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Lehr- und Handbuch
der
politischen Oekonomie.
In einzelnen selbständigen Abtheilungen.
In Verbindung mit
A. Buchenberger K. Bücher H. Dietzel
gToSBh. Ministerialrath Professor der Statistik und Professor der Staatswissen-
in Karlsruhe Nationalökonomie in Leipzig schuften in Bonn
und Anderen bearbeitet itnd herausgegeben
von
Adolph Wagner
Professor der Stautswisstfhschaften in Berlin.
Erste Hauptabtheilung:
Grundlegung der politischen Oekonomie.
Dritte Auflage.
Erster Theil.
Grundlagen der Volkswirtschaft.
Erster Halbband.
Leipzig.
C. F. Winter’sche Verlagshandlung.
1892.
&
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Grundlegung
der
politischen Oekonomie.
Von
Adolph Wagner.
Dritte
wesentlich um-, theilweise ganz neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage.
Erster Theil.
Grundlagen der Volks wir thschaft.
Erster Halbband.
Einleitung und Buch 1 — 3.
Wirthschaftliche Natur des Menschen ; Object, Aufgaben. Methoden, System
der politischen Oekonomie. — Elementare Grundbegriffe. — Wirthschaft
und Volkswirtschaft.)
Leipzig.
C. F. Winter' sehe Verlagshandlung.
1892.
LIBRARY OF THE
LELAND STANFORD JR. UNIVERSITY .
OL. l±-j5 33
JAN 14 1901
Vorwort
zur dritten Auflage.
Seit mehreren Jahren hat dieses Werk im Buchhandel gefehlt.
Die neue Auflage hat sich wegen anderweiter Arbeiten, vornemlich
aber auch deswegen verzögert, weil ich die Nothwendigkeit em-
pfand, das ganze Buch stärker umzuarbeiten. Ich hätte es auch
eigentlich vorgezogen, zunächst an der Finanzwissenschaft weiter
zu arbeiten und diese endlich zum Abschluss zu bringen. Aber
ich glaubte schliesslich doch, dem Wunsche der Verlagshandlung
nachkommen zu sollen und die Neubearbeitung der Grundlegung
in die Hand zu nehmen, damit das Buch nicht gar zu lange fehle.
Die zweite Auflage ist im Frühjahr 1879 erschienen. Schon
diese lange Spanne Zeit, welche zwischen den beiden Auflagen
liegt, bedingte erhebliche Aenderungen, um den Entwicklungen
der Wissenschaft Rechnung zu tragen und das Buch mit meiner
eigenen wissenschaftlichen Auffassung im Einklang zu erhalten.
So ist diese dritte Auflage in der That eine „wesentlich um-, theil-
weise ganz neu bearbeitete und stark erweiterte“ geworden.
In Verbindung mit einer Umänderung und Erweiterung des
ganzen Plans für das Gesammtwerk und mit der Gewinnung einer
Reihe neuer Mitarbeiter für einzelne Theile, worüber ich mich im
Eingang dieses Bands selbst (S. lff.) näher geäussert habe, hat
aber auch die Grundlegung selbst in dieser neuen Auflage materielle
und formelle Aenderungen und Erweiterungen erfahren.
Es wurde ihr auch äusserlich als einer „ersten Hauptabtheilung“
(„Grundlegung der Politischen Oekonomie“) die Stellung eines ge-
meinsamen Fundaments für das ganze Werk gegeben und sie, wie
von der practischen, so auch von der theoretischen Nationalökonomie
getrennt (s. S. 2 und §. 102 ff., S. 266 ff.). Der frühere eine Theil
wrnrde in zwei zerlegt und der Inhalt und Umfang erweitert.
Der erste Theil, unter dem eigenen Titel „Grundlagen der Volks-
wirthschaft“, entspricht der ersten Abtheilung der zweiten Auflage
(S. 1—342 daselbst), aber ist durch umfängliche Ausführungen
über die wirtschaftliche Natur des Menschen, die Motivation im
wirtschaftlichen Handeln („ökonomische Psychologie“), über Ob-
ject, Aufgaben, Methoden („Methodologie“), System der Politischen
Oekonomie (S. 70—285) und Uber die Beziehungen zwischen Be-
völkerung und Volkswirtschaft („volkswirtschaftliche Bevölkerungs-
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VI
Vorvrort zur dritten Auflage.
lehre“, im Beginn des 2. Halbbands) stark erweitert worden. Diese
Abschnitte fehlten in den beiden ersten Auflagen völlig, gehörten
aber in das Werk und doch wohl am Richtigsten gerade an die
Stelle, wo sie sich jetzt befinden. Die Methodologie und Systeraato-
logie war früher erst für den Schluss der Grundlegung geplant ge-
wesen. Der zweite Theil der Grundlegung wird dann die Gesammt-
heit der wirthschaftlichen Rechtsfragen enthalten, welche in der
zweiten Auflage von S. 343—821 behandelt wurden, zugleich aber
auch sich auf das mit ausdehnen, was in den beiden ersten Auflagen
auf diesem Gebiete noch rückständig geblieben war, so die Lehre
vom „Inhalt des Eigenthums“ (vgl. 2. Aufl. §. 286, S. 587 ff.). Dieser
zweite Theil soll den Titel führen: „Volkswirthschaft und Recht,
besonders Vermögensrecht, oder Freiheit und Eigenthum in volks-
wirtschaftlicher Betrachtung.“
Zunächst erscheint jetzt Theil 1 der Grundlegung. Um das
Buch nicht noch länger im Buchhandel ganz fehlen zu lassen und
es gleichzeitig mit der Buchenberger’schen Agrarpolitik zum Be-
ginn des nächsten Wintersemesters zur Verfügung zu stellen, haben
sich Verfasser und Verlagshandlung entschlossen, die im Druck
fertige erste Hälfte dieses Thcils, enthaltend die Einleitung und
die ersten drei Bücher, als ersten Halbband von Theil 1 jetzt apart
herauszugeben. Die zweite Hälfte ist im Druck und folgt binnen
Kurzem. Sie enthält die Bücher 4 — 6: Bevölkerung und Volks-
wirthschaft, Organisation der Volkswirthschaft, der Staat, volks-
wirtschaftlich betrachtet.
Alle einzelnen Abschnitte des Buchs sind mehr oder weniger
stark überarbeitet, auch gegen die vorige Auflage noch mehr er-
weitert, als es den Anschein haben könnte, indem jetzt auch in
dieser 3. Auflage der Grundlegung die corapendiösere Einrichtung
des Drucks wie in den neueren Bänden und Auflagen der Finanz-
wissenschaft (Anwendung von Petitschrift für alles Detail und alle
näheren Ausführungen auch im Text) stattgefunden hat.
Die sachlich wichtigste Veränderung in dieser Auflage und
speciell in dieser ersten Hälfte des ersten Theils liegt aber in der
in den früheren Auflagen fast ganz fehlenden „Einleitung“ (vgl.
2. Aufl. S. 1 — 4 und jetzige 3te S. 5 — 67) und vor Allem in dem
neuen nunmehrigen ersten Buche von der wirthschaftlichen Natur
des Menschen, der Motivationstheorie, Methodologie und Syste-
matologie (vgl. 2. Aufl. S. 8—12 und jetzige 3te S. 70—285). Man
wird hier überall den Einfluss spüren, einmal des Socialismus, ins-
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Vorwort zur dritten Auflage.
VII
besondere in den Anregungen zu „ökonomisch -psychologischen“
Studien und Erörterungen; sodann auch der neuerlichen methodo-
logischen Controversen zwischen K. Men ge r und der deutschen
jüngeren historischen Schule. In erstcrer Hinsicht hielt ich eine
Auseinandersetzung mit der einseitigen ökonomischen Psychologie
des Socialismus für unabweisbar, die Ergebnisse derselben aber auch
für das Studium und die Entwicklung der Politischen Oekonomie
im Allgemeinen für grundlegend. Grade in seiner Psychologie liegt
die eigentliche Schwäche des extremen (radicalen) theoretischen
wie practischen Socialismus. In der anderen Hinsicht, in dem
Metboden8treit, verdanke ich K. Menger und der ganzen „öster-
reichischen theoretischen Schule“ (vgl. §. 19) viel und bekenne
das hier gern, ohne freilich mich durchaus auf ihre Seite zu stellen.
Wie Neumann, dem ich hier in den theoretischen Partien, wie
in der Finanzwissenschaft (vgl. 2. Theil S. 19 ff.) ebenfalls für
vielerlei Anregung und Belehrung Dank schulde, suche auch ich
eine gewisse vermittelnde Stellung einzunehmen, wobei ich freilich,
um die beiden Hauptrufer auf den extremen Seiten im Methoden-
streit zu nennen, K. Menger näher als G. Schmoller stehe. Die
Auseinandersetzungen mit der jüngeren deutschen historischen
Richtung waren mir lange ein Bedürfnis. Wenn sie hie und da
etwas scharf ausgefallen sind, so bitte ich zu bedenken, dass es
sich nicht nur um Verwahrung gegen einseitige Richtungen, welche
ich meiner Uebcrzeugung nach für schädlich halte, sondern zugleich
auch um Verwahrung gegen die überhebende Art handelt, wie der
jüngere Historismus Alles behandelt, was sich nicht in seinem
Fahrwasser bewegt, d. h. was nicht auch die historische Induction
allein gelten lassen und concrete Wirtschaftsgeschichte mit Poli-
tischer Oekonomie identificiren will: Einseitigkeiten der entgegen-
gesetzten, aber nicht minder bedenklicher, ja im Grunde noch bedenk-
licherer Art, als die viel gerügten der älteren britischen deductiven
und abstracten Richtung (vgl. §. 15, 16 und passim mehrfach).
Der principielle socialpolitische Standpunct, den ich in den
früheren Auflagen einnahm, ist im Uebrigen in dieser 3. Auflage
in keiner Weise verändert, am Wenigsten abgeschwächt worden, auch
nicht in den wirthschaftlichen Organisations- und Rechtsfragen, wie
schon das l.Buch, mehr noch die zweite Hälfte dieses Bands und der
zweite Theil der Grundlegung zeigen wird. Auch meine Stellung zu
Rodbertus und Schäffie ist keine andere geworden, — denjenigen
Autoren, welchen ich mich, bei vielfacher Abweichung in Einzel
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vm
Vorwort zor dritten Auflage.
%
heiten und auch in Principienpuncten, doch anderseits in gewissen
principiellen Auffassungen am Nächsten fühle und von welchen ich
jedenfalls glaube am Meisten gelernt zu haben.
Ueber Manches, was ich hier im Vorwort mit berühren müsste,
habe ich mich in der „Einleitung“ (vgl. bes. §. 5, 7 — 12) näher
ausgelassen, da die betreffenden Puncte eine allgemeine Bedeutung
für die Bearbeitung der Politischen Oekonomie haben, und erlaube
mir hier daher, darauf hinzuweisen.
In dieser dritten Auflage habe ich auch dahin gestrebt, meine
„Grundlegung“ dem neuen Plane für das gesammte umfassende
„Lehr- und Handbuch der Politischen Oekonomie“ möglichst an-
zupassen. Ueber diesen Plan verbreiten sich die ersten Seiten
(S. 1—3) dieses Bands weiter. Hier sei nur noch hervorgehoben,
dass wir einzelnen Bearbeiter uns auch untereinander unsere wissen-
schaftliche Selbständigkeit und innerhalb der von einem Jeden be-
arbeiteten Theile freie Bewegung wahren. Insbesondere liegt es
mir, als dem Herausgeber des Gesammtwerks, fern, meinen Herren
Mitarbeitern in Bezug auf principielle Auffassungen und Streit-
fragen vorgreifen zu wollen. Wie bei allen solchen Werken von
verschiedenen Autoren, wenn die letzteren sich auch in Manchem
nahe stehen, wird es grade in Bezug auf solche Auffassungen und
Fragen auch unter uns nicht an Meinungsverschiedenheiten fehlen.
Das muss man bei einem Zusammenwirken verschiedener Männer
der Wissenschaft ob der anderen Vortheile der wissenschaftlichen
Arbeitsteilung willen hinnehmen (vgl. §. 9 und 10). —
Ich hoffe, dass nunmehr das ganze Werk, welches in dem ge-
planten grossen Umfang allein zu bearbeiten meine Kräfte weit
überstiegen hätte, wie ich mich immer mehr überzeugen musste,
rascher vorrückt und in absehbarer Zeit vollendet vorliegt. Ich
selbst werde noch mehr als bisher mich darauf einrichten, mög-
lichst alle meine für literarische Arbeit überhaupt verfügbare Zeit
dem Werke, bzw. den von mir übernommenen Theilen zu widmen.
Und wie der gleichzeitig erscheinende erste Band von Herrn Min.rath
Buchenberger’s Agrarpolitik zeigt, werden meine Herren Mitarbeiter
auch nicht säumen, ihre einmal übernommene Aufgabe zu erfüllen.
Berlin, September 1892.
Dr. Adolph Wagner.
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Inhaltsübersicht.
Die zweite Zahl in Eckklammern hinter der Paragraphenzahl ist diejenige der
zweiten Auflage. Wo sie fehlt, ist der Gegenstand in dieser dritten Auflage erst neu
aufgenommen worden.
Seite
Plan des Gesammtwerks (2. Aufl. S. 5, 6) 1
Grundlegung der Politischen Qekonomie 5
Einleitung (2. Aufl. S. 1 — 5) 5
Erstes Kapitel. Ziel und Aufgabo dieses Werks, insbesondere der
Grundlegung 5
§. 1. Die Smith’scho oder britische Oekonomik 5
2. Die Krisis der britischen Oekonomik 9
§. 3. Die kritischen Leistungen des Socialismus und seine positiren Mängel 12
§. 4. Der Methodenstreit 16
§. 5. Das Bedürfnis und die Aufgaben einer neuen Grundlegung der Poli-
tischen Qekonomie 18
§. 6. Individuum und Gemeinschaft 22
7. Ziel und Aufgabe dieses Werks 25
§. S. Specialarbeit und zusammenfassende Arbeit 26
§. 9. Zusammenwirken verschiedener Autoren auf dem Gebiete zusammen-
fassender Arbeit in Sammelwerken . . . . . . . . » . , 28
§. 10. Arbeitsteilung in Sammelwerken der Politischen Qekonomie und
speciell in diesem Werke 31
§. 11. Die geistige Individualität der Gelehrten als Factor ihrer Arbeitsweise 32
§. 12. Die Bearbeitung der Grundlegung 35
Zweites Kapitel. Verhältnis« zu anderen Standpuncten und litte-
rarische Nachweisungen für die Grundlegung 37
§. 13. Der Socialismus 37
§. 14. Dem Standpuncte dieser Grundlegung verwandte Standpuncte in der
Litteratur 41
§. 15. Die deutsche historisch -nationalOkonomische Richtung 46
jj. 16. Historisch -nationalökonomische Litteratur 51
§. 17. Der Kathedersocialismus 57
jj$. IS- Der Staatssocialismus 58
g. 19. Die neuere theoretische Richtung, besonders in Oesterreich ... 03
jj. 20. Die Socialökonomie als eigene selbständige Wissenschaft .... 65
X Inhaltsübersicht.
Seite
Erster Thell t>9
Die Grundlagen der Volkswirt!) schaft . 69
Erstes Buch.
Die wirthschaftliche Natur des Menschen. Object, Aufgaben.
Methoden, System dor Politischen Oekonomie TO
Erstes Kapitel. Die wirthschaftliche Natur des Menschen ... 70
§. 21. Litteratur. Aufgaben dieses Kapitels 70
1. Abschnitt. Analyse der wirtschaftlichen Natur des Menschen . 73
§. 22. [1.] — I. Bedürfnis. Befriedigung. Befriedigungstrieb .... 73
§. 23. [2.] — 1. Die Bedürfnisse 74
§. 24. [1, 06, 139.] Einteilung der Bedürfnisse 75
§. 25. — 2. Befriedigung 70
§. 26. [1.] — 3 Der Befriedigungstrieb 77
§♦ 27. [2.] — II. Die Arbeit 79
§. 2S. [3.] — III. Qekonomisches Princip SO
§. 29. [4.] - iv. Wirtschaft. Wirthschaftliche Natur des Menschen.
Wirthschaftslchre 81
2. Abschnitt. Diffcrcnzirung und Combination der Motive im wirt-
schaftlichen Handeln . 83
8. 30. — I. Die wirthschaftliche Natur bei den Individuen. 1. Individuelle
(subjective) Di deren zirung S3
§.31. — 2. Die wirthschaftliche Natur als eine blosse Seite der mensch-
lichen Katar 84
§. 32. — 3. Der Mensch als einheitlich handelndes, wenn auch von ver-
schiedenen Motiven bestimmtes Wesen S5
§. 33. [207.] — II. Analyse der Motive im wirtschaftlichen Handeln, ins-
besondere die Dilferenzirung der egoistischen Motive St»
§. 34. [207 ] — A. Egoistische Motive. 1. Erstes Leitmotiv: Streben nach
dem eigenen wirtschaftlichen Vorteil und Furcht vor eigener
wirtschaftlicher Noth. a) We9en und Function dieses Motivs . . SS
§. 35. — b) Behandlung dieses Motivs in der Theorie 90
§. 36. — c) Bedeutung des Motivs für Theorie und Praxis des Wirtschafts-
lebens und bezügliche Aufgaben 91
§. 37. [207.] — 2. Zweites Leitmotiv: Furcht vor Strafe und Hoffnung auf
Anerkennung, a) Wesen und Function des Motivs 93
§. 38. — b) Bedeutung des Motivs für Theorie und Praxis des Wirtschafts-
lebens und bezügliche Aufgaben 96
§. 30. [207.] — 3. Drittes Leitmotiv: Ehrgefühl, Geltungsstreben, Furcht
vor Schande und Missachtung, a) Wesen und Function dieses Motirs 9S
§. 40. — b) Bedeutung des Motivs für Theorie und Praxis des Wirtschafts-
lebens und bezügliche Aufgaben 100
§. 41. — c) Besonders wichtige Fälle. (Oeffentlichcr Dienst. Socialistisches
Wirtschaftssystem. Ergebnisse 103
§. 42. [207.] — 4. Viertes Leitmotiv: Drang zur Betätigung. Freude am
Thätigsein, auch an der Arbeit als solcher und an den Arbeits-
ergebnissen als solchen, sowie Furcht vor den Folgen der Untätigkeit
(Passivität), a) Wesen und Function des Motivs 100
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Inhaltsübersicht.
XI
Seite
§. 43. — b) Bedeutung des Motivs für Theorie und Praxis des Wirthschafts-
lebens und bezügliche Aufgaben
10S
§. 44. Die Differenzirung der egoistischen Motive des wirtschaftlichen
Handelns in ihrer Bedeutung für die Frage der Methode in Theorie
und Praxis
11?
§. 45. [207.] — B. Unegoistisches oder fünftes Leitmotiv: Trieb des inneren
Gebots zum sittlichen Handeln, Drang des Pflichtgefühls und Furcht
vor dem eigenen inneren Tadel (ror Gewissensbissen). — a) Wesen
dieses Motivs und Function
115
§. 40. b) Bedeutung des Motivs für Theorie und Praxis des Wirthschafts-
lebens und bezügliche Aufgaben
117
3. Abschnitt. Ergebniss
121
§. 47. — I. Ergebniss für die Theorie
121
S. 4S. — II. Ergebniss für die Praxis
122
§. 49. — III. Auseinandersetzung mit dem Socialismus. 1. Die Lehre vom
wirtschaftenden Menschen als auch in seiner Motivation einem
Product der Verhältnisse und ihre teilweise Richtigkeit ....
123
50. — 2. Einwände gegen die Tragweite der dargelegtcn Lehre . . .
12S
§. 3J. — 3. Schlussergebniss hinsichtlich der Motivation
130
§. 52. — IV. Bedeutung der Motivationstheorio für den psychologischen
Unterbau der socialökonomischen Methodologie und der ganzen Social-
Ökonomie
13?
§, 53. — V. Fehler der verschiedenen theoretischen Richtungen ....
135
Zweites Kapitel. Object, Aufgaben, Methoden, System der Poli-
tischen Ockonomic
1 M7
§. 54. Vorbemerkung und Litteratur
137
Erster Hauptabschnitt. Object und Aufgaben
142
§. 55. — I. Zusammenhang von Object, Aufgabe, Methode und System .
142
§. 56. — II. Das Object
143
§. 57. — III. Die Aufgaben und die Classification der Wissenschaften . .
144
§. 5S. — A. Die drei ersten oder die theoretischen Aufgaben ....
146
§. 59. — 1. Die erste Aufgabe
147
§. 60. — 2. Die zweite Aufgabe
14s
8. 61. — 3. Die dritte Aufgabe
151
§. 62. — B. Die drei letzten oder die practischcn Aufgaben
154
§. 63. — 1. Die vierte und die fünfte Aufgabe
15s
§. 64. — 2. Die sechste Aufgabe
164
Zweiter Hauptabschnitt. Methoden
165
1. Abschnitt. Allgemeines
166
§. 65. — I. Einleitung. Dcduction und Induction
166
8. 66. — II. Allgemeine Characteristik beider Methoden
1 GS
2. Abschnitt. Das dednetive Verfahren
1 7°
§. 67. Die Methode der Deduction in der Politischen Ockonomie. A. Art
und Weise und Voraussetzung ihrer Anwendung
172
§. 6S. — B. Die (,,exacte“) Deduction unter den drei Voraussetzungen und
ihre mathematische Formulirung („mathematische Methode“) . . .
175
XII
Inhaltsübersicht.
Seite
§. 69. — C. Das Verhältnis der deductiv gewonnenen Ergebnisse zur
Wirklichkeit der Erscheinungen 177
§. 70. — D. Die Annäherung der deductiv gewonnenen Ergebnisse an die
Wirklichkeit durch methodische Acndcrung der Voraussetzungen der
Deduction ISO
$. 71. Durchführung der Veränderungen der drei Voraussetzungen im Ein-
zelnen 182
§. 72. — E. Die auf dem dednetiven Verfahren aufgebaute Wirthschafts-
Wissenschaft als „logische** Wissenschaft 186
§. 73. — F Deductiv abgeleitete wirtschaftliche Gesetze ISS
§. 74. — G. Die Fehlerquellen des dcductiven Verfahrens 190
§. 75. — H. Das Bedürfnis nach einer Ergänzung des deductivcn Verfahrens 193
3. Abschnitt. Das inductive Verfahren 194
§. 76. — I. Die Bedingungen der Induction und das Beobachtungsrcrfahrcn
dafür 194
§. 77. — II. Die einzelnen Bcobaehtungsmethoden im inductiven Verfahren 196
§. 78. — A. Die unwissenschaftliche tägliche Beobachtung wirtschaftlicher
Erscheinungen 197
§. 79. — B. Die wissenschaftliche Einzelbeobachtung 200
§. 80. — C. Die wissenschaftliche Massenbeobachtung: Statistik und Historik 202
§.81. — 1. Die Statistik als Methode, a) Wesen und methodologischer
Werth 206
§. 82. — b) Anwendung der statistischen Methode 211
§. 83. — 2. Die Historik, d. h. die Geschichte als Methode, c) Im All-
gemeinen und bezüglich der ersten und dritten Aufgabe . . . . 216
§. 84. — b~) Die historische Methode in ihrer Fortbildung zur vergleichend-
historischen, insbesondere auf dem Gebiete der zweiten Aufgabe ♦ 220
§ 85. — c) Anwendung der historischen Methode 223
4 Abschnitt. Wirtschaftliche Gesetze 225
§. 86. Einleitung und Littcratur 225
§. 87. — I. Die allgemeine Frage von der Zulässigkeit des Ausdrucks
..Gesetz;* und die Begrifibestimmung von „Gesetz“ im allgemeinsten
Sinne 228
§. SS. — II. Verschiedene Arten von Gesetzen 230
§. 89. — III. Wirtschaftliche Gesetze 234
§. 90. — III. Wirtschaftliche Bewegungs- und Entwicklungsgesetze . . 237
§. 91. — V. Ergebnis 241
5. Abschnitt. Die Verbindung der Methoden 242
§. 92. — I. Der Auf- und Ausbau der Politischen Oekouotnio .... 242
§. 93. — A. Das inductive Verfahren als Controlmittel (im „Ergänzungs-
dienst>> anderer Methoden) 243
§. 94. — B. Das inductive Verfahren als selbständiges Mittel zuin Ausbau
der Politischen Oekonomie ijm ..Ersatzdienst** statt anderer Methoden) 245
§. 95. — II. Ergebnisse. A. Im Ganzen 246
§ 96. — B. Ergebniss im Einzelnen für das Verhältnis der Methoden
zu den Aufgaben 247
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Inhaltsübersicht.
XIII
Seite
§. 97. — C. Ergcbniss für das Verhältniss der Methoden bei einzelnen
Fragen and in den einzelnen Theilen des Systems
250
Dritter Haaptabsch nitt. System und Verwandtes
252
| Abschnitt Die Politische Oeknnnmie als Wissenschaft
252
§. 98. Einleitung und Litteratur
252
$. 99. — L Privatökonomik und ihr Verhältniss zur Politischen Oekonomie
255
100. [53 1 — II. Politische Oekonomie. A. Begriff .
258
§. 101. — B. Name
263
2. Abschnitt. System der Politischen Oekonomie
266
§. 102 — I. Bisherige Entwicklung des Systems
266
§. 103. — II. Das System selbst. A. Bildung desselben. (Hauptcinthcilung.)
271
5$. 104. — B. Begründung und Durchführung dieses Systems
273
§. 105. — C. Weiteres über die Systematik in der theoretischen und all-
gemeinen wie in der practischen und speciellen Nationalökonomie,
insbesondere die Stellung der Lehre vom Verkehrswesen im System
279
§. 106. — III. Die Stellung der Politischen Oekonomie im Kreise der vor-
wandten Wissenschaften •
281
§. 107. — IV. Hilfswissenschaften der Politischen Oekonomie
284
Elementare Grundbegriffe
286
§. 108. (2. Aufl. S. 8.) Litteraturnachweis und Vorbemerkungen über die
Grundbegriffe
2S6
Erstes Kapitel. Die Güter
288
§. 109. [7.] — I. Die Unterscheidung rein -ökonomischer und socialer oder
historisch-rechtlicher Standpuncte der Betrachtung in der Politischen
Oekonomie
288
110. [5.1 — II. Die Güter im Allgemeinen. A. Begriff
288
§. 111 [5.1 — B. Entwicklung der Güter
289
§. 112. [G.J — C. Einteilung der Güter. Innere und äussere
289
§. 113. [7, 8.] — D. Einthcilung der äusseren Güter. Freie und wirth-
schaftliche. 1. Rein - ökonomischer Standpunct
290
§. 114. [9.] — 2. Socialer (historisch -rechtlicher) Standpunct
291
§. 115. [10.J — III. Arten der Erwerbung wirtschaftlicher Güter. A.Uebersicht
293
§. 116. [11 .J — B. Vorkommen und Berechtigungen dieser Erwerbsarten .
295
§. 117. [12, 13-1 — C. Entwicklung der verkehrsmässigen Erwerbsart. Tausch.
Arbeitsgliederung und Verkehr
297
§. 118. [14.] — D. Ursprung des Tauschs und Bedingungen der Entwick-
lang von Tausch und Verkehr
299
§. 119. [15.] — IV. Umfang des Begriffs „wirtschaftliches Gut“ und Ein-
theilung (Arten) der wirtschaftlichen Güter. A. Uebersicht . .
299
§. 120. [16 — 18] — B. Die Streitfrage über den Begriff „wirtschaftliches
Gut“
301
§. 121. [19, 20.] — Einbeziehung der Dienste in den Begriff des wirth-
schaftlichen Guts
3 (>4
§. 122. [21, 22.] — Tausch- und Verkehrsgüter
Zweites Kapitel. Das Vermögen (und Kapital)
306
§. 123. (2. Aufl. S. 30 ff.) — Vorbemerkungen und Litteratur
306
XIV
Inhaltsübersicht.
Seite
§. 124. [23, 24.) — I. Vermögen im Allgemeinen. A. Doppelter Ver-
mögensbegriü’ 309
§. 125. [25.] — 13. Einteilung des persönlichen Vermögens in öllentliches
und Privatvermögen 311
§. 12b. f2C.] — C. Begriff des Reichtums 311
§. 127. — II. Einthcilung oder Arten des Vermögens, insbesondere Kapital. —
Vorbemerkungen (2. Aufl. S. 36 ff.) 312
§. 12b. [27.1 — A. Die zwei Vermögenszwecke und -Arten 313
tj. 129. [28.] — B. Der DoppelbegriH' Kapital 315
§. 130. [29.] — C. Bedingungen für die Zugehörigkeit der Güter zum Kapital 317
{$. 131. [30.] — D. Kicht-Identität von National- und Privatkapital . . . 31S
§. 132. [31.] — E. Ergebniss. Abhängigkeit des Kapitalbegrill's von der
Rechtsordnung 310
§. 133. [321. — F. Todtes Kapital 320
Drittes Kapitel Der Werth 320
§. 134. (2. Aufl. S. 4411.) Vorbemerkungen und Littcratur 320
§. 185. Fortsetzung. Die Grenznut/entheorie und die sich daran anschliessende
neueste Behandlung des Werths in der Litteratur 323
§. 136. [33, 34.1 — I. Werth im Allgemeinen. Gebrauchswerth. A. Ab-
leitung des Wcrthbegritfs 327
§. 137. [35, 36.] — B. Der Werth als Gebrauchswerth. Individueller und
socialer 329
$♦ 138. [37.1 — C. Der Gebrauchswerth als Mengen- oder Gattungswerth oder
als concreter und abstracter. 1. Concrcter Werth 333
§. 139. [3S— 40.] — 2. Abstracter Werth 335
§. 140. [41 — 43 1 — II. Der Tausch- oder Verkehrswerth 336
§■ 141. [14,45.] — III Der Preis. A. Begriff 338
§. 142. [46, 47.J — B. Bestimmgründc der Höhe von Tauschwerth und
Preis im freien Verkehr 340
§. 143. [48, 65, 66.] Andere Grundbegriffe. Geld. Credit 342
Drittes Buch. Wirthschaft and Volksivirthschaft 346
§. 144. (2. Auf). S. 60 ff.) Vorbemerkung und Litteratur 346
Erstes Kapitel. Wesen und Arten der Wirthschaft. Einzel-,
Volks- und Weltwirtschaft 34<)
§. 145. [49.] — 1. Die Wirthschaft im Allgemeinen. A. Begriff der Wirth-
schaft 849
§. 146. [50.1 — II- Technik und Ockonomik 350
§. 147. [51.] — I. Die Einzelwirtschaft. A. Begrill' 351
$$. 14S. [52.1 — B. Arten der Einzelwirtschaft 351
§. 149. [53.J — IV. Dio Volkswirtschaft. A. Begrill' und Wesen . . . 353
§. 150. [54.] — B. Entwicklung der Volkswirtschaft 356
§. 151. [55, 56.] Die vier einzelnen Momente, welche die Entwicklung der
Volkswirtschaft beherrschen 357
§. 152. [57 ] — V. Dio Weltwirtschaft. A. Begrill’ und Wesen .... 361
§. 153. [5$.] — B. Die Entwicklung der Weltwirtschaft 361
§. 154. [62, 59 — 61.] Die vier einzelnen Momente 362
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Inhaltsübersicht.
XV
Seite
Zweites Kapitel. Das Leben der Einzel wirthschaft in der Volks-
wirtschaft 369
§. 155. (2. Aufl. S. 80 if.) Vorbemerkung und Litteratur 369
1. Abschnitt. Der Wirtli sch aftsbetricb und die selbständige Function
oder die active Seite der Einzelwirtschaft 370
§. 156. [63.] — I. Einleitung. Das doppelseitige Leben der Wirtschaft . 370
§. 157. [64.] — II. Wirthschaftsbetricb und äusserer Wechsel im Gütcr-
bcstand der Wirtschaft. A. Wesen dieses Wechsels 371
§. 15S. [65, 66.] B. Dio Verträge für die verkehrsinässige Erwerbung der
Güter, insbesondere die Crcditvertrügo 372
§. 159. [67 — 69.] — C. Hauptarten des äusseren Güterwechscls .... 375
§. 160. [70, 71.] — D. Schema der Ein- und Ausgänge 378
§. 161. [72.] — E. Natural- und Geldrechnung bei dem äusseren Güter-
wechsel 382
§. 162. [73 ] — F. Das Ziel des Wirthschaftsbetriebs 383
2. Abschnitt Einzel Wirtschaft und Vermögen unter den Ein-
wirkungen der Ausseuwelt, besonders unter dem Einfluss
der Conjunctur in der Volkswi rthschaft oder die passive
Seite der Einzelwirth Schaft 384
§. 163. [74.] — I. Hierher gehörige Fälle 384
§. 164. [74.] — A. Natürliche Veränderung der Qualität der Güter . . . 384
§. 165. [75.] — B. Veränderte Kenntniss der Eigenschaften der Güter. . 386
§. 166. [76.] — II. Dio Conjunctur. A. Wesen und Wirkung 386
§. 167. [81.] — B. Die einzelnen Hauptmomente, welche die Conjunctur
bilden 389
§. 168. [77—79.] C. Bedenken 392
§. 169. [80.] — D. Wissenschaftliche Stellungnahme gegenüber der Con-
junctur 396
Drittes Kapitel. Ertrag und Einkommen oder die Einkommen-
lehre aus dem Productionsstandpunct betrachtet 399
§. 170. [2. Aufl. S. 110.] Vorbemerkung und Litteratur 399
1. Abschnitt. Ertrag der Einzelwirtschaft und Einzeleinkommen 400
§. 171. [82.] — I. Ertrag. A. Begriffsbestimmungen 400
§. 172. [82, S3.] — II. Nähere Betrachtung der Kosten. Einzel- und volks-
wirthschaftliche Kosten . . , 400
§. 173. [84.] — II. Einkommen. A, Begriff, Umfang 405
§. 174. [85.] — B. Freies und gebundenes Einkommen 409
2. Abschnitt. Ertrag der Volkswirtschaft und Volkseinkommen . 411
§. 175. [2. Aufl. S. 119.] Vorbemerkung und Litteratur 411
§. 176. [S6.] — I. Anwendung der erörterten Begriffe aus dem Wirthschafts-
betrieb auf die Volkswirtschaft 413
§. 177. [S7.] — II. Ermittelung und statistische Erfassung von Roh-, Rein-
ertrag der Volkswirtschaft und Volkseinkommen. A. Erste (reale)
Methode 413
§. 178. [88.] — B. Zweite (personale) Methode 417
§. 179. [87.] — C. Bedeutung des freien Volkseinkommens 420
XVI
Inhaltsübersicht.
Seite
Viertes Kapitel. Einzel-und volkswirthscbaftlicheWerthschätzung 421
§. 180. [89.] — I. Einzelwirthschaftliche Wertschätzung 421
§. 181. [90, 91. J Betrachtung einiger besonderer Verhältnisse. Vertheilung
von Gebrauchsvermögcn und Kapital, von Natural- und Geldkapital
der Wirtschaften 422
§. 182. [92] — II. Volkswirtschaftliche Werthschätzung 424
§. 183. [93.] Statistik des Volkseinkommens und Volksvermögens .... 427
Fünftes Kapitel Kennzeichen des Volkswohlstände 428
§. 184. [2. Aufl. S. 180 ff.] Vorbemerkung und Litteratur 428
§. 185. [110, 111.] I. Geschichtliche und statistische Thatsachen als Kenn-
zeichen 430
§. 186. [112.] Einzelne Kennzeichen 431
Sechstes Kapitel. Verkehrszustände in der Volkswirthschaft . . 439
§. 187. [2. Aufl. S. 191.] Vorbemerkung und Litteratur 439
§. 188. [113] — I. Natural- und verkehrswirthschaftlicher Zustand als
Gegensatz 440
§. 189. [114.] — II. Verkehrs wirtschaftliche Phasen. Natural-, Geld und
Creditwirthschaft 441
§. 190. [115.] III. Papiergeldwirthschaft 442
Druckfehler 444
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Plan des Gesanuntwerks.
Bisher sind von diesem Werke vier Bände erschienen, der
erste Theil, die „Grundlegung“, in 2. Auflage und drei Bände
Finanzwissenschaft (der erste in 3., der zweite in 2. Auflage).
Mit dieser dritten Auflage der „Grundlegung“ tritt zugleich eine
Abänderung und eine Erweiterung des Plaues für das gauzc Werk
ein *). Die Abänderung ist zwar im Ganzen sachlich nicht erheb-
lich, indessen wie die Erweiterung doch mit durch sachliche, im
Uebrigen überwiegend durch äussere Gründe veranlasst worden.
Diese Gründe sind die Gewinnung neuer Mitarbeiter in grösserer
Zahl, welche mir nach dem unerwartet frühen Tode E. NasscV)
gelungen ist, und der Wunsch, dem Werke in allen seinen Thcilcn
die durch den Stoff und die heutige Entwicklung der Wissenschaft
gebotene und der bereits erreichten Ausdehnung der Finauzwissen-
schaft entsprechende ebenfalls eingehendere Behandlungsweise au-
gedeihen zu lassen. Der Plan ist nach den mit meinen Herren
Mitarbeitern getroffenen Verabredungen im Wesentlichen festgestellt,
kann aber vielleicht in Einzelheiten noch kleinere Abweichungen
bei der Ausarbeitung seihst erfahren. Auch die Ilauptgliederung
des ganzen Werks ist etwas abgeändert worden, indem, wohl der
Sache und insbesondere der von mir principiell vertretenen Auf-
fassung gemäss, der „Grundlegung“ auch äusserlich die Stellung
eines solchen gemeinsamen Fundaments für das ganze Werk
gegeben worden ist. Ueber die Anreihuug einer eigenen fünften
*) S. meinen ersten Plan in der Vorrede zur 1. Auflage der Grundlegung
(1875), S. X — XVIII, und in der Uebersicht der 2. Auflage (1S7U) S. 5, sowie die
Bemerkungen in Betreff der Finanzwissenschaft, 3. Band (1S80 — 89) S. 1 in der Note
und 2. Band, 2. Auflage (1890) S. 1.
s) Ueber ihn, sein Ausscheiden aus der Mitarbeiterschaft und meinen Plan,
andere Mitarbeiter zu gewinnen, s. Finanzwissenschaft 2. Bd. 2. Auf!. Vorwort i>. XIII.
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. I. Theil. Grundlagen. 1
2
Plan des Gesamnitwerk*.
Abtheilung literarhistorischen Inhalts schweben noch die Verhand-
lungen. Die früher gehegte Absicht, einen immerhin schon grösseren
litterargeschichtlichen Abriss, in der Weise anderer ähnlicher Werke,
auch Rau ’s, in einen späteren Abschnitt der Grundlegung aufzu-
nehmen, ist aus inneren sachlichen und aus äusseren Gründen auf-
gegeben worden. Ein solcher blosser Abriss würde nach der ge-
sammten umfassenden Anlage, welche das ganze Werk nunmehr
und schon in den bisherigen drei Bänden der Finanzwissenschaft
erhalten hat, nicht mehr genügen. Er gehört auch sachlich nicht
eigentlich in die Grundlegung, noch in einen der anderen Theile,
sondern beansprucht eine selbständigere Stellung. Die Bearbeitung
der Litteraturgeschichte in der dabei gebotenen, ebenfalls eingehen-
deren Weise erfordert dann aber auch einen Specialisten der Materie,
den ich dafür zu gewinnen hoffe.
Noch bemerke ich, dass ich dem Werke statt des bis-
herigen Namens „Politische Oekonomie“ lieber den mir passender
erscheinenden und auch für die von mir vertretene Richtung geeig-
neteren „Socialökonomie“ gegeben hätte, den ich im Buche
selbst öfters anwende. Ich bin bei dem alten Namen als dem ein-
mal auch bei uns wie bei den übrigen Culturvölkern üblichen ge-
blieben.
Das ganze Werk zerfällt demnach jetzt in fünf „Haupt-
abtheil ungen“ , innerhalb deren wieder je nach Bedürfniss
„Theile“ unterschieden werden. Diese „Theile“ bilden entweder
je einen „Band“ oder mehrere Bände. In Betreff der letzteren
werden möglicher Weise noch Abänderungen eintreten. Die folgende
Uebersicht ergiebt das Nähere:
I. Erste Hauptabtheilung: Grundlegung der Poli-
tischen Oekonomie. Bearbeiter A. Wagner.
1. Theil (und Band). Grundlagen der Volkswi^th-
seliaft.
2. Theil (und Band). Volkswirtschaft und Recht,
besonders Vermögensrecht oder Freiheit und Eigenthum
in volkswirtschaftlicher Betrachtung.
II. Zweite Hauptabtheilung: Theoretische Volkswirt-
schaftslehre. Bearbeiter II. Dietzel.
III. Dritte Hauptabtheilung: Practische Volkswirt-
schaftslehre.
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Plan des Gesammtwerks.
3
1. Theil. Verkehrswesen und Verkehrspolitik1). Be-
arbeiter A. Wagner.
2. Theil. Agrarwesen und Agrarpolitik, in zwei
Bänden. Bearbeiter A. Buchenberger.
3. Theil (ein Band). Forstwesen und Forstpolitik,
mit Anhang: Jagd und Fischerei. Bearbeiter K. Bücher und
A. Buchenberger.
4. Theil. Gewerbe- und Handelswesen und -Politik,
in zwei Bänden. Bearbeiter K. Bücher.
IV. Vierte Hauptabtheilung: Finan z Wissenschaft.
Bearbeiter A. Wagner.
1. Theil (und Band). Einleitung. Ordnung der F inan z-
wirthschaft. Finanzbedarf. Privater werb. 3. Auflage. 1883.
2. Theil (und Band). Theorie der Besteuerung: Ge-
btihrenlehre und allgemeine Steuerlehre. 2. Auflage. 1890.
3. Theil (und Band). Specielle Steuerlehre. Geschichte,
Gesetzgebung, Statistik der Besteuerung einzelner Län-
der: Uebersicht der Steuergeschichte wichtigerer Staaten und Zeit-
alter bis Ende des 18. Jahrhunderts. Die Besteuerung des 19. Jahr-
hunderts. Einleitung. Britische und französische Besteuerung.
1. Auflage 1886 — 89 (Gesaramtausgabe des Bandes 1889).
4. und eventuell 5. Theil (und Band). System der spe-
ciellen Steuerlehre und Lehre von den öffentlichen
Schulden. (Noch nicht erschienen.)
V. Fünfte Hauptabtheilung. Litteraturgeschichte der
Politischen Oekonomie (einschliesslich Socialismus). Bearbeiter
noch unbestimmt.
In dieser dritten Auflage der Grundlegung sind gegen die
beiden ersten auch einzelne Aenderungen der formellen Anordnung
des Stoffs vorgenommen worden und Abschnitte über die Moti-
vation ira wirtschaftlichen Handeln, Uber Aufgabe, Methode
und System der Politischen Oekonomie, sowie Uber die Bevöl-
kerungslehre sind hinzugekommen. Die Begründung dafür wird
im Buche selbst gegeben.
*) Maass und Gewicht. Geld- und Miinzwescn, Credit- und Bankwesen, Ver-
sicherungswesen, Communications- und Transportwesen.
Grundlegung der Politischen Oekonomie.
Einleitung.
Erstes Kapitel.
Ziel und Aufgabe dieses Werks, insbesondere der
Grundlegung.
§. 1. Die smith’sche oder britische Oekonomik.
Eine neue „Grundlegung“ der gesaramten Politischen Oekonomie
wird in den letzten Jahrzehnten immer dringender als eine Noth-
wendigkeit empfunden. Ausserhalb des kleiner und kleiner werden-
den Kreises der Anhänger der älteren liberal- individualistischen
Oekonomik, der sogenannten britischen (Smith’schen) Freihandels-
schule, wird das wohl fast allgemein zugestanden.
Für fast ein Jahrhundert hat Adam Smith den Grund gelegt
gehabt. Ein unvergänglicher Ruhm, welcher ihm bleibt. Auch
dann, wenn noch mehr als bisher die Uebcrzeugung sich verbreiten
wird, dass seine Originalität geringer war, als man lange ange-
nommen hat, selbst seine allgemeine wissenschaftliche Bedeutung
und Fähigkeit geringer, als diejenige einzelner seiner unmittelbaren
Vorgänger und Zeitgenossen, auf deren Schultern vielmehr doch
auch er stand. Denn das bat entgegen früheren Annahmen, die
neuere sorgfältigere litterarhistorische Forschung, durch Männer
wie W. Roscher, W. Hasbach1) u. A. m. auch bei uns vertreten,
unzweifelhaft nachgewiesen. Wahr bleibt von A. Smith gleichwohl
J) S. Roscher, Zur Geschichte der englischen Volkswirthschaftslebre, Leipzig
1850, 1851. Derselbe, Geschichte der Nationalökonomik in Deutschland, München
1874, vielfach passim, besonders §. 135, S. 593 tf. — W. Hasbach, Die allge-
meinen philosophischen Grundlagen der von Quesnay und Smith begründeten Poli-
tischen Oekonomie, Leipzig 1890. Derselbe, Untersuchungen über A. Smith und
die Entwicklung der Politischen Oekonomie, Leipzig 1891.
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6
Einleitung. 1. K. Ziel und Aufgabe. §. 1.
das schöne und gerechte Wort Roschers *), dass Smith’s Ruhm nicht
verkleinert wird durch solche Nachweise; dass A. Smith nach wie
vor als der Koryphäe der Politischen Oekonomie bezeichnet werden
kann, auf welchen „alles Frühere als Vorbereitung auf ihn, alles
Spätere als Fortsetzung von ihm und Gegensatz zu ihm erscheint“:
Zielpnnct und Ausgangspunct zugleich. Ein grösserer Ruhm kann
keinem Sterblichen in der Geschichte der Wissenschaften zu Theil
werden.
Und wären wirklich ein Hume, sogar ein Stuart2), ein Turgot, ein Qucsnay,
in einer Beziehung selbst ein Justi3), wie bald dieser, bald jener neuere litterar-
liistorische Forscher oder Kritiker A. Smith’s gelegentlich behaupten, nicht nur grossere
Geister, tiefere Denker, ein Hume und manche andere bedeutendere Philosophen, sondern
die genannten — um nur diese zu nennen — gerade auch „grössere National-
ökonomen“. als A. Smith gewesen! Die eine Thatsache ist doch unumstösslich, dass
A. Smith durch sein Werk einen unendlich viel grösseren Erfolg für Theorie und
Praxis des Wirtschaftslebens erzielt hat, als irgend einer dieser seiner „Rivalen“ und
irgend ein anderer, welcher ausser diesen noch, und mitunter mit kaum geringerem
Rechte als einer von diesen, genannt werden könnte.
Die „Theorie des ökonomischen Liberalismus und
Individualismus“ — wie man sie wohl mit einem geeigneten
wissenschaftlichen Ausdruck am Besten nennen wird — oder, nach
ihrem leitenden Rechtsprincip bezeichnet, die „Theorie des
Systems der freien wirthschaftlichen Concurrenz“ —
auf der Grundlage der Rechtsprincipien der persönlichen Freiheit,
des Privateigenthums und privaten Erbrechts an den sachlichen
Productionsmitteln, Boden und Kapital, und der Vertragsfreiheit, —
diese Theorie führt daher doch mit Fug und Recht den Namen
der „8m ith’ sehen“ und nach der Volksangehörigkeit des Meisters
denjenigen der neueren „britischen“ Oekonomik.
Auch eine andere Thatsache, an deren Richtigkeit neueren
Litterarhistorikern des Fachs gegenüber festzuhalten sein möchte,
vermindert den Ruhm und die Bedeutung von A. Smith nicht, wenn
sie ihm, seinem Werke und seiner Schule auch eine andere, rich-
tigere und in einer Hinsicht allerdings eine etwas herabgeminderte
Stellung einräumt: die Thatsache, dass das smitb’sehe „System“
und die sich ihm anschliessende ganze britische Oekonomik doch
kein eigentlich „ neues Sy st em“ im Sinne eines neuen, ganz
eigenthümlich ausgebildeten Gedankenkreises, sondern nur eine
Phase eines solchen Systems, und nicht einmal die erste, sondern
die zweite Phase desselben ist.
*) Roscher, Geschichte a. a. 0. S. 594.
-) H asb ach, Smith, S. 229.
8) Ebcnd. S. 225.
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Die smith’sche oder britische Oekonomik.
i
Der zeitliche Vorrang vor den Briten gebührt den französischen
Physiokraten, welche doch zuerst mit tieferem wissenschaft-
lichen Verständniss in der Volkswirtschaft einen auf dem mensch-
lichen natürlichen Triebleben beruhenden, daraus hervorgegangenen,
dadurch fungirenden natürlichen Organismus erkannt haben. Ihre
philosophischen und ihre ökonomischen Grundanschauungen sind
im Wesentlichen doch auch diejenigen der smith’schen Lehre und
der britischen Oekonomik. Ihre ökonomische Doctriu ist wie die
letztere eine Philosophie des Individualismus und des Liberalismus
auf ökonomischem Gebiete. Deswegen wird die ganze Lehre am
Richtigsten als „physi okratisch -smith’ sehe oder „physio-
kratisch - britische“ Oekonomik zusammengefasst werden *).
Sie ist in einer anderen Hinsicht ein Seitenstück jener individualistisch-liberalen
Rechts- und Staatsphilosophie und der theoretischen Politik, welche sich seit der
Mitte des vorigen Jahrhunderts aus dem älteren Naturrecht heraus, wenn auch zum
Theil sich von ihm emaucipirond, entwickelt und bis gegen die Mitte unseres Jahr-
hunderts geherrscht hat.
A. Smith und seine Schule, darunter vor Allem der be-
deutendste der Nachfolger, der viel verkannte, auch von der
jüngeren deutschen historischen Schule meist gar nicht ver-
standene D. Ricardo, haben gerade an den einzelnen ökono-
mischen Lehren der Physiokraten viele nothwendige und wichtige
Berichtigungen vorgenomraen. Darin liegt eines der besonderen
wissenschaftlichen Verdienste auch von A. Smith selbst. Die smith’-
sche und die weitere britische Oekonomik ist deshalb als eine
neue und höhere Entwicklungsphase des ökonomischen Indivi-
dualismus und Liberalismus anzuerkennen, aber doch eben als eine
Phase dieser Doctrin, zu welcher sie selbst noch voll und ganz
gehört.
Denn die allgemeinen, gegenwärtig in ihrer Unzulänglichkeit erkannten philo-
sophischen, die psychologischen Grundanschauungen ; die auf ihnen aufgebaute Lehre
von den volkswirtschaftlichen Naturgesetzen: die ungeschichtliche Betrachtung des
Wirtschaftslebens und des Staats und seiner Zwecke sowie seiner Stellung zur Volks-
wirtschaft; die einseitige Verurteilung der geschichtlich überkommenen, vielfach
noch bestehenden Beschränkungen der wirtschaftlichen Freiheit; die Auffassung von
..Freiheit und (Privat-) Eigenthum“, von Vertragsfreiheit, der Consecjuenz beider, als
natürlich-ökonomischer statt als historisch- rechtlicher und veränderlicher Katcgorieen;
die Folgerungen für die „natürliche“ Notwendigkeit, Richtigkeit und im Individual-
wie im Gesammtinteresse, segensreich und gerecht, ja allein gerecht fungirende Wirk-
samkeit der ..wirtschaftlichen Freiheit“, der „freien wirtschaftlichen Concurrenz“,
und die weiteren besonderen Folgerungen hieraus für alle einzelnen Gebiete des
Wirtschaftslebens und seiner Rechtsordnung, der ausserordentliche Optimismus in
*) Ingram, Geschichte der Volkswirtschaftslehre (deutsch von Roschlau,
Tübingen 1890), fasst die Doctrin, mit einigen weiteren Vorläufern, ganz gut unter
dem Namen „System der natürlichen Freiheit“ zusammen , seine „dritte neuzeitliche
Phase“.
8
Einleitung. 1. K. Ziel und Aufgabe. §. 1, 2.
Bezug auf die zu erwartenden Wirkungen der wirtbschafllichen Freiheit: dies alles
ist doch in der Hauptsache der Doctrin der Physiokraten, der französischen „Oekono-
misten“, den Forschern nach „unwandelbaren physisch -moralischen Naturgesetzen,
welche allem socialen Leben zu Grunde liegen,“ *) und der smithisch-britischen Doctrin
gemeinsam. Jene angeführten Puncte sind aber durchaus das Wesentliche, nicht
die Speciallehren, in denen beide Lichtungen auseinander gehen, wie in Betreff der
Productivitat der verschiedenen Berufe und Arbeiten, des Boden-Reinertrags (produit
net), der Grundrente, der „einzigen Steuer“ vom Bodenertrag bei den Physiokraten.
Nach jenem Gemeinsamen und Wesentlichen erscheint die Doctrin als eine in diesen
entscheidenden Puncten einheitliche.
Nach ihrem wichtigsten Princip für die wirthschaftliche Rechts-
ordnung, zugleich nach demjenigen, welches die für die Praxis
gewonnene Bedeutung der Doctrin am Richtigsten kennzeichnet,
kann man die Lehre auch kurzweg diejenige des Systems der
freien Concurrenz neunen. Diesen Namen wird die der Lehre
entsprechende weltgeschichtliche Epoche im Leben entwickelter
Völker, wie unsere heutigen „modernen“, vielleicht in der Zukunft
allgemein führen.
Der geschilderte Sachverhalt thut der Bedeutung der britischen Öekonomik und
ihres ersten Meisters auch deswegen wenig oder gar nicht Eintrag, weil die Theorie
des ökonomischen Liberalismus und Individualismus grade vorncmlich in dem Gewände
und der Form, welche sie bei und durch A. Smith und seine Schule erhalten haben,
in der Wissenschaft der Culturvölker einige Menschenalter lang geherrscht und in der
Praxis ihre Verbreitung und Anerkennung erlangt hat. Der Physiokratismus hat
freilich im französischen Revolutionszeitalter direct und indirect vielleicht einen noch
grösseren Einfluss in Frankreich ausgeübt, so z. B. in den Finanzfragen.2) Aber nicht
er, sondern der Smithianismus hat der Theorie und Praxis der Cultunvelt sein
Gepräge aufgedrückt
Freilich bleibt ja wahr, dass die besprochene Doct rin selbst wieder eine reife
Frucht der vorausgehenden wissenschaftlichen Arbeit in Philosophie und Wirthschafts-
lehre war, auch beeinflusst worden ist durch die ganze geistige Atmosphäre der Zeit,
in welcher sie ausgebildet und formulirt wurde. Auch ohne Adam Smith würde es
eine Theorie des „ökonomischen Individualismus und Liberalismus“ und auch gerade
eine britische bezügliche Theorie gegeben haben. Aber so verhält es sich im
(iebiete der Geistes- und im Grunde aller Wissenschaften, zumal im Gebiete der socialen
und politischen Wissenschaften nothwendig stets. Das vermindert Bedeutuug und
Werth der individuellen Leistung im grossen geschichtlichen Zusammenhänge der Ideen-
entwicklung betrachtet, „vor Gott“, gewiss, aber nicht vom Standpunct einer einzelnen
Periode und der Individuen aus, „nicht vor den Menschen.“ Schliesslich sind es
eben doch einzelne Individuen, in welchen sich, wie in einem Brennpunct. alles
das vereinigt und von welchen alles das zum klaren wissenschaftlichen Ausdruck gebracht
wird, was in unzähligen Anderen an Gedanken lebt und gährt, aber zu keiner an-
gemessenen Form gelangt. Dieser Brennpunct war wieder A. Smith und diese
angemessene Form, in der sie allein weiter wirken konnte und wirkte, hat er der neuen
ökonomischen Doctrin gegeben. Das ist wiederum der Ruhm und das unvergängliche
Verdienst, welche ihm gebühren und welche kein objectiver Kritiker ihm rauben wird3).
*) Quesnay, Mirabeau (pere), Dupont de Nemours (physiocratic 176S) u. A. in.
S. auch Roscher, Geschichte der Nationalökonomik in Deutschland §. 109, Ingram,
a. a. 0. S. SO !f„ 90.
2) Meine Finanzwissenschaft III, 378.
8) In den beiden vortrefflichen neueren Schriften Hasbach’s. denen ich viel
verdanke und in Vielem ganz beistimme, wird m. E. dies Verdienst von Smith nicht
genügend hervorgehoben. Hasbach hat mich durch seine Erörterungen in meiner
lange bestehenden Ansicht über A. Smith nicht erschüttert, sondern bestärkt.
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Die Krisis der brit. Oekonomik und der Socialismus.
9
Noch mehr and noch unbedingter ist ja vollends für die Praxis ein ähnliches
Zagesiäädaiss hinsichtlich des Smith sehen Werks zo machen. Hin wissenschaftliches
Wert, auch wenn es. wie ein narionaiOkonomisches von der Art des wealth of nations.
sich unmittelbar mit Fragen der Praxis der Zeit beschäftiget, kann und wird immer
asr soweit auf deren Behandlung: Einfluss gewinnen, als es eben Forderungen stellt,
welche -im Geist der Zeit** liegen und ohnehin schon durch die Entwicklung der
f-rae tischen Dinge zur Erfüllung reif sind oder demnächst reif werden. Ein derartiges
Wert wml niemals mehr bewirken können, als etwa das Tempo der Entwicklungen
ia der öffentlichen Meinung und im practischen Leben, daher auch in der Gesetz-
gebung zu beschleunigen, indem es noch unklareu und erst sich herausringe mieu
Gedanken und Bestrebungen den klaren Ausdruck und das deutliche Ziel giebt. Eine
grössere Bedeutung kann auch A. Smith nicht beanspruchen. Auch ohne ihn würde
sicherlich, bedingt und begünstigt durch die Entwicklung der ökonomischen und
technischen Gesammtverhältnissc der modernen rulturvölker, der ökonomische In-
dividualismus und Liberalismus seinen Siegeslauf durch die Welt gemacht haben.
Aber wiederum: mindert nur oder nimmt gar dies A. Smith seinen Kuhrn. sein Ver-
dienst, seine Bedeutung? Sicherlich nicht im Geringsten. Im Gegentheil : es zeigt nur,
welcher im höchsten Sinne realistische Oekonomist er war. der die Signatur einer
neuen geschichtlichen Entwicklungsperiode so scharf* und so richtig erkannte, um förm-
lich ein Programm dafür aufstellei} zu können, das im allem Wesentlichen verwirklicht
worden ist. nicht nur in Smith 's Vaterlande, sondern iu dem grössten Theil der Cultur-
weh europäischer Civilisation.
§.2. Die Krisis der britischen Oekonomik und der
Social i sm us. Allein auch der Smithianismus , auch der allge-
meine ökonomische Individualismus und Liberalismus bat iu Wissen-
schaft und Leben, in Theorie und Praxis seine Zeit gehabt.
Seine tieferen philosophischen und psychologischen Grundlagen sind erschüttert
Seine rationalistische, mechanische und ungeschichtliche Auffassung des Gesellschafts-
und Wirtschaftslebens weicht immer mehr einer historischen und organischen. Seine
eoge, einseitige und selbst kleinliche Lehre vom Staate und vom wesentlich alleinigen
Rechtszweck desselben macht wieder einer anderen Platz, welche sich mehr der früheren
eudämonistischen oder Wohlfahrtsstaatstheorie nähert, ohne in deren Fehler, deren
nüchternen platten Utilitarismus, deren schrankenlose Willkuhr gegenüber der berechtigten
Freiheitssphäre des Individuums zu verfallen. Seine Voranstellung des Individuums,
seine Neigung, dessen „Wesen“ — oder das, was dafür gilt — dessen natürliche
Triebe. Wünsche, Bestrebungen zum Ausgangs- und Ziolptinct alles Gemeinschafts-
lebens zu machen, — an sich folgerichtig im Sinne der Idee des „Individualismus“ —
wird verdrängt durch die entgegengesetzte Idee: die Gemeinschaft und deren
Lebensbedingungen, welche zugleich doch auch solche des Individuums als Glieds der
Gemeinschaft sind, werden bewusst vorangestellt , ans ihnen heraus werden die noth-
wendigen Grenzen auch für die Freiheitssphäre des Individuums und seines EigcnÜiums,
daher auch für die wirtschaftliche Freiheit abgeleitet.
So tritt die gesellschaftliche, die „ social is tische“ an
Stelle der individualistischen Betrachtung des Wirtschaftslebens
und Behandlung der Wirthschaftsprohleme. „Socialismus“ und
„Communismus“ nehmen die Stelle von „Individualismus“ und
„Liberalismus“ ein. Im radicalen wissenschaftlichen und practisch-
agitatorischen Socialismus geschieht dies nur leider bereits wieder
mit jener Neigung zum Hintibergehen ins andere Extrem, wie sic
psychologisch begreiflich, und in Theorie und Praxis so oft walir-
zunehmen ist. Allein diese Uebertreibuugcn rechtfertigen es nicht,
das Richtige und Berechtigte im ökonomischen Socialismus gegen-
10
Einleitung. 1. K. Ziel und Aufgabe. §. 2.
über dem Individualismus zu verkennen, sobald, wie es freilich
nothwendig, aber auch möglich ist, in der neuen Richtung Maass
gehalten wird.
Der britischen Oekonomik gegenüber ist weiter festzustellen, dass der ausserordent-
liche Optimismus ihrer Lehre und Politik auf allen Gebieten des wirtschaftlichen
Lebens immer weniger mehr Stich hält. Stets und überall glaubte sie wesentlich nur Gutes
für den Einzelnen und die Gesaminthcit von der ..wirtschaftlichen Freiheit“ erwarten
zu dürfen; lehrte sie, dass alle berechtigten wirtschaftlichen Interessen, welche die
Menschen verfolgten, in „natürlicher Harmonie“ stünden, ein Satz, den Basti at am
Einseitigsten, wenn auch am Glänzendsten , aber keineswegs zuerst und allein vertreten
hat. Auch A. Smith neigt schon dazu. Handgreifliche Erfahrungen zeigen, wie
beschränkt sich diese günstigen Erwartungen nur erfüllt haben und wie viele und
schwere unerwartete ungünstige Folgen eingetreten sind. Immer mehr bestätigte sich
ein Wort Lange ’s, dass die angegriffenen Beschränkungen der wirtschaftlichen
Freiheit in den älteren Rechtsordnungen auch heilsame Schranken der Kapitalmacht
waren, die uns in der heutigen Ordnung nur zu sehr fehlen. Immer mehr erwies
sich die theoretische Lehre von der „natürlichen Interessenharmonie“ beim Verfolgen
des wirtschaftlichen Individualvortheils als ein Sophisma der Dialectik. Statt jenes
Optimismus verbreitet sich immer mehr ein Pessimismus, welcher gewiss oft über-
trieben ist, die guten Seiten der freien Concurrcnz zu gering, die üblen zu hoch
anschlägt, aber doch auch in vielen Einzelheiten und namentlich hinsichtlich der
Grundwirkung der wirtschaftlichen Freiheit nicht unberechtigt ist.
Viel bedenklicher und unberechtigter erscheint, dass sich an
diesen Pessimismus gegenüber dem nunmehr Bestehenden bereits
wieder ein neuer Optimismus gegenüber dem neu Werdenden und
zu Erstrebenden anknüpft. Hier wird alles Heil von einer völligen
principiellen Veränderung der wirthscbaftlichen Rechtsbasis, ein
„Himmel auf Erden“ erwartet, wenn die wirthschaftsrecbtlicben
und wirthschaftsorganisatorischen Forderungen des Socialismus er-
füllt werden: der Optimismus des radicalen Socialismus.
Diese Doctrin glaubt mit den neuesten und vermeintlich durchaus sicheren natur-
und geschichtswissenschaftlichen Forschungsergebnissen der „Evolutionstheorie“, der
„Prähistorie“ und der „Primitiv-Historic“ die bisherigen Entwicklungen des Wirt-
schaftslebens allein richtig erklären zu können. Sie will sie sogar auf die einfachen
Formeln ihrer „materialistischen“ Geschichtsauffassung zurückführen und meint danach,
wie die „einzig richtige“ Diagnose der wirthscbaftlichen Zustände und Leiden, so auch
die „allein richtige“ Prognose zu stellen. Die Entwicklung müsse und werde mit
naturgesetzlicher Notwendigkeit zu einer ganz anderen wirthschaftsrechtlichcn und
wirthschaftsorganisatorischen Gestaltung der Dinge hinüberführen: von der dein öko-
nomischen Individualismus und Liberalismus allein vorschwebenden „privatwirthschaft-
lichcti“ Organisation der Volkswirtschaft, — d. h. der auf der Basis der wirtschaft-
lichen Freiheit des Individuums und des vollen und ausgedehnten Privateigenthums
desselben, wie an allen Sachgütern, so auch an allen beweglichen wie unbeweg-
lichen. sachlichen Productionsmitteln stehenden Organisation — zu einer völlig
„gemeinwirthschaftlichen“, völlig , socialistisch-communistischen“, auf der Basis des
ausschliesslich gesellschaftlichen Gemeineigentums an den sachlichen Productions-
mitteln. Eine Doctrin, welche psychologisch noch viel eigentümlicher als national-
ökonomisch ist, rnit wahrem Glaubensfanatismus ihre Adepten erfasst und aus un-
sicheren oder halbwahren, aber für „wissenschaftlich unumstösslich“ geltenden Sätzen
neue Dogmen schmiedet. Das wichtigste davon ist, dass „der Mensch“ in psychischer,
sittlicher wie physischer Hinsicht ausschliesslich das Product ererbter Eigenschaften
und der äusseren, d. h. in letzter Linie stets der wirthscbaftlichen Umstände und Ein-
flüsse sei. Daher werde er denn auch mit Umänderung dieser letzteren wie physisch,
so psychisch und sittlich ein „anderer“, nicht nur graduell ein besserer, sondern
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Die Krisis der brit. Ockonomik uud der SocialUmu».
11
förmlich ein „wesensanderer“, mit anderen Trieben, Motiven, Wünschen, Be-
strebungen. Ein neues Evangelium des — Supermaterialismus, mit dem sich in selt-
samster und doch wieder bei gegebenen Vordersätzen psychologisch begreiflicher
Mischung hier eine hypcrideologischc Anschauung verbindet; ein mixtum compositum
von höchsten modernen vermeintlich sicheren Wissenschaftsergebnissen mit blödestem
Dogmatismus, wohin man mit dem Socialismus „auf dem Wege von der Utopie zur
Wissenschaft“ gelangt ist. Geschichtsphilosophisch, völkerpsychologisch und social-
ethisch aber betrachtet doch eine wundersame Umkehr vom extremsten Indivi-
dualismus und Liberalismus im Wirtschaftsleben , wo der organisirten Gesellschaft
nichts mehr zu thun übrig, dem Staate schier kein Platz mehr zu bleiben schien, zum
extremsten Gegenteil, wo Alles von der organisirten Gesellschaft, vom Staate — der
sich freilich durch die socialistisch organisirte Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung
selbst wieder überflüssig machen soll! — gerade auf ökonomischem Gebiete erwartet
wird. Und doch wieder entgegengesetzte Ansichten des ökonomischen Individualismus
uud Socialismus, welche im Kern nahe verwandt sind: die höchste Schätzung, ja
üeberschätzung des „irdischen Gutes“, das grenzenlose Streben nach Verbesserung
des materiellen Lebens der Individuen, woraus dann schon die culturelle und sittliche
Hebung ..von selbst“ folge, ist beiden gemeinsam: in den Mitteln und Wegen zum
Ziel, nicht im Ziele selbst gehen sie auseinander. Darin liegt die Wahrheit des Satzes,
dass der Socialismus aus derselben Würze», wie der Individualismus stamme, ja folge-
richtig aus letzterem herausgewachsen sei.
Indessen stehe man zu diesen Fragen, wie inan wolle, und
weise man auch die Ansprüche des Socialismus hinsichtlich seiner
tieferen entwicklungsgeschichtlich begründeten Grundauffassungen
des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens und seine prac-
tiseben Forderungen ab als zu weitgehend und unvereinbar mit
der menschlichen Natur, wie sie einmal wrar, ist und bleiben wird
auch bei noch so grossen Veränderungen der äusseren, der wirth-
schaftsrechtlichen und wirthsehaftsorganisatorischen Verhältnisse, —
wenigstens in den Zeiträumen, von immerhin vielen Jahrtausenden,
mit welchen jede menschheitsgeschichtliche Betrachtung
allein zu rechnen hat; und die Zeiträume geologischer Perioden,
darwinistischer Entwicklungsperioden stehen hierfür ausser Frage — .
Das muss doch immerhin zugegeben werden , dass gerade die
wesentlich den Grundsätzen des ökonomischen Individualismus mit
zu verdankende, wTenn auch freilich noch stärker durch die Ent-
wicklung der Technik bedingt gewesene Gestaltung des practischen
Wirtbschaftslebens in den letzten Menschenaltern zur Entwicklung
des ökonomischen 8ocialismus und hierdurch zur Kritik der libe-
ralen Oekonomik als Wissenschaft geführt hat. Die socialistische
Doctrin ist für diese Krisis mehr als irgend ein anderer wissen-
schaftlicher Factor von Einfluss gewiesen. Mehr insbesondere als
die neuere organische und historische Staats- und Wirthschaftslehre,
welche freilich ebenfalls zu dieser Krisis beigetragen haben, mehr
vollends als der neueste deutsche natioualökonomische Historismus,
der das wrobl gelegentlich für sich, seine „neue“ „historisch-psycho-
logisch-inductive“ Methode in Anspruch genommen hat.
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12
Einleitung-. 1. K. Ziel und Aufgabe. §. 2, 3.
Der wichtigste Gesichtspunct der „historischen Nationalökonomie“ , welcher von
den älteren deutschen Meistern dieser Richtung , W. Roscher, K. Knies immer so
scharf hervorgehoben war, ist derjenige der „Relativität”, der Vermeidung des
„Absolutismus der Lösungen“ in practischen. wirthschaftspolitischen Fragen.
Die diesem Gesichtspuncte zu (irunde liegende Auffassung enthält nun allerdings den
wahren Kern der „Evolutionstheorie“ in der Anwendung der letzteren auch auf das
menschliche gesellschaftliche, wirtschaftliche Lebeu , und die Unterscheidung von
„absoluten“, „rein ökonomischen“ und „historischen“, „historisch -rechtlichen“ Kate-
gorieen in den Organisations- und Rechtsverhältnissen der Volkswirtschaft weun uicht
deutlich ausgesprochen, so doch implicite in sich. Allein einmal hat der Socialismus
mindestens gleichzeitig, zum Theil früher und jedenfalls unabhängig von der neueren
deutschen „historisch- ökonomischen“ Schule ähnliche Gesichtspuncte und Lehren ver-
treten (St. Simon, vor Allein Rodbertus, Marx, Engels). Sodann hat er mit grösserer
dialectischer Schärfe und logischer Consequenz in den theoretischen und mit schär-
ferer Analyse in den practischen Problemen die Notwendigkeit nachgewiesen , dass
der ökonomische Individualismus so wirken musste, wie er gewirkt hat. Endlich hat
er, was das Wichtigste ist, viel bedeutenderes positives Vermögen gezeigt, als bisher
wenigstens die deutsche oder sonstige „historische“ Nationalökonomie, aus der ihm
mit dieser gemeinsam eigenen geschichtlichen Betrachtung die principiellen Ergebnisse
der Entwicklungen heraus zu arbeiten, den causalen und conditionellen Zusammenhang
der Erscheinungen zu entwirren, das Wichtige und Maassgebende vom Nebensächlichen
und Unbedeutenden, das Grosse vom Kleinkram zu unterscheiden.
§. 3. Die kritischen Leistungen des Socialismus
und seine positiven Mängel. Die besondere Leistung des
wissenschaftlichen Socialismus ist der Nachweis des beherrschenden
Einflusses der Privateigenthumsordnung, speciell des Privat-
eigenthums „an den sachlichen Productionsmittcln“ (Boden, Kapital)
auf die Gestaltung der Production und der Vertheilung des Pro-
ductionsertrags , zumal bei Wegfall aller Beschränkungen der Ver-
fügungsbefugnisse des Privateigenthtimers im System der freien
Concurrenz. Dieser Nachweis ist eine kritische Leistung ersten
Hanges, deren Werth weder durch die Uebertreibungen des Socia-
lismus, noch durch die ungenügende Begründung der positiven
Gegenforderung eines allgemeinen Ersatzes jenes Privateigen-
thums durch ein „gesellschaftliches Gemeineigenthum“ an den
sachlichen Productionsmitteln aufgehoben wird.
Durch diese seine Leistung, nicht durch seine einseitige Werthlehre hat der
Socialismus gerade auch für die Theorie des ökonomischen Individualismus und
Liberalismus zumeist die Krisis herbeigeführt. Denn diese Theorie hatte die ge-
schichtlich überkommene, zu Recht bei uns bestehende Privateigentbumsordnung theils
gar nicht hinsichtlich ihres wirtschaftlichen Einflusses auf Production und
namentlich auf Vertheilung des (arbeitstheilig gewonnenen) Productionserfrags unter-
sucht, sondern als etwas Selbstverständliches, im Wesentlichen Unabänderliches, noch
dazu mitsammt der mit ihr verbundenen Privatrechtsordnung ihrer einzelnen Normen,
des Vertragsrechts u. s. w. hingenommen; theils batte jene Theorie, wo sie sieb mit
dem Privateigenthnmsprincip beschäftigte, dasselbe mit vielfach sehr einseitigen wirt-
schaftlichen Erwägungen unterstützt, um es für Volks- wie für Privatwirtschaft gleich
uothwendig und heilsam erscheinen zu lassen. Keine der modernen kritischen Richtungen
gegenüber der britischen Oekonomik, auch nicht die deutsche „historische“ National-
ökonomie älterer wie neuerer Phase, hat an diesen eineu Kempunct des gesummten
nationalökonomischen Problems, an die Eigenthumsordnung, ihre Kritik so erfolgreich
wie der Socialismus eingesetzt. Ja, von Knies abgesehen, der auch hier sich als der
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Kritische Leistungen und positive Mängel de» Socialismus.
13
tiefgründigste Theoretiker der historischen Schule erweist, hat sie sich kaum näher
mit der principiellen Seite der Frage der Eigenthumsordnung beschäftigt.
Wie man nun auch wieder diese sociaiistisehc Kritik der Privat-
eigent kumsordnung und die positive Gegenforderung gesellschaft-
lichen Gemeineigenthums an den sachlichen Productionsmitteln
beurteile: man kann und darf an dieser Kritik und diesem Postulat
nicht mehr einfach vorübergehen, sondern muss sich mit beiden
selbst wieder auseinandersetzen, sowohl um dieser Probleme selbst
willen, als um dem ökonomischen Individualismus gegenüber die
richtige Stellung zu erringen.
Durch den Socialismus — und zwar hier speciell durch sein
Postulat und durch die mit diesem in Verbindung stehende weitere
Forderung einer wesentlich „gemeinwirthschaftlicken“ statt der
privatwirthschaftlicken Organisation der Volkswirtschaft — ist
aber auch das andere grosse Hauptproblem, dasjenige der Frei-
heit und ihrer Rechtsordnung, in ein neues Stadium getreten. Hier
begeht der Socialismus nun jedoch trotz seiner scharfen Kritik der
wirthschaftlichen Freiheit im System des ökonomischen Individualis-
mus und Liberalismus principiell denselben Fehler, wie letzterer:
auch er fasst die Freiheit als Axiom, statt als Problem auf
(G. Cohn), ein schwerstes Problem gerade jeder socialistiscben
Rechts- und Wirtschaftsordnung.
So wenig wie die Theorie der britischen Oekouomik, auch in ihren (kontinentalen
Ausläufern, eiuschliesslich desjenigen , welchen immer auch die deutsche historische
Nationalökonomie älterer und jüngerer Richtung noch bildet, so wenig hat der
Socialismus in Bezug auf die Freiheit die hier für die Nationalökonomie vorliegende
schwierige Aufgabe richtig erfasst. Überhaupt nur ernstlich in Angriff genommen,
geschweige gelöst. Seine Kritik der wirthschaftlichen Freiheit in der bestehenden
Rechtsordnung hat wieder in besonderen Maasse zur Krisis der britischen Oekonomik
beigetragen. Aber während die Forderung des gesellschaftlichen Gemeineigenthums
wenigstens ein Versuch ist, aus der blossen Negative herauszukommen und etwas Posi-
tives an die Stelle des durch die Kritik Verworfenen, der Frivatcigenthumsordnung,
zu setzen, unterbleibt selbst ein solcher Versuch in der Frage der Freiheit. Die
bisherige wirtschaftliche Freiheit wird verworfen, aber die Beantwortung der Frage,
wie das Freiheitsproblem bei völlig socialistischer Organisation der Volkswirtschaft
behandelt werden soll, wird nicht einmal ernstlich versucht, obgleich es handgreiflich
ist, dass gerade dies Problem hier wieder besondere, neue und eigentümliche
Schwierigkeiten machen würde. Das alles wird — einfach der Zukunft, der dermal-
einstigen Praxis des „Socialstaats“ uberlassen, was denn freilicli sehr bequem ist,
aber der Pflicht einer neuen Social- und Wirtschaftswissenschaft, wie sie nach den
Prätensionen seiner Gläubigen der Socialismus sein soll, wenig entspricht.
Es liegen hier gerade für den Socialismus in Rezug auf die
Freiheit und die Durchführung der geplanten Wirtbschaftsorgani-
sation nicht nur practisehe, ökonomisch-technische, sondern psycho-
logische Probleme ersten Ranges vor. Mehr an diesem Umstand,
weil er in seinen Gemeineigenthums- und Wirtschaftsorganisation»-
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14
Einleitung. 1. K. Ziel und Aufgabe. §. 3.
Plänen psychologisch höchst Schwieriges, verrauthlich Unmög-
liches verlangt, als an den ja sicher auch vorhandenen ökonomisch-
technischen Schwierigkeiten möchte er scheitern. Diese erscheinen
immerhin nicht von vorneherein so nahezu unlösbar, als die psycho-
logischen. Mindestens auf einige Dauer einer solchen Organisation
ist nicht wohl zu rechnen, auch wenn es, unwahrscheinlich wie
selbst das ist, vorübergehend den Anhängern des Socialismus ge-
lingen sollte, die politische Macht zu gewinnen, um sich ernstlich
an den Versuch der Verwirklichung ihres Programms in der Praxis
zu machen.
Diese psych ologischc Seite des ganzen Problems ist aber doch gerade etwas,
woran eine theoretische, eine wissenschaftliche Erörterung nicht vorbei gehen, sondern
womit sie sich allem zuvor beschäftigen muss, — auch um für ihre Kritik des Bestehenden
die richtige Tragweite der Schluss« zu bestimmen. Mit dem blossen Hinweis auf
die Evolutionstheorie und auf die „Ergebnisse“, will grossentheils sagen: die Thesen
und — petitiones principii der „materialistischen Geschichtsauffassung“ wird diese
psychologische Aufgabe nicht gelöst, sondern nur umgangeu. Hic Rhodos, hic salta!
I)as muss sich der Socialismus, welcher als „Wissenschaft“ gelten will, entgegenrufen
lassen. Sonst sind und bleiben seine „Argumente“ — Behauptungen, seiue „wissen-
schaftlichen Lehrsätze“ — Glaubenssätze, Dogmen, und einseitigere, unbegreiflichere,
aller Erfahrung mehr Hohn sprechende Dogmen, als sie jemals der extremste öko-
nomische Individualist und Harmonie-Apostel vertreten hat. „Socialistiscbe Dogmen“,
welche psychologisch betrachtet, trotz des ihnen umgehängten wissenschaftlichen
Mäntelchens der Evolutionstheorie und materialistischen Geschichtswissenschaft schon
an das alte „credo, quamquain“, ja „credo, quia absurdum est“ erinnern. Freilich,
von einem anderen Standpuncte betrachtet, auch wieder eine Bestätigung des alten
Satzes, dass das „Glaubensbed ürfniss“ dem Menschen nicht auszutreibeu ist und
so auch eine Selbstwiderlcgung der socialistischen Hauptthese von der Möglichkeit
einer psychischen und damit ethischen Wesensänderung der menschlichen Natur.
Diese Schwäche des Socialismus liegt demnach in den Ueber-
treibungen seiner Kritik gegen den ökonomischen Individualismus
und vollends in seinen positiven wirthschaftsrechtlichen und wirth-
schaftsorganisatorischen Forderungen mehr noch auf dem psycho-
logischen, als auf dem ökonomisch-technischen Gebiete — welche
beide Gebiete freilich gerade, weil es sich auf dem letzteren um
menschliches, von Trieben und Motiven bestimmtes Thun und Lassen
handelt, enge Zusammenhängen — . Das weist auch von dieser Seite
auf einen Umstand hin, welcher für die heutige wissenschaftliche
Aufgabe der Nationalökonomie bestimmend und zugleich von der
sonstigen Kritik der britischen Oekonomik mit liecht in den Vorder-
grund geschoben worden ist. Es zeigt sich nemlich , dass volks-
wirtschaftliche Probleme, weil sie mit dem Menschen, seinem Thun
und Lassen, daher seinen Motiven und Trieben untrennbar ver-
bunden sind, in erster Linie eben überhaupt psychologische
Probleme sind und als solche aufgefasst und behandelt werden
müssen. So auch in Allem, wo es sich um Hechts- und Organi-
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Psychologische Seite der ökonomischen Probleme.
15
sationsfragen in der Volkswirtschaft handelt. Die Nationalökonomie
als Wissenschaft ist in einer Hinsicht angewandte Psycho-
logie.
Das wurde in den Anfängen dieser Wissenschaft, als dieselbe noch mehr' als
Theil der Ethik, Politik and des älteren Natorrechts behandelt wurde, weniger über-
sehen, als später. Es ist das grosse Verdienst von W. Hasbach, das jüngst
wieder genauer nachgewiesen zu haben. Ganz vergessen ist es allerdings niemals.
Aber die Psychologie der Disciplin wurde in der britischen Doctrin eine zu enge,
zu grobe, zu einseitige. Sie beschränkte sich schliesslich immer mehr auf wenige
Sätze von einer gewissen allerdings vorhandenen Allgemeingiltigkeit in Bezug auf die
Men>cbennatur überhaupt, wie in der Lehre vom „wirtschaftlichen Eigennutz“, vom
„Streben nach Vermögen“, Sätze, deren Relativität in der Wirklichkeit aber doch auch
wieder nicht genügend beachtet wurde. Vorsichtig mit solchen Sätzen operirend ver-
mochte man immerhin unter strenger Festhaltung der Voraussetzungen der Üeduction
zu manchen wichtigen Schlüssen und Lehrsätzen der wirtschaftlichen Theorie zu
gelangen. Aber wenn man solche Lehrsätze ohne Weiteres auf das practische Leben
anwandte, geriet man damit doch leicht auf Abwege und in gefährliche Irrthümer.
Denn der „wirtschaftliche Mensch der Theorie“ und der concrete, von mancherlei
Trieben uud Motiven, auch in seinem „wirtschaftlichen“ Verhalten bestimmte indivi-
duelle Mensch oder jener „allgemeine Mensch“ und der „historische Mensch“ ent-
sprechen sich eben nicht genau. Eine entwickeltere, feinere Psychologie, die Ein-
sicht in die Macht der „umgebenden Verhältnisse“, der „Gewöhnung“ fuhren hier
zu einer Berichtigung der Schlüsse der älteren Theorie.
• Der Socialismus teilt nun mit dem Historismus das Verdienst, dies erkannt zu
haben. Aber er verfällt wieder, wie freilich zum Theil auch dieser, in das andere
Eitrem. Er sieht das „wirtschaftliche menschliche Wesen“ als etwas zu leicht
variables und zu grosser Veränderungen fähiges an. Ein wiederum auf ungenügender
Psychologie beruhender Trugschluss von grosser Bedeutung für die Würdigung der
socialistischen Theorie und der practischeu wirthschaftsrechtlichon und wirthschafts-
onrauisationischen Postulate des Socialismns. Denn schliesslich sind eben doch die
„Menschen“ das Baumaterial für alle socialen und volkswirtschaftlichen Organisationen.
Diese Menschen aber haben eine im Wesentlichen bestimmt gegebene, wesens-
unveränderliche psychische wie physische Natur, mit im Ganzen typischem Triebleben,
im Ganzen typischem Bestimmtwerden durch die gleichen Motive. Nach Individuen,
»och in der Masse der Individuen nach Zeitaltern, Ländern, Völkern. Entwicklungs-
stufen, Gassen bestehen wohl kleinere Verschiedenheiten und treten kleine Veränderungen
rin. Allein gegenüber jen#m Festen und Wesensgleichen in der menschlichen, auch
psychischen Natur sind sie geringfügig, vollends, bei der Macht der Gewöhnung, in
kurzer Zeit. Eben darin liegt die Berechtigung der Dcduction aus dem Motiv des
»irthschaftiichen Vortheils. was die neuere historische Nationalökonomie mit Unrecht
bemängelt (s. u.). Die Lehre des Socialisinus von der Bedingtheit des Menschen durch
die äusseren ökonomischen Verhältnisse wird durch diese Einsicht von der Wesens-
unveränderlichkeit des Menschen anf ihr richtiges Maass von Wahrheit, das sie ent-
hält. beschränkt. Damit werden auch die extremen Folgerungen aus dieser Lehre,
gerade auch für die Praxis des Wirtschaftslebens, als vor Allem psychologisch
unrichtig, die bewertenden Forderungen als psychologisch unerfüllbar abgewiesen.
Aber auch umgekehrt wird allerdings durch diese Verschiebung — oder neue Hin-
schiebung — der ökonomischen Probleme auf das psychologische Gebiet ein neuer
Staudpunct für die Kritik des ökonomischen Individualismus gewonnen. Denn auch
dieser litt, wie gesagt, vor Allem bei der Anwendung seiner Sätze auf die Praxis
an einer zu einseitigen Psychologie, vereinfachte sich dadurch schwierige practische
fragen zu sehr und löste sie unbefriedigend. Ueberspannt der Socialismus seine An-
forderungen au den Menschen hinsichtlich des „Menschenmöglichen“, d. h. eben des
psychologisch Möglichen, sich dabei auf eine fadenscheinige Wissenschaft und
deren vermeintlich sichere Ergebnisse stützend, fordert er vom Menschen „zu viel“,
so begeht umgekehrt der Individualismus den entgegengesetzten Fehler: er fordert vom
Menschen „zu wenig“, er würdigt alle anderen psychischen Motive neben dem
Trieb des wirthschaftiichen Selbstintcrcsses und den daraus hervorgehenden Motiven
lö Einleitung. 1. K. Ziel und Aufgabe. §. 4.
nicht genügend, bei manchen seiner Vertreter gar nicht, er sieht diesen Trieb als
etwas zu Constantes, Unveränderliches, Gleichmässiges au, dem es „menschen unmög-
lich“ und nicht einmal wünschenswerth sei, Zügel anzulegen, und er gelangt damit
auch seinerseits zu einer falschen , zu materialistischen Auffassung vom „würthscbaft-
lichcn Menschen“ des wirklichen Lebens.
‘ Weiteres gerade über diese Puncte im 1. Kapitel des 1. Buchs unten.
§. 4. Der Methoden streit. Folgt aus dem Gesagten und
aus den Zugeständnissen , welche darin nach verschiedenen Seiten
der neueren zur Krisis der britischen Oekonomik führenden Kritik
gemacht worden sind, dass Eine Behauptung richtig sei: diese an-
gegriffene, ja schon zum Theil preisgegebene Doctrin habe vor
Allem an einer falschen unbrauchbaren Methode gelitten?
Das sei ihr Hauptfehler gewesen und eben deshalb könne nur von
einer Aenderung der wissenschaftlichen Methode ftir die Fort-
bildung der wissenschaftlichen Theorie und einer Theorie, welche
zugleich für die Praxis des Wirtschaftslebens *) werthvoll sei,
Gutes erwartet werden?
Diese Behauptung wird mit mehr oder weniger Schärfe von der „deutschen
historisch-nationalökonomischen Schule“, besonders der jüngeren Richtung (,G. Schmoller
u. A. m.) aufgestellt. Sie hat aber auch sonst, auch in England, w'ennglcich hier
selten in derjenigen Einseitigkeit wie bei einzelnen deutschen historischen National-
ökonomen, neuerdings Unterstützung gefunden (Ligram u. A.). Der Vorwurf ist, die
britische Oekonomik, zumal in der Richtung Ricardo’s, habe sich wesentlich nur und
in einseitiger Weise der Methode der Deduction aus willkührlich angenommenen Vor-
aussetzungen und Ursachen, insbesondere aus dem Triebe des wirtschaftlichen Selbst-
interesses, das als ein in allen Individuen aller Zeiten und Länder gleichmässig wir-
kender Factor angesehen worden sei, bedient. Sie sei dabei ganz abstract verfahren,
ohne es vorher wie hinterher für notwendig zu halten, die Richtigkeit ihrer Voraus-
setzungen, Ursachen, Factoren und Schlüsse zu untersuchen, in völliger Vernach-
lässigung der Erfahrung, wie sie namentlich die Geschichte der Volks Wirtschaft
ergebe. So könnten eben die Ergebnisse, die Sätze dieser Wissenschaft gar keinen,
höchstens nur ganz bedingten, hypothetischen Werth haben. Das habe man jedoch
stets vergessen, dio Ergebnisse für absolute, unbedingte Wahrheiten gehalten uud
danach dann, ohne Rücksicht auf die concreten Verhältnisse, gar dio Praxis meistern
und nach der Schablone einer falschen, günstigen Falles nur zufällig hie und da ein-
mal zutreffenden Theorie gestalten wollen. Nur indem die Wissenschaft von diesem
Irr- und Abwege umkehre, ihre Methode gründlich ändere, statt von willkührlichen
psychologischen und sonstigen apriorischen Anuahmen überall streng von der Erfah-
rung ausgehe, daher beobachte, beschreibe, Material zur Vergleichung sammle, dieses
verarbeite, daraus erst Schlüsse ziehe, in. a. W. nur iudem die historisch-statistische
und auf feinerer Psychologie beruhende Induction an Stelle der speculativen De-
duction trete, werde ein wirklicher Fortschritt der Wissenschaft, ja überhaupt erst eine
„Wissenschaft“ von der Volkswirtschaft möglich.
Es wird die Aufgabe einer besonderen Erörterung im 2. Kapitel des 1. Buchs
unten sein, das Richtige und Unrichtige, namentlich das Unklare und Uebertreibende
dieser Auffassung, zu untersuchen und ihr eine andere Auffassung über die der
’) Ich sehe hier noch von der ebenfalls vertretenen Ansicht ab, dass die
„Wissenschaft“ eine derartige Aufgabe überhaupt nicht habe, da sie nur darstellcn
und erkenuen, erklären, nur die Fragen nach dem „Was ist?“ „Wie ist es geworden?“,
nicht nach dem „Was soll sein?'* beantworten solle, — eine Frage der Aufgabe der
Wissenschaft, die mit der der Methode zusammeuhängt. S. u. §. 57, 62 ff.
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Der Methodenstreit.
17
Nationalökonomie angemessene Methode oder richtiger, angemessenen Methoden gegen-
uberzostellen und za begründen. Vorläufig muss es hier au einigen kritischen Bemer-
kungen bezüglich der vorausgehenden Ansicht und Behauptung genügen.
Je nach der Art der Probleme, um welche es sich handelt,
je nach der von diesen Problemen bestimmten Specialaufgabe der
Wissenschaft und sicherlich, wie immer, auch mit je nach der indi-
viduellen Geistesanlage, Neigung und Richtung der betreffenden
einzelnen wissenschaftlichen Vertreter (§. 11; ist auch in der bri-
tischen wie in der continentalen Volkswirtschaftslehre des ökono-
mischen Individualismus bald mehr die speculative Deduction, bald
mehr die Induction das tatsächlich angewandte methodische Ver-
fahren gewesen.
Bei einzelnen Autoren liegt wohl die Neigung vor, erstercs voran zu stellen
(Ricardo. Senior, Mill, Herrmann), zum Theil aber, weil die behandelten Probleme
dieses zweckmässig erscheinen Hessen (Preis-, Vertheilungs- oder Einkommenlehre).
Aber gerade z. B. A. Smith selbst hat sich beider Methoden in Verbindung mit ein-
ander bedient, so sehr, dass bis heute, auch noch bei den neuesten ihn behandelnden
Littera rh ist ori kern des Fachs, die Ansichten darüber auseinandergehen, ob er vornern-
lich deductiv oder inductiv verfahren sei. Schon das beweist, dass jener allgemeine
Vorwurf, in der früheren britischen Oekonomik sei immer nur deducirt worden, un-
begründet ist. Dass aber überhaupt immer mit Unrecht in der Nationalökonomie
tuid auch in der üblichen Weise, dabei das wirtschaftliche Selbstinteresse vornemlich
zum Ausgangspunct zu nehmen, deducirt werde, ist eben — eine Behauptung, welche
auch von ihren Vertretern bisher in keiner Weise genügend begründet worden ist und
welche durch die eigenen volkswirtschaftlichen Arbeiten auf Schritt und Tritt Lügen
gestraft wird. Denn auch diese, so auch die „historischen Nationalökonomen“, be-
dienen sich bei jeder Gelegenheit, mitten in den „cxactesteu historischen Forschungen“
zur Erklärung, zur Beweisführung der Deductiouen aus dem wirtschaftlichen Interesse
und aus den damit in Verbindung stehenden Motiven, Handlungen, Unterlassungen
und mit vollem Rechte.
Nicht in der Benutzung der Methode der Deduction, auch nicht
in dem an sich richtigen Streben nach abstracten Ergebnissen bei
der Behandlung der Probleme hat die Theorie des ökonomischen
Individualismus in ihren in Betracht kommenden britischen wie
continentalen Vertretern gefehlt. Vielmehr darin lag allerdings öfters
ihr Fehler, dass sic diese Methode nach ihren psychologischen
Prämissen, wie vorhin schon gesagt wurde, nicht genügend funda-
mentirt und nach den Voraussetzungen ihrer Anwendbarkeit auf
die concreten Verhältnisse des Wirtschaftslebens nicht vorsichtig
genug gehandhabt hat. Nicht um eine völlige Aenderung der Me-
thode der Deduction und gar um ihren gänzlichen Ersatz durch
die Methode der Induction kann es sich daher handeln, welches
letztere Ziel zn erreichen nicht einmal möglich, und wenn möglich
nicht unbedingt richtig noch erwünscht wäre. Nur eine Verbes-
serung des deductiven Verfahrens, eine feinere und tiefere psycho-
logische Begründung und Ausbildung desselben, eine vorsichtigere
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Theil. Grundlagen. 2
18
Einleitung. 1. K. Ziel und Aufgabe. §. 4, 5.
Anwendung, zumal in concreten practischen Fragen, ein stetes Fest-
und In-Acht-Behalten der Voraussetzungen, unter welchen deducirt
wird, eine schärfere Einsicht in die nothwendigeu Grenzen der
Anwendbarkeit dieser Methode, nach den Gebieten von Fragen,
Arten von Problemen , wissenschaftlichen Specialaufgaben , eine
richtige Verbindung in vielen Fällen mit der Induction, — nicht
in allen, was eben nicht möglich! — ein richtiger Ersatz der De-
duction in gewissen Fällen durch die Induction, das ist die Aufgabe.
Hier haben auch hervorragende Vertreter der britischen Oekonomik gewiss öfters
Fehler begangen. Aber es waren dann regelmässig nicht sowohl Fehler der Methode,
auch nicht solche, die unvermeidlich im Wesen der Methode liegen, sondern Fehler
in und bei der Anwendung der Methode. Es bedurfte nicht erst des Auftretens
der deutschen historischen Nationalökonomie, welche sich immerhin hier in ihrer
Kritik Verdienste erworben hat, um das zu erkennen. Indem diese Richtung dann
auch wieder in das andere Extrem ging, den Werth richtigen deductiven Verfahrens
unterschätzte, denjenigen ihres eigenen inductiven Verfahrens überschätzte und ihrer-
seits die Grenzen, wo das letztere den Dienst versagt oder weniger leistet, als das
andere, verkannte, hat sie sicher ebenso viel, wenn nicht mehr geschadet, als dies
allerdings bezüglich der britischen Schule einzuräumen ist. Aber auch in letzterer
waren es doch immer nur einzelne zu einseitig oder zu ausschliesslich sich der De-
duction bedienende Nationalökonomen, keineswegs alle, welche dieser Vorwurf trifft.
Kurz, nicht: Deduction oder Induction, sondern Deduction
und Induction, in beiden Fällen möglichst sorgfältige, correcte,
dem Ideal beider Methoden sich annähernde Ausbildung und Hand-
habung beider, die Benutzung einer jeden möglichst immer da, wo
sie nach der besonderen Art der zu lösenden Aufgaben vornemlieh
hingehört, soweit als möglich — es ist eben nicht immer möglich !
— die Verbindung beider, wenn auch im concrcten Falle die eine
oder die andere voransteht und vorangeht — das ist die richtige
Lösung des Methodenstreits.
Allgemeine Vorwürfe in Hinsicht der Methode, wie sie der jüngere deutsche
nationalökonomische Historismus mitunter mit einem Selbstgefühl, welchem die Klar-
heit und logische Schärfe seiner Beweisführung nicht entspricht, der ganzen älteren
Theorie der britischen Oekonomik wohl gemacht hat. sind ungerecht und unrichtig.
Zu bessern in der Begründung, Ausbildung, Verfeinerung und Handhabung der Me-
thoden ist gewiss viel, zu ändern in den Methoden selbst wenig oder nichts. Die
beiden Haupt-Methoden sind in der Nationalökonomie durch den Stoff und durch die
Aufgaben gegeben (§. 66 ff.). Auch das, was an der deutschen „historischen“ Methode
richtig und berechtigt ist, ist nicht neu. Auch viele ältere Theoretiker, Systematiker und
Monographen, vollends Bearbeiter praetischer Fragen haben diese Methode benutzt,
wiederum Adam Smith nicht ani Wenigsten. Und ganz unabhängig von der deutschen
historischen Nationalökonomie haben Sociologen wie A. Comte ähnliche, freilich auch
zu weit gehende Bedenken gegen Deduction und Abstraction der britischen Oekonomik
erhoben.
§.5. DasBcdtirfniss und die Aufgaben einer neuen
Grundlegung der Politischen Oekonomie. Die britische
Oekonomik, die Theorie des ökonomischen Individualismus und
Liberalismus hat sonach (§. 2) eine Krisis durchzumachen, welche
L
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Neue Grundlegung der Politischen Oekonomic.
19
alle ihre Grundlagen erschüttert. Daraus ergiebt sich in einer
ersten Beziehung das Bedürfniss einer neuen Grundlegung. Es
handelt sich dabei um eine eingehende kritische Auseinander-
setzung mit der britischen Oekonomik, mit dem Ziele,
so festzustellen , was von letzterer nicht mehr haltbar und aufzu-
geben, was von ihr festzuhalten, wenn auch vielleicht mehr oder
weniger umzugestalten ist. Unter den Angriffen der Kritik ver-
langen diejenigen des Socialismus besondere Beachtung. Es sind
die schärfsten und die tiefstgründig principielien.
Der ökonomische Socialismus hat aber ausser dieser kritischen
eine positive Seite in seinen bekannten, auf die ganze wirt-
schaftliche Rechtsordnung sich beziehenden Forderungen. Letzteren
Hegt ein Versuch der allgemeinen theoretischen Begründung, ausser
in den Ergebnissen der soeialistiscben Kritik des ökonomischen
Individualismus, insbesondere in den socialistischcn Werthlehre zu
Grunde. In diesem Auftaueheu des kritischen wie des positiven
Socialismus liegt ein zweiter Umstand, in welchem das Bedürf-
nis einer neuen Grundlegung seinen Ursprung nimmt, liier handelt
es sich um eine eingehende kritische Auseinandersetzung
mit dem Socialismus, theils um eine Antikritik seiner Kritik
der individualistischen ökonomischen Theorie und der geschichtlich
überkommenen wie der neueren, jener Theorie entsprechenden
ökonomischen Praxis, theils um eine Kritik der positiven Lehren
und Forderungen des Socialismus, besonders in Bezug auf die
wirtschaftliche Rechtsordnung und auf die an letztere sich
knüpfende Organisation der Volkswirthschaft.
Natioualökonomische Untersuchungen über die wi rth-
scha ft liehe Rechtsordnung, namentlich über die Alles be-
herrschende Pr i v atr ec hts Ordnung, und über die Organi-
sation der Volkswirthschaft, namentlich Uber das V er-
hält n iss von Privat- und Gern ein wirthschaft darin zu
einander, principielle Erörterungen über „Freiheit und Eigen-
thum“ in volks wirthschaft lieber und socialpolitischer
Betrachtung sind es hiernach vornemlich, welche in eine neue
Grundlegung der Politischen Oekonoraie gehören. Die letztere ist
dadurch zu einer wahren Social Ökonomie umzugestalten.
Nationalökonomische Untersuchungen dieser Art haben der britischen Oekonomik,
auch in deren continentaler, französischer, italienischer, deutscher Gestalt — grossen-
theils noch die neuere historische Nationalökonomie, abgesehen von Knies, ein-
geschlossen — fast ganz gefehlt. Erst das Auftreten Schäffle’s mit seinen wichtigen
bezüglichen Arbeiten, insbesondere bereits mit seinem „gesellschaftlichen System £
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Einleitung. 1. K. Ziel und Aufgabe. §. 5.
menschlicher Wirtschaft“, in welchem, schon nach dem vielbedcutenden Titel, die
Aufgabe richtig erfasst war, hat hier Wandel zu schaffen begonnen. Denn um ein
gesellschaftliches System, um eine wahre Socialökonomie handelt es sich
in der That. Zu einer solchen muss die Politische Oekonomie durch eine neue Grund-
legung erhoben, in sie dieselbe dadurch verwandelt und so das stark privatökonomische
Element, welches der britischen Oekonomik auch als „Politische Oekonomie“ noch
anhaftet, vollends abgestreift werden. Gesichtspuncte der grossen socialistiscben
Theoretiker, vor Allem von Rodbertus, sind dabei vielfach mit Recht zu verwerten, auch
bei Abweisung der socialistiscben Forderungen filr Rechtsordnung und Organisation
der Volkswirtschaft. Nur hat sich dabei die Antikritik der socialistiscben Kritik der
geschichtlich überkommenen und bestehenden Verhältnisse die notwendige Unbefangen-
heit und Objectivität zu erhalten. Dann braucht man sich nicht zu scheuen, manches
richtige Ergebniss der socialistischen Kritik anzuerkennen.
Bei den hiernach zunächst und vornemlich in die „Grund-
legung“ der Soeialökonomie gehörigen kritischen wirtschaftlichen
und wirthschaftsorganisatorischen Untersuchungen und Erörterungen
wird folgenden drei Aufgaben besondere Aufmerksamkeit zu wid-
men sein:
1. Viele der wichtigsten Probleme sind in der oben angedeu-
teten Weise als psychologische in erster, als practisch ökono-
misch-technische in zweiter Linie aufzufassen und zu behandeln.
Daher muss das Triebleben und Motivsystem (die „Moti-
vation“) des Menschen genauer betrachtet und zum Ausgangs-
punct der ganzen Grundlegung genommen werden. Insbesondere
sind dabei die Momente der sittlichen, auch der religiösen An-
schauung, der Sitte und Gewöhnung in Verbindung mit Trieb-
leben, Motivsystem und Rechtsordnung zu verfolgen (1. Buch, 1. Kap.).
Hier gilt es daher die zu enge, zn grobe „ökonomische Psychologie“ der
Smith’schen Theorie und des practischeu Systems der freien Concurrcnz zu berichtigen
und zu verbessern. Das fuhrt auch zu der, wie bemerkt, erforderlichen Berichtigung
und Verbesserung der Methoden, welche bei den verschiedenen Aufgaben der
Wissenschaft anzuwenden und zum Theil diesen selbst wieder anzupassen sind.
2. Bei den grün d begrifflichen Erörterungen, bei den
Fragen der allgemeinen volkswirtschaftlichen Rechts-
ordnung und bei der Betrachtung und Beurtheilung der ge-
schichtlichen Entwicklungen des Wirtschaftslebens wird
es sich ferner darum handeln, möglichst den rein -ökono mischen
und den historisch -rechtlichen Standpunct der Betrachtung
und danach dann absolute, rein-ökonomische und va-
riable, historisch- rechtliche Kategorieen zu unterscheiden.
Dies entspricht wiederum einem vornemlich vom wissenschaftlichen
Socialismus, nicht, jedenfalls nicht zuerst von der historischen
Schule der Nationalökonomie, der es eigentlich am Nächsten ge-
legen hätte, vertretenen Gesichtspuncte, besonders des Rodbertus.
Jene Unterscheidungen haben zu erfolgen für leitende Grundbegriffe, wie
wirtschaftliches Gut, Vermögen, Capital, Werth, Preis, Kosten, Geld, Unternehmung,
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Aufgaben einer neuen Grundlegung.
21
für Grundinstitute der Rechtsordnung, wie das ..Eigenthum“. Bei den historisch-recht-
lichen Kategorieen kommen dann die grossen geschichtlichen Eutwicklungspbasen der
V olkswirt hschaft in Betracht, wobei die Ergebnisse der wirthschafts- und rechts-
geschichtlichen Forschungen gebührend zu verwerthen sind.
3. Jede eigentliche V o 1 k s wirthschaft beruht auf dem Princip
der A r b e i t s t h e i 1 u n g (A r b e i t s g l i e d e r u n g). Wo dies Princip
noch fehlt oder nur wenig entwickelt ist, besteht eben Überhaupt
noch keine „Volks“-Wirthschaft oder bestehen erst Ansätze dazu. —
In der „arbeitsteiligen“ Volkswirtschaft treten dann als die beiden
Grundprobleme das „Prod uctionsproblera“ und das,, Pro-
blem der Verth eiluug des arbeitstheilig gewonnenen
Productionsertrags“ unter den bei der Production betheiligten
Personen überall deutlich hervor, trennen sich von einander, aber
hängen immer auf das Engste zusammen. Von dem dem ent-
sprechend zu combinirenden Doppelstandpunct jedes dieser beiden
Probleme aus müssen gerade auch die Fragen der „Grundlegung“
untersucht und erörtert werden.
Die Lösung des Productions- und Vertheilungsproblems gestaltet sich bei ver-
schiedener Organisation der Volkswirtschaft verschieden, namentlich je nach gemcin-
und privatwirthschaftlicher und damit wieder zusammenhängend, bei verschiedener
wirtschaftlicher Rechtsordnung, namentlich nach Verschiedenheit der Behandlung
der persönlichen Freiheit und Unfreiheit, der Eigenthumsordnung (Privat- oder
Gemeineigenthum) und des Vertragsrechts. Bei diesem kommt es besonders darauf an,
ob die Bestimmung des Inhalts des Vertrags allein oder nur in beschränktem Maasse
von dem „Willen der Parteien“ abhängt — indem letzteren Falles die Rechtsordnung
gewisse materielle Normen des Vertrags rechts vorschreibt und deren Aufhebung durch
den Willen der Parteien verbietet und für ungiltig erklärt. — Production und Ver-
keilung werden von Organisation und Rechtsordnung der Volks wirthschaft bestimmt,
ja beherrscht. Das Ideal, welches für Production und Vertheilung unter gegebeneu,
bezw. angenommenen psychologischen, ökonomisch-technischen und culturellen Voraus-
setzungen aufgcstellt werden kann, wird so nach dieser Organisation und Rechts-
ordnung mehr oder weniger erreichbar. Daher treten wieder Forderungen in Betreff
beider letzteren, geschichtlich wechselnd, hervor, um eine grössere Annäherung an
das Ideal der Production und Vertheilung zu ermöglichen. Die Thatsachen, Er-
scheinungen, Entwicklungen des Wirtschaftslebens, die Fragen der wirtschaftlichen
Organisation und Rechtsordnung unter dem Doppelgesichtspuncte der Production
und der Vertheilung behandeln, heisst aber, untersuchen, was dem Productions-
uud dem Vertheilungsinteresse entspricht, ob und wie diese zusammenfallen
oder sich kreuzen, welches den Vorrang hat. in welchem Verhältnis eine so und so
gegebene, durch den Einfluss der Organisation und der Rechtsordnung gestaltete oder
durch eine Veränderung beider sich muthmaasslich so und so gestaltende Production
und Vertheilung zu dem jeweiligen Ideal der Production und Vertheilung stehen.
In der Wirklichkeit ist Alles hier in Wechselwirkung, Production und Vertheilung,
Organisation und Rechtsordnung, jene ersteren beiden mit diesen letzteren beiden
immer je untereinander. Psychologische Factoren kommen auch liier in eigentüm-
licher Weise zur Geltung. Grade jene Wechselwirkungsvcrhältnisse und das Mitspielen
und Variircu der psychologischen Factoren muss in der Socialökonomie, zumal in deren
Grundlegung, verfolgt werden.
Die beiden extremen Richtungen der Theorie, der ökonomische Individualismus
wie der Socialismus, haben in dieser Hinsicht entgegengesetzte, aber principicll die-
selben Fehler begangen. Der erstere hat die Abhängigkeit der Production und Ver-
teilung von Organisation und Rechtsordnung zu wenig beachtet; das Productious-
problem zu einseitig in den Vordergrund geschoben; das Vertheilungsproblem zu sehr / K
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Einleitung. 1. K. Ziel und Aufgabe. §. 5, 6.
als das sccundäre angesehen; Organisation und Rechtsordnung einer bestimmten Periode
zu sehr als die selbstverständlichen im Wesentlichen unveränderlichen, als absolute,
statt als historische Kategorieen betrachtet; Möglichkeit, Nothwendigkeit, Zweckmässig-
keit einer Aenderung von Organisation und Rechtsordnung. Production und Vertheilung
zu wenig untersuch t oder wähl ohne Weiteres wegen der „wirtschaftlichen Natur
des Menschen“ gemäss dem , was diese Doctrin nach ihrer einseitigen Psychologie
darunter verstand , als ausser Frage stehend angenommen.
I)io andere Doctrin, der Socialismus, hat mit Recht die Fragen der Organisation ,
der Rechtsordnung und das Vertheilungsproblom besonders betont. Aber die psycho-
logischen mehr noch als die practischcn ökonomisch -technischen Bedingungen einer
Aenderung dieser Verhältnisse hat er zu leicht genommen; den Character der historischen
Kategorie bei Organisation and Rechtsordnung übertrieben; das (iebundensein beider,
wie durch die äussere Natur, so durch die physisch-psychische Natur des Menschen
unterschätzt; das Feste, Unveränderliche oder nur wenig und höchst langsam Veränder-
liche der psychischen Seite des Menschen neben dem historisch Variablen zu wenig
gewürdigt; zu einseitig das Vertheilungsproblem, zu wenig ernstlich das Productions-
problem behandelt; namentlich letzteres zu sehr als ein bloss technisches, zu wenig
als ein gleichzeitig und in hohem Maasse psychologisches angesehen. — Denn
bei der Sprödigkeit der äusseren Natur kommt unvermeidlich Alles darauf an, richtige
Motive der Arbeitsleistung genügend wirksam zu machen; Autorität, Disciplin,
Subordination in allen auf Einrichtung und Durchführung des Productiousprocesses
sich beziehenden Verhältnissen ordentlich zu gestalten: Puncte, welche bei jeder
denkbaren Einrichtung der Production für den schliesslicheu Erfolg der letzteren, von
welchen doch alles abhängt, das Entscheidende sind. Und auch bei dem Vcrthcilungs-
problem hat der Socialismus die in der Natur des Problems selbst liegenden
Schwierigkeiten wiederum mehr noch psychologischer als practisch- technischer Art
und wiederum zunächst einerlei, welche Rechtsordnung und Organisation für die
Vertheilung bestehe, viel zu leicht genommen. Fehler bei der Behandlung beider
Probleme, welche die nothwendige Folge seiner falschen Psychologie, selbst wieder
eine Consequenz seines „hyperideologischen Supermaterialismus“ sind.
Die freilich nicht leichte. Aufgabe einer neuen socialökonomischen Grundlegung
ist auch hier, möglichst den Fehler des ökonomischen Individualismus und Socialis-
mus zu vermeiden und eine richtige Mitte aufzufinden und innezuhalten.
§.6. Individuum und Gern ei risch alt. Alles zusammen-
lassend ergiebt sich: der Punct, um den sich auch in der Poli-
tischen Oekonomie als einer wahren Socialökonoraie, und insbe-
sondere in der Grundlegung dafür, Alles dreht, ist die alte Frage
vom Verhältniss des Individuums zur Gemeinschaft,
von der Combinatiou des Individual- und Socialprincips
in der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rechtsordnung und
Organisation.
Wer mit der älteren „individualistischen“ Rechts- und Staats-
philosophie und mit der ihr verwandten britischen Oekonomik das
Individuum in den Mittelpunct aller Betrachtungen stellt und zum
Zweck des Gemeinschaftslebens macht, kommt notwendig zu den
Resultaten jener britischen Schule. Aehnlich, wer die ganze Privat-
rechtsordnung, speciell das Privateigentum, nur aus dem Gesichts-
puget des Individualinteresses betrachtet und nur in Zweckbeziehung
zu letzterem setzt, gelangt ebenso notwendig zur bloss individual-
rechtlichen („rein privatrechtlichen“) Auffassung und Behandlung
dieser Rechtsordnung auch als der Grundlage der Volkswirtschaft.
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Individuum und Gemeinschaft.
23
Wer dagegen vor Allem zunächst nach den Bedingungen
des wirtschaftlichen Gemeinschaftslebens forscht und
nach denselben die Sphäre der wirtschaftlichen Freiheit des Indi-
viduums, die Befugnisse auch des Privateigcnthtimers in Bezug auf
die ihm gehörenden Eigenthumsobjecte, die Grenzen der Vertrags-
freiheit auch in Hinsicht des Inhalts der Verträge, bestimmt; wer
die ganze Privatrechtsordnung, auch das Privateigenthum selbst,
zuvörderst in ihrer Zweckbeziehung zu und ihrer Function für das
Gemeiuschaftsinteresse betrachtet, der kommt — nicht, wiewohl
behauptet wird, einfach zum „Socialismus“, wohl aber zu einer
Anschauung und Lehre, welche, allerdings auch das Wahre im
Socialismus anerkennend, gerade hier die eigentlichen volkswirt-
schaftlichen Grundprobleme sehen: diejenigen der Organisation der
Volkswirtschaft, der Beziehungen von Recht und Wirthschaft, der
Regelung von „Freiheit und Eigenthum“ nach dem zu combiniren-
deu Doppelgesichtspuuct des Gemeinschafts- und des Individual-
interesses und nach dem Zielpunct eines, seihst wieder beständig
zu verändernden Compromisses zwischen diesen beiden Interessen.
Die Geschichte der Volkswirtschaft und der Rechtsordnung stellt
den Process dieses Compromisses zwischen diesen Interessen,
zwischen dem „Social- und Individual princip“ dar. Der
Socialismus übertreibt das erste, der ökonomische Individualismus
das zweite dieser Principien. Die unbefangene Wissenschaft und
die rationelle ökonomische Praxis und Politik haben beide Ein-'
seitigkeiten zu vermeiden, aber doch auch wieder anzuerkennen,
dass das Socialprincip das vorherrschende ist und sein muss
und soll.
Eine derartige Stellung zu den volkswirtschaftlichen Fragen
kann man wohl passend eine social ökonomische, zu den
Rechtsfragen , auch denjenigen des Privatrechts, eine social-
rechtliche nennen.
Sie unterscheidet sich wesentlich von der noch überwiegend privat ökonomischen,
wenn sich auch bereits politisch -ökonomisch nennenden Stellung der britischen
Üekonomik. Nicht minder von der wesentlich individualrechtlichen Stellung unserer
Jurisprudenz, namentlich unserer privatrechtlichen , vornemlich romanistisch
denkenden, construirenden, begründenden, und von jener bisherigen Rechtsphilosophie,
welche die Gedanken und Auffassungen dieser Jurisprudenz meist einfach und ganz
unkritisch übernommen hat. Weit näher steht der socialrechtlichen Auffassung der
Geist des germanischen Rechts und dessen Jurisprudenz. Aber nicht minder
unterscheidet sich die socialökouomische und socialrechtliche Stellung von der Stellung
des Socialismus , weicher ohne Compromisse mit dem Individualprincip glaubt aus-
kommen zu können, in Widerspruch mit aller Psychologie und mit aller geschieht-^
liehen Erfahrung.
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24
Einleitung. 1. K. Ziel und Aufgabe. §. 6 7.
Diese socialökonomische und socialrechtliche Auffassung und
Stellung führen auch von dem Pessimismus und dem Optimismus
des Individualismus wie des Socialismus in gleicher Weise ab.
Sie veranlassen nicht den Wahn, dass das System der freien Concurrenz. wo
der wirtschaftliche Eigennutz des Individuums die nahezu einzige Triebfeder ist, ja
sein soll, die „beste der wirtschaftlichen Welten“ sei; dass nichts Besseres gethan
werden könne und solle, als möglichst alles „dem freien Sinei der wirtschaftlichen
Kräfte“, will sagen des Eigennutzes, zu überlassen; dass die schier einzige Aufgabe
sei, die Production zu vermehren, zu verbessern, zu verwohlfeilem und dazu deu
technischen Fortschritt „durch die Concurrenz“ anzuspannen, welche letztere hier
immer die Panacee ist. Es wird vielmehr von jenem socialökouomiscben und social-
rechtlichen Standpuncte aus nicht verkannt, welche schwere unvermeidliche Nachtheile
für die Gemeinschaft und für alle Einzelnen, auch die scheinbar Begünstigten , die
„Starken“ , aus diesem „System der freien Concurrenz“ hervorgehen müssen und
notorisch hervorgegangen sind. Es werden daher hier auch für die volkswirtschaft-
liche Theorie und Praxis grosse und schwere Aufgaben gestellt und deren Lösung
in Aussicht genommen.
Aber diese Lösung wird nicht im reinen Socialismus gefunden, vor Allem
weil dessen Aberglaube nicht geteilt wird, dass unter Menschen, nach dereu
psychischem und danach bestimmtem ethischen Wesen, sich die psychologischen und
practisch ökonomisch- technischen Schwierigkeiten einer socialistischen Organisation
und Rechtsordnung der Volkswirtschaft überwinden lassen; und wenn Das selbst
möglich wäre, dass dabei vielleicht audre, aber muthmaasslich weit grössere und un-
erträglichere Ucbelstände für die Gemeinschaft und die Einzelnen hervortreten würden,
als die jetzt bestehenden.
Leidet unter dem ökonomischen Individualismus gewiss die
Gleichheit, so unter dem Socialismus die Freiheit. Beides
schlimm , aber das Schlimmere wohl doch noch das Letztere.
Zwischen beiden Gefahren gilt es wiederum einen Mittelweg zu
finden und in der Praxis zu wählen. Das eben ist das Ziel der
socialökonomischen und socialrechtlichen Auffassung, welche beiden
Principien, dem Social- wie dem Individualprincip, durch rich-
tige Com promisse gerecht zu werden sucht, ohne das Schwierige
gleich für unmöglich , aber auch ohne das Unmögliche nur für
schwierig zu halten.
Dass dabei auch unter den günstigsten Umständen das etwa als Ideal für Pro-
duction und Vertheiluug vorschwebende Ziel niemals erreicht wird; dass jede Aeude-
rung der Rechtsordnung und der Organisation neben neuem Guten manches neue
Ueble schallen, manches alte Gute beseitigen, manches alte Üeble erhalten wird, ist
gewiss und keinem Verständigen dieser Richtung unbekannt. Es handelt sich immer
nur um ein, oft vielleicht recht geringfügiges. Mehr oder Weniger von Besser
und Schlechter, wozwischen selbst die genaue Bilanz zu ziehen schwierig genug
sein kann. Aber das gilt von diesem Standpuncte aus gegenüber der Kritik, welche
ihm von beiden Seiten, des Individualismus und des Socialismus, wieder zu Theil wird,
für keinen irgend durchschlagenden Einwand, sondern im Grunde für selbstverständ-
lich. Denn unter menschlichen, unter irdischen Verhältnissen ist ein Ideal
wohl allenfalls aufzustellen , aber doch niemals zu erreichen. Immer mit der Ueber-
zeugung, dass man Alles zu thun suchen muss, um sich dem Ideal mehr zu nähern,
und dass man immerhin Einiges in dieser Richtung erreichen kann, aber nicht minder
stets in der Einsicht , dass das Ideal ewig unerreichbar sein und alles Erreichbare
nur die Entfernung der Wirklichkeit vom Ideal um Weniges vermindern wird: das
ist der Standpuuct der socialökonomischen und socialrechtlichen Aufassung gegenüber
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Ziel unc Aufgabe dieses Werks.
25
practischen Reform fragen des Wirtschaftslebens. Von ihm aus werden nicht gleich
bequemer, und oft genug egoistischer Weise — in dem mit dem Gesammtinteresse zu
leicht identificirten Glasseninteresse der Besitzenden — Unmöglichkeiten angenommen,
wo nur mehr oder minder grosse psychologische und practische Schwierigkeiten und
Ansprüche auf Opfer der Besitzenden vorliegen, wie es der ökonomische Individualis-
mus so leicht thut. Aber auch ebenso wenig werden gleich in leichtfertiger Weise
Möglichkeiten als sicher realisirbar hingestellt, wo, wie bei den Phantasieen des
Socialismus fiir seinen künftigen „Socialstaat“, nicht bloss enorme practische Schwierig-
keiten, sondern für jede ernstere und tiefere Betrachtung der menschlichen Natur und
des Verhältnisses der Menschen zur äusseren Natur, sowie der Individuen zur Gemein-
schaft und zu sich untereinander mit höchster Wahrscheinlichkeit unüberwindliche
psychologische Hindernisse und eben deshalb so gut wie Unmöglichkeiten vorliegen.
Solchen entgegengesetzten Einseitigkeiten gegenüber sucht die
socialökonoraische und soeialrechtliche Auffassung Realismus
und Idealismus richtig zu verbinden: d. h. den Menschen
zu nehmen, wie er ist, aber auch sein und werden kann, als
entwicklungsfähig, auch in psychischer, in ethischer Be-
ziehung, aber immer als „Menschen“, nicht als „Teufel“, nicht
als „Engel“. Und Engel, wenn nicht gar ein Gott seihst — und
an das alte „Eritis sieut deus“ wird man bei den socialistischen
Phantasiegebilden nur zu oft wieder gemahnt! — müssten die
Menschen erst sein, wenn der volle Socialismus in Erfüllung gehen
können sollte.
§. 7. Ziel und Aufgabe dieses Werks. Unser Ziel ist,
diesen socialökonomischen und socialrechtliehen Staudpunet in Be-
zug auf die wirthschaftsorgauisatorischen und wirthschaftsrechtlichen
Verhältnisse zur Geltung zu bringen. Insbesondere wird dies mit
vollem Bewusstsein und unter möglichster steter Festhaltung und
Folgerichtigkeit dieses Standpunctes in den vom Verfasser selbst
bearbeiteten Theileu, daher vor Allem in dieser „Grundlegung“,
erstrebt und als die zu lösende Aufgabe betrachtet.
Specicll ferner auch in manchen Ausführungen mehr principieller Natur in ver-
schiedenen bezüglichen Abschnitten der Finanzwissenschaft (Staatseigentbums-, Ver-
staatlichongsfragen bei Privaterwerbs-, Gebühren- , Regal- und Monopolzweigen , bei
Erörterungen über das socialpol i tische Moment in der Finanz- und Steuerpolitik u. s. w.).
Dem Plane nach ähnlich später in der Lehre vom Verkehrswesen.
Die auch nur einigermaassen befriedigende Lösung dieser an
sich schon so schweren Aufgabe wird durch die vielen Berührungen
einer „Socialökonomie“ mit anderen Disciplinen , welche ihr als
Hilfswissenschaften zu dienen haben, vollends noch schwieriger.
Philosophie im Allgemeinen, specicll Psychologie, Logik und Erkenntnisstheorie,
Rechtsphilosophie, Rechts- und Wirtschaftsgeschichte, Statistik, Jurisprudenz, auch
des Privatrechts, allgemeine Staafswissenschaft und (theoretische) Politik , öffentliches,
namentlich Verwaltungsrecht, Naturwissenschaften, Technologie. Privatökonomik der
verschiedenen Productionszweige, Mathematik, Wahrscheinlichkeitsrechnung, uud was
nicht noch von Theildisciplinen weiter bieten zahlreiche, oft entscheidend wichtige
Beruhruugspuncte mit der Socialökonomie. Es waltet hier ein ähnlicher Sachverhalt,
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26
Einleitung. 1. K. Ziel und Aufgabe. §. 7, S.
wenn auch keine so schwere Aufgabe, wie bei der sogenannten „Sociologie“ ob.
Deren Ausbildung zu einer wirklichen Wissenschaft rindet ja, abgesehen von dem
unklaren Ziel und der auch aus anderen Gründen kaum lösbar erscheinenden Aufgabe,
auch gerade an diesen unendlichen Bezügen zu jenen anderen Wissenschaften kaum
zu überwindende Schwierigkeiten.
Wer diese Schwierigkeiten erkennt, wird nur mit Zagen an
die Aufgabe gehen, indessen auch auf Berücksichtigung dieser Um-
stände Seitens einer objectiven, billig denkenden Kritik rechnen
dürfen.
Aber ist überhaupt die Stellung der Aufgabe selbst
berechtigt? Auch das wird wohl bestritten. Denn vielfach
heisst es: das Einzige von Werth und Bedeutung für deij Fort-
schritt der Wissenschaft ist Specialarbeit, nicht zusammen-
fassende.
§. 8. Specialarbeit und zusammenfassende Arbeit.
In unserem Zeitalter ist die Nothwendigkeit weit- und immer weiter-
gehender wissenschaftlicher Specialisirung immer mehr erkannt
worden.
Diese Specialisirung ist im letzten Grunde doch die Folge der gewonnenen Ein-
sicht, dass die Probleme in allen Wissenschaften viel schwieriger, die Complicationen
des causalen und conditionellen Zusammenhangs der Erscheinungen viel grösser sind,
als man früher annahm. Daher müssen die vom inductiven Verfahren geforderten
Beobachtungen viel zahlreicher, mannigfaltiger und sorgfältiger sein, verlange das
deductivc Verfahren erst eine viel vorsichtigere Vorbereitung seiner Voraussetzungen
zur gütigen Schlussziehung und eine viel umfassendere Prüfung dieser Schlüsse.
Nun droht aber diese Specialisirung auch den Gesichtskreis
der Specialisten immer mehr einzuengeu, den Blick vom grossen
Zusammenhang der Dinge abzuwenden, Verständniss, Interesse da-
für beinahe zu ertödten.
Gerade diesen Verhältnissen gegenüber hat daher die zu-
sa m men fassen de Arbeit, welche das Einzelne nicht, wie in der
Specialforschung immer mehr, seiner selbst wegen, sondern nur
in seiner Bedeutung für das Ganze würdigt, doch wueder ihre un-
verkennbare Nothwendigkeit und auch rückwirkend ihren Werth
für die nicht ganz in Mikrologie aufgehende Specialforschung.
Allerdings wird auf dem gegenwärtigen Standpunct so ziemlich aller Natur-
und Geisteswissenschaften die zusammenfassende Arbeit nicht, wie früher so leicht,
namentlich auch in der Politischen Oekonomie, glauben, etwas Fertiges, end-
giltig Abgeschlossenes geben zu können. Aber sie wird es doch für möglich,
jedenfalls für eine richtig gestellte Aufgabe halten, von einer in bestimmter Zeit er-
reichten wissenschaftlichen Gesammtentwicklnng und Gesammtanscbauung ein einiger-
maassen zutreffendes Bild zu geben.
Allein hier entstehen nun die Schwierigkeiten für die zusammen-
fassende Arbeit aus dem Vorherrschen der wissenschaftlichen
Specialarbeit.
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Specialarbeit und zusammcnfassende Arbeit. 27
Die letztere erfordert so viel Zeit und Kraft, dass meist ein Jeder durch seine
eine oder seine wenigen Specialitäten ganz in Beschlag genommen wird, selbst inner-
halb des Gebiets seiner engeren Fachwissenschaft wieder nur auf einigen wenigen
Specialgebieteb ganz zu Hause ist. andere Theilc seiner Wissenschaft nur noch mehr
oder weniger verfolgt, vollends aber mit anderen Wissenschaften immer mehr die
Fühlung verliert. Und doch ist es ein alter Erfahrungssatz der Geschichte der Wissen-
schaften, wie befruchtend Erkenntnisse, Sätze, Methoden, Ideen der einen auf die
andere eingewirkt haben. Wo es sich zumal um nothwendige Fühlungen mit so
vielen, zum Theil weit entlegenen anderen Wissenschaften handelt, wie in der Poli-
tischen Oekonomie als Socialökonomie, machen sich die angedeuteten Schwierigkeiten
f>xr eine zusammenfassende Arbeit natürlich noch stärker geltend.
Soll deswegen diese zusammenfasseude Arbeit unterbleiben?
Etwa, wie man gemeint hat, wenigstens auf dem Gebiete unserer
Wissenschaft ein paar Mensclienalter lang, bis die Specialforsehung,
besonders die wirthschaftsgescbichtliehe, entsprechende Fortschritte
gemacht, mehr und besseres Baumaterial gefördert haben wird?
Abgesehen davon, dass letztere Forderung schon deswegen in sich
zerfällt, weil sie nach einigen Menschenaltern gerade so gut, viel-
leicht noch aus mehr Gründen, gestellt werden kann und die
Specialforschung „fertig“ im eigentlichen Sinne niemals sein wird,
abgesehen hiervon muss u. E. jene Frage aus entscheidenden
anderen Gründen verneint werden.
Einmal ist das praktische, auch das Lehr- und Lern-
bedürfniss viel zu gross, um auch nur für einige Zeit die Auf-
gabe der zusammenfassenden neben der Specialarbeit ganz zurück-
stellen zu können.
Es würde dann nur um so mehr flache Popularisirung, wie aus ähnlichen
Gründen, weil die Berufeneren sich der zusammenfassenden Arbeit zu wenig widmen,
in den Naturwissenschaften, Platz greifen. Bei der engen Beziehung der National-
ökonomie zum practischen Leben, zu den politischen, socialen Fragen, zu den Auf-
gaben der Gesetzgebung, bei der fortwährenden Beschäftigung der Tagespresso mit
volkswirtschaftlichen Erscheinungen und Fragen um so stärker und — um so ge-
fährlicher. Dem engen Dunstkreis des Specialistcn gegenüber, in welchem der Ge-
lehrtendünkel, oft schon in recht jungen Jahren, besonders üppig wuchert . mag doch
auch darauf hingewiesen werden, dass ja auch schon das Erforderniss des akade-
mischen Unterrichts im mündlichen Vortrage zu einer solchen zusammenfassenden
Arbeit nötbigt. Sie sollte demnach doch wohl in litterarischen Werken, wo an die
Qualität nur noch höhere Anforderungen gestellt werden, nicht als etwas Massiges,
wissenschaftlich Geringwerthiges angesehen werden.
Sodann aber wird nur durch die zusammenfassende
Arbeit etwas geleistet, was die blosse Specialarbeit überhaupt
uie leisten und die Wissenschaft doch nicht entbehren kann, ja
etwas, das für den wissenschaftlichen Fortschritt und rückwirkend
für fruchtbare Specialarbeit selbst wieder von entscheidender Be-
deutung ist : die richtige Würdigung alles Einzelnen für
das Ganze der Wissenschaft.
Nur die zusammenfassende Arbeit zeigt die wahre Bedeutung der Ergebnisse
der Specialarbeit, die Lücken der Erkenntniss, welche geblichen, die Besultate, welche
28
Einleitung. 1. K. Ziel und Aufgabe. §. 8, 9.
gewonnen sind; weist auf die wichtigen weiteren Aufgaben hin; fuhrt zu den richtigen
Fragestellungen auch für die Specialarbeit ; verhütet, wozu der Specialist so leicht
geneigt ist, dass man den Wald vor lauter Bauinen nicht sieht; mahnt — auch ein
„ethisches Moment“ — die Specialforschung und ihre Jünger zur Bescheidenheit, in-
dem sie ihr die oft für das Ganze der Wissenschaft so geringfügige Wichtigkeit ihrer
„Forschungsergebnisse“ klar macht; die Neigung zur Ueberschätzung desseu, was der
eigenen Schulrichtung angehört, zur Unterschätzung dessen, was einer anderen Rich-
tung zu verdanken ist, auf die sachliche Berechtigung prüft.
Man wird sonach bei objectiver Betrachtung zugeben müssen,
dass hier wie überall zusammen fassende und Special-
arbeit neben einander her zugehen haben, keine der
anderen entbehren kann, beide gleich werthvoll sind. Die zusammen-
fassende ist auch gewiss nicht die in Hinsicht der Geistesthätigkeit
und Geistesanspannung leichtere. Im Gegenthcil wegen ihres noth-
wendigen Durchdringens zu den leitenden Puncten, ihres geistigen
Beherrschens des Materials, ihres Umfangs und ihrer Berührungen
mit anderen Wissenschaften ist sie die weit schwierigere. Sie ist
endlich jedenfalls auch diejenige, welche die Führung hat, wie
insbesondere auch die Geschichte der Politischen Oekonomie in
dem Einfluss der Werke der grossen Systematiker und derjenigen
Autoren, welche mit den grossen Principienfragen sich beschäftigen,
aller Werthlegung auf die monographische und specialistische Lite-
ratur uueraehtet, deutlich zeigt.
§. 9. Das Zusammenwirken verschiedener Autoren
auf dem Gebiete der zusammen fassenden Arbeiten in
Sammelwerken. Bei der Grösse und Schwierigkeit der zusammen-
fassenden Arbeit in der Socialökonomie und der auch auf diesem
Wissenschaftsgebiete eingetreteuen und sich immer mehr entwickeln-
den Specialisirung der Studien steht man nun freilich auch hier
wie in anderen grossen Fachwissenschaften vor einem Dilemma.
Je mehr ein Einzelner für das ganze Gebiet die zusammen-
fassende Arbeit allein oder grössteutheils für sich zu leisten sucht,
desto mehr versagen natürlich seine Kräfte, desto .weniger wird er
auf allen Theilen des Gebiets, was er freilich auch für die Bewäl-
tigung der zusammenfassenden Arbeit und für die genügende
Leistung darin in einzelnen Theilen sein muss, selbst Specialist
sein können. Desto langsamer kann seine Arbeit, wenigstens bei
einem im grossen Styl angelegten umfänglichen Werke, vorrücken.
Desto unwahrscheinlicher wird sie nach den gegebenen Verhältnissen
der Lebensdauer, der Arbeitskraft und der für eine solche Arbeit
dem Einzelnen verfügbaren Arbeitszeit vollendet werden. So werden
grosse umfassende, ins Einzelne gehende Werke aus der Feder
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Zusammenwirken verschiedener Autoren.
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Eines Autors allein auch bei dem heutigen Stande der wissen-
schaftlichen Arbeit auf dem Gebiete der Politischen oder Social-
ökonomie immer schwieriger.
\v asRau seinerzeit für ein übrigens auch viel kleiner, mehr noch als Grundriss
angelegtes Werk noch leisten konnte, ist eben heute bei der seitdem eingetretenen
Entwicklung und Specialisirung der Wissenschaft für Einen Mann allein kaum mehr
möglich. Die Rau, die Koscher, die Stein sind freilich auch selten gesät. Selbst der
Bienenfleiss eines Roscher hat über ein Menschenalter gebraucht, sein grosses Werk
so weit zu fordern, wie es jetzt in den vier Theilen vorliegt. Ganz fertig ist es immer
noch nicht und in der Anlage ist es ausserdem auf einen viel kleineren Umfang be-
stimmt. geht es anf Einzelnes nicht genauer ein. Die „principielle Erörterung“ fehlt
ihm grossentheils, gerade sie erfordert besonderen Raum, wird aber freilich auch in.
E. allein den verschiedenen Seiten eines Problems erst gerecht. Der geniale L. Stein
war sicher bis in sein hohes Lebensalter auch ein Mann von seltener Arbeits- und
Verarbeitungskraft, wie seine umfangreichen, zuin Thcil, wie die kleine Verwaltungs-
lehro und die Finanzwissenschaft, in mehreren Auflagen (3, bezw. 5) erschienenen,
darin immer stark um- und überarbeiteten Werke , neben den zahlreichen kleineren,
Aufsätzen, Zeitungsartikeln u. s. w., zeigen. Aber auch er ist trotz seiner Arbeitskraft,
seiner Fähigkeit zum Formuliren, und trotz seiner flüchtigen Schnellarbeit — grade
auch in seinen grossen Werken — mit seinem im grossen Styl angelegten Haupt-
werke, der grossen Verwaltungslehre, nicht fertig geworden. Andere deutsche Werke
gestatten nach Anlago und Ausdehnung keinen Vergleich. G. Cobn’s auf eine An-
zahl Bände berechnetes System ist doch von vornherein absichtlich in kleinerem Maass-
stab angelegt, aber einstweilen auch bei Colin’s grosser Arbeitskraft und schriftstellerischen
Gewandtheit doch noch nicht über die zwei Bände der Grundlegung mid der Finanz-
wissenschaft hinausgerückt. In der ausländischen Litteratur fehlt bisher ja fast
allgemein noch grade der Theil, auf den wir Deutschen besonderes Gewicht legen, die
practische Nationalökonomie, ferner die Grundlegung, eine besondere Forderung von
meinem Standpnncte aus. vielfach auch die ausgebildete Finanzwissenschaft. Die
fremden „Systeme“ sind nach Anlage. Umfang und Inhalt in unserem Sinne ,,Com-
pendien“ oder wie die vortrefflichen Arbeiten L. Cossa’s Grundrisse und kommen
als solche nicht in Vergleich.
Diese Verhältnisse und die angedeuteten inneren und äusseren
Gründe flihreu daher neuerdings auch , wie immer mehr schon
länger auf anderen grossen Wissenschaftsgebieten, zur Entstehung
von Sammelwerken, zu welchen sich v e r s c h i e d e n e A u t o r e n
für ein im grösseren Styl angelegtes Werk vereinigen, unter formaler
oder realer, doch auch in diesem Falle unvermeidlich sich in ihrer
Einwirkung grosse Beschränkungen anferlcgender Redaetion eines
Einzelnen oder einer Redactionsgesellschaft: das Priucip der der
heutigen Specialisirung jeder Fachwissenschaft entsprechenden
Arbeitsteilung von förmlichen Encyclopädieen , wo es schon
lange eingebürgert war, nun auch auf die zusammenfassende Arbeit
in der einzelnen Wissenschaft übertragen. Ein immerhin wissen-
schaftsgeschichtlich bemerkenswerthes Entwicklungsstadium. Der
unverkennbare äussere Erfolg dieses Vorgehens ist freilich nicht
allein entscheidend, aber er beruht doch, zum Theil wenigstens,
auch mit auf guten sachlichen Gründen.
Abgesehen von den „Staatslexicis“, „Staatswörterbüchern“ (Rotteck und Welcker,
Blantschli a. A.), die grade auch zahl- und umfangreiche volkswirtschaftliche Artikel
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Einleitung. 1. K. Ziel und Aufgabe. §. 9, 10.
gebracht haben, ist auf verwandtem Gebiete zu erinnern an die v. Holtzendorffschen
Unternehmungen (Encyclopädie der Rechtswissenschaft, Strafrecht), das End emann’schc
Handelsrecht, das grosse quellenreiche Marquardsen’sche Handbuch des öllentlichen
Rechts, das Binding’sche Unternehmen; dann auf dem Gebiete der Politischen
Oekonomie namentlich au das Schönbcrg'sche Handbuch der Politischen Oekonoinie,
welches besonders gut eingeschlagen und in 9 Jahren bereits zur 3. Auflage, nun-
mehr in 3 starken Räuden , gediehen ist, ferner an das ausserordentlich umfang- und
inhaltreiche, im Erscheinen begriffene Handwörterbuch der Staatswissenschaften unter
der Redaction von Conrad, Elster, Lcxis, Löning, das zu der lexiealiseben
alphabetischen Form zurnckgekehrt ist. Dem Vernehmen nach wird von Seiten einiger
Anhänger der „historischen“ Nationalökonomie trotz aller ablehnenden Haltung gegen
die zusammenfassende, die „systematische“ Arbeit, doch nunmehr auch ein derartiges
zusammen fassendes Sammelwerk vorbereitet, unbekümmert um den Widerspruch mit
der Auffassung eines Führers dieser Richtung, wonach es noch wenigstens ein paar
Menschenalter dauern soll, bis derartige Arbeit neben der specialistischen und mono-
graphischen wieder am Platze sei. Aus der fremden Litteratur seien die französischen
„dictionnaires“ von Block, das im Erscheinen begriffene „nouveau dictionnaire d'economie
politique“ von L. Say und Challey, das vollends gross angelegte „dictionnaire de
iinances“ von L. Say, Foyot und Lanjalley erwähnt.
Die Hauptvortheile, w'elche auch den äusseren Erfolg dieser Sammelwerke mit
erklären und ihn gerechtfertigt erscheinen lassen, liegen auf der Hand: die Ver-
einigung vieler Kräfte, welche auf ihrem Gebiete Specialisten sind, der rasche Fort-
gang der Arbeit bei einem solchen System der Arbeitsteilung, die baldige Vollendung
auch bei grossen umfassenden Werken, das schnellere Bedürfniss nach neuen Auflagen
auch bei grossen kostspieligen Werken, w'o sich daun auch eine innere sachliche Ver-
vollkommnung durch die vereinigte Arbeit Vieler mit geringerer Muhe herbeiführen
und immerhin die Einheitlichkeit etwas fördern lässt. Gewiss bedingen freilich,
vollends bei dem hierauf berechneten mechanisch-alphabetischen System, das moderne
Bedürfniss und die übermässige moderne Neigung, ein Werk bloss „zum Nachschlagen“,
zu rascher , tluchtiger Orientirung zu haben , den äusseren Erfolg dieser als „Nach-
schlagewerke“ mit dienenden Sammelwerke wesentlich mit. Insofern fördern die
letzteren nicht grade immer das ein zusammenhängendes Durchlesen und Durch-
denken eines grösseren Werks verlangende solide wissenschaftliche Studium. Auch
die Neigung zur Beschränkung auf Specialitäten wird aus den Kreisen der Wissen-
schaft leicht auf immer weitere Kreise durch diese Werke übertragen: gleichfalls
keine unbedenkliche Folge.
Indessen der diesen Werken anklebende Hauptmangel ist noch ein anderer:
die ungenügende, wenn nicht ganz fehlende Einheitlichkeit, die Lücken, die
Widersprüche. Dieser Mangel ist nicht völlig zu beseitigen, auch nicht von einer
wirklich thätigon Redaction, deren Macht ihren Mitarbeitern gegenüber doch unver-
meidlich beschränkt ist. Je mehr Mitarbeiter, je mannigfaltiger die Standpuncte, je
mehr die Abweichungen unter einander, desto mehr geht natürlich die Einheitlichkeit
in die Brüche. Daraus ist weder der Redaction noch den Mitarbeitern ein Vorwurf
zu machen: der Fehler liegt in der Aufgabe selbst, die Aufgabe aber ist durch die
Entwicklung auch der Einzel Wissenschaften gestellt worden. Auch die grosse Un-
gleichmässigkeit der Einzelarbeiten in formeller Hinsicht, in Umfang, Behandlungs-
weise lässt sich nicht genügend abstellen. Selbst die nahe Verwandtbeit der Richtung,
der Auffassung, des principiellen , des methodologischen Standpnncts hilft Uber diese
Schwierigkeiten nicht hinweg. Es sind eben doch immer verschiedene Menschen
und — Gelehrte, welche hier Zusammenwirken und dabei nnmöglicb oder nnr zum
Schaden der Sache das Beste opfern können, was sie haben, ihre geistige Individualität.
Man muss daher bei Sammelwerken mehrerer Autoren die Ansprüche in den au-
gedeuteten Beziehungen beschränken und die unausbleiblichen Mängel in Betreff der
Einheitlichkeit durch die erwähnten unverkennbaren Vortheile aufgewogen annehmen.
Je geringer die Anzahl der Mitarbeiter, je mehr dieselben wenigstens in gewissen
Grundanscliauungcn über Methode, Aufgabe, Ziel Ubereinstimmen, je mehr die Ver-
keilung des Stoffs unter ihnen den Specialstudien, der Anlage, der Neigung eines
Jeden entspricht und — das Wichtigste von Allem — je mehr die von dem Einzelnen
bearbeiteten Theile selbständige Glieder und insofern einigermaassen wieder je
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Arbeitsteilung; in Sammelwerken und in diesem Werke.
31
ein kleines Ganzes für sich darstellen, desto mehr werden die Vortheile des
Zusammenwirkens die Nachteile überwiesen und namentlich die Einheitlichkeit nicht
g3r zu sehr stören. Freilich bedingt aber eine kleinere Anzahl Zusammenarbeiteuder
wieder eine Uebernahme grösserer Theile des ganzen Werks durch den Einzelnen,
welcher dann nicht leicht in dem ganzen von ihm Übernommenen Gebiete gleich-
massig Specialist seiu wird.
§. 10. Arbeitsteilung in Sammelwerken der Poli-
tischen Oekonomie und speciell in diesem Werke,
ln der Politischen Oekonomie liegt es nahe, nach den üblichen
drei grossen Ilaupttheilen , der theoretischen, allgemeinen,
der practischen, speciellen Volks wirthschafts lehre
und der Finanzwissenschaft und dann etwa weiter auf dem
grossen Gebiete der speciellen Volkswirtschaftslehre nach den
näher zusammenhängenden Gegenständen den Stoff
unter mehrere Mitarbeiter zu vertheilen, ln der speciellen National-
ökonomie trennen sich die Einzelgebiete wieder nach sachlichen
und mit Rücksicht auf die Arbeitsteilung der Studien auch nach
persönlichen Gesichtspuncten und können demnach eher von ver-
schiedenen Personen bearbeitet werden. Aehnlicbcs würde von der
Finanzwissenschaft gelten. Bei einem solchen Vorgehen werden
auch die verbleibenden Mängel in Bezug auf Einheitlichkeit geringer
werden können und weniger stören.
Schwieriger und misslicher ist eine Theilung des allge-
meinen theoretischen Theils unter verschiedene Mitarbeiter
und sonach die in der nunmehrigen Bearbeitung dieses Werks
erfolgte Trennung der „Grundlegung“ von der theoretischen National-
ökonomie und die Uebernahme dieser beiden Theile durch ver-
schiedene Personen. Denn gerade hier ist die Einheitlichkeit der
Auffassung, Behandlung, Durchführung am Meisten Bedürfnis.
Wenn anderseits hier auch die zahlreichsten Berührungen mit allen jenen anderen
Wissenschaften vorliegen, welche die Lösung der Aufgabe dem einzelnen Autor so
erschweren, so wiegt selbst das daraus abgeleitete berechtigte Bedenken, dass ein
Einzelner für sich dieser Schwierigkeiten weniger als mehrere vereint Herr werden
dürfte, nicht so schwer, als das andere Bedenken, grade hier die nothwendigo Ein-
heitlichkeit bei einer Theilung der Arbeit unter verschiedene Personeu zu sehr ge-
fährdet zu sehen.
Ich gestehe daher zu, dass nur besondere Umstände diese
Theilung der Bearbeitung der Grundlegung und der theoretischen
Nationalökonomie unter verschiedene Personen in diesem Werke
rechtfertigen, können und dass das angedeutete Bedenken nicht
ganz verschwindet.
Diese Erwägung hatte mich auch früher bestimmt, wenigstens die Grundlegung
und die theoretische Nationalökonomie für mich zu reserviren und sie allein zu be-
arbeiten. Indessen die Ueberzcugung . die ich nach längerer Erfahrung gewinnen
musste, dass meine Kraft und Zeit für eine auch hier geplante eingehende und umfang-
4
i
32
Einleitung. 1. K Ziel und Aufgabe. §. 10, 11.
reiche Behandlung dieser Theile des Werks nicht ausreichen würde, — zumal neben
der Oebernahme andrer Theile, wie vor Allem der Finanzwissenschaft und des Ver-
kehrswesens, auf deren Gebieten ich mich am meisten als Specialist fühlen darf uud
wovon ich die Finanzwissenschaft schon grossentheils fertig gestellt hatte — diese
Ueberzeugung bestimmte mich doch . meine Bearbeitung auf die Grundlegung nun-
mehr zu beschränken. Da es mir gelungen ist, als Bearbeiter für die theoretische
Nationalökonomie einen mir in Richtung und Methode besonders nahe stehenden
Gelehrten, welcher sich mit diesem Theile mit Vorliebe beschäftigt hat, zu gewinnen,
darf ich auch hollen, dass zwischen der Grundlegung und diesem anderen Theile des
Werks keine zu grossen Differenzen in der Gesammtauffassung hervortreten. Völlig
worden dieselben freilich hier wie auch zwischen mir und den anderen Herren Mit-
arbeitern in unseren verschiedenen Theilen und diesen Herren unter einander nicht zu ver-
meiden sein. Das muss man bei einem Sammelwerke verschiedener Autoren hinnehmen.
In der practischen Nationalökonomie und in der Finanzwissenschaft werden etwa sich
zeigende Mcinungsdifferenzen übrigens auch bei der grossen Relativität aller Ansichten,
welche grade hier anzuerkennen ist, weniger bedenklich.
Mehr stören kann wieder die verschiedene Auffa«sung zwischen den Bearbeitern
der Grundlegung, der Theorie einer- und anderseits der Literaturgeschichte.
Erwünscht wäre deshalb gewiss wieder die Bearbeitung der letzteren durch den Be-
arbeiter der Grundlegung und der Theorie, um der grösseren Einheitlichkeit der
Auffassung Willen. Indessen fühlte ich mich hier nicht Specialist genug und wagte
es nicht, neben den anderen umfänglichen von mir übernommenen Arbeiten an diesem
Werke mit Rücksicht auf Kraft, Zeit und Lebensdauer die Literaturgeschichte selbst
mit zu übernehmen, da ich nicht sicher war, ob es mir möglich sein würde, die
erforderlichen weiteren Specialstudien in absehbarer Zeit zu Ende zu führen.
§. 11. Die geistige Individualität der Gelehrten
als Factor ihrer Arbeitsweise. Bei den im Vorausgehenden,
namentlich in den letzten vier Paragraphen behandelten Puncten
und Fragen ist Eines Umstands noch nicht näher gedacht worden,
welcher doch gerade für jede wissenschaftliche Arbeit von ent-
scheidender Bedeutung ist. Er hat bisher auch selten gebührende
Würdigung, in der Regel gar keine weitere Beachtung gefunden.
Ich meine: die geistige Individualität jedes einzelnen
Mannes der Wissenschaft und wissenschaftlichen Schriftstellers, wie
sic nicht nur im selbstverständlich so verschiedenen Maasse,
sondern vor Allem auch in der naturgegebenen Art seiner
Anlage, Begabung, und wesentlich davon abhängig in seiner wissen-
schaftlichen Methode und Arbeitsweise, seiner Neigung, Richtung,
seinem Studiengang, seinen Studienobjecten hervortritt und schliess-
lich doch seine ganze geistige Arbeit beherrscht. In der Kunst,
wo es freilich offener liegt, im practischen Leben und Wirken ist
die Bedeutung dieses Factors weniger verkannt worden. In der
Wissenschaft glaubt man sie ignoriren oder das Mitspielen eines
solchen Factors selbst für unerlaubt halten zu sollen. Aber er
lässt sich einmal nicht eliminiren.
Namentlich bei deu üblichen Schu (Streitigkeiten über die ,, richtige Methode*1,
wie 'sie neuerdings auch in der deutschen Nationalökonomie so anmuthig geführt
werden, in der einer bestimmten sreistigen Individualität entsprechenden litterarischen
Kritik der Arbeiten anderer „Richtungen“ zeigt sich die Ignorirung oder falsche Be-
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(ieistigc Individualität und Arbeitsweise.
33
ortheilung des Mitspielens jenes Factors in recht unerfreulichen Folgen: hochmütiges,
bornirtes. schulmeisterliches Absprechen über andersartige Leistungen, als die eigenen
Qod der der geistesverwandten Freunde, Beurtheilung aller litterarischen Arbeiten
immer nur an dem Maassstab der eigenen geistigen Individualität, die damit wie selbst-
verständlich zur allein berechtigten gemacht und zur Alles allein entscheidenden —
.päpstlichen“ — Instanz erhoben wird, was denn manches Weitere, auch für die
äasseren Lebensverhältnisse und persönlichen Bestrebungen nicht Unwichtige, aber
reuig Erwünschte mit sich führt.
Man wendet freilich wohl ein, die wissenschaftliche Methode
sei etwas durchaus Objectives, nichts Subjectives, die
„richtige“ Methode sei durch Lehre und Beispiel übertragbar und
müsse im Interesse „wahrer Wissenschaft“ übertragen werden,
was „Duldung“ in der litterarischen Kritik u. s. w. gegen Ver-
treter „falscher“ Methode ausschliesse.
So wird etwa gegenwärtig seitens der „historischen Nationalökonomie“ das Auf-
treten gegen die rückständigen Anhänger veralteter „Schuldogmatik“, Seitens „historisch-
psychologisch inductiver Forscher“ gegeu die alten Sünder der „abstracten Deduction“,
Seitens der Specialisten und Monographen gegen die Systematiker, zumal gegen die,
welche mit unzulänglichen Mitteln weit verfrüht „Systeme zusammenschmiedeten“,
..Theorieen construirten,“ zu rechtfertigen, mindestens zu entschuldigen gesucht.
Allein nicht nur liegt hier eine besten Falles sehr übertriebene
Geringschätzung einer anderen als der eigenen Methode und eine
gleich übertriebene Uebersehätzung der eigenen Methode und deren
Leistungsfähigkeit vor, — m. E. auch eine confuse methodologische
Auffassung und Stellung, mit in Folge der unzulänglichen Unterschei-
dung der verschiedenartigen Aufgaben der Wissenschaft (§. 55 ff.) — :
selbst davon abgesehen, ist es eben ein Irrthum, dass die Me-
thode und alles, was mit ihr in Betreff der wissenschaftlichen Auf-
fassung, Stellungnahme, Aufgabestellung u. s. w. zusammenhängt,
etwas so durchaus Objectives, durch Lehre Uebertragbares sei.
Die Methode und Arbeitsart eines Jeden ist wesentlich mit bedingt
durch seine geistige Individualität, die der Einzelne so wenig wie
seine physische Eigenart abstreifen kann. Dass er danach in
bestimmter Weise arbeitet und nach dem ihm innewohnenden
eigenen Maassstab die Arbeit Anderer beurtheilt, ist daher auch
nicht zu tadeln. Was aber bei aller Anerkennung einer gewissen
..Naturgebundenheit“ auch der einzelnen geistigen Individualität
verlangt und auch erreicht werden kann, ist nur, dass Jeder sich
der Grenzen, die ihm hiernach gesteckt sind, bewusst wird und
dass er den seiner eigenen Individualität entsprechenden Maassstab
anderen Individualitäten gegenüber nicht für den allein richtigen
hält. So wird grössere Gerechtigkeit gegen Andere, aber auch gegen
«ch selbst und die Erkenntnis erreicht werden, dass gerade auch
auf wissenschaftlichem Gebiete die Leistlingen, welche von der
Tagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Tliell. Grundlagen. 3
34
Einleitung. 1. K. Ziel und Aufgabe. §. 11, 12.
Verschiedenheit der geistigen Individualität abhängen, sich
zu ergänzen haben, — nach dem alten Worte: es sind mancher-
lei Gaben, aber es ist Ein Geist. Nur so wird man, im wahren
Interesse der Wissenschaft, dahin gelangen, dass ein Problem nach
den verschiedenen Seiten, welches es bietet, genügend behandelt
wird. Wenn in irgend einer Wissenschaft, so ist das aber in der
Politischen Oekonomie als einer Socialrkonomie wichtig.
Der leidige, hüben und drilben einseitig und verbitternd, mit verlet/endem Hocli-
muth und engem Blick aber am Meisten von der jüngeren deutschen historischen
Schule — z. B. in den ürtheilen über Ricardo, über die neuere verdiente österreichische
„deductive Schule“ — geführte Methoden streit liefert zahlreiche Belege für das
Gesagte. Die Einen werfen den Anderen vor, dass sie einseitig „deductive“, „dogma-
tische“, die letzteren jenen, dass sie einseitig „inductive Köpfe“ seien. Hiermit be-
stätigen sic nur die Wahrheit, dass grade in dieser Hinsicht die geistigen Individuali-
täten nach ihrer Naturanlage sich oben unterscheiden. Daraus sollte man entnehmen,
wie gleichfalls aus einer unbefangenen Prüfung des Wesens, der Vorzüge, der Mängel
jeder der beiden Hauptmethoden, aus einer Untersuchung der Voraussetzungen beider,
der Anwendbarkeit derselben je nach den speciellen Aufgaben, welche vorliegen, folgt,
dass beide Methoden und die mit ihnen Arbeitenden sich zu ergänzen
haben. Statt dessen glaubt der Eine auf den Anderen herab sehen zu können,
weil er anders argumentirt , anders arbeitet, sich andere Kragen , der Wissen-
schaft andere Aufgaben zur Lösung stellt, als er!
Gewiss ist der „ideale“ wissenschaftliche Kopf derjenige, welcher in sich die
Eigenschaften des deductiven und inductiven Kopfes gleiclnnässig vereinigt. Aber
solche Ideale schafft die Natur auch im geistigen Leben nur in den aller seltensten,
dann freilich phänomenalen Fällen. In der Kegel überwiegt die eine oder andere
Geistesanlage, mitunter bis zu dem Grade, dass es dem specifisch „deductiven“ oder
„inductiven Kopf“ schwer fällt, für die Beweisführung des Anderen Verständniss zu
erlangen. Nicht selten wird mit einer solchen einseitigen Beanlagung eine besondere
geistige Leistungsfähigkeit in der betreffenden Richtung verbunden sein. Aber wenn
das dazu fuhrt, der eigenen Auffassungs- und Arbeitsweise eine absolute statt einer
immer nur relativen Berechtigung beizulegen und umgekehrt etwa derjenigen des
Andersbeanlagten nicht einmal eine solche relative Berechtigung zuzugestehen, so
liegt doch eine grosse persönliche Beschränktheit vor. Dieselbe wird dadurch nicht
entschuldigt, dass sie auf „ehrlicher üeberzeugung“ beruht und wird, mit dem üblichen
Hochmuth gegen den Anderen verbunden, vollends unentschuldbar.
Gewiss hängt es mit dieser naturgegebenen Verschiedenheit der geistigen Anlage
zusammen und ist insofern in gewissen Grenzen auch berechtigt, ja völlig gar nicht
anders möglich, dass ein Jeder nach seiner Anlage sich seine Aufgaben in der
Wissenschaft sucht. Auch das ist begreiflich und nicht unberechtigt, dass ein Jeder
Interesse und Werth der Arbeiten Andrer darnach bemisst, wie weit diese eben seiner
eigenen, von seiner individuellen Anlage bedingten Auffassung und Richtung ent-
sprechen: m. a. W. er wird danach unwillkührlich mehr oder weniger sympathisch
oder antipathisch zur fremden Leistung stehen. Das ist sein gutes Recht. Aber er
kommt ins Unrecht, wenn er sich verleiten lässt, sein Urtheil zum allgemein gütigen
erheben zu wollen, cs für objectiv auszugeben , während es nur ein subjectives, nicht
nach seinem Willen, aber wohl nach seiner Geistesanlage ist. Der Einzelne wird z. B.
auf dem Gebiete unserer Wissenschaft seiner geistigen Individualität nach eine de-
ductive oder eine inductive Beweisführung für überzeugender halten, für sich mit
Recht, aber als allgemeine Norm für Alle, auch für Andcrsbeanlagte, eben nicht
mit Recht.. Das möchte in der Hitze des Methodenstreits auch oft vergessen
worden sein.
Gefährlich für die Entwicklung der Wissenschaft, wie auch ethisch in so mancher
Hinsicht bedenklich, wird es vollends, wenn nun eine einer bestimmten Geistesanlage
entsprechende methodische Richtung durch An- und Zusammenschluss verwandter
„Köpfe“ zu einer „Schulrichtung“ oder „Schule“ wird, wie in Epigonenperioden
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Die Bearbeitung der Grundlegung.
35
in Wissenschaft und Kanst so leicht. Dann bestärkt man sich gegenseitig — „unter
sich“ — nur immer mehr in der Einseitigkeit. Die Schulrichtung fahrt zur —
„Verschulung“, wofür die Geschichte der Wissenschaften und der Künste so manche
bedauerliche Beispiele geliefert hat.
Es ist nicht überflüssig und nichts weniger als ein hors d'oeuvre in diesem
Werke und an dieser Stelle, das Vorausgehende einmal hervorzuheben, gegenüber
Tendenzen , welche sich auch in der deutschen Wissenschaft zeigen. Auch in der
Politischen Oekonomie soll dann wohl nur Eine Arbeitsweise, nur Eine Aufgabe-
Stellung gelten. Mit der Frage, von der wir ausgingen, — Beziehung von Special-
und zusam men fassender , analytischer und synthetischer, historischer und systemati-
scher, descriptiver und principiell erörternder Arbeit und Berechtigung auch immer
der zweiten in dieser Reihe neben der ersten — hängt das Gesagte auch eng genug
zusammen. Denen, an deren Adresse diese Apostrophe geht, möchte ich, das Dichter-
wort etwas verändernd, zurufen:
„Was man den Geist der Wissenschaft heisst.
Das ist am End der Herren eigener Geist,
In dem die Wissenschaft sich bespiegelt.“
Zur Herstellung eines allseitig befriedigenden wissenschaftlichen Werks im grossen
Styl über Socialökonomie sind geistige Eigenschaften, Fähigkeiten, Studien und Kennt-
nisse erforderlich, wie sie seit A. Smith wenigstens noch nicht wieder in Einer Per-
sönlichkeit in genügendem Maasse vereinigt gefunden worden sind und wie sie heute
zu vereinigen nach einer Entwicklung von vier Menschenaltern freilich auch viel
schwerer geworden ist, als zu Zeiten A. Sraith’s. Um einmal durch Namennennung
— wenigstens einiger Hauptnamen — concret zu werden: die spcculativc Abstractions-
und Coüstructionsfähigkoit und geniale Intuition eines Schäffle und L. Stein, eines
Rodbertus und Marx, die dialectische Fähigkeit beider letzteren und eines Engels,
Lassalle, die deductive Begabung und logische Schärfe eines Ricardo, Hermann,
v. Thünen, Marx. Knies, Neumann, Menger, die Tiefe und vielseitige geschichtliche
Auffassung und Bildung eines Roscher, Knies, Rodbertus, Schmoller, die Genialität
auf statistischem Gebiete eines Engel, die geniale Verknüpfung des Oekonomischen
und Politischen bei einem List, die systematische Gründlichkeit, Nüchternheit und
Objectivität eines Rau, — Alles dieses und noch manches Weitere, wie ausgedehntestes
und intensivstes Specialstudium auf allen Gebieten der Theorie und Praxis der Volks-
wirtschaft in Gegenwart und Vergangenheit, wie genaueste Fühlung mit allen den
früher genannten Wissenschaften, welche für uns als Hilfswissenschaften in Betracht
kommen, müsste sich vereinigen, um alle Ansprüche befriedigen zu können. Man
wird sich eben deshalb bescheiden müssen.
§. 12. Die Bearbeitung der Grundlegung. Zumal
für denjenigen Theil dieses Werks, welcher doch der schwierigste
nach seiner Aufgabe sein möchte, für die Grundlegung, bin
ich mir voll bewusst, dass es sich nur um Versuche handeln
kann, welche milder ßeurtheilung bedürfen.
Mit diesen Versuchen mache ich nicht den Anfang. Namentlich Schäffle ist
mir darin schon in seinem gesellschaftlichen System der menschlichen Wirtschaft mit
gutem Erfolge vorangegangen (s. n. S. 42 ff.) Er und Rodbertus (s. u. S. 39 ff.) sind die
beiden zeitgenössischen Schriftsteller, welchen ich mich für Anregungen zu Ausführungen,
wie denen in der Grundlegung, am Meisten verpflichtet fühle, ln wichtigen Lehren, be-
sonders in denjenigen über die Organisation der Volkswirtschaft, speciell über das gc-
meinwirthscbaftliche System schliessc ich mich näher an Schäffle an. Auch Knies’
Hauptwerk bin ich besonderen Dank schuldig. Dasselbe ist in einer Hinsicht ebenfalls als
ein Versuch einer Grundlegung, welcher von einem anderen wissenschaftlichen Stand-
puncte ansgebt, anzusehen. Diesem Standpunctc stehe ich aber nicht so fern, als
es scheinen könnte.
Meinem wissenschaftlichen Standpuncte gemäss strebe ich auch
in der „Grundlegung“ nach systematischer Behandlung und
3*
36
Einleitung. 1. K. Ziel und Aufgabe. §. 12.
unter gewissen Voraussetzungen und in gewissen Grenzen nach
dogmatischer Formulirung und abstracter Fassung der
Ergebnisse der Untersuchung.
Dies Bestreben, wie das ähnliche Schäffles, erfährt zwar von der jüngeren
deutschen historisch-nationalökonomischen Richtung den Vorwurf, es sei nicht richtig,
die veraltete Schuldogmatik durch eine neue „Dogmatik“ zu ersetzen, statt sich auf
Darstellung des historischen Verlaufs der wirthschaftlichen Erscheinungen und Ent-
wicklungen zu beschränken, neue unhaltbare und mindestens verfrühte Versuche der
Systematisirung zu machen, statt concret zu describiren, zu schildern, unreale Ab-
stractionen zu bilden. Indessen, diesen Vorwurf ertrage ich auch mit Schaff le zu-
sammen ruhig. Zur Widerlegung genügt es hier, auf das Vorausgeschickte, ferner
auf die Erörterungen im 2. Kapitel der Einleitung (besonders §. 15), sowie auf das
spätere Kapitel von Aufgabe, Methode und System im ersten Buche Bezug zu nehmen.
Im Uebrigen gilt es aber bemüht zu sein, soweit die Kräfte reichen, durch das Werk
selbst die ja nicht in jeder Hinsicht unrichtigen Bedenken zu widerlegen , welche mit
jenem Vorwurfe in Verbindung stehen1).
Besonders hervorheben möchte ich an dieser Stelle nur noch,
dass Ziel und Aufgabe, welche mir gerade in der Grundlegung
vorschweben (§. 7), die principielle Widerlegung der ,, britischen
Oekonomik“, des „Systems der freien Concurrenz“ und die Er-
setzung dieser Lehre durch eiue besser fundamentirte Socialökono-
mie, der individualrechtlichen durch eine socialrechtliche Auffassung
der wirthschaftlichen Rechtsordnung, unbedingt systematische
Behandlung, dogmatische Formulirung und abstracte Fassung
der Ergebnisse fordern.
Nur diese, nicht die „historische Darstellung“ der Entwicklung einzelner
wirtschaftlicher Erscheinungen und Einrichtungen, auch nicht die kritische Analyse
und Beurteilung einzelner wirtschaftlicher, socialer Zustände, endlich auch nicht die
Erörterung einzelner Keformfragen kann das leisten. In der Grundlegung handelt es
sich vomemlich um zwei freilich eng zusammenhängende, aber doch theoretisch und
practisch zu unterscheidende Reihen von Problemen, nicht nur um zwei einzelne
Probleme: um die allgemeinsten Principienfragen einmal der Organisation, zweitens
der Rechtsordnung der Volkswirtschaft. Die Beschäftigung mit diesen Problemen
uud, so weit das in der Wissenschaft möglich ist, die Lösung derselben, führt not-
wendig zu der Behandlungsweise des Gegenstands nach den augedeuteteu Zielpuncten.
*) Vgl. unten in §.16 das über Schmoller Gesagte und dessen dort er-
wähnte bezügliche Ausführungen. Den Schmollcr’schen verwandte Ansichten bei
einem meiner Kritiker, A. Held, „Uber einige neuere Versuche zur Revision der
Grundbegriffe der Nationalökonomie“, Hildebrand’s Jahrbücher 1876, B. 27, S. 144 ff.
Ebendaselbst aber auch eine andere Stimme hierüber, H. v. Scheel, 1877, B. 28,
S. 131. Ob meine Vorwürfe über die überhebendc Art der jüngeren historischen
Richtung gegenüber anderen Richtungen und Arbeitsweisen unbegründet sind, mag ein
Citat einer neuesten bezüglichen Aeusserung G. Schmoller’s beantworten. Derselbe
sagt (Preuss. Jahrbücher, 1 802, I, 458): „Leben wir doch in einer Zeit, in der, um
mit Taine zu reden, die wissenschaftlichen Operationen auf dem Gebiete der Moral-
und Staatswissenschaften nicht mehr, wie es wünschenswerth wäre, ausschliesslich in
den Händen von geschickten , scharfsinnigen und vorsichtigen Geschichtsforschern.
Rechtgelehrton und Volkswirthen ruhen, sondern ebenso sehr in denen von Stuben-
gelehrten, Dilettanten und öffentlichen Marktschreiern. Die Folge sind halbfertige Ent-
würfe von Wissenschaften, voreilige Systeme, ,, „heillose Compositioncn und mörderische
Explosionen““ — Sapienti sat.
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37
Zweites Kapitel.
Verhältnis zu anderen Standpuncten und litterarische
Nachweisungen für die Grundlegung.
§. 13. Der Socialismus. Der Standpunct dieses Werks
steht in der historischen Grundauffassung des Wirtschaftslebens
als eines mit der wirtschaftlichen Rechtsordnung in Wechsel-
wirkung stehenden Entwicklungsprocesses und in der Kritik der
Theorie und Praxis des ökonomischen Individualismus dem wissen-
schaftlichen Socialismus nabe, er deckt sich aber auch in diesen
Puncten nicht mit ihm. Er w’eicht noch mehr und principiell von
ihm ab in den positiven Lehren und Forderungen hinsichtlich der
der Annahme nach naturnotwendigen Weiterentwicklung der heu-
tigen privatkapitalistischen Wirthschaftsperiode zur voll und ganz
socialistischen , auf der Grundlage des alleinigen gesellschaftlichen
Gemeineigentums an den sachlichen Productionsmitteln , Boden
und Kapital, d. h. zur rein gemeinwirtschaftlichen statt der privat-
wirthschaftlichen oder der combinirt gemein- uud privatwirtbschaft-
lichen Organisation.
Der wissenschaftliche Socialismus, und zwar vornemlich doch erst in der ihm
durch die Deutschen gegebenen Form uml tieferen Begründung, der Verdienste der
früheren Engländer uud Franzosen unbeschadet1), hat in der Unterscheidung der rein-
ökonomischen und der historisch - rechtlichen Auffassung und der bezüglichen Kate-
gorieen des Wirtschaftslebens , im Nachweise der Wechselwirkung zwischen Hecht,
auch Privatrecht und Wirthschaft, in der Darlegung des Einflusses der Productions-
technik auf Wirthschaft und Hecht, in der Aufdeckung und Erklärung der für die
grossen geschichtlichen Entwicklungsperioden der Volkswirthschaft und damit schliess-
lich auch der Politik und Cultur mit maassgebenden materiellen Factorcn sich m. E.
unzweifelhafte Verdienste ersten Hangs erworben , auch hier grössere als irgend eine
andere Richtung der neueren Nationalökonomie. Gerade den vom Socialismus aus-
gehenden Anregungen entspringt das Bedürfniss, die alte mehr noch privat ökono-
mische „Politische*" in eine wahre „Socialökonomio“ hinüberzubilden und er,
der Socialismus, giebt dazu auch die wichtigsten Hilfsmittel an die Hand.
x) So hoch ich Anton Monge r ’s Schrift „das Recht auf den vollen Arbeits-
ertrag1* (s. u. §. 14) auch bezüglich der litterarhistorischeu Seite schätze, so glaube
ich doch. Menger thut Rodbertus und Marx Unrecht mit dem Vorwurfe, sie hätten
„ihre wichtigsten socialistischen Theorieeu englischen und französischen Theoretikern
entlehnt, ohne die Quellen zu nennen** (s. Vorwort zu Menger's Schrift), was ihm zu
beweisen auch nicht gelingt. Aehnliche, ja gleiche Ideen uud selbst diesen an-
gemessene sehr ähnliche Fassungen beweisen das noch nicht. (S. a. a. 0. 1. Aull.
S. 53.) Ebensowenig wird Menger darin beizustimmen sein, dass Rodbertus und
Marx „von ihren Vorbildern an Tiefe und Gründlichkeit bei Weitem übertroflen
wurden“. Auch für Proudhon haben ja Andere mitunter alles Verdienst in Anspruch
genommen, das gewöhnlich Rodbertus und Marx zugeschrieben wird. Diese beiden
sind es aber doch vornemlich. welche den „Socialismus“ als ökonomische Doctrin
begründet und von dem Phantastischen und Vagen der nicht- deutschen früheren
Socialisten losgelöst, ihn zu einem nationalökonomischen System erhoben haben.
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Einleitung. 2. K. Andre Standpuncte. Litteratur. §. 13.
Meine wesentlichen und principiellen Abweichungen vom Socia-
lismus ergeben sich schon aus dem Früheren (§. 2, 3) und werden
in diesem ganzen Werke überall näher hervortreten. Sie betretfen
die einseitige und tibertreibende Hervorhebung des leiten-
den Gedankens der „materialistischen Geschichtsauffassung“, ferner
die vollends einseitigen Consequenzen , welche aus letzterer zur
Erklärung der geschichtlichen Entwicklung des Wirtschaftslebens
und gar erst des ganzen Gesellschafts-, Cultur- und geistigen Lebens
gezogen werden. Alle anderen Factoren, selbst Volksanlage, Reli-
gion und die von ihr ausgehenden Motive und die Legion sonstiger
Umstände ignorirt der in jener materialistischen Geschichtsauffassung
befangene Socialismus oder er leugnet ihre Selbständigkeit oder er
sucht sie gar in gewaltsamster Weise auf die materiellen, tech-
nischen, wirtschaftlichen Verhältnisse und Zustände allein zurtick-
zuftihren: eine Prokrustesmanier 1). Meine Abweichungen sind end-
lich, in Zusammenhang mit dem eben Gesagten und nach den
früheren Ausführungen vor Allem psychologischer Art.
Wesentlich daraus folgt für mich die Unmöglichkeit, dem Socialismus in
seinen m. E. vor Allem psychologisch unhaltbaren Consequenzen bezüglich der
Weiterentwicklung von Volkswirtschaft und Rechtsordnung und in seinen „zukunftstaat-
lichen“ Phantasieen mich anzuschliessen. Ich kann nicht zugeben, dass hier der
Socialismus den Weg „von der Utopie zur Wissenschaft“ (Kr. Engels! schon zurück-
gelegt hat, sondern linde ihn noch tief in der Utopie stecken geblieben. Das hindert
mich nicht, auch hier Einzelnes als erwägenswert und ausführbar anzusehen, mehr
als andere meiner Kachgenossen , oder, in der Terminologie des Tages, „Staats-
socialist“, nicht „voller (radicaler) Socialist“ zu sein2).
Auch alle diese Vorbehalte uud Abweichungen hindern mich
ebensowenig, den hohen, vor Allem kritischen — aber nicht nur
kritischen — Werth der deutschen socialistischen Hauptlitteratur
für die Fortbildung der Politischen Oekonomie zur Socialökonomie
anzuerkennen. Die Schriften von Rodbertus, Marx, Engels,
Lassalle sind ein Ferment ohne Gleichen. Die’ jüngeren socia-
listischen Theoretiker haben freilich im ausgeprägtesten und un-
günstigsten Maasse, litterargeschichtlich betrachtet, den Charactcr
des blossen Epigon enth ums, einer „Schule“, ja einer „ver-
*) Zeuge des mehr noch Engels als schon Marx, vollends aber beider .jüngere
Schule“, wie sie z. B. in der „Neuen Zeit“, in der „Volkstribüne“ sich äussert.
*) Ich beziehe mich hierfür ausser auf dies Werk auf meine beiden Aufsätze
„Finanzwissenschaft und Staatssocialismus“ in der Tübinger Zeitschr. f. Staatswissen-
schaften. B. 43. 1887. eine polemische Auseinandersetzung mit Roscher und besonders
mit L. Stein zu Gunsten des Staatssocialismus. S. ferner verschiedene principielle
Ausführungen in meiner Finanzwissenschaft, so I. 3. Aufl. §. 27, S. 45 ff. , und II,
2. Aufl. S. 207 ff., 381 ff, sowie meinen Aufsatz über „sociale Finanz- und Steuer-
politik“ iu Braun s Archiv f. soc. Gesetzgebung B. 4. 1891 und meine Rede über das
neue socialdcmokratische Programm auf dem evangelisch-socialen Congress (April 1892).
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Der Socialismus. Litteratur.
39
schulten“ Secte. Aber einzelne Talente, wenn auch, wie Bebel,
stark dilettirende, fehlen sicher auch hier nicht.
Der üble Einfluss des politischen Parteilebens , der agitatorischen Verwerthung
der wissenschaftlichen Doctrin tritt hier grell zu Tage: eine Unduldsamkeit gegen alle
anderen Richtungen, gegen die „Bourgeoisökonomen“, ein bomirtes, hochmüthiges
Absprechen über alles, was nicht auf den Socialismus als Wissenschaft schwört, eine
Verhöhnung aller abweichenden Meinungen, die auch immer nur auf Mangel an Con-
sequenz oder an geistiger Fähigkeit oder gar an moralischem Muthe zurtlckgefuhrt
werden. Auch hier sind es, wie gewöhnlich, die Jüngsten, „die Neusteu, die am
Meisten sich erdreusten“, — wieder der alte gemeinsame Zug des „Menschenthums1*.
Das giebt nicht gerade einen guten Vorgeschmack für die „Freiheit der wissenschaft-
lichen Forschung** im social is tischen Zukunftsstaate und für den wissenschaftlichen
Fortschritt in diesem, — und eine Weiterentwicklung in Wissenschaft und Leben
würde doch auch gerade nach der „Evolutionstheorie“ und „materialistischen Geschichts-
auffassung“ hier eintreten müssen! Es offenbart sich so schon die Gefahr, dass der
Socialismus aus einer „Wissenschaft“ eine — Glaubenslehre werde, der Lehrsatz
zum Dogma. Nebenbei bemerkt: diejenige Seite des Socialismus, welche auch prac-
tisch die gefährlichste Folge der socialdemokratischen Agitation sein möchte.
Wir beschränken uns hier absichtlich auf Angaben über die deutsche socia-
listische Litteratur, weil gerade diese für die in die Grundlegung gehörenden
Fragen allgemeinere Bedeutung gewonnen hat Für die sonstige, namentlich eng-
lische und französische, muss hier auf die Litteraturgeschichte verwiesen werden.
Ueber die ältere englische hat Anton M enger jüngst neue Aufschlüsse gegeben
(S. 3" Note 1). Auch hier gilt, was Eingangs (§. 1) von Smith gesagt wurde: Der
entscheidende Einfluss auf die Theorie der Nationalökonomie geht von den
deutschen Socialisten aus, auch wenn dieselben nicht die ersten Vertreter dieses
Standpuncts gewesen sind, und auch wenn sie, was ich freilich bestreite, an wissen-
schaftlicher Bedeutung unter den Fremden, den Engländern und Franzosen, steheu
sollten.
Vor Allen ist Rodbertus zu nennen, dessen fast sämmtliche grösseren und
kleineren, auch, wegen gelegentlicher Excurse, die practischen und historischen Ar-
beiten hierher gehören. In allen finden sich geistvolle geschichtsphilosophische, echt
socialrechtliche Ausführungen. Dieselben behaupten ihren Werth auch für denjenigen,
welcher, wie ich, in wichtigen Principienpuncten und Theoremen, so in der Lehre
von der Grundrente, von der Krisis, in der Bevölkerungslehre und in deu practischen
Vorschlägen Rodbertus vielfach nicht beistimmt. S. namentlich: „zur Erkenntniss
unserer staatswirthschaftlichen Zustände**, 1. Heft, 5 Probleme, Neubrandenburg und
Friedland 1842. im Abriss von J. Zeller, mit Anhängen (auch dem 1. socialen
Brief), Berlin 1985. — Sociale Briefe an v. Kirchmann. No. 1 — 3, Berlin 1850 — 51,
No. *2 und 3 in *2. Auflage noch von Rodbertus selbst besorgt u. d. T. „zur Beleuch-
tung der socialen Frage“, Berlin 1975; 2. Aufl. dieser Ausgabe, herausgeg. von
Moritz Wirth, Berlin 1890. Neue Ausgabe des 1. Briefs, mit kleinen Aenderungen
von Rodbertus selbst,’ in „Aus dem litterarischen Nachlass von Dr. Carl Rodbertus-
Jagetzow“, heransgegeben von A. Wagner und Th. Kozak, III. Band, „Zur Beleuchtung
der socialen Frage, Theil II“, Berlin 1885, daselbst S. 93 — 192. In demselben Werke
Band II. „das Kapital, 4. socialer Brief“, Berlin 1884. S. ferner in Band III den Auf-
satz aus 1837 „Rodbertus’ staatswirthschaftliche Ideen vor 50 Jahren. Die Forderungen
der arbeitenden Classen“, S. 193 — 223. Aus den kleineren Schriften von Rodbertus
auch noch: über den Normalarbeitstag, zuerst in der Berliner Revue 1871, später in
der Tüb. Ztschr. f. Staatswissenschaft B. 34. 1878, S. 3*23 ff'., nebst Briefen von Rod-
bertus und Peters darüber, und in dem gen. Werk von Zeller, sowie in dem Sammel-
band „Kleine Schriften von Rodbertus** herausgeg. von Moritz Wirth. Berlin 1890.
Aus den practischen Arbeiten von Rodbertus s. in der Schrift „zur Erklärung und
Abhilfe der heutigen Creditnoth des Grundbesitzes“, 2 Thcile, Jena 1809 (auch in
2. Aufl. Berlin), gelegentliche Excurse. so (in der 1. Aufl.) II, S. 265 ff. Aus den
historischen Arbeiten über altrömische Agrar- und Steuerverhältnisse gleichfalls
Excurse. Hildebrand’s Jahrbücher B. 2, 4. 5, 8, so die Ausführungen priucipieiler
Art über den Unterschied antiker uud moderner Volkswirthschaft (IV, 341 — 350. V,
268 ff., VIII. 437 ff.). Manches gerade auch für die Grundlegung Beachtenswe
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40
Einleitung. 2. K. Andre Standpuncte. Litteratur. §. 13, 14.
in den Briefen von Rodbertus, so in denen an mich, in meinem Aufsatze ..Einiges
von und über Rodbertus- Jagetzow“, in der Tüb. Ztschr. f. Staatswiss. B. 34. 1878,
S. 199 ff.; z. B. über die Behandlung der Nationalökonomie und ihrer Grundbegriffe
S. 220 11'., ferner namentlich in den Briefen an Rudolf Meyer, von diesem heraus-
gegeben u. d. T. „Briefe und socialpolitische Aufsätze von Dr. Rodbertus-Jagetzow“,
2 Bände, Berlin 1SS1 (ohne Jahreszahl); s. auch über Rodbertus in Scbmoller’s Jahrb.
f. Gesetzgebung u. s. w. des Deutschen Reichs, 1891, B. 1 (Autobiographisches und
Briefe).
Aus der „Rodbertus-Litteratur“ s. meinen vorgenannten Aufsatz, meine Vorworte
bezw. Einleitungen zu der von mir in Verbindung mit Schuhmacher, später mit Kozak
besorgten Herausgabe von 3 Bänden „aus Rodbertus' litterarischem Nachlass“; ferner
Th. Kozak, Rodbertus’ socialökonomische Ansichten, Jena 1882 (daselbst Uebersichten
von Rodbertus’ Publicationen S. 7 ff., 357); G. Adler, Studie über Rodbertus, 1^85;
H. Dietzel, C. Rodbertus, 2. Abtheil. (Leben und Socialphilosophie), Jena 1886/1888;
Moritz Wirth. Rodbertus, in der Allgern. deutschen Biographie, B. 2S1).
Von den neueren Vertretern des deutscheu demokratischen wissenschaft-
lichen Socialismus ist doch auch neben der überall mitspielenden Tendenz und den
Uebertreibungen der Kritik des Bestehenden grade für die Fragen der Grundlegung
in Bezug auf den Aufschluss der Erkenntmss der thatsächlichcn wirtschaftlichen
Entwicklung und der Bedingungen dafür und in Bezug auf ökonomische Grundprobleme
Ausserordentliches geleistet worden. Das kann, und muss man m. E. ihnen, wie
Rodbertus gegenüber, anerkennen, auch wenn man wiederum vielfach den Ergebnissen
Doctrincn, (Werthlehre!) und Forderungen nicht beistimmt.
Das Wichtigste rührt von K. Marx her. Es genügt hier, die Hauptschriften
zu nennen. S. namentlich dessen „zur Kritik der Politischen Oekonomie“, 1. Heft
Berlin 1859. Dann das Hauptwerk der ganzen betreffenden Litteratur: das Kapital
Kritik der politischen Oekonomie, 1. B. der Productionsproccss des Kapitals, 1. Aufl ,
Hamburg 1867, 4. Aufl. herausgeg. von Fr. Engels. 1890 2. B. , der Circulations-
process des Kapitals, nach Marx’ Tode von Engels herausgegeben. Hamburg 1885.
Ein Abriss der Doctrin für den Zweck der Agitation ist das „communistische Manifest1*
von Marx und En ge 1s 1818 (5. deutsche Ausg. Berlin). Eine populäre Darstellung lieferte
ein jüngerer socialdemokratischcr Autor K. Kautsky. K. Marx' ökonomische Lehren. Stutt-
gart. S. über Marx u. A. Gross, K. Marx, Leipzig 1885 (erweitert aus der deutschen Bio-
graphie). Ebenfalls K. Marx, Elend der Philosophie (Antwort auf Proudhon’s Philosophie
des Elends). Deutsch Stuttgart 1SS5. — Vgl. auch den Brief von Marx zur Kritik des
*) Ueber — unnütze, übrigens von Rodbertus durch unrichtige Auslastungen
mit verschuldete — Prioritätsstreitigkeiten zwischen Rodbertus und Marx s. u. A.
Fr. Engels im Vorwort zu Marx’ Capital B. II Hamburg 1885, S. VIII ff., sowie
in der Vorrede zur deutschen Ausgabe der Marx'schcn Schrift, „das Elend der Philo-
sophie“, Stuttgart 1885. und dazu meine Bemerkungen in der Einleitung zum 3. Bande
von Rodbertus' litterarischem Nachlass S. XXVII — XXXI. Der Vorwurf eines Plagiats
von Rodbertus gegen den grossen demokratischen Socialisten ist nach Engels über-
zeugender Darstellung sicher unrichtig. — Ueber einen thörichten Streit, welcher sich
über Rodbertus’ litterarischen Nachlass und speciell über meine behauptete Mitschuld
au der Gefahr von Verlusten Rodbertus’scher Schriften erhoben hat, durch einen
überspannten Rodbcrtosianer, Moritz Wirth. Verfasser eines anderen sonderbaren
Buchs „Bismarck. Rieh. Wagner und Rodbertus“, ein Schriftsteller welcher durch
seine kritiklose üebertreibung von Rodbertus’ Leistungen und Bedeutung dem von ihm
Verehrten mehr schadet als nützt, s. Wirth ’s Pamphlet „der drohende Untergang des
Nachlasses von Rodbertus“, Leipzig 1884 und darauf meine Replik und Widerlegung
all des Geredes in der Einleitung zu B. III des Nachlasses, S. XXXIV ff, , XLV fl’
worauf Herr M. Wirth nichts Berichtigendes erwidern konnte, freilich aber auch
nicht so ehrlich und anständig war, seine Insinuationen zuruck/unehmcn. Vi>l. auch
11. Dietzel, das Problem des litterarischen Nachlasses von Rodbertus, Conrad s Jahrb.
N. F. B. XIII. Ueber andere ebenso grundlose, wie gehässige Insinuationen gegen
mich und meine Beziehungen zu Rodbertus Seitens Herrn Rud. Meyers vielfach
in Noten in seinen „Briefen u. s. w. von Rodbertus“ s. meine Replik in derselben
Einleitung S. XL ff.
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Socialismus. Litteratur.
41
(jothaer Programms der deutschen Socialdemokratie (1875) in der „Neuen Zeit“, 1891,
XI, 1. B. S. 561 tf.
Sodann aus den neueren Schriften von Fr. Engels, Herrn E. Dühring’s Um-
wälzung der Wissenschaft Leipzig 187b, 2. AuH. Zürich 1S85 besonders 2. und 3. Ab-
schnitt, in den grossen nicht- polemischen Theilen eine rein wissenschaftliche Fach-
schrift, wohl das Bedeutendste, was neben Marx in dieser Richtung vorliegt. Der-
selbe, die Entwicklung des Socialismus von der Utopie zur Wissenschaft, Zürich 1883,
4. Aufl. Berlin 1891, derselbe, der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und
des Staats (im Anschluss an Morgan ’s Forschungen), Zürich, 1. Aufl. 1884, Stuttgart
4. Aul 1892. Ueber Engels und A. Neue Zeit, XI, 1. B., S. 225 tf.
Ferner F. Lassallc, System der erworbenen Rechte, 2 Theile, Leipzig 1861
(a. A. bcs. I, 193 lf.), 2. Aufl. von L. Bücher, 1880, das grosse rechtsphilo-
sophische Werk, die wissenschaftliche Hauptleistung Lassalle’s, von principiellcr Be-
deutung für die socialrechtliehe Auffassung auch der Privatrechtsordnung. Hier
allein ist Lassalle originell uud nur mit dieser Schrift gehört er unter die litterarischcn
Koryphäen des Socialismus, neben Rodbertus, Marx, Engels. In seinen ökonomischen
Schriften hängt er wesentlich von Rodbertus und Marx ab und tritt ausschliesslich
oder überwiegend der Agitator hervor. Aber für die Gesammtentwicklung des Socia-
Iismus sind auch diese Streitschriften. Reden u. s. w. nicht zu übersehen. Die wichtigste
and auch wissenschaftlich bemerkenswertheste ist die gegen Schulze -Delitzsch gerichtete,
aoeh u. d. T. Kapital und Arbeit, Berlin 1861. Fast alle dieser kleineren Schriften
enthalten aber Hierhergehöriges. Eine Gesammtausgabe der „Reden uud Schriften“,
herausgeg. im Aufträge des Vorstands der soe.-dem. Partei Deutschlands von E. Bern-
stein ist 1892 im Erscheinen begriffen. Vgl. über Lassalle und seine Beziehungen
ax Rodbertus: Briefe von F. Lassalle an C. Rodbertus, mit einer Einleitung von
A. Wagner, Berlin 1878 (B. I „aus d. litterar. Nachlass von Rodbertus“). Ueber
Lassalle u. A. Brandes, F. Lassalle, Berlin 1877, v. PI euer, F. Lassalle, Leipzig
1884 (aus der deutschen Biographie).
Die vier genannten Autoren, Rodbertus auf der einen, Marx, Engels, etwas
»pan stehend Lassalle könnten wohl als „die Classikor des deutschen wissenschaft-
lichen Socialismus“ gelten. Alles Andere hat in wissenschaftlicher Hinsicht durch-
aus den Character des Epigonen th ums, auch die Schriften von Liebknecht, Bebel,
Kautsky. Schippel, Bernstein, den vielleicht bedeutendsten neueren Autoren dieser
Richtung : das Meiste ist popularisirende und agitatorische Litteratur. S. etwa K au ts k y ,
Thoma* Moore, Bebel, die Frau (11. Aufl. 1891), derselbe, Ch. Fourier, Schippel,
das moderne Elend und die moderne Uebervölkerung. und weiter die verschiedenen
Schriften der bei Dietz in Stuttgart erscheinenden „Internationalen Bibliothek“ und
den sonstigen socialistischen Verlag dieser Buchhandlung. Unter den Zeitschriften
bringen die „Neue Zeit“ (10. Jahrgang 1891/92), das frühere Richter’sche Jahrbuch
der Socialwissenschaft und Socialpolitik, die Wochenschrift „Volkstribüne“ (Berlin)
neben Populärem und Agitatorischem auch gelegentlich Theoretisches, principielle
Erörterungen und Proben „socialistischer Philosophie“, welche für die „ökonomische
Psychologie“ und — den materialistisch - ideologischen Dogmatismus des Socialis-
mus beachtenswertb sind. Vgl. z. B. die Aufsätze über den Entwurf des neuen
Parteiprogramms in der „Neuen Zeit“ 1891, XI, 2. B.
§. 14. Dem Standpuncte dieser Grundlegung ver-
wandte Stand puncte in der Litteratur. Als Autoren, welche
in mancherlei Wichtigerem und Principiellem und mehr noch iu
Nebenpuncten abweichen, aber doch den hier in der Grundlegung ver-
tretenen wenigstens mehr oder weniger verwandte Grundanschau-
ongen hegen, glaube ich vor Allem A. Schäffle, dann A. Lange,
U. v. Scheel, H. Hösler, F. Tönuies, ferner Juristen wie
r. Ihering, Anton Menger, auch wohl Gierke nennen zu
dttrfeu. Männer, welche durchaus nicht „Eine Schule“ bilden, noch
bilden wollen, einzeln von einander und von mir vielmehr vielfach
42
Einleitung. 2. K. Andre Staudpuncte. Litteratur. §. 14.
sehr abweicheu. Aber in einem entscheidenden Pnncte haben sie
unter sich doch wieder Gemeinsames, welches auch meinen Stand-
punct mit dem ihren verbindet: Sie alle, in dieser Hinsicht den
Socialisten ähnlich, treten von der socialen Seite, von dem
Interessenstandpunct der Gemeinschaft an die Wirthscbafts-
und Rechtsfragen heran, erkennen die gegenseitige Bedingtheit von
Recht, auch Privatrecht, und Wirtschaft und ziehen daraus Folge-
rungen. Sie setzen so eben, wie ich* an die Stelle der üblichen
älteren, wesentlich noch privatökonomischen die social ökonomische
Auffassung der Volkswirtschaft und der Volkswirtschaftslehre,
an Stelle der üblichen individualrechtlichen die soci a 1 rechtliche
Auffassung alles Rechts, auch des Privatrechts, der Privateigen-
thums-, der Vertragsordnung. Das beginnt allmälig weiter zu
wirken und so jene allgemeinere Verschiebung des Standpuncts
in der Politischen Oekonomie zu bewirken, welche vom ökonomi-
schen Individualismus ab mehr zum Socialismus hinführt, ohne in
letzteren auszulaufen. Jeder Einzelne ist im Wesentlichen unab-
hängig vom Anderen zu dieser Anschauung gelangt und vertritt sie
in ihm eigentümlicher Weise, was gerade das Beachtenswerte
ist. Einem Jeden aber schwebt, mehr oder weniger klar und
folgerichtig, doch das Ziel vor, zwischen Individualismus
und Socialismus eine richtige Mittelstellung zu ge-
winnen, auch wenn dabei der Eine meint, noch auf dem Boden
des Individualismus zu stehen, der Andere sich vielleicht selbst
schon für einen vollen Socialisten hält.
Weil solche Auffassungen nicht rein in die eine oder die andere der beiden
doctrinäron Schablonen passen, unterliegen sie leicht, wie es auch mir begegnet ist.
doppelseitigen Angriffen und werden von dem Staudpuncte der „Klarheit“ und —
Beschränktheit des reinen Individualisten oder Socialisten wohl der „Unklarheit“, des
..Mangels an Folgerichtigkeit“ . selbst in Uebertragung des Tadels auf das ethische
Gebiet, des „Mangels an Muth der Ueberzeugung'1 beschuldigt. Auch werden die
betreffenden Autoren wohl wegen einzelner, scheinbar sich widersprechender
Auffassungen und Acusserungen von den Vertretern der beiden gegnerischen Stand-
puncte, wenn das opportun erscheint, für sich vindicirt. was natürlich nicht richtig ist.
A. Schaffte gehört mit seinen grösseren und kleineren Schriften hierher, die
an dieser Stelle aber nicht alle aufgeführt zu werden brauchen. Die wichtigsten
für die Grundlegung sind: das gesellschaftliche System der menschlichen Wirtschaft,
2. Auflage (in Form und Fassung mehrfach der 3 ten vorzuziehen), Tübingen 1867,
3. Aufl. in 2 Bänden eb. 1873; Kapitalismus und Socialismus, Tübingen 1870; die
Quintessenz des Socialismus, ursprünglich ein Aufsatz, in zahlreichen Auflagen, (zuerst
anonym 1874. neuste 1891) erschienen, die knappste, formvollendetste und klarste,
das System des Socialismus als solchen. — nicht desjenigen einer Parteischablone
oder eines einzelnen Theoretikers — die Voraussetzungen und Consequenzcn völlig
objectiv darlegende Schrift Schälfle's, mit welcher der Verfasser sich aber nicht,
wie man ihm vorgeworfen, einfach als vollen und reinen Socialisten bekannt hat; zur
Ergänzung dazu, nicht in dem Schaff le ungerecht und gehässig vorgeworfenen
Widerspruch dazu: die Aussichtslosigkeit der Socialdemokratie, Tübingen 1885,
k.
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Verwandte Standpuncte. Litteratur,
43
4. Anfl. 1891. Das neuere bezügliche Hauptwerk Schäffle’s ist der „Bau und Leben
des socialen Körpers“ , encyclopädischer Entwurf einer realen Anatomie. Physiologie
und Psychologie der menschlichen Gesellschaft, mit besonderer Rücksicht auf die
Volkswirthschaft als socialen Stoffwechsel. 4 Bände, Tübingen 1875 — 78, neue
Auflage 1880. Dies Werk ist ein wahrer „socialer Kosmos", cs macht freilich
nach Form und Inhalt das Studium nicht leicht, enthält auch Vieles, was aus dem
Rahmen der Politischen Üekouomie weit herausfällt und namentlich zu einer all-
gemeinen „Sociologie“ gehört. Wer einer solchen neuen Wissenschaft, welche das ganze
Gesellschaftsleben einheitlich zusammenfassen will, als einem überhaupt und jedenfalls
in der bisher versuchten Weise kaum lösbaren Problem skeptisch oder ganz ablehnend
gegenüber steht, dem wird es nicht leicht und nicht überall möglich, Schällle hier
zu folgen. Auch die Dcbertragung der naturwissenschaftlichen Entwicklungstheorie
auf das sociale Gebiet und die Ziehung realer Analogieen zwischen dem „Socialen
Körper“ und der Natur bilden neue Versuche in einer Richtung, welcher doch wesent-
liche principielle Bedenken gegenüberstehen. Man wird öfters bezweifeln dürfen, ob
dieser geniale Versuch Schälfle’s das Berechtigte eines solchen Vorgehens besser,
als es frühere Versuche gethan, beweisen kann. Auch ich vermag dem Verfasser
hier vielfach nicht zu folgen. Aber gleichwohl darf man m. E auch hier nicht die
grosse Förderung socialer und volkswirtschaftlicher Probleme und die mehrfach durch-
aus geniale und originelle, wie auch immer anregende Behandlungsweise verkennen,
welche auch diesem grossen Werke eines so eminent speculativ und constructiv
beanlagten Kopfes zn verdanken ist. Der Specialist. der „exacte Historiker“ auf einem
einzelnen Gebiete, der mikrologische Kritiker mag daran, wie an den andren grossen
Werken Schäffle’s, leicht Manches tadeln, manches schiefe, manchen falschen oder
übereilten Schluss, auch Fehler in der Thatsache finden: davor ist der, welcher sich
auf ein kleines „Forschungsgebiet beschränkt, freilich bewahrt. Aber das Ver-
dienst Schäffle’s für die Aufdeckung grosser leitender Ziclpuncte und für die
Erweckung des Verständnisses vom Zusammenhang socialer uud wirtschaftlicher
Verhältnisse sollte darüber auch von einem billig denkenden und nicht bloss am
Maassstab seiner eigenen Anlage, Arbeitsweise und Richtung Alles messenden Kritiker
nicht verkannt werden. Für die Nationalökonomie und grade für Fragen der Grund-
legung enthält der „Sociale Körper“ zahlreiche wichtige Erörterungen an vielen
Stellen. Vorneinlich gehört der dritte Band (der sich auch als 2. Aull, des Kapitalis-
mus und Socialismus bezeichnet) hierher, besonders im 12. Hauptabschnitt (S. 234 — 548\
der sociale Stoffwechsel und seine w'irthschaftliche Regelung. Mit den Erörterungen
darin stimme ich vielfach überein, wie auch umgekehrt Schäfflc sich zu meiner
Genugthuung zu meinen in der Grundlegung enthMtencn Auffassungen öfters bei-
stimmend äussert. — Ausser diesem Werke Schäffle’s sind auch seine neueren practischen
Schriften über Arbeiterversicherung, Kreditwesen wegen ihrer ganzen principiellcn
Stellungnahme und bezüglichen Ausführungen hier ebenfalls mit zu nennen, so die
Incorporation des Hypothekarcredits, der corporative Hilfscasscnzwang, ferner zahl-
reiche seiner Aufsätze, besonders in der Tübinger Zeitschrift für Staatswisseuschaft.
aus älterer Zeit und bis in die neueste Zeit hinein. Manches steht in der Sammlung
..gesammelte Aufsätze“, 2 Bände Tübingen 1885 — S6. — Von meiner „staatssocialisti-
schcn“ Richtung weicht Schällle mehr ab. Einiges in unserer verschiedenen Stellung-
nahme zum Staate und zu dessen auch wirtschaftlichen Aufgaben mag sich psycho-
logisch mit der Verschiedenheit der Eindrücke erklären, die Jeder von uns durch
seinen ganzen Lebensgang, schon durch den Aufenthalt in verschiedenen Staaten,
erhalten hat. In Württemberg bilden sich andre Lebenscindrücke vom Staate als in
Preussen. Aber trotz solcher Differenzen, vornemlich über die practischen Mittel und
Wege der Socialpolitik und einer überall von „socialen“ Gedanken getragenen Wirt-
schafte-, ja allgemeinen Politik, fühle ich mich in gewissen Grundanschauungen über
die heutige Volkswirthschaft und über deren Fortentwicklung und in der objectiv
kritischen Stellung zum Socialismus doch Schäfflc sehr nahestehend, mehr als fast
jedem Anderen meiner Fachgenossen. Es ist uns auch wohl beiderseits geschehen,
kurzweg mit den Socialisten zusammengeworfen zu werden: mit Unrecht. W ir eignen
uns beide aus der socialistischen Lehre und aus den practischen Folgerungen Manches
au. aber immer „cum bcneficio inventarii“ und suchen den Socialismus ebenso un-
befangen in seinen Irrthümern wie in seinen Wahrheiten zu erkennen. —
Schällle (s. seinen Kapitalismus und Socialismus, besonders S. 250 11.) ha
i
44
Einleitung. 2. K. Andre Standpuncte. Litteratur. §. 14.
Verdienst, das bedeutende Werk von Karl Mario (Prof. Winkelblech). Unter-
suchungen Uber die Organisation der Arbeit oder System der Weltökonomic, wieder
mehr in den Vordergrund und in die neuere Litteraturbewegung geschoben zu haben.
Dasselbe erschien zuerst 1849 ff., ohne wesentlichen Erfolg zu haben oder nur grössere
Beachtung zu linden. Eine neue Ausgabe davon ist in Tübingen 18S5 — S6 veran-
staltet worden. Es kann gerade hier au dieser Stelle mit genannt werden, wenn es
auch vielfach anders steht, als die übrigen hier erwähnten Werke.
Gewissen Anschauungen des Schaffte sehen Socialen Körpers, und zwar mehr
auch in den von mir nicht oder weniger getheilten, begegnet man in dem immerhin
gedankenreichen, aber dilettantischeren Werke von P. von Lilienfeld, Gedanken
über die Socialwissenschaft der Zukunft, Mitau 1873 — 79, 4 Bände.
Der leider so früh verstorbene A. Lange hat kein geschlossenes System der
Socialökonomie, wie Schäffle, und auch keine umfassenderen zusammenhängenden, das
Gesammtgebiet der Grundlegung behandelnden principiellen Erörterungen hinterlassen,
was grade bei diesem ausgezeichneten Autor sehr zu bedauern ist. Aber vieles
einzelne Hierhergehörige ist vorhanden, besonders in seiner Schrift „Mill’s Ansichten
über die sociale Krage und die angebliche Umwälzung der Socialwissenschaft durch
Carey“, Duisburg 1866; in der „Arbeiterfrage“, 1. Aufi. 1865, namentlich 3. Aufl.
Winterthur 1875 *) (4. Auflage, Vorwort von Bleuler 1879), der bedeutendsten
deutschen Arbeit hierüber; in Lange’s Geschichte des Materialismus, 3. Aufl. Iser-
lohn 1877, II, 453 ff. (Volkswirthschaft und Dogmatik des Egoismus). Als eigentlicher
voller Socialist, wie es wohl geschehen, kann Lange doch noch nicht bezeichnet
werden. S. über ihn: Ellissen, F. A. Lange, eine Lebensbeschreibung, Leipzig 1891,
besonders in dem Kapitel „Lange als Socialpulitiker“, S. 228 ff. Dieses hübsche Buch
wird freilich dem Menschen mehr als dem Nationalökonomeu (und als vollends dem
Philosophen Lange) gerecht, doch ist auch das genannte Kapitel nicht übel.
H. v. Scheel gehört mit manchen seiner früheren kleineren Schriften, Auf-
sätze und Kritiken hierher, in welchen sich immer die Vorzüge dieses Autors: Klar-
heit, principielle Schärfe, Knappheit der Form zeigen. Sie liefern manchen brauch-
baren Baustein zu einer socialökonomischcn und socialrechtlichen Behandlung der
Volkswirtschaftslehre. ihrer Grundbegriffe, sowie zur Kritik der wirtschaftlichen
Kechtsordnumr und der Reform der letzteren. S. seine Theorie der socialen Frage,
Jena 1871 ; Erbschaftssteuer und Erbrechtsreform, 2. Aufl. Jena 187S3); volkswirt-
schaftliche Bemerkungen zur Reform des Erbrechts, in Hirth's Annalen 1877, S. 97 ;
Eigenthum und Erbrecht, Berlin 1877; unsere socialpolitischen Parteien, Leipzig 1878.
Ausserdem manche kleinere Aufsätze und Kritiken, besonders in Hildebrands Jahr-
büchern. Zu vergleichen auch die beiden Abhandlungen v. Scheel’s im Schönberg schcn
Handbuch der Politik. Oekon. (3. Aufl. B. I) über die politische Oekonomie als Wissen-
schaft und über Socialismus und Communismus.
H. Rösler hat das doppelte Verdienst, in der neueren deutschen antiindi-
vidualistischen litterarischen Bewegung zuerst mit grösserer Schärfe gegen den
Smithianismus principielle Angriffe gerichtet und ferner das Rechtsmoment in
den Wirthschaftsbegriffcn . die nothwendige sociale Seite in aller Rechtsordnung,
auch im Privatrecht, stärker betont zu haben. Ersteres vornemlich in der allerdings
wohl manchfach das Ziel überschiessenden Schrift; „über die Grundlehren der von
A. Smith begründeten Volkswirtbschaltsthcorie“, Erlangen 1868, 2. Aufl. 1871; letztres
besonders in seinem, von der individualistisch- liberalen Doctrin (auch des öffentlichen
Rechts) begreiflich, aber im Ganzen mit Unrecht abgelchnten Lehrbuch des deutschen
l) Gegen den naiven Vorwurf des prätentiösen deutschen Gewerkvereinstheoretikers
L. Brentano (Arbcitsvcrhäitniss gemäss den» heutigen Recht, Leipzig 1876, S. V),
Lange habe es versäumt, „sein Buch entsprechend der durch Brentano’s Arbeit er-
langten Erkenntnis» neu durchzuarbeiten“, m. a. W. Lange habe nicht, gleich Brentano,
in der Gewerkvereinsorganisation der Arbeiter nach englischem Muster die Panacee
für die Lösung der „Arbeiterfrage“ gefunden, habe ich Lange schon in einer Be-
sprechung des Brentauo’schen Buchs in der Jenaer Littcraturzeitung 1877 v. 5. Mai
in Schutz genommen. Nach Gang der Dinge und Erfahrungen seitdem würde es
wohl kaum mehr nothwendig sein.
-) Vgl. meine Finanzwisseusch. B. 2. 2. Aufl. S. 568, 5l * * * V8 ff.
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Verwandte Standpunctc. Litteratur.
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VerwaJtnngsrcchts, 1. B. das sociale Verwaltungsrecht, 2 Abtheilungen (1 . Einleitung.
Personenrecht, Sachenrecht, 2. Berufsrecht, Erwerbsrecht), Erlangen 1 87 2/ 1 ST 3. Es
tritt bei Rösler vielleicht das juristische Moment vor dom ökonomischen zu sehr her-
vor, aber die sociale Seite des Rechts wird in vielen einzelnen treffenden Erörterungen
gut betont und begründet. In dieser Auffassung stimme ich Rösler bei, wenn ich
mich auch nicht immer seinen Ergebnissen anschliesscn kann. S. von ihm noch die
Erörterungen über die Gesetzmässigkeit der volkswirtschaftlichen Erscheinungen in
Hirth’s Annalen 1875 und seine Vorlesungen Uber Volkswirtschaft, Erlangen 1878.
(Seine Grundsätze der Volkswirtschaftslehre , Rostock 1864, stehen noch anders als
seine späteren Schriften und bieten nichts Besonderes).
Von dem jüngeren Philosophen F. Tönnies (Kiel) rührt eines der tiefstgründigen
socialphilosophischcn Werke der neuesten Zeit her: Gemeinschaft und Gesellschaft,
Abharidl. des Communismus und Socialismus als empirischer Culturformcn, Leipzig 1887.
Ein Werk, das durch seine höchst abstracto Form und seine schwere Darstellungs-
weise auch dem, welcher sorgfältig dem Verfasser auf seinen Gedankcngängon zu
folgen sucht, grosse Mühe des Verständnisses macht, aber diese Mühe auch lohnt.
Es behandelt vornehmlich die Organisationsfragen der Volkswirtschaft in Verbindung
mit den psychologischen Factoren und vertritt, in näherem Anschluss an Marx und
Gierke, auch von Schäffle und mir berührt, eine Auffassung der gesellschaftlichen
und volkswirtschaftlichen Entwicklung, welche die tieferen Grundzüge der letzteren
trefflich darlegt, freilich in abstract deducirender Weise mehr als in historisch de-
scribirender. Einen Versuch, den gedankenvollen Inhalt des Werks durch Zusammen-
ziehung und andere Fassung leichter zugänglich zu machen, hat Baltzer in der
Schrift „F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft“. Berlin, 1890 gemacht1).
ünter den Juristen hat kein Geringerer als der grosse Komanist von Ihering.
in Anknüpfung an sein berühmtes Werk „Geist des römischen Rechts“, in seinem
Buche „der Zweck itn Recht“ (B. 1, Leipzig 1878, 2. Aull. 18S4. B. 2, eb. 1883,
2. Aull. 1886) eine meiner „socialrechtlichen“ ähnliche Auffassung des Rechts und
seines Verhältnisses zum Wirtschaftsleben vertreten. Meine in der 1. Auflage dieser
Grundlegung (S. 500 Noto 1) ausgesprochene Hoffnung ist dadurch glänzend in
Erfüllung gegangen. Ihering erörtert (s. „Zweck“. I. Kap. 8) ebenfalls aus den
Bedingungen des Gemeinschaftslebens heraus die Freiheits- und Eigeu-
thumsfragen, im Wesentlichen in Uebereinstiminung mit meiner in der Grundlegung
niedergelegten Grundanschauung (s. a. a. 0. S. 511). Besonders wichtig für die
nationalökonomische Eigenthutnslehre ist Ihering's Auffassung des Eigentums. Siehe
darüber auch im „Geist“ I. 3. Aufl. S. 7. Beachtenswert für die unten im 1. Kap.
des 1. Buchs behandelten Puncte die Erörterungen über Zwecke und Motive als
„Hebel der socialen Bewegung“ in B. 1. des „Zwecks.“ — Unter sonstigen Romanisten
sei für verwandte Gesichtspunctc J. Baron genannt, in Erörterungen über Erbrecht,
auch in einer Besprechung der 1. Aufl. dieser Grundlegung in Pözl’s kritischen
Vierteljahrschr. 1877.
Der germanistischen Jurisprudenz und ihren Vertretern lag eine „social-
rechtliche“ Auffassung auch des Privatrechts von vornherein näher und findet sich
daher hier auch mehr. Die vollen Gonsequenzen haben aber auch die Germanisten
nicht immer gezogen. Das Hauptverdienst hat sich hier G. Gierke in seinem grossen
stupenden Werke, das deutsche Genossenschaftsrecht. 3 Bände 1868 — 81. erworben,
welches durch Verbindung des juristisch -constructiven und dogmatischen mit dem
historisch-describirenden Element grade für die in die socialökonomische Grundlegung
gehörende principiclle Erörterung von besonderem Wcrthc ist. Jüngst hat Gierke
sodann durch seine scharfe eingehende Kritik des Entwurfs des deutschen bürgerlichen
Gesetzbuchs (zuerst in Schmollers Jahrbuch, 18S8, dann auch selbständig erschienen)
sich wesentlich auf einen ausgesprochen socialrechtlichen Standpunct gestellt und die
snperindividualistische, romanisirende Tendenz dieses Entwurfs treffend gekennzeichnet
*) S. eine gute Uebcrsicht des Gedankengangs der Tönnies’schen Schrift in der
Besprechung von Sch mol ler. in dessen Jahrbuch 1868, XII, 717—719, mit richtiger
Anerkennung des Werths des Buchs, nur unter der den historischen Nationalökonomen
üblichen Reserve hinsichtlich der Methode. Allein grade hierin zeigt das Tönniessche
Werk, dass man, wenn auch unter Mitbenutzung der historischen Arbeiten (Gierke),
doch einen solchen Gegenstand auch erfolgreich ganz anders behandeln kann.
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46 Einleitung. 2. K. Andre Standpuncte. Litteratur. $. 14, 15.
und bekämpft: wahrscheinlich, wie einzelne andere ähnliche Versuche, ohne ent-
sprechenden Erfolg für die Umgestaltung jenes Entwurfs, aber ein Zeichen der Zeit,
dass doch auch unter den Lehrern des Privatrechts die socialukouotnischcn und social-
rechtlichen Auffassungen immer mehr getheilt werden.
Noch bestimmter und mit grösserer Annäherung zu socialistiscben Auffassungen,
tritt dies bei dem Juristen Anton M enger (dem Bruder des N'ationalökonomen
Karl Menger) hervor. Derselbe hat in seiner vorzüglichen Schrift „das Hecht auf
den vollen Arbeitsertrag in geschichtlicher Darstellung“, Stuttgart 1587, 2. Aufl. 1S91.
den Zweck verfolgt, „die Grundideen des Socialismus vom juristischen Standpuncte
aus zu bearbeiten,“ worin er mit liecht die wichtigste Aufgabe der Rechtsphilosophie
unsrer Zeit erblickt. Er hat ferner specicll einmal vom Auschauungs- und Interessen-
standpunct der unteren arbeitenden Classen eine Kritik an dem Eutwurfe des deutschen
bürgerlichen Gesetzbuchs geübt, welche da und dort wohl Schiefes enthält (z. B. in
der Frage der unehelichen Geburten), aber in Vielem berechtigt, im Ganzen höchst
bemerkenswerth ist. S. Menger’s Arbeit im Braun’schen Archiv für sociale Gesetz-
gebung 1889/1890 B. II und III : „Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volks-
classen“ (auch selbständig erschienen). Eine Arbeit von grundlegender Bedeutung
für die socialrechtlicho Auffassung auch des Privatrechts.
In diese socialrechtliche Richtung gehören auch die Schriften A. Samter's.
die den dilettantischen Character nicht verleugnen können, den begreiflich nament-
lich juristische Recensenten gerügt haben, aber doch manches Beachtenswerthe bieten,
dessentwegen Samter wohl einige Schwächen zu Gute gehalten werden könnten. Siehe
seine Sociallehre, Leipz. 1875. sein gesellschaftliches und Privateigenthum, Leipz. 1877
(darüber und über meine im Resultate abweichende Stellung zur Grundeigenthumfrage
meine Anzeige in der Jenaer Litteratur-Ztg., 31. März 1877); dann sein Hauptwerk,
das Eigenthum in seiner socialen Bedeutung. Jena 1879. — S. sonst etwa noch:
A. Lindwurm, das Eigentumrecht und die Menschheitsidee im Staate, Leipz. 1S7S.
§. 15. Die deutsche historisch-nationalüko nomische
Richtung. In dieser steht gesondert ftir sich, aber gehört doch
mit hierher und sogar an die Spitze Friedrich List. Sonst
sind in dieser Richtung zunächst die ältere, vornemlich durch
W. Roscher, K. Knies, theilweise auch noch durch Rr. Hilde-
brand vertretene, auch in der Gegenwart noch zahlreiche jüngere
Fachmänner umfassende und die jüngere Schule , voran
G. Schmoller und die ihm Näherstehenden, in mancher Hinsicht
und zumal für uns hier in diesem Werke auseinander zu halten.
Gewisse allgemeinere Auffassungen und Forderungen sind von der
älteren Richtung zuerst ansgegangen, werden von der jüngeren
festgehalten, aber weitergeführt und sind auch von Fachmännern
ausserhalb der im engeren Sinne „historischen“ Schule der National-
ökonomie, auch im Ganzen vom Verfasser dieses, angenommen
worden. Die jüngere historische Schule steht in der Frage der
Methode und der Aufgaben unserer Wissenschaft dagegen
mehrfach anders. Sie neigt ferner zu einer Vermischung von con
ereter Wirthschaftsgescliichte und Politischer Oekonomie, zu einer
zu weitgehenden Ablehnung der älteren britischen Dogmatik als
einer Grundlage für die eigentliche wirtschaftliche Theorie, zn
einer Verkennung des Unterschieds von concreter Wirtschafts-
geschichte und „specieller“ oder „practischer“ Nationalökonomie
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Deutsche historisch-nationalökonoinische Richtung:.
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(„Yolkswirthschaftspolitik“) als eiues eigenen Haupttheils der Poli-
tischen Oekonomie, ja selbst zu einer Verwischung des Unterschieds
in Aufgaben , Methoden , Rehandlnngsweise zwischen Wirtschafts-
geschichte und Wirthschaftstbeorie („theoretischer“ Nationalökono-
mie)1). Soweit diese Tendenzen der jüngeren historischen Schule
hervortreten, stehe ich denselben auch in diesem Werke, wie über-
haupt, ablehnend gegenüber.
Friedrich List hat das grosse Verdienst, den nationalen
Standpunct der Politischen Oekonomie vor dem kosmopoli-
tischen der britischen Doctrin mit Schärfe, wenn auch mit grosser
Einseitigkeit, hervorgehoben zu haben. Er stellt, in echt histo-
rischer Auffassung, zwischen Individuum und Welt Nation, Land
und Staat, zwischen die Einzel- und die Weltwirtschaft die natio-
nale Volkswirtschaft und deckt die allgemeinen historischen Ent-
wicklungsbedingungen der letzteren auf.
Seine viel zu schablonenhafte, aber einen richtigen Kern enthaltende Lehre von
volkswirtschaftlichen Entwicklungsstufen, von den volkswirtschaftlichen Productiv-
kräften und deren Entwicklungsbedingungeu, von der Bedeutung der gesellschaftlichen,
politischen, bürgerlichen Institutionen und Gesetze neben und zum Theil vor den In-
dividuen, Naturfonds, Kapitalien für die Entwicklung der Volkswirtschaft, seine prin-
cipielle Auffassung von Freihandel und Schutzzoll als historisch bedingter handels-
politischer Systeme, — dies und manches Andre zeugen vom Geiste richtiger und
grossartiger wahrhaft historischer Anschauung und Erfassung des Wirtschaftslebens,
insofern ist List nicht nur ein, sondern einer der grössten „historischen“ National-
ökonomen, wenn auch weniger Gelehrter, als Politiker und Agitator, wie G. Scbmoller
mit Recht bemerkt. Die Mängel seiner Methode und Beweisführung, die Verkennung
der Bedingungen eines wahren historischen Inductionsbeweises iu den Abrissen der
concreten handelspolitischen Geschichte und zahlreiche andere Schwächen in der Be-
weisführung und Schlussziehung können ihm diesen Ruhm nicht nehmen. Gerade die
nationale Auffassung der Volkswirtschaft im List sehen Sinne ist zugleich eine
echt historische. Bemerkenswerth ist nur, dass List (was auch neuere Kritiker wie
Eheberg und Schmoller übersehen) noch wenig von der heutigen eigentlich social-
politischen Anschauung berührt ist. Auch ihm steht, wie der von ihm so bitter
bekämpften britischen Oekonomik, das Productionsproblem und die Förderung des
Productionsinteresses noch ganz im Vordergründe; in den Mitteln zum Ziele, nicht im
Ziele selbst weicht er vom Smithianismus ab. Das Vertheilungsproblem vernachlässigt
er oder behandelt es in der ungenügenden Weise der Früheren. Auch darin zeigt
sich, welche Förderung der theoretischen Erkenntniss eben doch erst dem Socialismus,
nicht der historischen Schule zu verdanken gewesen ist. In Betracht kommt hier
für die Grundlegung namentlich List’s Hauptwerk, das „nationale System der Poli-
tischen Oekonomie“, 1. Aufl. Stuttgart 1S41, 7. Auf], mit historischer und kritischer
Einleitung von Eheberg, eb. 1883.
Die ältere deutsche historische Schule stellt eine Reaction
gegen Einseitigkeiten der britischen Oekonomik (insularer
wie continentaler Richtung) dar.
Solche Einseitigkeiten sind, um mit Roscher und Ingram2) zu reden, eine
*) S. dagegen auch Knies, Polit. Oekon. 2. A. Vorwort S. VII.
s) Koscher, Gcsch. d. deutschen Nationalökonomik S. 912 fr.; über die extreme
deutsche individualistische Richtung S. 1014 ff. Ingram, nothwendige Reform d. Volks-
wirthsch.lelire, deutsch v. Scheel, Jena 1879; ders.. Gesell, d. Volkswirt!]. lehre S. 207 ff.
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48 Einleitung. 2. K. Andre Standpuncte. Litteratur. § 15.
zu ausschliessliche Neigung zu und Werthlcgung auf die abstracto Deduction, nament-
lich in der Ricardo’schen Richtung; eine schon in der Theorie, vollends in practischea
Fragen zu weit gehende Isolirung und Loslösung der ökonomischen von den mit ihnen
verknüpften sonstigen socialen Erscheinungen; die zu absolute, statt der richtigen
historisch relativen Beurtheilung der wirtschaftlichen Erscheinungen und Einrichtungen
und Lösung der wirthschaftspolitischen Fragen; die vielfach falsche, namentlich viel
zu optimistische Beurtheilung der freien Concurrenz und ihrer Folgen und die viel
zu weit gehende Verdrängung des Staats, seiuer Thätigkeit, seiner regulirenden Wirt-
schaftsordnung aus der Volkswirtschaft.
Hier ist die historische Schule im Ganzen im Recht mit ihren
abweichenden Auffassungen und Forderungen. Aber hier und da
auch schon in ihrer älteren, vollends in ihrer neueren Periode reagirt
sie in Betreff der Methode der Politischen Oekonomie wieder etwas
zu stark, unterscheidet sie in Betreff der Aufgaben zwischen denen
der Theorie und der Volkswirthschaftspolitik nicht immer richtig
und klar und wirft sie der ganzen britischen Doctrin Manches
vor, was nur an einzelnen Anhängern derselben zu tadeln und wohl
öfters begleitende Erscheinung, aber nicht nothwendige Folge dieser
Doctrin, deren Methode, Auffassungsweise ist.
Beizustimmen ist der historischen Schule wohl in dem Verlangen, dass grössere
Vorsicht angewendet werde bei der Generalisirung in der Theorie, bei der Aufstellung
der Voraussetzungen des dcductiven Verfahrens, vollends bei der Uobertragung solcher
Schlüsse der Theorie, welche nur unter angenommenen oder naebgewiesenen Voraus-
setzungen richtig sind, auf die Verhältnisse des concreten wirtschaftlichen Lebens.
Nicht minder werden die wirtschaftlichen Erscheinungen mit Recht in ihrem ge-
schichtlichen Entwicklungsprocess als etwas Werdendes und sich Veränderndes ver-
folgt und wird die Aufhellung und Erklärung dieses Processes als eine der Aufgaben
der Wissenschaft der Politischen Oekonomie angesehen. In practischen Fragen wird
gleichfalls mit vollem Rechte der „Absolutismus dor Lösungen“ (Kn ies) verworfen und bei
der Entscheidung solcher Fragen dem Relativitätsprincip gehuldigt. S. u. B. 1, Kap. 2.
Eine grössere Verschiedenheit der Ansichten besteht zwischen
uns und nicht der älteren, namentlich der von W. Roscher ver-
tretenen, wohl aber der jtingeren historischen Richtung hinsichtlich
der „Theorie“ und der dogmatischen Fassung dieser
Theorie in unserer Wissenschaft, sowie hinsichtlich des Werths der
Theorie und Dogmatik der britischen Ockonomik.
In der jüngeren Richtung linden sich — freilich bei ihren Anhängern bisher
niemals ganz klar entwickelte — Ansichten über das Wesen einer nationalökonomischen
Theorie und über die erkenntnisstheoretischen Bedingungen der Aufstellung einer
solchen, welchen ich nicht beizutreten vermaa:. Die britische Oekonomik hat hier
nicht nur ungleich klarer die Aufgabe und die Bedingungen zu ihrer Lösung erkannt,
sondern auch bereits das Wesentlichste für den Auf- und Ausbau der Theorie ge-
leistet. Gewiss ist ihre Methode vieler Verbesserungen, ihre Beweisführung tieferer
psychologischer und historischer Begründung bedürftig, aber auch fähig. Der Haupt-
mangel der Theorie und Dogmatik der britischen Oekonomik liegt in der Verkennung
des historischen Oharacters des privatwirthschaftlichen , auf freier Concurrenz be-
ruhenden Verkehrssystems. Mit diesem Mangel verbindet sich der weitere, dass die
britische Oekonomik die „Volkswirtschaft“ in diesem privatwirthschaftlichen Verkehrs-
system aufgehen lässt, daher durch eine Theorie dieses letzteren bereits eine Theorie
der Volkswirtschaft gegeben zu haben glaubt. Allein diese beiden Mängel lassen
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Deutsche historisch-nationalökonomisehe Richtung.
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sich sehr wohl berichtieen, ohne dass ihretwegen kurzweg, mit historischen Nationalöko-
nomen der jüngeren S*chulc, die Theorie und Dogmatik der britischen Oekonomik als
vermeintlich völlig veraltete Schulconstructionen auf durchaus unhaltbarer Grundlage,
einfach fallen gelassen werden müssten.
Nach unserer Ansicht dürfen die britische Theorie und Dogmatik
unter bestimmten Voraussetzungen einen grossen und
dauernden Werth beanspruchen. Sie haben im Wesentlichen
richtig den Knochenbau, die entscheidenden Hauptpuucte und
Grundzüge der Statik und Dynamik des privatwirthschaftlichen
Yerkebrssystems aufgedeckt und verstehen gelehrt, unter den recht-
lichen und den psychologischen Voraussetzungen, welche im Ganzen
in Verkehrsgesellschaften entwickelter Culturvölker, wie der mo-
dernen, vorliegen. Was Uberseheu oder nicht genügend beachtet
oder falsch gewürdigt wurde, war, dass diese beiderlei Voraus-
setzungen in der concreten Wirklichkeit, auch heute bei uns, nie-
mals so genau und allgemein zutretfcn, wie in der theoretischen
Analyse der Erscheinungen und in der Beweisführung angenommen
wird, sowie dass jene Voraussetzungen überhaupt nicht in dem
Maasse constante, wie man annahm, sondern immer mehr oder
weniger variable, einigermaassen historische, nicht abso-
lute, Kategorieen sind.
Die Vorgänge selbst im privatwirthschaftlichen Verkehrssystem, sogar einer be-
stimmten Zeit in einem bestimmten Lande, vollends in der allmäligen Entwicklung
dieses Systems sind daher auch nicht so einfach mechanisch zu erklären, wie die
Theorie und Dogmatik der britischen Oekonomik es zu thun versuchen. Das Moment
der „Zeit“ (Zeitverlauf. Zeitdauer) spielt z. B. eine weit grössere Rolle, als hier früher
vielfach angenommen wurde, wie jüngst aber auch von Männern, wie Marshall,
welche ähnlich wie ich zu diesen Fragen der Theorie und Dogmatik stehen . voll-
kommen anerkannt wurde. Zumal die Vorgänge der Volksw irthschaft kann man
daher nicht nach den einfachen mechanischen Principien der zu einseitig privatwirth-
schaftlichen Theorie der britischen Oekonomik allein erklären.
Berichtigt man diese Mängel, was nicht bloss nach den Gesiehts-
puncten der historischen Nationalökonomie, sondern recht wohl
aus dem Geiste der britischen Oekonomik selbst heraus möglich
und auch schon geschehen ist, so entzieht mau der Kritik des
jüngeren Historismus den Boden und das Wesentliche der Ergeb-
nisse der britischen Theorie und Dogmatik bleibt bestehen.
Im Einzelnen ist dann mancherlei zu berichtigen, anders, feiner, psychologisch
tiefer zu begründen, sind neben dem Typischen die concreten Erscheinungen als
solche, neben dem Allgemeinen und Gesetzmässigen das Individuelle und Abweichende
mehr zu beachten uud zu verfolgen. Das bedingt aber immer nur einen Um - und
Weiterbau, nicht einen völligen Neubau der Theorie und Dogmatik, ganz überwiegend
nur vorsichtigere Formulirungcn der Lehrsätze, vermehrte Berücksichtigungen der
variablen Factoren — auch psychologischer Art — , nicht völlig neue Lehrsätze in
der Theorie des privatwirthschaftlichen Verkehrssystems. So in Hauptlehrcn, von
Production. Arbeitsteilung, Umlauf, Preis, Productionskosten, Verteilung, Ein-
kommen. Daran halte ich hier mit der älteren gegen die jüngere deutsche historisch-
nationalökonomische Schule fest. Da aber auch in einem stark modificirten privat-
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Theil. Grundlagen. 1
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50 Einleitung. 2. K. Andre Standpuncte. Litteratur. §. 15, 16.
wirtschaftlichen Verkehrssystem — z. B. bei wesentlicher Beschränkung der Ver-
tragsfreiheit, bei bedeutender Entwicklung anderer Motive neben und au Stelle des-
jenigen des wirtschaftlichen Vorteils — und da selbst in einem gemein wirtschaft-
lichen (socialistischen) Productions- und Vcrtheilungssystem immer doch „Menschen“
mit gegebener physisch-psychischer Natur und die gegebene äussere
Natur die Grundlagen der Wirtschaft sind, so gestatten die Lehrsätze der Theorie
und Dogmatik des rein privatwirthschaftlichen Verkehrssystems auch eine bedingte
Anwendung auf solche andere Verhältnisse. (S. u. Buch 1 , bes. Kap. 1 , Abscbn. 2
und Kap. 2.)
Uebereinstimmend mit, aber noch entschiedener als die ältere
und die jüngere historische Schule, hierin mich der socialistischen
Auffassung wieder mehr nähernd, halte ich nur das privatwirth-
schaftliche Concurrenzsystem in seiner modernen Gestaltung, das-
selbe auch als ein Ganzes betrachtet, für eine vorübergehende
Phase der Organisation der Volkswirthschaft und für viel tiefer
greifender Umänderungen bedürftig, als auch die historische Schule,
mit seltenen Ausnahmen, einräumt. Namentlich die ganze eigent-
liche Rechtsgrundlage unseres heutigen privatwirthschaftlichen
Systems, die Rechtsordnung für Freiheit, Privateigenthum und Ver-
träge, erscheint mir mehr als der historischen Schule als etwas
geschichtlich Wandelbares und durch absichtliche legislative
Eingriffe zu Veränderndes. Und nicht minder halte ich die in der
ganzen Volkswirthschaft erreichte Stellung des privatwirthschaft-
lichen Systems für etwas Wandelbares, das auch wieder absicht-
lich verändert werden kann und muss.
Die historische Schule ist mir hier einerseits zu quietistisch, was übrigens auch
mit ihrer abweichenden Auffassung der Aufgaben der Disciplin zusammenhängt,
anderseits noch zu sehr geneigt, in ihren Reformbestrebungen sich mit einem Curiren
an den Symptomen zu begnügen, nicht auf die tieferen Ursachen von Uobelständen,
auf die wirthschaftsrechtlichen Normen für Freiheit und Eigenthum, zurückzugehen.
An den Fragen der mehr gemein-, weniger privatwirthschaftlichen Organisation der
Volkswirthschaft und für die privatwinhschaf(Uche an den Fragen der bewussten
schärferen Einschränkung der freien Bewegung und Regelung des Verkehrs, der Ver-
träge durch „zwingendes Recht“, kann und darf man nicht so Vorbeigehen, wie es im
Ganzen die historische Schule thut. Mehr als für letztere liegen daher für mich die
grossen Probleme in der Grundlegung, wie namentlich auch in der specielien (prac-
tischcn) Nationalökonomie in denjenigen wirtschaftlichen Rechtsfragen, welche
sich auf die eigentlichen Grundinstitute des Rechts, auch des Privatrechts,
beziehen, auf die Freiheits-, Eigenthums-, Vertragsrechts-Ordnung.
Nicht allein von der jüngeren, aber mehr von ihr als von der
älteren historischen Schule weiche ich in methodologischen
und in Ansichten über die Aufgaben der Wissenschaft der Poli-
tischen Oekonomie ab.
