensowenig,  daß  unter  Um- 
ständen die  Rücksicht  auf  den  zeitlichen  Aufschub  sogar  einen  größeren 
Einfluß  auf  den  Wert  von  Gütern  nehmen  kann,  als  die  Rücksicht  auf 
das  Quantum  der  Kostenarbeit.  Ich  erinnere  z.  B.  an  den  Wert  eines 
alten  durch  Dezennien  abgelagerten  Weines,  oder  eines  hundertjährigen 
Stammes  im  Walde. 

Mit  dieser  Ausnahme  hat  es  aber  noch  eine  ganz  besondere  Bewandtnis. 
Man  braucht  nämlich  gar  nicht  sonderlich  scharfsichtig  zu  sein,  um  zu 
bemerken,  daß  in  ihr  eigentlich  die  Hauptsache  des  ursprünglichen  Kapital- 
zinses steckt.  Denn  das  Plus  von  Tauschwert,  das  jene  Güter  erlangen, 
deren  Erzeugung  einen  Vorschuß  an  vorgetaner  Arbeit  erfordert,  ist  es 
ja  eben,  was  bei  der  Austeilung  des  Prodüktwertes  als  Kapitalgewinn  an 
den  Händen  des  Unternehmer- Kapitalisten  haften  bleibt^).     Existierte 


^)  Anderer  Meinung  scheint  Natoli  zu  sein,  der  diese  Worte  meines  Textes  mit 
einer  polemischen  Glosse  begleitet  (II  principio  del  valore  e  la  misura  quantitativa  del 
valore,  1906,  S.  114,  Note  2)  und  auch  sonst  wiederholt  mit  Nachdruck  darauf  besteht, 
daß  die  ,,Ricardianischen  Differenzen"  im  Tauschwert  von  Produkten,  die  in  ungleich 
langer  Produktionsperiode  produziert  werden,  eine  ganz  andere  Tatsache  seien,  als  die 
im  „kapitalistischen  Tausch"  zwischen  Kapitalisten  und  Arbeitern  zum  Vorschein 
kommenden  Differenzen  im  Wert  gegenwärtiger  und  künftiger  Güter,  aus  welch  letz- 
teren Differenzen  allein  der  Zins  entspringe  (z.  B  S.  224ff.);  es  sei  mein  Fehler,  daß 
ich  diese  beiden  verschiedenen  Tatsachen  mit  einander  vermische  oder  „konfundiere" 
(z.  B.  S.  279,  314).    Ich  glaube  indes  bei  meiner  im  Texte  entwickelten  Anschauung 


Rodbertus.  357 

jene  Wertdifferenz  nicht,  so  würde  auch  der  ursprüngliche  Kapitalzins 
nicht  existieren;  jene  Wertdifferenz  ermöglicht  ihn,  enthält  ihn,  ist  identisch 
mit  ihm.  Nichts  ist  leichter  zu  veranschaulichen  als  dies  —  falls  für  eine 
so  offen  am  Tage  liegende  Tatsache  ein  Nachweis  überhaupt  noch  gefordert 
wird.  Gesetzt,  drei  Güter  erfordern  zu  ihrer  Herstellung  je  ein  Jahr  Arbeit, 
aber  eine  verschiedene  Dauer  des  Vorschusses  dieser  Arbeit;  das  erste 
nur  einen  einjährigen,  das  zweite  einen  zehnjährigen,  das  dritte  einen 
zwanzigjährigen  Vorschuß  des  Arbeitsjahres.  Unter  diesen  Umständen 
wird  und  muß  der  Tauschwert  des  ersten  Gutes  ausreichen,  um  den  Lohn 
für  ein  Arbeitsjahr  und  darüber  noch  die  einjährige  Verzinsung  des  Arbeits- 
vorschusses zu  bestreiten.  Es  liegt  aber  auf  der  Hand,  daß  der  gleiche 
Tauschwert  nicht  ausreichen  kann,  um  ebenfalls  den  Lohn  für  ein  Arbeits- 
jahr, und  daneben  noch  eine  zehn-  oder  zwanzigjährige  Verzinsung 
des  gleichen  Arbeitsvorschusses  zu  bestreiten.  Die  letztere  kann  nur  ge- 
leistet werden,  wenn  und  weil  der  Tauschwert  des  zweiten  und  dritten 
Gutes  entsprechend  höher  ist  als  der  des  ersten  Gutes,  obschon  alle  drei 
gleich  viel  Arbeit  gekostet  haben;  und  die  Tauschwertdifferenz  ist  er- 
sichtlich die  Quelle,  aus  der  der  zehn-  und  zwanzigjährige  Kapitalzins 
fließt  und  fließen  kann. 

So  kommt  also  jener  Ausnahme  vom  Arbeitswertgesetz  keine  geringere 
Bedeutung  zu,  als  daß  sie  mit  dem  Hauptfalle  des  ursprünglichen  Kapital- 
zinses identisch  ist.  Wer  diesen  erklären  will,  muß  in  erster  Linie  sie 
erklären:  ohne  Erklärung  jener  Ausnahme  keine  Erklärung  des  Zins- 
problems. Wenn  nun  in  Abhandlungen,  die  gerade  den  Kapitalzins  zu 
ihrem  Objekte  haben,  dennoch  diese  Ausnahme  ignoriert,  um  nicht  zu 
sagen  abgeleugnet  wird,  so  liegt  hierin  ein  Versehen,  wie  es  gröber  gar  nicht 
gedacht  werden  kann.  Denn  jene  Ausnahme  ignorieren  hieß  in  Rod- 
bertus' Falle  nichts  anderes,  als  den  Hauptteil  dessen  ignorieren,  was  er 
erklären  sollte. 

Man  kann  sein  Versehen  auch  nicht  damit  entschuldigen,  daß  Rod- 
bertus nicht  beabsichtigt  habe,  eine  im  wirklichen  Leben  geltende  Regel, 
sondern  nur  eine  hypothetische  Annahme  aufzustellen,  deren  er  sieh 
bediente,  um  seine  abstrakten  Untersuchungen  leichter  und  korrekter 
durchführen  zu  können.  Allerdings  kleidet  Rodbertus  den  Satz,  daß  der 
Wert  aller  Güter  sich  nach  der  Kostenarbeit  bestimme,  an  einigen  Stellen 


um  so  sicherer  verharren  zu  können,  als  Natou  selbst  zuzugestehen  gezwungen  ist, 
daß  die  beiden  Tatsachen,  gegen  deren  ,, Vermischung"  er  protestiert,  sich  ,,an  eine 
analoge  und  sogar  identische  Ursache  anknüpfen"  (221),  ja  daß  es  sich  dabei  um  Er- 
scheinungen handelt,  die  geradezu  selbst  eine  „identische  Natur"  besitzen  (241).  Natolis 
Versuch,  eine  Trennungslinie  dort  zu  ziehen,  wo  in  der  Natur  der  Sache  keine  besteht, 
scheint  mir  nur  der  Reflex  eines  anderen,  wohl  ebenso  vergeblichen  Versuches  zu  sein, 
überwiegend  richtige,  aus  der  Grenznutzentheorie  und  der  „Agiotheorie"  geschöpfte 
Erkenntnisse  auf  das  Prokrustesbett  der  Arbeitswerttheorie  zu  spannen- 


358  XII-  I^'c  Ausbeutungstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

seiner  Schriften  in  die  Gestalt  einer  bloßen  Voraussetzung^).  Allein  erstlich 
fehlt  es  auch  nicht  an  Stellen,  in  denen  Rodbertus  die  Überzeugung 
kundgibt,  daß  seine  Wertregel  auch  inr  tatsächlichen  Wirtschaftsleben 
gilt  2);  und  andererseits  darf  man  auch  bloß  voraussetzungsweise  nicht 
alles  annehmen,  was  man  will.  Auch  in  einer  nur  hypothetischen  Voraus- 
setzung darf  man  nämlich  doch  nur  von  solchen  Umständen  der  Wirklich- 
keit abstrahieren,  die  für  die  zu  untersuchende  Frage  irrelevant  sind. 
Was  soll  man  aber  dazu  sagen,  wenn  an  der  Spitze  einer  theoretischen 
Untersuchung  über  den  Kapitalzins  von  der  Existenz  des  wichtigsten 
Hauptfalles  des  Kapitalzinses  abstrahiert  wird?!  wenn  der  beste  Teil 
dessen,  was  erklärt  werden  soll,  „voraussetzungsweise"  wegeskamotiert 
wird  ? ! ! 

Rodbertus  hat  freilich  Recht:  wenn  man  ein  Prinzip  wie  das  der 
Grundrente  oder  des  Kapitalzinses  ermitteln  will,  so  darf  man  „den  Wert 
nicht  auf-  und  abtanzen  lassen"^),  man  muß  die  Geltung  einer  festen 
Wertregel  supponieren.  Aber  ist  die  Tatsache,  daß  Güter  mit  größerer 
Zeitdifferenz  zwischen  Arbeitsaufwand  und  Vollendung  caeteris  paribus 
einen  höheren  Wert  haben,  nicht  auch  eine  feste  Wertregel?  Und  ist 
diese  Wertregel  für  die  Erscheinung  des  Kapitaizinses  nicht  von  funda- 
mentaler Bedeutung?  Und  doch  soll  von  ihr  abstrahiert  werden  wie  von 
einer  regellosen  Zufälligkeit  der  Marktverhältnisse?!*) 


1)  z.  B.  Soziale  Frage  S.  44,  107. 

=)  Soziale  Frage  S.  113, 147;  Erklärung  und  Abhilfe  I,  S.  123.  An  letzterer  Stelle 
sagt  Rodbertus:  ,,wenn  der  Wert  des  landwirtschaftlichen  und  des  Fabrikations- 
produktes sich  nach  der  auf  ihnen  haftenden  Arbeit  reguliert,  was  im  großen  und 
ganzen  auch  in  einem  freien  Verkehr  immer  geschieht"  etc. 

3)  Soziale  Frage  S.  111  Anm. 

*)  Die  obigen  Ausführungen  waren  niedergeschrieben,  ehe  Rodbertus'  nach- 
gelassene Schrift  über  das  „Kapital"  (1884)  veröffentlicht  wurde.  In  letzterer  nimmt 
Rodbertus  zu  unserer  Frage  eine  äußerst  seltsame  Haltung  ein,  die  eher  zu  einer 
weiteren  Verschärfung,  als  zu  einer  Milderung  der  obigen  Kritik  auffordert.  Rodbertus 
betont  nämlich  jetzt  zwar  lebhaft,  daß  das  Arbeitswertgesetz  kein  exaktes,  sondern 
ein  bloß  annäherndes  Gravitationsgesetz  ist  (S.  6ff.);  auch  gesteht  er  jetzt  ausdrücklich 
zu,  daß  wegen  der  Kapitalgewinnforderung  der  Unternehmer  eine  ständige  Abweichung 
des  faktischen  Wertes  der  Güter  von  dem  nach  Arbeit  bemessenen  Werte  stattfindet 
(S.  llff.).  Allein  er  gibt  diesem  Zugeständnisse  einen  viel  zu  geringen  Umfang,  indem 
er  annimmt,  daß  jene  Abweichung  nur  im  Verhältnisse  der  verschiedenen  Stadien  der 
Produktion  eines  und  desselben  Gutes  zu  einander,  nicht  aber  auch  ,,im  Ganzen  aller 
Produktionsstufen"  eintritt.  Wenn  nämlich  die  Herstellung  eines  Gutes  in  mehrere 
Produktionsabschnitte  zerfällt,  von  denen  jeder  zu  einem  besonderen  Gewerbe  ent- 
wickelt ist,  so  kann  nach  Rodbertus  der  Wert  des  , .besonderen  Produktes",  das  in 
jedem  einzelnen  Abschnitte  geschaffen  wird,  mit  der  in  ihm  aufgewendeten  Arbeits- 
menge deshalb  nicht  im  genauen  Einklang  bleiben,  weil  die  Unternehmer  der  späteren 
Produktionsstadien  eine  größere  Auslage  für  Material,  daher  einen  größeren  Kapital- 
aufwand zu  leisten,  und  eben  darum  auch  einen  höheren  Kapitalgewinn  zu  berechnen 
haben,  welcher  nur  in  einem  relativ  höheren  Werte  des  bezüglichen  Produktes  seine 
Deckung  finden  kann.    So  richtig  diese  Auffassung  ist,  so  klar  ist  es,  daß  sie  nicht  weit 


Rodbertus.  359 

Die  Folgen  der  seltsamen  Abstraktion  sind  denn  auch  nicht  aus- 
geblieben. Eine  erste  Folge  habe  ich  schon  berührt:  indem  Rodbertus 
den  Einfluß  der  Zeit  auf  den  Produktwert  übersah,  konnte  und  mußte  er 
in  den  Irrtum  fallen,  den  Anspruch  des  Arbeiters  auf  den  ganzen  gegen- 
wärtigen Wert  seines  Produktes  mit  dem  auf  den  künftigen  Wert  desselben 
zu  verwechseln.  Mnige  andere  Konsequenzen  werden  wir  sofort  kennen 
lernen.  — 

Ein  vierter  Vorwurf,  den  ich  gegen  Rodbertus  erhebe,  ist,  daß 
seine  Lehre  in  wichtigen  Punkten  sich  selbst  widerspricht. 

Rodbertus'  ganze  Grundrententheorie  basiert  auf  dem  wiederholt 
und  nachdrücklich  ausgesprochenen  Satze,  daß  die  absolute  Menge  von 
„Rente",  die  in  einer  Produktion  zu  gewinnen  ist,  nicht  von  der  Größe 
des  angewandten  Kapitales,  sondern  ausschließlich  von  der  Menge  der  in 
der  betreffenden  Produktion  hinzugefügten  Arbeit  abhängt.  Gesetzt,  in 
einer  bestimmten  gewerblichen  Produktion,  z.  B.  in  einem  Schuhmacher- 
gewerbe, werden  zehn  Arbeiter  beschäftigt;  jeder  Arbeiter  erzeugt  in 
einem  Jahre  ein  Produkt  im  Werte  von  1000  fl. ;  der  notwendige  Unterhalt, 
den  er  als  Lohn  empfängt,  nimmt  hievon  500  fl.  in  Anspruch:  so  wird, 
mag  das  angewendete  Kapital  groß  oder  klein  sein,  die  vom  Unternehmer 
zu  beziehende  Jahresrente  5000  fl.  betragen.  Beträgt  das  angewendete 
Kapital  etwa  10000  fl.,  nämlich  5000  fl.  für  Arbeitslohn  und  5000  fl.  für 
Material,  so  wird  die  Rente  50%  des  Kapitales  ausmachen.  Stehen  in 
einer  anderen  Produktion,  z.  B.  in  einer  Goldwarenfabrik,  gleichfalls  zehn 
Arbeiter  in  Verwendung,  so  werden  sie  unter  der  Voraussetzung,  daß  der 


genug  geht.  Die  Abweichung  des  faktischen  Güterwertes  von  der  verwendeten  Arbeits- 
menge trägt  sich  eben  durchaus  nicht  bloß  zwischen  den  Vorprodukten  eines  Gutes 
untereinander  zu,  um  sich  etwa  im  Zuge  der  Produktionsstadien  durch  wechselseitige 
Kompensation  wieder  aufzuheben  und  das  Endresultat  aller  Produktionsstufen,  die 
fertigen  Genußgüter,  doch  wieder  dem  Arbeitswertgesetze  gehorchen  zu  lassen,  sondern 
die  Rücksicht  auf  die  Größe  und  Dauer  des  Kapitalvorschusses  drängt  den  Wert  aller 
Güter  endgiltig  von  einer  genauen  Harmonie  mit  ihrer  Kostenarbeit  ab.  —  Den 
strengsten  Tadel  aber  verdient  es,  daß  Rodbertus  seiner  eigenen  Einräumung  zum 
Trotz  noch  immer  dabei  verharrt,  das  Gesetz  der  Verteilung  aller  Güter  in  Lohn  und 
Rente  unter  der  theoretischen  Hjrpothese  zu  entwickeln,  daß  alle  Güter  den  ,,normalen'' 
d.  i.  einen  ihrer  Kostenarbeit  entsprechenden  Wert  besitzen.  Er  glaubt  dies  tun  zu 
dürfen,  weil  der  normale  Wert  „in  Bezug  auf  die  Ableitung  sowohl  der  Rente  überhaupt, 
wie  der  Grundrente  und  Kapitalrente  besonders,  der  indifferenteste  sei.  Er  allein 
erschleiche  nichts  von  dem,  was  erst  aus  ihm  erklärt  werden  soll,  wie 
es  doch  jeder  Wert  tut,  in  den  man  von  vornherein  schon  einen  Bestandteil  für  die 
Renten  mit  hineinnimmt."  (S.  23.)  Rodbertus  täuscht  sich  hier  gröblich.  Er  „er- 
schleicht" geradeso  ungebührlich  als  nur  irgend  einer  seiner  Gegner  erschlichen  haben 
kann;  nur  in  umgekehrter  Richtung.  Während  seine  Gegner  durch  ihre  Voraus- 
setzungen die  Existenz  des  Kapitalzinses  erschlichen  haben,  erschleicht  Rodbertus 
selbst  seine  Nichtexistenz,  indem  er  mit  der  ständigen  Abweichung  vom  ,, Normal- 
werte", die  dem  ursprünglichen  Kapitalzinse  seinen  Ursprung  und  seine  Nahrung  gibt, 
den  Hauptfall  des  Zinsphänomens  selbst  hinweg  abstrahiert. 


360  XII.  Die  Ausbeutungstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

Wert  der  Produkte  sich  nach  der  Menge  der  an  ihnen  haftenden  Arbeit 
richtet,  gleichfalls  ein  zusätzliches  Jahresprodukt  von  je  1000  fl.  erzeugen, 
wovon  die  Hälfte  ihnen  als  Lohn,  die  andere  Hälfte  dem  Unternehmer 
als  Rente  zufällt.  Da  aber  hier  das  Material  Gold  einen  bedeutenden 
höheren  Kapitalwert  repräsentiert  als  das  Leder  des  Schuhmachers,  so 
wird  sich  in  diesem  Beispiele  die  Gesamtrente  von  5000  fl.  auf  ein  weit 
größeres  Geschäftskapital  repartieren;  nehmen  wir  an,  daß  das  letztere 
sich  auf  200000  fl,  5000  fl.  für  Löhne  und  195000  fl.  für  das  Materiale, 
beläuft,  so  wird  die  Rente  von  5000  fl.  nur  eine  2^perzentige  Verzinsung 
des  Geschäftskapitales  ergeben.  —  Beide  Beispiele  sind  durchaus  im  Sinne 
der  RoDBERTUsschen  Theorie  durchgeführt. 

Da  fast  in  jeder  „Fabrikation"  ein  anderes  Verhältnis  zwischen  der 
Zahl  der  (unmittelbar  und  mittelbar)  beschäftigten  Arbeiter  und  der  Größe 
des  angewendeten  Geschäftskapitale^  besteht,  so  müßte  konsequent  auch 
fast  in  jeder  Fabrikation  das  Geschäftskapital  sich  nach  einem  anderen 
Zinsfuße  verzinsen,  innerhalb  des  weitesten  Spielraumes.  Daß  dies  im 
Leben  wirklich  der  Fall  sei,  wagt  nun  Rodbertus  selbst  nicht  zu  be- 
haupten; sondern  er  setzt  in  einer  merkwürdigen  Stelle  seiner  Grund- 
rententheorie voraus,  daß  sich  vermöge  der  Konkurrenz  der  Kapitalien 
auf  dem  ganzen  Gebiete  der  Fabrikation  ein  gleicher  Gewinnsatz  ein- 
bürgern werde.  Ich  will  die  Stelle  im  Wortlaute  vorführen.  Nachdem 
Rodbertus  bemerkt  hat,  daß  man  die  in  der  Fabrikation  entfallende 
Rente,  da  hier  ausschließlich  Kapitalvermögen  in  Verwendung  steht, 
ganz  als  Kapitalgewinn  ansieht,  fährt  er  fort: 

„Es  ist  damit  auch  ferner  ein  Kapitalgewinnsatz  gegeben,  welcher 
auf  Gleichstellung  der  Kapitalgewinne  wirken  wird  und  nach  welchem 
deshalb  auch  auf  das  zur  Landwirtschaft  nötige  Kapital  der  Kapital- 
gewinn von  dem  auf  das  Rohprodukt  fallenden  Teil  der  Rente  berechnet 
werden  muß.  Denn  wenn  es  infolge  des  überall  vorgetretenen  Tausch- 
wertes jetzt  einen  gleichnamigen  Maßstab  gibt,  um  das  Verhältnis  des 
Ertrages  zum  Vermögen  auszudrücken,  so  dient  derselbe  auch  bei  dem 
auf  das  Fabrikationsprodukt  fallenden  Teil  der  Rente  dazu,  das  Ver- 
hältnis des  Gewinnes  zum  Kapitale  auszudrücken;  mit  anderen  Worten, 
man  wird  sagen  können,  daß  der  Gewinn  in  einem  Gewerbe  x  Prozent 
des  aufgewendeten  Kapitales  beträgt.  Dieser  Kapitalgewinnsatz  wird 
dann  ein  Richtmaß  zur  Gleichstellung  der  Kapitalgewinne  abgeben.  In 
welchen  Gewerben  dieser  Kapitalgewinnsatz  höhere  Ge- 
winne anzeigt,  wird  die  Konkurrenz  vermehrte  Anlage  vom 
Kapitalvermögen  veranlassen  und  dadurch  ein  allgemeines 
Streben  zur  Gleichstellung  der  Gewinne  verursachen.  Es 
wird  deshalb  auch  niemand  Kapital  anlegen,  wo  er  nicht  nach  diesem 
Kapitalgewinnsatz  Gewinn  zu  erwarten  hat"^). 

»)  Soziale  Frage  S.  107f. 


Rodbertus.  361 

Es  verlohnt  sich  der  Mühe,  diese  Stelle  genauer  ins  Auge  zu  fassen. 

RoDBERTus  nennt  die  Konkurrenz  als  denjenigen  Faktor,  der  einen 
einheitlichen  Gewinnsatz  auf  dem  Gebiete  der  Fabrikation  einbürgern 
werde.  In  welcher  Weise  dies  geschehen  werde,  das  deutet  Rodbertus 
nur  mehr  ganz  flüchtig  an.  Er  setzt  voraus,  daß  jeder  höhere  als  der  durch- 
schnittliche Gewinnsatz  durch  eine  Vermehrung  der  Kapitalsanlage  auf 
das  Durchschnittsniveau  erniedrigt,  und,  wie  wir  wohl  ergänzen  können, 
jeder  niedrigere  Gewinnsatz  durch  das  Abströmen  von  Kapitalien  auf  das 
Durchschnittsniveau  gehoben  werde. 

Setzen  wir  die  Betrachtung  dieser  Vorgänge,  die  Rodbertus  kurz 
abbricht;  noch  ein  Stück  weit  fort.  Auf  welche  Weise  kann  eine  vermehrte 
Kapitalanlage  den  abnorm  hohen  Gewinnsatz  nivellieren?  Offenbar  nur 
dadurch,  daß  mit  dem  vergrößerten  Kapital  die  Produktion  des  betreffen- 
den Artikels  gesteigert,  und  durch  die  Vermehrung  des  Angebotes  der 
Tauschwert  des  Produktes  so  weit  erniedrigt  wird,  bis  er  nach  Abzug  der 
Arbeitslöhne  nur  mehr  den  üblichen  Gewinnsatz  als  Rente  übrig  läßt. 
In  unserem  obigen  Beispiele  vom  Schuhmachergewerbe  hätten  wir  uns  die 
Nivellierung  des  abnormen  Gewinnsatzes  von  50  %  auf  den  Durchschnitts- 
satz  von  5%  offenbar  folgendermaßen  vorzustellen.  Angelockt  durch 
den  hohen  Gewinnsatz  von  50%  werden  einerseits  zahlreiche  Personen 
das  Schuhmachergewerbe  neu  ergreifen,  andererseits  die  bisherigen  Schuh- 
produzenten ihre  Erzeugung  ausdehnen.  Hiedurch  wird  das  Angebot  der 
Schuhwaren  gesteigert,  hiedurch  ihr  Preis  und  Tauschwert  gedrückt. 
Dieser  Prozeß  wird  so  lange  wirken,  bis  der  Tauschwert  des  von  zehn 
Arbeitern  im  Schuhmachergewerbe  erzeugten  Jahresproduktes  von  10000  fl. 
auf  5500  fl.  gedrückt  ist.  Alsdann  behält  der  Unternehmer  nach  Abzug 
des  notwendigen  Lohnes  von  5000  fl.  nur  500  fl.  Rente  übrig,  die,  auf  ein 
Geschäftskapital  von  10000  fl.  repartiert,  dieses  zum  üblichen  Satze  von 
5  %  verzinsen.  An  der  nunmehr  erreichten  Stelle  wird  sich  der  Tauschwert 
der  Schuhwaren  dauernd  festsetzen  müssen,  wenn  der  Gewinn  im  Schuh- 
machergewerbe nicht  wieder  abnorm  werden  soll,  was  dann  die  Wieder- 
holung des  geschilderten  Nivellierungsprozesses  zur  Folge  hätte. 

Analog  wird  der  unterdurchschnittliche  Gewinnsatz  von  2^%  in 
der  Goldwarenfabrikation  in  der  Art  auf  5  %  gesteigert  werden,  daß  wegen 
des  zu  geringen  Gewinnes  die  Goldwarenfabrikation  restringiert,  dadurch 
das  Angebot  an  Goldwaren  verringert,  dadurch  ihr  Tauschwert  erhöht 
wird,  solange,  bis  das  Zusatzprodukt  von  10  Arbeitern  in  der  Goldwaren- 
branche einen  Tauschwert  von  15000  fl.  erreicht.  Jetzt  bleiben  nach 
Abschlag  des  notwendigen  Arbeitslohnes  von  5000  fl.  dem  Unternehmer 
10000  fl.  Rente,  die  das  Geschäftskapital  von  200000  fl.  zum  üblichen 
Satze  von  5%  verzinsen;  und  hiemit  ist  der  Ruhepunkt  erreicht,  an  dem 
sich  der  Tauschwert  der  Goldwaren,  wie  oben  der  Wert  der  Schuhwaren, 
dauernd  festsetzen  kann. 


362  XII.  Die  Ausbeutungstheorie.    2.  U.-A,  Kritik. 

Daß  die  Nivellierung  abnormer  Gewinnsätze  nicht  ohne  eine  dauernde 
Änderung  im  Tauschwert  der  beteiligten  Produkte  erfolgen  kann,  ist  ein 
wichtiger  Punkt,  den  ich,  ehe  ich  weiter  schreite,  noch  von  einer  anderen 
Seite  her  völlig  außer  Zweifel  stellen  will.  Bliebe  nämlich  der  Tauschwert 
der  Produkte  unverändert,  so  könnte  ein  unzureichender  Gewinnsatz  nur 
dadurch  auf  das  normale  Niveau  gehoben  werden,  daß  das  Fehlende  auf 
Kosten  des  notwendigen  Lohnes  der  Arbeiter  gedeckt  wird.  Behielte  z.  B. 
das  Produkt  von  zehn  Arbeitern  in  der  Goldwarenfabrikation  den  dem 
aufgewendeten  Arbeitsquantum  entsprechenden  Wert  von  10000  fl.  un- 
verändert bei,  so  wäre  eine  Nivellierung  des  Gewinnsatzes  auf  5%,  das 
ist  eine  Erhöhung  des  Gewinnbetrages  von  5000  auf  10000  fl,  offenbar  in 
keiner  anderen  Weise  denkbar,  als  daß  der  Lohn  von  je  500  fl.,  den  die 
zehn  Arbeiter  bisher  erhielten,  gänzlich  eingezogen  und  das  ganze  Produkt 
dem  Kapitalisten  als  Gewinn  ausgefolgt  würde.  Ich  will  ganz  davon  ab- 
sehen, daß  diese  Annahme  eine  bare  Unmöglichkeit  in  sich  schließt,  und 
will  nur  darauf  hinweisen,  daß  sie  gleich  sehr  der  Erfahrung  und  Rod- 
bert us'  eigener  Theorie  zuwider  ist.  Sie  ist  der  Erfahrung  zuwider:  denn 
diese  zeigt,  daß  die  nivellierende  Einschränkung  des  Angebotes  in  einem 
Produktionszweige  nicht  in  einer  Erniedrigung  des  Arbeitslohnes,  sondern 
in  einer  Erhöhung  der  Produktpreise  ihre  regelmäßige  Wirkung  findet; 
und  sie  weiß  ferner  nichts  davon,  daß  der  Arbeitslohn  in  solchen  Gewerben, 
die  eine  starke  Kapitalinvestition  erfordern,  wesentlich  niedriger  stünde 
als  in  anderen  Gewerben,  wie  es  doch  sein  müßte,  wenn  das  höhere  Gewinn- 
erfordernis an  ihrem  Lohne  statt  an  den  Produktpreisen  hereingebracht 
werden  sollte.  Jene  Annahme  ist  aber  auch  der  eigenen  Theorie  von 
RoDBERTüs  zuwider.  Denn  diese  setzt  voraus,  daß  die  Arbeiter  auf  die 
Dauer  stets  den  Betrag  der  notwendigen  Unterhaltskosten  als  Lohn  er- 
halten, eine  Regel,  die  durch  die  obige  Art  der  Ausgleichung  empfindlich 
verletzt  würde. 

Ebenso  leicht  läßt  sich  umgekehrt  zeigen,  daß  eine  Ermäßigung  über- 
durchschnittlicher Gewinne  bei  ungeändertem  Produktwert  nur  dadurch 
erfolgen  könnte,  daß  in  den  betreffenden  Gewerben  der  Lohn  der  Arbeiter 
über  das  Normalmaß  erhöht  würde,  was  wieder  in  gleicher  Weise  wie  oben 
der  Erfahrung  und  der  RoDBERTUsschen  Theorie  selbst  zuwider  liefe. 
Ich  darf  also  wohl  den  Anspruch  erheben,  den  Vorgang  der  Gewinn- 
nivellierung  im  Einklänge  mit  den  Tatsachen  und  im  Einklänge  mit  den 
von  Rodbert  US  selbst  gemachten  Voraussetzungen  geschildert  zu  haben, 
wenn  ich  annehme,  daß  die  Nivellierung  abnormer  Gewinne  durch  eine 
dauernde  Veränderung,  Erniedrigung  oder  Erhöhung  des  Tauschwertes 
der  betreffenden  Produkte  vermittelt  wird. 

Wenn  aber  das  Jahresprodukt  von  zehn  Arbeitern  im  Schuhmacher- 
gewerbe einen  Tauschwert  von  5500  fl.  und  das  Jahresprodukt  von  zehn 
Arbeitern  in  der  Goldwarenfabrikation  einen  Tauschwert  von  15000  fl. 


Rodbertus.  363 

hat,  und  haben  muß,  wenn  die  von  Rodbertus  vorausgesetzte  Gewinn- 
ausgleichung dauernd  soll  erfolgen  können,  wo  bleibt  dann  die  Rodbertus- 
sche  Voraussetzung,  daß  sich  die  Produkte  im  Verhältnisse  der  daran 
haftenden  Arbeit  vertauschen;  und  wenn  aus  der  Beschäftigung  derselben 
Arbeitsmenge  in  dem  einen  Gewerbe  500,  in  dem  andern  10000  fl  an  Rente 
resultieren,  wo  bleibt  weiter  die  Lehre,  daß  die  Menge  der  Rente,  die  in 
einer  Produktion  zu  gewinnen  ist,  sich  nicht  nach  der  Größe  des  darin 
verwendeten  Kapitales,  sondern  nur  nach  der  Menge  der  darin  geleisteten 
Arbeit  richte?  Der  Widerspruch,  in  den  sich  Rodbertus  hier  verwickelt 
hat,  ist  ebenso  sonnenklar,  als  er  unlöslich  ist.  Entweder  vertauschen 
sich  die  Produkte  wirklich  auf  die  Dauer  im  Verhältnis  der  daran  haftenden 
Arbeit  und  richtet  sich  die  Größe  der  Rente  in  einer  Produktion  wirklich 
nach  der  Menge  der  darin  verwendeten  Arbeit  —  dann  ist  eine  Nivellierung 
der  Kapitalgewinne  unmöglich.  Oder  es  findet  eine  Nivellierung  der 
Kapitalgewinne  statt  —  dann  ist  es  unmöglich,  daß  die  Produkte  fort- 
fahren sich  im  Verhältnisse  der  daran  haftenden  Arbeit  auszutauschen, 
und  daß  die  Menge  aufgewendeter  Arbeit  ausschließlich  die  Summe  der 
zu  gewinnenden  Rente  bedingt.  Rodbertus  hätte  diesen  auf  der  Hand 
liegenden  Widerspruch  bemerken  müssen,  wenn  er  dem  Vorgange  der 
Gewinn ausgleichung  nur  ein  wenig  wirkliches  Nachdenken  gewidmet 
hätte,  statt  mit  der  Phrase  von  der  ausgleichenden  Wirkung  der  Kon- 
kurrenz ganz  an  der  Oberfläche  stehen  zu  bleiben! 

Aber  damit  noch  nicht  genug.  Auch  die  ganze  Erklärung  der  Grund- 
rente, die  bei  Rodbertus  so  innig  mit  der  Erklärung  des  Kapitalzinses 
verbunden  ist,  beruht  auf  einer  Inkonsequenz,  die  so  auffällig  ist,  daß 
sie  dem  Autor  nur  durch  eine  fast  unbegreifliche  Unachtsamkeit  verborgen 
bleiben  konnte. 

Von  zwei  Dingen  ist  nur  eines  möglich.  Entweder  findet  eine  Kapital- 
gewinnausgleichung durch  die  Wirkungen  der  Konkurrenz  statt  oder  nicht. 
Gesetzt  sie  finde  statt;  was  berechtigt  dann  Rodbertus  anzunehmen, 
daß  die  Nivellierung  zwar  das  ganze  Gebiet  der  Fabrikation  ergreifen,  aber 
an  den  Grenzen  der  Rohproduktion  wie  durch  einen  Zauber  gebannt  Halt 
machen  werde?  Warum  soll,  wenn  die  Landwirtschaft  einen  lockenden 
höheren  Gewinn  verheißt,  nicht  auch  ihr  mehr  Kapital  zuströmen,  mehr 
geurbart,  intensiver  gebaut,  die  Kultur  verbessert  werden,  bis  der  Tausch- 
wert der  Rohprodukte  sich  in  Harmonie  mit  dem  gewachsenen  landwirt- 
schaftlichen Kapitale  gesetzt  hat,  und  ihm  auch  nur  den  allgemeinen 
Gewinnsatz  abwirft?  Wenn  das  „Gesetz",  daß  die  Menge  der  Rente 
nicht  nach  der  Kapitalauslage,  sondern  nur  nach  der  Menge  aufgewendeter 
Arbeit  sich  richtet,  die  Nivellierung  in  der  Fabrikation  nicht  gehindert 
hat,  wie  soll  es  sie  in  der  Rohproduktion  hindern?  Wo  bleibt  dann  aber 
der  ständige  Überschuß  über  den  üblichen  Gewinnsatz  oder  die  Grund- 
rente ? 


364  XII.  Die  Ausbeutungstheorie.    2.  U.-A,  Kritik. 

Oder,  die  Nivellierung  findet  überhaupt  nicht  statt.  Dann  gibt  es 
überhaupt  keinen  allgemeinen,  üblichen  Gewinnsatz,  dann  fehlt  es,  wie 
überhaupt,  so  auch  in  der  Landwirtschaft  an  einer  bestimmten  Norm 
dafür,  wie  viel  von  „Eente"  man  sich  als  Kapitalgewinn  aufzurechnen  hat, 
dann  fehlt  es  endlich  auch  an  der  Trennungsmarke  zwischen  Kapital- 
gewinn und  Grundrente.  Mag  demna6h  Gewinnausgleichung  stattfinden 
oder  nicht  —  in  beiden  Fällen  hängt  die  RoDBERTUssche  Grundrenten- 
theorie in  der  Luft.  —  Also  Widersprüche  über  Widersprüche,  und  zwar 
nicht  in  Kleinigkeiten,  sondern  in  den  Grundlehren  der  Theorie! 

Ich  habe  bis  jetzt  an  Einzelheiten  der  RoDBERTusschen  Theorie 
meine  Kritik  angelegt.  Ich  wiU  damit  schUeßen,  daß  ich  die  Theorie  als 
Ganzes  auf  die  Probe  stelle.  Wenn  die  Theorie  richtig  ist,  so  muß  sie 
imstande  sein,  für  das  Phänomen  des  Kapitalzinses,  so  wie  es  im  wirklichen 
Wirtschaftsleben  sich  darbietet,  und  zwar  in  allen  seinen  wesentlichen 
Erscheinungsformen  eine  befriedigende  Erklärung  zu  vermitteln;  vermag 
sie  das  nicht,  so  ist  ihr  Urteil  gesprochen,  sie  ißt  falsch. 

Ich  behaupte  nun  und  werde  sofort  nachweisen,  daß  die  Rodbertus- 
sche  Ausbeutungstheorie  zwar  zur  Not  imstande  wäre,  die  Verzinsung 
der  im  Arbeitslohne  investierten  Kapitalteile  begreifhch  zu  machen,  daß 
es  aber  absolut  unmöglich  ist,  mit  ihrer  Hilfe  die  Verzinsung  jener  Kapital- 
teile zu  erklären,  die  im  Fabrikationsmateriale  angelegt  sind.   Man  urteile. 

Ein  Juwelier,  der  sich  hauptsächlich  mit  der  Verfertigung  von  Perlen- 
schnüren beschäftigt,  läßt  jährlich  durch  fünf  angestellte  Arbeiter  echte 
Perlen  im  Werte  von  einer  Million  Gulden  in  Schnüre  fassen,  die  er  durch- 
schnittlich nach  einem  Jahre  absetzt.  Er  wird  demnach  beständig  ein 
Kapital  von  einer  Million  in  Perlen  investiert  haben,  das  ihm  nach  dem 
üblichen  Zinsfuße  einen  reinen  Jahresgewinn  von  50000  fl.  abwerfen  muß. 
Fragen  wir  nun?  wie  ist  dieser  Zinsenbezug  des  Juweliers  zu  erklären? 

RoDBERTus  antwortet,  der  Kapitalzins  ist  ein  Beutegewinn,  ent- 
standen aus  Abknappungen  am  natürlichen  und  gerechten  Arbeitslohn. 
Am  Lohn  welcher  Arbeiter?  der  fünf  Arbeiter,  die  die  Perlen  sortieren 
und  in  Schnüre  fassen?  Das  kann  doch  wohl  nicht  sein:  denn  wenn  man 
durch  Abknappung  vom  gerechten  Lohne  von  fünf  Arbeitern  50000  fl. 
soll  gewinnen  können,  so  müßte  der  gerechte  Lohn  derselben  jedenfalls 
mehr  als  50000  fl.,  also  für  den  Mann  jedenfalls  mehr  als  10000  fl.  betragen 
—  eine  Höhe  des  gerechten  Lohnes,  die  man  doch  kaum  im  Ernste  an- 
nehmen kann,  zumal  das  Geschäft  des  Sortierens  und  Aneinanderreihens 
von  Perlen  sehr  wenig  sich  über  den  Charakter  der  gemeinen  Arbeit  erhebt. 

Sehen  wir  uns  indes  weiter  um:  vielleicht  sind  es  die  Arbeiter  eines 
früheren  Produktionsstadiums,  aus  deren  Arbeitsprodukt  der  Juwelier 
seinen  Beutegewinn  macht,  etwa  die  Perlenfischer?  —  Allein  mit  diesen 
Arbeitern  ist  der  Juwelier  in  gar  keine  Berührung  gekommen,  er  hat  ja 
seine  Perlen  unmittelbar  vom  Unternehmer  der  Perlenfiseherei  oder  gar 


Rodbertus.  3g5 

von  einem  Zwischenhändler  gekauft:  er  hatte  also  gar  keine  Gelegenheit, 
den  Perlenfischern  einen  Teil  ihres  Produktes  oder  Produkt  wertes  in  Abzug 
zu  bringen.  Vielleicht  aber  hat  dies  an  seiner  Stelle  der  Unternehmer 
der  Perlenfischerei  getan,  so  daß  der  Gewinn  des  Juweliers  aus  einem 
Lohnabzug  stammt,  den  der  Unternehmer  der  Perlenfischerei  seinen 
Arbeitern  gegenüber  vollzogen  hat?  —  Auch  das  ist  nicht  möglich;  denn 
offenbar  würde  der  Juwelier  seinen  Gewinn  auch  dann  machen,  wenn  der 
Unternehmer  der  Perlenfischerei  seinen  Arbeitern  gar  keinen  Lohnabzug 
macht.  Mag  dieser  auch  die  ganze  Million,  die  die  gefischten  Perlen  wert 
sind  und  die  er  vom  Juwelier  als  Kaufpreis  erhält,  als  Lohn  unter  seine 
Arbeiter  verteilen,  so  erreicht  er  damit  nur,  daß  er  keinen  Gewinn  macht, 
keineswegs,  daß  der  Juwelier  seinen  Gewinn  einbüßt.  Denn  für  diesen 
ist  die  Art,  in  der  sich  der  von  ihm  geleistete  Kaufpreis  verteilt  —  falls 
er  sich  nur  nicht  erhöht  hat  —  etwas  vöUig  Gleichgültiges.  Mag  man  also 
seine  Phantasie  anstrengen  wie  man  wül,  so  wird  man  vergebens  nach 
den  Arbeitern  suchen,  aus  deren  gerechtem  Lohne  der  Juweliergewinn 
von  50000  fl.  denkbarer  Weise  zurückbehalten  sein  könnte. 

Vielleicht  läßt  indes  dieses  Beispiel  bei  manchem  Leser  doch  noch 
Skrupel  übrig.  Vielleicht  findet  es  mancher  zwar  etwas  seltsam,  daß  die 
Arbeit  der  fünf  Perlenfasser  die  Quelle  sein  soll,  aus  der  der  Juwelier 
einen  so  bedeutenden  Gewinn  von  50000  fl.  erbeuten  kann,  aber  ganz 
undenkbar  sei  es  doch  nicht.  Ich  will  daher  ein  zweites  noch  schlagenderes 
Beispiel  vorführen:  ein  gutes  altes  Beispiel,  an  dem  im  Laufe  der  Zeit 
schon  manche  Zinstheorie  erprobt  und  falsch  befunden  wurde. 

Elin  Weinbergbesitzer  hat  ein  Faß  guten  jungen  Weines  geerntet. 
Es  hat  unmittelbar  nach  der  Ernte  einen  Tauschwert  von  100  fl.  Er  läßt 
den  Wein  ruhig  im  Keller  liegen,  und  nach  einem-  Dutzend  von  Jahren 
hat  der  alt  gewordene  Wein  einen  Tauschwert  von  200  fl.  Eine  bekannte 
Tatsache.  Die  Differenz  von  100  fl.  fällt  dem  Eigentümer  des  Weines  als 
Verzinsung  des  in  letzterem  liegenden  Kapitales  zu.  An  welchen  Arbeitern 
soll  nun  dieser  Kapitalgewinn  erbeutet  worden  sein? 

Da  während  des  Abliegens  absolut  keine  Arbeit  mehr  an  den  Wein 
gewendet  worden  ist,  so  wäre  es  nur  denkbar,  daß  die  Erbeutung  an  jenen 
Arbeitern  begangen  wurde,  die  den  Neuwein  produziert  hatten.  Der 
Weinbergbesitzer  hat  ihnen  zu  wenig  Lohn  gezahlt.  Allein,  frage  ich,  wie 
viel  hätte  er  ihnen  ,. gerechter  Weise"  an  Lohn  zahlen  sollen?  Auch  wenn 
er  ihnen  die  ganzen  100  fl.  zahlt,  die  der  neue  Wein  zur  Zeit  der  Ernte 
wert  war,  so  bleibt  ihm  immer  noch  der  Wertzuwachs  von  100  fl.,  den 
Rodbertus  als  Beutegewinn  brandmarkt.  Ja  selbst  wenn  er  ihnen  120 
oder  150  fl.  an  Lohn  gezahlt  hätte,  büebe  der  Vorwurf  der  Erbeutung  an 
ihm  noch  hängen;  er  würde  von  ihm  erst  dann  befreit,  wenn  er  volle  200  fl. 
gezahlt  hätte. 


366  XII.  Die  Ausbeutungstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

Soll  man  nun  im  Ernst  verlangen,  daß  als  „gerechter  Arbeitslohn" 
für  ein  Produkt,  das  nicht  mehr  als  einhundert  Gulden  wert  ist,  zwei- 
hundert Gulden  als  Lohn  gezahlt  werden  sollen?  Weiß  denn  der  Eigen- 
tümer im  vorhinein,  ob  das  Produkt  überhaupt  jemals  200  fl.  wert  werden 
wird?  Kann  er  denn  nicht  gegen  seine  ursprüngliche  Absicht  gezwungen 
sein,  den  Wein  vor  Ablauf  von  12  Jahren  zu  verbrauchen  oder  zu  verkaufen? 
und  hätte  er  dann  nicht  200  fl.  für  ein  Produkt  gezahlt,  das  nie  mehr  als 
100  fl.  oder  vielleicht  120  fl.  wert  war  ?  Und  wie  soll  er  denn  die  Arbeiter 
honorieren,  die  jenen  neuen  Wein  produzieren,  den  er  sofort  um  100  fl. 
verkauft  ?  Auch  mit  200  fl.  ?  Dann  geht  er  zu  Grunde.  Oder  nur  mit 
100  fl.  ?  Dann  bekommen  verschiedene  Arbeiter  für  völlig  gleiches  Werk 
verschiedenen  Lohn,  was  wieder  ungerecht  ist;  abgesehen  davon,  daß 
man  ja  kaum  im  vorhinein  wissen  wird,  wessen  Produkt  sofort  verkauft 
und  wessen  Produkt  ein  Dutzend  Jahre  aufbewahrt  werden  wird. 

Aber  noch  mehr.  Sogar  ein  Lohn  von  200  fl.  für  ein  Faß  neuen  Weines 
wäre  noch  kein  Lohnbetrag,  der  gegen  den  Vorwurf  der  Ausbeutung  ge- 
sichert wäre:  denn  der  Eigentümer  kann  den  Wein  statt  eines  Dutzends 
zwei  Dutzend  Jahre  im  Keller  liegen  lassen,  und  dann  wird  er  nicht  200, 
sondern  400  fl.  wert  sein.  Soll  er  deshalb  den  Arbeitern,  die  24  Jahre 
früher  ihm  den  Wein  produziert  haben,  statt  100  fl.  vierhundert  Gulden 
gerechter  Weise  zu  zahlen  schuldig  sein?  Der  Gedanke  ist  zu  absurd! 
Zahlt  er  ihnen  aber  nur  100  fl.,  oder  200  fl.,  so  macht  er  seinen  Kapital- 
gewinn, und  RoDBERTUs  erklärt,  daß  er  den  Arbeiter  durch  Rückhaltung 
eines  Teiles  vom  Werte  seines  Produktes  am  gerechten  Arbeitslohne 
verkürzt  hat! 

Ich  glaube  nicht,  daß  irgend  jemand  die  Behauptung  wagen  wird, 
daß  die  vorgeführten  und  die  zahlreichen  ihnen  analogen  Fälle  von  Zins- 
bezügen durch  RoDBERTus'  Theorie  erklärt  seien.  Eine  Theorie  aber, 
die  für  einen  wichtigen  Teil  der  zu  erklärenden  Erscheinungen  die  Er- 
klärung schuldig  bleibt,  kann  die  wahre  nicht  sein,  und  so  führt  denn 
auch  diese  summarische  Schlußprüfung  zu  demselben  Ergebnisse,  das  die 
vorangehende  Detailkritik  erwarten  ließ:  die  RooBERTUssche  Ausbeutungs- 
theorie ist  in  ihrer  Begründung  und  ihren  Resultaten  falsch,  im  Wider- 
spruche mit  sich  selbst  und  mit  den  Erscheinungen  der  Wirklichkeit.  — 

Die  Natur  meiner  kritischen  Aufgabe  hat  es  mit  sich  gebracht,  daß 
ich  in  den  voranstehenden  Blättern  vorzugsweise  und  einseitig  auf  die 
Irrtümer  hinweisen  mußte,  in  die  Rodbertus  verfallen  ist.  Ich  glaube 
dem  Andenken  dieses  bedeutenden  Mannes  schuldig  zu  sein,  ebenso  un- 
umwunden seine  hervorragenden  Verdienste  um  die  Entwicklung  der 
nationalökonomischen  Theorie  anzuerkennen,  deren  Darstellung  indes 
leider  außerhalb  des  Rahmens  meiner  jetzigen  Aufgabe  fällt. 


Marx.  367 

B.  Marxi). 

Marx'  theoretisches  Lebenswerk  ist  sein  großes,  dreibändiges  Werk 
über  das  Kapital.  Die  Grundlagen  seiner  Ausbeutungstheorie  sind  in  dem 
ersten  Bande  niedergelegt,  dem  einzigen,  der  —  1867  —  bei  Lebzeiten 
des  Verfassers  erschien.  Der  zweite,  schon  nach  dem  Tode  des  Verfassers 
von  Engels  im  Jahre  1885  herausgegebene  Band  ist  inhaltlich  dem  ersten 
vöHig  homogen.  Weniger  homogen  ist  bekanntlich  der  dritte,  abermals 
erst  nach  einer  vieljährigen  Pause  im  Jahre  1894  herausgegebene  Band. 
Viele,  und  darunter  auch  der  Verfasser  dieser  Zeilen  sind  der  Ansicht, 
daß  der  Inhalt  des  dritten  Bandes  neben  dem  des  ersten  nicht  bestehen 
kann  und  umgekehrt.  Da  aber  Marx  selbst  dieses  Verhältnis  nicht  zuge- 
standen, vielmehr  auch  in  seinem  dritten  Bande  die  andauernde  volle 
Geltung  der  im  ersten  Bande  niedergelegten  Lehren  beansprucht  hat,  ist 
die  Kritik  sowohl  berechtigt  als  auch  verpflichtet,  die  Lehre  des  ersten 
Bandes  trotz  der  Existenz  des  dritten  als  den  Ausdruck  der  wahren  und 
fortdauernden  Meinung  von  Marx  anzusehen;  freilich  aber  auch  ebenso 
berechtigt  und  verpflichtet,  die  Lehren  des  dritten  Bandes  am  entsprechen- 
den Ort  zur  Illustration  und  Kritik  mitheranzuziehen. 

Marx  nimmt  seinen  Ausgangspunkt  von  dem  Satze,  daß  der  Wert 
aller  Waren  sich  ausschließlich  nach  der  Menge  der  Arbeit  richtet,  die 
ihre  Erzeugung  kostet.  Er  gibt  diesem  Satze  viel  mehr  Nachdruck  als 
KoDBERTus.  Während  letzterer  ihn  erst  im  Zuge  seiner  Auseinander- 
setzungen mehr  beiläufig  erwähnt,  häufig  nur  in  der  Form  einer  hypo- 


1)  Zur  Ejritik  der  politischen  Ökonomie,  Berlin  1859;  das  Kapitel.  Kjritik  der 
politischen  Ökonomie,  3  Bände  1867 — 1894.  Vgl.  über  Marx  den  Artikel  ,,Marx"  von 
Engels  im  Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften  (nebst  vollständigem  Verzeichnis 
der  von  Marx  verfaßten  Schriften,  in  der  3.  Auflage  des  Handwörterbuchs  fortgesetzt 
und  ergänzt  von  K.  Diehl),  dann  u.  a.  Knies,  das  Geld,  II.  Auflage,  1885,  S.  163 ff.; 
A.  Wagner  in  seiner  ,, Grundlegung  der  politischen  Ökonomie"  3.  Aufl.,  passim,  be- 
sonders II  285ff.;  Lexis  in  Conrads  Jahrbüchern  1885  N.  F.  XI  452ff.;  Gross,  K.  Marx, 
Leipzig  1885;  Adler,  Grundlagen  der  Marxschen  KJritik  der  bestehenden  Volkswirt- 
schaft, Tübingen  1887;  Komorzynski,  der  dritte  Band  von  Karl  Marx  das  Kapital, 
Zeitschr.  für  Volkswirtschaft,  Sozialpol.  und  Verwaltung  VI.  Band.  S.  242ff.;  Wenck- 
stern,  Marx,  Leipzig  1896;  SoMbart,  Zur  Kritik  des  ökonomischen  Systems  von  Karl 
Marx,  Archiv  für  soz.  Gesetzgebung  u.  Statistik  Bd.  VII,  Heft  4,  S.  555ff.;  meinen 
Aufsatz  „Zum  Abschluß  des  Marxschen  Systems"  in  den  ,, Festgaben  für  Karl  Knies", 
Berlin  1896  (in  selbständiger  Buchausgabe  in  russischer  Sprache  Petersburg  1897  und 
in  englischer  Sprache  London  1898  erschienen);  Diehl,  Über  das  Verhältnis  von  Wert 
und  Preis  im  ökonomischen  System  von  Karl  Marx,  Abdruck  aus  der  Festschrift  zur 
Feier  des  25jährigen  Bestehens  des  staatswissenschaftlichen  Seminars  zu  Halle  a.  S., 
Jena  1898;  Masaryk,  Die  philosophischen  und  soziologischen  Grundlagen  des  Marxismus, 
Wien  1899;  Tugan-Baranowski,  Theoretische  Grundlagen  des  Marxismus,  Leipzig 
1905;  v.  BoRTKiEwicz,  Wertrechnung  und  Preisrechnung  im  Marxschen  System  (im 
Archiv  für  Sozialwissenschaft  und  Sozialpolitik  Bd.  23  und  25);  und  viele  andere 
Schriften  der  massenhaften  und  immer  noch  anwachsenden  Marxliteratur. 


368  XII.  Die  Ausbeutungstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

thetischen  Voraussetzung  ausspricht  und  nirgends  ein  Wort  zu  seinem 
Beweise  verliert^),  stellt  ihn  Marx  an  die  Spitze  seiner  ganzen  Lehre 
und  widmet  ihm  eine  ausführliche  Begründung  und  Erläuterung. 

Das  Untersuchungsfeld,  das  Marx  zu  durchforschen  unternimmt,  um 
dem  „Wert  auf  die  Spur  zu  kommen"  (I  23)2),  beschränkt  er  von  Haus 
aus  auf  die  Waren,  worunter  wir  in  seinem  Sinn  wohl  nicht  alle  wirt- 
schaftlichen Güter,  sondern  nur  die  für  den  Markt  erzeugten  Arbeits- 
produkte zu  verstehen  haben 3).  Er  beginnt  mit  der  „Analyse  der  Ware" 
(I  9).  Die  W^are  ist  einerseits  als  nützliches  Ding,  das  durch  seine  Eigen- 
schaften menschliche  Bedürfnisse  irgend  einer  Art  befriedigt,  ein  Gebrauchs- 
wert, andererseits  bildet  sie  die  stofflichen  Träger  des  Tauschwertes.  Auf 
diesen  letzteren  geht  die  Analyse  nunmehr  über.  „Der  Tauschwert  er- 
scheint zunächst  als  das  quantitative  Verhältnis,  die  Proportion,  worin 
sich  Gebrauchswerte  einer  Art  gegen  Gebrauchswerte  anderer  Art  aus- 
tauschen, ein  Verhältnis,  das  beständig  mit  Zeit  und  Ort  wechselt."  Er 
scheint  also  etwas  Zufälliges  zu  sein.  Dennoch  muß  es  in  diesem  Wechsel 
ein  Bleibendes  geben,  dem  Marx  nachzuspüren  unternimmt.  Er  tut  es 
in  seiner  bekannten  dialektischen  Weise:  „Nehmen  wir  zwei  Waren,  z.  B. 
Weizen  und  Eisen.  Welches  immer  ihr  Austauschverhältnis,  es  ist  stets 
darstellbar  in  einer  Gleichung,  worin  ein  gegebenes  Quantum  Weizen 
irgend  einem  Quantum  Eisen  gleichgesetzt  wird,  z.  B.  1  Quarter  Weizen 
=  ä  Zentner  Eisen.  Was  besagt  diese  Gleichung?  Daß  ein  Gemeinsames 
von  derselben  Größe  in  zwei  verschiedenen  Dingen  existiert,  in  1  Quarter 
Weizen  und  ebenfalls  in  ä  Zentner  Eisen.  Beide  sind  also  gleich  einem 
Dritten,  das  an  und  für  sich  weder  das  eine,  noch  das  andere  ist.  Jedes 
der  beiden,  soweit  es  Tauschwert,  muß  also  auf  dies  Dritte  reduzierbar  sein." 

„Dieses  Gemeinsame"  —  fährt  Marx  fort  —  „kann  nicht  eine  geo- 


^)  LiFSCHiTZ,  „Zur  Kritik  der  Böhm-Bawerkschen  Werttheorie",  Leipzig  1908, 
S.  16,  will  zwischen  dieser  Bemerkung  und  der  an  einer  früheren  Stelle  meines  Buches 
(oben  S.  338ff.,  in  der  I.  Aufl.  S.  887ff.)  von  mir  selbst  verzeichneten  „ernstlichen 
Motivierung"  Rodbertus'  einen  Widerspruch  finden.hat  aber  entweder  so  oberflächlich 
gelesen  oder  so  oberflächlich  gedacht,  daß  er  dabei  zwei  verschiedene  Thesen  mit  ein- 
ander verwechselt.  Wirklich  motiviert  hat  nämlich  Rodb'Ertus  die  These,  daß  alle 
Güter  wirtschaftlich  nur  Arbeit  kosten,  während  ich  hier  von  der  ganz  anderen  These 
spreche,  daß  der  Wert  der  Güter  sich  ausschließlich  nach  der  Menge  der  Kostenarbeit 
richtet.  Dabei  hätte  Lifschitz  auf  den  recht  wesentlichen  Unterschied,  der  zwischen 
beiden  Thesen  besteht,  u.  a.  schon  durch  die  völlig  verschiedene  Stellung,  die  ich  oben 
auf  S.  844f.  einerseits  und  365ff.  andererseits  ihnen  gegenüber  einnahm,  aufmerksam 
werden  können  1 

*)  Ich  zitiere  den  I.  Band  des  Marxschen  Kapitales  stets  nach  der  (zweiten)  Auf- 
lage von  1872,  den  IL  Band  nach  der  Ausgabe  von  1886,  den  III.  nach  der  von  1894, 
und  zwar  ist,  wenn  nichts  anderes  bemerkt  wird,  unter  III  stets  die  erste  Abteilung 
des  dritten  Bandes  gemeint. 

*)  I  15,  17,  49,  87  und  öfters.  Vgl.  auch  Adler,  Grundlagen  der  Karl  Marxschen 
Kritik  der  bestehenden  Volkswirtschaft,  Tübingen  1887,  S.  210  und  213. 


Marx.  369 

metrische,  physische,  chemische-  oder  sonstige  natürliche  Eigenschaft  der 
Waren  sein.  Ihre  körperlichen  Eigenschaften  kommen  überhaupt  nur  in 
Betracht,  soweit  selbe  sie  nutzbar  machen,  also  zu  Gebrauchswerten. 
Andererseits  ist  aber  das  Austauschverhältnis  der  Waren  augenscheinlich 
charakterisiert  durch  die  Abstraktion  von  ihren  Gebrauchswerten.  Inner- 
halb desselben  gilt  ein  Gebrauchswert  gerade  so  viel  wie  jeder  andere, 
wenn  er  nur  in  gehöriger  Proportion  vorhanden  ist.  Oder,  wie  der  alte 
Barbon  sagt:  „„Die  eine  Warensorte  ist  so  gut  wie  die  andere,  wenn  ihr 
Tauschwert  gleich  groß  ist.  Da  existiert  keine  Verschiedenheit  oder  Unter- 
scheidbarkeit zwischen  Dingen  von  gleich  großem  Tauschwerte.""  Als 
Gebrauchswerte  sind  die  Waren  vor  allem  verschiedener  Qualität,  als 
Tauschwerte  können  sie  nur  verschiedener  Quantität  sein,  enthalten  also 
kein  Atom  Gebrauchswert." 

„Sieht  man  nun  vom  Gebrauchswerte  der  Warenkörper  ab,  so  bleibt 
ihnen  nur  noch  eine  Eigenschaft,  die  von  Arbeitsprodukten.  Jedoch  ist 
uns  auch  das  Arbeitsprodukt  bereits  in  der  Hand  verwandelt.  Abstrahieren 
wir  von  seinem  Gebrauchswerte,  so  abstrahieren  wir  auch  von  den  körper- 
lichen Bestandteilen  und  Formen,  die  es  zum  Gebrauchswerte  machen. 
Es  ist  nicht  länger  Tisch  oder  Haus  oder  Garn  oder  sonst  ein  nützlich 
Ding.  Alle  seine  sinnüchen  Beschaffenheiten  sind  ausgelöscht.  Es  ist 
auch  nicht  länger  das  Produkt  der  Tischlerarbeit  oder  Bauarbeit  oder 
Spinnarbeit  oder  sonst  einer  bestimmten  produktiven  Arbeit.  Mit  dem 
nützüchen  Charakter  der  Arbeitsprodukte  verschwindet  der  nützliche 
Charakter  der  in  ihnen  dargestellten  Arbeiten,  es  verschwinden  also  auch 
die  verschiedenen  konkreten  Formen  dieser  Arbeiten,  sie  unterscheiden 
sich  nicht  länger,  sondern  sind  allzusamt  reduziert  auf  gleiche  menschliche 
Arbeit,  abstrakt  menschliche  Arbeit." 

„Betrachten  wir  nun  das  Residuum  der  Arbeitsprodukte.  Es  ist 
nichts  von  ihnen  übrig  geblieben  als  dieselbe  gespenstige  Gegenständlich- 
keit, eine  bloße  Gallerte  unterschiedsloser  menschlicher  Arbeit,  d.  h.  der 
Verausgabung  menschlicher  Arbeitskraft  ohne  Rücksicht  auf  die  Form 
ihrer  Verausgabung.  Diese  Dinge  stellen  nur  noch  dar,  daß  in  ihrer  Pro- 
duktion menschliche  Arbeitskraft  verausgabt,  menschliche  Arbeit  auf- 
gehäuft ist.  Als  Krystalle  dieser  ihnen  gemeinschaftlichen  gesellschaft- 
lichen Substanz  sind  sie  —  Werte." 

Damit  ist  der  Wertbegriff  gefunden  und  bestimmt.  Er  ist  der  dia- 
lektischen Form  nach  nicht  identisch  mit  dem  Tauschwert,  aber  er  steht 
zu  ihm  in  der  innigsten  unzertrennlichen  Beziehung:  er  ist  eine  Art  begriff- 
lichen Destillats  aus  dem  Tauschwert.  Er  ist,  um  mit  Marx'  eigenen 
Worten  zu  reden,  „das  Gemeinsame,  was  sich  im  Austauschverhältnis 
oder  Tauschwert  der  Waren  darstellt",  wie  denn  auch  umgekehrt  wieder 
der  „Tauschwert  die  notwendige  Ausdrucksweise  oder  Erscheinungsform 
des  Wertes"  ist  (I  13). 

Böhm-Bawerk,  Kapitalzins.    4.  Aufl.  24 


370  XII.  Die  Ausbeutungstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

Von  der  Feststellung  des  Begriffes  des  Wertes  schreitet  Marx  zur 
Darlegung  seines  Maßes  und  seiner  Größe  vor.  Da  die  Arbeit  die  Substanz 
des  Wertes  ist,  wird  konsequent  auch  die  Größe  des  Wertes  aller  Güter 
an  dem  Quantum  der  in  ihnen  enthaltenen  Arbeit,  beziehungsweise  an  der 
Arbeitszeit,  gemessen.  Aber  nicht  an  jener  individuellen  Arbeitszeit,  die 
gerade  dasjenige  Individuum,  welches  das  Gut  angefertigt  hat,  zufällig 
benötigt  hat,  sondern  an  der  ,, gesellschaftlich  notwendigen  Arbeitszeit", 
welche  Marx  erklärt  als  die  „Arbeitszeit,  erheischt  um  irgend  einen  Ge- 
brauchswert mit  den  vorhandenen  gesellschafthch-norraalen  Produktions- 
bedingungen und  dem  gesellschaftlichen  Grade  von  Geschick  und  Inten- 
sivität  der  Arbeit  darzustellen"  (I  14).  „Nur  das  Quantum  gesellschaftlich 
notwendiger  Arbeit  oder  die  zur  Herstellung  eines  Gebrauchswertes  gesell- 
schaftlich notwendige  Arbeitszeit  ist  es,  welche  seine  Wertgröße  bestimmt. 
Die  einzelne  Ware  gilt  hier  überhaupt  als  Durchschnittsexemplar  ihrer  Art. 
Waren,  worin  gleich  große  Arbeitsquanta  enthalten  sind,  oder  die  in  der- 
selben Arbeitszeit  hergestellt  werden  können,  haben  daher  dieselbe  Wert- 
größe. Der  Wert  einer  Ware  verhält  sich  zum  Werte  jeder  anderen  Ware, 
wie  die  zur  Produktion  der  einen  notwendige  Arbeitszeit  zu  der  für  die 
Produktion  der  anderen  notwendigen  Arbeitszeit.  Als  Werte  sind  alle 
Waren  nur  bestimmte  Maße  festgeronnener  Arbeitszeit." 

Aus  alledem  leitet  sich  nun  der  Inhalt  des  großen  „Werfgesetzes" 
ab,  welches  „dem  Warenaustausch  immanent"  ist  (I  141,  150)  und  die 
Austauschverhältnisse  beherrscht.  Es  besagt,  und  kann  nach  dem  Voraus- 
gegangenen nichts  anderes  besagen,  als  daß  die  Waren  sich  untereinander 
nach  dem  Verhältnisse  der  in  ihnen  verkörperten  gesellschaftlich  not- 
wendigen Durchschnittskrbeit  austauschen  (z.  B.  I  52).  Andere  Ausdrucks- 
formen desselben  Gesetzes  sind,  daß  die  Waren  -,sich  zu  ihren  Werten 
vertauschen"  (z.  B.  I,  142,  183,  III  167),  oder  daß  sich  „Äquivalent 
gegen  Äquivalent  vertauscht"  (z.  B.  I  150,  183).  Zwar  kommen  im 
einzelnen  Falle  je  nach  den  momentanen  Schwankungen  von  Angebot 
und  Nachfrage  auch  Preise  zur  Erscheinung,  die  über  oder  unter  den 
Werten  stehen.  Allein  diese  „beständigen  Oszillationen  der  Marktpreise  .  .  . 
kompensieren  sich,  heben  sich  wechselseitig  auf  und  reduzieren  sich  selbst 
zum  Durchschnittspreis  als  ihrer  inneren  Regel"  (I  151  Note  37).  Auf 
die  Dauer  setzt  sich  „in  den  zufälligen  und  stets  schwankenden  Austausch- 
verhältnissen" doch  stets  ,.die  gesellschaftlich  notwendige  Arbeitszeit  als 
regelndes  Naturgesetz  gewaltsam  durch"  (I  52).  Marx  spricht  dieses 
Gesetz  als  das  „ewige  Gesetz  des  Warentausches"  (I  182),  als  „das  Ratio- 
nelle", als  „das  natürliche  Gesetz  des  Gleichgewichts"  an  (III  167).  Die 
allerdings,  wie  schon  gesagt,  vorkommenden  Fälle,  in  denen  Waren  zu 
Preisen  vertauscht  werden  die  von  ihren  Werten  abweichen,  sind  im  Ver- 
hältnis zur  Regel  als  ».zufällige"  (I  150  Note  37),  und  die  Abweichungen 


Marx.  371 

selbst  als  „Verletzung  des  Gesetzes  des  Warenaustausches"  anzusehen 
(I  142). 

Auf  diesen  werttheoretischen  Grundlagen  richtet  Marx  sodann  den 
zweiten  Teil  seines  Lehrgebäudes,  seine  berühmte  Lehre  vom  ., Mehr- 
wert" auf.  Er  untersucht  die  Quelle  des  Gewinnes,  den  die  Kapitalisten 
aus  ihren  Kapitalien  ziehen.  Die  Kapitalisten  werfen  eine  gewisse  Geld- 
summe ein,  verwandeln  sie  in  Waren,  und  verwandeln  diese  dann  —  mit 
oder  ohne  dazwischenliegenden  Produktionsprozeß  —  durch  Verkauf  in 
mehr  Geld  zurück.  Woher  kommt  dieses  Inkrement,  dieser  Überschuß  der 
herausgezogenen  über  die  ursprünglich  vorgeschossene  Geldsumme,  oder, 
wie  Marx  es  nennt,  der  ., Mehrwert"? 

Marx  grenzt  zunächst  in  der  ihm  eigentümlichen  Weise  dialektischer 
Ausschließung  die  Bedingungen  des  Problems  ab.  Er  führt  zuerst  aus, 
daß  der  Mehrwert  weder  daraus  entspringen  kann,  daß  der  Kapitalist  als 
Käufer  die  Waren  regelmäßig  unter  ihrem  Wert  einkauft,  noch  daraus, 
daß  er  sie  als  Verkäufer  regelmäßig  über  ihrem  Wert  verkauft.  Das 
Problem  stellt  sich  sonach  folgendermaßen  dar:  ., Unser  .  .  .  Geldbesitzer 
muß  die  Waren  zu  ihrem  Werte  kaufen,  zu  ihrem  Werte  verkaufen,  und 
dennoch  am  Ende  des  Prozesses  mehr  Wert  herausziehen,  als  er  hinein- 
warf .  .  .  Dies  sind  die  Bedingungen  des  Problems.  Hie  Khodus,  hie 
salta!"  (I  150 ff.) 

Die  Lösung  findet  nun  Marx  darin,  daß  es  eine  Ware  gibt,  deren 
Gebrauchswert  die  eigentümliche  Beschaffenheit  besitzt,  Quelle  von 
Tauschwert  zu  sein.  Diese  Ware  ist  das  Arbeitsvermögen  oder  die  Arbeits- 
kraft. Sie  wird  auf  dem  Markte  feilgeboten  unter  der  doppelten  Bedingung, 
daß  der  Arbeiter  persönlich  frei  ist  —  denn  sonst  würde  nicht  seine  Arbeits- 
kraft, sondern  seine  ganze  Person,  als  Sklave,  feil  sein  — ;  und  daß  der 
Arbeiter  von  „allen  zur  Verwirklichung  seiner  Arbeitskraft  nötigen  Sachen" 
entblößt  ist;  denn  sonst  würde  er  es  vorziehen,  auf  eigene  Rechnung  zu 
produzieren  und  seine  Produkte  statt  seiner  ^irbeitskraft  feilzubieten. 
Durch  den  Handel  mit  dieser  Ware  erwirbt  nun  der  Kapitalist  den  Mehr- 
wert.    In  folgender  Weise. 

Der  Wert  der  Ware  Arbeitskraft  richtet  sich,  gleich  dem  jeder  anderen 
Ware,  nach  der  zu  ihrer  Reproduktion  notwendigen  Arbeitszeit,  das  heißt 
in  diesem  Falle,  nach  der  Arbeitszeit,  die  notwendig  ist,  um  so  viel  Lebens- 
mittel zu  erzeugen,  als  zur  Erhaltung  des  Arbeiters  erfordert  werden. 
Ist  z.  B.  zur  Erzeugung  der  notwendigen  Lebensmittel  für  einen  Tag  eine 
gesellschaftliche  Arbeitszeit  von  6  Stunden  erforderlich  und  ist  zugleich, 
wie  wir  annehmen  wollen,  dieselbe  Arbeitszeit  in  3  gh.  Gold  verkörpert, 
so  wird  die  Arbeitskraft  eines  Tages  um  3  sh.  zu  kaufen  sein.  Hat  der 
Kapitalist  diesen  Kauf  geschlossen,  so  gehört  der  Gebrauchswert  der 
Arbeitskraft  ihm,  und  er  realisiert  ihn,  indem  er  den  Arbeiter  für  sich 
arbeiten  läßt.    Würde  er  ihn  täglich  nur  so  viele  Stunden  arbeiten  lassen, 

24* 


372  XII.  Die  Ausbeutungstheorie.    2.  Ü.-A.  KJritik. 

als  in  der  Arbeitskraft  selbst  verkörpert  sind  und  als  er  beim  Einkaufe 
derselben  hatte  bezahlen  müssen,  so  würde  ein  Mehrwert  nicht  entstehen. 
Denn  6  Arbeitsstunden  können  dem  Produkte,  in  das  sie  verkörpert 
werden,  nach  der  Annahme  keinen  größeren  Wert  als  3  sh.  zusetzen;  so 
viel  hat  aber  der  Kapitalist  auch  an  Lohn  gezahlt.  Aber  so  handfeln  die 
Kapitalisten  nicht.  Auch  wenn  sie  die  Arbeitskraft  um  einen  Preis  gekauft 
haben,  der  nur  einer  sechsstündigen  Arbeitskraft  entspricht,  lassen  sie 
den  Arbeiter  den  ganzen  Tag  für  sich  arbeiten.  Jetzt  sind  im  Produkte, 
das  während  dieses  Tages  geschaffen  wird,  mehr  Arbeitsstunden  verkörpert, 
als  der  Kapitalist  bezahlen  mußte,  es  hat  daher  einen  größeren  Wert  als 
der  bezahlte  Lohn,  und  die  Differenz  ist  „Mehrwert",  der  dem  Kapitalisten 
zufällt. 

Ein  Beispiel.  Gesetzt,  ein  Arbeiter  kann  in  6  Stunden  10  Pfd.  Baum- 
wolle in  Garn  verspinnen.  Gesetzt,  diese  Baumwolle  hat  zu  ihrer  eigenen 
Erzeugung  20  Arbeitsstunden  erfordert  und  besitzt  demgemäß  einen  Wert 
von  10  sh.  Gesetzt  ferner,  der  Spinner  vernutzt  während  der  sechsstündigen 
Spinnarbeit  am  Werkzeug  so  viel,  als  einer  vierstündigen  Arbeit  entspricht 
und  daher  einen  Wert  von  2  sh.  repräsentiert;  so  wird  der  Gesamtwert 
der  in  der  Spinnerei  verzehrten  Produktionsmittel  12  sh.  entsprechend 
24  Arbeitsstunden  betragen.  Im  Spinnprozesse  „saugt"  die  Baumwolle 
noch  weitere  6  Arbeitsstunden  ein:  das  fertige  Gespinnst  ist  daher  im 
ganzen  das  Produkt  von  30  Arbeitsstunden  und  wird  demgemäß  einen 
Wert  von  15  sh.  haben.  Unter  der  Voraussetzung,  daß  der  Kapitalist 
den  gemieteten  Arbeiter  nur  6  Stunden  im  Tage  arbeiten  läßt,  hat  die 
Herstellung  des  Garnes  den  Kapitalisten  auch  volle  15  sh.  gekostet:  10  sh. 
für  Baumwolle,  2  sh.  für  Abnützung  an  Werkzeugen,  3  sh.  an  Arbeitslohn. 
Ein  Mehrwert  kommt  nicht  zur  Erscheinung. 

Ganz  anders,  wenn  der  Kapitalist  den  Arbeiter  12  Stunden  tätlich 
arbeiten  läßt.  In  12  Stunden  verarbeitet  der  Arbeiter  20  Pfd.  Baumwolle, 
in  denen  schon  vorher  40  Arbeitsstunden  verkörpert,  und  die  daher  20  sh. 
wert  sind;  vernutzt  ferner  an  Werkzeugen  das  Produkt  von  8  Arbeits- 
stunden im  Werte  von  4  sh. ;  setzt  aber  dem  Rohmateriale  während  eines 
Tages  12  Arbeitsstunden,  d.  i.  einen  Neuwert  von  6  sh.  zu.  Nunmehr 
steht  die  Bilanz  folgendermaßen.  Das  während  eines  Tages  erzeugte  Garn 
hat  insgesamt  60  Arbeitsstunden  gekostet,  hat  daher  einen  Wert  von  30  sh. 
Die  Auslagen  des  Kapitalisten  betrugen  20  sh.  für  Baumwolle,  4  sh.  für 
Werkzeugabnützung  und  3  sh.  für  Lohn,  folglich  zusammen  nur  27  sh.: 
es  erübrigt  jetzt  ein  „Mehrwert"  von  3  sh. 

DerMehrwert  ist  daher  nachMARX  eineFolge  davon,  daß  der  Kapitalist 
den  Arbeiter  einen  Teil  des  Tages  für  sich  arbeiten  läßt,  ohne  ihn  dafür 
zu  bezahlen.  Im  Arbeitstage  des  Arbeiters  lassen  sich  zwei  Teile  unter- 
scheiden. Im  ersten  Teile,  der  „notwendigen  Arbeitszeit",  produziert  der 
Arbeiter  seinen  eigenen  Lebensunterhalt,    beziehungsweise  dessen  Wert; 


Marx.  373 

jfür  diesen  Teil  seiner  Arbeit  empfängt  er  ein  Äquivalent  im  Lohn.  Während 
des  zweiten  Teiles,  der  „Surplus- Arbeitszeit",  wird  er  „exploitiert", 
erzeugt  er  den  „Mehrwert",  ohne  selbst  irgend  ein  Äquivalent  dafür  zu 
erlangen  (I  205  ff.).  „Das  Kapital  ist  also  nicht  nur  Kommando  über 
Arbeit,  wie  A.  Smith  sagt.  Es  ist  wesentlich  Kommando  über  unbezahlte 
Arbeit.  Aller  Mehrwert,  in  welcher  besonderen  Gestalt  von  Profit,  Zins, 
Rente  usw.  er  sich  später  krystaUisiere,  ist  seiner  Substanz  nach  Materiatur 
unbezahlter  Arbeitszeit.  Das  Geheimnis  von  der  Selbstverwertung  des 
Kapitales  löst  sich  auf  in  seine  Verfügung  über  ein  bestimmtes  Quantum 
unbezahlter  fremder  Arbeit"  (I  554). 

Dies  der  Kern  der  MARxschen  Ausbeutungstheorie,  wie  er  im  I.  Bande 
des  „Kapital"  niedergelegt  und  im  III.  vielleicht,  wie  wir  noch  sehen 
werden,  unfreiwillig  widersprochen,  aber  in  keiner  Weise  widerrufen  ist. 
Der  aufmerksame  Leser  wird  in  dieser  Darstellung  —  wenn  auch  zum  Teile 
in  etwas  veränderter  Einkleidung  —  alle  wesentlichen  Lehren  wieder 
erkannt  haben,  aus  denen  schon  Rodbertus  seine  Zinstheorie  zusammen- 
gesetzt hatte:  so  die  Lehre,  daß  der  Güterwert  sich  nach  Arbeitsmengen 
bemißt;  die  Lehre,  daß  die  Arbeit  allein  allen  Wert  schafft;  daß  der  Arbeiter 
im  Lohnkontrakte  weniger  an  Wert  empfängt,  als  er  schafft,  worein  zu 
willigen  die  Not  ihn  zwingt;  daß  den  Überschuß  der  Kapitalist  sich  an- 
eignet, und  daß  der  so  erzielte  Kapitalgewinn  demnach  den  Charakter 
einer  Beute  aus  dem  Ertrage  fremder  Arbeit  hat. 

Wegen  der  sachlichen  Übereinstimmung  beider  Theorien  —  oder 
richtiger  gesagt  beider  Formulierungen  derselben  Theorie  —  findet  fast 
alles,  was  ich  zur  Widerlegung  der  Lehre  von  Rodbertus  angeführt  habe, 
seine  volle  Geltung  auch  gegen  Marx.  Ich  kann  mich  daher  jetzt  auf 
einige  ergänzende  Ausführungen  beschränken,  die  ich  für  nötig  halte, 
teils  um  meine  Kritik  in  einigen  Stücken  der  eigenartigen  Formulierung 
Marx'  anzupassen,  teils  auch,  um  auf  einige  wirkliche  Neuerungen  ein- 
zugehen, die  Marx  gebracht  hat. 

Unter  diesen  Neuerungen  ist  weitaus  die  wichtigste  der  Versuch, 
den  Satz,  daß  aller  Wert  auf  Arbeit  beruhe,  nicht  allein  zu  behaupten, 
sondern  auch  zu  begründen.  G^gen  Rodbertus  habe  ich  diesen  Satz 
ebenso  beiläufig  bekämpft  als  er  ihn  beiläufig  behauptet  hatte:  ich  be- 
gnügte mich  einige  zweifellose  Ausnahmen  von  jenem  Satze  einzuwenden, 
ohne  die  Sache  an  der  Wurzel  zu  fassen.  Marx  gegenüber  kann  und  will 
ich  dies  nicht  unterlassen.  Zwar  begebe  ich  mich  damit  auf  ein  Feld,  das 
schon  oftmals  und  von  ausgezeichneten  Gelehrten  im  literarischen  Streit 
durchpflügt  wurde,  so  daß  ich  kaum  hoffen  kann,  viel  Neues  in  dem,  was 
ich  zu  sagen  habe,  vorzubringen.  Allein  ich  glaube,  daß  es  mir  übel  an- 
stehen würde,  in  einem  Buche,  das  die  kritische  Darstellung  der  Kapital- 
zinstheorien zum  Gegenstande  hat,  der  eingehenden  Kritik  eines  Satzes 
aus  dem  Wege  zu  gehen,  der  von  einer  der  wichtigsten  Theorien  als  ihr 


374  XII.  Die  Ausbeutungstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

wichtigster  Fundamentalsatz  an  die  Spitze  gestellt  wird.  Auch  ist  leider 
der  heutige  Stand  unserer  Wissenschaft  nicht  derart,  daß  eine  Erneuerung 
der  kritischen  Bestrebungen  als  überflüssige  Mühe  angesehen  werden 
könnte:  denn  gerade  in  unseren  Tagen ^)  ist  jener  Satz  im  Begriffe,  in 
immer  weiteren  Kreisen  gleich  einem  Evangelium  angenommen  zu  werden, 
während  er  in  Wahrheit  nichts  als  eine  von  einem  großen  Manne  einmal 
erzählte,  und  von  einer  gläubigen  Menge  seither  nachgesprochene  Fabel  ist. 

Für  die  Lehre,  daß  aller  Güterwert  auf  Arbeit  beruht,  pflegt  man  als 
Urheber  und  zugleich  als  gewichtige  Autoritätszeugen  zwei  stolze  Namen 
in  Anspruch  zu  nehmen:  Adam  Smith  und  Ricardo.  Nicht  mit  Unrecht, 
aber  doch  auch  nicht  ganz  mit  Recht.  In  den  Schriften  beider  findet  sich 
nämlich  jene  Lehre;  aber  Adam  Smith  widerspricht  ihr  auch  zuweilen 2), 
und  Ricardo  engt  ihr  Geltungsgebiet  so  sehr  ein  und  durchkreuzt  sie  mit 
so  wichtigen  Ausnahmen,  daß  man  kaum  berechtigt  ist  zu  behaupten, 
daß  er  die  Arbeit  als  das  allgemeine  und  ausschließliche  Prinzip  des  Güter- 
wertes hingestellt  habe^).  Er  eröffnet  nämlich  seine  „Principles"  mit  der 
ausdrücklichen  Erklärung,  daß  der  Tauschwert  der  Güter  aus  zwei 
Quellen  stammt:  aus  ihrer  Seltenheit  und  aus  der  Arbeitsmenge,  die 
ihre  Erlangung  gekostet  hat.  Gewisse  Güter,  z.  B.  seltene  Statuen  und 
Gemälde,  zögen  ihren  Wert  ausschließlich  aus  der  ersten  Quelle,  und  nur 
der  Wert  jener  Güter,  die  sich  ohne  Schranken  durch  Arbeit  vervielfältigen 
lassen  —  und  die  freilich  nach  Ricardos  Meinung  die  weitaus  überwiegende 
Mehrzahl  aller  Güter  ausmachen  —  werde  durch  die  Menge  der  Kosten- 
arbeit bestimmt.  Aber  auch  rücksichthch  der  letzteren  Güter  sieht  sich 
Ricardo  noch  zu  einer  weiteren  Einschränkung  gezwungen.  Er  muß 
nämlich  einräumen,  daß  auch  bei  ihnen  der  Tauschwert  nicht  ausschließ- 
lich durch  die  Arbeit  bestimmt  wird,  sondern  daß  auf  ihn  auch  die  Zeit, 
die  zwischen  dem  Aufwände  an  vorgeschossener  Arbeit  und  der  Reali- 
sierung des  Endproduktes  verstreicht,  einen  erheblichen  Einfluß  nimmt*). 

Somit  hat  weder  Smith  noch  Ricardo  das  in  Rede  stehende  Prinzip 
so  rückhaltslos  aufgestellt,  als  der  landläufige  Glaube  geht.  Immerhin 
haben  sie  es  aufgestellt,  wenigstens  in  gewisser  Ausdehnung.  Sehen  wir 
also  weiter,  auf  welche  Gründe  hin  sie  es  aufgestellt  haben. 

Hier  kann  man  nun  eine  merkwürdige  Entdeckung  machen:  Smith 


*)  1884  geschrieben;  siehe  auch  oben  die  Note  auf  S.  329- 

')  z.  B.  wenn  er  sich  im  5.  Kapitel  des  II.  Buches  folgendermaßen  äußert:  „Nicht 
nur  die  arbeitenden  Knechte  und  Mägde  des  Pächters,  sondern  auch  seine  Arbeitstiere 
Bind  produktive  Arbeiter;"  und  weiter:  „In  der  Landwirtschaft  arbeitet  die  Natur 
mit  den  Menschen;  und  obwohl  ihre  Arbeit  nichts  kostet,  haben  ihre  Produkte  doch 
ebensowohl  ihren  Wert  als  die  Produkte  der  teuerst  bezahlten  Arbeiter."  Vgl.  Knies, 
Der  Kredit,  II.  Hälfte  S.  62. 

^)  Vgl.  hierüber  Verrijn  Stuarts  schöne  Studie  „Ricardo  und  Marx"  und  meine 
Besprechung  darüber  in  Conrads  Jahrbüchern,  III.  Folge  Bd.  I  (1891)  S.  877ff. 

*)  Siehe  oben  S.  356,  und  Knies  a.  a.  0.  S.  66f. 


Marx.  375 

sowohl  als  Ricardo  haben  nämlich  jenes  Prinzip  gar  nicht  begründet, 
sondern  seine  Geltung  einfach  wie  etwas  Selbstverständliches  behauptet 
Die  berühmten  Worte,  in  denen  sich  Smith  hierüber  ausgesprochen  und 
die  hernach  Ricardo  in  wörtlichem  Zitat  in  seine  eigene  Lehre  aufge- 
nommen hat,  lauten: 

„Der  wiikliche  Preis  jedes  Dinges,  das,  was  jedes  Ding  demjenigen, 
der  es  zu  erwerben  wünscht,  wirklich  kostet,  ist  die  Mühe  und  Beschwerüch- 
keit  der  Erwerbung.  Was  jedes  Ding  für  den  Mann,  der  es  erworben  hat 
und  es  zu  veräußern  oder  für  etwas  anderes  zu  vertauschen  wünscht,  in 
Wirklichkeit  wert  ist  (is  really  worth),  ist  die  Mühe  und  Beschwer- 
lichkeit, die  es  ihm  ersparen,  und  auf  andere  Leute  abwälzen 
kann"i). 

Bleiben  wir  hier  einen  Augenblick  stehen.  Smith  spricht  diese  Worte 
in  einem  Tone,  als  ob  ihre  Wahrheit  unmittelbar  einleuchten  müßte. 
Aber  ist  sie  wirklich  einleuchtend?  Sind  wirklich  Wert  und  Mühe  zwei 
so  zusammengehörige  Begriffe,  daß  man  unmittelbar  von  der  Einsicht 
ergriffen  werden  muß,  daß  die  Mühe  der  Grund  des  Wertes  ist?  —  Ich 
glaube,  kein  Unbefangener  wird  dies  behaupten  können.  Daß  ich  mich 
um  ein  Ding  geplagt  habe,  ist  eine  Tatsache;  daß  das  Ding  die  Plage  auch 
wert  ist,  eine  zweite  davon  verschiedene;  und  daß  beide  Tatsachen  nicht 
immer  Hand  in  Hand  gehen,  ist  von  der  Erfahrung  viel  zu  sicher  bekräftigt, 
als  daß  darüber  irgend  ein  Zweifel  möglich  sein  könnte.  Jede  der  unzähligen 
erfolglosen  Mühen,  die  täglich  aus  technischem  Ungeschick,  oder  aus 
verfehlter  Spekulation,  oder  einfach  aus  Unglück  an  ein  unwertes  Resultat 
verschwendet  werden,  gibt  ein  Zeugnis  dafür  ab.  Nicht  minder  aber  auch 
jeder  der  zahlreichen  Fälle,  in  denen  sich  wenig  Mühe  mit  hohem  Werte 
lohnt.  Die  Okkupation  eines  Grundstückes,  das  Finden  eines  Edelsteines, 
die  Entdeckung  einer  Goldmine.  Um  aber  von  solchen  Fällen  ganz  abzu- 
sehen, die  man  als  Ausnahmen  vom  regelmäßigen  Verlaufe  der  Dinge 
hinstellen  könnte,  so  ist  es  eine  ebenso  unzweifelhafte  als  vollkommen 
normale  Tatsache,  daß  die  gleiche  Mühe  verschiedener  Personen  einen 
sehr  verschiedenen  Wert  hat.  Die  Frucht  der  einmonathchen  Mühe  eines 
ausgezeichneten  Künstlers  ist  ganz  regelmäßig  hundertmal  so  viel  wert, 
als  die  Frucht  der  gleichen  einmonatlichen  Mühe  eines  gewöhnlichen 
Zimmermalers.  Wie  wäre  das  möghch,  wenn  wirklich  die  Mühe  das  Prinzip 
des  Wertes  wäre?  Wenn  wirklich  vermöge  eines  unmittelbaren  psycho- 
logischen Zusammenhanges  unser  Werturteil  auf  die  Berücksichtigung 
der  Mühe  und  Beschwerde,  und  nur  auf  diese  Rücksicht  sich  stützen 
müßte?  Oder  ist  etwa  die  Natur  so  aristokratisch,  daß  sie  durch  ihre 
psychologischen  Gesetze  unsere  Psyche  zwingt,  die  Mühe  eines  Künstlers 
hundertmal  kräftiger  in  Anschlag  zu  bringen  als  die  bescheidenere  Mühe 

^)  Inquiry,  I.  Buch  V.  Kap.  (S.  13  der  McCuLLOCHschen  Ausgabe);    Ricardo 
Principles,  Chapt.  I. 


37^  XII.  Die  Ausbeutungstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

eines  Zimmermalers  ^)?  —  Ich  glaube,  wer  ein  wenig  überlegt,  statt  blind- 
lings zu  glauben,  wird  zur  Überzeugung  gelangen,  daß  von  einem  un- 
mittelbar einleuchtenden  inneren  Zusammenhange  zwischen  Mühe  und 
Wert,  wie  ihn  jene  Stelle  bei  Smith  anzunehmen  scheint,  keine  Rede 
sein  kann. 

Aber  bezieht  sich  die  Stelle  auch  nur  wirklich,  wie  man  stillschweigend 
vorauszusetzen  liebt,  auf  den  Tauschwert?  —  Ich  glaube,  auch  dies  wird 
niemand,  der  die  Stelle  mit  unbefangenem  Blicke  liest,  behaupten  können. 
Sie  bezieht  sich  weder  auf  den  Tauschwert,  noch  auf  den  Gebrauchswert, 
noch  auf  irgend  einen  „Wert"  im  streng  wissenschaftlichen  Sinne.  Sondern 
Smith  hat  hier,  wie  schon  der  gebrauchte  Ausdruck  (worth,  nicht  value) 
andeutet,  das  Wort  Wert  in  jenem  weitesten,  verschwommenen  Sinne 
gebraucht,  in  dem  es  im  vulgären  Sprachgebrauche  lebt.  Ein  sehr  be- 
zeichnender Zug!  In  der  unwillkürlichen  Empfindung,  daß  vor  dem  Forum 
einer  streng  wissenschaftlichen  Reflexion  sein  Satz  keine  Zustimmung 
erlangen  könnte,  wendet  sich  Smith  durch  das  Medium  der  Alltagssprache 
an  die  weniger  scharf  kontrollierten  Eindrücke  des  Alltagslebens,  und  wie 
die  Erfahrung  gezeigt  hat,  nicht  ohne  Erfolg,  der  freilich  im  Interesse 
der  Wissenschaft  lebhaft  zu  bedauern  ist 

Wie  wenig  die  ganze  Stelle  den  Anspruch  auf  wissenschaftliche  Schärfe 
erheben  kann,  ergibt  sich  endlich  noch  daraus,  daß  in  ihren  wenigen  Worten 
auch  noch  ein  Widerspruch  Platz  gefunden  hat.  Smith  nimmt  nämlich 
die  Eigenschaft,  Prinzip  des  „wirklichen"  Wertes  zu  sein,  in  einem  Atem 
sowohl  für  die  Mühe,  die  man  sich  durch  den  Besitz  eines  Gutes  ersparen 
kann,  als  auch  für  die  Mühe,  die  man  einem  anderen  auflasten  kann,  in 
Anspruch.    Das  sind  aber  zwei  Größen,  die,  wie  jedermann  weiß,  durchaus 

*)  Smith  findet  sich  mit  der  im  Texte  erwähnten  Erscheinung  folgendermaßen 
ab:  „Wenn  eine  Art  der  Arbeit  einen  ungewöhnlichen  Grad  von  Geschicklichkeit  und 
Scharfsinn  erfordert,  so  wird  wegen  der  Achtung,  in  welcher  solche  Talente 
stehen,  dem,  was  durch  dieselben  geschaffen  wird,  ein  höherer  Wert  beigelegt,  als  ihm 
bei  einer  bloßen  Berechnung  der  darauf  verwendeten  Zeit  gebühren  würde.  Solche 
Talente  sind  selten  anders  als  durch  anhaltenden  Fleiß  zu  erwerben,  und  der  höhere 
Wert  ihrer  Erzeugnisse  ist  gewöhnlich  nicht  mehr  als  ein  billiger  Ersatz  für  die  auf 
ihre  Erwerbung  verwendete  Zeit  und  Mühe."  (I.  Buch  VI.  Kap.)  Das  Unzureichende 
dieser  Erklärung  liegt  auf  der  Hand.  Es  ist  erstlich  klar,  daß  der  höhere  Wert  der  Pro- 
dukte ausnehmend  geschickter  Menschen  auf  einem  ganz  anderen  Grunde  beruht  als 
auf  der  „Achtung,  in  welcher  solche  Talente  stehen".  Wie  viele  Dichter  und  Gelehrte 
ließ  das  Publikum  trotz  der  höchsten  Achtung,  die  es  ihren  Talenten  zollte,  verhungern, 
und  wie  vielen  gewissenlosen  Spekulanten  hat  es  ihre  Geschicklichkeit  schon  mit  Hundert- 
tansenden  bezahlt,  obschon  es  ihre  , .Talente"  gar  nicht  achtete?  Gesetzt  aber  auch, 
die  Achtung  wäre  der  Grund  des  Wertes,  so  wäre  damit  das  Gesetz,  daß  der  Wert  auf 
Mühe  beruht,  offenbar  nicht  bestätigt,  sondern  durchbrochen.  —  Wenn  dann  in  dem 
xweiten  der  zitierten  Sätze  Smith  den  Versuch  macht,  jenen  höheren  Wert  auf  die  zur 
Erwerbung  der  Geschicklichkeit  verwendete  Mühe  zurückzuführen,  so  gesteht  er  durch 
die  Einschaltung  des  Wortes  „gewöhnlich"  selbst  zu,  daß  dies  nicht  für  alle  Fälle  mög- 
lich ist.    Es  bleibt  also  der  Widerspruch  bestehen. 


Marx.  377 

nicht  identisch  sind.  Unter  der  Herrschaft  der  Arbeitsteilung  ist  die 
Mühe,  die  ich  persönlich  hätte  aufwenden  müssen,  um  in  den  Besitz  einer 
begehrten  Sache  zu  gelangen,  gewöhnlich  sehr  viel  größer,  als  die  Mühe, 
mit  der  ein  fachmännisch  geschulter  Arbeiter  sie  herstellt.  Von  welcher 
diesen  beiden  „Mühen",  der  „ersparten"  oder  der  „überwälzten",  soll  nun 
unmittelbar  einzusehen  sein,  daß  sie  den  wirklichen  Wert  bestimme? 

Kurz,  die  berühmte  Stelle,  in  der  unser  Altmeister  Smith  das  Arbeits- 
prinzip in  die  Wertlehre  einführt,  ist  von  dem,  was  man  darin  gewöhnlich 
erblicken  wül,  von  einem  großen  und  wohlbegründeten  wissenschaftlichen 
Fundamentalsatz,  so  weit  als  möglich  entfernt.  Sie  ist  nicht  von  selbst 
einleuchtend,  sie  ist  durch  kein  Wort  der  Begründung  unterstützt;  sie 
hat  das  nachlässige  Gewand  und  das  nachlässige  Wesen  einer  Vulgär- 
sentenz, sie  widerspricht  sich  endlich  selbst.  Daß  sie  trotzdem  allgemeinen 
Glauben  fand,  hat  sie  meines  Erachtens  der  Vereinigung  zweier  Umstände 
zu  verdanken;  erstlich,  daß  ein  Adam  Smith  sie  ausgesprochen  hat;  und 
zweitens,  daß  er  sie  ohne  alle  Begründung  ausgesprochen  hat.  Hätte  Adam 
Smith  auch  nur  mit  einem  Worte  der  Begründung  zum  Kopfe  gesprochen, 
statt  bloß  zur  unmittelbaren  Empfindung  zu  sprechen,  so  hätte  der  Kopf 
sich  das  Recht  nicht  nehmen  lassen,  die  Gründe  verstandesmäßig  zu  prüfen, 
und  da  hätte  ihre  Fadenscheinigkeit  unfehlbar  an  den  Tag  kommen  müssen. 
Nur  durch  Überrumpelung  können  solche  Lehren  siegen, 

Hören  wir  indes  weiter,  was  Smith  und  nach  ihm  Ricardo  sagt: 
„Arbeit  war  der  erste  Preis,  das  ursprüngliche  Kaufgeld,  welches  für  alle 
Dinge  gezahlt  worden  ist."  —  Dieser  Satz  ist  ziemlich  unanstößig,  aber 
auch  für  das  Wertprinzip  nichts  beweisend.  — 

„In  jenem  frühen  und  rohen  Zustande  der  Gesellschaft,  welcher  der 
Anhäufung  von  Kapitalien  und  der  Aneignung  des  Grundes  und  Bodens 
vorhergeht,  scheint  das  Verhältnis  zwischen  den  zur  Erwerbung  ver- 
schiedener Gegenstände  nötigen  Arbeitsquantitäten  der  einzige  Umstand 
zu  sein,  der  eine  Norm  für  den  wechselseitigen  Austausch  derselben  anzu- 
geben imstande  ist.  Wenn  z.  B.  in  einem  Jägerstamme  die  Elrlegung  eines 
Bibers  gewöhnlich  doppelt  so  viel  Arbeit  kostet,  als  die  Erlegung  eines 
Hirsches,  so  muß  natürlich  ein  Biber  zwei  Hirsche  kaufen  oder  wert 
sein.  Es  ist  natürlich,  daß  dasjenige,  was  gewöhnlich  das  Produkt 
von  zweitägiger  oder  zweistündiger  Arbeit  ist,  doppelt  so  viel  wert  sein 
muß,  als  das,  was  gewöhnlich  das  Produkt  einer  eintägigen  oder  einstündigen 
Arbeit  ist." 

Man  wird  auch  in  diesen  Worten  jede  Spur  einer  Motivierung  ver- 
gebens suchen:  Smith  sagt  einfach  „scheint  der  einzige  Umstand  zu 
sein",  „muß  natürlich",  „es  ist  natürlich"  usw.,  überläßt  es  aber 
durchaus  dem  Leser,  sich  von  der  „Natürlichkeit"  dieser  Aussprüche  selbst 
zu  überzeugen.  Eine  Aufgabe,  nebenbei  bemerkt,  die  dem  kritischen 
Leser  nicht  leicht  gelingen  wird.    Denn  wenn  es  überhaupt  „natürlich" 


378  XII.  Die  Ausbeutungstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

sein  soll,  daß  die  Produkte  sich  ausschließlich  nach  dem  Verhältnisse  der 
Arbeitszeit  vertauschen,  die  ihre  Erlangung  kostet,  so  müßte  es  z.  B.  auch 
natürlich  sein,  daß  irgend  ein  seltener,  bunter  Schmetterling,  oder  ein 
seltener  eßbarer  Frosch  unter  den  Wilden  zehnmal  so  viel  wert  ist  als  ein 
Hirsch,  wofern  man  nach  jenem  in  der  Regel  zehn  Tage  suchen,  diesen 
dagegen  gewöhnlich  schon  mit  der  Arbeit  eines  Tages  erbeuten  kann:  ein 
Verhältnis,  dessen  „Natürlichkeit"  kaum  jemandem  einleuchten  dürfte.  — 

Das  Ergebnis  der  letzten  Betrachtungen  glaube  ich  folgendermaßen 
zusammenfassen  zu  können:  Smith  und  Ricardo  haben  den  Satz,  daß 
die  Arbeit  das  Prinzip  des  Güterwertes  ist,  ohne  alle  Begründung  lediglich 
als  Axiom  behauptet;  ein  Axiom  ist  er  aber  nicht.  Folglich  muß  man, 
wenn  man  ihn  überhaupt  aufrecht  halten  will,  von  Smith  und  Ricardo 
als  Gewährsmännern  ganz  absehen  und  nach  einer  anderweitigen,  selb- 
ständigen Begründung  suchen. 

Es  ist  nun  eine  sehr  merkwürdige  Tatsache,  daß  dies  von  den  Späteren 
beinahe  niemand  getan  hat.  Dieselben  Männer,  die  sonst  die  alther- 
gebrachte Lehre  von  oben  bis  unten  mit  ihrer  zersetzenden  Kritik  durch- 
wühlten, denen  kein  verjährter  Lehrsatz  fest  genug  zu  stehen  schien,  um 
ihn  nicht  noch  einmal  in  Frage  zu  stellen  und  auf  seine  Beweisbarkeit 
zu  prüfen:  dieselben  Männer  haben  gerade  gegenüber  dem  wichtigsten 
Fundamentalsatze,  den  sie  der  alten  Lehre  entnahmen,  auf  alle  Kritik 
verzichtet.  Von  Ricardo  bis  Rodbertus,  von  Sismondi  bis  Lassalle 
ist  der  Name  von  Adam  Smith  die  einzige  Deckung,  die  man  jener  Lehre 
mitzugeben  für  nötig  findet;  was  man  aus  Eigenem  hinzufügt,  sind  nichts 
als  wiederholte  Beteuerungen,  daß  der  Satz  wahr,  unwiderleglich,  un- 
zweifelhaft sei,  aber  kein  Versuch,  seine  Wahrheit  wirklich  zu  beweisen, 
Einwände  wirklich  zu  widerlegen,  Zweifel  wirklich  zu  beseitigen.  Die 
Verächter  des  Autoritätenbeweises  begnügen  sich  selbst  mit  der  Anrufung 
von  Autoritäten;  die  Feinde  beweislos  präsumierender  Behauptungen  be- 
gnügen sich  selbst  ohne  Beweis  zu  behaupten.  Nur  äußerst  wenige  Ver- 
treter der  Arbeitswerttheorie  machen  hievon  eine  Ausnahme,  und  einer 
dieser  Wenigen  ist  Marx. 

Für  jemanden,  der  überhaupt  nach  einer  wirklichen  Begründung  für 
jene  These  sucht,  bieten  sich  von  selbst  zwei  Wege  als  die  natürlichen  dar, 
auf  welchen  eine  solche  Begründung  gesucht  und  gefunden  werden  könnte: 
der  empirische  und  der  psychologische  Weg.  Entweder  könnte  man  nämlich 
einfach  die  erfahrungsmäßigen  Austauschverhältnisse  der  Waren  über- 
prüfen und  zusehen,  ob  sich  in  ihnen  eine  erfahrungsmäßige  Harmonie 
zwischen  Tauschwertgröße  und  Arbeitsaufwand  widerspiegelt;  oder  man 
könnte  —  mit  einer  in  unserer  Wissenschaft  sehr  gebräuchlichen  Mischung 
von  Induktion  und  Deduktion  —  die  psychologischen  Motive  analysieren, 
welche  die  Leute  einerseits  bei  dem  Vollzuge  der  Tauschgeschäfte  und  der 
Feststellung  der  Tauschpreise,  andererseits  bei  ihrer  Mitwirkung  an  der 


Marx.  379 

Produktion  leiten,  und  man  könnte  dann  aus  der  Beschaffenheit  dieser 
Motive  Schlüsse  auf  eine  typische  Handlungsweise  der  Leute  ziehen,  wobei 
unter  anderem  denkbarer  Weise  auch  ein  Zusammenhang  der  regelmäßig 
geforderten  und  bewilligten  Preise  mit  der  zur  Hervorbringung  der  Waren 
benötigten  Arbeitsmenge  sich  ergeben  könnte.  Marx  hat  indessen  keinen 
dieser  beiden  naturgemäßen  Untersuchungswege  eingeschlagen,  und 
interessanter  Weise  erfahren  wir  jetzt  aus  seinem  dritten  Bande,  daß  er 
selbst  auch  ganz  gut  wußte,  daß  weder  die  Erprobung  der  Tatsachen, 
noch  die  Analyse  der  in  der  „Konkurrenz"  wirksamen  psychologischen 
Triebkräfte  auf  ein  seiner  These  günstiges  Ergebnis  hätte  leiten  können. 

Statt  dessen  schlägt  er  einen  dritten,  für  einen  derartigen  Stoff  gewiß 
etwas  seltsamen  Beweisgang  ein:  den  Weg  eines  rein  logischen  Beweises, 
einer  dialektischen  Deduktion  aus  dem  Wesen  des  Tausches  heraus. 