Hierfür auf die Ausführungen oben in §. 4 und unten im zweiten Kapitel des
ersten Buchs (§. 66 IT.) verweisend, beschränke ich mich hier nur auf einige Bemerkungen.
Die Methode der speculativen Deduetion, wie sie grade der Psychologie auf wirt-
schaftlichem Gebiete entspricht, wird, zumal von der jüngeren Schule, bereits wieder
zu sehr zu Gunsten der historisch -statistischen Inductionsmethode zurückgedrängt,
freilich mehr behauptetermaassen als in don eigenen Arbeiten der Schule selbst
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Deutsche historisch-nationalökonomische Richtung.
51
Die Schwächen der ersteren Methode werden zu sehr, diejenigen der letzteren zu
wenig, umgekehrt die Vorzüge jener zu wenig, dieser zu sehr hervorgehoben ; für die
Anwendbarkeit der ersteren zu enge, der zweiten zu weite Grenzen gezogen. In
Betreff der Aufgaben neigt der jüngere Historismus insbesondere zu sehr dazu,
Schilderung (Description) concreter Einzelheiten, kaum selbst noch Aufdeckung des
Causalzusammenhangs der Erscheinungen und ihrer Entwicklung als eigentliche,
beinahe alleinige Aufgaben anzuerkennen, d. h. eben Wirthschaftsgesc h ichte und
St atistik zur „Politischen Oekonomie“ zu machen. Suchen nach dem Typischen,
beurtheilen, Ziel aufstellen. Weg weisen zum Ziele — Beantwortung der Fragen: wie
ist etwas? was soll sein? wie ist es zu erreichen? neben den Fragen: was ist? was
war? wie ist es geworden ? — wird zu sehr in den Hintergrund geschoben, beinahe
als Aufgabe abgewiesen. Auffassungen, in welchen die historische Nationalökonomie mit
sich selbst und mit der richtigen Abweisung des Characters einer Naturwissenschaft für
die Politische Oekonomie, auch mit ihrem Vorgehen auf ihrem Lieblingsgebiete, der
..practiscben“ Nationalökonomie, freilich in Widerspruch kommt, ohne sich dessen klar
bewusst zu werden. (S. u. Buch 1, Kap. 2, Hauptabschu. 1, bes. §. 57 ff.)
Nicht bei der ganzen jüngeren historischen Schule, wohl aber bei einzelnen
ihrer Anhänger findet sich dabei eine der individuellen Anlage entsprechende, sub-
,'ecdv ganz berechtigte Vorliebe für archivalische geschichtliche „Forschungen“ — der
nicht ganz anspruchslose Name für die in die „Richtung“ gehörenden Arbeiten — ,
für concrete historisch -statistische Schilderungen. Aber die gewiss erfreulichen Er-
gebnisse werden leicht in ihrer Bedeutung für die Politische Oekonomie überschätzt,
mikrologischen Dingen mehr Werth beigelegt als sie haben. (Geschichte einzelner
Zünfte.) ünd nicht selten verbindet sich hiermit eine Abneigung, gelegentlich eine
förmliche Idiosynkrasie gegen andere Arbeitsgebiete und andere Arbeitsaufgaben, als
die eigens gepflegten. Da tritt denn wohl auch bei den Vertretern der „ethischen“
Nationalökonomie, wie sich die jüngere historische Schule auch gern nennt, ein Dünkel,
eine Ausschlusstendenz gegen alles, was nicht zur Lehre der „Richtung“ schwört,
eine Unbilligkeit des Crtheils oder auch — das bekannte andere derartige Kampf-
mittel — ein Todtschweigen hervor, wie sie die ältere historische Schule auch gegen-
über von ihr bekämpften Richtungen und Männern sich nicht hat zu schulden kommen
lassen. Wie wohlthuend berühren W. Roscher’s anerkennende Ortheile über einen
A. Smith, einen Rau! Epigonenhafte Züge der jüngeren Schule, die vollends eine
bereits sehr deutliche und berechtigte Reaction gegen diesen „Historismus“ ver-
wirken werden.
§.16. Historisch-nationalökonomische Litteratur. Hier für die Grund-
legung kommen auch aus der historischen Schule wesentlich nur diejenigen Arbeiten
ia dieser Litte raturübersicht in Betracht, welche sich auf die allgemeineren
Principienfragen der Organisation und Rechtsordnung der Volkswirtschaft, auf
Methodologie, Fragen der Aufgaben u. dgl. m. beziehen. Anderes ist erst in den
einzelnen Abschnitten der Grundlegung und auch in den anderen Thcilen dieses
?anzen Werks, besonders in der practischen Nationalökonomie zu nennen. Vornemlich
in deren Gebiet gehören die wichtigen und werthvollen wirthschafts-historischen
Arbeiten der Schule, wie die allgemeineren von Inama-Steruegg (deutsche Wirt-
schaftsgeschichte), Lamprecht, die agrarhistorischen von G. Hanssen, A. Meitzen,
die gewerbegescbichtlichen von G. Schön berg, G. Schmoller und dessen näheren
Schillern, die bevölkerungsgeschichtlichen von Bücher, um nur einige Hauptrichtuugcn
oad Autoren zu nennen. Reiche bezügliche Bibliographien, worauf es an dieser
Stelle genügen mag, für diese wirthschaftsgeschichtliche Litteratur zu verweisen, geben
die einzelnen Specialartikel im Handwörterbuch der Staatswissenschaften.
In der Fachlitteratur lassen sich zwar die ältere und jüngere historische Richtung
and diese beiden von anderen „kathedersocialistiscben“ und von der „staatssocialistischen“
Richtung (§ 17, IS) wohl unterscheiden. Aber mehrfach besteht doch eiue nähere
Verwandtschaft aller dieser Richtungen und der einzelnen Autoren unter einander.
Auch lässt sich der Einzelne und selbst mitunter ein und derselbe Autor in seinen
verschiedenen Arbeiten und nach seiner persönlichen wissenschaftlichen Entwicklung
weht immer genau in eine bestimmte Specialrichtung einfach wie in ein Schema
t-iafugen. In diesem § 16 finden sich daher einige Autoren und Schriften mit genannt,
welche auch bei den Katheder- und den Staatssocialistcn mit erwähnt werden könnten.
4*
52
Einleitung. 2. K. Andre Standpuncte. Litteratur. §. IC.
Das bedeutendste Werk grade über die Principienfrageu der Grundlegung, über
Methode u. s. w. ist das Buch von K. Knies, die politische Oekonomie vom Stand-
punct der geschichtlichen Methode, Braunschweig 1853, 2. Aufl. u. d. T. die politische
Oekonomie vom Standpunct der Geschichte („neue, durch abgesonderte Zusätze ver-
mehrte Auflage“), eb. 1883. In diesen Zusätzen zahlreiche und werthvolle kritische
Auseinandersetzungen mit der neueren Litteratur Uber Priucipienfragen, Rechtsfragen
u. s. w., darunter mehrfach mit meinen Ausführungen iu der Grundlegung. Auch
in dem Specialwerke von Knies, Geld und Credit (Berlin 1S73, 1874, 2. Aufl. von
Geld eb. 1885), so in I, Kap. 1, 2, 3, Abschnitt 1 finden sich Ausführungen über
Puncto der Grundlegung.
Von W. Roscher’s grossem System der Volkswirtschaft gehört der 1. Baud,
die „Grundlagen der Nationalökonomie“, 1. Aufl., Leipzig 1854, 20. Aufl. 1892, be-
sonders in der Einleitung (so Kap. 3, Methoden) im 1. Buche Kap. 4 und 5 (Un-
freiheit und Freiheit, Gütergemeinschaft und Privateigenthum), im 3. Buche Kap. 1, 7.
das 5. Buch (Bevölkerung) vornehmlich hierher; ferner einzelne, Principielles mit
berührende Ausführungen der drei andren Bände, namentlich der Finanzwissenschaft.
Das ganze Roscher’ sehe Werk kommt hier für seinen Gesammtstandpunct und für die
Art der Ausführung der Aufgabe von diesem Standpuncte aus in Betracht Es ist
die grossartige, stoffreiche Ausführung des für Roschers Standpunct immer noch
besonders beachtenswerten Grundrisses für Vorlesungen über Staatswirthschaft nach
geschichtlicher Methode, 1843. S. ferner im Allgemeinen Roschers Geschichte der
Nationalökonomik in Deutschland, München 1874, welches Werk ausserordcntlichsten
Fleisses und umfassendster Belesenheit nur unter der dem Verfasser einmal gestellten
Aufgabe, sich wesentlich auf Deutschland zu beschränken, — wie bei allen bezüglichen
„Geschichten der Wissenschaft“ der historischen Commission der Baierischeu Akademie
der Wissenschaft — leiden musste, wodurch Manches in schiefe Stellung gebracht
wurde. S. daselbst die Ausführungen Uber einzelne Richtungen, so deu Katheder-
socialismus § 209 ff., die deutsche Manchesterschule § 205.
Bruno Hildebrand , die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft, Frank-
furt a. M. 1848, 1. B. (einziger). Ferner die von ihm gegründete Zeitschrift „Jahr-
bücher für Nationalökonomie und Statistik“. Darin verschiedene hierhergehörige
Aufsätze von ihm, u. A. der programmatische ErölTnungsaufsatz „die gegenwärtige
Aufgabe der Wissenschaft der Nationalökonomie“, 1. B. (1863), mit principiellen
Erörterungen Uber volkswirtschaftliche Gesetze, wirtschaftliche Natur des Menschen,
Methode u. s. w., worin bereits eine Hinneigung zu den Einseitigkeiten und Ueber-
treibungen der späteren historischen Schule hervortritt.
Unter den jüngeren deutschen Nationalökonomen der historischen Richtung,
welche sich von den Einseitigkeiten der neueren historischen Schule freigehalten
haben, ist namentlich G. Schöubcrg zu nennen, mit kleineren Schriften und Auf-
sätzen. wie Volkswirtschaft der Gegenwart in Leben und Wissenschaft, 1869, Volks-
wirtschaftslehre Berlin 1873, Arbeitsämter 1871, über die deutsche Freihandelspartei
und die Partei der Eisenacher (kathedersocialistischcn Versammlung), in der Tübinger
Zeitschr. f. Staatswissensch. B. 29 , 1873 , zur Litteratur der socialen Frage eb.
B. 28, 1S72, u. a. m. Jetzt besonders der einleitende Aufsatz Uber die Volkswirt-
schaft im 1. Bande des grossen Schönberg sehen Handbuchs der Politischen Oekonomie,
3. Aufl., Tübingen 1890. Dieses ganze Werk auch für die gegenwärtige Auffassung
und Bchandlungswei.se der Politischen Oekonomie unter deutschen Fachmännern ausser-
halb des engsten Kreises der neueren historischen Schule.
Die oben besprochene jüngere historische Richtung hat ihren Hauptvertretcr
in G. Schm oller. Wegen dieser seiner Bedeutung und wegen der grade zwischen
uns in besonderem Maasse bestehenden principiellen RichtungsdiflTerenzen und Meinungs-
verschiedenheiten über Methode, Aufgabe und Behandlungsweise der Politischen
Oekonomie- glaube ich es hier nicht unterlassen zu dürfen, auf ihn hier etwas näher
einzugehen. Der auf seinen grossen Spccialgebieten , der Geschichte der Gewerbe-
verfassung und der preussischen Verwaltungsgeschichte, so hoch verdiente und Balm
brechende Führer der jüngeren historischen Richtung der Nationalökonomie gehört
mit verschiedenen grösseren und kleineren Arbeiten, auch Recensionen u. dgl. auch
in diese Uebersicht der „grundlegenden“ Litteratur. Er ist ausserdem wegen der
Haltung, welche er deu von ihm ausgehenden oder unterstützten Zeitschriften und
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Deutsche historisch-nationalökonomische Richtung. Litteratur. 53
Sammelwerken (Jahrbuch für Gesetzgebung u. s. w. des Deutschen Reichs, seit 1SS1,
Staats- und socialwissenschaftliche Forschungen) grundsätzlich hat zu geben gesucht
omi wegen seines ablehnenden Standpuncts gegen die „ältere Schuldogmatik“, wegen
seiner Stellungnahme in der Frage der Methode, dor Aufgabe der Politischen Ocko-
nomie hier besonders hervorzuheben.
Gewisse socialökonomische, socialrcchtliche und ethische Anschauungen und
Postulat«, gewisse Zielpunctc der Disciplin und der Social- und Wirthschaftspolitik,
das, was der jüngeren mit der älteren historischen Richtung gemeinsam ist, trennt
meine Anschauung nicht nur nicht von Schmoller. sondern sind uns im Wesentlichen
gemeinsam. Auch in der Nothwendigkcit einer tieferen psychologischen Begründung
der Wissenschaft stimmen wir überein. In Maass und Tempo unserer Forderungen
an die Wirthschafts- und Socialpolitik mehr, als in den Principieu dafür, wenngleich
auch mit in diesen, gehen wir etwas auseinander, was vielleicht mehr im Tempera-
ment. als in der Verschiedenheit der Auffassung des „Historikers“ und des „Dogma-
tikers“ liegt. Mit Schindlers hauptsächlich hierher gehöriger nach Inhalt nnd Form
rortrefTlichen , wenn auch nicht in allen Ausführungen hinlänglich scharf und klar
gedachten und vielfach zu aphoristischen Streitschrift gegen H. v. Treitsclike „über
einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft“ (Ilildebrand’s Jahrbücher
1S74 und 1S75, auch selbständig, Jena 1875), einer Art allgemeinerer philosophischer
Begründong der Theorieen der jüngeren „ethischen“ historischen Schule, bin ich eben-
falls grossentheils einverstanden. Hier wie in seinen anderen bezüglichen Aufsätzen
betont Schmoller das Moment der Sitte und der Sittlichkeit mehr, dasjenige des
Zwangs und des Rechts weniger als ich, was aber auch wieder mehr auf ein Ab-
weichen in Maass und Grad, als in Principien hinauskommt.
Eine schärfere und in der That principielle Trennung besteht zwischen
aus dagegen in BetrefF der Methode, der Aufgaben der Politischen Üekonomie, des
Verhältnisses der Wirtschaftsgeschichte zur Wirthschaftstheorie, der W ürdigung der
älteren britischen Theorie und Dogmatik und aller Systematik überhaupt, auch wohl
hinsichtlich der Stellung der Politischen Oekonomie zu den verwandten Wissenschaften,
insbesondere zur sogen. Socialwissenschaft. Damit hängt eine verschiedene Anschauung
über die Berechtigung verschiedenartiger wissenschaftlicher Arbeitsweise (§. 11)
zusammen. Für Schmoller ist alles, was nicht zur historisch-statistischen „exacton
Forschung“ gehört, mehr oder weniger Gedankenspielerei. Mit Worten wie „specu-
Utive Betrachtung“ iu der „noch metaphysischen“ Periode der Wissenschaft, in Comte’-
icher Weise, wird es stigmatisirt und damit abgethan. Worte, Worte! darf man wohl
«rwidem. Und Worte, Worte! auch bei dem Lieblingsausdruck und Begriff „exact“
— für historisch -statistische „Forschung“! Auf dem Gebiete der „Geisteswissen-
schaften“, wo doch zuvor die Anwendbarkeit eines solchen Ausdrucks und Begriffs
erst einer sehr genauen Prüfung bedürfte, bis zu weicher dieser Begriff selbst an
..Eiactheit“ und Klarheit noch nicht weniger als Alles zu wünschen übrig lässt.
f$. u. A. den besonders charactcristischen Aufsatz Uber Zweck und Ziel seines Jahr-
buchs. mit dem Schmoller dasselbe \,B. V, JS81) bei der Uebernahme der Redaction
einleitete.)
In entsprechender grösserer Ausführung, in einer zusammenhängenden, auch hier
vermuthlich von ihm abgelehnten, aber gerade besonders wünschenswcrthen „systema-
tischen“ Weise hat sich Schmoller bisher über die angedeuteten Puncte nicht ge-
äußert. Vornemlich liegen nur kurze Glaubensbekenntnisse, Thesen, kritisch-polemische
Wendungen vor, aus denen die principielle Auffassung sich doch nicht immer sicher
entnehmen lässt Offenbar wird dabei Manches schärfer zugespitzt, treten die Gegen-
sätze stärker hervor, als es eigentlich der Sachlage, Schmoller’s wirklicher Meinung
und — seinen eigenen vielen werthvollen sonstigen Arbeiten entspricht. Seine kleineren
Aufsätze, vor allem seine Recensionen, worin sich Gelegenheit giebt, die genannten
Fragen zu berühren, sind bei aller scheinbaren Objoctivität und allein Maassc in der
Form der Kritik und der Polemik, doch von einem starken Subjectivismus und einem
grossen Selbstgefühl getragen. Aber der leicht etwas überlegene, dadurch nicht
selten, gegen den Willen Schmoller’s, verletzende Ton gegen Alles und Alle, welche
ia Methode. Aufgabestellung. Arbeitsweise, wissenschaftlicher Gesammtauffassung von
ihm abweichcn, ihm nicht congenial und sympathisch sind , kann es doch nicht ver-
argen. dass Schmoller gerade in principiellen Fragen, in theoretischen, begrifflichen —
54
Einleitung. 2. K. Andre Standpuncte. Litteratur. §. 16.
die trotz Allem auch der Historiker nicht vermeiden, kann! — , in rechtlichen, auch
selbst in methodologischen Puncten sich nicht immer selbst ganz klar und sich seiner
selbst auch nicht immer ganz sicher ist. Wie seine grossen wirthschaftsgeschichtlichcn
Arbeiten zeigen, liegt auch seine hohe Begabung weit mehr auf anderen Gebieten
und in anderen Richtungen. Er hat selbst gelegentlich gesagt, dass die Historiker
einer Wissenschaft selten deren ebenso berufene Theoretiker sind, was sich auch an
ihm selbst bestätigen möchte (u. A. auch nach dem — hier beabsichtigten — theo-
retischen Ergebniss der vorzüglichen wirthschafts- und culturhistorischen Unter-
suchungen über Arbeitsteilung und Untcrnchmungsformen). Soweit aber aus seineu
mehr sporadischen Aeussernngen, in gelegentlichen Excursen. ferner implicito aus den
wirthschaftsgeschichtlichcn und practischon Arbeiten Schmoller’s sein Gesammtstand-
punct und seine ganze Auffassung über unsere Diflerenzpuncte zu entnehmen sind,
z. B. in der Kritik Schall des, Menger’s, des Schönberg’schen Handbuchs, meiner
Fiuanzwissenschaft , Vorworten, Programmaufsätzen seiner Zeitschriften, zahlreichen
Recensionen (noch jüngst Hasbach’s), kann ich nur sagen, keinen entscheidenden
Grund zur wesentlichen Aenderung meines eignen wissenschaftlichen Standpuncts ge-
funden zu haben, so sehr auch ich mich Schmoller für vielfachste Förderung ver-
pflichtet weiss. Vermochte ich mich nicht mehr zu ändern, so liegt das wohl an
meinem „dogmatischen Kopf“ und meiner „metaphysischen“ Ader (§. 1 1). Dann kann
ich eben auch nichts dafür. Und immerhin geht es vielen Anderen ebenso wie mir
und bin ich, nebenbei bemerkt, selbst von der Statistik zur Nationalökonomie gekommen
und glaube gezeigt zu haben, dass ich „inductive“ Beweise mit statistischem und
historischem Material auch fuhren kann, dass ich mit der Deduction überall Induction
verbinde, aber — die erstere, aus nachgewiesenen, wie selbst aus angenommenen
Voraussetzungen, in unseror Disciplin mir vielfach die beweiskräftigere erscheint, zu-
mal auf dem Gebiete der Theorie. In der „Grundlegung“ kommen unsere Differenz-
puncte unvermeidlich schärfer zum Vorschein, als es auf anderen Gebieten, z. B. der
practischon Nationalökonomie der Fall sein wurde1).
S. von Schmoller u. A. noch die gesammelten Aufsätze „zur Litteraturgeschichte
der Staats- und Socialwissenschaften“ Leipzig 1888 (darin u. A. der Aufsatz über
Schäfflc, Mengcr, Dilthey); darüber die Besprechung von H. Dietzel, in den Göttinger
Gelehrten Anzeigen, 1889. Ferner: Das Einleitungscircular der staats- und social-
wissenschaftlichen Forschungen ; das Vorwort zu dem Werke „die Strassburger Tucher-
und Weberzunft“ (Strassburg 187s); die Recension des Schönberg’schen Handbuchs
der Politischen Oekonomie , Jahrb. 1 882 , II , dazu meine Gegenbemerkungen in der
*) Hinsichtlich der Recensionen Schmoller’s, die gerade für seinen principiellen
Staudpunct oft am Bezeichnendsten sind, mag mir auch dem Specialcollegen gegenüber,
nachdem er meine Finanzwissenschaft seinerseits in seiner Weise recensirt hat, eine Be-
merkung gestattet sein. Viele davon, besonders ausserhalb der Specialitätcn Schmoller’s.
gehen zu wenig auf die Sache selbst, auf die im behandelten Gegenstand liegenden
sachlichen Diflerenzpuncte der wissenschaftlichen Behandlung ein, sondern geben ein
Crtheil über den Autor der Schrift, indem derselbe an Schmoller’s subjectiver geistiger
Anlage, Arbeitsweise und Arbeitsneigung wie an einem objectiven Maassstabe ge-
messen und dann etwa noch, wie in der Schule, prädicirt wird, günstig der Richtungs-
verwandte, ungünstig der Andere, nicht einmal in Betreff seiner gerade besprochenen
Leistung, sondern nach seiner ganzen geistigen, wissenschaftlichen Persönlichkeit, mit
Note 1, 2, 3, 4 u. s. w. Das ist doch nicht eigentlich die Aufgabe der Recension,
und — es ist das Verletzende. Etwas mehr Duldsamkeit, etwas mehr Wohlwollen,
auch etwas mehr Fähigkeit und — Wille, ihm nicht congenialc Persönlichkeiten und
Leistungen anzuerkennen (Schäfflc! K. Menger!), wäre doch wohl kein unbilliges Ver-
langen. Wenn aber das, was allenfalls dem Meister ob anderer Verdienste zu Gute
gehalten, obwohl auch bei ihm lieber vermisst wird, bei jungen Schülern und Mit-
arbeitern in der Recensirthätigkeit und in dgl. m. noch stärker bervortritt, so ist das
wohl noch weniger zu billigen. Es zeigt aber, dass Kichtungsexclusivität auch ethisch
nicht eben günstig wirkt. Mit dem Interesse der „allein sclisrmachenden“ — Glaubcns-
wahrheit, nein Wisscnscbaftswahrheit, etwa in der Methoden-, der Aufgabenfrage,
wird doch da leicht etwas gedeckt, was — nicht wissenschaftlich, sondern „echt
menschlich“ ist.
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Ilistorisch-nationalökonomische Litteratur.
55
Tüb. Ztschr. f. Staatswiss. Bd. 39, 18S3, S. 263 ff. In dem Streite mit K. Menger,
veranlasst durch Schmoller’s in der Form höfliche, aber etwas von oben herab kom-
mende Kecension des werthvollen Mengcr’scben Bachs, Untersuchungen über die Me-
thode der Socialwissenschaftcn (s. u §. 19) hat Schmoller sachlich kaum den Sieg
behauptet, nur dass leider sein scharfsinniger Gegner, ein „theoretischer“ Kopf ersten
Hangs, wie Schmoller ein „historischer“, die sich eben gegenseitig schwer verstehen,
sich zu einer Form der Polemik hat hinreissen lassen, zu welcher Schmoller keinerlei
Anlass gegeben und wodurch Menger seiner Sache nur geschadet hat. Von anderen
Aufsätzen Schmoller’s s. für die Grundlegung namentlich noch den „über Gerechtig-
keit in der Volkswirtschaft“, Jahrbuch V, 1881.
Aehnliche einseitige Tendenzen wie bei Schmoller finden sich bei einzelnen
anderen Fachmännern der „Strassburger Schule“, wie Knapp, Brentano (classische
Nationalökonomie, Antrittsrede, Loipzig 1888).
Aber auch unter den historischen deutschen Nationalökonomen hat sich die
Mehrzahl doch von solchen Einseitigkeiten frei gehalten. Man erkennt auch da. wie
wir es unsererseits thun, die Berechtigung, ja die Notwendigkeit verschiedener
methodischer und principieller Richtungen und einer wissenschaftlichen Arbeitsteilung
nach Sach- und Studieugebieten, Anlage, Neigung an und glaubt, dass erst eine Zu-
sammenfassung aller Richtungen u. s. w. gerade dem Wesen einer Wissen-
schaft der Politischen Oekonomie als Socialökonomie entspricht.
In die ausländische Wissenschaft ist neuerdings die historische Richtung
der Disciplin ebenfalls gedrungen, nach Italien, Nordamerika, England, auch Frank-
reich. Aber von der Ausschlusstendenz gegen andere Richtungen, von der Aburtei-
lung über die Leistungen der früheren Autoren, besonders der Briten, hat man sich
hier doch in der Regel frei gehalten. Eine Neigung dazu tritt nur vereinzelt hervor,
in England etwa bei Cliffe Leslie, bei Ingram in seiner vortrefflichen kleinen
Geschichte der Volkswirtschaftslehre, bei dem Wirtschaftshistoriker Rogers. In
Frankreich hat Gide das entschiedene Verdienst, der historischen und socialpolitischen
Richtung Raum gewonnen zu haben ( in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift
Revue d’econ. politique). Wo er vielleicht schon etwas zu weit geht, erklärt sich seine
Stellungnahme wohl mit aus der begreiflichen Reaction gegen die entgegengesetzte
Einseitigkeit der „Pariser Schule“, welche u. A. im „Institut“ — wie in deutschen
Akademieen ähnlich einseitig der Historismus die seine — nur ihre, d. h. wesentlich
die alte, mehr abstract deductive, freihändlerische Richtung quand m£me gelten lässt.
S. darüber Gide’s Aufsatz in der Polit. Science Quarterly (America). Dec.heft 1890.
C'haracteristisch dafür ist M. Block ’s auch noch jüngste litterarische Thätigkeit, etwa
in der Richtung der „Berliner Freihandelsschule“; so in Block’» Quintessenz des
Kathedersocialismus , Berlin 1 879 , in seinem Werk „les progrös de la Science econo-
mique depuis Ad. Smith“, 2 vol. Paris 1890, mit übrigens reichhaltigem litterar- und
doemengcschichtlichcm Material. Compctcnteste Fachmänner des Auslands, wie in
Italien vor Allem L. Cossa mit seiner ausgesprochenen Vorliebe für die Litterar-
historie des Fachs, der Belgier E. de Lavelcye, die Engländer Sidgwick,
Mars hall, Key n es, zahlreiche jüngere amerikanische Gelehrte, welche in Deutsch-
land ihre Bildung erhielten, der historischen und socialpolitischen Richtung gewonnen
wurden, aber dieselbe mit Maass vertreten und an Kernpuncten der älteren Theorie
festbalten, wie u. A. besonders die Männer der Harvard Onivcrsity und deren Organ,
das Quarterly Journal of Economics, nehmen die ähnliche vermittelnde Stellung
ein , wie in Deutschland doch im Ganzen die Hauptvertreter der älteren historischen
Schule, ferner von Männern, welche Schmoller’s und meine ungefähren Coätancn
sind (um mich auf Nennung dieser zu beschränken), G. Cohn , Conrad , Lexis, Nasse,
Neumann, Schönberg, wohl auch im Ganzen, trotz seiner besonderen Hinneigung zur
Gruppe „Schmoller, Knapp, Brentano“ noch v. Miaskowski. u. A. m., und wie. wenig-
stens seinem Streben nach, auch der Verfasser des vorliegenden Werks1).
*) Unter den neueren Engländern beziehe ich mich besonders auf Marshall
und dessen treffliches Werk „principles of economics“, 1. Aull. London 1890, 2. Aull.
1591. Darüber eine eingehendere Besprechung von mir im Quarterly Journ. of Eco-
nomics, Aprilheft 1891 (Harvard University in Nordamerica'), worin ich mich über
die im Text berührten Puncte geäussert habe. S. ferner das tüchtige Buch von
5(5
Einleitung. 2. K. Andre Standpuncte. Litteratur. §. 10, 17.
Unter den deutschen Fachmännern ausserhalb der engeren historischen Schale
kommen mit Arbeiten für die ..Grundlegung“ (freilich mehr noch für die „theoretische
Nationalökonomie“) besonders Fr. J. Neu mann (Tübingen) und G. Cohn in Betracht.
Von jenem gehören hierher die wichtigen Arbeiten über die wirtschaftlichen Grund-
begriffe und über die Gestaltung des Preises im 1. Baude des Schönberg’schen Hand-
buchs (in dessen verschiedenen Auflagen'), sowie die älteren Aufsätze gleichen Inhalts
in der Tüb. Ztschr. f. Staatswiss, B. 25, 20, 3(5: ferner die selbständige Schrift
„Grundlagen der Volkswirtschaftslehre“. 1885). Auch die Neumann sehen Arbeiten
über Steuern kommen nach ihrem Inhalte teilweise mit in Betracht. S. dieselben
und darüber meine Finanzwissenschaft, II, 2. Aufl. S. 15) ff.
G. Cohn hat in seinem vorzüglichen System der Nationalökonomie, 1. Band,
Grundlegung, Stuttgart 1885, eines der besten und zugleich formgewandtesten Bücher
über Politische Oekonomie geschrieben, mit welchem ich besonders in Betreff der
Methodologie (Einleitung 1. Kap.) und den Erörterungen über die Gestaltung des
Wirtschaftslebens (System der Wirtschaft, 2. Hauptabschnitt, worin eine Reihe der
von mir in meiner Grundlegung behandelten Puncto durchgenommen werden) vielfach
Ubereinstimme. Näher habe ich mich in dem Aufsätze „systematische Nationalöko-
nomie“ in Conrad’s Jahrbüchern, B. 40 (N. F. 12), 1880 (S. 15)7 ff.) darüber aus-
gesprochen. S. in Cohn s Werk auch den Abriss einer Geschichte der Nationalökonomie
(Einleitung, Kap. 3), Ausführungen, denen ich mich nicht ungeteilt, aber in höherem
Maasse als anderen literarhistorischen Schriften und Ucberblicken anschliessen kann.
Von G. Cohn sind ausserdem manche Aufsätze über Principicnpuncte der
Grundlegung zu nennen, welche jetzt meistens in den beiden Bänden „volkswirt-
schaftliche Aufsätze“, Stuttgart 1SS2, und „nationalökonomische Stulien“ . Stuttgart
18S6. gesammelt vorliegen. Im ersten Buche u. A. „Wehrsteuer“, „Ehre und Last in
der Volkswirtschaft“, „Arbeit und Armuth“.
Nicht mit eigenen Schriften und Aufsätzen gerade über die Probleme der Grund-
legung, wohl aber mit mancherlei bezüglichen Ausführungen in seinen Arbeiten über
besondere Gegenstände ist auch W. Lcxis hier zu nennen. So seine vortrefflichen
Abhandlungen über Handel und Consumtion im 1. Bande des Schönberg scheu Hand-
buchs, Einleitungen und Excursc in seinen statistischen und historischen Arbeiten
(über französische Ausfuhrprämien), in zahlreichen Aufsätzen, Recensionen in den
Fachzeitschriften. Die Verbindung abstract deductiver und historisch-statistischer Be-
handlung, scharfer begrifflicher Erörterung, feiner psychologischer Analyse zeichnet
Keynes, scopc and incthod of political economy, London 1891, mit welchem ich in
diesen Fragen grösstenteils Ubereinstimme. Darin u. A. die Zurückweisung der zu
grossen Ansprüche des neueren Historismus, auch der Polemik eines Cliffe Leslie
(p. 296 ff.). Mit vollem Rechte hält Marshall an der „Continuität“ in der Entwick-
lung der Wissenschaft fest. Von ihm. von neueren amerikanischen Schriftstellern wird
gegenüber den Ucbertreibungen und Unklarheiten des Historismus einem Ricardo, den
neuere deutsche Autoren gelegentlich kurzweg eine „Verirrung“ nennen — noch
jüngst ziemlich so der hochverdiente, aber auch zur Einseitigkeit des jüngeren Histo-
rismus neigende Hasbach — mit Fug und Recht und in richtiger literarhistorischer
Dankbarkeit wieder die maassgebende Bedeutung . trotz aller seiner Einseitigkeit, vin-
dicirt. Vollkommen zutreffend urtheilt Marshall (I, 1. Aufl. p. 519) über Ricardos
Froductionskostcnlehrc: ihre Grundlagen seien bis heute intact geblieben, viel sei
dazu gefügt, viel darauf gebaut, wenig davon genommen. Mit dieser maassvolleti Be-
sonnenheit vergleiche man deutsche Urthcile des jüngeren und jüngsten Historismus
über Ricardo und Uber andere ältere Autoren seiner Methode und Richtung. Ein
Hermann wird bei uns von manchem jüngeren Fachmann kaum mehr gekannt, sein
unübertroffenes Hauptwerk findet, wie auch ein v. Thtlnen, im Auslände um so mehr
dankbare Würdigung. Ueber die „neuen Doctrinen“ sagt Marshall (Vorwort p. V)
ganz richtig: „they havo supplemcnted tho older, have extended, developed, and some-
times corrected them. and ofteu have given thern a different tone by a new discussion
of emphasis; but very seldom have subverted them.“ Aehnlicbes gilt vom
jüngeren Historismus. Aach in der deutschen Wissenschaft wird das wieder anerkannt
werden, davor ist mir nicht bange. Die jüngere „österreichische Schule“ (§. 19),
H. Dietzel u. A. m. werden dafür sorgen.
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Kathedcrsocialismus.
57
alle Arbeiten von Lexis iin hoben Grade aus. Aohnliches pilt unter den Jüngeren
von Büeher’s Arbeiten, wolcbe aber gleichfalls wesentlich den Specialgebieten an-
gehören. Wie die Ergebnisse der bis torischen Forschungen für die nationalöko-
nomische Theorie verwerthet werden können und müssen, zeigt z. B. sein vortreff-
licher Art. Gewerbe im Handwörterb. d. Staatswiss. B. III.
§. 17. Der Kathed ersoeialism us. In dem im §. 15 auch
von uns zugestandenen Maasse gehören so ziemlich alle diejenigen
deutschen Nationalökonomen , welche mit dem Spitznamen „Ka-
thedersocialisten“ von ihren freihändlerischen Gegnern seit
Beginn der 1870er Jahre zusammengefasst werden, auch zur
historisch-nationalökonomischen“ Schule. Dieser Name „Katheder-
soeialisten“ ist von den so Bezeichneten nicht weiter abgelehnt,
öfters selbst gebraucht worden. Was man indessen so zusammen-
fasst, umseblicsst Richtungen und Personen, welche unter sich
principiell und practisch weit auseinander gehen. Das Gemeinsame
ist wesentlich nur der historische Standpnnct in der angedeuteten
Beschränkung und die Abweisung der extremen Richtung des öko-
nomischen Individualismus und Liberalismus, des sogenannten
Manchester-Stand puncts.
Während sich der eine Flügel stark dem Socialismus nähert, Einzelne darin ihn
namentlich in der Form des Staatssocialismus vertreten, steht der andere Flügel
der älteren liberalen Doctrin und Praxis noch sehr nahe, nur dass auch er die
„freie Concurrenz“ nicht so zum Dogma macht, nicht so optimistisch auffasst und
mehr Ausnahmen für notliwendig, mindestens für berechtigt und zweckmässig, auch
allgemeinere für erwägenswerth hält. Zu diesem Flügel gehört auch jene englischen
Vorbildern folgende Richtung , welche an Stelle der Concurrenz der Individuen, wie
in der älteren Theorie und Praxis, diejenige der organisirten Verbände von
Arbeitern und Arbeitgebern (trade unions, Gcwerkvereins-Organisation u. s. w.) setzen
will (Brentano). Innerhalb dieser Extreme von links nach rechts — oder rechts nach
links, wenn, man will — um Namen zu nennen, etwa von Schätrie und mir bis zu
Nasse, Conrad, Brentano, zeigen sich wieder in theoretischer und practischer Richtung
die verschiedensten Nuancen, zahlreiche Berührungs- und Uebereinstitnmungspuncte
Aller mit Allen, der Einzelucn unter einander, aber auch ebenso viele und starke
Diü'erenzpuncte. Eine wissenschaftliche oder practische einheitliche „Richtung“ oder
„Schule“ stellt der Kathedersocialismus also in keiner Weise dar.
Ein andrer gemeinsamer Name ist schon wegen dieses Umstands kaum passend.
Die von einzelnen Seiten vorgeschlagenen, wie „ethische“, „realistische“,
„socialpolitische“ Richtung, sind an sich angreifbar und wurden wieder nur für
einzelne Richtungen innerhalb des „Kathedersocialismus“ allenfalls geeignet sein. Auch
hier mehr, um eine gewisse Färbung und Tendenz einer Richtung und eines Autors
(z. B. etwa des „Ethischen“ bei Männern wie G. Schönberg, G. Schmoller, G. Cohn)
als um die Gesammtrichtung auch nur eines einzelnen Autors richtig zu bezeichnen.
Daher verbleiben wir lieber bei dem „historisch gewordenen“ Namen „Katheder-
socialismus“.
Eine Darlegung dieses Kathedersocialismus hat hiernach
keinen Sinn. Eine kritische Auseinandersetzung mit ihm ebenso-
wenig. Eine ihm specifisch eigentümliche Litteratur hat er gleich-
falls nicht. Es kann sich nur darum handeln , auf die Lehrmei-
nungen einzelner in ihm enthaltener Richtungen und zu ihm ge-
58
Einleitung:. 2. K. Andre Standpuncte. Litteratur. §. IS.
hörender Autoren von Fall zu Fall referirend und kritisch einzu-
gehen, wozu auch die principiellen Erörterungen in der Grundlegung
mehrfach Anlass geben.
Die wcrthvollcn Materialsammlungen , Gutachten, Referate und Vcrhandlungs-
berichte Uber praktische wirthschaftspolitische Fragen in den „Schriften des Vereins
für Socialpolitik“ haben etwa nur d as Gemeinsame des Standpunctcs, dass die radical
individualistische, rein freihändlerische Auffassung und Behandlung abgelehnt und
nach einem positiven Aufbau der Wirtschaftsordnung gestrebt wird.
§. 18. Der Staatssocial ismus. Auch mit dem Namen
„Staatssocialismus“ werden wohl verschiedene Richtungen
belegt. Mitunter hat man gegnerischerseits den Staatssocialismus
und den Kathedersocialismus kurzweg identificirt. Das ist unrichtig
uud abzuweisen.
Der Kathedersocialismus ist nach dem Gesagten eben überhaupt kein einheitlicher
Begriff, eigentlich überhaupt kein Begriff, sondern ein populärer Collectivname für
verschiedene Richtungen, welche dem reinen ökonomischen Individualismus antagonistisch
sind ; jedenfalls als Begriff aber etwas viel Weiteres als der Staatssocialismus. Dieser
gehört wohl zu jenem, aber stellt nur Eine von vielen Richtungen in ihm dar und
eine bisher keineswegs sehr verbreitete.
Mitunter ist neuerdings jede Maassregel „positiver Socialpolitik“,
durch welche irgend wie in das „freie Spiel der wirtschaftlichen
Kräfte“ eingegriffen wird, besonders auf dem Gebiete der Arbeiter-
verhältnisse, kurzweg staatssocialistisch, Staatssocialismus genannt
worden.
So selbst die Arbeiterschutzgesetzgebung, mehr noch die neuere deutsche auf
dem Zwangsprincip beruhende Arbeiterversichcrungsgesetzgebung ; gewisse social-
politische Einrichtungen im Finanz- und Steuerwesen.
Oder man hat auch Maassregeln wie die Uebernahme grosser
wirtschaftlicher Unternehmungen auf die öffentlichen Körper, auf
Staat, Gemeinde, Staatsbahnwesen und Eisenbahnverstaatlichung
u. dgl. m. ohne Weiteres so genannt. Das ist unter gewissen Vor-
aussetzungen auch nicht unzulässig. Aber diese Voraussetzungen
liegen bei diesen Maassregeln nicht notwendig immer vor und in
der Praxis, sowie bei ihren theoretischen und politischen Vertretern
waren sie bisher sogar in der Regel nicht vorhanden.
Mau kann nur sagen: die und die Maassregeln , wie die genannten, haben
meistens , wohl oder übel, unabhängig vom Willen ihrer Beförderer, eine staats-
socialistisch e Seite und Folge und können eine staatssocialistische Tendenz haben.
Kur im letzteren Falle stellen sie bewussten Staatssocialismus dar.
Ganz einseitig und tendenziös ist es, wenn in den Entwürfen zu dem neusten
(Erfurter) Programm der Socialdemokratie ein (in das Programm selbst nicht mit
aufgenommener Passus) den Staatssocialismus als ein „System der Verstaatlichung zu
fiscal i sehen Zwecken“ bezeichnete und ihn verwarf (Prot, der Erf. Parteitags,
Berlin 1891 S. 14). Diese Zwecke können mitspielen. — und zum Vortheil graile
der Gemeinschaft — aber sie sind nicht das Entscheidende.
Der eigentliche Staatssocialismus ist nun in der That, wie
der ökonomische Individualismus und Socialismus, eine eigene
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Staatssocialismus.
59
geschlossene ökonomische Doctrin und ein System der
Wirtschaftspolitik. Er nimmt bewusst und mit be-
stimmten Tendenzen und Zielpuncten und gewollten
Folgen eine vermittelnde Stellung in Theorie und Praxis der
Volks wirthschaft zwischen jenen beiden, dem Individualismus und
dem Socialismus, ein. Das thut zwar im Grunde jede nicht extreme
individualistische oder socialistische w’irtbschaftlichc Doctrin und
vollends jede bisher geschichtlich vorgekommene Praxis, jede con-
creto Volkswirthschaftspolitik, welche stets auf ein Compromiss
zwischen Individual- und Socialprincip (§. 6) hinausläuft. Der
Staatssocialismus unterscheidet sich hiervon indessen als Doctrin
und Wirtschaftspolitik dadurch, dass er principiell dem Socia-
lismus entgegenkommt, weil er dessen Kritik th eil weise für be-
rechtigt und dessen Forderungen iu Bezug auf die Eigenthums-
ordnung t heil weise für erfüllbar und die Erfüllung für erwünscht
hält. Insoweit entfernt er sich auch principiell vom Indivi-
dualismus. Aber anderseits hält er gegenüber jenen Forderungen
des Socialismus wieder eine principielle Schranke inne, weil
er eine principielle Berechtigung und Notbwendigkeit
auch des Individualismus und zwar im Gemeinschaftsinter-
esse anerkennt. Nur einen schrankenlosen Individualismus, nicht
einen nach socialen Rücksichten einzuschränkenden, verwirft er.
Demgemäss vertritt auch der Staatssocialismus und mit aus den Gründen der
socialistischen Kritik die Ersetzung von Privateigenthum an Kapitalien und Grund-
stücken durch „gesellschai tlich es“ , d. h. aber gleich genauer bezeichnet durch
staatliches, communales und dgl. Eigenthum und damit die Ersetzung von
Privatwirtschaft durch Gemeinwirthschaft. Aber er. beschränkt seine Forderung auf
eine theilweisc Ersetzung, nemlich nur da, wo es nach Lage der concretcn Ver-
hältnisse, ökonomisch und technisch möglich und zweckmässig und zu-
gleich socialpolitisch wunschens werth und passend ist. Das Vorhandensein
dieser Bedingungen nimmt er nicht, wie der Socialismus in seinen Behauptungen,
überall von vornherein unbedingt als erwiesen an, sondern er verlangt erst den Beweis
dafür. Er setzt sich dabei auch über die psychologischen wie practisch-technischen,
politischen Bedenken und Schwierigkeiten einer gemeinwirthschaftlichen , auf der
Grundlage gesellschaftlichen Gemeineigenthums ruhenden Organisation der Volkswirt-
schaft nicht einfach hinweg, sondern hält eine eingehende objective Auseinander-
setzung mit denselben für erforderlich und für seine Aufgabe.
Danach verbleibt ihm auch für einen grossen, den grössten Theil der Volks-
wirtschaft die Privateigen thumsordnung und die pri vatwirthschaftlic he
Organisation, wiederum nicht im Interesse der Besitzenden, sondern im Gesellschafts-
und Volkswirthschaftsinteresse selbst. Freilich verzichtet er dabei auf den Versuch,
in der Weise der älteren Doctrinen (der Nationalökonomie , der Rechts- und Staats-
philosophie) die Grenzen zwischen Privat- und gesellschaftlichem Gemeineigentum,
zwischen privat- und gemeinwirthschaftlichcr Organisation, zwischen Individuum und
Staat ein für allemal, „principiell“ aus dem „Wesen“ — oder dem, was man
so nennt — sei es des Staats, sei es der Individualfreiheit ableiten zu wollen. Denn
er sieht dieses „Wesen“ selbst und. jene Grenzen als etwas notwendig und zweck-
mässig historisch Veränderliches an. Bei der jeweiligen Feststellung dieser
(iO Einleitung. 2. K. Andre Standpuncte. Litteratur. §. 17.
Grenzen , auch bei der Verschiebung zu Gunsten von Gemeineigenthuin und Gemein-
wirtschaft , hat auch nac h Ansicht des Staatssocialismus die Entwicklung und der
jeweilige Stand der Productionst echuik ein gewichtiges Wort mitz.usprechen,
freilich aber, und zwar vor Allem auch aus psychologischen Gründen und um
des Freiheitspostulats Willen, nicht, wie der Socialismus will, das alleinige
Wort. Wieder unter Benutzung der socialistischen Kritik und der Erfahrungen hin-
sichtlich des privatwirthschaftlichen Systems und seiner Function unter dem Rechts-
grundsatz der freien Concurrenz hält der Staatssocialismus nur principiell eine
beschränkende Regelung des Privateigenthums an den sachlichen Productions-
mitteln, des Vertragsrechts und des ganzen privatwirthschaftlichen Systems für not-
wendig und berechtigt. Grade dadurch, das erkennt er, soll wieder und muss und
kann auch allein das Privateigenthum als ein doch in erster Linie dem G ein ein -
sebaftsinter esse dienstbares Rechtsinstitut, und das privatwirthscbaftlic.be System
als ein ebenfalls zuerst für dieses Interesse fungirendes System der ganzen Volkswirt-
schaft, wirklich in den Dienst der Gemeinschaft gestellt werden. Wie dabei
aber im einzelnen Falle vorzugehen ist, entscheidet der Staatssocialismus nicht nach
einfachen „Principien“ , „Thesen“, „Axiomen“, sondern unter steter Berücksichtigung
der mitspielenden psychologischen Factoren und der practisch-technischen. auch
der politischen Seite der Dinge nach genauer Untersuchung der concreten
Verhältnisse.
In der Kritik der geschichtlich überkommenen bestehenden Verhältnisse des
Wirtschaftslebens und des Wirthschaftsrcchts hütet sich der Staatssocialismus vor
den Uebertreibungen , vor dem Pessimismus des Socialismus. In der Annahme der
Veränderungs- und Verbesserungsmftglichkeit der wirtschaftlichen und socialen Ver-
hältnisse durch die vom Socialismus geforderten wirthsc haftsrechtlichen und wirth-
schaftsorganisatorischcn Reformen hütet er sich aber nicht minder vor den optimistischen,
wie phantastischen Uebertreibungen des Socialismus. Er hält auch hier an den
psychologischen mehr noch als an den practisch-technischen Bedenken und
Schwierigkeiten einer rein socialistischen Rechtsordnung und Organisation fest, er
verkennt bei letzterer nicht die ausserordentlichen Bedenken für die „Freiheit“, die
persönliche, die wirtschaftliche, die politische, die geistige, für den productions-
technisohen Fortschritt, für die Arbeitsintensivität, für die Bevölkerungsbewegung.
Aber anderseits giebt er dem Socialismus darin Recht, dass die gesellschaftliche und
volkswirtschaftliche Function des „völlig losgebundenen“ Privateigenthums an *
den sachlichen Productionsmitteln und des „völlig entfesselten“ privatwirth-
sehaftlichen Coucurrenzsystcms sowohl für die Production der Güter als für die Ver-
teilung des Productionsertrags eine vielfach ausserordentlich nacht heilige ist.
Er stimmt dem Socialismus auch darin bei, dass alle wirklich tiefer greifenden
volkswirtschaftlichen Reformen solche auf dem Gebiete der Eigenthumsordnung
tuud implicite der Vertragsordnung) und der ganzen volkswirtschaftlichen
Organisation sein müssen. Insbesondere im modernen entfesselten Privat-
kapitalismus als Wirtschaftssystem sieht auch der Staatssocialismus eine Ein-
richtung, welche für eine gesunde, dem wahren Gesellschafts- und Volkswirtschafts-
interesse entsprechende Lösung des Productions- und Vertheilungsproblcms nicht
geeignet ist, ohne freilich den Ersatz dieses Systems für so einfacli und so leicht,
wie der Socialismus es thut, zu halten. Jede Erscheinung das Wirtschaftslebens,
jede Einrichtung der wirtschaftlichen Rechtsordnung , aber auch zahlreiche und
wichtigste Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens, der Cultur. der Sitte, Sittlich-
keit, welche er eben, nicht allein, wie der Socialismus, aber immerhin mit als Functionen
wirtschaftlicher Verhältnisse — wie freilich dann diese, wechselwirkend, auch wieder
als Functionen der gesellschaftlichen , sittlichen Verhältnisse u. s. w. — ansieht,
bringt er in Zusammenhang mit den allgemeinen Fragen der Eigenthumsordnung und
Wirtschaftsorganisation, untersucht sie in ihrer Wechselwirkung mit Production und
Verteilung, beurteilt sie nach dem Ergcbniss dieser Untersuchung und nimmt
wesentlich mit danach seine Stellung zu ihnen und zu allen auf sie bezüglichen
Fragen der Wirtschaftspolitik und Rechtsordnung.
Diese Andeutungen mögen vorläufig genügen, um ersehen zu lassen, was ich
hier unter „Staatssocialismus“ verstehe. Der Ausdruck selbst ist neu, hat sich
aber, wie „Kathedersocialismus“, ja mehr als dieser, bei uns wie bei den anderen
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Staabsocialismux
61
Culturvölkern rasch eingebürgert, um einen freilich den meisten Gegnern und manchen
Anhängern nicht genügend klar umgesehlosscnen socialpolitischen Gedankenkreis zu
bezeichnen. Ich halte an dem Ausdruck im Sinne des Vorausgehenden fest. Er
ist auch schwer durch einen anderen ähnlich geeigneten und namentlich ebenso
erwünscht kurzen zu ersetzen. Ein Mangel, weil von vornherein Vorurtheile und
Missverständnisse leicht hervorrufend, ist freilich die ausschliessliche Bezugnahme
auf den Staat in dem Ausdruck. Festzuhalten ist um so mehr, dass hier nach der
Regel „a potiori tit donominatio“ verfahren ist. Der „Staat“ bezeichnet hier alle
anderen öffentlichen Körper, namentlich die Verbände und Gemeinden, auch öffentliche
Zweckverbände mit; ferner der „Staat“ im Worte „Staatssocialismus“ kommt nicht
nur als die „Gemeinwirthschaft“, welche unmittelbar (wie auch die Gemeinde u. s. w.)
Wirthschaftsaufgaben , auch materielle (z. B. Verkehrswesen) übernimmt, sondern
auch als der Factor für Aus- und Fortbildung wie jeder so auch der privatwirth-
schaftlichen Rechtsordnung bei entwickelten Culturvölkern in Betracht. „Staatssoeialis-
mus" schliesst daher begrifflich nicht den Gedanken der Uebertragung der gesaminten
Production und Vertheiluug auf den Staat in sich und besagt ebenso wenig den
grundsätzlichen Ausschluss des privatwirthschaftlichen Systems aus der Volkswirt-
schaft. Wohl aber inag der Ausdruck passend gleich auf die Aufgabe der Regelung,
Xormirung der ganzen wirtschaftlichen Rechtsordnung, auch derjenigen für den
privatwirthschaftlichen Verkehr, namentlich durch den Staat und im „socialen“
Interesse hindeuten. In besonderen Fällen muss man sich genauerer Beschreibungen
und Umgrenzungen bedienen, hier und da auch statt von „Staatssocialismus“ von
„Communalsociaiismus“ und Aehnlichem sprechen.
Auf dem Boden eines „Staatssocialismus“, „staatssocialistischer“
Anschauung in diesem Sinne steht auch diese „Grundlegung“.
Ueberall wird dabei an das geschichtlich Ueberkominene und zu
Hecht und thatsäehlick Bestehende angeknlipft, dasselbe aber nach
den angedeuteten Gesiehtspuncten geprüft und danach fortzubilden
gesucht, nur unter steter sorgfältiger Berücksichtigung der psycho-
logischen und aller sonstigen Seiten und eventuell Bedenken und
Schwierigkeiten, auch der productionstechnischen, der vertheilungs-
technischen, der politischen einer jeden Frage, welche bei jeder
Aeuderung des Bestehenden, bei jeder weiteren Annäherung au
socialistische Ziele auftauchen.
Die „historische“ Nationalökonomie und die übrigen Richtungen innerhalb des
iogen. Kathedersocialismus haben sich diesem Staatssocialismus gegenüber mehr ab-
lehnend als beistimmend verhalten, dürfeu also in der That verlangen, nicht ohne
Wcitres mit demselben zusammengeworfen zu werden , wie es in der in- und aus-
ländischen namentlich polemischen Litteratur nicht selten geschehen ist.
Für die principiellen Erörterungen, die dogmatischen Formulirungen u. dgl. in.
auf „staatssocialistischer“ Grundlage und nach dementsprechender Anschauung darf
ich mich wohl besonders auf meine eigenen einschlägigen Arbeiten beziehen. Männer
wie Schäü'le , einzelne historische Nationalökonouien, wie Schönberg, Schmoller, auch
G. Cohn u. A. m. vertreten auch wohl einzelne Ansichten, welche man „staats-
socialistisch“ nennt und allenfalls so nennen kann. Aber sie begründen sie doch
überwiegend anders und ziehen andre Consequenzen daraus. Sie lebuen daher, von
ihrem Standpunctc aus nicht unrichtig, die Bezeichnung ..Staatssocialistcn“ für sich
ab. Ihre Arbeiten sind deshalb nicht hier, sondern waren schon oben anzuführen.
Schon in den beiden ersten Auflagen der Grundlegung, sowie in der Finanz-
wissenschaft1) habe ich im Ganzen den Standpunct, welchen ich den „staatssociaüstischen“
*) S. daselbst in B. 1 (3. Aufl.) die Abschnitte über die Geschichte der Finanz-
wissenschaft §. 27 ff., über die Principienfragen bei den Privaterwerbszweigen (.ein-
62
Einleitung. 2. K. Andre Standpuncte. Litteratur. §. 18, 19.
im besprochenen Sinne nenne, vertreten. In dieser neuen Auflage suche ich diesen
Standpunct noch schärfer zu entwickeln, aber nach beiden Seiten, des Socialismus
wie des Individualismus, ihn auch noch deutlicher abzugrenzen. In den Aufsätzen
über „Finanzwissenschaft und Staatssocialismus“ (Tüb. Ztsch. f. Staatswiss. Jahrg, 1SS7)
bin ich ebenfalls genauer auf grundlegende Principienfragen eingegangen.
Aus der Litteratur sind sonst vornemlich kritische Erörterungen über die Priu-
cipienfragen hervorzuheben, welche bei der Behandlung der practischen Special-
fragen der neueren Wirthschafts- und Socialpolitik, auch der Finanz-
und Steuerpolitik aufgetaucht sind. Die berühmte Kaiserliche Botschaft vom
17. November 1881 hat auch hier als Ferment gewirkt1) Namentlich die Fragen
der Arbeiterorganisation, der Arbeiterversicherung, des Arbeiterschutzes, die Special-
frage des Versicherungszwangs, der Staatsbeiträge znr Arbeiterversicherung, ferner die
Frage der Verstaatlichung der Eisenbahnen, der Tarifpolitik dabei, der finanziellen
Behandlung der Bahnen, auch die socialpolitische Seite der Frage von Freihandel und
Schutzzoll (Agrarzölle) u. A. m. haben vielfach den Anlass zu neuen und tieferen
principiellcn Erörterungen über das Verhältniss von Individuum und Gemeinschaft,
über die Berechtigung der Staatshilfe in wirthschaftlichen Verhältnissen, über die
Fragen der Staatsthätigkeit gegeben. Die betreffende Speciallitteratur ist an dieser
Stelle nicht näher anzugeben. Auch in der Grundlegung ist sie aber bisweilen für
Einzelnes mit heranzuzieheu.2)
Mehr zusammenfassende systematische Litteratur des Staatssocialismus fehlt bisher
noch. Vornemlich die Gegner, Freihändler, Ultramontane haben versucht, den Staats-
socialismus zu systematisiren, um ihn besser angreifen zu können, aber sie machen
eine Carricatur oder einen Popanz aus ihm. Dies gilt z. B. von der Streitschrift der
drei Freihändler Bamberger, Barth, Brömel „gegen den Staatssocialismus“,
Berlin 1884 (aus der Sammlung volkswirthschaftlicher Zeitfragen. Herausgegebeu von
schliesslich Eisenbahnen) §.201, §. 2 1 S, §. 267. In B. 2 (2. Aufl.) die mehrfachen,
sich mit den Fragen der Grundlegung nahe berührenden Erörterungen über das
socialpolitische Moment im Gebühren- und Steuerwesen f§. 15 ff., Wesen der Gebühren,
§. 20 ff. Entwicklung derselben. §. 49 volkswirtschaftliche Gebühren, §. 65 Gebühren
bei Coinmunalanstalten , §. 85 ff. Grund der Steuer, §. 102 fl'. Beziehung der Steuer
znr volkswirtschaftlichen Organisation und Eigenthumsordnung, § 127 finanzpolitische
Steuerprincipien, §. 131 volkswirtschaftliche Steuerquellen, §. 236 ff. Besteuerung,
der Conjuncturengewinne u. A. m.). Es ist mir von befreundeter Seite wohl die Frage
entgegengetreten . ob ein grosser Theil der bezüglichen Erörterungen, besonders im
2. Bande der Finanzwissensehaft überhaupt systematisch nicht richtiger ganz in die
Grundlegung gehöre. M. E. sind indessen in letzterer mehr die allgemeineren, in
der Finanzwisseuschaft (ähnlich in der practischen Nationalökonomie) mehr die spe-
ciclleren Erörterungen zu geben, um durch diese eine Frage zum Abschluss zu
bringen. Wiederholungen lassen sich dabei nicht ganz vermeiden, weil dieselben
Fragen , nur nach einem etwas verschiedenen Standpuncte der Betrachtung , zu
behandeln sind. In der Finanzwissenschaft (wie in den unten weiter genannten Auf-
sätzen) suche ich immer nachzuweisen, dass die allgemeiner gehaltenen principiellcn
Erörterungen in der Grundlegung doch auch für concrete practische Fragen frucht-
bringend, zielgebend sind und dass umgekehrt jede solche Frage erst richtig bcurtheilt
werden kann, wenn sie mit den grossen Principienfragen der volkswirtschaftlichen
Organisation und Rechtsordnung in Zusammenhang gebracht wird.
*) S. darüber auch schon meine Ausführungen in der Finanzwissenschaft I,
3. Aufl. S. 50.
2) Von meinen eigenen hierher gehörigen Arbeiten beziehe ich mich ausser auf
die vorhin genannten für die weitere Ausführung mancher Puncte in dieser Grund-
legung u. A. besonders noch auf die Abhandlung: „Der Staat und das Versicherungs-
wesen“. in der Tüb. Ztschr. f. Staatswiss., B. 37, 1881 (auch selbständig ausgegeben,
Tübingen 1881); die Abh. Versicherungswesen im 2. B. (3. Aufl.) des Schöuberg'schen
Handbuchs der Politischen Oekonoinie; die Abh. Grundbesitz Nr. I. im B. 4 des
Handwörterbuchs der Staatswissenschaften; sowie auch wieder auf die Abh. „Dcber
sociale Finanz- und Steuerpolitik“ im Braun’schen Archiv für sociale Gesetzgebung,
1891, B. 4.
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Neuere theoretische Richtung, bes. in Oesterreich.
63
der Berliner volkswirtschaftlichen Gesellschaft) ; von B am berge r 's Artikel Sociaiisme
d etat im Nouveau dictionnaire d’economie politique (1891); von der Schrift L. Say’s,
Le sociaiisme detat. Paris 1884: von der ultramontanen Schrift Willi. Maier’s, „Der
Staatssocialismus und die persönliche Freiheit“, Regensburg und Amberg 1884; von
dem Pamphlet S. Emele’s, „der Socialismus, Rodbertus-Jagetzow, das Manchesterthum
und der Staatssocialismus“, Sigmaringen 1885. In anderen Arbeiten wird der Staats-
socialismus zu weit gefasst, in der oben angedeuteten Weise die neuere deutsche
Wirthschafts- und Social politik, der Kathedersocialismus zu sehr mit ihm identificirt,
ao von M. Ströll, die staatssocialistischo Bewegung in Deutschland, Leipzig 1885;
auch die verdienstvollen Arbeiten des Engländers Dawson leiden an diesem Fehler,
>o die Schrift Bismarck and state socialism, London 1890. K. Umpfenbach, Alters-
versorgung und Staatssocialismus, Stuttgart 1883, bleibt unklar1)- Ich nenne noch
den Abschnitt „Finanzwissenschaft und Staatssocialismus in Stein ’s Finanzwissenschaft,
5. Aull. I. 148 — IGO, worauf sich mein genannter Aufsatz unter diesem Titel vor-
aemlich bezieht. Aus der englischen Litteratur z. B. der Aufsatz von Rae, state
H>cialism. Contempor. Review Aug.-Sept. 1888, Schriften von H. Spencer, wie mau
versus state.
§.19. Die neuere theoretische Richtung, besonders
in Oesterreich. Die Unklarheiten und Uebertreibungen des
jüngeren deutschen Historismus haben sich in der ausländischen
Wissenschaft überhaupt nur vereinzelt und auch da nicht in gleichem
Grade gezeigt. Wo man das Berechtigte in der historischen Rieh-
tnng anerkannte, geschah es meistens etwa in dem Umfange und
in der Weise, wie ich es oben (§. 15) gleichfalls gethan habe.
Action oder zu weitgehende Reaction ruft aber glücklicher Weise
immer wieder in der „freien Wissenschaft“ ausserhalb der engeren
Schulrichtungen Reaction hervor. Eine solche in der deutschen
Wissenschaft in schärferen Gang gebracht zu haben, ist das Ver-
dienst K. M engeres in Wien. Unter seiner Führung oder in seiner
Begleitung hat eine Anzahl Fachmänner, voruemlich in Oesterreich,
die theoretischen Probleme der Politischen Oekonomie wieder
mit Fug und Recht in den Vordergrund geschoben, voran das
Werthproblem. Jene Reaction beruhte vornemlich auf einer
scharfen Kritik der Ziele und Methoden der historischen Richtung
und auf einer einschneidenden erkenntnisstheorctischen Untersuchung
der Methodologie und der verschiedenen Aufgaben der Disciplin,
wobei der Deduction wieder die ihr gebührende Stellung gegeben
worden ist. Diese Kritik, wie diese Untersuchung und ihr metho-
dologisches Ergebniss ist auch für die „Grundlegung“ wichtig.
Man braucht nicht allen einzelnen Ergebnissen der Untersuchung beizu-
summen, um doch den Ausgangspunct für richtig halten zu können: „Die Erkennt-
^bswege, die Methoden der Forschung richten sich nach den Zielen dieser letzteren,
Bach der formalen Natur der Wahrheiten , deren Erkenntniss angestrebt wird“
'h. Menger, Untersuchungen, Vorwort S. VI). Die Deduction auf dem Gebiete der
*) Ueber die meisten hier genannten Schriften Näheres in meinem Aufsatze über
Fuunzwissenschaft und Staatssocialismus, Tüb. Ztschr. 1887, S. G7blF.
64 Einleitung. 2. K. Andre Standpuncte. Literatur. §. 19.
theoretischen Nationalökonomie ist durch diese Bestrebungen K. Menger’s, seiner
Schule und Anhänger mit Hecht auch in der deutschen Wissenschaft gegenüber den
Prätensioueu des Historismus wieder zu Ehren gebracht worden. Ein entschiedenes
Verdienst, auch vom Standpuncte Desjenigen aus, welcher auch im Methodenstreit
eine mehr mittlere Stellung glaubt einnchmen zu sollen, wie der Verfasser dieses.
Für die „Grundlegung“ ist diese neuere theoretische Richtung sowohl durch ihre
Methode als durch dio Arbeiten über ökonomische Grundlehren, wie das Werth- und
Preisproblem, die Kapitalzinstheorie, die Gemcinwirthschaft, die Staatswirthschaft u. A. m.
von Bedeutung. Meinungsverschiedenheiten über die „Grenznutzen-Theorie“ und deren
Tragweite, sowie über Methode und System, wie sich weiter unten zeigen wird,
hindern mich nicht, den hohen Werth von Mengor’s und seiner Schule Leistungen
anzuerkennen. Dass dieselben im Ausland mehr als in Deutschland Beifall gefunden
haben, ist aus mancherlei, auch aus mitspielendcn persönlichen Momenten und Ein-
llüssen von Schulrichtungen zu erklären, beweist aber nichts gegen den Werth dieser
Leistungen. Eine gewisse Neigung zur Uebertreibung und Einseitigkeit mag da und
dort, zumal in der Hitze des Streits, auch bei dieser Reaction gegen den Historismus mit
unterlaufen, wie fast immer, wenn eine berechtigte Ueaction gegen eine andere Ein-
seitigkeit eiutritt. Das wird schon wieder berichtigt werden. Die einzelnen Autoren
der Richtung haben auch nicht die sectenartige Unselbständigkeit gegen einander und
gegen K. Menger, wie ihnen in Deutschland wohl vorgeworfen wird. Das beweisen
die Schriften von v. Böhm-ßawerk, E. Sax u. A. in. Und Männer wie der jüngere
Dietzel haben auch gezeigt, dass man auf eigenen Wegen zu einer ähnlichen
Behandlung der theoretischen Probleme kommen und auch in wichtigen Grundlehren,
wie in der Werth- und Grenznutzen-Theorie, abweichen, „ausserhalb der jungen öster-
reichischen Schule“ stehen kann, ohne das Verständnis» für die Berechtigung der
letzteren zu verlieren.
An dieser Stelle sind nur einige Hauptarbeiten von specieller Bedeutung auch
für dio Grundlegung zu nennen.
K. Menger’s Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, 1. Theil, Wien 1871. —
Die Hauptschrift: Untersuchungen über die Methode der Socialwissenschafton und der
politischen Oekonomie insbesondere, Leipzig 1868. Darüber u. A.: H. Dietzel in
Conrads Jahrbüchern, B. 42 (N. F. VIII), 1884, auch N. F. B. 48 (IX); Schmoller
in s. Jahrbuch B. 7 1888, daraus in seinem Buche „zur Literaturgeschichte der
Staats- und Socialwissenschaften“. S. auch meine Bemerkungen in Conrad’s Jahr-
büchern (Aufsatz systematische Nationalökonomie) B. 46 (N. F. 12) 1886. S. 203 If. —
Gegen Schmoller replicirte Menger in der Schrift „die Irrthümer des Historismus in
der deutschen Nationalökonomie“, Wien 1884, sachlich vielfach richtig, in der Form
leider nicht ebenso. S. ferner Menger’s Aufsätze in Conrads Jahrbüchern , zur
Theorie des Kapitals. B. 51 (N. F. 17), 1888 und Grundzüge einer Classification der
Wirtschaftswissenschaften, B. 53 (N. F. 19), 1889.
E Sax. Wesen und Aufgabe der Nationalökonomie, Wien 1684; dann: Grund-
legung der theoretischen Staatswirthschaft, Wien 1887 (darüber in meiner Finanz-
wissenschaft II. 2. Aull , S. 26).
E. v. Böhm-Bawerk, Kapital und Kapitalzins, 1. Abth. Geschichte und Kritik
der Kapitalzinstheorien, Innsbruck 1884, 2. Abth. positive Theorie des Kapitals,
eb. 1889. — Aufsätze über Theorie des wirtschaftlichen Güterwerths, in Conrad’s
Jahrbüchern B. 47 (N. F. 13) 1SSÖ (andere Schriften über Werth, Preis von Wieser,
Zuckerkaudl s. u ).
Dargun, Egoismus und Altruismus. Leipzig 1885. Derselbe, Art. Altruismus
im Handwörterbuch der Staatswissenschaften B. I.
G. Gross, Wirtschaftsformen und Wirthschaftsprincipieu, Leipzig 1SS8, Der-
selbe. Art. Gemein Wirtschaft, Handwörterbuch der Staatswissenschaften. B. III.
II. Dietzel, über das Verhältnis» der Wirthschaftslehre zur Socialwirtschafts-
lehre (Diss.). Berlin 1682. Der Ausgang der Socialwirthschaftslehro und ihr Grund-
begriff. Tüb. Ztschr. f. Staatswiss. B. 39, 1883. Beiträge zur Methodik der Wirt-
schaftswissenschaft, Conrad’s Jahrbücher B. 43 (N. F. 17), 1884.
Die neuere theoretische Richtung hat, selbst vom Auslande aus, auch wieder
die Aufmerksamkeit auf ein seinerzeit wenig beachtetes, fast vergessenes Buch:
Gossen. Entwicklung der Gesetze des menschlichen Verkehrs, 1853, neue Ausgabe,
Berlin 1889 gelenkt.
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Socialökonomie alb selbständige Wissenschaft.
65
Gate, m. E. im Ganzen zutreffende Behandlung des neueren Streits Uber Ziel,
Aufgabe, Methode in der Freiburger Antrittsrede von Philippovieh von
Philippsberg, über Aufgabe und Methode der Politischen Oekonomio, Freiburg
1886. Auch zu nennen Berg hoff- Ising, über die historisch -ethische Richtung in
der Nationalökonomie, Leipzig 1889.
§.20. Die Social Ökonomie als eigene selbständige
Wissenschaft. Die in diesem Kapitel vorgeführten und be-
sprochenen verschiedenen Standpuncte in unserer Wissenschaft,
d. h. in der als Socialökonomie aufgefassten und behandelten
Politischen Oekonomie, werden uns in dieser Grundlegung ebenso
zu kritischen Auseinandersetzungen mit ihnen Anlass geben, wie
der Standpunct des „ökonomischen Individualismus oder Liberalis-
mus“ oder der britischen Oekonomik. So verschieden und zum
Theil, wie der des Individualismus und Socialismus, scharf anta-
gonistisch diese Standpuncte nun auch untereinander sind, das ist
ihnen allen doch gemeinsam, dass sie die „Politische Oekonomie“
als ein eigenes, sich von anderen, wenn auch mehr oder weniger
verwandten ab grenzendes Wissenschaftsgebiet auffassen.
Auch der wissenschaftliche Socialismus negirt nicht eine Politische Oekonomie
als eigene Wissenschaft, er will die ältere „liberale" nur zu einer „socialistischen"
fortbilden. Im jüngeren Historismus, so bei G. Schmollcr1), findet sich allerdings
auch wohl Hinneigung zu einer Auffassung und gelegentliche Andeutungen davon,
dass dermaleinst die Politische Oekonomie in eine allgemeine Socialwissenschaft auf-
zugehen bestimmt sei. Indessen zu klaren Forderungen hinsichtlich einer solchen
Umbildung der Politischen Oekonomie und zu ernstlichen Vorbereitungen dazu hat
das noch nicht geführt.
An dieser Auffassung der Politischen Oekonomie, — auch als
Socialökonomie“ — , als einer eigenen selbständigen Wissen-
schaft mit eigenen Objecten und Aufgaben und beiden an-
gepassten Methoden wird auch hier festgehalten. Sie gehört in
die Gruppe der Social- und Staatswissenschaften, aber sie ist
nicht „die“ Social- und Staatswissenschaft, weder nach ihrer
bisherigen, noch muthmaasslich nach ihrer zukünftigen Entwicklung.
Aach wenn eine Sociologic oder eine Social- oder Gesellschafts-
wissenschaft in einem engeren Sinne sollte aufgestellt werden
dürfen, eine Annahme, welcher wir skeptisch, vollends für jetzt,
aber auch für die Zukunft, gegenüber stehen , so würde die Poli-
tische Oekonomie — auch wieder als „Socialökonomie“, wie wir
es thun, aufgefasst und behandelt — nicht in dieser Sociologic
aafgehen oder zu dieser erweitert wrerden dürfen oder können,
l) S. z. B. seine Rezension des Scbönberg’schcn Handbuchs, Jahrbuch f. Gesetz-
gebung 1882, B. 2 S. 249 ff.
A- Wjgnor, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Theil. Grundlagen.
5
66
Einleitung. 2. K. Andre Standpuncte. Litteratur. §. 20.
sondern eine eigene selbständige Wissenschaft mit eigenen Objecten,
Aufgaben, Methoden auch hier bleiben müssen.
Der Umstand, dass volkswirtschaftliche Erscheinungen und Einrichtungen auch
gesellschaftliche, „sociale“ sind, dass jede von ihnen eine sociale Seite und umgekehrt
jede sociale Erscheinung und Einrichtung ihre wirtschaftliche Seite hat, dass hier
überall Wechselwirkungen bestehen; die Einsicht, welche die historische National-
ökonomie nicht, wie sic wohl behauptet, zuerst gewonnen, wohl aber weiter entwickelt
hat, dass alle volkswirtschaftlichen Erscheinungen und Einrichtungen immer im
Zusammenhang mit den übrigen gesellschaftlichen , politischen, culturlichen zu be-
trachten und in der Wirklichkeit niemals ans diesem Zusammenhang ganz heraus zu
lösen sind ; die weitere Einsicht, dass daher auch bei der Analyse und der Isolirung der
volkswirtschaftlichen Erscheinungen und Einrichtungen in der Theorie, bei dem
Herausschalen des Typischen aus dem Individuellen und Concreten, des Wirtli-
schaftsgesetzmässigen in der Entwicklung jenes Zusammenhangs mit, jener Bedingtei?
durch, jenes Verhältnisses der Wechselwirkung dieser Erscheinungen und Ein-
richtungen zu sonstigen socialen niemals vergessen werden darf: das Alles bedingt
durchaus nicht das Aufgehen der Politischen Oekonomie in eine engere Sociologie
oder in eine weitere Social- oder Gesellschaftswissenschaft. Gerade für die letztere,
wie für die gesammten Rechts-, Staats- und Socialwissenschaften und für alle Ver-
suche in der Richtung einer eigenen „Sociologie“ kann nur eine in ihrem Gebiete
selbständige Politische Oekonomie wieder den fruchtbringenden Dienst einer wichtigen
Hilfswissenschaft leisten. Bei einer Vermischung der Grenzen zwischen der Poli-
tischen Oekonomie und der Sociologie oder allgemeinen Socialwissenschaft wird Alles
unklar und verschwommen , in derselben Weise wie in der früheren , hier noch den
Ursprung mit aus der älteren deutschen Cameralwissenscbaft olfenbarenden deutschen
Politischen Oekonomie bei der dort üblichen Vermischung der Grenzen zwischen
Technologie und Politischer Oekonomie und wie bei der Behandlung der letzteren
mehr als Privatökonomie. Jede volkswirtschaftliche Erscheinung und Einrichtung
hat, wie ihre sociale, so ihre technische, rechtliche, — öffentlich- und privatrechtliche
— privatökonomische Seite. Auch diese Seiten sind in der Politischen Oekonomie so
wenig wie die sociale Seite zu ignoriren, in Bezug auf ihre Einwirkung und Rückwirkung
auf, wie auf ihr Beeinflusstwerden durch die volkswirtschaftliche Erscheinung oder Ein-
richtung, zu denen sie gehören. Aber wie deswegen die Trennung von Politischer Oeko-
nomie und Privatökonomie nebst Technologie — nach den scharfen Unterscheidungen
Hermann ’s — , von erstcrer und Rechtswissenschaften und sonstigen Staats-
wissenschaftcn gleichwohl richtig und festzuhalten ist, so auch diejenige von Politischer
Oekonomie und Socialwissenschaft oder „Sociologie“. Auch in methodologischer
Hinsicht folgt aus dem socialen Moment in jeder volkswirtschaftlichen Erscheinung
und Einrichtung so wenig als aus ihrem technischen, rechtlichen Moment — wenn
letzteres vom socialen hier noch unterschieden wird — , dass eine „Isolirung“ dieser
Momente für den Zweck der Untersuchung methodologisch unzulässig sei. Im
Gegentheil, gerade weil wirtschaftliche Erscheinungen und Einrichtungen diese ver-
schiedenen Seiten bieten, von jeder derselben aus beeinflusst werden und sich diese
Seiten wieder gegenseitig beeinflussen, kann nur durch eine — wenn auch nur
hypothetische, dem Zweck der Analyse dienende — Trennung oder Isolirung
der Seiten und Ursachen zur wissenschaftlichen Erkenntniss fortgeschritten werden.
Nur so wird die complexe Erscheinung in ihre C-omponenten aufgelöst, wie in den
classischen Untersuchungen von Thünen’s. Und wenn überhaupt, so ist nur auf
diesem Wege, durch Ausbau der „speciellcn“ Wissenschaften von der Gesellschaft
das erforderliche Material für eine allgemeine Sociologie zu gewinnen.
Die llauptschriften von Comte, Spencer, wie der ganzen sociologischen
Schule des In- und Auslands, welche sich vornehmlich an die Genannten anschliesst,
ferner die Speciallitteratur über „Urgesellschaft“, Entwicklung der Familie etc.
(Lewis Morgan, Lippert, Fr. Engels), nicht minder die ethnologische
Litteratur und diejenige über primitive Rechsverhältnisse und vergleichende
Rechtswissenschaft (Sir II. Maine, Bastian, Post, Köhler u. A. in.) bieten
daher sicherlich auch dem National- und Socialökonomen viel Anregendes und manches
werthvolle Material. Wenn ein Fachökonomist wie Schälfle letzteres verwerthet, wird
auch die Politische und Socialökonomie besonderen Vortheil davon ziehen. Aber für
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Socialökonomie als selbständige Wissenschaft.
67
unsere Disciplin ist doch diese genannte Litteratnr diejenige von Hilfswissen-
schaften, wie die juristische, historische, philosophische, technologische etc. Daran
halten wir auch hier fest, um nicht ins Grenzenlose abzuschweifen. Panegyrikern
der Sociologie, wie L. Gumplovicz gegenüber, dessen Schriften gleichwohl des-
wegen nicht unterschätzt werden sollen (Rassenkampf, sociologische Untersuchungen.
Innsbruck 1883, Grundriss der Sociologie, Wien 1885, Sociologie und Politik, Leipzig
1S92) behaupten die Ausführungen W. Dilthey’s, auch wenn man denselben keines-
wegs überall zustimmt, doch im Ganzen ihre Zutreffendheit (Einleitung in die Geistes-
wissenschaft I, Leipzig 1883, besonders S. 108 — 150). „Wachsende Ausdehnung und
Vervollkommnung der Einzelwissenschaften“, insbesondere der Politischen Oekonomie
als einer solchen nach Objecten, Aufgaben, Methoden eigenen Einzelwissenschaft,
scheint auch uns das richtige Ziel, nicht eino unklare und verschwommene, einzige
grosse Socialwissenschaft oder „Sociologie“. Ich verweise hierfür auch auf den guten
und scharfen Artikel „positivism“ (und A. Comte) von Cl6mence Roy er und den
Artikel „sociologie“ im Say-Cbailley ‘sehen nouveau dictionnaire d’ecouomic politique,
vol. II, Arbeiten, welche zugleich mehr als der lediglich absprechende Artikel von
Gothcin, „Gesellschaft und Gesellschaftswissenschaft“ im 3. B. des Handwörterbuchs
der Staats Wissenschaften bieten, wonn auch insbesondere der erstere ähnlich ab-
lehnender Tendenz ist. In der von Gothein Comte nachgerühmten schlagenden Kritik
der Hohlheit der Abstractionen der „classischen Nationalökonomie“ finden sich eben
nur bereits dieselben Unklarheiten über Aufgabe und Methode der Politischen
Oekonomie wie bei dem jüngeren deutschen nationalökonomischen Historismus.
Erster Theil.
Die Grundlagen der Volkswirthschaft.
Abweichend von der vorigen Auflage, wird der Gegenstand hier formal in
„Bücher“, statt wie damals in „Kapitel“, alsdann werden die „Bücher“ in Kapitel
und diese, soweit erforderlich, weiter in „Hauptabschnitte“ und „Abschnitte“
eingetheilt. Die sachlichen erheblichen Erweiterungen in dieser dritten Auflage,
namendich die nunmehrige Einbeziehung der Methodologie und der Bevölkcrungs-
lehre, haben aber auch sonstige grössere Veränderungen in der Behandlung und Ein-
teilung des Stoffes verursacht In der 2. Auflage waren in vier Kapiteln behandelt:
die elementaren Grundbegriffe — die Wirthschaft und die Volkswirtschaft — die
Organisation der Volkswirtschaft — der Staat, volkswirtschaftlich betrachtet,
hu 1. Kapitel handelte der 1. Hauptabschnitt in Kürze von der „wirtschaftlichen
Natur des Menschen“. Die Bevölkerungslehre wurde nur gelegentlich berührt Ein-
gehende Erörterungen über „die wirtschaftliche Natur des Menschen“ werden jetzt
im 1. Kapitel des ersten Buches zugleich als Einleitung zur Methodologie gebracht.
Die weiteren Ausführungen über „elementare Grundbegriffe“ des früheren 1. Kapitels
folgen jetzt in Buch 2, das 3. Buch entspricht den ersten 4 und dem 6. und 7. Haupt-
abschnitte des früheren Kapitels 2. Der 5. Hauptabschnitt des letzteren bildet
mit der dabei vorangehenden Bcvölkerungslehre jetzt das 4. Buch. Das frühere
Kapitel 3, Organisation der Volkswirth Schaft, ist nunmehr das 5. Buch, das Kapitel 4,
vom Staate, das 6. Buch geworden. Die Paragrapheneintheilung, welche in den ersten
beiden Auflagen in Uebereinstimmung gehalten war, musste jetzt geändert werden,
wurde aber der Cebersicht des Zusammengehörigen wegen und um danach verweisen
zu können , doch als zweckmässig beibehalten. Die Nummern der früheren Para-
graphen sind in Eckklammem hinter den Nummern der neuen angegeben, wo der
behandelte Gegenstand derselbe ist.
Die jetzige Einteilung des ersten Theils gestaltet
eich hiernach folgendermaassen.
1. Buch. Wirthschaftliche Natur des Menschen. Ob-
ject, Aufgaben, Methoden, System der Politischen
Oekonomie.
2. Buch. Elementare Grundbegriffe.
3. Buch. Wirthschaft und Volkswirtschaft.
4. Buch. Bevölkerung und Volks wirthschaft.
5. Buch. Organisation der Volkswirtschaft.
6. Buch. Der Staat, volkswirtschaftlich betrachtet.
Erstes Buch.
Die wirtschaftliche Natur des Menschen.
Object, Aufgaben, Methoden, System
der Politischen Oekouomie.
Erstes Kapitel.
Die wirtschaftliche Natur des Menschen.
§. 21. Littcratar. Aufgaben dieses Kapitels. Aus der national-
ökonomischen Litteratur gehören vornemlich die Erörterungen über dio Grund-
begriffe, ferner auch diejenigen über die Methode hierher, worin regelmässig
auf die „Natur des Menschen“, insbesondere die „wirtschaftliche“ Natur ein-
gegangen, auf diese Andres zurückgeführt, aus dieser abgeleitet wird. S. darüber
unten vor Buch 2 und vor Kapitel 2 dieses 1. Buchs Weiteres im Zusammenhang.
Im Allgemeinen ist die psychologische, mehr noch die ethische Litteratur,
soweit sie sich mit dem Triebleben, den Motiven, der Willensbildung
des Menschen beschäftigt, hervorzuheben. Freilich liefert sie meistens keine besondere
Ausbeute für die national ökonomische Seite des Problems, das in der Regel
von den betreibenden Autoren gar nicht oder nicht näher verfolgt wird. Die all-
gemeinen Erörterungen der Psychologen und Ethiker gestatten daher wohl eine gewisse
Anwendung auf unser Gebiet, aber genau welche und in welchem Maassc, bleibt
gewöhnlich erst noch zu entscheiden.
Deshalb muss doch der Nationalökonom selbst den Versuch machen, für seine
Zwecke eine den Aufgaben seiner Disciplin entsprechende Theorie der menschlichen
Triebe und Motive, welche das wirth schaft liehe Handeln, Thun, Unterlassen
bestimmen, eine wirtschaftliche Motivationsichre aufzustelleu. Das Folgende
knüpft für diese Aufgabe der Grundlegung an die Ausführungen der §§. 1 — 4 und
§. 207 der 2. Auflage der Grundlegung an. Im letztgenannten Paragraphen war bereits
ein Versuch gemacht worden, „psychologische Motive, welche die Höhe der Arbeits-
leistung bestimmen“ abzuleiten und zu analysiren, sowie weiter (§. 208 ff.) auf Grund
dieser Analyse Erscheinungen, wie die unfreie und freie Arbeit, und beider letzteren
ökonomische Anwendbarkeit und Nutzeffect zu erklären. Allein diese Ausführungen
hätten mit an die Spitze des Werks und gerade in den Abschnitt von der „wirt-
schaftlichen Natur des Menschen“ gehört, wohin ich sie jetzt ziehe, denn sie suchen
einen allgemeineren Erklärungsschlüssel für wirtschaftliches Handeln überhaupt zu
bieten, nicht nur für die Frage nach der Höhe der Arbeitsleistungen. Auch halte
ich sie für brauchbar' mit als Grundlage der Methoden Ich re. Das habe ich seit
der 2. Aufl. der Grundlegung mehrfach, u. A. in dem Aufsätze „systematische National-
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Litteratur.
71
Ökonomie“ (Conrad’s Jahrbücher, B. 46, N. F. 12, 1886, S. 228 ff.) l) nachzuweisen ge-
sucht. Im Folgenden führe ich diese Erörterungen in diesem und dem nächsten
Kapitel jetzt weiter aus. S. auch Quartcrly Journal of economics (.Amerika, Harvard
Uuiversity) vol. I, p. 118 If. und Keynes, scope etc. (s. u.) p. 224.
Auch im Kapitel von der Organisation der Volkswirthschaft (2. Aufl. S. 196 ff.)
habe ich schon früher ebenfalls an die Triebe und Motive näher angeknupft, um die
Organisation zu erklären und in den verschiedenen Organisationsprincipien und Systemen
die verschiedenen Triebfedern nachzuweisen. Das geschieht auch in dieser 3. Aufl.
Aber systematisch richtiger, ja nothwendig ist es doch, Ausführungen wie in diesem
Kapitel voranzuschicken.
Aus der psychologischen Natur beschränke ich mich hier auf die
Nennung zweier neuerer Werke, welche ich mehrfach benutzte: H. Höffding,
Psychologie in Umrissen, aus dem Dänischen übersetzt von Bend ixen, Leipzig
1887, u. A. über Triebe, Motive, Willen (S. 113 ff., 296ff., 396ff.), W. Wrundt,
Grundzüge der physiologischen Psychologie, 2 B., 3. A, Leipzig 1887, ebenfalls be-
sonders über Triebe, Willen (II, 410 ff., 463 ff.). Vgl. ausserdem in Mill’s Logik
das 6. Buch von der Logik der Geisteswissenschaften und in W'undt’s Logik den
gleichen Abschnitt (II, 478 ff.).
Aus der neuesten ethischen Litteratur nenne ich hier auch nur diejenigen
Schriften, welche ich besonders benutzt habe. Sie repräsentiren auch verschiedene
Richtungen. Herbert Spencer, Thatsachen der Ethik, doutsch von Vetter, Stutt-
gart 1879, bes. Kap. 1, 2, 7, 10 — 12. — Wr. W'undt, Ethik, Stuttgart 1886, u. A. im
Abschnitt von den Principien der Sittlichkeit S. 372 ff. — H. Steinthal, allgemeine
Ethik, Berlin 1885 (S. 312 ff. , über den psychologischen Mechanismus des mensch-
lichen Handelns, Mechanismus der Triebe). — N. Porter, elements of moral Science,
London 1885, bes. 1. part (theory of duty). — H. Höffding, Ethik, deutsch von
Bendixen, Leipzig 1888 (vielfach). — Th. Ziegler, sittliches Sein und sittliches
Werden, Grundlinien eines Systems der Ethik (populäre Vorträge), Strassburg 1890;
Derselbe, die sociale Frage eine sittliche Frage, 2. Aufl., Stuttgart 1891. —
Paulsen, System der Ethik, 2. Aufl., 1891, vielfach, bes. 3. Buch, Grundbegriffe
und Principienfragen, Kap. 2, 6, auch 3. Buch (Tugend-, Pflichtenlehre). — v.J be-
ring, Zweck im Recht, I, vielfach.
S. immerhin auch von katholischer Seite: Ratzinger, Volkswirthschaft in
ihren sittlichen Grundlagen, Freiburg 1883. — F. Ha sie r, über das Verhältniss der
Volkswirthschaft und Moral, Passau 1887.
Für die nationalökonomische Litteratur verweise ich vomemlich auf die
späteren Angaben über die Litteratur der Methode und der Grundbegriffe. In
neuester Zeit hat sich die litteraturgeschichtliche und kritische Forschung näher mit
der psychologisch -ethischen Auffassung der menschlichen Natur bei Adam Smith
beschäftigt. S. darüber besonders Hasbach’s genannte Schriften; ferner Zeyss,
A. Smith und der Eigennutz, Tübingen 1889, W. Neurath, A. Smith, Wien 1884,
E. Nasse, über A. Smith in den Preuss. Jahrb. 1878. W. Paszkowski, A. Smith, Halle
1890 (Diss.), Dr. Schubert, Smiths Moralphilosophie in W'undt’s philos. Studien, IV, 4
(1891); auch die neueren Werke über A. Smith von D ela tour (Paris 1S86),
Haldanc (1887, London). Die deutschen Schriften von Onckeu, v. Skarzyuski,
H. Iiösler über die Grundlehreu (s. o. S. 44). Vielfach gehören für Litteratur-
geschichtliches über den ganzen Gegenstand dieses Kapitels die genannten Bücher
von W. Hasbach hierher. — S. sonst Rau, I, §. 1 ff.. Derselbe in der Tübinger
Ztschr. f. Staatswiss. B. 26, 1870, in dem Aufsatz Volkswirtschaftslehre im Verhältniss
zur Sittenlehre. — W. Roscher, I, §. 1 ff. — Hermann, staatswirthschaftliche
Untersuchungen, S. 1 ff. — Schütz, sittliches Moment in der Volkswirthschaft,
Tüb. Ztschr. f. Staatswiss. B. 1 (1844). — Knies, Politische Oekonomie, 2. Aufl.,
S. 223 ff., bes. in dem Zusatz S. 243 ff. — Schäffle, Mensch und Gut in der Volks-
wirthschaft, Deutsche Vierteljahrsschr. 1861, jetzt in seinen gesammelten Aufsätzen I.
158; Derselbe, Gesellschaftliches System, 3. A. I, §. 11 ff., 4}. 23, §. 186ff. —
Passim Manches in v. Mangel d’s Volkswirtschaftslehre. — G. Schmoll er, Grund-
*) Der Band führt irrtümlich auf dem Titel die Zahl 45 statt 46 und im
Inhaltsverzeichniss ist durch ein Versehen mein Aufsatz nicht angegeben.
72 1- B. 1. K. Wirtschaft!. Natur des Menschen. Littcratur. §. 21, 22.
fragen, bes. Kap. 3. — Neu mann in den oben S. 56 genannten Aufsätzen, auch seine
„Grundlagen der Volkswirthschschaft“. — 0. Schönberg in seinem einleitenden
Aufsatz im Handbuch, I, 3. A., §. 2 ff. — G. Cohn, I, S. 23ff. — W. Neurath,
passim mehrfach in seinen nationalökonomischen Schriften, Aufsätzen, Vorträgen, so
in seinen volkswirtschaftlichen und socialphilosophischcn Essays, Wien 1880, bes.
I — III; in dem Vortrag Moral und Politik, Wien 1891. — F. A. Lange, Geschichte
des Materialismus, II, 3. A., S. 453 ff. , Volks Wirtschaft und Dogmatik des Egoismus.
— K. Menger, Untersuchungen S. 71 ff. — E. Sax, Grundlegung, vielfach. —
H. Dietzel in den oben S. 64 genannten Arbeiten. — 0. Gerl ach. Über die Be-
dingungen der wirtschaftlichen Thätigkeit, Jena 1890, bes. S. 57 ff.
H. Sidgwick, principles of political economy, 2. ed., London 1887, introduction
. ch. 3, book 3, ch. 9. — A. Marshall, principles of economics I, 1. und 2. ed.,
London 1890. 1891, bes. book 1, ch. 6. — Keynes, scope a method of political
economy, London 1891. — Rieh. Ely, introduction to political economy, New-York
1889, p. 151 ff.
H. Baudrillard, rapports de la morale et de l'iconomie politique, Paris 1860.
— Ch. Gide, principes d’6conomic politique, 2. ed., Paris 1889, Vorbemerkungen,
dann p. 33 ff , 1 28 ff — M. Block, les progres de la Science economique depuis
A. Smith, 2 voL, Paris 1890, bes. vol. 1. Einleitung und 1. Buch (auch ftir mancherlei
Litteratur- und Dogmengeschichtliches, in scharfer, freilich meist sehr einseitiger
Tendenz gegen die deutsche historische und socialpolitische Schule, aber doch gerade
in den hierher gehörigen Erörterungen mit mancher beachtenswerten kritischen
Bemerkung).
M. Minghetti, dell’economia publica a delle sue attinenze colla morale e con
diritto, Firenze 1859. — L. Cossa, guida alla Studio d. econ. politica, verschiedene
Auflagen, deutsch von Moormeister, Freiburg 1880, allgemeiner Theil. Einzelnes
in Schriften und Aufsätzen von A. Loria, so C. Darwin e l’economia politica.
Milano 1884 (aus Rivista filosof. scient.); derselbe in dem grossen Werke analisi della
proprietä capitalista, 2 vol., Torino 1889. — G. Lampertico, transformismo e
sociologia (Nuovo Antologia 1884, vol. 45), — G. Ducati, snlla libera concorrenza
Parma 1881.
Auch mit hierher gehört ein eigentümlicher Litteraturzweig wenigstens in
einer Hinsicht; deijenige der socialen Utopien. Die hier behandelten Probleme
berühren sich mit psychologischen Fragen und diese treten dabei öfters besonders
merkwürdig hervor. Mehr oder weniger gehört die ganze socialistische und
communistische Litteratur, zumal der extremen Richtnugen, hierher, in der Kritik
des Bestehenden, wie in den Gedanken über und in den Gemäldeentwürfen für eine
neue, bessere Zukunftswelt der Gesellschaft, so besonders Ch. Fourier’s. R Owen’s
Schriften, aus der neuesten Zeit A. Bebel’s „Frau“. Sodann aber ist auf die eigent-
lichen „Utopien“ im engem Sinne, mit ihren zum Theil mährchen- und roman-
artigen Einkleidungen des StofTs zu verweisen. S. über diese ganze Litteratur den
Aufsatz R. v. Mohl’s über „Staatsromane“ in seiner Geschichte und Litteratur
der Staatswissenschaften, I, 167 II'. ; Klein Wächter, die Staatsromanc, Wien 1S9I ;
H. v. Scheel im Schönberg’schen Handbuch, I, 3. A., S. 116; überhaupt die litterar-
geschichtlichen Werke, welche auf den Socialismus und diesem verwandte Schriften
näher eingehen.
Von Plato’s Staat, Th. Morus’ Utopien bis zu den modernsten Erscheinungen,
welche im Gefolge der neuesten socialistisehen Theorieen und Agitationen, sowie der Ent-
wicklung der Technik hervorgetreten sind — die interessanteste derartige Schrift ist wohl
die schnell über die Welt verbreitete von Bellamy, „Rückblick aus dem Jahr 2000“, auch
in mehrfachen deutschen Uebcrsetzungen, so von v. Gizycki — liegt doch hier überall
der Schwerpunct der Fragen im Psychologischen: in den Voraussetzungen —
auch gelegentlich Erörterungen darüber — über die menschliche Natur, das Seelen-
leben, die Triebe, die Motive, über die Einwirkungen innerer und äusserer Art auf
den Menschen, über das, was constant, was variabel, was durch „Erziehung“ und
durch welche Art der Erziehung in einer beabsichtigten Richtung zu beeinflussen
ist u. s. w.
Auch die kritische Litteratur, welche der Socialismus und die älteren und
neueren Utopien hervorgerufen haben, ist nach dieser Seite beachtenswcrth , z. B.
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Die Bedürfnisse.
73
W. Schäfer, die Unvereinbarkeit des socialistischen Zukunftsstaats mit der mensch-
lichen Natur, 2. (und mehrfache) Aufl. (zuletzt 1891); Th. Ziegler's schon genannte
Schrift: die sociale Frage eine sittliche Frage; V. Kathrcin (S. J ), der Socialismus,
eine Untersuchung seiner Grundlagen und Durchführbarkeit (aus des Verfassers Moral-
philosophie), Freiburg i. Br. 1890; E. Richter, socialdemokratische Zukunftsbilder,
Berlin 1891. F. Gregovorius, der Himmel auf Erden, Leipzig 1891 (düster über-
treibend in der Schilderung der Folgen des Siegs der Socialdcmokratie , aber mit
manch’ richtiger Ausführung psychologischer Art) u. v. A. m. Ich beziehe mich
ausserdem auf einige Ausführungen in meinem Aufsatz: Grundbesitz, die volkswirt-
schaftliche Principienfrage der Rechtsordnung, Handwörterbuch f. Staatswiss. IV, bes.
S. 1341t und auf meinen Vortrag auf dem 3. evang.-soc. Congress über das neue
socialdemokratische Programm (1892).
1. Abschnitt.
Analyse der wirtschaftlichen Natur des Menschen.
I. — §. 22 [1]. Bedürfnis 8. Befriedigung. Befrie-
digungstrieb. Wie alle Lebewesen, nur in dem seiner physisch-
psychischen Natur als „höchster Form des organisirten Stoffs“ ent-
sprechenden gesteigerten und steigerungsfähigen Maasse ist der
Mensch ein bedürftiges oder Bedürfnisse empfindendes
Wesen, d. h. er hat „Gefühle des Mangels, mit dem Streben, diesen
Mangel zu beseitigen“ (v. Hermann1)). Wird dieses mit dem
Bedürfniss selbst gegebene, die eine Seite desselben darstellende
Streben erfüllt, so verschwindet oder vermindert sich, regelmässig
nach der Natur des Menschen aber nur zeitweilig, jener Mangel,
d. h. es erfolgt Befriedigung des Bedürfnisses. Jenes Streben
znr Beseitigung des Mangels kann, weil es den Menschen antreibt,
Befriedigung des Bedürfnisses zu erlangen, Befriedigungstrieb
genannt werden.
l'eber den richtigen Ausgangspunkt in der Wissenschaft der Politischen Oeko-
nomie ist öftere gestritten worden. Rau ging vom Gute aus (§. 1), ebenso bis zur
1. Aufl. seines B. I Roscher, Hermann von den Bedürfnissen (2. Aufl., S 1 IF.),
ebenso Bastiat (harmonies economiqucs) und nach ihm Viele, z. B. M. Wirth
(Grundzüge der Nationalökonomie). Neuerdings hat Sch äff le als besonders betonten
Ausgangspunct den Menschen selbst genommen (Deutsche Vierteljahrschrift 1861)
and nach ihm Roscher (§. 1) seit der 5. Aufl. Lindwurm, Grundzüge der Staats-
und Privatwirthschaftslehre (Braunschweig- 1 866), stellt den Begriff der Wirtschaft
«a die Spitze. H. Dietzel hat in der Abb. über den Ausgangspunct in der Social-
wirthschaftslehre (Ztschr. f. Staatswiss. ß. 37, 1883) eine scharfsinnige Kritik der ver-
schiedenen Ansichten geliefert und als „Grundbegriff- der Wirtschaftswissenschaft*1
die wirtschaftliche Handlung hingestellt (S. 65). Seine Behandlung des
Gegenstandes ist für meine Umarbeitung dieses Abschnitts mit von Einfluss gewesen,
ohne dass ich mich ihm weiter, als es hier geschehen, anzuschliesscn vermochte.
S. auch Note 2 in der 2. Aufl. S. 9, von Neueren bes. auch Neumann, in seinen
obengenannten Arbeiten.
b Staatswirthschaftliche Untersuchungen, 2. Aufl., S. 5.
74 1. B. 1. K. Wirthschaftl. Natur des Menschen. 1. A. §. 23.
§.23 [1], 1. Die Bedürfnisse sind innere psychische,
wenn ihre Befriedigung allein durch psychische Vorgänge im Inneren
des einzelnen fühlenden, denkenden Menschen erfolgt (Gefühls-,
Gedankenwelt, Seelenleben); äussere, wenn die Befriedigung
Beziehungen zur Aussenwelt, zur äusseren leblosen und
lebendigen Natur wie zu anderen Menschen, voraussetzt. Jedes
Mittel zur Befriedigung eines Bedürfnisses wird Gut genannt.
Den inneren und äusseren Bedürfnissen entsprechen innere und
äussere Güter.
Die physische Natur des Menschen bedingt schon zur Erhaltung
seines Lebens, die physische und psychische vollends zu seiner
Entwicklung weit länger und intensiver als diejenige des Thieres,
auch in den höchsten Thierclassen, pflegender, schützender,
fördernder persönlicher Dienste anderer Menschen. Sie macht
die Existenz und Entwicklung jedes Einzelnen hierdurch von vorn-
herein in besonderem Maasse von menschlichen Gemein-
schaftsbeziehungen abhängig, stempelt den Menschen auch
hierdurch zum Gemeinschaftswesen. Seine physische Natur
bedingt ferner wie bei allen Lebewesen, aber wiederum nach Art,
Umfang, Entwicklung seiner Bedürfnisse in ungleich stärkerem
Maasse, die Verfügung über einzelne sachliche oder stoffliche
Bestandteile der Aussenwelt, über „Sachgüter“, um diese Be-
dürfnisse ihrer Befriedigung entgegenzuführen. Aber auch die
psychische Natur des Menschen bedarf zum Theil solcher Sach-
güter zur Befriedigung der ans ihr entspringenden inneren Bedürf-
nisse, um Eindrücke zu gewinnen u. s. w\, woraus sich ein Zu-
sammenhang zwischen inneren und äusseren Bedürfnissen, bezw.
Gütern ergiebt
Danach zerfallen die menschlichen äusseren Bedürfnisse vor
Allem in die zwei Hauptarten: nach persönlichen Diensten
anderer Menschen, insbesondere zu Pflege, Schutz, Förderung,
und nach Sachgütern. Die äusseren Güter sind daher persön-
liche Dienste Anderer und Sachgüter.
Zwei absolute, rein-ökonomische, weil aus dem Wesen der menschlichen
Natur folgende Kategorien der Bedürfnisse und der Güter, auch bei jedem einzelnen
Menschen, die Sachgüter unbedingt, die persönlichen Dienste wenigstens in gewissen
Lebensperioden ebenfalls.
Nicht in diesem ihrem Grundcharacter, sondern nur in ihrer
besonderen Art und ihrem Umfang sind die (inneren wie
äusseren) Bedürfnisse und Güter nach Individuen, Classen, Ständen,
Völkern, nach Zeit und Ort verschieden.
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Die Bedürfnisse.
75
Die menschlichen Bedürfnisse sind ferner in dieser ihrer be-
sonderen Art nnd ihrem Umfang einer grossen Vermehrung,
Vervielfältigung, Verfeinerung fähig , welche auch viel-
fach, wenn auch nicht immer und nicht mit naturgesetzlicher Noth-
wendigkeit, bei Einzelnen wie bei Gruppen (Völkern) eintritt, in
Verbindung mit der Entwicklung des physisch-geistigen Lebens:
Wirkung und wieder Ursache dieser Entwicklung. Genauer gesagt:
diese Entwicklung des menschlichen Lebens selbst, denn diese ist
nichts Andres als die Entwicklung der Bedürfnisse, freilich auch
der psychischen, inneren.
Der Unterschied von Mensch und Thier, auch der höchsten Thierclasse, liegt
mit hierin und erscheint auch hiernach, trotz der sonstigen Verwandtschaft thie-
rischer und menschlicher Bedürfnisse, Befriedigungen und Befriedigungstriebe als ein
absoluter.
Die Thatsache und die Möglichkeit der Verschiedenheit, Vermehrung. Ver-
vielfältigung und Verfeinerung der menschlichen Bedürfnisse nach Individuen, Völkern,
Zeit und Art sind das feststehend o Moment in der Menschenwelt. Die sich concret
findende, verschiedene Gestaltung der Bedürfnisse nach deren besonderen Art und
Umfang sind das historisch variable Moment, welches es rechtfertigt, von be-
stimmten Arten von Bedürfnissen und Gütern als historischen Kategorieen zu sprechen.
Die menschlichen Bedürfnisse sind einer Vermehrung u. s. w. fähig. Nur
das lässt sich erfahrungsmässig allgemein sagen. Schon von einer Tendenz der
Vermehrung ist im Hinblick nicht nur auf die Lebensverhältnisse ganz roher Völker,
sondern auch auf die Stabilität des Bedürfnissstandes auf schon höheren Wirthschafts-
stufen, so bei Nomaden, und unter Völkern und Volksdassen mit fest durch liecht
und Sitte, auch durch religiöse Anschauungen gebundenen Lebens-, Berufs-, Erwcrbs-
verhältnisseu (Kastenwesen u. dgl.) nicht ganz allgemein zu reden. Man generalisirt
da, wie so oft, Erscheinungen bei den eigentlichen Entwicklungsvölkern, bei Cultur-
völkern, und hier häufig sogar wieder nur bei einigen Volksdassen, wie besonders
der städtischen Bevölkerung, sowohl in Betreff der äusseren wie der inneren, der
materiellen wie der psychischen Bedürfnisse zu sehr. Völker, deren Verhältnisse
allerdings zumeist, aber doch nicht allein das Untersuchungsobject der Politischen
Oekonomie bilden. Noch weniger darf aus der Erfahrung hinsichtlich der that-
sächlichen Entwicklung der Bedürfnisse bei solchen Völkern und bei der grossen
Mehrzahl ihrer Angehörigen der Schluss gezogen werden, dass die regelmässig
wahrnehmbare Vermehrung u. s. w. der Bedürfnisse etwas naturgesetzlich Noth-
wendiges sei. Vielmehr ist von vornherein zu betonen, dass die Menschen dazu
fähig sind oder dazu fähig werden können, ihre Bedürfnisse, den Umfang, die Art
der Befriedigung derselben zu beurtheilen und danach über die Befriedigung selbst
zu entscheiden. Urtheile und Entscheidungen, welche dem ethischen Gebiete an-
gehören, zwar nicht nach einem absoluten, unveränderlichen, sondern nach einem
variablen sittlichen Maassstabe erfolgen und erfolgen dürfen, aber die Anwendung
eines solchen Maassstabes doch immer gestatten. Es ist wichtig, dass von vorn-
herein, daher schon hier, für die individuelle wie namentlich auch für die sociale
Seite der Bedürfnisse und ihrer Entwicklung und Gestaltung festzustellen und festzuhalten,
so für die Fragen des individuellen und des Standes- und Classen-Luxus, für die Fragen
der Vertheilung des Volkseinkommens auf Classen und Einzelne, weil von dieser Verkei-
lung Umfang und Art der Bedürfnisbefriedigungen mit abhängen, auch für die Fragen
der Steigerung des individuellen Familien-, Volkseinkommens unter dem Impuls gesteiger-
ter Bedürfnisse. Gerade das Bedürfnis und seine Entwicklung sind hiernach Momente,
welche immer auch dem Gebiete der Ethik zu vindiciren sind, was in der Wissen-
schaft der Politischen oder Socialökonomie nicht scharf genug betont werden kann.
§. 24 [1, 96, 139]. Ei nt hei lung der Bedürfnisse.
Von einer weiteren Eintheilung der Bedürfnisse kann hier theils überhaupt, theils
V
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76 1. B. 1. K. Wirtliscbaftl. Natur des Menschen. 1. A. §. 24, 25, 26.
zunächst abgesehen werden. Namentlich die deutsche systematische Wissenschaft hat
liier öfters zahlreiche Classen und Arten unterschieden, mitunter aber fast zuviel
Scharfsinn dabei aufgewandt, weil die weitgehende Classification nicht immer be-
sondere wissenschaftliche und practische Bedeutung hat1).
Wir begnügen uns hier mit der vorläufigen blossen Hervor-
hebung zweier EintheiluDgen , welche erst später weiter verfolgt
werden sollen:
a) Existenzbedürfnisse, deren Befriedigung zum Be-
stehen des Menschen selbst, absolut oder relativ, nothwendig ist,
wonach diese Bedürfnisse in solche ersten und zweiten Grades
unterschieden werden können; anderseits Culturbedürfnisse,
deren Betriedigung einmal zur Erhöhung des feineren Lebens-
genusses, materieller wie immaterieller Art, sodann zur weiteren
Entwicklung des Menschen, insbesondere seiner geistigen Seite, dient.
Weiteres hierüber im 4. Buche, Bevölkerung und Volkswirthschaft (2. Aufl. §. 96).
b) Individualbedürfnisse, welche aus dem physisch-
geistigen Wesen des Einzelnen als solchen hervorgehen, und Ge-
meinbedürfnisse, welche beim Einzelnen aus dessen Angehörig-
keit zu menschlichen Gemeinschaften entspringen.
Weiteres darüber im 5. Buche, Organisation der Volkswirthschaft (2. Aufl. §. 139).
§. 25. — 2. Befriedigung. Das unbefriedigte Bedürfniss
ruft Gefühle des Unbehagens, der Unlust hervor und erweckt gerade
dadurch den Befriedigungstrieb, d. h. regt zu Tbätigkeiten, Hand-
lungen an, deren Zweck — instinctiv wie beim Thiere und noch
dem kleinen Kinde, auch bei dem Menschen in besonderen ano-
malen Lagen, oder bewusst, wie beim normalen entwickelten
Menschen — eben auf Befriedigung der Bedürfnisse und Beschaffung
der geeigneten Mittel oder Güter dafür hinausgeht. Die Befriedi-
gung der Bedürfnisse ist dann mit Behagen, mit Lustgefühlen ver-
bunden. Die Erfahrung in Bezug auf diese Lustgefühle bei der
Befriedigung, das Vorschweben derselben in der Erinnerung wirkt
auf den Befriedigungstricb im bewusst bandelnden Menschen an-
spornend ein und giebt demselben die Richtung seiner Betätigung2).
Die Analogieen zwischen dem Menschen und dem Thier, zumal dem hoch-
organisirten Thier, in Bezug auf Bedürfniss, Befriedigung und Befriedigungstrieb
J) S. mit das Beste darüber bes. bei v. Hermann, staatswirthschaftl. Unter-
suchungen, Abh. II (Bedürfnisse), und Schäfflc, gesellschaftliches System, 3. A. I,
S. 103 ff.
2) Hier hängt die ökonomische Lehre mit der psychischen , psychophysischen
und physiologischen von Empfindung, Vorstellung, von Reiz, Trieb, Wille zusammen.
Vgl. Höffding, Psychologie, S. 124 ff, 150 ff. , 391 ff Wundt, Psychologie I,
289 ff, II, 225 ff, 261 ff, 463 ff
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Befriedigung, Befriedigungstrieb.
77
liegen nahe, brauchen aber hier nicht weiter verfolgt zu werden. S. u. A. Spencer’s
Thatsachen der Ethik, Kap. 1 u. 2 (Handeln im Allgemeinen und Entwicklung des
Handelns).
Es gehört zum Wesen des Bedürfnisses der Lebewelt, dass
jede Befriedigung stets nur eine gewisse Zeitdauer hat, verzehrt
wird oder sieh verzehrt und dasselbe Bedürfniss dann von Neuem
hervortritt. Daher die beständige Wiederholung zwischen
Bedürfniss, Erwachen und Wirken des Befriedigungstriebs, dem-
gemiissem Handeln und erzielter Befriedigung.
Mit der Vermehrung und Vervielfältigung der Bedürfnisse demnach ein immer
regerer stetiger Wechsel zwischen Bedürfniss und Befriedigung, eine immer stärkere,
unaufhörlichere Anspannung des Befriedigungstriebes, ein immer intensiveres „Leben“,
aber auch eine immer grössere Lebensunrulie, Thätigkeit und Beanspruchung der
physischen und psychischen Organe, welche sich freilich, in gewissen Grenzen, diesen
Verhältnissen anpassen können und anpassen. Die gesteigerte Leistungsfähigkeit der
Organe tritt dann mit der Entwicklung der Bedürfnisse und der Befriedigungen
wieder in Wechselwirkung, eine physiologische und auch eine psychophysische That-
sache von Bedeutung auch für die nationalökonomische Betrachtung des Bcdürfniss-
triebs. Die Steigerung der Ansprüche an die Qualität und, in gewissen Fällen und.
iu gewissen Grenzen, auch an die Quantität der Bedürfnisbefriedigung hängt damit
zusammen').
§. 26 [1]. — 3. Der Befriedigungstrieb. Er erscheint
in seiner schärferen Form als Trieb der Selbsterhaltung
hinsichtlich der Befriedigung der ExistenzbedUrfnisse ersten Grads,
als Trieb des persönlichen oder Selbstinteresses hinsicht-
lich der Befriedigung der übrigen Bedürfnisse. Als mit dem Be-
dürfniss selbst schon gegeben und bei dem Ursprung des Bedürf-
nisses in der physisch-psychischen Natur des Menschen ist er selbst
und in seinen beiden Erscheinungsformen eine Naturthatsache,
etwas dem Menschen wie analog jedem Lebewesen Angeborenes,
demnach auch an sich ethisch Berechtigtes.
Deshalb ist seine Bezeichnung oder auch die Bezeichnung des Selbstinteresses
mit Ausdrücken, welche sprachgebräuchlich auf ein Moment des sittlich Verwerflichen
oder Bedenklichen hindeuten, überhaupt und gerade auch in der Politischen Ockonoinie
zu vermeiden. So die Bezeichnung mit dem Namen Eigennutz, Egoismus (in der
üblichen engeren üblen Bedeutung1), Selbstsucht, Eigensucht. Der Ausdruck
Sei bsti nteressc (selfintercst) könnte ähnlichen Bedenken unterliegen, aber wenigstens
nach deutschem Sprachgebrauch erscheint er doch als ein neutraler, welcher benutzt
werden darf. Knies’ (2 A. S. 236) „Selbstliebe“ hätte doch schon wegen der sprach-
gebräuchlichen Nebenbedeutung mehr Bedenken. Er spricht auch vom „Trieb zur
Selbsterhaltung und zum Wohlbehagen“ (Streben nach dem Eigenwohl). Nur in der
Ausartung kann der Befriedigungstrieb, das Selbstinteresse Eigennutz, Egoismus
genannt werden, daher auch auf wirtschaftlichem Gebiete nur, wenn sie sich geltend
machen, ohne die durch Gewissen, Sittengesetz und Hecht gezogenen, freilich wandel-
*) Das We bersche und Fechn ersehe Gesetz Uber die Intcusität der Em-
pfindungen (vgl. Höffding, Psychologie S. 136, Wundt, Psychologie I. 350 fr.)
harrt noch seiuer Verwertung fhr die nationalökouomische Lehre von Bedürfniss und
Befriedigung. S. indessen Gossen, Gesetze des menschlichen Verkehrs, 2. A. S. 5 II.,
E. Sax, Staatswirthschaft, S. 1 78 (s. auch daselbst $. SS, b4).
78 1. B. 1. K. Wirthschaftl. Natur des Menschen. 1. A. §. 26, 2T.
baren, aber im concreten Fall sehr wohl fühlbaren und bekannten Schranken zu
achten. Vgl. auch Schönberg, I, in seiner Abh. §. 3.
Der Trieb der Selbsterhaltung kann unter Umständen
allerdings mit der Macht einer Naturkraft wirken und dann oft-
mals berecbtigtermaassen, ohne Verletzung, ja in Gemässheit eines
sittlichen Gebotes. Aber selbst in extremsten derartigen Fällen,
z. B. wenn es sich um Errettung des eigenen Lebens aus Gefahren
bandelt, wirkt der Selbsterhaltungstrieb doch mit durch das Medium
psychischer Vorgänge und mancherlei Motive, und vollends verhält
es sich in anderen Fällen so. Er ist daher in diesen nicht eine
reine Naturkraft und auch seine Vergleichung mit einer solchen
hinkt und muss jedenfalls mit Vorsicht vorgenommen werden.
Das persönliche oder Selbstinteresse ist noch weniger
auch nur mit einer Naturkraft zu vergleichen, geschweige dass in
demselben eine solche zu sehen ist. Nicht nur steht es, kann und
soll es, wie jeder menschliche Trieb, unter der Leitung der Ver-
nunft und des Gewissens stehen, nicht nur ist jede aus ihm her-
vorgehende Handlung eine verantwortliche, welche einem, freilich
geschichtlich etwas wechselnden sittlichen Urtheil unterliegt: das
Selbstinteresse vollends wirkt auch immer durch das Medium eines
ganzen Systems seelischer Motivation im einzelnen Menschen. Die
einen Motive entspringen aus dem Selbstinteresse, zeigen unter sich
aber doch mancherlei Verschiedenheiten in ihrem Wesen und in
ihrer Wirkungsweise. Die anderen Motive kreuzen sich mit jenen
ersteren. So kommt es, dass selbst diejenige concrete Handlung,
zu welcher das Selbstinteresse den Anstoss gegeben hat, doch
keineswegs immer rein das Resultat desselben, sondern häufig eine
Resultirende verschiedener Motive ist, daher auch in der Wirklich-
keit anders ausfällt, als sie es, unter der Annahme des allein und
„rein“ wirkenden Selbstinteresses thun würde.
Die britische, die Ockonomik des Individualismus und Liberalismus, hat das,
wenigstens in manchen ihrer Vertreter, zu wenig beachtet, auch in ihrer Methodo-
logie für die ökonomische Theorie, bei ihrer Handhabung der Methode der specula-
tiven Deduction „aus dem wirtschaftlichen Selbstinteres.se“, dem „Streben nach Ver-
mögen“ (oder aus dem „wirtschaftlichen Eigennutz“) heraus, vollends in der
Verwertung der so gewonnenen Sätze der Theorie für practische concrete Fragen
und Verhältnisse. Fehler, welche freilich für jene Oekonomik und ihre Methode nahe
liegen, aber gleichwohl nicht notwendig damit verbunden sind. Die „wirklichen“
Menschen sind eben von mancherlei verschiedenartigen, in derselben Richtung
wirkenden, aber doch durch ihr Nebeneinanderwirken sich modificirendcn und auch
von sich kreuzendeu Motiven oft auch bei ein und derselben Handlung, auch einer
„wirtschaftlichen“ Handlung, bewegt. Sie entsprechen so nicht allgemein und im
concreten Falle jedenfalls nicht ohne Weiteres den „Menschen der absoluten wirt-
schaftlichen Theorie“, den „bloss vom Eigennutz getriebenen“ „absoluten Markt-
menschen“ (city inen). Ihre Handlungen fallen daher auch anders als diejenigen der
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Arbeit.
79
letzteren aus. Diese wichtige Wahrheit ist in der britischen Oekonomik öfters über-
sehen worden. Sie festzuhalten ist durchaus nothwendig, aber auch bei der An-
wendung der Methode der Deduction aus dem Selbstinteresse recht wohl möglich.
Die Anerkennung jenes Fehlers bedingt daher auch keineswegs das Preisgeben dieser
Methode, wie die historische Nationalökonomie in einigen ihrer Vertreter um jener
Wahrheit M illen anzunehmen geneigt ist.
II. — §. 27 [2]. Arbeit. Flir die Menschheit, diese als
ein Ganzes betrachtet, ist gegenüber der constanten Beschaffen-
heit der äusseren Natur und den dadurch bedingten Beziehungen
zwischen menschlicher Bedürfnisbefriedigung und dieser Natur die
Arbeit die unbedingte Voraussetzung zur Beschaffung und Ver-
wendung von Gütern, insbesondere auch äusseren Gütern, und da-
mit zur Erzielung der Möglichkeit der Befriedigung der Bedürfnisse :
die „Verbindungsbrücke zwischen Bedürfnis und Befriedigung“
(besoin, effort, satifaction, Basti at). Für den Einzelnen, für
ganze Gruppen von Einzelnen nach natü rlic heil Verhält-
nissen (wie die Kinder, die Greise, die Kranken), für gewisse
Stände, Gassen, Völker nach rechtlichen und Machtverhält-
nissen gilt das freilich nicht oder nicht in gleichem Maasse, je
nach der persönlichen, der socialen Lage und Stellung der Be-
treffenden, indem freiwillig oder gezwungen die Arbeit Anderer
ihnen die Güter zur Verfügung stellt. Von diesen für die sociale
und historische Stellung der menschlichen Arbeit freilich sehr
wichtigen Verhältnissen abgesehen wird die Arbeit regelmässig
übernommen, weil der Mensch, durch die Erfahrung und Vernunft
geleitet, erkennt, dass er nur durch die Arbeit zu Gütern und
damit aus den Unlustgetühlen des Mangels im unbefriedigten zu den
Lustgefühlen im befriedigten Bedürfnis gelangen kann.
Arbeit (im wirthschaftlichen Sinne) ist nun eine als solche
oder als blosses Mittel zum Zweck der Ermöglichung der Bedürfnis-
befriedigung mit Opfern (Pein, Last, Unannehmlichkeit, Kraft-
und Zeitaufwand, insofern mit Opfer von „Leben“) verbundene per-
sönliche Anstrengung menschlicher Kräfte.
Begriffsbestimmungen der Arbeit fehlen auffällig genug vielfach. Rau nennt
tarvor bringende productive Arbeit die Anwendung der menschlichen Kraft als Ur-
sache von Veränderungen in der Körperwelt, S. Autl. , §. $4, was mit seiner zu
tßgen Begrenzung des Begriffs wirtschaftliches Gut zusammenhängt, s. unten.
Roscher erwähnt, dass zum Begriff Arbeit immer ein Merkmal der Muhe, die auf
men ausserhalb ihrer selbst liegenden Zweck gerichtet ist, gehöre, §. 36 Anm. 1.
& aoch v. Mango) dt, §.5 u. Art. Arbeit im Staatswörterbuch, Hermann, S, 7, !)
Arbeit als Lebensaufopferung characterisirt). Schäffle, soc. Körper, III, 252.
Diese Auffassung der Arbeit als Last steht nicht im Widerspruch mit der gleich-
es richtigen Auffassung derselben Arbeit als sittlicher Beruf und Lebens-
aufgabe, und insofern auch wieder als etwas, das als solches iunere Befrie-
digung. demnach Lust, Freude gewährt, wird also durch letztere Auffassung nicht
ausgeschlossen. Bei der Bemessung des Lastmoments in der Arbeit wird daher auch
80
1. B. 1. K. Wirtschaft!. Natur des Menschen. 1. A. §. 28, 29.
diesem etwa initspielonden anderen, diesem Lustmoment, welches auch in dem Gefühl
der Pflichterfüllung liegen kann, Rechnung getragen. Nur soweit es sich um eine
auch in letzterer Beziehung unnöthige, auch dafür unwirksame Arbeit handelt, gilt
das im folgenden §. 28 Gesagte.
Die Arbeit muss sich wegen des beständigen Wechsels zwischen Bedürfniss und
Refriedigung, wegen der nur vorübergehenden Dauer der letzteren und wegen der
Vermehrung, Verviefältigung und Verfeinerung der Bedürfnisse immer von Neuem
wiederholen , regelmässig und planvoll fortgesetzt werden und immer wirksamer,
erfolgreicher zu werden suchen.
111. — §. 28 [3]. Oekonomisches Princip. Bei aller
auf Bedürfnisbefriedigung gerichteten Thätigkeit leitet den Men-
schen — und darf und oft auch soll ihn leiten — das ökono-
mische oder das Princip der Wirtschaftlichkeit, ein
durchaus psychologisches Princip, d. h. das Streben, freiwillig
nur solche Arbeit vorzunehmen, bei welcher nach der inneren
Schätzung des Menschen die Annehmlichkeit der Befriedigung die
Pein der Anstrengung (des Opfers) überwiegt, sowie das fernere
Streben nach einer möglichst hohen Summe (Maximum) Arbeits-
erfolg und damit Möglichkeit der Befriedigung für ein möglichst
geringes Maass (Minimum) nicht in sich selbst ihren Zweck und
Lohn allein tragender Anstrengung oder Opfer in der Arbeit.
Immer finden daher hier psychische Vorgänge der Vergleichung und
Prüfung statt, von deren Ausfall dio Uebernahme der Arbeit, der Eifer, auch der
zu höherer Anstrengung führende Eifer dabei, insofern wieder der Erfolg der Arbeit
abhängt. Je mehr nach den mitwirkenden Motiven das Lastmoment der Arbeit ver-
ringert, das Lustmoment in ihr selbst an dadurch erlangten inneren Gütern und das-
jenige im Erfolg, in den Ergebnissen der Arbeit, wie auch in der dadurch zu er-
zielenden Befriedigung mittelst äusserer Güter erhöht wird, desto besser. Lastmoment
und Lustmoment sind daher in der Arbeit zweckmässig in Verbindung zu bringen,
damit letzteres das crstcrc auf hebt oder vermindert: eine wichtige Aufgabe der
„Organisation der Arbeit“ (der Production) und der erziehlichen Entwicklung des
. Trieblebens und der Motivation. (Einseitige, carrikirte, aber nicht an sich unrichtige
Gedanken Ch. Fourier’s und anderer Socialisten.)
In der Hauptsache konnte das ökonomische Princip bei wirthschaftlicbcn Unter-
suchungen nie verkannt werden. In den Vordergrund der Betrachtung ist es be-
sonders durch Hermann ’s Lehre von der Wirtschaft und von der Trennung von
Oekonomik und Technik gestellt, 2. Aufl., S. 6 ff. Die Formulirung s. bei Schäffle,
2. Aufl. des gesellschaftlichen Systems, S. 3, 332, 3. Aufl. I, 17. Vcrgl. auch dess.
Aufs, über Gebrauchswerth und Wirtschaft nach den Begriffsbestimmungen Hermanns,
Tub. Zeitschr. XXVI (1870). Der erste Satz im Texte, worin ich das Princip for-
inulirte. ist in SchäfTle's Formulirung nicht enthalten, fehlt auch bei Held, Grund-
riss S. 9, findet sich aber mit Recht bei 0. Michaelis „Das Kapitel vom Werte“
(aus einer Abhandlung von 1863 in s. u. Faucher’s Viertel jahrsschr. f. Volkswirt-
schaft u. s. w.) in seinen Volkswirtschaftlichen Schriften, 1873, II, 241. — Gewiss
hat 11. Dietzel (^eitschr. f. Staatswiss. B. 89, S. 29) darin recht, dass das öko-
nomische Princip eigentlich ein ganz allgemeines Princip des vernünftigen, zweck-
mässigen Handelns und demgemäss nur allgemeiner zu fassen sei. Aber damit ist
die Bedeutung dieses Princips specicll für die wirtschaftlichen Handlungen und
Erscheinungen doch nicht vermindert, geschweige widerlegt. Auf dem wirtschaft-
lichen Gebiet lässt sich nur eine genauere Wirksamkeit des Princips verfolgen bei der
Beschaffung der Güter (Production iui w. S.) und bei der Vollziehung der Be-
friedigung (Consumtion).
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Oekonomisches Princip. Wirthschaft.
81
IV. — §. 29 [4j. Wirth schaft. Wirthsch aftliche
Natur des Menschen. Wirth schaftslehre.:.
Ci
1. Der Inbegriff der auf fortgesetzte Beschaffung und Ver-
wendung von Gütern zur Bedürfnisbefriedigung gerichteten, plan-
voll nach diesem ökonomischen Princip erfolgenden Arbeitäthätig-
keiten in einem geschlossenen oder geschlossen gedächten mensch-
lichen Bedürfnis- und Befriedigungskreise ist * (ifri allgemeinsten
Sinne des Worts) die Wirthscliaft; jede einzelne hierzu gehörige
Thätigkeit ist eine wirth schaftliche, ökonomische Hand-
lung, jede einzelne bezügliche Erscheinung ist fcine wirtschaft-
liche Erscheinung.
Man kann zweifelhaft sein, ob man beim WirthsckaftsbcgrüT sagen soll; Arbeits-
thätigkeiton oder bloss Thätigkeiten. Indessen selbst die blosse Verwaltang des
Vermögens zum Zweck des Rentenbezugs nötliigt stets zu Thätigkeiten, welche unter
den Begritf Arbeit gehören und ebenso die Verwendung des erzielten Einkommens
zur Bedürfnissbefriedigung. Ueber das Maass und die Art det Arbeit des Wirth-
schaftssubjects sagt der Begriff der Wirthschaft aber überhaupt nichts aus. .
Kan defmirt die Wirthschaft, consequent seinem, in. E. unhaltbaren, Standpuncte
(s. unten), nur Sachgüter wirth schaftliche Güter zu nennen, als „Inbegriff von
Verrichtungen, welche zur Versorgung einer Person oder einer Verbindung mehrerer
Personen mit Sachgütern bestimmt sind, oder welche sich auf die Erlangung oder
Benutzung von Vermögen beziehen“, §. 2. Hermann zieht das Princip der Wirt-
schaftlichkeit mit herbei, indem er die Wirthschaft bezeichnet als: „Die quan-
titative Ueberwachung der Herstellung und Verwendung der Güter in einem
gesonderten Kreise von Bedürfnissen“, — eine Begriffsbestimmung, welche in dieser
Formulirung aber nicht recht verständlich ist und erst eingehender Erläuterung dafür
bedarf, die ihr Hermann auch , und zwar vortrefflich . giebt. Die sehr eingehenden
Erörterungen Schäffle’s in seinem System (s Sachregister s. V. Wirthschaft),
im Ganzen das Beste,' was wir über Wesen und Arten der Wirthschaft und
ihrer Organisation besitzen ; ermangeln im Einzelnen etwas der Präcision, vergl.
z. B. gleich I. 4. Lind wurm ’s Analyse des Wirthscbaftsbegrilfs, a. a. 0. S. 18 11..
untersucht getrennt die Merkmale „Wirth“ und „Schaffen“. — . Ncumann (Abh. Grund-
begriffe in Schönberg ’s Handbuch, 3. A. I. 162) knüpft den Begriff -Wirthschaft an
vorausgehende andere von ihm erörterte Begriffe und bringt ihn in unmittelbare Ver-
bindung mit dem Vermögensbegriir: Wirthschaft, Inbegriff von Thäfigkeiton (bezw.
mit einem Vorbehalt, auch Arbeitsthätigkeiten) zur Gewinnung: oder Erhaltung von
Vermögen für Jemand (also nicht auch: zur Verwendung?). »*-’D ictzol, Tüb. Ztschr.
B. 37, S. 65), Wirthschaft, der Inbegriff der wirtschaftlichen Handlungen eines
Subjects. . >
2. Wirth schaftliche Natur des Menschen. Die Natur
des Menschen, welche sich aus dem Wesen menschlicher Bedürf-
nisse, aus deren Befriedigung, aus dem Befricdigungstrieb — als
Trieb der Selbsterhältung und des Selbstinteresses — , aus der
Stellung der Arbeit und Wirthschaft und aus der Schätzung aller
dieser Momente in der Seele des Menschen, daher mittelst
der Erwägungen, Vergleichungen und Urtheile unter dem Walten
des ökonomischen Princips ergiebt, nennen wir seine wirthschaft-
liehe Natur.
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Theil. Grundlagen.
6
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82
1. B. 1. K. Wirtschaft Natur des Menschen. 1. A. §. 29, 30.
Dieselbe ist freilich selbst wieder keine absolut fest gegebene,
durchaus bei Allen gleichmässige, sondern wie unter sonst gleich-
artigen Individuen, so nach Classen, Ständen, Völkern, Zeitaltern,
Ländern, nach Sittenzustand und Cultur bei den Einzelnen ver-
schieden in der innerlichen Empfindung der Bedürfnisse wie in der
Schätzung der angegebenen Momente. Sie steht, wie alles Psychische
im Menschen, unter der Einwirkung des Willens, lässt sich erziehen,
ist mancherlei anderen Motiven zugänglich, weil sie nur eine
Seite der, nicht die menschliche Natur überhaupt ist, modificirt
sich historisch , aber tritt bei allen Menschen doch im Kern über-
einstimmend, in den von ihr beherrschten Motiven, Gedanken, Be-
strebungen, Handlungen im wirthschaftlicben Leben hervor. Denn
die Gr und züge der wirtschaftlichen Natur liegen fest in der
menschlichen körperlich-geistigen Organisation und verändern sich
so wenig wie die äussere Natur wenigstens in den für Menschen-
geschichte in Betracht kommenden Zeiträumen. Insofern ist diese
„wirtschaftliche Natur des Menschen“ nach diesen ihren Grund-
zügen als eine absolute Kategorie zu betrachten, mit welcher
man im Wirtschaftsleben stets als mit einem stark mitspiclenden,
oft entscheidenden Factor bei den Einzelnen zu thun hat.
Keinerlei wirtschaftliche Untersuchung ist möglich ohne diese Annahme, für
die man sich vor Allem auf die innere Prüfung und die „allgemeine Lebenserfahrung“
berufen, aber auch — auf die psychologische Auslegung aller geschichtlichen Er-
fahrungen über wirtschaftliche Erscheinungen. Einrichtungen und Rechtsnormen be-
ziehen kann. Denn wir sind übcihaupt nur im Stande, menschliches Handeln im
Allgemeinen und wirtschaftliches im Besonderen bei uns unbekannten Dritten, daher
auch in früheren (iescbichtsperioden , zu verstehen, indem wir ihm die psychischen
Triebfedern und Motive, die wir aus eigener innerer Prüfung und unmittelbarer
Beobachtung um uns kennen, zur Erklärung unterlegen. Ebenso können wir auch die
aus diesem Handeln hervorgehenden Erscheinungen . die mit Rücksicht auf dasselbe
geschalfenen Einrichtungen und Rechtsnormen nur durch Zuruckfuhrung auf die
menschliche Natur, aus der sie entsprungen, für die sie bestimmt waren oder sind,
uns verständlich machen. Jede Untersuchung und Prüfung z. B. der Bestimmungen
einer älteren Rechtsordnung (Agrarverfassung, Gewerbeverfassung — Zunft! — ,
Handclsrerfassung, Zinsgesetze u. v. a. m) zeigt uns dann, dass diese Normen, z B.
in der Beschränkung der freien wirthschaftlicben Bewegung, Menschen mit der-
selben wirtschaftlichen Natur, wie wir selbst sie haben, voraussetzen. Auch die
„exactcste staatswirthschaftliche Forschung“ kann keinen Schritt ohne diese Annahme
gehen. Eine feinere psychologische Analyse der wirthschaftlicben Natur des Menschen
und genaue Beobachtungen, wie sich die letztere zeitlich und örtlich offenbart und
auch dill'erenzirt und modificirt, sind natürlich weiteres Erforderniss. Aber die
„historische“ Schule (§. 13) übertreibt wieder die individuelle Verschiedenheit und
die geschichtliche Difierenzirung und Veränderung der wirthschaftlicben und der
allgemein-menschlichen Natur und übersieht das Gleichmässige, Feste, überschätzt das
Variable, unterschätzt das Constantc.
Dieses Co n staute in der wirtschaftlichen Natur des Menschen, daher in
seinem Triebleben, seinen Motiven, gestattet dann auch den Schluss, ja macht ihn
notwendig, dass insoweit die wirtschaftlichen Handlungen und. soweit diese dafür
entscheiden, die wirtschaftlichen Erscheinungen selbst constant, daher auch gleich-
b.
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Die wirthschaft!. Natur bei den Individuen.
83
mässig sein werden. Ein für alle Methodologie der Disciplin wichtiger
Schluss und zugleich ein solcher, welcher es rechtfertigt von „Gesetzen“, d. h.
roa gleichmässigem Verlaufe wirtschaftlicher Handlungen und Erscheinungen unter
der Voraussetzung des Obwaltens und ausschliesslichen Einwirkens gerade der wirt-
schaftlichen Natur des Menschen zu sprechen; daher freilich doch nur von Ge-
setzen als Gestaltungstendenzen, nicht von Naturgesetzen, da die Triebe
und Motive in der wirtschaftlichen Natur wohl regelmässig in der abgeleiteten
Weise wirken, aber nicht notwendig so wirken inüsseu und auch wirklich nicht
immer so wirken (§. 74, auch §. 86 ff).
3. Der geordnete Inbegriff der die Wirthschaft im obigen Sinne
betreffenden Lehren ist die Wissenschaft der Wirthschaftslehre,
Oekonomie oder besser Oekonomik: der allgemeinere, weitere
Hegriff gegenüber den engeren Begriffen National-, Politische-,
Social- wie auch Privatökonomik.
„Itn Griechischen heisst die Familie oixog, oixict, die Haushaltung olxovo/xia ,
die Wirthschaftslehre olxovofuxt]. Daher sollte man eigentlich nur die Wirthschaft
UekoQomie. die Wirthschaftslehre aber Oekonomik nennen. Darum wird neuerlich vou
Chde (,184‘J) und Koscher (1854) das Wort Nationalökonomik gebraucht“
• Kau, §. 2, Anm. f).
2. Abschnitt.
Üifferenzirung und Combination der Motive im wirtli-
schaf't liehen Handeln.
Das Folgende in Kürze im Wesentlichen in meinem Aufsatze in Conrad's Jahr-
büchern, B. 46 (N. F. 12), S. 228 ff Hier jetzt jedoch auch mit einigen principiellen
Änderungen der Auffassung.
I. — §.30. Die wirtschaftliche Natur bei den Indi-
viduen. Die im vorigen Abschnitt analysirte wirtschaftliche
Natur des „Menschen schlechtweg“ bildet den Ausgangspunct für
alle weiteren Erörterungen in der Wirthschaftslehre. Dabei sind
aber, wie sich freilich ausdrücklich oder iiuplicite aus dem Voraus-
gehenden schon ergiebt, einige, vornemlich drei wichtige Puncte
uieht ausser Acht zu lassen: die individuelle Diftereuzirung der
wirtschaftlichen Natur, die Thatsache, dass die wirtschaftliche
Natur nur eine Seite der ganzen menschlichen Natur ist und die
weitere Thatsache, dass der Mensch, wenn auch von verschiedenen
Motiven bestimmt, doch ein einheitlich handelndes Wesen ist.
Manche bedenkliche Irrthümer bei Theoretikern der liberal-indivi-
dualistischen Oekonomik sind daraus entstanden, dass diese Puncte
nicht oder nicht genügend oder nicht richtig berücksichtigt worden
sind.
1. Individuelle (subjectivc) Differenzirung der
wirt h sc h äl tlichen Natur. Beim Einzelnen als Individuum
und als Glied einer örtlich und zeitlich selbst wieder veriinder-
6 *
84
1. B. 1. K. Wirthschaftl. Natur des Menschen. 2. A. §. 30 — 32.
liehen Gemeinschaft differenzirt und modificirt sich danach
das, was wir die „wirthschaftliche Natur“ des Menschen nennen,
möglicher und tbatsächlicher Weise mehr oder weniger, wenn auch
in der im vorigen §. 29 angedeuteten Weise bei allen Menschen
als Menschen ein starkes Element dieser wirtschaftlichen Natur
constant bleibt.' Zahlreiche variable Elemente, welche bei den
allen wirtschaftlichen Handlungen zu Grunde liegenden psychischen
Vorgängen mitspielen können und mitspielen, gestalten, sich eben
nach den in di viduel len „Seelen“ verschieden. Schlüsse, welche
das unbeachtet lassen, sind daher principiell unrichtig und tat-
sächlich im concreten Falle ebenfalls oder hier doch nur zufällig
richtig. • ,N
Es ist, von den freilich wieder unterlaufenden Uebertreibungen abgesehen', ein
Verdienst der „historischen- Nationalökonomie", dass sie den Fehlet1 der älteren bri-
tischen Doctrin berichtigt hat, die „wirthschaftliche Natur“ des Mensöhcn,* woil:sie in
den Grundzügcn allerdings die gleiche ist, nuu auch bei den Einzelnen als
genau dieselbo anzusehen und' dabei eine Abstraction bezüglich der „wirtschaft-
lichen Natur“ aus einer bestimmten . Geschichtsperiode und bei bestimmten Völkern
(Gegenwart, moderne europäische Culturvölker) , ja bei bestimmten Classen dieser
Völker, den im Concurrenzkampf stehenden gewerblichen Unternehmern (dem „Händler-
thum“), zu einer allgemein gütigen zu generalisiren : ein der älteren Methode nicht
inhärenter, aber sie oftmals begleitender Fehler. Als Menkchen haben freilich
alle Individuen gewisse grosse Grundzüge ihrer wirtschaftlichen wie ihrer gesammteu
physisch-psychischen Natur gemeinsam. Aber als Individuen an sich und wieder
als Individuen, welche Glieder eines bestimmten Stammes, Volks, einer Classe, eitjes
Stands, eines Berufs u. s. w. , Angehörige eines Landes, Staats, einer Kirche, eines
Zeitalters sind, haben sie Verschiedenheiten ihres Denkens, Fühleus, Strebens u. s. w„
welche auch auf ihre wirtschaftlichen Handlungen Von Einfluss sein
können und oftmals es mehr oder weniger sind. Damit djfferenjtir^i vsich auch diese
und folgeweise wieder die wirtschaftlichen Erscheinungen im cojicreten Falle.
Nur weil eben doch unter dem überwiegenden Einfluss des Conslahten- in' ihter Wirt-
schaftlichen Natur -7-' und bei der Constanz der äusseren Natuf, — die -It^viduen
trotz dieser ihrer individuellen und historischen Verschiedenheiten .wirtschaftlich
wieder in der Maske der Fälle gleichmässig handeln, und so weit ‘sie es'tdiw ft&st
sich für diese Masse der Fälle eine gleichinässige Gesta(tu^g,3bLeitop, z. B. in
der Bildung der Preise, Löhne, Zinsen. Aber dieser Schluss ist ,nu,r ein Wahrschein-
lichkeitsschluss, der noch seiner besonderen Prüfung auf seine -RiÄtiglicit bedarf, da
doch auch in der, Masse der Fälle die variablen Factoren bei den handelnden Indi-
viduen einen stärkeren Einfluss behaupten können. Vollends der Schluss von der
Masse der Fälle auf den einzelnen Fall ist von vornherein gewagt und bedarf erst
einer Prüfung der concreten mitspiclcnden Factoren.
§. 31. — 2. Die wirt lisch aftli 6 he Natur als eine blosse
'•Seite der menschlichen Natur. -Die^wirthschaftliche Näturi*,
wie sie im §. 29 abgeleitet und cliaracterisift wurde, ist nicht die
ganze Natur des Menschen, sondern nur eine Seite derselben.
Auch als solche Seite ist sie bei den Einzelnen, diese
wiederum als Individuen an sich wie als Glieder menschlicher
Gemeinschaften genommen, nichts völlig Constantes, ganz Gleich-
massiges, weder an sich — „absolut“ — , noch im Verhältniss zu
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Die wirtbschaftL Natur bei den Iudividuen.
85
den übrigen Seiten der menschlichen Natur — „relativ“ wie
auch bei ein und demselben Individuum nicht, je nach den Lebens-
umständen desselben.
Allerdings bleibt die „wirthschaftlicbe Natur“ des Menschen, aus den früher
dargelegten (»runden, stets eine Seite seiner ganzen Natur, auch bei jedem Einzelnen,
insofern etwas Constautes. Aber nach Naturanlage, Temperament, Erziehung, innerem
Seelenleben, äusseron Umständen und Einflüssen des Einzelnen an sich und als Glieds
ron Gemeinschaften, ab Persönlichkeit, welche unter variablen zeitlichen und räum-
lichen Einflüssen steht, ist diese Seite seiner Natur an sich und neben den auderen
Seiten verschieden entwickelt und einer verschiedenen — auch zielmässig beabsich-
tigten — Entwicklung fähig. Von nicht geringem Einfluss auf diese historische, örtliche,
individuelle Diiferenzirung der wirthschaftiichou Natur als einer Seite der ganzen
Natur des Menschen sind Zeitanschauungen, sittliche, religiöSegAhschaoungen, Ge-
staltung der Erziehung, aber namentlich auch Einrichtungen und Rechtsnormen im
Wirtschaftsleben selbst. Es ist eine der bedenklichen Seiten und Folgen des
,:Systems der freien Concurreuz“ und der geistigen, sittliohen Atmosphäre, aus welcher
dies System entsteht und auf welche es dann selbst wieder ruckwirkt, dass die „wirt-
schaftliche Seite“ der menschlichen Natur übermässig und zu sehr auf Kosten anderer
Seiten sich entwickelt, der „wirtschaftliche“, der Erwerbs-Gesichtspunct alles über-
wuchert (Mammonismus, Pleonexie, Geldgier, Spielgeist. Speculationscharactor des
Wirtschaftsleben , Ueberhandnehmen des Erwerbsgeists auch in liberalen Berufen,
fast alleiniges Walten desselben in den materiellen Berufen u. dgl. m.). Adtere wirt-
schaftliche Rechtsordnungen corporativen Characters (Zunftwesen) mögen neben guten
auch manche üble Einwirkungen auf die psychische, die sittliche Natuf der Einzelnen
gehabt haben, wie wir das heute noch in analogen Verhältnissen \BureaukrAtie, cor-
porativc Schulen, Universitäten) ähnlich sehen. Aber jene Rechtsordnungen liessen
die wirtschaftliche Natur der Angehörigen nicht zu so einseitiger, so übermässiger
Entwicklung kommen, ln einer „socialistischen“ Rechtsordnung des Wirtschafts-
lebens. der Production und Verteilung, würde immerhin ebenfalls eine Cojrectur,
eine Modification dieser jetzt überspannten Entwicklung der wirtschaftlichen Natur
möglich, selbst wahrscheinlich und an sich etwas Erwünschtes sein. Nur dürfte man
sich hier nicht wieder der Illusion hingeben, die „wirtschaftliche Seite“ der Natur
des Einzelnen ganz unterdrücken zu können und ohne Schaden für die Gesamiutheit
unterdrücken zu dürfen. Ein gewisses normales, wenn auch nach Individuen und Zeit-
altern nicht ganz stabiles und gleichmässiges VerhäJtniss der einzelnen Seitfcn der
menschlichen Natur ist auch hier das Richtige.
§. 32. — 3. Der Mensch als einheitlich handelndes,
wenn auch von verschiedenen Motiven bestimmtes
Wesen. Gerade weil die wirtschaftliche Natur nur eine Seite
der ganzen Natur des Menschen ist, -sind auch die wirtschaftlichen
Handlungen nicht notwendig nur von wirtschaftlichen Motiven,
insbesondere von den aus dem Trieb des Selbstinteresses hervor-
gehenden, abhängig. Sie» können vielmehr zugleich mit und unter
Umständen selbst stärker .mit, ja sogar gelegentlich allein von*
anderen Motiven bechfflftf$>t und bestimmt werden und werden das
tatsächlich auch öfters. Gerade im concreten Falle begeht auch
der Einzelne die wirtschaftliche Handlung als einheitliches
Wesen, welches stets einer Summe vou Beweggründen verschie-
dener Art und Stärke und in verschiedener Combination unterliegen
kann und vielleicht gerade in. diesem Falle thatsächlich unterliegt.
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1. B. 1. K. Wirthschaftl. Natur des Menschen. 2. A. §. 32, 33.
Daher fallen diese Handlungen alsdann auch anders aus, als wenn
sie rein durch das Selbstinteresse, durch das Streben nach dem
grösstmögliehen wirtschaftlichen Eigen vortheil liir das kleinst-
mögliche Opfer, bestimmt würden.
Wiederum ein Punct. welchen die ältere Theorie viel zu wenig, in der Regel
gar nicht . und namentlich hei der Analyse concreter Verhältnisse nicht genügend
beachtet hat. Was für den „Händler“, den „city man“ im Grossverkehr, im Börsen-
treiben unserer privatkapitalistischen Geschichtsperiode allerdings zu gelten pflegt, aber
doch auch da nicht einmal ausnahmslos — eben weil auch der Händler, auch der
moderne Börsenmann, immer doch „Mensch“ bleibt — . das wurde ohne Weiteres auf
die wirtschaftenden , zumal auf die im Tauschverkehr stehenden Menschen aller
Zeiten, Länder, Berufe u. s. w. gleichmässig übertragen. Und was für den Einen nach
dessen individueller Persönlichkeit zutraf, wurde ebenso ohne Weiteres auf jeden
Anderen angewandt, als ob alle Einzelnen in gleichem Maassc und ausschliesslich
nur wirtschaftlichen Motiven zugänglich wären. Die einseitigste Psychologie, welche
man sich denken kann. Das einfache Niederreissen der „störenden“ — aber ander-
seits schützenden ! — älteren wirtschaftlichen Rechtsordnungen , die gewaltsame
Gleichstellung der agrarischen, industriellen, mercantilen Rerufe im Wirthschaftsrecht.
die Anwendung des Freihandels auf die verschiedensten Länder und Völker, m. a. W.
das „Scheeren Aller über Einen Kamm“ war mit die Folge dieser einseitigen Psycho-
logie und dieser Verkennung des Charactcrs jeder wirtschaftlichen Handlung als einer,
wie j e de menschliche Handlung, von mancherlei Motiven immer mit bestimmbaren
und oft wirklich mit bestimmten.
II. — §. 33 [207 j. Analyse der Motive imwirtbschaft-
lichen Handeln, insbesondere die Differenziru ng der
egoistischen Motive. Gerade weil die „wirtschaftliche Natur“
nur eine Seite der menschlichen Natur ist, weil Jeder doch als
einheitliches (Willens-') Wesen handelt, wie überhaupt, so auch auf
wirtschaftlichem Gebiete, können auch hei der einzelneu wirt-
schaftlichen Handlung verschiedene Motive, in verschiedener Stärke
und Combination, mitwirken. Diese Motive bestimmen das wirt-
schaftliche Handeln teils als menschliches Handeln überhaupt,
teils als speciell wirtschaftliches Handeln. Sic entspringen teils
dem Befriedigungstrieb , insbesondre auch dem wirtschaftlichen
Selbstinteresse, teils stehen sie mit anderen Seiten der psychischen
Natur des Menschen in Verbindung.
Dasjenige Motiv, welches die Nationalökonomie meistens allein
in seiner Wirksamkeit verfolgt hat, das Streben nach dem
wirtschaftlichen (Eigen) Vortheil, erscheint gerade bei
der wirthscha ft liehen Handlung besonders mächtig und wichtig,
aber doch wiederum nicht als allein wirksam. Es muss auch zur
richtigen Würdigung seiuer selbst und seiner Wirksamkeit als
Glied einerKategoric ihm verwandterMotive aufgefasst
weiden, welche man wegen ihrer aller Beziehung auf positive Lust-
gefühle (oder Vermeidung von Unlustgcfühlen) des eigenen empfin-
denden und urteilenden „Ich“ unter dem — hier ohne üble Neben-
Digitized by Google
Analyse der Motive im wirtbschaftl. Handeln.
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bedentung genommenen — Ausdruck egoistische Motive zu-
sammenfassen kann. Diese egoistischen Motive d ifferenziren
sich dann und eines dieser Differentiale ist das Motiv des wirt-
schaftlichen Vorteils. Aber zur Erklärung der wirtschaftlichen
Handlungen und demgemäss Erscheinungen muss man gerade auch
die anderen egoistischen Motive mit heranziehen, — was wiederum
die ältere Theorie nicht genilgend gethan hat.
Den egoistischen Motiven kann jedoch auch beim wirtschaft-
lichen wie bei allem menschlichen Handeln ein nicht-egoisti-
sches Motiv corrigirend zur Seite und selbst ersetzend an ihre
Stelle treten : ein Motiv, bei welchem es sich zwar mit um eigene
Lustgefühle oder Vermeidung von Unlastgefühlen handelt, aber doch
nicht diese Gefühle oder diese wenigstens nicht allein das treibende
Moment darstellen. Freilich wird dies Motiv daher nach der
„menschlichen Natur“, „wie sie einmal ist“, selten ganz rein als
unegoistisches erscheinen, mit egoistischen Bezügen, wie mit
Schlacken, leicht immer etwas versetzt bleiben. Aber dennoch kann
und darf es seinem eigentlich treibenden Moment nach als ein
un egoistisches gelten.
Es lassen sich dann folgende Gruppen von Motiven im wirt-
schaftlichen Handeln bilden.
Die Bezeichnung der einzelnen Motive ist nach dem wichtigsten und charac-
teristischsten (josichtspuncte bei einem jeden gewühlt worden , wiederum nach dem
Satze a potiori fit denominatio. Alle einzelnen Seiten, alle Erscheinungsweisen eines
Motivs können durch eine solche Bezeichnung, bei welcher auch Knappheit des Aus-
drucks zu erstreben war. aber nicht genau wiedergegeben werden. Deshalb bedarf
es bei jedem einzelnen Motiv einer Erläuterung seines Inhalts, d. h. der Seiten und
Erscheinungsweisen, welche darunter fallen. Um im Folgenden einen kurzen Ausdruck
anwenden zu können, werden die Motive als „Leitmotive“ 1 — 5 und in jedem Falle
dann mit der betreffenden Nummer (erstes, zweites u. s. w.) bezeichnet.
A. Egoistische Leitmotive.
1. Strebeu nach dem eigenen wirthscbaftlichen Vortheil und
Furcht vor eigener wirtschaftlicher Noth.
2. Furcht vor Strafe und Hoffnung auf Anerkennung.
3. Ehrgefühl, Geltungsstreben und Furcht vor Schande und
Missachtung.
4. Drang zur Betätigung und Freude am Thätigsein, auch an
der Arbeit als solcher, und an den Arbeitsergebnissen als solchen,
sowie Furcht vor den Folgen der Untätigkeit (Passivität).
B. U n egoistisch cs Leitmotiv.
5. Trieb des inneren Gebots zum sittlichen Handeln , Drang
des Pflichtgefühls lind Furcht vor dem eigenen inneren Tadel (vor
Gewissensbissen).
$8 1. B. 1. K. Wirtschaft]. Natur des Menschen. 2. A. §. 33, 34.
Bei jedem dieser Motive ist, was die Fassung gleich zeigen
will, eine Doppelseite zu unterscheiden: eine angenehme, eine
unangenehme, die Erregung von Lustgefühle n und die Ver-
meidung von Unlust ge fühlen.
f! .: Dies gHt allerdings zugestandenermaassen auch von dein fünften Motiv. Auf
die,, öfters bejahte Frage, ob man deswegen doch auch dieses Motiv als ein
„egoistisches“' in dem hier gemeinten Wortsinn ansehen muss, kommen wir zurück (§. 45).
Man kann diese Doppelseite auch allenfalls als die positive
und die negative bezeichnen. Zur Erklärung der psychischen
Vorgänge im wirtschaftlichen Handeln ist die Unterscheidung nicht
unwichtig.
Den egoistischen Motiven oder kurzweg dem „Egoismus“
wird in der ethischen, dann in der neueren sociologischen Theorie
und danach auch wohl von Nationalökonomen der „Altruismus“
gegenübergestellt.
* • »
"Wenn nur dieser Altruismus, wenigstens in seinen wichtigsten Erscheinungs-
formen. nicht wieder nur ein „erweiterter Egoismus“ wäre! Wo er das nicht ist, geht
er in das fünfte Motiv über. Bei demselben handelt es sich gerade auch um Altruis-
mus," um wirtschaftliche Opfer „für Andere“, aber doch noch um mehr als das.
Deshalb erscheint uns die Aufstellung und die Fassung des fünften Motivs als des
Gegensatzes zu den egoistischen Motiven richtiger, als die Gegenüberstellung von
Egoismus und Altruismus. Im Folgenden wird bei einzelnen Motiven noch des
Altruismus gedacht werden. Für die ganze Lehre sei auf die Ausführungen neuerer
Ethiker Uber Egoismus, Altruismus, Sympathie, Gewissen u. s. w. daher auf die oben
S. 71 genannten Schriften Bezug genommen.
Da jedes der fünf Motive, wie gesagt, alle ihm verwandten Spielarten um-
fasst, möchte es möglich sein, die wenigstens im wirtschaftlichen Leben vorkom-
menden Motive ohne Zwang und ohne eines der letzteren zu übersehen, auf die fünf
Hanptftlle als die Leitmotive zurückzuführen. Natürlich, dass auch hier nach In-
dividuen, Völkern, Zeitaltern. Culturstufen zahlreiche Nuancen eines jeden Leitmotivs
und der zu ihm gehörigen Spielarten Vorkommen, ebenso wie mancherlei verschieden-
artige und wechselnde Oombinationen. Das hindert aber doch nicht, zum Zweck der
Analyse der Motive für die Theorie der wirtschaftlichen Handlungen eine solche
fünffache Katogorisirung vorzunehmen und die weitere Erörterung daran zu knüpfen.
Für die Fragen der wirtschaftlichen Organisation und der Rechtsordnung, auch
für diejenigen, welche sich auf den Gegensatz von Individualismus und Socialismus,
priratwirthschaftiiche und gemeinwirtschaftliche Organisation der Volkswirthschaft,
Privateigenthum und Gemeineigenthum an den sachlichen Productionsmitteln beziehen,
ist die Analyse der Motive,, die Würdigung jedes einzelnen und die Untersuchung
der Combination der Motive von auschlaggcbender Bedeutung. Auch deshalb wird,
nach dem Zwecke dieses Werks (§. 7), hier auf diese Dinge näher cingegangen.
A. — §. 34 |207]. — 1. Erstes Leitmotiv: Streben nach
d e in eigenen wirtschaftlichen V o r t h e i 1 « n d Furcht
vor eigener wirtschaftlicher Noth.
a) Wesen und Function dieses Motivs. Dies Motiv
entspringt unmittelbar dem Befriedigungstrieb, schon als dem Trieb
der Selbsterhaltung, dann auch als dem Trieb des Seihstinteresses.
Es bewirkt wirtschaftliche Thätigkeit, Arbeit, Uebcrnahme von
Opfern (§. 27), um Güter für die Befriedigung der eigenen Bedürf-
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Erstes Leitmotiv: Wirtschaftlicher Yortheil.
89
nisse des Ietztre empfindenden und urtheilenden Subjects (des „Ich“)
zu beschaffen und zu verwenden. Hierbei kommt dann das öko-
nomische Princip (§. 28) zur Geltung.
Soweit es sich um die Befriedigung der ExistenzbedUrfnisse
ersten Grads (§. 24) handelt, ist dieses erste Motiv, wenn nicht
das einzige, so doch gewöhnlich das stärkste, um zur Arbeit an-
zutreiben, indem e’s regelmässig jeden Widerstand in der eigenen
Natur, in anderen Motiven überwiudet. Bei den ExistenzbedUrfnissen
zweiten Grads und den CulturbedUrfnissen gilt das dagegen nicht
in gleichem Maasse und nicht so allgemein noch so regelmässig.
Trägheit. „silsscs Nichtsthon4*, Gewohnheit an bestimmte Lebensführung und
Arbeilsärt, Bedürfnisslosigkeit . individuelles, Völker-, Standes-, zeitalterwcises Nicht-
werthlegen oder Nicht-soviel- Werthlegen auf weitere materielle, auf Culturgenüsse,
Höherschätzen des Ucberirdischcn als des Irdischen , sittliche , religiöse An-
schauungen u. s. w. können vielfach die Entwicklung dieses ersten Motivs hemmen,
dessen Wirksamkeit kreuzen oder selbst aufheben. Sie thun dies auch ohne Zweifel
vielfach, wie die Erfahrung lehrt, bei Individuen auf allen Cultnrstufen . aber selbst
bei der grossen Masse der Bevölkerung, ja sogar bei so gut wie allen Gliedern der-
selben auf gewissen Culturstufen , mit unter dem Einlluss äusserer Verhältnisse
(Klima), der ganzen Lebens- und Anschauungsweise (religiöse Momente).
Grade bei fortschreitenden Völkern und Individuen, d. h. eben bei solchen,
welche ihre Bedürfnisse vermehren, verfeinern, vervielfältigen (§. 23), ist aber ander-
seits dies erste Motiv auch regelmässig dasjenige, welches dauernd und selbst in
steigendem Grade zu wirtschaftlicher Thätigkeit. zu Arbeit anspornt und so die Be-
dingungen zur Befriedigung der äusseren Bedürfnisse zu erfüllen ermöglicht. Auch
hier, ja grade wieder hier treten jedoch Combinationen und Kreuzungen mit den
anderen Motiven hervor, wodurch die Wirksamkeit dieses ersten Motivs theils ver-
stärkt, theils auch gehemmt wird, was wiederum von der älteren „classischen“ Theorie
und noch heute von deren Nachläufern ^Manohesterschule) nicht genügend beachtet
worden ist.
4
Dieses erste Motiv hat die classische britische Theorie und
die ganze Doctrin des ökonomischen Individualismus ihren Erörte-
rungen des wirtschaftlichen Handelns und der von diesem be-
dingten wirtschaftlichen Erscheinungen zur psychologischen Er-
klärung vornemlicb, meistens ganz ausschliesslich zu Grunde gelebt;
auch wohl mit der Annahme, dass nur dieses Motiv ein „wirt-
schaftliches“ sei, mit welchem und mit dessen Wirksamkeit
sich im Grunde die „Wirth schalt sichre“, auch die Politische
Oekonomie, allein zu beschäftigen habe.
Damit wurde die Wirksamkeit anderer Motive nicht, wie man der älteren
Schule wohl vorgeworfen hat, kurzweg geläugnet oder gar gemissbilligt. sondern nur
die Ansicht vertreten, dass diese anderen Motive, so wichtig und so berechtigt sie
practisch oft sein möchten, doch als „nicht- wi rthschaft lieh c“ nicht in die
Wirthschaftslehre gehörten, sondern in die Ethik. Psychologie, Politik u. s. w.
Auf dieses erste Motiv wurde ferner in der älteren Theorie
auch vornemlich oder, in der angedeuteten Weise, wieder ausschliess-
lich die Methode der Disciplin begründet: die Deduction aus
90
1. B. 1. K. Wirtlischaftl. Natur des Menschen. 2. A. §. 35, 3t>.
diesem Motiv, denn das will die Deduetion „ans dem Selbst-
interesse“, „aus dem Eigennutze“ im Gruude bedeuten.
Oh und wie weit dieses Vorgehen richtig und berechtigt ist, wird später, be-
sonders im Abschnitt von der Methode im nächsten Kapitel erörtert werden. Vor-
läufig nur die wiederholte Bemerkung, dass es unter gewissen Voraussetzungen und
Cautelcn nicht nur zulässig, sondern auch zweckmässig, ja nothwendig ist (g. 4, $.t>7 ff.).
§. 35. — b) Behandlung dieses Motivs in der Theo-
rie. Dieses erste Motiv wird aber nun in der älteren Theorie
vielfach als zu allgemein und gleichmässig verbreitet und wirkend,
zu sehr einer wahren Naturkraft gleichend, zu unüberwindlich,
überall ohne Weiteres als berechtigt, als naturgemäss und unbedingt
nothwendig, auch in seiner Wirksamkeit zu sehr als allseitig — wie
für denjenigen, der sich dadurch leiten lässt, so auch für die
ganze Verkehrsgcsellschaft, der er angehört, — günstig wirkend
angenommen. Die individuelle und historische, nach Zeitaltern,
Culturgemeinschaften erfolgende Differenzirung dieses Motivs wird
dabei ebenso übersehen, wie seine ^tatsächliche und oft richtige
und nothwendige Combination mit anderen egoistischen Motiven
und seine mögliche und öfters ^tatsächliche Ersetzung durch diese
und durch das unegoistische fünfte Motiv. Ueberall laufen hier die
oben bei der „wirtschaftlichen Natur der Individuen“ (§. 30—32)
hervorgehobenen einseitigen und unrichtigen Auffassungen unter.
Trotzdem geht es aber doch wieder viel zu weit, wegen dieser
eben dargelegten Umstände dieses erste Motiv als ein allgemein
wirksames überhaupt nicht gelten lassen und daher auch die Be-
rechtigung deductiver Schlüsse aus ihm in Bezug auf wirtschaft-
liche Handlungen und Erscheinungen ganz bestreiten zu wollen.
Dazu neigen einzelne Vertreter der historischen Nationalökonomie, specieü in
der Methodenfrage . so Schm oller1). Sie begeben dabei den entgegengesetzten,
aber dem Grade nach einen noch grösseren Fehler, als ihre Gegner, die Oekonomen
der älteren Theorie. Ob der individuellen und der historischen Differenzirung und
Modification des Motivs des wirtschaftlichen Vorteils und ob der verschiedenen und
wechselnden Stärkegrade und Combinationen dieses mit anderen Motiven verlieren sie
den Blick für das bleibende, constante „allgemein Menschliche“ grade dieses ersten
Motivs. Das ist aber in der That ein noch grösserer Fehler als das Uebersehen jener
Differenzirung dieses Motivs u. s. w. Ein. wie sich zeigen wird, auch filr die Streit-
frage der Methode beachtenswerter Punct.
’) Grundfragen S. 37: ..Alle concreten volkswirtschaftlichen Organisationsfragen
sind also bedingt durch die Vorfrage, wie die psychologischen Grundtriebe bei dem
fraglichen Volk durch Sitte und Hecht modificirt sind. Darum ist mir auch die
Lehre von dem Egoismus oder Interesse, als dem psychologischen, steten und gleich-
inässigen Ausgangspunct aller wirtschaftlichen Handlungen nichts weiter als eine
bodenlose Oberflächlichkeit“. Ich möchte diese Aeusserung eine bodenlose
Uebertreibung nennen, weil dabei das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird, so
richtig ja der Einwand ist, dass der Egoismus keinen steten und gieichmässigen
Ausgangspunct bilde. Ob Knies. Polit. Oek., 2. A., S. 219 der Sclimoller’schen
Aeusserung ganz beistimmt, ist nicht recht klar.
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Erstes Leitmotiv: Wirtschaftlicher Vortheil.
91
Gerade dieses erste Motiv ist es sodann, welches sich practisch
oft „altruistisch“ erweitert, d. h. es wird zum Motiv des
Strebens nach dem wirtschaftlichen Vortheil A nder er, allerdings
regelmässig solcher Anderen, an deren wirtschaftlichem Ergehen
der Handelnde ein (Liebes- oder sympathisches) Interesse, gewöhn-
lich ein näheres persönliches Interesse hat, das ihn eben zu der
betreffenden wirtschaftlichen Handlung antreibt. Dies ist der
im Ganzen wohl wichtigste Fall des Altruismus, aber eben auch
derjenige, welcher am Deutlichsten zeigt, dass trotz des etwa
ausserdem statttindenden Mitspielens anderer Motive, auch gerade
hier etwa des Drangs des Pflichtgefühls, der Liebe, der Hingebung,
der Sympathie, doch dieser Altruismus ein wohl etwas modificirter,
immerhin aber nur ein verkappter Egoismus ist.
Die hauptsächlichen Einzelfalle beziehen sich wenigstens in unserer socialen
Periode auf die wirtschaftliche Familie nfürsorge des Familien- und Wirthscbafts-
hauptes, insbesondere im engeren und engsten Kreise (Kinder, Ehegatten, Eltern; schon
weniger andere nabe Blutsverwandte, wie selbst Geschwister), üebrigens ist hier des
„historischen“ Characters unserer heutigen „Familie“ zu gedenken. Im Zeitalter der
gens, der Sippe u. dgl. m., vielleicht in einer socialistisch organi&irten Gesell-
schaft mag sich das etwas anders gestalten. Auch in dem in einer Hinsicht ja „un-
egoistischen“ Falle, der Fürsorge für die Angehörigen nach dem eigenen Tode
mittelst der gewöhnlichen Kapitalbildung, daher in den Verhältnissen des Erbrechts,
das hier neben der auch für die Gesellschaft wichtigen ökonomischen Seite eine be-
deutsame sittliche Seite zeigt, noch schärfer — vollends „unegoistisch“ — bei der
Lebensversicherung auf den Todesfall, bei der Wittwen- und Waisen - Kentenver-
sicherung tritt doch in anderer Hinsicht das „egoistische“ Moment, innere Beruhigung
für die wirtschaftliche Sicherung meistens der nächsten und liebsten Angehörigen
zu erlangen, auch wieder unverkennbar hervor. Das Motiv des erfüllten Pflicht-
gefühls, der erfüllten Liebcspflicht zeigt sich aber freilich ausserdem hier deutlich.
Anderseits aber wiederum das Mitspielen anderer Motive, welche vornemlich zu dem
dritten Leitmotive (Ehrgefühl u. s. w.) gehören : Gedanken von „Nachrede“ u. dgl.
Kurz, der „Egoismus“ ist diesem „Altruismus“ durchaus nicht fremd. Polare Gegen-
sätze. wie nach Ansicht einiger Sociologen. sind sie durchaus nicht, was Ethikcr auch
selten verkannt haben.
36. — c) Bedeutung des Motivs für Theorie und
Praxis des Wirtschaftslebens und bezügliche Auf-
gaben. Für alle Wirthscbaftsverbältnisse, namentlich für die
Probleme der Organisation und der Rechtsordnung treten
dann in Bezug auf das erste Motiv immer Hauptfragen hervor, wie
die folgenden : wie wirkt dies Motiv tatsächlich lind wie kann es
wirken ; wie differenzirt und wie combinirt es sich mit anderen
Motiven und wie wird cs durch diese moditicirt, ersetzt; was er-
scheint in dieser Beziehung „menschlich möglich“ und erwünscht;
was hat zu geschehen, um das Motiv für den Betreffenden seihst
und für Andre, für die Gemeinschaft wirtschaftlich möglichst
günstig wirksam zn machen; verdient sein freies Walten, seine —
/ •*
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92
]. B. 1. K. Wirtschaft!. Natur des Menscheu. 2. A. §. 36, 37.
rechtliche und sittliche — Einschränkung, seine Ersetzung durch
andre Motive den Vorzug und* wenn dies der Fall, ist überhaupt
und wann und . wie ist eine solche Einschränkung und Ersetzung
richtig, zweckmässig, erreichbar? \ .
• * ■ i
Lauter Fragen von höchster practischer und auch theoretischer Bedeutung,
welche sich dann auf jedem Specialgebiet des Wirtschaftslebens — der „Production“
und „‘Verteilung“ — in zahlreiche einzelne bezügliche Fragen specialisiren. In der
Beantwortung dieser Fragen gehen die theoretischen und prartischö'n Richtungen und
Schulen auseinander, vor Allem am Weitesten die Richtung der freien Conourrenz
und diejenige des Socialismus. Aber alle Richtungen begehen den gemeinsamen
Fehler, die Beantwortung dieser schwierigen Fragen zu leicht zu nehmen, dabei zu
sehr zu generalisircn und zu schablonisiren.
Die beiden gegnerischen Richtungen des Individualismus und Socialismus ver-
fallen in den entgegengesetzten Fehler, jener das erste Leitmotiv fllr zu fest, zu
mächtig und unveränderlich in der Natur des Menschen begründet, für zu wenig
diflercnzirbar und mit anderen Motiven combinirbar und durch sic ersetzbar, sein
Wirken für den Betreuenden und sogar für die Gemeinschaft für zu günstig zu halten ;
dieser, der Socialismus, umgekehrt dies Motiv, sei es durch innere Umbildung des
Menschen, sei es durch äussere Umstände und durch die Rückwirkung dieser auf jene
Umbildung, für zu weit inodificirbar, verdrängbar, leitbar zu Gunsten der wirtschaft-
lichen Interessen Anderer, der ganzen Gemeinschaft oder, soweit nöthig, für zu weit
ersetzbar durch andere Motive, für zu entbehrlich im Wirtschaftsleben, auch für zu
einseitig ungünstig unter unseren heutigen wirtschaftlichen Verhältnissen wirkend
anzusehen.
Dass man es hier unter allen Umständen mit schwierigsten psychologischen
Problemen zu thun hat, wird von keiner dieser Seiten genügend beachtet, Alles, wenn
auch in entgegengesetzter Weise, zu mechanisch anfgefasst. Den grösseren Irr-
thum begeht aber doch wohl der Socialimas und , wenn auch in geringerem Grade,
aber doch ähnlich, die historische Richtung der Nationalökonomie in ihren Annahmen,
ihrem „Glauben“ an die weitgehende Dilierenzirbarkeit und Ersetzbarkeit des ersten
Motivs, als der Individualismus in seiner Annahme der Constanz und Uuersetzbarkcit
dieses Motivs.
Jedenfalls muss es in der Wirthschaftspraxis und in der
Wirtlisehaftslehre immer als Aufgabe anerkannt werden, zu unter-
suchen, welches die individuelle und gesellschaftliche Wirkung des
Motivs, des Strehens nach dem wirtschaftlichen Vortheil, auf die
wirtschaftlichen Handlungen und folgeweise auf die wirtschaft-
lichen Erscheinungen sei und was erwünscht und erreichbar sei,
um nachteilige Wirkungen dieses Motivs möglichst zu beseitigen
oder zu vermindern, es an vortheil haften Wirkungen — Beides ins-
besondere auch für Dritte, für die Gemeinschaft — möglichst er-
giebig zu machen.
Auf die Zweckmässigkeit , ja Noth Wendigkeit, den Erfahrungstatsachen gemäss,
das Motiv selbst zu leiten, es so zu sagen zu erziehen, es mit anderen Motiven zu com-
biniren, es je nachdem dadurch zu ersetzen, führt die Untersuchung dann stets hin.
Insbesondere wird auch im „freien Verkehr“, bei persönlicher Freiheit und
Privateigentum an den sachlichen Productionsinittcln, ein solches Vorgehen sich not-
wendig erweisen. Die „feineren“, wenn gleichwohl auch egoistischen Motive, welche
zur Gruppe 3 und 4 gehören (Ehrgefühl. Betätigungsdrang), werden, wie die ge-
schichtliche Entwicklung es namentlich mit der Gruppe 3 gethan hat, mit dem ersten
Motiv zu verbinden, hier und da auch ganz an dessen Stelle zu setzen sein (Staats-
dienst! „Immateriallohn“). Die schwierige Frage bezieht sich nur immer auf die
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Zweites Leitmotiv: Furcht vor Strafe.
93
Grenze: wie weit? Die noch schwierigere Frage ist alsdann, ob und wie weit
das fünfte Leitmotiv (Pflichtgefühl) neben dem und statt des ersten Motivs wird in
Function treten können.
Das socialistisehe Prgblem dreht sich aber um ganz dieselben Fragen:
würde mau ohne das erste Motiv überhaupt und zur Genüge, insbesondere unter hin-
länglicher Wahrung des Productionsinteresscs, auskommen oder dieses Motiv erfolg-
reich, und ohne seine Nachtheile im heutigen freien Verkehr, regeln und so in
Function treten lassen können5? Das ist die psychologische Hauptfrage weiche
zwischen dem ökonomischen Individualismus und Socialismus und zwischen den1 ihnen
entsprechenden Systemen der wirtschaftlichen Organisation und Kechtsordiihng liegt
und Entscheidung fordert.
Von besonderer Bedeutung ist endlich immer die Untersuchung
der wichtigen Specialfragen, welche das Productiohsintei^sse
betreffen, nemlich in welchem Maasse Art und Höhe der Arbeite^
leistungen (einschliesslich derjenigen des Unternehmers, auch der-
jenigen, welche den technischen Fortschritt, das Erfindungswesen
betreffen) gerade von dem Wirken des ersten Motivs abhängen ;
ob und wie weit dies Motiv und nur dieses günstig oder wenigstens
günstiger als die andern Motive wirkt; ob und wie weit seine- un-
gehinderte Function daher im Gesammtinteresse, zur Vermehrung,
Verbesserung, technischen Kostenverminderung der Production liegt
oder ob, wie, wann es durch andere Motive in dieser Hinsicht
passend ergänzt oder völlig ersetzt werden kann?
Die Fragen von Lohn, Gewinn, Heute, von privat- und gcmcinwirthschaftlicher,
individualistischer und socialis tisch er Organisation und Hechtsordnung lwängen mit
diesen Specialfragen nach dem Einfluss des ersten Motivs auf die Arbeitsleistungen
wiederum eng zusammen, was keiner weiteren Ausführung bedürfen wird.
Bemerkungen über das erste Leitmotiv , welche hier noch Platz linden könnten,
bringen wir absichtlich lieber im Zusammenhang mit den Ausführungen über die
anderen Leitmotive, wo die kritische Erörterung öfters darauf hinführt.
§. 37 [207]. — 2. Zweites Leitmotiv: Furcht vorStrafe
und Hoffnung auf Anerkennung, a) Wesen und Function des
Motivs. Hierhin gehören die zahlreichen und wichtigen Fälle,
wo die Rücksicht auf Autoritäten, wegen der Nachtheile irgend-
welcher Art (nicht nothwendig ökonomischer Art, wenn auch mit-
unter solcher, z, B. Geldstrafen), welche von diesen drohen, wegen
der Unlustgefühle, welche von diesen Autoritäten bewirkt werden
können, aber auch wegen der Belohnungen, regelmässig nicht-
ökonomischer Art, wie Lob, Billigung, Freundlichkeit, Anerkennung,
welche diese Autoritäten ertheilen können , die wirtschaftlichen
Handlungen, die Arbeit, die Beschaffung, auch die Verwendung der
Güter, die - Verschiebung wirtschaftlichen Genusses oder die Ent-
haltung-davon beLdeii'von diesen Autoritäten abhängigen Personen
beeinflussen,'* je nachdem entscheidend. Das hier mitspielendi
Motiv ist thäils Furcht Vor den Autoritäten, welche in letzter Linie
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94
1. B. 1. K. t\Virthscbaftl. Natur des Menschen. §. 37.
doch auf Furcht vor Strafe durch dieselbe binauskommt, theils
Hoffnung auf Erregung von Lustgefühlen, welche nur durch diese
Autoritäten hervorgerufen werden können.
Es können hier Combinatiouen und nahe Verwandtschaft mit anderen Motiven,
dein dritten, dem ersten, auch dem fünften vorliegen, aber doch sind die psychischen
Vorgänge verschieden. Bei dem dritten Motiv handelt es sich um Ehre bei und An-
erkennung durch dritte Personen nicht noth wendig autoritativer Art, bei dein hier
besprochenen zweiten um dergleichen grade Seitens Autoritäten mit Strafge-
walt; bei jenem um Furcht vor Schande, bei diesem um Furcht vor Strafe. Bei
dem ersten Motiv kommen nur wirtschaftliche Vorteile und Nachtheile, dadurch
bedingte Lust- und Unlustgefühle, bei dem zweiten theils nicht- ökonomische Vor-
theile, teils als Strafe entzogene ökonomische Vortheile (z B. Nahrungsentziehung
oder Qualitätsverminderung) oder aufgelegte Nachtheile (z. B. vermehrte Arbeitslast.
Geldstrafen, Pfändungen, Confiscationen) in Betracht Bei dem fünften Motiv kann
Achtung vor dem Gebot der Autorität, dem man sich pflichtmässig unterwirft, z. B.
nach der Stimme des Gewissens, des religiösen Glaubens, der entscheidende Factor zum
wirtschaftlichen Handeln (z. B. im Almosengeben) sein. Aber nur wenn diesem Ge-
bot, dieser Gewissensstimme aus Furcht vor Strafe wegen Verletzung des Gebots gefolgt
wird, geht das Motiv hier in das zweite Uber. So wird es oft, aber nicht nothwendig
und nicht tatsächlich immer sein. Ist es aber nicht so, erfolgt die Handlung wirk-
lich nur aus Achtung vor dem Gebot der Autorität, aus Pflichtgefühl, das zu thun, was
die Autorität (Gott) nach der Stimme des Gewissens, nach der Forderung des Glaubens
verlangt, so ist das fünfte, nicht das zweite Motiv doch die treibende Potenz.
Bei diesem zweiten Motiv wird daher als äusseres Mittel
gewöhnlich ein äusserer Zwang verbunden mit Strafand rohu ng
bei Ungehorsam angedroht und eventuell ausgelibt. Aber, von
extremen Fällen abgesehen, kommen Zwang und Strafe doch wieder
nur durch das Medium solcher psychischen Vorgänge zur Wirk-
samkeit, welche den Betreffenden selbst zu wirthschaftlichen Hand-
lungen (bzw. Unterlassungen) bewegen (Arbeitszwang, Sparzwang,
Zahlungs-, Steuerleistungs- Zwang u. s. w ). Insofern ist aller so-
genannte „äussere“, „psychische“ Zwang, soweit er ein Handeln
des Gezwungenen selbst oder ein unmittelbar durch ihn erfolgendes
Unterlassen zum Zweck und zum Ergebniss hat, doch immer ein
innere r oder psychischer.
Boi der („technischen“) Einrichtung und Anwendung von Zwang und Strafe ist
das auf wiithschaftlichem, wie auf jedem anderen Gebiete wichtig zu beachten. Die
Möglichkeit der Wahl zwischen Zwang, Strafe und anderen auf Handeln und Unter-
lasse» cinwirkendeu Mitteln (Rath, Beispiel und Anerkennung, Gewährung wirt-
schaftlicher Vortheile u. s. w.) beruht gerade darauf, dass alle diese Mittel psychisch
einwirken, nur eventuell in verschiedener Art und Maass, wo dann nach Vergleichung
in letzterer Beziehung die Wahl getrollen werden kann.
Auf grossen und wichtigen Gebieten , in ganzen Zeitaltern
spielt nun dieses zweite Motiv mit seinen Hilfsmitteln des Zwangs
und der Strafe eine grosse, mitunter die entscheidende, selbst die
einzige Bolle, sowohl in Bezug auf Handeln und Unterlassen Über-
haupt, als auch auf wirtschaftliches insbesondere.
In ersterer Hinsicht sei an Heer, Schule, an die präventive Einwirkung ron
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Zweites Leitmotiv: Furcht vor Strafe.
95
Polizei, Justiz erinnert, wenn auf diesen Gebieten liier auch meistens andere Motive
sich mit dem zweiten coinbiniren, öfters es ersetzen.
Auf dem wir tbseba ft lieben Gebiete würden sich viele Er-
scheinungen und Entwicklungen, ganze Wirthsehaftsverfassungen
und Zustände ohne die Wirksamkeit dieses zweiten Motivs psycho-
logisch gar nicht erklären lassen. Die Theorie, welche nur das
erste Motiv kennt und anerkennt, muss hier entweder auf alle Er-
klärung verzichten oder, wie sie es ja auch, unhistorisch genug,
gethan hat, über alle Wirthschaftszustäude und Erscheinungen, in
welcher das Motiv der Furcht u. s. w. — L’nfreiheitsverhältuisse! —
sich wirksam zeigt, ein Verdict fallen. Sie verfährt dann nur
folgerichtig, wie sie es ebenfalls einseitig und namentlich öfters zu
früh oder zu allgemein gethan hat, unbedingt, nicht historisch
und örtlich relativ nrtheilend, wirthschaftliche Organisationen, Ein-
richtungen, Rechtsnormen, in welchen das zweite Motiv zur Geltung
kommt, ohne Weiteres durch solche andere ersetzen zu wollen, wo
dies nicht mehr der Fall ist und namentlich dem ersten Motiv
offener Spielraum gewährt wird.
Alle Verhältnisse hierarchisch beherrschter oder beeinflusster Arbeiter. Gaben-
spender, wo letztere aus Furcht vor der directen Strafgewalt der hierarchischen Auto-
ritäten oder vor der Strafgowalt des diesen Autoritäten zur Seite stehenden' Gottes
oder der Götter handeln: analoge Verhältnisse bei weltlichen Autoritäten ^Des-
potismus); ferner die Verhältnisse persönlich unfreier Arbeit, des Arbeitszwangs;
weiter diejenigen der Arbeitsregelung in älteren Wirthsehaftsverfassungen
(gemeinsame Feldarbeit bei Geineineigenthum am ländlichen Boden, Hauscommunions-
rerhältnisse , Ackerbau mit Flurzwang. familienwirtbschaftlicber Betrieb, gewisse
hausindustrielle Verhältnisse, gewisse Eimichtungen im Zunftwesen), Überhaupt alle Ein-
richtungen mit Straf-, Züchtigungsrecht des Stammes-. Geschlechts-, Familienhauptes als
des leitenden Arbeitsherrn über seine üntergegebenon , Familienglieder, Lohnarbeiter,
Dienstboten u. dgl. in. ; ja auch noch mancherlei Verhältnisse bei moderner „freier
Lohnarbeit“ (Arbeitsordnungen, Strafen, im Fabrikbetrieb, Tadelsertheilung,
„Schelten“ in allen Betrieben, in der Haushaltung [Dienstboten !] u. s. w ) beruhen
psychologisch betrachtet, mehr oder weniger auf Einwirkungen durch dieses zweite
Motiv, wenn sich damit auch andere Motive coinbiniren. Aehnliches Kilt von den
Verhältnissen der Consumrcgelung, des Sparzwangs, worauf die auf Zwang be-
ruhenden, mit Zwangsbeiträgen der Betheiligten (Arbeiter, Unternehmer) eingerichteten
Arbeiter- und anderen Personalversichcrungcn. Feuerversicherung u. s. w„ doch hinaus-
kommen. Das ganze Steuergebiet endlich, als ein doch auch eminent wirt-
schaftliches. ist vom Zwangsprincip durchzogen und ist mit Strafbestimmungen aller
Art verbunden, wodurch es mit unserem zweiten Motiv psychologisch in Verbindung tritt.
Das in jeder Hinsicht grade ancb für die vorliegenden psychologischen
Fragen der Motivation interessanteste und allgemein Wirtschaftsgeschichte!) wichtigste
Gebiet ist dasjenige der persönlichen Unfreiheit, insbesondere — doch nicht
ausschliesslich — der unteren, handarbeitenden Classen. Dasselbe bietet die Ge-
legenheit, mit dem zweiten Motiv eine grosse Probe seiner Wirksamkeit anzustcllen
und es in dieser Hinsicht mit der Wirksamkeit anderer Motive, namentlich des ersten,
bei der „freien“ Arbeit, sowie mit der Wirksamkeit von Combinationen des reinen
und modificirten zweiten mit anderen Motiven, besonders mit dem ersten, dritten,
fünften zu vergleichen. Der eigentümliche, mit aus wirtschaftlichen Gründen
zu erklärende Process der allmäligen Modifieationen. Milderungen der persönlichen
Unfreiheit, des schlicsslichen Unproductivwerdens jeder Art unfreier Arbeit, des Ersatzes
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1. B. 1. K. Wirtbschafd. Natur des Menschen. 2. A. §. 88.
derselben durch freie Arbeit findet seinen Erklärungsschlüssel wesentlich mit in der
Lehre von den das wirtschaftliche Handeln bestimmenden Motiven und speciell in
dem Nachweis, dass und wann und warum das zweite Motiv für Quantum und nament-
lich für Quäle (Art und Güte) der Arbeit nicht genügend wirksam gemacht, daher
mit anderen Motiven, besonders dem ersten und dritten, im Interesse des
Arbeitseffects combinirt und schliesslich dadurch ersetzt werden muss und tat-
sächlich mit aus diesem Grunde ersetzt wird. Im 2. Theil bei den Ausführungen
über persönliche Unfreiheit und Freiheit wird das näher verfolgt werden.
§. 38. — b) Bedeutung des Motivs f*ür Theorie und
Praxis des Wirtschaftslebens und bezügliche Aufgaben.
Für alle Wirthschaftsverhältnisse, insbesondere für diejenigen, bei
welchen es sich um Arbeitsdienste für Dritte oder im arbeits-
teiligen Producti^nsbetrieb handelt, ferner in den grossen Prin-
cipienfragen der . Organisation und Rechtsordnung taucht dann
wiederum die Aufgabe auf, den Erfolg des zweiten Motivs und
derjenigen Einrichtungen, welche die Wirksamkeit gerade dieses
Motivs zur alleinigen oder zur besonderen Voraussetzung haben,
zu untersuchen. Auch wo es sich darum handelt,; die Wirksamkeit
anderer Motive einzuschränken oder zu beseitigen, so in mehr.ge-
meinwirthschaftlicher, „socialistischer“ Organisation etwa diejenige
des ersten Motivs (wirtschaftlicher Vorteil), entsteht die Frage, ob
und welches andere Motiv dafür wirksam oder wirksamer gemacht
werden kann und soll. Können dann voraussichtlich die übrigen
Motive nicht genügend in Function treten, so muss eventuell auf
das zweite Motiv zurticUgegriffen werden. Alsdann aber fragt sich
wieder, ob dies möglich, muthmaasslich von genügendem Erfolg be-
gleitet und ob es nicht mit anderen unliebsamen, vielleicht uner-
träglichen Folgen — so für die „Freiheit“, für das ganze Em-
pfindungsleben — verbunden sein würde.
Das ist das Dilemma, vor welchem der Socialismus mit seiner geplanten
Wirtschaftsorganisation steht. Gelingt es ihm nicht, dem ersten Motiv. noqh eine
genügende Wirksamkeit für die Arbeitsleistungen, den technischen Fortschritt u„s. w.
in seiner Organisation zu belassen, was picht unmöglich, aber schwer, wenn überhaupt
mit den sonstigen Principjen des Socialisinus über die individuellen Anteile am
Productionsertrag und Ji^ujentlich mit dem Streben nach Gleichheit der ökonomischen
Lage in Einklang zu setzen ist,’ .vermag er nicht das, dritte, vierte und vor Allem
das fünfte Motiv in seinem System zu ordentlicher, mächtiger,, wiederum mit seinen
Principien aber, noch yereinbarer l<'unct(on zu setzen., die.Oombinatiou dieser Motive
psychologisch und practisch richtig Jtu gestalten, und ,ein jedes hierbei zu genügender
Wirksamkeit zu bringen , wgs , y<?nn möglich s jedenfalls wiedpr ausserordentlich
schwierig ist .und durch <dpn üblichen Hinweis auf andere und „bessere“ Erziehung
— gegenüber dem Cortstanteg.ii) der menschlichen und speciell in der wirtschaft-
lichen Natur des Menschen! r—, .nicht .hinlänglich wahrscheinlich gemacht wird: so
bleibt eben nichts Anderes üjmg, als auf Zwang, Strafandrohung, kur/, auf das
zweite Motiv zurückzugreifen,
Zu diesem richtigen Schjuss. kommen die Gegner des Socialismus und dem
hat der Socialismus , der wissenschaftliche , politische , agitatorische , nichts
Haltbares entgegenzusetzen gewusst. Damit ist noch nicht Alles, was der
Socialismus behauptet und fordert , für unrichtig, was seine Gegner einwenden.
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Zweites Leitmotiv: Furcht vor Strafe.
97
für richtig und allgemein beweisend erklärt, die Frage der Wirtschaftsorganisation
und Rechtsordnung überhaupt nicht schon ganz zu Üngunsten des Socialismus und
zu Gunsten etwa des privatwirthschaftlichen Concurrenzsystems erledigt. Aber mit
dem Hinweis des Socialismus, dass von „Freiheit“ im heutigen Wirtschaftssystem
doch für die grosse Masse der Bevölkerung nicht zu reden sei, auch hier, nur mehr
oder weniger verkappt, das zweite Motiv und in seiner übelsten Form das erste
(..Furcht vor Noth“, „Hunger“) in Wirksamkeit stehe, beweist der Socialismus doch
für seine positive Forderung noch nicht viel. Denn wenn es wahrscheinlich ist, dass
bei deren Durchführung schliesslich Zwang, Strafandrohung. Furcht ganz allgemein
und selbst in besonders harten Formen angewandt werden müssten, so bleibt
eben unerwiesen, ob damit das Productionsinteresse überhaupt und vollends besser
ab bisher befriedigt und ob nicht die „Freiheit“ noch weit mehr und psychisch
lästiger beschränkt werden würde. Die dann etwa erreichte grössere „Gleichheit“
— in der „gemeinsamen Unfreiheit“ Aller ist demgegenüber doch ein leidiger
Trost, der doch, ethisch betrachtet, hinsichtlich der bestehenden Verhältnisse, nur auf
Erfüllung der vom Neidgefühl dictirten Forderungen beruht.
In meinem Vortrag auf dem 3. evangelisch-socialen Congrcss (1892’) Uber das neue
socialdemokratische Programm ist der im Vorausgehenden entwickelte Gedankongang
der rothe Faden in meiner Kritik. S. auch Buchenberger, Agrarpolitik, I, 224.
Gewiss ist nun das zweite Motiv gerade ethisch nicht gtinstig
zu beurtheilen.
Es steht nicht nur hinter dem fünften, sondern auch hinter den besseren Er-
scheinungsweisen des dritten und hinter dem vierten in dieser Hinsicht zurück, nicht
aber durchaus hinter dem ersten. Das hat die liberale Nationalökonomie wohl implicite
oder ausdrücklich in ihren Erörterungen zu Gunsten der wirtschaftlichen Freiheit
und des ersten Motivs zu allgemein angenommen.
Aber auch dies Motiv muss historisch und realistisch
aufgefasst und beurtheilt werden.
In historischer Hinsicht ist nicht zu verkennen, dass das
Motiv dann im Zusammenhang mit gegebenen allgemeinen Ver-
hältnissen steht.
Nach der ganzen Culturstufe eines Volks, einer Volksclasse , nach der Technik
einer Productionsweise (Agrarverhältnisse!) kann cs allgemeiner notwendig, solbst
unentbehrlich sein , um bestimmte wirtschaftliche Handlungen , Unterlassungen,
Arbeitselfecte u. s. w. zu erzielen. Seine Einschränkung, sein Ersatz durch andere
Motive ist nicht beliebig möglich, auch nicht immer heilsam, weder für die Nächst-
betrotl'cnen , noch für die Gemeinschaft (verfrühte und ganz unpassende Emanci-
pationen), sondern setzt immer erst gewisse allgemeinere culturlicho, technische,
organisatorische Entwicklungen, andere Wirtschaftseinrichtungen voraus , welche sich
aber ebenfalb nicht aus dem Nichts oder durch blossen „guten Willen“, Gesetze u. s. w.
schallen lassen. In vielen Fällen wird man sich daher, statt mit radicaler sofortiger
Beseitigung von Einrichtungen, welche auf Zwang, Strafandrohung und dem Kück-
griir auf das Motiv der Furcht beruhen, mit Schutz vor Missbrauch dieser
Hilfsmittel begnügen und selbst damit vorsichtig, unter Erwägung aller weiteren,
auch indirecten Folgen. Vorgehen müssen (Beschränkung des Züchtigungsrechts des
Arbeitsherren gegenüber den Unfreien). In den heutigen Verhältnissen der euro-
päbchcn Colonisation in Afrika B. wird nach solchem Gesichbpunct auch die Frage
der Stellung zur einheimischen Sclaverei zu entscheiden sein.
Auch hierbei kann erwogen und psychologisch und nach äusserer Erfahrung
begründet werden, Furcht vor Strenge, Strafe, Zwang durch die andre Seite des
zweiten Motivs, Anerkennung, Lob, freundliche Behandlung zu ersetzen, bezw.
passend zu ergänzen, um z. B. bei Unfreien grössere Arbeitslust, grössere Vor- und
Umsicht hervorzurufen. Damit nähert man sich der Wirksammachung des dritten und
fünften Motivs (schon Erfahrungen und Rathschläge bei antiker Sclaverei). Aber auch
dieses Vorgehen kann wirtschaftlich und selbst pädagogisch und damit
A. Wagno r, Grundlognng. 3. Anflage. L. Theil. Grundlagen. 7
98
1. B. 1. K. Wirthschaftl. Natur des Menschen. 2. A. §. 38, 39.
ethisch nicht unbedingt empfohlen werden, weil sein Erfolg von anderen Um-
ständen, von zeitlich und örtlich variablen Factoren, wie natürlich von individuellen
Verhältnissen der betreffenden Personen abhängt.
Realistisch betrachtet erscheint das zweite Motiv aber
selbst endgiltig mehr oder weniger unentbehrlich, mindestens znr
Ergänzung der andren Motive, wenn man Menschen und Dinge
nimmt, wie sie sind und einigermaassen auch vermuthlich immer
bleiben werden und berücksichtigt, dass die anderen Motive nicht
leicht, in manchen Fällen überhaupt kaum ebenso wirksam für
wirthschaftliches Handeln als das zweite Motiv gemacht werden
können.
Wären Intelligenz, Verstehen des wahren, eigenen, wirtschaftlichen Interesses,
Ehr- und Pflichtgefühl in eigenen , in der Angehörigen und in Dritter wirtschaft-
lichen Angelegenheiten , Arbeitsfreude (viertes Motiv), Selbsterkenntnis hinlänglich
verbreitet oder Hessen sich diese Eigenschaften und Motive mit Wahrscheinlichkeit
durch Erziehung, Beispiel, Ausbildung, genügend entwickeln, so könnte man viel-
leicht auf das zweite Motiv ganz verzichten. Wer derartigen Optimismus nicht hegt,
wird daran zweifeln. Der Socialismus bewegt sich hier wieder in hypcrideologischen
Gedankenkreisen und in einem sehr unrealistischen Optimismus. Auch nur durch das
erste Motiv alles Erforderliche an Arbeitseifer. PUnctlichkeit, Ordnung, Schonung (der
Stofle, Werkzeuge, Maschinen u. s. w.), an Um- und Vorsicht zu erreichen, erscheint
sehr schwierig und verspricht keinen genügenden Erfolg. Ohne Strafen für Ver-
gehen und Versehen im Arbeitsdienst — und seien es wenigstens Tadelsertheilungen
— wird man schwerlich bei irgend einer denkbaren Organisation des Productions-
betriebs und der Arbeit überhaupt auskommen, auch nicht im „Socialstaat“. Aller-
dings können die Strafen aber vielfach wirtschaftliche sein (Lohnabzüge, Geld-
strafen, ungünstigere Arbeitsbedingungen u. A. in.), wobei dann das Motiv der Furcht
vor ihnen in das erste Motiv mit übergeht.
In den späteren Erörterungen über den Zwang, die „ZwangsgemeinwirthschaH“
im 5. Buche, von der Organisation der Volkswirtschaft, werden uns diese und ver-
wandte Fragen weiter beschäftigen.
§. 39. — 3. Drittes Leitmotiv: Ehrgefühl, Gelt ungs-
streben, Furcht vor Schande und Missachtung,
a) Wesen und Function dieses Motivs.
Gerade hier handelt es sich um mancherlei Motive, welche unter sich viele Ver-
schiedenheiten zeigen , auch einzeln und gruppenweise ethisch sehr verschieden zu
beurteilen sind. Nach dem gewöhnlichen populären Sprachgebrauch können sie
auch vielleicht nicht alle unter die Bezeichnung, welche hier für das Leitmotiv ge-
wählt worden ist. ohne Weiteres gebracht werden. Aber es mangelt uns eine andere,
passendere Bezeichnung des Characteristischen in dem Leitmotiv. Bei genügender
Erläuterung wird auch die Ausdehnung des hier gewählten Ausdrucks auf alle unter
dieses dritte Motiv gereihre Specialfälle zulässig werden. Die Zusammenfassung der
Fälle unter Einer Kategorie rechtfertigt sich aber dadurch, dass alle diese Special-
motive. welche wir hierher ziehen, doch in der That grade im psychologischen
Kern Ubereinstimmen.
Das Wesen dieses dritten Motivs liegt darin, dass aus einem
Streben nach Geltung, Anerkennung, „Ansehen“ bei
Anderen gehandelt, auch wirthschaftl ich gehandelt wird.
Dieses Streben nimmt aber sehr verschiedene Erscheinungsformen
an. Seiue genauere Analyse ergiebt einerseits höhere, feinere,
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Drittes Leitmotiv: Ehrgefühl.
99
edlere, verständigere, ethisch und ästhetisch günstiger erscheinende
Gesichtspuncte, welche das Haudeln bestimmen, als bei den beiden
ersten Motiven, andrerseits niedrigere, gröbere, ordinärere, gemeinere,
ethisch und ästhetisch ungünstiger erscheinende.
Gerechtes Selbstgefühl, vornehmer Stolz, Standesbewusstsein und Verlangen nach
Anerkennung der Standes-(Bcrufs-)genosscn , berechtigter, aber auch schon unberech-
tigter Wunsch der Auszeichnung vor Anderen, des Zuvorthuns, des Hervorragens,
Bedürfnis nach Anerkennung im Allgemeinen, Ehrgefühl, Ehrliebe, doch auch
Herrschsucht, Ehrgeiz in allen Phaseu und Formen, und auch hohle Prahlerei, ge-
meine Eitelkeit — und grade diese nicht am Wenigsten — , sodann, zum Theil als Gegen-
seite dieser Motive, Furcht vor Schande, vor Missachtung, vor Nichtachtung, vor
Oebersehenwerden. vor Verkanntwerden in Betretrder Fähigkeiten, Kenntnisse, Character-
eigensehaften — das und Aehnliches sind die wichtigeren günstigen und ungünstigen
Erscheinungsformen dieses dritten Motivs.
Bei allen diesen Formeu tritt der egoistische Character
des Motivs — im neutralen, wie vielfach gerade hier auch im üblen
Nebensinn des Worts — deutlich hervor, oft schärfer, gröber, wirk-
samer als bei den zwei ersten Motiven.
Der gemeinsame psychologische Kern aller Erschei-
nungsformen des Motivs ist aber doch unverkennbar: er ist die
Erregung von inneren Lustgefühlen durch die Empfindung der
Geltung, des Ansehens bei Anderen, insbesondere bei solchen,
auf deren Urtheil über sich man im concreten Fall Werth legt
(bzw. die Verhütung von inneren Unlustgefühlen durch die Ver-
meidung der Empfindung der Nichtgeltung oder der ungünstigen
Beurtheilung bei Anderen).
Darin liegt auch der äusserliche Character des Motivs in ethischer Hinsicht,
die ledige, leidige Rücksicht auf das, „was die Leute über Dich sagen oder —
de nkcn*\ die schwächliche Furcht vor dem „Gerede der Leute“, im Unterschied zum
fünften Motiv innerlichen G'haracters, mit der Rücksicht auf das, „was Du selbst.
Dein Gewissen, Dein Gott über Dich sagt oder denkt“.
Auch der Unterschied vom ersten Motiv ist beachtenswerth. Auch in scheinbar
ganz verwandten oder gleichen Fällen zeigt er sich doch psychologisch deutlich.
Aus beiden Motiven wird vielleicht gleich energisch gearbeitet, um viel zu erwerben,
über viele Güter zu verfügen und mit dem gleichen wirtschaftlichen Erfolg. Aber
bei dem ersten, um nun die Güter selbst zu geniesseu und durch diesen
Genuss sich Lustgefühle zu verschallen. Bei dem zweiten, um dadurch, dass
Andren die Ergebnisse des Erwerbs, die Vornahme des Genusses Sichtbarwerden,
sich Lustgefühle dieser specifischen Art — auch etwa selbst der Neiderregung
bei Andren — zu erringen. Im concreten Fall können ja beide Arten Lustgefühle
verbanden sein, z. B. bei der Kleidung, an deren Schönheit man sich wirklich selbst
freut und Uber deren Bewunderung Seitens Andrer man Lustgefühle emplindet. Im
letzteren Falle können diese wieder aus verschiedenen Erwägungen entspringen, z. B.
erregt sein durch das Bewusstsein, dass Andere den Geschmack in der Wahl der
Kleidung anerkennen, aber auch etwa dadurch, dass sie den Aufwand, welchen
sie darstellt, bewundern u. s. w. Das Streben nach materiellen Genüssen dieser Art
und die psychische Bewegung zu wirtschaftlichen Handlungen, welche zu diesen
Genüssen fuhren (beim Erwerb der Mittel dafür, wie bei der Verwendung dieser
Mittel für diesen Zweck) werden sich oft auf das erste und dritte Motiv zugleich
zurückfahren lassen, aber beide sind doch sehr wohl zu unterscheiden, wenn auch
7 *
100 1. B. 1. K. Wirthschaftl. Natur des Menschen. 2. A. §. 39, 40.
bei genauester Selbstprüfung oder Beobachtung Dritter kaum in ihrem Stärkeverkältaiss
zu messen.
Für unsere Disciplin sind diese Verhältnisse sehr wichtig. Man ersieht immer
wieder, dass die psychologische Analyse der Motive eine Hauptaufgabe ist.
Welche Rolle spielt im Wirtschaftsleben für Erwerb und Verbrauch Grossthuerei,
für reich Gelten- Wollen, Eitelkeit aller Art neben wirklicher Genusssucht!
Was neben dem ersten Motiv selten gebührend beachtet worden ist
Die ja nicht unrichtige Hinweisung historischer Nationalökonomen auf die Macht
der Sitte, der Nachahmung — z. B. in der Mode — erklärt doch hier an sich
noch nichts. Dazu ist erst die Zurückführung auf die hier zu Grunde liegenden
Motive notwendig. Das hier besprochene dritte Motiv spielt in der Sitte nicht
die alleinige, aber eine ganz besonders mächtige Rolle, oft eine grössere als das erste
Motiv: man will es „Andren gleich thun“, nicht um eines materiellen Genusses selbst
willen, sondern wegen des Genusses, Andren zu zeigen, dass „man es auch kann“
(Parvenues !).
Die Specialmotive, welche hier in dem dritten Leitmotiv unter-
schieden wurden, flicssen an ihren Grenzen schwer unterscheidbar
in einander über. Sie combiniren sich in mancherlei verschiedener
Weise miteinander und wieder mit anderen Motiven, namentlich
dem ersten, hier öfters zu dessen ethischer und ästhetischer Läute-
rung und Erhebung, aber auch nur gar zu leicht, zu dessen
Nachtheil und ethischer Herabwürdigung, mit dem fünften Motiv.
Daraus folgen wichtige Fingerzeige für die Beurtheilung und
Wirksammachung dieses dritten Motivs auf dem wirtschaftlichen
Gebiete.
§. 40. — b) Bedeutung des Motivs für Theorie und
Praxis des Wirthschaftslebens und bezügliche Aufgaben.
Auch hinsichtlich dieses Motivs liegt dann wieder die Aufgabe vor,
es nach seiner thatsächlichen und möglichen, günstigen und un-
günstigen Function im Wirtschaftsleben, besonders für die Ge-
staltung der Organisation und der Rechtsordnung, nach seiner Ein-
wirkung auf Production und Verteilung des Productionsertrags
und Verwendung des letzteren zu untersuchen.
Tief in der psychischen Natur des Menschen und recht eigent-
lich auch im menschlichen Gemeinschaftsleben begründet diffe-
renzirt es sich doch wieder an sich und in seinen Erscheinungs-
formen, deren Combinationen und in den Combinationen mit
anderen Motiven individuell, nach Zeitaltern, Ländern, Völkern,
Classen ausserordentlich mannigfaltig. Bald treten die günstigen,
bald die ungünstigen Seiten und Erscheinungsformen mehr hervor.
Wegen der ersteren wäre cs nicht wünschenswert, wegen der Be-
gründung in der menschlichen Natur wäre es nicht möglich, das
Motiv überhaupt oder auch nur eine seiner wichtigeren Erscheinungs-
formen — selbst schwerlich eine der feineren psychologischen
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Drittes Leitmotiv: Ehrgefühl.
101
Nuancen der letzteren — unwirksam zu machen. Das Motiv selbst
und seine Erscheinungsformen enthalten ein starkes festes, con-
stantes Element, neben zahlreichen variablen. Aber sicher ist,
gerade auch wegen letzterer, dass dies Motiv stark von äusseren
Umständen, Einrichtungen, Anschauungen im Volke, in der Classe
abhängt, mit diesen sich in seiner Stärke, in seinen Erscheinungs-
formen verändern kann und verändert, danach auch absichtlich,
planmässig ,, erzogen“, günstig oder ungünstig entwickelt werden
kann. Daraus folgen entsprechende practische Aufgaben, auf
welche anch die Wissenschaft hinweisen muss.
Für die nationalökonomische Betrachtung verdient wieder
der Zusammenhang und die Wechselwirkung zwischen diesem Motiv
und seinen Erscheinungsformen einerseits und der wirtschaftlichen
Organisation und Rechtsordnung andrerseits besondere Be-
achtung, namentlich auch die Wirksamkeit des Motivs in den
Wirthschaftsverfassungeu der grossen Productionsgebiete (Ur-, be-
sonders Agrarproduction, Gewerbe, Handel, liberale Berufe, öffent-
licher Dienst) und in den historischen Phasen dieser Verfassungen.
Die günstigen und ungünstigen Erscheinungsformen und Seiten
des dritten Motivs entwickeln sich je nach der Verschiedenheit
dieser Organisation, Rechtsordnung und Wirthschaftsverfassung in
verschiedener Art und Grad. Auch für die socialistische Frage
liegen hier wieder nicht unwichtige psychologische Probleme vor.
Die ältere Rechtsordnung im Ganzen und besonders die
älteren Wirtbscbaftsverfassungen der „Gebundenheit“ auf allen
Productions- , Erwerbs- und Arbeitsgebieten haben regelmässig die
Wirksamkeit des ersten Motivs bei den Einzelnen eingeschränkt.
Sie haben sich um so mehr einiger der anderen Motive bedient,
wie des zweiten, des fünften, aber gerade in bemerkenswerther
Weise auch des dritten, um auf Thätigkeit und Art der Pro-
duction, Quantum und Quäle der Arbeit, auch auf Art des Erwerbs
überhaupt und auf Verbrauch, Verwendung desselben einzuwirken.
Rein sind bei diesem dritten Motiv — wiederum nach dem „Constanton“ in
aller menschlichen Natur auch bei allen Einzelnen — überhaupt die günstigen und
ungünstigen Seiten und Erscheinungsformen nicht zu trennen. Aber im Ganzen über-
ragten früher wohl die günstigen. Das Ehren- und das Pllichtmoment, d. h. eben das dritte
und fünfte Motiv, trat im Berufe schärfer, das Erwerbsmoment, d. h. das erste Motiv,
schwächer hervor. M. a. W'., auch das Gewerbe war mehr und zuerst „Beruf“, in
jedem Beruf stand das gewerbliche und erwerbliche Moment mehr zurück. Am
Deutlichsten zeigte sich das in der corporativen Gestaltung auch der Erwerbs-
arbeit, der Productionszweige. in der berufs ständischen Ordnung, mit der eigenen
Standesehre, dem eigenen Standesbewusstsein, dem Zugehörigkeitsgefühl zu einem
genossenschaftlichen Ganzen als dienendes Glied , als „Genosse1* , einem Ganzen , dem
102 1. B. 1. K. "Wirthschaftl. Natur des Menschen. 2. A. §. 40, 41.
anzugehören Ehre war, dessen Ehre der Einzelne theilte, dem aber auch der Einzelne
Ehre zu machen hatte, auf das die Unehre, die Schande, die untüchtige Leistung des
Einzelnen mitfiel. Daher die gegenseitige Controle der Genossen, die Aufnahme-, die
Ausschlussbcdingongcn , die Strafen für verletzte Standesehre mit bedeutenden und
grossontheils guten Folgen für die wirtschaftlichen Handlungen, für die Arbeit, für
den Verbrauch, für die Lebensweise u. s. w. Einige der schönsten und besten Seiten
und Folgen der Gilden- und Zun ft Verfassungen treten hier hervor. Sie tarnen
auch Dritten, den „Consumenten“ in der Tüchtigkeit der Leistung, in der guten Be-
schaffenheit der Waare (Qualitätscontrole, Verwendung guter Roh- und Hilfsstoffe,
richtiger technischer Mittel u. s. w.) zu Gute. Das wichtige und schwierige Problem
der Qualitätscontrole im Consumenteninteresse ward so besser gelöst, als in anderen
Wirtbschaftsverfassungeu, z. B. bei unserer modernen Gewerbefreiheit, wo man diesem
Problem fast rathlos gegenübersteht, da das „wirtschaftliche (Absatz-) Interesse“
der Producenteu — d. li. das erste Motiv — und die „freie Concurrenz“ derselben
nicht genügend helfen und Ehrgefühl nicht mehr, Pflichtgefühl wenigstens noch nicht,
Furcht vor Strafe u. s. w. nicht ausreichend Ersatz schaden.
ln der neueren „liberalen“ Rechtsordnung, iui System der
freien Concurrenz, in den Wirthschaftsverfassungen der „indivi-
dualistischen Ungebunden heit“ auf allen wirtschaftlichen
Gebieten hat dagegen das erste Motiv alle anderen , insbesondere
auch dieses dritte überwuchert, wenigstens in dessen ethisch,
ästhetisch und social günstigen Seiten. Ein schwerer ökonomischer
und ethischer Nachtheil. Die wirtschaftliche und sociale Atomi-
sirung hat Momente wie Standesehre, Genossencontrole in ihrem
Einfluss auf die Güte der wirtschaftlichen Leistung, des Products,
wenn nicht ganz beseitigt, so jedenfalls sehr abgeschwächt.
Die Folgen hiervon sind für den Erwerb und Verbrauch
eigentümlich und in der Tliat bedenklich.
Ungehemmt oder wenig gehemmt durch die andren Motive, namentlich auch
durch dieses dritte, begünstigt durch die „freie wirtschaftliche Bewegung", an-
gestachelt durch die „freie Concurrenz“ treibt das erste Motiv immer mächtiger zu
Erwerb auf jede Art, um jeden Preis, in möglichster Höhe: non ölet! Mit dem Weg-
fall oder der Abschwächung andrer Rücksichten, andrer Maassstäbe für die gesell-
schaftliche Schätzung des persönlichen Werths der Menschen wird der Maassstab des
Gelderwerbs, des Geldbesitzes zum einzigen oder hauptsächlichen. Die öffentliche
Meinung passt sich dem an und steigert so die Bedeutung und die Wirksamkeit des
ersten Motivs — des „Strebens nach Vermögen“ in der britischen Doctrin — noch
immer mehr und macht es zum fast ausschliesslich wirksamen , zumal in der Sphäre
der zum materiellen Wirtschaftsleben gehörigen Berufe, aber auch über diese hinaus,
bei vielen nur noch sogenannten „liberalen“ Berufen. „Dollar wird Köuig,“ Jeder
Beruf wird nicht nur mit, eventuell nebenbei, sondern in erster Linie, wenn nicht
ausschliesslich Erwerbszweck.
Diese Sachlage bat aber eigenthiimlichc Rückwirkungen, von
denen das erste Motiv selbst wieder, zum Theil aber auch die
anderen Motive, besonders das hier besprochene dritte, mit ge-
troffen werden.
Die oft bedenkliche Art des Erwerbs, die häufige Leichtigkeit (Spcculation !
Ausnutzung von Conjuncturen), die Höhe des Erwerbs steigert die Genusssucht „Wie
gewonnen, so zerronnen.“ Das erste Motiv wirkt nun im Hinblick auf diese Ermög-
lichung vermehrter, feinerer materieller Genüsse nur wieder stärker. Aber das blosse
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Drittes Leitmotiv: Ehrgefühl.
103
Viel-Haben. Viel-Erwerben. Yiel-Genicssen befriedigt eben in der Mehrzahl der Fälle
die Menschen als „gesellschaftliche Wesen“ doch noch nicht allein. Andere Personen
müssen Theil nehmen (Yerilppigung der Geselligkeit!), namentlich aber darum wissen,
dass man diese Genüsse hat, sie „sich leisten kann“, ebenso wie Andre oder noch
besser als sie; dass man „das Geld nicht zu achten braucht und nicht achtet“.
Und da setzt dann wieder das dritte Motiv iu seinen ethisch und ästhetisch
bedenklichen Erscheinungsformen, besonders als Eitelkeit, ein: leichtfertiger, frivoler
Verbrauch erfolgt, nicht sowohl oder doch nicht nur um des Genusses desselben
Willen, als um damit zu prunken, zu prahlen, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Ein üppiger Tafel-, Kleidungs-, Wohnungs-, Reiseluxus, ein iiusserheher Scbein-
Bildungsluxus mit Kunst und Wissenschaft (und mit deren Vertretern!), aus Eitelkeit,
Grossthuerei u. s. w. Das Alles wirkt dann auf die Verbreitung von Genusssucht, auf
Neid Andrer hin. Der ganze Consum der Nation und mit ihm die ganze Production
bekommt eine ökonomisch, social, sanitär, ethisch bedenkliche Richtung.
Psychologisch durchaus begreiflich. Der moderne Parvenü, der an der Börse
reich geworden, stellt nur den characteristischsten Typus einer ganzen Entwicklung
dar. die wiederum vor Allem auch psychologisch erlässt werden muss. Das Er-
werben, Besitzen, Geniessen befriedigt ihn eben doch nicht genügend. Geltung, An-
sehen, Auszeichnung begehrt er doch daneben, kann sie aber inner- und ausserhalb
seiner nächsten Kreise nur durch ostentatives Auftreten und Ausgaben erlangen: d. li.
eben das dritte Motiv wird für sein Handeln, auch sein wirthschaftliches Handeln
wirksam in den Formen der Eitelkeit und Prahlsucht. Die Titel- und Ordenssucht
solcher Kreise ist ebenfalls bekannt. Auch hier muss nur zu oft der Zweck das
Mittel heiligen, bei Beiträgen „mit öffentlicher Namensnennung“ für patriotische,
politische, kirchliche, Wohlthätigkeitszwecke u. s. w. Leidige Triebfedern der Eitel-
keit müssen in Spannung gebracht und dann in Auslösung gesetzt werden, um „die
Taschen zu ölfuen“. Aber alles das sind doch Erscheinungen, welche die „öko-
nomische Psychologie“ nicht übersehen darf.
§. 41. — c) Besonders wichtige Fälle. (Oeffent lieber
Dienst. Socialist isclies Wirtschaftssystem. Ergebniss.)
u) Förmlich iu ein System haben die grossen anerkannten
Autoritäten wie Staat und Kirche in der hierarchischen Ordnung
ihres Dienstes, im Rang-, Titel-, Ordenswesen und anderen Formen
der autoritativen Anerkennung diejenigen Momente gebracht, welche
durch das Medium des dritten Motivs auf tüchtige Leistung hin-
wirken sollen.
Diese an sich ja höchst äusscrlichen Dinge bilden förmlich ein Seitenstück
der Entlohnung der Arbeitsdienste im Gehaltssystem und beruhen doch auf richtiger
Erkenntniss der Menschen, „wie sic einmal sind“: freilich auch wieder mit der
ethisch -misslichen Wechselwirkung, dass ..die Menschen immer mehr so werden“,
weil inan sie förmlich dazu erzieht, Werth auf diese Dinge zu legen.
Aber wiederum realistisch betrachtet, ist auch zuzugestehen , dass der Staat
hier eiu guter Psychologe ist, welcher die Bedeutung unsres dritten Motivs, freilich
auch der ungünstigeren Erscheinungsformen desselben (Eitelkeit!) kennt. Es darf
auch sogar weiter eingeräumt werden, dass dem ganzen Rang-, Titel-, Ordenswesen1)
J) Dasselbe ist nicht mit der rein sachlichen, auf der nothwendigen Stufen-
leiter der Acmtcr im Staats- und Kirchendienst beruhenden Rangordnung der Diener
zu verwechseln. Diese entspricht der Arbeitstheiluug und der specifischcn Ver-
schiedenheit und Höhe des gesellschaftlichen Werths der Dienste im Aemtcrsystcm.
Auch hier spielen zwar bei der Einrichtung Rücksichten auf die verschiedenen
Motive, welche das Handeln bestimmen, deutlich mit (das erste Motiv in der Gehalts-
abstufung, das zweite im Disciplinarrecht. das dritte, weil der Rang des Amts selbst
wieder iu verschiedenem Maasse Ehre auf den Amtsträger abfallen lässt, das vierte, weil
von diesem Rang des Amts Genuss der Thätigkeit, Einfluss, Macht abhängt, das fünfte.
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104
1. B. 1. K. Wirtschaft). Natur des Menschen. 2. A. §.41.
ein richtiger und schöner und an sich auch ethisch berechtigter psychologischer
Gedanke zu Grundo liegt: dass auch äussere Ehren von Vertretern der Gemein-
schaft sollen ausgehen und grade für den Durchschnitt (das Normale) überragende
Dienste für die Gemeinschaft ertheilt und dadurch den auf diese Weise Belohnten
Ansehen in der öffentlichen Meinung und ihnen, wie allen Gliedern der Gemeinschaft,
ein Ausporn (ein „Motiv“, eben in gewissen Erscheinungsformen des dritten Motivs)
zu tüchtigen Leistungen im Gesammtin teresse gegeben werden soll. Indem
Niclit-Staatsdiener in dieses System äusserer Auszeichnungen mit hincingezogen werden,
wird das betreffende Motiv nur noch allgemeiner wirksam zu machen gesucht, psycho-
logisch und practisch im Princip ganz richtig.
Nicht die Institution des Hang-, Titel-, Ordenswesens an sich ist daher an-
zugreifen und kurzweg, als auf dem blossen Motiv der Eitelkeit beruhend, ethisch zu
verurtheilcn . sondern nur ihre practische Durchführung. Diese ist aber frei-
lich so gut wie unvermeidlich so mangelhaft, dass dadurch der Werth der ganzen
Institution doch practisch und ethisch sehr fragwürdig wird. Denn die beiden
Voraussetzungen, auf denen die richtige Anwendung der Einrichtung beruhen würde,
sind schlechterdings auch in einer nur cinigermaassen genügenden Weise nicht zu
erfüllen: es lässt sich kein richtiger, practisch anwendbarer Maassstab für die Werth-
schätzungen der Leistungen finden, nach denen die Ehren u. s. w. ertheilt werden
müssten, und es giebt und kann nicht geben eine wirklich unparteiische, objective
Instanz für die richtige Handhabung eines solchen Maassstabes, selbst wenn er ge-
funden wäre. Daher unterliegt die Durchführung der Einrichtung der Willkühr,
bestenfalls der Schablone, wie meistens im Staatsdienst, zu dessen blossem Anhängsel
sic grosscntheils wird. Dass freilich, wenn die Einrichtung erhalten bleiben soll, eine
gründliche Reform nothwendig, aber trotz der obigen principiellen Bedenken auch in
gewissen Grenzen möglich wäre, ist wohl nicht zu bestreiten.
Psychologisch anspornend auf die Leistungen, wenn auch nicht immer in der
richtigen Weise und mit den rechten Mitteln, wirkt die Einrichtung gleichwohl ohne
Zweifel dennoch. Im Staatsdienst haben die ihr entspringenden Ehren auch noch
als eine Art Immateriallohn die wirtschaftliche Bedeutung, in gewissem Umfang
Materiallohn ersetzen, bezw. ersparen zu können: eine nicht unwichtige wirtschaft-
liche Seite der Frage, auch eine Seite, welche schon mit dem folgenden Puncte zu-
sammenhängt.
Je mehr andere Motive fehlen oder nur schwach wirken, desto
mehr muss natürlich immer mindestens ein bestimmtes Motiv vor-
handen sein und wirken , wTie in allem , so auch im wirtschaft-
lichen Handeln. Gerade in Wirtschaftsordnungen , welche das
erste Motiv beschränken, das zweite grossentheils nicht anwenden,
das vierte und fünfte nicht genügend entwickeln können, muss
daher das dritte nur zu um so mächtigerer Wirksamkeit gebracht
werden. Der Staatsdienst, zumal der Monarchie, liefert wieder ein
Beispiel auf einem analogen Gebiete. In den materiellen Wirth-
schaftssphären würde bei einer richtigen ethischen Auswahl der
verschiedenen Erscheinungsformen des dritten Motivs manches
Günstige, manche Besserung heutiger Erscheinungen im System der
freien Concurrenz zu erzielen sein.
weil das Amt das Pflichtgefühl erweckt und dann von letzterem ein günstiger Einfluss
auf die Qualität der Leistung erwartet wird u. s. w.). Aber diese Dienstrangordnung,
auch mit ihren Amtstiteln, welche letzteren doch zunächst aus practischen Gründen
der Unterscheidung gebotene technische Namen siud, hat doch auch sonst eine
andre psychologische Grundlage als die im Texte besprochene Einrichtung.
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Drittes Leitmotiv: Ehrgefühl.
105
ß) Im soci al istisch en Wirtschaftssystem widerspricht die
Anwendung des dritten Motivs, auch in seinen besten Erscheinungs-
formen, vollends in den anderen, wo Specialmotive der Eitelkeit
in Wirksamkeit treten, dem grossen ITauptprincip des Socialismus,
der Gleichheit. Denn im eminentesten Maasse beruht das
dritte Motiv auf dem Gedanken der socialen Ungleichheit der
Einzelnen, der Familien, wenn auch nicht nothwendig ebenso der
ökonomischen. Gleichwohl würde gerade der Socialismus auf
dieses dritte Motiv vermuthlich stark recurriren müssen.
So wenigstens, wenn es ihm nicht gelingen sollte, nach den utopischen An-
sichten mancher seiner Vertreter, das vierte und fünfte Motiv zu weit mächtigerem
Einfluss zu bringen, als welchen sie gegenwärtig und in aller Vergangenheit gehabt
haben ; wenn er der Nothwcndigkeit enthoben sein wollte, das unliebsame zweite Motiv
bis zur Unerträglichkeit zur Anwendung zu bringen und wenn er nicht, seinen son-
stigen Principien, auch demjenigen einer, wenn nicht völligen, doch annähernden
ökonomischen Gleichheit zuwider, das erste Motiv zu stark zur Wirksamkeit brächte.
Aus diesem Dilemma kommt der Socialismus wieder nicht heraus, so lange er mit
„Menschen“, nicht mit Engeln oder Göttern seine socialökonomischen Hauten ausfuhren
muss. Der berufene „Führercultus“, die Verbreitung der Photographien der Führer,
wogegen sich consequent , aber erfolglos manche überzeugte Ideologen der Social-
demokratie auflehnen, giebt einen Vorgeschmack der Dinge, die kommen müssten.
Wir erinnern uns, in den 1870er Jahren in einem socialdemokratischen Blatte einmal
die Frage erörtert gesehen zu haben: wird es im Socialstaat Champagner geben und
wer wird ihn trinken? Die Kranken zur Erholung und die besonders Ausgezeichneten
zur Extrabelohnung, lautete die Antwort. Psychologisch nicht übel gedacht. Warum
aber nicht ebenso Orden, Titel oder ähnliche äussere Auszeichnungen, wenn auch in
neuen, aber unvermeidlich ebenfalls äusserlich wahrnehmbaren Formen für
die „besonders verdienten“ „Genossen“? Das widerspräche freilich dem social-
demokratischen Postulat der „Gleichheit“, aber es entspräche dem echt menschlichen
Bedürfniss nach „Ungleichheit“, auch nach einer äusserlich hervortretenden, wie in
den hier besprochenen Dingen. Und ob die gleichmässigstc Erziehung und sonstige
Lebensweise von Jugend an daran viel ändern wird? Das ist wiederum einer der
Sätze, an die man mit den Socialistcn „glauben“ muss, auch wenn Erfahrung und
Verstand dagegen sich auf lehnen.
y) Für unser gegebenes Wirtschaftssystem und dessen organi-
satorische und rechtliche Weiterbildung gelangt man aus den
Erörterungen über dieses dritte Motiv zu dem wichtigen Er-
gehn iss, dass Einrichtungen, welche die Wirksamkeit dieses
Motivs in seinen besseren ethischen Erscheinungsformen wieder
stärken würden, gewiss erwünscht wären. Bei Reformen wird
darauf der Blick mit hinzulenken sein. Ein Erfolg in dieser Hin-
sicht ist zum Theil die Voraussetzung dafür, das erste Motiv un-
bedenklicher in seiner Wirksamkeit einschränken , das zweite
mehr ausser Function treten lassen zu können. Die alte Zeit der
Rechtsordnungen der Gebundenheit war in diesem Puncte der
modernen Zeit der Rechtsordnungen der individualistischen Un-
gebundenheit unzweifelhaft überlegen.
Vor Allem auf dem gewerblichen und mercantilcn Gebiete würden Ein-
106
1. B. 1. K. Wirtschaft!. Natur des Menschen. 2. A. §. 42.
richtungcn, wie neue corporativc Gestaltungen, hier durch Stärkung oder eigentlich
durch neue Einbürgerung der Standesehre, des Standesgeists manche Uebel-
stände beheben oder vermindern können. Die Analogien des öflentlichcn Dieusts, des
Lehrdicnsts , W'ehrdiensts möchten das bestätigen. Auch in liberalen Berufen
scharfer Erwerbstendenz und mit starker Concurrenz der Glieder (Aerzte, Rechts-
anwälte, Schriftsteller) wäre durch solche Einrichtungen Manches zu bessern. Das
erwachte Standesbewusstsein der industriellen und montanistischen Lohnarbeiter, zumal
der gewerkschaftlich organisirten, wie es sich in den schweren, oft von vornherein so
aussichtslosen Lohnkämpfen bei Strikes zeigt, liefert immerhin den Beweis, dass in
diesen Kreisen selbst schwerste wirtschaftliche Opfer von Einzelnen aus einem mäch-
tigen Beweggrund der Standesehre und des Pflichtgefühls — „Einer für Alle, Alle für
Einen“ — übernommen werden , d. h. das dritte und fünfte Motiv überwältigen hier
wenigstens zeitweise die Wirksamkeit des ersten. Eine ethisch und social beachtens-
werte und erfreuliche Erscheinung.
§. 42. — 4. Viertes Leitmotiv: Drang zur Bethä-
t i g u n g und Freude amThätigscin, auch an d e r A r b e i t
als solcher und an den Arbeitsergebnissen als solchen,
sowie Furcht vor den Folgen der Unthätigkeit (Pas-
sivität).
a) Wesen und Function des Motivs. Das Vorhanden-
sein, das Wesen und das Mitspielen eines solchen Motivs neben
anderen, mit welchen cs sieh combinirt, unter Umständen auch
statt andrer, tritt auf dem Gebiete menschlichen Handelns im All-
gemeinen und wirtschaftlichen Handelns insbesondere weniger
deutlich und schwerer von den anderen Motiven unterscheidbar
hervor, als dies von einem der letzteren gilt. Als eigenes selb-
ständiges Motiv ist dieses vierte Motiv daher auch nicht immer
beachtet und betrachtet worden. Dennoch wird man sein Vor-
handensein, seine Eigenart und seine Bedeutung anerkennen müssen.
Auch wenn keines der vier anderen Leitmotive in irgend einer
seiner Erscheinungsformen mitspielt, wird das menschliche, auch
das wirtschaftliche Thun nicht so zu sagen auf den Nullpunct der
Bewegung reducirt werden. Denn ein ,, Handeln“ irgend einer
Art, ein handelnd Bcschäftigt-sein gehört zum Wesen menschlichen
Lebens, ein darauf Hintreiben zum Wesen der menschlichen Seele.
Dieses Handeln wird sich dann aber als dasjenige eines ver-
nünftigen Wesens vernünftige Ziel- und Strcbepunete suchen und
solche eventuell auch auf dem wirtschaftlichen Gebiete linden.
Würden nun bloss diejenigen Ziel- und Strcbepunete hier in Betracht kommen
können , welche bei den anderen vier Motiven vorschweben, so würde man allerdings
dieses vierte Motiv nicht als ein eigenes besonders hervorheben dürfen ; es wäre höchstens
eine begleitende Erscheinung oder ein bei den anderen Motiven mitspielendes Moment.
Allein so liegt die Sache hier doch nicht nothwendig und auch thatsächlich nicht
immer. Sondern der Bethätigungsdrang sucht sich das wirtschaftliche Gebiet otwa
aus, weil die Person, welche von ihm zum Handeln angetrieben wird, ihrem Berufe,
ihrer Stellung nach diesem Gebiete angehört, hier ein ihr angemessenes Feld der
Thätigkeit findet.
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Viertes Leitmotiv: Drang zur Bethiitigung.
107
Allerdings wird die Person hier in der Kegel auch Erfolge bestimmter wirt-
schaftlicher Art erzielen wollen, auf welche es ihr bei ihrem Handeln ankommt.
Diese Erfolge werden dann bei genauerer Beobachtung und Analyse der mitspielenden
Specialmotive iin Gebiete der anderen vier Leitmotive liegen, vielleicht nur besonders
eigentümlichen Erscheinungsformen eines dieser Motive oder gewissen Combinationcn
von solchen entsprechen: am Häutigsten wird es sich darum handeln, „Leistungsfähig-
keit zu zeigen“, „Glück zu zeigen“ (Spiel!), „Macht zu gewinnen“, „Einfluss zu er-
ringen“, „mehr Vermögen als Andre, als Kivalen zu erlangen“, nicht sowohl um des
Besitzes selbst, als um grösserer Macht, Geltung Willen u. dgl. m., d. h. es wird das
dritte Motiv (Ehrgefühl, Ehrgeiz. Eitelkeit u. s. w.) besonders oft beteiligt sein.
Auch eigentliches Erwerbsinteresse, daher das erste Motiv, wird öfters, aber doch
nicht notwendig immer hier mitspielen. In anderen Fällen werden gemeinnützige
Motive (zum fünften Leitmotiv gehörend) mit einwirken. Aber es bleibt häuiig immer
noch ein „Kest“, der in keinem der anderen Motive aufgeht, und gerade mit diesem
„Rest“ als einem eigenem Motiv haben wir es hier zu tun.
Das Wesen dieses vierten Motivs liegt dann in dem Reiz, dem
Antrieb zum Handeln, hier eventuell zum wirtschaftlichen Handeln,
wegen der Lustgefühle , des Genusses, der Freude, welche das
Handeln als solches, d. h. als Bethätigung und Beschäftigt-
sein von Seele und Geist für diese selbst in sich enthält und welche
die Fortschritte und Ergebnisse der Bethätigung als solche be-
wirken. Umgekehrt wird die mangelnde Bethätigung, die Passi-
vität in diesem Sinne, das Müssigsein als Moment der Erregung
von Unlustgefühlen — und sei es schliesslich bloss Langeweile —
empfunden und gescheut. Und das eben treibt wieder zur Acti-
vität an.
Oft genug, gerade auf wirtschaftlichem Gebiete, wird diese
Bethätigung eben Arbeiten im ökonomischen Sinne (§. 27), mit
dem äusseren Erfolgzweck der Beschaffung und Verwendung vou
Gütern, sein. Dann nimmt das Motiv die Form der Freude an
der Arbeit (Arbeitsfreude) als an einer zweckmässigen und er-
folgreichen Bethätigung der Kräfte, ja des Lebens selbst, und
weiter auch die Form der Freude an den Fortschritten und an den
Endergebnissen des Arbcitserfolgs als solchen an: eine Freude,
die wieder oft mit Freude aus einem der andren Leitmotive, dem
ersten, dritten, fünften, verbunden sein mag, aber doch mit diesen
nicht zusammenfällt und auch gesondert von ihr und allein Vor-
kommen kann und vorkommt.
Das Lastmoment in der Arbeit (§. 2T) braucht damit nicht zu verschwinden,
nicht unfehlbar zu werden, das ökonomische Princip (§. 2S) nicht ausser Function zu
treten. Aber das Lustmoment in der Arbeit spielt mit, überwiest vielleicht und
bildet au sich schon einen Factor, welcher das Lastmoment vermindert oder aufhebt.
Die Freude an den Fortschritten und Endergebnissen des Arbeitserfolgs ist auch nicht
die Freude au den letzteren, weil dieselben, den anderen Motiven gemäss, wirt-
schaftliche Genüsse unmittelbar schaffen oder ermöglichen, oder weil sie Ansehen er-
bringen oder weil sie Pflichterfüllung enthalten und die in dieser liegende Befrie-
digung verschaffen, was ja Alles mitspielen kann und oftmals mitspielt. Vielmehr
handelt es sich um eine Freude, welche sich aus derjenigen am Arbeiten als einem
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108
1. B. 1. K. Wirthschaftl. Natnr des Menschen. 2. A. §. 43.
Thun, an der Arbeit als einer Thätigkeit und an den Erfolgen der
Arbeit selbst als den gewollten Erfolgen dieser Thätigkeit mit innerer
Nothwendigkeit ergiebt.
§. 43. — b) Bedeutung des Motivs für Theorie und
Praxis des Wirtschaftslebens und bezügliche Aufgaben.
Dieses vierte Motiv kann hiernach eine wahrhaft ideale Wir-
kung ausüben: es erhebt durch die Lust an der Arbeit als solcher
Uber die Last der Arbeit, adelt damit die Arbeit und bewirkt, dass
die Arbeit, auch die wirtbschaftliche, welche Mittel zum Zweck, zur
Beschaffung und Verwendung von Gütern ist, in Einer Hinsicht
Selbstzweck wird.
Das vierte Motiv bört auch damit noch nicht auf, ein „egoistisches“ in dem
früher besprochenen Sinne, auf das angenehme Empfinden eines urtheilcnden „Ich“ sich
beziehendes zu sein. Und um unverkennbare Lustgefühle handelt es sich doch auch
hier, ja grade hier um vielleicht sehr starke und specifisch eigentümliche. Dieselben
stehen im Ganzen ethisch höher als die den drei ersten Motiven zu Grunde liegenden.
Die allgemeinere ökonomische Bedeutung des Motivs liegt aber darin, dass das
Lastmoment, welches bei jeder Arbeit vorhanden und der Hemmungsfactor für
die Ausübung der Arbeit und für Art und Höhe des Arbeitserlblgs ist, hier
durch die Arbeit als Lustmoment selbst mehr oder weniger, unter Um-
ständen sogar vollständig aufgewogen wird. Damit entfällt die Hemmungswirkung jenes
Lastmomcuts und ein ganz andrer Arbeitselfcct entwickelt sich.
Hat man es hier bei dieser Auffassung etwa mit blossen Phan-
tasien der Ideologie zu thun? Gewiss nicht! Wichtige und be-
kannte Thatsachen bestätigen, dass das vierte Motiv solche ideale
Wii kung haben kann und vielfach hat.
Die geistigen, zumal die höheren geistigen Thätigkeiten auf den Gebieten
von Kunst, Wissenschaft, Litteratur. Beredsamkeit, Erfindungen, auch bei gewissen
Thätigkeiten des öffentlichen und kirchlichen Dienstes u. dgl. m. sind unwiderlegliche
Beispiele, wie die blosse Freude an der Arbeit und am Ar bei tsergebniss,
selbst ganz ohne jeden Neben- oder gar Hauptzweck, des Gelderwerbs, des materiellen
Genusses mittelst der Arbeitsergebnisse, des Ruhmes durch letztere, auch des erfüllten
Pflichtgefühls, der Erreichung irgend eines anderen äusseren Zwecks, das Motiv und
mitunter ein stärkeres als jedes andere Motiv , welches in analogen Fällen mitspielen
mag, werden kann und wird. Intensivste Arbeit, auch angestrengteste, Kräfte bis bei-
nahe zum letzten Athemzug verzehrende, unter äusseren und inneren Schwierigkeiten
und Leiden aller Art erfolgende, wird vielleicht unter dem Einfluss keines anderen
Motivs verhältnissmässig so oft, unter Beiseitesetzuug jeder anderen Rücksicht aus-
geübt. Die Freude am Schaffen hilft über Alles hinweg. Welcher echte Künstler.
Dichter, Mann der Wissenschaft kann das nicht bestätigen, auch selbst dann, wenn
es ihm ausserdem auf den äusseren Erfolg, den Erwerb, die Anerkennung mit an-
kommt? Nicht unter allen Umständen, aber doch überwiegend wird die starke Wirk-
samkeit des Motivs auf dem Gebiete der geistigen Arbeit freilich auch an die
Voraussetzung der eigenen freien Wahl von Beruf und speciellem Arbeitsobject
geknüpft sein, was wiederum der Socialismus nicht genügend berücksichtigen
möchte (s. u.).
Auch in der materiellen Production fehlt es nicht an wenigstens ähn-
lichen Fällen. Einmal, wo es sich um Arbeiten handelt, welche das geistige
Princip in dieser Production darstellen, daher bei den Leitungs-, Combinations- (auch
selbst Speculations-, Conjuncturenbenutzungs-, den darauf bezüglichen Rechnung»-),
den Veranschlagungsarbeiten für technische Verbesserungen, für Kostenverminderungeu,
für Absatzverbesserungen, für günstigere Preisstellungen, mithin insbesondere um
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Viertes Leitmotiv: Drang zur Betätigung.
109
Arbeiten des Unternehmers oder der ökonomischen und technischen Leiter; sodann
speciell, wo die in dieser und in anderer, auch im Dienstverhältnis ausgefibter
Arbeit mit enthaltene ästhetische, künstlerische, erfinderische und ähnliche Thätigkcit
mit in Betracht kommt, ein Ganzes geschaffen wird (Kunsthandwerk u. dgl.). Endlich
aber kann das Motiv auch selbst bei der spccialistischen gewöhnlichen technischen
Verrichtung noch mitspielen, auch bei der Theilung der Verrichtungen unter Mehrere,
so z. B. wenn das Ergebniss der von Einzelnen ausgeübten Verrichtung noch eine
derartige Selbständigkeit hat. um einen gewissen ästhetischen Genuss, eine persönliche
Befriedigung über den Erfolg der Arbeit, über die nach dem eigenen Urtheil „gute“
Ausführung derselben gewähren zu können, wofür es in der agrarischen, besondors
in der handwerklichen, liausindustrieUen , seltener in der Fabrikations- Arbeit an Bei-
spielen nicht fehlt.
Eine genaue Grenze, wo die Möglichkeit der Wirksamkeit
dieses vierten Motivs auf hört, giebt es auch weder subjectiv noch
objectiv. Die Grade der Wirksamkeit sind nach Subjecten, nach
empfindenden urtheilenden Personen, nach Anlage, Ausbildung,
Gewohnheit, Lebensführung derselben, wie nach Objecten, nach
Art und Maass der Thätigkeit oder Arbeit, um die es sich
handelt, ausserordentlich verschieden. Aber das möchte doch keinem
Zweifel unterliegen, dass es zahlreiche und wichtige, auch ganz
unentbehrliche Arten von Arbeit giebt, bei denen auch günstigen
Falles das Lustmoment ein Minimum wird oder verschwindet
und das Lastmoment ein Maximum wird oder allein empfunden
wird. Hier mag durch Verstärkung der Momente, welche die
andern Motive — besonders das erste und zweite, schwieriger,
wenn überhaupt, der Natur der Sache nach, das dritte — be-
einflussen, auch — und eventuell vornemlich — durch das fünfte
Motiv der innere psychische Widerstand gegen die betreffende
Arbeit überwunden werden können. Das vierte Motiv wird sich
dabei aber kaum mit in Wirksamkeit oder doch nicht in eine im
Arbeitseffect bemerkbarere Wirksamkeit setzen lassen.
Es gilt das nicht nur von ästhetisch widerwärtigen wie unangenehmen Reinigungs-
und dergleichen Arbeiten, von ungewöhnlich schweren, belästigenden Arbeiten, woran
man in solchen Fällen vornemlich gedacht — Hinweise, womit man auch die Ideo-
logien des Socialismus öfters besonders gern abgetrumpft hat. Das möchten nicht
einmal immer die practisch am Schwersten zu erledigenden Fälle sein. Schwieriger,
veil viel allgemeiner, sind die Verhältnisse der auf weitgehender technischer Arbcits-
theiluug und Maschinenanwendung beruhenden Production, daher namentlich in der
modernen Industrie, im Fabrikwesen. Denn eine der unvermeidlichen Folgen ist hier
die Zerlegung des Arbeitsprocesscs in zahlreiche einzelne Phasen, mit wesentlich
mechanischer Arbeit, wo jede Theilarbeit oder technische Verrichtung ja unbestreitbar
i» nothwendiger Beziehung zum Arbeitsganzen steht, aber nirgends als solche hervor-
tritt, und auch nicht irgendwie als ein kleines Ganzes erscheint, das als solches
überhaupt und gut herzustellen, dem Einzelnen Arbeitsfreude macht. Damit aber
fehlt das, was das Lustmoment in der Arbeit selbst bildet, „fehlt leider nur das
geistige Band“, und nur das Lastmoment macht sich empfindbar. Ja es wird wohl
noch besonders gesteigert durch die der Arbeitstheilung und den technischen Mecha-
nismen mit zu verdankende tödtende Eintönigkeit der Verrichtungen, durch die trotz-
dem etwa gesteigerte Nothwendigkeit angespannter Aufmerksamkeit bei jeder Ver-
HO ]. B. 1. K. Wirthschaftl. Natur des Menschen. 2. A. §. 43.
richtung, durch die unangenehmen äusseren Lebensbediugungen, unter denen die Arbeit
ansgeübt wird u. dgl. m.
Besonders in den socialistischen Ideen und Plänen der
„Organisation der Arbeit“ spielt der Gedanke, durch Steigerung
des Lusteffects der Arbeit selbst die letztere zu einer weniger
lästigen, selbst zu einer beliebten Beschäftigung und dadurch sie
wirksamer, productiver zu machen, eine Bolle. Und logisch con-
sequent, psychologisch auch nicht unrichtig, je weniger man auf
Motive wie das erste und zweite, so stark, wenn überhaupt, wie
im heutigen Wirtschaftssystem recurriren will, und je deutlicher
man einsieht, dass man das dritte und fünfte Motiv schwer zu
hinlänglich mächtigen Triebfedern der Arbeit machen kann.
Zu einem förmlichen System hat Fourier in seiner Trieblehre diesen Gedanken
ausgebildet, mit vielem Phantastischen, „bis zur Verrücktheit“, wie man wohl gespottet
hat, aber doch mit einem Kern von Wahrheit, der für die hier behandelten Fragen
nicht werthlos ist Auch neuere socialistische Theoretiker, z. B. Bebel, verfolgen
in ihren Plänen diesen Gedanken wieder mehr, freilich auch mit grossen ideologischen
Uebertreibuugen.
Die augedeuteten Schwierigkeiten, welche sich aus der Art
der Arbeiten, namentlich bei der weitgehenden Arbeitsteilung und
Maschiuenanwendung, ergeben, werden indessen dabei nur immer
viel zu leicht genommen.
Man greift daher auch sofort zu Hilfsmitteln, wie Verminderung der Arbeits-
zeit, höherem Entgelt bei gewissen, nicht an sich lockenden Arbeiten, womit man aber
doch das vierte Motiv schon wieder fallen lässt und sich zum ersten wendet. Oder
man glaubt durch den häutigen Wechsel in der Arbeit die Anziehungskraft der einen
Arbeit zu steigern, die Unlust zur andern zu vermindern, womit man aber letzteren
Falles bei vielen Arbeiten doch nichts erreichen kann und aller Arbeit den Gharacter
des Dilettantischen zu sehr anheftet und damit ihren Erfolg beeinträchtigt. Oder man
denkt an Zwangsreihenfolge für lästige Arbeit oder au Uebertragung derselben zur
Strafe, womit man vollends das Gebiet einer Wirkung des vierten Motivs verlässt und
wieder zu dem ominösen zweiten gelangt.
Jedenfalls kommt man auch über den naturgemässen,
wenn auch fliessenden Unterschied der „liberalen“, der mehr
oder weniger geistigen, dann der leitenden Arbeiten einer-
und der gewöhnlichen materiellen, der im Arbeitstheilungssystem
ausgeiibten Handarbeiten andrerseits nicht hinaus. Wohl bei
jenen, nur mehr ausnahmsweise bei diesen wird daher das vierte
Motiv in allen seinen Erscheinungsformen und in jeder denkbaren
Organisation der Arbeit zur Wirksamkeit zu bringen sein. Auch
in einer socialistischen Organisation wird man hierüber nicht hin-
weg kommen.
Mau könnte allenfalls daran denken, wie das auch geschehen ist, das Recht, an
sich angenehme Arbeiten zu übernehmen, wie eine Art Belohnung zu gewähren und
an die Bedingung zu knüpfen, dass ein gewisses Quantum andrer Arbeiten in einer
Lcbensperiodo (Bcllamy) oder regelmässig neben den angenehmen Arbeiten aus-
geübt werden müsse. Allein die „technische“ Durchführung eines solchen Gedaukens
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Viertes Leitmotiv: Drang zur Betätigung.
111
würde gTosse Schwierigkeiten machen, und ganz übersehen wird dabei, dass grade
die Ausschliesslichkeit der Concentration auf Eine Arbeitsart nur „Meister schallt“,
sowie dass die so erzwungene Verbindung, bezw. Abwechslung zwischen ganz hetero-
genen Arbeiten auch auf die Qualität der Leistung beider wenigstens ungünstig ein-
wirken kann, wenn auch, wie ich zugebe, nicht notwendig immer so einwirken
muss. Ja bisweilen kann in der That umgekehrt ein solcher Arbeitswechsel günstig
sein (regelmässige Körperarbeit von Kopfarbeitern!). Nur darf man aber auf solche
Fälle nicht gleich wieder ein ganzes System des heilsamen und allgemein Erfolg
steigernden ArbeitsefFects aufbauen.
Das Ergebnis« ist, dass dieses vierte Motiv gewiss erwünscht
ist, wann und wo es in der dargelegten Weise wirksam gemacht
werden kann. Aber in der materiellen Production und zumal in
der modernen, durch die heutige Technik und die davon wieder
abhängige Arbeitsteilung bedingten Productions weise ist es schwerer
und beschränkter als in der früheren anwendbar zu machen.
Auch in der socialistischen Organisation der Production, wo die
Arbeitsfreude der selbständigen Leitung und der eigenartigen bei
dieser vorkommenden, durch sich selbst Befriedigung gewährenden
Thätigkeiten so gut wie fortfiele, wenn und soweit als — in der
Consequenz des socialistischen Systems — centrale Oberleitung der
ganzen Production (auch alsdann in Betreff der technischen Pro-
cessc wenigstens in der Hauptsache!) stattfände, würde grade
dieses Motiv weuiger als in der heutigen Organisation in Function
treten können. Die gegentheiligen Auffassungen von Socialisten
sind Behauptungen, welche vor einer genaueren objectiven Ana-
lyse der in Betracht kommenden Verhältnisse nicht Stich halten.
Der Socialismus setzt sich eben auch hier wieder hyperideologisch Uber die
naturgemässe, oft in den einzelnen technischen Momenten, aber nicht im ganzen
technischen Wesen sich verändernde Art der Arbeit, zumal der Handarbeit in der
materiellen Production, hinweg. Er übersieht auch, dass seine Panacee, der Fort-
schritt der Technik, hier nicht viel hilft. Nicht einmal das Lastmoment in
der Arbeit, bei den menschlichen Verrichtungen , wird hier immer geringer, sondern
nur verändert, der physische Kraftaufwand wird vielleicht kleiner, alle anderen
Seiten der physischen Arbeit und die Umstände, unter welchen die Arbeit ausgeübt
wird, werden leicht lästiger, unangenehmer (Fabrikbetrieb! Maschinenanwendung!).
Gewiss mag dieser Uebelstand durch ein anderes, vom Socialismus empfohlenes Hilfs-
mittel, Verminderung der Arbeitszeit (besonders der täglichen), gemildert werden.
Aber beseitigt wird er auch dadurch noch nicht und in Betreif der ökonomisch-tech-
nischen Ermöglichung der Verkürzung der Arbeitszeit laufen wieder ideologische
Uebertreibungen unter. Das Lustmoment in der Arbeit wird dagegen nach der
Art der Technik und nach den schon angedeuteten Verhältnissen, vollends bei den
arbeitstheilig in Verbindung mit Maschinen ausgeübten Verrichtungen der Hand-
arbeiter kleiner, bis zum Verschwinden.
Nicht selten begeht der Socialismus auch eine völlige Verwechslung der Lage
des Consumenten der Arbeitsproducte und des Producenten der letzteren, namentlich
des mit Handarbeit dabei betheiligten Arbeiters: der Fortschritt der Technik fuhrt
— oder kann wenigstens fuhren — die Productc dem Consumenten besser, wohl-
feiler, bequemer zu (wie in den Schilderungen der „Utopisten“, jüngst wieder in
hubscher Weise Bellamy’s, auch nach einzelnen Ausführungen Bebel s). Aber die
technischen Arbeitsprocesse bei der Herstellung der Producte bedingen eher un-
angenehmere. lästigere Thätigkeiten, wenn auch nicht immer schwerere (Muskel-)
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112 1. B. 1. K. Wirthschafü. Natur des Menschen. 2. A. §. 44.
Arbeit der Arbeiter. Für die Frage von den Motiven, welche auf die Arbeit selbst
einwirken, ist aber grade der letztere Umstand der entscheidende, welcher namentlich
vor einer Ueberschätzung dieses vierten Motivs warnen muss. Die an sich — logisch
und psychologisch — richtige Forderung einer Verkürzung der Arbeitszeit grade bei
diesen Arbeiten und eines Wechsels der Arbeit behebt die hier in der Sache selbst
liegenden Schwierigkeiten nicht und hat andere Bedenken, wie sie im Vorausgehenden
schon mit berührt wurden.
Mit einem uralten bekannten Worte: „im Schweisse seines
Angesichts“ muss auch bei entwickelter Technik die Menschheit
oder wenigstens ein grosser Theil derselben die Bedingungen
dafür erfüllen, dass die Güter zur Befriedigung der Bedürfnisse
der Menschheit zur Verfügung gestellt werden können. Ueber
diese Wahrheit kommt man mit den ideologischen Uebertreibungen
der möglichen practischen Tragweite des vierten Motivs nicht hinaus.
§. 44. Die Differenzirung der egoistischen Motive
des wirtschaftlichen Handelns in ihrer Bedeutung
für die Frage der Methode in der Theorie und Praxis.
Die vorausgehende Analyse der egoistischen Leitmotive, ihrer
Spielarten, Combinationen und ihres Einflusses auf das wirthehaft-
liche Handeln im Allgemeinen, sowie bei den einzelnen Subjecten
und in den concreten Fällen hat ergeben, — trotzdem wir dabei
manches Einzelne übergehen mussten oder nur kurz berühren und
nicht Alles in alle Verästelungen der Motivation, Combination und
Wirksamkeit verfolgen konnten — wie ausserordentlich com-
plicirt auch schon die egoistischen Motive sind, welche auch bei
einer wirthschaftlichen Handlung wenigstens mitspielen können
und oftmals thatsächlich mehr oder weniger mitspielen.
Diese Motive sind aber nun, von dem fünften unegoistischen noch
abgesehen, die Momente, welche als Ursachen undBeding ungen
auf die wirthschaftlichen Handlungen und damit auf die wirth-
schaftlichen Erscheinungen einwirken und diesen die äussere
Gestalt und Erscheinungsform geben. Hier liegt daher
auch ein höchst complicirter causalcr und conditioneller
Zusammenhang zwischen Motiven als Ursachen und Be-
dingungen einer- und Handlungen und Erscheinungen als Wir-
kungen und Folgen andrerseits vor.
Es ergiebt sich daraus für die Theorie die Nothweudigkeit
der Vorsicht bei allen Schlussziehungen, Deductionen, aus
den Motiven auf die Wirkungen sowie der zunächst nur hypo-
thetische Character aller solcher Schlüsse: ein entscheidender
Punct auch für das methodologische Problem in der Theorie.
Die verschiedenen Formen und Combinationen der egoistischen Motive,
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Methodol. Bedeutung der Differenziruug der egoist. Motive.
113
ihr Wirken in derselben und in sich kreuzender Richtung müssen
genau constatirt, die Stärke jedes Motivs geprüft werden, wenn
man sicher gehen will.
ln der grossen Zahl der Fälle kann man dann öfters er-
fahrungsmässig nachweisen und demnach annehmen, dass Ein Motiv
oder Eine bestimmte Combination von Motiven vorwaltet, bis zur
Ausschliessung der anderen, und die letzteren an Stärke überragt:
weil die auf der Gleichmässigkeit der Constanz der physisch-
psychischen Organisation der Menschen beruhende Motivation und
Handlungsweise der Menschen sich geltend macht, so in der
Allein- oder der Vorherrschaft des ersten Motivs auf dem Wirth-
schaftsgebiete. Ist das richtig, so ist auch der Schluss auf den
Ausfall der Handlung und Erscheinung sicherer, selbst bis zu
einem hohen Maasse sicher.
So ist die ältere Theorie bei ihrer Deduction aus dem ersten Motiv
verfahren. Aber sie hat dabei eben öfters zu sehr generalisirt oder die Voraus-
setzungen ihrer Deduction, das alleinige Vorhandensein und die rücksichtslose Wir-
kung des ersten Motivs zu sehr ohne genaue Prüfung angenommen; auch nicht
beachtet, dass sich zeitlich, örtlich, in Völkern, Classen die gesammte durch-
schnittliche Motivation immerhin ändern kann, wenn man auch, dem Constanten
der menschlichen Natur gegenüber, grade mit dieser Annahme vorsichtig sein muss,
woran es wieder die historische Richtung und der Socialismus fehlen lassen.
Eine doppelte Prüfung bleibt so immer noth wendig: die-
jenige der Voraussetzungen in Bezug auf die Motive und die-
jenige der Wirkungen in Bezug auf die Handlungen und Er-
scheinungen. Daraus ergiebt sich schon die Nothwendigkeit
empirischer Methoden auch nebeu der psychologischen Deduction
aus Motiven, d. h. die Nothwendigkeit der Induction (§. 68 ff., 75).
An dieser Stelle sei nur betont, dass die Differenzirung
der egoistischen Motive für alle diese Fragen besonders zu beachten
ist. Die ältere Theorie hat in der Regel nur das erste Motiv
zum Ausgangspunct ihrer Erörterungen genommen und es nicht
genügend beachtet, wie dies nur ein Fall, wenn auch wohl im
Ganzen der Hauptfall der auch auf wirtschaftlichem Gebiete mit-
spielenden egoistischen Motive und Motivecombinationen ist.
Gerade weil auch in zahlreichen Fällen andere egoistische Mo-
tive mitspielen, wird auch im grossen Durchschnitt der Fälle
die wirtschaftliche Handlung und Erscheinung im Productions-
und Vertheilungsgebiete nicht so einfach typisch ausfallen,
als wenn nur das erste Motiv allein oder in voller Stärke mitwirkte.
Im concreten Einzelfalle ist die Vorsicht der Schlussziehung
aus Motiven auf Handlungen und Erscheinungen aber vollends ge-
A. Warner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Tbeil. Grundlagen. S
114 1. B. 1. K. Wirthschaftl. Natur des Menschen. 2. A. §. 44.
boten, weil gerade hier — vielleicht weil der betreffende Fall eben
wirklich ein Ausnahmefall von der Regel ist — andere als das
oder die vorausgesetzten Motive mitspielen können und vielleicht
das Ueberge wicht haben.
So z. B., indem das zweite, dritte oder vierte Motiv statt des ersten oder
stärker als dieses mitspielen. Würde eines dieser Motive 2 — 4 oder eine bestimmte
Gombination gewisser Erscheinungsformen, z. B. des dritten und vierten, zu allgemeinerer
Verbreitung und genügender Stärke der Wirksamkeit gebracht werden können, z. B.
im „Socialstaate“ aus der heutigen Ausnahme zur Kegel werden, unter dem Einfluss
veränderter Erziehung, Lebensweise u. s. w. der Bevölkerung, — so unwahrscheinlich
das nach dem Früheren ist — so würden freilich auch die wirthschaftlichen Hand-
lungen und Erscheinungen anders als heute, bei dem regelmässigen Vorwalten des
ersten Motivs im Wirthschaftsleben , ausfallen. Für Deductionen aus solchen ver-
änderten Motiven oder Motivcombinationen wäre dann aber doch das Feld geöffnet.
Methodologisch wäre nur wieder die Aufgabe, fcstzustellen , in wie weit die Voraus-
setzungen des Wirkens solcher Motive der Wirklichkeit entsprechen.
Dass für die Fragen der practischen Wirthschafts-
(und Social-) Politik die Differenzirung der egoistischen Motive
und der einzelnen Erscheinungsformen derselben nicht minder die
grösste Beachtung verdient, daher für die richtige Methode
dieser ganzen Politik genau berücksichtigt werden muss, bedarf
nach dem Vorausgehenden wohl keiner besonderen Ausführung und
Begründung weiter: die ethisch besseren, höheren, feineren, an-
ständigeren Motive und die betreffenden Erscheinungsformen der-
selben, d. h. doch im Ganzen die besseren Formen der Leitmotive
3 und 4, müssten in den Einrichtungen, Organisationen, Rechts-
ordnungen des Wirtschaftslebens möglichst begünstigt, zu einem
„Maximum“ der Wirksamkeit gebracht werden, um, vollends in
Verbindung mit dem fünften Motiv, das Bedürfniss nach der Wirk-
samkeit und nach starker Wirksamkeit des ersten und zweiten
wenigstens doch abschwächen zu können. Denn freilich wird nach
dem Constanten in der wirthschaftlichen Natur schwer noch Wei-
teres, gar eine Auslösung dieser beiden Motive 1 und 2 aus der
das wirthschaftliche Handeln bestimmenden Motivation möglich sein.
Die geschichtlichen Organisationen, Einrichtungen und Rechts-
ordnungen im Allgemeinen und auf den Speeialgebieten der Pro-
duction und Vertheilung sind danach ethisch und ökonomisch mit
zu beurtheileu, auf welche Motive und Motivcombinationen sie für
das wirthschaftliche Handeln der Menschen, worauf sie sich beziehen,
vornemlich zurückgreifen. Ihr Erfolg für das Quantum und Quäle
der Production, für den technischen Fortschritt ist daher nicht nur
nach den äusseren Ergebnissen an Gütern und an Kosten, sondern
immer auch mit nach diesen psychologischen Grundlagen und Mo-
tiven, welche den Willen bestimmen, zu beurtheileu.
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Methode. Bedeutung der Differenzir. der egoist. Motive. H5
So ist das moderne, viel gepriesene System des ökonomischen Individualismus,
der freien Concurrenz nicht nur in Betreff seiner äusseren Ergebnisse genannter Art
oft günstiger beurtheilt worden, als es verdient — Kräfteverschwendung, Planlosigkeit
der Production! — , vor Allem ist es nach seiner psychologischen Grundlage, als
wesentlich nur auf dem ersten der Leitmotive beruhend und als dieses Motiv zu un-
gebührlicher Macht vor allen anderen, und zu Auswüchsen hässlichster Erscheinungs-
formen treibend (Speculationsschwindel, Börsen treiben, Unreellität, Geldgier, Genuss-
sucht u. s. w.) in hohem Grade zu bemängeln. Es steht daher ökonomisch-technisch,
trotz unbestreitbarer Glanzseiten in dieser Hinsicht, nicht so hoch, als cs z. B. die
freihändlerische Panegyrik rühmt, ethisch und social aber tiefer, als die Rechts-
ordnungen der Gebundenheit und als ein socialistisches System stehen würde, —
wenn sich dieses consequent bei dem Constanten im Triebleben und in der Moti-
vation der menschlichen Natur durchführen Hesse und nicht muthmaasslich wieder
andere psychologische und ethische Mängel (Motiv 2, auch 3!) zeigen würde. Das
ungemein schwere und wichtige Bedenken gegen das practische, rein auf dem ersten
Motiv aufgebaute Wirtschaftssystem des Individualismus ist die psychologisch
begründete, daher diesem System mehr oder weniger inhärente Steigerung der
Erwerbssucht und der Genusssucht, die Nötigung fast eines Jeden, der wirtschaft-
lich bestehen will, die Triebfedern des ersten Motivs möglichst ausschliesslich auf
sich wirken zu lassen, die Verbreitung von Anschauungen in der öffentlichen Mei-
nung, welche das als fast selbstverständlich erscheinen lassen, die Abschwächung
selbst der anderen egoistischen Motive bei einem Jeden, der für sie noch zugänglich
ist, geschweige die richtige Würdigung des fünften Motivs auch für das wirtschaft-
liche Leben. Mit dem Worte „die Dummen werden nicht alle“ setzt man sich kühl
über die Opfer freilich oft ihrer Erwerbsgier, aber auch der Ausbeutung von Leicht-
sinn . Noth und begreiflicher und verzeihlicher Uukenntniss ökonomischer Dinge
(Börsenwesen, Kapitalanlagen) hinweg. Mit dem schlimmen, übertreibenden, aber
characteristischen Worte „heute zu Tage erwirbt man die Millionen nicht, ohne mit
dem Aermel an ’s Zuchthaus zu streifen“ prüft man nicht die Art des Erwerbs: non
ölet heisst es auch hier. Das erste Motiv artet unter solchen Umständen freilich zum
gemeinen Eigennutz aus, der alles wirtschaftliche Handeln immer mehr allein
bestimmt und alles gesellschaftliche wie individuelle Leben corrumpirt.
Ein Wirtschaftssystem, in welchem Ehrgefühl, Arbeitsfreude eine stärkere Rolle
spielen, steht gewiss ethisch und social höher. Wiederum fragt sich nur, ob und
wieweit es ausführbar und wirksam ist. Erziehung kann da gewiss Mauches leisten,
aber nicht Alles. Und die Gefahr Hegt immer vor. dass die üblen Erscheinungs-
formen des dritten Motivs (übertriebener Ehrgeiz, Eitelkeit) und mögliche Begleit-
erscheinungen bei dem vierten Motiv (Gewinnung von Einfluss, Herrschsucht) sich
eben doch auch stark verbreiten, ja verbreiten müssen, um die Motive hinlänglich
wirksam zu machen. Dann geräth man in ethischer Hinsicht von der Scylla in die
Charybdis.
Da bleibt nur Eines übrig: das Motiv des Pflichtgefühls
und die höchstmögliche Entwicklung seiner Wirksamkeit , wie in
allem menschlichen Handeln, so auch im wirthschaftlichen. Denn
allen vier Leitmotiven und ihren speciellen Erscheinungsformen
kleben eben doch die Mängel an, welche aus ihrem Wesen, weil
sie sich auf die Lustgefühle des „Ich“ beziehen , hervorgehen , so
grosse auch ethische Unterschiede sich im Einzelnen dabei zeigen.
B. — §. 45. Unegoistisches oder fünftes Leitmotiv:
Trieb des inneren Gebots zum sittlichen Handeln,
Drang des Pflichtgefühls undFurcht vor dem eigenen
inneren Tadel (vor Gewissensbissen). — a) Wesen und
Function des Motivs. In seiner reinen Gestalt erscheint
6*
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116 1. B. J. K. Wiithschaftl. Natur des Menschen. 2. A. §. 45.
dieses Motiv als der „kategorische Imperativ“, dem man
folgt, weil man in der Seele das Gebot des Handelns und des
So und So -Handelns (bezw. auch Unterlassens) fühlt und dieses
Gebot flir richtig, seine Forderung für sittlich gut und demnach
die Erfüllung des Gebots für eine Pflicht hält.
Die Befolgung des Gebots ist dann freilich regelmässig auch
hier mit Lustgefühlen, die Niehtbefolgung mit Unlustgefühlen ver-
bunden. Diese Gefühle können es nun sein und sind es oft,
welche zum Handeln oder Unterlassen antreiben oder mit antreiben,
vielleicht stark und stärker als jener kategorische Imperativ. Als-
dann hat das fünfte Leitmotiv allerdings auch wieder ein egoistisches
Element in sich oder geht selbst in diesem auf. Auch ethisch Be-
denkliches kann sich dann und schliesst sich oft genug thatsächlich
an; eitle Selbstzufriedenheit Uber die eigene gute That, weil letztre
den eigenen inneren sittlichen Werth bekunde. So wird es bei
altruistischen Handlungen auf wirthschaftlichem Gebiete leicht sein.
Das Motiv entartet dann selbst zum Pharisäismus.
Allein, von solcher Entartung abgesehen, auch wo und wenn
das Motiv so als treibendes Element die „Freude an der eigenen
guten That“ und das in dieser Freude liegende Lustgefühl in sich
enthält, da ist doch selbst dieses Lustgefühl ein ethisch höher
stehendes als bei irgend einer Erscheinungsform eines der vier be-
sprochenen, von uns unter dem Ausdruck „egoistische“ zusammen-
gefassten Motive; auch ein specifiseh andres als die Lustgefühle
bei diesen vier Motiven; desgleichen die Empfindung bei der Ver-
meidung der Unlustgefühle hier bei dem fünften Motiv eine specifiseh
andre als im analogen Falle bei den anderen Motiven.
Die berechtigte Zufriedenheit mit sich selbst braucht nicht zur eitlen phari-
säischen Selbstzufriedenheit zu werden. Insbesondere die Seelenruhe, welche das
Handeln (und Unterlassen) nach dem fünften Motiv zu ihrer eigentümlichen Folge
hat, ist ein andersartiges Lustgefühl, als diejenigen sind, welche aus dem Handeln
nach den anderen Motiven hervorgehen.
Es kann aber nun auch sein, dass das Lustgefühl überhaupt
nicht ein Element in dem fünften Motiv selbst, sondern nur eine
Begleit- und Folgeerscheinung ist, wenn diesem Motiv gemäss ge-
handelt wurde. Die innere psychische Erfahrung und Prüfung er-
giebt, dass sich dies mitunter wirklich so verhält. Hier bleibt dann
zwar die Thatsache bestehen, dass die „gute That“ in diesem aus
erfüllter Pflicht entsprungenen Lustgefühl ihren Lohn findet. Aber
diese Aussicht auf den Lohn ist hier doch nicht die Triebfeder der
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l’negoistiscbes, fünftes Motiv: Pflichtgefühl.
117
Handlung. Damit verschwindet das egoistische Element in diesem
fünften Motiv.
Das fünfte Motiv erscheint ja häufig in religiöser Form, auch im Christen-
thum. Wirkt es hier, um für das handelnde Individuum Vortheile, wenn auch
höchst ideale, überirdische zu erreichen, so in bekannter Weise, um „Ansjmich auf
Seligkeit zu erwerben“, „um der ewigen Seligkeit Willen“, d. h. wie es sich doch
immer nur anthropomorphistisch vom Menschen vorsteücn lässt, um Antheil an einem
idealen Zustand, des höchsten Wohlgefühls der Seele bei und mit Gott zu erlangen,
so kann dem Motiv ein egoistischer Character nicht abgesprochen werden. Anders,
wenn das Motiv die gute That bewirkt, weil sie gut ist oder weil sie ein Gebot
Gottes ist, dem der Handelnde Gehorsam zu leisten — auch und grade ohne jede
Idee eines Entgelts — sich verpflichtet fühlt, weil er weiss, dass Gott nur das Rich-
tige. das Gute will und wollen kann: dann erst verschwindet jener egoistische Character
des Motivs völlig. (Das Arbeiten in erster Linie um Gottes Willen, wie Adam
Müller es ausdrückt.)
Man begreift aber, dass Religionen , Kirchen in ihren Lehren auch leicht und
lieber an die „schwache Seite“ des Menschen appelliren , idealen Lohn , Seligkeit in
Aussicht stellen, um den Widerstand anderer Triobe und Motive zu überwinden und
„gute Handlungen“ eher zur Entstehung zu bringen. Das Gebiet des Almosenwesens,
der Armenpflege, der Barmherzigkeit ist ein Beispiel (katholische Lehre von den
guten Werken). Der höchste ethische Standpunct ist das gewiss nicht, aber — ein
psychologisch begreiflicher und practischer. Wenn sich dann nach der religiösen
und kirchlichen Lehre auch noch Gesichtspuncte des zweiten Motivs (Furcht vor
Strafe) und nach der practischen Gestaltung des dritten Motivs (Handeln. Geben „vor
den Leuten“) neben dem so leicht unterlaufenden Pharisäismus anknüpfen, so wird
das fünfte Motiv in seinem Kern vielleicht ganz aufgehoben und bleibt nur noch seine
äussere Erscheinung übrig. Nur wie Menschen und Dinge wohl oder übel meistens
sind, wird man eben bei dem fünften Motiv diese mitspieleuden egoistischen Momente
schwer und selten ganz verdrängen können. Oft wird man sich in der Praxis damit
zufrieden geben müssen, wenn nur von dem Kern des Motivs noch etwas übrig bleibt.
Sieht man nun aber von all den Lustgefühlen als mitspielenden
Momenten und als Begleit- und als Folgeerscheinungen des fünften
Motivs ab, so erscheint dasselbe in der That als das ethisch
höchste, dessen Wirksamkeit auch auf dem Wirtschaftsgebiete
erwünschter als diejenige jedes der andern vier Motive wäre, um
sich dem Idealzustand der Production, des technischen Fortschritts
darin, der Arbeitsleistungen nach Menge, Art und Güte, der Ver-
teilung des Productionsertrags möglichst zu nähern. Aber gerade,
weil es das ethisch höchste ist, welches im Menschen am Meisten
Verleugnung oder doch Beschränkung der egoistischen Triebe und
Motive verlangt, ist es auch das bei Weitem am Schwierigsten zu
verwirklichende, oft gar nicht, in der Regel bestenfalls nur neben-
bei mitwirkende Motiv, wie im menschlichen Handeln überhaupt,
so vollends im wirtschaftlichen Handeln, in der Beschaffung und
Verwendung von Gütern und in der darauf bezüglichen Arbeit.
§. 46. — b) Bedeutung des Motivs für Theorie und
Praxis des Wirtschaftslebens und bezügliche Auf-
gaben. Die Bedingungen für die günstige Entwicklung und
stärkere Wirksamkeit des fünften Motivs in seiner Reinheit und
118 ]. B. 1. K. Wirtschaft!. Natur des Menscheu. 2. A. §. 45.
als eines allgemeinen, nicht nur bei einzelnen bevorzugten Indivi-
duen auch auf wirtschaftlichem Gebiete mitwirkenden, liegen in
solchen Lebensverhältnissen und sittlichen Anschauungen des Volks,
welche den Kampf gegen die egoistischen Motive erleichtern und
ein sittliches Ideal enthalten, dem nachzustreben zu einem mäch-
tigen inneren Gebot, mithin zum Antrieb in zahlreichen Einzelnen
wird. Man kann daher aus dem Wesen der Seelenvorgänge in
der Motivation wirtkschaftlicben Handelns und aus der Erfahrung
durch Beobachtungen dieses Handelns und der dadurch bestimmten
wirtschaftlichen Erscheinungen ahleiten, dass von grösster Be-
deutung sind: einerseits — negativ — Minderung der Ver-
suchungen, sich nur oder überwiegend von den egoistischen
Motiven oder von vornherein von ethisch bedenklichen Erscheinungs-
formen dieser Motive leiten zu lassen; andrerseits — positiv —
Kräftigung von Momenten, welche auf das Pflichtgefühl, als
treibende Potenz zu sittlich und Ökonomisch richtigem Handeln,
stärkend einwirken.
In ersterer Hinsicht sind daher wieder die concreten Ein-
richtungen, Organisationen und Rechtsordnungen des
Wirtschaftslebens in ihrem Einfluss auf Art, Function und Stärke
der egoistischen Motive so wichtig.
Sie erschweren — wie das Wirtschaftssystem der freien Concurrenz im Ganzen,
wegen der in ihm zu sehr losgebundenen Wirksamkeit des ersten Motivs — oder er-
leichtern — wie im Ganzen in den älteren Rechtsordnungen der Gebundenheit — die
Entwicklung des fünften Motivs, wenigstens neben den anderen Motiven. Sie beein-
flussen auch das Hervortreten der günstigeren oder der ungünstigeren Erscheinungs-
formen jener anderen Motive und wirken auch dadurch fördernd oder hemmend auf
die Entwicklung und die Stärke des fünften Motivs mit ein.
In der zweiten Hinsicht kommt es auf die ethischen
Mächte an, welche in der Seele des Menschen wirken.
W'elche Factoren hier nun von Einfluss, welche von entscheidender Bedeutung
sind, ist freilich im Allgemeinen streitig und im concreten Fall, auch bei objectivster
Selbstbeobachtung und bei schärfster Menschenkenntniss, ausnehmend schwierig zu
bestimmen. Man wird, auch ohne in die Einseitigkeit und den heutigen Dogmatismus
des Materialismus zu verfallen , wohl zugestehen dürfen . dass, wie andre körperliche
und geistige Eigenschaften, so auch die ethischen und darunter die mit dem fünften
Motiv in Verbindung stehenden bei Individuen, Classcn, Stämmen, Völkern mit ein
Ergebniss der V ererbu ng sind, obwohl alle genaueren physiologischen Bedingungen
dafür noch so gut wie unbekannt sind und man selbst nur sehr bedingt von einem
empirisch-statistischen Beobachtungsgesetz der Vererbung sprechen kann.
Man wird weiter sagen dürfen, dass Beispiel, Erziehung, Gewohnheit,
Sitte, daher die entsprechenden äusseren Lebens Verhältnisse und die An-
schauungen, welche man aus seiner Umgebung durch Ucbcrtragung , Nachahmung
übernimmt, einen Einfluss äussern; deshalb hier auf dem Wirtschaftsgebiete wieder
die Einrichtungen, Organisationen, Rechtsordnungen und das ganze practische Getriebe
des Wirtschaftslebens, der darin liegende Geist. Auch in dieser Hinsicht zeigen sich
wieder vielfach üble Einflüsse des individualistisch-liberalen Wirtschaftssystems (An-
schauungen über das im Erwerb, in der Speculation, im Handel, an der Börse Er-
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Unegoistisches, fünftes Motiv: Pflichtgefühl.
119
laubte. ja zum Gelingen Noth wendige): sittlich corrumpircnde Einflüsse, die schon das
Ehrenmoment in der Arbeit, das dritte Motiv, abschwächen, das fünfte vollends gar
nicht aufkommen lassen. Wie sehr aber, wenn auch regelmässig unter Mitwirkung
egoistischer Motive, vielleicht in deren edleren Erscheinungsformen (3., 4. Motiv), in
der That doch das Handeln und doch auch das wirthschaftliche Handelu, durch der
Entwicklung des fünften Motivs günstige Organisationen, Einrichtungen und Normen
in ethisch bessere Richtung gebracht werden kann, zeigt die Erfahrung in den Berufs-
ständen des ölFentlichen Civil- und Militärdiensts und des Kirchendiensts in der
Stärkung des Pflichtgefühls. Freilich nach Zeitaltern, Ländern, Völkern, Regierungen,
Kirchen, wie natürlich vollends nach Individuen sehr verschieden. Aber die gün-
stigen Entwicklungen beweisen doch die Möglichkeit, durch bewusste Thätigkeit das
Pflichtgefühl zu entwickeln.
Unter allen Factoren sind aber schliesslich doch die vom Ein-
zelnen selbsttbätig in sich aufgenommenen Mo ralp rin cipien als
die dem Gewissen und dem Gebot der für maassgebend er-
achteten Autorität entsprechenden, die wuchtigsten und ethisch
höchsten für die Entwicklung des fünften Motivs in dessen reiner
Form wie auf jedem Gebiete des Handelns, so auch insbesondere
auf demjenigen des wirtschaftlichen Handelns.
In einer Yerkchrsgesellschaft, wo Allo demgemäss handeln würden , das Rechte
um des Rechten, das Gute um des Guten Willen thäten , arbeiteten , weil es und wie
cs Pflicht ist, sich gegenseitig entlohnten, tauschten, kauften und verkauften und auch,
soweit notliwendig, unentgeltlich wirthschaftliche Hilfe gewährten, wie es dieser Pflicht
entspricht, da wäre wieder der Idealzustand des wirthschaftlichen Handelns und damit
des Wirtschaftslebens, wie nach den Ergebnissen, so nach der ethisch-psychologischen
Grundlage dieser Ergebnisse erreicht.
Die „Ethisirung“ des Wirthschaftslebens, die Schärfung
des Gewissens hinsichtlich des sittlich Erlaubten und Unerlaub-
ten, Richtigen und Unrichtigen, Rechten und Unrechten in den
wirthschaftlichen Handlungen ist nun gewiss denkbar ohne Be-
ziehung zur Religion und kommt bei Einzelnen auch ohne diese
Beziehung zur Geltung.
Durch eine Erziehung, welche planmässig auf diese Ethisirung und Gewissens-
schärfung hinwirkt, durch practischcs Beispiel, welches die Einrichtung auch des
wirthschaftlichen Handelns nach solchen ethischen Normen zeigt, die Möglichkeit, den
Segen davon beweist, zur Nachahmung aneifert, durch die Entwicklung einer öffent-
lichen Meinung, welche ein demgemässes Handeln günstig, das entgegengesetzte
ungünstig beurtheilt (also unter Wirksammachung des dritten Motivs), durch Ein-
bürgerung bezüglicher Handlungsweisen in die Sitte und allmälig in die allgemeinen
Sittlichkeitsnormen eines Zeitalters, kann wohl auch in weiteren Kreisen eine
grössere Verbreitung und eine stärkere Wirksamkeit des fünften Motivs herbeigeführt
werden. Namentlich dio Entwicklung altruistischer statt rein egoistischer wirth-
schaftlicher Handlungen und auch solcher altruistischer, welche nicht nur dem nächst-
stehenden Personeukrcise des Handelnden zu Gute kommen, sondern beliebigen Dritten,
als .»Mitmenschen“, wo daher der oben betonte, auch noch egoistische Charactcr des
Altruismus verschwindet, — namentlich die Entwicklung eines solchen unegoistischon
Altruismus erweist sich hier als Aufgabe, welcho auf dem angedeuteten Wege doch
nicht von vornherein ganz unlösbar erscheint.
Allein umfangreichere Erfahrungen in Betreff grösserer Personen-
kreise, gar ganzer Völker Uber die practiscbe Möglichkeit einer
solchen erfolgreichen Ethisirung des Wirthschaftslebens und einer
120 1. B. 1. K. Wirtksckaftl. Natur des Menschen. 2. A. §. 46, 47.
allgemeineren Entwicklung der Wirksamkeit des fünften Motivs auf
wirtschaftlichem Gebiete ohne Zusammenhang mit der
Religion liegen nicht vor. Vielmehr, wo wenigstens Einiges in
dieser Richtung erreicht wird, ist es geschichtlich in diesem Zu-
sammenhang von Moral Vorschriften und Religion geschehen.
Allerdings ja auch nur in geringem Maasse, so dass man ge-
wiss einem bekannten gegnerischen Einwand vielfach recht geben
muss: auch die EthisiruDg des Wirthschaftslebens unter Einfluss
der Sittengebote im religiösen Gewände ist nur in sehr be-
schränktem Maasse gelungen.
Damit bestätigt man freilich nichts Anderes als die bekannte Thatsache, dass
auch die höchsten Religionsformen, wie die jüdische und sogar die christliche, die
„natürlichen Menschen“ nur wenig gebessert haben, — was nichts gegen den Werth
der Religion, sondern nur Alles für die Richtigkeit der Annahme der ethisch tief
mangelhaften — wie jeder Unbefangene jedweden Glaubens oder Unglaubens cs
zugestehen muss — oder, im Grunde doch ganz in demselben Sinne, für die „sün-
dige“ Natur des „natürlichen Menschen“ beweist. Alles Gesichtspunctc und Er-
wägungen, welche für unsere wirtschaftlichen Fragen , besonders für diejenigen der
Organisation und Rechtsordnung, wahrlich nichts Gleichgiltiges und Ueberflüssigcs
sind, wie man wohl von der oder jener Seite einwenden wird, sondern Etwas von
fundamentaler Bedeutung für die grössten und schwierigsten , namentlich für die
zwischen Individualismus und Socialismus, Privat- und Gemeinwirthschaft, freier Con-
currcnz und streng regelnder Wirtschaftsordnung spielenden. Denn hier handelt es
sich immer um Cardinalfragen der Psychologie, der Motivation, der Ethik in Bezug
auf die Menschen und ihre Motive im wirtschaftlichen Leben, Fragen, von deren
Erörterung und Entscheidung eben auch die Antwort auf die Fragen der Wirtschafts-
organisation und alles damit in Verbindung Stehenden abhängt.
Auch weiter ist wohl nicht zu leugnen, dass die Moralvorschrift
in Form des religiösen Gebots und Verbots selten in dem vorhin
erwähnten höheren Sinne der Folgsamkeit gegen ein Gebot oder
Verbot der nur Richtiges und Gutes fordernden Autorität, —
Gottes — , eingewirkt hat, daher nicht sowohl als Ausfluss des
fünften Motivs in dessen Reinheit, sondern häufiger oder selbst
meistens oder wenigstens in grösserem oder geringerem Maasse
auch mit durch das Medium des zweiten Motivs (Furcht vor Strafe,
Hoffnung auf Anerkennung, auf ideellen Lohn).
So iu Handlungen der Barmherzigkeit, Wohlthätigkcit, Ehrlichkeit, bei Arbeits-
tucktigkeit. Fleiss, Nüchternheit, Sparsamkeit, bei Vermeidung von Unchrlichkeit, von
Ausbeutung, bei „freiwilligen“ Gaben an Kirche, Stiftungen, für religiöse Zwecke u. dgl. m.
Allein das beweist doch auch nur wieder, dass das fünfte
Motiv zu seiner Wirksamkeit meistens der Einkleidung in religiöse
Formen, der Verbindung mit religiösen Anschauungen Uber die
Bestrafung des Bösen und die Belohnung des Guten psychologisch
bedarf. Auch das ist für die ökonomische Psychologie und Moti-
vationstheorie bcachtenswerth und für Theorie und Praxis des
Wirth schaftslebens von Bedeutung.
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121
3. Abschnitt.
Ergebnisse.
I. — §. 47. Ergebniss für die Theorie. Für diese
folgt ans dem Vorausgehenden, dass jeder deductive Schluss aus
einem der vier egoistischen Motive um so bedingteren Werth hat,
je mehr das fünfte Motiv iu dem betreffenden Falle ab ändernd
einwirkt, namentlich dem Handeln eine andre, vielleicht entgegen-
gesetzte Richtung giebt, oder es modificirt. Das ist indessen nicht
immer die Folge, sondern es kann durch das fünfte Motiv auch
eine aus anderen Motiven hervorgehende Handlung in der Richtung
dieser Motive noch gefördert werden.
Z. B. Arbeitsanstrengung aus einem oder mehreren der ersten Motive nun noch
gesteigert durch das fünfte. Aber wo umgekehrt das fünfte Motiv gegen das erste
ankämpft und die diesem entsprechende Erstrebung eigenen wirtschaftlichen Vor-
teils ermässigt, werden die deductiven Schlüsse aus dem ersten Motiv erhebliche Ein-
schränkungen erleiden.
Nur der Umstand — eine Thatfragc, welche freilich in grossem Umfang bejaht
werden muss — , dass das erste Motiv theils allein, theils in Verbindung mit einem
oder mehreren der anderen egoistischen Motive die wirtschaftlichen Handlungen des
Menschen so vorwiegend beherrscht und bestimmt, bringt es mit sich, dass eine Ver-
nachlässigung des fünften Motivs in der grossen Zahl der Fälle keinen erheblichen
Fehler des Schlusses bewirkt. Aber mindestens im Einzel falle ist doch immer erst
zu erforscheu, ob, wann, wie weit das fünfte Motiv mitspielt oder überwiegt, wenn
der Schluss aus den egoistischen Motiven, zumal aus dem ersten allein, sich richtig
erweisen soll, z. B. in Fragen der Löhne, Preise, Zinsen, der sonstigen Arbeits-
bedingungen (Arbeitszeit, Arbeitsschutz u. s. w.), wenn der ökonomisch mächtigere
Tbeil aus Barmherzigkeit, aus sittlichen Bedenken, nach dem Spruch seines (Je Wissens
seine Uebermacht nicht so weit zur Geltung bringt, als er es nach der Sachlage vermöchte.
Würde sich nun etwa ergeben, was wiederum durch Beobachtung ermittelt
werden müsste, dass wirklich in weiteren Kreisen solche Uesichtspuncte und Motive
mitwirken, so würde auch eine allgemeinere Modification des doductiv aus dom
ersten Motiv abgeleiteten Schlusses erfolgen müssen. In welcher Weise und in welchem
Maasse, das Hesse sich annähernd wohl aus der Mitwirkung des fünften (wie auch
z. B. des dritten, vierten) Motivs ableiten, genau wäre es erst durch Beobachtung
festzustellen
Je mehr andrerseits im practischen Wirtschaftsleben er-
fabrungsmässig die egoistischen Motive, zumal das erste, vorwiegen,
die ethischen Gesiehtspuncte des fünften Motivs zurückstehen oder
fehlen, im Ganzen oder wenigstens in gewissen Personenkreisen auf
gewissen Gebieten, z. B. im Handelsverkehr, desto mehr treffen die
Schlüsse aus den egoistischen, besonders aus dem ersten Motiv mit
den wirklichen Thatsachen des Wirtschaftslebens zusammen.
Freilich auch nicht, von anderen Grüuden abgesehen, in jedem einzelnen Falle,
weil hier vielleicht andere Motive Modificationcu der wirtschaftlichen Handlungen
bewirkt haben, aber doch in der Kegel in der grossen Masse der Fälle.
Die Aufgabe ist dann wieder nur, zu erforschen, wie in einem
Zeitalter, in einem Volke, in einer Wirtschaftsgemeinschaft die
Motive im Durchschnitt beschaffen sind.
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122 1. B. 1. K. Wirtschaft]. Natur des Menschen. 3. A. §. 47, 48.
Grade weil in der modernen, namentlich in der neuesten Zeit die wirtschaftenden
Menschen sich ganz überwiegend selbst mit vollstem Bewusstsein und vollster Ab-
sichtlichkeit von dem ersten Motiv leiten lassen, die anderen Motive, vollends das
fünfte , zurücktreten , ist die Deduction aus dem ersten Motiv hier so allgemein be-
rechtigt (§. 67 ff.). Das Eindringen der Geldwirthschaft, der Speculation, der kauf-
männischen Gesichtspunctc u. s. w. in immer weitere Kreise unserer Bevölkerung, die
„Veramericanisirung“ oder auch die „Verjudaisirong“ macht die Leute dem Händler-
thum, den „city men“ auch im grossen Durchschnitt ähnlicher. Daher kann ohne
erheblichen Fehler vom Mitspielen des fünften Motivs, auch von allen oder doch den
günstigeren Erscheinungsformen des dritten, vierten abgesehen und allein oder vor-
ncmlich aus dem ersten dcducirt werden. Lauter Puncte, welche für die Fragen der
Methodologie wichtig sind und auf welche wir dabei zurückkommen werden
(s. u. Kap. 2, llauptabschn. 2).
Vorläufig nur die Bemerkung, dass nach dem Gesagten offenbar die Methode
der Deduction aus dem ersten Motiv nach Zeitaltern und Völkern, wegen der
historischen DifFcrenzirung der Motivation im wirtschaftlichen Handeln, einen histo-
risch verschiedenen Werth hat: grade für die moderne Zeit einen grösseren
als für ältere Perioden, für die europäisch-americanische Culturwelt einen grösseren,
als für die Völker der anderen Erdtheile auf anderen Culturstufen, auch für ent-
christlichte, überhaupt irreligiöse Zeitalter einen grösseren als für diejenigen
eines festen religiösen Glaubens, welcher auch für das Wirtschaftsleben sittliche
Normen aufstellt und sie in dem Menschen zu autoritativen und befolgten Geboten und
Verboten macht. Die modernen Menschen werden, die Menschen Griechen-
lands und Roms in der späteren Zeit wurden eben vornemlich vom ersten Motiv im
Wirtschaftsleben beherrscht und handeln daher wirtschaftlich meistens so, wie das
aus der Wirksamkeit dieses Motivs folgt. Immerhin, wie gesagt, auch heute noch
verschieden nach Wirtschaftsgebieten : der moderne Händler, Börsianer, „Gründer“,
der sie in Processen verteidigende Rechtsanwalt entspricht den Voraussetzungen von
Leuten, welche wesentlich nur, wenigstens in ihren geschäftlichen Verhältnissen,
vom ersten, wenig nur daneben vom zweiten (Furcht vor Strafe!) und von besseren
Formen des dritten (Furcht vor Schande!), so gut wie nicht von den übrigen besseren
Specialmotiven der Leitmotive 3 und 4 und vom Leitmotiv 5 bestimmt werden: so kann
man ihre wirtschaftlichen Handlungen in der That mit grosser Sicherheit im Einzel-
fall wie in der Masse der Fälle aus dem ersten Motiv ableiten. Aber die Ausdehnung
des Speculationswcsens, Börsenspiels (Fonds-, Grundstücksspeculation) auf immer weitere
Kreise bedingt auch in diesen immer mehr die Motivation des „Händlcrthums“.
Ein Vortheil für die Anwendung der Methode der Deduction , ein hoher ethischer
und socialer Nachtheil im Leben. Auf den hier besprochenen Punct hat mit Recht
u. A. H. Dietzel in der Methodenfrage hingewiesen.
II. — §. 48. Ergebniss für diePraxis. FürdiePraxis
ergiebt sich aus dem Gesagten, dass die Wirksamkeit des fünften
Motivs viele Aufgaben auf dem Productions- und dem Vertheilungs-
gebiete zu lösen erleichtern würde: mehr und bessere Arbeit, ver-
nünftigere, sittlichere Gestaltung der Vertheilung des Productions-
ertrags und der Consumtion, geringerer Aufwand für Controlen
und dgl. wäre die nothwendige Folge. Das ökonomisch und
ethisch Schädliche in der Wirksamkeit der anderen Motive, be-
sonders des ersten, aber auch des dritten und zweiten, würde sich
sehr vermindern oder ganz beseitigen lassen. Das Gute in dem
dritten Motiv (Ehrgefühl) und das Motiv der Arbeitsfreude würden
in Verbindung mit dem fünften Motiv zu gesteigerter und zu noch
erfreulicherer Wirksamkeit kommen, das Berechtigte im ersten
Motiv nicht unterbunden werden. Denn auch nach dem fünften
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Ergebnisse.
123
Motiv bleibt der Satz bestehen: „Der Arbeiter ist seines Lohnes
werth.“ Kurz: die Ethisirung des Wirtschaftslebens wäre
auch ökonomisch ein ungemeiner Vortheil.
Um einen vollen und allgemeinen Ersatz der anderen, auch
des ersten Motivs durch das fünfte handelt es sich dabei aber
allerdings nicht. Er wäre, wiederum nach dem „ Consta nten“
in der wirtschaftlichen Natur des Menschen, nicht wohl möglich,
auch nicht erwünscht, da, wie eben erwähnt, die günstigen Seiteu
der anderen Leitmotive berechtigt und von guter Wirkung sind,
das Mitwirken der besseren Erscheinungsformen die ganze Auf-
gabe, auch bezüglich des Wirksammachens des fünften Motivs,
psychologisch und practisch erleichterte. Aber wohl eine Durch-
dringung der ganzen Motivation des wirtschaftlichen Handelns
mit den ethischen Gesichtspuncten des fünften Motivs wäre zu er-
streben. Bei einer solchen Beschränkung der Aufgabe entfallen
oder vermindern sich wenigstens die Einwändc und Bedenken,
welche aus dem „Wesen“ der wirtschaftlichen und der ganzen
menschlichen Natur entnommen werden und mit darauf hinaus-
gehen, dass insbesondere die Schwächung des ersten Motivs dem
allgemeinen Productionsinteresse widerspräche.
Wäre aber auch selbst bei einer solchen Beschränkung —
deren Maass zeitlich und örtlich ja verschieden sein könnte und
dürfte — die Lösung der Aufgabe möglich, „menschen-
möglich“?
Die meisten Menschenkenner, die meisten Psychologen und
selbst Ethiker, fast alle Nationalökonomen zweifeln daran, sind
alle mehr oder weniger, meist grossentheils Pessimisten in diesem
Punete. Wiederum nur bei Socialisten begegnet man in dieser
Hinsicht einem mitunter weitgehenden Optimismus. Derselbe hängt
mit dem Pessimismus dieser Richtung in Bezug auf unser heutiges
Wirtschaftsleben , auch nach dessen ethischer Seite, zusammen.
Er ist aber in letzter Linie ein Product der ganzen „materialistischen
Geschichtsauffassung“ und der „Evolutionstheorie“ in deren An-
wendung auf Wirtschaftsleben und Gesellschaft.
III. Auseinandersetzung mit dem Socialismus.
§. 49. — 1. Die Lehre vom wirtschaftenden Menschen
als auch in seiner Motivation einem Product der Ver-
hältnisse und ihre theil weise Richtigkeit. Der Mensch
ist nach der socialistischen Lehre nach seinen geistigen und sitt-
lichen wie nach seinen körperlichen Eigenschaften das Product der
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124
1. B. 1. K. Wirtschaft!. Natur des Menschen. 3. A. §. 49.
Abstammung (Vererbung) und der äusseren Lebensver-
hältnisse und Lebensansebauungen, welche wieder be-
dingt sind durch die Wirthschaftsverhältnisse , daher für einen
Jeden durch seine Stellung, welche er im Wirtschaftsleben ein-
nimmt und durch die hiervon abhängige Lebensweise.
Nicht von Natur, wie dio Rcligionssystcme, die Bibel, das Christentum lehren,
allgemein sittlich fehlerhaft, schlecht, „sündig“, wenn auch fähig, das zu werden,
nicht von Natur sittlich tüchtig, gut, „sündenlos“, weun auch ebenfalls fähig, das zu
werden, ist der Mensch als Individuum so, wie ihn seine Abstammung, das ihm da-
durch Vererbte, seine Umgebung, seine Lebensverhältnisse machen oder werden lassen.
Daher das „einfache“ Recept: sorget für günstige Lebensverhältnisse, dadurch für
günstige Abstammungs- und Vererbungsverhältnisse, daher vor Allem für günstige
Wirthschaftsverhältnisse eines Jeden: und Ihr habt das Problem gelöst, Ihr er-
haltet in jeder Hinsicht bessere, tüchtigere, auch sittlichere, mehr altruistisch gesinnte
Menschen, kurz solche, bei welchen auch dio wirtschaftlichen Handlungen aus dem
fünfton und den günstigen Erscheinungsformen der vier anderen Motive hervorgehen.
„Erziehung“ ist dann auch hier die Panacee, um die schon von Geburt zu allem
Guten und Tüchtigen fähigen Menschen vollends zu vollkommenen Species ihrer Gat-
tung und diese Gattung selbst zu etwas auch sittlich viel Vollkominnerem als die bis-
herige Menschheit zu erheben: der böse Egoismus wird verschwinden, der edle
Altruismus herrschen. Das geplante socialistische Productionssystcm auf der Grund-
lage des gesellschaftlichen Gemeineigenthums an den sachlichen Productionsmittelu
ist der wirthschaftsorganisatorischc uud wirthscbaftsrcchtliche Hebel zur Erreichung
dieser idealen Zustände. Indem der Einzelne dabei ausserdem für die Gemeinschaft
und für sich als Glied derselben arbeitet, nicht mehr für die „Drohnen“, die Unter-
nehmer, Kapitalisten, Grundeigentümer, Rentuer u. s. w. , wird er auch den ihm ge-
bührenden, jedenfalls absolut und relativ viel grösseren Anthcil am Productionsertrage,
welchen er mit gewonnen hat, erlangen und insoweit das erste Motiv in richtiger
Weise auch hier auf ihn mit einwirken. Neben dem dritten uud vierten Motiv, die
in ihren besseren Formen ausserdem in derselben Richtung mitwirken, wird das fünfte
Motiv namentlich in viel weniger egoistischen Formen als bei dem heutigen Altruismus —
für Weib, Kind u. s. w. — , nemlich in der social und sittlich höheren Form altruistischer
Gesinnung für die ganze Gesellschaft, dio grosse Wirtschaftsgemeinschaft,
wirken. Auf diese werden jene Interessen, jene sympathischen und Liebesgefühle
übergehen, welche in der auf Privateigentum an sachlichen Productionsmittelu und,
damit in enger entwicklungsgeschichtlicher und ökonomischer Verbindung stehend,
auf fester Ein-Ehe (Monogamie) und Familie beruhen und hier so eng und einseitig,
andere „Mitmenschen“ ausschliessend, hervortreten: sowenig „christlich“ auch im
wahren menschheitlichen Sinn** des Wortes, so spiessbürgcrlich, kaum über die Pfähle
des Hauses hinaussehend, im Grunde nur eine kleine Erweiterung über die Interessen-
sphäre des eigenen Ich hinaus darstellend, das überall, indem es an die eigene
Familie denkt, doch nur an sich selbst denkt, nur sein Ich und dessen Interessen im
Sinne hat.
Der grosse socialistische Gedanke des Christentums harrt noch nach 1900
Jahren seiner Verwirklichung, die ihm nicht durch den schwachen Willen des Ein-
zelnen, sondern nur durch ein Gesellschafts- und Wirtschaftssystem werden kann,
welches seinen bestimmenden Einfluss auf die Lebensverhältnisse , die Lebens-
anschauungen und die hierdurch umgewandclten Gesinnungen und Motive der
Menschen ausübt.
Bei aller Unsicherheit und theilweise Unhaltharkeit der Prä-
missen, bei aller wissenschaftlichen Unbewiesenheit der Ausgangs-
punete, welche grossentbcils Glaubenssätze, nicht wissenschaftlich
feststehende Sätze sind, hei aller Einseitigkeit der Folgerungen
und den Mängeln der ganzen Beweisführung, bei aller an bewusste
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Bornirtheit grenzenden Missachtung anderer mit einwirkender Fac-
toren: der ganze Gedankengang, wieder ein seltsames Beispiel
von Supermaterialismus und Hyperideologie, hat doch etwas Grosses,
Begeisterndes, enthält neben viel Falschem und Unhaltbarem auch
manche wichtige theoretisch und practisch werthvolle und be-
herzigcnswcrthe Wahrheit, welche die Psychologie, die Pädagogik,
die Ethik, die Politik, die Wirtlischafts- und Socialpolitik bisher
viel zu wenig, meistens gar nicht berücksichtigt haben. Es wäre
ein grosser Fehler, das gegnerischerseits nicht zugestehen zu wollen.
Man kann diese psychologischen Lehren und diese ganze Doctrin
von den Entwicklungsbedingungen der gesellschaftlichen und indi-
viduellen Sittlichkeit wie alle andren socialistischen Lehren gewiss
stets nur „cum beneficio inventarii“ antreten, aber man darf und
muss das auch. Es ergeben sich hier practisch wichtige Finger-
zeige und eine auch theoretisch wichtige Verbindung realistischer
und idealistischer Auffassung, woraus für Praxis und Theorie des
Wirthschaftslebens mancher richtige Wink zu entnehmen ist.
Schon nach einer Beweisführung hinsichtlich der Umstände,
welche als Ursachen und Bedingungen bei den heutigen sittlichen
Zuständen und vorherrschenden Motiven für wirthschaftliches Handeln
auf wirtschaftlichem Gebiete mitspielen, ergiebt sich, dass die
socialistische Lehre mindestens T heil Wahrheiten hinsichtlich
des Zusammenhangs zwischen Wirtschaftsordnung, bestimmenden
Motiven und Sittlichkeit und hinsichtlich der Abhängigkeit letzterer
beiden von ersterer enthält. Insofern und in Hinsicht auf die
Verhältnisse bei früheren Wirtschaftsordnungen (Agrar-, Gewrerbe-
verfassung) entfällt auch der Vorwmrf, dass der Socialismus hier
rein mit Phantasien und apriorischen unrealistischen psycho-
logischen und anthropologischen Constructioncn operire: er kann
sich auf Erfahrungen berufen, freilich nur partiell. ImPrincip
hat er so mit seiner Beweisführung nicht ganz Unrecht, nur über-
treibt er die Tragweite derselben im höchsten Grade. Der quanti-
tative Unterschied zwischen dem , was in der socialistischen Auf-
fassung richtig ist, und dem, was aus diesem Richtigen abgeleitet
wird, ist ein so gewaltiger, dass man wohl sagen darf, der quanti-
tative schlägt durch diese seine Grösse doch in einen quali-
tativen um. Das mindert die Tragweite der Beweisführung
wesentlich.
Grade das praetischc Wirthschaftssystem der freien Concurrenz wirkt ja aller-
dings auf das erste Motiv, wie wir wiederholt sahen, ausserordentlich anspornend ein.
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1. B. 1. K. Wirthschaftl. Natur des Menschen. 3. A. §. 49.
verdrängt die Wirksamkeit der günstigen Erscheinungsformen der andereu Motive
und lässt das fünfte Motiv überhaupt wenig oder gar nicht zur Entwicklung kommen.
Auf diese Weise bildet sich aber jene schon erwähnte geistige und sittliche
Atmosphäre, der alle Personen im Wirtschaftsleben immer mehr unterliegen. Die
öifenlliche Meiuung und das sittliche Gefühl jedes Einzelnen stumpft ab, die Art des
Erwerbs, des Verbrauchs wird gleichmütig. „Gelderwerb um jeden Preis“, auch
um den der Ehre, des Anstands, des Gewissens, „Gelderwerb auf jede Art“, auch
durch wildeste Speculation, durch grösste Ausbeutung Anderer, dorch sittlich bedenk-
. lichsto Mittel mit den traurigston Folgen für Andre, auf hässlichsten Wegen , „Geld-
erwerb in möglichster Höhe“, auch weit Uber den eigenen Bedarf, über ein ver-
nünftiges Maass des Verbrauchs, der Lebensweise, der Vennögensbildung, der be-
rechtigten Zukunftsfürsorge für sich und die Seinen hinaus, „Geldverbrauch zu frivolster,
thörichtster Genusssucht und Eitelkeit“ — das werden die Zielpuncte. Die Generationen
werden von Jugend auf damit bekannt, daran gewöhnt, alle Classcu und Stände der
Bevölkerung wachsen in diesen Anschauungen auf und machen dieselben zu den ihrigen.
Classen, Stände, Einzelne, welchen nicht die materiellen Mittel der im Concurrenzkampf
Obsiegenden zu Gebote stehen, werdon gegen letztere mit Neid und Hass erfüllt.
Auch Wohlthätigkeit und Hilfswcsen aller Art, auch geistige Genüsse und Bildung
werden nicht um der Sache Willen, aus berechtigten Motiven gefördert und betrieben,
sondern vornemlich aus Eitelkeit.
üm Einzelnes zu nennen : auch in den nichtgeschäftlichen Kreisen wird Börsen-
speculation, Lotteriespiel, Grundstückspeculation , zwar nicht immer offen getrieben,
weil die „Geheimhaltung der Einkommens-, Erwerbs- und Vermögensverhältnisse“
Princip der heutigen Gesellschaft ist und aus manchen Gründen, auch der Besteuerung
gegenüber, festgehalten wird. Aber kaum noch scheut sich Jemand vor Anderen,
die Thatsache derartiger Thätigkeit und Erwerbs zu verbergen, weil er oder seiner
Meinung nach Andre darin etwas Unanständiges, etwas, was „unfair“ sei, gar etwas
Unehrenhaftes oder sittlich Anstössigcs sehen. Am Wenigsten verurthcilt sein
eigenes Gewissen seine Erwerbsweise. Und wenn es vielleicht einmal mahnt, so
ist der Trost genügend: „sie machen es Alle so, warum nicht ich auch?“ In den
Geschäftskreisen, zu denen aber ein immer grösserer Theil auch der übrigen Bevölke-
rung auf gewissen wirtschaftlichen Gebieten gehört, fehlt vollends für das „Unfaire“
und für die üblen Rückwirkungen so mancher „Geschäfte“ auf das Gemeinwesen, auf
die Lage der unteren Classen jede Empfindung, fast schon jedes Verständniss für
andersartige ästhetische, ethische, sociale Auffassungen. Wenn reiche und reichste
Leute, nur um immer noch reicher zu werden, durch Speculationen , Cartelle, Ringe,
Trusts wichtige Verbrauchsgegenständo übermässig verteuern, dadurch Noth und
Elend über die Abnehmer bringen: das sittliche Gefühl so wenig als ein richtiges
Ehrgefühl dieser Leute und ihrer Geschäfts- und Geselligkeitskreise reagirt dagegen
nicht. An den Tafelgenüssen und Festfreuden dieser „Geldbarone“ Theil zu nehmen,
scheut sich kaum Jemand, wenigstens nicht aus Gründen, die mit der Art des Er-
werbs Zusammenhängen. Man beneidet, man bewundert die Leute vielmehr und be-
wirkt so, dass das dritte Motiv, in der Form der Eitelkeit, nun auch noch auf sie
einwirkt und ihre wirtschaftlichen Handlungen im Erwerb und im Verbrauch sittlich
abermals bedenklich beeinflusst.
Je mehr sich aber ein solches Wirtschaftssystem in dieser Weise entwickelt,
desto verderbter wird der Volksgeist auf dem ganzen Wirtschaftsgebiete. Einer zieht
den Andern mit sich, ja, um zu bestehen, muss ein Jeder sich ähnlicher Mittel be-
dienen, auf ähnlichen Bahnen sich bewegen. Geld allein oder einige äussere
E ito lk eitsehren werden noch gewürdigt. Alles Andere verliert seinen socialen
Werth. Die Volksseele geht in Mammonismus auf und jede neue Generation, die in
diesen immer allgemeineren und intensiveren Einflüssen aufwächst, zeigt diesen mam-
monistischen Geist immer stärker, überträgt ihn durch Beispiel, Lebensanschauung auf
ihre eigenen Nachkommen und das ganze Geschlecht passt sich diesen Verhältnissen
förmlich an. Wo angestammte Fähigkeit und Neigung zu derartigem Erwerb hiuzu-
kornmt, generationenlang vielleicht Berufe betrieben wurden, welche zum Mammonis-
mus besonders hinneigen und zum Erfolg darin Anlage, Oebong, Geriebenheit in
besonderem Grade bedingen — wie im Handel, Geld-, Grcditgcschäft — , da mag in
der That wohl selbst von einer gewissen Vererbung der bezüglichen Eigen-
schaften, Geistes- und Gemüthsart, mindestens von einer Uebertragung von Kindes-
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127
beinen an gesprochen werden dürfen (Jadenthum). Alles Erscheinungen, welche
mit dem hier behandelten Problem Zusammenhängen.
Man kann auch noch auf eine andere Seite der modernen Entwicklung hin-
weisen, unter deren Einfluss die ethischen Beziehungen der Menschen unter einander
sich nachtheilig gestalten. Wie im Grossbetriebe, zumal dem industriellen, sich
die Beziehungen zwischen Arbeiter, Gehilfen und Arbeitsherrn lockern, zu bloss ver-
tragsmässigen werden und den Cbaracter persönlicher Beziehungen von Mensch zu
Mensch verlieren, so tritt in den Grossstädten, dem Product moderner technischer,
ökonomischer, politischer Entwicklung, eine ähnliche Lockerung aller rein menschlichen
Beziehungen zwischen Consumcnt, Kunden und Producent, Lieferant, Händler ein:
Alles löst sich in vorübergehende Geschäftsbeziehungen von Personen auf, die sich
weiter nicht kennen, keinerlei menschliches Interesse für einander haben, nur gegen-
seitig ihren wirtschaftlichen Vortheil verfolgen. Natürlich, dass auch das auf die
Motivation im wirtschaftlichen Handeln und einigermaassen auf den sittlichen Cka-
racter der Leute ein wirkt. Selbst ausserhalb des wirthschaftlichcn Gebiets: im bloss
geselligen Verkehr verkümmert die Gern üt hssei te, weil die porsönlicheu Beziehungen
zu äusserliche bleiben. Die „grossen Städte'1 werden nach der Gemüthsscito der Be-
wohner „Menschenwüsten“. Wer die herzliche Geselligkeit in kleinen und die gemüth-
lose in grossen Städten kennt, wird das nicht läugnen. Die Schuld liegt auch nicht
an den Einzelnen , sondern in der That an den Lebensverhältuissen , den weiten
Wegen, den W’ohnungszuständen, dem „Zeitmangel“. Natürlich Alles cum grano salis
genommen. Aber cs trägt dazu bei, das ganze Leben nüchtern, die Herzen leerer
zu machen und so die geistig -sittliche Atmosphäre zu schallen, das „milieu“, in
welchem auch die wirthschaftlichcn Handlungen ihren ausgeprägt geschäfts-
mässigen, d. h. egoistischen Character erhalten.
Es ist in der That in den dargelegten Beispielen so nicht zu
verkennen, dass jene socialistische Lehre von der Rückwirkung der
Wirtschaftsordnung auf das Wirtschaftsleben , dieses letzteren
wieder auf die Lebensanschauungen und auf die ethische Ge-
sinnung grosser Kreise und schliesslich des ganzen Volkes ein
bedeutendes Stück Wahrheit enthält.
Man kann ähnlich an anderen Wirtschaftsordnungen, so auf dem gewerblichen
Gebiete am Zunftwesen in dessen guter Zeit, im Unterschied zur Gewerbefreiheit,
den Beweis führen, wie hier auch umgekehrt die Nonnen des Wirthschaftsrechts Ver-
hältnisse des Wirtschaftslebens, der Concurreuz schufen, aus welchen andere Lebens-
verbältnissc und Anschauungen, und weiter auch bessere ethische Grundsätze und an-
ständigeres und sittlicheres practischos Verhalten hervorgegangen sind : mehr
genossenschaftliches Gemeingefühl, mehr Standesehre, mehr Pflichtgefühl auf dem
Berufsgebiete, weniger unanständige und gewissenlose Concurrcnz. Und eben als
„Bern f mit ge werblich er Sei te“, nicht alsblosseErwerbseinrichtungohne
Berufspflichten wurde, wie schon oben hervorgehoben (S. 102), jedes „Gewerbe“
aufgefasst. So wenigstens in jener älteren Blütezeit der Zünfte, wo die öffentlich-
rechtliche und sociale Seite derselben vorwaltete und noch nicht die Erstarrung zu
„geschlossenen Privatrechts -Corporationen“ mit privilogirter Wirtschaftsstellung der
Meister eingetreten war.
Freilich besteht nur auch hier ein Wechselwirkungsver-
hältniss, ähnlich wie zwischen Wirthsehaftstechnik, der damit
zusammenhängenden Oekonomik und der Wirtschaftsordnung, so
zwischen diesen und der wirthschaftlich-ethischen Lebensanschauung,
Gewöhnung, Motiven.
Eine Bevölkerung wio unsere heutige, mit Anschauungen wie den dargelegten,
verliert die Fähigkeit, sich selbst nur in ein anderes Wirtschaftssystem, wo sie nicht
so vom ersten Motive allein im Wirtschaftsleben bestimmt wird , hineinzudenken.
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1. B. 1. K. Wirtschaft!. Natur des Menschen. 3. A. §. 50.
Sie würde auch unmittelbar gar nicht fähig sein, ihr Dichten und Trachten, ihre
Motive einem solchen System anzupassen. So extremen Forderungen, wie denen des
Socialismus gegenüber ist sie aus voller Ucberzeugung gleich mit dem Stigma des
Utopischeu bei der Hand, ohne zu beachten, dass sie eben ihre Anschauungen,
Gewohnheiten , Sitten , Motive zum Theil wenigstens durch die bestehenden Wirth-
8chaftsvcrhältnisse gewonnen hat. Der Socialismus hat hier in der Tliat im Princip
recht, wie schon bemerkt, manche der Einwände, welche gegen ihn erhoben werden,
als unrichtig abzulohnen und die Einwirkung der Wirthschaftsordnuug auf die An-
schauungen, Gesinnungen, Strebeziele und Motive der wirthschaftenden Menschen
zu betonen.
§.50. — 2. Einwäii de gegen dieTragweite der dar-
gelegten Lehre. Allein gerade der Socialisnius berücksichtigt
hier doch zweierlei nicht genügend und eben darin liegt trotz der
principiellen theilweisen Richtigkeit seiner Auffassung die Schwäche
seiner Beweisführung in wissenschaftlicher und die zu verrautheude
Schwäche seiner Resultate in practiseher Hinsicht.
a) Einmal unterschätzt er die Schwierigkeit, eine unter einem
anderen Wirtschaftssystem aufgewachsene, unter dessen geistiger
und sittlicher Atmosphäre im Denken, Trachten, Fühlen, in ihrer
Motivation auch auf wirtschaftlichem Gebiete so und so gewordene
Bevölkerung nun in ein ganz andres Wirtschaftssystem hinüber-
zuführen, flir welches dieselbe mit ihrer einmal historisch ererbten
und entwickelten Motivation gar nicht passt. Und das Alles so-
fort auf Grund des Machtspruchs einer ökonomischen Theorie,
welche, wäre sie selbst vollständig, nicht nur teilweise, richtig,
jedenfalls zu ihrer Verwirklichung in der Praxis andere
als die gegebenen Menschen mit ihren gegebenen psychischen
Eigenschaften uud Motiven voraussetzt ,).
Eigentlich kommt der Socialismus hier mit seiner besprochenen Theorie über die
Wechselbeziehungen zwischen Wirthschaftsordnung und Motiven der wirthschaftenden
Menschen selbst in Widerspruch. Jedenfalls verfährt er ganz ungeschichtlich,
auch dabei in Widerspruch mit seiner oben erwähnten Theorie und mit dem richtigen
Kern seiner Psychologie und Motivationslehre. Denn aus diesen folgt doch selbst
schon, dass bestenfallcs erst in langsamer Umbildung und Gewöhnung die
Menschen als handelnde Glieder eines socialistischcn Wirtschaftssystems den Anfor-
derungen des letzteren an die psychische, ethische Beschaffenheit und an die not-
wendig mitwirkendeu Motive dieser Glieder sich anpassen inüssteu.
Nur das bleibt richtig, dass und soweit als in der Tliat das bcsteheude Wirt-
schaftssystem auch ethisch nachtheilig auf die Motivation der wirthschaftenden
Glieder und auf deren ganze Lebensanschauuug und Gesinnung einwirkt , eben auch
aus diesem Grunde passende und möglichst weitgehende Aenderungen des
Wirtschaftssystems herbeigeführt werden müssten, um die Schwierigkeiten
psychologischer Art für eine Verbesserung des Wirtschaftssystems nicht immer noch
grösser werden zu lassen. Eine sofortige oder nur eiue sehr rasche Durch-
*) Allerdings sehen das Männer wie K. Marx wohl ein. S. z. B. seine be-
merkenswerten kritischen Ausführungen über das Vertheilungsprincip in der socia-
listischen Gesellschaft, in der Kritik des Gothaer Programms (Neue Zeit, 1S91 , IX,
1. B., S. 567). Erst später könne es heissen: Jeder nach seinen Fähigkeiten, Jedem
nach seinen Bedürfnissen.
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129
Führung des socialistisclien Programms würde im Uebrigen grade nach der Psycho-
logie des Socialismus selbst auf die Erfüllung der alten Forderung hinauslaufen : sich
selbst am eigenen Schopfe aus dem Sumpfe herausziehen zu sollen. Die „anderen
Menschen“, die der Socialismus brauchte, sind eben nach seiner eigenen Theorie
nur sehr allmälig aus den einmal gegebenen erst „anders zu machen-
den“ Menschen zu erlangen.
Für die Praxis des Wirtschaftslebens , der Wirtschafts-
politik und des Rechts folgt aus dem Allen, dass, von allen anderen
Gründen abgesehen (technischen, im bestehenden Rechtszustand
und in der hinter diesem stehenden Macht liegenden Verhältnissen)
gerade aus psychologischen Gründen langsame, wenn auch
eingreifende Reformen das Richtige und Erfolg Ver-
sprechende, ja eigentlich das allein Mögliche, wenigstens
allein dauernd Mögliche sind.
Solche Reformen müssen dabei immer die Leute zunächst nehmen, wie sie sind,
sie soweit nöthig umzubilden suchen, auch durch den Einlluss der Wirtschaftsord-
nung, aber erst wenn das und soweit als das gelungen ist, selbst sich derartig
gestalten, wie sie mit solchen veränderten, daher anderen, besseren Motiven, vor
Allem mehr dem fünften Motiv zugänglich gewordenen Menschen sich ausführen
lassen.
Dass der richtige psychologische Weg hierzu freilich nicht der des agitatorischen
Socialismus ist, den Massen „Classenbewusstsein“ beibringeu, sie nur anspruchs-
voller machen, nur auf ihre „verdammte Bedürfnislosigkeit“, als auf ihren Haupt-
fehler, schelten, aber nicht von ihnen und jedem Einzelnen darunter in erster
Linie Selbstzucht, wenigstens keine andre, als den „freiwilligen“ Gehorsam gegen
die „Führer“, verlangen; dass die materialistische Weltanschauung hier die Ein-
zelnen für ein viel mehr Aufopferung, Gemeinsinn, Pflichtgefühl forderndes Wirt-
schaftssystem, wie das socialistische, weit weniger wirksam psychisch geeignet machen
wird, als aller Erfahrung nach eine religiöse Anschauung, — das bedarf für den
Kundigen und halbwegs unbefangen Urteilenden freilich keines Beweises. Mit dem
letzteren Einwurf wird aber schon das zweite Bedenken berührt.
b) Ein zweiter Fehler in der Beweisführung des Socialismus ist
nemlich doch der noch grössere. Es ist der mehrfach schon be-
rührte, welcher im Princip auch gewissen Argumentationen einzelner
historischer Nationalökonomen anhaftet: weil auch das geistig-sitt-
liche Wesen des Menschen , weil auch die psychische Motivation
sich modificirt und differenzirt und direct und indirect unter äusseren
Einflüssen, wie der Wirtschaftsordnung, steht, wird doch nun
wieder diese Modificirbarkeit und Differenzirbarkeit und die Wirk-
samkeit solcher Einflüsse übertrieben, das Constante oder höchst
wenig Veränderliche in der menschlichen Natur, bei den Einzelnen,
in der Motivation auch auf wirtschaftlichem Gebiete unterschätzt,
daher in unserem concreten Falle selbst die Möglichkeit ver-
änderter, veredelter, versittlichter Motivation in den wirtschaft-
lichen Handlungen unter der Einwirkung veränderter Wirtschafts-
ordnung für viel zu gross angenommen.
Da geht in der That die materialistische Psychologie des Socialismus wieder ins
Utopische und Ilyperideologisclie über und behalten die Einwände der philosophischen,
A_ Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Theil. Grundlagen. 9
130 1. B. 1. K. Wirtschaft). Natur des Menschen. 3. A. §. 50, 51.
psychologischen, ethischen, nationalökonomischen Gegner ihr Recht, — auch selbst
gegen die angedcuteten , wenn auch viel weniger weit gehenden Argumente und Be-
hauptungen historischer Nationalökonomen. Auch K. Marx kommt hier Uber die Be-
fangenheit des vulgären Socialismus nicht hinaus, wie seine in der Note auf S. 128
citirten Ausführungen zeigen.
Der Mensch, auch der edlere, bessere, auch der auf wirt-
schaftlichem Gebiete von den höheren und besseren Motiven in
seinem Handeln mitbestiramte, bleibt immer — „Mensch“. Auch
der einzelne, vollkommenste, ausgezeichnetste, — vollends die
grosse Mehrzahl.
Und eine „natürliche Charactcraristokratie“ auf ethischem Gebiete
ist eben doch wohl auch eine unumstössliche Thatsache, deren bedingende und be-
stimmende Momente wir freilich so gut wie nicht kennen, muthmaasslich niemals
genügend kennen werden. Das alberne Wort: „was der Mensch isst, ist er", ist doch
nur eine These, ein Glaubenssatz der plattesten materialistischen Orthodoxie. Auch
die „Vererbungstheorie“, die heutige Modcdoctrin des fortgeschrittenen Realismus,
rechnet ja in wissenschaftlicher Hinsicht mit fast lauter unbekannten Grössen und
phantasirt sich einige Zusammenhänge zurecht. Aber soweit sie sich auf „Erfahrung“
nach freilich denkbar unvollkommenster Methode beruft, geht sie eben über die un-
bestreitbarsten widersprechenden Erfahrungen für ihre These einfach hinweg.
Wie reimt sich z. B. mit ihrer Vererbungstheorio die grosse physische wie psychische
Temperaments- und Charactcrverschiedenhcit von Geschwistern aus demselben Ehe-
bund, abstammend von Eltern, die während der Zeugungsperiode ihrer Kindergeneration
physisch wie psychisch sich nicht wesentlich verändert haben? Denn mit dem blossen
Hinweis auf die blosse Alterszunahme der Eltern würde man doch nur einen weiteren
unbekannt wirkenden Factor zu Hilfe nehmen, dessen ja nicht unmöglicher Einfluss
mit der Beschaffenheit der Kinder auch gar nicht proportional ist. Wie reimt sich
mit der These die Verschiedenheit von Geschwistern, welche auch unter denselben
Lebensverhältnissen aufwachsen, namentlich unter denselben wirtschaftlichen Exi-
stenzbedingungen stehen? Würden Erwägungen dieser Art nicht einen Satz, — frei-
lich auch nur eine Hypothese — dass Jeder eine bestimmte individuelle
Ausstattung physischer, geistiger, sittlicher Eigenschaften und Entwicklungs-
keime derselben eigens mit sich bekäme, mindestens ebenso begründet erscheinen
lassen, als die rein materialistische Hypothese — denn mehr ist es noch in keiner
Beziehung — vom entscheidenden Einfluss von Vererbung und äusseren Lebens-
verhältnissen ? Jeder Menschenkenner wird sicher ebenso viel, ich möchte sagen mfehr
Beispiele dafür anführen können, dass sich ein Individuum durch alle Lebensperioden
und die verschiedensten äusseren Lebensumstände hindurch nicht verändert, zumal
nach Temperament, Character, Motiven „derselbe“ bleibt, als gegentheilige Beispiele.
Die äussere Form der Handlungen, des Auftretens mag sich sehr , das innere Wesen
wird sich meist wenig oder gar nicht ändern. Gegenüber den Uebertreibungen der
socialistischen Lehre ist das doch wohl festzuhalten.
§. 51. — 3. Schlussergebniss hinsichtlich der Moti-
vation. Gerade im wirtbschaft liehen Leben wird das erste
Motiv aus seiner beherrschenden Stellung schwerlich allgemeiner
herausgedrängt werden können. Das practische Problem ist
nicht, es durch andere, auch nicht durch das fünfte und die guten
Specialmotive des dritten und vierten Leitmotivs zn ersetzen,
sondern cs nur, soweit nöthig, in seiner Wirksamkeit einzu-
schränken, es mit den anderen wünschenswerthen Motiven zu
combinircn und so in seiner Wirksamkeit zu modificiren, end-
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131
lieh es wirksam zu erhalten, wo es und soweit als es im be-
rechtigten Einzel- und im Gesammtinteresse günstig wirkt.
Diese Gesichtspuncte sind namentlich wieder bei allen Fragen
bezüglich der Einrichtungen, Organisationen, Rechts-
normen des Wirtschaftsgebiets zu beachten. Die practische
Schwierigkeit liegt dabei dann grade darin, in Bezug auf die
Einwirkung auf die Motive, speciell auf das erste, das Richtige zu
treffen, nicht zu viel, nicht zu wenig vom Menschen als nach
Trieben, Motiven, Lustgefühlen, Pflichtgefühl handelnden und
handeln könnenden Wesen zu verlangen. Der Socialismus verlangt
zu viel, der Individualismus zu wenig, das soeialistische Wirt-
schaftssystem bedarf völlig veränderter, förmlich psychisch
wesensanderer Menschen, das System der freien Concurrenz
stumpft die edleren und anständigeren Motive des wirtschaftlichen
Handelns zu stark ab, entfesselt das erste Motiv zu sehr, und be-
günstigt so seine Entwickelung zum Eigennutz. Das gilt es bei
Reformen dieses Systems zu verhüten.
Ueberall liegen da dann doch Probleme psychologischer
und ethischer Art vor. Gewiss sind dafür die äusseren, durch
die wirtschaftlichen Verhältnisse bedingten Lebensverhältnisse und
Anschauungen teils von günstigem, teils von ungünstigem Ein-
fluss. Theils schaffen oder steigern sie Versuchungen für die Ent-
artung des ersten, des dritten Motivs, theils wirken sie auf die
Schwächung und Verkümmerung des vierten und fünften hin.
Aber es ist und bleibt eine Uebertreibung der Bedeutung der-
artiger Einflüsse, auf sie alles Böse für die Motivation im wirt-
schaftlichen Handeln zu schieben oder von ihnen alles Gute dafür
zu erwarten. Es ist und bleibt nicht minder eine Uebertreibung,
die allgemeine menschliche und die speciell wirtschaftliche Natur
für überhaupt so weit gehend abhängig von diesen Einflüssen und
für so umänderungsfähig in der psychischen Motivation und in der
ethischen Seite zu halten, wie es der Socialismus thut. Endlich
und vor Allem ist es eine beim Einen bewusste, beim Anderen
unbewusste Selbsttäuschung und Täuschung Dritter, zu
verkennen, einmal: dass nach aller äusserer geschichtlicher Beob-
achtung und aller innerer Selbstprüfung gerade die bösen egoisti-
schen Triebe unserer Natur durch Arbeiten an sich selbst,
eines Jeden an seinem Theil, durch In -sich-gehe n und Selbst-
zucht, durch Hören auf die Stimme des Gewissens be-
kämpft werden; sodann: dass religiöser Glaube an eine
9*
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132 1. B. 1. K. Wirthschaftl. Natur des Menschen. 3. A. §. 51, 52.
höhere Autorität, au Gott, an dessen Allwissenheit, dessen
Allmacht, dessen Hilfe im Kampfe mit den egoistischen Trieben,
dessen Ge- und Verbote, auch dessen Gerechtigkeit und Strafgewalt
hier die grösste Unterstützung der besseren, unselbstischeren Motive
leistet. Das ist eine psychologische und historische Er-
fahrungssache ersten Rangs.
Der einzelne unbefangen Urtheilende mag dabei persönlich zu
einem solchen Gottesglauben, auch zum christlichen , stehen, wie
er will: die Wahrheit des Gesagten wird er nicht bestreiten können,
wenn er zwingender psychologischer Beweisführung zugäng-
lich ist. Ein Wirthschaftssystem , welches wie das socialistische,
die höchste Selbstverleugnung und Unterdrückung der bösen
egoistischen Triebe und Motive, die höchste Entwicklung des Pflicht-,
Ehrgefühls und desjenigen der Arbeitsfreude verlangen muss,
gräbt sich durch die grundsätzliche Negirung der Religion und
des Glaubens an Gott selbst die Wurzel ab. Denn, wenn und
soweit überhaupt — und engste Grenzen bleiben ja nach allem
Gesagten doch noch gezogen — es psychologisch ausführbar
sein sollte: nur aus solchen Wurzeln könnten und müssten sich
die Keime entwickeln, um Menschen zu erhalten, die in ihrer
Motivation wenigstens einigermaassen für die practische Verwirk-
lichung des Socialismus geeignet wären.
IV. — §. 52. Bedeutung der Motivationstheorie
für den psychologischen Unterbau der socialökono-
mischen Methodologie und der ganzen Socialökono-
mie. Aus der ganzen vorhergehenden Lehre ergiebt sich für das
wirtschaftliche Thun, bzw. Handeln, dass es, wie alles menschliche
Handeln, durch verschiedene Motive bestimmt wird und be-
stimmbar ist, sowie dass im Menschen das psychische Vermögen
liegt, auch im wirtschaftlichen Handeln verschiedenen Motiven,
in verschiedener Combination und Stärke durch innere Selbstzucht
und durch Erziehung und Gewöhnung zugänglich zu werden.
Es lässt sich dann hierbei unterscheiden ein allgemein
menschliches Moment und ein individuell variables Moment.
1. Nach dem ersten haben wir es in der menschlichen Moti-
vation auch auf wirtschaftlichem Gebiete mit Uranlagen und
Folgen der menschlichen Natur als solcher zu thun. Diese
Natur der „Menschen“ ist — wenigstens in allen hier allein in
Betracht kommenden historischen Zeitaltern — eine physisch
wie psychisch, aller Evolutionstheorie oder richtiger Evolutions-
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133
phantasie zum Trotze, wesensgleiche: die „Menschheit“ ein
eigenes, constantes Naturgebilde, welches sich nach unten zu
wie physisch so auch psychisch von allen Thieren principiell,
nicht nur gradweise unterscheidet, nach oben zu, „höheren Wesen“
der anthropomorphistischen idealistischen Phantasie und des reli-
giösen Glaubens, „Engeln“, „Göttern“, der Gottheit gegenüber aber
nicht minder. Zum allgemein menschlichen Moment gehört daher
auch die wesensgleiche Art der psychischen Motivation ,
wie für alles, so auch für das wirthschaftliche Handeln, daher die
Fähigkeit, jenen verschiedenen Motiven, in verschiedenen Com-
binationen und Stärkegraden, zugänglich zu sein oder doch zu-
gänglich gemacht werden zu können: diese Fähigkeit als eine
allgemein menschliche Eigenschaft und Thatsache genommen,
welche in Art und Maass ihrer Entwicklung und allerdings auch
ihrer eigenen Entwicklungsfähigkeit freilich grosse individuelle
Verschiedenheiten zeigt, aber doch ein Kriterion des Menschen als
solchen ist, wenn man von gewissen Stadien des Kindes- und
Greisenalters , von gewissen Zuständen der Körper- oder Geistes-
krankheit bei Einzelnen absieht.
Wäre diese specifiscli gleiche Fähigkeit, nach gleichartigen Motiven zu handeln,
nicht allem, was wir „Mensch“ nennen, eigen, so wurde es unmöglich sein, sich
gegenseitig zu verstehen oder doch zum Verständnis unter einander gebracht werden
za können und würde die Menschheit nicht in derartige Gruppen zerfallen, wie sie
uns die Geschichte zeigt, sondern in wesenartig verschiedene Gruppen. Keine
geschichtliche Thatsache, nicht aus der fernsten Zeit, auf die wir hinsichtlich mensch-
lichen Thuns wenigstens zurückschliessen können, gestattet uns irgend etwas einer
derartigen Annahme sich auch nur entfernt Näherndes : für die wirklich geschichtlich
bekannteren Zeiten waren die Menschen „im Wesentlichen1* psychisch, nach ihren
Motiven des Handelns so. auch physisch so , wie wir Heutigen. Nichts spricht dafür,
dass das in naher oder entferntester Zukuuft andors werde.
Damit wird auch ein C&rdinalpunct für die Methodologie, für die Berechtig-
ung des deductiven Verfahrens, insbesondere desjenigen, wo man aus dem ersten
Motiv ableitet , und ebenso ein Cardinalpunct für alle Fragen der Organisation , Ein-
richtungen, Rechtsnormen des Wirtschaftslebens, für Alles, was „Bau und Leben des
socialökonomischen Körpers“ betrifft, festgcstellt. Mit „Menschen“ als Menschen
habeu wir es einmal zu thun. Das Constante in diesen Menschen, ihrer Moti-
vation. ihrem Handeln geht aus dieser Wcscnsgleichheit aller Individuen hervor.
Historische und socialistische Nationalökonomie übertreiben hier die individuelle
Differcnzi rung in ihren Folgen für alles und auch spcciell für wirtschaftliches
Handeln ganz ausserordentlich.
2. Das zweite, das individuell variable Moment in der
menschlichen Natur, hat aber deswegen doch auch seine grosse,
wenn auch nicht diejenige durchschlagende Bedeutung wie das erste
Moment.
Um individuelle Variabilität handelt es sich, nebenbei bemerkt, da das
curiose unklare Auffassungen mitunter beinahe zu verkennen scheinen, natürlich doch
stets. Denn das, was wir zusammenfassend die Variabilität und Differenzirung nach
134 1. B. 1. K. Wirtlischaftl. Natur des Menschen. 3. A. §. 52.
Zeitaltern, Ländern, Völkern, Stämmen, Gruppen, Classen, Ständen u. s. w. nennen,
ist doch schliesslich immer die Variabilität und Diflercnzirung der Individuen,
als der allein bestehenden physisch -psychischen Einheiten, worüber figürliche, Ana-
logien anwendende Redeweisen der historischen Nationalökonomie, der Sociologie, der
„organischen“ Auffassung u. s. w. so leicht hinwegsehen lassen.
Gerade die Variabilität und Differenzirung der Individuen zeigt,
dass bei Festbaltuug des Typus im körperlich-geistigen Wesen des
Menschen, daher innerhalb der dadurch gezogenen Grenzen,
doch auch eine unendlich mannigfaltige Verschiedenheit
der Motivation, der Leitmotive und ihrer Specialarten und
Nuancen, der Combinationeu und Stärkegrade der Motive, des
ökonomischen und ethischen Werths derselben bei den Individuen
stattfinden kann und stattfindet.
Eben daraus folgt die Aufgabe, die Motive nach ihrem Werth
für das Wirthschaftsleben, für Production und Vertheiluug des Er-
trags, zu beurtheilen, zu classificiren und darauf hinzustreben, die
ökonomisch und sittlich wünschenswerten zu grösserer Wirksam-
keit, zu zweckmässiger Combination zu bringen, die entgegen-
gesetzten zu verdrängen oder doch iu ihrer Wirksamkeit zu
schwächen. Der Zielpunct dabei wird das wahre und berechtigte
ökonomische Interesse der Gattung und das Interesse ver-
besserter Sittlichkeit im Volke sein müssen.
Die Erfüllung dieser Aufgabe nach diesem Zielpunct liegt
nun allerdings im Gebiete der sittlichen und intellectuellen Er-
ziehung zur wahren Cultur, der Zucht des Einzelnen an sich
selbst, der äusseren Erziehung durch Lehre, Uebertragung, Beispiel,
Sitte, durch Entwicklung der feineren, berechtigteren, edleren Formen
der egoistischen Motive, vor Allem aber des Pflichtgefühls.
Dabei wird dann jener Einfluss des Zustands der Wirtschafts-
organisation und des Wirthschaftsrcchls auf die sittliche Atmosphäre,
dessen oben gedacht wurde, zu berücksichtigen und eben wegen
dieses Einflusses Wirtschaftsorganisation und Recht möglichst so
zu gestalten sein, dass dadurch die Motivation des wirtschaftlichen
Handelns günstig beeinflusst wird.
Immer wird hier jedoch das Erreichbare von — dem Con-
sta nt en oder nur höchst wenig und höchst langsam Modificirbaren
und sich Modificirenden in der allgemeinen und in der speciell
wirtschaftlichen Natur des Menschen abhängen, was in Theorie
und Praxis niemals vergessen werden darf. Aber anderseits ist
auch niemals eine absolut feste Grenze für die Entwicklung der
Motivation in günstiger Richtung gezogen, und wenn das Ideal auch
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Ergebuiise.
135
immer, weil wir „Menschen“ sind und bleiben, unerreichbar und
jede Annäherung daran gegenüber der verbleibenden Distanz kaum
merkbar sein mag, so wird doch die Aufgabe selbst für den Ein-
zelnen und für die Gemeinschaft immer wieder festgehalten werden
müssen. Dann erst erfolgt die richtige „Ethisirung“ der Moti-
vation und des Handelns im Wirtschaftsleben.
Das, was in dieser Hinsicht der Einzelne, die Classe, das
Volk, das Zeitalter, die Menschheit erreichen, nicht der Güterbesitz,
der materielle Keichthum an sich, bildet den Maassstab wie ihres
sittlichen Werths so auch der wahren Höhe der Entwicklung der
Wirtschaft und der Cultur der Menschen.
Für die Methodologie aber folgt aus dein individuell variablen Moment der
menschlichen Natur zweierlei. Einmal muss cs neben dem constauten Moment des
„allgemein Menschlichen“, insbesondere bei der Deduction aus dem ersten Motiv, ge-
nügend mit berücksichtigt worden, und sodaun sind, um dies zu ermöglichen, Beob-
achtungen innerer psychischer Art an sich selbst, aber auch äusserer Art an den
wirtschaftlichen Handlungen und deu davon abhängigen Erscheinungen anzustclleu,
in welchen die Motive der Handlungen Dritter und ibei der Schwierigkeit objectiver
und selbständiger Prüfung unserer eigenen Motivo) unserer selbst ja allein äusserlich
hervortreten und Beobachtungsobject werden können. Daraus ergiebt sich die Not-
wendigkeit steter Verbindung deductiven und inductiven Verfahrens (§. 05,
70, 75 f., 70 £F.).
V. — §. 53. Fehler der verschiedenen theoretischen
Richtungen. Fassen wir zum Schluss dieses Kapitels die
Fehler zusammen, welche nach den hier gewonnenen Ergebnissen
den verschiedenen wissenschaftlichen Richtungen der Nationalöko-
nomie vorgeworten werden dürften.
Als schwierige, höchst verwickelte, feiue Probleme gerade
der Psychologie hat die bisherige Wissenschaft die national-
ökonomischen Probleme nicht immer genügend aufgefasst, wenn
auch selten dieser Character der letzteren ganz verkannt wurde.
Der Fortschritt in der Vertiefung der Auffassung ist der historischen
Richtung mit zu verdanken, aber diese hat dabei selbst wieder
nicht das richtige Maass inue zu halten und nicht immer die rich-
tige Nutzanwendung ihrer besseren psychologischen Erkenntniss zu
machen gewusst. Der Socialismus ist aber noch viel weiter ge-
gangen und hat sich über die psychologischen Bedingungen des
menschlichen Handelns vielfach ganz hinweggesetzt: wohl von
allen sein grösster Fehler in seiner Theorie wie in seinen prac-
tischen Bestrebungen und Zielen.
Im Einzelnen war der Fehler der älteren Theorie, der „briti-
schen Öekonomik“, wohl vornemlich der, dass sie die w irth-
schaftliche Natur des Menschen zu sehr aus der allgemeinen
136 1. B. 1. K. Wirthschaftl. Natur des Menschen. 3. A. §. 53.
Natur desselben herauslöste, mit ihr allein in ihren Deductionen
und Erörterungen operirte, zu ausschliesslich den Menschen in
seinem wirtschaftlichen Handeln vom ersten Motiv auch im Leben
selbst bestimmt ansah, die anderen Motive, die Combinationen der-
selben unter einander und mit dem ersten Motiv, die verschiedenen
Süirkegrade dieser Motive, auch des ersten, nach Individuen und
bei diesen wieder nach Zeitaltern, Völkern, Classen u. s. w. zu
wenig, in der Theorie öfters, selbst absichtlich, gar nicht, in der
Praxis, in der Politik auch nicht genügend beachtete. Diesen
Fehler gilt es vor Allem zu vermeiden. Wesentlich um dies zu
begründen, wurde die Motivationstheorie hier so eingehend ent-
wickelt.
Die historische Richtung hat dazu beigetragen, diesen
Fehler zu berichtigen. Aber sie ist ihrerseits wieder in den Fehler
verfallen, nun gleich den Schluss zu ziehen, der eben aus dem
Gesagten nicht folgt, dass auch nicht einmal zum blossen Zweck
der methodischen Isolirung der Ursachen und der D e -
duction aus einem Motiv, insbesondere dem ersten, hypo-
thetisch von der Wirksamkeit der anderen Motive abgesehen
werden dürfe, um zunächst festzustellen, wie unter dieser Vor-
aussetzung die wirtschaftlichen Handlungen und die davon
abhängigen Erscheinungen ausfallen werden. Wir werden im
nächsten Kapitel sehen, dass ein derartiges methodisches Vorgehen
unter gewissen Bedingungen durchaus berechtigt ist, vielfach
grösseren erkennt nisstheoretischen Werth wie jedes andere hat, ja
mitunter — und nicht bloss zeitweise, wegen noch mangelnder
Ausbildung des anderen, des inductiven, sondern dauernd — das
allein mögliche ist (Kap. 2, Hauptabschnitt 2).
Der Fehler einzelner historischer Nationalökonomen, nament-
lich der jüngeren Richtung, ist ausserdem noch, umgekehrt wie
die ältere Theorie, das erste Motiv in seiner bleibenden Be-
deutung für das wirtschaftliche Handeln, daher in der That als
wesentlich „Constante“ zu unterschätzen, die einzelnen Motive,
weil sie Zusammenwirken und weil der Mensch als einheitliches Wesen
handelt, zu wenig zu isoliren und mit der Verwerfung der hypo-
thetischen Isolirung der Motive die Grundlage des deductiven Ver-
fahrens und schliesslich letzteres selbst, in viel zu weitgehendem
Maasse zu verwerfen.
Der Fehler des Socialismus ist, die menschliche Natur im
Ganzen, bei der Menschheit, und bei jedem Einzelnen als etwas
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Ergebnisse.
137
zu ausschliesslich von äusseren Umständen Abhängiges anzu-
sehen, wenn auch eine gewisse Abhängigkeit anzuerkennen ist. Da-
her huldigt er einem falschen Optimismus hinsichtlich der Ver-
änderungs- und Verbesserungsfähigkeit der menschlichen Natur
und Motivation und der davon bedingten wirtschaftlichen Hand-
lungen und Erscheinungen. Er überschätzt dabei für eine immer-
hin, wenn auch nur sehr begrenzt mögliche Veränderung und Ver-
besserung der Motivation der Einzelnen und schliesslich der Gesell-
schaft den Einfluss materieller Factoren, wie der Verhältnisse des
Wirtschaftslebens , und unterschätzt denjenigen ideeller Factoren,
namentlich auch religiöser.
Es ist die Aufgabe, diese Fehler der älteren theoretischen, der
historischen und der socialistischen Richtung möglichst zu vermeiden,
das in jeder Richtung enthaltene Berechtigte festzuhalten und zu
verbinden und so zunächst den psychologischen Unterbau der Me-
thode und des Systems der Socialökonomie, iu diesem Werke spe-
ciell des grundlegenden Theils, herzustellen.
Allerdings ein eklektisches Verfahren, welches aber der
Complicirtheit der zu behandelnden Probleme auch allein entspricht.
Zweites Kapitel.
Object, Aufgaben, Methoden, System der Politischen
Oekonomie.
§. 54. Vorbemerkung und Litteratur. Der Gegenstand dieses Kapitels
steht mit dem des vorangehenden ersten Kapitels in engem Zusammenhang, wird
daher auch in der Fachlitteratur in solchem behandelt. Doch ist die hier von mir inne-
gehaltene Trennnng des Gegenstands absichtlich vorgenommen und mit Absicht auch
das vorige Kapitel vorangcstellt worden. Zwischen den Lehren von den Aufgaben und
der Methodologie wird hier ebenfalls absichtlich unterschieden und die erste wiederum
absichtlich im 1. Hauptabschnitt vorangeschickt. Auch das ist noch nicht allgemein
üblich, aber im Interesse der Sache und um leichter Klarheit zu gewinnen noth-
wendig. Die Wahl der Methode richtet sich nach der Aufgabe.
In der deutschen allgemeineren systematischen und theoretischen Fachlitteratur
pflegt der Gegenstand dieses Kapitels in den „Einleitungen" behandelt zu werden,
auch in den grösseren Werken, indessen selten in der von der Bedeutung der Sache
geforderten Scharfe und Ausführlichkeit. Grade bei den vielen und tiefgreifenden
Controverscn auf diesem Gebiete genügen wenige thesenartige Bemerkungen nicht.
Sie liefern keine Beweisführung, sondern nur Behauptungen und geben durch ihre
kurze, unvermeidlich nicht immer unzweideutige Fassung selbst zu neuen Zweifeln
und Meinungsverschiedenheiten Anlass. Auch die ausländische allgemeinere be-
zügliche Fachlitteratur ist indessen nicht viel weiter gekommen.
In derjenigen Fachlitteratur. welche den Gegenstand dieses Kapitels oder wenig-
stens Haupttheile davon, wie die Methodologie, monographisch behandelt, liegen
werthvolle grössere Ausführungen vor. Besonders das Auftreten der deutschen
138
1. B. 2. K. Aufgaben, Methoden, System. §. 54.
historisch - nationalökononiischcn Richtung und die Polemik und Keaction derselben
gegen den extremen Smithianisinus und Kicardoismns, dann wieder die Einseitigkeiten
und Ucbertreibungen des jüngeren Historismus (§. 15, 16) und die Keaction dagegen
haben hier zu hervorragenden Leistungen im Gebiet der Methodologie geführt. Mark-
steine in der litterargeschichtlichen Entwicklung bilden hier die Bücher von K. Knies
und K. M enger. Von Deutschland ist dann der litterargeschichtliche Streit über die
Methode ins Ausland hiuUbergegangcn, obwohl es hier, wie vor Allen, aber nicht
allein, A. Cointc beweist, an ähnlichen Bewegungen, wenn auch geringeren Erfolgs,
schon vor dem Auftreten der deutschen historischen Schule nicht gefehlt hat. Eine
die Bedeutung des Gegenstands und den Stand der Streitfragen der Gegenwart dar-
stellende grössere zusammen fassende Arbeit fehlt der deutschen Litteratur noch. Eine
solche liegt in dem guten Buche von Kcyncs in der englischen Litteratur vor.
Auf einem verwandten Gebiete giobt es Erörterungen Uber Aufgabe. Methode,
Uber das Ob und Inwieweit und Wie in Bezug auf „Gesetze“, ,, Gesetzmässigkeiten“
in umfassenderem Maasse: auf dem Gebiete der Statistik. Namentlich haben hier
theoretisch -statistische und moral -statistische Untersuchungen Anlass zu solchen
Erörterungen gegeben, von denen hier auch für die Nationalökonomie Act zu nehmen
ist. Es ist vorzugsweise die Süssinilch-Quetelet’sche Bichtang der Statistik,
auch die neuere Keaction gegen dieselbe, welche zu bezüglichen Erörterungen geführt
hat. Besonders hervorzuheben sind daraus auch für uns hier die Arbeiten von
BtLmelin und neuerer Moral- und Bevölkerungsstatistiker, wie Engel, v. Oettin-
gen, sowie mathematischer Statistiker, wie Knapp, Lcxis, Wostergaard. Ich
folge unten (§. SU 11.) mehrfach genauer meinen eigenen hier cinschlageuden älteren
Arbeiten.
Mehr und mehr hat man aber auch in der neueren Nationalökonomie erkannt,
dass es sich in der Methodologie einer Specialwissenschaft schliesslich doch immer um
die allgemeineren logischen und erkenntnisstheoretischen Probleme
handelt, daher auch um die Anwendung der allgemeinen Methodologie auf den be-
sonderen Kall der einzelnen Wissenschaft. Deshalb wird mit Recht Werth auf die
genauere Fühlung mit der Fachliteratur der Logik und Erkenntnistheorie gelegt,
wobei man freilich in den noch unausgetragenen Streit Uber das Gemeinsame und
grundsätzlich, nicht nur gradweise. Verschiedene zwischen der Logik und Erkcnntniss-
theorie der Naturwissenschaften und der Geisteswissenschaften mit hineingezogen wird.
Grade die Erörterung des bezüglichen Problems im Gebiete einer Wissenschaft wie
der Politischen Üekonomic als Socialökonomie bleibt dann aber auch nicht ohne Ge-
winn für diese Streitfrage und für die allgemeine Methodologie. In diesem Werke,
wo es sich nicht um monographische Behandlung der nationalökonomischen Metho-
dologie handelt, sondern um die Darstellung und Begründung der letzteren im Rahmen
eines allgemeineren nationalökonomischen Werks, ist die methodologische Frage über-
haupt nicht zu erschöpfen. Aber ich habe ihr und den verwandten Fragen von den
Aufgaben u. s. w. einen erheblich grösseren Kaum widmen zu sollen geglaubt, als
sonst in derartigen Werken üblich ist. Die Gründe ergeben sich aus der Einleitung
und aus vielen Stellen dieses ganzen Werks. Von den bezüglichen neueren Werken
über Logik und Erkenn tn issth corie schliesso ich mich dem Mill’schen, doch auch
jetzt noch, wie vor 26 Jahren in meiner Theorie der Statistik, mehrfach näher an, da
ich glaube, dass grade für die national ökonomische Methodologie doch von
keinem Logiker unmittelbar und mittelbar mehr als von Mill zu lernen ist. Die Vor-
würfe der deutschen Logiker und Erkcnntnisstheoretiker gegen Mill und gegen seine
die „Logik der Geisteswissenschaften“ zu sehr nach der Logik der Naturwissenschaften
behandelnde Art(Dilthey, Sigwart u. A. m.) habeich nicht ignorirt Aber, soweit
ich als Nicht -Fachmann mir ein Urtheil bilden konnte, scheinen sie mir überhaupt
nicht alle zutreffend zu sein. Sie gehen vielleicht auch in der an sich begreiflichen
und berechtigten neueren Keaction der Vertreter der „Geisteswissenschaften“ gegen
die Neigung, bei letzterer alles nach naturwissenschaftlichem Muster einzurichten, in
Verkennung des principicllcn Unterschieds zwischen Natur- und Geisteswissenschaften,
doch wieder etwas zu weit. Jedenfalls aber scheinen mir die Mill’sctyen Gesichts-
puncte auf dem Gebiete unserer Specialwissenschaft im Wesentlichen festgehalten
werden zu dürfen, so insbesondere, was die Rechtfertigung der Doduction, auch
die analoge Anwendung der inductiven Methoden der experimentellen For-
schung anlangt. Ausser Mill hebe ich besonders Sigwart und Wundt hervor.
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Vorbemerkung, Littcratur.
139
Für die Littcratur sind auch die Angaben oben in der Einleitung, Kap. 2, und
an der Spitze des vorigen Kapitels S. 70 ff. zu vergleichen.
Nationalökonomische Special- und monographische Litteratur Uber
die Gegenstände dieses Kapitols, besonders Uber Methodologie, Aufgaben: K. Knies,
Politische Oekonomie (s. o. S. 52), bcs. III, Abschn. 2. 3, ü, 10, 11, aber überhaupt
das ganze Werk. — Kautz, Nationalökonomik als Wissenschaft (1. Th. der Theorie
und Geschichte, Wien 1S5S), bes. 2. Buch, II. Abschn. (u. A. Aufgabe) und IV. Abschn.
(Methode, S. 307 ff.), mit mancherlei Litteraturangaben zur Methodologie, worauf hier
ausdrücklich verwiesen werden mag. — E. Pickford, Einleitung in die Wissen-
schaft der Politischen Oekonomie, Frankfurt a. M. 1860, bes. 1. Abschn. Kap. 3 (Do-
duction. Geschichte, Statistik). — L. Brentano, Arbeitergilden B. II (Leipzig 1872).
S. 310 fl. (üaeh Comte). — L. Cossa, guida allo Studio etc., übersetzt von Moor-
meister, Einleitung in das Studium der Wirthschaftslehre, Freiburg 1SS0, bes. im
allgemeinen Theil, Kap. 4, auch 3 (mit weiteren Litteraturangaben). — Cairnes.
character a. logical method of polit. economy, 2. cd., London 1875. — Sidgwick,
scopc a. method of economic Science, London 1885. — K. Menger, Untersuchungen
über die Methode der Socialwissenschaftcn und der Politischen Oekonomie ins-
besondere, Leipzig 1883. Derselbe, die Irrthümer des Historismus in der deutschen
Nationalökonomie, Wien 1884. — E. Sax, Wesen und Aufgaben der Nationalökon.,
Wien 1884. Derselbe, Grundlegung der theoretischen Staatswissenschaft, Wien 1887,
Abschn. I, auch sonst passim, so §. 24, 25. — II. Dietzel, Beiträge zur Methodik
der Wirthschaftswissenschaft, Conrads Jahrbücher, B. 43 (N. F. 17), 1884. — E. von
Philippovicli, über Aufgabe und Methode der Politischen Oekonomie, Freib. 18SG
(vgl. darüber H asb ach in Schmollcr’s Jahrbuch X, 1886, B. 2, S. 99U). —
G. Schmoller. Grundfragen, bes. Abschn. II und III. Derselbe in der Kecension
von Menger und Dilthey, Jahrb. 1883 (jetzt in der Sehr. „Zur Litteraturgesch. etc.“,
S. 275 ff.). — W. Hasbach, Beitrag zur Methodologie der Nationalökonomie, in
Schmollcr’s Jahrbuch IX (1885, B. 1). S. 545 ff. (Anknüpfung an Sax’ Schrift) Der-
selbe, über eine andre Gestaltung des Studiums der Wirthschaftswissenscb. , cb. XI
(1887, B. 1), S. 587, mit Zusatz von Schmoller, S. 593. — A. Wagner, Aufsatz
Systematische Nationalökonomie in Conrad ’s Jahrbüchern B. 46 (N. F. 12), 1886. —
Klein Wächter, Wesen u.s. w. d. Nat.ök., Conrad’s Jahrb. B. 52 (N. F. 18) S. 601 ff. —
Kevnes. scope a. method of polit. economy, London 1891 (auch für weitere litte-
rarische Angaben). — M. Block, progrös de la Science öconomique, I, Einleitung
(ebenfalls für weitero Litteratur). — Art. methode von A. Li esse im nouveau dictionn.
d’icon. polit. II, 256. —
Erörterungen über Methode. Aufgabe u. dgl. in der nationalökonomischen
systematischen Litteratur. Vgl. Einzelnes in der hernach genannten litterar-
geschichtlichen Litteratur. Hier werden nur einige wichtigere Werke hervorgehoben.
Die neueren Schriften enthalten meistens Ausführungen über Methode u. s. w. Kau,
I (Volkswirtschaftslehre, 8 Auf! , Heidelberg und Leipzig 1868), Einleitung, bes.
§.4. 10 — 12. — v. Hermann, staatswirthschaftliche Untersuchungen, 1. Abschn.,
Grundlegung, passim. — W. Koscher, System I, Einleitung, bes. Kap. 3, auch 2.
Derselbe in seinem ursprünglichen Grundriss §. 1. — Schäfflo, gesellschaftliches
System, 2. Auf!., passim, 3. Aufl., I, bes. §. 27, 28. Derselbe, socialer Körper, viel-
fach passim (s. Kegister u. d. W. Wirthschafts-Methode in B. 4), bes. I, 120 ff und
Anhang in B. IV, 480 ff. — H. v. Scheel im Schönbcrg’schen Handbuch, Abh.
Polit. Oekon., § 5 — 7 (3. A., S. 74 ff.). — G. Cohn, System I. Einleitung Kap. 1
(auch Kap. 2, 3 passim). — W. Neurath, Elemente der Volkswirtschaftslehre,
2. Aufl., Wien 1892, S. 4 ff. und passim in dem geschichtlichen Abschnitt. — Jevons
theory of pol. ccon., 2. ed., London 1879 (auch 3. ed.). — Sidgwick, principles of
polit. econ., 2. cd., London 1887, Einleitung, Kap. 2 und 3. — Marshall, princ. of
economics I. (2. ed., London 1892), Kap. 5, auch 6 und 7. — Gide, princ. decon.
pol. (3. 6d., Paris 1889). allgemeine Vorbemerkungen. — L. Cossa, elementi, 1. Th.
— Patten, premiscs of polit. econ., Philadelphia 1885, Einleitung; Ders. , theory
of dynamic economics, Philadelphia 1892, erste Abschnitte. — R. Ely, introduction
to polit. econ., Neuyork 1889, Theil 1, bes. Kap. 13. 14. —
Mehrfache Berührungen des Gegenstands und Darstellung der Ansichten der
Autoren über Aufgabe, Methode u.s. w. in den Werken der nationalökonomischen
Literaturgeschichte. So von den bereits vorher genannten Schriften in denen
140
1. B. 2. K. Aufgaben. Methoden, System. §. 54.
von Cossa. Block. Vielfach passim in \V. Roscher’s Geschichte der deutschen
Nationalökonomik (München 1874), so über die historischen Nationalökonomen und
deren Vorläufer, über die deutscheu Freihändler. — Eisenhardt, Geschichte der
Nationalökonomie, 2. Autl. , Jena 1891, bes. im 4. Buch (kritische Ergebnisse), gute
Ausführungen über Roscher und die historische Nationalökonomie (S. USA'. 233 ff.).
— Ingram, Geschichte der Volkswirtschaftslehre, deutsch von Roschlau, Tübingen
1890, bes. in dem Abschnitt über Comto und die historische Schule (S. 267 ff.),
aber hier, wie im ganzen Buche, mit etwas zu einseitiger Neigung zum Historismus.
Aus der philosophischen, logischen und allgemeinen methodo-
logischen oder die Methodologie verwandter Disciplinen behandelnden Litteratur
nenne ich hier: A. Comte, cours de Philosophie positive, 6 vol., Paris 1S30 — 42,
(und spätere AuiL), bes. B. 4 (zu einseitig gegen die Methode der classischen bri-
tischen Ockonomik). J. St. Miil, A. Comte a positivism. London 1866, 2. ed.,
deutsch von Gomperz, Leipzig 1874. — Dufau, de la m6thode d’observation dans
son application aux Sciences morales et politiques, Paris 1866. — J. St. Mill, System
of logic, deutsch von Schiel (die von mir benutzte Ausgabe), System der deductiven
und inductiven Logik, 2 B.. Braunschweig 1862 — 63. Darin bes. Buch 3, Induction,
u. A. Kap. 8 (die vier Methoden der experimentellen Forschung), Kap. 11 (deductive
Methode) und vor Allem Buch 6, Logik der Geisteswissenschaften; hier u. A. über die
Nationalökonomie in Kap. 9, §. 3 (S. 519 1F.). Dazu: Derselbe, essays an some un-
settled questions of polit. econ., London 1844, N. 5. — Cornwall-Lewis, treatiso
on the method of reasoning etc. in politics, London 1S52. — Jevons, principles of Science,
Lond. 1874: Derselbe, Studios in deductive logic, Lond. 1880, auch in 2.ed. F. A. Lauge,
Geschichte des Materialismus, II, 3. Aull. (1877). S. 453 ff (Volkswirthschaft und Dog-
matik des Egoismus). — W. Wundt, Logik, 2 B., bes. B. II, Methodenlehre, Stutt-
gart 1883; darin namentlich Abschn. 4, Logik der Geisteswissenschaften, speciell
Kap. 3, Logik der Gesellschaftswissenschaften, worin unter N. 2 die Methoden der
Volkswirtschaftslehre (allgemeine Richtungen, abstracto, historische, S. 586 ff; etwas
zu knapp, aber bemerkenswerth, s. mehrfach unten passim); Derselbe, Begriff des
Gesetzes, philosoph. Studien, B. 3 (1886). — Sigwart, Logik, ebenfalls bes. B. II,
Methodenlehre, Tübingen 1878; darin hervorzuheben: §. 85 über Wahrscheinlichkeits-
rechnung und, als über „Hilfsquellen der Induction“, über statistische Methoden und
über die Wahrscheinlichkeit auf statistischem Boden. §.101, 102. — Zu vergleichen auch:
W. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Versuch einer Grundlegung
für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, 1. (bisher einziger) B., Leipzig
1883; ferner Herbert Spencer, introduction ä la Science sociale, Paris 1874 (in
dieser Ausgabe der biblioth. scientif. internat von mir benutzt). — E. Bern hei in,
Lehrbuch der historischen Methode, Leipzig 1889; darin u. A. hierher Gehöriges in
den Erörterungen über das Verhältniss der Geschichtswissenschaft zu anderen Wissen-
schaften, bes. zur Politik, Sociologie, Naturwissenschaft, Statistik u. s. w. (S. 66, 68,
70 ff, 90 ff). Weitere verwandte Litteratur u. in §. 88.
Auf einen auch grade für die Methodologie wichtigen Littcraturzweig, den der
sog. „mathematischen“ Richtung in der Nationalökonomie („ticonomie politique pure”)
wird unten im §. 68 eingegangen; daselbst finden sich bezügliche litterarische Angaben,
Aus der statistischen Litteratur gehören vorneinlich diejenigen Schriften
hierher, welche über Begriff. Wesen. Methode, Einthcilung der Statistik, über stati-
tistischo „Gesetze“, Gesetzmässigkeit u. dgl. m. und über andre Puncte der Theorie
der Statistik handeln. S. die bezügliche Litteratur in den Werken zur Geschichte der
Statistik und in den litterargeschichtliehen Abschnitten der allgemeinen und theo-
retisch-statistischen Werke, unter denen bes. V. John, Geschichto der Statistik, Stutt-
gart 1884, hervorzuheben ist; ferner K. Knies, die Statistik als selbständige Wissen-
schaft, Cassel 1850 und meine Abh. Statistik im Bluntschli-Brater’schen Staatswörter-
buch X, 400 6. (im 2. Abschnitt, Geschichte der Statistik, S. 402 — 456). Ueber die
erwähnten theoretisch -statistischen Puncte handelt mit die ganze Litteratur, welcho
sich an die „politischen Arithmetiker“ , an Süssmilch, Quetelct und an die Moral-
statistik. sowie an die mathematische Statistik angeschlossen hat Vgl. von A. Qu ti-
telet das alte Hauptwerk sur l’hommo et lc developpement de ses facultes, Paris
1835, deutsch von Riecke, Stuttgart 1838, u. d. T. physiquo sociale in 2. Aufl.
1869, ferner du Systeme social et des lois qni le regissent, Paris 1848, deutsch
von K. Adler, Hamburg 1848; über ihn und seine weiteren Arbeiten s. meine
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Vorbemerkung und Litteratur.
141
„Gesetzmässigkeit“ I, 51 und meine Abh. Statistik, S. 484 If. , mehr im Anschluss an
ihn; anderseits die Aufsätze von G. Knapp in Ilildebrand’s Jahrb. B. 1 1> (1871),
neuere Ansichten über Moralstatistik S. 237 und B. 18 (1872), Qu6telet als Theoretiker,
S. SU, auch Wcstergaard, Statistik, S. 274 ff. Quctelet steht im Mittclpunct der
litterarischen Bewegung, früher hat er mehr Beistimmung, selbst panegyrische, er-
fahren , — auch ich neigte mich besonders in meiner „Gesetzmässigkeit“ dazu — ,
neuerdings ist ihm mehr kritisch, bis zur Ablehnung begegnet worden, womit aber
wohl wieder zu weit gegangen wird. Es kann hier genügen, auf Al. v. Oettingen’s
grosses Werk über die „Moralstatistik und ihre Bedeutung für eine Socialethik“
(3. Aufl., Erlangen 1882), auch auf die reichen litterarischen Noten dieses Buchs und
auf Westergaard, Theorie der Statistik, Bonn 1890, bes. S. 237 ff. zu verweisen.
Wesentlich in Qu6tclet’s Richtung steht meine „Gesetzmässigkeit in den scheinbar
willkührlichen menschlichen Handlungen vom Standpunct der Statistik“, 2 Theile, Ham-
burg 1804; mit zu mechanistischer Anschauung, wie ich seit lauge eingesehen
und zugegeben habe. An dem Ergebntss der theoretisch-kritischen Erörterungen des
1. Theils im Anhang über den „Sinn und Begrilf der Ausdrücke Gesetzmässigkeit und
Gesetz in der Statistik“, S. 63 — SO, glaube ich indessen im Wesentlichen festhalten zu
dürfen (s. u. §. 86 ff.). Zum Theil grade an diese Schrift haben sich Aufsätze und einige
eigene Schriften von Statistikern, Philosophen, Theologen vielfach polemisch angeschlossen
oder sind darüber eingehendere Besprechungen geliefert worden, meist mit besonderer
Bezugnahme auf die Krage der Willensfreiheit und des Verhältnisses der stati-
stischen „Gesetze“ zu ihr, z. B. von Helferich, Gött. Gel. Anzeigen 1865, S. 48611.,
von dem Theologen Krank in der Erlanger Ztschr. f. Theologie, 1865, S. 199 ff,
von Drobisch, die moralische Statistik und die menschliche Willensfreiheit, Leipzig
1867. von Vorländer, die moralische Statistik und die sittliche Freiheit, Tüb. Ztschr.
1866, B. 22, S. 477 ff, von J. Huber, Studien, München 1867, N. 3. Aus späterer
Zeit; Iihenisch, über Moralstatistik, Ztschr. f. Philosophie, B. 68, 69. — Mit den
in diesem Kapitel zu behandelnden Problemen hängen alle diese Fragen mehr oder
weniger zusammen.
Von besonderer Bedeutung sind unter den einschlagenden theoretisch-statistischen
Arbeiten einige vorzügliche Aufsätze Rümelin’s geworden, die zum Wichtigsten und
Besten auch für Puncte der nationalökonoinischen Methodologie gehören. So nament-
lich seine zwei Aufsätze „zur Theorie der Statistik“, zuerst in der Tüb. Ztschr. B. 19,
1863 (S. 633 — 696), der zweite aus 1874, jetzt beide in Rümeliu’s „Reden und
Aufsätzen“, Tübingen 1875, S. 208 — 284. Arbeiten, welche höchst fermentativ ge-
wirkt haben. Unter Aufnahme, aber, wie meine Ausführungen zeigen, keineswegs
unter einfacher Annahme, der Rümelin’schen Auffassungen in seinem damals erst
vorliegenden ersten Aufsatze, mehrfach in kritischer Stellungnahme zu ihm, habe ich
dann in meiner, im Winter 1865 — 66 in Dorpat verfassten Abhandlung Statistik im
Bluntschli'schen Staatswörterbuch, unter besonderer Verwerthung Quetelet’scher und
Engel’scher Gcsichtspuncte, eine „Theorie der Statistik“ in knappstem Umriss zu ent-
werfen gesucht (S. 456 — 481), worin meine frühere zu mechanistische Anschauung
bereits moditicirt ist, — noch vor einem Einfluss der Schriften und der Polemik
Oettingen’s, Knapp’s, Schmoller’s u. A. ra. gegen mich, was wohl von letzteren beiden
Autoren hätte berücksichtigt werden können. Dieser Theorie der Statistik glaube ich
auch jetzt noch mehrfach genauer, auch in der Fassung, folgen zu dürfen (s. bos. u.
§. 77 ff.). Eine italienische üebersetzung meiner Abh. Statistik, die im Original nicht
apart in den Buchhandel gekommen ist, erschien in Annali di statistica 1S79. Ich
beziehe mich ausserdem für meine Behandlung der moralstatistischen Probleme auf
meine Besprechung des grossen moralstatistischen Atlas von Frankreich und England
von Guerry in der Tüb. Ztschr B. 21, 1S65. Von Rümclin sind ferner noch seine
beiden Reden über den Begriff eines socialen Gesetzes (1867) und über Gesetze in der
Geschichte (1874), jetzt in seinen „Reden und Aufsätzen“, S. 1 und in seinen „Reden
und Aufsätzen, neue Folge“ (Tübingen und Freiburg 1881), S. 11S hervorzuheben.
Aus der weiteren bezüglichen statistischen Litteratur nenne ich hier noch: E. Engels
vielfache geistvolle Aufsätze, besonders in der sächsischen und preussischon statistischen
Zeitschrift, auch die Schrift „Bewegung der Bevölkerung im Königreich Sachsen“,
bes. Vorwort (Dresden 1852). — Dufau, trait6 de statistique, Paris 1840. — Wap-
päus, Bevölkerungsstatistik , 2 B. , Leipzig 1859, 1861. Derselbe, Einleitung in
das Studium der Statistik. Leipzig 1881. — M. Haushofer, Statistik, 2. A., Wien
142 1. B. 3. K. Aufgaben, Methoden, System. 1. H.-A. Object u. s. w. §. 55, 56.
1882. — G. Mayr, Gesetzmässigkeit im Gesellschaftsleben, München 1877. —
M. Block- v. Scheel, Statistik, Leipzig 1879. — A. Meitzon, Statistik, Berlin
1886. — Westergaard’s gen. Werk. — Rümelin’s Abh. Statistik im 3. B. von
Schönberg ’s Handbuch. — Gabaglio, teoria d. stat, 2. ed., 18S8. — Speciell aus der
Litteratur der sogen, mathematischen Statistik sind auch für die hier zu berührenden
Probleme zu beachten die wichtigen neueren Arbeiten von Knapp, über Ermittlung
der Sterblichkeit, 1868 und Theorie des Bevölkerungswechsels, 1874, von W. Lexis,
Einleitung in die Theorie der Bevölkerungsstatistik, 1875 und bes. seine Theorie der
Massenerscheinungen. 1877; auch bezügliche Arbeiten von Fach-Mathematikern (Witt-
stein 1867, Zeuner 1869).
Leider erst nach Abschluss meiner Arbeit, als die betreffenden Bogen in den
Druck gingen, kam mir die neueste cinschlagcnde Arbeit Ncumann's, Naturgesetz
und Wirthschaftsgcsetz (Tüb. Ztschr. 1892, Heft 3) zu. S. darüber u. §. SO If.
Die Frage, ob und wie w'eit in der allgemeinen (auch politischen) Geschichte
von „Gesetzen“, „Gesetzmässigkeiten“ zu reden, wird hier und da in der vorausgehend
erwähnten Litteratur mit berührt. Vgl. die gen. Reden von Rümelin, auch Ncu-
rnann’s Aufsatz (S. 453). Sonst Bernheim, hist. Methode, S. 66 If., 72, 90 ff. (mit
weiterer Litteratur). Die Fachhistoriker haben meistens den Staudpunct eines Bucle
rundweg abgelehnt. Vgl. G. Droysen’s betr. Aufsatz in v. Sybel’s Historischer
Zeitschrift, B. 9. Geber die Frage der wirtschaftlichen Gesetze u. §. 86—90.
Geber System atologischo Fragen handeln die nationalökonomischen Werke
gewöhnlich in Verbindung mit den Fragen der Aufgabe, Methode u. s. w. Besonders
hervorzubeben, ohne dass ich ihr grade hier immer bcistiminen kann, ist wieder das
Werk von K. M enger, auch dessen Aufsatz in Gonrad’s Jahrb. B. 53. S. u. §. 9S.
Erster Hauptabschnitt.
Object und Aufgaben.
Die Erörterungen Uber die Aufgaben hängen mit den methodologischen Fragen
enge zusammen. Die letzteren werden daher, soweit notwendig oder zweckmässig,
schon in diesem Abschnitt mit berührt, einige Puncto davon werden schon etwas
näher behandelt. Im darauffolgenden 2. Hauptabschnitt über die Methoden wird die
betreffende Lehre aber erst zur selbständigen systematischen Darstellung und zum
Abschluss gebracht. Einzelne Wiederholungen sind bei dieser Behandlungsweise
nicht ganz zu vermeiden, aber das Darzustellcnde wird dadurch an Klarheit und Ver-
ständlichkeit gewinnen.
I. — §. 55. Zusammenhang von Object, Aufgabe,
Methode und System. In jeder Wissenschaft ist zunächst das
Object festzustellen, mit welchem sie sich als eigene Wissen-
schaft zu beschäftigen hat. Aus dem Wesen dieses ihres Objects
folgen die Aufgaben, welche eine jede Wissenschaft in Bezug
auf ihr Object zu lösen hat. Nach diesen Aufgaben richtet sich
nothwendig die Methode oder richten sich die Methoden,
deren sich die Wissenschaft zur Lösung dieser ihrer Aufgaben be-
dienen muss. Eine Untersuchung der Aufgaben hat daher einer
Erörterung der Methoden voran zu gehen.
Eine abstracto Behandlung der Methodologie gehört in die Erkenntnistheorie
und Logik, in einer concreten Wissenschaft ist sie nicht geboten, ja nicht am Platze.
Flicr kann die Methodologie nur in Verbindung mit concretcm Object und concreten
Aufgaben fruchtbringend behandelt werden , was in dem neueren methodologischen
Streit im Gebiete der Politischen Oekonomie auch nicht immer beachtet worden ist.
Auch die nothwendige Abhängigkeit der £ahl der Methoden von den Aufgaben ist,
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Object u. s. w.
143
besonders in der jüngeren deutschen historischen Schule, öfters nicht genügend er-
kannt oder anerkannt worden. Mancher Streit über die Methode w&ro zu vermeiden
gewesen oder sofort als inüssig erkannt worden, wenn man sich zuvor über die Auf-
gaben verständigt hätte, oder der Streit wäre vom Gebiete der Methoden auf dasjenige
der Aufgaben übertragen worden, wo er vielleicht berechtigt war und erst ausgetragen
werden musste. Und in der That liegen wichtigere und schwierigere Streitfragen auf
letzterem als auf ersterem Gebiete vor. Für alle diese Dinge ist besonders auf
K. Menger’s Buch zu verweisen. Auch wo man ihm im Einzelnen und, wie ich,
in einigen Ergebnissen, so für das System, nicht beistimmt, wird man immer durch
seine scharfsinnigen Erörterungen Belehrung und Förderung erlangen. Gegenüber
den Unklarheiten der historischen Schule ist dieses grosse Verdienst Menger’s beson-
ders anzuerkennen.
Die Bildung des Systems einer coocreten Wissenschaft bängt
ebenfalls wieder mit der Natur ihres Objects und insofern auch
mit den auf dieses bezüglichen Aufgaben zusammen. Doch, wie
unten (§. 98) näher gezeigt werden soll, nicht in dem Sinne, dass das
System aus den verschiedenen Aufgaben der Wissenschaft folgt
und etwa jeder besonderen Aufgabe ein eigener Theil des Systems
entspricht. Die verschiedenen Aufgaben, wenn auch nicht notli-
wendig immer alle zusammen, liegen vielmehr in allen Theilen des
Systems vor, freilich öfters in verschiedenem Maasse und mit ver-
schiedenen Anforderungen in Bezug auf die Lösung einer jeden
Aufgabe. Im Wesentlichen wird das System nach formalen Gesichts-
puncten der Zweckmässigkeit und nach der sachlichen Verwandt-
schaft von Specialpuncten und Specialfragen, daher auch nach dem
ganzen Cbaracter beider letzteren gebildet werden können und
dürfen, m. E. auch so gebildet werden müssen. Dabei werden
aber dann allerdings in dem einen Theil des Systems mehr diese,
im anderen mehr jene Aufgaben der Wissenschaft hervortreten,
auch wohl im einen eine einzelne Aufgabe ganz fehlen, welche im
anderen voransteht.
S. unten in diesem Kapitel den 3. Hauptabschnitt vom System. Hier ist einer
der Puncte, wo ich von K. M enger abweiche.
II. — §. 56. Das Object der Wissenschaft der Politischen
Oekonomie ist die wirthschaftliche Erscheinung oder
Thatsache, demnach auch das ihr zu Grunde liegende wirth-
schaftliche Thun bzw. Handeln des Menschen, in dem oben
(§. 29) angegebenen Sinne. Daher Alles, was sich auf die Be-
schaffung und Verwendung von Gütern zur menschlichen Bediirfniss-
befriedigung bezieht.
Jede solche Erscheinung bietet nun verschiedene Seiten der
Betrachtung hinsichtlich ihrer Existenz, ihrer Entstehung, ihres
Verlaufs, ihrer Entwicklung, dies Alles als Thatsachen genommen ;
hinsichtlich der Erklärung dieser Thatsachen nach der causalen
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144 1- B 2. K. Aufgaben, Methoden, System. 1. H.-A. Object u. s. w. §. 56, 57.
und conditionellen Seite; hinsichtlich der Bedeutung dieser That-
sachcn für den Einzelnen und für Gemeinschaften; hinsichtlich
ihres Verhältnisses zu einem vorschwebenden Idealbilde des Kreises
von Erscheinungen , zu welchem die einzelne betreffende Er-
scheinung gehört; endlich hinsichtlich der ökonomisch -technischen
Hilfsmittel, deren sich der Mensch bedienen kann und bedient, um
die Gestaltung der Erscheinung in für wünschenswerth geltender
Weise zu beeinflussen und zu Stande kommen zu lassen.
Z. B. die Höhe des Arbeitslohnes für eine bestimmte Arbeitsleistung sei die Er-
scheinung. Welches die Höhe ist, wie sie sich verändert hat und weiter verändert,
welche Gestaltungstendeuzen oder Begelmässigkeiten („Gesetze“) dabei hervortreten, welche
Umstände darauf eingewirkt oder dabei mitgespielt haben, wie sich die Höhe des Lohns
zu den Leistungen und den Bedürfnissen des Beziehers, zu den Leistungen und dem
Einkommen Anderer verhält u. s. w., wie sie sich zu dem Idealbilde der Productiviiät
der Production und zu demjenigen der Vertlieilung des Productionscrtrags verhält,
welche Mittel sich bieten , um sie diesem Idealbilde zu nähern : das sind die ver-
schiedenen Seiten der Betrachtung, welche die Erscheinung der Höhe des Arbeits-
lohns bietet, wie überhaupt, so auch für die Wissenschaft, wenn man alles Einzelne
auf Kategorieen näher unter sich verwandter Momente zurückführt.
Diesen (6) Seiten der Betrachtung ihres Objects entsprechen
die (sechs) Aufgaben der Wissenschaft der Politischen Oekouomie.
III. — §. 57. Die Aufgaben und die Classification
der Wissenschaften. Die Aufgaben der Politischen Oekonomie
als Wissenschaft können in Kürze zusammenfassend bezeichnet
werden als: die Feststellung (Ermittlung) der Erscheinungen
(und ihres Verlaufs), die Ermittlung des Typischen darin,
die Erklärung ihres conditionellen und Causalnexus, die Be-
urtheilung ihrer Bedeutung (ihres Werths), die Ziel- Auf-
stellung für ihre Entwicklung, die Wegweisung zu diesem
Entwicklungsziel. Die wreiter folgende Darstellung und Erörterung
dieser Aufgaben wird erst genau ergeben, was unter eine jede
derselben fallt.
Um den wissenschaftlichen Character der Probleme, mit welchen
man es bei verschiedenen Aufgaben zu thun hat, hervortreten zu
lassen , kaun man jede der sechs Aufgaben in die Form kurzer
Fragstellungen fassen.
1. In Betreff der wirtschaftlichen Erscheinungen: Was ist?
Was war? Wie ist es? Wie war es? Was und wie verläuft es?
2. Zeigen sich im Verlaufe der Erscheinungen Gestaltungs-
tendenzen oder Regelmässigkeiten und welche? Ergiebt sich aus
dem Individuellen, dem Concreten, dem Spcciellen ein Generelles,
Principielles, Typisches, und welcher Art? Ist aus dem Regel-
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Aufgaben der Polit. Oekonomic.
145
massigen des Verlaufs auf eine Gesetzmässigkeit und ein Gesetz zu
sebliessen und auf welche?
3. Welches sind die Ursachen und Bedingungen für das Was
und Wie der Erscheinungen, des Individuellen wie des Typischen,
und der Veränderungen darin?
4. Welches ist die Bedeutung (der Werth) dieses Was- und
Wie-Seins und Gewesenseins der Erscheinungen für die Näcbstbethci-
ligten und für die Gemeinschaften?
5. Was soll sein hinsichtlich dieses Was und Wie der Er-
scheinungen?
6. Was hat zu geschehen, was ist zu thun, um dieses Sein
und Sollen der Erscheinungen herbeizuführen oder sich ihm mög-
lichst zu nähern?
Ueberall wo das Object einer Wissenschaft dem Einfluss des
menschlichen Willens ganz entzogen ist, liegen für die betreffende
Wissenschaft nur die drei ersten Aufgaben , eventuell selbst nur
die erste oder die erste und die zweite, vor. Das sind die rein
theoretischen Wissenschaften im strengen Wortsinn oder die
bloss auf ein Erkennen ausgehenden. Wo das Object einer
Wissenschaft aber dem Einfluss des menschlichen Willens in seiner
Gestaltung wenigstens mit unterliegen kann und wo die Ausübung
eines solchen Einflusses menschlichen Wohlfahrtsinteressen zu dienen
vermag, da treten auch die drei letzten Aufgaben mit hervor.
Die Wissenschaften, bei welchen dies der Fall ist, sind in Bezug
auf diese drei letzten Aufgaben die practischeu Wissen-
schaften, welche zugleich auf ein Lehren zweckmässigen
Handelns und Könnens ausgehen , insofern mit K. M enger
„Kunstlehren“ genannt werden können. Kurz gesagt, handelt
es sich also bei den theoretischen Wissenschaften um Erlangung
eines Wissens zum Kennen, bei den practischen um Erlangung
eines solchen zum Können, aber eben um Erlangung eines
Wissens um des Wissens Willen doch bei beiden. Auch
die letzteren dürfen daher den Namen von „Wissenschaften“
beanspruchen (vgl. u. §. 99).
Die Politische Oekonomie und die Gruppe von Wissenschaften,
zu welchen sie gehört, die Gcsellscbafts - , Rechts-, Staats- und
Wirtschaftswissenschaften , umfasst nun alle sechs Aufgaben, sie
wie jede der übrigen Wissenschaften ihrer Gruppe ist eine theo-
retische Wissenschaft hinsichtlich der drei ersten, eine practische
hinsichtlich der drei letzten Aufgaben, sowrohl eine Erkennen-Lehre
A. Waguor, Grundlegung. 3. Auflago. 1. Thell. Grundlagen. 10
146
1. B. 2. K. 1. H.-A. Aufgaben. §. 57, 58.
als eine Kunstlehre. Als theoretische Wissenschaft hat sie prin-
cipiell dieselben Aufgaben wie die rein theoretischen Wissen-
schaften, was für die Fragen der Methodologie hervorzuheben
wichtig ist. Nur als zugleich practische Wissenschaft treten bei
ihr jene anderen Aufgaben noch hinzu.
Hiernach ist die Streitfrage, ob die Politische Oekonomie nur
mit der Frage nach dem „Was ist?“ und mit den damit zu-
sammenhängenden Fragen zu thun habe, nicht auch mit der Frage:
„Was soll sein?“ zu entscheiden, d. h. auch letztere Frage
unter die Aufgaben unserer Disciplin zu reiben1).
Alle empirischen oder Beobachtungswissenschaften, Natur- wie Geisteswisseu-
schaften haben es mit der ersten, regelmässig mit den drei ersten Aufgaben zu thun.
Die reinen Naturwissenschaften beschränken sich darauf, die „beschreibenden“ selbst
auf die erste Aufgabe allein, die „angewandten“, z. B. die Medicin, die Landwirth-
schaftslehrc, die Technologie ziehen die drei letzten Aufgaben mit heran. Mathematik,
Logik, Erkenntnistheorie, Psychologie haben nur dio drei ersten, Ethik, Pädagogik
auch die drei letzten Aufgaben mit. Wissenschaften auf dem Grenzgebiete der Natur-
und Geisteswissenschaften , wie die Sprachwissenschaft , beschäftigen sich wieder nur
mit den ersten Aufgaben, ebenso die Geschichtswissenschaft. Ob die letztere
sich aber auch nur die dritte Aufgabe mit zu stellen, vollends ob sie sich auf die
zweite und dio vierte mit auszudehnen habe, ist strittig, wird von Ranke und seiner
Schule, im Unterschied zu Bucle (Aufgabe 2 und 3) uud Schlosser (Aufgabe 4) ab-
gelehnt.*) Eine verwandte Tendenz zeigt sich aber sogar für die Politische Oekonomie
bei „historischen“ Nationalökonomen von der Richtung G. Schmoller’s, unter Hinweis
auf ein bekanntes „stolz bescheidenes“ Wort ltanke’s über dessen Bestrebungen. Es
genügt dem gegenüber, auf die Ausführungen hier und im Folgenden zu verweisen,
dann besonders auf K. Menger, Untersuchungen , namentlich Kap. 1 des 1. Buchs,
Anhang III, aber überhaupt auf das ganze Werk. Auf die Unterscheidung der ersten
und zweiten Aufgabe komme ich unten noch zurück. Soweit Statistik überhaupt
als eigene, selbständige Wissenschaft, nicht bloss als Methode betrachtet wird,
hat auch sic die drei ersten Aufgaben zu behandeln. Doch besteht auch bei ihr eine
Richtung, diejenige der älteren „beschreibenden“ Statistik (Staatskunde), welche die
Aufgabe dieser Wissenschaft auf die ersto beschränkt. S. darüber meine Abh.
Statistik im Bluntschlischcn Staats Wörterbuch, B. X, S. 400 ff. und die oben genannten
Arbeiten von Knies und Rümelin über Statistik, sowie unten §. 80.
A. — §. 58. Die drei ersten oder theoretischen
Aufgaben. Sie bilden eigentlich drei Stufen einer einzigen
l) Vgl darüber treffend auch Knies (Politische Oekonomie, 2. A., S. 34), mit
Citat aus seiner Recension von Roschers Werk in den Gött. Gel. Anz. 1855 (N. 0 — 11):
„Ich bin der Meinung, dass die Frage, was soll sein? keineswegs als eine für die
Nationalökonomie nach geschichtlicher Methode ungehörige betrachtet werden kann.“
Ferner G. Cohn, System I, §.51, der ebenso entscheidet. Mein genannter Aufsatz in
Conrads Jahrbüchern B. 46, S. 229. Eisenhardt, Geschichte, 2. A„ S. 234 ff.; auch
Buchenbergcr, Agrarpolitik, I. S. 2, 64. Anderseits Roscher, System I, §. 23 ff.
Auch Klein wächter, in Conrad’s Jahrb. B. 52 S. 603 (wohl das Ziel üborschiessend).
s) Vgl. 0. Lorenz, Geschichtswissenschaft in Hauptrichtungen und Aufgaben,
Berlin 1886, S. 139 ff. (gegen Dubois- Reymond); ferner Bern heim, historische
Methode, S. 70 ff., 91 ff: „cs ist nicht die Aufgabe des Historikers, allgemeine Sätze,
Gesetze, Ideen aus den Ereignissen zu abstrahiren, noch die Ereignisse als Wirkungen
allgemeiner Grundgesetze mechanisch abzulcitcn und quantitativ zu bestimmen , die
qualitativen Unterschiede der Individualitäten, welche den wesentlichen Inhalt der
Geschichte bilden, widersprechen principiell und practiscb dieser Erkenntnissweise“.
Nicht einmal von empirischen Gesetzen sei hier zu reden.
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Die theoretischen Aufgaben. Die erste.
147
Aufgabe , nemlich der , die wirtschaftlichen Erscheinungen
richtig kennen und verstehen zu lernen. Zu diesem Behufe
müssen sie nicht nur gestellt und nach Möglichkeit gelöst, sondern
auch in der angegebenen Reihenfolge behandelt werden. Alle
drei Aufgaben hängen enge zusammen, die nachfolgende setzt die
Lösung der vorangehenden voraus. Die Politische Oekonomie wäre,
wenn überhaupt noch eine „Wissenschaft“, mindestens keine eigene
Wissenschaft mehr, sondern nur ein Theil der Geschichtswissenschaft
und der beschreibenden Statistik (Staatskunde) zu nennen, wenn sie
sich, nach gewissen Tendenzen in der „historischen“ Richtung, auf
die erste Aufgabe beschränkte. Im Gegentheil hat sie sich gerade
bei dieser Aufgabe anderer Wissenschaften, der Geschichte, der
Statistik, als Hilfswissenschaften und Methoden mit zu bedienen.
Erst mit der zweiten und dritten Aufgabe wird sie eine wahre
eigene und zwar theoretische Wissenschaft, für welche die
Lösung der ersten Aufgabe nur die Vorbereit ungsarbeit zur
Lösung der beiden folgenden als ihrer eigentlichen und Haupt-
aufgaben ist.
Damit wird hier die vorbin bereits angedeutete Neigung, besonders im jüngeren
Historismus, abgelehnt, die erste Aufgabe nicht bloss einseitig hervorzu heben, sondern
sie sogar beinahe zur alleinigen auch in der Wissenschaft der Politischen Oekonomie
zu machen, nur oder doch zumeist „Beschreibung“, „Dccription“ , nicht Ableitung
von Regelmässigkeiten u. s. w.. nicht Eindringen in den Gausalzusam menhang, als
Aufgabe hinzustellen. Folgeweise wird auch die Neigung fUr falsch gehalten, con-
crete — nicht einmal vergleichende! — Wirtschaftsgeschichte und Wirth-
schaftsstatistik mit Politischer Oekonomie als Wissenschaft zu idcntificiren,
namentlich mit der sogenannten „spcciellen“ oder „practischen“ Nationalökonomie, —
eine auch logische Verirrung und Verwirrung, Grade ftlr die Politische Oekonomie,
und zwar für die gesammtc, als eine theoretische Wissenschaft, ist die zweite und
die dritte die höhere Aufgabe.
Die erste und zweito Aufgabe hängen besonders enge mit einander zusammen.
Ich habe sie früher (so in dem Aufsatz in Conrad's Jahrbüchern) wohl als eine ein-
zige in zwei Phasen zusammengefasst Aber es ist doch richtiger, von vornherein zu
trennen. Die scharfen, klaren Auseinandersetzungen K. Menger’s über den Gegen-
satz zwischen den historischen und den theoretischen Wissenschaften, entsprechend
dem Unterschied zwischen dem Individuellen und dem Generellen der Erscheinungen,
haben mich bestimmt, jetzt so vorzugehen. Abweichend von Menget- reihe ich aber doch
die erste Aufgabe auch mit in diejenigen der Politischen Oekonomie. (S. u. §. 103.) Ich
weise daher auch nur die Forderung ab, dass man sich in dieser Wissenschaft auf
blosses Describiren beschränken solle, nicht die, dass letzteres, allerdings als Arbeit,
welche wesentlich die wichtigeren Aufgaben Nr. 2 und 3 nur vorbereitet, auch
eine der Aufgaben unserer Disciplin sei. Wenn diese Arbeit bei der ersten Auf-
gabe dann auch vornemlich historischer und statistischer Art ist. so kann man sie
doch immerhin grade als Vorbereitung zu der Materialsammlung für die zweito und
dritte Aufgabe auch eine theoretische nennen.
§. 59. — 1. Die erste Aufgabe ist die möglichst genaue Fest-
stellung der wirtschaftlichen Erscheinungen und Vorgänge, ihrer
Entstehung, ihres Verlaufs, ihrer Entwicklung, ihrer Veränderung
als individueller, concrcter Thatsacben, die dabei aber
io*
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148
1. B. 2. K. 1. H.-A. Aufgaben. §. 59, 60.
bereits durch Massenbeobachtung und eventuell womöglich
Zählung (statistisch) zusammeugefasst werden können.
Beobachten, darstellen, schildern, zusammenstellen, eventuell
auch bereits vergleichen, classificiren und tabellarisiren, daher be-
nutzen derjenigen Methoden, welche sich zu diesen Zwecken, ins-
besondre zum Beobachten, bieten, sind die technischen Hilfsmittel
zur Lösung dieser ersten Aufgabe.
Demnach und allerdings vor Allem und wesentlich: Anwendung inductiven
Verfahrens, historischer Forschung, statistischer Aufnahmen, methodischer Enqueten,
methodischer Einzelbeobachtung ^wie der im engeren Sinne „describircndcu“ National-
ökonomen, z. B. der Schildorcr gewerblicher Verhältnisse, Arbeiterzustände auf (irund
persönlicher Nachforschung, „Ocularinspection“) , sorgfältiger und objectiver, wenn
auch nicht systematischer „täglicher Beobachtung“ und Sammlung von Lebens-
erfahrung (§. 77 ff.). Aber bei den nothwendig immer verbleibenden Lucken der
Beobachtung, dem Fehlen von Bindegliedern, den unterlaufenden Beobachtungsfehlern,
auch bei sorgfältigster und oft wiederholter systematischer Beobachtung, darf und muss
doch selbst hier das deductive Verfahren immer zugleich mit und als Ergänzung
neben dem inductiven angewandt werden, d. h. Schlüsse aus deu möglicher, wahr-
scheinlicher oder sicherer Weise — was wieder zu beobachten ist — unter den ge-
gebenen Verhältnissen mitspielenden psychischen Motiven sind zulässig und selbst
geboten, um wirthschaftliche Thatsachen, Erscheinungen als Folgen menschlicher
Handlungen wenigstens hypothetisch zu ermitteln.
Indem die Thatsachen dann verglichen, classificirt, tabellarisirt
werden — Letzteres vornemlich, wenn auch nicht ausschliesslich,
in Zahlen ausgedrUckte Thatsachen, daher in der statistischen
Tabelle (§. 82) — , erfolgt bereits eine Vorbereitung des gesam-
melten Materials für die Lösung der zweiten und dritten Aufgabe.
Auch dieser Umstand rechtfertigt es, die erste Aufgabe mit für die Politische
Oekonomic selbst zu vindiciren und sie nicht ganz anderen Wissenschaften, die frei-
lich sich für ihre Zwecke auf die erste Aufgabe beschränken können, wie der Wirt-
schaftsgeschichte, Wirthschaftsstatistik, allein zuzuweisen. Schon das ürmaterial
der individuellen Thatsachen muss mit Rücksicht auf die zweite und
dritte Aufgabe aufgenommen, gesammelt, vollends verarbeitet werden,
auch wenn dabei zunächst die Lösung der ersten Aufgabe, die blosse Feststellung der
Thatsachen , der entscheidende Gesichtspunct ist. Für die Zwecke der Politischen
Oekonomie kommen dann allerdings Wirtschaftsgeschichte und Statistik nur als Hilfs-
wissenschaften und als Methoden in Betracht. Aber als solche gehören sie hierher.
Nur die Prfttension ist abzuwoisen, dass diese Geschichte und Statistik „Politische
Oekonomie“ seion und vollends, dass diese letztere nichts Weiteres sei (§. 76 ff.).
§. GO. — 2. Die zweite Aufgabe schliesst sich an die erste
unmittelbar und enge an. Es ist dem beobachtenden menschlichen
Geiste kaum möglich, sobald er die Beobachtungen der Erschei-
nungen nur mit einiger Aufmerksamkeit auf sich wirken lässt, das
Aehnliche und Unähnliche, das Gleichmässige und Ungleichmässige
der Erscheinungen in ihrem Vorkommen, ihrer Entwicklung, ihrer
Reihenfolge zu übersehen. Je mehr dann die Beobachtungen sich
ausdehnen oder wiederholen, um so mehr werden eventuell das
Zufällige, Gelegentliche, Nebensächliche einer- und das Wesentliche,
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Die theoretischen Aufgaben. Die zweite.
149
Regelmässige, Hauptsächliche anderseits oder m. a. W. das Con-
crete und Individuelle und das Typische und Generelle,
das Variable und das Constante in den Erscheinungen sich
von einander abheben. Durch isolirende und generalisirende Ab-
straction wird dann Beides verstandesmässig von einander getrennt
und zum vollen Bewusstsein und Verständniss gebracht. Dieses
Typische tritt in der Masse der beobachteten Fälle als empirische
Regelmässigkeit hervor, welche als solche bereits auf sie be-
dingende und bestimmende feste oder festere Ursachen, da-
mit auf eine Gesetzmässigkeit hin weist. Denn für unser
immer nothwendig auf Grund des Causalgesetzes operirendes Denken
ergiebt sich der Schluss von selbst, dass es mächtigere, tiefere,
gleichmässiger wirkende Ursachen sein müssen, welche sich im
Typischen der Erscheinungen durchsetzen. Das führt dann aber
auch zu der Annahme, dass das Typische, das Generelle, nicht
das Concrete, das Individuelle dasjenige sei, welches das wahre
Wesen, den eigentlichen Grundcharacter der Erschei-
nungen bilde, und dass daher die Ermittlung dieses Typi-
schen die Aufgabe — unsere z weite Aufgabe — sei, welche zur
tieferen Erkenntniss der Erscheinungen führe, als die blosse Fest-
stellung des Individuellen. M. a. W. : diese zweite Aufgabe wird
damit für die Wissenschaft zur wichtigeren, als die erste, wenn
die Erfüllung dieser auch vorangehen muss.
Nun gehen die wirtschaftlichen Erscheinungen aber auf die
wirtschaftlichen Thätig k eiten der Menschen mit zurück und diese,
bzw. die Handlungen werden als Willensacte durch Motive bestimmt.
Daher führt gerade die Ermittlung empirischer Regelmässigkeiten
der Erscheinungen als muthmaasslicher von festen Ursachen be-
dingter und bestimmter Gesetzmässigkeiten zu der Annahme, dass
in der hier mitspielenden menschlichen Motivation ein starkes,
wenigstens einigermaassen consta ntes Element enthalten sein
und sich in den Handlungen und dadurch in den Erscheinungen
durchsetzen muss. Denn nur mit dieser Annahme neben der
Annahme des Consta nten in der äusseren Natur (der
strengen Naturgesetzlichkeit hier) ist die Wahrnehmung von Regel-
mässigkeiten wirthschaftlicher Erscheinungen als den Folgen
(Wirkungen) menschlicher Handlungen vereinbar. Nur ein einiger-
maassen constantes und in der grossen Mehrzahl der Fälle constant
wirkendes Motiv oder eine entsprechende constante und constant
wirkende Combination von Motiven bietet nach dem Satze vom
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150
1. B. 2. K. 1. II. -A. Aufgaben. §. 60. Gl.
zureichenden Grunde eine genügende Erklärung der Regelmässig-
keit der wirtschaftlichen Handlungen und Erscheinungen.
Daher drängt die Wahrnehmung solcher Regelmässigkeiten mit
Notwendigkeit zur Nachforschung nach einem solchen Motiv oder
einer solchen Motivcombination hin, mithin zur Analyse der das
wirtschaftliche Thun bestimmenden oder dabei irgend mitwirken-
den Motive. Sowohl die eigene innere Selbstprüfung als die Beob-
achtung an dem Thun (den Handlungen) Andrer führt dann zu dem
Ergebniss, dass von allen den im vorigen Kapitel analysirten Leit-
motiven und den zu einem jeden derselben gehörenden Special-
motiven den Character einer einigermaassen Constanten
nicht eine bestimmte Combination von Leit- und Specialmotiven,
sondern nur ein einzelnes Leitmotiv, und zwar das erste, das
Streben nach dem eigenen wirtschaftlichen Vorteil, allenfalls mit
der „altruistischen“ Erweiterung zum Streben für diesen Vortheil
persönlich Nahestehender, an sich trägt.
Allerdings auch nur den Character einer einigermassc n Constanten, indem
variable Elemente nach Individuen, Gassen, Völkern, Zeitaltern u. s. w , wie oben hin-
länglich betont worden ist, auch hier mitspiclen und die wechselnden Combinationen
dieses ersten Motivs mit anderen Motiven als weitere variable, die Wirksamkeit jener
Constanten beeinflussenden Elemente sich geltend machen; aber anderseits doch in
der That auch in der grossen Masse der Fälle, zumal im entwickelteren freien Wirt-
schaftsverkehr, wo die Personen keinen Grund haben, andere ltücksichten als auf
ihr wirtschaftliches Interesse zu nehmen, eine wirklich einigermaassen C on stau t e
(§. 67 ff., Sl).
Aus dem Allen folgt, dass auch gerade wieder bei der Lösuug
dieser zweiten Aufgabe der Politischen Oekonoraie neben der
äusseren Beobachtung der wirtschaftlichen Erscheinungen und der
Nachforschung nach Regelmässigkeiten, nach dem Typischen dieser
Erscheinungen in grösseren Beobachtungsreihen, also neben der
Anwendung des inductiven Verfahrens, das dcductive Verfahren
und zwar speciell die Deduction ans unserem ersten Leitmotiv be-
rechtigt ist. Ja, man kann dann auch einen Schritt weiter gehen
und auf Grund der inneren und äusseren Beobachtung
der die wirtschaftlichen Handlungen bestimmenden Motive und der
überragenden Bedeutung des ersten Leitmotivs dabei mit der De-
duction aus diesem Motiv beginnen, in der Annahme (Hypothese),
dass es das wirtschaftliche Thun bzw. Handeln bestimme und allein
bestimme (§. 68).
Nothwcndig bleibt dabei nur immer die Berücksichtigung der Thatsachc, dass
diese Annahme selbst in der Masse der Fälle und vollends im einzelnen Falle nicht
immer, namentlich nicht immer genau, sondern nur einigermaassen zutrifft, daher
die deductiven Schlüsse, im Allgemeinen und zumal im Einzelfall nur einen bedingten ,
einen mehr oder weniger grossen Wahrscheinlichkeitswerth haben und einer contro-
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Die theoretischen Aufgaben. Die dritte.
151
lirendeu Nachprüfung an den Thatsachen bedürfen, d. h. dass wieder das inductive
Verfahren mindestens nachträglich und ergänzend Platz greifen muss (§. 74 , 75).
Aber die vorsichtige Anwendung der Deduction aus dem ersten Leitmotiv auch schon
zum Beginn der Untersuchung wird durch diese Erwägung nicht ausgeschlossen. Bei
der Schwierigkeit, mitunter der Unmöglichkeit äusserer Beobachtung, namentlich ge-
nügend zahlreicher und genügend fehlerfreier, wird um so mehr Werth und Berech-
tigung des deductivcn Verfahrens, wenn auch immer nur in den angedcuteteu Greuzen,
anzuerkennen sein. Das ist zu Gunsten der Ansichten und Methode der älteren bri-
tischen und der neueren österreichischen Schule gegen die Behauptungen des jüngeren
Historismus festzuhalten.
Für den Unterschied des Individuellen und Generellen in den wirthschaftlichen
Erscheinungen und für die Bedeutung dieses Unterschieds für die Classification der
Wissenschaften ist auf K. Mcnger’s „Untersuchungen“ zumeist zu verweisen. Die
Fachlitteratur bietet nichts ähnlich Eindringendes und Scharfes. Auf die Erklärung
und Begründung der in diesem Paragraphen gebrauchten Ausdrücke empirische Regel-
mässigkeit, Gesetzmässigkeit, und auf die Frage, ob diese, insbesondere der zweite,
überhaupt in der Politischen Oekonomie gebraucht werden dürfen, sowie auf die ganze
Frage Uber „Gesetze“ auf diesem Gebiete komme ich im nächsten Abschnitte
(Methoden) noch zu sprechen (§. 74, 86 ff.). Ich glaube die Terminologie und die Auf-
fassung festhalten zu dürfen, welche ich bereits vor langen Jahren in meiner Schrift
über die Gesetzmässigkeit in den scheinbar willkührlichen menschlichen Handlungen
(I. Schlussabschnitt) und in meiner Abhandlung über Statistik im Bluntschli’schen
Staatswörterbuch vertreten und dort zu begründen versucht habe. Vgl. auch Neu-
mann’s neusten Aufsatz über Natur- und Wirthschaftsgesetz (o. S. 142).
§. 61. — 3. Die dritte Aufgabe ist die Erklärung der Ur-
sachen und Bedingungen des causalen und conditioncllen Zusammen-
hangs der wirthschaftlichen Erscheinungen, ihrer Entstehung, ihres
Verlaufs, ihrer Wechselbeziehungen und Abhängigkeitsverhältnisse,
und zwar hier nun sowohl des Individuellen als des Generellen
der Erscheinungen : die theoretisch höchste und zugleich die Schluss-
aufgabe, an welche erst geschritten werden kann, wenn und soweit
als die beiden ersten Aufgaben nach Möglichkeit gelöst sind. Die
Arbeit an dieser dritten Aufgabe bildet aber ersichtlich nur eine
Fortsetzung und Vertiefung derjenigen an der zweiten. Das That-
sächliche der Erscheinungen feststellen, das Typische in ihnen
ermitteln, Beides alsdann auf Ursachen und Bedingungen zurück-
führen und so erklären oder nach einander beantworten, was ist,
was war, was ist das Wesentliche dabei, warum war und ist es
und so, wie es war und ist: das ist der gebotene methodische Gang.
Bei der Beschäftigung mit der zweiten Aufgabe werden wir schon
auf Ursachen und Bedingungen als bestimmende Factoren hin-
gewiesen, aber nur in dem Sinne, dass w*ir zur Annahme des
Vorhandenseins solcher aus dem Character der Erscheinungen
und ihres Verlaufs genöthigt und nur etwa muthmaassungsweise
auf bestimmte (concrete) Ursachen und Bedingungen als die maass-
gebenden oder mitspielenden geführt werden. Bei der dritten Auf-
gabe handelt es sich dagegen darum, diese Ursachen und Be-
dingungen selbst wirklich zu ermitteln, ihren Einfluss auf
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152
1. B. 2. K. 1. H.-A. Aufgaben. §.61.
die Erscheinungen und wie gesagt nunmehr sowohl auf das Indi-
viduelle — daher auch die Variationen , die Abweichungen vom
Typischen im concreten Fall — als auf das Generelle, Typische
der Erscheinungen möglichst genau zu bestimmen , demnach das
Abhängigkeitsverhältniss der Erscheinungen von den Bedingungen
und Ursachen, das Wirken der letzteren in derselben und in sich
kreuzender und überhaupt bestimmt in welcher Richtung genau
festzustellen, eventuell selbst es in Formeln und sogar unter Zahl
und Maass und Rechnung zu bringen, woran wenigstens mitunter
bei Vorhandensein betreifenden statistischen Materials gedacht
werden kann (§. 81, 82).
Die Aufgabe darf hier nicht mehr auf die Untersuchung des
Typischeu nach seinen conditionellen und causalen Seiten be-
schränkt werden, wenn dies auch immer noch die Hauptsache
bleibt. Auch die Abweichungen vom Typischen, welche sich even-
tuell wieder auf Regeln zurückführen lassen, und schliesslich die
concreten einzelnen Erscheinungen in ihrer individuellen Gestaltung
und in ihrer Uebereinstimmung mit wie in ihrer Abweichung von
partiellen und allgemeinen Regelmässigkeiten und Typen müssen
wie das Typische selbst auf ihre bestimmten Ursachen und Be-
dingungen zurückgeführt und so erklärt werden. M. a. W. man
muss ebenso suchen zu erklären, warum das und das Typische
sich zeigt und warum es da und da zurücktritt, warum die und
die Ursache und welche Ursache oder Ursachen die im Ganzen
beherrschenden, sich regelmässig durchsetzenden sind und warum
da und da andere Ursachen und alsdann welche Ursachen das
Individuelle bestimmen, warum es ähnlich mit den Bedingungen
geht und welche Bedingungen dies sind.
An irgend einem practisehen Beispiel, der Preisbildung, der Lohnbewegung,
der Entwicklung des Grossbetriebs, lässt sich leicht verfolgen, welche Fragen hier
nach dem Vorausgehenden bei dieser dritten Aufgabo auftauchen und der Beant-
wortung harren.
Die Unterscheidung von Ursachen und Bedingungen ist
bei dieser Aufgabe beachtenswert!]. Sie ist aber nicht immer ein-
fach und sicher durchzuführen. Die Ursache ist das Moment,
welches eine wirtschaftliche Erscheinung bewirkt und ihr die und
die Gestalt gegeben hat, die Bedingung dagegen dasjenige, welches
sie überhaupt und in dieser Weise möglich gemacht hat(Ahrens).
Ursachen sind die bezüglichen wirthschaftlichen Thätigkeiten, daher
die Willensacte der Menschen, Bedingungen theils ebenfalls mensch-
liche Thätigkeiten, theils Einrichtungen, Normen, welche freilich ja
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Die theoretischen Aufgaben. Die dritte.
153
immer auch menschlichen Willensacten, Handlungen ihre Entstehung
und Function verdanken. Als Ursache wirkt bei einer wirthschaft-
lichen Erscheinung die menschliche Handlung unmittelbar auf deren
Entstehen, Gestaltung, Verlauf ein, als Bedingung sowohl die Hand-
lung wie die Einrichtung, die Norm mittelbar, indem sie die Vor-
nahme der direct verursachenden Handlung oder die Wirkung
dieser Handlung oder die Handlung so und so vorzunehmen, ihr
so und so zu wirken erst möglich macht, fördernden, hemmenden
Einfluss darauf übt u. s. w.
Die grossen Organisationen, Einrichtungen, Normen des Staats, der Kcchts-
ordnuDgen, die Thätigkeiten der öffentlichen Körper kommen vorneinlich als Be-
dingungen der wirtschaftlichen Erscheinungen in Betracht. Aber auch die Leitungs-,
Controlarbeiten , die Unternehmung (der unternchinungswcise Betrieb als Organisation
der Arbeit Dritter gedacht), die Kapitalbeschaffung für den concreten Productious-
zweck sind eigentlich zunächst, mindestens in der Regel zumeist Bedingungen,
nicht Ursachen derjenigen wirtschaftlichen Erscheinungen, welche die Producte
selbst, die Arbeitszeugnisse, darstcllcu. Hiernach sind überhaupt nur Natur und
direct auf die Natur einwirkende Arbeit Ursachen, Factoren, Kräfte der Pro-
duction, Kapital und Unternehmung Bedingungen derselben. Etwas Derartiges
schwebt auch gewissen socialistischen Richtungen vor, welche nur die materielle
Arbeit in der Production beachten. Aber der Schluss aus solcher Auffassung ist falsch.
Die Erfüllung der Bedingungen für die Production (Kapitalbeschaffung, Verwen-
dungsleitung, Unternehmertätigkeit) ist ebenso wichtig, je nachdem wichtiger, als die
Erfüllung der Ursachen der Production, die directo materielle i,IIaud-)Arbeits-
leistung. Und „Arbeit“, „wirtschaftliche“ Arbeit ist Beides.
Die Methoden zur Lösung der dritten Aufgabe ergeben sich
wieder aus der letzteren selbst. Hauptsache ist die mindestens
streng logisch -gedankenmässige, womöglich experimentelle oder
nach deren Analogie erfolgende Isolirung der Ursachen, Be-
dingungen, Wirkungen, Folgen. Flir die gedankenmässige Iso-
lirnng leistet wieder das deductive Verfahren, wo aus nachge-
wiesenen wie angenommenen psychischen Motiven abgeleitet wird,
besondere Dienste. Da als Ursache wie als Bedingung wirtschaft-
licher Erscheinungen menschliche Thätigkeiten und demnach von
Motiven bestimmte Willensacte in Betracht kommen, so wird gerade
hier das deductive Verfahren von vornherein eine bevorzugte
Stellung einnehmen. Freilich wieder auf Grund innerer und äusserer
Beobachtung wird man möglichst diejenigen Motive festzustellen
haben, welche, und die Art und Weise, wie sie einwirken und
dann auf die Beschaffenheit der Handlung und Erscheinung als
einer Wirkung schliessen. Aber auch von angenommenen Ursachen
und Bedingungen wird man ausgehen dürfen, um dann zu er-
forschen, wie die Ableitungen daraus mit der Wirklichkeit stimmen,
wonach darauf jene ersteren Voraussetzungen der Deduction be-
stätigt oder berichtigt werden. Zu diesem Zweck müssen Be-
154
1. B. 2. K. 1. H.-A. Aufgaben u s. w. §. Gl, G2.
obachtungen der Erscheinungen selbst daher immer daneben her-
gehen, theils um an solchen Beobachtungen die Schlüsse des de-
ductiven Verfahrens zu prüfen, zu berichtigen, genau zu machen,
theils aber auch um aus ihnen Regelmässigkeiten in der Gestaltung,
Wiederkehr, Entwicklung der Erscheinungen und Abweichungen da-
von abzuleiten und so direct auf die Ursachen und Bedingungen ge-
führt zu werden. Demnach also auch hier die Anwendung des inductivcn
Verfahrens. Dasselbe ist dann möglichst so zu gestalten, dass es die Be-
nutzung der Methoden der experimentellenForscbung und mitderen Hilfe
eine quasi-experimentelle Isolirung der Ursachen u. s. w. ermöglicht.
Namentlich die vergleichende Statistik, ungleich mehr als die vollends
niemals einen „exacten" Beweis gestattende Geschichte (Historik), wenigstens die rein
historische Methode, und immerhin auch noch besser als die vergleichende historische
Methode, welche sich der statistischen doch nur nähert (§. 81, 84 fl'.), hat hier eine
wichtige Aufgabe, als direct die Ursachen und Bedingungen — wenigstens nach
hoher Wahrscheinlichkeit — aufdeckendes Probeverfahren gegenüber deu Schlüssen
der Dcduction aus den Motiven, — allerdings Beides unter der Voraussetzung einer
genügenden technischen Ausbildung der Statistik. Weiteres hierüber unten in der
Methodenlehre (§. 81 fl., S4). wo auch darzulegen sein wird, wie die Verwickeltheit
des causalen und conditionellcn Zusammenhangs die Schwierigkeiten der ausschliess-
lichen Anwendung sowohl des deductivcn als inductiven Verfahrens steigert und die
Ergebnisse jedes einzelnen unsicherer macht, was wiederum nur um so mehr zur
Verbindung beider Verfahren nöthigt. Dass auch dabei das deductive Verfahren
seinen Vorzug behauptet, erklärt sich daraus, dass es öfters allein, mindestens ge-
dankenmässig, die Ursachen zu isoliren und methodisch von den einfacheren zu den
verwiekeltercn Fällen vorzugehen gestattet.
B. — §. G2. Die drei letzten oder die practischen
Aufgaben. Hatten cs die drei analysirten ersten Aufgaben mit
dem Sein, Werden, dem Wesentlichen und dem Gelegentlichen,
mit den Ursachen und Bedingungen der wirtschaftlichen Er-
scheinungen zu tliun, so die drei letzten Aufgaben mit etwas hier-
von durchaus Verschiedenem: einmal mit Werthurtheilen, die vierte
Aufgabe, sodann in Anknüpfung daran, mit Aufstellung von Ideal-
bildern und Messen der Wirklichkeit daran , die fünfte Aufgabe,
und schliesslich mit Hinweisungen auf die Mittel und Wege, um
die Wirklichkeit in der Richtung nach diesen Idealbildern zu sich
entwickeln zu lassen und zu diesem Behüte auf sie zweckmässig
einzuwirken, die sechste Aufgabe.
Die Möglichkeit und die Vernünftigkeit, solche practische
Aufgaben überhaupt zu stellen, ist an zwei nicht zu trennende
Voraussetzungen gebunden, dass es sich hier nemlieh um mensch-
liche Wo bl fahrt si nter essen handelt und dass die betreffen-
den wirtschaftlichen Erscheinungen durch den menschlichen
Willen (Thun, Handlungen, Unterlassungen) in einer diesen Inter-
essen mehr oder weniger dienlichen Weise beeinflusst werden können.
V
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Die practischen Aufgaben.
155
Fehlte die erste Voraussetzung, so hätte es keinen Sinn, selbst nur die vierte,
geschweige die fünfte und sechste Aufgabe zu stellen. Fehlte die zweite Voraus-
setzung, so könnte zwar immer noch die vierte Aufgabe auftauchen, wenn Wohlfahrts-
interessen der Menschen in Frage kämen — z. B. menschlich nicht beeinflussbaren
Naturthatsachen, so doch im Wesentlichen dem Klima, der Bodenbeschaffenheit (Structur,
Inhalt) gegenüber. Selbst die fünfte Aufgabe fiele nicht nothwendig völlig fort,
wenn sie auch kein practisehes Interesse mehr hätte. Aber die sechste Aufgabe
käme natürlich gar nicht in Betracht.
Die Art und Weise, wie und die IutensivitHt, in welcher die drei
practischen Aufgaben hervortreten, wird daher auch bestimmt einer-
seits von der Auffassung dessen, was man unter menschlicher
Wohlfahrt versteht, von der Werthlegung darauf, von der Bedeu-
tung, welche man den wirtschaftlichen Dingen für diese Wohlfahrt
beimisst und anderseits von der Ansicht und Einsicht, dass und
wie menschliche Willensacte, Handlungen im Stande sind, die
wirthschaftlichen Erscheinungen in der Richtung der dem vor-
schwebenden Wohlfahrtsideale sich nähernden Entwicklung zu be-
einflussen. In ersterer Hinsicht ist deshalb der ganze Cultur-,
Sitten-, Religionszustand eines Zeitalters, in zweiter Hinsicht das
gewonnene Verständnis der ökonomischen und technischen Ent-
wicklungsbedingungen des Wirtschaftslebens, die naturwissenschaft-
liche Einsicht in die Naturkräfte und das technische und ökono-
mische Vermögen, diese Einsicht für die Zwecke der Production
zu verwertben, maassgebend. Das Auftauchen der drei practischen
Aufgaben ist demnach selbst wieder als ein nothwendiges Product
eines bestimmten höheren Entwicklungsstadiums von Technik,
Wirthschaft und Cultur anzusehen.
Es wird so erklärlich, was die Geschichte der Volkswirtschaft, der Politik, der
Cultur bei höher entwickelten Völkern, in der modernen Welt daher besonders seit
dem Ausgang des Mittelalters in den letzten Jahrhunderten zeigt: das schärfere und
bewusstere Hervortretcn der materiellen , der wirthschaftlichen Interessen und einer
Wirthschaftsthcorie und Praxis, welche immer zielbewusster diesen Interessen dienen.
Was wir in der Gegenwart sehen , das volle Ucbcrgewicht der materiellen Interessen,
die Ansicht von ihrer entscheidenden Bedeutung für das geistige und sittliche Volks-
leben, die Ueberzeugung von derselben Bedeutung des technischen Fortschritts für
die menschliche Wohlfahrt, d. h. für das, was man heute darunter versteht, — das
Alles ist nur ein Glied in der ganzen Entwicklung des geistigen Lebens der modernen
Ctilturvölker. Die „materialistische“ Geschichtsauffassung und Evolutionstheorie des
Socialismus mit ihrer Ueberschätzung der Möglichkeit und der practischen Bedeutung
des technischen Fortschritts stellt nur wieder das äusserste Extrem in dieser Entwick-
lung dar.
Es ist daher klar, dass bei Völkern und in Zeitaltern, wo die irdischen Inter-
essen nach religiösen, allgemein verbreiteten und mächtig Jedermann beeinflussenden
Anschauungen an Bedeutung zu rückstehen , Aufgaben wie unsero drei practischen
überhaupt wenig hervortreten. Nicht minder, wo nach Hecht und Sitte und nach der
sie tragenden allgemeinen Volksübcrzeugung das gesammtc Wirtschaftsleben, die
Stellung der Stände, der Einzelnen darin streng gebunden sind und vielleicht sogar
nach der herrschenden religiösen Auffassung als gottgewollte Einrichtungen gelten,
da fehlt die Kritik des Bestehenden oder bleibt machtlos auf einzelne Köpfe be-
schränkt und damit fehlen auch wieder die Bedingungen für das Hervortreten unserer
1. B. 2. K. 1. H.-A. Aufgaben u. s. w. §. 62.
156
drei Aufgaben. Je niedriger der Stand der Productionstecbnik auf allen Gebiete ik
wirtschaftlicher Thütigkcit ferner ist, je sichtbarer und fühlbarer bei mangelnder
Einsicht in Wesen und \\ irken von Naturkräften die äussere Natur wie eine fast un-
verrückbare Schranke dem Menschen und seinen wirtschaftlichen Bestrebungen
gegen ubersteht, je mehr seine Muskelkraft in der Production noch allein der kraft-
gebende Factor ist. seine Geisteskraft sich nur in eng begrenztem Maassc bei der
Lösung der technischen Productionsprobleine erfolgreich betätigen kann: desto mehr
wird natürlich — und grade von den Vernünftigsten. Nüchternsten — der historisch
überkommene , tatsächlich bestehende Zustand des Wirtschaftslebens als etwas
Natur n oth wendiges, wenig oder nicht Veränderliches, die mit diesem Zustaud
verbundene sociale Ordnung ebenfalls als etwas Festes, wieder auch als etwas
„Natürliches“, nicht als etwas in Entwicklung begritfenes oder gar Willkuhrliches
angesehen. Und abermals tauchen daher in der Wissenschaft und in der Praxis jene
drei Aufgaben auch gar nicht auf, ja es giebt unter solchen Verhältnissen überhaupt
noch keine „Wissenschaft“ vom Wirtschaftsleben. Nur in der Phantasie, im
Mähreben, in eiuer Zauberwelt beschäftigt sich der Volksgcist mit derartigen Auf-
gaben und schafft sich ein Bild vom ,,Sch!arafi'enlande“.
Umgekehrt natürlich, je mehr religiöse Anschauungen an Macht verlieren, das
„Irdische“, „Weltliche“ an Wertschätzung gewinnt, die Freude daran wächst, die
alte wirtschaftliche und sociale wie die politische Gebundenheit der Classen, Stände,
Einzelnen sich lockert, der Kriticismus und Individualismus sich verbreiten, das in
Kecht und Wirtschaft Ueberkommenc und Bestehende als etwas mehr oder weniger
Willkuhrliches erscheint, die Naturwissenschaften fortschreiten, die auf sie gestützte
Technik „Wunder schafft“, welche alle frühere Phantasie und Zauberwelt übertreffen :
desto mehr wird das Wirtschaftsleben und die davon bedingte sociale Ordnung selbst
Gegenstand kritischer, wissenschaftlicher Betrachtung, erkennt man es als
einen sich bewegenden, sich entwickelnden, von eigenen „Gesetzen“ abhängigen
Organismus, prüft man es an einem Wohlfahrtsideal, vergleicht daran die Wirklich-
keit und sinnt auf „Reformen“, d. h. mau stellt sich eben immer klarer die drei hier
in Rede stehenden Aufgaben. Einseitigkeiten, wie sie dann etwa in Betretf der Wür-
digung des technischen Productionsfortschritts und seiner weiteren Entwicklung, als
eine Art „socialtechnische Zukunftsmusik“ begegnen — nirgends mehr als in den
Phantasieen des Socialismus — werden dann wieder psychologisch begreiflich, zumal
in einem Zeitalter wirklichen raschen technischen Fortschritts. Die nüchterne, die
wirklich wissenschaftliche Auffassung muss vor Uebcrspanntheit und Illusionen auch
in diesem und grade in diesem Puncte, hinsichtlich eines „socialistischcn Schlaratfen-
lands“ natürlich warnen. Aber sie darf und muss doch auch den richtigen Kern von
Wahrheit festhalten, welcher hier immer mit vorliegt.
Man läuft am Wenigsten Gefahr, bei der Beschäftigung mit
den drei practischen Aufgaben den wissenschaftlichen Boden
zu verlassen, wenn man in Betreff folgender Puncte besonnen vor-
geht. Einmal wenn man das geschichtlich Ueberkoramene und
thatsächlieh Vorhandene selbst als ein wenigstens seinerzeit Noth-
wendiges auffassen und verstehen lernt, das eben deswegen auch
seine mindestens relative Berechtigung hat und wenn man es für
alle Reformfragen in Theorie und Praxis zum Ausgangspunct nimmt
Ferner wenn man hei der allerdings nothwendigen und richtigen
Würdigung des Einflusses der Rechtsordnung auf die Gestal-
tung des Wirtschaftslebens, auf Production und Verteilung — ,
so namentlich bei der Würdigung der maassgebenden Bedeutung
der Eigentums-, auch speciell der Privateigentbumsordnung in Be-
treff der sachlichen Productionsmittel hierfür — in der Kritik dieser
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Die practischen Aufgaben.
157
Rechtsordnung aus den wirtschaftlichen und socialen Folgen der
letzteren heraus die j eweilige Rechtsordnung doch selbst wieder
als ein wenigstens relativ notwendiges geschichtliches Product
auffasst, welches nur wieder mit Aenderung auch allgemeiner tech-
nischer, wirtschaftlicher, socialer, cultnrlicher, sittlicher Verhält-
nisse eine passende Aenderung erfahren kann. Endlich gilt es die
wichtigste, aber auch gefährlichste Illusion des doctrinären Radi-
calismus, wie gegenwärtig namentlich des extremen, wissenschaft-
lichen wie politisch -agitatorischen Socialismus, zu vermeiden, auf
die im vorigen Kapitel schon wiederholt hingewiesen wurde: nem-
lich die äussere Natur, weil wir grosse Fortschritte in der Erkennt-
niss ihrer Gesetze machen und diese Erkenntniss immer mehr in
der Technik benutzen lernen, und die menschliche psychische Natur,
weil sie von äusseren, auch wirtschaftlichen , socialen Lebensver-
hältnissen beeinflusst wird, nicht in höherem Grade als bewegliche,
biegsame, bildsame Factoren anzusehen, als sie thatsächlich sind.
Iu Betreff der äusseren Natur wird dieser Fehler /.war, wörtlich gesprochen,
kaum gemacht, indessen in der Ueberschwänglichkeit, mit der die naturwissenschaft-
lichen und technischen Fortschritte gepriesen werden, läuft eine Anschauung leicht
unter, welche die bleibende harte Sprödigkeit der Natur selbst zu übersehen geneigt
ist. In BetrefF der psychischen (und ethischen) Natur des Menschen aber macht sich,
wie wir früher sahen, die Neigung bemerklich, die Veränderungsfähigkeit des mensch-
lichen Trieblebens und der Motivation nicht nur für viel zu leicht, sondern auch für
viel zu gross — selbst in denkbar weitestgehenden Fällen — anzusehen, woraus denn
jene viel zu optimistischen Folgerungen des Socialismus gezogen werden. Hier gilt
es vor Allem, für die nüchterne Wissenschaft auch bei der Behandlung der prac-
tischen Aufgaben Maass zu halten und sich vor dem Wahne zu hüten, dass durch die
blosse, wenn auch vielleicht noch so richtige Kritik des Bestehenden schon der
Beweis für dessen nothwendige und crspricssliche Beseitigung und Beseitigbarkeit und
Ersetzbarkeit durch ein völlig Anderes, Neues geliefert sei. Denn die Möglichkeit und
die bessere Bewährung eines solchen Neuen ist durch eine solche Kritik ja nicht schon
bewiesen, sondern setzt immer einen eigenen directen Beweis voraus. Bei diesem mag
nicht die Angabe jeder Einzelheit eines socialökonomischen zukünftigen Neubaues im
Voraus zu verlangen sein, xvohl aber die Vereinbarkeit des Bauplans wie mit den
Naturgesetzen, mit welchen jede Technik in der Production zu rechnen hat, so auch
mit den psychischen, im Wesentlichen festen Grundzügon der menschlichen Natur.
Das muss namentlich gegenüber dem positiven Programm des Socialismus und der
bequemen, jetzt sogar mit einem wissenschaftlichen Mäntelchen gedeckten Doctrin
festgehalten werden, „keine Gemälde dos socialistischen Zukunftsstaats“, als etwas
wissenschaftlich Unthunliches, Utopisches, entwerfen zu wollen und zu können (s. fol-
genden g.)1).
Dem wissenschaftlichen Character der drei letzten Auf-
gaben lind der Einheitlichkeit der Disciplin, in welcher diese Auf-
gaben eben nur ein zweiter Tlieil der wissenschaftlichen Ge-
*) Vgl. die in diesem Puncte characteristischen Ausführungen in dem Aufsatz
„der Entwurf des neuen Parteiprogramms“ iu der socialdemokratischen Zeitschrift
Neue Zeit, B. IX, 2, S. 723 ff., 749 ff., bes. S. 757, 758. Darüber meine Hede auf dem
ev.-soc. Congrcss 1892.
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158
1. B. 2. K. 1. H.-A. Aufgaben. §. 62, 63.
sammtaufgabe sind, entspricht es auch allein, wenn bei denselben
an die Ergebnisse der Beschäftigung mit den drei ersten Aufgaben
angekniipft wird. Zu diesen Ergebnissen gebärt nun u. A. nament-
lich die Erkenntniss der Einwirkung der Privatrechtsordnung, be-
sonders der Privateigentums- und der Vertragsrecbtsordnung auf
die gesammte Gestaltung der Production und Vertheilung und auf
die einzelnen wirtschaftlichen Erscheinungen auf beiden Gebieten.
Diese Einwirkung gilt es zu beurteilen, sie an einem aufzustellen-
den Idealbilde der Production und Vertheilung zu prüfen und danach
Mittel und Wege der Reform zu erwägen, aber eben immer unter
Berücksichtigung der gegebenen äusseren, wenn auch im steigenden
Maasse durch naturwissenschaftlich-technische Fortschritte unter die
Herrschaft des Menschen gelangenden Natur und der im Wesent-
lichen ebenfalls in ihrem Triebleben und ihrer Motivation gegebenen
und darin nur geringfügiger und besten Falles höchst langsamer
und schwer allgemeiner zu machender Veränderungen fähigen
psychischen menschlichen Natur.
Z. B. die Bedeutung der Speculation, der Conjunctur für Production und Ver-
theilung, der Einfluss der zersplitterten und planlosen Productionsweiso auf den Gang
der Production, die Einwirkung des Privateigentums an den sachlichen Productions-
mitteln auf den Arbeitslohn, auf Kentenbildung (Grundrente!), auf private Kapital-
bildung, auf sociale Stellung wird durcli die Untersuchungen im Gebiete der theo-
retischen Aufgaben, besonders der dritten, ermittelt. Es ist natürlich und wissen-
schaftlich durchaus berechtigt, diese Ergebnisse nun bei der Behandlung der practischen
Aufgaben zum Ausgangspuncte zu nehmen und daraufhin z. B. auch, wenngleich zu-
nächst nur vom Standpuncte der Kritik aus, selbst sehr weitgehende Veränderungen
der Eigenthumsordnung für wünschenswerth zu erklären. Ob und wie dieselben dann
zu erfolgen haben, hängt freilich erst von der vorhin geforderten Beweisführung ihrer
Ausführbarkeit und ihrer wenigstens muthmaasslich besseren Bewährung ab. Aber
begreiflich und principiell richtig, auch correct wissenschaftlich ist es doch, dass
grade nach jenen Ergebnissen aus der Arbeit im Gebiete der theoretischen
Aufgaben tiefgreifende Eigenthumsreformen, entsprechende Veränderungen der wirt-
schaftlichen Organisation verlangt werden (z. B. in den Verhältnissen städtischen,
namentlich grossstädtischen Grundeigentums), indem eben an das historisch Ueber-
kommene und zu Recht wie tatsächlich Bestehende der Maassstab der social -
ökonomischen Kritik gelegt wird. Mit der Ausbildung der Politischen Oekonomie
als theoretischer Wissenschaft hat man eben einen kritischen Maassstab gewonnen,
welcher früheren Zeiten fehlte. Die Diagnose der historischen Wirtschaftsordnung
ist eine ganz andere geworden, die Prognose desgleichen. Es ist nur natürlich, dass
auch das therapeutische Verfahren sich demgemäss ändern muss. Hier tritft die Ana-
logie mit den Verhältnissen auf naturwissenschaftlieh-medicinischem Gebiete durchaus
zu. Die Therapie bleibt freilich auf beiden Gebieten das Schwierigste und bisher
Mangelhafteste. Aber dass sie sich in den Bahnen der wissenschaftlichen Diagnose
bewege, ist doch ein in beiden Fällen gleich berechtigtes Verlangen, bei aller Mangel-
haftigkeit und Lückenhaftigkeit der Diagnoso selbst noch. Ein blosses Curiren an
den Symptomen ist in der auf den Ergebnissen der theoretischen Arbeit der Poli-
tischen Oekonomie sich aufbauenden wirtschaftlichen Praxis oder Therapie so
wenig mehr ausreichend, als in der auf naturwissenschaftlichem Fundament stehenden
medicinischen Therapie.
§. 63. — 1. Die vierte und fünfte Aufgabe stehen in so
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Die praetischen Aufgaben. Erste und zweite.
159
engem Zusammenhänge, dass sie gleich vereint hier besprochen
werden. Bei der vierten Aufgabe handelt es sich um Werth-
u r t h e i 1 e , bei der fünften um die Gewinnung eines Maassstabes
für diese Urtheile an einem Idealbilde, welches theils zu diesem
Zwecke, dem Vergangenen und Gegenwärtigen gegenüber, theils
zu dem praetischen Zweck, dem Zukünftigen eine Richtung an-
zuweisen, aufzustellen ist.
In der vierten Aufgabe sind daher die wirtschaftlichen Er-
scheinungen und ihr Verlauf, ihre bisherige Entwicklung und ihre
Weiterentwicklungstendenz zu beurtheilen in ihrer Bedeutung oder
ihrem Werthe für die durch diese Erscheinungen nächstberührten,
mit ihnen in unmittelbarer Verbindung stehenden Personen (Pro-
ducenten, Consumenten, Theilnehmer am Productionsertrage, Ver-
käufer, Käufer u. s. w.), für engere und weitere Volkskreise, schliess-
lich für die ganze socialökonomische Gemeinschaft, das „Volk“,
daher hinsichtlich des Arbeitsmaasses , der Arbeitsart, der Be-
dürfnissbefriedigung nach Kosten, Art, Umfang, Gesichertheit.
Ein solches Urtheil setzt aber Vergleichungen und diese
setzen wieder einen Maassstab voraus, wie er, wenn auch nicht
immer mit klarem Bewusstsein, auch bei jedem Urtheil Uber Er-
scheinungen im Gebiete der Production und Vertheilung angewendet
wird, z. B. bei der Beurtheilung der Productivität eines ökonomisch-
technischen Verfahrens, eines Kostenbetrags, eines Preises, eines
Lohnes, Gewinnes u. s. w. Unmittelbar ergiebt jede Vergleichung
zwischen zwei Erscheinungen derselben Art, z. B. zwei Productions-
verfahren, zwei Kostensätzen, zwei Qualitäten, Preisen derselben
Waare, Löhnen derselben Arbeit, zwei ökonomischen Lebenslagen,
schon Anbaltspuncte zu einem Urtheil, indem die Differenz, welche
die Beobachtung zeigt, im einen Fall günstig, im anderen un-
günstig erscheint und danach sich das Urtheil richtet. Aber da-
mit wird noch kein allgemeiner Maassstab gewonnen, nach
welchem sich ein allgeinei ne s Urtheil fällen Hesse. Ein solcher
Maassstab liegt in einem Idealbild e, mit welchem man dann
die Wirklichkeit vergleicht und die Differenz zwischen Ideal und
Wirklichkeit misst.
Ein solches Idealbild darf aber natürlich kein willklthrliehes
Phantasiebild sein , das keinen practisch brauchbaren Maassstab
abgeben würde. Es braucht aber auch keineswegs ein solches zu
sein. Vielmehr lassen sich genügende Anbaltspuncte finden , um
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160
1. B. 2. K. 1. H.-A. Aufgaben. §. 63.
ein Idealbild von realistischem Werthe, welches einen brauch-
baren Maassstab abgeben kann, aufzustellen1).
Die Aufgabe theilt sich für das Gebiet der Fragen der Pro-
duction und der Vertheilung.
Auf erste rem muss zunächst nach dem jeweiligen, empirisch
festzustellenden Stande des besten ökonomisch-technischen
Könnens ermittelt werden, was die Production qualitativ, quanti-
tativ, nach dem Kostenpuncte überhaupt zu leisten fähig ist. Damit
ist das jeweilige Ideal der ökonomisch- technischen Leistungsfähig-
keit der Production gefunden. Mit demselben ist die ökonomisch-
technische Wirklichkeit des Producirens zu vergleichen und nach
der Differenz zwischen Ideal und Wirklichkeit die letztere zu be-
urtheilen. Das Ziel muss dann sein, sich diesem Ideale möglichst
zu nähern, soweit rein ökonomisch -technische Rücksichten allein
hier maassgebend sind, was frejlich nicht immer der Fall ist. So-
dann ist aber auch für die Production und ihre Leistung im Ver-
hältniss zum Güter bedarf für die Bedürfn iss befried i-
gung ein Ziel aufzustellen und dadurch wieder ein zweites ent-
sprechendes Ideal zu gewinnen, welches der Wirklichkeit zum
Maassstab der Beurtheilung dienen kann. Dieses Ziel und Ideal
äudert sich freilich zeitlich (geschichtlich) und örtlich immer wieder
und lässt sich nur für eine gegebene wirthschaftliche Entwicklung
und für eine gegebene Weiterbildung derselben, daher besonders
nur für einen gegebenen Stand der Productionstechnik und eine
gegebene Bevölkerungsgrösse und für einen gegebenen Fortschritts-
grad ersterer und Zuwachsgrad letzterer aufstellen. Das Ziel muss
unter diesen Voraussetzungen sein, dass innerhalb eines Gemein-
schaftskreises, wie insbesondere eines Volks (in der „Volkswirth-
schal't“), eine richtige Höhe und Beschaffenheit und ein richtiges
Kostenmaass der Production, bzw. der Ergiebigkeit derselben und
der Producte selbst behufs der angemessenen Bedürfnisbe-
friedigung des Gemeinschaftskreises, des Volks erreicht wird.
Daher in ersterer Hinsicht, in Betreff der Menge und Art der Producte soviel
und Derartiges, dass die gerechtfertigten materiellen, geistigen, sittlichen Bedürfnisse
des Volks in nicht zu kleinem und dürftigem , aber auch in nicht zu grossem und
üppigem Maasse befriedigt werden, welches letztere ebenfalls nicht ein „Ziel“ der
wirtschaftlichen Entwicklung sein darf, wenn man in der Kegel auch nur an den
andern Fall, an die Uebcrschreitung der Production gegenüber den Bedürfnissen , an
die „zu kleine“ Production denkt. In zweiter Hinsicht, in Betreff der Kosten, ferner
*) Vgl. auch hier wieder die zutreffenden Bemerkungen, welche Knies schon
1S55 gegen Koscher wesentlich ähnlich machte. Polit. Oekon. 2. A. S. -12. Auch
Eisenhardt, Geschichte, 2. A„ S. 234 ff.
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Die practischen Aufgaben. Erste und zweite.
161
eine solche Gestaltung der letzteren, wolche dem erreichbaren Kostenminimum. daher
dem erreichten Stande der Technik und dem regelmässigen Fortschritt derselben mög-
lichst allgemein entspricht, was dann auf die Ermöglichung angemessener Bedürfniss-
befriedigung des Volks zurückwirkt *).
Damit ist das Ideal einer den Bedürfnissen entsprechenden
Leistungsfähigkeit der Production gefunden, mit diesem Ideal ist
wieder die Wirklichkeit zu vergleichen, daran zu messen, danach
zu beurtheilen und diesem Ideal gilt es sich dann in der Wirk-
lichkeit möglichst zu nähern.
Auch auf dem Gebiete der Fragen der Vertheilung ist es
möglich, wie wir später im 3. Buche näher zeigen werden, ein
Ziel und Ideal aufzustellen , freilich auch hier nur ein historisch
und örtlich veränderliches, namentlich immer nur für einen ge-
gebenen Stand der Productionstechnik und der Bevölkerungsgrösse
und für eine gegebene Fortentwicklung beider. Der Antheil der
Classe und des Einzelnen am Productionsertrage entscheidet über
die ihnen mögliche relative Bedürfnisbefriedigung. Wie er sich
passend zu gestalten hat, ist vom Standpuncte des dauernden
wahren Interesses der Gemeinschaft, des Volksganzen aus
erwägen. Sobald einmal die Productionstechnik die Productivität
der nationalen Arbeit hinlänglich gesteigert bat und die Bevöl-
kerungsgrösse und ihr Wachsthum sich in den erforderlichen
Grenzen im Verhältnis zum technischen und Productionsfortschritt
hält — immer eine indispensable Bedingung in dieser Frage,
was der Socialismus fälschlich ganz unbeachtet lässt — so darf
auch bei, ja gerade bei einem auf der Privateigenthumsordnung
aufgebauten Productionssystcm als ideales Ziel folgende Vertheilung
hingestellt werden: einmal hinsichtlich der wesentlich von der Ver-
werthung ihrer Arbeitskraft lebenden Volksclassen, der sogen, „ar-
beitenden“ Classen i. e. S., eine Beantheiligung derselben am Er-
trage, welche ihnen die Befriedigung der Bedürfnisse in einem ihre
physische, geistige und sittliche Entwicklung verbürgenden Um-
fang und in einer entsprechenden Art sowie ihre Theilnahme an
Culturgütern gestattet und mit steigender Productivität der natio-
*) Vgl. hierzu das Buch vou Ii. Losch, nationale Production und nationale
Berufsgliederung, Leipzig 1892, wo die wirkliche technische Leistung auf vielen
Productiousgebieten mit der unter besonders günstigen Umständen schon erreichten
verglichen, die Differenz gemessen und die allgemeine Erreichung dieser technischen
Höhe als ideales Ziel hingestellt wird. Lehrreiche statistische Ausführungen, nur dass
bei dem Schluss die Bedingtheit der wirklichen allgemeinen Lage der Produc-
tionstechnik durch die gegebenen Verhältnisse , die örtliche Vertheilung der Be-
völkerung und dgl. nicht genügend beachtet wird.
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Theil. Grundlagen.
11
162
1. B. 2. K. 1. H.-A. Aufgaben. §. 63.
nalen Arbeit dieser Classen eine mindestens verhältnissmässig mit-
wachsende Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage gewährt
(Rodbertus); sodann hinsichtlich der besitzenden und höheren Ge-
sellschaftsclassen eine Höhe und Art des Erwerbs, welche ihren
wirtschaftlichen Leistungen im Interesse der Production und ihrer
Function im Interesse der gesellschaftlichen Cultur entsprechen,
daher mit richtiger Beschränkung des Maasses des Erwerbs und
mit tunlichstem Ausschluss ökonomisch unreellen und ethisch be-
deoklichcn Erwerbs.
Mit einem solchen Idealbilde der Verteilung ist dann wieder
die wirkliche Verteilung und die dadurch bedingte Lebenslage
und Lebensführung der Classen und Einzelnen zu vergleichen,
daran zu messen, danach zu beurteilen.
Die Thatsachen der Wirklichkeit, welche man zur Lösung
der vierten und fünften Aufgabe braucht, sind durch äussere
Beobachtung zu ermitteln; die Thatsachen zur Feststellung der
idealen Production nicht minder. Bei der Ableitung der Ent-
wicklungstendenzen der beiderlei Reihen von Thatsachen wird das
aus psychischen Motiven Schlüsse und Folgen ableitende Verfahren
der Deduction aber auch hier mit zur Anwendung kommen. Bei
der Aufstellung der Idealbilder der Production und Verteilung
hat man sich immer auf dem Boden derjenigen Thatsachen zu
halten, welche hinsichtlich der gegebenen äusseren Natur und
psychischen menschlichen Natur, der gegebenen Naturerkcnntniss
und der Fortschritte darin und des gegebenen und nach bisherigem
Maasse sich weiter entwickelnden technischen Vermögens, sowie
der nachweisbaren Entwicklungsfähigkeit der geistig -sittlichen
Seiten des Menschen einmal vorlicgen. Aber innerhalb der hier-
nach gezogenen Grenzen bleibt dann doch ein Spielraum für die
Thätigkeit der gestaltenden schöpferischen Phantasie. Diese
letztere ist es, welche alsdann realistische Idealbilder der Pro-
duction und Vertheilung sehr wohl aufstellen kann und darf. Bilder,
welche in den Einzelheiten der subjectivcn Willktihr nicht entbehren,
der Berichtigung durch die spätere Erfahrung bedürfen werden,
aber doch technisch und vor Allem psychologisch richtig
entworfen sein können, um sie als Etwas hiustellen zu dürfen, das
ausführbar, mindestens als Etwas, dem man sich durch bewusst
geleitete Richtung der Production und Vertheilung auch in der Wirk-
lichkeit nahem zu können möglich erscheint. Bei der Erwägung der
Wahrscheinlichkeit hierfür wird immer die Deduction aus inuth-
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Die practischen Aufgaben. Erste und zweite.
163
maasslich mitwirkenden Motiven menschlicher Handlungen auf
wirtschaftlichem Gebiete die Hauptmethode zur Prüfung sein.
In den sogen. Utopien und auch in den Bildern des Socialismus von seinem
„Zukunftsstaate“ oder, wenn man diesen neuerdings vom „correct wissenschaftlichen“
Socialisnius verworfenen und vermiedenen Ausdruck fallen lässt, von seiner socia-
listischen Productions- und Vertheilungsordnuug wird ja im Princip ebenso verfahren,
wie es hier gefordert worden ist. In einem solchen Verfahren liegt aber auch u. E.
nicht der Fehler dieser Utopien uud des Socialismus. Im Gegeutheil ist es ganz
richtig , so vorzugehen und zur Stützung der Kritik des Bestehenden wie zur Unter-
stützung der positiven Forderungen der Reform (oder der „Revolution“) auf social-
ökonomischem Gebiete Idealbilder der Wirklichkeit zum Vergleich gegenüber zu stellen.
Diese Idealbilder müssen eben nur technisch und psychologisch richtig ent-
worfen sein und auf diese Seiten hiu selbst wieder eiue freilich immer unvermeidlich
von der bisherigen Erfahrung ausgehende Kritik vertragen. Das thun die uto-
pistischen uud socialistischcn Idealbilder nicht oder viel zu wenig und eben deswegen
sind sie wissenschaftlich unhaltbar, in der That nur „utopisch“. Grade Die-
jenigen, welche so tiefgreifende Umgestaltungen der socialökonomischen Rechtsordnung
planen, wie die Socialisten, haben sogar die Verpflichtung, die Ausführbarkeit
ihrer Pläne und die bessere Function ihres Systems im Vergleich mit den bestehenden
Einrichtungen technisch und psychologisch wenigstens in den Grundzügen nach-
zuweisen und plausibel zu machen. Die neuere Wendung des Socialismus, wonach
er. wie schon im vorigen Paragraph bemerkt, ein solches Verlangen abweist, unter
dem Vorwand, es zu stellen und zu erfüllen sei „unwissenschaftlich“, entspreche nur
der älteren Phase des phantastischen, philantropischen, utopischen, nicht des neueren
„wissenschaftlichen“ Socialismus (s. die o. in Note 1 S. 157 genannten Aufsätze der
„Neuen Zeit“) ist eine bequeme Ausrede der Verlegenheit, wie gesagt, und auch
deswegen unzulässig, weil ja doch in der principiellen Forderung der Verwand-
lung des Privateigenthums an den Productionsmittcln in gesellschaftliches Gemein-
eigenthum, der Waarenproduction in socialistische Productionsweise (Erfurter Pro-
gramm von 1S91 nach Marx’schem Recept) ein bestimmter Plan aufgestellt
wird. Für diesen muss man doch Ideen der Ausführbarkeit und Ansichten der Be-
währung haben und kann keinem Gegner — und auch gutgläubigem Anhänger —
verdenken, dass er darüber etwas hören will. Da treten nun aber sofort Jedem
schwerste psychologische wio practisch-technische Bedenken entgegen, mit denen sich
der Socialismus auseinanderzusetzen nicht ablehnen kann. Thut er es gleichwohl, so
muss er sich auch gefallen lassen, wenn man seine „wissenschaftlich“ begründeten
practischen Ziele Utopien nennt. Was der Socialbmus, wie jede radicalcre social-
ökonomische Reformrichtung, allein verlangen kann, ist. dass man sich seine Pläne so
vernünftig und zweckmässig wie möglich entworfen und durchgeführt denke und dass
man sie dann in dieser Gestalt gegnerischerseits kritisire. Ein Vorgehen, wie etwa
in Schälfle’s Quintessenz des Socialismus. Wenn aber auch dann noch psychologische
Bedenken unwiderlegbar bleiben, so wird mau wohl der Kritik, auch vor der Probe,
Recht geben müssen.
Bei der hier erörterten vierten und fünften Aufgabe treffen diese Bedenken gegen
das Aufstellen von Idealbildern als ßeurtheilungsmaassstäben nicht zu, sobald man
nur in der angedeuteten vorsichtigen Weise vorgeht, immer die ökonomisch-technischen
Bedingungen des Fortschritts, die Verhältnisse der Bevölkerungsbewegung — welche
der Socialismus ebenfalls ganz unberücksichtigt lässt — , vor Allem aber das mensch-
liche, eriäbrungsmässig bekannte Trieblebcn und Motivationswesen gebührend beachtet.
Eier ist eben deshalb der Roscher’scho Vorwurf falscher Ideologie, „idealistischer
Methode“ nicht am Platze. Nebenbei bemerkt muss ja auch in jeder Frage de lege
ferenda, der kleinsten wie der grössten, so vorgegangen werden, wie hier befürwortet
wird: man muss am bestehenden Recht und seinen Folgen Kritik üben, sie an einem
Idealbildc vergleichen uud nach letzterem, als einem Zielpunct, das neue Recht ge-
stalten. So wird auch in jedem einzelnen Falle verfahren. Und das sollte bei den grossen
allgemeinsten wirthschaftsrechtlichen und wirtschaftlichen Reformfragen nicht auch
geschehen müssen? Die Ausführungen W. Roschers über die von ihm sogenannte
„idealistische Methode“ (System I, §. 23 — 25) scheinen mir dies Alles nicht ge-
ll*
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164
1. B. 2. K. 1. H.-A. Aufgaben. §. 64.
nügend zu beachten und das Ziel zu Uberschiessen, wie ja auch von dem bedeu-
tendsten Theoretiker der historischen Schule, von Knies, ebenfalls gezeigt wor-
den ist (s. o. Note 1 S. 160).
§. 64. — 2. Die sechste Aufgabe ist die im strengsten Sinne
practische, auch noch gegenüber den beiden vorausgehenden.
Sie beschäftigt sich mit der Frage des Geschehen-Solleus oder
Thun-Sollens nach der Frage des Sein-Sollens und Werden-
Sollens bei der fünften Aufgabe. Oder genauer gesprochen, sie
widmet sich der Untersuchung der Frage: welches sind die Mittel
und Wege zur Erreichung des aufgestellten Idealbildes der Pro-
duction und Vertheilung oder zur möglichsten Annäherung daran?
An dieser Frage kann auch die Politische Oekonomie als practische
Wissenschaft nicht vorbei gehen.
Da alles, was an solchen Mitteln und Wegen in Betracht
kommt, richtiges Thun und Lassen voraussetzt, so ergiebt sich,
dass erforderlich sind: wieder zuerst und zumeist psychische
Einwirkungen auf den menschlichen Wi Ile n, um ihn zur Wahl
richtiger Mittel und Wege zu bestimmen, ferner Hinwirkungen auf
richtiges Erkennen, daher auch Ausbildung des Wissens,
um diese Wahl zweckmässig zu treffen, und endlich Hinwirkungen
auf richtiges Können, um das richtig Gewollte und richtig Er-
kannte nun auch richtig zur Ausführung zu bringen.
In Betreff des ersten Punctes handelt es sich daher um Ent-
wicklung, Befestigung und Verbreitung ökonomisch und sittlich
richtiger Anschauungen und Grundsätze, Einbürgerung derselben
in die Gewohnheit und Sitte auch bei den Willensacten, Ent-
schlüssen, Handlungen, Unterlassungen im wirtschaftlichen Leben,
um bei dem Einzelnen, bei der Classe, bei der Gesammtheit der
Personen, im Volke, die richtigen Motive möglichst zur Wirk-
samkeit zu bringen. Dafür ist auf die Erörterungen im vorigen
Kapitel zu verweisen. Erziehung in dieser Richtung, Lehren
und Lernen der Selbstzucht , richtiges Beispiel geben und befolgen,
Entwicklung von äusseren Lebens- und Wirthschaftsverhältnissen,
welche günstig auf die Willensbildung und Willensäusserung, auf
das wirtschaftliche Thun uud Lassen einwirken, Beseitigung
oder wenigstens Hemmung ungünstig einwirkender, versuchlicher
Verhältnisse — das sind die Factoren, auf welche alles ankommt.
In Betreff des zweiten und dritten Punctcs ist die Aufgabe
wiederum eine erziehliche, ein Erziehen zum Lernen, Verstand-
ausbilden, Wissen -aufnehmen, Urteilen, wie zum practiscken
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Die practischen Aufgaben. Die dritte.
165
Thun , indem die Organe und Fähigkeiten dazu richtig ans-
gebildet, die Verfahrungsarten gelehrt und geübt, entsprechende
Gewohnheiten richtigen Vorgehens eingebürgert werden u. s. w.
Immer ist so das Individuum das Object, auf welches so
eingewirkt werden muss, und dessen Wollen, Wissen und Können
doch das direct Entscheidende sind. Möglichst viele, möglichst
alle Individuen im wirtschaftlichen Leben eben in diesen drei
Beziehungen richtig auszubilden und zum richtigen Thun und
Lassen Willens und theoretisch und praktisch befähigt zu machen
und wirklich dazu zu bringen, das muss das Ziel sein. Je mehr
es gelingt, desto mehr wird man sich dem Idealbilde der Pro-
duction, Verteilung, Bedtirfnissbefriedigung nähern.
Hierbei sind aber nun auch die wirthsch ältlich en
Organisationen und Einrichtungen, sowie die Normen
der wi rthschaftlichen Rechtsordnung als indirecte Mittel
und Wege zu diesem Ziel zu betrachten. Die bezüglichen Fragen,
die damit in Verbindung stehenden Ge- und Verbote, Zwang, Straf-
androhung, Strafverhängung treten daher hei dieser sechsten Auf-
gabe speciell hervor. Organisationen, Einrichtungen und Rechts-
normen bestimmen den Spielraum des individuellen Thuns und
Lassens und bestimmen als Bedingungen in dem früheren Sinne
des Worts (§. 61) das Ob und Wie, Wo und Wann dieses Thuns
und Lassens selbst mit. Sie sind deshalb möglichst so zu
gestalten , dass sie bei den Individuen richtige Motive des
Willens und Handelns zur Wirksamkeit, unrichtige zur Unwirksam-
keit oder zum Verschwinden bringen. Von diesem Gesichtspuncte
aus wird in diesem Werke in den späteren Büchern auf diese
Dinge und Fragen eingegangeu werden. Soweit es sich um
psychische Einflüsse dieser Verhältnisse handelt, ist davon schon
im vorigen Kapitel gesprochen worden.
Iü der Politischen Oekonomie als Wissenschaft hat man es dabei freilich
nicht mit den concretcn Problemen eines Landes zu einer bestimmten Zeit, nicht
mit dem practischen Einzelfall der Frage, was geschehen soll, zu thun. Damit be-
schäftigt sich die concrete Volks wirthschaftspolitik. Aber für diese liefern die
l ntersuchungen im Gebiet unserer sechsten Aufgabe und die Ergebnisse davon doch
mit die leitenden Gesichtspuncte, die Resultate einer vergleichenden Behandlung prin-
zipiell gleicher anderer Fälle. Auch für die Lösung concreter practischer Probleme
arbeitet daher doch die wissenschaftliche Nationalökonomie vor, wenn sie sich mit der
sechsten Aufgabe erfolgreich beschäftigt.
Die methodischen Hilfsmittel bei dieser Aufgabe sind wieder
äussere Beobachtungen des Wirklichen und seines Verlaufs, er-
fahrungsmässige Erprobungen der Organisationen, Einrichtungen,
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lOß 1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 1. A. Allgemeines. §. 05.
Rechtsnormen, wie der Gewohnheiten und Sitten, daher per-
sönliche Einzelbeobachtungen (§. 78, 79), statistische Aufnahmen,
Anstellung von Enqueten u. dgl. m. Aber auch hier haben
psychologische Analysen der Motive, Deductionen aus wirklich
oder voraussetzungsweise wirkenden Motiven ein grosses Feld der
berechtigten Anwendung. Mitunter sind sie selbst allein oder am
Besten anwendbar.
Namentlich wird bei jeder Erörterung von practischen Reformfragen der Orga-
nisation, der Rechtsordnung auch hier, wie bei der fünften Aufgabe, immer vor Allem
nach psychologischen Gcsichtspuncten eine Wahrscheinlichkeitsrechnung anzu-
stellen, eine Wahrschcinlichkeits- Veranschlagung vorzunehmen sein, ob dies und das
zu thun, einzurichten richtig sein wird, wie es zu machen ist, welche Folgen, Rück-
wirkungen es haben wird, eben weil man es mit „Menschen“, mit Wesen bestimmter
Triebe und Motive, mit im Wesentlichen gegebenem Sittlichkeits- uud Sittenzustande,
gegebenem Wissen und Können zu thun hat. Die allerdings blossen Wahrscheinliehkeits-
schlüsse des deduetiven Verfahrens spielen daher bei der Lösung der sechsten Auf-
gabe eine grosse Rolle. Man muss sich mit ihnen um so mehr und um so länger
begnügen, weil auch die Erfahrung in anderen Fällen nur Analogieschlüsse vielleicht
noch zweifelhafteren Werths zulässt und die Erfahrung mit einer zu treffenden Maass-
regel, mittelst Probe, oft in einer zu fernen Zukunft liegt.
So haben wir die Erörterungen der sechs Aufgaben — noch-
mals kurz zusammengefasst: bezüglich der Thatsachen, des
Typischen, des Causalen und Conditionellen , der Urtheile, der
Zielpuncte, der wegweisenden Fingerzeige — erledigt. Diese Er-
örterungen führten uns schon öfters nebenbei auf die methodo-
logischen Fragen. Die systematische Behandlung der letzteren,
zu welcher wir uns jetzt wenden, ist dadurch aber nicht entbehr-
lich geworden, sondern die Ausführungen in diesem ganzen Abschnitt
haben sie mit vorbereitet.
Zweiter Hauptabschnitt.
Methoden.
1. Abschnitt.
Allgemeines.
I. — §-65. Einleitung. Nicht mit Einer Methode, sondern
mit zwei Methoden, d. h. crkenntnisstheoretischen Hilfsmitteln,
haben wir es, wie sich schon im Vorausgehenden wiederholt ergab,
in der Politischen Oekonomie zu thun. Diese beiden Methoden
werden mit den alten wissenschaftlichen technischen Namen am
Zwcckmäs8igsten auch hier bezeichnet, als Methode der (speculativen)
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Methoden Einleitung-.
167
Dednction — deductives Verfahren — und der Induction —
induetives Verfahren. Beide Methoden gestalten sich nach dem
Object und den Aufgaben der Politischen Oekonomie eigentümlich,
aber ihr Grundcharacter wird dadurch nicht verändert. Ihre An-
wendung richtet sich nach den speciellen Aufgaben, den besprochenen
sechs, um welche es sich handelt; danach auch, ob die eine zuerst,
die andere alsdann, die eine mehr, die andere weniger, die eine mit
grösserem Erfolge, die andere mit geringerem Erfolge, allenfalls
auch einmal die eme allein , die andere gar nicht anzuwenden ist.
Zu erstreben ist im Allgemeinen, beide Methoden gemeinsam, wenn
anch in wechselnder Reihenfolge und in wechselndem Maasse, je
nach Aufgabe und Sachlage, zur Anwendung zu bringen. Einen
unbedingten Vorrang stets und überall hat keine von beiden,
der Streit darüber ist müssig, ein betreffendes Urtheil nur eine
Behauptung, welche sich dann meist aus der individuellen Begabung
(§. 11) und der individuellen Beschäftigung auf einem bestimmten
Aufgabengebiete erklärt und erst bewiesen werden muss. Eine
allgemeine und unbedingte Ausschliesslichkeit kann eben-
falls keine von beiden in der Disciplin beanspruchen. Von bezüg-
lichen Ansichten gilt wiederum das eben Gesagte.
Es giebt auch thatsächlich keinen Nationalökonomen , von welchem , kaum eine
einzelne nationalökonomische Arbeit, in welcher nur die eine oder andere Methode
allein angewandt worden wäre. Derartige Ansichten der betreffenden Autoren selbst
beruhen auf Selbsttäuschung. Mindestens unbewusst, in der Regel bewusst werden
fast immer beide Methoden benutzt. Das ist in der Organisation und Function unseres
Denkvermögens selbst schon begründet, in unserer wie in anderen Wissenschaften
ähnlicher Objecte und Aufgaben.
Theils die falsche Analogie der Naturwissenschaften, gelegentlich selbst die Vin-
dication der Politischen Oekonomie für diese, theils eine begreifliche, aber über-
treibende und unklare Keaction des nationalökonomischen Historismus, besonders der
jüngeren Richtung (§. 15), gegen Einseitigkeiten der britischen Oekonotnik in Methode
und Behandlungsweise (Ricardo, Senior) haben mehrfach zu einer besonderen Werth-
legung auf die Induction geführt, bisweilen beinahe zu einer Verwerfung der Deduc-
tion. Doch sind es immer nur sehr vereinzelte Stimmen, welche so geurtheilt haben.
Die besondere Zugänglichkeit grade der wirtschaftlichen Erscheinungen, als vom
menschlichen Willen bestimmter und daher psychologisch zu erklärender, für das
deductive Verfahren, wird dabei ganz unbeachtet gelassen. Vorwürfe, wie der (z. B.
in Anklängen selbst bei Br. Hildebraud), dass man mit dieser Methode in der Poli-
tischen Oekonomie, ähnlich wie früher in den Naturwissenschaften mit der Natur-
philosophie, völlig falsch und willkührlich, rein apriorisch construirend und raisonnirend
verfahre, zerfallen wegen dieser psychologischen Seite der wirtschaftlichen
Phänomene schon in sich selbst. Zum deductiven Verfahren gelangen zu können,
danach streben bekanntlich auch die „exactesten“ Naturwissenschaften, nachdem sie
durch Beobachtung, durch Induction gewisse Puncte festgestellt, als Ursachen ermittelt
haben und nun von diesen aus dann wieder deduciren. Die psychologische Grundlage
der Politischen Oekonomie gestattet ganz dasselbe Verfahren nur bereits in einem
früheren Stadium der Arbeit. Auch hier beginnt man allerdings mit Beobachtungen,
aber vorn em lieh mit inneren in Betreff' der eigenen Motivation, erkennt hier bestimmte
Motive, findet sie auch durch äussere Beobachtungen bestätigt und nimmt sie, wie
168
1. B. 2. K. 2. H.-A. Methodeu. 1. A. Allgemeines. §. 65, 66.
namentlich das Motiv des Strebens nach dem wirthschaftlichen Vortheil. das früher
von uns so genannte „erste Leitmotiv“ (§. 34 ff.), zum Ausgangspunct der Deduction.
Es ist ein besonderer Vorzug der Politischen Oekonomie, welchen scharfsinnige Ver-
treter der Induction, wie der Statistiker Kümelin (in dem Aufsatz über sociales
Gesetz, Reden und Aufsätze S. 12), mit Recht selbst anerkannt haben, dass man hier
so Vorgehen kann. Eine Erfahrungsmethode ist daher die Deduction in unserer
Wissenschaft doch ebenfalls.
So vage Ausdrucke wie „philosophische“ Methode, wesentlich im Sinne
der deductiven, werden besser vermieden, so wenn Roscher noch in seinem Grund-
riss (Göttingen 1843) diese und die „geschichtliche“, „historische“ „Methode“ gegen-
überstellt und jene verwirft (§. 1). Die Unhalibarkeit und Unklarheit des Ausdrucks
und Gegensatzes hat schon Knies (Politische Oekonomie, 2. A., S. 455) nachgewiesen.
Aber auch der Ausdruck „geschichtliche“ Methode für eine selbständige
eigene Methode ist zu beanstanden (Roscher, System I, §. 26). Was so genannt
wird, ist nur eine bestimmte Form der Beobachtungsmethode oder des inductiven
Verfahrens. Mit gutem Grunde hat Knies die 2. Auflage seines tiefgründigen Werks nicht
mehr als „Politische Oekonomie vom Standpunct der geschichtlichen Methode“, wie in der
1. Auflage, sondern „vom Standpunct der Geschichte“ betitelt. S. darüber und für
weiteres Bezügliche seine Vorrede zur 2. Aull., S. VI, dann Abscbn. I, bes. S. 351 ft,
Abschn. III. N. 10 u. 11, S. 453 11'.' Noch weniger pa>send ist die Bezeichnung einer
Methode wie der „historischen“ in der Politischen Oekonomie als „physiologische“
{Roscher. System I, §. 26), nach hiukender naturwissenschaftlicher Analogie ; daher
auch die Bezeichnung der Aufgabe als „Anatomie und Physiologie der Volkswirth-
schaft“ (freilich: „gleichsam“) nicht zu billigen.
In ähnlicher Weise und aus principiell gleichen Gründen, wie bei der „histo-
rischen“, lässt sich auch der Ausdruck „mathematische Methode“, im Sinne einer
selbständigen eigenen Methode bemängeln und wird er besser vermieden. Was man
darunter versteht, ist nur eine bestimmte, mathematischer Formeln und Construc-
tionen (Algebra, Geometrie, Diagramme) sich bedienende Form des deductiven Ver-
fahrens, welche unter gewissen Voraussetzungen angewandt wird (s. u. §. 68). Auch
von einer allgemeinen „Methode“ der Analogie (s. Knies, S. 479, Kautz I,
389, möchte besser nicht gesprochen werden.
Vollends Ausdrücke wie „theologische“, „juristische“, „idealistische“
„Methode“ (Roscher, System I, §. 22 IT.) richten nur Verwirrung an. Der Ausdruck
„Methode“ wird hier überhaupt in einem anderen , nicht im erkenn tnisstheoretischen
Sinne, gebraucht. Theils handelt es sich dann dabei um Behandlungsweisendes
Gegenstands (wie auch bei der „historischen“ , der „mathematischen“ „Methode“
s. darüber unten §.69), theils um die Berücksichtigung gewisser Gesich tspu n c t e
und Principien anderer Wissenschaften (oder Dogmen) in der Behandlung und
Lösung der Probleme.