Marx  hat  schon  beim  alten  Aristoteles  den  Gedanken  gefunden, 
„daß  der  Austausch  nicht  sein  kann  ohne  die  Gleichheit,  die  Gleichheit 
aber  nicht  ohne  die  Kommensurabiiität"  (I  35).  An  diesen  Gedanken 
knüpft  er  an.  Er  stellt  sich  den  Austausch  zweier  Waren  unter  dem  Bilde 
einer  Gleichung  vor,  folgert,  daß  in  den  beiden  ausgetauschten  und  dadurch 
gleichgestellten  Dingen  „ein  Gemeinsames  von  derselben  Größe"  existieren 
müsse,  und  geht  darauf  aus,  dieses  Gemeinsame,  auf  welches  die  gleich- 
gestellten Dinge  als  Tauschwerte  „reduzierbar"  sein  müssen,  aufzusuchen^). 

Ich  möchte  einschaltungsweise  bemerken,  daß  mir  schon  die  erste 
Voraussetzung,  wonach  im  Austausch  zweier  Dinge  sich  eine  „Gleichheit" 
derselben  manifestieren  soll,  sehr  unmodern  —  woran  allerdings  am  Ende 
nicht  viel  liegen  würde  —.,  aber  auch  sehr  unrealistisch,  oder  um  es  gut 
deutsch  zu  sagen,  unrichtig  gedacht  zu  sein  scheint.  Wo  Gleichheit  und 
genaues  Gleichgewicht  herrscht,  pflegt  ja  keine  Veränderung  der  bisherigen 
Ruhelage  einzutreten.  Wenn  daher  im  Falle  des  Tausches  die  Sache  damit 
endet,  daß  die  Waren  ihren  Besitzer  wechseln,  so  ist  das  viel  eher  ein 
Zeichen  dafür,  daß  irgend  eine  Ungleichheit  oder  ein  Übergewicht  im 
Spiele  war,  durch  dessen  Ausschlag  die  Veränderung  erzwungen  wurde  — 
geradeso,  wie  zwischen  den  Bestandteilen  einander  nahe  gebrachter  zu- 
sammengesetzter Körper  neue  chemische  Verbindungen  eingegangen 
werden,  wenn  die  chemische  „Verwandtschaft"  zu  Bestandteilen  des  an- 
genäherten fremden  Körpers  eben  nicht  gerade  gleich  stark,  sondern 
stärker  ist  als  zu  den  Bestandteilen  der  bisherigen  Zusammensetzung. 
In  der  Tat  ist  ja  auch  die  moderne  Nationalökonomie  einmütig  darin,  daß 
die  alte  scholastisch-theologische  Anschauung  von  der  „Äquivalenz"  der 
auszutauschenden  Werte  unzutreffend  ist.  Aber  ich  will  auf  diesen  Punkt 
kein  weiteres  Gewicht  legen  und  wende  mich  der  kritischen  Untersuchung 
derjenigen  logischen  und  methodischen  Operationen  zu,  durch  welche 
Marx  als  das  gesuchte  „Gemeinsame"  die  Arbeit  herausdestilliert. 

»)  I  11;  siehe  oben  S.  368ff. 


380  XII.  Die  Ausbeutungstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

Marx  schlägt  bei  der  Suche  nach  dem  für  den  Tauschwert  charakte- 
ristischen ,.  Gemeinsamen"  folgendes  Verfahren  ein.  Er  läßt  die  ver- 
schiedenen Eigenschaften,  welche  die  im  Tausche  gleichgesetzten  Objekte 
überhaupt  besitzen,  Revue  passieren,  scheidet  dann  nach  der  Methode 
der  Ausschließung  alle  diejenigen,  welche  die  Probe  nicht  bestehen,  aus, 
bis  zuletzt  nur  noch  eine  einzige  Eigenschaft  übrig  bleibt.  Diese  —  es  ist 
die  Eigenschaft,  Arbeitsprodukt  zu  sein  —  muß  dann  die  gesuchte  gemein- 
same Eigenschaft  sein. 

Dieses  Verfahren  ist  etwas  seltsam,  aber  an  sich  nicht  verwerflich. 
Es  ist  gewiß  etwas  seltsam,  wenn  man,  statt  die  gemutmaßte  charakte- 
ristische Ejgenschaft  positiv  auf  die  Probe  zu  stellen  —  was  allerdings 
auf  eine  der  beiden  früher  besprochenen,  von  Marx  geflissentlich  ver- 
miedenen Methoden  geführt  hätte  —  sich  die  Überzeugung,  daß  gerade 
sie  die  gesuchte  Eigenschaft  sei,  lediglich  auf  dem  negativen  Wege  ver- 
schafft, daß  alle  übrigen  Eigenschaften  es  nicht  sind,  eine  es  aber  doch 
sein  müsse.  Immerhin  kann  diese  Methode  zum  erwünschten  Ziele  führen, 
wenn  sie  mit  der  nötigen  Vorsicht  und  Vollständigkeit  gehandhabt  wird; 
d.  h.,  wenn  man  mit  peinlicher  Sorgfalt  darauf  achtet,  daß  ja  alles,  was 
hinein  gehört,  in  das  logische  Sieb  auch  wirklich  hineingetan,  und  dann 
bei  keinem  einzigen  Glied,  welches  im  Weg  der  Durchsiebung  ausge- 
schlossen wird,  ein  Versehen  begangen  wird. 

Wie  geht  aber  Marx  vor? 

Er  tut  von  vornherein  nur  diejenigen  tauschwerten  Dinge  in  das 
Sieb,  welche  die  Eigenschaft  besitzen,  die  er  als  die  „gemeinsame"  schließ- 
lich heraussieben  will,  und  läßt  alle  andersartigen  draußen.  Er  macht  es, 
wie  jemand,  der  dringend  wünscht,  daß  aus  der  Urne  eine  weiße  Kugel 
hervorgehen  soll,  und  dieses  Ergebnis  vorsichtiger  Weise  dadurch  unter- 
stützt, daß  er  in  die  Urne  keine  anderen  als  weiße  Kugeln  hineinlegt.  Er 
beschränkt  nämlich  den  Umfang  seiner  Untersuchung  nach  der  Substanz 
des  Tauschwertes  von  vornherein  auf  die  „Waren",  wobei  er  diesen  Begriff, 
ohne  ihn  just  sorgfältig  zu  definieren,  jedenfalls  enger  als  den  der  „Güter" 
faßt  und  auf  Arbeitsprodukte  im  Gegensatz  zu  Naturgaben  einschränkt. 
Nun  liegt  es  doch  auf  der  Hand:  wenn  wirklich  der  Austausch  eine  Gleich- 
setzung bedeutet,  die  das  Vorhandensein  eines  „Gemeinsamen  von  gleicher 
Größe"  voraussetzt,  so  muß  dieses  Gemeinsame  doch  bei  allen  Güter- 
gattungen zu  suchen  und  zu  finden  sein,  die  in  Austausch  treten;  nicht 
bloß  bei  Arbeitsprodukten,  sondern  auch  bei  Naturgaben,  wie  Grund  und 
Boden,  Holz  auf  dem  Stamm,  bei  Wasserkräften,  Kohlenlagern,  Stein- 
brüchen,  Petroleumlagern,   Mineralwassern,   Goldminen  u.   dgl.  ^).      Die 


')  Treffend  wendet  Knies  gegen  Marx  ein:  „Es  ist  innerhalb  der  Darlegung  von 
Marx  absolut  kein  Grund  ersichtlich,  weshalb  nicht  so  gut  wie  die  Gleichung:  1  Quarter 
Weizen  =  a  Zentner  im  Forst  produzierten  Holzes,  auch  die  zweite  auftreten  soll: 


Marx.  381 

tauschwerten  Güter,  die  nicht  Arbeitsprodukte  sind,  bei  der  Suche  nach 
dem  dem  Tauschwerte  zu  gründe  liegenden  Gemeinsamen  auszuschließen, 
ist  unter  diesen  Umständen  eine  methodische  Todsünde.  Es  ist  nicht  anders, 
als  wenn  ein  Physiker  den  Grund  einer  allen  Körpern  gemeinsamen  Eigen- 
schaft, z.  B.  der  Schwere,  aus  einer  Siebung  der  Eigenschaften  einer 
einzelnen  Gruppe  von  Körpern,  z.  B.  der  durchsichtigen  Körper,  erforschen 
wollte,  indem  er  alle  den  durchsichtigen  Körpern  gemeinsamen  Eigen- 
schaften Revue  passieren  läßt,  von  allen  übrigen  Eigenschaften  derselben 
demonstriert,  daß  sie  der  Grund  der  Schwere  nicht  sein  können,  und  auf 
Grund  dessen  schließüch  proklamiert,  daß  die  Durchsichtigkeit  die  Ursache 
der  Schwere  sein  müsse. 

Die  Ausschließung  der  Naturgaben  (die  dem  Vater  des  Gedankens 
von  der  Gleichsetzung  im  Austausch,  Aristoteles,  gewiß  nicht  in  den  Sinn 
gekommen  wäre)  läßt  sich  umsoweniger  rechtfertigen,  als  manche  Natur- 
gaben, wie  der  Grund  und  Boden  zu  den  allerwiehtigsten  Objekten  des 
Vermögens  und  Verkehres  gehören,  und  als  sich  auch  durchaus  nicht 
etwa  behaupten  läßt,  daß  bei  Naturgaben  die  Tauschwerte  sich  immer 
nur  ganz  zufällig  und  willkürlich  feststellen.  Einerseits  kommen  Zufalls- 
preise auch  bei  Arbeitsprodukten  vor,  und  andererseits  weisen  die  Preise 
von  Naturgaben  oft  die  deutlichsten  Beziehungen  zu  festen  Anhaltspunkten 
oder  Bestimmgründen  auf.  Daß  z.  B.  der  Kaufpreis  von  Grundstücken 
ein  nach  dem  landesüblichen  Zinsfuß  sich  richtendes  Multiplum  ihrer 
Rente  bildet,  ist  ebenso  bekannt,  als  es  sicher  ist,  daß  Holz  am  Stamm 
oder  Kohle  in  der  Grube  bei  verschiedener  Güte  oder  in  verschiedenen 
Lagen  mit  ungleichen  Bringungsverhältnissen  nicht  aus  bloßem  Zufall 
einen  verschiedenen  Preis  erzielt  u.  dgl. 

Marx  hütet  sich  auch,  eine  ausdrückliche  Rechenschaft  darüber  ab- 
zulegen, daß  und  warum  er  einen  Teil  der  tauschwerten  Güter  von  der 
Untersuchung  von  vornherein  ausgeschlossen  hat.  Er  versteht  es  auch 
hier,  wie  so  oft,  über  die  heiklen  Stellen  seines  Räsonnements  mit  aalglatter 
dialektischer  Geschicklichkeit  hinüberzugleiten.  Er  vermeidet  zunächst, 
seine  Leser  darauf  aufmerksam  zu  machen,  daß  sein  Begriff  der  „Ware" 
enger  ist  als  der  des  tauschwerten  Gutes  überhaupt.  Er  bereitet  für  die 
spätere  Einschränkung  der  Untersuchung  auf  die  Waren  ungemein  ge- 
schickt einen  natürlichen  Anknüpfungspunkt  durch  die  an  die  Spitze 
seines  Buches  gestellte,  scheinbar  ganz  harmlose  allgemeine  Phrase  vor, 
daß  „der  Reichtum  der  Gesellschaften,  in  welchen  kapitalistische  Pro- 
duktionsweise herrscht,  als  eine  ungeheuere  Warensammlung  erscheine". 
Dieser  Satz  ist  vollkommen  falsch,  wenn  man  den  Ausdruck  Ware  in  dem 
ihm  von  Marx  später  unterlegten  Sinne  von  Arbeitsprodukten  versteht. 

1  Quarter  Weizen  =  a  Zentner  wildgewachsenen  Holzes,  =  b  Morgen  jungfräulichen 
Bodens  =  c  Morgen  Weidefläche  auf  natürlichen  Wiesen."  (Das  Geld,  I.  Aufl.,  S.  121, 
IL  Aufl.  S.  167.) 


382  XII.  Die  Ausbeutungstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

Denn  die  Naturgaben,  einschließlich  des  Grundes  und  Bodens  machen 
einen  sehr  erheblichen  und  nicht  im  mindesten  gleichgültigen  Bestandteil 
des  Nationalreichtums  aus.  Aber  der  unbefangene  Leser  geht  leicht  über 
diese  Ungenauigkeit  hinweg,  weil  er  ja  nicht  weiß,  daß  Marx  später  dem 
Ausdruck  Ware  einen  viel  engereij  Sinn  beilegen  wird. 

Auch  im  folgenden  wird  dies  noch  nicht  klargestellt.  Im  Gegenteil, 
in  den  ersten  Absätzen  des  ersten  Kapitels  ist  abwechselnd  vom  „Ding", 
vom  „Gebrauchswert",  vom  „Gut"  und  der  „Ware"  die  Rede,  ohne  daß 
zwischen  letzterer  und  den  ersteren  eine  scharfe  Unterscheidung  gezogen 
würde.  „Die  Nützlichkeit  eines  Dinges"  —  heißt  es  auf  S.  10  —  „macht 
es  zum  Gebrauchswert".  „Der  Warenkörper  ...  ist  ein  Gebrauchs- 
wert oder  Gut".  Auf  S.  11  lesen  wir:  „Der  Tauschwert  erscheint  ...  als 
das  quantitative  Verhältnis  .  .  .  worin  sich  Gebrauchswerte  einer  Art 
gegen  Gebrauchswerte  anderer  Art  austauschen."  Wohlgemerkt,  hier 
wird  als  Held  des  Tauschwertphänomens  geradezu  noch  der  Gebrauchswert 
=  Gut  bezeichnet.  Und  mit  der  Phrase  ,, Betrachten  wir  die  Sache  näher", 
die  sicherlich  kein  Überspringen  auf  ein  anderes,  engeres  Gebiet  der  Unter- 
suchung anzukündigen  geeignet  ist,  fährt  Marx  fort:  „Eine  einzelne 
Ware,  ein  Quarter  Weizen  tauscht  sich  in  den  verschiedensten  Propor- 
tionen mit  anderen  Artikeln  aus."  Und  „Nehmen  wir  ferner  zwei 
Waren"  usw.  In  demselben  Absätze  kehrt  sogar  noch  einmal  der  Aus- 
druck „Dinge"  wieder  und  zwar  gerade  in  der  für  das  Problem  wichtigen 
Wendung,  daß  „ein  Gemeinsames  von  derselben  Größe  in  zwei  verschie- 
denen Dingen  existiert"  (die  eben  einander  im  Austausche  gleichgesetzt 
werden). 

Alif  der  folgenden  Seite  12  führt  aber  Marx  die  Suche  nach  dem 
„Gemeinsamen"  nur  für  den  „Tauschwert  der  Waren"  durch,  ohne  mit 
einem  Sterbenswörtlein  darauf  aufmerksam  zu  machen,  daß  er  das  Unter- 
suchungsfeld damit  auf  einen  Teil  der  tauschwerten  Dinge  eingeengt  haben 
wilP).  Und  sofort  auf  der  nächsten  Seite,  S.  13,  wird  die  Einschränkung 
wieder  verlassen,  und  das  soeben  für  den  engeren  Bereich  der  Waren 
gewonnene  Ergebnis  auf  den  weiteren  Kreis  der  Gebrauchswerte  der 
Güter  angewendet.  „Ein  Gebrauchswert  oder  Gut  hat  also  nur  einen 
Wert,  weil  abstrakt  menschliche  Arbeit  in  ihm  vergegenständlicht  oder 
materialisiert  ist!" 

Hätte  Marx  an  der  entscheidenden  Stelle  die  Untersuchung  nicht 
auf  die  Arbeitsprodukte  eingeengt,  sondern  auch  bei  den  tauschwerten 
Naturgaben  nach  dem  Gemeinsamen  gesucht,  so  wäre  es  handgreiflich 
gewesen,  daß  die  Arbeit  das  Gemeinsame  nicht  sein  kann.    Hätte  er  jene 


^)  In  einem  Zitat  aus  Bakbon  wird  sogar  in  diesem  selben  Absatz  der  Unter- 
schied von  Waren  und  Dingen  noch  einmal  verwischt:  „Die  eine  Warensorte  ist  so 
gut  wie  die  andere,  wenn  ihr  Tauschwert  gleich  groß  ist.  Da  existiert  keine  Verschie- 
denheit oder  Unterscheidbarkeit  zwischen  Dingen  von  gleich  großem  Tauschwert!" 


Marx.  383 

Einengung  ausdrücklich  und  offenkundig  vollzogen,  so  hätte  er  selbst 
und  hätten  seine  Leser  unfehlbar  über  den  derben  methodischen  Fehler 
stolpern,  sie  hätten  über  das  ng^ve  Kunststück  lächeln  müssen;  durch 
welches  die  Eigenschaft,  Arbeitsprodukt  zu  sein,  glücklich  als  gemeinsame 
Eigenschaft  eines  Kreises  herausdestilliert  wird,  nachdem  man  zuvor  alle 
von  Natur  aus  gleichfalls  hinein  gehörigen  tauschwerten  Dinge,  die  nicht 
Arbeitsprodukte  sind,  eigens  aus  demselben  ausgeschieden  hat.  Das  Kunst- 
stück war  nur  so  zu  machen,  wie  Marx  es  gemacht  hat,  unvermerkt,  mit 
einer  rasch  und  leicht  über  den  heiklen  Punkt  gleitenden  Dialektik,  Indem 
ich  meine  aufrichtige  Bewunderung  über  die  Geschicklichkeit  ausspreche, 
mit  der  Marx  ein  derart  fehlerhaftes  Verfahren  annehmbar  zu  präsentieren 
wußte,  kann  ich  natürlich  doch  nur  feststellen,  daß  das  Verfahren  ein 
vollkommen  fehlerhaftes  war. 

Aber  sehen  wir  weiter  zu.  Mit  dem  soeben  geschilderten  Kunststücke 
hatte  Marx  doch  erst  erreicht,  daß  die  Arbeit  überhaupt  in  die  Konkurrenz 
eintreten  konnte.  Durch  die  künstliche  Einengung  des  Kreises  war  sie 
überhaupt  erst  zu  einer  für  diesen  engen  Kreis  „gemeinsamen"  Eigen- 
schaft geworden.  Aber  neben  ihr  konnten  ja  auch  noch  andere  Eigen- 
schaften als  gemeinsam  in  Frage  kommen.  Wie  werden  nun  diese  anderen 
Konkurrenten  ausgestochen  ? 

Das  geschieht  durch  zwei  weitere  Gedankenglieder,  von  denen  jedes 
nur  einige  Worte,  aber  in  ihnen  einen  der  schwersten  logischen  Fehler 
enthält. 

Im  ersten  Glied  schließt  Marx  alle  „geometrischen,  physischen, 
chemischen  oder  sonstigen  natürlichen  Eigenschaften  der  Waren"  aus. 
Denn  „ihre  körperlichen  Eigenschaften  kommen  überhaupt  nur  in  Betracht, 
soweit  selbe  sie  nutzbar  machen,  also  zu  Gebrauchswerten.  Anderer- 
seits ist  aber  das  Austauschverhältnis  der  Waren  augen- 
scheinlich charakterisiert  durch  die  Abstraktion  von  ihren 
Gebrauchswerten,"  Denn  „innerhalb  desselben  (des  Austausch visr- 
hältnisses)  gilt  ein  Gebrauchswert  gerade  so  viel  wie  jeder  andere, 
wenn  er  nur  in  gehöriger  Proportion   vorhanden  ist"    (I  12). 

Was  hätte  Marx  zu  folgender  Argumentation  gesagt?  An  einer 
Opernbühne  haben  drei  ausgezeichnete  Sänger,  ein  Tenor,  ein  Baß  und 
ein  Bariton,  jeder  einen  Gehalt  von  20000  fl.  Man  fragt,  was  ist  der  gemein- 
same Umstand,  um  dessenwiUen  sie  im  Gehalte  einander  gleichgestellt 
werden?  und  ich  antworte:  In  der  Gehaltfrage  gilt  eine  gute  Stimme 
gerade  so  viel  wie  jede  andere,  eijie  gute  Tenorstimme  so  viel  wie  eine  gute 
Baß-  oder  gute  Baritonstimme,  wenn  sie  nur  überhaupt  in  gehöriger 
Proportion  vorhanden  ist,  Folghch  abstrahiert  man  „augenscheinlich" 
in  der  Gehaltfrage  von  der  guten  Stimme,  folglich  kann  die  gute  Stimme 
die  gemeinsame  Ursache  des  hohen  Gehaltes  nicht  sein.  —  Daß  diese 
Argumentation  falsch  ist,  ist  klar.     Ebenso  klar  ist  aber  auch,  daß  die 


384  XII.  Die  Ausbeutungstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

MARxsche  Schlußfolgerung,  nach  der  sie  genau  kopiert  ist,  um  kein  Haar 
richtiger  ist.  Beide  leiden  an  demselben  Fehler.  Sie  verwechseln  Abstraktion 
von  einem  Umstände  überhaupt  mit  Abstraktion  von  den  speziellen 
Modalitäten,  unter  denen  dieser  Umstand  auftritt.  Was  in  unserem 
Beispiele  für  die  Gehaltfrage  gleichgiltig  ist,  ist  offenbar  nur  die  spezielle 
Modalität,  unter  der  die  gute  Stimme  erscheint,  ob  als  Tenor,  als  Baß,  als 
Baritonstimme;  aber  beileibe  nicht  die  gute  Stimme  überhaupt.  Und 
ebenso  wird  für  das  Austauschverhältnis  der  Waren  zwar  von  der  speziellen 
Modalität  abstrahiert,  unter  der  der  Gebrauchswert  der  Waren  erscheinen 
mag,  ob  die  Ware  zur  Nahrung,  Wohnung,  Kleidung  usw.  dient,  aber 
beileibe  nicht  vom  Gebrauchswerte  überhaupt.  Daß  man  nicht  vom 
letzteren  schlechtweg  abstrahiert,  hätte  Marx  schon  daraus  entnehmen 
können,  daß  ja  kein  Tauschwert  existieren  kann,  wo  nicht  ein  Gebrauchs- 
wert vorhanden  ist;  eine  Tatsache,  die  Marx  selbst  wiederholt  einzu- 
gestehen gezwungen  ist^). 

Noch  schlimmer  ist  es  aber  mit  dem  nächsten  Gliede  des  Beweis- 
ganges  bestellt.  ,, Sieht  man  vom  Gebrauchswerte  der  Warenkörper  ab," 
sagt  Marx  wörtlich  —  „so  bleibt  ihnen  nur  noch  eine  Eigenschaft,  die  von 
Arbeitsprodukten."  Wirklich?  Nur  noch  eine  Eigenschaft?  Bleibt  den 
tauschwerten  Gütern  nicht  z,  B.  auch  die  Eigenschaft  geraeinsam,  daß 
sie  im  Verhältnis  zum  Bedarf e  selten  sind?  Oder  daß  sie  Gegenstand 
des  Begehrs  und  Angebotes  sind?  Oder  daß  sie  appropriiert  sind?  Oder 
daß  sie  „Naturprodukte"  sind?  Denn  daß  sie  ebensosehr  Natur-  als 
Arbeitsprodukte  sind,  sagt  niemand  deutlicher  als  Marx  selbst,  wenn  er 
einmal  ausspricht:  ,,Die  Warenkörper  sind  Verbindungen  von  zwei  Ele- 
menten, Naturstoff  und  Arbeit";  oder  wenn  er  beifällig  die  Worte  Pettys 


^)  z.  B.  S.  15  am  Ende: ,, Endlich  kann  kein  Ding  wert  sein,  ohne  Gebrauchsgegen- 
stand zu  sein.  Ist  es  nutzlos,  so  ist  auch  die  in  ihm  enthaltene  Arbeit  nutzlos,  zählt 
nicht  als  Arbeit  (sie!)  und  bildet  daher  keinen  Wert."  —  Auf  den  im  Texte  gerügten 
logischen  Fehler  hat  schon  Knies  aufmerksam  gemacht.  Siehe  Das  Geld,  Berlin  1873, 
S.  123f.  (2.  Aufl.  S.  160ff.)  In  seltsamer  Weise  hat  Adler  ( Grundlagen  der  Karl  Man- 
schen Kritik,  Tübingen  1887,  S.  211  f.)  mein  Argument  mißverstanden,  wenn  er  mir 
entgegenhält,  daß  die  guten  Stimmen  keine  Waren  im  Marxschen  Sinne  seien.  Es 
handelte  sich  mir  ja  keineswegs  darum,  ob  sich  die  ,, guten  Stimmen"  als  wirtschaftliche 
Güter  unter  das  Marxsche  Wertgesetz  subsumieren  lassen  oder  nicht,  sondern  viel- 
mehr lediglich  darum,  das  Muster  eines  logischen  Schlusses  aufzustellen,  der  denselben 
Fehler  aufweist,  wie  der  MARXsche.  Ich  hatte  dazu  ebensogut  ein  Beispiel  wählen  können, 
das  gar  keine  Beziehung  zilm  wirtschaftlichen  Gebiet  besitzt.  Ich  hätte  z.  B.  ebensogut 
demonstrieren  können,  daß  nach  MARXscher  Logik  das  Gemeinsame  der  bunten 
Körper  in  Gott  weiß  was,  aber  nicht  in  der  Mischung  mehrerer  Farben  gelegen  sein  könne. 
Denn  eine  Farbenmischung,  z.  B.  weiß,  blau,  gelb,  schwarz,  violett,  gilt  für  die  Buntheit 
gerade  so  viel  wie  jede  andere  Farbenmischung,  z.  B.  grün,  rot,  orange,  himmelblau  usw., 
wenn  sie  nur  „in  gehöriger  Proportion"  vorhanden  ist:  folglich  abstrahiere  man  augen- 
scheinlich von  der  Farbe  und  Farbenmischung! 


Marx.  385 

zitiert:  „Die  Arbeit  ist  sein  (des  stofflichen  Reichtumes)  Vater,  und  die 
Erde  seine  Mutter"^). 

Warum  soll  nun,  frage  ich,  das  Prinzip  des  Wertes  nicht  ebensogut 
in  irgend  einer  dieser  gemeinsamen  Eigenschaften  liegen  können,  statt 
in  der  Eigenschaft,  Arbeitsprodukt  zu  sein?  Denn  zu  gunsten  der  letzteren 
hat  Marx  nicht  einmal  die  Spur  eines  positiven  Grundes  vorgebracht; 
sein  einziger  Grund  ist  der  negative,  daß  der  glücklich  hinweg  abstrahierte 
Gebrauchswert  das  Prinzip  des  Tauschwertes  nicht  ist.  Kommt  aber 
dieser  negative  Grund  nicht  ganz  im  gleichen  Maße  allen  anderen  von 
Marx  übersehenen  gemeinsamen  Eigenschaften  zu? 

Ja  noch  mehr!  Auf  derselben  S.  12,  auf  welcher  Marx  den  Einfluß 
des  Gebrauchswertes  auf  den  Tauschwert  mit  der  Motivierung  hinweg- 
abstrahiert hat,  daß  ein  Gebrauchswert  so  viel  gilt  wie  jeder  andere,  wenn 
er  nur  in  gehöriger  Proportion  vorhanden  ist,  erzählt  er  uns  von  den 
Arbeitsprodukten  folgendes:  „Jedoch  ist  uns  auch  das  Arbeitsprodukt 
bereits  in  der  Hand  verwandelt.  Abstrahieren  wir  von  seinem  Gebrauchs- 
wert, so  abstrahieren  wir  auch  von  den  körperlichen  Bestandteilen  und 
Formen,  die  es  zum  Gebrauchswert  machen.  Es  ist  nicht  länger  Tisch 
oder  Haus  oder  Garn  oder  sonst  ein  nützlich  Ding.  Alle  seine  sinnlichen 
Beschaffenheiten  sind  ausgelöscht.  Es  ist  auch  nicht  länger  das 
Produkt  der  Tischlerarbeit  oder  der  Bauarbeit  oder  der 
Spinnarbeit  oder  sonst  einer  bestimmten  produktiven  Arbeit. 
Mit  dem  nützlichen  Charakter  der  Arbeitsprodukte  verschwindet  der 
nützliche  Charakter  der  in  ihnen  dargestellten  Arbeiten,  es  verschwinden 
also  auch  die  verschiedenen  konkreten  Formen  dieser  Arbeiten,  sie  unter- 
scheiden sich  nicht  länger,  sondern  sind  allzusamt  reduziert 
auf  gleiche  menschliche  Arbeit,  abstrakt  menschliche  Arbeit.'. 

Kann  man  deutlicher  und  ausdrücklicher  sagen,  daß  für  das  Aus- 
tauschverhältnis nicht  bloß  ein  Gebrauchswert,  sondern  auch  eine  Art 
von  Arbeit  und  Arbeitsprodukten  „gerade  so  viel  wie  jede  andere  gilt, 
wenn  sie  nur  in  gehöriger  Proportion  vorhanden  ist?"  daß  mit  anderen 
Worten  genau  derselbe  Tatbestand,  auf  Grund  dessen  Marx  soeben  sein 
Ausschließungsverdikt  gegen  den  Gebrauchswert  ausgesprochen  hat,  auch 
rücksichtlich  der  Arbeit  besteht?  Arbeit  und  Gebrauchswert  haben  eine 
qualitative  und  eine  quantitative  Seite.  So  gut  der  Gebrauchswert  als 
Tisch,  Haus  oder  Garn  qualitativ  verschieden  ist,  so  gut  ist  es  die  Arbeit 
als  Tischlerarbeit,  Bauarbeit  oder  Spinnarbeit.  Und  so  gut  man  Arbeit 
verschiedener  Art  nach  ihrer  Menge  vergleichen  kann,  gerade  so  kann 
man  Gebrauchswerte  verschiedener  Art  nach  der  Größe  des  Gebrauchs- 
wertes vergleichen.  Es  ist  absolut  unerfindlich,  warum  der  identische 
Tatbestand  für  den  einen  Konkurrenten  zur  Ausschließung,  für  den  anderen 


1)  Das  Kapital  S.  17f. 
B  Ö  h  m  -  B  a  w  e  r  k  .  Kapitslzliu.    4.  Aufl.  26 


386  XII.  Die  Ausbeutungstheorie.    2.  U.-A.  Kritik, 

zur  Klrönung  mit  dem  Preise  führen  soll!  Wenn  Marx  zufällig  die  Reihen- 
folge der  Untersuchung  verkehrt  hätte,  so  hätte  er  mit  genau  demselben 
Schlußapparat,  mit  welchem  er  den  Gebrauchswert  ausgeschlossen  hat, 
die  Arbeit  ausschließen,  und  dann  wiederum  mit  demselben  Schlußapparat, 
mit  welchem  er  die  Arbeit  gekrönt  hat,  den  Gebrauchswert  als  die  allein 
übrig  gebliebene  und  also  gesuchte  gemeinsame  Eigenschaft  proklamieren, 
und  den  Wert  als  eine  „Gebrauchswert-Gallerte"  erklären  können.  Ich 
glaube,  es  läßt  sich  nicht  im  Scherze,  sondern  im  vollen  Ernst  behaupten, 
daß  in  den  beiden  Absätzen  der  S.  12,  in  deren  erstem  der  Einfluß  des 
Gebrauchswertes  hinwegabstrahiert,  und  im  zweiten  die  Arbeit  als  das 
gesuchte  Gemeinsame  demonstriert  wird,  ohne  irgend  eine  Veränderung 
in  der  äußeren  logischen  Richtigkeit  sich  die  Subjekte  gegenseitig  ver- 
tauschen ließen;  daß  in  das  ungeänderte  Satzgefüge  des  ersten  Absatzes 
statt  des  Gebrauchswertes  überall  die  Arbeit  und  die  Arbeitsprodukte, 
in  das  Gefüge  des  zweiten  statt  der  Arbeit  überall  der  Gebrauchswert 
eingesetzt  werden  könnte! 

So  ist  die  Logik  und  die  Methodik  beschaffen,  mit  welcher  Marx 
seinen  Fundamentalsatz  von  der  Arbeit  als  alleiniger  Grundlage  des 
Wertes  in  sein  System  einführt.  Wie  ich  unlängst  schon  an  einem  anderen 
Orte  bemerkt  habe^),  halte  ich  es  für  vollkommen  ausgeschlossen,  daß 
dieser  dialektische  Hokuspokus  für  Marx  selbst  Grund  und  Quelle  der 
Überzeugung  war.  Ein  Denker  vom  Range  Marx'  —  und  ich  schätze  ihn 
für  eine  Denkkraft  allerersten  Ranges  —  hätte,  wenn  es  sich  für  ihn  darum 
gehandelt  hätte,  seine  eigene  Überzeugung  erst  zu  bilden,  und  den  tat- 
sächlichen Zusammenhang  der  Dinge  wirklich  erst  mit  freiem  unpartei- 
ischem Blick  zu  suchen,  ganz  unmöglich  von  Haus  aus  auf  einem  derart 
gekrümraten  und  naturwidrigen  Wege  suchen,  er  hätte  ganz  unmöglich 
aus  bloßem  unglücklichem  Zufall  in  alle  die  geschilderten  logischen  und 
methodischen  Fehler  der  Reihe  nach  hineintappen,  und  als  naturwüchsiges, 
nicht  vorausgewußtes  und  vorausgewoUtes  Ergebnis  eines  solchen  For- 
schungsweges die  These  von  der  Arbeit  als  alleiniger  Wertquelle  heim- 
bringen können. 

Ich  glaube,  der  wirkliche  Sachverhalt  war  anders.  Ich  zweifle  gar 
nicht,  daß  Marx  von  seiner  These  wirklich  und  ehrlich  überzeugt  war. 
Aber  die  Gründe  seiner  Überzeugung  sind  nicht  die,  die  er  ins  System 
geschrieben  hat.  Er  glaubte  an  seine  These,  wie  ein  Fanatiker  an  ein 
Dogma  glaubt.  Er  wurde  ohne  Zweifel  von  ihr  auf  Grund  derselben  vagen, 
beiläufigen,  vom  Verstand  nicht  scharf  kontrollierten  Eindrücke,  die  vor 
ihm  schon  Adam  Smith  und  Ricardo  zum  Ausspruch  ähnlicher  Ideen 
verleitet  hatten,  und  unter  dem  Einfluß  dieser  angesehenen  Autoritäten 
erfaßt;  und  er  gelangte  wohl  nie  dazu,  auch  nur  den  mindesten  Zweifel 


1)  Zum  Abschluß  des  Marxschen  Systems,  S.  77ff. 


Marx.  387 

an  ihrer  Richtigkeit  zu  hegen.  Für  ihn  selbst  stand  also  sein  Satz  fest 
-wie  ein  Axiom.  Aber  seinen  Lesern  mußte  er  ihn  beweisen.  Empirisch 
oder  wirtschaftspsychologisch  hätte  er  sich  nicht  beweisen  lassen:  so 
wandte  er  sich  denn  an  die  seiner  Geistesrichtung  ohnedies  zusagende 
logisch-dialektische  Spekulation,  und  künstelte  und  schraubte  an  den 
geduldigen  Begriffen  und  Prämissen  mit  einer  in  ihrer  Art  bewunderns- 
werten Kunstfertigkeit  so  lange  herum,  bis  das  vorausgewußte  und  voraus- 
gewoUte  Ergebnis  in  äußerlich  reputierlicher  Schlußform  wirklich  heraus- 
kam. 

Mit  diesem  seinem  Versuche,  auf  dialektischem  Wege  seiner  These 
zu  einer  beweiskräftigen  Stütze  zu  verhelfen,  ist  nun  Marx,  wie  wir  uns 
soeben  überzeugt  haben,  vollständig  gescheitert.  Hätte  sich  aber  eine 
Stütze  nicht  etwa  auf  einem  der  von  Marx  vermiedenen,  dem  empirischen 
oder  psychologischen  Wege  gewinnen  lassen? 

Daß  die  Analyse  der  bei  der  Tauschwertbildung  wirksamen  psycho- 
logischen Motive  auf  ein  anderes  Ergebnis  führt,  werden  wir  im  zweiten, 
positiven  Hauptteil  dieses  Werkes  sehen,  und  ist  inzwischen  im  nach- 
gelassenen dritten  Bande  eigentlich  auch  von  Marx  selbst  zugestanden 
worden^).  Bleibt  also  noch  die  empirische  Probe,  die  Probe  aus.  den  Tat- 
sachen der  Erfahrung.    Was  zeigen  diese? 

Die  Erfahrung  zeigt,  daß  der  Tauschwert  nur  bei  einem 
Teile  der  Güter,  und  auch  bei  diesem  nur  beiläufig  im  Ver- 
hältnisse zu  der  Menge  der  Arbeit  steht,  welche  die  Er- 
zeugung derselben  kostet.  —  So  bekannt  dieses  tatsächliche  Ver- 
hältnis wegen  der  Offenkundigkeit  der  Tatsachen,  auf  denen  es  beruht, 
auch  sein  sollte,  so  selten  wird  es  richtig  gewürdigt.  Zwar  darüber,  daß 
die  Erfahrung  das  Arbeitsprinzip  nicht  vollkommen  bestätigt,  ist  alle 
Welt,  einschließlich  der  sozialistischen  Schriftsteller  einig.  Sehr  häufig 
begegnet  man  aber  der  Ansicht,  daß  die  Fälle,  in  denen  die  Wirklichkeit 
mit  dem  Arbeitsprinzipe  übereinstimmt,  die  weitaus  überwiegende  Regel, 
und  die  Fälle,  welche  jenem  Prinzipe  widersprechen,  eine  relativ  gering- 
fügige Ausnahme  bilden.  Diese  Ansicht  ist  sehr  irrig.  Um  sie  ein  für  allemal 
zu  berichtigen,  will  ich  im  folgenden  die  „Ausnahmen",  welche  in  der 
Wirt  Schafts  weit  das  Arbeitswertprinzip  erfahrungsgemäß  durchkreuzen, 
gruppenweise  zusammenstellen.  Man  wird  sehen,  daß  die  „Ausnahmen" 
so  sehr  überwiegen,  daß  sie  kaum  mehr  etwas  für  die  „Regel"  übrig  lassen. 

1.  Sind  von  der  Geltung  des  Arbeitsprinzips  alle  „Seltenheitsgüter" 
ausgenommen,  welche  wegen  irgend  eines  obwaltenden  falktischen  oder 
rechtlichen  Hindernisses  gar  nicht,  oder  doch  nicht  in  unbeschränkter 
Menge  reproduziert  werden  können.  Ricardo  nennt  beispielsweise  Statuen 
und  Gemälde,  seltene  Bücher  und  Münzen,  ausgezeichnete  Weine,  und 


^)  Siehe  noch  unten. 

25* 


XII.  Die  Ausbeutungstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

fügt  die  Bemerkung  hinzu,  daß  diese  Güter  „nur  einen  sehr  kleinen  Teil 
der  Gütermenge  bilden,  welche  täglich  auf  dem  Markte  ausgetauscht 
wird".  Wenn  man  indes  bedenkt,  daß  in  dieselbe  Kategorie  auch  der 
gesamte  Grund  und  Boden,  ferner  die  zahlreichen  Güter  gehören,  bei  deren 
Erzeugung  ein  Erfindungspatent,  Autorrecht  oder  Gewerbegeheimnis  ins 
Spiel  konunt,  so  wird  man  den  Umfang  dieser  „Ausnahme"  keineswegs 
unbeträchtlich  finden^). 

2.  Buden  eine  Ausnahme  alle  Güter,  welche  nicht  durch  gemeine, 
sondern  durch  qualifizierte  Arbeit  erzeugt  werden.  Obwohl  im  Tages- 
produkte eines  Bildhauers,  eines  Kunstschreiners,  eines  Geigenmachers, 
eines  Maschinenbauers  usw.  nicht  mehr  Arbeit  verkörpert  ist,  als  im  Tages- 
produkte eines  gemeinen  Handwerkers  oder  Fabriksarbeiters,  hat  doch 
jenes  einen  größeren,  oft  um  vielfaches  größeren  Tauschwert.  —  Die 
Anhänger  der  Arbeitswerttheorie  haben  diese  Ausnahme  natürlich  nicht 
übersehen  können.  Seltsamer  Weise  stellen  sie  sich  aber  so  an,  als  ob 
hierin  keine  wirkliche  Ausnahme,  sondern  nur  eine  kleine  Variante  läge, 
die  sich  noch  innerhalb  der  Regel  hält.  Marx  z.  B.  trifft  die  Auskunft, 
daß  er  die  qualifizierte  Arbeit  als  ein  Vielfaches  von  gemeiner  Arbeit 
rechnet.  „Kompliziertere  Arbeit"  sagt  er  (S.  19),  „gilt  nur  als  potenzierte 
oder  vielmehr  multiplizierte  einfache  Arbeit,  so  daß  ein  kleineres  Quantum 
komplizierter  Arbeit  gleich  einem  größeren  Quantum  einfacher  Arbeit  ist. 
Daß  diese  Reduktion  beständig  vorgeht,  zeigt  die  Erfahrung.  Eine  Ware 
mag  das  Produkt  der  kompliziertesten  Arbeit  sein;  ihr  Wert  setzt  sie  dem 
Produkte  einfacher  Arbeit  gleich  und  stellt  daher  selbst  nur  ein  bestimmtes 
Quantum  einfacher  Arbeit  dar." 

Fürwahr  ein  theoretisches  Kunststück  von  verblüffender  Naivität! 
Daß  man  einem  Arbeitstage  eines  Bildhauers  fünf  Arbeitstage  eines 
Schanzgräbers  in  manchen  Beziehungen,  z.  B.  in  der  Bewertung  gleich- 
halten könne,  unterliegt  gar  keinem  Zweifel.  Aber  daß  12  Arbeitsstunden 
des  Bildhauers  60  gemeine  Arbeitsstunden  wirklich  sind,  wird  wohl  kein 
Mensch  behaupten  wollen.  Nun,  in  Fragen  der  Theorie,  z.  B.  in  der  Frage 
nach  dem  Prinzipe  des  Wertes,  handelt  es  sich  nicht  um  das,  was  (üe 
Menschen  fingieren  mögen,  sondern  nur  um  das,  was  wirklich  ist.  Für 
die  Theorie  ist  und  bleibt  das  Tagesprodukt  des  Bildhauers  das  Produkt 
einer  Tagesarbeit;  und  wenn  das  Produkt  einer  Tagesarbeit  so  viel  wert 
ist  als  ein  anderes  Gut,  welches  das  Produkt  von  fünf  Tagesarbeiten  ist, 
so  liegt  hierin,  mögen  die  Menschen  fingieren  was  sie  wollen,  eine  Aus- 
nahme von  der  behaupteten  Regel,  daß  der  Tauschwert  der  Güter  sich 
nach  der  Menge  der  in  ihnen  verkörperten  menschlichen  Arbeit  richte.  — 
Gesetzt,  eine  Eisenbahn  stuft  im  allgemeinen  ihre  Tarifsätze  nach  der 


1)  Vgl.  Knies,  Kredit,  II.  Hälfte  S.  61. 


Marx.  389 

Länge  der  von  den  beförderten  Personen  und  Gütern  durchlaufenen 
Strecke  ab,  ordnet  jedoch  an,  daß  innerhalb  einer  Teilstrecke  mit  besonders 
kostspieligen  Betriebsverhältnissen  jeder  Kilometer  für  zwei  Kilometer 
gerechnet  werden  soll:  kann  dann  jemand  behaupten,  daß  die  Länge 
der  Strecke  das  ausschließliche  Prinzip  für  die  Tarifbestimmung  der  Bahn 
wirklich  ist?  Gewiß  nicht;  es  wird  fingiert,  daß  sie  es  sei,  aber  in 
Wahrheit  wird  ihre  Wirksamkeit  von  der  zweiten  Rücksicht  auf  die  Be- 
schaffenheit der  Strecke  durchkreuzt.  Und  eben  so  wenig  ist  trotz  aller 
Kunstgriffe  die  theoretische  Einheit  des  Arbeitsprinzipes  zu  retten  i). 

Auch  diese  zweite  Ausnahme  umfaßt,  wie  weiter  auszuführen  wohl 
nicht  nötig  ist,  einen  bedeutenden  Teil  der  Verkehrsgüter.  Ja,  wenn  man 
strenge  sein  wiU,  gehören  beinahe  alle  Güter  hieher.  Denn  fast  bei  der 
Produktion  jedes  Gutes  kommt  wenigstens  etwas  qualifizierte  Arbeit  ins 
Spiel,  Arbeit  eines  Erfinders,  Dirigenten,  Vorarbeiters  u.  dgl.;  was  dann 
auch  den  Wert  desselben  ein  wenig  über  jenes  Niveau  erhebt,  das  der 
Menge  der  Arbeit  allein  entsprochen  hätte. 

3.  Wird  die  Zahl  der  Ausnahmen  vermehrt  durch  die  allerdings  nicht 
bedeutende  Menge  von  Gütern,  die  durch  abnorm  schlecht  gelohnte  Arbeit 
erzeugt  werden.  Bekanntlich  kann  aus  Gründen,  die  hier  nicht  erörtert 
zu  werden  brauchen,  in  gewissen  Produktionszweigen  der  Arbeitslohn 
dauernd  unter  dem  Existenzminimum  stehen,  wie  z.  B.  bei  weiblichen 
Handarbeiten,  Näh-,  Stick-  und  Strickarbeiten  u.  dgl.  Die  Produkte 
dieser  Beschäftigungen  haben  dann  gleichfalls  einen  abnorm  niedrigen 
Wert.  Es  ist  z.  B.  nicht  ungewöhnlich,  daß  das  Produkt  von  drei  Arbeits- 
tagen einer  Weißnäherin  noch  nicht  dem  Werte  des  Produktes  von  zwei 
Arbeitstagen  einer  Fabriksarbeiterin  gleichkommt.  — 

Alle  bis  jetzt  namhaft  gemachten  Ausnahmen  liegen  in  der  Richtung, 
daß  sie  gewisse  Gütergruppen  von  der  Wirksamkeit  des  Arbeitswertgesetzes 
gänzlich  eximieren,  also  das  Geltungsgebiet  des  letzteren  einengen.  Sie 
lassen  für  das  letztere  eigentlich  nur  mehr  jene  Güter  übrig,  deren  be- 
liebiger Reproduktion  keinerlei  Schranken  entgegenstehen  und  die  zu- 
gleich zu  ihrer  Erzeugung  keine  andere  als  gemeine  Arbeit  erfordern. 
Aber  selbst  dieses  eingeengte  Gebiet  wird  vom  Arbeitswertgesetze  nicht 
ausnahmslos  beherrscht;  vielmehr  wirken  einige  weitere  Ausnahmen  in 
der  Richtung,  daß  sie  auch  hier  noch  die  Strenge  seiner  Geltung  lockern. 

Eine  4.  Ausnahme  vom  Arbeitsprinzipe  wird  nämlich  durch  die  be- 
kannte und  allseitig  zugestandene  Erscheinung  gebildet,  daß  auch  jene 
Güter,  deren  Tauschwert  im  großen  und  ganzen  mit  der  Menge  ihrer 
Kostenarbeit  harmoniert,  diese  Harmonie  doch  nicht  in  jedem  Augenblicke 
aufweisen;  daß  vielmehr  durch  die  Schwankungen  von  Angebot  und  Nach- 
frage der  Tauschwert  häufig  über,  häufig  unter  dasjenige  Niveau  ver- 

^)  Grenauer  habe  ich  mich  über  diese  Frage  in  meinem  wiederholt  zitierten  Aufsatz 
zum  AbschluS  des  MABXschen  Systemes  S.  80ff.  ausgesprochen. 


390  ^I-  I^ic  Aasbeutungstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

schoben  wird,  welches  der  in  den  Gütern  verkörperten  Arbeitsmenge 
entspräche.  Letztere  bezeichnet  nur  den  Gravitationspunkt,  keinen  Fix- 
punkt des  Tauschwertes.  —  Auch  mit  dieser  Ausnahme  scheinen  mir  die 
sozialistischen  Anhänger  des  Arbeitsprinzipes  sich  allzuleicht  abzufinden. 
Sie  konstatieren  sie  zwar,  behandeln  sie  aber  als  vorübergehende  kleine 
Irregularität,  deren  Dasein  dem  großen  „Gesetze"  des  Tauschwertes  keinen 
Eintrag  tut.  Es  läßt  sich  aber  nicht  leugnen,  daß  diese  Irregularitäten 
ebenso  viele  Beispiele  von  Tauschwertbildungen  sind,  die  durch  andere 
Bestimmgründe  als  die  Menge  der  Kostenarbeit  geregelt  werden.  Dies 
hätte  doch  wenigstens  zu  einer  Untersuchung  Anlaß  geben  sollen,  ob  nicht 
vielleicht  ein  allgemeineres  Prinzip  des  Tauschwertes  existiert,  auf  welches 
sich  nicht  allein  die  „regelmäßigen"  sondern  auch  die  —  vom  Standpunkte 
der  Arbeitstheorie  —  als  unregelmäßig  erscheinenden  Tauschwertbüdungen 
gemeinsam  zurückführen  lassen.  Eine  solche  Untersuchung  wird  man  aber 
bei  den  Theoretikern  der  jetzt  besprochenen  Richtung  vergeblich  suchen. 

5.  Endlich  zeigt  es  sich,  daß  abgesehen  von  diesen  momentanen 
Schwankungen  der  Tauschwert  der  Güter  von  dem  durch  die  verkörperte 
Arbeitsmenge  bezeichneten  Niveau  auch  noch  ständig  nicht  unbeträcht- 
lich abweicht,  indem  von  zwei  Gütern,  deren  Herstellung  genau  die  gleiche 
Menge  gesellschaftlicher  Durchschnittsarbeit  kostet,  dasjenige  einen 
höheren  Tauschwert  behauptet,  dessen  Herstellung  den  stärkeren  Vorschuß 
„vorgetaner"  Arbeit  fordert.  Ricardo  hat,  wie  wir  wissen,  diese  Aus- 
nahme vom  Arbeitsprinzip  in  zwei  Sektionen  des  I.  Kapitels  seiner  „Grund- 
sätze" ausführlich  besprochen,  Rodbertus  und  Marx  ignorieren  sie  bei 
der  Ableitung  ihrer  Theorien^),  ohne  sie  ausdrücklich  zu  leugnen,  was  sie 
füglich  nicht  konnten:  denn  daß  ein  hundertjähriger  Eichenstamm  einen 
höheren  Wert  besitzt,  als  der  halben  Minute  Zeit  entspricht,  die  die  Aus- 
saat seines  Keimes  fordert,  ist  zu  bekannt,  um  mit  Erfolg  bestritten  werden 
zu  können. 

Resümieren  wir:  dem  angeblichen  „Gesetze",  daß  der  Wert  der  Güter 
sich  nach  der  Menge  der  in  ihnen  verkörperten  Arbeit  richte,  gehorcht 
ein  beträchtlicher  Teil  der  Güter  gar  nicht,  der  Rest  nicht  immer  und 
nie  genau:  dies  ist  das  Erfahrungsmaterial,  mit  dem  der  Werttheoretiker 
zu  rechnen  hat. 

Welche  Schlüsse  kann  ein  unbefangener  Theoretiker  aus  solchem 
Materiale  ziehen  ?  —  G^wiß  nicht  den,  daß  Ursprung  und  Maß  alles  Wertes 
sich  ausschließlich  auf  Arbeit  gründet.  Ein  solcher  Schluß  wäre  um  kein 
Haar  besser,  als  wenn  man  auf  die  Erfahrung  hin,  daß  Elektrizität  häufig 


^)  Marx  nimmt  von  ihr  erst  im  nachgelassenen  dritten  Bande  ausdrücklich 
Notiz,  und  zwar,  wie  nicht  anders  zu  erwarten  war,  mit  dem  Erfolge,  daß  er  zu  den  Ge- 
setzen des  ersten  Bandes,  die  unter  Ignorierung  der  Ausnahme  gewonnen  worden  waren, 
in  Widerspruch  geriet. 


Marx.  391 

durch  Reibung,  häufig  freilich  auch  auf  andere  Weise  entsteht,  das  Gesetz 
proklamieren  wollte:  Alle  Elektrizität  entsteht  durch  Reibung. 

Dagegen  wird  man  wohl  den  Schluß  ziehen  können,  daß  der  Arbeits- 
aufwand ein  Umstand  ist,  der  einen  weitreichenden  Hnfluß  auf  den  Tausch- 
wert vieler  Güter  ausübt;  allein  wohlgemerkt,  nicht  als  endgiltige  Ursache, 
die  ja  allen  Werterscheinungen  gemeinsam  sein  müßte  —  sondern  als 
partikuläre  Zwischenursache.  Für  einen  solchen  Einfluß  der  Arbeit  auf 
den  Wert  wird  man  auch  um  eine  innere  Begründung  nicht  verlegen  sein, 
die  sich  für  jenen  weitergehenden  Satz  absolut  nicht  finden  läßt.  Es  mag 
femer  ganz  interessant  und  ganz  wichtig  sein,  den  Einfluß  der  Arbeit 
auf  den  Güterwert  genauer  zu  verfolgen,  und  die  Ergebnisse  in  der  Form 
von  Gresetzen  auszusprechen:  nur  wird  man  dabei  nie  aus  dem  Auge  ver- 
lieren dürfen,  daß  dies  nur  partikuläre  Wertgesetze  sein  werden,  welche 
das  allgemeine  Wesen  des  Wertes  nicht  berühren^).  Um  mich  eines  Ver- 
gleiches zu  bedienen:  die  Gesetze,  die  den  Einfluß  der  Arbeit  auf  den 
Tauschwert  der  Güter  formulieren,  werden  zum  allgemeinen  Wertgesetze 
in  ähnlichem  Verhältnisse  stehen,  wie  das  Gesetz:  „Westwind  bringt 
Regen",  zu  einer  allgemeinen  Theorie  des  Regens. '  Westwind  ist  eine 
vielverbreitete  Zwischenursache  des  Regens,  wie  Arbeitsaufwand  eine  viel- 
verbreitete Zwischenursache  des  Güterwertes;  aber  das  Wesen  des  Regens 
beruht  so  wenig  auf  dem  Westwinde,  als  das  des  Wertes  auf  aufgewendeter 
Arbeit. 

Ricardo  selbst  hat  die  berechtigten  Grenzen  nur  erst  wenig  über- 
schritten. Wie  ich  oben  gezeigt  habe,  weiß  er  recht  gut,  daß  sein  Arbeits- 
wertgesetz nur  ein  partikuläres  ist,  daß  z.  B.  der  Wert  der  „Seltenheits- 
güter" auf  einer  anderen  Grundlage  beruht.  Er  irrt  nur  insofern,  als  er 
den  Umfang,  für  den  es  gilt,  sehr  überschätzt  und  ihm  eine  praktisch 
nahezu  universelle  Geltung  zuschreibt.  Im  Zusammenhange  damit  steht 
es,  daß  er  der  gering  geachteten  Ausnahmen,  die  er  im  Anfange  seines 
Werkes  ganz  richtig  namhaft  gemacht  hat,  späterhin  fast  gar  nicht  mehr 
gedenkt,  und  von  seinem  Gesetze  —  mit  Unrecht  —  oft  in  einem  Tone 
spricht,  als  ob  es  wirklich  ein  universelles  Wertgesetz  wäre. 

Erst  seine  weniger  weitblickenden  Nachfolger  sind  in  den  kaum  be- 
greiflichen Fehler  verfallen,  die  Arbeit  mit  voller  und  bewußter  Strenge 


*)  Elrheblich  zu  weit  scheint  mir  darum  von  neueren  auch  Natoli,  Principio 
del  valore,  zu  gehen,  der  trotz  einer  recht  lebhaften  Erkenntnis,  daß  die  Arbeit  weder 
einen  originären,  noch  einen  universellen  Einfluß  auf  den  Güterwert  ausübt,  daß  dieser 
sich  vielmehr  ausnahmslos  auf  den  „grado  di  utilita"  (Grenznutzen)  stützen  müsse, 
und  daß  endlich  in  der  RiCARDiANischen  Arbeitswerttheorie  Ursache  und  Wirkung 
verkehrt  wird  (a.  a.  0.  S.  191),  dennoch  auf  dem  Umweg  über  eine  angeblich  sich  immer 
durchsetzende  ,, Nützlichkeitsgleichung"  (equazione  utilitaria)  zwischen  Wert  und 
Arbeit  dazu  gelangt,  die  Übereinstimmung  zwischen  Wert  und  Arbeit  als  das  Fun- 
damentalgesetz des  Wertes,  ja  sogar  als  das  grundlegende  „Kardinalgesetz  der  ganzen 
Ökonomie"  zu  erklären  (a.  a.  0.  S.  191,  244,  277  und  391). 


392  XII.  Die  Ansbeutungstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

als  das  universelle  Prinzip  des  Wertes  hinzustellen.  Ich  sage:  in  den  kaum 
begreiflichen  Fehler;  denn  es  läßt  sich  in  der  Tat  schwer  fassen,  wie  theo- 
retisch gebildete  Männer  nach  reiflicher  Überlegung  einen  Lehrsatz  be- 
haupten konnten,  den  sie  einfach  auf  gar  nichts  stützen  können:  nicht 
auf  die  Natur  der  Sache,  denn  diese  zeigt  absolut  keinen  notwendigen 
Zusammenhang  zwischen  Wert  und  Arbeit;  nicht  auf  die  Erfahrung,  denn 
diese  zeigt  im  Gegenteile,  daß  der  Wert  meistens  mit  dem  Arbeitsaufwande 
nicht  harmoniert;  endlich  nicht  einmal  auf  Autoritäten:  denn  die  be- 
rufenen Autoritäten  haben  den  Satz  in  der  anspruchsvollen  Allgemeinheit, 
die  man  ihm  jetzt  zu  geben  liebte,  nie  behauptet. 

Und  einen  so  ganz  in  die  Luft  gebauten  Satz  behaupten  die  sozia- 
listischen Anhänger  der  Ausbeutungstheorie  nicht  etwa  nur  nebenher  in 
irgend  einer  harmlosen  Ecke  eines  theoretischen  Lehrgebäudes,  sondern 
sie  stellen  ihn  an  die  Spitze  der  eingreifendsten  praktischen  Forderungen. 
Sie  behaupten  das  Gesetz,  daß  der  Wert  aller  Waren  auf  der  in  ihnen 
verkörperten  Arbeitszeit  beruht,  um  im  nächsten  Augenblicke  aUe  Wert- 
bildungen, die  mit  diesem  „Gesetze"  nicht  harmonieren,  z.  B.  die  Wert- 
differenzen, die  als  Mehrwert  dem  Kapitalisten  zufallen,  als  „gesetzwidrig", 
„unnatürlich",  „ungerecht"  anzugreifen  und  zur  Ausrottung  zu  empfehlen. 
Erst  ignorieren  sie  also  die  Ausnahme,  um  ihr  Wertgesetz  als  allgemeines 
proklamieren  zu  können.  Und  nachdem  sie  so  die  Allgemeingiltigkeit 
desselben  erschlichen  haben,  werden  sie  wieder  auf  die  Ausnahmen  auf- 
merksam, um  sie  als  Verstöße  gegen  das  Gesetz  zu  brandmarken.  Diese 
Art  der  Schlußfolgerung  ist  wirklich  nicht  besser,  als  wenn  man  wahr- 
nimmt, daß  es  viele  törichte  Menschen  gibt,  ignoriert,  daß  es  auch  weise 
Menschen  gibt,  hiedurch  zu  dem  „allgemein  gütigen  Gesetze"  kommt,  daß 
„alle  Menschen  töricht  sind",  und  dann  die  Ausrottung  der  „gesetzwidrig" 
existierenden  Weisen  forderte!  — 

So  habe  ich  über  das  Arbeitswertgesetz  überhaupt,  und  speziell  über 
die  von  Marx  dafür  gegebene  Begründung  im  wesentlichen  schon  vor 
vielen  Jahren,  in  der  ersten  Auflage  dieses  Werkes  geurteilt.  Seither  ist 
der  nachgelassene  dritte  Band  des  MARxschen  Kapitales  erschienen.  Sein- 
Erscheinen  war  in  den  theoretischen  Kreisen  aller  Parteien  mit  einer 
gewissen  Spannung  erwartet  worden.  Man  war  gespannt,  wie  sich  Marx 
mit  einer  gewissen  Schwierigkeit  auseinandersetzen  werde,  in  die  ihn  die 
Lehre  des  ersten  Bandes  notwendig  verstricken  mußte  und  die  im  ersten 
Bande  nicht  nur  ungelöst,  sondern  vorläufig  auch  noch  unerörtert  ge- 
blieben war. 

Ich  habe  schon  Rodbertüs  gegenüber  darauf  aufmerksam  gemacht, 
daß  die  im  Sinne  des  Arbeitswertgesetzes  liegende  Annahme,  daß  sich  die 
Güter  im  Verhältnis  der  an  ihnen  haftenden  Arbeit  vertauschen,  absolut 
unverträglich  ist  mit  der  weiteren  von  Rodbertüs  gemachten,  übrigens 
als  Eifahrungstatsache  unzweifelhaft  feststehenden  Annahme,  daß  eine 


Marx.  393 

Nivelliening  der  KapitaJgewiime  stattfindet^).  Dieselbe  Schwierigkeit 
mußte  natürlich  auch  Marx  in  seinem  Wege  finden  und  dieselbe  spitzte 
sich  bei  ihm  sogar  noch  drastischer  zu,  weil  bei  ihm  gerade  jene  Partie 
der  Lehre,  in  der  der  Stein  des  Anstoßes  liegt,  mit  besonderer,  die  Schwierig- 
keit sozusagen  herausfordernder  Nachdrückhchkeit  formuliert  ist. 

Marx  unterscheidet  nämlich  innerhalb  des  Kapitales,  welches  dem 
Kapitalisten  zur  Aneignung  von  Mehrwert  dient,  zwei  Bestandteile:  den- 
jenigen Teil,  welcher  zur  Besoldung  von  Arbeit  dient,  das  „variable 
Kapital",  und  denjenigen  Teil,  welcher  für  sachliche  Produktionsmittel, 
Rohstoffe,  Werkzeuge,  Maschinen  u.  dgl.,  ausgelegt  wird,  das  „konstante 
Kapital".  Da  nur  die  lebendige  Arbeit  wirklich  neuen  Mehrwert  schaffen 
kann,  so  kann  auch  nur  der  in  Arbeitskraft  umgesetzte  Teil  des  Kapitales 
seinen  Wert  im  Produktionsprozeß  verändern,  vergrößern,  weshalb  ihn 
eben  Marx  das  „variable"  Kapital  nennt.  Er  allein  reproduziert  seinen 
eigenen  Wert  und  noch  einen  Überschuß  darüber,  den  Mehrwert.  Der 
Wert  der  vemutzten  Produktionsmittel  dagegen  wird  nur  einfach  erhalten, 
indem  er  in  veränderter  Gestalt,  aber  unveränderter  Größe  —  deshalb 
„konstantes"  Kapital  —  im  Wert  des  Produktes  wiedererscheint;  er  kann 
keinen  „Mehrwert  ansetzen".  Hieraus  folgt  mit  Notwendigkeit,  und 
Marx  unterläßt  nicht,  diese  Konsequenz  mit  allem  Nachdruck  hervor- 
zuheben, daß  die  Masse  des  Mehrwertes,  der  mit  einem  Kapitale  produziert 
werden  kann,  im  geraden  Verhältnisse  nicht  zur  Gesamtgröße  des 
Kapitales,  sondern  nur  zum  variablen  Teile  desselben  stehen  kann^). 
Und  es  folgt  weiter,  daß  gleich  große  Kapitalien  eine  ungleiche  Menge  von 
Mehrwert  produzieren  müssen,  wenn  ihre  Zusammensetzung  aus  kon- 
stanten und  variablen  Bestandteilen  —  Marx  nennt  dies  ihre  „organische 
Zusammensetzung"  —  eine  verschiedene  ist.  Nennen  wir  mit  Marx 
weiter  das  Verhältnis  des  Mehrwertes  zu  dem  für  Löhne  bezahlten  variablen 
Kapitalteil  die  „Rate  des  Mehrwerts",  und  sein  Verhältnis  zu  dem  ge- 
samten vom  Kapitalisten  angewendeten  Kapitale,  auf  welches  derselbe 
in  der  Praxis  den  angeeigneten  Mehrwert  zu  berechnen  pflegt,  die  , Profit- 
rate", so  ergibt  sich,  daß  bei  gleichem  Ausbeutungsgrad  oder  gleicher 
Mehrwertsrate  Kapitalien  von  ungleicher  organischer  Zusammensetzung 
eine  ungleiche  Profitrate  tragen  müssen.  Kapitalien,  in  deren  Zusammen- 
setzung der  variable  Bestandteil  überwiegt,  müssen  eine  höhere  Profit- 
rate tragen,  als  solche,  in  deren  Zusammensetzung  der  konstante  Bestand- 

»)  Siehe  oben  S.  363. 

*)  „Bei  gegebener  Rate  des  Mehrwertes  und  gegebenem  Werte  der  Arbeitskraft 
verhalten  sich  die  Massen  des  produzierten  Mehrwertes  direkt  wie  die  Größen  der  vor- 
geschossenen variablen  Kapitale."  „Die  von  verschiedenen  Kapitalien  produzierten 
Massen  von  Wert  und  Mehrwert  verhalten  sich  bei  gegebenem  Werte  und  gleich  großem 
Exploitationsgrad  der  Arbeitskraft  direkt  wie  die  Größen  der  variablen  Bestandteile 
dieser  Kapitale,  d.  h.  ihrer  in  lebendige  Arbeitskraft  umgesetzten  Bestandteile."  (Marx 

I  auf.) 


394  ^I^'  ^i^  Ausbeutungstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

teil  stärker  vertreten  ist.  Die  Erfahrung  zeigt  aber,  daß  vermöge  des 
Gesetzes  der  Gewinnausgleichung  die  Kapitalien  ohne  Unterschied  ihrer 
Zusammensetzung  auf  die  Dauer  gleich  hohe  Profitraten  tragen.  Es 
ergibt  sich  sonach  ein  offenbarer  Konflikt  zwischen  dem,  was  ist,  und  dem, 
was  nach  der  MABXschen  Lehre  sein  soUte. 

Die  Existenz  dieses  Konfliktes  war  Marx  selbst  nicht  entgangen. 
Er  hatte  ihn  schon  in  seinem  ersten  Bande  in  lakonischer  Weise  angemerkt, 
als  einen  bloß  ,. scheinbaren"  bezeichnet  und  bezüglich  seiner  Lösung  auf 
die  später  folgenden  Teile  seines  Systems  verwiesen^).  Die  lang  dauernde 
Spannung,  wie  wohl  Marx  dem  fatalen  Dilemma  zu  entrinnen  suchen 
würde,  wurde  endlich  durch  das  Erscheinen  des  dritten  Bandes  gelöst. 
Dieser  enthält  eine  ausführliche  Erörterung  des  Problemes  —  aber  freilich 
keine  Lösung  desselben,  sondern,  wie  es  nicht  anders  zu  erwarten  war, 
eine  Besiegelung  des  unversöhnlichen  Widerspruches,  und  eine  bemäntelte, 
uneingestandene,  beschönigte,  aber  im  Wesen  immerhin  eine  Preisgebung 
der  Lehre  des  ersten  Bandes. 

Marx  entwickelt  nämlich  jetzt  folgende  Lehre.  Ej  erkennt  aus- 
drücklich an,  daß  in  der  Wirklichkeit  vermöge  der  Wirksamkeit  der  Kon- 
kurrenz die  Profitraten  der  Kapitalien,  einerlei,  welches  ihre  organische 
Zusammensetzung  sei,  auf  eine  gleiche  Durchschnittsprofitrate  ausge- 
glichen werden  und  ausgeglichen  werden  müssen  2).  Er  erkennt  weiter 
ausdrücklich  an,  daß  eine  gleiche  Profitrate  bei  ungleicher  organischer 
Zusammensetzung  der  Kapitale  nur  dann  möglich  ist,  wenn  die  einzelnen 
Waren  sich  untereinander  nicht  im  Verhältnis  zu  ihrem  nach  Arbeit  be- 
stimmten Wert,  sondern  in  einem  davon  abweichenden  Verhältnis  und 
zwar  so  vertauschen,  daß  die  Waren,  bei  deren  Erzeugung  Kapital  mit 
einem  prozentig  stärkeren  Anteil  an  konstantem  Kapital  (Kapitale  von 
„höherer  Zusammensetzung")  beteiligt  ist,  sich  über  ihrem  Wert,  die 
Waren  dagegen,  bei  deren  Erzeugung  Kapital  mit  einem  prozentig 
schwächeren  Anteil  von  konstantem,  und  stärkeren  Anteil  von  variablem 
Kapital  (Kapitale  von  „niedrigerer  Zusammensetzung")  beteiligt  ist,  sich 
unter  ihrem  Wert  vertauschen»).   Und  Marx  erkennt  endlich  ausdrücklich 


1)  I  S.  312  und  542. 

*)  „Andererseits  unterliegt  es  keinem  Zweifel,  daß  es  in  der  Wirklichkeit,  von 
unwesentlichen,  zufälligen  und  sich  ausgleichenden  Unterschieden  abgesehen,  die  Ver- 
schiedenheit der  durchschnittlichen  Profitraten  für  die  verschiedenen  Industriezweige 
nicht  existiert  und  nicht  existieren  könnte,  ohne  das  ganze  System  der  kapitalistischen 
Produktion  aufzuheben."  (III 132.)  „Infolge  der  verschiedenen  organischen  Zusammen- 
setzung der  in  verschiedenen  Produktionszweigen  angelegten  Kapitale  .  .  .  sind  die 
Profitraten,  die  in  verschiedenen  Produktionszweigen  herrschen,  ursprünglich  sehr 
verschieden.  Diese  verschiedenen  Profitraten  werden  durch  die  Konkurrenz  zu  einer 
allgemeinen  Profitrate  ausgeglichen,  welche  der  Durchschnitt  aller  dieser  verschiedenen 
Profitraten  ist."    (III  136.) 

')  Marx  entwickelt  diese  Lehre  an  einem  tabellarischen  Beispiel,  welches  fünf 


Marx.  395 

an,  daß  die  Preisbildung  im  praktischen  Leben  wirklich  in  dieser  Weise 
verläuft.  Marx  nennt  denjenigen  Preis  einer  Ware,  welcher  außer  der 
Vergütung  für  die  bezahlten  Löhne  und  die  vemutzten  Produktionsmittel 
(deren  „Kostpreis")  auch  noch  den  Durchschnittsprofit  für  das  in  der 
Produktion  angewandte  Kapital  enthält,  ihren  „Produktionspreis"  (III 
136).  Derselbe  „ist  tatsächlich  dasselbe,  was  A.  Smith  natural  price  nennt, 
Ricardo  price  of  production,  die  Physiokraten  prix  n^cessaire  nennen, 
weil  er  auf  die  Dauer  Bedingung  der  Zufuhr,  der  Reproduktion  der  Ware 
jeder  besonderen  Produktionssphäre  ist"  (III  178).  Im  wirklichen  Leben 
vertauschen  sich  also  die  Waren  nicht  mehr  nach  ihren  Werten,  sondern 
nach  ihren  Produktionspreisen,  oder,  wie  Marx  dies  euphemistisch  aus- 
zudrücken liebt  (z.  B.  III  176):  „die  Werte  verwandeln  sich  in  Pro- 
duktionspreise". 

Daß  diese  Einräumungen  und  Feststellungen  des  dritten  Bandes  in 
eklatantem  Widerspruch  zu  den  Grundlehren  des  ersten  Bandes  stehen, 
ist  unmöglich  zu  verkennen.  Im  ersten  Bande  ist  den  Lesern  eine  logische, 
aus  dem  Wesen  des  Tausches  entwickelte  Notwendigkeit  vorgestellt  worden, 
daß  zwei  im  Tausch  einander  gleichgesetzte  Waren  ein  Gemeinsames  von 
gleicher  Größe  enthalten  müssen,  und  daß  dieses  Gemeinsame  von  gleicher 
Größe  die  Arbeit  sei.  Im  dritten  Bande  erfahren  wir,  daß  die  im  Tausch 
einander  gleichgesetzten  Waren  tatsächlich  und  regelmäßig  ungleiche 
Mengen  von  Arbeit  enthalten,  und  notwendiger  Weise  enthalten  müssen. 
Im  ersten  Bande  (I  142)  war  gesagt  worden:  „Waren  können  zwar  zu 
Preisen  verkauft  werden,  die  von  ihren  Werten  abweichen,  aber  diese 
Abweichung  erscheint  als  Verletzung  des  Gesetzes  des  Warenaustausches." 
Und  jetzt  wii'd  als  Gesetz  des  Warenaustausches  hingestellt,  daß  sich  die 
Waren  zu  ihren  Produktionspreisen  verkaufen,  welche  grundsätzlich  von 
ihren  Werten  abweichen !  Ich  glaube,  bündiger  und  schärfer  ist  wohl  noch 
niemals  der  Anfang  eines  Systems  von  seinem  Ende  Lügen  gestraft  worden! 

Marx  selbst  freiüch  will  von  einem  Widerspruche  nichts  wissen. 
Er  erhebt  auch  in  seinem  dritten  Bande  noch  den  Anspruch,  daß  das 
Wertgesetz  des  ersten  Bandes  die  tatsächlichen  Verhältnisse  des  Güter- 
austausches beherrsche,  und  er  läßt  es  sich  manche  Mühe  und  manche 


Warengattungen  und  Produktionszweige  mit  Kapital  verschiedener  organischer  Zu- 
sammensetzung umfaßt,  und  kommentiert  die  ]&gebnisse  der  betreffenden  Tabelle 
mit  folgenden  Worten:  ,, Zusammengenommen  werden  die  Waren  verkauft  2  +  7  +  17 
=  26  über  und  8  +  18  =  26  unter  dem  Wert,  so  daß  die  Preisabweichungen  durch 
gleichmäßige  Verteilung  des  Mehrwerts  oder  durch  Zuschlag  des  durchschnittlichen 
Profits  von  22  auf  100  vorgeschossenes  Kapital  zu  den  respektiven  Kostpreisen  der 
Waren  I — V  sich  gegenseitig  aufheben;  in  demselben  Verhältnis,  worin  ein  Teil  der 
Waren  über,  wird  ein  anderer  unter  seinem  Wert  verkauft.  Und  nur  ihr  Verkauf  zu 
solchen  Preisen  ermöglicht,  daß  die  Profitrate  für  I — V  gleichmäßig  ist,  22%,  ohne 
Rücksicht  auf  die  verschiedene  organische  Komposition  der  Kapitale  I — V,"  Der- 
selbe Gedanke  wird  dann  auf  den  folgenden  Seiten  136 — 144  umständlich  erörtert. 


396  XII.  Die  Ausbeutungstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

dialektische  Ausflucht  kosten,  um  doch  noch  irgend  eine  Fortdauer  einer 
solchen  Herrschaft  zu  demonstrieren.  Ich  habe  an  einem  anderen  Orte 
alle  diese  Ausflüchte  eingehend  besprochen  und  ihre  Nichtigkeit  dargetan*). 
Hier  wiU  ich  einer  einzigen  von  ihnen  ausdrücklich  gedenken,  teils  weil 
sie  auf  den  ersten  Blick  wirklich  etwas  Bestechendes  haben  könnte,  teils 
weil  sie  nicht  bloß  bei  Marx,  sondern,  und  zwar  noch  vor  dem  Erscheinen 
des  dritten  Bandes,  auch  bei  einem  der  fähigsten  sozialistischen  Theoretiker 
der  jetzigen  Generation  Vertretung  gefunden  hat.  Im  Jahre  1889  hat 
nämlich  Konrad  Schmidt  einen  Versuch  gemacht,  den  damals  noch 
ausständigen  Teil  des  MARxsehen  Systems  selbständig,  jedoch  im  mut- 
maßhchen  Sinn  von  Marx,  auszubauen 2).  Er  gelangte  dabei  zu  einer 
Konstruktion,  welche  ebenfalls  darauf  hinauslief,  daß  die  einzelnen  Waren 
sich  nicht,  wie  der  Wortlaut  des  MARxschen  Wertgesetzes  es  fordert,  im 
Verhältnis  zu  der  in  ihnen  verkörperten  Arbeitsmenge  austauschen  können, 
sah  sich  dadurch  natürlich  vor  die  Frage  gestellt,  ob  und  inwieweit  man 
nach  einem  solchen  Zugeständnisse  überhaupt  noch  die  Giltigkeit  des 
MARxschen  Wertgesetzes  behaupten  könne,  und  suchte  die  Giltigkeit  des 
letzteren  schon  damals  mittels  desselben  dialektischen  Argumentes  zu 
retten,  das  sich  jetzt  zu  demselben  Zwecke  auch  bei  Marx  selbst  in  seinem 
dritten  Bande  wiederfindet. 

Dieses  Argument  geht  dahin,  daß  zwar  die  einzelnen  Waren  sich  teils 
über,  teils  unter  ihren  Werten  vertauschen,  daß  aber  diese  Abweichungen 
sich  gegenseitig  kompensieren  oder  aufheben,  so  daß  für  aUe  vertauschten 
Waren  zusammengenommen  doch  wieder  die  Summe  der  bezahlten  Preise 
der  Summe  ihrer  Werte  gleich  ist.  Für  die  Totalität  aller  Produktions- 
zweige zusammengenommen  setze  sich  somit  das  Wertgesetz  „als  die 
beherrschende  Tendenz"  allerdings  durch  3). 


*)  „Zum  Ahschluß  usw."  S.25 — 62,  Hilfebdings  seither  erschienene  apologetische 
Gegenkritik  in  Bd.  I  der  Marx-Studien  (1904)  hat  mir  in  keiner  Richtung  einen  Anlaß 
zur  Änderung  meiner  Ansichten  geboten.  Insbesondere  sind,  wie  ich  mit  Rücksicht  auf 
eine  Äußerung  Heimanns  (Methodologisches  zu  den  Problemen  des  Wertes,  Separat- 
abdruck aus  dem  Archiv  für  Sozialwissenschaft  Bd.  37  S.  19)  nicht  unterlassen  möchte 
ausdrücklich  zu  bemerken,  auch  meine  a.  a.  0.  S.  53  vorgeführten  Tabellen  vollkommen 
korrekt  und  sachgemäß,  dagegen  Hilferdings  „Korrektur"  derselben  ebenso  will- 
kürlich als  vom  Thema  ablenkend. 

*)  Die  Durchschnittsprofitrate  auf  Grund  des  Marxschen  Wertgesetzes,  Stutt- 
gart 1889. 

ä)  „In  demselben  Verhältnis,  worin  ein  Teil  der  Waren  über,  wird  ein  anderer 
unter  seinem  Wert  vertauscht"  (III  135).  „Der  Gesamtpreis  der  Waren  I — V-  (in 
dem  von  Marx  benützten  tabellarischen  Beispiel)  „wäre  also  gleich  ihrem  Gesamtwert . . . 
Und  in  dieser  Weise  ist  in  der  Gesellschaft  selbst  —  die  Totalität  aller  Produktionszweige 
betrachtet  —  die  Summe  der  Produktionspreise  der  produzierten  Waren  gleich  der 
Summe  ihrer  Werte"  (III 138).  Die  Divergenzen  der  Produktionspreise  von  den  Werten 
lösen  „sich  immer  dahin  auf,  daß,  was  in  der  einen  Ware  zu  viel,  in  der  anderen  zu  wenig 
iät  Mehrwert  eingeht,  und  daß  daher  auch  die  Abweichungen  vom  Wert,  die  in  den 


Marx.  397 

Das  dialektische  Gewebe  dieses  Scheinargumentes  läßt  sich  jedoch, 
wie  ich  ebenfalls  schon  bei  anderer  Gelegenheit  dargelegt  habe^),  sehr 
leicht  zerreißen. 

Was  ist  denn  überhaupt  die  Aufgabe  des  Wertgesetzes  ?  Doch  nichts 
anderes  als  das  in  der  Wirklichkeit  beobachtete  Austauschverhältnis  der 
Güter  aufzuklären.  Wir  wollen  wissen,  warum  im  Austausch  z.  B.  ein 
Rock  geradesoviel  wie  20  Ellen  Leinwand,  warum  10  Pfund  Tee  soviel 
wie  eine  halbe  Tonne  Eisen  gelten  usf.  So  hat  auch  Marx  selbst  die 
Erklärungsaufgabe  des  Wertgesetzes  gefaßt.  Von  einem  Austausch- 
verhältnis kann  nun  offenbar  nur  zwischen  verschiedenen  einzelnen 
Waren  untereinander  die  Rede  sein.  Sowie  man  aber  alle  Waren 
zusammengenommen  ins  Auge  faßt  und  ihre  Preise  summiert,  so  sieht 
man  von  dem  im  Innern  dieser  Gesamtheit  bestehenden  Verhältnis  not- 
wendig und  gefhssentlich  ab.  Die  relativen  Preisverschiedenheiten  im 
Innern  kompensieren  sich  ja  in  der  Summe.  Um  was  z.  B.  der  Tee  gegen- 
über dem  Eisen  mehr  gilt,  um  das  gut  das  Eisen  gegenüber  dem  Tee  weniger 
und  vice  versa.  Jedenfalls  ist  es  keine  Antwort  auf  unsere  Frage,  wenn  wir 
nach  dem  Austauschverhältnis  der  Güter  in  der  Volkswirtschaft  uns 
erkundigen,  und  man  uns  mit  der  Preissumme  antwortet,  die  alle  zusammen 
erzielen;  geradeso  wenig,  als  wenn  wir  uns  erkundigen,  um  wie  viele  Minuten 
oder  Sekunden  der  Sieger  in  einem  Wettrennen  zur  Durchmessung  der 
Rennbahn  weniger  benötigt  hat  als  seine  Konkurrenten,  und  man  uns 
antwortet:  aUe  Konkurrenten  zusammengenommen  haben  25  Minuten 
13  Sekunden  benötigt! 

Nun  steht  die  Sache  folgendermaßen.  Auf  die  Frage  des  Wertproblems 
antworten  die  Marxisten  zunächst  mit  ihrem  Wertgesetz,  daß  sich  die 
Waren  im  Verhältnis  zu  der  in  ihnen  verkörperten  Arbeitszeit  vertauschen: 
dann  revozieren  sie  —  verblümt  oder  unverblümt  —  diese  Antwort  für 
das  Gebiet  des  Austausches  einzelner  Waren,  also  gerade  für  dasjenige 
Gebiet,  auf  dem  die  Frage  überhaupt  einen  Sinn  hat;  und  halten  sie  in 
voller  Reinheit  nur  noch  aufrecht  für  das  ganze  Nationalprodukt  zusammen- 
genommen, also  für  ein  Gebiet,  auf  dem  jene  Frage  als  gegenstandslos 
gar  nicht  gestellt  werden  kann.  Als  Antwort  auf  die  eigentliche  Frage 
des  Wertproblems  wird  somit  das  „Wertgesetz"  zugestandenermaßen 
durch  die  Tatsachen  Lügen  gestraft;  und  in  der  einzigen  Anwendung,  in 
der  es  nicht  Lügen  gestraft  wird,  ist  es  keine  Antwort  auf  die  eigentlich 


Produktionspreisen  der  Waren  stecken,  sich  gegeneinander  aufheben"  (III 140).  Ähnlich 
K.  Schmidt  a.  a.  0.  S,  61:  „Die  notwendige  Divergenz  zwischen  dem  tatsächlichen 
Preis  und  dem  Wert  der  einzelnen  Waren  verschwindet  .  .  .  sobald  man  die  Summe 
aller  einzelnen  Waren,  das  jährliche  Nationalprodukt,  betrachtet." 

*)  Zuerst  in  einer  Besprechung  der  obengenannten  ScHMiDTschen  Schrift  in  der 
Tübinger  Zeitschrift  1890,  S.  590ff. 


398  XII.  Die  Äasbeatungstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

Lösung  heischende  Frage  mehr,  sondern  könnte  bestenfalls  eine  Antwort 
auf  irgendeine  andere  Frage  sein. 

Es  ist  aber  nicht  einmal  eine  Antwort  auf  eine  andere  Frage,  sondern 
es  ist  gar  keine  Antwort,  es  ist  eine  einfache  Tautologie.  Denn  wie  jeder 
Nationalökonom  weiß,  vertauschen  sich,  wenn  man  durch  die  verhüllenden 
Formen  des  Geldverkehrs  hindurch  blickt,  die  Waren  schließlich  wieder 
gegen  die  Waren.  Jede  in  Austausch  tretende  Ware  ist  zugleich  Ware, 
aber  auch  der  Preis  ihrer  Gegengabe.  Die  Summe  der  Waren  ist  somit 
identisch  mit  der  Summe  der  dafür  gezahlten  Preise.  Oder,  der  Preis  für 
das  gesamte  Nationalprodukt  zusammengenommen,  ist  nichts  anderes  als 

—  das  Nationalprodukt  selbst.  Unter  diesen  Umständen  ist  es  freilich 
ganz  richtig,  daß  die  Preissumme,  die  für  das  gesamte  Nationalprodukt 
zusammen  gezahlt  wird,  mit  der  in  letzterem  krystallisierten  Wert-  oder 
Arbeitssumme  völlig  zusammentrifft.  Allein  dieser  tautologische  Aus- 
spruch bedeutet  weder  irgend  einen  Zuwachs  an  wirkhcher  Erkenntnis, 
noch  kann  er  insbesondere  als  Richtigkeitsprobe  für  das  angebliche  Gesetz 
dienen,  daß  sich  die  Güter  nach  dem  Verhältnis  der  in  ihnen  verkörperten 
Arbeit  vertauschen.  Denn  auf  diesem  Wege  ließe  sich  ebenso  gut  —  oder 
vielmehr  ebenso  schlecht  —  auch  jedes  beliebige  andere  „Gesetz",  z.  B. 
das  „Gesetz"  verifizieren,  daß  sich  die  Güter  nach  dem  Maßstab  ihres 
spezifischen  Gewichtes  vertauschen!  Denn  wenn  auch  freilich  ein 
Pfund  Gold  als  „einzelne  Ware"  sich  nicht  gegen  ein  Pfund  Eisen,  sondern 
gegen  40000  Pfund  Eisen  vertauscht,  so  ist  doch  die  Preissumme,  die 
für  ein  Pfund  Gold  und  40000  Pfund  Eisen  zusammengenommen 
bezahlt  wird,  nicht  mehr  und  nicht  weniger  als  40000  Pfund  Eisen  und 
1  Pfund  Gold.     Es  entspricht  also  das  Gesamtgewicht  der  Preissumme 

—  40001  Pfund  —  ganz  genau  dem  in  der  Warensumme  verkörperten 
Gesamtgewicht  von  ebenfalls  40001  Pfund;  und  folglich  ist  das  Gewicht 
der  wahre  Maßstab,  nach  dem  sich  das  Austauschverhältnis  der  Güter 
regelt  ? ! 

C  Die  MARxsche  Lehre  im  Munde  seiner  Nachfolger. 

Wenn  ich  mich  nicht  täusche,  ist  mit  dem  dritten  Bande  desMARxschen 
Systems  für  die  Arbeitswerttheorie  der  Anfang  vom  Ende  gekommen. 
Die  MARxsche  Dialektik  hat  in  ihm  einen  so  offenkundigen  Schiffbruch 
gelitten,  daß  das  blinde  Vertrauen  in  sie  auch  in  den  Reihen  der  Anhänger 
wankend  werden  mußte.  Schon  beginnen  sich  die  literarischen  Spuren 
davon  zu  zeigen.  Einstweilen  in  der  Form,  daß  man  die  in  ihrem  Wortlaut 
nicht  mehr  zu  haltende  MARxsche  Lehre  durch  Umdeutungen  zu  retten 
versucht. 

Aus  jüngster  Zeit  liegen  mehrere  Ankündigungen  sdcher  Umdeutungen 


Äfarx'  Nachfolger.    Sombart,  K.  Schmidt,  399 

von  Seiten  ernster  Theoretiker  vor.  Werner  Sombart  hat  rundweg 
zugestanden,  daß  das  MARxsehe  Wertgesetz  nicht  haltbar  ist,  wenn  man 
es  mit  dem  Anspruch  vorträgt,  daß  es  der  empirischen  Wirklichkeit  ent- 
spreche. Er  will  aber  der  MxRxschen  Lehre  die  Deutung  unterlegen, 
daß  ihr  „Wertbegriff"  nur  ein  „Hilfsmittel  unseres  Denkens"  sein  solle. 
Der  MxRxsche  Wert  trete  weder  in  dem  Austauschverhältnis  der  kapi- 
talistisch produzierten  Waren  in  die  Erscheinung,  noch  spiele  er  etwa 
als  Distributionsfaktor  bei  der  Aufteilung  des  gesellschaftüchen  Jahres- 
produktes eine  Rolle,  sondern  er  sei  einfach  ein  Hüfsbegriff  des  Denkens, 
um  die  sonst  wegen  ihrer  qualitativen  Verschiedenheit  nicht  kommensu- 
rablen Gebrauchsgüter  als  quantitative  Größen  auffassen  und  als  solche 
unserem  Denken  kommensurabel  machen  zu  können,  und  in  dieser  gedank- 
lichen Funktion  könne  man  ihn  aufrecht  halten^). 

Ich  glaube  und  habe  dieser  meiner  Meinung  auch  schon  an  einem 
anderen  Orte  Ausdruck  gegeben  2),  daß  dieser  Vorschlag  alle  Eigenschaften 
eines  für  beide  Teile  unannehmbaren  Kompromisses  an  sich  trägt.  Er 
kann  die  Marxisten  nicht  befriedigen,  weil  er  mit  den  ausdrücklichsten 
Aussprüchen  von  Marx  sich  in  Widerstreit  setzt  und  weil  er  materiell 
eine  vollständige  Preisgebung  der  MARxschen  Lehre  enthält,  da  ja  eine 
Theorie,  die  zugestandenermaßen  auf  die  Wirklichkeit  nicht  paßt,  selbst- 
verständlich auch  für  die  Erklärung  und  Beurteilung  der  wirklichen 
Verhältnisse  nichts  bedeuten  kann;  es  sind  denn  auch  schon  entschieden 
ablehnende  Stimmen  aus  dem  Marxistischen  Lager  laut  geworden«). 
Andererseits  kann  sich  mit  ihr  aber  auch  der  unbefangene  Theoretiker 
vom  Standpunkt  der  rein  theoretischen  Ejfordernisse  nicht  zufriedenstellen, 
da  auch  die  Hilfsbegriffe,  mit  denen  der  Theoretiker  operiert,  von  der 
Wirklichkeit  abstrahiert  und  nicht  im  Widerspruch  zu  ihr  sein  sollen. 
Ich  halte  daher  Sombarts  Umdeutungsversuch  für  eine  Auskunft,  welche 
sich  schwerlich  viele  Freunde  und  literarische  Verfechter  erwerben  wird. 

Mehr  Stoff  zu  literarischer  Diskussion  wird  voraussichtlich  ein  zweiter 
Umdeutungsversuch  bieten,  den  unlängst  Konrad  Schmidt  angekündigt 
hat.  In  einer  mit  anerkennenswerter  Sachlichkeit  und  Unparteilichkeit 
geführten  Besprechung  meiner  mehrerwähnten  Schrift  „Zum  Abschluß 
des  MARxschen  Systems"  gelangt  Schmidt  zu  dem  Ergebnisse,  daß  das 
MARXsche  Wertgesetz  durch  die  im  dritten  Bande  aufgewiesenen  Tat- 
sachen in  der  Tat  die  Bedeutung  verliere,  „die  es  nach  der  Darstellung 
von  Band  I  des  Kapital  zu  haben  schien",  und  gegen  die  meine  Kritik  sich 


*)  Zur  Kritik  des  ökonomischen  Systems  von  Karl  Marx,  Archiv  für  soziale 
Gesetzgebung  Bd.  VII  Heft  4,  S.  573ff. 

»)  „Zum  Abschluß  usw."  S.  103ff. 

•)  z.  B,  von  Engels  in  seiner  letzten  in  der  „Neuen  Zeit"  Nr.  1  und  2  des  XIV.  Jahr- 
gangs (1895 — 96)  veröffentlichten  Arbeit  „Elrgänzung  und  Nachtrag  zum  dritten  Buch 
des  Kapital". 


400  ^11-  I>ie  Ausbeutangstheorie.    2,  U.-A.  Kritik. 

gerichtet  habe;  eben  damit  gewinne  es  aber  „einen  neuen  tieferen  Sinn, 
der  nur  noch  klarer  in  seinem  Gegensatze  zu  der  ursprünglichen  Fassung 
des  Wertgesetzes  herausgearbeitet  werden  müßte".  Durch  ein  „Umdenken" 
der  Werttheorie  in  einer  „von  Marx  selbst  freiüch  nicht  klar  ausge- 
sprochenen Weise"  werde  es  möglich  sein,  „wenigstens  im  Prinzip"  über 
die  von  mir  hervorgehobenen  Widersprüche  hinweg  zu  kommen.  Und 
Schmidt  deutet  auch  schon  die  Grundlinien  für  ein  solches  Umdenken  an. 

Er  meint,  Preis  und  Arbeitszeit  seien  beide  meßbare  Größen.  An 
sich  sei  eine  doppelte  Beziehung  zwischen  ihnen  denkbar.  „Entweder 
richtet  sich  die  Preisgröße  direkt  nach  der  in  der  Ware  enthaltenen  Arbeits- 
zeit, oder  es  findet  aus  gewissen,  wenigstens  im  Allgemeinen  formulier- 
baren Regeln  eine  Abweichung  von  der  Norm  dieses  direkten  Verhältnisses 
statt."  Da  letzteres  ebenso  gut  denkbar  sei  als  ersteres,  so  dürfe  man  das 
auf  der  ersteren  Annahme  beruhende  Wertgesetz  zunächst  nur  als  Hypo- 
these ansehen,  „deren  Bestätigung  oder  weitere  Modifikation  Aufgabe  der 
weiteren  konkreten  Untersuchung  ist."  Die  beiden  ersten  Bände  von 
Marx  führen  „die  ursprüngHche  einfache  Hypothese  in  alle  ihre  Konse- 
quenzen fort",  und  gelangen  so  „zu  einem  detaillierten  Bude  der  kapita- 
listisch ausbeutenden  Volkswirtschaft,  wie  sich  dieselbe  bei  einem  direkten 
Zusammenfallen  von  Preis  und  Arbeitszeit  darstellen  würde".  Dieses 
Bild  widerspricht  aber,  wenn  es  auch  die  kapitalistische  Wirküchkeit  „in 
den  Grundzügen  widerspiegelt",  derselben  doch  auch  in  gewisser  Beziehung, 
und  darum  muß  —  was  im  dritten  Bande  geschieht  —  eine  Modifikation 
jener  Hypothese  vorgenommen  werden,  „durch  welche  der  partielle  Wider- 
spruch zwischen  ihr  und  der  Wirklichkeit  gehoben  wird".  „Die  einfache 
Regel  des  Zusammenfallens  beider  Faktoren,  die  zu  einer  vorläufigen 
Orientierung  unumgänglich  nötig  war,  ist  nun  dahin  abzuändern,  daß  die 
wirklichen  Preise  von  jener  vorausgesetzten  Norm  nach  einer  gewissen 
allgemein  formulierbaren  Regel  abweichen."  Auf  diesem  Umweg,  und 
auf  diesem  Umweg  allein,  könne  die  wirkliche  Beziehung  zwischen  den 
Preisen  und  der  Arbeitszeit,  damit  aber  auch  der  wirkliche  Modus  der 
Ausbeutung,  durch  den  die  kapitalistische  Produktionsweise  charakte- 
risiert sei,  erkannt  und  im  Detail  begriffen  werden^). 

Ich  kann  diesem  Umdeutungsversuch  kein  günstigeres  Prognostiken 
stellen  als  dem  MARxschen  Originale.  K.  Schmidt  mag  ja,  ein  scharf- 
sinniger Dialektiker  wie  er  ist,  wenn  er  einmal  an  den  detaillierten  Ausbau 
der  skizzierten  Lehre  schreiten  wird,  dieselbe  mit  mancher  geschickter 
Wendung  und  manchem  kaptivierenden  Argument  annehmbar  zu  präsen- 
tieren suchen;  aber  mit  aller  Kunst  der  Darstellung  und  Argumentierung 
wird  er  nicht  um  zwei  sachliche  Klippen  herumkommen  können,  von 
denen  es  schon  nach  der  vorliegenden  Skizze  seines  Programmes  sicher 


^)  1.  Beilage  zur  Nummer  des  „Vorwärts"  vom  10.  April  1897. 


Marx'  Nachfolger.    K.  Schmidt.  ^qj 

ist,  daß  er  sie  in  seinem  Wege  finden  muß.  Es  ist  eine  methodische  Be- 
gehungs-  und  eine  eben  solche  Unterlassungssünde,  die  in  seinem  Pro- 
gramme schon  jetzt  aufscheinen:  eine  widerspruchsvolle  petüio  principii, 
und  die  buchstäbliche  Haltlosigkeit  des  Ausgangspunktes. 

Eine  widerspruchsvolle  petitio  principri.  Stellen  wir  uns  einmal  auf 
den  Standpunkt,  den  Schmidt  uns  einzunehmen  einlädt.  Sehen  wir  das 
„Wertgesetz",  nach  welchem  das  Austauschverhältnis  der  Waren  durch 
die  in  ihnen  verkörperte  Arbeit  allein  bestimmt  wird,  vorläufig  als  bloße 
Hypothese  an,  deren  Berechtigung  noch  nicht  feststeht,  sondern  durch 
genauere  Untersuchung  der  Tatsachen  erst  auf  die  Probe  gestellt  werden 
solL    Wie  fällt  nun  diese  Probe  aus? 

Daß  die  Hypothese  durch  sie  nicht  vollinhaltlich  bekräftigt  wird, 
wird  offen  zugestanden;  es  muß  im  Gegeuteile  zugegeben  werden,  daß 
tatsächlich  das  Quantum  der  verkörperten  Arbeit  nicht  den  ausschließ- 
lichen Bestimmungsgrund  für  die  Preise  abgibt,  welche  der  Eigentümer 
von  Waren  für  diese  erhält.  Erwägt  man  nun,  daß  die  behauptete  Aus- 
schließhchkeit  des  Einflusses  der  Arbeit  —  deren  mitbestimmenden 
Einfluß  ja  auch  jede  andere  Werttheorie  zugibt  —  gerade  den  eigentlich 
unterscheidenden  und  charakteristischen  Zug  des  MARxschen  Wertgesetzes 
bildet,  so  sieht  man  schon  hieraus,  daß  die  „nicht  voUinhaltüche  Be- 
stätigung" in  diesem  Falle  eigentlich  die  Nichtbestätigung  der  Hypo- 
these in  ihrem  einzig  wesentlichen  Punkte  bedeutet. 

Ich  frage  nun  weiter:  mit  welchem  Recht  kann  unter  diesen  Um- 
ständen Schmidt  postulieren,  daß  die  in  ihrem  Hauptpunkt  nicht  be- 
stätigte Hypothese  gleichwohl  „die  kapitalistische  Wirklichkeit  in  deren 
Grundzügen  widerspiegelt",  insbesondere  auch  darin,  daß  der  Zinsbezug 
der  Kapitalisten  grundsätzüch  auf  einer  „wirklichen  Ausbeutung"  der 
Arbeiter  beruhe?  Würde  Schmidt  irgend  welche  andere  Erwägungen 
vorführen,  welche  den  Ausbeutungscharakter  des  Zinses  motivieren  könnten, 
so  müßten  wir  natürlich  diese  andern  Erwägungen  selbständig  prüfen. 
Aber  solche  andere  selbständige  Gründe  macht  Schmidt  in  seinem  Pro- 
gramme nicht  geltend,  und  er  kann  auch,  wie  wir  einen  Augenblick  später 
sehen  werden,  solche  nicht  anführen.  Seine  einzige  Begründung  für  den 
Ausbeutungscharakter  des  Zinses  liegt  in  der  Hypothese  des  Wertgesetzes, 
Nun  wird  in  dieser  Hypothese  der  Ausbeutungscharakter  des  Zinses 
daraus  und  nur  daraus  gefolgert,  daß  in  der  verkörperten  Arbeit  die  aus- 
schließliche Ursache  des  Tauschwertes  und  seiner  Größe  zu  suchen  ist: 
nur  wenn  und  weil  kein  Atom  des  Tauschwertes  einer  anderen  Ursache 
als  der  Arbeit  entspringen  kann,  steht  es  auch  fest,  daß  ein  Wertanteil, 
den  ein  Nicht-Arbeiter  vom  Produktwert  empfängt,  nur  auf  Kosten  der 
Arbeiter,  also  als  Ausbeutungsgewinn  bezogen  worden  sein  kann.  In  dem 
Augenblick  jedoch  als  zugegeben  werden  muß,  daß  der  Tauschwert  der 
Waren  von  der  verkörperten  Arbeitsmenge  abweicht,  ist  es  auch  klar, 

Böhm-Bawerk,  Kapitalzins.    4.  Aufl.  ^ 


402  XII.  Die  Ansbeutungstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

daß  sich  in  die  Tauschwertbüdung  außer  der  Arbeit  noch  ein  anderer 
ursächlicher  Faktor  einmischt:  und  in  demselben  Augenblick  steht  jeden- 
falls schon  nicht  mehr  fest,  daß  der  Wertanteil  des  Kapitalisten  einer 
Ausbeutung  der  Arbeiter  entspringt,  da  er  ja  denkbarer  und  sogar  recht 
wahrscheinlicher  Weise  auch  jener  anderen  mit  der  Arbeit  konkurrierenden 
Ursache  der  Tauschwertbildung  entspringen  könnte,  über  deren  Beschaffen- 
heit zunächst  noch  gar  nichts  feststeht.  Die  Berechtigung,  auf  Grund  der 
Hypothese  vom  „Wertgesetze"  den  Kapitalzins  als  Ausbeutungsgewinn 
anzusehen,  steht  und  fällt  also  mit  der  vollinhaltlichen  Beglaubigung 
der  Hypothese.  Schon  ihre  teilweise  Entkräftung  entzieht  jener  An- 
schauung ganz  den  Boden,  weil  diese  ja  gerade  in  dem  unbestätigten  Teil 
der  Hypothese,  in  der  Annahme,  daß  die  Arbeit  der  ausschließliche 
Bestimmungsgrund  des  Tauschwertes  sei,  gewurzelt  hat.  Indem  Schmidt 
die  hienach  in  der  Luft  hängende  Annahme,  daß  die  Ausbeutungshypothese 
„die  kapitalistische  Wirklichkeit  in  ihren  Grundzügen  widerspiegle,"  als 
einen  vermeinthch  feststehenden,  aus  dem  beglaubigten  Teile  des  Wert- 
gesetzes fließenden  Satz  hinstellt,  begeht  er  eine  offenbare  petitio  principii. 

Und  zwar  eine  durch  einen  Widerspruch  verschärfte  petitio  principii. 
Die  bloße  beweislose  Präsumtion  des  Ausbeutungscharakters  des  Zinses 
würde  ihm  nämlich  noch  immer  nicht  zum  Ziele  helfen.  Er  ist  vielmehr 
gezwungen,  den  ominösen  Satz,  daß  die  Größe  des  Tauschwertes  aus- 
schließlich durch  die  verkörperte  Arbeitsmenge  bestimmt  werde,  im  Zuge 
des  logischen  Räsonnements,  das  ihn  zur  Erklärung  der  tatsächlichen 
Zinserscheinungen  leiten  soll,  abwechselnd  bald  als  tatsächhch  giltig,  bald 
als  tatsächlich  ungiltig  zu  behandeln.  Er  muß  nämlich  nicht  bloß  den 
Ursprung,  sondern  auch  die  Höhe  des  Zinses  erklären.  Hiebei  stellt  er 
sich  mit  dem  Marx  des  dritten  Bandes  auf  den  Standpunkt,  daß  die 
Höhe  des  Zinses  sich  in  der  Weise  feststellt,  daß  die  Gesamtmasse  des 
von  den  Kapitalisten  erbeuteten  Mehrwerts  nach  dem  Gesetze  der  Gewinn- 
ausgleichung auf  alle  angewendeten  Kapitalien  im  Verhältnis  zu  ihrer 
Größe  und  der  Investitionszeit  sich  gleichmäßig  verteile;  und  um  diesen 
Teil  der  Erklärung  durchführen  zu  können,  wird  ausdrücklich  zugestanden, 
daß  die  vorläufige  Hypothese  des  Wertgesetzes,  daß  die  Waren  sich  genau 
im  Verhältnis  der  verkörperten  Arbeit  austauschen,  der  Wirklichkeit  eben 
nicht  entspricht,  daß  sie  keine  giltige  Wahrheit  ist. 