II. §. 66. Allgemeine Characteristik beider Metho-
den in der Politisch en Oekonomie. Bei der Deduction
wird von dem wirklich bekannten oder als bekannt angenommenen
Allgemeinen zum unbekannten Besonderen, bei der Induction vom
bekannten Besonderen zum unbekannten Allgemeinen vorgegangeD,
bezw. von den» einen aus nach dem anderen gesucht. Die min-
destens hypothetische, eventuell auch bereits erwiesene Annahme
ist in beiden Fällen dabei, dass zwischen dem Allgemeinen und
dem Besonderen ein Zusammenhang und zwar derjenige von
Ursache und Bedingung, einwirkendem, abhängig machendem
Moment einerseits, Wirkung, Folge, der Einwirkung ausgesetztem,
abhängigem Moment andererseits bestehe. Die weitere stete
Annahme ist, dass gleiche oder gleichförmige Ursachen und
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Characteristik von Deduction und Inductiou.
idy
Bedingungen gleiche oder gleichförmige Wirkungen haben, jene
auf diese, diese auf jene schliessen lassen, die Wirkungen den Ur-
sachen proportional sein müssen. M. a. W. man operirt bei der
Anwendung beider Methoden unter der Voraussetzung des Causal-
gesetzes und scbliesst in beiden Fällen in prineipiell derselben
Weise. Die Deduction geht, kurz gesagt, somit von der voraus-
gehenden Ursache zur nachfolgenden Wirkung, die Induction von
der nachfolgenden Wirkung zur vorausgehenden Ursache. Wendet
man beide Methoden auf das Object der Politischen Oekonomie,
die wirtschaftliche Erscheinung an, so ergiebt sich von vornherein,
dass sich beide gegenseitig zur Ergänzung zu dienen haben.
Mit einer Thatsache der inneren und äusseren Beobachtung
beginnt man in beiden Fällen die Handhabung der Methode, nem-
licü mit der, dass die wirtschaftlichen Erscheinungen mit
aus menschlichen Handlungen, diese aus Willensacten, diese aus
Motiven hervorgehen und durch diese mit ihr Gepräge erhalten,
wenn die sonstigen Umstände, namentlich diejenigen der äusseren
Natur, als gegebene Factoren mit gegebener Einwirkung, d. h. als
constante Grössen, angesehen werden. Die Deduction nimmt nun
diese Motive zum Ausgangspuncte, sieht sie als die bewegenden
psychischen Kräfte und Ursachen an und schliesst aus ihnen der
Reihe nach auf die Willensacte, die Handlungen, folgert dabei
wieder aus gleichen und gleich wirksamen Motiven gleiche Er-
scheinungen bei der Constanz der übrigen Umstände. Sie muss
dabei aber, um zu richtigen Ergebnissen zu gelangen, die ein-
wirkenden Motive selbst, ihre Combinationen, Kreuzungen, ihre
Wirksamkeit richtig bestimmen und richtige Schlüsse ziehen. Zu
diesem Zweck muss sie von Beobachtungen der Motive aus-
gehen, Analogieschlüsse in Betreff der letzteren ziehen und schliesslich
möglichst zur Probe ihres Verfahrens ihre Schlüsse in Betreff der
Erscheinungen mit den Beobachtungen an diesen selbst vergleichen,
d. h. eben sich zur Hilfe des inducti ven Verfahrens bedienen.
Die Induction nimmt umgekehrt die wirthschaftlichen Er-
scheinungen selbst zum Ausgangspunct, sieht sie als mit bewirkt,
bedingt durch, abhängig von menschlichen Handlungen an und
sucht sie nun der Reihe nach aufsteigend auf Handlungen, Willens-
acte, Motive zurückzufUhren, ebenfalls unter Voraussetzung der
Constanz der sonstigen Umstände der Aussenwelt. Um ihrerseits
zu richtigen Ergebnissen zu gelangen, muss sie die Erscheinungen
richtig beobachten und sie in richtige Verbindung mit der genannten
170 1. B. 2. K. 2. II.-A. Methoden. 1. A. Allgemeines. §. 66.
Reihe von Momenten bringen. Um (len Beweis für die Richtigkeit
zu liefern, muss sie dann wieder behufs der Probe zum deduc-
tiven Verfahren greifen und nackweisen, dass ihre Schlüsse und
Ergebnisse sich mittelst dieses Verfahrens richtig bestätigen und
somit erklären lassen, d. b. dass die beobachteten Erscheinungen
wirklich in dem Abhängigkeitsverhältniss stehen können, welches
durch das inductive Verfahren festgestellt worden ist.
Bleibt bei diesem Vorgehen im einen wie im anderen Falle
ein „Rest“, welcher die Probe des anderen Verfahrens nicht be-
steht, so werden Fehler in der Beobachtung, in den Ausgangs-
puncten, in den Schlüssen auzunehmen sein. Lässt sich die Probe
immer je mit dem anderen Verfahren aus irgend welchen Gründen,
namentlich wegen der technischen Schwierigkeit oder der aus dem
Wesen des zu lösenden Problems folgenden Unanwendbarkeit dieses
anderen Verfahrens nicht anstellen, so leidet die Sicherheit des nur
mit der einen Methode gewonnenen Ergebnisses und die Richtig-
keit des letzteren kaun nur mit mehr oder weniger Wahrschein-
lichkeit — deren Grad sich übrigens unter Umständen wieder
genauer, selbst mathematisch genau, bestimmen lassen kann —
angenommen werden. Die Ergebnisse haben solange nur einen
hypothetischen Werth. So ist der Sachverhalt allerdings nicht
selten, vornemlich bei den Ergebnissen des deductiven und der-
jenigen Form des inductiven Verfahrens, welche als „historische
Methode“ bezeichnet zu werden pflegt.
Die Ergebnisse jedes der beiden Verfahren für sich allein
haben hiernach ohne oder vor der Prüfung mittelst des anderen
Verfahrens in Bezug auf die Wirklichkeit der Erscheinungen und
auf deren Erklärung stets nur einen solchen hypothetischen Werth.
Das gilt aber nicht nur von dem deductiven Verfahren, wo es wenigstens in
neuerer Zeit sehen mehr verkannt und auch von den Vertretern dieser Methode nicht
bestritten wird. Erst wenn und soweit als es gelungen ist, diese Ergebnisse der
Dcduction durch die äussere Beobachtung zu bestätigen, d. h. nachzuweisen, dass die
wirklichen Erscheinungen mit den deductiv abgeleiteten übereinstimmen — oder wie
und warum sie es im concreten Falle nicht thun — , können die deductiven Ergeb-
nisse für wirklich richtig gelten. Aber auch umgekehrt, erst wenn die durch das
inductive Verfahren gewonnenen Ergebnisse, die dadurch festgestellten Thatsachen,
abgeleiteten empirischen Regelmässigkeiten („Gesetze“), aufgedeckten causalen und
conditionellen Zusammenhänge ihre Erklärung mittelst des deductiven Verfahrens ge-
funden oder als mit den bereits bekannten Ergebnissen dieses Verfahrens in Einklang
stehend erwiesen sind , können jene erstereu Ergebnisse (des inductiven Verfahrens)
beanspruchen, als richtig beobachtet, abgeleitet, aufgedeckt angesehen zu werden.
Das wird in den an sich nicht unrichtigen Angriffen des deutschen Historismus gegen
die deductive Methode öfters übersehen Seine Vorwürfe treffen seine eigene Methode
ebenso, wenn er sich darauf beschränkt, diese allein anzuwenden.
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Cliaracteristik von Deduction und Induction.
171
Auch der bloss hypothetische Werth von Ergebnissen,
welche nach einer richtigen, wenn auch für sich allein nicht aus-
reichenden wissenschaftlichen Methode richtig gewonnen worden
sind — eine „Richtigkeit“, welche freilich in solchem Falle vor-
läufig auch erst nur hypothetischen Werth hat und noch auf andre
Weise geprüft und erhärtet werden muss — ist indessen immerhin
schon ein „Werth“, Etwas von wissenschaftlicher und auch
practischer Bedeutung, worüber man nicht kurzweg sich hinweg-
setzen kann, wie es nicht selten geschieht.
Gegenüber blossen Behauptungen, den oberflächlichen generalisironden Induc-
tiousschlüssen und schiefen und einseitigen, ebenfalls ohne Weiteres verallgemeinernden
Deductionen des „täglichen Lebens", in wirthscbaftlichen Dingen z. B. dos prac-
tischen Routiniers, des dilettantischen Laien, bei welchen ausserdem Interesse, Vor-
urtheil, l’nkenntniss so oft mitspielen und den Blick trüben, kann auch ein solcher
bloss hypothetischer Werth von Ergebnissen, welche mit einer Methode allein ge-
wonnen siud, selbst schon ein recht grosser sein. Jedenfalls ein solcher, dass der,
welcher ihn nicht mit Hilfe der anderen Methode wirksam bestreitet, sondern nur
mit Hilfe des eben angedeuteten Verfahrens angreift, noch nichts dagegen aus-
richtet und zum besseren Gegenbeweis verpflichtet bleibt. Mit einem beliebten Stich-
wort der Tagespolitik in Fragen , deren Entscheidung nach einer Theorie, d. h. z. B.
nach einer deductiv begründeten, — in Finanz-, Steuer-, Arbeiter-, Agrar-, Ge-
werbe-, handelspolitischen Fragen u. s. w. — dem Urtheilenden unlieb ist, kurzweg
sagen, dass man es in solchen Fällen mit „alten Schulmeinungen" zu thun habe,
oder, in verwandter Redeweise des Historismus, dass der und der Satz oder Schluss
nur der „veralteten Schuldogmatik" angehöre, ist natürlich hier gar nichts bewiesen.
Welcher wenn auch nur einstweilen hypothetische Werth von
Ergebnissen einer Methode allein, der deductiven oder der induc-
tiven, der grössere sei, lässt sich zwar nicht für jeden Einzelfall
allgemein sagen. Aber im Ganzen trifft es doch wohl zu, diesen
Werth bei den deductiv gewonnenen Ergebnissen höher anzu-
schlagen.
Hier wird wenigstens eine Erklärung von Thatsachen, Vorgängen, Typischem
der Erscheinungen, Zusammenhängen gegeben, welche vielleicht der Correctur bedarf,
aber bei logisch richtiger Anwendung des Verfahrens doch psychologische Wahr-
scheinlichkeit, eventuell schon bis zu einem hohen Grade, für sich hat. Die inductiv
gewonnenen Ergebnisse crmaugeln aber als solche noch einer derartigen Erklärung
überhaupt oder doch in höherem Maasse und stellen nur einzelne Thatsachen, besten-
falls gehäufte Thatsachen und empirische Regelmässigkeiten dar, welche ja für die
Kenntniss concreter Zustände manches Interesse bieten mögen, aber unerklärt oder
unerklärlich für die Wissenschaft doch einstweilen nur Rohstoff' sind, der erst noch der
Bearbeitung harrt. Dem Historiker und Statistiker, die beide oft so selbstzufrieden
und selbstgenugsam sind, darf das wohl gesagt werden.
Ein weiteres Eingehen auf die crkenntnisstheoretisclie Darstellung und Kritik
der beiden Methoden gehört nicht in dieses Werk und nicht zu unserer Competenz.
Hier kam es nur darauf an, für die nationalökonomische Methodologie eine
ganz generelle Charactcristik der beiden Methoden als Einleitung zu den für uns
wichtigeren specielleren Ausführungen über jede Methode für sich voranzuschicken.
S. sonst die oben S. 140 angegebene Litteratur über Logik und Erkeuntnisstheorie,
besonders Mill, Logik I, Buch 3, II, Buch 6. und Wundt, II, 17 ff., 47$ ff., 5H6 ff.
172 3. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 2. A. Deduction. §. 67.
2. Abschnitt.
Das deductive Verfahren.
I. — §. 67. Die Methode der Deduction in der
Politischen Oekonomie. A. Art und Weise und Voraus-
setzungen ihrer Anwendung. Diese Methode geht nachdem
Vorausgehenden von den psychischen Motiven aus und sucht
daraus die Willensactc, Handlungen und Erscheinungen auf wirt-
schaftlichem Gebiete abzuleiten und so zugleich zu erklären. Sie
beginnt daher mit der Ermittlung und Analyse der Motive des
Thuns, d. h. in der That mit Beobachtungen, solchen des
eigenen Inneren und äusseren Beobachtungen von Erscheinungen
und Handlungen, auch Dritter, welche sie auf ihre Motive zurück-
zuführen sucht.
Insofern liegen dieser Methode, wie bemerkt, in der That in ihrem Ausgangs-
puncte dieselben Operationen wie der inductiven Methode zu Grunde oder, was das
Nemliche besagen will, sie bedient sieh zur Erlangung ihrer Operationsbasis selbst
des inductiven Verfahrens. Der Umstand, dass eine eigene innere Prüfung möglich,
wenn auch, wie immer hier, mit vielen Schwierigkeiten, die Selbsttäuschungen und
Irrthümer zu verhüten, verbunden ist, giebt der deductiven Methode als einer aus
Motiven ableitcuden in allen Wissenschaften vom menschlichen Wollen und Handeln
ihre besondere und eigentümliche Bedeutung von vornherein. Und der weitere Um-
stand , dass unter den Motiven des wirtschaftlichen Thuns eines eine so besonders
wichtige Rolle spielt, giebt wieder schon im Ausgangspuuct der deductiven Methode
auch grade in der Politischen Oekonomie ihre characteristische Stellung und ihren
besonderen Werth. Die Frage der Anwendung der Methode der Deduction in der
Politischen Oekonomie macht daher eine Untersuchung erforderlich, wie sie im vorigeu
Kapitel aufgestellt worden ist.
Unter den Motiven, welche das wirtschaftliche Thun be-
stimmen, kann an und für sieb jedes den Ausgangspunct der De-
duction bilden und dann unter Voraussetzung seines alleinigen oder
so und so mit anderen Motiven sich combinirenden, aber auch
kreuzenden Einflusses abgeleitet werden , wie es auf das Handeln
einwirken wird, welches daher die aus diesem Handeln entspringen-
den wirthschaftlichen Erscheinungen sein werden.
Man könnte so eine Theorie der wirthschaftlichen Handlungen und Erschei-
nungen unter der Annahme der alleinigen oder der hauptsächlichen Wirksamkeit eines
jeden der früher unterschiedenen Leitmotive und selbst der einzelnen Specialmotive
bei einem jeden aufstellen und darauf Combinationen der Motive dabei berücksich-
tigen, welche dann zu Modificationen der Schlüsse führen würden. So Hesse sich eine
Theorie des Wirtschaftslebens nach egoistischen Motiven und nach dem Motiv des
Pilichtgefühls, nach dem alleinigen Motiv des Eigenvortheils und nach altruistischen
Motiven, nach dem Motiv des Ehrgefühls, der Arbeitsfreude ausbilden. Vgl. Knies,
Polit. Oek., 2. A., S. 504. Wundt, Logik, II, 591.
Als das am Allgemeinsten im Wirtschaftsleben verbreitete
und am Gleichmässigsten wirkende Motiv ergiebt die psychologische
Prüfung und die äussere Beobachtung unserer eigenen wie Andrer
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Art und Weise und Voraussetzungen der Deduction.
173
wirthschaftlichen Handlungen das erste der im vorigen Kapitel
besprochenen Leitmotive, das Streben nach dem wirthschaft-
lichen Eigenvortheil, das üblicher Weise sogenannte wirt-
schaftliche Selbstinteresse, den „Eigennutz“, „Egoismus“ in diesem
Sinne (§. 34 ff.). Dass freilich auch dies Motiv kein wirklich
gleiches und gleichmässig wirkendes bei allen Individuen, in allen
Zeitaltern, Völkern u. s. w. ist, zeigt jede etwas genauere Beob-
achtung und ist oben genugsam hervorgehoben worden. Dennoch
ist es an gleichmässiger Verbreitung und constanter Wirkung im
Ganzen doch jedem der anderen Leitmotive überlegen, wenn nicht
stets und überall, eine Annahme, welche sich indessen auch schon
manchfacb bestätigen Hesse, so doch in den Verkehrsgesellschaften
unserer modernen Culturvölker. Bei der Abstammung des Motivs
aus dem Trieb der Selbsterhaltung und des Eigenwohls (§. 26) ist
das auch begreiflich.
Daraus erklärt sich und rechtfertigt sich, dass die Methode der
Deduction der Politischen Oekonomie gerade dieses Motiv vor den
übrigen zum Ausgangspunct genommen hat. Es ergehen sieh aber
auch sofort die Voraussetzungen, unter welchen allein ein
solches Vorgehen zulässig ist, die Grenzen für den Werth der
mit dieser Methode zu gewinnenden Ergebnisse und die Forde-
rungen hinsichtlich der Controle und Prüfung der letzteren.
Bei der Aufstellung der Voraussetzungen für die An-
wendung der Methode wird hier mittelst isolirender Ab-
straction vorgegangen: man sieht, zunächst wenigstens, absicht-
lich von dem Mitspielen anderer Motive neben dem genannten ab;
mau sieht, wiederum zunächst wenigstens, ebenso ab von der indi-
viduellen (daher auch zeitlichen, örtlichen, gruppenmässigen u. s. w.)
Differenzirung des Motivs und seiner Stärke, überhaupt von irgend
einer Modification. Man nimmt es daher an als den einzigen
constanten und constant und gleichmässig wirkenden
Factor für das menschliche Handeln im Wirtschaftsleben, im Ver-
kehr. So gelangt man zu einer der ersten und wichtigsten Vor-
aussetzungen (Prämisse) im deductiven Verfahren der Politischen
Oekonomie: zur Annahme, dass ein Jeder seinen wirthschaftlichen
Eigenvortheil allein und gerade so wie jeder Andre verfolgen
wolle, ohne durch andere Motive, Erwägungen, Rücksichten,
also z. B. auch nicht durch Sitte, ethische Momente, Urtheil Dritter
u. dgl. m., sich daran hindern zu lassen. Dazu treten aber, wiederum
wenigstens zunächst , zwei weitere Voraussetzungen , welche
174 1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 2. A. Deduction. §. 67, 68.
gleichfalls mit Hilfe isolirender Abstraction zur Auwendung ge-
langen. Es wird angenommen, dass ein Jeder seinen wirtschaft-
lichen Eigen vortheil richtig und Alle ihn gleichmässig ver-
stehen oder kennen und dass sie durch die Rechtsordnung
nicht gehindert sind, diesen Vortheil wirklich zu verfolgen.
M. a. W. zu den Voraussetzungen des Wollens und Könnens
tritt noch diejenige des Dürfe ns. Auch bei der zweiten und
dritten Voraussetzung wird von individueller, zeitlicher, örtlicher
u. s. w. Differenzirung des Kennens und Könnens wie des Dürfens
abgesehen. Die dritte Voraussetzung entspricht dem System der
freien wirtschaftlichen Concurrenz, dies System als völlig con-
sequent und radical durcbgeflihrt angenommen.
Es ist klar, dass demnach die Schlüsse, die Ergebnisse des
deductiven Verfahrens, diesen drei Voraussetzungen gemäss, in
Bezug auf die Wirklichkeit nur hypothetischen Werth haben,
d. h. nur mit der Wirklichkeit der Erscheinungen genau überein-
stimmen können, wenn und soweit die Voraussetzungen selbst mit
der Wirklichkeit, daher mit den in dieser wirksamen äusseren und
inneren Bedingungen und Ursachen des wirthschaftlichen Handelns,
insbesondere mit der hier vorliegenden und zur Wirksamkeit ge-
langenden Motivation übereinstimmen. Ausserdem muss selbstver-
ständlich immer in der Durchführung des Verfahrens, daher nament-
lich in der Schlussziehung kein logischer Fehler begangen worden
seiD.
Da nun streng genommen jene drei Voraussetzungen in völliger
Reinheit, zumal alle drei auf einmal, schwerlich überhaupt je in
der Wirklichkeit genau erfüllt werden, so kann auch das logisch
durchaus richtig abgeleitete Ergebniss der Deduction — und gerade
dieses — absolut genau überhaupt niemals sich mit dem wirk-
lichen Thatbestand und Verlauf der wirthschaftlichen Erscheinungen
decken.
Dennoch behauptet das deductiv gewonnene Ergebniss seinen
Werth und die ganze zunächst streng unter den genannten drei
Voraussetzungen angewandte Methode der Deduction nicht minder.
Denn es wird so doch ein Bild der Erscheinungen gewonnen,
welches wenigstens in den Grundzügen der Wirklichkeit mehr
oder weniger ähnelt und ihr durch weitere Modificatiouen
der Voraussetzungen noch mittelst derselben Methode (§. 70) immer
mehr, schliesslich bis zu einem hohen Grade, ähnlich gemacht
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175
„Exacte“ Dcductiou.
werden kann. Zur Bestimmung der Grenzen des Werths der
zuerst, unter den vollen Voraussetzungen der Methode gewonnenen
Ergebnisse, und des Werths der Ergebnisse, welche im weiteren
Verlauf des methodisch durchgeführten deductiven Verfahrens ge-
wonnen werden, fehlt es auch nicht an Hilfsmitteln.
B. — §. 08. Die („exacte“) Deduction unter den
drei Voraussetzungen und ihre mathematische Formu-
lirung (,, mathematische Methode“)* Wenn genau unter den
genannten Voraussetzungen aus dem Leitmotiv des Strebens nach
dem wirtschaftlichen Vortheil richtig deducirt wird, so sind die
Ergebnisse dieses Verfahrens unter diesen Voraussetzungen auch
durchaus richtig. Die Methode der Deduction, und diese allein
im Gebiete der Politischen Oekonomie, verdient daher alsdann
hier auch den Namen einer „exacten“, nur die so erzielten Er-
gebnisse den von „exact“ gewonnenen, im Sinne der exacten
Wissenschaften. Die Methode kann sich denn auch hier sogar
des Hilfsmittels der exacten Wissenschaften, der mathematischen
Formulirung, des algebraischen Ausdrucks in ihrem ganzen Ver-
fahren und in der Fassung ihrer Ergebnisse bedienen. Sie ge-
winnt dadurch vollends den Character einer exacten. Die mit ihrer
Hilfe entwickelte Politische Oekonomie wird in dem Umfang,
in welchem die Methode angewendet wird, so selbst
eine exacte, auch eine streng theoretische Wissenschaft, welche
mit der theoretischen Mechauik, Physik in der That mit Recht
öfters verglichen wrorden ist.
Will man den auf dem Gebiete einer Geisteswissenschaft immer etwas miss-
lichen. mir persönlich wenigstens auch stets zu prätentiös klingenden Ausdruck „exact“
im Gebiete der Politischen Oekonomie überhaupt nicht lieber ganz vermeiden, so kann
man ihn jedenfalls nur in der angegebenen Weise anwenden, nicht in Bezug auf
eine der Inductionsmethodcn und auf deren Ergebnisse in unserer Disciplin, am
Allerwenigsten, nach einem sehr beliebten, aber ganz schiefen Sprachgebrauche des
jüngeren Historismus (besonders G. Schmoller's und der ihm Nahestehenden), auf
die sogen, „historische Methode“ und auf die mit dieser gewonnenen Ergeb-
nisse. Dann immer noch eher — aber auch nur missbräuchlich — auf die stati-
stische Methode und auf das mit ihr Erforschte (§. 80 H'.). Der Inductionsmethode
überhaupt, vollends aber der „historischen“, fehlt nicht weniger als Alles, um sich
und ihre Ergebnisse „exact“ nennen zu dürfen. Man kann hier nur der Karl
Menger’sehen Auffassung und Terminologie nicht bloss den Vorzug, sondern runter
dem erwähnten Vorbehalt, auch bei der Deduction lieber den Ausdruck „exact“ zu
vermeiden) auch allein Hecht geben.
Was hier Uber die Anwendung der Mathematik gesagt wurde, bestätigt eine
frühere Bemerkung in §.65, dass der Ausdruck „mathematische Methode“ in der
That auch nicht correct ist und besser vermieden oder wenigstens nur in dem aus
dem Vorausgehenden sich ergebenden Sinne für die „mathematische Formu-
lirung des streng unter den erwähnten drei Voraussetzungen operirenden deductiven
Verfahrens" angewendet wird. Eine eigene selbständige „Methode“ ist die
mathematische vollends nicht, sondern nur eine bestimmte Form der exacten deduc-
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176
1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 2. A. Deduction. §. 68.
tiveu Methode, wobei algebraische Zeichen und Formeln und geometrische Dar-
stellungen ftlr gewisse Grössen- und gegenseitige Abhängigkeitsverhäitnisse (Relationen)
ökonomischer Elemente zur Anwendung kommen. Dadurch kann eine knappere und
schärfere Fassung nationalökonomischer Sätze als mittelst Wortfassung erreicht werden,
aber neue Wahrheiten werden doch dadurch nicht gewonnen. Das haben nicht
alle Vertreter dieser mathematischen Methode immer so klar erkannt, wie jüngst
Mar sh all (priuciples of cconomics I, Vorwort), der sich besonders gern der Me-
thode, der Diagramme u. s. w. als Darstellu ngsmittel, aber nicht eigentlich zur
Beweisführung selbst bedient.
Namentlich auf den Gebieten von Problemen, wo das streng deductive Verfahren
sich am Besten anwenden lässt, in der Werth-, Preis-, Kosten-, Vertheilungstheorie,
kann diese mathematische Formulirung aber immerhin eigentümliche Vortheile
bieten. Der Werth der so gewonnenen Ergebnisse ist freilich durchaus begrenzt
durch den Werth des deductiven Varfahrens überhaupt, aber soweit ist er doch
auch anzuerkennen. Damit viel weniger weit, als einige scharfe mathematische und
„abstracto“ Köpfe, welche diese „mathematische Methode“ in der Nationalökonomie,
namentlich im Gebiete der genannten Fragen angewandt haben, wohl aunehmen,
aber doch weiter, als die einseitigen „historischen Köpfe“ es zugeben wollen. Ganz
richtig sagt hierüber W. Wundt (Logik II. 588): „Indem hierbei (in der abstracten
Theorie von Werth uud Tausch u. s. w.) von der Qualität der Werth- und Tausch-
objecte .... ganz abgesehen werden kann, gewinnt die Untersuchung einen Character
logischer Allgemeinheit, welcher, da alle jene Begriffe eine quantitative Beschaffen-
heit besitzen und in bestimmten Relationen zu einauder stehen, zur mathe-
matischen Formulirung der Schlussfolgerungen herausfordert. In der That ist eine
solche mehrfach mit Erfolg versucht worden (er citirt Walras uud Jcvons). Sie hat
den Vorzug, dass sie zu vollkommen präcisen Definitionen nöthigt, verwickelte Schluss-
folgerungen übersichtlicher gestaltet und manche Irrungen vermeiden lässt, welche
bei der unbestimmteren logischen Form der gewöhnlichen Darstellung leicht sich ein-
stellen können.“
Im Princip sind deswegen die Versuche einer „mathematischen National-
ökonomie“ oder einer mathematisch behandelten „reinen“ Politischen Ockonomie
(üconomie politique pure von Wal ras u. A. in.) so berechtigt, wie eine zunächst
rein deductiv behandelte Nationalökonomie, ja ist die mathematische Formulirung oder
„Methode“ eine Verfeinerung des deductiven Verfahrens, eine Steigerung des
exacten Characters. Das möchte ich auch den scharfsinnigen und wie immer bedeut-
samsten polemischen Ausführungen von Knies gegenüber (Polit. Oekon., 2. A.,
S. 500 ff.) gegen Walras, v. Thüncn festhalten. Nicht diese mathematische Formu-
lirung oder Methode ist zu beanstanden oder ganz zu verwerfen, sondern die nur
bedingte und ziemlich eng begrenzte Bedeutung der Ergebnisse ist her-
vorzuheben, ganz aus denselben Gründen, wie die gleich begrenzte Bedeutung des rein
deductiven Verfahrens, das uns hier beschäftigt. Was Roscher (System I, §. 22)
über die „mathematische Methode“ sagt, daran anerkennt und dagegen einwendet,
gilt eben in Betreff des deductiven Verfahrens überhaupt.
S. Liltcratur über die Anwendung der Mathematik in der Nationalökonomie bei
Roscher in den Noten zu §.22. Ilervorznhebcn sind: Cournot, rcchcrches sur
les principes inathomatiques de la theorie des richesses, Paris 183S, später ohne
Formeln principes de la theorie des richesses, Paris 1863 und Revue sommaire des
doctrines economiques (s. über ihn Mars ha 11 a. a. O und I.exis in dem Art.
Cournot, Hamlwörterb. d. Staatswiss. II, 889). Mehrere Schriften von L. Wal ras.
bes. seine Elements dticonoinie politique pure, Lausanne 1874, 1877*. theorie mathe-
matique de la richesse sociale, Lausanne 1883: Theorie der Preisbestimmung wirt-
schaftlicher Güter (deutsch), Stuttgart 1881 (s. darüber Lexis in Conrads Jahr-
büchern B. 37, N. F. 3, 1881, S. 427 ff.). — W. St. Jerons, thoory of political
economy, London 1871 (s. darüber W. Böhmert, Jovons, Leipzig 1891). — Von
Deutschen: v. Thttuen, isolirter Staat, Gossen, Entwicklung der Gesetze des
menschlichen Verkehrs, Braunschweig 1854, neue Ausgabe Berlin 1889. Laun-
hardt, mathematische Begründung der Volkswirtschaftslehre, Leipzig 1884 (s. darüber
Lehr in Conrads Jahrb. B. 45. N. F. 11, 1885, S. 162 ff). Ueber die ganze Rich-
tung Knies a. a. 0., Keynes, scope a. rnethod ch. 8.
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Deductive Ergebnisse und Wirklichkeit.
177
C. — §. 69. Das Verhältniss der deductiv ge-
wonnenen Ergebnisse zur Wirklichkeit der Erschei-
nungen. Mit den wirklichen wirthschaftlichen Erscheinungen
würden richtig abgeleitete Schlüsse der Deduction genau überein-
stimmen, wenn in der Wirklichkeit die drei Voraussetzungen, unter
denen dcducirt wurde, genau so vorlägen. Das ist, wie schon be-
merkt, nicht der Fall, eben deswegen die Incongruenz der de-
duetiven Ergeboisse und der Wirklichkeit. Aber andrerseits offen-
bar auch: je mehr die Verhältnisse der Wirklichkeit, unter denen
wirtschaftliche Handlungen vor sich gehen und wirtschaftliche
Erscheinungen hervortreten, den drei Voraussetzungen entsprechen,
desto mehr müssen richtige deductive Schlüsse mit der Wirklich-
keit harmoniren.
Es folgt daraus, wie schon früher in anderem Zusammenhang
hervorgehoben wurde, dass der Werth der in der bisher erörterten
Weise angewandten Methode der Deduction um so grösser ist und
wird, je mehr wirtschaftliche Handlungen und Erscheinungen
unter solchen wirklichen Voraussetzungen vor sich gehen, bzw. zu
Stande kommen, welche den hypothetisch angenommenen ent-
sprechen. Werden die Differenzen zwischen diesen Voraussetzungen
geringfügig, schliesslich minimale, so muss auch die Ueberein-
stimmung zwischen deductivem Schluss und wirklicher Erscheinung
eine grosse, schliesslich eine maximale werden. Daraus ergiebt
sich zwar immer noch ein durchaus begrenzter, aber doch
bereits ein positiver, nicht mehr bloss rein hypothetischer Werth
des deductiven Verfahrens auch für die wissenschaftliche Erkennt-
nis der Wirklichkeit des Wirtschaftslebens in gewissen Fällen.
Die Aufgabe ist dann, wieder beobachtungsmässig zu
untersuchen, ob und wie weit zwischen den angenommenen Vor-
aussetzungen der Deduction und den wirklichen Voraussetzungen
der wirthschaftlichen Vorgänge Ucbereinstimmungen und Ab-
weichungen und welche eventuell bestehen. Insbesondere ist dies
festznstellen für die betreffenden Personenkreise, um deren wirt-
schaftliche Handlungen es sich handelt, nach der psychologischen
Beschaffenheit, für Stände, Classen, Völker, Zeitalter, Orte u. s. w.
und namentlich auch für bestimmte Gru p pen wirtschaftlicher
Erscheinungen. Es wird sich dabei dann bald finden, dass in den
einen Fällen mehr, in den anderen weniger, in gewissen Fällen
aber in der That in sehr hohem Grade die wirklichen Voraus-
setzungen, unter denen wirtschaftliche Handlungen und Erschci-
A. Wiener, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Tboil. Grundlagen. 12
17»
1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 2. A. Deduction. §. 69.
nungen zu Stande kommen, den im streng deductiven Verfahren
angenommenen entsprechen. Hier wird dann zwar immer noch
die „Probe“ der Richtigkeit der Deduction durch das entgegen-
gesetzte Verfahren zum vollen Beweis nothwendig sein, aber doch
auch das Ergebniss der reinen Deduction an sich schon wirklichen
practischen Werth haben.
I)a, wo der rein geschäftliche Standpunct im wirtschaftlichen Leben ein-
genommen wird und völlig freier Vorkehr, Vertragsfreiheit besteht, wie am Meisten
im Handel, zumal im Grosshandel, da wird der deductive Schluss und die Wirk-
lichkeit auch übereinstimmen. Je mehr die geschichtliche Entwicklung des Wirt-
schaftslebens diesen „rein geschäftlichen“ Standpunct zum allgemeinen macht, daher
diesem entsprechende Motive, Anschauungen, Sitten sich verbreiten und herrschen,
mithin mit dem Siege der reinen Geldwirthschaft , mit dem Aufgehen des Berufs im
Gewerbe, mit der Einbürgerung des Systems und der rechtlichen und sittlichen Grund-
sätze der freien Concurrenz in allen Bevölkerungskreisen, desto mehr trifft das zu (vgl.
schon oben §. 47, 49). In den älteren Zeiten bei mehr gebundeueu ökonomischen und
Rechtsverhältnissen , bei einem anderen Zustande wirtschaftlicher Sitten, in Gassen,
Gegenden, wo der ältere Character des Wirtschaftslebens sich noch behauptet, ver-
sagt das deductive Verfahren mehr, aber auch nicht völlig.
Die Groppen von Erscheinungen auf den Gebieten des „Umlauf?“ und der
„Vertheilung“, daher diejenigen des Tauschs, Kaufs, Preises, der Einkommen-
bildung in der arbeitsteiligen Production auf der Grundlage der Privateigenthums-
ordnung und des freien Vertragsrechts, die Erscheinungen des Geld-, Münz-, Credit-,
Bankwesens und anderes Aehuliche sind deswegen überhaupt stets mehr, unter den an-
gedeuteten modernen Verhältnissen aber wirklich in besonderem Maasse durch das
deductive Verfahren in einer Weise festzustellen, abzuleiten und zu erklären, welche
mit den wirklichen Vorgängen im Wesentlichen selbst genau übercinstimmt. Bei
dieser ganzen Gruppe von Erscheinungen tritt am Meisten, trotz der Abhängigkeit von
psychischen Momenten, ein Mechanismus der Bewegung hervor. Eben deshalb
hier auch die Anwendbarkeit der „mathematischen“ Methode. Die Erscheinungen
auf dem Gebiete der „Production“ und „Consumtion“ entziehen sich zur Er-
mittlung ihres wirklichen Aussehens, Verlaufs dem deductiven Vertahrcn mehr, aber
doch auch nicht so weit, wie einseitige Vertreter der nationalökonomischeu Induction
behaupten. Ueberall. wo das „ökonomische Princip“ (§. 2S) waltet, das ja recht
eigentlich auch ein psychologisches Princip ist, wo es sich um Steigerung der
Productivität der Arbeit durch Entbindung und Entwicklung günstiger Einflüsse auf
die Arbeitslust, durch Ausdehnung der Herrschaft über die Naturkräfto, durch Ver-
mehrung und Verbesserung der Arbeitstbcilung handelt, gestattet das deductive Ver-
fahren immerhin auch manche erfolgreiche Anwendung zur Erschliessung der Wirk-
lichkeit der Erscheinungen, wenn auch hier das inductivo Verfahren an sich und zur
Probe der deductiven Schlüsse eine grössere Bedeutung und, falls es genügend tech-
nisch entwickelt ist, auch sicherere Ergebnisse hat. Durchaus hiermit übereinstimmend
äussert sich Marshall, princ. of economics, Vorwort p. VII, in Bezug auf die
Anwendung der Theorie des Normalwerths auf die Handlungen der nichtgeschäftlichen
wie der reingeschäftlichen Gassen, indem nur die Anwendung auf erstere nicht mit
derselben Genauigkeit des Einzelnen erfolgen könne. Die ältere Theorie hat gewiss
zu sehr ohne Weiteres geschlossen, dass „jeder Mensch“ im Wirtschaftsleben wie
ein geriebener Geschäftsmann, city man, handle; die historische Schule verfällt in den
entgegengesetzten, aber noch grösseren Fehler, bei den Nicht- Geschäftsleuten, bei
Menschen anderer Culturstufcn eine nicht nur gradweise, was richtig ist, sondern
principiell verschiedene wirtschaftliche Handlungsweise anzunehmen.
Für die wirtschaftlichen Verhältnisse der einen Verkehrsge-
sellsebaft, so der modernen, bei den heutigen Culturvölkern, er-
giebt daher das deductive Verfahren bereits einen wesentlich
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Deduetivö Ergebnisse und Wirklichkeit
179
richtigen Einblick in die Wirklichkeit der Erscheinungen und
in ihre Bewegung (ihre Tendenzen gleichförmiger Gestaltung
und Wiederkehr oder ihr „Gesetz“, s. u. §. 74, 87 ff.), namentlich in
die Richtung der Bewegung und in die Zielpuncte dafür. Für
die Verhältnisse einer anderen Verkehrsgesellschaft, so einer älteren,
leistet es erheblich weniger und versagt da und dort ganz den Dienst.
Für die eine Gruppe von Erscheinungen ist es, wenn auch wieder
nach dem ganzen Character der wirtschaftlichen, rechtlichen Ent-
wicklung und Zustände in ungleichem Maasse, brauchbarer, für
die andere Gruppe weniger brauchbar, bis zur vollen Unzuläng-
lichkeit.
Auch in dem günstigeren Falle wird mit der Deduction zwar auch noch nicht
das letzte Ziel der wissenschaftlichen Aufgabe erreicht: die Gewissheit, dass die
abgeleiteten Erscheinungen genau der Wirklichkeit entsprechen. Dazu bedarf es
immer wieder erst der Constatirung der Thatsachen durch die Beobachtung dieser
selbst. Auch wird die Deduction öfters nur die grossen Hauptzüge der Gestaltung,
Bewegung, Entwicklung der Erscheinungen geben können, nicht die kleineren, feineren
Nebenzüge, nicht, wie die beobachtungsmässigo Schilderung, ein photographisch ge-
naues Bild alles Einzelnen. Aber auch diese begrenzten Leistungen des Verfahrens
sind doch immer schon sehr wichtig. Die Gru n dstructur und Haupttendenzen
der Bewegung vieler wirtschaftlicher Erscheinungen, — im Bilde vom „social-
ökonomischen Körper'*: das Knochengerüst, die Bänder, Sehnen, Muskeln, Nerven-
stränge, der Blutumlauf, die hauptsächlichen Functionen — werden auf diese Weise
doch bereits zur Kenntniss und zum Vcrständniss gebracht. Damit ist doch schon
sehr viel gewonnen, mehr und Wichtigeres als mittelst des inductiven Verfahrens, das
vomemlich bisher nur zu Controle, Berichtigung, Bestätiguug und zur Verfeinerung
der deductiv gewonnenen Sätze, zur Ausmalung des Einzelnen, des Kleineren gedient
hat. Die nationalökonomischen Lehren auf den vorhin genaunten Gebieten und Er-
scheinungsgruppen, wo sich das deductive Verfahren besonders anwendbar gezeigt hat,
können zum Beleg dienen.
Aus Allem folgt, dass die Deduction in Bezug auf die Wirk-
lichkeit der Erscheinungen Nälierungswerthe verschiedenen
Grades giebt.
Das gilt doch selbst da, wo es sich um Verkeil rsgosellschaften handelt, welche
den drei Voraussetzungen der strengen Deduction weniger und eventuell recht wenig
entsprechen, mindestens bei denjenigen Gruppeu von Erscheinungen, welche an sich
die Anwendung der Deduction begünstigen. Da man es doch auch hier mit gewissen
typischen Grundzügen der menschlichen Natur, ihrem Triebleben und
ihrer Motivation, neben der Constanz der äusseren Natur, zu thun hat, kann das
auch nicht anders sein. Die gegentheilige Ansicht des Historismus übertreibt wieder
die individuelle, nationale , zeitalterliche Diiferenzirung der menschlichen Natur, wenn
sie zu anderen Ergebnissen kommt. Die Züge, welche das deductive Verfahren ab-
leitet, werden hier noch mehr nur ins Grobe, das ganze Bild der Erscheinungen noch
mehr ins Hohe entworfen sein, aber es braucht doch nicht falsch zu sein und ist es
auch nicht und die Leistungen des Verfahrens sind auch hier daher nicht werthlos
(vgl. die ähnliche Auffassung bei Marshall a. a. Ö und in seinem Buch 1, Kap. 0
daselbst).
Die Aufgabe ist mithin, jene Näherungswerthe der Wirklich-
keit immer näher zu bringen, ihre Abweichung von der Wirklichkeit
einerseits genauer zu bestimmen, womöglich zu messen, andrerseits
12*
180 1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 2. A. Deduction §. 70.
zu verringern, womöglich zu beseitigen. Zu beiden Zwecken dient
das inductive Verfahren mit und ist dazu schliesslich unentbehrlich,
wenngleich leider nicht immer anwendbar, so dass man sich eben
dann mit dem begnügen muss, was das deduetive Verfahren leisten
kann 1). Zu beiden Zwecken ist aber auch gerade letzteres unter
gewissen Modificationen seiner Anwendung mit brauchbar: d. h. es
lässt sich immerhin so verfeinern, dass die Nähcrungswerthe, welche
es gewinnt, immer geringere Abweichungen von der Wirklichkeit
zeigen. Dies geschieht auf folgende Weise.
D. — §. 70. Die Annäherung der dcductiv gewon-
nenen Ergebnisse au die Wirklichkeit durch metho-
dische Ae nderung der Voraussetzungen der Deduction.
Jede der drei Voraussetzungen, dass im wirtschaftlichen Leben
immer nach dem ersten Leitmotiv, dem wirtschaftlichen Eigen-
vortheil, gehandelt werden will, kann und darf, lässt sich ein-
zeln oder je zu zweien oder zu allen dreien auf einmal in geringerem
und stärkerem Maasse modificiren. Danach ändert sich danu not-
wendig auch der abzuleitende Schluss auf Willeusactc und Hand-
lungen, auf die Bewegung, die Richtung, die Intensivität der Hand-
lungen.
Diese Modificationen der Voraussetzungen können zunächst
wieder rein hypothetisch und willkührlich vorgenommcu
werden. Aber natürlich wird dabei bereits das Streben obwalten,
die Modificationen auf Grund der persönlichen Wahrnehmungen
und Kenntnisse des Operirenden den Verhältnissen der Wirklichkeit
anzupassen. Indem man dann wieder bei den Aenderungen der
Voraussetzungen möglichst methodisch verfährt, daher in Bezug
auf die letzteren systematisch Beobachtungen der Wirklich-
keit anstellt und auf Grund der Ergebnisse hiervon die Voraus-
setzungen der Deduction bildet und dedueirt, gelangt man zu
Schlüssen und Ergebnissen, welche sich den wirklichen Erschei-
nungen und Vorgängen in viel höherem Maasse und bei correctem
methodischem Verfahren in der Tbat immer genauer nähern, schliess-
lich bei hinlänglicher Ausdauer und Vorsicht in der Anwendung des
Verfahrens bis zu dem Puncte, wo sie ihnen wirklich entsprechen
(congruent werden).
*) Ein gutes Beispiel ist die Lehre von der Steuerüberwälzung, wofür auf
die Untersuchung im 2. B., 2. Aull, meiner Finanzwissenschaft (S. 332 11.) und auf die
dort erwähnte inductiv-statistische Arbeit von Schanz über die baierische Biersteuer
verwiesen sein mag.
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Annäherung der deductiren Ergebnisse an die Wirklichkeit.
181
Allerdings wird daher in diesem Stadium des deductiren Verfahrens in Bezug
auf die Feststellung der Voraussetzungen die (wiederum innere psychische, wie äussere)
Beobachtung in umfassendem und immer wachsendem und sorgfältigerem Maasso
mit angewandt, insofern inductir rorgegangen. Dadurch wird alles das genau zu
bestimmen gesucht, was im concreten Einzelfall, aber auch in den Massenfällen an
Ursachen , welche auf Willen und Handlungen psychisch einwirkeu, und an Be-
dingungen vorhanden ist und mitspielt, unter denen sich diese Einwirkung vollzieht
und die Willensactc, Handlungen und Erscheinungen zu Stande kommen. Aber als-
dann wird doch wieder durchaus inductir verfahren: man schliesst von Ursache und
Bedingung auf Wirkung, Folge. Daher verlässt man mit diesem Vorgehen die deduc-
tive Methode noch nicht.
Es sind hier zwar keineswegs allgemeine, aber doch öfters vorgekommene Fehler,
insbesondere von Oekonomisten der filteren sogen, britischen Schule, und allerdings
namentlich in Ricardo’scher Richtung zuzugesteheu. Einmal wurden die hypothetisch
angenommenen strengen drei Voraussetzungen der Deduction nicht immer in diesem
ihrem bloss hypothetischen Character festgehalten, Abweichungen davon in der Wirk-
lichkeit nicht genügend beachtet und dann die hypothetisch richtig abgeleiteten Er-
gebnisse als genau mit der Wirklichkeit sich deckend betrachtet. Sodann wurdo die
methodische Aendernng der Voraussetzungen der Deduction nicht oder nicht ge-
nügend vorgenommen, das deductive Verfahren in einem zu frühen Stadium als ab-
geschlossen angesehen. Allein, wie schon früher bemerkt (§. 4, bes. S. IS), sind das
doch nicht Fehler der Methode, welche gegen letztere etwas beweisen — höchstens
auf Gefahren derselben hindeuten — , sondern Fehler in der Anwendung der
Methode, welche denjenigen zur Last zu legen sind, die sie begehen. Die princi-
piellen Gegner der Methode, wie ein Theil der historischen Nationalökonomen, köuncn da-
her, wie sie nicht selten versucht haben, solche Fehler nicht zu Gunsten ihrer Auffassung
benutzen. Es folgt aus der Möglichkeit und eventuell der Leichtigkeit, bei der Do-
duction solche Fehler zu begehen , nur die Forderung eines grösseren Maasscs Vor-
sicht und allerdings auch diejenige, Controlen der Schlüsse mittelst des inductivcn
Verfahrens anzuwenden (§. 74 ff.), aber keineswegs die Unbrauchbarkeit der Methode.
Mit der methodischen, auch auf Grund von Beobachtungen erfolgenden Aende-
rung der Voraussetzungen der Deduction verlässt man diese Methode nicht, sondern
bildet sie nur feiner aus, um sie practisch, zur Erschliessung der Wirklichkeit, brauch-
barer zu machen. Die gegnerische Kritik , auch in der historischen Richtung, macht
es sich zu leicht, wenn sic ihren Nachweis, dass die Deduction unter den drei strengen
Voraussetzungen Ergebnisse liefere, welche mit der Wirklichkeit nicht oder nicht aus-
reichend stimmten, für einen Beweis der „Unfruchtbarkeit 4 der ganzen Methode auch
in deren verfeinerter Form hält. Es ist doch die erste Anforderung an objective
wissenschaftliche Kritik, dass die Position des Gegners wenigstens so günstig an-
genommen wird, als sie principiell und thatsächlich sein kann. Dagegen verstösst
jene Kritik, ganz abgesehen davon, dass die Ergebnisse der Deduction unter jenen
drei Voraussetzungen, wie im vorigen §. 09 gezeigt wurde , doch auch schon immer-
hin einen grösseren Werth haben, als dio Kritik von Seiten der Vertreter der Induc-
tion zugeben will.
Die methodischen Aenderungen der Voraussetzungen, unter
welchen deducirt wird, werden passend, wiederum mittelst isolircn-
der Abstraction, so vorgenommen, dass zuerst die erste Voraus-
setzung, dem wirtschaftlichen Vortheil allein und Seitens aller
Einzelnen gleichmässig folgen wollen, verändert wird, möglichst
den beobachteten Thatsachcn gemäss, während die beiden andren
Voraussetzungen unverändert bleiben; dass darauf mit der zweiten,
den wirtschaftlichen Vorteil allseitig richtig kennen und ihm
danach folgen können, Aenderungen erfolgen, während die erste
und dritte unverändert bleibt; und danach mit der dritten, dem
182 1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 2. A. Beduction. §. 70, 71.
Vortheil gleichraässig so nach der Rechtsordnung folgen dürfen,
so verfahren wird, die andren beiden die gleichen bleiben. Indem
man die Veränderungen auf zwei, schliesslich auf alle drei Voraus-
setzungen ausdehnt, in allen drei Fällen sie in verschiedenem
Maasse vornimmt, stets unter Benutzung von Beobachtungen, welche
die Voraussetzungen den concreten Verhältnissen der Wirklichkeit
anzupassen suchen, nähert man auch den Werth der Schlüsse
immer mehr der Wirklichkeit. Das Verfahren läuft also darauf
hinaus, neben constanten Factoren methodisch ge-
wählte variable Factoren mehr und mehr in das Rä-
sonnement einzufügen und dann abznlciten, wie unter den
so gestellten Voraussetzungen die wirtbschaftlichen Erscheinungen
aussehen und verlaufen. Auch hier wird schliesslich zur Controle
und Veritication die Beobachtung der Erscheinungen selbst
nothwendig sein und soweit als möglich erfolgen, also wiederum
inductives Verfahren hinzutreten müssen. Aber wenn die Voraus-
setzungen in Ucbercinstimmung mit der Wirklichkeit bestimmt sind
und dann nur in der Deduction selbst Fehler vermieden werden,
können die deductiven Schlüsse doch auch ohne oder vor dieser
Probe schon als richtig gelten.
Die Xothwendigkeit, immer mehr veränderliche Factoren und wechselnde Com-
binationen derselben unter sich und mit constanten im logischen Räsonnement , auf
welches das deductivc Verfahren hier hinauskommt, einzufügen, macht auch die An-
wendung der mathematischen Methode immer schwieriger und bald nutzlos (§. (3b).
Im Räsonnement kann man hier den Einfluss variabler Factoren, welche als Ursache oder
Bedingung in Betracht kommen, auf Bewegung, Bewegungsrichtung der Erscheinungen
leichter und deutlicher erfolgen.
§. 71. Durchführung der Veränderungen der drei
Voraussetzungen im Einzelnen.
1. Die Aenderungen der Voraussetzungen in Bezug auf das
Wollen — dem wirtschaftlichen Vortheil iu Willensacten und
Handlungen zu folgen — können sich auf zweierlei beziehen, ein-
mal auf die Thatsache der individuellen, classenweisen u. s. w.
Differenzirung der Stärke des Motivs, sodann auf M itberück-
sichtigung anderer Motive.
a) Gerade der erste Punct ist besonders wichtig, um die
Voraussetzungen der Deduction denen der wirklichen Vorgänge
mehr anzupassen und so die Schlüsse mehr der Wirklichkeit der
Erscheinungen zu nähern. Denn tatsächlich ist die Stärke des
ersten Leitmotivs nach Individuen, Berufen, Classen, Völkern, Zeit-
altern, Ländern u. s. w. wesentlich verschieden, was dann auch
wieder auf die verschiedenen Gruppen wirtschaftlicher Erschei-
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Veränderungen der Voraussetzungen der Deduction.
183
nnngen Einfluss austibt, je nachdem diese Gruppen je mit Individuen,
Classen u. s. w. von verschiedener StUrke des Motivs in besondrer
Beziehung stehen.
Z. B. inan beobachtet , dass die practischen Grundsätze des Händlerthuins (der
„city men“), von denen man in der Ableitung der Preise in der Deduction ausgeht,
eben keineswegs die allgemein verbreiteten in allen Geselischaftsclassen sind. Daraus
folgt sofort, dass die streng dcductiv ermittelte Theorie des Preises zunächst nur da
genauer zutreöen wird , wo cs sich um das Publicum des Händlerthums handelt,
daher bei den Grosspreisen, ausserhalb dieses Kreises nicht, daher nicht bei den
Kleinproisen. Indem man hier nun die einzelnen Classen (und schliesslich die Indi-
viduen) beobachtet in ihrem Verhalten im Verkehr, beim Kaufen u. s. w., findet man,
in welcher Weise die Leute von rein geschäftlicher Auffassung abweichen. Daraus
kann mau dann ableitcn, wie sich hiernach die Bewegung, Richtung der Preise, ihr
Verhältnis zu den Productionskosten gestalten wird , welche Nachtheile, welche Vor-
theile die einzelnen Classen. je nachdem, haben werden u. s. w. Implicitc folgen dann
hieraus für die richtigere Bcurthcilung von Einrichtungen des Verkehrs, der Rechts-
ordnung, z. B. des Princips der freien Concurrenz, das eben auf der Voraussetzung
auch der Gleichheit des wirtschaftlichen Wollens beruht, so mancherlei werth-
volle und practisch wichtige Schlüsse, ü. A. wird man namentlich auch bestimmen
können, wie nachdem Durchschnittsverhalten der Bevölkerung und der Classe,
des Berufsstands zu dem ersten Leitmotiv das Princip der freien Concurrenz in ver-
schiedenen historischen und in verschiedenen Personenkreisen ganz verschieden wirken,
daher auch ganz verschieden beurteilt werden muss.
h) Zwecks Mitbeilicksichtigung anderer Motive als mit-
ein wirkender Factoren können nach und nach alle anderen Leit-
motive und die verschiedenen zu ihnen gehörigen Specialmotive,
die wechselnden Combinationen derselben mit dem ersten Leitmotiv
und untereinander, altruistische Erwägungen u. s. w. unter die
Voraussetzungen der Deduction eingefligt werden. Wiederum vor-
nemlich in der Weise, dass auf Grund von Beobachtungen die
wichtigeren Fälle mitspielender anderer Motive und vorkommender
Combinationen unter diesen Voraussetzungen aufgenommen werden,
um abzuleiten, wie sich alsdann die Willensacte, Handlungen,
Erscheinungen gestalten werden. Die historische, örtliche, volks-
mässige, classen- und berufsweise, individuelle Difterenzirung der
gesammten Motivation im wirtschaftlichen Handeln lässt sich hier
nach den im vorigen Kapitel dargelcgteu Gesichtspuncten mit berück-
sichtigen. Und um die Methode der Deduction zu verfeinern, ihre Er-
gebnisse der Wirklichkeit genauer anzunähern, ist das notwendig.
Grade dass man das, zwar keineswegs immer, auch in der älteren Theorie nicht,
aber oftmals unterlassen oder nicht genügend gethan hat, bedingte die häufige In-
congruenz der Ergebnisse der Deduction mit den wirklichen Erscheinungen. Noth-
wendig und natürlich um so mehr, je mehr nach Zeitaltern, Völkern, Classen, Indi-
viduen, nach Sitten und Gewohnheiten, nach sittlichen und religiösen Anschauun-
gen u. s. w. die betreffenden Menschen in ihrer Motivation auch auf wirtschaftlichem
Gebiete eben nicht der Voraussetzung entsprachen, nur vom ersten Leitmotiv des
wirtschaftlichen Vorteils bestimmt zu werden, sondern von den anderen Motiven
mit beeinflusst wurden, — eventuell bis zur vollständigen Ucberwindung des prac-
tischen Einflusses des ersten Motivs, wie unter der Einwirkung mächtiger religiöser
Impulse: „Gebet Alles den Armen“ u. s. w.
184
1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 2. A. Deduction. §. 71.
Die Erfüllung dieser Forderung, entsprechend der Verschieden-
heit der wirklichen Motivation, die Voraussetzungen der Deduction
zu ändern, und die Vornahme der Deduction unter solchen ver-
änderlichen Voraussetzungen ist nun gewiss schwierig, aber sie ist
nicht unmöglich, wenngleich auch hier wieder das Ideal metho-
dischen Verfahrens nicht erreichbar sein mag. Auch verändert die
so gehandhabte Methode hier wieder nicht ihren Character und
geht nicht, wie wohl gemeint worden ist, bereits in die inductive
über, indem ihre Voraussetzungen so der Wirklichkeit nahe ge-
bracht werden. Denn es werden doch immer nur noch die
als Ursachen und Bedingungen fungirenden Thatsachen beob-
achtet, die Erscheinungen, welche davon abhängen, deductiv ab-
geleitet.
Anderer Ansicht ist hier Wundt (Logik II, 590 ff.), aber ich vermag mich der-
selben doch nicht anzuschlicssen. Er vergleicht hier die Abstractioncn und Hypothesen-
bildungen der „abstraeten Wirthschaftslehre“, deren Werth er gebührend würdigt, mit den
Voiaussetzungen der allgemeinen Mechanik, meint aber, der Vergleich falle doch zu Un-
gunsten der ersteren aus. Man könne bei dieser doch nur objective, nicht subjcctive
Bedingungen in das Verfahren einfügen. Bei einer gründlicheren Berücksichtigung
der psychologischen Eigenschaften der Menschen unter den subjectiven Voraus-
setzungen verliere die Theorie ihren exacten Character, der grade auf ihrer Einfachheit
beruhe. „Sobald man der Mehrheit widerstreitender Motive und der thatsäcblichen
Ungleichheit der Menschen Rechnung tragen will, gelangt man zu variablen Factoren,
deren Wirksamkeit von Fall zu Fall sich verändert, so dass dieselben höchstens nach
jedem Ereigniss geschätzt, nicht aber als allgemeine Voraussetzung der Erklärung
aller Ereignisse zu Grunde gelegt werden kann. Die abstracto Wirthschaftstheorie
begiebt sich also von selbst, wenn sie diese Zugeständnisse macht, auf den Boden der
historischen Nationalökonomik.“ Sie könne nur etwa statt des Eigennutzes u. s. w.
andere Eigenschaften in ähnlicher Ausschliesslichkeit voraussetzen , die dann freilich
zu ebenso einseitigen Folgerungen führen würden (s. o. §. 67). Ich möchte hier nur
zugeben, dass die Theorie, bezw. die deductive Methode bei der Modification der
Voraussetzungen ihren „exacten“ Character mehr einbüsse. Aber das ist eigentlich
kein Nachtheil , denn grade dieser so bezeichnetc Character — d. h. die Deduction
streng unter den drei Voraussetzungen — ist das Missliche, weil die Methode ihn
überhaupt nur der Annahme von Hypothesen verdankt, «reiche mit der Wirklichkeit
nicht stimmen. Was sie hier (daher auch z. B. im Puncto der mathematischen Fass-
barkeit) einbüsst, gewinnt sic an realem Werth bei der Veränderung der Voraus-
setzungen in der Richtung der Wirklichkeit. Nach Kategoriecn von handelnden
Subjecten (Menschen), daher nach Zeitaltern, Völkern, Classen und von Gruppen
wirtschaftlicher Erscheinungen, daher in der oben bereits angegebenen Weise, wird
man in der Regel die Voraussetzungen bezüglich der einwirkenden Motivation so ver-
ändern können, dass dieselben mehr und mehr der Wirklichkeit entsprechen. Als-
dann wird man doch auch hier abzuleiten vermögen, wie sich die Willensacte, Hand-
lungen. Erscheinungen, deren Verlauf in Gcmässheit der Modification der Voraus-
setzungen gestalten, namentlich auch im Verhältnis zu der Gestaltung streng unter
den drei Voraussetzungen.
An der angegebenen Stelle sagt Wundt auch einmal: „der menschliche Wille
schlägt nicht wie ein gestossener Körper unter der Einwirkung verschiedener Motive
eine mittlere Richtung ein, sondern pflegt einem herrschenden Motiv ausschliesslich
zu folgen“. Das trifft doch kaum immer zu. Ich kann z. B., dem ersten Leitmotiv
folgend, für einen Minimalprcis von x eine Waare als Käufer erlangen. Allein Ehr-
gefühl, Anstand, Mitleid u. dul. bestimmen mich, den Preis nicht soweit herab-
zudrücken, anderseits will ich doch meinen Vortheil nicht ganz aufgeben, d. b. nicht
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Veränderungen der Voraussetzungen der Deduction.
185
nur keinen übermässig hohen, sondern auch nicht den üblichen Preis von z. B. *— x
3 t
zahlen, vielmehr bewillige ich schliesslich etwa einen mittleren Preis zwischen diesen zwei
Greuzen, also — x. Dann hat doch mein von verschiedenen sich kreuzenden Motiven
0
bestimmter Wille in der That eine mittlere Richtung eingeschlagen. So aber liegen
die Dinge doch im Leben nicht selten, spcciell auch öfters im Gebiete der wirtschaft-
lichen Handlungen. Auch hier ergeben sich Diagonalen u. s. w. Die Veränderung
der Voraussetzungen bezüglich des Wollcns behufs Anwendung des deductivcn Ver-
fahrens entspricht dieser Auffassung.
2. In ähnlicher Weise lässt sich nun auch die zweite Vor-
aussetzung, bezüglich des richtigen Kennens des wirtschaft-
lichen Eigenvortheils und demgemäss des ihm Folgcn-Könnens
verändern, indem man namentlich von der Annahme gleich-
massigen Kennens und Könnens der Individuen absieht. Auch
hier ist die Aufgabe, dann diese Veränderungen der Voraus-
setzungen möglichst der Wirklichkeit anzupassen, daher wieder
dafür Beobachtungen methodisch anzustellen und besonders die
Massendifferenzirung dieses Factors nach Zeitaltern, Völkern,
Orten, Classen, Berufen u. s. w. festzustellen und die Ergebnisse
für die Verfeinerung der Deductionsmcthode zu benutzen.
Auch danach kann man dann wieder bestimmen, welche Modificationcn die
deductivcn Schlüsse, die unter den Voraussetzungen gleichmässigen Kennens und Ver-
folgen-Könnens des wirtschaftlichen Vorteils an sich richtig abgeleitet sind, erfahren
müssen, um sich mit der Wirklichkeit der Erscheinungen zu decken. Man wird z. B.
nunmehr auch dcductiv ermitteln können, welche Individuen, Berufe, Classen im
System der freien Concurrenz die mehr leidenden, die mehr gewinnenden sind, weil
sie der strengen zweiten Voraussetzung weniger, vielleicht gar nicht oder anderseits
mehr, vielleicht vollständig entsprechen; wird ableiten können, welche verschiedene
Bedeutung das ökonomische Princip je nach der Modification der zweiten Voraus-
setzung für das wirtschaftliche Handeln der Individuen, Classen, Zeitalter u. s. w.
in den Vorgängen der Production wie der Verteilung haben muss u. s. w.
3. Aeknlich wird dann auch die dritte Voraussetzung, be-
züglich des VerfoIgen-Dürfen8 des Vortheils, verändert, indem
man statt von freier Concurrenz und der ihr zu Grunde liegenden
Rechts- (auch Privatrechts-) Ordnung von allgemeinen oder theil-
weisen, nach Subjecten, Objecten unterscheidenden Beschränkungen
der freien Concurrenz und von anderen Rechts-, auch anderen
Privatrechtsgrundlagen ausgeht.
Die Modification dieser Voraussetzung ist von besonderer Bedeutung für alle
Untersuchungen der Folgen und Einwirkungen des wirtschaftlichen Rechts und
damit in Verbindung stehender Einrichtungen, daher namentlich für Fragen der
practischen Nationalökonomie, aber doch dafür nicht allein. Auch die theoretischen
Fragen des Umlaufs, der Verteilung, von Preis, Lohn, Zins u. s. w. gestalten sich
mit der Modification der dritten Voraussetzung ganz anders, z. B. bei Monopol-
verhältnissen, woraus sich dann für die praclische Seite dieser Fragen auch wieder
Folgerungen ergeben. Auch hier sind die Aenderungen der Voraussetzungen wieder
möglichst nach Beobachtungen der Wirklichkeit vorzunehmen, um dann zu dedu-
ciren. Grade in Betreff dieser dritten Voraussetzung hat schon die ältere Theorie
186
1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 3. A. Deduction. §. 7t, 72.
gegenüber offenkundigen Thatsachcn der Rechtsordnung auch unter Annahme von
Modificationen der freien Üoneurrcnz, der Vertragsfreiheit, der freien Eigenthums-
verfügung, unter Berücksichtigung von anderen historischen öffentlichen und Privat-
rechtsordnungen, z. B. der Zunftverfassung, der Schutzzölle, der Privilegien und Mo-
nopole, der Verhältnisse der persönlichen Unfreiheit, des fehlenden oder beschränkten
Privateigenthums am Boden u. s. w. das deductive Verfahren benutzt, um abzuleitcu,
wie unter der und der concrotcn, historischen, örtlichen Voraussetzung in Bezug auf
Rechtsordnung und Concurrenz die wirtschaftlichen Handlungen und Erscheinungen
ansfallen werden. Freilich sind dabei dann wieder öfters Fehler begangen worden,
die jedoch abermals nicht in der Methode selbst, sondern in mangelhafter Anwendung
der letzteren ihren Grund hatten. Man hat z. B. unter der strengen ersten Voraus-
setzung des allein und gleichrnässig Verfolgen-Wollens des Eigenvortheils, deducirt und
die Schlüsse als mit der Wirklichkeit sich deckend angenommen, ohne zu berück-
sichtigen, dass unter anderen Kechtsordnungen und damit in Verbindung steheuden
anderen Wirtschaftsorganisationen auch das cn.te Leitmotiv sich weniger stark,
weniger gleichrnässig, nur mit anderen Motiven combinirt und dadurch moditicirt
geltend macht. Oder man hat die Ergebnisse der Deduction unter der der Wirk-
lichkkcit etwa entsprechenden Voraussetzung einer so und so beschränkten Concurrenz
etwa gar schon deswegen ungünstig beurteilt, weil sie von den unter Voraussetzung
völlig freier Concurrenz abzuleitenden Ergebnissen abwichcn, indem man das, was
theoretische Voraussetzung der strengen Deduction war, in einem seltsamen logischen
Missverständniss zum practischcn Postulat des Seinsollens machte. Solche Fehler
lassen sich aber doch vermeiden und werden von den Vertretern der deductiven Me-
thode jetzt allgemein vermieden.
Auch die Verhältnisse von wirtschaftlichen Phantasiegebilden, Utopien,
voller socialistischcr Organisation der Production und Verteilung und der dabei ge-
botenen Kechtsordnung unterstehen der Beurteilung mittelst Anwendung des deduc-
tiven Verfahrens, ja nur mittelst dieses, da hier ja von einer Beobachtung von noch
gar nicht existirenden wirtschaftlichen Erscheinungen nicht die Rede sein kaun.
Man deducirt unter Voraussetzungen einer Rechtsordnung, wie sie dem betreffenden
Gebilde entsprechen müsste, indem man abzuleiten sucht, welche Motive wirtschaft-
lichen Handelns oder welche Combinationen von Motiven hier möglicher Weise init-
spielcn könnten und würden und wie sie auf Handlungen und Erscheinungen einwirken
würden. Auch hierbei kann man freilich nur von der uns bisher durch innere und
äussere Beobachtung bekannten menschlichen Motivation ausgehen , immerhin aber
eine solche, noch auf Grund der Erfahrung und des psychologischen Schlusses mög-
lich erscheinende Modification der Motivation, welche den Plänen einer socialistischen
Organisation günstig wäre, mit in Erwägung ziehen. Stösst man hier, wie es u. E.
geschehen wird . auf unlösbare oder wenigstens uns auf Grund der bisherigen Erfah-
rung über die Motivation und deren Modiiicirbarkeit unlösbar erscheinende Schwierig-
keiten zwischen den Anforderungen, welche in einer solchen Organisation an die
menschliche Motivation gestellt werden müssten, und der tatsächlichen und muth-
maasslichen Gestaltung dieser Motivation, so wird man zu dem deductiv gewonnenen
Ergebniss der wahrscheinlichen psychologischen Unmöglichkeit einer derartigen Orga-
nisation gelangen, wie wir es schon im bisherigen Verlauf unserer Untersuchungen
mehrfach taten (§. 3, 03). Damit ist zwar auch hier vor wirklicher Erfahrung durch
die Probe noch keine cndgiltige Entscheidung in einer solchen Frage gefällt, aber
doch mindestens die Beweislast dem Vertreter solcher Organisationen zugeschoben.
(Vgl. meine Rede über das socialdemokratische Programm, 1 S!i2, S. 3b.)
E. — §.72. Die auf dem deductiven Verfahren auf-
gebaute Wirtschaftswissenschaft als „logische“
Wissenschaft. Gestaltet man das deductive Verfahren in der
angegebenen Weise, so entspricht cs wissenschaftlichen Anforde-
rungen und passt sich der Natur des Objects der Wirtschafts-
wissenschaft bzw. auch der Politischen Oekonomie, der aus mensch-
lichen Handlungen und Willensacten hervorgehenden wirthschaft-
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Die Wirtschaftswissenschaft als logische Wissenschaft.
187
liehen Erscheinung, angemessen an. Das logische Element der
Disciplin kommt dabei besonders zur Geltung. Man versteht daher
auch, dass man die Wirtschaftswissenschaft wohl eine „logische“,
will sagen auf einem methodisch angewandten Verfahren logischen
Käsonnements beruhende Wissenschaft, welche aus bestimmten Prä-
missen ihre Schlüsse zieht, genannt bat (Senior): eine nicht an
sich durchaus unrichtige, aber eine zu einseitige Auffassung, da
man auch bei diesem Verfahren , um es practisch werthvoll zu
machen, doch gerade die Prämissen beobachtungsmässig fest-
stellen muss, da das Verfahren ferner an reichen Fehlerquellen
leidet (§. 74) und da es der Ergänzung und der Controle und
Probe seiner Ergebnisse durch das entgegengesetzte, das inductive
Verfahren, bedarf (§. 75). Aber gegenüber den gegenwärtig sich
verbreitenden, ebenso einseitigen, nur viel unklareren Bestrebungen,
umgekehrt nur die Induction gelten und der Wirtschaftswissen-
schaft den reinen Character einer Beobachtnngswissenschaft, d. h.
hier jetzt einer bloss auf Beobachtung der Erscheinungen selbst
beruhenden Disciplin vindiciren zu wollen , hat jene andere Auf-
fassung doch eine relative Berechtigung. In welchem Maasse, das
ergiebt sich aus dem Gesagten und aus dem Weiterfolgenden. Auch
der angegriffene Character der Wirtschaftswissenschaft als einer
abstracten lässt sich in demselben Umfang wie derjenige einer
„logischen“ Wissenschaft des angedeuteten Sinnes aufrecht halten.
Die Auffassung auch der Politischen Üekonomie speciell als einer „logischen“
Wissenschaft tritt am Schärfsten, freilich auch am Einseitigsten, in der Ricardo’schcn
Schule und bei verwandten Richtungen des Continents, bei Hermann, v. Thtlnen,
Gossen, neuerdings bei der österreichischen Schule (§. 19), ferner aber in den
Gruudlehren grade auch beim theoretischen Socialismus, bei Rodbertus,
Marx und seiner grossen Schule hervor. Aber die ganze britische oder Smith ’sche
Ockonoinik neigt nach ihren psychologischen Ausgangspuncteu , dem „Dogma vom
Eigennutz“, und nach ihrer Anwendung des deductiven Verfahrens dahin, weniger
A. Smith selbst, der sich beider Hauptmethoden, auch der zweiten in grösserem
Maasse. bedient, als seine Schule, d. h. im Wesentlichen die wissenschaftliche National-
ökonomie überhaupt neigt dahin, bis zur Keaction des Historismus, und zwar mehr
des jüngeren und jüngsten (§. 15) als des älteren, welcher in der Keaction noch Maass
hält und das psychologisch-deductivc Verfahren nicht einfach preisgiebt. In der Ein-
seitigkeit am Weitesten, auch betreff der Hervorhebung des Werths und der Aus-
schliesslichkeit der deductiven Methode und des streng logischen Characters der Poli-
tischen Oekonoinie ging vielleicht Senior (political cconomy, in vielen Auflagen),
dann Stimmführer der „deutschen Freihandelsschule“, wie Prince-Smit h. Faucher
(vgl. z. B. dessen Aufsatz in der Berl. volksw. Vierteljahrschrift, 1S03, B. 4, S. 124 ff,
„Schwächlinge auf logischem Gebiete u. s. w.“). Schon lange nicht so einseitig stand
Pickford, dessen bezügliche Ausführungen vielfach das Richtige treflen möchten
(Einleitung, 1. Abschn., Kap. 3).
Die Einseitigkeit der älteren Theorie in der angedeuteten Auffassung hing
übrigens auch mit der viel zu engen Bestimmung des Gebiets der Politischen Oeko-
uomie. mit der ungeschichtlichen Ansicht von der Volkswirtschaft und mit der ein-
seitigen Werthlegung auf und Beschäftigung mit gewissen Problemen zusammen. In
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1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 2. A. Deduction. §. 72, 73.
m
ersterer Hinsicht identificirte man zu sehr die Volkswirtschaft mit dem freien privat-
wirthschaftlichen System in ihr. In zweiter Hinsicht sah man in dem System der
freien Concurrenz. das für streng dcductive Schlüsse eine so wünschenswerthe Voraus-
setzung ist. zu sehr das allein richtige und practischc System der Wirthschafbpolitik
und betrachtete alles Frühere als irrige und üble Abweichungen von diesem System.
Und in dritter Hinsicht beschäftigte man sich vorneralich mit solchen Problemen,
wie dem des Tausches, nebst allem, was dazu gehört, d. h. mit Folgen, welche
die Anwendung des deductiven Verfahrens oder die Anwendung der deductiven Logik
besonders gut gestatten.
Ueber die sonstige Litteratur s. die Angaben oben in der ücbcrsicht des §. 54.
Von Seiten der historischen Richtung ist weitaus das Bedeutendste, Klarste und Bote
Knies’ Werk auch zu den hier berührten Fragen, bes. 2. A., S. 223 1T., 453 11'., mit
im Ganzen auch richtigem Maasshalten, wie man es bei dem Verfasser von „Geld
und Credit“ und anderen Facharbeiten, in welchen überall das logische Element eine
grosse Rolle spielt, nicht anders erwarten kann. Von der anderen Seite ist ähnliches
Lob hinsichtlich der Rechtfertigung der Deduction K. Menger’s „Untersuchungen“
(wesentlich dem ganzen Werke, bes. Buch 1) zu erthcilen, worin in monographischer
Ausführlichkeit alle Gründe für und wider und alle Einwendungen der principiellen
Gegner vortreft lieh erörtert werden. Wie weit ich mit ihm übereinstimme, ergiebt
sich aus diesem ganzen Kapitel. Unsere Ucbcreinstimmung, besonders hinsichtlich
der Methode der Deduction, ist eine weite, aber keine vollständige. In der Annahme
von der Zulässigkeit , ja Notwendigkeit der Veränderung der Voraussetzungen
für das deductive Verfahren, in der Forderung der beobachtungsmässigen Feststellung,
nicht nur der hypothetischen Annahme der Voraussetzungen und in der Ansicht, dass
mit dieser Annahme und dieser Forderung der Boden des deductiven Verfahrens noch
nicht verlassen sei, weiche ich wohl von Menger ab. S. ausser seinem Werke be-
sonders noch die oben S. 64 genannten H. Dietzel’schen Aufsätze. Grössere, auch
principielle Abweichungen von K. Menger’s Auffassungen treten dagegen in meinen
Zugeständnissen an die inductive Methode, in meiner Annahme von der Xothwendig-
keit der Berichtigung der deductiv gewonnenen Ergebnisse und von dem Erforderniss
der Ergänzung und theilweiso der Ersetzung der Deduction durch das inductive Ver-
fahren hervor. Vgl. hierzu auch den neuesten o. S. 142 genannten Aufsatz Neu-
mann’s, der mir aber in seinen Ausführungen gegen Menger zu weit geht.
F. — §. 73. Deductiv abgeleitete wirtschaftliche
Gesetze. Ob überhaupt und alsdann in welchem Sinne auf wirt-
schaftlichem Gebiete von „Gesetzen“, „Gesetzmässig-
keiten“ gesprochen werden darf, ist eine Frage, deren Erledigung
am Schluss der methodologischen Erörterungen erfolgen soll, nachdem
erst die inductive Methode behandelt sein wird (§. 86 — 91). Nimmt
man die Frage „Ob ’?“ als bejaht an, — eine Annahme, welche wir
später rechtfertigen werden (§. 87, 89), — und statuirt man dann
die Ermittlung dieser „Gesetze“ auch als Aufgabe des deductiven
Verfahrens, so würde unter einem deductiv ermittelten „Gesetze“
einer Erscheinung, eines Verlaufs einer Erscheinung diejenige
gleichförmige Gestaltung und Wiederkehr zu verstehen sein, welche
unter gegebenen, bzw. angenommenen Voraussetzungen aus dem gleich-
massigen Walten und Wirken der einen oder mehreren bekannten
Ursachen, daher insbesondere des und des Motivs, abzuleiten ist.
Strenge („exaete“) Gesetze in diesem Sinne giebt es dann auf dem
Wirthschaftsgebiete wieder nur in der Hypothese, nicht in Wirk-
lichkeit, nemlich nur, wenn die drei Voraussetzungen, unter denen
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Deductiv abgeleitete wirtschaftliche Gesetze.
189
das wirthscLaftliche Handeln erfolgt, genau in der strengen, früher
besprochenen Weise als vorhanden angenommen werden, was
aber, wie wir sahen, in der Wirklichkeit niemals genau vorkommt.
Deductiv abgeleitete , .Gesetze“ der wirklichen Erscheinungen
sind daher immer nur Tendenzen der gleichförmigen Ge-
staltung, welche mit den unter den angenommenen strengen drei
Voraussetzungen abgeleiteten Gesetzen um so mehr übereinstimmen
werden, je mehr die wirklichen Voraussetzungen, unter denen die
Erscheinungen entstehen, sich entwickeln, verlaufen, jenen angenom-
menen gleichen und umgekehrt, — wieder nach dem Satze, dass
die Wirkungen den Ursachen proportional sein müssen.
Unter Bevölkerungen, in Zeitaltern, unter Classen, Berufen und Individuen und
Gruppen von Erscheinungen, wo die psychologischen, das Kennen des Eigenvorthcils
und das ihm folgen Können betretenden und die rechtlichen Voraussetzungen, unter
denen die Erscheinungen zu Stande kommen, den strengen hypothetischen Voraus-
setzungen wenigstens annähernd gleichen, werden daher die unter letzteren abgeleiteten
(„theoretischen") Gesetze zunächst hypothetischen Characters auch in Wirklichkeit
annähernd genau zutreffen. Daraus folgt die Bedeutung der Tausch-, Treis-, Ein-
kommen-Gesetze (z. B. in Betreff der Keilte!), der für Geld, Münze, Credit, Banken,
aber auch für die Entwicklung der Production (Arbeitstheilong, Maschinenanwendung,
Grossbetrieb, Bodenanbau u. s. w.) abgeleiteten theoretischen Gesetze für die Wirklich-
keit dieses ganzen Gebiets von Erscheinungen , mehr oder weniger stets, vomemlich
aber unter unseren heutigen Verhältnissen, wo die wirklichen Voraussetzungen den
angenommenen mehr und allgemeiner entsprechen und ganz besonders unter Völkern
und Classen (Geschäftskreise, Händlerthum, city men), wo dieses in noch verstärktem
Maasse, mitunter fast vollständig der Fall ist. Es sind vorncmlich die Gcstaltungs-
und Bewegungsgesetzc der wirtschaftlichen Erscheinungen, teilweise auch die
Entwicklungsgesetze gewisser Erscheinungen. Einrichtungen, Organisationen, von
einem Stadium typischer Gestaltungen zu einem anderen, höheren, welche sich so
mittelst des deductiven Verfahrens ableiten lassen (§. 90).
Die Aufgabe der Beobachtung gegenüber solchen deductiv
abgeleiteten Gesetzen ist dann >viedcr eine doppelte, einmal die
wirklichen Voraussetzungen , unter denen die Erscheinungen vor
sich gehen, und ihr Verhältnis zu den angenommenen, bzw. den
drei regelmässigen , fcstzustellen , sodann die Gestaltung der Er-
scheinungen selbst, ihre Bewegung, ihre Entwicklung zu beobachten
und aus Beobachtungen abzuleiten. Bei der ersten Aufgabe handelt
es sich daher nur um die Gewinnung sicherer Grundlagen für die
Deduction, aber alsdann um Anwendung des deductiven Verfahrens,
bei der zweiten Aufgabe um eine selbständige Benutzung der Beob-
achtungsergebnisse zu Zwecken der Controle der Richtigkeit und
daher auch behufs Correctur der deductiv abgeleiteten Gesetze.
Die zweite Aufgabe gehört schon ausschliesslich dem Gebiete des
inductiven Verfahrens an. Wir kommen unten darauf zurück (§.76 ff.).
Die Streitfrage, ob es wirtbscliaftliclic (volkswirtschaftliche) „Gesetze" gebe
und ob man für gewisse Regelmässigkeiten hier diesen Ausdruck anweudeo dürfe.
190
1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 2. A. Deduction. §. 74.
ist theilweise ein Wortstreit, da eben Alles auf den Sinn und Begriff „Gesetz“ (auch
„Gesetzmässigkeit“) ankommt, aber es ist damit doch auch eine prineipielle Frage
verknüpft. In ersterer Hinsicht sprechen Erwägungen der Zweckmässigkeit in der
Wahl der Terminologie mit, die mich zum Festhalten des ohnehin dem altüblichen
wissenschaftlichen (nnd populären) Sprachgebrauche entsprechenden Ausdrucks „Gesetz“
für gewisse Regelmässigkeiten oder Gleichförmigkeiten der Wiederkehr der Gestaltung,
Bewegung, Entwicklung der Erscheinungen bestimmen. In principieller Hinsicht hat
man mitunter Bedenken gegen den Ausdruck gehabt, die nicht ohne Bedeutung, aber
doch kaum ausschlaggebend gegen die Benutzung des Worts sind. Es ist darüber
aber besser erst nach den Erörterungen Uber die inductive Methode zu handeln (§. 66 ff.).
Die Eiuwäude der historischen Richtung, wenigstens gegen den Gebrauch des Aus-
drucks „Gesetz“ für deductiv abgeleitete Regelmässigkeiten, stehen mit den Einwänden
dieser Richtung gegen das ganze deductivo Verfahren in Verbindung, übersebiessen
daher wie diese das Ziel. Auch darüber später in §. 66 ff.
G. — §. 74. Die Fehlerquellen des deductiven Ver-
fahrens. Es sind vornemlicli dreierlei, einmal schiefe, ein-
seitige, selbst ganz falsche Schlussziehungen aus den angenommenen
Voraussetzungen, zweitens irrige Annahmen bei der Stellung der
Voraussetzungen und drittens falsche Verallgemeinerungen oder
wenigstens Ausdehnung von Schlüssen, welche nur unter bestimmten
Voraussetzungen richtig sind, auf Fälle, wTo diese Voraussetzungen
nicht oder doch nicht so, wie angenommen, vorliegen.
1. Im ersten Falle, bei unrichtigen Schlüssen aus den ange-
nommenen Voraussetzungen, handelt es sich um Fehler in der
logischen Operation. Dieselben sind natürlich immer möglich,
aber Vorwürfe darüber treffen wieder nicht die Methode, sondern
nur die, welche sie nicht zu handhaben verstehen. Sie werden bei
eigener Wiederholung der Operation, bei Vornahme derselben durch
Dritte, bei genügender Schulung und Uebung im deductiven Denken
vermieden. An sich sind sie natürlich bei der strengen Deduction
unter den drei Voraussetzungen (§. 68), wie freilich wohl noch
leichter bei dem Verfahren der methodischen Veränderung der
Voraussetzungen (§. 70) möglich. Die HinüberfUhruog des ersteren
Verfahrens in die mathematische Formulirung bietet u. A. auch den
Vortheil, alsdann Fehler der Deduction leichter vermeiden, gemachte
Fehler leichter aufdecken und berichtigen zu können.
Grade zur Denkschulung und -Uebung empfiehlt sich hier auch didactisch
die Beschäftigung mit solchen theoretischen Problemen, welche, wie diejenigen der
Tausch-, Preis-, Einkommenbildungs- Theorie, die Anwendung des deductiven Ver-
fahrens unter den strengen und unter den modificirten Voraussetzungen desselben be-
sonders gut gestatten. Daher sind auch die Schriften der Ricardo. Senior, Mill,
Jevous, Cairnes, Marshall, der Hermann, v. Thünen, v. Mangddt, der Neumann, Karl
Mcnger, Sax, Böhm-Bawcrk u. A. m., der Rodbertns, Marx didactisch so werthvoll,
nicht minder diejenigen der „mathematischen“ Nationalökonomen, nur dass das Stu-
dium ihrer Schriften die Beherrschung der mathematischen Technik bediugt1).
x) Zum Schaden der Sacho und ihrer selbst wird von einem grossen Theil der
jüngeren, einseitig „historisch“ ausgebildeten deutschen Nationalökonomeu dieso Schu-
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Fehlerquellen des deductiven Verfahrens.
191
2. Die zweite und dritte Fehlerquelle öffnet sich besonders bei
der Uebertragung auf und Annäherung an die Wirklichkeit mit
Schlüssen, welche unter den strengen drei Voraussetzungen ge-
macht werden und unter diesen vielleicht — und der Annahme
nach in der Tbat — ganz richtig sind. Beiderlei Fehler hängen
nahe zusammen, sind aber doch zu unterscheiden.
Wie wir sahen, gilt es zur möglichsten Annäherung der unter
den drei Voraussetzungen gewonnenen Ergebnisse an die Wirk-
lichkeit thunlich auf Grund von Beobachtungen über die in Wirk-
lichkeit vorliegenden Voraussetzungen für das Zustandekommen
wirthschaftlicher Handlungen und Erscheinungen die Voraussetzungen
für das deductive Verfahren zu bestimmen. Man wird dabei zunächst
oft hypothetisch vorgehen und so Vorgehen dürfen, aber die
Aufgabe ist immer, diese Hypothesen der Wirklichkeit so weit
irgend möglich anzupassen, daher in Betreff der thatsäehlichen
Motivation der wirthschaftenden Personen, ihres Kennens des wirt-
schaftlichen Vorteils und Folgen-Könnens und ihres Folgen-Dürfens
nach den Verhältnissen der wirtschaftlichen Rechtsordnung. Irr-
thümer in allen diesen Beziehungen sind nun aber sehr leicht und
dann natürlich verhängnisvoll für das an sich richtige Ergebnis
der Deduction : es leidet unter der fälschen , schiefen , einseitigen
Prämisse und kann deshalb nicht richtig sein, den wirklichen
Thatsacbeu der Erscheinungen nicht entsprechen. Mit der Com-
plication der behandelten Probleme steigen die Schwierigkeiten
und die Gefahren der Aufstellung irriger Voraussetzungen noch.
Das Mittel der Abhilfe ist hier einmal eine immer erneute,
sorgfältigere, von verschiedenen Personen auch unabhängig von
einander vorgenommene Beobachtung der conereten Voraussetzungen
derjenigen Deduction, welche den Erscheinungen der Wirklichkeit
gerecht werden soll, — also insofern bereits ein Zurückgreifen
auf die Induction, wenn auch im Dienste des deductiven Verfahrens;
sodann aber eine Probe darauf, ob und wie weit man richtige
lung und Uebung im streug deductiven Denken arg vernachlässigt, wie ich aus eigener
Erfahrung in Seminaren u. s. w. ersehen habe. „Sie können nicht genügend abstra-
hiren und nicht scharf logisch ein Problem durchdenken“, das ist mein Eindruck
nicht selten. Eben deswegen sehen sie auch so oft den Wald vor lauter Bäumen
nicht. Man beobachtet, nach meiner Erfahrung als academischer Lehrer, hier immer
«inen vortheilhaften Unterschied zwischen mathematisch geschulten, auch den an ju-
ristisches Denken gewöhnten jungen Männern gegenüber den lediglich im Sammeln
ond \ erarbeiten, Archiv-Excerpiren u. s. w. geübten Historikern; nebenbei auch im
Examen: bei letzteren wohl oft bessere ged äch t nissmässige , bei ersteren
bessere gedankenmässige, Denkfähigkeit und Denkübung bekundende Ergebnisse.
192 1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 2. A. Deduction. §. 74, 75.
Voraussetzungen der Deduction auch wirklich aufgestellt hat, an
den Erscheinungen der Wirklichkeit selbst, deren Ge-
staltung man deductiv ermittelt hat. Damit gelangt man aber,
wie schon bemerkt, in das inductive Verfahren voll und end-
giltig hinein : man sucht nunmehr von den Erscheinungen als Wir-
kungen auf die Voraussetzungen, als Ursachen und Bedingungen,
zurück zu schliessen, freilich in dem speciellen Zweck, die Propor-
tionalität oder Disproportionalität der Erscheinungen zu den dem
deductiven Verfahren zu Grunde liegenden Voraussetzungen fest-
zustellen. Zur Würdigung dieses letzteren Verfahrens ist es wichtig,
zu beachten, dass die hier besprochene zweite Fehlerquelle die
Nothwendigkeit der Herbeiziehung des deductiven Verfahrens zur
Controle, Berichtigung und Ergänzung bedingt.
3. Jede wirtschaftliche Erscheinung der Wirklichkeit ist ver-
ursacht und bedingt durch eine Reihe von Factoren verschiedenen
Grades der Constanz und Variabilität und verschiedener Combina-
tionen , Kreuzungen , Wirkungen in derselben Richtung und Wir-
kungen in verschiedener, entgegengesetzter Richtung bis zur gegen-
seitigen Aufhebung. Die Schwierigkeit für die richtige Anwendung
des deductiven Verfahrens ist, bei der Feststellung der Voraus-
setzungen für die Deduction allen diesen Factoren überhaupt und
stets richtig Rechnung zu tragen, keinen zu vergessen, keinen falsch
anzusetzen, keinen falsch zu würdigen, keinen zu berücksichtigen,
der nicht oder nicht so, wie angenommen, jeden, der, und jeden
in der Weise, wie er als Ursache oder Bedingung mitwirkt, zu be-
rücksichtigen. Diese Schwierigkeit steigt mit der Verwickeltheit
der causalen und conditionellen Verhältnisse, unter denen als ihren
Ursachen und Bedingungen die Erscheinungen zu Stande kommen,
mit der Schwierigkeit der bezüglichen , diese Voraussetzungen be-
treffenden Beobachtungen selbst, ihrer Anstellung überhaupt, ihrer
vollständigen, richtigen, objectiven Anstellung insbesondere.
Daraus ergiebt sich mit Nothwendigkeit die dritte Fehlerquelle
beim deductiven Verfahren : man wird so leicht einen Schluss,
welcher unter angenommenen Voraussetzungen richtig ist, für all-
gemeiner richtig halten, als zulässig ist, oder in falsche Vcr-
allgemeiner ungen verfallen, indem mau die ermittelten und
vielleicht überhaupt allein ermittelbaren Voraussetzungen als die
auch allein oder ebenso, nicht mehr und nicht minder im concreten
Fall maassgebenden betrachtet. Die meisten Fehler, welche bei
der Anwendung der Deduction in der Nationalökonomie gemacht
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Ergänzung des deductiven Verfahrens.
193
worden sind, waren wohl derartige, besonders bei der Uebertragung
von Schlüssen, welche streng unter den drei Voraussetzungen gezogen
worden waren, auf Verhältnisse der Wirklichkeit.
Die Hilfsmittel gegenüber dieser Fehlerquelle sind die nem-
lichen, welche in Bezug auf die zweite Fehlerquelle angegeben
worden sind. Die Nothwendigkeit des inductiven Verfahrens zur
Controle, zur Ergänzung, zum Ersatz des deductiven folgt aus der
Eigenthümlichkeit dieser dritten Fehlerquelle wiederum in beson-
derem Maasse.
Bei der zweiten und dritten Art von Fehlern wird namentlich wieder so oft
vergessen, dass die abstracten wirthschaftenden Menschen der Theorie, des deductiven
Verfahrens unter der ersten unserer Voraussetzungen, und die wirklichen Menschen
im Leben nicht dieselben sind, besonders in ihrer Motivation abweichen, daher an
sich richtige Schlüsse von jenen auf diese, von wirtschaftlichen Handlungen jener
und davon abhängigen wirtschaftlichen Erscheinungen auf wirtschaftliche Hand-
lungen dieser und davon bedingte und verursachte wirthschafdiche Erscheinungen
nicht ohne Weiteres zulässig sind. Ferner wieder, dass nach Gruppen von Menschen
(Classen. Berufen) und von wirthschafüichen Erscheinungen die mitspielende und ent-
scheidende Motivation Verschiedenheiten zeigt, welche in der einfachen Deduction
unter der ersten Voraussetzung nicht angenommen werden. Aebnlich geht e9 dann
mit Statuirung falscher Voraussetzungen und mit unrichtigen Verallgemeinerungen in
Bezug auf die Kenntniss des Eigenvortheils und auf die Rechtsordnung. Nun haben
wir ja oben (§. 70) schon anerkannt, dass grade eine metodische Veränderung der
allgemeinen Voraussetzungen der sonstigen Deduction geboten sei, um der Wirklich-
keit entsprechende Ergebnisse zu erhalten. Aber diese Forderung ist eben so schwierig
zu erfüllen, dass Irrthümer dabei unterlaufen, d. h. nichts Andres, als dass sich eben
die zweite und dritte Fehlerquelle öffnet.
H. — §. 75. Das Bedtirfniss nach einer Ergänzung
des deductiven Verfahrens. Aus dem Vorausgebenden, ins-
besondere aus den Erörterungen über die Fehlerquellen des de-
ductiven Verfahrens folgt das wichtige methodologische ErgebDiss:
dieses Verfahren allein reicht selten, wenn Überhaupt einmal, für
sich allein aus. Es bedarf zu seiner Ergänzung des zweiten, ihm
entgegengesetzten, des inductiven Verfahrens. Nur durch eine Ver-
bindung des letzteren mit dem deductiven lassen sich Sätze von
genügender wissenschaftlicher und practischer Haltbarkeit gewinnen,
d. h. solche, welche der Wirksamkeit der Erscheinungen sicherer
entsprechen, und lassen sich Fehler des deductiven Verfahrens auf-
decken, welche sonst schwer zu vermeiden und oft nicht einmal zu
bemerken sind.
Namentlich zwei Aufgaben hat das inductive Verfahren hier zu
erfüllen: einmal zur Verificirung der als Prämissen der De-
duction angenommenen (der hypothetischen) Voraussetzungen
oder auch von vornherein gleich zur Ermittlung der Voraus-
setzungen in der Wirklichkeit zu dienen, aus welchen die wirth-
schaftlichen Erscheinungen dann deductiv abgeleitet werden ; sodann
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Theil. Grundlagen. 13
194 1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 3. A. Induction. §. 75, 76.
die Schlüsse zu controliren, zu verificiren, zu bestätigen, zu be-
richtigen, welche deductiv abgeleitet sind. Im ersten Falle, wie
bereits mehrfach bemerkt wurde, verbleibt man im Uebrigen noch
ganz im dednetiven Verfahren, bereitet demselben aber den Boden
und den Weg doch schon mittelst der zu dem anderen Verfahren
gehörigen Beobachtungen mit vor. Im zweiten Falle ist die de-
ductive Operation bereits abgeschlossen , die iuductivc beginnt erst
danach. In beiden Fällen steht das inductive aber roch im Dienste
des deductiven Verfahrens, oder m. a.W. es liegt eine Ergänzungs-
function des erstcrcn in Bezug auf letzteres vor. Eine selb-
ständige Bedeutung erlangt das deductive Verfahren hier noch
nicht, es ist noch ein Hilfsverfahren des anderen. Erst indem
es zum Ausgangspunct der Operation gemacht wird und ganz an
Stelle des deductiven tritt, die Ersatzfunction dafür über-
nimmt, wird es zu einem eigenen selbständigen Verfahren, zu
welchem dann umgekehrt das deductive in das Verhältniss des
Hilfsverfahrens tritt. Die gleich im Eingang der Methodologie
(§. 65) hervorgehobene Thatsache der Doppelmethode von De-
duction und Induction im Gebiete unserer Disciplin wird so be-
stätigt. Hiermit gelangen wir dann zur näheren Untersuchung des
inductiven Verfahrens.
3. Abschnitt.
Das inductive Verfahren.
I. — §. 76. Die Bedingungen der Induction und
das Beobachtungsverfahren dafür. Hier werden, nach
dem Früheren (§. 65), umgekehrt wie in der Deduction, die wirt-
schaftlichen Erscheinungen selbst zum Ausgangspunct
des Verfahrens genommen, daher mit Beobachtungen dieser
Erscheinungen begonnen. Auch hier wird nach dem allgemeinen
Causalgesetz operirt, demgemäss werden die beobachteten Er-
scheinungen als etwas durch Anderes Bedingtes und Bewirktes an-
gesehen und wird gesucht, dieses „Andere“ durch Rückschluss von
den betreffenden Erscheinungen aus zu ermitteln. Die Aufgabe ist
dann, dieses „Andere“ festzustellen und eventuell in seine Bestand-
teile aufzulösen, um es so in seiner Bedeutung als Bedingung und
Ursache für die beobachteten Erscheinungen zu erkennen. So sollen
die Entstehung, Gestaltung, Bewegung dieser Erscheinungen, ihre
Abhängigkeit von bestimmten Bedingungen und Ursachen, schliess-
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Bedingungen der Induktion.
195
lieh wieder von bestimmten menschlichen Handlungen, Willens-
acten und Motiven, der Zusammenhang der conditionellen und
causalen Verhältnisse ermittelt und erklärt, eventuell für den Zu-
sammenhang und die Abhängigkeitsverhältnisse Maassbestiramungeu
gewonnen werden. Alsdann werden wieder umgekehrt die Er-
gebnisse bezüglich der Bedingungen und Ursachen, der Abhängig-
keitsverhältnisse und des Zusammenhangs hypothetisch zum Aus-
gangspunct psychologischer Deduction aus Motiven, Umständen,
Verhältnissen genommen, um festzustellen, ob sie sieh so befrie-
digend als diejenigen Factoren annehmen lassen, aus welchen die
beobachteten wirtschaftlichen Erscheinungen folgen müssen oder
wenigstens folgen können, und mit welchem Grade der Wahr-
scheinlichkeit. So tritt hier das deductive Verfahren zur Ergänzung,
Controle, Bestätigung, Berichtigung des inductiven ein, wird zu
einem Hilfsv erfahren für das letztere, womit die Bemerkungen
am Schluss des vorigen Abschnitts sich bestätigen.
Der Erfolg und der wissenschaftliche wie practische Werth
des inductiven Verfahrens hängt natürlich vor Allem von der Zu-
verlässigkeit der Beobachtungen, sodann aber auch von der
richtigen Wahl und Einrichtung eines Beobachtungsverfahrens
ab, welches von vornherein danach eingerichtet ist, die Erfüllung
der angedeuteten Aufgaben der Induction zu ermöglichen und
thunlichst zu verbürgern.
Zu diesem Behufe muss das Beobachtungsverfahren dem eigen-
thümlicben Wesen der wirthschaftlichen Erscheinungen und des
ihnen zu Grunde liegenden Systems von Ursachen und Bedingungen,
d. i. menschlichen Handlungen, Willensacten, Motiven entsprechen.
Wie jede auch nur flüchtige Betrachtung der wirthschaftlichen Er-
scheinungen ergiebt, zeigen dieselben eine gewisse Regelmässig-
keit und Gleichförmigkeit neben vielen einzelnen Abweichungen
hiervon. Wie ferner zugleich auch wieder die innere psychologische
Prüfung der Motive und Willensacte und die hinzukommende
äussere Beobachtung der Handlungen Dritter ergiebt, spielen
mancherlei psychische Motive als Factoren in den wirthschaftlichen
Handlungen der Menschen mit, aber die einen regelmässiger, con-
stanter, die anderen unregelmässiger, nur gelegentlich, variabler.
Wiederum nach dem Satze, dass die Erscheinungen als das Be-
dingte und Bewirkte den bedingenden und verursachenden Factoren
proportional sein müssen, wie umgekehrt, folgt, dass das Regel-
mässige der Erscheinungen auf die constanten oder ™nstnntpron_
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196 1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 3. A. Induction. §. 76— 78.
das Unregelmässige auf die variablen oder variableren Factoren
und Combinationen von Factoren zurlickzuführen sein muss.
Welches aber die wirkliche Regelmässigkeit der Erscheinungen,
die Abweichungen davon und die kleineren (partiellen) Regel-
mässigkeiten wieder in diesen Abweichungen sind, das ergiebt sich
nur aus einer grossen Zahl beobachteter Einzelfälle. Diese
Zahl muss so gross sein, dass in ihr die constanten und variablen
Factoren und Factorencombinationcn mit Wahrscheinlichkeit in
demjenigen Verhältniss zur Geltung gelangt sein werden, welches
ihrem wirklichen Vorkommen, Mitspielen und ihrer wirklichen Be-
deutung für die von ihnen mit bedingten und verursachten Er-
scheinungen entspricht. Für die Anforderungen an die Grösse einer
hierfür ausreichenden Zahl lassen sich nach der Wahrscheinlich-
keitsrechnung Maassbestimmungen finden, sowie mittelst dieser
Rechnung zugleich feststellen, welchen Werth für die Rückschlüsse
auf bestimmte Ursachen kleinere Zahlen beobachteter Fälle haben.
Au 8 dem Allen folgt, dass das Beobachtungsverfahren auf dem
wirtschaftlichen (und socialen) Gebiete zwei Bedingungen stets zu-
sammen erfüllen muss: es muss mit höchster Zuverlässigkeit und
Genauigkeit der Beobachtungen selbst genügende M a s s e n h a f t i g -
keit der beobachteten Einzelfälle und strenge Systematik
und Methodik der Beobachtungen in allen seinen Stadien ver-
binden.
Kur so wird mit höchstmöglicher Wahrscheinlichkeit erreicht, dass alle in den
wirtschaftlichen Erscheinungen betreffender Art vorkommenden Gestaltungen und
Bewegungen, das Typische, Generelle, Regelmässige , wie das Individuelle, Specielle,
Unregelmässige darin zur Beobachtung gelangen und dass die Rückschlüsse auf die
den beobachteten Erscheinungen zu Grunde liegenden conditionellen und causalen
Factoren richtig sind, weil anzunehmen ist, dass diese Factoren alle und zwar in dem
Maasse ihrer wirklichen relativen Bedeutung zur Geltung gelangt sein werden.
Nur ein solches Beobachtungsverfahren entspricht dem Wesen
der wirthschaftlichen Erscheinungen und ihrem System von Ursachen
und Bedingungen, welches ihnen zu Grunde liegt, und bildet wieder
den Kern des ganzen inductiven Verfahrens in der Politischen
Oekonomie oder, allgemeiner ausgedrückt, den Kern der social-
wissenschaftlichen Induction.
II. — §. 77. Die einzelnen Beobachtungsmethoden
im inductiven Verfahren. Man kann deren vier hauptsäch-
liche unterscheiden, von welchen die erste allerdings nicht im
streng wissenschaftlichen Sinne den Namen „Methode“ führt.
1. Die unwissenschaftliche tägliche Beobachtung.
2. Die wissenschaftliche Einzelbeobachtung.
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Die einzelnen Beobachtangsmethoden der Induction.
197
3. Die strengere wissenschaftliche Massenbeobachtung oder die
Statistik.
4. Die minder streng-wissenschaftliche und weniger massenhafte
Beobachtung oder die Geschichte (Historik).
Statistik und Geschichte werden hier nicht als eigene Wissen-
schaften, sondern als Methoden der Beobachtung aufgefasst.
Die erste und die zweite dieser Methoden genügen den An-
forderungen, welche nach dem Vorausgehenden an das als Grund-
lage der Induction dienende Beobachtungsverfahren zu stellen sind,
nicht, können daher überhaupt nur als Hilfsmethoden und auch
als solche nicht immer und alsdann nur mit besonderer Vorsicht
angewandt werden. Zu entbehren sind sie und ist insbesondere
die erste aber nicht ganz, weil die beiden andern nicht oder noch
nicht oder wenigstens nicht ausreichend ausgebildet und benutzt
werden können. Die dritte und die vierte Methode entsprechen
principiell beide den vorhin aufgestellten zwei Bedingungen, aber
in ungleichem Grade, die dritte, die Statistik, in höherem, die vierte,
die Historik, in geringerem. Man kann beide auch als Eine Me-
thode mit zwei Unterarten, einer vollkommeneren und einer un-
vollkommeneren, zusammenfassen.
Für diese Classification der Methoden and für das Folgende verweise ich noch-
mals besonders aaf die oben in dem litterarischen Paragraphen 54 an der Spitze dieses
Kapitels (S. 141) genannten vorzüglichen Arbeiten Kümelin’s zur Theorie der Stati-
stik, sowie auf desselben Aufsätze über den Begriff eines socialen Gesetzes und über
Gesetze in der Geschichte. Ich folge sonst in der Behandlung des Gegenstands hier
wieder genauer meineu eigenen, ebenfalls oben S. 141 genannten älteren Arbeiten
über Statistik, mit unwesentlichen kleineren sachlichen Modificationen der Auffassung.
Auch aus der neueren methodologischen Litteratur der Nationalökonomie und aus der
deutschen Fachliteratur über Logik und allgemeine Methodenlehre konnte ich mich
nicht davon überzeugen, dass grössere Veränderungen meiner Anschauungen geboten
seien. S. besonders die „Theorie der Statistik“ in meiner Abhandlung Statistik im
Bluntschli'scbcn Staatswöiterbuche, X, S. 456 ff. Meine damalige (1867) Bemerkung,
dass auch Rümelin in seiner ersten Abhandlung Uber Statistik (1863) das Gebiet der
letzteren noch zu eng auf die menschlichen Erscheinungen beschränke (a. a. 0. S. 463),
bat er in seiner zweiten Abhandlung (1874) als richtig anerkannt, indem er darin
zugiebt, dass die statistische Methode von universaler Anwendbarkeit sei (Reden und
Aufsätze, S. 266).
A. — §.78. Die unwissenschaftliche tägliche Beob-
achtung wirtschaftlicher Erscheinungen. Sie ent-
spricht der einen, an die Methode der Disciplin zu stellenden An-
forderung, der Massenhaftigkeit beobachteter Einzelfälle, möglicher
Weise mehr oder weniger, indessen doch kaum jemals genügend.
Sie entspricht jedoch ganz und gar nicht der zweiten Anforderung
strenger Systematik und Methodik. Wegen der Mängel in ersterer
Hinsicht giebt sie keine vollständigen Beobachtungsdaten , welche
198
1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 3. A. Induction. §. 7S.
mit hinlänglicher Wahrscheinlichkeit als Ausdruck aller mitspielenden
Bedingungen und Ursachen der beobachteten wirthschaftlichen Er-
scheinungen angesehen werden können. Wegen der Mängel in der
zweiten Beziehung sind ihre Ergebnisse und die daraus in üblicher
Weise abgeleiteten Schlüsse auf die conditionellen und causalen
Verhältnisse, Zusammenhänge und Abhängigkeiten unsicher, sehr
häufig und sehr leicht einseitig und schief. Sie stimmen daher mit
der Wirklichkeit nicht überein und entbehren so des wissenschaft-
lichen und practischen Werthes oft ganz, fast immer theilweise und
selbst grossentheils. Dennoch kann man dieser „täglichen Beob-
achtung“ nicht jeden Werth absprechen, sic überhaupt gerade auf
dem Gebiete der wirthschaftlichen Erscheinungen nicht ganz missen.
Ihr Werth im concreten Falle hängt vorneinlich von der geistigen und Character-
qualität des Beobachters, von seiner Fähigkeit, Kenntniss, Gelegenheit zum Beobachten
und causale und conditionclle Zusammenhänge intuitiv, divinatorisch zu erkennen,
seiner üninteressirtheit, Unparteilichkeit, Aufmerksamkeit u. s. w. ab. Und völlig ent-
behrlich ist diese Beobachtung auch sonst nicht, weil sie und soweit sie die einzige
anwendbare oder thatsächlich angeweudete ist. also die an sich vollkommneren Methoden
fehlen oder versagen, Ausserdem ist nicht zu übersehen, dass die Anstellung solcher
täglichen Beobachtungen und die weitere, wenn auch unwissenschaftliche Zurück-
führung der Beobachtungsergebnisse auf Ursachen und Bedingungen, spontane, gar
nicht zu unterdrückende geistige Thätigkeiten nach der Natur unseres Geistes sind.
Die Aufgabe ist daher nur, dass, was wir so von selbst thun, methodisch zu thun,
um Fehler und Trugschlüsse möglichst zu vermeiden, d. h. namentlich die tägliche
Beobachtung in das statistische Beobachtungsverfahren hinüber zu führen.
„Die massenhaften vereinzelten Beobachtungen bilden gewissermaassen das un-
wissenschaftliche statistische Beobachtungsverfahren, welches täglich im Leben an-
gestellt wird. Der Volksgeist fasst jene Beobachtungen (in manchen Fällen') im Sprich-
wort zusammen, wir Alle pflegen dieselben als Grundlage unserer Urtheile über die
meisten regelmässigen, aber nicht gleichförmigen, weil von verschiedenen Ursachen
bestimmten Erscheinungen um uns her zu benutzen, z. B. bei unserer Beurthcilung
der Witterung, von Land und Leuten, der körperlichen, geistigen und moralischen
Eigenschaften der Bevölkerung, des Nationalcharacters u. s. w. Der menschliche Geist
operirt dabei stets bewusst oder, wie bei den Ungebildeten, mehr instinctiv innerhalb
des allgemeinen Causalgesetzes. In allen solchen Urtheilen pflegt daher auch ein
Korn Wahrheit zu sein, wie z. B. im Sprichwort. Aber wie weit sie wahr sind,
bleibt grade die Frage. Hier kommen denn die beliebten Generalisationcn, zumal
wenn jene massenhaften vereinzelten Beobachtungen, welche eben nur zu unvoll-
kommenen Inductionen hinreichen, sich mit oberflächlichen und schiefen Deductioncn
verbinden, was so ausserordentlich häufig der Fall ist. Diese in der Luft stehende!»
Generalisationcn bilden vornemlich das, was wir so gerne unsere „Lebenserfahrung“
nennen, — nur zu oft in politischen, wirthschaftlichen, mcdiciniscben Fragen, in den
Urtheilen über politische Fähigkeiten und Stimmungen der Völker u. s. w. bei bevor-
zugten Geistern, geschweige bei der grossei» Masse ein Mixtum Compositum ober-
flächlicher Deductioncn, unvollkommener Inductionen und aphoristischer Vorurtheilc.
Das Falsche ist eben hier, verwickelte, von vielen Ursachen in wechselnder Weise ab-
hängige Vorgänge auf Grund weniger unsystematischer Beobachtungen bcurtheilen zu
wollen.“ (Aus meiner Abh. Statistik im Staatswörterbuch, X. S. 471.)
Ein besonders häufiger Trugschluss aus der „täglichen Beobachtung“ ist stets
und namentlich auch auf wirtschaftlichem Gebiete der des post hoc, ergo propter
hoc, wo der mögliche Causalzusammenhang gleich zum wirklichen gemacht und ohne
Weiteres aus der Zeitfolge der Erscheinungen abgeleitet und dadurch als bewiesen
angenommen wird. Namentlich der ungebildete Practiker, der Routinier urtheilt,
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Die unwissenschaftliche tägliche Beobachtung.
199
gleich dem grossen Haufen der Laien, überall und immer gern so und ist schwer
auch nur einer Belehrung zugänglich. Auf wirtschaftlichem Gebiete tritt auch noch
mehr als auf manchem anderen — obwohl auch hier ähnliche Fälle oft verkommen
(politisches, religiöses Gebiet!) — das Mitspiclcn des Interesses als ein störender
Factor auf, schon bei der Anstellung der Beobachtungen selbst, vollends bei der cau-
salen und couditionellen Erklärung des Beobachteten, z. B. bei Fragen der Preis-
bewegung, der Wirtschaftspolitik, bei Beobachtung von Erscheinungen, welche man
als Folgen von bestimmten missliebigen wirthschafts- Handels- u. s. w.), finanz-, steuer-
politischen Maassregcln glaubt erkennen zu können.
Je nach dem Maassc der individuellen Fähigkeiten, der geistigen Unabhängig-
keit eines Beobachters, welcher aus einzelnen Beobachtungen Ursache und Bedingungen
unsystematisch ableitct, werden freilich auch diese Fehler wieder mehr oder weniger
hervortreten und auch vermieden. Ein grosser Practiker des Wirtschaftslebens, ein
grosser Staatsmann wird gewiss auch aus der „täglichen Beobachtung“, wie in Allem,
so auch hier in wirtschaftlichen Dingen einen Erfahrungsschatz von Werth ans&mmeln,
Zusammenhänge, Abhängigkeitsverhältnisse in der That intuitiv erschauen und aus
wenigen Einzelbeobachtungen das „Gesetz der Erscheinung“ mitunter richtig ableiten.
Ein Beispiel dieser Art ist Fürst Bismarck. Aber selbst solche Männer vermeiden
die angedeuteten Fehler schwer ganz, generalisiren doch ebenfalls gern gleich zu
sehr, wie u. A. Bismarcks einseitige Zoll-Uebcrwälzungsthesc zeigt (s. meine Finanz-
wissenschaft II, 2. A., S. 337). Ein methodisches Verfahren behält doch seinen
Vorzug. Jedenfalls kann man aber so manchem anderen wirtschaftlichen und staats-
mäuuischen Practiker, welcher „uach berühmtem Muster“ einige persönliche, oft
schon recht unzuverlässige oder doch ungenaue Beobachtungen generalisirt und un-
unsichere Inductionsschlüsse in wirthschaftspolitischen Fragen zieht , sich immer
kurzweg auf „seine Erfahrung“ beruft, das alte grobe, aber wahre Wort: quod licet
Jovi u. s. w. entgegenrufen.
Eine auch nur cinigcrmaassen sichere Nacbweisung von Causal-
zusammenhängen und Zurückführung von beobachteten Erschei-
nungen, Vorgängen aut' bestimmte Ursachen und Bedingungen,
geschweige die Ermittlung von Maassbestimmungen fUr Abhängig-
keitsverbältuisse gestattet die unwissenschaftliche tägliche Beob-
achtung nach den ihr anklebcnden angedeuteten Mängeln auch des-
wegen nicht, weil sic keine genügende, oft gar keine methodische
Isolirung der Wirkungen und Ursachen, auch nicht einmal eine
gedankenmässige, vornimmt. Das ist um so schlimmer, da
auf wirtschaftlichem Gebiete von einer absichtlichen experi-
mentellen derartigen Isolirung nur Zwecks der Erforschung von
Causalzusaramenhängen u. s. w. ohnehin nicht die Kede sein kann.
Soweit aber die Thatsachen des Wirtschaftslebens eine Möglich-
keit solcher Isolirung und die Mitbenutzung der letzteren für For-
schungzwecke ergeben, ist dann eben nur ein streng methodisches
Verfahren, wie das statistische, im Stande, die Thatsachen ent-
sprechend zu verwertheu, nicht einmal das historische, geschweige
das Verfahren der unwissenschaftlichen, wenn auch massenhaften
täglichen Beobachtung. Letztere, als Methode angesehen, steht
daher auch gerade in dem hier besprochenen Puncte hinter der
deductiven Methode zurück, deren Stärke in der strengen wenig-
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200 1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 3. A. Induction. §. 78, 79.
stens gedankenmässigen Isolirung der Ursachen und Wirkungen
liegt.
Am Ersten wird der täglichen Beobachtung noch eine gewisse
Bedeutung als Controlmittel für deductive Schlüsse, wenn und
solange als bessere Controlmittel, d. b. die anderen Beobachtungsmetho-
den fehlen, ferner als ein Fingerzeig für mögliche Fehler in
den Beobachtungen und den Schlüssen daraus bei diesen anderen
Methoden zugestanden werden dürfen. Aber gross und sicher in
Betreff der Ergebnisse wird auch diese ihre Bedeutung selten werden.
Schon die unsystematische, nur immerhin zahlreichere Fälle umfassende tägliche
Beobachtung hat z. B. die optimistischen deductiren Schlüsse Uber das Walten des
Selbstinteresses, die Wirksamkeit des Systems der freien Concurrenz berichtigen, jeden-
falls einschränken können. Wenn historische, statistische Ergebnisse mit der täglichen
Beobachtung in Widerspruch stehen, wird das doch mitunter auf Mängel, Lücken,
Sprünge in den beiden methodischen Beobachtungsverfabren hindeuten, zur Wieder-
holung, Nachprüfung, grösserer Sorgfalt in der Sammlung, Sichtung, Verarbeitung
des statistischen und historischen Materials bestimmen u. s. w.
B. — §. 79. Die wissenschaftliche Einzelbeob-
achtung. Sie erfüllt die eine der oben gestellten beiden An-
forderungen, diejenige der Methodik oder Systematik, nicht die
zweite, diejenige der Massenhaftigkeit der beobachteten Einzel-
fälle, hat daher für unser Gebiet entgegengesetzte Vorzüge und
Mängel, wie die soeben besprochene „tägliche Beobachtung“. Sie
genügt deshalb nur, wo man es mit streng typischen Erscheinungen,
mithin mit gewissen Erscheinungen des Reichs der Natur, wo „das
Einzelne typisch ist“ (Rümelin), zu thun hat, oder m. a. W. , wo
die Erscheinungen ausschliesslich von constanten Ursachen und
Bedingungen abhängen. Sobald hier variable Factoren mitspielen,
welche wieder Variationen des Typischen bedingen und bewirken,
ist aber selbst auf dem Gebiete der Naturerscheinungen die wissen-
schaftliche Einzelbeobachtung nicht ausreichend. Sie muss viel-
mehr auch hier in das statistische Verfahren hinüber geführt werden,
um neben dem Einfluss der constanten Ursachen denjenigen oder
diejenigen der variablen abzuleiten oder den Abweichungen von
der Regel, dem auch im Naturgebiete bereits hervortretenden Indi-
viduellen, gerecht zu werden. In der Men sehen weit, im Reiche der
menschlichen Seele, wie wiederum Rümelin gut hervorhebt, ist das
Einzelne aber vollends individuell, d. b. hängt eben von constanten
und variablen Factoren und Factorencombinationen mannigfaltigster
und wechselnder Art, als seinen Bedingungen und Ursachen, ab.
Daraus folgt, dass auch die sorgfältigste, genaueste Einzelbeob-
aebtung, Beschreibung von Erscheinungen, Vorgängen, Entwick-
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Die wissenschaftliche Einzclbcobaehtung.
201
luDgen an und für sich hier, daher auch auf volkswirtschaftlichem,
socialem Gebiete nur den Werth der Feststellung des Individuellen
hat. Für das Typische dieser Erscheinungen u. s. w. kann sie nur
in dem Maasse Bedeutung beanspruchen, als entweder die Beob-
achtungen an anderen analogen Erscheinungen wiederholt werden
und zu demselben Ergebniss führen, d. h. eben als das statistische
Verfahren angewendet wird, oder das Ergebniss der Einzelbeob-
achtung durch das deductive Verfahren als ein allgemein in allen
analogen Fällen zu erwartendes bestätigt wird und alsdann ver-
allgemeinert werden darf.
Vgl. Rümelin, zur Theorie der Statistik (in den Reden u. s. w., S. 215 11.);
meine Abh. Statistik (Staatswörterb. X, 471, 476 ff.). Grade wenn man die Erschei-
nungen in der Natur und in der Menschenwelt auf die ihnen zu Grunde liegenden
Bedingungen und Ursachen und Combinationen beider, auf das Zusammenwirken con-
stanter und variabler Factorcn zurückfübrt, was auch Rümelin a. a. 0 , wie ich schon
in meiner genannten Abh. Statistik (S. 467) hervorhob, noch nicht genügend gethan
hat, wird man in diesen Fragen des Beobachtungsverfahrens und der ganzen Metho-
dologie die richtige Entscheidung treffen. Das Fliessende des Unterschieds zwischen
dem typischen Einzelnen in der Natur und dem indivueüen Einzelnen in der Menschen-
welt betont übrigens auch Rümelin schon.
Mit constanten Erscheinungen, weil mit constanten Bedingungen und Ursachen
haben wir es am Meisten in der anorganischen Natur, daher hier auch mit dem
streng Typischen des Einzelnen zu thun, so in den Erscheinungen und Vorgängen
des Gebiets der Physik und Chemie. In der organischen Natur treten bei jeder
Einzelerscheinung immer mehr variable Factoren mit hinzu, auch erfolgen wechselnde
Combinationen von Factoren, daher immer mehr Abweichungen des Einzelnen vom
streng Typischen, was sich dann bis zu den höchsten Gebilden der organischen Natur
hinauf steigert. In den Naturwissenschaften, welche sich mit der organischen Welt,
mit dem physischen „Leben“ beschäftigen, deshalb auch schon die geringere Zuver-
lässigkeit und Ausreichendheit der Einzelbeobachtung (Physiologie der Pflanzen,
Thiere, des Menschen). Aber auch wo, wie bei den Erscheinungen der Witterung,
verwickeltere Combinationen von Ursachen und Bedingungen obwalten und den Erschei-
nungen jenes bunte Bild des Wechsels, des „Unberechenbaren“, des „Wetterwendischen“
geben , muss das Beobachtungsverfahren ein anderes werden , reicht die Einzcl-
beobachtung niemals aus. Gelangt man dann auf das Gebiet der vom mensch-
lichen Seelenleben mit bestimmten Erscheinungen, so muss vollends das Beob-
achtungsverfahren uach dem diesem Verfahren zu Grunde liegenden System von
Ursachen und Bedingungen sich gestalten , daher über die blosse Einzelbeobachtung
hinausgehen. So insbesondere auch bei den wirthschaftlichen Erscheinungen. Nur
der Umstand, dass hier das Motiv des wirthschaftlichen Selbstintercsses ein so con-
stanter Factor ist — und freilich, nach dem Früheren: in dem Maasse, in welchem
dasselbe es ist, denn nur ein relativ, nicht ein absolut cons-tanter Factor ist auch das
Selbstinteresse — , geltet eben die Anwendung der Methode der psychologisch-
speculativen Deduction hier mit Erfolg. Aus diesem Sachverhalt ist aber dann auch
wieder zu schliessen, dass eine correcte Einzelbeobacbtung einer solchen wirthschaft-
lichen Erscheinung, bii welcher man Grund hat, die entscheidende Bedeutung des
genannten Motivs auch in analogen Fällen anzunehmen, doch wieder eine allge-
meinere Bedeutung haben kann. Aber diese Annahme ist nicht inductiv, sondern
deductiv begründet.
Wiederholung, Prüfung, Massenhaftigkeit der Beobachtungen
neben streng wissenschaftlicher Genauigkeit jeder Einzelbeobachtung
oder m. a. W. Einführung des statistischen Beobachtungsverfahrens
202
1. B. 2. K. 2. H -A. Methoden. 3. A. Induction. §. 79, SO.
ist hiernach mit der wechselnden Complieation des Bedingungs-
und Verursachungssystems und mit der davon abhängenden immer
individuelleren Gestaltung der Einzelerscheinung stets mehr und mehr
geboten.
Nicht zu verwechseln mit dieser Forderung ist die Wiederholung der Einzel-
beobachtung auch bei den streng typischen Naturerscheinungen aus einem ganz an-
deren Grunde, uemlich um so Beobachtungsfehler zu constatiren und zu climi-
nircn, nicht wie in den anderen Fällen, spcciell auch in denen auf wirtschaftlichem
Gebiete, um das Wesen der Erscheinungen, das Typische, Generelle, wie das Indi-
viduelle, Specielle derselben zu ermitteln. Eine Wiederholung der Beobachtungen
kann aber auch hier zur Verhütung von Bcobachtungsfehlern ausserdem noch gleich-
falls erwünscht oder notwendig sein. In beiden Fällen werden vielleicht Durch-
schnitte aus den verschiedenen Beobachtungen gezogen, welche aber wieder eine
ganz verschiedene Bedeutung haben, dort, um das wahrscheinlich richtigste Beob-
achtungsresultat, liier um dasjenige Verhältnis zu finden, welches gewissen sich
durchsetzenden Bedingungen und Ursacheu und Combinationen beider am Meisten
entspricht und so das Typische in der Erscheinung am Genauesten hervortreten lässt.
(S. meine Abh. Statistik, S. 471.)
Diejenige geschichtliche und statistische Darstellung, welche
sich auf ein einzelnes Phänomen oder auch auf eine Reihe von
Phänomen als Einzelerscheinung beschränkt, ohne weiter zu
vergleichen und sich auf die Frage nach den Ursachen und Be-
dingungen der Erscheinungen cinzulassen — wenigstens nicht
anders, als es implicite aus der Darstellung selbst sich ergeben
mag — kommt eigentlich auf die blosse Anstellung von wissen-
schaftlicher Einzelbeobachtung, wie die hier besprochene, hinaus.
Dies gilt auf unserem Gebiete daher von der concrcten histo-
risch-statistischen descrihirenden Richtung, mithin von
der Wirthschaftsgeschichte und Statistik (Staatskunde) eines ein-
zelnen Landes, einer einzelnen Zeit.
Ebendeshalb sind derartige Arbeiten, so schwierig und verdienstvoll sie sein
und so grossen Werth sio für die Kenntniss einer concrcten Entwicklung und Ge-
staltung haben mögen, für alle national ökono mischen Fragen, welche sich auf
das Typische, Generelle der Erscheinungen, der Ca usalzusammen hänge
und Abhängigkeitsverhältnissc, auf das Soin-Sollcn u. s. w. beziehen oder
m. a. W. . welche die früher (§. 57) erwähnten Aufgaben 2 — 6 betreffen, doch nur
bestenfalls Vorarbeiten, vielleicht wichtige, werth volle, aber doch immer solche,
welche erst durch Vermehrung und Ausdehnung auf andere concrete Fälle und
in Anknüpfung daran, durch Vergleichung der Resultate sich zur Beantwortung
der angedcuteten weiteren Fragen und Aufgaben verwerthen lassen. Auch das hat
die historische Nationalökonomie zu wenig beachtet, wenn sie nicht etwa von vorn-
herein, Nationalökonomie mit concretcr Wirthschaftsgeschichte und Statistik identi-
licirend und verwechselnd, überhaupt nur die Constatirung des Thatsächlichcn der
Erscheinungen und ihres Verlaufs als Aufgabe der Nationalökonomie anerkennt, d. h.
eben nur die erste der früher von uns unterschiedenen Aufgaben gelten lässt
(ij 57, 59, S4).
C. — §. 80. Die wissenschaftliche Massen beob-
acht ung: „Statistik“ und „Historik“. Die beiden anderen,
oben (§. 77) unterschiedenen Beobachtungsmethoden, die dritte und
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Die wissenschaftliche Massenbeobachtung. Statistik und Historik. 203
vierte, die statistische (Statistik) und die historisch e (Histo-
rik , — wenn man diesen kurzen Ausdruck in diesem Sinne, und
analog dem Worte Statistik, für „historische Methode“ bilden
darf — ) suchen den beiden Anforderungen der Massenhaftigkelt
und der Methodik oder Systematik zugleich gerecht zu werden,
also die Vorzüge der beiden ersten Methoden zu vereinigen, die
Mängel derselben zu vermeiden. In dem Maasse, wie ihnen dies
nach ihrer ganzen Beschaffenheit gelingen kann und gelingt, er-
füllen sie die hier vorliegende Aufgabe. Die Statistik als Methode
kann aber hier mehr leisten, sobald eine genügende technische
Ausbildung derselben gelungen ist. Alsdann entspricht sie der An-
forderung der Massenbcobachtuug viel mehr und gestattet auch
eine viel systematischere Anstellung, „Sammlung, Sichtung und
Gruppirung der Beobachtungen. Dadurch wird aber der Einblick
in die conditionellen und causalen Verhältnisse der Beziehung und
Abhängigkeit oft erst ermöglicht, immer erleichtert und zugleich
zu strengerer Beweisführung, auch zur Anwendung von genauen
Maassbestimmungen und des Calculs Gelegenheit gegeben.
Insbesondere kann durch die Be- und Verarbeitung des Beobachtungsmaterials
(tabellarische Behandlung) förmlich statt der bloss gcdankeninässigen, im W esentlichen
doch noch auf ein Kaisonnement in vagen Begriffen sich beschränkenden, hier eine
Art experimenteller, auf quantitativ bestimmte Begrille sich stutzender Isolirung
der Ursachen und Wirkungen erfolgen, die Rechnung ermöglicht und dadurch der
Beweisführung und den Ergebnissen hinsichtlich der conditionellen und causalen Ver-
hältnisse ein grösserer Grad der Sicherheit, der „Exactheit“ gegeben werden. Wo
das statistische Verfahren daher überhaupt anwendbar ist, was freilich nicht überall
der Fall ist (§. h2), nimmt die Beweisführung etwas von der Strenge der Beweis-
führung in denjenigen Wissenschaften an, welche sich, wie die experimentellen Natur-
wissenschaften, des Hilfsmittels des willkUhrlich zum Behuf der Forschung angestellten
Experiments bedienen. Will inan, trotz der früher hervorgehobenen Bedenken (§. 68.
S. 175). von „exactcr“ Methode, „cxacten*4 Ergebnissen iin Gebiete der Geistes-,
der Socialwisscnschaftcn und speciell der Politischen Oekonomie sprechen . so wäre
nur wie einerseits nach dem Früheren (§. 68) bei der strengen Methode der Dcduc-
tion, besonders der mathematisch gefassten und den so erhärteten Ergebnissen dieser
Methode, so andrerseits bei der in Rechnung auslaufenden statistischen Methode und
den damit gewonnenen Ergebnissen der Ausdruck allenfalls zulässig.
In allen diesen Beziehungen steht die historische Methode
hinter der statistischen erheblich zurück, sobald es sieh um irgend
eine andere Aufgabe, als die besprochene erste, die blosse Dar-
stellung des Thatsächlichen der wirtschaftlichen Erscheinungen
und ihres Verlaufs, daher um mehr als wissenschaftliche Einzel-
beobachtung im Sinne der zweiten Methode handelt. Wird diese
historische Einzelbcobaehtung aber systematisch ausgedehnt, ge-
häuft, um die Ergebnisse dann zur Grundlage von Vergleichungen
zu machen, so geht sie eben in die statistische über, was wiederum
deren grössere Vollkommenheit und höhere Brauchbarkeit beweist.
JT
Ja
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204
1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 3. A. Induction. §. SO.
Für das Gesagte und für alles Folgende ist mir immer im
Sinne zu behalten, dass es sich hier, wie schon bemerkt, um
Statistik und Historik als Methoden der Beobachtung und weiter
der Beweisführung im inductiven Verfahren, nicht um sie als eigene
selbständige Wissenschaften handelt.
Es ist eine alte Streitfrage, ob und wie weit die „Statistik“ überhaupt eine
solche eigene „Wissenschaft“ sein könne und thatsächlich sei, und im bejahenden
Falle, worin das Wesen dieser Wissenschaft bestehe, oder ob man es bei der Statistik
mit einer Methode und nur mit einer solchen zu thun habe. Diese Streitfrage ist
wohl folgendermaassen zu entscheiden Mit dem Ausdruck „Statistik“ wird nach dem
historisch überkommenen Sprachgebrauch, wenn man eine Statistik als Wissenschaft
schaft anerkennt, zweierlei wesentlich Verschiedenes bezeichnet, einmal eine Wissen-
schaft als beschreibende Staatskunde, in der durch Corning, Achenwall,
Schlözer angebahnten Richtung, und sodann, soweit gegenüber der Statistik als Me-
thode hier eine besondere „Wissenschaft“ der Statistik festgehalten wird, eine in-
ductive Beobachtungswissenschaft, welche mit Hilfe der Statistik als
einer eigentümlichen Methode die für die Behandlung mit dieser Methode
geeigneten Erscheinungen der realen Welt nach ihren Causalverhältnisseu zu erklären
und die Gesetze, nach denen sie sich gestalten, aufzudecken sucht. Also eine Tren-
nung der „Wissenschaft“ der Statistik in zwei gesonderte, wenn auch unter einander
sich im Stoff berührende Wissenschaften, eine Auffassung, deren Begründung das
besondere Verdienst von K. Knies in seiner scharfsinnigen Schrift, die Statistik als
selbständige Wissenschaft (Cassel 1S50), ist. Vgl. auch Rümelin (Tüb. Ztschr. 1863,
S. 668, Reden, S. 229.) —
Neben einer solchen Statistik als einer eigenen Wissenschaft auch letzterer Art
hat man es aber sodann jedenfalls und vor Allem bei der Statistik mit einer eigen-
tümlichen Methode zu thun und als solche kommt die Statistik hier allein in
Betracht. Es kann dann sogar fraglich werden, ob neben der Statistik als Methode
eine Statistik als Wissenschaft in dem zweiten eben erläuterten Sinne des Worts
nach statuirt werden könne oder müsse. Das möchte immerhin zulässig, aber nicht
unbedingt geboten sein. S. über diese ganze Controverse besonders die genannte
Schrift von Knies, die Aufsätze über Statistik von Rümelin und meine Abh.
Statistik im Staatswörterbuche, welche in litterarhistorischer Weise die Frage erörtert
(B. X, S. 400 ff., 452 ff., 469). Ich glaube die hier von mir vor 26 Jahren vertretene
Auffassung, auch grossenthcils in der Formulirung, festhalten zu dürfen. S. aus der
oben genannten neueren Litteratur den 1. B. von John, Geschichte der Statistik,
M. Haushofer, Statistik, bes. Buch 1, Kap. 2 und 3, Block-v. Scheel, Statistik,
bes. S. 56, 6S. G. Mayr, Gesetzmässigkeit im Gesellschaftslebon , München 1877,
S. 11 ff. Westergaard, Theorie der Statistik, S. 271.
Roscher verkennt (System I, §. 18) die Bedeutung der Statistik als Methode
durchaus, er müsste folgerichtig grade von seinem Standpuncte aus zur Forderung der
„statistischen Methode“ und zur thunlichsten Ergänzung, je nachdem auch zur Er-
setzung der „historischen“ durch diese gelangen (s. schon meine Abh. Statistik,
S. 467). Sein Satz: „Statistik nennen wir die Schilderung des zuständlichen, beson-
ders gegenwärtigen Volkslebens nach Maassgabe der Ent Wicklungsgesetze,
welche von den oben (in s. §. 16 ff.) erwähnten theoretischen Wissenschaften
beobachtet (sic!) worden sind“ (Anfang des §. 18), dreht den wirklichen Sach-
verhalt geradezu um. Denn umgekehrt ist es richtig: mit Hilfe der Statistik als
Methode sind eventuell jene „Entwicklungsgesetze“ erst zu beobachten (bezw. richtiger
gesagt, aus Beobachtungen abzuleiten) und auf diese W’eise ist den betreuenden „theo-
retischen“ Wissenschaften vorzuarbeiten, von diesen dann für die Ergebnisse des sta-
tistischen Bcobachtungs- und Ableitungsverfahrcns eventuell die Erklärung und Be-
gründung zu liefern. Richtiger inmerhin, wenngleich die Statistik noch nicht deutlich
als Inductionsmethodo erkennend, schon Rau, I. §. 25 vgl. mit §. 12.
Ucber die Beziehung von Geschichte und Statistik s. besonders Bemheim’s
historische Methode, S. 69, 74 1F. Er rechtfertigt die Geschichte als darstellende,
schildernde, sich nur mit dem Sein und Werden der von ihr betrachteten Erschci-
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Statistik und Historik.
205
nungen beschäftigende Wissenschaft ganz richtig gegen falsche Angriffe von socio-
logischer und von derjenigen statistischen Seite, welche nach Gesetzen der Erschei-
nungen forscht. Das ist auch folgerichtig, soweit er diejenigen Aufgaben, welche
über die von uns oben unterschiedene erste Aufgabe der Feststellung des thatsäch-
lichen Seins und Werdens der Erscheinungen hinausgehen, eben mit den meisten
Historikern für die Geschichte als eigene Wissenschaft ab weist, insbesondere, wie in
den oben S. 146, Note 2 citirten Satze eine Ableitung von „Gesetzen“ u. dgl. nicht
als Aufgabe der Geschichtswissenschaft betrachtet Eine Ansicht, welche sich ja auch
mit sehr guten Gründen unterstützen, wenngleich mit einigen anderen anfechten lässt.
Jedenfalls aber wo, wie es doch auch die Historiker für ihre Wissenschaft thun,
die dritte unserer Aufgaben, die Erklärung des Causalzusammenhangs der concreten
geschichtlichen Erscheinungen und Vorgänge, mit ins Auge gefasst wird, ist die Sta-
tistik mit ihrem Zahlenmaterial , d. h. mit ihren quantitativ genau bestimmten Beob-
achtungen, vielfach unentbehrlich, sicherlich ein werthvolles Hilfsmittel der Beweis-
führung. Bemheim’s Ausführungen unterscheiden bei Statistik und bei Geschichte
Methode und Wissenschaft nicht klar.
Vollends in Wissenschaften, wie der Politischen Oekonomie, wo ausser der ersten
die übrigen, insbesondere auch die zweite der besprochenen Aufgaben (Auffindung
des Typischen, Generellen) in Betracht kommen, wäre eine Beweisführung, wie die
von Beruheim a. a. 0., gegen die Statistik unzutreffend. Der eigentümliche Vorzug,
quantitativ genau bestimmte an Stelle der dieses Moments entbehrenden, daher nur
mehr oder weniger vagen geschichtlichen Beobachtungen zu setzen, bleibt hier der
statistischen vor der historischen Methode. Das hat die neuere Richtung der Wirth-
sebafts- und Culturgeschichte auch erkannt, indem sie oben für frühere Zeiten eben-
falls möglichst zahlenmässig bestimmte genaue Angaben zu gewinnen sucht (Lam-
precht, v. Iuama- Sternegg, Bücher u. A. m.). Auf dem Gebiete der „historischen
Bevölkerungsstatistik“ (Schönberg, Bücher, Höniger, Jastrow u. A. m.) strebt man mit
Erfolg dahin, die statistische Methode auf dem historischen Gebiete einzubürgern,
was auch für die politische Geschichte zu werthvollen Ergebnissen zu führen beginnt.
Würde man klarer und schärfer, wie es nunmehr in der Statistik geschieht,
auch in der Geschichte „Wissenschaft“ und „Methode“ unterscheiden,
was hier aus ähnlichen Gründen zu fordern ist, so würde auch mancher Streit über
die „historische Methode“ in unserer Disciplin leichter und einfacher zu schlichten
sein (§. 84). Auch die Verwechslung von concreter Wirtbschaftsgescliichte, als einer
descriptiven Disciplin, — wie concreter politischer Geschichte — und Politischer
Oekonomie (theoretischer wie practischer) — wie theoretischer Politik oder Staats-
lehre — würde dann leichter vermieden und sich sofort noch deutlicher als falsch
erweisen. Die concreto Wirtschaftsgeschichte stellt sich eben nur die erste und da-
neben allenfalls die dritte der oben getrennten Aufgaben, bedient sich zu deren Lösung
der geschichtlichen und statistischen Beobachtungen, daneben aber auch immerhin
mit, bei der ersten zur Ergänzung der Beobachtungslücken, auch zur Aufdeckung von
Beobachtungsfehlern, bei der dritten sogar in stärkerem Maasse zur Begründung und
Erklärung, des psychologisch -deductiven Verfahrens. Die Politische Oekonomie stellt
sich neben diesen vor Allem die zweite, und eventuell die weiteren drei practischen
Aufgaben, wo sie mit der historischen Methode der Beobachtung nicht ausreicht und
mit der statistischen und deductiven erheblich besser fährt, besonders wegen der schon
oben hervorgehobenen Möglichkeit, die Ursachen und Wirkungen gedankenmässig und
bei der statistischen Methode selbst in einer Art experimenteller Weise zu isoliren.
Aus unzulänglichen Gründen, — zu donen neuerdings auch solche getretou sind,
welche aus einer an sich nicht unberechtigten, aber wieder zu weitgehenden Reaction
gegen die „naturwissenschaftliche“, „mechanistische“ Auffassung des Wirthschafts-
und socialen Lebens als eines Gebiets des Geisteslebens, der Wirthschafts- und Social-
wissenschaften als Theilen der Geisteswisseuschaften ihren Ursprung haben — hat
man in der Politischen Oekonomie, besonders in der historisch -nationalökonomischen
Schule, die zweite Aufgabe, die Erforschung des Typischen, und die weiteren prac-
tischen Aufgaben, die Aufstellung von Idealpostulaten , die Beschäftigung mit dem
Forschen nach dem Sein-Sollcn u. s. w. mituutcr abgewiesen. Wer das thut, mag
auch die Statistik, als Methode, ebenso wie die spcculative Deduction hinter die
„historische Methode“ auf dem Gebiete unserer Wissenschaft reihen. Aber bei der
206
1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 3. A. Induction §. Sl.
Lösung der dritten Aufgabe, der Miterforschung der causalen und conditionellen Zu-
sammenhänge, eine Aufgabe, welche doch auch der historische Nationalökonom nicht
abweist, wird er mit der historischen Methode allein nicht auskommen. um zwingendere
Beweise zu führen. Und bei der Lösung der ersten Aufgabe wird auch er sich noth-
wendig so viel als möglich der statistischen Methode bedienen müssen, um eben eine
genauere Feststellung der Thatsachen nach der quantitativen Seite zu erreichen.
§. 81. — 1. Die Statistik als Methode.
a) Wesen und methodologischer Werth dieser Me-
thode. Als Methode ist die Statistik die genaue, womöglich in
Zahlen ausgedrückte und dadurch messbare Quantitätsbestimmungen
bezweckende systematische Massenbeobachtung aller der-
jenigen Erscheinungen der realen Welt, daher auch der wirtschaft-
lichen Erscheinungen, welche als Functionen von constanten und
variablen (accid enteilen) Ursachen und als abhängig von eben
solchen Bedingungen, keinen absolut gleichmässigen, typischen, son-
dern einen bloss im Ganzen, in der Masse der Fälle regelmässigen
Character (Gestaltung, Entwicklung) haben, in den einzelnen Fällen
aber unter dem vorherrschenden Einfluss der variablen Ursachen
und Bedingungen mehr oder weniger von dieser regelmässigen
Gestaltung abweichen und ein individuelles Gepräge zeigen.
Diese Begriffsbestimmung ist hier in der Fassung etwas verändert gegen die
kürzere in meiner Abh. Statistik im Staatswörterbuch (X, 46!»), aber nach Sinn und
Inhalt doch damit identisch. Zur weiteren Erläuterung und Begründung beziehe ich
mich auf die ganze dort aufgestellte „Theorie der Statistik*4 (S. 456 — 4b0), auch für
das Folgende, worin ich mich mehrfach an das dort Gesagte anschlicssc. An dieser
Stelle handelt es sich aber nicht darum, alles Dortige zu wiederholen.
Unter den dem inductivcn Verfahren dienenden vier Beob-
achtungsmethoden ist nur die statistische geeignet, die wich-
tigeren und schwierigeren Aufgaben der Politischen Öko-
nomie (§. 57) neben oder an Stelle des deductiven Verfahrens
überhaupt zu lösen. Sie hat aber auch da, wo die drei anderen
Beobachtungsmethoden zur Lösung der Aufgaben, auch der ersten,
mit benutzt werden können, Vorzüge vor diesen anderen. Nament-
lich kann mit Hilfe der statistischen Methode der Complicirtheit
des Verursachungs- und Bedingungssystems, dem Zusammentreffen,
dem sich in den Wirkungen Aufheben und Modificircn der con-
stanten und variablen Ursachen Kechnung getragen , können auch
verwickelte Erscheinungen, Vorgänge auf ihre bedingenden und
verursachenden Factoren mit grösserer Sicherheit zurückgefühlt
werden. Die quasi- experimentelle Isolirung der Wirkungen und
Ursachen und Bedingungen, die Anwendung der Messung und Rech-
nung auf die causalen und conditionellen Beziehungen, die mathe-
matische Bestimmung des Grads der Zuverlässigkeit der Beob-
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Statistik als Methode. W esen und Werth derselben.
207
achtuogen und der Sicherheit der Scblusszieliungen aus ihnen wird
bei dieser Methode und bei ihr unter den vier Beobachtungs-
methoden wieder allein möglich. Auf diese Weise kann man unter
Umständen dahin gelangen, qualitative Verschiedenheiten auf quan-
titative ztirückzuführen. Die zweite und dritte Aufgabe wird so mit
Hilfe dieser Methode besonders erfolgreich behandelt und, soweit
als überhaupt die statistisch erfassbaren Momente
entscheiden, auch gelöst: das wirklich Generelle, Typische, vom
Individuellen, Speciellen genau geschieden, der wirkliche Causal-
zusammenhang sicher festgestellt und dadurch erst der Boden ge-
wonnen, wo nun die Erklärung, eventuell deductiv, zu erfolgen
hat, jedenfalls zu versuchen ist. Auch bei den drei practischen
Aufgaben leistet die statistische grösseie Dienste als eine jede der
drei anderen Beobachtungsmethoden.
Der Mangel und der Uebelstand bleibt auch bei der statistischen
Methode, dass dieselbe nicht überall und immer anwendbar ist,
theils im gegebenen Fall nicht, weil die Dinge zur Zeit, in der sie
sich zutrugen, nicht oder nicht genügend statistisch aufgenommen
wurden, theils weil sie sich damals überhaupt nicht statistisch auf-
nehmen Hessen oder auch jetzt nicht oder noch nicht so aufnehmen
lassen, theils endlich, was natürlich viel wichtiger ist, weil sie sich
überhaupt der quantitativen, vollends der zahlenmässigen Fest-
stellung ihrer Natur nach entziehen.
In ersterer Hinsicht ist z. B. klar, dass das statistische Ver-
fahren, was man oft richtig hervorgehoben, aber unrichtig zu einem
einseitigen Schluss gegen den Werth der Statistik benutzt hat,
auf das zeitliche Nacheinander der Erscheinungen häufig nicht
oder viel weniger als auf das räumliche und zeitliche Nebenein-
ander anwendbar ist. Allein damit ist noch nicht viel gegen das
statistische Verfahren bewiesen.
Natürlich, wenn in vergangenen Zeiten keine entsprechenden statistischen Auf-
nahmen auf einem Gebiete von Erscheinungen erfolgt sind, so kann man das statistische
Verfahren in Bezug auf dieses Gebiet auch nicht anwenden. Das gilt aber selbst-
verständlich grade so hinsichtlich der anderen drei Beobachtungsmethoden, auch die
historische versagt, wenn keinerlei betreffende geschichtliche Thatsachen seinerzeit
constatirt, aufgezeichnet worden sind. Mit diesem practisch oft richtigen Einwaud
gegen die Statistik beweist man also nichts, weil man zu viel beweist oder eigentlich
nur Selbstverständliches sagt. Wie die neuerliche, auf diesen Punct gerichtete archi-
valische Forschung, Durchstöberung alter Register, Rechnungen u. s. w. erwiesen hat,
ist indessen weit mehr selbst zahlenstatistischer Stoff, freilich, abgesehen von gewissen
Rechnungen, von meistens unsicherer und geringerer Güte als aus der Neuzeit und
aus der Gegenwart, schon aus viel weiter, bis ins Mittelalter hinein zurückliegenden
Zeiten noch vorhanden, als man früher annahm. Auch weisen sonstige Spuren auf
manches untergegangene, aber einst doch aufgenommene statistische Material hin.
208
1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 3. A. Indaction. §. 81.
Je länger die Jahresreihen zuverlässig ermittelter statistischer Thatsachen werden,
desto mehr wird ganz von selbst die statistische Methode auch auf das zeitliche
Nacheinander der Erscheinungen anwendbar.
Ferner, je mehr die statistische Technik sich vervollkommnet,
schon bei der ersten Aufnahme der Thatsachen, je mehr Arten und
Keihen von Thatsachen für diese Aufnahme sich geeignet erweisen
und je mehr Schwierigkeiten, z. B. im Widerstand, in der Ab-
neigung, im Büdungsstand, in Vorurtbeilen der Bevölkerung, ver-
schwinden oder sich überwinden lassen, gerade auch auf dem Ge-
biete der wirtschaftlichen Thatsachen (wie etwa der Einkommen-,
Vermögens-, Erwerbsverhältnisse), desto umfangreicher und sicherer
wird die statistische Methode zur Lösung von Fragen und Auf-
gaben, wie der früher besprochenen, anwendbar.
Vielfach wird man sich bis dahin denn auch statt mit genauen, auf Grund von
Zählungen ermittelten Zahlen mit Schätzungen von Zahlen nothgedrungen be-
gnügen müssen. Auch solche Schätzungen, für welche man, z. B. in der Bevölke-
rungsstatistik, wissenscbastliche Gesichtspuncte aufstcllen kann, sind nicht werthlos,
können daher unter gewissen Cantelen auch die Grundlage weiterer Operationen des
statistischen Verfahrens bilden. Eine „ungefähre“ Zahlenangabo muss eben öfters,
kann aber auch nicht selten für manche Zwecke genügen. Selbst noch allgemeinere
Quantitätsbestimmungen („viel“, „wenig“, „mehr“, „weniger“, „grösser“, „geringer“ etc.)
sind in Ermangelung genauerer Daten nicht aus dem Gebiete der statistischen Me-
thode schlechtweg auszuschliessen , so dass auch die häufig erfolgende begriffliche
Beschränkung der Statistik, als Methode, auf zahlenmässige Angaben zu weit gehen
möchte, wenn die Erreichung genauer zahlenmässiger Angaben auch das Ziel sein
muss (s. meine Abh. Statistik, S. 474).
Wenn die angedeuteten Umstände den Werth der statistischen
Methode vermindern und je nachdem auch dazu führen, dass die-
selbe mitunter den Dienst ganz versagt, so liegen die Verhältnisse
noch ungleich ungünstiger in dem anderen erwähnten Puncte, dass
eben Vieles sich quantitativ, zahlenmässig, statistisch
nicht erfassen lässt. Allerdings ist es ja an sich nicht un-
möglich, alles, was als Thatsache in der realen Welt in die Er-
scheinung tritt, daher auch alle wirthschaftlichen Thatsachen, zu
zählen, zu messen, quantitativ zu bestimmen, wenn sich auch von
diesen Thatsachen Vieles wiegen unüberwindlicher Schwierigkeiten
der Aufnahme practisch dieser Behandlungsweise entziehen wird.
Da wird dann wieder die „tägliche Beobachtung“, die wissenschaft-
liche Einzelbeobachtung, die historische Methode und eventuell die
Deduction zum Ersatz eintreten müssen. Misslicher ist aber noch
ein ganz anderer Umstand, selbst bei denkbar vollendetster sta-
tistischer Technik: die Thatsachen, welche in die Erscheinung
treten, sollen doch nicht nur constatirt, beschrieben, sondern in
ihrem Sein, Werden, Verlauf, Vergehen erklärt, auf ihre Be-
dingungen und Ursachen zurückgeführt, ihre Abhängig-
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Statistik als Methode. Wesen und Werth derselben.
209
keit von diesen soll ermittelt, womöglich gemessen werden.
Soweit nun die Bedingungen und Ursachen wieder in anderen,
vorangehenden, früher in die Erscheinung tretenden bestimmten,
äusserlich genau constatii baren und quantitativ bestimmbaren That-
sachen bestehen, müssen und können eventuell auch diese beob-
achtet und auch statistisch aufgenommen werden. Wo das mög-
lich ist, erweist sich gerade das statistische Verfahren, z. B. mittelst
seiner Tabellarisirung, worin schon äusserlich Functionenverhält-
nisse hervortreten, sehr förderlich.
Allein im Gebiete der Erscheinungen, welche direct und in-
direct auf menschliche Handlungen, daher auf Willens-
acte und innere psychische Motive zurückzuführen sind, wie
auch im socialen und wirtschaftlichen Gebiete, liegen gerade die
letzten tieferen Gründe, Ursachen, Bedingungen der Erscheinungen
oft weit zurück, wirken nur durch eine ganze Reihe von Mittel-
gliedern ein und entziehen sich der äusseren statistischen Erfassung,
sobald sie nicht in einzelnen sichtbaren Thatsachen, welche mit
Sicherheit als von ihnen ausgehend erkannt werden können, deut-
lich hervortreten. Hier spielen geistige Imponderabilien
mit, welche allenfalls als mitwirkende, mitbedingende Factoren mit
mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit ermittelt, deren Bedeutung
jedoch nicht unter Zahl und Maass gebracht wrerden kann. Dies
gilt aber gerade von sehr wichtigen Momenten im Wirtschaftsleben.
Wie bedeutsam ist z. B. der Einfluss der gesammten Staatsthätigkcit in der
Sicherung des Rechtsschutzes, in der Hebung des Bildungsstands, in der allgemeinsten
Förderung der wirtschaftlichen Interessen durch eine Reihe von Einrichtungen (Ver-
kehrswesen u. s. w.) auf die Entwicklung der Production! Und doch, wio vergeblich
ist das Bemühen, bei dem Mitspielen von anderen Einflüssen in derselben und in sich
kreuzender Richtung, nun sicher im Einzelnen nachzuweisen , öfters schon ob.
vollends aber in welcher Weise und zumal erst in welchem Maasse bestimmte
wirtschaftliche Erscheinungen, z. B. die Entwicklung des und des Industriezweigs in
der und der Zeit und Gegend, grade auf diese Staatsthätigkcit und auf die ein-
zelnen dazu gehörigen Maassregeln, Einrichtungen, Acte zuruckzuführen ist. Auch
was sich hier an äusserlich beobachtbaren Thatsachen, Erscheinungen als Wirkungen
und Ursachen feststcllen lässt, wird eben gleichzeitig von so mancherlei verschiedenen Um-
ständen beeinflusst, dass der specielle Einfluss der allgemeinen und der der besonderen
Staatsthätigkcit doch wieder nur etwa im Ganzen wahrscheinlich gemacht, aber
nicht genau unter Zahl und Maass gebracht werden kann.
Vielfach spiolen hier auch allgemeinere psychische Momente mit, in Be-
treff deren wiederum das Ebcngesagto gilt, z. B. die Hebung des Volks- und Staats-
bewusstseins durch grosse politische Erfolge reagirt auf das Wirtschaftsleben durch
Erweckung, Steigerung der wirtschaftlichen Initiative der Unternehmer, durch Er-
höhung des Prestiges auch der wirtschaftlichen Leistungen im In- und Auslande
(Deutschland seit 18701). Der Uebergang zu einem Schutzzollsystem hebt die wirt-
schaftliche Stimmung, den Mut der Unternehmer u. dgl. m. Gewiss oft sehr wich-
tige Einflüsse, deren Einwirkung auch im Ganzen, z. B. in der Steigerung der ge-
sammten und der auf gewissen Gebieten stattfindenden Productionsthätigkeit, in der
Ausdehnung des auswärtigen Handels mit Sicherheit sich mag nachwcisen, richtiger
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. TheiL Grundlagen. l-l
210
1. B. 2- K. 2. H.-A. Methoden. 3. A Induction. §. 81 , 82.
gesagt: sicli mag sehr wahrscheinlich machen lassen. Aber wiederum: die Nach-
weisong dieser Einflüsse im Einzelnen und die Messung der letzteren bleibt eben
das Unsichere, vielfach Unmögliche. Da man nicht cxperimentiren kann, da notorisch
so mancherlei Anderes in derselben oder in sich kreuzender Richtung gleichzeitig
mitspielt, kann mau auch festgestellte Thatsachcnreihen, die sich einander folgen und
im Verhältnis von Ursache und Bedingung zu Wirkung und Folge stehen können,
z. B. Maassregeln einer Schutzpolitik und Aufschwung von Productionszweigen, doch
eben wiederum nur mit vielleicht grosser Wahrscheinlichkeit in die Beziehung von
wirklicher Ursache und Wirkung im concreten Fall, aber das wirklich bestehende Ab-
hängigkeitsverhältniss doch nicht sicher unter Maass und Zahl bringen. Das ist die
Schwierigkeit, welche im Wesen der socialen, der wirthschaftlichen Vorgänge als Pro-
ducten psychischer Factoren liegt und sich genügend, auch mit Hilfe der feinsten
und genauesten statistischen Methode, nicht überwinden lässt. Von den streitenden
Parteien wird das in Bezug auf die Erfolge von wirthschaftspolitischen Maassregeln
so oft vergessen, mit allen Zahlen kein genügender Beweis, der den Gegner überzeugen
müsste, geführt. Daher denn auch die bleibende Meinungsverschiedenheit von Geg-
nern über solche Erfolge, z. B. der mercantilistischen , schutzzöllnerischen Handels-
politik im Ganzen und im Einzelnen in einem concreten Falle: „Ist die britische
Handelsmarine durch oder trotz der Navigationsacte zu ihrer Blüthe gekommen?“
Die Unzulänglichkeit der statistischen Methode, hier wo solche
Imponderabilien bei complicirten Erscheinungen im Wirthschafts-
leben mitspielen, ist demnach unbedingt zuzugeben. Aber zu Gunsten
der anderen Beobaehtungsmethodcn, auch der historischen, folgt
daraus nichts. Denn diese Methoden bewähren sich hier nicht in
höherem, sondern in der Regel selbst in noch geringerem Grade.
Man kann mit denselben, insbesondere mit der historischen, auch
bcstenfalles nur gewisse derartige Einflüsse als vorhanden con-
statiren, ihre Bedeutung aber ebenso wenig oder noch weniger
messen. Olt wird man die Einwirkung solcher Einflüsse nur wahr-
scheinlich machen können. Erst wenn und soweit es gelingt, sta-
tistische Beobachtungen mit in die Beweisführung zu ziehen , wird
man vielleicht den Grad der Wahrscheinlichkeit eines Zusammen-
hangs zu steigern vermögen.
Das wird von den Vertretern der bistorischen Methode wieder nicht gebührend
berücksichtigt. Gewiss kann grade bei der Anwendung dieser Methode der Thatsache
des Vorhandenseins und der Mitwirkung solcher Imponderabilien Rechnung getragen
werden. Aber die Gewissheit dieser Mitwirkung, geschweige das Maass der letzteren
lässt sich damit allein nicht feststellen, z. B. wiederum bei der Würdigung des Ein-
flusses wirthschaftspolitischer Maassregeln. Nur die Benutzung statistischen Materials
vermag hier etwas weiter zu helfen, aber nach dem Gesagten auch nicht weit genug.
Es ist daher gewiss richtig, wenn wirthschaftsgeschichtlichc Untersuchungen sich mög-
lichst dieses Materials mit bedienen. Aber selbst dann bleiben die angedcuteten
Mängel der Beweisführung, auch bei der sich so nennenden „exactcsten“ wirtbschafts-
geschichtlichcn Forschung, soweit es sich um die sichere Aufdeckung bestimmter
Zusammenhänge und Abhängigkcitsverhältnissc der Erscheinungen und um die Ge-
winnung von Maassbestimmungen hierfür handelt.
Man kann auch nicht einwenden, dass das eben überhaupt in aller Mensch-
heitsgeschichte, auch in der politischen Geschichte, nicht anders sei: auch hier könne
man immer nur, auch mit den Hilfsmitteln der genauesten Thatsachenerforschung,
Zusammenhänge, Verkettungen von Ursachen und Wirkungen, Einflüsse von allgemeinen
Maassregeln, von Persönlichkeiten mehr oder weniger wahrscheinlich machen. Aller-
dings verhält es sich so. Aber auf dem wirthschaftlichen Gebiete sind die Schwierig-
keiten doch noch grössere, die Ergebnisse der historischen und statistischen Beob-
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Anwendung der statistischen Methode.
211
achtung und Untersuchung in Bezug auf die Zusammenhänge der Erscheinungen und
auf den Einfluss jener angedeuteten Imponderabilien noch unsicherer, weil es sich,
wenigstens in jeder mehr oder weniger freieu, individualistischen Gestaltung des Wirth-
schaftslebens, doch um spontane oder von anderen Motiven bestimmte individuelle
Thätigkeiten und höchstens um mehr oder weniger entfernte Einwirkungen jener Fac-
toren auf die wirtschaftliche Motivation und auf die daraus hervorgehende Hand’
lungsweise der Individuen bandelt. Hier eben zu trennen, was, vollends in welchem
Maasse es der Wirklichkeit entsprechend auf solche Einwirkungen zurückzuführen ist,
was und in welchem Maasse nicht, das bleibt das mit allen Hilfsmitteln der äusseren
Beobachtung, auch der feinsten historischen und statistischen Methode, eben nicht ge-
nügend zu lösende Problem.
Aus dem Allen folgt, dass in solchen Fällen immer wieder auf
die psychologische Deduction zurückgegriffen werden muss.
Auch diese vermag dann freilich nichts Andres als Wahrscheinlich-
keiten der Zusammenhänge und Abhängigkeitsverhältnisse fest-
zustellen. Aber diese Wahrscheinlichkeiten werden einen grösseren
Werth als die mit den Beobachtungsmethoden, auch der historischen
und der statistischen, ermittelten beanspruchen können, weil die Methode,
mit welcher sie gewonnen wurden, gleichzeitig, voraussetzungsweise,
die bedingenden und verursachenden Factoren als die psychologisch
in ihrer Wirksamkeit begreiflichen wird nachgewiesen haben.
Genaue Maassbestimmungen für die Beziehungen zwischen Ur-
sachen und Bedingungen, Wirkungen und Folgen werden zwar auf
diese Weise gleichfalls nicht erreicht, wohl aber Bestimmungen der
Richtung, in welcher, und einigermaassen auch der Intensität,
mit welcher gewisse Ursachen und Bedingungen sich wirksam er-
weisen, und wiederum hier mittelst der Deduction sicherer und
psychologisch begreiflicher, als mit den Beobachtungsmethoden.
Daher dient hier die deductive Methode doch zur besseren Erklä-
rung und Verständlichmachung der Zusammenhänge und Abhängig-
keitsverhältnisse.
§. 82. — b) Anwendung der statistischen Methode.
Das Nähere hierüber gehört in die Schriften über Theorie der Statistik. Ich
beschränke mich auf einige Bemerkungen, bei welchen ich meiner Abh. Statistik
ibes. S. 468 ff.) folge, und füge einige Stellen daraus wörtlich ein. Vgl. Uber die
Bedingungen der Regelmässigkeit und Uber die Hauptsätze der Wahrscheinlichkeits-
rechnung u. A. die Ausführungen W' est ergaard ’s (Statistik, S. 10 ff., 56 ff). Als Bei-
spiel für die Behandlung eines Complexes von bestimmten Erscheinungen nach der
statistischen Methode behufs Feststellung des Generellen und der conditionellen und
cansalen Verhältnisse gemäss den von mir hier in der Methodologie vertretenen Ge-
sichtspuncten beziehe ich mich auf die Selbstmordstatistik im 2. Theil meiner „Gesetz-
mässigkeit scheinbar willkubrlicher menschlicher Handlungen“.
Genügende Massenhaftigkeit und richtige Systematik
möglichst zuverlässiger Beobachtungen, welche Qualitätsbestim-
mungeu, bezw. Zahlenausdrücke dafür von den betreffenden Er-
scheinungen ergeben, sind die Momente, um welche es sich bei der
statistischen Methode handelt und von denen der Werth der Ergeb-
14*
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212 1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 3. A. Induction. §. 32.
nisse dieser Methode abhängt. In Betreff der Massenhaftigkeit muss
der leitende Gesichtspunct sein, möglichst so viele sichere Beob-
achtungen einer Erscheinung (oder eines Complexes, einer Reihe
von Erscheinungen derselben Art) anzustellen, dass die Ursachen
und Bedingungen, welche bei dieser Erscheinung überhaupt mit-
wirken, nach Wahrscbeinliehkeitsgründen in den betreffenden Beob-
achtungen bereits sämmtlich und in der Weise, in dem Verhältniss
zur Wirksamkeit gelangt sind, wie es den constanten und gelegent-
lich mitspielenden variablen Ursachen und Bedingungen, der Durch-
schnittscombination und Durchschnittsbedeutung und Häufigkeit
aller, auch der variablen Factoren, entspricht. Für das hiernach
zu fordernde Maass der Masse der Beobachtungen und für den
Werth der Ergebnisse nach der Grösse der Masse lassen sich
mathematische Regeln aufstellen. Die Systematik der Beobach-
tungen verlangt eine möglichst genaue Verfolgung der Verände-
rungen der Erscheinung in Zeit und Raum, daher zu diesem Zweck
die erforderliche zeitliche und räumliche Ausdehnung der Beob-
achtungen, die Zerlegung von Zeit und Raum in kleine Theile,
und die Beobachtung der Erscheinung in jedem dieser Theile. Die
so gewonnenen statistischen Elementardaten der systematischen
Beobachtung werden dann aufgezeichnet, registrirt, geprüft, ge-
sammelt, classificirt, gruppirt, tabellarisirt, letzteres insbesondre so,
um Functionenverhältnisse hervortreten zu lassen und festzustellen.
Darauf werden Gleichförmigkeiten der Wiederkehr, der Gestaltung,
des Verlaufs der Erscheinungen und Abweichungen von diesen
Gleichförmigkeiten gesucht und so das Generelle, Typische der
Erscheinungen vom Individuellen unterschieden. Alsdann werden
die sichtbar oder muthmaasslich den gleichförmigen und ungleich-
förmigen Gestaltungen und Bewegungen der Erscheinungen zu
Gruude liegenden constanten und variablen Ursachen und Be-
dingungen und bezüglichen Combinationen und auf diese Weise
schliesslich Regelmässigkeiten und Regeln, Gesetzmässigkeiten und
Gesetze der Erscheinungen zu ermitteln, sowie die Erklärung dafür
und für die Abweichungen zu gewinnen gesucht. Dieses letzte
Stadium der Erkenntniss lässt sich aber wieder nicht mittelst der
statistischen Methode allein genügend erreichen, vielmehr muss hier
wieder die Deduction aus psychischen Motiven hinzukommen, um
wirkliche Erklärungen zu geben.
Unter den technischen Hilfsmitteln des statistischen Verfahrens
nimmt die Tabelle eine besonders wichtige Stellung ein.
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Anwendung der statistischen Methode.
213
„Sie erleichtert nicht nur die Cebersichtlichkeit, besonders der Zahlendaten,
ausserordentlich, sondern lässt auch schon dem physischen Auge die Gleichförmig-
keiten (und die Ungleichförmigkeiten) entgegentreten. Auch die formelle kritische
Prüfang wird durch die tabellarische Zusammenstellung erleichtert, auffällige (viel-
leicht auf Beobachtungs-, Rechen-, Schreibfehler zurückzufuhrende) Abweichungen von
der Gleichförmigkeit werden in der Tabelle am Deutlichsten hervortreten .... Die
Hauptbedeutung der Tabelle liegt darin, dass sie richtig construirt, zugleich das
functioneile Verhältniss zwischen dem statistischen Object und den darauf ein-
wirkenden Einflüssen zum Ausdruck bringt. „„Die Tabelle ist'*“, wie Engel (Ztschr.
d. prenss. stat. Bur., 1864, S. 114) sagt, „„mit einer Sammlung von Functionen ver-
schiedener Art zu vergleichen, indem die Werthe, die in die vorderste Spalte gesetzt
werden, den Unabhängigen oder Unvariablen entsprechen, während, wenn man bezüg-
lich dieser eine Feststellung getroffen hat, die Werthe in allen folgenden Spalten sich
nur nach Maassgabe jener verändern, mithin die abhängigen Variablen sind. Letztere
sind aber die Functionen der ersteren.““ Dio statistischen Daten Uber ein Object
erscheinen in einer solchen Tabelle, als einer Sammlung von Functionen, dann als ab-
hängige Variablen der nach einander zur Prüfung ihres Einflusses vorzuführenden
Ursachen. Man wird so sofort übersehen können, welche Veränderungen der auf ein
Object bezüglichen Daten unter dem Einfluss räumlicher und zeitlicher Veränderungen
der Ursachen und Bedingungen erfolgen .... Die Tabelle mit Zahlendaten (bedingt
selbst eine solche mit ungefähren Quantitätsbestiminungen) ist eine arithmetische
Darstellung des functionellen Verhältnisses der Erscheinung. Auf Grund dieser Daten
kann auch eine geometrische Darstellung dieses Verhältnisses, z. B. eine Curvcn-
zeichnung in einem Coordinatensystem, eine sogen, graphische Darstellung oder eine
bildliche, mit Farbenverschiedenheiten, Schattenabstufungen gegeben werden.“ (Aus
meiner Abh. Statistik, S. 474 ff.)
Bei den wichtigsten Aufgaben, zu deren Lösung die statistische
Methode in besonderem Maasse beitragen kann, der zweiten und
dritten der früher von uns unterschiedenen, also zur Auffindung
des Generellen, Typischen, des Gesetzmässigen , des oder der Ge-
setze der Erscheinungen, der conditionellcn und causalen Zusammen-
hänge und Abhängigkeitsverhältnisse, lässt sich die statistische
Methode wohl förmlich nach Art der experimentellen For-
schungsmethoden oder wenigstens in der Weise ausbilden und
handhaben, dass mit ihr nach Analogie dieser letzteren Methoden
verfahren werden kann. So können mit Hilfe des geeigneten und
entsprechend bearbeiteten (gruppirten, tabellarisirten) statistischen
Materials die Methode der Uebereinstimmung, die Differenzmethode,
diejenige der Rückstände (Reste) und diejenige der sich begleiten-
den (concurrirenden) Umstände zu einer der experimentellen For-
schung ähnlichen Anwendung gelangen.
S. über diese Methoden Mi 11, Logik, 3. B. Kap. 8 (Schiel’s üebersetzung, I,
453 ff.) und dazu Sigwart, Logik, II, 416 ff. — Engel, Bewegung der Bevölkerung
im Königreich Sachsen (1852), Vorwort, S. V, meine „Gesetzmässigkeit“, II, Motto
^hinter dem Titel) aus Engel, meine Abh. Statistik, S. 476. Engel sagt hier u. A.:
„Der Causalzusammenhang der beobachteten und arithmetisch aufgefassten Erschei-
nungen muss analytisch dargelegt werden, die zeitlich und räumlich wahrnehmbaren
Verschiedenheiten sind zu deuten und ihre wahrscheinlichen Ursachen zu ergründen ....
Die einfachste (zu Grunde zu legende) Methode ist die der Naturwissenschaften:
zuerst jede einzelne Erscheinung an sich nach allen Seiten kennen zu lernen, sodann
zu ermitteln, in welchem Zusammenhänge sie mit andern steht, und darauf erst diesen
Zusammenhang oder das Abhängigkeitsverhältniss zu messen. Namentlich müssen
214
1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 3. A. Induction. §. S2.
Ursachen und Wirkungen unterschieden, ab letztere die betreffenden Erscheinungen,
ab crstcrc möglicher Webe Alles betrachtet werdeu, was uns umgiebt, wahrschein-
licher Weise sehr Vieles, dessen Einfluss wir uns nicht träumen lassen. Bei der gei-
stigen Analyse des bunten Gewirrs der Erscheinungen kann man einen ähnlichen
Weg wie in der Chemie einschlagen : die Reihe der Erscheinungen im öffentlichen
Leben zu gewissen Gruppen und Abtheilungen vereinigen, diese gleichsam als Rea-
gentien zur Untersuchung einer bestimmten Reihe anderer Erscheinungen betrachten,
darauf zunächst das Vorhandensein einer Reaction, sodann die Quantität und Qualität
derselben beobachten.“ Ich füge dem aus meiner Abh. Statistik (S. 475) noch hinzu:
„Nach Feststellung des Vorhandenseins einer Reaction sucht man die Grösse und Be-
schaffenheit des Einflusses mittelst solcher Beobachtungen, welche eine bestimmte
Modification der Ursache (und Bedingung) und der Art ihrer Einwirkung enthalten,
zu bestimmen .... Schliesslich geht mau dann daran , die aufgefundenen und ge-
nauer bestimmten (gemessenen) Abhängigkeitsverhältuisse einer Erscheinung unter sich
und mit denjenigen anderer Erscheinungen in Zusammenhang zu bringen, um die
generellere Bedeutung einer Ursache für eine Reihe von Erscheinungen festzustellen
und dadurch vielleicht zu einer höheren Ursache empor zu steigen, üeber&ll handelt
es sich hier um Schlüsse, deren logische Richtigkeit an den Denkgesetzen, deren wirk-
liche, der Realität entsprechende Richtigkeit an den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit
geprüft werden muss.“ Die Methoden der experimentellen Forschungen sind hier
wenigstens nach Analogie anwendbar, „trotz der fast immer mangelnden Möglichkeit
des künstlichen Experimentirens , weil man die Beobachtungen grade wegen der
Mannigfaltigkeit der ein statistisches Object beeinflussenden Ursachen (und Bedingungen)
so einrichten kann, dass sie, den Wechsel Verhältnissen der realen Welt nachgehend,
von den dadurch gelieferten natürlichen Experimenten Act nehmen.“ (Eb. habe ich
an Beispielen die Anwendung der vier genannten Methoden der experimentellen For-
schung in der Statistik gezeigt.)
Eine wichtige Aufgabe ist bei dem Schluss von den beob-
achteten Wirkungen auf die sie herbeiführenden Ursachen die Fest-
stellung, ob man es hier mit constanten oder variablen Ursachen
und weiter, ob man es mit einem wirklich, wie angenommen, be-
stehenden Zusammenhang und Abhängigkeitsverhältniss oder mit
einem Spiel des Zufalls zu thun habe. Das Erstere ist nach dem
„Gesetz der grossen Zahl“, Beides alsdann mit Hilfe der
W a h r s c h e i n 1 i c h k e i t s 1 e h r e bez. -Rechnung zu untersuchen.
Auch darüber das Nähere in der Theorie der Statistik und, soweit es für die
Logik und Methodologie in Betracht kommt, in den Schriften über diese. Vgl. daher
besonders Mi 11, Logik, Buch 3, Kap. 17 und 18 (II, 53 ff.), Sigwarl, Logik, II,
§. 85, 101, 102 (Hilfsmethoden der Induction, statistische Methoden, Wahrscheinlich-
keit auf statistischem Boden, II, 502 ff.). Lexis, Theorie der Massencrscheinungen,
Westcrgaard a. a. 0. Rümelin, Reden, S. 15ff. Meine Abh. Statistik, S. 47011.,
460 ff. und die daselbst genannten Schriften (Q ui t eiet, Littrow). v. Kries,
Principien der Wahrscheinlichkeitsrechnung, Freib. 18S6, bes. Kap. 9.
Das Gesetz der grossen Zahl — ein, wie RUmelin mit Recht bemerkt,
nicht glücklicher Ausdruck, ich habe es das „Gesetz der constanten, die Wirksamkeit
der accidentellen Ursachen überwindenden Ursachen“ zu nennen vorgcscblagen —
besagt, „dass bei der Beobachtung einer grossen Zahl von Erscheinungen derselben
Art schliesslich ein gewisses constantes Zahlenvcrhältniss hervortritt, welches desto
früher und deutlicher bemerkt wird , je besser und unter sich gleichförmiger die Be-
obachtungen, je grösser die Anzahl derselben und je geringer die Abweichungen der
einzelnen Beobachtungen von jenem constanten Zahlenvcrhältniss sind“ (nach Littrow).
„Wir beobachten demnach hier eine Regelmässigkeit in den grossen, eine Unregel-
mässigkeit in den kleinen Zahlen.“ Dies deshalb, „weil die Erscheinungen in ihrer
Entwicklung von constanten und veränderlichen Ursachen (und Bedingungen) beherrscht
werden. In den grossen Zahlen, d. h. in der Masse der Einzelfälle, wirken sie ebenso,
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Anwendung der statistischen Methode.
215
nur wird ihre Wirkung hier gestört (bczw. aufgehoben) und deshalb verdeckt durch
die gelegentlichen Ursachen. Diese Störungen, daher das Ob und Wie der Wirksam-
keit der gelegentlichen Ursachen, erfolgen aber wiederum nach einer Ordnung: Qu 6-
telet’s Gesetz der accidentellen Ursachen. Dies Gesetz zeigt, „„wie sich auf die
Länge eine Reihe von Erscheinungen vertheilt, welche von constanten Ursachon, deren
Wirkungen aber gelegentliche Ursachen stören, beherrscht werden. Letztere para-
lysiren sich schliesslich und es bleibt am Ende das Resultat übrig, welches sich un-
abänderlich wiederholt hätte , wenn die constanten Ursachen allein wirksam gewesen
wären““. Das Gesetz der grossen Zahl schliesst das Gesetz der accidentellen Ursachen
implicite mit ein. Die Annahme, dass die constante Ursache in jedem Einzelfalle
mitwirkt, aber in ihrer Wirksamkeit nach einer regelmässigen Weise von einer ge-
legentlichen Ursache mitunter überwunden wird, ist eine logische Nothwendigkeit.
um die Gleichförmigkeit in der grossen Zahl der Fälle zu erklären“ (meine Statistik,
S. 460, 461).
Dies Alles gestattet eine Anwendung im wirtschaftlichen Gebiete auf die Ver-
hältnisse der Motivation. Bei denjenigen zahlreichen Erscheinungen (z. B. Preis-
bildungen im freien Verkehr), wo das erste Leitmotiv, das Streben nach dem wirt-
schaftlichen Vortheil, unter den Voraussetzungen der strengen Deduction (§. ßS) in
der Masse der Fälle wirkt, ergiebt sich eine Gleichförmigkeit der Gestaltung der
Erscheinungen, indem jenes Leitmotiv die constante Ursache darstellt; in einzelnen
Fällen treten aber andere Leitmotive modificirend, paralysirend hinzu: die gelegent-
lichen Ursachen, welche die Abweichungen von der Regel bestimmen.
„Die Bestimmung, ob eine Verbindung von Erscheinungen zufällig oder das
Resultat eines Gesetzes sei, erfolgt in der Weise, dass man prüft, ob sie relativ
häufiger vorkommt, als sich ohne Annahme einer darauf hinwirkendeu Ursache nach
Wahrscheinlichkeitsgründen vermuthen lässt“ (a. a. 0. S. 477), wofür dann die For-
meln der Wahrscheinlichkeitsrechnung zur Anwendung gelangen können. Weiteres
hierüber in den oben genannten Schriften, besonders von Lexis , v. Kries,
Wcstergaard.
Gegen eine derartige Anwendung der statistischen Methode auf
die wirthschaftlichen Erscheinungen nach Analogie der Methoden
experimenteller Forschung auf Naturerscheinungen könnte sich der
Einwand erheben, dass man dabei wieder in den Fehler verfalle,
diese beiderlei Erscheinungen zu sehr als homogene zu betrachten,
während sie wegen der Abhängigkeit der ersteren von menschlichen
Handlungen, Willensacten, psychischen Motiven eben heterogene
seien. Indessen würde ein solcher Einwaud nur zutrefiend werden,
wenn die wirthschaftlichen Erscheinungen und die ihnen zu Grunde
liegenden Handlungen entweder indeterminirt oder nur von
völlig variablen, bei jedem handelnden menschlichen Individuum
ganz verschiedenen Motiven und Motivecombinationen , von „ganz
unberechenbaren“ Factoren abhingen. Dass das nicht der Fall ist,
lehrt die innere und äussere Beobachtung und wird mit durch die
Gleichmässigkeiten der Erscheinungen, welche auf wirthschaftlichen
wie auf anderen Gebieten von menschlichen Willensacten und
Handlungen abhiingen und in der „grossen Zahl“ der Fälle deut-
lich hervortreten, genügend widerlegt. Von besonderer Wichtigkeit
sind hier gewisse be Völker ungs-, namentlich sogenannte
moralstatistisehe Untersuchungen solcher Erscheinungen,
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216 1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 3. A. Imluction. §. S3.
welche vom „freien Willen“ der Handelnden abhängen oder mit
abhängen.
An dieser Stelle muss es an diesem Hinweise genügen. S. oben in §. 54, (S. 140)
die litterarischen Angaben und die Bemerkungen dazu1).
§.83. — 2. Di eHisto rik, d. b. die Geschieht e alsMethod e.
a) Im Allgemeinen und bezüglich der ersten
und dritten Aufgabe. Nach den wiederholten Erörterungen
im Vorausgehenden über die historische Methode, ihre Berechtigung,
ihre Mängel und Unzulänglichkeit, wird es möglich sein und ge-
nügen, hier jetzt diesen Gegenstand in kürzeren abschliessenden
Ausführungen zu erledigen.
Vor Allem ist auch bei der Geschichte zwischen ihr als
Wissenschaft und als Methode der Beweisführung, ähn-
Bis in die neueste Zeit hinein ist mir gegen die zu mechanistische Auffassung
der moralstatistischen Thatsachen in meiner ersten bezüglichen, aus 1S63 — 64 her-
rührenden Schrift über „die Gesetzmässigkeit in den scheinbar willkührlichen mensch-
lichen Handlungen" eine Polemik zu Theil geworden, deren theilweise sachliche
Berechtigung ich selbst längst anerkannt habe. Ich hätte dabei aber vielleicht er-
warten können, dass man sich nicht immer nur an den 1. Theil genannter Schrift,
z. B. an mein oft citirtes Bild — wie ich es auch damals hingestellt habe — vom
Märchenlande mit der Annahme gesetzlich vorgeschriebener „moral-
statistischer" Handlungen (noch jüngst wieder bei Westcrgaard, S. 280) gehalten,
sondern meine anderen späteren Arbeiten mit berücksichtigt hätte. Schon der 2. Theil
meiner genannten Schrift, die Selbstmordstatistik, — die ich wohl auch heute noch,
trotz der seitdem oft und mit natürlich viel reicherem und besserem statistischen
Material erfolgten Bearbeitung des Gegenstands, die eingehendste vergleichend-stati-
stische Untersuchung eines solchen Thatsachcnkreiscs nennen darf, welche vorhanden
ist, — beweist doch meine Vorsicht in der Schlussziehung. Meine Abh. Statistik (aus
1865 — 66) ist, glaube ich, den Bedenken wegen zu mechanistischer Auffassung bereits
viel weniger als die etwas ältere Schrift ausgesetzt und meine „volkswirtschaftliche
Grundlegung“ unterliegt wohl solchen Bedenken überhaupt nicht mehr. Keiner meiner
zahlreichen Kritiker, A. v. Oettingen ausgenommen, hat das aber berücksichtigt, auch
Knapp, Westergaard, Scbmoller (noch 1SS8!) nicht. Mit einigen ablehnenden, Öfters
hochfabrenden und spöttelnden Bemerkungen sind übrigens die von mir immer, auch in
meiner ersten Schrift, anerkannten Schwierigkeiten, die Beziehung, bezw. den Wider-
spruch zwischen der grossen statistischen Regelmässigkeit „wilikührlicher" Handlungen
und der menschlichen „Willensfreiheit“ befriedigend zu erklären, noch durchaus nicht
beseitigt. Mir und m. E. Jedem, der hier klar zu sehen wünscht, bleibt grade auf
dem moralstatistischen Gebiete noch ausserordentlich viel Problem. Einzelne Regel-
mässigkeiten, z. B. die Yertheilung der Selbstmorde auf die Jahreszeiten, zeigen cino
Macht äusserer Einflüsse, die dadurch nicht weniger erstaunlich wird, dass einige
Leute, die immer das Gras wachsen hören, sie gar nicht auffällig, sondern ganz er-
klärlich finden. Auch G. Schmoller’s Ausführungen (über die Resultate der Be-
völkerungs- und Moralstatistik, 1869, wiederholt in seiner Schrift „zur Litteratur-
geschichte der Staatswissenschaften“, S. 272) gehen über die angedeuteten Schwierig-
keiten viel zu leicht hinweg, und zwar grado für den, der wirklich „das tieferblickende
Auge“ (S. 183) besitzt. Ich verkannte nie, auch in meiner ersten Schrift nicht, die
Unzulänglichkeit der mechanistischen Auffassung, aber was die Gegner vorgebracht
haben, scheint mir vielfach keine klarere und bessere Auffassung an die Stelle zu
setzen. Damit, dass man von „vulgärem“, „trivialem“ Quetelctismus spricht, wie
Knapp u. A. , beweist man doch noch nichts. — Es bedarf übrigens wohl keiner
besonderen Hervorhebung, dass die moralstatistischen Controverscn grade für die uns
hier beschäftigenden methodologischen Fragen von besonderer Wichtigkeit sind.
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Hi>torik als Methode.
217
lieh wie bei der Statistik (§. 80, S. 204) und ferner in Bezug auf
die Anwendung der Geschichte als Methode zwischen den ver-
schiedenen Aufgaben der Politischen Oekonomie zu unter-
scheiden.
Geschichte als Wissenschaft, Wirthschafts- (Finanz-, weiter
Cnltur-, Social-) Geschichte als Theil dieser Wissenschaft ist eiue
unentbehrliche, höchst wertbvolle Hilfswissenschaft für unsere ganze
Disciplin und Geschichte als Methode wenigstens für gewisse Auf-
gaben der Politischen Oekonoraie nicht minder wichtig, in be-
stimmten Fällen auch unentbehrlich.
Auch wenn sich, nach der durchaus heute vorherrschenden Ansicht unserer
Fachhistoriker, die Geschichtswissenschaft, also auch die Wirthschafts- Geschichtswissen-
schaft als solche aus der Stufe der bloss referireuden und der Stufe der pragmatischen
zu der Stufe der genetischen erhebt, will sic auch auf dieser Stufe doch nur darstellen,
schildern, wie die von ihr behandelten Dinge sind, geworden sind, sich entwickelt haben
und in welchem Zusammenhang sie unter einander stehen. Sie will nicht „allgemeine
Sätze. Gesetze, Ideen aus den Ereignissen abstrahiren“ , nicht „die Ereignisse als
Wirkungen allgemeiner Grundgesetze mechanisch ableiten und quantitativ bestimmen“
(Bernheim, s. o. S. 140, Note 2 und S. 205).
Mit dergestalt gefassten Aufgaben der Geschichte hat es nun
die Politische Oekonomie in ihrer ersten und theil weise in ihrer
dritten der oben (§. 57) unterschiedenen Aufgaben zu thun.
Bei der Lösung dieser Aufgaben dient ihr daher die Geschichts-
wissenschaft, speciell die Wirthschaftsgeschichts-Wissenschaft als
Hilfswissenschaft und dient zugleich das geschichtswissenschaftlich
festgestellte und geordnete Tbatsacheninaterial als Mittel der Be-
weisführung dafür, dass die Dinge so sind und in dem Zu-
sammenhang stehen, wie die Geschichte es ergiebt
Von besonderer Bedeutung ist diese Hilfe bei der ersten
unserer Aufgaben, und hier vor Allem für die hinter der Gegen-
wart zurückliegende Zeit, daher für die Ermittlung des
„Was- und Wie- früher Gewesenseins“ und des „Was-
und Wic-Geword en seins“ der wirtschaftlichen Erscheinungen.
Denn hier versagen die erste nnd die zweite Beobachtungsmethode oder das,
was mit ihrer Hilfe seinerzeit ermittelt wurde, wird eben erst nach geschichts-
wissenschaftlicher Feststellung, Prüfung und Ordnung verwendbar und verwerthbar,
d. h. das betreffende Tatsachenmaterial wird „historisches“ Material. Und hier ver-
sagt ferner nicht minder, aus den angeführten nicht principiellen, aber thatsächlichen
Gründen (S. 207) häufig ganz, fast immer mehr oder weniger, die statistische Methode.
Ebenso kann aber hier auch mit der deductiven Methode vielfach gar nicht', immer
nur unsicherer und mehr nur aushilfsweise, zur Ergänzung von Lücken in der Be-
weisführung mit der historischen Methode, als selbständig, „schöpferisch“ gearbeitet
werden. Soweit Letzteres überhaupt möglich ist, können deductiv auch nur gewisse
grosse, oft nur ganz grobe Grundzüge, nicht ein genaues, der Wirklichkeit entsprechendes,
farbenreiches, das Detail mitgebendes Bild der Erscheinungen entworfen werden. Oh
und inwieweit die historische Methode allein , vollends ohne Hilfe der Statistik , für
frühere, zumal für weiter zurückliegende, unter wesentlich verschiedenen Cultur-
218
1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 8. A. Induction. §. $3.
zuständen hervorgetretene wirtschaftliche Erscheinungen ein solches Bild wirklich
geben kann, lässt sich freilich nicht allgemein sagen. Lückenhaft, durch Deduction
und — combinirende, gestaltende Phantasie zu ergänzen wird Vieles daran bleiben,
um so mehr, je nabänderlich unzureichend oder mit Fehlern behaftet das historische
Material ist und je weniger statistische Daten vorliegen. Zu einer sicheren, über-
zeugenden Beweisführung auch nur im Gebiete der ersten Aufgabe, also dafür,
dass „die Dinge wirklich so waren“, wie sie die Geschichtswissenschaft darstellt,
reicht daher die Geschichte, auch als Methode betrachtet, nicht aus. Aber sie leistet
doch mehr als, abgesehen von der eben eventuell nicht anwendbaren statistischen
Methode, jede andere. Wir erfahren mit ihrer Hilfe mehr oder weniger genau, wie
die wirtschaftenden Menschen, die Bedingungen, unter denen sie handelten, die
Motive, nach denen sie es tbaten, und die wirtschaftlichen Erscheinungen, welche
aus diesem Handeln horvorgingen , waren. Psychologisch -deductive Schlüsse sind
dagegen nach dem Früheren grade um so unsicherer, je mehr die Menschen der be-
treffenden Periode von dem ab weichen, was in der strengen Deduction (§. 68) als ihr
wirthschaftspsychologisches Wesen gilt und auch von den uns aus eigenen inneren
und unmittelbaren äusseren Beobachtungen bekannten Menschen verschieden waren.
Je umfassender und zuverlässiger das historische Beobachtungs-
material wird, je mehr es sich mit statistischem verbinden lässt,
desto besser kann die ganze erste Aufgabe, die Ermittlung des
Thatsächlichen der wirtschaftlichen Erscheinungen, mit der histo-
rischen Methode gelöst, durch dieselbe der Beweis geliefert werden,
„dass die Dinge wirklich so sind“, wie sie dargestellt werden.
Im Ganzen wird daher der wissenschaftliche W'erth der Methode absolut
wachseu, je mehr man sich der Gegenwart nähert, wenn er auch relativ gegenüber
demjenigen der anderen Methoden, der deductiven und der drei übrigen Beobachtungs-
methoden dann abnimmt. Denn diese alle werden voraussetzungsweisc dann auch
anwendbarer. Dass sich so immer mehr Methoden zu demselben Zweck, der Beweis-
führung für die Richtigkeit der Schilderung der Thatsachen, verbinden lassen, ist
natürlich ein Vortheil mehr.
In einer anderen Beziehung leistet die Geschichte noch einen
besonderen weiteren Dienst, welchen wiederum für vergangene
Zeiten keine, für die Gegenwart keine der anderen Methoden
ebenso gut leisten kann. Sic schildert die politischen, sittlichen,
socialen, culturlichen , religiösen Verhältnisse, das „milieu“, in
welchem die wirtschaftenden Menschen standen und stehen, strebten,
wollten und streben, wollen, handelten und handeln und in welchem
die wirtschaftlichen Erscheinungen als T heile der Erscheinungen
der Menschenwelt und als solche beeinflusst durch alle die
anderen genannten Seiten, welche für diese Menschenwelt in Be-
tracht kommen, hervortraten und hervortreten. Gerade dadurch
weist die Geschichte nach, ob und welche Einflüsse, einigermaassen
auch in welcher Richtung dieselben neben wirtschaftlichen auf
Motive, Willensacte, Handlungen der Menschen, auf die wirt-
schaftlichen Erscheinungen einwirkeu.
Damit werden mit Hilfe dieser Methode, wie ausserdem freilich, aber weniger
genügend mit Hilfe der ersten und zweiten Beobachtungsmethode und in Concurrenz
mit der Hilfe der Methode der Deduction jene „Imponderabilien“ (S. 209) gewürdigt,
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Historik als Methode.
219
in Betreff deren die statistische Methode meistens versagt. Die methodologische iso-
lirende Abstraction wird hierbei dann freilich verlassen, damit ein Haupthilfsmittel
der cansalen und conditionellen Erklärung aufgegeben , aber dafür werden auch die
Erscheinungen in descriptiver Weise in denjenigen Zusammenhang gebracht, in wel-
chem sie in der Wirklichkeit stehen, was dann doch wieder gewisse, wenn auch nur
vagere, unsichere Schlüsse auf die Abhängigkeitsverhältnisse zulässt.
In allen diesen Beziehungen ist der Werth der historischen
Methode für die Lösung der ersten Aufgabe auch der Politischen
Oekonomie unverkennbar. Nur hinter demjenigen der statistischen
Methode steht er, von dem letzterwähnten Vorzug abgesehen,
zurück, weil die historische Methode nicht zu quantitativen Be-
stimmungen genauerer Art führt. Um so mehr ist sie hier mit
der statistischen zu verbinden, eventuell durch dieselbe zu ersetzen,
wo es geht.
In Bezug auf die dritte Aufgabe, welche auch in der Ge-
schichtswissenschaft bei einer wirklich genetischen Behandlung
derselben nicht ausgeschlossen ist, fällt dagegen das Urtheil Über
die historische Methode schon viel weniger günstig aus. Denn
die Ursachen und Bedingungen des Was- und Wie -Seins, -Ge-
wordenseins und - Werdens selbst nur der concreten, individuellen
wirtschaftlichen Erscheinungen sicher festzustellen, ist sie eben
nach allem früher Gesagten, und auch trotz des soeben ihr ein-
geräumten Vorzugs, nicht genügend fähig.
Sie kann wohl das Vorhandensein causaler und conditionellcr Zusammenhänge
und Abhängigkeitsverhältnisse aufdecken, aber schon nicht immer hinlänglich sicher
beweisen, vollends aber dieselben nicht messen. Eben deswegen kommt sie hier über
ein Raisonnement in vagen, statt in quantitativ bestimmten Begriffen so wenig wie die
Deduction, und wie die erste und zweite Beobachtungsmethode hinaus und steht sie
darin gegen die statistische weit zurück. Auch die psychologische Deduction leistet
hier mehr, weil sie auf Ursachen und Bedingungen als wenigstens m 'gliche Er-
klärungsgründe der Erscheinungen zurückgeht und nicht nur äusserlich dieselben
schildert.
Indessen mittelst der im Folgenden erörterten Fortbildung der
rein historischen zur vergleichend -historischen Methode
kann zwar diesem Mangel quantitativer Bestimmtheit nicht abge-
holfen, aber dennoch ein brauchbares Hilfsmittel gewonnen werden,
um nach Analogieschlüssen auch in concreten wirthschaft-
lichen Fragen den cansalen und conditionellen Zusammenhang und
die bezüglichen Abhängigkeitsverhältnisse aufzudecken. Solche
Analogieschlüsse sind aber zulässig, weil wir es auch bei aller
historischen, örtlichen Differenzirung der maassgebenden Ursachen
und Bedingungen doch immer mit den beiden grossen Constanten —
oder wenigstens : wesentlich Constanten — , der menschlichen Natur,
zumal wie dieselbe auf wirthschaftlichem Gebiete zur Geltung
220
1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 3. A. Induction. §. 84.
kommt, in ihrem Triebleben, ihrer Motivation, und der äusseren
Natur zu thun haben. Im Uebrigen gilt das im folgenden §. 84
Gesagte auch für die Anwendung der vergleichend -historischen
Methode auf dem Gebiete der dritten Aufgabe.
§. 84. — b) Die historische Methode in ihrer Fort-
bildung zur vergleichend-historischen, insbesondere
auf dem Gebiete der zweiten Aufgabe. Die zweite Auf-
gabe der Politischen Oekonoraie war nach dem Früheren (§. 57)
die Herausschälung des Generellen, Typischen aus den concreten,
individuellen Erscheinungen, die Ableitung von Regelmässigkeiten
und Gesetzmässigkeiten der Gestaltung, Wiederkehr, des Verlaufs,
der Entwicklung des Typischen und Individuellen in den Er-
scheinungen.
Eine solche Aufgabe lehnt wenigstens die neuere Geschichtswissenschaft für
das ganze Gebiet ihrer Erscheinungen, daher insbesondere für die politische Geschichte
i. e. S. , wie bemerkt, meistens ganz ab. Würde mau ihr aber auch diese Aufgabe
stellen: mit der rein historischen Methode wäre sie nicht zu lösen. Denn dieser
fehlte hierfür nicht nur das Moment der quantitativen Bestimmtheit, sondern auch
dasjenige der Massenbeobachtung von Erscheinungen, welche sie als qualitativ ver-
schiedene, rein individuelle ansieht. Nun kaun gewiss auch für die „rein politische“
Geschichte, z. B. die Entwicklung der Staatsformen , die Gestaltungen innerhalb einer
jeden, den Verlauf von politischen Bewegungen (Revolutionen) die Frage auftauchen,
ob denn nicht auch hier in aller Verschiedenheit des Individuellen „typische
Züge“ sich zeigen, welche auf das Vorhandensein auch unserer zweiten Aufgabe
selbst bei diesem Kreise von Erscheinungen hinweisen. Ist das, wie kaum zu be-
streiten sein möchte, zu bejahen, so würde sich ergeben, dass die heutige Geschichts-
wissenschaft selbst der politischen Geschichte gegenüber ihre Aufgaben zu eng fasst.
Auf dem Gebiete der Wirthschafts-, der Culturgeschichtc
treten einem Jeden die „typischen Züge“ so deutlich entgegen,
dass man mindestens bei ihr unsere zweite Aufgabe nicht wird
abweisen können und wollen. Die individuellen Erscheinungen
sind eben hier doch vollends nicht so qualitativ verschieden, wie
eine die Differenzirung des Minderwichtigen übertreibende, das Ge-
meinsame in den entscheidenden Factoren übersehende Auffassung
annimmt. Das tritt aber freilich erst deutlich hervor, wenn in um-
fassender und systematischer W eise Vergleichungen stattfinden.
Wie die statistische Methode erst durch solche Vergleichungen
wahrhaft fruchtbar wird, so auch die historische, die sich dadurch
aber freilich in ihrem Wesen selbst modificirt, indem sie planmässig
zur vergleichend-historischen wird.
Mit dieser Fortbildung der rein historischen Methode haben
wir es auf dem Gebiete der Politischen Oekonomie behufs
Lösung der hier wenigstens unbedingt zu stellenden zweiten Auf-
gabe und auch behufs der Beihilfe an der Lösung der practischen
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Die vergleichend - historische Methode.
221
Aufgaben (§. 57 , 62 ff.) zu thun. In dieser Form kann der Me-
thode hier ein öfters erheblicher Werth nicht abgesprochen werden.
Derselbe bleibt nur deswegen ein mehr oder weniger bedingter,
weil der Methode auch in dieser Gestalt Mängel ankleben, derent-
wegen sie wieder den Erfordernissen einer strengeren Beweisführung
nicht genügend und weniger als die statistische und als die de-
ductive Methode — diese wenigstens innerhalb der Grenzen ihrer
Anwendbarkeit — entspricht.
Die verbleibenden Mängel sind wesentlich drei: einmal setzt man sich bei der
Anwendung der vergleichend - historischen Methode über die qualitative Ver-
schiedenheit der individuellen Fälle, welche man vorgleicht, hinweg. Das ist kein
principieller Fehler, weil eben aus den mehrfach angeführten Gründen , wegen der
(relativen) Constanz der menschlichen und der äusseren Natur, doch eine generische
Gleichmässigkeit der allen Fällen zu Grunde liegenden Ursachen und Bedingungen
und daraus auch wieder eine generische Gleichmässigkeit und eine Vergleichbarkeit
der Erscheinungen, als der Wirkungen dieser Ursachen und Bedingungen, folgt. Aber
es bleibt doch ein thatsächlicher Fehler, der deswegen störend ist, weil sich für seine
Grösse, seinen Grad keine Möglichkeit der Messung bietet.
Sodann lässt sich auch die vergleichend -historische Methode doch nur in be-
scheidenem Maasse, nur relativ, dem Erforderniss der Massenhaftigkcit der Be-
obachtungen anpassen. Mit den Fortschritten der Geschichtsforschung, der immer
weiteren Ausdehnung auf andre Zeiten, Länder, Völker bietet sich zwar immer mehr
Material zur Vergleichung. Aber „massenhaft“ im eigentlichen Sinne wird es immer
nicht und ohnedem steigen die Schwierigkeiten der Vergleichbarkeit mit der Masse
dieses Stoffs, weil man sich dann über immer mehr und verschiedenartigere indi-
viduelle Differenzen des zu Vergleichenden hiuwegsctzen muss, also das erste Be-
denken stärker wird.
Endlich bleibt immer der Mangel der quantitativen Bestimmtheit der Be-
obachtungen. Er lässt sich nur dadurch beheben, dass möglichst die statistische,
bezw. vergleichend -statistische mit der vergleichend - historischen Methode verbunden
wird. Aber das ist eben oft nur in geringem Grade zu erreichen. Soweit es ge-
schieht, wird dann überhaupt nicht mehr mit der historischen, sondern mit der sta-
tistischen Methode operirt.
Das Ergebniss ist souacb : die vergleichend-historische Methode
nähert sich der statistischen Methode, ja man könnte sie seihst als
eine Abart der letzteren auffassen. Aber sie bleibt unvollkommen.
Denn sie gestattet ihre Anwendung immer nur mit mehr oder
weniger grossen Fictionen, mittelst deren man sieh über die quali-
tative Verschiedenheit der verglichenen Objecte hinwegsetzt, so dass
bei der verbleibenden Begrenztheit der Vergleichbarkeit der Objecte
die Schlüsse aus der Vergleichung weniger sicher und beweiskräftig
sind. Sie ist auch nicht massenhaft und systematisch auszugestalten
und entbehrt der quantitativen Bestimmtheit der Beobachtungen,
welche sie benutzt. Eben deshalb erlaubt sie nicht so sicher, öfters
gar nicht genauer eine Isolirung der Wirkungen und Ursachen, der
Folgen und Bedingungen, als die statistische Methode, ebenso keine
so sichere Zurückführung der beobachteten und verglichenen Er-
scheinungen auf Hauptursachen und Bedingungen und Nebeuursachen
Digilized by Google
222
1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 3. A. Induction. §. 84, 85.
und Bedingungen, auf constante und variable Factoren. Deswegen
sind ihre Resultate in Bezug auf die Lösung der zweiten Aufgabe,
aber auch der dritten und ebenso der practischen immer nur mit
Vorsicht zu benutzen. Klar ist aber freilich, dass die historische
Methode nur in dieser Fortbildung zur vergleichend -historischen
überhaupt wesentlichere Dienste zur Lösung aller derjenigen Auf-
gaben zu leisten vermag, welche über die Darstellung concreter
wirtschaftlicher Erscheinungen hinausgehen.
Der nationalökonomische Historismus, besonders in der jüngeren Richtung
(§. 15, lö) ist sich wohl über verschiedene hierher gehörige Puncte nicht immer klar
geworden. Seine Neigung, nur die historische Methode gelten zu lassen, übersieht,
dass mit letzterer in ihrer reiuen Gestalt — also ohne Vergleichungen — doch nur
die erste Aufgabe allenfalls gelöst werden kann, aber auch nur für concrete wirt-
schaftliche Erscheinungen. Aber alsdann, woran es an Hinneigung auch nicht gefehlt
hat, den Schluss ziehen, dass eben deswegen, weil nur hier diese eine Methode an-
wendbar, die erste Aufgabe überhaupt allein der Politischen Oekonomie zu stellen
sei. läuft doch auf eine augenfällige petitio priucipii hinaus, welche noch dazu nur
auf der doctrinaren üeberschätzung der historischen Methode beruht. Dabei wird
denn auch wieder Wirtschaftsgeschichte und Politische Oekonomie verwechselt oder
identificirt. Aber selbst in ersterer als einem Tbeile der Geschichtswissenschaft und
grade als einem dem Stolle nach aparten Tbeile wird man mindestens die dritte Auf-
gabe, die Erforschung der Causalzusammcuhänge, nicht abweisen dürfen und diese
ist mit der „rein historischen“ Methode wiederum nicht zu lösen, sondern eine Fort-
bildung derselben zur vergleichenden mindestens dafür geboten. Stellt man der Wirt-
schaftsgeschichte auch noch die zweite Aufgabe, die Ermittlung des Typischen, wie
das doch von Wirthschaftshistorikem selbst immer mehr als berechtigt an-
erkannt wird, so kommt man vollends mit der „rein historischen“ Methode nicht mehr
weiter und muss dieselbe in die vergleichende hinüberbilden.
Indem man das getan hat, hat man auch erfreuliche Resultate für die Erkennt-
nis des Typischen der Gestaltungen, der Entwicklungen und für das Verständuiss
des causalen und conditionellen Zusammenhangs erzielt. Grosse, weitere, allgemeinere
und specicllere Aufgaben liegen hier noch vor. Aber schon die bisherigen Ergeb-
nisse der vergleichenden Agrar- und Grundeigentums-, Gewerbe-, Handels- und bei-
der Verfassungsgeschichte, der Arbeitsteilung, der ünternchmungsformen, des Geld-,
Münz-, Credit-, Bank-, Versicherungswesens und ihrer Verfassungsgeschichte, des
Finanz-, Einnahmearten-, Steuer-, öffentlichen Creditwesens, der allgemeinen volks-
wirtschaftlichen Organisation und Organisationsprincipien und Systeme u. s. w. sind
nur wichtige Hauptbeispicle, innerhalb welches jeden Spccialbcispiclc sich finden, wie
etwa in der vergleichenden Zunftgeschichtc, der Feldsystem -Geschichte. Diese Er-
gebnisse sind auch für die Politische Oekonomie höchst werthvoll. Allein man muss
sich in der Frage der historischen Methode hier doch über verschiedene Puncte klar sein.
Einmal: die concrete wirthschafts- {finanz-)historischc Forschung fördert nur
Stoff zur Lösung der ersten Aufgabe. Erst durch vergleichende Sammlung,
Sichtung, Prüfung, Verarbeitung, Zusammenstellung desselben wird unmittelbarer für
die anderen Aufgaben gearbeitet. Sodann, wenn so vorgegangen, verglichen wird,
so bildet man eben die „historische“ Methode schon wesentlich um zur vergleichend-
historischen, verlässt dann aber auch die Auffassung, Wirtschaftsgeschichte und Po-
litische Oekonomie zu identificiren und stellt sich andre Aufgaben als in jener allein.
Und endlich wird man sich doch immer der inhärenten Mängel auch der ver-
gleichend-historischen Methode zur Schlussziehung und Beweisführung für jede
Frage auf dein Gebiete der zweiten und dritten theoretischen und der weiteren prac-
tischen Aufgaben bewusst bleiben müssen. Wiederum ist daher der Gebrauch des
Ausdrucks „exact“, „exact gewonnen“ für die Ergebnisse auch der vergleichend-
historischen Methode nicht nur viel zu anspruchsvoll, sondern auch völlig unan-
gemessen, weil er auf einer Verkennung der angedeuteten Mängel dieser Methode
beruht. Diese Einsicht fuhrt dann auch zu der Forderung, soweit es irgend geht,
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. Anwendung der historischen Methode.
223
die statistische Methode mit heranzuziehen, aber auch zu der Anerkennung des Werths,
welchen überall, auch bei wirtschaftshistorischen Problemen, die deductive Methode
beanspruchen kann.
§. 85. — c) Anwendung der historischen Methode.
Für die Anwendung der vergleichend - historischen Methode
kommen analoge Gesichtspuncte und Grundsätze wie für die
statistische in Betracht (§. 82), freilich imitatis mutandis nach der
formalen Verschiedenheit des Materials. Gerade weil demnach
Manches zu verändern ist, zeigt sich hier wieder die höhere tech-
nische Vollkommenheit, bessere Brauchbarkeit und grössere Ge-
eignetheit der statistischen Methode als Mittel strengeren Beweises.
Der Analogieschluss spielt bei der vergleichend -statistischen Me-
thode bleibend eine grössere Rolle. Jene Anwendung der Methoden
experimenteller Forschung (§. 82 S. 213) ist zwar auch bei dieser
nicht ausgeschlossen, aber viel enger begrenzt und sie bedingt
weit mehr Vorbehalte und weniger sichere Schlüsse, einen viel
minder gewissen Werth der Ergebnisse. Die Bestätigung durch
Deduction ist daher hier in höherem Maasse als bei der statistischen
Methode geboten, einigermaassen ähnlich wie bei der ersten Beob-
achtungsmethode des Inductionsverfabrens, der täglichen un-
systematischen Massenbeobachtung (§. 78), wenn auch der wissen-
schaftliche Cbaracter der vergleichend -historischen Methode mehr
Garantie bietet, — wenn und soweit als er im concreten Falle
festgehalten werden kann.
Am Allermeisten ist Vorsicht geboten , in Fragen der prac-
tischen Wirtschaftspolitik sich kurzweg auf die „historische
Erfahrung“ zu berufen, wie das in allen Parteilagern so gern ge-
schieht, aber auch unter Vertretern der Wissenschaft nicht selten
ist. Denn das „x“ ist hier eben immer: was besagt die „histo-
rische Erfahrung“ in Bezug auf complexe Erscheinungen, welches
ist der Inhalt dieser Erfahrung? Und zur genauen Bewerthung
dieses „x“ reicht die rein - historische und auch die vergleichend-
historische Methode auch nur mit einiger Sicherheit meistens nicht
aus, weil sie eben die gedankenmässige , geschweige die experi-
mentelle Isolirung der Ursachen nicht genügend gestatten. Die
statistische und die deductive Methode thun das in höherem Grade,
wenngleich auch nicht genügend. Deswegen geben sie für ein
solches „x“ immer doch mehr und sicherere Näherungswerthe als
die beiden historischen Methoden.
Auch das wird so leicht von den Vertretern der historischen Nationalökonomie
in dem Methodenstreit übersehen. Es werden z. B. gegen die deductive Methode
224
1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 3. A. Induction. §. $5.
Vorwürfe erhoben, dass mit derselben keine genügend sicheren Ergebnisse zu erzielen
seieu. Ganz richtig! Aber verhält es sich denn mit der historischen Methode wenig-
stens bei allen Aufgaben Nr. 2 — 6 nicht ebenso oder selbst noch ungünstiger ?!
Schwierigkeiten, welche in den Problemen selbst liegen, werden hier der Methode
zur Last gelegt, weil dieselbe ihnen nicht genügend gewachsen ist. Was aber dann
für alle Methoden immer mehr oder weniger gilt. Gewiss sind da von den Vertretern
der Deduction und der Statistik öfters ganz ähnliche Fehler begangen worden, aber
gegenwärtig sind dieselben wenigstens seltener und geringer als in gewissen Rich-
tungen der historischen Nationalökonomie, auf deren Mühle immer das Wort, „exacte
historische Forschung“ klappert und die doch nicht einmal den erheblichen Unter-
schied zwischen einer historischen und vergleichend-historischen Methode und zwischen
den mit beiden zu lösenden verschiedenen Aufgaben sich klar macht.
Fehler dieser Art sind in der Methodologie der ganzen historischen National-
ökonomie, mehr bei der jüngeren als bei der älteren (§. 15), aber auch bei dieser
nachzuweisen. Selbst Knies möchte davon (s. [II, Abschn. 10 u. 11, S. 453 ff. seiner
Pol. Oek., 2. A.) nicht ganz frei zu sprechen sein. Bei Roscher, Schmoller, Hasbach,
Ingram u. A. treten sie in der ungenügenden Unterscheidung zwischen den ge-
nannten beiden historischen Methoden und in den einseitigen Urtheilcn über die
deductivc Methode, bei Roscher auch in dem Urtheil Uber die „idealistische“ Methode
und in der Verkennung des Wesens und Werths der statistischen Methode nur
schärfer hervor. Mit Recht hat W. Wundt (Logik II, 593 ff.) auf die Nothwendig-
keit grade der Statistik zur Ergänzung der geschichtlichen Untersuchung hin-
gewiesen. Aber seine weiteren bezüglichen, freilich sehr kurzen Ausführungen leiden
doch auch an dem Fehler, die Statistik zu eng zu fassen, bei der historischen Methode
die beiden verschiedenen Arten nicht zu trennen und die Leistungsfähigkeit
der historischen Forschung zu überschätzen. So z. B. wenn er sagt (S. 593) :
„insbesondere fällt überall da, wo man ein causales Vcrhältniss gegebener wirth-
schaftlicher Zutsände zu gewinnen sucht, der geschichtlichen Entwicklung die Haupt-
aufgabe zu (?), während die Statistik nur dazu dient, jene Zustände selbst in ihrem
Detail festzustellen“ (?). Mit Recht wird gleichwohl alsbald darauf von den „im
Allgemeinen bloss qualitativen Ergebnissen“ der historischen Forschung gesprochen. —
was eben doch schon eine ungenügende Leistung ist. Auch die weiteren Bemerkungen
Wundt’s über die Beziehungen zwischen abstracter Wirthschaftstheorie und historischer
Nationalökonomie verkennen hier, wie auf den vorausgehenden Seiten (S. 588 ff.), nicht
den Werth und die Berechtigung der Deduction und der abstracten Theorie, aber
machen doch der historischen Richtung zu weite und vor Allem nicht ganz klare
Zugeständnisse. Was hier über die Psychologie als grundlegende Discipliu der
Geisteswissenschaften richtig gesagt ist (S. 595), scheint mir auch nicht zu Gunsten
des inductiven, sondern gerade des deductivcn Verfahrens zu gelten. Es ist eben eine
Behauptung, welche auf falscher Auffassung des methodologischen Verfahrens in der
abstracten Wirthschaftstheorie beruht, wenn dieser vorgeworfen wird, es habe in
ihrem logischen Schematismus die Psychologie ihre grundlegende Stellung verloren,
wie Wundt unter Berufung auf Schmoller bemerkt. — Die älteren Ausführungen
Pickford’s (Einleitung), die neueren Menger’s, der mir nur den relativ grossen
Werth der vergleichend - historischen Methode doch auch für die Thcorio (die Auf-
gaben 2 und 3) nicht ganz genügend zu würdigen scheint (vgl. bes. Untersuchungen,
B. 2, Kap. 2, S. 118 ff. , bes. S. 124 ff., über die Parallelismen der historischen Ent-
wicklung), die Erörterungen H. Dietzel’s a. a. 0. und nunmehr besonders diejenigen
von Keynos (scope a metliod, Kap. 9, nebst Anhang S. 290 ff.), auch im Ganzen die
von M. Block (progrüs de la Science ccon. I, IS ff.) scheinen mir Mas Richtigere
mehr zu treffen, wenn auch dabei mitunter, nicht bloss von Mengcr, der historischen
Methode in der Form der vergleichend-historischen weniger Beachtung geschenkt und
Werth beigelegt wird, als sie mir beanspruchen zu können scheint.
Für das Technische in Betreff der Gewinnung des histo-
rischen Stoffs gelten auch ftir den Wirthschaftshistorikcr die Grund-
sätze der allgemeinen Geschichtswissenschaft.
Dafür sei hier auf das Buch von Bernheim hingewiesen. Es ergiebt sich hier
dann, wie bei der Statistik, der von E. Engel wohl sogenannte Unterschied zwischen
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Wirtschaftliche Gesetze.
225
statistischen und historischen „Producenten“ und „Consuinenteu“. Schon das Princip
der Arbeitsteilung wird in der Kegel eine Trennung zwischen der Thätigkeit beider
bedingen, so weit es sich um etwas Anderes als um Forschung auf einem concreten
wirthschaftsgcschichtlichen Gebiete und Darstellung der Thatsachen, also um etwas
Anderes als um unsere erste Aufgabe handelt. Jedenfalls muss aber derjenige National-
ökonom. der gleichzeitig wirthschaftsgeschichtlicher Specialforscher sein will, allen
Anforderungen der Quellenkunde, Kritik u. s. w. der Geschichtswissenschaft entsprechen,
eine boi dem Umfang der Gebiete, den verschiedenen Bedürfnissen in Bezog auf
Specialstudien und Kenntnisse u. s. w. schwer zu erfüllende Anforderung. Und um-
gekehrt, der wirthschaftsgeschichtliche Forscher, welcher auch Nationalökonom sein
will, darf die für diesen indispensablen weiteren Aufgaben nicht über der ersten
vernachlässigen oder gar vergessen. Er darf aber auch nicht das ganze Schuttgeröll
historischer Forschung und cultur- und wirtschaftshistorischer Lesefrüchte, nach
einigen Gcsichtspunctcn der abstractcn Nationalökonomie und der Deduction geordnet,
als „nationalökonomisches Ergebniss“ der „inductivcn historischen Forschung“ hin-
stellen. Denn einmal ist es eben noch nicht ein nationalökonomisches Ergeb-
niss und zweitens giebt es sich, soweit es selbst so genannt werden dürfte, als Gewinn
der inductiven Methode aus, während es doch wesentlich — historische Umklcidung
der Ergebnisse der deductiven Methode ist. Daran erinnert manche „liistorisch“-
nationalökonomischc Arbeit.
4. Abschnitt.
Wirtschaftliche Gesetze.
§. SO. Einleitung und Litteratur. Eine bezügliche Erörterung wurde
oben in §. 73, wo von dcductiv abgeleiteten Gesetzen die Kede war, Vorbehalten bis
nach erfolgter Behandlung des deductiven Verfahrens. Es ist hier jetzt die geeignete
Stelle dafür gekommen. Die ganze Frage steht mit den übrigen Gegenständen dieses
Kapitels, besonders mit der Methodologie, und dieses ganzen 1. Buchs in naher Be-
ziehung, war daher auch wiederholt schon zu berühren. Sie gehört aber w'icdcr zu
denjenigen, welche mit grossen, allgemeinsten, schwierigsten und strittigsten philo-
sophischen Fragen in Zusammenhang stehen und bildet insbesondere selbst wieder eine
Specialfrage der allgemeinen Frage von Begriff und Wesen von „Gesetzen“, „Gesetz-
mässigkeit“, Causalzusammenhang in der realen Welt und in den Wissenschaften von
letzterer. Auch diese Frage hier nach allen Seiten erschöpfend zu behandeln, ist
nicht möglich. Das wäre die Aufgabe der Monographie.
Gegenüber einer zu grossen Geneigtheit der älteren abstracten theoretischen
Nationalökonomie und ebenso der Statistik der Quetelet’schou Richtung , immer gleich
und ohne genügende Reserve, auch ohne zuvorige Feststellung des Begriffs, auf volks-
wirtschaftlichem, statistischem Gebiete, namentlich auch in der Statistik „scheinbar
willkührlichcr menschlicher Handlungen“, der Moralstatistik u. s. w. den Ausdruck
„wirtschaftliches“, „statistisches“, „moralstatistisches“ Gesetz anzuwenden, sogar von
„Naturgesetzen“ zu sprechen, ist neuerdings auch hier ein Rückschlag ein-
getreten. Man ist der Annahme von „Gesetzmässigkeiten“, gar von „Gesetzen“ auf
diesen Gebieten mitunter ganz entgegengetreten , jedenfalls ihr gegenüber skeptischer
und reservirter geworden, mit der Begründung, dass es sich hier immer nur höchstens
um gewisse Regelmässigkeiten handle, die ohnehin kleiner, als meistens angenommen,
seien, und dass man cs mit Erscheinungen zu thun habe, welche mit oder wesentlich
allein unter dem Einfluss psychischer Factoren ständen und deshalb nur gewaltsam
nach einer rein mechanistisch-materialistischen, schliesslich doch auf petitioncs prin-
cipii beruhenden Anschauung als „gesetzmässig“ verlaufend aufgefasst werden könnten.
Die neuere anüqu6telctschc Richtung in der Statistik (s. o. S. 141) und die historische
Richtung in der Nationalökonomie haben hier einen ähnlichen ablehnenden Stand-
punct gegen „Gesetze“ auf den hier besprochenen Gebieten eingenommen und auch
manchen richtigen Einwand erhoben. Aber auch in diesen Richtungen ist nicht
immer auf die Frage von Begriff und Wesen von „Gesetzen“ überhaupt genügend ein-
gegangen und hat die Polemik das Ziel namentlich öfters deswegen uberschossen,
weil sie „Gesetz“, „statistisches“ Gesetz, „wirtschaftliches“ Gesetz ohne Weiteres für
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Theil. Grundlugen. 15
226 1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 4. A. Wirtschaft!. Gesetze. §. 86.
..Naturgesetz“ nahm, wozu freilich ein unpassender Sprachgebrauch und jene zu
mechanistische Auffassung von „Gesetzen“ auf diesen Gebieten mit den Anlass ge-
geben haben. Mit der zutreffenden Widerlegung der Ansicht von wirtschaft-
lichen u. s. w. „Naturgesetzen“ ist nicht schon die Annahme von „Gesetzen“ überhaupt
widerlegt. Die Annahme von Gesetzen und damit etwas den Naturgesetzen im Gebiete
der Naturwissenschaften wenigstens Analoges auch auf dem geisteswissenschaftlichen
Gebiete ist dabei auch gewöhnlich in Folge einer unklaren und zwar zu strengen
Auffassung dessen, was vermeintlich allein ein wirkliches „Naturgesetz“ sei, kurzweg
abgelehnt worden. Man hat hier nicht untersucht, inwiefern denn das, was man
Gesetz im Sinne von Naturgesetz in den Naturwissenschaften nennt, nicht auch ähn-
lichen Einwänden, wie das „Gesetz“ in unseren Wissenschaften ausgesetzt sei, man
daher mit solchen Argumenten zu viel beweise.
Trotz der von mir zugestandenen, mir so oft vorgeworfenen, viel zu mecha-
nistisch-naturwissenschaftlichen Auffassung in meiner Schrift „die Gesetzmässigkeit in
den scheinbar willkührlichen menschlichen Handlungen“ (s. o. S. 141), war ich doch
bereits damals (1S64) zu der Einsicht gelangt, dass man sich zum Theil nur in einem
Wortstreit bewege, weil der Sprachgebrauch in Betreff der Ausdrücke „Gesetz-
mässigkeit“, „Gesetz“ eben nicht feststehe und von den einzelnen Autoren diese
Worte in verschiedenem Sinne genommen würden ; ferner, dass auch der naturwissen-
schaftliche und der Sprachgebrauch der sogen, exacten Wissenschaften in Betreff
dieser Ausdrücke nicht feststehe und endlich, dass Untersuchungen zum Zwecke einer
principiellen Begründung eines richtigen Sprachgebrauchs es grade nach den auch bei
den Gesetzen der Natur- und exacten Wissenschaften obwaltenden Verhältnissen des
Erkenntnissstadiums zulässig und logisch und erkenntnisstheorctisch richtig erscheinen
Hessen, doch auch auf statistischem, auf volkswirtschaftlichem, überhaupt
allgemein auf geisteswissenschaftlichem, d. h. auf solchem Gebiete, wo psy-
chische Factoren einwirken, von „Gesetzmässigkeit“ und „Gesetzen“ zu reden. Die
bezüglichen Untersuchungen bilden den Anhang zum 1. Theil meiner Schrift über
„Gesetzmässigkeit“ (S. 63 — SO). Ich habe schon oben mehrfach darauf Bezug ge-
nommen. Einiges weitere Dahingehörige enthält meine Besprechung des moral-
statistischen Atlas von Guerry in der Tüb. Ztschr., B. 21, 1S04, S. 273 ff., besonders
S. 276 — 278, 2S1 — 285. In meiner Abh. Statistik, Staatswörterbuch. X, 456 ff, bes.
456 — 463, 474 — 477, habe ich dann versucht, meine Ansichten über diese Puncto in
knapper Weise systematisch zusammenzufassen. Ich glaube nun, wie in den obigen
Erörterungen über die statistische Methode (§. 80 — 82), so auch hier in Betreff der
„Gesetzmässigkeit“ u. s. w. an meinen damaligen Auffassungen im Wesentlichen und
zum Theil auch noch an meinen damaligen Fassungen festhalten zu dürfen. Dies,
obwohl sie sich nicht besonderer Beachtung erfreut und von den später über denselben
Gegenstand schreibenden Autoren, mit Ausnahme wieder Al. v. Oettingen's, kaum
einmal erwähnt worden sind (auch von Rümclin nicht, dessen Arbeiten über Ge-
setze, nebenbei bemerkt, späteren Datums als meine genannten sind, auch in der
neuesten Arbeit von Neumann nicht). Besondere Citate aus meinen Aufsätzen sind
im Folgenden unterblieben. Für die nähere Begründung und auch für die Ab-
weichungen von Anderen möchte ich mich aber ausdrücklich darauf beziehen.
Ueber die ältere Litteratur (bis 1865) enthalten meine früheren Schriften a. a. 0.
mancherlei Angaben (s. bes. „Gesetzmässigkeit“, S. 67 ff und den Aufsatz Uber Guerry).
Für weitere und neuere Litteratur ist auf die Angaben oben in §. 54, S. 140 ff. zu
verweisen, namentlich auf die betreffenden statistischen, philosophischen Schriften,
unter denen die von Rümclin besonders hervorzuheben sind. Er steht wie in seiner
2. Abh. über Statistik etwas anders als in seiner ersten Abhandlung, so auch in
seiner späteren Arbeit über Gesetze in der Geschichte etwas anderes als in der
früheren über den Begriff eines socialen Gesetzes. In allen diesen Aufsätzen aber
übertreibt er die Anforderungen hinsichtlich der Zulässigkeit des Ausdrucks „Gesetz“
unter Hinweis auf den naturwissenschaftlichen Sprachgebrauch, der deswegen nichts
beweist, weil er einmal auch nicht feststeht und zweitens sich auch hier zeigen lässt,
dass in gar nicht so durchaus von dem unseren auf wirtschaftlichem Gebiete ver-
schiedenen Sinne hier von Gesetzen (als „Tendenzen“) gesprochen wird. (S. auch
dafür meine älteren Arbeiten und bes. Neumann’s Aufsatz.) S. sonst auch Lexis’
gen. Arbeiten, auch seinen Art. Gesetz (im gesellschaftlichen und statistischen Sinne)
im Handwörterb. d. Staatswiss., III, 844 — 84‘J. Vielerlei litterarische Angaben neben
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Wirtschaftliche Gesetze. Litteratur.
227
eigenen Ausführungen in Kautz, a. a. 0. I, bes. §. 64 ff., 68 ffM 118 ff. S. sonst bes.
Knies, Ptfl. Oek., 2. A. , Abschn.il, S. 474 ff. und passim, sowie K. Meng er,
Untersuchungen, bes. B. 1, Kap. 4 und Anhang 2 u. 5, und ebenfalls passim. Klein-
w achter, Uber Wesen u. s. w. der Nationalökonomie, Conrad ’s Jahrbücher, Band 52
(N. F. 18), 1889, bes. S. 607 ff., 639 11. (gegen den Ausdruck „Gesetz’1, nur für „Regel-
mässigkeit“). G. Cohn, System, §. 45 ff. Marshall, principles of economics, B. 1,
Kap. 7. Keynes, scope, bes. K. 2. Block, progres, I, B. 1, K. 9. van Houten,
das Causalitätsgesetz und die Socialwissenschaften, Haarlem 1888.
Die neueste, mir leider erst während des Drucks zugegangene vorzügliche Studie
von Neu mann, Naturgesetz und Wirthschaftsgesetz, Tüb. Ztschr., 1892, S. 405 ff.,
ist zugleich die wichtigste Arbeit. Kürzer hatte Neumann den Gegenstand schon in dem
Schönberg’schen Handbuche (2., nicht mehr 3. Aufl. , I, 148 ff.) behandelt (wirt-
schaftliche Gesetze: „auf regelmässig fortwirkende Ursachen zurückzuführende Regel-
mässigkeiten in der Aufeinanderfolge wirtschaftlicher Erscheinungen“, S. 149). In
dem neuen Aufsatze leitet Neomann weit umfassender, aber doch ähnlich wie ich in
meinen älteren Arbeiten, mit einer begrifflichen Untersuchung Uber Gesetz und Natur-
gesetz die Erörterung des Wesens wirtschaftlicher Gesetze ein, wird zwischen diesen
und den sonstigen socialen Gesetzen aber von ihm ein m. E. zu grosser Unterschied an
genommen , die Unmöglichkeit exacter wirtschaftlicher Gesetze (gegen K. Menger)
nach zuweisen gesucht, jedoch an „Gesetzen“ im Gebiete der Wirtschaft festgehalten
und der Sprachgebrauch auch durch Vergleichung mit den „Gesetzen“ auf anderen
Gebieten gerechtfertigt Die ganze Arbeit ist auch für die neuere (auch natur-
wissenschaftliche) Litteratur der Frage hervorzuheben. Sie hat mich veranlasst,
diesen Abschnitt während des Drucks noch einmal zu revidiren.
In einigen wesentlichen Puncten deckt sich Neumann’s Auffassung mit meiner
eigenen älteren, u. A. auch darin, dass auch Neumanu unter wirtschaftlichen Ge-
setzen vornemlich Tendenzen versteht (S. 462). In anderen Puncten weiche ich
ab, so in der Ansicht über statistische und sociale Gesetze, zu welchen letzteren
eben doch die wirtschaftlichen als Nebenart gehören , ferner auch etwas iu den zur
Begründung von Neumann beigefügten methodologischen Erörterungen. In der Wür-
digung der Deduction steht übrigens Neumann vielfach ähnlich wie ich, in den Be-
merkungen gegen Menger Uber die Berechtigung der historischen Methode geht er
mir etwas zu weit, obgleich wir wohl in der methodologischen Gesammtauffassung uns
nicht fern stehen möchten. Grade für die Frage der wirtschaftlichen Gesetze wäre
aber vielleicht noch eine nähere Erörterung über inductiv abzuleitendc Gesetze er-
wünscht gewesen. Die Begriffsbestimmung Neumann’s (wirtschaftliche Gesetze „der
Ausdruck für eine in Folge der Macht wirthschaftlicher Zusammenhänge aus gewissen
Motiven sich ergebende regelmässige Wiederkehr wirtschaftlicher Erscheinungen
[Tendenzen oder Vorgänge}“ S. 462) scheint mir gleich zu sehr auf die deductive Me-
thode (Ableiten aus dem „Eigennutz“) hinzuweisen. Die Worte „in Folge der Macht
wirthschaftlicher Zusammenhänge“ sind auch wohl hier entbehrlich. Diese Zusammen-
hänge wirken doch, wie anderes Aenssere, als Emjdindungen, Vorstellungen, Reize
auf die Motive selbst ein und erst dadurch auf die Handlungen und Erscheinungen.
Die „regelmässige“ Wiederkehr der letzteren ist die Folge der regelmässigen Ge-
staltung der Motivation , aber für diese Motivation bildet grade die Macht wirth-
schaftlicher Zusammenhänge einen unregelmässig wirkenden („störenden“) Einfluss. —
Für die ganze Frage ist Neumann’s Abhandlung von grossem Werth. Eine genauere
Auseinandersetzung mit ihm ist hier nicht möglich und würde mir auch, wenn ich
Neumann’s Aufsatz erhalten hätte, bevor ich diese Ausführungen beendigt hatte,
an dieser Stelle nicht möglich gewesen sein. Meine Uebereiustimmung mit ihm ist
grösser als meine Differenzen von ihm sind. — Vornemlich sind mit meinen folgenden
die Ausführungen Rümeliu’s und Neumann’s zu vergleichen, die zum Theil Seite
für Seite hier zu citiren wären1).
*) Im Moment, wo diese Blätter in den Druck geben, kommen mir zwei neue
hierher gehörige Arbeiten zu, die ich nicht mehr benutzen konnte, beide im 2. Heft
der (österr.) Ztschrift für Volkswirtschaft u. s. w. (1692, B. I) von Bonar, Gebrauch
des Ausdrucks „Gesetz“ in der Nationalökonomie, und von John, zur Methode der
heutigen Socialwissenschaft.
15*
228 1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 4. A. Wirthschaftl. Gesetze.
I. — §. 87. Die allgemeine Frage von der Zulässig-
keit des Ausdrucks „Gesetz“ und die Begriffsbe-
stimmung von „Gesetz“ im allgemeinsten Sinne.
Angenommen, dass man überhaupt von wirtschaftlichen (volks-
wirtschaftlichen) „Gesetzen“ sprechen darf, so würden dieselben
zu denjenigen Gesetzen der realen Welt gehören, welche als all-
gemeinstes Merkmal dasjenige der Gleichförmigkeit der Ge-
staltung der Erscheinung bei der jedesmaligen Wiederkehr der
letzteren an sich tragen (sogen. Gesetze der Succession). Eine
bloss solche Gleichförmigkeit der Gestaltung (gleichmässige Wieder-
kehr von Vorgängen) kann aber auch nach dem weitesten und
losestem Sprachgebrauch hinsichtlich des Ausdrucks Gesetz noch
nicht ohne Weiteres „Gesetz“ genannt werden. Es lässt sich von
ihr zunächst nicht mehr sagen, als dass sie auf ein ihr zu Grunde
liegendes Gesetz hindeuten, ein solches enthalten kann. Ob das
wirklich der Fall und ob jene Gleichförmigkeit bereits „Gesetz“
heissen darf, hängt einmal von einem zweiten sachlichen
Merkmal, von dem Character der Gleichförmigkeit in dem so-
gleich näher darzulegenden Sinne des Worts, sodann aber auch
von Erwägungen hinsichtlich des zweckmässigen wissenschaft-
lichen Sprachgebrauchs ab. Die Gleichförmigkeit deutet
nemlich nur dann wirklich auf ein Gesetz hin und kann nur dann,
vorbehaltlich der Entscheidung über den passenden Sprachgebrauch,
bereits den Namen „Gesetz“ führen, wenn sie nicht auf dem Zu-
fall, einer Combination zufällig mehrfach so zusammenwirkender
Bedingungen und Ursachen beruht, sondern wenn die Annahme
nicht abzuweisen ist, dass sie die nothwendige Folge und Wirkung
eines festen Abhängigkeitsverhältnisses von gewissen (wenn auch
noch nicht weiter bekannten) Bedingungen und Ursachen sein muss,
wodurch die Regelmässigkeit oder Gleichförmigkeit bedingt und
bewirkt wird. Ob dies aber der Fall, das ist wieder nach Gründen
der Wahrscheinlichkeit zu bestimmen (S. 214). Wird es
danach bejaht, so- taucht alsdann die weitere Frage hinsicht-
lich des Sprachgebrauchs bezüglich der Anwendung des Worts
„Gesetz“ auf.
Bei dieser Frage lässt sich eine losere (laxere) und eine
strengere Observanz im Sprachgebrauch, danach eine aus-
gedehntere und eine engere Anwendung des Worts „Gesetz“
unterscheiden und zwar wieder nach zwei verschiedenen Momenten,
nemlich einmal nach dem Maasse derErkcnntniss der Ur-
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Frage der Zulässigkeit des Ausdrucks „Gesetz“-
229
Sachen, Bedingungen, der conditionellen und causalen Zusammen-
hänge und Abhängigkeitsverhältnisse in Bezug auf die Gleich-
förmigkeit der Gestaltung der Erscheinung, und zweitens, womit
das erste Moment freilich zusammenhängt, nach der Strenge der
Abhängigkeitsverhältnisse, daher auch wieder nach dem Character
des ganzen Gebiets von Erscheinungen, um welche es sich handelt.
Man kann nun gute Gründe für Beides, für eine ausgedehntere
und engere Anwendung des Ausdrucks Gesetz geltend machen und
nicht schlechtweg die andere Ansicht falsch nennen. Wir ent-
scheiden uns, mit dem allgemeinen Sprachgebrauch, für die aus-
gedehntere Anwendung des Worts „Gesetz“ und sprechen daher
auch von „wirtschaftlichen Gesetzen“.
Für die Entscheidung sind Zwcckmässigkeitserwägungen manssgebend, ob man
noch mehr Gewicht zunächst auf das allen („gesetzmässigen“) Gleichförmigkeiten
Gemeinsame oder gleich auf das die einzelnen Kategorien derselben Unter-
scheidende legen soü. Auch hier ist nicht einfach zu sagen, was das Richtigere
und auch nicht einmal unbedingt, was durchaus das Zweckmässigere ist. Denn richtig
— oder noch vorsichtiger ausgedrückt: nicht unrichtig — ist Beides, und in Betreff
der Zweckmässigkeit lassen sich Gründe für und wider geltend machen, welche wohl
subjectiv den Einzelnen verschieden gewichtig erscheinen, es aber objectiv doch kaum
sind. Eben deswegen wird man auch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch dem
populären folgen dürfen , freilich ihn aber dann genauer bestimmen müssen. Er ist
nun für die weitere Anwendung des Worts „Gesetz“. Gewiss können daraus, wie
sich auch grade auf geistes-, social, wirthschaftswissenschaftlichem Gebiete, in der Sta-
tistik u. s. w. gezeigt hat. Gefahren bervorgehen, dass nun zwischen den „Gesetzen“
der verschiedenen Erscbeinungsgebiete nicht genügend unterschieden wird (s. folgenden
Paragraphen). Die missbräuchliche Auffassung der „Gesetze“ auf diesen Gebieten im
Sinne von wirklichen (sogar „exacten“) Naturgesetzen hangt mit diesem loseren
Sprachgebrauch zusammen. Allein sic ist doch keine nothwendige Folge davon, sie
kann und wird jetzt auch immer allgemeiner vermieden. Auch gehen die neueren
Einwendungen und Bedenken von superrigorosen Vertretern der Geisteswissenschaften,
hie und da auch wieder von historischen Nationalökonomeu und Statistikern zu weit.
Dazu kommt ein doch auch vorhandener weiterer Vortheil. nemlich der, nach einem
gemeinsamen Merkmal (der in der angedeuteten Weise fest bedingt erkannten
Gleichförmigkeit der Gestaltung der Erscheinungen) auf sonst nach den obwaltenden
causalen und conditionellen Verhältnissen sehr verschiedenen Erscheinungsgebieten mit
demselben Worte „Gesetz“ dieses selbe cbaracteristische Merkmal — und in dem
eben erwähnten Puncte ist es in der That dasselbe Moment — zu bezeichnen.
Sind auch die Gleichförmigkeiten auf dem wirthschaftlichen , socialen und geistes-
wissenschaftlichen Gebiete w'egen des Einflusses psychischer Factorcn anderen cau-
salen und conditionellen Characters als auf dem naturwissenschaftÜchen Gebiete, so
sind es eben doch auch Gleichförmigkeiten, die grade als solche auf unserem
Gebiete die wissenschaftliche Aufmerksamkeit in besonderem Maasse verdienen, weil
sie hier schwieriger zü erklären sind.
„Gesetze“ im allgemeinsten Sinne würden danach als solche
Gleichförmigkeiten der Gestaltung der Erscheinungen, demnach
der gleichmässigen Wiederkehr der letzteren (von „Vorgängen“)
zu definiren sein, welche nach Wahrschcinlichkeitsgründen als
nothwendige Folgen und Wirkungen eines festen Abhängigkeits-
verhältnisses von gewissen Bedingungen und Ursachen angesehen
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230 1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 4. A. Wirthschaftl. Gesetze. §. $9.
werden müssen. Die Definition von Gesetzen der verschiedenen
Haupt- und Specialgebiete der Erscheinungen ergiebt sich daraus,
so betreffs der (reinen, äusseren) Naturerscheinungen, wie der-
jenigen, wo psychische menschliche Factoren mitspielen, daher
der socialen, der wirtschaftlichen Erscheinungen. Damit ist die
Frage noch nicht entschieden, ob es auf letzteren Gebieten „Ge-
setze“ überhaupt giebt, noch weniger, welcher besonderen Art sie
sind, sondern nur das steht fest: dass, wenn sich hier Gleich-
förmigkeiten der Erscheinungen von der bezeichneten Art finden,
sie auch Gesetze, auf wirthschaftlichem Gebiete daher Gesetze
der wirtschaftlichen Erscheinungen oder, kurz gefasst, wirtschaft-
liche Gesetze genannt werden dürfen.
II. — §. 88. Verschiedene Arten von Gesetzen.
Zwischen Gesetzen in diesem allgemeinsten Sinne ist dann wieder
nach den zwei bereits angeführten, in Zusammenhang stehenden
Puncten zu unterscheiden, einmal nach dem Maasse der erreichten
und erreichbaren Erkenntniss der Abhängigkeitsverhältnisse und
ferner nach der Strenge dieser letzteren. Mit beiden Puncten
steht auch die Art der Erkenntnissgewinnung in Verbindung und
diese Art sowie das erreichbare Maass der Erkenntniss werden
wieder von dem Character des Untersuchungsobjects, daher des
ganzen Gebiets von Erscheinungen, um welches es sich handelt,
bestimmt.
Die erste, niedrigste Stufe nehmen dann sogen, empirische
Gesetze ein. Dieselben stellen noch nichts Weiteres, als solche
auf dem Wege äusserer Beobachtung der Erscheinungen
selbst ermittelten thatsächlichen Gleichförmigkeiten der Wieder-
kehr dar, welche in der angedeuteten Weise als „Gesetze“ ange-
sehen werden dürfen. Ueber die Art der die Gleichförmigkeit
bestimmenden Ursachen und über die Art des Zusammenhangs
zwischen den Ursachen und Wirkungen ist hier noch nichts weiter
bekannt. Nur die Thatsache eines solchen Zusammenhangs steht fest.
Hierhin gehören die wohl im engeren technischen Sinne des Worts sogenannten
..empirischen“ Gesetze der Naturwissenschaften , daher eventuell auch die eigent-
lichen (causalen) Gesetze der letzteren in einem früheren Stadium der Erkenntniss.
Ebenfalls hierhin möchten wir die statistischen „Regelmässigkeiten“ rechuen,
für welche eine causale Erklärung fehlt. Sprachgebräuchlich könnte sich für empirische
„Gesetze“, wie auch für statistische Regelmässigkeiten der Ausdruck „Gesetz-
mässigkeiten“ empfehlen, welcher den entscheidenden Punct richtig bezeichnet1).
*) Vgl. Neu mann, S 409, 419, aber auch schon meine Abh. Statistik, S. 458,
459, mit dem Beispiel der fortschreitenden Erkenntniss, die sich an die Namen von
Copemicus, Keppler, Newton knüpft.
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Verschiedene Arten von Gesetzen.
231
Solche empirische Gesetze oder Gesetzmässigkeiten müssen
alsdann nun auf ihre Bedingungen und Ursachen zurückzufUhren
gesucht werden. Hierzu dienen einmal als Methoden des induc-
tiven Verfahrens die eigentlichen Methoden der experi-
mentellen Forschung und diejenigen analogen, welche
nach dem Früheren mit Hilfe der Statistik (und im unvollkom-
meneren Grade der vergleichenden Historik) auch auf Gebieten
angewandt werden können, wo dem Menschen eine willkührliche
Anstellung von Experimenten nicht möglich ist. Und sodaun dient
hier auch als Hilfsmittel die hypothetische Deduetion ans
angenommenen Voraussetzungen hinsichtlich der etwa einwirkenden
Bedingungen und Ursachen, um festznstellen, ob und welche dieser
Voraussetzungen den Thatsaelien der empirischeu Gesetze ent-
spricht. Ist es auf diese Weise gelungen, das empirische Gesetz,
die statistische Gesetzmässigkeit auf bestimmte nächste Ur-
sachen, von denen sie abhängen, mit Gewissheit zurückzufUhren,
so darf von einem eigentlichen Gesetz (nach anderem Sprach-
gebrauch: von einem causalen Gesetz) gesprochen werden.
Der grosse met ho do log i sch eGewinn, wenn es gelungen ist,
solche Gesetze festzustellen, besteht darin, dass dann immer — sei es
überhaupt zuerst, wie auf naturwissenschaftlichen, sei es gesicherter,
wie auf wirtschaftswissenschaftlichem Gebiete — das deductive
Verfahren, aus wirklich vorhandenen (nicht nur aus will-
kührlich angenommenen) Ursachen und Bedingungen abzuleiten,
anwendbarer und mit ihm auch die Voraussage in Betreff der
Gestaltung neuer Erscheinungen der betreffenden Art möglich wird.
Der zu erstrebende wissenschaftliche Fortschritt ist dann , die
nächsten Ursachen und Bedingungen, welche als Grund des Ge-
setzes erkannt worden sind, selbst wieder auf ihre Ursachen und
Bedingungen zurückzufUhren und so suecessiv zu einer immer
höheren Art von immer allgemeineren Gesetzen fortzu-
schreiten, entsprechend den Stadien immer tiefer dringender Er-
kenntui8S der causalen und conditionellen Zusammenhänge und
Abhängigkeitsverhältnisse.
Wie weit der Mensch hier, auch auf naturwissenschaftlichem Gebiete, kommen
kann, lässt sich nicht von vornherein angeben, eine bestimmte Grenze des Erkennt-
nissfortschritts nicht ziehen. Nur das lässt sich sagen, dass cs sich in aller
menschlichen Wissenschaft bei Gesetzen und Ursachen immer nur uui das dem mensch-
lichen Geiste überhaupt allein fassbare Verhältnis?, daher niemals um letzte End-
ursachen (ontologische, urwirkende, wahre causao efficientes), sondern immer nur um
Ursachen handeln kann, welche dem menschlichen Geist als selbst wieder bewirkte,
als in diesem Sinne physikalische gelten, seien sic ihm nuu bereits bekannt oder noch
unbekannt und vielleicht selbst für immer unbekannt.
232 1* B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 4. A. Wirtschaft). Gesetze. §. 68.
Zwischen den eigentlichen (causalen) Gesetzen derselben
und der verschiedenen Wissenschaften, auch der beiden grossen
Hauptgruppen, der Natur- und der Geisteswissenschaften, besteht
nun der Unterschied einmal in dem hinsichtlich der causalen
und conditionellen Verhältnisse erreichten Erkenntnissstadium,
ferner, wieder damit zusammenhängend, in der t hatsächlichen
Art dieser Verhältnisse, oder des ganzen Causalsystems, und
der dadurch bedingten Strenge der Abhängigkeit der Erschei-
nungen als Wirkungen und Folgen von den Ursachen und Be-
dingungen.
Je mannigfaltigere Ursachen und Bedingungen mitspiclen, je mehr constante
Ursachen in ihrer Wirkung durch variable gekreuzt werden, je verwickelter dadurch
die Causalzusainmenhänge werden, desto schwieriger ist das Alles von der Erkenntniss
zu durebdringen, desto complicirter sind die Gesetze der wirklichen Erscheinungen
selbst wieder, desto mehr wird die einfache Gleichförmigkeit der Gestaltung, der
Wiederkehr Ausnahmen, Unregelmässigkeiten zeigen. Dies selbst in dem Maasse,
dass in mehr oder weniger zahlreichen concreten Einzelfällcn die Regelmässigkeit
fast verschwindet und so eine Gesetzmässigkeit, ein Gesetz, selbst im bloss allgemeinen
und im Sinne des empirischen Gesetzes, überhaupt gar nicht mehr da zu sein scheint.
Diese Annahme beruht aber gleichwohl auf einem Irrthum, weil dabei eben wieder
zwischen Gesetzen verschiedener Art nach Maassgabe der Art der mit-
spielendcn causalen und conditionellen Verhältnisse nicht unter-
schieden wird.
Nur da wo in den Ursachen und den Bedingungen einer Er-
scheinung keine Veränderung erfolgt, daher nur dieselben constanten
Ursachen genau gleichmässig und unter stets denselben Voraus-
setzungen wirken , wird die Erscheinung immer mit strengster
Regelmässigkeit verlaufen und für diesen Verlauf ein streng
exactes Gesetz abzuleiten sein. Hier giebt es keine „Aus-
nahmen“, hier lässt sich das Abhängigkeitsverbältniss von Ursachen
und Wirkungen numerisch feststellen oder ist dies wenigstens
das principiell erreichbare Ziel. Hier findet daher die Rechnung,
die mathematische Behandlungsweise ein Gebiet ihrer Anwendung.
Sobald dagegen in den Bedingungen und Ursachen Aende-
rungen eintreten, zu constanten variable Ursachen hinzukommen,
letztere verschiedener wechselnder Art sind und in ihren Combi-
nationen unter einander und mit den constanten wechseln, können
die Erscheinungen, welche von diesen Ursachen und Bedingungen
abhängen, nicht die Gleichförmigkeit der Gestaltung, die Vorgänge
nicht die Regelmässigkeit zeigen, wie unter den Voraussetzungen
des vorigen Falles. Dann kann auch nicht mehr von exacten
Gesetzen der Erscheinungen die Rede sein , wenn auch immer
noch, bei entsprechender Entwicklung der Erkenntniss in Bezug
auf die bestimmenden conditionellen und causalen Zusammenhänge
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Verschiedene Arten von Gesetzen.
233
und Abhängigkeitsverhältnisse, von eigentlichen (causalen)
Gesetzen, nicht bloss von empirischen Gesetzen oder blossen
Gesetzmässigkeiten. Die numerische Bestimmung des Abhängig-
keitsverhältnisses, die Anwendung der Rechnung mag nicht ganz
unmöglich sein, aber wird viel schwieriger und wird nicht hin-
sichtlich aller in Betracht kommenden Momente gelingen. Damit
wird wiederum der „exacte“ Character solcher Gesetze ausge-
schlossen.
Die wirklichen Erscheinungen der realen Welt, und zwar
auch diejenigen der äusseren Natur, nicht bloss die in das Ge-
biet psychischer Einflüsse gehörigen, sind nun aber regelmässig
von mehreren, öfters von vielen, constanten oder auch von con-
stanten und vielerlei variablen Ursachen und Bedingungen abhängig.
Die Gesetze der thatsächlichen Gestaltung dieser Erscheinungen
können daher auch überhaupt nicht wahrhaft exacte sein1). Viel-
mehr stellen alle Gesetze, welche sich für die tbatsächliche Ge-
staltung von Erscheinungen der erwähnten Abhängigkeitsverhält-
nisse aufstellen lassen, immer nur Tendenzen der Gestaltung
dar, welche anzeigen, wie unter gewissen hinsichtlich des Ein-
flusses der Ursachen und Bedingungen auf die betreffende Er-
scheinung ermittelten und als allein einwirkend angenommenen
Voraussetzungen die Gestaltung erfolgt.
Grade für das Yerständniss des Wesens und Characters auch der wirtschaft-
lichen Gesetze, welche für den wirklichen Verlauf der wirtschaftlichen Erscheinungen
aufgestellt werden, ist es wichtig, das richtig zu erkennen und es festzuhalten. Ein
Einwand, welcher nicht selten unter Hinweis auf die „exacten“ Gesetze der strengen
Naturwissenschaften gegen den Gebrauch des Ausdrucks Gesetz auf dem Gebiete un-
serer Wissenschaft und speciell gegen die Bezeichnung der deductiv aus dem Walten
des ersten Motivs, des Strebens nach dem wirthschaftlichen Vortheil (§. 34), ab-
geleiteten Regelmässigkeiten als „Gesetze“ gemacht wird, erscheint gerade hiernach
hinfällig* * * * 8).
*) Wenn dieser letztere Ausdruck im allerstrengsten Sinne genommen wird, so
gilt das eben Gesagte auch von den scheinbar „allerexactesten“ Gesetzen, welche für
die wirkliche Gestaltung von Naturerscheinungen aufgestellt werden, z. B. von den
aus dem Gravitationsgesetz abgeleiteten Gesetzen.
8) Vgl. auch hier besonders die Ausführungen Neumann’s, so a. a. 0„ S. 413.
Er sagt hier u. A. in Betreff der sogen, causalen elementaren Gesetze der Natur-
wissenschaften: „Der Wirklichkeit, wie sie sich direct der Beobachtung zeigt, können
jene Gesetze nicht entsprechen. Denn alles Tbatsächliche ergiebt sich regelmässig
aus einem Zusammenwirken mehrerer Ursachen, jene Gesetze aber bringen nur Ten-
denzen. d. h. eben nur die Wirksamkeit einzelner Ursachen als solcher zum Aus-
druck und zeigen sonach als „hypothetische“ oder „ideale“ Gesetze nur was geschehen
wurde, wenn einzelne Ursachen allein in Wirksamkeit wären.“ Schon früher, aber
mit Recht, ähnlich K. Meng er, Untersuchungen, Anhang 5, S. 260 Er bekämpft
die Meinung, dass die Naturerscheinungen in ihrer vollen empirischen Wirk-
lichkeit streng typisch sind: „Vom Standpuncto des empirischen Realismus sind
exacte Naturgesetze ebenso unerreichbar, als exacte Gesetze der Socialerscheinungen“.
234 1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 4. A. Wirthscliaftl. Gesetze. §. S9.
III. — §.89. Wirtschaftliche Gesetze. Von „exacten“,
causalen Gesetzen könnte nach dem Gesagten in der Social-
ökonomie, in dem auch auf naturwissenschaftlichem Gebiete immer
bloss relativen Sinne, nur allenfalls hinsichtlich der unter den
drei Voraussetzungen der strengen Deduction abgeleiteten Gesetze
(§. 68, 73) gesprochen werden, nicht hinsichtlich der unter Modi-
ficationen dieser Voraussetzungen (§. 70) deductiv noch der empi-
risch auf Grund von Beobachtungen an den wirklichen Erschei-
nungen, daher inductiv gewonnenen. Denn wenn jene Voraussetzungen,
um sie denen der Wirklichkeit zu nähern, an sich ganz mit Hecht
modificirt werden, kann man nicht mehr so sicher deduciren. Die
wirklichen Erscheinungen selbst sind aber stets das Ergebniss von
Bedingungen und Ursachen, welche den erwähnten drei Voraus-
setzungen nicht genau entsprechen.
Will man für jene deductiv abgeleiteten Gesetze den Namen
„exacter“ (mit K. M enger) anwenden, so würde man das mit
dem naturwissenschaftlichen Sprachgebrauch nicht unbedingt ab-
weisen können. Dennoch unterbleibt es besser, wie überhaupt die
Benutzung des Ausdrucks „exact“ auf unserem Gebiete (§. 68, S. 175),
weil eben doch das den wirtbschaftlichen Erscheinungen zu Grunde
liegende Verursachungssystem aus psychischen Motiven be-
steht, welche stets nur so und so mitspielen und dann so und so
wirken können, nicht wie bei den reinen Naturerscheinungen,
aus Ursachen, die immer so und so mitspielen und stets so und
so wirken müssen, wenn auch ihre Wirkungen durch diejenigen
anderer Ursachen thatsächlich modificirt oder aufgehoben werden
können.
Darin nun auch, in dieser inneren Verschiedenheit
des Verursachungssystems, besteht der wahre Unterschied
von reinen Naturgesetzen und von wirtbschaftlichen Gesetzen,
nicht in der Verschiedenheit der Wirkungen, wenn die Ursachen
gegeben (bzw. angenommen) sind.
Ein reines Naturgesetz gilt immer, die Ursache oder Ursachen, deren Beziehung
zu den Wirkungen es anzeigt, stehen niemals und können niemals ausser Wirksamkeit
stehen und wirken notwendig immer so und so, daher mit der Folge stets gleicher
Wirkung. Aber sie können in der thatsächlicheu Gestaltung der wirklichen Erschei-
nungen sich nicht oder nicht genau zeigen, wenn auf diese Gestaltung auch noch
andere Ursachen, als die im Gesetz angenommenen, eingewirkt haben, und das bleibt
möglich und war eventuell der Fall. Ein wirtschaftliches Gesetz gilt aber nicht
immer, sondern immer nur danu, wenn die Ursachen, deren Beziehung zu den
Wirkungen es formulirt, überhaupt vorhanden waren und grade so, wie im
Gesetz angenommen wird, wirken. Das aber eben ist hier nicht nothweudig,
sondern die Ursachen selbst waren vielleicht thatsächlich im concreten Falle über-
haupt gar nicht vorhanden oder wirkten nicht so und so mit.
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Wirtschaftliche Gesetze speciell.
235
Abweichungen in Gestaltung und im Verlauf der wirklichen Erscheinungen
von den durch das Gesetz angedeuteten Gestaltungen und Verläufen sind daher auf
dem Naturgebietc auch keine Widerlegung des Gesetzes selbst und des in ihm for-
mulirten Causalzusammenhangs, wenn sie sich aus der tatsächlichen Mitwirksamkeit
anderer Ursachen erklären lassen, welche im concreten Falle die Wirkung — nicht
das Wirken überhaupt — der im Gesetz vorgesehenen aufgehoben oder beschränkt
haben. Abweichungen gleicher Art auf unserem und auf jedem Gebiete, wo psychische
Factorcn mitwirken, können sich zwar auch so erklären und beweisen dann ebenso
wenig gegen das Gesetz selbst. Sie können aber auch die Folge davon sein, dass in
der Wirklichkeit nicht nur die im Gesetz angenommenen Ursachen eine Aufhebung
oder Beschränkung ihrer Wirkungen durch andere Ursachen erfahren haben, sondern
dass jene ersteren Ursachen überhaupt gar nicht vorhanden waren oder, wenn dies,
nicht so gewirkt haben.
Wirtschaftliche Gesetze bringen daher noch in einem anderen,
umfassenderem Sinne blosse Tendenzen der tatsächlichen Ge-
staltung der wirklichen Erscheinungen zum Ausdruck, als dies
nach dem Gesagten von elementaren causalen Gesetzen auf natur-
wissenschaftlichem Gebiete gilt. Hier werden die tatsächlichen
Gestaltungen der Erscheinungen dem Gesetz genau entsprechen,
wenn nicht andere Ursachen, als die in diesem angenommenen
oder berücksichtigten, die gesetzmässige Wirkung der letzteren
ausgeglichen oder verändert haben. Auf unserem Gebiete wird das
nur der Fall sein, wenn die tatsächlich mitspielenden auch die
im Gesetz angenommenen Ursachen sind und ihr tatsächliches
Wirken dem angenommenen entspricht, was eben Beides nicht
nothwendig ist.
Allein, dennoch behaupten auch diese wirtschaftlichen Ge-
setze als Ausdruck von blossen Gestaltungstendenzen der wirk-
lichen Erscheinungen ihren hohen Werth, wenn sie in richtiger
wissenschaftlicher Weise gewonnen worden sind.
Dies setzt bei deductiv, aus Motiven als Ursachen, bezw. Bedingungen (und aus
angenommenen äusseren Bedingungen, wie Naturthatsaeben, Naturgesetzen) abgeleiteten
wirtschaftlichen Gesetzen voraus, dass diese Ursachen und Bedingungen nach innerer
psychischer Prüfung und äusserer Beobachtung den thatsächlich mitspielenden
wirklich möglichst entsprechen. Hier muss also, unseren früheren Erörterungen gemäss
(§ 69 ff), eine Ermittlung der tatsächlichen Voraussetzungen des deductivcn Ver-
fahrens oder eine tatsächliche Controle und Verification der angenommenen Voraus-
setzungen stattfinden , demgemäss das inductive Verfahren für diesen Zweck mit
benutzt werden. Bei zunächst durch äussere Beobachtung der Erscheinungen selbst
abgeleiteten empirischen Gesetzen, welche mittelst experimentellen oder 0m statistischen
und vergleichend-historischen Verfahren) quasi-experimentellen Verfahrens zu eigent-
lichen Gesetzen durch Aufdeckung ihrer Ursachen und Bedingungen erhoben worden
sind, muss sich die weitere Untersuchung zur Feststellung des wissenschaftlichen
V erths solcher Gesetze auf die Ermittlung erstrecken, ob und wie weit diese Ursachen
ünd Bedingungen die Gesetze genügend erklären und als die auch in anderen ana-
logen Fällen mitwirkenden und in der erkannten Weise so und so einwirkenden an-
zunehmen sind. Im ersteren Falle daher wieder vornemlich deductives, im letzteren
abermals dieses und neben ihm in umfassendem Maasse beobachtungsmässiges in-
dactivea Verfahren.
236 3. B. 2. K. 2. II.- A. Methoden. 4. A. Wirthschaftl. Gesetze. §. 89, 90.
Der Werth der deductiv gewonnenen wirtschaftlichen Gesetze,
insbesondere der aus dem ersten Leitmotiv (dem Streben nach dem
wirtschaftlichen Vorteil) abgeleiteten zur Erschliessung con-
creter Causalzusammenhänge, der aus diesen sich ergebenden Ge-
staltung concreter Erscheinungen und der („complexen“ oder „wirk-
lichen“) Gesetze dafür ist ein ähnlicher wie der Wert exacter
causaler Elementargesetze der Naturwissenschaften für die Lösung
der Probleme der concreten Naturerscheinungen und ihrer Gesetze,
Aufgaben, mit welchen man es in den angewandten Naturwissen-
schaften zu thun hat. In beiden Fällen zeigt das Gesetz die
Tendenzen der Gestaltung unter dem Einfluss der constanten oder,
wie nach dem Gesagten, der für constant geltenden Ursachen.
Stimmt hiermit die concrete Gestaltung der Erscheinung nicht
überein, so ist das Mitspielen anderer Ursachen anzunehmen, die
alsdann wieder methodisch durch Beobachtung und Induction und
durch Deduction aus hypothetisch zur Probe angenommenen Ur-
sachen ermittelt werden müssen.
Vgl. auch hier bes. Neumann, a. a. 0., S. 410 ff., 414 ff. — Ein immerhin zur
Erläuterung des Aehnlichen und des Verschiedenen von Natur- und wirthschaftlichen
Gesetzen brauchbares Beispiel ist dasjenige vom Unterschied zwischen dem mathe-
matischen, von der Lage eines Puncts auf der Erde zum Aequator abhängigen, und dem
physicalischen oder wahren Klima, welches ausserdem von der Höhe des Orts über Meer,
von continentaler und Küstenlage, Beschaffenheit der Gegend u. s. w. abbängt. Das
Klima, welches ein Ort nach dem Gesetz des mathematischen Klimas haben würde,
modificirt sich nach dem Gesetze des wahren Klimas eines Orts wegen der Mitwirkung
der übrigen Factoren , welche dieses wahre Klima mit bestimmen. Die Gestaltung,
welche eine wirtschaftliche Erscheinung nach dem „idealen“ wirthschaftlichen Gesetz
unter den drei streugen Voraussetzungen der Deduction haben würde (§. (iS), modi-
ficirt sich ähnlich, wenn und soweit sich diese Voraussetzungen modificiren (,§. (19, 70),
d. h. eventuell eben andere Factoren mit einwirke:). Nur tritt auch hier wieder jener
besprochene Unterschied hervor, dass die im mathematischen Klima wirksame Ursache
immer im wahren Klima mitwirkt, letzteres stets eine Function dieser und der
übrigen einwirkenden Ursache ist, während bei der wirthschaftlichen Erscheinung ein
analoger Sachverhalt obwalten kann, aber nicht nothweudig obwalten muss. Denn
die concrete Gestaltung der Erscheinung kann auch so und so ausgefallen sein, weil
dabei nicht nur die Wirkung des ersten Leitmotivs neutralisirt worden , sondern weil
dieses Motiv auch einmal gar nicht mitgewirkt hat.
Nach der Analogie zwischen Elementargesetz und abgeleiteten
Gesetzen in den Naturwissenschaften kann man wohl unter den
wirthschaftlichen Gesetzen diejenigen unterscheiden, welche als
psychologisch -ökonomische „Haupt-“ oder „Grundgesetze“
(„primäre“, Gesetze ersten Kangs) und „Folge-“ oder (in diesem
speciellen Sinne) „abgeleitete“ Gesetze („secundäre“ , Gesetze
zweiten Rangs) erscheinen. Die ersteren sind diejenigen, welche
unmittelbar aus der psychischen Motivation, daher wieder nament-
lich aus dem ersten Leitmotiv, abgeleitet werden, Folgegesetze
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Wirtschaftliche Entwicklungsgesetze.
237
diejenigen, welche sich als Anwendungen des Grundgesetzes auf
einem Gebiete specieller Erscheinungen zeigen. Die Grundgesetze
sind zugleich die einfachen, elementaren, unter den „idealen“
Voraussetzungen der Deduction abgeleiteten, die Folgegesetze die
complexen, bei welchen den thatsächlichen Bedingungen und Ur-
sachen der speciellen Erscheinungen Rechnung getragen wird.
Für diese Folgegesetze ist daher wieder das inductive Verfahren
in umfassendem Maasse anzuwenden, um diesen thatsächlichen
Einflüssen gerecht zu werden.
Als ein elementares Grundgesetz im System der Arbeitsteilung und des Ver-
kehrs, daher auf dem Gebiete der wirtschaftlichen Erscheinungen des Umlaufs
und der Vertheilung kann dasjenige der Preise unter den drei Voraussetzungen
der Deduction gelten. Das diesem „idealen“ Preisgesetz am Meisten sich nähernde Folge-
gesetz ist das Gesetz der Gross-Preise („en gros“) unter Händlern im freien Verkehr.
Weitere Folgegesetze mit mehr oder weniger Abweichungen, nach der tatsächlichen
Modification der Voraussetzungen gegenüber denjenigen des Hauptgesetzes, sind
die Gesetze der Monopol-Preise, der Klein-Preise („en detail“), die Gesetze der Steuer-
überwälzung, das Gesetz der Verdrängung des guten Geldes durch das schlechtere im
System der (nationalen) Doppelwährung, das Lohngesetz (im freien Verkehr, auch bei
Gewerkrereinsorganisationen u. s. w.), das Zinsgesetz, das Kentengesetz, schliesslich das
allgemeine Gesetz der Einkommonrertheilung u. A. in. Auf dem Productions-
ge biete ist das Grundgesetz die Gestaltungstendenz der Production in ihrer öko-
nomisch-technischen Einrichtung nach dem ökonomischen Princip (§. 28). Folge-
gesetze sind dann die Gesetze der Entwicklung des Ackerbaus, der Entwicklung der
Arbeitstheilung, des Kapitalfactors im Productionsprocess. der Vertheilung des Kapitals
auf umlaufendes und stehendes, der Ersetzung der menschlichen Arbeitskraft durch
die Maschine, der Entwicklung des Grossbetriebs u. A. m.
IV. — §.90. Wirtschaftliche Entwicklungsgesetze.
Bei den wirtschaftlichen Gesetzen hat man neuerdings, im
Anschluss an die naturwissenschaftliche Entwicklungstheorie und
gewisse Gesichtspuncte der letzteren auf das socialökonomische
Gebiet übertragend, wohl zwischen B e wegungs ge setz en und
Entwicklungsgesetzen der Erscheinungen unterschieden, so
im wissenschaftlichen Socialismus. Der hier zu Grunde liegende
Gedanke ist nicht unrichtig, aber schon nicht ganz leicht klar zu
stellen und scharf durchzuführen. Das Streben aber, nicht nur,
was allenfalls noch, freilich auch nur unter besonderen Cautelen,
zulässig ist, auf den Gebieten einzelner Gruppen von Er-
scheinungen, solche „Entwicklungsgesetze“ abzuleiten, sondern für
das gesammte Wirtschaftsleben als ein Ganzes ge-
nommen und hier sogar ein einheitliches, gar ein einfaches all-
gemeines Entwicklungsgesetz finden zu wollen, geschweige die
Ansicht, es bereits gefunden zu haben, muss doch der höchsten
Skepsis begegnen, ja abgelehnt werden.
Bewegungsgesetze sind insbesondere diejenigen, welche
unter gegebenen Voraussetzungen, der psychischen Durchschnitts-
238 1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 4. A. Wirthschafd. Gesetze. §. 90.
motivation, des Standes der Productionstechnik , der Rechts-
Ordnung, zum Ausdruck bringen, wie sich die zu einer Gruppe
von Erscheinungen gehörigen Einzelerscheinungen die Tendenz
haben, zu gestalten. Namentlich das Preisgesetz und die Folge-
gesetze desselben stellen solche Bewegungsgesetze dar. Entwick-
lungsgesetze der Erscheinungen sind dagegen solche, welche
die gesetzmässigen Veränderungen der Voraussetzungen
der wirtschaftlichen Erscheinungen, daher namentlich in den drei
maassgebenden Puncten, der psychischen Motivation, des öko-
nomisch-technischen Könnens und der Rechtsordnung, sowie die
gesetzmässigen Rückwirkungen der einen Reihe von Vor-
aussetzungen auf die andere, z. B., gerade nach der socialistischen
Lehre, der ökonomisch- technischen auf die rechtlichen und beider
auf die psychologischen, angeben. Aus solchen Entwicklungs-
gesetzen der Voraussetzungen der wirtschaftlichen Erscheinungen
würden darauf wieder als Folgegesetze Veränderungen der Be-
wegungsgesetze (selbst „Entwicklungsgesetze der Bewegungsge-
setze“) abgeleitet. Auf diese Weise gelangte man dann auch von
einem Stadium typischer Gestaltungen zu einem anderen, höheren
(s. S. 189) und zu einem Gesetz für die Entwicklung dieser
Stadien, was in der That eine sehr bedeutsame wissenschaftliche
Errungenschaft wäre.
Die Gesetze auf dein Productionsgebiete , wie in den vorhin genannten Bei-
spielen. sind zuiu Tlieile nicht oder nicht nur Bewegungs-, sondern in der That oder
zugleich Entwicklungsgesetze, so das Gesetz der Entwicklung des Grossbetriebs und die
damit in Verbindung stehenden, diese Entwicklung bedingenden Gesetze (vermehrte
Arbeitsteilung , Maschinenwesen). Hier werden allmälig durch die Neugestaltung
der Productionsweise die Voraussetzungen fUr letztere selbst verändert, der hier be-
sprochenen Annahme nach „gesetzmässig** , und so wieder die Bewegungsgesetze der
Erscheinungen, z. B. der Lolin- und Gcwinn-(Unternehmergewinn-)BiIdung, der Bil-
dung der Productenpreise verändert.
Allein solche sogenannte Entwicklungsgesetze auf dem Gebiete
einzelner Erscheinungsgruppen sind jedenfalls öfters
bereits sehr complexe Gesetze, in welchen das Causalsystem so
mancherlei verschiedene, auch nicht-ökonomische Factoren enthält
und selbst so höchst complicirt ist, dass es schon fraglich werden
kann, ob man hier auch nur im früher aufgestellten allgemeinsten
Sinne des Worts immer den Ausdruck „Gesetz“ brauchen darf.
Das gilt von den angeführten Beispielen wohl vom „Gesetz“ der
Grossbetriebsentwicklung, wo Theilwahrheiten nicht hinlänglich
sicher festgestellter Tragweite so gern generalisirt werden. Selbst
wenn man sich aber hier bei der Entwicklung solcher einzelner
Erscheinungsgruppen diesen Bedenken noch verschliesst, so treten
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Wirtschaftliche Entwicklungsgesetze.
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um so mehr Zweifel auf, ob man flir das Ganze des Wirthschafts-
lebe ns, fUr den gesammten „socialökonomischen Körper“ über-
haupt von Entwicklungs- Gesetzen und hier, wie bemerkt, sogar
von einem einheitlichen, allgemeinen, einfachen solchen „Gesetz“
reden und annehmen darf, dass sich ein solches Gesetz, selbst
wenn es vorhanden wäre, mit den uns auf socialökonomischem
Gebiete verfügbaren Methoden ableiten Hesse, überhaupt jemals,
vollends schon heute.
Die „materialistische Geschichtsauffassung“ und die „Evolutionstheorie“ , mit
deren Hilfe der neuere Socialismus geglaubt hat, solche Entwicklungsgesetze oder ein
solches gewinnen zu können, sind doch eben selbst nur Dogmen, apriorische Aunahmen.
Ihre Anwendung hier auf unserem Gebiete und zur „Beweisführung“ beruht auf
einer augenscheinlichen petitio principii. Es wird damit kein Räthsel gelöst, sondern
ein neues, nicht begreiflicheres an die Stelle anderer gesetzt. Auch methodologisch
ist das Verfahren durchaus zu beanstanden, mit welchem hier operirt wird. Die
psychologisch-deductive Methode versagt bei so complexen Erscheinungen wie den-
jenigen, welche man als „Entwicklung des Wirthschaftslebens“, der „Volkswirtschaft",
der „Gesellschaft“ zusammenfasst, den Dienst. Von den Inductionsmethoden kann schon
aus tatsächlichen Gründen, weil es an genügendem, geschichtlich weit zurück-
reichendem und aus verschiedenen Ländern und Volkswirtschaften herrührendem Be-
obachtungsmaterial fehlt, die beste, die statistische Methode, nur in bescheidenem
Maasse angewandt werden. Die noch am Ersten anzuwendende ist die ver-
gleichend-historische Methode. Allein auch bei ihr liegen die tatsächlichen
Verhältnisse nicht viel anders als bei der statistischen und principiell zeigt sie grade
bei diesen Problemen die ihr als historischer Methode anhaftenden Mängel, sie ge-
stattet keine genauen Quantitätsbestimmungen und ist schon deswegen nicht entfernt
beweiskräftig genug. Die zahlreichen nicht-ökonomischen Factoren , von welchen die
Entwicklung jeder concreten Volkswirtschaft und damit aller Volkswirtschaft über-
haupt abhängt, die „Imponderabilien“ (S. 209), welche hier mitspielen, können nach
keiner der verfügbaren Methoden genügend in Ansatz gebracht werden, teils über-
haupt nicht, teils nicht nach Art und Maass ihres Einflusses.
Die partiellen Entwicklungsgesetze von Gruppen von Erschei-
nungen lassen sich vielleicht auf höhere, allgemeinere zurückführen.
Dadurch und durch eine Verbindung von ersteren mag man dahin
kommen können, auch für die Entwicklung von immer grösseren
Gruppen von Erscheinungen gewisse Tendenzen, insofern „Gesetze“
zu gewinnen. Aber von einem allgemeinen Entwicklungsgesetze
der Gesammtheit der Voraussetzungen der wirtschaftlichen Hand-
lungen und damit des Ganzen des Wirthschaftslebens bleibt man
auch damit noch weit entfernt. Die ungeheure Menge verschieden-
artigster Factoren, welche hier einwirken, die Verschiedenheiten
ihres Einflusses, ihrer Combinationen , die Mannigfaltigkeiten der
psychischen Differenzirung (§. 30 ff.) lassen es zweifelhaft erscheinen,
ob man hier noch von einem oder einigen Entwicklungs-,, Gesetzen“
überhaupt reden darf, auch nach apriorischer Annahme. W ahrscheinlich
übersteigt die Aufgabe, solche Gesetze oder ein solches Gesetz zu
finden, selbst wenn sie bestehen, die Leistungsfähigkeit der mensch-
240 !• B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 4. A. Wirthschaftl. Gesetze. §. 90, 91.
liehen Geisteskräfte und auch derjenigen, welche durch die besten
noch anwendbaren wissenschaftlichen Methoden unterstützt werden.
Jedenfalls aber müsste erst noch unendliche methodische Arbeit
geleistet sein, bevor man auch nur ernstlich an derartige Versuche
denken kann. Was in dieser Richtung geschehen kann, wird
aber immer in Zerlegung der complexen Erscheinungen
in ihre Componenten, daher in Isolirung der Ursachen
und Wirkungen, der Bedingungen und Folgen, mithin in der An-
wendung der Methoden der Deduction und der statistischen, in
zweiter Linie der vergleichend -historischen Induction auf einzelne
Erscheinungen und auf Gruppen von solchen bestehen müssen.
Wie weit die so gewonnenen Ergebnisse sich zu allgemeineren
und immer allgemeineren wirtschaftlichen Entwicklungsgesetzen
generalisiren lassen, ist natürlich nicht im Voraus zu sagen. Aber
grösste Vorsicht wird geboten und allzuviel nicht zu erwarten sein.
Die ganze Frage läuft in die Probleme der Sociologie aus. Ich beziehe
mich dafür auf die Bemerkungen in der Einleitung (§. 20); für die methodologische
Seite der Probleme auf das Buch vonDilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaft.
K. Marx rühmen seine Anhänger wohl nach, er habe den grossen Fortschritt
gegenüber den „bürgerlichen Ockonomcn“ gemacht, einmal die wirtschaftlichen
„Bewegnngsgesetze“, welche die letzteren entdeckt, verfeinert, sodann aber vor Adlern
neben diesen die wirtschaftlichen „Entwicklungsgesetze“ der modernen Gesellschaft
ermittelt zu haben (s. Neue Zeit, IX, B. 2, S. 749). Diese „Leistung“ kommt indessen
doch auf wenig Anderes hinaus als darauf, in ganz übertreibender Weise die technisch
begründete Grossbetriebstendenz zum Alles bestimmenden „Entwicklungsgesetz“ generali-
sirt und daraus mittelst einseitigster Anwendung der Methode der speculativen Deduction
und mittelst tendenziöser Verwerthung historischer und statistischer Daten theils zur
Unterstützung der deductiven Schlüsse, theils zur inductiven Gewinnung gleicher Re-
sultate eine Diagnose und „nothwendige“ Prognose und Therapie deducirt zu haben.
Die ungeheure Mannigfaltigkeit des wirtschaftlichen Lebens und seiner concreten Ent-
wicklungen nach Ländern, Völkern, Zeitaltern, gar aber erst des gesammten gesell-
schaftlichen Lebens, auf ein einfaches Entwicklungsgesetz, auf die Entwicklung der
Productionstechnik und der Rechtsordnung für die sachlichen Productionsmittcl, zurück-
führen und dieses „Gesetz“ in eine knappe Formel fassen zu wollen, muss als ein
vergebliches Bemühen, aber auch als ein solches angesehen werden, welches auf einer
völligen Verkennung der Probleme, namentlich auch der psychischen Seite der-
selben, und auf methodologischen Grundirrtliümern beruht.
Die historische Nationalökonomie ist sich der Vergeblichkeit solchen Versuchs
und dieser methodologischen Irrthümcr bewusst und hat zum Theil selbst dazu bei-
getragen , das Unzulängliche und Missliche solcher Bestrebungen und vollends der
socialistischcn Versuche erkennen und begründen zu lehren. Indessen neigt sic mit-
unter auch ihrerseits dazu, mit Hilfe der vergleichend-historischen, ja selbst wohl der
rein historischen Methode (§. 84), (wobei indessen leicht nachweisbar Divination und
— verkappte spcculative Deduction ein gut Stück der Arbeit leisten und die Lücken
der „inductiven“ Beweisführung ergänzen), einzelnes Charactcristische in Entwicklungs-
vorgängen ebenfalls zu Entwicklungstendenzen und einer Art allgemeinerer Entwick-
lungsgesetze zusammenzufassen und zu generalisiren. Auch bei einem so vorsich-
tigen Gelehrten wie Roscher fehlt es in der Agrarpolitik, der Gewerbepolitik nicht
an Hinneigung hierzu. Gewiss kann aber, wie grade Roscher im 2. und 8., auch im
4. Bande seines Systems, wie ferner besonders G. Schmoller, K. Bücher zeigen,
mittelst der historischen, besonders der vergleichend - historischen Methode mancher
werthvolle Beitrag zur Aufdeckung allgemeinerer Entwicklungstendenzen auch auf
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241
Ergebnis*.
grösseren Gebieten von Erscheiuungsgruppen gewonnen werden. Ich neune als ein
Beispiel die vorzüglichen Ausführungen G. Schuioller’s über die Entwicklung der Stadt-
wirthschaftlichen zur territorial- und staatswirthschaftlichen Phase der Volkswirtschaft
und über das methodische Mitwirken der mercautilistischen Handels- und Zollpolitik
dabei1'). Nur bleibt das eben Alles weit hinter dem Ziel des wissenschaftlichen
Socialismus hinsichtlich der wirthschaftlichen Entwicklungsgesetze zurück.
Y. — §. 91. Ergebnis 8. Nach Allem ist demnach auf
wirtschaftlichem Gebiete allerdings von „Gesetzen“, von Haupt-
nnd Folgegesetzen, von Bewegungs- und auch, freilich noch be-
sonders bedingt, von Entwicklungsgesetzen zu sprechen. Aber mit
Naturgesetzen haben dieselben doch nur in dem dargelegten be-
schränkten Maasse Aehnlichkeit, ihre principielle Verschiedenheit
ist nach der Art des Verursachuugssystems viel grösser, die Strenge
viel geringer, die wirklichen Erscheinungen weichen von den nach
den Gesetzen zu erwartenden viel „unberechenbarer“ ab, als auf
dem Naturgebiete, vor Allem, weil die individuelle psychische
Motivation, welche die menschlichen Handlungen und damit auch
die wirthschaftlichen Erscheinungen bestimmt, zu mannigfaltig sich
differenzirt, als dass man einfache Formeln dafür aufstellen könnte.
Auch die feinste Ausbildung der Methoden hilft über die hier vor-
liegenden Schwierigkeiten nicht hinweg.
Dennoch aber besteht ein grosser Vorzug wie auf allen geistes-
wissenschaftlichen, so insbesondere auf unserem wirthschafts wissen-
schaftlichen Gebiete gegenüber dem naturwissenschaftlichen. Er liegt
darin, dass wir eben psychologische Methoden, wie die Deduction
*) So sehr ich Schmoller’s Verdienste in dieser Sache anerkenne, so erlaube
ich mir hier doch eine Bemerkung persönlicher Art, welche aber auch mit der
Mcthodeufrage zusammenhängt. Schmoller vindicirt sich gern das Verdienst, diese
wirtbsckalisgeschichtliche Entwicklung zuerst gezeigt uud die bezügliche Würdigung
des Mercantilismus zuerst gegeben zu haben, auch wohl mit dem Gedanken, damit die
Leistungsfähigkeit seiner Methode zu zeigen (vgl. z. B. noch jüngst, 21. Apr. 1802 den
Vortrag in der Berliner Akademie). Und Andere haben dies Verdienst anerkannt, wie
ich es auch thue. Nur möchte ich zum Beweise dafür, dass man, auch ohne Wirth-
schaftshistoriker von Fach zu sein, uud unabhängig von solchen zu einer gauz ähnlichen
Auffassung selbständig durch Heraushebung des Typischen in den Entwicklungen und
Heneralisirung desselben gelangen kann, auf eine wenig beachtete ältere eigene Arbeit
verweisen. In dieser habe ich an 20 Jahre vor den bezüglichen Arbeiten Schmoller’s
eine der seinen mindestens sehr nahestehende Auffassung des Mercantilismus, seiner Zoll-,
Handels- und Wirtschaftspolitik und der entscheidenden allgomein-wirthschaftiichen und
politischen Bedeutung derselben für die Herausbildung der wirthschaftlichen Verhältnisse
zur modernen nationalen Volkswirtschaft entwickelt und in Kurzem begründet. S. meinen
Aufsatz Zölle, im Staatswörterbuch XI, 343 — 34G (1S6S). Schmoller wird diesen
Aufsatz nicht gekannt haben, und natürlich ist er auf seine Auffassung durch seine
Studien und — durch seine Generalisationen selbständig gekommen, wie ich auch.
Er hat seine Auffassung mit dem ganzen Apparate seiues grossen historischen Wissens
unterstützt. Aber meine eigene ältere Arbeit zeigt doch in der That, dass
— verschiedene Wege nach Korn führen, was ich für unseren Methodenstreit nur
constatiren wollte.
A. '.Variier Gruudle^ua.,'. 3. Auflage. 1. Thoil. Grundlagen. 16
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242 !• B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 5. A. Verbind, d. Methoden. §. Dl — 93.
•
aus Motiven, anwenden können, daher von vornherein auf einem
Stadium stehen, das die Naturwissenschaften erst erreichen müssen:
wir kennen bereits Ursachen, von denen wir ausgehen können. Aller-
dings bedürfen nach allem Gesagten und nach den methodologischen
Schlusserörterungen im nächsten Abschnittim concreten Falle die Grund-
lage dieser Deduction, die Voraussetzungen, von denen sie ausgeht, und
die Schlussfolgerungen, welche man gezogen hat, einer Controle
durch die Beobachtung. Aber ein Vorzug bleibt doch bestehen.
Und dieser Vorzug zeigt sich nun auch in Bezug auf die
Gesetze beider Gebiete. Wirtschaftliche Gesetze, welche aus
Motiven abgeleitet oder darauf zurückgeführt sind, sind uns hin-
sichtlich der causalen Verhältnisse wenigstens insoweit verständ-
lich und erklärlich, als uns die betreffenden Motive bekannt und
diese verständlich sind. Bei elementaren Naturgesetzen bleibt
uns aber die Ursache selbst unbekannt und an sich unverständ-
lich. Allerdings, die weiteren Gründe unserer Motive und die
Gründe, warum die und die Reize, Empfindungen, Vorstellungen
so und so auf uns wirken, entziehen sich unserer Kenntniss und
unserem Verständniss ebenfalls. Aber damit beginnt das völlig
Unbekannte und Unverständliche doch auf dem Gebiete wirth-
schaftlicher, von unseren Handlungen und Motiven abhängiger
Erscheinungen erst in einem späteren Stadium als bei den Er-
scheinungen der äusseren Natur. Was wirtschaftliche Gesetze
an „Exactheit“ gegenüber Naturgesetzen zu wünschen übrig lassen,
wegen des hier das Verursachungssystem darstellenden Motivations-
systems, das gewinnen sie so an leichterer Ermittelbarkeit und
Verständlichkeit eben dieses Umstands wegen.
5. Abschnitt.
Die Verbindung der Methoden.
I. — §.02. Der Auf- und Ausbau der Politischen
' Oekonomie. Aus allem Vorausgehenden folgt, dass das inductive
Verfahren, auch selbst in seinen besten Methoden, der statistischen
und vergleichend - historischen , nicht für sich allein ausreicht, die
Politische Oekonomie als Wissenschaft mittelst seiner aufzubauen.
Der Grundriss wird immer entworfen, das Fundament wird
immer gelegt werden müssen mit Hilfe des Verfahrens psycho-
logischer Deduction. Dieses Verfahren hat freilich seinen Aus-
gangspunct auch in Beobachtungen, insbesondere in eigenen
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Auf- und Ausbau der Politischen Oekonomie.
243
inneren, vom menschlichen Triebleben und der psychischen Moti-
vation auch des wirtschaftlichen Handelns, aber eben doch in
Beobachtungen der wirksamen Kräfte, nicht, wiedas inductive
Verfahren, der bewirkten Gestaltung wirtschaftlicher Erscheinungen.
Indessen nicht nur Grundriss und Fundament werden so ge-
wonnen, sondern auch der Aufbau der grossen Grundpfeiler,
Stützen, Hauptwände des wissenschaftlichen Gebäudes wird zunächst
mit Hilfe des deductiven Verfahrens erfolgen müssen und nur auf
diese Weise erfolgreich geschehen können.
Das inductive Verfahren hat dann einmal als Mittel zur
Controle des deductiv hergestellten Grundrisses, Fundaments
und Aufbaus und sodann selbständig als Mittel zum weiteren Aus-
bau des wissenschaftlichen Gebäudes zu dienen. In beiderlei
Hinsicht ist es unentbehrlich und höchst werthvoll. Erst durch
solche Verbindung des inductiven mit dem deductiven Ver-
fahren wird ein haltbarer und ein allen Aufgaben der Wissenschaft
entsprechender Bau entstehen.
Es ist ein Wahn, zu glauben, nur mit dem einen oder dem anderen Verfahren
allein einen solchen Bau hersteilen zu können. Gross war daher der Fehler der
fdteren „abstracten" Theorie, welche das deductive Verfahren mehr und mehr allein
handhabte. Aber mindestens ebenso gross ist der entgegengesetzte Fehler des Histo-
rismus, im inductiven Verfahren allein das Mittel zum Aufbau der Wissenschaft zu
sehen. Ja, man wird diesen Fehler eigentlich noch grösser nennen dürfen, weil
er auf einer Verkennung des psychologischen Fundaments der Wissenschaft der
Politischen Oekonomie beruht (S. 15).
Wie im Uebrigen das deductive und inductive Verfahren
ineinander zu greifen, sich gegenseitig zu ergänzen und unter
Umständen zu ersetzen haben , das hängt wesentlich von den
einzelnen Aufgaben ab, welche gelöst werden sollen.
Hier sind wieder jene zwei Keihen je dreigliedriger theoretischer und prac-
tischer Aufgaben, im Ganzen also jene sechs Aufgaben zu unterscheiden , welche im
ersten Hauptabschnitte dieses Kapitels (§. 57 ff.) aufgestelJt und erörtert und im
Vorausgehenden wiederholt schon in Verbindung mit den methodologischen Fragen
gebracht wurden. Für vieles Einzelne ist daher auf bereits Gesagtes hier hinzuweisen.
Es handelt sich jetzt nur noch um eine Zusammenfassung alles Bezüglichen.
A. — §. 93. Das inductive Verfahren als Control-
mittel (im „Ergänzungsdienst“ anderer Methoden).
Als solches, daher auch als Probe- und Correcti vverfahren,
kommt es einmal im Ganzen und wieder je mittelst seiner vier
Beobachtungsmethoden, insbesondere der statistischen und histo-
rischen, neben der speculativen Deduction in Betracht; sodann
dienen sich die einzelnen Beobachtungsmethoden aber auch wieder
gegenseitig als Controlmittel. /"
IG*
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244 1. B. 2. K. 1. H.-A. Methoden. 5. A. Verschied, d. Methoden. §. 93, 94.
1. Neben der Deduction bat das inductive Verfahren wieder
eine doppelte Function, einen doppelten Ergänzungsdienst:
a) Einmal hat es zu helfen, die angenommenen Voraus-
setzungen der Deduction auf ihre Richtigkeit zu prüfen, sie
danach eventuell zu berichtigen, unter Umständen auch die an-
zunchm enden Voraussetzungen selbständig festzustellen, um so
wichtige und leicht sich öffnende Fehlerquellen des deductiven
Verfahrens vermeiden oder verstopfen zu lehren, oder sie wenigstens
minder ergiebig laufen zu machen und Anhaltspuncte zur Be-
messung der daraus hervorgehenden Fehler gewinnen zu lassen.
Welche Bedürfnisse hier vorliegen, ist früher naher dargelegt worden (besonders
§. 74, 75, aber überhaupt §. 07 — 75). Ebenso, wie das inductire Verfahren hier
helfen kann. Dass man auch bei dieser Function der Deduction, die Voraussetzungen
der Deduction selbständig festzustellen, doch noch auf dem Boden der letzteren ver-
bleibt, wurde gleichfalls oben schon ausgeführt.
b) Sodann hat das inductive Verfahren zur Controle, Probe
und, soweit erforderlich, zur Correctur der Schlüsse zu dieneu,
welche deductiv aus angenommenen oder erwiesenen Voraus-
setzungen abgeleitet worden sind. Hier müssen diese Schlüsse,
weiche in Bezug auf die Erscheinungen abgeleitet wurden, an den
beobachteten wirklichen Erscheinungen geprüft werden.
Bei allen drei theoretischen Aufgaben, daher insbesondere auch bei den de-
ductiv abgeleiteten Zusammenhängen und Abhängigkeitsverhältnissen und den deductiven
Ermittelungen des Generellen, Typischen, der Regelmässigkeiten, Gesetzmässigkeiten
und Gesetze (§. 73, S7 — 90) ist dieser Probedienst des inductiven Verfahrens ge-
boten. Warum und wie er einzurichten ist, das ist ebenfalls im Vorausgehenden
bereits erörtert worden (vgl. bes. §. 73, 75, SO ff.). Mit diesem Dienste tritt inan schon
eudgiltig auf den Boden der Induction.
Völlig auszuschliessen von dieser Doppelfunction des inductiven
Verfahrens neben dem deductiven ist keine der besprochenen
vier Beobachtungsmethoden, schon weil mitunter nur eine und
vielleicht nur die unvollkommenere, so die erste (§. 78), überhaupt
in Frage kommen kann. Aber mit dem Werth der benutzten
Beobachtungsmethode steigt natürlich auch der Werth der Leistungeu
gegenüber der Deduction.
Die Methoden rangiren daher in derjenigen Ordnung ihres Werths, welche sich
aus unseren früheren Ausführungen ergiebt: die statistische, die vergleichend -histo-
rische, die rein historische stehen im Allgemeinen in dieser Reihenfolge voran. Ob
die unwissenschaftliche tägliche (Massen-)ßeobachtung oder die wissenschaftliche
Einzelbeobachtung den Vorzug verdient, wird mehr nur nach dem concretcn Fall zu
entscheiden sein.
2. Gegenseitig unter einander haben sich die ver-
schiedenen Beobachtungsmethoden des inductiven Verfahrens ferner
ebenfalls als Controlmittel zu dienen, und zwar auch hier in
doppelter Weise.
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Das induct. Verfahren als Controlmittel.
245
a) Einmal so, dass die nach den verschiedenen Methoden
beobachteten Thatsachen verglichen und Beobachtungsfehler
so aufgedeckt und berichtigt werden.
Hier dienen vornemlich die vollkommneren Beobachtangsmethoden zur Controle
der Ergebnisse der unvollkouunuercn, daher die statistischo gegenüber allen anderen,
namentlich auch der vergleichend-historischen und der rein historischen, diese wieder
gegenüber der wissenschaftlichen Einzel- und der unwissenschaftlichen täglichen
Massen -Beobachtung. Vor Allem die zahlreichen Fehler der letzteren bedürfen, er-
fahren aber auch so eine Prüfung und Berichtigung (vgl. §. 78). Je nach den Auf-
gaben wird dann die eine oder die andere Methode wieder spccifische Vorzüge oder
Mängel bieten und der Controldienst der anderen gegenüber mehr oder weniger
wichtig und erfolgreich werden. Bei der zweiten theoretischen und bei den prac-
tischen Aufgaben wird die statistischo und die vergleichend - historische besonders
werthvoll, versagen die anderen in höherem Grade. Dass indessen doch mitunter
auch die übrigen an sich auf dem Gebiete der wirtschaftlichen Erscheinungen unvoll-
kommneren Methoden zwar nicht sowohl Ergebnisse der anderen vollkommneren
Methoden wirklich berichtigen , aber doch Zweifel daran hervorrufen können , welche
dann zu erneuter sorgfältigerer Anwendung der statistischen und historischen Methode
Anlass geben, ist auch anzuerkennen und folgt aus den früheren Erörterungen
(§. 78 — 80). — In der Methodologie hat man, nebenbei bemerkt, diese und die
folgende Function eines gegenseitigen Control- und Correctivdiensts der Be-
obachtungsmethoden nicht immer genügend hervorgehoben und einen solchen Dienst
nur gegenüber der Deduction angenommen.
b) Sodann wird bei dem Zurückgehen von den beob-
achteten Erscheinungen auf die Ursachen und Bedingungen
eine solche gegenseitige Controle der Ergebnisse, welche nach
den verschiedenen Beobachtungsmethoden gewonnen wurden, und
der Reduction dieser Ergebnisse auf Ursachen und Bedingungen
in besonderem Maasse wichtig und nothwendig.
Grade hier gilt es. übereilte und schiefe Inductionsschhlsse, so den üblichen des
post hoc ergo propter hoc (S. 198) zu berichtigen. Die vollkommneren Methoden, die
statistische, dann die vergleichend -historische zeigen hier ihre besonderen Vorzüge
und fungiren auch als werthvolle Coutrolmittel , sowohl gegenüber den willkührlichen
Inductionsschlüsscn der unwissenschaftlichen täglichen Beobachtung in Bezug auf
causale und conditionelle Erklärungen, als gegenüber den falschen Generalisationen
der Deduction und der wissenschaftlichen Einzelbeobachtuug. Unsere dritte Auf-
gabe, welche vornemlich hier vorliegt, ist daher nur mit Hilfe der vollkommneren
Beobacbtungsmethodcn zu lösen. Aber grade sie wird im Leben so gern durch die
unwissenschaftliche tägliche Beobachtung zu lösen gesucht. Und Aehnliches gilt von
den practischen Aufgaben, besonders der sechsten (§. 64), der Wahl der Mittel und
Wege zu einem bestimmten Ziele.
B. — §. 94. Das inductive Verfahren als selb-
ständiges Mittel zum Ausbau der Politischen Oeko-
nomie (im „Ersatzdienst“ statt anderer Methoden).
Wo die Fehlerquellen des deductiven Verfahrens zu gross werden
und keine ausreichende Abhilfe gestatten (§. 74), wo das den
wirtbschaftlichen Erscheinungen zu Grunde liegende System von
Ursachen und Bedingungen zu complicirt wird, um durch noch so
methodische Aenderung der Voraussetzungen das deductive Ver-
fahren zur Erzielung richtiger, mit der Wirklichkeit überein-
24(5 1* B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 5. A. Verbind, d. Methoden. §. 94, 95.
stimmender Ergebnisse genügend leistungsfähig zu erhalten (§. 70),
— da versagt eben dieses Verfahren den Dienst mehr oder weniger,
eventuell völlig. Hier kann sich nun im induetiven Verfahren
ein Ersatz bieten, wenn es gelingt, dieses Verfahren selbst
richtig technisch auszubilden, um es mit Vertrauen anwenden
zu können (§. 75, 76 ff.).
Daher liegt hier die Aufgabe vor, zwischen den verschiedenen Bcobachtungs-
methoden des induetiven Verfahrens wieder richtig zu wählen und jede derselben so
vollkommen wie möglich auszubilden. Principiell und thatsächlich kaun das freilich
nur mit der statistischen und historischen, namentlich wieder der vergleichend-histo-
rischen Methode, gelingen, welche daher hier auch wesentlich allein als wissen-
schaftliche Methoden im „Ersatzdienst“ statt der Deduction in Betracht kommen. Je
umfassender, systematischer, sorgfältiger die das Beobachtungsmaterial liefernden
statistischen Aufnahmen, historischen Forschungen werden, je reichlicher und besser
dieses Material so selbst wird, desto erfolgreicher wird auch das indnetive Ver-
fahren mit Hilfe dieses Materials den Ersatzdienst statt der Deduction Übernehmen
können.
Wie dann hierbei vorzugehen ist, das richtet sich wieder nach
den verschiedenen Aufgaben. Besonders die Lösung der zweiten
und dritten, welche die Lösung der practischen mit vorbereiten,
wird mit Hilfe des statistischen und vergleichend -historischen Ver-
fahrens, in der in §. 82 ff. , 84 geschilderten Weise, erheblich
gefördert, mitunter, da gerade hier die unvollkommneren Beob-
achtungsmethoden und die Deduction am Leichtesten irreführen
oder versagen, überhaupt erst ermöglicht, wenigstens soweit von
einer „Lösung“ geredet werden kann. Die statistische Methode
behauptet aber wegen ihrer quantitativen Bestimmtheit und wegen
des bei ihr zumeist, oft allein erreichbaren genügenden Grads
systematischer Massenhaftigkeit der Beobachtungen den Vorzug
auch hier, auch vor der in diesen beiden entscheidenden Puncten
zurückstehenden historischen und selbst vergleichend -historischen
Methode.
Nur sie gestattet die genauere Verfolgung der Erscheinungen in allen Phasen
durch die Katcgorieen Kaum und Zeit hindurch, in möglichst kleinen Raum- und
Zcittheilen (S. 212). daher unter dem Einfluss hier eintretender, mitspielender variabler
Bedingungen und Ursachen, was öfters die Voraussetzung zur sichereren Ermittlung
der Abhängigkeitsverhältuissc und des Typischen der Erscheinungen ist.
II. Ergebnisse. §. 95. — A. Ergebniss im Ganzen.
Die Weiterbildung der Politischen Oekonomie als einer Wissen-
schaft, welcher die beiden oft erwähnten Reihen theoretischer
und practischer Aufgaben (§. 57) zu stellen sind, hängt daher
sicherlich, wenn auch in ungleichem Grade in Betreff der einzelnen
Aufgaben, von den Fortschritten der Statistik und Historik und
von der immer besseren Verwerthung des von diesen oeiden
k_
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Ergebnisse; im Ganzen.
247
Beobachtungsmethoden gelieferten Beobachtungsstoffs , daher über-
haupt vom inductiven Verfahren mit ab. Die deductiven Er-
gebnisse werden so gesicherter und, wo sie nicht ausreichen oder
fehlen, werden neue inductive Ergebnisse hinzu oder an Stelle
jener treten. Aber freilich wird man nach der bisherigen Er-
fahrung und muthmaasslich auch in Zukunft nach der eigen-
tümlichen Natur der Objecte unserer Wissenschaft mehr vom
controlirenden , als vom selbständig fungirenden inductiven Ver-
fahren erwarten dürfen. Auch nicht sowohl ganz neue Ergebnisse,
als hauptsächlich nur Berichtigungen, Verfeinerungen, Einzelaus-
ftihrungen der deductiv gewonnenen Sätze sind schon bisher und
werden wohl auch weiter dem inductiven Verfahren zu verdanken
sein. Auch das ist sehr wichtig und werthvoll und steigert den
Anspruch der Politischen Ockonomie, als eine wahre, mit guten
Methoden arbeitende Wissenschaft gelten zu dürfen.
Diese Ansiebt über die Sehrankcu der Leistungsfähigkett des inductiven Ver-
fahrens steht freilich wieder im Widerspruch mit den hohen Prätensionen, welche
namentlich der jüngere Historismus zu Gunsten seiner Methode erhebt, und ebenso
mit den grossen Worten desselben , wonach die dcductive Methode abgewirthsc haftet
habe, die abstracto Nationalökonomie mit ihrer Schuldogmatik ein überwundener Stand-
punct, wenn nicht schon sei, so sicher immer mehr werde, und die Parole nur sein
könne: ein voller Neubau auf inductiv gewonnener Grundlage. Auch
wird wohl jetzt schon behauptet, dass zumal die „historische Forschung“ bereits er-
hebliche ganz neue Resultate für die Fortbildung der Wissenschaft geliefert habe.
Bezügliche Verdienste dieser Forschung bestreite ich nicht durchaus, meine aber
doch, dass diese Resultate im Ganzen eben nicht sowohl neue, als da und dort be-
richtigte, vornemlich nur verfeinerte alte deductiv gewonnene und auch recht gut so
gewinnbaro seien. Ich weiss. dass das wohl geläugnet wird, müsste aber um genauen
Beweis bitten, dass ich im Irrthum bin. Für die Abweisung der zu weit gehenden
Prätensionen und — der Wechsel, welche so gern auf die zukünftigen Leistungen des
Historismus, nicht für concrete Wirtschaftsgeschichte natürlich, wohl aber für die
Wissenschaft der Politischen Oekonomie gezogen werden, kann ich mich nunmehr
wohl auf dieses ganze erste Buch beziehen, worin ich meine Bemerkungen in der Ein-
leitung Uber den Historismus zu begründen gesucht habe: negativ im Nachweis
der inhärenten Mängel der Beobachtungsmethoden und des inductiven Verfahrens,
positiv im Nachweis der Leistungsfähigkeit der Deduction, wenn sie in der dar-
gelegten Weise gchandhabt wird.
B. — §. 96. Ergebnis im Einzelnen für das Ver-
hältnis der Methoden zu den Aufgaben. Dass sich und
wie sich die Anwendung der einzelnen Methoden nach den ver-
schiedenen Aufgaben richtet, wo eine jede und welche Vorzüge
und Mängel sie zeigt und in welcher Weise sie sich dann zu
ergänzen und eventuell zu ersetzen haben, das ist im Voraus-
gehenden im Zusammenhang der Erörterungen Uber die Aufgaben
und in den methodologischen Ausführungen näher dargelegt worden.
In nochmaliger kurzer übersichtlicher Zusammenfassung ergiebt
sich Folgendes.
248 1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 5. A. Verbind, d. Methoden. §. 96.
1. Bei der ersten Aufgabe, der Ermittlung des Tbatsäch-
lichcn der Erscheinungen und ihres Verlaufs (§. 57), steht die
Beobachtung der Erscheinungen selbst und zu diesem Zwecke die
statistische und die historische Methode ganz voran. Aber die
unvollkommneren Beobachtungsmethoden werden daneben immer
eine gewisse Rolle mitspielen und, bei angemessener Vorsicht
sowie unter Controle durch die vollkommneren Methoden und
durch das deductive Verfahren auch mitspielen können. Letzteres
Verfahren oder der Schluss aus nach WahrscheinlichkeitsgrUnden
angenommenen oder bereits als vorhanden nachgewiesenen Voraus-
setzungen der wirtschaftlichen Erscheinungen wird ausserdem
allgemein zur Controle und Ergänzung der Ergebnisse der in-
dnctiven Beobachtungsmethoden hinzu kommen (§. 59).
2. Bei der zweiten Aufgabe, der Ermittlung des Typischen
in den Erscheinungen, der Regel- und Gesetzmässigkeiten und
Gesetze (§. 57, 73, 86 — 90), ist die Deduction aus nachgewiesenen
Leit- und Specialmotiven, zumal aus dem Motiv des Strebens nach
dem wirtschaftlichen Vorteil, u n d die Anwendung des inductiven
Verfahrens, insbesondere der systematischen Massenbeobachtung
der Statistik, aber auch, wenn auch mit geringerem Erfolge, der
vergleichend - historischen und, mit abermals geringerem Erfolge,
unter gewissen Cautelen auch der täglichen unwissenschaftlichen
(Massen - Beobachtung zulässig, ja geboten und sind so Deduction
und Induction passend zu verbinden. Beide dienen sich gegen-
seitig zur Controle und Berichtigung ihrer Ergebnisse, die erstere
den Ergebnissen der letzteren auch mit zur Erklärung und die
vollkommnere inductive Beobachtungsrnethode dient wieder zur
Controle und Berichtigung der Ergebnisse je der unvollkommneren
Methode (§. 60).
3. Bei der dritten Aufgabe, der Erklärung der con-
ditionellen und causalen Zusammenhänge und Abhängigkeitsver-
hältnisse der Erscheinungen , wird zunächst und zumeist das
deductive Verfahren unter Zugrundelegung nach der Wahrschein-
lichkeit entsprechend angenommenen Voraussetzungen zum Aus-
gangspunct genommen, zur gedankenmässigen Isolirung der Ur-
sachen und Wirkungen, der Bedingungen und Folgen benutzt.
Darauf tritt aber gerade hier in sehr bedeutsamer Weise das
inductive, vornemlich wieder das statistische, eventuell auch das
vergleichend -historische Verfahren zur quasi -experimentellen Con-
trole, Prüfung, Berichtigung der Ergebnisse des deductiven Ver-
l
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Ergcbniss im Einzelnen. Aufgaben u. Methoden.
249
fabrens hinzu. Dieses inductive vergleichend-statistische und -histo-
rische Verfahren gestattet aber auch weiterhin eine selbständige
Anwendung zur Lösung der dritten Aufgabe, wobei dann die Er-
gebnisse wieder umgekehrt mittelst der Deduction zu controliren
sind (§. 61).
4. Bei der vierten Aufgabe, der ersten practischen, wo es
sieb um Werthurtheile über die wirtschaftlichen Erscheinungen
bandelt, und bei der eng mit der vierten zusammenhängenden
fünften Aufgabe, der zweiten practischen, wo ein Ziel für
die Entwicklung der wirtschaftlichen Erscheinungen aufzustellen
ist (§. 62, 63), ist zunächst überall an die Ergebnisse anzuknüpfen,
welche bei der Erledigung der drei theoretischen Aufgaben ge-
wonnen worden sind. Beobaehtungsmässig constatirte Thatsachen
der Wirklichkeit hinsichtlich der bestehenden Production und
Verteilung und auch hinsichtlich der nach dem Stande der Technik
möglichen idealen Production bilden den Ausgangspunct für die
Erledigung beider Aufgaben. Bei der Aufstellung von Maassstäben
und Entwicklungszielen idealer Production und Verteilung ist
dann aber wieder psychologische Analyse derjenigen Motive geboten,
welche als vorhanden und wirksam vorausgesetzt werden müssten,
wenn die Erreichung des Ziels psychologisch möglich erscheinen
soll. Hier erfolgt dann umfassende Anwendung der speculativen
Deduction unter verschiedenen hypothetischen Annahmen bezüglich
der Motivation des wirthschaftlichen Handelns. Bei der fünften
wie bei der folgenden sechsten Aufgabe liegen vor Allem psycho-
logische Probleme vor, wobei psychologische Induction und De-
duction in enge Verbindung treten (s. Weiteres in §. 63).
6. Bei der sechsten, der dritten practischen Aufgabe, der-
jenigen der Wegweisung zu dem aufgestellten Entwicklungsziel,
sind äussere Beobachtungen über die bisher benutzten Mittel und
Wege wieder mit psychologischen Analysen der Motive und mit
Deductionen aus als vorhanden und wirksam beobachteten und
ans hypothetisch angenommenen Motiven zu verbinden. Der psycho-
logische Character der Probleme im Gebiete dieser sechsten Auf-
gabe ergiebt sich daraus, dass es immer mit auf Beeinflussung
des Willens ankommt, um die und die Gestaltung der Pro-
duction und Vertbeilung herbeizuführen (§. 64).
So also überall: eine Verbindung von Deduction und In-
duction. Fehlerquellen haben beide. Die Ergebnisse der De-
duction sind immer nur richtig, wenn die Voraussetzungen richtig
250 1. B. 2. K. 2. H.-A. Methoden. 5. A. Verbind, d. Methoden. §. 07.
und vollständig statuirt sind, die Motive wie angenommen gewirkt
haben, die Schlüsse richtig gezogen sind; die Ergebnisse der lu-
duction sind gleicher Weise immer nur richtig, wenn richtig und
allseitig beobachtet worden, richtige Zurückführung auf die Ur-
sachen und Bedingungen erfolgt ist und dabei alle maassgebenden
Factoren richtig gewürdigt sind. Die Methoden und ihre Ergeb-
nisse haben sich dann gegenseitig zur Controle zu dienen.
C. — §. 97. Ergebniss für das Verhältniss der
Methoden bei einzelnen Fragen und in den einzelnen
Theilen des Svstems. Auch auf dem Gebiete der einzelnen
*
Fragen der grundlegenden, der theoretischen und practischen National-
ökonomie (§. 103) erfolgt dieselbe Verbindung der Methoden. Und nicht
anders verhält es sich in den verschiedenen Theilen des
Systems der Disciplin. Auch von einem allgemeinen Vorrang und
einem steten Vorangehen der einen oder anderen der beiden Haupt-
methoden auf Gebieten von Fragen und in Theilen des Systems lässt
sich kaum sprechen. Je nachdem die eine oder die andere der ge-
nannten Aufgaben vorliegt, wird in diesen Gebieten und Theilen
die eine Methode zuerst benutzt werden und eventuell auch methodo-
logisch einen gewissen Vorrang behaupten. Aber zur Ergänzung
wird dann erst immer die andere hinzutreten müssen.
1. Man bat wohl gemeint, die Ausbildung der Lehre von der Production und
Cousumtion in der theoretischen Nationalökonomie beruhe mehr auf der äusseren
Beobachtung der Tbatsaehen und Vorgänge, auf dem inductiren, diejenige der Lehre
von der Vcrtheilung und vom U rnlauf (Preis) auf dem deductivcn Verfahren.
Wo, wie in beiden letzteren Lehren, Gesetze causaler Bewegung, („Beweguugsgesetze“
90), schärfer hervortreten, die man mittelst Dcduction aus wirksamen Motiven ab-
ieitet, mag das ja cinigermaassen zutreffen. Aber tlicils muss und kann man doch
auch hier mit der Feststellung der Tbatsaehen beginnen und vou ihnen aus suchen,
auf die Ursachen (und Bedingungen) zurückzuschliessen, also inductiv vorzugehen;
theils muss wieder zur Controle und Bestätigung der inductiven Ergebnisse hinsicht-
lich der Bewegung der Erscheinungen doch die Beobachtung der Tbatsaehen selbst
hinzukommen. Es ist daher doch auch hier die inductivc Methode kaum die wirk-
lich zurilckstehende. Und umgekehrt, auf dem Gebiete der Production wird auch zur
ersten Ableitung von Sätzen und zur Begründung und Erklärung inductiv gewonnener
die Deduction mit benutzt werden können und öfters müssen. Eher könnte man sagen,
dass nach dem bisherigen Entwicklungsgang der Wissenschaft thats&c blich die
Deduction allerdings auf dem Gebiete der Lehren von Vcrtheilung und Umlauf, die
Inductiou auf demjenigen der Lehren von der Production in grösserem Umfang angewendet
worden sei. Auch entspricht das wohl dem Character der betreffenden Probleme und wird
daher sich nicht völlig ändern , weil das andere Verfahren hier grössere Schwierig-
keiten bietet und so practisch weniger anwendbar wird. Allein auch diese nicht un-
richtige Auffassung begründet sich dann doch mehr auf einen thatsächlicben , grade
Mängel der Forschung und der technischen Ausbildung der Methoden erweisenden
Zustand, als auf einen principiellen Vorzug der einen vor der anderen Methode.
2. Nicht ganz grade so, aber doch ähnlich liegen die Verhältnisse in den ver-
schiedenen Theilen des Systems der Politischen Oekouomie. In der „theo-
retischen“ Nationalökonomie überwiegt bisher wohl im Ganzen die Deduction, in der
„practischen“ die Induction, wieder in verschiedenem Grade und mit manchen Aus-
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Ergebniss. Methoden und einzelnen Fragen.
251
nahmen in den Einzelgebicten beider. Auch möchte das aus principiellen Gründen,
wegen des Grondcharacters der ganzen Probleme, mehr so verbleiben, als die gleiche
Sachlage in den genannten Lehren von Vertheilung und Umlauf einer-, von Produc-
tion andererseits. Aber zu einem sehr erheblichen Theilo sind es doch auch hier
nicht solche principiclle. sondern thatsächliche Gründe, die in den Schwierigkeiten
der Anwendung und den Mängeln der Ausbildung der anderen Methode in dem an-
deren Theile des Systems liegen nnd nach und nach überwunden, wenigstens ver-
mindert werden können. Auch die theoretische Nationalökonomie wird dann mehr
iuductiv, auch die practische mehr deductiv behandelt werden können.
Man Übersieht auch nicht selten, dass dieselben Probleme
sowohl wesentlich deductiv als inductiv untersucht werden können,
dass man mit beiden Methoden etwa gleich weit, leider noch
öfter, richtiger gesagt: gleich wenig weit kommen kann, dass die
unabhängig von einander gewonnenen Ergebnisse aber doch den
gleichen Werth beanspruchen dürfen und sich gegenseitig zur Be-
stätigung dienen.
Es mag mir erlaubt sein, mich zum Belege dafür auf einige meiner eigenen
Arbeiten auf Specialgebicten zu beziehen , besonders auf meine grade auch metho-
dologisch verschiedenen Schriften über Banken und über gewisse Finanzfragen. In
meiner ersten Schrift über Banken habe ich die betreffenden Fragen , so die Streit-
puncte der „Currency-Thcoric“. der Gontroverse über Centralbanken imd Decentrali-
sation der Notenausgabe wesentlich historisch -statistisch inductiv behandelt (Beiträge
zur Lehre von den Banken, Leipzig 1857) In meiner ..Geld- und Credittheorie der
Peel’schen Acte“ (Wien 1862) sind grosscntheils dieselben Probleme wesentlich de-
ductiv erörtert. Und wenn mir da etwa der Einwand begegnet: ,.Ja, nachträglich,
nachdem Tookc’s u. A. m. und Deine eigenen inductiven statistischen Forschungen
voran gegangen“, so möchte ich erwidern, allerdings, aber überall glaube ich nach-
weisen zu können, und habe ich damals auch die Empfindung gehabt, dass bei sehr
wohl möglichem, hinlänglisch scharfem Eindringen in die Probleme das deductive
Verfahren auch von vornherein ebenso zulässig und ergiebig gewesen sein würde. In
mehreren meiner Untersuchungen über Papiergeldwesen (Agiotheorie, Preisbewegungs-
theorie). so schon in meinem Aufsatze .,zur Geschichte und Kritik der österreichischen
Bancozettelperiodc“, II (atn Schluss, Tüb. Ztsehr. 1863) und später namentlich in
meiner Schrift über die russische Papierwährung (Riga 1S6S) ist ebenso streng de-
ductiv verfahren und sind so Ergebnisse gewonnen worden, welche die historisch-
statistische Erforschung bestätigen konnte und ja allerdings, um sie zu sichern , be-
stätigen muss. Ich verweise ferner auf die schon erwähnte Behandlung der Steuer-
überwälzungslehrc in meiner Finanzwissenschaft, bcs. II, 2. A., S. 332—372), wo Er-
gebnisse deductiv erzielt wurden, über die doch auch die rein inductive Forschung,
wie in der Arbeit von G. Schanz Uber die baierische Biersteuer (ebd. S. 366) eigent-
lich nicht hinausgekommen ist. Problematisch bleibt nach beiden Methoden Vieles,
aber man kann nicht allgemein sagen: in höherem Grade beim deductiven Verfahren.
— Ich führe diese Beispiele nur an. nicht zur besonderen Empfehlung der deductiven
vor der inductiven Methode, sondern nur zur billigen Beurtheilung der ersteren.
Die Nothwendigkeit der steten Benutzung der anderen Methode zur Ergänzung habe
ich mir nie verhehlt und bestreite ich nicht im Mindesten, habe demgemäss, z. B. in
meinen Bankschriften, auch gehandelt. Man vergegenwärtigt sich nur nicht immer
die ^tatsächlich oft sehr grossen, mitunter kaum überwindliehen Schwierigkeiten, z. B.
statt oder neben oder nach der Deduction die inductive Methode anzuwenden. Ich
nenne als ein Beispiel etwa die Ermittlung der Preisbewegung unter dem Einfluss
des sich verändernden Geld werths, wie in dem besonderen Falle der I'apiergeld-
wirthschaft. Wie hierbei methodisch-statistisch vor/.ugehen wäre, legt meine Abh.
„Ucber eine Aufgabe der Statistik der Preise“ im Bulletin de statistique international,
1887 dar. So müsste verfahren werden, wenn man einigermaassen ,.exact“ sein
will. Aber wie schwer, wenn nicht unmöglich, so wirklich zu verfahren! Die
, .historische Forschung“ auch selbst in der Fortbildung zur vergleichend -historischen
252 1. ß. 2. K. 3.H.-A. System etc. 1. A. Polit. Oekon. als Wissensch. §. 97, 9S.
Methode mit ihren paar isolirten Daten stellt sich freilich die Aufgaben nicht so, aber
eben deswegen sind ihre Ergebnisse auch nicht gesicherte.
Zum Schluss der methodologischen Erörterungen sei auch noch einmal auf einen
in der Einleitung (§. 11) berührten, grade für die Wahl der Methode Seitens der
einzelnen Autoren wichtigen Punct hingewieseu. Diese Wahl wird immer mit beein-
flusst werden durch die individuelle geistige Anlage eines Jeden. Es giebt eben
zweierlei, einigermaassen typische Verschiedenheiten der Veranlagung hier, eine mehr
zum deductiven, eine mehr zum inductiven Verfahren hinführende. Beide sind berechtigt,
haben ihre spccitischen Vorzüge und ihre specifischen Nachtheile und Mängel. Die Einen,
die inductiv veranlagten Köpfe, neigen zu der Gefahr, um ein bekanntes Sprichwort zu
brauchen: „den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen“; die Anderen, die deductiv ver-
anlagten Köpfe, umgekehrt, wenn man im Gedanken dieses Sprichworts bleiben darf,
„die Bäume vor lauter Wald nicht zu sehen“. Jene sind weniger befähigt und geneigt
zum Generalisircn , zum abstracten Denken, sie vermeiden aber auch die hiermit ver-
bundenen Gefahren, um freilich in die entgegengesetzte Gefahr zu verfallen, zu sehr am
Einzelnen hängen zu bleiben, sich in Mikrologie zu verlieren, das Kleine, das Diffe-
rente in seiner Bedeutung zu überschätzen: so enge naturwissenschaftliche und —
historische Specialisten. Die Anderen, die deductiv Veranlagten, sind zum abstracteu
Denken und Generalisircn befähigter und geneigter, sie haben mehr Sinn und Ver-
ständnis für die grossen Züge der Dinge, für das Typische, aber sie gencralisiren
und abstrahiren auch zu leicht und zu früh, sie unterschätzen die Bedeutung des
Kleinen, des Dilfercnten, sie coustruircn zu gern und werden von makrologischen,
constructiven Gesichtspuncten oft zu sehr beherrscht: so Philosophen, Systematiker.
Fehlerhaft, zumal in den Extremen, ist natürlich Beides. Wo die grösseren Fehler
liegen, ist nicht allgemein zu sagen. Auch was man überhaupt für das Fehlerhaftere
hält, hängt wohl bei einem Jeden von seiner individuellen geistigen Veranlagung und
der mit dadurch bedingten Arbeitsweise, Richtung und Neigung wieder mit ab.
Ueber subjective Urtheile ist daher auch hierbei schwer hinauszukommen. Alles be-
weist wohl von Neuem nur, dass eine Verbindung der methodischen Wege zur
Aufsuchung der wissenschaftlichen Wahrheiten das Gebotene ist, wenn auch ein Jeder
nach seiner eigenen Anlage und Neigung den einen oder den anderen Weg bevor-
zugen und auch auf dein für ihn geeigneten gewöhnlich am meisten Erfolg erzielen
wird. Ich kann mich im Uebrigen nur auf die Ausführungen in §. 11 beziehen.
Dritter Hauptabschnitt.
System und Verwandtes.
1. Abschnitt.
Die Politische Oekonomie als Wissenschaft.
§. 9S. Einleitung und Litteratur. In der Regel wird in den syste-
matischen Werken der Politischen Oekonomie, namentlich in den deutschen Lehr- und
Handbüchern, über Begrilf, Wesen, Aufgaben, Methoden, System, d. h. Einthciluug
der Politischen Oekonomie, Stellung derselben im Kreise der Wissenschaften, Zu-
gehörigkeit zu den grossen Wissenschaftsgruppen (Gcsellschafts-, Staatswissenschaften etc.)
im Zusammenhang gehandelt. Darau schlicssen sich daun auch wohl noch Aus-
führungen über die „Bedeutung“ der Wissenschaft der Politischen Oekonomie und den
Werth ihres Studiums. Der oder die betreffenden Abschnitte führen verschiedene, aber
ähnliche Sammelnamen.
Hier einige Beispiele dafür, wie wichtigere neuere Systematiker in diesen
Dingen formell Vorgehen. Rau, I, handelt in der „Einleitung“ über „Wesen und
Theile der Politischen Oekonomie“, (§. 1 — 21), darin über die Volkswirtschaftslehre
als Wissenschaft in §. 9 ff., über Gesetze, Methoden §. 10 — 12, über Einteilung §.11,
16, 17), alsdann über die „äusseren Verhältnisse der Politischen Oekonomie (§. 21 — 27,
darin über die Beziehung zur Staats Wissenschaft, §21, 22, zur bürgerlichen Wirth-
schaftslehre, Staatengeschichte und Statistik, §. 28 — 25, über den Nutzen der Disciplin,
§. 26 ff.), woran sich zum Schluss der Einleitung ein litterargeschichtlicher Abriss der
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Einleitung und Litteratur.
253
Wissenschaft der Politischen Oekonomie reiht (§. 28 — 45). — Koscher beginnt den
J . Band seines Systems init einer Einleitung , in welcher er ein erstes Kapitel über
die Grundbegriffe (Gut, Werth, Vermögen. Reichthum, Wirtschaft) an die Spitze
stellt, dann im 2. Kapitel die Stellung der Nationalökonomie im Kreise der ver-
wandten Wissenschaften behandelt. Hier bespricht er die Wissenschaften vom Volks-
leben , zu denen er die Nationalökouomik stellt, und erörtert ihre Beziehungen zur
Staats- und zur Kechtswissenschaft, zur Staatswirthschaftslehre und Finanzwissenschaft,
zur Polizeiwisseuschaft, zur Statistik (§. 16 — IS), alsdann zur Cameralwissenschaft
oder Privatökonomik (§. 19, 20) und handelt darauf ebenfalls über die „Wichtigkeit
der Nationalökonomik“ (§. 21). Das 3. oder Schlusskapitel der Einleitung widmet
Roscher den Methoden. Eine zusammenhängende Darstellung der Litteraturgeschichte
der Wissenschaft enthält sein Werk nicht. — Knies fängt seine Politische Oekonomie
an mit einer allgemeinen Kennzeichnung derselben und ihrer Stellung im Kreise der
Staats- und Gesellschaftswissenschaften, sowie der letzteren im Gesammtkreis der
Wissenschaften, kommt aber auf diese und verwandte Fragen, über Aufgabe und Me-
thode u. s. w. mehrfach im Laufe seines Werks zurück, bes. in Abschn. III, 10 u. 11,
S. 453 ff. — v. Hermann spricht nur am Schluss seines 1. Abschnitts der „Grund-
legung“, in seinen staatswirthsebaftlichen Untersuchungen, kurz von der Wirthschafts-
lchre als solcher (2. A., §. 32, S. 67 ff.). — v. Mangold t behandelt in seinem
Grundriss die Volkswirtschaftslehre im §. 7 im Anschluss an den Begriff der Volks-
wirtschaft am Ende des 1. Kapitels seiner Einleitung, in deren zweitem Kapitel er
das Verhältniss der Volkswirtschaftslehre zu anderen Wissenschaften und die Methode
ihrer Behandlung bespricht. Hier wird gleich zuerst (§. S) eine dreifache wissen-
schaftliche Behandlung der wirtschaftlichen Seite des Völkerlebens, eine historische,
dogmatische und practische unterschieden , und danach die Wirtschaftswissenschaft
systematisirt. In der grösseren, aber bei des Verfassers Tode noch unvollendeten
„Volkswirtschaftslehre“ von Mangoldts fehlt ein solcher Abschnitt. S. sonst, v. Man-
goldt’s Aufs. Volkswirtschaft und Volkswirtschaftslehre im Bluntschli- Bratcr’schen
Staatswörterbuch, B. XI. — Schäffle bringt in der 2. Aufl. seines gesellschaftlichen
Systems im letzten §. 5 der Einleitung einige mehr nur aphoristische Bemerkungen
über das Verhältniss der Nationalökonomie zu den übrigen Wissenschaften. In der
3. Aufl. dieses Werks wird in der 3. Abth. des 1. Buchs etwas eingehender, aber
auch noch kurz und aphoristisch, über Begriff, Aufgabe, Methode (§. 26 — 28) ge-
handelt (I, S. 46 — 50). woran sich einige Ausführungen zur Geschichte der National-
ökonomie und ihrer Litteratur anschliessen (§.20). — Im S chön berg’schen Hand-
buch gehört der 1. Abschnitt des v. Schee l’schen Aufsatzes über die Politische
Oekonomie als Wissenschaft hierher, worin über Aufgabe (auch Begriff, Name) und
Umfang der Disciplin (hier auch über Beziehungen zu anderen Wissenschaften , über
Methoden) gehandelt wird (3. Aufl.. I, 69 — 76). In den früheren Auflagen beschäftigte
sich auch Neumann in seiner Abh. Uber die Grundbegriffe mit den hierher gehörigen
Puncten, wie Aufgabe der Volkswirtschaftslehre (2. Aull.. I, 133 ff.) — G. Colin hat
in der Einleitung seines Systems I ein erstes Kapitel der Methodologie, ein zweites
der „Nationalökonomie im Kreise der Wissenschaften“ gewidmet, wo u. A. die Be-
ziehung zu den Natur-, den Geistes-, den Gesellschafts-, den Staatswissenschaften, zu
den technologischen Fächern, zur Rechtswissenschaft besprochen und einige Bemer-
kungen über System (Eintheilung) , u. A. zur Begründung eines allgemeinen Theils
für die Erörterungen der Grundlagen alles wirtschaftlichen Lebens gemacht werden
(§. 62). — Von Fremden bat z. B. L. Gossa in seinen primi elementi di econ. polit.
(jetzt vol. I in 9. Aufl. als „ecouomia sociale“ bezeichnet, Milano 1891) in einem
1. Theile („Vorbemerkungen“) Begriff. Grenzen. Eiutheilung, Schwierigkeit und Wich-
tigkeit, Character, Beziehungen und Metkodo der Politischen Oekonomie kurz erörtert,
worauf ein litterargeschichtlicker Abriss folgt. Bei der Correctur dieses Bogens geht
mir die sehr erweiterte 3. Aufl. von L. Cossa’s introduzione etc. zu (Mil. 1892). worin
die genannten Gegenstände im 1. Tkeil (p. 11 — 128) eingehend behandolt werden.
Gide leitet seine principes decon. politique mit Ausführungen über den Gegenstand,
die Methode, die Frage wirthschafrlicher Naturgesetze ein.
In grosser Ausführlichkeit, mit zahlreichen Citaten aus der Litteratur, worauf
hier für Weiteres verwiesen werden mag, hat Kautz schon in seinem 1. Bande
(Nationalökonomie als Wissenschaft, 1858) im ganzen 2. Buche (S. 279—442) die
„Wissenschaft der Volkswirtschaft“ nach Begriff, Gegenstand , Untersuchungsgebiet,
254 1- B. 2. K. 3. H.-A. System etc. 1. A. Polit. Oekon. als Wissen sch. §. 98, 99.
Aufgabe, Character, ihre Stellung: im System der Wissenschaften vom Volksleben, ihre
Methode, Werth, und Bedeutung behandelt. Ausfahrungen, die noch jetzt manches
Beachtenswerte, vorneinlicli nach den literarhistorischen Seiten der erörterten Fragen,
bieten. Aus neuester Zeit sind dann wieder vornemlich K. Me n ge r ’s bezügliche
Arbeiten hervorzuheben. Seine „Untersuchungen“ gehören eigentlich ihrem ganzen
Inhalte nach hierher, da sic Systcmatologio und Methodologie und Verwandtes im
Zusammenhang in eingehenden systematischen und principiellen Erörterungen be-
handeln. Bes. s. B. 1, Kap. 1 und die Anhänge 1 — 0 (S. 232 — 269), die alle Bezüg-
liches erörtern und auch für die einschlägige Literatur beachtenswert sind. Menger
hat dann in dein inhaltreichen Aufsätze in Conrad’s Jahrbüchern, B. 53 (N. F. 19),
1SS9. S. -165 — 196, „Grundzüge einer Classification der Wirtschaftswissenschaften“,
seine bezüglichen früheren Untersuchungen wieder aufgenommen , sich mit anderen
Ansichten (Neumann, Klcinwüchter, Brentano n. A. m.) gut auseinandergesetzt und so
die Erörterung der betreffenden systematologischen Fragen fortgeführt. Im Ganzen
wohl das Beste in der Fachliteratur hierüber, wobei insbesondere auch deutlich der
von mancher Seite unterschätzte wissenschaftliche Werth solcher Erörterungen und
Untersuchungen hervortritt. Ich möchte diese Verdienste um so mehr anerkennen,
weil ich grade hier mehr von Menger abweichc. als in der Methodologie. Andere
hierher gehörige Arbeiten sind die von Fr. Kle in Wächter, die Nationalökonomie
als Wissenschaft und ihre Stellung zu den übrigen Disciplinen, Berlin 1883 (aus der
Virchow-v. Holtzendorff schen Vortragssainmlung) und bes. der Aufsatz in Conrad s
Jahrbüchern über Wesen. Aufgabe und System der Nationalökonomie, B. 52 (N. F. 18),
1S89, S. 601 — 651, worin auch Erörterungen über Methode. Ich kann dem Verfasser
in seinen Ausführungen zu Gunsten der historischen Schule, gegen Menger und in
seiner Systematologie nicht überall beistimmen, wofür ich mich auf die Antworten
Mengers an Kleinwächter in dem oben genannten Aufsatze beziehe.
Im Ucbrigen werden die Fragen von Begriff, Name, System u. s. w. öfters mit
in den methodologischen und den Erörterungen über wirtschaftliche Natur der Men-
schen. Aufgabe, Gesetze mit behandelt oder wenigstens gestreift, weshalb auf die
Litteraturangaben oben in §. 21 und 54, sowie im Allgemeinen auf die Einleitung
und die darin angegebene Litteratur mit zu verweisen ist.
Ich glaube mich nun in diesem ganzen Hauptabschnitt auf die eingehenden
Ausführungen in der Einleitung und im 1. Kapitel dieses ersten Buchs und in den
vorausgehenden Abschnitten des zweiten Kapitels über die wirtschaftliche Natur des
Menschen, die Aufgaben und Methoden beziehen und so Uber Manches, was sonst
hier noch genauer erörtert werden müsste, kürzer hinweg gehen zu können.
Der Character, welchen nach meiner Auffassung die Politische Oekonomie
(besser: die Social Ökonomie, §. 101) als eigene Wissenschaft hat. ihre Stellung
zu anderen, auch den verwandten Wissenschaften, folgt aus dem Früheren
implicite schon. Unmittelbar ist darüber bereits in §. 57 gehandelt worden. Die
Aufgaben haben uns näher in §. 57 — 64 beschäftigt. Nicht eine, sondern eine ganze
Anzahl und nicht generisch dieselben, sondern zwei generisch verschiedene, theo-
retische und practische Aufgaben wurden oben unterschieden (§. 57). Die Gcsammt-
aufgabe der Wissenschaft der Politischen Oekonomie, als Socialökonomie, umfasst alle
jene verschiedenen Aufgaben. Es kann daher jetzt unter Verweisung auf das Ge-
sagte an einigen weiteren Bemerkungen ztim Abschluss unten im 2. Abschnitt bei den
Erörterungen Uber das System i§. 102 ff.) genügen. Besondere Ausführungen über
Bedeutung, Werth, „Nutzen“ der Disciplin mögen in Vorlesungen ir» speciellcr Be-
zugnahme auf ein bestimmtes Zuhörerpublikum noch am Platze sein, in Werken, wie
diesem, scheinen sic uns wenigstens heutzutage entbehrlich.
Begriffsbestimmungen unserer Disciplin als solcher knüpfen nothwendig
an den schwierigen und complicirten Begriff der ,. Volkswirtschaft“ selbst an.
Sic setzen also eigentlich die vorausgehende Bestimmung dieses Begriffs, die ein-
gehende Analyse dessen, was man „Volkswirtschaft“ nennt, auch Erörterungen über
das Wesen der Einzelwirtschaft und über deren Beziehung zur Volkswirtschaft
voraus, um so mehr, je weniger die Ansichten Uber Begriff und Wesen von „Volks-
wirtschaft“ fcststchen und in diesen Ansichten Uebereinstimmung vorhanden ist. Nur
aus formalen Gründen wird daher hier bereits eine Begriffsbestimmung der Politischen
Oekonomie ab Wissenschaft gegeben (§. 100) und eine terminologische Erörterung
über den Namen der Disciplin (§. 101) hinzugefügt. Für die weitere Begründung
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Privatökonomic etc. Verhältnis zur Polit. Oekonomie.
255
der Begriffsbestimmung muss auf die Erörterung des BegrilFs „Volkswirtschaft“ ini
dritten Buche verwiesen werden.
Die Frage des Systems ist demnach in diesem Hauptabschnitt die wichtigste,
weshalb er auch danach bezeichnet und dieser Frage unten ein eigener Special-
Abschnitt, der zweite (§. 102 fF.'), gewidmet wurde. Sie steht mit der Frage der Auf-
gaben der Disciplin in näherem Zusammenhänge, aber, wie schon in §. 55 bemerkt
wurde, nach meiner hierin von der Menger’schen principiell abweichenden Auffassung
(§. 103), nicht so, dass das System aus den verschiedenen Aufgaben gleich folgt und
jeder Aufgabe etwa ein eigener Theil des Systems entspricht (S. 143). Eine der-
artige Ansicht liegt wohl K. Menger’s Systeinatologie mit zu Grunde. Ich weiche
hier von ihm ab, doch nicht so sehr in dem Sinne, dass ich seine Auffassung und
Behandlung ganz verwerfe, als dass ich sie nur fUr zu einseitig halte und demgemäss
modificire und ergänze. Ich bin durch seine Ausführungen überzeugt worden, dass
die Unterscheidung eines „allgemeinen“ und „speciellen“ Theils Missverständnisse er-
wecken kann und es insofern besser (nicht, wie er meint, durchaus unrichtig) sein
könnte, nicht einen „allgemeinen“ und einen „speciellen“ Theil, sondern einen
..theoretischen“ und einen „practi sehen“ Theil im System der Politischen
Oekonomie zu unterscheiden. (S. seine Untersuchungen, bes. Anhang 111 und IV und
in Conrad’s Jahrbüchern in den Ausfuhrungen gegen Neumann, B. 53, S. 474.) Aber
wenn man sich über den Sinn der bemängelten Bezeichnung verständigt, kann man
sie doch grade zur Characterisirung neben den beiden anderen (mit diesen durch
ein „und“, nicht durch ein „oder“ verbunden) anwenden, wie ich es denn auch thue.
Der „Grundlegung“ glaube ich aber nunmehr auch eine besondere Stellung
neben, bezw. auch Uber der theoretischen und practischen Nationalökonomie ein-
räumen, so also eine Droitheilung, allerdings aus sich nicht coordinirten Gliedern
<§. 103) vornehmenzu sollen. Das lässt sich indessen hierauch noch nicht nach allen
Seiten ausreichend begründen. Vielmehr folgt diese Begründung implicite aus dem
ganzen Werke. Denn für die Bildung und Durchführung des formalen Systems sind
auch wieder materielle volkswirtschaftliche Fragen, so besonders diejenigen, welche
die Organisation der Volkswirtschaft und die betretenden Principien und Formen
(gemeinwirtbschaftliche, privatwirthschaftlichc Organisation), die Kechtsordnung , den
Staat in seiner Stellung zur Volkswirtschaft betreffen, von Bedeutung. Es ist daher,
wie beim Begriff der Politischen Oekonomie, so bei dem System derselben , Manches
abhängig von der theoretischen Stellung zu solchen materiellen Fragen, weshalb zur
Begründung auch hier wieder auf Späteres, besonders auf Buch 5 und 6 zu ver-
weisen ist.
K. Menger’s Untersuchungen, S. 7, 255, wonach practische Nationalökonomie
und Finanzwissenschaft „Kunstlehren“ seien, halte ich nicht für falsch, aber ebenfalls
für einseitig: sie sind auch Kunstlehren, aber nicht nur das. Auch in ihnen
handelt es sich um die drei theoretische Aufgaben, und umgekehrt in der Grundlegung
und in der theoretischen Nationalökonomie auch mit um diese practischen (§. 103).
I. — §. 99. Privatökonomik und ihr Verhältniss
zu der Politischen Oekonomie (Oekonomik). Die Wirth-
schaftslehre (Oekonomie, besser eigentlich Oekonomik) wurde oben
(§. 29) mit Rau als der geordnete Inbegriff der die Wirtschaft
im dort dargelegten Sinne betreffenden Lehren bezeichnet und
hervorgehoben, dass ihr gegenüber auch die Politische (Natio-
nal*, Social-) und die Privatökonomik engere Begriffe bildeten.
Privat- und Politische Oekonomik haben das gemeinsam, dass sie
Zustände der Arbeitstheilung und des Verkehrs voraussetzen, durch
welche die einzelnen Wirtschaften unter einander verbunden sind.
Auch die Privatükonomik betrachtet daher nicht die einzelne Wirth-
schaft als eine völlig isolirt für sich bestehende, wenn auch mehr
256 1* B. 2. K. 3. H.-A. System etc. 1. A. Polit. Oekou. als Wissenschaft. §. 99.
oder weniger innerhalb ihres Bereichs für sich allein thätige,
sondern zugleich als ein Glied eines Verkebrssystems. Aber sie
beschäftigt sich mit der einzelnen Wirtschaft als einer ihre eigenen
wirtschaftlichen Zwecke nur um ihrer selbst, bezw. um der ihr
angehörigen Personen Willen verfolgenden und demgemäss nur
vom Standpunct dieser Wirtschaft aus. Sic hat es daher mit
dieser Wirtschaft als einem Gliede des Verkehrssystems nur in-
soweit zu thun, als die Thätigkeit der Wirtschaft und die Erfolge
dieser Thätigkeit durch die Stellung eines solchen Glieds beein-
flusst werden. Der Verkehr, das grössere Ganze (die Volkswirt-
schaft), zu dem die einzelne Wirtschaft gehört, interessirt die
Privatökonomik nur soweit, als diese Beeinflussung geht. Die
Politische Oekonomie dagegen hat es mit der einzelnen Wirt-
schaft nur als mit einem solchen Gliede eines Verkehrssystems,
als eines grösseren complicirten Ganzen, zu thun, mit einem Gliede,
das sic nur insoweit interessirt, als es zu diesem Ganzen gehört
und auf dasselbe einwirkt.
Die Privatökonomik ist demgemäss begrifflich zu bestimmen
als der Inbegriff der Lehren, welche sich auf die einzelnen, ihre
wirtschaftlichen Interessen innerhalb ihres eigenen Berufs wie im
Verkehr verfolgenden Wirtschaften uud auf die sich hierbei als
Privatangelegenheiten ergebenden wirtschaftlichen Erschei-
nungen beziehen. Sic bildet eine wesentlich dem practischen
Bedürfnis dienende Sammlung von Regeln vorwiegend natur-
wissenschaftlicher, technologischer Art, verbunden mit Lehnsätzen
anderer Disciplinen, der Rechtswissenschaft, auch der Politischen
Oekonomie u. a. m., zu dem Zweck, den jeweilig technisch besten
und ökonomisch erfolgreichsten , daher (einzelwirthschaftlich) rein-
ertragsreichsten (rentabelsten) Betrieb der Wirtschaft zu zeigen.
Sie gliedert sich nach den grossen Hauptgruppen des Arbeit-
teilungssystems und nach weiteren Specialgruppen innerhalb dieser
Hauptgruppen mit immer grösserer Spccialisirung entsprechend
dem Fortschritt der Technik und der Arbeitstheilung.
Landwirthschafts-, Forstwirthschaftslehre , Bergbaukunde, Gewerkslehre (gewerb-
liche, mechanische, chemische Technologie), Haudelslehre , Bank-, Versichcrungs-,
Transpor (lehre sind Hauptgruppen, mit zahlreichen weiteren Specialisirungcn , bis zu
den Lehren von einzelnen Gewerbebetrieben (z. B. Branntweinbrennerei, Rdbenzucker-
fabrikatiou, einzelne Zweige der Textilindustrie) hin. Auch eine etwaige Hauswirth-
schafblehre gehört zur Privatökonomik. Im Ganzen ein unermessliches und grade in
der Neuzeit wegen der ungeheuren Entwicklung der Technik extensiv und intensiv
immer grösser werdendes Gebiet menschlichen Wissens. Aber — doch im Ganzen
uud Einzelnen nicht eigentliche Wissenschaften, auch nicht sogenannte „practische“
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Privatökonomik u. ihr Verhältniss zur Polit. Ökonomie.
2 57
Wissenschaften: nicht bloss, weil es sich darin grossentheils nur um eine Zusammen-
fassung von Sätzen verschiedener anderer Wissenschaften, auch nicht, weil es sich
um Lehren für den Zweck des practischen Könnens handelt, sondern weil diese
Lehren, zunächst wenigstens, überhaupt nurdiesom Zweck, d. h. dem Wissen vom Können
nur um dieses letzteren behufs Verfolgung privater wirtschaftlicher Interessen
— die freilich auch volkswirtschaftliche werden können — , nicht dem Wissen vom
Können um des Wissens Willen dienen.
«
Flir die Politische Oekonoraie hat die Privatökonomik grosse
Bedeutung, weil jene aus ihr viele Sätze zu entlehnen hat, welche
sie zur Lösung ihrer Aufgaben braucht, welcher sie sich mit zu
ihren Beweisführungen bedient und an welche sie oftmals ihre
eigenen Untersuchungen anknüpft. Aber die Privatökonomik ist
nur eine Helferin, wenn man sie eine „Wissenschaft“ nennt, eine
Hilfswissenschaft für die Politische Oekonomie, sie bildet keinen
Th eil der letzteren, ihre Forschungen und deren Ergebnisse sind
keine nationalökonomischen Forschungen und Ergebnisse.
Auf eine Trennung, welche in der älteren, besonders der
deutschen Politischen Oekonomie, namentlich in deren Vorläufer,
der sogen. Cameral Wissenschaft, nicht genügend erfolgt,
zum Theil gar nicht als Aufgabe angesehen worden ist, muss
daher gedrungen werden. Das ist in der neueren, auch deutschen
Wissenschaft auch jetzt anerkannt, worauf die wichtige und
scharfe Unterscheidung v. Hermann's zwischen Oekonomik
und Technik von günstigem Einfluss gewesen ist.
v. Hermann, staatswirthsch. Untersuch., 2. A., bes. S. 67 ff. S. über die ältere
Cameral wissens ch aft und Privatökonomik Rau, über Cameral Wissenschaft, Heidel-
berg 1823; Oers., I, §.3. Finanzwiss. I. §.5, 21; Baumstark, cameralist. Ency-
clopädie, 1835; Roscher, I. §. 19, 20; Ders., Geschichte der deutschen Nat -Oek.,
passim, Uber einzelne Autoren; (Morhoff, S. 33811'.; Zincke, S. 433 ff. ; v. Pfeifer,
S. 556 u. A. m.); Kautz, I, § 92, 93; meine Finanzwiss. I. 3. A., §.23 ff.; Cohn,
I. §.55; auch K. Mcngcr. Untersuchungen, S. 256. Die Cam eral Wissenschaft
kann mau einerseits als Vorläuferin, anderseits als die eine Wurzel der neueren
deutschen Politischen Oekonomie (einschliesslich Finanzwissenscbaft), aber auch als
Zusammenfassung der älteren privatökonomischen Lehren ansehen. Sie stellt sich in
ihrer späteren systematischen Entwicklung und in ihrer Verbindung mit der Polizei-
wissenschaft, welche theils von ihr unterschieden, theils auch als Theil von ihr
betrachtet und behandelt wurde, im Wesentlichen dar als „Inbegriff der für einen
Beamten in der sogen, inneren Verwaltung dienlichen Kenntnisse“ (Rau, Finanzwiss.
§. 21), daher als eine diesem practischen Bedürfuiss entsprechende Vereinigung
von juristischen (privat- und öffentlich-rechtlichen), staatswissenschaftlichen (privat- und
politisch - ökonomischen), finanzwissenschaftlichen , naturwissenschaftlichen, techno-
logischen Lehrsätzen, Regeln, Maximen. Dabei hatte das Bedürfniss der Finanz- und
der wirthschaftlichcn Landesverwaltung (DomUncnwesen, Forstwesen, Staatsgewerks-
anstalten) besondere Berücksichtigung gefunden. Diese ältere systematische Camcral-
wissenschaft war daher eine Art Encyclopädie des Wissens des Verwaltungsbeamten.
Sic ist in dieser Weise nicht zu halten gewesen und hat sich im 19. Jahrhundert in
ihre einzelnen Bestandtheilc aufgelöst. Letztere haben sich dann zum Theil wieder
zu besonderen Wissenschaften, wie die Politische Oekonomie, die Finanzwissenschaft,
die der früheren Polizeiwissenscbaft entsprechende moderne Verwaltungslehre (L. Stein)
und anderseits zu jenen genannten Speciallchren für die Uebertragung des practischen
A. Wagner, Grundlegung. 3. Anflage. 1. Theil. Grundlagen. 17
258 1. B. 2. K. 3. II.-A. System etc. 1. A. Polit. Oekon. als Wissen sch. §. 99, 100.
Könnens um dieses Könnens selbst Willen ausgebildet. Man kann diese Lehren mit
Koscher (I, §. 20) passend mit dem Kamen Privatökonomik zusammenfassen,
was in Deutschland auch Üblich geworden ist.
Schon die Specialisirung auf diesem Gebiete bildet ein heute unubcrsteigliches
Hinderniss, dass ein Einzelner dieses ganze Gebiet der Privatökonomik umfasse, auch
wenn er das zum Lebensberuf machte (gewerklicho Technologie!). Vollends nebenbei
dies Wissensgebiet mit dem des Nationalökonomen von Fach, wie Seitens der älteren
Cameralisten des vorigen Jahrhunderts und in unserem noch bis in die Zeiten Kau 's
hinein, oder mit dem des Juristen, des öffentlichen Verwaltungsbeamten zu vereinigen,
ist schlechterdings nicht mehr möglich. Aber es sind nicht diese doch nur äusser-
lichen Gründe, welche eine Trennung der Privatökonomik von der Politischen
Oekonomie nothwendig machen, sondern diese wird principicll bedingt durch
die Verschiedenheit der Aufgaben und Standpunctc in der oben gekennzeichneten
Weise. Ich kann daher hier auch K. M enger nicht bestimmen, welcher in seiner
dritten Abtheilung der Wirtschaftswissenschaften, derjenigen der practischcn (nach
den historischen und theoretischen), diese gliedert in Volkswirthschaftspolidk und
„practische Singularwirthschaftslehre“, letztere wieder in Finanzwissenschaft und in
„practische Privatwirthschaftslehre“. Diese ist für Mcnger ..die Wissenschaft von den
Grundsätzen, nach welchen (unter unseren heutigen socialen Verhältnissen lebende)
Privatpersonen (je nach Maassgabe der Verhältnisse) ihre Wirtschaft am Zweck-
massigsten einzurichten vermögen“ (Untersuch., S. 250). Menger meint sodann, zwischen
der practischen Privatwirthschaftslehre (nemlich in diesem, Mengcr’schen Sinne,
d. h. eben im Sinne von Privatökonomik, nicht in dem Sinne, wie wir später den
Ausdruck brauchen werden) und der practischcn V o 1 kswirthschaftslehre einen prin-
cipiellen Gegensatz zu erkennen, sei durchaus irrig: auch jene beziehe sich auf die
Wirtschaft social organisirter Menschen und finde ihre theoretische Grundlage
nicht in einer besonderen theoretischen Privatwirthschaftslehre, sondern in der theo-
retischen Nationalökonomie. Allein dass es sich auch in der Privatökonomik um
Wirtschaften „social organisirter Menschen“ oder, wie ich es oben bezeichne, „im
Verkehrssystem“ handelt, wie in der Politischen Oekonomie, hebt den principielien
Unterschied zwischen beiden in der oben von mir angegebenen Weise m. E. nicht
auf. Auch hat doch die Privatwirthschaftslehre mehr in anderen Lehren als in
denen der theoretischen Nationalökonomie ihre Grundlage, vor allem in technologischen.
In der heutigen Privatökonomik und fast in allen ihren Theilen überwiegt
das technologische Moment stark und vermutlich immer mehr. Auch das hat
es mit sich geführt, dass der Nationalökonom der Gegenwart weit weniger als noch
derjenige zu Zeiten Hermann's und Kau’s und vollends als der alte Oameralist der
Privatökonomik ferner steht. Ich habe meiner Zeit (1856) selbst noch bei Rau in
Heidelberg ein Colleg über Lnndwirthschaftslehre (nicht Agrarpolitik) gehört. Der
Umstand, dass heute auch bei uns wie im Auslande die fachmännischen, theoretischen
Nationalökonomen meistens aus den Geisteswissenschaften, Jurisprudenz, Geschichte,
Philosophie, Philologie hervorgehen, hat freilich weiter eine gewisse Entfremdung der
Politischen Oekonomie mit der Privatökonomik bewirkt. Das hat auch seine üblen
Folgen, besonders für die Behandlung gewisser Fragen der practischen Nationalökonomie,
der Finanzwissenschaft (indirecte innere Steuern), aber auch für die Entwicklung des
ganzen Fachs. Dass auch vorn privatökonomischen Standpuncte aus mit Erfolg an
der Ausbildung der Politischen Oekonomie mitgearbeitet werden kann, zeigen nicht
nur die v. ThUncu, v. Hermann, sondern aus neuerer Zeit auch die vortrefflichen,
geistvollen Arbeiten Emanuel Herrmann’s (Wien). Auf einzelnen Gebieten, z. B.
in der Lehre von Geld, Banken, Börse, Versicherung, Communication und Transport,
auch von Handel, ist ausserdem auch die scharfe Trennung des Privatökonomischen
und Nationalökonomischen nicht immer möglich. Beides geht herüber und hinüber in
einander über. Aber damit wird das, was vorhin über die principielle Nothwendig-
keit der Trennung nach Standpunct der Betrachtung und Aufgabe gesagt wurde,
doch nicht widerlegt.
II. Politische Oekonomie. A. — §. 100 [53]. Be-
griff. Unter Hinweisung auf die späteren Erörterungen Uber
Begriff und Wesen von Einzel- und von Volkswirtschaft und der
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Begriff der Politischen Oekonomie.
259
Beziehung von beiden zu einander (Buch 3), Erörterungen, durch
welche, wie schon bemerkt (§. 98), auch erst die Begriffsbestimmung
der Politischen Oekonomie genauer erklärt und begründet wird,
sind hier zunächst nur einige Puncte hervorzuheben, welche für
die Begriffsbestimmung der Politischen Oekonomie entscheidend sind.
Diese Disciplin verfolgt die wirtschaftlichen Erscheinungen,
bzw. Thätigkeiten der Menschen, wie sich dieselben im und aus
dem Zusammenhang der Wirthschaften zu einander er-
geben und ein auf Arbeitstheilung und Güter Übertragung
(Verkehr) zwischen den einzelnen Wirthschaften be-
ruhendes „Ganzes“ oder ein bezügliches System bilden. Dieses
„Ganze“, dieses „System“, als solches ist das, was wir in einem
gewissen Stadium seiner Entwicklung und unter gewissen recht-
lichen Voraussetzungen, welche in diesem Stadium regelmässig
vorhanden sind, „Volkswirtschaft“ nennen. Dieselbe stellt daher,
wie man es auch ausdrücken kann, ein als abgegrenzt gegen
andere gleichartige „Ganze“ gedachtes „gesellschaftliches
System menschlicher Wirtschaft“ (Schaffte) dar. Sie ist ein
eigenartiger Complex wirtbschaftlicher Erscheinungen, ein
„Collectivphänomen“ (Menger). Gerade als T heile eines
solchen Complexes sind daun die wirtschaftlichen (Einzel-)
Erscheinungen das Untersuchungsobject der Politischen Oeko-
nomie (§. 56). Allein dies nicht, wie in der Privatökonomik, vom
Standpunct der einzelnen Wirtschaft und ihrer ökonomischen
Strebeziele, sondern von demjenigen eben jenes „Ganzen“, der
Volkswirtschaft, zu dem sie als Theile gehören, und in ihrer
Bedeutung für dieses Ganze aus. Indem die wirtschaftlichen
Erscheinungen als solche Theile eines Colleetivphänomens betrachtet
werden, soll dann auch das Wesen und die Function dieses
letzteren selbst erforscht werden.
Die Politische Oekonomie ist demnach die Wissenschaft von
den wirtschaftlichen Erscheinungen als den Theilerscheinuugen
oder Componcnten des eine Volkswirtschaft bildenden Er-
scheinungscomplexe8, oder, anders ausgedrückt, die Wissenschaft
von der Volkswirtschaft als einem eigenartigen Complex wirt-
schaftlicher Erscheinungen. Ihre Objecte sind daher, wie hier
jetzt zur genaueren als der in §. 56 erfolgten Bezeichnung der-
selben binzugefügt werden kann, allerdings nicht die wirtschaft-
lichen Erscheinungen schlechtweg, sondern die als solche Th ei 1-
17*
260 1. B. 2. 3. H.-A. System etc. 1. A. Polit. Oekon. als Wisscnsch. §. 100.
erschein ungen der Volkswirtschaft hervortretenden und
in dieser Eigenschaft aufgefassten.
Es liegt in dieser Hinzufügung kein Widerspruch mit der Bezeichnung des
Objects der Politischen Oekonomio im Eingang zu §. 56 (S. 145). Damals genügte
diese Bezeichnung und der jetzige Zusatz wäre noch nicht verständlich gewesen. Das
wird er nunmehr nach den Ausführungen über die Aufgaben und die Methode sein.
Denn hier sind die wirthschaftlichen Erscheinungen immer schon als solche, wie sie
soeben genauer bezeichnet wurden, aufgefasst und behandelt worden.
Obige Definition ist eine allgemeine für die ganze Politische Oekonomie,
noch ohne weitere Unterscheidung der Aufgaben und beschränkt sich absichtlich, ab-
weichend von den unten am Schluss dieses §. 100 erwähnten Anforderungen Karl
Menger’s an Definitionen von Wissenschaften (Untersuchungen, S. 238 ff.), auf die Be-
zeichnung des Objects in der Definition allein.
Die Definition der Politischen Oekonomie wird immer mehr oder weniger eng
an den Begriff der Volkswirthschaft, daher an die Definition der letzteren sich an-
schliessen. Eben deswegen setzt sie aber in der That auch bezügliche Erörterungen
über die Volkswirthschaft voraus, um nach allen Seiten verständlich zu sein und be-
gründet zu erscheinen. Die obige Definition weicht von meiner eigenen früheren,
wörtlich und auch im Sinne und Inhalte ab, doch steht sio in letzterer Hinsicht nicht
mit ihr in Widerspruch, sondern hebt nur etwas Anderes als das Wesentliche hervor,
was aber in der früheren implicite mit enthalten war, nemlich das Moment „wirt-
schaftliche Erscheinung“, entsprechend meiner Betonung und Behandlung grade
dieses Moments in diesem ganzen 1. Buche in der 3. Auflage und weiterhin. In
der 2. Auflage (§. 53 am Schluss, S. 70) definirte ich die Politische Oekonomie im
Anschluss an meine Auffassung der Volkswirthschaft (S. 68) als: „Die Wissenschaft
von der Volkswirthschaft als dem Organismus der Einzelwirtschaften staatlich orga-
nisirter Völker“.
Eine Zusammenstellung verschiedener Definitionen giebt Kautz, I, 289 ff. und
Mengor, Untersuchungen, S. 241 ff., auch Block, progres, I, 70 ff. Menger ver-
wirft diese Definitionen, wie es scheint, alle, weil sie seinen Anforderungen an eine
bezügliche Definition , wofür er bestimmte Grundsätze aufstellt (§. 237 ff), nicht ent-
• sprechen. Indessen kommt er selbst bei seiner Unterscheidung von drei Gruppen
Wissenschaften auf dem Gebiete der Volkswirthschaft (S. 8) nicht zu einer einheitlichen
Definition, welche in. E. auch bei der scharfen Unterscheidung der Aufgaben, worin
ich Menger bbistimme, möglich und nothwendig ist.
An Beispielen von Definitionen (oder Beschreibungen dessen, was der Ein-
zelne glaubt unter der Politischen Oekonomie, bezw. der theoretischen Nationalökonomie
verstehen zu sollen) mögen folgende hier Platz finden. Bei dem engen Zusammenhang
dieser Dinge mit der Nomenclatur und mit terminologischen Puncten, sowie mit der
Eintheilung (Systemisirung) der Disciplin wird hierüber bei einigen Autoren gleich
einiges Betreffende hinzugefügt, worauf dann unten Bezug genommen wird.
Kau, welchor für allo Fragen der Definitionen und der Systematik mit seiner
nüchternen, aber klaren, wenn auch nicht immer tief genug dringenden Weise auch
heute noch besonders bcachtenswerth bleibt, stellt der „bürgerlichen Wirth-
schaftslehre“ oder „Privatökonomie“ die Politische Oekonomi e, „öffent-
liche Wirthschaftslehre“, „Staatswirthschaftslehro“, im „weiteren Wortvorstand“ gegen-
über und versteht unter ihr „die Wissenschaft von den wirthschaftlichen Angelegen-
heiten des Staats oder von der Versorgung desselben mittelst sachlicher Güter“
(I, §. 3). In dieser bildet ihm den ersten, theoretischen Haupttheil die
„Volkswirtschaftslehre“ oder „Nationalökonomie“, d. h. „die Wissen-
schaft, welche die Wirtschaft der Völker nach ihrem Wesen vollständig entwickelt,
oder welche zeigt, wie ein Volk durch die wirthschaftlichen Bestrebungen seiner
Mitglieder fortwährend mit Sachgütern versorgt wird“ (§. 9). Die stete besondere
Bezugnahme bei Rau auf Sachgüter ist eine Folge seiner (zu engen) Begriffsbestimmung
von Gut, bezw. wirtschaftlichem Gut (s.u.§. 120). Als zweiten , practischenHaupttheü
der Politischen Oekonomie unterscheidet Kau dann die „wirthscha ft liehe oder
ökonomische Politik“, die er als „den wissenschaftlichen Inbegriff der Grund-
sätze für das Verfahren der Regierung in wirthschaftlichen Angelegenheiten“ bezeichnet
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Begriff der Politischen Oekonomie.
261
(§. 131. In der ökonomischen Politik trennt er dann wieder zwei Theilc. die Volks-
wi rthsch aftspolitik (Wirthschafts-, Gewerbepolizei), d. h. den Inbegriff der Grund-
sätze für den die Yclkswirthschaftspflege bildenden Zweig der Kegierungsth&tigkeit,
und die Finanzwissenschaft, Finanzpolitik, die ihm also als Abtheilung des
practischen Theils zur Politischen Oekonomic gehört (I, §. 16, 17).
Koscher (I. §. 16) „versteht uuter Nationalökonomik, Volkswirthschaftslehre
die Lehre von den Entwicklungsgesetzen der Yolkswirthschaft, des wirthschafUichen
Volkslebens (.Philosophie der Volkswirthschaftslehre nach v. Mangoldt).“ Die „Staats-
w irthsc b af tsleh re“, formell ein Zweig der Politik, fällt ihm materiell nach ihrem
Gegenstand fast gänzlich mit dem der Nationalökonomik zusammen. Die Finanz-
wissenschaft gehört ihm ihrem Zwecke nach zur Politik, ihren Mitteln nach zur
Nationalökonomik (§. 17). Kautz, I, 2S8, möchte die Wissenschaft der National-
ökonomie als eine „Lehre von den Grundlagen, den Mitteln und den Entwicklungs-
gesetzen der Volkswohlfahrt“ bezeichnen.
v. Hermann (Untersuchungen, 2. A„ S. 67 ff.) definirt, nach seiner Trennung
von Technik und Oekonomik, die „Wirthschaftslehre als die Grössenlehre der Güter“
und fugt hinzu: „Die Darlegung der Gesetze uud Kegeln, nach denen die quantitative
Zurathehaltung der Güter zu möglichst wirksamer Befriedigung der Bedürfnisse in
einem durch das Recht geordneten Gemeinwesen erfolgt, ist die Aufgabe der all-
gemeinen Wirthschaftslehre, der Volkswirthschaftslehre im engeren Sinne (sic)“ (S. 68).
Er unterscheidet dann ein Eingreifen des Staats auf dreierlei Weise in die Volks-
wirtschaft, wobei er bei N. 1 auf die Finanz-, bei N. 3 auf die Wirthschaftspolizei
kommt (S. 72 ff). Die „reine Wirthschaftslehre (die Volkswirthschaftslehre)“ sammt
der Lehre von der Wirthschaftspolizei werde in der deutschen Litteratur mit dem
gemeinsamen Namen Nationalökonomie bezeichnet, diese, nebst der Lehre von
den Finanzen zusammen von den englischen Wirthschaftslehrern „Politische Oekonomic“
genannt. Hermann hat an dem Namen „Staats wirthschaft“ dafür festgehalten,
auch noch in der 2. Aufl. (S. 79).
v. Mangoldt (Grundriss, 2. A„ von Kleinwächter, §. 7, 8, 10) definirt die Volks-
wirthschaftslehre als „die wissenschaftliche Darstellung der der Wirtschaft der Völker
zu Grunde liegenden Kräfte, der Richtungen, in denen sie sich äussern, der Gesetze
ihrer Wirksamkeit und der Bedingungen ihres Erfolgs“ (S. 9); sie erhebe sich zur
Wissenschaft „von den Entwicklungsgesetzen der Volkswirtschaft“ (S. 11). Für eine
fernere Zukunft wird von einer „Weltwirthschaftslehre“, d. h. „einer Philosophie der
wirtschaftlichen Entwicklung der Menschheit mit Darlegung der den verschiedenen
Nationen darin einzuräumenden Stelle“ gesprochen“ (S. 9). Vgl. auch Kapitel 1 in
v. Mangoldt ’s Volkswirthschaftslehre.
Knies kommt in seinen eindringenden Untersuchungen nur zu einer allgemeinen
Kennzeichnung, nicht zu einer eigentlichen knappen Definition der Politischen Oeko-
nomie als Wissenschaft, vielleicht absichtlich nicht (2. Aull., S. 1 ff.).
Schäffle giebt in der 2. Auflage seines gesellschaftlichen Systems auch keine
eigentliche Definition, sondern nur Erörterungen über W'csen und Aufgabe der „Wissen-
schaft von der menschlichen Wirthschaft“, die als „Volkswirthschaftslehre“, „Na-
tionalökonomie“, „allgemeine W’irthschaftstehre“ auftreten müsse (S. 4). Man
könnte aber nach den dortigen Ausführungen und auf Grund des von Schäffle für
sein W'erk gewählten characteristischen Titels vielleicht sagen, dass ihm die Politische
Oekonomie die „Lehre vom gesellschaftlichen System der menschlichen Wirth-
schaft“ sei. In der 3. Aufl. definirt er dagegen ganz kurz: „Die Nationalökonomie
ist die Lehre von der Erscheinung des wirthschaftli eben Princips in der
menschlichen Gesellschaft“ (§. 26, S. 46), wogegen ich schon in der 2. Aufl. der Grund-
legung (S. 70, Note 5) bemerkte, dass die Aufgabo in der Darlegung der Verwirk-
lichung dieses Princips in der Volkswirtschaft liege und Schäffle’s Definition zu weit
sei. weil sie ebenso für die Wirthschafts-, als für die Volkswirthschaftslehre passe. Im
3. Bande des „socialen Körpers“, S. 234 ff erörtert Schäffle die Volkswirthschaft als
„realen Stoffwechsel“ und Begriff und Aufgabe der Nationalökonomie. Er will letztere
hier zu einer „allgemeinen Stoffwechsellehre“ erweitern; ihr Gegenstand sei „im
engeren Sinne die wirthschaftliche Regelung der Stoffwechselvorgänge an der Be-
völkerung und an dem Volksvermögeu , im weiteren Sinne die Gesammtheit der That-
sachen des Socialstoffwechscls“, eine Lehre, die „nicht bloss die wirthschaftliche Ke-
262 1. B. 2. K. 3. H.-A. System etc. 1. d. Polit Oekon. als Wisseasch. §. 100, 101.
gulirung des Socialstoffwechsels, sondern auch alles Zeit-, Kaum-, Geschäfts-, Kunst-,
Staats- und Geistesleben, soweit es dem Socialstofi Wechsel angehört, gründlich und
methodisch behandelt“. Damit käme man aber doch ins Grenzenlose. Die Begrifls-
bestimmung, wenn man das Gesagte dafür gelten lässt, ist nur im Zusammenhang mit den
ganzen Ausführungen Schäffle’s und mit seiner eigentümlichen Terminologie verständlich.
Auch v. Scheel (Schönberg’s Handbuch, 3. A., I, 69 ff.) detinirt nicht eigent-
lich, sondern bezeichnet nur Aufgaben und Gegenstand. — Neu mann ist sich nicht
gleich geblieben. In dem älteren Aufsatze in der Tüb. Ztschr., B. 2S (1872) wird
nach einer kritischen Erörterung über die Aufgabe der Volkswirtschaftslehre und
Uber die Definitionen Anderer definirt: „die Lehre von den Beziehungen einzelner
Wirtschaften zu einander und ihrem Verhältniss zum Staate, dem sie angehören“,
oder knapper : „die Lehre vom Verhalten der Einzelwirtschaften zu einander“ (S. 266).
In der 2. Aufl des Schönberg’schen Handbuchs (I, 133) lautet die Begritlsbestimmung
(unter ausdrücklichem Ausschluss der Finanzwissenschaft aus der Volkswirtschafts-
lehre): „die Lehre von dem Wesen der wirtschaftlichen Dinge, insbesondere der in
diesen sich vollziehenden sog. Gesetze, von den Beziehungen jener Dinge zum ge-
meinen Wohl und von den bezüglich eben derselben zu treffenden Öffentlichen Maass-
nahmen“. S. daselbst die Erläuterung hierzu und Neumann’s Schrift „Grundlagen“.
Zu vergleichen sind noch die allgemeineren, aber nicht zu einer eigentlichen
Definition gelangenden hierher gehörigen Erörterungen von G. Cohn, System I, Einl.
Kap. 1,2, auch 3 passim. — H. Dietzel, Uber das Verhältniss der Volkswirt-
schaftslehre u. s. w. (Diss. 1982), S. 9 ff. und in der Tüb. Ztschr., B. 39 (1893). S. 1 ff,
doch auch ohne eigentliche Definitionen. — Kleinwächter ^Conrad’s Jahrb., B. 52.
S. 604 ff. 607 ff.); Definition in Verbindung mit den Aufgaben gebracht, welche Klein-
w&chter unterscheidet und wobei er sich wesentlich auf die von mir sogen, theo-
retischen Aufgaben beschränkt. — L. Cossa geht vom Begriff ricchezze aus (elem.,
9. ed., p. 7) und definirt die economia politica als „dottrina dcll’ ordine 6ociale dellc
ricchczze“; ihre Aufgabe sei eine doppelte, Natur und Ursache der ricchezze sociale
zu erforschen und Grundsätze für die ökonomische Thätigkeit der öffentlichen Gewalt
zu gewinnen. Eingehender jetzt in der 3. cd. der introduzione p. 11 ff.
— Zahlreiche sonstige Definitionen deutscher und fremder Nationalökonomen
sind nicht sowohl Definitionen, als Angaben über die Aufgaben der Dis-
ciplin. Manche sprechen gleich und allein von den „Gesetzen“, welche zu erforschen
seien. Auch die Theilc, in welchen die theoretische Nationalökonomie gewöhnlich
zerlegt wird , hat man öfters gleich in die Definition gezogen. So hat noch jüngst
M. Block (progrös I, 70) kurzweg die Politische Oekonomie als eine Wissenschaft
und als eine Kunst bezeichnet, als erstere erforsche sie die Gesetze, welche Production,
Verthcilung und Verbrauch der Güter regeln, als letztere suche sie nach der besten
Art. diese Gesetze zur Befriedigung unserer wirthschaftlichen Bedürfnisse anzuwenden.
Die Mängel aller dieser Definitionen, Um- und Beschreibungen möchte ich so
wenig läugnen, als Menger cs thut und auf dessen genannte bezügliche Ausführungen
(bes. Anh. II in den Untersuchungen) mich trotz mehrfacher Meinungsverschiedenheit
vornemlich hier beziehen. Ich kann ihm namentlich in dem Puncte nicht beistimmen,
welchen er als hauptsächlichen Mangel der meisten Begriffsbestimmungen der theo-
retischen Nationalökonomie bezeichnet (S. 239), dass sie nemlich den formalen Ge-
sichtspunct, unter welchem das wissenschaftliche Object betrachtet werden solle, nicht
genau angäben. Einmal übersieht er, dass viele Definitionen nicht spccicil für die
theoretische, sondern für die ganze Politische Oekonomie im Allgemeinen von den
betreffenden Autoren aufgestcllt werden, was diese eben für zulässig, ja nothwondig
halten ; sodann möchte ich ihm gegenüber festhalten , dass dies auch meine Meinung
ist; und endlich kann ich überhaupt nicht einräumen, dass Menger hier mit der For-
derung, jener formale Gesichtspunct müsse in der Definition selbst hervor-
gehoben werden, durchaus im Rechte ist. Meine eigene obige Definition bat diesen
Gesichtspunct allerdings schon deswegen weggclassen . weil sie eben eine allgemeine
für dio ganze Politische Oekonomie sein sollte. Aber in die Definition gehört er
in. E. überhaupt deswegen nicht, weil er sich auf die Aufgabe einer Wissenschaft
bezieht. Mir scheint es richtiger, nur nach dem genügend genau bezeichnten
Object die Wissenschaft selbst zu definiren , nicht mit nach der Aufgabe. Ich be-
schränke mich also auf das zweite, bezw. das erste und zweite der Momente, welche
Menger als für die Definition einer Wissenschaft nothwendig ansioht.
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Begriff, Name der Politischen Oekonomie.
263
Menger hat in seinen Untersuchungen (S. 7 lf., 252 tf.) für die Wirtschafts-
wissenschaft — als „die Uesamintheit der auf die menschliche Wirtschaft bezüglichen
Wissenschaften“ — entsprechend den drei Hauptaufgaben, welche der menschliche
Geist bei der Erforschung der Wirthschaftsphänomenc sich zu stellen vermöge, drei
grosse Gruppen unterschieden: die historischen, die theoretischen, die practischen
(wie allgemein schon von Mangoldt im Grundriss. §.8: historische, dogmatische,
practiscbe). Die ersten hätten „das individuelle Wesen und den individuellen Zu-
sammenhang der wirtschaftlichen Erscheinungen zu erforschen und darzustellen“
(Statistik und Geschichte der menschlichen Wirthschaft); d. h. hier handelt es sich
um unsere erste Aufgabe (§. 59), teilweise wohl auch um unsere dritte (§. 61). Die
theoretischen Wissenschaften hätten „das generelle Wesen und den generellen Zu-
sammenhang der wirtschaftlichen Erscheinungen zu erforschen und darzustellen“;
sie bildeten in ihrer Gesammthcit die Theorie der Volkswirtschaft; d. li. hier liegt
unsere zweite Aufgabe vor (§. 60). Die practischen Wissenschaften endlich sollen
„die Grundsätze lehren, nach welchen die wirtschaftlichen Absichten der Menschen
(je nach Maassgabe der Verhältnisse) am Zweckmässigsten erreicht zu werden ver-
mögen“ (Volkswirthschaftspolitik, als „Wissenschaft von den Grundsätzen zur zweck-
mässigen Förderung der Volkswirtschaft Seitens der öffentlichen Gewalten“, dann
praetischc Singularwirthschaftslehre, die wie schon bemerkt fS. 258], in die Finanz-
wissenschaft und in die practiscbe Privatwirthschaftslchre von Mengcr geteilt wird).
In dem späteren Aufsatze in Conrads Jahrbüchern (B. 53, S. 477) wird noch etwas
anders systematisirt in 4 Theile, (1) die historischen Wissenschaften von dor Volks-
wirtschaft ( Wirtschaftsstatistik und Wirtschaftsgeschichte), (2) die Morphologie der
Wirthschaftserscheinungen (Classification und Darstellung des generellen Wesens).
(;t) Theorie derselben. (4) practiscbe oder angewandte Wissenschaften. Ich beziehe
mich dem Allen gegenüber auf den früheren Abschnitt von den Aufgaben (§. 57 ff.)
und auf meine eigene Systematisirung in §. 102 u. ff.
B. — §.101. Name der Wissenschaft Auch nicht
einmal dieser steht für unsere üisciplin allgemein und unbestritten
fest, wenn auch der Name „Politische Oekonomie “ der bei
den Culturvölkern eingebürgerte ist und eben deswegen Anspruch auf
Anerkennung hat, trotzdem er kein besonders passender ist.
Jedenfalls empfiehlt sich aber gerade für eine „internationale“
Wissenschaft wie die unsere ein dem neutralen, ausserhalb der
Nationalitätseifersucht liegenden Wortschatz der alten classischen
Sprachen entnommener Name, wie „Politische Oekonomie“, weil
allein ein solcher allgemeinen Curs in der Culturwelt haben kann,
was immer sehr erwünscht ist. Kann man sich daher nicht mit
Wahrscheinlichkeit des practischen Erfolgs auf einen anderen,
sachlich passenderen Ausdrucks dieses Ursprungs einigen, so würde
die unbedingte Beibehaltung des Namens „Politische Oekonomie“,
der bei den drei anderen leitenden Culturvölkern auch der üblichste,
ja hier fast allein vorkommende ist und bei den übrigen Völkern
gleichfalls meistens gebraucht wird, das Beste sein. Jedenfalls
verdient dieser Ausdruck wenigstens als Name für die ganze
Disciplin den Vorzug vor einem bloss nationalen , wie unserem
„Volks wirthschaft sieh re“, einem an sich ohnehin nicht
eben schön gebildeten Worte, oder gar wie „ Staats wirth-
scha fts lehre“, welcher Name auch sachlich unangemessen ist.
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264 1. B. 2. K. 3. H.-A. System etc. 1. A. Polit. Üekon. als Wissenschaft. §. 101.
Eher kann man den erstgenannten (Volkswirtschaftslehre) dann
in Verbindung mit Adjectiven zur Bezeichnung einzelner Theile
des Systems verwenden, obwohl auch hier ein wirklich geeigneter
Name antiken Ursprungs vorzuziehen wäre. Der besonders in
Deutschland eingebürgerte Name „Nationalökonomie“ erfüllt
letztere Anforderung, aber möchte noch weniger passend als
„Politische Oekonomie“ sein. Der dem angedeuteten Bedürfnis
entsprechende und sachlich angemessenste Name für die ganze
Disciplin und mit adjectivischen Zusätzen für die ersten drei
Haupttheile des Systems ist der hier und da von einzelnen Autoren
schon länger gebrauchte, aber noch nicht allgemein üblich ge-
wordene, wenn auch in sichtbarer Ausdehnung begriffene: Social-
ökonomie oder, allerdings correcter (S. 83) Socialökonomik.
Vgl. Uber die Terminologie Kau, I, 3, 9, 16, 17 in den Noten, Roscher, I,
§. 16, Noten, Kautz. 1, 285, Ncumann, Tüb. stat. Ztschr.. 1872, B. 28, S. 257 ff.
in den Noten, Menger, Untersuch. Anhang IV. Cossa, iutriduzione, 3. ed. p. 60 ff.
Ueber das Wort „Oekonomie“ (Oekonomik) in den genannten antiken Aus-
drücken besteht keine Meinungsverschiedenheit. Es ist sprachgebräuchlich durchaus
geeignet und auch für sich unserer „Wirthschaftslehre“ vorzuziehen. Allerdings ist
aber bei uns die populäre Bezeichnung von gewissen Landwirthschaftsbetrieben als
„Oekonomie“ ein misslicher Punct, weil er im grossen Publikum wohl zu Miss-
verständnissen nicht immer unbedenklicher Art (daher auch für die Vertreter der Dis-
ciplin) geführt hat und mitunter noch führt.
Der Ausdruck „Politische“ Oekonomie ist deswegen zu beanstanden, weil
er nach dem antiken wie modernen Sprachgebrauch betreffs des Worts „politisch“
dem Namen von vornherein einen gewissen tendenziösen Sinn geben kann und auch
oft gegeben hat, so namentlich auch auf die Beziehung des Staats zur Oekonomie
und Oekonomik zu sehr hinweist. Aber die allgemeine Verbreitung und die Ein-
bürgerung bei den Culturvölkern seit 200 Jahren (öconomie politiquo, economia poli-
tica, political economy) fällt doch für den Namen schwer ins Gewicht, der dadurch
auch als angenommener wissenschaftlicher Terminus seine mögliche tendenziöse Neben-
bedeutung thatsäcldich fast ganz verloren hat. Historisch wird er in der Wissenschaft
auf den französischen Autor Montchreticn de Watteville zurückgeführt, der im
Jahre 1615 ein Werk unter diesem Namen, wesentlich über practische Wirthschafts-
lehre, erscheinen liess: traitö deconomie politique (Rouen). Er ist vielleicht aber,
wie K. Menger wahrscheinlich macht (Unters., S. 10), nicht einmal aus einem prin-
cipiellen Grunde zur Wahl dieses Namens gelangt, so dass Roscher’s Bemerkung,
der Titel allein wäre damals ein grosses wissenschaftliches Verdienst gewesen (Gesch.
der Nationalökonomio, S. 1S5, Note 2) unzutreffend wäre. — Statt „politische“ Oeko-
nomie wird mitunter in verschiedenen Sprachen im gleichen Sinne auch das Wort
„öffentliche“, ital. pubblica, engl, public gebraucht, zugleich mehr im Sinne unseres
„Staatswirthschaft“ und wie dieses dann auch wohl die Finanzwirthschaft bezeichnend.
Die Briten, immer nach Kürze strebend, brauchen neuerdings (Marsh all u. A.)
für political economy wohl auch das eine Wort „cconomics“, was aber eben doch
den Fehler hat, zu eindeutig zu sein.
Besonders in Deutschland hat sich fast inehr als Politische Oekonomie der
Name Nationalökonomie für unsere Wissenschaft eingebürgert, für die ganze und
mit Adjectiven (theoretische, practische, allgemeine, specielle u. dgl.) für die Haupttheile.
Unbekannt ist er auch im Auslände nicht durchaus (ital. ec. nazionale) und, wie es
scheint, von Einzelner, (in England von Ferguson 1767, in Italien von Ortes 1774)
früher als bei uns gebraucht, wo er seit Beginn dieses Jahrhunderts der übliche Ausdruck in
der Facblitteratur und neben „Cameral Wissenschaft“ wird, dieses Wort allmälig ver-
drängend (bis auf die nationalökonomischen Professuren als amtlich solche der
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Nauie der Politischen Oekonomie.
265
„Staats- und Cameralwissenschaften“ und bis auf unsere stud. jur. et cam und stud.
cam.), ja im Sprachgebrauch unserer Universitäten für das betreilende Fach fast allein
zur Herrschaft kommt und darin geblieben ist. Allein der Ausdtuck ist bei dem mit
dem Worte „Nation“, „national“ einmal sprachgebräuchiich sonst verbundenen,
eigenen engen Sinne noch weniger passend als „ Volks wirthschaftsleh re“, wo das Wort
„Volk“ wenigstens dieses Bedenken nicht bietet. Man würde eher unter National-
ökonomie verstehe» können, was List mit „nationales“ System der „Politischen Oeko-
nomie“ meint. Der Ausdruck ist so zu eng, wie es etwa der analoge „kosmopolitische“
Oekonomie in entgegengesetzter Richtung wäre. „Politische“ Oekonomie ist da immer
noch vorzuziehen. Und in Wörtern fremden, antiken Ursprungs brauchten dann doch
die einzelnen modernen Culturvölker vollends nicht einem besonderen Sprachgebrauch
zu huldigen.
Das Wort Volkswirtschaftslehre ist einfach im Anschluss an das ein-
gebürgerte Wort „Volkswirtschaft“ gebildet und zuerst mehr in der Littcratur,
neuerdings auch im allgemeinen Sprachgebrauch üblich geworden. Eine gewisse
Neigung zu einheimischen deutschen Ausdrücken, wenn sich geeignete fänden, statt
fremder, kam dem wohl zu statten. Allein so sehr man das ja sonst billigen mag,
gegenüber den concurrirendon Wörtern aus dem antiken Sprachschatz ist eine solche
Neigung doch überhaupt weniger berechtigt und aus den schon angedeuteten Gründen
grade für die Wissenschaften, wofür jener W'ortschatz so allgemein und auch aus
historischen Gründen die regelmässig und international gebräuchlichen Namen ge-
liefert hat, nicht am Platze. Sprachpuristischc Bestrebungen auf diesem Gebiete sind
ja auch wenigstens bei den leitenden Cultumationen glücklicher Weise nicht üblich
ln Deutschland wird das Wort „Volkswirtschaftslehre“ jetzt wohl meistens ganz
gleichbedeutend mit Nationalökonomie , Politischer Oekonomie gebraucht. Einzelne,
so Rau (S. 2C0) haben damit aber speciell den ersten theoretischen Theil der Dis-
ciplin bezeichnet, wofür Rau auch das Wort „Nationalökonomie“ anwendet. Diese
Beschränkung ist jedoch willkührlich und sprachlich kaum haltbar. — Vollends eine
hässliche Wortmissbildung ist „Volkswirth“ für die fachmännischen Vertreter oder
Liebhaber (Dilettanten) der „Volkswirtschaftslehre“, eine besonders wohl durch den
volkswirtschaftlichen Congress und die öffentliche Presse bei uns aufgekommeno
logisch monströse Bezeichnung („Schenkwirt“ , „Bierwirth“, „Volkswirth" u. s. w. !).
Hier möchten doch wirklich Worte wie „Oekonomist“, „Nationolökonom“ , „Social-
ökonom“ den Vorzug verdienen. Der mit Vorliebe in socialistischen wissenschaftlichen
Kreisen gebrauchte Ausdruck „Oekonom“, „Uekonomen“ („bürgerliche Oekonomen“)
gehört zu dem Inventar in Deutschland ungebräuchlicher Kunstausdrücke, mit denen
uns die Marx’sche Richtung ohnehin mehr als nötig beglückt hat, immer mit einer
gewissen Tendenz, dem deutschen Sprachgefühl Nachgiebigkeit gegen „höheres West-
europäisches“ unnöthiger Weise zuzumuthen.
In der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts ist der schon im vorigen (so von
Justi) gebrauchte Name „Staatswirthschaft“ für Volkswirtschaft, „Staats-
wi rth s chaf tsl eh re“ für Volkswirtschaftslehre oder Politische Oekonomie häufiger,
wenn auch niemals allgemeiner angewendet worden. Durch v. Hermanns cias-
sisches Werk ragt er in diesem Sinne bis in unsere Zeit hinein, und Hermann hat
bis zuletzt geglaubt, ihn festhaltcn zu sollen (Untersuch., 2. A., S. 77, s. o. S. 2(jl).
Der Ausdruck unterliegt aber mit Recht nach seinem Wortsinn doch überwiegenden
Bedenken. So noch im höheren Maasse dem gegen „Politische“ Oekonomie bestehen-
den und noch speciell dem , dass er für die Finan/.wirthschaftslehre oder Finanz-
wissenschaft eher als für die Volkswirtschaftslehre passen würde und auch gelegent-
lich dafür gebraucht worden ist. Jetzt wird er bei uns auch nur selten noch in dem
Hermann’schen Sinne beuutzt. Ein neueres Beispiel ist E. Sax’ Grundlegung der
theoretischen Staatswirthschaft, worunter hier indessen nicht die Volkswirtschaft,
auch nicht die Finanzwirthschaft, sondern wesentlich die Gemeinwirthschaftslehre ver-
standen wird. Dafür ist aber der Ausdruck auch nicht recht geeignet. Im Ausland
finden sich analoge Ausdrücke selten oder gar nicht. (Roscher erwähnt Gavards
princ. d’öcon. d’ötat, 17S6). Doch ist neuerdings in Italien der Ausdruck economia
dei popoli e degli stati von Lampertico gebraucht worden.
Allen diesen Ausdrücken würde ich den der „Socialökonomie“ vorziehen,
welcher in Frankreich nicht feiten ist (iconomie sociale), auch in Deutschland neuer-
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266 1. B. 2. K. 3. H.-A. System etc. 2. A. Systorn d. Pol. Oek. §. 101, 102
dings öfters gebraucht wird (Dilhring u. A. in.), in Italien von L. Cossa nunmehr
gewählt wurde (economia sociale), auch in anderen Sprachen, bczw. Ländern vorkommt
(social economy) und jedenfalls allen Culturvölkern leicht verständlich und mund-
gerecht ist Er ist auch kein tendenziöser, wie vielleicht hier und da eingewandt
wird, und, wenn auch etwa wegen der sprachlichen Verwandtschaft mit „socialistisch“
da und dort etwas beargwöhnt, doch bei der Einbürgerung des specifischen Sinns
des Worts socialistisch keinem derartigen Einwand im Ernst ausgesetzt. Er bezeichnet
vielmehr das, was neben dem „Oekonoinischcn“ das Wesentliche in der Disciplin ist,
das gesellschaftliche, „sociale“ Moment und entspricht der Anforderung, den
alten Sprachen, noch dazu beiden classischen. zu entstammen sich so dem Sprach-
schatz der romanischen Völker und der Engländer gut einzufügen, aber auch bei uns
und den Slawen leicht sich einbürgern zu können. Nicht im Sinuc von Social-
ökonomie oder Politischer Oekonomie hat H. Dietzel neuerdings den Ausdruck
„Socialwirthschaftslehre“ gebraucht (Diss., 1882, S. 10, Tüb. Zeitschr. 1882).
Er will diese grade von der Volkswirtschaftslehre unterscheiden und zwar nach der
Methode, indem er für sie Deduction und absolute Lösungen, für letztere Induction
und relative Lösungen fordert. Ganz abgesehen von den principiellen Bedenken hier-
gegen möchte die neue Wortbildung grade zur Bezeichnung dessen, was Dietzel vor-
schwebt, nicht geeignet sein.
Nur vereinzelt sind in Deutschland und anderen Ländern noch andere Namen
für dio Disciplin benutzt worden, ohne eino Verbreitung zu erreichen, z. B.
Nationalwirthschaftslebre, Volkshaushaltskunde, Güterlehre, Volksgüterlehre, economia
civile (u. A. Genovesi), auch zu enge, halb -tendenziöse Namen, Plutologie (He-
arnc), Katallaktik (Tauschlehre, Whately), u. A. m. (s. Kau, I, §.4, Note), Lehre
oder Theorie vom Volks- oder öffentlichen Reichtum, Vermögen, vom wealth of
nations, wie in A. Smith ’s berühmtem Werke, richesse sociale. Und an Bezeich-
nungen, welche das Gebiet der Disciplin durch Heraushebung einzelner Momente
characterisiren und danach etwa den Büchertitel richten, hat es auch sonst nicht ge-
fehlt. Alles das deutet darauf hin, dass die üblichsten Bezeichnungen den Autoren
nicht immer als die geeigneten erscheinen und — dass eben in dieser , jungen Dis-
ciplin“ noch Vieles gährt.
Es giobt wichtigere und interessantere Dinge als diese Fragen vom Namen einer
Wissenschaft. Aber so ganz gleichmütig sind sie nicht. Sie berühren sich doch mit tieferen
Principienfragen. Eben deswegen sind sie hier etwas eingehender behandelt worden.
2. Abschnitt.
System der Politischen Oekonomie.
I. — §. 102. Bisherige Entwicklung des Systems1).
Bei einem solchen System handelt es sich um zweierlei, einmal
um die Haupteintheilung der ganzen Wissenschaft sei es in Stoff-
gruppen, sei cs — eventuell zugleich mit für diese Stoffgruppen —
in Gruppen von Problemen und Aufgaben, nach verschiedenen
dafür aufzustellenden Gesichtspuncten ; sodann um die weitere
Eintheilung jedes dergestalt gebildeten llaupttheils.
Hier haben wir es namentlich nur mit jener ersten Haupteintheilung zu thun,
dio zweite wird nur, soweit es der Zusammenhang mit sich bringt und erforderlich
für die Frage der Haupteintheilung ist, berührt (vgl. §. 104). Das Nähere und
Einzelne darüber gehört in die betreifenden Theilo dieses Gesammtwerks.
Die bisherige Entwicklung unserer Wissenschaft war in Bezug
auf die Haupteintheilung im Ganzen in Deutschland anders als
bei den leitenden übrigen Culturvölkern, welche uns in der Aus-
*) Das Nähere hierüber gehört in die nationalökonomische Litteraturgeschichtc.
Aber die Hauptpuuctc der Entwicklung müssen hier hervorgehoben werden.
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Bisherige Entwicklung des Systems.
267
bilduDg der Politischen Oekonomie als einer eigenen Wissenschaft
voran gegangen sind. Erst neuerdings beginut, wie schon länger
in der Wissenschaft derjenigen Völker, welche unmittelbarer von
der deutschen Wissenschaft abhängig war und ist (Osteuropa), so
jetzt auch bei den anderen Hauptvölkern, den Italienern, Franzosen,
Briten, Nordamerikanern eine Systeraisirung der Disciplin, welche
sich der deutschen mehr nähert und auch von hier aus beeinflusst
worden ist. Aber noch ist doch die deutsche Wissenschaft des
Fachs hier in der Entwicklung des Systems erheblich voran und
zeigt manche bemerkenswerthe Abweichungen von der Behand-
lungsweise im Ausland.
In Deutschland wird seit längerer, in der Hauptsache schon
seit der Zeit, wo an die Stelle der alten Cameralwissenschaft die
ausländische, namentlich britische Oekonomik getreten war und
selbständiger fortgebildet wurde, ein System üblich, welches
im Wesentlichen auf eine Dreitheilung hinaus kam. Dieselbe
wurde übrigens selbst wieder nicht immer in derselben Weise in
Bezug auf das Verhältnis der drei Theile zu einander durchge-
tührt. Unter verschiedenen Namen unterschied man einen vor-
nemlich theoretischen — auch wohl „allgemeiner“ ge-
nannten — , einen practischen — ähnlich „speciellen“ —
Haupttheil und als einen dritten solchen die Finanz Wissen-
schaft. Wie die Namen und die Abscheidung im Einzelnen,
besonders zwischen dem ersten und zweiten Theil, so sind aber
auch die Eintheilungsgesichtspuncte und Kriterien wenigstens
partiell verschieden gewesen.
Mancherlei Umstände haben zu diesem System geführt. Einmal nachwirkende
Traditionen der Cameralwissenschaft, namentlich das Bedürfnis«, practische
ökonomische Lehren derselben, welche nicht ganz in die Privatökonomik Ubergcgangen
waren, nicht völlig fallen zu lassen, sondern sie in die neue „Politische Oekonomie“
herüber zu nehmen. Hier passen sie in das aus dem Ausland, besonders aus Eng-
land übernommene System nicht recht hinein, weswegen man ihnen in einem practischen
Theil der neuen Fachwissenschaft einen Platz gab und sie hier nun , verbunden mit
den neuen Lehren, weiterbildete. Sodann hat wohl das Bodürfniss des akade-
mischen Unterrichts zu dieser Entwicklung des Svstems beigetragen und dies
macht sich noch gegenwärtig in dieser Richtung geltend. Weiter möchte die deutsche
wissenschaftliche Neigung und Befähigung zur systematischen Aus-
bildung der Wissenschaften Überhaupt auch hier mitgewirkt haben und endlich,
vielleicht am meisten, hat die deutsche wirtschaftliche Praxis unserer Staaten
gerade dem Staate und seiner Gesetzgebung und Verwaltung besondere Aufgaben auf
wirthschaftlichem Gebiete nach unserer ganzen historischen Entwicklung gestellt, was
fortdauernd, auch im Zeitalter des theoretischen und praktischen „ökonomischen
Individualismus und Liberalismus“ nachgewirkt und auch auf die Politische Oekonomie
als Wissenschaft, wie auf alle Staatswissenschaft seinen Einfluss ausgeübt hat und
beständig noch ausübt.
Unter den deutschen Systematikern des Fachs hat wohl Rau durch sein be-
rühmtes „Lchibuch der Politischen Oekonomie“, wenn auch an camcralistische
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268 1. B. 2. K. 3. H.-A. System etc. 2. A. System d. Polit. Oekon. §. 102.
Traditionen und an Vorgänger anknüpfend, sowie von Zeitgenossen begleitet, welche
unabhängig von ihm wie ihm folgend ähnliche Wege gingen, den grössten Einfluss
auf jene Drcithcilung des Systems ausgeübt. Dass dieselbe bei ihm etwas anders und
kaum in dieser Weise, auch wenn man seine Eintheilungsgrundsätzc sonst billigt,
ganz richtig vorgenommen war — nämlich eigentlich in zwei Haupttheile und der
zweite praktische weiter in zwei Theile (I und II, a und b, s. S. 260) — hat diese
Bedeutung Rau's für die Einthcilung nicht vermindert (s. u. §. 103). Im akademischen
Unterricht, namentlich in Süddeutschland, wo das eigene cameralistische Studium
oder die Einrichtung auch des juristischen Studiengangs und der Prüfungen . im
Unterschied leider besonders zu Preussen, zu eiuem intensiveren Betrieb der Poli-
tischen Oekonomie führte, neuerdings aber allgemeiner, jetzt allmälig auch in Preussen und
Oesterreich, hat sich diese Dreitheilung fest eingebürgert. Alsdann hat auch wieder
diese Einrichtung des Unterrichts auf die systematische Behandlung der Disciplin
rückgewirkt. Ihr entsprechen die drei nationalökonomischen Hauptcollegien, an welche
sich dann die Specialvorlesungen ergänzend anschliessen.
Nicht ohne Einfluss war auch die übliche Aufnahme der „Wirthscbafts-
polizei“ in die sogen. Polizeiwissenschaft. Diese Wirthschaftspolizei fiel im
Stoff, wenn auch nicht durchaus in der Auffassung, Behandlung und den leitenden
Gesichtspuncten , mit der ..praktischen Nationalökonomie“ oder „Volkswirthschafts-
politik“ grossentheils zusammen. Je mehr nun die ältere Polizeiwissenschaft, ähnlich
wie ihre Schwester, die Cameralwissenschaft, veraltete und sich zur Inneren Ver-
waltungslehre entwickelte, was dann freilich erst endgiltig noch nicht R. v. Mo hl,
sondern L. Stein herbeigeführt hat, desto mehr erschien nun auch der Inhalt der
praktischen Nationalökonomie und Wirthschaftspolizei als „wirtschaftliche Vcr-
waltungslchre“ und damit als ein Theil dieser Inneren Verwaltungslehre.
Trat dann auch in diesem Theil mehr der Character einer Staats- und selbst, wie
im eigentlichen Verwaltungsrecht derjenige einer Rechtswissenschaft, nicht einer
Wirtschaftswissenschaft hervor, so dass dieso „wirtschaftliche Verwaltungslehre“
nicht ohne Weiteres die Volkswirthschaftspolitik ersetzen konnte, so wirkt doch die
Behandlung desselben Stoffs, derselben „Fragen“ vom staats- und rechtswisscnschaft-
lichen Standpuncto aus auf die Behandlung in der Politischen Oekonomie ein. Die
schärfere Trennung des theoretischen und praktischen Theils der letzteren war die
Folge davon.
Allerdings ist auch in der deutschen systematischen Litteratur die Dreitheilung
nicht allgemein angenommen und namentlich nicht immer streng und gleichmässig
durchgeführt worden. So nicht in kleineren, in populären Schriften. Aber auch
die grösseren Fachwerkc haben sie nicht alle streng festgehalten, insbesondere
Einzelnes aus der praktischen Nationalökonomie, aus der Finanzwissenschaft, mehr
in der Weise des Auslands, in die „allgemeine“, die „theoretische“ hincingezogen,
oder anhangsweise behandelt. So z. B. Schäffle im gesellschaftlichen System.
Auch das grosse Werk von Roscher und das Schönberg’sche Handbuch haben
die übliche Dreitheilung nicht genau aufgenommen, wenn sie auch immerhin sich ihr
nähern. Roscher s 1 . Band, die „Grundlagen der Nationalökonomie“, entspricht einiger-
inaassen dem „theoretischen“ Theil, wenn auch mit mancherlei Hineinziehung von Stoff
und Gesichtspuncten aus dem practischen, die Bände 2 und 3 enthalten in der Haupt-
sache diese letztere, der 4. Band die Finanzwissenschaft. Im Schönberg’schen Hand-
buch stellt der 1. Band im Grossen und Ganzen die „theoretische“ Nationalökonomie
dar, der zweite die „practische“, der dritte die Finanzwissenschaft (nebst Innerer
Verwaltungslehre, welche mindestens einen besonderen Band bilden sollte). Aber im
ersten Bande befinden sich zum Theil sehr umfangreiche Abhandlungen über Maass
und Gewicht, Geld- und Münzwesen, Credit und Bankwesen, Transport- und Cominuni-
cationswescn , welche ihrem Inhalt nach, soweit sie auf Practisches eingehen (daher
besonders Münzwesen, Bankwesen, Verkehrsmittel), in die practische Nationalökonomio
gehörten, demnach in B. 2, ebenso wie die hier stehende Abh. Versicherungswesen.
In den ersten theoretischen Band gehörte nur die Theorie des Geldes, Credits,
Verkehrswesens. Allerdings führen beide Bände den einfachen gemeinsamen Namen
„Volkwirthschaftslehre“, ohne dass weiter zwischen theoretischer und practischer
Nationalökonomie unterschieden wird. Die Vertheilung der Materien scheint der
Tübinger akademischen Gewohnheit zu entsprechen und wird auch principiell, so von
Neu mann gebilligt, m. E. mit Unrecht, wie ich unten zeigen werde.
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Bisherige Entwicklung des Systems.
269
In der ausländischen, speciell in der britischen, fran-
zösischen, auch italienischen Literatur ist dagegen, auch hier alten
Traditionen gemäss, in der Regel eine „theoretische“ und „prac-
tische“, eine „allgemeine“ und „specielle“ Politische Oekonomie
nicht getrennt und gewöhnlich auch nicht einmal eine eigene
Finanzwissenschaft ausgeschieden worden.
Die Werke über Politische Oekonomie sind im Wesentlichen das, was in Deutsch-
land unter „theoretischer“ oder „allgemeiner* Nationalökonomie verstanden wird, doch
mit der Hereinziebung einzelner Gegenstände der practischen, so besonders aus dem
Geld- und Bankwesen, der Handelspolitik, der Arbeiterfrage, dem Armenwesen u. A. m.,
Materien, die mit „theoretischen“ Fragen näher Zusammenhängen, seltener aus der
Gewerbe- und Agrarpolitik. Auch die Behandlung solcher Gegenstände bleibt aber
aphoristisch und dient mehr nur als Beispiel und zur Beweisführung oder bildet
Excurse. Auch den Fiuanzen, Steuern, Staatsschulden hat man eine ähnliche
Behandlung, unter Heraushebung einzelner Gegenstände, zu Thcil werden lassen.
Doch findet sich nicht selten für die Finanzen der Anfang einer knappen systema-
tischen Behandlung des ganzen Gebiets, dann etwa am Schluss des Werks über
Politische Oekonomie oder als Anhang, wofür die Behandlungswcise von A. Smith in
der englischen Litteratur bis heute maassgebend geblieben ist (meine Finanzwiss. I.
3. A., §. 25).
Die Werke der deutschen wie vielfach auch der fremden
Literatur Uber Politische Oekonomie, insbesondere in dem etwa
ausgeschiedenen theoretischen Theile, schicken gewöhnlich in der
Form einer „Einleitung“ einige Ausführungen allgemeiner Art,
über Grandbegriffe, über Begriff, Wesen, Aufgabe, Methode der
Disciplin, über die in diesem 3. Hauptabschnitte hier von uns be-
handelten Gegenstände, mitunter auch literargeschichtliche Abrisse
voraus. Bisweilen wird in diesen „Einleitungen“ auch auf weitere
allgemeinere Principienfragen, wie Uber wirtschaftliche Psychologie,
freie Concurrenz, Freiheit und Unfreiheit, Rechts-, besonders Eigen-
thumsordnung, Organisation der Volkswirtschaft, Verhältniss von
Volkswirtschaft und Staat zu einander, u. dgl. m. wenigstens
kurz und aphoristisch, aber in principieller Erörterung einzugehen
begonnen. Dadurch entwickelt sich aus der „Einleitung“ eine
„Grundlegung“, ein grundlegender Theil des ganzen Systems,
welcher freilich bisher auch in der deutschen Literatur in den
Werken der systematischen Nationalökonomie noch nicht allgemein
zu der ihm u. E. gebührenden Ausdehnung und Bedeutung gelangt
ist, wenn auch ein Streben in dieser Richtung immer deutlicher
wird. Wohl aber liegen monographische bezügliche Vorarbeiten
schon länger vor.
Vgl. die Angaben betreffs verschiedener hervorragender Systematiker oben in
§. 98. Aus der 2. Aufl. der v. Herman n’schen staatswirthschaftlichen Unter-
suchungen gehört als Beispiel dieser Hinübeibildnng der „Einleitung“ in die „Grund-
legung“, die erste Abh. „Grundlegung“ (S. 1 — 77) hierher; aus Schäffle’s gesell-
schaftlichem System in der zweiten Aufl. die Einleitung, aber auch Manches im
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270 1. B. 2. K. 3. H.-A. System etc. 2. A. System d. Polit. Oekon. §. 102, 103.
zweiten und besonders in den ersten Theilen des dritten Abschnitts (Grundelemente
aller Wirthschaft , gesellschaftlicher Organismus menschlicher Wirthschaft). In der
dritten Auflage dieses Werks wird das erste Buch auch „Grundlegung“ genannt, aber
Vieles dann in eine solche Hineingehörige findet sich noch in den folgenden Büchern
zerstreut, v. Mangoldt's grössere Volkswirtschaftslehre enthält in den ersten
Kapiteln „Grundlegendes“; das ganze tüchtige Werk kommt aber überhaupt, zumal
in der ersten Hälfte bereits auf eine Art selbständiger Grundlegung hinaus. In
besonderem Maasse gilt das von Knies' politischer Ockonomie und von Kautz’
1. Bande seiner Nationalökonomik, welche beide Werke am Passendsten den Namen
einer systematischen „Grundlegung“ führen würden. Auch G. Schinoller’s „Grund-
fragen“ stellen zwar keine systematische, aber doch eine Art „Grundlegung“ dar.
Aus neuester Zeit ist das grosso Werk von E. Sax zu nennen, das doch mehr
als eine Grundlegung bloss der von ihm sog. „Staatswirthscbaft“ giebt. Besonders
Knies hat am Meisten, wenn auch nicht sofort, so doch später auf die allmäligc
Erweiterung und Ausbildung der üblichen „Einleitungen“ zu einer „Grundlegung“
hingewirkt, wenn die letztere auch von den meisten Systematikern, zum Theil wohl
schon aus äusseren Gründen, Raumrücksichten u. dgl., in knappem Umfang gehalten
wird und nicht alle zu ihr gehörigen Erörterungen aus anderen Abschnitten der
Werke in sie hinein gezogen werden, wie es in. E. geschehen sollte. Vgl. z. B. die
Bchandlungsweiso von G. Cohn, der nach einein „Ueberblick (S. 1 — 22) die oben
(S. 253) erwähnte „Einleitung“ (S. 23 — 212) bringt, dann aber im zweiten Haupt-
abschnitt seines „Systems der Wirthschaft“ unter dem Titel „Gestaltung des Wirt-
schaftslebens“ (S. 356 — 452) Ausführungen giebt, welche nach meiner Terminologie
als „grundlegende“ zu bezeichnen und in den mit diesem Namen zu belegenden Tbeil
des Systems, in Verbindung mit der Einleitung, aufzuuehmen wären. Cohn
nennt übrigens den ganzen 1. Band seines Systems „Grundlegung“ der National-
ökonomie. Der Inhalt umfasst auch die üblich so genannte „theoretische“ Nationalökono-
mie mit. Im 1. Bande des Schöuberg'schen Handbuchs wird das ganze Werk mit
Schön berg’s eigner Abh. „Volkswirtschaft“ (Wesen, Wirthscliaftsstufen in der
Geschichte der Volkswirtschaft , moderne Volkswirtschaft) eingeleitet, woran sich
dann die Abhandlungen „Die Politische Oekonomie als Wissenschaft“ und „Socialismus
und Communismus“, beide von v. Scheel, und Uber „wirtschaftliche Gruudbegrilfe“ von
Neu mann anschlicssen. Die Bevölkerungslehre von Rümelin steht aber ganz am
Schluss des Bandes und eine Abh. über Rechtsordnung und Organisation fehlt überhaupt.
Die ausländische Litteratur hat sich früher auch meistens auf kurze „Ein-
leitungen“ beschränkt, welche auch nicht alle die Gegenstände der üblichen deutschen
Einleitungen behandelt haben. Soweit sic sonst auf grundlegende Principienfragen
überhaupt eingegangen ist, wie freie Concurrenz, Eigenthumsordnung, finden sich
bezügliche Erörterungen aber meistens in späteren Abschnitten, in Verbindung mit
den Fragen der Production, der Vertheilung, wie ähnlich in Deutschland auch bei
Roscher (Unfreiheit und Freiheit, Gütergemeinschaft und Frivateigenthum im ersten
Buche von der Production). Der hervorragendste, nicht nur britische, sondern aus-
ländische Systematiker in der Mitte unseres Jalwhunderts, J. St. Mill. der in seinem
mit Recht berühmten Werke doch bereits „Grundsätze der Politischen Oekonomie“ mit
einigen Anwendungen auf die „Gesellschaftswissenschaft“ geben will, schickt nur
eine dürftige allgemein gehaltene Einleitung voraus, eröffnet dann, das zweite Buch
(Vertheilung) mit Kapiteln vom Eigenthum und kommt hier in weiteren Kapiteln auf
Concurrenz und Herkommen, Sclaverei und in Verbindung hiermit auf ländliche
Eigenthnms- und Betriebsverhältnisse zu sprechen. Im 5. Buche behandelt er die
Beziehungen des Staats (der Regierung) zur Volkswirtschaft, mitten dazwischen aber
die Lehre von den Steuern nnd den Staatsschulden. Sonst ist aus früherer Zeit für
richtige „grundlegende“ Erörterunge, wenn auch nicht in einem eigenen Theil des
Werks, der immer noch besonders beachtenswerten Schriften Sismondi’s zu ge-
denken. — Neuerdings wächst sich aber auch in der fremden systematischen Litteratur
die „Einleitung“ zu einer Art Grundlegung“ aus, so z. B. in MarshaH’s Werk
(B. 1), wenn darin auch noch Manches fehlt und an einer anderen, nicht immer
passenden Stelle (die Bevölkerungslehre noch in der Lehre von der Production bei
der Erörterung über supply of labour) behandelt wird; in Nordamerika in Ely’s
introduction (part 1.)
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Das System selbst.
271
Unbefriedigend ist meistens die Stellung der Bcvölkerungslehre in den
Systemen geblieben, z. B. bei Koscher als 3. (letztes) Buch seines 1. Bandes, bei
Schönberg desgleichen, bei anderen in der Lehre von der Production, und hier
als blosser Theil der Lehre vom Productionsfactor Arbeit.
Auf dem Gedanken, die „Einleitung“ der „theoretischen Nationalökonomie“ zur
einen wahren „Grundlegung“ zu erweitern und systematisch zu entwickeln, indem die
eigentlichen allgemeinen und principiellen Hauptpunctc zusammenhängend behandelt
und alles Bezügliche aus den „ausführenden“ Theilen herausgenommen würde, beruhto
auch mein Versuch schon in der ersten und noch mehr entwickelt in der zweiten Auf-
lage dieses Werks, hier unter dem demgemäss gewählten Titel: „allgemeine oder
theoretische Volkswirtschaftslehre, erster Theil Grundlegung (Grundlagen der Volks-
wirtschaft. Volkswirtschaft und Recht, besonders Vermögensrecht)“. Allein hier
fehlte in diesem Bande noch der ganze Inhalt dieses 1. Buchs in dieser 3. Auflage,
Gegenstände, welche erst am Schluss, im 2. Bande der Grundlegung, neben einem
litterargeschichtlicheu Abschnitt kommen sollten, jedoch an den Beginn der
„Grundlegung“ gehört hätten, wohin ieh sie nunmehr in dieser neuen Auflage ge-
stellt habe. Und gar nicht in Aussicht genommen für die Grundlegung war eine
eigene zusammenhängende Behandlung der Bevölkerungslehre, wie ich sie eben-
falls erst jetzt aufgenommen habe. Erst so wird die Grundlegung nach Umfang und
Inhalt das, was sie sein soll, wird dann aber m. E. auch besser aus dem „theoretischen”
Theil des Systems ganz herausgenommen und zu einem selbständigen eigenen,
für alles Weitere in der That „den Grund legenden“ Theil erhoben, wie ich es jetzt
thue. Die Ausscheidung der Littcraturgeschichtc , für die allerdings auch äussere
Gründe (s. o. S. 2) für mich mit bestimmend waren, ist doch auch sachlich zu recht-
fertigen. Denn in der That gehört die Litteraturgeschichte als solche nicht in
die Grundlegung, wenn auch Zweckmässigkeitsgründe für eine nähere Verbindung
mit ihr sprechen können.
II. — §. 103. Das System selbst. A. Bildung des
Systems. (Haupteintheilung). Die im vorigen §.102 dargelegte
Entwicklung des Systems derDisciplin speciell in Deutschland ist wohl
die richtige, daher die Eintkeilung in vier Haupttheile, von denen die
drei letzten wieder zusammen als die „ausfuhrenden“ im Unter-
schied zum ersten als dem „grundlegenden“ bezeichnet werden
dürfen, woran sich dann als ein fünfter die Literaturgeschichte an-
schliessen kann. Der grundlegende und der erste ausführende
Theil haben aber wieder vorwiegend theoretischen, die beiden
anderen ausführenden Theile vorwiegend practischen Character
und stehen sich dadurch unter einander näher. Auch sind jene
beiden ihren Gegenständen nach mehr allgemeinen, diese
beiden mehr sp ec i eilen Inhalts. Andrerseits ist die „Grund-
legung“ wieder allen „ausführenden“ Theilen gegenüber eine „all-
gemeine“ Lehre, das Wort „allgemein“ in noch prägnanterem
Sinne gewonnen.
Allerdings „theoretischen“ und „practischen“ Cbaracters sind ja Theil 1 und 2
und Theil 3 und 4 nicht in dem Sinno, dass in den beiden ersten nur die früher
besprochenen theoretischen, in den beiden letzten nur die practischen Aufgaben der
Disciplin (§. 57 ff.) zu behandeln wären. Im Gcgcntheil, alle diese Aufgaben liegen
in allen vier Theilen vor, wenn auch nicht immer in gleichem Maasse. Vielmehr in
dem Sinne, dass in den beiden letzten Theilen die practischen, in den beiden ersten die
theoretischen Aufgaben vor wiegen und auch in diesen mehr als in den beiden
ersten u nmittel barer der Praxis des Wirtschaftslebens vorgearboitet sind. Dies auch.
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272 1 B. 2. K. 3. H.-A. System etc. 2. A. System d. Polit. Oekon. §. 103.
weil erst hier auf die speciellcren Einzelfragen näher eingegangen und durch
bezügliche Erörterungen sich den concreten Aufgaben der Praxis mehr genähert
wird. Auch in diesem Sinne dürfen daher die ersten beiden Theile auch wohl als
allgemeine, die beiden letzten als speciellc Politische Oekonomie bezeichnet
werden, wenngleich in jedem Theil stets allgemeinere und spcciellerc Erörterungen
und Abschnitte Vorkommen, wie K. M enger mit Recht hervorgehoben, aber mit Un-
recht zu einem Grunde der Ablehnung von solchen Bezeichnungen für die Haopt-
theile des Systems gemacht hat ^Untersuch., S. 246 IT., Conrads Jalirb., B. 53, S. 474).
Die Bezeichnung: theoretischer oder specieller Theil bedeutet nicht, dass diese beiden
Worte dasselbe ausdrücken sollen, sondern dass es sich um zwei Uesichtspuncte
(theoretisch und practisch) und zwei Inhalte und Behandlungswciscn (all-
gemein und spcciell) handelt. Die letzteren und jene Gcsichtspuncte stehen in ge-
wisser Beziehung zu einander, aber bedeuten nicht dasselbe. Um Missverständnisse
der Art zu vermeiden, wird man besser sagen: theoretischer und allgemeiner und
practischer und specieller Theil statt „oder“. Die „Grundlegung“ ist dann allerdings
wieder noch in einem etwas anderen Sinne ein „allgemeiner“ Theil, insofern sie
für das ganze System das gemeinsame Fundament legen soll.
Die vier Theile des Systems sind sich ferner nicht genau
coordinirt. Die drei ausfuhrenden sind vielmehr dem grund-
legenden nur als Ganzes coordinirt, die einzelnen Theile dann
wieder Glieder dieses Ganzen. Auch diese Glieder sind sich aber
nicht alle coordinirt, sondern das sind nur der erste und zweite
(in der ganzen Reihe der zweite und dritte) Theil, während der
dritte (bzw. der vierte), die Finanz Wissenschaft, eher beiden als
subordinirt erscheint, im Sinne eines Theils, worin eine speciellere
Ausführung bezüglich einer besonders eigenthümlichen Einzelwirth-
schaft, deren Functionen von grosser Bedeutung für die ganze
Volkswirthschaft sind, erfolgt Es ist für das Verständniss des
Systems und für Manches, was aus der Systematik folgt, nicht
unwichtig, sich hierüber klar zu sein.
Indem man daher für die nähere Bezeichnung der einzelnen Theile des Systems
Adjcctiva wie „theoretisch“, „practisch“, „allgemein“, „spcciell“ gebraucht, muss
man sich über den Sinn dieser Worte verständigen. Hier werden sie in dem an-
gedeuteten Sinne genommen. Ob man der Einteilung des Systems eine schärfere
principiellc Unterscheidung, so die von K. Menger verlangte, zu Grunde legen soll,
ist eine Frage, auf welche wir alsbald zurückkommen. Ich möchte sie doch ver-
neinen, wenn ich auch den Gesichtspunctcn Menger’s eine gewisse Berechtigung nicht
absprechc. Sie haben m. E. nur nicht die Tragweite für die Bildung des ganzen
Systems, der oben (S. 266) sogenannten „Haupteintheilung“ , welche ihr Menger bei-
legt, sondern nur eine Bedeutung für die Scheidung der Aufgaben in jedem Theil
des Systems.
„Kunstlehren“ (im Sinne K. Menger’s) sind die einzelnen Theile des Systems
der Politischen Oekonomie, soweit sic sich mit den drei practischen Aufgaben, vor
Allem mit der sechsten (§. 57, 62, 64) befassen. Da dies nun u. E. in allen Thcilen
mehr oder weniger geschieht, auch iin grundlegenden und im theoretischen aus-
führenden immerhin etwas, so kann man auch nicht unbedingt diesen Charactcr der
Kunstlchre zum durchgreifenden Kritcrion machen. Dies um so weniger, da in
allen Thcilen, auch in dem zweiten und dritten ausfuhrenden (practische National-
ökonomie und Fiuanzwisscnschaft) die theoretischen Aufgaben (§. 57, 58 fT.) ebenfalls
vorliegen. Man kann nur wieder sagen, der C<haracter als Kunstlchre tritt in der
practischen Nationalökonomie und Finanzwissenschaft, besonders weil es sich hier
wieder um speciellere Erörterungen über Einzelfragen handelt, erheblich schärfer
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Das System selbst.
273
hervor. Das würde cs rechtfertigen, zu sagen, dieso beiden Theile seien in beson-
derem Maasse Kunstlohrcn. Aber, um bedenkliche Irrthümer und Missverständ-
nisse zu verhüten, müsste man sich immer ausdrücken: in besonderem Maasse auch
Kunstlohrcn, ncmlich keineswegs dies allein, weil sie ausserdem eben auch mit den
theoretischen Aufgaben der ganzen Disciplin zu tliun haben. Eben deswegen
kann ich auf die Meuger’sche Bezeichnung als „Kunstlehren“ für die beiden ge-
nannten Theile auch nicht zur principicllcn. wie er will, sondern nur zur gra-
duellen Unterscheidung von den anderen Thcilen Werth legen, damit aber freilich
überhaupt weniger Werth, als er cs thut, ohno sie für unrichtig zu halten.
Hiernach ergiebt sich folgendes Schema für die Eintheilung
oder das System der Politischen Oekonomie:
I. Grundlegung oder grund-
legender Theil, zugleich allge-
meiner Theil im umfassendsten Sinne
des Worts.
II. Ausführung oder ausfüh-
rende Theile, zugleich zusammen
ßpecielle Theile im Unterschied
zum ersten „allgemeinen“ Theil.
A. Theoretische Nationalöko-
nomie (\*lkswirthschaftslehrc).
I. und II., A.
Theoretische Theile und all-
gemeine Theile (in diesem
Sinne, nämlich als vor-
wiegend dieses Charac-
ters).
11. Practische Nationalöko-
nomie.
C. (aber A und B subordinirt
im Vcrhältniss dieser allge-
meineren Theile zu dem spe-
cielleren) Finanzwissen-
schaft.
II. II und C.
Practische und spccielle
Theile (wiederum in diesem
Sinne, als vorwiegend
dieses Characters); zugleich
in besonderem Maasse
aueb Kunstlehren.
Sieht man von der Angabe des Verhältnisses der Coordination
und Subordination der einzelnen Theile ab, so ergiebt sich eine
Eintheilung in vier Haupttheile oder Hauptabtheilungen in der
Reihenfolge des Schemas, woran sieh dann als fünfte die Litteratur-
geschichte der Politischen Oekonomie anreihte. Diese Hauptein-
theilung ist jetzt diesem Werk zu Grunde gelegt worden (S. 2, 3).
B. — §. 104. Begründung und Durchführung dieses
Systems. Dieses System stimmt im Ganzen mit dem in der
neueren deutschen Wissenschaft entwickelten und auch mit dem
Menger’schen überein, nur dass es den grundlegenden Theil heraus-
hebt, weiter ausbildet und ihn, nach der nunmehr in diesem Werke
festgehalteuen Behandlung, als das gemeinsame Fundament der
anderen Theile hinstellt. In der principiellcn Begründung und
etwas auch in der Durchführung der Scheidung der einzelnen
A. Wagnor, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Theil. Grundlagen. IS
274 1. B. 2. K. 3. H.-A. System ctc. 2. A. System d. Polit. Oekon. §. 104.
Theile weicht dieses System dagegen von der üblichen deutschen
und mehr noch von der Menger’schen ab. Im Uebrigen sind für
uns auch nicht nur principielle Gründe, sondern besonders auch
Erwägungen der Zweckmässigkeit für diese Systematik mit maass-
gebend.
In die „Grundlegung“ sind alle diejenigen Lehren und
Fragen gezogen worden, welche das Ganze der Wissenschaft der
Politischen Oekonomie als solches betreffen und als eigentliche
allgemeine Principienfragen einer principiellen Be-
handlung bedürfen, aber auch zugänglich sind. Wir sehen als
derartige Lehren und Fragen einmal diejenigen oben (S. 69) schon
genannten an, welche sich auf die Gegenstände dieses ersten
Buchs, auf die wirthschaftliche Natur des Menschen, auf die Motive
des wirtschaftlichen Handelns, auf die Aufgaben, die Methoden,
das System u. s. w. der Politischen Oekonomie beziehen, sodann
diejenigen, welche die elementaren Grundbegriffe der Disciplin, die
allgemeinen Grundverhältnisse von Wirtschaft und Volkswirt-
schaft, die principiellen Beziehungen zwischen Bevölkerung und
Volkswirtschaft, die Principien der Organisation der Volkswirt-
schaft die principielle Bedeutung des Staats für, sowie seine
Stellung in der Volkswirtschaft, endlich die grossen Principien-
fragen der Rechtsordnung, persönliche Unfreiheit und Freiheit,
Vermögens-, insbesondere Eigentumsrecht und damit weiter Zu-
sammenhängendes betreffen.
Nach der Natur der einzelnen Gegenstände und nach Zweckmässigkeitsgründen
wird das Eine knapper, das Andere eingehender behandelt werden können, wobei
subjectivc Ansichten und Umstände (Neigungen, Studien) allerdings mitspielen werden.
Wie früher bemerkt (S. 2), soll in dieser 3. Auflage die „Grundlegung“ in zwei Theile
(Bände) zerfallen, von denen der zweite ganz den Fragen der Rechtsordnung („Volks-
wirtschaft und Recht, besonders Vermögensrecht oder Freiheit und Eigenthum in
volkswirtschaftlicher Betrachtung“) gewidmet sein und nach der dort darzulcgendcn
Systematik diesen Gegenstand behandeln wird, während im ersten Theile alle die
anderen eben genannten Lehren und Fragen unter dem Gesammtuamen „Grundlagen
der Volkswirtschaft“ zusninmengcfasst werden.
In der „Ausführung“, den „ausführenden“ Theilen
des Systems sind dann alle übrigen Lehren und Fragen der Poli-
tischen Oekonomie zu behandeln. Dieselben stellen doch sammt
und sonders gegenüber den grossen allgemeinen Principienfragen
der „Grundlegung“ theils nur Principienfragen zweiter Ordnung,
theils überhaupt nicht immer mehr Principienfragen dar und er-
scheinen auch, wie schon bemerkt, in ihrer Gesammtheit, diejenigen
der sogen, theoretischen Nationalökonomie inbegriffen, als die
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Begründung und Durchführung des Systems.
275
specielleren , welche sich an die allgemeineren der Grundlegung
als deren weitere Specialisirung anknüpfen.
Die Trennung zwischen „Grundlegung“ und „Ausführung“ wird in Einzel-
heiten immer wieder etwas vom subjectivcn Ermessen abhängen und eine völlige
Uebereinstimmuug darüber nicht leicht erzielt werden. Darauf kommt es aber auch
nicht an. lieber das, was hauptsächlich in die eine oder andere Abtheilung ge-
hört, wird man sich doch unschwer verständigen. Diese Frage liegt auch einfacher,
ist weniger principieller Natur , als wenigstens nach der Ansicht Einzelner, wie Karl
Menger's, diejenige der Trennung zwischen theoretischer und practischer National-
ökonomie im ausführenden Theil. Nach den Aufgaben, auch nicht nach den zwei
principiell verschiedenen Katogorieen derselben, den theoretischen und practischen
(§. 57), ist die Trennung zwischen Grundlegung und Ausführung überhaupt nicht vor-
zunehmen. Auch in der Grundlegung handelt cs sich um Aufgaben beider Kategorieen,
nur eben mehr in genereller, principieller, wie in der Ausführung mehr in specieller,
insofern practischer Weise und die sechste Aufgabe wird auch im Ganzen in der
Grundlegung zurücktreten, obwohl ebenfalls nicht verschwinden.
In der „ Ausführung ‘‘ schliessen wir uns nun der üblichen
Dreitheilung in theoretische (allgemeine), practische (specielle)
Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an, indem wir nur das
Coordinations- und Subordinationsverbältniss dieser Theile zu ein-
ander in der angegebenen Weise (S. 272) auffassen. Die princi-
pielle Hauptfrage der Systematik ist hier dann die Trennung
zwischen der theoretischen und practischen Nationalökonomie, eine
in der That schwierigere Frage, als diejenige der Trennung
zwischen dem grundlegenden und den ausfübrenden Tbeilen des
Systems. Denn hier fragt sich vor Allem, ob und wie weit jene
Trennung überhaupt principieller Natur oder doch nur
oder wenigstens mit durch ZweckmässigkeitserwHgungen
bestimmt und daher nur oder zugleich mit gradueller, quanti-
tativer Natur ist. Im Ganzen neigen wir uns zu letzterer Auf-
fassung.
Die ältere deutsche Systematik, einigermaasseu auch noch Kau (s. o. §. 102), ist
wohl von dem Gedanken ausgegangen, in der theoretischen Nationalökonomie mehr
nur eine Art Naturlehre der auf dem menschlichen Triebleben sich auf bauenden
Volkswirtschaft zu geben , „wo die Volkswirtschaft als etwas vor der Ein-
wirkung der Kegierung Bestehendes vorausgesetzt wird“ (Kau. I, 13, 9), „wo
man die mannigfaltigsten Gestaltungen der wirtschaftlichen Verhältnisse auf un-
wandelbare Gesetze zurückzuführen sucht und das Besondere hauptsächlich wegen
des in ihm sich bekundenden Allgemeinen beachtet“ (Kau, I, §. 13a). Diese An-
sicht kommt doch im Ganzen darauf hinaus, in diesem theoretischen Theil die Volks-
wirtschaft „ohne Kücksicht auf den Staat, wohl gar vor Entstehung des Staats“,
wie Koscher sagt, zu betrachten, womit man aber, wie er mit Kecht einwendet,
auf ein Gebiet gelangt, „welches kaum recht denkbar, wahrscheinlich ganz unmöglich
und jedenfalls der Erfahrung unzugänglich ist“ (Koscher. I, §. 17). Trotzdem wird
dabei aber der Staat und die von ihm ausgehende und geschützte Kechtsordnung
gleichwohl stillschweigend als in der Volkswirtschaft vorhanden und fungireud, als
„Produccnt von Sicherheit“ angesehen, um mit deutschen extremen Individualisten
(Prince-Smith und andere Mitglieder der deutschen Freihandelsschule) zu reden.
Man bewegt sich also in unklaren Sclbstwidcrsprüchen , indem man Vorhandensein
und wichtigste, auch grade für Verkehr und Volkswirtschaft wichtigste Functionen
IS*
276 1- B. 2. K. 3. H.-A. System etc. 2. A. System d. Polit. Oekoa. §. 104.
des Staats doch voraussetzt und voraussetzen muss und nur von einer specicll sonst
noch in den „freien Verkehr“ eingreifenden, regulirenden Wirtschaftspolitik, d. h. von
dem jenen anderen Functionen gegenüber doch nur Secundärcn absieht. Man
kann aber sogar in Specialmaterien, welche doch regelmässig, wenigstens in den Grund-
zugen und Hauptpuncten, in dem „theoretischen“ Thcil behandelt werden, z. B. in
den Lehrer» von Geld, Münze, Credit, Banken, von dem Vorhandensein einer
wirthschaftspolitischen Specialgesetzgebung und eventuell eigenen wirtschaftlichen
Thätigkoit des Staats (Münzwesen!) nicht abschen In dieser principiellen Weise:
Volkswirtschaft ohne Rücksicht auf den Staat im theoretischen, mit dieser Rücksicht
im practischen Theil kann daher die Trennung zwischen beiden Tbeilen nicht vor-
geuommen werden. (Vgl. auch Neumann in Schönbcrg’s Handbuch, I, 2. Auflage,
S. 134.)
In jener älteren Systematik, wie sie in Rau ihren bedeutendsten und einfluss-
reichsten Vertreter hat, wird die Trennung aber auch noch mit einem anderen Argu-
ment unterstützt, welches dort von dem eben besprochenen nicht immer klar unter-
schieden wird, obwohl es offenbar anderer Art ist. Danach sollen neulich auch
die Aufgaben, die Ziele beider Theile verschieden sein, was. wenn es richtig
wäro und die angenommene Tragweite hätte, dann auch zu einer anderen, aber vollends
principiellen Trennung beider Theile fuhren würde. „Das Ziel (der wirtschaftlichen
Politik als Theiis der Wissenschaft der Politischen Oekonomie)“, meint Rau im An-
schluss an die vorhin mitgctheilte Stelle (I, §. 13 a), „sei nicht die Wahrheit (wie implicitc
also für den theoretischen Theil), sondern die Erkenntniss der besten Mittel für den
beabsichtigten Erfolg“; „für jede Besonderheit von Umständen“ habe jene practische
Nationalökonomie „das zweckmässigste Verfahren zur Erreichung gewisser Zwecke an-
zugeben“. Das hiesse nach unseren früheren Ausführungen und nach unserer Ter-
minologie, diese practische Nationalökonomie hätte sich nur mit jenen oben unter-
schiedenen practischen Aufgaben (§. 57, 02 ff.), besonders mit der dritten (der sechsten
der gesammten Aufgaben, §.64) abzugeben, wäre in Menger’s Terminologie ,, Kunst -
lehre“ und nur allein dies. Grade das erscheint uns aber ebenfalls als Inthum,
bezw. als zu einseitige Auffassung. Wie mehrfach schon bemerkt: die practische
Nationalökonomie ist auch, aber nicht nur Kunstlehre, sondern hat es ebenfalls mit
den theoretischen Aufgaben, denen des Erkenncns zu thun, auch ihr Ziel ist
„Wahrheit“, nicht bloss Erkenntniss zweckmässiger Mittel für einen beabsich-
tigten Erfolg. Und anderseits: auch im theoretischen Theil fehlen die practischen
Aufgaben und damit der Character der „Kunstlehre“ nicht, wenn er auch mehr zurück-
tritt. M. a. W., das Unterscheidungsmerkmal ist nicht das angegebene, nicht ein
„Entweder — Oder“, sondern nur ein „Mehr oder Weniger“ in Betreff des Characters
als „Kunstlehre“ liegt hier vor. Damit aber gelangen wir zu der principiellen Diffe-
renz mit K. Menger.
Dieser scharfsinnige Gelehrte hat auch in dieser Frage der Systematologie die
wichtigste neuere Arbeit geliefert. Er entscheidet sich in seinen Untersuchungen und
in seinem Aufsatz im B. 53 der Conrad’schen Jahrbücher in voller Consequenz seines
methodologischen Standpuncts und aller seiner Ausführungen in jenen Arbeiten.
Aber trotz meiner Annäherung an Mengers methodologischen Standpunct kann ich
mich ihm hier nicht anschliessen, in Folgo der doch auch in der Frage der Methode
und namentlich in Betreff der Aufgaben der Disciplin zwischen uns verbleibenden
Dilferenzpunctc.
Menger unterscheidet, wie schon bemerkt (s. S. 258, 263) historische, theoretische
und practische „Wissenschaften“ auch innerhalb der Wirtschaftswissenschaft,
nach den betreffenden drei Hauptaufgaben des menschlichen Geistes bei der Er-
forschung der Wirthschaftsphänomene (Untersuchungen. I.B., Kap. 1, auch Anhänge,
bes. I\ , S. 252). Diese Unterscheidung ist für mich indessen nicht eine der Wissen-
schaften selbst, sondern der Betrachtungsweisen, Standpuncte und Auf-
gaben innerhalb Einer Wissenschaft, wie der Politischen Oekonomie. Bei unserer
ersten Aufgabe (§. 59) hat man es vornemlich mit der historischen Betrachtungsweise,
bei der zweiten und dritten mit derjenigen zu thun, welche Menger die „theoretische“
nennt; für uns sind aber alle diese drei Aufgaben „theoretische“ in dem früher er-
läuterten Sinne (§. 57). Bei unseren practischen Aufgaben (§. 62 ff.) kommen die
Gcsichtspuncte in Betracht, welche Menger diejenigen seiner practischen Wissenschaften
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Begründung und Durchführung des Systems.
277
oder Kunstlehren nennt, aber n. E. fehlen eben in diesen von Menger zu eng be-
grenzten Wissenschaften auch die theoretischen Aufgaben nicht. Ebendeshalb sind
uns practische Nationalökonomie und Finanzwissenschaft, auch wenn beide als besondere
Wissenschaften, nicht nur als Theile der Politischen Oekonornie betrachtet werden
sollen, nicht nur „Kunstlehren“, sondern auch (in Menger’s Sinne) theoretische und
historische Wissenschaften. Denn sie sollen uns nicht bloss Grundsätze für die zweck-
mässige Erreichung wirtschaftlicher Absichten der Menschen lehren (Menger. Unter-
suchungen, S. 7, 255), sondern in der That doch auch (gegen Menger’s Meinung,
S. 7) lehren, „was ist?“ Auch was war, ward, wie ward es, was ist neben dem In-
dividuellen das Generelle, Typische, was ist der causale und conditionelle Zusammen-
hang der Dinge? M. a. W. , in der ganzen Fülle ergeben sich auch hier die Frage-
stellungen (S. 144, 145), welche unseren theoretischen Aufgaben entsprechen, in dem
Ganzen und in allen einzelnen Theilen der practischcn Nationalökonomie und der
Finanzwissenschaft. Für letztere habo ich das in diesem Werke bereits näher aus-
geführt (Finanzwiss. I, 3. Aull., §. 12 IT.).
Die Folge dieser von den Menger’schcn abweichenden Auffassungen ist dann
die Annahme, dass zwischen der „theoretischen“ und „practischcn“ Nationalökonomie
in der That nicht ein principicller. generischer, qualitativer, sondern nur ein gra-
dueller, quantitativer Unterschied besteht. In beid on Theilen kommen historische,
theoretische, practische „Aufgaben“ vor. Diese sind zu trennen, nicht die
ganzen „Wissenschaften“, wie Menger es nennt. Seine Vorwürfe gegen die deutsche
historische Schule in der Nationalökonomie und gegen die ganze, insbesondere die
deutsche, nationalökonomische Wissenschaft sind in gewissem Umfang berechtigt, so
weit die von uns unterschiedenen Aufgaben vermengt oder einige davon ganz ab-
gelehnt werden, jedoch nicht, so weit sie richtig getrennt, aber in dieser Trennung
dann doch auch alle in den verschiedenen Theilen des Systems verfolgt werden.
Nach dieser unserer Auffassung lässt sich dann eben auch
(S. 272 ff.) die theoretische Nationalökonomie nur nach ihrem vor-
wiegend theoretischen, die practische nach ihrem vorwiegend
practischen Character mit diesem Namen bezeichnen ; ferner jene
(hier mitsammt der Grundlegung) als die allgemeine (besser:
allgemeinere) und diese als die specielle (speciellere);
diese mehr, in besonderem Maasse, als „Kunstlehre“, die andere
nicht in demselben Grade als eine solche betrachten und so nennen.
Di diesem Punctc der Terminologie stimme ich mit Neumann überein (im
Schönberg'schcn Handbuch, 2. Aull., I, 135), fasse aber die beiden Theile doch sonst
anders als er auf, führe die Trennung zwischen dieser „allgemeinen“ und „spe-
ciellen“ Nationalökonomie etwas anders durch und begründe sie auch etwas anders als
Neumann. Die Ausdrücke „allgemein“ und „speciell“ haben nur, wie schon oben
bemerkt, nicht immer genau denselben Sinn und leider liegen andere nach diesem
Sinne wieder unterscheidende sprachgebräuchliche Ausdrücke nicht vor. Menger
dat darin ja Recht (Untersuch., S. 246 IT., Conrads Jahrb., B. 53, S. 474), dass in dem
von ihm gemeinten Sinne die theoretische und die practische Nationalökonomie je
eineu allgemeinen und speciellen Theil hätten. Aber damit ist nicht widerlegt, dass
man in einem etwas anderen, wenn auch verwandten Sinne die ganze theoretische
Nationalökonomie auch „allgemeine“, die ganze practische auch „specielle“ nennt, nem-
lich so, dass unter „allgemein“ hier verstanden wird das mehr Principielle, Haupt-
sächliche, das Wichtigere, Wesentlichere, unter „speciell“ dann mehr die weiteren
Ausführungen des „Allgemeinen“ im Einzelnen, in die Specialisirung, daher aber auch
in das Concrete. Practische hinein.
Grade bei dieser Auffassung werden dann allerdings die Grenzen zwischen der
theoretischen und allgemeinen und der practischen und speciellen Nationalökonomie
mehr fliessende. Zweckmässigkeitserwägungen mehr wechselnder und mehr subjectiver
Art sprechen mit und fuhren zu etwas verschiedenen Entscheidungen, von welchen
keine die kurzweg richtige oder falsche, sondern nur die mehr oder weniger passende ist.
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278 1. B. 2. K. 3. H.-A. System etc. 2. A. System d. Polit. Oekon. §. 104, 105.
Die Unterscheidung, welche mir vorschwebt und welche ich insbesondere in
diesem Werke zur Durchführung gebracht sehen möchte, ist an einigen Beispielen,
wie den folgenden, am Besten zu erläutern. In die „Grundlegung“ gehört danach die
allgemeine Principicnfragc der Eigenthumsordnung auch bezüglich des Grund und
Bodens, auch des ländlichen, in die „Ausführung“ und zwar in den theoretischen
Theil die Lehre von dem Boden, auch dem ländlichen, als Naturfactor im Productions-
process (daher z. B. die Lehre von der Mitwirkung des Bodens bei der Pflanzen-
bildung und Ernährung, die Liebig’sche Bodenerschöpfungstheorie nach ihrer national-
ökonomischen Seite); ferner die Grundrenteulehre; in den practischen Theil (Agrar-
wesen u. s. w.) die Lehre von den landwirtschaftlichen Feld- und Betriebssystemen,
die nähere Ausführung der ländlichen Grundeigenthumsfrage nach der principicllen.
aber besonders nach der historischen, statistischen, practischen, ökonomisch-technischen
Seite, die Erörterung über Selbstbewirthschaftung und Pachtwesen, die mehr prac-
tische und concreto Betrachtung der Grundrentenverhältnisse , der Bildung der Kauf-
preise der Grundstücke u. s. w. Für das Alles sei jetzt auf Buchen berger’s Agrar-
politik verwiesen. In die Finanzwissenschaft endlich gehört die Lehre vom staatlichen
ländlichen Grundeigenthum, daher vom Domänenwesen, den Domänenpachten u. s. w.,
wiederum nach der principiellen, hier auch nach der finanziellen, aber auch nach der
historischen , statistischen . ökonomisch-technischen Seite. Ich beziehe mich hier auf
die Domänenlehre im 1. Bande meiner Finanzwissenschaft.
Ein anderes Beispiel ist die Lehre von Geld und Münze. Die allgemeine prin-
cipielle Geldlehre gehört in den theoretischen Theil (Wesen, Begriff, Functionen von
Geld und Geldarten, Erörterungen Uber Edelmetallgeld, Geldwerth, ferner allgemeinste
Punctc der Währungs- und Münzlehre). In die practische Nationalökonomie gehört
die „speciellerc“ historische, statistische, legislative, technische Seite der Geld-, Wäh-
rungs-, Münzfrage, daher namentlich Edelmetallgeschichtc, Productionsbedingungcn,
Währungs- und Münzgeschichtc und Politik, das eigentliche Währungsproblem als
Frage de lege ferenda. Die Finanzwissenschaft hat wieder die finanzielle Seite des
Munzwescns, die Verhältnisse der fiscalischen Ausnutzung des Münzregals, die Schlag-
schatzfrage als finanzielle Frage zu behandeln.
Aehnlich würde m. E. die allgemeine Creditlehre in die theoretische National-
ökonomie, etwa in der Weise und in dem Umfang des 1. Abschuitts meiner Abh.
Credit und Bankwesen im Schönberg’schen Handbuch (3. A., I, 379 — 416) gehören:
vom Bankwesen nur weniges Allgemeinste, was z. B. die Stellung desselben im Crcdit-
system betrifft, vom Creditrecht nur die Erörterung der wichtigsten Principien. Die
practische Nationalökonomie hätte dann die Specialfragcn vom Creditrecht, soweit sie
überhaupt in die Politische Ockonomie gehören, fast die ganze Lehre vom Bankwesen
nach allen in Betracht kommenden Seiten (meine gen. Abh., S. 416 — 496) zu bringen.
In der Finanzwissenschaft wäre der öffentliche Credit, die Beziehung der Banken zu
den Finanzen zu behandeln.
Nach Analogie dieser Beispiele halte ich es für nicht so schwierig, zwischen
der theoretischen und practischen Nationalökonomie die Scheidung durchzuführen.
Man wird cinwcndcn, dass es dann an Wiederholungen nicht ganz fehlen wird.
Aber theils kommen doch bei demselben Gegenstand verschiedene Fragen, Gesichts-
punctc und Behaudlungsweisen in Betracht, theils kommt man eben vom Allgemeinen
mehr ins Besondere oder umgekehrt, so dass sich Alles zu ergänzen und auch — zu
berichtigen hat.
Denn, um hiermit auch einem anderen Einwand von historisch-methodologischer
Seite zu begegnen, die vier Thcilc des Systems sind nicht in dem Sinne als erster,
zweiter u. s. w. in der angegebenen Keihenfolgc zu bezeichnen, dass der folgende
immer die Consequenz des vorangehenden, nur Ableitung aus diesem sei, daher z. B.
die ausführenden drei Theilo aus der Grundlegung, die practische aus der theoretischen
zu „deduciren“ wäre. Mit der methodologischen Controversc haben wir es hier in
der Bildung des Systems gar nicht zu thun. Die richtige Entwicklung und Aus-
bildung der Grundlegung und des theoretischen Theils beruht wesentlich mit auf der
voraufgehenden Arbeit der practischen Nationalökonomie und der Finanzwissen-
schaft. Alle Theile haben sich vielmehr gegenseitig als Hilfswissenschaften zu dienen
und in allen kommen die verschiedenen Methoden nach Maassgabe der früheren Aus-
führungen zur Anwendung.
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Weiteres zur Systematik.
279
C. — §. 105. Weiteres über die Systematik in der
theoretischen und allgemeinen wie in der practischen
und speciellen Nationalökonomie, insbesondere die
Stellung der Lehre vom Verkehrswesen im System.
Die genauere Durchführung der Systematik in diesen Theilen, wie
auch in der Finanzwissenschaft, bleibt den betreffenden späteren
Bänden Vorbehalten1), wo sie auch für die Finanzwisseuschaft
bereits erfolgt ist. Hier soll nur noch eine grade für die Systematik
dieses Gesammtwcrks nach dem jetzigen Plan desselben (S. 2, 3)
nicht unwichtige Frage berührt werden , nemlich die Abgrenzung
des gegenständlichen Umfangs zwischen der theoretischen
und practischen Nationalökonomie und, damit zusammenhängend,
zwischen den einzelnen Haupttheilen, in welche wieder die letztere
zerlegt wird.
Es handelt sich hier vornemlich um die systematische Stellung
derjenigen Gegenstände, welche ich unter dem Namen „Verkehrs-
wesen und Verkehr 8 politik“ zusammenfasse und wofür in
diesem Werke ein eigener Theil und zwar der practischen National-
ökonomie (III, 1 auf S. 3) geplant ist. Ich verstehe darunter eine
Reihe allgemeiner Verhältnisse und Angelegenheiten der ganzen
Volkswirtschaft sowie diesen dienende Einrichtungen, insbesondere
auf dem Gebiete des Verkehrs und Verkehrswesens im weiteren
Sinne der letzteren Ausdrücke, im Unterschied von den speciellen
Verhältnissen, Angelegenheiten der und Einrichtungen für die
einzelnen grossen Productionszweige. Zu jenen ersteren
Gegenständen gehören: Maass- und Gewichtswesen, Geld- und
Münzwesen, Credit- und Bankwesen (die genannten Zweige auch
wohl zusammen als „Umlaufswesen“ bezeichnet, so von L. Stein),
Versicherungswesen, Communications- und Transportwesen (letzteres
Gebiet: das Verkehrswesen im engeren Sinne). Die speciellen
Angelegenheiten der grossen Productionsgebiete gruppiren sich
dagegen zum Agrar-, Forst-, Montan-, Gewerks-, (Gewerbe-) und
Handelswesen zusammen, wToran sich kleinere Gruppen, wie Jagd,
Fischerei anschliessen.
Jeue allgemeinen Verhältnisse u. s. w. berühren sich nun freilich auf das Viel-
fältigste mit den speciellen der einzelnen Prodactionsgebiete und specialisiren sich
zum Theil danach, wie besonders diejenigen des Credit-, Bank-, Versicherung^-,
Transportwesens. Aber sie bilden eben wegen ihrer Beziehung zu dem Ganzen der
*) Wir einzelnen Bearbeiter des ganzen Werks wahren uns auch hierin aus-
drücklich freie Bewegung, auch unter einander, und mir speciell liegt es ferne,
Herren Mitarbeitern hier vorgreifen zu wollen.
280 !• B. 2. K. 3. 1I.-A. System etc. 2. A. System d. Polit. Ockon. §. 105, 100.
Volkswirtschaft doch eine enger zusammengehörige Hauptgruppe von Verhältnissen,
Angelegenheiten und Einrichtungen, haben eine grössere allgemeine Bedeutung,
auch Uber das volkswirtschaftliche Gebiet hinaus, für Gesellschaft. Politik und Cultur
(Communicationswesen!), nehmen geschichtlich daher auch regelmässig eine andere
Stellung ein. als die Angelegenheiten der einzelnen Productionszweige , werden von
der wirtschaftlichen Rechtsordnung anders behandelt und haben , wie wir später
sehen w'erden, eine immanente Tendenz, vom Staate näher an sich heran gezogen,
genauer geregelt, dem freien Verkehr mehr oder weniger, eventuell vollständig ent-
zogen, auf die „öffentlichen Gemein wirtschaften“ zur Ausführung übernommen („ver-
staatlicht“, inonopolisirt) zu werden. Gewiss sind manche bezügliche Einrichtungen,
wie Münz-, gewisses Bank-, Communicationswesen öfters in besonderem Maasse auch
„Förderungsmittel des Handels“, als welche sie in der früheren Systematik betrachtet
und demgemäss etwa in die Erörterungen Uber Handel eingereiht wurden. Aber sie
sind doch ungleich mehr, nicht nur, wie die eben genannten Gebiete, von ebenso
maassgebender Bedeutung für dio übrigen grossen Productionszweige (Communications-
wesen im Einfluss auf Agrarproduction und gesammte Agrarverhältnisse , Währungs-
wesen desgleichen!), sondern sic haben, wie gesagt, eine universelle wirtschaft-
liche und Culturbedeutung. Deswegen glauben wir sie in der angedcuteten Weise
herausheben und zusammenfassend behandeln zu sollen (Theil III, 1 des Werks). Es
ist das principiell richtig und practisch besser, weil so allein einseitige Betrach-
tungsweisen, z. B. bei der Behandlung von Währungs-, Bank-, Communicationsfragen
aus dem Gesichtspuncte bloss des Handels und seiner Interessen verhütet werden.
Das „Verkehrswesen“ in diesem weiteren Sinne gehört aber
auch in die practische und specielle Nationalökonomie
wenigstens seinem Hauptinhalte nach, indem nur gewisse allge-
gemeinere Principienpuncte, in der oben (S. 274) erwähnten Weise,
der grundlegenden sowie theoretischen und allgemeinen
Nationalökonomie Vorbehalten bleiben. Denn überall handelt es
sich hier um Specielleres in der ebenfalls vorhin characterisirten
Art und um Anknüpfung der wirth schaftspolitischen Fragen,
daher namentlich derjenigen über die bezüglichen Einrichtungen,
an die Darstellung und Erörterung der Verhältnisse und Angelegen-
heiten. Oder m. a. W. das Verkehrswesen wird in Verbindung
mit der Verkehrspolitik, im Ganzen und auf den einzelnen ge-
nannten Gebieten (Währungs-, Münz-, Bank-, Eisenbahnpolitik u. s. w.)
behandelt, ebenso wie Agrar-, Gewerbewesen u. s. w. mit Agrar-,
Gewerbepolitik. Die practische Nationalökonomie wird demnach
eigentlich in zwei Unterabtheilungen einzutheilen sein, „Verkehrs-
wesen und Verkehrspolitik“, deren weitere Theile dann den
genannten Gebieten entsprechen, und „(Wirthschafts-)Wesen
und Politik der einzelnen Productionszweige“, mit der
weiteren Eintheilung in Agrar-, Forst-, Gewerbewesen und Politik u. s. w.
Demnach eigentlich nicht, wie in unserer Ucbersiclit der Eintheilung dieses
Gesammtwerks, S. 3: III, 1, 2, 8 ff., sondern III A (Verkehrswesen u. s. w.), 1 (Maass
und Gewicht), 2 (Geld und Münze) u. s. w. und B (einzelne Productionsgebieto), 1 (Agrar-
wesen), 2 (Forstwesen), 3 (Gewerbewesen) u. s. w.
Das Gesagte mache ich im Besonderem gegenüber Neu manu geltend (so im
Scbönberg’schen Handbuch. 2. A. I. 135; s. auch oben S. 26S), welcher aus einem
ähnlichen Erwägungsgrunde, wegen des „allgemeinen“ Characters (Beziehungen all-
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Stellung d. Polit. Oekou. im Kreise verwandter Wissenschaften. 281
gemeiner Verkehrserscheinungen zum allgemeinen Wohl, öffentliche Pflege dieser Dinge)
das von mir Verkehrswesen im weiteren Sinne genannte Gebiet in seinen ersten
allgemeinen Theil setzt, während ich es als eine erste Abtheilung des zweiten
speci eilen Theils in das System eingliedere.
Für die Systematik dieses Werks und für die Vertheilung der Gegenstände auf
die einzelnen Theile (Bände) der practischen Nationalökonomie und auf die ver-
schiedenen Mitarbeiter ist das Gesagte daher hier zu beachten. Nur Einzelnes, was
sich von den Angelegenheiten und Einrichtungen des Verkehrswesen speci eil auf
die Verhältnisse einzelner Productionszweige bezieht, z. B. das landwirtschaftliche
Credit- und Versicherungswesen, gehört daher, wenigstens in näherer Ausführung, in
den betreli'enden Theil, z. B. in die Agrarpolitik.
Meines Erachtens empfiehlt sich diese Systematik auch aus äusseren Gründen
allgemein. Nur so wird jedem Gegenstand sein Hecht und kommen die inaassgebonden
Gesichtspuncte genügend zur Geltung. Auch im ökonomischen Unterricht würde sich,
glaube ich, passend die practische Nationalökonomie, soweit sic überhaupt noch eiuo
systematische Disciplin bleiben soll, also nicht ganz in concrete — oder auch
vergleichende — Wirtschaftsgeschichte sich auflöst (G. Schmoller, s. seinem Jahrb.,
XI. [1SSSJ S. 587) nach dem augedeuteten Gesichtspuncte in zwei grössere, einiger-
inaassen gegen einander selbständige Vorlesungen theilen, was freilich eine ent-
sprechend intensivere Entwicklung des ganzen nationalökonomischen Fachstudiums
voraussetzte. Versuche in der Richtung dieser Zweiteilung der practischen National-
ökonomie habe ich in Berlin an der Universität gemacht und mich auch dabei von
der Zweckmässigkeit überzeugt.
Bergwesen nimmt in mancher Hinsicht eine mittlere Stellung zwischen Ur-
production und Gewerkswesen ein. Es könnte iu einem umfassenden Werke wohl
einen besonderen Theil der zweiten Abtheilung der practischen Nationalökonomie
bilden. In diesem Gesammtwerke ist geplant, dasselbe mit in dem Theile vom Ge-
werbe und der Gewerbepolitik (III, 4, Bearbeiter K. Bücher) zu behandeln.
III. — §. 106. Die Stellung der Politischen Oeko-
nomie im Kreise der verwandten Wissenschaften. Die
Politische Ockonomie als Ganzes und die einzelnen Theile ihres
Systems gehören zu der grossen Gruppe der Geistes Wissen-
schaften und hier zu derjenigen Abtheilung derselben, welche
die unter sich wieder näher verwandten „Wissenschaften
vom Volksleben“, wie man sie wohl zusammenfassend ge-
nannt hat, d. h. die Gesellschafts-, Staats-, Rechts- und
Wirth Schaftswissenschaften umfasst. In allen diesen
Wissenschaften handelt es sich um Verhältnisse des mensch-
lichen Zusammenlebens — des „gesellschaftlichen“
Lebens in diesem Sinne — und in jeder der vier genannten
Specialgruppen um verschiedene Seiten dieses Zusammen-
lebens und der dasselbe bildenden sowie der aus ihm hervor-
gehenden Erscheinungen. Diese Seiten hängen aber in der Wirk-
lichkeit auf das Engste zusammen und lassen sich nur durch die
Abstraction trennen. In jeder der betreffenden Wissenschaften
und weiter in jeder einzelnen, welche wieder in der Specialgruppe
unterschieden wird, wird daher auch eigentlich dasselbe Object:
das menschliche („gesellschaftliche“) Zusammenleben und die
einzelne dazu gehörige Erscheinung, betrachtet und behaudelt, nur
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282 1. B. 2. K. 3. II.- A. System etc. 2. A. System d. Polit. Oekon. g. 106.
von einem verschiedenen Stand pu ne te aus: von demjenigen
der Beziehungen zwischen verschiedenen Individuen , welche in
Berührung stehen, überhaupt, von dem der Zusammenfassung im
und Ueberwachung, Ordnung, Beschützuüg durch den Staat, von
dem der Regelung durch das Recht, endlich von demjenigen der
Bedeutung für die Wirtschaft der Menschen aus. Die genannten
Wissenschaften gehören auch deswegen selbst eng zusammen,
ergänzen sich gegenseitig, sind einander gegenseitig Hilfswissen-
schaften. Soweit das Object, welches jede dieser Wissenschaften
von ihrem Standpuncte aus behandelt, nach anderen Seiten auch
den anderen Wissenschaften angehört und, um es nach der zu ihr
gehörigen Seite richtig zu behandeln, auch auf diese Behandluugs-
weise der anderen Seiten durch diese anderen Wissenschaften in
jeder einzelnen derselben Rücksicht genommen werden muss, er-
weist sich die genannte Gruppe von Wissenschaften als ein aus
verschiedenen Gliedern bestehendes, aber ein einheitliches Ganzes
bildendes Wissenschaftssystem.
Das Glied der Wirtschaftswissenschaften in diesem System
wird dann wesentlich dargestellt durch die Politische Oekonomie.
Dieselbe ist nach dieser Auffassung nicht eigentlich selbst und un-
mittelbar, wie sie öfters angesehen und bezeichnet wird, eine Ge-
sellschafts- oder eine Staatswissenschaft. Sie könnte mit kaum
minderem Rechte sonst auch eine Rechtswissenschaft genannt
werden. Sie ist vielmehr eine Wirth Schafts Wissenschaft, deren
Object die im menschlichen Zusammenleben hervortretende wirt-
schaftliche Erscheinung ist (§. 56, 100). Aber sie berührt sich auf
Schritt und Tritt mit den Gesellschafts-, Staats-, und Rechtswissen-
schaften, weil dies ihr Object eben stets auch eine gesellschaftliche,
eine im Staatsverband vor sich gehende Erscheinung ist und
rechtliche Seiten, rechtliche Voraussetzungen und Folgen hat.
Diese Auffassung möchte dem wirklichen Sachverhalt hinsichtlich der Beziehungen
der genannten Wissenschaften zu einander mehr entsprechen, als wenn man, wie
gewöhnlich, die Politische Oekonomie kurzweg eine Gesellschafts- oder Staatswissen-
schaft nennt, ohne dass dies deswegen durchaus als falsch bezeichnet werden soll.
Man kann nicht einwenden, dass die „Gesellschaft“ das Allgemeinere, Höhoro, frühere
als die Wirtschaft, als das wirtschaftliche Zusammenleben , die Volkswirtschaft sei.
Beides ent- und besteht und entwickelt sich in enger Beziehung zu und Wechsel-
wirkung mit einander. Man kann ebensowenig cinwcndcn, die Politische Oekonomie
müsse dcsshalb von vornherein eine Staatswissenschaft genannt werden, um damit
gleich darauf hinzudeuten, dass man es in der Volkswirtschaft immer mit der Volks-
wirtschaft im Staate, nicht, nach einer früher vorgekommenen Auflassung,
wenigstens in dem theoretischen Theile der Disciplin, mit ihr ohne Bezug zum
Staate (§. 104, S. 275) zu tun habe. Gewiss ist letztere Auffassung unrichtig. Aber
das nötigt nicht, die Politische Oekonomie als Ganzes ohne Weiteres unter die
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Stellung- d. Polit. Oekon. im Kreise verwandter Wissenschaften.
283
Staatswissenschaften zu reihen. Man könnte umgekehrt mit demselben Rechte sonst
die letzteren unter die Wirtschaftswissenschaften stellen, weil kein Staat, keine staat-
liche Thätigkeit ohne wirtschaftliche Mittel, Zwecke, Wirkungen zu denken ist.
Auch die Grundlegung (§. 103), die prac tische Nationalökonomie und die
Finanzwi ssenschaft sind als solche und als Thcile der Politischen Ockonomie
,,Wirthsch afts Wissenschaften“. Sic stehen nur theilweise gewissen Staatswissen-
schaften, so der (theoretischen) Politik (Staatslehre), der Yerwaltungslohrc, wie ander-
seits auch gewissen Rechtswissenschaften, so dem Staatsrecht, dem Verwaltungsrecht
näher, als die theoretische Nationalökonomie es thut. Mit Rücksicht darauf mag mau
sie in formaler Hinsicht auch wohl als Staats Wissenschaften bezeichnen, wie es
in diesem Werke mit der Finanzwissenschaft auch geschehen ist (1. B. , 3. Aull.
§. 12, 15). Unbedingt geboten ist das gleichwohl nicht. Soweit man es in diesen
beiden Specialtbeilen der Politischen Ockonomie und anderseits auch im grundlegenden
und im theoretischen Theile mit dem positiven, geschichtlich überkommenen und
bestehenden Wirthschafts- und Finanzrecht zu thun, dieses selbst darzulegen und zu
erläutern hat. oder in. a. W. den Standpunct der Erörterung de lege lata cinnimmt,
könnte die Politische Oekonomie ebensogut eine Rechtswissenschaft, als wegen
ihrer Beziehung zum Staate eine Staats Wissenschaft genannt werden. Soweit sic
sich (wiederum besonders, aber nicht allein, in dem practischen Thcile und in der
Finanzwissenschaft) mit den oben (§. 57, 62 ff.) unterschiedenen practischen Aufgaben,
namentlich mit der letzten (§. 64), beschäftigt, daher in Erörterungen de lege ferenda
cingeht, nimmt sic don Character einer staatswissenschaftlichen Disciplin, wie der
rallgcmeincn, inneren u. s. w\) Verwaltungslehrc (im Unterschied zum Verwaltungs-
fecht) an, da es sich dann bei ihren Problemen vornemlich mit um Kragen der
Staatsgesetzgebung und öffentlichen Verwaltung handelt. Auch das macht es wohl
zulässig, aber nicht nothwendig, sie als förmliche Staat s Wissenschaft zu bezeichnen.
Im Vorausgehenden ist in der besprochenen Gruppe von Gesellschafts- und
S taats Wissenschaften im Sinne zweier verwandter, aber gesonderter Glieder geredet
worden. Damit soll über die in Deutschland besonders von R. v. Mohl (Gesell, und
Litt. d. Staatswisscnsch. I, Abh. J) angeregte und von ihm bejahte Frage, ob diese
Trennung — und vollends, ob die Art, wie sie Mohl geplant — richtig sei, nicht
entschieden worden. Es ist indessen nicht die Aufgabe, auf diese Controvcrse, auf
die Einwendungen H. v. T reitschke’s (die Gesellschaftswissenschaft 1859) auf
die durch L. v. Stein vertretene Auffassung an dieser Stelle und überhaupt in diesem
Werke näher einzugehen. Ich will nur bemerken, dass mir eine Sch eidung zwischen
Gescllschafts - und Staatswissenschaften doch wiederum, wenn auch nicht unbedingt
geboten, so zulässig und zweckmässig erscheint. Damit wird übrigens dem Postulat einer
einheitlichen „Gesellschaftswissenschaft“ (im Sinne einer allgemeinen „Soci ologie“)
keineswegs beigetreten, das ich schon oben (§. 20) abgelehnt habe. Ich wäre sonst
geneigt, die Politische Ockonomie, wenn ich sie auch als ein selbständiges
Glied der genannten Wissenschaftsgruppe bctrachto (§. 20), eher noch als eine Gc-
sellschafts-, denn kurzweg als eine Staats Wissenschaft zu bezeichnen. Der mir
der passendste scheinende Name „Socialökonomie“ hat u. A. auch den Vorzug,
auf die besonders enge Beziehung der Disciplin zu den Gesellschaftswissenschaften
hinzuweisen.
Die Stellung, welche die verschiedenen Autoren der Politischen Oekonomie im
Kreise der Wissenschaften geben, hängt mit ihrer ganzen Disciplin mehr oder weniger
zusammen. Rau (I, §.21 ff.) stellt z. B. den theoretischen Theil (seiuo „Yolks-
wirthschaftslehre“) ausdrücklich ausserhalb der Staatswissenschaft, während er in diese
die Volkswirthschaftspolitik und die Finanzwrissenschaft reiht, die demnach eine
doppelte Stellung hätten. Koscher (I, §. 16) fasst als „sociale Wissenschaften im
engeren Sinne“ die von Recht, Staat und Wirtschaft zusammen , deren Gegenstände
fast congrucnt seien, nur, dass sie dieselben aus verschiedenen Gcsichtspunctcn be-
trachteten. Vgl. sonst noch die Bemerkungen von v. Scheel, in Schönbcrg’s Hand-
buch, I, Abh. 2 (3. A., S. 70), §. 3; G. Cohn, Grundlegung, Einleitung, Cap. 2. —
Eigentümliche Classification L. v. Stcin’s, nur verständlich im Zusammenhang mit
seiner ganzen Auffassung. Vgl. sein System der Staatswiss. B. 1 (Stuttg. 1S52) und
B. 2 (eb. 1856), seine Volkswirthsch. lehre, 2. Aufl. (Wien 1878), bcs. S. 55411. Am
Eingehendsten Kautz, I, S. 341 fl., zugleich für weitere Littcratur; neuestens L. Cossa
in der 3. Aufl. seiner introduzione, S. 47 ff.
284 1. B. 2. K. 3. H.-A. System etc. 2. A. System d. Polit. Oekon. §. 107.
IV. — §. 107. Hilfswissenschaften der Politischen
Oekonomic. Welches dieselben sind und wie sie in Betracht
kommen und welche Dienste sie leisten, folgt aus den Ausführungen
dieses ganzen ersten Buchs, so dass es hier an einer kurzen
Uebersicht und wenigen Bemerkungen genügt.
Vgl. im Allgemeinen in der neuesten (3.) Auflage von L. Cossa’s introduzionc,
parto 1, Cap. 3. Sonst die oben iu §. 9S angegebene Litteratur. Uebcr die Hilfs-
wissenschaften der Finanzwissenschaft s. Fin. 3. A., I, §. 17 — 19.
A. Psychologie, Logik, Erkenntnisstheorie und
allgemeine Methodologie.
S. dazu oben Cap. 1, bes. Abschn. 2 (§. 30 IF.), Cap. 1, H. A. 2 (§. 65 ff.).
Littcrarischc Angaben in §. 21, 54, 86.
B. Die gesammten Gcsellschafts-, Staats- und Rechts-
wissenschaften (vgl. vorigen §. 106), deren einzelne Theile
wieder in verschiedenem Maasse und für die verschiedenen Theile
des Systems der Politischen Oekonomie Hilfswissenschaften sind.
Besonders hervorzuheben ist die (Staats- und Privat-) Rechts-
geschichte.
C. Privatökonomik, in allen ihren einzelnen Theilen und
die sogen, angewandten Naturwissenschaften (vgl. §. 99).
D. Geschichte und Statistik, beide hier als eigene
Wissenschaften, — daher die Statistik auch als Staatskunde —
nicht als Methoden genommen (vgl. §. 74, 80 — 85). Und zwar
kommt hier sowohl die allgemeine (politische) Geschichte,
Statistik und Staatskunde, als insbesondere die concrete und
die vergleichende Cultur-, Wirthschafts-, Finanzge-
schichte (und die unter B schon hervorgehobene bezügliche Rechts-
geschichte) und Statistik in Betracht.
Es wird genügen, hier auf die früheren Ausführungen an verschiedenen Stellen
dieses Buchs, besonders in den ebengenannten §§. (im Abschnitt vom inductiveu Ver-
fahren) und in der Einleitung (so §.4, 15, 10) zu verweisen. Ucber Geschichte und
Statistik als Hilfswissenschaften und Methoden s. auch §. 18 der Finanzwissenschaft
I, 3. Aufl.
Die vorausgehenden Gruppen und Gebiete der Wissenschaften
kann man als die unmittelbaren Hilfswissenschaften bezeichnen,
deren Sätzen und Ergebnissen man sich in der Politischen Oeko-
nomie, in verschiedener Weise und in verschiedenem Maasse je
nach den zu lösenden Aufgaben (§. 58 — 64), häufig zu be-
dienen hat. Aber damit ist der Kreis der Wissenschaften, welche
im weiteren Sinne als Hilfswissenschaften der Disciplin dienen,
noch bei Weitem nicht erschöpft. Es giebt wenige Wissenschaften,
auf welche nicht da und dort, dann und wann zurückzugreifen ist:
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Hilfswissenschaften.
285
allgemeine Philosophie, Rechtsphilosophie insbesondere, beider Ge-
schichte, Mathematik, Naturwissenschaften, Theologie, Kircbeuge-
schichte u. s. w. Die schwierige, vollends bei der heutigen Entwicklung
der Wissenschaften und der Arbeitstheilung unerfüllbare Forderung,
welche wir oben schon andeuteten (§. 7), wenn nicht Alles zu be-
herrschen, so mit Allem Fühlung zu haben, von Allem etwas zu wissen
— nihil humani a se alienum esse putare — liegt in der Politischen
Oekonomie, gerade wenn dieselbe, wie es geboten ist, als Social-
ökonomie aufgefasst und behandelt werden soll, vor, in höherem
Grade, als mit Ausnahme der Philosophie, wohl in jeder Wissenschaft.
Eben deshalb die schwierigen, die langsamen und die kleinen
Fortschritte, die vielen Irrwege, die zahlreichen Irrthümer und —
der „dilettantische“ Character so mancher allgemeineren
nationalökonomischen Arbeiten oderwenigstens von Abschnitten darin.