Aber  das  genügt  zur  Erklärung  der  Zinshöhe  noch  nicht.  Es  muß 
vielmehr  eine  Annahme  und  Erklärung  auch  noch  darüber  gegeben  werden, 
wie  groß  der  zu  jener  gleichmäßigen  Verteilung  gelangende  Dividend, 
oder  die  Gesamtmasse  des  von  den  Kapitalisten  erbeuteten  Mehrwertes 
ist.  Für  diesen  Teil  der  Erklärung  setzt  nun  Schmidt  im  Verein  mit  dem 
Marx  aller  drei  Bände  wieder  voraus,  daß  die  Kapitalisten  doch  in  der 
Lage  sind,  für  die  Waren,  die  sie  durch  ihre  Arbeiter  erzeugen  lassen,  einen 
Tauschwert  zu  realisieren,  der  der  Hypothese  des  Wertgesetzes  völlig- 


Marx'  Nachfolger.    K.  Schmidt.  403 

entspricht,  der  nämlich  in  seiner  Größe  genau  der  Zahl  der  Arbeits- 
stunden korrespondiert,  die  in  den  Waren  verkörpert  sind.  Er  be- 
handelt also  in  zwei  Stadien  eines  und  desselben  erklärenden  Ge- 
dankenganges das  Wertgesetz  abwechselnd  als  tatsächlich  gütig  und 
tatsächlich  nicht  giltig.  Darüber  könnte  sich  noch  reden  lassen,  wenn 
den  zwei  Stadien  des  erklärenden  Gedankenganges  auch  zwei  geson- 
derte Stadien  im.  wirklichen  Geschehen  entsprechen,  wenn  die  Bil- 
dung des  Mehrwertes  in  einem,  für  sich  abgeschlossenen  und 
vorausgehenden,  und  die  Verteilung  des  gebildeten  Mehrwertes  in  einem 
zweiten,  davon  unabhängigen  und  nachfolgenden  Prozesse  erfolgen  würde 
—  etwa  so  wie  bei  dem  Gewinn  einer  Aktiengesellschaft,  dessen  Bildung 
und  Gesamthöhe  durch  die  Geschäftsergebnisse  des  betreffenden  Jahres, 
dessen  Verteilung  aber  erst  hinterher  durch  einen  von  den  Erwerbungs- 
akten ganz  unabhängigen  Akt,  nämlich  durch  den  Verteilungsbeschluß 
der  Generalversammlung  bestimmt  wird.  Aber  so  steht  die  Sache  nicht 
bei  dem  „Mehrwert"  der  Kapitalisten.  Seine  Bildung  und  seine  Verteilung 
fällt  gerade  nach  der  MARX-ScHMiDTschen  Lehre  nicht  in  zwei  verschiedene 
Akte  auseinander,  sondern  vollzieht  sich  mittels  einer  und  derselben  Tat- 
sache, nätalich  mittels  der  Tausch wertbüdung  der  Waren:  der  Mehrwert 
bildet  sich  in  der  von  Marx  behaupteten  Art  und  Höhe,  weil  der  von  den 
UntemehmerkapitaJisten  realisierte  Tauschwert  der  Waren  sich  vöUig  und 
einzig  nach  der  in  ihnen  verkörperten  Zahl  der  Arbeitsstunden  richtet, 
und  er  verteilt  sich  in  der  von  Marx  behaupteten  IVeise,  weil  derselbe 
von  den  Unternehmerkapitalisten  realisierte  Tauschwert  der  Waren  sich 
nicht  vöUig  und  einzig  nach  der  in  ihnen  verkörperten  Zahl  der  Arbeits- 
stunden richtet!  Es  muß  also  buchstäblich  in  Ansehung  einer  und  der- 
selben Tatsache,  nämlich  der  Tauschwertbildung  der  Waren,  zugleich 
behauptet  werden,  daß  das  Wertgesetz  volle  empirische  Wirklichkeit,  und 
daß  es  nicht  zutreffende  Hypothese  ist! 

Im  MARXschen  Lager  stützt  man  sich  gern  auf  die  Analogie  mit  natur- 
wissenschaftlichen Gesetzen  und  Hypothesen,  deren  empirische  Wirk- 
samkeit auch  gewisse  Modifikationen  durch  hindernde  Widerstände  erfahre, 
ohne  daß  das  Gesetz  selbst  deshalb  an  seiner  Kichtigkeit  eine  Einbuße 
erhtte.  Würde  z.  B.  das  Gravitationsgesetz  in  seiner  vollen  Reinheit  zur 
Wirksamkeit  kommen,  so  müßte  der  Fall  der  Körper  nicht  unbeträchtlich 
anders  verlaufen,  als  er  unter  dem  störenden  Einfluß  des  Luftwiderstandes 
u.  dgl.  tatsächlich  verläuft.  Dennoch  sei  das  Gravitationsgesetz  ein  un- 
zweifelhaft echtes,  wahres,  wissenschaftliches  Gesetz.  Ebenso  sei  es  mit 
dem  „Wertgesetze";  das  Gesetz  sei  richtig,  nur  werde  seine  Wirksamkeit 
in  der  Praxis  durch  die  Existenz  des  Privatkapitalistentums,  welches  eine 
gleiche  Profitrate  für  sich  verlange,  verzerrt;  sowie  der  Luftwiderstand 
die  fallenden  Körper  von  den  genauen,  ihnen  nach  dem  Gravitations- 
gesetze zukommenden  Maßen  der  Geschwindigkeit,  ebenso  dränge  der 

26* 


404  ^11«  I^io  Ausbeutangstheorie.    2.  U.-Ä.  Kritik. 

Einfluß  des  Privatkapitalistentums  mit  seinem  Anspruch  auf  gleiche 
Profitraten  den  Tauschwert  der  Waren  von  seiner  genauen  Kongruenz 
mit  den  verkörperten  Arbeitsmengen  ab. 

Der  Vergleich  hinkt.  Die  MARxsche  Schluß  weise  weist  einen  Auswuchs 
auf,  für  den  sich  in  der  reinlichen  Schlußweise  der  Physiker  kein  Vorbild 
findet  und  finden  kann.  Der  Physiker  ist  sich  klar  darüber,  daß  die  Gra- 
vitation zwar  im  widerstandslosen,  luftleeren  Raum  die  einzige  Ursache 
der  Fallgeschwindigkeit  der  Körper  bildet;  er  ist  sich  aber  ebenso  klar 
darüber,  daß  die  Fallgeschwindigkeit  im  lufterfüllten  Raum  von  Haus 
aus  die  Resultante  der  Wirkung  mehrerer  Ursachen  ist,  und  er  hütet  sich 
daher,  für  den  lufterfüllten  Raum  irgend  etwas  auszusagen,  was  noch  die 
alleinige  Wirksamkeit  der  Gravitation  zur  Voraussetzung  hätte.  Anders 
die  Marxisten-  Auch  nachdem  sie  die  Existenz  des  Privatkapitalistentums 
—  das  Analogen  des  Luftwiderstandes  —  schon  in  die  Hypothese  ein- 
geführt haben,  erklären  sie,  wie  wir  gesehen  haben,  die  Entstehung  der 
Gesamtgröße  des  Mehrwertes  immer  noch  aus  der  Annahme,  daß  der 
Tauschwert  der  Waren  durch  die  verkörperten  Arbeitsmengen  allein 
beeinflußt  werde,  und  erst  bei  der  Erklärung  der  Verteilung  des  Gesamt- 
wertes auf  die  einzelnen  Teile  des  Kapitals  fangen  sie  an,  sich  an  die 
Existenz  der  konkurrierenden  Ursache  zu  erinnern.  Das  ist  gerade  so,  als 
ob  die  Physiker  behaupten  würden,  auch  im  lufterfüllten  Räume  bleibe 
die  Gesamtgeschwindigkeit  eines  fallenden  Körpers  gerade  so  groß,  als 
sie  im  luftleeren  Räume  wäre,  nur  verteile  sie  sich  jetzt  auf  die  einzelnen 
durchmessenen  Schichten  in  einem  anderen  Verhältnisse  als  im  luftleeren 
Räume ! 

Die  Physiker  haben  aber  ferner  einen  guten  Grund  zu  ihrer  Annahme, 
daß  wenigstens  im  luftleeren  Räume  der  Fall  der  Körper  sich  wirklich 
genau  nach  dem  Gravitationsgesetze  vollziehen  würde.  Die  Marxisten 
haben  dagegen  für  die  analoge  Annahme,  daß  in  einem  Zustand  ohne 
Privatkapitalistentum  der  Tauschwert  der  Waren  genau  dem  prätendierten 
Arbeitswertgesetz  folgen  würde,  weder  einen  guten,  noch  einen  schlechten, 
sondern  einfach  gar  keinen  Grund.  Damit  gelange  ich  zu  der  zweiten, 
oben  signalisierten  Kardinalsünde  des  ScHMroTschen  Progranimes,  zu  der 
buchstäblichen  Haltlosigkeit  des  Ausgangspunktes. 

Ich  glaube,  die  Marxisten  machen  es  sich  mit  der  Aufstellung  der 
„Hypothese"  vom  Arbeitswert  etwas  zu  leicht.  Gewiß  enthält  diese 
Hypothese  nichts,  was  von  Haus  aus,  a  priori  undenkbar  oder  unmöglich 
wäre.  Aber  das  genügt  noch  nicht,  um  eine  Hypothese  zur  Grundlage 
einer  ernst  zu  nehmenden  Theorie  machen  zu  können.  A  priori  undenkbar 
wäre  es  ja  doch  auch  nicht,  daß  der  Tauschwert  auf  dem  spezifischen 
Gewicht, der  Körper  beruhen  würdel  — Auch  das  ist  kein  haltbarer  Gesichts- 
punkt, daß  man  den  Anspruch  erheben  dürfe,  daß  eine  Hypothese  so  lange 
für  die  zutreffende  angesehen  werde,  bis  nicht  ihre  buchstäbüche,  greifbare 


Marx?  Nachfolger.    K.  Schmidt.  405 

Widerlegung  gelungen  sei.  Ich  könnte  z.  B.  die  Hypothese  aufstellen, 
daß  der  ganze  Weltraum  mit  zahllosen  unsichtbaren,  großen  und  kleinen 
Kobolden  erfüllt  sei,  die  an  den  Körpern  ziehen  und  auf  sie  drücken,  und 
durch  diesen  ihren  Zug  und  Druck  jene  Erscheinungen  bewirken,  welche 
die  Physiker  —  vermöge  einer  anderen  Hypothese  —  der  Gravitation  der 
Materie  zuschreiben.  Jeder  Erkenntnistheoretiker  wird  mir  zugeben,  daß 
eine  strikte  Widerlegung  jener  phantastischen  Hypothese,  so  phantastisch 
sie  auch  sein  mag,  mit  unseren  Erkenntnismitteln  nicht  möglich  ist.  Man 
wird  nie  beweisen  können,  daß  es  die  ziehenden  und  drückenden  Kobolde 
nicht  gibt,  sondern  man  wird  bestenfalls  nur  dartun  können,  daß  ihre 
Existenz  äußerst  unwahrscheinlich  ist.  Aber  trotzdem  würde  man  mich 
mit  vollem  Kecht  auslachen,  wenn  ich  prätendieren  würde,  daß  man 
dieser  Hypothese  so  lange  den  Vorzug  vor  jeder  anderen  geben  möge,  als 
nicht  ihre  strikte  Widerlegung  gelungen  sei.  Es  ist  vielmehr  evident  — 
und  so  hält  man  es  auch  seit  jeher  in  aller  wissenschafthchen  Forschung  — 
daß  nur  eine  solche  Hypothese  einen  Anspruch  auf  ernste  wissenschaft- 
liche Beachtung  machen  kann,  welcher  irgend  welche  positive  Gründe  zur 
Seite  stehen,  die  sie  zu  einer  guten,  beziehungsweise  zur  relativ  besten 
Hypothese  machen. 

Der  Hypothese,  daß  der  Wert  der  Waren  auf  der  verkörperten  Arbeit 
allein  beruhe,  steht  aber  im  gegenwärtigen  Stadium  der  Diskussion  über- 
haupt gar  kein  Grund  zur  Seite.  Ein  unmittelbar  einleuchtendes  Axiom, 
das  gar  keiiier  Begründung  bedürfte,  ist  sie  gewiß  nicht;  das  haben  wir 
schon  oben  gesehen.  Der  einzige  Versuch  einer  inneren  Begründung,  der 
jemals  gemacht  wurde,  der  Versuch  von  Marx,  ist  gescheitert,  und 
augenscheinlich  auch  von  Schmidt  als  gescheitert  aufgegeben;  denn  es  ist 
offenbar  ein  zu  starkes  Stück,  uns  glauben  zu  machen,  daß  es  eine  begriff- 
liche Notwendigkeit  des  Tausches  sei,  daß  in  jedem  Tausche  gleiche  Arbeits- 
mengen vertauscht  werden  müssen,  während  Marx  selbst  uns  im  dritten 
Bande  als  unter  gewissen  Verhältnissen  auftretende  ökonomische  Not- 
wendigkeit demonstriert,  daß  im  Tausch  ungleiche  Arbeitsmengen 
einander  gleichgesetzt  werden  müssen !  Ein  strammes  Zusammenstimmen 
mit  den  Erfahrungstatsachen,  welches  unter  Umständen  eine  innere 
Begründung  ersetzen  könnte,  und  sie  sogar  überall  dort  ersetzen  muß, 
wo  es  sich  um  letzte,  einer  ferneren  Analyse  nicht  mehr  zugängliche  Tat- 
sachen handelt,  liegt  gleichfalls  nicht  vor;  im  Gegenteil  zeigt,  wie  schon 
sattsam  besprochen,  die  Erfahrung  zahlreiche  flagrante  Widersprüche, 
und  auf  der  ganzen  Linie  keine  genaue  Übereinstimmung  mit  der  „Hypo- 
these". Und  ein  Versuch  endlich  —  der  wieder  auf  eine  innere  Begründung 
hinauslaufen  würde  —  durch  eine  Analyse  der  beim  Tausch  wirksamen 
Motive  einen  inneren  Zug  der  Wertbildung  nach  einem  nur  durch  äußere 
Hindernisse  gestörten  Zusammenstimmen  mit  den  Arbeitsmengen  nach- 
zuweisen oder  begreiflich  zu  machen,  ist  als  gänzlich  aussichtslos  von 


406  ^11-  ^'^  Ausbeutungstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

Marxistischer  Seite  nicht  einmal  unternommen  worden.  Alles  vielmehr, 
was  wir  in  der  Erfahrung  sehen  und  über  die  triebkräftigen  Motive  des 
Tausches  wissen,  zwingt  uns  im  Gegenteil  zu  der  Annahme,  daß  ebenso- 
wenig wie  in  der  privatkapitalistischen  Wirklichkeit  auch  in  einer  un- 
kapitalistischen Gesellschaft  der  Wert  mit  der  Arbeitsmenge  harmonieren 
könnte:  die  Leute  lassen  sich  in  jeder  Gesellschaftsform  und  bei  jeder 
Verteilung  der  Glücksgüter  durch  Rücksichten  auf  ihren  Nutzen  und  auf 
ihre  Kosten  leiten,  welche  die  Rücksicht  auf  die  Größe  des  Arbeitsauf- 
wandes zweifellos  als  Teilerwägung  in  sich  enthalten,  aber  ebenso  zweifellos 
in  ihr  sich  nicht  erschöpfen,  und  in  welchen  insbesondere  auch  die  Zeit, 
in  welcher  die  Güter  ihren  Nutzen  bringen,  eine  Rolle  spielt,  für  welche 
die  lebensfeindliche  Arbeitswerthypothese  keinen  Raum  läßt. 

Aus  der  jüngsten  Zeit  liegt  denn  auch  schon  eine  bemerkenswerte 
Publikation  aus  dem  sozialistischen  Lager  vor,  welche  noch  einen  wichtigen 
Schritt  hinter  die  von  Konrad  Schmidt  verteidigte  Linie  zurückweicht 
und  das  Wertgesetz  überhaupt  nicht  mehr  als  beweisende  Stütze  für  die 
sozialistische  Ausbeutungstheorie  in  Anspruch  nimmt.  Wohl  widmet  ihr 
Verfasser,  Ed.  Bernstein^,  dem  Wertgesetze  noch  eine  gewisse,  laue 
Apologie,  deren  Gedankengänge  zwischen  denen  Sombarts  und  Schmidts 
etwa  die  Mitte  halten.  Die  Unrealität  des  Wertgesetzes,  soweit  es  sich 
auf  die  Austauschverhältnisse  der  einzelnen  Waaren  beziehen  soll,  wird 
offen  zugestanden;  der  Arbeitswert  wird  für  eine  „rein  gedankliche  Kon- 
struktion", für  eine  „auf  Abstraktion  aufgebaute  rein  gedankliche  Tat- 
sache" erklärt;  er  sei  ,, absolut  nichts  als  ein  Schlüssel,  ein  Gedankenbüd 
Ysde  das  beseelte  Atom".  Mit  der  „Unterstellung",  daß  sich  die  einzelnen 
Waren  zu  ihrem  Wert  veräußern,  habe  Marx  nur  am  „konstruierten 
Einzelfall"  den  Vorgang  „veranschaulichen"  wollen,  wie  ihn  nach  seiner 
Auffassung  die  Gesamtproduktion  tatsächlich  darstelle:  nämlich  die  Tat- 
sache der  „Mehrarbeit".  Diese  letztere  will  aber  Bernstein  nicht  mehr 
aus  dem  Wertgesetz  beweisen.  Wohl  in  der  deutliehen  Empfindung,  daß 
das  Wertgesetz  selbst  allzu  unhaltbar  ist,  um  noch  irgend  etwas  anderes 
darauf  stützen  zu  können,  erklärt  er:  „Ob  die  MARxsche  Werttheorie 
richtig  ist  oder  nicht,  ist  für  den  Nachweis  der  Mehrarbeit  ganz  und  gar 
gleichgiltig.  Sie  ist  in  dieser  Hinsicht  keine  Beweisthese,  sondern  nur  ein 
Mittel  der  Analyse  und  der  Veranschaulichung"  2). 

Und  bezeichnenderweise  fügt  er  dieser  Einräumung  die  weiteren  Ein- 
räumungen bei,  daß  der  Arbeitswert  auch  als  Schlüssel  „von  einem  gewissen 
Punkt  ab  versagt  und  daher  noch  fast  jedem  Schüler  von  Marx  ver- 
üängnisvoll  geworden  ist";  daß  überhaupt  „die  Wertlehre  so  wenig  eine 
Norm  für   die   Gerechtigkeit   oder   Ungerechtigkeit   der  Verteilung  des 

^)  Die  Voraussetzungen  des  Sozialismus  und  die  Aufgaben  der  Sozialdemokratie, 
Stuttgart  1899. 

«)  a.  a.  0.  S.  38,  41,  42,  44. 


Marx'  Nachfolger.    Bernstein.  407 

Arbeitsprodukts  gibt,  wie  die  Atomlehre  eine  solche  für  die  Schönheit 
oder  Verwerflichkeit  eines  Bildwerkes";  „daß  der  Grenznutzenwert  der 
Gossen- jEvoNs-BöHMschen  Schule",  welcher  ebenso,  wie  der  MARXsche 
Arbeitswert  „wirkliche  Beziehungen"  zur  Grundlage  habe,  aber  auf  Ab- 
straktionen aufgebaut  sei,  auch  gleich  jenem  „für  bestimmte  Zwecke" 
und  „innerhalb  bestimmter  Grenzen  Anspruch  auf  Geltung"  habe,  und 
daß  schon  mit  Rücksicht  darauf,  daß  ja  auch  Marx  die  Bedeutung  des 
Gebrauchswertes  hervorgehoben  habe,  es  unmöglich  sei,  „sich  über  die 
GossEN-BöHMSche  Theorie  mit  einigen  überlegenen  Redensarten  hinweg- 
zusetzen" ^). 

Womit  will  nun  aber  Bernstein  die  aufgegebene  Beweisstütze,  die 
der  ältere  Marxismus  in  dem  Wertgesetze  gesucht  hatte,  ersetzen,  um 
gleichwohl  noch,  so  wie  er  es  tut,  die  Ausbeutungstheorie  aufrecht  erhalten 
zu  können?  —  Er  nimmt  die  Zuflucht  zu  einer  außerordentlich  einfachen, 
aber  freilich  in  ihrer  Beweiskraft  auch  außerordentlich  fragwürdigen  Prä- 
misse. Er  weist  einfach  auf  die  Tatsache  hin,  „daß  an  der  Herstellung  und 
Zustellung  der  Waren  nur  ein  Teil  der  Gesamtheit  tätigen  Anteü  nimmt, 
während  ein  anderer  Teil  aus  Leuten  besteht,  die  entweder  Einkommen 
für  Dienste  genießen,  die  in  keiner  direkten  Beziehung  zur  Produktion 
stehen,  oder  arbeitsloses  Einkommen  haben.  Von  der  gesamten  in  der 
Produktion  enthaltenen  Arbeit  lebt  also  eine  bedeutend  größere  Zahl 
Menschen  als  daran  tätig  mitwirken,  und  die  Statistik  der  Einkommen 
zeigt  uns,  daß  die  nicht  in  der  Produktion  tätigen  Schichten  obendrein 
einen  vier  größeren  Anteil  vom  Gesamtprodukt  sich  aneignen,  als  ihr 
Zahlenverhältnis  zum  produktivtätigen  Teil  ausmacht.  Die  Mehrarbeit 
dieses  letzteren  ist  eine  empirische,  aus  der  Erfahrung  nachweisbare 
Tatsache,  die  keines  deduktiven  Beweises  bedarf"  2). 

Mit  andern  Worten,  da  ja  Bernstein  die  „Mehrarbeit"  doch  im 
prononeiert  marxistischen  Sinne  als  ausgebeutete  fremde  Arbeit  versteht: 
durch  die  einfache  Tatsache,  daß  nicht  das  ganze  Nationalprodukt  als 
Arbeitslohn  an  die  produktiven  Arbeiter  verteilt  wird,  sondern  überhaupt 
noch  andere  Einkommensformen  existieren,  will  Bernstein  unmittelbar 
auch  schon  für  empirisch  erwiesen  halten,  daß  an  den  Arbeitern  Aus- 
beutung geübt  werde,  ohne  daß  dieser  Schluß  erst  irgend  eine  deduktive 
Erleuchtung  bedürfte.  Dieser  Schluß  ist  aber  im  Gegenteile  so  offenbar 
voreilig,  enthält  eine  so  offenbare  petüio  prindpii,  daß  er  kaum  einer 
regelrechten  Widerlegung  bedarf.  Offenbar  könnte  man  mit  genau  der- 
selben Schlußweise,  die  Physiokraten  noch  überbietend,  auch  beweisen, 
daß  die  ganze  übrige  Menschheit  von  einer  Ausbeutung  der  landwirt- 
schaftlichen Klassen  lebt:  denn  schließHch  ist  es  Tatsache,  daß  von  den 
Bodenprodukten,  welche  die  landwirtschaftlichen  Arbeiter  hervorbringen, 
auch  eine  Menge  anderer  Leute  mit  erhalten  wird! 

1)  a.  a.  0.  S.  45,  41,  42.  «)  a.  a.  0.  S.  42. 


408  XII.  Die  Ausbeutungstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

Das  Problem  ist  doch  etwas  weniger  einfach.  Die  Erfahrung  zeigt 
vor  allem,  daß  das  Nationalprodukt  aus  einem  Zusammenwirken  der 
menschlichen  Arbeit  mit  sachlichen  Produktionsmitteln,  die  teils  natür- 
lichen, teils  künstlichen  Ursprungs  sind  (Boden,  Kapital),  hervorgeht,  und 
nach  irgend  einem  Schlüssel  an  die  Parteien  verteilt  wird,  welche  die 
mitwirkenden  Faktoren  beisteuern.  Wer  nun  der  —  sehr  wohl  diskutier- 
baren —  Meinung  ist,  daß  von  allen  tatsächlichen  Partizipanten  nur  ein 
einziger  partizipieren  sollte,  so  daß  die  Teilnahme  eines  anderen  von 
vorneherein  eine  Ausbeutung  an  jenem  ist,  der  müßte  doch  in  das  innere 
Verhältnis  jener  Faktoren  hineinleuchten  und  aus  inneren  Gründen  dar- 
zutun suchen,  daß  und  warum,  trotz  der  äußeren  Mehrheit  zusammen- 
wirkender Faktoren,  einer  von  ihnen  überhaupt,  oder  wenigstens  für  die 
Frage  der  Verteilung,  Alles  bedeutet  und  daher  auch  Alles  für  sich  in 
Anspruch  nehmen  kann,  und  die  anderen  nichts.  So  hat  auch  Marx  das 
Problem  verstanden.  Die  Güter  gelten  im  Wirtschaftsleben  nach  ihrem 
Wert,  und  darum  hat  Marx  ganz  folgerichtig,  um  das  Alleinrecht  der 
Arbeiter  auf  den  ganzen  Produktwert  zu  erweisen,  darzutun  versucht, 
daß  der  Wert  die  Spezialschöpfung  der  Arbeit  allein  sei:  sein  Wertgesetz 
war  ihm  ein  Beweismittel,  durch  das  die  Beteilungsansprüche  der  Grund- 
eigentümer und  Kapitalisten  hinwegdeduziert  werden  sollten. 

Ganz  ohne  Deduktion  wird  wohl  nun  auch  Bernstein  selbst  nicht 
auszukommen  meinen.  Offenbar  liegt  seinem  vermeintlich  rein  empirischen 
Beweise  doch  ein  unausgesprochenes  deduktives  Glied  inmitten:  nämlich 
der  RoDBERTüssche  Satz,  daß  wirtschaftlich  betrachtet  alle  Güter  reine 
Arbeitsprodukte  seien.  Denkt  man  nicht  wenigstens  diesen  Satz  —  nach- 
dem das  MARxsche  Wertgesetz  aus  den  beweismachenden  Prämissen  aus- 
drücklich ausgeschlossen  ist  —  als  Bindeglied  hinzu,  so  wäre  Bernsteins 
Folgerung  nicht  einmal  formell  schlüssig.  Aber  diese  deduktive  Prämisse, 
auf  die  Berntsein  zurückzuweichen  gezwungen  ist,  vermag  die  Aus- 
beutungstheorie nicht  wirksamer  zu  stützen,  als  das  Mar xsche  Wertgesetz 
es  konnte.  Sie  ist,  wie  wir  wissen,  positiv  falsch,  insoferne  sie  die  Be- 
deutung der  seltenen  Naturgaben  für  die  menschliche  Wirtschaft  und 
Produktion  verkennt  und  verleugnet^);  und,  was  für  unsere  Frage  des 
Kapitalzinses  das  wichtigere  ist,  sie  bietet,  selbst  soweit  sie  richtig  ist, 
noch  keine  Stütze  für  diejenige  Auffassung  und  diejenigen  Folgerungen, 
welche  die  Ausbeutungstheorie  auf  sie  stützen  will.  Denn,  erinnern  wir 
uns,  die  Ausbeutungstheorie  begnügt  sich  nicht,  für  die  Arbeiter  aUes  zu 
reklamieren,  was  diese  schaffen,  sondern  sie  reklamiert  dieses  alles  überdies 
in  einem  früheren  Zeitpunkt  als  es  die  Arbeiter  geschaffen  haben,  und 
für  diese  künstliche  Verfrühung  mindestens  gibt  es  keinen  natürlichen 
öder  naturrechtlichen  Titel,  dessen  Nichtbeachtung  grundsätzlich  als 
„Ausbeutung"  gebrandmarkt  werden  dürfte.      Die  Vertreter  der  Aus- 

1)  Siehe  oben  S.  338f. 


Marx'  Nachfolger.    Bernstein.  409 

beutungstheorie  machen  freilieh  sich  und  ihren  Lesern  diesen  unnatür- 
lichen, um  nicht  zu  sagen  widernatürlichen  Einschlag  in  ihre  aus  ver- 
meintlich einleuchtenden  natürlichen  Grundsätzen  abgeleiteten  Postulate 
nicht  klar,  aber  es  ist  unmöglich,  seine  Existenz  zu  verleugnen.  Ich  habe 
dies  oben  gegenüber  Kodbertüs  an  einem  konkreten  Beispiele,  gleichsam 
im  kleinen  nachgewiesen^);  ich  will  es  jetzt,  gegenüber  Bernstein,  noch 
einmal  fürs  ganze  und  große  zeigen.  Scheint  es  ja  doch,  daß  der  Kampf 
um  die  Ausbeutungstheorie,  nachdem  die  Episode  mit  dem  famosen 
MABxschen  Wertgesetze  endlich  der  Überwindung  entgegengeht,  sich  noch 
einmal  nach  derjenigen  Position  zurückbewegen  und  dort  die  letzte  Ent- 
scheidung finden  wird,  wo  Rodbertus  mit  seinen  Theoremen  gehalten  hat. 
Bernstein  faßt  den  Gedankeninhalt  dieser  Position  in  eine  Vor- 
stellung von  verblüffender  Einfachheit  zusammen,  mit  dem  Hinweise 
darauf,  daß  auch  andere  Leute  als  die  produktiven  Arbeiter  aus  dem 
Nationalprodukte  leben.  Ich  wül  dem  einige  nicht  minder  einfache  und 
elementare  Tatsachen  gegenüberstellen. 

Tatsache  ist,  daß  die  heute  üblichen  Produktionsmethoden,  bei 
welchen  durch  „mittelbare  Arbeit"  von  lang  her  Materialien,  Werkzeuge, 
Maschinen,  Hilfsstoffe,  Transportmittel  u.  dgl.  vorbereitet  werden,  weit- 
aus ergiebiger  sind,  als  solche  Produktionsmethoden,  die  derartiger  weit 
ausgreifender  Vorbereitungen  ermangeln.  Tatsache  ist,  daß  wenn  man 
alle  direkt  und  indirekt  auf  ein  fertiges  Genußgut  gewendete  Arbeit  als 
ein  Ganzes  überblickt,  die  genußreife  Frucht  erst  am  Ende  eines  mehrere, 
oder  selbst  viele  Jahre  umspannenden,  mit  Arbeit  gefüllten  Prozesses 
erlangen  kann.  Und  Tatsache  ist,  daß  die  Sozialisten  dieses  ganze  Produkt, 
beziehungsweise  dessen  ganzen  Wert  ausschließlich  für  die  an  der  Erzeugung 
tätigen  Arbeiter  als  deren  „voUen  Arbeitsertrag"  in  Anspruch  nehmen, 
daß  sie  aber  keineswegs  gesonnen  sind,  einen  Aufschub  der  Verteilung 
dieses  ganzen  Wertes  an  die  Arbeiter  bis  zu  jenem  Zeitpunkte  zuzulassen, 
in  welchem  das  von  ihnen  geschaffene  Produkt  auch  fertig  und  verteilungs- 
reif sein  wird;  sie  prätendieren  vielmehr,  daß  die  Arbeiter,  jeder  sofort 
nach  Ableistung  seines  Arbeitsanteiles,  das  volle  gleichwertige  Ebenbild 
von  demjenigen  erhalten,  was  erst  nach  einer  Reihe  von  Jahren  aus  ihrer 
zusammenwirkenden  Arbeit  hervorgehen  wird. 

Und  hier  spielt  eine  zweite  Tatsachenreihe  ein.  Tatsache  ist,  daß 
irgend  eine  Verteilung  an  die  Arbeiter  vor  Vollendung  ihres  Werkes  über- 
haupt nur  dann  und  deshalb  stattfinden  kann,  wenn  und  weil  aus  irgend 
einer  andern  Quelle  her  genußreife  Güter  schon  vor  Abschluß  ihres  Werkes 
vorhanden  sind;  und  daß  nur  unter  der  gleichen  Bedingung  die  Arbeit 
überhaupt  auf  entfernte  Genußziele  gerichtet,  beziehungsweise  die  er- 
giebigen, weitausholenden  Produktionsmethoden  ergriffen  werden  können, 
während  im  anderen  Falle  mit  kleineren  Arbeitserträgen,  die  aus  minder 

1)  Siehe  oben  S.  345ff. 


410  XII.  Die  Ausbeutungstheorie.    2.  U.-A.  Kritik. 

gut  vorbereiteten,  weniger  weit  ausholenden  Produktionsmethoden  ge- 
wonnen werden  könnten,  vorlieb  genommen  werden  müßte.  Solche  Güter- 
vorräte existieren  nun,  sich  von  Generation  zu  Generation  forterbend  und 
vermehrend,  in  den  Händen  der  Kapitalisten.  Ihr  Erwerb  mag  —  das 
mag  vorläufig  ununtersucht  bleiben  —  vielleicht  nur  teilweise  ein  recht- 
mäßiger, und  teilweise  ein  unrechtmäßiger  gewesen  sein:  gewiß  ist  aber, 
daß  dieser  Güterstock  durch  ein  anderes  Verdienst,  als  durch  das  Verdienst 
derjenigen  Arbeiter,  die  daraus  während  der  Dauer  der  begonnenen  Pro- 
duktionsprozesse unterhalten  und  entlohnt  werden  sollen,  geschaffen  und 
erhalten  worden  ist. 

Es  ist  also  schon  nicht  das  volle  Verdienst  der  heute  werktätigen 
Arbeiter,  ihres  Fleißes  und  ihrer  Geschicklichkeit  allein,  daß  nach  so 
und  so  vielen  Jahren  ein  gewisses,  reichlicheres  Produkt  zur  Entstehung 
gelangen  wird;  sondern  ein  Teil  der  Verursachung  und  des  Verdienstes 
fällt  irgend  einem  Kreise  vorauswirkender  Personen  zu,  welche  für  die 
Bildung  und  Bewahrung  der  aufgestapelten  Gütervorräte  gesorgt  haben; 
und  da  soll  die  Leistung  der  ersteren  Arbeiter  einen  fraglosen  Anspruch 
nicht  allein  darauf  begründen,  daß  jenes  größere,  reichlichere  Produkt 
ihnen  überhaupt  in  seinem  ganzen  Betrage  zufallen  soll,  sondern  auch 
noch  darauf,  daß  es  ihnen  in  seinem  vollen  Betrage  zufallen  soll,  ehe  es 
selbst  noch  zur  Entstehung  gelangt  ist? 

Das  will  uns  die  Ausbeutungstbeorie  glauben  machen,  das  kann  aber 
auch  dem  wärmsten  Arbeiterfreund  nicht  einleuchten,  wenn  er  sich  den 
Tatbestand  voll  und  klar  vor  Augen  stellt.  Letzteres  tut  freilich  die  Aus- 
beutungstheorie nicht.  Sie  hat  bisher  in  allen  ihren  Formulierungen  ver- 
mieden, den  springenden  Punkt  der  Sache,  die  Zeitdifferenz  zwischen  der 
Ablohnung  und  der  Fertigstellung  des  Produktes,  sowie  überhaupt  die 
Bedeutung  der  Zeitdifferenz  für  die  Technik  der  Produktion  und  für  die 
Wertung  der  Güter  ins  Licht  zu  setzen.  Sie  läßt  entweder  dieses  Thema 
unberührt,  oder  sie  berührt  es  in  irreführender,  unrichtiger  Weise  —  wobei 
wiederum  Marx  sein  reichlich  Teil  gesündigt  hat.  Er  erklärt  es  einmal 
als  einen  für  die  Wertbildung  des  Produktes  „durchaus  gleichgültigen 
Umstand",  daß  ein  Teil  der  zur  Bildung  eines  fertigen  Produktes  nötigen 
Arbeit  in  früheren  Zeiträumen  aufgewendet  werden  mußte,  ,,im  Plus- 
quamperfektum steht"  ^);  und  ein  andermal  weiß  er  in  verdrehender 
Dialektik  sogar  umgekehrt  zu  demonstrieren,  daß  die  üblichen  Lohn- 
zahlungstermine nicht  eine  Verfrühung,  sondern  eine  Verspätung  der  Lohn- 
zahlung zu  Ungunsten  der  Arbeiter  in  sich  schließen,  da  ja  die  Arbeiter 
erst  am  Ende  des  Tages,  der  Woche,  des  Monats,  während  dessen  sie  für 
den  Unternehmer  schon  gearbeitet  haben,  ihrenLohn  zu  empfangen  pflegen, 
so  daß  nicht  der  Unternehmer  den  Lohn,  sondern  umgekehrt  die  Arbeiter 
ihre  Arbeit  vorschießen  2). 

1)  I  175.  »)  II  197ff. 


Marx'  Nachfolger.    Bernstein.  411 

Das  wäre  ja  vollkommen  richtig,  wenn  man  den  Standpunkt  akzeptiert, 
daß  der  Lohnanspmch  des  Arbeiters  mit  dem  künftigen  Produkt,  das  aus 
seiner  Arbeit  entsteht,  nichts  weiter  zu  tun  hat;  wenn  man  sagt,  der 
Unternehmer  kauft  nicht  das  künftige  Produkt,  das  aus  der  Arbeit  ent- 
stehen wird,  sondern  einfach  die  jetzige  physische  Leistung  des  Arbeiters; 
ob  überhaupt  und  wie  viel  Nützliches  daraus  entstehen  wird,  ist  nach 
Abschluß  des  Vertrages  seine,  des  Unternehmers,  Sache  und  geht  den 
Arbeiter  und  seinen  Lohnanspruch  nichts  mehr  an.  Wer  diesen  Stand- 
punkt akzeptiert,  wird  allerdings  ganz  richtig  sagen  dürfen,  daß  bei  einer 
der  Arbeitsleistung  nachfolgenden  Lohnzahlung  nicht  der  Unternehmer 
den  Lohn,  sondern  der  Arbeiter  seine  Arbeit  vorschießt.  Wenn  man  aber, 
wie  Marx  und  die  Sozialisten  es  tun  —  und  vielleicht  nicht  mit  Unrecht 
tun  —  den  Lohnanspruch  geradezu  auf  das  Produkt  stellt,  das  aus  der 
Arbeit  hervorgehen  wird,  und  demgemäß  sein  ganzes  kritisches  Urteil 
über  die  gezahlten  Löhne  auf  eben  das  Verhältnis  aufstützt,  in  welchem 
diese  Lohnzahlungen  zum  schließlichen  Produkt  der  Arbeit  stehen,  dann 
darf  man  auch  die  Tatsache  nicht  übersehen  und  verleugnen,  daß  die 
Lohnzahlungen,  wenn  sie  auch  der  Ableistung  der  einzelnen  Arbeitsraten 
um  eine  Kleinigkeit  nachfolgen  mögen,  doch  der  Entstehung  der  genuß- 
reifen Produkte  um  erhebliches  vorausgehen,  so  daß  der  auf  das  Produkt 
gestellte  Lohnanspruch  allerdings  mit  einer  künstlichen  Verfrühung  be- 
friedigt wird,  welche  bei  der  Ekistenz  einer  Wertdifferenz  zwischen  Gegen- 
wart und  Zukunft  nicht  ganz  ohne  Kompensation  in  der  Größe  der  Lohn- 
zahlung bleiben  kann. 

Ich  habe  mich,  so  oft  ich  oben  der  übrigen  am  Nationalprodukt 
partizipierenden  Parteien  zu  gedenken  hatte,  absichtlich  reserviert  und 
mehr  nur  negativ  geäußert.  Es  entsprach  dies  der  Natur  meiner  jetzigen 
Aufgabe.  Die  Richtigkeit  oder  Falschheit  der  Ausbeutungstheorie  hängt 
nicht  davon  ab,  ob  die  nicht  zu  Lohnzahlungen  verwendeten  Teile  des 
Nationalprodukts  eine  genau  nach  dem  wirklichen  Verdienst  der  Be- 
teiligten abgestufte  Verwendung  finden,  sondern  einzig  und  allein  davon, 
ob  es  sich  nachweisen  läßt,  daß  das  Verdienst  der  Arbeiter  einen  absoluten 
Anspruch  auf  eine  künstlich  verfrühte  Zuwendung  des  ganzen  National- 
produktes an  sie  allein  begründet.  Läßt  sich  dies  nicht  begründen,  dann 
ist  die  Ausbeutungstheorie  falsch  —  und  dann  bleibt  ein  Teil  des  National- 
produktes frei,  an  den  andere  Anwärter  Rechts-  oder  Billigkeitsansprüche 
erheben  mögen,  und  über  den,  soweit  dies  nicht  der  Fall  ist,  eine  erleuchtete 
Rechtsordnung  nach  weisen,  auf  die  dauernde  Beförderung  des  allgemeinen 
Besten  gerichteten  Zweckmäßigkeitserwägungen  disponieren  mag.  Kann 
sein  —  und  in  der  Tat  scheint  die  Entwicklung  unserer  Rechtsordnung, 
wie  unsere  modernen  Arbeiterversicherungen,  progressiven  Einkommen- 
steuern, zunehmenden  Verstaatlichungen  usw.  zeigen,  in  dieser  Richtung 
sich  zu  bewegen  —  kann  sein,  sage  ich,  daß  die  Rechtsordnung  alle  Ursache 


412  XII.  Die  Ausbeutungstheorip.    2.  U.-A.  Kritik. 

hat,  den  auf  natürlichen  Rechtsansprüchen  beruhenden  Anteil  der  arbeiten- 
den Klassen  durch  künstliche,  auf  Zweckmäßigkeitsrücksichten  im  höchsten 
Sinne  dieses  Wortes  gestützte  Maßnahmen  aus  jenem  disponiblen  Teil  des 
Nationalprodukts  noch  weiter  zu  verstärken  und  die  Besitzeinkommen 
direkt  oder  indirekt  zu  beschränken:  allein  in  die  Erwägung  und  Ent- 
scheidung hierüber  spielen  Gründe  von  ganz  anderer  Art  hinein,  als  die- 
jenigen, welche  die  Ausbeutungstheorie  beruft  und  gelten  läßt;  die  Trag- 
weite der  Ausbeutungstheorie  aber  geht  in  letzter  Linie  dahin,  daß  sie 
durch  Vorschützung  eines  falschen  Rechtstitels  die  Diskussion  abschneiden 
und  bei  der  Auseinandersetzung  über  den  durch  einen  giltigen  Rechts- 
titel der  Arbeiterschaft  nicht  gedeckten  Teil  des  Nationalproduktes  die 
eigentlich  zuständigen  Erwägungen  und  Gründe  gar  nicht  zu  Worte 
kommen  lassen  will.  — 

Ich  habe  der  Erörterung  der  Ausbeutungstheorie  einen  ungewöhnlich 
und  unverhältnismäßig  großen  Raum  gewidmet.  Mit  gutem  Bedacht. 
Hat  ja  doch  keine  der  anderen  Lehren  einen  nur  annähernd  so  großen 
Einfluß  auf  das  Denken  und  Fühlen  ganzer  Generationen  genommen  wie 
sie.  Und  gerade  unsere  Zeit  hat  sie  auf  ihrem  Höhepunkt  gesehen;  von 
dem  sie,  wenn  ich  mich  nicht  täusche,  heute  schon  herabzusinken  beginnt, 
aber  nicht  ohne  daß  weitere  Versuche  zäher  Verteidigung  oder  metamor- 
phosierender  Wiederbelebung  zu  erwarten  stünden.  Und  darum  glaubte 
ich  der  Sache  zu  dienen,  wenn  ich  mich  nicht  mit  einer  rein  retrospektiven 
Kritik  der  bereits  abgeschlossenen  Entwicklungsstadien  dieser  Lehre 
begnügte,  sondern  vorwärts  schauend  auch  schon  jenen  Gedankenschau- 
platz kritisch  zu  beleuchten  versuchte,  auf  welchen  nach  deutlichen  An- 
zeichen ihre  Anhänger  den  Meinungskampf  noch  einmal  hinüberzuspielen 
versuchen  werden. 

Was  aber  jene  alte  sozialistische  Ausbeutungstheorie  betrifft,  die  wir 
in  ihren  beiden  ausgezeichnetsten  Vertretern,  Rodbertus  und  Marx, 
vorführten,  so  kann  ich  das  strenge  Urteil,  das  ich  schon  in  der  ersten 
Auflage  dieses  Werkes  über  sie  fällte,  nicht  mildem.  Sie  ist  nicht  allein 
unrichtig,  sondern  sie  nimmt  sogar,  wenn  man  auf  theoretischen  Wert 
sieht,  einen  der  letzten  Plätze  unter  allen  Zinstheorien  ein.  So  schwere 
Denkfehler  auch  von  den  Vertretern  einiger  anderer  Theorien  begangen 
worden  sein  mögen,  so  glaube  ich  doch  kaum,  daß  sich  irgendwo  die 
schlimmsten  Fehler  in  so  reicher  Zahl  vereinigt  finden:  leichtfertige,  vor- 
eilige Präsumtion,  falsche  Dialektik,  innerer  Widerspruch  und  Blindheit 
gegen  die  Tatsachen  der  Wirklichkeit.  Als  Kritiker  sind  die  Sozialisten 
tüchtig,  aber  als  Dogmatiker  sind  sie  ausnehmend  schwach.  Diese  Über- 
zeugung würde  die  Welt  schon  längst  gewonnen  haben,  wenn  zufällig  die 
Parteistellungen  vertauscht  gewesen  wären,  und  ein  Marx  und  Lassalle 
mit  derselben  glänzenden  Rhetorik  und  derselben  treffsicheren,  beißenden 


Schlußergebnisse.  4£3 

Ironie,  die  sie  gegen  die  „Vulgärökonomen"  kehrten,  den  sozialistischen 
Theorien  an  den  Leib  gerückt  wären! 

Daß  die  Ausbeutungstheorie  trotz  ihrer  inneren  Schwäche  so  viel 
Glauben  fand  und  findet,  hat  sie  meines  Erachtens  dem  Zusammentreffen 
zweier  Umstände  zu  verdanken.  Erstlich  dem  Umstände,  daß  sie  den 
Streit  auf  ein  Gebiet  verpflanzt  hat,  auf  dem  nicht  der  Kopf  allein,  sondern 
auch  das  Herz  mitzusprechen  pflegt.  Was  man  gerne  glaubt,  das  glaubt 
man  leicht.  Die  Lage  der  arbeitenden  Klassen  ist  in  der  Tat  meist  elend: 
jeder  Philanthrop  muß  wünschen,  daß  sie  gebessert  werde.  Viele 
Kapitalgewinne  fließen  in  der  Tat  aus  unlauterer  Quelle:  jeder 
Philanthrop  muß  wünschen,  daß  solche  Quellen  versiegen.  Steht  er 
nun  einer  Theorie  gegenüber,  deren  Resultate  dahin  gehen,  die  Ansprüche 
der  Elenden  zu  erhöhen  und  jene  der  Reichen  zu  vermindern,  und  die  so 
ganz  oder  zum  Teile  mit  den  Wünschen  seines  Herzens  zusammenfallen, 
so  wird  gar  mancher  von  vornherein  für  sie  parteiisch  sein,  und  von  der 
kritischen  Schärfe,  die  er  sonst  auf  die  Prüfung  ihrer  wissenschaftlichen 
Gründe  verwandt  hätte,  einen  guten  Teil  nachlassen.  Daß  vollends  die 
großen  Massen  solchen  Lehren  anhängen,  versteht  sich  von  selbst.  Ihre 
Sache  kann  ja  kritische  Überlegung  nicht  sein,  sie  folgen  einfach  dem 
Zuge  ihrer  Wünsche.  Sie  glauben  darum  an  die  Ausbeutungstheorie,  weil 
sie  ihnen  genehm  ist,  und  obwohl  sie  falsch  ist;  und  sie  würden  an  sie 
auch  dann  glauben,  wenn  ihre  theoretische  Begründung  noch  weit 
schlechter  wäre,  als  sie  in  der  Tat  ist. 

Ein  zweiter  Umstand  sodann,  der  der  Ausbeutungstheorie  und  ihrer 
Verbreitung  zugute  kam,  war  die  Schwäche  ihrer  Gegner.  Solange  die 
wissenschaftliche  Polemik  gegen  sie  vom  Standpunkt  und  mit  den  Argu- 
menten der  nicht  minder  anfechtbaren  Produktivitäts-,  Enthaltsamkeits- 
oder Arbeitstheorien,  in  der  Tonart  Bastiats  oder  McCullochs,  Roschbrs 
oder  Strasbukgers  geführt  wurde,  konnte  der  Streit  für  die  Sozialisten 
nicht  übel  ausgehen.  Aus  so  fehlerhaft  gewählten  Stellungen  trafen  die 
Gegner  ihre  wahren  Blößen  nicht;  ihre  lahmen  Angriffe  konnten  nicht 
aUzuschwer  abgeschlagen  und  der  Gegner  siegreich  ins  eigene  Lager  ver- 
folgt werden:  und  das  verstanden  die  Sozialisten  mit  ebensoviel  Glück 
als  Geschick  zu  tun.  Dadurch  und  fast  dadurch  allein  hat  auch  der  Sozialis- 
mus der  Theorie  genützt:  wenn  manche  sozialistische  Schriftsteller  eine 
bleibende  Bedeutung  in  der  Geschichte  der  Wirtschaftstheorie  errungen 
haben,  so  haben  sie  es  der  Kraft  und  Gewandtheit  zu  danken,  mit  welcher 
sie  manche  alte  und  tief  eingewurzelte  Irrlehre  zu  zerstören  wußten. 
Freilich  an  die  Stelle  des  Irrtumes  selbst  die  Wahrheit  zu  setzen,  das  ver- 
mochten die  Sozialisten  nicht,  noch  weniger  als  manche  ihrer  vielge- 
schmähten Gegner. 


XIII. 

Die  Eklektiker. 

Die  Schwierigkeiten,  welche  die  Lösung  des  Zinsproblems  der  Wissen- 
schaft bereitete,  spiegeln  sich  vielleicht  in  keinem  Umstände  bezeichnender 
als  darin,  daß  die  Majorität  der  national-ökonomischen  Schriftsteller  des 
19.  Jahrhunderts  überhaupt  nicht  dazu  gelangte,  sich  eine  feste  Ansicht 
über  jenes  Problem  zu  bilden^). 

In  der  Form,  in  die  sich  der  Mangel  eines  festen  Urteiles  kleidete, 
trat  etwa  seit  den  Dreißiger  Jahren  eine  Änderung  ein.  Vorher  hatten 
die  Unentschiedenen,  die  zu  jeder  Zeit  zahlreich  waren,  es  einfach  ver- 
mieden, auf  das  Zinsproblem  einzugehen;  sie  bevölkerten  so  jene  Kategorie, 
welche  ich  als  die  der  „Farblosen"  bezeichnet  habe.  Später,  als  das  Zins- 
problem ein  ständiger  Gegenstand  wissenschaftlicher  Erörterung  geworden 
war,  ging  das  nicht  mehr  an.  Man  mußte  eine  Meinung  bekennen.  Jetzt 
wurden  die  Unentschiedenen  Eklektiker.  Zinstheorien  waren  in  über- 
reicher Zahl  aufgestellt  worden.  Wer  weder  selbst  eine  solche  schaffen, 
noch  sich  für  eine  der  vorhandenen  ausschließlich  entscheiden  konnte 
oder  wollte,  der  las  aus  zwei,  drei  öder  noch  mehr  heterogenen  Theorien 
die  ihm  zusagenden  Teile  heraus,  und  verwob  sie  zu  einem  gewöhnlich 
schlecht  genug  zusammenhängenden  Ganzen;  oder  auch,  er  wandte,  ohne 
die  Herstellung  eines  äußerlichen  Ganzen  auch  nur  zu  versuchen,  im 
Verlaufe  seiner  Ausführungen  alternativ  bald  die  eine,  bald  die  andere 
Theorie  an,  wie  es  für  die  Absichten,  die  er  gerade  verfolgte,  besser  paßte. 

Es  versteht  sich  von  selbst,  daß  ein  solcher  Eklektizismus,  der  sich 
von  der  Kardinalpflicht  des  Theoretikers,  der  Konsequenz,  leichthin 
entband,  keinen  sonderlich  hohen  Stand  der  Theorie  bezeichnet.  Dennoch 
treffen  wir  auch  hier,  geradeso  wie  einst  unter  den  „Farblosen",  neben 
zahlreichen  Schriftstellern  von  untergeordneter  Bedeutung  auch  einige 
Köpfe  ersten  Ranges.  Es  ist  dies  nicht  zu  verwundern;  denn  die  Theorie 
hatte  sich  so  eigentümlich  entwickelt,  daß  gerade  für  tüchtige  Denker  die 
Versuchung,  Eklektiker  zu  werden,  fast  übermächtig  werden  mußte.  Es 
existierte  eine  so  große  Zahl  heterogener  Theorien,  daß  man  mit  den  vor- 

^)  1884  geschrieben;  über  die  neueste  Literatureutwickluug  siehe  nunmehr  den 
diesem  Bande  beigegebenen  Anhang. 


Die  Versuchangen  zum  Eklektizismus.  4[5 

handenen  auch  die  möglichen  schon  für  erschöpft  halten  konnte.  Keine 
einzelne  unter  ihnen  konnte  ein  kritischer  Kopf  vollkommen  zufrieden- 
stellend finden.  Aber  ebensowenig  ließ  sich  verkennen,  daß  in  mancher 
von  ihnen  doch  wenigstens  ein  Körnchen  Wahrheit  enthalten  war.  Die 
Produktivitätstheorie  z.  B.  war  als  Ganzes  sicherlich  unzureichend;  aber 
kein  Unbefangener  konnte  sich  dem  Eindrucke  entziehen,  daß  die  Existenz 
des  Zinses  mit  der  größeren  Ergiebigkeit  der  kapitalistischen  Produktion, 
oder,  wie  man  sagte  mit  der  Produktivität  der  Kapitalien,  doch  irgend 
etwas  zu  tun  haben  müsse.  Oder  ebensowenig  ließ  sich  aus  der  „Enthalt- 
samkeit des  Kapitalisten"  eine  Vollerklärung  des  Kapitalzinses  ziehen, 
während  man  doch  wieder  schwer  leugnen  konnte,  daß  die  Entbehrung, 
die  das  Sparen  gewöhnlich  kostet,  nichts  ganz  Gleichgültiges  für  die  Ent- 
stehung und  Höhe  des  Zinses  sein  kann.  Unter  solchen  Verhältnissen  lag 
in  der  Tat  nichts  näher,  als  daß  man  die  Splitter  der  Wahrheit  aus  ver- 
schiedenen Theorien  zusammenzulesen  suchte;  umsomehr,  als  nicht  bloß 
die  theoretische,  sondern  auch  die  sozialpolitische  Frage  des  Kapital- 
zinses auf  der  Tagesordnung  stand,  und  der  Eifer,  diesen  zu  rechtfertigen, 
manchen  lieber  auf  die  Einheit  der  Theorie,  als  auf  die  Häufung  von 
Rechtfertigungsgründen  verzichten  ließ.  Freilich  blieben  die  zusammen- 
getragenen Wahrheitssplitter  in  den  Händen  der  Eklektiker  auch  nur 
Splitter,  deren  Kanten  schroff  genug  an  einander  stießen,  und  die  der 
Vereinigung  zu  einem  harmonischen  Ganzen  hartnäckig  widerstrebten.  — 

Der  Eklektizismus  weist  eine  reichhaltige  Musterkarte  von  Kom- 
binationen der  verschiedenen  Einzeltheorien  auf.  Am  häufigsten  zeigen 
sich  jene  beiden  Theorien  in  die  Mischung  verwendet,  deren,  allerdings 
mißverstandener,  Zusammenhang  mit  der  Wahrheit  am  nächsten  am  Tage 
lag:  die  Produktivitäts-  und  die  Enthaltsamkeitstheorie.  Unter 
den  zahlreichen  Schriftstellern,  die  sich  dieser  Mischung  bedienen,  will 
ich  mit  einiger  Ausführlichkeit  Rossis  gedenken.  Teils,  weil  seine  Wieder- 
gabe der  Produktivitätstheorie  einer  gewissen  Originalität  nicht  entbehrt, 
teils  weil  seine  Art  als  charakteristischer  Typus  für  die  konsequenzlose 
Manier  gelten  kann,  die  bei  den  Eklektikern  gebräuchlich  ist. 

Rossi  bedient  sich  in  seinem  Cours  d'Economie  Politique^)  der  Pro- 
duktivitäts- und  Abstinenztheorie  abwechslungsweise,  ohne  irgend  einen 
Versuch  zu  machen,  beide  in  eine  einheitliche  Theorie  zu  verschmelzen; 
und  zwar  folgt  er  im  ganzen  bei  jenen  Gelegenheiten,  in  denen  er  des  Zins- 
phänomens und  seines  Ursprunges  mehr  im  allgemeinen  gedenkt,  lieber 
der  Abstinehztheorie,  im  Detail  der  Lehre  und  namentlich  in  der  Unter- 
suchung über  die  Höhe  des  Zinses  vorzugsweise  der  Produktivitätstheorie. 
Ich  lasse  die  wichtigsten  Belegstellen  hiefür  nacheinander  folgen,  ohne 
mir  mit  der  Herstellung  einer  Konkordanz  unter  ihnen  eine  Mühe  zu  geben, 
die  sich  der  Verfasser  selbst  nicht  genommen  hat. 

»)  4.  Auflage,  Paris  1865. 


4X6  XIII-  I>ie  Eklektiker. 

Rossi  erkennt  in  der  herkömmlichen  Weise  das  Kapital  als  einen 
Produktionsfaktor  neben  der  Arbeit  und  dem  Boden  an  (I  S.  92).  Für 
seine  Mitwirkung  erheischt  es  eine  Vergütung  den  Gewinn  (profit). 
Warum?  wird  einstweilen  nur  mit  den  mystischen,  wohl  mehr  im  Sinne 
der  Produktivitätstheorie  zu  deutenden  Worten  erklärt:  „aus  denselben 
Gründen,  aus  demselben  Titel  wie  die  Arbeit"  (S.  93).  Deutlicher  und  zwar 
entschieden  im  Sinne  der  Abstinenztheorie  spricht  sich  Rossi  in  dem 
Summarium  der  3,  Lektion  des  III.  Bandes  aus;  „Der  Kapitalist  verlangt 
die  der  Entbehrung,  die  er  sich  auferlegt,  gebührende  Vergütung" 
(III  32).  Im  Verlauf  der  folgenden  Lektion  entwickelt  er  diesen  Gedanken 
genauer.  Er  tadelt  zuvörderst  Malthus,  daß  dieser  den  Kapitalgewinn, 
der  ja  doch  keine  Ausgabe,  sondern  eine  Einnahme  des  Kapitalisten  sei, 
unter  die  Produktionskosten  gestellt  habe  —  ein  Vorwurf,  den  er  übrigens 
zuerst  an  seine  eigene  Adresse  hätte  richten  können;  denn  in  der  6.  Lektion 
des  I.  Bandes  hatte  er  selbst  in  aller  Form  und  auf  das  ausdrücklichste 
den  Kapitalgewinn  den  Produktionskosten  beigezählt^).  Als  richtigen 
Kostenbestandteil  formuliert  er  statt  dessen  nunmehr  die  „kapitalisierte 
Ersparung"  (l'öpargne  capitalis§e),  das  Nichtverzehren  und  produktiv 
Anwenden  verfügbarer  Güter.  Auch  später  finden  sich  noch  wiederholt 
(z.  B.  III  261,  291)  Hinweisungen  auf  den  Genuß  verzieht  des  Kapitalisten 
als  einen  an  der  Entstehung  des  Gewinnes  tätigen  Motor. 

Hat  sich  Rossi  bis  jetzt  überwiegend  als  Abstinenztheoretiker  gezeigt, 
so  stellen  sich  von  der  2.  Hälfte  des  III,  Bandes  an  erst  sporadisch,  dann 
immer  häufiger  Äußerungen  ein,  welche  zeigen,  daß  Rossi  auch  unter  dem 
Einflüsse  der  vielverbreiteten  Produktivitätstheorie  stand.  Anfangs  bringt 
er  noch  in  etwas  unbestimmten  Worten  den  Kapitalgewinn  mit  dem 
Umstände  in  Verbindung,  daß  ,,die  Kapitale  zur  Produktion  beitragen" 
(III  258).  Etwas  später  (S.  340)  heißt  es  schon  ganz  entschieden:  „Der 
Gewinn  ist  die  der  produktiven  Kraft"  —  nicht  mehr  der  Entbehrung — 
„gebührende  Vergütung".  Zuletzt  wird  die  Höhe  der  Kapitalzinsen  auf 
breitester  Basis  aus  der  Produktivität  des  Kapitales  erklärt.  Rossi  sieht 
nämlich  als  „natürlich"  an,  daß  der  Kapitalist  als  seinen  Anteil  am  Pro- 
dukte so  viel  empfangen  soll,  als  sein  Kapital  daran  hervorgebracht  hat; 
das  wird  viel  sein,  wenn  die  produktive  Kraft  des  Kapitales  groß  ist,  wenig, 
wenn  die  produktive  Ki'aft  gering  ist.  So  gelangt  Rossi  zum  Gesetze, 
daß  die  natürliche  Hohe  des  Kapitalgewinnes  im  Verhältnis  zur  Größe 
der  produktiven  Kraft  des  Kapitales  stehe.  Er  entwickelt  dieses  Gesetz 
zunächst  unter  der  Hypothese  einer  Produktion,  die  nur  Kapital  zu 
ihrem  Vollzuge  erfordert,  während  der  Faktor  Arbeit  als  verschwindend 
klein  außer  Acht  gelassen  werden  kann,  sowie  unter  ausschließlicher 
Berücksichtigung   des    Gebrauchswertes   des   Produktes.      Unter   diesen 

^)  I  S.  93:   „Les  frais  de  production  se  composent:  1.  de  la  r§tribution  due  aux 
travailleurs,  2.  des  profus  du  capitaliste''  etc. 


Rossi.  417 

Voraussetzungen  findet  er  es  evident,  daß,  wenn  z.  B.  die  Anwendung  eines 
Spatens  auf  ein  bestimmtes  Grundstück  nach  Ersatz  des  ausgelegten 
Kapitales  noch  20  Hektoliter  Getreide  Gewinn  gibt,  die  Anwendung  eines 
wirksameren  Kapitales,  etwa  eines  Pfluges,  auf  dasselbe  Stück  Land, 
nach  vollständiger  Erstattung  des  Kapitales  mehr  Gewinn,  z.  B.  60  Hekto- 
liter Gewinn  bringen  wird,  „weil  man  ein  Kapital  von  größerer  produktiver 
Kraft  angewendet  hat".  Dasselbe  natürliche  Grundgesetz  gilt  aber  auch 
unter  den  komplizierten  Verhältnissen  unseres  tatsächlichen  Wirtschafts- 
lebens. Auch  hier  ist  es  „natürlich",  daß  der  Kapitalist  sich  mit  den 
Arbeitern  in  das  Gesamtprodukt  in  demselben  Verhältnisse  teilt,  in  welchem 
die  produktive  Kraft  seines  Kapitales  zur  produktiven  Kraft  der  Arbeiter 
steht.  Wird  z,  B.  in  einer  Produktion,  die  bisher  von  100.  Arbeitern  voll- 
zogen wurde,  eine  Maschine  eingeführt,  die  die  Kraft  von  50  Arbeitern 
ersetzt,  so  hat  der  Kapitalist  einen  natürlichen  Anspruch  auf  die  eine 
Hälfte  des  Gesamtproduktes,  oder  auf  den  Lohn  von  50  Arbeitßrn. 

Dieses  natürliche  Verhältnis  wird  nur  durch  eines  gestört:  dadurch, 
daß  der  Kapitalist  eine  Doppelrolle  spielt.  Er  trägt  nämjich  nicht  nur 
sein  Kapital  zu  gemeinsamem  Zusammenwirken  bei,  sondern  er  verbindet 
damit  als  zweites  Geschäft  den  Kauf  von  Arbeit.  Vermöge  des  ersteren 
Momentes  würde  er  immer  nur  den  der  Produktivität  des  Kapitales  ent- 
sprechenden natürlichen  Gewinn  erhalten.  Aber  indem  er  die  Arbeit  bald 
billig,  bald  teuer  kauft,  kann  er  entweder  seinen  natürlichen  Kapitalgewinn 
noch  auf  Kosten  des  natürlichen  Arbeitslohnes  vergrößern,  oder  einen 
Teil  desselben  zum  Vorteüe  der  Arbeiter  einbüßen.  Wenn  z.  B.  die  durch 
die  Maschine  verdrängten  50  Arbeiter  durch  ihr  Angebot  den  Arbeitslohn 
herabdrücken,  so  kann  es  sein,  daß  der  Kapitalist  die  Arbeit  der  bei- 
behaltenen 50  Arbeiter  um  einen  geringeren  Teü  des  Gesamtertrages 
kauft,  als  nach  dem  Verhältnisse  ihrer  Produktivkraft  zur  Produktivkraft 
des  Kapitales  entfiele;  daß  er  z.  B.  ihre  Arbeit  statt  um  50%  schon  um 
40%  des  Gesamtproduktes  kauft.  Alsdann  tritt  zu  dem  natürlichen 
Kapitalgewtane  noch  ein  additioneller  Gewinn  von  10%  hinzu.  Dieser 
ist  aber  seiner  Natur  nach  dem  Kapitalgewinne,  mit  dem  er  irriger  Weise 
zusammengeworfen  zu  werden  pflegt,  völlig  fremd,  und  vielmehr  als  ein 
Gewinn  aus  dem  Arbeitskaufe  anzusehen.  Nicht  der  natürliche  Kapitai- 
gewinn,  sondern  erst  dieser  fremde  Zusatz  schafft  einen  Antagonismus 
zwischen  Kapital  und  Arbeit:  und  nur  mit  Kücksicht  auf  diesen  Zusatz 
kann  der  Satz  gelten,  daß  der  Gewinn  steigt,  wenn  der  Arbeitslohn  sinkt, 
und  umgekehrt;  während  der  natürliche,  echte  Kapitalgewinn  den  Arbeits- 
lohn unberührt  läßt  und  nur  von  der  produktiven  Kraft  des  Kapitales 
abhängt  (III,  Lektion  21  und  22).  — 

Einer  eingehenden  Detaükritik  können  diese  Lehren  nach  allem,  was 
schon  oben  über  die  Produktivitätstheorien  gesagt  worden,  wohl  entraten; 
und  ich  will  nur  auf  eine  ungeheuerliche  Konsequenz  derselben  hinweisen: 

Böhm-Bawerk.  Kapitalzins.    4.  Aufl.  27 


418  XIII.  Die  Eklektiker. 

nach  Rossi  müßten  alle  Mehrerträge,  die  aus  der  Einführung  und  Ver- 
besserung der  Maschinen,  oder  überhaupt  aus  der  Entwicklung  des  Kapi- 
tales hervorgehen,  für  alle  Ewigkeit  ganz  und  voll  in  die  Taschen  der 
Kapitalisten  fließen,  ohne  daß  die  Arbeiter  irgend  einen  Anteil  an  den 
Segnungen  dieser  Fortschritte  hätten;  denn  jene  Mehrerträge  sind  der 
vermehrten  produktiven  Kraft  des  Kapitales  zu  danken,  und  deren  Frucht 
bildet  den  „natürlichen"  Anteil  des  Kapitalisten  i) ! 

In  denselben  Geleisen  wie  Rossi  bewegen  sich,  ohne  etwas  neues  zu 
bringen,  unter  den  französ.  Schriftstellern  Molinari^)  und  Leroy- 
Beaulieu^),  unter  den  Deutschen  Röscher  mit  seinem  Anhange,  Schüz 
und  Max  Wirth*). 

Aus  der  italienischen  Literatur  derselben  Richtung  hebe  ich  L.  Cossa 
hervor.  Leider  hat  dieser  treffliche  Schriftsteller  die  monographische 
Untersuchung,  die  er  dem  Begriffe  des  Kapitales  widmete b),  nicht  auch 
auf  die  Frage  des  Kapitalzinses  ausgedehnt,  und  so  sind  wir  in  letzterer 
Beziehung  auf  die  sehr  lapidarischen  Andeutungen  angewiesen,  die  sich 
in  seinen  bekannten  Elementi  di  Economia  Politica«)  finden.  Nach  dem 
liihalte  derselben  ist  auch  Cossa  Eklektiker;  doch  scheint  mir  die  Art, 
in  der  er  sich  zum  Dolmetsch  der  gebräuchlichen  Lehren  macht,  deutlich 
zu  verraten,  daß  er  nicht  frei  von  kritischen  Skrupeln  gegen  dieselben  ist. 
So  sieht  er  den  Kapitalzins  zwar  als  eine  Vergütung  für  den  „produktiven 
Dienst"  des  Kapitales  an  (S.  119),  verweigert  aber  dem  letzteren  die 
Anerkennung  als  primärer  Produktionsfaktor,  und  läßt  es  nur  für  ein 


^)  Vgl.  die  scharfe,  aber  meist  zutreffende  Kritik  Pierstorffs  a.  a.  0.  S.  93ff. 

*)  Cours  d'Economie  Politique,  2.  Auflage,  Paris  1863.  Seine  Produktivitäts- 
theorie  ist  nach  SAYschem  Zuschnitt  (der  Zins  ist  eine  Vergütung  für  den  Service  pro- 
ductif  des  Kapitales;  z.  B.  I  S.  302);  seine  Abstinenztheorie  (vgl.  I  S.  289,  293 f.,  300f.) 
wird  durch  die  eigentümliche  Fassung,  die  er  dem  Begriffe  ,,privation"  gibt,  besonders 
unbefriedigend.  Er  versteht  nämlich  darunter  jene  Entbehrungen,  die  der  Kapitalist 
deshalb  erleiden  kann,  weil  das  in  der  Produktion  gebundene  Kapital  ihm  zur  Befrie- 
digung dringlicher  Bedürfnisse,  die  möglicherweise  inzwischen  sich  einstellen  können, 
nicht  zur  Verfügung  steht.  Wohl  eine  sehr  ungeeignete  Grundlage  für  eine  allgemeine 
Zinstheorie  I 

')  Essai  sur  la  R6partition  des  richesses,  2.  Auflage,  Paris  1883.  Siehe  besonders 
S.  236  (Abstinenztheorie),  dann  233ff.,  238ff.  (Produktivitätstheorie).  Siehe  auch 
oben  S.  116. 

*)  Über  Röscher  siehe  oben  S.  Ulf.;  Schüz,  Grundsätze  der  National-Ökonomie, 
Tübingen  1843,  besonders  S.  70,  285,  296f.;  Max  Wirth,  Grundzüge  der  National- 
ökonomie, 3.  Auflage,  I  324,  5.  Auflage,  I  327f.  —  Vgl.  weiter  Huhn,  Allgemeine 
Volkswirtschaftslehre,  Leipzig  1862,  S.  204;  H.  Bischof,  Grundzüge  eines  Systems 
der  National-Ökonomik,  Graz  1876,  S.  459ff.,  besonders  465  Anm.  2;  Schulze- 
Delitzsch,  Kapitel  zu  einem  deutschen  Arbeiterkatechismus,  S.  23f.,  27,  28  usw. 

')  La  nozione  del  Capitale.  In  den  Saggi  di  Economia  Politica  Mailand  1878, 
S.  166ff. 

«)  6.  Auflage  1883. 


L.  Cossa,  Jevons.  419 

„abgeleitetes  Werkzeug"  der  Produktion  gelten  i).  Ferner  steUt  er  zwar 
nach  Art  der  Abstinenztheoretiker  den  Faktor  „Entbehrungen"  (priva- 
zioni)  unter  die  Produktionskosten  ein  (S.  65),  macht  aber  hieven  in  der 
Lehre  vom  Zinse  in  einem  Tone  Anwendung,  als  ob  er  nicht  seine  eigene 
Überzeugung  ausspräche,  sondern  nur  die  Lehren  Dritter  referierte  2). 

Für  die  interessanteste  unter  allen  jenen  eklektischen  Theorien,  welche 
die  Abstinenz-  und  Produktivitätstheorie  vermischen,  halte  ich  aber  die 
Theorie  des  Engländers  Jevons,  mit  der  ich  die  Darstellung  dieser  Gruppe 
beschließen  wül. 

Jevons  3)  gibt  zuvörderst  eine  sehr  klare,  von  dem  Mystizismus  einer 
besonderen  „produktiven  Kraft"  sich  freihaltende  Darstellung  der  volks- 
wirtschaftlichen Funktion  des  Kapitales.  Er  erblickt  sie  einfach  darin, 
daß  das  Kapital  uns  gestattet,  Arbeit  vorschußweise  aufzuwenden.  Es 
hüft  uns  über  die  Schwierigkeit  hinweg  zu  kommen,  die  im  ZeitintervaUe 
zwischen  dem  Anfange  und  Ende  eines  Werkes  liegt.  Es  gibt  unendhch 
viele  Verbesserungen  in  der  Gütererzeugung,  deren  Einführung  notwendig 
mit  einer  Verlängerung  des  Zwischenraumes  zwischen  dem  Augenblicke 
des  Arbeitsaufwandes  und  dem  Augenbücke  der  Werkvollendung  ver- 
bunden ist.  Alle  diese  Verbesserungen  werden  durch  den  Gebrauch  von 
Kapital  bedingt,  und  in  ihrer  Ermöglichung  liegt  der  große,  und  beinahe 
auch  der  einzige  Nutzen  des  Kapitales*). 

Auf  dieser  Grundlage  erklärt  Jevons  den  Kapitalzins  folgender- 
maßen. Er  setzt  voraus,  daß  jede  Verlängerung  des  Zeitintervalles  zwischen 
Arbeitsaufwand  und  Genuß  des  Endproduktes  die  Erzielung  eines  größeren 
Produktes  mit  derselben  Arbeitsmenge  ermöglicht.  Die  Differenz  zwischen 
jenem  Produkte,  das  man  bei  einem  kürzeren  Intervall  hätte  erzielen 
können,  und  dem  größeren  Produkte,  das  man  bei  Verlängerung  des  Inter^ 
vaUes  erlangt,  bildet  den  Gewinn  jenes  Kapitales,  dessen  Investierung 
die  Verlängerung  des  Intervalles  ermöglichte.  Nennen  wir  das  kürzere 
Intervall  t  und  das  durch  eine  additionelle  Kapitalinvestition  verlängerte 
t  +  A  t»  ferner  das  bei  dem  kürzeren  Intervall  zu  erzielende  Produkt 
einer  bestimmten  Quantität  Arbeit  F  t,  so  wird  nach  der  Annahme  das 
bei  längerem  Intervall  zu  erzielende  Produkt  entsprechend  größer,  also 
F  (t  -f  A  t)  sein.  Die  Differenz  dieser  beiden  Größen,  F  (t  +  A  t)  —  F  t, 
ist  der  Kapitalgewinn. 

Um  den  Zinsfuß  zu  erfahren,  den  dieser  Gewinnbetrag  darstellt,  muß 

^)  S.  34,  und  ausführlicher  in  den  Saggi. 

•)  „Due  sono  gli  elementi  dell'  interesse,  cioö:  1.  la  retribuzione  pel  non  uso 
del  capitale,  0,  come  altri  dice,  per  la  sua  formazions,  e  pel  suo  servizio  pro- 
duttivo"  etc.  (S.  119.)  —  Die  vorstehend  zitierten  Äußerungen  finden  sich  fast  unver- 
ändert auch  noch  in  der  zehnten,  der  letzton  bei  Lebzeiten  des  Verfassers  erschienenen 
Auflage  der  CossAschen  „Elementi". 

»)  Theory  of  Political  Economy,  2,  Auflage,  London  1879. 

*)  S.  243ff. 

27* 


420  XIII.  Die  Eklektiker. 

man  den  letzteren  auf  die  Größe  jener  Kapitalinvestition  berechnen, 
durch  die  die  Verlängerung  des  Intervalles  ermöglicht  wurde.  Als  in- 
vestiertes Kapital  ist  die  Größe  F  t  anzusehen;  denn  dieses  ist  die  Pro- 
duktenmenge, die  man  ohne  die  zusätzliche  Investition  schon  nach  Ablauf 
des  Zeitraumes  t  hätte  genießen  können.  Die  Dauer  der  zusätzlichen 
Investition  ist  /\  t.  Die  ganze  Größe  der  zusätzlichen  Investition  stellt 
sich  also  im  Produkte  F  t  .  A  t  dar.  Dividiert  man  die  obge  Differenz 
der  Produkte  durch  die  letztere  Größe,  so  erhält  man  den  Zinsfuß.  Er 
.  ,  ,  •  .  F  (t  +  A  t)  -  F  t  1  ., 
ist  gleich  ^^ ^  F7  )• 

Je  reicher  ein  Land  mit  Kapital  gesättigt  ist,  desto  größer  ist  das 
Produkt  F  t,  das  man  ohne  eine  neue  zusätzliche  Kapitalinvestition  er- 
zielen könnte;  desto  größer  ist  in  weiterer  Folge  das  Kapital,  auf  das  der 
bei  einer  additioneilen  Verlängerung  des  Intervalles  sich  ergebende  Gewinn 
berechnet  wird,  und  desto  niedriger  daher  der  Zinsfuß,  den  jener  Gewinn 
ausmacht.  Daher  die  Tendenz  zur  Senkung  des  Zinsfußes  mit  fortschreiten- 
der Wohlfahrt.  Da  ferner  alle  Kapitalien  nach  dem  gleichen  Zinsfuße 
streben,  so  müssen  alle  mit  jenem  niedrigsten  Zinsfuße  vorlieb  nehmen, 
den  der  zuletzt  investierte  Kapitalzuwachs  erlangt.  So  wird  der  Vorteil, 
den  der  letzte  Kapitalzuwachs  für  die  Produktion  bringt,  für  die  jeweilige 
Höhe  des  gesamten  Zinsfußes  im  Lande  entscheidend. 

Man  wird  die  Ähnlichkeit  dieses  Gedankenganges  mit  den  Ausfüh- 
rungen des  Deutschen  Thünen  leicht  erkannt  haben.  Er  bietet  auch  der 
Kritik  ähnliche  Blößen.  Jevons  identifiziert  nämlich,  ähnlich  wie  Thünen, 
zu  leicht  das  „Mehr  an  Produkten"  mit  einem  Überschusse  an  Wert. 
Was  in  seiner  Darstellung  wirklich  beglaubigt  erscheint,  ist  ein  „increment 
of  produce"  gegenüber  dem  Falle,  daß  die  Produktion  ohne  Hilfe  des 
letzten  Kapitalzuwachses  hätte  stattfinden  müssen.  Daß  dieses  Mehr  an 
Produkten  aber  zugleich  einen  Überschuß  an  Wert  über  das  in  der  In- 
vestition verbrauchte  Kapital  hinaus  darstellt,  hat  Jevons  nirgends  ein- 
leuchtend gemacht.  An  einem  konkreten  Beispiele  veranschauhcht.  Wir 
begreifen,  daß  jemand  unter  Anwendung  einer  unvollkommenen,  aber 
rasch  verfertigten  Maschinerie  in  einem  Arbeitsjahre  1000  Stück  einer 
Gütergattung,  und  unter  Anwendung  einer  vollkommeneren,  aber  lang- 
wierig zu  bauenden  Maschinerie,  gleichfalls  in  einem  Arbeitsjahre,  1200 
Stück  derselben  Gütergattung  erzeugt.  Aber  daß  die  Differenz  von  200 
Stück  reiner  Wertüberschuß  sein  müsse,  ist  damit  keineswegs  gesagt. 
Es  könnte  entweder  jene  vollkommenere  Maschinerie,  die  die  Erwerbung 
des  Zuwachses  von  200  Stück  vermittelt,  wegen  dieser  ihrer  Fähigkeit  so 
hoch  geschätzt  werden,  daß  der  Zuwachs  von  200  Stück  zur  Deckung 


^)  S.  266  ff.     Jevons  stellt  dieselbe  Formel  noch  in  anderen  Gestalten  dar,  die 
ich  füglich  übergehen  kann. 


Jevons.  421 

ihrer  Amortisation  absorbiert  wird;  oder  es  könnte  denkbarer  Weise  die 
neue  erfolgreiche  Produktiönsmethode  so  häufig  angewendet  werden,  daß 
das  verstärkte  Angebot  den  Wert  der  jetzigen  1200  Stück  auf  dasselbe 
Niveau  herabdrückt,  das  einst  der  Wert  der  1000  Stück  einnahm.  In 
beiden  Fällen  würde  kein  Mehrwert  existieren,  Jevons  ist  also  hier  in 
den  alten  Fehler  der  Produktivitätstheoretiker  verfallen,  das  leicht  nach- 
weisbare Mehr  an  Produkten  mechanisch  als  Mehrwert  zu  deuten. 

Allerdings  fehlt  es  in  seiner  Lehre  nicht  an  Ansätzen,  um  gerade  auch 
die  Wertdifferenz  zu  erklären.  Aber  er  hat  dieselben  nicht  in  Zusammen- 
hang mit  seiner  Produktivitätstheorie  gebracht;  sie  ergänzen  dieselben 
nicht,  sondern  sie  durchkreuzen  sie. 

Einer  dieser  Ansätze  liegt  in  der  Aufnahme  von  Elementen  der  Ab- 
stinenztheorie. Jevons  zitiert  beistimmend  Senior,  erklärt  dessen  „ab- 
stinence*'  als  jenes  „temporäre  Opfer  an  Genuß,  das  mit  der  Existenz  von 
Kapital  wesentlich  verbunden  ist",  beziehungsweise  als  das  „Erdulden 
des  Bedürfniszustandes"  (endurance  of  want),  das  man  auf  sich  nimmt, 
und  entwirft  Formeln  für  die  Berechnung  der  Größe -des  Opfers  „absti- 
nence"  (S.  253  ff.).  Er  rechnet  dieses  (bisweüen  vermöge  einer  ungenauen 
Redewendung  sogar  die  Zinsen)  unter  die  Produktionskosten,  und  be- 
zeichnet einmal  die  Einnahme  des  Kapitalisten  ausdrücklich  als  die  Ver- 
gütung für  ,. Enthaltsamkeit  und  Risiko"  (S.  295  a.  E.). 

Sehr  interessant  ist  sodann  eine  —  zweifellos  durch  Bentham  beein- 
flußte^) —  Reihe  von  Betrachtungen,  die  Jevons  über  den  Einfluß  der 
Zeit  auf  die  Schätzung  von  Bedürfnissen  und  Bedürfnisbefriedigungen 
anstellt.  Er  bemerkt,  daß  wir  künftige  Leiden  und  Freuden  antizipieren; 
die  Aussicht  auf  künftige  Freuden  wird  schon  jetzt  als  „antizipierte" 
Freude  empfunden.  Aber  die  Intensität  der  letzteren  ist  immer  kleiner 
als  die  der  künftigen  Freude  selbst,  und  hängt  von  zwei  Faktoren  ab: 
von  der  Intensität  der  künftigen  Freude,  die  man  antizipiert,  und  von  der 
Größe  des  Zeitintervalles,  das  vom  wirklichen  Eintritte  der  Freude  noch 
trennt  (S.  36 f.).  Seltsamer  Weise  findet  Jevons  den  Unterschied,  den  wir 
so  in  der  augenblicklichen  Schätzung  eines  gegenwärtigen  und  eines 
künftigen  Genusses  machen,  eigentlich  unberechtigt;  er  beruhe  nur  auf 
einem  Fehler  unserer  Geistes-  und  Gemütsanlage,  und  eigentlich  sollte 
die  Zeit  hier  gar  keinen  Einfluß  haben.  Immerhin  sei  es  aber  wegen  der 
UnvoUkommenheit  der  menschUchen  Anlage  eine  Tatsache,  daß  „eine 
künftige  Empfindung  immer  weniger  einflußreich  ist  als  eine  gegen- 
wärtige" (S.  78). 

Jevons  urteilt  nun  ganz  richtig,  daß  dieses  unser  Vermögen,  künftige 
Empfindungen  zu  antizipieren,  einen  weitreichenden  Einfluß  in  den  wirt- 
schaftlichen Dingen  üben  müsse;  denn  unter  anderem  beruhe  alle  Kapital- 


')  Siehe  oben  S.  299f. 


422  Xm.  Die  Eklektiker. 

ansammlung  darauf  (S.  37).  Leider  läßt  er  es  aber  bei  Andeutungen  all- 
gemeinster Natur  und  einigen  ganz  fragmentarischen  Anwendungen  der- 
selben^) bewenden:  zu  einer  fruchtbaren  Durchbildung  und  durchgreif  enden 
Verwertung  jenes  Gedankens  für  die  Wert-  und  Einkommenstheorie  ge- 
langt er  nicht.  Diese  Unterlassung  ist  um  so  verwunderlicher,  als  einige 
Züge  seiner  Kapitalzinstheorie  eine  starke  Aufforderung  enthielten,  das 
Moment  der  Zeit  zur  Erklärung  des  Kapitalzinses  recht  ausgiebig  zu  ver- 
werten. Einerseits  hatte  er  ja  so  energisch,  wie  kein  anderer  vor  ihm^) 
die  üoUe  hervorgehoben,  welche  eben  die  Zeit  in  der  Funktion  des  Kapi- 
tales spielt.  Es  wäre  nun  gewiß  sehr  nahe  gelegen  zu  ufitersuchen,  ob 
nicht  die  Rücksicht  auf  die  Zeitdifferenz  auch  einen  derartigen  unmittel- 
baren Einfluß  auf  die  Wertschätzung  des  Kapitalproduktes  üben  kann, 
daß  sich  hieraus  die  dem  Kapitalzinse  zu  gründe  liegende  Wertdifferenz 
erklären  ließe.  Statt  dessen  beharrt,  wie  wir  wissen,  Jevons  bei  dem  alten 
Brauche,  den  Kapitalzins  einfach  aus  einer  Differenz  in  der  Masse  des 
Produktes  zu  erklären.  —  Noch  näher  wäre  es  vielleicht  gelegen  gewesen, 
den  gleichfalls  berührten  Begriff  der  „abstinence"  mit  dem  Unterschiede 
in  Verbindung  zu  bringen,  den  wir  in  der  Schätzung  gegenwärtiger  und 
künftiger  Genüsse  machen,  und  das  Opfer,  das  im  Genußaufschub  liegen 
soll,  auf  eben  jene  Minderschätzung  des  Zukunftsnutzens  zurückzuführen. 
Allein  auch  diesem  Gedanken  gibt  Jevonö  nicht  allein  keinen  positiven 
Ausdruck,  sondern  er  schließt  ihn  sogar  indirekt  aus,  indem  er  einerseits, 
wie  oben  erwähnt,  jene  Minderschätzung  für  einen  durch  die  UnvoU- 
kommenheit  unserer  Anlage  hervorgerufenen  bloßen  Irrtum,  anderer- 
seits die  „abstinence"  für  ein  wirkliches  und  wahrhaftes  Opfer 
erklärt,  das  in  der  Fortdauer  des  (leidenden)  Bedürfniszustandes  besteht. 
So  findet  zwischen  den  mancherlei  interessanten  und  scharfsinnigen 
Gedanken,  die  sich  Jevons  über  unser  Thema  macht,  keine  wechselseitige 
Befruchtung  statt,  und  Jevons  selbst  bleibt  zwar  ein  geistvoller  Eklektiker, 
immerhin  aber  ein  Eklektiker.  — 

Eine  zweite  Gruppe  von  Eklektikern  zieht  auch  die  Arbeitstheorie 
in  irgend  einer  ihrer  Nuancen  zur  Mischung  heran. 

Ich  nenne  zuvörderst  Read,  dessen  Arbeit »),  die  freilich  aus  der 


^)  So  entwickelt  Jevons  einmal,  daß  man  unter  dem  Einflüsse  jenes  Momentes 
bei  der  Verteilung  eines  Gütervorrates  auf  Gegenwart  und  Zukunft  den  künftigen 
Zeiten  einen  im  Verhältnisse  ihrer  Entlegenheit  geringeren  Güteranteil  zuweisen  wird 
(S.  78f.). 

*)  1884  geschrieben;  seither  sind  die  nahe  verwandten,  aber  Jevons  mutmaßlich 
unbekannt  gebliebenen  Forschungen  seines  hervorragenden  Vorläufers  Rae  ans  Licht 
gezogen  worden;  vgl.  oben  Abschnitt  XI. 

3)  An  inquiry  into  the  natural  grounds  of  right  to  vendible  property  or  Wealth, 
Edinburgh  1829. 


Read.  423 

verworrensten  Periode  der  englischen  Zinsliteratur  stammt,  ein  besonders 
inkonsequentes  Durcheinander  von  Meinungen  aufweist. 

Read  legt  anfänglich  das  größte  Gewicht  auf  die  selbständige  Pro- 
duktivität des  Kapitales,  von  der  er  fest  überzeugt  ist.  „Wie  absurd", 
ruft  er  einmal  aus  (S.  83).  „muß  die  Behauptung  erscheinen,  daß  die  Arbeit 
alles  erzeugt  und  die  alleinige  Quelle  alles  Reichtums  ist:  als  ob  das  Kapital 
nichts  erzeugen  und  nicht  auch  eine  wahre  und  selbständige  (a  real  and 
distinct)  Quelle  von  Reichtum  sein  würde."  Und  etwas  später  schließt 
er  eine  Beleuchtung  dessen,  was  das  Kapital  in  gewissen  Produktions- 
zweigen leistet,  mit  der  völlig  im  Geiste  der  Produktivitätstheorie  ge- 
haltenen Erklärung,  daß  alles,  was  nach  Bezahlung  der  am  Werke  mit- 
tätigen Arbeiter  erübrigt,  mit  Recht  als  das  Produkt  und  die  Be- 
lohnung des  Kapitales  in  Anspruch  genommen  werden  kann  (may 
fairly  be  claimed  as  the  produce  and  reward  of  capital). 

Später  sieht  er  jedoch  die  Sache  in  einem  wesentlich  verschiedenen 
Lichte  an.  Er  stellt  jetzt  die  Tatsache  in  den  Vordergrund,  daß  das  Kapital 
selbst  durch  Arbeit  und  Ersparung  entstanden  ist,  und  baut  darauf  eine 
Erklärung  des  Kapitalzinses,  die  halb  im  Geiste  der  Arbeitstheorie  James 
Mills,  halb  im  Geiste  der  Abstinenztheorie  Seniors  gehalten  ist.  „Die 
pCTSon",  sagt  er  jetzt  (S.  310),  „welche  vorher  gearbeitet,  und  das 
Produkt  ihrer  Arbeit  nicht  verzehrt,  sondern  aufgespart  hat,  und  deren 
Produkt  jetzt  zur  Unterstützung  eines  anderen  Arbeiters  im  Produktions- 
werke verwendet  wird,  ist  zu  ihrem  Gewinne  oder  Interesse  (das  die 
Belohnung  für  vergangene  Arbeit  und  für  die  Ersparung  und 
Aufbewahrung  der  Früchte  dieser  Arbeit  ist)  ebensowohl  be- 
rechtigt, als  der  jetzige  Arbeiter  auf  seinen  Lohn  ein  Recht  hat,  der  die 
Vergeltung  für  seine  neuere  Arbeit  ist." 

Daß  es  bei  dieser  eklektischen  Schwenkung  nicht  ohne  allerlei  Wider- 
sprüche abgehen  kann,  versteht  sich  von  selbst.  So  löst  jetzt  Read  selbst 
das  Kapital  in  vorgetane  Arbeit  auf,  wogegen  er  früher  i)  auf  das  hart- 
näckigste protestiert  hat;  und  so  erklärt  Read  selbst  jetzt  den  Kapital- 
gewinn als  Lohn  für  vergangene  Arbeit,  während  er  früher 2)  McCülloch 
auf  das  gröbüchste  dafür  getadelt  hat,  daß  er  den  Unterschied  zwischen 
den  Begriffen  „profit"  und  „wages"  verwische.  — 

An  Read  kann  ich  am  passendsten  den  Deutschen  Gerstner  an- 
reihen. Dieser  beantwortet  die  „bekannte  Frage",  ob  das  Kapital  selb- 
ständig und  unabhängig  von  den  beiden  anderen  Güterquellen  produziert, 
bejahend;  glaubt,  daß  man  die  Teilnahme  des  Produktionswerkzeuges 
Kapital  an  der  Erzeugung  des  Gesamtproduktes  mit  mathematischer 
Genauigkeit  bestimmen  kann,  und  sieht  diesen  Produktionsanteil  ohne 

*)  a.  a.  0.  S.  131  und  überhaupt  in  der  ganzen  Polemik  gegen  GoDwm  und  die 
Anonymschrift  „labour  defended". 
*)  a.  a.  0.  Note  zu  S.  247. 


424  XIII.  Die  Eklektiker. 

weiteres  als  „die  dem  Kapital  zugehörige  Rente  am  Gesaratgevdnne"  an^). 
1d  diese  freilich  sehr  lapidarische  Produktivitätstheorie  mischt  aber 
Gerstner  Anklänge  an  die  MiLLSche  Arbeitstheorie,  indem  er  (S.  20)  die 
Produktionswerkzeuge  als  „eine  Art  Antizipation  der  Arbeit",  und,  darauf 
fußend,  „die  auf  die  Produktionswerkzeuge  fallende  Kapitalrente  als  den 
nachträglichen  Lohn  früher  schon  geleisteter  Arbeit"  erklärt  (S  23).  An 
die  nahe  liegende  Frage,  ob  denn  die  früher  schon  geleistete  Arbeit  nicht 
auch  schon  früher  ihren  Lohn  aus  dem  Kapitalwerte  der  Kapitalstücke 
empfangen  hat,  und  warum  sie  darüber  hinaus  noch  einen  ewigen  Zuschuß 
im  Zinse  bekommt,  denkt  er  ebensowenig  als  Read. 

Weiter  gehören  hieher  die  Franzosen  Cauwes^)  und  Joseph  Garnier. 

Wie  Gauwes  sich  in  etwas  reservierten  Worten  als  Anhänger  der 
CouRCELLE-SENEuiLschen  Arbeitstheorie  zeigt,  habe  ich  schon  oben 3) 
dargestellt.  Daneben  entwickelt  er  aber  auch  allerlei  Ansichten  die  in 
der  Produkti^ätätstheorie  wurzeln.  Er  schreibt,  gegen  die  Sozialisten 
polemisierend,  dem  Kapitale  eine  selbständige  „aktive  Rolle"  in  der 
Produktion  neben  der  Arbeit  zu  (I  S.  235 f.);  er  sieht  in  der  „Produktivität 
des  Kapitales"  den  Bestimmgrund  der  jeweiligen  Höhe  des  Leihzinses*), 
und  er  leitet  endlich  überhaupt  die  Existenz  des  „Mehrwertes"  von  der 
Produktivität  des  Kapitales  ab,  wenn  er  einmal  die  Erklärung  des  Kapital- 
zinses auf  die  Tatsache  basiert,  daß  man  der  produktiven  Anwendung  des 
Kapitales  ,, einen  gewissen  Mehrwert  verdankt"^). 

Bei  Joseph  Garnier  s)  finden  wir  sogar  die  Elemente  dreier  ver- 
schiedener Theorien  eklektisch  vereinigt.  Die  Basis  seiner  Anschauungen 
bildet  offenbar  die  SAvsche  Produktivitätstheorie,  von  der  er  sogar  den 
von  der  Kritik  längst  verworfenen  Zug  noch  beibehalten  hat,  daß  er  den 
Kapital zins  unter  die  Produktionskosten  rechnet').  Daneben  nennt  er 
—  wohl  in  Nachahmung  Bastiats  —  die  Entbehrung  (privation),  die  sich 
der  Verleiher  von  Kapital  durch  die  Entäußerung  des  letzteren  auferlegt, 
als  Rechtfertigungsgrund  des  Zinses;  und  endlich  erklärt  er,  daß  der 
letztere  die  „Ersparungsarbeit"  (travail  d'epargne)  hervorrufe  und  ver- 
güte«). — 


')  Beitrag  zur  Lehre  vom  Kapital,  Erlangen  1857,  S.  16,  22f. 

*)  Precis  d'Economie  Politique,  2.  Auflage,  Paris  1881. 

=»)  Siehe  S.  268ff. 

*)  ,,Le  principe  est  donc  que  le  taux  de  l'intöret  est  en  raison  directe  de  ia  pro- 
dactivit6  du  capital."    (II  S.  110.) 

')  ,,Nous  avons  vu  que  la  valeur  reelle  de  l'int^ret  d^pendait  de  l'emploi  pro- 
ductif  donn6  au  capital:  puisqu'une  certaine  plus  value  est  due  au 
capital,  l'intöret  est  une  partie  de  cette  plus-value  presumee  fixee  k  forfait  que  reeoit 
le  pr§teur  pour  le  service  par  lui  rendu."    (II  S.  189.) 

•)  Traite  d  Economic  Politique,  8.  Auflage,  Paris  1880. 

')  a.  a.  0.  S.  47. 

•)  S.  522. 


Cauw6s,  Garnier,  Hoffmann,  Mill.  425 

Alle  bisher  genannten  Eklektiker  verbinden  eine  Mehrheit  von  Theorien, 
die  zwar  nicht  in  ihrer  inneren  Begründung,  aber  doch  wenigstens  in  ihren 
praktischen  Ergebnissen  harmonieren:  sie  verbinden  nämlich  sämtlich  zins- 
freundliche Theorien.  Seltsamer  Weise  gibt  es  aber  auch  eine  Reihe  von 
Schriftstellern,  die  mit  einer  oder  mehreren  zinsfreundlichen  auch  Elemente 
der  zinsfeindlichen  Ausbeutungstheorie  verknüpfen. 

So  stellt  J.  G.  Hoffmann  auf  der  einen  Seite  eine  eigentümliche,  dem 
Kapitalzinse  günstige  Theorie  auf,  die  den  Zins  als  Entgelt  gewisser,  durch 
die  Kapitalisten  zu  leistender  gemeinnütziger  Arbeiten  erklärt  ^).  Anderer- 
seits verwirft  er  aber  entschieden  die  schon  zu  seiner  Zeit  im  Schwünge 
befindliche  Produktivitätstheorie,  indem  er  die  Meinung,  „daß  in  der  toten 
Masse  des  Kapitales  oder  des  Bodens  erwerbende  Kräfte  wohnen",  als 
einen  Wahn  bezeichnet  2);  und  erklärt  dafür  in  dürren  Worten,  daß  der 
Kapitalist  im  Kapitalzinse  die  Früchte  fremder  Arbeit  einheimst.  „Ka- 
pital", sagt  er  3),  ,.kann  ebenso  zur  Förderung  eigener  als  fremder  Arbeiten 
verwandt  werden.  Im  letzten  Falle  gebührt  dem  Eigentümer  eine  Miete 
dafür,  die  nur  aus  der  Frucht  der  Arbeit  gezahlt  werden  kann. 
Diese  Miete,  die  Zinsen,  hat  insoferne  die  Natur  der  Bodenrente,  als  sie, 
gleich  dieser,  dem  Empfänger  aus  der  Frucht  fremder  Arbeit  zu- 
fließt". 

Noch  frappanter  ist  die  Vereinigung  gegensätzlicher  Meinungen  bei 
J.  St.  Mill*).  Es  ist  schon  oft  bemerkt  worden,  daß  Mill  eine  Zwitter- 
steUung  zwischen  zwei  sehr  stark  divergierenden  Richtungen  der  politischen 
Ökonomie  einnimmt:  zwischen  der  sogenannten  Manchester-Richtung 
einerseits  und  dem  Sozialismus  andererseits.  Es  begreift  sich,  daß  eine 
solche  Zwitterstellung  dem  Ausbau  einer  strammen  einheitlichen  Lehre 
überhaupt  nicht  günstig  sein  konnte;  am  allerwenigsten  auf  demjenigen 
Gebiete,  das  den  Haupttummelplatz  für  die  „kapitalistische"  und  „sozia- 
listische" Fehde  abgibt:  auf  dem  Gebiete  der  Kapitalzinstheorie.  So  ist 
denn  in  der  Tat  die  MiLLSche  Lehre  vom  Kapitalzinse  in  eine  derartige 
Verwirrung  gekommen,  daß  man  dem  ausgezeichneten  Denker  sehr  Unrecht 
tun  würde,  wenn  man^  seine  wissenschaftliche  Bedeutung  nach  dieser 
übelgelungensten  Partie .  seines  Werkes  beurteilen  wollte. 

Wie  Mill  im  großen  und  ganzen  auf  den  nationalökonomischen 
Ansichten  Ricardos  weiterbaute,  so  übernahm  er  auch  die  Lehre,  daß 
die  Arbeit  die  Hauptquelle  alles  Wertes  ist.  Dieses  Prinzip  wird  aber  durch 
die  tatsächliche  Existenz  des  Kapitalzinses  durchkreuzt,    Mill  modifiziert 


^)  Kleine  Schriften  staatswirtschaftlichen  Inhalts,  Berlin  1843,  S.  566.  Siehe 
oben  S.  276. 

»)  a.  a.  0.  S.  588. 

»)  a.  a.  0.  S.  576. 

*)  Principles  of  Political  Economy.  Ich  zitiere  nach  Soetbeers  Übersetzung, 
Leipzig  1869. 


426  XIII.  Die  Eklektiker. 

es  daher  dem  Kapitalzinse  zu  Liebe  in  der  Weise,  daß  er  statt  der  Arbeit 
allgemeiner  die  Produktionskosten  als  maßgebend  für  den  Wert  der  Güter 
erklärt,  und  innerhalb  derselben  neben  der  Arbeit,  die  das  ,, hauptsäch- 
lichste, ja  das  fast  alleinige  Element"  derselben  ausmacht,  auch  dem 
Kapitalgewinne  einen  selbständigen  Platz  einräumt:  der  Kapitalgewinn 
ist  bei  ihm  das  zweite  ständige  Element  der  Produktionskosten  i).  Schon 
damit,  daß  er  so  nach  dem  Vorbilde  von  Malthus  einen  Produktions- 
überschuß für  ein  Produktionsopfer  erklärt,  gibt  er  sich  eine  starke  Blöße, 
was  um  so  verwunderlicher  ist,  als  das  hierin  liegende  Versehen  in  der 
englischen  Literatur  schon  längst,  zumal  von  Torrens  und  Senior,  herb 
und  treffend  kritisiert  worden  war. 

Woher  kommt  aber  der  Kapitalgewinn?  —  Hiefür  gibt  Mill  statt 
einer  drei  widersprechende  Erklärungen. 

Den  kleinsten  Anteil  nimmt  hieran  die  Produktivitätstheorie,  in  deren 
Bahnen  Mill  nur  an  vereinzelten  Stellen  und  mit  allerlei  Vorbehalten 
einlenkt.  Er  erklärt  zunächst  mit  einiger  Reserve  das  Kapital  für  den 
dritten  selbständigen  Produktionsfaktor.  Zwar  sei  dasselbe  selbst  das 
Produkt  von  Arbeit;  seine  Wirksamkeit  bei  der  Produktion  sei  daher 
eigentlich  die  der  Arbeit  in  einer  indirekten  Form.  Dessenungeachtet 
findet  Mill  dafür  eine  „besondere  Aufstellung  erforderlich"  2).  Nicht 
weniger  gewunden  äußert  er  sich  über  die  nahe  verwandte  Frage,  ob  das 
Kapital  selbständige  Produktivität  besitzt.  „Man  spricht  oft  von  den 
produktiven  Kräften  des  Kapitales.  Dieser  Ausdruck  ist,  buchstäblich 
genommen,  nicht  richtig.  Eigentlich  sind  nur  die  Arbeit  und  die  Natur- 
kräfte produktiv.  Wenn  man  von  einem  Teile  des  Kapitales  den  Ausdruck 
gebrauchen  wiU,  daß  es  eine  eigene  produktive  Kraft  habe,  so  sind  dies 
nur  Werkzeuge  und  Maschinen,  von  denen  man  behaupten  kann,  daß  sie 
(wie  Wind  und  Wasser)  der  Arbeit  Beistand  leisten.  Der  Unterhalt  der 
Arbeiter  und  die  Stoffe  der  Produktion  haben  keine  produktive  Kraft  ..."3). 
Also,  Werkzeuge  sind  wirklich  produktiv,  Rohstoffe  nicht  —  eine  ebenso 
wunderliche  als  unhaltbare  Unterscheidung! 

Viel  entschiedener  bekennt  sich  Mill  zur  SENioRschen  Enthaltsam- 
keitstheorie. Sie  bildet  gleichsam  seine  offizielle  Lehrmeinung  über  den 
Zins,  die  in  dem  dem  Kapitalgewinne  gewidmeten  Abschnitte  ausdrücklich 
und  eingehend  vorgetragen  und  außerdem  oftmals  im  Verlaufe  des  Werkes 
berufen  wird.  „Wie  der  Lohn  des  Arbeiters  die  Vergütung  für  Arbeit  ist" 
—  sagt  Mill  im  XV.  Kapitel  des  IL  Buches  seiner  „Grundsätze"  —  „so 
besteht  (nach  Herrn  Seniors  passend  gewähltem  Ausdrucke)  der  Gewinn 
des  Kapitalisten  in  der  Vergütung  für  Enthaltsamkeit.  Sein  Gewinn  bildet 
sich  dadurch,  daß  er  sich  die  Verwendung  des  Kapitales  für  seine  eigene 

1)  Buch  III,  Kap.  IV,  §§  1,  4,  6,  Kap.  VI,  §  1  Nr.  VIII  und  oft. 
•)  Buch  I,  Kap.  VII,  §  1  (S.  107). 
')  I,  V,  §  1. 


John  St.  MUI.  ^7 

Person  versagt  und  dasselbe  durch  produktive  Arbeiter  zu  ihrem  Nutzen 
verbrauchen  läßt.  Für  solche  Versagung  verlangt  er  eine  Belohnung." 
Und  ebenso  entschieden  erklärt  er  ein  anderesmal:  „Bei  unserer  Ent- 
wicklung der  Erfordernisse  der  Produktion  fanden  wir,  daß  es  dabei  außer 
der  Arbeit  noch  ein  anderes  notwendiges  Element  gibt,  das  Kapital.  Da 
das  Kapital  das  Ergebnis  der  Enthaltsamkeit  ist,  so  muß  das  Produkt 
oder  dessen  Wert  hinreichen,  um  nicht  allein  für  sämtliche  erforderliche 
Arbeit,  sondern  auch  für  die  Enthaltsamkeit  aller  der  Personen,  welche 
die  Bezahlung  der  verschiedenen  Klassen  von  Arbeitern  vorgeschossen 
haben,  Vergütung  zu  gewähren.  Das  Mnkommen  für  Enthaltsamkeit  ist 
der  Kapitalgewinn"  ^). 

Daneben  trägt  aber  Mill  in  demselben  XV.  Kapitel  des  II.  Buches, 
das  vom  Kapitalgewinne  handelt,  noch  eine  dritte  Theorie  vor.  „Die 
eigentliche  Ursache  des  Kapitalgewinnes",  sagt  er  im  §  5  dieses  Kapitels, 
„liegt  darin,  daß  die  Arbeit  mehr  produziert,  als  zu  ihrem  Unter- 
halte erfordert  wird.  Der  Grund,  weshalb  landwirtschaftliches  Kapital 
einen  Gewinn  abwirft,  ist,  daß  menschliche  Wesen  mehr  Nahrungsmittel 
hervorbringen  können,  als  während  dieser  Hervorbringung  zu  ihrem  Unter- 
halte nötig  sind,  einschließlich  der  zur  Anfertigung  der  Gerätschaften 
und  zu  sonstigen  notwendigen  Vorbereitungen  erforderlichen  Zeit.  Eine 
Folge  hiervon  ist,  daß  wenn  ein  Kapitalist  die  Ernährung  der  Arbeiter 
unter  der  Bedingung,  dafür  den  Ertrag  ihrer  Arbeit  zu  erhalten,  über- 
nimmt, er  nach  Ersatz  seiner  Vorschüsse  noch  etwas  für  sich  behält;  oder 
in  anderer  Weise  ausgedrückt,  der  Grund,  weshalb  Kapital  einen  Gewinn 
abwirft,  ist,  daß  Nahrung,  Kleidung,  Rohstoffe,  Werkzeuge  eine  längere 
Dauer  haben  als  die  zu  ihrer  Hervorbringung  erforderliche  Zeit,  so  daß, 
wenn  ein  Kapitalist  eine  Anzahl  Arbeiter  mit  diesen  Dingen  versieht 
unter  der  Bedingung,  ihren  ganzen  Arbeitsertrag  zu  erhalten,  diese  außer 
der  Wiederhervorbringung  üirer  eigenen  Lebenserfordernisse  und  Werk- 
zeuge noch  einen  Teil  ihrer  Zeit  übrig  haben,  um  für  den  Kapitalisten 
zu  arbeiten".  —  Hier  wird  „die  eigentliche  Ursache  des  Kapitalgewinnes" 
nicht  in  einer  produktiven  Ejaft  des  Kapitales,  nicht  in  der  Notwendigkeit, 
ein  besonderes  Opfer  des  Kapitalisten  an  Enthaltsamkeit  zu  vergüten, 
sondern  einfach  darin  gefunden,  „daß  die  Arbeit  mehr  produziert  als  zu 
ihrem  Unterhalte  erfordert  wird",  daß  „die  Arbeiter  noch  einen  Teil  ihrer 
Zeit  übrig  haben,  um  für  den  Kapitalisten  zu  arbeiten";  mit  einem  Worte, 
der  Kapitalgewinn  wird  im  Sinne  der  Ausbeutungstheorie  als  eine  An- 
eignung des  durch  die  Arbeit  erzeugten  Mehrwertes  durch  die  Kapitalisten 
erklärt,  — 

Eine  ähnliche  Zwitterstellung  an  der  Grenzscheide  zwischen  „Kapi- 
talismus" und,  „Sozialismus"  nehfiien  die  deutschen  Kathedersozialisten 


»)  III,  Kap.  IV,  §  4.    Siehe  außerdem  I  S.  42,  228,  III  S.  320  und  oft. 


428  XIII.  Die  Eklektiker. 

ein.  Die  Frucht  dieser  Zwitterstellung  ist  auch  hier  nicht  selten  ein  Eklek- 
tizismus, dessen  Resultante  indes  näher  der  Ausbeutungstheorie  läuft,  als 
es  bei  Mill  der  Fall  gewesen  war.  Ich  begnüge  mich,  hier  eines  Hauptes 
der  Kathedersozialisten  zu  'gedenken,  dem  wir  im  Verlaufe  dieser  Arbeit 
schon  wiederholt  begegnet  sind,  Schäffles. 

In  ScHÄFFLEs  Werken  lassen  sich  in  Bezug  auf  unser  Thema  deutlich 
drei  verschiedene  Strömungen  verfolgen.  In  einer  ersten  Strömung  folgt 
ScHÄFFLE  der  HERMANNschen  Nutzungstheorie,  die  er  durch  eine  sub- 
jektive Färbung  des  Nutzungsbegriffes  theoretisch  verschlechtert,  aber 
der  zweiten  seiner  Theorien  annähert.  Diese  Strömung  dominiert  im 
„gesellschaftlichen  Systeme  der  menschlichen  Wirtschaft",  hat  aber  auch 
noch  im  „Bau  und  Leben  des  sozialen  Körpers"  deutliche  Spuren  zurück- 
gelassen i).  Die  zweite  Strömung  geht  dahin,  den  Kapitalzins  als  ein 
Berufseinkommen  aufzufassen,  das  für  gewisse  Leistungen  des  Kapitalisten 
bezogen  wird.  Diese  schon  im  „Gesellschaftlichen  System"  aufgestellte 
Auffassung  wird  im  „Bau  und  Leben"  ausdrücklich  bekräftigt  2).  Daneben 
machen  sich  aber  endlich  im  letztgenannten  Werke  zahlreiche  Ansätze 
zur  sozialistischen  Ausbeutungstheorie  bemerklich.  Vor  allem  die  Auf- 
lösung aller  Produktionskosten  in  Arbeit.  Während  Schäffle  in  seinem 
„Gesellschaftlichen  System'.  Hoch  die  Vermögensnutzungen  als  einen 
selbständigen  elementaren  Kostenfaktor  neben  der  Arbeit  anerkannt 
hatte 3),  erklärt  er  jetzt:  „Die  Kosten  haben  zwei  Bestandteile:  Aufwand 
persönlicher  Güter  durch  Auslösung  von  Arbeit  und  Aufwand  von  Kapital. 
Letztere  Kosten  können  aber  auch  auf  Arbeitskosten  zurückgeführt 
werden;  denn  der  produktive  Sachgüteraufwand  läßt  sich  auf  eine  Summe 
von  Teilchen  des  Arbeitsaufwandes  früherer  Perioden  reduzieren,  man 
kann   daher   alle   Kosten   als   Arbeitskosten   betrachten"*). 

Ist  sonach  Arbeit  das  einzige  wirtschaftlich  zu  berücksichtigende 
Opfer,  das  die  Güterproduktion  kostet,  so  liegt  es  nahe,  auch  das  Resultat 
der  Produktion  zur  Gänze  für  diejenigen  in  Anspruch  zu  nehmen,  die  dieses 
Opfer  gebracht  haben.  Es  gibt  denn  auch  Schäffle  wiederholt,  z.  B. 
III  313 ff.,  zu  verstehen,  daß  er  das  Ideal  einer  volkswirtschaftlichen 
Verteilung  der  Güter  darin  erblickt,  wenn  letztere  nach  dem  Maßstabe 
der  geleisteten  Arbeit  an  die  Volksglieder  verteilt  würden.  Heutzutage 
wird  allerdings  die  Verwirklichung  dieses  Ideales  noch  durch  allerlei 
Hindernisse  durchkreuzt.  Unter  anderem  dadurch,  daß  das  Kapital- 
vermögen als  Aneignungsmittel  dient;  teils  zu  einer  illegalen  und  unmora- 
lischen, teils  zu  einer  legalen  und  moralischen  Aneignung  von  Arbeits- 


')  Siehe  oben  S.  189ff. 

*)  Siehe  oben  S.  271f. 

ä)  I  258,  271  und  oft. 

*)  Bau  und  Leben  III  S.  273f. 


Schaf  fle.  429 

produkt^).  Diese  „Mehrwertsaneignung"  der  Kapitalisten  verwirft 
Schäffle  zwar  nicht  ganz  unbedingt,  aber  er  läßt  sie  doch  nur  als  ein 
opportunistisches  Auskunftsmittel  insolange  gelten,  als  man  nicht  den 
„volkswirtschaftlichen  Dienst  des  Privatkapitales  durch  eine  positiv  nach- 
gewiesene, vollkommenere  und  weniger  „„Mehrwert  schluckende"" 
öffentliche  Organisation  zu  ersetzen  vermag"  2). 

Gegenüber  einer  solchen  opportunistischen  Duldung  trägt  Schäffle 
aber  auch  oft  in  dürren  Worten  das  Dogma  der  Ausbeutungstheorie  vor, 
daß  der  Kapitalzins  eine  Erbeutung  am  Produkte  fremder  Arbeit  sei 
So  wenn  er  in  unmittelbarem  Anschlüsse  an  die  obigen  Worte  fortfährt: 
„Immerhin  ist  spekulativ-privatwirtschaftliche  Geschäftsorganisation  nicht 
das  non  plus  ultra  der  Geschichte  der  Volkswirtschaft.  Sie  dient  bloß 
mittelbar  einem  sozialen  Zweck.  Unmittelbar  isl  sie  nicht  auf  höchsten 
reinen  Nutzen  für  die  Gesamtheit,  sondern  auf  den  höchsten  Erwerb 
der  Privatbesitzer  von  Produktionsmitteln  und  auf  den 
höchsten  Lebensgenuß  der  Kapitalistenfamilien  gerichtet. 
Der  Besitz  der  unbeweglichen  und  der  beweglichen  Produktionsmittel  wird 
angewendet,  um  vom  Ertrage  der  Nationalarbeit  so  viel  wie  nur 
möglich  zu  appropriieren.  SchonProudhon  hates  zurvollen  kritischen 
Evidenz  erhoben,  daß  das  Kapital  in  hunderterlei  Formen  vor- 
wegnimmt. Den  Lohnarbeitern  ist  nur  der  Ertragsanteil  gesichert, 
welchen  ein  aufrechtes  Arbeitstier,  das  mit  Vernunft  begabt  ist  und  deshalb 
nicht  zu  bloß  tierischem  Bedürfen  herabgesetzt  werden  kann,  notwendig 
hat,  um  sich  in  jener  historisch  bedingten  Qualität  zu  erhalten,  die  für 
die  Konkurrenzfähigkeit  des  Unternehmers  selbst  Bedürfnis  ist." 


"■)  III  266f. 

2)  III  423.    Vgl.  auch  III  330,  386,  428  und  öfter. 


XIV. 

Zwei  neuere  Versuche. 

Ich  habe  die  weite  Verbreitung  des  Eklektizismus  als  ein  Symptom 
des  unbefriedigenden  Standes  der  nationalökonomischen  Zinsdoktrin  ge- 
deutet: man  mischt  Elemente  mehrerer  Theorien,  wenn  und  weil  man 
keine  einzige  der  vorhandenen  Theorien  für  sich  genügend  findet. 

Ein  zweites  Symptom,  das  in  dieselbe  Richtung  deutet,  ist  die  Tat- 
sache, daß  trotz  der  großen  Zahl  vorhandener  Theorien  die  hterarische 
Bewegung  über  das  Thema  des  Kapitalzinses  nicht  zur  Ruhe  kommen 
kann.  Seitdem  der  wissenschaftliche  Sozialismus  die  Skepsis  gegen  die 
alten  Schulmeinungen  rege  gemacht  hat,  ist  kein  Lustrum,  und  in  dem 
letzten  Lustrum  fast  kein  Jahr  vergangen,  ohne  daß  eine  neue  Zinstheorie 
das  Licht  der  Welt  erbhckt  hätte  ^).  Soweit  dieselben  wenigstens  gewisse 
Grundlagen  älterer  Erklärungen  beibehielten,  und  die  letzteren  nur  in  der 
genaueren  Durchführung  originell  nuancierten,  habe  ich  sie  den  herrschen- 
den Hauptrichtungen  einzuordnen  gesucht,  und  im  Vereine  mit  diesen 
bereits  in  den  vorangegangenen  Abschnitten  zur  Darstellung  gebracht. 

Einige  neue  Versuche  schlagen  aber  ganz  aparte  Wege  ein.  Zwei 
derselben  scheinen  mir  merkwürdig  genug,  um  eine  genauere  Vorführung 
zu  rechtfertigen.  Die  eine,  welche  im  Grundgedanken  einige  Ähnlichkeit 
mit  TuRGOTS  Fruktifikationstheorie  zeigt  und  die  ich  daher  als  „jüngere 
Fruktifikationstheorie"  bezeichnen  will,  rührt  vom  Amerikaner  Henry 
George,  die  andere,  eine  modifizierte  Abstinenztheorie,  vom  Deutschen 
Robert  Schellwien  her. 

a)  Georges  jüngere  Fruktifikationstheorie. 

George  2)  entwickelt  seine  Zinstheorie  im  Flusse  einer  Polemik  gegen 
Bastiat  und  dessen  bekanntes  Beispiel  von  der  Verleihung  eines  Hobels. 
Ein  Zimmermann  Jakob  hat  sich  einen  Hobel  angefertigt,  den  er  einem 
anderen  Zimmermann  Wilhelm  auf  ein  Jahr  verleiht.     Er  begnügt  sich 


^)  1884  geschrieben;  über  die  neueste  Entwicklung  siehe  noch  den  Anhang  zu 
diesem  Bande. 

*)  Fortschritt  und  Armut,  deutsch  von  Gütschow,  Berlin  1881,  S.  163ff.  und 
Jena  1920. 


Georges  Lehre.  431 

nicht  mit  der  Eückgabe  eines  gleich  guten  Hobels,  weil  er  sonst  für  den 
Verlust  des  Vorteiles,  welchen  der  Gebrauch  des  Hobels  während  des 
Jahres  geben  würde,  nicht  entschädigt  würde,  und  begehrt  darüber  hinaus, 
als  Zins,  noch  ein  neues  Brett.  Bastiat  hatte  die  Zahlung  des  Brettes 
damit  erklärt  und  gerechtfertigt,  daß  Wilhelm  „die  dem  Werkzeuge  inne- 
wohnende Kraft  erlangt,  die  Produktivität  der  Arbeit  zu  vermehren"  i). 
Diese  Erklärung  aus  der  Produktivität  des  Kapitales  läßt  George  aus 
verschiedenen  inneren  und  äußeren  Gründen,  (üe  uns  hier  nicht  weiter 
interessieren,  nicht  gelten,  und  fährt  dann  folgendermaßen  fort: 

„Und  ich  möchte  glauben,  daß,  wenn  alle  Güter  aus  solchen  Dingen 
wie  Hobeln  beständen,  und  alle  Produktion  eine  ähnliche  wäre,  wie  die 
der  Zimmerleute,  d.  h.  wenn  die  Güter  nur  aus  den  unfertigen  Stoffen 
der  Erde  und  die  Produktion  nur  darin  bestände,  dieselben  in  verschiedenste 
Formen  umzugestalten,  der  Zins  nur  ein  Raub  an  der  Erwerbs- 
tätigkeit wäre  und  nicht  lange  bestehen  könnte.  .  .  .  Indes, 
alle  Güter  sind  nicht  von  der  Natur  der  Hobel,  der  Bretter 
oder  des  Geldes,  noch  ist  alle  1  roduktion  bloß  eine  Umarbeitung  der 
Stoffe  der  Erde  in  andere  Formen.  Wahr  ist,  daß,  wenn  ich  Geld  weg- 
stecke, es  sich  nicht  vermehren  kann.  Nehmen  wir  jedoch  statt  dessen 
an,  daß  ich  Wein  weglege.  Mit  Ende  des  Jahres  werde  ich  eine  Wert- 
vermehrung haben,  denn  der  Wein  wird  an  Qualität  gewonnen  haben. 
Oder  nehmen  wir  an,  daß  ich  in  einer  dazu  geeigneten  Gegend  Bienen 
halte;  am  Ende  des  Jahres  werde  ich  mehr  Schwärme  haben,  sowie  den 
Honig,  welchen  sie  gesammelt  haben.  Oder  nehmen  wir  an,  daß  ich  Schafe, 
Rinder  oder  Schweine  auf  eine  Weide  treibe;  am  Ende  des  Jahres  werde 
ich,  im  Durchschnitt,  ebenfalls  mehr  haben.  Was  in  diesen  Fällen  die 
Vermehrung  zuwege  bringt,  erfordert  zwar  in  der  Regel  zur  Nutzbar- 
machung Arbeit,  ist  abei  doch  etwas  von  der  Arbeit  verschiedenes  und 
trennbares,  nämlich  die  tätige  Kraft  der  Natur,  das  Prinzip 
des  Wachstumes,  der  Reproduktion,  das  überall  alle  Formen 
jenes  geheimnisvollen  Zustandes  oder  Dinges,  das  wir  Leben 
nennen,  charakterisiert.  Und  dies  scheint  mir  die  Ursache 
des  Zinses  zu  sein,  d.  h.  der  Kapitalvermehrung  über  das 
hinaus,  was  der  Arbeit  zu  verdanken  ist." 

Der  Umstand,  daß  auch  zur  Verwertung  der  reproduktiven  Natur- 
kräfte Arbeit  notwendig,  und  daß  daher  z.  B.  auch  das  Produkt  des  Acker- 
baues in  gewissem  Sinne  ein  Produkt  der  Arbeit  ist,  ist  nicht  imstande, 
den  wesentlichen  Unterschied  zu  verwischen,  der  nach  George  zwischen 
den  verschiedenen  Produktionsarten  besteht.  Bei  solchen  Produktions- 
arten, „die  nur  in  Form-  oder  Ortsveränderung  des  Stoffes  bestehen,  wie 
das  Bretterhobeln  oder  Kohlengraben",  ist  nämlich  die  Arbeit  allein 


^)  Capital  et  Rente;  siehe  oben  S.  259. 


432       XIV.  Zwei  neuere  Versuche,    a)  Creorges  jüngere  Fruktifikationstheorie. 

die  wirkende  Ursache.  „Hört  die  Arbeit  auf,  so  hört  auch  die  Produktion 
auf.  Legt  der  Zimmermann  mit  Sonnenuntergang  seinen  Hobel  hin,  so 
hört  die  Wertvermehrung  auf,  die  er  mit  demselben  schafft,  bis  er  seine 
Arbeit  am  nächsten  Morgen  wieder  beginnt.  .  .  .  Die  Zwischenzeit  könnte, 
so  weit  die  Produktion  in  Betracht  kommt,  ebensogut  ausgelöscht  werden. 
Das  Verstreichen  der  Tage,  der  Wechsel  der  Jahreszeiten  ist  kein  Element 
der  Produktion,  die  allein  von  der  Summe  der  aufgewendeten  Arbeit 
abhängt."  In  den  anderen  Produktionsarten  jedoch,  „die  sich  die  repro- 
duktiven Naturkräfte  zu  Nutze  machen",  ist  die  Zeit  ein  Element. 
„Die  Aussaat  keimt  und  sproßt  im  Boden,  ob  der  Landmann  schläft, 
oder  neue  Felder  pflügt"^). 

Bis  jetzt  hat  George  erklärt,  wieso  gewisse  natürlich  fruchtbare 
Kapitalsarten  einen  Kapitalzins  tragen.  Bekanntlich  bringen  aber  alle 
Kapitalsarten, auch  die  natürlich  unfruchtbaren,  einen  solchen  ein.  George 
erklärt  dies  einfach  aus  der  Wirksamkeit  des  Gesetzes  der  Gewinnaus- 
gleichung. „Niemand  würde  Kapital  in  einer  Form  behalten  wollen,  wenn 
es  für  eine  vorteilhaftere  Form  vertauscht  werden  könnte.  .  .  .  Und  so 
muß  in  jedem  Austauschkreise  die  Kraft  der  Vermehrung,  welche  die 
Erzeugungs-  oder  Lebenskraft  der  Natur  einigen  Arten  des  Kapitals  ver- 
leiht, sich  mit  allen  übrigen  ausgleichen;  und  wer  Geld,  Hobel,  Bretter 
oder  Kleider  ausleiht  oder  zum  Austausche  verwendet,  vermag  ebensowohl 
ein  Mehr  zu  erzielen,  als  wenn  er  so  viel  Kapital  zu  reproduktiven  Zwecken 
in  einer  der  Vermehrung  fähigen  Form  verliehen  oder  angelegt  hätte". 

Auf  Bastiats  Beispiel  angewendet:  Der  Grund,  warum  Wilhelm  am 
Schlüsse  des  Jahres  an  Jakob  mehr  als  einen  gleich  guten  Hobel  zurück- 
geben muß,  liegt  nicht  in  der  durch  den  Hobel  verliehenen  größeren  Macht; 
„denn  dies  ist  kein  Element";  sondern  derselbe  entspringt  aus  dem  Ele- 
mente der  Zeit  —  dem  Unterschiede  eines  Jahres  zwischen  dem  Leihen 
und  Zurückgeben  des  Hobels.  Beschränkt  man  zwar  die  Betrachtung  auf 
dies  eine  Beispiel,  „so  zeigt  nichts  darin  die  Wirkung  dieses  Elementes, 
denn  ein  Hobel  hat  am  Ende  eines  Jahres  keinen  größeren  Wert  als  zu 
Anfang  desselben.  Denken  wir  uns  aber  an  Stelle  des  Hobels  ein  Kalb, 
so  ist  klar  ersichtlich,  daß.  um  Jakob  ebenso  gut  zu  stellen,  als  wenn  er 
nicht  dargeliehen  hätte,  Wühelm  ihm  am  Ende  des  Jahres  kein  Kalb, 
sondern  eine  Kuh  zurückgeben  muß.  Oder  nehmen  wir  an,  daß  die  zehn- 
tägige Arbeit  dem  Getreidebau  gewidmet  gewesen  wäre,  so  ist  es  augen- 


^)  Parallel  mit  den  ,, vitalen  Kräften  der  Natur"  wirkt  nach  George  auch  ,,die 
Nutzbarmachung  der  Unterschiede  in  den  Kräften  der  Natur  und  des  Menschen  durch 
den  Tausch".  Auch  sie  führt  zu  einer  Zunahme,  „die  einigermaßen  der  durch  die 
vitalen  Kräfte  der  Natur  hervorgebrachten  gleicht"  (S.  161f.).  Auf  eine  genauere  Er- 
klärung dieses  etwas  dunkeln  Elementes  brauche  ich  hier  wohl  nicht  einzugehen,  da 
George  selbst  ihm  nur  eine  sekundäre  Rolle  bei  der  Entstehung  des  Kapitalzinses 
zuschreibt. 


Greorges  Lehre.     Kritik.  433 

scheinlich,  daß  Jakob  nicht  seinen  vollen  Ersatz  erhalten  würde,  falls  er 
nach  Ablauf  des  Jahres  nur  die  Aussaat  zurückerhielte,  denn  während 
desselben  würde  das  Korn  gekeimt  haben,  gewachsen  sein  und  sich  ver- 
vielfältigt haben;  und  ebenso  könnte  der  Hobel,  wenn  er  zum  Tausch 
bestimmt  worden  wäre,  während  des  Jahres  mehrere  Male  umgesetzt 
werden  und  bei  jedem  Tausche  ein  Mehr  für  Jakob  ergeben.  ...  In  letzter 
Instanz  entspringt  der  Vorteil,  der  durch  den  Zeitverfluß 
gewonnen  wird, der  schaffenden  Kraft  derNatur  und  den  wechseln- 
den Fähigkeiten  der  Natur  und  des  Menschen."  — 

Diese  Lehre  weist  eine  sichtliche  Ähnlichkeit  mit  der  Fruktifikations- 
theorie  Turgots  auf.  Beide  gehen  davon  aus,  daß  gewissen  Güterarten 
die  Fähigkeit,  einen  Wertzuwachs  hervorzubringen,  als  eine  natürliche 
Gabe  innewohnt;  und  beide  demonstrieren,  daß  diese  Gabe  unter  dem 
Einflüsse  des  Tauschverkehres  und  des  Bestrebens  der  wirtschaftenden 
Menschen,  ihr  Besitztum  der  lohnendsten  Fruktifikation  zuzuführen,  eine 
künstliche  Verallgemeinerung  auf  alle  Güterarten  erfahren  müsse.  Sie 
differieren  nur  darin,  daß  Turgot  den  Stammsitz  des  Wertzuwachses 
ganz  außerhalb  des  Kapitales,  in  den  rentetragenden  Grund  und  Boden 
verlegt,  während  ihn  George  innerhalb  des  Kapitalgebietes  in  gewissen 
natürlich  fruchtbaren  Güterarten  sucht. 

Der  wichtigsten  Einwendung,  die  wir  gegen  Turgot  zu  erheben  hatten, 
ist  George  durch  diese  Nuance  ausgewichen.  Turgot  hatte  unerklärt 
gelassen,  warum  man  die  Grundstücke,  die  successive  eine  unendliche 
Rentensumme  einbringen,  schon  um  einen  relativ  niedrigen  Kapitalpreis 
erkaufen,  und  damit  dem  unfruchtbaren  Kapitale  den  Vorteil  einer  immer- 
währenden Fruktifikation  verschaffen  kann.  Bei  George  versteht  es 
sich  dagegen  von  selbst,  daß  man  unfruchtbare  Güter  im  gleichen  Ver- 
hältnisse gegen  fruchtbare  austauscht.  Denn  da  letztere  durch  Produktion 
in  beliebiger  Menge  hervorgebracht  werden  können,  so  duldet  die  Möglich- 
keit, ihr  Angebot  zu  vermehren,  nicht,  daß  sie  einen  höheren  Preisstand 
als  unfruchtbare  Güter  von  gleichen  Produktionskosten  genießen. 

Dagegen  ist  Georges  Theorie  zwei  anderen,  und,  wie  ich  glaube, 
entscheidenden  Ausstellungen  ausgesetzt. 

Erstlich  ist  die  Sonderung  der  Produktionszweige  in  zwei  Gruppen, 
in  deren  einer  die  lebendigen  Kräfte  der  Natur  ein  besonderes  Element 
neben  der  Arbeit  bilden  soUen,  in  der  anderen  nicht,  gänzlich  unhaltbar. 
George  wiederholt  hier  in  etwas  geänderter  Form  den  alten  Irrtum  der 
Physiokraten,  die  eine  Beihilfe  der  Natur  am  Produktionswerke  auch  nur 
für  einen  einzigen  Produktionszweig,  die  Landwirtschaft,  zugestehen 
wollten.  Die  Naturwissenschaften  haben  uns  seither  längst  überwiesen, 
daß  die  Mithüfe  der  Natur  eine  universelle  ist.  Alle  unsere  Produktion 
beruht  darauf,  daß  wir  durch  Anwendung  der  Naturkräfte  den  unvergang- 

Böhm-Bawerk,  Kapitalzins.    4.  Aufl.  28 


434     XIV.  Zwei  neuere  Versuche,    a)  Georges  jüngere  Fruktifikationstheorie. 

liehen  Stoff  in  nützliche  Formen  zu  bringen  wissen.  Ob  die  Naturkraft, 
deren  wir  uns  hiebei  bedienen,  eine  vegetative,  oder  aber  eine  unorganische, 
mechanische  oder  chemische  ist,  ändert  am  Verhältnisse,  in  dem  die  Natur- 
kraft zu  unserer  Arbeit  steht,  gar  nichts.  Es  ist  ganz  unwissenschaftlich 
zu  sagen,  bei  der  Produktion  mittels  eines  Hobels  sei  „die  Arbeit  allein 
die  wirkende  Ursache";  die  Muskelbewegung  des  Hobelnden  würde  sehr 
wenig  nützen,  wenn  ihr  nicht  die  natürlichen  Kräfte  und  Eigenschaften 
der  Stahlschneide  des  Hobels  zu  Hilfe  kämen.  Und  ist  es  denn  auch  nur 
wahr,  daß  wegen  des  Charakters  des  Bretterhobeins  als  bloßer  „Form- 
oder Ortsveränderung  des  Stoffes"  die  Natur  hier  nichts  ohne  Arbeit  aus- 
richten kann?  Kann  man  den  Hobel  nicht  in  ein  automatisches  Trieb- 
werk einschalten,  das  man  von  der  Kraft  eines  Flusses  treiben  läßt,  und 
das  seine  Produktion  unermüdet  fortsetzt,  auch  wenn  der  Zimmermann 
schläft?  Was  tut  die  Natur  im  Getreidebau  mehr?  Und  dennoch  soll 
die  Mitwirkung  der  Natur  hier  ein  Element  sein,  dort  nicht? 

Zweitens  aber  hat  George  jene  Urerscheinung  des  Zinses,  mit  der 
er  alle  andern  Zinserscheinungen  erklären  wül,  selbst  nicht  erklärt.  Er 
sagt,  alle  Güterarten  müssen  Zins  tragen,  weil  man  sie  gegen  Saatgetreide, 
Vieh  oder  Wein  vertäuschen  kann,  und  diese  einen  Zins  tragen.  Aber 
warum  tragen  diese  einen  Zins? 

Mancher  Leser  wird  vielleicht  auf  den  ersten  Blick  meinen,  wie  offen- 
bar George  selbst  gemeint  hat,  das  sei  selbstverständlich.  Es  sei  selbst- 
verständlich, daß  zehn  Weizenkörner,  auf  die  sich  das  gesäete  eine  Weizen- 
korn vermehrt,  mehr  wert  sind  als  das  gesäete  eine  Korn;  und  daß  die 
herangewachsene  Kuh  mehr  wert  ist  als  das  Kalb,  aus  dem  sie  heran- 
gewachsen ist.  Allein  man  bedenke  wohl:  die  zehn  Weizenkörner  sind 
nicht  einfach  aus  einem  Korn  herausgewachsen,  sondern  daran  nahm  auch 
die  Leistung  des  Ackerbodens  und  ein  gewisser  Aufwand  an  Arbeit  teil. 
Daß  aber  zehn  Weizenkörner  mehr  wert  sind  als  ein  Korn  +  der  auf- 
gewendeten Bodenleistung  +  der  aufgewendeten  Arbeit,  ist 
offenbar  nicht  mehr  selbstverständlich.  Ebensowenig  ist  es  einfach  selbst- 
verständlich, daß  die  Kuh  mehr  wert  ist  als  das  Kalb,  mehr  dem  Futter, 
das  es  während  des  Wachstums  verzehrt,  mehr  derArbeit,  die  seine 
Wartung  erheischt.  Und  doch  kann  nur  unter  dieser  Bedingung  ein  auf 
den  Anteil  des  Weizenkorns  oder  Kalbes  fallender  Kapitalzins  erübrigen. 

Ja  sogar  im  Falle  des  Weines,  der  sich  durch  Abliegen  verbessert, 
ist  es  nicht  schlechthin  selbstverständlich,  daß  der  besser  abgelegene 
Wein  mehr  wert  ist,  als  der  minder  gute  unreife  Wein.  Denn  bei  unserer 
Art,  die  Güter,  die  wir  besitzen,  abzuschätzen,  befolgen  wir  unzweifelhaft 
das  Prinzip  der  Antizipation  des  Zukunftsnutzens  ^).  Wir  schätzen  unsere 
Güter  nicht,  oder  doch  nicht  nur  nach  dem  Nutzen,  den  sie  uns  im  Augen- 

^)  Vgl.  die  Ausführungen  über  „Vennögenskomputation"  in  meinen  „Rechten 
und  Verhältnissen»  S.  80ff. 


Kritik.  435 

blicke  bringen,  sondern  auch  nach  jenem  Nutzen,  den  sie  uns  in  Zukunft 
bringen  werden.  Wir  legen  dem  Acker,  der  im  Augenblicke  nutzlos  brach 
liegt,  einen  Weri;  bei  mit  Rücksicht  auf  die  Ernten,  die  er  uns  einst  bringen 
wird;  wir  messen  den  zerstreuten  Ziegeln,  Balken,  Nägeln,  Klammern, 
die  uns  in  diesem  Zustande  gar  keinen  Nutzen  bringen,  dennoch  schon 
jetzt  einen  Wert  bei  mit  Rücksicht  auf  den  Nutzen,  den  sie  zu  einem  Hause 
vereinigt  in  der  Zukunft  stiften  werden;  wir  schätzen  den  gärenden  Most, 
den  wir  in  diesem  Zustande  gar  nicht  gebrauchen  können,  weil  wir  wissen, 
daß  er  einst  zum  brauchbaren  Weine  werden  wird-  Und  so  könnten  wir 
auch  den  unreifen  Wein,  von  dem  wir  wissen,  daß  er  durch  Abliegen  ein 
vorzüglicher  Wein  werden  wird,  nach  dem  Maße  des  künftigen  Nutzens 
schätzen,  den  er  als  abgelegener  Wein  uns  bringen  wird.  Legen  wir  ihm 
aber  einen  dem  entsprechenden  Wert  schon  jetzt  bei,  so  bleibt  für  eine 
Wertzunahme  und  für  einen  Zins  kein  Spielraum-  Und  warum  sollen  wir 
es  nicht  tun? 

Und  wenn  wir  es  nicht,  oder  nicht  vollends  tun,  so  kann  die  Ursache 
davon  gewiß  nicht,  wie  George  meint,  in  der  Rücksicht  auf  die  produktiven 
Naturkräfte  hegen,  die  der  Wein  besitzt.  Denn  daß  im  gärenden  Moste, 
der  an  sich  sogar  schädlich  ist,  oder  im  unreifen  Weine,  der  an  sich  nur 
erst  wenig  Nutzen  bringt,  noch  lebendige  Naturkräfte  liegen,  die  zur  Ent- 
stehung köstlicher  Produkte  führen,  könnte  die  Natur  der  Sache  nach 
nur  einen  Grund  abgeben,  die  Träger  jener  köstlichen  Kräfte  hoch, 
nicht  aber  niedrig  zu  schätzen.  Schätzen  wir  sie  dennoch  relativ  niedrig, 
so  tun  wir  es  nicht  weil,  sondern  ob  schon  sie  Träger  nützlicher  Natur- 
kräfte sind.  —  Einfach  selbstverständlich  ist  also  der  Mehrwert  der  von 
George  berufenen  Naturprodukte  gewiß  nicht. 

George  macht  nun  freilich  einen  leisen  Versuch,  diesen  Mehrwert 
zu  erklären.  Dadurch,  daß  er  sagt,  die  Zeit  ma^he  bei  ihrer  Erzeugung 
neben  der  Arbeit  ein  selbständiges  Element  aus.  Aber  ist  das  wirklich 
eine  Erklärung  und  nicht  vielmehr  eine  Umgehung  der  Erklärung?  Wie 
kommt  derjenige,  der  ein  Saatkorn  in  die  Erde  wirft,  dazu,  sich  im  Werte 
des  Produktes  nicht  bloß  seine  Arbeit,  sondern  auch  die  „Zeit"  vergüten 
zu  lassen,  während  der  das  Saatkorn  in  der  Erde  gelegen  und  gewachsen 
ist?  Ist  denn  die  Zeit  der  Gegenstand  eines  Monopoles?  Fast  wäre  man 
versucht,  gegenüber  einer  solchen  Begründung  sich  auf  die  naiven  Worte 
des  alten  Kanonisten  zu  berufen,  daß  die  Zeit  ein  Gemeingut  aller,  des 
Schuldners  sowohl  wie  des  Gläubigers,  des  Produzenten  so  gut  wie  des 
Konsumenten  ist! 

George  meinte  daher  wohl  statt  der  Zeit  eigentlich  die  in  der  Zeit 
nützlich  wirkenden  vegetativen  Naturkräfte.  Aber  wie  soll  der  Produzent 
dazu  kommeUj  sich  diese  vegetativen  Naturkräfte  durch  einen  besonderen 
Mehrwert  des  Produktes  honorieren  zu  lassen?  Sind  denn  diese  Natur- 
kräfte Gegenstand  eines  Monopoles,  oder  sind  sie  nicht  vielmehr  jedermann 

28* 


436       XIV.  Zwei  neuere  Versuche,    a)  Goorges  jüngere  Fruktifikationstheorie. 

zugänglich,  der  ein  Saatkorn  besitzt?  Und  kann  sich  nicht  jedermann 
in  den  Besitz  eines  solchen  setzen?  Würde,  da  Saatgetreide  durch  Arbeit 
in  beliebiger  Menge  produziert  werden  kann,  die  Masse  desselben  nicht 
immerfort  vermehrt  werden,  so  lange  ein  daran  haftendes  Monopol  von 
Naturkräften  seinen  Besitz  besonders  vorteilhaft  erscheinen  ließe?  Und 
müßte  darum  nicht  das  Angebot  so  lange  wachsen,  bis  jener  daran  hängende 
Extragewinn  verwischt,  und  die  Erzeugung  von  Saatgetreide  nicht  lohnen- 
der als  jede  andere  Produktionsart  ist? 

Der  aufmerksame  Leser  wird  bemerken,  daß  wir  hier  in  dasselbe 
Gedankengeleise  eingelenkt  sind,  in  dem  sich  unsere  Kritik  der  Pro- 
duktivitätstheorie Strasbubgers  bewegt  hat^).  George  hat  in  diesem 
Stücke  seiner  Theorie  in  ähnlicher  Art  wie  Strasburger,  nur  in  noch 
höherem  Grade  und  mit  noch  größerer  Naivität  das  Zinsproblem  unter- 
schätzt. Beide  sehen  voreüig  die  Naturkräfte  für  die  Ursache  des  Zinses 
an.  Strasbüger  hatte  aber  wenigstens  das  Bestreben,  den  angeblichen 
Kausalzusammenhang  zwischen  beiden  genau  zu  ergründen  und  bis  ins 
einzelne  zu  motivieren,  George  hingegen  hat  nichts  als  die  präsumierende 
Phrase,  daß  in  gewissen  Produktionen  die  Zeit  ein  „Element"  sei.  So 
wohlfeil  war  nun  freilich  die  Lösung  des  mächtigen  Problems  nicht  zu 
gewinnen. 

b)  Schellwiens  modifizierte  Abstinenztheorie. 

S CHELL WIENS  ^)  Ansichteu  gehen  ein  Stück  weit  mit  der  sozialistischen 
Theorie  von  Marx  parallel. 

Der  Wert  der  Güter  erscheint  im  Preise,  dessen  „Inneres",  dessen 
„Substanz"  er  ist.  Die  Faktoren  des  Preises  sind  Angebot  und  Nachfrage, 
beziehungsweise  Produktion  und  Konsumtion,  die  jenen  zu  Grunde  liegen. 
Die  beiden  letztgenannten  Faktoren  beeinflussen  aber  den  Wert  in  ver- 
schiedener Weise.  Die  Konsumtion  ist  allerdings  insoferne  ein  Faktor 
des  Wertes,  als  man  kein  Gut  schätzt,  das  nicht  konsumierbar  oder  brauch- 
bar ist;  sie  ist  also  eine  Bedingung  des  Wertes.  Allein,  da  die  Bedürfnisse 
und  Annehmlichkeiten  an  sich  irrational  und  darum  auch  die  Brauchbar- 
keiten itikommensurabel  sind,  so  kann  die  Brauchbarkeit  nicht  Maßstab 
des  Wertes  werden.  Der  Maßstab  des  Wertes  findet  sich  ausschließlich 
im  zweiten  Hauptgebiete,  dem  der  Produktion  oder  der  Arbeit,  und  zwar 
liegt  er  in  der  Arbeitszeit.  Vernünftigerweise  können  die  einzelnen  Werte 
nur  geschätzt  werden  nach  der  Arbeitszeit,  die  zu  ihrer  Herstellung  er- 
forderlich ist,  und  zwar  nach  der  einfachen  Arbeit,  auf  welche  alle  kom- 
pliziertere Arbeit  zu  reduzieren  ist  3), 


1)  Siehe  oben  Abschnitt  VII  S.  167f. 

'')  Die  Arbeit  und  ihr  Recht,  Berlin  188C,  S.  195ff. 

3)  a.  a.  0.  S.  195—201. 


Kritik.  437 

Von  hier  an  trennt  sich  Schellwien  von  Marx,  Et  findet,  daß 
Marx  eine  eigentümliche  Modifikation  des  Arbeitsresultates,  die  zur 
Ursache  des  Kapitalzinses  wird,  nicht  gehörig  gewürdigt  hat.  Es  ist 
nämlich  nicht  bloß  die  Konsumierbarkeit  oder  Brauchbarkeit,  sondern 
auch  die  wirkliche  Konsumtion  für  den  Wert  von  wesentlicher  Bedeutung. 
Der  Wert  aller  Güter  wird  durch  die  Konsumtion,  auf  die  er  immer  hin- 
zielt, erst  verwirklicht;  das  Gut  wird  durch  sie,  wie  unsere  Sprache 
treffend  sagt,  erst  verwertet.  Tritt  das  Gut  dagegen  gar  nicht,  oder 
verspätet  in  die  Konsumtion  ein,  so  wird  es  entwertet.  Die  entwertende 
Nichtkonsumtion  hat  bisweilen  einen  pathologischen  wertzerstörenden 
Charakter;  daneben  spielt  sie  aber  auch  in  der  Oekonomie  eine  durchaus 
regelmäßige  Rolle,  „in  der  sie  den  Wert  nicht  zerstört,  sondern  erhöht". 
Das  geschieht  in  zwei  Gruppen  von  Fällen. 

Erstlich  dort,  wo  die  temporäre  Nichtkonsumtion  eines  Produktes 
nötig  ist,  damit  dasselbe  überhaupt  oder  mit  einer  gewissen  Qualität  aus- 
gestattet in  die  Konsumtion  eintreten  könne.  So  muß  man  den  Feld- 
früchten Zeit  zur  Reife,  dem  Weine  Zeit  zu  einer  mehrjährigen  Lagerung 
lassen.  Insoferne  ein  solcher  Zwischenraum  zwischen  der  Vollendung 
eines  Produktes  und  seiner  Verwertung  notwendig  ist,  muß  er  zu  einer 
Erhöhung  des  Wertes  desselben  führen;  denn  die  temporäre  Nichtkon- 
sumtion bedingt  eine  „Minderung  des  Arbeitsresultates",  und  das  bedeutet 
für  den  Preis  gerade  so  viel  wie  eine  Erhöhung  der  notwendigen  Arbeitszeit : 
die  „notwendige  Nichtkonsumtionszeit"  bildet  daher  ebensogut  wie  die 
eigentliche  Arbeitszeit  einen  Bestandteil  der  wertbestimmenden  „gesell- 
schaftichen  Produktionszeit"  ^). 

Die  zweite  Gruppe  umfaßt  jene  Fälle,  in  denen  die  Herstellung  eines 
Produktes  erfordert,  daß  andere  Produkte  nicht  konsumiert  werden. 
Das  trifft  überall  dort  zu,  wo  Kapital  die  Voraussetzung  der  Produktion 
bildet,  also  in  aller  Regel.    Hiebei  ereignet  sich  folgendes: 

„Das  Kapital  wird  nicht  konsumiert,  wenigstens  nicht  seinem  Art- 
bestande nach.  Die  einzelnen  Stücke  des  Kapitales  werden  allerdings 
bei  der  Produktion  konsumiert  und  gehen  auf  diese  Weise  in  den  Wert 
des  Produktes  ein,  eben  weil  sie  konsumiert  werden.  Für  dieses  konsumierte 
Kapital  gewährt  das  Produkt  Ersatz,  in  dessen  Werte  der  W^ert  des  konsu- 
mierten Kapitales  wiedererscheint.  Aber  das  konsumierte  Kapital  muß 
auch  wirklich  ersetzt,  das  wirtschaftlich  notwendige  Kapital  muß  fort- 
dauernd erhalten,  es  darf  nicht  konsumiert  werden.  Indem  somit  das 
Kapital  im  Dienste  der  Produktion  schlechthin  nicht  konsumiert  wird, 
muß  das  Produkt  auch  Ersatz  für  diese  Nichtkonsumtion  gewähren  und 
dies  bedingt  eine  entsprechende  Erhöhung  des  Wertes  des  Produktes. 
Wenn  das  Produkt  in  seinem  Werte  nur  das  Äquivalent  für  den  durch 

')  S.  203f. 


438     XIV.  Zwei  neuere  Versuche,    b)  Sciiellwlens  modifizierte  Abstinenztheorie. 

Konsumtion  von  Kapital  in  dasselbe  eingegangenen  Wert  und  für  die 
neue,  zu  seiner  Herstellung  erforderliche  Arbeit  enthielte,  so  bliebe  das 
Kapital  für  seine  Nichtkonsumtion  unentschädigt,  und  dies  ist  wirtschaft- 
lich undenkbar,  planmäßige  Nichtkonsumtion  kann  in  der  Ökonomie  nur 
in  dem  Sinne  geschehen,  daß  die  Verwertung  der  nichtkonsumierten  und 
dadurch  an  sich  wertlos  gemachten  Güter  indirekt  durch  Verwertung 
neuer  Produkte  vollzogen  wird"^).  Dieser  für  die  Nichtkonsumtion  des 
Kapitales  entschädigende  Wertteil  ist  der  Kapitalzins. 

Es  kostet  weniger  Mühe  einen  Knäuel  zu  verwirren,  als  den  verwirrten 
wieder  aufzulösen.  Und  so,  fürchte  ich,  werde  auch  ich  mehr  Worte 
brauchen,  um  das  arg  verworrene  Gespinst  von  Irrtümern  und  Wider- 
sprüchen, das  in  obigen  Worten  liegt,  klärlich  auseinander  zu  legen,  als 
Schellwien  bedurfte,  um  es  zusammen  zu  weben. 

Der  Hauptfehler,  den  Schellwien  begeht,  ist  ein  fast  ans  Komische 
streifendes  Doppelspiel  mit  dem  Begriffe  „Konsumtion  des  Kapitales", 
und  eine  nicht  weniger  ans  Komische  streifende  Doppelrechnung  mit  dem 
Ersätze  für  konsumiertes  und  nichtkonsumiertes  Kapital. 

Schellwien  geht  von  dem  Gedanken  aus,  daß  auch  bloß  temporäre 
Nichtkonsumtion  die  Güter  „an  sich  wertlos"  macht,  und,  falls  sie  zur 
Produktion  anderer  Güter  notwendig  war,  vom  Käufer  der  letzteren  ver- 
gütet werden  muß.  Schon  diese  Voraussetzung  ist  sehr  anfechtbar;  wenn 
nicht  ein  natürlicher  Verderb  oder  ein  Modewechsel  eintritt,  pflegt  im 
Gegenteile  ein  Gut  durch  temporäre  Nichtkonsumtion  nicht  entwertet 
zu  werden.    Allein  lassen  wir  diese  Voraussetzung  immerhin  gelten. 

In  der  Produktion  werden  Kapitalstücke  konsumiert;  z.  B.  in  der 
Tuchproduktion  wird  Wolle  konsumiert.  Allein  um  die  Produktion  regel- 
mäßig fortsetzen  zu  können,  ersetzt  der  Unternehmer  die  konsumierten 
Kapitalstücke  sofort  durch  gleichartige  neue;  an  Stelle  der  verbrauchten 
Wolle  kauft  der  Tucbfabrikant  andere  Wolle  wieder  ein.  Diese  sehr  ein- 
fache Tatsache  bringt  Schellwien  unter  einen  doppelten  Gesichtspunkt: 
einerseits  sieht  er  auf  die  konkreten  Kapitalstücke;  insoferne  diese 
unzweifelhaft  konsumiert  werden,  sagt  er,dasKapital  wird  konsumiert. 
Andererseits  sieht  er,  von  den  Stücken  abstrahierend,  bloß  auf  die  Art: 
und  da  er  durch  den  Ersatz  der  verbrauchten  Stücke  durch  andere  die 
Art  erhalten  findet,  sagt  er,  das  Kapital  wird  nicht  konsumiert.  — 
Die  letztere  Anschauungsweise  hat  wieder  ihr  Bedenkliches;  sie  scheint 
mir  mehr  mit  den  Worten  zu  spielen,  als  das  Wesen  des  Vorganges  zu 
bezeichnen;  allein  ich  will  auch  sie  ohne  Einwand  gelten  lassen.  —  Nun 
folgt  der  entscheidende  Coup. 

Statt  sich  für  eine  der  beiden  Anschauungsweisen  definitiv  zu  ent- 

1)  S.  203f. 


Schellwiens  Lehre.  439 

scheiden,  kehrt  Schellwien  wie  ein  Taschenspieler  abwechselnd  bald  die 
eine,  bald  die  andere  heraus,  um  schließlich  unter  beiden  entgegen- 
gesetzten Titeln  zugleich  für  den  Kapitalisten  eine  Entschädigung 
in  Anspruch  zu  nehmen.  Zuerst  sieht  er  das  Kapital  als  konsumiert  an, 
damit  „für  dieses  konsumierte  Kapital"  das  Produkt  Ersatz  gewähren, 
beziehungsweise  der  Käufer  seinen  vollen  Wert  bezahlen  muß;  und  im 
nächsten  Augenblicke  sieht  er  dasselbe  Kapital  als  »schlechthin  nicht 
konsumiert"  an,  damit  das  Produkt  auch  Ersatz  für  „diese  Nichtkon- 
sumtion"  leisten,  beziehungsweise  der  Käufer  einen  Preiszuschuß  als 
Prämie  für  Mchtkonsumtion  entrichten  muß! 

Was  würde  Schell wiek  wohl  zu  folgendem  JIxempel  sagen?  Ich 
habe  einen  alten  treuen  Diener,  der  indes  die  Untugend  hat,  stark  zu 
trinken.  Ich  will  ihm  das  Trinken  abgewöhnen  und  schließe  mit  ihm 
folgenden  Pakt.  Setzt  er  das  Trinken  fort,  so  will  ich  ihm  den  wirklich 
getrunkenen  Wein  allerdings  bezahlen,  allein  nur  bis  zum  Maximalbetrage 
von  einem  Liter  Wein  täglich.  Trinkt  er  dagegen  nicht,  so  erhält  er  für 
jeden  Tag  der  Enthaltsamkeit  den  Geldwert  von  zwei  Litern  als  Prämie. 
Der  Pakt  ist  abgeschlossen.  Der  Diener  trinkt  einen  Liter  Wein,  kauft 
einen  zweiten  Liter,  ohne  ihn  auszutrinken,  und  begehrt  von  mir  auf 
Grund  des  Vertrages  den  Geldwert  von  drei  Litern;  den  Wert  von  einem 
Liter,  weil  ich  ihm  versprochen  habe,  den  wirklich  getrunkenen  Wein  zu 
bezahlen,  und  dem  konkreten  „Stücke"  nach  hat  er  einen  Liter  wirklich 
getrunken;  und  den  Wert  von  zwei  Litern;  denn  da  er  den  ausgetrunkenen 
Liter  sofort  durch  einen  neuen  ersetzt  und  diesen  nicht  ausgetrunken  hat, 
80  hat  er  der  Art  nach  den  Wein  nicht  konsumiert:  folglich  gebühre  ihm 
auch  die  Belohnung  für  die  Nichtkonsumtion!  —  Ich  fürchte  sehr,  Schell- 
wien wird  die  vollkommene  Analogie  dieses  Beispieles  mit  seiner  Lehre 
nicht  verleugnen  können! 

Um  übrigens  eine  so  wichtige  Frage  nicht  durch  bloße  Analogien, 
sondern  auch  an  der  Sache  selbst  mit  Gründlichkeit  zu  erledigen,  wollen 
wir  uns  einen  konkreten  Fall  im  Sinne  der  ScHELLwiENSchen  Theorie 
vorstellen.  Nehmen  wir  an,  ein  Tuchfabrikant  verarbeite  für  100000  fl. 
Wolle  zu  Tuch,  und  der  Produktionsprozeß  dauere  ein  Jahr.  Abstrahieren 
wir  dabei  von  den  anderweitigen  Produktionskosten  für  Maschinen, 
Arbeitslöhne  u.  dgl.j  und  konzentrieren  wir  unsere  Aufmerksamkeit  auf 
die  Frage:  wie  viel  muß  das  Tuch  wert  sein,  um  den  Unternehmer  für  die, 
Mitwirkung  seines  Wollkapitales  gebührend  zu  entschädigen? 

ScHELLwiEN  Sagt,  dem  Stücke  nach  wird  die  Wolle  konsumiert,  der 
Art  nach  nicht.  Nun  kann  nur  eines  von  zwei  Dingen  geschehen:  entweder 
wird  die  Wolle  durch  den  Umstand,  daß  sie  einer  temporären  Nicht- 
konsumtion unterliegt,  entwertet  oder  nicht.  Nehmen  wir  mit  Schellwien 
an,  die  Entwertung  finde  wirklich  statt,  und  veranschlagen  wir  ihre  Größe 


440     XIV.  Zwei  neuere  Versuche,    b)  Schellwienö  modifizierte  Abstinenztheorie. 

auf  5  %  =  5000  fl.  Ich  gestehe  unter  dieser  Voraussetzung  ohne  weiteres 
zu,  daß  der  Produktwert  für  diese  Entwertung  Ersatz  leisten  muß:  es  muß 
wirklich  ein  Wertzuschlag  von  5000  fl.  stattfinden.  Aber  ein  Zuschlag 
wozu?  Zum  Werte  der  dem  Stücke  nach  verbrauchten  Wolle.  Ist  diese 
aber  „wegen  temporärer  Mchtkonsumtion"  um  5000  fl.  entwertet  gewesen, 
so  ist  sie  offenbar  nur  mehr  95000  fl.  wert,  und  die  Gesamtentschädigung, 
die  der  Produktwert  zu  leisten  hat,  beträgt  trotz  des  Zuschlages  von  5000  fl. 
nur  100000  fl.  Ein  Mehrwert  über  das  Anfangskapital  von  100000  fl.  ist 
also  offenbar  nicht  motiviert. 

Oder,  die  temporäre  Mchtkonsumtion  vermag  die  Wolle  nicht  zu 
entwerten:  dann  wird  allerdings  die  WoUe  mit  vollen  100000  fl.  in  den 
Wert  des  Produktes  eingehen,  aber  dann  liegt  auch  gar  kein  Grund  vor, 
warum  diese  Summe  einen  Zuschlag  für  die  Mchtkonsumtion  erfahren 
sollte;  denn  Schellwien  begehrt  ihn  lediglich  deshalb,  weil  die  Mcht- 
konsumtion eine  „Entwertung",  eine  ..Minderung  des  Arbeitsresultates" 
nach  sich  ziehe  ^). 

Mag  man  also  die  Voraussetzung  wenden  wie  man  will,  in  keinem 
Falle  wird  man  einen  Mehrwert  über  den  Anfangs  wert  des  verbrauchten 
Kapitales  erklärt  finden.  Man  kann  dies  nach  der  ganzen  Struktur  des 
ScHELLwiENSchen  Gedankenganges  füglich  auch  gar  nicht  erwarten. 
Denn  nach  Schellwien  soll  die  Entschädigung  für  Mchtkonsumtion 
lediglich  die  Deckung  einer  Einbuße  sein,  die  das  Arbeitsprodukt  durch 
Entwertung  erleidet;  eine  Deckung,  „ohne  die  die  Rechnung  nicht  stimmen 
würde".  Wie  aber  soll  die  Deckung  einer  Einbuße  je  zu  einem  Über- 
schusse werden?  Wenn  ich  von  100  Äpfeln  5  verliere  und  zur  Deckung 
der  Einbuße  ebensoviele  Äpfel  hinzufüge  als  verloren  gegangen  sind,  so 
gibt  100  —  5  +  5  doch  immer  nur  100  und  nie  105!! 

Daß  eine  so  unklare  Theorie  nicht  klar  vorgetragen  werden  konnte, 
versteht  sich  von  selbst.  Hätte  Schellwien  sie  präzise  gefaßt,  so  wären 
ja  ihre  Widersprüche  handgreiflich  aufeinander  gestoßen.     Schellwien 


^)  Man  könnte  vielleicht  die  Sache  noch  folgendermaßen  wenden:  Die  ins  Tuch 
verwobene  Wolle  wird  wirklich  verzehrt,  muß  also  mit  ihrem  vollen  Werte  unter  die 
Kosten  eingestellt  werden;  die  nachgeschaffte  Wolle  wird  unter  die  Kosten  ein- 
gestelltwerden; die  nachgeschaffte  Wolle  wird  aber  temporär  nicht  konsumiert,  „ent- 
wertet-', und  hat  daher  Anspruch  auf  Entschädigung  wegen  Nichtkonsumtion.  Allein 
auch  mit  dieser  Wendung  kommt  man  offenbar  nicht  zum  gewünschten  Ziele;  man 
hat,  um  den  Fehler  aufzudecken,  nur  nötig,  die  Betrachtung  noch  auf  die  nächstfolgende 
Produktionsperiode  auszudehnen.  Die  jetzt  nachgeschaffte  WoUe  wird  in  der  nächsten 
Produktionsperiode  „dem  Stücke  nach"  komsumiert.  War  sie  entwertet,  so  darf  sie 
in  der  nächsten  Periode  nur  mit  dem  verminderten  Werte  unter  die  Kosten  eingestellt 
werden,  und  wir  gelangen  dann  zu  dem  im  Texte  aufgestellten  Ergebnis.  War  sie  es 
aber  nicht,  so  brauchte  sie  in  der  vorausgegangenen  Periode  keine  Entschädigung  für 
Entwertung. 


Kritik.     Gefahren  falscher  Idealisierungen.  441 

ist  freilich  ausführlich,  ja  sogar  sehr  ausführlich.  Allein  seine  Ausführ- 
lichkeit besteht  nicht  darin,  daß  er  seinen  Gedanken  einmal  eingehend 
sagt,  sondern  darin,  daß  er  ihn  oftmals  in  gleicher  Verschwommenheit  und 
Zweideutigkeit  wiederholt.  Dabei  täuscht  er  sich  in  eigentümlicher  Weise 
über  das  Verhältnis,  in  dem  er  zur  Arbeitswerttheorie  steht.  Obwohl  er 
neben  der  wirklich  verwendeten  Arbeitszeit  die  Nichtkonsumtion  für  ein 
zweites  selbständiges  Element  des  Güterwertes  erklärt,  meint  er  dennoch 
eine  Theorie  gegeben  zu  haben,  die  „aus  dem  Wesen  der  Arbeit  und  des 
Wertes  fließt"  und  „die  aus  der  auf  die  Arbeit  gegründeten  Werttheorie 
notwendig  folgt". 

Gerade  durch  ihre  Fehler  wird  aber  Schellwiens  Theorie  ungemein 
lehrreich.  Sie  ergänzt  in  drastischer  Weise  die  Einsicht,  wie  hilflos  die 
Arbeitswerttheorie  der  Erklärung  des  Kapitalzinses  gegenüber  steht. 
RoDBERTus  und  Marx  hatten  es  versucht,  unverbrüchlich  an  dem  Grund- 
satze festzuhalten,  daß  die  Arbeitsmenge  das  einzige  gesetzmäßige  Prinzip 
ist,  das  den  Wert  aller  Güter  regelt.  Sie  konnten  es  aber  nur  um  den  Preis 
und  insolange,  als  sie  das  wichtigste  Gebiet  des  Kapitalzinses,  den  Mehr- 
wert jener  Produkte,  die  bei  gleichem  Arbeitsauf  wände  eine  längere  Pro- 
duktionszeit erfordern,  einfach  ignorierten.  Schellwien  war  unbefangen 
genug  um  einzusehen,  daß  das  Ignorieren  nicht  hilft,  und  gab  sich  redliche 
Mühe,  jene  Tatsachen  aus  der  Arbeitswerttheorie  heraus  wirklich  zu 
erklären.  Aber  das  Unvereinbare  läßt  sich  nicht  zusammenreimen.  Mit 
all  den  gekünstelten  Wendungen  und  Windungen  vom  konsumierten 
Kapital,  das  zugleich  nicht  konsumiert  ist,  von  der  „ Nichtkonsumtion s- 
zeit",  die  einen  Teil  der  Produktionszeit,  und  von  der  „Ausgleichung",  die 
ein  Überschuß  ist,  erreichte  er  nichts,  als  daß  er  schließKch  seinem  theo- 
retischen Ausgangspunkte  untreu  wurde,  statt  daß  er  von  ihm  eine  er- 
klärende Brücke  zu  der  Tatsache  des  Kapitalzinses  zu  schlagen  vermocht 
hätte.  Von  Grund  aus  falsch,  wie  sie  ist,  wird  die  Arbeitswerttheorie  durch 
die  Tatsachen  des  Wirtschaftslebens  eben  allezeit  Lügen  gestraft. 

Und  noch  eine  Lehre  möchte  ich  aus  der  Theorie  Schellwiens  ziehen. 
Wir  National-Ökonomen  lieben  es  so  sehr,  unsere  wissenschaftlichen 
Kategorien  von  der  gemein  materiellen  Grundlage,  an  der  sie  zunächst 
zur  Erscheinung  kommen,  abzulösen  und  zum  Range  freierer  selbständiger 
Idealwesen  emporzuheben.  Der  „Wert"  der  Güter  z.  B.  dünkt  uns  zu 
vornehm,  um  immer  am  materiellen  Gute,  das  sein  Träger  ist,  haften 
zu  bleiben.  Wir  befreien  ihn  aus  dieser  unwürdigen  Verbindung:  wir 
machen  ihn  zu  einem  selbständigen  Wesen,  das  seine  eigenen  Wege  geht, 
unabhängig,  ja  entgegengesetzt  mit  dem  Schicksale  seines  niedrigen 
Trägers.  Wir  lassen  den  „Wert"  verkaufen,  ohne  daß  das  Gut,  und  das 
Gut  verkaufen,  ohne  daß  sein  „Wert"  veräußert  wird;  wir  lassen  Güter 
zerstören,  indeß  ihr  „Wert"  fortlebt  und  „Werte"  vergehen,  indeß  ihre 
Träger  unversehrt  bestehen.     Ebenso  dünkt  es  uns  viel  zu  einfach,  die 


442     XIV.  Zwei  neuere  Versuche,    b)  Schellwiens  modifirierte  Abstinenztheorie. 

Kategorie  des  Kapitales  auf  einen  materiellen  Güterhaufen  anzuwenden. 
Wir  lösen  sie  davon  los;  das  Kapital  ist  etwas,  das  über  den  Gütern  schwebt, 
und  das  fortlebt,  mögen  auch  die  Stücke,  die  es  zusammensetzten,  zu 
gründe  gehen.  „Vor  allem",  wie  Hermann  sagt,  „muß  man  den  Gegen- 
stand, worin  sich  ein  Kapitel  darstellt,  vom  Kapital  selbst  unterscheiden"*). 
Und  eine  „Metapher"  nennt  es  McLeod,  wenn  man  den  Namen  des 
Kapitales  auf  Güter  anwendet''). 

Ehre,  dem  Ehre  gebührt.  Wohl  einer  Wissenschaft,  welche  die  wahr- 
haft idealen  Potenzen,  die  in  unser  Leben  hereinwirken,  nicht  in  das  Pro- 
krustesbett einer  mechanisch-materialistischen  Anschauungsweise  zu 
zwingen  versucht.  Aber  man  sollte  doch  zu  unterscheiden  wissen.  Unsere 
Sachgüter  und  ihr  Nutzen,  unsere  Sachkapitalien  und  ihre  produktive 
Wirkung  gehören  wirklich  der  materiellen  Sphäre  an  —  wenn  sie  auch 
nicht  in  ihr  aufgehen.  Sie  idealisieren,  heißt  nicht  das  Verständnis  erhöhen, 
sondern  verfälschen.  Es  heißt  sich  eine  gefährliche  Selbstdispens  erteilen, 
Dinge,  die  sich  im  Materiellen  und  nach  den  Gesetzen  des  Materiellen 
zutragen,  ohne  Rücksicht  auf  diese  Gesetze,  ja  gegen  dieselben  zu  erklären. 

Und  man  erteilt  sich  diese  Dispens  nicht,  wenn  man  sie  nicht  aus- 
zunützen gedenkt.  Wer  schlicht  und  treu  das  Natürliche  natürlich  deutet, 
den  fördert  die  idealisierende  Phrase  nicht,  sondern  den  stört  sie.  Wer 
aber  in  der  Erklärung  des  Natürlichen  der  Natur  untreu  werden  will, 
dem  bietet  sie  einen  köstlichen  Vorwand:  was  man  nicht  nach  der  Natur 
erklären  kann,  das  stellt  man  erst  außer  die  Natur,  um  es  dann  gegen 
sie  zu  erklären. 

Ich  habe  mich  seit  langem  daran  gewöhnt,  falsche  Idealisierungen, 
denen  ich  begegne,  wie  Warnungssignale  zu  betrachten.  Und  ich  habe 
mich  selten  getäuscht.  Wo  immer  einer  unserer  einfachen,  bürgerlichen 
Begriffe,  wie  Gut,  Vermögen,  Kapital,  Ertrag,  Nutzung,  Produkt  u.  dgl., 
die  tief  im  Sinnlichen  wurzeln,  durch  eine  idealisierende  Deutung  von 
seiner  sinnlichen  Grundlage  losgelöst  und  wohl  gar  in  Gegensatz  zu  ihr 
gestellt  wird,  da  ist  selten  der  Trugschluß  weit,  dem  jene  Deutung  den 
Fußpunkt  bereiten  mußte.  Ich  wiU  den  Abschluß  unserer  Betrachtungen 
nicht  dadurch  hemmen,  daß  ich,  wie  ich  wohl  könnte,  zum  Belege  ein 


M  Staatsw.  Unters.,  2.  Aufl.,  S.  605. 

*)  Auch  der  Begriff  des  ,,true  capital",  den  Prof.  J.  B.  Clark  im  Gegensatze  zu 
den  „concrete  capital  goods"  aufstellt  (The  Genesis  of  capital.  Yale  Review,  Nov.  1893, 
S.  302ff.)  scheint  mir  in  dieselbe  Kategorie  mystischer  Begriffsbildungen  zu  gehören. 
Vgl.  hierüber  meinen  Aufsatz  über  „The  positive  Theorie  of  capital  and  its  Critics"  I 
im  Quarterly  Journal  of  Economics  Vol.  IX,  Jänner  1895,  S.  llSff.  und  neuerdings 
die  zwischen  Prof.  Clark  und  mir  gewechselten  Artikel  im  15.  und  16.  Bande  der  Zeit- 
schrift für  Volkswirtschaft,  Sozialpolitik  und  Verwaltung  (1906  und  1907);  dann  auch 
meine  „Positive  Theorie"  4.  A.  S.  75ff. 


Gefahren  falscher  Idealisierangen.  443 

langes  Sündenregister  aus  der  Literatur  unserer  Wissenschaft  zusammen- 
trage. Der  Leser,  der  darauf  aufmerksam  ist,  wird  auch  ohne  mein  Zutun 
die  Bestätigung  finden.  Nur  das  eine  Beispiel  wiU  ich  ausdrücklich  nennen, 
das  zu  diesem  Exkurse  den  unmittelbaren  Anstoß  gegeben  hat,  das  Beispiel 
Schellwiens:  kaum,  daß  Schell wien  das  „Kapital"  von  den  „Stücken", 
aus  denen  es  ja  doch  besteht,  in  Gedanken  getrennt  und  in  Gegensatz 
zu  ihnen  gestellt  hat,  so  beginnt  das  Spiel  mit  dem  Kapitale,  das  zugleich 
konsumiert  und  nicht  konsumiert,  zugleich  mit  seinem  vollen  Werte  ver- 
wertet und  entwertet,  und  dessen  Entwertung  dadurch,  daß  sie  wieder 
ergänzt  wird,  zum  Überschusse  wird! 


XV. 

Schlußbetrachtungen. 

Wenden  wir  den  Blick,  der  schon  allzulange  durch  das  Einzelne  fest- 
gehalten worden,  zum  Schlüsse  auf  das  Ganze.  Wir  haben  eine  bunte 
Menge  von  Theorien  des  Kapitalzinses  entstehen  gesehen.  Wir  haben  sie 
alle  mit  Sorgfalt  betrachtet  und  reiflich  geprüft.  Keine  enthielt  die  volle 
Wahrheit.  Waren  sie  deshalb  ganz  fruchtlos?  Bilden  sie  in  ihrer  Summe 
nichts  als  ein  Chaos  von  Widerspruch  und  Irrtum,  an  dessen  Ausgang 
man  der  Wahrheit  nicht  näher  ist  als  an  seinem  Anfange?  Oder  geht 
durch  das  Gewirre  der  widersprechenden  Lehren  nicht  doch  ein  Zug  der 
Entwicklung,  der,  wenn  er  auch  noch  nicht  zur  Wahrheit  selbst  geführt 
hat,  doch  wenigstens  auf  den  Weg  gewiesen  hat,  der  zu  ihr  hinführt? 
Und  wie  läuft  die  Linie  dieser  Entwicklung? 

Ich  kann  die  Beantwortung  dieser  Schlußfrage  nicht  besser  einleiten, 
als  indem  ich  meine  Leser  bitte,  sich  den  Inhalt  unseres  Problemes  noch 
einmal  klar  vor  Augen  zu  stellen.  Was  soll  und  wiU  das  Zinsproblem? 
Es  soll  die  Ursachen  erforschen  und  darlegen,  welche  einen 
Arm  des  Güterstromes,  der  jährlich  aus  der  nationalen 
Produktion  eines  Volkes  quillt,  in  die  Hände  der  Kapitalisten 
leiten.  Es  ist  also,  darüber  besteht  kein  Zweifel,  ein  Problem  der  Güter- 
verteilung. 

Aber  in  welchem  Teile  des  Stromlaufes  wird  über  die  Abzweigung 
jenes  Stromarmes  entschieden?  —  Darüber  hat  die  dogmengeschichtliche 
Entwicklung  drei  wesentlich  verschiedene  Meinungen  zu  Tage  gefördert, 
die  zu  drei  ebenso  verschiedenen  Grundauffassungen  des  ganzen  Zins- 
problemes  geführt  haben. 

Bleiben  wir  dem  Bilde  vom  Strome  noch  einen  Augenblick  treu;  es 
schickt  sich  gut,  die  Sache  zu  verdeutlichen.  Die  QueUe  versinnlicht  uns 
die  Produktion  der  Güter;  die  Mündung  die  endgiltige  Zuteilung  in  das 
Einkommen,  um  in  ihm  zur  Bedürfnisbefriedigung  2u  dienen,  und  der 
mittlere  Lauf  des  Stromes  jenes  Zwischenstadium  zwischen  Entstehung 
und  endgiitiger  Zuteilung  der  Güter,  in  dem  diese  im  wirtschaftlichen 
Verkehre  von  Hand  zu  Hand  gehen  und  durch  die  Schätzung  der  Menschen 
ihren  Wert  empfangen. 


Die  drei  Grundauffassungen  des  Problemes.  .445 

Die  drei  Meinungen  sind*  aber  die  folgenden: 

Eine  Meinung  findet  den  Kapitalistenanteü  schon  an  der  Quelle  aus- 
gesondert. Drei  gesonderte  Quellen,  Natur,  Arbeit  und  Kapital,  bringen 
Jede  vermöge  der  ihr  innewohnenden  produktiven  Kraft  eine  bestimmte 
Menge  von  Gütern  mit  einer  bestimmten  Menge  von  Wert  hervor;  und 
gerade  so  viel  Wert,  als  aus  jeder  Quelle  geflossen  ist,  mündet  in  das  Ein- 
kommen derjenigen  Personen  ein,  welche  das  Eigentum  an  der  Quelle 
besitzen.  Es  ist  nicht  So  sehr  ein  Strom,  als  drei  Ströme,  die  zwar  im 
Mittellaufe  eine  Zeit  lang  in  demselben  Bette  fließen,  aber  ohne  sich  zu 
vermischen,  und  die  in  der  Mündung  sich  in  demselben  Verhältjiisse  teilen, 
in  dem  sie  aus  den  einzelnen  Quellen  hervorgegangen  sind.  —  Diese  Meinung 
verlegt  die  ganze  Erklärung  an  die  Quelle,  in  die  Produktion  der  Güter; 
sie  behandeln  das  Zinsproblem  als  ein  Produktionsproblem.  Es  ist 
die  Meinung  der  naiven  Produktivitätstheorien. 

Eine  zweite  Meinung  ist  der  ersten  gerade  entgegengesetzt.  Sie  sucht 
die  Trennung  erst  und  ausschließlich  an  der  Mündung.  Es  gibt  nur  eine 
Quelle,  aus  der  der  ganze  Güterstrom  ungeteilt  hervorbricht  —  die  Arbeit; 
auch  der  Mittellauf  ist  einig  und  ungeteilt:  im  Werte  der  Güter  liegt  nichts, 
was  eine  Teilung  derselben  unter  verschiedene  Teilnehmer  vorbereiten 
würde,  denn  aller  Wert  bemißt  sich  einzig  nach  der  Arbeit.  Erst  knapp 
an  der  Mündung,  da  sich  eben  der  Güterstrom  in  das  Einkommen  der 
Arbeiter,  die  ihn  geschaffen,  ergießen  will  und  soll,  stemmen  von  zwei 
Seiten  die  Grundeigentümer  und  die  Kapitalisten  die  Barre  ihres  Monopols 
in  den  Strom,  und  drängen  gewaltsam  einen  Teil  des  Ablaufes  auf  ihr 
Gebiet.  —  Dies  ist  die  Meinung  der  sozialistischen  Ausbeutungstheorie. 
Sie  spricht  dem  Zins  eine  Vorgeschichte  in  den  früheren  Stadien  des  Güter- 
schicksales ab,  sie  betrachtet  ihn  lediglich  als  das  Ergebnis  eines  un- 
organischen, zufälligen,  gewaltsamen  Nehmens,  sie  behandelt  das  Zins- 
problem als  ein  reines  Verteilungsproblem  im  schroffsten  Sinne 
dieses  Wortes. 

Die  dritte  Meinung  liegt  in  der  Mitte.  Nach  ihr  fließen  die  Güter  aus 
zwei,  wie  Manche  sagen,  auch  aus  drei  verschiedenen  Quelladem  hervor, 
um  alsbald  in  einen  ungeteilten  Strom  zusammenzulaufen.  Hier  treten 
sie  aber  unter  den  Einfluß  der  Wertbildung,  unter  dem  sich  der  Stromlauf 
sofort  von  neuem  zu  verästeln  und  zu  vernetzen  beginnt.  Indem  nämlich 
die  Menschen  das  Interesse,  das  sie  mit  Rücksicht  auf  die  Masse  und 
Intensität  ihrer  Bedürfnisse  einerseits,  und  auf  die  vorhandene  Menge 
der  Befriedigungsmittel  andererseits  an  den  verschiedenen  Gütern  und 
Güterarten  zu  nehmen  haben,  durch  den  Anschlag  ihres  Gebrauchs-  und 
des  darauf  basierenden  Tauschwertes  würdigen,  setzen  sie  Unterschiede 
zwischen  die  Gütermasse;  sie  erheben  einen  Teil  und  erniedrigen  einen 
anderen.  Es  entstehen  verwickelte  Niveaudifferenzen,  verwickelte  Span- 
nungen und  Anziehungen,  unter  deren  Einwirkung  die  Massen  des  Güter- 


446  XV.  Schlußbetrachtangei). 

Stromes  allmählich  in  drei  Arme  auseinandergedrängt  werden,  von  denen 
jeder  seine  besondere  Mündung  hat:  der  eine  mündet  in  das  Einkommen 
der  Grundeigentümer,  der  andere  in  das  der  Arbeiter,  der  dritte  in  jenes 
der  Kapitalisten.  Diese  drei  Arme  sind  aber  mit  den  zwei  oder  drei  Quellen 
weder  identisch,  noch  auch  in  ihrer  Mächtigkeit  mit  jenen  harmonierend. 
Nicht  wie  stark  jede  Quelle  geflossen  ist,  sondern  wie  viel  vom  vereinigten 
Strome  die  Wertbildung  jedem  der  drei  Läufe  zugedrängt  hat,  das  ent- 
scheidet über  die  Mächtigkeit  derselben  an  der  Mündung.  In  dieser 
Meinung  finden  sich  alle  übrigen  Zinstheorien  zusammen.  Indem  sie 
die  schließliche  Verteilung  schon  im  Stadium  der  Wertbildung  vorge- 
zeichnet finden,  erachten  sie  es  für  ihre  Pflicht,  auch  mit  der  theoretischen 
Erklärung  auf  dieses  Gebiet  zurückzugreifen:  sie  ergänzen  und  erweitern 
das  Verteilungsproblem  des  Zinses  zu  einem  Wertproblem. 

Welche  dieser  drei  Grundauffassungen  war  die  richtige?  —  Für  einen 
nüchternen  und  unbefangenen  Beobachter  konnte  die  Entscheidung  nicht 
zweifelhaft  bleiben. 

Die  erste  Meinung  war  es  gewiß  nicht.  Nicht  allein  daß  das  Kapital 
gar  keine  originäre  Quelle  von  Gütern  ist,  da  es  selbst  allemal  die  Frucht 
von  Natur  und  Arbeit  ist,  so  gibt  es  auch,  wie  wir  uns  sattsam  überzeugt 
haben,  keine  Macht  was  immer  für  eines  Produktionsfaktors,  seinen 
physischen  Erzeugnissen  aus  eigener  Kraft  auch  schon  ihren  bestimmten 
Wert  mitzugeben.  So  wenig  als  der  Wert  überhaupt,  so  wenig  als  der 
Mehrwert  insbesondere,  ebensowenig  kommt  der  Kapitalzins  schon  in  der 
Produktion  der  Güter  fertig  auf  die  Welt:  das  Zinsproblem  ist  kein  reines 
Produktionsproblem. 

Aber  auch  die  zweite  Auffassung  konnte  die  richtige  nicht  sein.  Die 
Tatsachen  verleugnen  sie.  Nicht  erst  in  der  Verteilung,  sondern  schon 
in  der  Wertbildung  schiebt  sich  ein  fremdes  Element  neben  die  Arbeit. 
Ein  hundertjähriger  Eichenstamm,  der  während  seines  langen  Wachs- 
tumes  einen  einzigen  Tag  pflegender  Arbeit  erheischte,  hat  einen  hundert- 
fach höheren  Wert,  als  der  Stuhl,  den  ebenfalls  eines  Tages  Arbeit  aus  ein 
paar  Brettern  formte.  Dabei  ist  der  Eichenstamm,  der  das  Produkt  von 
eines  Tages  Arbeit  ist,  nicht  mit  einem  Schlage  hundertmal  wertvoller 
geworden  als  das  Geräte,  das  eines  Tages  Arbeit  kostet.  Sondern  Tag  für 
Tag,  Jahr  für  Jahr,  entfernte  sich  sein  wachsender  Wert  von  dem  des 
Gerätes.  Und  wie  es  mit  dem  Werte  des  Eichenstammes  ist,  so  ist  es  mit 
dem  Wert  aller  Produkte,  die  zu  ihrer  Erzeugung  nicht  bloß  Arbeit, 
sondern  auch  Zeit  kosten. 

Dieselben  still  und  stetig  wirkenden  Kräfte  nun,  welche  Schritt  für 
Schritt  den  Wert  des  Eichenstammes  von  dem  des  Gerätes  abdrängten, 
haben  eben  damit  auch  schon  dem  Kapitalzinse  seinen  Ursprung  gegeben. 
Längst  wirksam,  ehe  die  Güter  zur  Verteilung  kommen,  haben  sie  die 
künftige  Grenzlinie  zwischen  Arbeitslohn  und  Kapitalzins  im  voraus  ein- 


Das  Vonurteil  der  wertschaffenden  Kräfte.  447 

gezeichnet.  Denn  die  Arbeit  kann  nach  keinem  anderen  Grundsatze  belohnt 
werden  als  „gleicher  Lohn  für  gleiches  Werk".  Ist  aber  der  Wert  der  Güter, 
welche  gleiche  Arbeit  hervorbringt,  durch  die  Spannung  jener  Kräfte 
ungleich  geworden,  so  kann  sich  das  gleiche  Niveau  des  Arbeitslohnes 
mit  der  ungleichen  Erhebung  des  Güterwertes  nicht  überall  decken:  nur 
der  Wert  der  nicht  begünstigten  Güter  fällt  in  das  Niveau,  und  wird  vom 
universellen  Lohnsatze,  den  er  bestimmt,  auch  erschöpft;  alle  begünstigten 
Güter  überragen  es  in  dem  Maße,  als  sie  von  der  Wertbildung  begünstigt 
waren,  und  können  vom  universellen  Lohnsatze  nicht  erschöpft  werden. 
Kommen  sie  dann  zur  endgiltigen  Verteilung,  so  müssen  sie,  nachdem  alle 
Arbeiter  für  gleiches  Werk  gleichen  Lohn  empfangen  haben,  von  selbst 
noch  etwas  übrig  lassen,  das  sich  der  Kapitalist  aneignen  kann  und  mag. 
Sie  lassen  dies  übrig,  nicht  weil  in  der  letzten  Stunde  der  Kapitalist  durch 
seinen  plötzlichen  Beutegriff  das  Niveau  des  Lohnes  künstlich  unter  das 
Niveau  des  Güterwertes  herabgepreßt  hat,  sondern  weil  längst  zuvor  die 
Tendenzen  der  Wertbildung  den  Wert  jener  Güter,  deren  Erzeugung  Arbeit 
und  Zeit  kostet,  über  den  Wert  jener  andern  Güter  gehoben  haben,  deren 
Erzeugung  nur  momentan  lohnende  Arbeit  kostet,  und  deren  Wert,  da 
er  ja  ausreichen  muß,  seine  Erzeugungsarbeit  zu  befriedigen,  zugleich 
die  Richtlinie  des  universellen  Lohnsatzes  angibt. 

So  sprechen  die  Tatsachen.  Die  Folgerungen,  zu  denen  sie  zwingen, 
sind  deutlich.  Das  Zinsproblem  ist  ein  Verteilungsproblem.  Aber  die 
Verteilung  hat  ihre  Vorgeschichte,  und  aus  dieser  muß  sie  erklärt  werden. 
Die  Gütersummen  fahren  in  der  Verteilung  nicht  Knall  und  FaU  ausein- 
ander; sondern  die  Teilungslinien,  nach  denen  sie  auseinander  fallen,  waren 
schon  in  früheren  Stadien  des  Güterschicksales  langsam  und  allmählich 
eingeritzt.  Wer  die  Verteilung  wirklich  verstehen  und  wahrhaft  erklären 
will,  der  muß  dem  Ursprünge  dieser  leisen  aber  deutlichen  Teilungsritzen 
nachgehen.  Dieser  Weg  führt  auf  das  Gebiet  des  Güterwertes.  Hier  ist 
der  Hauptteil  der  Zinserklärung  zu  leisten.  Wer  das  Zinsproblem  als  reines 
Produktionsproblem  behandelt,  bricht  seine  Erklärung  vor  der  Hauptsache 
ab;  wer  es  als  Verteilungsproblem  und  nur  als  solches  behandelt,  fängt 
sie  erst  nach  der  Hauptsache  an.  Nur  wer  jene  merkwürdigen  Hebungen 
und  Senkungen  des  Güterwertes  aufzuklären  unternimmt,  deren  Höhen- 
abstände zum  „Mehrwert"  werden,  kann  hoffen,  in  ihnen  den  Zins  in  echt 
wissenschaftlicher  Weise  erklärt  zu  haben:  das  Zinsproblem  ist  im  letzten 
Grunde  ein  Wertproblem. 

Halten  wir  daran  fest,  so  ergibt  sich  leicht  die  Rangordnung,  welche 
den  verschiedenen  Theoriengruppen  zukommt,  und  die  Lage  der  Linie, 
welche  die  aufsteigende  Entwicklung  anzeigt. 

Zwei  Theorien  haben  den  Charakter  des  Zinsproblemes  völlig  ver- 
kannt; sie  nehmen,  eine  das  Gegenstück  der  andern  bildend,  gemeinsam 
die  niedrigste  Stufe  der  Entwicklung  ein.    Diese  beiden  Theorien  sind  die 


448  XV.  Schlußbetrachtungen. 

naive  Produktivitätstheorie  und  die  sozialistische  Ausbeutungstheorie. 
Diese  Zusammenstellung  mag  befremden.  Wie  weit  gehen  beide  Theorien 
in  ihren  Resultaten  auseinander!  Wie  hoch  erhaben  dünken  sich  die 
Anhänger  der  Ausbeutungstheorie  über  die  naiven  Präsumtionen  der 
Produktivitätstheoretiker!  Wie  stolz  sagen  sie  von  sich  eine  vorgeschrittene 
kritische  Richtung  aus! 

Die  Zusammenstellung  ist  dennoch  berechtigt.  Zuerst  kommen  beide 
Theorien  im  Negativen  überein:  keine  rührt  an  das  eigentliche  Problem; 
keine  verliert  ein  Wort  zur  Erklärung  jener  eigentümlichen  Wellen,  die 
der  Güterwert  wirft  und  aus  denen  der  Mehrwert  kommt.  Die  Produk- 
tivitätstheorie begnügt  sich  über  die  Wertschwellungen  zu  sagen,  sie  seien 
eben  produziert  worden,  während  die  Ausbeutungstheorie  —  fast  noch 
schümmer  —  von  ihnen  nicht  einmal  Notiz  nimmt:  sie  existieren  für  sie 
gar  nicht;  für  sie  fällt,  wie  immer  die  Tatsachen  der  Wirtschaftswelt  sich 
dagegen  erheben  mögen,  das  Niveau  des  Güterwertes  glatt  und  platt  mit 
dem  Niveau  des  Arbeitsaufwandes  zusammen^). 

Aber  nicht  bloß  die  Negation,  auch  der  positive  Gedanke  verbindet 
beide  Theorien  näher  als  man  wohl  glauben  möchte.  Sie  sind  in  Wahrheit 
Früchte  eines  und  desselben  Zweiges,  Kinder  eines  und  desselben  naiven 
Vorurteiles:  daß  der  Wert  aus  der  Produktion  hervorwächst,  wie  der 
Halm  aus  dem  Acker. 

Dieses  Vorurteil  hat  seine  große  Geschichte  in  der  Literatur  unserer 
Wissenschaft.  Unter  immer  wechselnden  Gestalten  hat  es  seit  130  Jahren 
unsere  Wissenschaft  beherrscht  und  da  es  die  Erklärung  des  Grundphä- 
nomens in  eine  falsche  Richtung  drängte,  den  Fortschritt  unserer  Wissen- 
schaft gehemmt.  Zuerst  taucht  es  in  der  physiokratischen  Lehre  auf,  daß 
der  Grund  und  Boden  allen  Wertüberschuß  durch  seine  Fruchtbarkeit 
erzeuge.  Smith  brach  ihm  die  Spitze  ab,  Ricardo  rottete  es  gänzlich  aus. 
Allein  noch  ehe  es  in  seiner  ersten  Erscheinungsform  völlig  verschwunden 
war,  führte  es  Say  in  einer  neuen,  erweiterten  Gestalt  zum  zweiten  Male 
in  die  Wissenschaft  ein :  statt  der  einen  produktiven  Kraft  der  Physiokraten 
sind  es  jetzt  drei  produktive  Kräfte,  welche  die  Werte  und  Wertüberschüsse 
geradeso  schaffen,  wie  einst  die  Physiokraten  den  „produit  net"  hatten 
schaffen  lassen.     In  dieser  Gestalt  hielt  das  Vorurteil  die  Wissenschaft 


^)  1884,  vor  dem  Erscheinen  des  dritten  Bandes  des  MARXschen  Kapitales  ge- 
schrieben. Die  neueste  Phase  des  Marxismus  macht  die  Sache  nicht  besser,  sondern 
schlechter,  indem  sie  die  anfängliche  Verleugnung  der  maßgebenden  Wertdifferenzen 
mit  einer  verspäteten  Anerkennung  derselben  verquickt.  Denn  die  Ignorierung  wird 
so  lange  fortgeführt,  bis  die  entscheidenden  falschen  Schlüsse,  die  nur  durch  jene 
Iguotierung  gewonnen  werden  konnten,  alle  gezogen  sind;  die  geflissentlich  so  lange 
hinausgeschobene  Beachtung  der  tatsächlichen  Wertbildungen  komint  dann  zu  spät, 
um  die  unter  ihrer  Mißachtung  gewonnenen  Grundlagen  zu  berichtigen,  freilich  aber 
früh  genug,  um  ihnen  zu  widersprechen.  Das  System  wird  so  nicht  richtiger,  sondern 
nur  auch  noch  widerspruchsvoll.    Vgl.  oben  Abschn.  XII  S.  392ff. 


Die  Rangstufen  der  Entwicklung.  449 

durch  lange  Jahrzehnte  in  seinem  Banne.  Endlich  wurde  es  abermals 
entlarvt,  zumeist  durch  die  leidenschaftlichen  aber  verdienstvollen  Kritiken 
der  sozialistischen  Theoretiker.  Aber  auch  jetzt  bewies  sich  wieder  seine 
zähe  Lebenskraft;  nur  die  Form,  nicht  das  Wesen  preisgebend,  wußte  es 
sich  abermals  in  eine  neue  Gestalt  hinüber  zu  retten,  und  eine  sonderbare 
Laune  des  Schicksals  fügte  es,  daß  es  seine  neue  Heimstätte  gerade  in  den 
Schriften  derjenigen  fand,  die  es  in  seiner  vorjüngsten  Erscheinungsform 
am  bittersten  bekämpft  hatten:  in  den  Schriften  der  Sozialisten.  Die 
wertschaffenden  Kräfte  waren  gegangen,  die  wertschaffende  Kraft  der 
Arbeit  blieb,  und  mit  ihr  der  alte  Schaden,  daß  man  für  die  wunderbar 
feinen  Zusammenhänge  der  Wertbildung,  die  zu  entwirren  die  Aufgabe 
und  der  Stolz  unserer  Wissenschaft  sein  sollte,  nichts  übrig  hatte,  als 
entweder  eine  derbe  Präsumtion,  oder  sofeme  sie  zur  Präsumtion  nicht 
passen  wollten,  eine  noch  derbere  Verleugnung. 

So  sind  denn  in  der  Tat  die  naive  Theorie  von  der  Produktivität  des 
Kapitales  und  die  emanzipierte  Lehre  der  Sozialisten  theoretische  Zwillinge. 
Mag  sich  die  letztere  immerhin  als  eine  kritische  Lehre  geben:  sie  ist  es 
wirklich;  sie  ist  aber  auch,  wie  sich  herausstellt,  eine  naive  Lehre.  Sie 
kritisiert  ein  naives  Extrem,  um  in  das  nicht  minder  naive  entgegengesetzte 
EIxtrem  zu  verfallen.  Sie  ist  nichts  als  das  zeitlich  verspätete  Gegenstück 
der  naiven  Produktivitätstheorie. 

Dem  gegenüber  können  die  übrigen  Zinstheorien  für  sich  das  Lob 
in  Anspruch  nehmen,  um  eine  Stufe  höher  zu  stehen.  Sie  suchen  die 
Lösung  des  Zinsproblemes  bereits  auf  demjenigen  Boden,  auf  dem  es 
wirklich  zu  lösen  ist;  auf  dem  Boden  des  Güterwerts.  Mit  verschiedenen 
Graden  des  Verdienstes. 

Jene  Theorien,  welche  den  Zins  mit  den  äußeren  Mitteln  der  Kosten- 
theorie zu  erklären  suchen,  haben  noch  schwer  am  Ballast  des  Vorurteils 
zu  tragen,  daß  der  Wert  aus  der  Produktion  stammt.  Ihre  Erklärung 
kann  nicht  ohne  Rest  aufgehen.  So  gewiß  es  ist,  daß  die  Grundkräfte, 
welche  alle  wirtschaftlichen  Bestrebungen  der  Menschen  in  Bewegung 
setzen,  ihre  —  egoistischen  oder  altruistischen  —  Wohlfahrtsinteressen 
sind,  ebenso  gewiß  ist  es  auch,  daß  keine  Erklärung  der  wirtschaftlichen 
Phänomene  befriedigen  kann,  deren  Erklärungsfäden  nicht  in  lückenlosem 
Zusammenhange  bis  auf  jene  unbezweifelten  Grundkräfte  zurückreichen. 
Und  dagegen  versündigen  sich  die  Kostentheorien.  Indem  sie  das  Prinzip 
des  Wertes,  dieses  Kompasses  und  universellen  Zwischenmotivs  der  mensch- 
lichen Wirtschaftshandlungen,  nicht  in  einer  Beziehung  auf  die  mensch- 
liche Wohlfahrt,  sondern  in  einer  trockenen  Tatsache  der  äußeren  Ent- 
stehungsgeschichte der  Güter,  in  den  technischen  Bedingungen  ihrer 
Produktion  zu  finden  glauben,  lenken  sie  den  Faden  der  Gesamterklärung 
auf  ein  abseitiges,  blindes  Geleise,  von  dem  er  den  Durchweg  zu  dem 
psychologischen   Interessenmotiv,   in   das   jede  befriedigende  Erklärung 

Böbm-Bawerk,  Kapitalzins.    4.  Aufl.  29 


460  ^^-  Schlußbetrachtungen. 

ausmünden  muß,  nicht  mehr  finden  kann.  —  Dieses  Urteil  trifft  —  bei 
aller  Verschiedenheit  im  einzelnen  —  den  zahlreichsten  Teil  der  von  uns 
betrachteten  Zinstheorien. 

Abermals  um  eine  Stufe  höher  stehen  endlich  jene  Theorien,  welche 
sich  von  dem  alten  Aberglauben,  daß  der  Wert  der  Güter  aus  ihrer  Ver- 
gangenheit statt  aus  ihrer  Zukunft  stammt,  völlig  losgesagt  haben.  Diese 
Lehren  wissen,  was  sie  erklären  wollen,  und  in  welcher  Richtung  es  zu 
erklären  ist.  Wenn  sie  dennoch  die  volle  Wahrheit  nicht  gefunden  haben, 
so  lag  es  mehr  nur  an  Zufälligkeiten,  während  ihre  Vorgänger  die  Wahrheit 
nicht  finden  konnten,  weil  sie  sie,  durch  die  Mauer  des  Vorurteils  abge- 
schieden, in  falscher  Richtung  suchten.  —  Die  höhere  Stufe  der  Ent- 
wicklung wird  bezeichnet  durch  einzelne  Formulierungen  der  Abstinenz- 
theorie,  namentlich  aber  durch  die  späteren  Nutzungstheorien;  und  hier 
ist  es  wieder  die  Theorie  Mengers,  die  mir  als  der  Gipfelpunkt  der  bis- 
herigen Entwicklung  erscheint:  nicht  weil  seine  positive  Lösung,  sondern 
weil  seine  Stellung  des  Probleihs  die  vollkommenste  war  —  zwei  Dinge, 
von  denen,  wie  oft  so  auch  hier,  das  zweite  wohl  wichtiger  und  schwieriger 
sein  mag  als  das  erste. 

Auf  so  vorbereitetem  Boden  will  ich  nun  versuchen,  für  das  viel- 
umworbene Problem  eine  Lösung  zu  finden,  die  nichts  fingiert  und  nichts 
präsumiert,  sondern  schlicht  und  treu  die  Erscheinung  des  Kapitalzinses 
durch  die  Erscheinungen  der  Wertbildung  hindurch  aus  den  einfachsten 
natürlichen  und  psychologischen  Grundlagen  unserer  Wirtschaft  abzu- 
leiten strebt.  Das  Element,  das  mir  die  volle  Wahrheit  zu  vermitteln 
scheint,  sei  hier  noch  kurz  genannt:  es  ist  der  Einfluß  der  Zeit  auf  die 
menschliche  Wertschätzung  der  Güter.  Diesem  Schlagwort  seinen  Inhalt 
zu  geben,  soll  die  Aufgabe  des  zweiten,  positiven  Teiles  meiner  Arbeit  sein. 


Anhang. 

Die  Zinsliteratur  in  der  Gegenwart 

(1884-1914). 
I. 

Seit  dem  Erscheinen  der  ersten  Auflage  dieses  Werkes  ist  das  Zins- 
problem  unausgesetzt  der  Gegenstand  lebhajfter  und  vielseitiger  Erörte- 
rungen gewesen.  Die  Zinsliteratur  der  letzten  Dezennien  ist  im  Verhältnis 
weit  reichhaltiger  als  die  irgend  eines  früheren  Zeitabschnittes  von  gleicher 
Dauer.  Eine  dem  Streit  entrückte  Erledigung  des  großen  Problems  hat 
uns  freilich  —  ich  möchte  sagen:  selbstverständlicher  Weise  —  auch  diese 
letzte  Zeit  nicht  gebracht.  Immerhin  ist  auf  dem  literarischen  Kampfplatz 
eine  gewisse  Verschiebung  in  den  streitenden  Kräften  wahrzunehmen, 
die  mir  auf  ein  vorgeschritteneres,  der  Entscheidung  sich  näherndes 
Stadium  der  Fehde  zu  deuten  scheint.  Die  Fehde  ist  weniger  zerfahren 
als  sie  es  ein  Menschenalter  zuvor  gewesen  war.  Zwar  sind  noch  neue 
Meinungen  auf  den  Plan  getreten;  dafür  sind  jedoch  manche  der  älteren 
Meinungen  ganz  oder  fast  ganz  außer  Kurs  gesetzt,  und  es  konzentriert 
sich  heute  der  Kampf  nur  noch  um  einige  wenige  ernsthaft  verteidigte 
Positionen,  zwischen  denen  die  Entscheidung  schwebt.  Und  auch  bezüglich 
ihrer  scheint  mir  die  Entscheidung  wesentlich  näher  gebracht.  Man  plänkelt 
nicht  mehr  von  weitem,  man  kämpft  nicht  mehr  um  vorgeschobene  Posten, 
sondern  die  vorbereitenden  Aktionen  haben  ihre  Schuldigkeit  so  weit 
getan,  Prämissen  und  Konsequenzen  der  streitenden  Theorien,  gleichsam 
ihr  theoretisches  Milieu,  sind  so  weit  durchleuchtet,  daß  der  Streit  kaum 
mehr  auf  Nebensächlichkeiten  abirren  kann  und  die  fallende  Entscheidung 
schon  den  innersten  Kern  der  Sache  wird  treffen  müssen. 

Geschichtsschreiber  der  Gegenwart  zu  sein,  ist  aus  bekannten  Gründen 
immer  eine  mißliche  Sache.  Wer  selbst  mitten  im  Walde  steht,  kann  nicht 
leicht  einen  guten  Überblick  über  den  Wald  haben.  In  meinem  Falle 
treten  noch  zwei  spezielle  Gründe  hinzu,  die  mir  die  Aufgabe  erschweren, 
ein  guter  Darsteller  des  gegenwärtigen  Zustandes  der  Zinsliteratur  zu  sein. 

29* 


452  Anhang.    Die  Zinsliteratar  in  der  Qegenw^. 

Daß  ich  selbst  der  Autor  einer  der  konkurrierenden  Zinstheorien  bin, 
macht  mich,  auch  beim  besten  Willen  zur  Unbefangenheit,  unvermeidlich 
befangen,  und  zumal  das  richtige  Augenmaß  für  die  Größe  der  trennenden 
Differenzen  zu  bewahren  ist,  wenn  zur  Nähe  des  Standpunktes  noch  eine 
persönliche  Vorliebe  des  Beobachters  kommt,  eine  doppelt  schwierige 
Sache.  Außerdem  ist  aber  die  lebende  Generation  von  Nationalökonomen 
unzweifelhaft  in  einer  Umbüdung  ihrer  Ansichten  über  das  Zinsproblem 
begriffen.  Welche  Theorie  immer  endgiltig  das  Feld  behaupten  mag, 
gewiß  ist,  daß  das,  was  wir  der  nächsten  Generation  als  die  Ansicht  unserer 
Zeit  übermitteln  werden,  sich  ganz  wesentlich  von  dem  unterscheiden  wird, 
was  wir  in  den  Lehrbüchern  unserer  Jugend  vorgefunden  und  in  uns  auf- 
genommen haben.  Wir  alle  wandeln  diese  uns  überlieferteo  Ansichten  um, 
auch  die  Konservativsten  unter  uns.  Eine  gerade  in  solcher  Wandlung 
begriffene  Literatur  mit  richtigem  historischem  Blick  zu  beurteilen,  ist 
aber  wiederum  eine  Sache  von  ganz  eigenartiger  ausnahmsweiser  Schwierig- 
keit. Man  trifft  massenhaft  Übergangsansichten  an,  unter  denen  sich 
ebensowohl  —  und  zwar  wahrscheinlich  der  Zahl  nach  überwiegend  — 
bedeutungslose  Variationen  absterbender  Theorien,  als  hoffnungsvolle 
Zwischenglieder  auf  dem  Wege  fortschrittlicher  Entwicklung  befinden 
mögen  —  wobei  es  oft  eines  geradezu  prophetischen  Blickes  bedürfte,  um 
mit  Sicherheit  zu  entscheiden,  ob  ein  konkretes  theoretisches  Gebilde  in 
die  eine  oder  in  die  andere  der  beiden  Kategorien  zu  reihen  ist. 

Trotzdem  würde  ich  glauben,  in  der  Erfüllung  der  Aufgabe  dieses 
Werkes  eine  empfindliche  Lücke  zu  lassen,  wenn  ich  mich  durch  diese 
Erwägungen  abschrecken  ließe,  eine  kritische  Orientierung  meiner  Leser 
über  den  gegenwärtigen  Zustand  der  Zinsliteratur  auch  nur  zu  versuchen: 
man  schreibt  ja  eine  kritische  Dogmengeschichte  überhaupt  nur,  um  den 
Pfad  für  die  künftige  Forschung  zu  erhellen,  und  es  wäre  hiefür  offenbar 
im  höchsten  Grade  zweckwidrig,  wenn  man  gerade  das  jüngst  zurück- 
gelegte Wegstück  und  den  Punkt,  von  dem  man  weiter  schreiten  soll,  in 
einem  geflissentlichen  Dunkel  ließe.  Wohl  aber  darf  ich  an  diesen  Teil 
meiner  Aufgabe  nicht  ohne  den  ausdrücklichsten  Vorbehalt  der  Fehlbarkeit 
und  des  Unzureichens  schreiten. 

Gegenüber  der  weit  überwiegenden  Masse  der  heutigen  Literatur 
werde  ich  mich  von  vornherein  auf  den  Versuch  einer  summarischen 
Orientierung  beschränken.  Insbesondere  werde  ich  in  der  Regel  grund- 
sätzlich unterlassen,  Lehren,  die  sich  als  bloße  Nuancierungen  einer  Haupt- 
tbeorie  darstellen,  im  Detail  vorzuführen  und  zu  erörtern,  und  zwar  ohne 
etwa  durch  eine  solche  Unterlassung  andeuten  zu  wollen,  daß  ich  die 
Nuancierung  für  eine  belanglose,  oder  die  betreffende  Lehre  für  eine  un- 
wichtige hielte.  Einer  ausführlicheren  Darstellung  und  Kritik  will  ich 
dagegen  nur  ganz  wenige  der  neuesten  Theorien,  und  zwar  nur  diejenigen 
unterziehen,  welche  entweder  von  so  offenbarer  Eigenart  sind,  daß  sie 


n.  Die  Agiotheorie.  453 

sich  von  jeder  der  bisher  besprochenen  Theorietypen  durch  ganz  wesent- 
liche Züge  unterscheiden,  oder  welche,  falls  sie  bloße  Nuancierungen  oder 
Kombinierungen  sind,  so  bestimmt  formuliert  und  zugleich  so  erschöpfend 
ausgearbeitet  sind,  daß  sich  die  Tragw^te  der  angebrachten  Nuance 
vollkommen  sicher  überblicken  läßt. 


IL 

Ich  erwähnte  schon,  daß  in  der  jüngsten  Zeit  zu  den  alten  Rivalen 
auch  noch  neue  Meinungen  hinzugetreten  sind.  Den  einflußreichsten 
Zuwachs  dieser  Art  repräsentiert  wohl  jene  Theorie,  welche  den  Zins  aus 
einer  Wertdifferenz  zwischen  gegenwärtigen  und  künftigen 
Gütern  erklärt. 

Entfernte  Hindeutungen  auf  diesen  Oedanken  hatten  in  alter  Zeit 
schon  Petty  und  Vaüghan,  etwas  später  Galiani  und  Turgot  gebracht*). 
Bentham  beginnt  ihn  psychologisch  zu  begründen.  Rae  gibt  ihm  ein 
halbes  Jahrhundert  später  eine  sehr  bemerkenswerte  Ausgestaltung,  mit 
welcher  es  ihm  aber  nicht  beschieden  war,  irgend  einen  Einfluß  auf  die 
fernere  literarische  Entwicklung  zu  nehmen.  Wiederum  vierzig  Jahre 
später  hat  Jevons,  auf  Bentham  weiterbauend,  den  größeren  Teil  der 
Prämissen,  auf  denen  jene  Theorie  ruht,  in  mustergiltiger  und  meisterhafter 
Weise  herausgearbeitet,  es  aber  versäumt,  auch  die  vermittelnden  Ge- 
dankenfäden auszuspinnen,  die  von  jenen  Prämissen  zur  Zinserscheinung 
leiten,  hierin  hinter  dem  verschollenen  Vorläufer  Rae  zurückstehend, 
welchem  er  in  der  Entwicklung  des  psychologischen  Teiles  der  Prämissen 
ungefähr  gleichsteht,  und  in  der  Erkenntnis  der  produktionstechnischen 
Prämissen  unzweifelhaft  überlegen  ist 


^)  Der  Vollständigkeit  halber  sei  hier  auch  der  viel  spätere  Cebncschi  angereiht, 
der  in  seiner  MScaniqne  de  Töchange  (1866)  zunächst  an  dieselbe  bekannte  Parallele, 
die  schon  jene  alten  SehriftsteUer  zwischen  dem  durch  eine  Differenz  des  Ortes  begrün- 
deten Wechselanfgeld  und  dem  durch  eine  Differenz  in  der  Zeit  begründeten  Zinse  gezogen 
hatten,  anknüpft,  dann  aber  für  die  letztere,  zeitliche  Wertdifferenz  noch  eine  spezielle 
B^Tündnng  anfügt,  die  allerdings  etwas  kraus  und  scholastisch  geraten  ist.  Geb- 
Nuscm  geht  nämlich  davon  aus,  daß  die  Kapitalien  sich  in  ihrem  Werte  immer  wieder 
regenerieren  und  daher  „immerwährend"  seien.  Bei  den  gegenwärtigen  Kapitalien 
beginne  nun  ihre  „Ewigkeit'-  schon  heute,  bei  den  künftigen  Kapitalien  aber  natür- 
lidi  erst  später,  darum  sei  die  „Ewigkeit"  künftiger  Kapitalien  „kürzer"  (sie!),  ihre 
Nutzdauer  also  kleiner,  damit  auch  das  Quantum  ihres  Nutzens  und  damit  endlidi 
auch  ihr  durch  den  Nutzen  begründeter  Wert  kleiner  als  der  Wert  gegenwärtiger  Kapi- 
talien. An  diese  Ausführungen  CEBircscHis  wurde  ich  auch  in  neuester  Zeit  wieder 
durch  einzelne  Äußerungen  Oswalts  („Beiträge  zur  Theorie  des  KapitalziDses"  in  der 
2ieitschrift  für  Sozialwissenschaft  1910  S.  100)  einigermaßen  erinnert. 