Ein Dilettantismus, welcher freilich auf dem Gebiete einer engen
Specialwissenschaft leichter vermieden wird, aber fast mit Noth-
wendigkeit aus dem Character des Objects der Wissenschaft
der Politischen Oekonomie, aus der Verbindung, in welcher dies
Object mit allen Seiten menschlichen Lebens und mit so mancherlei
Verhältnissen der äusseren Natur steht, hervorgeht. Eiuen Vorwurf
gegen unsere Wissenschaft und gegen besonnene, auch mit den
allgemeinen Problemen der Diseiplin sich beschäftigende Vertreter
des Fachs können nur Unverständige aus diesem leicht hervor-
tretenden Moment des „Dilettantischen“ erheben, wie das freilich
mitunter geschehen ist.
Gerade bei der heutigen Unmöglichkeit, alle Hilfswissenschaften der Diseiplin
genügend und gleichmässig zu beherrschen, erhebt sich wohl die Frage, von welchem
hilfswissenschaftlichen Gebiete aus man am Besten zum Fachstudium der Politischen
Oekonomie übergehe oder m. a. \V.«auf welche Weise man sich dazu am Besten vorbe-
reitc: eine besonders für die ganze Einrichtung des Studiums, den Studiengang, daher
namentlich für Jüngere, nicht unwichtige Frage. Eine allgemeine unbedingte Antwort
lässt sich offenbar nicht geben. Auch hier wird Geistesanlage (,§. 11), sonstiger bis-
heriger Studiengang, Neigung, Specialgcgcnstaud der Beschäftigung, daher die näher
verfolgte Aufgabe (§. 57 ff.), mit bestimmend sein und auch in gewissen Grenzen cs
sein dürfen, ja es sein müssen. Vorzüge und Mängel hat jede bestimmte einseitige
Vorbildung. Im Ganzen möchte eine mehr geistes- als naturwissenschaftliche Vor-
bildung den Vorzug verdienen, nach dem psychologischen Character der Dis-
ciplin. Die juristische möchte ich subjoctiv der rein historischen vorziehen
(s. o. S. 190), beide wären aber zu verbinden. Eine allgemeine philosophische
Vorbildung ist dabei ausserdem wohl in hohem Maasse erwünscht und eine Er-
gänzung durch mathematische, naturwissenschaftliche, technologische Studien kann
nicht genug empfohlen werden. Indessen, — auch hierbei wird Geistesanlage und
Richtung mitsprechen, bei der Empfehlung, wie bei der Befolgung der Empfehlung,
und die Unmöglichkeit, ja die Gefährlichkeit, „Alles“ zu betreiben, nöthigt ohnehin
zu Beschränkungen, auch in den hilfswissenschaftlmhen Studien, um zu grosse Zer-
splitterung zu vermeiden und sich in der gebotenen Weise concentriron zu
können. Polihystorie ist auch bei uns nicht mehr an der Zeit und unfruchtbar.
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Zweites Buch
Elementare Grundbegriffe.
§. 1 OS. Litteraturnach weis und Yr orbe merku n gen über die Grund-
begriffe. Vcrgl. besonders die auch litterargeschichtlich reichhaltigen verschiedenen
Arbeiten Fr. J. Neumann’s, so die Beiträge zur Revision der Grundbegriffe der
Volkswirthschaftslehre, Tüb. Ztschr. für Staatswiss. B. 25 (1869), S. 493 ff., B. 28 (1872)
S. 256 ff. Der Verf. erörtert in dem ersten Aufsätze die allgemeinen Grundsätze für
die Defiuition volkswirtschaftlicher Begriffe und kommt zu dem Ergebniss, dass der
allgemeine Sprachgebrauch zu berücksichtigen sei. aber nicht die allein und endgiltig
entscheidende Norm bilden dürfe, vielmehr müssten ausserdem Gründe der Zweck-
mässigkeit und Opportunität ins Gewicht fallen (B. 25, 517). Die Anwendung, welche
der Verf. hier und in seinen anderen einschlägigen Arbeiten von seinen Definitionsgrund-
sätzen für die Begriffe Werth, Preis und andre mehr macht, ist methodologisch
und litterarhistorisch lehrreich, auch wenn man mit den Resultaten nicht immer über-
einstimmt. S. ferner von Neu mann den Aufs, über die Gestaltung des Preises, Tüb.
Ztschr. B. 36 (1880) S. 175 11'., und die Abh. über die wirtschaftlichen Grundbegriffe
in den drei Auflagen des I. B. von Schönberg ’s Handbuch (3. A., I, 133, Uber Gut,
Werth, Preis, Vermögen, Wirtschaft, Ertrag, Einnahme, Einkommen) und Neumann's
Grundlagen der Volkswirthschaftslehre, 1. B. 1889. Ferner A. Hold in dem Auf-
satz über neuere Versuche zur Revision der Grundbegriffe, Jahrb. f. Nat.-Oek. B. 27,
S. 144 u. ders. in s. Grundriss. Auch Lindwurm, Eigentumsrecht, bes. Kap. 4,
S. 265 ff’, und 503 ff., mit teilweiser Polemik gegen meiue Behandlung. Er nimmt
einen zu einseitigen Standpunkt ein, indem er die Production durch die „freie Indivi-
dualität der Urheberschaft*4 bedingt sein lässt, was der Wirklichkeit widerspricht und
keine richtige volkswirthschaftsorganisatorische Forderung wäre. Schäfflc, Soc.
Körp. III, 245 ff., 307 ff., namentlich wichtig für die Werthlehre. —
Die Grundbegriffe der Volkswirthschaftslehre haben die eingehendste und scharf-
sinnigste Erörterung in der deutschen Litteratur des Fachs gefunden, wenn dabei
auch öfters Spitzfindigkeiten nicht genügend vermieden worden sind. Die fremde
Litteratur steht hier zurück. Die ältere deutsche Litteratur, besonders aus der
1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, s. bei Neumann a. a. 0., bes. in denn Aufs, in der
Tüb. Ztschr. 1S69 u. 1872. Hervorzuheben und noch heute beachtenswerth : G. Hufe-
land, neue Grundlegung der Staatswirthschaftskunst. durch Prüfung und Berichtigung
ihrer Hauptbegriffe von Gut, Werth, Preis, Geld und Volksvermögen, 2 Thle., Giess,
u. Wetzl. 1807. 1813; J. F. E. Lotz, Revision der Grundbegriffe der Nationalwirth-
schaftslehrc, 1811 — 14, derselbe Handbuch der Staatswirthschaftslehre, 1821, 2. A.
Erlangen 137 — 39. 3 Bände.
In der neueren deutschen Litteratur ist für die Grundbegriffe und für verwandte
Puncte der Theorie von bleibender Bedeutung geworden: B. F. W. Herrnan n, staats-
wirthschaftlichc Untersuchungen, 1. Aufl. München 1832, 2. Aufl. München 1970
(nach des Verf. Tode erschienen). Die 1. Aull, enthält dogmengeschichtliche Er-
örterungen, die in der 2. fehlen, letztere hat der Verf. nur noch zum Tlieil vermehrt
und verbessert. Ich citire meistens nach der 2. Aufl. Ausserdem vergl. für die
Grundbegriffe noch besonders H. v. Mangold t, Grundriss der Volkswirthschaftslehre,
It
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Litteratur der Grundbegriffe.
287
Stuttgart 1863, 2. Aufl., besorgt v. K lein w achter, Stuttgart 1871 (der beste Grund-
riss in deutscher Sprache, scharfsinnig, doch hier und da etwas spintisirend); ferner
auch K. Men ge r, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, 1. Thl. Wien 1871. — Von
den grösseren Lehrbüchern s.: Rau, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, 8. Aufl.,
Leipzig u. Heidelberg 1868, §. 1 ff.. §. 46 ff. Die Erörterungen über die Gruudbegrifle
giebt Rau teils in der Einleitung §. 1 — 20, theils im 1. Buch vom „Wesen des Volks-
vermögens'4 §. 46 — 81. W. Roscher, I. (Grundlagen der Nationalökonomie), § 1 bis
29, z. Th. auch das 1. Buch von der Production der Güter §. 30 ff.; für eiuzelne
Abweichungen von principieller Bedeutung sind die früheren Auflagen Roscher’s mit
späteren zu vergleichen. Schäffle, Ges. Syst. 3. A., bes. Buch 1, Abschn. 2 (Wirth-
schaft), G. Cohn, Einl Kap. 4. Aus der neuesten deutschen Litteratur (aus der Zeit
seit der 2. Aufl. dieses Werks) sind für dio Grundbegriffe die genannten N eu m ann'scben
Arbeiten, und dio an K. M enger sich anschliessenden bezüglichen Arbeiten der
österreichischen theoretischen Schule, besonders diejenigen von E. Sax. v. Böhm-
Bawerk, Wioser u. a. m. hervorzuheben (s. dieselben o. S. 64, v. Böhm-Bawerk
auch: Rechte und Verhältnisse vom Standpunctc der volkswirthsch. Güterlehrc. 1881).
Am Wichtigsten sind dieselben für die Wert hl eh re. wo wir darauf zurückkommeu
(§. 135). S. ausserdem auch die o. S. 64 gen. Arbeiten H. Dietzefs.
Aus der fremden Litteratur s. R. Malthus, definitions of polit. economy,
London 1817, Cairnes, char. a. logical method of polit. econ., London 1874 passim.
Keynes, scope a. method, ch. 5. Marshall, princ. I., book 2. — Gide, princ.
livre 1. Block, progres I, ch. 3 — 5. — Cossa, introduzione, 3. ed., S. 73 ff.
Supino, definizione dell’ ecom. pol. Mil. 1S83.
Einige mehr oder weniger eingehende Erörterungen über Grundbegriffe haben
fast alle deutschen und fremden Werke der systematischen und theoretischen National-
ökonomie. Auch die socialistischen Theoretiker, besonders Marx, Rodbertus
(in den oben S. 40, 39, genannten Schriften) sind für die Grundbegriffe, namentlich
des Werths, der Kosten, des Kapitals, wichtig.
Dio Grundbegriffe sind von den meisten vorausgehend genannten Schriftstellern,
auch von v. Hermann, mehrfach noch zu sehr aus dem pri vat wirtschaftlichen
Standpuncte erörtert und festgestellt worden , und die dergestalt gewonnenen Begrifle
dann öfters ohne Weiteres zu volks wirtschaftlichen Begriffen gemacht oder cs ist
wenigsten zwischen der Bedeutung eines wissenschaftlichen terminus technicus im
privat-, bez. im einzelwirthschaftlichen und im volkswirtschaftlichem Sinne nicht
immer richtig unterschieden worden. Auch muss das Streben, immer nur eine Be-
deutung eines Begriffs zuzulassen, wie auch Neu mann (Tub. Zcitschr. B. 25, 512)
rügt, mitunter als falsch bezeichnet werden.
Ebenso ist es öfters falsch, gewisse Kochtsbegriffe und Wi rthschafts begriffe
zu indentificircn. wie ich schon in der 1. A. meiner Finanzwissenschaft an dem practischen
Beispiele der Staatseinnahmearten (Rau-Wagncr. Fin. 6. Aufl , I, §. 85 ff.) begründete.
Zu der schärferen Scheidung der rein Ökonom i scheu und der Rechts begriffe und
zum Theil in Folge hiervon zu der genaueren Ausbildung der volks wirtschaftlichen
im Unterschied von einzcl- und privat wirtschaftlichen Begriffen haben Rodbertus
und die deutschen socialistischen Thcrotiker am Meisten beigetragen. Im Folgenden
wird, wie principiell auch von Schäffle, A. Held möglichst consequent zwischen rein-
ökonomischen und historisch-rechtlichen, allgemein volkswirtschaftlichen und einer be-
stimmten Phase der Privatwirtschaft angchörigen Kategorieen und Begriffen unter-
schieden und hierin in dieser 3. Auflage noch consequenter verfahren, auch dio
Unterscheidung noch auf weitere Begriffe ausgedehnt, als in den beiden ersten Auf-
lagen. Namentlich zum Verständniss der grossen Streitfragen zwischen dem ökonomischen
Individualismus und Socialismus über die Rechtsgrundlagen der Volkswirtschaft, be-
sonders über die Eigenthumsordnung (Gemein- und Privateigenthum) ist diese Unter-
scheidung von entscheidender Bedeutung.
Endlich ist mitunter auch für die Grundbegriffe schon der Standpunct der
Production und der Vertheilung (S. 21) zu unterscheiden.
288
2. B. Grund begriffe. 1. I(. Güter. §. 109 ff.
Erstes Kapitel.
Die Güter.
I. — §. 109 [7], Die Unterscheidung rein-ökono-
mischer und socialer oder historisch -rechtlicher
Stand puncte der Betrachtung in der Politischen Oeko-
nomie. Auf dem ersten Standpuncte stellt man den Menschen
überhaupt (die Menschheit als ein Ganzes) der äusseren Natur
gegenüber und verfolgt die sich so ergebenden wirthschaftlichen
Beziehungen. Auf dem zweiten Standpuncte berücksichtigt man
zugleich die Lage der einzelnen Menschen, der Volks-, Standes-,
Besitze las sen in einem Volke zu einander und weiter auch die
gegenseitigen politischen und Machtverhältnisse der verschiedenen
Völker, welche irgendwie unter einander verbunden sind, und ver-
folgt dann die sich mit aus diesen Umständen ergebenden wirth-
schaftlichen Verhältnisse der Einzelnen, der Classen , der Völker
zu einander und zur äusseren Natur. Diese Standpuncte der Be-
trachtung kann man mit den Worten des „rein-ökonomischen“ und
des „socialen“ oder „historisch rechtlichen“ wohl passend bezeichnen.
Die Unterscheidung dieser Standpuncte führt dann auch zur Unter-
scheidung von rein-ökonomischen und socialen oder historisch-recht-
lichen Katcgoricen im Wirthschaftsleben und insbesondere auch
bereits bei wichtigen Grundbegriffen.
Die Unterscheidung ist vor Allem auf Kodbertus zurilckzuführen , welcher sie
namentlich für den Kapitalbegriff gemacht hat (s. darüber unten §. 127, 129). Sie
ist aber viel allgemeiner durchzuführen, in der Weise, wie cs jetzt hier geschieht.
Die von mir gebrauchten Ausdrücke sind wohl nicht ganz unzweideutig. Aber man
kann sie kaum durch andere passendere und weniger zweideutige ersetzen. Die Be-
zeichnung des ersten Standpuncts als des „natürlichen“ wäre zulässig, aber zu
undeutlich; die von mir früher gebrauchte „kosmopolitisch“ (2. Aufl. S. 13) ist
auch nicht deutlich und nicht unzweideutig genug. Der Ausdruck „social“ für
den zweiten Standpunct unterliegt auch nach dem Sprachgebrauch in Betreff dieses
Wortes einigen Bedenken, ist indessen, namentlich in Verbindung mit dem Zusatz
..oder historisch- rechtlich“ doch wohl nicht bloss zulässig, sondern der passendste,
welcher sich finden lässt.
II. — §. 110 [5], Die Güter im Allgemeinen. A. Be-
griff. Unter „Gut“ wird in der Politischen Oekonomie jedes
Mittel zur Befriedigung eines Bedürfnisses des Menschen verstanden
(§. 23): es ist ein rein-ökonomischer Begriff, der aus dem
Wesen des Menschen und der äusseren Natur folgt.
Vgl. Kau, I, §. 1. 2, 40, 47. Die Definitionen von „Gut“ weichen bei den
Autoren mehrfach ab, s. die Zusammenstellung von K. Menger, Volkswscb. 1., I, 3.
— Kau behandelt nur die Sachgüter (körperliche, materielle, stoffliche, äussere):
„Bestandteile der Sinnenwelt, die den menschlichen Absichten entsprechen, und da-
her wünschens- und begehrenswert sind“ (§. 1). Vgl. auch Neumann, Tüb. Ztscbr.
B. 2S, S. 23$ fl". — Koscher nennt Gut „alles dasjenige, was zur Befriedigung
fc
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Begriff. Entwicklung, Eintheilong der Güter.
289
eines wahren menschlichen Bedürfnisses anerkannt brauchbar ist“ (§. 1). Der Zu-
satz „anerkannt“ ist überflüssig, weil selbstverständlich, da nur in Beziehung auf
Menschen überhaupt von Gütern gesprochen wird. Der Zusatz „wahr“ bei dem Be-
dürfniss ist falsch und wird mit Roschers Motivirung nicht begründet. Denn auch das,
was ein unvernünftiges und unsittliches Bedurfniss befriedigt, ist ein „Gut“, sobald eben,
wohl oder übel, das Bedürfnis besteht. „Um den Grundbegriff der Volkswirtschafts-
lehre auch gleich als einen Gegenstand ethischer wie psychologischer Untersuchung
zu vindiciren“, bedarf es des Zusatzes ebensowenig. Dies folgt schon aus dem Um-
stande, dass Güter wie Bedürfnisse dem menschlichen Triebleben unterstehen. —
Neu mann (im Schöuberg’schen Handb. I, 3. A. , S. 136, §. 3) bringt gleich die
Güteklassen mit in die Definition, versteht auch unter „Gütern schlechtweg“ gleich
„volkswirtschaftliche“ oder „wirtschaftliche“ Güter und sagt: „Güter sind Sachen
und Rechte, i. e. S., soweit sie geeignet resp. ihrer Natur nach dazu bestimmt scheinen,
dem Selbstinteresse Jemandes dienstbar gemacht zu werden.“ Ich glaube doch dem
gegenüber an meiner früheren Auffassung und Behandlung festhalten zu dürfen. —
Regelmässig und mit Recht wird der Begriff „Gut“ (bez. wirtschaftliches Gut)
an die Spitze der Grundbegriffe gestellt und von ihm aus zum Begriff Vermögen und
namentlich Werth fortgeschritten. Umgekehrt ist G. Cohn vorgegangen, der erste
und secundäre Begriffe (I, 1S9 ff.) unterscheidet, unter jenen den Begriff Wirtschaft
voranstellt, dann zum Begriff des Werths kommt, und von diesem Begriff ans erst
zu dem des Guts gelangt, den er unter die secundärcu (?) Begriffe weist und als „jeden
Gegenstand, der Werth hat“ definirt (S. 204). M. E. ist die übliche Behandlungs-
weise und Reihenfolge die logisch richtigere und natürlichere.
B. — §. 111 [5]. Entwicklung der Güter. Die Güter
vermehren, vervielfältigen, verändern, verfeinern sich mit den ent-
sprechenden Vorgängen bei den Bedürfnissen (§. 23); zum Theil
auch umgekehrt: so dass ein Wechsel wirkungsverhältniss besteht,
wie z. B. ein grosser Theil des Absatzes von Luxusartikeln und
neuen Dingen überhaupt darauf beruht, erst das Bedürfnis her-
vorzulocken. Ferner ist die wachsende Einsicht des Menschen in
das Wesen und in die Brauchbarkeit der Dinge für die Entwick-
lung der Güter von Einfluss.
Naturwissenschaftliche Fortschritte, Entwicklung der Technik. Auffindung neuer
Naturproducte fremder Länder. K. M enger, Volkswirtschaftslehre S. 3, stellt
vier Bedingungen dafür auf, dass ein Ding ein Gut werde.
C. — §. 112 [6]. Eintheilung der Güter. Innere und
äussere Güter. Die Eintheilung knüpft sich zunächst an die-
jenige der Bedürfnisse an (§. 23), wonach vor Allem, in der früher
schon dargelegten Weise (§. 23), innere und äussere Güter zu
unterscheiden sind, die erste und wichtigste Eintheilung.
1. Ein äusseres Gut ist das, was Jemand in sich findet oder
freithätig in seinem eigenen Inneren erzeugt (v. Hermann),
(Muskelkraft, Gesundheit, inneres Seelenleben, Gedankenwelt, Gaben,
Eigenschaften, Kenntnisse). Solche Güter können in persön-
lichen Diensten des Besitzers zu äusseren Gütern eines Anderen
werden.
2. Ein äusseres Gut ist ein solches, welches Jemandem aus
der Aussenwelt Bedürfnissbefriedigung ermöglicht.
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Thoil. Grundlagen. 19
290
2. B. Grundbegriffe. 1. K. Güter. §. 112 ff.
S. Rau I, §46 ff. Er nennt § 1 die inneren Güter persönliche, v. Hermann,
Untersuchungen, 2. A., S. 103 ff., sehr speciell von Mangold t, Grundriss § 4,
vgl. auch desselben Art. Gut im Staatswörterbuch (Bluntschli-Brater) B. IV., Schäffle,
System. 3. Aufl., I. §. 31, 32., S. 66. Neumann (in d. gen. Arbeiten im Schönbcrg’-
schen Handb. I. 3. A., S. 136) identiiicirt gleich den Gutsbegriff mit dem der volks-
wirtschaftlichen Güter aus mich nicht überzeugenden Zweckmässigkeitsgründen. Ebenso
wie Neumann Cohn (I, 204), und auch Sax, Staatswirthschaft S. 114. — Die
lehrreich ausgeführte Unterscheidung Menger’s, Volkswirtschaft §. 2 („über den
Causalzusamincnbang der Güter“) von Gütern 1., 2.. 3. Ordnung u. s. w. ist doch
eigentlich nur eine Umschreibung des anerkannten Satzes, dass zur Herstellung von
Gütern Kapital und zwar nicht abstractes, sondern con er et es Kapital der und der
Art notwendig vorhanden sein muss.
D. — §. 113 [7 und 8]. Eintheilung der äusseren
Güter. Diese sind, je nachdem die Erlangung dem Begehrer
Arbeit (Opfer) (§. 27) kostet oder nicht, freie oder wirtschaft-
liche Güter1). Diese Unterscheidung gestaltet sich aber wesentlich
verschieden nach den beiden vorher (§. 109) unterschiedenen
Standpuncten der Betrachtung, wobei sich gleich an einem ersten
wichtigen Beispiel die Bedeutung dieser Auseinanderhaltung der
beiden Standpuncte zeigt.
1. Rein-ökonomischer Standpunct. Freie („natur-
freie“) Güter sind hier solche, wrclche der Menschheit von der
Natur ohne menschliche Arbeit, bezw. wenigstens nur gegen die
bloss occupatorische Arbeit des Aneignens in jedem einzelnen
Falle des Bedürfnisses (wobei Thätigkeiten des Sammelns, Suchens,
Verfolgens u. s. w. Vorkommen können) geliefert werden. Wirt-
schaftliche Güter dagegen sind hier diejenigen, zu deren
Erlangung behufs der Bedürfnissbefriedigung irgend eines Men-
schen irgendwelche menschliche Arbeit die Vorbe-
dingung ist.
Auch die freien Güter werden im einzelnen Falle daher insoweit wirtschaft-
liche, als sie jene Aneignungsarbeit irgendwie erfordern, z. B. wild wachsende Früchte,
Thiere, Wasser u. dgl. — v. Mangoldt nennt dem ersten Standpunct gemäss ganz
richtig wirtschaftliche Güter dio, welche durch menschliche Arbeit hergestellt oder
erworben wurden — nicht werden, d. h. nicht notwendig im einzelnen Fall
werden.
Jene freien Güter bilden wieder zwei (Massen:
a) Die allgemeinen Güter, d. h. solche, deren ausschliess-
liche Aneignung durch einzelne Menschen, durch Vereinigungen
von solchen und selbst durch Völker unmöglich ist, wie die
Luft, das Tageslicht, die Sonnenwärme, das Weltmeer als Ganzes
und seine grösseren Abtheilungen (Oceane).
*) Hermann. S. 104 ff. — Rau. §. 46 ff. — Schäffle, Syst. §. 3:t. — Besonders
eingehend und scharf über die ökonomischen und uichtökonomischen Güter und ihr
Verhältniss zu einander Mengcr, I., 51 ff —
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Eintheilung der äusseren Güter.
291
Wenigstens liegt kein Beispiel vor, dass grosse Meere wirklich so von
einem YTolke allein beherrscht sind, wenn auch theoretische Ansprüche dieser Art be-
standen. Anders bei kleinen Meeren oder Theilen der See. (Theorien vom rnare
clausum, d. h. von für den Verkehr eiues Volkes vorbehaltenen Meeren.)
b) Freie Besitzgüter („bedingt freie“, Held), d. h. solche,
welche ihrer Wesenheit nach eine ausschliessliche Aneignung zwar
zulassen würden, aber, wenigstens was ihren Gesammtvorrath
anlangt, noch herrenlos geblieben sind, weil die vorhandene Menge
den Bedarf übersteigt, indem die Natur sie an dem Orte, wo sie
gebraucht werden können, in solcher Fülle zur Verfügung stellt,
dass kein Beweggrund vorhanden ist, von einem überschüssigen
Vorrathe Besitz zu nehmen.
(Zum Theil nach Kau I. §. 47.) Zu diesen Gütern gehören in primitiven Ver-
hältnissen des Volkslebens, vor der festen Ansiedlung an bestimmten Orten und auch
noch in der ersten Zeit nach derselben, vielfach Grundstücke überhaupt und auch
späterhin noch bestimmte Arten von Grundstücken, wie Waldboden, Weide-
land, Heide. Wasserstücke; ferner vom Bode n abtrennbare Naturproducte, wie
Wasser, Steine, Holz, wildwachsende Pflanzen, Früchte, Thiere. Mit steigender Volks-
dichtigkeit pflegt indessen eine mehr oder weniger vollständige ausschliessliche Besitz-
ergreifung durch Einzelne, geschichtlich anfänglich meistens durch Vereinigungen von
Einzelnen (als Stamm, Geschlecht, Siedelungsgemeinde) mit diesen freien Besitzgütern
vorgenommen zu werden. Die Kechtsordnung in ihrer späteren Entwickelung
sanctionirt dies in der Gewährung von privaten Eigenthums- und Nutzungsrechten au
den freien Besitzgütern. Alsdann nehmen diese Güter immer einige, mitunter alle
wesentlichen Eigenschaften der wirtschaftlichen Güter an, d. h. sie werden ins-
besondere besitzbare (Kau), d. h. eine dauernde, auch private Aneignung und beliebige
Benutzung durch den Einzelnen gestattende und werden daher auch verkobrsmässig
erworben und fortgegeben (§. 115).
§. 114 [9]. 2. Socialer oder historisch-rechtlicher
Standpunct (der Einzelnen, der Volksclassen, eines
besonderen Volkes). Die eben erörterte Unterscheidung zwischen
freien und wirtschaftlichen Gütern verschiebt sich hier nach der
socialen Stellung der Einzelnen und der Classen und nach
der für die Freiheit, Unfreiheit, Arbeit des Menschen und für die
Eigenthums- und Nutzungsrechte der Güter (der freien Besitzgüter
wie der eigentlich wirtschaftlichen Güter) geltenden Rechts-
ordnung, — hier wird daher der Begriff des wirtbschaftlichen
Guts zugleich ein Rechts begriff — ; ferner zwischen ver-
schiedenen Völkern nach der politischen Machtstellung —
wozu auch die durch die geographische Lage des Landes
gegebenen natürlichen Vorzüge und Nachtheile gehören können.
Hier ist zu erwähnen :
a) Der vorerwähnte Fall, das freie Besitzgtiter durch
Uebergang in das Eigenthum oder Nutzungsrecht Ein-
zelner oder gewisser Classen den Character wir thschaftli eher
iu *
292
2. B. Grundbegriffe. 1. K. Güter. §. 114, 115.
Güter annehmen, theils allgemein, auch für die Besitzer, theils
•insbesondere für Dritte (Nichtbesitzer, Bedürfende, Begehrer).
So besonders bei Entstehung des Privateigenthums am Grund und Boden
und an den darauf frei von der Natur geschaffenen Producten. Diese Auffassung wird
nicht alterirt durch die verschiedene Entscheidung der Streitfrage, ob im Tauschwerth
des Grund und Bodens nur die Zuthaten an menschlichen Leistungen (Arbeit, Kapital)
vergolten werden, wie Basti at meint, oder dieser Werth höher ist oder wenigstens
sein kann. Das Eigenthumsverhältniss als solches bewirkt, dass der Boden in die Reihe
der wirtschaftlichen Güter tritt.
Namentlich bewirken Naturmonopole der Lage, so besonders in städ-
tisch en Verhältnissen, dann unter dem Einfluss des Klimas für die Agrarproduction
ganzer Länder, ferner Naturmonopole der specifischen Bodenergiebigkeit
z. B. bei besonders guten Weinbergen und zwar auch zwischen verschiedenen Völkern,
z. B. beim Absatz tropischer Producte nach Ländern der gemässigten Zone1) — dass
wenigstens partiell naturfreie Güter zu rein wirtschaftlichen, beim Erwerbe höchst-
möglich vergoltenen werden.
Die Ricardo-Thünen'sche Grundrentenlehre, die auch was Ricardo betrifFt
in ihrem Kern m. E. unumstösslich ist, ferner die richtige Erweiterung dieser Lehre
durch Hermann und besonders durch von Mangoldt und Scliäffle stimmt hier-
mit überein.
b) Umgekehrt werden Güter, welche vom rein-ökonomischen
Standpuncte der Menschheit aus wirtschaftliche ,
weil nur unter Vermittlung menschlicher Arbeit gewonnene sind,
für Einzelne, Stände, Classen, Völker ganz oder theilweise zu
freien, d. h. zu unentgeltlich erworbenen.
Die wichtigsten Fälle dieser Art kommen bei den Rechtsinstituten der persön-
lichen Unfreiheit, bei der Sclavcrei, Leibeigenschaft und bei Frohnarbeit vor.
Diese Fälle haben für das gesammte Volksleben eine grosse Bedeutung, weil die Ver-
fügung über die Producte der gezwungenen Arbeit der Unfreien der herrschenden
Classe und durch sie dem Staate die Mittel zu besonderer — namentlich auch früh-
zeitigerer, als sonst möglich — Cultur- und Kunstblüthe bieten kann. Achulicli
wirken im Völkerleben Tribut Verhältnisse, in Weltreichen und grösseren Staaten
Ausbeutung der Provinzen vom Centrum aus (Alt-Rom!); vielfach überhaupt
schon die stärkere Centralisation der Staatsthätigkeiten in der Hauptstadt. Die
Cultnrgüter des Unterrichts, der Bildung, der feineren Sitte u. s. w. kommen z. B.
dem Hauptstädter bei uns wohlfeiler als dem Provincialen, weil sie eben partiell für
jenen freie Guter im angegebenen Sinne sind. Ausserdem hat aber auch bei per-
sönlicher Freiheit die social gedrückte Lage der unteren Classen Öfters
allgemein die Tendenz, jedenfalls schafft sie leicht die Möglichkeit, die Güter, welche
für diese Classen rein wirthschaftliche sind, für die übrigen (höheren) Classeu mehr
oder weniger zu freien, d. h. zu nicht genügend vergoltenen zu machen.
Ein Punct von grosser Bedeutung für die richtige und unbefangene Beur-
teilung der heutigen Arbeiterfrage und der Bestrebungen, den Lohn auf Kosten
des Gewinns der Unternehmer und Kapitalisten und auf Kosten der höhere Preise
zahlenden wohlhabenderen Consumcnten zu steigern. A. Wagner, Rede über die
sociale Frage, S. 23 lf., L, Brentano, zur Lehre v. d. Lohnsteigerungen, llildebr.
Jahrb. XVI, 251 ff.. Lange, Arbeiterfrage, 3. Aufl., S. 190. Solche Verbesserung
der Lage der Arbeiter vollzieht sich auf dieselbe Weise, wie diejenige, welche aus
Luxuseinschränkuug der Wohlhabenden hervorgeht. Mi 11 hat dafür die Schablone
gut aufgestellt, Polit. Oekon., Deutsch v. Sötbeer, 2. Aufl., Hamb. 1S64, 1. Buch.
Kap. 5, §. 3.
*) Einen interessanten Belegfall bildeu die Ausfuhrzölle auf Producte einer
Art Naturmonopols, welche in manchen Ländern (Südeuropa, tropische Länder) in der
sicheren Voraussetzung, sie auf die fremden Consumcnten zu wälzen, aufgelegt werden.
Vcrgl. hierüber meinen Art. Zölle, Staatswörterb. XI., 350, 353 fl.
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Arten der Erwerbung wirtschaftlicher Güter.
293
Diese „sociale“ oder „historisch-rechtliche“ Auf-
fassung des Begriffs der freien und wirtschaftlichen Güter ist
neben der erstbesprochenen rein-ökonomischen bisher zu
wenig beachtet worden, obgleich sie grössere Wichtigkeit hat, als
die letztere. Es ergiebt sich darnach aus dem Dargelegten das
wichtige Resultat, dass die Unterscheidung zwischen diesen Güter-
arten keine absolute, sondern eine relative, von der Rechts-
ordnung und der socialen Stellung der Betheiligten mit ab-
hängige ist. Der Zusammenhang der Unterscheidung mit dem
„Vertheilungsproblem“ ist damit zugleich erwiesen.
III. Arten der Erwerbung wirtschaftlicher Güter.
§. 115 [10]. A. Uebersicht.
Vgl. hierzu besonders unten iu Buch 3 die Erörterungen über den Wirth-
schaftsbetrieb und das gauze Buch 5 (Organisation der Volkswirtschaft). Der hier
in §. 115 ff. behandelte Gegenstand wird gewöhnlich in den Systemen an andere
Stelle gebracht. Aber es erscheint passend , ihn schon hier in Kürze zu behandeln,
um zunächst nur die rein natürlichen Möglichkeiten bez. die historisch
üblichen Arten eines Güterwerbs Seitens des einzelnen Bedürftigen zu kategorisiren.
Vgl. Hermann, S. 129 — 132.
Die ältere, besonders die britische Theorie hat hier zwei Fehler begangen,
welche erkannt und vermieden werden müssen. Sie hat einmal die ganze Entwick-
lung des derivativen Erwerbes zu mechanisch und zu abstract aus einer Art natür-
lichen „Tauschtriebes“ abgeleitet und dabei regelmässig nur die verkehrs-
inässige Erwerbung der Güter beachtet oder wenigstens fast allein betrachtet; und
sie hat zweitens die historische Bedingtheit und Beeinflussung der Ent-
wicklung der Erwerbsarten und der dafür mit maassgebeuden Verhältnisse der Ar-
beitstheilung und des Verkehrs, daher insbesondere auch der verkehrsuiässigen
Erwerbung der Guter, durch die Besitzverhältnisse und die hierdurch wieder
bedingten Herrschafts- oder Autoritäts-Verhältnisse (Herrn. Rösler s. u.) und
durch die Einrichtungen und Normen des Marktwesens und der weiteren mit diesen
in Verbindung stehenden Einrichtungen nicht genügend, häufig gar nicht berück-
sichtigt. In diesem Puncte ist der historischen Nationalökonomie die Berichtigung
der älteren ganz abstracten Behandlungsweise dieser Dinge zu verdanken.
Die Erwerbung der wirthschaftlicben Güter zum Behufe
der Bedürfnisbefriedigung kann für den einzelnen Bedürf-
tigen oder für das Haupt einer Wirth Schaft (das einzel-
wirthschaftliche Subject §. 147) auf zweierlei Weise erfolgen,
von denen sich die zweite dann weiter in eine Reihe besonderer
Arten, deren hier vier unterschieden werden, specialisirt. Die erste
Hauptart nennen wir die ursprüngliche, die zweite umfasst
die vier Arten des abgeleiteten (derivativen) Erwerbs.
1. Die ursprüngliche Erwerbung (Eigengewinnung,
Selbstgewinnung, Eigenproduction, naturale Ge-
winnung) stellt wieder die rein-ökonomische Kategorie der
Gtitererwerbung dar. Sie erfolgt unmittelbar durch Arbeits-
leistung des oder der Bedürftigen selbst, indem die Arbeit
294
2. B. Grundbegrille. 1. K. Güter. §. 115.
stets unter Mitwirkung der Natur, auf die erstmalige Natural -Ge-
winnung der bedurften concreten oder naturalen Güter gerichtet
wird. Die menschliche Arbeit hat dabei die Aufgabe, die Güter
der Natur abzugewinnen und die Natur demgemäss zu deren Her-
stellung entsprechend anzuleitcn. Diese Erwerbsart ist natürlich
für die Menschheit die eigentliche und einzige.
2. Die verschiedenen Arten des abgeleiteten Erwerbs stellen
historisch -rechtliche Kategorien dar, für welche die Normen
der Rechtsordnung in Bezug auf Unfreiheit, Freiheit, Besitz
(Eigenthum), Verträge, und die öffentlichen Einrichtungen
und Normen des Markt wesens und weiter des ganzen Ver-
kehrswesens mit bestimmend, auch wohl entscheidend sind. Daher
auch ein verschiedenes historisches und örtliches Vorkommen
der einzelnen hierhergehörigen Erwerbsarten, und eine verschiedene
historische Reihenfolge und Verbindung derselben miteinander und
eine verschiedene Ausbildung einer jeden derselben. Von solchen
abgeleiteten Erwerbsarten lassen sich vier typische unterscheiden,
welche hier mit den Namen Zutheilung von Gütern durch
Autoritäten, caritativer Erwerb, Zwangserwerb, ver-
kehrsmässiger, bzw. vertragsmässiger Erwerb bezeichnet
werden sollen.
Diese Unterscheidungen sind namentlich wieder für die grossen Fragen der Or-
ganisation und der Rechtsordnung der Volkswirthschaft und für die historischen Phasen
beider wichtig, daher einmal für die Zustände persönlicher Unfreiheit und Freiheit,
primitiver, patriarchaler und entwickelter, freier Verhältnisse der Volkswirthschaft:
ferner für die Verhältnisse einer auf Privateigenthum an sachlichen Productions-
mitteln (Boden und Kapital) und einer auf gesellschaftlichem Gemcineigeuthum an
diesen Objecten beruhenden Volkswirthschaft, daher für die „Vertheilungsfragen“,
welche zwischen dem ökonomischen Individualismus und Socialismus spielen.
a) Zutheilung der Güter durch Autoritäten.
Hierhin gehören die Verhältnisse im Familicnverbandc und in ähnlichen Ver-
bänden älterer Wirthschafts- und Culturstufen bis zu den noch in die Gegenwart hinein-
ragenden (südslavische Hauscommunionsverhältnisse u. s. w.); ferner die Verhält-
nisse in der mit Unfreien oder sonst Abhängigen arbeitenden Wirthschaft (antike Oekcn-
wirthschaft, mittelalterliche Frohnhof- und Klostcrholwirthschaft, neuere Sclavereiwirth-
schaft, Klosterwesen und verwandte Einrichtungen, Strafanstalten u. dgl.) — Ob man
im „Socialstaate“ eine andere Form der Zuführung der Güter an die Bedürftigen würde
überhaupt durchführen können, ist bei der Grundlage einer socialistische Organisation
der Volkswirthschaft und bei den aus dieser Organisation sich noth wendig ergebenden
Folgen für die Gestaltung des „Verthcilungsproblems“ mindestens fraglich.
b) Caritativer Erwerb (bzw. caritative Zutheilung
der Güter).
Hierher gehört die freiwillige, unentgeltliche (bez. die nicht voll nach
den Grundsätzen des verkehrsmässigen Erwerbs erfolgende Ueberlassung von Gütern
seitens der Besitzer oder Verfüger an die Bedürftigen: Fall des Geschenks, des Almosens,
überhaupt der werkthätigen Menschenliebe. Eventuell wurde man einige Fälle der
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Arten des abgeleiteten Erwerbs.
295
unter a erwähnten Zuteilung auch hier mit cinreihen können. (Unterhalt der Familien-
angehörigen, der Verwandten).
Eine solche Einführung eines neuen Ausdrucks wie „caritativcr“ Erwerb
hat ihr Missliches, aber sic ist ein Bedürfniss, um mit einem Gesammtnamen
das Gebiet der nach den Grundsätzen des Gemeinsinns, der Liebe, des religiösen
Motivs, der Humanität erfolgenden Erwerbsarten zusammen zu fassen. Einen besseren
Ausdruck als den gewählten und einen ebenso unzweideutigen kenne ich nicht.
c) Zwaogserwerb: zwangsweise unentgeltliche bez.
nur generell und nach Feststellung bloss der ein en betheiligten
Partei entgoltene Ueberlassung.
Hierhin gehören:
«) Die unrechtmässigen, d. h. streng wörtlich: dem Rechte nicht ge-
rn ässen und gewalttätigen Erwerbungen wirtschaftlicher Güter.
Angesichts flagranter Thatsachen in jedem Zeitalter und des vorherrschenden
Characters der Erwerbsart gauzer Völkerschaften in gewissen Zeitaltern (Seeraub, wo-
bei freilich erst ein wahres jus gentium als bestehend angenommen werden muss, dem
dieser Erwerb nicht gemäss ist) kann dieser Fall nicht ausgelassen werden.
ß) Die rechtmässigen, d. h. wieder wörtlich : dem (einerlei wie beschaffenen^
Rechte gemässen Erwerbungen, bei welchen das Recht die Unentgeltlichkeit oder
die bloss generell und einseitig entgoltene Ueberlassung regelt, nämlich
aa) die Fälle der verschiedenen Arten der persönlichen Unfreiheit eines
Thcils der Bevölkerung, wo immer nur höchstens generelle (im Lebensunter-
halt und in der Schutzgewähr der Sclavcn) und einseitig vom Herrn be-
stimmte speciclle Entgeltlichkeit (Gegenleistung des Herrn an den Leibeigenen,
den Frohnarbeiter) oder vom Rechte zum Nachtheil des Unfreien festgestellte Ent-
geltlichkeit (im Colonat, Hörigkeit u. s. w.) stattfindet;
bb) die Fälle der „öffent liehen Körper“ oder der ökonomisch so zu nennen-
den Zwangsgemeinwirthschaften, insbesondere des Staats, wo gleichfalls
zwischen Besteuerung und Leistungen dieser Wirtschaften für die ihnen Angehörigen
nur das Princip genereller, einseitig vom Subjccte der Gemeinwirthschaft fest-
gestellter Entgeltlichkeit obwaltet.
Die drei genannten Hauptfälle der Zwangserwerbsarten lassen sich mit einem
technischen Ausdrucke als unrechtmässige und rechtmässige Ausbeutung
fremder Arbeit und fremden Besitzes und als Besteuerung bezeichnen.
d) Verkehrs massiger, bzw. (weil dies hier die in Betracht
kommende Rechtsform ist) vertragsmiissiger Erwerb. Hier
ist die Voraussetzung persönliche Freiheit und Privateigenthum
bezüglich der Objecte, um deren Weggebung oder Erwerbung es
sich handelt. Freiwillig und im einzelnen Fall nach einem,
von beiden Parteien vereinbarten speci eilen Entgelt erfolgt hier
der Uebergang von Gütern von dem Einen auf den Anderen.
Hierher gehören namentlich: Tausch, Kauf und Verkauf von Sachgütern, Guter-
übergänge in Folge von Kreditverträgen (Darlehen, Ueberlassung von Gütern zur Nutzung
Miete, Pacht); Ucbertragungen von Schuldurkundcn und Anteilscheinen (Actien);
Vermietung der Arbeitskraft gegen Entgelt (Dienstmicthe, Arbeitslohnvertrag u. dgl. in.).
B. — §. 116 [11]. Vorkommen und Berechtigung
dieser Erwerbsarten. Die Wirthschaftslehre hat meistens zu
ausschliesslich die ursprüngliche und die verkehrsmässige Erwerbs-
art der wirthschaftlichen Güter betrachtet, weil man gewöhnlich
persönliche Freiheit und Eigenthum und genügenden Rechtsschutz
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29G
2. B. Grundbegriffe. 1. K. Guter. §. 116, 117.
dafür durch den Staat als selbstverständliche Voraussetzungen
der Wirtschaft und des Erwerbs ansah.1) Die drei anderen Arten
abgeleiteten Erwerbs haben in den verschiedensten Phasen der ge-
schichtlichen Entwicklung der Menschheit und ihrer Theile, der
Völker, aber eine nicht zu unterschätzende Bedeutung besessen
und besitzen sie noch, dürfen daher nicht unberücksichtigt bleiben.
Die autoritativen Zutheilungen wenigstens in gewissen Fällen
(Familie!) und allgemeiner in gewissen Zeitaltern und geschicht-
lichen Phasen der Besitzverhältnisse, die caritativen und die recht-
mässigen ZwaDgserwerbsarten haben auch ihre principielle
Berechtigung, theils dauernd und allgemein und, soweit die Zwangs-
gemeinwirthschaften in Betracht kommen, heute mehr als je, theils
selbst was die persönliche Unfreiheit anlangt, in gewissen Zeit-
altern.
Die Form der Zutheilung von Gütern durch Autoritäten war in ganzen Zeit-
altern und auf ganzen Wirthschaftsstufen für die Masse der Bevölkerung die vor-
herrschende, ja selbst die einzige für die Bedürfnissbefriedigung in Betracht
kommende. Und im Familien verbände hat sie eine bleibende Stelle, solange
es „Familien“ gab und geben wird.
Nicht nur die religiösen Motiven entspringende Wohlthätigkeit und
Freigebigkeit (mittelalterliche Kirche!), sondern auch die politischen Zwecken
dienenden Bezahlungen, ja förmlichen Besoldungen der Bürger für die
Theilnahme an den Staatsgeschäften, selbst an den Volksversammlungen in Athen,
dio Fälle des athenischen Theorikon, der Speisungen, der Getreidespenden in Athen,
Rhodos (Buchsenschutz, Besitz u. Erwerb im griech. Alterth., Halle 1860. S. 2S0 ff.,
Böcklx, Staatshaush. Athens, 2. Aufl., I, 31S 11'.), das umfassende S) stein der römi-
schen Getreidespenden (Ihering, Geist d. röm. Rechts, 3. Aufl., Leipz. 1874,
II, 1. Abth. S. 254, Mommsen, röm. Staatsrecht, II, 1. Abtb., I.eipz. 1874, S. 472,
Marquardt, röm. Staatsverwalt., Leipz. 1878, II, 10G ff.), der Spiele u. s. w. nicht
zu gedenken (Mommsen, eh. S. 486 ff., über die Bewirthungen dabei s. Fried -
läuder, Sittengesch. Roms, 3. Aufl., Leipz. 1874, II, 285) — dies Alles sind doch
so wichtige geschichtliche Beispiele von BcdUrfnissbefriedigungcn der Einzelnen ohne
oder gegen geringen Entgelt, dass sie nicht einfach ignorirt werden können, nur weil
sie bei uns nicht mehr verkommen oder wie gewisse kirchliche Wohlthätigkeit ungern
gesehen werden. Dazu denke mau an den Einlluss der antiken Sclaverei (s. Büchse n-
schUtz, S. 104 — 20S, Ihering. a. a. 0. 234 ff. 245 ff), an die zur Ehrensache der
bevorzugten Classen werdende Freigebigkeit der Reichen (Ihering, eb. S. 250), an
die Anweisungen von Ländereien im ager publicus oder dureh Anlegung von Colonien
(eb. S. 253), — lauter Momente, welche die caritative und zum Theil die Zwaugs-
erwerbsart für die Einzelnen eino heute unbekannte Bedeutung gewinnen liesscu, und
als geschichtliche Thatsachen Grunds genug, um nicht immer nur Eigenproduction
und verkeh rsmässigen Erwerb der Güter zu berücksichtigen.
Rein und ausschliesslich kommt kaum je für die gesammtc Bedürfnissbefriedigung
auch nur eines Individuums oder einer Familie bloss eine einzige dieser Erwerbs-
arten vor. Ein solcher Ausnahmefall mit ausschliesslicher Eigengewinnung der Güter
ist die Robinsonnade und partiell ihr ähnelnde Lebensverhältnisse vereinzelt ange-
siedelter Ackerbauer, herumschweifcuder Jäger u. a. m. Davon kann die Wirthschafts-
lehre abstrahiren oder sie macht von der Annahme solcher Fälle nur Gebrauch zu
Zwecken der Erläuterung und Analyse wirthschafüicher Vorgänge. Die abgeleiteten
*) S. auch Hermann, S. IS ff. liier liegt der Gedankensprung der absoluten
Freihändler.
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Entwicklung von Verkehr.
297
Erwerbsarten sind die Folge des gesellschaftlichen Zusammenlebens der
Menschen. Die wissenschaftliche Aufgabe ist, jeder derselben ihre richtige
Stellung für die menschliche Bed ürfnissbe fried igu ng anzuweisen, eine
Frage der Organisation der Volkswirthschaft. Von vornherein ist dabei nur der un-
rechtmässige Zwangserwerb uubediugt auszuschliesseu,
C. — §. 117 1 12 , 13]. Entwicklung der verkehrs-
m ässigen Erwerbsart, Tausch, Arbeitsgliederung
und Verkehr. Die Eigengewinnung der Güter pflegt schon
frühzeitig in den ersten Stufen der Entwicklung des Volkslebens
allgemeiner mit der ersten und dritten, auch wohl mit der zweiten
derivativen Erwerbsart der Güter verbunden zu werden, während
die verkehrsmäs8ige Gewinnung noch fehlt oder nur sporadisch
(Tauschhandel) vorkommt.
Die historische Erklärung hierfür liegt iu den älteren Zuständen des Volkslebens
(Geschlechterordnung), den damit verbundenen Verhältnissen des Bodeneigenthums und
der Bodennutzung, der mangelnden persönlichen Freiheit oder wenigstens socialen
und wirtschaftlichen Unabhängigkeit von den natürlichen Verbänden und Autoritüts-
verhältuissen , welchen der Einzelne untersteht. Erst mit der Auflösung und Um-
bildung dieser älteren Zustände und Verhältnisse, mit der Ausbildung voller persön-
licher Freiheit und individualistischer Unabhängigkeit, mit der Entwicklung des Privat-
eigentums an Boden, treten rein gesellschaftliche und (privat-) wirtschaftliche an
Stelle der natürlichen oder auf fester Sitte beruhenden üemeinschaftsbezioh ungen der
Menschen. Damit werden die Voraussetzungen für die „verkehrswirthschaftliche“
Erwerbung der Güter erfüllt.
S. Rau I, §. 7, 11411'., der, dem Gesichtspuuctc der englischen, besonders Smith’-
schen Schule gemäss, zu sehr bloss die technische, nicht auch die allgemein-volks-
wirtschaftliche und dadurch socialo Bedeutung der Arbeitsteilung beachtet. —
Hermann, S. 193 11. A. Smith, wealth of uations, 1. B., 1. Kap. — Die Not-
wendigkeit einer gewissen Arbeitsteilung konnte bereits bei der ersten theoretischen
Erwägung ökonomischer Dinge nicht verkannt werden. Schon Plato hat im Buch
vom Staate das Princip der Arbeitsteilung in seiner Bedeutung für die Thätigkeiten,
durch welche menschliche Bedürfnisse befriedigt werden, dartrelegt, richtig begründet
und erklärt. Vgl. Büchsenschutz, a. a. 0. S. 250. — H. Rösler, Vorlesungen
S. 6, 14, 20 IT., hebt richtig, nur etwas zu einseitig hervor, wie der Besitz die Arbeit
grade auch in den primitiven Verhältnissen leite und wie am Wenigsten von Anfang
an die Individuen nur im Verhältuiss des Tauschs gegenseitiger Dienstleistungen
ständen: das ursprüngliche Verhältuiss sei nicht das der Gegenseitigkeit, sondern
der Unterwerfung. Die Weiterentwicklung beruht aber gleichwohl auf der Aus-
bildung des Tauschs und der damit sich verbindenden Arbeitsgliederung. Nur
vollzieht sich dieser Process völlig erst bei ..freier Concurrenz“, wie z. B. im rö-
mischen Alterthum erst mit der der Concurrenz zuzuschrcibenden Auflösung der natural-
wirthscbaftlichen Einheit des Oikos. S. Rodbertus in Hildebr. Jahrb. a. a. 0. —
Vgl. auch Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, bes. §. 10 II., 17 lf., 19 ff.
Ferner G. Scbmoller’s stoffreiche Aufsätze: Thatsachen der Arbeitstheilung, Jahrb.
XIII (1SS9), Heft 3, S. 57, Wesen der Arbeitstheilung und der socialen Classen-
bildung, cb. XIV, Heft 1, S. 45, geschichtliche Entwicklung der Unternehmung,
bes. I u. II, die älteren Arbeitsgenossenschaften und die ältere agrarische Faxnilicn-
wirthschaft, eb. XIV, Heft 8, S. 1 und die Fortsetzung dieser Arbeiten (Handel,
Handwerk, Hausindustrie), eb. Heft 4. Arbeiten mit einer Fülle richtiger und werth-
voller Gesichtspuncte und Aufschlüsse, aber mit mehrfach unzulänglichen Begriffs-
bestimmungen und m. E. nicht befriedigender, zum Theil unterlassener Vcrwerthung
des reichen Stoffs für die Heransschäluug des Typischen der Entwicklungen und
für die theoretisch-systematische Aufgabe, die hier doch auch vorlag.
Die verkehrsmässige Erwerbung der Güter wird häutiger und
regelmässiger, wenn die Möglichkeit des Tauschs zur Arheits-
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298
2. B. Grundbegriffe. 1. K. Guter. §. 117, 11S.
gliederung (Arbeitstheilung und Arbeitsvereinigung) innerhalb
der Ortsbewohner oder Naliewohnender, schliesslich des Volks
führt, bei etwas grösserer Kechtssicherheit und uicht zu starken
natürlichen Hindernissen für die Conimunieation der Menschen und
Güter auch zwischen entfernter Wohnenden oder unter umher-
schweifender und sesshafter Bevölkerung und von Volk zu Volk.
Leicht transportable, daher im Allgemeinen feinere Producte („Luxus-
artikel“, Artikel eines hohen specifischen Werths), bilden dabei
früher einen Gegenstand des Tauscbs, als schwer transportable,
gemeinere Producte. In der Arbeitsgliederung widmen sich die
verschiedenen Wirtschaften den Thätigkeiten zur Eigengewinnung
bestimmter einzelner Güter mehr oder weniger ausschliesslich,
schon in der Ab- und Voraussicht, die den Bedarf übersteigenden
eigengewonnenen Erzeugnisse mit denjenigen anderer Wirtschaften
au szu tauschen. Eine solche Gestaltung setzt bereits ein ent-
wickelteres Vertrauen in das wahrscheinliche Gelingen dieser
Absicht und demgeraässe Zustände des Volkslebens voraus. Die
Eigengewinnung der Güter hört dann auch selbst mehr und mehr
auf, reine Eigengewinnung zu sein, indem sie die Mittel zu ihrer
eigenen Vornahme zum Theil selbst wieder verkehrsmassig bez.
durch Verträge beschafft (Mieten von Sclaven, Dingen von fremden
Arbeitskräften, Anleihen von Kapital, Pachten von Grundstücken,
Mieten von Häusern). Tauschen und Arbeitstheilung bilden so
allmälig eine enger und enger werdende wirtschaftliche Ver-
bindung unter der Bevölkerung.
Eine solche regelmässig und wenigstens in gcwisserWeise
p 1 a n m ä s s i g gewordene, weil auf fester Arbeitsgliederung
beruhende Verbindung unter der Bevölkerung heisst Verkehr
oder genauer: wirtschaftlicher Verkehr. Das Gebiet
rege 1 m assi gen Austausehs (A bsatz es) einer Güterart ist ihr
Markt. Die wirtschaftlichen Güter, welche austauschbar sind,
heissen als solche Tauschgüter und als Gegenstand des Ver-
kehrs Verkehrsgüter (§. 122).
Die Zunahme und die Innigkeit des Verkehre, die Ausdehnung des Markts, die
Arbeitsgliederung stehen, wie man leicht einsieht, in enger und reger Wechselwir-
kung. I)ic Ausbildung des Verkehre wird besonders durch drei Momente begünstigt:
1) durch ein natürliches und eigentlich wirtschaftliches Moment, die Vermehrung,
Vervielfältigung und Verfeinerung der Bedürfnisse, weil dadurch eine
immer grössere Menge und Mannigfaltigkeit von Gütern verlangt wird, zu deren Ge-
winnung die verschiedenen natürlichen Fähigkeiten und erlernten Ucbungcn der
Menschen und die verschiedene Naturausstattung der Länder benutzt werden müssen;
2) durch ein rechtliches Moment: die verbesserte Rechtssicherheit, wofür
der Staat vornehmlich wichtig ist, und die specicUe Gestaltung der den Verkehr
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Entwicklung von Verkehr.
299
betreffenden Rechtsordnung; 3) durch ein technis ches Moment: die Entwicklung
der Communicationen und Transportmittel, von deren Beschaffenheit die räum-
liche Bewegung der Menschen und Güter bedingt und der Kostenbetrag dafür abhängig ist
D. — §. 118 [14]. Ursprung des Tausches und Be-
dingungen der Entwicklung von Tausch und Verkehr.
Der Impuls zu Tausch und Verkehr liegt in erster Linie im
Selbstinteresse, welches eben in den Folgen des Tausches
sich befriedigt fühlt, womit schon die Naturgemässheit beider
als einer Folge der wirtschaftlichen Natur der Menschen aner-
kannt ist. Die Naturgemiissheit folgt aber weiter aus dem socialen
oder gesellschaftlichen Wesen der Menschen, welches diese
wie zu allem sonstigen, so auch zum wirtschaftlichen Ver-
kehr führt. Indessen damit ist weder gesagt, dass der „Tausch“
einem sozusagen eigenen menschlichen Triebe („Tauschtrieb“) ent-
springe, ein „Trieb“, von welchem keine Rede sein kann, noch
dass Tausch und Verkehr, wie die beiden zu Grunde liegende
Arbeitsgliederung, „rein natürliche“ Entwicklungen in dem
Sinne solcher sein, welche einfach und gleichmässig ohne Weiteres
aus der „wirthschaftlichen Natur“ des Menschen hervorgingeu.
Vielmehr sind auf diese Entwicklungen regelmässig von bestimmen-
dem Einfluss die gegebenen Ordnungen des Volkslebens,
die Organisationen des Wirtschaftslebens und die
Rechtsnormen für den Besitz; ferner, sobald einmal eine
gewisse Arbeitsgliederung und daran ankntipfend ein gewisser Ver-
kehr sich zu entwickeln begonnen haben, die Rechtsnormen
und die (öffentlichen und sonstigen) Ein ri chtu n gen des Markt-
wesens und des Verkehrs, besonders des städtischen. Dadurch
wird dem Verkehr und rückwirkend der Arbeitsgliederung ihr spe-
cielles historisches und örtliches concretes Gepräge gegeben. Beide
sind somit geschichtlich nicht „freie“ Gestaltungen des Trieblebens,
sondern durch die genannten Momente maassgebend beeinflusst.
Eben das bat die ältere abstracte Theorie in ihrer Construction von Verkehr
und Arbeitsgliederung fast gar nicht beachtet. Alles viel zu einfach und unhisto-
risch aus dem wirthschaftlichen Wesen des Menschen deducirt. Das Nähere gehört
aber nicht hierher, sondern in andere Theile dieses Werkes.
IV. — §. 119 [15]. Umfang des Begriffs „wirt-
schaftliches Gut“ und Einteilung (Arten) der wirth-
schaftlichen Güter.
Kau I, §. 1, 46. 46a. Roscher, §. 3; Hermann, S. J 1 4 !T. ; Schäffle,
System, 3. Aull., S. S, bes. S. 144 ff; anders Soc. Körper III, 258. Ders.. Theorie d.
ausschliess. Absatzverhältnisse, Tüb. 1867. A. Held. Grundriss, S. S, U, 12. 14, 42
u. in Hildebr. Jahrb. 1876, B. 27, S. 162. 186. mehrfach abweichend von mir. Er
stellt m. E. das formal Juristische wieder zu sehr vor dem Rein-Oekonotnischen voran.
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300
2. B. Grundbegriffe. 1. K. Güter. §. 119, 120.
Bei Tausch u. s. w. handelt es sich allerdings juristisch um Ucbertragung von Ver-
mögensrechten. Das ist aber in der Nationalökonomie nicht das Wesentliche, sondern
hier kommt die L'ebertragung von ökonomischem Gebrauchswerth in Betracht, die eben
nur in der und der Rcchtsform erfolgt (gegen Held S. 42). Ich kann mich daher auch
Held ’s Begriffsbestimmungen von Gut, Waare, seiner Classification u. s. w. nicht an-
scbliessen. Ebenso nicht seiner Bern. S. 9 des Grundrisses in Betr. der immateriellen
Güter. .Aus der neueren Litteratur besonders Neu mann ’s oben S. 280 gen. Arbeiten,
namentlich im Sc h ö nberg’schen Handbuch und in seinen Grundlagen. Erbeschränkt
neuerdings in Aenderung seiner früheren Ansicht den Begriff des Guts (d. h. bei
ihm: des wirtschaftlichen Guts, (o. S. 290) auch nicht mehr auf Sachen. —
v. Böh m-Bawerk in der o. S. 287 gen. eigenen, scharfsinnigen und beachtens-
Schrift, will Rechte. Verhältnisse, nicht als besondere Arten Güter anerkennen. Ich
halte indessen doch seine Gründe nicht für durchschlagend, in Uebereinstimmung mit
Ncumann betreffs der „Rechte“. Die Controverse über den Umfang des Begriffs wirt-
schaftliche Güter ist in den theoretischen und systematischen Werken bis in die
neueste Zeit hinein meistens lebhaft behandelt worden.
v
A. Uebersicht der Arten. Die Erörterung über die Unter-
scheidung zwischen freien und wirtschaftlichen Gütern bat bereits
ergeben, dass der Begriff „wirtschaftliches Gut“ kein rein-
ökonomischer, sondern zugleich ein Rechtsbegriff ist,
sobald man von dem zweiten, dem socialen Standpuncte der
Betrachtung aus die socialen Verschiedenheiten in der Lage
der Individuen und der Menschengruppen berücksichtigt. Dieser
Character des genannten Begriffs tritt auch bei der Festsetzung
seines Umfangs und Inhalts hervor, d. h. bei der Frage, welche
Güter überhaupt zu den wirtschaftlichen zu zählen sind und
welche Stellung die hergehörigen Güter dann unter den wirtschaft-
lichen Gütern einnehmeu : die in ihrer Beantwortung ebenfalls vom
jedesmaligen Recht mit abhängige Frage der Eintheilung
(C lass ifi cation) dieser Güter.
Zu diesen gehören nun drei besondere Arten von Gütern:
1. Personen und persönliche Dienste.
Ob und wie weit die ersteren, darüber entscheidet das geltende Recht. Wo
Sclaverei und Leibeigenschaft bestehen, gehören Sclaven und Leibeigene, wo mildere
Formen unfreier Arbeit, z. B. Frohnden, rechtlich anerkannt sind, gehören die pflich-
tigen Leistungen der Fröhner zu den wirthscbaftlichcn Gütern. Bei Anerkennung
voller persönlicher Freiheit sind nur Leistungen bestimmter Dienste auf bestimmte
Zeit zu diesen Gütern zu rechnen und stellen die betreffenden Ansprüche „Rechte“
dar, die zur dritten Art (Unterart d) der wirtschaftlichen Guter gehören.
2. Sachen oder Sachgüter: Stoffe der Natur oder vom
Menschen verarbeitete Stoffe.
3. Verhältnisse zu Personen und Sachen (res incor-
porales), deren gegenständliche Abgeschlossenheit auf einer Ab-
straction beruht (v. Mangoldt) und daraus eventuell folgende
Rechte.
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Arten wirtschaftlicher Güter.
301
Hierhin gehören:
a) aus dem ganz freien Verkehr: die Fälle der Kundschaft. Firma u. dgl. m.
wo vorteilhafte Beziehungen zu anderen Menschen, welche durch menschliche Tliätig-
keit ausgebildet sind, entgeltlich überlassen und erworben werden können;
b) auf Grund gewisser rechtlicher Beschränkungen des Verkehrs:
ausschliessliche Gewerberechte, Realgerechtigkeiten, Privilegien, Monopole, auch
Patente u. dergl. in.;
c) Einrichtungen und Anstalten für die regelmässe Vornahme gewisser
persönlicher Dienste: insbesondere „öffentliche Einrichtungen“, wie der Staat
selbst, seine einzelnen Anstalten, die Gemeinde und andere ähnlichen Veranstal-
tungen der menschlichen Gesellschaft
d) Rechte, ausser dem (Sach-) Eigenthumsrecht, welche Anspruch auf Leistungen
(Dienste, Sachgüter, Geld, Nutzungsüberlassungen) Dritter gewähren; daher auch be-
zügliche vertragsmässige Rechte.
Die Sachen können als materielle Güter den Diensten und
den Verhältnissen als immaterielle Güter gegenüber gesetzt
werden.
B. — §. 120 [16 — 18]. Die Streitfrage über den Be-
griff „wirtschaftliches Gut“, ln der Wissenschaft be-
steht ein noch heute nicht ganz erledigter Streit darüber, ob der
Begriff der wirtschaftlichen Güter auf die Sachgüter zu be-
schränken oder, wie im Obigen geschieht, auf die Dienste und
Verhältnisse (einschliesslich der „Hechte“) mit auszudehnen sei.
Die erstere Ansicht vertreten vornehmlich die älteren Lehrer und überhaupt
bis heute am Meisten die Engländer, von den Deutschen insbesondere Rau. Die
neueren Lehrer, besonders in Frankreich und Deutschland, haben dagegen
meistens die zweite Ansicht angenommen. Es tritt hierin also auch ein eharacteri-
stischcr nationaler und zeitlicher Unterschied hervor.
S. Rau I, §. 46a; die Stellen der oben in §. 119 gen. Autoren. S. auch
Meng er, Volkswirthsch.l. S. 5311'. Für die Einreihung der Dienste unter die wirt-
schaftlichen Güter mit zuerst Sto rch , der sich mit dadurch bestimmen lässt, dass die
Dienste dem Einzelnen ein Einkommen gewähren , welches von freiwillig gesuchter
und bezahlter Arbeit herruhrt. Handb. B. II. und „Zur Kritik des Begriffs v. National-
reichth.“, Pctersb. 1 827. Dann besonders J. B. Say, Handb. I., 133 (traitö, cd.
1841, Livre I., ch. XIII.). Hermann, Untersuch. 1. Aull. S. 5. 6, 2. Aofl., 114 ff.
Baumstark, Cam. Encycl. S. 547, Roscher, I, §. 3, Schäffle, System I, 145. —
Von älteren Gegnern dieser Ansicht: Malthus, principles ch. I., Senior. Bernhardi
(Kritik d. Gründe f. u. s. w. Grundcigenth., Petersb. 1849, K. 11), Kaufmann, aber
auch von Neueren noch (oder wieder) J. St. Mill, Grundsätze, 1. B„ Kap. 3, §. 3,
Wolkoff, Baudrillart, von deutschen früher Neu mann (Tübingen) in d. Aufs,
in d. Ttlb. Zeitschr. XXVIII., 25S ff., der aber mit Recht ebenso wie Rau § 40
Anm. c sagt, es sei bemerkenswerth, dass auch diejenigen, welche die Dienste in die
Wirtkschaftslohrc ziehen, doch fast nur die Sachgüter behandeln. Das ist allerdings
iuconsequent. Die Auffassung der Dienste und Verhältnisse als wirtschaftliche Güter
involvirt vielmehr folgerichtig m. E. diejenige Ausdehnung der Disciplin. welche ich
ihr in diesem Werke, besonders in den Erörterungen über die Gemeinwirthschaften
und den Staat zu geben suchte. Neu mann unterscheidet weiter, als von mir geschehen,
zwischen Verhältnissen und Rechten; letztere reiht er jetzt im Gutsbegriff ein; in
Betreff der Verhältnisse entscheidet er sich nicht unbedingt und lässt beide Auf-
fassungen (Einbeziehung in den Gutsbegriff und Ausschliessung) zu. Schäffle
hat jetzt (Soc. Körper III, 258) die sog. immateriellen Güter aus dem Begriff wirt-
schaftliches Gut ausgeschlossen, entgegen seiner früheren Auffassung, aber mit anderer
Motivirung als die Aelteren. Er zieht dagegen die „persönlichen Güter“ in ihrem
stofflichen oder leiblichen Bestand (Nerven, Muskeln, vegetative Gewebe) in den
Begriff ein. Die Neuerung hängt mit Schäffle’s Auffassung der Volkswirtschaft
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302
2. B. Grundbegriffe. 1. K. Güter. §. 120.
als socialer Stoffwechsel zusammen. Ich habe mich nicht von ihrer Richtigkeit über-
zeugen können.
Man bat die ganze Streitfrage gelegentlich als mlissig be-
zeichnet. Das ist sie entschieden nicht.
Denn von ihrer Beantwortung hängt einmal die Begrenzung des Gebiets der
Politischen Oekonomie ab, was ich gegen Neu manu festhalte, und sodann ist die
Beantwortung präjudiciell für die wirtschaftliche Beurteilung aller derjenigen Classen,
welche bcrufsm ässig persönliche Dienste ausüben, demnach des Gesi u des ,
der Angehörigen der liberalen Berufe und folglich auch des Staats. Nur wenn
die Dienste auch zu den wirtschaftlichen Gütern gerechnet werden, sind die genannten
Classen u. s. w. im wirtschaftlichen Sinne „productiv“. Die Beschränkung des
Begriffs „wirtschaftliches Gut“ auf die Sachgüter hindert die richtige wirtschaft-
liche Würdigung dieser Classen wie des Staats. Die einseitige Werthleguug auf die
Handarbeit in der materiellen Production in einigen socialistischen Lehren bängt mit
jener Beschränkung ebenfalls zusammen.
Bei der Erörterung der Streitfrage ist von beiden Seiten öfters
der Fehler begangen worden, zwischen wirtschaftlichen und
Tausch- und Verkehr sg Utern (§. 122) nicht gehörig zu unter-
scheiden und den Vermögensbegriff unnöthiger Weise in diese
Discussion zu ziehen.
Der Ausschluss der immateriellen Güter, insbesondere der persönlichen Dienste,
von den wirtschaftlichen Gütern ist nemlich u. A. auch deswegen erfolgt, weil jene
Dienste nicht oder nicht unbedingt und jedenfalls nur in anderer Weise als die Sach-
güter zu den Verkehrsgütern und dem Vermögen gerechnet werden könnten. Allein
diese Folgerung ist unrichtig, denn sie beruht auf der irrigen Annahme, dass sich
die Begriffe wirtschaftliches Gut und Verkebrsgut decken müssten, und auf einer
einseitigen Auffassung des Vermögensbegriffs. Dies ist auch gegen Rau und Andere
einzuwenden.
An Rau’ 8 Lehre lässt sich die Streitfrage gut erörtern.
Rau begründet in der letzten (8.) Auflage seines Werkes seinen
Standpunct in der Frage (I §. 1, 2, 46, 46 a) wörtlich in folgender
Weise:
„Alle Bestandteile der Sinnenwelt, die den menschlichen Absichten entsprechen,
werden körperliche, materielle, stoffliche, äussere oder sachliche Güter
genannt. Unter ihnen bilden diejenigen, welche eine dauernde Aneignung und be-
liebige Benutzung durch den Menschen gestatten und daher diesen zu vielfacher
Thätigkeit anregen, eine grosse, durch viele Eigentümlichkeiten ausgezeichnete und
für die wissenschaftliche Betrachtung vorzüglich wichtige Classe von Gütern, die mau
die besitz baren nennen kann. Den Sach- oder Stoffgütern werden zunächst die
persönlichen Güter entgegen gesetzt, welche in Zuständen und Eigenschaften des
Menschen bestehen (z. B. Gesundheit, Stärke, geistige Fähigkeiten, Kenntnisse) und
teils ihrer selbst willen (als Zwecke), theils als Mittel zur Erlangung anderer Güter
geschätzt werden.“ — „Um Sachgüter beliebig als Mittel zu gebrauchen, muss man über
dieselben ungehindert verfügen können. Die Menge von Güten«, auf welche sich in
einem gewissen Zeitpunctc die Verfügungsgewalt einer Person erstreckt, bildet das
Vermögen derselben (s. dagegen u. §. J24ff.). — „Wie alles Vermögen der Menschen
so besteht auch das gesammte Volksverinögon (s. dagegen u. §. 125) aus einer
Gewalt Uber Sachgüter und die wirtschaftlichen Thätigkeiten sind zunächst nur
auf den Besitz und Gebrauch solcher Güter gerichtet. Als sinnlich wahrnehmbare
körperliche (einen Baum einnehmende) Dinge, in denen der Mensch Mittel zu seinen
Zwecken erkennt, unterscheiden sich dieselben wesentlich von den persönlichen
Gütern, die mit dem Menschen selbst innig verbunden sind und sich in ihrer Ent-
stehung, Aufbewahrung, Uebertragung und Zerstörung ganz anders verhalten. Sic
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Die Streitfrage über den Begriff wirtschaftliches Gut.
303
sind von der Person des Besitzers nicht zu trennen, die Verfügungsgewalt über sie
ist eine sehr beschränkte, sie treten nicht in den Verkehr und gestatten in der Regel
keine Bestimmung nach Zahl und Maass. („Ausnahmen hiervon sind z. B. die Messung
der Muskelstärke mit dem Dynamometer, der Schärfe des Gesichts und Gehörs, — die
Zahl der Sprachen, die Jemand versteht n. dgl.“ Anm. Kau ’s.) Persönliche und
sachliche Güter können einander nicht vertreten. Wollte man, dem Sprachgebrauche
Zuwider, den Begriff des Vermögens und der Wirtschaft auch auf die persönlichen
Güter ausdehnen1), so würde die Politische Oekonomio sich zur Wissenschaft aller
Güter für den Staat, d. h. zur Staats wissen Schaft ausdehnen“*), — was aller-
dings in einer Hinsicht die Folge der hier von Kau bekämpften Ansicht ist, aber m.
E. kein durchschlagender Gegengrund. (S. jedoch o. §. lt)6.) — „Man würde aber
dennoch nicht umhin können, das Verhalten der Menschen in Bezug auf die Sachgüter,
d. h. auf die wirthschaftlichen Thätigkeiten , wieder einer abgesonderten Betrachtung
zu unterwerfen, weil sie von eigentümlicher Art sind und unter Gesetzen stehen, die
auf die persönlichen Güter nicht bezogen werden können. Indess hat jene Wissenschaft
sich dennoch auch mit den persönlichen Gütern zu beschäftigen, weil sie auf mehr-
fache Weise in die wirthschaftlichen Bestrebungen eingreifen:
J) „Storch hat auf die persönlichen Guter die bei den sachlichen gangbaren
Benennungen, Begriffe und Einteilungen mit gutem Erfolge angewendet, s. dessen
Handb. d. National wirthsch. II. — Wie bei den Sachgütern, so kann man auch bei
den persönlichen den Besitz des Einzelnen und die Gesammthcit der in einem ganzen
Volke vorhandenen Güter, z. B. die Masse von Wissen, Geschicklichkeit, Urteilskraft
u. s. w. unterscheiden. — Es giebt noch eine dritte Art von Gütern, die nicht in der
einzelnen Person, sondern im Verhältniss derselben zu anderen Menschen oder zum
Staate liegen, z. B. Ehre, Zuneigung, Schutz, Freiheit; gesellschaftliche Güter.
Hierher gehören die von Hermann sogenannten Lebensverhältnisse. Versuche, beide
obengenannte Arten von Gütern in der wissenschaftlichen Behandlung zusammen zu
fassen, von Arnd und Gioja; auch Bülau, Handbuch der Staatswirtschaftslehre;
eben dahin neigen sich Hufeland, neue Grundlegung, I, S. 34. Pölitz, Staats-
wissenschaft II, §. IS ff. Hasse, Cuinam nostri aevi populo etc. S. 12 und manche
Neuere. Am auffallendsten erscheint das Zusammenwerfen ungleichartiger Güter bei
Du M esnil-Marigny, Cat6ch. S. 12. — Die ausländischen Schriftsteller, welche
den Begriff vou Vermögen und Wirtschaft nicht haben, konnten leicht Veranlassung
finden, das Merkmal der Körperlichkeit bei den Sachgütern zu übersehen und bloss
an die Nützlichkeit oder die Tauglichkeit zur Befriedigung der Bedürfnisse zu denken. —
Es ist bemerkenswert, dass auch diejenigen, welche den Begriff des Vermögens über
die Sachgüter hinaus erweitern wollen, doch in dem Verlaufe der Wissenschaft sich
nur an jene Güter halten.“ (Anm. Kau’s, S. Autl. §. 40.)
2) „Es lässt sich desslialb keineswegs behaupten, dass die Staatswirtschaftslehre
durch Ausschliessung der persönlichen Güter in eine fehlerhafte Einseitigkeit gerate,
denn durch diese Beschränkung gewinnt sie ein abgerundetes eigentümliches Gebiet
und erlangt erst die volle Gründlichkeit und Fruchtbarkeit. Die persönlichen Güter
erfordern zwar eine Pflege durch den Staat, aber diese Thätigkeit, die man Staats-
erziehung, Culturpolitik . Volksbildungssorge nennen kann, ist von der Sorge für den
Volkswohlstand verschieden und verdient in dem Systeme der Staatsverwaltung eine
eigene Stelle. „Man hat es oft den Staatsökonomen schwer vorgeworfen, dass sie ihre
Aufmerksamkeit bloss auf die sachlichen Güter (wealth) richten und alle Beachtung
der Glückseligkeit und Tugend verabsäumen. — Niemand tadelt einen Schriftsteller
Uber die Taktik, dass er seine Aufmerksamkeit bloss auf kriegerische Angelegenheiten
richtet, ebensowenig schliesst man aus dieser Handlungsweise, dass er einen immer-
währenden Krieg empfiehlt. Allerdings würde ein Schriftsteller, der, nachdem er ge-
zeigt hat, dass ein gewisses Verfahren Sachgüter erzeugt, dasselbe bloss darum zur
Nachahmung empfiehlt, den grossen Fehler begehen, Wohlfahrt (happiness) und den
Besitz von sachlichem Vermögen (wealth) für einerlei zu halten. Aber sein Irrthum
liegt nicht darin, dass er seine Aufmerksamkeit auf das sachliche Vermögen beschränkt,
sondern in der Verwechslung von Wohlfahrt und Yermögensbesitz.'* Senior, Outl.
S. 139. (Anm. Raus, §. 46.)
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304
2. B. Grundbegriffe. 1. K. Güter. §. 120, 121.
„1. sie unterstützen die Hervorbringung und Erwerbung von Sachgütern sosehr,
dass der Wohlstand der Völker wie der Einzelnen grossentheils von dem Beistände
sittlicher und geistiger Kräfte bedingt wird;
.,2. die Sachgüter sind dazu bestimmt, den Zustand der Menschen zu verbessern,
daher ist das Vermögen nicht für sich allein, sondern nach seiner Beziehung auf die
menschliche Gesellschaft, d. h. in seiner Anwendung zur Erzeugung persönlicher
Güter, zu würdigen“. (Kau. §. 46.)
„Auch die persönlichen Dienste, d. h. Arbeiten, wodurch der Mensch un-
mittelbar dem Menschen einen Vortheil (ein persönliches Gut) zu Wege bringt, z. B.
Unterricht, Pflege, Beschützung, sind keine Thcile des Vermögens, obgleich viele der-
selben gegen eine Vergütung in Sachgütern geleistet werden und daher gleich diesen
einen Preis (Tauschwerth) haben, z. B. die bezahlten Thätigkeiten des Arztes. Lehrers,
Künstlers u. s. w. Wenn jedes Verkehrsgut. d. h. jeder Gegenstand, der einen Preis
hat und in den wirtschaftlichen Verkehr kommt, als ein Theil des Vermögens an-
gesehen werden sollte, so müsste dies von sämmtlicheu Lohnarbeiten, nicht bloss von
den persönlichen Diensten gelten. (Ein auch von Neu mann, Schönberg’s Handb I,
8. A. S. 137, Note 13 gemachter Ein wand). Selbst eine Unterlassung wird bis-
weilen bezahlt, z B. das Nichtbieten bei einer Versteigerung, das Nichtbewerben um
eine Gunst, das Nichtanzeigen eines Vorfalls, das Nichttheilnehmeu an einer Wahl.“
(Anm. Kau’s.) „Diese persönlichen Dienste sind zwar wie die sachlichen Guter
Mittel zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und dienen zum Theil als Erwerbs-
mittel, unterscheiden sich aber wieder von jenen Gütern zu sehr, um mit Nutzen für
die Wissenschaft mit ihnen im Begriff von Vermögen zu sam mengefasst werden zu
können, denn sie sind nicht bcsitzbar, kommen nur in einer Folge von Zeitmomenten
zur Erscheinung, sind also nicht in einem Vorrathe vorhanden; auch erfordert ihr
Erfolg meistens eine entsprechende Mitwirkung dessen, für welchen der Dienst ge-
leistet wird. z. B. Aufmerksamkeit des Hörers, Fleiss des Schülers, Folgsamkeit des
Kranken“ (was doch ebenso bei der Benutzung eines Sachguts gilt). „Die Fähigkeit
eines Menschen . gewisse Dienste zu leisten , bildet dagegen ein persönliches Gat,
welches seiner Natur nach von ungewisser Dauer ist. Weder ein Einzelner noch ein
Volk ist durch eine gewisse Menge möglicher oder bereits begonnener Arbeiten selbst
schon reich, sondern nur wenn vermittelst derselben Sachgüter erworben worden sind.
Die öfters als Beispiel erwähnte Sängerin, die im Schiffbruch ihre Habe verliert, ist
nicht mehr reich, aber sie kann es wieder wenien und mag in dieser Wahrschein-
lichkeit einstweilen Credit haben. Indess haben die Dienste für die Volkswirtschaft
aus zwei Ursachen Wichtigkeit, sowohl wegen ihrer Wirkungen, als weil sie denen,
die sie leisten, einen Antheil an dem jährlichen Erzeugnis von Sachgütern ver-
schallen“ (nach Kau § 46a).
§. 121 [19, 20J. Einbeziehung der Dienste in den
Begriff des wirtschaftlichen Gutes. Diese Erörterung
Hau’s, in welcher dieser Standpunct in der Streitfrage gut be-
gründet wird, beweist indessen doch wohl nur, dass die Dienste
manche Eigent htimlichkeiten, verglichen mit den Sachgütern,
haben und eben dessbalb eine besondere Art der wirthschaft-
lichcn Güter bilden: ferner, dass die Dienste entweder gar nicht
oder jedenfalls nicht in derselben A rt zum Ver m ö gen , wie
zu den wirtschaftlichen Gütern gehören. Aber sie beweist nicht,
dass die Dienste gar keine wirtschaftlichen Güter sind.
Selbst solche Eigenschaften, welche besonders gern gegen die Einbeziehung der
Dienste unter die wirthsch&ftlichcn Güter geltend gemacht werden, wie die rasche Ver-
gänglichkeit, die Unfähigkeit, zu Vorräthen angesammelt zu werden, theilen die per-
sönlichen Dienste mit manchen Sachgütern. Eine aparte Stellung nehmen die Dienste
auch dadurch ein. dass bei ihnen leichter als beiden meisten Sachgütern ein Ueber-
maass droht, theils wegen der Annehmlichkeit, welche mit der Leistung solcher
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Tausch- oder Verkehrsguter.
305
Dienste öfters verbunden ist (liberale, besonders wissenschaftliche, künstlerische, mit
äusserer Ehrenstellung verbundene Berufe), wobei dann die Arbeit das ihr characte-
ristische Merkmal des Opfers mehr oder weniger verliert, theils wogen des maass-
gebenden Einflusses des Staats auf die Nachfrage nach besonderen Arten der Dienste
(Beamtenthum, Militärwesen).
Wir halten die Einreihung der Dienste unter die
wirtschaftlichen Güter für das Richtige. Rau sagte in
einer früheren (nicht mehr in der letzten) Auflage (6. A. §. 46a
Anm. d.) ganz richtig: „Es hängt von der Definition des Ver-
mögens — und ebenso der wirtschaftlichen Güter, so darf man
hinzufügen — ab, ob die Dienste dazu gehören oder nicht“. Das
ist wahr, aber es folgt daraus nur, dass eine solche Definition
vorgenommen werden muss, welche die Dienste in die wirtschaft-
lichen Güter einschliesst. Werden nun unter letzteren diejenigen
Bedürfnissbefriedigungsmittel verstanden , welche nur gegen Arbeit
(Opfer) für die Menschheit zu erlangen sind, so passt dies auf die
Dienste ebenso wie auf die Sachgüter (selbst bei unfreier Arbeit,
wegen der Gewährung des Lebensunterhalts und Rechtsschutzes).
Der entscheidende Grund für die Einbeziehung der Dienste in die
wirtschaftlichen G Uter liegt alsdann darin, dass die B e f r i e d i g u n g s -
mittel eben unmöglich nur in Sachgütern bestehen
können, weil die Bedürfnisse sich nicht bloss auf
solche, sondern auf persönliche Dienste Dritter
(namentlich auch des Staats, wie Rechtsschutz und Förderung
aller Art) beziehen, ja solche pflegende, schützende, fordernde
Dienste Anderer gerade für den Menschen unentbehrlich,
mindestens in gewissen Lebenslagen, sind (§. 23).
Mitunter können zur Bedürfuissbefriedigung überhaupt nur solche Dienste und
Verhältnisse wie die genannten (z. B. gewisse Pflegedienste), mitunter können
dieselben wenigstens alternativ mit Sachgütern dienen. Oft hängt es von reinen
Zufälligkeiten, z. B. von gewissen persönlichen Eigenschaften des Bedürftigen, wie
Bildungsstand u. dergl. m. , ab, ob die eine oder die andre Form der Bedürfniss-
befriedigung gewählt wird (z. B. ärzüicher Rath — Arznei; Vortrag — Buch; Staats-
schutz — eigener Schutz). Der Unterschied zwischen dem Dienste und dem Sach-
gut liegt daher nur in dem relativ untergeordnetem Momente, dass Jemand beim
Dienste unmittelbar (durch die Arbeit) einem Anderen Bedurfnissbefriedigung ver-
schafft, beim Sachgute mittelbar, durch das Mittel eines von der Natur erhaltenen
Stoffs, an welchem sich erst seine Arbeit äussert.
V. — §. 122 [21, 22]. Tausch- oder Verkehrsgüter.
1. Bedingungen für das Verkehrsgut-Sein wirtschaft-
licher Güter. Die wirtschaftlichen Güter müssen, um Tausch-
güter oder Verkehrsgüter zu werden, ausschliesslich an-
geeignet und übertragen werden können. Darüber entscheidet
nicht sowohl und nicht nur die (ökonomisch-technische) Natur der
betreffenden Güter, als vielmehr das Recht. Von diesem hängt
A- Wagner, Grundlegung. 8. Auflago. 1. Thell. Grundlagen. 20
306
2. B. Grundbegriffe. 2. K. Vermögen. §. 122, 123.
es daher ab, ob und wie die wirtschaftlichen Güter zu Verkehrs-
gütern werden. Ob und wieweit jene zu letzteren weiden sollen,
kann zwar nach rein ökonomischen Rücksichten erörtert, aber
selten allein nach ihnen entschieden werden. Der Begriff „Ver-
kebrsgut“ ist demnach wiederum kein rein ökonomischer,
sondern immer zuvörderst ein Rechtsbegriff.
Da die Rechtssätze über die wirtschaftlichen wie Uber die Verkehrsgüter
wandelbar sind und auch sein müssen, so folgt daraus, dass die Begriße „wirth-
schaftliches Gut“ und „Verkehrsgut“ auch keine absoluten, logischen oder
rein natürlichen, sondern geschichtlich-rechtliche sind, was aoch die
Wissenschaft bisher viel zu wenig zu beachten pflegt. Dieses wesentliche Rechts-
moment in Begriffen wie Verkehrsgut, Vermögen u. A. m. konnte zwar nicht wohl
ganz übersehen werden, trat indessen bisher unverhältnissmässig stark in den Hinter-
grund, so auch bei Rau, z. B. in der cliaracteristisch kurzen Anm. a des § 2, und
doch auch noch bei Hermann (s. 2. Aufl. S. 19 ff'.), Roscher und den Neueren.
Anders und im Princip m. E. richtig H. Rösler, v. Scheel, bes. A. Held an d.
auf 299 S. genannten Stellen.
2. Engerer Begriffvon Verkehrsgut als von wirt-
schaftlichem Gut. Das Recht hat regelmässig den Begriff
Verkehrsgut enger gefasst, als den Begriff wirthschaftliches Gut.
Selbst manche Sachgüter sind vom Rechto ausserhalb des Verkehrs gestellt und
in diesem Falle also nicht Verkehrsguter. So die res quarum non cst commercium
des römischen Rechts, s. Puchta, Pandccten §. 35, Institut. IT, §. 223 (S. 552 ff.1).
Die Nationalökonomen kennen natürlich solche Ausnahmen , aber ignoriren sio als
zufällige Gestaltungen des Rechts, was sie freilich im Einzelnen sind. Aber
es ist nicht zu übersehen, dass das Gemeinwohl und insofern die Volkswirtschaft
immer solche Ausnahmen verlangen wird, man also unmöglich sich in der Politischen
Oekonomie nur mit Verkchrsgütern beschäftigen kann. Der Verkehr in anderen Sach-
gütern unterliegt wesentlichen Beschränkungen, so z. B. vielfach derjenige in Grund-
stücken. Auch wo das Recht persönliche Unfreiheit anerkennt, ist die Verkehrsgnt-
Qualität der Unfreien, welche hier zu den wirthscbaftlichen Gütern zählen, selten eine
ganz unumschränkte. Mit der Milderung der Unfreiheit pflegt sie regelmässig immer
beschränkter zu werden, wie z. B. der Uebergang von Sclaverei zu schollenpflichtiger
Leibeigenschaft zeigt. Noch maassgebender ist das Recht für das Vorhandensein
und den Grad der Verkehrsgut-Qualität der „Verhältnisse“ und „Rechte“ i. o. S. (§. 119),
z. B. fehlende oder nur bedingte Uebertragbarkeit von Privilegien u. dergl. m. Don
oben genannten öffentlichen Einrichtungen und Anstalten (§. 119) und natürlich
vor Allem dem Staat selbst fehlt diese Qualität gänzlich. Aber der Umstand, dass
ein Gut nicht Verkehrsgut ist, hindert nicht, es zu den wirtschaftlichen Gütern zu
rechnen.
Zweites Kapitel.
Das Vermögen (und Kapital).
§. 123. Vorbemerkungen und Litteratur.
Die folgende Behandlung des Vermögens, besonders die Unterscheidung der
beiden Vermögensbegrilfe nach den beiden in §. 109 unterschiedenen Sfandpunctcn
der Betrachtung sehe ich als eine consequente Fortbildung der Bahn brechenden Er-
örterungen von Rodbertus an (vielfach passim, in Hildebrand’s Jahrb. a. a. 0. in
d. Soc. Briefen, bes. in d. Schrift Zur Erklär, und Abhilfe der heut. Creditnoth des
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Vermögen und Kapital. Vorbemerkungen. Litteratur.
307
Grundbesitzes, Jena 1869, I, 90 ff., II, 2S6 ff., auch Tüb. Ztschr. 1878, S. 224, Ka-
pital, S. 304) Uber die nothwendige Unterscheidung von Kapital in rein öko-
nomischem Sinno als Vorrath naturaler Kapitalgegenstände und Mittel zur Pro-
duction Überhaupt und von Kapital im h istorisch - re chtli chen Sinne als
Kapitalvermögen oder unzweideutiger als Kapital besitz. Diese ßodbertus’sche
Unterscheidung lässt sich aber noch eine Stufe höher hinauf fuhren, zum Vermögen
selbst und überhaupt, wie oben gezeigt, verallgemeinern und auf andere Grundbegriffe
und wirtschaftliche Verhältnisse mit anwendeu. Aehnliche, gewiss richtige Tendenz
verfolgt, ohne übrigens an Rodbertus anzuknüpfen, Knies in seiner Analyse des
Kapitalbegriffs (Geld u. Credit, I. d. Geld, 1. A. Berl. 1873, Kap. I, s. bes. S. 31):
Die Natioualökonomik brauche Kapital in einem doppelten Sinne, nämlich als „reales
Productiv mittel“ (analog dem „Vermögen an sich“ im Text) und als „ein für den
Besitzer erworbener Gutcrvorrath“ (aualog dem „Vermögensbesitz“). Bei Roscher
fand sich von einer solchen Unterscheidung früher keine Spur (I, §. 7). Er sagt: „Ver-
mögen ist die Summe aller wirthschaftlichen Güter, welcho sich im Eigenthum einer
physischen oder juristischen Person befinden. Es giebt demnach (?) Privat-, Cor-
porations-, Gemeinde-, Staats-, Volks- und Weltvermögen.“ Offenbar passt auch auf
letztere beide Vermögen diese Definition des Vermögens nicht, denn „Volk“ und
„Welt“ sind keine „Person“. Auch bei Kau (Vermögen: Die Menge von Sach-
gütern, auf welche sich in einem gewissen Zeitpuncte die Verfügungsgewalt einer
Person erstreckt) kommt der Unterschied nicht zur Geltung, obgleich er Kapital
im volkswirtschaftlichen und im Sinne der einzelnen bürgerlichen
Wirtbschaft unterscheidet, §. 52, 53, S. u. §. 127.
Das Besitzmoment, die privatrechtliche Seite wird meistens allein im
Vermögensbegriff betont, so von Roscher (der in seiner Kapital-Definition §. 42 da-
gegen das andre Moment: zur Production auf bewahrtes Product sein, hervorhebt).
Rau, auch Hermann, S. 21, v. Mangoldt, Grundriss §. 4; bei Schäffle Syst. I, 72,
131 wird die ausschliessliche Beziehung des Vermögens auf eine es besitzende Person
noch besonders scharf hervorgehoben, also die erste Bedeutung oben abgewiesen.
Ebenso noch im Soc. Körper III, 263: „Das Vermögen lässt sich ohne Beziehung
auf Subjecte des wirthschaftlichen Thuns und Lassens nicht definiren. Es ist
dynamisch gedacht der Inbegriff der effectiven (Belastungen aus-, materielle Anrechte
einschliesseuden) äusseren materiellen Macht eines Subjects.“ Aber jene erste
Bedeutung scheint mir durchaus in der Sache begründet Natürlich muss jedes Ver-
mögen schliesslich menschlichen Zwecken dienen, ist insofern also ohne Beziehung
zu Personen nicht zu denken, schwebt allerdings nicht, wie Schäffle sagt, in selbst-
ständiger Bewegung durch das volkswirtschaftliche Universum. Aber die geschicht-
lichen Rechtsinhaber des Vermögens lassen sich ohne letzteres und dieses
wieder ohne sie betrachten. (S. auch Schäffle, Soc. KörperS. 264.) Ein Privat-
eigen th ums verhältniss, wie man stillschweigend immer ohne Weiteres annimmt, für
alles Vermögen oder für besondere Vermögensarten, wie das Kapital, ist ferner
nicht das allein denkbare, noch das allein bestehende. Die Vermögensbesitzer sind
endlich auch nicht immer diejenigen, welche das Vermögen bildeten (vom Erbrecht
ganz abgesehen), und noch weniger diejenigen, welche cs durch ihre alleinige
Thätigkeit bilden können: der Staat, als „Vermögen erzeugende Societät“ (Stahl)
wirkt vielmehr grade hierbei neben den Vermögensbesitzern stets direct und indirect
mit und die Rechtsordnung entscheidet ebenfalls mit über die Vertheilung des
Vermögensbesitzes bezw. der Fähigkeit, Vermögen zu bilden (Ertragstheilung zwischen
Arbeitern und kapitalistischen Unternehmern, zwischen Kapitalisten und Grundeigen-
tümern, zwischen Producenten und Consumenten u. s. w.) Für das Problem der
Vertheilung des Volkseinkommens und Volksvermögens, d. h. für das zweite Haupt-
problem der Nationalökonomie ist die Unterscheidung im Texte daher von grosser
Wichtigkeit. Vermögen im reinökonomischen Sinne und Vermögensbesitz schlechtweg zu
identificiren, heisst nichts Andres, als die einmal bestehende Rechtsordnung des Ver-
mögensbesitzes für die allein mögliche in wirtschaftlicher Hinsicht anzusehen,
was eben petitio principii ist. Auf diesem höchst einseitigen Standpuncte stehen ein-
zelne Vertreter des radicalen Smitianismus, z. B. Prince -Smith, wie immer so
auch hier der einseitigste, aber auch der rücksichtslos conscquenteste und ehrlichste
Vertreter dieser Richtung, so in dem Aufsatz „Die Socialdemocratie auf dem Reichs-
tage“ in Faucher’s Vicrtcljahrsschrift 1869 B. 1 (wo die „Besitzenden“ alles geleistet
20*
308
2. B. Grundbegriffe. 2. K. Vermögen. §. 123, 124.
haben, was uns in Volkswirtschaft und Cultur über den Naturzustand der Armuth
hinausbrachte, s. bes. S. 152!), ders. im Artikel Handelsfreiheit in Rentzsch’
Handwörterbuch der Volkswirtschaftslehre (in nuce das ganze Lehrgebäude der sog.
Manchestertheorie). Weiteres in der sehr geschickten Zusammenstellung radical frei-
händlcrischen Aeusserungen über die Grundlagen des Wirtschaftslebens von G. Schön -
borg, Tüb. Zcitschr. 28. (1872) S. 404 ff.
Vgl. auch Held, Grundriss S. 11, 33 u. in Hildebrands Jahrbüchern B. 27, 161,
meiner Auffassung beistimmend im Wesen, abweichend in der formellen Behandlung
der juristischen Seite. „So einfach" wie Held meint (S. 183) ist die Sache aber
mit Nichten. Die Unterscheidung von „Güterarten“ und „rechtlichen Beziehungen
von Personen zu Gütern“ macht die „schwerfällige“ Unterscheidung obiger beider
Standpuncte noch nicht entbehrlich. Held übersieht, dass in der Smith’schen National-
Oekonomie eben die historisch-rechtliche Auffassung allein besteht und für die
selbstverständliche gilt. Grade meine Unterscheidung von Gütervorräthen und
Rechten daran, in Rodbertus’ Weise, die er mir seltsam genug als „beständige
Verwechslung“ beider vorwirft, beseitigt diesen Irrthum der Schule.
Ans der neuesten Litteratur (seit der 2. Aufl. dieses Werks) hebe ich Neu-
mann’s Erörterungen und Bezügliches aus der österreichischen theoretischen
Schule als besonders beacbtenswertli hervor. Neu mann in seinen oben (S. 296)
gen. Arbeiten (bes. im Schönbcrg’schen Handbuch, Abh. Grundbegriffe, 2. A. I, 175,
3. A. I, 160) zergliedert mit seinem bekannten Scharfsinn auch den Vermögensbegriff,
zieht die juristische Auffassung (auch aus der Litteratur) mit hinein, hat übrigens
auch noch neuerdings in seiner Begriffsbestimmung etwas gewechselt. Er erörtert
den Begriff in der gen. Abh. erst nach dem von Werth und Preis, über welche beide
er nach dem Gutsbegriff handelt. In der 2. Auß. unterscheidet er zwei Begriffe
(„nach einer mehr äusserlichen , an den einzelnen Objecten haftenden Erfassung“):
1. Der Inbegriff der Jemand um seiner selbst Willen zu gewisser Zeit t hat säch-
lich zu Verfügung stehenden Güter, oder 2. der gleiche Inbegriff der rechtlich
zur Verfügung stehenden Güter; in der 3. A. fasst er beides zusammen: „Das Ver-
mögen Jemandes“ ist „der Inbegriß' der Güter, über die derselbe in seinem Interesse
verfügen kann und zwar entweder thatsächlich oder rechtlich“ (doch wohl auch:
thatsächlich und rechtlieh ausserdem). Jene mir so wichtig scheinende Unterschei-
dung des Doppel begrißs findet sich hier nicht
Eine sehr dankenswerthe Erörterung hat v. Bölim-Bawerk in seinem Werk
„Kapital und Kapitalzins“ B. II, S. 64 ß. der Unterscheidung zwischen Social- und
Privatkapital gewidmet. Er erkennt ihre Bedeutung völlig an, wendet aber ein, sie
falle nicht mit der Unterscheidung von Kapital als rein-ökonomische und als historisch-
rechtliche Kategorie, von naturalen Kapitalgütern und Kapitalbesitz zusammen; es
lägen hier zwei selbständige Unterscheidungen, jede mit einem anderen Unterschei-
dungsgrund vor. Social- und Privatkapital stellten auch zwei verschiedene naturale
Gütermengen dar (S. 66). Ich kann mich dem doch nicht anschliessen und halte im
Wesentlichen an meiner früheren Behandlung des Problems fest. Zum Theil dreht
sich der Stroit um die Frage, ob die „Unterhaltsraittel der productiven Arbeiter4 auch
zum Social-(National-)Kapital gehörten, was v. Böhm - Bawerk mit Rodbertus (Ka-
pital S. 299 ff) u. a. m. bestreiten, ich aber von einem bestimmten Stand-
punctc der Betrachtung aus auch für die Volkswirt lisch aft (dieso nem-
lich als Productionseinrichtung betrachtet, was doch auch zulässig und unter
Umständen geboten ist) festhalte. S. u. §. 129. Eingehend und beachtenswerth er-
örtert auch E. Sax, Staatswirthschaft, die betreffenden Fragen (S. 308 fl’. 324), aber
mit gleichfalls falschem Einwand gegen mich wegen der Einbeziehung der Löhne
(Subsistenzmittel) der Arbeiter in das Kapital. Vergl. ferner K. M enger, Volks-
wirtschaftslehre. und ders. in dem Aufs, zur Theorie des Kapitals in Conrads Jahrb.,
B. 51 tN. F. 17), 1898, S. 1 — 49, und inanchfach passim bezügliche Erörterungen in
Menger’s „Untersuchungen“ und in den unten in §. 135 genannten Arbeiten der
österreichischen Schule über Werth. Eine eingehende Auseinandersetzung mit den
abweichenden Ansichten dieser Autoren über Einzelnes ist indesson hier nicht mög-
lich. Jedenfalls ergiebt sich aber, welche entscheidende Bedeutung der Kapitalbegriff
hat und wie verkehrt die bei historischen Nationalökonomen hervorgetretene Ansicht
ist, dass Erörterungen über Begriff und Wesen des Kapitals (z. B. in Vorlesungen für
Studenten) unnöthig seien. S. sonst noch Marshall, principles, book 2, ch. 5.
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Doppelter Vermögensbegrift.
309
Aus der juristischen Litteratur ist besondere die ro manistische in be-
züglichen Erörterungen über Vermögen hervorzuheben (Pandectenwerke u. dgl.). Eine
Monographie ist Birkmeyer, über das Vermögen im juristischen Sinne. Er-
langen, J 879.
I. — §. 124 [23, 24], Vermögen im Allgemeinen.
A. Doppelter Vermögensbegriff. Entsprechend jenem
Doppelstandpunct der Betrachtung (§. 109) ist auch ein doppelter
Vermögeusbegriff zu unterscheiden: „Vermögen an sich“,
National-, Volks-, Social vermögen, bz w. Theile davon einer-,
Vermögensbesitz, persönliches Vermögen andrerseits.
1) Ersteres, Vermögen als rein ökonomischer Begriff, ist ein
in einem Zeitpuncte vorhandener Vorrath wirth-
schaftlicher Güter als realer Fonds für die Bedlirf-
nissbefriedigung.
Hier wird nur gedacht an die Brauchbarkeit der dieses Vermögen bildenden
Güter als Vorrath für menschliche Bedürfnissbefriedigung überhaupt, nicht an die
Art der Hechte, welche bestimmte einzelne Personen in Bezug auf dieses
Vermögen haben. Dieses „Vermögen an sich“ erscheint demnach als eiue wesentliche
Vorbedingung gesicherter wirthschaftlicher Lage, sowohl zur unmittelbaren Bedürfniss-
befriedigung (Gebrauchs vermögen) als zur mittelbaren, nemlich als Mittel zu neuer
Hervorbriugung von Gütern (Produ ctiv vermögen oder Kapital, $. 12S). In diesem
Sinne wird der Ausdruck in den Worten Volksvermögen, Weltvermögen ge-
braucht. Alle oben (§. 119) genannten Arten wirthschaftlicher Güter gehören
zu diesem Vermögen, einerlei ob sie Verkehr sgütcr (§. 122) sind oder sein können
oder nicht und einerlei, ob sie eine Schätzung nach dem Tausch wertb zulassen
oder nicht. Insbesondere sind zum Volksvermögeu zwar nur in Ausnahmefällen1) die
auf rechtlicher Beschränkung des Verkehrs beruhenden „Verhältnisse“ (§. 119 n. 3, b),
aber unbedingt die übrigen Verhältnisse (eb. a und c), namentlich auch der Staat
selbst zu rechnen. Ein tüchtiger Staat (Preussen!) kann einen wesentlichen Bestand-
theil des Volksvermögens bilden.
2) Vermögen als Verraögenbesitz oder als geschicht-
lich-rechtlicher Begriff bezeichnet dagegen den im Besitz,
bzw. Eigenthum einer Person stehenden Vorrath wirth-
schaftlicher Güter: Jedes solches Vermögen ist Einzelver-
mögen, d. h. Vermögen einer (physischen oder juristischen)
Person, weshalb es auch „persönliches“ Vermögen genannt
werden kann.
Hier wird in erster Linie an das Rechtsvcrhältniss gedacht, welches
zwischen dem Besitzer, bez. Eigonthümer und dem Vermögen besteht,
erst in zweiter Linie an das „Gütervorrathsein“ des Vermögens.
Wenn in bestimmten Verhältnissen die Gewährung eines ausschliesslichen
Hechts an einen Unternehmer die nothwendige Voraussetzung dafür ist, dass die
Unternehmung, welche eine Gesammtheit bedarf, überhaupt ins Leben trete, so wird
ein solches auf rechtlicher Beschränkung des Verkehre beruhendes Verhältniss in der
That zum Volks vermögen gehören. So liegt der Fall aber in mittelalterlichen
Wirthschaftsverhältnisscu öftere, z. B. bei Realgerechtigkeiten, Bannrechten, etwa für
Mühlen. S. u. §. 131.
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310
2. B. Grundbegriffe. 2. K. Vermögen. §. 124 — 126.
Für das Vermögen in diesem Sinne und Für seine wirthschaft-
liche Function ist das Recht dann in dreierlei Hinsicht ent-
scheidend, nemlich hinsichtlich der Person, welche „besitzt“
oder Eigenthum hat, der Dinge, welche im Besitz, bez. Eigen-
thum stehen, und der Rechte, welche das Besitz-, bez. Eigen-
thumsrecht in Bezug auf diese Dinge gewährt.
Für alles Weitere muss ich auf die Abschnitte über das Vermögensrecht, bez.
die Eigentliurnsordnung im 2. Thcil der Grundlegung verweisen, besonders über den
Eigenthumsbegrilf. Der von mir schon in der 1. Auflage im Ausdruck „Vermögens-
besitz“ mitgebrauchte Ausdruck „Besitz“, den ich in der zweiten anwandte, den auch
Held und H. Röslcr als „Innehaben von Vermögensrechten“ brauchen, lässt sich
juristisch beanstanden , entspricht aber dem Sprachbrauch besser, als bloss der Aus-
druck „Eigcnthum“. Ueber eine Polemik A. Held ’s gegen ineine formelle und syste-
matische Behaudlungsweisc dieser Gegenstände s. in 2. Aufl. S. 33, Note 2.
a) Vom Rechte hängt der Begriff der Person und deren
Fähigkeit, rechtlich zu „besitzen“ ab.
Wo keine solche, bez. keine Eigenthumsfähigkeit, da auch kein Vermögen in
diesem zweiten Sinne des Worts, in welchem man daher nicht von Volks- und Welt-
vermögen sprechen kann. Im Uebrigen wird dieser Punct besonders wichtig in Be-
treff der Bildungen des Vereinswesens wegen der Bedingungen für die Erlangung des
Rechts der juristischen Person, bezw. der selbständigen Vermögcnsfähigkeit.
b) Das Recht bestimmt die Dinge, wrelche überhaupt, bzw.
von Privatpersonen (physischen, wie nicht physischen) „besessen“
werden oder in Eigenthum stehen können (Extensität, Umfang
des Eigenthums). Nur solche Dinge können also Vermögen im
historischrechtlichen Sinne sein.
Personen, persönliche Dienste, „Verhältnisse“ sind nur nach den Bedingungen
der Rechtsordnung zum Vermögen zu zählen. Auch bei Sachgütern, insbesondere bei
ursprünglich freien Besitzgütern (§. 113) kann die Fähigkeit, im Eigenthum zu stehen,
wenigstens für ganze Kategorien von Personen („Private“) vom Rechte ausgeschlossen
sein. Die Verwirklichung der Postulate des Socialismus würde Grundstücke und Kapi-
talien vom Vermögensbesitz physischer Personen und sonstiger Personen des Privat-
rechts ausschlicssen : die Periode des „Kapitalcigenthums“ damit auf hören, wie die
des „Menscheneigenthums“ nach grundsätzlicher Beseitigung des Instituts der persön-
lichen Unfreiheit aufgehört hat (^Rodbertus).
c) Das Recht bestimmt endlich auch die einzelnen Rechte,
oder Befugnisse, welche es in Bezug auf die im Besitz bez.
Eigenthum einer Person stehenden Güter gewährt (In ten sität,
Inhalt des Eigenthumsrechtes).
Dieser Inhalt des Eigenthums ist rechtsgeschichtlich wandelbar, er
ändert sich nach Zeit und Ort und nach den Gegenständen, die im Eigenthum
sich befinden (Personen — Sachgüter — Verhältnisse; bewegliche Sachen — Grund-
stücke und Häuser; ländliche — städtische Grundstücke; Hausplätze — landwirt-
schaftlicher — Forstboden — Bergwerks Wegeboden; bewegliche Gcnussmittol —
bewegliche Mittel zur Erzeugung neuer Güter [Productionsmittcl oder Kapital] u. s. w.).
Der Eigenthumsbcgrifr ist demnach selbst wieder kein absoluter, sondern ein
historisch-rechtlicher relativer. Das Eigenthum giebt nur gewisse Ver-
fügungsbefugnisse und gewisse Ausschlussbefugnisse Anderen gegen-
über. Das Maass dieser Befugnisse wechselt. Der schroffe römisch - rechtliche
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Ooffentliclies, Privatvermögen. Reichtum.
311
Eigenthumsbegriff, welcher allerdings auch im modernen wirtschaftlichen Verkehr
mehr und mehr zur Geltung gekommen ist, ist nicht schlechtweg „der Eigenthuins-
begiifT*. Oder wenn eine Beschränkung der Vcrfugnngs- und Ausschlussbefuguisse
des Eigentümers als Widerspruch gegen den Eigenthumsbegriif gilt, so muss statt
von „Eigenthum“ eben von einem „Inbegriff gewisser Verfilgungs- und Ausschluss-
rechte“ gesprochen werden, wenn dafür auch ein anderer Gesammtname fehlt. Auch
filr diese Auffassung ist die Begründung erst im 2. Tlieile der Grundlegung zu geben.
S. bes. v. Ihering, Geist des römischen Rechts, 3. A. 1S73, I, 7 und Zweck im
Recht, I, 510, wo der erste lebende Romanist, in specieller Billigung meiner Ansicht,
sagt: „es ist nicht wahr, dass das Eigentum seiner „Idee“ nach die absolute Ver-
fügungsgewalt in sich schlösse“. S. auch Knies, politische Oekonomie, 2. Auflage,
S. ISO — 223 (Nachweis, dass wir es bei dem Eigenthum mit einem historischen,
der Differenciruug und der Wandelung zugänglichen Begriß und Verhältnis zu thun
haben und ein völlig unbeschränktes Privateigentum nie und nirgends vorhanden
war“). Ders., Geld, 1. A. S. S4 ff.
Die Politische Oekonomie operirt mit beiden Begriffen des
Vermögens. Wo sie den zweiten Begriff gebraucht, ist auch für
sie die rechtliche Seite desselben von grösster, aber selten ge-
nügend gewürdigter Bedeutung.
B. — §. 125 [25]. Eintheilung des persönlichen
Vermögens in Öffentliches und Privatvermögen Das
Einzelvermögen zerfällt nach der rechtlichen Stellung der inne-
habenden Personen in zwei wesentlich zu unterscheidende Arten:
öffentliches und Privat vermögen.
Zum öffentlichen Vermögen gehört insbesondere das Vermögen der „öffent-
lichen Körpor“, der später von mir sogen. Zwangsgemein w i rthschaftcn,
also namentlich das Staats-, Kreis-, G e m ein de vermögen. Dieses Vermögen ist
entweder zur allgemeinen Benutzung bestimmt und dem Staate u. s. w. wird
das Eigenthum daran als dem rechtlichen Vertreter der Gesammtheit (Volk, Orts-
einwohnerschaft u. s. w.) zugeschrieben (Wege, Flüsse u. dergl.) (öffentliches
Vermögen im engeren Sinne) oder es ist eigentliches Staats- , Gemeindevcr-
mögen, nemlich entweder V er waltungs vermögen, das zur Herstellung der Staats-
leistungen u. s. w. mit dient oder Finanzvcrmögen, das vom Staate zur Erwerbung
von Einkünften, als den Mitteln für die Herstellung seiner Leistungen, benutzt wird.
Zum Privatvormögen gehört dasjenige der einzelnen physischen Personen, der juristi-
schen Personen des Privatrechts, der Erwerbsgesellschaften, der freien Vereine u. s. w.
C. — §. 126 [26]. Der Begriff des Reichthums.
Vergl. Rau, §. 73 ff Roscher, §. 9. Leser, Begriff des Roichthums bei
Adam Smith, Heidclb. 1874. Neumann, im Schönberg’schen Handb., 3. A. I, 163.
Die fremden Sprachen brauchen diesen Ausdruck oder verwandte (richesse, richezza,
wealth) vielfach, w’o wir das Wort „Vermögen“ anwenden, weil sie kein für unsere
Disciplin passeudes Wort für letzteren Begriff haben. Auch unsere Sprache braucht
aber, z. B. im Wort „Volksreichthum“, den Ausdruck ,, Reichthum“ wohl mehr im
neutralen, bloss „Vermögen“, „wirtschaftliche Mittel“ bedeutenden Sinne, ohne die
Nebenbedeutung von „grossen“ Mitteln. (In Abänderung einer Bemerkung in der
2. Auf). S. 35) S. auch Neu manu an der oben gen. Stelle über Wohlstand und
Volkswohlstand.
Auch dieser mit dem Begriff des Vermögens zusammenhängende
Begriff hat wie jener eine doppelte Bedeutung. Reichthum im
rein ökonomischen Sinne bezeichnet ein grosses Vermögen,
d. h. einen grossen Fonds von wirtschaftlichen Gütern: gross
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312
2. B. Grundbegriffe. 2. K. Vermögen. §. 26 — 128.
im Verhältniss zu der damit zu erzielenden BedUrfnissbefriediguDg.
Reichthum im geschichtlich-rechtlichen Sinne bezeichnet
wieder einen grossen Vermögensbesitz und zwar gross nicht
nur im Verhältniss zum Bedarfe des Besitzers und zum Besitze
anderer Personen, sondern auch gross, um als Kapitalfonds
oder Grundrentenfonds (Grundbesitz) ohne Verminderung
seines Bestands (Werths) ein ohne oder mit verhältnissmässig
sehr weniger eigener Arbeit (bloss Verwaltungsarbeit) erzieltes
Einkommen zu reichlicher Bedürfnisbefriedigung seinem Besitzer
zu gewähren.
Reichtum in diesem Sinne setzt also eine Rechtsordnung voraus, welche
Privat eigenthum an Productionsmitteln und neben dem Einkommen aus
Arbeit (Arbeitslohn) Einkommen aus Besitz (von unfreien Arbeitern, Grundstücken,
Kapital), daher Rente und Zins zulässt. In diesem zweiten Sinne des Worts spricht
man von Privatreichthum. Es ist klar, dass auch ein bedeutender Volksreichthum,
begrifflich wenigstens, nicht nothwendig bedingt ist durch solchen Privatreichthum
und praktisch nur insofern von letzterem abhängt, als Privateigenthum an Produc-
tionsmitteln und Rente- und Zinsbezug als Einkommenarten wirklich indispen-
sable Rechtsinstitute sind, um die Bildung eines grossen Volksvcrmögens herbei-
zuführen. (S. 2. Theil der Grundlegung.)
II. Eintheilung oder Arten des Vermögens, insbe-
sondere Kapital.
§. 127. Vorbemerkung. Vergl. die Vorbemerkung im §. 123 über den
DoppelbegrifT von Vermögen und Kapital, bes. Rodbertus a. a. 0. und Knies,
der übrigens nicht dieselben Consequenzen aus dem Dualismus des Kapitalbegrifls zieht.
Die Unterscheidung des volks- und des einzcl- bez. priv at wirtschaftlichen
Standpunctes bei der Feststellung ökonomischer Begriffe ist grade bei dem Kapital-
begriff schon älter, doch fällt die Unterscheidung im Text nicht mit der bei Rau
u. A. m. vorkommenden genau zusammen. Für den einzelnen Autor ist auch beim
KapitalbegrifF maassgebend seine Auffassung der wirtschaftlichen Güter (besonders ob
Dienste oder Verhältnisse dazu gerechnet werden oder nicht), der Grundstücke (ob
diese nur als Naturfactor oder ob sie als, eventuell ob sie allein als wirtschaftliche
Güter betrachtet werden), dann seine Stellung zu der oben behandelten Frage (ob
Vermögensbesitz schlechtweg als Vermögen gilt und ob die Bildung des Volksver-
mögens nur in der Form des privaten Vermögensbesitzes für möglich oder wenigstens
allein so für genügend wirksam angesehen wird oder nicht). Die verschiedenen For-
mulirungcn des Kapitalbegriffs und der verschiedene Inhalt, welcher ihm gegeben wird
(z. B. ob Grundstücke oder nur bewegliche Güter, oder ob bloss Erwerbs- oder auch
gewisse Genussmittel, die auch nur als solche dienen, darunter gereiht werden), können
daher auch gar nicht auffallen, sondern sind eine notwendige Conscquenz des ver-
schiedenen Stand- und Ausgangspuncts. Das wird in der Kritik der Begriffe andrer
Autoren so oft tiherschen, selbst von Roscher in seinen dogmengeschichtlichen Be-
merkungen (§. 42 Anm. 1), wie Knies, d. Geld. 1. Auf!., S. 12, richtig einwendet.
Man kann nur den Ausgangspunct kritisiren und etwaige folgewidrige Schlüsse aus
demselben abweisen. Für die Unterscheidung und für die Erörterungen über die
älteren Autoren (Turgot, A. Smith, die deutschen) ist Knies a. a. 0. besonders
zu vergleichen. Schade, dass er Rodbertus übersehen hat.
Beachtenswert hinsichtlich der Unterscheidung der einzel- und volkswirtschaft-
lichen Begriffe ist von den Früheren namentlich Storch, besonders in der Betrachtung
über die Natur des Nationaleinkommens (aus dem Französ.), Halle 1825, S. 1 ff.. 42 ff.,
(hier Scheidung von Einzel- und Volkskapital, welches Beides unter den allgemeinen
Begriff vom Kapital falle: Einkommen, das zur Hervorbringung eines neuen
Einkommens angewandt wird). Vergl. ferner Kumpf, wirtschaftliche Natur des
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Vorbemerk. und Litteratur Uber den Kapitalbegrilf.
313
Darlehens, Ttib. Zeitschrift B. 11. Sam. Oppenheim, Natnr des Kapitals und Credits,
Mainz 1868, I, Kap. 1, der drei Arten des Kapitals scheidet: National- oder
auch Xaturalkapital („ein sich selbst anfrecht haltender, erzeugter Güterstamm,
der. ohne sich selbst dabei zu vernichten, der Nation stets ein Gütereinkommen ab-
wirft und auf diese Weise ihr als Nahrungsquelle dient“, S. 9), dann das Unter-
nehmer- oder Wcrthkapital , endlich das Rentner- oder Leihkapital, S. 10. —
Rau scheidet I, §. 50 ff.: „Die inländischen Bestandtheile des Volksvermftgen“ 1)
nach ihrer Entstehung und ihrem Verhältniss zur Erde in Grundstücke und
bewegliche Stoffgüter, 2) nach ihrer Bestim m ung für gewisse Zwecke in
Genussmittel, die unmittelbar dazu dienen, irgend einen Vortheil hervorzu-
bringen und in Erwerbsmittel, die als Mittel, neue Sachgüter in das Vermögen
zu bringen, sei es durch Erzeugung, sei es durch Verkehr, benutzt werden. In Ver-
bindung der beiden Einteilungen scheidet er dann: 1) Grundstücke (meist Er-
werbsmittel), und 2) von der Erde getrennte Stoffgüter, nemlich a) beweg-
liche (oder beweglich gewesene) Genussmittel (Menge davon: Gebraucbsvorrath),
b) bewegliche Erwerbsmittel (Vorrath davon: Kapital). Das Kapital sei: „die
übersparte und werbend angelegte Frucht einer früheren Gütererzeugung“, der viel
gebrauchte Satz, Kapital sei „angesammelte Arbeit“, sei nur eine Metonymie (§. 51).
Diese Erklärung von Kapital entspreche „dem Standpunct einer einzelnen
bürgerlichen Wirthschaft, die neben anderen und im Verkehr mit denselben
steht Man verstand unter Kapital anfänglich nur eine zum Ausleihen be-
stimmte. eine Einnahme von Zinsen versprechende Geldsumme. — Kapital, capitale,
ist die Uebcrsetzung des griechischen xe<f>u).eiov , womit man die Forderung einer
Geldsumme im Gegensatz des Zinses, rdxog, bezeichnete, s. die Stellen bei Du (Jange,
Clossar. s. v. Capitale undMaclcod, Dict. I. 323. Capitale, caput pecuniae — caput
als Hauptsache, Wesentliches, Ursprüngliches — wurde erst im Mittelalter üblich. Im
Deutschen brauchte man das Wort Hauptgeld. (Vergl. Knies, Geld, S. 6 IT.) Später
erkannte man, dass ein beweglicher Gütervorrath auch auf andre Weise, in Ver-
bindung mit Arbeit oder ohne dieselbe, fortdauernd zum Erwerb von Sachgütern
dienen könne und daher zum Kapital im privatwirth schaftlichen Sinne zu
rechnen sei“ (Rau §. 53). Anders aber gestaltet sich nun der Kapitalbegriff im
volkswirtschaftlichen Sinne: Kapital bildeten hier .,die beweglichen Mittel zu einem
solchen Erwerbo, durch welche Sachgüter neu in das Vermögen von Staatsbürgern
gelangten, indem sie überhaupt erst zum Vorschein kommen oder vom Ausland ein-
geführt werden“ (cb. §. 5b). In der Privatwirth sc haftslehre rechne man des-
halb zum Kapitale nicht nur das wahre volkswirtschaftliche Kapital, sondern auch
solche Genussmittel, die der Eigentümer, statt sie selbst zu brauchen, zu einem Mittel
macht, sich eine Einnahme zu verschaffen (§. 54). — Meine Auffassung im Texte
steht derjenigen von Rau also doch nahe, wenn sie sich auch nicht mit ihr deckt
(nnd zwar abgesehen von der verschiedenen Behandlung der wirtschaftlichen Güter
und der Grundstücke). Aehnlich Neu mann (Tüb.), Tüb. Zeitschr. B. 28, 311. —
S. ferner die in §. 123 angegebene Litteratur, besonders die österreichische, auch
den schon älteren Aufsatz von Kleinwächter, Beitrag zur Lehre vom Kapital,
Hildcbrand’s Jahrb., B. 9 (18G9) S. 310, 309, und ders. ira Schönberg’schen Hand-
buch, Abh. Production, 3. Au fl., I, 189 fT. spcciell über die beiden Vermögensarten.
Raul, §. 48 ff., bes. 50—54. Hermann, S. 109 fl'., 221 — 309. Roscher
£}. 7, 42 ff. v. Mangoldt §. 4. Schäffle, System, I, 10, 127, 135 ff.; Soc.
Körper III, 265. Menger, Volks wirthschaftsl. S. 70 ff., ders., Conrad’s Jahrb. B. 51,
S. 8. — Knies, d. Geld, Kap. 1. — Held, Grundr. S. 33. — G. Cohn I,
§. 145—147.
A. — §. 128 [27]. Die zwei Vermögenszwecke und
-arten. Das Vermögen in den beiden Bedeutungen des vorigen
Abschnitts zerfällt nach seinem Zwecke und der mit ihm wirk-
lich erfolgenden Verwendung in zwei Bestandtheile: in Ge-
brauchs- oder Genu ss vermögen und in Productivver-
mögen oder Kapital. Die Unterscheidung beider Bestandtheile
314
2 B. Grundbegriffe. 2. K. Vermögen und Kapital. §. 128, 129.
gestaltet sich aber für das Vermögen in seinen beiden Bedeutungen
wieder nicht ganz gleich.
1) Das Gebrauch 8 vermögen („Vermögen im engeren
Sinne“) ist ein Vorrath solcher wirtschaftlicher Güter, welche zur
unmittelbaren Bedürfnissbefriedigung dienen und zu diesem
Zwecke besessen, bzw. erstrebt werden. Es ist, nach der Art
und der Dauer des Gebrauchs unterschieden,
a) Verbrauchsvermögen, soweit es Güter umfasst, welche
bei der Bedürfnissbefriedigung sofort gänzlich oder wenigstens in
ihrer individuellen Gutsform als Güter untergehen, z. B. Nahrungs-
mittel ;
b) Nutz vermögen, soweit es Güter umfasst, welche erst
durch eine etwas andauernde Benutzung für die ßedürfnissbe-
friedigung ihre Gutseigenschaft verlieren. Ein wesentlicher Theil
des Volksvermögens und des Vermögensbesitzes der Personen be-
steht aus solchem Nutzvermögen.
So Wohngebäude. Mobiliar, Betten. Kleidung. Geräthe, — auch Vorräthc ohne
sofortige Bestimmung der Verwendung, besonders Lebensmittel- und Geldvorräthe
(s. Hermann S. 226 If., mit der guten Nutzanwendung auf den Staatsschatz). Ein
Versuch einer Werthstatistik des Nutzvermögens für Baiern bei Hermann, S. 229.
Nutzvermögen wird von Anderen Nutzkapital (Hermann, 221) oder Ge-
brauchskapital genannt (Koscher §. 43), entsprechend den Kapitaldelinitioncn
dieser Schriftsteller (Hermann: Güter, welche dauernde Grundlage einer Nutzung
sind, die Tauschwerth hat). Aehulich Say, Handb. I. 220 (Gebtauchsvorrath: capi-
taux productifs d’agriments ou d'utilite). M’Culloch S. 72, Steinlein (Nähr- und
Zchrkapital) Unters. S. 60. Auch G. Cohn I, §. 147 will allen Gütervorrath als
Kapital bezeichnen und dann iu Gcbrauchskapital und Productivkapital scheiden Vergl.
auch Gcrstner (Beitr. z. Lehre v. Kap., Erlangen 1857). Mir scheint es mit Rau
(§. 51, Gebrauchsvorrath: eine in irgend einer Beziehung zusammengefasste Menge
beweglicher Genussmittel; Kapital, Erwerbstamm, worbender Gütervorrath:
ein Vorrath beweglicher Erwerbsmittel) zweckmässiger, um der terminologischen Klar-
heit und Unzweideutigkeit willen, das Wort Kapital nicht für Nutzvermögen mit zu
gebrauchen. A. Smith nennt das Gebrauchsrcrmögen: stock which supplies immediate
consomption. II, 5 (Bas.) und versteht darunter den Vorrath der mit Hilfe der Arbeit
erlangten beweglichen Güter.
2) Das Kapital im Allgemeinen („eigentliches“ Kapital,
Productivkapital) ist ein Vorrath wirthschaftlicher Güter, welche
als Mittel zur Herstellung bez. Gewinnung neuer wirthschaftlicher
Güter dienen.
Vergl. über die Dogmonges chichte des Kapitalbegriüs die reichhaltige lite-
rarische Zusammenstellung von Roscher, §. 42 Anm. 1, damit aber wieder die Er-
örterungen von Knies, d. Geld, Kap. 1, worin mit Recht das vergebliche Bemühen,
einen einzigen, allein wissenschaftlichen Begriff' von Kapital aufzustelieu, nachgewiesen
wird. S. ferner jetzt das Werk von Böhm-Ba werk, Kapital und Ka^italzins passim
vielfach, bes. II, Buch 1, auch den Aufsatz von Mcuger in Conrads Jahrb. B. 51.
Auch beim Kapital findet eine der Unterscheidung in Ver-
brauchs- und Nutzvermögen analoge Unterscheidung nach Art und
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Doppelgriff. Kapital.
315
Dauer der Verwendung in umlaufendes und stehendes
Kapital statt.
a) Umlaufendes Kapital ist das, welches ganz auf ein-
mal (also seinem vollen Werthe nach, vom Werth etwaiger Ab-
fälle abgesehen) bei der Herstellung eines Products verbraucht
wird, indem es, bzw. seine einzelnen Bestandtheile (Güter) dabei
sofort die Gutseigenschaft verlieren. Es geht daher mit seinem
vollen Werth in die Productionskosten des neuen Products über
und wird nach erfolgtem Absatz des letzteren, die Deckung der
Kosten durch den Preis vorausgesetzt, wieder völlig disponibel.
b) Das stehende Kapital dient hei einer Reihe von Güter-
productionen. Nur der Betrag der Abnutzung (Amortisation)
geht in die Kosten des neuen Products über. Es wird daher auch
er st allmälig aus dem Erlöse aller der Producte ersetzt, zu
deren Herstellung es diente und erst dann wieder ganz disponibel.
Roh- und Hilfsstoffe sind die wichtigsten Beispiele umlaufenden,
Werkzeuge, Maschinen, Gebäude diejenigen stehenden Kapitals.
B. — §. 129 [28]. Der Doppeibegriff Kapital. Für
die genauere Analyse des Kapitalbegriffs und für das Verständniss
der wirthschaftlichen Function des Kapitals ist wieder, wie beim
Vermögen, der rein ökonomische und der geschichtlich-
rechtliche Standpunct der Betrachtung zu unterscheiden.
1) Kapital als rein ökonomische Kategorie, also wieder
unabhängig betrachtet von den geltenden Rechtsverhältnissen für
den Kapitalbesitz, ist ein Vorrath solcher wirtschaftlicher, zunächst
beweglicher Güter — „naturalen Güter“ — , welche aus einer
früheren Production herrühren und als technische Mittel
für die Herstellung neuer Güter in einer Wirtschaft dienen
können und dafür erforderlich sind: es ist Productionsmittel-
Vorrath oder „Volks-, National-Kapital“, — „Social-
kapital“, wenn man mit einigen Neueren diesen Ausdruck vor-
ziehen will — bez. Theil (Partikel) davon.
Diese Güter können auch zur unmittelbaren Bedürfuissbefriodigung — also in-
sofern als tiebrauchsvermögen — dienen, aber Kapital“ sind sie nur, wenn sie für solche
Menschen dienen, welche während dieser Bedürfnisbefriedigung arbeiten, bez. durch
letztere in denStaud dazu gesetzt. So die Unterhaltsmittel im nothwendigen Umfang für
alle während der Dauer der Production und bis zur Erzielung des Gegenworths der Pro-
ducte — Absatz — nothwendig zu beschäftigenden Arbeitskräfte, ausführendo
— Arbeiter i. e. S., — beaufsichtigende, leitende (einschliesslich Unternehmer) Gerade
diese Auffassung ist angegriffen und mir specicll zum Vorwurf gemacht worden. So
will Kodbertus zum Nationalkapital nur die Arbeitsstoffe und Arbeitswerkzeuge,
nicht den Unterhalt der Producenten rechnen. (,,Z. Erkcnntn.“ 1. Theorem. S. Tüb,
Zcitsc.hr. 1878, S. 226, Kapital S. 299 ff.) Und diese Ansicht ist in der sociali-
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316
2. B. Grundbegriffe. 2. K. Vermögen und Kapital. §. 129, 130.
arischen Litteratur, aber auch ausserhalb derselben vielfach verbreitet, so beiv. Böhm-
Bawerk (Kapital II, 71 ff.), Sax, (Staatswirthschaft S. 324), auch bei den theo-
retischen Gegnern der Lohnfondstheorie (Thornton, Georgo, Brentano), und ihnen
sich anschliessend bei Vertretern des jüngeren Historismus, welche dann freilich die
ganze Streitfrage (auch bezüglich der Lohnfondstbeoric) verwirrt haben. Das nichtige
ist doch wohl dieses: Gewiss ist die Kobbertus’sche Auffassung richtig nach einer Seite
betrachtet, weil der Unterhalt Zweck, jeno Stoffe u. s. w. Mittel aller Production sind.
Aber nach einer andern Seite lässt sich doch auch die Volkswirtschaft als selb-
ständiges Ganzes anschcn , von dessen Standpunct aus der Unterhalt so gut als
diese Stoffe Mittel für die Production sind. So wäre die Sache doch auch in
einem ,. Socialstaat“ ohne Privatkapital für mancherlei Zwecke, z. B. zur Beurtheilung
der technischen Productivität, aufzufassen. Insofern fällt der Arbeitcrunterhalt dann
auch hier nicht aus dem National-Kapital-Begriff heraus. Der Einwand, dass die
Löhne u. s. w. nicht nur für den Arbeiter „Einkommen“, sondern anch für die Volks-
wirtschaft Theil des Nationaleinkommens seien, beweist daher in dieser Frage auch
nichts. Denn wiederum dio ganze Volkswirtschaft als Productionseinrichtung be-
trachtet. erscheint alles das als Nationalkapital, was an notwendig zu verwendenden
Sachgütern Bedingung der Production neuer Güter ist, daher hier jene Löhne, d. h.
die durch sic vertretenen Unterhaltsmittel, ebensowohl als die Roh- und Hilfsstoffe u. s. w.
Die Auffassung der Löhne als Theil des Nationaleinkommens und als Theil des
Nationalkapitals stehen auch nicht in Widerspruch mit einander, sondern sind beide
richtig von einem verschiedenen Standpunct der Betrachtung aus. Für ver-
schiedene Probleme sind aber diese beiden Standpuncto zu unterscheiden.
Das Nationalkapital ist für die Herstellung von Gütern, wenn auch nicht von Ursprung
an, so doch sehr bald, einerlei welches sonst die Gestaltung des wirtschaftlichen Verkehrs
sei, eine indispensable Bedingung (einer der gewöhnlich sogenannten „Productiv-
factoren“ neben Natur und Arbeit, aber nur diese beiden verdienen diesen Namen,
sind Ursache, das Kapital ist nur Bedingung der Production). Die Grundstücke
gehören zu dem Kapital in diesem Sinne, soweit sie durch die menschliche
Arbeit wirtschaftliche Güter geworden („meliorirt“. ergiebig gemacht) sind,
während sie als freie Güter (§. 113) vom Standpunct der Menschheit ans
nicht zum Vermögen und demnach auch nicht zum Kapital zählen.
2) Kapital im historisch-rechtlichen Sinne oder Kapi-
tal besitz, „Privatkapital“, ist derjenige Theil des zunächst be-
weglichen Vermögensbesitzes einer Person, welcher derselben
als Erwerbsmittel zur Erlangung eines Einkommens aus
ihm (Rente, Zins) dienen kann, also zu diesem Zwecke von
ihr besessen und erstrebt wird: bestimmungmässig ein „Renten-
fonds“.
Dazu gehören sowohl Vorräthe beweglicher Erwerbsmittel als auch Grund-
stücke und Gebäude, welche durch Verwendung beweglicher Erwerbsmittel die
Eigenschaft als Rentenfonds erlangt haben. Doch wird der Ausdruck Kapital mit-
unter auf jene Vorräthe beschränkt und letztere als Privatkapital dem privaten
Grundeigenthum gegenüber gestellt Gebäude nehmen dann eine Zwischen-
stellung ein, haben characteristische Merkmale des Privatkapitals und des Privat-
eigenthums, aber in der Regel, besonders wenn es sich um grössere stabilere Bauten
handelt, mehr Merkmale des letzteren.
Die Voraussetzung solchen Kapitalbesitzes ist mithin in recht-
licher Hinsicht dieselbe wie beim Privatreichthum: eine Rechts-
ordnung, welche Privateigenthum an Productionsmitteln
und Renten- und Zinsbezug daraus anerkennt.
ln einem Verkehrssystem auf dieser Grundlage nimmt das
Kapital als ökono mische Kategorie od er als Product io ns-
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Kapital im rein ökon. und histor. rechtl. Sinne.
317
m ittel vorrath dann überwiegend die Gestalt des
Kapitalbesitzes, und zwar des Besitzes der Privatper-
sonen an. Dies bedingt neben der Function als Rentenfonds
die weitere Function dieses Kapitals, als das Mittel zu dienen, die
Leitung der Production, die Beschäftigung der Arbeitskräfte in die
Hände der Kapitalbesitzer oder derjenigen Personen zu legen,
welchen diese Besitzer ihr Kapital überlassen. Die Kapitalbesitzer
werden so zu Functionären derGcsammtheit (des Volks)
für die Bildung und Beschäftigung des nationalen Productions-
mittelfonds: eine ungemein wichtige Folge der Institution des
Privatkapitals gerade für die volkswirtschaftliche Würdigung
des letzteren.
Möglicher, ja nach geschichtlicher Erfahrung wahrscheinlicher Weise ist das
die beste Einrichtung zur technisch vorzüglichsten, reichhaltigsten und am Meisten
nach dem ökonomischen Princip (§. 28) erfolgenden Befriedigung der Bedürfnisse
auch eines ganzen Volks. Aber jedenfalls ist es nicht die allein denkbare,
die schlechterdings natürliche („logische“) Einrichtung hierfür, sondern ein
Product einer bestimmten geschichtlichen Entwicklung, welche sich damit selbst
schon als eine veränd erungsfähige Gestaltung, und als eine E inrichtung,
deren wirtschaftliche Wirksamkeit auch von der Beschaffenheit der Rechtsordnung
des Kapitalbesitzes abhängt, erweist.
Der Umstand, dass geschichtlich das Kapital als ökonomische Kategorie
regelmässig in der Gestalt oder Rechtsform des privaten Kapital be sitzes erscheint,
hat es bewirkt, dass so selten richtig zwischen beiden Bedeutungen unterschieden wird.
So gilt z. B. gegenwärtig oft noch der Angrilf auf den Kapital besi tz als ein solcher
auf das Kapital an sich, was die mögliche, aber nicht absolut nothwendige Folge
jenes ersten Angriffs ist und jedenfalls als wirkliche Folge erst erwiesen werden
muss. Wenn man daher die socialistische Polemik „gegen das Kapital“ einfach als
unsinnig bezeichnet, weil so eine nothwendige Wirthschaftsbedingung zerstört w'erde,
so macht man sich doch nur durch ein grobes Missverständniss die Widerlegung leicht
und ficht mit Windmühlen. Die socialistische Forderung heisst nicht: Weg mit dem
Kapital (d. h. mit dem ökonomischen Kapital, dem Productionsmittelvorrath), son-
dern: Her mit dem Kapital (d. b. mit dem Kapital besitz), verlangt also nicht eine
Vernichtung des Kapitals an sich, sondern eine andre Verthcilung des Kapitalbesitzcs,
und zwar auch nicht in dem Sinne, dass an Stelle der bisherigen Privat- Kapitalbesitzer
andere, z. B. die Arbeiter treten, sondern in dem Sinne, dass das Nationalkapital,
welches im Besitze der Privatkapitalisten ist, aus der Rechtsform des Privateigeuthums
in diejenige des gesellschaftlichen Gemeineigenthums hinübergeführt werden soll.
Auch dies ausdrücklich nicht bloss, um die Function des Privatkapitals als Renten-
fonds für Private zu beseitigen, sondern um auch die Leitung der nationalen Pro-
duction den Händen der Privatkapitalisten zu entziehen. Ob dies möglich oder zweck-
mässig. ist eine andero Frage, jedenfalls ist aber so der Angriff des Socialismus auf
das „Kapital“, d. h. eben das Privatkapital zu verstehen. Für das Genauere über die
im Text behandelte Frage s. im 2. Theil der Grundlegung die Erörterungen Uber das
Privatkapital.
C. — §. 130 [29]. Bedingungen für die Zugeh örig-
keit der Güter zum Kapital. Ob und wie weit die einzelnen
concreten („naturalen“) Güter, welche das Vermögen bilden, Ge-
brauchsverraögen oder Kapital sind, hängt
1) allgemein, d. h. einerlei, ob man es mit der rein öko-
nomischen oder der geschichtlich-rechtlichen Bedeutung der Begriffe
318 2. B. GrundbgriU'c. 2. K. Vermögen und Kapital. §. 130 — 132.
zu thun hat, von der specifischen Beschaffenheit (objec-
tiven Brauchbarkeit) des einzelnen Guts ab.
Insoferne ist. was mitunter unrichtiger Weise bestritten wurde, auch die „Kapital-
eigeuschaft“ eine Eigenschaft der Güter an sich (z. ß. bei Werkzeugen. Maschinen).
Mill l.B. 4. Kap. §. 1 (Soetbeer’s Ausg. 2. Aufl. S. 45): „Der Unterschied zwischen
Kapital und Nicht-Kapital liegt nicht in der Art der Sachgüter, sondern in der
Absicht des Kapitalisten, in seinem Willen, dieselben lieber für den einen als für den
anderen Zweck zu verwenden.“ Dieser Satz und der von Kau I, §.52 ist nicht
falsch, aber zu absolut ausgedruckt. Sind dieso Güter nicht Kapital, z. B. weil
sie die objective Brauchbarkeit veiloren haben, so verlieren sie mit ihrem Existenzzweck
auch die Gutseigenschaft überhaupt.
2) Bei vielen anderen Gütern ist die Kapitaleigenschaft dagegen
keine den Dingen inhärente. Ob ein concretes Gut Kapital oder
Gebrauchsvermögen ist, hängt hier
a) beim Vermögen im rein ökonomischen Sinne davon
ab, ob die betreffenden Güter noth wendige Vorbedingung
neuer Gütererzeugung sind und als Mittel zu diesem
Zwecke wirklich Anwendung finden.
In einem Zustande der Volkswirtschaft, wo nur Arbeitseinkommen zugelasseu
würde, wäre der weitaus grösste Theil des Volksvermögens Kapital, weü er immer
zur Hervorbringung neuer Güter in der Beschäftigung von Arbeit verwendet würde.
Nur der über die Befriedigung der notwendigen Lebensbedürfnisse hinausgehende
Vermögensbetrag würde auch hier als Gebrauchsvermögen zu charakterisiren sein.
Aelinlich wirkt eine Gestaltung, wo der Zinsfuss und der Gewinnsatz, etwa in Folge
einer tüchtigen Organisation der Arbeiter für den Concurrenzkampf, sehr herab-
gedrückt und daher ein grösserer Theil des Productionsertrags den Arbeitern über-
lassen wird. Erhöht sich dann das Lohnniveau allgemein und gewöhnt sich die
Bevölkerung, es für unentbehrlich zu halteu, so nimmt ein immer grösserer Theil des
Vermögens Kapitaleigenschaft an, weil er Vorbedingung der Güterzeugung wird.
b) Beim Vermögen als Besitz hängt dagegen die Zutheilung
der Güter zum Gebrauchsvermögen oder zum Kapital grössten-
theils vom Willen des Besitzers ab.
Hier — aber auch nur hier — gilt die oft aufgestellte Kegel, dass die Kapital-
eigenschaft eines Guts vom Willen des Eigenthümers bedingt sei. Vollständig allein
entscheidend ist dieser Wille aber auch hier nicht, weil der Umfang der notb-
wendigen Auslagen zum Zwecke der Herstellung neuer Güter (z. B. für Arbeitslöhne)
für die Zutheilung der Güter zum Gebrauchsvermögcu oder zum Kapital des Besitzers
mit von Einfluss ist.
D. — §. 131 [30]. Nicht-Identität von National-
und Privatkapital. Aus dem Vorausgehenden ergiebt sich,
dass sich Kapital im rein ökonomischen Sinne und Kapitalbesitz,
National- (Social*) und Privatkapital, an ge wendet auf be-
stimmte Gütervorräthe, zwar in der Hauptsache, aber
keineswegs vollständig decken. Letzterer Begriff ist der
weitere, indem einzelne Bestandtheile des Kapitalbesitzes nicht
Partikel des Nationalkapitals sind. Dies zeigt sich besonders
in folgenden drei Fällen:
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National- und Privatkapital.
319
1) Verleih- und vermiethbares Nutz vermögen kann für den
Besitzer als Kapital fungiren, während es vielleicht für das
Volk nur Nutzvermögen, d. h. nicht Bedingung einer neuen
Glltergewinnung ist (z. B. Wohngebäude, über das nothwendige
Wohnbedürfniss der in der Gütergewinnung thätigen Bevölkerung
hinaus).
2) „Verhältnisse“, welche auf Grund rechtlicher Be-
schränkungen des Verkehrs bestehen (§. 119, Nr.3b.), lallen unter
den Kapital begritf der zweiten Bedeutung. Allgemein dagegen
sind sie meistens nicht Kapital, mit Ausnahme des Falles, wenn
sie eine für das Volk (die Volkswirtschaft) nothwendige Be-
dingung der neuen Gütergewinnung bilden.
Diese Ausnahme kann allerdings allgemeiner Vorkommen und ist geschichtlich
mehrfach vorhanden gewesen, z. B. insofern Vorrechte des Gewerbebetriebs die Voraus-
setzung eines solchen zu einer gewissen Zeit und an einem gewissen Orte überhaupt sind
(S a. S. 309 Note). Ein noch beute hierher gehöriger Fall eines „Verhältnisses“, welches
Kapital in beiderlei Bedeutnng sein kann, ist der des Patents. Uebrigens kann sich
ausnahmsweise auch der Begriff des Kapitals vom Standpuncte des Volks und der
Menschheit in Bezug auf solche „Verhältnisse“ wieder verschieden gestalten (vergl.
113, 114). Eine Einrichtung wie z. B. der Sundzoll war ein Kapital Dänemarks,
sogut wie ein Gewerbsprivileg ein Kapital des Gewerbetreibenden sein kann. Das Ver-
hältniss eines klimatischen Monopols für gewisse Producte eines Landes, welches
z. B. in Ausfuhrzöllen ausgenutzt wird, ist ebenfalls ein Kapital für das betreffende
Volk, wenn auch nur ein Miteider Einkommenübertraguug zwischen verschiedenen
Völkern.
3) Güter, welche ein Einzelner nach den bestehenden
Rechtsverhältnissen oder nach den Gestaltungen des
Verkehrs zum Zweck der Gewinnung (Herstellung) neuer Güter
verwenden muss, sind Kapital für ihn, aber Nationalkapital
nur dann, wenn diese Güter indispensabel für die Gewinnung
neuer Güter überhaupt sind.
So muss z. B der Unternehmer, welcher Arbeiter beschäftigt, den ganzen wäh-
rend der Production auszuzahlenden Lohnbetrag als Kapital betrachten und besitzen,
während nur derjenige Güterbetrag, welcher zur Subsistenz der Arbeiter ausreicht,
Kapital im allgemeinen ökonomischen Sinne und für die Arbeiter wieder Gebrauchs-
vermögen bildendes Einkommen ist (§. 129).
Vergl. die z. Th. etwas abweichende Ucbersicht der einzelnen Kategorien von
Objecten, welche das Social- und Privatkapital bilden, bei v. Böhm-Bawerk,
Kapital II, 69 ff.
E. — §. 132 [31]. Ergebnis s. Abhängigkeit des
Kapitalbegriffs von der Rechtsordnung. Es ist demnach
der Kapitalbegriff an sich, sein Umfang und Inhalt ganz wesent-
lich abhängig von der Rechtsordnung Uber Kapital und über
Eigentlium an Personen und Gütern.
Für die Klarstellung des Einflusses der Kechtsordnung nicht nur auf die Ge-
staltungen des Verkehrs, sondern sogar auf die wirtschaftlichen Begriffe, wird es
immerhin zulässig sein, hypothetisch von der Annahme einer ganz anderen als der
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320
2. B. (i rund begriffe. 3. Ii. Werth. §. 133, 134.
heute bestehenden Rechtsordnung auszugehen. Wesentliche Modificationen in dem
Eigentumsrecht au Personen (Sclaven u. s w.), an an sich freien natürlichen Besitz-
gütern (Grundstücken), an realen beweglichen Productionsinitteln (Privatkapital, Ar-
beitswerkzeugen, Lohnfonds) verschieben die jetzt gelteude Unterscheidung zwischen
Gebrauchsvermögens -Besitz und Kapitalbesitz sofort wesentlich. Ebenso können sie
bewirken, dass ein Theil der heutigen privaten Gebrauchsvermögcnsvorräthc , freilich
nach vorausgehender, aber sehr wohl durchführbarer Veränderung der individuellen
Gutsform der einzelnen dazu gehörigen Güter, die Function des Kapitals im ökonomi-
schen Sinne annimmt. Lohnerhöhung, Luxuseinschränkungen wirken derartig, so dass
die Production von Luxusartikeln für die Wohlhabenden abnimmt, von Arbeitcr-
consumptibilien zunimmt. Auch hier hat wieder vor Allen Iiodbcrtus mit grosser
Schärfe nachgewiesen , wie sich der Kapitalbegriff, sein Umfang und Inhalt mit der
Veränderung der Rechtsordnung verändert, z. B. die freien Arbeiter aus diesem Be-
griff’ ausscheiden, zu dem sie als Sclaven selbst gehörten, während jetzt nur die Uuter-
haltsmittel der Arbeiter (Löhne) zum Kapital des Unternehmers zählen. In prägnanter
Kürze Tüb. Zeitschr. 1878. S. 225; eingehend analysirt in der Sehr. „Zur Erkennt-
nis u. s. w.“ 1842, bes. 1. Theorem; angeweudet auf die altrömischen Verhältnisse
in Hildebrand’s Jahrb. VIII, 890. Kapital (4. soc. Brief) in der ganzen Schrift, bes.
in den Abschnitten S. 255 fT., 289 lf. (Nationalkapital in einem Zustande ohne und
anderseits mit Grund- und Kapitaleigen thum).
F. — §. 133 [32J. Todtes Kapital. Kapital in den beiden
besprochenen Bedeutungen kann endlich als todtes („schlafendes“)
oder ratissiges Vorkommen, nemlich wenn es seinem Zweck
tbatsächlich nicht dient, wie z. B. bei Stockungen des Absatzes,
Krisen. Auch für den Umfang des todten Kapitals ist die Rechts-
ordnung über Kapital insoferne von Einfluss, als von ihr wieder
die Bedingungen von Stockungen und Krisen mit abbängen können,
z. B. in unserem heutigen Verkehrssystem der freien Concurrenz
(Buch 5).
Drittes K a p i t e 1.
Der Werth.
§. 134. Vorbemerkungen und Litteratur.
Die Litteratur der Werthlehre ist eine der weitschichtigsten, die Behandlung
nicht immer besonders fruchtbar, oft Einfaches unnütz durch abstruse Untersuchungen
complicirend, ein Vorwurf, welcher namentlich manchen deutschen Arbeiten nicht zu
ersparen sein möchte. Im Folgenden wird die Werthlehre und Preislehre, für welche
auf die theoretische Volkswirtschaftslehre (2. Hauptabtheilung des Gesammtwerks)
verwiesen wird, thunlichst getrennt. Doch kann dies nicht durchaus geschehen, wie
denn auch in der Litteratur beide Materien, Werth und Preis, vielfach im unmittel-
baren Zusammenhang behandelt sind. Auch in der Prcislehre muss auf die Wcrth-
lchre zurückgegriffen werden. Grade in diesem Abschnitt soll daher auch den Auf-
fassungen uud Erörterungen des Bearbeiters der theoretischen Volkswirtschaftslehre,
H. Dietzel's , welcher in dieser Lehre von Werth und Preis eine eigene selbstän-
dige Stellung einnimmt und wohl zum Theil von mir abweicht (s. §. 135), nicht prä-
judicirt werden. Zur Ergänzung des Folgenden und betreffs der näheren Beziehungen
zwischen Werth und Preis ist überhaupt auf die theoretische Wirthschaftslehre zu
verweisen. Hier in der „Grundlegung“ und in diesem Buche von den Grundbegriffen
handelt es sich um terminologische Erörterungen und um Darlegung der Werthlehre
nur in den Grundzügen.
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Vorbemerkungen und Litteratur über Werth.
321
Schwierigkeiten für die Lehren von Werth und Preis macht schon die un-
sichere Terminologie, sowohl des allgemeinen Sprachgebrauchs als die wissen-
schaftliche, dann der Umstand, dass die Ausdrücke der einen modernen Sprache in
bestimmten terminis technicis der anderen (deutsch, englisch, französisch, italienisch)
wieder gegeben werden sollen, wobei daun vollends Undeutlichkeiten nicht vermieden
werden. Hierüber äusserte sich schon Kau (I, §. 57 Note d) folgendermaasscn :
„Valeur, value entsprechen nicht genau dem deutschen Worte Werth, denn jene Aus-
drücke, von valor, valere abstammend, gehen mehr auf die äussere Anerkennung,
das Gelten, also auf den Preis im Verkehre, während Werth mehr auf die einem
Gute anhaftenden nützlichen Eigenschaften bezogen wird. (Dictionnaire de l'academie:
Valeur, ce que vaut une chose, suivant la juste östimation qu’on en peut faire.) Werth
wird auch nicht-körperlichen Dingen und Personen beigelegt, valeur niemals; merk-
würdiger Weise spricht man in Frankreich bei diesen eher von prix, z. B. der Freund-
schaft , der Zeit. — Bei den Griechen wurde agfa mehr von dem Gebrauchswerthe,
r x tfoj/nu mehr von dem Anschlag des Preises, dem Tauschwcrthe gebraucht
Die Römer bezogen valere, wenn von Sachgütern die Kede war, auf den Preis, das
Gelten. (Res ubi plurimum proficere et valere possunt, collocari debent. Cicero pro
Seit.) Im Deutschen kommen schon früher die zwei Bedeutungen von Werth vor:
nemlich sowohl Grad von Güte, Vorzüglichkeit bei Personen und Sachen, als Schätzung
nach dem Preise: kleinot tusend marke wert (Parciv al), — eines pfundes, pfenuigs,
eies werth. Mittelhochdeutsch. (Müller u. Zarncke, Mittelhochd. Wörterb. III. B.
unter wert.) — Die Eigenschaftswörter wörtlich und wertsam verdienen wieder in Ge-
brauch zu kommen. — Um Missverständnisse zu vermeiden, ist es nöthig. festzusetzen,
was unter Werth schlechthin gemeint sei, und es ist dem deutschen Sprachgebrauch
angemessen, hierzu den Gebrauchswerth zu wählen. Den Tauschwerth im Deut-
schen ausschliesslich Werth zu nennen, ist daher eine nicht zu empfehlende ungenaue
üebertragung der erwähnten fremden Ausdrücke, zu der vielleicht beigetragen hat,
dass man beide Arten des Werthes für näher verwandt hielt, als es wirklich der Fall
ist. In den meisten Fällen ist valeur durch Preis zu übersetzen. Das Wort Tausch-
oder Verkehrswerth kommt im gemeinen Leben nicht vor.11 Mehrere französische
und englische Schriftsteller nennen den Gebrauchswerth Nützlichkeit und behalten
das Wort valeur, value lediglich zur Bezeichnung des Tauschwertes oder Preises,
(z. B. Torrens, ün the production of wealth p. S, Mac-Culloch, auch Storch,
Natur des Nationaleinkommens S. XXXVI). Ricardo versteht unter value meistens
die Productionskosten.
Für Litterargeschichte vgl. mit die Revision der Begriffe Werth und Preis von
Fr. J. Neu mann, Tüb. Zeitschr., B. 28, S. 257 ff. Aus der älteren, nament-
lich der classischen britischen Litteratur kommen heute noch besonders A. S m i t h
und I). Ricardo in Betracht. Smith, wealth of nations, bcs. book I, Schluss von
Kap. 4 (Unterscheidung von value in use und value in exchange) und noch mehr
Kap. 5 — 7. Ricardo, bes. für die Begründung der Productionskostenthcorie, principles,
Kap. 1 u. 20. S. weitere ältere Litteratur bei Rau I, §. 57 und danach in der
2. Aufl. der Grundlegung S. 44, woraus noch hervorgehoben werden mögen: Hufe-
land, N. Grundlegung, I, 118. — Lotz, Revision, I, §. 3 und Handb. I, 20. —
Storch, I. 27, und: Geber die Natur dos Nationaleinkommens, S. XXXIV. — Baum-
stark, Volksw. Erlauf. S. 297. — Thomas, Die Theorie des Verkehrs, I. Abtheil.,
Berlin 1S41, S. 11. — Fried länder, Theorie des Werths, Dorpat 1852, 4. (zu-
gleich Geschichte dieser Lehre und besondere Gebrauchswerththeorie).
Vgl. sonst Rau, I, §. 55 — 07. Hermann, S. 1 ff, 103 ff. Roscher, §.4 — 0.
v. Mangoldt, Grundr. §. 1. 6, Menger, I, 76 ff. J. St. Mill, B. 3, Kap. 1. Held,
Grundr. S. 41. Knies, Tüb. Zeitschr. 1855: ders., d. Geld, Berlin 1873, S. 105 ff.;
0. Michaelis, Vjerteljahrsschr. f. Volkswirthsch. 1863, B. 1 (jetzt in seinen ge-
sammelten Schriften B. 2); Lindwurm in Hildebrand’s Jalirb. IV (1865); H.
K ös ler, eb. XI (1868), ders. in s. Vorl. §.7, Schäfflo in der Quintess. d. So-
cial.. 4. Aufl. S. 32, 46 ff., u. eingehend im Soc. Körper III, 272 ff., 307 fl'.; ders..
Syst., 3. Aufl. I, 22, bes. 162 ff.; ders., Kapitalism. Vortr. 3. v. Scheel in Hild.
Jahrb. 28, S. 135. Moll, der Werth, eine neue Theorie dess., Leipz. 1877, nebst
Nachtrag: allgemeinste Formulirung des Werths, nicht bloss des wirthschaftlichen
Werths. Neumann in der gen. Abh., dann im Schönberg sehen Handbuch. Abh.
A. Wagner, Grandlegung. 3. Auflage. 1. Theil. Grundlagen. 21
322
2. B. Grundbegriffe. 3. K. Werth. §. 134, 135.
Grundbegriffe (3. A. I, §.4 — 19. S. 138 ff.) und Grundlagen; sowie die Abh.
Gestaltung des Preises im Scbönb. Handbuch (3. A. I, 241) und der betreff. Aufs, in
d. Tlib. Ztschr. 1880. — G. Cohn, I, $. 139 ff., §. 366 ff.
Dnter den neueren Werththeorieen bezw. Werth-, Preis- und Kostentheorieen
haben drei eine grössere Bedeutung erlangt und, besonders die zweite und dritte,
eine lebhafte litterarischc Bewegung hervorgerufen, in welcher wir gegenwärtig (1892)
in Betreff dieser beiden noch mitten inne stehen. Es sind dies einmal die vornemlich
an die Namen von Bastiat und Caroy sich anknüpfende Wcrthlehre, dann die
s ocial istische Werththeoric, endlich die von verschiedenen Seiten, insbesondere,
aber unabhängig von anderen, von der österreichischen theoretischen Schule ent-
wickelte sogen. „Grenznutzontheoric“.
An Bastiat hat sich in Deutschland besonders Max Wirth, an Carey E.
Dllhring angeschlossen, sonst wenige Autoren.
S. Bastiat, harmonies cconomiques ch. V: le valeur (Tauschwerth) c’est le
rapport de deux Services echangees (ed. von 1855, p. 129), M. Wirth: Werth =
Maass der Dienstleistung, später (4. Aufl. der Nationalökonomie I, 237): Werth ist
die Schätzung des Verhältnisses des Bedürfnisses zu den Hindernissen, welche der
Erlangung des Gegenstandes zu dessen Befriedigung cntgegcnstchen, — in welcher
Definition (richtiger Umschreibung) alle Momente und Arten des Werths enthalten
sein sollen (?). Bastiat geht hier stets von der petitio principii aus, Nützlichkeit
(utilitA) und Werth (valeur) seien in der Art zu unterscheiden, dass letzterer nur auf
menschliche Leistungen zurückzuführen sei, im Tauschwerth nur die mensch-
liche Arbeit vergolten werde, während die Leistungen der Natur, die darauf beruhende
Nützlichkeit, immer gratuits seien (praktische Tendenz, so das Grundeigenthum zu
rechtfertigen, bei welchem die Ricardo’sche Bodenrente geleugnet wird). Carey,
princ. of soc. Science. 3 vol. Philad. 1858 — 59, ders. , Lehrbuch der Volkswirthscbaft
und Socialwissenschaft, deutsch von Adler, München 1866, Kap. 6 sagt: Werth (value)
sei die Schätzung des Widerstands, der zu überwinden ist, ehe wir in den Besitz des
begehrten Gegenstands gelangen (S. SO), was Kau mit Recht nur eine „Umschreibung
der Kosten“ nennt (oder des seit lange betonten Moments : der Schwierigkeit der Er-
langung, das die Werth höhe mit bestimmt). Die weitere Hinzufügung (Lehrbuch
S. 80, 100): Werth sei das Maass der Uebermacht der Natur über den Menschen,
Nützlichkeit umgekehrt das Maass der Macht des Menschen über die Natur, dient
nicht zur Klärung. Dühring, krit. Grundlcg. d. Volkswirthschaftslehre. Berlin 1866,
S. 95 ff., 120 ff, ders., Cursus d. Nat.- u. Soc.-Oekon., Berlin 1873 (S. 26. Werth:
die Geltung, welche die wirtschaftlichen Dinge und Leistungen im Verkehr haben.
Und was ist diese Geltung?). Man kann es dahin gestellt sein lassen, ob Dühring's
Versuch, Bastiat des Plagiats an Carey in der Werthlehre (und gleichzeitig der Ver-
ballhornung der letzteren) zu beschuldigen, gelungen sei (s. das Vorwort zur Ueber-
setzung des Carey 'sehen Lehrbuchs von Adler, auch Grundleg. S. 115). Beider Werth-
theorieen haben keine nachhaltige Bedeutung erlangt und können jetzt als überwunden
gelten, soweit sie uicht mit der socialistischen sich berühren, was trotz alles Gegen-
satzes der Fall ist. Sonst haben sie nur noch litterargeschichtliches Interesse.
Ungleich bedeutender und von nachhaltigem Einfluss ist die social istische
Werthlehre, welche sich bei allen socialistischen Theoretikern im Kern doch überein-
stimmend findet, wenn auch nicht immer in derselben Formulirung und mit etwas
abweichender Motivirung. Sie erscheint im Ganzen als eine einseitige, aber, wenn
man die zu enge Fassung des Ausgangspuucts zugiebt, folgerichtige Fortbildung der
Ricardo’ sehen Werth- oder eben richtiger gesagt Kostenlohre. In der Formulirung
und Ausführung von K. Marx hat sie aber erst ihre grosso wissenschaftliche und
practische Bedeutung erlangt. Jenes als Eckstein des wissenschaftlichen Systems des
Socialismns als einer ökonomischen Theorie, dieses als Begründung der positiven
Forderungen der Socialdemokratie in Bezug auf die Rechtsordnung für die sachlichen
Productionsmittel (Boden und Kapital). Unter den älteren socialistischen Theore-
tikern (über die Anton M enger. Recht auf den vollen Arbeitsertrag sich weiter ver-
breitet, 2. A., Stuttgart 1892, S. 41 ff.) ist für die Werthlehre bes. W. Thompson
hervorzuheben: an inquiry into the distribution of wealth etc., London 1824, worin
sich die Grundzüge der sogen. Mehrwerththeorie schon finden (s. Meng er, a. a. 0.,
S. 53 ff). Fernerbes. Kodbcrtus, namentlich in der Lehre „Zur Erkenntnis» u.s. w.“ von
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Vorbemerkungen und Litteratur Uber Werth.
323
1842 bereits (Abschn. 1) und mehrfach später. Vgl. auch Lass alle, Kapital und
Arbeit, Kap. 3. Ders., Briefe an Rodbertus, S. 62. Vornemlich aber doch K. Marx,
bes. B. 1 des Kapitals. (Wider A. Menger’s Vorwürfe des Plagiats gegen Rodbertus
und Marx an Thompson und anderen älteren Autoren habo ich schon oben S. 37
Note 1 beide in Schutz genommen). Die ganze neuere socialistische theoretische
Litteratur dreht sich um diese „Mehrwerththeorie“ von Marx.
Marx findet die gemeinsame gesellschaftliche Substanz des von ihm
allein hier gemeinten Tausch werths in der Arbeit, das Grössenmaass des
Tauschwerths in der gesellschaftlich nothwendigen Arbeitszeit, welche
bei den vorhandenen gesellschaftlich -normalen Productionsbedingungen und dem ge-
sellschaftlichen Durchschnittsgrad von Geschick und Intcnsivität der Arbeit zur Her-
stellung eines Guts (Gebrauchswerths) erforderlich ist (S. 4 fF. d. 1. Aufl.h Diese
Theorie ist aber nicht sowohl eine allgemeine Werth- als eine Kostentheorie, ange-
knüpft an Ricardo. Sie berücksichtigt zu einseitig nur dieses eine Werth bestim-
mende Moment, die Kosten, nicht das andere, die Brauchbarkeit, den Nutzen, das
Bedarfsmoment. Sie entspricht nicht nur nicht der Tauschwerthbildung im heutigen
freien Verkehr, sondern auch, wie Schäffle in der Quintessenz und besonders im
Socialen Körper a. a. 0. vortrefflich und wohl abschliessend nachweist, nicht den
Verhältnissen, wie sie sich im Marx sehen hypothetischen Socialstaat noth wendig ge-
stalten müssten. Schlagend lässt sich das namentlich am Beispiel des Getreides u. dgl.
nachweisen, dessen Tauschwerth wegen des Einflusses der wechselnden Ernten bei
ziemlich gleichem Bedarf nothwendig auch in einem System von „Socialtaxen“ an-
ders als bloss nach den Kosten regulirt werden müsste. Auch Rodbertus’ Tausch-
wertbtheorie leidet an dem Fehler der einseitigen Betonung des Kostenmoments. Er
wie Marx verfahren aber ausserdem willkührlich, wenn sie diese Kosten nur auf die
im engsten Sinn sogen. Arbeitsleistung, gar die blosse Hand- oder Muskel-
arbeitsleistung, zurückführen. Das setzt immer erst eine Beweisführung voraus,
welche bisher fehlt, nemlich dass der Productionsprocess ganz ohne Vermittlung der
Kapital bildenden und verwendenden Thätigkeit von Privatkapitalistcn möglich und
ergiebig sei. So lange ein solcher Beweis nicht geführt ist, ist in der That auch
der Kapitalgcwinn ein „constitu tives“ Element des Werths, nicht nach socia-
listischer Auffassung nur ein Abzug oder „Raub“ am Arbeiter, ist der Kapital- und
Unternehmergewinn, die Rente in diesem Sinne, der „Mehrwerth“, den nach Marx
der Arbeiter allein producire, über das Maass seiner Unterhaltskosten hinaus, wenig-
stens im Princip, wenn auch nicht ohne Weitres stets dem Maasse nach „ver-
dient“, grade auch im ökonomischen Sinne. Für Weiteres genügt es, hier auf den
2. Theil der Grundlegung, Abschnitt vom Privatkapital, zu verweisen.
§. 135. Fortsetzung. Die Grenznutzen - Theorie und die sich
daran schliessende neueste Behandlung des Werths in der Litteratur.
Unabhängig von einander haben neuerdings in verschiedenen Ländern verschiedene
Theoretiker die psychologische Seite des Werthproblems genauer ins Auge gefasst
und sind dabei zu einer eigenthümlichen Theorie gekommen, welche nach ihrem charac-
teristischen Begriff und Ausdruck „Grenznutzentheorie“ genannt wird. Aller-
dings sind es nicht erst diese Theoretiker, wie mitunter angenommen und von be-
theiligter Seite auch gelegentlich wohl behauptet worden ist, welche im Werthproblem
überhaupt ein psychologisches Problem gesehen haben. Als ein solches ist das-
selbe kaum je ganz verkannt worden und diejenigen Autoren, welche sich mit dem
Gebrauchswerth, mit der Seite der Nachfrage im sogen. „Gesetz von Angebot
und Nachfrage“ näher beschäftigt haben, konnten auch unmöglich das psychologische
Moment im Werth übersehen und haben das auch nicht nur nicht gethau, sondern
es auch wohl besonders hervorgehoben. Aber die neueren „Grenznutzentheoretiker“
haben das Verdienst, diese Seite des Problems schärfer betrachtet und in einigen
Beziehungen die Erkenntniss der hierbei mitspielenden Gefühle und deren Zusammen-
hänge und Abstufungen gefördert zu haben. Das führte sie zu dem Versuch, für
diese Gefühle und ihre Abstufung, daher für die Befriedigung der Bedürfnisse mit
bestimmten Gütern, unter Berücksichtigung der Vertheilung der Bedürfnisse über die
Zeit und in Bezug auf die Gütervorräthe und die wechselnde persönliche Lage ur-
theilender Subjecte eine „Theorie“, eben die vom „Grenznutzen“, aufzustcllen. Ob
freilich diese Theorie auch sachlich so neu, als ihrer Wortfassung nach, ob sie
21*
324
2. B. Grundbegriffe. 3. K. Werth. §. 135.
wirklich richtig und vor Allem, ob sie eine so grosso Tragweite hat, wie
ihre Anhänger annehmen, wird von anderer Seite bestritten uud auch ich hege nament-
lich in Betreff der ersten und letzten der eben erwähnten Puncte Zweifel. Insbeson-
dere scheint mir (in theilweiser, doch nicht völliger Debereinstimmung mit H. Diet-
zel, s. u.) die Grenznutzentheorie doch nur anf eine feinere Analyse der auf der
Nachfrage -Seite entscheidenden psychischen Momente hinauszukommen. Hier er-
giebt diese Theorie genauere und tiefere Einblicke in diese Momente uud damit in
die Factoren, welche von dieser Seite der Nachfrage aus auf die Bildung der Höhe
des Werths, auch des Tauschwerths und Preises bestimmend sind. Aber die Trag-
weite dieses wissenschaftlichen Fortschritts ist doch nicht so gross und so bedeutsam,
wie die Anhänger der Theorie meinen. Die bisherige Werth-, Tauschwerth- und
Preistheorie, insbesondere die Theorie der Productionskosten als Preis bestimmenden
Factor’s, sind dadurch nicht umgeworfen, sondern nur nach einer Seite ergänzt. Man
könnte das etwa so ausdrücken: in der Lehre von den Productionskosten (Ricardo,
socialistischc Theoretiker! hat man es namentlich mit der Angebot-Seite zu thun
und hat darüber, wie übrigens auch Andere, so namentlich Schäffle längst ein-
geschen und gelehrt haben, die Nach frage -Seite zu wenig beachtet. Die Grenz-
nutzentheorie hat das Verdienst, die letztere Seite iu zum Theil neuer und eigen-
tümlicher Weise zu betrachten und eben dadurch eine Ergänzung für die ganze
Werth- und Preistheorie zu liefern.
Die wichtigsten Grundgedanken der Grenznutzentheorie oder, wie sie ihre An-
hänger, z. B. v. Böhm-Bawerk mitunter kurzweg nennen, der „modernen“ Werth-
theorie (auch wohl der „psychologischen“ Werth-Theorie), sind zuerst von Gossen
in seinem Buche „Entwicklung dor Gesetze des menschlichen Verkehrs und der daraus
flicssenden Regeln für menschliches Handeln“ (Braunschweig, 1854) entwickelt worden.
Dies gestehen die neueren Anhänger der Theorie selbst zu. Aber diese Schrift ist
ohne jede Einwirkung geblieben und vergessen worden, bis sie neuere Theoretiker
der Richtung (Walras, Jevons) erst wieder entdeckten. Unabhängig von Gossen und
unabhängig von einander sind dann drei Gelehrte verschiedener Nationalitäten wesent-
lich auf dieselbe Werththcorie gekommen. Der Deutsche (Oesterreicher) Karl M enger,
der Engländer Jevons und der Franzose (Schweizer) Wal ras. Ein Zusammentreffen
von Ansichten , das wiederum gerne als Beweis für die Richtigkeit der Theorie an-
geführt worden ist (z. B. von v. Böhm-Bawerk, Kapital II, 139. Note), aber doch
nur beweist, dass aus gewissen Vordersätzen, zu welchen analog (hier streng deductiv
und mathematisch) veranlagte Köpfe nicht so unbegreiflich kommen , dann gleiche
Schlüsse gezogen werden (wie man es z. B. so deutlich bei völlig unabhängig von
einander stehenden socialistischen Theoretikern sieht, was Anton Menger verkannt hat).
Vergl. zur Litteraturgeschichte der neuen Theorie v. Wieser, natürl. Werth, 1889,
Vorwort, S. VIII ff. S. bes. K. Menger in s. scharfsinnigen Volkswirthschaftslehre
S. 87 ff. S. 98 daselbst eine freilich etwas schwerfällige Formulirting des Gosetzes
vom Grenznutzen. Jevons, theory of polit. economy, zuerst 1871, 2. A., p. 40 ff.
(darüber W. Bölimert, Jevons, S. 24 ff., 45). Walras in verschiedenen der oben
S. 176 gen. Schriften, so in den Elements d’6con. pol. pure, 1874 ff, in der tht‘orie
de la inonnaie (18SG), wo Anhänger genannt werden (p. VIII), in s. Elements d’Econ.
pol. (1889) 2. 6d., S. 65 ff.
An die hier gegebenen Anregungen hat sich nun in Oesterreich (nur spärlich
in Deutschland) und theilweise auch im Ausland eiue ganze Schule der „Grenznutzen-
Theorctiker“ angeknüpft. Unter diesen ist besonders von Böhm-Bawerk und
v. Wieser hervorzuheben. Ersterer namentlich in seinen schönen Aufsätzen „Grund-
züge der Theorie des wirtschaftlichen Güterwerths“ in Conrad ’s Jahrbüchern
(N. F. B. 13, 1886. S. 1 ff., S. 477 ff.), in seinem grossen und bedeutenden Werke
„Kapital“ II, S. 131 ff. und in gelegentlichen weiteren Ausführungen, so in Repliken
gegen H. Dietzel (s. u.). Auf v. Röhm sei besonders wegen der Klarheit der Dar-
stellung einer nichts weniger als leicht verständlichen Lehre und wegen der ge-
lungenen Forinulirungen verwiesen. Er hat den Namen „Grenznutzen“ von v. Wieser
übernommen und sagt knrz: „Der Werth eines Gutes bestimmt sich nach der Grösse
seines Grenznutzens“ (Kapital II, 158) oder genauer: „nach der Wichtigkeit des-
jenigen concreten Bedürfnisses oder Theilbedürfnisses, welches unter den durch den
verfügbaren Gesammtvorrath von Gütern solcher Art bedeckten Bedürfnissen das
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Vorbemerkungen und Littcratur Über Wertb.
325
mindest wichtige ist“; oder m. a. W. für den Werth eines Guts sei maassgebend
„der kleinste Nutzen, zu dessen Herbeiführung es oder seinesgleichen in der
concreton wirtbschafilichen Sachlage rationeller Weise noch verwendet werden dürfte“
(eb. S. 157). Freilich, wie kaum zu bestreiten sein möchte, immer Formulirungen,
welche ohne sehr eingehende Darlegung der ganzen Theorie, wie sie übrigens diese
Autoren geben, schwer überhaupt nur zu verstehen sind. Geber die nach Ansicht
dieser Gelehrten bestehenden Beziehungen des Grenznutzengesetzes zum Kostengesetze
s. u. A. v. Böhm, a. a. 0., II, 200 („Das Kostengesetz ist kein selbständiges Werth-
gesetz, sondern bildet nur einen Incidenzfall innerhalb des wahren, allgemeinen Ge-
setzes vom Grenznutzen“ [?]). Ausser v. Böhm-Bawerk ist namentlich v. Wies er zu
nennen mit seiner Schrift „über den Ursprung und die Hauptgesetze des wirtschaft-
lichen Werths“, Wien 1884, bes. s. 126 ff., 146 ff., ders., der natürliche Werth,
Wien, 1889, ders., in dem kleinen Art. Grenznutzen im Handwörterb. d. Staats-
wiss., IV, 107 (s. auch dess. Verf. Art. Gut, eb. S. 225). Hier wird unter „Grenz-
uutzen“ verstanden: „Der geringste Nutzen, zu dem ein Gut, bei gegebener Sachlage,
mit Rücksicht auf Bedarf und Vorrath wirtschaftlicher Weise noch verwendet werden
kann“. Ferner E. Sax, Grundlegung der theoret. Staatswirthschaft , bes. S. 250 ff.,
aber eigentlich das ganze Werk, worin die „neue Theorie“ auf die Lehre von den
öffentlichen Abgaben, freilich m. E. mit zweifelhaftem Erfolge, angewandt wird (an-
derer Meinung darüber. Wies er, natürl. Werth, p. XI, während v. Böhm sich auch
gegenüber Sax etwas verwahrt, Kapital II, 140. Note). Von Sax auch ein die Bedeu-
tung Jer Theorie m. E. sehr übertreibender Vortrag darüber: „die neuesten Fort-
schritte der nat.-ök. Theorie“ (Leipzig. 1889). S. ferner die auf den Preis bezüglichen
einschlagenden Arbeiten: Auspitz und Lieben, Untersuchungen über die Theorie
des Preises, Leipzig, 1889 (vgl. darüber L. Lehr, in Conrad’s Jabrb., B. 52, N. F. 18,
S. 438 11'.), Zucke rkandl, zur Theorie des Preises mit besonderer Berücksich-
tigung der geschichtlichen Entwicklung der Lehre, Leipzig, 1889.
In den letzten Jahren ist dann über die Greuznutzentbeorie eine lebhafte Dis-
cussion besonders in Conrad’s Jahrbüchern zwischen Anhängern und Gegnern der
Lehre geführt worden. Hervorzuheben ist der treffliche Aufsatz von J. Lehr, Werth,
Grenzwerth und Preis, eine kritische Revision der neueren bezüglichen Litteratur,
zum Tlieil in mathematischer Behandlung des Problems, und mit billiger Anerkennung
der Bedeutung der Theorie, wenn auch nicht mit Ueberscbätzung dieser Bedeutung.
Dann mit nur bedingter Zustimmung Scharling, Werththeorieen und Werthgesetz,
Conrad’s Jahrb., B. 50, N. F. 16, 1888, S. 417 ff., 513 ff. (über die gen. Theorie,
S. 430, Note), worauf v. Böhm replicirt hat (Kapital II, 169, Note). Mit scharfer
Polemik, besonders in Betreff der Beschränkung der Bedeutung der Theorie, hat sich
der sonst der österr. Schule methodologisch verwandte H. Dietzel, die classische
Werththeorio und die Theorie vom Grenznutzen, eb. B. 54. N. F. 20, 1890, S. 561 ff.,
gegen diese Theorie gewandt. In der Form unnöthig scharf, in der Sache wohl auch
die Bedeutung der Grenznutzentheorie für die Analyse der auf der Nachfrageseito
spielenden Motive und Rücksichten doch unterschätzend, aber in seinem Hauptergeb-
nis in. E. gleichwohl im Ganzen im Rechte (S. 605): die Theorie sei zutreffend für die
Kategorie der nicht-rcprodueirbaren oder Seltcnheitsgüter, gebe hier eine ergänzende,
genauere Bestimmung des Vorganges der Werthschätzung, doch widerspreche sie
materiell weder der Formel Ricardos, dass der Werth der Güter dieser Kategorie
durch „Neigung“ und „Wohlstand“ der Begehrenden sich bestimme, nach dem „Ge-
setz von Angebot und Nachfrage“. Der Grundfehler der Theorie sei, dass sie die
Scheidung der Kategorie der nicht - reproducirbaren von der der reproducirbaren
Guter, die Basis der classischen Werththeorie, möglichst zu verwischen strebe. Für
die reproducirbaren Güter sei die Theorie vom Grenznutzen der bisherigen Theorie
gegenüber inferior; die Gabelung des Werthgesetzes nach den zwei Güterarten sei
unantastbar. Repliken hierauf von Lehr, Conrad’s Jahrb. 55 (N. F. 21) 1890, S. 182,
Auspitz eb, S. 288, Zuckcrkandl S. 509, v. Böhm-Bawerk S. 519. Duplik
von H. Dietzel eb. B. 56 (3. Folge B. 1) 1891, S. 685 — 707, mit Festhaltung seiner
Ansicht. In einer inhaltreichen , sehr beachtensweithen Abhandlung betheiligte sich
dann der Americancr Patten an dem Streit; eb. B. 57 (N. F. B. 2) S. 481 — 534. Er
sucht, unter Festhaltung der deductiven Methode, den Beweis zu führen, dass in
Consequenz der gesellschaftlichen Auffassung des Wirtschaftslebens die Ricardo’schen
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326
2. B. Grundbegriffe. 3. K. Werth. §. 135, 136.
Voraussetzungen der Deduction zu berichtigen, die wirtschaftlichen Erscheinungen
mehr als subjective aufzufassen und demgemäss der Theorie vom Grenznutzen bei-
zustimmen und ihr dieselbe Bedeutung wie dem Rentengesetz für das Smith-Ricardo-
sche System zuzuerkennen sei (?). Doch müsse man über die Theorie vom Grenz-
nutzen hinaus zu weiteren Untersuchungen subjectiver Thatsachcn gehen (S. 533, 534).
S. von de ms. Verf. die methodologisch und zum Theil sachlich einschlagenden
Schriften: premises of polit. ccon., 1885, consumption of wealth 1889 u. bes. theory
of dynamic economics, 1892. v. Böhm-Bawerk hat die ganze neuere Werthlitteratur
des In- und Auslands einer eingehenden kritischen Besprechung unterzogen (Conrad’s
Jahrb. B. 50, 3. F. B. 1, S. S75 — 899) und dabei scharf andere Theorieen und bes. die
Kritiker der Grenznutzentheorie angegriffen, so Neu mann, sachlich im Ganzen aber
doch nur Einiges zu seiner eigenen Theorie ergänzt und gegen Missverständnisse
besser gewahrt. Gegen Dietzel erwiderte er in Conrads Jahrb. B. 58 (3. F. B. 3)
1892, S. 320 — 367. Indessen kann ich auch hier v. Böhm nicht weiter beistimmen,
als oben geschehen, und vermag ich Dietzel in den Hauptpuncten nicht für widerlegt
zu halten. Der gauze Streit droht auch etwas in Wortstreit auszulaufen.
Von sonstiger neuerer deutscher Litteratur über Werth, worin regelmässig auf
die Grenznutzentheorie mehr oder weniger beistimmend, ablehnend oder in der Ten-
denz der Vermittlung mit anderen, namentlich der Kostentheorie eingegangen wird —
in den vorausgehend genannten Arbeiten werden diese Schriften meistens erwähnt
und kritisirt — seien hier noch genannt: J. Wolf, zur Lehre von Werth, Tüb. Ztschr.
f. Staatswiss. B. 42, 1886, S. 415, Flatow, Studie über den Werthbegriff. eb. B. 45,
1889, S. 261, v. Komorzynski, Werth in d. isolirten Wirthschaft, 1889, 0. Ger-
lach, Bedingungen wirtschaftlicher Thätigkeit, Jena 1890 (über Marx, Knies,
Schäffle, Wieser, vgl. bes. S. 29 ff., 57 ff.; über Gerlach v. Böhm in Conrad’s Jahrb.,
3. F. B. 1, S. 389 ff.) — Uebcx das ganze Werthproblcm s. sonst bes. Schäffle in
den im vor. §. 134 gen. Stellen und Neu mann im Schönberg’schen Handbuch (die
3 Auflagen sind hier zu vergleichen) und „Grundlagen“, auch betreils Abweichungen
von der Grenznutzentheorie. Dass sich Neumann hier immer nur auf die Ausarbei-
tung von Definitionen beschränke und in seiner neuesten Werthdefiuition ^Schönberg’s
Handb. I, 3. A., S. 147: Werth im subjectiven Sinne „die Bedeutung für das Inter-
esse bestimmter Personen, welche der Verfügungsgewalt über ein Ding beigelegt
wird“) im Grunde die Auffassung der Grenzwerth-Theorctiker angenommen habe, wie
v. Böhm meint (Conrad’s Jahrb., 3. F. B. 1, S. 891 ff.), kann ich doch nicht zugeben.
Die wie immer feiu zergliedernden scharfen Ausführungen Neumann’s über die Be-
griffsbestimmung von Werth geben doch erheblich mehr als bloss formalistische
Definitionen. Aber allerdings kommen sie öfters aus Verclausulirungen nicht heraus
und legen auf Wortfassungen, deren nur relative Richtigkeit Neumann selbst immer
zugiebt, zu viel Werth. Ich kann ihm in der Zerlegung des Werthbegriffs auch nicht
überall folgen und halte Manches für Streit um Worte, auch z. B. was er über die
Unterscheidung von subjectivem und objectivem Werth, gegen den Ausdruck Ge-
brauchswerth und die Unterscheidung von Gebrauchs- und Tauschwerth, gegen Rau ’s
Unterscheidung von abstractem und concretem Werth, an der ich festhalte, sagt.
Dogmen- und litteraturgeschichtlich sind auch diese Arbeiten sehr reichhaltig und
zur Denkübung und Schulung gut geeignet
Auch in der fremden Litteratur 6pielt, besonders neuerdings, mehr noch in
Folge des Eindringens der „österreichischen“ Theorie, als in Folge von Jevons und
Walras, die aber hier auch schon Wirkung ausgeübt haben, die Controverse ebenfalls,
und werden Anhänger und Gegner förmlich abgezählt und jede neue Beistimmung
zur „modernen Werththeorie“ gern gebucht (vgl. die genannten Schriften von Walras,
v. Wieser, v. Böhm). Uober die Italiener, untor denen z. B. Loria ein scharfer
Gegner ist (Nuova Antologia, April 1S90) s. v. Böhm in Conrads Jahrb. 3. F. B. I,
S. 881 ff. In America hallt der Streit auch wieder, so in den Spalten des Quarterly
Journal of economics (Harvard Universität) und sonst. S. ferner die gen. Schriften
von Patten. In England hat Marshall in seinen principlcs eine Auffassung
vertreten, die sich der meinen darin nähert, dass auch er die Bedeutung der Theorie
des Grenznutzens (marginal oder final utility im Englischen) für die Nachfrageseite
anerkennt, ohne das Productiouskostengesetz aufzugeben (s. Princ. book 3, ch. 2).
(Ueber Marshall mein Aufsatz im Quart. Journal of economics, April 1891, worin ich
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Werth im Allgemeinen. Gebrauchswerth.
327
das Werthproblem berührte). In Frankreich ist z. B. Gide Anhänger der Grenz-
nutzcntheorie (principes, 1. livre, 2. ch., valeur), in Holland Pierson (leerbook
der Staats-huiskundc, Harlem 1984). Hier hat mau auch, mit mir vollends zweifel-
haftem Erfolge, wie E. Sax, begonnen, die „ueue Werththeorie“ für das Problem
der Vertheilung der Steuerlast, besonders in der Frage des progressiven Steuerfusses,
zu verwertben (Cohen Stuart, Beitr. z. Theorie der progr. Einkommensteuer, 1989,
v. Mees desgl., s. v. Böhm in Conr. Jahrb. 3. F.. B. 1, S. 875). Aehnlich ncuestens
E. Sax im 1. Heft der österr. Ztschr. f Volkswirthschaft. 1892.
Wie man nun auch zu dieser ganzen Streitfrage stehe: eine unverkennbare be-
deutende geistige Denkarbeit stell die umfassende Litteratur über den Grenznutzen
ohne Zweifel dar. Sie zu ignoriren oder gar sie missachtend zu behandeln, ist sicher
kein Grund da. Für uns Deutsche ist es auch besonders erfreulich, unter unseren
Landsleuten in Oesterreich hier eine so lebhafte und erfolgreiche geistige Thätig-
keit Platz greifen und damit wie mit der Hochhaltung der deductiven Methode dort
Stellung gegen Einseitigkeiten der wissenschaftlichen Entwicklung in Deutschland
nehmen zu sehen. Ich kann daher auch spöttelnde Bemerkungen, wie die gelegent-
lichen G. Cohns, nicht billigen. Die deutsche jüngere historische Schulo hat sich
auf dem Gebiete solcher Fragen völlig passiv, im Grunde impotent erwiesen. Wie
hochmüthig aburtheilend sie sich aber auch hier verhält, wie immer, wo es sich um
Dinge und Probleme aussserhalb ihrer Richtung und Neigung handelt, zeigen Reccn-
isonen im Schmoller’schen Jahrbuch, wie die von W. Sombart über einen so ge-
diegenen, scharfen und gedankenvollen Autor wie v. Wiescr (XIII, 1899, B. 4,
S. 288). — Immerhin anders beurthcilt ein hervorragender jüngerer socialistischer
Theoretiker, wenn auch durch seinen Standpunkt etwas befangen, Conrad Schmidt,
die Theorie (in dem Aufs, die psychologische Richtung der neueren Nationalökonomie
in „Neue Zeit“ X, 2. B., 1892, S. 421 ff.), wie denn für den Socialismus diese Seite
des Problems beachtenswerth genug ist.
Im Folgenden habe ich nach reiflicher Oeberlegung, wozu mir seit lange jähr-
lich insbesondere auch die Behandlung der Werth- und Preislehre in meinen Vor-
lesungen Anlass gegeben hat, doch an meiner früheren sachlichen und formellen
Behandlung des Gegenstands in diesem Werke nicht viel gegen die zweite Auflage
geändert Mancherlei sehe ich auch wirklich nur mehr als Wortstreit an, so auch
Einiges von Neumann’s Einwänden in den Erörterungen über subjcctiven, objec-
tiven, concreten, abstracten Werth. Im Wesentlichen habe ich mich hier, der Auf-
gabe in diesem 2. Buche von den Grundbegriffen gemäss, auf Feststellung der
Terminologie, Definitionen und die allgemeinsten Principienpun cte
der Lehre von der Werth- und Preisgestaltung beschränkt, gehe daher an dieser
Stelle auf die sachliche Controverso über Werth, Preis, Kosten, Grenznutzen nicht
weiter ein, als es im Vorausgehenden geschehen ist, das absichtlich meinem Mit-
arbeiter H. Dietzel für die theoretische Nationalökonomie überlassend. Für mich
war auch hier, nachdem ich über die Werthlitteratur und die neueren Streitfragen
orientirt habe, das Wichtigere, diejenigen socialen Gesichtspuncte und Unterschei-
dungen von Kategoricen auch in dieser Lehre zur Geltung zu bringen, welche ich
schon in der 2. Aufl. (zum Theil abweichend von der ersten) im Anschluss au Rod-
bertus hervorgehoben habe.
I. Werth im Allgemeinen. Gebrauchswerth. §. 136
[33,34]. A. Ableitung des Werthbegriffs. Es ist ein natür-
liches Bestreben des Menschen, insbesondere des wirtschaftenden,
sich das Verhältnis, in welchem die inneren und äusseren Güter
zu seinen Bedürfnissen stehen, zum deutlichen Bewusstsein und
VerstUndniss zu bringen. Dies geschieht durch die Schätzung
(Werthschätzung), wodurch den Gütern, beziehungsweise den Dingen
der Aussen weit Werth beigelegt und derselbe gemessen wird.
Der vielfach streitige und durch manche oft nur scheinbar
tiefsinnige Untersuchungeu noch verdunkelte Werthbegritf entwickelt
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328
2. B. (i und begriffe. 3. K. Werth. §. 136, 137.
sich einfach, wenn man, wie bisher geschehen, vom Bedürfniss
und von der wirtschaftlichen Natur des Menschen ausgeht, dann
zum Gutsbegriff gelangt und an diesen den Werthbegriff anknüpft.
Die Eigenschaft eines Guts, zur menschlichen Bedürfnissbefriedigung
tauglich zu sein (seine „Gutscigeuschaft“) , kann als Nützlich-
keit (Brauchbarkeit) bezeichnet werden. Die Bedeutung,
welche vom Menschen dem Gute wegen dieser seiner Nütz-
lichkeit beigelegt wird, ist im allgemeinsten Sinne der Werth
des Gutes. Derselbe ist also keine Eigenschaft der Dinge an
sich, wenn er auch objectiv die Nützlichkeit eines Dinges zur
Voraussetzung hat, sondern er ist eine Eigenschaft des Guts,
welche dasselbe dadurch erhält, dass der Mensch es in bewusste
Beziehung zu seiner bedürftigen Natur setzt. Dieser Werth ist immer
Werth im subjectiven Sinne, von einer und für eine urtheilende
Person empfunden und erkannt. Im objectiven Sinne bedeutet
„Werth“, „Werthe“ dann auch die werthhabenden Güter selbst,
wo Gut und Werth, Güter und Werthe im Wesentlichen identische
Begriffe werden.
Hermann (2. A- S. 5, 6, in einer Hinsicht Rau, I, §. 57) gehen in der Ab-
leitung des Werthbegriffs ebenso vor. Ersterer und Andere unterscheiden nur nicht
weiter zwischen Nützlichkeit und Werth, wogegen Rau einwendet, dass dann einer
von beiden Ausdrucken überflüssig wäre. Das würde kein durchschlagender Gegen-
grund sein, aber die Unterscheidung im Texte bringt mit Recht ein subjectives Moment
mit in die Definition. Aehnlich auch Schäffle nationalökon. Lehre v. Werth, 1862
und Ges. Syst. 3. Aufl. S. 102, Werth subjectiv betrachtet: Die einem Gute beigelegte
Bedeutung oder Geltung. Roscher (Werth die Bedeutung, welche ein Gut für das
Zweckbewusstsein des wirtschaftenden Menschen hat), Mangoldt Grundr. §. 1. —
Rau hat eine andere Werthdefinition gegeben §. 57. Er geht auch von der „Nütz-
lichkeit“ aus, glaubt aber dann gleich mehrere Güter in Bezug auf ihre Nützlichkeit
vergleichen zu müssen und gelangt darauf zuuächst zum Gebrauchswerth
oder zum Werth im engeren Sinne: „der im menschlichen Urtheil anerkannte Grad
von Nützlichkeit eines Sacbguts“. Indem er dann den Gebrauchs- und den
Tausch- oder Verkehrswerth unter dem Gattungsbegriff Werth zusammenfasst,
ist ihm dieser „der Grad der Fähigkeit eines Sacbguts zur Förderung mensch-
licher Zwecke zu dienen“. Hier wird aber mit Unrecht der zweite Schritt bei der
Schätzung zum ersten gemacht. Die Einwendung Rau ’s, dass sich vom Werthe einer
Sache allein, ohne Vergleichung anderer Güter oder mehrerer individueller Schätzungen
nicht sprechen lasse, und wenn man einer Sache schlechthin Werth zaschreibe, ohne
sie mit einer anderen zu vergleichen, darunter ein vergleichsweise hoher Werth zu
verstehen sei, scheint mir unrichtig und dem Sprachgebrauch auch zuwider.
Marx, Kapital a. a. 0. S. 2 braucht Gebrauchswerth und Gut gleichbedeutend. —
In anderem Sinne als im Texte spricht Hermann von subjcctivem und objectivem
Werth, und Andere nehmen die Unterscheidung wieder anders, v. Böhm-Bawerk
(Conrads Jahrbuch B. 52, N. F. 13, 1886, S. 4, auch Kapital II, 137) versteht unter
Werth im subjectiven Sinne: die Bedeutung, die ein Gut oder ein Gütercomplex für
die Wohlfahrtszwecke eines Subjects hat, im objectiven Sinne: „die Kraft oder Tüch-
tigkeit eines Guts zur Herbeiführung irgend eines objectiven Erfolgs.“ Genauer aber
bestimmt v. Böhm (Jahrb. a. a. 0. S. 13) den subjectiven Werth als: „diejenige Be-
deutung, die ein Gut oder Gütercomplex als erkannte Bedingung eines sonst zu ent-
behrenden Nutzens für die Wohlfährtszwecke eines Menschen erlangt“ (wie, was
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Werth im Allgemeinen. Gebrauchswerth.
329
v. Böhm auch bemerkt, nicht ganz unähnlich schon von Mangoldt in der Volks-
wirthschaftslehre S. 132). Neuman n (Handbuch I, 3. A., S. 139, 151), welcher der
Definition der einzelnen Wertliarteu eine allgemeine Definition von Werth voraus-
zuscbicken „ganz verkehrt“ nennt (S. 138 Note 21), unterscheidet durchweg zwei
Kategorien von Werthbegrill'en, die subjectiven und die objcctiveu, jene, „die sich
auf gewisse Personen und ihre Vermögensinteressen, resp. ihre Interessen, Wünsche,
oder Neigungen überhaupt beziehen“ oder kurz: nach der Schätzung eines Dings nach
seiner Bedeutung oder Tauglichkeit für gewisse Personen; die objectiven nach der
Schätzung von Dingen ohne solche Rücksicht, wo von gewissen Personen abgesehen
und vorzugsweise die Tauglichkeit, gewissen Bedürfnissen, Interessen, Wünschen.
Zwecken u. s. w. als solchen zu genügen, beachtet wird. Ich kann, trotzdem das
Neumann fast unerklärlich nennt (a. a. 0., S. 152, Note 62) auch jetzt noch nicht
umhin, in dieser seiner Unterscheidung wesentlich dasselbe wie in der Rauschen
von concretem und abstractem Werth zu sehen, und auch v. Böhms Unterscheidung
läuft auf wenig Anderes hinaus.
Die Analyse der psychologischen Vorgänge bei der subjectiven
Werthschätzung ergiebt, dass zuerst die Beilegung von Werth
erfolgt, darauf die Höhe dieses Werthes gemessen wird. Ersteres
geschieht in der Weise, dass die Güter zu den Bedürfnissen in
Beziehung gesetzt werden; letzteres dann in doppelter Weise:
es werden die Güter verglichen mit Rücksicht auf ihre Brauch-
barkeit zur Befriedigung verschiedener Bedürfnisse und auf
ihre Brauchbarkeit zur Befriedigung desselben Bedürfnisses.
Im ersten Falle hängt für das schätzende Subject die Höhe des
Werthes der Güter allgemein von der Rangordnung seiner Bedürf-
nisse, speciell von der Stärke und Dringlichkeit der von ihm im
concreten Falle zu befriedigenden Bedürfnisse ab: es entscheidet
also zugleich die Natur der Güter und die jeweilige persönliche
Lage des schätzenden Menschen über die Höhe des Werthes: der
an sich einfache und richtige, der Grenznutzentbeorie zu Grunde
liegende Sachverhalt. Im zweiten Falle hängt die Werthhöhe
wesentlich von dem Grade der Brauchbarkeit eines Gutes, demnach
von dessen objectiven Eigenschaften, bei derselben Gutsart von
der Qualität, Sorte ab. Die Rangordnung der Brauchbarkeiten be-
stimmt also die Höhe des Werthes der verschiedenen, für dasselbe
Bedürfniss dienenden Güter.
Die von Rau und anderen Autoren gegebene Definition des Werths, wonach
dieser den Grad der Fähigkeit eiues Guts (Sachguts Rau), zur Förderung mensch-
licher Zwecke zu dienen, bezeichne, wird nur dem zweiten Vorgänge bei der Schät-
zung gerecht und ist zu eng. Die Vergleichung der Güter unter sich ist zur
Werth messung, nicht zur Werthbeilegung erforderlich. Meine Bezugnahme auf
die Grenznutzentheorie in obiger Weise wird vielleicht Widerspruch finden, aber mit
Unrecht.
B. — §. 137 [35, 36]. Der Werth als Gebrauchswerth.
Der also abgeleitete Werth ist Gebrauchs werth. „Es giebt
nur Eine Art Werth und das ist der Gebrauchswerth. Dieser
ist entweder individueller Gebrauchswerth oder socialer Ge-
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330
2. B. Grundbegriffe. 3. K. Werth. §. 137.
brauchswerth. Der erstere bestellt dem Individuum und seinen
Bedürfnissen gegenüber ohne alle Berücksichtigung einer socialen
Organisation. Der zweite ist der Gebrauchswerth, den ein aus
vielen individuellen Organismen (bez. Individuen) bestehender
socialer Organismus hat“ (Rodbertus). Der sociale Ge-
brauehswerth setzt also Arbeitstheilung und eine bestimmte
Rechtsordnung bezüglich der sachlichen Productionsmittel , damit
die Nothwendigkeit einer Organisation derVcrthcilung der
arbeitstheilig gewonnenen Güter voraus.
Das Mittel hierzu ist im freien Verkehr auf der Grundlage der Privateigen-
thumsordnung und in der privatwirthschaftlichen Organisation der Volkswirtschaft
die Einrichtung des Tausches, bez. unter Vermittlung des Gelds, des Kaufs und Ver-
kaufs. wo dann der Werth als Tauschwerth und Vertrags-Preis hervortritt.
Der Tauschwerth ist daher nicht eine dem Gebrauchswerth coordinirte Art des Werths,
kein logischer Gegensatz zum Gebrauchswert!), sondern er ist ein historischer Be-
griff, der bestimmten geschichtlichen Perioden des Verkehrs entspricht. Er hat
im Taxwerth und Taxpreis einen anderen historischen W’erthbegriff neben sich:
ein durch Autoritäten festgesetzter Werth und Preis für die Güterübertragung
zwischen zwei Personen. In einem obrigkeitlich oder durch Organe, denen die
betreffende Macht hierzu gewährt ist, geregelten Verkehr kommt dieser Taxwerth
und Taxpreis auch in einer Volkswirtschaft mit privatwirthschaftlicher Organisation
und Privateigenthumsordnung vor. In einer auf der Rechtsgrundlage gesellschaft-
lichen Gemeineigenthums an den sachlichen Productionsmitteln beruhenden Volks-
wirtschaft mit ..social istischcr“ Organisation der Production und Verteilung müsste
folgerichtig der Tauschwerth und Preis des freien Verkehrs, — mindestens der Kegel
nach, streng genommen unbedingt— verschwinden und allgemein durch „Social-
Taxen“ ersetzt werden. Die notwendige, aber missliche, weil nicht oder unendlich
schwer auszuführende Consequenz des Systems! (S. §§. 141, 142.)
Vgl. Rodbertus in dem Briefe an mich in d. Tüb. Ztschr. 1S7S, S. 223. Ich
habe mich dieser Auffassung angeschlossen, deren Bedeutung ich schon in der 1. Aufl.
einmal hervorhob. Rodbertus schliesst seine dortige Erörterung: „Der Tauschwert
ist nur der historische Um- und Anhang des socialen Gebrauchswerths aus einer be-
stimmten Geschichtsperiode. Indem man dem Gebrauchswerth einen Tauschwerth als
logischen Gegensatz ecgcnüberstellt, stellt man zu einem logischen BegrifF einen histo-
rischen Begriff in logischen Gegensatz, was logisch nicht angeht.“ Das ist vollkommen
richtig und nötigt zu einer Acnderung der üblichen unlogischen „Einteilung“ des
Werths in Gebrauchs- und Tauschwerth, wie ich sie in §. 35 d. 1. Aufl. auch noch
vorgenommen hatte. — Die Unterscheidung von Gebrauchs- und Tauschwerth schon
im Keime (wie Neu mann. Tüb. Zeitschr. B. 28, 275, mit Recht berichtigt) bei
Aristoteles, Polit. I, 9. Die eigene Benutzung, der Gebrauch, die häusliche Ver-
wendung (o/Vf/« XQfjoi<;) wird dem Vertauschen gegenüber gesetzt. Vergl. auch
eb. I, 3, 4 und die ganze Theorie des Erwerbs des Aristoteles, wovon Büchsen-
schutz a. a. 0. S. 252 ff. eine Ucbersicht giebt. — Auch A. Smith I, ch. 4 unter-
scheidet valuc in use und in exchange, behandelt aber nur den letzteren. Ebenso
seine meisten Nachfolger, Ricardo und überhaupt besonders die Freihändler. Von
zwei entgegengesetzten Seiten ist denn auch die Ansicht, besonders in neuerer Zeit,
vertreten , dass nur der Tauschwerth der in der Nationalökonomie zu betrachtende
Werth sei, nemlich von radical freihändlerischer und von socialistischer oder den
Socialisten verwandter Seite. Von ersterem Standpunctc aus sollte die Wissenschaft
eine reine Tausch-Lehre werden, eine ausserordentlich enge und einseitige Auf-
fassung. Von der anderen Seite s Marx, 1. Kap, II. Rösler in Hirth’s Ann. 1875
S. 10. Dü bring, Cursus S. 33 (Gebrauchswert!) nur „in der veralteten Tradition der
gemeinen Lehrbücher“, „wissenschaftlich überwundener Irrthum“). — Ich stelle im
Einklana: mit der Rodbertus’schen und auch der Schäffle’schcn Auffassung
(Soc. Körper III, 272, 276) den Gebrauchswerth-Character alles Werths voran
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Gebrauchswert!!.
331
und hebe die Gebrauchs werth- Schätzung um so mehr hervor, weil die Tauschwerth-
Schätzung auf viele der wichtigsten wirtschaftlichen Guter schlechterdings gar nicht
anwendbar ist, so nicht auf den Staat und seine Leistungen, noch auf andre gemein-
wirthschaftliche Verhältnisse. (S. uuten §. 139.) Aber auch im privat wirtschaftlichen
Verkehr reicht die Tauschwert-Schätzung nicht aus und muss namentlich zur Erklärung
der einfachsten Tauschacte im Verkehr auf die Schätzung nach dem concreten Werth
zurückgegriifen werden (u. §. 13S). Kau hat, trotzdem er nur Sachgüter betrachtet,
wo der Tausch und der verkehrsmässigc Erwerb so voran stehen, mit Recht doch auch
dem Gebrauchswert eine eingehende Betrachtung gewidmet (§. 58 ff.). Die Erweite-
rung des BegrilTs der wirtschaftlichen Güter auf persönliche Dienste und Verhältnisse
macht dies noch notwendiger. Neumann (z. B. Handb. 1, 3. A., S. 139, Note 23,
S. 142) wendet sich auch gegen die Einteilung des Werths in Gebrauchs- uud Tausch-
werth, wie sie bei Kau, Roscher, Hermann sich findet, sowie gegen die Behandlung
beider als coordinirte Begriffe. Aber seiner völligen Verwerfung jeder bezüglichen
Unterscheidung vermag ich nicht zu folgen und finde das, was Neumann darüber aus-
fuhrt, auch nicht recht verständlich.
Der Ge brauche werth (Werth im engeren Sinne bei
Rau) lässt sich definiren als der Werth eines Guts, betrachtet
ftir den Zweck der Bedürfnisbefriedigung mit ihm, dem Gute,
wegen der specifischen Nützlichkeit des Gutes und wegen des
Bedarfs, welcher auf Güter dieser Art, daher aus Gründen der all-
gemein menschlichen wie eventuell der individuell persönlichen
Bedürftigkeit uud Lage und der daraus hervorgehenden Bedürf-
nis-Empfindung gerichtet ist. Er ist so die Grundlage jeder
Schätzung.
Modification meiner Definition in §. 35 d. 1. Aufl., wozu ich mit durch Held,
Grundr. S. 41 bewogen wurde. „Wenn man den Gebrauchswerth einmal erkannt hat, so
bleibt er sich so lange gleich, als nicht in den Absichten (und. füge ich hinzu, in den auf
diese Absichten bestimmend einwirkenden Verhältnissen) des Menschen oder in der aner-
kannten Brauchbarkeit eines Mittels für dieselben ein Wechsel eintritt.“ (Rau, §. 58.)
Der individuelle wie der sociale Gebrauchs werth ist zu
unterscheiden:
1) nach dem subjectiven Zwecke des Besitzers (Begehrers)
und nach der objectiven Brauchbarkeit des Gutes: als Ge-
nusswerth für die directe Bedürfnissbefriedigung mit dem Gute
selbst und Productionswerth (mitunter Erwerbswerth ge-
nannt, so bei Rau, was aber sprachlich den Tauschwerth mit
umfassen würde) für die Herstellung, bez. Gewinnung neuer Güter
mit dem Gute. Die Güter lassen sich mit Rücksicht, hierauf in
Genussmittel und Produetionsmittel (Erwerbsmittel)
unterscheiden.
Ob ein Gut zur einen oder anderen Classe gehört, hängt allerdings bei manchen
Gütern, welche ihrer Beschaffenheit nach beide Verwendungen gestatten, vom Willen
des Menschen (Besitzers) ab. Aber vorherrschend maassgebend ist doch die Be-
schaffenheit der Güter selbst, wonach viele Guter, wenigstens rein ökonomisch be-
trachtet, nur Genussmittel (z. B. Nahrungsmittel, Luxusartikel), — was natürlich nicht
hindert, dass sie ein Theil des Kapitals als Productionsmittelfonds sind, indem sie von
deu Producenten während der Production und um zu dieser fähig zu werden, ver-
332
2. B. Grundbegriffe. 2. K. Werth. §. 137, 138.
zehrt werden (s. o. §. 129) — vielo nur Productionsmittcl (z. B. Werkzeuge, Ma-
schinen. viele Rohstoffe, Hilfsstoffe) sind. Insofern verhält es sich ähnlich mit dieser
Unterscheidung wie mit derjenigen zwischen Gebrauchsvermögen und Kapital (§. 130).
Von Wichtigkeit ist dieselbe auch bei der Beurtheilung der natürlichen Aus-
stattung der Länder mit sogen, freiwilligen Naturgaben.
a) Die Höhe des Genusswerthes ist zwar vom subjectiven
Urtheil des einzelnen Menschen, bisweilen selbst von der Laune
und dem Spiele der Einbildungskraft mit abhängig, aber in der
Hauptsache beruht sie doch auf festen Zwecken der Menschen
und gewissen Eigenschaften der Güter und ist deshalb auch der
wissenschaftlichen Betrachtung zugänglich.
Nach Kau, §. 58, der hier ein Wort von Shakespeare, Troil. u. Cress. II, 1,
citirtc: Value dwells not in particular will — It holds its estimate and dignity —
As well wherin ’tis precious of itself, — As in the pricer. Kau fügt hier. §. 58,
Abs. 2. hinzu; „Die Grösse des Gebrauchswerths eiuer Sache kann aus der durch den
Mangel derselben verursachten Beschwerde (der Entbehrung) erkannt werden“, was
an v. Mangoldt’s Begriffsbestimmung vom Werth in der Volkswirtschaftslehre, die
auch v. Böhm-Bawerk anerkennt, und — insofern an den leitenden Gesichtspunct
der Grenznutzeutheoric anklingt, der demnach wieder nicht so „neu“ wäre. Die Rang-
ordnung der menschlichen Bedürfnisse, denen ein Genussmittel dienen kann, und der
Grad der Brauchbarkeit eines solchen für die Befriedigung eines bestimmten Bedürf-
nisses entscheidet spcciell auch über die Höhe des Genusswerths.
b) Die Höhe des Product ionswerthes richtet sich „nach
der Stärke des Beistandes, welchen die Productionsmittel zur Her-
stellung neuer Güter leisten, daher nach der mit ihrer Hilfe ent-
stehenden Werthmenge, nach Abzug des etwa nöthigen Kosten-
aufwandes.“
Da hierbei die objective Brauchbarkeit der Güter und der Stand der Technik
entscheiden, so lassen sich durch „fortgesetzte Beobachtungen in der Gütererzeuguug
viele Erfahrungssätze zur Bemessung der Höhe des Productionswerths gewinnen, be-
sonders in der Sachgüterproduction , im Gebiete der Landwirtschaft und der Stoff-
veredlung (Industrie)“. Nach Kau, §. 58. — Z. B. Nährkraft eines Centners Heu für
Melkthiere oder Mastvieh — Düngkraft eines Centners Mist — Ertragsfähigkeit eines
Morgen Acker oder Wald bei einer gewissen Bodenart und andren gegebenen Um-
ständen — , Leistungen einer Dreschmaschine — , Heizkraft der verschiedenen Brenn-
stoffe u. s. w. (Kau.) Der Werth in diesem Sinne wäre der objective v. Böhrn-
Bawerk’s und auch eine der von ihm als annehmbar erkannten Arten des Werths
im objectivcn Sinn bei Neu mann, als welche er noch besonders, in nicht recht an-
muthender Behandlungsweise, den gemeinen Werth (gemeinen Vermögens werth), den
Tausch- oder Kaufwerth im objectiven Siune und den Werth als Ertragswerth desgl.
unterscheiden will (Handb. S. 152, 158, 3. Aufl.).
2) Nach der Art und der Zeitdauer des Gebrauchs eines
Gutes ist dessen Gebrauchswerth Verzehrungs - (Verbrauchungs-)
werth bei Verbrauchsvermögen, B enutzun gs werth bei Nutz-
vermögen (§. 128).
3) Nach dem inneren Grunde des Gebrauchswerths kann
bei Sachgütern Stoff-, Form- und Orts werth unterschieden
werden.
Nach Knies, Tüb. Zcitschr. 1855. Letztere beiden Arten sind namentlich
wichtig zur Beurtheilung der Leistungen der Industrie und des Handels.
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Concreter und abstracter Werth.
333
C. — §. 138 [37]. Der Gebrauchswerth als Mengen-
oder Gattungs werth oder als concreter und abstracter
Werth: eine Unterscheidung, welche uicht die Bedeutung einer
„Eintheilung“, sondern zweier von einem verschiedenen Stand-
puncte der Betrachtung aus sich ergebenden Auflassungen hat.
Nach Rau ’s Terminologie, s. bei ihm I, §. 62, 62 a. Sich anschliessend, aber
nicht ganz ebenso Koscher §. 6. Auch dieser Unterscheidung ist neuerdings die
Bedeutung und selbst die Richtigkeit und Zulässigkeit abgesprochen worden, so von
N e um an n in s. kritisch so werthvollen Untersuchungen in der Tub. Zeitschr. B. 2S, 28S ü'.,
und wiederholt. Er will den Werth nur unterscheiden in subjectiven und o bj ectiven
und hält an der Abweisung des concreten und abstracten Werths auch in seinen
neuesten Arbeiten fest Wie schon bemerkt, scheint mir jedoch, dass sein subjectiver
Werth im Wesentlichen Kau ’s concreter Werth und sein objectiver Werth ebenso in
der Hauptsache Rau’s abstracter Werth und der gewöhnlich sogen. Tanschwerth ist,
ohne dass aus der neuen Nomenclatur und Werthcintheilung ein besondrer Gewinn
resultirt Ich halte im Ganzen an Kau’s Lehre auch in dieser 3. Auflage hier fest Auch sonst
wird in der neueren Werththeorie, auch in der Grenznutzentheorie, die hier besprochene
Unterscheidung dem Wortlaut nach meist fallen gelassen, um aber m. E. im Grunde
unter anderen Namen und in den Ausführungen sachlich, wenn nicht genau ebenso,
so doch ähnlich hervorzutreten. Ich sehe nach wiederholter Prüfung und auch nach
dem Studium der reichen und im Einzelnen manches Gute fördernden neueren
und neuesten Werthlitteratur keinen Grund, die alte, m. E. auch ganz passende,
jedenfalls durch keine passendere bisher ersetzte Terminologie aufzugeben. Ebenso
habe ich in der sachlichen und formellen Behandlung bis auf einen Punct (bei dem
„Deckungsverhültniss“) gegen früher nichts Wesentliches zu ändern für nothwendig
gefunden. In den früheren Sätzen (2. Aull., S. 5H über die Abhängigkeit der Höhe
des concreten Werths und Uber dessen Grenzen war auch das, was ich jetzt etwas
anders fasse, und insofern auch ein Gedanke der Grenznutzentheorie, implicite ent-
halten.
1. Die ursprüngliche und natürlichste Werthschätzung ist die
individuelle, d. h. die besitzende, bez. behalten wollende
oder die bedürfende, bez. begehrende, erlangen wollende
Person beurtheilt die Bedeutung eines bestimmten Gutes in
bestimmter Menge in einem einzelnen Zeitpuncte für
ihre bestimmten Bedürfnisse. Der hiernach sich ergebende
Gebrauchswerth dieses Gutes ist sein concreter oder sein Mengen-
werth. Er regt den Willen an beim Besitzer, das Gut zu be-
halten, beim Begehrer, es zu erwerben, und bestimmt die Be-
dingungen, daher auch die Hübe des Entgelts mit, gegen
welches ein Gut fortgegeben, bez. erworben werden kann und
eventuell wird. Er ist daher von unmittelbar practischer Bedeutung
für den Verkehr, demnach für den Tauschwerth und Preis.
Seine Höhe ist abhängig einmal vom Bedarf, daher von
der jeweiligen persönlichen Lage des Schätzenden, der
davon bedingten Art, Umfang, Stärke, Dringlichkeit des
zu befriedigenden Bedürfnisses sowie von der Brauchbarkeit
des Gutes zu der betreffenden Bedürfnissbefriedigung, sodann
334
2. B. Grundbegriffe. 3. K. Werth. §. 138, 131K
von dem „Deckungsverhältuiss“ zwischen dem Bedarf und
dem Vorrath, daher in Bezug auf besessenen Vorrath des Schätzenden
von der Grösse und den Bedingungen der Ergänzung, Wiederbe-
schaffung des erforderlichen Vorraths, in Bezug auf überhaupt erst
zu erlangenden Vorrath von solchen Bedingungen für die noth-
wendige Vorrathsbesehaffuug nach Quantum und Quäle allein. Diese
Bedingungen laufen auf die Opfer und M tt h e n für diese
Beschaffung hinaus, die ganz passend sogenannten „Sch wie rig-
keiten der Erlangung“ (wie festzuhalten ist). Diese Schwierig-
keiten der Erlangung hängen bei den nicht regelmässig wieder-
herstellbaren (irreproduciblen) Gütern von dem Maasse der Selten-
heit dieser Güter — an sich oder nach den für sie einmal
vorhandenen Besitz- und Angebotsverhältnissen — endgiltig ab.
Bei den viel wichtigeren regelmässig herstellbaren (reproduciblen),
der Masse aller Güter, sind die Schwierigkeiten der Erlangung auf
die Kosten der Herstellung und Herbeiführung (Productions-
k osten) zurückzuführen und diese auch hier (wie beim Tausch-
werth) auf der Seite des Vorraths für den concreten Fall ent-
scheidend. Die Grenzen der Höhe des concreten Werthes sind,
soweit der Bedarf entscheidet, für eine schätzende Person nahezu
„Null“ und „Unendlich“.
Durchaus abhängig von individuellen Umständen ist der concrete
Werth nothwendig bei demselben Gute für verschiedene
Personen verschieden, weil eben verschiedene Personen schätzen
und die individuellen Umstände für diese ohnehin in irgend Etwas
immer abweichen werden. Hierauf beruht, psychologisch betrachtet,
die Möglichkeit und im Verkehr der Antrieb zum Tausche
(immer eigener Gebrauch des Gutes als Zweck voraus-
gesetzt). Güter verschiedenen concreten Gebrauchswcrthes für
die Tauschenden erlangen dabei denselben Tauschwerth. Man
strebt regelmässig nach Erwerb und Besitz von Gütern solchen
concreten Werthes und giebt demnach im Verkehr Güter fehlenden
oder geringeren gegen solche höheren concreten Werthes hin.
Das Ziel ist also immer, mit Rau zu sprechen, „in den zum eigenen Gebrauche
bestimmten Gutem die grösste Menge von concretem Werthe zu besitzen. Ver-
äusserungen der überflüssigen Vorräthe und Erwerbungen der noch fehlenden Güter
(Sachgüter Rau) dienen, den Besitz so umzuändern, dass er jenem Ziele am Besten
entspricht, d. i. sämmtliche Bedürfnisse am Vollständigsten befriedigt“ (Rau I, §. 62a).
„Der Einfluss des Bedarfs und Besitzes auf die Schätzung des Gebrauchswerths ist
vorzüglich bei den Genussmitteln ganz entscheidend. Lässt sich auch von man-
chen Gütern, die zum Vergnügen dienen (Luxusgegenstände), nicht genau angeben,
wie viel man braucht, so giebt es doch ein Maass derselben, dessen Uebcrschreitung
als Ueberfluss empfunden wird, und auch innerhalb dieses Maasses pflegt der con-
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Concreter und abstracter Werth.
335
crete Werth eines einzelnen Stücks oder Quantums desto kleiner zu werden, je höher
der ganze Vorrath eines Eigenthümers steigt.“ Ist das nicht im Grunde — der
Kern der ganzen Grenznutzentheorie, nur in einfacheren Worten? „Der Grenznutzen
steigt mit dem Bedarf und sinkt mit dem Vorrathe“ (Wieser .Handwörterb. d. Staats-
wiss.. Art. Grenznutzen. IV. 107). „Der concrete Werth (und danach Tauschwerth
und Preis), Gleichbleiben der Bedingungen der Schwierigkeiten der Erlangung, der
Beschaffung oder Wiedcrergäuzung der Vorräthe vorausgesetzt, steigt mit dem Bedarf
und sinkt mit dem Vorrath“, kann man ebensogut sagen. Ueber den concreten Werth
der Productionsmittel s. Kau §. 62a u. 2. AuÜ. dieses Werkes S. 52.
Ich beschränke mich auch hier auf die kurze Einstellung der Sätze im Text
über die Werthgestaltung. Sätze, welche dann freilich hier mehr nur erst als Thesen
erscheinen, welche durch weitere Ausführungen noch des Beweises bedürfen. Nach
der hier festgehaltenen Auffassung ist auch das Kostengesetz für die Gestaltung
des concreten Werths, nicht bloss des Tauschwerths mit entscheidend. Von den
Kosten der Wiederergänzung von Vorrath oder der ersten Beschaffung von solchem
hängt es mit ab, wie sich die Motive zur Fortgabe von Vorrath und zur Beschaffung
davon gestalten werden. Diese psychologischen Momente wirken eben zuerst
auf die Schätzung und daher auf die Höhe des concreten Werths, erst von da aus als-
dann auf diejenigen des Tausch werths (§. 142).
§. 139 [38 — 40]. 2. Zum Gattungs- oder abstracten
Werthe gelangt man durch eiu blosses, den Willen, ein Gut zu
behalten oder zu erwerben nicht nothwendig anregendes ürtheil
des Verstandes des Schätzenden, hinsichtlich der Bedeutung der
Güter für die Bedürfnissbefriedigung des Menschen überhaupt
(eines Volkes, grösserer Kreise, nach Durchschnittspersönlichkeiten
geschätzt). Der Gattungswerth ist daher der Gebrauchswerth der
Güterarten für menschliche Bedürtnissbefriedigung im Allge-
meinen nach der Erfahrung und nach Maassgabe der im Ganzen
in einem Bevölkerungskreise bestehenden Bedürfnisse, Befriedigungs-
arten und Befriedigungssitten geschätzt.
Seine Höhe hängt ab von der natürlichen und historisch-socialen Rangordnung
der Bedürfnisse (z. B. wichtige Nahrungsmittel stehen vor Luxusartikeln) und von
dem Grade der Brauchbarkeit einer Gutsart zur Befriedigung eines Bedürfnisses (z. B.
Nährwerth verschiedener Nahrungsmittel). Auch hier kommen die oben bei der psy-
chologischen Analyse der bei der Werthschätzung mitspielendeu Momente (§. 136, S. 329)
daher in Betracht. Wegen des ersten Umstandes ist auch der Gattungswerth der
Güter nicht in der ganzen Menschheit der gleiche, sondern er wird durch alle
Momente verschieden, welche dio Rangordnung der Bedürfnisse eines Volks oder
grösserer Kreise verschieden gestalten, wie namentlich Klima und Landesart. Sitten,
Culturzustand. Selbst bei Nahrungsmitteln ersten Rangs, wie z. B. bei Weizen und
Koggen, kann sich das zeigen. Letzterer hat z. B. in Deutschland verglichen mit dem
Roggen einen nicht in demselben Maasse höheren Gattungswerth als in England.
Zwischen dem Gattungswertho einer Güterart und dem concreten Werthe einer
Quantität dieser Güterart besteht kein solches Verhältnis, das eine genaue Ver-
gleichung ihrer Höhe für dieselbe Person gestattete. Man kann daher nicht wohl
mit Rau sagen: „bis zur Grenze des Bedarfs ist der concrete dem Gattungswerthe
gleich, über jenen hinaus ist er schwächer oder verschwindet völlig“ (§. 62, 8. Aufl ).
Dagegen kann man wohl für ein ganzes Volk den concreten Werth des nationalen
Vermögens „nach dem Gattungswerthe der zu letzterem gehörigen Güter anschlagen,
indem man annimmt, dass ihr concreter Werth schon bei den jetzigen Besitzern oder
nach beendigter Verthcilung dem ersteren gleichkommt. Solche Güter aber, die für
das ganze Volk zur Zeit überflüssig sind, haben für dasselbe keinen concreten Werth,
es kommt ihnen für jetzt nur ein Verkehrswerth zu, wenn sic zur Ausfuhr als Mittel
zur Bezahlung anderer ins Land einzufuhrenden Güter gelangen können“ (Kau §. 62a).
336
2. B. Grundbegriffe. 3. K. Werth. §. 139. 140.
In einein ganzen durch Arbeitstheilung verbundenen Volke ist, vom auswärtigen
Verkehr abgesehen, das Streben auf möglichst viel Guter von hohem Gattungswerthe
zu richten. Wie weit dies verwirklicht wird, hängt wesentlich mit von der Verthci-
lnng des Volkseinkommens ab, welche dann wieder die Richtung der nationalen Pro-
duction bestimmt: gleichmässigerc Vertheilung bedingt mehr, ungleichmässige bedingt
weniger Güter allgemeinen hohen Gattungswerths.
Je mehr die Ei gen ge w in n ung der Güter vorherrscht, daher
regelmässig in primitiveren Verhältnissen des Volkslebens, bei sog.
Naturalwirtschaft, desto mehr überwiegt die Gebraucbsweith-
sehätzung die Verkehrswerthschätzung, die individuelle die sociale
Gebrauehswerthscbätzung und die Schätzung nach dem concreten
Gebrauchswerth diejenige nach dem abstracten. Für sehr wichtige
wirtschaftliche Güter, wie namentlich für den Staat und die öffent-
lichen Einrichtungen, ist natürlich nur eine Gebrauchswertbschätzung,
keine Tausehwerthscbätzung anwendbar.
Auch dies beweist, neben vielem Anderen, dass die einseitige Berücksichtigung
des Tausch- oder Verkehrswerths in der Wirtbschaftslchre (und auch in der Volks-
wirthschaftslehrc) oder gar die beinahe völlige Verbannung der Betrachtungen über
den Gebrauchswerth aus ihr falsch ist.
II. — §. 140 [41 — 43j. Der Tauschwertb oder Ver-
kehrswerth. Je mehr die Eigengewinnung der Güter für den
persönlichen Bedarf der verkehrsmässigen Gewinnung weicht, desto
mehr tritt der sociale Gebrauchs werth der Güter hervor:
es wird vom Einzelnen absichtlich und planmässig für den Bedarf
anderer Mitglieder der Gesellschaft gearbeitet und es werden daher
solche Güter bergestellt, die diesem gesellschaftlichen Bedarf ent-
sprechen, d. h. eben „socialen Gebrauchswerth“ erlangen. Die
Entwicklung dieses Hervortretens des socialen Gebrauchswerths
ist die Begleiterscheinung der oben (§. 117, 118) skizzirten Ent-
wicklung von Tausch, Arbeitsgliederung und Verkehr, geschicht-
lich daher von denselben Bedingungen abhängig. Je freier von
Individuum zu Individuum sich der Verkehr gestaltet, desto mehr
wird die regelmässige geschichtliche Rechtsform, in welcher der
sociale Gebrauchswerth der Güter erscheint und die arbeitstheilig
gewonnenen Güter den einzelnen Bedürftigen und ihrerseits andere
Güter herstellenden Personen zugeführt werden, der freie Ver-
tragsschluss über die gegenseitige Ueberlassung der Güter.
Namentlich geschieht letztere mittelst des Tausch Vertrags oder,
nach der Einbürgerung des Geldes, des Kaufvertrags, eventuell
auch eines C red it Vertrags (§. 143). Die Voraussetzung ist hier
also eine solche wirtschaftliche Rechtsordnung, welche
die Einzelnen getrennt für sich Güter herstcllen lässt, indem sie
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Tausch werth oder Verkehrswerth.
337
ihnen das (Privat-) Eigenthum an den dazu erforderlichen sach-
lichen Productionsmitteln (Boden, Kapital) einräumt; welche ihnen
dann das Eigenthum an deu gewonnenen Gütern gewährt und sie
rechtsgiltig jene Verträge über die Ueberlassung der Güter unter
den ihnen genehmen Bedingungen des Entgelts scliliessen lässt.
Diese wirtschaftliche Rechtsordnung wird später unter dem Namen
des privatwirthsehaftlichen Systems der freien Concurrenz näher
untersucht werden (Buch 5).
Der Werth, welcher einem Gute von socialem Gebrauchs werth
wegen dieser allgemeinen Möglichkeit, Gegenstand eines solchen
Vertrags, insbesondere des Tauschvertrags, zu sein, heigelegt wird,
ist sein Tauschwerth.
Hau I, §. 56, 57, 60. — Hermann S. 106: Tausch werth: die Möglichkeit,
gegen Ueberlassung eines Gutes von anderen Persouen Vergeltung zu erlangen. —
Der Tauschwerth kann auch als Verkehrswerth bezeichnet werden, wenn jene Mög-
lichkeit des Austauschs der Güter im Verkehr als Kegel betont werden soll. Der
Ausdruck „Vcrkchrswerth“ erscheint daher besonders passend bei denjenigen Gütern,
welche vorherrschend zum Absatz im Verkehr, statt bloss zur eigenen unmittelbaren
Bedürfnissbefricdigung erzeugt werden. Im Ucbrigen ist die Unterscheidung zwischen
beiden Ausdrücken nicht von wesentlicher Bedeutung und wird von Hau, welcher
sic etwas anders fasst, wohl überschätzt. Rau §. 60: Verkehrswerth, der Grad von
Tauglichkeit einer Sache, ihrem Besitzer zum Erwerbe andrer Güter im Verkehr be-
hülflich zu sein. Er soll ausschliesslich dann Tauschwerth heissen, „wenn das zu
schätzende Gut selbst als Verkehrsgegenstand dient, wo sich sein Verkehrswerth aus
dem dafür zu erwartenden Preise nach Abzug der etwa nöthigen Fracht- und Yer-
kaufskosten ergiebt“. Von diesem Tauschwerth unterscheidet Hau eine zweite Art
des Verkehrs werths, wenn ein Gut dazu benutzt wird, um andre verkäufliche Sach-
güter oder persönliche Leistungen zu Stande zu bringen. — Andere Terminologie
und Begriffsbestimmungen bei seiner Verwerfung der Unterscheidung von Gebrauchs-
und Tauschwerth bei Neu mann a. a. 0. (z. B. Schönberg ’s Handb. I, 3. A., S. 130 ff.,
151 ff., 158 ff), aber m. E. keine Verbesserung der üblichen Behandlungsweise dieser
Pallete, namentlich auch keine vermehrte Klärung der hier vorliegenden Probleme,
eher das Gegentheil.
Der Tausch werth lässt sich auch als mittelbarer („auf-
geschobener“) Gebrauchswerth auf fassen. Ein Gut hat nach
seinem Tauschwerth für alle diejenigen Verwendungen Gebrauchs-
werth, für welche die Güter sich eignen’, gegen welche es sich
austauschen lässt.
Der Tauschwerth eines Gutes hat ausser den schon genannten
zwei Voraussetzungen, dass das Gut nemlich anerkannten socialen
Gebrauchswerth habe, d. h. Mehreren, Vielen in einer Verkehrs-
gesellschaft wegen seiner Nützlichkeit begehrenswerth erscheine
und dass es rechtlich zulässig sei, das Gut ausschliesslich zu be-
sitzen und es an Andere entgeltlich zu übertragen, oder m. a. W.
ein Verkehrsgut (§. 122) zu sein, die weitere Voraussetzung
der Erlangbarkcit des Gutes im concreten Falle nur durch Auf-
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Tbeil. Grundlagen, 22
338
2. B. Grundbegriffe. 3. K. Werth. §. 140, 141
Opferung (Arbeit). Hieraus folgt, dass in der Regel nur die wirih-
8chaftliclien und von diesen wiederum nur die Verkebrsgliter Tauseh-
werth oder Verkehrs werth haben.
Freie Besitzgütcr (§. 113) erlangen also gleichfalls nur unter diesen Voraus-
setzungen Tauschwerth, daher z. B. namentlich, insofern sie auch iin einzelnen Falle
der Bedurfuissbcfriedigung occupatorische Arbeit kosten (Wasser holen, Früchte
sammeln, Thicre jagen, Fische fangen u. s. w.) und allgemein, wenn der Bedarf
den Vorrath übersteigt, aber auch wenn durch Anerkennung des Eigenthums (an Grund-
stücken u. dergl.) die freie Versorgung, wenigstens an Ort und Stelle, für Dritte
ausgeschlossen ist. Wenn der Bedarf den Vorrath übersteigt, d. h. m. a. W., wenn
das Gut relativ selten ist, relativer Mangel daran besteht, und es deswegen
„schwierig zu erlangen“ ist. Diese alte Formulirung der Bedingungen des
Werth- auch Tauschwerth- Habens eines Guts ist von den neueren Grenznutzentbeore-
tikern bemängelt und durch eine andere zu ersetzen gesucht. Aber die betreffenden
Ausfuhrungen laufen doch in anderen Worten auf dasselbe hinaus und diese anderen
Worte sind nicht eben besser, noch weniger klarer als die alten (vgl. z. B. v. Böhm-
Bawerk, Kapital II, 140 ff, 143).
Bei Sachgütern kann man von specifischem Tausch-
werth sprechen, indem man den Tausehwerth mit dem Volumen
und Gewicht eines Gutes in Beziehung bringt.