454  Anhang.  Die  Zinsliterator  in  der  Gegenwart. 

Im  unmittelbaren  Anschluß  an  Jevons  sind  Launhardt^)  und  Emil 
Sax^)  zu  nennen.  Beide  gehen  über  Jevons  nur  insoferne  hinaus,  als  sie 
den  bei  diesem  inhaltlich  vorbereiteten,  aber  formell  unausgesprochen 
gebliebenen  —  in  der  Zwischenzeit  (1884)  allerdings  auch  schon  von  mir 
als  Programm  meiner  Zinstheorie  verkündigten  —  Gedanken,  daß  der 
Zins  in  derauf  psychologischen  Gründen  beruhenden  Wertdifferenz  zwischen 
gegenwärtigen  und  künftigen  Gütern  wurzle,  ausdrücklich  zur  Ausspräche 
brachten ä).  Aber  eben  auch  nur  zur  Aussprache,  und  nicht  zur  Ausführung. 
Der  Mangel  jeder  Detailausführung  hinderte  die  genannten  Autoren  ins- 
besondere auch  daran,  auf  die  Probe  zu  stellen,  ob  die  psychologischen 
Ursachen  einer  Minderschätzung  künftiger  Güter  überhaupt  eine  genügend 
breite  Basis  für  die  volle  Erklärung  des  Zinsphänomens  zu  bieten  imstande 
sind,  oder  ob  nicht  vielmehr  auch  gewisse  — ,  von  ihnen  beiseite  gelassene  — 
produktionstechnische  Tatsachen  in  den  Erklärungsgang  hineinverwoben 
werden  müßten. 

Die  Arbeiten  von  Launhardt  und  Sax  fallen  der  Zeit  nach  zwischen 
das  Erscheinen  des  ersten  (1884)  und  des  zweiten  Bandes  (1889)  des  vom 
Verfasser  veröffentlichten  Werkes  über  „Kapital  und  Kapitalzins".  Die 
im  zweiten  Bande  niedergelegte  „Positive  Theorie  des  Kapitales"  enthielt 
einen  Versuch,  alle  Formen  der  Zinserscheinung  aus  einer  Wertdifferenz 
zwischen  gegenwärtigen  und  künftigen  Gütern,  diese  selbst  aber  aus  dem 
Zusammenwirken  einer  Reihe  teils  psychologischer,  teils  produktions- 
technischer Ursachen  abzuleiten.  Dieser  Versuch  fand  vielfache  Gegner- 
schaft, aber  auch  vielfache  Zustimmung  und  Unterstützung.  Verwandte 
Ideen  waren,  wenn  auch  in  minder  erschöpfender  Ausführung  und  zunächst 
noch  ohne  bewußte  Trennung  vom  Ideengeleise  der  älteren  Abstine^- 
theorie,  fast  gleichzeitig  auch  bei  amerikanischen  Denkern,  insbesondere 


')  Mathematische  Begründung  der  Volkswirtschaftslehre,  Leipzig  1885;  siehe 
besonders  S.  6—7,  67ff.,  129. 

2)  Grundlegung  der  theoretischen  Staatswirtschaft.    Wien  1887,  S.  178 ff.,  313ff. 

')  Der  „beanspruchte  Zinsfuß  beruht  auf  einer  Schätzung  des  Minderwertea, 
welchen  der  zukünftige  Genuß  im  Vergleich  mit  einem  gleich  großen  in  der  Gregenwart 
dargebotenen  Genüsse  hat"  (Launhardt,  S.  129).  „Der  Wert  des  Kapitalgutes  ist  .  . 
in  seinem  Maße  abgeleitet  vom  Werte  des  Gebrauchsgutes,  welches  aus  jenem  hervor- 
geht. Da  nun  das  Bedürfnis,  welchem  das  Kapitalgut  indirekt  dient,  ein  zukünftiges 
Bedürfnis  ist,  so  muß  dieser  übertragene  Wert  geringer  sein  als  der  Wert,  welchen  das 
Wirtschaftssubjekt  einem  gleichen  Gebrauchsgute  gegenwärtig  beilegt,  oder,  was  das- 
selbe ist,  geringer  als  der  Wert,  welchen  für  dasselbe  das  konkrete  Gebrauchsgut,  nach- 
dem es  existent  geworden  ist,  seinerzeit  gemäß  dem  dann  präsent  gewordenen  Bedürf- 
nisse haben  wird.  Denn  der  Wert  des  künftigen  Gebrauchsgutes,  von  welchem  der 
Kapitalwert  abgeleitet  ist,  deriviert  von  dem  künftigen  Bedürfnisse,  welches  als  vor- 
empfundenes (gegenwärtiges)  Bedürfnis  schwächer  ist  als  jenes"  .  .  .  „In  der  Wert- 
differenz zwischen  dem  Kapitalgute  und  dem  daraus  hervorgehenden  Gebrauchsgute 
.  .  .  liegt  die  sogenannte  ..Produktivität"  des  Kapitalos"  (Sax,  S.  317  u.  S.  321,  vgl. 
auch  178f.). 


II.  Die  Agiotheorie.  455 

bei  Simon  N.  Patten  i),  bei  S.  M.  Macvane^)  und  bei  J.  B.  Clark  3), 
aufgetaucht.  Nicht  minder  wirkten  die  Impulse  weiter,  welche  von  Jevons' 
glänzender,  in  immer  zunehmendem  Maße  von  den  Theoretikern  der  ver- 
schiedensten Nationen  gewürdigter  Arbeit  ausgegangen  waren.  Tatsache 
ist,  daß,  an  die  eine  oder  die  andere  der  gegebenen  Anregungen  anknüpfend, 
die  Theorie  von  der  Wertdifferemz  zwischen  gegenwärtigen  und  künftigen 
Gütern  —  ich  möchte  sie,  wenn  sie  schon  mittelst  eines  kurzen  Schlag- 
wortes bezeichnet  werden  soll,  am  liebsten  die  „Agio-Theorie"  nennen  *)  — 
in  der  Literatur  aller  Kultur-Nationen  Wurzel  gefaßt  und  in  mancher 
selbst  schon  das  Übergewicht  erlangt  hat. 

Ohne  irgendwie  auf  Vollständigkeit  Anspruch  zu  erheben,  seien  aus 
der  englisch-amerikanischen  Literatur  der  Neunziger  Jahre  als  Ver- 
treter mehr  oder  weniger  verwandter  Anschauungen  außer  den  schon  oben 
genannten  Schriftstellern  noch  beispielsweise  genannt  J.  Bonar  (Quarterly 
Journal  of  Economics,  April  und  Oktober  1889,  April  1890),  W.  Smart 
(Introduction  to  the  theory  of  value,  London  1891;  The  new  theory  of 
interest,  Economic  Journal  1891);  F.  Y.  Edge Worte  (Economic  Journal, 


*)  „The  fundamental  idea  of  capital"  im  Quarterly  Journal  of  Economics, 
Januar  1889. 

-)  Siehe  dessen  ganz  kurzen,  aber  sehr  bemerkenswerten  Aufsatz  „Analysis  of 
cost  of  production"  im  Quarterly  Journal  of  Economics,  Juli  1887,  dann  eihige  spätere 
Aufsätze,  ebenda  Oktober  1890  und  Januar  1892. 

^)  Die  zahlreiche  Serie  von  Aufsätzen,  in  welcher  dieser  scharfsinnige  und  un- 
ermüdliche Theoretiker  schon  zu  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  die  Theorie  vom 
Kapitale  und  Kapitalzinse  durchforscht  hat,  beginnt  mit  der  Schrift  ,, Capital  and  its 
Earnings",  1888.  Die  meisten  seiner  späteren  Aufsätze  finden  sich  im  Quarterly  Journal 
of  Economics,  einzelne  auch  in  den  Annais  of  the  American  Academy  ( July  1890)  und 
in  der  Yale  Review  (November  1893). 

*)  Macfarlane  (Value  and  distribution,  p.  XXII,  dann  230f.)  will  sie,  wohl  in 
Anlehnung  an  eine  gewisse  von  mir  selbst  in  meiner  Positiven  Theorie  S.  489,  4.  Aufl. 
S.  363  gemacht«  Äußerung,  als  „Tauschtheorie"  („Exchange  theory")  bezeichnen,  eine 
Bezeichnung,  die  seither  auch  bei  einigen  anderen  Schriftstellern,  z.  B.  bei  Seageb, 
Principles  of  Economics  1913,  S.  293,  Eingang  gefunden  hat.  Meine  Äußerung  hatto 
sich  aber  gar  nicht  auf  die  Materie  des  Zinses,  sondern  ausschließlich  auf  die  Natur 
des  Darlehens  bezogen,  in  welchem  Punkte  ich  meine  Ansicht,  daß  das  Darlehen  ein 
echter  Tausch  gegenwärtiger  gegen  künftige  Güter  sei,  als  „Tausch theorie"  der  von 
Knies  vertretenen  ,, Nutzungstheorie"  gegenübergestellt  hatte.  Für  meine  Zinstheorie 
im  ganzen  scheint  mir  dagegen  jener  Name  recht  wenig  bezeichnend  und  darum  auch 
wenig  passend  lu  sein.  Und  noch  weniger  charakteristisch  ist  wohl  der  von  Bort- 
KiEwicz  (Schmollers  Jahrbuch  Bd.  XXXI  S.  1289)  gebrauchte  Name  „Zeitdifferenz- 
theorie": denn  in  welcher  Zinstheorie  würde  die  , .Zeitdifferenz"  keine  RoUe  spielen? 
Man  denke  nur  z.  B.  an  die  Abstinenz-  oder  Waiting-Theorien  1  —  Vermöge  eines 
seltsamen  Mißverständnisses  sieht  Zaleski  (Lehre  vom  Kapital,  Kazan  1898)  den 
Titel  „Positive  Theorie  des  Kapitales",  den  ich  dem  zweiten,  die  positive  dogma- 
tische Darstellung  enthaltenden  Teile  meines  Werkes  im  Gegensatz  zu  dem  ersten 
kritisch-historischen  Teile  vorgesetzt  hatte,  für  ein  charakterisierendes  Attribut  an, 
las  ich  für  den  Inhalt  meiner  Theorie  in  Anspruch  genommen  hätte. 


466  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Gegenwart. 

Juni  1892),  E.  B.  Andrews  (Institutes  of  Economics,  Boston  1889), 
LoWREY  (Annais  of  the  American  Academy,  März  1892),  Ely  (Outlines 
of  Economics,  New- York  1893),  Carver  (Quarterly  Journal  of  Economics, 
Oktober  1893),  Taussig  (Wages  and  capital,  New- York  1896),  Irving 
FisHER  (Economic  Journal,  Dezember  1896,  Juni  und  Dezember  1897), 
MixTER  (A  forerunner  of  Boehm-B-awerk,  Quarterly  Journ.  of  Ec.  Januar 
1897);  Macfarlane  (Value  and  distribution,  Philadelphia  1899);  im 
wesentlichen  wohl  auch  Hobson  (Evolution  of  modern  Capitalism,  London 
1894)  und  Hadley  (Economics,  New- York  1896,  und  Annais  of  the 
American  Academy,  November  1893).  Teilweise  zustimmend  hat  sich  auch 
GiDDiNGS  geäußert.  Derselbe  glaubt  jedoch  zur  Ergänzung  und  Vertiefung 
der  Theorie  noch  eine  Hinzufügung  machen  zu  müssen,  in  der  er  das  stete 
Zurückbleiben  des  Angebotes  an  Gegenwartsgütern  oder  Kapital  dadurch 
erklären  will,  daß  der  Kapitalbildung  grundsätzlich  die  letzten  mit  immer 
zunehmender  Unlust  und  Plage  verbundenen  Arbeitsstunden  dienen. 
Dieses  Plus  an  Arbeitsbeschwerde  bilde  die  Extrakosten  der  Kapitalbildung 
—  im  Vergleich  zu  den  Kosten  der  Erzeugung  der  unmittelbaren  Genuß- 
güter —  welche  Extrakosten  im  Zins  ihre  Vergütung  finden  müssen.  Ich 
vermag  mich  jedoch  weder  von  dem  Vorhandensein  aller  tatsächlichen 
Voraussetzungen  dieser  Theorie,  noch  auch  davon  zu  überzeugen,  daß, 
wenn  diese  tatsächlichen  Voraussetzungen  gegeben  wären,  sie  ihre  Wirkung 
in  der  Hervorruf ung  des  Kapitalzinses  zu  äußern  vermöchten  *). 

In  der  letztverflossenen  Zeit  waren  es  sodann  namentlich  die  beiden 
bekannten,  ebenso  hervorragenden  als  einflußreichen  Werke  von  J.B.  Clark 
über  „The  distribution  of  Wealth"  (1899)  und  Irving  Fisher  über  „The 
rate  of  Interest"  (1907),  welche  der  Diskussion  desselben  Ideenkreises 
in  der  englisch-amerikanischen  Literatur  neue  Nahrung  und  Belebung 
gaben.  Obwohl  Clark  seinen  Ideen  über  den  Ursprung  des  Kapitalzinses 
unter  dem  Einfluß  seines  vielbesprochenen  Begriffes  des  „true  capital'* 
eine  Einkleidung  gegeben  hat,  die  uns  nötigt,  sie  formell  unter  die  Pro- 
duktivitätstheorien, und  zwar  unter  die  motivierten  Produktivitätstheorien 
zu  reihen,  kommt  ein  wesentlicher  Teil  seiner  sachlichen  Erklärung  den 
Gedanken  der  Agiotheorie  so  nahe,  daß  uns  in  der  Hauptsache  vielleicht 
doch  mehr  nur  die  Form  als  das  Wesen  trennt.  Auf  einen  starken  gemein- 
samen Teil  unserer  Überzeugungen  hat  ja  auch  Clark  selbst  einmal  mit 
der  Bemerkung  hingedeutet,  daß  „jede  vollständige  Theorie  der  Ver- 
teilung sich  in  Hinkunft  einen  wesentlichen  Teil  meiner  (Böhm-Bawerks) 
Lehre  von  der  Zeit  als  einem  ökonomischen  Element  werde  inkorporieren 
müssen"  %  und  ähnlich  scheinen  über  das  Verhältnis  unserer  beiderseitigen 

*)  Siehe  hierüber  die  ausführliche,  im  Quarterly  Journal  of  Economics  vom  Juli 
1889  bis  April  1891  geführte  Diskussion,  an  der  sich  außer  Giddinos  selbst  noch  Bonab, 
der  Verfasser,  David  J.  Green  und  H.  Biloram  beteiligten. 

«)  Political  Science  Quarterly  Vol.  IV  N.  2  (Juni  1889)  S.  342. 


II.  Die  Ägioiheorie.  467 

Lehren  auch  andere  Clark  nahestehende  Theoretiker  zu  denken^).  Fisheb 
aber  steht  soweit  auf  dem  Boden  der  Agiotheorie,  daß  er  dieselbe  mehr 
nur  zu  verbessern  als  zu  bestreiten  meint,  und  seine  eigene,  von  ihm  selbst 
als  „Impatience-theory"  betitelte  Lehre  nur  als  eine  in  einigen  Punkten 
abweichende  „Form"  oder  als  eine  „Modifikation"  meiner  Agiotheorie 
bezeichnet*).  Ich  habe  an  anderer  Stelle  sowohl  Clarks  als  auch  Fishers 
Zinstheorie  schon  so  eingehend  dargestellt  und  Verbindendes  wie  Trennen- 
des schon  in  so  deutlicher  kritischer  Beleuchtung  hervorgehoben^),  daß 
ich  mich  hier  mit  der  bloßen  Nennung  dieser  zwei  wichtigen  Werke  be- 

fDügen  kann.  Die  auf  verwandter  Grundlage  stehenden  Schriften  oder 
ußerungen  englisch  schreibender  Autoren  sind  aber  heute  so  zahlreich 
geworden,  daß  ich  von  der  Registrierung  einzelner  Namen  ganz  absehen 
und  mich  auf  das  Zitat  eines  Gegners  beschränken  kann,  welcher  die  weite 
Verbreitung  der  Agiotheorie  mit  den  Worten  beklagt,  daß  dieselbe  „eine 
allgemeinere  Annahme  als  jede  andere  Erklärung  der  von  ihr  behandelten 
Tatsachen  gefunden  habe",  wiewohl  sie  auch  zahlreicher  gegnerischer 
Kritik  begegnet  und  weit  davon  entfernt  sei,  als  abschließende  Lösung  des 
Problems  betrachtet  zu  werden*). 

In  der  italienischen  Literatur  finden  sich  frühzeitige  Spuren  der 


*)  So  kann  z.  B.  Seageb  (Principles  of  Economics,  1913,  S.  296f{.)  zwischen  einer 
im  Gleiste  Clarks  gehaltenen  Produktivitäts-  und  meiner  „Exchange"-Theorie  „keinen 
tatsächlichen  Gregensatz"  finden,  während  Brown  in  einem  kürzlich  erschienenen, 
gegen  J.  Fisher  polemisierenden  Artikel  „The  marginal  productivity  versus  the  im- 
patience  theory  of  interest"  (Quarterly  Journal  of  Economics  Vol.  27  N.  4,  August 
1913)  eine  Produktivitätstheorie  vorträgt,  die  „im  wesentlichen"  auch  die  Theorie 
Clarks,  Cabvers,  Seagbrs,  Taussigs,  Cassels  und  anderer  sei,  die  aber  tatsächlich 
zugleich  auch  eine  weitgehende  materielle  Übereinstimmung  mit  meiner  Lehre  zeigt, 
von  welcher  Brown  bei  eben  dieser  Gielegenheit  bemerken  zu  dürfen  glaubt,  daß  sie 
eigentlich  ebenfalls  eine  Produktivitätstheorie  sei  (a.  a.  0.  S.  631).  Siehe  hierüber 
noch  unten. 

*)  Rate  of  Interest  S.  87ff . ;  The  impatience  theory  of  interest,  Abdruck  aus  der 
Zeitschrift  „Scientia",  Vol.  IX,  1911,  S.  386. 

*)  Bezüglich  Clabks  siehe  meine  Pos.  Th.  S.  lOlff.,  4.  Aufl.  S.  75ff.  und  die 
daselbst  (S.  102,  4.  Aufl.  S.  76  in  der  Note  1)  zitierte  Artikelserie,  bezüglich  Fishebs 
namentlich  den  Exkurs  XII  desselben  Werkes. 

*)  BiLGBAH,  Analysis  of  the  nature  of  capital  and  interest,  im  Journal  of  Pol. 
Ec.  Vol.  XVI  N.  3,  März  1908,  S.  130.  Vgl.  auch  Fabnams  Bemerkung  in  seinem  Über- 
blick über  „die  deutsch-amerikanischen  Beziehungen  in  der  Volkswirtschaftslehre" 
im  1.  Band  des  Schmollerschen  Jubiläumswerkes  Abschnitt  XVIII  S.  16.  —  Eine 
äußerst  gründliche  und  instruktive  Erörterung  der  verschiedenen  subtilen  Nuancen, 
die  bei  dieser  Gielegenheit  innerhalb  der  neuesten  amerikanischen  Literatur  zutage 
traten,  bringt  soeben  Fetteb  in  einem  Aufsatze  über  „Interest  theories,  old  and  new' - 
im  Bd.  IV,  Nr.  1,  März  1914,  der  American  Economic  Reviwe  S.  68ff.  Fetteb  selbst 
stellt  sich  hiebei  mit  seiner  eigenen,  von  ihm  als  „capitalization  theory"  bezeichneten 
Variante  auf  den  äußersten  Flügel  der  rein  „psychologischen"  (im  Glegensatz  zu  den 
„technologischen")  Zinstheorien  —  noch  weit  jenseits  des  von  mir  und  selbst  von 
J.  FisHER  eingenommenen  Standpunktes. 


458  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Gegenwart. 

Aufnahmp  derselben  Ideenrichtung  bei  Ricca-Salerno  (Teoria  del  Valore 
Rom  1894),  Montemartini  (II  risparmio  nell'  economia  pura,  Mailand 
1896),  Crocini  (Di  alcune  questioni  relative  all'  utilitä  finale,  Turin  1896), 
Graziani  (Studi  sulla  teoria  dell' Interesse,  Turin  1898);  ferner  im  wesent- 
lichen wohl  auch  bei  Barone  (Sopra  un  libro  di  Wicksell,  Giomale  degli 
Ecönomisti,  November  1895,  und  Studi  sulla  distributione,  ebenda  Februar 
und  März  1896),  und  teilweise  wenigstens  bei  Benini  (II  valore  e  la  sua 
attribuzione  ai  beni  strumentali,  Bari  1893). 

Pareto,  den  ich  selbst  eher  den  Nutzungstheoretikern  zuzählen 
möchte,  hat  daneben  doch  so  viele  der  Agiotheorie  verwandte  Gedanken 
aufgenommen,  daß  sein  Landsmann  Graziani  sich  zu  der  Bemerkung 
veranlaßt  sah,  daß  Pareto  in  Bezug  auf  die  Begründung  des  Zinses  ihre 
Prinzipien  angenommen  habe^).  In  der  jüngsten  Zeit  hat  Natoli,  der 
sichtlich  unter  dem  Einflüsse  von  Ricca-Salerno  und  Graziani  steht  und 
gleich  diesen  hervorragenden  Schriftstellern  die  Agiotheorie  für  wesentlich 
richtig,  aber  verbesserungsbedürftig  hält,  einen  eigenartigen  Versuch  ge- 
macht, eine  solche  verbesserte  Zinstheorie  zu  präsentieren  (II  principio  del 
valore  e  la  misura  quantitativa  del  lavoro,  1906).  Ihr  hervorstechendster 
Zug  liegt  in  einer  starken,  aber,  wie  ich  glaube,  verfehlten  Annäherung  an 
die  Arbeitswerttheorie,  weshalb  mir  auch  die  von  Natoli  vorgeschlagenen 
Änderungen  keineswegs  als  Verbesserungen  erscheinen  können  2). 


1)  Studi  S.  51. 

*)  Siehe  auch  oben  S.  391,  Note).  Nicht  ganz  leicht  zu  erklären  ist,  wieso  die 
oben  genannten  drei  Schriftsteller  einmütig  zu  dem  an  meine  Adresse  gerichteten  Vor- 
wurf gelangen,  daß  ich  meine  Zinstheorie  angeblich  nur  auf  die  zwischen  gegenwärtigen 
und  künftigen  Gütern  bestehenden  „absoluten"  Wertdifferenzen  (d.  i.  auf  die  bei  einem 
und  demselben  Subjekt  bestehenden  Differenzen  in  der  Wertschätzung  gegenwärtiger 
und  künftiger  Güter)  gestützt,  dagegen  die  für  das  Entstehen  des  Zinses  ebenfalls 
wesentlichen,  ja  sogar  noch  wesentlicheren  „relativen"  Wertdifferenzen,  die  im  Grade 
der  Unterschätzung  der  künftigen  Güter  bei  den  beiden  Tauschparteien,  also  zumal 
bei  den  Arbeitern  und  Kapitalisten,  eintreten,  übersehen  oder  vernachlässigt  hätte. 
Vgl.  z.  B.  Natoli  a.  a.  0.  S.  262—267,  311;  Graziani,  Studi  S.  29ff.;  Ricca-Salerno, 
Teoria  del  Valore  S.  111.  Tatsächlich  habe  ich,  wie  ein  Blick  in  mein  Buch  zeigt,  nicht 
bloß  jenes  generelle  Erfordernis  jedes  Tausches  schon  in  meiner  allgemeinen  Tausch- 
theorie mit  der  größten  Ausdrücklichkeit  hervorgehoben  (Pos.  Theorie  3.  A.  S.  368f., 
4.  Aufl.  S.  267f.),  sondern  ich  habe  mit  eben  so  großer  Ausdrücklichkeit  auch  im  Kon- 
texte meiner  Zinstheorie  die  spezielle  Anwendung  davon  auf  den  Fall  des  Austausches 
zwischen  gegenwärtigen  und  künftigen  Gütern  und  auf  die  Entstehung  des  Zinses  ge- 
zogen: siehe  meine  Pos.  Theorie  3.  A.  S.  482f.,  618ff.  und  538ff.,  4.  Aufl.  S.  359,  386ff . 
und  401ff.  Insbesondere  glaube  ich  bei  diesen  Gelegenheiten  mit  vollkommen  aus- 
reichender Deutlichkeit  gezeigt  zu  haben,  daß  und  warum  die  besitzlosen  Lohnarbeiter 
den  Gegenwartsgütern  stets  eine  stärkere  Bevorzugung  zuzuwenden  pflegen,  als  die 
Kapitalisten.  Sollte  jenem  einmütigen  und  mit  so  ähnlichen  Worten  wiederholten  Vor- 
wurf nicht  vielleicht  ein  Flüchtigkeitsversehen  Ricca-Salebnos  zugrunde  liegen,  das, 
durch  dessen  große  Autorität  gedeckt,  dann  ohne  genauere  Prüfung  auch  in  die 
Schriften  anderer,  sonst  so  sehr  durch  Sorgfalt  und  Genauigkeit  ausgezeichneter 
Schriftsteller  überging  ? 


II.  Die  Agiotheorie.  459 

Aus  der  —  bonst  überwiegend  recht  konservativen  —  französischen 
Literatur  sei  die  bedeutende  Monographie  Landrys  über  „l'lDtörßt  du 
capital",  1904  hervorgehoben,  die  trotz  recht  erheblicher  Meinungs- 
verschiedenheiten als  ein  Versuch  aufgefaßt  werden  kann,  gewisse  auch  der 
Agiotheorie  zugrunde  liegende  Gedanken  in  verbesserter  Formulierung  und 
Systematik  zur  Geltung  zu  bringen.  Über  das  Maß  von  Abweichung  und 
Übereinstimmung  habe  ich  mich  schon  in  der  eingehenden  kritischei^ 
Würdigung  ausgesprochen,  die  ich  Landbys  Theorie  an  einer  anderen 
Stelle  meines  Werkes  (Exkurs  XIII)  zuteil  werden  ließ.  Noch  näher  als 
Landry  scheint  unserem  Ideenkreise  Aftalion  zu  stehen^). 

Aus  der  holländischen  Literatur  ist  vor  allen  N.  G.  Pierson  zu 
nennen  mit  seinem  klassischen  und  auch  noch  auf  den  heutigen  Stand  der 
Lehrmeinungen  tief  nachwirkenden  Leerboek  der  Staathuishoudkunde 
(3.  von  Prof.  Verrun  Stuart  besorgte  Auflage,  Harlem  1912—1913)  und 
mit  einem  älteren  Aufsatz  in  „de  Economist"  (März  1889,  S.  193ff.). 
■  Zu  ausgebreiteter  Geltung  sind  die  hier  besprochenen  Ansichten  auch 
in  der  skandinavischen  Literatur  gelangt.  Am  ausführlichsten  und 
selbständigsten  hat  Knut  Wioksell  die  Zinstheorie  behandelt*).  Als 
Vertreter  verwandter  Anschauungen  können  u.  a.  femer  gelten  aus  der 
schwedischen  Gelehrtenwelt  Graf  Hamilton,  Davidsohn,  Leffler  und 
Brock 3);  aus  Norwegen  Aschehoug,  Morgenstierne,  Jaeger,  Aarum, 
Einarsen;  aus  Dänemark  Westergaard,  Falbe-Hansen  und  Bibck; 
in  seinen  späteren  Arbeiten  vielleicht  auch  der  änfarigs  sicherlich  gegne^ 

fische   SCHARLING*). 

Die  deutsche  Literatur,  in  der  der  theoriefeindliche  Geist  der  histo- 
rischen Schule  die  Teilnahme  an  der  modernen  Entwicklung  der  Theorie 
überhaupt  lange  verzögert  und  speziell  den  von  der  österreichischen  Schule 
ausgehenden  theoretischen  Neuerungen  ein  besonders  hartnäckiges  Wider- 


^)  Les  trois  notions  de  la  productivit6  et  les  revenus;  Revue  d'Ec.  Politique  191L 

*)  In  den  beiden  bekannten  und  geschätzten  Monographien  über  Wert,  Kapital 
und  Rente,  Jona  1893,  und  Finanztheoretische  Untersuchungen,  Jena  1896;  seither 
»uch  in  seinen  in  schwedischer  Sprache  veröffentlichten  „Vorlesungen  über  National- 
ökonomie", Lund  1901  (deutsche  Ausgabe  Jena  1913). 

•)  Bis  zu  einem  gewissen  Grade  vielleicht  sogar  Cassei.  mit  seinen  Anhängern; 
ich  muß  zwar  Cassel  formell  sicherlich  zu  den  Gegnern  der  Agiotheorie  und  als  einen 
Vertreter  der  Nutzungs-  und  Abstinenztheorie  zählen,  wie  ich  dies  ausführlich  in  meinem 
Exkurs  XIII  auseinandergesetzt  habe ;  aber  wir  haben  doch  so  viele  und  wichtige  sach- 
liche Erkenntnisse  gemeinsam,  daß  ich  es  verstehen  kann,  wenn  andere  seine  Theorie 
doch  nur  als  eine  Spielart  der  auch  von  mir  vertretenen  theoretischen  Anschauungen 
auffassen  wollen.  Vgl.  auch  Bonabs  objektive  und  gehaltvolle  Besprechung  der  Gassel- 
schen  Theorie  im  Economic  Journal,  Juni  1904,  S»  280ff. 

*)  Da  ich  die  skandinavischen  Sprachen  leider  nicht  beherrsche,  habe  ich  mich 
in  der  oben  gegebenen  Übersicht  größtenteils  auf  private  Mitteilungen  aufstützen 
müssen,  welche  ich  der  Güte  der  Herren  Professoren  Wicksell  in  Lund  und  Jaboer 
in  Ghristiania  verdanke. 


460  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Gegenwart. 

streben  entgegengesetzt  hatte,  weist  dem  entsprechend  auch  nur  einen 
verhältnismäßig  geringen  Anteil  an  der  jüngsten  Entwicklungsphase  der 
Zinstheorie  auf. 

An  etwas  älteren  originellen  Arbeiten  der  deutschen  Literatur,  die 
sich  in  ähnlicher  Gedankenrichtung  bewegen,  möchte  ich  das  fast  gleich- 
zeitig mit  meiner  Positiven  Theorie  erschienene  Werk  von  Effertz  (Arbeit 
und  Boden,  Berlin  1889)  und  das  gedankenreiche  Werk  des  Schweizers 
Georg  Sulzer  (Die  wirtschaftlichen  Grundgesetze  in  der  Gegenwarts- 
phase ihrer  Entwicklung,  Zürich  1895)  besonders  nennen.  Effertz  bringt 
den  Gedanken,  daß  der  Zins  einer  Zeitdifferenz  seine  Entstehung  verdanke, 
in  der  eigenartigen  Wendung  zum  Ausdruck,  daß  auch  das  „Alter"  der 
Arbeit  und  des  Bodens  „ein  Element  des  Tauschwertes",  und  der  Zins 
„das  Entgelt  für  die  Altersqualität  der  Arbeit  und  des  Bodens  sei"  (S.  190ff., 
198 f.,  278).  Die  Notwendigkeit  eines  „Aufschlages"  für  das  „Alter"  der 
Produktionselemente  wird  in  freilich  sehr  unzureichender,  wenn  nicht 
unzutreffender  Weise  lediglich  damit  erklärt,  daß  die  alte  Arbeit  und  der 
alte  Boden  „seltener"  seien  als  präsente  Arbeit  und  präsenter  Boden 
(190,  195,  198.  Vgl.  auch  noch  S.  218,  221,  354).  Die  grundsätzliche  Ver- 
meidung von  Literaturbeziehungen  läßt  nicht  erkennen,  ob  und  in 
welchem  Grade  das  1889  erschienene  Werk  von  Effertz  durch  die  mehr- 
fachen vorausgegangenen  Erörterungen  desselben  Grundgedankens  be- 
einflußt war.  —  SuLZERs  Behandlung  des  Stoffes  scheint  sich  mir  im 
ganzen  auf  einer  Mittellinie  zwischen  Jevons'  und  meiner  Theorie  zu 
bewegen. 

Über  die  im  Wesen  entgegenkommende,  aber  von  Schwankungen 
nicht  ganz  freie  Haltung  des  Nestors  der  deutschen  Theorie,  Adolf 
Wagner,  habe  ich  schon  oben  berichtet^).  Die  Behandlung,  welche  Phi- 
LippovTCH  dem  Zinsproblem  in  den  letzten  Auflagen  seines  „Grundrisses" 
—  wohl  des  derzeit  meist  benützten  und  einflußreichsten  Lehrbuches  der 
deutschen  Literatur  —  zuteil  werden  ließ,  scheint  mir  zwar  nicht  auf  völlige 
Übereinstimmung,  aber  doch  auf  sachlich  recht  weit  gehende  Annäherung 
an  die  in  der  Agiotheorie  vertretenen  Erklärungsgedanken  zu  deuten*). 

In  der  jüngeren  Generation,  die  bei  der  Theorielosigkeit  der  voran- 
gegangenen Moderichtung  zusehends  nicht  mehr  ihr  Genügen  findet, 
wirken  die  Gedanken  der  Agiotheorie  im  Augenblick  jedenfalls  als  ein 
starkes  Ferment;  die  wiedererwachenden  theoretischen  Bestrebungen 
finden  sie  in  ihrem  Wege  und  fühlen  sich  zu  einer  Auseinandersetzung  mit 
ihr  gedrängt.  Als  Produkte  dieser  Auseinandersetzung  finden  wir  auf  der 
einen  Seite  eine  Menge  meist  kleinerer  Schriften  und  Aufsätze  polemischen 
Inhaltes,  von  denen  viele  ihren  Ursprung  aus  theoretischen  Seminarien 

1)  S.  272. 

*)  Grundriß  der  Polit.  Ökonomie,  Erster  Band,  10.  Aufl.,  Tübingen  1913, 
§  107—110. 


II.  Die  Agiotheorie.  461 

nicht  verkennen  lassen;  daß  das  Ferment  aber  auch  schon  begonnen  hat, 
die  Entwicklung  im  positiven  Sinne  zu  befruchten,  dafür  mag  statt  jedes 
anderen  Beleges  das  große  Sammelwerk  zitiert  werden,  in  welchem  unlängst 
aus  einem  zur  Ehrung  Gustav  Schmollees  bestimmten  Anlasse  „die 
Entwicklung  der  deutschen  Volkswirtschaftslehre  im  19.  Jahrhundert" 
geschildert  wurde  i). 

Eine  etwas  aparte  Stellung  nehmen  endlich  Oswalt*)  und  Schum- 
PETER^)  mit  ausführlich  entwickelten  Theorien  ein,  die  zwar  einen  großen 
Teil  der  Erklärungsgrundlage  mit  der  Agiotheorie  gemeinsam  haben,  aber 
mit  wesentlichen  Abänderungen  über  dieselbe  hinausstreben.  Über 
OswALTS  Theorie,  die  ich  wegen  gewisser  von  ihm  selbst  freilich  nur  für 
eine  Nuance  in  der  Formulierung  des  Probleme»  gehaltener  Einschaltungen 
als  eine  eigenartige  Variante  der  Nutzungstheorie  ansehen  muß,  werde  ich 
in  dem  dieser  Auffassung  entsprechenden  Zusammenhange  noch  unten 
zu  sprechen  haben.  Schumpeter  unterscheidet  sich,  bei  sonst  sehr  weit- 
gehender sachlicher  Übereinstimmung,  von  meiner  Auffassung  haupt- 
sächlich dadurch,  daß  er  im  Kapitalzinse  nicht,  wie  ich,  ein  statisches, 
sondern  ein  dynamisches,  ausschließlich  aus  der  Entwicklung  entspringen- 
des Phänomen  erblicken  wül.  Eine  genauere  Darstellung  seiner  Theorie 
sowie  der  Gründe,  aus  denen  ich  ihr  nicht  beipflichten  kann,  habe  ich 
kürzlich  an  anderer  Stelle  gegeben,  auf  die  ich  wohl  verweisen  darf*). 


Einen  viel  geringeren  Einfluß  als  die  Agiotheorie  gewannen  einige 
andere  in  der  neuesten  Zeit  aufgetauchte  Erklärungsversuche,  die  sich 
ebenfalls  nicht  gut  in  eine  der  herkömmlichen  Kategorien  einreihen  lassen 
und  die  daher  von  mir,  wenn  auch  nur  mit  wenigen  Worten,  als  „neue" 
Zinstheorien  registriert  werden  müssen. 

Recht  eigenartig,  aber  auch  recht  wenig  erklärungskräftig  erscheint 
mir  die  Theorie  Georgievskys,  der  den  Kapitalzins  und  überhaupt  alle 
Arten  von  „reinem  Einkommen"  als  ein  Entgelt  auffaßt,  welches  für  die 
„Generalunkosten  der  Volkswirtschaft"  bezahlt  werden  muß,  im  Gegen- 
satze zu  den  speziellen  Kosten  der  konkreten  Produktion').  Die  Bedenken, 


^)  Vgl.  insbesondere  die  einschlägigen  Artikel  über  die  Lehren  vom  Kapital 
(Spiethoff),  vom  Zins  (Wuttke)  und  vom  Arbeitslohn  (Bernhard). 

*)  „Beiträge  zur  Theorie  des  Kapitalzinses"  in  der  Zeitschrift  für  Sozialwissen- 
schaft N.  F.  I.  Bd.  1910. 

»)  Theorie  der  wirtschaftlichen  Entwicklung,  Leipzig  1912. 

*)  Siehe  meinen  Artikel  „Eine  dynamische  Theorie  des  Kapitalzinses"  in  der 
Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Sozialpolitik  und  Verwaltung  Bd.  XXII  1913,  S.  Iff,; 
dann  Schukfeters  Entgegnung  ebenda  S.  d99ff.  und  meine  Schlußbemerkungen 
S.  640ff. 

*)  Nouvelle  th6orie  sur  l'origine  des  revenus  nets  (Extrait  du  Cours  d'§conomie 
poütique  1896,  2.  6dit.,  T.  II,  Livr.  2). 


462  Anhang.    Die  Zinsliteratox  in  der  Gregenwart. 

welche  gegen  diese  Auffassung  sprechen,  liegen  so  sehr  auf  der  Hand,  daß 
eine  kritische  Ausführung  derselben  wohl  entbehrlich  ist. 

Eine  ebenfalls  eigenartige  und  dabei  nicht  leicht  in  eine  der  großen 
Theoriengruppen  einzureihende  Erklärung  hat  sich  Emilio  Cossa  zureciit- 
gelegt.  Indem  der  Kapitalist  (?)  eine  „gegebene  Kombination  von  In- 
strumentalgütern ins  Werk  setzt",  läßt  er  aus  letzteren,  die  für  die  un- 
mittelbaren Bedürfnisse  der  Konsumenten  „weniger  nützlich"  und  daher 
minderwertig  sind,  „andere  vorher  bestimmte  Formen"  hervorgehen,  die 
für  jene  .Bedürfnisse  nützlicher  sind,  und  erlangt  auf  diesem  Wege  einen 
„Mehrwert",  der  für  ihn  zum  Kapitalgewinn  (profitto)  wird^).  Es  genügt 
wohl,  die  Doppelfrage  aufzuwerfen,  ob  denn  wirklich  der  „Kapitalist" 
und  nicht  vielmehr  der  Unternehmer  die  produktiven  Kombinationen 
ins  Werk  setzt,  und  sodann,  welche  Theorie  über  den  Wert  der  Instru- 
mentalgüter CossA  eigentlich  vertreten  wiU.  Wenn  er,  wie  es-  scheint, 
diesen  Wert  aus  der,  wenn  auch  geringeren,  Nützlichkeit  ableiten  wiU, 
die  die  Instrumentalgüter  für  die  „unmittelbaren  Bedürfnisse"  der 
Konsumenten  haben,  so  ist  zu  bemerken,  daß  für  die  unmittelbaren 
Bedürfnisse  die  Instrumentalgüter  in  ihrem  ursprünglichen  Zustande  nicht 
nur  eine  geringere,  sondern  zumeist  gar  keine  Brauchbarkeit  besitzen  (eine 
Pflugschar  für  die  Hungerstillung!)  und  daß  daher  die  Wertdifferenz 
zwischen  dem  unbrauchbaren  Produktionsinstrument  und  dem  brauch- 
baren Genußgut,  wenn  sie  aus  dieser  Quelle  stammen  sollte,  wohl  viel 
größer  sein  müßte  als  der  Prozentsatz  des  Zinses.  Leitet  aber  Cossa  den 
Wert  der  Produktivgüter  aus  der  indirekten  Nützlichkeit  derselben  für 
die  Bedürfnisbefriedigung  ab,  was  für  einen  Anhänger  der  Theorie  des 
Grenznutzens,  der  Cossa  ja  doch  ist  (S.  15),  nahe  liegen  würde,  dann 
enthält  seine  Theorie  wieder  keinen  Zug,  der  ein  Zurückbleiben  der  Nütz- 
lichkeit der  Instrumentalgüter  hinter  der  Nützlichkeit  und  dem  Werte 
der  Produkte  erklärlich  machen  würde:  gerade  die  Hauptsache  bleibt 
unerklärt. 

Eine  Theorie,  in  der  Otto  Conrad  den  Kapitalzins  aus  einem  zu- 
gunsten der  Kapitalisten  bestehenden  „Monopole"  erklären  will  2),  scheint 
mir  und  anderen^)  aus  dem  alten  Moment  der  „Kapitalknappheit",  welches 
beinahe  in  jeder  Zinstheorie  eine  Rolle  spielt,  den  Kapitalzins  mittelst  einer 
allzu  genügsamen  Schluß  weise  abzuleiten,  welche  die  eigentlichen  Schwierig- 
keiten des  Problems  gar.  nicht  berührt. 

Und  wahrscheinlich  wird  auch  Liefmann  den  Anspruch  erheben,  im 


^)  „L'inesistenza  di  plus-valore  nel  lavoro  e  la  fönte  del  profitto"  im  Giornale 
degli  Economisti,  Vol.  XXXII,  Serie  2,  Jänner  1907. 

*)  „Lohn  und  Rente",  Leipzig  und  Wien,  1909;  zuvor  schon  in  einem  Artikel 
„Kapitalzins"  im  Märzheft  der  Conradschen  Jahrbücher  3.  F.  Bd.  36  S.  326ff. 

')  z.  B.  Verrijn  Stuart  in  De  Economist  1908  S.  476ff.  und  Oswalt,  Beiträge 
zur  Theorie  des  Kapitalzinses  S.  9. 


Emilio  Cossa,  G.  Conrad,  läefmann,  Gesell,  Bilgram,  Hoag.  463 

Rahmen  seiner  auf  eine  Erneuerung  der  gesamten  ökonomischen  Theorie 
abzielenden  Bestrebungen  auch  eine  neue  und  beachtenswerte  Erklärung 
des  Kapitalzinses  geboten  zu  haben,  welche,  hierin  der  Theorie  Emilio 
GossAs  ähnelnd,  in  der  Wertschätzung  der  Konsumenten  ihren  Angel- 
punkt sucht  ^).  Auf  genauere  Details  glaube  ich  nicht  eingehen  zu  sollen. 
Denn  einerseits  kann  ich  des  Autors  eigene  Meinung  über  die  epoche- 
machende Bedeutung  seiner  theoretischen  Konstruktionen  leider  gar  nicht 
teilen,  und  andererseits  halte  ich  die  Aufgabe,  speziell  seine  Äußerungen 
über  das  Zinsproblem  aus  einer  theoretischen  Umgebung  herauszulösen,  in 
der  mir  fast  jedes  Wort  zu  einer  Berichtigung  herauszufordern  scheint,  für 
allzu  undankbar,  als  daß  ich  sie  mir  und  meinen  Lesern  auflegen  möchte. 
Ebenso  wenig  möchte  ich  auf  die  Ideen  Silvio  Gesells  genauer  ein- 
gehen, welcher  in  seinen  zahlreichen  auf  die  Propagierung  neo-physio- 
kratischer  Anschauungen  gerichteten  Schriften  eine  Art  naiver  Aus- 
beutungstheorie vorträgt,  in  welcher  deT  Zins  als  eine  Erpressung  aufgefaßt 
wird,  die  von  den  Geldbesitzern  gegenüber  den  Warenbesitzern  ausgeübt 
wird;  und  derselben  Auffassung  scheint  mir,  mit  demselben  Zurückgreifen 
auf  Vorstellungen,  die  schon  seit  den  Tagen  Hümes  als  endgiltig  berichtigt 
angesehen  werden  durften,  auch  Bilgram  ganz  nahe  zu  kommen,  wenn 
er  in  seinem  soeben  (1914)  veröffentlichten  Werke  über  „The  cause  of 
business  depressions"  eine  „Monopoltheorie  des  Zinses"  vorträgt,  in  welcher 
er  Kapital  und  Geld  scharf  kontrastiert,  vom  reellen  Kapital  behauptet, 
daß  es  in  vollem  Überfluß  vorhanden  sei,  dagegen  eine  monopolartige 
Knappheit  des  Geldumlaufes  dafür  verantwortlich  macht,  daß  die  Eigner 
von  Geld  und  indirekt  dann  auch  die  Eigner  von  Kapital  immerfort  „un- 
verdiente" (uneamed)  Einkommen  beziehen  können  (§  236ff.,  besonders 
261  und  266)2). 


*)  Ertrag  und  Einkommen,  Jena  1907,  S.  12ff.;  Die  Entstehung  des  Preises 
aus  subjektiven  Wertschätzungen.  Grundlagen  einer  neuen  Preistheorie  (Archiv  für 
Sozialwissenschaft,  Bd.  XXXIV). 

')  Während  des  Druckes  kam  mir  auch  noch  Hoags  Theory  of  interest,  New- 
York  1914,  in  die  Hand,  die  ihr  Autor  ebenfalls  für  eine  neue  Zinstheorie  ansieht  und 
für  die  er  den  Namen  „nominal  value  theory"  vorschlägt  (Vorrede  S.  IX  u.  X).  Ich 
glaube,  daß  sie  inhaltlich  die  größte  Verwandtschaft  mit  den  Theorien  Cabveks  und 
FiSHEKS  besitzt.  Ihr  Vortrag  unterscheidet  sich  von  älteren  Vorbildern  hauptsächlich 
durch  die  eigenartige  Auffassung  vom  Wesen  des  „Hauptstammes"  (principal)  und 
durch  die  damit  zusammenhängende  Einführung  des  Begriöes  „nominal  value".  Unter 
„Hauptstamm"  verstehe  man  zwei  in  irgend  einem  Sinne  gleiche  Gütermengen  in  ver- 
schiedenen Zeitpunkten.  Die  Gleichheit  sei  aber  nicht  eine  Gleichheit  in  Art  und 
Zahl,  wie  ich  irrtümlich  gemeint  hätte,  sondern  eine  Gleichheit  im  Werte  ;  aber  wieder 
nicht  im  Wert  auf  einem  und  demselben  Markt  eines  Zeitpunktes,  sondern  im  Wert, 
den  die  beiden  verglichenen  Gütermengen  jeweils  auf  dem  (wechselnden)  Markte  ihrer 
eigenen  Zeitschicht  erlangen;  und  diesen  Wert  auf  dem  wechselnden  Markte  neiint 
HoAG  ,, nominal  value".  Die  den  j,Hauptstamm"  bildenden  gegenwärtigen  und  künf- 
tigen Gütersummen  müssen  also  jede  auf  dem  Markt  ihrer  Zeit  gleich  viel  wert  sein 


464  Anhang.    Die  Zinsliterator  in  der  (Gegenwart, 

IIL 

Von  den  zahlreichen  Meinungen,  welche  schon  in  der  vorangegangenen 
Zeit  wider  einander  im  Felde  gestanden  waren,  haben  in  der  jüngsten 
Beobachtungsperiode  einige  gar  keinen,  und  andere  nur  einen  ganz  ver- 
einzelten Zuzug  erhalten.  Ersteres  Schicksal  hat  vorwiegend  solche 
Theoriengruppen  getroffen,  welche  entweder  mit  allzugroßer  Naivität, 
oder  umgekehrt  mit  allzu  großein,  offenbar  verkünsteltem  Raffinement 
dem  Probleme  zu  Leibe  gingen.  Aus  dem  ersten  Grunde  blieben  die  „farb- 


oder  gleichen  „nominellen  Wert"  haben  (S.  7f.  und  17ff.).  Der  Autor  sieht  diese  Auf- 
fassung als  den  Schlüssel  zur  richtigen  Erklärung  des  Zinses  an.  Ich  fürchte  im  Gregen- 
teil, daß  sie  weit  eher  die  Verwirrungsgefahren  vermehrt.  Denn  der  Tatbestand,  aus 
dem  der  Zins  entspringt,  ist  ja  doch  zugestandenermaßen  die  reelle  Ungleichheit 
des  Wertes,  den  gegenwärtige  und  künftige  Güter  auf  demjenigen  Markte  erzielen, 
auf  dem  sie  gegeneinander  vertauscht  werden.  Ich  kann  es  darum  nur  für  eine  Ver- 
dunkelung des  richtigen  Erklärungsprinzips  halten,  wenn  man  die  für  die  Entstehung 
des  Zinses  notwendige  Wertungleichheit,  sei  es  auch  nur  dialektisch  durch  die  Schaffung 
einer  neuen  Nomenklatur,  in  eine  vermeintlich  notwendige  Wertgleichheit  umdeutet. 
Übrigens  trifft  es  auch  tatsächlich  gar  nicht  zu,  daß  die  als  Hauptstamm  hinzugebenden 
und  rückzuempfangenden  Gütersummen  jede  auf  dem  Markt  ihrer  Zeit  gleich  viel 
gelten  müßten.  Wenn  man  an  Darlehen  in  anderen  vertretbaren  Gütern  als  Geld, 
z.  B.  in  Getreide  oder  Baumwolle,  oder  in  Stücken  vertretbarer  Wertpapiere,  oder 
endlich  in  solchen  Geldsorten  denkt,  die  ihren  Kurs  gegenüber  dem  Standard- Geld 
ändern  können,  wie  Geldsorten  eines  anderen  Währungssystems  oder  Papiergeld,  dann 
kann  der  seinerzeit  zurückgestellte  Hauptstamm  auch  für  seine  Zeit  einen  ganz  anderen 
Weirt  haben,  als  der  hingegebene  Hauptstamm  auf  dem  Markte  seiner  Zeit  gehabt 
hatte.  —  Im  übrigen  sei  noch  kurz  erwähnt,  daß  Hoao  seine  Zinstheorie  in  eine  Wert- 
und  Preistheorie  einschaltet,  die  auf  dem  Prinzip  der  „final  disutility"  aufgebaut  ist, 
daß  er  den  Zins  als  den  Preis  für  ein  „Ding"  erklärt,  dem  er  den  Namen  „Vorschuß" 
(advance)  gibt  (S.  49)  und  das  im  „Austausch  frtiherer  gegen  spätere  Dienste"  (S.  82) 
bestehe  und  auch  mit  investment  (S.  104)  oder  waiting  (S.  167)  gleichbedeutend  sei. 
Das  „Vorschießen"  rufe  „Kosten"  hervor,  die  im  Aufopfern  des  gegenwärtigen  Genusses 
der  vorgeschossenen  für  den  künftigen  Crenuß  der  später  dafür  zu  erlangenden  Güter 
oder  Dienste  bestehen  (S.  69),  und  der  Schnittpunkt  der  „Kosten"  mit  dem  „Wertfe" 
der  angebotenen  Vorschüsse  bestimme  die  Höhe  des  Preises,  der  für  das  Ding  „Vor- 
schuß" gezahlt  werde,  oder  die  Höhe  des  Zinses.  Diese  Credanken  scheinen  mir,  wie  schon 
angedeutet,  der  von  Carver  ausgebildeten  Variante  der  Abstinenz-  oder  richtiger 
Waiting-Theorie  (siehe  noch  unten)  am  nächsten  zu  kommen,  ohne  durch  die  angewendete 
neue  Nomenklatur  an  Klarheit  oder  Richtigkeit  gewonnen  zu  haben.  Persönlich  be- 
dauere ich,  daß  Hoao  sich  viel  mit  meiner  „Positiven  Theorie"  beschäftigt,  ohne  sich 
mit  der  doch  schon  seit  mehreren  Jahren  vorliegenden  neuen  Auflage  dieses  Werkes 
und  mit  den  derselben  beigegebenen  Exkursen  bekannt  gemacht  zu  haben.  Ich  glaube, 
er  hätte  manche  Partien  seines  Buches  und  insbesondere  diejenige,  in  der  er  die  Rolle 
der  Mehrergiebigkeit  der  Produktionsumwege  in  meiner  Zinstheorie  bespricht,  ganz 
unmöglich  so  schreiben  können,  wie  er  sie  geschrieben  hat,  wenn  ihm  nicht  meine 
neuerlichen,  gerade  solchen  Anlässen  auf  den  Leib  geschriebenen  Kommentare  zu 
diesem  Thema  unbekannt  geblieben  wären.  Und  an  demselben  Thema  scheint  sich  mir 
auch  besonders  deutlich  zu  erweisen,  daß  der  neue  Begriff  des  „nominal  value"  audi 
für  den  Autor  selbst  nicht  ohne  Verwirrungsgefahr  geblieben  ist.  Unter  seinem  Einfluß 


III.  Natzungstheorien.  465 

losen  Theorien"*),  die  „naive"  Produktivitätstheorie  und  die  „Frukti- 
fikationstheorien"  Türgots  und  Henry  Georges  ohne  neue  Bekenner, 
aus  dem  zweiten  Grunde  Theorien  vom  Schlage  jener  Schellwiens. 

Zu  den  Theorien,  welchen  nur  noch  vereinzelter  Zuzug  beschieden 
schien,  gehörte  durch  längere  Zeit  die  interessante  Nutzungstiieorie. 
Von  ihrem  hervorragendsten  Vertreter,  Karl  Menger,  lag  keine  neuer- 
liche Äußerung  zur  Sache  vor.  Zwar  hatte  derselbe  in  der  Zwischenzeit 
in  einem  äußerst  schätzbaren  Beitrage  „Zur  Theorie  des  Kapitales"*)  dem 
Begriffe  des  Kapitales  eine  eingehende  und  fruchtbare  Untersuchung 
gewidmet,  dieselbe  jedoch  nicht  auf  die  strittige  Frage  des  Zinsproblems 
ausgedehnt.  Walras,  der  schon  vordem  eine  an  J.  B.  Say  erinnernde 
Formulierung  der  Nutzungstheorie  vorgetragen  hatte,  hielt  an  derselben 
auch  späterhin  fest').  An  neueren  Arbeiten,  welche  sich  klar  und  ent- 
schieden auf  den  Standpunkt  der  Nutzungstheorie  stellen  (gelegentliche, 
zumal  eklektische  Anklänge  an  dieselbe  finden  sich  öfters*),  ist  mir  jedoch 


belrarhtet  er  nämlich  auch  die  rein  technischen  Verhältnisse  der  verschiedenen  Er- 
giebigkeit längerer  und  kürzerer  Produktionsprozesse  vorgreifend  durch  die  Wert- 
brille; und  wenn  er  bei  dieser  Betrachtungsart  dazu  gelangt,  den  „wahren  Grund'* 
der  größeren  Produktivität  längerer  Produktionsprozesse  darin  zu  erblicken,  daß  gegen- 
wärtige Arbeit  in  längere  Prozesse  investiert  ein  „Prämium",  bestehend  in  einem  Über- 
schuß von  nominal  value,  verschaffen  kann  (S.  126, 129, 145 — 148),  so  scheint  mir  dies 
auf  einen  Versuch  hinauszulaufen,  die  technische  Produktivität  aus  einer  Wertproduk- 
tivität abzuleiten,  während  wohl  nur  sehr  wenige  daran  zweifeln  werden,  daß  eine 
logisch  aufrechte  Erklärung  hier  den  umgekehrten  Weg  gehen  muß  —  was  freilich 
HoAO  wieder  von  seinem  Standpunkte  aus  für  eine  „Zirkelerklärung"  hältl  (S.  129). 

^)  Fast  möchte  ich  indes  auch  aus  der  neuesten  Zeit  die  Zinstheorie  Lehrs  (Grund- 
begriffe und  Grundlagen  der  Volkswirtschaft,  Leipzig  1893,  VII.  Abschnitt  6.  Kapitel) 
eine  farblose  nennen;  wenigstens  ist  es  mir  nicht  gelungen,  seinen  ziemlich  wortreichen 
Auseinandersetzungen  über  das  Zinsproblem  eine  charakteristische  Pointe  abzusehen. 
Er  negiert  seine  Zustimmung  zu  den  meisten  sonst  üblichen  Zinstheorien,  bringt  aber 
seinerseits  nur  Äußerungen  vor,  die  entweder  eine  Berufung  auf  die  Tatsächlichkeit, 
oder  aber  auf  die  Angemessenheit,  Gerechtigkeit  und  Billigkeit  gewisser  Vorgänge 
zum  Inhalt  haben,  oder  endlich  nur  gewisse  ganz  allgemeine  Motive  anklingen  lassen 
(wie  das  SniTHsche  Motiv,  daß  man  ohne  die  Aussicht  auf  Zins  Kapitale  nicht  sammeln, 
beziehungsweise  zur  Produktion  anwenden  oder  als  Darlehen  geben  würde,  S.  332), 
aber  m.  E.  keine  eigentliche  Erklärung  enthalten. 

•)  Conrads  Jahrbücher,  N.  F.  Bd.  XVII  (1888). 

')  Elements  d'Economie  politique  pure  1.  Aufl.  Lausanne  1874,  2.  Aufl.  1889. 
Walkas  sieht  den  Kapitalzins  als  Vergütung  für  den  „service  producteur"  des  Kapi- 
tales, welcher  ein  besonderes  immaterielles  Gut  sei,  an  (z.  B.  S.  201,  211  und  XIII  der 
2.  Aufl.).  Der  Auffassung  Walras'  schließt  sich  im  wesentlichen  auch  Pareto  an 
(Cours  d'Economie  politique  I  40 ff.),  jedoch  nicht  ohne  einige  gelegentliche  Hin- 
deutungen auf  den  zwischen  „gegenwärtigen  und  künftigen  Gütern"  bestehenden  Wert- 
unterschied (z.  B.  S.  50). 

*)  Z.  B.  bei  Conrad,  Grundriß  zum  Studium  der  politischen  Ökonomie,  I.  Teil, 
Jena  1896,  §  67;  bei  Dietzel  in  dem  unten  noch  ausfülirlicher  zu  erwähnenden  Auf- 
satze in  den  Göttinger  gelehrten  Anzeigen;  bei  Dtehl  (Proudhon,  seine  Lehre  und  sein 
Leben,  II.  Abth.  Jena  1890,  S.  204ff.);  M.  Block,  Progrds  de  la  science  Economique 
Böhm-Bftwerk,  Eapitalzins.    4.  Aufl.  80 


466  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Gegenwart. 

in  der  verhältnismäßig  langenPeriode  von  1884  bis  1900  nur  die  in  russischer 
Sprache  erschienene  „Lehre  vom  Kapital"  von  Ladislas  Zaleski^)  be- 
kannt geworden.  Da  meine  Kenntnis  von  diesem  Werke  sich  auf  einige 
mir  von  sprachkundiger  Seite  zur  Verfügung  gestellte  Excerpte  beschränkt, 
kann  ich  lediglich  die  Tatsache  registrieren,  daß  Zaleski  sich  ausdrücklich 
zur  Nutzungstheorie  bekennt,  und  ihr  eine  naturwissenschaftliche  Be- 
gründung aus  der  Lehre  „von  der  Einheit  der  Materie  und  der  Erhaltung 
der  Energie'*  zu  unterlegen  versucht.  Wie  weit  durch  diese  Neuerung  sich 
Zaleskis  Nutzungstheorie  von  jener  Mengers  entfernt  und  etwa  der 
motivierten  Produktivitätstheorie  annähert,  entzieht  sich  meiner  Be- 
urteilung. 

Seit  etwa  1900  scheint  jedoch  die  Zahl  derjenigen  Schriftsteller,  welche 
bei  den  Gedankengängen  oder  vielleicht  auch  nur  bei  den  Redensarten 
der  Nutzungstheorie  ihr  theoretisches  Genügen  finden  zu  können  glauben, 
wieder  etwas  anwachsen  zu  wollen.  Unter  diesen  neueren  Bekennern  der, 
wie  einer  ihrer  Wortführer  sagt,  „doch  so  natürlichen  Auffassung,  der 
Zins  werde  für  die  Benützung  des  Kapitales  gezahlt",  mögen  beispielsweise 
genannt  werden  Cassel  (Nature  and  necessity  of  interest,  1903),  Margolin 
(Kapital  und  Kapitalzins,  1904),  Berolzheimer  („Das  Vermögen"  in  den 
Annalen'des  deutschen  Reiches  Jil904,  §  11,  S.  595 ff.),  Brentano  (Theorie 
der  Bedürfnisse,  1908,  S.  11)  und  Oswalt  („Vorträge  über  wirtschaftliche 
Grundbegriffe"  1905  und  namentlich  „Beiträge  zur  Theorie  des  Kapital 
zinses"  in  der  Zeitschrift  für  Sozialwissenschaft  N.  F.  L  Band  1910); 
auch  KoMORZYNSKi  ist  vielleicht  mit  seiner  etwas  dunklen  Theorie  der 
„Vermögensnutzung"  (Die  nat.-ök.  Lehre  vom  Kredit,  1903  S.  26 ff.)  in 
diesem  Zusammenhange  zu  nennen. 

Die  Mehrzahl  dieser  Bekenntnisse  zur  Nutzungstheorie  ist  in  ihrer 
Motivierung  so  genügsam  —  wenn  auch  einzelne  von  ihnen  ih  ihrem  Ton 
recht  anspruchsvoll  sind  —  daß  ein  genaueres  Eingehen  auf  sie  kaum  eine 
entsprechende  wissenschaftliche  Ausbeute  liefern  würde.  Am  meisten 
theoretisches  Interesse  scheinen  mir  die  Varianten  von  Cassel  und  Oswalt 
zu  bieten.  Über  des  ersteren,  die  Gedanken  der  Nutzungs-  und  Abstinenz- 
theorie in  ebenso  eigenartiger  als  unbefriedigender  Weise  mit  einander 
verwebende  Lehre  habe  ich  mich  schon  an  einer  andern  Stelle  meines 
Werkes  ausgesprochen 2).  Hier  mögen  noch  einige  kritische  Glossen  über 
Oswalts  Präsentierung  der  Nutzungstheorie  Platz  finden''). 


depuis  Adam  Smith,  Paris  1890,  IL  Chap.  XXIX;  Ch.  Gide  (Principes  d'Economie 
poiitique,  5.  Aufl.,  Paris  1896,  S.  461),  und  bei  manchen  anderen. 

1)  Kazan  1898. 

«)  Im  Exkurs  XIII  zur  3.  Aufl.  meiner  Positiven  Theorie  S.  438—450,  4.  Aufl. 
S.  322-331. 

')  Die  im  folgenden  zitierten  Seitenzahlen  beziehen  sich,  wenn  nichts  andere» 
ausdrücklich  bemerkt  wird,  stets  auf  Oswalts  ,, Beiträge",  bezw.  auf  den  Jahrgang 
1910  der  2^itsch.  für  Sozialwissenschaft. 


III.  Nutzungstheorien.    Oswalt.  4{g7 

OswALT  hält  von  vorueherein  das  Zinsproblem  für  ganz  „leicht"  (103) 
und  „einfach"  (2);  es  sei  auch  schon  längst  gelöst  (445).  Man  dürfe  sich 
nur  von  der  „doch  so  natürlichen  Auffassung",  daß  der  Zins  für  die  Be- 
nützung des  Kapitales  gezahlt  werde  (26),  nicht  durch  allerlei  „unnötiger- 
weise hineingetragene"  und  „künstlich  aufgeworfene"  Zweifel  und  Schwie- 
rigkeiten „scholastischen"  Ursprungs  (2)  abbringen  lassen.  Zu  diesen 
unnötigen  scholastischen  Schwierigkeiten  rechnet  er  offenbar  ganz  vorzugs- 
weise meine  gegen  die  Existenz  und  Realität  einer  selbständigen  Kapital- 
nutzung vorgebrachten  Bedenken.  Aber  dieselben  sind  doch  nicht  ganz 
ohne  Eindruck  auf  ihn  geblieben.  Das  zeigt  sich  einerseits  darin,  daß  er 
einzelnen  der  von  mir  der  Nutzungstheorie  entgegengehaltenen  Thesen 
doch  auch  seine  eigene  Zustimmung  nicht  versagen  kann  (auf  S.  98  z.  ß. 
finden  wir  das  ausdrückliche  Zugeständnis,  daß  „eine  Nutzung  als  etwas 
körperliches  oder  sachliches  neben  dem  Gute  selbst  nicht  besteht"). 
Ganz  vornehmlich  zeigt  sich  aber  jener  Eindruck  in  der  außerordentlich 
großen  Vorsicht  und  Bescheidenheit,  mit  welcher  Oswalt  bei  der  Ein- 
führung seines  Begriffes  der  Kapitalnutzung  zu  Werke  geht:  er  entwaffnet 
gewissermaßen  im  Voraus  jede  Kritik  durch  die  gänzüche  Harmlosigkeit 
und  Anspruchslosigkeit  der  theoretischen  Voraussetzungen,  von  denen  er 
seinen  Ausgang  nimmt.  Die  „Nutzung",  von  der  er  sprechen  will,  sei 
gar  nicht  als  eine  „Tatsache,  die  zur  Erklärung  des  Zinses  herangezogen 
werde",  oder  als  eine  „Ursache"  des  Zinses  gemeint,  sondern  ein  bloßer 
„Name",  der  ihm  zur  „Bezeichnung"  gewisser  tatsächhcher  Vorgänge 
diene;  und  zwar  ein  völlig  unpräjudizierlicher  Name,  der  nichts  mit  der 
Lösung,  sondern  nur  mit  der  Formulierung  des  Problems  zu  tun  habe. 
Das  Problem  sei,  warum  für  ein  so  oder  so  zu  bezeichnendes  Etwas  ein 
Preis,  genannt  Zins,  bezahlt  werde;  unpräjudizierliche  Formulierung  sei  es, 
ob  man  dieses  Etwas  mit  ihm  als  die  Nutzung  des  Kapitales  oder  mit  mir 
als  den  Mehrwert  gegenwärtiger  gegenüber  künftigen  Gütern  benennen 
wolle  (15). 

Auf  einer  folgenden  Stufe  seiner  Ausführungen  betont  Oswalt  die 
völlige  Anspruchslosigkeit  seines  Nutzungsbegriffes  wo  mgölich  noch 
schärfer.  Er  hat  auf  S.  88  ff.  zwei  recht  verschiedene  und  auch  zu  recht 
verschiedenen  praktischen  Konsequenzen  führende  Varianten  im  Ver- 
halten kapitalbesitzender  Personen  einander  gegenübergestellt.  Der  Besitz 
eines  „schon  im  Anfang  vorhandenen"  Vorrates  an  Gütern  oder  eines 
Kapitales  ist  nämlich,  wie  Oswalt  hier  in  völliger  Übereinstimmung  mit 
meiner  Lehre  ausführt,  eine  unentbehrliche  Voraussetzung  für  die  Ein- 
schlagung der  technisch  ergiebigeren,  zeitraubenden  oder  kapitalistischen 
Produktionsmethoden.  Dieser  Vorrat  muß  während  der  Dauer  des  kapita- 
listischen Produktionsprozesses  notwendig  und  naturgemäß  aufgebraucht 
werden.  Aber  er  kann  entweder  ersatzlos  aufgebraucht  werden  —  dann 
steht  sein  bisheriger  Besitzer  am  Schlüsse  der  betreffenden  Produktions- 

30* 


468  AnTiang.    Die  Zinsliterator  in  der  Gegenwart. 

periode  ohne  Kapital  da  und  kann  die  ergiebige  kapitalistische  Produktions- 
methode mangels  des  dazu  nötigen  Anfangsvorrats  nicht  ständig  fortsetzen; 
oder  aber,  es  können  während  der  Zeit,  in  welcher  die  Kapitalgüter  durch 
den  Gebrauch  untergehen,  Ersatzgüter  hergestellt  und  so  das  Kapital 
bei  allem  Wechsel  der  Güter,  aus  denen  es  sich  zusammensetzt,  im  selben 
quantitativen  Bestände  erhalten  werden;  dann  kann  natürlich  auch  nach 
Ablauf  der  ersten  Produktionsperiode  die  kapitalistische  Methode  mit  allen 
ihren  Vorteilen  der  größeren  Ergiebigkeit  weiterhin  und  ständig  fortgesetzt 
werden.  Hier  öffnet  nun  Oswalt  ganz  vorsichtig  die  Pforte  für  das  Auf- 
treten der  Kapitalnutzung:  er  sagt,  „man"  pflege  diese  zweite  Vorgangs- 
weise so  „auszudrücken",  daß  man  das  Kapital  nicht  „verzehre",  sondern 
bloß  „benütze"  (beide  Worte  "werden  von  Oswalt  selbst  unter  Anführungs- 
zeichen gestellt).  Aber  Oswalt  säumt  nicht,  diese  „Ausdrucks weise" 
sofort  mit  allerhand  noch  vorsichtiget'en  Vorbehalten  zu  kommentieren. 
Es  sei  ohne  weiters  zuzugeben,  daß  es  nur  ein  „bildlicher  Ausdruck"  ist, 
wenn  wir  vom  bloßen  Benutzen  des  Kapitales  sprechen.  Solche  bildliche 
Ausdrücke  dürfe  man  indes  „im  Interesse  der  sprachlichen  Bequemlich- 
keit" immerhin  gebrauchen,  vorausgesetzt  nur,  daß  man  sich  darüber 
verständigt  hat,  „was,  ohne  Bild  gesprochen,  damit  gemeint  ist". 
Und  hier  bestätigt  Oswalt  mit  aller  wünscheils werten  Ausdrücklichkeit 
und  Korrektheit,  daß  die  zwei  Personen,  von  denen  die  eine  ihr  Kapital 
„verzehrt",  die  andere  ein  ebensolches  Kapital  „nur  benützt",  mit  diesem 
ihrem  Kapital  in  Wahrheit  nicht  verschieden  verfahren:  „im  Gegenteil, 
beide  haben  es  in  gleicher  Weise,  rascher  oder  langsamer,  je  nach  seiner 
körperlichen  Beschaffenheit,  verbraucht,  also  vernichtet.  Der  Unter- 
schied ihres  Verhaltens  betrifft  vielmehr  andere  Güter,  die  sie  hätten 
konsumieren  können",  (oder  wie  Oswalt  ausführt,  noch  genauer  die 
Güterelemente,  aus  denen  diese  anderen  Güter  aufgebaut  sind)  „.  .  .  und 
er  besteht  darin,  daß  der  eine  diese  andern  Güter  wirklich  konsumiert, 
der  Andere  sie  eine  Zeit  lang  unkonsumiert  läßt".  Der  praktische  Unter- 
schied sei,  daß,  wenn  das  ursprüngliche  Kapitalgut  untergegangen  ist, 
der  eine  kein  Kapital  mehr  hat,  der  andere  dagegen  ein  dem  untergegan- 
genen gleichwertiges  Kapital  besitzt.  Und  nach  diesem  Unterschiede  im 
praktischen  Effekte  sei  der  bildliche  Ausdruck  (von  Oswalt  unter- 
strichen!) geprägt,  der  Zweite  habe  sein  Kapital  „bloß  benutzt".  Es  sei 
eine  Sache  des  persönlichen  Geschmackes,  ob  man  das  Bild  für  treffend 
hält;  den  sachlichen  Unterschied  zwischen  den  zwei  Tatbeständen  werde 
niemand  bestreiten  können. 

Soweit  ist  ersichtlich  alles  in  vollständiger  Ordnung:  Daß  wirklich 
ein  erheblicher  sachlicher  Unterschied  zwischen  den  beiden  Tatbeständen 
besteht,  entspricht  natürlich  durchaus  auch  meiner  Meinung.  Worin  er, 
„ohne  Bild  gesprochen",  besteht,  das  hat  Oswalt  ganz  richtig  dargestellt: 
das  Kapital  wird  in  beiden  Fällen  gleichmäßig  „verbraucht,  also  ver- 


III,  Natsongstheorien.    Oswalt.  469 

nichtet";  der  Unterschied  betrifft  nur  das  Verhalten  gegenüber  ganz 
andern  Gütern  oder  Güterelementen.  Daß  die  Floskel  vom  „bloßen 
Benützen*'  des  Kapitales  daher  nicht  dem  Wesen  der  Sache  entspricht, 
sondern  nur  ein  der  „sprachlichen  Bequemlichkeit"  dienendes  „Bild"  ist, 
ist  ausdrücklich  zugestanden.  Und  den  „persönlichen  Geschmack"  habe 
ich,  auch  wenn  ich  ihn  nicht  teile,  jefenfalls  nicht  als  Theoretiker  der 
Nationalökonomie  zu  kritisieren.« 

Aber  nach  dieser  tadellosen  Introduktion  beginnt  Oswalt  imversehens 
zu  Gunsten  seiner  Kapitalnutzung  anspruchsvoller  zu  werden.  "Wer  seine 
Ausführungen  daraufhin  im  Zusammenhange  liest,  wird  nicht  ohne  humor- 
voUes  Ergötzen  bemerken,  wie  die  anfangs  immer  gewissenhaft  zum  bild- 
haften „bloßen  Benützen"  des  Kapitales  gesetzten  Anführungszeichen 
allmählich  seltener  werden,  und  schließlich  ganz  ausbleiben,  und  er  wird 
femer  bemerken,  wie  Zug  um  Zug  das  „Bild"  oder  der  „Name"  oder  auch 
die  „Hilfsvorstellung",  wie  Oswalt  ein  anderes  Mal  (26)  sagt,  sich  immer 
mehr  zu  einer  Realität,  zu  einem  Wesen  verdichtet.  Bald  heißt  es  schon, 
daß  wir  „gesehen  haben"  (90)  oder  daß  „feststeht"  (103),  daß  die  Kapital- 
nutzung etwas  nützliches,  dann  auch,  daß  sie  wegen  ihrer  Nützlichkeit 
und  relativen  Knappheit  etwas  wertvolles  ist  —  womit  sich  unwillkürlich 
nach  Analogie  des  ÜEscARTEsschen  „CogUo  ergo  sum''-  dem  Leser  der 
Gedanke  suggerieren  muß,  daß  etwas,  was  nützlich  und  wertvoll  ist, 
natürlich  vor  allem  sein,  also  Existenz  und  Realität  haben  müsse.  Weiter- 
hin ist  aus  der  bildlichen  „Hilfsvorstellung"  bereits  etwas  so  konkretes 
wie  ein  „Produktionsmittel"  geworden  (10)  und  zwar,  wie  Oswalt  jetzt 
ganz  präzise  zu  berichten  weiß,  ein  elementares  Produktionsmittel,  ein 
drittes  „Güterelement"  (10,  151)  oder  „Elementargut"  (244,  439),  das 
neben  der  Arbeit  und  der  Bodennutzung  selbständige  Existenz  hat.  Gerade 
diese  letztere,  so  sicher  auftretende  Behauptung  muß  besonders  befremden, 
da  Oswalt  die  entgegengesetzte,  unter  andern  von  mir  vorgetragene 
Ansicht,  daß  es  nur  zwei  Güterelemente,  nämlich  Arbeit  und  Boden- 
nutzungen gebe,  indem  das  Kapital  nichts  als  ein  Zwischenprodiikt  von 
Natur  und  Arbeit  sei,  ausdrücklich  ebenfalls  für  „gewiß  richtig"  und  dem- 
gemäß auch  die  Aussage  für  begründet  erklärt,  „daß  der  ganze  Ertrag 
der  Wirtschaft  in  letzter  Instanz  auf  diese  zwei  Elemente  zurückzuführen 
sei"  (91).  Oswalt  versucht  sich  freüich  eine  Brücke  zur  Mißachtung  dieser 
„Erkenntnis"  dadurch  zu  bauen,  daß  er  sie  für  „praktisch  wie  theoretisch 
unfruchtbar"  erklärt.  Aber  dürfte  man,  selbst  wenn  dies  so  wäre,  jemals 
das  Gegenteil  der  Wahrheit,  und  sei  es  auch  einer  „unfruchtbaren"  Wahr- 
heit, lehren?  Und  dann:  zeigt  nicht  gerade  die  Beflissenheit,  mit  welcher 
Oswalt  um  jene  Erkenntnis  herumzusteuem  und  von  ihr  abzulenken 
bemüht  ist,  daß  sie  seine  theoretisch e'n  Zirkel  empfindlich  stört,  daß  sie 
also  für  die  theoretische  Auffassung  unseres  Problems  keineswegs  ohne 
erheblichen  Belang,  mit  andern  Worten,  nicht  ohne  das  sein  kann,  was 


470  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Cregenwart. 

man  theoretische  Fruchtbarkeit  nennt?  Oswalts  darauffolgendes  Plai- 
doyer  für  die  praktische  Unfruchtbarkeit  —  daß  es  nichts  nützen  wüirde, 
im  praktischen  Leben  auf  jene  Erkenntnis  gestützt  die  Zahlung  des  Zinses 
zu  verweigern  —  trägt  so  deutlich  das  Kennzeichen  einer  petitio  principii, 
eines  Versuches  an  sich,  die  Existenz  des  Zinses  als  Beweismittel  zugunsten 
einer  bestimmten,  von  ihm  bevorzugten  Zinstheorie  zu  monopolisieren, 
daß  ich  wohl  nichts  weiteres  darüber  zu  bemerken  brauche^). 

Nachdem  die  Kapitalnutzung  so  zu  einem  selbständigen  Elementar- 
gut vorgerückt  ist,  kann  sie  endlich  auch  als  der  von  der  Nutzungstheorie 
so  emsig  gesuchte  dritte  „Kostenfaktor"  präsentiert  werden,  der  ebenso 
wie  die  Kostenelemente  Arbeit  und  Bodennutzung  in  den  Wert  und  Preis 
der  Produkte  eingeht  (103,  291)  und  eine  Vergütung  beansprucht  und 
findet,  die  eben  der  Zins  darstellt.  Hiemit  hat  Oswalt,  der  so  bescheiden 
mit  einem  ganz  unpräjudizierlichen  bloßen  „Namen"  und  „Bilde"  begonnen, 
die  Nutzung  Schritt  für  Schritt  in  alle  die  sachlichen  Positionen  eingeführt, 
die  sie  sonst  in  der  herkömmlichen  Nutzungstheorie  einzunehmen  pflegt. 
Noch  ein  Schritt  war  zu  tun  übrig:  Oswalt  mußte  sich  irgendwie  über 
die  Beziehungen  der  „Nutzung"  zu  den  Gütern  selbst  aussprechen.  Er 
tut  es  so,  daß  er  die  Nutzung  in  die  Güter  hineinverlegt;  sie  sei  zwar,  wie 
er  einmal  sagt,  nichts  „Körperliches  oder  Sachliches  neben  dem  Gute 
selbst"  (98),  wohl  aber  sind  die  Nutzungen  laut  S.  103  in  den  betreffenden 
Gütern  „inbegriffen".  Man  bemerke  wohl:  auf  S.  90  hatte  Oswalt  wort- 
deutlich erklärt,  daß  diejenigen  Vorgänge,  die  zur  Redensart  von  dem 
„bloßen  Benutzen"  im  Gegensatze  zum  „Verzehren"  überhaupt  den  Anlaß 
geben,  sich  in  Wahrheit  gar  nicht  an  denjenigen  Gütern  zutragen,  von 
deren  „bloßer  Benutzung"  man  durch  eine  Redeblume  spricht,  sondern 
an  ganz  anderen  Gütern  oder  Güterelementen;  und  nun  soll  etwas,  was 
zugestandenermaßen  in  Wahrheit  mit  jenen  ersteren  Gütern  gar  nichts 


^)  Die  Auflösung  der  in  den  verschiedenen  Produktionsperioden  verbrauchten 
oder  vernutzten  Elapitalgüter  in  ihre  letzten  Elemente  Arbeit  und  Bodennutzung  muß 
sich  ebenso  wie  der  darauf  gebaute  Begriff  der  „durchschnittlichen  Produktionsperiode" 
auch  sonst  noch  zu  wiederholtenmalen  von  Oswalt  die  Bezeichnung  als  „theoretisch 
und  praktisch  interesselos"  gefallen  lassen  (z.  B.  S.  292,  296).  Oswalt  wird  dabei  nicht 
gewahr,  daß  er  hiemit  einem  Kardinalsatz  seiner  eigenen  Theorie  den  Boden  abgräbt. 
Denn  sein  eigener  Begriff  der  , .kapitalistischen  Methode"  behauptet  eine  durch  diese 
herbeigeführte  „Ertragssteigerung"  in  dem  Sinne,  daß  ,,ein  quantitatives  oder  quali- 
tatives Mehr  an  Bedürfnisbefriedigung  auf  die  Einheit  direkt  und  indirekt 
aufgewendeter  Arbeit  und  Bodennutzung"  zuwege  gebracht  wird.  Wie  könnte 
aber  Oswalt  überhaupt  zu  einer  solchen  Repartierung  des  schließlichen  Ertrages  auf 
die  Einheit  der  direkt  und  indirekt  aufgewendeten  Arbeit  gelangen,  ohne  wenigstens 
in  Gedanken,  also  „theoretisch",  eben  jene  verpönte  Auflösung  vorzunehmen?  Dabei 
schreibt  OswALTauf  S.  85 auch  noch  selbst:  ,,Aber  eine  theoretische  Betrachtung, 
die  der  Sache  wirklich  auf  den  Grund  gehen  will,  .  .  .  muß  jedes  Gut  an- 
sehen als  den  Inbegriff  der  Güterelemente,  aus  denen  solche  Güter  zusammengesetzt 
werden".    Und  dennoch  „theoretisch  interesselos"?! 


III.  Nutzungstheorien.    Oswalt.  471 

ZU  tun  hat,  gleichwohl  als  reales  Elementargut  in  ihnen  —  Gott  weiß  wie!  — 
eingeschlossen  oder  inbegriffen  sein!  Und  Oswalt  nimmt  es  mit  diesem 
Inbegriffensein  so  ernst,  daß  er  mir  ungezählte  Male  als  meinen  entscheiden- 
den Kardinalfehler  den  „Beobachtungsfehler"  vorwirft,  daß  ich  die  in  den 
Preisgütern  ebenfalls  inkorporierten  oder  inbegriffenen  Nutzungen  über- 
sehen hätte!  ^)  Derselbe  Oswalt  endlich,  der  auf  S.  15  die  Nutzung  aus- 
drücklich von  den  Tatsachen,  die  zur  Erklärung  des  Zinses  herangezogen 
werden,  ausgeschlossen  hatte,  läßt  auf  S.  443  seine  Lehre  in  die  resümieren- 
den Worte  ausklingen:  „Meine  Erklärung  des  Kapitalzinses  geht  dahin, 
daß  er  der  im  Tauschverkehr  sich  herausbildende  Preis  der  Kapital- 
nutzung s«i,"  in  welchem  Preise  sich  der  Wert  der  Kapitalnutzung  aus- 
drücke, der  seinerseits  aus  dem  Zusammentreffen  von  Nützlichkeit  und 
relativer  Knappheit  eben  dieser  Kapitalnutzung  hervorgehe. 

Hand  aufs  Herz:  soll  in  dieser  Kette  erklärender  Gedanken  die  Kapital- 
nutzung immer  noch  nichts  anderes  als  hur  ein  leerer,  unvorgreiflicher, 
gar  nichts  erklärender  Name  sein,  oder  ist  nicht  vielmehr  die  von  Oswalt 
behauptete  Existenz  eines  von  ihm  mit  jenem  Namen  ausgestatteten 
realen,  selbständigen  „Elementargutes"  ein  indispensables  sachliches 
Zwischengüed  seines  Erklärungsganges  ?  Und  wann  und  wo  hätte  er  auch 
nur  ein  beweisendes  Wort  zu  Gunsten  der  realen  Existenz  eines  solchen 
Elementargutes  vorgebracht? 

Lassen  wir  uns  nicht  täuschen:  damit  hat  ja  Oswalt  natürlich  voll- 
kommen recht,  daß  der  Zins  für  etwas  gezahlt  wird  und  daß  dieses  „etwas", 
um  einen  Wert  und  Preis  erlangen  zu  können,  auch  nützlich  und  relativ 
knapp  sein  muß.  Aber  das  Problem  liegt  ja  doch  darin,  die  Natur  jenes 
„Etwas"  richtig*  zu  bestimmen.  Und  über  die  Natur  dieses  Etwas  hat 
Oswalt,  solange  er  ihm  nur  in  wirklich  unvorgreiflicher,  nichts  erschleichen- 
der Weise  den  Namen  der  Kapitalnutzung  gibt,  natürlich  noch  gar  nicht 
das  mindeste  ausgesagt;  gerade  so  wenig,  als  wenn  er  ihm  —  ich  entlehne 
dieses  Beispiel  von  Knies  —  den  Namen  Hoho!  oder  Sasa!  gegeben, 
oder  wenn  er  den  in  der  Mathematik  für  erst  zu  erforschende  Unbekannte 
üblichen  Ausdruck  x  dafür  eingesetzt  hätte.  Im  besonderen  leuchtet 
ein,  daß  damit,  daß  man  jenem  Etwas  einen  selbständigen  Namen  gibt, 
auch  darüber  noch  nicht  das  mindeste  ausgesagt  oder  entschieden  sein 
kann,  daß  jenes  Etwas  ein  nach  irgend  einer  Richtung  selbständiges 
Etwas  sein  müsse.  Ganz  konkret  gesprochen:  an  sich  bleibt  auch  die 
entgegengesetzte  Möglichkeit  zum  allermindesten  noch  offen,  daß  die  zum 
Darlehen  gegebenen  gegenwärtigen  Güter  selbst  das  wegen  ihrer  über- 
ragenden Nützlichkeit  und  relativen  Knappheit  Höherwertige  wären,  wobei 


^)  Einmal  wirft  Oswalt  mir  sogar  das  Übersehen  der  Zinsen  selbst  vor  (S.  6 
und  7);  für  den  Urheber  einer  Zinstheorie,  der  gewissermaßen  das  Objekt  seiner  Er- 
klärung übersehen  hätte,  gewiß  ein  recht  kompromittierendes  „Übersehen"  —  freilich 
nur,  wenn  er  es  begangen  hätte! 


472  Anhang.    Die  Zinsliterator  in  der  Gegenwart. 

dann  der  Zins  nicht  ein  Preis  für  ein  besonderes,  selbständiges  Etwas, 
sondern  nur  ein  ergänzendes  Teüäquivalent  wäre,  das  zu  den  rückzu- 
erstattenden minderwertigen  künftigen  Gütern  hinzutreten  und  gleich 
diesen  für  die  empfangenen  höherwertigen  Gegenwartsgüter  selbst  geleistet 
werden  müßte.  Oswalt  kann  sogar  nicht  umhin,  diese  Auffassung  —  die 
meine  Auffassung  von  der  Sache  ist  —  bei  verschiedenen  Gelegenheiten 
selbst  ausdrücklich  als  eine  „Beschreibung*'^)  oder  „Formulierung"  anzu- 
erkennen, welche  „den  tatsächlichen  Vorgängen"  ebenfalls  „gerecht  wird" 
(S.  16  u.  100);  und  dieselbe  hat  überdies  zweifellos  den  Vorzug,  daß  sie  in 
keinem  Stück  etwas  zu  fingieren  braucht,  sondern  dem  von  Oswalt  dort, 
wo  er  „ohne  Bild  spricht"  (S.90  u.  98),  geschilderten  Tatbestande  (Empfang, 
in  der  „Vernichtung"  bestehende  Benutzung  des  empfangenen  und  Rück- 
erstattung eines  anderen  Gutes)  ganz  buchstäblich  entspricht. 

Unter  diesen  Umständen  steht  jedenfalls  soviel  fest:  Daß  von  dem 
Nutzen  oder  Vorteil,  der  zweifellos  durch  den  Besitz  eines  gegenwärtigen 
Gütervorrates  oder  Kapitales  erreicht  werden  kann,  irgend  ein  Teü  auf 
die  SpezialWirkung  eines  Sonderelementes,  eines  besonderen  „Elementar- 
gutes" neben  Arbeit  und  Bodennutzung  zurückzuführen  sein  soll,  das 
folgt  weder  von  selbst  schon  aus  dem  bloßen  Dasein  jenes  Nutzens  und 
das  kann  noch  weniger  natürlich  aus  der  —  zumal  unpräjudizierlichenl  — 
Einführung  eines  Sonder  na  mens  für  seine  erst  zu  suchende  Ursache  (oder 
TeUursache)  gefolgert  werden;  sondern  das  ist  klipp  und  klar  die  Behaup- 
tung eines  sachlichen  Novums,  das  darum  auch  irgendwie  speziell  und 
sachlich  hätte  bewiesen  werden  müssen.  Von  dem  Versuche  eines  solchen 
sachlichen  Beweises  finde  ich  aber  bei  Oswalt  nicht  einmal  eine  Spur. 

So  hat  denn  wohl  auch  Oswalt  die  Nutzungstheorie  auf  keine  trag- 
fähigere Grundlage  gestellt  als  seine  Vorgänger.  Im  Gegenteile,  er  hat 
nur  noch  auffälliger  als  diese  seine  Sache  aus  bloßen  Kedensarten  empor- 


^)  Oswalt  will,  ähnlich  wie  vor  ihm  schon  Cassel  (Nature  and  necessity  of 
interest  S.  62),  darauf  bestehen,  daß  dies  nur  eine  noch  gar  nichts  erklärende  „Be- 
schreibung" der  das  Problem  bildenden  Erscheinung  sei  (8, 100).  Ich  kann  mich  dieser 
Meinung  nicht  ganz  anschließen.  Ich  glaube  vielmehr,  daß  der  Satz  vom  Mehrwert 
gegenwärtiger  gegenüber  künftigen  Gütern  bereits  eine  erste  und  gar  nicht  unwichtige 
Station  auf  dem  Wege  der  Erklärung  des  Zinses  darstellt,  eine  Station,  deren  An- 
nahme bereits  eine  Absage  an  die  Erklärungsgedanken  der  meisten,  wo  nicht  aller 
anderen  Zinstheorien  bedeutet;  so  z.  B.  sicherlich  der  Ausbeutungs-,  der  Abstinenz-, 
der  Arbeits-  und  auch  der  Nutzungstheorie.  Sie  präjudiziert  •  nämlich  bereits  darüber, 
daß  der  Zins  ein  Teiläquivalent  für  die  gegenwärtigen  Güter  selbst  und  nicht  ein  Sonder- 
äquivalent für  irgend  ein  postuliertes  Sonderelement  ist.  Auch  Cassel  hat  offenbar 
nicht  durchdacht,  wie  sehr  er  sich  damit  widerspricht,  daß  er  den  Mehrwert  der  gegen- 
wärtigen Güter  als  (wenn  auch  erst  zu  erklärende)  Tatsache  anerkennt,  also  anerkennt, 
daß  z.  B.  nicht  100,  sondern  erst  105  nächstjährige  Güter  das  Äquivalent  von  100  gegen- 
wärtigen Güterstücken  bilden,  dann  aber  gleichwohl  den  Teilbetrag  von  6,  der  als 
Zins  gezahlt  wird,  als  ein  Extraäquivalent  für  ein  besonderes,  neben  den  dargeliehenen 
Gütern  übertragenes  Element  „Kapitalnutzung"  erklären  willl 


III.  Natzimgsthcorien.    Oswalt.  4^ 

gebaut.  Es  liegt  geradezu  die  unterscheidende  persönliche  Note  Oswalts 
gegenüber  allen  vorangegangenen  Nutzungstheoretikern  in  dem  unum- 
wunden und  ausdrücklich  an  die  Spitze  gestellten  Bekenntm*s,  daß  seine 
„Nutzung"  nur  eine  Redensart,  nur  ein  „Name'',  ein  mit  der  Sache  sich 
keineswegs  deckender  „bildlicher  Ausdruck"  sei  Indem  er  selbst  offen 
für  den  bloß  rhetorischen  Charakter  seines  Grundbegriffes  plaidiert,  ent- 
rückt er  diesen  vorerst  allen  den  kritischen  Ansprüchen,  die  gegenüber 
einem  ernstgemeinten  sachlichen  Träger  erhoben  werden  müßten,  deren 
Erfüllung  aber  natürlich  niemand  von  einer  luftigen  bloßen  Redefigur 
verlangt;  nachdem  er  aber  sein  und  unser  kritisches  Gewissen  hiemit  ein- 
geschläfert hat,  läßt  er  hinter  dem  deckenden  Mantel  des  bloßen  Namens 
doch  wieder  Zug  um  Zug  eine  recht  anspruchsvolle,  mit  recht  wesenhaften 
Attributen  ausgestattete  Sache  auftauchen,  und  zwar  ohne  irgend  eine  der 
Pflichten  zu  erfüllen,  die  die  offene  Behauptung  einer  solchen  Sache  auf- 
erlegt hätte. 

Natürlich  bleiben  unter  diesen  Umständen  gegenüber  seiner  Präsen- 
tation der  Nutzungstheorie  alle  diejem'gen  kritischen  Einwendungen  in 
vollem  Umfange  aufrecht,  die  ich  im  VIII.  Abschnitt  dieses  Werkes  der 
Nutzungstheorie  überhaupt  entgegengestellt  habe  und  mit  deren  speziell 
auf  OswALT  zugespitzter  Wiederholung  ich  den  Leser  nicht  mehr  ermüden 
zu  dürfen  glaube.  Nur  die  eine  Bemerkung  sei  hinzugefügt,  daß  aus  den 
von  mir  der  Nutzungstheorie  entgegengestellten  kritischen  Dilemmas 
jedenfalls  auch  der  von  Margolin  ersonnene  und  von  Oswalt  beifäUig 
übernommene  Einwurf  nicht  herauszuhelfen  vermag,  welcher  auf  das 
paritätische  Vorhandensein  von  Ewignutzungen  auf  beiden  Seiten  jedes 
Güteraustausches,  beim  Kaufgut  und  beim  Preisgut,  hinweist^).  Denn 
folgerichtig  ausgedacht  verstricken  auch  diese  Künsteleien  überall  wieder 
in  Widersprüche  und  sind  daher  ein  nicht  weniger  nutzloses  als  gekünsteltes 
Auskunftsmittel  —  ganz  abgesehen  davon,  daß  sie  auch  eine  offenbare 
petitio  principii  enthalten:  denn  während  ja  die  Frage  ist,  ob  solche 
„Nutzungen"  als  ein  reelles,  selbständiges  Etwas  überhaupt  existieren 
und  existieren  können,  setzt  der  Hinweis  auf  die  auch  auf  der  Gegenseite 
existierenden  Nutzungen  die  zu  beweisende  Existenz  solcher  Nutzungen 
bereits  als  feststehend  voraus  1  — 

Während  ich  in  der  Frage,  ob  und  welche  Rolle  der  Begriff  der  Kapital- 
nutzung in  der  Erklärung  des  Zinses  zu  spielen  hat,  zu  Oswalt  in  dem 
denkbar  schärfsten  und  durch  nichts  zu  überbrückenden  Gegensatze  stehe, 
kommen  wir  uns  in  vielen  anderen  Fragen,  die  ebenfalls  in  die  Erklärung 
der  Zinserscheinung  hineinspielen,  erheblich  näher;  insbesondere  trennen 
uns  in  der  Auffassung  vom  Wesen  und  von  den  Folgew^kungen  der  zeit- 

»)  Siehe  oben  S.  239f,  und  Oswalt  S.  6ff.,  insbesondere  S.  8.  Er  konstruiert 
daraus  den  oben  (S.  471)  besprochenen  „Beobachtungsfehler",  den  er  mir  zum  Vor- 
wurfe macht. 


474  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Gegenwart. 

raubenden  kapitalistischen  Produktionsmethoden  fast  nur  Verschieden- 
heiten im  Ausdrucke^).  Da  Oswalt  selbst  weit  weniger  Wert  auf  die 
von  ihm  als  bloße  Formulierungssache  behandelte  Vertretung  des  Nutzungs- 
gedankens als  auf  sein  Arrangement  derjenigen  reellen  Tatsachen  legt, 
^e  ihm  den  Wert  und  Preis  der  Nutzung  zu  begründen  scheinen,  so  würde 
er  wahrscheinlich  meine  Darstellung  seiner  Theorie  für  ungebührlich 
lückenhaft  halten,  wenn  ich  nicht  zum  Schlüsse  auch  noch  auf  diesen 
ihm  am  wichtigsten  erscheinenden  Teil  seiner  Lehre  wenigstens  in  Kürze 
einginge. 

Oswalt  sieht  als  die  „zinsbegründenden  Tatsachen"  an  1.  eine  „tech- 
nische Tatsache",  die  in  der  Mehrergiebigkeit  der  zeitraubenden  kapita- 
listischen Methoden  der  Produktion  und  Konsumtion  besteht; 

2.  eine  „subjektive  Tatsache",  die  er  bündig  auch  als  „die  Anforde- 
rungen des  laufenden  Konsums"  bezeichnet  und  die  ein  Hindernis  bilden 
kann,  die  Vorteile  der  ersten,  technischen  Tatsache  voll  auszunützen;  und 

3.  eine  „historische  Tatsache",  ob  es  nämlich  den  Menschen  tatsächlich 
gelungen  ist,  die  Anforderungen  des  laufenden  Konsums  in  einer  solchen 
Weise  einzuschränken,  daß  diese  kein  Hindernis  mehr  dafür  bilden,  daß 
überall  die  im  Sinne  der  ersten  Tatsache  technisch  ergiebigste,  oder,  was 
dasselbe  ist,  billigste  Methode  angewendet  werden  kann. 

Die  technische  Tatsache  begründet  in  diesem  Zusammenhange  die 
Nützlichkeit  des  Elementargutes  Kapitalnutzung,  die  subjektive  Tat- 
sache kann  dadurch,  daß  sie  die  existierende  Menge  von  Kapital  und 
Kapitalnutzung  knapp  hält,  ihren  Wert  begründen,  und  von  der  dritten, 
historischen  Tatsache  hängt  es  ab,  ob  diese  relative  Knappheit  und  der 
aus  ihr  entspringende  Wert  der  Kapitalnutzungen  tatsächlich  eintritt, 
in  welchem  Falle  der  Zins  entsteht.  Die  Entstehung  des  letzteren  setzt 
daher  nach  Oswalt  stets  das  gleichzeitige  Zusammenwirken  aller  drei 
Gründe  voraus,  welchen  Ausspruch  Oswalt  mit  einer  lebhaften  Polemik 
gegen  meine  Theorie  begleitet,  insoferne  ich  gelegentlich  ausgesprochen 
hatte,  daß  von  meinen  (freilich .  mit  Oswalts  drei  Gründen  nicht  iden- 
tischen!) drei  Gründen  der  Zinsentstehung  jeder  auch  für  sich  allein,  wenn 


^)  Wie  Oswalt  S.  434  in  der  Note  erzählt,  ist  er  deshalb  von  Eulenburg  schlecht- 
weg als  mein  ,, Interpret"  bezeichnet  worden  —  eine  Bezeichnung,  gegen  die  sich  mir 
Oswalt  mit  vollem  Recht  zu  verwahren  scheint  und  die  auch  ich  von  meinem  Stand- 
punkte nicht  gut  gelten  lassen  könnte.  Ich  habe  mich  darum  auch  in  die  weitläufigen 
Kontroversen,  die  Oswalt  mit  v.  Bortkiewicz  über  meine  Zinstheorie  geführt  hat 
(in  Schmollers  Jahrbuch  für  Gesetzgebung  usw.  Bd.  XXXI,  und  neuerdings  auch  in 
seinen  ,, Beiträgen  zur  Theorie  des  Kapitalzinses"),  absichtlich  mit  keinem  Worte  ein- 
gemischt; denn  ich  hätte  sonst  gegen  manche  wohlgemeinte  , .Verteidigung"  meiner 
Theorie  mich  selbst  wieder  verteidigen  müssen! 


III.  Nutzungstheorien.    Oswalt.  475 

auch  nur  in  schwächerem  Grade,  das  Zinsphänomen  hervorzurufen  im 
Stande  wäre^). 

Trotz  dieser  Polemik  scheint  mir  im  Inhalt  unserer  beiderseitigen 
Lehren  —  wenn  man  von  der  Einschaltung  des  angeblichen  Elementar- 
gutes Kapitalnutzung  in  die  Erklärungskette  absieht  —  sehr  wenig  Unter- 
schied zu  bestehen.  Die  Unterschiede  betreffen  mehr  nur  die  äußere  An- 
ordnung. Um  diese  richtig  beurteilen  zu  können,  sei  vorweg  bemerkt, 
daß  OswALTs  „technische  Tatsache"  im  wesentlichen  mit  meinem  „dritten 
Grunde"  identisch  ist,  während  Oswalts  „Anforderungen  des  laufenden 
Konsums"  mir  ein  etwas  weitmaschiger  Sammelname  zu  sein  scheint, 
der  mehrere  recht  heterogene  Tatsachengruppen  ohne  genauere  Unter- 
scheidung zusammenmischt.  Die  „Anforderungen  des  laufenden  Konsums" 
schließen  nämlich  in  sich  1.  meinen  ganzen  „ersten  Grund",  d.  i.  jene 
Fälle,  in  denen  eine  erhöhte  Wichtigkeit  gegenwärtiger  Bedürfnisse  durch 
ganz  konkrete,  zu  Ungunsten  der  Gegenwart  liegende  Versorgungsverhält- 
nisse begründet  wird;  2.  meinen  „zweiten  Grund",  welcher  Ursachen  und 
Fälle  vorsieht,  in  welchen  objektiv  gleich  intensiven  Bedürfnisseh  der 
Gegenwart  ein  Vorzug  vor  künftigen  Bedürfnissen  des  gleichen  Intensitäts- 
grades eingeräumt  wird;  darüber  hinaus  aber  auch  noch  3.  eine  Tatsache 
ganz  allgemeiner  Natur,  welche  gar  keinen  speziellen  Grund  für  eine  Bevor- 
zugung von  gegenwärtigen  Gütern  namhaft  macht,  sondern  nichts  anderes, 
als  eine  der  elementarsten  Voraussetzungen  jeder  rationellen  Wirtschafts- 
führung, nämlich  das  Handeln  nach  dem  Prinzip  der  Wirtschaftlichkeit 
zum  Inhalt  hat.  Oswalt  weist  näjolich  den  „Anforderungen  des  laufenden 
Konsums"  bei  der  Entstehung  des  Zinses  die  Funktion  zu,  zu  hindern, 
daß  die  ^originären  Produktivkräfte  auf  der  ganzen  Linie  in  die  technisch 
ergiebigsten,  zeitraubendsten  Produktionsmethoden  investiert  werden 
können.  Ganz  richtig.  Aber  an  der  Erfüllung  dieser  Funktion  ist  unter 
anderm  auch  und  zwar  mit  dem  weitaus  stärksten  Anteil  die  überaus 
simple  Tatsache  beteiligt,  daß  wir  bei  der  Befriedigung  unserer  Bedürfnisse 
regulärer  Weise  vermöge  des  Prinzips  der  Wirtschaftlichkeit  nach  der 
Rangordnung  ihrer  Wichtigkeit  vorgehen.  Wenn  nun  von  unseren  Be- 
dürfnissen ein  Teil  der  Zukunft,  ein  anderer  Teil  aber  natürlich  jeweüs 
schon  der  Gegenwart  angehört,  so  versteht  es  sich  von  selbst,  daß  auch 
ohne  jede  prinzipielle  Bevorzugung  -der  gegenwärtigen  Bedürfnisse  diese, 
soweit  sie  schon  an  sich  die  wichtigeren  sind,  vor  minder  wichtigen  Be- 
dürfnissen der  Zukunft  zur  Deckung  gebracht  werden  müssen.  Und  diese 
simple  Tatsache  führt  nun  weiter  zu  der  von  Oswalt  ganz  zutreffend 
behaupteten  „Hinderung"  auf  folgendem,  auch  schon  von  mir  in  meiner 
positiven  Theorie  auf  S.  348  ganz  ausdrücklich  geschilderten  Wege:  Würde 
man,  was  mit  einer  un gemessenen  kapitalbildenden  Ersparung  verbunden 


'  1)  Oswalt  a.  a.  0.  S.  82ff.,  90ff.,  235ff.,  443f. 


476  Anhang.    Die  Zinsliterator  in  der  Gegenwart. 

wäre,  die  originären  Produktivmittel  der  Gegenwart  ausscUießlich  oder 
vorzugsweise  in  den  technisch  ergiebigsten  Methoden  auf  Produktionsziele 
einer  weit  entlegenen  Zukunft  richten,  so  würde  dies  dazu  führen,  daß 
für  die  Bedürfnisse  einer  ferneren  Zukunft  überreichlich,  für  die  Bedürfnisse 
der  Gegenwart  und  näheren  Zukunft  aber  unverhältnismäßig  knapp  vor- 
gesorgt würde,  mit  anderen  Worten,  daß  wichtigere  Bedürfnisse  der  näheren 
Zukunft  ungedeckt  blieben,  während  minder  wichtige  Bedürfnisse  einer 
ferneren  Zukunft  schon  vor  ihnen  zur  Deckung  kämen,  was  ganz  einfach 
dem  elementaren  Grundsatz  jeder  rationellen  Wirtschaft,  die  Bedürfnisse 
in  der  Rangordnung  ihrer  Wichtigkeit  zur  Befriedigung  zu  bringen,  wider- 
spräche. 

Daß  also  jene  simplen  und  allgemeinen  Tatsachen  indirekt  —  durch 
Herbeiführung  einer  „Kapitalknappheit"  —  auch  an  der  Entstehung  des 
Zinses  beteiligt  sind,  darüber  besteht  zwischen  Oswalt  und  mir  keinerlei 
Meinungsverschiedenheit  und  von  einem  „Übersehen"  meinerseits  kann 
hier  keine  Rede  sein^).  Der  Unterschied  besteht  nur  darin,  daß  Oswalt 
der  Meinung  war,  durch  eine  geflissenthch  erweiterte  Fassung  seiner 
„subjektiven  Tatsache"  auch  noch  solche  Tatsachen,  die  zu  den  allge- 
meinsten Voraussetzungen  jeder  menschlichen  Wirtschaftsführung  ge- 
hören, unter  die  speziellen  „Zinsentstehungsgründe"  einbeziehen  zu  sollen, 
während  ich  der  abweichenden  Meinung  war  und  bin,  daß  als  spezielle 
Zinsentstehungsgründe  eben  nur  spezielle  Gründe  einer  Bevorzugung 
der  gegenwärtigen  Güter  namhaft  zu  machen,  die  allgemeinen  Grundtat- 
sachen jeder  rationellen  Wirtschaftsführung  aber  nur  in  das  Räsonnement 
am  gehörigen  Platze  jedesmal  dort  einzuflechten  seien,  wo  die  Ableitung 
des  Zinsphänomens  aus  den  namhaft  gemachten  speziellen  Zinsentstehungs- 
gründen dies  erfordert. 

Mit  andern  Worten:  obwohl  ich  voUkommen  davon  überzeugt  bin, 
daß  es  eine  Zinserscheinung  —  freilich  auch  eine  menschliche  Wirtschaft  — 
überhaupt  nicht  geben  könnte,  wenn  es  keine  Bedürfnisse  gäbe  oder  wenn 
ihre  Nichtbefriedigung  dem  Menschen  keinerlei  Unbehagen  verursachte, 
so  halte  ich  es  dennoch  weder  für  notwendig  noch  für  passend,  deshalb 
meinen  drei  Zinsentstehungsgründen  als  einen  besonderen  4.  Grund  „die 
Existenz  menschlicher  Bedürfnisse"  und  als  einen  5.  die  „nachteiligen 
Folgen  ihrer  Nichtbefriedigung"  anzureihen;  ich  müßte  ja  dann  mit  ebenso- 
viel Fug  und  Recht  z.  B.  auch  noch  6.  die  Existenz  von  Gütern,  7.  spezieü 
die  Existenz  von  wirtschaftlichen  Gütern,  8.  die  Befolgung  des  Prinzips 

*)  Motiviere  ich  ja  doch  im  Verlaufe  meines  ganzen  Buches  die  Existenz  einer 
das  Angebot  überflügelnden  und  dadurch  zinserzeugenden  Nachfrage  nach  gegen- 
wärtigen Gütern  immerfort  geradezu  mit  der  Notwendigkeit,  für  die  Subsistena 
der  Zwischenzeit  vorzusorgen,  die  während  der  langdauernden  Produktionsumwege 
verstreichen  muß,  also  mit  eben  dem,  was  Oswalt  die  „Anforderungen  des  laufenden 
Konsums"  nennt  1 


III.  Natzungstheorien.    Oswalt.  477 

der  Wirtschaftlichkeit,  9.  die  Schätzung  der  Güter  nach  ihrem  Grenznutzen 
u.  dgl.  als  ebenso  viele  weitere  besondere  „Zinsentstehungsgründe"  auf- 
zählen, da  ja  auch  von  diesen  allgemeinen  Tatsachen  keine  einzige  bei 
der  Vollerklärung  des  Zinsphänomens  entbehrt  werden  kann.  Das  was 
OswALT  über  meine  beiden  ersten  Gründe  hinaus  in  seine  zinsbegründende 
„subjektive  Tatsache"  aufnimmt,  besagt  aber  in  Wirklichkeit  nicht  mehr 
and  nicht  weniger,  als  was  eben  jene  unter  4.  und  5.  aufgezählten  allge- 
meinen Selbstverständlichkeiten  besagen.  Denn  der  Hinweis,  daß  es 
laufende,  gegenwärtige  Bedürfnisse  zu  versorgen  gibt,  ist  nur  scheinbar 
inhaltsreicher  als  die  ganz  allgemeine  Aussage,  daß  es  überhaupt  mensch- 
liche Bedürfnisse  gibt:  denn  wenn  solche  überhaupt  existieren,  versteht 
es  sich  ja  doch  von  selbst,  daß  sie  nicht  immer  nur  in  der  Zukunft  schweben, 
sondern  auch  in  der  jeweiligen  Gegenwart  existieren  müssen;  und  wenn 
OswALT  (S.  85)  davon  spricht,  daß  ein  Versuch,  die  Befriedigung  dieser 
Bedürfnisse  „über  ein  gewisses  Maß  hinaus  auf  einen  späteren  Zeitpunkt 
zu  verschieben",  den  „physischen  Untergang  des  Menschen"  oder  doch 
„eine  Beeinträchtigung  des  materiellen  Wohlbefindens"  zur  Folge  haben 
¥rürde,  so  ist  dies  in  anderer  sprachlicher  Einkleidung  doch  nur  ein  Hin- 
weis auf  die  nachteiligen  Folgen  jeder  Nichtbefriedigung  von  Bedürfnissen: 
denn  ein  „noch  nicht  Befriedigen"  ist  eben  auch  ein  „Nicht-Befriedigen" 
der  gegenwärtig  gefühlten  Bedürfnisse,  und  ein  „Verschieben"  ist  ein 
mit  der  Absicht  eines  künftigen  Befriedigungsaktes  verbrämtes,  aber  doch 
ein  Unterlassen  eines  gegenwärtigen  Befriedigungsaktes,  wobei  jene 
Absicht  natürlich  weder  an  der  Schwere  der  Unterlassungsfolgen  irgend 
etwas  ändern  oder  müdem,  noch  auch  bewirken  kann,  daß  der  künftige 
Befriedigungsakt,  falls  er  überhaupt  zustande  kommt,  jemals  zu  einer 
Befriedigung  des  gegenwärtigen  Bedürfnisses,  zu  einer  Stillung  der 
gegenwärtig  empfundenen  Mängel  oder  Leiden  werden  kann;  er  kommt 
vielmehr,  wenn  überhaupt,  einer  anderen  als  der  definitiv  ungestillten 
gegenwärtigen  Bedürfnisregung  zu  Gute.  Wenn  ich  die  Befriedigung 
meines  heutigen  Frühstückshungers  auf  morgen  „verschiebe",  so  habe 
ich  heute  definitiv  gehungert,  nicht  mehr  und  nicht  weniger,  als  wenn  ich 
von  vorneherein  beschlossen  hätte,  mein  heutiges  Frühstück  definitiv 
„ausfallen"  zu  lassen;  und  wenn  ich  dann  morge^  frühstücke,  so  wendet 
dies  nur  andere,  neue  Leiden  ab,  die  ich  sonst  morgen  wiederum  hätte 
erdulden  müssen. 

Die  schweren  Folgen  der  Nichtbefriedigung  gegenwärtiger  Bedürfnisse, 
auf  die  Oswalt  hinweist,  können  allerdings  wirklich  und  sogar  direkt 
einen  Einfluß  auf  die  Bevorzugung  gegenwärtiger  gegenüber  künftigen 
Gütern  ausüben;  aber  soweit  sie  dies  tun,  geht  dieser  Einfluß  eben  durch 
die  Motive  und  Tatbestände  entweder  meines  „ersten"  oder  meines  „zweiten 
Grandes"  hindurch:  dringende  Not  der  Gegenwart  verschafft  im  Sinne 
meines  ersten  Grundes  einer  gegenwärtigen  Gütersumme  den  Vorzug  vor 


478  Anhang,    Die  Zinsliteratur  in  der  Gegenwart. 

einer  gleich  großen  Gütersumme  in  einer  voraussichtlich  weniger  bedrängten 
Zukunft;  und  selbst  wenn  die  voraussichtliche  Bedrängnis  in  Gegenwart 
und  Zukunft  gleich  groß  wäre,  so  würde,  soferne  wirkliche  Existenz- 
Bedürfnisse  in  Frage  kommen,  die  Deckung  der  momentanen  Lebensfristijng 
im  Sinne  meines  zweiten  Grundes  den  Vorrang  vor  der  Deckung  einer 
künftigen  Lebensfristung  erhalten  müssen,  und  zwar  unter  der  Stichmarke 
„Kürze  und  Unsicherheit  unseres  Lebens":  denn  wenn  die  momentane 
Lebensfristung  nicht  gedeckt  werden  kann,  dann  unterliegt  eben  die  Fort- 
dauer der  Existenz  und  mit  ihr  natürlich  auch  der  Nutzen,  der  von  einer 
erst  in  einem  künftigen  Zeitpunkt  verfügbaren  Gütersumme  gezogen 
werden  kann,  einer  diese  letztere  Gütersumme  entwertenden  Unsicherheit. 
Was  aber  nach  Ausscheidung  der  in  meinen  beiden  ersten  Gründen 
berücksichtigten  speziellen  Kombinationen  von  Oswalts  „Anforderungen 
des  laufenden  Konsums"  noch  erübrigt  —  und  Oswalt  hat  diese  ja  ge- 
flissentlich über  meine  beiden  „Gründe"  hinaus  ausdehnen  zu  wollen 
erklärt  —  scheint  mir  nach  dem  Gesagten  wirklich  lediglich  auf  die  Tri- 
vialität hinauszulaufen,  daß  es  menschliche  Bedürfnisse  —  und  zwar 
natürlich  nicht  immer  nur  in  der  Zukunft,  sondern  auch  schon  in  der 
Gegenwart  —  überhaupt  gibt,  und  daß  diese  gegenwärtigen  Bedürfnisse, 
bei  Vermeidung  der,  auf  ihre  Nichtbefriedigung  gesetzten  nachteiligen 
Folgen,  natürlich  auch  irgend  welche  Ansprüche  auf  Befriedigung  machen 
müssen.  Gewiß  ist  es  weiterhin  völlig  wahr  und  zutreffend,  daß  durch  die 
konkurrierenden  Anforderungen  der  gergenwärtigen  Bedürfnisse  die  Deckung 
für  die  künftigen  Bedürfnisse  knapper  wird  als  sie  es  sonst  gewesen  wäre: 
aber  aus  diesem  Gedanken  einen  besonderen  Zinsentstehungstitel  zu  for- 
mulieren, käme  mir  ebenso  vor,  als  wenn  man  bei  der  Erklärung  des 
Wertes  irgend  einer  beliebigen  Güterart  als  einen  besonderen,  just  dieser 
Güterart  zu  Gute  kommenden  „Wertentstehungs"-  oder  „Werterhöhungs- 
grund" geltend  machen  wollte,  daß  dasjenige  Bedürfnis,  dem  jene  Güter- 
art dient,  nicht  das  einzige  menschliche  Bedürfnis  ist,  und  daß  die  An- 
forderungen, welche  die  anderen  Bedürfniszweige  ebenfalls  für  ihre  Deckung 
stellen,  es  hindern,  daß  alle  unsere  Arbeitskräfte  und  Bodennutzungen 
ausschließlich  zur  Erzeugung  jener  einzigen  Güterart  verwendet  werden 
können,  in  welchem  Falle  diese  freilich  viel  massenhafter  verfügbar,  viel 
niedriger  bewertet  und  vielleicht  gar  noch  ein  wertloses,  freies  Gut  sein 
könnte!  Natürlich  gibt  es  Gelegenheiten,  bei  denen  man  auch  auf  so 
allgemeine  und  triviale  Wahrheiten  sich  stützen  muß  —  wie  z.  B.  in  dem 
oben  zitierten,  der  Tragweite  meines  „drittelt  Grundes"  gewidmeten 
Räsonnement  auf  S.  348  meiner  Positiven  Theorie,  oder  in  noch  weiterem 
Umfange  in  der  ganzen  Theorie  der  Ersparung  und  der  Kapitalbildung i)  — 
aber  ich  hielt  es  aus  den  geschilderten  Gründen  weder  für  notwendig,  noch 

1)  Siehe  meine  Positive  Theorie  z.  B.  183ff.  und  besonders  636ff.,  4.  Aufl.  S.  137  ff. 
und  besonders  474  ff. 


III.  Nutzungstheorien.     Oswalt.  479 

auch  für  angemessen,  sie  unter  jene  speziellen  Tatsachen  zu  stellen, 
welche  einen  Vorrang  der  gegenwärtigen  über  die  künftigen  Güter  be- 
gründen. 

Und  ähnliches  gilt  wohl  auch  vom  dritten  „historischen"  Grund 
OswALTS.  Im  Tatsächlichen  stimme  ich  dem  Erfordernis  „relativer 
Knappheit"  —  natürlich  nicht  der  imaginären  Kapitalnutzungen,  sondern 
der  gegenwärtigen  Güter  —  durchaus  zu  und  habe  dieses  Moment  in 
meiner  Lehre  auch  oftmals  und  höchst  ausdrücklich  betont^).  Ich  halte 
aber  seine  selbständige  und  paritätische  Einreihung  unter  die  Gründe 
einer  Höherschätzung  der  gegenwärtigen  Güter  für  pleonastisch,  weil  die 
„Kapitalknappheit",  wo  sie  auftritt,  eine  durch  die  anderen  „Gründe" 
der  Zinsentstehung  erzeugte  Zwischen  Wirkung  und  nicht  ein  besonderer 
Grund  neben  ihnen  ist.  Dieser  Sachverhalt  wird  eigentlich  auch  von 
Oswalt  selbst  ganz  deutlich  erkannt  und  sogar  ausdrücklich  ausgesprochen, 
wenn  er  (S.  82)  den  Zins  aus  dem  Zusammentreffen  von  nur  zwei  Tat- 
sachen, der  „technischen"  und  der  „subjektiven"  Tatsache  entstehen 
läßt,  und  die  als  dritte  Post  aufgezählte  „historische"  Tatsache, 
welche  die  durch  die  beiden  ersten  Tatsachen  zunächst  geschaffene  „Mög- 
lichkeit" des  Zinses  zur  „Wirklichkeit"  mache  (S.  86),  „genauer"  als  den 
„Wirkungsgrad  der  genannten  zwei  Faktoren"  definiert. 

So  viel  zur  Beurteilung,  ob  Oswalts  verändertes  Arrangement  der 
von  uns  gleichmäßig  erkannten  allgemeinen  und  speziellen  zinsbegründen- 
den Tatsachen  ein  verbessertes  Arrangement  ist.  Und  nun  noch  ein  paar 
Worte  über  die  von  ihm  in  scharfer  Polemik  hervorgekehrte  Meinung, 
daß  nicht,  wie  ich  geäußert  hatte,  jeder  meiner  drei  Gründe  der  Zins- 
entstehung auch  für  sich  allein,  sondern  nur  die  technische  und  die  sub- 
jektive Tatsache  in  ihrem  Zusammenwirken  die  Zinserscheinung  zu  Stande 
bringen  können.  Ich  glaube,  daß  diese  Polemik  zur  Hälfte  auf  einem 
Mißverständnis  und  zur  anderen  Hälfte  auf  einem  sachlichen  Irrtum 
beruht.  Sachlich  irrig  scheint  mir  Oswalts  Behauptung  zu  sein,  daß  ohne 
die  Mitwirkung  seines  ersten  (meines  „dritten")  Grundes,  d.  i.  ohne  größere 
technische  Ergiebigkeit  der  kapitaJistischen  Methoden  ein  Zins  überhaupt 
ein  existieren  könnte.  Ich  habe  im  Gegenteile  gar  keinen  Zweifel,  daß 
auch  ohne  jede  Mitwirkung  dieses  Grundes,  z.  B.  bei  einem  von  ganz 
unkapitalistischem  Früchtesammeln  lebenden  Volksstamme  Konsumtiv- 
darlehen mit  „Konsumtivzins"  ganz  wohl  auftreten  könnten. 

Als  mißverständlich  aber  läßt  sich  nach  dem  früher  Gesagten  leicht 
der  polemische  Einwurf  erkennen,  daß  mein  dritter  Grund  nicht  für  sich 
„allein",  sondern  nur  in  Verbindung  mit  Oswalts  „subjektiver  Tatsache" 
den  Zins  hervorrufen  könne.    Natürlich  kann  er  es  nicht  ohne  denjenigen 

1)  Z.  B.  Pos.  Theorie  S.  540f.,  4.  Aufl.  S.  402f.  und  Exkurs  XII  S.  350f.. 
4.  Aufl.  S.  257. 


480  Anhang.    Die  Zinsliteratoi  in  der  Gegenwart. 

Teil  von  Oswalts  „subjektiver  Tatsache",  um  den  diese  gegenüber  meinen 
beiden  ersten  Gründen  in  das  Selbstverständliche  hinüber  ausgebaucht 
ist;  natürlich  könnte  er  es  nämlich  nicht,  wenn  gar  keine  gegenwärtigen 
Bedürfnisse  existieren  oder  wenn  diese  entgegen  dem  Prinzip  der  Wirt- 
schaftlichkeit grundsätzlich  hintangesetzt  werden  würden.  Wohl  aber 
kann  er  es  in  dem  Sinne  „für  sich  allein",  in  dem  ich  dies  behauptet  hatte, 
nämlich  ohne  die  Mitwirkung  eines  von  meinen  beideo  ersten  Gründen 
der  Zinsentstehung  ^). 

Ich  möchte  die  Besprechung  Oswalts  nicht  ohne  die  ausdrückliche 
Wiederholung  einer  Bemerkung  schließen,  die  ich  schon  bezüglich  mehrerer 
Autoren  vorzubringen  die  Pflicht  fühlte:  daß  mich  nämlich  meine  kritische 
Aufgabe  leider  zwingt,  in  einseitiger  Weise  gerade  auf  die  Fehler  und 
Mängel  einer  Lehre  hinzuweisen,  die  außerhalb  der  strittigen  Punkte  eine 
Fülle  glänzender  Proben  tiefer  theoretischer  Einsicht  verbunden  mit  hoher 
Kunst  wissenschaftlicher  Darstellung  aufweist. 


IV. 

Die  Abstinenztheorie  ist  während  der  letzten  drei  Dezennien  der 
Gegenstand  lebhafter,  fast  möchte  ich  sagen,  unerwartet  lebhafter  theo- 
retischer Bemühungen  gewesen. 

Sie  hat,  um  vorerst  mit  einigen  Einzelheiten  zu  beginnen,  einen  inter- 
essanten Sukkurs  dadurch  erhalten,  daß  sie  von  einigen  Schriftstellern 
wirksam  gegen  denjenigen  Einwand  verteidigt  wurde,  welcher  in  der 
agitatorischen,  zumal  von  sozialistischer  Seite  gegen  sie  gerichteten  Polemik 
die  lärmendste  Rolle  gespielt  hatte.  Es  war  dies  der  Einwand  gewesen, 
daß  gerade  die  größten  Kapitalisten  am  wenigsten  „Abstinenz"  zu  üben 
Anlaß  haben,  und  sohin  eine  offenbare  Disharmonie  zwischen  der  Größe 
der  prätendierten  Ursache  —  der  geübten  Abstinenz  —  und  ihrer  vermeint- 
lichen Wirkung  —  der  bezogenen  Zinssumme  —  bestehe. 

In  Anwendung  eines  der  Ricardianischen  und  der  Grenznutzenth«orie 
gemeinsamen  Gedankens  wurde  indes  nunmehr  von  verschiedenen  Seiten 
nicht  mit  Unrecht  darauf  hingewiesen  daß  jene  Disharmonie  bei  nüchterner 
Überlegung  noch  keinen  zwingenden  Grund  gegen  die  Richtigkeit  der 
Abstinenztheorie  abgeben  könne.  Denn  €S  sei  zu  erwägen,  daß  ja  grund- 
sätzlich die  Vergütung,  mit  welcher  der  Marktpreis  der  Produkte  die  zu 
ihrer  Erzeugung  gebrachten  Opfer  belohnt,  bei  verschiedener  Größe  dieser 
Opfer  sich  mit  den  höchsten  noch  erforderlichen  Opfern  ins  Gleichgewicht 
zu  stellen  strebt.    Es  sei  darum  nicht  verwunderlich,  wenn  die  gleiche, 


*)  Durch  die  seitherigen,  noch  detaillierteren  Erläuterungen  in  meinem  Exkurs  XII 
(der  OswALT  noch  nicht  vorlag)  dürfte  diesem  und  ähnlichen  Mißverständnissen  der 
Boden  wohl  völlig  entzogen  sein. 


lY.  Abstüxenztheorien.    Macvane.  4g]^ 

für  die  höchsten  Abstinenzopfer  noch  ausreichende  Zinsrate  für  jene 
Personen,  welchen  die  Kapitalbildung  und  Kapitalerhaltung  ein  verhältnis- 
mäßig geringeres  Abstinenzopfer  auferlegt,  eine  überschwengliche  Be- 
lohnung dieses  ihres  Opfers  (Marshalls  „savers  surplus")  enthält  i).  — 
Aber  hiemit  war  freilich  doch  nur  ein,  und  zwar  nur  der  oberflächlichste 
Einwand,  gegen  die  Abstinenztheorie  entkräftet;  der  tiefgehendere,  aus 
inneren  logischen  Gründen  abgeleitete  Einwand,  auf  den  ich  meine  Ab- 
lehnung der  Abstinenztheorie  gestützt  hatte,  wird  durch  jene  Erwägung 
nicht  berührt  2). 

Sodann  wurde  eine  nicht  unwichtige  terminologische  Neuerung  durch 
Macvane  angebahnt,  welcher  den  zu  mehrfachen  Bedenken  Anlaß  gebenden 
Ausdruck  „Abstinenz"  durch  den  schwächeren  und  zutreffenderen  Namen 
„Warten"  (waiting)  ersetzte  3),  Hierin  lag  eine  gewisse  Annäherung  an 
den  Standpunkt  derjenigen  Theorie,  welche  auf  das  Vorwalten  der  Zeit- 
differenz zwischen  gegenwärtigen  und  künftigen  Genüssen  und  Gütern 
das  Hauptgewicht  bei  ihrer  Erklärung  des  Zinses  legt;  und  es  ist  be- 
zeichnend, daß  seither  nicht  wenige  der  neuesten  Vertreter  der  Abstinenz- 
theorie diese  und  die  „Agio- Theorie"  geradezu  für  inhaltlich  identisch 
halten*).  Allein  der  Verschmelzung  beider  Theorien  stand  und  steht  doch 
auch  weiterhin  das  wesentliche  Hindernis  im  Wege,  daß  der  zum  „Warten" 
gemilderten  Abstinenz  auch  von  Macvane  und  seinen  Nachfolgern  noch 
die  Stellung  eines  selbständigen,  neben  der  Arbeit  besonders  zu  zählenden 
Opfers  vindiciert  wird. 

Die  schon  in  der  früheren  Periode  bemerklich  gewesene  Neigung  der 
Abstinenztheoretiker,  in  eklektischer  Weise  Erwägungen,  die  anderen 
Ideenkreisen  angehören,  in  ihre  Erörterung  des  Zinsproblems  einzubeziehen, 

^)  Am  nachdrücklichsten  wurde  dieser  Gedankengang  zur  Apologie  der  Ab- 
stinenztheorie verwertet  von  Macfaklane,  Value  and  distribution,  Philadelphia  1899, 
S.  175 — 177.  Inhaltlich  übereinstimmend  schon  Lokia  (la  rendita  fondiaria,  Mailand 
1880,  S.  619{f.),  Marshall  mit  seiner  Theorie  vom  „savers  surplus"  (Principles  3.  Aufl., 
London  1895,  S.  606);  weiter  Cabver,  Barone  und  wohl  überhaupt  alle  die  ,, Grenz- 
werttheorie" anerkennenden  Forscher,  welche  gleichzeitig  der  Abstinenztheorie  zu- 
geneigt sind;  siehe  auch  oben  Abschn.  IX  S.  247f. 

*)  Eine  auch  hierauf  sich  ausdehnende  Bemerkung  Mä.cfarlanes  a.  a.  0.  S.  179 
scheint  mir  doch  nicht  bis  zum  Kern  der  Sache  vorzudringen,  und  mehr  eine  bloße 
Gregenbehauptung,  als  einen  Versuch,  den  Einwand  mit  Gründen  zu  erledigen,  zu 
enthalten. 

»)  Analysis  of  cost  of  production,  Quart.  Journ.  of  Ec,  Juli  1887;  siehe  auch 
oben  S.  455. 

*)  Macfarlanb  z.  B.  ist  der  Meinung,  die  von  ihm  im  wesentlichen  approbierte 
,,Exchange-theory",  wie  er  sie  nennt  (siehe  oben  S.  455  Anm.  4),  nur  in  einer  ver- 
besserten und  ausgebildeten  Form  vorzutragen  („The  theory  here  proposed  is,  after 
all,  but  an  extension  of  Böhm-Bawerks  analysis",  a.  a.  0.  p.  231),  für  welche  verbesserte 
Form  er  als  ebenfalls  verbesserte  Bezeichnung  den  Namen  ,, Normal  Value  theory" 
vorschlägt.  —  Ähnlich  denkt  Carver  über  das  Verhältnis  beider  Theorien  (siehe  unten), 
und  vielleicht  selbst  Prof.  Marshall. 

Böhm- Bawerk,  Kapitalzins.    4.  Aufl.  31 


482  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Gegenwart. 

ist  auch  in  der  neuesten  Zeit  wahrzunehmen.  Naheliegend  und  nach  dem 
unmittelbar  zuvor  Gesagten  leicht  erklärlich  ist  die  öfters  vorkommende 
Vermischung  mit  Elementen  der  „Agio-Theorie".  Aber  auch  andere 
eklektische  Kombinationen  sind  zu  beobachten;  bei  Loria  z.  B.  eine  Kom- 
bination mit  Elementen  der  Ausbeutungstheorie  ^). 

Aus  der  Reihe  zusammenhängender  positiver  Darstellungen,  welche 
unserer  Theoriengruppe  zugehören,  glaube  ich  zwei  noch  einer  speziellen 
Erörterung  unterziehen  zu  sollen.  Eine  deshalb,  weil  sie  gleichsam  die 
Musterdarstellung  einer  zeitgemäß  lortgebildeten  Abstinenztheorie  ist, 
getragen  von  der  Autorität  eines  der  hervorragendsten  Gelehrten,  welcher, 
im  Vollbesitz  aller  Gaben  der  Forschung  und  Darstellung  stehend,  sichtlich 
bemüht  war,  eine  völlig  geschlossene,  und  dabei  doch  alle  einflußreichen 
letzten  Tatsachen  in  umfassender  Weise  berücksichtigende  Erklärung  zu 
bieten.  Eine  zweite  Lehre  erheischt  sodann  Beachtung  als  ein  origineller 
Versuch,  dem  „Abstinenzopfer"  eine  ganz  neue  Deutung  unterzulegen. 

Die  erste  der  beiden  Lehren  ist  jene  Alfred  Marshalls. 

Prof.  Marshall  erkennt  die  grundlegenden  Ursachen  des  Kapital- 
zinses in  zwei  Umständen,  die  er  mit  den  Schlagworten  „prospectiveness" 
und  „produetiveness"  des  Kapitales  bezeichnet.  Die  „Prospectiveness" 
liegt  darin,  daß  das  Kapital  seinen  Nutzen  erst  in  der  Zukunft  bringt:  um 
Kapital  zu  bilden,  müssen  die  Leute  einen  Akt  der  Voraussicht  üben  (men 
must  act  prospectively);  sie  müssen  „warten"  und  „sparen",  sie  müssen 
„die  Gegenwart  der  Zukunft  opfern"  2).    Die  „produetiveness"  wird  durch 

^)  Ich  glaube  nicht  fehl  zu  gehen,  wenn  ich  die  mir  allerdings  nicht  vollkommen 
deutliche  Meinung  Lorias  in  der  Hauptsache  der  Abstinenztheorie  zuzähle.  Wenigstens, 
deuten  die  einläßlichsten  Stellen  seiner  älteren  Werke  in  diese  Richtung  (Rendita  fon- 
diaria  S.  610ff .,  Analisi  della  proprietä  capitalista,  Turin  1889,  passim),  und  in  Über- 
einstimmung damit  wird  auch  in  dem  neueren  umfassenden  Werke  des  Verfassers  (La 
costituzione  economica  odierna^  Turin  1899)  die  ,,astensione"  der  Kapitalisten  als  ein 
bei  der  Distribution  des  Produktes  eine  wesentliche  Rolle  s^iielendes  Element  bezeichnet 
(z.  B.  S.  36f.,  76).  In  dieselbe  Richtung  deuten  auch  die  Äußerungen  des  Autors  über 
die  Motive  und  Grenzen  der  Accumulation  (z.  B.  Costituzione  73ff.,  98f.).  Doch  finden 
sich  in  allen  Werken  Lorias  auch  Äußerungen,  welche  auf  die  Meinung  des  Autors 
schließen  lassen,  daß  an  der  Zinserscheinung,  zum  mindesten  in  ihrer  heutigen  Gestalt 
und  Ausdehnung,  auch  das  Moment  der  Ausbeutung  einen  wesentlichen  Teil  hat  (z.  B. 
Costituzione  S.  34f.,  821).  Eine  bekannte  Spezialität  Lorias  ist  es,  daß  er  der  Ap- 
propriation des  Bodens  einen  eigentümlich  entscheidenden  und  weitgehenden  Einfluß 
auch  auf  die  Bildung  und  Höhe  des  Kapitalgewinnes  zuschreibt  (z.  B.  Costituzione 
36,  37,  67ff.).  Ich  halte  diese  Meinung  (eine  genauere  Darlegung  und  Bekämpfung 
derselben  findet  sich  in  Graziakis  scharfsinnigen  Studi  sulla  teoria  delU  interesse, 
Turin  1898,  S.  46 — 50)  für  vollkommen  verfehlt,  wie  ich  denn  überhaupt  die  Bemerkung 
nicht  unterdrücken  kann,  daß  mir  die  theoretischen  Spekulationen  Lorias  vielfach 
weit  mehr  phantasievoll  als  exakt,  und  häufig  mit  recht  oberflächlichen  Mißverständ- 
nissen der  Meinungen  anderer  durchsetzt  zu  sein  scheinen. 

*)  Principles  of  Economics,  3.  Aufl.  S.  142,  662.  Die  inzwischen  erschienene 
vierte  und  fünfte  Auflage  ist  in  allem  wesentlichen  mit  der  dritten  übereinstimmend. 


IV.  Abstinenztbeorien.    Loria,  Marshall.  483 

die  produktiven  Vorteile  begründet,  weiche  die  Hilfe  des  Kapitales  bietet: 
es  macht  die  Produktion  leichter  und  ergiebiger  i).  Seine  Produktivität 
macht  nun  das  Kapital  zum  Gegenstand  des  Begehrs  (demand);  das 
Angebot  daran  wird  aber  wegen  des  mit  seiner  „prospectiveness"  ver- 
bundenen Opfers  so  niedrig  gehalten,  daß  der  Gebrauch  des  Kapitales 
einen  Preis  erlangt  und  zur  Quelle  eines  Gewinnes  wird  2), 

Alles  Genauere  ergibt  sich  dann  aus  dem  allgemeinen  Gesetze  des 
Tausches,  als  dessen  bloßen  Spezialfall  Marshall  das  Zinsproblem  be- 
trachtet. Nach  jenem  allgemeinen  Gesetze  stellt  sich  der  „normale"  Wert 
der  Waren  auf  die  Dauer  auf  demjenigen  Niveau  fest,  in  welchem  die 
Nachfrage  sich  mit  den  Kosten  der  Produktion  ins  Gleichgewicht  setzt, 
wobei  Marshall  die  koordinierte  Stellung  dieser  beiden  Faktoren,  die 
sich  gegenseitig  beeinflussen,  besonders  betont.  Die  reellen  Kosten  werden 
nun  durch  die  Gesamtheit  der  „Anstrengungen  und  Opfer"  dargestellt, 
welche  man  zur  Hervorbringung  des  Gutes  auf  sich  nehmen  muß.  Die- 
selben umfassen  außer  der  Arbeit  auch  das  mit  dem  „Warten",  mit  dem 
von  jeder  Kapitalbildung  und  Kapitalanwendung  unzertrennlichen  Genuß- 
aufschub (putting  off  consumption,  postponement  of  enjoyment)  ver- 
bundene „Opfer"  (sacrifice)»).  Minder  passend  und  zu  Mißverständnissen 
einladend  sei  es,  wenn  m,an,  wie  es  seitens  der  älteren  Ökonomisten  vielfach 
geschehen  ist,  dieses  Opfer  als  „Abstinenz"  bezeichnet:  denn  die  stärkste 
Kapitalanhäufung  erfolgt  durch  sehr  reiche  Leute,  die  sicherlich  keine 
„Abstinenz"  in  dem  Sinne  von  Enthaltsamkeit  üben;  richtiger  sei  es  viel- 
mehr, nach  dem  Vorgang  MacVanes,  als  Inhalt  des  Opfers  einen  bloßen 
Aufschub  des  Genusses,  ein  „Warten"  (waiting)  zu  bezeichnen.  Immerhin 
begründet  dieses  ein  echtes,  neben  der  aufgewendeten  Arbeit  separat  zu 
rechnendes  Opfer  (668). 

Dasselbe  muß  nun,  ebenso  wie  die  Arbeit,  durch  die  Dauerpreise  der 
Waren  seine  Vergütung  finden,  und  zwar  nach  seiner  „marginal  rate"  (607), 
d.  h.,  die  Vergütung  muß  groß  genug  sein,  um  auch  noch  für  den  am  un- 
liebsten, am  widerwilligsten  dargebrachten  Teil  des  Opfers,  dessen  Dar- 
bringung zur  Hervorrufung  des  Angebotes  noch  notwendig  war,  ange- 
messen zu  entschädigen  (217).    Diese  Vergütung  ist  der  Kapitalzins,  der 


^)  142,  622,  751.  Prof.  Marshali  faßt  in  diesen  und  überhaupt  in  allen  Stellen, 
in  welchen  er  die  ,,productiveness''  erläutert,  dieselbe  vollkommen  zutreffend  als  eine 
technische  Produktivität  auf,  die  sich  in  eintm  Mehr  an  Produktion,  die  mit  dem  gleichen 
Aufwand  an  originären  Produktivkräften  erzielt  werden  können,  äußert;  also  ganz  so, 
wie  auch  ich  die  physische  oder  technische  Produktivität  in  meiner  Zinstheorie  ver- 
stehe. Es  scheint,  daß  Prof.  Marshall  auch  darin  mit  mir  übereinstimmt,  daß  er  die 
kapitalistische  Produktion  als  eine  Produktion  auf  „Umwegen",  als  „round  aboute 
methods"  ansieht  (vgr.  z.  B.  Principles  3. 612  aber  auch  die  eher  einen  Dissens  andeutende 
Note  auf  S.  664). 

^)  S.  662. 

»)  a.  a.  0.  S.  216,  315. 

31* 


484  Anhang.    Die  Zinslitcratur  in  der  Gegenwart. 

sonach  zutreffend  als  ein  Lohn  für  das  mit  dem  Warten  verbundene  Opfer 
(reward  of  the  sacrifice  involved  in  the  waiting,  314)  zu  erklären  ist.  Zwar 
würden  manche  Leute  auch  ohne  einen  solchen  Lohn  sparen,  wie  ja  manche 
auch  ohne  jeden  Lohn  arbeiten  würden;  und  viele  Teile  des  Kapitales 
würden  jedenfalls  auch  bei  einem  geringeren  als  dem  herrschenden  Zins- 
satze gebildet  werden:  dies  führt  indes  nur  dazu,  daß  dann  eben  die  be- 
treffenden Sparer  infolge  des  Grundsatzes,  daß  der  Preis  den  opfervollsten 
Teil  des  Angebotes  noch  angemessen  vergüten  muß,  eine  ihr  geringeres 
Opfer  übersteigende  Vergütung  empfangen,  die  Marshall  als  „savers" 
oder  „waiters  surplus"  bezeichnet.  Allein  da  wenige  Leute  ohne  den  im 
Zinse  liegenden  Lohn  erhebliche  Ersparungen  machen  würden,  ist  es  gleich- 
wohl gerechtfertigt,  den  Zins  als  „reward  of  waiting"  zu  erklären  (314). 
Und  gegen  die  Sozialisten  sich  wendend,  welche  behaupten,  daß  der  Wert 
der  Waren  bloß  von  der  zu  ihrer  Erzeugung  aufgewendeten  Menge  von 
Ai'beit  abhänge,  spricht  Marshall  mit  Emphase  aus,  daß  die  Ansicht 
der  Sozialisten  dann,  aber  auch  nur  dann  richtig  wäre,  wenn  der  vom 
Kapitale  geleistete  Dienst  als  „freies  Gut"  ohne  Opfer  dargeboten  werden 
würde  (669);  sie  sei  aber  unrichtig,  wenn  und  weil  der  Aufschub  von  Be- 
friedigungen im  allgemeinen  ein  Opfer  von  Seite  des  Aufschiebenden 
erfordert  (the  postponement  of  gratifications  involves  in  general  a  sacrifice 
on  the  part  of  him  who  postpones;  668). 

Ich  glaube  nicht  fehlzugehen,  wenn  ich  diese  von  Prof.  Marshall 
vorgetragene  Meinung  im  wesentlichen  als  eine  vorsichtig  formulierte 
und  in  der  Terminologie  verbesserte  Abstinenztheorie  bezeichne.  In  ihren 
Grundgedanken  trifft  sie  mit  der  Lehre  Seniors  völlig  zusammen.  Die 
Kapitalbildung  erfordert  von  Seite  des  Kapitalisten  ein  reelles,  in  der 
Hinausschiebung  des  Genußerfolges  liegendes  Opfer,  welches  neben  der 
Arbeit  einen  selbständigen  Bestandteil  der  Produktionskosten  bildet,  und 
daher  auch  im  Preise  der  Güter  eine  selbständige  Vergütung  in  der  Art 
und  nach  denjenigen  (von  Marshall  allerdings  sorgfältiger  formulierten) 
Gesetzen  finden  muß,  nach  welchen  überhaupt  die  Kosten  den  Preis  der 
Güter  beeinflussen^). 

Begreiflicher  Weise  kann  unter  diesen  Umständen  meine  Ansicht  über 
die  Zinstheorie  Prof.  Marshalls  nicht  weit  von  derjenigen  differieren, 
die  ich  in  einem  früheren  Teile  dieses  Buches  über  die  Abstinenztheorie 
im  allgemeinen  ausgesprochen  habe.  Wenn  ich  auch  vollkommen  mit 
Prof.  Marshall  darüber  einverstanden  bin,  daß  sowohl  die  „prospecti- 
veness"  als  die  „productiveness"  des  Kapitales  mit  der  Erklärung  des 
Zinses  etwas  zu  tun  hat,  so  glaube  ich  doch,  daß  die  verknüpfende  Zwischen- 
erklärung von  ihm  ebenso  wie  von  den  sonstigen  Abstinenztheoretikern 
in  eine  Gestalt  gebracht  wird,  in  welcher  sie  einerseits  mit  den  Tatsachen 


*■)  Vgl.  die  Darstellung  der  Theorie  Seniors  oben  S.  243ff. 


IV.  Abstinenztheorien.    Marshall.  485 

nicht  im  Einklang  steht,  und  andererseits  sogar  einen  Konflikt  mit  den 
Denkgesetzen  unvermeidlich  macht. 

Vor  allem  halte  ich  es  für  unrichtig,  in  dem  Genußaufschub,  der  mit 
der  "Widmung  von  Arbeit  für  ein  zeitlich  entferntes  Genußziel  verbunden 
ist,  ein  separates  neben  der  Arbeit  selbst  zu  berechnendes  Opfer  zu  er- 
blicken. Die  Gründe  dieser  meiner  Meinung  habe  ich  oben^)  bereits  aus- 
führlich auseinandergesetzt.  Allerdings  scheinen  sie  für  Prof.  Marshall, 
der  ja  in  voller  Kenntnis  von  ihnen  an  seiner  mit  der  Abstinenztheorie 
wesentlich  identischen  Lehre  festhält,  nicht  ausreichend  überzeugend 
gewesen  zu  sein.  Ich  will  daher  den  Versuch  machen,  sie  noch  durch 
einige  weitere  aufklärende  Darlegungen  zu  unterstützen,  und  zwar  wird 
mir  eine  willkommene  Anknüpfung  für  dieselben  durch  einige  Bemerkungen 
geboten,  die  sich  in  der  Lehre  Marshalls  selbst  finden. 

Ähnlich  wie  Jevons^)  hat  nämlich  auch  Marshall  in  seine  Lehre 
einige  psychologische  Bemerkungen  über  das  Thema  der  Schätzung 
künftiger  Leiden  und  Freuden  eingeschaltet.  So  wie  die  menschliche 
Natur  tatsächlich  beschaffen  ist,  schätzen  die  meisten  Menschen  eine 
künftige  Freude,  auch  wenn  ihre  Erlangung  vollkonmien  sicher  wäre, 
nicht  ganz  so  hoch,  als  eine  gleichartige  gegenwärtige  Freude,  sondern  sie 
schätzen  sie,  ihre  Größe  gleichsam  „diskontierend",  mit  einem  Abzug, 
dessen  Höhe  bei  den  einzelnen  Personen  sehr  ungleich  ist,  und  mit  dem 
verschiedenen  Grade  von  Geduld  und  Selbstbeherrschung  zusammenhängt, 
über  den  dieselben  verfügen  3).  Der  gegenwärtige  Wert  einer  künftigen 
Freude  und  daher  auch  der  gegenwärtige  Grenznutzen  einer  zeitlich 
entfernten  Quelle  eines  Genusses  (the  present  marginal  utility  of  a  distant 
source  of  pleasure)  ist  daher  geringer  als  der  Wert  einer  gleichen  gegen- 
wärtigen Freude,  oder  auch  als  der  Wert  derselben  künftigen  Freude  in 
demjenigen  Zeitpunkte  sein  wird,  in  welchem  sie  tatsächlich  eintreten 
wird.  Diskontiert  jemand  z.  B.  nach  seinem  Temperament  überhaupt 
künftige  Freuden  nach  dem  Satze  von  10%,  so  wird  er  den  gegenwärtigen 
Wert  einer  Freude,  die  noch  ein  Jahr  entfernt  ist  und  dann  eine  faktische 


1)  Im  Abschnitt  IX. 

*)  Siehe  oben  S.  421f. 

')  Principles  196 — 197;  ähnlich  794  und  öfters.  Marshall  unterscheidet  dabei 
diese  Minderschätzung  künftiger  Freuden  ebenso  klar  als  richtig  von  anderen  Schätzungs- 
differenzen, die  aus  Anlaß  einer  zeitlichen  Differenz  vorkommen  können,  aber  anderen 
Ursprungs  sind:  nämlich  einerseits  von  Minderschätzungen  künftiger  Freuden  und 
Güter,  die  aus  der  Unsicherheit  ihrer  Erlangung  stammen,  und  andererseits  von 
Schätzungsdifferenzen,  die  daher  stammen,  daß  durch  eine  Änderung  in  den  sonstigen 
Umständen  der  Charakter  oder  die  Größe  der  künftigen  Freude  selbst  sich  ändert; 
z.  B.  wegen  einer  voraussichtlichen  Änderung  in  der  Genußfähigkeit  (Alpenturen  in 
vorgerückten  Jahren!)  oder  wegen  einer  den  Grenznutzen  beeinflussenden  Änderimg 
in  der  Reichlichkeit  des  Vorrates  (Eier,  die  auf  den  Winter  aufgespart  werden). 


486  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  def  Gegenwart. 

Größe  von  11  haben  wird,  grob  gerechnet^),  heute  auf  10  schätzen.  Aus 
zahlreichen  Äußerungen  Marshalls  geht  nun  hervor,  daß  die  psycho- 
logische Tatsache,  daß  die  große  Masse  der  Menschheit  den  gegenwärtigen 
Befriedigungen  einen  Vorzug  vor  künftigen  gibt,  eben  dieselbe  ist,  auf 
welche  sich  seine  Annahme  gründet,  daß  das  Warten  ein  Opfer  involviert*). 
Daß  wir  gegenwärtigen  Freuden  vor  künftigen  gleich  großen  Freuden  im 
allgemeinen  den  Vorzug  geben  und  daß  wir  das  Warten  auf  künftige 
Genüsse  ebenfalls  im  allgemeinen  als  ein  den  Erlangungsaufwand  er- 
höhendes Opfer  empfinden,  sind  in  Marshalls  Lehre  nur  zwei  verschiedene 
Ausdrucksweisen  für  eine  und  dieselbe  psychologische  Tatsache. 

Tatsächlich  sind  es  aber  nicht  verschiedene  Ausdrucks-,  sondern 
verschiedene  Auffassungsweisen  und  zwar,  was  für  unsere  Frage  von 
Interesse  ist,  zwei  widerstreitende,  zwei  miteinander  unvereinbare  Auf- 
fassungsweisen, von  denen  die  eine  richtig,  die  andere  falsch  ist,  die  aber 
jedenfalls  unmöglich  beide  nebeneinander  vertreten  werden  können.  Die 
Sache  liegt  nämlich  folgendermaßen. 

Von  keiner  Seite  bezweifelte  Erfahrung  ist  es,  daß  jene  psychologische 
Tatsache,  um  deren  richtige  Deutung  es  sich  handelt,  sich  unter  anderem 
darin  wirksam  zeigt,  daß  wir  für  sonst  gleichstehende,  aber  verschieden 
entfernte  Genußziele  ungleich  große  Arbeits-  oder  Geldopfer  zu  bringen 
geneigt  sind.  Ist  z.  B.  der  objektive  Betrag  eines  Genußzieles  10,  so  werden 
wir,  wenn  dieses  Genußziel  im  Augenblick  zu  erreichen  ist,  geneigt  sein, 
für  seine  Erlangung  ein  Arbeitsopfer  bis  zu  dem  gleichen  Belaufe  von  10, 
oder  ein  äquivalentes  Geldopfer,  z.  B.  bis  zu  10  fl,  auf  uns  zu  nehmen. 
Steht  dagegen  dasselbe  Genußziel  im  Betrage  von  10  um  ein  Jahr  ab,  so 
werden  wir,  wenn  jene  psychologische  Tatsache  nach  unseren  speziellen 
Verhältnissen  bei  uns  mit  einer  Kraft  wirksam  ist,  die  eine  Diskontierungs- 
rate von  10%  erfordert,  zu  seiner  Erlangung  eine  gegenwärtige  Arbeits- 
mühe von  höchstens  etwas  mehr  als  9  (genau  9,09),  oder  ein  Geldopfer 
von  höchstens  etwas  mehr  als  9  fl.  (genau  9  fl.  9  kr.)  aufzuwenden  geneigt 
sein.  Stünde  dasselbe  Genußziel  fünf  Jahre  ab,  so  würde  unsere  Bereit- 
willigkeit, dasselbe  durch  ein  gegenwärtiges  Opfer  an  Arbeit  öder  Geld 
zu  erlangen,  schon  bei  einer  Arbeitsmühe  von  etwa  6  (genau  6,21)  oder 
einem  Geldopfer  von  6  fl.  21  kr.  ihre  Grenze  finden  3), 


^)  Nämlich  mit  Vernachlässigung  des  Zinseszinses;  Marshall  selbst  entwickelt 
dafür  in  der  mathematischen  Note  V  des  Anhanges  zu  seinen  Principles  eine  genaue 
algebraische  Formel. 

«)  331ff.,  429  Note  1,  662,  663  Note  1,  668:  indirekt  auch  ^794  Note  V,  insofern 
das  „interest",  welfches  anderwärts  als  ,, reward  of  waiting"  erklärt  wird,  mit  dem  „dis- 
counting"  der  „future  pleasures"  in  Verbindung  gebracht  wird. 

*)  Ich  setze  hier  und  im  folgenden  der  Einfachheit  halber  immer  voraus,  daß  das 
ganze  Arbeits-  oder  Geldopfer  auf  einmal,  also  in  einem  einzigen,  und  zwar  dem  gegen- 
wärtigen Zeitpunkte  gebracht  wird. 


IV.  Abstinenztheorien.    Marshall.  487 

Diese  Tatsache,  über  deren  Tatsächlichkeit,  wie  gesagt,  zwischen 
Marshall  und  mir  keinerlei  Meinungsverschiedenheit  besteht^),  könnte 
an  sich  zwei  Auslegungen  zulassen.  Eine  mögliche  Auslegung  würde  dahin 
gehen,  daß  der  zeitliche  Abstand  die  Größe  des  Genußzieles  in  unseren 
Augen  Verkleinert:  wir  schlagen  einen  künftigen  Nutzen,  weil  er  künftig 
ist,  niedriger  an,  als  wenn  er  gegenwärtig  wäre.  Dies  ist  diejenige  Aus- 
legung, welche  in  den  oben  erwähnten  psychologischen  Bemerkungen 
Marshalls  über  die  Schätzung  künftiger  Freuden  zum  Ausdruck  kommt. 
Der  gegenwärtige  Wert  der  künftigen  Freude  ist  kleiner  als  10,  er  ist  bei 
einem  zeitlichen  Abstand  von  einem  Jahre  nur  ungefähr  9,  bei  einem 
Abstand  von  fünf  Jahren  nur  ungefähr  6:  und  weil  uns  das  nicht  mehr 
wert  ist  als  9,  beziehungsweise  6,  nehmen  wir  eben  auch  für  seine  Erlangung 
kein  größeres  Opfer  auf  uns,  als  durch  die  Ziffern  9  und  6  angezeigt  wird. 

Es  liegt  nun  klar  auf  der  Hand,  daß  bei  dieser  Auffassung  die  Ziffern  9 
und  6  nicht  bloß  die  Größe  eines  aus  Arbeit  oder  Geld  bestehenden  Opfer- 
teiles, sondern  daß  sie  die  Größe  des  Gesamtopfers  bezeichnen  und 
begrenzen  müssen,  das  wir  überhaupt  für  die  Erlangung  des  künftigen 
Genusses  auf  uns  zu  nehmen  geneigt  sind;  mit  anderen  Worten,  daß  bei 
dieser  Auslegung  für  ein  additionelles  Opfer  an  „waiting",  welches  neben 
dem  Arbeits-  oder  Geldopfer  gebracht  würde,  kein  Raum  ist:  denn  es 
liegt  nicht  minder  auf  der  Hand,  daß  es  allen  Grundsätzen  des  ökono- 
mischen Handelns  widersprechen  würde,  daß  wir  für  eine  Freude,  die  wir 
nur  auf  9  oder  6  schätzen,  eine  Summe  von  Opfern  auf  uns  nehmen  sollten, 
die  aus  Arbeit  und  waiting  oder  Geld  und  waiting  sich  zusammensetzend, 
einen  den  Wert  des  Zieles  selbst  übersteigenden  Belauf,  z.  B.  den  Belauf 
von  10  erreichen  würde. 

Umgekehrt  leitet  die  zweite  an  sich  denkbare  Auslegung  gerade  auf 
die  Annahme  eines  Opfers  von  solchem  größeren  Belaufe  hin.  Es  ist 
diejenige  Auslegung,  welche  in  den  Äußerungen  Marshalls  über  die 
Existenz  eines  neben  der  Arbeit  separat  darzubringenden  Opfers  an 
„waiting"  zum  Ausdruck  kommt.  Sie  legt  sich  den  kritischen  Tatbestand 
folgendermaßen  zurecht:  Die  Aussicht  auf  ein  künftiges  Genußziel,  welches 
nach  einem  oder  nach  fünf  Jahren  einen  Wert  von  10  haben  wird,  bestimmt 
uns,  eine  Summe  von  Opfern  auf  uns  zu  nehmen,  die  sich  auf  Arbeit  und 
Warten  zusammensetzt,  und  die  von  uns,  und  zwar  unter  Berücksichtigung 
des  Grades  der  Lästigkeit,  die  uns  das  Warten  bereitet,  und  der  mutmaß- 
lichen Dauer  dieses  Wartens,  zusammengenommen  auf  1 0  veranschlagt  wird. 


^)  Marshall  registriert  sie  z.  B.  in  einem  Beispiele  vom  Bau  eiiies  Hauses,  dessen 
Utility  „when  finished"  die  „efforts  required  for  building"  nebst  einem  „amount  in- 
creasing  in  geometrical  proportion  (a  sort  of  Compound  interest)  i'or  the  period  that 
would  elapse  between  each  effort  and  the  time  when  the  house  would  be  ready  for  his 
use"  bedecken  muß  (429). 


488  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Gegenwart. 

Ich  glaube,  es  liegt  wiederum  auf  der  Hand,  daß  diese  Auslegung  des 
Sachverhaltes  voraussetzt,  daß  die  Aussicht  auf  den  zu  erlangenden 
künftigen  Genuß  auf  unsere  gegenwärtige  Entschließung  mit  der  vollen, 
unverminderten  Größe  jenes  Genusses  einwirkt:  nur  wenn  wir  das  künftige 
Genußziel  mit  seiner  unverminderten  Größe  von  10  anschlagen,  können 
wir  uns  vernünftiger  und  wirtschaftlicher  Weise  dazu  entschließen,  für 
seine  Erlangung  ein  Gesamtopfer  in  der  Größe  von  10  auf  uns  zu  nehmen. 
Die  Abstinenztheorie  pointiert  diesen  Gedanken  sogar  besonders  nach- 
drücklich aus.  Sie  lehrt  ja,  daß  der  Wert  der  künftigen  Produktions-  und 
Genußziele  eben  deshalb  nicht  unter  die  (beispielsmäßig  angenommene 
Ziffer)  von  10  herunternivelliert  werden  könne,  weil  das  Hinzutreten  des 
Warteopfers  den  Belauf  der  Gesamtkosten  auf  jene  Summe  erhöht  und 
der  Produzent  bei  einem  geringeren  Werte  des  Zieles  sich  für  diese  Opfer- 
größe nicht  ausreichend  entschädigt  fühlen  würde  —  ein  Gedankengang, 
der  auf  das  ausdrücklichste  voraussetzt,  daß  der  Wert  des  künftigen 
Zieles  im  Kalkül  des  Produzenten  mit  der  unverminderten  Größe  von  10 
figuriert. 

Es  liegt  daher,  mit  andern  Worten,  auf  der  Hand,  daß  wir  uns  der 
zweiten  Auslegung  nur  dann  zuwenden  können,  wenn  wir  der  ersten  den 
Rücken  kehren.  Wir  mögen  entweder  annehmen,  daß  der  zeitliche 
Abstand  den  Nutzen  eines  erwarteten  künftigen  Zieles  in  unserer  Schätzung 
verkleinert,  oder,  daß  derselbe  die  in  unserer  Schätzung  zu  berücksichtigen- 
den Opfer  um  das  „Warteopfer"  vergrößert:  aber  so  viel  ist  gewiß,  daß 
wir  unmöglich  beides  zugleich  annehmen  können.  Es  wäre  ein  wirtschaft- 
liches und  mathematisches  Nonsens,  daß  im  Kalkül  des  Produzenten  der 
künftige  Nutzen  von  10  auf  6  verkleinert,  das  Opfer  aber  gleichzeitig 
vermöge  der  Zurechnung  des  Warteopfers  von  6  auf  10  vergrößert  ange- 
nommen und  die  Produktion  dennoch  lohnend  befunden  werden  sollte! 

Um  jeder  möglichen  Abirrung  auf  ein  falsches  Geleise  von  vornherein 
den  Weg  zu  verlegen,  will  ich  sofort  einem  gewissen  denkbaren  Gegen- 
einwand entgegentreten.  Bei  oberflächlicher  Beobachtung  könnte  man 
nämlich  vielleicht  noch  versucht  sein,  die  Sache  sich  folgendermaßen 
zurecht  zu  legen.  Der  künftige,  erst  nach  5  Jahren  zu  erlangende  Nutzen 
von  10  werde  in  der  gegenwärtigen  Schätzung  in  der  Tat  nur  perspek- 
tivisch verkleinert,  also  nur  mit  6,21  angeschlagen.  Aber  diesem  gegen- 
wärtigen Werte  des  Zieles  stehe  eben  auch  nur  ein  gegenwärtiges  (Arbeits- 
oder Geld-)  Opfer  von  6,21  gegenüber;  das  Warteopfer  liege  dagegen  erst 
in  der  Zukunft  und  werde  in  dieser  seine  Kompensation  durch  den  ein- 
stigen vollen  Zukunftswert  des  Zieles  —  im  Betrage  von  10  —  finden. 
Es  stehe  daher  einerseits  gegenwärtiger  Wert  und  gegenwärtiges  Opfer, 
andererseits  künftiger  Wert  mit  der  auch  die  künftigen  Opfer  umschließen- 
den gesamten  Opfergröße  im  erforderlichen  Einklang.  —  Bei  diesem  Ge- 


lY.  Abstinenztheorien.    Marshall.  489 

dankengang  würde  man  aber  übersehen,  daß  jeder  rationelle  wirtschaft- 
liche Kalkül  die  nicht  fälligen  Opier  oder  Opferraten  ebensowohl  und  zwar 
sofort  in  die  Rechnung  stellen  muß,  wie  die  fälligen.  Wenn  ich  kalkuliere, 
ob  ich  ein  mir  gegen  Zahlung  von  20  Jahresraten  ä  1000  fl.  angebotenes 
Wohnhaus  kaufen  soll  oder  nicht,  so  darf  ich  nicht  den  gegenwärtigen 
Wert  des  Hauses  mit  dem  Werte  der  gegenwärtig  fäUigen  Rate  der  Opfer, 
das  ist  mit  der  ersten  sofort  zu  erlegenden  Kaufschülingsrate  von  1000  fl. 
allein  in  Vergleich  bringen,  sondern  ich  muß  selbstverständlich  dem  Werte 
des  Hauses  sofort  den  Wert  aller,  gegenwärtig  und  künftig  fälligen  20  Kauf- 
schülingsraten  zusammengenommen  gegenüberstellen,  wobei  nur  die  noch 
nicht  fälligen  Raten  mit  einem  gewissen,  sie  auf  ihren  gegenwärtigen 
Wert  reduzierenden  Abzüge  in  Anschlag  kommen  werden.  Analog  setzt 
sich  im  Sinne  der  Abstinenztheorie  das  gesamte  für  ein  entferntes  Genuß- 
ziel auszulegende  Opfer  aus  einer  sofort  fälligen,  aus  Arbeit  oder  Geld 
bestehenden  ersten  Opferrate  und  aus  einer  Reihe  weiterer,  über  den 
ganzen  zwischenliegenden  Zeitraum  sich  echellonnierenden  Raten  von 
„Warteopfern"  zusammen.  Letztere  mögen  nun  in  den  gegenwärtigen 
Kalkül  ebenfalls  —  sowie  die  später  fälligen  Kauf  Schillingsraten  des  Hauses 
—  nur  mit  einem  gewissen,  dem  Grade  ihrer  zeitlichen  Entlegenheit  ent- 
sprechenden Abzüge  eingestellt  werden,  aber  sie  müssen  jedenfalls  über- 
haupt eingestellt  werden,  zumal  ja,  wie  wir  wissen,  im  Sinne  der  Abstinenz- 
theorie gerade  der  Bedacht  auf  sie  die  Produzenten  abhalten  soll,  die 
Produktion  auf  minderwertige  künftige  Ziele  zu  richten.  In  unserem 
Beispiele  würde  diese  Auffassung  sich  in  folgender  Ziffergruppierung  aus- 
prägen :  das  sofort  zu  leistende  Arbeits-  (oder  Geld-)  Opfer  beträgt  6,21. 
Die  Summe  der  fünfjährigen  Warteopfer,  durch  welche  das  Gesamtopfer 
successive  bis  auf  10  aufgefüllt  wird,  beträgt  demnach  3,79.  Da  aber  diese 
Warteopfer  noch  in  der  Zukunft  liegen  und  zwar  im  Durchschnitt  erst 
nach  2^  Jahren  zu  „erdulden"  sind,  ist  ihr  Gegenwartswert  entsprechend 
geringer  anzuschlagen  und  zwar  würde  er  sich  unter  Annahme  des  Re- 
duktionsmaßstabes von  10%  ungefähr  auf  2,96  stellen.  Hiernach  wäre 
der  Gegenwartswert  aller  zu  berücksichtigenden  Opfer  6,21  +  2,96  =  9,17, 
der  Gegenwartswert  des  anzustrebenden  Zieles  aber  nur  6,21  —  ein  Größen- 
verhältnis, das  einer  vernünftigen  Handlungsweise  offenbar  nicht  zu 
Grunde  liegen  kann.  —  Ich  bin  aufrichtig  erstaunt  darüber,  daß  Prof. 
Marshall  sich  bei  seiner  mathematischen  Behandlung  der  ganzen  Frage 
durch  solche,  doch  unvermeidlich  auch  ziffermäßig  hervortretende  In- 
kongruenzen nicht  gestört  gefühlt  hat.  Ich  selbst  bin  allerdings  zu  wenig 
Mathematiker,  um  im  Detail  beurteilen  zu  können,  ob  und  wie  es  Prof. 
Marshall  in  den  verwickelten  mathematischen  Formeln,  in  welchen  er 
sowohl  die  diskontierende  Verkleinerung  des  künftigen  Genußnutzens, 
als  auch  das  in  geometrischer  Progression  anschwellende  Opfer  des  Wartens 
zu  rechnungsmäßigem  Ausdruck  bringt  (Note  XIII  und  XIV  des  mathe- 


490  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Gegenwart. 

matischen  Anhanges),  möglich  geworden  ist,  den  sachlich  doch  zweifellos 
vorhandenen  Fehler  sich  zu  verbergen  oder  zu  verschleiern^). 

^)  Ich  vermute  —  Mathematiker  mögen  die  Richtigkeit  dieser  Vermutung  nach- 
prüfen —  daß  Marshall  einem  offenen  rechnungsmäßigen  Konflikt  dadurch  ausgewichen 
ist,  daß  er,  statt  den  Stand  seiner  Ansichten  in  einer  Formel  zu  illustrieren,  in  der 
mathematischen  Note  XIII  zwei  Alternativformeln  aufstellt,  die  sich  vermeintlich 
nur  durch  den  verschiedenen  zeitlichen  „Ausgangspunkt",  auf  den  sie  sich  beziehen,  in 
Wahrheit  aber  auch  durch  eine  entgegengesetzte  Auffassung  voneinander  unterscheiden; 
Marshall  bringt  nämlich  in  jeder  derselben  eine  andere  der  beiden  kollidierenden 
Auffassungen  zur  Anwendung.  Die  erste  Formel,  welche  das  Datum  des  Beginnes  des 
Hausbaues  zum  Ausgangspunkt  nimmt,  führt,  wenn  ich  mich  nicht  täusche,  glatt  und 
rein  die  Auffassung  der  Agiotheorie  durch,  indem  der  Wert  des  künftigen  Genußzieles 
mit  einem  verminderten  Betrage,  dafür  aber  keinerlei  Warteopfer  in  Rechnung  gestellt 
wird.  Die  zweite  Formel,  welche  das  Datum  der  Vollendung  des  Hauses  zum  Aus- 
gangspunkte nimmt,  rechnet  dagegen  umgekehrt  den  Wert  des  Produktionszieles,  des 
fertigen  Hauses,  voll,  und  stellt  dafür  unter  die  Produktionsopfer  neben  den  Arbeits- 
opfern auch  die  Warteopfer  ein.  Dieser  Wechsel  im  Berechnungsprinzip  wird  aber  durch 
eine  gewisse  Komplikation  weniger  auffällig  gemacht,  die  das  von  Marshall  gewählte 
Beispiel  vom  Hausbau  an  sich  trägt.  Im  Falle  eines  lange  dauernden  Genußobjektes, 
wie  ein  Haus  es  ist,  trifft  nämlich  die  Erreichung  des  Produktionszieles,  die  Fertig- 
stellung des  Hauses,  mit  der  Erreichung  des  Genußzieles,  der  Bedürfnisbefriedigung 
durch  Bewohnung  des  Hauses,  nicht  zusammen,  und  an  die  erste  Wartezeit,  die  vom 
Beginne  des  Hausbaues  bis  zur  Vollendung  desselben  reicht,  knüpft  sich  noch  eine 
zweite,  abgestufte  Wartezeit  an,  die  von  der  Vollendung  des  Hausbaues  bis  zum  fak- 
tischen Empfang  der  durch  viele  Jahre  sich  hinziehenden  Nutzungsraten  des  dauer- 
haften Gutes  Wohnhaus  reicht.  Für  diesen  zweiten  Teil  der  Wartezeit  rechnet  nun 
Marshall  auch  in  der  Formel  II  ganz  so  wie  in  der  Formel  I.  Er  berechnet  nämlich 
den  Gegenwartswert  des  fertigen  Hauses  aus  dem  diskontierten  Wert  seiner  künftigen 
Nutzleistungen,  und  sieht  dafür  von  der  Einstellung  von  Warteopfern  in  die  Opfer- 
rechnung für  die  der  Vollendung  des  Hauses  nachfolgende  Zeit  wieder  ab.  Er  biegt 
so  gewissermaßen  mitten  in  der  Formel  II  in  der  Auffassungsweise  um :  bis  zur  Fertig- 
stellung des  Hauses  rechnet  er  als  Abstinenztheoretiker,  für  die  weitere  Zukunft  wie  ein 
Agiotheoretiker.  Dadurch  nun,  daß  auch  in  der  Formel  II  ein  Teil  ebenso  gerechnet 
wird  wie  in  der  Formel  I,  entsteht  der  Anschein,  als  ob  dasselbe  Rechnungsprinzip 
durch  beide  Formeln  unverändert  hindurchginge  und  als  ob  der  Unterschied  im  rest- 
lidien  Teil  der  Rechnung  wirklich  in  nichts  anderem  als  in  der  Verschiebung  des  zeit- 
lichen Ausgangspunktes  der  Rechnung  seinen  Grund  hätte.  Tatsächlich  liegt  aber  ein 
Bruch  im  Prinzip  vor.  Denn  wenn  auch  im  Moment  der  Fertigstellung  des  Hauses 
der  Genuß  desselben  beginnt,  so  kann  doch  natürlich  nicht  die  Rede  davon  sein, 
daß  durch  den  Genuß  der  ersten  Stunde  schon  die  ganze  Erzeugungsarbeit  des  Hauses 
ihren  Lohn  gefunden  hätte,  sondern  der  weitaus  überwiegende  Teil  der  Erzeugungs- 
arbeit muß  noch  weiter  auf  seinen  Genußlohn  warten.  Wenn  nun,  wie  Marshall  im 
Geiste  seiner  Abstinenztheorie  in  der  Note  1  zu  Buch  V  Ch.  IV  §  1  ausdrücklich  sagt, 
durch  das  Warten  auf  spätere  Genüsse  „das  Übel  oder  die  Unannehmlichkeit" 
der  Erzeugungsanstrengungen  sich  in  geometrischer  Proportion  zur  Wartezeit  steigert, 
so  müßte  ja  dieselbe  Steigerung  des  Opfers  rücksichtlich  des  durch  Wohnüngsgenüsse 
jeweils  noch  nicht  gelohnten  Teiles  der  Erzeugungsarbeit  auch  nach  der  Fertigstellung 
des  Hauses  noch  andauern,  und  es  ist  daher  eine  inkonsequente  Verleugnung  dieses 
Teiles  seiner  Lehre,  wenn  Marshall  im  zweiten  Teile  seiner  Formel  II  diese  Steigerung 
der  Opfer  nicht  in  Ansatz  bringt.  Und  es  ist  dieselbe  inkonsequente  Verleugnung  auch 
schon  gewesen,  wenn  Marshall  in  seiner  ganzen  ersten  Formel  jene  Steigerung  nicht 


IV.  AbstinenBtheorien.    Marshall.  491 

Muß  aber  einmal  anerkannt  werden,  daß  zwischen  den  beiden  Auf- 
fassungen, die  Prof.  Marshall  in  seiner  Lehre  kumuliert  hat,  gewählt 
werden  muß,  dann  kann  die  Wahl,  und  zwar,  wie  ich  glaube,  auch  für 
den  ausgezeichneten  Gelehrten  selbst,  dessen  Meinung  ich  hier  zu  be- 
kämpfen gezwungen  bin,  nicht  einen  Augenblick  zweifelhaft  sein.  Auf 
der  einen  Seite  ist  die  Erfahrung,  daß  die  Leute,  und  zumal  die  sorglosen 
Leute,  die  Aussicht  auf  entfernte  Genüsse  niedriger  taxieren  als  einen 
gegenwärtigen  Genuß  von  gleicher  Größe,  doch  allzudeutlich  ausgeprägt, 
um  sich  leugnen  zu  lassen;  und  auf  der  anderen  Seite  werden  diejenigen 
Bedenken,  die  gegen  die  Existenz  eines  selbständigen  Abstinenz-  oder 
Warteopfers  sprechen,  und  die  ich  im  IX.  Hauptstücke  dieses  Buches 
ausführlich  auseinandergesetzt  habe,  angesichts  der  Notwendigkeit  einer 
Wahl  wohl  auch  in  den  Augen  jener  an  Gewicht  gewinnen,  die  sich  bisher 
ihrem  Eindrucke  entzogen  hatten.  Ich  glaube,  man  wird  sich  bei  erneuter 
sorgfältiger  Prüfung  doch  wohl  kaum  auf  die  Dauer  z.  B.  der  Überzeugung 
entziehen  können,  daß  das  Nicht- Genießen  noch  kein  Leiden  ist,  und  daß 
eine  erfolglose  Arbeit  kein  unendlich  großes,  d.  i.  aus  einer  begrenzten 


in  Ansatz  gebracht  hat:  er  hätte  sie  allenfalls,  wie  ich  oben  in  meinem  Texte  aufführte, 
mit  einem  abgestuften  Diskontoabzuge,  aber  er  hätte  sie  überhaupt  in  Ansatz  bringen 
müssen,  was  er  nicht  getan  hat.  Denn  das,  was  er  dort  auf  der  Opferseite  diskontiert, 
sind  nicht  die  Warteopfer,  sondern  der  „Wert"  der  in  seinem  konkreten*  Beispiel  vom 
(langwierigen!)  Hausbau  ebenfalls  zeitlich  gestuften  Arbeitsopfer.  Hätte  Marshall 
statt  des  Hausbaues  ein  Beispiel  gewählt,  in  welchem  Arbeitsaufwand  einerseits  und 
GütergQnuß  andererseits  sich  in  je  einem  (unter  feinander  natürlich  verschiedenen!) 
Zeitpunkt  konzentriert  hätten,  so  wäre  die  ganze  Rechnung  viel  einfacher,  viel  durch- 
sichtiger und  auch  das  Schlußdilemma  viel  deutlicher  geworden:  entweder  inkonsequent, 
mit  verschiedenem  Ansatz,  oder  falsch  zu  rechnen.  —  Zum  Schluß  noch  zwei  Bemer- 
kungen. Zunächst  möchte  ich  glauben,  daß  der  Ausgangspunkt  der  Formel  II,  den 
Marshall  für  den  ,  natürlicheren  vom  Standpunkt  des  gewöhnlichen  Geschäftes" 
hält,  überhaupt  nicht  geeignet  ist,  das  zur  Anschauung  zu  bringen,  was  nach  dem  Inhalt 
des  zugehörigen  Textparagraphen  und  nach  dem  ganzen  Erklärungsgange  der  Ab- 
stinenztheorie zur  Anschauung  zu  bringen  war:  nämlich  den  den  Produktions- 
entschluß beeinflussenden  und  lenkenden  Kalkül  von  Nutzen  und  Opfern. 
Dieser  muß  ja  doch  naturgemäß  Nutzen  und  Opfer  so  einstellen,  wie  sie  dem  Produktions- 
lustigen vor  Beginn  des  Produktionsaktes  (also  im  Ausgangspunkte  der  Formel  I) 
vor  Augen  stehen,  und  nicht  nach  seinem  Abschluß!  Ferner  hat  inzwischen  Prof, 
Marshall  in  einer  seiner  5.  Auflage  neu  hinzugefügten  Note  (Note  3  auf  S.  352)  den 
Vorwurf  einer  „Doppelrechnung"  des  Zinses,  den  er  in  den  Ausführungen  meines  Textes 
zu  erblicken  glaubte,  ausdrücklich  von  sich  abgelehnt.  Die  Sache  steht  indes  nach  meinen 
obigen  Darlegungen  doch  wohl  so,  daß  Marshall  zwar  den  Zins  nicht  faktisch  doppelt 
gerechnet  hat  —  was  ja  natürlich  durch  ein  falsches  Rechnungsresultat  auf  den  ersten 
Blick  hätte  auffallen  müssen  —  daß  er  ihn  aber  nach  dem  Stande  seiner  theoretischen 
Prämissen  hätte  doppelt  rechnen  müssen,  und  daß  er  sich  der  faktischen  Doppelrechnung 
nur  durch  eine  inkonsequent  hin-  und  herspringende  Auswahl  zwischen  seinen  beiden 
unvereinbaren  Prämissen  entzogen  hat;  und  in  dieser  Auffassung  kann  mich  gerade 
der  vermeintlich  aufklärende  Kommentar,  mit  dem  Marshall  seine  neueste  Äußerung 
begleitete,  nur  vollends  bestärken. 


492  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Gegenwart. 

Quantität  Arbeitsmühe  und  einem  unbegrenzten,  in  alle  Ewigkeit  sich 
fortsetzenden  Warten  sich  zusammensetzendes  Opfer  darstellen  kann, 
u.  dgl.  mehr.  Für  den  Fall  aber,  daß  bei  besonders  skeptischen  Lesern 
immer  noch  ein  Rest  des  Zweifels  zurückbleiben  sollte,  möchte  ich  endlich 
noch  folgende  Erwägungen  unterbreiten. 

Wer  das  Warten  in  der  der  Abstinenztheorie  eigentümlichen  Weise 
für  ein  selbständiges  Opfer  hält,  muß  sich  zu  der  Folgerung  bequemen, 
daß  auch  sorglose,  auf  die  Zukunft  nicht  bedachte  Personen  für  die  Er- 
langung eines  wenn  auch  noch  so  entfernten  Genusses  ein  ebenso  großes 
Opfer  zu  bringen  geneigt  sind,  als  für  einen  im  Moment  lockenden  Genuß: 
die  gleiche  Opfersumme  würde  sich  nur  verschieden  zusammensetzen; 
im  Falle  des  gegenwärtigen  Genusses  aus  Arbeit  allein,  im  Falle  des 
künftigen  Genusses  aus  etwas  weniger  Arbeit  und  einem  die  gesamte 
Opfergröße  doch  bis  zu  demselben  Niveau  auffüllenden  Belaufe  an 
„Waiting"! 

Und  noch  eines.  Ohne  allen  Zweifel  und  auch  nach  Marshall  selbst, 
erstreckt  sich  das  in  Diskussion  stehende  psychische  Phänomen  nicht  nur 
auf  die  Würdigung  künftiger  Freuden,  sondern  auch  auf  jene  künftiger 
Leiden  1),  Nehmen  wir  nun  an,  es  ist  jemand  durch  ein  Leid  bedroht, 
welches,  wenn  nicht  jetzt  Vorsorge  getroffen  wird,  in  einem  Jahre  sich 
einstellen  und  die  Stärke  von  10  besitzen  wird.  Sicher  ist,  daß  der  Be- 
treffende, wenn  er  künftige  Ereignisse  nach  dem  Fuße  von  10%  diskontiert, 
zur  Abwehr  jenes  Leides  kein  größeres  Arbeitsopfer  als  ein  solches  von  9 
auf  sich  zu  nehmen  geneigt  sein  wird.  Ich  könnte  mir  nun  allenfalls  noch 
zur  Not  vorstellen,  daß,  wenn  es  sich  um  die  Vorbereitung  irgend  eines 
positiven  Genusses  handeln  würde,  das  Warten  auf  den  Genuß  als  ein 
Opfer  empfunden  würde,  welches  das  Gesamtopfer  successive  auf  10  an- 
schwellen macht.  Aber  ich  kann  mir  in  gar  keiner  Weise  vorstellen,  welches 
Opfer  darin  gelegen  sein  soU,  daß  ich  in  der  Zwischenzeit,  in  der  das  drohende 
Leid  mich  nicht  drückt,  es  auch  noch  nicht  zu  beseitigen  in  der  Lage  bin. 
Welches  schmerzliche  in  der  ,, Fortdauer  des  Bedürfniszustandes"  2)  ge- 
legene Dulden  soll  z.  B.  darin  gelegen  sein,  daß  ich  mitten  im  Hochsommer 
den  unterdessen  auf  Spinnrocken  oder  Webstühlen  in  Vorbereitung  be- 
griffenen Winterrock  noch  nicht  besitze?  oder  daß  ein  Dreißigjähriger, 
der  einst  als  Fünfzigjähriger  eine  gegen  Weitsichtigkeit  wirkende  Brille 
benötigen  wird,  einstweilen  noch  durch  zwanzig  Jahre  auf  die  Fertig- 
stellung dieser  Brille  ,, warten"  muß,  für  deren  Herstellung  die  entfernten 
Vorbereitungsarbeiten,  im  Bergbau,  der  Maschinenfabrikation  u.  dgl., 
inzwischen  schon  begonnen  haben?  Ich  glaube,  für  den  unbefangen  Zu- 
sehenden ist  der  Zusammenhang  sonnenklar:  nicht  die  Wagschale  des 

^)  S.  769  bezieht  Prof.  Marshall  ausdrücklich  die  Wirkung  der  ,,telescopic  faculty" 
auf  eine  entsprechend  hohe  Schätzung  von  „future  ills  and  benefits". 

«)  „endurance  of  want",  Jevons,  Theory  of  Pol.  Ec,  2,  Auflage,  S.  254. 


IV.  Abstinenztheorica.    Maishall.  493 

Opfers  wird  über  das  anfangs  eingelegte  Arbeitsopfer  immerfort  weiter 
durch  ein  schmerzliches  Warten  auf  die  Beseitigung  eines  gar  nicht  vor- 
handenen Übels  beschwert,  bis  sie  endlich  der  vollen  Nutzensgröße  von 
10  gleich  wichtig  wird;  sondern  das  Gleichgewicht  beider  Wagschalen  war 
schon  zu  allem  Anfang  in  dem  allein  entscheidenden  Augenblick  des  wirt- 
schaftlichen Kalküls  und  Entschlusses  auf  dem  Wege  hergestellt,  daß  die 
Schätzung  des  zeitüch  entlegenen,  drohenden  Leides  perspektivisch  ver- 
kleinert, seine  Abwendung  daher  nur  als  ein  entsprechend  geringerer 
Nutzen  angesehen,  und  in  weiterer  Folge  ihm  deshalb  auch  nur  ein  Arbeits- 
opfer von  entsprechend  geringerer  Größe  gleich  wiegend  gehalten  wurde  !^) 
Die  Abstinenztheorie  irrt  somit  gi-undsätzMch  darin,  daß  sie  jene 
unsere  Wohlfahrtsbilanz  abträglich  beeinflussenden  Differenzen,  die  durch 
den  zeitlichen  Abstand  unzweifelhaft  geschaffen  werden,  auf  der  falschen 
Seite  der  Bilanz  bucht;  daß  sie,  wo  tatsächlich  ein  Minus  an  Nutzen  vor- 
liegt, statt  dessen  ein  größeres  Opfer  verzeichnen  will,  daß  sie  also  zwischen 
den  beiden  denkbaren  Auffassungen  des  Sachverhaltes  falsch  wählt. 
Prof.  Marshall  aber  —  und  mit  ihm  alle  jene  Gelehrten,  welche  die  seit 
Rae  und  Jevons  in  die  Wissenschaft  eingeführte  psychologische  Tatsache 
einer  geringeren  Schätzung  künftiger  Freuden  und  Leiden  mit  der  An- 
erkennung der  Abstinenztheorie  amalgamieren  wollen^)  —  irrt  überdies 
auch  noch  darin,  daß  er  gar  nicht  sieht,  daß  hier  eine  Wahl  getroffen 


^)  Wenn  jemand  hier  vielleicht  einwenden  wollte,  daß  man  die  Arbeit,  die 
man  vorsorglich  auf  die  Stillung  eines  künftigen  Leides  verwendet,  auch  auf  die  Be- 
reitung eines  anderen,  und  zwar  gegenwärtigen  positiven  Grenusses  hätte  verwenden 
können,  und  daß  das  ,, Vermissen"  dieses  anderen  Genusses  den  Inhalt  des  Warteopfers 
begründet,  so  glaube  ich  erstens,  daß  man  durch  solches  Hinüber-herüberschieben 
der  grundsätzlichen  Frage  nur  ausweicht,  aber  sie  nicht  löst;  und  übrigens  läßt  sich 
zweitens  jede  Weiterung  damit  abschneiden,  daß  man  den  konkreten  Tatbestand  so 
annimmt,  daß  für  ein  solches  Ausweichen  kein  Spielraum  ist.  Nehmen  wir  z.  B.  an, 
das  Subjekt  unseres  Beispieles  sei  ein  Arrestant,  welcher  keine  Winterkleider  besitzt, 
welcher  weiß,  daß  seine  Freilassung  in  einem  Jahre  und  zwar  zur  Zeit  der  strengsten 
Winterkälte  erfolgen  wird,  und  welcher  nach  der  Hausordnung  seines  Gefängnisses 
die  Gestattung,  nicht  aber  die  Nötigung  hat,  sich  durch  Gefängnisarbeit  einen  zur  An- 
schaffung von  Winterkleidern  ausreichenden  Betrag  zu  verdienen,  über  welchen  er  aber 
wieder  während  der  Dauer  seiner  Haft  in  keiner  Weise,  also  auch  nicht  zur  Bereitung 
irgend  eines  früheren  Genusses,  verfügen  könnte.  Hier  bleibt  für  die  Konstruktion 
eines  Warteopfers,  welches  ihm  durch  die  Widmung  seiner  Arbeit  für  die  Erwerbung 
warmer  Winterkleider  neben  dem  Opfer  der  Arbeit  selbst  auferlegt  würde,  absolut 
kein  denkbarer  Inhalt,  und  wer  die  Tatsache  nicht  ganz  leugnen  will,  daß  auch  bei 
einem  in  solcher  Lage  befindlichen  Subjekt  der  Bedacht  auf  die  Zukunft  minder  wirksam 
sein  kann  als  der  auf  die  Gegenwart,  wird  wohl  gezwungen  sein,  die  durch  so  viele  andere 
Gründe  sich  empfehlende  zweite  Auslegung  als  die  einzig  zulässige  zu  erklären:  daß 
nämlich  der  zeitliche  Abstand  die  Größe  künftiger  Freuden  und  Leiden  in  unserer 
gegenwärtigen  Schätzung  verkleinert! 

*)  Wie  z.  B.  in  älterer  Zeit  J.  St.  Mill  und  Jevons,  in  unseren  Tagen  Macfablank 
and  wohl  auch  Carver:  bezüglich  des  letzteren  siehe  noch  unten. 


494  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Gegenwart. 

werden  muß  zwischen  zwei  Aulfassungen,  die  unmöglich  nebeneinander 
bestehen  können.  — 

Das  sind  die  wesentlichsten  —  nicht  alle  —  Gründe,  welche  mich 
außer  Stand  setzen,  in  Prof.  Marshalls  Behandlung  des  Zinsproblems 
eine  befriedigende  Lösung  desselben  zu  erblicken.  Wie  wir  von  einer 
früheren  Gelegenheit  her  wissen  i),  ist  Prof.  Mark  all  geneigt,  bloßen  Ver- 
schiedenheiten oder  Unvollkommenheiten  in  der  Ausdrucksweise  eines 
Gedankens  ein  sehr  geringes  Gewicht  beizulegen,  und  zugleich  den  Begriff 
einer  bloßen  Variante  in  der  Form  des  Ausdrucks  sehr  weit  auszudehnen. 
Hier  liegt  aber  doch  wohl  zweifellos  mehr  vor,  als  bloß  eine  minder  emp- 
fehlenswerte Ausdrucksform  eines  richtigen  Gedankens:  es  handelt  sich 
um  ein  wesentliches  und  charakteristisches  Glied  der  logischen  Kette, 
welche  die  Erklärung  des  Kapitalzinses  vermitteln  soll.  Daß  Prof.  Mar- 
shall selbst  gerade  dieses  kritische  Glied  für  ein  sehr  wesentliches  ansieht, 
geht  daraus  hervor,  daß  er  ja  —  wenn  auch,  wie  ich  glaube  irrtümlich  — 
die  ganze  Entscheidung  zwischen  seiner  und  der  Auffassung  der  Sozialisten 
davon  abhängen  läßt,  ob  sich  neben  der  Arbeit  ein  "Warteopfer  als  selb- 
ständiges Opfer  konstruieren  lasse  oder  nicht  ^).  Und  daß  jedenfalls 
zwischen  seiner  und  meiner  Auffassung  auch  ein  materieller  Unterschied 
besteht,  wird  daran  klar,  daß  nach  seiner  Auffassung  der  Wegfall  jener 
psychologischen  Tatsache,  welche  sich  in  der  Bevorzugung  der  gegen- 
wärtigen vor  den  künftigen  Genüssen  äußert,  auch  das  Verschwinden  des 
Zinses  zur  Folge  haben  müßte  ^),  während  nach  meiner  Meinung  in  jedem 


^)  Siehe  mein  Vorwort  zur  zweiten  Auflage. 

■')  489ff. 

^)  Marshall  selbst  betrachtet  eine  derartige  Änderung  unserer  physischen  und 
moralischen  Disposition  keineswegs  als  etwas  undenkbares,  und  gibt  —  in  ganz  logischer 
Folge  seiner  Erklärung  des  Zinses  als ,, reward  of  the  sacrif  ice  involved  in  the  waiting"  — 
seine  Meinung  deutlich  dahin  zu  erkennen,  daß  in  einem  solchen  Falle  „interest  would 
bc  negative  all  along  the  line".  Er  erwartet  nämlich  dieses  Ergebnis  sogar  schon  für 
den  Fall,  daß  —  ohne  ein  gänzliches  Verschwinden  jeder  Bevorzugung  gleich  großer 
gegenwärtiger  Genüsse  —  die  wirksame  Vorsorge  für  das  Alter  und  die  Familie  bei 
MO  vielen  Menschen  so  stark  gesteigert  wird,  daß  die  aus  dieser  Rücksicht  jedenfalls 
zur  Ersparung  gelangenden  Summen  den  Bedarf  für  die  neu  zu  eröffnenden  vorteil- 
haften Investitionsgelegenheiten  (new  openings  for  the  advantageous  use  of  accumulated 
wealth)  übertreffen  (485  Note  3).  —  Für  subtil  Untersuchende  füge  ich  bei,  daß  durch 
diese  letztere,  auf  vorteilhafte  Produktionsgelegenheiten  Bezug  nehmende  Klausel 
keineswegs  etwa  eine  volle  materielle  Übereinstimmung  unserer  Meinungen  hergestellt 
wird.  Denn  einerseits  würde  nach  meiner  Meinung  auch  in  einem  völlig  stationären 
Zustande,  also  bei  einem  gänzlichen  Fehlen  ,,neuer"  kapitalistischer  Verwendungs- 
arton, die  größere  Ergiebigkeit  der  zeitraubenden  Produktionswege  für  sich -allein  für 
jeden  absehbaren  Zeitraum  den  Zins  aufrecht  zu  halten  imstande  sein  (siehe  hierüber 
insbesonaere  meine  Abhandlung  über  „Einige  strittige  Fragen  der  Kapitalstheorie", 
Wien  1900);  und  andererseits  sieht  in  der  zitierten  Stelle  Prof.  Marshall  das  zahl- 
reiche Auftauchen  neuer  Investitionsgelegenheiten  augenscheinlich  nur  unter  der  Voraus- 
setzung als  Hindernis  eines  völligen  Verschwindens  des  Zinses  an,  daß  doch  noch  irgend 


IV.  Abstinenztheorien.    Marshall.  495 

FaUe  nur  gleichsam  einer  von  mehreren  Quellflüssen  des  Zinsphänomens 
versiegen,  dieses  selbst  aber,  wenn  auch  in  verminderter  Stärke,  fort- 
bestehen würde,  indem  auch  ohne  jede  parteiische  Unterschätzung  der 
Zukunft  die  Tatsache,  daß  längere  Produktionsumwege  ergiebiger  sind, 
den  die  Einschlagung  solcher  Umwege  ermöglichenden  gegenwärtigen 
Gütersummen  eine  W'ertüberlegenheit  über  künftige  Gütersummen  sichern 
müßte  ^)  —  und  zwar  nicht  bloß  für  den  Augenblick,  sondern  für  Zeit- 
räume, die  auch  nach  dem  strengsten  Maßstabe  gemessen  den  längsten, 
„säkularen  Perioden"  2)  beigezählt  werden  müßten. 

Schließlich  möchte  ich  bemerken,  daß  sich  bei  Marshall  auch  noch 
eine  Gruppe  von  Äußerungen  findet,  in  welchen  in  ziemlich  nachdrück- 
licher Weise  eine  Beziehung  des  Kapitalzinses  speziell  zum  Gebrauche 
des  Kapitales  hervorgehoben  wird,  und  welche,  wenn  sie  die  einzigen 
das  Zinsthema  betreffenden  wären,  wohl  die  Vermutung  begründen  könnten, 
daß  Marshall  auch  die  für  die  Nutzungstheorie  charakteristische  Vor- 


eine Schätzungsdifferenz  zwischen  sonst  gleichen  gegenwärtigen  und  künftigen  Ge- 
nüssen bestehen  bleibt.  Man  muß  nämlich,  wie  Prof.  Marshall  selbst  auf  S.  197 
Note  1  seines  Werkes  mit  unübertrefflicher  Klarheit  auseinandergesetzt  hat,  genau 
zwischen  der  differenzierenden  Schätzung  gleich  großer  gegenwärtiger  und  künftiger 
Genüsse,  und  zwischen  einer  verschiedenen  Schätzung  gleich  großer  gegenwärtiger 
und  künftiger  Gütersummen  unterscheiden.  Bei  letzterer  Schätzung  kann  nämlich 
auch  der  Umstand  eine  einflußreiche  Rolle  spielen,  daß  dieselbe  Summe  in  verschiedenen 
Zeiträumen  einen  verschieden  großen  objektiven  Grenznutzen  stiftet.  Daher  kann  eine 
Person,  welche  an  und  für  sich  einen  gegenwärtigen  Genuß  vor  einem  gleich  großen 
künftigen  Grenuß  bevorzugen  würde,  sich  dennoch  zu  einer  Erpressung  auch  ohne  Aus- 
sicht auf  einen  Zinsenzuwachs  entschließen,  falls  die  zu  ersparende  Summe  auf  die  Zu- 
kunft, z.  B.  auf  den  Zeitpunkt  des  bedürftigen  Alters,  übertragen,  hier  einen  ent- 
sprechend größeren  Grenznutzen  stiftet,  als  sie  im  Falle  ihrer  momentanen  Verausgabung 
gestiftet  hätte.  Offenbar  nimmt  das  Argument  Prof.  Marshalls  auf  diese  Erwägung 
Bezug.  So  lange  der  Bedarf  für  neue  Kapitalinvestitionen  schon  durch  die  Ersparungen 
jener  gedeckt  wird,  bei  welchen  die  Minderschätzung  gleicher  künftiger  Genüsse  durch 
die  Vergrößerung  des  objektiven  Grenznutzens  der  in  die  Zukunft  übertragenen  Güter- 
summen kompensiert  wird,  liegt  in  der  Bilanz  kein  vergütungsbedürftiges  Abstinenz- 
opfer vor,  und  der  Zins  kann  fehlen.  Geht  aber  der  Kapitalbetrag  für  neue  Investitionen 
über  dieses  Maß  hinaus,  dann  wird  die  Minderschätzung  künftiger  Genüsse  nicht  mehr 
durch  den  Zuwachs  an  objektivem  Grenznutzen  der  gleichen  Güterquantität  gedeckt, 
und  muß  daher  durch  einen  Zins  vergütet  werden.  Ist  nun  dies  die  wahre  Meinung 
Prof.  Marshalls  —  und  ich  zweifle  nicht,  daß  sie  es  ist  —  dann  ist  in  seinem  Sinne 
die  Fortexistenz  einen  verschiedenen  Schätzung  gegenwärtiger  und  künftiger  Genüsse, 
als  Grundlage  des  im  Zinse  zu  vergütenden  Abstinenzopfers,  eine  conditio  sine  qua  non 
für  die  Existenz  eines  Zinses.  Nach  meiner  Meinung  dagegen  ist  sie  es  nicht,  weil  die 
für  den  Zins  allerdings  nötige  verschiedene  Schätzung  gegenwärtiger  und  künftiger 
Güter  auch  durch  die  größere  Ergiebigkeit  der  zeitraubenden  Produktionsumwege 
allein  herbeigeführt  werden  könnte  und  würde  (siehe  die  in  der  nächstfolgenden  Note 
bezeichnete  Stelle  meiner  Positiven  Theorie). 

^)  Das  Grenauere  siehe  in  meiner  Positiven  Theorie,  in  der  ersten  Auflage  S.  284— 
286,  in  der  dritten  S.  466—468,  in  der  vierten  S.  347—349. 

*)  Vgl.  Marshall  S.  450. 


496  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Cregenwart. 

stellungsweise  sich  angeeignet  hat^).  Angesichts  des  Umstandes  jedoch, 
daß  Marshall  sogar  darein  Zweifel  setzt,  ob  die  ausgesprochensten  Ver- 
treter der  Nutzungstheorie  die  der  letzteren  eigentümlichen  Gedanken  in 
ihrer  vollen  Strenge  hätten  lehren  wollen  2),  darf  ich  umsoweniger  an- 
nehmen, daß  Marshall  selbst  dies  zu  tun  geneigt  war  und  muß  vielmehr 
zur  Vermutung  gelangen,  daß  der  Gebrauch  jener  sonst  für  die  Nutzungs- 
theorie charakteristischen  Redewendungen  nur  auf  eine  gewisse  Freiheit 
oder  Sorglosigkeit  des  Ausdrucks  zurückzuführen  ist,  welche  Marshall 
auf  dem  Gebiete  der  Zinstheorie  für  sich  und  andere  in  Anspruch  zu  nehmen 
scheint,  ungeachtet  Unklarheiten  und  Zweideutigkeiten  des  Ausdrucks 
gerade  auf  diesem  Gebiete  schon  so  viele  Irrungen  und  Irrtümer  ver- 
schuldet haben,  und  ungeachtet  derselbe  ausgezeichnete  Gelehrte  sonst  — 
und  wohl  kaum  mit  Unrecht  —  einen  so  großen  Wert  auf  klare  Prägung 
und  zutreffende  Formulierung  der  Gedanken  zu  legen  pflegt.  — 

Wie  schon  bemerkt,  ist  aus  der  neueren  Zeit  endlich  auch  noch  ein 
interessanter  Versuch  zu  registrieren,  der  alten  Abstinenztheorie  eine 
neue  Deutung  unterzulegen.  Der  Versuch  ist  von  dem  Amerikaner  Carver  3) 
mit  viel  Scharfsinn  und  einer  bemerkenswerten  Kombinationskraft  unter- 
nommen worden,  geht  aber,  wie  ich  glaube,  wegen  eines  Mißverständnisses 
über  die  Hauptsache  fehl. 

Sein  etwas  subtiler,  von  ihm  selbst  durch  eine  Anzahl  geometrischer 
Diagramme  der  Anschauung  näher  gerückter  Gedankengang  ist,  in  kurzem 
Auszug  frei  dargestellt,  etwa  der  folgende*):  Carver  geht  von  der  voll- 
kommen zutreffenden  Anschauung  aus,  daß  große  Summen  gegenwärtiger 
Güter  von  ihren  Eigentümern  auch  dann  für  die  Zukunft  aufgespart 


^)  662,  663,  665,  666ff.,  Note.  Marshall  bezeichnet  in  diesen  Äußerungen  wieder- 
holt den  Gebrauch  oder  die  Dienste  (use,  Services)  des  Kapitales  als  den  Gegenstand, 
für  den  der  Zins  gezahlt  wird,  legt  ausführlich  dar,  daß  in  dieser  Beziehung  kein  wesent- 
licher Unterschied  (,,no  substantialdifference")  zwischen  der  Miete  eines  ausdauernden 
Gutes  (z.  B.  eines  Pferdes)  und  dem  Darlehen  an  einer  verbrauchlichen  beziehungsweise 
vertretbaren  Geldsumme  bestehe,  und  fügt  bei,  daß  die  von  älteren  Schriftstellern 
gezogene  Unterscheidung  zwischen  der  Miete  und  dem  Darlehen  zwar  „from  an  analytical 
point  of  view  interesting"  sei,  aber  „sehr  wenig  praktische  Bedeutung"  besitze.  — 
Eine  ganz  ähnliche  —  und  wohl  auch  ähnlich  zu  beurteilende  —  Mischung  von  Äuße- 
rungen, in  denen  die  Abstinenztheorie  vertreten  wird,  mit  Redewendungen,  die  sich 
auch  auf  die  Nutzungstheorie  deuten  ließen,  findet  sich  auch  bei  Sidgwick,  Prineiples 
of  Political  Economy,  2.  Auflage  (1887),  S.  255f.,  dann  167f.  und  264. 

*)  z.  B.  142  Note  1.     Siehe  auch  oben  das  Vorwort  zur  zweiten  Auflage. 

*)  ,,The  place  of  abstinence  in  the  theory  of  interest",  Quarterly  Journal  of 
Economics  Oktober  1893,  SS.  40—61. 

*)  Wie  der  aufmerksame  Leser  bald  bemerken  wird,  geht  Carvers  Gedankengang 
ein  Stück  weit  mit  gewissen  subtilen  Erwägungen  parallel,  denen  wir  soeben  auch  bei 
Prof.  Marshall  begegnet  sind  (siehe  oben  S.  494  Note  3).  Ich  möchte  sogar  die  Ver- 
mutung wagen,  daß  Carver  aus  jenen  Äußerungen  Marshalls  die  erste  Anregung  zu 
seiner  Theorie  geschöpft  hat,  die  dann  allerdings,  von  einem  gewissen  Punkte  an,  eine 
ganz  andere  Wendung  nimmt. 


rV.  Abstinenztheorien.    Carver.  497 

würden,  wenn  die  Eigentümer  keinen  Zins  erhielten,  ja  sogar  noch  Spesen 
für  die  Aufbewahrung  des  Ersparten  auslegen  müßten.  Er  bezeichnet 
auch  die  Grenzen  für  die  zinslose  Ersparnis  in  vollkommen  zutreffender 
Weise.  Ein  rationeller  Wirt  wird  von  seinem  gegenwärtigen  Gütervorrat 
so  viel  für  die  Zukunft  übersparen,  bis  der  Nutzen  (Grenznutzen),  den  das 
letzte  übergesparte  Teilchen,  z.  B.  der  letzte  aufgesparte  Gulden,  für  die 
Zukunft  bringt,  geradeso  groß  ist,  als  der  Nutzen,  den  der  letzte  zur  Aus- 
gabe bestimmte  Gulden  in  der  Gegenwart  bringt.  Wer  z,  B.  ein  Vermögen 
von  100000  fl.  hat,  wird,  auch  wenn  es  gar  keinen  Zins  gäbe,  als  rationeller 
Wirt  sicherhch  nicht  die  ganzen.,  und  nicht  einmal  einen  sehr  beträcht- 
lichen Teil  dieser  100000  fl.  zur  gegenwärtigen  Verzehrung  widmen,  weil 
er  in  diesem  Falle  sich  in  der  Gegenwart  die  Befriedigung  ganz  unwichtiger 
Luxusbedürfnissfe  verschaffen,  dafür  aber  in  der  Zukunft  selbst  für  wichtige 
Bedürfnisse  keine  Deckung  übrig  behalten  würde.  Er  würde  vielmehr 
korrekter  Weise  seinen  gegenwärtigen  Verzehr  bei  dem  sovielten  Tausend 
abbrechen,  daß  —  unter  Berücksichtigung  der  sonstigen  für  die  Zukunft 
zu  gewärtigenden  Güterzuflüsse  —  der  Grenznutzen  des  letzten  aus- 
zugebenden Guldens  sich  ins  Gleichgewicht  setzt  mit  dem  künftigen  Grenz- 
nutzen  des  letzten  übergesparten  Guldens. 

Mit  einer  sehr  wichtigen  und  auch  von  Carver  in  seinen  Diagrammen 
ganz  korrekt  registrierten  Klausel.  Die  meisten  Menschen  pflegen  nämlich 
je  nach  ihrer  Geistesanlage  und  ihrem  Temperament  künftige  Freuden 
und  Leiden,  und  daher  auch  den  künftigen  Güternutzen  zu  unterschätzen. 
Ein  sorgloser  oder  verschwenderischer  Mann  z.  B.  wird  einen  erst  in  einem 
Jahre  zu  erwartenden  Genuß  oder  Nutzen,  der  im  Augenblick  seines  tat- 
sächlichen Eintritts  eine  durch  die  Verhältniszahl  15  zu  veranschaulichende 
Größe  haben  wird,  im  Augenblick  vielleicht  nicht  höher  als  auf  10'  zu 
schätzen  geneigt  sein.  Da  nun  die  gegenwärtigen  wirtschaftlichen  Ent- 
schlüsse natürlich  auch  nur  durch  die  gegenwärtigen  Schätzungen  der  in 
Auswahl  kommenden  Bedürfnisbefriedigungen  beeinflußt  werden,  so  ist 
die  obige  Richtschnur  für  die  Grenze  des  zinslosen  Ersparens  dahin  zu 
modifizieren,  daß  die  Ersparung  soweit  geführt  wird,  bis  der  Grenznutzen 
des  letzten  gegenwärtig  auszugebenden  Guldens  ins  Gleichgewicht  tritt 
mit  der  gegenwärtigen  Schätzung  des  künftigen  Grenznutzens  des 
letzten  übergesparten  Guldens.  In  unserem  Beispielsfalle  wird  diese  Grenze 
erreicht  sein,  wenn  der  Grenznutzen  des  letzten  ausgegebenen  Guldens  10, 
der  künftige  Grenznutzeu  des  letzten  übergesparten  Gulden  aber  15  be- 
trägt, welche  15  in  der  heutigen  Schätzung  eben  auch  nur  einem  gegen- 
wärtigen Nutzen  von  10  gleichgesetzt  werden. 

Um  Carvers  Neuerung  besser  ins  Licht  zu  setzen,  will  ich  hier  sofort 
eine  Feststellung  einschalten.  Alle  früheren  Vertreter  der  Abstinenz- 
theorie hatten,  ausdrücklich  oder  stillschweigend,  das  Abstinenzopfer  mit 

Böhm-Bawerk,  Kapitalzins.    4.  Aufl.  32 


498  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Gegenwart. 

eben  dieser  letzteren  Differenz  in  Verbindung  gebracht^).  Die  Bevor- 
zugung der  gegenwärtigen  Genüsse  ist  in  ihren  Augen  der  Hauptgrund, 
warum  die  Enthaltung  von  gegenwärtigen  Genüssen  oder  das  Warten 
auf  dieselben  überhaupt  als  ein  „Opfer"  empfunden  wird.  Je  größer  jene 
Bevorzugung  ist  —  siehe  die  berühmte  Stufenleiter  von  den  Indianer- 
stämmen, die  für  eine  Kation  , -Feuerwasser"  das  Land  ihrer  Väter  ver- 
kaufen, bis  zu  den  nüchternen  und  vorsorglichen  gebildeten  Klassen  unserer 
Kulturnationen  —  desto  größere  Hindernisse  setzt  dieselbe  der  Ersparung 
und  Kapitalbildung  entgegen,  die  nur  dadurch  und  iu  dem  Maße  über- 
wunden werden  können,  als  das  mit  ihrer  Überwindung  verbundene 
„Opfer"  durch  den  Zins  angemessen  vergütet  wird.  Es  wird  daher  auch 
die  Höhe  des  Zinses  mit  der  Stärke  jener  Bevorzugung  in  Verbindung 
gebracht.  Im  Sinne  der  älteren  Abstinenztheorie  erscheint  somit  als  die 
eigentlich  treibende  Kraft  jene  Größe,  welche  in  unserem  —  absichtlich 
grell  gewählten  —  Beispiele  durch  die  Differenz  15—10,  wahre  Größe 
eines  künftigen  Nutzens  mitius  unterschätzender  gegenwärtiger  Anschlag 
desselben,  bezeichnet  wird. 

Hier  lenkt  nun  Carver  in  ein  ganz  anderes  Geleise  Die  Existenz 
jener  psychologischen  Tatsache  wird,  wie  schon  oben  erwähnt,  von  ihm 
gleichfalls  anerkannt  und  ausdrücklich  bemerkt.  Aber  er  erblickt  den 
Inhalt  der  vergütungsbedürftigen  Abstinenz  nicht  in  ihr,  sondern  in  etwas 
ganz  anderem.  Solange  die  Ersparung  die  Wirkung  hat,  daß  die  in  die 
Zukunft  übertragenen  gegenwärtigen  Güter  in  der  Zukunft  einen  Nutzen 
stiften,  der  schon  in  seiner  gegenwärtigen  Schätzung  bedeutender  ist, 
als  jener  Nutzen,  den  die  ersparten  Güter  im  Falle  ihrer  momentanen 
V^rzehrung  hätten  stiften  können,  ist  das  Ersparen  überhaupt  mit  keinem 
wahren  Opfer  verbunden.  Dieser  Teil  der  Kapitalbildung  erfolgt  ,, kosten- 
los" und  erfordert  daher  auch  keinen  Zins  als  Opfervergütung  (S.  49). 
Ein  wirkliches  Opfer  beginnt  erst,  wenn  die  Ersparung  über  jene  Grenze 
hinaus  ausgedehnt  werden  soll  oder  muß.  Sollen  nämlich  in  unserem 
Beispiele  noch  mehr  Güter  dem  gegenwärtigen  Genüsse  entzogen  und  der 
Zukunft  überwiesen  werden,  so  kann  dies  nur  um  den  Preis  geschehen, 
daß  in  der  Gegenwart  die  Befriedigung  schon  bei  Bedürfnissen  abgebrochen 
wird,  welche  eine  die  Ziffer  10  noch  überragende  Wichtigkeit  besitzen, 
und  daß  z.  B.  auch  noch  die  Bedürfnisschichte,  deren  Wichtigkeit  zwischen 
den  Ziffern  10  und  11  liegt,  um  ihre  Befriedigung  kommt.  Werden  nun 
aber  eben  diese  der  Gegenwart  entzogenen  Güter  dem  Deckungsvorrat 
der  Zukunft  angestückelt,  welcher  schon  durch  die  vorausgegangene 
„kostenlose"  Ersparung  bis  zur  Befriedigung  von  Bedürfnissen  im  gegen- 
wärtigen Anschlag  von  10  reichte,  so  kann  jener  neue  Zuwachs  natürlich 

^)  Recht  ausdrücklich  z.  B.  J.  St.  Mill,  Principles,  Buch  11  Kap.  XV  §  2  und 
Buch  I  Kap.  XI. 