Güter von kleinem Volumen oder Gewicht und h oh c m Tausch werth besitzen
hohen specifischen Tauschwerth, im umgekehrten Falle niedrigen. Von der Höhe des
specifischen Tauschwerths eines Sachguts hängt unter übrigens gleichen Umständen
seine Transporfirbarkcit, also seine Fähigkeit der Bewegung im Raume, theil-
weise auch seine Aufbewahrbarkei t (und Verbcrgbarkcit) ab. Mit entschei-
dend ist die Höhe des specifischen Tauschwerths auch für die Auswahl des Geld-
stoffs unter den an und für sich zum Gcldstoff geeigneten Gütern. Die edlen Metalle
haben in dieser Hinsicht vor den unedlen, Gold vor Silber Vorzüge.
Eine andere historische Reehtsform des socialen Gebrauchs-
wertes als der besprochene (Vertiags-)Tauschwerth ist der schon
oben in §. 137 erwähnte Tax werth : der nach einem als maass-
gebend anerkannten Urtheil, von Autoritäten, fest-
gestellte Tauschwert.
III. — §. 141 [44, 45]. Der Preis. A. Begriff.
Zum Theil wörtlich nach Rau I, §. 56, Hermann S. 106: Preis eines Guts
ist die Menge der gegen Ccberlassung dieses Guts von anderen Personen zur Ver-
geltung empfangenen Güter. Vergl. auch Roscher I, §. 100. Neu mann,
a. a. O. in den verschiedenen Arbeiten. Im Schönberg’schen 1 landbuche (I, 3. A.,
S. 150) will er dreierlei, was mit „Preis“ bezeichnet werde, unterscheiden: I) den
Umstand, dass für einen Gegenstand nach ein- oder zweiseitiger Normirung andere
Dinge eingetauscht oder einzutauschen sind; 2) den Grad, in dem dies geschieht,
daher den Grad der in solcher Normirung hervortretenden Tausch- oder Kauf-
kraft ciues Dings; 3) dasjenige selber, was nach solcher Normirung für ein Ding
eingetauscht oder einzutauschen ist. Ich halte auch verschiedenen Gegenbemerkungen
Neu mann s gegenüber meine, bezw. grade hier mehrfach die ältere, besonders von
Rau vertretene Auffassung und Fassung fest. Auch die Grenznutzentheoretiker unter-
scheiden ähnlich zwischen Tauschwerth und Preis, wie die früheren, v. ßölirn-
Bawerk z. B. sagt: beide Begriffe seien keineswegs identisch, der Tauschwerth sei
die Fähigkeit eines Guts, im Austausch ein Quantum anderer Güter zu erlangen,
der Preis sei dies Güterquantum selbst. Beider Gesetze fielen aber zusammen (Ka-
pital II, 139).
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Preis. Begriff.
339
Der Tausehwerth verhält sich zum Preise, wie die blosse Mög-
lichkeit für ein Gut, ausgetauscht zu werden, zur Wirklichkeit des
Ausgetauschtwerdens. Der Preis eines Gutes ist „die Meuge anderer
Güter, für welche es wirklich vertauscht wird.“ Im freien Ver-
kehr ist wieder die Rechtsform, in welcher Güter socialen Ge-
brauchswerthes Preis erlangen, die des Vertragsschlusses,
der in einem solchen Vertrage wirklich realisirte Tauschwerth der
Vertragspreis (Concu rren zp reis „freie“ Preis) oder der ge-
wöhnlich in diesem Sinne gemeinte Preis schlechthin.
Es werden hier also zwei Güterquantitäten — ein Ausdruck, welcher nicht auf
Sachgüter beschränkt ist — iui Tausche eiuander insofern glcichgesetzt, als die eine
den Gegen werth (das Aequ ivalent) der andren bildet“, während ihr concreter
Werth für die Tauschenden grade verschieden ist (S. 334). Die Grösse des Preises
wird in dem bctrelfenden Vertrage nach Zahl und Maass derjenigen andren Güter
genau bezeichnet oder in der Menge dieser andren Güter ausgedrückt oder gemessen,
welche für das Gut im Tausch hingegeben worden. Die oben (vor. §.) genannten
Voraussetzungen für den Tauschwerth gelten ebenso für den Preis und erweisen sich
hier natürlich noch unmittelbarer von entscheidender Bedeutung.
Das regelmässig zum Tausche, daher namentlich zum Ueber-
gang in den Verkehr bestimmte, dafür producirte Gut pflegt Waare,
das Gut, gegen welches es regelmässig ausgetauscht wird, pflegt
Zahl mittel (Tau sch mittel) genannt zu werden.
An und für sich kann ein Gut soviel Preise haben, als es
Güter giebt, gegen welche es ausgetauscht wird. Mit anderen
Worten: jedes Verkchrsgut kann als Zahlmittcl für jedes andere
Verkehrsgilt dienen. Der Geldpreis ist nur eine Preisform,
die üblichste (§. 143).
Wenn daher „Viele, z. B. A. Smith und zahlreiche seiner Nachfolger, unter
Preis nur denjenigen Tauschwerth verstehen, welcher in Geld gegeben wird, so ist
dies eine zu enge Begriii'sbcstimmung des Preises. Denn der Kauf gegen Geld ist
nur als eine Art des Tausches, freilich als die regelmässige in jedem etwas ent-
wickelteren Verkehr auzuschen. Warum sollte man bei Völkern, die den Gebrauch
des Geldes noch nicht kennen, die aber tauschen, nicht ebenso gut von Preisen der
vertauschten Dinge sprechen?“ (.Rau I, §. 00).
Der Begriff des Preises ist also so allgemein zu fassen, dass
jedes Tauschäquivalent, es sei Geld oder etwas Anderes, unter ihn
gebracht weiden kann.
Die „allgemeine Möglichkeit“ der Austauschbarkeit giebt beim Tausch- oder
Verkehrswerth eines Guts noch nichts Näheres über die Bedingungen der Aus-
tauschbarkeit und daher namentlich über die ungefähre Höhe des Werths in dem
Falle kund, dass der Tausch verwirklicht werden soll. Darüber ist etwas Bestimmteres
nur zu entnehmen aus den wirklich vorgekommeuen oder vorkommenden Preisen,
nach welchen die Höhe des Verkehrs werths sich bemisst. Hierbei berechnet
man dann Mittelpreise für einen vergangenen Zeitraum oder bildet Vcrmuthungspreise
für die weitere naheliegende Zukunft, ln der Praxis dient zur Ermittelung des Ver-
kehrswerths die zu einer ausgcbildetcn Kunst gewordene Taxation oder Werth-
abschätzung, für welche sich auch eine theoretische Grundlage gewinnen lässt.
340
2. B. Grundbegriffe. 3. K. Werth. §. 141, 142.
Nach den Objecten, um welche cs sich hier handelt, ergeben sich dann
verschiedene Grundsätze dieser Taxation (Schätzung von Ertragswerth , Vormögens-
werth, landwirtschaftliche Taxationslehre u. s. w.). S. Rau I, §. 60 und mancherlei
bezügliche Erörterungen über hier noch weiter zu unterscheidende Begriffe in Neu-
mann ’s genannten Arbeiten.
Auch der Vertragspreis ist ein historisch-rechtlicher
Begriff. Sein Correlat ist ein anderer historisch -rechtlicher Begriff,
der schon oben (§. 137) ebenfalls erwähnte Taxpreis: der durch
eine Autorität (Obrigkeit) festgestellte Preis.
Er hat geschichtlich im polizeilichen, gewerblichen Taxwesen eine wichtige
Rolle gespielt, meistens aber doch eine Ausnahme neben dem vorherrschenden reinen
Vertragspreis gebildet. In Resten ragt er auch noch in Perioden sonst wesentlich
freien Verkehrs, wie die unsere, hinein. Immerhin zeigt sein Vorkommen, dass der
Vertragspreis nicht der kurzweg selbstverständliche oder natürliche ist.
B. — §. 142 [4(i, 47]. Bestimmgründe der Höhe von
Tau sch werth und Preis im freien Verkehr.
Der enge Zusammenhang zwischen Tausch werth und Preis macht es räthlich.
bei der in unserem Verkehrssystem weit vorherrschenden practischen Bedeutung des
Preises, die Lehren von den Bestimmgründen der Höhe des Tauschwcrthes und der
Höhe des Preises zu verbinden und sie genauer erst in der theoretischen Volkswirt-
schaftslehre zu behandeln, wie wir schon oben Vorbehalten haben. Daher hier jetzt
nur folgende Andeutungen.
Für den Tausch werth eines Gutes sind immer zwei Bestimm-
gründe maassgebend, welche den zwei inhärenten Eigenschaften
des wirtschaftlichen Gutes entsprechen. Das Gut repräsentirt
Gebrauchs werth, bez. als Gegenstand des Verkehrs socialen
Gebrauchs werth, und cs bietet Schwierigkeiten des Erlangens,
d. h. seine Beschaffung macht Kosten. Mit letzterem Grund-
begriff werden wir uns im nächsten Buche näher beschäftigen.
Der Tauschwert eines Gutes ist dann im einzelnen Falle um so
höher, je mehr sein concreter Gebrauchswert und die Schwierig-
keiten des Erlangens, bez. die Kosten steigen und umgekehrt.
Im freien Verkehr stellt sich demgemäss der Vertragspreis.
Im entwickelten Verkehr mit regelmässiger Production für den
Absatz sind für die hier als Waaren erscheinenden Güter bei
allen regelmässig erzeugten (reproduciblen) Gütern einerseits
die Herstellungskosten einschliesslich der zur Stellung der
Waaren auf den Markt, bzw. zur Verfügung des Käufers erforder-
lichen Kosten auf die Dauer maassgebend. Diese Kosten werden
durch den Aufwand an Arbeit aller Art — einschliess-
lich aller indispensablen „Thätigkeiten“ der direct und in-
dircct betheiligten Personen , daher auch derjenigen , welche in
ihrem Privatkapital das Nationalkapital bilden und verwenden
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Bestimmgründe der Preishöhe.
341
(§. 129) — gebildet, der zur Herstellung und Herbeischaffung des
Gutes nothwendig ist. Dieser Arbeitsaufwand richtet sich nach
dem Stande der Productionstechnik und lässt sich, unter Reduction
der qualitativ verschiedenen Arbeit auf eine bestimmte Arbeitsart,
schliesslich als ein Quantum gesellschaftlich nothwendiger
Arbeit, bez. Arbeitszeit (Marx) fassen.
S. Mari, das Kapital. S. 5, nur dass hier die „Kapitalbildungs-Arbeit“ eliminirt
wird. S. unten im 2. Thcil der Grundlegung die Lehre vom Privatkapital. An der
bekannten Manschen Formel kann bei den hier besprochenen Waaren festgehalten
werden, sobald man den Ausdruck „gesellschaftlich nothwendige Menge Arbeit, bezw.
Arbeitszeit“ nicht tendenziös eng, unter Beschränkung auf (Hand-) Arbeit im engren
Sinn, sondern in zulässiger und nothwendiger Weise weit auslegt, so dass eben alle
wirklich in einer gegebenen Epoche erforderlichen „Thätigkeiten“ mit darunter fallen.
Im freien Veikehr ist es die Concurrenz, welche auf eine diesem Moment der
Kosten auf die Dauer entsprechende Stellung der Vertragspreise hiuzuwirken strebt.
Es ergiebt sich dies auch aus der Geschichte und Statistik der Preise, namentlich
der Fabrikate einerseits, welche wegen der den Fortschritten der Technik zu ver-
dankenden Verminderung der für die Herstellung nothwendigen Arbeitsmenge eine
sinkende Richtung, und der Preise der Bodenproducte anderseits, welche eher eine
steigende Richtung haben, weil sich die erforderliche Arbeitsmenge nicht entsprechend
vermindert, sondern eher steigt. (Vcrgl. Laspeyres’ Aufs, in der Tub. Zcitschr.
1672: Welche Waaren werden theurer?)
In einem durch üesellschaftsorganc geregelten Verkehr wird die Bestimmung
der Taxwert he, bez. der Taxpreise unter angemessener Berücksichtigung dieses
Kostenmoments erfolgen, wie es in den früheren obrigkeitlichen und gewerblichen
Taxen im Princip auch geschah, und bei einem etwaigen neuen Taxsystem wieder
geschehen müsste. So auch in einer „socialistischen“ Organisation der Volkswirt-
schaft. Doch bliebe es bei einem solchen „Social-Taxwesen“ immer möglich und ist
auch schon in der bisherigen Praxis bei Taxen vorgekommen (Arzneien der Apotheken),
andere Momente, als bloss die Kosten der einzelnen Waaren. mit zu berücksichtigen,
z. B. nach Gesichtspunctcn der Gerechtigkeit (oder dessen, was dafür gilt), der Zweck-
mässigkeit, der absichtlichen Regelung des Consums die Abstufung der Taxpreise '
der Waaren abweichend von der Proportion der Kosten zu gestalten, wie etwa in
unseren Verhältnissen die Wohlstandsverschiedenhciten und die Kaufkraft der Con-
sumenten sich berücksichtigen, bei Arzneien die Taxen sich so abstufen lassen, dass
die mit theuren Stoffen hergestellten absichtlich etwas billiger, zum Ausgleich die
aus wohlfeilen Stoffen bereiteten absichtlich etwas theurer gehalten werden.
Die genannten Kosten sind aber im freien Verkehr nicht
der ausschliessliche Bestimmgrund der Taucbwerthc und der
Preise und können dies in keinem denkbaren gesellschaftlichen
Zustande seiD. Denn unabhängig von den Kosten müssen stets
Gebrauchs werth- und Bedarfsschwankungen stattfinden,
deren Einfluss auf den Tauschwerth und die Preise (Vertrags- wie
Taxpreise) dann den Einfluss der Kosten modificirt und modificiren
muss. Die Tauschwerthe und Preise der Güter können daher
nicht beständig den „gesellschaftlich nothwendigen“ Kosten der-
selben proportional sein. Sie werden zeitweilig mehr oder weniger
davon abweichen, bei denjenigen Gütern steigen, deren Gebrauchs-
werth grösser, bei denen fallen, deren Gebrauchswerth kleiner ge-
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342
2. B. Grundbegriffe. 3. K. Werth. §. 142, 143.
worden ist. Kur auf die Dauer werden sich die Kosten immer
wieder als entscheidender Regulator geltend machen können und
auch geltend machen.
Die scharfsinnige Berichtigung der socialistischcn Wcrthlchre, bei aller berech-
tigten Anerkennung ihres richtigen Kerns — der ein partiell richtiges Postulat für
die Tauschwert!» -Regelung bildet — ist Schüffle a. a. 0. zu verdanken. Er sagt
mit Recht, Soc. Körper III, 278: „Bei keiner Art gesellschaftlichen Beeinflussung der Be-
dürfe und der Productionen lässt es sich vermeiden, dass (nicht immer) alle Bedarfe
qualitativ und quantitativ je mit den Productionen im Gleichgewicht bleiben. Ist dein
aber so, so können die socialen Kostenworths-Quoticnteu nicht zu-
gleich proportional als sociale Gcbrauchswcrths-Quoticntcn gelten.“ —
Daun eb. S. 307 ff., bcs. 321 ff. Sehr unklare Polemik gegen die Productionskostcn-
Lehre bei Held, Grundr., bes. S. 42, 43, 50.
IV. — §. 143 [48]. Andere Grundbegriffe. Geld.
Credit.
Die in diesem Buche erörterten Grundbegriffe Gut, Vermögen, Werth und die
damit in Ycrbiuduug stehenden, bezw. daraus abgeleiteten bilden die wichtigsten
elementaren , wobei freilich schon der Vcrmögensbcgriff und einige der im Voraus-
gehenden mit erörterten Specialbcgriffe und abgeleiteten, besonders der Kapitalbegriff,
nicht mehr als rein elementare aufgefasst werden können, sondern bereits verwickel-
tere sind. So verhält es sich auch mit anderen der üblich sogenannten Grundbegriffe,
wie Wirthschaft, Ertrag, Kosten, Einkommen, deren Erörterung und Fest-
stellung uns besser im Zusammenhang mit anderen Puncten im nächsten Buche be-
schäftigen wird.
An dieser Stelle, im unmittelbaren Anschluss an die Erörterungen über Werth
und Preis, wird hier jetzt nur eine vorläufige Begrilfsbcstimmung zweier anderer
volkswirtschaftlich höchst wichtiger Puncte, des Geldes und des Credits gegeben,
um mit diesen Ausdrücken als wissenschaftlichen Begriffen im weiteren Verlauf
operiren zu können.
1. Das Geld. Die Begriffsbestimmung des Geldes wird mit
Recht an die Functionen des Geldes im Verkehr angeknlipft.
Solcher Functionen sind im Wesentlichen drei, zwei volkswirt-
schaftliche, eine rechtliche zu unterscheiden, indem die sonst wohl
noch (so von Knies u. A.) unterschiedenen weiteren sich doch
auf diese drei möchten zurUckfUhren lassen. Die beiden volks-
wirtschaftlichen Functionen sind die des thatsächlichen Zahl-
mittels (Tau s ch mittel s, Tauschäqivalcnts, Umlaufsmittels)
und des Preismaasses (Preismessers, Werthmessers, Werthmaass-
stabs). Die rechtliche Function ist die des gesetzlichen (recht-
lichen) Zahl mittels oder der Währung. Zum Geldbegriff
als rein-ökonomischem Begriff oder zum ursprünglichen
Geldbegriff gelangt man , indem mau die Begriffsbestimmung an
die beiden volkswirtschaftlichen, zum Geldbegriff als historisch-
recht liebem Begriff, indem man sie zugleich an die rechtliche
Funtion anknlipft.
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Geld begriff.
343
Als thatsächliches Tauschmittel fungirt Geld, indem es frei-
willig im Verkehr auf Grund allgemeiner Sitte gegen andere
concrete Güter als Preis angenommen und hingegeben wird, um
Seitens des Empfängers dann erst wieder gegen das begehrte con-
crete Gut ausgetauscht zu werden. Als Preismaass fungirt Geld,
indem in Geld die Preise aller anderen Güter, ebenfalls nach all-
gemeiner Sitte, ausgedrückt und so darin (bez. daran) gemessen
werden. Als Währung fungirt Geld, indem es kraft der von der
Rechtsordnung (dem Gesetz) dem Gelde beigelegten Eigen-
schaft, als (Geld-) Schuldlösemittel (Solutionsmittel), Mittel der
Ucbertragung von abstracter Vermögensmacht (z. ß. bei Ent-
schädigungen, Bussen), Object der auf Geld schlechtweg lautenden
Contractc (der „Geldverträge“, gewisser Creditverträge wie im
Darlehen) auch unabhängig vom Willen des Empfängers, bez.
des zu Anspruch auf Zahlungsempfang Berechtigten dient.
Das Geld im re in- ökono mischen Sinne ist daher ein Ver-
kehrsgut, welches durch die Sitte thatsäehlich zum allgemeinen
Zahl mittel und zugleich zum allgemeinen Preismaass ge-
worden ist. Geld im rechtlichen Sinne und damit in Verhält-
nissen des entwickelten Verkehrs erst im vollen Sinne ist ein
Verkehrsgut, welches Währung ist. Damit ist es regelmässig auch
rechtlich zugleich Preismaass und gewöhnlich auch that-
sächliches Zahlmittel, obwohl es gerade in letzterer Function
durch als Tauschmittel dienendes Geld, welches nicht Währung
ist, durch Creditumlaufsmittel (Wechsel, Anweisungen, Banknoten,
Papiergeld u. s. w.) und Einrichtungen des Creditverkehrs zur
Zahlungsvermittlung mehr oder weniger ersetzt werden kann und
thatsäehlich in entwickelten Verhältnissen des Creditwesens er-
setzt wird.
Das geschichtlich wichtigste Geld ist bekanntlich das Metallgeld, namentlich das
Edelmetallgeld aus Gold und Silber. Dasselbe ist aber wiederum, weder historisch,
noch principiell und rechtlich, das ,,Geld schlechthin“. Auch bei Edelmetallgcld
werden Quantitäten und Qualitäten eines Sachguts bei der Preisbestimmung in Geld
mit den Quantitäten und Qualitäten eines anderen Guts verglichen bozw. gleichgesetzt.
Geber alles Weitere s. die theoretische Volkswirtschaftslehre (2. Hauptabtei-
lung) und den Band vom Verkehrswesen (3. Hauptabth., Theil 1). Vcrgl. aus der
Lif. Rau I, §. 128 u. II. §. 257 fl. (Geld: das allgemeine Umlaufsmittel, welches im
Güterverkehr alle anderen Güter vertritt oder repräsentirt). Roscher §. 116, bes.
Anm. 5 Uber die Dogmengeschichtc des Geldbegrifl's; er bercichnet Geld: als die
allgemein beliebte Waare, die eben deshalb zur Vermittelung der verschiedenartigsten
Tauschoperationen und zur Messung der Tauschwerte überhaupt angewendet wird;
durch hinzukommende Anerkennung des Staats, dass dieselbe Waare als stillschweigend
verstandenes Zahlmittel für alle Verbindlichkeiten gebraucht werden soll, vollende sich
der Begriff des Geldes. M enger, I, S. 231 ff. Marx, Kapital, 1. Aull. S. 91 ff.
(„Die Waare. welche als Werth in aass und daher auch persönlich oder durch Stell-
344
2. B. Grundbegriffe. 3. K. Wcrtb. §. 143.
Vertreter, als Circu lationsmittcl functionirt, ist Geld.“) Fr. X. Ncumann (Wien),
Volkswirthschaftsl., Wien 1873, §. 58 ff. A. Wagner, Beitr. z. Lehre v. d. Banken,
Leipz. 1857, Kap. II, Absch. 3, v. Gcldc (S. 34 — 40). Ders., Art. MUnzwescn im
Staatswörterb. VII. 65 ff. v. Scheel, Begr. d. Geldes in s. hist. ökon. Entwicklung,
in Hildebr. Jnhrb. VI (1S66). v. Mangoldt, Art. Geld im Staatswörterb. IV, 93 ff.
E. Nasse, Abh. Geld- und Münzwesen im 1. B. von Schönbcrg’s Handbuch, woselbst
weitere Litteratur. Er defiuirt Geld „im weiteren rein wirthschaftlichen Sinne“ als
„ein allgemein beliebtes Tauschgut, welches die Functionen sowohl eines Werth-
maassstabcs, wie die eines Tausch-, Zahlungs- und Werthaufbewabrungsmittcls ver-
sieht“ (3. Anfl. I, S. 315); Geld im rechtlichen Sinne oder das Währungsgeld des
Staats als „das von der Rechtsordnung des Staats als Zahlungs- und Solutionsmittel
und als Werthmaassstab gesetzlich anerkannte Geld.“ R. Hild ebran d (jun.), Theorie
des Gelds, 1883 (mit unrichtiger Polemik gegen die Bezeichnung der Währungseigen-
schaft mit „Function“). Das deutsche Hauptwerk Uber Geld nach der theoretischen
Seite ist K. Knies, Geld, 1. Au fl. 1S83, 2. Aufl. 1S85. Aus der englischen
Litteratur s. J. St. Mill, principles, b. 3, Kap. 7 — 9, 19, 21. 22. — Uebcr die juris-
tische Seite: Savigny, Obligationenrecht I. Goldschmidt, Handelsrecht,
G. Hartmann, über den rechtl. Begr. des Geldes, Ilrauuschw. 1868.
Die Einbürgerung des Geldes im Verkehre bewirkt dann,
dass die Preise gemcinlich als G eld pre ise erscheinen, so sehr,
dass späterhin beim Worte Preis meistens nur an den Geldpreis
gedacht wird. Aber letzterer ist nicht schlechtweg „der Preis“,
sondern wie schon bemerkt, nur die üblichste Preisform.
2. Der Credit. Im wirthschaftlichen Verkehr können Ueber-
tragungen von wirthschaftlichen Gütern zwischen verschiedenen
Personen entweder so erfolgen, dass sie, daher Leistung der einen
und Gegenleistung der anderen Person, genau gleichzeitig statt-
finden oder so, dass zwischen Leistung und Gegenleistung (ab-
sichtlich oder unabsichtlich) irgend welche Zeitdifferenz liegt.
Erstcres beim gewöhnlichen Tausch, Kauf- und Verkauf (Knies* Baar- Ge-
schäfte), letzteres wenn eine oder beide Leistungen an Zeitverlauf gebunden (Ueber-
lassungen zur Nutzung, Miethe, Pacht, Arbeits-, Dienstmiethe), oder absichtlich zwi-
schen beiden ein solcher eingerichtet wird (Darlehen, Stundung u. a. in.).
Verkehr der zweiten Art heisst C red it verkehr, der der ersten
Art Tausch-, Kauf-, und Verkauf- (Baar-) Verkehr. Der wesent-
liche Unterschied zwischen beiden liegt in der angedeuteten ver-
schiedenen Beziehung zur Kategorie „Zeit“. Daraus ergiebt sich
aber auch weiter das Mitspielen eines Moments des „ Vertraue n-
Gewährens“ in verschiedener Weise: beim Tauschverkehr u. s. w.
eventuell auf beiden Seiten, ob richtig geleistet, bzw. gegen-
geleistct wrorden ist, beim Creditvcrkehr ausserdem und zunächst
ob überhaupt gegen-, bez. rückgeleistet werden wird: immer eine
Frage an die Zukunft.
Mit Rücksicht auf dieses Moment der Zeitdifferenz und des
davon bedingten Vertrauengew?ährens, ob gegen- oder rückgeleistet
werden wird, ist der Credit im wissenschaftlichen national-öko-
K
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Credit begriff.
345
Bosnischen Sinne begrifflich zu bestimmen als: „derjenige (privat-)
wirtschaftliche Verkehr oder dasjenige freiwillige Geben und
Empfangen wirtschaftlicher Guter zwischen verschiedenen Per-
sonen, wo die Leistung des Einen im Vertrauen auf die gegebene
Zusicherung späterer (künftiger) Gegenleistung des Anderen erfolgt.“
Wörtlich nach meiner Abh. Credit und Bankwesen im Schönberg’schen Hand-
buch B. I (3. Aufl., S. 779); daselbst weitere Litteratur und Begründung der
Definition, sowie Auseinandersetzung mit anderen Autoren. Die wichtigsten deutschen
theoretischen Arbeiten Uber Credit sind diejenigen von K. Knies (Tüb. Zeitschr. f.
Staatswiss. B. 15 u. 16 u. bes. das eigene Werk „der Credit“, 2. Band von „Geld“,
1S76, 1 STD). Knies hat namentlich das Moment der Zcitdiffcrenz für die Begriffs-
bestimmung in den Vordergrund geschoben, er definirt: „Credit ist derjenige Verkehr,
in welchem die Leistung des Einen in die Gegenwart, die Gegenleistung des Anderen
in die Zukunft füllt“ (I, 68). Er bestreitet, dass das Vertrancnsinomenf, als überflüssig,
hinein gehöre und dass das Moment „freiwillig“ richtig sei. S. darüber und dagegen
schon meinen Art. Credit im Kentz’schen Handwörterbuch d. Volkswschlehre und
jetzt meine gen. Abh. im Schönberg’schen Handbuch. Aus der Litteratur s. u. A.
Hau I, §. 27b ff., Roscher I, §. 89 ff, Schäfflc, ges. System, 3. A. II, 304 fT.
soc. Körper III, 44S ff., v. Mangold f, Grundriss, §. 53 ff., G. Cohn I, S. 549 ff.
Alles Weitere auch hier im Bande der theoretischen Volkswirtschaftslehre und im
Bando vom Verkehrswesen. Vorläufig beziehe ich mich auf meine gen. umfängliche
Abh. im Schönberg’schen Handbuch. — Die Begriffsbestimmung des Credits fehlte
in den früheren Auflagen an dieser Stelle, eine bezügliche Ausführung kam erst
in §. 65, 66 in anderem Zusammenhang (s. u. §. 158). Die Begriffsbestimmung
erschien aber wie die des Gelds doch schon hier erwünscht, um den Begriff im
Folgenden unbedenklich anwenden zu können.
Drittes Buch.
Wirthschaft und Volkswirthschaft.
§. 144. Vorbemerkung und Littcratur.
Der Begriff der Wirthschaft ist Mittel- und Kernpunct der Wirt-
schaftsjahre (§. 29), der Begriff der Vo lks wirthschaf t (§. 149 ff) und
die Organisation der Volkswirthschaft (Buch 5) Mittel- und Kernpunct der
Volks wirt h Schaft sieh re oder Politischen Ockonomic (§. 100'). Die sach-
liche Rechtfertigung dieser Auffassung liegt in den Erörterungen im Texte. Der
hier eingenommene Standpunct fuhrt aber auch zu einer wesentlich anderen for-
mellen Behandlung des Stoffs im System und daher besonders zu grossen Abwei-
chungen in Inhalt, Umfang und Form der Darstellung im vorliegenden Werke ver-
glichen mit früheren Behandlungswcisen, auch derjenigen Rau ’s.
Ein grosser Theil meiner Erörterungen in der Grundlegung, theils schon im
ersten und in diesem dritten Buche, namentlich aber im 5., G. Buche und im zweiten
Theil (Recht und Volkswirthschaft) fehlt bei Rau und den Früheren gänzlich oder
es finden sich bei ihnen nur spärliche, mehr aphoristische Bemerkungen, so Uber die
verschiedenen Arten der Wirthschaft und die sich an sie schliessenden Wirtschafts-
wissenschaften, über das Vcrhältniss des Staats zur Volkswirthschaft in §. 3 — 10,
13—20 von Raus 8. Aufl. des theoretischen Theils (vcrgl. auch die Einleitung zu
>einer Volkswirthschaftspolitik). Dabei kommt der Begriff und das Wesen der Volks-
wirthschaft, sowie die Organisation der letzteren zu kurz und die Fragen der ge-
sammten wirtschaftlichen Rechtsordnung. Stellung des Staats zur Volkswirthschaft Über-
haupt, (persönliche Freiheit und Unfreiheit, Eigenthum u. s. w.) werden fast gar nicht
berührt, jedenfalls nirgends principicll behandelt. Bei Rau liegt, in Uebercinstim-
mung mit der ausländischen und der älteren deutschen volkswirtschaftlichen Littcratur,
der Schwerpunct in den Erörterungen Uber das Wesen des Volksvermögens,
wovon bei ihm das erste Buch des theoretischen Theils (der „Volkswirtschaftslehre“)
handelt (8. Aufl. S. G9 — 119). Rau untersucht hier in einem 1. Abschnitte die Be-
st and t heile des Volksvcrmögens (§. 46 — 54), behandelt die Schätzung desselben
und hiermit die Werthlehre in einem 2. Abschnitte (§. 55 — 07), bespricht dann die
Veränderungen im Volksvcrmögen im 3. Abschnitte (§. 68 — 72) und die Zu-
stände der Volkswirthschaft im 4. Abschnitte (§. 73 — 81). Diese im Einzelnen
mustcrgiltigcn Erörterungen, besonders des 1., 2. und 4 Abschnittes, leiden aber alle
an dem Mangel, dass keine genauere Untersuchung des Begriffs Wirthschaft und
Volkswirthschaft und der Organisationsprincipien der Volkswirthschaft, ferner der
wirtschaftlichen Rechtsordnung erfolgt. Im nachstehenden 3. Buche finden sich dem
Inhalte nach Kau ’s Erörterungen im 3. und 4. Abschnitte seines 1. Buchs, während
ich die Gegenstände des 1. und 2. Abschnitts schon im vorausgehenden zweiten Buche
abgehandelt habe.
Den erwähnten Mangel der Behandlungsweise thcilt Rau so ziemlich mit allen
Fachgenossen seiner Zeit. Dieser Mangel liegt in letzter Linie wieder in der zu
einseitig pri vat wirtschaftlichen statt der eigentlich vol k s wirtschaftlichen und
socialen Auffassung und in der unvermerkten Einschiebung privatwirthschafdichcr
statt volkswirtschaftlicher Begriffe und Erörterungen in die Politische Oekonomie.
Vcrgl. darüber die Bemerkungen am Schluss des § 108 (S. 2S7).
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Wirtschaft und Volkswirtschaft. Vorbemerkungen und Litteratur. 347
Die ausländische Wissenschaft ist Uber diesen Staudpunct überhaupt noch
heute selten hinausgekommen. Doch wird von J. St. Mi 11 in seinen „Grundsätzen der
Politischen Oekonomie nebst einigen Anwendungen derselben auf die
Gesellschaftswissenschaft“, besonders im 3. Buche von der Verthcilung
(namentlich Kap. 1 und 2) und in B. 5 (Kap. ], 8 — 11) ein wichtiger Fortschritt ge-
macht. aus dem Mill nur nicht alle C'onsequenzen für die Bcgritfe und Erörterungen
der Politischen Oekonomie zieht. Eigentlich grundlegende Erörterungen über den
Begriff und das Wesen der Volkswirtschaft fehlen auch bei ihm. Die franzö-
sische socialistischo Litteratur (St. Simon, Fourier, L. Blanc, auch
Proudhon) hat nur Anregungen gegeben für eine neue Grundlegung der Poli-
tischen Oekonomie. Die französischen Nationalökonomcn der Smith'schen (freihänd-
lerischen) Richtung haben cs nicht verstanden, aus diesen Anregungen das Richtige
und Werthvolle für eine neue Grundlegung herauszuziehen und sind, wie die Eng-
länder lange nur wenig über A. Smith, so sie wenig über J. B. Say hinausgekommen.
Am Bedeutendsten ist immer noch, auch für Fragen der Grundlegung, Sismondi
geblieben (s. Simondc de Sismondi, Nouv. princ. d’öconom. polit., 2 vol. 2. öd.,
Par. 1827 und etudes sur l’öcon. polit. 2 vol. Brux, 1837 — 38 und über ihn den
Aufsatz von L. Elster in Conrad’s Jahrbüchern B. 48 (N. F. 14), 1SS7, S. 321).
In der deutschen systematischen Litteratur bezeichnet auch hier W,
Roscher einen wichtigen Fortschritt. Er hat dem Begritl'e der Wirthschaft
und besonders der Volkswirtschaft eingehende, wenn auch jetzt kaum mehr
ausreichende Erörterungen (§. 11—15) und der Unfreiheit und Freiheit und
der Gütergemeinschaft und dem Privateigenthum 2 umfassende Kapitel
(4 und 5) des 1. Buchs von der Production gewidmet, die reich an cnlturhistorischcn
Einzelheiten sind, aber principicll die wirtschaftliche Seite dieser grossen Rechts-
fragen nicht scharf genug behandeln. Die Stellung dieser Kapitel im System, nemlich
"bei Roscher in dem Ruche von der Production, ist auch keine ganz richtige. Denn
der persönliche Stand und die Eigenthumsordnung sind Fundamentalpuncte für die
ganze Volkswirtschaft und für die Verthcilung der Güter ebenso wichtig als für
die Production, gehören daher systematisch in den von Roscher als Einleitung
behandelten ersten Theil. Die tiefste geschichtsphilosophische Auffassung der
Volks wirthschaft findet sich in K n ies’ Politischer Oekonomie (o. S. 52), ein Buch,
das grade für die von mir in der Grundlegung erörterten Principienfragen, besonders
für den Gegensatz der eigentlich volkswirtschaftlichen und p riv a t wirtschaftlichen
Auffassung, eine grosse bleibende Bedeutung beansprucht, wenn cs auch die formelle
Ausbildung der systematischen Volkswirthschaftstheorie sich nicht direct ange-
legen sein lässt Aehnliches gilt, in freilich erheblich geringerem Grade, von Br. Hilde-
brand's Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft (oben S. 52), dagegen mehr
wieder von Fr. List’s genialem „Nationalen System der Politischen Oekonomie“,
(oben S. 47). Seiner ganzen Geistesanlage und wissenschaftlichen Richtung gemäss
hat für die Systematik L. Stein gearbeitet (besonders in seinem System der Staats-
wissensch., 1. B. System der Statistik, Populationistik und Volkswirtschaftslehre,
Stuttg. u. Ttib. 1852, 2. B. Gesellschaftslehre, 185f>, dann im Lehrbuch der Volks-
wirtschaft, Wien 1858. 2. Aull. 1878, 3. Aull. 1887), ohne gleichwohl hier einen
Erfolg zu erzielen, welcher ihm so vollständig in seinem grossen System der Ver-
waltungsichre (Stuttg. 1865 ff., im Grundriss: Handbuch der Verwaltungslehre,
1870, 2. Aull. 1876, 3. Aull. 1887 — 88, bereits selbst wieder 3 Bände) und im Ganzen
auch in seinem System der Finanzwissenschaft zu Theil geworden ist (vcrgl. darüber
meine Finanzwiss. B. 2, 2 A., S. 9). Auch die neuen Auflagen der Volkswirt-
schaftslehre werden kaum das Urteil ändern, dass Stein ’s Kraft nicht in seinen
rein volkswirtschaftlichen Schriften liegt. Um so mehr darf aber den übrigen Stcin’-
schcn Schriften, besonders auch seinen unübertroffenen Werken über den französischen
Socialismus und Communismus (Socialismus und Communismus des heutigen Frank-
reich, f,eipz. 1842, dass. Werk 2. Aufl. 184S; Geschichte der socialen Bewegung in
Frankreich von 1789 bis auf unsre Tage, 3 R., Leipz. 1850) das Verdienst zuerkannt
werden, dass sie für die organische Auffassung von Volkswirtschaft, Staat und
Gesellschaft epochemachend waren und damit auch für die principicll 6 Auf-
fassung der hier in der Grundlegung behandelten Puncte der Theorie der Volks-
wirtschaft. Vcrgl. hinsichtlich einer der Stcin’schen ähnlichen Auffassung auch
Carl Dietzel, die Volkswirtschaft und ihr Verhältniss zu Staat und Gesellschaft,
348 3. B. Wirtschaft und Volkswirtschaft. Vorbemerkungen §. 114, 145.
Frankf. 1804; für Einzelnes von Aelteren auch Schütz, Grundsätze der National-
ökonomie, Tüb. 1843.
Für die Lehre von der Wirtschaft und den einzelnen Wirthschaftsarten speciell
ist wiederum Hermann in seinen staatswirthschaftlichen Untersuchungen grade in
der theoretischen Nationalökonomie von grossem Einflüsse geworden, s. in der 2. Aufl.
überhaupt die Grundlegung S. 1 — 78, bcs. 1U, 15 ff., 34 fT., dann 124 — 142. Der
organische Charactcr der Volkswirtschaft wird von Hermann aber noch nicht so
stark betont, wie früher schon von Ada in Müller in seinen , .Elementen der Staats-
kunst“ (Berlin 1809, 3 B.) und wie von den Neueren, namentlich auch von Koscher.
Die Volkswirtschaft ein Aggregat von Einzelwirtschaften, sagt Hermann, w'enn
auch er durchaus nicht mehr auf dem atomlstischen Standpuncte der eng-
lischen Schule oder vollends der neueren deutschen Freihandelsschule steht (Prince-
Smith u. a. in).
In Anknüpfung an Hermaun bat dann Schäffle neuerdings die Lehre von
der Wirtschaft, Volkswirtschaft und besonders von der Organisation der
Volkswirtschaft (privatwirthschaftliches und gemein wirtschaftliches System u. s. w.)
behandelt. Ohne ihm, wie sich unten im Text ergiebt, in allen Einzelheiten bei-
zustimmen, halte ich doch seine Arbeiten auf diesem Gebiete, besonders hiusichflich
der Gemcinwirthschaften , für Epoche machend und in der Hauptsache seine Aus-
führungen für richtig. Kein Andrer hat Gleiches geleistet und die richtigen Puncte
in den socialistisclien Systemen für die Volkswirtschaftslehre so erfolgreich ver-
wertet, wie hier Schäffle. Erst durch die neue Lehre von den Gemcinwirthschaften
ist m. E. eine wahre Volkswirtschaftslehre begründet und der einseitig privat -
wirthschaftlichc Character der älteren, besonders englischen Nationalökonomie von der
bisher sogenannten Volkswirtschaftslehre abgestreift worden. Die ausländische Wissen-
schaft bewegt sich, soweit sie nicht auf ganz socialistischer Basis ruht, fast durchaus
noch in diesen alten Gleisen einer bloss pri vat wirtschaftlichen „Politischen“
Ockonomie und einer reinen Tauschlehre, wennschon in einzelnen, dann aber
immer noch mehr gelegentlichen und an verschiedenen Stellen des Systems (in der
Productionslehre namentlich) verstreuten Erörterungen auch hier sich eine Wendung
vorzubereiten beginnt (vergl. z. B. Sidgwick, principlcs book 3, art of politieal
economy). In Deutschland bezeichnet Schäll'le gegen Kau und in diesen Puncten
auch gegen Koscher (/1er die Gemcinwirthschaften früher nur eben erwähnte,
§. 12) in dieser Lehre von der Volkswirtschaft und den Gemeinwirtschaften einen
entscheidenden Fortschritt der Wissenschaft, Vergl. Schäffle’s Abhandlung über
Gebrauchswerth und Wirtschaft, Tüb. Zeitschr. XXVI (1870), ders., gesellschaft-
liches System. 2. Aufl., §. ly If. (S. 62 ft.) und bes. §. 176 11' (S. 331 U.), 3. Aufl.
§. 11 fl., 17 ff. (I, S. 24 11.), §. 186 If. (II, S. 1 fl'.), §. 199 II., §. 227 11., Socialismus
und Kapitalismus, S. 465 11., 619 ff. , sowie die in seinen selbständigen Schriften
citirten und vielfach hineinverarbeiteten Abhandlungen Schällle’s in der Tüb. Zeit-
schr. Auch die Quintessenz des Socialismus u. bes. das 3. B. vom Socialen Körper,
nam. S. 365 If., gehört hierher. — Beachtenswert für einzelne Puncte der Lehre
von der Wirtschaft, obgleich durchaus nicht so neu, wie er denkt, ist Lindwurm,
Grundz. d. Staats- u. Privatwirthschaftslehrc, Brannschw. 1866. sowie das Werk dess.
Verf. Das Eigentumsrecht, nam. Kap. 4, ferner der vortrellliche Aufsatz von v. Man-
gold t (seine letzte Arbeit), Volkswirtschaft und -Lehre im Staatswörterb. XI, 97 ft'.
Vgl. auch im Allgemeinen Samt er ’s Sociallehrc.
An Schäffle's und zum Thcil auch an meine Grundlegung knüpfen dann in
neuester Zeit einzelne deutsche Autoren teils mehr kritisch, teils mehr beistimmend und
fortbildend an, so namentlich in der österreichischen theoretischen Schule. S. G.
Gross, Wirtschaftsformen und Wirthschaftsprincipien , Leipz. 18S8. Ders.. Art.
Gemeinwirthschaft im Handwörtcrb. d. Staatswiss. III, 803. G. Cohn, Aufsatz Ge-
meinbedürfniss und Gemeinwirthschaft, Tüb. Ztschr. f. Staatswiss, 1881. B. 37, S. 464,
ders., System I, S. 187 und überhaupt 1. Hauptabschu. Kap. 3 und 2. Hauptabschn.
Das wichtigste neue Werk ist E. Sax” Grundlegung der theoretischen Staatswirth-
schaft, das seinem ganzen Inhalte nach wegen des Versuchs, den der Titel andeutet,
als eine Theorie der Gemeinwirthschaft hierher und besonders zum 5. Buche unten
gehört. — Neu mann hat nicht ßowohl in seinen grundbegrill liehen Arbeiten (s. deu
Aufs, im Schönberg sehen Ilandb. 2. A. I, 179, 3. A. I, 162). als in seinen mehr ins
finanzielle Gebiet gehörigen Schriften sich mit den hier behandelten Problemen bo-
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Begriff der Wirtschaft.
349
schäftigt. S. bcs. die Schrift „die Steuer und das öffentliche Interesse“ 1. B., I.eipz.
1887 und weitere (darüber ineine Finanzwiss. II, 2. A., S. 20). — G. Schönbcrg’s
einleitender Aufsatz in seinem Handbuch behandelt speciell auch die Wirtschaft und
ihre Arten (3. A. I, 8 ff.) und widmet im Anschluss daran dem Wesen der Volks-
wirtschaft auch eine gute Erörterung. Eine scharfe kritische Betrachtung des Be-
griffs Wirtschaft bei verschiedenen Autoren hat H. Dietzel gegeben (Tüb. Ztschrift.
B. 39, 1883, S. 20 ff, (io) mehrfach mit spcciellcr Bezugnahme auf mich. Ich habe
indessen doch geglaubt, meine frühere Auffassung beibehalten zu dürfen.
Weiteres über die bisherige Behandlung der Volkswirtschaftslehre und not-
wendig erscheinende Aendcrungen in den späteren litterarischen Vorbemerkungen,
besonders in Buch 5.
Erstes Kapitel.
Wesen und Arten der Wirthschaft.
Einzel-, Volks- und Wcltwirtliscliaft.
I. — Die Wirthschaft im Allgemeinen. §. 145 [49J.
A. Begriff der Wirthschaft. Die Wirthschaft im allgemeinen
Sinne des Wortes wurde oben (§. 29) bereits bezeichnet als der
Inbegriff der auf fortgesetzte Beschaffung und Verwendung von
Gütern zur Bedürfnisbefriedigung gerichteten, planvoll nach dem
ökonomischen Princip erfolgenden Arbeitsthätigkeiten in einem ge-
schlossenen oder als geschlossen gedachten menschlichen Bedürf-
nis- und Befriedigungskreise. Diese Begriffsbestimmung nehmen
wir auch für das Folgende zum Ausgangspuncte.
Sie weicht etwas von unserer eigenen früheren (2. Aull., S. 00, G3) ab, indem
jetzt absichtlich der Ausdruck Arbeitsthätigkeiten „einer Person“ bei diesem ganz
allgemeinen Begriff Wirthschaft fortgelasscn und das Moment des geschlossenen Be-
dürfniss- und Befriedigungskreises einbezogen ist, wodurch die sonst nicht zu leug-
nende Schwierigkeit, die Volkswirtschaft unter den Wirthschaftsbegrilf zu bringen,
entfällt. S. bes. Dietzel, a. a 0., S. 29, mit dem Ein wand gegen die Einbeziehung des
Moments des ökonomischen Princips und dagegen schon oben S. 80 meine Bemerkung.
Die Begriffsbestimmungen der Wirthschaft unterscheiden sich notwendig nach
der verschiedenen Auffassung der wirtschaftlichen Güter und des Vermögens.
Bau beschränkt folgerichtig die Wirthschaft auf den Inbegriff von Verrichtungen,
welche zur Versorgung einer Person mit Sachgütern bestimmt sind, und bezeichnet
als die älteste Wirthschaft die, welche in der Familie oder dem Hause und für die-
selbe geführt wird, die Haushaltung. Hauswirtschaft (Bau I, §. 2). Grade hierbei
zeigt sich jedoch, dass die ausschliessliche Betonung der Sachgüter unhaltbar ist
(§. 120, 121). Warum soll speciell nur die Verrichtung zur Versorgung einer Person
mit Sachgütern, nicht auch diejenige zu ihrer Versorgung mit persönlichen Diensten
zur Hauswirtschaft gehören? S. schon o. S. 81 die Definitionen von Bau, Hermann ,
Neu mann, Dietzel. Bosch er definirt die Wirthschaft S- 2: planvolle Thätigkeit
eines Menschen, um seinen Bedarf au äusseren Gütern zu befriedigen v. Mangoldt,
Grundriss §. 5: Wirtschaft ist die gesammte Betätigung eines Menschen in der
Dichtung, die äusseren Gegenstände und bestehenden Verhältnisse seinen Bedürfnissen
und Zwecken entsprechend zu gestalten. Schäffle, System, 3. Aufl. I, 4: Wirth-
schaft eine bewusste planvolle Begelung einer Vielheit nützlicher Bewegungen und
Kraftäusscrungcn in der Dichtung höchsten reinen Nutzens, S. 10 ff.; Soc. Körper III,
284: Wirthschaft ist der Inbegriff der Stoffwcchselthätigkeiten eines Subjects, in
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350 3. B. Wirtschaft und Volkswirtschaft. 1. h'. Wirthschaft. §. 145. 146.
der Richtung mindester Kosten und grösster Xutzeffecto geregelt. Schönberg
(Handb. 3. A. I, S. S) unterscheidet verschiedene Bedeutungen des Begriffs: in der
Hauptbedeutung sei Wirthschaft ,.nach dem üblichsten Sprachgebrauch“ der Inbegrilf
der wirtschaftlichen Thätigkeit einer Persönlichkeit (Person resp. Personengemein-
schaft). d. h. die Gesammtheit der Handlungen einer Persönlichkeit, welche sich auf
die Beschallung und Verwendung materieller Güter zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse
beziehen, also auch das Resultat (?) derselben, der dadurch bedingte Zustand ihrer
wirtschaftlichen Bedurfnissbefriedigung und Lage“. Gegen meine Hervorhebung des
Moments des ökonomischen Princips wendet auch er sich, da es doch wirtschaftende
Personen gäbe, die nicht nach diesem Princip handelten (bewusst nicht immer, un-
bewusst doch wohl, s. o. S. SO). Eb. eine Zusammenstellung anderer Definitionen,
mit kritischen Bemerkungen. — E. Sax spricht von Haushalt“ (Staatswirthsch. S. 116,
156): ..vordenkendc Thätigkeit, gerichtet auf wechselseitige zeitliche Anpassung von
Einkommen und (ökonomisch durchgefübrtem) Verbrauch“. S. seine gesammten Aus-
füllungen, bcs. im Abschnitt III. Weiteres über den Begriff bei Dietzel, a. a. 0.
II. — §. 146 1 50]. Technik und Oekonomik. In jeder
Wirthschaft sind nach der richtigen, hierin Bahn brechenden und
Grund legenden Lehre Hermann’s (S. 257) zwei in enger Be-
ziehung stehende, aber sehr verschiedene Seiten zu unterscheiden:
die technische und die (im engeren Sinne) ökonomische,
oder Technik und Oekonomik und dementsprechend zweierlei
Thätigkeiten der wirtschaftenden Peison. Die technische Thätig-
keit in der Wiithschaft geht darauf aus, die erforderlichen wirt-
schaftlichen Güter überhaupt, in richtiger Qualität und Menge
(Hermann erwähnt dies Moment nicht, es gehört aber hierher),
am rechten Orte, zu rechter Zeit für die Bedurfnissbefriedigung zu
beschaffen. Die ökonomische Thätigkeit erstrebt Beschaffung und
Verbrauch der wirtschaftlichen Guter möglichst nach dem
Principe der Wirtschaftlichkeit (§.28). Technik und
Oekonomik beeinflussen sich gegenseitig. Die letztere muss aber
jener erst Maass und Ziel geben und ihr Leitstern sein. Ohne
Technik freilich keine Wirthschaft, aber ohne Oekonomik keine
erfolgreiche und heilsame Wirthschaft. Nur mit ihr hat sich die
Wirtschaftshilfe zu befassen, nicht mit der Technik als solcher.
Bloss zur Darlegung und Erläuterung und daher mitunter auch zur Begründung
ökonomischer Verhältnisse und Aufgaben der Wirthschaft muss auf die Technik oft
Bezug genommen werden. Es ist von grösster Wichtigkeit für die wissenschaftliche
Behandlung der Wirthschaftslehre wie der Politischen Oekonomie (§. 100) diesen Ge-
sichtspunct festzuhalten, was fiühcr selten geschehen ist (§. 99).
lieber die Scheidung von Technik uud Oekonomik s. v. Hermann, Untersuch.
2. A., S. 7 ff, 10 ff., 30 ff.. Auch E. Sax, Wesen und Aufgaben (lSb4) S. 9, Staats-
wirtlischaft S. 3S, 117. — Der Einwand gegen die in diesem Werke vertretene Behand-
lung der Staatsleistungen, dass man alsdaun die ganze Darstellung der Civil- und
Militärvei waltung in die Politische Oekonomie ziehen müsse, übersohiesst eben des-
halb das Ziel, weil er auf einer Verwechslung von Technik und Oekonomik beruht.
Die Technik der Staatsverwaltung gehört so wenig hierher, als die Technik der
materiellen Production, 7. B. des Landhaus. Der ältere deutsche camcralistische
Standpunct, der auch bei Rau noch stark nachklingt, hat freilich auch in der ma-
teriellen Production noch zu sehr Technik und Oekonomik verwechselt. S. Uber Vor-
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Arten der Einzelwirtschaft.
35 L
kehrsrecht und Technik auch bezügliche Ausführungen im 1. Buche und später im
2. Thcil der Grundlegung; über die Technik vom socialwissenschaftlichen Standpunct
aus Schäffle, Soc. Körper III, 549 11'.
III. — §. 147 [51]. Die Einzel wirthschaft. A. Begriff.
Jede Wirthschaft, welche von einem einheitlichen Willen ge-
leitet wird, ist eine Einzel- oder Personalwirthschaft. Sie stellt als
solche ein selbständiges, für sich abgeschlossenes Ganzes von
wirtschaftlichen Thätigkeiten in rechtlicher und wirtschaftlicher
Beziehung dar, welches seine Einheit in einer (physischen oder
juristischen) Person als dem Organ der technischen und öko-
nomischen Thätigkeiten und der Vertretung der Wirthschaft in
rechtlicher Hinsicht findet.
Sie ist wieder keine rein wirtschaftliche Erscheinung, sondern zugleich von
der Gestaltung des Rechts abhängig. Denn dieses bestimmt darüber, wer als Person
gilt und damit dann wer an der Spitze einer Wirthschaft als jenes Organ stehen kann,
welches dessen allgemeine Rechte und Pllichten hier sind und welcherlei Wirt-
schaften es demnach nach der Art der rechtlich zulässigen Personen giebt.
B. — §. 148 [52]. Arten der Einzel wirthschaft.
Rau §. 3 unterscheidet 1) bürgerliche oder Privatwirtschaften, wo dio
wirtschaftliche Gemeinschaft unter einem einheitlichen Willen steht: dahin a) häus-
liche Wirtschaften, nemlich natürliche, die Familie, und künstliche, wie
Kranken-, Armenhäuser u. s. w., also etwa „Extrahaushaltungen“ im Sinne der neuesten
Bevölkerungsstatistik; ferner b) Verbindungen ohne häusliche Gemeinschaft für
einzelne Zwecke mit Hilfe von Sachgütern; dann 2) die Verbindung der in einem
Lande bcisammcnwohncndcn Menschen zu einem nach Aussen selbständigen Ganzen,
einem Staate. Geber dio Volkswirtschaft bei Rau s. §. 5 u. unten §. 149. Der
Ausdruck Privatwirtschaft wird von Rau u. A. m. oft im Sinne von Einzelwirtschaft
und auch von Privatwirtschaft in dem späteren von uns diesem Worte gegebenen
Sinne gebraucht. Ich unterscheide beide Ausdrücke durchweg genau. S. auch Schön-
berg’s Handb. I. 3. A„ S. 10, wo aber in der ersten Unterscheidung („nach dom
Zustand der Persönlichkeit“) Wirtschaften wie Familien-, Stammes-, Volkswirt-
schaft als Nr. 3 m. E. unzulässig als Correlat mit der Nr. 1 (Wirtschaften physischer
und juristischer Personen) und mit der Nr. 2 (private und öffentliche Wirtschaften)
zusammcngcstellt werden; bei seiner zweiten Unterscheidung (nach dem Zustande der
Wirthschaft) stellt Schönberg zusammen: eine Wirthschaft (Einzelwirtschaft) und
Summe von Wirtschaften in organischer Verbindung (Gesammtwirthscliaft ; Stammes-,
Volkswirtschaft. Wirtschaften communistischor Gemeinden, — was aber wieder nicht
Correlatc sind; die letztgenannten sind Einzelwirtschaften).
Man kann die Einzelwirtschaften unterscheiden nach der
Art der leitenden Wirthscliaftssu bjecte und nach den all-
gemeinen Zwecken der Wirthschaft.
1. In er st er er Hinsicht:
a) Der typische Normalfall der Einzelwirthscliaft ist in der
neueren geschichtlichen Entwicklung die Wirthschaft des ein-
zelnen Individuums, welche in der Familien wirthschaft
eine besondere Erweiterung erfährt: Individual- und Familicn-
wirthschaft.
352 3. B. Wirtschaft und Volkswirtschaft. 1. K. Wirtschaft. §. 1 4S, 14!).
Eine Erweiterung, weil in der Familie das Princip der Liebe waltet und in
wirtschaftlicher Hinsicht keine speciclle Entgeltlichkeit von Leistung und Gegen-
leistung besteht, s. u. Buch 5. Schäfflc rechnet daher auch dio Familie schon zu
den Gemeinwirthschaften, Syst. 2. Aufl. §. 190 IT.; in der 3. Aufl. II, 91 bezeichnet er
sie als Grundform freigebiger Mittheilung zur Consumtion unter den Formen der
Liberalität. Ich betrachte die Familie, wenigstens in unserer Socialepoche, nicht das
Individuum als die eigentliche niedrigste Einheit im Volks- und Wirtschaftsleben und
weise sie daher unter die Einzelwirtschaften. Gegen diese meine Auffassung S ch äf fl e ,
Soc. Körper, III, 2S0; über d. Familienwirthsch. eb. S. 376. Für ganz andere Cultur-
perioden kann ich SchäU'le beistimmen; für die in der Politischen Oekonomie meist
zu betrachtenden neueren nicht.
Auch für diese Einzel Wirtschaft ist das Recht wesentlich maassgebend hin-
sichtlich der Anforderungen, welche cs stellt für die persönlichen Eigenschaften
des Wirthschaftssubjects (z. B. privatrcctliche r in Betreff des Geschlechts,
Alters [Mündigkeit], der geistigen Beschaflcnheit, verwaltungsrechtlicher hinsichtlich
der Erfüllung gewisser Bedingungen und des Nachweises dafür, wie Fähigkeitsbeweise
u. s. w.), und für gewisse Rechtsverhältnisse zwischen den Familien-
gliedern und dem Wirthschaftssubject (z. B. für den Anspruch auf Unterhalt,
Bildung), wie Pflicht der Eltern, dio Kinder in die Schule zu schicken, und
zwar auch in dem Fall, dass Schulgeld für sie zu zahlen ist, oder sie sonst unter-
richten zu lassen. Armenunterstützungspflicht selbst für etwas entferntere Verwandte
u. dgl. in.), daher für den Verbrauch der Güter in der Wirthschaft.
b) Andere Einzelwirtschaften sind diejenigen nicht-phy-
sischer Personen, wie der eigentlichen juristischen, des
öffentlichen Rechts, der ,, öffentlichen Körper“ (Gemeinden u. s. w.
unsere später so zu nennenden Zwangs-Gemeinwirtlischaften), eigent-
licher Corporationen; ferner der (sogenannten) juristischen Per-
sonen des Privatrechts (Vereine, Erwerbsgesellschaften, Genossen-
schaften u. s. w.)
Der hier als technischer gebrauchte negative Ausdruck „nicht-physische“ Per-
sonen kommt in diesem gleichen Sinne vielfach in der neueren Steuergesetzgebung
vor und empfiehlt sich mehr als der strittige Begriff „juristische“ Person. Auch
die juristische Auffassung der Erwerbsgesellschaften, selbst der Actiengesellschaft
schwankt in dem Puncto, ob und wie weit sie überhaupt als „juristische“ Personen
(„privatrechtliche“) gelten sollen. Die Bedingungen für die Bildung solcher nicht-
physischer Personen und für dio Befugnisse derselben werden durch das Recht fest-
gestellt. S. über Zwischengebilde zwischen physischen und eigentlichen juristischen
Personen, Genossenschaften des deutschen Rechts (nicht zu verwechseln mit unseren
neuesten Erwerbs- und Wirthschaftsgonossensehaften) Beseler’s System des deut-
schen Privatrechts, 2. Aufl. §. 71 und dessen frühere Lehre von den Genossen-
schaften. Hermann s Zweck wirthschafton, S. 31, gehören in die unter b
unterschiedenen Formen von Einzelwirtschaften.
2. Nach den Zwecken, denen die Einzelwirtkschaften dienen,
sind zu unterscheiden :
a) Privatwirtschaften: Einzelwirtschaften, welche — bzw.
soweit als sie — die wirtschaftlichen Zwecke der an ihnen be-
teiligten Personen nach den aus dem Walten des wirtschaftlichen
Selbstinteresses sich ergebenden ökonomischen Grundsätzen verfolgen.
b) Gemeinwirthschaften: Einzelwirtschaften, welche, und
soweit als sie, bei der Beschaffung und Verwendung der zur Be-
friedigung der Bedürfnisse, insbesondere der Gemcinbedürfnisse
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Volkswirtschaft. Begriff und Wesen.
353
von Personengemeinschaften , für die sie bestehen, und von deren
Mitgliedern dienenden Güter (Collectivgüter) absichtlich nicht nach
diesen eben genannten ökonomischen Grundsätzen, noch nach
blossen Grundsätzen freier Liebesthätigkeit („caritatives“ Princip)
verfahren, sondern nach einem eigentümlichen , dem sogenannten
„gemeinwirthschaftlichen“ Princip dabei Vorgehen.
An dieser vorläufigen Begriffsbestimmung muss cs hier noch genügen. Sie kann
erst verständlich werden und wird erst ihre Begründung finden durch die Aus-
führungen im 5. Buche über die volkswirtschaftliche Organisation , deren Principicn
und Systeme.
IV. Die V olkswirt h schaft. — §. 149 [53]. A. Begriff
und Wesen. Ein einheitlicher Wille fehlt bei der Volkswirth-
schaft, wenigstens wenn dieselbe in ihrer bisherigen, sogut wie
ausnahmslosen geschichtlichen Erscheinung betrachtet wird, im
Gegensatz zu gewissen socialistisch - communistischcn Ideen von
einer „Zukunfts-Volks Wirtschaft“ mit einheitlich geregelter „socia-
listischer“ Productions- und Vertheilungsweise. Die Volkswirtschaft
in ihrer geschichtlich überkommenen und tatsächlich bestehenden
Form entbehrt überall eines leitenden Wirtschafts- und Reehts-
subjeets an ihrer Spitze. Sie ist der als abgeschlossenes Ganzes
gedachte Inbegriff der unter einander durch Arbeitsgliederung ver-
knüpften und nach Maassgabe einer bestimmten wirtschaftlichen
Rechtsordnung (Privat- und Verwaltungsrechtsordnung) verkehrenden
selbständigen Einzelwirtschaften in einem zum Staat (auch Bundes-
staat) organisirten oder durch staatliche Wirthschaftsmaassregeln
zu einem Wirtschaftsgebiete („Zollverein“) verbundenen Volke:
ein organisches Ineinander, nicht ein mechanisches Nebeneinander
von Einzelwirtschaften.
Auch Rau, §. 5, liebt scharf das Fehlen eines einheitlichen Willens in der
Volkswirtschaft hervor, die Volkswirtschaft ist ihm der Inbegriff der wirtschaft-
lichen Thijtigkeiten aller einem Staate angehOrendon Personen. „Diese ist keine ein-
fache, von einem einzelnen Willen gelenkte Wirtschaft, sondern eine Vielheit selb-
ständig neben einander stebeuder und z. Th. in einander greifender Wirtschaften,
die im Begriff als ein höheres Ganzes zusammengefasst und als solches zum Gegen-
stand einer wissenschaftlichen Betrachtung gemacht werden.“ Er vergleicht die aus-
gebildetere Volkswirtschaft auch mit einem Organismus. S. auch Rau, Ttlb.
Zeitschr. 1870, 114. üeber die Entwicklung des Wesens der Volkswirtschaft und
ihrer verschiedenen Gestaltungen s. Rau, Ansichten der Volkswirtschaft, Leipzig
1821. Schönberg, Handb. I, 3. A., S. 11 fl'. Knies, pol. Oek., 2. A.. Absch. II,
S. 44 fl. G. Schm oller in seinen o. S. 207 gen. Aufsätzen Uber Arbeitsteilung
u. s. w. Gothein in seiner Schrift der christlich-sociale Staat der Jesuiten in Para-
guay, Leipzig 1S83 (über dessen communistische Wirtschaftsordnung, S. 33 ff.): eine
volkswirtschaftliche Organisation, welche cs allenfalls erlauben würde, diese „Volks-
wirtschaft“, ähnlich wie es die streng socialistischc sein müsste, eine „Einzelwirt-
schaft“ in der oben festgestellten Bedeutung des Worts zu nennen. S. sonst die oben
in §. 144 citirten Autoren, besonders Hermann, Roscher und Schaf fl e. Dieser
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Theil. Grundlagen. 23
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354 3. B. Wirtschaft und Volkswirthschaft. 1. K. Wesen und Arten. §. 1 49.
bezeichnet die Volkswirtschaft jetzt im Soc. Körper III, 2S6 als „den mit Rück-
sicht auf geringste Kosten und grössten Nutzen geregelten Gcsamintstoll Wechsel aller
socialen Einheiten, den Inbegriff der so geregelten Gesammtbefriedigung des Gesell-
schaftskörpers“. S. auch eb. S. 351 ff. Lind wurm a. a. 0. bes. Kap. 1 u. 2 sagt grade
hier im Gewände heftiger Polemik wenig Neues. In s. „Eigenthumsrecht“ S. 499 ff.
kommt er von Neuem auf diese Puncte, gegen meine Behandlung polemisircnd. Er
hat, wie ich schon früher nicht bestritt. Recht darin, dass die „Volkswirthschaft“
nicht im Sinne der „Einzelwirthschaft“ eine „Wirtschaft“ sei. weil sie subjectlos
ist. Sein Bestreben, den Begriff „Volkswirthschaft“ und „Volkswirtschaftslehre“
als unlogisch zu erweisen und nur eine „Staats wirthschaft“ (und Lehre davon,
nebst Gewerkslehren) anzuerkennen, ist aber nur die Folge seiner unhaltbaren Prä-
misse von der „freien Individualität der Urheberschaft“, die die Production bedingt.
Auch als Staats wirthschaft hat die Volkswirthschaft kein leitendes Subject im Siuue
der Einzelwirthschaft an der Spitze. — Der Ausdruck Volkswirthschaft soll zuerst bei
Hufeland, Grundl. I. 14 Vorkommen. Mitunter, doch selten und unpassend, wird
das Wort auch für Volkswirtschaft» 1 eh r e (neucsteus wieder von Sax) gebraucht.
Mit Rücksicht auf geschichtliche Vorgänge wird auch das Moment „Zollverein“
im Sinne des Tests zu betonen sein. In Deutschland konnte von einer Volkswirt-
schaft des Zollvereins gesprochen werden.
So aufgefasst beruht die Volkswirthschaft zunächst allerdings
nur auf einer Abstraction, aber nicht mehr und nicht weniger
als „das Volk“ auf einer solchen beruht. Sie ist daher auch trotz
ihrer Subjectlosigkeit, wodurch sie sich von der Einzelwirthschaft
unterscheidet, ebenso gut wie das Volk ein reales Ganzes, welches
sich in entscheidenden Puncten als ein Organismus darstellt,
dessen nicht bloss Theile, sondern Glieder die Einzelwirtschaften,
und zwar einschliesslich der vom Staate repräsentirteu Ge-
meinwirthschaft, sind. Denn wie später dargelegt werden wird
(Buch 5 u. 6), ist der Staat selbst auch als eine Wirthschaft auf-
zufassen. Eine Seite dieser Wirthschaft ist wieder die Finanz-
wirthschalt.
Als solche Glieder haben die Einzelwirthschaften , neben ihrem Eigenzweck,
doch immer gleichzeitig Functionen für den Zweck des Ganzen, der Volks-
wirthschaft, und sind insofern© Mittel für die Zwecke der letzteren. Die Bezeichnung
der Volkswirthschaft als Ganzes weist auf den Character derselben als Organismus
und auf die gliedliche Zusammengehörigkeit und dadurch bewirkte gegenseitige
Abhängigkeit und Bedingtheit der Einzelwirthschaften hin, wobei daun von der
Selbständigkeit der letzteren abgesehen wird. Arbeitsteilung und Verkehr, in
Wechsclwiikung mit einander stehend, d. h. wiederum Arbeitsvereinigung, sind
es. welche aus den Einzelwirthschaften des Volks ein Ganzes, eine Volkswirt-
schaft machen. Geber die organische Auffassung der Volkswirthschaft gegenüber
der atomistischen s. auch Roscher, §. 12 nebst der litterariscben Anmerkung. Sis-
mondi und besonders List, früher schon A. Müller, Elemente der Staatskunst
1509 haben diese organische Auffassung, die jetzt die wissenschaftlich heirschendo
ist. lange vertreten. Die Schutzzöllner wie die älteren mercantilistischen Theoretiker
konnten bei ihrer Werthlegung auf staatliche Wirtschaftspolitik auch nicht wohl zu
der Einseitigkeit der atomistischen Auffassung der Physiokrateu und der Freihändler
(Smith sehe Schule) kommen. S. Uber diese atomistische im Gegensatz zu der hier
vertretenen organischen Auffassung der Volkswirthschaft besonders unten Buch 5.
Lindwurm fällt in der vorerwähnten Polemik in diese atomistische Richtung zurück,
die er doch mit Recht in der Grundtendenz seiner Schrift und in seiner Annäherung
an socialistische Auffassungen ablehnt.
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Volkswirthschaft. Begriff und Wesen.
355
Indem jenes „Ganze“ gleichzeitig ein abgeschlossenes
Ganze genannt wird, wird wiederum von dem Verkehre der eine
Volkswirthschaft bildenden Einzel Wirtschaften mit den zu einer
anderen Volkswirthschaft gehörenden Einzelwirtschaften abgesehen.
Auch dies aber, und damit die Trennung der Weltwirt-
schaft in verschiedene „selbständige“ Volks wirt-
schaften und die Unterscheidung zwischen Volks- und Welt-
wirthschaft, ist mit Rücksicht auf durchaus reale Verhältnisse
statthaft, ja nothwendig.
Denn die Einzelwirthschaften in einer Volkswirthschaft sind zunächst regelmässig
unter sich durch Arbeitstheilung und Verkehr näher verbunden und übernehmen als
Glieder ihrer Volkswirthschaft bestimmte Functionen (in der Gewinnung gewisser
wirthschaftlicher Güter) gerade für die Zwecke, d. h. filr die gesammtc verlangte Be-
dürfnissbefriedigung in ihrer Volkswirthschaft. Man erkennt dies besonders deutlich
in der entwickelteren Volkswirthschaft eines grösseren Landes an der räumlichen
Gruppirung der wichtigeren Productionszweige, namentlich der industriellen. Eine
Industriegruppe einer Provinz z. B. arbeitet für die Versorgung des ganzen Landes
mit ihren Producten uud dafür ist die Provinz wieder darauf angewiesen, aus dem
Lande das zu beziehen, was sie braucht und was eben wegen des Vorwaltens des
betreffenden Industriezweigs nicht in ihr selbst erzeugt wird (Eisass in seinem früheren
Verhältnis zu Frankreich). Die Gewerbe- und lland eis Statistik und die Statistik
der Rohproduction zeigen die räumliche Verbreitung der verschiedenen wirt-
schaftlichen Productionszweige. Nach den von ihnen gelieferten Thatsaclien lassen
sich Productionskarten entwerfen, welche diese räumliche Verbreitung am Besten
veranschaulichen. Die notwendige gegenseitige Bedingtheit der Einzelwirtschaften
und der Character derselben als Glieder der Volkswirtschaft und darüber hinaus der
Weltwirtschaft tritt dabei deutlich hervor. Besonders interessant sind die neuer-
lichen Karten der Circulation der fossilen Brennstoffe (nach Eisenbahn- uud Wasser-
routen), mit denen das organische Wesen der Volkswirthschaft sehr hübsch an
eiuem wichtigen Beispiel illustrirt werden kann (vergl. einen ähnlichen Versuch in
Wortschilderung für Deutschland schon in meinem Aufsätze „Die Kohlen“ u. s. w.
in der Tüb. Zeitschr. 1856). Lehrreiche und interessante statistische Arbeiten Uber
den Standort der Gewerbe lieferte E. Laspeyres für Nordamerica in der Berl.
Vierteljahrsschrift für Volkswirthschaft, 1870, II, 03 ; eb. III, 1; 1871, II. 1. S.
auch Koscher. Studien über die Naturgesetze, die den zweckmässigen Standort
der Industriezweige bestimmen, jetzt in der 3. Aufl. s. Ansichten d. Volkswirthsch.,
Leipz. 1878, II, 1.
Die Natur der Volkswirthschaft als eines Organismus bringt
es dann auch mit sich, dass zwischen den Einzelwirtschaften als
Gliedern der Volkswirthschaft und zwischen ihren Functionen sowie
zwischen den Berufsgruppen von Einzelwirthschaften (z. B. Ur-
production, Landwirtschaft, Industrie) ein notwendiges Gleich-
gewicht und Ebenraaass stattfinden muss. Abweichungen
hiervon können nur durch die Erweiterung des volkswirtschaft-
lichen Verkehrs zum internationalen und weltwirtschaftlichen er-
folgen und ihre Rechtfertigung finden, wie die moderne Entwicklung
dieser Verhältnisse das zeigt.
Mit der Volkswirthschaft in dieser Auffassung hat es denn
23*
356 3. B. Wirtschaft und Volkswirtschaft. 1. K. Wesen und Arten. §. 150, 151.
auch, nach dem Früheren (§. 100), die Wissenschaft der Politischen
Oekonomie zu thun.
B. — §. 150 [54], Entwicklung der Volkswirtschaft
Dafür sind viererlei Momente maassgehend: ein persönliches
und nationales, das im Volk und seiner geschichtlichen Ent-
wicklung, ein natürliches, geographisches, das im Laude
und seiner Naturbeschaffenheit, ein technisches, das in der Ge-
staltung des Product ionsbetriebs und, in engem Zusammen-
hänge mit dem zweiten Moment, in der Gestaltung der Com-
munications- und Transportverhältnisse, endlich ein recht-
liches und politisches, das im Staat und in der Gestaltung
der wirtschaftlichen Rechtsordnung liegt.
Die Volkswirtschaft, als Collectivphänomen , wie sie oben
(S. 259) genannt wurde, ist ein geschichtliches Product aller dieser
Momente, die einzelne concrete Volkswirtschaft ein geschichtliches
Product der concreten Gestaltung (Difl’crenzirung) und coucreten
Combination dieser Momente.
Die „Volkswirtschaft“ geht daher von älteren einfacheren Ge-
staltungen, in welchen sie noch unentwickelt und selbst nur erst
im Keime vorhanden ist, durch die verschiedenen Phasen hindurch,
welche insbesondere die menschlichen Gemeinschaften selbst von
Geschlecht, Gens, Stamm hindurch bis zum „Volke“ durchlaufen.
Jeweilig erhält sie, die Volkswirtschaft, oder das, was in früheren
Phasen als ihr Vorläufer und ihr Analogen bezeichnet werden
muss, dann ihr Gepräge durch diejenigen Gestaltungen der wirt-
schaftlichen Productionsweise und Verteilung und durch die für
diese Gestaltungen wieder maassgebenden Besitz- und Arbeitsver-
hältnissc und deren Ordnung nach Sitte und Recht, welche sich au
die Gestaltungen der jeweilig hervortretenden Organisationsformen
jener menschlichen Gemeinschaften anschliessen. Alle diese Ver-
hältnisse stehen dann aber in Wechselwirkung.
Erst indem und nachdem die auf engerer Blutsverbindung be-
ruhenden menschlichen Gemeinschaften sich lockern, d. h. durch
die persönlichen Gefühle und Ansichten der Angehörigen, durch
die auf diesen Gefühlen und Ansichten beruhenden Autoritätsver-
hältnisse und durch die das Alles stutzende Sitte und Rechtsordnung
— soweit hier von letzterer schon zu reden ist — nicht mehr zusam-
men gehalten werden, erst wenn daher an Stelle solcher Gemeinschafts-
bcziehuugen mehr und mehr nur „gesellschaftliche“ und ins-
besondere wTirthschaftliche Beziehungen treten, wie sie durch
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Entwicklung der Volkswirtschaft.
357
Arbeitsteilung, Verträge, Tausch u. s. vv. bedingt werden, — erst
indem und nachdem diese Entwicklungen vorangegangen sind oder
sich gleichzeitig vollziehen, entsteht und entwickelt sich das, was
wir „ Volks wirthschaft“ im eigentlichen Sinne nennen (vgl.
o. §. 117, 118).
Wie sich diese Volkswirtschaft alsdann gestaltet, hängt wieder
von der Entwicklung, Gestaltung, Combination aller jener vier
Momente ab. Danach erhält dann jede conerctc Volkswirtschaft
ihr individuelles nationales, geographisches, ökonomisch-
technisches und politisch-rechtliches Gepräge, erhalten
aber auch die verschiedenen Volkswirtschaften wieder einen ge-
meinsamen Typus, tibereinstim mendeGrundzüge, nach
dem, was eben in diesen vier Seiten bei ihnen übereinstimmt.
Und nach diesem gemeinsamen Typus, wie ihn in etwa gleicher
Geschichtsperiode die Volkswirtschaften von Völkern im Ganzen
gleicher Culturentwicklung zu zeigen pflegen, kann man dann
historische Typen (typische Phasen) der „Volkswirt-
schaft überhaupt“, als eines allgemeinen Colleetivphänomens
menschlicher Geschichte, unterscheiden. Die Herausschälung gerade
dieses Typischen fällt in die früher unterschiedene zweite
(theoretische) Aufgabe der Politischen Oekonomie (§. 60).
Solche typische Phasen sind in der antiken Welt die „einheitliche Oekenwirth-
schaft“ und ihre spätere Auflösung mit dem Siege des „freien Verkehrs“ (Hodhertus).
In der Entwicklung der Volkswirtschaft der neueren Völker, nach den Phasen älteren
Agrarcommunismus’ und ihm folgender agrarischer Wirthschaft freier Baucrschaften
und höriger Hofwirthschaften, die frühmittelalterliche und spätere grundherrschaftliche,
königs-, frohn- und klosterhoiwirthschaftliche, die neben die agrarischen Wirthschaften
tretende, aber diese selbst zum Theil in sich aufnehmende, sonst vorncmlich Gewcrbe-
und Handelsbetrieb in corporativen Formen (Zunftvcrfassung'l darstellende „stadtwirt-
schaftliche“ (G. Schmoller); darauf die Stadt und Land mehr zusammenfassende, die
städtische Autonomie auch auf wirthschaftlichem Gebiet beschränkende territorial- und
staatswirthschaftliche Phase im Zeitalter des Mcrcantilismus und der emporsteigenden
Staatsgewalt: lauter Entwicklungsstadien, welche, im Einzelnen mit kleinen Verschieden-
heiten, in den Hauptzügen doch gleichmässig, die west- und mitteleuropäischen Volks-
wirtschaften auf dem Wege zur „modernen“ Volkswirtschaft „freien individualisti-
schen“ Verkehrs auf der Grundlage des Privateigenthums am Boden und Kapital
durchlaufen haben.
§. 151 [55, 56]. Die vier einzelnen Momente, welche
die Entwicklung der Volks wirthschaft beherrschen.
1. Es ist auch erst ein langer und langsamer geschichtlicher
Process, welcher das Volk als Ganzes im Siune der im Staats-
(bzw. staatlichen und vertragsmässigen Wirthschafts -) Verbände
vereinigten Personen zum eigentlichen Träger der Volkswirtschaft
gemacht hat, — ein Process, welcher wieder von all jenen anderen
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358 3. B. W irtschaft and Volkswirtschaft. 1. K. Wesen und Arten. §. 151.
geographischen, technischen, rechtlichen, politischen Factoren be-
dingt gewesen und dadurch beeinflusst worden ist
Die historische Thatsache gemeinsamer Abstammung, die gemeinsamen geschicht-
lichen Erlebnisse, der Besitz eines gemeinsamen Wohngebiets, die Gemeinsamkeit und
Eigenausbildung (die „nationale“ Ausbildung) wichtiger („nationaler“) Besitztümer,
der Sprache, der Sitte — eigentümlicher Weise wird grade dies so cbaractcristische
Moment von Roscher §. 16 weggelasseu — , des Rechts, des Staats, der Wirt-
schaft, selbst der Kunst, Wissenschaft und Religion, diese Momente alle sind es,
auf denen das Volk im Sinne von Nation beruht Die Volks Wirtschaft ist eines
der genannten nationalen Besitztümer, ist Nationalökonomie und insoweit ein Natur-
product. Aber wie dio Nation selbst und die andere verwandte Seite des Volks-
lebens, das Volks recht, erhält auch die Volks wirtli schaft erst durch den Staat
ihre Gestaltung: die Nation wird „Staatsvolk“, die Volkswirtschaft wird Kunst-
product, der natürliche Organismus wird zum Theil künstlich e Organi-
sation. Die Volkswirtschaft wird hierdurch aus der Nationalökonomie die Wirt-
schaft des Volks im staatswissenschaftlichen oder politischen Sinne des Worts Volk,
also die Wirtschaft der im Staatsverband vereinigten Personen: wird politische
Oekonomie (in diesem Sinne). Ihr spccifisch nationales Gepräge verliert oder mo-
dificirt die Volkswirtschaft alsdann in derselben Weise, wie in den Wechsclfälleu der
Geschichte die in einem concreten Staate vereinigte Bevölkerung auf hört, mit der
Nation im ursprünglichen Sinne des Ausdrucks identisch zu sein. Dnd wie etwa durch
den geschichtlichen Process, in Folge des Zusammenlebens in einem Wohngebiete,
des wirtschaftlichen Verkehrs, der gemeinsamen Rechtsordnung und der staatlichen
Zusammenfassung die Angehörigen eines Staatsverbands wieder zu einer eigenartigen,
neuen „Nation“ werden, so nimmt die Volkswirtschaft in diesem Verbände auch
wieder ein neues spccifisch „nationales“ Gepräge an. (Vcrgl. Neumann, Volk und
Nation, Leipz. 1SSS).
2. Das innige Verwachsen der Einzelwirtschaften unter ein-
ander, der agrarischen und städtischen Wirtschaften und aller
zur Volkswirtschaft wird in den verschiedenen Entwicklungs-
phasen und auch noch heute wesentlich beeinflusst durch das
Land und dessen Natur, insbesondere die geographische Lage,
Beschaffenheit und selbst durch die geometrische F o r m des Volks-
wirth8chaftsgebiets. Gleiches gilt dann auch wieder von der Ab-
trennung der einzelnen Volkswirtschaften von einander.
Die verticale und horizontale Configuration des Gebiets, die Höhe, Richtung,
Zugänglichkeit der Gebirge, die gesammten orographischcn , hydrographischen, local-
klimatischen Verhältnisse, die Seeverbindung und die natürlichen Binnen -Wasser-
strassen, die von allen diesen Momenten abhängige Entwicklung der Communications-
rnittel, die Lage eines Volkswirthschaftsgebiets zu anderen Gebieten, die Lage der
einzelnen Landcstheile zu einander und zum Auslande entscheiden zum Theil maass-
gebend Uber die Art und Innigkeit des Verkehrs innerhalb der Volkswirtschaft und
zwischen verschiedenen Volkswirtschaften oder Thcilen derselben, z. B. Grenzpro-
vinzen. Die Bedeutung der geometrischen Form des Gebiets zeigt sich in Verhält-
nissen wie Dalmatiens Lage zu Oesterreich, Tirols jetzt, nach Abtretung Lombardo-
Venetiens, desgl. ; Ostpreussens Lage zu Deutschland u. dergl. m. Die Gestaltung der
Volkswirtschaft unter dem Einflüsse dieser räumlichen Verhältnisse wirkt dann auch
wieder auf das politische Leben des Volks, auf das losere oder engere politische Band
verschiedener nationaler Theilc der Bevölkerung bedeutungsvoll ein.
3. Besondere Beachtung für die Entwicklung der typischen
Phasen der Volkswirtschaft verdienen dann die technischen
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Einzelne Momente von Bedeut, f. d. Entwickl. der Volkswirtlisch.
359
und rechtlichen Momente, welche in näherer Beziehung unter
einander stehen und sich gegenseitig beeinflussen.
Der Zustand der Com mu n i catio nsinittel , welcher ausser von der Xatur-
beschalfcnheit des Landes und der Natur-Wege (besonders Wasserwege) vor Allem
vom Stande der Technik — wozu auch der Stand der Zähmung der Thiere und der
bezüglichen Verwendung derselben gehört — und von den für Bau und Betrieb von
Communications- und Transportmitteln verfügbaren wirtschaftlichen Mitteln abhängt:
der Stand der Productionstochnik, namentlich ob, wie weit und wie an Stelle
der menschlichen Muskelkraft thicrischc und (sog. todte) Naturkräfte benutzt werden
(Maschine); die vom Stand der Technik mit bedingten Verhältnisse der notwendigen
oder zweckmässigsten Arbeitsteilung und Betriebsgestaltung (Concentration , Gross-
betrieb); die Art, die räumliche Ausdehnung des Absatzes und Markts; anderseits
die Gestaltung der persönlichen Rechtsverhältnisse (Unfreiheit, Freiheit,
Ständewesen), die Gestaltung der Besitz- und Besitzrechtsverhältnisse, nament-
lich des Grundbesitzes, davon abhängig der Arbeits- und Erwerbsgelegenheiten
und Bedingungen im Gebiete des lange Zeit fast alleinigen, fast immer wichtigsten
nationalen Prodnctionszweigs, der Landwirtschaft (und Viehzucht); der Zostand der
allgemeinen Rechtssicherheit von Person und Eigentum, der Einrichtung der
Rechtsordnung für Absatz- und Marktwesen, Gewerbe- und Handelsbetrieb, Unter-
nehmungsformen: weiter die von Technik und Recht mit bedingte Vcrtheilung
der Bevölkerung über das Land, als das Volkswirthschaftsgebiet, die Art der
Ansiedlung, der Wohn- und Lebensverhältnisse (Höfe, Dörfer, Städte) — das und
manches Aehnliche weiter sind die hier für die Gestaltung der Volkswirtschaft und
für die Entwicklung ihrer Phasen wirksam werdenden Momente.
In markanter und mehr oder weniger klar bewusster Weise
ist durch den Staat die Ausbildung besonderer „ Volks wirt-
schaften“ innerhalb der europäisch -amerikanischen Welt seit dem
16. und 17. Jahrhundert bis in unsere unmittelbare Gegenwart
hinein begünstigt und so die stadtwirthschaftliche, grundberrschaft-
licbe in die staatswirthschaftliche Phase hinüber geleitet worden.
Die besonderen „Staatsindividualitäten“ treten seitdem schärfer hervor,
die straffere Centralgewalt vernichtete oder verminderte die provincielle, communale
und ständische Autonomie auch auf wirtschaftlichem Gebiete, suchte aus dem Staats-
gebiete einen grossen einheitlichen Markt zu schaffen und sperrte oder er-
schwerte den Verkehr mit dem Auslände. Von grösster Bedeutung ward insbesondere
die Ausbildung der Landesgrenzzollsystemc, innerhalb deren zunächst das
Zollgebiet die territoriale Basis der nationalen Volkswirtschaft
(Colbert) wurde. Die Volkswirtschaft wuchs dann gewissermaassen in das Zoll-
gebiet hinein und indem letzteres möglichst auf das Staatsgebiet (Frankreich. Gross-
britannien und Irland. Russland, Oesterreich, Italien) oder auf das N atio n algebiet
(Deutschland, Zollverein) ausgedehnt wurde, verwuchsen auch die national und poli-
tisch disparaten, die neuerdings etwa erst mit dem Staate verbundenen, die geogra-
phisch abgelegeneren Landes- und Volksthcile zuerst mit der Vol ks wi rt hschaf t,
dann mit dem Staate selbst (Eisass-Lothringen und andere ostfranzösische Grenz-
provinzen in ihrer volkswirtschaftlichen Verbindung mit Frankreich seit der Revo-
lution, die russischen westlichen Annexionsgebietc. Oesterreichs Kronländer, die ehe-
mals polnischen Gebietsteile Preussens, die Staaten des Zollvereins, Eisass- Lothringen
in seiner Verbindung mit dem Deutschen Reiche u a. in). Das Landesgrenz-
zollsystem und die damit in enger Verbindung stehende gesainmte mercanti-
listische Volkswirthschafts- (nicht nur: Handels-) Politik, beide gewöhnlich
viel zu enge nur aus dem handelspolitischen Gesichtspunctc beurteilt und oft
genug von doctrinären Freihändlern verurteilt, erweisen sich hiernach von grösster
allgemein wirtschaftlicher und politischer Bedeutung und in Folge davon
selbst wieder von maassgebendem Einllusse auf die Oultur eines Volks. Diese Wir-
360 3* B. Wirtschaft und Volkswirtschaft. 1. K. Wcson und Arten. §. 152, 153.
kung ist häufig durch begleitende politische oder polizeiliche Absperrungsmaassregelu
(wie 7. B. das Passwesen) noch gesteigert worden. Die Wechselwirkung zwischen
volkswirtschaftlichen und politischen Verhältnissen tritt in den genannten Thatsaehen
und Maassrcgcln sehr frappant hervor. Erst die pbysiokratisch-Smith'sche National-
ökonomie mit ihrer einseitig kosmopolitischen Tendenz hat dies wahrhaft Staat s-
wirthschaftliche Moment in der Volkswirtschaft in seiner Bedeutung verkannt und
mit unter dem Einfluss dieser und verwandter Lehren (Kant'sche Rechts - und Staats-
philosophie) ist es auch in der Praxis der Wirtschaftspolitik zurückgedrängt worden.
Ganz anders fasst dagegen die Aufgabe unserer Zeit ein Rodbertus auf: „Die
Volkswirtschaft muss wieder mehr Staats Wirtschaft werden“, womit man eben
nur auf das Richtige im Mcrcantilismus zurückkommt. Demgemäss wird denn auch
wieder eine dem Ge s am mtbedürfniss des Volks entsprechende Gestaltung der wirt-
schaftlichen Rechtsordnung, der Besitz- und Erwerbsordnung durch
den Staat verlangt.
Die radicalen Freihändler, z. B. Basti at, haben diese hohe vo 1 ks wirtschaft-
liche und politische Bedeutung der Landesgrenzzollsysteme und der leitenden Gesichts-
pnncte und Maassregeln des Mercantilismus gcwöhulich verkannt, in richtiger Conse-
quenz ihres atomistischen Standpuncts, von welchem aus die Vol ks Wirtschaft nur
ein Nebeneinander, keine organische Verbindung von Einzelwirtschaften. S. die
characteristische Aeusscrung Bastiat’s über den deutschen Zollverein, bei Berg ins,
Finanzwiss., 1S65, S. 3S‘J, Vergl. dagegen Fr. List, nation. Syst., Kap. 20 u. 27
und A. Wagner, Art. Zölle im Staatswörterb. XI, 344 ff. Anwendung des Ge-
sagten auf die practische politische Frage der Wiedervereinigung Elsass-Lothringens
mit Deutschland in A. Wagner, Eis. u. Lothr., 6. Aull., 1871, S. 53 ff., — jetzt schon
mannigfach durch die That bewahrheitet. — S. Rodbertus, in der Tüb. Ztsclir. l^TS,
S. 232. Die Consequenz dieser Auffassung ist von mir in den folgenden Büchern und in
dem 2. Theil der Grundlegung (vom Recht in der Volkswirtschaft) gezogen worden,
was dann freilich eine ganz andere Behandlung der nat.-ökonouiischcn Grundlegung,
als die übliche, mit sich bringt. Auch im wissenschaftlichen Socialismus ist diese
Auffassung der richtige Kempunct. Die Schutzzöllner, Fr. List inbegriffen, ver-
fehlen es freilich darin, dass sie nur ein handelspolitisches „nationales“ System
der Politischen Ökonomie wollen: ein das ganze Wirtschaftsleben umfassendes ist
zu verlangen. Der Schutzzoll ist kein „System“, sondern nur ein Glied eines wirth-
schaftspolitischcn Systems, und nicht für sich, sondern nur als solches Glied,
daher nur bei pri n ci pi cl 1 er Bemängelung des „Systems der freien Concurreuz“
haltbar. Die gewöhnlichen Schutzzöllner sind hier ebenso unzulänglich in ihrer Ar-
gumentation wie ihre Gegner.
Es muss hier an diesen wenigen Andeutungen über die erwähnten Momente,
welche die Entwicklung der Volkswirtschaft beherrschen, genügen. Für alles Weitere
ist auf die Ausführungen in der Practischen Nationalökonomie (besonders Agrarwesen,
wo jetzt bereits der 1. Band von Buch enberger’s Werk vieles Hierhergehörige
enthält, und Gewerbe- und Handelswcsen, aber auch Verkehrswesen) zu verweisen.
Die ältere, „abstracte“, „unhistorische“ Nationalökonomie hat jene Momente
teils gar nicht, teils nicht genügend gewürdigt oder, wo sie darauf einging, hat sie
sich die geschichtliche Entwicklung zu einfach construirt, namentlich Arbeitsteilung,
Verkehr, Tausch sich zu einfach mechanisch nach den Anschauungen des modernen
ökonomischen Individualismus aus dem Wirken des Selbstintcresscs entwickeln lassen,
ohne die Factoren zu erforschen, welche das Wirken dieses Motivs und Arbeits-
teilung, Verkehr und Tausch selbst wieder beeinflusst haben. Hier liegen die auch
methodologisch bedeutsamen Verdienste der „historischen Richtung“ (§. 15), ins-
besondere der Arbeiten Roscher’s, Lamprecht’s, v. Inam a-Stcrn egg’s,
Bücher ’s, und namentlich G. Schmollcr's (specicll über die prenssischen Ver-
hältnisse in den schönen Ausführungen über städtischo, territoriale, staatliche Wirt-
schaftspolitik, Jahrb. B. 8, S. 15, 1884, s. auch oben S. 241, Note) u. A. m., wie
anderseits aber auch von Rodbertus, Marx.
Der Unterscheidung von Einzel- und Volkswirtschaft ent-
spricht in Theorie und Praxis die wichtige Unterscheidung der
Betrachtung wirtschaftlicher Vtrhältnisse, Fragen, Streitfragen,
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Weltwirtschaft. Wesen. Entwicklung.
3G1
Interessen u. s. w. vom Standpuncte beider lind wieder je vom Stand-
puncte der verschiedenen Einzel wirtb sc haften und Gruppen von solchen
aus. Der Betrachtungsstandpunct der Volkswirthschaft muss eben
derjenige der wirthschaftlichen und der weiter davon bedingten Inter-
essen des Volksganzen sein: eine ebenso leicht hinzustellende,
eigentlich selbstverständliche, als schwer im Einzelnen, nicht nur in
der Praxis, sondern auch in der Theorie richtig durchzuführendc For-
derung. Namentlich liegt immer die Gefahr vor, einzelwirthschaft-
liche Classeninteressen zu volkswirtschaftlichen Volks- (und Staats-)
Interessen zu machen.
V. Die Weltwirtschaft. — §. 152 [57]. A. Begriff und
Wesen. Die Weltwirtschaft ist der Inbegriff der miteinander
verkehrenden Einzelwirtschaften vieler, schliesslich aller Völker
oder Volkswirtschaften der Erde. Innerhalb dieser gesammten
Weltwirtschaft lassen sich in bestimmten Zeiten wieder Volks-
wirthschaftsgruppen unterscheiden, welche sich in einigen Be-
ziehungen gegen einander ähnlich abscheiden wie die Volkswirt-
schaften. Sie werden mitunter ebenfalls „Weltwirtschaften“ genannt.
Man kann so für die antike Zeit die Weltwirtschaft der Völker des Mittelmeer-
beckens (mit den Erweiterungen im römischen Weltreich) und diejenige der mittel-
und ostasiatischen Völker, für die neuere Zeit und die Gegenwart die Weltwirtschaft
der europäisch- americanischen Culturvölker (incl. Australiens) als occidentalischc
der Weltwirtschaft der asiatischen Culturvölker als der orientalischen gegenüber
stellen. Für manche Wirthschaftsverhältnisse, z. B. für den C'haracter und für das
in der sog. Handelsbilanz zum Vorschein kommende Endergebniss des auswär-
tigen Handels (dauernde Passivität des europäischen Handels gegen Asien,
im Wesenüichen seit den Kömerzeiten), ferner, zum Thcil in Verbindung damit, für
die Edclmetallgeld Verhältnisse bilden diese beiden „Weltwirtschaften“ förm-
lich wieder jede ein Ganzes, ähnlich wie die einzelnen Volkswirtschaften und treten
in einen gewissen Gegensatz zu einander.
B. — §. 153 [58]. Die Entwicklung der Weltwirt-
schaft. Sie ist von denselben Factoren, wie diejenige des Ver-
kehrs Überhaupt (§. 117) und theilweise von den gleichen Factoren,
wie diejenige der Volkswirthschaft (§. 150) abhängig. Man kann dabei
wohl die mehr die Entwicklung bedingenden Momente,
d. b. die, welche die Weltwirtschaft möglich machen, und die
mehr eigentlich verursachenden Momente, welche auf die Ent-
wicklung der Weltwirtschaft unmittelbar hinwirken, unterscheiden.
Die ersteren sind einmal die Rechtsverhältnisse, insbesondere
die rechtliche Sicherheit (Völkerrechtszustand, tatsächlicher
Rechtsschutz in der Fremde, Kriegsmarine als Schutzanstalt) und
die rechtliche Zulässigkeit (wirtschaftliche „Freiheit“) des
Verkehrs sowie die rechtlichen Bedingungen für diesen, in der Volks-
362 3- B. Wirtschaft und Volkswirtschaft. 1. K. Wesen und Arten. §. 153, 154.
wirthschaft und über dieselbe hinaus (wirtschaftliche Rechtsordnung
besonders des Handels im und mit dem Auslande, „Freihandel“);
sodann der Zustand der Communicationsmittel. Die zweiten,
die causa len Momente sind erstens die verschiedene natür-
liche Ausstattung der Länder und (zum Theil davon abhängig)
der Völker, zweitens die Verschiedenheit der Entwick-
lungsstufen der einzelnen Volks wirth sc haften. Die
nationale A r beitsthei lung erweitert sich in der Weltwirt-
schaft zur internationalen. Die beiden ersten, wesentlich be-
dingenden, Momente sind also wieder ein rechtliches und ein
technisches, die beiden letzten, wesentlich bewirkenden, Momente
ein natürliches (geographisches) und ein historisch-nationales.
Die Weltwirtschaft kann dann, wie die Volkswirtschaft,
wieder die Natur eines grossen Organismus annebraen, in
welchem die einzelnen Volkswirtschaften (oder genauer gesagt
die Einzel wirtschaften in ihnen) die Function von Gliedern
erhalten.
Tatsächlich neigt sich der heutige Verkehr, unter den ihn begünstigenden Ein-
flüssen in der Gegenwart, mehr als in irgend einer früheren Periode der Weltgeschichte
dahin, die Volkswirtschaften zu einem die ganze Erde umspannenden welt-
wirtschaftlichen Organismus zu vereinigen. Die Welthandelsstatistik
ist ein Spiegelbild dieser Gestaltung. (Vergl. die vortrefflichen Berichte von Fr. X.
Neumann [Wien] in Behm’s geogr. Jahrbüchern, später selbständig u. d. T. Ueber-
sichton über Production. Verkehr u. s. w. in d. Weltwirtschaft, nach Keumann’s Tode
fortgeführt von J uraschek.) Ob freilich diese Gestaltung in der jetzigen Ausdehnung
schon allgemein richtig ist und ob nicht, nach der Theorie von Fr. List, die Volks-
wirtschaften der Cultorvölker erst eine gleich massigere Entwicklung erreichen sollten,
bevor das kosmopolitische Princip in der Wirtschaftspolitik , daher die Aufgabe des
Ausbaues der Weltwirtschaft, für diese Völker und ihre Staaten so sehr in den
Vordergrund treten darf, — das kann hier nur als eine mindestens zu erwägonde
Frage hingcstellt werden. Ihre Entscheidung hängt von der gesamtnten Auffassung
des Wirtschaftslebens und der Wirtschaftspolitik mit ab. Die im §. 151 hervor-
gehobene Aufgabe, dass die Volks wirthschaft wieder mehr Staats wirthschaft werde,
lässt sich wohl nicht lösen, ohne dass die weltwirtschaftliche hinter die volks-
wirtschaftliche Entwicklung zurückgestellt wird (s. unten, und List, nat. System
S. 13 11.). Die Wiederhinneigung zu stärkerem und für die Agrarproduction zu er-
neutem Zollschutz, besonders seit Ende der lSTOer Jahre, deutet darauf hin, dass auch
in der Praxis derartige Erwägungen durchgedrungen sind.
§. 154 [62, 59 — 611. Die vier einzelnen Momente.
Die Bedeutung der einzelnen vier Momente, der Bedingungen und Ursachen der
Verkchrsentwicklung über die heimische Volkswirtschaft hinaus zur weltwirtschaft-
lichen ist hier wieder nur anzudeuten und erst in der practischcn Nationalökonomie
genauer darzulcgen.
1. Für die ältere Entwicklung und für die Gestaltung dieses
Verkehrs unter wilden , barbarischen und Halbculturvölkern noch
heute, kommen vor Allem die Zustände der allgemeinen Rechts-
sicherheit und die Rechtsnormen bezüglich des Fremd en rechts
in Betracht.
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Momente für die Entwicklung der Weltwirtschaft.
363
Daher in letzterer Hinsicht die Bedingungen, unter welchen in einem anderen
Lande und Staate, ausserhalb der Heimath, dem fremden, insbesondere dem Kaufmann
Handel zu treiben, Niederlassungen zu errichten und der einheimischen Bevölkerung
gestattet wird, an diesem Handel sich zu betheiligen, sowie die weiteren Bedingungen
der wirtschaftlichen Rechtsordnung, die Rechtsformen, die etwaigen corporativen
genossenschaftlichen Gestaltungen, unter welchen die ins Ausland handelnden Stadt-
und Staatsbürger diesen Handel nur betreiben können und dürfen.
Auch für die moderne Zeit der Cnlturvölker, wo nach völker-
rechtlichen Grundsätzen der Fremde vollen Rechtsschutz für sich,
sein Eigenthum, seine Vertragsschlüsse geniesst, sind doch noch
die speciellen Normen des Gewerberechts für die Zulassung des
Fremden zum Gewerbetrieb im Inland, daher eventuell völker-
rechtliche Vertrüge (Handelsverträge, Schiffahrtsverträge u. s. w.)
hier auf die Verkehrsentwicklung von Einfluss. Weiter ist die den
auswärtigen Handel betreffende Zoll- und Handelspolitik maass-
gebend. Endlich kommt die gesammte Gestaltung des Verkehrs-
rechts i. e. S., auch desjenigen für den inländischen Gewerbe-
und Handelsbetrieb, auch für die Betheiligung eiuer Volkswirt-
schaft am Aussenhandel und Weltverkehr mit in Betracht.
Von der Gestaltung dieser Verhältnisse hängt das Maass der rechtlichen
Zulässigkeit der internationalen wie der nationalen Arbeitsteilung und des be-
treffenden Verkehrs mit ab, in welcher Hinsicht dort das Freihandelssystem,
hier das System der Markt- und Gewerbefreiheit, beides Folgen des Princips
der Verkehrsfreiheit, der Betheiligung am Welthandel günstig sind.
Die grosse Entwicklung dos Weltverkehrs und z. B. auch des britischen Aus-
und Einfuhrhandels in neuester Zeit ist von der Durchführung des Freihandelssystems
mit abhängig gewesen. Die wichtigere, diesem Moment gegenüber nicht immer
gebührend gewürdigte Voraussetzung dafür lag aber in der ungeheueren Ver-
besserung der Communications- und Transportmittel. Diese hat Länder
von immer grösserer Verschiedenheit der natürlichen Ausstattung und der volkswirt-
schaftlichen Entwicklung bis tief ins Binnenland hinein und selbst für den Aus-
tausch von Artikeln niedrigen spccifischen Tauschwerths sich gegenseitig zugänglich
gemacht.
Vgl. für frühere Zeiten G. Schanz, englische Handelspolitik geggn Ende des
Mittelalters, 2. B.. Leipzig. 1881. Lexis, Abh. Handel im Schönberg’schen Handb.
B. 2, 8. A., u. Abschnitt VI und VII daselbst.
Der Identificirung von Ursache und Voraussetzung der Entwicklung des Welt-
handels und der einseitigen Betonung des handelspolitischen Moments haben sich die
Freihändler sehr oft schuldig gemacht, so auch in den emphatischen Verherrlichungen
der Zunahme des auswärtigen Handels in den letzten Jahrzehnten. Diese
Zunahme, welche die Handelsstatistik überall unzweifelhaft ergiebt, ist relativ in
den Ländern verschiedener Handelspolitik nicht immer sehr ungleich, was schon be-
weist, dass das Freihandelssystem nicht, wie man angenommen hat, der allein oder
auch nur der vorzugsweise maassgebende Factor sei, wenn auch dadurch einzelne
Richtungen des Handels mitunter besonders begünstigt sind (z. B. der englisch-
französische Handel). Die Statistik der inländischen Güterbewegung, wie sie be-
sonders die Eisenbahnstatistik liefert, zeigt dann aber noch genauer, dass der Ein-
fluss der verbesserten Communicationsmittcl auf den auswärtigen Handel mächtiger als
derjenige der Handelspolitik war. Der auf trockenen Strassen (Eisenbahnen'! erfolgende
Getreide-, Vieh- und Kohlenverkehr, der sich über Mitteleuropa zwischen Ungarn,
Polen, Russland, Frankreich und Italien bewegt, ist ein significantes Beispiel. Vgl.
hierüber auch Baxter im Journ. of the Statist, society in London vol. XXIX (1866),
3(34 3. B. Wirtschaft und Volkswirtschaft. 1. K. Wesen und Arten. §. 154.
p. 549, bes. 585 — 588. Fawcctt, Freihandel u. Zollschatz, übersetzt von Passow,
Berl. 1878, S. 14 hebt dies auch, aber noch nicht genügend, hervor.
2. Das Communications- und Transportwesen be-
günstigt nach dem ihm innewohnenden, auf rein physiealischen
Momenten beruhenden Entwicklungsgesetze den Verkehr zuvör-
derst und am Meisten auf der See, besonders an den Küsten
und in kleinen Meeren, ferner auf den natürlichen Binnenwasser-
strassen. Der Land verkehr entwickelt sich nothwendig später,
am Leichtesten noch in ebenem Terrain fruchtbarer Länder massiger
räumlicher Ausdehnung.
Vcrgl. den genialen Aufsatz E. Engel's über die Grenzen des Erfmdungs-
geistes im Transportwesen, Zeitschr. d. K. preuss. Stat.-Bur. 1SG4, S. 113 ff., auch
A. Wagner. Art. Schill fahrt in Ken tzsch’s Handwörterb. d. Volkswirshschaftslehre
(1866) S. 726 11'. Götz, die Verkehrswege im Dienst des Welthandels, 1888.
Aus diesen Verhältnissen erklärt sich , dass vielfach der internationale Verkehr
und damit die Weltwirtschaft sich früher entwickelt als der Verkehr zwischen ver-
schiedenen Landestheilen einer Volkswirtschaft, der „Fernverkehr “ früher als der
„Nahverkehr“, der Verkehr in Artikeln höheren spccifischen Tauschwerts (§. 140),
in Fabrikaten, Kunst- und Luxusartikeln und Consumptibilien der Reichen zwischen
verschiedenen Ländern früher und bedeutender als der Verkehr in schweren volumi-
nösen Massenartikeln des Inlauds, welcher vielfach im Binnenlande ferne von Strömen
erst eine Schöpfung des Eisenbahnzeitalters ist, so namentlich von grösster Bedeutung
der Getreide- und Kohlen verkehr.
3. Die verschiedene natürliche Ausstattung der Länder
und daher der Volkswirtschaften wreist auf eine gewisse Natur-
ge muss heit der internationalen Arbeitsteilung und
daher der Weltwirthschalt hin, woraus sich wesentliche Gründe
zu Gunsten des sog. Freihandelssystems ableiten lassen.
Eines der populärsten und relativ richtigsten Argumente der Freihandclstheorie,
dein auch Schutzzöllner beistimmen. So betont Fr. List in seinem nationalen System
stets die Zweckmässigkeit der internationalen Arbeitsteilung und des Freihandels
zwischen den Landein der gemässigten Zone und der Tropen. Die Möglichkeit der
internationalen Aibeitstheilung bei Freihandel wird daher auch regelmässig unter
den Vortheilen der Arbeitsteilung aufgeführt. Doch geht die Behauptung oft zu
weit. Denn einmal zeigt die allmäligc Verbreitung von Nutzpflanzen und Haus-
sieren nach fremden Ländern durch die menschliche Cultur, dass auch hier
nicht reine Naturverhältnisse, Klima u. s. w. entscheiden (Verbreitung des
Weinbaus, der Seidenzucht u. s. w.), (vgl. das schöne Buch von Hehn, Cultur-
pilanzen und Haustiere in ihrem Ucbergang aus Asien nach Griechenland und Italien,
sowie in das übrige Europa, 2. Aufl. Berl. 1874 und seitdem neue Auf!.). Sodann
liegen die Verhältnisse auch nicht immer so. wie in dem beliebt gewordenen Beispiel
Senior* s von den Kosten, welche es Grossbritannicn machen würde, seinen Thec-
bedarf im Innlande selbst zu produciren, statt ihn aus China zu decken (Folit. ccon.,
4. cd. 1S58, p. 76). Hier ist auch der v olkswirthschaftliche Nachtheil freilich evident,
in vielen anderen Fallen ist er aber jedenfalls gering, oft gar nicht oder nur kurz
vorübergehend voihanden (Tabak, Zucker u. A. m.) und andre, auch culturliche Vor-
theile (Einfluss der Industrie auf Städtewesen, bürgerliche Freiheit, höheres Geistes-
leben u. s. w.) fallen ausserdem ins Gewicht. Endlich zeigen neuere Erfahrungen,
besonders in Indien, dass auch das im Texte eiwähntc industrielle Arbeitsmonopol
der nördlicheren Ländern kein so absolutes ist, wie früher öfters, besonders in England,
von Theoretikern und Praktikern angenommen wurde. England fängt bereits an, die
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Momente für die Entwicklung der Weltwirtschaft.
365
Concurrenz der billigen asiatischen mit europäischer Technik ausgerüsteten Arbeit zu
fürchten und hat einigen Grund dazu. Vergl. z. B. Jagor, ostindisches Handwerk
und Gewerbe mit Rücksicht auf den europäischen Arbeitsmarkt. Berl. 1STS (Vortrag).
Seitdem sind, wie auch die Productious- und Handelsstatistik zeigt, schon erhebliche
Fortschritte in Asien, zumal Indien, Japan, in der Benutzung europäischer Technik,
Maschinerie in der Industrie gemacht und die Entwicklung des Eisenbahnwesens hat
die Concurrenzfähigkeit dieser Länder nicht nur für den Import, sondern auch für
den Export, freilich immer noch vorncmlich für Agrarproducte, gesteigert. — Hübsche
Darlegung, wie das menschliche Streben nach gewissen Thiercn, Pflanzen und Mine-
ralien den Weltverkehr begünstigt hat, giebt Kohl in „die natürlichen Lockmittel des
Völkerverkehrs“, Bremen, 1878.
a) Von besonderer Wichtigkeit ist das Klima in seinem Ein-
flüsse auf* organische Producte, auf die Ergiebigkeit des Boden-
anbaus in Land-, Forstwirthsckaft lind auf den wirtschaftlichen
Cbaracter, besonders auf die Leistungsfähigkeit und Arbeitsamkeit
der Bevölkerung. Weiter kommt in Betracht die natürliche Frucht-
barkeit des Bodens, die Verbreitung unterirdischer, durch Bergbau
zu gewinnender Producte, besonders der Metalle, unter denen Gold
und Silber von jeher den grössten Einfluss auf die Entwicklung
des internationalen Verkehrs und der Colonisation auslibten, neuer-
dings die Verbreitung der Mineralkohlen, das Vorhandensein von
Wasserströmen, welche sich als mechanische Triebkraft ausnutzen
lassen (z. B. in Gebirgsgegenden) u. A. m.
Steigende Bedeutung dieses letzteren Moments im neuesten Zeitalter der Ent-
wicklung der E lc c trotc c hnik. — Sonst war und ist doch von durchgreifender Be-
deutung für die Entwicklung der Weltwirtschaft vor Allein der Productenaustausch
zwischen den Ländern wärmeren und kälteren Klima’s, daher zwischen den
Tropen ländern einer und den Gebieten der gemässigten Zone andererseits,
also zwischen den betreifenden Theilen Americas, Asiens und Europa, ferner zwischen
Mittel-, Nord- und Sudeuropa. Hier kommen die Producte des klimatischen
Monopols mit den Producten des industriellen Arbeitsmonopols zum Aus-
tausch, denn wie die Natur im Süden die Bodenproduction , so begünstigt sie im
Norden mehr die industrielle Arbeit der Bevölkerung. Der Handel mit „Golonial-
waaren“, „Südfrüchten“ u. dgl. in., welche zum Austausch mit Industrie- und
M ontan producten kommen, bildet gewissermaassen die Axe des Weltverkehrs, be-
sonders des transatlantischen. Dieser Verkehr muss am Meisten als naturgemäss
bezeichnet werden. Handelspolitische Hemmungen können hier allerdings leicht zu
einem bedenklichen Rückschritt der internationalen Arbeitstheilung führen, was
doch immerhin auch von Producten wie Tabak, Wein, Zucker etwas gilt.
b) Ein zweiter berechtigter Haupttbeil des Weltwirtbschafts-
verkehrs wird durch den Austausch von M ontanprod ucten der
einen mit Agrar- und Industricprod ucten der anderen Länder
gebildet.
Doch ist die „Naturgemässhcit4* dieses Verkehrs insofern nicht so unbedingt als
diejenige des vorerwähnten vorhanden, weil die Entwicklung von Bergbau und Montan-
industrie nicht nur von der natürlichen Vertbeilung der Kohlen, Mineralien, Erze.
Metalle im Boden, sondern auch von der Ausbildung der Technik der Gewin-
nung und Verarbeitung und von der Rechtsordnung und deren Handhabung
abhüngt. Wie sehr dieses Moment grade auf den Bergbau von Einfluss ist, lehrt
366 Wirtschaft und Volkswirtschaft. 1. K. Wesen uud Arten. §. 154.
z. B. die neuere Geschichte Mexicos. Für Californien legte v. Richthofen in
seiner Schrift über d. Metallproduction Californiens (Petermaun’s geogr. Mitth., Er-
gänzh. 14, Gotha 1 8(54) in den 5üer und GOer Jahren das Hauptgewicht mit auf die
Reform des Bergrechts uud geordnete Rechtszustände, damit der grosse Metallreich-
thum des Landes allseitig ausgebeutet und das Land zu diesem Zwecke gehörig colo-
nisirt werden könne. Die Q u ecksil ber gewinnung sank in Folge von Processen,
welche die Einstellung der Arbeit in den Hauptgruben bewirkten, von 24.152 Flaschen
(Ausfuhr) in 1S5S auf 3399 Flaschen in 1859, 934$ in 1$G0, um 1S61 wieder auf
35,895 Flaschen zu steigen (a. a. 0. S. 42). Manche Belege ftlr die obige Auffassung
enthält Pechar, Kohle u. Eisen, Berl. 1878.
Oft veranlasst für ein Land nur das Zurückstehen in Technik und Rechtsord-
nung, nicht der Mangel dieser Producte in seinem Boden den Bezug der betreffenden
Artikel aus dem Auslande.
Dieser zweite Haupttheil des weltwirtschaftlichen Verkehrs
unterliegt daher viel mehr als der erste dem geschichtlichen
Wandel und Wechsel, im Zusammenhänge mit dem vierten
Puncte.
c) Ein dritter ebenfalls berechtigter Theil des Weltwirtb-
schaftsverkehrs betritTt die Ausgleichung der Deficite in
der Ernte wichtiger Nahrungsmittel, namentlich des Ge-
treides, zwischen verschiedenen Ländern , in Folge von M i s s -
wachs u. dgl. Die Länder bilden hier durch ihren Handelsver-
kehr einen grossartigen Assecu ranzverein und tragen die
Folgen eines solchen Elementarereignisses gemeinsam, so dass das
gerade von der Missernte betroffene Land wesentlich erleichtert
wird.
Neu mann (Wien), Uebersichten , Jahrg. 1S78, S. 8. Es ist diese Seite des
internationalen Getreidehandels von der allgemeinen Function desselben noch zu unter-
scheiden, nemlich den normalen Bedarf eines Landes au Getreide mit decken zu
helfen, dessen einheimische Production dazu nicht ausreicht.
4. Die Verschiedenheit der wirtschaftlichen Ent-
wicklung der einzelnen Volkswirtschaften, auch nach
den oben (§. 150) sogenannten typischen Phasen, und überhaupt
die Verschiedenheit der CulturundBildung der Völker ist ein Factor,
welcher stets den internationalen Verkehr und somit die Welt-
wirtschaft sehr erheblich mit beeinflusst hat und beeinflussen wird.
Jedoch nur soweit diese Verschiedenheit der Entwicklung auf mehr
oder weniger festen natürlichen Grundlagen, auf Klima,
Landesart, ganz oder fast ganz unabänderlicher Beschaffen-
heit der Bevölkerung (fester Kasseneigenthümlichkeit), beruht,
bewirkt der aus ihr hervorgehende Weltverkehr selbst wieder eine
einige rmaassen bleibende, „n atttrlic he“ Gestaltung der
Weltwirtschaft. Darüber hinaus unterliegt gerade dieser Verkehr
und mit ihm die jewei 1 i ge Gestaltung der Weltwirtschaft einem
grossen geschichtlichen Wechsel.
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Momente fiir die Entwicklung der Weltwirtschaft.
367
Man kann freilich auch hier von „ Naturgemässh eit“ der Weltwirtschaft
reden im Hinblick auf den natürlichen, wirtschaftlich richtigen Austausch zwischen
Ländern reiner und vorherrschender Agrarproduction und Industrieländern, zwischen
Ländern verschiedenartiger industrieller Entwicklung, sowohl was Gattung als was
Vollkommenheit der Erzeugnisse anlangt. Ein solcher Verkehr wird immer bestehen
und in einer bestimmten Periode in beiderseitigem Interesse durch Freihandels-
politik, d. h. durch zollfreien oder nur mit massigen Finanzzöllen belegten Aus-
tausch der sonst bloss die Handels- und Frachtspesen tragenden Güter gefördert
werden. Aber wenigstens innerhalb einer Gruppe von Ländern und Völkern von
nicht gar zu grosser Verschiedenheit der natürlichen Productionsbedingungen
und der Culturentwicklung, also z. B. innerhalb der europäischen und nordamerica-
nischen Welt, kann die Stellung als Agrarstaat und Industriestaat und vollends die-
jenige als Industriestaat der und der Art und Entwicklung gar sehr einem geschicht-
lichen Wechsel unterliegen und hat sie tliatsächlich demselben, sogar mitunter
innerhalb nicht sehr langer Zeiträume, unterlegen. Daher kann die jeweilige Ge-
staltung des Weltverkehrs meist nur als eine Phase der Entwicklung angesehen
werden.
Die Weiterbildung kann hier sogar wieder mehr zur Be-
schränkung auf den inner- ^ volkswirtschaftlichen Verkehr führen,
also insofern einen Rückschritt in der Weltwirtschaft bedingen
(Nordamerika seit dem Bürgerkriege, theilweise der europäische
Continent seit der Rückkehr zu verstärkter Schutzzollpolitik , zu
Agrarschutzzöllen im letzten halben Menschenalter), ein Rückschritt,
der sich vielleicht nur äusserlich mehr verbirgt, weil die Ver-
besserung der Communicationsmittel die absolute Grösse des ge-
sammten auswärtigen Handels steigert.
Jedenfalls beachtet dio radicalo Freihandelstheorie in ihrer Predigt von der
absoluten Richtigkeit der Freihandelspolitik für jedes Land in jeder Zeit die
bloss relative Berechtigung der Weltwirthschaft, welche in der verschiedenen
Entwicklungsstufe der Volkswirtschaften liegt, nicht genügend, auch abgesehen
davon, dass sie die Abhängigkeit höherer Cultur von weiter gediehener und feinerer
Arbeitsteilung, wie sie sich in der Industrie gegenüber dem rohen Ackerbau zeigt,
viel zu wenig berücksichtigt.
Fr. Li st ’s grosses Verdienst ist es. echt historisch diese bloss relative Be-
rechtigung des Freihandels und der Weltwirthschaft in seinem nationalen System
der Politischen Oekonomie dem kosmopolitischen System der britischen Schule
gegenüber nachgewiesen zu haben. Carey übertreibt den richtigen List’schen Ge-
danken gleich wieder und geht in seiner Polemik gegen das „britische System“ eben-
deshalb zu weif. Auch übersieht er in seiner These von der Nothwendigkeit, dass
Ackerbauer und Industrieeller nebeneinander sitzen sollen, um „unproductivo“
Fracht- und Handelsspesen zu ersparen und in den Schlüssen, welche er gegen den
Freihandel und das kritische nationalökonomische System und damit gegen die Welt-
wirthschaft zieht, dass im Inland o ein solches Nebeueinanderwoknen von Acker-
bauern und Industriellen auch nur partiell erfolgt und dass andre wichtige wirt-
schaftliche Gründe für die rä u m liehe (provinciale. locale) Couccntration der
Industrie sprechen, was dann Fracht- und Handelsspesen, wenn auch innerhalb der
heimischen VolKswirtkschaft. doch unvermeidlich macht. Ist vollends das Inland
ein so grosses Gebiet, wie die Vereinigten Staaten von Nordamerica, mit grosser Ver-
schiedenheit der klimatischen, Boden-, Bevölkerungs- und Culturverhältnisse der ein-
zelnen Landestheile . so tritt auch hier eine breite räumliche Trennung der vorherr-
schenden Agrarproduction und Industrie ein (die Staaten an den grossen Seen — dio
atlantischen Küstenstaaten, Neu-England, Newyork). Eine internationale Arbeits-
theilung und ein wel t wirthschaftlicher Verkehr zwischen Eugland und Theilen der
Vereinigten Staaten ist, zumal bei Wasserverbindung, auch volks wirthschaftlich ebenso
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3ß8 s* B. Wirtschaft und Volkswirtschaft. 1. K. Wesen und Arten. §. 154.
zweckmässig, als eine territoriale Arbeitsteilung zwischen Massachusetts und
Jowa. Die von der britischen Nationalökonomie mitunter überschätzten cultur-
lichen und politischen Folgen der Weltwirtschaft werden endlich von Carcy
ebenso einseitig unterschätzt. Das Napoleonische System der gemässigt liberalen
Handelsverträge hat z. B. gewiss für Frankreich England gegenüber auch politisch-
günstige Folgen gehabt.
Nicht geleugnet werden kann in Betreff der von ireibändlerischer Seite öfters
zu panegyrisch behandelten Entwicklung der Weltwirtschaft freilich auch, dass die
locale Trennung von Producent uud Consument, die Abhängigkeit von fremden poli-
tischen Ereignissen (britische „cottou farnine“ durch den nordamericar.ischen Bürger-
krieg) und von fremder egoistischer „nationaler“ Handelspolitik (Nordamerica, Mac-
Kinleybill, Ib'Jl. Russland gegenüber West- und Mitteleuropa), dass die grössere
Gefahr von Ueberproductionen und Handelskrisen , die auch politische Gefahr, in
Betreff der Hauptnahrungsmittel vom Ausland uud vom nicht immer politisch hin-—'
länglich gesicherten Bezug über See, über fremde Länder abhängig zu sein, dass die
einseitige Begünstigung des Händlerthums, die Notwendigkeit , Fabrikatenexport zu
erzwingen mittelst niedriger Arbeitslöhne und damit Niederhaltung der Consumtions-
kraft der Massen im Inland, Ruin althistorischer nationaler Industrien und damit
von Cultur im Auslande (Asien) und mittelst mühseliger Eröffnung fremder Märkte zum
Absatz (Colonieen der Gegenwart) — nicht geleugnet kann doch werden, dass dies Alles
missliche, zum Theil recht bedenkliche Folgen der ,.weltwirthschaftlichen“ Entwick-
lung siud, worüber man nicht so leicht hinweg sehen sollte.
Wie zwischen dem Standpuncte der Einzel- und Volkswirt-
schaft (§. 151 am Schluss) ist auch wieder zwischen demjenigen
der Volks- (bzw. einer einzelnen bestimmten Volks-) und
der Welt Wirtschaft, oder zwischen dem nationalen und kosmo-
politischen Standpuncte bei den einzelnen Fragen, Interessen
u. s. w. zu unterscheiden. Der erstere Standpunct ist — wenig-
stens in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung und wohl noch
für lange, wenn nicht für immer — voran zu st eilen. Gerade
sehr wichtige Fragen (Schutzzoll — Freihandel, Militärwesen,
Arbeiterfrage, agrarische, gewerbliche Frage!) erlangen von diesen
beiden Standpunetcn aus eine öfters wesentlich verschiedene Ent-
scheidung.
Die physiokratisch-smithische Oekonomik neigt zu sehr zur kosmopolitischen
Auffassung, die mercantilistisch-proctectionistische übertreibt mitunter die nationale.
Aber principicll und practisck ist sie doch im Ganzen die richtigere. Auch hier hat
sich besonders List Verdienste erworben, während Carcy schon wieder zu ein-
seitig ist.
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Das Leben der Einzelwirtschaft in der Volkswirtschaft.
369
Zweites Kapitel.
Das Leben der Einzelwirthschaft in der
Volkswirthschaft.
§. 15'*. Vorbemerkung und Litteratur.
Es ist eine unhaltbare Fiction der Volkswirtschaftslehre, besonders in der
Smith sehen Schule, dass die Veränderungen im Werte und zum Theil in den Ob-
jecten selbst im Guterbestand einer Wirtschaft und eines Vermögensbesitzes immer
auf bestimmte Thätigkeitcn des Wirthschaftssubjccts, vollends auf solche mit
einem bestimmt gewollten wirt hschaftlichen Ergebniss, zurückgefübrt
werden. Auch die strengere deutsche Wissenschaft hat sich von dieser Fiction nicht
genügend frei gehalten. Sie hängt auch mit der atomistisch-individualistischeu Auf-
fassung der Volkswirthschaft auf das Engste zusammen. Einzelne theoretische Lehren
sind durch diese Fiction vollständig verkehrt geworden, so namentlich die Lehre von
der privaten Kapitalbildung durch individuelle Ersparung der Producte dos eigenen
Arbeitsertrags des sparenden Wirthschaftssubjects (vergl. Theil II der Grundlegung).
Die These, welche die Smith sehe Nationalökonomie, besonders die sogen. Manchester-
richtung, aufgestellt hat, dass ncmlich Jedermann vollständig allein „seines eigenen
wirtschaftlichen Glücks Schmied*4, allein für sich verantwortlich sei und der Staat
sich nicht weiter um das wirtschaftliche Ergehen der Individuen zu kümmern habe,
ist nur eine richtige Consequenz jener Fiction. Die letztere muss nun teils gänz-
lich aufgegeben, teils erheblich eingeschränkt werden. Es ist zu unterscheiden
zwischen denjenigen Veränderungen des Wirthschafts- und Vermögcusbestands einer
Person, welche durch die spontane Thätigkcit der letzteren erfolgen, und den-
jenigen Werth Veränderungen, insbesondere Tau sch werthveränderungen, welche un-
abhängig von solcher Thätigkeit durch ganz allgemeine Ursachen, über
welche der Einzelne wenig oder gar keine Macht hat, vor sich gehen. Diese Unter-
scheidung wird im Folgenden streng durchgefuhrt.
Für die in diesem Werke vertretene organische oder sociale Auffassung der
Volkswirthschaft sind die Veränderungen der zweiten Art besonders wichtig: grade
weil die Einzelwirtschaften Glieder der Volkswirtschaft sind, werden sie von
allgemeinen Vorgängen in der letzteren, ohne ihr eigenes Zuthun, oft so maass-
gebend berührt. Ganz übersehen worden ist dies natürlich auch früher nicht. So hat
Kau diese Fälle der zweiten Art wenigstens zum Theil mit erwähnt, wo er von den
Veränderungen der Preise (I, §. (36), des Geldwerths (§■ 174) und den Vcrändeiungen
im Volksvermögen handelt t,§. öS, 09). Aber er zieht daraus fast gar keine weiteren
Consequcnzen. Im §. 69 heisst es z. B.: „ohne eine im Stoff der Vermögenstheile
vorgehende Veränderung kann der Werth derselben vergrössert werden, a) . . . und
b) durch äussere Umstände, welche die Folge haben, dass ein höherer Werth in den
Sachgütern erscheint“. Als Beispiele nennt er Werthvermehrung von Häusern und
Ländereien an einer Eisenbahn, einer Strasse in der Stadt u. s. w. und fügt nur hinzu,
diese Gattung von Fällen der Werthvertnehrung sei von der Production „in vielen
Hinsichten verschieden“. Viel eingehender und mehrfach einer echt socialen Auf-
fassung entsprungen sind die Erörterungen Hermann ’s über „den Zu- und Abgang
von Gütern durch Wertherhöhung und Werth Verminderung derselben“ (Untersuchungen,
2. A., S. 132 ff.), wo Veränderungen im Gebrauchswerthc, im Tauschwerte und iu
beiden zugleich unterschieden und an dem besonders wichtigen Falle der Getreide-
theuerung nach Missernten die Folgen solcher Veränderungen für die Einzelnen, die
Volksdassen und die ganze Volkswirthschaft trefflich dargelegt werden. S. auch
v. Mangold t, Grundr. §. 13, 134, 135. Aber eine vollständig principielle Behand-
lung der Einflüsse der „Con juuctu r‘* ist vornemlich doch erst den socialisti-
schen Theoretikern zu verdanken und Keiner hat darin jeno oben erwähnte Fiction
so scharf und glänzend abgefertigt, als Lassalle in seiner Schrift über Kapital u.
Arbeit, besonders Kap. 1, u. a. namentlich S. 27 ff. Der Kern dieser Argumentation
ist richtig und ein bleibender wissenschaftlicher Gewinn von grosser Bedeutung.
Scbäffle im Kapitalismus S. 405 ff. suchte dies in Bezug auf den „fatalistischen“
Einfluss der Conjunctur auf den Arbeiter noch zu widerlegen. S. indessen später
Schäfflc. Syst. I, 182 ff. u. Soc. Körper III, 450, II, 297, Lange, Arbeiterfrage 3. A.
A. Waguer, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Tlioil. Grundlagen. 21
370 3.B. Wirtbsch. u. Volkswirthsch 2.K. Leben d. Ei nzelwirt lisch. l.A. §. 155 — 157.
Kap. 2 und 3. Nicht klar ist Lindwurm’s Stellung, s. Eigentumsrecht S. 300 ff.
Er polemisirt halb und halb gegen meine Auffassung, könnte aber grade an der
„Conjunctur“ sehen, dass seine These von dem Bedingtsein der Production durch die
freie Individualität der Urheberschaft partiell eine petitio principii ist gegenüber dem
tatsächlichen Zustande der Volkswirtschaft, wo grado diese „Zusammenhänge“ die
Production bedingen. — Die Lehre von der Conjunctur hängt eng mit der Lehre
von der Entstehung der Wirtschaftskrisen in unserem heutigen System der freien
Concurrenz zusammen. S. darüber Rodbort us, Soc. Briefe N. 2 u. Fr. Engel’s,
Dtihring’s Umwälzung, Absch. 3, Kap. 2 u. 3. Es gilt jetzt, der Conjunctur im
System der Volkswirtschaftslehre ihre richtige Stellung einzuräumen und ihre Func-
tion klar zu legen.
Eine allgemeinere Annahme hat die hier vertretene Auffassung auch seit dem
Erscheinen der 2. Aufl. dieses Werks (1879), soviel ich sehe, bisher in der theore-
tischen Nationalökonomie noch nicht gefunden. Bei der Erörterung über ßpeculation,
Börse und Börsentreiben, Cartelle u. dgl. m. ist man wohl auf einige Poncte, wie die
hier von mir behandelten, gekommen (G. Cohn), aber ohne zu einer allgemeineren
principiellen Behandlung zu gelangen, auch wohl mehr mit Ablehnung meiner leitenden
Gesichtspuncte in der Frage. Ich habe mich trotzdem nur immer mehr davon über-
zeugt, dass die Lehre von der Conjunctur eine wichtige Stelle schon in der „Grund-
legung“ einzunehmen berechtigt ist. Mit dem Cohn’schen Einwand, dass die Börsen-
speculanten die zukünftigen Preise und Curso allmälig immer richtiger im Zeitgeschäft,
im Terminhandcl zu treffen lernten, wie man auch statistisch feststellen könne (§. 169).
halte ich meinen Standpunct durchaus nicht erschüttert, ganz abgesehen von der
unsicheren „inductiven“ Beweisführung mit dem bisherigen Material. Vgl. übrigens
passim Manches in G. Cohn ’s Nationalökonomie, bes. im 3. Hauptabschnitt Kap. 2
(Verkehr) und dess. Aufs, über Differenzgeschäfte in den volkswirthsch. Aufsätzen
(1882, S. 669), sowie die in §. 168 genannten weiteren Arbeiten.
1. Abschnitt.
Der Wirtkschaftsbetricb und die selbständige Function oder
die active Seite der Einzelwirthschaft.
I. — §. 156 [63]. Einleitung. Das doppelseitige
Leben der Wirthschaft. Jede Einzelwirthschaft „lebt“, d. h.
sie wirkt zweckbewusst mit ihrem Willen, ihren Handlungen und
Unterlassungen auf die Aussenwelt ein und sie unterliegt unab-
hängig von ihrem Willen und ihrem Thun und Lassen dem Ein-
flüsse der Aussenwelt. Ihre Entwicklung, ihr Gedeihen wie ihr
Verfall ist stets das gemeinsame Product dieser ihrer Function
einerseits und dieses Abhängigkeitsverhältnisses andrerseits. Die
Wirthschaft ist dort activ, hier oft ausschliesslich, sonst über-
wiegend, immer mehr oder weniger, passiv. Es ist nothwendig,
sie nach dieser activen und passiven Seite zugleich zu betrachten.
Gewöhnlich hat man nur die erstere berücksichtigt.
A. Das zweckbewusste Einwirken der Wirthschaft auf die
Aussenwelt hat zum Ziel die Erwerbung und Verwendung von
wirtschaftlichen Gütern für die Aufgaben, welche das Wirthschafts-
subject sich stellt oder stellen muss. Dieses Wirken der Wirthschaft
führt nothwendig zu einem beständigen, dem natürlichen Stoff-
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Doppelseit. Leben der Wirthsch. Wirthschaftsbetrieb.
371
Wechsel real analogen Wech sei in den (naturalen) Bestand-
th eilen der Gütermasse, Uber welche die Wirtschaft jeweilig
lllr ihre Thätigkeit verfügt. Dieser auf den bewussten Willen s.
acten des Wirtlischaftssubjects, daher auf seinen bezüglichen
Handlungen und Unterlassungen beruhende Wechsel im Güterbe-
stand der Wirtschaft kann Wirthschaftsbetrieb oder Wirt-
schaft sprocess genannt werden. Er ist meistens ein „äusserer“,
durch Zu- und Abgänge von Gütern, also mit den Gütern
selbst sich vollziehender Wechsel : bestimmte einzelne wirtschaft-
liche Güter gehen zu und ab, wie es die Zwecke des Wirtschaften
grade mit sich bringen, — „Güter- Wechsel “.
B. Der Einfluss der Aussenwelt, welcher sich unabhängig vom
Willen und der Thätigkeit der Wirthschaftssubjecte auf die Wirt-
schaft und ihren Güterbestand geltend macht, führt dagegen im
letzteren zu einem „inneren“ Wechsel: die Güter selbst bleiben,
aber sie verändern ihren Werth, ihren concreten Ge-
brauchswert für das Wirthschaftssubject oder für Angehörige
desselben, und in der Volkswirtschaft ihren Tausch werth,
indem mit ihnen oder mitdenBeziehungen der Menschen
zu ihnen Veränderungen vor sich gehen, — „ We rth Wechsel“.
Dies ist ein Umstand von entscheidender Bedeutung für die eigent-
lich volkswirtschaftliche Betrachtung des „Lebens der Wirtschaft“.
Von diesem inneren oder Werth Wechsel bandelt der folgende 2. Abschnitt.
§. 163 fl.
II. — §. 157 [64]. Wirthschaftsbetrieb und äusserer
Wechsel im Güterbestand der Wirth Schaft.
A. Wesen dieses Wechsels.
1. Auch ausserhalb jedes Verkehrs führt die Einzel-
wirtschaft, die Individual- und Familienwirthschaft, in der Eigen-
gewinnung und in der Verwendung der Güter für die unmittelbare
Bedürfnissbefriedigung ihrer Angehörigen oder zum Eigen co ns um
der Familie u. s. w. einen „Betrieb“, weicher notwendig mit Ab-
und Zugängen von Gütern den Zwecken und Zielen der Wirt-
schaft gemäss verbunden ist.
Die Eigengewinnung neuer Güter, speciell der Sachgüter macht regelmässig eine
Aufopferung vorhandener Güter oder sogen. Prod uctionsko sten (§. 142)
erforderlich, an Rohstoffen, die verarbeitet, an HilfsstofTen, die dabei verbraucht, an
Werkzeugen u. dgl. m., die abgenutzt werden. An Stelle dieser ab gehenden Güter
treten die neuen Güter hinzu. Die Bedürfnissbefriedigung mit den Gütern, die Ver-
wendung derselben ihrem concretcn Zweck gemäss, zur Ernährung, Erwärmung, Be-
kleidung u. s. w. führt andere Güterabgänge mit sich, ist aber gleichzeitig die
Voraussetzung für die Erhaltung und Erneuerung der Arbeitskraft, also auch wieder
die Voraussetzung für die Eigengewinnung, mithin für den Zugang neuer Güter.
24*
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372 3. B. Wirthsch. u. Volkswirthsch. 2. K. Leben d. Einzelwirtlisch. 1. A. §. 15S.
2. In der Volkswirthsc baft oder m. a. W. bei den in
Verkehr stehenden Einzelwirthschaften ändert sich dieser äussere
Güterwechsel, welcher in der Eigenproduction und im Eigenconsum
stattfindet, an sich nicht. Nur tritt neben die Eigenproduction die
„verkehrsmässige“ Erlangung der Güter, nebst etwaigen
sonstigen Erwerbsarten, wie sie in §. 115 aufgeführt worden sind.
Dadurch entsteht dann eine Reihe verschiedener Formen des Zugangs von
Gütern, denen auf der anderen Seite eine gleiche Reihe von Abgängen bei der
anderen betheiligten Wirthschaft neben dem Abgang durch Consuin und durch Ver-
wendung bei der Production entspricht. Für alle diese Zu- und Abgänge, oder
Ein- und Ausgänge, durch welche Güter in die Verfügungsgewalt des leitenden
'Wirthschaftssubjects treten oder aus derselben ausscheiden, lässt sich ein Schema auf-
etellen, wie es in §. 160 geschieht.
Der Eigenproduction gegenüber sind alle anderen Erwerbsarten
einer Wirthschaft oder Zugänge der Güter zu ihr abgeleitete
oder derivative, welche nothwendig aus der Eigenproduction
irgend einer anderen Wirthschaft herrühren müssen (§. 115 ff.).
B. — §. 158 [65, 66J. Die Verträge für die verkehrs-
mässige Erwerbung derGüter, insbesondere dieCredit-
verträge. Diese abgeleitete Erwerbung setzt nothwendig eine
bestimmte Rechtsordnung voraus, auf Grund deren sich der
Verkehr vollzieht. Es muss hier zunächst ein Eigen thums-
recht der Wirthschaft an den von ihr erzeugten Gütern und, in Ver-
bindung damit oder als Consequenz desselben, ein Recht der Wirth-
schaft anerkannt sein, die Güter an Andere entgeltlich nach eigenem
Ermessen und meistens — so im „freien“ Verkehr, bei „freier
Concurrenz“, die freie Ueberlassung von Gütern nach irgend welchen
von einer Autorität festgestellten Taxpreisen gehört jedoch auch
hierher — nach Bedingungen, welche die Betheiligten allein und
frei unter sich feststellten, zu überlassen: das Vertragsrecht.
Die nähere Betrachtung dieser allgemeinen Rechtsbasis des Verkehrs erfolgt im
5. Buche, diejenige des Eigenthums und Vertragsrechts im zweiten Theile der Grund-
legung (Volkswirthschaft und Recht, besonders Vermögensrecht).
Hier ist nur daran zu erinnern, dass die im Verkehr in Be-
tracht kommenden Verträge sich nach §. 143 ökonomisch auf
zwei Ilauptformen zurückführen lassen:
1. Verträge, durch welche die Vertragschliessenden gleich-
zeitig Leistung und Gegenleistung durch Hingabe und Empfang
der Güter vollständig zur Ausgleichung bringen, so dass die
betreffenden Gebrauchs werthe der Güter vom Empfänger sofort
realisirt werden können. So ist es bei dem wichtigsten Fall der
bezüglichen Verträge im Verkehr: beim Tauschvertrag und, in
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Verträge für verkehrsmäss. Gütererwerbung.
373
der Geldwirthschaft, beim Ka u fvertrag, dem eigentlich typischen
oder Normalvertrag der verkehrsmiissigen Erlangung der Güter.
2. Verträge, durch welche die gegenseitige Ueberlassung von
Gütern ohne volle Gleichzeitigkeit von Leistung und Gegen-
leistung festgestellt wird, wo daher wegen des hier zwischen den
Leistungen liegenden — einerlei ob ganz kleinen oder sehr grossen
— zeitlichen Zwischenraums (Intervalls) von der noch nicht
oder noch nicht voll befriedigten Partei Vertrauen auf die Zu-
sicherung der künftigen (Gegen-)Leistung gewährt werden muss:
die nach der früheren Begriffsbestimmung von Credit als Credit-
verträge zu bezeichnenden. Die betreffenden Verkehrsgeschäfte,
durch welche Güter in dieser Weise zwischen zwei Einzelwirth-
schaften übergehen, sind Creditgeschäfte.
S. für alles Weitere vorläufig die oben S. 345 genannte Litteratur, insbesondere
meine Abh. Credit im Scbönberg’schcu Handbuch B. I im Abschn. I (3. A. S. 374
bis 415), Hier werden jetzt nur einige Puncto noch hervorgehoben, an welche un-
mittelbar im Folgenden anzuknüpfen ist.
Die Gegenleistung im Creditgeschäft kann bestehen in der
Rückgabe des übergebenen wirtschaftlichen Gutes selbst oder in
derjenigen seines Werthes. Ausserdem kann sie verbunden sein,
und ist dies in der heutigen wie in aller bisherigen Volks Wirt-
schaft in der Regel auch, mit einer Vergütung für die Ueber-
lassung der creditirten Güter, d. h. mit einem Zinse (Leih zinse).
Im Creditgeschäft ist dann zu unterscheiden:
a) Die einer Wirtschaft zur Verfügung durch den Credit
überlassenen Güter können juristisch iu das Eigenthum dieser
Wirtschaft übergehen, scheiden also aus demjenigen der creditiren-
den Wirtschaft juristisch aus.
Dies findet statt mit deu sogen, fungiblen oder vertretbaren Gütern, ins-
besondere daher auch mit dem Gel de. Das wichtigste hierhergehörige Creditgeschäft
ist das Darlehn. Hier wird nur die Rückgabe desselben Werths versprochen
und bleibt der creditirenden Wirtschaft ein Forderungsrecht für den Betrag
dieses Werths.
b) Die im Wege des Credits überlassenen Güter können aber
auch im Eigenthum des Creditors bleiben und nur aus seinem
Besitz ausscheiden, indem der letztere und damit die daraus
fliessende Nutzniessung einer anderen Wirtschaft überlassen
wird.
So in Mieth- und Pachtgeschäften, welche Sclaven, Grundstücke, Gebäude,
bewegliche Guter zum Gegenstände haben. Hier wird die Rückgabe desselben Ob-
jects (Species) versprochen.
Die im Wege des Credits aus der unmittelbaren Verfügung einer Wirtschaft
(also derjenigen des Gläubigers) ausscheidenden Güter bleiben auch im ersten
Falle (Darlehn u. s. w.) als Rechte auf eine Handlung des Schuldners, nemlich den
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374 3.B. Wirthsch. u. Volkswirthsch. 2. K. Leben d. Einzelwirthscli. 1. A. §. 158, 159.
Werth der Guter zurückzugeben, — oder als (passiv ausgedrückt) Obligationen,
(activ ausgedrückt) Forderungsrechte — doch ihrem Werthe nach Bestandteile
des Vermögens dieser Wirtschaft, bilden daher als Schulden keinen, wenigstens
keinen positiven Bestandtheil des Vermögens derjenigen Wirtschaft (des Schuldners),
an welche die Verfügung über sie übertragen worden ist.
Die juristiche Auffassung des Vermögens anerkennt positive und nega-
tive Bestandteile desselben, Activa und Passiva, vergl. z. B. Puchta, Pandecten
§. 84: die Sache Grundlage des Vermögens; Vermögen: „Gesammtheit der Rechte
einer Person, die entweder in der Macht über eine Sache bestehen, oder in dieser ihr
Aequivalent finden“: ..ein Gegenstand, den ich einem Anderen zu leisten verpflichtet
bin, hat dadurch specifisch nicht aufgehört zu meinem Vermögen zu gehören, aber
er geht dem Werthe meines Vermögens ab“. Deshalb sind die Schulden als
passiver Bestandtheil des Vermögens unter diesem zu begreifen, Hiernach existirt
Vermögen einer Person, einerlei in welchem Verhältniss die activen uud passiven
Bestandteile desselben stehen mögen. Berufung auf L. 49 D. de V. S. < 50, 16),
L. 39 §. 1 eod., L. 8 pr. D. de bonor. possess. (37. 1). Vergl. auch ebendas. §. 219
Über den Begriff der Obligatio: „die Obligatio enthält für den Gläubiger, der ein
Recht (Forderung) an einer Handlung des Schuldners hat, eine Vermehrung seines
Vermögens, nur dass der spccifische Bestandteil, der diese Vermehrung bildet, sich
noch in dem Vermögen eines Anderen befindet, der ihn schuldet“, umgekehrt dann
für den Schuldner. Hiernach kann also juristisch ein Sachwert gleichzeitig
im Vermögen zweier Personen, des Gläubigers und des Schuldners, stehen. Für
die wirthschaftliche Betrachtung ist es richtiger, in Abweichung von dieser
juristischen, unter Vermögen nur den Activrest, der nach Abzug der Schulden
bleibt, zu verstehen.
Die mittelst eines Creditgeschäftes überlassenen Güter können
von der empfangenden Wirtschaft zur blossen unmittelbaren Be-
dürfni8sbefriedigung (Consumtivcredit) oder zur Herstellung
neuer wirtschaftlicher Güter mit ihrer Hilfe (Productiv credit)
bestimmt und verwendet werden. Der Consumcredit waltet auf
niedrigeren Wirthschaftsstnfen und später unter gewissen Classen
(untere bedrängte, dann höhere verschwenderische), der Productiv-
credit immer mehr auf höheren Wirthschaftsstufen bei scharfer
Ausbildung des Privateigenthums (auch am Boden) und der Ver-
tragsfreiheit, sowie bei weitgehender Arbeitstheilung
vor, besonders bei derjenigen, wto sich die Berufe und Unter-
nehmungen immer mehr auf die Herstellung bestimmter einzelner
Güter beschränken, daher immer weiter theilen. Namentlich erweist
sich sonach der Productiv credit als ökonomischer Factor der
auf Privateigenthum an Grundstücken und beweg-
lichen Kapitalien basirten, freie Concurrenz zulassenden
Volkswirtschaft. Er knüpft sich an den Vermögensbesitz
(§. 124), nicht an das Vermögen als rein ökonomische Kategorie
an und erscheint wie ersterer daher doch selbst nur als histo-
risch-rechtliche Kategorie.
In der mo dornen Volkswirtschaft überträgt der Credit die Benutzung von
Grundstücken, Gebäuden und beweglichen Kapitalien, besonders von Geld von einer
Wirtschaft in die andere. In der antiken Volks Wirtschaft spielte die Vermietung
von Sclaven daneben eine Rolle.
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Hauptarten des äusseren Güterwechsels.
375
S. meinen Artikel Credit im Handwörterbuch von Rentzsch, S. 193, im Schön-
berg'schen Handbuch 3. A. I, 382 ff. — Ueber die Verschuldungsursachen im alten
Rom s. Ihering, Geist d. röm. Rechts, II, 2. (3. Aufl.) S. 234 ff. (.Quellen des
Pauperismus, Ernteschwankungen, Kriegsdienst, Sclavenconcurrenz). Ueber Griechen-
land: Büchsen schütz, Besitz und Erwerb in Griechenl. S. 194. — Auf den innigen
Zusammenhang von Privateigenthum und Credit und darauf, dass der Creditverkehr
mit allen seinen Folgen wieder eine nothwendige Folge grade nur der auf
Privat-, Grund- und Kapitaloigenthum basirten Volkswirtschaften ist. hat
mit genialen Gedankenblitzen Rod bertus-Jajetzow hingewiesen. Vgl. seine Credit-
noth des Grundbesitzes II. 269 fT. und schon die ältere Schrift: Die heutige proussi-
schc Geldkrisis, Anclam 1845.
Seine volkswirtschaftlich nützliche Wirkung hat
der Credit immer dann, aber auch nur dann, wenn die durch ihn
übertragenen Güter von der empfangenden Wirtschaft besser als
von der hingebenden verwendet werden: der Productivcredit daher,
wenn der Schuldner mehr und bessere Güter mit Hilfe des Credits
berstellt, als es der Gläubiger im Besitze der überlassenen Güter
gethan hätte.
Es ergiebt sich übrigens hierbei auch, wenn man den letzten Zweck aller Volks-
wirtschaft in3 Auge fasst, nemlich die möglichst reichliche und zweckmässige Be-
dürfnissbefriedigung der gesammten Bevölkerung, dass der Consumtivcredit wohl
einzel- (privat-) wirtschaftlich, keineswegs aber immer volkswirtschaftlich zu ver-
werfen ist, namentlich nicht bei einer sehr grossen Ungleichheit des Privatver-
mögens. Consumtivcreditbenutzungen zur Hebung wirklicher Noth des Schuldners
oder zur Erlangung von Mitteln zu geistiger Ausbildung (in welchem Falle der Gon-
sumtiveredit wenigstens bei Anerkennung der wirtschaftlichen Güterqualität der per-
sönlichen Dienste, §. 141, auch Productivcredit würde) oder zur Herstellung der Ge-
sundheit sind Beispiele,
§. 159 [67—69]. Die Hauptarten des äusseren Güter-
wechsels.
Der populäre, der Sprachgebrauch der Praxis und der wissenschaftliche sind
hinsichtlich der Ausdrücke Einnahmen und Ausgaben schwankend Die Ein-
gänge aus Creditoperationen werden z. B. im Privat- wie im Staatshaushalte gewöhn-
lich zu den Einnahmen gerechnet, aber als „ausserordentliche“ von den
„eigentlichen“, „ordentlichen“ unterschieden. Aehnlich werden Schuldrück-
zahlungen, Darlehcnsgcwährungen wohl zu den (ausserordentlichen) Ausgaben
gerechnet. In der theoretischen Volkswirtschaftslehre ist die hier gemachte Unter-
scheidung, deren praktische Bedeutung doch klar ist, meistens gar nicht beachtet
worden. Hermann, Untersuch. S. 129 stellt z. B. die Formen der „Mehrung und
Minderung der wirtschaftlichen Güter in einer Einzel Wirtschaft“ als Güterzugang
und Güterminderung zusammen, ohne die Credit- Ein- und -Ausgänge auch nur zu
erwähnen. Er hat also eigentlich nur die Verm ö ge ns Veränderungen in der Wirt-
schaft im Sinne, worin aber die Güterzugänge und Minderungen in der Einzelwirt-
schaft durchaus nicht aufgehen. Auch Rau I, §. 70 will hier wie in dem ganzen
3. Abschnitt §. 68 ff. nur von den Veränderungen des Vermögens sprechen, und
braucht in Bezug hierauf die Worte Einnahme und Ausgabe, übersieht also auch die
Bedeutung der fremden Güter im eigenen Wirthschaftsbetrieb (seine Definition
von Einnahmen i. w. S. als „die sämmtlichen neu in den Besitz einer Person ge-
langenden Werthmengen“ könnte sich allerdings auf Wirthschaft-, nicht nur auf
Vcrmögenszugänge beziehen, doch denkt Rau hier nur an letztere). Roscher I,
§. 144 beschränkt den Begriff Einnahme auf Zugänge ins Vermögen („alle Güter,
die innerhalb einer gewissen Periode neu ius Vermögen treten“ iucL Geschenk,
Lotteriegewinn, Erbschaft u. s. w.) — Es ist m. E. ein entschiedenes wissenschaftliches
Bedürfniss, um den realen Verhältnissen der cinzelwirthschaftlichen Processe in der
376 3. B. Wirthscli. u. Volkswirthseh. 2. K. Lebend. Einzelwirthscb. 1. A. §. 159.
Volkswirtschaft Rechnung zu tragen, die Ein- und Ausgänge in der Wirthschaft
und im Vermögen zu unterscheiden und dafür empfiehlt sich die im Texte vor-
genommene Beschränkung der Begriffe Einnahme und Ausgabe auf Vermögens-
veränderungen. Ich halte diese Terminologie im weiteren Verlaufe fest und bringe
sie auch in der Finanzwissenschaft zur Anwendung. Vergl. diese. 2. A. I, §. 50 ff.,
3. A. I, S. 131 u. die Ausführungen im Schön b erg’ sehen Handbuch B. III, bos. 3. A.,
in meiner Abh. Ordnung der Finanzwirthschaft; hier und in der Finanzwissenschaft
sind auch die Abschnitte über Etats-, Kassen-, Kechnungs-, Controlwesen zu beachten,
wo die Unterscheidungen unmittelbar ihre grosse practische Bedeutung zeigen. Hier
und für die practischen Aufgaben der Buchführung in allen Arten von Haushalten
sowie für stati stisc h e Untersuchungen ist eine solche bestimmte Unterscheidung und
feste Terminologie überall nothwendig, was A. Held in seiner Bemerkung in Hilde-
brand’s Jahrb. B. 26 S. 153 verkennt.
Eingänge (Zugänge) sind diejenigen Güter, welche in die
rechtliche und thatsächliche Verfügung des Wirthschaftssubjects
für die Zwecke des Wirthschaftsbetriehs neu ein- oder zurtick-
treten; Ausgänge (Abgänge) umgekehrt diejenigen, welche
aus dieser Verfügung aus- oder wieder austreteu. Man kann von
beiden vier Hauptarten unterscheiden: 1) Einnahmen und Aus-
gaben, 2) Ein- und Ausgänge in Folge von Creditgeschäften,
3) scheinbare (nominelle) Ein- und Ausgänge, 4) Uebergänge
zwischen den zwei Abtheilungen der Wirthschaft.
1. Einnahmen sind Eiugänge, welche nicht nur die zur
Verfügung des Hechts- und Wirthschaftssubjects stehende Güter-
menge, sondern zugleich das Vermögen dieser Person vermehren
und anderseits Ausgaben sind Ausgänge, welche nicht nur jene
Gütermenge, sondern zugleich das Vermögen des Wirthschafters
v er m i n d e r n.
Die Begriffe „Einnahme“ und „Ausgabe“ sind also enger als diejenigen von
„Ein- und Ausgang“, indem die Einnahme sich nicht mit auf die durch den Credit
zur Verfügung des Wirthschafters erlangten fremden Güter und die „Ausgabe“ sich
nicht mit auf die an fremde Wirtschaften durch den Credit übertragenen eigenen
Güter bezieht.
2. Ein- und Ausgänge, welche durch Creditgeschäfte
des Wirthschaftssubjects bewerkstelligt werden: Eingänge durch
Eingehung activer und Abwicklung passiver Creditgeschäfte (Credit-
aufnabme, Crediteinziehung); Ausgänge durch Eingehung activer
und Abwicklung passiver Creditgeschäfte (Credit gewährung, Credit-
ablösung, Abzahlung).
3. Scheinbare (nominelle) Ein- und Ausgänge sind
solche, welche bloss einen Substanz Wechsel, einen Wechsel
in den naturalen Bestandtbeilen des Vermögens des Wirth-
schaftssubjects, bei gleichbleibendem Vermögenswerth, bilden, des-
wegen keine wahre (wenn auch meistens sogenannte) Ein-
nahme und Ausgabe sind.
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Einteilung der Ein- und Ausgänge.
377
Es findet dies seine Erklärung in den Verhältnissen der arbeitsteiligen Volks-
wirtschaft, wo Guter für den Absatz erzeugt und nach erfolgtem Absätze, ins-
besondere gegen Geld, dieses Geld als Einnahme und andrerseits, wo Güter für
den eigenen Bedarf eingetauscht und nach erfolgtem Eintausche (Kaufe), also
namentlich gegen Geld, dieses Geld als Ausgabe bezeichnet und auch weiter so
behandelt wird. Allein genauer betrachtet ist dies offenbar unrichtig und kann nur
mit äusserlichen Gründen, z. B. den Bedürfnissen der Buch- und Rechnungs-
führung in der Geldwirthschaft oder dem practischen Bedürfnis«, die einzelnen Ab-
teilungen der Wirtschaft (namentlich die Haus- und die Produ ctionswirth-
schaft. s. Nr. 4) rechnungsmässig hinsichtlich ihres Gütcrwechsels zu trennen, gerecht-
fertigt werden.
a) Die Geldausgänge, welche aus dem Absatz der Pro-
ducte an andere Wirtschaften hervorgehen, sind keine eigentlichen
(neuen) Einnahmen, sondern letztere bestehen eben in den
Producten selbst, soweit dadurch das Vermögen der Wirt-
schaft vermehrt worden ist.
Nur derjenige Theil des Gcldcingangs beim Producteuabsatze, welcher den
schliesslich realisirten Gewinn darstcllt, könnte daher etwa Einnahme genannt werden.
Aber auch dieser Theil steckt doch streng genommen, wenn auch gewissermaassen
latent, in den Producten selbst, bez. in deren Werth.
b) Die Geldeingänge, welche aus dem Ankauf der Pro-
ducte anderer Wirtschaften hervorgehen, fuhren einen entsprechen-
den Werth solcher Producte in die Wirtschaft zum Ersatz ein.
Daher liegt auch hier zunächst keine Ausgabe, keine Ver-
mögensverminderung, sondern nur ein Substanz Wechsel im
Vermögen vor. Erst die Verwendung der Producte zur
Bedürfnisbefriedigung (Consumtion), und streng ge-
nommen sogar erst der vollständige Verbrauch der Güter
hierbei, ist die eine Vermögensminderung bildende Ausgabe.
Soll noch genauer unterschieden werden, so könnte man sagen: derjenige Theil
des im Ankauf erfolgenden Gcldausganges einer Wirthschaft ist sofort eine Aus-
gabe im festgestellten Sinne des Worts, welcher die meistens den Uebergang eines
Products in die sogen, zweite Hand, auch in die der Hauswirthschaft begleitende
Tauschwerthverininderuug des Guts darstellt. Ein Beispiel: eben neu gekaufte Klei-
dungsstücke des Consumenten. Für die richtige Behandlung der „Ausgaben“ bei der
Anschaffung von Nutzvermögen z. B. im Individual- und Familienhaushalt —
ein Punct, der auch für die richtige Fassung des EinkoinmenbcgrifTs wichtig ist,
§.173 — ist diese Unterscheidung von „Gcldausgang“ und reeller Verbrauchsausgabe
fundamental.
Daher haben diese Unterscheidungen auch practische Bedeutung für eine
nach streng rationellen Grundsätzen erfolgende Buch- und Rechnungsführung der
Wirtschaften, namentlich auch der Finanz wirthschaft des Staats.
4. Ein- und Ausgänge, welche eigentlich nur Güter- Ueber-
gänge zwischen den zwei Abtheilungen einer Wirthschaft zu
den Verwendungszwecken der anderen, nicht wirkliche Einnahmen
und Ausgaben, Vermögensvermehrungen und Verminderungen der
Einen Wirthschaft sind. Mit der allgemeineren Ausbildung der
Arbeitsteilung und der Geldwirthschaft trennen sich in den
378 3. B. Wirthsch. u. Volks wirthsch. 2. K. Leben d. Einzelwirthsch. 1. A. §. 159, 160.
Einzelwirtschaften, besonders auch in den Privatwirtschaften der
Familien, immer mehr und vollständiger zwei Wirth sc hafts-
abtheilungen, welche in vieler Hinsicht wieder die Natur selb-
ständiger Wirtschaften annehmen: die Hauswirtschaft (Wirt-
schaft, auch Haushalt schlechthin mitunter genannt) und die
Production s Wirtschaft. Die er stere bezweckt die Verwendung
der der Wirtschaft für die laufende Bedürfnissbefriedigung der
Wirthschaftsangehdrigen zur Verfügung stehenden Gütermenge oder
m. a. W. die Verzehrung und somit schliesslich die reelle
Verausgabung der Güter im „Haushalt“. Man könnte sie
danach auch Verbrauchs - oder Ausgabe wirth sc ha ft nennen.
Die zweite hat die Erwerbung der Güter oder des Ein-
kommens und damit eben der Mittel für die Hauswirtschaft
zum Zwecke: Einnahme- oder Erwerbs Wirtschaft.
Die blossen Güterübergänge zwischen diesen beiden Wirthschaftsabtheilungen,
welche doch wieder die Eine Wirthschaft unter Einem Kechtssubject und mit Einem
Vermögen bilden, werden nun auch wohl als Einnahmen und Ausgaben be-
zeichnet, und im Interesse richtiger Buch- und Rechnungsführung, wobei die Wirth-
schaftsabtheilungen personificirt werden , besonders im System der doppelten Buch-
haltung. mit Recht. Aber an und für sich, wenn die Wirtschaft als Einheit
betrachtet wird, liegt offenbar auch hier zunächst keine Veränderung des Ver-
mögens vor, welche die Bezeichnung als Einnahme und Ausgabe rechtfertigte.
In der Gegenwart kommen Fälle dieser Art besonders bei dem Naturalverbrauch
der Landwirthc vor. Die Abgabe von Naturalien aus der Productionswirthschaft des
Gutsbesitzers an seine Haushaltung ist mit Recht namentlich auch bei der Bemessung
des Einkommens für Stcuerz wecke nicht als „Ausgabe“ zu betrachten, sondern
bildet einen Bestandtheil des steuerpflichtigen Einkommens. — ein an-
erkannter, wenn auch practisch schwer genau durchführbarer Rechtsgrundsatz in den
modernen Einkommensteuergesetzen, z. B. dem prcussischen schon bisher (auch vor
dem neuen Gesetz von 1891).
D. — §. lßO [70, 71]. Schema der Ein- und Ausgänge.
Unter Zugrundelegung der so eben vergeführten Hauptarten erhält
man folgendes Schema.
Vergl. Hermann, Untersuch., 2. A., S. 129 ff. (unvollständig).
(I.) Eingänge.
(A.) Eingänge, welche zugleich Einnahmen sind:
(1) Unmittelbareigens erworbene Einnahmen der Wiith-
schaft, welche auf die eigene Verwendung der dem Wirth-
scbaftssubject zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte, Grundstücke
und Kapitalien zurückzufübren sind.
Und zwar thcils auf die Verbindung dieser drei h'atcgorieen in der Unter-
nehmung, theils auf die Ausübung der eigenen Arbeitskraft allein, in der
eigenen Unternehmung1) oder im Dienste der Unternehmung eines Anderen,
J) So bei gewissen persönlichen Dienstleistungen, welche wesentlich nur mit
der persönlichen Arbeitskraft selbständig ausgeübt worden, z. B. Botendienst;
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Schema der Ein- und Ausgänge.
379
d. h. im Verhältniss der Lohnarbeit. Diese Einnahmen bestehcu, und zwar auch
im letzterwähnten Falle1), in concreteu wirtschaftlichen Gutem oder Pro-
ducten, sind Naturalcinnahmen. Die Wirtschaftstätigkeit, durch welche sie ge-
wonnen werden, ist die Naturalproduction (Natural-Erzeugung).
(2) Einnahmen einer Wirtschaft aus Forderungsrechten
in Folge von C re ditgeschäften.
Letztere haben ihren Ursprung in Eigenthums- und verwandten Kochten
an Unfreien, Grundstücken und Kapitalien, welche das Wirthscliaftssubject nicht selbst
zur Herstellung von Gütern verwendet, sondern andren Wirtschaften zur Benutzung
überlassen hat. Die Einnahmen sind hier Vergütungen für die Ucberlassung der
Nutzung (beim Uufreicn eventuell für die Einräumung der Verfügung über seine
Arbeitskraft an ihn selbst), bestehen in Entrichtung einer Kente (Abgabe des
Unfreien, z. B. russischer Obrok* *), Pacht- und Micthzins bei Grundstücken und
Gebäuden, Zins bei anderen Kapitalien, und können insgesammt Kenteneinnahmen
genannt werden. Sie bestehen in Sachgütern, Dienstleistungen oder Geld.
(3) Einnahmen aus Erbschaften und Legaten kraft des
Erbrechts.
Bei der eigentümlichen rechtlichen Stellung des Erbrechts wohl richtig als be-
sondere Einnahmekategorie hervorzuheben (bei Hermann mit N. 4 zusammen).
(4) Einnahmen aus unentgeltlich und freiwillig einer
Wirtschaft von anderen überlassenen Gütern : Geschenk, Almosen.
(5) Einnahmen in Folge von spontan-natürlichen (ohne
menschliches Zuthun erfolgenden) Zuwächsen zu vorhandenen
Gütern (Früchte von Pflanzen, Thieren; Bodenanschwemmungen).
(6) Einnahmen aus Funden und aus der Aneignung herren-
loser, verlorener u. dgl. m. Sachen.
ein kleines Kapital pflegt allerdings auch hier nicht leicht ganz zu fehlen (Tasche,
Stock des Boten, Kasirzeug des Barbiers u. dergl. in.); davon kann aber hier ab-
gesehen werden.
*) Die Geldlohnauszahlung scheint mit dieser Auffassung in Widerspruch zu
stehen. Indessen ist grade zur richtigen Würdigung derselben und der Lohnarbeit im
Dienste fremder Unternehmung überhaupt schon hier zu betonen, dass dio Einnahme
des Arbeiters im Grunde doch immer nur eine Quote des Productionsertrages
der Unternehmung ist. in der er beschäftigt, und, wie dieser Ertrag selbst, in
Producten besteht. Dass er dafür im Lohnvertrage, und zwar gewöhnlich in
Geld abgefunden wird, in der Kegel mittelst eines Vorschusses aus dem Kapital
des Unternehmers gewissermaassen auf Rechnung des endgiltigen Productionsergeb-
nisses, ändert dieses Grundverhältniss nicht. Ebenso folgt aus der hier vertretenen Auf-
fassung, dass die Einnahme (Einkommen §. 173), der Lohn des Arbeiters seine eigen-
erworbene, nicht vom Unternehmer gegebene sei („Brot des Unternehmen essen“).
Vergl. Roscher I, §. 144.
*) Gcldabgaben, wie eine Art Kopfsteuer an die Herren, mit denen sich die
Leibeigenen ihren Herren gegenüber abfanden. Besondere Entwicklung, seitdem in
Russland Fabrikwosen aufgekommen. S. Tschitscherin, Art. Leibeigen-
schaft im Staatswörterbuch VI, 408; v. Haxthausen, ländl. Verfassung Russlands,
Leipz. 1SÜ6, S. 34. — Aehnliche Gestaltungen schon im Alterthum; Uber Griechen-
land s. Büchsenschütz, a. a. 0. S. 195 ( uvcupoQcc ). Näheres unten im 2. Theil
im Abschnitt von der Unfreiheit als Arbeitssystem. — Rodbertus hat mit Recht
öfters darauf hingewiesen, dass die volkswirtschaftliche Bedeutung des Privat-Grund-
eigenthums und des Privat-Kapitaleigenthums durch den Vergleich mit Sclaveneigen-
thum erst in das richtige Licht gestellt werde.
380 3. B. Wirthsch. u. Yolkswirthscb. 2. K. Leben d. Einzelwirthsch. 1. A. §. 160.
Hierzu würden dann (7) Einnahmen aus Zuth eil ungen (s. o.
§. 115), soweit bei derartigen Verhältnissen von einer „eigenen“
Wirtschaft und „eigenen“ Einnahme dessen, welcher die Zu-
theilung empfängt, geredet werden darf, und (8) widerrecht-
licher Zwangserwerb (§. 115) treten.
Alle diese Einnahmen sind bei allen Arten Einzelwirthschaften
möglich, namentlich auch bei den Gemein- und speciell bei den
Zw an gs gemein wirtschaften. Bei diesen tritt als neunte Ein-
nahmeart die Besteuerung hinzu.
(B.) Eingänge in Folge von Creditgeschäften:
(1) Güter, welche der Wirtschaft aus anderen Wirthschaften
creditirt werden und demnach für die empfangende Wirtschaft
bezügliche Schuldverbindlichkeiten involviren.
Unter die hieher gehörigen passiven Creditgeschäfte sind, ökonomisch be-
trachtet, auch diePacht- und M iethges ch iifte des Pächters und Miethers zu reihen,
bei Postnumerando-Zahlung noch in eigentümlicher Weise. — Die Vermehrung
der Passiva bewirkt an sich keine Verminderung des Vermögens (Activvermögens),
da sich dadurch die Activa zunächst ebenso vermehren. Erst die Verzehrung der
creditirten Güter hat diese Wirkung.
(2) Rückzahlungen anderer debitirender Wirthschaften an
die creditircnde , bez. Rückgaben der vermieteten oder ver-
pachteten Güter an sie.
Da diese Güter wohl aus der unmittelbaren Verfügung der creditirenden Wirt-
schaft. aber nicht aus deren Vermögen ausgeschieden noch in dasjenige der debi-
tirenden Wirtschaft eingegangen waren, involrirt die Kückzahlung oder Rückgabe
auch keine Vermögensveränderung.
(III.) Eingänge, welche nur ein Substanz Wechsel des Ver-
mögens und insofern nicht eine eigentliche, neue Einnahme sind.
(1) Durch Tausch (oder Kauf in der Geld Wirtschaft) von
einer anderen Wirtschaft gegen Hingabe wirtschaftlicher Güter
(incl. Dienstleistungen) erlangte Güter, oder Eingänge aus dem
verkehrsmässigen Erwerb der Güter.
Auch diese können in Sachgütern, Dienstleistungen oder Geld bestehen und zum
Zweck der reinen oder der rcproductiven Consumtion erfolgen (s. unter II,
A, 1 und II, C, 2).
(2) An die Stelle verwendeter alter Güter bei der eigenen Er-
zeugung tretende neue Güter (s. unter II, C, 2).
Z. B. die fertigen Fabrikate, welche an die Stelle der verbrauchten Roh- und
Hilfsstolle. Unterhaltsmittel der Producenten u. s. w. treten.
(II.) Ausgänge.
A. Ausgänge, welche zugleich Ausgaben sind:
(1) Unmittelba r eigens behufs der BedUrfnissbefriedigung
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Schema der Ein- und Ausgange.
381
von den Wirtbschaftsangehörigen verzehrte Güter (Consumtion,
reine oder eigentliche Consumtion).
Hier erfolgt eine Werth Vernichtung, bez. ein Verbrauch der naturalen
Güter selbst: N a t u r a 1 ausgabe.
(2) Rentenausgaben, bestehend in Zahlungen von Renten
aus passiven Creditgeschäften Seitens der debitirenden Wirtschaft.
(3) Ausgaben, bestehend in unentgeltlicher und frei-
williger Ueberlassung von Gütern an andere Wirtschaften.
Geschenk, Almosen.
(4) Ausgaben in Folge natürlicher Zerstörung vor-
handener Güter (nicht zusamnienfallend mit dem in §. 163 er-
wähnten natürlichen Qualitätsverschlechterungen der Güter): natür-
liche Consumtion.
(5) Ausgaben in Folge von Verlieren, De relinquiren von
Gütern.
(6) Ausgaben, bestehend in zwangsweiser, aber vom
Rechte gebilligter Ueberlassung von Gütern an andere Wirt-
schaften, ohne Erlangung speci eilen Gegenwertes.
Im Gegensatz zu dem generellen, für die einzelne Wirthschaft nicht mess-
baren Gegenwerth , der allerdings auch für die Steuern in der allgemeinen Staats-
förderung ^Rechtsschutz u. s. w.) erlangt wird.
Hierher: Steuern und zwar eigentliche, allgemeine
Steuern, während Gebühren (meine Finanzwiss. 11, 2. Aufl., S. 15,
81, 83), weil dabei ein speci eil er Gegenwert erlangt wird,
streng genommen nicht ganz hierher gehören.
(7) Ausgaben in Folge der in §. 115 erwähnten Zutheilungen
und (8) in Folge rechtswidrigen Zwangs gegen den Hergebenden,
bzw. Beraubten, Bestohlenen u. s. w.
Der Ausgang der Güter aus einer Wirthschaft durch Erbrecht ist hier nicht
mit zu erwähnen, denn er ist eben Auflösung der Wirthschaft selbst.
(B.) Ausgänge in Folge von Creditgeschäften:
(1) Gewährung von Crediten an andere Wirtschaften.
Active Creditgeschäfte, incl. Vermiethungen und Verpachtungen bei Post-
numerandozahlung noch in cigenthümlicher Weise (s. I, B, 1).
(2) Rückzahlungen, bez. RU ckgaben von Gütern an die
creditirende Wirthschaft, oder Abwicklung passiver Creditgeschäfte
(s. I. B., 2).
C. Ausgänge, welche nur einen Substanz Wechsel des Ver-
mögens bilden:
382 3. B. Wirtlisch, u. Volkswirthsch. 2. K. Leben d. Einzelwirthsch. 1. A. §. 161, 162.
(1) im Tausch oder Verkauf gegen Empfang anderer Güter
fortgegebene Güter, — verkehrsmässiger Ausgang.
(2) Verwendung wirtschaftlicher Güter als Mittel zur eigenen
Herstellung neuer wirtschaftlicher Güter: reproductive Con-
sumtion.
Hier tritt an Stelle des verbrauchten Guts ein neues, erhält sich also der
Werth im Formwechsel der Guter. Die dergestalt verwendeten Güter heissen
Erzeugungs-(Productions-,Herstellungs-,Gewinnungs-) kosten oder Kosten schlecht-
weg (§. 142).
E. — §. 161 [72]. Natural- und Geldrechnung bei
dem äusseren Güter - Wechsel. Jeder Gtiter-Wechsel in
der Wirtschaft, d. h. jeder Ein- und Ausgang der Güter, ferner
jede Veränderung des Vermögens, d. h. jede Einnahme
und Ausgabe und danach dann der Güterbestand in einer
Wirtschaft und im Vermögen lässt sich auf zweierlei Weise
verfolgen :
1. an den Gütern selbst, insbesondere in der Art, dass
die einzelnen Güter durch Maassbestimmungen genau
qualitativ und quantitativ bestimmt werden, was alsdann auch eine
Summirung der qualitativ gleichen Gütermengen gestattet: sog.
Natu ralrechnung.
Sie wird gleichzeitig zur „Gebrauchswerth-Rechnung“ und kommt im practischen
Leben, z. B. bei der Aufnahme der Lager-Inveutare der Kaufleute, in vielen Zweigen
des Staatshaushalts u. s. w. vor. Bei den Sachgütern muss hier die Waaren-
kunde und das Maass- und Gewichtswesen die Hilfsmittel zur genauen Na-
turalrechnung liefern.
2. Am Werthe der Güter, und zwar am Tauschwerthe
und insbesondere am Geld werthe: Geldrechnung. Hier
werden die Güter durch den Werthanschlag oder den Preis-
ansatz in Geld auf einen gleichen Nenner zurückgeführt, wobei
dann eine vollständige Summirung nach Wertheinheiten möglich ist.
Ausser der Waarenkunde und dem Maass- und Gewichtswesen bedarf es zum
Werthanschlag der Sachgüter und auch der etwa in Betracht kommenden Dienst-
leistungen und „Verhältnisse“ des Geld- und Münz Wesens, der Preislisten
(Preiscourante) und eventuell der Taxation (§. 141).
Die am Ende einer Rechnungsperiode sich ergebende Diffe-
renz zwischen den Einnahmen und Ausgaben heisst Bilanz. Sie
ergiebt einen „Uebcrschuss“, wenn die Einnahmen, und einen
„Abgang“ (in diesem Sinne, Deficit), wenn die Ausgaben
grösser waren.
Auch diese in diesem §. besprochenen Verhältnisse sind für die Fiuanzwirth-
schaft von besonderer Bedeutung, vergl. Finanzwissensch. I, 3. A. §. 133, 144 — 147.
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Ziel des Wirthschaftsbetriebes.
383
F. — §. 162 [73]. Das Ziel des Wirthschaftsbetriebs.
Ein solches lässt sich nicht für alle Arten der Einzelwirtbscbaften
gleichmässig binstellen. Bei dem typischen Hauptfall, der In-
dividual- und Familien wirth schaft, hängt es mit der Lehre
vom Auskommen und dem Bedtirfnissstand (4. Buch) zusammen.
Im Allgemeinen ist hier das Streben nach Vergrösscrung der Ein-
nahmen, um richtige und heilsame, die Gesammtentwicklung
jedes menschlichen Individuums und dadurch wieder der ganzen
bürgerlichen Gesellschaft förderliche Bedürfnisse der Wirthschafts-
subjecte und ihrer Angehörigen genügend befriedigen zu können,
ein berechtigteres Princip, als das Streben nach Verminderung der
Ausgaben, wenn damit eine jene Entwicklung hemmende Be-
schränkung der Consumtion verbunden ist: so für die einzelne
Familie, so für das ganze Volk. Zugleich sollte aber in jeder
Wirtschaft nach einem WirthschaftsU bersch uss gestrebt
werden. Derselbe ist nicht nur die Vorbedingung einer weiteren
Steigerung der Entwicklung, sondern auch ein Reserve- oder
Sicherheitsfonds für die Rückschläge, welche der Wirth-
schaftsbetrieb und der erreichte Vermögensbestand durch ungünstige
Einflüsse der Aussenwelt, besonders durch die „Conjunctur“, un-
abhängig vom Willen, Thun und Lassen des Wirthschaftssubjects,
erleiden kann.
Ein solcher Reservefonds ist daher eine allgemeine Forderung
für jede Einzelwirtschaft.
Vgl. Hermann in d. staatsw. Untersuch. S. 226. Im Staatshaushalt die Frage
des Staatsschatzes. S. darüber meine Fin. I, 3. A. §. 75.
Es mag auffallen, dass hier nicht als Ziel des einzelwirthschaftlichen Betriebs,
zumal — wie man oft sagt — der Individual- und Familienwirthschaft die Kapital-
bildung, insbesondere um dadurch einen Rentenfonds und Rentenoinkommen für
diese Wirtschaft zu erlangen, hingestellt wird: ein Ziel, welches tatsächlich in
unserem Wirtschaftsleben so allgemein verfolgt und dessen Verfolgung Allen, auch
den Angehörigen der unteren Klassen („Sparen“, Einlegen in Sparkassen u. s. w.) als
wirtschaftliche, selbst wohl als sittliche Pflicht vorgehalten zu werden pflegt, auch
als notwendig für die Entwicklung der Volkswirtschaft, dio „vor Allem Kapital
bedürfe“, gilt. Indessen sind das eben doch durchaus privatwirtschaftliche An-
schauungen, nur gütig für die privatwirthschaftliche Organisation der Volkswirtschaft
und für Epochen des individualistischen freien Verkehrs, wo der Einzelne auf sich
selbst gestellt wird und die Bildung des Nationalkapitals fast nur in der Rechtsform
des Privatkapitals geschieht und hier meist auch nur so geschehen kann.
Hier ist allerdings unter den gegebenen Verhältnissen des Wirtschaftslebens
auch dieses Ziel richtig, ja nothwendig. Aber als allgemeines, aus der Stellung
der Einzelwirthschaft in der Volkswirtschaft nothwendig folgendes Ziel kann man
es nicht hinstellen. W'ir kommen auf diesen Punct im 4. Buche in den Erörterungen
über Bedürfnissstand und Verteilung des Volkseinkommens und im 2. Thoil der
Grundlegung bei der Erörterung Uber Privat- und Nationalkapital zurück.
Weiteres zum Gegenstand dieses ganzen Abschnitts im 3. Kapitel unten.
384 3. B. Wirthsch. u. Volkswirthsch. 1. K. Leben d. Einzel wirthsch. 2. A. 163, 164.
2. Abschnitt.
Einzelwirtschaft und Vermögen unter den
Einwirkungen der Aussenwclt, besonders unter dem Einfluss
der Conjunctur in der Volkswirtschaft oder die passive
Seite der Einzelwirtschaft.
I. — §. 163 [74], Hierher gehörige Fälle. Der jetzt
zu betrachtende „innere-“ oder Werth- Wechsel der Güter,
welcher unabhängig vom Willen und der Thätigkeit der Wirth-
schaftssubjecte vor sich geht (§. 156), umfasst drei Arten solcher
Fälle: 1) die n a t Uri i c h e V e rän der un g der Qualität der
Güter, 2) die veränderte menschliche Kenntniss der
Eigenschaften derGUter, 3) die veränderte Co nj unctur
hinsichtlich der Herstellung und des Begehrs derjenigen
Güterart, zu welcher die betreuenden concrcten Guter gehören.
Hier gehen mit den Gütern selbst oder in den Beziehungen
der Menschen zu ihnen Veränderungen vor sich, ohne Rücksicht
auf die individuellen wirtschaftlichen Kosten, welche für ein
concretes Quäle und Quantum aufzuwenden waren, lind ändern in
Folge dessen die Güter ihren Werth (Gebrauchswert, Tausch-
wert). Soweit diese Werthänderung die ökonomische Lage einer
Wirtschaft, bzw. eines Wirthschaftssubjects, nach aussen zu,
in Bezug auf das gliedlicke Verhältnis der Wirtschaft zur Volks-
wirtschaft, wegen des Einflusses auf Vermögen, Kaufkraft be-
einflusst, wird sie zu einer auch volkswirtschaftlich und social
wichtigen Thatsache, deren Tragweite, einer organischen und
socialen Auffassung der Volkswirtschaft gemäss, hier gewürdigt
werden muss.
Die beiden ersten Reihen von Füllen sind einfach und bedürfen hier keiner
eingehenderen Behandlung, die dritte, die Conjunctur, ist uin so verwickelter und
wichtiger und hier näher zu verfolgen.
A. — §. 164 [74]. Die Güter, insbesondere die Sachgüter, er-
fahren durch Natureinflüsse Veränderungen ihrer Qualität,
daher ihrer Brauchbarkeit für menschliche Zwecke und des
davon abhängigen Gebrauchs wert lies, und zwar zum Guten
und zum Schlechten.
Sie verbessern sich in einigen Fällen, z. B. manche Güter einfach durch
Zeitverlauf, als Bedingung gewisser Naturprocesse, unter gewissen Voraussetzungen
(Wein, Cigarren u. A. m. — Geigen); sie verschlechtern sich in der grossen
Mehrzahl der Fälle, aller dagegen getroffenen Vorkehrungen ungeachtet: die Sach-
güter lösen sich wieder in ihre stofflichen Bestandteile auf, Zufälle aller Art
schädigen sie.
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Einfluss der natürlichen Veränderung der Qualit. d. Güter.
385
Der eingetretenen Veränderung des Gebrauchswertes pflegt
eine Aenderuug des Tauschwertes in derselben Richtung zu
entsprechen. Die Verbesserung der Güter führt also zu einer
Wertherhöhung, die Verschlechterung zu einer Werthver-
minderung. Daraus ergeben sich dann entsprechende Ver-
änderungen im Werthe des Güterbestandes der Wirtschaft, des
Vermögens einer Person, beider Stellung in der Volkswirtschaft.
Wem diese Veränderungen zu Gute kommen oder zur Last
fallen, hat wesentlich wieder das Recht, freilich „nach der Natur
der Sache“, zu bestimmen.
Die allgemeine Kegel ist, dass sie den Eigentümer treffen, bei gemietheten
und gepachteten Sachen also nicht das Wirthschaftssubject, das im Augenblick
darüber verfügt. Jedoch sind Ausnahmen von dieser Regel weder undenkbar noch
im Leben und im Rechte ganz unbekannt. In dem „System der freien Coutracte“
kann bei Creditgeschäften, namentlich bei Mieth- und Pachtgeschäften die Last der
natürlichen Werthverminderung vom juristischen Eigenthümer auf den Benutzer über-
wälzt werden und die social gedrückte Stellung des einen Contrahenten lässt der-
gleichen wohl zu : Verschiebung des Risicos aus Zufällen z. B. auf den Miether einer
Wohnung.
Casus a nullo praestantur ist bei Obligationen die Rechtsregel, Puchta, Pan-
decten §. 272. 302: Specics perit ei cui debetur. In den modernen grossstädtischen
M ieth Verträgen, einem characteristischen Beispiele der volkswirthscliaftlichen und
juristischen Fiction der Gleichheit der Parteien bei der Contractschliessung, heisst
es, z. B. in Berlin, oft: „Der Miether tiägt den durch Hagelschlag, Sturm und andre
unabwendbare Naturereignisse der Wohnung und insbesondere den Fenstern zugefügten
Schaden.4’ Ueber die Entwicklung des sogen. Kemissionswescns bei den land-
wirtschaftlichen Pachtverträgen s. Finanzwiss. I. 3. A. §. 229 und die dort citirten
Schriften von Ubbelohdc, Drechsler, Bio m eye r.
Wo eine Werthverminderung der Güter durch Qualitätsver-
änderung ohne Schuld des Betroffenen eintritt, liegen ähnliche
Verhältnisse und Bedürfnisse, wie bei einer Zerstörung oder
Quantitäts Verminderung von Sachgütern durch Unfälle, Natur-
ereignisse u. s. w. , vor. Einmal wären solche Veränderungen
überhaupt möglichst zu verhüten (Prävention), sodann den-
noch eintretende in ihrer nachtheiligen Einwirkung möglichst zu
beschränken (Repression) und endlich soweit sie ohne
Schuld des Betroffenen diesen benachthciligen , er mittelst des
Princips der Versicherung schadlos zu halten, ln BetrefT der
beiden ersten Puncte handelte es sich dann auch hier, wie in dem
anderen Falle, um technische, polizeiliche Einrichtungen,
Vorschriften und zu befolgende Grundsätze und Regeln; in Betreff
des letzten Punctes um Ausdehnung des Versicherungs prin-
cips. Indessen sind die bezüglichen Schwierigkeiten sehr gross
und bisher finden sich höchstens vereinzelte Ansätze dazu, in der
angedcuteten Weise einzuschreiten und Hilfe zu gewähren. Aber
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Theil. Grundlagen. 25
4
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3ö6 3. B. Wirthsch. u. Volkswirthsch. 2. K Leben d. Einzelwirthsch. 2. A. §. 165, 166.
ein entsprechendes Bedürfniss besteht eigentlich ebenso wie in dem
anderen Falle. Auch die Frage der Staatshilfe kann bei all-
gemeinerer Ausdehnung unverschuldeter Verluste in Folge von
Qualitätsverschlechterungen der besessenen Sachgüter wohl analog
wie in dem anderen Falle auftauchen.
Die nationalökonomische Lehre von der Versicherung und die damit zu-
sammenhängende von der Vermeidung (Verhütung) und Bekämpfung bestimmter
nachtbeiliger Umstände lässt sich auch auf die hier berührte Frage anwenden.
S. meine Abb. Versicherungswesen im Schönberg’schen Handbuch II, 3. A. S. 939 ff.
(bes. §. 1, 8 ff.) und die daselbst gen. Litteratur. namentlich Em. Hermann, Theorie
der Versicherung vom wirtschaftlichen Standpuncte, 2. A. 1869.
B. — §. 165 [75]. Die veränderte menschliche Kennt-
niss der Eigenschaften der Güter, besonders der Sachgüter,
wird „durch die Thätigkeit des Verstandes erlangt, der neue
Eigenschaften der Stoffe ans Licht bringt oder eine neue Be-
ziehung derselben zu meoschliehen Zwecken entdeckt. Die fort-
schreitende Naturkenntniss und die Geschicklichkeit in der Be-
nutzung der Naturgebilde ist bei den geistig entwickelten Völkern
eine reichliche Quelle der Vermögens vermehr u ng“ (Rau). Denn
letztere ist wieder die Folge einer höheren Brauchbarkeit der
Güter: Gebrauchs- und oft auch Ta usch werth steigen. Aber
die entgegengesetzte Erscheinung, eine Verminderung der Brauch-
barkeit, daher des Werthes und des Vermögens, fehlt keineswegs,
z. B. bei der Entdeckung nachtheiliger Eigenschaften der
Güter (z. B. Trichinen im Schweinefleisch, Gifttstoffe in Farben,
Pflanzen u. dgl. m.).
Die für Wirtschaft und Vermögen günstigen und ungünstigen
Folgen treffen wie im vorigen Falle der Regel nach den Eigen-
tümer, was wieder zu besonders wichtigen weiteren Folgen für den
Grundeigenthüracr führt, wenn au den Grundstücken oder den
Stoßen darin neue Eigenschaften erkannt werden (Bergbau).
S. Kau I, §.68, 69, v. Hermann, Untersuch. S. 132, v. Mangoldt, Grundr.
§. 14. Näheres gehört in die Technologie und Privatökonomik. Einige Beispiele bei
Kau, I, §. 68 Note d und darnach in der 2. Aufl. dieses Werks S. 97 Note 4.
II. Die Conj unctur. — §. 166 [76 J. A. Wesen und Wirkung.
Am Wichtigsten ist der Einfluss der Conj unctur auf den Werth
der Güter in der Wirtschaft und des Vermögens, der hier allein
etwas näher zu betrachten ist.
Auch M enger a. a. 0. I, §. 2 tiber den Causalzusammenhang der Guter enthält
manches Hierhergehörige. Vgl. bes. Lassalle, Kap. u. Arb. a. a. 0. u. Schäffle,
Soc. Körper a. a. 0. (s. o. §. 155).
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Conjunctur. Weseu und Wirkungen.
387
Unter der Conjunctur wird hier die Gesammtheit der tech-
nischen, ökonomischen, socialen und rechtlichen Bedingungen ver-
standen, welche in der auf Arbeitstheilung und Privateigenthum —
insbesondere Privateigenthum an sachlichen Productionsmitteln
(privatem Grundeigenthum und Privatkapital) — beruhenden Volks-
wirtschaft die Herstellung der Guter für den Verkehr, ihren Be-
gehr und Absatz in demselben, daher den Werth, insbesondere
den Tauschwerth und Preis der Güter überhaupt und auch des
einzelnen, schon fertigen Gutes allgemein wesentlich mit, im con-
creten Falle selbst allein bestimmen, in der Regel ganz oder
wenigstens überwiegend unabhängig vom Willen und von den
Leistungen (Handlungen und Unterlassungen) des Wirthschafts-
subjects, bez. des Eigentümers, daher auch von dem individuellen
Kosten- (Arbeits-) Aufwand für ein bestimmtes Quäle und Quantum
des betreffenden Gutes ira concreten Falle.
Die Conjunctur gewinnt mit der feineren Ausbildung der Arbeits-
theilung und des Verkehrs immer allgemeinere uud grössere Be-
deutung und tritt vielfach als dritter Hauptfactor, von welchem
die Tauschwerthsumme des Güterbestandes in der Wirtschaft
und des Vermögensbestandes einer Person abhängt, neben die
beiden anderen hierfür maassgebenden Factoren , die indivi-
duelle Productionsleistung und Consumtion. Namentlich gelangt
die Conjunctur in dem System der freien Concurrenz zur
Geltung. Darin liegt die Signatur der modernen Volkswirt-
schaft.
%
Lindwurm, Eigentumsrecht S. 301 nennt dies eine petitio principii. Im alten
Griechenland habe es ebenso gut wie heute Conjuncturen gegeben. Gewiss, soweit
eben dort (und in Rom) die Volkswirtschaft auf demselben Itechtsboden wie heute
stand, aber niemals ist mit solcher Consequenz Volkswirtschaft und wirtschaftliche
Rechtsordnung „individualistisch“ gestaltet, wie heute. Daher auch gegenwärtig
der besonders grosse Einfluss der Conjunctur.
Dem Einzelnen wächst so durch die Conjunctur kraft des Privat-
eigenthumsprincips ein Vermögenswerth hinzu, den er nicht oder doch
nicht ganz durch eine der oben (§. 160) erwähnten Einnahmearten,
namentlich nicht durch eine eigene Production oder Arbeitsleistung
erworben, insofern ökonomisch nicht oder nur zum Theil „verdient“
hat. Und ebenso erleidet der Einzelne Einbussen am Werthe seines
Vermögens oder der Güter in seiner Wirthschaft, ohne dass einer
der genannten Fälle der Ausgaben oder Ausgänge, ohne dass ins-
besondere eine eigentliche Consumtion stattgefunden hat; insofern
erleidet er also ökonomisch unverschuldet Verluste. Wichtige That-
25*
388
3. B. Wirthscb. u. Volkswirthsch. 2. K. 2. A. Conjunctur. §. 166.
Sachen für die Theorie vom Wesen und der Function der auf diesem
Rechtsboden beruhenden und demgemäss organisirten Volkswirth-
schaft, wie nicht minder für die Beurtheilung der Praxis, des in-
dividualistischen Systems der freien Concurrenz (§. 167).
So stellt sich die Sache wenigstens heraas, wenn, der heutigen wirthsch&ftlicheu
Rechtsordnung und specicll dem geltenden Privatrecht gemäss, das Eigenthumsrecht
sich nicht bloss auf die Substanz, oder auf eine bestimmte Werthhöho der Guter, son-
dern schlechtweg auf ihren Werth bezieht, keinerlei Correctur der günstigen Folgen
der Conjunctur durch ein diesen Verhältnissen angepasstes Stcuerrecht erfolgt und
keine Entschädigungen den von ungünstigen Conjuncturen Betroffenen durch die Ge-
sammtheit, bcz. durch den Staat zu Thcil werden. Die Werthvermehrung und Ver-
minderung, welche die Folge bloss des Conjnncturenwechsels ist, trifft dann allein und
vollständig den Eigentümer oder das Wirthschaftssubject.
In den sogen. Verkehrssteuern wird allerdings der Gewinn, welcher aus dem
Eigc nthumswechsel hervorgeht und damit unter Umständen auch der Gewinn,
welcher einer werthsteigernden Conjunctur zu verdanken ist und mittelst Verkaufs des
Objects realisirt wird, besonders beim Grundeigentum (Grundstücke und Gebäude), mit
getroffen, so durch die in unseren modernen Staaten verbreitete Besitzwechselsteuer
von Grundeigentum (franz. Enregistrement u. A. in.). L. Stoin gründete auf den Ge-
danken, die bei solchem Besitzwechsel gemachten Gewinne, welche durch die gewöhn-
lichen Ertrags- und Einkommensteuern nicht getroffen werden, zu besteuern, seine ältere
Theorie der Verkchrssteuern, (Finanzwiss. 2. Ausg. S. 217, 466 ff ). Er stellte indessen
dabei die neue Fiction auf, als ob bei jedem solchen Besitzwechscl immer ein Ge-
winn vorkomme, der ein steuerbares Object bilde, und verfolgte nicht das Ziel, grade
die Con juu cture n gewin n e durch solche Verkehrssteuern zu treffen. Insofern war
Steins Theorie doch nur eine Rechtfertigung der fehlerhaften Praxis, so richtig es
auch ist, die betreffenden Abgaben nicht mit den älteren Theoretikern unter den hier
nicht zutreffenden Begriff der Gebühr zu zwängen. Die Praxis besteuert ununter-
schiedlich, ob ein Gewinn beim Bcsitzwcchsel von Eigenthum realisirt wurde oder
nicht, diesen Besitzwechsel und darin liegt das Bedenkliche ihrer Verkehrssteuern,
mögen sie Grundeigenthum oder bewegliches Eigenthum (Börsensteuer) treffen. So-
weit sie aber wirklich den realisirten Conjuncturengewinn trefTen, was sie
wenigstens in Zeiten der Preissteigerung des Grundeigenthums, der Waaren und der
Werthpapiere thun, sind sie nicht nur zu rechtfertigen, sondern auch ein Postulat
der vcrthcilcndcn Gerechtigkeit in der Volkswirtschaft. Namentlich sind von diesem
Gesichtspuncte aus auch Börsensteuern, als Correctur der dem Einzelnen kraft
des Privateigenthumsprincips zufallenden zufälligen Gewinne, ausdrücklich zu ver-
langen. Die bestehenden Verkchrssteuern müssen nur demgemäss ergänzt, möglichst
dazu eingerichtet werden, die Conjuncturengcwinne , besonders am Grundeigentum,
zu treffen, und verlangen für diese Gewinne eine starke Erhöhung. Steuertechnisch
bieten sich für eine solche Reform der Verkehrssteuern freilich erhebliche, m. E.
aber nicht unüberwindliche Schwierigkeiten, wie ich seit der 2. Aufl. dieser Grund-
legung mittlerweile näher im 2. Bande meiner Finanzwissenschaft dargelegt habe.
Daselbst eine principiclle Behandlung der Frage von der „Besteuerung der Conjunc-
turengewinne“, bes. in der 2. Aufl. §. 236 ff. (S. 566 ff'., 570 ff., mit weiterer Litteratur).
Wie man ohne Voreingenommenheit zu demselben Gcsicbtspuuct wie ich gelangt, zeigt
Ihering, Zweck im Recht I, 519 ff. — Die ganze Frage ist keineswegs allein eine
finanzwissenschaftliche, sondern eine allgc mein -Volkswirt h sc haft liehe. Ge-
länge eine Steuerreform, wie die angedeutete, so fiele ein Theil der richtigen Be-
denken gegen den Einfluss der Conjunctur auf die wirtschaftliche Lage der Einzelnen
und besonders gegen das private Grundeigenthum fort.
Gegen die Consequcnzen , welche ich aus dem Einfluss der Conjunctur ziehe,
A. Held, Grundr. mehrfach, u. A. S. 70: immer mit dem das Ziel überschiessenden,
deshalb unhaltbaren Einwand , das doch eine „volle Gerechtigkeit unerreichbar“ sei,
als ob man deshalb nicht das Mögliche erstreben müsse. Mit solchen Gründen
kann man jeden Versuch nach Reformen auf irgend einem Gebiet widerlegen. S.
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Conjunctur. Einzelne Hauptmomente. 389
auch Held in Conrad’s Jahrb. 1878, B. 2, S. 257 ff., Lindwurm, Eigenthums-
recht S. 302.
B. — §. 167 [81]. Die einzelnen Haupt- Mo mente,
welche die Conjunctur bilden. Sie lassen sich kaum auch
nur ihr eine Zeit, einen Ort, eine Güterart, geschweige ganz
allgemein aufzählen. Von besonderer Wichtigkeit, namentlich, mit
theilweiser Ausnahme des ersten Falles, in den Volkswirthschaften
unserer heutigen Culturwelt, pflegen aber folgende Umstände zu sein:
1) Schwankungen in den Ernte-Erträgen der Haupt-
nahrungsmittel unter dem Einfluss der Witterung, mitunter
auch politischer Verhältnisse (Störungen des Anbaus durch Krieg) x).
Dadurch wird die wirtschaftliche Lage der Producenten* 2 * 4 S.), andererseits der
Masse der den unteren Klassen ungehörigen Consumenten in einer oft geradezu ent-
scheidenden Weise beeinflusst8). Allerdings haben es aber in der Neuzeit die Ver-
besserungen der Coinmunicationsmittel, zugleich die wichtigste Voraussetzung eines
die Preise ausglcichenden speculativen Korn handeis, auch die veränderten Bodenanbau-
methoden (Fruchtwechselwirthschaft in stark bevölkerten Ländern, sie bildet z. B. mit-
telst des Anbaus verschiedener Producte, welche durch die verschiedenen Witte-
rungen verschieden begünstigt oder benachteiligt werden, eine Art Selbstassecuranz),
möglich gemacht, hier den Einfluss der Conjunctur zu beschränken. Dies zeigt sich
in den kleineren Schwankungen der Getreidepreise innerhalb kurzer Zeiträume in der
Gegenwart, verglichen mit dem Mittelalter und Alterthum. Eine feststehende That-
sache der Geschichte und Statistik der Getreidepreise. Immerhin sind auch gegen-
wärtig und selbst in den reichsten Ländern und bei hochentwickeltem Communi-
cationswesen und Getreidehandel die Schwankungen von 1 : 2 innerhalb eines Jahres
vorgekommen. So stand z. B. sogar der wöchentliche Durchschnittspreis von Weizen
auf den englischen Märkten p. Qu. im September 1846 49 sh., im darauffolgenden
Mai 1847 (Mitte) 102 sh. 6 d., und Anfang September 1847 wieder 49s h. 6 d. Welche
Veränderungen für die Lage der Masse der Consumenten, der Producenten, der Händler.
Tookc, Hist, of pric. VI.. 462. S. auch N eumann (Tüb.) in Hildebr. Jahrb. XVIII,
*) Vergl. Ihering, Geist des röm. Rechts, II, 2. S. 237 ff,
*) Vergl. was die Getreidehändler anlangt unten §. 168 und überhaupt hinsicht-
lich dieser wie der Anbauer selbst To ok e ’s Geschichte der Preise (deutsch von Asher.
2. B. 1858 — 59) in den Abschnitten über Getreide. Die niedrigen Getreidepreise der
20 er Jahre haben auch auf dem Continente viele Gutsbesitzer ruinirt. Der Preisfall
seit Endo der 1870 er Jahre drohte es wieder zu thun. Daher bekanntlich die Rück-
kehr zu agrarischen Schutzzöllen auf dem west- und mitteleuropäischen Continent.
Grade eine solche wirthschaftspolitischo Frage, wie diese, erhält auch principiell eine
andere Behandlung vom Standpunct unserer Lehre von der Conjunctur aus betrachtet,
als vom üblichen Standpunct der individualistischen Nationalökonomie aus, welche
immer nur auf die bewusste Thätigkcit des Individuums Alles zurückführt.
8) Eine bekannte Thatsache im Alterthum, vgl. für Griechenland Böckh,
Staatshaushalt der Athener I., 1 § 15, für Rom Ihering, a. a. 0., S. 238. Für die
moderne Zeit lässt sich selbst heute noch der Zusammenhang zwischen der allge-
meinen Sterblichkeit der Bevölkerung, d. h. eben überwiegend der unteren Classen,
und dem Preise des Hauptnahrungsmittels nachweisen und zwar noch Mitte des
19. Jahrhunderts ein so starker Einfluss, dass jede kleine weitere Erhöhung des
Preises im Grossen und Ganzen von einer vermehrten Sterblichkeit begleitet war. —
gewiss ein Beweis, wie wenig der Durchschnittslohn in der Masse der arbeitenden
Classe den zum Leben absolut nöthigen Betrag übersteigt. Vergl. Wappäus, Be-
völkerungsstatistik, 2 B., Leipzig 1859, I., 197 ff.. Lange, Arbeiterfrage, 3. Aufl.,
S. 162, 199 ff.
390
3. B. Wirtlisch, u. Volkswirthsch. 2. K. 2. A. Conjunctur. §. 167.
291, 318. ücber die Function des internationalen Gctreidchandels in der heutigen Zeit
X. v. Neumann (Wien), Uebersichten (1S71) S. 9 fl’. Dass selbst bei heutigen Com-
inunicationsverhältnissen die Getreidepreise in kurzer Zeit stark steigen und wieder
rasch erheblich fallen können, hat die Preisbewegung 1890 — 92 gezeigt, — worauf
freilich grade hier der Einfluss der speculatiren Ausbeutung der Conjunctur als stärker
mitspielender Factor mit gewirkt haben könnte.
2) Veränderungen in der Technik und in Folge davon in
der Oekonomik der Herstellung der Güter (neue Productions-
methoden).
Dadurch treten vielfach neue bessere Güter für dasselbe Bedürfuiss an die
Stelle alter Güter oder es werden letztere mit geringeren Kosten erzeugt: Beides
drückt den Werth der alten Güter und der Kapitalien, mit denen sie hergestellt werden,
herab, und bringt, wenigstens zeitweise, die bisherigen Producenten (Unternehmer wie
Arbeiter) leicht in eine missliche ökonomische Lage. Ein Hauptbeispiel aus der Neu-
zeit ist die Einführung von Maschinen an Stelle der Handarbeit mit unvollkommnen
Werkzeugen. Vergl. hierzu G. Schinoller’s Geschichte der deutschen Kleingewerbe,
Halle 1869. Ein anderes ganz specielles neues Beispiel : Die Folgen des Besscmer-
Stahlerzeugungsprocesses (und des Sicmens-Martin’schen Verfahrens) für die
Eisenindustrie. Immer weitergehende Verdrängung des Eisens durch den wohlfeilen
und viel dauerhafteren Stahl. (S. Pechar S. 2 lf.)
3) Veränderungen in den Communications- und Trans-
portmitteln, welche die räumliche Bewegung der Menschen
und Güter beeinflussen, — der Regel nach bei fortschreitenden
Völkern erleichtern.
Dadurch wird namentlich der W’erth des Grund und Bodens und der Ar-
tikel von niedrigem specifischen Werth berührt, ganze Productionszweige zu
einem schwierigen Uebergang zu anderen Betriebsmethoden genöthigt. Steigerung
des Bodenwerths iu der Nähe der guten Communicationen wegen besseren Absatzes
der hier gewonnenen Erzeugnisse; Erleichterung starker Bevölkerungsanhäufungen in
den Städten, in Verbindung mit N. 6 und 7, daher enormes Steigen des Werths des
städtischen, besonders grossstädtischen Bodens und des Bodens in der Nähe solcher
Orte. — Erleichterte Abfu hr aus Gegenden mit bisher billigen Preisen des Getreides
und anderer land-, forstwirtschaftlicher Rohstoffe, Bergbauproducte in Gegenden mit
höheren Preisen ; dadurch erschwerte wirtschaftliche Lage aller Bevölkcrungselemento
mit stabilerem Einkommen in crstcrcn Gegenden und besondere Begünstigung der
Producenten und uamentlich der Grundbesitzer daselbst. Ein sehr characteristisches
Beispiel ist die seit Mitte unseres Jahrhunderts immer mehr erfolgte Ausgleichung
der Getreidepreise des continentalen Mitteleuropas mit den französischen und englischen
Preisen; sehr instructiv dargestellt in den schönen statistischen Arbeiten von E. Las-
peyres, z. B. Deutsches Handelsbl. 1874, S. 394 über die ungarischen, böhmischen,
preussischen , französischen, englischen Preise. — Umgekehrt wirkt die erleichterte
Anfuhr von Getreide und anderen Stoffen niedrigen specifischen Werths: Begünstigung
der Consumenten, Benachtheiligung der Producentcn in dem Bezugslando. Hier dann
ebenso Nöthigung, zu anderen Productionen uberzugehen, vom Kornbau mehr zur
Viehzucht, wie in England seit den 40 er Jahren, wie neuerdings in Folge der Con-
currenz des billigen osteuropäischen und überseeischen Getreides in Deutschland und
Westeuropa. Schwierige Lage für unsere Landwirthe wegen unseres Klimas, dann
wegen der neuerlichen starken Lohnsteigerungen, die sie nicht so leicht wie die
Industriellen auf die Producte schlagen können; lauter treffende Beispiele, wie sehr
die Gesammthcit der Lebensbedingungen, in. a. W. wie sehr die Conjunctur,
nicht die individuelle Thätigkeit oftmals das wirtschaftliche Ergehen des Ein-
zelnen bestimmt.
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Conjunctur. Einzelne Hauptmomente.
391
4) Veränderungen in den Anschauungen der Menschen von
der Brauchbarkeit der Güter, daher Wechsel in der concreten
Werthschätzung, in Folge dessen im Begehr nach den Gütern.
Geschmacksireränderungen, Modewechsel u. dgl. m. mitunter sich so rasch voll-
ziehend, dass die Produccnten wenigstens vorübergehend in preeäre Lage gerathen.
5) Veränderungen in denjenigen allgemeinen Bedingungen der
Production und des Absatzes der Güter, sodann des Credits,
welche in den öffentlichen Zuständen des nationalen und
internationalen Verkehrsgebiets, in dem Vertrauen auf dieselben
oder dem Misstrauen gegen sie liegen: ein politisches Moment.
Dasselbe wird bei der steigenden Bedeutung der Arbeitstheilung im Inlande, bei
der Ausbildung weltwirthschaftlichen Verkehrs (§. 152 fl.) und bei dem stärkeren Mit-
wirken des Creditfactors (§. 158), andererseits bei den ungeheuren Dimensionen mo-
derner Kriegsführung immer wichtiger. Sehr lehrreiche Mittheilungen über die Eiu-
flusse grosser politischer Störungen auf die Production in den Handelskammer-
be richten der neueren Zeit, in Deutschland besonders in denjenigen für 1866. 1870. —
Kothwendigkeit auch wegen der complicirten Wirthschaftsverhältnisse und der Sensibilität
des Credits, die Kriege in kurzen, wuchtigen Schlägen zu Eude zu führen, was wieder
entsprechende Präventivthätigkeiten des Staats uud stehende Heereseinrichtungen be-
dingt. S. darüber unten Buche. Auch A. Wagner, Keichsfinanzen in v. HoltzendoriTs
Jahrb. d. D. Reichs III, 120 tf. Dann Finanzwiss. 2. Aufl. I, §. 108, 3. Aufl. §. 183.
6) Veränderungen in der wi rth schaftlichen Rechts-
ordnung für den nationalen und internationalen Verkehr.
Dadurch wird die Herstellung, der Absatz, der Bezug der Güter, die Wahl der
Productionsstelle wesentlich beeinflusst, was alsdann auf den Werth der fertigen Güter,
der Kapitalien, mit denen sie hcrgestellt werden und des Grund und Bodens, wie auf
denjenigen der neu herzustellenden Güter mehr oder weniger maassgebend eiuwirkt:
Veränderungen der Agrar-, Gewerbe- und Handelspolitik. Ein Beispiel bietet
die Reform der britischen Korngesetze, die in derselben Richtung wirkte, wie
die Erleichterung der Getreideeinfuhr nach Grossbritannien in Folge der besseren
Communicationsmittel.
7) Veränderungen in der räumlichen Vertheilung und
in der ökonomischen Ge sammtlage der ganzen Bevölkerung
eines Volkswirthschaftsgebietes.
Dadurch werden der Werth des Bodens, überhaupt und local, die Productions-
und Absatzbedingungen vieler Güter erheblich beeinflusst: z. B. Steigen des Boden-
werths bei grösserer, reicherer, räumlich stärker concentrirtcr Bevölkerung, unter dem
Einfluss der Freizügigkeit, der Auswanderung, vom platten Lande in die Städte. Die
deutsche, besonders die nordostdeutsche Landwirthschaft ist auch dadurch in neuester
Zeit in eine preeäre Lage gerathen. S. im 2. Thcil der Grundlegung über Freizügig-
keit. Am Schärfsten tritt der Einfluss dieses siebenten Moments wieder in den gross-
städtischen Bodenverhältnissen hervor, wo die ungeheuersten „privaten Kapital-
bildungen“ in grossem Umfang durch Grundstückspeculatiou uud Steigen des Boden-
werths erfolgen, — auf Kosten endloser Miethergenerationen. Darüber auch in der
Grundlegung Theil II im Abschnitt vom städtischen Wohuungsbodeu.
8) Veränderungen in der socialen und ökonomischen
Lage der einzelnen Bevölkerungsc lassen , welche durch ihren
392
3. B. Wirthsch. u. Volksvirthsch. 2. K. 2. A. Conjtmctur. §. 1117, 16S.
Einfluss auf Lohnhöhe und Zinshöhe, auf die Nachfrage nach
Massenconsumptibilien und Luxusartikeln wiederum den Werth des
Bodens, des Kapitals als Privatbesitz und die ProductionsbediDgnngen
vieler Güter sehr wesentlich mit bestimmen.
Z. B. Gewährung voller Coalitionsfreiheit an die lohnarbeitenden Classen und
staatlichen Schutzes derselben gegen Ausbeutung mittelst der sogen. Fabrik- oder der
neuerdings besser sogen. Arbeiterschutzgesetzgebung u. dgl. m., wodurch der Lohn
steigen, der Zins der Kapitalnutzung fallen, der Werth gewisser Kapitalanlagen (auch
des Bodens) herabgedrückt, das Einkommen der unteren Classen erhöht, der oberen
vermindert, dadurch die Nachfrage nach Producten von gewissen Artikeln für die
Wohlhabenderen weg nach Artikeln für die Arbeiter hinüber geleitet und durch dies
Alles die Production der Volkswirtschaft umgestaltet werden kann; lauter Verän-
derungen, welche den Werth vieler Privatvermögen stark beeinflussen müssen. So
giebt es z. B., wie in der Lehre vom Kapitalgewinn und Zinse zu zeigen ist, über-
haupt kein festes Gewinn- und Zinsminimum, dies kann vielmehr auf nahezu Null
herabgedrückt werden, und zwar durchaus nach den Grundsätzen des Systems der
freien Concurrenz. Je mehr es den Arbeitern gelingt, einen steigenden Antheil am
Productionsertrage für sich zu erlangen, desto näher kommt man dem eben erwähnten
Falle. Ein Herabgehen des Zinses auf 2— 2Vo% halte ich mit Schmolle r Grund-
fragen des Rechts und der Volkswirtschaft in absehbarer Zeit bei unseren mittel-
europäischen Völkern für sehr wohl möglich, und gewiss im Ganzen für wohltätig,
s. unten §. 94 ff. Aber welche ungemein grosse Veränderungen in der ökonomischen
Lage vieler Tausende, welche direct bei den Beziehungen zwischen Arbeitern und
Kapitalisten gar nicht beteiligt sind, werden durch ein solches volkswirtschaftliches
Ereigniss bewirkt!
Ein grossartiges practisches Beispiel von Vorgängen, wie den hier berührten,
unter dem Einflüsse eines zufälligen geschichtlichen Ereignisses liefern die Er-
scheinungen, welche in Deutschland 1871 ff. die Mitfolge der französischen Milliarden
waren. S. darüber A. Wagner, Reichsfinanzen a. a. 0. III, 228 ff., besonders das
Resumts S. 250 — 252 und ders. in Hildebr. Jahrb. 1874, XXII, 389 ff. über die Con-
tributionslitteratur. Der damalige Krieg und die Milliarden ein neues gutes Beispiel
der bestimmenden Macht der Conjunctur in der Volkswirtschaft.
C. — §. 168 [77 — 79]. Bedenken. Der dargelegte Ein-
fluss der Conjunctur hat volkswirtschaftlich und socialpolitisch seine
Bedenken. Denn die Ergebnisse des Wirthscbaftsbetriebs werden,
auch wenn letzterer noch so ökonomisch richtig geleitet worden ist,
durch die Conjunctur bei jeder Gelegenheit gekreuzt. Nicht bloss,
und oft nicht einmal vorwiegend eigenes Verdienst und eigene
Schuld, nicht Arbeit, Vorsicht, Sparsamkeit, nicht Trägheit, Leicht-
sinn , Verschwendung , sondern die Conjunctur bestimmt daher
oft entscheidend das Loos der Wirtschaft und ihres Subjects.
Nur unter zwei, leider nicht zutreffenden Voraussetzungen
würde dies weniger bedenklich sein: einmal, wenn die Chancen
der Conjunctur, also die Aussicht auf eine wertherhöhende und
das Risico einer werthvermindernden Conjunctur, im Grossen und
Ganzen bei allen Güterarten, in allen Zeiten und Orten der Volks-
wirtschaft gleich wären; dann würde die Wahrscheinlichkeit
einer Compensntion der Vorteile und Nachtheile der Conjunctur
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Conjunctur. Bedenken. •
39 3
für alle Vermögen und auch für das Vermögen des Einzelnen, aus
welchen Gütern es immer bestehen, wo immer es sich befinden mag,
ungefähr gleich liegen ; sodann, wäre die Conjunctur vom Einzelnen
wenigstens nur (und andrerseits: aber auch wirklich) durch sorg-
fältige Beobachtungen und angestrengte Bemühung, Fleiss, Sorg-
falt, mit anderen Worten durch Arbeit, einigermaassen sicher zu
berechnen, so läge in der Benutzung der Conjunctur für die wirt-
schaftlichen Zwecke des Einzelnen etwas Berechtigteres und in
den dabei durch die Speculation auf die günstige Conjunctur er-
zielten Gewinnen doch einigermaassen eine ökonomisch verdiente
Belohnung für reelle Arbeit und in dem bezüglichen Ansporn für
den Einzelnen etwas auch dem Gesammtinteresse Dienliches.
Allein erfahrungsgemäss entspricht die Conjunctur, so sehr
dies und damit dann die unbedingte Berechtigung und die nicht
nur einzel-, sondern die vo lks wirthschaftliche Nützlichkeit der
Speculation auch gelegentlich behauptet worden ist, diesen
zwei Voraussetzungen in der grossen Mehrzahl der Fälle nicht
oder nur wenig.
Vergl. besonders 0. Michaelis, die wirthschaftliche Rolle des Speculations-
handcls in der Berl. Vierteljahrsschr. f. Volkswirthsch. 1SG4, IV, 130; 1865, I, 196;
1865, II., 77 und dors. die dauernde Frucht der Conjunctur, eb. 1866, II., 121,
jetzt iui 2. B. seiner volkswirtschaftlichen Schriften. Anderseits hat J. Neuwirth,
Speculationskriso von 1873, Leipzig 1874, S. 311 ff. sehr gerechtfertigte Zweifel an
der „Productivität“ des Speculationshandels geäussert. S. ferner die Arbeiten von
G. Cohn, Zeitgeschäfte und Differenzgeschäfto, in Hildebrand’s Jahrb. VII (1866),
377 ff., IX, 73 ff., und dessen statistische Untersuchungen Uber die Wirksamkeit der
Speculation im Berliner Roggenhandel in d. Zeitschr. d. K. Prcuss. Stat. BUr. 1868,
S. 21 ff., und in Hildebr. Jahrb. XVI (1871), 282 ff., sowie den oben S. 370 gen. Auf-
satz in seiner Sammlung Cohn fällt unbefangenere Urtheile über den Speculations-
handel, abweichend von Michaelis’ optimistischen, obgleich er einen nicht uninter-
essanten Nachweis zu Gunsten der speculativcn Berechnungen im Kornhandcl liefern
konnte (s. unten). Die im Gegensatz zum Effecten- und vollends zum Grnndstück-
Speculationshandel (vergl. über diesen meine Bemerkungen auf der Eisenacher Ver-
sammlung 1872. Verhandl. S. 235 ff. und ebendas. Engel’s Rcf. über Wohnungsnoth,
bes. 179 ff. u. u. im 2. Theil die Ausführungen über den städtischen Wohnungsboden)
auch allgemein relativ nützlichste Art des Speculationshandels ist der Handel in Ge-
treide in Zeiten der Missernten, wie dies unter den Neueren besonders Roscher in
seiner Schrift über den Kornhandcl (1847) nachgewiesen, vgl. auch sein System II.
2, Kap, 12. Ucbersehen wird dabei freilich auch, dass das Abhilfsmittel, ncmlich
die rechtzeitige genügende Preissteigerung, um den Consum auf (oder unter) das
Minimalmaass bei der Masse der Bevölkerung zu drücken und um Zufuhren möglich
und rentabel zu machen, doch den Nachtheil der ungünstigen Conjunctur, der Miss-
ernte, grösstcnthcils allein auf die unteren Classen abwälzt. Lindwurm Eig. S. 302
wiederholt nur die alte Verteidigung der Speculation, die ich ja nicht für ganz un-
richtig, aber für richtig nur mehr in Ausnahmefällen halte.
Den ersten Punct anlangend, so sind die günstigen und un-
günstigen Chancen der Conjunctur nach Zeiten, Orten und Ob-
ject e n (Güterarten) bleibend ausserordentlich verschieden.
394
8. B. Wirthscb. u. Volkswirthsch. 2. K. 2. A. Conjunctur. §. 16S.
In einer an Bevölkerung und Wohlstand fortschreitenden Volkswirtschaft über-
wicgen durchschnittlich namentlich die günstigen Chancen, wenn auch mit gelegent-
lichen zeitlichen und localen Rückschlägen und Schwankungen, beim Grund eigen -
tlium, besonders beim städtischen (grossstädtischen'», während bei beweglichen
Gütern, Theilen des Gebrauchsvermögens, wie des Kapitals, der Wechsel der Con-
junctur viel häufiger und eingreifender ist, eine Richtung der Conjunctur überhaupt
nicht so andauernd vorwaltet, weil die jeweilig wechselnden Productionsverhältnisse
(Ernten) einen unmittelbareren Eintluss üben.
Der übliche Einwand, dass dem Conjuncturengewinn eine ebenso grosse Chance
des Conjuncturenvcrlusts gegenüber stehe und höchstens der wirtschaftlich Tüchtigste
eben den „verdienten“ Vortheil ziehe, ist insbesondere beim grossstädtischen Grund-
eigenthum unrichtig, obgleich er hier besonders gern gemacht wird. Dies ergiebt
sich aus den statistischen Daten über den mittleren Miethwerth einer Wohnung in
Berlin mit genügender Sicherheit. Vergl. die Tabelle bei Bruch, Wohnungsnot,
im Berl. Stadt. Jahrb. VI (1872). S. 23, und die Daten bei Engel, Eisen. Verhaudl.
1872 S. 172, 182. Der Durchschnittspreis einer Wohnung stieg von 1815 bis 1S31
von 39 06 auf 85.06, von da bis 1872 auf 171.19 Thlr. Von 1831 — 72 stieg er mit
nur 3 Ausnahmen in den J. 1849 — 5J, wo er von 104.65 in 1848 auf 101.1 in 1849,
98.6 in 1850 und 98.4 Thlr. in 1851 sank, ununterbrochen. Jene kleine Vermin-
derung war schon 1854 wieder eingeholt ( 1 06.3 4). Ob selbst die ausserordentliche
Ueberspcculation der J. 1871 ff. in neuester Zeit zu einer längeren Periode des Rück-
schlags führen würde, war zur Zeit der Bearbeitung der 2. Aull, dieses Werks (1878)
noch nicht zu bestimmen, aber schon damals nicht sicher. Durchschnittswert einer
vermieteten Wohnung (oder eines sonstigen Gelasses) Ende 1872 — 77: 609, 717, 752,
744, 748, 722 M. (Berl. Stat. Jahrb. 1877 S. 88, 1878 S. 95.) Seitdem ist er in Folge
der stärkeren Vermehrung der kleineren Wohnungen wegen vermehrten Bedarfs der
betreffenden Volksclassen herabgegangen. So war er 18S8 642, 1889 652 M. (Jahrb.
B. 15, 1888, Berlin, 1890, S. 140).
Ein Hauptbeispiel aus der neuesten Zeit liefert die Conjunctur und die dadurch
geschaffene Lage in der Kohlen- und Eisenindustrie (in allen Culturländem,
nicht nur in denen einer bestimmten, freihändlerischen oder schutzzöllnerischen
Handelspolitik, in England wie in Nord-America und Deutschland). Veränderungen
der Technik (Besseincr-Stahlerzeugung) steigerten freilich den Rückschlag. Vergl.
Pechar, Kohle u. Eisen u. die Berichte der Hüttenwerke, z. ß. der Dortrn. Gnion f.
1877/78. Durchschnittspreis für schottisches Roheisen in Glasgow p. Ton. 1870—77
Maik: 55.45, 60.13, 123.97, 139.35, 89.33, 67.12. 59.67, 55.45 (Pechar S. 39).
Maximalpreis für deutsches Qual. - Pudeleisen 1S73 p. 1000 Kil. 180 — 192, Mitte
187S 54, für Besscmer- Roheisen 210 u. 65, für Bleche 480—510 u. 150 — 160 Mk.
(Bericht der Union). Seitdem haben .auf diesem Gebiete die „Cartellc“ immer mehr
zu wirken begonnen, wohl mehr Regelmässigkeit in die Preise gebracht, aber auch
selbst auf die Schaltung von Preisgestaltungen und Conjuncturen dafür zur besseren
Ausbeutung der Consumenten mit hingewirkt.
Auch die zahlreichen Veränderungen der Technik machen die Conjunctur
wechselnder, schaffen aber in einem fortschreitenden Gemeinwesen mehr Momente,
welche die bisherigen Werthe eines Theils der Güter (der Industrieproducte und der
Kapitalien, z. B. der Werkzeuge und Maschinen, mit denen sie bisher hergestellt
wurden) herab als herauftreiben (Sinken der Preise der Fabrikate). So spielt die
Conjunctur doch insbesondere dem Gru ndeigenthümer Gewinne zu, die wenigstens er
nicht ökonomisch verdient, sondern nur der Institution des Privateigenthums und der
Mitbcziehung desselben auf den Werth der Güter zu verdanken bat, — Gewinne,
für welche Andere und die ganze Volkswirthschaft durch ihre Arbeit erst die
Bedingungen geschaffen haben.
Schlagende Beispiele von realisirten Conjuncturcngcwinncn aus der Baustellen-
specnlation in Berlin bei Engel a. a. 0. S. 180. Aus der neuesten Aera 1888 ff.
sind ähnliche zu constatiren. Der Einwand von A. Held a. a. Ü. und von Andren,
dass die Conjuncturengewinnc ausserhalb des Grundeigenthums nicht zu verfolgen
wären, ist nicht so allgemein richtig. Die ganz aparte ökonomische Stellung
des Grundeigenthums, besonders des städtischen, wird aber ganz übersehen,
wenn die Conjuncturengewinne hier und bei den beweglichen Gütern ohne Weiteres
gleichgestellt werden.
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. Conjunctur. Bedenke».
395
Den zweiten Punct betreffend, so sind diese wie die meisten
anderen Gewinne am Werth aus der Conjunctur aber ausserdem
in der Hauptsache doch nur Spielgewinne — denen insofern
wenigstens mit Recht wieder Spielverluste entsprechen — ,
weil die etwa zu Grunde liegende Speculation weit überwiegend
nur den Character des Spiels und nicht der Berechnung und
damit der Arbeit hat und haben kann. Dies lehrt die Erfahrung,
u. A. auch die Beobachtung über die speculirenden Personen selbst,
und sie bestätigt damit nur das Ergebniss der Analyse.
„Die Summe der nicht wissbaren Umstände Uberwiegt jederzeit unendlich
die Summe der w iss baren Umstände." „Je richtiger und genauer die Schätzung
der wissbaren Umstände ist, auf welche der verständige Calcül des Speculanten ge-
baut ist. desto grösser die Wahrscheinlichkeit, dass die unendlich überwiegende Summe
der nicht wissbaren Umstände das Resultat verändern wird". (Lassalle, Kapital und
Arbeit S. 23.) Manche Umstände (z. B. Verhältnisse des politischen Lebens, Vor-
kommen neuer Erfindungen) sind selbst hinsichtlich ihres Auftretens oder Nichtauf-
tretens vollständig unberechenbar und doch leicht die entscheidenden. Die
Stärke des Einflusses der einzelnen, selbst gekannten Umstände ist ebenso wenig
im Voraus genau zu messen. Es heisst den Dingen Zwang anthun , will man dies
verkennen.
S. die vorgenannten Aufsätze von G. Cohn mit dem Ergebniss, dass der Irr-
thnm der Erwartung der Speculation in Roggen in Berlin im Laufe der Jahre in der
That kleiner wurde, was indessen die im Texte anfgestelltcn Sätze nicht auf hebt.
Im Getreid chandel kämpft man allerdings mit dem besonders variablen Causalfactor,
der Witterung, hat aber andrerseits bei dieser wichtigsten Waare die längsten und
heutzutage die räumlich umfänglichsten Beobachtungen gesammelt und vermochte die-
selben neuerdings in ein ordentliches System zu bringen. Vergl. besonders über die
Beobachtungen, welche die grossen englischen Kornhändler Uber die Ernteaussichten,
z. Th. durch besondere Sendlinge, anstellen lassen, und Uber die Methoden, practische
ernte - statistische Daten durch Privatthätigkeit zu erlangen, Tooke a. Newmarch.
Hist, of prices. V, Th. 1 (Asher's Uebersetz. II, 1). Wie sehr aber auch hier oft
alle Berechnungen täuschen, das zeigt sich in den besonders schweren Krisen des
Getreidchandels, den plötzlichen Preisruckschlägen u. s. w. (z. B. im J. 1S4T, s. meine
Beiträge zur Lehre von den Banken, S. 205 ff. und o. §. 107 unter Nr. 1), den dann
ausbrechenden zahlreichen Bankerotten. — Jüngst sind Cohn’s ältere statistische Unter-
suchungen für den Berliner Getreidehandel fortgesetzt (Kantoro wicz, Wirksamkeit
der Speculation im Berl. Kornhandel 1850 — 00, in Schmoller’s Jahrbuch. XV, 1801,
S. 1183 ff.). Danach würde sich Cohffs Ergebniss einigermaassen bestätigen (S. 1195).
Indessen ist hier doch selbst in der neuesten Zeit (1885 — 90) eine Zunahme des Irr-
thnms in der Calculation herausgerechnet, was ausdrücklich mit auf Beunruhigungen
der Speculation durch politische Maassregeln zurückgeführt wird (S. 1193). Gross
genug sind die Irrthümer in Betreff der wirklichen Zukunftspreise ohnedem immer
noch, um zu zeigen, wie sehr cs sich hier um unberechenbare Momente handelt und
das Geschäft Spielcharacter behauptet. Zweifel bleiben ausserdem in Betreff der Be-
rechnung der Durchschnitte und der Schlüsse. Lassalle’s Sätze scheinen mir durch
derartige „inductive" Beweisführungen nicht im Mindesten erschüttert zu werden.
Ja, die Bedenken steigen noch, wenn man noch andere Puncte
berücksichtigt, welche mit der Frage der Speculation und mit
den Schwankungen der Conjuneturen Zusammenhängen. Soweit
hier wirklich in der Speculation und in der speculativen Ausbeutung
der Conjuneturen etwas unterläuft, was als ein wirtschaftliches
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396
3. B. Wirthsch. u. Volkswirthsch. 2. K. 2. A. Coujanctur. §. 168, 169.
Arbeitsmoment angesehen werden darf, soweit daher bei einer
solchen Ausbeutung der wirtschaftliche Erfolg als Ergebniss be-
wusster Willensacte, Handlungen, Unterlassungen, nicht mehr bloss
als Ergebniss des Zufalls und der Consequenzen des Eigenthums-
princips, wenigstens in gewissem Umfang, gelten darf, erhebt sich
das Bedenken, dass entweder immer nur eine kleine Minorität an
dieser Ausbeutung Theil nimmt, die Uebrigen es nicht können oder
(glücklicher Weise) auch nicht wollen, oder aber sich die Specula-
tionssucht immer weiter verbreitet und dann vollends das wirtschaft-
liche Leben den Character des Spiels und der Ueberlistung annimmt.
Wo die Conjoncturen sich dann nicht von selbst znr Ausbeutung bieten, sucht
inan sie künstlich zu schaßen oder zu steigern, was wiederum nur mittelst sittlich be-
denklicher, wirtschaftlich weite Kreise schädigender Practiken und mit der Folge
abermals gesteigerten Spielcharacters der Volkswirtschaft geschehen kann. Da er-
geben sich denn auch jene üblen KUckwirkungcn auf den ganzen sittlichen Zustand
der Gesellschaft, von welchen schon im ersten Buche mehrfach gehandelt worden ist
(§. 41, 44). Grosse Umwälzungen in den Einkommen- und Vermögensverhältnissen
erfolgen, zu Gunsten der glücklichen Spieler, der erfolgreichen Speculanten, auch der
Geriebensten, Gewissenlosesten, zu Ungunsten der unglücklichen Spieler und Specu-
lanten und zum Nachtheil der übrigen. Massenhaft wird arbeitsloses Einkommen, in
Spiel und Conjuncturen -Ausbeutung errafftes Vermögen auf Kosten Andrer, schliess-
lich auch, z. B. mittelst spcculativer Preissteigerung der Waaren, auf Kosten der
Volksmassen erworben. Eine ungünstigere Vertheilung des Volkseinkommens und
Vermögens, Verbitterung und Neid, Geldstolz und maassloser Luxus sind die Folgen.
Diesen Verhältnissen gegenüber kann man doch kaum mit
Optimisten sagen , die Wirkungen der Conjunctur und ihrer Aus-
beutung seien unbedenklich, sogar für das Ganze segensreich, wreil
auf richtiges wirtschaftliches Handeln hinwirkend, dieses belohnend,
Trägheit, unrichtiges Handeln strafend. Und ebenso wenig kann
man sich mit kühleren Köpfen einfach dabei beruhigen, alles das
sei notwendig und unabänderlich, weil eine Consequenz der Privat-
eigentumsordnung und des freien Verkehrs und damit eben hin-
zunehmen. Damit geht man über die Frage, ob denn dem wirk-
lich so sei und ob sich gar nichts daran ändern lasse, doch gar
zu leicht und bequem hinweg.
D. — §. 169 [80]. Wissenschaftliche Stellungnahme
gegenüber der Conjunctur. Statt solcher Ansichten wie der
eben erwähnten, ist das offene Anerkenntniss, dass in der Volks-
wirtschaft, zumal der modernen, zahlreiche persönlich öko-
nomisch unverdiente, bez. unverschuldete Gewinne uud
Verluste oder Vermehrungen und Verminderungen des Vermögens
einer Person unter dem Einflüsse der Conjunctur Vorkommen, und
dass dies wesentliche Bedenken hat, geboten. Aber dies Aner-
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Stellungnahme gegenüber der Conjunctur.