2)  a.  a.  0.  S.  49. 


rV.  Abstinenitheorien.    Carver.  499 

nur  in  der  Befriedigung  von  noch  weniger  wichtigen  Bedürfnissen,  z.  B. 
der  Bedürfnisschicht,  deren  Wichtigkeit  zwischen  den  Ziffern  10  und  9 
liegt,  Verwendung  finden.  Die  Fortsetzung  der  Ersparungsoperation  hat 
daher  zur  Folge,  daß  eine  Anzahl  von  Gütern,  die  in  gegenwärtiger  Ver- 
wendung einen  Grenznutzen  von  10  bis  11  gestiftet  hätten,  in  der  Zidiunft 
nur  einen  im  gegenwärtigen  Anschlag  zwischen  10  und  9  bewerteten,  also 
kleineren  Nutzen  bringen.  Die  Differenz  stellt  einen  durch  die  Ersparungs- 
operation bewirkten  reinjen  Verlust,  ein  wahres,  durch  die  Abstinenz  vom 
gegenwärtigen  Genüsse  verursachtes  Opfer  dar,  welches  nicht  gebracht 
werden  kann  und  wird,  wenn  es  nicht  angemessen  vergütet  wird,  und  dies 
geschieht  durch  den  Kapitalzins.  „Der  Verlust  an  subjektivem  Wert,  der 
an  diesen  letzten  Teilen  der  Ersparung  eintritt,  muß  durch  einen  Zuwachs 
an  der  Menge  der  objektiven  Güter,  das  ist  durch  einen  Zins  wettgemacht 
werden"  ^). 

Würden  die  Bedürfnisse  der  Produktion  schdn  durch  eine  so  geringe 
Kapitalmenge  gesättigt  werden,  wie  sie  durch  den  opferlosen  Teil  der 
Ersparung  allein  gebildet  v?erden  kann,  dann  würde  ein  Kapitalzins  über- 
haupt nicht  existieren  (49).  Braucht  man  aber  mehr  Kapital  —  das  will 
S2igen,  kann  bei  stufenweiser  Ausnützung  aUer  lukrativen  Verwendungs- 
gelegenheiten mehr  als  das  kostenlos  ersparte  Kapital  untergebracht 
werden,  ohne  daß  der  Kapitalertrag  bis  auf  NuU  reduziert  würde  („if 
more  is  needed  —  i.  e.  if  more  can  be  used,  and  still  afford  profit  at  the 
margin"),  dann  muß  sich  der  Zins  einstellen;  denn  dann  muß  für  die 
fernere  Ersparung  irgend  jemand  jenes  oben  geschilderte  Opfer  an  sub- 
jektivem Wert  des  Ersparten  auf  sich  nehmen,  welches  Opfer  eine  Ver- 
gütung erheischt.  Und  zwar  entscheidet  über  die  Höhe  des  Zinses  „the 
marginal  sacrifice  of  saving",  das  ist,  die  Größe  des  Opfers  bei  dem  letzten, 
kostspieligsten  (mit  dem  größten  Verlust  an  subjektivem  Wert  verbun- 
denen) Teil  der  Erspanmg,  den  man  für  die  Bedürfnisse  der  Produktion 
noch  braucht  (53)  2).  — 

Man  sieht  wohl  leicht,  daß  der  Inhalt  des  Abstinenzopfers,  welches 
eine  Vergütung  durch  den  Zins  erheischt,  von  Carver  in  der  Tat  ganz 
anders  erklärt  wird  als  von  den  sonstigen  Abstinenztheoretikem.  Letztere 
legen  darauf  das  Gewicht,  daß  den  Menschen,  wie  sie  einmal  beschaffen 
sind,  das  Warten  auf  Genüsse  an  sich  lästig  fällt.  Carver  dagegen  leitet 
das  Opfer  nicht  aus  der  Verspätung  des  Genusses  an  sich,  sondern  aus 
dem  damit  bedingungsweise  verknüpften  weiteren   Umstände   ab,   daß 


^)  ,,The  loss  in  the  subjective  valuation  of  this  last  increment  must  be  compensated 
for  by  an  increase  in  objective  goods  or  interest";  a.  a.  0.  S.  53. 

*)  Carvers  Theorie  ist  seither  in  der  Hauptsache  von  Landry,  in  einzelnen 
Zügen  auch  von  J.  Fisheb  übernommen  worden.  Siehe  hierüber  bezüglich  des  ersteren 
meinen  Exkurs  XIII  S.  454  Note  1;  4.  Aufl.  S.  834  Note  1,  bezüglich  Fishers  Ex- 
kurs XII   zur  Pos.  Theorie  S.  425f.,  4.  Aufl.  S.  312 f. 

32» 


500  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Gegenwart. 

durch  die  Spardispositionen  die  Verhältnisse  von  Bedarf  und  Deckung 
so  verschoben  werden,  daß  die  gleiche  Gütermenge  in  der  Zukunft  einen 
geringeren  Grenznutzen  und  Wert  hat  als  in  der  Gegenwart.  Nicht  darin, 
daß  der  Genuß  später  eintritt,  sondern  darin,  daß  er  kleiner  ist,  als  der 
mit  ihm  rivalisierende  gegenwärtige  Genuß,  liegt  bei  Carver  der  Inhalt 
des  Opfers.  Die  Verschiedenheit  dieses  Inhalts  läßt  sich  auch  an  den 
Ziffern  unseres  Beispieles  leicht  veranschauüchen.  Während  sich  die 
Stärke  des  ersteren  Momentes,  wie  wir  schon  bemerkt  haben,  in  unserem 
Beispiele  in  der  Differenz  15—10,  in  der  Differenz  zwischen  der  wahren 
Größe  eines  künftigen  Genusses  und  der  gegenwärtigen  Schätzung  des- 
selben, registrieren  würde,  bemißt  sich  die  Größe  des  CARVERschen  Ab- 
stinenzopfers an  der  hievon  vollkommen  verschiedenen  und  auch  aus  ganz 
anderen  Ursachen  eintretenden  Differenz  11—9,  an  der  Differenz  zwischen 
dem  letzten  in  der  Gegenwart  zur  KeaUsierung  gelangenden,  und  dem 
gegenwärtigen  Anschlag  des  letzten  in  der  Zukunft  zur  Realisierung 
gelangenden  Nutzens. 

Es  ist  aber  wohl  auch  noch  etwas  anderes  leicht  zu  sehen:  daß  nämlich 
Carver  mißverständlich  einen  Umstand,  der  eine  reine  Wirk^Mag  des 
Zinses  ist,  für  dessen  Ursache  angesehen  hat.  Alles  Tatsächliche,  was 
Carver  vorbringt,  ist  ja  ganz  richtig,  auch  die  Sache  mit  der  Abnahme  | 
des  Grenznutzens  ^),  falls  man  eine  zukünftige  Periode  mit  Deckungs-  ^ 
mittein  besser  dotiert  als  die  Gegenwart.  Nur  verwechselt  Carver  Ursache 
und  Wirkung.  Nicht  weil  man,  und  in  dem  Maße,  als  man  die  Zukunft 
besser  dotiert,  stellt  sich  überhaupt  ein  Zins  und  ein  zunehmend  höherer 
Zins  ein,  sondern  gerade  umgekehrt:  es  muß  der  Zins  als  Tatsache  schon 
gegeben  sein,  damit  man  eine  ökonomische  Veranlassung  haben  kann, 
die  Zukunft  stärker  zu  dotieren;  und  je  höher  der  Zins  ist,  desto  weiter 
kann  und  wird  man  in  dieser  Verstärkung  der  Zukunftsdotation  gehen. 
Wenn  und  weil  der  Zins  auf  5%  steht,  wird  man  die  Zukunftsdotation 
mit  vernünftigem  Grunde  soweit  verstärken  können,  daß  105  Güterstücke 
des  nächsten  Jahres  erst  den  gleichen  Nutzen  stiften  wie  100  Güterstücke 
im  Augenblick;  wenn  und  weil  der  Zins  auf  20%  steht,  wird  man  die 
Zukunftsdotation  noch  weiter  verstärken  dürfen,  soweit,  bis  120  Güter- 
stücke des  nächsten  Jahres  erst  den  gleichen  Nutzen  stiften  wie  100  gegen- 
wärtige Güterstücke  (immer  alles  auf  die  gegenwärtige  Schätzung  zurück 
bezogen),  usf. 

An  der  Her  vor  ruf  ung  des  Zinses  ist  dagegen  offenbar  und  zweiffellos 
jenes  andere,  psychologische  Moment  beteiligt,  in  dem  die  übrigen  Ab- 
stinenztheoretiker den  Inhalt  des  Abstinenzopfers  erblicken.  Wenn  die 
Leute  den  Augenblicksgenuß  den  künftigen  Befriedigungen  soweit  vor- 
ziehen, daß  sie  in  ihrer  gegen,wärtigen  Schätzung  einen  künftigen  Genuß 

^)  Ich  habe  auf  eben  diese  Erscheinung  auch  schon  selbst  aufmerksam  gemacht 
(siehe  meine  „Positive  Theorie"  1.  Aufl.  S.  446,  3.  Aufl.  S.  639,  4.  Aufl.  S.  476f.). 


IV.  Abstinenztheorien.    Carver.  ÖOl 

von  der  effektiven  Größe  von  15  nur  einem  gegenwärtigen  Genuß  von  der 
Große  10  gleichsetzen,  so  ist  diese  Disposition  allerdings  geeignet,  zur 
wirklichen  Ursache  dafür  zu  werden,  daß  die  für  die  Zukunft  erzeugten 
Produkte  einen  ihre  Kosten  übersteigenden  Wert  erlangen  und  auch 
behaupten.  Bei  jener  Disposition  können  nämlich  die  Produzenten  nicht 
geneigt  sein,  für  die  Erlangung  eines  Produktes,  welches  seinerzeit  einen 
Wert  von  15  haben  wird,  der  jedoch  von  ihnen  in  ihrer  gegenwärtigen 
Schätzung  nur  auf  10  angeschlagen  wird,  Kosten  in  einem  größeren  Betrage 
als  dem  Betrage  von  10  aufzuwenden.  Die  Durchführung  der  Produktion 
ergibt  aber  dann  nach  Ablauf  eines  Jahres  ein  Produkt  im  nunmehrigen 
Werte  von  15,  dem  nur  Produktionskosten  von  10  gegenüber  stehen, 
woraus  von  selbst  ein  Wertüberschuß  oder  Zins  von  5  resultiert;  und  zwar 
wohlgemerkt,  auch  dann  resultiert,  wenn  noch  gar  kein  CARVERsches 
Abstinenzopfer  ins  Spiel  kommt,  wenn  nämlich  der  Zukunft  nur  so  viele 
Mittel  überwiesen  werden,  daß  die  Gütereinheit,  nach  der  gegen- 
wärtigen Schätzung,  in  der  Gegenwart  und  in  der  Zukunft  einem 
gleichen  Grenznutzen  von  10  gewidmet  wird. 

Und  auch  die  Hinwegnivellierung  jenes  Wertüberschusses  durch  die 
Konkurrenz  würde  unter  den  gegebenen  Umständen  offenbar  durch 
dasselbe  Motiv,  das  ihn  hervorgerufen  hat,  wirksam  verhindert  werden, 
ohne  daß  es  dazu  irgendwie  des  Eintretens  der  Wirksamkeit  des  Carver- 
schen  Abstinenzopfers  bedürfte.  Denn  würde  z.  B.  durch  eine  momentane 
Verstärkung  der  Produktion  der  objektive  Wert  des  betreffenden  Pro- 
duktes von  15  auf  14  vermindert,  so  würden,  so  lange  der  Unterschätzungs- 
coefficient  der  Zukunft  der  gleiche  bleibt,  diese  14  in  der  gegenwärtigen 
Schätzung  einem  geringeren  Betrage  als  10,  nämlich  nur  etwa  9,3  gleich- 
gehalten werden.  Reicht  nun,  wie  angenommen,  die  Versorgung  des 
gegenwärtigen  Verzehrs  nur  bis  zum  Grundnutzen  von  10  herab,  so  er- 
scheint offenbar  die  Disposition  von  Mitteln  auf  ein  nur  mit  9,3  bewertetes 
Genußziel  unökonomisch;  es  müßte  vorerst  jene  weitere  Schicht  gegen- 
wärtiger Bedürfnisse,  deren  Wichtigkeit  unter  der  Ziffer  10,  aber  noch 
über  der  Ziffer  9,3  hegt,  der  weniger  lohnenden  Verwendung  für  die  Zu- 
kunft vorgezogen,  dadurch  weniger  Mittel  für  die  Zukunft  disponiert, 
dadurch  die  Erzeugung  zeitlich  entfernter  Güter  vermindert,  und 
dadurch  endlich  deren  Wert  wieder  gesteigert  werden,  so  lange  bis  sich 
das  frühere  Verhältnis  —  objektiver  Zukunftswert  von  15,  der  in  der  gegen- 
wärtigen Schätzung  einem  gegenwärtigen  Grenznutzen  von  10  gleichsteht 
—  und  damit  auch  der  Wertüberschuß  von  5  wieder  hergestellt  hat.  — 
Ist  freihch  durch  diese  wahrhaft  treibenden  Kräfte  der  Zins  einmal  ins 
Leben  gerufen,  dann  wird  sich  auch  die  Folgeerscheinung  einstellen,  daß 
die  Leute  die  Zukunft  etwas  stärker  dotieren,  als  sie  sie  ohne  Zins  dotiert 
haben  würden;  und  das  wird  auch  zu  dem  von  Carver  bemerkten  Herab- 
sinken des  gegenwärtig  geschätzten  künftigen  Grenznutzens  unter  den 


502  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Gegenwart. 

gegenwärtigen  Grenznutzen  der  Güterreinheit  — ,  welches  aber  freilich 
durchaus  nicht  mit  einem  Herabsinken  des  wirklichen,  vorläufig  eben 
unterschätzten  Grenznutzens  gleichbedeutend  ist  —  den  Anlaß  geben. 
Allein  all  dies  ist  ganz  und  gar  eine  Folgeerscheinung  des  Zinses.  Mag 
sein,  daß  von  dieser  sodann  eine  sekundäre  Rückwirkung  auf  die  Höhe 
des  Zinses  selbst  ausgehen  wird.  Allein  es  ist  wohl  zu  beachten,  daß  diese 
Bück  Wirkung  in  der  Richtung  einer  Verminderung  des  Zinses  ausgeübt 
werden  wird;  und  die  Rolle  der  wirkenden  Zwischenursache  wird  fiiebei 
ohne  Zweifel  der  verstärkten  Ersparung,  keineswegs  aber  dem  CARVERschen 
Abstinenzopfer  zufallen,  das  ja  im  gerade  entgegengesetzten  Sinne  sich 
bewegen,  nämlich  bei  einer  verstärkten  Ersparung,  welche  die  Zukunft 
recht  reichlich  dotiert  und  daher  den  Grenznutzen  des  Ersparten  recht 
tief  herabdrückt,  anwachsen  müßte! 

Dies  bringt  mich  auf  den  Punkt,  aus  dem  der  Mißgriff  Carvers  viel- 
leicht am  einleuchtendsten  illustriert  werden  kann.  Ohne  Frage  ent- 
stammt der  Zins  der  Knappheit  des  Kapitales,  was  gleichbedeutend 
ist  mit  der  Knappheit  der  der  Zukunft  gewidmeten  Befriedigungsmittel: 
Carver  gelangt  aber  dazu,  ihn  umgekehrt  der  Reichlichkeit  dieser 
Befriedigungsmittel,  den  Folgen  einer  Art  Ersparungs-Plethora  entstammen 
zu  lassen!  Der  wahre  Platz,  den  die  von  Carver  ganz  richtig  beobachteten 
Tatsachen  in  der  Kausalkette  einnehmen,  wird  vielmehr  durch  folgende 
Parallele  am  zutreffendsten  bezeichnet.  Geradeso  wie  eine  durch  Geld- 
knappheit veranlaßte  Steigerung  des  Geldwertes  eine  sekundäre  Strömung 
hervorzurufen  pflegt,  die  ihre  eigene  Intensität  abzuschwächen  tendiert, 
indem  bekanntlich  eine  hohe  Kaufkraft  des  Geldes  manche  Edelmetall- 
mengen, die  bisher  als  Schmuckgegenstände,  Tafelgeschirr  u.  dgl.  in  Ver- 
wendung standen,  in  die  Münze  lockt  und  dadurch  ein  gesteigertes  Geld- 
angebot hervorruft,  geradeso  löst  der  durch  Kapitalknappheit  entstandene 
Zins  durch  die  Tatsache  seiner  Existenz  eine  sekundäre  Strömung  aus, 
die  die  Tendenz  hat,  sein  eigenes  Ausmaß  zu  mildern,  indem  die  Existenz 
des  Zinses  Veranlassung  bietet,  die  Ersparung  über  jenen  Punkt  hinaus 
auszudehnen,  an  welchem  sie  ohne  die  Existenz  des  Zinses  Halt  gemacht 
hätte.  Geradeso  wenig  aber,  als  man  in  der  verstärkten  Ausmünzung  von 
Gold-  und  Silbergegenst,änden  die  wirkende  Ursache  der  Geldwertsteigerung 
erblicken  kann  oder  darf,  geradeso  wenig  kann  und  darf  man  in  der  durch 
die  Existenz  des  Zinses  hervorgerufenen  Mehrersparung  und  in  der  nur 
als  Begleiterscheinung  derselben  auftretenden  Herabdrückung  des  Grenz- 
nutzens der  Ersparnisse  die  Hauptkraft  erblicken,  welche  den  Zins  hervor- 
ruft und  seine  Höhe  bestimmt! i) 

Soweit  also  überhaupt  das  Thema  der  „Abstinenz"  bei  der  Erklärung 


^)  Vgl.  jetzt  auch  meinen  Exkurs  XII  S.  312f.,  wo  eine  Parallele  mit  einer  ganz 
nahe  verwandten  Irrung  Fishers  gezogen  wird. 


V.  Arbeitstheorien.  603 

des  Zinses  in  Frage  kommt,  glaube  ich  der  älteren  Auffassung  der  Abstinenz- 
theorie vor  der  neueren  Deutung  Carvers  den  wenigstens  relativen  Vorzug 
geben  zu  müssen.  Denn  jene  hatte  wenigstens  das  richtige  Grundphänomen 
im  Auge,  welches  in  der  Tat  an  der  Verursachung  des  Zinses  als  originäre 
Triebkraft  mitwirkt,  wenn  auch  die  Art  dieser  Mitwirkung  von  der  Ab- 
stinenztheorie mißverständlich  aufgefaßt  und  vorgestellt  wurde.  Carver 
dagegen  ist,  durch  eine  geistreiche  aber  irrtümliche  Kombination  verleitet, 
auf  eine  ganz  falsche  Fährte  übergesprungen,  indem  er  eine  reine  Begleit- 
und  Folgeerscheinung  des  Zinses  statt  seiner  wirklichen  Ursache  verfolgte*). 


Von  der  Arbeitstheorie  hatte  ich  in  meiner  „Geschichte  und 
Kritik"  drei  von  einander  in  wesentlichen  Zügen  abweichende  Varianten 
unterschieden.  Die  erste  derselben,  die  in  älterer  Zeit  durch  James  Mill 
und  McCuLLOcH  vertreten  worden  war,  hat  meines  Wissens  in  jüngster 
Zeit  keinen  Bekenner  mehr  gefunden,  und  darf  daher  als  eine  ausgestorbene 
Theorie  betrachtet  werden  ^V 

Die  zweite,  „französiscne"  Variante,  welche  den  Zins  als  eine  Ver- 
gütung für  die  moralische  „Ersparungsarbeit"  ansieht,  hat,  soviel  ich 
wahrnehmen  konnte,  mindestens  keinen  neuen  Zuzug  mehr  erhalten,  wenn 


*)  Interessant  ist,  daß  auch  Carvek,  ähnlich  wie  Macfarlane,  meine  eigene 
Zinstheorie  in  ihrem  Wesen  für  eine  (mit  Elementen  der  Produktivitätstheorie  ver- 
knüpfte) Abstinenztheorie  hält,  derselben  im  Wesentlichen  zustimmt,  und  nur  der 
Meinung  ist,  sie  in  einer  teilweise  berichtigten,  namentlich  aber  leichter  verständlichen 
Version  vorzutragen.  ,,With  certain  corrections,  which  will  be  noticed  later,"  —  sagt 
er  von  meiner  Theorie  —  ,,his  theory  may  be  regarded  as  correct;  bat  it  is  to  be  hoped 
that  the  interest  problem  can  be  explained  upon  principles  more  easily  understood  by 
the  average  ireader"  (a.  a.  0.  S.  44).  Sein  und  Macfarlanes  Beispiel,  hinzugehalten 
zu  den  hervorragend  scharfsinnigen  und  dabei  doch  nicht  befriedigten  Ausführungen 
hervorragendster  Gelehrter  wie  Jevons  und  Marshall,  gibt  eine  äußerst  lehrreiche 
Illustration  dafür,  wie  vieler  Verästelungen  die  Auffassung  von  dem  scheinbar  so  ein- 
fachen Verhältnis  von  Gegenwart  und  Zukunft  fähig  ist,  und  wohl  auch  dafür,  daß  es  keine 
überflüssige  Pedanterie  meinerseits  ist,  wenn  ich  mich,  in  Kritik  und  in  positiver  Theorie, 
nicht  mit  beiläufigen  Hindeutungen  auf  die  „prospectiveness"  und  „productiveness" 
des  Kapitales  zufriedengebe,  sondern  darauf  dringe,  daß  diese  Ideen  eine  ganz  be- 
stimmte und  zwar  diejenige  Prägung  erhalten,  in  welcher  allein  sie  sich  zu  einer  wirklich 
schlüssigen,  sachlich  und  logisch  korrekten  Erklärung  unseres  Phänomens  zusammen- 
fügen. 

*)  Am  ehesten  würde  eine  gewisse  Verwandtschaft  mit  dieser  Variante  der  Arbeits- 
theorie noch  die  von  uns  bei  einer  früheren  Gelegenheit  schon  kurz  berührte  Theorie 
von  GiDDiNGS  aufweisen  (siehe  oben  S.  456).  Dieselbe  steht  jedoch  in  Bezug  auf  die 
sonstigen  theoretischen  Voraussetzungen  auf  einem  so  verschiedenartigen,  und  zwar 
um  so  vieles  vorgeschritteneren  Standpunkt,  da£  ich  sie  in  meiner  Übersicht  richtiger 
in  eine  andere,  modernere  Theoriengruppe  einreihen  zu  sollen  glaubte. 


504  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Gegenwart. 

sie  auch  innerhalb  des  recht  engen  Kreises,  innerhalb  dessen  sie  überhaupt 
Geltung  erlangt  hatte,  dieselbe  noch  nicht  eingebüßt  haben  mag. 

Hinsichtlich  der  dritten  Variante,  die  den  Zins  als  eine  Art  Amts- 
einkommen  des  mit  der  gesellschaftlichen  Funktion  der  Kapitalbildung 
und  Produktionsleitung  betrauten  Kapitalistenstandes  erklären  will,  ist 
als  literarisch  bemerkenswert  aus  der  neuesten  Zeit  zu  verzeichnen,  daß 
Adolf  Wagner,  den  ich  bedingungsweise  dieser  Gruppe  zugezählt  hatte, 
sich  nach  einem  anfänglichen  Schwanken  dahin  entschieden  hat,  die 
Gedanken  der  Arbeitstheorie  nicht  nur  für  die  Rechtfertigung,  sondern 
auch  für  die  theoretische  Erklärung  des  Zinses  soweit  aufrecht  zu  halten, 
daß  aus  ihnen  die  noch  erforderliche  Vervollständigung  der  von  meiner 
Theorie  gebotenen  „im  ganzen  gelungenen"  aber  „ergänzungsbedürftigen" 
Zinserklärung  zu  schöpfen  sei^). 

Inzwischen  wurde  dieselbe  Variante  der  Arbeitstheorie  auch  von 
Stolzmann  2)  aufgenommen  und  ausführlich  begründet.  Da  Stolzmanns 
Theorie  manche  originelle  Züge  aufweist  und  zugleich  jedenfalls  die  sorg- 
fältigste und  geschlossenste  Durchführung  darstellt,  welche  der  Gedanke 
der  Arbeitstheorie  bisher  gefunden  hat,  dürfte  ihr  gegenüber  eine  etwas 
eingehendere  Darstellung  und  Würdigung  am  Platze  sein. 

Stolzmann  nimmt  seinen  Ausgangspunkt  von  der  Werttheorie.  Er 
vertritt  eine  eigentümlich  modifizierte,  von  ihm  selbst  so  genannte  „Arbeits- 
kostentheorie"*).     Der  Tauschwert  der  Güter  wird  durchgreifend  durch 


^)  Siehe  oben  S.  273  Note. 

•)  Die  soziale  Kategorie  der  Volkswirtschaftslehre,  Berlin  1896.  Seither  hat 
Stolzmann  diesem  ersten  ein  zweites  Buch  —  von  fast  800  Seiten  —  unter  dem  Titel 
„Der  Zweck  in  der  Volkswirtschaft"  (1909)  folgen  lassen,  welches  im  wesentlichen  eine 
polemische  Verteidigung  des  ersten  und  zwar  insbesondere  auch  gegen  meine  inzwischen 
veröffentlichte  Kritik  desselben  bezweckt.  Da  Stolzmann  im  zweiten  Werke  alle  wesent- 
lichen Geundgedanken  des  ersten  bestätigt,  darf  ich  wohl  auch  jetzt  noch  meiner  Kritik 
vorzugsweise  den  —  systematisch  viel  geschlosseneren  —  Text  der  „Sozialen  Kategorie" 
zugrunde  legen  unter  bloß  gelegentlicher  Benützung  einzelner  wesentlicher  im  späteren 
Werke  hinzugefügter  Zusätze  oder  Erläuterungen.  Auf  Stolzmanns  Polemik  gehe 
ich  nur  ganz  ausnahmsweise  ein,  teils  wie  sie  schon  durch  ihre  Massenhaftigkeit  ein 
genaues  Eingehen  verbietet,  teils  auch,  weil  speziell  die  reichlich  in  sie  eingestreuten 
Mißverständnisse  eine  allzu  weitläufige  Aufklärungsarbeit  erfordert  hätten.  Vgl.  auch 
meine  Note  auf  S.  264  der  3.  Aufl.  und  4.  Aufl.  S.  197  meiner  Positiven  Theorie. 

*)  Auf  S.  234f.  seines  ,, Zweck"  will  Stolzmann  gegen  diese  Einreihung  seiner 
Werttheorie  in  das  ,, Schubfach"  der  Arbeitskostentheorie  deprezieren  und  bringt  bei 
dieser  Gelegenheit  unter  anderem  die  Bemerkung  vor,  daß  er  „nicht  Anhänger,  sondern 
Gegner  jener  Theorie"  sei.  Dem  gegenüber  muß  ich  ihm  doch  wohl  in  das  Gedächtnis 
lurückrufen,  daß  er  in  seiner  ,, Sozialen  Kiitegorie"  z.  B.  auf  S.  364  den  Satz,  „daß  sich 
der  Wert  der  Güter  —  mit  Ausnahme  der  Raritäten  —  nach  der  Produktionskosten- 
arbeit richtet",  als  „unumstößliche  Wahrheit"  bezeichnet,  und  ebenda  S.  329  erklärt 
hat,  daß  „nur  eine  Reform,  nicht  eine  Preisgebung  der  Arbeitskosten theorie"  die  rich- 
tigen Wege  zu  ebnen  im  Stande  sei.  Kann  so  ein  Gegner  der  Arbeitskostentheorie 
sprechen  —  ganz  abgesehen  davon,  daß  der  im  Text  weiter  entwickelte  detaillierte 


V.  Arbeitstheorien-     Stolzmann.  505 

ihre  Arbeitskosten  bestimmt;  aber  nicht  etwa,  wie  Ricardo  und  die 
Sozialisten  lehren,  durch  die  Quantität  der  in  die  Produkte  verwendeten 
Arbeit  an  sich,  auch  nicht,  wie  manche  andere  Theoretiker  lehrten  und 
lehren,  durch  die  Größe  der  mit  der  Arbeit  verbundenen  Unlust  oder  Plage, 
sondern  bestimmend  ist  die  Arbeit,  „weil  und  soweit  sie  Vergeltung  er- 
heischt", „also  eigentlich  nicht  dieArbeit  selbst",  sondern  ihr  Lohn  (S.33Ö). 
Der  Lohn  selbst  aber  —  und  dies  ist  eine  zweite  grundlegende  Prämisse 
des  SxoLZMANNschen  Systemes  —  wird  ebenso  wie  die  gesamte  Güter- 
verteilung überhaupt,  durch  soziale  Machtverhältnisse  bestimmt.  Der 
Arbeiter  muß  leben.  Er  braucht  für  jede  Zeitspanne  seines  Daseins  irgend 
eine  Summe  von  Nahrungsmitteln  (dieses  Wort  im  allerweitesten  Sinne 
genommen),  welche  Summe  Stolzmann  seine  „Nahrungseinheit"  nennt. 
Ej"  legt  diesem  Begriff  eine  außerordentlich  große  Wichtigkeit  bei.  Der- 
selbe erscheint  ihm  als  indispensables  Zwischenglied  für  die  Bildung  und 
Bestimmung  des  Güterwertes.  Von  der  auch  sonst  mehrfach  verbreiteten 
Meinung  ausgehend,  daß  die  einzelnen  Bedürfnisse  inkommensurabel 
seien  ^),  glaubt  er,  daß  sich  deshalb  der  Güterwert  nicht  von  ihnen  ableiten 
oder  nach  ihnen  bestimmen  könne,  und  daß  vielmehr  „hier  wie  überedl 
in  der  Wissenschaft  der  ganze  Mensch  mit  all  seinem  Bedarf  im  ganzen 
als  nächste  faßbare  Werteinheit  genommen  werden  muß"  (264).  Die 
Wertbildung  spielt  sich  dann  folgendermaßen  ab.  Zunächst  bestimmt  sich, 
und  zwar  durch  soziale  Machtverhältnisse,  die  Größe  der  Nahrungseinheit, 
die  der  Arbeiter  für  sich  erlangen  kann.  Dieselbe  ist  nicht  etwa  irgend 
eine  physiologisch  oder  sonst  naturgesetzUch  feststehende  Größe,  sondern 
das  Ergebnis  eines  sozialen  Ringens,  wobei  nicht  rein  ökonomische,  sondern 
Machtverhältnisse  darüber  entscheiden,  welches  Quantum  von  Nahrungs- 
mitteln der  Arbeiter  für  sich  erringen,  welchen  Lebensfuß  er  für  sich 
durchsetzen  kann.  Von  der  Größe  der  als  Lohn  zu  empfangenden  Nahrungs- 
einheit leitet  sich  dann  der  Tauschwert  der  einzelnen  Produkte  nach  dem 
einfachen  Schlüssel  ab,  daß  ein  Produkt  immer  so  viele  Nahrungseinheiten 
wert  ist,  als  seine  Erzeugung  korrespondierende  Arbeitseinheiten  (z.  B. 
Arbeitstage),  beziehungsweise  aliquote  Teile  von  Arbeitseinheiten  ge- 
kostet hat. 

Inhalt  seiner  Lehre  eine  unzweifelhafte,  echte  Arbeitskosten theorie  auch  wirklich  ist? 
Sollte  aber  —  was  allerdings  weder  nach  dem  Wortlaut,  noch  nach  dem  ganzen  Kontext 
anzunehmen  ist  —  Stolzmanns  Ablehnung  sich  nur  auf  die  RiCARDO-MARXsche  Variante 
der  Arbeitskost<;n theorie  beziehen,  dann  wäre  der  polemische  Protest  erst  recht  grundlos, 
weil  ich  ja,  wie  die  oben  folgenden  Worte  meines  Textes  zeigen,  die  Verschiedenheit 
der  SjOLZMANNSchen  von  der  RiCARDO-MABXschen  Arbeitskostentheorie  selbst  schon 
mit  der  größten  Ausdrücklichkeit  betont  hatte. 

^)  Ich  habe  mich  über  diese  Meinung  an  einem  anderen  Orte  eingehend  geäußert 
(Conrads  Jahrbücher  N.  F.  Bd.  XIII  S.  46ff.  und  neuerdings  in  meiner  „Positiven 
Theorie"  3.  Aufl.  S.  331ff.,  4.  Aufl.  S.  247ff.  und  Exkurs  X);  hier  will  ich  grund- 
sätzlich jede  Antikritik  vermeiden  und  daher  auch  auf  diesen  Punkt  nicht  weiter 
eingehen. 


506  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Gegenwart. 

Stolzmann  entwickelt  dieses  Arbeitskostengesetz  zunächst  für  einen 
vorgestellten  primitiven  Urtypus.  Er  nimmt  an,  daß  eine  soziale  Gruppe 
von  zehn  Personen  sich  ihre  zehn  menschlichen  Gesamtbedarfe  oder 
Nahrungseinheiten  arbeitsteilig  nach  einem  einheitlichen  Wirtschaftsplan 
beschaffe.  Jeder  der  —  gleich  fleißigen  und  geschickten  —  Genossen  ver- 
legt sich  auf  die  Erzeugung  einer  der  zehn  Güterarten,  aus  welchen  der 
Gesamtbedarf  sich  zusammensetzt,  und  fertigt  davon,  die  Erzeugung  von 
Anfang  bis  zu  Ende  fertig  stellend,  während  desselben  gleichen  Zeitraumes 
je  zehn  Stücke  an.  Unter  diesen  Umständen  —  führt  Stolzmann  aus  — 
kann  und  wird  keine  andere  Verteilung  des  Gesamtproduktes  unter  die 
einzelnen  Genossen  platzgreifen,  als  daß  jeder  Genosse  für  die  volle  Arbeits- 
einheit, die  er  in  die  Produktion  eingeworfen  hat,  eine  volle  gleiche  Nah- 
rungseinheit, bestehend  aus  zehn  Güterstücken,  aus  je  einem  Stück  von 
jeder  der  zehn  Güterarten  empfängt;  und  die  einzelnen  Güterstücke,  die, 
durch  eine  gleiche  Quote  der  Arbeitseinheit  geschaffen,  auch  eine  gleiche 
Quote  der  Nahrungseinheit  repräsentieren,  würden  sich,  wenn  es  über- 
haupt zu  einem  förmlichen  Austausch  kommt,  untereinander  auf  gleichem 
Fuße  vertauschen.  Warum?  Weil  unter  den  geschilderten  Verhältnissen 
alle  zehn  Genossen  gleich  mächtig,  keiner  einem  ,, Zwangsverhältnis" 
unterworfen,  vielmehr  jeder  von  ihnen  imstande  ist,  einem  allfälligen 
Versuche  seiner  Genossen,  ihn  auf  eine  kleinere  Nahrungseinheit  zu  be- 
schränken, beziehungsweise  die  von  ihm  gefertigten  Güterstücke  nach 
einem  schlechteren  Maßstabe  zu  vergüten,  durch  die  Drohung  mit  dem 
„Davonlaufen"  wirksam  zu  begegnen^). 

Das  auf  diese  Weise  für  den  „Urtypus"  plausibel  gemachte  Arbeits- 
kostengesetz überträgt  Stolzmann  sodann,  unter  gewissen,  nunmehr  ein- 
tretenden Modifikationen,  auch  auf  die  entwickelte  Volkswirtschaft.  Hier 
ist  die  Verteilung  um  vieles  verwickelter:  teils,  weil  die  Nahrungseinheiten 
nicht  so  einfach  aus  ihren  Bestandteilen  bloß  ,, zusammenzuholen",  sondern 
verwickelte  Tauschprozesse  inmitten  liegend  sind;  teils  weil  die  Arbeiter 
nicht  mehr  als  alleinige  Partizipanten,  sondern  neben  ihnen  auch  die 
Kapitalisten  und  Grundeigentümer  als  Beteilungswerber  auftreten.  Aber 
das  Wesen  des  Verteilungsprozesses  bleibt  das  gleiche.  Stolzmann  lehnt 
den  Gedanken,  als  ob  etwa  jeder  der  zusammenwirkenden  Produktions- 
faktoren in  dem  Verhältnisse  am  Gesamtprodukte  Anteil  erhielte,  in 
welchem  er  zur  Entstehung  desselben  beigetragen  hat,  und  als  ob  somit 
produktionstechnische  oder  ökonomische  Momente  über  die  Zumessung 
der  Verteilungsquoten  entschieden,  wiederholt  mit  dem  größtmöglichen 
Nachdruck  ab  —  wie  denn  ja  sein  ganzes,  nicht  umsonst  mit  dem  Titel 
„Die  soziale  Kategorie"  überschriebenes  Werk  dem  Nachweis  gewidmet 
ist,  daß  nicht  rein  ökonomische,  sondern  in  ausschlaggebender  Weise 


»)  a.  a.  0.  S.  31—36;  vgl.  auch  S.  304. 


V.  Arbeitstheorien.     Stolzmann.  507 

soziale  Machtverhältnisse  die  heutige  Güterverteilung  beherrschen.  „Die 
Macht  allein,  die  Verteilungsgesetze,  schreiben  die  Größe  des  Anteils 
vor"  (41).  „Die  technische  Beitragszurechnung  des  Naturfaktors  geht 
durchaus  andere  Wege  als  seine  soziale  Zurechnung  und  Ertrags- 
abfindung" (341  f.).  „Nicht  was  ein  Faktor  im  Dienste  der  technischen 
Herstellung  der  Produkte  leistet,  sondern  was  dem  Menschen,  in  dessen 
Eigentum  der  Faktor  steht,  für  die  Hergabe  desselben  als  Ertragsdividende 
herausgegeben  werden  kann  und  muß,  ist  für  den  Umfang  jener  Zurechnung 
entscheidend"  (338).  Der  Wert  des  Gesamtproduktes  wird  nicht  etwa 
nach  einem  ziffermäßig  bestimmten  Teil,  den  die  Produktionsfaktoren  an 
der  Hervorbringung  des  Gesamtproduktes  hätten,  sondern  nach  „ander- 
weitigen Prinzipien,  nämlich  nach  sozialen  Machtverhältnissen,  unter 
die  Besitzer  der  drei  Faktoren  verteilt"    61). 

Und  zwar  in  folgender  Weise.  Der  Arbeiter  will  und  braucht  seine 
„Arbeiternahrungseinheit".  Wie  groß  diese  ausfällt,  das  hängt  nicht,  wie 
andere  Theoretiker  lehren,  von  dem  produktiven  Effekt  der  Arbeit,  sondern 
wesentlich  von  den  „jeweiligen  sozialen  Klassenverhältnissen"  ab:  „die 
bisherige  Lebensart  der  Arbeiter,  ihre  Macht,  ihre  Begehrlichkeit  und  die 
Achtung,  die  man  ihnen  jeweilig  als  Mitmenschen  nach  den  Auffassungen 
über  Menschenwürde  und  nach  den  Geboten  der  Ethik  und  der  Religion 
entgegenbringt",  entscheidet  über  die  Höhe  des  zu  erringenden  Lohnes 
(334).  Aber  auch  der  Kapitalist  will  leben.  Auch  er  braucht  und  will  eine 
„Kapitalisten-Nahrungseinheit",  deren  Größe  ebenso  wie  die  der  Arbeiter- 
Nahrungseinheit  durch  soziale  Bildungs-  und  Machtverhältnisse  bestimmt 
wird,  als  welche  z.  B.  die  Höhe  der  Kultur,  der  Umfang  der  modemäßigen 
Bedürfnisse,  die  Vorbildung  der  Kapitalistenklasse,  ihr  Zusammenschluß 
zu  Verbänden,  Koalitionen,  Syndikaten,  dann  auch  staatliche  Einwirkungen 
u.  dgl.  namhaft  gemacht  werden  (371  ff.).  Und  zwar  ist  für  die  Höhe  des 
Kapitalgewinnes  der  nach  solchen  sozialen  Rücksichten  zugemessene 
Lebensbedarf  des  „letzten",  kleinsten  Kapitalisten  entscheidend;  mit 
anderen  Worten,  das  Kapital  muß  so  viele  Prozente  als  Gewinn  abwerfen, 
daß  für  den  kleinsten  unter  den  heutigen  Besitz-  und  Produktionsverhält- 
nissen noch  an  der  Grenze  der  Konkurrenzfähigkeit  stehenden  und  für 
die  produktive  Versorgung  der  Gesellschaft  unentbehrlichen  Unternehmer- 
kapitalisten, bei  dem  durchschnittlich  bestehenden  Verhältnis  zwischen 
dem  eigenen  und  dem  entlehnten  Kapitale,  die  standesmäßige  Kapitalisten- 
Nahrungseinheit  resultiert. 

Hiemit  sind  die  Elemente  bestimmt,  aus  denen  sich  in  der  entwickelten 
Volkswirtschaft  der  Tauschwert  der  Produkte  aufbaut.  Der  Tauschwert 
der  Waren  setzt  sich  auf  demjenigen  Niveau  fest,  welches  erfordert  wird, 
um  die  in  der  Erzeugung  verwendete  Arbeit  nach  dem  von  den  Arbeitern 
durchgesetzten  Lohnsatze,  und  das  mitwirkende  Kapital  nach  dem  zur 
Deckung  der  Kapitalisten-Nahrungseinheit  nötigen  Gewinnsatze  zu  remu- 


508  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Gegenwart. 

nerieren.  Der  Giundeigner  erscheint  dagegen  in  der  Rolle  des  „residual 
claimant";  er  empfängt  als  Grundrente  den  an  ihn  „abzuführenden  und 
auf  die  Geltendmachung  seines  Grundeigentums  basierten  Anteil  vom 
Ertrage,  der  nach  Abzug  der  beiden  ersteren  festen  Abfindungsbeträge 
vom  Gesamtwertertrage  übrig  bleibt"  (411). 

Wieso  kann  man  aber  die  dargestellte  Werttheorie,  die  doch  neben 
Arbeit  und  Arbeitslöhnen  ein  wertbildendes  Element  auch  in  den  zu 
honorierenden  Kapitaldiensten  erblickt,  gleichwohl  eine  „Arbeits- 
kostentheorie" nennen?  —  Indem  man  auch  die  Funktion  der  Kapitalisten, 
die  durch  den  Kapitalzins  honoriert  wird,  für  eine  Art  von  Arbeit  erklärt. 
Dies  tut  Stolzmann,  wenn  er  ganz  am  Schluß  seiner  systematischen 
Darstellung  seine  Auffassung  vom  Kapitalgewinne  als  einer  „sozialnot- 
wendigen Vergeltung  der  sozialnotwendigen  Kapitalbildungs-  und  Kapital- 
verwendungsfunktionen" als  eine  „nicht  neue"  und  in  ihrem  Kern  mit 
derjenigen  Auffassung  zusammentreffende  erklärt,  welche  wir  oben  als 
die  deutsche  Variante  der  Arbeitstheorie  bezeichnet  haben.  Stolzmann 
zitiert  beifällig  eine  Äußerung  A.  Wagners,  wonach  die  „Arbeit",  welche 
die  Produkte  kosten,  auch  die  notwendigen  Leistungen  des  Privatkapi- 
talisten und  Privatunternehmers  mit  umfasse,  und  erklärt  ausdrücklich, 
daß  er  auf  diesen  Gedanken  nicht  bloß,  wie  A.  Wagner,  eine  sozialpolitische 
Rechtfertigung,  sondern  eine  eigentliche  Erklärung  des  Zinses  aufstützen 
wolle  ^).  Diese  systematisch  notwendige  Schlußwendung  seiner  Theorie 
scheint  Stolzmann  allerdings  nicht  während  des  ganzen  Verlaufes  seines 
Werkes  stetig  vor  Augen  gestanden  zu  sein;  es  finden  sich  Äußerungen, 
in  welchen  er  die  wertbestimmenden  Arbeitskosten  sich  in  den  für  die 
Arbeiter  im  engeren  Sinne  zu  entrichtenden  Quoten  von  „Arbeiter-Nahrungs- 
einheiten" erschöpfen  läßt  2).  Seine  wahre  Meinung  scheint  mir  indes 
nicht  durch  diese  —  bei  ihm  prinzipwidrigen  —  Äußerungen,  sondern 
durch  die  Erhebung  der  Kapitalistenfunktion  zu  einer  lohnbedürftigen 
Arbeitsart  repräsentiert  zu  werden. 

Ich  glaube,  daß  Stolzmanns  Lehre  auf  der  ganzen  Linie  zahlreichen 


1)  a.  a.  0.  S.  421ff. 

^)  z.  B.  S.  330,  wo  er  sagt:  „das  Kapital  ist  in  seinem  Werte  zusammenfallend 
mit  den  in  demselben  verwendeten  Arbeitskosten,  die  Arbeitskosten  sind  identisch 
mit  den  an  die  Arbeiter  als  Lohn  gezahlten  Arbeiter-Nahrungseinheiten".  Ähn- 
lich S.  372,  dann  auch  —  aad  hier  sogar  mit  einer  rechnungsmäßigen  Durchführung  — 
S.  378.  Ich  bemerke  noch,  daß  diese  Äußerungen  nicht  etwa  einen  nicht-kapitalistischen 
Urzustand,  sondern  die  Existenz  des  Kapitales  in  der  entwickelten  Gesellschaft  bereits 
zur  Voraussetzung  haben.  Stellen  wie  diese  veranlaßten  mich,  in  einer  Besprechung 
des  STOLZMANNschen  Buches  in  der  Zeitschr.  für  Volksw.,  Sozialpolitik  u.  Verwaltung 
VII.  Bd.  S.  424  Stolzmann  eine  Ignorierung  des  Einflusses  ungleichen  Zeitaufwandes 
auf  die  Wertbildung  zum  Vorwurf  zu  machen.  Bei  nochmaliger  Überlegung  glaube 
ich  aber,  daß  vom  Standpunkt  Stolzmanns  diese  Äußerungen  ein  bloßes  Versehen, 
und  seine  wahre  Meinung  die  im  Texte  dargestellte  war. 


V.  Arbeitstheorien.     Stolzmann.  509 

Einwendungen  unterliegt.  Was  von  mir  an  der  gehörigen  Stelle  schon 
gegen  die  Arbeitstheorien  im  allgemeinen  eingewendet  worden  ist  und 
natüriich  die  STOLZMANNSche  Arbeitstheorie  nicht  weniger  als  die  andern 
trifft,  will  ich  nicht  nochmals  weitläufig  wiederholen.  Ich  begnüge  mich 
daher,  einige  der  auffälligsten  Schwächen  zu  bezeichnen,  die  speziell  der 
STOLZMANNschen  Formulierung  der  Arbeitstheorie  anhaften. 

Vor  allem  ist  schon  das  werttheoretische  Fundament  seiner  ganzen 
Lehre,  das  Arbeitskostengesetz,  ohne  Halt.  Stolzmann  bemüht  sich, 
dasselbe  als  einleuchtende,  sozusagen  einzig  mögliche  Grundleige  der 
Wertbildung  an  einem  von  ihm  entworfenen,  den  „Urtypus"  repräsen- 
tierenden Beispiel  plausibel  zu  machen.  Er  begeht  jedoch  dabei  einen  durch 
seine  Nebenumstände  interessanten  Fehler.  Er  hatte  nämlich  soeben 
Ricardo,  der  sein  abweichendes  Arbeitsmengengesetz  beiläufig  aus 
demselben,  willkürlich  konstruierten  Urtypus-Beispiel  abgeleitet  hatte, 
mit  Recht  dafür  getadelt,  daß  derselbe  übersehen  habe,  daß  das  Zusammen- 
stimmen des  Wertes  mit  den  Quantitäten  verwendeter  Arbeit  nur  durch 
die  zufälligen  Umstände  des  willkürlich  gewählten  Beispieles  herbeigeführt 
werde  (34 f.).  In  demselben  Atem  begeht  aber  Stolzmann  genau  den 
gleichen  Fehler.  Mit  der  dreifachen  Voraussetzung,  daß  alle  Genossen 
des  Urtypus  gleich  fleißig,  gleich  geschickt  sind  und  unter  Anwendung 
von  genau  der  gleichen  Produktionsperiode  arbeiten^),  hat  nämlich  auc^ 
er  aus  den  Beispielsumständen  alle  Momente  eliminiert,  welche  den  Wert 
der  Produkte  von  dem  Parallelismus  nicht  nur  mit  den  Arbeitsmengen 
Ricardos,  sondern  auch  mit  den  Arbeitskosten  Stolzmanns  hätten  ab-, 
und  einem  von  diesen  sichtlich  abweichenden  „Standard"  hätten  zudrängen 
können.  Und  aus  eben  diesem  Grund  ist  auch  Stolzmanns  Verteilungs- 
schlüssel nur  „zufällige  Eigentümlichkeit  dieser  besonderen  Hypothese", 
aber  keine  allgemeingiltige  theoretische  Erkenntnis.  Hätte  Stolzmann 
ungleich  geschickte  oder  ungleich  fleißige  Genossen  in  die  Hypothese 
eingeführt,  so  hätte  er  sich  rasch  und  sicher  davon  überzeugen  können, 
daß  auch  bei  Abwesenheit  von  Zwangsverhältnissen  volle,  gleiche  Arbeiter- 
NahruDgseinheiten  nicht  immer  zu  erzielen  sind,  und  daß  zum  alier- 
mindesten  ein  sehr  bedeutender  Teil  dessen,  was  Stolzmann  unter  dem 
Titel  „Macht"  abzuhandeln  geneigt  ist,  sich  von  nichts  anderem  als  von 
der  ökonomischen  Wirksamkeit  des  betreffenden  Produktionsfaktors  her- 
leitet.   Es  ist  sehr  durchsichtig,  daß  und  warum  die  Drohung  eines  faulen 

^)  Diese  dritte  Voraussetzung  stellt  Stolzmann  nicht  ganz  wortwörtlich,  wohl 
aber  implicite  mit  voUer  Bestimmtheit  auf,  indem  er  einerseits  voraussetzt,  daß  jeder 
Crenosse  die  von  ihm  erzeugte  Giitergattung  „von  Anfang  bis  zu  Ende  fertigstelle", 
also  die  ganze  Produktionsperiode  durchmesse,  und  andererseits  „für  jede  Konsumtions- 
periode" von  jeder  Güterart  gleich  viele  Stücke  „zum  Verbrauch  daliegen"  (31),  so  daß 
offenbar  die  Produktionsperioden  aller  Güter  gleich  der  Konsumtionsperiode,  und 
somit  auch  untereinander  gleich  sein  müssen.  Eine  dieser  Auffassung  bestätigende 
Äußerung  findet  sich  auch  auf  S.  32. 


510  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Gegenwart. 

oder  ungeschickten  Arbeiters  mit  dem  „Davonlaufen"  einen  weit  weniger 
wirksamen  „Zwang",  ihm  eine  große  Nahrungseinheit  zuzugestehen,  auf 
seine  Genossen  ausüben  wird,  als  die  gleiche  Drohung  eines  geschickten 
und  fleißigen  Arbeiters! 

Und  ganz  ebenso  steht  es  mit  der  verschiedenen  Größe  des  Zeitinter- 
valls, welches  zwischen  dem  Einsatz  der  Arbeit  und  der  Erlangung  ihrer 
genußreifen  Frucht  verstreicht  und  von  irgend  jemandem  abgewartet 
werden  muß.  In  Stolzmanns  Urtypus  kann  die  Rücksicht  auf  dieses 
Zeitintervall  den  von  Stolzmann  herausgefundenen  Arbeitskostenschlüssel 
freilich  ebenfalls  nicht  stören,  weil  ja  Stolzmann  jenes  Intervall  bei  allen 
Arbeiten  und  allen  Arten  von  Produkten  als  genau  gleich,  also  sich  wechsel- 
seitig kompensierend,  vorausgesetzt  hat.  Aber  Stolzmann  kann  und  will 
doch  offenbar  nicht  annehmen,  daß  jene  Gleichheit  des  Intervalls  auch 
im  wirklichen  Leben  zutreffe,  und  zwar  so  durchgreifend  zutreffe,  daß 
man  sie  als  typischen  Normalfall  auch  der  Ableitung  allgemein  giltiger 
Gesetze  ohneweiters  zu  Grunde  legen  könnte;  und  ebensowenig  durfte 
Stolzmann  beweislos  präsumieren,  daß  die  Verschiedenheit  des  Intervalls, 
auch  wo  sie  tatsächlich  eintritt,  für  die  Wertbildung  belanglos  sei.  Tat- 
sächlich präsumiert  er  dies  aber. 

Er  berührt  die  Frage  auf  S.  303  seines  Buches,  wo  er  meint,  die  „vor- 
getane" und  die  ,, nachgetane"  Arbeit  sei  ,, wesensgleich",  der  Unterschied 
sei  ,,nur"  ein  zeitlicher,  und  aus  demselben  sei  (in  seinem  Urtypus)  „für 
den  Wertansatz  und  die  Verteilung  kein  Einfluß  erfindbar"  gewesen. 
Der  „Einsatz"  an  Arbeit  sei  in  beiden  Fällen  der  gleiche,  und  daher  müsse 
für  die  Verteilung  die  vorgetane  Arbeit  der  nachgetanen  gleichgesetzt- 
werden.  Die  Zeit  könne  bei  der  Wertbildung  und  Verteilung  überhaupt 
nur  als  Arbeitszeit  eine  Rolle  spielen  in  der  Art,  ,,daß  sich  die  an  die 
einzelnen  Arbeiter  zu  verteilenden  Werte  als  Vielfache  oder  Quoten  von 
Nahrungseinheiten  in  Verhältnis  setzen  zur  Länge  der  Zeit,  welche  mit 
den  einzelnen  Arbeiten  ausgefüllt  wird"  —  einerlei  ob  diese  Arbeiten 
als  vorgetane  oder  nachgetane  geleistet  werden.  —  Ich  glaube,  all  das  ist 
einfach  eine  tatsachenwidrige  Präsumtion,  die  an  die  gleiche  beweislose 
Verleugnung  des  Einflusses  der  Wartezeit  bei  Marx  erinnert^)  und  die 
bei  beiden  Autoren  in  gleicher  Weise  eine  pefitio  prindpii  zu  Gunsten  des 
von  ihnen  angerufenen  Wertprinzips  bedeutet *).  — 

^)  Siehe  oben  S.  410ff. 

*)  Seltsamer  Weise  will  Stolzmann  den  Spieß  umdrehen,  und  die  von  mir,  wie 
ich  glaube,  mit  einer  ziemlich  ausführlichen  Begründung  versehene  Darlegung,  daß 
nicht  bloß  die  Arbeitszeit,  sondern  auch  die  Wartezeit  ein  für  die  Entlohnung  und  Wert- 
bildung nicht  gleichgültiger  Umstand  sei,  mir  als  eine  petitio  principii  anrechnen. 
Ich  beabsichtige  hier  nicht  in  eine  ausführliche  Antikritik  einzugehen  und  bemerke 
nur,  daß  mir  alle  Versuche  Stolzmanns,  auch  im  Falle  des  Einschiagens  längerer  Pro- 
duktionsperioden ein  , .Warten"  als  durch  ein  geschicktes  Ineinanderklappen  von  Pro- 
duktionsstufen   und   Bedarf   vermeidlich   hinwegzudemonstrieren   (Soziale   Kategorie 


V.  Arbeitstheorien.    Stolzmann.  511 

Welche  Unnatur  der  von  Stolzmann  vorgezogenen  Auffassung  in  der 
Richtung  anhaftet,  daß  sie  ein  offenbares  Besitzeinkommen  zu  einem 
Arbeitslohn  stempelt,  brauche  ich  nach  dem,  was  ich  hierüber  schon  den 
Arbeitstheorien  im  allgemeinen  vorgehalten  habe,  hier  nicht  nochmals 
darzulegen. 

Gänzlich  und  offenliegend  vergriffen  scheint  mir  aber  endlich  Stolz- 
manns Versuch,  der  „Kapitalisten-Nahrungseinheit"  eine  bestimmende 
oder  verursachende  Rolle  im  Wertbildungs-  und  Verteüungsprozesse  zu- 
zuweisen. Wenn  es  irgend  etwas  gibt,  was  auf  der  ganzen  Linie  nicht 
Ursache,  sondern  Wirkung  der  Existenz  und  Höhe  des  Kapitalzinses  ist, 
so  ist  es  der  Lebensfuß  der  Kapitalistenexistenzen.  Es  gibt  kein  Besitz- 
minimum, bezüglich  dessen  eine  prodiiktionstechnische  oder  sonstige 
sozialwirtschaftliche  Notwendigkeit  bestünde,  daß  es  seinen  Mann  mit 
Kapitaleinkommen  auf  einem  bestimmten  Fuße  ernähren  müsse.  Die 
Volkswirtschaft  braucht  Kapital;  sie  braucht  auch,  wenn  und  insolange 
die  Kapitalbildung  vorwiegend  privatwirtschaftlich  sich  vollzieht,  Kapi- 
talisten, aber  sie  ist  ganz  und  gar  nicht  dessen  bedürftig,  daß  irgend  eine 
Person  oder  Personenklasse  ausschließlich  durch  Kapitalgewinn 
auf  einem  bestimmten  Fuße  erhalten  werde.  Wer  zu  wenig  eigenes  Kapital 
hat,  um  aus  dem  Ertrag  desselben  in  einer  von  ihm  beanspruchten  Weise 
standesgemäß  zu  leben,  braucht  deswegen  noch  durchaus  nicht  notwendiger- 
weise aus  seinem  Stande  auszuscheiden  (man  wollte  denn  den  müßigen 
Rentier  als  einen  besonderen  „Stand"  bezeichnen,  nach  dem  dann  aber 
sicherlich  kein  unentbehrlicher  volkswirtschaftlicher  Bedarf  bestünde!), 
oder  als  ökonomische  Existenz  zugrunde  zu  gehen,  sondern  er  kann  sehr 
wohl  das  auf  seine  Ansprüche  fehlende  auch  durch  die  Aufbietung  oder 
Steigerung  seiner  persönlichen  Tätigkeit  hinzuerwerben.  Das  tut  der 
Inhaber  eines  kleinen  Kapitales,  der  gleichzeitig  einen  Erwerb  als  Beamter, 
Arzt,  Dienstbote  sucht,  das  tut  aber  auch  der  Unternehmer,  der  sich  nicht 
auf  die  summarische  Oberleitung  seiner  Unternehmung  beschränkt,  sondern 
in  ihr  selbst  Hand  ans  Werk  legt,  die  tatsächlichen  Leistungen  eines 
Direktors  oder  Vorarbeiters,  oder  einfachen  Gehilfen  verrichtet,  und  sich 


S.  304ff.,  besonders  307,  308,  313),  trügerisch  und  aussichtslos  zu  sein  scheinen.  Auch 
die  geschickteste  Einteilung  kann  eine  Decke  nicht  länger  machen  als  sie  ist,  und  wenn 
Stolzmann  getrost  voraussetzen  zu  können  meint,  daß  dann  eben  „jederzeit  genügende 
Gregenwartsgüter  zum  unmittelbaren  Verzehr  parat  liegen"  werden  (313),  welche  die 
Gesellschaft  jedes  lästigen  Wartens  überheben,  so  spielen  diese  „genügenden  Gregen- 
wartsgüter" in  seinem  Gedankengang  doch  wohl  die  Rolle  eines  deus  ex  machina:  ihr 
„Paratliegen"  würde  freilich  alle  Schwierigkeiten  lösen,  aber  erklärt  ist  es  nicht,  und 
zumal  auch  ihr  zuversichtliches  „Genügen"  nicht!  —  Ausführlicheres  über  dieselbe 
schon  früher  von  Clarx  und  neuestens  auch  von  Schumpeter  berührte  Frage  siehe 
in  der  Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Sozialpolitik  u.  Verwaltung  Bd.  16  (1907)  S.  19ff., 
437f.  und  455f.  (gegenüber  Clark)  und  in  Bd.  22  (1913)  S.  23f.  (gegenüber  Schum- 
peter). 


512  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Gregenwart. 

daher  in  seiner  eigenen  Unternehmung  gleichsam  auch  einen  Gehalt  oder 
Lohn  verdient. 

Stolzmann  hat  sich  denn  auch  eine  ganze  Reihe  von  Schwierigkeiten, 
die  seinej-  Lehre  von  der  ausschlaggebenden  Nahrungseinheit  des  letzten 
Kapitalisten  gegenüberstehen,  selbst  vor  Augen  gehalten:  daß  Kapitalisten 
und  zwar  gerade  die  kleinsten  Kapitalisten,  auch  Leute  sind,  die  nicht 
vom  Kapitalertrag  zu  leben  brauchen,  wie  kleine  Handwerker,  Arbeiter 
oder  Beamte;  daß  der  Kapitalist  mit  dem  Unternehmer  nicht  zusammen- 
fällt; daß  der  müßige  Geldkapitalist  keine  soziale  Notwendigkeit  ist;  daß 
wenn  man  nicht  den  Geldkapitalisten,  sondern  den  das  Kapital  produktiv 
anwendenden  Unternehmer  als  die  entscheidende  Persönlichkeit  ansieht, 
der  Unternehmer  wieder  keineswegs  bloß  mit  eigenem  Kapital  zu  arbeiten 
pflegt,  so  daß  der  Kapitalbesitz  des  letzten  Unternehmers  nicht  mit  der 
Kapitalgröße  der  letzten  Unternehmung  zusammenfällt,  u.  dgl.  mehr. 
Er  begleitet  auch  die  Revue  dieser  selbstaufgewiesenen  Schwierigkeiten 
mit  einer  recht  lebhaften  Anerkennung  ihrer  Größe.  Es  entringt  sich  ihm 
das  Bekenntnis,  daß  beim  Anblick  der  vollen  Wirklichkeit  sich  seiner  Auf- 
fassung „ganz  unüberwindliche  Schwierigkeiten  entgegensetzen",  und 
daß  insbesondere  die  seiner  Theorie  zu  Grunde  liegende  Beziehung  des 
sachlichen  zum  persönlichen  Faktor  zwischen  dem  Produktionsfaktor 
Kapital  und  dem  persönlichen  Inhaber  desselben,  dem  Kapitalisten,  „gar 
nicht  vorhanden  oder  doch  nur  eine  sehr  nebensächliche  und  lockere  zu 
sein  scheine"  (380).  Im  einzelnen  findet  er  eine  von  den  entgegenstehenden 
Schwierigkeiten  „recht  ernsthaft",  ja  auf  den  ersten  Anblick  „beinahe 
vernichtend";  eine  andere  ließe  an  der  Richtigkeit  seiner  Auffassung  „bei- 
nahe verzweifeln",  abermals  eine  andere  dieselbe  sogar  „widersinnig" 
erscheinen,  u.  dgl.  mehr.  Trotz  alledem  glaubt  aber  Stolzmann  zwischen 
diesen  massenhaft  sich  auftürmenden  Schwierigkeiten  mittelst  eines  ganzen 
Systemes  von  gewundenen  Erklärungen  und  gewagten  Deduktionen  seine 
liieorie  hindurchsteuern  zu  können;  Darlegungen,  von  denen  ich  indes 
glaube,  daß  nur  jemand,  der  eine  so  große  Voreingenommenheit  für  den 
von  Stolzmann  verteidigten  Standpunkt  besitzt  wie  dieser  Autor  selbst, 
sich  mit  ihnen  zufriedenzustellen  geneigt  sein  wird.  Ich  halte  daher  eine 
fortlaufende  Detailkritik  ihnen  gegenüber  für  entbehrlich  und  möchte  nur, 
durch  neuere  Ausführungen  Stolzmanns  veranlaßt,  einen  einzigen  Punkt 
zu  genauerer  Beleuchtung  herausgreifen. 

In  der  zweiten  Auflage  dieses  meines  Werkes  hatte  ich  irriger  Weise 
vermutet,  daß  in  Stolzmanns  Sinne  die  Rolle  des  letzten,  d.  i.  „kleinsten" 
konkurrenzfähigen  Unternehmerkapitalisten  doch  auch  Handwerkern  oder 
anderen  nicht  bloß  von  Kapitalertrag,  sondern  von  gemischtem  Kapital- 
und  Arbeitsertrag  lebenden,  also  wirklich  „kleinen"  Unternehmern  zufallen 
könne,  und  hatte  hieraus  gewisse  Argumente  gegen  Stolzmann  abgeleitet. 
Stolzmann  trat  dem  durch  eine  authentische  Interpretation  entgegen, 


V.  Arbeitstheorien.     Stolzmann.  513 

in  welcher  er  die  Handwerker  und  überhaupt  die  Leute,  die  „auch  mit 
Kapital  arbeiten",  klipp  und  klar  aus  seinem  Begriff  des  „letzten  Kapi- 
talisten" ausschließt;  es  kämen  vielmehr  in  seinem  Sinne  nur  jene  Unter- 
nehraerkapitalisten  in  Betracht,  für  deren  Unternehmungen  die  Anwendung 
des  Kapitales  die  ,, wesentliche  Grundlage"  büdet,  die  als  Inhaber  „rein 
kapitalistischer"  Unternehmungen  „machtvoll"  und  „ausschlaggebend" 
auf  dem  Markte  in  Wirksamkeit  treten  können,  die  ferner  höchstens  „aus- 
nahmsweise in  schlechter  Zeit  nach  Ablehnung  ihres  Direktors  ihren  eigenen 
Minister  machen",  gewöhnlich  aber  gar  keine  Arbeit  in  ihrer  eigenen  Unter- 
nehmung leisten;  denn  ein  „Kapitalist"  „arbeite"  nicht  und  beziehe  keinen 
„Lohn",  ein  im  eigenen  Betriebe  gezahlter  Lohn  sei  eine  contradictio  in 
ctdjecto,  ein  „Unding"^). 

Im  Sinne  dieser  authentischen  Interpretation  ist  es  also,  um  es  mit 
eixiem  von  Stolzmann  nicht  gebrauchten  Ausdruck  vielleicht  bizarr, 
aber  deutlich  zu  sagen,  der  ,, kleinste  unter  den  ganz  Großen",  dessen 
Lebensansprüche  die  Höhe  des  Kapitalzinsfußes  andiktieren:  das  Kapital 
muß  so  viel  an  Prozenten  abwerfen,  daß  der  geschilderte  „kleinste"  Unter- 
nehmerkapitalist ohne  jene  Zubuße  von  selbstverdientem  Arbeitslohn,  der 
bei  ihm  begrifflich  ausgeschlossen  ist,  „ausschließlich  durch  Kapital- 
gewinn" 2)  auf  standesgemäßem  Fuße  leben  kann. 

Ich  glaube,  ein  Gegner,  der  Stolzmanns  Lehre  ad  absurdum  führen 
wollte,  hätte  sie  für  diesen  Zweck  nicht  besser  zuspitzen  können,  als  Stolz- 
mann es  in  diesen  nachdrücklichen  Erläuterungen  selbst  getan  hat.  Klingt 
es  ja  doch  schon  wie  eine  Ironie  auf  den  aus  der  Begriffswelt  der  Grenz- 
werttheoretiker entlehnten  Begriff  des  „letzten,  kleinsten  Kapitalisten", 
wenn  wir  diesen  in  den  Reihen  der  Großkapitalisten  zu  suchen  angewiesen 
werden!  Aber  die  Hauptsache  ist,  daß  durch  diese  Zuspitzung  so  ganz 
deutlich  wird,  wie  sehr  Stolzmanns  Theorie  den  von  mir  erhobenen  Vor- 
wurf verdient,  daß  sie  Ursachen  und  Wirkungen  verwechsle.  Schon  der 
Grundgedanke  der  STOLZMANNSchen  Verteilungstheorie,  der  Gedanke  von 
der  „sozialnotwendigen  Nahrungseinheit"  scheint  mir,  und  zwar  auf  der 
ganzen  Linie,  den  natürlichen  Zusammenhang  der  Dinge  auf  den  Kopf 
zu  stellen.  Daß  die  Leute  auf  einem  bestimmten  Fuße  leben,  ist  das  Er- 
gebnis des  Verteilungsprozesses  und  nicht  seine  erklärende  Ursache. 
Nicht  weil  die  Leute  auf  einem  bestimmten  Fuße  „sozialnotwendig"  leben 
müssen,  tragen  die  ihnen  zugehörigen  Produktionsfaktoren  so  viel,  daß 
sie  auf  diesem  Fuße  leben  können,  sondern  weil  die  ihnen  zugehörigen 
Produktionsfaktoren  nach  Gesetzen,  in  deren  Aufhellung  eben  das  Problem 
der  Verteilung  liegt,  eine  Vergütung  von  bestimmter  Höhe  erlangen,  können 
die  hinter  den  Faktoren  stehenden  Personen  eine  gewisse  Lebenshaltung 

M  „Zweck"  S.  418,  419,  421. 

»)  Diese  Worte  werden  von  Stolzmann  selbst  („Zweck"  S.  422)  durch  gesperrte 
Lettern  hervorgehoben. 

Böbm-Bawerk,  Kapitalzins.    4.  Aafl.  33 


514  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Gegenwart. 

führen  und  als  standesgemäß  sich  angewöhnen.  Dies  gilt,  wie  man  immer 
deutlicher  erkennt,  selbst  auch  vom  Arbeitslohn,  bezüglich  dessen  noch 
am  ehesten  ein  gegenteiliger  Anschein  hatte  entstehen  können.  Aber  auch 
bezüglich  des  Arbeitslohnes  läßt  sich  die  moderne  Theorie  an  Kicardos 
Gesetz  vom  „natürlichen",  Standes-  und  gewohnheitsmäßig  notwendigen 
Arbeitslohn  bekanntlich  nicht  mehr  genügen,  weil  die  inzwischen  ge- 
sammelten Erfahrungen  immer  zwingender  davon  überzeugt  haben,  daß 
dieses  Gesetz,  soweit  es  überhaupt  bezüglich  des  Tatsächlichen  zutrifft, 
die  kausale  Relation  verkehrt:  der  Lohn  wird  nicht  hoch,  wenn  und  weil 
die  Arbeiter  sich  an  einen  höheren  Lebensfuß  gewöhnen,  sondern  sie  ge- 
wöhnen sich  an  einen  höheren  Lebensfuß,  wenn  und  weil  der  Lohn  aus 
anderen,  von  der  Lohntheorie  eben  aufzuklärenden  Gründen  für  längere 
Dauer  hoch  geworden  ist^). 

Ganz  eklatant  gilt  dies  aber  vom  Kapitaleinkommen.  Es  ist  wohl  ein 
ganz  vergebliches  Bemühen,  uns  einzureden,  daß  das  Kapital  einen  Zins 
überhaupt  und  einen  Kapitalzins  von  bestimmter  Höhe  insbesondere 
deshalb  trägt,  weil  es  „sozialnotwendigerweise"  Leute  geben  müsse,  die, 
an  der  Spitze  von  Unternehmungen  stehend,  sich  besoldete  Direktoren 
halten  und  trotzdem  von  Kapitalgewinn  allein  ein  für  einen  Großkapi- 
talisten standesgemäßes  Leben  führen  können.  Denn  es  ist  für  jeden  nicht 
völlig  Befangenen  allzu  einleuchtend,  daß  es  umgekehrt  Leute  dieser  Art 
nur  deshalb  geben  kann,  weil  das  Kapital  zuvor  aus  andern,  von  der  Theorie 
eben  aufzuklärenden  Gründen  ein  Erträgnis  bringt;  und  bei  der  Erforschung 
dieser  Gründe  wird  wohl  von  gewissen  Tatsachen  natürlich -technischer 
Natur,  die  Stolzmann  mit  aller  Gewalt  in  den  Hintergrund  drängen  will, 
wie  z.  B.  von  der  Mehrergiebigkeit  der  mit  einem  größeren  Kapital  arbeiten- 
den Produktionsmethoden  u.  dgl.,  erheblich  mehr  die  Rede  sein  müssen 
als  von  der  recht  dubiosen  „Sozialnotwendigkeit"  gewisser  „kleinster", 
ohne  jede  persönliche  Mitarbeit  nur  von  Kapitalgewinn  lebender  Groß- 
unternehmer! — 

Ich  möchte  zum  Schlüsse  die  Erwähnung  nicht  unterlassen,  daß  mich 
Stolzmanns  Ausführungen  im  einzelnen  oft  durch  ihren  frischen  und 
originellen  Zug,  sowie  durch  die  sichtliche  Energie  seines  Forschungstriebes 
anmuten;  ihre  positiven  theoretischen  Ergebnisse  muß  ich  jedoch  nach 
dem  Gesagten  für  so  wenig  befriedigend  halten,  daß  dieselben  kaum  berufen 
sein  dürften,  in  der  Geschichte  der  Kapitalzinstheorien  eine  einflußreiche 
Rolle  zu  spielen. 

VL 

Nicht  unerheblich  ist  die  Zahl  derjenigen  Theoretiker,  welche  sich 
auch  noch  in  der  jüngsten  Zeit  —  rein  oder  eklektisch  —  zu  einer  moti- 

^)  Vgl.  hierüber  jetzt  auch  die  soeben  erschienene  Schrift  Tugan-Baranowskys 
„Soziale  Theorie  der  Verteilung",  1913,  S.  20. 


VI.  Prodiiktivitätstheorien.  515 

vierten  Produktivitätstheorie  bekennen.  Ohne  auf  Vollständigkeit 
Anspruch  zu  erheben,  verzeichne  ich  aus  den  romanischen  Literaturen 
Maurice  Block*),  Pantaleoni^)  und  Landky^),  aus  der  angloamerika- 
nischen  Francis  Walker*),  J.  B.  Clark*)  und  Seager«),  aus  der  deutschen 
wiederum  Dietzel,  der  mit  einer  eigentümlichen  methodischen  Eklektik 
einen  Teil  der  Zinsphänomenc  aus  der  Ausbeutungstheorie,  einen  anderen 
aber  gleichwohl  aus  der  Produktivitätstheorie  erklären  möchte'),  femer 
Philippovich.8),  Diehl»),  Julius  Wolfio),  Wieser *i),  Gebauer«),  Eng- 
LÄNDERJ3),  Bundsmann"),  und  Karl  Adler"). 

Von  diesen  SchriftsteUem  scheinen  mii-  jene  auf  ein  besonderes  Blatt 
zu  gehören,  die  ihre  Theorie  zwar  mehr  oder  weniger  ausdrücklich  als  eine 
„Produktivitätstheorie"  bezeichnen,  aber  in  den  motivierenden  Gredanken- 
gängen,  durch  welche  hindurch  sie  den  Zins  aus  der  Produktivität  des 
Kapitales  ableiten,  so  viel  Verwandtschaft  mit  dem  moderneren  Gedanken- 
kreise der  Agiotheorie  zeigen,  daß  sie  sachlich  dieser  letzteren  näher  stehen 
als  den  Produktivitätstheorien  alten  Schlages.  Das  Vorkommen  dieser 
Variante  von  Produktivitätstheorien  darf  auch  gar  nicht  wunder  nehmen, 
da  ja  diejenige  Grundtatsache,  die  man  als  „Produktivität  des  Kapitales" 
zu  bezeichnen  pflegt,  nändich  die  Mehrergiebigkeit  der  kapitalistischen 
Produktionsmethoden,  bekanntlich  von  der  Agiotheorie  ebenfalls  und 
zwar  so  ausgiebig  verwertet  wird,  daß  sie  schon  öfter  als  einmal  u,  z.  sowohl 
von  Anhängern  wie  von  Gegnern  geradezu  selbst  als  eine  Art  von  Pro- 
duktivijtätstheorie  bezeichnet  worden  ist"). 


1)  Progrös  de  la  science  6conomique  depuis  Adam  Smith  (Paris  1890)  II  319ö., 
328,  335f. 

*)  Principii  di  Economia  pura,  Florenz  1899  (zweiter  unveränderter  Abdruck 
1894)  S.  301;  Pantaleonis  nur  knapp  angedeutete  Auffassung  scheint  sich  mir  ganz 
im  Fahrwasser  der  unten  ausführlich  zu  besprechenden  Theorie  Wiesers  zu  bewegen. 

3)  L'int6ret  du  capital  1904. 

*)  Quarterly  Journal  of  Economics,  Juli  1892;  vgl.  auch  meinen  Entgegnungs- 
artikel ebenda,  April  1895. 

*)  Distribution  of  wealth  1899;  Essen tials  of  economic  theory  1907. 

•)  Principles  of  Economics  1913. 

')  Siehe  unten,  Abschn.  VIII, 

«)  Grundriß  der  Pol.  Ökonomie  I.  Bd.  1893,  §  119;  10.  Aufl.  1913,  §  108—110. 

»)  P.  J.  Proudhon,  Seine  Lehre  und  sein  Leben,  II.  Abt.  (Jena  1890)  S.  216—225. 

")  Sozialismus  und  kapitalistische  Gresellschaftsordnung,  Stuttgart  1892. 

")  Der  natürliche  Wert,  Wien  1889. 

^*)  Das  Wesen  des  Kapitalzinses  und  die  Zinstheorie  von  Böhm-Bawebk,  Bres- 
lau 1904. 

")  Zur  Theorie  des  Produktivkapitalzinses.    Halle  1908. 

")  Das  Kapital,  Innsbruck  1912. 

'')  Kapitalzins  und  Preisbewegung,  München  1913. 

^•)  Z.  B.  schon  von  Pierson  in  „de  Economist"  1889  S.217f.,  dann  von  Wicksell, 
Über  Wert,  Kapital  und  Rente  S.  86,  von  Diehl  in  den  CoNRADSchen  Jahrbüchern 
3.  F.  Bd.  35  (1908)  S.  551,  und  neuesteps  wieder  von  Brown,  The  marginal  productivity 

33» 


gX6  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Gegenwart. 

Aus  der  obigen  Liste  scheinen  mir  vorzugsweise  die  Werke  jüngeren 
Erscheinungsdatums  dieser  Charakteristik  zu  entsprechen,  wie  insbesondere 
die  Theorien  von  Clark,  Seager,  Landry,  Bundsmann,  Karl  Adler 
und  wohl  auch  von  Philippovich,  der  wenigsten  in  den  letzten  Auflagen 
seines  bekannten  vielverbreiteten  Lehrbuches  eine  nicht  unbeträchtliche 
Annäherung  an  den  Gedankenkreis  der  Agiotheorie  gezeigt  hat. 

Von  den  übrigen  Darstellungen  hält  sich  die  Mehrzahl  in  dem  für 


versus  the  impatience  theory,  im  Quart.  Journal  of  Economics,  August  1913  S.631.  Ich 
gelbst  hatte  mich  schon  vor  vielen  Jahren  (imArt.Zins  des  Handwörterbuches  der  Staats- 
wissenschaften) dahin  geäußert,  daß  ich  gegen  jene  Bezeichnung,  „vorausgesetzt,  daß 
man  sie  nur  frei  von  Jener  verfänglichen  Nebenbedeutung  gebraucht,  welche  die  alten 
Produktivitätstheoretiker  in  sie  zu  legen  pflegten  und  welche  leider  auch  heute  noch 
häufig  und  gerne  in  sie  gelegt  wird,  nicht  viel  einzuwenden  haben  würde,  außer  etwa, 
daß  nach  meiner  Auffassung  die  Produktivität  des  Kapitales  nie  der  unmittelbare 
und  außerdem  nicht  der  einzige  Grund  der  Zinserscheinung  ist".  Das  ist  auch  heute 
meine  Meinung.  Wenn  man  nur  im  Groben  zum  Ausdruck  bringen  will,  daß  auch  die 
Agiotheorie  einen  Großteil  ihrer  Erklärung  aus  der  (technischen!)  Produktivität  des 
Kapitales  schöpft,  so  mag  man  sie  immerhin  eine  motivierte  Produktivifcätstheorie 
nennen.  Vollkommen  korrekt  ist  es  aber  nicht.  Denn  erstens  unterdrückt  diese  Bezeich- 
nung völlig  die  durchaus  koordinierte,  wenn  auch  dem  Grade  nach  schwächere  Mit- 
wirkung, welche  auch  vom  „ersten"  und  „zweiten  Grund"  meiner  Theorie  auf  die  Zins- 
entstehung ausgeübt  wird,  und  zweitens  unterdrückt  sie  gerade  den  charakteristischen, 
die  Agiotheorie  von  allen  stofflich  verwandten  Zinstheorien  abhebenden  Zug:  die  Durch- 
leitung der  Wirkung  aller  drei  entfernteren  Zinsentstehungsgründe  durch  das  gemein- 
same Zwischenglied  eines  Wertunterschiedes  zwischen  gegenwärtigen  und  künftigen 
Gütern.  Ich  weiß  ganz  gut,  daß  gerade  dieser  Zug  für  viele  meinen  Ansichten  sonst 
nahe  stehende  Theoretiker  eher  einen  Stein  des  Anstoßes  bildet;  ich  muß  ihn  aber 
trotzdem,  wie  ich  schon  oben  auf  S.  301f.  angedeutet  habe,  für  den  eigentlich  entschei- 
denden Zug  halten.  Ich  sehe  wenigstens  nicht,  wie  sich  irgend  eine  Zinserklärung  sonst 
mit  dem  heute  doch  schon  fast  allgemein  in  der  Theorie  angenommenen  Gedanken 
zusammenreimen  könnte,  daß  der  Wert  der  Produktivmittel  von  dem  Wert  der  aus 
ihnen  hervorgehenden  Produkte  sich  ableitet  und  mit  ihm  grundsätzlich  gleich  ist. 
Wer  diesen  Gedanken  annimmt,  kann,  glaube  ich,  nicht  mehr  eine  direkte  Mehrwerts- 
wirkung der  Produktivität  des  Kapitales  behaupten.  Versuche  dazu,  wie  sie  z.  B. 
seinerzeit  von  Wteser  und  neuestens  noch  von  Landry  unternommen  wurden,  müssen 
notwendig  scheitern  (Siehe  noch  unten  und  im  Exkurs  XIII).  Fisher  hat  nach  der 
entgegengesetzten  Seite  gefehlt,  als  er  annahm,  daß  die  Produktivität  des  Kapitales 
nur  durch  die  (von  ihm  als  „impatience"  zusammengefaßten)  subjektiven  Gründe 
hindurch  wirken  könne,  also  in  der  Erklärungskette  noch  um  ein  Glied  weiter  zurück 
hinter  der  „impatience"  stehe.  Ihm  gegenüber  ist  Brown  sicherlich  im  Recht,  wenn 
er  betont,  daß  Produktivität  und  „impatience"  in  gleicher  Linie  neben  einander  stehen, 
und  die  Produktivität  also  nicht  weniger  direkt  als  die  ,, impatience"  wirke:  aber  beide 
wirken  auf  den  Zins  doch  nur  durch  das  gemeinsame  Zwischenglied  des  Mehrwerts 
der  gegenwärtigen  Güter,  welches  Zwischenglied  mir' daher  auch  schon  ein  Glied  der 
eigentlichen  Erklärung,  und  kein  bloß  „beschreibender"  Zug  mehr  zu  sein  scheint. 
Siehe  auch  oben  S.  472  Note.  An  der  hier  dargelegten  Auffassung  glaube  ich  auch 
gegenüber  der  neuesten  Äußerung  Fetters  in  seinem  höchst  bemerkenswerten  Aufsatz 
„über  alte  und  neue  Zinstheorien"  (siehe  oben  S.  457  Note  4)  unverrückt  festhalten 
zu  müssen. 


VI.  Produktivitätstheorien.    Wolf,  Wieser.  517 

die  Produktivitätstheorie  typischen  Rahmen,  oder  tritt  doch  aus  demselben 
nicht  soweit  heraus,  daß  ihre  genauere  Darstellung  und  Kritik  ohne  für 
den  Leser  lästige  Wiederholungen  schon  l  ekannter  Gedankengänge  durch- 
geführt werden  könnte  i).  Einer  besonderen  Untersuchung  scheint  mir 
nur  die  durchaus  eigenartige  Theorie  Wiesers  zu  bedürfen. 

Wieser  hat  sich  die  Wissenschaft  zu  dauerndem  Dank  verpflichtet 


^)  Dies  gilt  auch  von  den  recht  ausführlichen,  aber  nach  meiner  Empfindung 
auch  recht  ungeklärten  Ausführungen  Wolfs.  Er  behauptet  eine  ,, Wertproduktivität 
des  Kapitales",  stellt  sich  aber  bei  der  ihm  obliegenden  Begründung  dieser  Behauptung 
mit  Erwägungen  zufrieden,  welche  ich  auf  der  ganzen  Linie  nicht  als  wirkliche  Be- 
gründungen oder  Erklärungen,  sondern  nur  als  Paraphrasen  des  Problemes  selbst  an- 
sehen kann.  Er  erläutert  die  von  ihm  behauptete  Wertproduktivität  als  „die  Fähigkeit 
des  Kapitales  über  das  Maß  1.  der  eigenen  Kosten,  2.  der  Kosten  der  technisch  eventuell 
zum  K^pitalersatz  befähigten  Produktionsfaktoren  einen  Ertrag  zu  liefern",  und  will 
diese  These  durch  die  „jedem  zugängliche  Wahrnehmung"  „belegen",  daß  sich  Über- 
schüsse der  bezeichneten  Art  ergeben,  wenn  durch  Vermittlung  von  Kapital  die  Vor- 
teile der  Arbeitsteilung,  des  Großbetriebes,  des  Gebrauchs  von  Maschinen  und  von, 
einen  „Einsatz"  fordernden,  Naturkräften  gewonnen  werden.  Das  Kapital  sei  sonach 
, .zweifellos  ein  objektiver  Produktivitätsvermittler"  (a.  a.  0.  461ff.).  —  Nun,  daß 
durch  den  Grebrauch  von  Kapital  die  Entstehung  von  Wertüberschüssen  , .vermittelt" 
wird,  ist  allerdings  zweifellos;  das  ist  ja  der  Grund,  warum  man  diese  Wertüberschüsse 
theoretisch  und  praktisch  überhaupt  als  Kapitalerträgnisse  oder  Kapitalzins  und 
nicht  z.  B.  als  Arbeitslohn  oder  Unternehmergewinn  auffaßt.  Aber  diese  Tatsache 
ist  ja  eben  der  Gegenstand  des  Zinsproblems,  das  Erklärungsobjekt  für  alle  Ziustheorien, 
und  ganz  und  gar  nicht  ein  Beweis  oder  Beleg  für  die  Richtigkeit  einer  bestimmten, 
z.  B.  eine  „Wertproduktivität"  des  Kapitales  behauptenden  Theorie.  Im  polemischen 
Teile  seiner  Ausführungen  fühlt  denn  auch  Wolf  das  Bedürfnis,  zu  seiner  obigen  , .Er- 
klärung" noch  eine  Ergänzung  nachzutragen.  Er  meint  nämlich,  es  sei  nötig,  daß  der 
Konsument  das  durch  die  Kapitalverwendung,  z.  B.  auf  das  Vierfache  gesteigerte 
Quantum  von  Produkten  auch  höher  als  den  Kapitalverbrauch  selbst  bewerte,  wenn 
„der  Erzeuger  eine  Veranlassung  haben  soll,  sich  eines  Kapitales  überhaupt  zu  be- 
dienen"; und  der  Konsument  werde  auch  bereit  sein,  es  höher  zu  werten,  ..weil,  wenn 
er  es  höher  wertet,  er  der  Werkleistung  des  Kapitales  mit  teilhaftig  wird,  ohne  welche 
er  für  das  vierfach  vermehrte  Produkt  viermal  so  viel  zahlen  müßte,  während  er  nun 
bloß  das  Drei-  oder  Zweifache  zahlt.  Derjenige  also,  der  den  Wert  der  Waren  ent- 
scheidet (der  Konsument),  ist,  um  einen  Grewinn  aus  der  Kapitalsverwendung  zu  haben, 
gezwungen,  und  zwar  mit  dem  Zwange  des  vernunftgemäßen  Raisonnements,  dem 
Kapitalisten  mehr  zu  lassen,  als  den  bloßen  Wiederersatz  seiner  Aufwendungen,  ihm 
also  zu  einem  Kapitalzins  zu  verhelfen."  Auf  diese  Weise  gehe  die  bloße  Güterproduktivi- 
tät des  Kapitales  in  eine  Wertproduktivität  über  (S.  466).  —  Aber  sonst  pflegt  das 
„vernunftgemäße  Raisonnement"  doch  bekaimtlich  bei  dem  Bestände  einer  wirksamen 
Konkurrenz  die  Handlungen  beider  Marktparteien  so  zu  lenken,  daß  der  Preis  der 
Produkte  auf  den  Betrag  der  Kosten  nivelliert  wird :  die  Verbilligung  der  Kosten  setzt 
sich  in  eine  Verbilligung  der  Produkte  um.  Warum  gerade  hier  nicht,  oder  doch  nicht 
bis  zur  Neige?  Das  hätte  doch  etwas  deutlicher  aufgeklärt  werden  müssen  als  durch 
das  schon  von  Adam  Smith  angeschlagene  patriarchalische  Motiv,  daß  der  Kapitabst 
einen  Zins  haben  muß,  weil  er  sonst  kein  Interesse  hätte,  sein  Kapital  in  der  Produktion 
anzuwenden!  —  So  viel  sich  erkeimen  läßt,  ist  Wolf  auch  in  seinem  neueren  Grundriß 
„Nationalökonomie  als  exakte  Wissenschaft"  1908  auf  dem  Standpunkt  der  Produk- 
tivitätstheorie unverändert  stehen  geblieben. 


518  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Cregenwart. 

durch  seine  tiefgehenden  Forschungen  über  die  allgemeinen  Beziehungen 
zwischen  dem  Wert  der  Kostengüter  und  dem  ihrer  Produkte*),  sowie 
durch  seine  unübertrefflich  klaren  Darlegungen  darüber,  daß  es  ein  von 
der  physikalischen  Zurechnung  des  Anteils  mehrerer  zusammenwirkender 
Faktoren  an  einem  gemeinsamen  Produkte  verschiedenes  Problem  der 
ökonomischen  Zurechnung  gibt  und  daß  dieses  Problem  praktisch  und 
theoretisch  nicht  unlösbar  sein  könne ^).  Eine  etwas  weniger  glückliche 
Hand  scheint  mir  Wieser  mit  der  positiven  Ausgestaltung  seines  Lösungs- 
versuches und  speziell  mit  der  Anwendung  seiner  Zurechnungstheorie  auf 
die  Erklärung  des  Kapitalzinses  bewiesen  zu  haben;  wie  ich  glaube,  größten- 
teils deshalb,  weil  er  hier  den  eigenen  theoretischen  Voraussetzungen 
nicht  völlig  treu  geblieben,  und  mit  der  Erklärung  auf  einen  Gedanken 
übergesprungen  ist,  welcher  an  sich  zur  Lösung  nicht  geeignet  ist  und  sich 
überdies  mit  den  sonstigen  Prämissen  der  Wiese Rschen  Zurechnungs- 
theorie störend  kreuzt. 

In  seiner  mustergiltigen  Instruierung  des  Zurechnungsproblemes  geht 
Wieser  davon  aus,  daß  der  ökonomische  Anteil,  welchen  jeder  von 
mehreren  zusammenwirkenden  Faktoren  an  der  Erzeugung  eines  gemein- 
samen Produktes  nimmt  (Wieser  nennt  ihn  den  „produktiven  Beitrag"), 
sich  ermitteln  und  ausscheiden  läßt,  sowie  daß  von  der  Größe  dieses  ihnen 
„zuzurechnenden"  Ertragsanteils  sich  der  Wert  der  Produktivgüter  ab- 
leitet; letzteres  in  der  Art,  daß  der  Gesamtwert  des  im  Sinne  des  „Grenz- 
gesetzes" maßgebenden  3)  Produktes  zur  Aufteilung  an  die  Gesamtheit 
der  an  seiner  Erzeugung  mitwirkenden  Produktivgüter  gelangt,  wobei  der 
Wertanteil  jedes  einzelnen  Faktors  sich  auf  die  Größe  seines  „produktiven 
Beitrages"  gründet,  die  Summe  aller  produktiven  ^'eiträge  aber  genau 
den  Wert  des  Produktes  erschöpft*). 

Die  Art  und  Weise,  wie  nach  Anschauung  Wiesers  die  Größe  des 
produktiven  Beitrages  jedes  einzelnen  Faktors  zu  ermitteln  ist,  brauchen 
wir  hier  nicht  zu  erörtern  5):  so  wichtig  diese  Frage  für  andere  Probleme 
sein  mag,  so  spielt  sie  für  die  Lösung,  die  Wieser  speziell  dem  Zinsproblem 
zu  geben  versucht,  keine  Rolle.  Es  genügt  daran  festzuhalten,  daß  im 
Sinne  Wiesers  die  Produkte  in  der  Regel  durch  das  Zusammenwirken 
von  Land,  Kapital  und  Arbeit  entsttehen,  und  daß  jedem  dieser  drei  Fak- 
toren, also  auch  dem  Faktor  Kapital,  ein  gewisser  Teil  des  Ertrages  als 


^)  Über  den  Ursprung  und  die  Hauptgesetze  des  wirtschaftlichen  Wertes,  Wien 
1884,  S.  139ff.;  der  natürliche  Wert,  Wien  1889,  S.  67ff.,  164ff. 

«)  Der  natürliche  Wert,  §  20. 

3)  Natürlicher  Wert  S.  96ff. 

*)  Natürl.  Wert,  S.  85«.;  besonders  87,  90,  91,  92. 

•)  Siehe  hierüber  jetzt  div  ausführlichen  Erörterungen  in  meinem  Exkurse  VII 
zur  3.  Aufl.  der  Positiven  Theorie,  besonders  S.  179ff.  und  4.  Aufl.  S.  131ff. 


VI.  Produktivitätstheorien.    Wieser.  5X9 

sein  produktiver  Beitrag  zuzurechnen  ist.  Daß  aus  dem  letzteren  sich  ein 
reiner  Kapitalzins  herausschält,  hängt  dann  nach  Wiesitrs  —  hierin 
sicherlich  richtiger  —  Anschauung  nicht  davon  ab,  ob  der  produktive 
Beitrag  des  Kapitales  gegenüber  jenem  von  Land  und  Arbeit  höher  oder 
niedriger  abgemessen  wird,  sondern  ausschließlich  von  Vorgängen,  die 
sich  gewissermaßen  innerhalb  des  dem  Kapital  zukommenden  Ertrags- 
anteils zutragen.    Und  zwar  in  folgender  Weise. 

„Jedes  Kapital  gibt  zunächst  und  unmittelbar  nur  rohen  Ertrag, 
d.  h.  solchen,  der  mit  einer  Verminderung  der  Kapitalsubstanz  erkauft 
ist"^).  Die  Bedingungen,  unter  welchen  dieser  rohe  Ertrag  Quelle  eines 
reinen  Ertrages  werden  kann,  formuliert  Wies^r  dahin,  daß  im  Rohertrage 
alle  verbrauchten  Kapitalteile  sich  neu  erzeugt  wiederfinden,  und  außer- 
dem noch  ein  Überschuß  vorhanden  sein  muß.  Und  zwar  muß  man  be- 
züglich dieses  Überschusses  und  der  auf  die  Erzeugung  desselben  gerichteten 
»»Produktivität  des  Kapitales"  wohl  unterscheiden  zwischep  einem  phy- 
sischen Überschuß  und  einer  physischen  Produktivität  des  Kapi- 
tales einerseits,  und  einem  Wertüberschuß  und  einer  Wertproduk- 
tivität des  Kapitales  andererseits.  Wer  das  Kapitalzinsproblem  lösen 
wolle,  müsse  in  letzter  Linie  eine  Wertproduktivität  des  Kapitales 
nachweisen  und  erklären.  Aber  für  diesen  Nachweis  bildet  der  voraus- 
gehende Nachweis  einer  physischen  Produktivität  des  Kapitales  die 
notwendige  Brücke^).  Wieser  führt  demgemäß  seineu  Erklärungsgang 
in  zwei  Etappen  durch:  in  der  ersten  Etappe  will  er  die  physische  Pro- 
duktivität des  Kapitales  in  dem  Sinne  erweisen  und  erklären,  daß  „die 
Menge  der  gewonnenen  Rohertragsgüter  größer  ist  als  die  Menge  der 
zerstörten  Kapitalgüter";  in  der  zweiten  Etappe  ist  sodann  zu  erklären, 
daß  „der  Wert  des  Rohertrags  größer  ist  als  der  Wert  des  Kapital- 
verbrauches". 

Dem  Erweise  des  ersten  Gedankengliedes  ist  folgende  Ausführung 
gewidmet: 

„Unzweifelhaft  ist  der  Gesamtertrag  aller  drei  Produktionsfaktoreri 
Land,  Kapital  und  Arbeit  zusammen  groß  genug,  um  den  Kapitalverbrauch 
zu  ersetzen  und  Reinertrag  zu  geben.  Das  ist  eine  Tatsache,  der  Wirtschaft, 
welche  notorisch  ist  und  so  wenig  eines  Beweises  bedarf  wie  etwa  die 
Tatsache,  daß  es  Güter,  oder  daß  es  eine  Produktion  gibt.  Zwar  mißglückt 


M  Natürl.  Wert  S.  123. 

*)  ,J)ie  Aufgabe  der  Theorie  ist  letzlich,  die  Wertproduktivität  des  Kapitales 
zu  erweisen,  zu  diesem  Zwecke  muß  aber  erst  die  physische  Produktivität  nachgewiesen 
sein,  die  das  Grerüste  für  jene  ist.  Die  Wertproduktivität  setzt  bereits  die  Bestimmung 
des  Kapitalwertes  voraus,  zur  Bestimmung  des  Kapitalwertes  kann  man  aber  nur  ge- 
langen, wenn  vorerst  die  Frage  der  Zurechnung  für  den  physischen  Ertrag  erledigt 
ist,  weil  der  Wert  des  ELapitales  auf  dem  zugerechneten  Ertragsanteile  beruht."  A.a.O. 
S.  124. 


520  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Gegenwart. 

ab  und  zu  eine  produktive  Unternehmung  und  deckt  ihren  Aufwand  nicht, 
manche  Unternehmung  liefert  selbst  gar  kein  brauchbares  Erzeugnis,  aber 
das  sind  Ausnahmen;  die  Regel  ist,  daß  Reinerträge  gewonnen  werden, 
ja  Reinerträge  allergrößten  Umfanges,  so  daß  nicht  bloß  die  mehr  als  eine 
Milliarde  Menschen  erhalten,  sondern  außerdem  aus  den  Überschüssen 
noch  fortwährend  Kapitalvermehrungen  gemacht  werden  können.  Es 
kann  sich  daher  nur  um  das  eine  fragen,  ob  auch  dem  Faktor  Kapital  ein 
Teil  dieses  unzweifelhaften  Reinertrages  zuzurechnen  sei  —  aber  auch 
das  kann  nicht  ernstlich  in  Frage  gezogen  werden.  Warum  sollte  gerade 
dem  Kapitale  kein  solcher  Anteil  zukommen?  Ist  einmal  verstanden  und 
zugegeben,  daß  das  Kapital  em  wirtschaftlicher  Produktionsfaktor  ist, 
dem  der  produktive  Erfolg  mit  zugerechnet  wird,  so  ist  auch  verstanden 
und  zugegeben,  daß  ihm  ein  Anteil  am  Reinertrage  gebührt,  in  dem  erst 
der  produktive  Erfolg  sich  verkörpert.  Sollte  das  Kapital  immer  nur 
etwas  weniger  als  seinen  eigenen  Ersatz  hervorzubringen  imstande  sein? 
Die  Annahme  wäre  offenbar  willkürlich.  Sollte  es  immer  gerade  nur  seinen 
eigenen  Ersatz  hervorzubringen  imstande  sein,  wie  verschieden  auch  die 
Produktionen  gelingen  mögen?  Die  Annahme  wäre  offenbar  nicht  minder 
willkürlich.  Wer  dem  Kapitale  Reinertrag  abspricht,  kann  dies  nur  tun, 
wenn  er  ihm  überhaupt  den  Ertrag  abspricht"^). 

Hier  hat,  wie  ich  glaube,  Wieser  den  ersten  Schritt  vom  Wege  getan. 
Mit  der  Annahme,  daß  man  überhaupt  im  Wege  der  Zurechnung  einem 
Faktor  unmittelbar  einen  Reinertrag  oder  Reinertragsanteil  zusprechen 
könne,  hat  Wieser  der  Operation  der  Zurechnung  etwas  zugemutet,  was 
sie  ihrer  Natur  nach  gar  nicht  leisten  kann.  Sehen  wir  von  allen  ver- 
führerischen Worten  ab  und  halten  wir  uns  ganz  trocken  und  nüchtern 
an  die  Sache.  Was  ist  —  nach  Wieser  selbst  —  Gegenstand  und  Amt 
der  Zurechnung? 

Den  produktiven  Gesamterfolg  auf  die  bei  seiner  Erzeugung 
mitwirkenden  Faktoren  zu  verteilen.  Also  die  Anteile  dieser  Faktoren 
an  der  Erzielung  des  Rohertrages  zu  ermitteln.  So  hat  Wieser  in  wieder- 
holten, ganz  unzweideutigen  Äußerungen  das  Problem  der  Zurechnung 
gestellt,  so  hat  er  es  in  praktischen  Beispielen  erläutert  und  so  mußte 
es  auch  verstanden  werden,  wenn  das  von  ihm  angegebene  Verfahren 
zur  Ermittlung  der  zuzurechnenden  Anteile  2)  sollte  Anwendung  finden 
können.  Wenn  Wieser  z.  B.  den  Wert  eines  zinnernen  Gefäßes  der  Arbeit 
des  Bildners  und  dem  Stoffe,  aus  dem  es  gebildet  wird,  zurechnet^),  wenn 
er  bei  der  Ermittlung  des  Ertragsanteiles,  der  dem  Grund  und  Boden 
zukommt,  von  dem  Gesamtwert  der  Bodenfrüchte  seinen  Ausgangspunkt 


1)  a.  a.  0.  S.  124f. 

2)  a.  a.  0.  S.  87. 
»)  S.  86. 


VI.  Produktivitätstheorien.    Wieser.  521 

ninmit^),  wenn  er  die  Summe  aller  produktiven  Beiträge  genau  den  Wert 
des  Gesamtertrages  erschöpfen*)  und  jeden  einzelnen  Faktor  seinen  Wert 
von  seinem  produktiven  Beitrag  ableiten  läßt,  so  ist  vollkommen  klar, 
daß  das  Objekt  der  Zurechnung  der  Rohertrag  der  Produktion,  und  daß 
speziell  der  produktive  Beitrag  des  Faktors  Kapital  eine  Quote  dieses 
Rohertrages  und  nichts  anderes  ist  und  sein  kann.  Erzielt  z.  B.  ein  Land- 
wirt auf  seinem  Boden  unter  Mitwirkung  von  Arbeitern  und  eines  aus 
Saatgut,  landwirtschaftlichen  Geräten,  Dungmitteln,  Viehstücken  u.  dgl. 
bestehenden  Kapitales  einen  Gesamtertrag  von  330  Metzen  Getreide,  so 
hat  die  Zurechnung  zu  entscheiden,  welche  Quote  dieser  330  Metzen  der 
Landwirt  seinem  Boden,  welche  er  den  mitwirkenden  Arbeitern,  und 
welche  er  jenem  mitwirkenden  und  dabei  sich  zum  Teile  vernutzenden 
landwirtschaftlichen  Kapitale  verdankt.  Ergeben  zufällig  jene  Erwägungen, 
nach  denen  dies  zu  entscheiden  ist,  daß  jedem  der  drei  Faktoren  der  gleiche 
Anteil  an  der  Erzielung  jenes  Ertrages  zukommt,  so  wird  der  produktive 
Beitrag  für  jeden  von  ihnen  mit  110  Metzen  bestimmt  werden,  wobei  es 
vollkommen  klar  ist,  daß  die  der  Mitwirkung  des  Kapitales  zugesprochene 
Quote  von  110  Metzen  eine  Rohertragsquote  ist.  Ob  sich  in  dieser  Roh- 
ertragsquote auch  eine  Reinertragsquote  finden  wird,  desgleichen  ob  die 
dem  Boden  und  der  Arbeit  zugesprochenen  Rohertragsquoten  von  irgend 
einem  Gesichtspunkt  sich  als  Reinerträge  darstellen  oder  nicht,  das  sind 
Fragen,  die  über  das  Problem  der  Zurechnung  hinausgehen;  Fragen,  für 
deren  Lösung  die  Größe  der  zugerechneten  Rohertragsquoten  vielleicht 
ein  belangreiches,  oder  sogar  hervorragend  wichtiges  Element,  aber  doch 
immer  nur  ein  einzelnes  Element  bilden  kann,  neben  welchem  auch  noch 
andere  Tatsachen  und  Erwägungen  Einfluß  erlangen,  die  mit  der  Operation 
der  Zurechnung  nichts  zu  tun  haben.  Die  Zurechnung  endigt  in  unserem 
Beispielsfalle  mit  dem  Ausspruche,  daß  der  Produzent  von  dem  Gesamt- 
ertrage von  330  Metzen  je  110  Metzen  der  Mitwirkung  des  Bodens,  der 
Arbeit  und  der  Kapitalgüter  verdankt:  darüber  hinaus  sagt  sie  nicht 
das  mindeste  weiter. 

Nun  meint  aber  Wieser  dennoch  plausibel  machen  zu  können,  daß 
im  Wege  der  Zurechnung  dem  Kapital  auch  schon  ein  Anteü  am  Rein- 
ertrage zugesprochen  werden  müsse.  Aber  es  ist  ebenso  interessant  als 
bezeichnend,  daß  er  die  Anknüpfung  für  seine  Darlegung  nur  dadurch 
finden  konnte,  daß  er  —  natürlich  unbewußt  —  den  Ausdruck  „Reinertrag" 
in  irreführender  Doppelsinnigkeit  gebraucht.  „Unzweifelhaft"  —  sagt 
er  in  der  oben  zitierten  Stelle  —  „ist  der  Gesamtertrag  aller  drei  Pro- 
duktionsfaktoren Land,  Kapital  und  Arbeit  zusammen  groß  genug,  um 
den  Kapitalverbrauch  zu  ersetzen  und  Reinertrag  zu  geben". 
Gewiß  und  auch  sehr  begreiflicher  Weise.  Denn  was  in  dieser  Redewendung 

»)  S.  113. 

«)  S.  87. 


522  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Gegenwart. 

„Reinertrag"  genannt  wird,  ist  der  Überschuß  des  Gesamtertrages  Von 
Land,  Kapital  und  Arbeit  über  den  Wert  des  verbrauchten  Kapitales 
allein,  oder,  mit  anderen  Worten,  der  Überschuß  des  Wertes  des  Erzeug- 
nisses von  drei  Faktoren  über  den  Wert  eines  von  ihnen.  Daß  aber 
drei  Faktoren  zusammengenommen  mehr  erzeugen  können,  ale  was  einer 
von  ihnen  wert  ist,  ist  nicht  nur  an  sich  eine  sehr  plausible  Sache,  sondern 
wird  geradezu  zur  Selbstverständlichkeit  im  Rahmen  einer  Lehre,  welche, 
wie  die  WiESERSche,  grundsätzlich  den  Wert  des  Produktes  mit  dem 
Werte  der  Summe  seiner  Faktoren  zusammenfallen  läßt:  im  Lichte  einer 
solchen  Auffassung  ist  die  Existenz  jenes  „Reinertrages"  in  demselben 
Grade  und  aus  demselben  Grunde  selbstverständlich,  als  es  selbstverständ- 
lich ist,  daß  das  Ganze  größer  sein  muß  als  ein  Teil,  oder  daß  eine  gefüllte 
Kiste  nicht  bloß  ein  „Bruttogewicht",  sondern  immer  auch  ein  „Netto- 
gewicht" über  das  Gewicht  der  leeren  Kiste  hinaus  besitzen  muß! 

Dabei  liegt  es  auf  der  Hand,  daß  die  Gründe,  warum  man  bei  der 
Konstruktion  jenes  Reinertrages,  den  die  Produktion  im  ganzen  abwirft, 
von  ihrem  Rohertrage  zwar  den  Wert  des  verbrauchten  Kapitales,  aber 
nicht  auch  den  Wert  der  verbrauchten  Bodennutzung  und  der  konsumierten 
Arbeit  in  Abzug  bringt,  solche  sind,  welche  mit  der  Frage  der  Zurechnung 
gar  nichts  zu  tun  haben.  Diese  Gründe  sind  vielmehr  bekanntlich  lediglich 
in  der  Beschaffenheit  des  Gesichtspunktes  zu  suchen,  aus  welchem  der 
Beschauer  den  Erfolg  der  Produktion  beurteilt.  Ändert  sich  dieser  Ge- 
sichtspunkt, so  ändert  sich  auch  das  Verhalten  in  der  Frage  der  Abrechnung 
oder  Nichtabrcchnung  des  Wertes  jener  anderen  Produktionsfaktoren. 
Der  Unternehmer  z.  B.,  welcher  fremde  Arbeit  kauft  und  bezahlt,  wird 
sicherlich  von  seinem  individualwirtschaftlichen  Standpunkt  aus,  auch 
den  Wert  der  verbrauchten  Arbeit  vom  Rohertrage  abrechnen  müssen^). 
Stellt  man  sich  dagegen  auf  den  sogenannten  volkswirtschaftlichen  Stand- 
punkt, —  wie  es  z.  B.  Wieser  mit  seinem  Hinweis  darauf  tut,  daß  aus 
jenen  „Reinerträgen  allergrößten  Urafanges"  mehr  als  eine  Milliarde 
Menschen  erhalten  werden  —  so  hat  die  Abrechnung  wieder  zu  unter- 
bleiben. Dabei  ist  aber  wohl  völlig  klar,  daß  die  Frage  der  Zurechnung 
mit  der  Wahl  zwischen  diesen  verschiedenen  möglichen  Gesichtspunkten 
und  mit  den  ihnen  entsprechenden  verschiedenen  Methoden  der  Rein- 
ertragsberechnung nicht  das  Mindeste  zu  tun  hat:  wie  viel  Rohertrag  dem 
Faktor  Arbeit  zugerechnet  wird,  ist  eine  Frage,  und  zwar  die  Frage  der 

^)  Auch  der  Gesichtspunkt  kann,  zumal  bei  den  auf  eigene  Rechnung  Produ- 
zierenden, eingenommen  werden,  ob  der  Ertrag  der  Atbeit  die  Arbeitsplage  erreicht 
oder  übersteigt:  ist  der  Nutzen,  den  der  Arbeiter  aus  dem  Arbeitserfolg  zieht,  kleiner 
als  das  mit  der  Arbeit  verbundene  Leid,  so  kann  man  aus  einem  gewissen,  ebenfalls 
zulässigen  und  belangreichen  Gesichtspunkt  sagen,  daß  die  Arbeit  nicht  lohnend  war; 
umgekehrt  kann  man  den  Überschujß  des  Nutzens  über  das  für  seine  Erlangung  er- 
duldete Leid  als  einen  ,, reinen  Nutzen"  auffassen  (Marshalls  ,,proBucer's  surples": 
Principles,  3.  Aufl.  S,  217). 


VI.  Produktivitätstheorien.    Wieser.  523 

Zurechnung;  ob  man  aber  sodann  den  auf  dieser  Zurechnung  beruhenden 
Wert  der  Arbeit  selbst  vom  Rohertrag  abziehen  soll  oder  nicht,  das  ist 
eine  zweite,  hievon  vollkommen  unabhängige  und  getrennte  Frage. 

Nichts  desto  weniger  wül  Wieser  die  Existenz  eines  Reinertrages 
von  der  eben  geschilderten  Herkunft  und  Beschaffenheit  als  Erklärungs- 
brücke dafür  benützen,  daß  speziell  auch  dem  Kapitale  ein  Reinertrag 
zugerechnet  werden  müsse.  Es  könne  sich  —  so  drückt  er  sich  in  der  oben 
2dtierten  Stelle  aus  —  nur  um  das  eine  fragen,  ob  auch  dem  Faktor  Kapital 
ein  Teil  jenes  unzweifelhaften  Reinertrages  zuzurechnen  sei:  aber  auch 
das  könne  nicht  ernstlich  in  Frage  gezogen  werden.  Denn  „warum  sollte 
gerade  dem  Kapital  kein  solcher  Anteil  zukommen?" 

Die  Antwort  ist  sehr  einfach:  weil  das,  was  man  Reinertrag  des  Kapi- 
tales nennt,  eben  gar  kein  „solcher"  Reinertrag,  sondern  eine  ganz  anders 
qualifizierte,  in  ihrer  Existenz  an  ganz  andere  und  zwar  viel  strengere 
Bedingungen  geknüpfte  Größe  ist.  Denn  während  ein  Reinertrag  der 
Produktion  aus  dem  oben  bezeichneten  Gesichtspunkt  schon  vorliegt, 
wenn  der  ganze  Rohertrag,  den  alle  drei  mitwirkenden  Faktoren  zusammen 
hervorbringen,  größer  ist  als  der  Wert  des  verbrauchten  Kapitales,  liegt 
ein  Reinertrag  des  Kapitales  erst  dann  vor,  wenn  schon  die  dem 
Faktor  Kapital  zugerechnete  einzelne  Quote  des  Rohertrages  größer  ist 
als  das  vemutzte  Kapital.  Und  das  Zutreffen  des  ersten  Verhältnisses 
läßt,  eben  wegen  der  völligen  Verschiedenheit  der  Voraussetzungen,  absolut 
keine  Folgerung,  auch  nicht  den  leisesten  Wahrscheinlichkeits-  oder 
Analogieschluß  darauf  zu,  daß  auch  das  zweite  Verhältnis  zutreffen  müsse 
oder  werde.  Daß  drei  Männer  zusammengenommen  mehr  zu  heben  imstande 
sind,  als  das  Gewicht  eines  von  ihnen,  mag  vollkommen  ausgemacht  und 
erklärlich  sein;  aber  daraus,  daß  drei  Männer  zusammen  imstande  sind, 
ein  „Übergewicht"  über  das  Gewicht  eines  von  ihnen  zu  heben,  folgt  nicht 
das  mindeste  dafür,  daß  auch  dieser  eine  allein  imstande  sein  werde,  ein 
Übergewicht  über  sein  eigenes  Gewicht  zu  heben.  Es  mag  sein,  daß  er 
es  kann;  aber  wer  dies  behaupten  und  zumal  erklären  will,  wird  dafür 
irgend  einen  speziellen,  bei  jener  einen  Person  zutreffenden  Grund  vor- 
bringen müssen;  ein  solcher  kann  aber  unmöglich  aus  der  Tatsache  her- 
geholt, oder  durch  sie  auch  nur  verstärkt  werden,  daß  drei  Männer  zu- 
sammen mehr  als  das  Gewicht  eines  ihrer  Grenossen  zu  heben  imstande  sind! 

Bricht  man  aber  die  trügerische  EIrklärungsbrücke  ab,  die  Wieser 
von  dem  Reinertrag  in  dem  einen  zum  Reinertrag  im  anderen  Sinne  baut, 
dann  bleibt  in  seiner  Argumentation  nichts  übrig,  worauf  sich  noch  eine 
Erklärung  des  reinen  Kapitalertrages  stützen  lassen  könnte.  Wenn  er 
auf  die  Frage:  „Sollte  das  Kapital  immer  nur  etwas  weniger  als  seinen 
eigenen  Ersatz  hervorzubringen  imstande  sein?"  die  Antwort  erteilt:  „die 
Annahme  wäre  offenbar  willkürlich"  —  so  ist  er  vollkommen  im  Rechte. 


524  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Gegenwart. 

Wenn  er  aber  zu  fragen  fortfährt:  „Sollte  es  immer  gerade  nur  seinen 
eigenen  Ersatz  hervorzubringen  imstande  sein,  wie  verschieden  auch  die 
Produktionen  gelingen  mögen?"  und  darauf  wiederum  antwortet:  „die 
Annahme  wäre  offenbar  nicht  minder  willkürlich"  —  so  ist  dies  schon 
nicht  ohne  Bedenken.  Denn  es  könnte  sehr  wohl  sein,  daß  zwar  nach  dem 
zufälligen  Grade  des  Gelingens  der  Kapitalertrag  vom  Betrage  des  hiebei 
verbrauchten  Kapitals  bald  nach  aufwärts,  bald  nach  abwärts  abweichen, 
dabei  aber  dennoch  die  Tendenz  durchgreifen  könnte,  daß  im  Durch- 
schnitt der  Kapitalertrag  gerade  nur  den  Kapitalersatz  deckt:  und  zumal 
im  Zusammenhang  einer  Lehre,  welche,  wie  die  WiESERsche,  grundsätzlich 
den  Wert  des  Produktes  auf  seine  Produktionsfaktoren  übergehen  läßt, 
dürfte  eine  solche  Annahme  kaum  als  eine  ganz  willkürliche  erscheinen. 
Aber  gesetzt  auch,  sie  wäre  es,  so  wäre  aus  der  Willkürlichkeit  der  beiden 
ersten  Annahmen  noch  immer  kein  Schluß  darauf  zu  ziehen,  daß  die  dritte 
Annahme,  daß  das  Kapital  regelmäßig  mehr  als  seinen  Ersatz  hervor- 
bringen müsse,  zutreffend  und  berechtigt,  oder  gar,  daß  sie  damit  erklärt 
sei.  Wenn  es  gewiß  willkürlich  wäre  anzunehmen,  daß  ein  Mann  immer 
nur  weniger  als  sein  eigenes  Gewicht  zu  heben  imstande  ist,  und  wenn 
es  gewiß  ebenso  willkürlich  ist  anzunehmen,  daß  er  gerade  sein  eigenes 
Gewicht,  nicht  mehr  und  nicht  weniger,  zu  heben  imstande  sein  sollte, 
so  ist  es  doch  an  sich  und  so  lange  nicht  ein  anderer  positiver  Grund  hin- 
zutritt, gewiß  ebenfalls  nicht  minder  \\nllkürlich  anzunehmen,  daß  jeder 
Mann  mehr  als  sein  eigenes  Gewicht  zu  heben  imstande  sein  soll.  Wenn 
von  drei  möglichen  Regeln  zwei  sich  nicht  erweisen  lassen,  so  ist  damit 
keineswegs  ausgemacht,  daß  die  dritte  Regel  zutreffe,  sondern  es  kann 
auch  die  Existenz  einer  Regelmäßigkeit  überhaupt  in  der  Schwebe  ge- 
blieben sein.  Und  wenn  wir  auch  in  unserem  Falle  aus  einer  andern  Er- 
kenntnisquelle als  aus  solchen  Syllogismen,  nämlich  wenn  wir  aus  der 
Erfahrung  wissen,  daß  regelmäßig  der  dem  Kapitale  zuzurechnende 
Ertragsteil  den  Kapitalverbrauch  übersteigt,  so  fällt  auf  diese  Tatsache 
von  jenen,  schon  an  sich  nicht  schlüssigen  Syllogismen  her  doch  gewiß 
kein  Strahl  einer  Erklärung,  wie  sie  eine  Zinstheorie  zu  bringen  berufen 
und  gehalten  ist. 

Und  auch  im  Folgenden  geschieht  nichts  derart.  Wieser  will  an 
einem  konkreten  Fall  seinen  allgemeinen  Lehrsatz  recht  einleuchtend 
machen  und  wählt  dazu  das  Beispiel  einer  Maschine,  welche  Handarbeit 
verdrängt.  „Überall,  wo  durch  das  Kapital  Arbeit  verdrängt  wird,  wo 
z.  B.  eine  Maschine  die  Leistung  übernimmt,  die  bisher  die  menschliehe 
Hand  ausführte,  muß  das  Kapital,  muß  die  Maschine  zum  mindesten  den 
bisherigen  Ertrag  der  Arbeit  zugerechnet  erhalten.  Dieser  aber  war 
ein  Reinertrag,  also  muß  auch  das  Kapitalgut  Reinertrag 
zugerechnet  erhalten"^).    Daß  auch  dieser  Syllogismus  keine  andere 

»)  S.  125. 


VI.  Produkt! vi tätstheorien.    Wieser.  526 

Stütze  hat,  als  den  oben  gerügten  zweideutigen  Gebrauch  des  Wortes 
Reinertrag,  brauche  ich  dem  einmal  aufmerksam  gewordenen  Leser  kaum 
mehr  auseinanderzusetzen.  Der  Trugschluß  ist  ja  hier  noch  auffälliger. 
Denn  einen  Reinertrag  im  ersten  Sinne  —  wobei  man  den  Wert  der  Arbeit 
selbst  von  ihrem  Ertrage  nicht  abrechnet  —  gibt  ja  selbst  eine  ganz  un- 
ergiebige, unökonomische,  die  Arbeitskosten  nicht  deckende  und  daher 
für  den  Unternehmer  \erlustbringende  Verwendung  der  Arbeit,  eine  Ver- 
wendung z.  B.,  in  welcher  Arbeit  im  Werte  von  100  fl.  konsumiert,  dem 
bearbeiteten  Rohstoff  aber  dadurch  nur  ein  Wert  von  50  fl.  zugesetzt 
wird.  Wer  aber  möchte  im  Rahmen  der  WiESERschen  Schlußform  sich 
zu  der  Folgerung  verstehen,  daß  auch  ein  Kapital,  welches  eine  solche 
Arbeit  mit  gleichem  oder  selbst  etwas  günstigerem  Erfolge  ersetzt,  not- 
wendigerweise nicht  bloß  einen  Rohertrag,  sondern  auch  einen  Reinertrag 
zugerechnet  erhalten  müsse,  da  es  ja  mindestens  denselben  Ertrag  zuge- 
rechnet erhalten  müsse,  welcher  der  verdrängten  Arbeit  zugesprochen 
worden  war,  und  dieser  ein  „Reinertrag"  gewesen  sei? 

Wenn  weiterhin  Wieser  sich  in  längeren,  an  Thünen  anknüpfenden 
Auseinandersetzungen^)  beinüht,  es  technisch  plausibel  zu  machen,  daß 
ein  Kapital  zur  Erzeugung  eines  seine  eigene  Substanz  übersteigenden 
Produktes  verhelfen  müsse,  so  stößt  er  genau  auf  dieselbe  Kuppe,  auf  die 
seinerzeit  Thünen  gestoßen  ist.  Ein  Kapital  erzeugt  nämlich  nicht  buch- 
stäblich sich  selbst  wieder  und  noch  etwas  anderes  dazu.  Sondern  es 
erzeugt  irgend  welche  andersartigen  Produkte  und  diese  sind  mit  ihm 
nicht  anders  kommensurabel  als  unter  dem  Gesichtspunkt  des  Wertes. 
Bogen  und  Pfeile  liefern  ihr  Produkt  nicht  wieder  in  Bogen  und  Pfeilen, 
sondern  im  erlegten  Wild;  daß  aber  dieses  erlegte  Wild  mehr  wert  ist,  als 
die  bei  seiner  Erlegung  vernutzten  Bogen  und  Pfeile,  ist  nicht  eine  technische 
Tatsache,  mit  welcher  man  den  Reinertrag  des  Kapitales,  das  ist  den 
Gegenstand  des  Zinsproblems  erklären  könnte,  sondern  es  ist  die  den 
Gegenstand  dieses  Problems  bildende,  also  die  zu  erklärende  Tatsache 
selbst 2).  Wieser  sieht  auch  die  Klippe  ganz  gut:  er  merkt  ausdrücklich 
an,  daß  der  Ertrag  der  Bogen  und  Pfeile  „ein  Rohertrag  in  fremdartigen 
Dingen  ist,  aus  denen  sie  sich  nicht  ersetzen,  mit  denen  sie  wohl  im  Werte, 
aber  nicht  der  Menge  nach  verglichen  werden  können"^).  Aber  er  glaubt 
über  die  Schwierigkeit  mit  der  etwas  vagen  Auskunft  einer  „mittelbaren 
Wirksamkeit  des  Kapitales"  herumzukommen.  „Der  einmal  gewonnene 
Besitz  von  Pfeilen,  Bogen  und  Netzen  erleichtert  die  Bedingungen  der 
Wiedererzeugung,  wenn  er  auch  an  derselben  nicht  mitwirkt:  er  erleichtert 
sie  durch  die  außerordentliche  Steigerung  des  Rohertrages  an  Wild  und 
Fischen,  in  Folge  deren  nun  weit  mehr  Arbeit  als  früher  für  die  Kapital- 

1)  §§  36  u.  37. 

2)  Siehe  oben  löOff. 

8)  S.  130.  ' 


526  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Gegenwart. 

beschaffung  frei  ist.  Daher  kommt  diesen  Kapitalgütern  schließlich  im 
Gesamtergebnisse  ein  Reinertrag  zuzurechnen,  geradeso  als  ob  sie  sich 
selber  unmittelbar  mit  einem  Überschusse  wiedererzeugten". 

Ich  glaube,  daß  einige  Zweifel  schon  darüber  möglich  wären,  ob  dieser 
„mittelbare"  Zusammenhang  fest  und  lückenlos  genug  ist,  um  eine  exakte 
Zurechnung  auf  ihn  gründen  zu  können.  Man  könnte  insbesondere  zweifel- 
haft sein,  ob  die  technische  Kommensurabüität  zwischen  Produkten,  die 
der  Arbeiter  genießt,  und  solchen,  die  er  wieder  erzeugen  wird,  durch  die 
Einschaltung  des  Zwischengliedes  „Person  des  Arbeiters"  nicht  eher 
unterbrochen  als  vermittelt  wird,  da  ja  das  arbeitende  Wirtschaftssubjekt 
—  außer  dem  Fall  der  Sklaverei,  vom  rüdesten  Sklavenhälterstandpunkt 
betrachtet  —  einerseits  als  Produktionsfaktor  zweifellos  eine  originäre 
Produktivkraft  und  andererseits  als  Konsument  den  endgütigen  Destinatar, 
den  Ziel-  und  Endpunkt  für  die  Bemühungen  der  vorausgegangenen  Pro- 
duktion darstellt,  so  daß  seine  Dazwischenkunft  eher  eine  Cäsur  im  pro- 
duktionstechnischen Prozesse,  einen  Abschluß  der  bisherigen,  in  seinen 
Konsum  einmündenden,  und  den  Beginn  einer  neuen  Produktion,  als  ein 
Fortspinnen  eines  und  desselben  Produktionsprozesses  zu  bedeuten  scheint. 

Ich  will  indes  diese  ebenso  heikle  als  schwierige  Frage  ganz  dahin- 
gestellt sein  lassen.  Auch  wenn  man  sich  an  den  mancherlei  Bedenken, 
auf  die  sie  führt,  nicht  stoßen  wollte,  so  würde  die  von  Wieser  versuchte 
Erklärung  immer  noch  an  dem  zweiten  Teile  ihres  Programmes  scheitern, 
an  jenem  Teile,  welcher  die  Aufgabe  hat,  aus  der  physischen  eine  Wert- 
produktivität des  Kapitales  abzuleiten.  Gesetzt,  es  wäre  wirklich  gelungen 
nachzuweisen,  daß  dem  Kapitale  eine  physische  Menge  von  Produkt  zuzu- 
rechnen kommt,  die  größer  ist  als  die  vom  verbrauchten  Kapital  selbst 
repräsentierte  Menge,  so  bleibt  nämlich  noch  nachzuweisen  und  zu  er- 
klären, daß  jene  größere  Menge  von  Produkt  auch  einen  größeren  Wert 
haben  muß  als  das  Kapital,  aus  dem  sie  hervorgegangen  ist.  Das  ist  nun 
wiederum  nicht  allein  gar  nicht  selbstverständlich,  sondern  geradezu  gegen 
die  allgemeinen  Voraussetzungen  der  WißSERschen  Zurechnungstheorie. 
Wiesers  ganze  Wert-  und  Zurechnungstheorie  fußt  ja  auf  dem  Gedanken, 
daß  der  Wert  der  Güter  von  dem  ihnen  zuzurechnenden  (Grenz-)Nutzen 
stammt.  Dies  gut  für  die  Produktivgüter  so  gut  wie  für  die  Genußgüter. 
Nun  bringen  die  Produktivgüter  ihren  Nutzen  durch  ihre  Produkte:  es 
ist  daher  der  Nutzen,  den  man  einem  Produktivgut  verdankt,  grundsätzlich 
genau  derselbe,  den  man  ihren  Produkten  verdankt.  Und  darum  muß 
auch  das  Produktivgut,  weil  es  von  derselben  Nutzgröße  seinen  Wert 
ableitet,  grundsätzlich  genau  denselben  Wert  haben,  wie  das  ihm  zuzu- 
rechnende Produkt;  es  ist  also  —  falls  nicht  von  anderswoher  irgend  ein 
ganz  neuer,  spezieller  Einfluß  sich  einmischt  —  ein  Wertüberschuß  des 
Produktes  über  sein  korrespondierendes  Produktivgut,  oder  eine  Wert- 
produktivität des  Kapitales  geradezu  ausgeschlossen. 


VI.  Produktivitätstheorien.    Wieser.  527 

Wieser  sieht  auch  diese  Klippe,  auf  welche  ich  der  älteren  Pro- 
duktivitätstheorie gegenüber  aufmerksam  gemacht  hatte  ^),  ganz  gut  und 
führt  sie  sich  und  seinen  Lesern  auch  ausdrücklich  vor  Augen.  „Das 
Kapital"  —  sagt  er  —  „empfängt  seinen  Wert  von  seinen  Früchten;  wenn 
man  daher  .  .  .  vom  Werte  dieser  Früchte  den  Kapitalverbrauch  mit 
seinem  Werte  in  Abzug  bringt,  so  muß  .  .  .  sich  die  Rechnung  auf  Null 
stellen  —  es  muß  immer  so  viel  abgezogen  werden  als  der  Wert  der  Früchte 
beträgt,  der  ja  das  Maß  für  die  Bewertung  der  Abzugsgröße  gibt;  folglich 
läßt  die  Wertrechnung  keinen  Reinertrag  übrig,  der  Kapitalzius  ist  nicht 
nur  nicht  erklärt,  sondern  geradezu  ausgeschlossen"  2),  Wieser  glaubt 
aber  diese  „Bedenken"  mit  Hilfe  derjenigen  Unterstützung  „auflösen"  zu 
können,  die  durch  die  Ergebnisse  seiner  Untersuchungen  über  die  Zu- 
rechnung geliefert  werde.  Seine  Zurechnungstheorie  berechtige  ihn,  dem 
Kapital  nicht  bloß  einen  Rohertrag,  sondern  auch  einen  physischen  Rein- 
ertrag zuzurechnen.  „Im  Rohertrage  erzeugt  sich  das  Kapital  mit  einem 
physischen  Überschusse,  dem  Reinertrag,  wieder;  hieraus  folgt,  daß  der 
Kapital  wert  nicht .. .  mit  dem  ganzen  Werte  des  Rohertrages  angeschlagen 
werden  kann.  Das  Kapital  stellt  sich  bei  der  Wiedererzeugung  nur  als 
ein  Teil  seines  eigenen  Rohertrages  dar,  folglich  kann  es  auch  nur  einen 
Teil  von  dem  Werte  desselben  in  sich  aufnehmen."  Ist  der  Rohertrag  105 
wert,  und  geht  der  Teilbetrag  von  5  auf  Früchte  ab,  welche  verzehrt 
werden  können,  ohne  daß  die  volle  Wiederherstellung  des  Kapitales  gestört 
wird,  „so  kann  nur  der  Rest  100  als  Kapitalwert  gerechnet  werden"^). 

Ich  glaube,  daß  diesem  Gedankengange  zweierlei  entgegengehalten 
werden  kann.  Zuvörderst  kann  man,  wie  ich  mich  oben  darzulegen  be- 
mühte, schon  die  Prämisse  bestreiten,  daß  die  Zurechnungsregeln  über- 
haupt zu  der  Zurechnung  eines  physischen  Reinertrages  des  Kapitales 
führen*).  Aber  selbst  wenn  diese  Prämisse  richtig  wäre,  wäre  der  aus  ihr 
gezogene  Schluß  nicht  richtig.  Gesetzt  es  wäre  wirklich  einem  Kapital, 
das  aus  100  Stücken  besteht,  ein  Rohertrag  von  105  gleichartigen  Stücken, 
also  ein  „physischer  Reinertrag"  von  5  Stücken  zuzurechnen,  so  wäre 
der  einzige  korrekte  Schluß,  der  sich  aus  diesem  Tatbestande  innerhalb 
des  allgemeinen  Grundsatzes  von  der  Identität  des  Wertes  der  Produktions- 
mittel und  ihrer  Produkte  ziehen  üeße,  der,  daß  der  Wert  des  einzelnen 

1)  Siehe  oben  S.  169. 

*)  A.  a.  0.  S.  134«. 

»)  A.  a.  0.  S.  136;  vgl.  auch  134ff. 

*)  Zur  Vermeidung  eines  Mißverständnisses  möchte  ich  ausdrücklich  bemerken, 
daß  Wieser  eine  physische  Produktivität  des  Kapitales  in  einem  Sinne  behauptet, 
welcher  sich  von  allen  den  sehr  zahlreichen  Bedeutungen  des  Wortes  „Produktivität 
des  Kapitales",  die  ich  im  VII.  Abschnitte  dieses  Werkes  S.  97ff.  aufgezählt  und  er- 
läutert hatte,  und  auch  von  derjenigen  unterscheidet,  in  welcher  ich  in  meiner  eigenen 
positiven  Theorie  eine  solche  physische  Produktivität  anerkannt  und  zur  Stütze  eines 
Teiles  meiner  Darlegungen  gemacht  habe;  siehe  „Positive  Theorie"  3.  Aufl.  S.  164f., 
4.  Aufl.  S.  115f. 


528  Anhang.     Die  Zinsliteratur  in  der  Gegenwart. 

Stückes  eben  nicht  in  beiden  Generationen  des  Kapitales  gleicii  groß  sein 
kann,  sondern  daß  100  Stück  der  früheren  Kapitalgeneration  so  viel  wert 
sein  müssen,  als  105  Stück  der  nächsten,  z.  B.  nächstjährigen  Generation, 
wobei  offenbar  die  Gleichwertigkeit  des  Kapitales  mit  seinem  ganzen 
Rohertrage  gewahrt  bliebe. 

Wieser  kann  denn  auch  zu  seinem  entgegengesetzten  Resultate,  daß 
der  Wert  des  Kapitales  nur  mit  einem  kleineren  Betrage  als  dem  seines 
Rohertrages  angeschlagen  werden  dürfe,  nur  vermittelst  eines  weiteren, 
durch  eine  trügerische  dialektische  Wendung  verschuldeten  logischen  Ver- 
stoßes gelangen.  Er  wiederholt  hier  einen  in  der  Geschichte  der  Zinstheorie 
schon  berühmt  gewordenen  Fehler.  Geradeso  wie  einst  die  alten  Kano- 
nisten,  samt  ihren  damaligen  Gegnern^),  und  wie  jungt  noch  Knies**), 
fingiert  nämlich  Wieser  ebenfalls  die  Identität  des  ursprünglichen  Kapi- 
tales mit  einer  Gleichzahl  gleicher  Güterstücke  in  einer  folgenden  Periode. 
Er  führt  diese  Fiktion  dialektisch  ein.  Den  —  mit  Recht  oder  Unrecht  — 
vorausgesetzten  Tatbestand,  daß  einem  Kapital  eine  größere  Stückzahl 
von  Produkten  zugerechnet  wird,  als  woraus  es  selbst  besteht,  bringt  er 
mit  den  verfänglichen  Worten  zum  Ausdruck:  „im  Rohertrag  erzeugt  das 
Kapital  sich  mit  einem  physischen  Überschusse  wieder";  von  dieser  Basis 
folgert  er  dann  schrittweise  weiter:  ,,das  Kapital  stellt  sich  bei  der 
Wiedererzeugung  nur  als  ein  Teil  seines  eigenen  Rohertrages  dar"  und 
folglich  kann  „es"  (das  Kapital)  auch  nur  einen  Teil  vom  Werte  des  Roh- 
ertrages in  sich  aufnehmen.  Korrekter  Weise  hätte  dagegen  Wieser  im 
ersten  Satze  nur  sagen  dürfen:  „Im  Rohertrag  erzeugt  das  Kapital  eine 
unter  andern  Zeitumständen  verfügbare  Gleichzahl  gleichartiger 
Stücke  und  über  diese  hinaus  noch  eine  Überzahl  an  solchen";  der  zweite 
Satz  hätte  dann  korrekt  nur  lauten  können:  „jene  Gleichzahl  stellt  sich 
nur  als  ein  Teil  des  Rohertrages  dar"  und  der  Schluß  hätte  endlich  nur 
dahin  gehen  können,  daß  jene  Gleichzahl  auch  nur  einen  Teil  vom 
Werte  des  Rohertrages  in  sich  aufnehmen  könne.  Kurz,  anschaulich  und 
bewiesen  ist,  daß  100  Stücke  oder  Einheiten  der  zweiten  Kapital- 
generation weniger  wert  sind  als  105  Stücke  dieser  zweiten  Generation; 
aber  da  das  ursprüngliche  Kapital  von  100  Stücken  mit  den  100  Stücken 
der  zweiten  Generation  ganz  und  gar  nicht  identisch  ist,  so  besteht  auch 
keinerlei  Berechtigung,  jenes  Wertverhältnis  zum  Rohertrage  auf  das 
ursprüngliche  Kapital  umzudeuten. 

Die  Wahrheit  ist  vielmehr,  wie  ja  auch  die  allgemeinen  Grundlagen 
der  WiESERschen  Theorie,  welchen  der  Verfasser  nur  nicht  völlig  treu 
geblieben  ist,  postulieren,  daß  das  Kapital  mit  seinem  ganzen,  wenn  auch 
möglicherweise  aus  mehr  Stücken  bestehenden  Rohertrage  gleichwertig 


M  Siehe  oben  S.  226  ff.  u.  bes.  231. 

*)  Siehe   oben    S.  217 ff.,   dann   auch   meine    „Positive  Theorie"  3.  A.  S..491, 
4.  Aufl.  S.  366. 


VI.  Produktivitätstheorien.    Wieser.  529 

ist.  Wie  sich  trotz  dieser  anfänglichen  Gleichwertigkeit  ein  Wertzuwachs, 
der  den  Stoff  für  den  Kapitalzins  liefert,  ergeben  kann,  das  ist  der  sprin- 
gende Punkt  des  Zinsproblemes;  für  welchen  sich,  wie  ich  glaube,  eine 
Erklärung  durch  den  Einfluß  der  zeitlichen  Entfernung  auf  die  Wert- 
schätzung der  Güter,  beziehungsweise  durch  das  Hineinreifen  der  anfangs 
minderwertigen  Zukunftsgüter  in  den  Vollwert  gegenwärtiger  Güter  dar- 
bietet^); welcher  aber  keine  befriedigende  Erklärung  durch  die  prinzip- 
widrige Annahme  findet,  daß,  im  Unterschied  zu  allen  andern  Gütern, 
die  Kapitalgüter  ihren  Wert  nur  von  einem  Teile  des  Nutzens,  dessen 
Entstehung  ihnen  zuzurechnen  ist,  ableiten  sollen! 

Eigentümlicher  Weise  gelangt  auch  W^ieser  im  weiteren  Verlauf 
seiner  Untersuchungen  dazu,  den  im  Mittelpunkt  meiner  Zinstheorie 
stehenden  Satz,  daß  gegenwärtige  Güter  in  der  Regel  mehr  wert  sind  als 
künftige,  anzuerkennen;  nur  will  er  ihn  nicht  als  Ausgangspunkt,  sondern 
als  Folgeerscheinung  der  von  ihm  demonstrierten  Zusammenhänge,  nicht 
als  Ursache  der  Zinserscheinung,  sondern  als  ihre  Wirkung  gelten  lassen 2). 
Wenn  ich  mich  indessen  nicht  vollständig  täusche,  so  ist  jener  Satz  auch 
nicht  als  Konsequenz  aus  den  WiESERschen  Anschauungen  abzuleiten, 
sondern  mit  ihnen  einfach  unvereinbar.  Wenn  ein  Kapital  von  100  Stücken 
in  einem  Jahre  einen  Rohertrag  von  105  Stücken  bringt,  so  kann  es  un- 
möglich gleichzeitig  wahr  sein,  daß  das  aus  100  gegenwärtigen  Stücken 
bestehende  Kapital  einen  um 5%  kleineren  Wert  als  sein  aus  105  Stücken 
bestehender  Rohertrag  besitzt,  und  daß  dennoch  jene  100  gegenwärtigen 
Stücke  ebensoviel  wert  sind  als  105  nächstjährige  Stücke!  Wieser 
konnte  zu  dem  letzteren  —  vollständig  richtigen  —  Ausspruche^)  nur 
dadurch  gelangen,  daß  er  hier  die  unzulässige  Fiktion  der  Identität  des 
gegenwärtigen  Kapitales  mit  einer  gleichen  Stückzahl  seines  Ertrages 
fallen  ließ;  er  hätte  nur  freilich  eben  dieselbe  Fiktion  schon  in  seinen 
vorausgehenden  Räsonnements  gar  nicht  aufstellen  dürfen!  — 

Wiesers  mit  großer  Beredsamkeit  und  vielen  geistvollen  Wendungen 
vorgetragene  Zinstheorie  zieht  dadurch  ein  besonderes  Interesse  auf  sich, 
daß  sie  einen  eigenartigen  Versuch  darstellt,  in  ein  durch  und  durch 
modernes  System  gleichsam  einen  Einbau  aus  alten  Gedankenstoffen  ein- 
zufügen: aus  der  schon  in  so  vielen  Spielarten  auf  die  Szene  getretenen 
„Produktivität  des  Kapitales"  und  aus  der  altehrwürdigen  Fiktion  der 
Identität  des  ursprünglichen  Kapitales  mit  der  in  einer  künftigen  Periode 

1)  Das  Genauere  siehe  in  der  II.  Abteilung  dieses  Werkes. 

")  A.  a.  0.  S.  138.  „Dennoch  ist  es  nicht  gleichgültig,  ob  man  es  (ein  Kapital) 
von  heute  an  oder  erst  übers  Jahr  besitzt,  weil  der  heutige  Besitz  einen  Zins- 
ertrag mehr  verbürgt  .  .  .  Eine  gegenwärtige  Summe  ist  immer  mehr 
wert  als  die  gleich  bezifferte  Summe  später." 

3)  Er  findet  sich  a.  a.  0.  S.  138  in  der  materiell  identischen  Form,  daß  „100,  die 
ich  erst  nach  einem  Jahre  erhalten  soll,  heute  nur  beiläufig  95  wert  sind". 
Böhm -Ba werk,  Kapitalzius.    4.  Aufl.  34 


530  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Gegenwart. 

zvt  seiner  „Elrstattung"  dienenden  „Hauptsurame".  Der  Versuch  ist, 
wie  ich  glaube,  nicht  glücklich  ausgefallen.  Die  alten  und  die  neuen  Ge- 
danken streiten  wider  einander.  Nur  Dank  der  dialektischen  Nachgiebig- 
keit des  Verfassers  ließ  sich  an  den  kritischen  Stellen  der  Widerstreit  des 
Neuen,  um  dessen  Feststellung  sich  gerade  AVieser  unvergängliche  Ver- 
dienste erworben  hat,  mit  dem  Alten  notdürftig  verhüllen;  aber  eine  innere 
Verbindung  konnten  die  widerstreitenden  Elemente  nicht  eingehen.  Daß 
aber  auch  ein  im  Besitz  solcher  theoretischer  Mittel  und  Kräfte  unter- 
nommener Versuch,  die  Produktivitätstheorie  noch  einmal  zu  beleben, 
scheiterte,  scheint  mir  die  beste  Probe  dafür,  daß  auf  den  der  Produk- 
tivitätstheorie eigentümlichen  Gedankenwegen  die  Lösung  des  Zins- 
problems nun  und  nimmer  zu  gewinnen  ist^). 


VII. 

Die  Ausbeutungstheorie  hat  während  der  ganzen  Beobachtungs- 
periode einen  breiten  Raum  in  der  literarischen  Diskussion  eingenommen. 
Diese  war  hier  sogar  besonders  bewegt  und  belebt  durch  einen  eigentümlich 
persönlichen  Zug,  den  sie  annahm,  und  selbst  durch  eine  Art  dramatischer 
Spannung.  Von  allen  sozialistischen  Schriftstellern  hatte  —  vielleicht 
unter  ungerechter  Unterschätzung  Anderer,  und  zumal  des  wissenschaftlich 
hochstehenden  Rodbertus  —  Karl  Marx  weitaus  den  größten  Einfluß 
auf  die  Gesinnungsgenossen  gewonnen.  Sein  Werk  repräsentierte  gleichsam 
die  offizielle  Lehrmeinung  des  zeitgenössischen  Sozialismus.  Es  stand  aaher 
auch  im  Mittelpunkt  des  Angriffs  und  der  Abwehr:  die  polemit^che  Literatur 
des  Zeitraums  wurde  zur  MARX-Literatur. 

Und  zwar  unter  besonders   spannenden   Umständen.      Marx   war 


^)  Der  Druck  dieses  Buclu-s  war  nahezu  vollendet,  als  mir  das  soeben  erschienene 
neueste  Werk  Wiesers  („Theorie  der  gesellschaftlichen  Wirtschaft"  als  Teil  des  „Grund- 
risses der  Sozialökonomik"  Tübingen  1914)  in  die  Hand  kam.  Ich  konnte  demselben 
nur  noch  in  aller  Eile  eine  flüchtige  Durchsicht  widmen.  Ich  glaube  aus  derselben  zu 
erkennen,  daß  Wieser  im  großen  Ganzen  den  zinstheoretischen  Ansichten  seiner 
älteren  Werke  treu  geblieben  ist,  ohne  aber,  da  er  auf  eine  genauere  polemische  Aus- 
einandersetzung nicht  eingehen  zu  können  erklärt,  die  konkreten  Gegengründe,  mit 
welchen  er  die  mehrfachen,  gegen  seine  Zurechnungs-  und  Zinstheorie  erhobenen  Ein- 
wendungen glaubt  abwehren  zu  können,  mit  Deutlichkeit  erkennen  zu  lassen:  wir  er- 
fahren aus  einer  im  wesentlichen  ungeänderten  Wiederholung  seiner  alten  Theorien 
mehr  nur,  daß  Wieser  durch  die  ihm  entgegengehaltenen  Einwendungen  unüberzeugt 
geblieben  ist,  als  daß  wir  einen  Einblick  in  die  Gründe  dieser  Unüberzeugtheit  erlangen 
könnten.  Unter  diesen  Umständen  kann  ich  leider  nur  die  Tatsache  der  Fortdauer 
einer  Meinungsverschiedenheit  feststellen,  die  mich  in  einigen  der  wichtigsten  theore- 
tischen Fragen  von  dem  mir  persönlich  und  wissenschaftlich  so  überaus  nahe  stehenden 
hervorragenden  Forscher  trennt,  ohne  daß  ich  zur  Bereinigung  dieser  Meinungsver- 
schiedenheit im  Augenblick  ein  Weiteres  zu  tun  vermöchte. 


VII.  Die  Ausbeutungstheorie.  531 

gestorben,  ehe  er  sein  Werk  über  das  Kapital  zu  Ende  gebracht  hatte. 
Die  noch  ausständigen  Teile  fanden  sich  jedoch  nahezu  vollständig  im 
Manuskript  in  seinem  Nachlasse  vor.  Sie  sollten  insbesondere  die  Auf- 
klärung über  ein  Thema  bringen,  welches  im  Zentrum  der  Angriffe  gegen 
die  Ausbeutungstheorie  gestanden  war,  und  an  welchem  nach  der  Er- 
wartung beider  Streitteile  die  entscheidende  Probe  auf  die  Haltbarkeit 
—  wie  die  Einen  erwarteten  —  oder  die  Unhaltbarkeit  —  wie  die  Anderen 
gewärtigten  —  des  MARxschen  Systemes  abgelegt  werden  sollte:  nämlich 
über  die  Frage,  wie  die  erfahrungsmäßige  gleiche  Kapitalgewinnrate  mit 
dem  im  ersten  Bande  des  MARxschen  Werkes  entwickelten  Wertgesetz 
und  der  Ausbeutungstheorie  zusammenzureimen  sei  ^).  Gerade  die  Heraus- 
gabe des  dieses  Thema  behandelnden  dritten  Bandes  verzögerte  sich  aber 
noch  durch  11  Jahre  nach  dem  Tode  Marx',  bis  zum  Jahre  1894.  Die 
Spannung  darüber,  was  wohl  Marx  selbst  über  jenen  heikelsten  Punkt 
seiner  Lehre  zu  sagen  haben  werde,  machte  sich  in  einer  Art  prophetischer 
Literatur  Luft,  welche  sich  zum  Ziele  setzte,  die  mutmaßliche  Meinung 
Marx'  über  das  Thema  der  „Durchschnittsprofitrate"  aus  den  im  ersten 
Bande  seines  Werkes  gegebenen  Prämissen  zu  entwickeln.  Diese  pro- 
phetische Literatur  füllt  das  Dezennium  von  1885  bis  1894  und  weist 
eine  stattliche  Reihe  kleinerer  und  größerer  Schriften  auf  2).  Den  zweiten 
Akt  und  zugleich  den  Höhepunkt  der  dramatischen  Entwicklung  bildet 
die  in  das  Jahr  1894  fallende  Publikation  des  nachgelassenen  dritten 
Bandes  durch  Engels.  Und  hieran  schließt  sich  als  dritter  Akt  eine  äußerst 
lebhafte  literarische  Diskussion,  welche  die  kritische  Würdigung  dieses 
dritten  Bandes,  sein  Verhältnis  zum  systematischen  Ausgangspunkte  und 
die  ferneren  Aussichten  des  Marxismus  zum  Gegenstande  hat  und  kaum 
so  bald  zum  Abschluß  gelangen  dürfte^). 


1)  Siehe  oben  Abschn.  XII  S.  393«, 

•)  Ich  habe  eine  Zusammenstellung  derselben  schon  bei  einer  anderen  Gelegenheit 
(in  einer  Schrift  „Zum  Abschluß  des  Marxschen  Systems"  in  den  „Festgaben  für  Karl 
Knies"  1896  S.  6)  gegeben.  Sie  umfaßt:  Lexis,  Jahrbücher  für  Nationalökonomie, 
1885,  N.  F.  Bd.  XI  S.  462—65;  Schmidt,  Die  Durchschnittsprofitrate  auf  Grund 
des  Marxschen  Wertgesetzes,  Stuttgart  1889;  eine  Erörterung  letzterer  Schrift  durch 
den  Verfasser  in  der  Tübinger  Zeitschrift  f.  d.  ges.  Staatsw.,  1890,  S.  590ff.;  durch 
LoRiA  in  den  Jahrbüchern  für  Nationalökonomie,  N.  F.  Bd.  20  (1890),  S.  272ff.;  Stib- 
BEUKG,  Das  Wertgesetz  und  die  Profitrate,  New-York  1890;  Wolf,  Das  Rätsel  der 
Durchschnittsprofitrate  bei  Marx,  Jahrb.  für  Nationalök.  III.  F.  Bd.  2  (1891,  S.  352ff.; 
abermals  Schmidt,  Neue  Zeit  1892/3  Nr.  4  und  6;  La»d6,  ebenda  Nr.  19  u.  20;  Fikeman, 
Kritik  der  Marxschen  Werttheorie,  Jahrb.  f.  Nationalök.  III.  F.  Bd.  3  (1892)  S.  793ff.; 
endlich  Lafaboue,  Soidi,  Coletti  und  Graziadei  in  der  Critica  Sociale  vom  Juli 
bis  November  1894. 

*)  An  bisher  vorli^enden  Schriften  dieses  C3iarakters  sind  zu  nennen:  zahlreiche 
Aufsätze  in  der  Neuen  Zeit,  vornehmlich  von  Engels  (XIV.  Jahrgang  Bd.  I  Nr.  1  u.  2), 
Bernstein  und  Kautsky;  sodann  Loria,  l'opera  postuma  di  Carlo  Marx  (Nuova  Anto- 
logiaFebruarl895);SoHBART,  Zur  Kritik  des  ökonomischen  Systems  von  K.  Marx  (Archiv 

34* 


532  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Gregenwaft. 

Ich  kann  mich  hier  mit  der  bloßen  Registrierung  dieser  Geschehnisse 
begnügen,  weil  ich  ihren  wissenschaftlichen  Inhalt  schon  an  einer  früheren 
Stelle  dieses  Werkes  zur  Darstellung  und  auch  schon  zur  kritischen  Wür- 
digung gebracht  habe.  Ich  habe  auch  mit  meiner  Meinung  darüber  nicht 
zurückgehalten,  daß  mir  die  große  Probe  entschieden  gegen  die  MAKXsche 
Wert-  und  Mehrwertlehre  ausgefallen,  und  für  diese  der  Anfang  vom  Ende 
gekommen  zu  sein  scheint. 

Aber  unsere  Beobachtungsperiode  weist  noch  ein  anderes,  ganz  eigen- 
tümliches theoretisches  Gebilde  auf,  welches  in  diesem  Zusammenhange 
erwähnt  werden  muß  und  das  ich  an  einem  andern  Orte  als  „vulgär- 
ökonomischen Ableger  der  sozialistischen  Ausbeutungstheorie"  bezeichnet 
habe^).  Es  ist  nämlich  die  eigentümliche  Erscheinung  zu  beobachten,  daß 
verschiedene  hervorragende  Theoretiker  nichtsozialistischer  Richtung, 
welche  auch  die  werttheoretischen  Prämissen  der  sozialistischen  Aus- 
beutungstheorie nicht  anerkennen,  sich  gleichwohl  zu  einer  Gesamt- 
anschauung über  den  Kapitalzins  bekannt  haben,  welche  von  der  sozia- 
listischen Ausbeutungstheorie  sich  zwar  durch  eine  weitaus  mildere  oder 
zurückhaltendere,  oder  minder  konsequente  Form,  aber  eigentlich  nicht  im 
Wesen  unterscheidet. 

Die  markantesten  Äußerungen  dieser  Art  rühren  von  Dietzel  und 
Lexis  her.  Dietzel  bekennt  sich  zu  der  Meinung,  daß  „seiner  Ansicht 
nach  die  Ausbeutungstheorie  in  ihrem  Kern  unleugbar"  sei,  und  er  erklärt, 
daran  festhalten  zu  müssen,  „daß  der  Zinsbezug  eine  „historische",  in  dem 
Verkehrsrecht  der  Gegenwart  wurzelnde  Kategorie  und  zwar  eine  der 
Einkommensarten  ist,  an  deren  Wesen  mit  Recht  „gescholten"  wird,  daß 
sie,  in  einer  Gesellschaftsordnung  wie  der  heutigen,  notwendigerweise  mit 
der  Norm  des  ,suum  cuique'  sich  stoßen" 2).  Lexis  hinwieder  gibt  die 
Meinung  kund,  daß  der  normale  Kapitalgewinn  mit  den  durch  den  Kapital- 
besitz und  die  Besitzlosigkeit  bedingten  wirtschaftlichen  Machtverhält- 
nissen „zusammenhänge".    Die  Quelle  des  Gewinnes  des  Sklavenbesitzers 


für  soz.  Gesetzgebupg  u.  Statistik  Bd.  VII  Heft  4);  der  oben  genannte  Aufsatz  des 
Verfassers,  Zum  Abschluß  des  Marxschen  Systems,  1896;  Komorzynski,  der  dritte 
Band  von  Karl  Marx'  „das  Kapital"  (in  der  Zeitschr.  für  Volksw.,  Sozialpol.  u.  Ver- 
waltung Bd.  VI  S.  242ff.);  Wenckstern  „Marx",  Leipzig  1896;  Diehl,  Über  das 
Verhältnis  von  Wert  und  Preis  im  ökonomischen  System  von  Karl  Marx  (in  der  Fest- 
schrift zur  Feier  des  25jährigen  Bestehens  des  staatsw.  Seminars  in  Halle,  Jena  1898); 
Labriola,  la  teoria  del  Valore  di  C.  Marx,  Mailand  1899;  Graziadei,  la  produzione 
capitalistica,  Turin  1899;  Bernstein,  die  Voraussetzungen  des  Sozialismus  und  die 
Aufgaben  der  Sozialdemokratie,  Stuttgart  1899;  Masaryk,  die  philosophischen  und 
soziologischen  Grundlagen  des  Marxismus,  Wien  1899;  Weisengrün,  das  Ende  des 
Marxismus,  Leipzig  1899.     Siehe  auch  das  Literaturverzeichnis  oben  S.  367. 

^)  Einige  strittige  Fragen  der  Kapitalstheorie,  Wien  1900,  S.  Ulf  f.  (auch  im 
VIII.  Band  der  Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Sozialpolitik  und  Verwaltung  zum 
Abdruck  gelangt). 

*)  Göttinger  Gelehrte  Anzeigen  Nr.  23,  1891,  S.  936  u.  943. 


VII.  Die  Ausbentimgstheorie.    Dietzel,  Lezis.  533 

sei  nicht  zu  verkennen,  und  dasselbe  gelte  auch  wohl  noch  in  Betreff  des 
„Sweaters".  In  dem  normalen  Verhältnis  des  Unternehmers  zum  Arbeiter 
bestehe  zwar  keine  „derartige  Ausbeutung",  wohl  aber  eine  wirtschaft- 
liche Abhängigkeit  des  Arbeiters,  die  unzweifelhaft  auf  die  Verteilung  des 
Arbeitsertrages  einwirke.  Der  Anteil  des  Arbeiters  an  dem  Produktions- 
ertrag werde  durch  den  für  ihn  ungünstigen  Umstand  bedingt,  daß  er 
seine  Arbeitskraft  nicht  selbständig  ausnützen  kann,  sondern  gezwungen 
ist,  sie  unter  Verzicht  auf  ihr  Produkt  gegen  einen  mehr  oder  weniger 
genügenden  Lebensunterhalt  zu  verkaufen^).  Und  bei  einer  anderen 
Gelegenheit  erläutert  Lexis  diese  seine  Anschauung  über  den  Ursprung 
des  Kapitalgewinnes  noch  genauer  dahin,  daß  die  „kapitalistischen  Ver- 
käufe»*, der  Rohstoffproduzent,  der  Fabrikant,  der  Großhändler,  der  Klein- 
händler bei  ihren  Geschäften  Gewinn  machen,  indem  jeder  teurer  verkauft, 
als  er  kauft,  also  den  Selbstkostenpreis  seiner  Ware  um  einen  gewissen 
Prozentsatz  erhöht.  Nur  der  Arbeiter  ist  nicht  imstande,  einen  ähnlichen 
Wertzuschlag  durchzusetzen,  er  ist  vermöge  seiner  ungünstigen  Lage  dem 
Kapitalisten  gegenüber  genötigt,  seine  Arbeit  für  den  Preis  zu  verkaufen, 
den  sie  ihm  selbst  kostet,  nämlich  für  den  notwendigen  Lebensunterhalt 
Wenn  also  auch  die  Kapitalisten,  soferne  sie  ihrerseits  Waren  zu  erhöhten 
Preisen  kaufen,  wieder  einen  Teil  dessen  verlieren  mögen,  was  sie  als 
Verkäufer  mittels  ihres  Preiszuschlages  gewinnen,  so  behalten  diese  Preis- 
zuschläge den  kaufenden  Lohnarbeitern  gegenüber  ihre  voUe  Bedeutung 
und  bewirken  die  Übertragung  eines  Teils  des  Wertes  des  Gesamtprodukts 
auf  die  Kapitalistenklasse"  *). 

In  allen  diesen  Äußerungen  kommt  unverkennbar  der  Gedanke  zum 
Ausdruck,  daß  der  Kapitalgewinn  —  und  zwar,  wohl  gemerkt,  nicht  etwa 
nur  irgend  ein  exzessiver,  unter  besonders  gravierenden  Umständen 
erworbener  Teil  desselben,  sondern  der  gewöhnliche,  „normale"  Kapital- 
gewinn als  solcher  —  dem  Druck  entspringt,  welchen  die  besitzenden 
Klassen  unter  Ausnutzung  ihrer  stärkeren  Position  im  Preiskampfe  auf 
die  nichtbesitzenden  Klassen  ausüben  —  also  im  Wesentlichen  derselbe. 
Gedanke,  welcher  den  Inhalt  der  sozialistischen  Ausbeutungstheorie 
ausmacht. 

Zur  objektiven  Charakterisierung  dieser  Äußerungen  muß  noch  auf 
zwei  Umstände  hingewiesen  werden,  welche  in  einem  gewissen  Zusammen- 
hange mit  einander  stehen  mögen.  Erstens  darauf,  daß  diese  Äußerungen 
bisher  nur  als  Gelegenheitsäußerungen  vorgebracht  wurden,  und  zwar 
bei  Gelegenheiten,  welche  die  Verfasser  zwar  zum  Bekenntnis  ihrer  eigenen 
Meinung  über  das  Zinsproblem  herausforderten,  ihnen  aber  nicht  auch 
die  Nötigung  einer  zusammenhängenden  Begründung  ihrer  Meinungen 
auferlegten;  nämlich  bei  Gelegenheit  kritischer  Besprechungen  fremder 

^)  Schmollers  Jahrbuch  Bd.  XIX  S.  335ff. 

^)  Conrads  Jahrbücher  N.  F.  Bd.  XI  (1885)  S.  453. 


534  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Gegenwart. 

(von  Marx  und  dem  Verfasser  herrührender)  Zinstheorien.  Und  zweitens 
muß  darauf  hingewiesen  werden,  daß  jene  Äußerungen  sich  bisher  eben  nur 
als  einfache  Meinungsäußerungen,  als  Glaubensbekenntnisse  ihrer  Autoren 
präsentieren,  für  welche  eine  geschlossene,  theoretisch  haltbare  Begründung 
von  diesen  weder  gegeben,  noch  auch  nur  versucht  wurde.  Dietzel  fügt 
seiner  einschlägigen  Äußerung  überhaupt  kein  Wort  einer  Begründung  bei, 
und  auch  die  knappen  Bemerkungen,  mit  denen  Lexis  seine  Meinungs- 
äußerung begleitet,  sind  so  vag  und  lassen  zudem  den  Kernpunkt  des 
Problems  so  sichtlich  unerklärt^),  daß  wohl  auch  ihr  Autor  für  sie  kaum 
in  Anspruch  nehmen  wird,  daß  sie  eine  den  theoretischen  Anforderungen 
entsprechende  wirkliche  Erklärung  auch  nur  in  den  allgemeinsten  Umrissen 
enthalten. 

Angesichts  des  Umstandes,  daß  jene  theoretische  Begründung,  auf 
welche  die  Anschauungen  der  Ausbeutungstheorie  sonst  gestützt  zu  werden 
pflegten,  nämlich  die  sozialistische  Wert-  und  Mehrwerttheorie,  vod  den 
jetz«?  in  Rede  stehenden  Autoren  ihrer  verwandten  Zinstheorie  jedenfalls 
nicht  unterlegt  wird,  eine  andere  stichhältige  Begründung  ihr  aber  bis 
jetzt  auch  nicht  unterlegt  wurde,  habe  ich  als  Dogmenhistoriker  lediglich 
die  Tatsache  zu  registrieren,  daß  jene  Meinungen  tatsächlich  existieren 
und  zwar  vorläufig  als  unerwiesene,  sozusagen  theorielose  Behauptungen 
existieren,  wobei  abzuwarten  bleibt,  ob  vielleicht  ein  ernsthafter  Versuch 
nachfolgen  wird,  jene  Glaubensbekenntnisse  zu  wirklichen,  eine  Begründung 
versuchenden  Theorien  zu  erheben,  oder  ob  sie  als  ein  bloßer  Ausdruck 
von  Stimmungen  verhallen  werden,  denen  die  jetzige  Zeitrichtung  zuge- 
neigt ist,  für  die  sich  aber  eine  Anknüpfung  an  standhaltende  wissenschaft- 
liche Prämissen  nicht  darbietet  2). 

^)  Daß  nämlich  die  kapitalistischen  Verkäufer  auch  unter  dem  vollen  Druck 
der  Konkurrenz,  welcher  ja  doch  für  die  Nivellierung  des  Kapitalgewinnes  auf  den 
,, normalen"  Satz  Voraussetzung  ist,  dauernd  einen  ,, Wertzuschlag"  über  ihre  Selbst- 
kosten behaupten  körinen,  ist  ja  die  eigentlich  erklärungsbedürftige  Tatsache,  welche 
jedenfalls  mit  den  Wert-  und  Preisgesetzen  zusammengereimt,  beziehungsweise  aus 
ihnen  heraus  in  plausibler  Weise  erklärt  werden  müßte  —  wozu  sich  jedoch  in  Lexis' 
Äußerungen  noch  kein  erkennbarer  Ansatz  findet.  Vgl.  meine  eingehende  Besprechung 
dieses  Gegenstandes  in  meiner  schon  erwähnten  Schrift  ,, Einige  strittige  Fragen  der 
Kapitalstheorie",  Wien  1900,  S.  llOff.  —  Bemerkenswert  ist,  daß  Lexis  in  seiner 
seither  erschienenen  „Allgemeinen  Volkswirtschaftslehre"  (2.  Aufl.  1913)  das  Thema 
des  Kapitalzinses  mit  so  großer  Zurückhaltung  bespricht,  daß  darin  eine  ausgeprägte 
Ziiistheorie  kaum  zu  erkennen  ist;  jedenfalls  hat  auch  dieses  systematische  Werk  keine  • 
genauere  Ausführung  des  in  ihm  fast  noch  knapper  als  in  den  vorausgegangenen  Ge- 
legenheitsäußerungen angedeuteten  Gedankens  •gebracht. 

^)  Ausführlicher  habe  ich  mich  über  diesen  eigenartigen  Ableger  der  Ausbeutungs- 
theorie in  meinem  mehrgenannten  Aufsatze  über  ,, Einige  strittige  Fragen  der  Kapitals- 
theorie" ausgesprochen.  Ein  etwas  älterer  Versuch,  die  Ausbeutungstheorie  in  Ver- 
bindung mit  einer  anderen  als  der  sozialistischen  Werttheorie  vorzutragen,  liegt  in 
den  interessanten,  aber  nach  meiner  Empfindung  die  kritische  Frage  eben  auch  nicht 
approfundierenden  „Untersuchungen  über  das  Kapital"  von  Wittelshöfer  (Tü- 
bingen 1890)  vor. 


VIII.  Eklektiker.  535 

Eine  starke  innere  Verwandtschaft  mit  den  soeben  besprochenen 
Anschauungen  scheinen  mir  endlich  die  in  jüngster  Zeit  veröffentlichten 
Verteilungstheorien  von  Oppenheimer i)  und  Tügan-Baranowsky^)  zu 
haben.  Beide  betonen  den  Ausbeutungsgedanken  und  zwar  noch  erheblieh 
schärfer  als  Dietzel  oder  Lexis  es  getan  hatten.  Beide  sagen  der  Marx- 
schen  Werttheorie  als  Stütze  der  Ausbeutungstheorie  ausdrücklich  ab: 
Oppenheimer  bekennt  sich  zu  einem  Gemisch  von  Grenznutzen-  und 
Kostentheorie,  Tugan-Baranowsky  voU  zur  Theorie  des  Grenznutzens; 
und  bei  beiden  entsteht  durch  die  Preisgebung  der  alten  Zwischenmoti- 
vierung naturgemäß  dieselbe  Erklärungslücke,  die  vor  ihnen  schon  Dietzel 
und  Lexis  unausgefüUt  gelassen  hatten  und  deren  befriedigende  Ausfüllung 
nach  meinem  Empfinden  jetzt  auch  ihnen  selbst  nicht  gelungen  ist.  Tugan- 
Baranowsky  schließt  aus  der  „ökonomischen"  oder  „sozialen  Macht" 
der  besitzenden  Klassen  unmittelbar  auf  ihre  ausbeutende  Aneignung 
fremden  Arbeitsprodulttes,  ohne  die  Erklärung  durch  die  dazwischen- 
liegenden Details  der  Wert-  und  Preisbildung  hindurchzuleiten,  und  sucht 
diesen,  die  eigentlichen  Schwierigkeiten  des  Problems  umgehenden  logischen 
Sprung  durch  die  Behauptung  zu  rechtfertigen,  daß  das  Verteilungsproblem 
überhaupt  nicht,  wie  man  sonst  allgemein  und  wohl  auch  mit  vollem 
Recht  annimmt,  ein  spezieller  Anwendungsfall  des  allgemeinen  Wert-  und 
Preisproblems  auf  die  als  „Produktionsfaktoren"  auftretenden  Güter, 
sondern  ein  völlig  außerhalb  des  Wert-  und  Preisproblems  stehendes 
Problem  sui  generis  sei  3).  Und  Oppenheimer  glaubt  die  Erklärungslücke 
vermittels  des  Schlagwortes  von  einem  „Monopol"  überbrücken  zu  können, 
welches  die  besitzenden  Klassen  inne  hätten;  wobei  ich  es  für  eine  besonders 
wenig  befriedigende  Nuance  halte,  daß  Oppenheimer  in  letzter  Linie  das 
Bodenmonopol  auch  für  die  Entstehung  des  Kapitalzinses  verantwortlich 
machen  will*). 


vm. 

Nicht  unerheblich  ist  endlich  auch  in  der  neuesten  Zeit  die  Zahl  und 
nicht  unbeträchtlich  das  Gewicht  derjenigen  Theoretiker,  welche  ihre 
Erklärung  des  Kapitalzinses  in  eklektischer  Weise  auf  ^  Elemente  ver- 
schiedener Theorien  stützen.  Es  ist  dies,  wie  ich  schon  bei  einer  früheren 
Gelegenheit  hervorgehoben  habe^),  nicht  zu  verwundern.  Es  ist  kaum  zu 
verkennen  und  gerade  auch  durch  die  neuesten  Forschungen  auf  unserem 


^)  Theorie  der  reinen  und  politischen  Ökonomie,  Berlin  1910,  2.  A.  1911. 

*)  Soziale  Theorie  der  Verteilung,  Berlin  1913. 

3)  A.  a.  0.  S.  5f.,  llf..  81f. 

*)  Z.  B.  a.  a.  0.  S.  273f.  und  415ff. 

»)  Siehe  oben  Abschn.  XIII  S.  414. 


536  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Gregenwart. 

Gebiete  immer  deutlicher  zur  Anschauung  gebraucht  worden,  daß  zu  der 
Kapitalzinserscheinung  mehr  als  eine  Tatsachengruppe  in  ursächlicher 
Beziehung  steht;  insbesondere  gilt  dies  von  der  größeren  Ergiebigkeit  der 
kapitalistischen  Produktion  einerseits,  und  von  dem  mit  jeder  Kapital- 
investition verbundenen  zeitlichen  Aufschub  im  Gütergenusse  andererseits. 
Auf  jedes  dieser  Momente  waren  selbständige  Theorien  gegründet  worden, 
und  so  lange  sich  nicht  ein  lösender  Ausweg  zeigte  oder  als  solcher  erkannt 
wurde,  welcher  das  Ineinanderwirken  dieser  heterogenen  Teilursachen  aus 
einem  einheitlichen  Gesichtspunkt  zu  begreifen  gestattete,  lag  und  liegt 
gerade  für  umsichtige,  keiner  Erfahrungstatsache  sich  verschließende 
Autoren  die  Versuchung  nahe,  eklektisch  zu  mischen. 

LoRiAs,  welcher  Elemente  der  Abstinenztheorie  mit  solchen  der  Aus- 
beutungstheorie kombiniert,  habe  ich  schon  oben  gedacht^).  Diehl  ver- 
knüpft eine  Art  motivierter  Produktivitätstheorie  mit  Erwägungen  und 
Ausdrücken  der  Nutzungstheorie  2),  Redewendungen,  die  ebenfalls  für  die 
letztere  Theorie  charakteristisch  zu  sein  pflegen,  finden  sich  bei  Sidgwick 
neben  Ausführungen,  welche  die  Abstinenztheorie  lehren  und  verteidigen^); 
wobei  ich  es  übrigens  für  ganz  wohl  möglich  halte,  daß  die  im  Geiste  der 
Nutzungstheorie  gehaltenen  Redewendungen  mehr  nur  zufällig  gebraucht, 
und  die  wahre  Meinung  jenes  ausgezeichneten  Schriftstellers  lediglich  durch 
die  Abstinenztheorie  repräsentiert  wird.  Neuraths  etwas  verschwommene 
Äußerungen  lassen  keinen  klar  ausgeprägten  Kern,  wohl  aber  eine  partielle 
Zustimmung  oder  Zuneigung  zu  einer  ganzen  Reihe  der  herkömmlichen 
Erklärungsarten  erkennen  *). 

Und  ich  glaube  auch  nicht  anzustoßen,  wenn  ich  den  gelehrten  und 
geistreichen  Verfasser  der  „Progres  de  la  Science  Economique  depuis 
Adam  Smith",  Maurice  Block,  den  Eklektikern  beizähle.  Überzeugter 
Anhänger  der  vollen  Berechtigung  des  Kapitalzinses  hat  er  sich  nicht 
entschließen  können,  eine  von  mehreren  Auffassungen,  die  ihm  in  gleicher 
Weise  plausibel  und  dem  Kapitalzins  günstig  schienen,  preiszugeben.  Ich 
finde  in  seinen  reichhaltigen  Äußerungen  über  den  Stoff  sowohl  die  Pro- 
duktivitätstheorie, als  die  Abstinenztheorie,  als  auch  die  Nutzungstheorie 
vertreten  s);  und  daß  für  den  hervorragenden  Gelehrten  selbst  der  Gedanke, 
als  Eklektiker  angesehen  zu  werden,  nichts  abschreckendes  hatte,  beweist 


1)  Siehe  Anhang,  Abschn.  IV  S.  482. 

*)  P.  J.  Proudhon,  Seine  Lehre  und  sein  Leben,  II.  Abt.,  Jena  1890,  S.  217—225 
und  S.  204. 

3)  Principles  of  Pol.  Economy,  2.  Aufl.,  London  ]887,  S.  167, 168,  264;  dann  255ff. 

*)  Elemente  der  Volkswirtschaftslehre,  2.  Aufl.,  Wien  1892,  S.  282ff.,  3l3ff., 
324ff. 

*)  Siehe  Progrös  (Paris  1890),  II.  Bd.,  S.  319,  320,  328,  335ff.;  dann  321,  326,  339; 
endlich  310—322,  348. 


VIII.  Eklektiker.    Dietzel.  537 

ein  ausdrückliches,  und  wohl  auch  mit  als  oratio  'pro    domo  gemeintes 
Plaidoyer,  das  er  einmal  zugunsten  des  Eklektizismus  hält^). 

Ch.  Gides'  Äußerungen  scheinen  sich  mir  zum  Teü  an  die  Nutzungs-, 
zum  Teil  an  die  Agiotheorie 2),  die  Darlegungen  Nicholsons  und  Va lentis 
ebenfalls  zum  Teil  an  die  Agiotheorie,  zum  anderen  Teüe  aber  an  die 
Abstinenztheorie  anzulehnen  3).  Letztere  Kombination  tritt  überhaupt 
neuestens  ziemlich  häufig  auf,  wie  ich  schon  in  den  Abschnitten  II  und  IV 
dieses  Anhanges  darzulegen  Gelegenheit  hatte. 

Eine  ganz  eigenartige  Stellung  unter  den  zum  Eklektizismus  hin- 
neigenden Autoren  nimmt  endlich  Dietzel  ein.  Dieser  immer  geistreiche, 
aber  nicht  immer  kühl  überlegende  Autor  hat  anläßlich  einer  'hingehenden 
Besprechung  meiner  Kapitalzinstheorie  sich  als  methodischen  Eklektiker 
in  dem  Sinne  bekannt,  daß  er  die  verschiedenen  gangbaren  Zinstheorien, 
insbesondere  die  Ausbeutungs-  und  die  Produktivitätstheorie  nebenein- 
ander, und  zwar  jede  für  einen  Teü  der  Zinserscheinungen  als  zutreffend  und 
anwendbar  erklärte.  Er  meint,  es  seien  „im  Gebiete  der  Zinstheorie  für 
die  verschiedenen  Kategorien  der  sozialwirtschaftlichen  Erscheinungen 
verschiedene  durch  die  Verschiedenheit  der  wirtschaftlichen  Position 
und  Relation  der  Individuen  bedingte  Erklärungsgründe  zu  formulieren." 
Besitzt  z.  B.  der  Mieter  eine?  Klaviers  oder  eines  Wohnhauses  ein  Kapital, 
welches  auch  zum  Ankauf  des  Klavieres  oder  des  Hauses  ausreichen  würde, 
das  aber  der  Mieter  in  einer  produktiven  Anlage  zu  investieren  oder  zu 
belassen  vorzieht,  so  sei  der  Zinsbezug  des  Haus-  oder  Klaviereigentümers 
zutreffend  aus  der  Produktivität  des  Kapitales  zu  erklären.  Besitzt  da- 
gegen der  Mieter  ein  zum  Ankauf  des  Mietobjektes  ausreichendes  Kapital 
nicht,  dann  sei  der  Zinsbezug  nur  durch  eine  Ausbeutung  des  Mieters  zu 
erklären,  es  „greife  die  („in  ihrem  Kern  unleugbare")  Ausbeutungstheorie 
zur  Erklärung  des  Zinses  ein"*).  Daneben  verteidigt  Dietzel  auch  die 
Nutzungstheorie  5),  und  gesteht  endlich,  wenn  ich  ihn  recht  verstehe,  auch 
meiner  Kapitalzinstheorie  eine  Berechtigung  für  eine  gewisse  Gruppe  von 
Zinserscheinungen,  nämlich  für  die  Erklärung  des  Zinses  im  Konsumtiv- 
kredit zu«). 


1)  A.  a.  0.  S.  344;  vgl.  auch  S.  349. 

*)  Principes  d'Economie  politique,  5.  Aufl.,  S.  451  in  der  Note. 

')  Nicholson,  Principles  of  Pol.  Economy,  London  1893 — 1897,  vgl.  besonders 
I  388  und  II  217  u.  219;  Valenti,  Principii  di  Scienza  Economica  1906  S.  384f.  In 
der  wiederholten  nachdrücklichen  Hervorhebung  der  vom  Kapital  ausgehenden  „servigi 
produttivi"  klingt  bei  Valenti  allerdings  auch  noch  ein  Element  der  Nutzungstheorie 
mit,  in  ähnlicher  Art  wie  bei  Pareto. 

«)  Göttinger  Gelehrte  Anzeigen,  1891,  Nr.  23,  S.  930ff.,  besonders  932—935. 

*)  a.  a.  0.  S.  933. 

*)  a.  a.  0.  S.  932ff. 


638  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Gegenwart. 

Wie  ich  inzwischen  an  einem  anderen  Orte^)  ausrührlicb  entwickelt 
habe,  halte  ich  Dietzels  methodischen  Standpunkt  für  einen  äußert 
unglücklichen  und  vollkommen  unhaltbaren.  Es  wird  sich  zwar  gegen 
jeden  Eklektizismus  etwas  einwenden  lassen.  Es  besteht  aber  immer  noch 
ein  großer  Unterschied,  ob  man,  wie  dies  sonst  die  Eklektiker  zu  tun  pflegen, 
zur  Elrklärung  eines  Phänomens  eine  Theorie  ersinnt,  in  der  man  Elemente 
verschiedener  Theorien,  die  sich  innerlich  nicht  recht  durchdringen,  zu 
einer  äußeren  Einheit  zusammenmengt,  oder  ob  man,  wie  dies  Dietzel 
will,  für  jede  Gruppe  von  Fällen  eines  und  desselben  Phänomens  grund- 
sätzlich eine  ganz  andere,  und  zwar  bis  in  die  Wurzel  verschiedene  Theorie 
ausarbeitet  oder  anerkennt.  Hat  diejenige  Einkommensform,  welche  die 
Nationalökonomen  im  Gegensatz  zu  der  Grundrente,  dem  Arbeitslohn 
und  dem  Unternehmergewinn  als  Kapitalzins  oder  Kapitalrente  zusammen- 
zufassen gewöhnt  sind,  überhaupt  irgend  etwas  charakteristisches,  was 
die  ihr  zugehörigen  Fälle  untereinander  verbindet  und  von  den  anderen 
Einkommensarten  trennt,  so, kann  dieses  charakteristische  doch  nicht 
für  jeden  ihr  zugehörigen  Fall  etwas  anderes,  und  zwar  bis  zum  Grund 
verschiedenes  und  sogar  entgegengesetztes  sein.  Wer  dennoch  mit  Dietzel 
versucht,  Fälle  desselben  Grundphänomens  aus  kontrastierenden  Theorien 
zu  erklären,  kann  erstens  nicht  vermeiden,  sich  in  absurde  Konsequenzen 
zu  verstricken  —  wer  möchte  z.  B.  Dietzel  die  Konsequenz  nachsprechen, 
daß  ein  Hauseigentümer,  der  eine  und  dieselbe  Luxuswohnung  in  zwei 
aufeinanderfolgenden  Jahren  um  den  gleichen  Preis  von  2000  fl.  einmal 
an  einen  Bankdirektor  mit  15000  fl.  Gehalteinkommen  und  das  anderemal 
an  einen  Fabriksbesitzer  mit  15000  fl.  Vermögensrente  vermietet,  das 
erstemal  seinen  Zinsbezug  einer  von  ihm  geübten  Ausbeutung,  und  das 
zweitemal  der  Produktivität  des  Kapitales  verdankt  haben  soU?  —  und 
er  kann  zweitens  nicht  vermeiden,  sich  in  die  offenbarsten  Widersprüche 
zu  verstricken:  denn  jede  der  kontrastierenden  Theorien  enthält  Prämissen, 
die  man  anerkennen  muß,  wenn  man  auch  nur  einen  einzigen  FaU  im 
Geiste  dieser  Theorie  erklären  will,  und  die  im  ausschüeßendsten  Wider- 
streit zu  Prämissen  der  anderen  Theorien  stehen,  die  man  zu  gleicher  Zeit 
bekennen  muß,  um  die  Erklärung  anderer  Fälle  nach  der  Anweisung 
Dietzels  durchführen  zu  können.  Wer,  der  die  Ausbeutungstheorie  in 
ihrem  Kern  für  richtig  erklärt,  kann  daneben  irgend  einen  Fall  des  Zins- 
bezuges im  Geiste  der  Produktivitätstheorie  erklären,  und  umgekehrt?! 
Diesen  krassen  Inkonvenienzen  konnte  Dietzel  wohl  nur  deshalb  entgehen, 
weil  er  seine,  wie  ich  glaube,  etwas  leichthin  verkündigte  methodische 
Maxime  in  der  Rolle  des  Ejitikers,  und  nicht  in  der  des  Systematikers  zum 
Besten  gab,  und  daher  selbst  keinen  Versuch  zu  machen  brauchte,  ihre 
Anwendbarkeit  praktisch  auf  die  Probe  zu  stellen. 


^)  Einige  strittige  Fragen  der  Kapitalsthecrie,  Wien  1900,  S.  84ff. 


IX  Heatjger  Stand  der  Memnngen.  539 

IX. 

So  viele  und  vielgestaltige  Meinungen  ringen  also  noch  bis  heute 
wider  einander.  Der  letzte  Ausgang  dieses  Ringens  ist  sicherlich  noch  nicht 
entschieden.  Aber  der  Kampf  ist  auch  nicht  auf  demselben  Flecke  stehen 
geblieben.  Über  das  weite  Kampffeld  hin  hat  es  doch  manche  zweifellose 
Erfolge  und  ebenso  zweifellose  Schlappen  gegeben.  Gewisse  Anschauungen 
sind  sichtlich  im  Aufschwung  und  Vordringen,  andere  im  Zurückweichen 
oder  in  bedrängter  Verteidigung  einer  ungünstigen  und  zurückgeschobenen 
Position,  deren  stärkste  Vorwerke  schon  gefallen  sind,  begriffen.  Wenn 
ich  den  Versuch  wagen  darf,  ein  Bild  von  dem  momentanen  Stande  des 
Kampfes,  wie  er  sich  mir  darstellt,  zu  entwerfen,  sa  möchte  ich  es  mit 
folgenden  Zügen  tun. 

Auf  einer  Hauptfront  der  vielverzweigten  Kampfstellung  wurde 
zwischen  der  Ausbeutungstheorie  einerseits,  und  den  verschiedenen 
zinsfreundlichen  Theorien  andererseits  gekämpft.  Hier  scheint  mir  der 
Ausgang  in  der  Tat  zweiffeUos  geworden,  die  Überwindung  der  Aus- 
beutu^^^theorie  besiegelt  zu  sein.  Durch  die  notgedrungene  Preisgebung 
ihres  werttheoretischen  Fundamentes  ist  sie  in  eine  nicht  mehr  haltbare 
Position  gedrängt  worden.  Gewiß  wird  von  ihren  Anhängern  das  Gefecht 
noch  einige  Zeit  hingehalten  werden,  und  zumal  aus  dem  agitatorischen 
Teil  der  Parteikundgebungen  wird  das  Ausbeutungsdogma  schwerlich  so 
rasch  verschwinden;  aber  von  der  Wissenschaft  wird  dasselbe  wohl  bald 
und  für  immer  in  die  Reihe  der  endgültig  überwundenen  Irrtümer  gestellt 
werden.  Und  auch  der  „vulgär-ökonomische  Ableger"  der  Ausbeutungs- 
theorie, dessen  wir  oben  gedacht  haben,  dürfte  schwerlich  eine  derartige 
Triebkraft  besitzen,  als  daß  von  ihm  aus  die  im  Hauptstamme  absterbende 
Lehre  eine  verjüngende  Wiedergeburt  und  fruchtbare  Weiterentwicklung 
zu  gewärügen  hätte. 

Aber  auch  das  Ringen,  in  welchem  gleichzeitig  die  rivalisierenden 
„zinsfreundlichen"  Theorien  —  wenn  ich  mich  dieses  kurzen,  aber  für 
parteilose  Theorien  eigentlich  nicht  ganz  passenden  Namens  bedienen  darf 
—  unter  und  gegen  einander  begriffen  waren,  ist  nicht  ohne  gewisse 
bleibende  Ergebnisse  verlaufen.  Ich  glaube,  es  kann  heute  als  so  ziemlich 
ins  Reine  gebrachte  Erkenntnis  gelten,  daß  die  Zinserscheinung  einerseits 
mit  gewissen  Tatsachen  der  Produktionstechnik,  andererseits  mit  der 
Tatsache  eines  zeitlichen  Genußaufschubes  als  ihren  letzten  Ursachen  zu 
tun  hat  —  ganz  so,  oder  wenigstens  beiläufig  so,  wie  es  Prof.  Marshall 
mit  seinen  populären  Schlagworten  von  der  „productiveness"  und  „pro- 
spectivenesg"  des  Kapitales  zum  Ausdruck  gebracht  hat.  Diejenigen 
Theoriezweige  nun,  welche  außerhalb  dieser  Erkenntnis  stehen,  oder  sich 
wenigstens  in  ihrem  Erklärungsgang  durch  dieselbe  nicht  berührt  zeigen, 
scheinen  mir  keine  Aussicht  mehr  zu  besitzen,  daß  eine  rückläufige  Be- 


540  Anhang.    Die  Zinsliteratur  in  der  Gegenwart. 

wegung  die  Entwicklung  in  ihre  heute  abseits  gelassenen  Bahnen  zurück- 
leiten könnte.  Dies  gilt,  wie  ich  glaube,  einerseits  von  einzelnen  Spielarten 
der  „Arbeitstheorien",  andererseits  von  den  echten,  ausgesprochenen 
Produktivitätstheorien.  Diese  letzteren  zumal,  die  einst  einen  so 
breiten  Raum  in  der  ökonomischen  Theorie  eingenommen,  weisen  für 
unsere  moderne  Anschauungsweise  zwei  Kardinalgebrechen  auf,  die  heute 
immer  allgemeiner  als  solche  erkannt  und  anerkannt  werden:  daß  sie  aus 
ihren  Prämissen  heraus  ihr  positives  Erklärungsziel  auf  logischen  Bahnen, 
gleichsam  ohne  einen  logischen  Purzelbaum  zu  schlagen,  nicht  erreichen 
können;  und  daß  sie  überdies  eine  volle  Hälfte  der  tatsächlichen  Ursachen 
der  Zinserscheinung  ganz  außeracht  lassen.  Für  die  hoffnungslose  Lage 
dieser  echten  Produktivitätstheorien  scheint  es  mir  ein  bezeichnendes 
Symptom  zu  sein,  daß  man  —  wie  ich  glaube,  hierin  gegen  den  tatsächlichen 
Stand  der  Dinge  und  gegen  die  historische  Treue  verstoßend  —  neuerdings 
anfängt,  sogar  die  Existenz  solcher  wahrer  Produktivitätstheorien  ganz 
in  Abrede  zu  stellen,  und  ihren  Vertretern  andere,  den  heute  herrschenden 
Auffassungen  des  Problems  näher  kommende  Ansichten  beizulegen^). 

Der  lebenskräftige  Teil  der  Entwicklung  drängt  dagegen  überein- 
stimmend einem  Ziele  zu,  von  dem  heute  wohl  nur  wenige  noch  zweifeln, 
daß  es  wenigstens  als  Zielpunkt  des  Erkenntnisstrebens  richtig  gewählt  ist, 
und  welches,  mag  man  auch  heute  über  die  Wahl  der  richtigsten  zu  ihm 
hinleitenden  Bahn  noch  zögernd  schwanken,  früher  oder  später  sicherlich 
auch  erreicht  werden  wird.  Das  Ziel  ist,  eine  Erklärung  zu  finden,  welche 
beiden  Ursachengruppen,  den  produktionstechnischen  und  den  mit 
dem  Genußaufschub  verbundenen  psychologischen  Tatsachen,  in  einer 
Weise  gerecht  wird,  daß  nicht  bloß  jeder  Erklärungsteil  für  sich  sachlich 
und  logisch  unanstößig  ist,  sondern  daß  auch  beide  Erklärungshälften  sich 
zu  einem  sachlich  und  logisch  untadeligen  Ganzen  zusammenfügen. 

Von  den  verschiedenen,  im  Streben  nach  diesem  Ziele  rivalisierenden 
Theorien  muß  der  Nutzungstheorie  zugestanden  werden,  daß  sie,  richtig* 
und  voll  verstanden,  an  beide  Ursachengruppen  anknüpft,  also  ausreichend 
umfassend  ist:  aber  sie  stößt  in  der  Durchführung  ihres  Erklärungsganges 
auf  schwere  sachliche  und  logische  Bedenken,  welche  auch,  wie  es  scheint, 
heute  in  immer  weiteren  wissenschaftlichen  Kreisen  als  solche  empfunden 
und  gewürdigt  werden. 

Die  Abstinenztheorie  findet  ebenfalls  in  dem  von  ihr  gewählten 
Erklärungswege  Schwierigkeiten  sachlicher  und  logischer  Art,  auf  welche 
ich  in  den  vorstehenden  Blättern  noch  deutlicher  als  bisher  hinzuweisen 
bemüht  war;  und  überdies  scheint  mir  die  Art,  in  welcher  sie  der  „pro- 
ductiveness"  neben  der  —  ihrer  Erklärung  das  charakteristische  Gepräge 
aufdrückenden  —  ,,prospectiveness"  gerecht  zu  werden  sucht,  nicht  zu 


^)  Siehe  oben  mein  Vorwort  zur  zweiten  Auflage. 


IX.  Heutiger  Stand  der  Meinungen.  541 

einer  glücklichen  Verschmelzung  in  eine  wirklich  einheitliche  Theorie  zu 
führen. 

Die  Eklektiker  wieder  haben  natürlich  sowohl  mit  den  speziellen 
Schwächen  zu  kämpfen,  die  jeder  einzelnen  in  die  eklektische  Kombination 
einbezogenen  Theorie  anhaften,  als  auch  mit  dem  Widerstreben  der  dis- 
paraten Elemente  gegen  die  Verschmelzung  in  ein  harmonisches  Ganzes. 

Seit  Rae  war  das  Moment  des  zeitlichen  Genußaufschubes  in 
einer  Auffassungsweise  berücksichtigt  worden,  welche  sich  von  den  bedenk- 
lichen Deutungszutaten  der  Abstinenztheorie  freihielt.  Dagegen  war  Rae 
mit  dem  zweiten  Ast  der  Erklärung  in  den  den  Produktivitätstheoretikern 
eigentümlichen  Denk-  und  Vorstellungsfehlern  befangen  geblieben.  Jevons 
wieder  ist  mit  diesem  zweiten  Ast  etwas  glücklicher,  dafür  mit  der  in  die 
Bahnen  der  Abstinenztheorie  zurücklenkenden  Behandlung  der  „pro- 
spectiveness"  etwas  weniger  glücklich,  und  läßt  jedenfalls  das  Requisit 
einer  in  logischer  Harmonie  ausklingenden  Zusammenfassung  der  ver- 
schiedenen Erklärungsgründe  vermissen. 

Dem  gegenüber  hat  endlich  das  jüngste  Glied  in  der  Reihe  der  riva- 
lisierenden Zinstheorien,  die  „Agiotheorie",  einen  Versuch  gemacht, 
welcher,  wie  immer  sein  Erfolg  beurteilt  werden  mag,  zum  mindesten  das 
anzustrebende  Ziel  klar  und  bewußt  vor  Augen  gehabt  hat:  aus  einer 
umfassenden  Berücksichtigung  aller  einflußreichen  letzten  Ursachen  eine 
dennoch  in  sich  zusammenhängende,  einheitliche  Erklärung  des  Zins- 
phänomens abzuleiten. 

Daß  sie  dem  ersten  Teil  dieses  Programmes  in  der  Ausführung  treu 
geblieben  ist,  wird  kaum  von  irgend  einer  Seite  in  "Zweifel  gezogen  werden: 
für  die  umfassende  Berücksichtigung  sowohl  der  „productiveness"  als  der 
,,prospectiveness"  ist  es  ein  bezeichnendes  Zeugnis,  daß  einzelne  ihrer 
Freunde  ihre  Zustimmung  mit  der  Bemerkung  begleitet  und  motiviert 
haben,  daß  sie  inhaltlich  eigentlich  eine  Produktivitätstheorie,  andere 
wieder  damit,  daß  sie  eigentlich  eine  Abstinenztheorie  sei^).  Und  vielleicht 
noch  bezeichnender  leuchtet  diese  Anerkennung  in  einem  gewissen  Vor- 
wurf eines  meiner  hervorragendsten  Gegner  durch.  Wenn  mir  von  Prof. 
Marshall  eine  Überschätzung  der  Meinungsdifferenzen  gegenüber  meinen 
Vorgängern  in  der  Zinstheorie  vorgeworfen,  und  zur  Erhärtung  dieses 
Vorwurfes  darauf  hingewiesen  wird,  daß  ja  auch  schon  in  den  Meinungen 
meiner  Vorgänger  eine  paritätische  Berücksichtigung  der  „productiveness" 
und  der  „prospectiveness"  zu  finden  gewesen  sei,  so  wird  diese  paritätische 
Berücksichtigung  offenbar  als  ein  gemeinsames  Bestandstück  unserer  Lehr- 


^)  Pierson  sagt  in  seiner  ausführlichen  Besprechung  meiner  Positiven  Theorie 
in  The  Economist,  Märzl889,  S.127:  „Unser  Verfasser  steht  mit  beiden  Füßen  auf  dem 
Boden  der  Produktivitätstheorie";  Macfarlane  hinwiederum  widmet  dem  Nach- 
weise, daß  „abstinence  is  recognised  in  the  exchange  theory",  einen  eigenen  Paragraph 
(107)  seines  Werkes  über  „Value  and  distribution". 


542  Anhang.    Die  Snsliteratar  in  der  Gegenwart. 

meinungen  angesehen  und  somit  jedenfalls  auch  meiner  Agiotheorie  nicht 
abgesprochen. 

Ob  die  Agiotheorie  auch  in  der  Erfüllung  des  zweiten  Programm- 
punktes  glücklich,  oder  doch  glücklicher  als  ihre  Rivalen  war,  das  wird 
die  fortgesetzte  Diskussion  herausstellen.  Je  knapper  durch  die  Ergebnisse 
der  bisherigen  Forschung  und  Kritik  der  Raum  eingeengt  ist,  innerhalb 
dessen  die  zum  Ziele  führenden  Erklärungsbahnen  gelegen  sein  müssen 
und  zu  suchen  sind,  desto  sorgfältiger  kann  und  wird  innerhalb  dieses 
Bezirkes  in  Hinkunft  gesucht  und  geprüft  werden.  Die  beiläufige  Richtung 
wissen  wir.  Oder,  wie  sich  einmal  J.  B.  Clark  in  einem  geistvollen  Aus- 
blick auf  die  „Zukunft  der  ökonomischen  Theorie"  vielleicht  etwas  opti- 
mistisch, aber  kaum  ganz  unrichtig  ausdrückte:  „Explanations  of  interest 
that  cannot  be  far  from  the  truth  have  been  offered"^).  Von  nun 
an  wird  es  sich  darum  handeln,  innerhalb  jenes  Bezirkes  die  verschiedenen 
Pfade,  zu  deren  Betretung  wir  von  den  heute  noch  rivalisierenden  Theorien 
eingeladen  werden,  Schritt  für  Schritt  auf  ihre  ununterbrochene  und  ziel- 
richtige Gangbarkeit  zu  prüfen.  Noch  anspruchsvoller,  noch  strenger,  noch 
wählerischer  als  bisher,  weil  wir  an  beiläufiger  Orientierung  heute  genug 
besitzen,  als  daß  ebenfalls  nur  beiläufig,  aber  nicht  genau  zutreffende 
Wegweisungen  uns  heute  überhaupt  noch  fördern  könnten.  Wie  immer 
aber  das  Schlußergebnis  dieser  künftigen  kritisch-dogmatischen  Ent- 
wicklung sich  gestalten  mag,  eines  scheint  mir  heute  schon  sicher  zu  sein: 
daß  der  einmal  erweckte  kritische  Geist  sich  mit  keiner  anderen  als  einer 
auch  den  strengsten  wissenschaftlichen  Anforderungen  genügenden  Lösung 
zufrieden  geben  wird,  und  daß  die  Gefahr  —  und  zwar  für  immer  —  vor- 
über ist,  daß  die  Beruhigung  jemals  bei  einer  jener  flachen  Scheinlösungen 
gefunden  werden  könnte,  welche  leicht  in  bequeme  Schlagworte  zu  fassen, 
aber  in  geordneter  Denkfolge  nicht  zu  Ende  zu  denken  sind. 

^)  Qoarterly  Journal  of  Economics,  Oktober  1898,  S.  1. 


Autoren-Kegister. 

Die  den  Autoruamen  beigesetzten  Ziffern  bedeuten  Seitenzahlen.    Wo  einem  Namen 
mehrere  Zahlen  beigesetzt  sind,  sind  die  Hanptstellen  durch  fetten  Druck  hervor- 
gehoben. 


Aarum  459. 

Adler  Georg  367,  368,  384. 

Adler  Karl  515,  516. 

Aftalion  459. 

Ambrosius  15. 

Andrews  456. 

Aquin,  Thomas  von  17,  18,  19,. 25. 

Aristoteles  11,  12,  41. 

Aschehoug  459. 

Augustinus  15. 

liacon  28,  36. 

Barbeyrac  34. 

Barbon  40,  369,  382. 

Barone  458,  481. 

Bastiat  230,  257  If.,  333,  413,  424,  432. 

Bauer  40. 

Beccaria  43  f. 

Benini  458. 

Bentham  41f.,  44,  232,  299f.,  421,  453. 

Bernhard  461. 

Bemhardi  84,  188. 

Bernstein  406  W.,  531. 

Berolzheimer  466. 

Besold  27 f.,  34. 

Bilgram  456,  457.  463. 

Birck  469. 

Bischof  418. 

Block  465,  616,  636. 

Bodinns  44. 

Böhmer  10,  34. 

Bonar  455,  456,  459. 

Bortkiewicz  v.  367,  466,  474. 

Bomitz  27. 

Boxhorn  33. 

Brentano  466. 

Brock  459. 


Broedersen  42. 
Brown  457,  516. 
Busch  320. 
Bundsmann  515,  516. 

Caimes  256. 

Calvin  23ff.,  56. 

Camerarius  27. 

Canard  92ff. 

Cancrin  71, 

Cannan  64,  89,  264. 

Caramuel  18. 

Carey  135«.,  143,   145,   151,   161.  261, 

274. 
Carver  456,  457,  464f.,  481  f.,  493,  496  IL 
Cassel  38,  56,  109,  457,  459,  466,  472. 
Cato  11. 

Cauwös  115,  268  L,  424. 
Cernnschi  453. 
Chalmers  90. 
Cherbuliez  256,  269 
ChiW  37. 
Chrysostomus  15. 
Cicero  11. 

Clark  442,  455,  467,  611,  615,  616,  642. 
Coletti  533. 

Coneina,  Fra  Daniello  41. 
Conrad  J.  465. 
Conrad  Otto  462. 
Contzeu  34. 
Cossa  Emilio  462  f. 
Cossa  Luigi  42,  278,  418. 
CourceUe-Seneuil  222,  265 L,  272. 
Covarruvias  16,  17. 
Crocini  458. 
Cahel  300. 
Culpeper  37. 


544 


Autoren-Register. 


Davidsohn  459. 

Diehl  326,  367,  465,  515,  532,  536. 

Dietzel  Heinrich  331,  465,  515,  532,  634f . 

537  f. 
Dietzel  Karl  257. 
Droz  92,  94  f. 
Dühring  328. 
Dumoulin  siehe  Molinaeus. 

Edgeworth  455. 

Effertz  460. 

Einarsen  459. 

Eiselen  75. 

Ely  456. 

Endemann  11,  14,  16,  16,  19,  20,  21,  24, 

26,  29,  31,  34,  51. 
Engels  367,  399,  531. 
Engländer  515. 
Eulenburg  474. 

Falbe-Hansen  459. 

Farnam  457. 

Fetter  457,  516. 

Fireman  531. 

Fisher  201,  456  f.,  463,  499,  502,  516. 

Forbonnais  35,  42. 

Fulda  75. 

Funk  11,  49,  51. 

Gajus  228. 

Galiani  38,  41  ff.,  44,  48,  191,  232,  299, 

300,  453. 
Garnier  G.  92. 

Garnier  J.  115,  256,  269,  424. 
Gebauer  615. 
Genovesi  43. 
George  67,  430  ff.,  465. 
Georgievsky  461. 
Gerstner  265,  423. 
Gesell  463. 
Giddings  456,  503. 
Gide  466,  537. 
Glaser  153ff. 
Godwin  242,  320,  423. 
Goldschmidt  228. 
Graziadei  531. 
Graziani  458f.,  482. 
Grasnvinckel  33. 
Green  456. 
Groß  367. 
Grotius  27,  28f. 
Guth  327. 


Hadley  456. 

Hall  320. 

Hamilton  459. 

Heimann  396. 

Held  321. 

Hermann  1,  133,  172,  178  ff.,  188,  189, 

190,   191,   192,   193,   197f.,   199,  210, 

211  ff.,  221,  329,  442. 
Hilferding  396. 
Hoag  464f. 
Hobson  456. 
Hodgskin  321. 
Hoffmann  276,  426. 
Hufeland  71. 
Huhn  418. 
Hume  40,  42,  60,  52,  463. 

Jaeger  459. 

Jakob  75. 

Jevons  256,  277,  278,  300ff.,  316,  41»ft, 

453,  455,  460,  485,  492f.,  603,  641. 
Jones  90. 
Justi  35,  36,  60. 

Kautsky  531. 

Kleinwächter  118  ff.,  117,  118. 

Kloppenburg  33. 

Knies  11,  13,  166,  191  f.,  198,  203,  206, 
210,  216  ff.,  228,  232,  281,  330,  331, 
339,  343,  344,  367,  374,  380,  384,  388. 
455,  528. 

Komorzynski  367,  466,  632. 

Kraus,  Christian  Jakob  71. 

Kraus  Oskar  301. 

Labriola  532. 

Lactantius  15. 

Lafargue  531. 

Land6  531. 

Landry  260,  459,  499,  616,  616. 

Laspeyres  11,  29,  33,  34. 

LassaUe    163,    246,    247f.,    326 f.,    378, 

412. 
Lauderdale  96,  109,  126  ft,  131,  136,  137, 

151,  168,  241,  246,  311. 
Launbardt  301,  302,  454. 
Law  45,  60. 
Leffler  469. 
Leibnitz  34. 
Lehr  465. 

Leroy-Beaulieu  116,  125,  418. 
Lexis  367,  531,  532  ff. 


Autoren-Register. 


545 


Defmann  462. 

Lifschitz  368. 

Locke  38  ff.,  42,  50,  51,  126,  242,  319, 

322. 
Loria  248,  482,  531,  636. 
Lotz  72  ff.,  319. 
Lowrey  456. 
Lueder  71. 
Luther  22. 

Mac  CuUoch  86  ff.,  241,  243,  246,  262,  264, 

413,  423,  503. 
Macfarlane  248,  255,  455f.,  481,  493,  503, 

541. 
Mac  Leod  90  ff.,  442. 
Macvane  455,  481,  483. 
Maffei  41,  42. 
Malthus  84,  181  ff.,  242,  245,  246,  301, 

416,  426. 
Mangoldt  188f. 
Maresius  33. 

Margolin  239f.,  466,  473. 
Mario  177  f. 
Marshall  XI  ff.,  245,  248,  255,  481,  482  ff., 

503,  522,  541. 
Marx  112,  163,  164,  321f.,  327,  329,  330, 

367  ff.,  403,  404,  405,  406,  407,  408, 

410,  411,  412,  441,  510,  530f. 
Masaryk  367,  532. 
Massalia,  Alexius  a,  29,  31 
Mataja  195. 
Melanchthon  22. 
MeloQ  45. 

Menger  Anton  320f. 
Menger  Karl  172, 183, 192  ff.,  197,  232  ff., 

450,  465. 
Mercier  de  la  Rivilre  54. 
Meyer  R.  353. 
Mill  James  241,  243,  246,  262  ff.,  324,  423, 

503. 
Mill  J.  St.  256,  277,  278,  328,  425  ff.,  493, 

498. 
Mirabeau  45  ff.,  54. 
Mithoff  189. 
Mixter   277ff.     281f.,   284,   303,    314ff., 

456. 
Molinaeus  16,  23,  24 ff.,  31,  44,  50,  52. 
Molinari  49,  115,  256,  418. 
Montemartini  458. 
Montesquieu  42,  45. 
Morgenstieme  459. 
Murhard  71. 

Böhm-  Bawerk,  Kapitalzius.    4.  Aufl. 


^Jagcp     191 

Natoli  84,  356f.,  391,  458 L 
Nebenius  176  f.,  243. 
Neumann  11,  22,  29,  34. 
Neurath  536. 
Nicholson  537. 
Noodt  34. 
North  37. 

Oppenheimer  535. 

Oswalt  240,  453,  461,  462,  466  ff. 

Pantaleoni  515. 

Pareto  458,  465,  537. 

Patten  455. 

Petty  37,  42,  384,  453. 

Philippovich  460,  515,  516. 

Pierson  459,  515,  541. 

Pierstorff  8, 62,  80, 122. 133, 135,  246, 259, 

418. 
Plato  11. 
Platter  62,  64. 
Plautus  11. 
Pölitz  71. 

Pothier  45 f.,  48,  49. 
Proudhon  115,  325  f.,  328,  329. 
Pufendorf  34. 

Quesnay  53. 

Rae  201,  232,  277  ff.,  422,  453,  493,  641. 

Rau  76. 

Read  135,  265,  321,  422  f. 

Ricardo  76  ff.,  91,  108, 126, 132, 134, 135, 

185,  241  f.,  246,  262,  276,  301, 308, 319f., 

324f.,  338,  355f.,  374f.,  377f.,  386,  387, 

390,  391,  395,  425,  448,  505,  509,  514. 
Ricca-Salerno  458f. 
Riedel  110  f.,  117,  118,  124,  193. 
Rizy  11,  45. 
Rodbertus  163,  259,  269  ff.,  321f.,  326f., 

329,  330  ff.,  367,  374,  378,  390,  392, 

409,  412,  441,  530. 
Roesler  155  ff.,  185. 
Röscher  11,  27,  34,  37,  39,  51,  98,  111  ff., 

117,  124,  185,  193,  222,  223,  256,  413, 

418. 
Rossi  115,  256,  416ff. 

Salmasius  18,  27,  29  ff.,  35,  37,  42,  43, 
44,  47,  50,  51,  52,  197,  222,  223,  229, 
230ff.,  258. 

35 


546 


Antoren-Register. 


Salz  323. 

Sartorius  71. 

Sex  301,  302,  464. 

Say  72,  76,  76,  92,  94,  96,  10811.,  116, 

117, 118, 124, 133, 163, 172  IL,  183, 193, 

197  f.,  199,  203,  207,  210,  221,  222,  224, 

329,  448,  466. 
Schäffle  18» ff.,  19Sf.,  201,  206,  207,  210, 

222,  224,  271  ff.,  276,  328,  337,  428  ff. 
Schanz  36. 
Scharling  469. 
Schellwien  430,  48«  ff.,  466. 
Schindler  18. 
Schmalz  71. 

Schmidt,  K.  396f.,  8Mff.,  631. 
Schön  110. 
Schüz  266,  418. 
Schulze-Delitzsch  113,  418. 
Schumpeter  461,  611. 
Scialoja  116,  117. 
Scrope  243,  321. 
Seager  466,  467,  616,  616. 

O  pn  P  P  A,      1  '] 

Senior  62,  76,  91,  112,  133,  222,  241  ff., 
267,  268,  269,  266,  329,  421,  423,  426, 
484. 

Seutter  71. 

Sidgwick  496,  636. 

Sismondi  320,  322  ff.,  378. 

Sivers  64. 

Smart  466. 

Smith  Adam  33,  60,  61  fL,  73,  76,  76,  77, 
79,  84,  90,  96,  107,  108,  110,  126,  132, 
133,  166,  241,  242,  276,  279,  301,  319f., 
322f.,  324,  330,  338,  373,  374ff.,  386, 
396,  448,  617. 

Smith  Peshine  136,  142  ff. 

Soden  72,  74,  319. 

Soldi  631. 

Sombart  367,  399f.;  406,  631. 

Sonnenfels  35  ff.,  44,  60,  320. 

Spiethoff  461. 

Steuart  39,  60,  320. 

Stiebeling  631. 


Stolzmann  273,  362f.,  604 ff. 
Storch  176f. 

Strasburger  164  ff.,  311,  413,  4.36. 
Sulzer  460. 

Taussig  466,  467. 

Tellez  16,  17. 

Thompson  242,  820  f. 

Thünen  145  ff.,  189,  286,  304,  317,  420, 

626. 
Torrens  84f.,  133,  246,  426. 
Tugan-Baranowsky  367,  614,  635. 
Turgot  33,  38,  47  ff.,  68  ff.,  68,  70,  94, 

127,  232,  281,  299,  300,  430,  433,  463, 

466. 

Ulpian  228. 

Vaconius  a  Vacuna  17. 
Valenti  637. 
Vasco  41,  43. 
Vaughan  37,  42,  463. 
Verrijn,  Stuart  84,  374,  462. 

Wagner  222,  272  f.,  322, 331, 367. 460, 604, 

608. 
Walker  XI  ff.,  616. 
Walras  466. 
Weisengrün  632. 
Wenckstern  367,  632. 
Westergaard  469. 
Whately  90. 
Wicksell  469f.,  516. 
Wieser  616,  616,  617  ff. 
Wirth  266,  418. 
Wiskemann  11,  22. 
Wittelshöfer  634. 
Wolf  616,  617,  631. 
WoUemborg  132,  266. 
Wuttke  461. 

Zabarella  19. 
Zaleski  466,  466. 
Zwingli  22. 


fidlitr  Usnar  I  ainvtn