397
kenntniss schliesst nicht sofort notwendig die Forderung in sich,
dass auf die völlige principielle Beseitigung dieses Verhältnisses
unbedingt hinzustreben sei. Diese Forderung setzte die klar con-
statirte Möglichkeit einer solchen Beseitigung voraus. Eine
darauf bezügliche Frage ist bisher selten genug .auch nur auf-
geworfen worden, jedenfalls hat eine genügende Untersuchung nicht
stattgefunden. Die socialistische Untersuchung ist nicht ge-
nügend , weil sie die Schwierigkeiten der principiellcn Aenderung
verkennt. Die Nationalökonomie aber hat freilich bisher gewöhn-
lich umgekehrt ohne Weiteres das dargelegte Verhältnis als eine
noth wendige Folge des Eigenthumsprincips anerkannt
und ruhig hingenommen: ein ebenso wenig haltbarer Standpunct.
Was dagegen der Conjunctur gegenüber von der Wissenschaft
zu verlangen ist, besteht in Folgendem:
1. Die Misslichkeit solcher ökonomisch vom Einzelnen nicht
verdienten und nicht verschuldeten Vermögensveränderungen und
der weiteren Consequenzen hiervon darf nicht bestritten werden.
Die Conjunctur mit ihren Einflüssen erscheint nun als ein besonders unserer
heutigen „freien“ Volkswirtschaft characteristisches Moment. Kann man letzteres
nicht beseitigen oder seine Wirkung ausgleichcu. so muss die Conscquenz dieser Sach-
lage offen anerkannt werden : diese Consequenz ist, dass die wirtschaftliche Lage des
Einzelnen oder der Familie von deren eigenen wirtschaftlichen Th&tigkoit (Arbeit,
Sparsamkeit. Kapitalvcrwcndung, Bodenbenutzung) oder vom „Wirthschaftsbetrieb“
(§. 157) nicht immer vorwiegend, geschweige allein abhängt, sondern wesentlich mit
ein Product der Conjunctur ist. Das ist aber ein Umstand, welcher notwendig die
Bedeutung der persönlichen wirtschaftlichen Verantwortlichkeit abschwächt. Es ist
daher auch nicht richtig, von unserer Yolkswirthschaft auszusagen, sie beruhe ganz
oder auch nur überwiegend auf diesem Princip der eigenen Verantwortlichkeit des
Wirthschaftssubjcts. Es ist nicht minder falsch, den Grundsatz der sog. Selbsthilfe
als das leitende Princip der Wirtschaftspolitik hinzustellen: lauter Fehler, welche
die neuere Nationalökonomie der britischen Schule begangen hat. Dieser Grundsatz
setzte vielmehr eine Volkswirtschaft voraus, in der die Conjunctur nicht so mächtig
ein wirkte und der eigene Wirthschaftsbetrieb über die wirtschaftliche Lage des
Subjccts wesentlich allein entschiede.
2. Gilt die heutige Organisation der Volkswirtschaft
und die Rechtsbasis dafür, daher das Privateigenthum an den
sachlichen Productionsmitteln (Boden und Kapital), die Vertrags-
freiheit, der speculative Privat- Unternehmungstrieb, überhaupt
das sogen, privatwirtbschaftliche System der freien Concurrenz
(Buch 5) für die in der Hauptsache unabänderliche Einrichtung
der Volkswirtschaft und der wirtschaftlichen Rechtsordnung, daun
muss wenigstens die Aufgabe für berechtigt erkannt werden, den
misslichen Folgen der Conjunctur entgegen zu arbeiteu.
Dies kann in Betreff der ökonomisch nicht oder nicht genügend „verdienten“
Conjuncturengewin ne wohl mit durch ein rationelles Steuersystem der oben
3(J8
3. B. Wirthsch. u. Volkswirthscb. 2. K. 2. A. Conjunctur. § 169, 170.
angedeutetcn Art, welches diese Gewinne zu treffen sucht; in Betreff der ökonomisch
unverschuldeten Verluste, welche Folge der Conjunctur sind, und der weitereu
daraus hervorgehenden üebelstäudc, wie Stockung des Absatzes, Krisen, Arbeiterent-
lassung, Lohnreductionen u. s. w., durch ein rationelles, den Verhältnissen augepasstes
System der Versicherung (u. A. auch der Arbeiterversicheruug) und durch An-
erkennung der grundsätzlichen Berechtigung auch von Staatshilfe in geeigneten
Fällen einigermaassen geschehen: freilich Alles nur Mittel zur Bekämpfung der
Symptome, der Folgen des Uebels, nicht der ü rsac he n desselben, daher nicht
dieses Cebels selbst. Aber deshalb doch weder etwas ganz Unwirksames, noch Fal-
sches. Namentlich ist das Princip der Staatshilfe als ein in den geschilderten Verhält-
nissen unserer Volkswirtschaft begründetes anzuseheu, während es die liberal-
individualistische Doctrin völlig falsch als mit diesen Verhältnissen in Widerspruch
stehend hinzustellen und deshalb zu bekämpfen pflegt.
3. Die tiefergehende Untersuchung wird sich aber freilich des-
halb doch immer der Aufgabe gegenüber gestellt sehen, zu forschen,
ob und wie weit nicht das Uebel selbst, der maassgebende Einfluss
der Conjunctur beseitigt oder wenigstens gemindert werden kann.
Das führt zu der Frage von der dem entsprechenden Veränderung
der Organisation der Volkswirthschaft und der wirtschaftlichen
Rechtsordnung, um regelmässigere Production und richtigere und ge-
rechtere Verteilung herbeizuführen.
Die principale Frage der heutigen Nationalökonomie, die der wissenschaft-
liche Socialismus das Verdienst hat, aufgestellt zu haben, nur dass er sie viel zu
leicht nahm und sie eiuseitig apodictisch beantwortete. Im 3. bis 5. Buche
und im 2. Theil der Grundlegung (von Volkswirthschaft und Recht) wird sie eingehend
erörtert werden: durchaus mit in Consequenz der hier dargelegten Anschauungen.
In Vorwegnahme des Ergebnisses der späteren Erörterungen
sei hier nur bemerkt, dass zweierlei in Betracht kommt: soweit
es ökonomisch und technisch zulässig und socialpolitisch nicht be-
denklich ist, gilt es die Privatwirthschaft durch die Gemeinwirth-
schaft, besonders des Staats, der Gemeinde zu ersetzen; soweit
das — in der Masse der Fälle, wenigstens für die zu übersehende
Periode — nicht statthaft ist, muss die Privatwirthschaft selbst
mehr geregelt werden. Durch Beides lässt sich der Einfluss der
Conjunctur und ihrer Schwankungen beschränken , das zufällige
Zugutekommen der Vortheile der Conjunctur an oder die spe-
culativc Ausbeutung der Conjunctur durch Private hemmen, die
Uebertragung der guten und üblen Wirkungen verbleibender Con-
juncturenschwaukungen auf die Gemeinschaft, als immer noch das
Beste, herbeifuhren.
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39y
Drittes Kapitel.
Ertrag und Einkommen,
oder die Einkommenlehre aus dem Productions-
standpunct betrachtet.
§. 170. Vorbemerkung und Litteratur.
Die Lehre vom Ertrag und Einkommen bildet eine weitere Ausführung der im
1. Abschnitt des vorigen Kapitels, §. 156 ff., eingeleiteten Lehre vom Wirthschafts-
betrieb. Sie ist hier für die Einzel- und für die Volkswirtschaft zu unterscheiden.
Daher die Einthcilung in die folgenden zwei Abschnitte. Dabei ist dann mehrfach
in einzelnen Puncten, auch in der Lehre vom Einzelcinkommen, der Doppelstand-
punct der Betrachtung, der einzel- und der volks wirthschaf tlich e, zu trennen,
namentlich bezüglich der Kosten, eine besonders wichtige Trennung, deren
Nichtbeachtung oder falsche Beachtung nothwendig zu Irrthümern führt, wie die ältere
Behandlung zeigt. Auch die ganze Einkommeulehro muss aber wieder von dem schon
öfters von uns unterschiedenen weiteren doppelten Standpuncte aus behandelt wer-
den: von demjenigen der Production der Güter in der Volkswirthschaft und von
demjenigen der Gütervertheilung in derselben aus. Erst durch diese Behandlung
von den zwei Seiten aus, welche für alle diese Fragen in Betracht kommen, erhält
jene Lehre ihren richtigen theoretischen Abschluss. In diesem Kapitel wird die Ein-
kommenlehre, soweit sie nach meiner Auffassung in den allgemeinen grundlegenden
Theil gehört, vom Productionsstandpunct aus erörtert. Im folgenden vierten Buch
folgt die ergänzende Behandlung vom Vertheilungsstandpuncte. Die National-
ökonomie der Smith scheu Schule hat hier wie in allen ihren Erörterungen zu einseitig
den ersten Standpunct vertreten und dabei ausserdem noch den Producentenstand-
punct des einzel wirtschaftlichen Subjects (des Unternehmers) öfters mit demjenigen
des ganzen Volks (der Volkswirthschaft) in der Productionsfrage verwechselt.
Uebcr die zu löseude Aufgabe s. unten Weiteres in Buch 4 (litterarische Vorbemer-
kungen).
Für Litteratur vgl. die reichen Angaben in dem Aufs. Einkommen von Kob.
Meyer, Handwörterb. der Staatswiss. III, 67 u. dors. in der Monographie „das Wesen
des Einkommens“, Berlin 1887. S. Ricardo, principles ch. 26 u. 32. — Bern-
hardi. Versuch einer Kritik der Gründe, dio für kleines und grosses Grundeigen-
thum sprechen, Petersb. 1848 §. 14 IT. — Rau I, §. 70, 71, auch §. 165, 245 ff. —
Koscher I, §. 144 11., auch t$. 106. — Mangoldt, Grundr. §. 85 ff., ders. Art. Ein-
kommen im Staatswörterb. III, ders. Volkswirtschaftslehre, Kap. 12. — Besonders
v. Hermann, Untersuch. Kap. IX, S. 582 ff. und G. Schmoller, Lehre vom Ein-
kommen in ihrem Zusammenhänge mit den Grundprincipien der Steuerlehre, Tüb. Ztschr.
f. Staatswiss. XIX. (1863) S. 1 ff., auf welche Arbeit auch für die Dogmengeschichte
des Begriffs Einkommen mit zu verweisen ist. — Schäffle, Syst. 3. Aufl. I, §. 168 ff. —
Guth, Lehre v. Eink. 2. Auf!., Lpz. 1878. — B. Weisz, Lehre v. Eink. Tüb. Ztschr.
1877 u. 1878. Vergl. auch H. Rösler, zur Lehre vom Einkommen, Hildebr. Jahrb.
1S68 I, und aus der socialistischen Litteratur besonders die Arbeiten von Rodbertus,
s. u. und Marx, Kapital II, Kap. 19, 20. Weitere litterarische Nachweise in der
Vorbemerkung Abschnitt 2 unten.
Neu mann in seinen „Grundlagen“ und im Schön berg 'sehen Handbuch I. Abh. 4,
3. A. S. 169, Th. Mithoff eb. Abh. 11, S. 575. G. Cohn, System I, S. 563 ff. —
Das Wichtigste ist jetzt das Buch von Rob. Meyer, mit dem eine Auseinander-
setzung über unsre Diffcrenzpuncte aber an dieser Stelle zu weit führen würde. Ich
habe doch an meiner bisherigen Behandlung im Wesentlichen festgehalten, dio Fas-
sung aber im Einzelnen zu verbessern, besonders zu verschärfen gesucht.
Von practischer Bedeutung wird die Einkommen-, Ertrags- und Kostenlehre für
die Stcu erleb re, besonders auch für die Fragen in Betreff des (wenn auch in den
Gesetzen mit Recht öfters nicht speciell formulirten, aber doch nothwendig vorschwe-
benden) Einkommenbegriffs und des Kostenbegriffs (Abzüge u. s. w.) bei der (nomi-
nellen) Einkommensteuer. Dafür ist auf die llnanzwiss. Litteratur zu verweisen. Vgl.
meine Finanzwiss. II, 2. A. S. 314 ff. S. u. A. meine Abh. über die Reform der
400 3* B. Wirthsch. u. Yolkswirthscli. 3. K. Ertrag u. Einkommen. 1. A. §. 171.
directen Steuern in Preuesen. speciell Uber die Einkommensteuer, im Schanz’schen
Finauzarchiv 1S91 B. 2.
1. Abschnitt.
Ertrag der Einzelwirtschaft und Einzeleinkommen.
I. Ertrag. — §. 171 [82]. A. Begriffsbestimmungen.
Der Begriff des Ertrags ergiebt sich, wenn die Einnahmen auf
das Object, aus dem sie hervorgeben, zurückbezogen oder als
Ausflüsse einer Erwerbsquelle, d. h. einer Tbätigkeit, eines Rechts
oder einer bestimmten Erwerbseinrichtung, ohne Rücksicht auf die
Persou , der sie Zufällen , betrachtet werden. Ertrag ist dann der
aus einem solchen Object herrübrende Zuwachs von Gütern, daher
vom Werth derselben, in seiner Rückbeziehung zu dem Object,
als seiner Ursache und Bedingung, betrachtet: eine naturale Güter-
menge, welche ein bestimmles Werthquantum (von Gebrauchs- und,
eventuell, regelmässig auch vom Tauschwerth) darstellt, wobei
gewöhnlich nach bestimmten Zeiträumen gerechnet wird. So viel
Einnahmearten (§. 159, 100), so viel Ertragsarten können Vor-
kommen.
Dieser Ertrag ist zunächst Roh- oder Bru tto er trag, indem
er die zu seiner Gewinnung, als Mittel zum Zweck, erforderlichen
Aufwendungen von wirtschaftlichen Gütern, d. h. die Auslagen
oder Kosten ihrem Werthe nach noch in sich enthält. Diese
Kosten werden schliesslich reell aus dem Werthe des Rohertrags
bestritten. Nach Abzug derselben ergiebt sich erst der Rein-
oder Nettoertrag: das Ziel jeder Einzelwirtschaft und allein die
wirkliche Vermehrung des Vermögens.
Die Kosten bei den unmittelbar eigens gewonnenen Einnahmen oder bei
der Naturalproduction können noch speciell Productiouskosten genannt
werden. Doch wird letzterer Ausdruck auch fUr die Kosten der Gewinnung aller
Einnahmen und Erträge gebraucht.
Neu mann (Handbuch I, 3. A. S. 169) glaubt beim Ertrag, „äusserlich auf-
gelasst“, den Inbegriff der Guter selbst, der aus einem Object hervorgeht, dann erst
den Werth dieses Inbegriffs unterscheiden zu sollen. Erst bei letztrer Bedeutung von
Ertrag spricht er dann von Koh- und Beinertrag. Mithoff (ob. S. 574) hebt hervor,
dass bei der isolirten Einzelwirtschaft die nationale Gütermenge, boi der im Verkehr
stehenden (Verkehrswirthscliaft) der Erlös aus dem Verkauf der erzeugten Güter den
Bohertrag bildet.
B. — §. 172 [82, 83]. Nähere Betrachtung der Kosten.
Einzel- und volkswirthscha ft liehe Kosten.
Geber die Kosten ist schon oben in der Werthlehre §. 141 in Kürze gehandelt
worden. Weiteres gehört in die Lehre vom Preise in der theoretischen Volkswirt-
schaftslehre. Aber auf die folgenden Hauptpuucto ist auch hier einzugehon.
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Erörterungen über Kosten.
401
Begriff und Wesen der Kosten, welche zur Gewinnung von
(Roh-) Erträgen aufgewendet werden müssen, sind verschieden
vom Standpuncte der Einzel- und der V o 1 k s wirthschaft. Auch
vom letzteren Standpuncte aus ist aber wieder zwischen volks-
wirthschaftlichcn Kosten in zweierlei verschiedener Bedeutung
des Wortes zu unterscheiden : einmal, indem man, wie schon früher
(S. 308, 316) als möglich anerkannt wurde und mitunter zweckmässig,
ja nothwendig ist, auch die Volkswirthschaft als Productions-
cinrichtung mit eigenem Zweck, daher als Person gedacht
und als ein Object der Ertragsgewinnung betrachtet und
dann folgerichtig hier dasjenige „Kosten“ nennt, was an mensch-
lichen Leistungen unmittelbar und mittelbar (in der Form
bereits vorhandener Arbeitsproducte) zu dieser Ertragsgewinnung
verwendet, seinem Werthbetrage nach daher dabei zu-
gesetzt werden muss, bzw. wird; und zweitens, indem man die
Volkswirthschaft nur als Mittel zum Zweck, nemlich als Pro-
ductionseinrichtung zur Erzielung von Gütern für menschliche Be-
dürfnisbefriedigung (im Wesentlichen: zur Bildung von Ein-
kommen als „Consumtionsfonds“, Rob. Meyer) ins Auge fasst,
wo sich dann der Begriff „Kosten“ und zwar volkswirtschaftliche
Kosten, gegen den ersten Begriff verengt, in der unten dar-
gelegten Weise.
In dieser Art habe ich zwar schon in der 2. Auflage (S. 111 ff.) zu unter-
scheiden begonnen, aber doch die Scheidung noch nicht klar und scharf genug hervor-
gehoben und durchgeführt. Die Polemik gegen meine Einbeziehung der Unterhalts-
mittol der Produceuteu (Arbeiter) in den Kapitalbegriff und unter die auch volks-
wirtschaftlichen Kosten (s. o. §. 129) hat mich zu dieser nunmehrigen Behandlung
dieser Dinge und Fassung meiner Sätze geführt, wodurch mir der Streit einfach ge-
schlichtet zu werden scheint. Denn man verstand sich nicht, weil man die verschie-
denen Standpuncte auch in BetrctT der volkswirtschaftlichen Kosten nicht trennte.
Auch so scharfe Denker wie Rodbertus, und auch die besten neueren Autoren auf
diesem Gebiete, Rob. Meyer, Neu mann. Mithoff haben diesen notwendigen
Schritt unterlassen.
1. Kosten vom Standpuncte der Einzel wirthschaft
aus. Mit diesen wird hier am Besten zu beginnen sein, weil es sich
dabei um die einfacheren Fragen handelt.
Es sind hier dann dreierlei Kosten zu unterscheiden, von
denen die beiden ersten Kategorien als „ e i n z e Iwirthschaftliche“
der dritten, den Volks wirtschaftlichen Kosten in unserem zweiten
Sinne, gegenttberstehen.
a) Kosten, welche die Einzelwirthschaft für die Mitwirkung
ihres leitenden Wirthschaftssubjects mit seiner Arbeit und mit
den ihm gehörigen sachlichen Productionsraitteln (Grund-
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Tbeil. Grundlagen. 26
402 3. B. Wirthsch. u. Volkswirthsch. 3. K. Ertrag u. Einkommen. 1. A. §. 172.
stticke, Gebäude, bewegliche Kapitalien) anzusetzen bat. Diese
, Kosten sind v o lk s wirtschaftlich nicht „Kosten“, sondern Rein-
ertrag des Wirthschaftsbetriebs oder Einkommen des Wirth-
schaftssubjects.
Die Begründung dieser Auffassung ist in den Auseinandersetzungen unter den
folgenden zwei Puncten mit enthalten.
b) Kosten, welche eine E i n z e 1 wirthschaft aufwenden muss,
um die Mitwirkung anderer Wirtschaften und Personen oder
der Arbeit Dritter und diesen Dritten gehöriger, bzw. zu deren
rechtlicher Verfügung stehender sachlicher Productionsmittel zur Er-
tragsgewinnung zu erlangen: demnach wieder in letzter Linie Ver-
gütungen aus dem Roh-, aber Antheile an dem Reinertrag,
welche eine Einnahme anderer Wirtschaften und Personen
bilden: Arbeitslöhne, Gehalte und dergleichen, Gewinnanteile,
Kapital-, Mieth-, Pachtzinsen u. s. w.
Diese „Kosten“ sind eine Folge der Selbständigkeit der einzelnen Wirt-
schaften, der Arbeitsteilung, der Anerkennung der persönlichen Freiheit
der Arbeitenden und des Privateigenth ums an den sachlichen Productionsmittelu,
der Credit geschäfte (§. 143, 158). Daher z. B. in der antiken Productionswirthschaft
(§. 1 59), welche mit Sclaven und auf eigenen Grundstücken (z. Th. als Latifundien- und
Plantagenwirthschaft, mit Sclavenschaaren) betrieben wurde und wo Fabrikation, Hand-
werk und Landwirtschaft noch vielfach verbunden war, eine ganz andere Be-
rechnung der einzelwirthschaftlichen Productionskosten und demnach auch des Ein-
kommens des einzelwirthschaftlichen Subjects (des Einen Oikeneinkommens) als in der
modernen Productionswirthschaft mit freien Arbeitern und etwa wie vorherrschend in
England auf gepachteten Grundstücken. Auf diese Unterschiede und ihre weittragende
volkswirtschaftliche und sociale Bedeutung bat besonders Rodbertus in seinen Ar-
beiten über Wirthscbafts- und Steuerverhältuisse des Altertums in Hildebrand’s
Jahrbuch., in den Anmerkungen zu seiner Creditnoth des Grundbesitzes oftmals hin-
gewiesen, s. z. B. daselbst I, 81 ff., auch II, 107 lf., 272 fl'., 295 ff., 302 ff., und in
anderen Schriften ähnlich, so im Kapital S. 73 fl. , lüOff. . 289 ff. Jene Kosten
sind eben deshalb wieder nur einzelwirthscliaftlich aufgefasst, nicht volks-
wirtschaftlich „Kosten“, volkswirtschaftlich vielmehr Antheile am li ein-
ertrag. Ihre Veränderung involvirt nur eino veränderte Verteilung dieses
Reinertrags (des Volkseinkommens, §. 176 ff.) unter den Einzelwirthschaften und der
Bevölkerung, in der Praxis unseres heutigen Verkehrs vermittelst veränderter Löhne,
Zinsen, Renten, Unternchmergewinnste. Preise der Güter. Eine Ersparung an diesen
bloss einzelwirthschaftlichen Kosten einer Wirthschaft oder eine Vermehrung dieser
Kosten steigert oder mindert daher nur denjenigen Theil des Rohertrags, welcher dem
Subject der Wirthschaft als Reinertrag verbleibt, zu Ungunsten oder zu Gunsten
fremder, irgendwie mit Arbeit oder Rechten (aus Creditgeschäften , wie Darlehen,
Vermiethungen, Verpachtungen u. s. w.) an jener Wirthschaft Betheiligten. Ob und
wie weit jene Ersparung oder Vermehrung dieser Kosten volkswirtschaftlich
günstig oder ungünstig zu beurtheilen ist, lässt sich nicht allgemein sagen, son-
dern hängt von dem Urtheil über die eben genannten Folgen dieser Erscheinung für
die Vertheilung des Einkommens im Volke ab (Buch 4).
c) Kosten, welche eine Einzelwirtschaft aufwenden muss,
ohne dass dieselben irgend einer Wirthschaft oder Person
direct als Einnahme, bez. als Reinertrag und Ei n komme n ,
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Kosten vom Standpunct der Einzelwirtschaft.
403
zu Gute kommen, welche vielmehr direct ohne eine menschliche
Bedürfnisbefriedigung zu bewirken, „genusslos“ in diesem Sinne,
verzehrt, zugesetzt, auch im volks wirthschaftlichen Sinne, werden.
Dies sind die natürlichen oder eigentlich und allein volks-
wirthsch aftl ichen Productionskosten , in einem speciellen
Sinne des Worts, in unserer zweiten Bedeutung volkswirtschaft-
licher Kosten.
Daher in der Sachgütergewinnuug der Werth der verbrauchten Stoffe (Roh- und
Hilfsstoffe u. s. w.) und der Werthbetrag der Abnutzung der „Productions- und Arbeits-
instrumente“ oder „Werkzeuge (i. w. S.) : das unbedingt notwendige Mittel zur Er-
tragsgewinnung, unabhängig von der Gestaltung der Arbeitstheilung und der Rechts-
verhältnisse in Bezug auf Personen und Eigenthum. Mit diesen Kosten wird die
Mitwirkung der Natur und ihrer Kräfte an der Production erkauft. Eine Ersparung
an ihnen heisst allgemein: auch eine Ersparung an menschlicher Arbeit, welche die
verbrauchten Stoffe und Werkzeuge herzustellen gekostet haben; heisst daher ein
günstigeres Vcrhältniss zwischen Roh- und Reinertrag bei der Production, mithin eine
grössere Summe aller einzelwirthschaftlichen Reinerträge, des volkswirtschaftlichen
Reinertrags (§. 176) und des Volkseinkommens; heisst Möglichkeit einer reichlicheren
Bedürfnissbefriedigung Aller. Die Gesammtheit gewinnt also bei solcher Ersparung
immer, wenn der Vortheil davon auch nicht Allen gleichmässig zu Gute zu kommen
braucht, indem weniger nationale Arbeit zur Herstellung jener Stoffe, Werkzeuge u. s. w.
verbraucht, daher entbunden wird, sei es zur Gewinnung arbeitsfreier oder arbeits-
erleichterter Zeit, sei es zur Verwendung in anderer Weise, auch für im Ganzen ver-
mehrte Gewinnung von Gütern als Genussmitteln.
Die Einzelwirtschaft, welche diese Kosten zu vermindern weiss, macht sich
daher auch um das Ganze verdient. Die auf der Arbeitstheilung beruhende einzcl-
wirthschaftliche. namentlich privatwirthschaftliche Productionsweise findet ihre allge-
meine, dem Gesammtintcresse entsprechende Rechtfertigung unter Anderem besonders
darin, dass sie auch, wenn auch zunächst nur im Interesse des einzelwirthschaftlichen
Subjects, die Ersparung an solchen natürlichen Productionskosten zu Wege zu bringen
strebt, in vielen Fällen jedenfalls, wenn auch nicht, wie behauptet wurde, stets,
besser als irgend eine anders organisirte, besonders als die gemeinwirthschaftlicho
Productionsweise.
Der Streit zwischen Socialisten und unbedingten Verteidigern des privatwirth-
schaftlichen Systems lässt sich hier wissenschaftlich auf den einen Hauptpunct zurück-
fübren, dass die letzteren das volks wirthschaftliche Interesse bei der privatwirthschaft-
lichen Productionsweise am Besten gewahrt zu sehen glauben, weil hier auch mit
den geringsten volks wirthschaftlichen Productionskosten (also am
Meisten nach dem ökonomischen Princip) producirt werde, während ohne
solche maassgebende Mitwirkung des privatwirthschaftlichen Interesses viele Güter
überhaupt gar nicht, jedenfalls aber alle schlechter und kostspieliger hergestollt würden.
Die Socialisten läugnen dies einmal wenigstens für viele Fälle und betonen die Be-
rechtigung und Nothwendigkeit des gemcinwirthschaftlichen Systems, andrerseits
behaupten sie, dass im privatwirtlischaftlichen System, namentlich dem heute herr-
schenden, wo der ..Arbeiter“ für seine Mitwirkung an der Production im Lohnvertrag
„abgefunden“ werde, der Unternehmer zu sehr an jenen einzelwirthschaftlichen
Productionskosten sparen könne und spare bloss auf Kosten der übrigen an der Pro-
duction betheiligten Classen, besonders der Arbeiter. Letztere erhielten bei diesem
System also zu wenig, würden regelmässig nur mit dem unentbehrlichen Unterhalts-
bedarf abgefundeu (Lassalle’s „ehernes Lohngesetz“), während der darüber hinaus
von ihnen, den Arbeitern (nach Mars: von den Arbeitern sogar allein) producirtc
Mehrwerth den kapitalistischen, d. h. kapitalbesitzenden (s. o. §. 129) Unternehmern
ungebührlicher Weise verbliebe und auch die Hauptquelle des privaten Kapitalbesit/.es
sei (vergl. Marx. Kapital I, Kap. 3 — 5, besonders I, Abschn. 1, ähnlich schon früher
Rodbertus, Zur Erkenntniss u. s. w. 1. Theorem und Sociale Briefe). Die Socialisten
unterschätzen dabei aber die ökonomisch-technischen Schwierigkeiten, welche der Her-
26*
404 3. B. Wirthsch. u. Volkswirt sch. 3. K. Ertrag u. Einkommen. 1. A. §. 172, 173
Stellung aller Güter nach nicht-privatwirthschaftlicber Productionsweise entgegenstebcn,
sowie die wirklich volkswirtschaftlichen Leistungen der privaten Kapitalbildung und
Kapitalverwendung (in der Privatuntcruehinung). Ihre unbedingten Gegner überschätzen
jene Schwierigkeiten wenigstens für manche Fälle, legen der privaten Kapitalbildnng
und Verwendung oft einen zu grossen Werth bei und übersehen die allerdings zahl-
reichen Fälle von A.usbeutungsvorhältnissen, in welchen die Reinerträge nicht richtig
vertheilt, die einzelwirthscbaftlichen Productionskosten der Unternehmungen zu sehr
zu Ungunsten der Arbeiter (mitunter auch der Leih-Kapitalistcn) und zu Gunsten der
Arbeitgeber vermindert werden. Die richtige Ausgleichung der Gegensätze wird am
Ersten durch eine rationelle Ausbildung des gemein wirthschaftlichen neben dem
privatwirthschaftlichen System und richtige Combination beider, sowie durch zweck-
mässige Controle des letzteren Seitens des Staats erfolgen. S. darüber das ganze
5. Buch. An dem angegebenen Beispiel lässt sich gut zeigen, wie enge die einfachen
Grund begrilfscrörterungen im Texte mit den wichtigsten practischen Problemen der
Volkswirtschaft Zusammenhängen, daher auch, wie wichtig sie selbst sind.
2. Kosten vom Stand punct der Volkswirtschaft
aus. Hier sind, wie schon angedeutet, zweierlei Kosten zu
unterscheiden, je nachdem die Volkswirtschaft als Mittel zur Er-
zielung von Gütern ihr Menschen, als Productionseinrichtung hier-
für, oder als Person mit Selbstzweck gedacht (ähnlich wie die
private Unternehmung im Unterschied von Unternehmer) zum
Ausgang der Betrachtung genommen wird.
a) In ersterer Hinsicht fallen die Kosten im volkswirtschaft-
lichen Sinne hier mit den unter No. 1, c besprochenen zusammen.
Die gleichen Probleme der Organisation der Arbeit, der Volks-
wirtschaft tauchen hier bezüglich der Frage der Kostenersparung auf.
b) In zweiter Hinsicht sind Kosten im eigentlichen und
höchsten volkswirtschaftlichen, gesellschaftlichen Sinne, d. h.
eben vom menschlichen Standpuncte gesprochen, die Leistungen
menschlicher Arbeit, directer wie indirecter, materieller wie
geistiger, die Herstellung neuer Güter, Erträge (§. 171), verur-
sachender wie bedingender Arbeitsleistungen (§. 61, S. 152), mit
welchen die Güter, die Erträge gewonnen werden: die alleinigen,
aber die wahren „Kosten“ im rein-ökonomischen Sinne.
Insofern ist der Satz wahr, dass Erträge (.Productensummen) wie (einzelne) Pro-
ducte „Arbeit und nur Arbeit kosten“ (Kodbertus). Aber zu dieser „Arbeit“ ge-
hört eben Alles, was nach den gegebenen Verhältnissen, daher insbesondere
der volkswirtschaftlichen Organisation und Rechtsordnung, „gesellschaftlich not-
wendige“ menschliche Thätigkeit ist, welche stattfinden muss, um Erträge, Producte
zu gewinnen : die Arbeit des Handarbeiters, die geistige Thätigkeit des Leiters, Unter-
nehmers, wie die Thätigkeit, durch welche das Nationalkapital, eventuell in der Rechts-
form des Privatkapitals (§. 129), gebildet, erhalten, vermehrt, verwendet wird.
Das Ziel muss sein, diese „gesellschaftliche notwendige“ Arbeit so zweck-
mässig als möglich einzurichten , sie daher auf ein Minimum zu vermindern , damit
die so entbundene Arbeit wiederum zu arbeitsfreier Zeit führt oder für andere passende
Zwecke verwendet wird. Auch hier tauchen dann wieder die organisatorischen und
die die Rechtsordnung betreilenden Probleme auf, welche vorhin berührt wurden.
Der Socialismus greift das geschichtlich überkommene rechtliche und wirtschaftliche
Productionssy stem auch an, weil es ökonomisch-technisch nicht Genügendes leiste.
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Kosten vom Standpunct der Volkswirtschaft.
405
keine hinlängliche Arbeits-, Arbeitszeit-Verminderung, Kostenermässigung und Ertrags-
steigerung bewirke. Es greift speciell auch die Bildung und Verwendung des National-
kapitals als Privatkapitals und dessen Function ab Rentenfonds an (§. 129 ff.). Aber
er fuhrt eben den Beweis für die Richtigkeit seines Ziels nicht nur nicht erfahrungs-
mässig, was nicht möglich wäre, sondern auch nicht Wirtschaft«- psychologisch de-
dnetiv, was zu verlangen wäre (§. 8S ff., 49). Nur darin hat er Recht, dass es aut Ver-
minderung der jeweilig gesellschaftlich notwendigen Menge und Zeit der Arbeit
ankommt, welche Erträge und Producte „kosten“ und dass von dem Fortschritt hierin in
letzter Linie das Ma&ss des eigentlichen volkswirtschaftlichen und auch des gesell-
schaftlichen und Culturfortschritts mit abhängt, — freilich nur, soweit die „frei
werdende“ Zeit würdig verwendet und auch die so entbundene Arbeit nicht anderswo
nur zur Herstellung der Mittel für bedenkliche Genüsse benutzt werden würde.
Für die begrifflichen Erörterungen ist aber hervorzuheben, dass grade auch für
die Fragen der Organisation und Rechtsordnung, für den Vergleich des individualisti-
schen und socialistischen Productionssystems u. s. w. diese zweite Art der Be-
trachtung „volks wirtschaftlicher“ „Kosten“ von grosser Bedeutung ist. Auch
der „Socialstaat“ hat z. B. das höchste Interesse daran, — und ebenso haben es seine
Gegner — , dass festgestellt wird, mit welchem Betrage und mit welcher Art (auch
nach den mitspielenden Motiven bemessen (§ 33 ff.) von nationaler Arbeit, daher mit
welchem Kostenbeträge die personificirt gedachte „socialistischo Volkswirtschaft“ eben
schliesslich Erträge producirt. Auch da würden die den Arbeitskräften zu gewährenden
Consuintionsbeträge ab Kosten erscheinen und soweit sie während des und für den Pro-
ductionsprocess zur Ausübung von Arbeit an die Individuen überwiesen werden müssen,
zum (National-) Kapital gehören , sogut wie jetzt die Arbeitslöhne zum (Privat-)
Kapital (S. 316).
II. — §. 173 [84]. Einkommen. A. Der Begriff des-
selben ergiebt sich, indem die Einnahmen oder Erträge in Be-
ziehung zu der Person, welche sie empfängt, bezw. zu dem
Wirtbschaftssubject gebracht werden. Er wird dann genauer durch
Angabe des Umfangs bestimmt, den das Einkommen einer Person
hat, was eine besondere Formulirung des Begriffs entbehrlich, aber
andrerseits sie leichter macht. Indessen bestehen gerade Uber den
Umfang des Begriffs Meinungsverschiedenheiten. Einigermaassen
einig ist man Uber Folgendes:
Das Einkommen umfasst zweierlei:
1) diejenige Summe wirtschaftlicher Güter, welche einer
Person in gewissen Perioden (Üblicher Weise nach Jahren be-
rechnet) regelmässig und daher mit der Fähigkeit der regel-
mässigen Wiederholung als Reinerträge einer festen
Erwerbsquelle neu als Vermögen (bezw. zum Vermögen)
hinzuwaehsen.
Dieser Theil des Einkommens einer Person rührt daher aus der Wirtschafts-
führung überhaupt (Unternehmung) oder aus einzelnen wirthschaftlichen
Thätigkeiten (Arbeit) oder aus Eigenthums- oder Forderungsrechten
insbesondere (Sclaveneigenthum, Grundeigenthum, Kapitaleigenthum, Forderungen aus
/Creditgeschäften) oder aus regelmässigen unentgeltlichen Einnahmen (Za-
theilungcn, Almosen, Geschenk) her.
Eine Verschiedenheit der Ansichten besteht hier u. A. hinsichtlich des Moments
der Regelmässigkeit, der Periodicität. Manche nehmen es nicht mit auf,
so Mit hoff (Handb. Schönberg’s, I, 576), der dann als „Arten“ des Einkommens
ordentliches und ausserordentliches nach diesem Moment unterscheidet. Eingehende
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406 3- B* Wirthsch. u. Volkswirthsch. 3. K. Ertrag u. Einkommen. 1. A. §. 1T3.
Erörterungen über dies Moment hat Kob. Meyer angestellt, er lehnt cs mehr ab
(Einkommen §. 2, 3, 9). Neu mann hält daran fest (Einkommen: „Inbegriff der-
jenigen Güter, geldwerthen Leistungen i. e. S. und Nutzungen fremder [sic!] Sachen,
welche als regelmässiges Ergebnis« dauernder Bezugsquellen in gewisser Zeit Jemand
der Art zu Tbeil werden, dass er darüber im eigenen Interesse verfügen kann“,
Handbuch I, 170), Und in der That möchte ich cs doch auch, wenn nicht für unbedingt
nothwendig, so doch für zweckmässiger halten, auf das Moment der Regelmässig-
keit wenigstens für die vol ks wirtschaftliche Betrachtung des Einkommens, bei der
eben dauernde oder Durchschnitts Verhältnisse das Entscheidende sind, Gewicht
zu legen. Zufällige, einzeln vorkommende Einnahmen, wie gelegentliche
Geschenke, Erbschaften, Legate sind auch danach nicht zum Einkommen zu rechnen,
so auch Rau, §. 70. Kehren solche Einnahmen, z. B. im Palle des regelmässigen
A.lmosenempfangs, der eine regelmässige Unterstützung bildenden Geschenke, auch,
wie in Zeiten des altrömischen Kaiserthums im Falle der förmlich zur regelmässigen
Einnahmequelle der Senatoren werdenden Legate (Friedländer, röm. Sitten-
gesch. I, 253) periodisch wieder, so gehören sie dagegen zum Einkommen. Hier-
nach sind auch die gelegentlichen Vermögensvermehrungon aus der Realisirung
zufälliger Conjuncturengewinne, z. B. beim Grundbesitzwechsel, nicht „Einkommen“
in diesem strengeren Sinn. Wohl aber können jene Gewinne im (speculativen) Han-
delsgeschäft zum Einkommen zählen, weil hier nach der Einrichtung des Geschäfts
eine gewisse Wiederholbarkeit anzunchmen ist. Practisch wichtig wird das Alles
besonders wieder für die Einkommensteuer. Hier wird man allerdings auch ge-
wisse Kategorieen von Fällen nicht regelmässiger Einnahmen doch zum „Einkommen“
im Sinn der Steuer rechnen müssen. Vergl. die Arbeit von Burckhardt in Hirth’s
Annalen 187G, S. 24 über Einkommensteuer und meine gen. Abh. im Finanzarchiv
1891 II, über die preussische Einkommensteuer, wo die Fragen im Einzelnen erörtert
werden. Hie und da fallen einmalige Conjuncturen - Gewinne, Erbschaften unter
den Begriff Einkommen (s. jetzt Bremer Einkommensteuergesetz). Vergl. übrigens unten
unter Nr. 3.
Derjenige Reinertrag, von welchem hier die Rede ist. versteht sich nach Ab-
zug aller, auch derjenigen Kosten, welche für andere an der Gewinnung des Er-
trags betheiligte Personen selbst wieder Einkommen sind (§. 172. unter b). — Der
enge Zusammenhang des Einkommens der Person mit dem Reinertrag des Geschäfts,
der Thätigkeit, eines Rechts ist bei diesem Haupttheil des Einkommens gar nicht zu
läuguen. In Schmoll er’ s Ausführungen a. a. 0., denen ich sonst beistimme, findet
sich ein Satz S. 52, der, wörtlich genommen, als Bestreitung des vorausgehenden Satzes
gelten könnte, mir daher auch nicht correct erscheint Er sagt: „Unter Einkommen
verstehen wir die Summe von Mitteln, welche der Einzelne, ohne in seinem Vermögen
zurückzukommen , für sich und seine Familie , für seine geistigen und körperlichen
Bedürfnisse, für seine Genüsse und Zwecke, kurz für Steigerung (richtiger wohl, grade
nach Hermann’s und Schmoller’s Standpunct: zunächst für die Erhaltung, sodann erst
für die Steigerung) seiner Persönlichkeit in einer Wirthschafisperiodc verwenden kann“.
Einverstanden, aber wenn der Verfasser dann unmittelbar fortfährt: „Das Einkommen,
wie wir es nach Hermann auffassen, ist also (?) keine Ertragskategorie, kein
Product eines beliebigen (?) wirtschaftlichen Rechnungsexempels, sondern ein leben-
diges Ganze, wie es aus dem Begriffe der Persönlichkeit und der Bedürfuissbcfriedi-
gung hervorgeht“, — so ist hier der Umstand, dass der Haupttheil des Einkommens
eben doch als Reinertrag der Wirtschaftsführung oder bestimmter einzelner Thätig-
keiten und Rechte resultirt, zu stark bei Seite gesetzt.
2) Die Genüsse (Nutzungen) oder selbst nur die Genuss-
möglichkeiten, welche das Nutzvermögen (§. 128) einer
Person, nach Abrechnung der dabei stattfindenden Abnutzung und
Verkehrswerth-Verminderung periodisch fortdauernd gestattet.
Mit Recht hat Schm oll er diese Consequenz gezogen, a. a. 0. S. 53. Dies ist
u. A. auch für die Steuertheorieen und für die Gesetze über Einkommensteuern wichtig,
wo man freilich bisher meistens nur den „Miethwcrth der Wohnung im eigenen
Hause“ demgemäss zum Einkommen im steuerlichen Sinne rechnet, folgerichtig den
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Einkommen. Begriffliches. Umfang.
407
Nutzwerth andren Nutzvermögens aber auch dazu ziehen müsste. Neu mann meint,
„in der Wissenschaft“ dürfte an diesem Puncte bei eigenen Sachen nicht festzu-
halten sein (?), während er Nutzungen fremder Sachen zum Einkommen schlägt (?).
Ablehnend auch Kob. Meyer, Einkommen §. 7. Ich habe inicN aus diesen Er-
örterungen nicht überzeugen können , dass der zweite Bestandtheil des Einkommens,
wie ich ihn nenne, fortzulassen sei.
Je nach der Ansicht Uber das Moment der „regelmässigen
Wiederkehr“ und der „Herkunft aus festen Erwerbs- oder Bezugs-
quellen“ als zum Wesen des Einkommens gehörig oder nicht,
wird man
3) einen dritten Bestandtheil überhaupt nicht zum „Ein-
kommen“ im wissenschaftlichen Sinne, wenn auch zu den „Ein-
nahmen“ einer Person, als Vermögenszuwächsen für sie, rechnen
oder dies thun. Letzteren Falls möchte es sich dann empfehlen,
immerhin nach dem Moment der Regelmässigkeit u. s. w. zwischen
einem ersten (Haupt-) Bestandtheile, in der vorhin formulirten
Weise, und diesem „unregelmässigen“, „unständigen“, „wechseln-
den“ Posten, als einem dritten Bestandtheile, zu unterscheiden.
Was dann im Einzelnen zu diesem dritten Bestandtheil zu setzen ist, lässt sich
freilich allgemein theoretisch und speciell practisch für die Steuergesetzgebung nicht
immer leicht und sicher beantworten. Speculations-, Conjuncturengewinne , letzteren-
falls zufällig erlangte (z. B. beim Besitz von Grundeigenthum , Gebäuden, Effecten)
oder bestimmt erstrebte, Spiel-, Lotterie-, Wettgowinne, Legate. Erbschaften bieteu
bei dieser Ausdehnung des Einkommen-Umfangs und danach des Einkommen begriffs
freilich manche Schwierigkeiten. Die engere und die weitere Begrenzung des Umfangs
ist mir doch aber auch in dieser Hinsicht mehr eine Frage der Zweckmässigkeit als
des Princips. Auch bei der, Alles in Allem wie gesagt mir doch passender er-
scheinenden engeren Begrenzung hindert nichts, für die Praxis z. B. des Steuerrechts,
viele einzelne Posten, welche zu der Abtheilung 3 gehören würden, bei einer Ein-
kommensteuer mit zu erfassen, was auch häufig sogar geboten ist. Die betreffende
Steuer ist eben dann mehr eine „Einnahmesteuer“ als eine „Einkommensteuer“. Vgl.
z. B. die Streitfrage über die Trennung zwischen steuerpflichtigem Einkommen und
nicht einkommcnsteuerpilichtigem Zuwachs zum Stammvermögen bei der jüngsten
preussischen Steuerreform (meine Abh. im Finanzarchiv 1S91 II, S. 210 ff.).
Der Einkommenbegriff selbst muss sich folgerichtig nach diesen
verschiedenen Bestimmungen des Umfangs des Einkommens ver-
schieden gestalten. Nach unserer im Vorausgehenden begründeten
Auffassung ist Einkommen: der periodische, sich regelmässig
wiederholende Reinertrag einer festen Erwerbsquelle, dessen Bezug
einer Person rechtlich und thatsächlich zusteht, einschliesslich des
Werthes der Genüsse und Genussmöglichkeiten aus dem Nutz-
vermögen dieser Person. Nach der anderen Auffassung bezüglich
jenes dritten Bestandteiles wäre dann noch hinzuzufügen: sowie
der weitere, unregelmässig der Person zufliessende Güterbetrag
und zugutekommende Werthbetrag, welcher eine Vermügeusver-
mehrung dieser Person darstellt.
408 3. B. VYirthsch. u. Volkswirthsch. 3. K. Ertrag u. Einkommen. 1. A. §. 173, 174.
Ein besondrer Hinweis auf Absetzung von Gewinnungskosten des Einkommens
oder auf das Moment, dass ein Gtlterzufluss oder eine Wertherhöhung nicht Kapital-
ersatz sein dürfe, wenn sic als Einkommen gelten sollen (Mit ho ff a. a. 0. S. 576)
ist überflüssig, weil das in den Ausdrücken „Reinertrag“ und „Vermögensvermehrung“
schon enthalten ist.
Das Einkommen einer Person bildet zunächst und vor Allem
den Güterfonds zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse. Seine Er-
werbung ist das Mittel zu letzterem Zweck. Es kann in derselben
Periode, wo es erlangt wurde, vollständig verzehrt werden,
ohne dass dadurch das frühere Vermögen geschmälert wird.
Eben desshalb ist bei dem zweiten Bestandtheil des Einkommens
die Abnützung abzurechnen. Die Tauschwerthhöhe des Ein-
kommens einer Person entscheidet dann über das Maass der
letzterer möglichen dauern den Bedürfnissbefriedigungen im Ver-
kehr, ist doch volkswirtschaftlich von grösster Bedeutung.
Gelegentlich wird wohl noch, wie früher allgemein, zwischen Roh - und Rein-
einkommen einer Person ebenso wie zwischen Roh- und Reinertrag eines Objects
(z. B. eines Geschäfts) unterschieden (so noch Rau, §. 71, aber auch noch Roscher,
§. 145). Nach der obigen Begriffsbestimmung des Einkommens fällt diese Unter-
scheidung mit Recht besser fort: das Einkommen ist danach nur „Rein-Einkommen“,
nur dies bildet das Strebeziel des Wirthscliaftssubjects. So in Hermann’s Ein-
kommenlehre, 2. Aufl. S. 595 ff., auch Schmoller a. a. 0. S. 21, 53. Doch hat
neuerdings Rob. Meyor (Einkommen S. 201) die Unterscheidung beschränkt aufrecht-
gehalten und auch Neu mann (Handbuch S. 171) kommt auf sie zurück.
Die Früheren, auch Rau, unterschieden auch noch zwischen ursp rünglichem
und abgeleitetem Einkommen, indem sie von jenem nur bei denjenigen Classen
sprachen, welche nach ihrer Auffassung allein wirtschaftliche Güter hervorbringen,
d. h. bei den direct an der Sachgüterproduction betheiligten Classen oder Per-
sonen, während sie das Einkommen aller anderen Personen, also namentlich das
für persönliche Dienste bezogene, abgeleitetes, d. h. eben aus jenem ur-
sprünglichen Einkommen fliessendes, nannten. Diese Unterscheidung steht und fällt
mit der Beschränkung des Begriffs „wirtschaftliches Gut“ auf die Sachgüter oder,
was dasselbe sagen wiü, mit der Beschränkung der sog. productiven Leistung auf
Hervorbringen von Sachgütern. Rau’s Unterscheidung war also von seinem Stand-
punctc aus (§. 120) ganz folgerichtig , muss aber von demjenigen der jetzigen
Wissenschaft aus aufgegeben werden (§. 121). Jedes, auch das Einkommen Des-
jenigen, der nur persönliche Dienste leistet (Gesinde, liberale Berufe, Beamte, Soldaten
u. s. w.), ist also ursprüngliches, ist sein Einkommen.
S. Rau, §. I, 251. Er fügt in einer Anm. aber selbst schon hinzu: „insoferne
die Dienste mittelbar die Erzeugung von Sachgütern befördern (was Rau in §. 107
der 8. Aufl. unter Hinweis auf eine Aeusserung Moltko’s im norddeutschen Reichs-
tage auch hinsichtlich des Militärdiensts anerkennt) ist ihr Lohn ebenfalls zum Theil
als ursprüngliches Einkommen anzusehen, aber dies lässt sich nicht in Zahlen be-
stimmen“. Und in §. 107: „Das Vorhandensein einer gewissen Anzahl von Dienst-
leistenden ist deshalb auch von volkswirtschaftlicher Seite vortheilhaft“. Man
kann verbessern: nicht nur dies, sondern unentbehrlich und eben deshalb ent-
spricht einer organischen Auffassung der Volkswirtschaft auch nur die Behand-
lung der Dienste mit als wirtschaftliche Güter, die „Productivität“ der Dienste und
die Statuirung bloss ursprünglichen Einkommens. (S. Hermann, S. 593.) Ueber
die mögliche Benutzung des terminu9 „abgeleitetes Einkommen“ in einem anderen
Sinuc, s. folg. Abschnitt. — Vergl. auch Mithoff a. a. 0. S. 577. — Die richtige
Consequenz der einseitigen socialistischen Lehre (Rodbertus, Marz) ist wieder die
Auffassung alles Renteneinkommens als abgeleitetes Einkommen aus dem nur durch
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Einkommen. Begriff. Freies. Gebundenes.
409
die Sachgüterproduction der materiellen Arbeit gewonnenen „Nationalproduct“, welches
hier das „ursprüngliche“ Nationaleinkommen ist.
B. — §. 174 [85]. Freies und gebundenes Einkommen.
S. Roscher I, §. 145. Wenn Nenmann (Haudb. I, S. 172) meint, ein er-
heblicher Gewinn könne aus solcher Begriffsbestimmung nicht erwartet werden, weil
die Unterscheidung ganz ron individueller Auffassung abhänge, so kano ich weder
diese Behauptung noch ihre Begründung als richtig gelten lassen. Die Trennung
lässt sich nach hinlänglich genau bestimmbaren allgemeinen Merkmalen durchfuhren
und ist dann in der That wichtig genug, wie sich aus dem Folgenden ergiebt.
In einem anderen Sinne kann im Einkommen (Gesammtein-
kommen) zwischen gebundenem und reinem oder besser freiem
Einkommen bei der typischen Hauptform der Privat wirthscbaft,
nemlich bei der Wirthscbaft des einzelnen Menschen und bei
der Familien wirthscbaft, unterschieden werden. Das freie
Einkommen umfasst hier denjenigen Th eil des Einkommens,
welcher nach der Befriedigung der nothwendigen Bedürfnisse oder
nach der Bestreitung des Unterhaltes des Menschen oder der
Familie frei zu beliebiger anderer Verfügung übrig bleibt.
Der andere Theil des Einkommens ist durch natürliche Verhält-
nisse, durch Sitten und sociale Momente kein frei verfügbarer,
sondern ein gebundener, welcher im Wesentlichen einer be-
stimmten Verwendung zugeführt werden muss. Man kann dies
Einkommen daher passend „gebundenes“ nennen.
Das freie Einkommen der Individuen und Familien lässt sich in doppelter
Weise berechnen:
1) so, dass man die Höhe des Unterhaltsbedarfs rein nach natürlichen
Verhältnissen und nur mit Rücksicht auf die Consumtionsge wohnheiten
der Masse des Volks für alle Individuen und Familien gleich setzt, also von
der Verschiedenheit der ökonomischen und socialen Verhältnisse innerhalb der Be-
völkerung absieht; das freie Einkommen giebt alsdann das deutlichste Bild von der
Vermögens- und Einkorn mens -VertheUung, bcz. von der ökonomischen und socialen
Ungleichheit in der Bevölkerung.
2) Oder man berücksichtigt auf Grund von Beobachtungen itn Leben und nach
statistischen Feststellungen die das sen weise Verschiedenheit dessen, was nach den
Consumtionsgewohnheiten der ökonomischen und socialen Bevölkcrungsclasscn als
„nothwendiger Unterhalt“ gilt, wonach dann das freie Einkommen der besser Situirten
nicht ebenso stark wie im vorigen Falle dasjenige der schlechter situirten Classen
überragt. Hier ist aber nicht zu übersehen, dass der für die Wohlhabenderen
gemachte Abzug an („standesgemässem“) Unterhaltsbedarf vom Einkommen
bereits eine bedeutend reichlichere Bedürfnissbefriedigung enthält, welche
insofern eine freiere Verfügung über die Güter darstellt.
Beide Berechnungen des Unterhaltsbcdarfs und des freien Einkommens, welche
für viele sociale und wirtschaftliche Probleme von grosser Wichtigkeit sind, setzen
eine gute Statistik der Privat h aushalte voraus. An dieser fehlt es noch sehr,
sie bietet auch grössere Schwierigkeiten, als mau im ersten Augenblick zu meinen
pflegt. Besonders wichtig sind für die Beurtheilung der Lage der unteren arbeitenden
Classen Haushaltbudgets von Arbeiterfamilien. Aeltere Daten darüber in Ducp6-
tiaux budg. 6conom. des classes ouvriüres en Belgique, 1855, Le Play, les ouvriers
europeens, 1855; die Auszüge daraus und die Bearbeitung des Materials in E. E ng el’s
schöner Arbeit Uber Consumtionsverhältnisse in d. Zeitschr. d. Sächs. Statist. Büreaus
410 3. B. Wirtlisch, u. Volliswirthsch. 3. K. Ertrag u. Einkommen. 1. A. §. 174, 175.
1S57, S. 153 fl. Neueres Material zerstreut in den Schriften über die Arbeiterfrage,
in der „Concordia“, Zcitschr. f. d. Arbeiterfrage, für landwirtschaftliche Arbeiter
in der Enquötearbeit des deutschen landwirtschaftlichen Congresses „Die Lage der
ländichcn Arbeiter iin Deutschen Reiche“, herausgegeben von v. d. Goltz, Berlin
1875, freilich nicht detaillirt genug. (S. darüber Laspeyres in d. Tüb. Zeitschr.
1876. ) ln neuester Zeit ist das bezügliche Material vermehrt und verbessert worden.
Vergl. V. Böhmert, im Art. Arbeitslohn im Handwörterbuch der Staatswiss. B. I,
S. 712; daselbst Litteratur S. 722 Die neueren Schriften über Arbeiterverhältnisse,
auf Grund realistischer Studien, enthalten öfters auch derartige Berechnungen. S. Tüb.
Zcitschr. 1879. B. 37 S. 147, B. 38 S. 133 (von Schnapper). Bes. Schnapper-
Arndt, fünf Dorfgemeinden auf dem hohen Taunus, Leipz. 1893. Weiteres darüber
in der practischen Nationalökonomie (gewerbliche und landwirthschaftliche Arbeiter-
verhältnisse). S. auch meine Finanzwiss. I. 3. Aufl. S. 365. — Für allgemeine
volkswirtschaftliche Fragen und Steuerfragen bedarf es aber ebenso sehr Haushalt-
budgets der ü brigen Gesellschaftsclassen, worüber noch weniger Material vorhanden,
was bei der nicht genügenden Buchführung auch dieser Classen und bei der Scheu,
über ein solches Gebiet persönlicher Verhältnisse Mitteilungen zu machen, nicht zu
verwundern ist. Einige Beispiele in dem Buche von 0. v. Leixncr, sociale Briefe
aus Berlin. Berl. 1890. — Wichtig ist diese Statistik auch für die Beamtcn-Besol-
dungsfrage, wie ich, mit Anführung einiger statistischer Daten, in der Finanzwiss. I.
з. A. §. 161 nachgewiesen habe.» Vergl. auch E. Laspeyres, Kathedersocialisten
и. d. Statist. Congresse. Berl. 1875, S. 22 ff.
Ein höheres freies Einkommen ist die Quelle besserer Lebenslage,
gewährt daher wesentlich die Möglichkeit, die nothwendigen Bedürf-
nisse (die Existenzbedürfnisse) reichlicher und besser, die Cultur-
und Bildungsbedürfnisse überhaupt in etwas beträchtlicherem Um-
fange befriedigen, unentgeltliche Hingabe von Gütern in wirksamem
Umfange vornehmen, Privatkapital mit geringeren persönlichen
Opfern und in bedeutenderer Höhe bilden, endlich Steuern an den
Staat und die Zwangsgemeinwirthschaften leichter entrichten zu
können. Die individuelle und familienweise Steuerfähigkeit be-
misst sich wesentlich nach dem freien Einkommen. Vom Stand-
puncte der Volkswirthschaft aus wird daher auch bei den un-
günstigst Situirten das Vorhandensein und wenigstens eine gewisse
Höhe des freien Einkommens zu wünschen sein, die Gleichheit
des freien Einkommens Aller deshalb noch keineswegs.
Vgl. unten Buch 4 und Finanzwissenschaft II. 2. A. §. 183 ff.
Die Anwendung des Begriffs des freien Einkommens auf andere Einzelwirth-
schaften, als die Individual- und Familicnwirthschaften , hat keinen Sinn, weil hier
(auch beim Staate) der Begriff des nothwendigen Bedarfs nicht anwendbar ist.
Wohl aber lässt sich vom freien Einkommen des Volks und schliesslich der Bevöl-
kerung der Erde sprechen (s. §. 179).
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411
2. Abschnitt.
Ertrag der Volkswirtschaft und Volkseinkommen.
§. 175. Vorbemerkungen und Litteratur.
S. auch die Litteratumach weise in deu Vorbemerkungen §. 170. Besonders Kau,
§. 71a, 245 — 250. Roscher, §. 146, 147 (hier besonders Dogmengeschichtliches),
Hermann, S. 589 fl'., 597, v. Mangoldt, Grundr. §. 91, Volkswirtschaftslehre
bcs. S. 316 fr. Von der älteren Litteratur: A. Sinith, wealth of nations b. II.,
ch. 2, Ricardo, principles of political economy ch. 26. Gauilh, syst, d’econ. pol.
(Par. 1809) I, 213, J. B. Say, traitö decon. polit. I, II, ch. 5, 10 (6d. 1S41, bes.
p. 354). Fulda, Uber Nationaleinkommen, Stuttg. 1S05. Fortschritt bei Sismondi,
Nouv. princ. I. 1. 2, ch. 4 pass, ch. 5. ch. 6 pass.. II, I. 6 ch. 2 pass., Storch,
Betrachtungen über die Natur des Nationaleinkommens, deutsch, Halle 1825, Bern-
hardi, Kritik d. Gründe f. gr. u. kl. Grundeigenth., §. 14 — 16. Schmoller a. a. 0.
Abschn. 1. — Neumann im Schönberg’schen Handb. 3. A. I, S. 172 (Unterschei-
dung noch weiter zwischen Bevölkerungs- und Volkseinkommen): Mithoff im Hand-
buch eb. S. 579. Besonders jetzt Rob. Meyer. Einkommen, namentlich §. 11 — 13.
ders. im Handwörtcrb. d. Staatswissenschaften, Art. Einkommen, B. III, S. 53 ff.
(mit Kritik der Berechnungsmethoden und Auszügen aus neueren statistischen Berech-
nungen); eb. S. 67. Uebersicht der betreffenden statistischen Litteratur.
Aoltere statistische Berechnungen des gesammten Volkseinkommens und seiner
Hauptbestandtheile und Quellen nach Moreau de Jonnes, Revue encyclop. XXV.,
239, 549, 878; ders. Statist, de Tagricult. de la France 1848; ders. Statist, de la
Gr.-Brit. 1838, I, 312; deLavcrgne essai snr l’öcou. rur. de TAnglet p. 77 fl'.;
Quart. Review, 1850 N. 170, S. 437 ; P obrer Hist, financ. etc. de l'ernp. Britann.
1S34 II., 90; Lowe, England nach s. gegenwärt. Zustande; Chaptal, de l’industr.
franc., de Laveleye, essai sur l’t;con. rur. de la Belg. p. 313, Schnitzler creat.
de la rieh. I, 19, 392, auszugsweise bei Rau. S. Aufl. S. 247 — 250.
Alle solche Schätzungen des Volks- oder Nationaleinkommens und kaum
weniger die noch häufigeren des Volksvcrmögens sind durchaus unsicher und
grade in der Neuzeit trotz oder richtiger wegen der Fortschritte der exacten Statistik
immer mehr als unbrauchbar erkannt worden. Aus diesem Grunde sind sogar Ver-
suche solcher Schätzungen eine Zeit lang seltener geworden. Doch scheint die Nei-
gung dazu jetzt wieder stärker zu worden. So finden sich z. B. Daten über den Werth
des Realbesitzes, Viehstands und Ackergeräths für Oesterreich von v. Czörnig
und in den amtl. Statist. Jalirb., im Auszug bei Kolb, Handb. d. vergleich. Statist.
7. Aufi., Leipz. 1S75, S. 310 ; ebendas. S. 371 amtliche Schätzungen des Bodenwerths
und Reinertrags des Grundbesitzes in Frankreich; eb. S. 451 Werth des ganzen
Nationalvermögens in Grossbritannien und Irland; eb. S. 533 sogar für Russ-
land (nach v. Buschen); eb. S. 73<> für Nordamerica (nach Berichten des
Schatzsecretärs). Meistens nur grosse blendende Zahlen, vielfach mit der Unrichtig-
keit oder grössten Zweifelhaftigkeit beim ersten Anblick und zumal bei ein wenig
Kritik. Vollends die Schätzungen des Volksvermögens von Staaten früherer Zeit,
wie sie Böckh (Staatsbausb. der Athener, 2. Aufl. I, 642) für Athen augestellt
(30— 40000 Talente ohne das steuerfreie Staatsgut), haben natürlich gar keinen Werth
und würden von einem Statistiker und Nationalökonomen, der die Schwierigkeit in der
Gegenwart kennt, schwerlich nur versucht werden. Büchsenschutz, S. 589, stimmt
dem mit Recht bei.
Trotz aller Mängel, — die hier zum Theil wegen der Umgehungstendenz bei
Steuern, bezw. der ungenügenden Einschätzung, wie z. B. in Preussen bis 1891,
auch nach der ganzen Veranlagungsmethode und Einrichtung der Einkommensteuer,
wie in Gross-Britannien, Italien selbstverständlich sind — möchten die Schätzungen
des Volkseinkommens nach den Daten der Einkommensteuer-Schätzungen oder
Declarationen immer noch die relativ weniger unbrauchbaren, verglichen mit den Er-
gebnissen andrer Schätzungsmethoden sein, namentlich auch was die wichtigere Frage
der Verthcilung des Volkseinkommens anlangt, so die britischen, selbst die
bisherigen Daten der preussischen Classcn- und classificirten Einkommensteuer, die
auch nach Engel’s Ansicht in seinem Aufsätze über die Classensteuer u. s. w. und
die Einkommenvertheilung in Preussen, im Jahrg. 1875 der Zeitschr. des Preuss.
412 3. B. Wirthsch. u. Volkswirthsch. 3. K. Ertrag u. Einkommen. 2. A. §. 175 — 177.
Statist. Büreaus, nicht so unbrauchbar sind, als Nasse, Schm oll er u. A. m. an-
nehmen, wenn auch die neuste Veranlagung der Einkommensteuer nach dem neuen
Gesetz in 1 S92 bereits die Annahme besonders der Unterschätzung der wohlhaben-
deren Leute in Preussen bestätigt, und ein von mir seit lange angegriffenes Vorgehen
Sötbcers, bei den grossen Einkommen znr Richtigstellung kleinere (10°/o), bei den
kleineren grössere (25 %) Zuschläge zur Einschätzuugsziffer zu machen, als unhaltbar
erwiesen hat. Eher umgekehrt wäre es richtig gewesen. Ferner die Daten von Ham-
burg, Bremen, besonders vom Königreich Sachsen, Hessen, Baden, von
schweizer Cantoneu (Basel) u. s. w. S. D. Baxter, nat. income of the United
Kingdom, Lond. 18(58. Giffcn, recent accumulation of the Capital of the United
Kingdom in dem Journ. of the Statist, societv, 1878, ders. ebendas. 1883, 1SS6, jetzt
in seinen essays in finance. 2. vol. Lond. 1880 und 1886. Wesentlich auf Grund der
Einkommensteuerdaten, mit gewissen Berichtigungen und Ergänzungen, wird hier das
britische Volksvcrmögen veranschlagt: 1865 auf 0113, 1875 auf 8548 Mill.
Pf. St., p. Kopf 204 u 260 Pf. Auszug in d. Statist. Correspond. v. Engel, 1878
N. 38. — In Frankreich hat man neuerdings wieder aus dem Kapitalwerth der
Erbschaften, nach den Daten der im Enregistrement mit enthaltenen Erbschaftssteuer
(s. meine Finanzwiss. B. 3 §. 241 ff.) einige Schlüsse auf die stark aufsteigende Be-
wegung des Voiksvermögens zu ziehen gesucht. (L. Say, Bull, de Stat. et de IcgisL
comp. vol. 1 u. 3, im Auszuge in d. Stat. Corresp. 1877 N. 5.) Auch nnr unsichere
Schlüsse, wie schon aus der rapiden Vermehrung in damaliger Zeit folgen möchte.
Kapitalwerth der Erbsch. 1826 1337, 1850 2025, 1870 3872. 1S74 3931, 1877 (vor-
läuf Berechn.) 4702 Mill. Fr. Einige weitere Daten bei Fr. X. v. Neumann, Ueber-
sichten u. s. w. Jahrg. 1878, S. 2 ff. und in den folgenden Bänden, so Jahrg. 1883 — 84
(Stuttg. 1887) S. 10 ff. S. auch Rob. Meyer im Handwörterbuch, üeber Preussen
besonders Sötbeer, Arb.freund 1875. Auch verschiedene Artikel von ihm über
Preussen und England im D. Handelsblatt. Ferner seine Schrift Umfang und Ver-
theilung des Volkseinkommens im preuss. Staate, 1879, sowie Aufsätze in Conrad’s
Jahrb. B. 52 (1889), in der Volkswirtbsch. Vierteljabrschr. (auch über Sachsen, Gr.-
Britannicn) 1884 B. 81, 1887 — 88, B. 96 — 98, 1891 B. 109. Ueber Sachsen Zcit-
schr. des sächs. stat. Bur. mehrfach, bes. Jahrg. 1890. — Heil, Resultate der Ein-
schätzung zur Einkommensteuer in Hessen, Sachsen, Hamburg, Jena 1888. Material auch
in d. Preuss. stat. Ztschr. (1875, 1879), Hamburger amtl. Statistik u. s. w. Eine ganz
vorzügliche Bearbeitung des steuerstatistischen Materials für Basel hat K. Bücher,
Basel's Staatseinnahmen und Steuervcrtheilung, Basel 1888, geliefert. Vergl. die ver-
schiedenen Angaben von Rob. Meyer im Handwörterbuch. — Zur Kritik s. österr.
stat. Monatsschr. B. XIII, und speciell zur Kritik Sötbcers v. Heyking in d. Tüb.
Ztschr. B. 36, 1880, S. 164 ff. Vorschläge zur Statist. Ermittlung im Compte rendu
des Statist. Congresses im Haag 1869.
Eine eigenthümliche Stellung nimmt das beachtenswerthe Buch von H. Losch,
Volksvermögen, Volkseinkommen und ihre Vertheilung, Leipz. 1888 (Schmoller, For-
schungen, VII, I) ein: ein Versuch einer Revision auch der in Betracht kommenden
theoretischen Grundlagen für statistische Berechnungen, mit dem Bestreben, die ver-
schiedenen Factoren aufzusuchen, welche für den organischen Charactcr der Volks-
wirtschaft. des Volksvermögens und Volkseinkommens maassgebend sind. Bei man-
chem Guten fehlt aber Klarheit und Schärfe der principiellcn Erörterungen, weshalb
auch die Ergebnisse nur mit Vorsicht anzunehmen sind.
Umfassendere Mittheilungen statistischer Daten, auch der hier berührten, liegen
nach dem theoretischen Character dieses Werks ausserhalb unserer Zwecke.
Ueber die Methoden der Schätzung des Volkseinkommens s. § 177 und Rob.
Meyer a. a. 0. Bis jetzt ist es wohl richtiger, das offene Zugcständniss zu machen,
dass die Statistik mit ihren gegen wärtigen Hilfsmitteln und Daten keine hin-
länglich brauchbare üebersicht des Volkseinkommens und Volksvermögens, im Ganzen
und nach den einzelnen Bestandtheilen und vollends nach deren Tauschwerth, geben
kann. — Vgl. auch über eino statistische Aufgabe, welche mit der Zusammenstellung
und Schätzung des Volkseinkommens enge zusammenhängt und dabei besondro
Schwierigkeiten macht, nemlich über die Berechnung der internationalen Zahlungs-
und speciell Handelsbilanz, den Aufsatz von Sötbeer in Hirth’s Annalen, 1875,
S. 731 11'. (in Anknüpfung an die neue deutsche WeTthstatistik des auswärtigen Han-
dels). S. besonders den Entwurf zur Aufstellung der internationalen Zahlungsbilanz
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Ertrag der Volkswirthsch. Volkseinkommen.
413
S. 773. Ferner v. Scheel, Berechnung der Handelsbilanz in Schmoller’s Jahrb. XIII,
lSb9, S. 9S3.
Ein Hauptfehler besonders der älteren Theorie war in der Frage vom Volks-
einkommen die Confusion in Betreir der Kosten im einzel- und im volkswirtschaft-
lichen Sinne. Alle statistische Ermittlung muss sich auch auf Arten, Sorteu,
Qualitäten und Tauschwerte und zwar vornemlich von Sachgütern beschränken,
während cbon auch persönliche Dienste, „Verhältnisse“ und Gebrauchswerthschätzung
in Betracht kommen.
I. — §. 176 [86]. Anwendung der erörterten Be-
griffe aus dem Wirthschaftsbetrieb auf die Volks,
wirthsebaft. Die Begriffe der Ein- und Ausgänge, Einnahmen
und Ausgaben, Ertrag, Roh- und Reinertrag lassen sieb auch auf
die als ein Ganzes gedachte Volkswirthschaft, die Begriffe
Einkommen und freies Einkommen zwar nach dem oben fest-
gestellten Sprachgebrauch besser nicht auf die Volkswirthschaft,
das Ertrag gebende Object, wohl aber auf das Volk, das den
Reinertrag beziehende Subject, anwenden.
Welche einzelne Posten von wirtschaftlichen Gütern unter die einzelnen ge-
nannten Begriffe in der Volkswirthschaft sich reihen, bedarf für mehrere der hierher
gehörigen Fälle keiner besonderen Darlegung. Selbstverständlich umfassen die Ein-
und Ausgänge der Volkswirthschaft auch die durch den Credit mit anderen Volks-
wirtschaften oder richtiger mit den Einzelwirtschaften (incL derjenigen des Staats)
in ihnen ausgewechselten Güter. Die zwischen inländischen Einzelwirtschaften
(ebenfalls incl. des heimischen Staüts) durch den Credit bewegten Güter compensiren
sich für die Volkswirthschaft als Ganzes. Andrer Moinung ist Fr. J. Neumann,
Tüb. Zeitschrift B. 2b, 303: es sei unrichtig anzunehmen, die Rechtsansprüche und
Forderungen der Volksangehörigen unter einander seien für die Grösse des Volks-
vermögens gleichgültig. Das allerdings nicht, wie z. B. beim Productivcredit deutlich
wird. Aber wie veranschlagen?
II. — §. 177 [87]. Ermittlung und statistische Er-
fassung von Roh-, Reinertrag der Volkswirthschaft
und Volkseinkommen. Durch eine hierauf bezügliche Er-
örterung wird besser als durch eine vorausgeschickte formale De-
finition Wesen und Begriff dieser Thatsachencomplexe klar ge-
macht. Daher wird das hier zuerst ins Auge gefasst.
Man kann dabei ohne und mit Rücksicht auf die Einzelwirth-
schaften, welche die Erträge erwerben und über das Einkommen ver-
fügen, Vorgehen und danach, wie man es genannt hat, eine reale
(„objecti ve“) und eine personale („subjective“) Methode der
Ermittlung und Erfassung unterscheiden. Zwischen beiden sind
Combinationen verschiedener Art möglich, in der Praxis mit Rück-
sicht auf die nach dem Stand der amtlichen Aufnahmen, auch
nach der Art der Steuergesetzgebung, deren Daten zu benutzen
sind, vorhandenen Daten öfters allein durchführbar, was daun
„gemischte“ Methoden giebt.
Bei der realen Methode knüpft die Darstellung an die Werth-
414 8- B. Wirthsch. u. Volkswirthsch. 3. K. Ertrag u. Einkommen. 2 A. §. 127.
objecte selbst oder an die G Itter m engen an, welche den Roh-
und Reinertrag der Volkswirtschaft als Ganzes bilden; bei der
personalen Methode werden die einzelwirthschaftlichen
Reinerträge, bez. die Einkommen der S u b j e c t e der Einzel-
wirtschaften summirt, wo dann nur die Zusammenstellung des
Reinertrags der Volks wirthschaft oder des Volkseinkommens
stattfindet.
Beide Berechnungsarten bei Roscher I, §. 14G, die erste bei Rau I, §. 247
die zweite (annähernd) eb. §. 248, die zweite auch bei Hermann, S. 590. Nähere
Beurtheilung beider Methoden bei v. Mangoldt, Volkswirtschaftslehre, S. 316 ff.
Roh. Meyer, Handwörterb. a. a. 0. S. auch Heuschliug, Journ. de Ecou. XXVI
(1872), p. 575.
A. Erste Art der Darstellung.
1) Der Rohertrag der Volkswirtschaft wird in einer Periode
(einem Jahre) gebildet:
a) von der Gesammtheit der in dieser Zeit neu im Inlande
erzeugten wirtschaftlichen Güter aller Art.
Arten, Sorten, Qualitäten, Quantitäten dieser Güter müssen daher unterschieden
werden und gekannt sein. Aber auch ..Dienste“, Verhältnisse“, „Einrichtungen“
(öffentliche, Staat u. s. w.) in Bezug auf ihre Dienste (§. 119) gehören hieher. Da
hier vielfach eine Tausch- oder tieldwerthschätzung gar nicht erfolgen kann, eine
Gebrauchswerthschätzung nicht zu vergleich- und messbaren Grössen führt, ist nicht
nur eine Summirung solcher heterogenen Werthgrössen unmöglich, sondern es ergiebt
sich auch , dass das ganze Problem der Schätzung des Volks wirthschaftsertrags und
Volkseinkommens eigentlich practisch unlösbar ist. Man kann nur angeben, welche
Elemente dazu gehören. (Vgl. von Heyking a. a. 0., auch Losch’s gen. Buch).
Allein auch bei den Sachgütern ergeben sich überaus grosse Schwierigkeiten,
die wiederum halbwegs genügend nicht zu lösen sind, weil die allein anwendbare
Methode , die statistische , vielfach practisch den Dienst versagt. Die inländischen
Rohstoffe sind vollständig ihrem Werthe nach einzusetzen. Die aus solchen und aus-
ländischen Stoffen hergestellten Gegenstände (Industrieproducte, Fabrikate), um einen
volkswirtschaftlichen Doppelansatz der Rohstoffe zu vermeiden, nur für den Betrag
der durch die Gewerksarbeit erzielten Wertherhöhung (oftmaliger Fehler auch der
amtlichen Statistik der Bergwerks- und Hüttenproduction). Die im Handel umge-
setzten und transportirten Rohstoffe und Fabrikate für den Betrag der dadurch be-
wirkten Wertherhöhung. Aber eben diese lässt sich zu schwer richtig ermitteln.
b) Von der Einfuhr von Gütern (Sachgütern, Geld) aus dem
Aus lande aus dem Titel der Renten von Forderungsrechten
des Inlandes aus Creditgeschäften oder der Renten von
früheren Kapitalanlagen inländischer Staatsangehöriger im
Auslande;
c) von dem mittelst Einfuhr ausländischer Güter reell bezahlten
Frachterwerb der inländischen Rhederei im auswärtigen
Handel und Zwischenverkehr ;
d) von den in ßaar und in Waaren bestehenden Ein-
fuhren des Auslandes ins Inland, welche als Rimessen für die
im Inland sich aufhaltenden Fremden dienen oder von
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Realo Methode der Ermittelung des volkswirthsch. Reinertrags. 415
solchen mitgebracht werden, — unter heutigen Verhältnissen~eine
stehende Rubrik in unseren Volkswirtschaften;
e) von der gleichen Einfuhr aus dem Titel unentgelt-
licher Gaben, z. B. Contributionen des Auslandes an das
Inland, Einwanderungsvermögen, sobald diese Einfuhr
einigermaassen regelmässig stattfindet.
So bei dauernden Tributverhältnissen des Auslands an das Inland, bei dau-
ernder Einwanderung. Das mitgebrachte Vermögen der Einwanderer kann hier,
z. B. im Falle der nordamericanischen Vereinigten Staaten, in der That zu den regel-
mässigen Einnahmequellen des Einwanderungslauds gerechnet werden, eine Quelle,
welche dem Lande deshalb fliesst, weil es durch seine (wirklich oder vermeintlich)
günstigeren gesammten ökonomischen und socialen Verhältnisse den Einwanderungs-
strom an sich zieht. Hier werden also bleibende Ursachen der Massenein- und
Auswanderung vorausgesetzt (vgl. L. Stein, Verwaltungsrecht, 2. Thl. , Inn. Verw.,
S. 182 ff. u. im 1. Thl. meiner Grundlegung den Abschn. vom Einwanderungsrecht). —
In früheren Zeiten, z. B. im griechischen Alterthum, später in einzelnen islamitischen,
in asiatischen Staaten bildete Seeraub, anderswo wieder Kriegsbeute eine förm-
lich regelmässige Erwerbsquelle der heimischen Bevölkerung. — Einmalige
Contributionszahlungen des Auslands, z. B. als Kriegsentschädigung , das Vermögen
vereinzelter Einwanderer, bilden nur zufällige Einnahmen und Vermögensver-
mehrungen und sind zum Ertrag der Volkswirtschaft nicht zu rechnen. Gleiches
gilt von Erbschaften u. dergl. in., die aus dom Auslande in concreten Gütern oder
Geld cingeheu.
f) Vom etwaigen Werthübe rschuss der im internationalen
Handel erfolgenden Waaren- und Geld ein fuhr aus dem Aus-
lande über die bezügliche Ausfuhr.
Wird der ganze Betrag der Einfuhr hier eingesetzt, so muss bei dem ersten
Posten (a) von dem inländischen Gütererzeugniss die daraus stattfindende Ausfuhr
abgezogen werden.
Wenn von Rau, Roscher u. A. zum Roherträge der Volkswirtschaft, bez.
wie sie es nennen zum rohen Volkseinkommen die ganze inländische Gütererzougung
und zugleich die Einfuhr von Gütern aus dem Auslände gerechnet wird, so fiudot
ein Doppelansatz statt, welcher auch schon bei der Berechnung des Rohertrags un-
richtig ist. Es genügt daher nicht, mit den genannten Autoren den Abzug der im
Handel erfolgenden Güterausfuhr erst zur Berechnung des reinen Ertrags oder Ein-
kommens vorzunebmen. — Ueber die Differenzen zwischen dem Werth der Waaren-
ein- und Ausfuhr der Länder und die besonderen Ursachen der grösseren Werthhöho
der Einfuhr s. Sötbeer in dem gen. Aufs. Uber Handelsbilanz; eb. auch Uber die
ausserordentliche Lückenhaftigkeit unserer früheren deutschen (Zollverein) Ausfuhr-
statisfik. Vgl. Uber diesen Gegenstand auch die zahlreichen fleissigen und instruc-
tiven Artikel v. E. Laspeyres im Deutschen Handelsbl., so über die Handelsbilanz
von 1877 im Nov. 1878, u. v. Scheel a. a. 0.
g) Vom Werthbetrage der Nutzungen des Nutzver-
mögens, cinzusetzen in Gemässheit des zweiten Bestandtheils
des Einkommens (§. 173).
2) Der Rein ertrag der Volkswirtschaft ergiebt sich alsdann
dadurch, dass folgende Posten vom Rohertrag abgezogen werden:
a) Die im §. 172 unter 1, c (S. 402) genannten eigentlichen oder
natürlichen volkswirtschaftlichen Productionskosten
416 3. B Wirthsch. u. Volkswirthsch. 3. K. Ertrag u. Einkommen. 2. A. §. 177.
(im ersten dort unterschiedenen Sinne des Wortes): die Verwen-
dungen für die Mitwirkung der Natur bei der Production, nicht
aber die ebenfalls in §. 172 (unter 1, a und b) besprochenen bloss
einzelwirthschaftlichen Productionskosten, welche für irgend Jemand
ein Einkommen bilden.
Daher namentlich nicht, wie Kau annahm, „der Lebensbedarf der hervor-
bringenden Arbeiter und üntornehmer mit ihren Familien“, Posten, welche vielmehr
durchaus einen Theil (und bei Weitem den Hauptthoil) des Reinertrags der
Volkswirtschaft oder des Volkseinkommens bilden.
Kau’ä und der Aelteren, d. h. insbesondere Ricardo ’s und seiner Schule
damit vielfach übereinstimmende Annahme beruhte auf der Vermengung des einzel-
(privat-) und volkswirtschaftlichen Gesichtspuncts und führte zu der falschen Con-
struction eines nationalen Reineinkommens, das wesentlich nur Uoberschuss-
einkommen der besitzenden Classen war. Daraus sind auch für wichtige practische
Kragen falsche Schlüsse bervorge gangen, besonders im St euer wesen (Finanzwiss. II.
2. A S. 314 IT.). — S. Ricardo ’s übrigens öfters missverstandene Lehre in seinen
principles ch. 26 Dazu Bernhardi a. a. O. §.14 ff.. Mithoff, a. a. 0. S. 579. —
Berichtigung dieser Irrthümer erst besonders durch Her mann' s Einkommentheorie,
a. a. 0. Vergl. namentlich den Aufsatz von Schmolle r. — Jener Abzug, den
Rau macht, hat nur bei der Berechnung des freien Volkseinkommens stattzufinden,
s. u. N. 4.
Dagegen sind abzusetzen: vom Werth weniger noch brauchbarer Abfalle ab-
gesehen, der Werth der Roh- und Hilfsstoffe der Production, z. B. Saatkorn, Vieh-
futter, Streu in der Landwirtschaft, der Verarbeitungsstoffe, Brennstoffe, Schmierstoffe
in der Industrie, den Transportgewerben (Eisenbahnen): ferner der Werthbetrag der
Abnutzung der zu mehreren successiven Productionen dienenden Kapitalien, d. h.
der sog. stellenden Kapitalien, wie Wirtschaftsgebäude , Maschinen, Werkzeuge.
b) Die Ausfuhr von Gütern (Sachgütern, Geld) nach dem
Auslande, aus dem Titel der Renten von Kapitalanlagen
und von Forderungsrechten des Auslandes aus Credit-
geschäften im Inlande.
c) Die Güterausfuhr als Bezahlung für Frachterwerb frem-
der Rhederei.
d) Baar- und Waarensendungen ins Ausland als Rimessen
für dort sich auf haltende Inländer; dgl. von solchen mit hinausge-
nommene Güter und Gelder (Reiseverkehr).
e) Die Güter- und Geldausfuhr aus dem Titel unentgelt-
licher, periodischer Gaben ans Ausland (Tribute; nicht
Auswanderung vermögen).
Dies könnte im Widerspruch zu stehen scheinen mit der obigen Einsetzung
des Einwanderungsvermögens als Posten des Rohertrags der Volkswirtschaft des Ein-
w an d orerlands. Aber für das Auswanderungsland liegt die Sache auch anders.
Das mitgenommene Auswanderervermögen ist, zum weituberwiegenden Theilc wenig-
stens, kein Bestandteil des in der betreffenden Wirtschaftsperiode gewonnenen
Ertrags der Volkswirtschaft, sondern des Vermögens derselben, muss also nur
bei einer Volksvermögensbilanz, nicht bei einer Ertrags- oder Einkommensbilanz
abgezogen werden. — Neben dauernden Tributen sind regelmässige Zahlungen an
fremde Untcrthancn im Auslande (Bcstcchungsgehalte , wie Seitens Persiens
an Griechen, Besoldungen fremder Gelehrter unter Ludwig XIV. , Peterspfennige)
zu nennen.
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Reale Methode der Ermittelung; des volkswirthsch. Keiuertrags. 417
t) Der etwaige Werthüberschuss der Handels-Aus-
fuhr über die Einfuhr im auswärtigen Verkehr.
g) Der Werthbetrag der Abnutzung des Nutzvermögens.
3) Das Volkseinkommen besteht in diesem Reinertrag
der Volkswirtschaft. Es lässt sich, nach allem Vorausgebenden,
dann begrifflich bestimmen als: die Summe des Werths (Gebrauchs-
bzw. Tauschwerts) aller Art wirtschaftlicher Güter (nicht bloss:
Sachgüter), über welche ein als einheitliches Ganzes oder als
Person und insofern als Subject seiner Volkswirtschaft ge-
dachtes „Volk“ periodisch regelmässig zu Genüssen und Nutzungen
(sofortigen oder, wie bei der Kapitalbildung aus dem Einkommen,
verschobenen) in einem bestimmten Zeitraum (Jahr) verfügt, ohne
Verminderung des im Anfang dieses Zeitraums vorhanden ge-
wesenen Werths des Volksvermögens, daher nach Abzug bloss der
volkswirtschaftlichen, d. h. kein Einkommen einer physischen
Person bildenden Kosten vom Rohertrag der Volkswirtschaft.
Ich halte diese Auffassung und Begriffsbestimmung auch den kritischen Er-
örterungen Neumann's und Robert Meyer’s gegenüber aufrecht. Die Neumann’-
sche Unterscheidung von Bevölkcrungs- und Volkseinkommen ist nicht geboten.
4) Das freie Volkseinkommen umfasst denjenigen Theil des
Volkseinkommens einer Wirthschaftsperiode, welcher nach Abzug
des nothwendigen Unterhaltsbedarfs — hier berechnet
auf Grund der ersten in §. 174 angegebenen Methode — der
ganzen Bevölkerung, auch die mit zu erhaltenden nicht-erwerbenden
Personen inbegriffen, — weshalb z. B. Armensteuern u. dgl.
hier vom Volkseinkommen abzusetzen sind — übrig bleibt.
Dio Berechnung des Roh- und Reinertrags der Volkswirtschaft und des Volks-
vermögeus kann wieder N aturalrechnung und Geldrechnung sein (§. 161). Die
erstere hat aber gerade hier grösseren practischen und wissenschaftlichen Werth.
Die ältere Streitfrage, ob der Rohertrag oder der Reinertrag der Volkswirt-
schaft der wichtigere sei. kann auf Grund der neueren berichtigten Theorie des Ein-
kommens überhaupt und des Volkseinkommens speciell als müssig betrachtet werden.
Denn wenn vom Reinertrag der Volkswirtschaft nicht, wie früher vielfach, bereits
irgendwelche Gütcrconsuintioncn von Menschen abgezogen sind, so versteht sich von
selbst, dass der Reinertrag das allein richtige Moment ist Vergl. auch Hermann,
S. 5Ü5 ff., Roscher I, §.147, Schmollor, a. a. 0. Die Controverse konnte nur
entstehen bei der Vermengung des einzel- oder privat- mit dem volkswirtschaftlichen
Gesichtspa ncte.
B. — §. 178 [88]. Zweite Art der Darstellung und
Berechnung des Volkseinkommens oder, wieder damit
zusammenfallend, des wahren Reinertrags der Volkswirtschaft.
Sie erfolgt in der Weise, dass die sämmtlichen Einkommen
inländischer Einzelwirthschaften, aus in- wie aus aus-
A. Wagner, Grundlegung. 8. Auflage. 1. Theil. Grundlagen. 27
418 3. B. Wirthscb. u. Volkswirtbsch. 3. K. Ertrag a. Einkommen. 2. A. §. 17S.
ländischem Erwerbe, summirt und von dieser Summe, um Doppel-
rechnung zu vermeiden, die von anderen inländischen Wirtschaften
an den Staat und die übrigen öffentlichen Gemeinwirthschaften
entrichteten Beiträge und Steuern in Abzug gebracht werden,
sowie dass das Einkommen, welches physische Personen aus Er-
werbs- und ähnlichen Gesellschaften (Genossenschaften) be-
ziehen, nur einmal, entweder nur bei letzteren, als selbständigen
Einzelwirtschaften , oder gleich bei den physischen Personen, als
deren oder als Theil ihres Einkommens, gerechnet wird.
Ueber dio Behandlung der Steuern ebenso Hermann, S. 590, wogegen
Roscher, §. 146, zwar neben dem „reinen Einkommen der selbständigen Privat-
wirthschaften“ auch nur das „reine Einkommen des Staats, der Gemeinden, Corpora -
tionen, Stiftungen, welches dem eigentümlichen Vermögen entspringt“, aufführt,
dann aber doch gleich darauf hinzufügt: von Steuern gelte nicht der Satz wie vou
Schuldziuson, dass sie bloss auf Seiten des Gläubigers aufgeführt, auf Seiten des
Schuldners aber, um error dupli zu vermeiden, abgezogen würden, „weil die Unter-
thanen des guten Staats, die Gläubigen der guten Kirche wirklich neue und minde-
stens gleichwerthe Güter dadurch erkauften“. Letzteres ist gewiss ganz richtig und
Roscher’s Schluss, wonach die Staats- und Kirchenleistungen als Einkommeutheile
der Privaten, im W'crthe der Steuerzahlung der letzteren, angesetzt werden, erscheint
in einer Hinsicht auch als Consequenz der Einreihung der Leistungen in die wirt-
schaftlichen Güter. Indessen lässt sich anderseits doch mit Fug cinwenden, dass
schliesslich alle solche Berechnungen des Volkseinkommens nur erfolgen, um die Lage
der physischen Personen beurteilen zu können und für diese physischen Personen,
d. b. in der Hauptsache für die Subjecte der Privatwirtschaften, die Beiträge und
Steuern an die juristischen Personen, an Staat und Gemeinwirthschaften, nicht Ein-
kommen, sondern Ausgaben sind, was bei der Berechnung des Volkseinkommens,
d. h. eben doch schliesslich des Einkommens einer bestimmten Anzahl Menschen
(nicht schlechtweg „Einzelwirtschaften“) den im Texte vorgenommenen Abzug der
Steuern u. s. w. bei den Gemeinwirthschaften u. s. w. rechtfertigt. Man könnte das
Einkommen der Gemeinwirthschaften , einschliesslich des Staats, aus Beiträgen und
Steuern andrer Einzelwirtschaften, etwa abgeleitetes Einkommen nennen, in
einem richtigeren Sinne, als dieser Ausdruck früher gebraucht wurde (s. §. 173 am
Schluss). Vgl. übrigens auch Rob. Meyer, Einkommen, bes. §. 12, S. 243 ff. und
im Handwörterbuch III, 55 (teilweise abweichend); ferner Neu mann und Mit-
hoff a. a. 0.
Die Bemerkung betreffs der Gesellschaften (Zusatz gegen die 2. A. S. 125)
ist auch mit durch die neueren theoretischen und practischen Streitigkeiten über die
Behandlung dieser oder bestimmter Kategorieen dieser Gesellschaften (besonders der
Actiengesellschaften) in der Einkommensteuer veranlasst; ob sie als „selbständige“
Personen mit „eigenem“ Einkommen und das, was von ihnen an die Berechtigten
(z. B. dio Actionäre als Dividende) noch einmal als eigenes Einkommen dieser letz-
teren anfzufassen seien oder nur Ein Einkommen angenommen werden könne (vergl.
meine Finanzwiss. II, 2. A. S. 417 ff. und meine Abh. im Schanz’schen Finanzarchiv
1891, II, S. 179 ff.). Die zweite Auffassung ist die richtige und ihr gemäss bei der
Ermittlung des Volkseinkommens wie angegeben zu verfahren.
Die Schuldzinsen und ähnlicho Zahlungen erscheinen hier bei dem Ein-
kommen des Empfängers (auch die aus dem Ausland kommenden beim inländischen)
eingesetzt, wie sie ja auch nicht zum Einkommen des zahlenden Schuldners ge-
hören. Die an Ausländer gelangenden Schuldzinscn , daher auch diejenigen, welche
der inländische Staat ins Ausland zu zahlen hat, müssen dabei ebenfalls schon nach
dem Einkommenbegriff abgezogen worden sein. D. h. also, folgerichtiger Weise,
das Einkommen des Staats, der Gemeinden, vieler Erwerbsgesellschaften (Eisen-
bahnen, Banken; Actienbethciligung muss hier der Betheiligung als kapital-
Iffihender Gläubiger gleichgestellt werden) ist für diesen Zweck der Be-
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Personale Methode der Entwickelung des volkswirthsch. Reinertrags 419
rechnung des Volkseinkommens nur mit dem durch Schuldzinsen und
Dividenden, welche ins Ausland gehen, verringerten Betrag einzusetzen.
Ein nicht unwichtiger Punct, um die Lage stark ans Ausland verschuldeter
Staaten, wie Oesterreich, Italien, Russland, früher Vereinigte Staaten u. a. m.,
richtig zu beurtbeilen. Bei Privaten ist dies nicht erst noch besonders hervorzu-
heben, denn die von ihnen gezahlten Schuldzinsen gehören als einzelwirthschaftlicbe
Productionskostcn nicht zu ihrem Einkommen und gelangen bei der obigen zweiten
Berechnung des Volkseinkommens ohnehin nicht zum Ansatz, wenn sie an Ausländer
im Auslande gezahlt werden,
Unserem Einkommenbegriffe gemäss sind die Nutzungen des Nutzvermögens
auch im Einkommen der Einzelnen schon enthalten, brauchen also bei dieser Berech-
nung des Volksvermögens nicht mehr besonders aufgeführt zu werden.
Die Summe der Wirtb scbaftsüberschüsse aller in-
ländischen Einzelwirtschaften am Ende einer Periode ist dann
wieder identisch mit der dauernden Vermehrung dea
Volksvermögens.
Statistisch lassen sich beiderlei Ermittlungen der Erträge
der Volkswirtbschaft und des Volkseinkommens, die reale und die
personale Methode, durchfuhren, wenn es möglich ist, die erforder-
lichen Daten zu gewinnen. Aber in dieser Hinsicht muss man für
jetzt noch in erheblichem Maasse, wohl für immer in gewissem
Grade sich resigniren und daher auch den von verschiedenen
Statistikern angestellten Ermittlungen mit Skepsis und grosser Re-
serve gegenüber treten.
Beide Methoden bieten sonst verschiedene Schwierigkeiten und ergänzen sich
gegenseitig. Die ersto Methode gewährt gleichzeitig Einblicke in die Technik der
Production ^Verhältniss des Roh- zum Reinertrag, Betrag der volkswirtschaftlichen
Productionskosten), im Ganzen und in den Hauptzweigen der nationalen Arbeit und
liefert Uebcrsichtcn über die Gebrauchswerthmengen der verschiedenen wirt-
schaftlichen Güter, Daten aus denen ein wenig auch auf die Vertheilung des Volks-
einkommens rückgeschlossen werden kann. (S. v. Mangoldt, Volkswirtschaftslehre
S. 31S.) Die zweite Methode lässt die Gebrauchswerte zurücktreten, giebt aber einen
genaueren Einblick in die Vertheilung des Volkseinkommens und implicite auch
in diejenige des Volksvermögens und Volkskapitals unter der Bevölkerung sowie
zwischen physischen und juristischen Personen (auch betreffs des Einkommens der
„todten Hand“).
Vollends Vergleiche zwischen verschiedenen Ländern und
im Ganzen doch auch zwischen verschiedenen Perioden für das-
selbe Land sind bei der Ungleichartigkeit der Grundlagen für die
statistischen Ermittlungen nur mit grosser Vorsicht anzustellen und
daher auch Scblussziehungen aus solchen Vergleichen, zu welchen
man leicht veranlasst wird, skeptisch zu behandeln.
Indem man dann Daten der realen und personalen Methode
combinirt, mag man bisweilen mittelst einer solchen „gemischten“
Methode auf etwas sichereren Boden kommen. Aber Irrthümer
sind auch da nicht ausgeschlossen, ja sie werden sich in mancher
Hinsicht noch leichter einstellen.
Rob. Meyer a. a. 0. hebt das nicht ausreichend hervor.
27*
420 3* B. NVirthsch. u. Volkswirthscll. 4. K. Ertrag u. Einkommen. 2. A. §. 179, ISO.
C. — §179 [87]. Bedeutung des freien Volkseinkommens.
Die Höhe des freien Einkommens entscheidet wesentlich
1) über den Umfang der Bedürfnissbefriedigungen, welche sich
das Volk, als Ganzes betrachtet, erlauben darf, damit auch Uber Höhe
und Art der Culturentwicklung eines Volks, soweit letztere durch
die Verfügung über wirthschaftliche, insbesondere auch über Sach-
güter, bedingt ist;
2) über die nachhaltige Vermehrungsfähigkeit der
Bevölkerung, soweit dafür die blosse Grösse, nicht auch
die Verthei lung des Volkseinkommens maassgebend ist, welche
letztere wieder die Art der Güter wesentlich mit bestimmt, aus
denen dies Volkseinkommen besteht;
3) über die Höhe der Steuerfähigkeit des Volks, nament-
lich der Steuern, welche es dauernd zahlen kann (falls hierfür
nicht schon ein Betrag im nothwendigen Unterhaltungsbedarf ein-
gesetzt ist, was zulässig erscheint), sowie Uber den Steuerdruck ;
S. u. in Bach 5 Ubor die Zwangsgemeinwirthschaften und Buch 6. Ein gewisses
Minimum von Rechtsschutz und Culturförderung durch den Staat gehört zum „noth-
wendigen Unterhaltsbedarf“ ebenso gut als ein gewisses Minimum von Sachgütern für
die materieUen Existcnzbedürfnisse.
4) über die Grösse, um welche sich periodisch das Volks-
vermögen und das National-Kapital — unabhängig von
Vermögens- und Kapital b esitz betrachtet — dauernd vermehren
kann vermittelst des Wirthschaftsüberschusses (der Wirtb-
schaftsb ilanz), d. h. desjenigen Betrags des Volkseinkommens,
welcher am Ende der Wirthschaftsperiode vom Einkommen übrig ist.
Rau I, §. 72, 250.
Ein möglichst hohes freies Volksein k ommen muss
daher als Strebeziel der volkswirtbschaftlichen Entwickelung be-
zeichnet werden. Diejenige Organisation der Volkswirtschaft,
welche die Erreichung dieses Ziels am Meisten begünstigt, so dass
maximaler Nutzen mit minimalen Opfern an Kosten erlangt wird,
ist unter übrigens gleichen Umständen, d. h. vor Allem
unter Voraussetzung einer günstigen Verteilung des Volksein-
kommens, gemäss der im vierten Buche entwickelten Grundsätze,
die vorzüglichste. Nach einer solchen Organisation der Volks-
wirtschaft ist daher in der Theorie zu forschen, in der Praxis zu
streben: das Problem des fünften und sechsten Buches in diesem
ersten Theile der Grundlegung.
Vgl. Schäfflc, Soc. Körper III, 272 fl', u. Abth. 6 u. 7 des 12 Hauptabschnitts
daselbst. „Die Nationalökonomie hat auf das gesellschaftlich mögliche Minimum
der Durchschnittskosten und auf das gesellschaftlich mögliche Maximum der Ver-
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Einzel- und volkswirtschaftliche Werthschätzung.
421
nutzung den Hauptnachdruck zu legen. Die privatwirthschaftlichcn Bemühungen um
geringste Eigenkosten und höchste Nutzeffecte haben nationalökonomische und ethi-
sche Hauptberechtigung als Vermittlungsvorgängc zur Kegulirung des gesellschaftlichen
Kostenminimums und Nutzmaximums*'. Eb. S. 274.
Viertes Kapitel.
Einzel- und volkswirtschaftliche Wertschätzung.
Rau , I. §. 63 — OS, Roscher, I. §. 10. Hermann, Abth. I, bes. III pass., z. B
S. 111, und Manches in der allgemeinen Litteratur über Worth (<$. 134, 135), Wirt-
schaft (§. 144). ü. A. die Arbeiten Neumann’s und der österreichischen
Schule (Meyer, v. Böhm-Bawerk, Wieser u. s. w.).
§.180 [89]. Die Werthschätzung des Vermögens gestaltet
sich wesentlich verschieden vom Standpuncte der im Verkehr
stehenden Einzelwirtschaft nnd von demjenigen der ganzen
Volks wdrtbsehaft aus.
Für die nocli fast ganz ausserhalb des Verkehrs stehende Einzelwirtschaft, na-
mentlich für die Familie, welche ihren Güterbedarf fast ganz eigens producirt, erfolgt
die Schätzung der Güter sogut wie nur nach dem Gebrauchswert, des einzelnen
Stücks nach seinem concrctcn Werth für den Besitzer. Diese ursprüngliche Schätzung
nennt Becc-aria absoluten Werth im Gegensatz des später hiuzugetretenen rela-
tiven oder Tauschwerts, Eiemcnti di economia publica, in den Scrittori classici XIX,
339 (nach Rau §. 63).
I. Einzel wirthschaftli che Schätzung. Die Einzelwirt-
schaft legt nur denjenigen Gutem in ihrem Vermögen oder in ihrem
Wirthschaftsbctrieb concreten Gebrauchs werth bei, deren sie
für die unmittelbare Consumtion (einschliesslich der rcproductiven
Consumtion §. 160) bedarf.
Dass auch für diese ein zel wirtschaftliche (gewöhnlich sogenannte privat-
wirthschafdiche) Schätzung der Tauschwerth nicht ausreicht, hat Rau in I. §. 64 noch
besonders nachgewiesen. S. auch Torrens, production of wealth, 1821, pag. 10,
11. Rossi, cours d’econ. polit. 1838, I, 65, während Cournot, rech, sur les princ.
matem. de la theoric des richesses, 1838, sogar so weit geht, die Zerstörung eines
Theils eines Waarenvorraths , um den Rest vortheilhafter , d. h. zu einem höheren
Preise verkaufen zu können, p. 7 une veritablc creation de richesse dans le sens
commcrcial du inot zu nennen. Vergl. oben §. 137 11’.
Für alle übrigen Güter ist der Einzelwirtschaft nur der
Tausch werth (eventuell der Taxwert), oder in der Geldwirth-
schaft der Geld werth und Preis wesentlich.
Denn dieser entscheidet darüber, ob und welche Macht diesen Gütern inne-
wohnt, andere Güter concreten Gebrauchswerths eventuell in das Vermögen oder in
die Wirthschaft cinzuführen. Da nun in der Volkswirtschaft, welche sich regel-
mässig des Geldes als Verkehrsinstrument bedient, oder in der sogenannten Geld-
wirthsebaft (§. 189) das Geld das regelmässig am Leichtesten in Güter concreten
Gebrauchswerts umsetzbare Gut ist, so ist der Einzelwirtschaft, über ihren un-
mittelbaren oder beständigen Bedarf an naturalen Gütern concreten Werths
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422 3. B. W irthsch. u. Volkswirthsch. 4. K. Wertschätzung. §. ISO, 181.
hinaus, auch das Geld vermögen bcz. ein solches, welches sich sofort nach Bedarf
leicht, sicher, verlustlos in Geld umsetzen lässt (Geldforderungen, Werthpapiere u. dgl. in.)
das erwünschteste: freilich immer unter Voraussetzung normaler Verkehrsver-
hältnisse in einer Volkswirtschaft, in welcher die Arbeitsteilung weit gediehen
ist. Denn sobald diese Voraussetzung fehlt, sind die Güter und ist auch das Geld
nicht beliebig oder nur zu sehr ungünstigen Bedingungen, d. h. zu einem niedrigen
Tauschwerth und Preis, in die wichtigeren naturalen Güter (also in diejenigen von
bedeutenderem Gattungswerth), deren die Einzelwirtschaft im concreten Fall bedarf,
umzusetzen und nur in diesem Falle gilt dasselbe vom Umsatz von Geldforderungen
in Geld und weiter in naturale Güter. Alsdann zeigt sich erst, wie Besitz und Er-
werb von Geldvermögen und von Vermögen, welches die Einzelwirtschaft nur seines
Tauschwerths wegen besitzt, schliesslich stets nur die Bedeutung eines Mittels,
nicht diejenige eines Zwecks der Wirtschaft hat.
Lehrreich für diese Verhältnisse sind die Beobachtungen im Verkehr abgesperrter
Orte und Gegenden, wie namentlich in belagerten Festungen. Interessante Fälle
der abnormen Preisbildungen besonders im belagerten Paris 1ST0 — 71, worüber Le-
goit eine Arbeit verölTentlichte.
§. 181 [90, 91]. Betrachtung einiger besonderer Ver-
hältnisse. Vertheilung von Gebrauchs vermögen und
Kapital, von Natural- und Geldkapital der Wirtschaften.
Eine bemerkenswerthe Erscheinung, welche mit der fortschreitenden
Arbeitsteilung, der Verbesserung der Communicationen, der grösseren
Rechtssicherheit, der gesicherten Regelmässigkeit des Verkehrs zu-
sammenhängt, zeigt sich darin, dass die Individual- und Familien-
wirthschaften und zum Theil selbst die anderen Einzelwirtschaften
in unserer Culturperiode eine kleinere Quote ihres Vermögens in
Gütern concreten Gebrauchswerths, eine grössere in
Gütern, welche für sie bloss ihres Tausch- und Geldwerts halber
in Betracht kommen, anlegen.
1) Bei der Individual- und Familienwirthschaft zeigt
sich dies darin, dass der Vermögensbestand, welcher zur Verfügung
der h a u s wirtschaftlichen Abteilung der Wirtschaft (§. 159)
steht, relativ kleiner, derjenige zur Verfügung der erwerbs-
wirtbscbaftlickcn Abteilung grösser, als in Zeiten weniger ent-
wickelten Verkehrs, wird. Dies kommt aber einfach darauf hinaus,
dass das Nutz vermögen zu Gunsten des Kapitalbesitzes
solcher Wirtschaft abnimmt, also auch ein grösserer Theil des
Gesammtvermögens eines Wirthschaftssubjects Rente giebt.
Beispiele: die früheren Vermögensanlagen der wohlhabenden Mittelstände in
Schmuck, Silbergerät. gediegenem Mobiliar, Betten, Tafelgeschirr, Kleidern, der wohl-
habenden Bauern in Leinenzeug, Betten, Kleidern, in müssigen Summen gemünzten
Geldes („Schatz“); neuerdings immer allgemeiner knappe, nur dem nothwendigsten
Bedarf entsprechende Vorräthe solchen Nutzvermögens und „rentable“ Kapitalanlagen
in Wertpapieren , Hypotheken u. s. w. , besonders im Zusammenhänge mit der Ent-
wicklung der Industrie, des Staatsschuldenwesens (welches spcciell für die Rentabel-
machung solcher müssiger Vermögen gelegentlich selbst empfohlen wurde), des Credit-
wesens überhaupt. Wohlhabende Agrarländer, wie Hannover, Mecklenburg, Schleswig-
Holstein haben solche Entwicklung zum Theil erst in neuester Zelt durchgemacht
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Einzelwirthschaftliche Werthschätzung. 423
(Anschluss an den Zollverein). Die asiatischen Culturvölkcr sammeln noch immer über-
wiegend „Schätze“ oder legen das Vermögen in Schmuck u. dgl. an.
In den grossen Verkehrscentren der inoderneu Cultur (Gressstädten) und in neuen
Ländern und Orten mit einer Bevölkerung ohne viel altvaterische Tradition in der
Hauswirthschaft tritt dies ganz besonders hervor. Berlin und die Vereinigten
Staaten von Nordamcrica, besonders die atlantischen Küstenstaaten bieten da,
wie in manchen socialen und wirthschaftlichen Verhältnissen, viel Aehnliches. In den
Gressstädten wirken die Knappheit der Wohnräume, die hohen Miethen, die bestän-
digen Umzüge auch zu dieser ethisch und socialpolitisch keineswegs immer günstigen
Beschränkung des Nutzvermögens ein.
Durch Ausbildung der Technik und billigen Production von Gegenständen des
Nutzvermögens wird diese Entwicklung noch begünstigt: Blüthe der „Imitations-
industrieen“ in unserer Zeit, „unechte“, „falsche“ Dinge in allen möglichen Zweigen.
Auch keine sittlich, socialpolitisch und künstlerisch oder kunstindustriell immer gün-
stige Gestaltung der Production und Consumtion! Die Entstehung besonderer Leih-
und Miethgeschäfte für die Vcrborgung von solchen Gegenständen (Bücher, Möbel,
Tafelgeschirr u. dgl. m., Kleider) führt sogar dazu, dass viele an und für sich der
Hauswirthschaft unentbehrliche Güter gar nicht mehr eigentümlich von ihr be-
sessen. sondern immer nur leihweise benutzt werden.
Am Weitesten ist das wieder in den Gressstädten der Vereinigten Staaten ge-
diehen. aber auch in Berlin und anderen europäischen Gressstädten bemerkbar genug.
— Blüthe der Leihbibliotheken, von weittragenden Folgen in mehr als einer Hin-
sicht. — Wichtiger freilich ist noch das städtische und besonders grosstädtische Mieth-
wohnungswesen statt des „eigenen Hauses“ und vollends das Chambregarni- und gar
das Schlafstellen wesen. Das W oh nbedürfniss wieder wie im alten Rom in der „Blüthe-
zeit“ (Friedländer, Sittengeschichte I, 26 IT.) das einzige der materiellen Haupt-
bedürfnisse, das in unserer arbeitstheiligen Volkswirtschaft gewöhnlich n i c h t mittelst
des Kauf contracts, sondern des Miethcontracts befriedigt wird, — mit weiteren be-
denklichen Folgen. (S. im 2. Theil, über städtisches Grundeigenthum.) Vergl. auch
die schöne moralstatistische Arbeit von E. Laspeyrcs, der Einfluss der Wohnung
auf die Sittlichkeit (nach Pariser Materialien), Bc'rl. 1S69.
Die Wirtschaftlichkeit gewinnt hier freilich auf der einen
Seite. Aber diese Entwicklung ist auf der anderen Seite sittlich,
culturgeschichtlieh, socialpolitisch und selbst in artistischer Hin-
sicht nicht ohne grosse Bedenken. Ein gesunder Conservatismus
der hauswirthschaftlichen Consumtion, besonders auf dem Gebiete
des Nutzvermügen8, weicht der hastigen Ruhelosigkeit des Markts,
dem ewigen rast- und rücksichtslosen Jagen nach Erwerb.
Die kunstgewerbliche Seite z. B. leidet gewiss unter einer Entwicklung,
wo die Mobilien und das Geschirr nicht mehr Gegenstände des dauernden Besitzes,
sondern nur der Leihe sind. Denn wenn auch im letzteren Fall vielleicht mehr Pracht-
stücke hergestellt werden, so ist doch die ganze Production kleiner.
Auch in dieser Hinsicht sind so manche Gesichtspuncte und Bemerkungen eines
J. Möser, eines Riehl nur zu berechtigt. Indem z. B. das moderne Creditwesen,
das Staatsschulden wesen , die Börsenpapiere, das Inhaborpapicr, die Mobilisirung der
Hypothek im Pfandbriefe die Anlage von Kapitalien, auch von kleinen Beträgen, er-
leichtert, nutzen diese Einrichtungen einzel- und volkswirtschaftlich in einer Hinsicht
gewiss auch dadurch, dass sie der „Nutzvermögenswirthschaft“ entgegenwirken. Die
letztere war auch volks wirtschaftlich unökonomischcr als diese „Kapital Wirtschaft“.
Aber fast unvermeidlich wird bei dieser Art der Kapitalanlagen jeder „Eüecten-
besitzer“ über kurz oder lang in den Börsenstrudel gezogen oder, wenn er sich wirk-
lich fern hält und nur feste Anlagen sucht, leidet er eben unter Umständen leicht
die empfindlichsten Verluste („Dividendenpapiere“!). Diese sociale Wirkung des
Creditwesens, spcciell z. B. des Inhaberpapiers, der Actie, ist neben der reinökonomi-
schen und technischen Seite ohne Zweifel bisher viel zu wenig beachtet worden (auch
424 3- B. Wirthsch. u. Volkswirthscb. 4. K. Werthschätzung. §. 181, 182.
in meinen eigenen älteren Arbeiten Uber Credit- und Bankwesen, die, besonders die
ersten, noch viel zu einseitig pri vat wirtschaftlich und technisch gehalten waren
und diese Behandlung des Stoffs, der herrschenden Richtung der Wissenschaft gemäss,
ohne Weiteres für volkswirtschaftlich ansahen). Der Zusammenhang dieser Verhält-
nisse mit den im Text berührten Vorgängen ist nur zu klar.
2) In der Erwerbs- oder Productionswirthschaf't kommt
eine der eben geschilderten analoge Entwicklung in zweierlei
Weise zum Vorschein. Einmal darin, dass im Geschäftskapital
die Quote, welche aus den zur neuen Glltererzeugung erforderlichen
naturalen Gütern seihst besteht, zu Gunsten der in Geld (oder
gcldwerthen Papieren, leicht realisirbaren Forderungsrechten) be-
stehenden sich verringert, — auch dies ist keine durchweg günstige
Gestaltung; sodann vielfach so, dass auch die Geldquotc durch
Benutzung von Credit ersetzt oder ergänzt wird, was oft nur zu
ungesunden Verhältnissen der Productionswirthschaft führt.
Oder in der Sprache der Praxis: es wird in der Hoffnung auf stete Verfügung
über Credit mit zu wenig eigenem Betriebskapital gewirthschaftct, indem
das Anlagekapital im Vcrhaltniss zu dem Gesammtvermögen der Wirtschaft zu hoch
angesetzt ist.
3) Bei a n deren Wirtschaften, von Corporationen, juri-
stischen Personen, auch in der Wirtschaft des Staats
finden sich endlich ebenfalls analoge Erscheinungen: zu knappes
Gebrauchs- und Nu tz vermögen, zu wenig Betriebskapital,
und zu viel Verlass darauf, die erforderlichen Güter concreten
Werths jederzeit durch den Credit beschaffen zu können, immer
in der von der Theorie zu einseitig begünstigten Tendenz, Zins-
verluste zu vermeiden. Gleichfalls eine Gestaltung, welche oft nur
scheinbar dem Princip der Wirthschaftlichkeit gerecht wird und
auf der Verkennung der wirtschaftlichen Function des Nutzver-
mögens (und der Reservefonds) beruht.
Vergl. die richtigen Bemerkungen von Hermann, S. 22G ff. über die Vorräthe
ohne sofortige Bestimmung der Verwendung, über Geld als Cassenverlag. Mit Recht
tadelt auch er S. 223, dass die Wirthschaftslehre zu wenig Rücksicht auf das Nutz-
kapitai (Nutzvermfigon) genommen und das eigentliche oder Productivkapital fast aus-
schliesslich ins Auge gefasst habe. Nutzanwendung auf die wichtige finanzielle Frage
vom Staatsschatz siehe in meiner Finanzwissenschaft I, 3. A. §. 75.
II. — §. 182 [92]. Volks wirthscha ft liehe Werth-
schätzung. Vom Standpuncte der Volkswirt!) schalt oder
des ganzen Volks aus ist die Werthschätzung des Vermögens
folgende :
Wesentlich hiermit übereinstimmend Rau I, §. G5.
1) Die grosse Masse der Güter, welche den Ertrag der Volks-
wirthschaft, das Einkommen des Volks und demnach in einem
bestimmten Zeitpuncte betrachtet das Volksvermögen bilden, wurde
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Volkswirtschaftliche Wertschätzung.
425
früher durchaus und wird auch selbst bei heutiger Entwicklung des
auswärtigen und Weltverkehrs (§. 152 ff.) grossentheils im Inland
erzeugt und auch hier zur Befriedigung der Bedürfnisse oder zu
neuer Gütererzeugung verwendet. Für das Volk ist ebendeshalb
bei diesen Gütern der Gebrauchs werth entscheidend. Der
Tauschwerth dieser Güter kommt nur für die Einzelwirthschaften
des Volks und daher für die Vertheilung des volkswirtschaft-
lichen Ertrags und Vermögens unter jenen in Betracht.
Auch bei hochentwickeltem internationalen oder weltwirtschaftlichen
Verkehr ist die Quote der mit dem Auslande ansgetauschten Guter verglichen mit den
im Inlande erzeugten und hier verzehrten Gutem, wenigstens in allen grösseren
Volkswirtschaften , selbst noch der britischen, nur eine relativ kleine, wenn sie
auch bei einzelnen wichtigen Producten erheblich gestiegen ist und weiter steigt.
Das Verhältniss der Waarenein- und -Ausfuhr zur heimischen Erzeugung und
Verwendung (eigentliche wie reproductivc Consumtion) wechselt natürlich im Laufe
der Geschichte und von Land zu Land vielfach. Die früher erörterte Entwicklung der
Weltwirtschaft führt jedenfalls zu einer absolut grösseren, mitunter wohl auch
zu einer relativ grösseren Bedeutung des auswärtigen Handels, d. h. das Inland
verwendet zu einer wachsend grösseren Quote seiner Consumtionen fremde, cintre-
fuhrte Guter und umgekehrt arbeitet eine wachsend grössere Quote seiner Production
für den Consum des Auslands.
Die hierfür im Allgemeinen maassgebenden Factoren sind oben in §. 152 fl.
dargelegt worden. Speciclle Einflüsse auf die Gestaltung des genannten Verhält-
nisses in den einzelnen Ländern sind namentlich:
(1) Die geographische Lage und die Verbindungen mit anderen Ländern,
welche den Austausch erleichtern (Grossbritannien in der heutigen Richtung des
Welthandels, Italien im Mittelalter; See Verbindung; Eisenbahnen, welche z. B. in
neuester Zeit bewirkten, dass der russische Handel in immer stärkerem Betrage über
Deutschland geht. Königsberg russischer Theebafen wurde u. s. w.).
(2) Die Volksdichtigkeit, die Beschaffenheit des heimischen landwirt-
schaftlichen Bodens und des Klimas, die Entwicklung des heimischen Bergbaus
und der Industrie, Momente, welche ein Land nöthigen und anderseits be-
fähigen, seinen Bedarf an Nahrungsmitteln und Gewerkstoffen, der im
Inland nicht mehr ganz oder nur sehr kostspielig aus der heimischen Naturalproduc-
tion gedeckt werden kann, in immer stärkerem Maasse aus dem Auslande und zwar
aus weniger dicht bevölkerten Ländern extensiverer Landwirtschaft, günstigeren Bo-
dens und Klimas und weniger entwickelten Bergbaus und Fabrikwesens mit zu decken.
Hauptbeispiel der Gegenwart, wo so ziemlich alle ebenerwähnten Momente zusammen-
treflen, ist Grossbritannien, das nach Fr. X. Nenmann (Wien) den auf t>8 bis
70 Mill. Hectoliter gestiegenen Bedarf an seiner wichtigsten Brotfrucht, dem Weizen,
schon in den 1870er Jahren zu mehr als der Hälfte, 35 — 38 Mill.. im J. 1877
sogar zu 43 Mill. Hectoliter, übrigens bei z. Th. ungünstigen Ernten, aus dem Aus-
lande, besonders aus den Vereinigten Staaten und Russland decken musste (,.Uebers.*‘
Jahrg. 1878, S. 43), eine Entwicklung, welche in dieser Richtung einstweilen immer
weiter geht. Frankreich und neuerdings auch Deutschland kommen nach und
nach in eine ähnliche Lago; kleinere Gebiete, wie Belgien, Holland, die
Schweiz. Königr. Sachsen, Rheinland gleichen England darin noch mehr, in
Ge birgsl ändern wirkt besonders der absolute Mangel an culturfähiirem Boden mit
ein. Die Vermehrung und der steigende Wohlstand der Bevölkerung in den
Ländern des Getreideimports lassen dieso Entwicklung immer schärfer hervortreten
und hängen von derselben selbst wieder mit ab. Dagegen können in den Getreide-
Export- Ländern dieselben Momente, welche grade durch lucrativen Verkauf der
Bodenfrüchte ans Ausland begünstigt werden, neben dem Aufblühen der heimischen
Industrie wieder zu einer rückläufigen Bewegung (wenigstens relativ, wenn auch
nicht immer absolut) führen, so z. B. was in neuerer Zeit Deutschland anlangt.
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426
3. B. Wirthsch. u. Volkswirthsch. 4. K. Wertschätzung. §. 182.
welches aus der Reihe der regelmässig mehr Getreide exportirenden in die Reihe der
solches mehr importirenden Länder übergegangen ist. Interessante Daten in Neu-
rnann’s Debersichtcn , die in den verschiedenen Jahrgängen grade diese Seite (Ge-
trcidehandel) immer genauer verfolgt haben.
(3) Endlich ist die Production von Artikeln eines Quasi-Naturmonopols
oder eines zur Zeit bestehenden Industrie- und Mon tan-Monopols des expor-
tirenden und der Bedarf an Artikeln dieser Art in dem importirenden Lande, wel-
ches in diesen Productionen aus natürlichen oder geschichtlich-volkswirthschaftlichen
Gründen zurücksteht, noch von besonderem Einfluss auf die Relation des auswärtigen
Handels zur heimischen Production und Consumtion: Colonialwaaren, Baumwolle
als Gewcrkstoff bei uns, Fabrikate überhaupt für den Bedarf der europäischen
Colonialstaaten, haben in der Neuzeit das Verbältniss zu Gunsten des auswärtigen
Handels in vielen Ländern sehr verschoben.
Es ist eine interessante Aufgabe der P ro ductions-, Consumtions- und
Handolsstatistik, die Entwicklung dieses Verhältnisses zeitlich und räumlich
genau zu erforschen und in Zahlen anszudrücken: eine öfters versuchte Aufgabe,
welche aber mit den heutigen Hilfsmitteln der Statistik doch nur für wenige einzelne
Producte, am Besten wohl noch für die Gruppe der Montanproducte (freilich nur
theilweise für die Edelmetalle) einigermaassen sicher zu lösen ist. Die Statistik des
auswärtigen Handels würde trotz ihrer notorischen Lücken und Fehler (bes. bei
der Ausfuhr) noch leidlich genügen (s. darüber Sötbeer a. a. 0. in Hirth's Ann. 1S75).
Aber die Statistik der einheimischen Production, fast nur mit Ausnahme der
B er g bau Statistik , die hier weniger Schwierigkeiten bietet, liegt selbst in unseren
west- und mitteleuropäischen Cultnrstaaten noch so im Argen, dass zuverlässige Daten
selbst für die Agrar-, vollends für die Industrieproduction noch wenig vorhanden
sind, wenn sich auch neuerdings die agrarische Productionsstatistik erheblich ver-
bessert hat. Berechnungen wie die älteren von Moreau de JonnOis (le commerce
au XIX. siede, Par. 1825, I, 1 1 4 ff.), von Rau I. §. 65 Anm. a citirt, über das
Verbältniss der jährlichen Verzehrung fremder Producte zur ganzen Consumtion und
Uber das Verbältniss der Güterausfuhr zur gesammten inländischen Erzeugung in Nord-
america, Frankreich, Grossbritannien haben eben deshalb kaum irgend einen Werth.
Denn die Haupt Ziffern, diejenige für die einheimische Production und Gesammt-
Consumtion (aller Artikel), sind durchaus unsicher. Man muss sich daher vor-
läufig darauf beschränken, für einige Artikel, über welche zuverlässigere Daten vor-
licgcn, statistische Berechnungen der Relation des auswärtigen Handelsumsatzes zur
heimischen Production und Consumtion anzustellen. Die besten Arbeiten auf diesem
Gebiete sind die schon genannten des Oesterreichers Fr. X. Neu mann über Pro-
duction, Welthandel und Volkswirtschaft, zuerst in Behm’s Geogr. Jahrbüchern, dann
selbständig in den „Uebersichten“, jetzt von v. Juraschek fortgesetzt, wenngleich
auch hier freilich unvermeidlich noch mit vielen Conjecturalzahlen gerechnet werden
muss. Vergl. auch Kolb s Statistik, besonders 7. Aufl. S. 785 ff. Das seinem Plane
nach nicht üble Werk von 0. Hausner, Vergleichende Statistik von Europa, Lemb.
1865, 2. B., operirt leider mit ganz unsicheren Zahlen, vor Allem auf dem Ge-
biete der volkswirtschaftlichen Statistik und macht auch nicht eine Quellenangabe;
vor den speciell hierher gehörigen Daten II. 132, 137 und vollends 262 ist nur zu
warnen. — Die Vergleichungen hinsichtlich der Gcsam mterzeugung und des Han-
dels sind endlich auch noch unsicherer, weil hier eine Umsetzung der mitunter noch
leidlicheren statistischen Daten Uber die Menge der Producte in geldwerth-
statistischo Daten erfolgen muss, worin eine neue grosse Fehlerquelle (auch beim
Handel) liegt. Vergl. Sötbeer a. a. (3.. die Vorbemerkungen zur Werthstatistik
unseres auswärtigen Handels in der „Statistik des Deutschen Reichs“ und Ilirth.
,.die Methoden der Handelsstatistik in England, Frankreich, Holland, Hamburg, Bremen.
Zollverein“ in s. Anna). 1870 S. 407 ff. Auch in dieser Werthstatistik des Handels
hat sich, auch im Deutschen Reiche, neuerdings Manches gebessert. Aber die Schwierig-
keiten liegen in der Natur des Problems (z. B. betreffs der Unterscheidung der Waaren-
sorten und Qualitäten und der richtigen Preisansätze dafür), und werden sich kaum
genügend beseitigen lassen. Vgl. über die verschiedenen Methoden der Bearbeitung
der Statistik des auswärtigen Waarenvcrkehrs in ausserdeutschen Staaten B. 43 der
Statistik des Deutschen Reichs.
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Volkswirtschaftliche Werthschätzung.
427
2) Derjenige Theil inländischer Güter, welcher als Ausfuhr
iin Handel (ebenso auch in Rentenzahlungen) ins Ausland geht
und zur Bezahlung der Gütereinfuhr (ebenso: zur Tilgung der
Verbindlichkeiten aus Renten u. s. w.) dient, kommt dagegen auch
für die Volkswirtschaft nach seinem Tausch- oder Geldwerth,
nach seinen Verkaufspreisen in Betracht.
Denn letztere entscheiden über die Kauffähigkeit der Ausfuhr im Auslande.
Die eingeführten Güter, die im llaudel oder für Kentenzahlungen u. s. w. ein-
gehen, werden dagegen in der heimischen Volkswirtschaft schliesslich wieder nur
nach ihrem Gebrauchs werte angeschlagen.
3) Das Geld hat die Volkswirtschaft zu schätzen:
a) nach dem Tausch werthe, soweit es im Import und
Export gegen Güter concreten Gebrauchswerts umgesetzt wird;
So mithin besonders in den Ländern der grösseren Edelmetallproduction (America,
besonders Californien, Australien, Rnssland-Sibiricn).
b) das im Inlande umlaufende Geld ebenfalls nach dem
Tausch werthe, d. h. nach dem Durchschnittswerthverhältnisse
welches zwischen dem Gelde und den übrigen Gütern besteht und
sich daher in den Durchschnittspreisen der letzteren ausdrllckt.
Denn hiervon hängt die Höhe des Geldbedarfs, bei einem bestimmten
Stande der Preise, mithin das dieser Geldsumme entsprechende Quantum concretcr
Gebranchswerthc ab, welches die Volkswirtschaft dauernd in ihren nationalen Geld-
fonds, als in das Mittel zur Bewerkstelligung der Umsätze im Geldverkehr, stecken,
demnach einer anderen Verwendung, zur Consumtion oder Production, entziehen muss.
Ein Punct, welchen die einseitigen Gegner des Banknotenwesens und unsere im Keichs-
bankgesetz von 1S75 zur Geltung gelangende stark restringirendc Zettelbankpolitik zu
wenig beachtet haben. S. dagegen A. Wagner, Zettelbankreform im Deutschen
Reiche, Berl. 1875, bcs. III, 2. S. 2t* ff., 42 ff. Vergl. auch Arendt, internationale
Zahlungsbilanz Deutschlands u. s. w. Berl. 1878.
c) Im Uebrigen ist dieser nationale Geldfonds von der Volks-
wirtschaft nach seinen Leistungen, daher nach seinem Ge-
brauchswerth als allgemeines Verkehrsinstrument
oder als Maschinerie für Umlauf und Verth eilung der
Güter im System der Arbeitstheilung zu schätzen.
Nicht ein beliebig grosser Geldbetrag, — der hauptsächliche Irrthum vieler
Mercantilisten — sondern derjenige Betrag, welcher bei einem bestimmten Werthver-
hältniss für den Austausch von Geld und anderen Gütern ausreicht, ist für die Volks-
wirthschaft zu wünschen.
III. — §. 183 [93]. Statistik des Volkseinkommens
und Volks Vermögens. Aus dem Gesagten ergiebt sich, dass
auch wegen dieser verschiedenen, für die Werthschätzung wichtigen
Momente statistische Zusammenstellungen und Berechnungen des
Volksvermbgens, Volkseinkommens oder des Ertrags der Volks-
wirtschaft nach Geldwerth, ganz abgesehen von der schon her-
vorgehobenen unvermeidlichen Unzuverlässigkeit aller solchen Be-
428 3* B. Wirthsch. u. Volkswirthsch. 5. K. Kennzeichen <1. Volkswohlstands. §. 183, 184_
rechnuugen, in volkswirthscha ft lieber Hinsicht wenig Be-
deutung besitzen und oft nur mit grossen Zahlen blenden. Statt
dessen ist eine Statistik zu verlangen, welche möglichst genau die
Quantitäten der einzelnen, möglichst nach Qualitäten (Sorten
u. s. w.) unterschiedenen G titerarten im Volksvcrmögen und
Volkseinkommen für eine ganze Volkswirtschaft darstellt. Daraus
lassen sich dann auch einige, freilich noch bedingte Schlüsse auf
das Wohlbefinden und die ganze ökonomische Lage der Be-
völkerung, wenn nur die Zahl der letzteren bekannt ist, ziehen,
und auf den wichtigeren Punct, die Verthei lang des Vermögens
und Einkommens unter der Bevölkerung, werden wenigstens Streif-
lichter geworfen.
S. die Vorbemerkungen in §. 175 und das folgende Kapitel.
Fünftes Kapitel.
Kennzeichen des Volks Wohlstands.
§. 184. Vorbemerkungen und Litteratur.
Siehe Kau I, §. SO, 81, auch §.25. Koscher I. §. 10. — Vergl. Neumann
^Tübingen) ..Unsere Kenntniss von den socialen Zuständen um uns“, besonders auch
die statistischen Anmerkungen dazu, mit guten kritischen Bemerkungen Uber die Mängel
des statistischen Materials auf diesem wichtigen Gebiete, in Hildebr. Jahrb. IS (IST 2).
278 ff., 299 ff. S. von Ncumann auch den §. 25 seiner Abh. über Grundbegriffe im
Schönbcrg’schen Handbuch I, 3. A. Der um die volkswirtschaftliche Privatstatistik
(Preis©, Industrie, Handel u. s. w.) sehr verdiente E. Laspeyres hat in der kleinen
Schrift „Die Kathcdorsocialistcn und die statistischen Congresse, Gedanken zur Be-
gründung einer nationalökonomischen Statistik und einer statistischen Nationalökonomie“,
Berl. 1875 (H. 52 d. deutschen Zeit- u. Streitfragen), beachtenswerte Vorschläge für
die weitere Ausbildung der volkswirtschaftlichen Statistik gemacht und zwar direct
für die Zwecke der Nationalökonomie. Auch er nennt die Kenntniss der socialen Zu-
stände um uns „bisher jämmerlich bestellt“, S. 41.
Sonst ist für ein igermaasson verarbeitetes geschichtliches, cultur- und
wirthschaftsgeschichtlichcs und besonders statistisches Material auf die allgemeinen
Handbücher der Statistik und Staatskundc zu verweisen, die freilich nicht
immer mit genügender Kritik an den Stoff herantreten; ferner auf die grösseren
Werke der politischen Geographie, welche letztere im Stoff mit der Staats-
kundc grossentheils zusammcnfällt; und auf die spccicllen Staatskunden ein-
zelner Länder, welche Werke sammt und sonders den wirtschaftlichen Verhält-
nissen grössere oder geringere Aufmerksamkeit schenken , einzeln übrigens natürlich
von sehr verschiedenem Werthe sind.
Einzelne wichtige Seiten der Volkswirtschaft finden ihre eingehendste Be-
handlung in den zahlreichen Pnblicationen der statistischen Bureaux unserer
modernen Staaten, besonders der Ackerbau, der Handel, die Communicationsmittel, die
Creditanstalten, die Finanzen, weniger die gesammte Industrie, doch haben neuere ge-
werbe^tatistische Aufnahmen hier jetzt die Lücken zu vervollständigen begonnen (vgl.
bes. Preuss. Statistik N. XXXX, Ergebniss der Gewerbezählung, Berl. 1878; Engel,
d. iudustr. Enquete u. d. Gewerbezähl. u. s. w. Berl. 1878). Reich an schönen mono-
graphischen Arbeiten im Gebiete der volkswirtschaftlichen und Socialstatistik sind
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Vorbemerkungen und Litteratur.
429
besonders die von Engel begründeten Zeitschriften des K. Sächsischen uud K.
Preussischen Statist. Bureau, mit ihren neueren Fortsetzungen unter Böhmert
und Blenck. die von v. Hermann, später eine Zeit lang von G. Mayr, jetzt von
Rasp herausgegebenen Hefte und Zeitschriften des K. Baye rischen Statist Bureau,
die von Czörn ig-Fickcr’schen, jetzt von Ina ma-Stern egg sehen amtlichen sta-
tistischen Publicationen in Oesterreich, die italienischen von Bodio, die
belgischen Verölfentlichungen , die englischen Blaubücher, die Vcröll'ent-
lichungen der städtischen Statist. Bureaux (Borlin, Wien u. a. in.), u. s. w.
Besonders hervorzuheben sind, auch zu Zwecken der Vergleichung der periodi-
schen Daten, die neuerdiugs immer allgemeiner üblich gewordenen statistischen
Jahrbücher, unter denen dasjenige des Deutschen Reichs nach Anlage, Knapp-
heit und Vollständigkeit eine erste Stelle oinnimmt (begründet von Becker, fort-
geführt von v. Scheel. 13. Jahrgang von 1S92). Ferner die Jahrbücher von Preussen,
Italien, Frankreich u. a. L. Aehnlich derartige Jahrbücher von Städten, unter
welchen das Berliner (begründet von Schwabe, fortgeführt von Böckh) hervor-
ragt. Diese Werke sind zum Theil als amtliche Schriften an Stelle der früheren
privaten „Staatskunden“ getreten, die jetzt seltener werden.
Für wirthschaftlicli e vergl eichende Statistik auch mancher wichtiger Ge-
biete sind v. Neumann-Spallart's Ueborsichten der Weltwirtschaft hervorzuhobeu.
(Letzter Jahrg. 18S3 — 84, erschienen ISST, Fortsetz, für 18S5 — 89 langsam in Heften
erscheinend von v. Juraschek.) Hier wird auch dem theoretischen Problem der
Messung des Volkswohlstands Aufmerksamkeit gewidmet (Jahrg. 18S3— 84 S. 10) uud
eine symptomatische Messung der wirtschaftlichen Lage versucht, nach primären
Symptomen (Veränderungen der Production, der Consuintion, Lebhaftigkeit des Ver-
kehrs, Umfang des Handels), nach secundären (Güterpreise und Arbeitslöhne, Disconto-
sätze, Gründungen und Emissionen, Rentabilität, Curswerthe, Fallimente), und nach
reflectorischen Symptomen (Arbeiterentlassungen. Strikes, Ein- und Auswanderung,
lleiraths- und Geburtenfrequenz, andere socialethische Symptome).
Wichtige Materialien bieten neuere Enqußton, besonders über Agrarver-
hältnisse (Italien. Frankreich, Baden), über Arbeiterverhältnisse; statistische
Aufnahmen über Armenwesen (England, jetzt auch Deutschland). Bcsondres Ver-
dienst hat sich der Verein für Socialpolitik durch seine inhaltreichen Sammel-
arbeiten über verschiedene wichtige wirtschaftliche Verhältnisse (bäuerliche Zustände,
Wucher, Wohnungsverhältnisse, Handel, Arbeiterverhältnisse u. s. w.) erworben. Näheres
darüber und daraus (wie auch in betreff der Enqueten) in der practLchcn National-
ökonomie; vgl. Buchenberger’s Agrarpolitik B. 1.
Hier können sonst nur einige wenige Hauptwerke besonders hervorgehoben
werden. Weiteres gehört in die Bibliographie der Statistik, worüber der Ka-
talog der Hamburger Commerzbibliothek und der der Bibliothek des K. Preussischen
Statistischen Bureau, ferner fortlaufend Conrad ’s Jahrbücher ziemlich vollständige
Angaben, wenigstens für die neuere Litteratur enthalten. Auch Neumann (Wien)
giebt manche litterarische Nachweise iu seinen Uebersichten.
Für das Alterthum, und zwar Griechenland s. Böckh, Staatshaushalt d.
Athener, 2. Auf!.. Berl. 1851, besonders B. 1, daun das schöne Buch von Büchsen-
schütz, Besitz und Erwerb im griechischen Altcrthum; für Rom Fricdländer’s
Darstellungen aus der Sittengesch. Roms, iu d. Zeit v. Augustus bis zum Ausgang der
Antonine, verschiedene Aull., 3. B. Auch die Werke über Staats- und Privat-
alterthümer der alten Welt enthalten manches einzelne Hierhergehörige (Mar-
quardt, Lange u. A. in.).
Unter den etwas älteren Werken der beschreibenden Statistik oder Staats-
kunde sind F. W. Schubert’s Handbuch der allgemeinen Staatskunde von Europa,
G Bände, Königsb. 1835 11'., dann v. Malchus, Statistik und Staatenkunde, Stuttg. u.
Tüb. 182G mit die besten und für älteres Material noch am Eisten zu gebrauchen;
die späteren zahlreichen Schriften von v. Reden sind sehr ungleich gearbeitet und
ungleichen Werths. In der neuesten Litteratur nimmt Kolb ’s Handbuch der ver-
gleichenden Statistik, der Völkerzustands- und Staatenkunde, 7. Aull., Leipz. 1875,
8. Aufl. (verkürzt) 1878, nach dem Reichthum des Materials die erste Stelle ein. die
politische Tendenz des Verfassers trübt aber mitunter die Darstellung. Vor 0. Haus-
ner’s Statistik von Europa (Lemb. 1SG5) ist leider mehr zu warnen (s. o. S. 42G).
430 3. B. Wirthsch. u. Volkswirthsch. 5. K. Kennzeichen d. Volkswohlstands. §. 1S4. 185.
In nuce findet inan die wichtigsten Daten über Bevölkerung, Finanzen, Handel, Schiff-
fahrt, Comniunicationen u. s. w. für alle Culturländer am Vollständigsten, Zuverlässigsten
und Neuesten stets in dem Gothaer gencalog. Taschenbuch, besonders seit
der Kodaction von Herrn. Wagner (bis incL 1876), und seinen Nachfolgern; ferner
in M. Block ’s Annuairc de l’economio polit. et de la Statist., Par., und Martin's
Statesman's Yearbook.
Unter den Werken der politischen Geographie nimmt das jetzt freilich in
seinen Daten inannichfach veraltete grosse Werk von Wappäus, Handbuch der
Geographie und Statistik, Leipzig 1849 — TU, in Verbindung mit anderen Gelehrten
(Brachelli u. A. m.) herausgegeben, später mit einzelnen Fortsetzungen (von Bra-
ch eil i Uber Oesterreich, Deutsches Reich u. s. w. u. A.) versehen, die erste Stelle ein.
Filr einzelne moderne Staaten sind ausser den genannten statistischen Publi-
cationen aus etwas früherer Zeit etwa zu nennen: Grossbritannieu, Porter,
progr. of tho nation, 3. cd. Loud. 1851, M’Culloch, Statist, account of the Brit.
empire, 2 vol. 1837 u. 1839, auch Tooke a. Newmarch, Hist, of prices, 6. vol,
1S37 ff. — 1857, deutsch von Asher. 2 B., Drcsd. 1S58 — 59. — Frankreich,
ältere Schrifteu von Chaptal, de findustr. franc. P. 1819 II, Dupin, forces pro-
duct. etc. de la Fr. 1827, II, Schnitzler, de la creat. de la rieh, et des intßr.
mater. en France P. 1842, II. ders. Statist, gener. de la Fr. P. 1846, II, M. Block,
Statist, de la France, 2. 6d. Par. 1875, 1. B. — Deutschland v. Vicbahn. Sta-
tistik des zollver. u. nördl. Deutschlands, 3. B., Berl. 1858 — 68 (Hauptwerk). G. Neu-
mann, d. Deutsche Reich, 1. B. 1874. Preussen: Krug, Betracht, überd. National-
reichth. <i. preuss. Staats. Berl. 1805, II, Dieterici, d. Volkswohlst. im preuss. Staate,
Berl. 1846. ders., Handb. d. Statist, d. preuss. Staats, 1861. Meitzen, d. Boden u. d.
landwirthsch. Verhältn. d. preuss. Staats, 4. B. , Berl. 1868 ff (Hauptwerk). Keller,
Preuss. Staat, 2. Aufl., Berl. 1873 (2. B. des „Deutschen Reichs“). Sachsen; ältere
Arbeiten von Engel, bes. Jahrb. 1851. — Oesterreich: v. Czörnig, Oesterreichs
Neugestalt., Stuttg. 1858, Spicker, Statistik von Oesterreich-Ungarn, Wien 1878. —
Russland: v. Haxthausen’s Studien Uber Russl., 3 B., Hannover 1847, (auch
franz.ös.). v. Reden. Russlands Kraftelemente, Frankf. 1854, v. Tögoborski, forces
prod. de la Russie, 1854, II, de Buschen, forc. prod. de la Russie, Par. 1S67.
Schnitzler, l’cmpire des tsars, Par. et Strassb., 3 vol., 1862 ff. — 66, v. Saurow,
das russische Reich in s. finanz. ökon. Entwickl. seit d. Krimkriege, Leipzig 1873.
Leroy-Beaulieu, l’empire de tsars et les Russes. Par. 1882. — Schweiz:
Emminghaus, die Schweiz. Volkswirtschaft, Leipzig 1863. M. Wirth, allgem.
Beschreib, u. Statist, d. Schweiz, Zur. 1871 (Land, Volk, Verkehr, Versicherungswesen,
Justizstatistik). — Belgien: Horn, Statist. Gemälde v. Belgien, 1853 u. v. a. m. —
Bigelow, etats Unis d’Amer. en 1863, Paris 1863. Straus, les Et. Unis, Paris
1867. — M. Block, ein Wendcpunct in America, Vierteljahrsschr. f. Volkswirthsch.
1873, IV, 157 ff.; von älteren Werken: K. Andree, Nordamerica, Braunschw. 1851.
— Vgl. auch die oben S. 411 gen. Littcratur über Volkseinkommen u. s. w. und die
Arbeiten über Verteilung des Volkseinkommens v. Sötbeer (Arbeiterfreund, 1S75
S. 273 ff. ders. im D. Hand.bl. 1877, 1878 über Preussen, Gr.-Brit.). Laspeyres
eb. 1875 N. 41. Michaelis, Gliederung der Gesellschaft. Weitere Nachweise hin-
sichtlich der einzelnen wichtigeren Kennzeichen des Voikswohlstands s. unten in den
einzelnen Paragraphen.
In neuerer und neuester Zeit tritt, wie bemerkt, diese Art „Staatskunde“, be-
sonders in Deutschland, vor den amtlichen statistischen Werken immer mehr zurück.
Unter letzteren befinden sich aber auch mitunter schildernde, darstellende, die eine
Art Staatskunde geben, Kreisbeschreibungen u. dgl. Hierhin gehören auch Arbeiten
in den Wurttemberger Jahrbücher, in der Bavaria, Schilderungen von Land und
Leuten, von allgemeinen Culturverhältnissen. Ganz wird durch das Alles, auch durch
den reichhaltigen Zahlenapparat der statistischen Jahrbücher indessen die ältere „Staats-
kunde“ nicht ersetzt.
I. — §. 185 [110, 111], Geschichtliche und statistische
Th at Sachen als Kennzeichen des Volkswohlstands1).
*) Ueber den letzteren Ausdruck als technischen in der Politischen Oekonomic
s. folgendes Buch 4.
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Thatsachen als Kennzeichen des Volkswohlstands.
431
Der Wohlstand eines Volks, an und für sich und in Vergleichung
mit demjenigen einer früheren Zeit und anderer Völker betrachtet,
lässt sich durch mancherlei Kennzeichen ermitteln, die in be-
stimmten That8achen des Volkslebens und der Volkswirtschaft
liegen. Diese Thatsachen müssen zu diesem Zwecke beobachtet,
gesammelt, gesichtet und systematisch verarbeitet werden. Es ge-
schieht dies tlieils durch die Geschichte, insbesondere die
Wi rth schafts- und Culturgeschichte der Völker, theils und
im Ganzen genauer und vollständiger in einer sicherere Schlüsse
gestattenden Weise, durch die systematische Massenbeob-
achtung der Statistik Uber Bevölkerungs-, ökonomische und
sociale Verhältnisse. Die betreffenden Thatsachen überliefert die
Statistik alsdann der beschreibenden Disciplin der sogenannten
Staatskun de.
Vgl. 1. Buch, Kapitel 2 von der Methode, bes. §. 70, SO ff.
Um solche Thatsachen für den hier besprochenen Zweck ver-
wenden zu können, müssen sie bestimmte Anforderungen erfüllen.
Sie müssen nemlich so gewählt werden, dass aus ihnen nicht nur
auf die Höhe des Volkseinkommens und Volksvermögens, sondern
auch auf die Vertheilung derselben, daher auf die Güter-
arten oder Gebrauchswerthmengen, aus denen sie be-
stehen, und besonders auf die Th ei ln ah me der Massen des
Volks, der unteren Classen am Consum der Güter, und auf
die Verwendung, welche die reicheren Classen von ihrem
Einkommen und Vermögen machen, geschlossen werden kann.
Es kommen hier die im folgenden Buche in der Lehre vom Bedarf und Aus-
kommen zu erörternden Momente in Betracht.
Nach diesen Gesichtspuncten lässt sich folgendes Schema
der Kennzeichen des Volkswohlstands aufstellen.
Dasselbe enthält nur Hauptrubriken. Die Ausfüllung dieser Rubriken mit
den bezüglichen Thatsachen der Geschichte und .Statistik ist nicht die Aufgabe der
Volkswirtschaftslehre, sondern der beiden Disciplinen, welche die Thatsachen sammeln
und sichten, der Geschichte und der Staatskunde.
II. — §. 186 [112]. Einzelne Kennzeichen des Volks-
wohlstand s.
A. Die materielle Lage des Volks im Ganzen, daher
namentlich seiner unteren Classen, welche die grosse Mehrzahl
im Volke bilden.
1) Die Bevölkerungsverhältnisse, welche unter einem
statistisch nachweisbaren deutlichen Einflüsse der materiellen Lage
des Volks stehen.
432 3. B. Wirtlisch, und Yolkswirthscl». 5. K. Kennzeichen d. Volkswohlstand» §. 186.
Hauptwerk gerade auch ftlr die Interessen des Nationalökonomen: Wappäus,
Bevölkerungsstatistik, Leipz. 1859 — 61, 2. B„ an Keichthum des Inhalts, Sorgfalt der
Bearbeitung, feinen Bemerkungen unerreicht; jetzt natürlich in den Daten etwas ver-
altet, was aber die Brauchbarkeit des Werks für die Zwecke des Nationalökouomeu
wenig beeinträchtigt. Eine neue Auflago des vergrilfeneu vortrefflichen Werks leider
seit des Verfassers Tode nicht in Aussicht. Kein neueres Werk bietet vollen Ersatz.
Weitere Litteratur ebendaselbst. Von Wichtigkeit sonst besonders die anthropolo-
gische, statistische und moralstatistische (incl. crirn inalstatis tische)
Litteratur in Anknüpfung au die Bevölkerungsstatistik, siehe namentlich A. Quetelet,
l’homme et de developp. de ses facultes, Par. 1835, deutsch von Kiecke, Stuttg.
1838, 2. Aufl. unter d. T. Physique sociale, 2 vol. Bru.\ , Par. 1869 (naturalistisch-
mechanist Auffassung), ferner A. v. Octtingen, Moralstatistik l.Auff, Erlangen 1867,
2. Aull. 1874, 3. Aull. 1882 (social - ethische Auffassung von epochemachender Be-
deutung). (i. Mayr, die Gesetzmässigkeit im Gesellschaftsleben, statistische Studien.
(B 23 d. „Naturkräfte**), München 1S77. W. Lexis, Aufs. Anthropologie und Anthro-
pometrie im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, B. I, S. 318, Litteratur hierüber
daselbst S. 335. S. ferner unten Buch 4, Kap. 1.
Be8ouders wichtig ist:
a) die u a t ti r 1 i c h e Be w e g u n g <1 e r B e v ö I k e r u n g , welche
sich iu den Thatsaehen der Statistik der Geburten, Heirathen
Todesfälle, in der sehliesslichen Bilanz zwischen Ge-
hurten und Todesfällen, daher in der Vermehrung oder Verminderung
der Volkszabl ausdrlickt.
«
•
Im Einzelnen ist hier noch besonders zu beachten die allgemeine Sterb-
lichkeit, namentlich die Kindersterblichkeit, das Durchschnittsalter der
Gestorbenen unter Ausschluss der Kinder (z. B. der über 10- oder wenigstens der
Uber 5jährigen Personen), die wahrscheinliche und die mittlere Lebensdauer,
die Yerthcilung der Altersclasse n in der Bevölkerung, die Sterblichkeit in
den verschiedenen socialen und ökonomischen Classen, die Todesursachen,
das Ileirathsalter der Getrauten, die Com bination cn zwischen dem Heirathsalter
der Männer und Frauen u. a. m.
Geber die Methoden der Berechnung der Sterblichkeit und das iu der prac-
ti sehet» Statistik noch ungelöste Problem der Bezifferung der wahren mittleren Le-
bensdauer s. Wappäus a. a. 0., Hopf in Kolb’s Statistik S. 814 ff., 7. Aufl., L.
Moser, Gesetze der Lebensdauer, Berl. 1839, G. Meyer, mittlere Lebensdauer, iu
Hildebr. Jahrb. VIII (1867), S. 1, und besonders die neuere mathematisch-statistische
Litteratur: G. F. Knapp, Ermittlung der Sterblichkeit aus den Aufzeichnungen der
Bevölkerungsstatistik, Leipz. 1867, ders., Sterblichkeit in Sachsen. Leipz. 1869, ders.,
Theorie des BevölkerungswccbscI, Braunschw. 1874, Zeuncr, Abhandlungen aus der
mathematischen Statistik, Leipz. 1S69, Becker, Zur Berechnung von Sterbetafeln an
die Bevölkerungsstatistik zu stellende Anforderungen, Berlin 1874, Lexis, Einleitung
in die Theorie der Bevölkerungsstatistik. Strassb. 1875. Böckh, preussisebe Sterb-
lichkeitstafol, Hildebr. Jahrb. 1875, B. 25, S. 201, Lewin, Bericht Uber die zur Be-
rechnung von Sterbetafeln an d. Statist, z. stellend. Anforderungen, Budapest 1876.
Oldendorf f, Einfluss der Beschäftigung auf die Lebensdauer der Menschen, Berl.
1878. Wes te rga ard , Statistik a. a. 0. Rümelin im Schönberg’schcn Handbuch. 3.
A. I, 749.
b) Die (räumliche) Bewegung („Wanderung“) der Be-
völkerung, welche durch Ein- und Auswanderung, besonders
durch die gewöhnlich tieferen ökonomischen und socialen Gründen
zuzuschreibende Massen-Ein- und Auswanderung, ferner durch
Ab- und Zuzug der Bevölkerung im Inlande vom platten
Lande in die Städte (selten umgekehrt) stattfindet.
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Einzelne Kennzeichen.
433
S. im 2. Theil der Grundlegung die Ausführungen Uber diese Puncte.
c) Der Gesundheitszustand der Bevölkerung ini Ganzen
wie bei den verschiedenen Classen, auch bei den Altersclassen.
Wichtig sind bes. .amtliche öffentliche Berichte Uber den Gesundheits-
zustand, vornemlich in kritischen wirtschaftlichen Zeiten, so in England
während der Baumwollnoth. Report on public Health, f. 1863, Lond. 1S64, u. a. in.
Jetzt allgemeine periodische Berichte des deutschen Keichsgesundheitsamtes über Ge-
sundheitszustand grosser Städte. — Hirt, Krankheiten der Arbeiter, Breslau 1877. —
Statist. Jahrbuch der Deutschen Reichs 1892, S. 155.
d) Die Zahl und Lage der Armen, welche auf öffentliche
oder private Mildthätigkeit angewiesen sind.
Besonders entwickelte Statistik, in Zusammenhang mit der Gesetzgebung über
Armenptlege, in England. Statistik des Deutschen Reichs, Neue Folge B. 29 über
öffentliche Armenpflege, Auszug, Statist. Jahrb. f. 1891, S. 193.
e) Zahl und Arten der im Lande begangenen Verbrechen
und Vergehen (Criminalstatistik); zeitliche und riium-
liehe Veränderungen darin.
Vcrgl. darüber besonders Quetelct, phys. soc. II. 249 fl'., v. Oettingen.
2. Auf!., S. 338 fT., A. Wagner, Gesetzmässigkeit I, 26 ff.; Uber das verwandte Ge-
biet der Selbstmordstatistik eb. I, 21 fT. u. II, 102—295, Oettingen, S. 689 fl.
(iuttstädt in d. Preuss. Stat. Ztschr 1874, S. 248 i; Guerry, stat. morale de
l’Anglct. et de la France, Par. 1864 (darüber die Besprechung von mir in der Tüb.
Zeitschr. XXI. (1865), S. 273 — 291); G. Mayr, Statist, d. Bettler und Vaganten in
Bayern, München 1865, vergl. darüber auch v. Scheel in Hildebr Jahrb. 1866, VI,
455 fl'.; Mayr, Statistik der gerichtl. Polizei in Bayern, Heft 16 d. Beitr. d. Statist.
Bureaus. 1867, u. and. Aufs. dess. Verfass.; auch ders. in s. Gesctzmässigk. im
Gesellschaftslebcn, S. 327 ff. — Criminalstatistik des Deutschen Reichs, Statistik, Neue
Folge B. 8, 13, 18, 23, 30, 37, 45, 52; Auszüge im amtlichen Jahrbuch.
2) Der Arbeitslohn für gemeine Handarbeit und für die
verschiedenen Arten der qualifieirten (höheren) Arbeit.
Er kommt nicht nach seinem Geldbeträge, sondern nach seinem Betrage in ge-
eigneten Arbciterconsumptibilien oder als effectiver oder Rcallohu in Betracht. Bei
Geldlöhnen müssen also die Preise der bezüglichen Artikel mit beachtet werden.
Besonders wichtig ist die zeitliche und locale Bewegung des Lohns. Sodann sein
Verhältniss zur Bewegung des ganzen Volkseinkommens, daher nament-
lich auch die Bewegung des Gesammtbetrags der Löhne zu derjenigen des Betrags des
Renteneinkommens (Rodbertus’ Standpunct zur Frage).
Vergl. v. d. Goltz, Ber. über d. Lage d. ländl. Arbeiter im Deutsch. Reiche,
Berl. 1875, ders., die ländl. Arbeiterfrage, 2. Aufl. 1874. Laspeyres in d. Tüb.
Zeitschr. 1876 B. 32, Hamburger amtl. Statist. Heft IX, 1876, Beitr. z. Statist, d.
Löhne u. Preise S. 114 ff. (Daten aus d. grossen II. C. Mcyer’schen Stockfabr.). —
V. Böhmer t, Methoden d. soc. -Statist. Untersuchungen mit besonderer Rücksicht auf
die Statistik der Preise und Löhne, in d. Zeitschr. f. Schweiz. Statist. H 3, 1874
(reicher Inhalt). Englische Enquöten über die Lage der Industrie-Arbeiter; in
Deutschi. f. d. J. 1875 vom Reichskanzleramt angeordnet u. Ergebnisse veröffentlicht.
A. v. Studnitz, nordam. Arbeiterverhältnisse, Leipzig 1879. Vergl. auch Lange,
Arbeiterfrage, Ncumann a. a. 0., bes. 283 ff., K. Strassburger, Statist. Beitr. z.
Lehre v Arbeitslohn. Hildebr. Jahrb. XVIII, 125 ff. (Jenaer Sctzerlohn, geschichtlicher
Rückblick). Für die neueste Zeit (seit 1879) genügt es, hier auf den reichhaltigen
Aufsatz V. Böhmer t’s über Statistik des Arbeitslohns im Handwörterb. d. Staats-
wiss I, 692 — 723 für Thatsachcn, Erhebungsmethoden zu verweisen, sowie auf die
Littcraturangaben daselbst S. 723.
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Theil. Grundlagen .
28
434 ■'!. B. Wirthsch. und Volks wirthsch. 5. K. Kennzeichen d. Volkswohlstands. §. lSß
3) Die Hauptnahrungsstoffe der Masse des Volks.
Rangstufe der Brotstoffe. Menge des Consums. Unterschied von Stadt und Land.
Preis des Artikels. Mängel der Statistik in Betreff der inländischen Production. S.
o. S. 412 und die gen. Arbeiten des Wiener Neu in arm; auch Neuinan n (TQb.)
a. a. 0. S. 2S0. L. Levi, history of british commerce, Lond. 1S72, p. 497 (Consuin
p. Kopf von verschiedenen Producten 1840 — 70).
4) Consuni animalischer Producte.
Gattung, Menge, Preis, Unterschied von Stadt und Land. Zunahme. Gleich-
falls Mängel der Statistik. Schin oller, hist. Entwickl. d. Fleischconsums, sowie d.
Vieh- und Fleischpreise in Deutschi., Tilb. Ztschr. XXVII (1871) S. 284 ff., ders. .
Grösse d. preuss. Vichstands v. 1802 — 07 in d. Neuen landw. Ztg.. 1871. eine Arbeit,
deren ungünstige Schlüsse indessen eingehend widerlegt werden durch die trefflichen
„agrarstatistischen Studien" Conrad ’s, Hildebr. Jahrb. XVIII (1872), 21 ff. (ähn-
lich von G. Haussen, Funke). Vergl. auch Neumann (Tüb.) a. a. 0. S. 2S1.
.800, Neumann (Wien)' Uebcrsichten I, S. 07 ff. , Lambl, Depecoration (Vieh-
abnahme) in Europa, Leipzig 1878. üeber die Consumtion von Getreide und Fleisch
in den prcussischen ehemaligen mahl- und schlachtsteuerpflichtigen Städten, für
die bei uns allein eine sichere Berechnung möglich war, s. d. Zeitschr. d. Preuss.
Statist. Bureaus.
5) Consum sogen. Luxusnakrungsstoffe und Reiz-
mittel der Masse des Volks.
Gattung (Tabak, Zucker, Kaffee, Thec, Gewürze), Menge. Preis. Consumtions-
verhältnisse der Einkommenclassen. Zuverlässigere Daten über die consumirtc Menge
als bei dem Hauptnahrungsstoff und bei Fleisch liegen über diese Artikel vor, weil
diese meistens in unseren Ländern aus dem Auslande bezollt eingehen und dabei leicht
die Menge ermittelt werden kann und weil auch die inländischen hierher gehörigen
Producte einer Steuer zu unterliegen pflegen (Tabak, Zucker).
Besonders beliebte Daten, um den „Fortschritt“ des Wohlstands und zwar auch
unter der Masse des Volks nachzuweisen, so in England seit den liberalen Tarif-
und Accisereformen der 40er Jahre, deren Einfluss übrigens auch wegen des Bruchs
des britischen Colonialmonopols u. der dadurch bewirkten abnormen Preisreduction
besonders stark war (Zucker!). Für Deutschland mancherlei Berechnungen in
Hirth’s Annalen. Vergleichungen verschiedener Länder bei Kolb, S. 808, bei
Neu mann (Wien) in den Uebersichtcn. Für das Deutsche Reich im statistischen
Jahrbuch.
Abgesehen von den schon erwähnten Schwierigkeiten der zeitlichen und räum-
lichen Vergleichung des Consums dieser Waaren wissen wir eben auch sonst meistens
nur die Höhe des Durchschnittsconsums der Bevölkerung, aber nicht diejenige
in den verschiedenen Volksclassen. Denn dafür fehlen fast alle Daten, indem
gewöhnlich nicht einmal eine Statistik der betreffenden Waaren nach Sorten und
Qualitäten vorliegt, woraus für die classenweise Consumvcrthcilung etwas geschlossen
werden könnte, da bekanntlich die Verzollung und Besteuerung dieser Artikel meistens
nach dem Princip des reinen Gewichtszolls erfolgt. Die Versuche von Privatstatistikem
(in England L. Levi), den Consuin in den verschiedenen Wohlstands- und Bevölke-
rungsdassen zu ermitteln, können daher nur sehr unsichere Ergebnisse haben. Der
Schluss aber aus der grossen Zunahme des Gesammtconsums, in Verbindung mit der
täglichen Wahrnehmung, dass ncmlich „offenbar“ diese Zunahme überwiegend auf
Betheiligung der Masse des Volks müsse zurückzuführen sein (in Deutschland bez.
im ersten Jahre in Preussen z. B. Kaffee 1822 1 .2 Pfund, 1836 — 40 1 .01. 1861 — 66
1.87, 1S81— 85 2.44, 1886—90 2.38 KiL, Zucker 1828 3.32 Pfund, 1871—76 im
Durchschnitt 6.7, 1881 — 86 7.8, 1886 — 90 8.2 Kil. (Rohzucker) pr. Kopf), ist zwar
wohl nicht unrichtig, jedoch nicht so unbedingt beweisend, wie gewöhnlich ange-
nommen wird. Wenigstens lässt sich daraus m. E. nicht eine der Gesammtsteigcrung
proportionale Zunahme des Consums der unteren Classen ablciten. Jene Genuss-
mittel werden vielmehr gerade von denen , welche sie schon länger gemessen , in
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Einzelne Kennzeichen.
435
wachsend grösserem betrage genossen, was sich z. Th. selbst physiologisch oder
wenn man will psychophysisch (im Fechn er 'sehen Sinn) erklären lassen möchte:
der Reiz muss immer stärker werden, um denselben Effect hervorzurufen. Die wohl-
habenderen Classen, welche die Mittel dazu haben, handeln hiernach und cousumiren
eben auch deshalb wohl pr. Kopf mehr (Tabak, Zucker. Kaffee, Thee, — ähnlich
Luxusgetränke).
6) Con8um von Luxusgetränken: Spirituosen, Hier, Wein.
Genauere Statistik aus denselben Gründen wie im vorigen Falle. Vcrgl. die
etwas älteren Daten von v. Czörnig, d. österreichische Budg. v. 1862 vergl. mit
anderen, Wien 1862, II, 468 1F. Viel Statist. Material in: A. Baer, der Alkoholismus,
Berl. 1878. Daten (wegen der Besteuerung) in allen amtlichen Statistiken.
Die VerglcichuDg zwischen verschiedenen Zeiten und
Völkern wird bei den Luxusnäbr- und Reizmitteln und bei den
Getränken indessen dadurch sehr erschwert, dass diese Artikel
Zöllen und Verbrauchssteuern in sehr ungleicher Höhe zu
unterliegen pflegen.
Sic stellen sich daher in den einzelnen Zeiten und Ländern, auch abgesehen
von den örtlich und zeitlich so verschiedenen Productions- und Transportkosten , auf
sehr verschiedene Preise, so dass eine gleich starke Consumtion, z. B. auf den
Kopf der Bevölkerung, eine sehr ungleiche Belastung dos Einkommens oder eine sehr
ungleiche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit beweisen kann. Bei Vergleichen wird
daher zu beachten sein, dass ein hoher Consura bei hohen Steuern und Preisen im
Ganzen einen grösseren Wohlstand des Einzelnen und des Volks documentirt.
Ausserdem ist aber der eigentümliche Einfluss des Vorhandenseins einer
billigen nationalen Production, z. B. bei Wein in Weingegenden, und der Einfluss
der Sitto, vielleicht auch der Dnsitte, wie z. B. bei Branntwein, zu beachten, wovon
die ungewöhnliche Höhe des Consums solcher Artikel mit abhängt. Auch die Fähig-
keit der Artikel, sich gegenseitig zu ersetzen, was z. B. selbst von Bier und Kaffee
in gewisser Weise gilt, stört die Vergleichungen. Neu mann (Tüb.) in Ilildebrand’s
Jahrb. a. a. 0. S. 282.
Aus den angedeuteten Gründen ist die Vergleichung des Steuerertrags, z. B.
von Tabak, Woin, Bier, Branntwein, oft lehrreicher, als diejenige des Consums
in Quantitäten pr. Kopf, so Czörnig a. a. 0. Deber die grosse Ungleichheit der
Finanzzölle verschiedener Länder besonders bei Tabak. Branntwein, s. A. Wagner,
Art. Zölle, Staatswörterb. X, 860 ff., 378 ff., z. Th. nach Sötbeer, z. B. Tabak da-
mals in England mit 116 — 129. im französischen Monopol mit 70 — 80, im öster-
reichischen Monopol mit 33, in Russland mit fast 20 Thalcr besteuert, im Zollverein
Kohtabak mit 4, Cigarren mit 20 Thlr. pr. Centner. Neuere Daten über die Steuer-
belastung solcher Artikel in verschiedenen Ländern bei Gerstfcldt, Beiträge zur
Kcichssteuerfrage, Leipz. 1879. Freilich wirkt auch die verschiedene Finanzlage der
Staaten oder m. a. W. die verschiedene Nothlage auf die Wahl eines höheren oder
niedrigeren Steuersatzes mit ein, was wieder Schlüsse aus solchen Daten auf die Con-
sumtionskraft erschwert.
Bei Luxusnährmitteln und Getränken ist ferner ein Fehler
zu vermeiden, welcher freilich bei allen statistischen Vergleichungen
nur zu häufig vorkommt, jedoch hier noch mehr wie in den meisten
anderen Fällen stört. Es dürfen nemlich nur ungefähr gleich
grosse und gleich bevölkerte Länder, welche einigermaassen
selbständige Volkswirtschaften oder Abtheilungen von
solchen bilden, nicht schlechtweg, wie besonders in der Staats-
kunde, „Staaten“ mit einander verglichen werden.
28*
436 3- B. Wirthsch. u. Volkswirthsch. 5. K. Kennzeichen d. Volkswohlstand» §. 1S6.
Denn kleinere Staaten sind in volkswirtschaftlicher Hinsicht etwa nur Provinzen,
vielleicht sehr industrielle Provinzen, eines grösseren Gebiets. Im grossen Staate
kommen ebenso entwickelte Landesthcilo vor, aber bei den Durchschnittsbercchnungen
der Statistik stellen sich die „Kopfquoten“ niedriger als in jenem kleinen Staate, weil
Landestheile verschiedener Entwicklung und Consums für die Berechnung zusammen-
gezogen werden. So mag man z. B. Grossbritannien, Frankreich, Deutschland, Oester-
reich, Italien, Russland mit einander hinsichtlich jener Consumtionen vergleichen,
oder Holland, Belgien, die Schweiz, nicht aber schlechtweg letztere Länder mit jenen
Grossstaaten, sondern nur mit einzelnen Provinzen derselben, z. B. mit deutschen
Mittelstaaten. Wird diese Regel unbeachtet gelassen, so führt die Statistik nur zu
Trugschlüssen.
Vgl. auch Finanzwissenschaft I, 3. A. S. 25.
Der Fehler hängt enge mit der geschichtlichen Entwicklung der Statistik und
mit der m. E. unrichtigen, noch heute vielfach festgehaltenen Verwechslung von
Statistik und Staatskunde zusammen, (s. o. S. 204 und meine Abh. Statistik a. a. 0).
Er wird z. B. oft gemacht bei Vergleichen der Volksdichtigkeit, dann von
Steuern, von Umlaufsmitteln (Geld, Banknoten, s. mein System der Zettel-
bankpolitik, Frcib. 1875, S. 189) in verschiedenen Ländern und ist sogar gesetz-
lich anerkannt in unserm deutschen System der Matricularbeiträge nach gleichen
„Kopfquoten“. Reuss ä. L. und Prcussen, Russland und Lichtenstein werden dann
verglichen !
7) Die Wobuungsvcrh ältnisse, besonders die städtischen
und 8pccieli die gross städtischen.
Darüber hat die neuere Statistik in Verbindung mit den Volkszählungen sehr
genaue und interessante Aufschlüsse für einige Orte gewährt. Zahl, Beschaffenheit,
Einrichtung der Wohnräume u. s. w.
Vergi. namentlich die schöne Bearbeitung des Berliner statistischen Materials
in II. Schwabe’s Berl. Volkszähl. v. 1867, Berl. 1869 u. v. 1871, Berl. 1874; seit-
dem von Böckh in d. amtl. Sehr. Bevölker., Gebäude- u. Wohn.aufn. in Berlin 1875,
Berlin 18*8 Heft 2 und in den gleichen Veröffentlichungen über die neueren Volks-
zählungen; desgl. f. Hamburg in d. dort. amtl. Statist Heft 9, Hamb. 1878 und
später; desgl. für andere Städte, z. B. f. Leipzig (Knapp, Hasse), für Pest die
Arbeiten von Körösi. Alles für die Frage der Wohlstandsgliedcrung der Gesellschaft
verwerthet in Michaelis’ gen. Schrift: für diesen Zweck ist dies Material allein
nicht brauchbar genug, aber es wirft einige charactcristischo Streiflichter auf öko-
nomische und sociale Zustände. S. auch Neu mann (Tüb.) in Hildebr. Jahrb. a. a. 0.
S. 314 ff. Neueste Litteratur über die Wohnungsfrage in G. Schön berg’s Abh. ge-
werbliche Arbeiterfrage in seinem Handbuch (II, 3. A. S. 671) zusammengestellt.
Daselbst Behandlung der ganzen Frage S. 670 ft., 733 ft'., 771.
B. Aufwand für verbreitete feinere Bedürfnisse.
1) Befriedigung der Existenzbedürfnisse zweiten
Grads: qualitativ bessere Befriedigung besonders des Nahrungs-,
Wohnungs-, Kleidungsbedürfnisses.
Die Schlüsse aus Consumverschiedenheitcn der Zeiten und Völker auf entspre-
chende Unterschiede des Wohlstands verlangen freilich wieder Vorsicht, weil klima-
tische Einflüsse, zufällige Volkssitten u. dorgl. m. auf jene Verschieden-
heiten besonders mit einwirken.
Z. B. beim Gebrauch von Teppichen (England, feuchtes Klima). — Bessere
Wohnungseinrichtung in Nord- als in Süddeutschland im Mittelstände, aber geringere
Nahrungsqualität. — In Berlin in der letzten Kellerwohnung Vorhänge (Gardinen) an
den Fenstern, in den russischen Ostseeprovinzen selbst bei Bemittelten mitunter fehlend.
2) Befriedigung der Culturbedürfnisse, besonders der Ge-
rn ei n bedürfnisse; der geistigen (wissenschaftlichen, künstleri-
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Einzelne Kennzeichen.
437
sehen) Bedürfnisse. — Verbreitung der freien G e m e i n wirt-
schaften, der Einrichtungen des caritativen Systems.
a) Umfang, Inhalt und Kosten der Staatsleistungen und der-
jenigen der anderen öffentlichen Körper („Zwangsgemeinwirth-
schaften“), besonders der Gemeinden, ohne Steuerdruck, Deficit,
Verarmung.
Der Ertrag der verschiedenen Arten der Steuern (Gebühren, Ein-
kommen-, Ertrags-, Verkehrs-, Verbrauchs-, Luxussteuern) in verschiedenen Zeiten
und Ländern darf allerdings bei der Verschiedenheit des Staatsbedarfs (besonders auch
wegen des Schulderfordernisses!), des privatwirthschaftlichen Staatseinkommens, der
Höhe der Steuersätze und besonders der Veranlagungs- und Erhebungsmethoden der
Steuern auch nur mit Vorsicht zur Schlussziehung auf den relativen Volkswohlstand
benutzt werden.
Mit das Beste in vergleichender Finanzstatistik immer noch von Czörnig österr.
Budget von 1862. S. auch die vergleichenden Finanztabcllen im Goth. Alma nach
von Herrn. Wagner (1870er Jahre), v. Riecke, internationale Finanzstatistik,
ihre Ziele und Grenzen, Stuttg. 1876. GerstfeldtV bezügliche Arbeiten, bes. die
o. gen. Schrift Keichssteuerfrage und in Conrads Jahrbüchern (1883, B. 41 X sowie
v. Kaufmann’s finanzstatistische Vergleichungen eb. (1889, B. 52).
b) Zahl, Stellung, Verbreitung der den liberalen Berufen
au8ser-und innerhalb des Staats- und Gemei ndediensts
Angehörigen.
Statistik der Presse und Litteratur, des Bücherverkaufs und der Leih-
bibliotheken, der Kunstproduction u. dergl. m. — Preise der Güter für geistige und
andere Cultu rbediirfnisse, der Leistungen der Personen, welche solche Güter produciren.
Namentlich die Verbreitung von Aerzten lehrreich, s. Preuss. Statist. Ztscbr.
1873. S. 351 ff. (Vergleich mit der Verbreitung der Apotheken, auch von Interesse
für die Frage der Gewerbefreiheit im Apothekergewerbe.) Preuss. amtl. Statist.
Heft 43 u. 46 (Beitr. z. Medic. Statist.). Für das Deutsche Reich in 1876, Statistik
B. XXV, Sept.hcft.
Eine Statistik über den „Bücherconsum“ insbesondere nach Classen der Bevöl-
kerung (Berufe) und nach Kategorieen der Litteratur, wäre von grossem Interesse und
müsste sich besonders in Deutschland bei der hier üblichen Art des Sortimentsgeschäfts
leidlich vollständig und nicht allzuschwer aufstellen lassen. Vgl. auch v. öettingen ,
Moralstatist., 2. Auf!., S. 530 ff.
Der Einfluss der Volkssitte bei allen Culturbedürfnissen
erschwert aber wiederum Rückschlüsse aus Consumverschieden-
heiten auf den Volkswohlstand sehr.
C. Aufwand für grosse Unternehmungen bedeuten-
den Kapitalbedarfs.
1) Monumentale Gebäude, öffentliche des Staats und
der Gemeinde, kirchliche, private. Beschaffenheit der Privatge-
bäude, woraus manche Schlüsse auf die Vertheilung des Volksein-
kommens zu ziehen sind, so z. B. auch in Athen und Rom.
2) Bleibende Bodenverbcsserungen, wie Austrocknungen, Fluss-
regulirungen, Wasserableitungen, Dränirungen.
3) Kunststrassen aller Art, besonders Chausseen und
ähnliche, Kanäle, Eisenbahnen.
438 3. B. Wirthsch. und Volkswirthsch. 5. K. Kennzeichen d. Volkswohlstands. §. ISO.
Letztere das prossartigste Beispiel eines in kurze Zeit zusauimongedrängten rie-
sigen Kapitalaufwands für wirtschaftliche Zwecke, welches die Geschichte kennt.
Bei Vergleichen ist zu beachten, wer das Baukapital stellte, ob das In- oder
auch das Ausland.
Erste englische Dampf bahn 1S30, erste deutsche 1835 eröffnet! Eisenbahnnetz
der Welt nach Sturmer, Geschichte der Eisenbahnen, Bromb. 1872, und im Goth.
Alm. E. 1830 332. 1840 »591, 1850 38.022. 1800 106.986, 1870 221,980. 1873 270.071,
1870 309,000 Kilometer. Das Kilometer (steigende Kosten im Lauf der Jahre!) kann
in der ganzen Welt ungefähr mit demselben Kostenbetrag wie in Deutschland im
Durchschnitt (England, Frankreich bedeutend höher) veranschlagt werden, d. b. um
1870 mit ca. 210.000 Mark, Gesammtaufwand in 47 Jahren, 1829 — 70, also ca 05 Mil-
liarden Mark. S. Näheres in meiner Fin.wiss. 2. Aufl. I. S. 592 ff., 3. A. S. 042 If.
Ende 1889 war die Länge der in Betrieb befindlichen Eisenbahnen auf der Erde
595.707 Kil., mit oinern Anlagekapital von 128.5 Milliarden Mark (215,030 M. p. Kil.)
(Archiv ftlr Eisenbahnwesen 1891, S. 428, 431). Vor Uebcrschätzung unseres heu-
tigen Communicationswesens, wenn man nur von den Elisenbahnen absieht, hütet
übrigens der Vergleich mit dem Strassennetz des altrömischen Kaiserreichs,
s. darüber H. Stephan (der deutsche Gencralpostdircctor) , das Verkehrswesen im
Altorthum in R&umer’s histor. Taschenb. 1808, und Friedländer, Sittenge-
schichte I, 1 If.
D. Internationale Credit Verhältnisse. Die einzelnen
Volkswirtschaften lassen sich als ins Ausland Credit gebende,
vom Ausland Credit nehmende und neutrale unterscheiden.
So schon Storch I, 145. Sehr wichtiger Punct für Fragen der internatio-
nalen Zahlungsbilanz und des Geld-, Papiergeld- und Bank-, namentlich Zcttclbank-
wesens, worauf mit Recht besonders Seyd in seinen Schriften über Geld- und Bank-
wesen hingewiesen.
Der Credit kommt beim Handel (Croditfristcn für die Ausfuhr, Vor-
schüsse für die Einfuhr), bei den verschiedensten Thätigkeiten der Production ,
welche z. B. im Iulande mit ausländischem Kapital betrieben werden, vor. Neuer-
dings spielt die wichtigste Rolle der Besitz internationaler Werthpapiere
(Staatsschuldverschreibungen, Acticn, Prioritätsobligationen, Pfandbriefe u. s. w). Die
Crcditoren- Volkswirtschaften sind nicht nothwendig, wenn auch gewöhnlich die rei-
cheren, die Debitoren- Volkswirtschaften die ärmeren. Jene haben den niedrigeren,
diese den höheren Zinsfuss. Es kann aber auch in crstcren die Vcrtheilung des
Volkseinkommens und Vermögens eine so ungleiche sein, dass bei grossem Privat-
reiehthuin, neben vielleicht nur massigem Durchschuittswohlstaud, viel Kapital in der
Fremde angelegt wird.
E. Gesammtbctrag, Art und Grösse der Zahlmitte]:
des Metallgelds, Kupfer, Silber, Gold; des Papiergelds; der Bank-
noten; Checks; Wechsel u. s. w. ; wobei die Grösse derStticke
(Münzstückc, Appoints des Papiergelds und der genannten Geld-
surrogate) besonders beachtenswert ist und Rückschlüsse auf die
Höhe der Durchscbnittsumsätze und dann wieder in Etwas aut* den
Volksreicbthum gestattet.
Nur kann auch hier das Vorhandensein grossen Privatreichthums die bloss
scheinbar günstige Gestaltung der Zahlmittel, d. h. das Vorwalten grosser Stücke er-
klären. Ebenso überwiegen die grossen Stücke in Speeulationszciten.
S. meine Zettelbankpolitik S. 701.
Tooke and Ncwmarcb, liistory of prices VI, 560 ff.; meine Beiträge zur
Lehro von den Banken. S. 132 ff. (über britische Banken); mein Syst. d. Zettclbank-
polit., S. 208, 701 (Preuss. B.), 738 (Franz. B.), 733 (nordamer. Bauken). Uebrigens
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Verkehrszustände in der Volkswirtschaft.
43y
auch Zusammenhang der Bewegung der Noten und Papicrgeldstückelung mit dem (lang
der Geschäfte in der Volkswirtschaft, s. eb. auch S. 550 ü'., und meine Russische
Papierwährung. Rij>a 1868. Kap. 4. — IJcber Statistik der Mefallgeldcirculation s. be-
sonders die reichhaltigen und sorgfältigen Arbeiten Sütbccr’s, die besten vorhandenen.
Zusammenfassung in ..Materialen etc, betr. Edelmetallverhältnisse*1, 2. Aufl. 1880
(Fortsetzungen in Conrad’s Jahrb., zuletzt 1891, und in der Schrift von Sötbeer
Litteraturnachweis Uber Münz- und Geldwesen u. s. w. . Berlin 1892); über Noten-
und Papiergeldcircul. Paasch e, in Conrad’s Jahrb. 1878, B. 50, S. 331 ff. — Auch
Neumann's Ucbcrsichtcn.
Bei allen diesen Kennzeichen des Volkswohlstand« sind dann
die Veränderungen im Zeit verlauf besonders zu verfolgen.
Namentlich ist zu prüfen , ob sich daraus eine durchschnittliche
Verbesserung in der Lage der Masse des Volks und in der
Befriedigung von Culturbedtlrfnissen ergiebt.
Sechstes Kapitel.
Verkehrszustände in der Volks wirthschaft.
§. 187. Vorbemerkung und Litteratur.
Es handelt sich hier, ähnlich wie in den früheren Bemerkungen über Geld,
Credit (§. 143) nur um vorläufig orientirende Charactcristik über Natural-
und Geld wirthschaft u. s. w, und um Feststellung der schwankenden Ter-
minologie. Die genauere Darstellung und Entwicklung gehört in die theoretische
Volkswirtschaftslehre, in die Lehre vom Verkehrswesen, z. Th. auch in die Agrar-
und Gewerbepolitik. Ich glaube daher hier den Wünschen v. Scheel’s in der Be-
sprechung meiner Grundlegung in Hildebrand’s Jahrb. 28, S. 134 nicht nachkommen
zu sollen.
Rau hat nur wenig Principielles über diese I’uncte geäussert, I, §. 257 (F.,
282 ir. — Roscher I. §. 90. — Br. Hildebrand, Nationalökonomie der Gegen-
wart und Zukunft, I, 270 ff., und ders. , ArL Natural-, Geld- und Creditwirthschaft
in s. Jahrb. 11, (1864), 1—24. Er unterscheidet die beiden Begriffe der Natural-
wirtschaft nicht genügend und beachtet nicht, dass auch in der Creditwirthschaft
das Geld als Währung und Preismaass bestehen bleibt, nur als Umlaufsmittel ersetzt
wird. S. darüber auch Knies in der Tüb. Zeitschr 1800, S. 154 ff., und Roscher,
90 Anm. 0 (die Einwäude des letzteren widerlegt Hildebrand in seiner Zeitschr.
S. 23 m. E. nicht) und v. Scheel, der Begriff des Gelds in s. historisch -ökonomi-
schen Entwicklung. Hildcbr. Jahrb. 1806, VI, 12 ff. Jetzt besonders Knies, das
Geld und der Credit, ders., polit. Oekonoinie, 2. A. III. Absch. Nr. 6 bes. 382 ff.
u. Credit II. S. 20511. Schönberg, in seinem Handbuch I, 3. A. S. 43 ff.
Vollständige Theorie der Creditwirthschaft, unter Darlegung ihres Ver-
hältnisses zur Geldwirthschaft, in Anknüpfung an und Fortführung der Lehren von
Tooke und F ullarton (regulation of currencies Lond. 1844) über Geld- und Bank-
wesen (sog. engl. Banking-school, gegenüber der Overston e-M’Culloch-Pcel’-
schen Currency-school) in meinen Beiträgen zur Lehre von den Banken, Leipzig
1857. bes. S. 35 ff., und namentlich in meiner Geld- und Crcdittheorio der Peel’schen
Acte, Wien 1862; s. auch meine Russische Papierwährung, bes. Kap. 4; Termino-
logisches in meinem Art. Papiergeld im Staatswörtcrb. VII, 640 ff. und im Art.
Credit in Rentzsch’ Handwörterb. , woselbst S. 202 auch bereits auf die beiden ver-
schiedenen Begriffe der Natural wirthschaft hingedeutet wird, ferner in meiner Abh.
Credit im Schönberg'schen Handbuch, I, 3. A. S. 379 ff., 443 ff. S auch v. Man-
goldt, Grundr., bes. §. 58, 39 u. ders., Art. Credit im Staatswörterb. VI, Neu-
mann (Wien). Volkswirtschaftslehre, §. 60 ff, Nasse’s einschlägige Credit- und
Bankaufsätze in der Tüb. Zeitschr. B. 15, 21, 30, ders., in dem Bankartikel im
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440 3- B- Wirthsch. u. Volkswirthsch. 6. K. Verkehrszustände. §. 187 — 189.
Handwörterb. d. Staatswiss. B. II, Hildebrand (jun.) Theorie des Gelds 1883. Aus
der englischen Litteratur bes. Mill, polit. Oekon. 3. B. Kap. 11. 12, 13, 24. und
Macleod, theory and practicc of banking, 2 vol., Lond. 1855 (vgl. darüber, nam.
Uber die Einseitigkeit der M.’schen Credittheoric meine Anzeige in d. Gött. Gel.
Anz. 1858, S. 281 — 307). und Dictionary of political cconoiny I, unter den
terminis technicis des Credit- nnd Bankwesens. Die Darlegung in meiner Geld-
und Credittheorie der Peel’schen Acte ist, glaube ich, frei von den Maclcod’scben
Uebertreibungen. Ich halte erhebliche Aenderungen daran auch den Macleod’ sehen
und Knies sehen Schriften und derjenigen von R. Hildebrand (jun.) gegenüber
nicht für geboten. S. ferner Jevons, Geld- und Geldverkehr, deutsch 1870. Auch
die Schriften von Bagchot (Lombard-Street), deutsch von Beta, Berl. 1874, und von
Seyd, the Bank of Englands note issue and its error. Lond. 1874. ders, die wahren
Grundsätze des Banknotenwesens u. s. w., Leipz. 1875 (und andere Broschüren des-
selben Verf.). haben die in meiner erwähnten Schrift dargelegtc Theorie der Credit-
wirthschaft nicht wesentlich anders auseinandergesetzt und die mit dieser Theorie eng
zusammenhängende Polemik gegen die Peel’schc Acte nicht wesentlich anders geführt
als dies in meinen Schriften von 1857 und 1801 bereits geschehen ist. Weitere
Litteratur in meiner Abh. Credit im Handbuch und in den verschiedenen einschlä-
gigen Arbeiten (von Kasse. Lotz, Lcxis) im Handwörterbuch der Staatswissen-
schaften.
§. 188 [113]. In der Volkswirtschaft lassen sich folgende
Zustiinde des Verkehrs unterscheiden: einmal Natural- und
Tausch wirthschaft als Gegensätze, sodann Natural-,
Geld- und Creditwirthschaft als Formen der Tau sch wirthschaft
I. Natural wirtschaftlicher und tausch- oder ver-
kehrswirthschaftlicher Zustand, in einem gegensätzlichen
Sinne des Worts. Erstercr bezeichnet (in einer ersten Bedeutung
des Ausdrucks) hier einen solchen Zustand der Volkswirtschaft,
wo die Einzelwirtschaften noch mehr isolirt für sich stehen und
die Eigengewinnung (Eigenproduction) der Güter für die
eigene Bedürfnisbefriedigung gegenüber der verkehrsmässigen
Gewinnung und daher auch dem Absatz im Verkehr vor waltet.
Im Gegensätze dazu ist der tausch wirtschaftliche ein solcher
Zustand, wo sich bereits eine gewisse Arbeitsgliederung, be-
sonders auch der selbständigen einzelwirthschaftlichen Productions-
betriebe („Unternehmungen“) und in Folge dessen eben der Cha-
racter der Einzelwirtschaften als Verkehrs wirthschaften
entwickelt hat.
In primitiven Verhältnissen des Volkslebens überhaupt, zumal unter älteren
menschlichen Gemcinschaftszuständen (§. 110 ff.), unter der ländlichen Bevölkerung ins-
besondere aber bis in die Zeit der entwickeltsten Volkswirtschaft hinein tiberwiegt
der naturalwirthschaftliche Zustand. Erst in einem langen geschichtlichen Proccss
entwickelt sich die Verkehrswirthschaft aus der Naturalwirtschaft. Das Altertum
ist erst durch die „Sprengung der agrarisch -industriellen Wirtschaftseinheit des
Oikos“ (Kodbertus) und niemals entfernt gleich der modernen Welt; das euro-
päische Mittelalter doch bereits in höherem Grade aus der Naturalwirtschaft heraus-
gekommen. wegen der grösseren Trennung der agrarischen und der industriellen Ar-
beit in Land und Stadt — wenn auch in letztrer „ländliche“ Beschäftigung nocli
stark verblieb — und wegen der selbständigen Organisation der städtischen Gewerbe
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Natural-, Geld-, Creditwirthschaft.
441
in den Städten (Zunftwesen) und in Folge des Ausschlusses der meisten dieser Ge-
werbe vom platten Lande (besonders den Dörfern).
II. — §. 189 [114]. Nach den Formen, in welchen sich der
Verkehr im tauschwirthschaftlichen Zustande der Volks-
wirtschaft vollzieht, und nach den Ausgleichungsmitteln,
deren er sich zur Bewerkstelligung der Umsätze bedient, lassen
sich drei Entwicklungsphasen jenes tauschwirthschaftlichen Zu-
stands unterscheiden, nemlich die natural wirthscha ft liehe
(in diesem zweiten Sinne des Worts), die geldwirthschaft-
liche und die credit wirtschaftliche.
A. In der ersten Phase, welche sich keineswegs nothwendig
völlig, wenn auch regelmässig als concrete historische Erscheinung
in einigen Puncten, mit dem naturalwirthschaftlichen Zustande der
erstgenannten Art deckt, werden die Güter noch ohne Vermitt-
lung des Geldes in natura gegen einander vertauscht:
eigentlicher Tauschhandel.
So im Verkehr ganz uncultivirter Völker („Wilden“) und zwischen ihnen und
Civilisirten. Dass hierbei ein irgend lebhafteres Tauschen überhaupt noch nicht be-
stehen kann, ist natürlich. Damit fehlt aber auch weitere Arbeitstheiiung. Der Mangel
des Geldes, deshalb neben dem Mangel des Tauschmittels auch der des gemeinsamen
Werthmaasses, nöthigt daher von selbst zur vorherrschenden Eigenproductio n
der wenigen Güter, welche hier für die Bedurfnissbefriedigung Vorkommen können:
insofern besteht hier Nataralwirthschaft in beiden Bedeutungen des Worts.
B. Die höheren Formen der Tauschwirtschaft sind die
Geld- und die Creditwirthschaft: in jener dient Geld als Preis-
maass und Tauschmittel und wird durch Geld erst eine bedeutendere
Entwicklung der Tauschwirtschaft, eine stärkere Herausbildung
aus der naturalwirthschaftlichen Eigengewinnung der Güter, eine
grössere und festere Arbeitsgliederung möglich.
Der naturalwirthschafüiche Zustand im ersten Sinne schlicsst die Geldwirthschaft
nicht nothwendig aus, d. h. die Einzelwirtschaften beschaffen sich zum Theil die
Güter schon unter Vermittlung des Gelds im Verkehr und produciren etwas mit
für den Absatz gegen Geld.
C. ln der Creditwirthschaft endlich bleibt zwar Geld als
Währung und Preismaass bestehen, aber es hört mehr und mehr
auf, unmittelbar als Tauschmittel zu dienen. In dieser seiner Eigen-
schaft wird es durch Urkunden (Dokumente, Papiere) aus
Cred itgeschä ften, d. h. aus solchen Geschäften, wo zwischen
Leistung und reeller Gegenleistung ein zeitlicher Zwischenraum
liegt (§. 143), sowohl durch solche Urkunden, welche absichtlich
zum Zweck der Geldfunction geschaffen worden (Papiergeld, Bank-
noten, Checks), als durch solche, welche aus Creditgeschäften zu
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442 3. B. Wirthsch. und Volkswirthsch. (5. K. Verkehrszustände. §. 1S9, 190.
anderen Zwecken hervorgegangen sind, aber sich zur Geldfunction
benutzen lassen (girirte Anweisungen, Wechsel, Depositenscheine,
Postwerthzeichen, Coupons u. s. w.), ferner durch gewisse Mecha-
nismen des Za h längs- und Abrechnungswesens (Giro-
einrichtungeu von Banken, Clearing-Häuser) im Anschluss an jene
Urkunden, ersetzt.
In der Creditwirthscliaft erfolgen daher die Tauschacte, bez. die Käufe und
Verkäufe nur so, dass die Leistung unmittelbar bloss mit Versprechen auf
Gegenleistung in Geld vergolten wird.
Theorie der Geldverdrängung durch die Creditwirthscliaft näher in meinem
Art. Papiergeld, Staatswörtcrb. VII, 650 IT., besonders in der Geld- und Credittheorie
der Peei’schen Acte S. 111 ff., Abh. Credit im SchOu berg'schen Handbuch I. 3. A.,
S. 143. Art. Check und Clearing-House in Bentzsch' Handwörterbuch S. 141 — 151,
Syst. d. Zettclbankpolit. S. 53, 450, 667. 730, 734 (Statistik).
Die Credit wirthschaft setzt zu ihrer umfassenderen Entwicklung selbst wieder
eine grössere Benutzung des Credits voraus, namentlich ein starkes Mitspielen des
Credits im Productiousprocess, wie es erst bei hoher Bechtssicherlieit , weitgehender
Berufs-Arbeitstheilung und grosser Freiheit im Verkehr vorkommt. Die Creditwirth-
schaft ist daher eine Verkohrsgestaltung hoher Wirthschafts- und Culturstufen. deren
Glanz- und Schattenseiten sie besonders scharf zeigt. Sie führt zu einer grossartigen
Ersparung au Geld, bez. bei uns an Edelmetall.
Das Verhältniss der drei tauschwirthschaftlichen Phasen zu
einander ist aber nicht dasselbe. Die Creditwirthscbaft ist nicht
in derselben Art eine Fortbildung der Geldwirthschaft, wie diese
eine solche der Naturalwirthscbaft, denn sie hat selbst den Gcld-
verkehr und die Function des Gelds als Währung und Preis-
maass zur bleibenden Voraussetzung. Geschichtlich
bilden die drei Formen der Tauschwirthschaft überhaupt nicht
völlig getrennte Zustände der Volkswirthschaft, lösen sich nicht
förmlich ah, sondern bestehen neben einander fort, nur dass
die ältere Form immer mehr zurlicktritt. Das relative Ueberwiegen
in der geschichtlichen Reihenfolge von Natural-, Geld- und Credit-
wirthschaft giebt dann dem Verkehr sein Gepräge und führt zu
der Benennung.
Auch dabei aber ist zu beachten, dass in den verschiedenen Gebietsteilen
einer Volkswirthschaft und besonders in den verschiedenen Gruppeu der wirtschaft-
lichen Arbeit (Stadt — Land, industrielle — agrarische Thätigkeit) gewöhnlich nicht
dieselbe Verkcbrsform vorwaltet. Die Creditwirthscbaft ist mehr die Verkehrsform
der Städte, der Industrie, während das platte Land vielleicht noch fast ganz in der
Geldwirthschaft und teilweise etwa auch noch in der Naturalwirtschaft im ersten
Sinne der verwaltenden Eigengewinnung der Güter steckt.
III. — §. IDO 1115]. Mit der Creditwirthscbaft ist die Papier-
geld wirthschaft nicht zu verwechseln, welche ihr nur äuss er-
lich in der Verdrängung des Metallgelds als Umlaufsmittel gleicht.
Die Creditwirthscbaft beruht, dem Wesen des Credits entsprechend,
auf freier Entwicklung, die Papiergeldwirthsckaft auf Staat-
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Papiergeld wirthschaft.
443
liebem Zwange. In ihr dient Papiergeld anstatt des Metall-
gelds nicht nur als Tausehmittel, sondern auch als Währung und
Preismaass: d. h. das Papiergeld hat den sogen. Zwangscurs
und ist zugleich uneinlösbar gegen Metallgeld, oder es ist
m. a. W. Papierwährung, nicht nur, wie die oben genannten
creditwirtbschaftlichen Umlaufsmittel, Papiercirculations mittel.
Die wirthschaftliche Function und Wirkung von Creditwirthschaft
und Papiergeldwirthschaft und die volkswirtschaftliche Beurtheilung
beider sind daher auch grundverschieden.
S. meinen Art. Papiergeld im Staatswörterbuch S. 047, 052, 662 ff., meine
Beiträge S. 35, 38, Credittheorie d. Peel’schen Acte S. 63 fl., Russ. Papierwähr. Kap. 4.
Abh. öffentlicher Credit im Schönberg’scben Handbuch III, 3. Aull. S. 600 ff. —
v. Mangoldt, §. 59. Mohl, Polizciwiss.. 3. Aull., II, §. 1S4. Anders noch:
Rau I, §. 293 ff, bes. §. 295.
Eines der beiden Momente \Zwangscurs. Uneinlösbaikcit) allein für sich
schallt noch keiu Papiergeld im obigen Sinne. So sind einlösbare Banknoten mit
Zwangscurs (sogen. Legalcurs, Englische Bank, legal tender) nicht Papiergeld,
sondern Geldsurrogat der Creditwirthschaft; uneinlösbares Staatspapiergeld, ohne
Zwangscurs, aber mit Annahme an den Staatscassen, ist auch noch nicht Papier-
währung.
Druckfehler.
S. 71 Z. 11 v. o. 1. Litteratur statt Natur.
S. 130 im mittleren (Petit-)Absatz Z. 11 v. o. 1. dieser st. ihrer.
S. 142 in der vorletzten Zeile vor dem Abschnitt 1. ihm st. ihr.
S. 172 Z. 1 des Texts v. o. hat vor §. 67 die „I“ fortzufallen.
S. 183 in der vorletzten Zeile des Petit- Absatzes in der Mitte ist hinter ..historischen“
das Wort „Zeitaltern“ einzuschalten.
S. 188 Z. 7 v. o. 1. Fragen st. Folgen.
S. 194 Z. 11 v. o. 1. inductiv st. deductiv.
S. 286 Z. 14 v. u. 1. dem st. denn.
S. 286 Z. 8 v. u. 1. 1837 st. 137.
Gedruckt bei E. Polz iu Leipzig.
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Lehr- und Handbuch
der
politischen Oekonomie.
In einzelnen selbständigen Abtheilungen.
In Verbindung mit
A. Buchenberger K. Bücher H. Dietzel
grossli. bad. Präsident des Professor der Statistik und Professor der Staatswissen-
Finanzminist. in Karlsruhe Nationalökonomie in Leipzig schafton in Bonn
und Anderen bearbeitet und herausgegeben
von
Adolph Wagner
Professor der Staatswissenschaften in Berlin.
Erste Hauptabtheilung:
Grundlegung der politischen Oekonomie.
Dritte Auflage.
Erster Theil.
Grundlagen der Volkswirtschaft.
Zweiter Halb band.
Leipzig.
C. F. V iuter sehe V e r 1 a g s h a n d 1 u n g.
1 893.
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Grundlegung:
der
politischen Oekonomie.
Von
Adolph Wagner.
Dritte
wesentlich um-, theilweise ganz neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage.
Erster Theil.
Grundlagen der Volkswirthschaft.
Zweiter Halbband.
Buch 4 — 6.
(Bevölkerung und Volkswirthschaft. — Organisation der Volkswirthschaft. —
Der Staat, volkswirtschaftlich betrachtet.)
Leipzig.
C. F. Winter’ sehe Verlagshandlung.
1893.
ä
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Lebersetzuiigsreeht Vorbehalten
V orwort
zum zweiten Halbband des ersten Theils der
dritten Auflage der Grundlegung.
Wie ich im Vorwort zu dem im Oetober v. J. erschienenen
ersten Halbband in Aussicht gestellt habe, folgt nunmehr der zweite
Halbband. Damit ist der erste Theil der Grundlegung in der neuen
Bearbeitung dieser dritten Auflage beendigt.
Durch die wesentlich erst hier erfolgte Aufnahme der Be-
völkerungslehre ist auch Inhalt und Umfang dessen, was dieser
zweite Halbband im Vergleich mit der früheren Auflage bringt, sehr
erweitert worden. Die Einleitung zu dem 4. Buche, Bevölkerung
und Volkswirtschaft, und das erste Kapitel, volkswirtschaftliche
Bevölkeningslehre , umfassen 221 Seiten (S. 445 — 666) com-
presseren Drucks, an Stelle der kurzen Bemerkungen S. 145 — 146
in der 2. Auflage. Auch das zweite Kapitel dieses 4. Buchs (Be-
darf und Vertheilungsproblem), S. 666 — 760, welches an Stelle des
5. Hauptabschnittes S. 164 — 180 der 2. Auflage getreten ist, hat
eine gründliche Umarbeitung und Erweiterung erfahren, namentlich
in den eingehenden principiellen Erörterungen über die Regelung
der Verteilung (2. Abschnitt S. 684 — 740).
Die beiden Bücher 5 und 6, Organisation der Volkswirtschaft
(S. 761 — 869, in 2. Aufl. Kap. 3 S. 196 — 288) und „der Staat
volkswirtschaftlich“ betrachtet (S. 870 — 924, in 2. Aufl. Kap. 4,
S. 196 — 342), sind zwar ebenfalls überall revidirt, stellenweise um-
gearbeitet worden. Aber im Wesentlichen ist ihr Inhalt doch der-
jenige der zweiten Auflage geblieben, so dass hier dasselbe gilt wie
von Buch 2, elementare Grundbegriffe, und Buch 3, Wirtschaft
und Volkswirtschaft, im ersten Halbbande. Ohne kleinere for-
VI
Vorwort zum zweiten Halbband der dritten Auflage.
melle, hie und da sachliche Aenderungen, Zusätze u. s. w. ist aber
auch in diesen 4 Büchern 2, 3, 5, 6 kaum ein Paragraph geblieben.
Die äussere Veränderung des ganzen Werkes in dieser dritten
Auflage ergiebt sich, abgesehen von der stärkeren Anwendung der
compresseren Petitschrift , schon aus der grossen Ausdehnung dieses
ganzen Theils auf 924 gegen 342 Seiten in der zweiten und 290
Seiten in der ersten Auflage. Die so gut wie völlig neu in diese
dritte Auflage hineingezogenen einleitenden Erörterungen, dann
namentlich die Ausführungen über die wirtschaftliche Natur des
Menschen, die Motivation, die Methoden u. s. w. (Buch 1) und
über die Bevölkerung (Kap. 1, Buch 4) umfassen indessen allein
506 Seiten, gegen bloss c. 16 Seiten der 2. Auflage. Wras dagegen aus
dieser Auflage in die neue, wenn auch mehr oder weniger um- und
übergearbeitet, übergegangen ist, beträgt daher nur 418 Seiten
gegen c. 326 S. in der vorigen Auflage. Das Buch ist somit freilich
ein inhaltlich zum grösseren Theil ganz neues geworden.
Für die bevölkerungsstatistischen Ausführungen und
die darin enthaltenen zahlreichen kleinen Tabellen bin ich be-
sonderen Dank der vortrefflichen Veröffentlichung des Kaiserlichen
Statistischen Amts des Deutschen Reichs, „Stand und Bewegung der
Bevölkerung des Deutschen Reichs und fremder Staaten in den
Jahren 1841 — 1886“ (Neue Folge), schuldig. Dieses noch grössten-
tlieils der Initiative des früheren Directors Dr. Becker und seiner
wie Dr. Schumann ’s Bearbeitung zu verdankende Werk bildet die
Grundlage des bezüglichen statistischen Abschnitts dieses Buchs.
Aber natürlich konnte und wollte ich nur dasjenige Material jener
statistischen Arbeit benutzen, welches für die von mir behandelte
Frage in Betracht kam. Ich möchte dem reichsstatistischen Amt
und den Herren, welche an diesem Werke besonders betheiligt
waren, aber wenigstens zeigen, dass ich als „statistischer Consument“
für meine volkswirtschaftliche Bevölkerungslehre den grössten
Nutzen aus ihrer eminenten Leistung gezogen habe. Auch der
die Tabellen begleitende vorzügliche Text, grossenthcils aus der
Feder Dr. Schumann’s, hat mir wesentliche Dienste geleistet.
Das Ergebniss meiner Lehre von Bevölkerung und Volks-
wirtschaft ist : „R o b e r t M a 1 th u s behält i n a 1 1 e m W e s ent-
liehen Recht“ (S. 665). Ein Ergebniss, auf welches ich dem
falschen Optimismus des Socialismus gegenüber ähnlichen Werth
lege, wie auf das Ergebniss im ersten Buche hinsichtlich der Psy-
chologie und Motivationstheorie.
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Vorwort zum zweiten Halbband der dritten Auflage.
VII
Die Litteratur habe ich, soweit ich vermochte und soweit es
mir angemessen schien, bis zum Jahre 1892 benutzt. Doch Schriften,
welche mir erst wahrend der Bearbeitung und zum Theil während
des Druckes zukamen, meist nicht mehr, von gelegentlicher Er-
wähnung abgesehen. Namentlich grössere und wichtigere, aber erst
in diesem Stadium an mich gelangte Werke, welche sich auf dem-
selben Gebiete, wie das meine, bewegen und mit welchen daher
mehrfach eine genauere principielle Auseinandersetzung nothwondig
gewesen wäre, habe ich absichtlich nicht mehr mit hereingezogen.
Dies gilt insbesondere von J. "Wolf ’s System der Socialpolitik,
Band 1 und von E. v. Philipp ovi ob’s Grundriss der Politischen
Oekonomie, Band 1.
Berlin, Februar
Dr. Adolph Wagner
Inhaltsübersicht.
Die zweite Zahl in Eckklammern hinter der Paragraphenzahi ist diejenige der
zweiten Anflage. Wo sic fehlt, ist der Gegenstand in dieser dritten Auflage erst neu
aufgenommen worden.
Seite
Viertes Bach.
Bevölkerung und Volkswirtschaft 445
§. 191. Vorbemerkungen 445
§. 192. Fortsetzung. Die Bevölkerungslehre und der Socialismus .... 447
§. 193. Fortsetzung. Notwendige Bchandlungsweise der Lehre in der Poli-
tischen Oekonomie 448
§. 194. [S. 145 — 140.) — Litteratur, insbesondere Maltkus und seine Lehre 451
§. 195. Die Malthus’schc Lehre in der Litteratur 455
§. 196. Fortsetzung. Ueberwicgend polemische Litteratur (Carey. Socialisten.) 45b
§. 197. Fortsetzung. Statistische Litteratur 463
Erstes Kapitel Die volkswirtschaftlichen Seiten des Bevölke-
ren gswesens (volkswirtschaftliche Bevölkerungsichre) 466
Erster Hauptabschnitt Bevölkerungsstatistische Thatsachen
und Untersuchungen 466
1. Abschnitt. Theoretisches 466
§. 198. I. — Das volkswirtschaftliche Productions- und Vertheilungsinteresse
in Bezug auf Grösse und Zusammensetzung der Bevölkerung und
Veränderungen darin. — 1. Standpunkt des Productionsinteresscs 466
§. 199. — 2. Standpunkt des Vertheilungsinteresses 468
§. 200. — 3. Ergcbniss 470
201. — II. Zur Terminologie, Technik und Kritik der Bevölkerungs-
statistik vom Standpunkte volkswirtschaftlicher Betrachtung aus.
.. — A. Stand der Bevölkerung. — 1. Volkszahl 472
§. 202. — 2. Volksbcschrcibung 475
§. 203. — 3. Verteilung der Bevölkerung über den Kaum (Gebiet) und
Volksdichtigkeit und Berechnungen dafür 477
§. 204. — B. Bewegung der Bevölkerung. — 1. Besonders die natürliche. 480
§. 205. Rechnungsgrössen aus dem Gebiet der Statistik der natürlichen
Bewegung der Bevölkerung 483
§. 206. — 2. Die räumliche (örtliche) Bewegung der Bevölkerung oder die
Wanderungen 487
X
Inhaltsübersicht.
Seite
2. Abschnitt. Bevölkerungsstatistische Ergebnisse 491
§. 207. — I. Die mögliche und die thatsächliche natürliche Bevölkerungs-
Vermehrung 491
20b. — A. Physiologisch mögliche Vermehrung 492
§. 209. Ausführungen zu den einzelnen 5 maassgebenden Puncten. Zu 1 und 2 499
§. 210. Fortsetzung. Zu 3, Geburtsfrequenz, und 4 494
211. Fortsetzung. Zu 5, Sterbefallfrcquenz, bes. Kleinkindersterblichkeit 499
§. 212. Fortsetzung. Sterblichkeit im späteren Kindes- und im erwachsenen
Alter 50t»
§. 213. Ergebniss für die physiologisch mögliche Vermehrung .... 509
§. 214. — B. Wirkliche Volksvermehrung 510
?j. 215. Einzelne Ausführungen. 1. Hälfte und Mitte des 19. Jahrhunderts 511
§. 216. Fortsetzung. Mitte und 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts . . . . 514
§. 217. Ergebnisse bezüglich der Volksvermehrung 520
§. 21 S. — II. Die Schwankungen in der natürlichen Volksbewegung , ihre
Bedingungen und Ursachen. — A. Allgemeines und Theoretisches 522
§. 219. — B. Die Förderungs- und Hemmungsmittel 524
§. 220. Schlüsse bezüglich der Förderungs- und Hemmungsmittel für die
Frage der Volksvennehrung 528
§. 221. Statistische Belege zum Vorausgehenden, namentlich für constaute
Verhältnisse und dauernde Verschiedenheiten der natürlichen Volks-
vermehrung 531
§. 222. Fortsetzung. Statistische Belege für Schwankungen und Beweguugs-
richtungen der natürlichen Bevölkerungsbewegung 534
§. 223. — III. Ergebnisse hinsichtlich der natürlichen Volksbewegung . . 539
§. 224. — IV. Die Wanderungen. — A. Die heimischen 542
§. 225. — B. Ein- und Auswanderung : . . . . 549
§. 226. Statistischer Excurs über die überseeische europäische Massenaus-
wanderung und dortige Einwanderung' 552
§. 227. Fortsetzung. Andere statistische Verhältnisse der überseeischen
Auswanderung 560
§. 228. — C. Ergebnisse hinsichtlich der Wanderungen und der Volksver-
mehrung überhaupt 562
§. 229. — V. Volksdichtigkeit. — A. Behandlung der ganzen Frage . . 568
§. 230. — B. Statistik der Volksdichtigkeit 570
§. 231. Die einzelnen europäischen Reiche und Staaten 573
§. 232. Volksdichte in kleineren Gebietstheilen Deutschlands 575
§. 233. Volksdichte in kleineren Gebietstheilen anderer Länder, besonders
Europas 579
$j. 234. Volksdichtc in Nordamerica 585
§. 235. Volksdichte asiatischer Länder 586
286. Vergleichende Ucbersicht der Volksdichtigkeitsverhältnisse verschie-
dener Länder 587
§. 237. — C. Städte, besonders Gressstädte, namentlich Deutschlands . . 590
§. 238. — D. Ergebnisse bezüglich der Volksdichtigkeit 595
23!». — VI. Gcschlechtsverthcilung in der Bevölkerung. — A. Allgemeine
Ucbersicht 597
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Inhaltsübersicht.
XI
Seite
§. 240. — B. Statistische Belege 602
§. 24 J. — VII. Altcrsvertheilung der Bevölkerung (Altersclassification).
— A. Allgemeine üebersicht 606
§. 242. — B. Statistische Belege 010
§. 243. — VIII. Die Berufsvcrtheilung in der Bevölkerung. — A. Behand-
lung der ganzen Frage 613
§. 244. — B. Bedeutung der Berufsvertheilung für das volkswirtschaftliche
Bevölkerungsproblem 015
S. 245. — C. Berufsstatistisches. — 1. Statistik der erwerbstätigen und
der übrigen Bevölkerung 618
§. 246. — 2. Statistik der Bcrnfsstcllung 022
§. 247. — 3. Statistik der Berufsarten 625
Zweiter Hauptabschnitt. Volkswirtschaftliche Folgerungen . . 632
§. 248. — I. Volksvermehrung und Productionsinteressc 632
§. 240. — II. Volksvermehrung und Vcrtheilungsintcresse 636
§. 250. — III. Die üebervölkerungsfragc 038
§. 251. — A. Die Uebervölkerungsfrage und die volkswirtschaftlichen Ent-
wicklungsphasen 040
§. 252. Fortsetzung. Insbesondere die Uebervölkerungsfrage für hochent-
wickelte Industrieländer der Gegenwart 044
§. 253. Fortsetzung. Die Gründe, welche zur Annahme einer Ueber-
vülkerungsgefalir auch für unsere Culturländer nötigen .... 048
§. 254. Folgen des Eintritts der Uebervölkerungsgcfahr auf hohen Entwick-
lungsstufen 050
§. 255. Fortsetzung. Verbleiben der Uebervölkerungsgefahr bei grösserer
Beschränkung von Production und Austausch auf den heimischen
Markt. Grund- und Bodengesetz 052
§. 250. Die Allgemeinheit der Thatsache der Uebervölkerungsgefahr. . . 655
§. 257. — B. Absolute und relative Uebervölkerong. — I. Absolute . . 650
§. 258. — 2. Relative 058
§. 250. — C. Die Uebervölkerungsfrage und das Vertheilungsproblem . . 001
§. 260. — I). Schlusssätze und Tostulate 003
Zweites Kapitel. Der Bedarf und das Vertheilungsproblem oder
die Einko mmenlchre vom Verthcilungsstandpuncte betrachtet 600
§. 261. [2. Aufl., S. 134—136.] Vorbemerkungen 660
1. Abschnitt. Verthcilung und Bedarf im Allgemeinen 060
§. 262. [94.] — I. Bedeutung der Einkommenvertheilung und Ziel der volks-
wirtschaftlichen Entwicklung 060
§. 263. — II. Begriff der Verthcilung. — A. Allgemeiner rein ökonomischer 660
§. 264. — B. Historisch- rechtlicher 671
§. 265. — III. Die methodischen Voraussetzungen einer principiellen Er-
örterung des Vertheilungsproblems 075
§. 266. — IV. Ziele der volkswirtschaftlichen Entwicklung für unsere
Culturporiode 070
§. 267. [95.] — V. Das Auskommen 681
§. 268. [06.] — VI. Bedürfnissstand und Classification der Bedürfnisse. . 682
a/. ax ca- a« ca. a/- ca- ca. c //„ ca. ca. ca. w ca- ecc ca- aa ca- ca.'
XII
Inhaltsübersicht.
Seite
2. Abschnitt. Regelung der Verth oilung 684
§. 269. — I. Volkswirthschaftliche Würdigung des Bedürfnissstands uud
demgemässc Forderungen für die Verthcilung des Volkseinkommens
im Allgemeinen 684
§. 270. Notwendige Rücksichten bezüglich einer Aendcruug der Vertheilung 680
§. 271. [97a.] — II. Forderungen in Betreff der Verthcilung in der Be-
ziehung zu Bedtlrfnissstand und Befriedigung der Bedürfnisse im
Besonderen. — A. Aufstellung des Rechts auf Existenz .... HSlJ
272. — B. Durchführung des Rechts auf Existenz. — 1. Schuldlose Er-
werbsunfähigkeit und Mittellosigkeit 094
273. — 2. Schuldloser Mangel an Erwerbsgelogenheit. Recht auf Arbeit.
Ausdehnung des Armeurechts 696
274. — 3. Selbstverschuldete Mittellosigkeit 699
275. — 4. Selbstverschuldeter Erwerbsmangel 702
276. — C. Principielle Bedeutung solchen Vorgehens 704
277. — III. Forderungen bezüglich der besseren materiellen Lebensweise
und der Theilnahme der Bevölkerung an Culturgütern 707
278. — A. Voraussetzungen für die Aufstellung und Durchführung
solcher Forderungen. — 1. Für die Möglichkeit. Bedingungen,
welche in den Bevölkerungs- und in den Productionsverhältnissen
liegen 709
279. Fortsetzung. Bedingungen, welche in den Vertheilungsverhältnissen
liegen 712
2S0. — 2. Voraussetzungen hinsichtlich der Notwendigkeit der Auf-
stellung und Durchführung solcher Forderungen 716
2b 1. Fortsetzung 719
282. — 3. Voraussetzungen für die Zulässigkeit und Räthlichkeit der Er-
füllung der Forderungen, welche dem 2. Hauptgrundsatz entsprechen 724
283. [104.] — a) Zusammenhang der Vertheilungsfrage mit der Höhe
des Volkseinkommens und Bedingtheit dieser Höhe und des Wachs-
thums der letzteren durch die auf Grund der bestehenden Rechts-
ordnung sich ergebende Ungleichheit der Vertheilung 725
. 284. [109 — 103, 104a.] — b) Abwägung collidirender Classcninterossen
und Zusammenhang zwischen Culturentwicklung und Vertheilung
des Volkseinkommens 730
. 2S5. [105—107.] — B. Spcciello Zielpuncte für die Gestaltung der Ein-
kommenverhältnisse 736
. 286. — C. Durchführung der aufgestellten Forderungen und Mittel und
Wege dafür. — 1. Principiellcs 741
. 287. — 2. Aenderung der Rechtsordnung und Organisation der Volks-
wirtschaft. — a) Socialpolitische Regelungen und Beschränkungen
im privatwirthschaftlichen (..freien“) Verkehr 743
. 288. — b) Maassregeln der socialen Finanz- und Steuerpolitik . . . 745
. 289. — c) Principielle Aenderungen der Organisation und Rechtsordnung 746
. 290. — IV. Schlussbemerkungen über die Regelung der Vertheilung . 748
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Inhaltsübersicht.
XIII
3. Abschnitt. A ndere Stau dpuncte dcrBctrachtung des Vertheiion gs-
problems, besonders im Communisinus und Socialismus . . .
§. 291. [108, 109] — I. Abreichende Standpuncte
§. 292. [109 ] — II. Abweisung eines Richtungsziels in der historisch-national-
ökonomischen Schule
§. 293. [109a.] — III. Standpunct des Communismus und Socialismus.
— A. Begriffliches. — 1. Communismus
§. 294. [109 b. 109 c.] — 2. Socialismus
§. 295. [109d.] Partieller Socialismus oder Staatssocialismus
§. 296. [109 c]. Standpunct des extremen ökonomischen Individualismus . .
Fünftes Buch.
Die Organisation der Volkswirtschaft
§. 297. [S. 196 — 200.] Vorbemerkungen Uber die Behandlung des (iegen-
stands und Literaturnachweis
§. 29S. Fortsetzung. Neuere Litteratur zur Kritik der Lehre von der Organi-
sation
Erstes Kapitel. Die verschiedenen Organisatio nsprincipien und
Wi rthschaftssysteme in der Volkswirtschaft
§ 299. [116.] — I. Die Volkswirthscbaft als natürlicher Organismus und
künstliche Organisation
§. 300. (1 16a.] — II. Die drei Organisationsprincipien in der Volkswirtschaft
§ 301. [116, 117 — 119.] — III. Verbindung der drei Wirtschaftssysteme
und Wechsel darin. — A. Unzulänglichkeit des einzelnen Systems
§ 302. [120.] — B. Wechselnde Combination
Zweites Kapitel. Das privatwirthschaftlic he System
§. 303. [S. 21 2 ff] Vorbemerkungen
1. Abschnitt. Das privatwirthschaftlich e System und seine Ver-
kchrsrcchtsbasis im Allgemeinen
§. 304. [121, 122.] — I. Die Privatwirtschaften
§. 305. [123]. — II. Die Rechtsbasis im privatwirthschaftlicheu System.
— A. Ihre Bedeutung
§. 306. [124.] — B. Die einzelnen Rechtsnormen
§. 307. [125.] — C. Die Verkehrsrechtsbasis des privatwirthschaftlichen
Systems in den modernen Volkswirtschaften
2. Abschnitt. Das moderno privat wirtschaftliche System der freien
Concurrcnz
§. 309. [S. 223.] Vorbemerkungen und Litteratur
§. 309. [126.] — I. Das Wesen der modernen freien Concurrenz . . . .
§. 310. [127.] — II. Die günstigen Folgen der freien Concurrenz . . .
§. 311. [127.] — III. Kritik der optimistischen Beweisführung
§. 312. [129.] — A. Insbesondere die behauptete Naturgcmässhcit des Systems
§. 313. [129.] — B. Falsche Folgerungen
§. 314. [130.] — C. Unhaltbarkeit
§. 315. [131, 133.] — D. Die moralischen Factoren neben dem Selbstinteressc
§. 316. [S. 240 ] — IV. Näherer Nachweis der Nachtheile. — A. Aus-
gangspunctc
$. 317. [134.] — B. Die hervortreteuden Ucbelstände
Seit«*
749
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XIV
Inhaltsübersicht.
Seite
§. 318. [135.] — 1. Der Sieg der begabteren Elemente 814
§. 319. Fortsetzung 817
§. 320. [13(1.] — 2. Der Sieg der gewissenloseren Elemente 819
§. 321. [137.] — 3. Der Sieg des Grossbetriebs über den Kleinbetrieb . . 820
§. 322. Fortsetzung 824
§. 323. [138.J — V. Schlussergebniss 826
Drittes Kapitel. Das gemein wirtschaftliche System 827
Erster Hauptabschnitt. Die Geincinbodürfnissc und die Fürsorge
für ihre Befriedigung S27
§. 324. [S. 151.] Vorbemerkungen und Litteratur 827
1. Abschnitt. Die Gemeinbedürfnissc 828
§. 325. [139.] — I. Individual- und Gemeinbedürfnisse 828
§. 32C. [139.] — II. Arten der Gemeinbedürfnisse S31
§ 327. [140.J — A. Das Gemeinbedürfniss der Rechtsordnung .... 832
§. 328. [141, 142.J — B. Die speciellen Gemeinbedürfnisse. — 1. Die räum-
lichen (örtlichen) 833
§. 329. [143.] — 2. Die zeitlichen 835
§. 330. [144.] — 3. Gesellschaftliche oder Classen - (Gruppen -) Gemeinbe-
dürfnisse 836
331. [144,145.] — III. Fürsorge für die Befriedigung der Gemeinbedürfnisse S38
2. Abschnitt. Pr ivatwirth sch aftli che Fürsorge für Gemo in bed ürfnisse 83S
§. 332. [S. 260.] Vorbemerkungen 838
§. 383. [145.] — I. Zulässigkeit und Gebiet dieser Fürsorge durch eigene
Privatwirtschaften 839
§. 334. [146]. — II. Beschränkte Anwendbarkeit und Bedenken .... 840
§. 335. — III. Befolgung des privatwirthschaftlichen Princips durch Gemein-
wirthschaften und caritative Wirtschaften 842
3. Abschnitt. Fürsorge für Gemeinbedürfnisse durch das caritative
System und Function desselben überhaupt 844
§. 336. [S. 164]. Vorbemerkungen 844
§. 337. [147.] — I. Zulässigkeit und Gebiet dieser Fürsorge 845
§. 33S. [148.] — II. Berechtigung und Notwendigkeit 847
§. 339. [149]. — III. Notwendige Beschränktheit 848
Zweiter Hauptabschnitt. Das Gebiet und die Function des ge m ein-
wir thschaftlichen Systems 849
1. Abschnitt. Das gemein wirthschaftliche System im Allgemeinen.
Insbesondere die freien Gemeinwirthschaftcn 849
§. 340 [S. 269.] Vorbemerkungen 849
§. 341. [150.J — I. Aufgabe des Systems 851
§. 342. [151.] — II. Die freien Gemeinwirthschaften. — A. Wesen . . . 852
§. 343. [152 ] — B. Gebiet 854
$$. 344. [153.] — C. Juristische Formen 855
2. Abschnitt. Die Z w a ngsgem ein wirthschaften 856
§. 345. [S. 276.] Vorbemerkungen 856
§. 346. [154.] — I. Wesen 858
§. 347. [155.] — II. Arten 859
§. 348. [156, 157.] — III. Begründung des Zwangsmoments 860
Inhaltsübersicht.
XV
Seite
§. 349. [158.] — IV. Folgerungen für die Kostendeckung. Besteuerung . 863
§. 350. [159.] — V. Berechtigung des Zwangs für einzelne Zwecke . . . 866
§. 351. [160.] — VI. Postulate für Zwaugsgemein Wirtschaften und für An-
wendung des Zwangs S07
Sechstes Buch.
Der Staat, volkswirtschaftlich betrachtet 870
§. 352. [S. 288.J Vorbemerkungen und Litteratur S70
§. 353. [S. 292.] Fortsetzung 875
Erstes Kapitel. Der Staat iin Allgemeinen 877
§. 354. [161.] — I. Der Staat als volkswirtschaftliche Kategorie. . . . 877
§. 355. [162.J — II. Zwecke und Leistungen des Staats. — A. Form der
Arbeitsteilung 879
§. 356. [163.] — B. Axiome der Staats- und Finanzpolitik 8S0
§. 357. [164.] — C. Allgemeine Schlüsse bez. der Staatszwecke und Leistungen SS3
Zweites Kapitel. Zwecke und Leistungen des Staats und Durch-
führungsmittel dafür. Fiu anzwirthschaft S85
§. 358. [165.] — I. Die beiden organischen Staatszwecke 885
§. 359. [166, 167.] — A. Der Hechts- und Machtzweck 885
§. 360. [168, 169.] — B. Der Cultur- und Wohlfahrtszweck 5S7
§. 361. [170.] — II. Die Durchführung der Staatsthätigkeit 890
Drittes Kapitel. Das Gesetz der wachsenden Ausdehnung der
öffentlichen, bez. der Staatsthätigkeitcn 892
§. 362. [S. 308.] Vorbemerkungen 892
§. 363. [171.] — I. Allgemeine Wahrnehmung der Ausdehnung .... 893
§. 364. [172 ] — II. Gebiet des Hechts- und Machtzwecks. — A. Ersetzung
anderer Thätigkeiten durch staatliche S96
§. 365. [173.J — B. Vermehrte Thätigkeit wegen neuer Bedürfnisse. . . 897
§. 366. [174.] — C. Grösserer Staatsbedarf als Wirkung und Beleg . . . 900
§. 367. [175.] — III. Gebiet des Cultur- und Wohlfabrtszwccks. — A. Im
Allgemeinen 900
368. [176.] — B. Speciellc Gebiete. — 1. Sachgüterproductiou . . . 902
§. 369. [177.] — 2. Andere Culturgcbiete 904
§. 370. [178.] — IV. Zeitweilige Stabilität in der Entwicklung der öffent-
lichen Thätigkeiten. Finanzielle Hemmungen 906
Viertes Kapitel. Das Gesetz des Vorwal tensdesPr&vontivprincips
im entwickelten Rechts- und Culturstaate 903
§. 371. [S. 325.] Vorbemerkungen 903
§. 372. [179.] — L Veränderung in der Art derDurchführung derStaatszwecke 909
§. 373. [ISO.] — II. Prävention und Repression. — A. Im Allgemeinen . 909
§. 374. [181.] — B. Das Präventivprincip auf den einzelnen Gebieten . . 911
§. 375. [182, 183.] III. Einfluss auf Staatsdienst und Finanzbedarf . . . 912
Fünftes Kapitel. Die Feststellung des Bereichs der Staatsthätigkeit 913
§. 376. [S. 332.] Vorbemerkungen 915
§. 377. [184.] — I. Bedingungen und Regeln hierfür 915
§. 378. [185.] — 1. Zeitliche Nachhaltigkeit und räumliche Ausdehnung
der Productionsthätigkeit 917
XVI
Inhaltsübersicht.
Seite
ij. 37 9. [186.] — 2. Ausschliessliclikeit und Einheitlichkeit der Thätigkeit 919
§. 380. [187. J — 3. Gemeinsamkeit der Consumtion 919
3S1. [188.] — II. Lösung weiterer Schwierigkeiten in der Bestimmung
der Staatsthätigkeiten 920
§. 382. [189.] — III. Einfluss des Beamtenthums für die Feststellung des
Staatsbereichs 921
§. 383. [190.] — IV. Die specieilen Aufgaben des Staats als Untersuchungs-
gegenstand der systematischen Volkswirtschaftslehre 923
Autoren -Verzeichntes 925
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*4
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Viertes Buch.
Bevölkerung und Volks wirthsehaft.
§. 191. Vorbemerkungen.
Die folgenden Erörterungen Uber die Bevölkerungsfrage, genauer gesagt, weil das
allein hieher gehört, über die volkswirtschaftliche Seite dieser Frage einleitungs-
weise in diesen Vorbemerkungen und in der Litteraturübersicht (5$. 191 — 197) und so-
dann statistisch und systematisch-dogmatisch im ersten Kapitel dieses vierten Buchs sind
im Wesentlichen in dieser 3. Auflage der „Grundlegung" neu hinzugekommen. Als ich
die 1. Auflage der letzteren zunächst noch im Anschluss an Kau bearbeitete, fasste
ich in Uebereinstimmung mit diesem die Bevölkerungslehre als solche nicht als
Theil der Politischen Oekonomie auf. Rau hatte ihr, im Unterschied von Roscher,
keine umfassende principielle Erörterung gewidmet und ihr auch keine selbständige
* Stellung in seinem System gegeben. Er behandelte sie nur im Zusammenhang mit
anderen wirthschaftsthcoretischen und wirthschaftspolitischcn Fragen (s. u.). Ich wollte
damals ähnlich wie Rau verfahreu und der Bevölkerungslehre auch in der Neubear-
beitung des Rauschen Werks, welche ich ursprünglich plante, ebenfalls keine selb-
ständige Stellung geben. Wohl aber hielt ich die Rau sehe Behandlungswcisc doch
schon für nicht mehr ausreichend und gedachte die Lehre in ihrer Bedeutung für
die Entwicklung des Productivfactors Arbeit und für Vertheilung des Volkseinkommens,
besonders für den Arbeitslohn, principieller, als Rau es gethan, zu würdigen (vgl. die
Vorrede zur 1. Aufl. meiner Grundlegung, 1876, S. XII). Das hatte nach meiner
damaligen Auffassung aber nur theilweise in der Grundlegung selbst, im Uebrigen
mehr erst in dem damals beabsichtigten 2. Theile der ..allgemeinen oder theoretischen
Volkswirtschaftslehre“ (der „allgemeinen Volkswirtschaftslehre des privatwirthschaft-
lichen Systems", s. obige Vorrede S. XIII) zu geschehen. In der Grundlegung selbst,
auch noch in der 2. Aufl., bin ich daher auch nur nebenbei auf die Bevölkerungs-
frage, die Malthus’sche Lehre u. s. w. eingegangen, allerdings bereits in scharf prin-
cipieller Weise, durchaus den Kern der Malthus’schen Lehre vertretend (s. 1. Aufl.
§. 97, bes. S. 123 und Note 13 daselbst, mehr noch in der 2. Aufl. §. 97 a. bes.
S. 145 und Note 14). In den Erörterungen über die „socialen Freiheitsrechte“, Ehe-
schliessungsrecht, Ein- und Auswanderung, Zugrecht wurden dann Consequenzen aus
jener principiellcn Auffassung gezogen und verschiedene Seiten der Bevölkerungsfrage
eingehend theoretisch und verwaltungspolitisch behandelt (1. und 2. Aufl., in letzterer
noch genauer und schärfer, bes. §. 225 ff., 230 ff., 236 ff., 247 ü., s. auch 2. Aufl.
S. 477 ff.). Meine Stellung zu Malthus und seiner Lehre tritt hier wohl überall bereits
deutlich hervor, wie das auch von anderer Seite anerkannt worden ist (s. Elster’s
u. gen. Aufs, im Handwörterb. d. Staatswiss. II, 517).
Allein ich habe mich allmälig davon überzeugt, dass diese doch nur mehr neben-
sächliche Behandlung des Bevölkerungsproblems nicht genügt: dass es auch nicht aus-
reicht, in der vielfach bei den Theoretikern und Systematikern des Fachs (so in Eng-
land bis heute) üblichen Weise über diese Frage nur bei dem Factor Arbeit, in der
Lehre von der Production (supply of labour) und etwa in der Lehre vom Arbeitslohn
im Abschnitt von der Vertheilung zu handeln; dass dieser Bevölkerungslehre auch
nicht, wie G. Schmoller einmal richtig bemerkt, eine „Verlegcnheitsstelle", z. B. am
Schluss des theoretischen Theils, wie in Roschers Band I (Buch 6), gegeben werden
A. Wagnor, Grundlegung. 3. Auflago. 1. Theil. Grundlagen. 29
446 4. B. Bevölkerung u. Volks wirthscb. Vorbemerkungen. §. 191, 192.
darf, sondern sie durchaus in den Vordergrund zu schieben ist und sie zu einem
Grundpfeiler der Wissenschaft der Politischen Ockonomio gemacht werden muss, daher
auch schon in den „grundlegenden“ Theil gehört. Auch Roscher sagt übrigens in
einer Vorrede zu seinen neueren Auflagen seines 1. Theils, dass er nur ans äusseren
Gründen an seiner früheren Reihenfolge der Gegenstände festhalto und wenn er jetzt
noch die 1. Auflage (statt der 20sten, welche stolze Zahl sein 1. Band erreicht hat)
zu veranstalten hätte, den grössten Theil der Bevölkerungslehre vor der Productions-
lehre abhandeln würde, „um die Subjecte jeder wirthschaftlichcn Thätigkeit vor die
Objecte zu stellen“ (s. „aus den Vorreden zur 2. — 19. Auflage“, in der 20. Auf!.,
1892, S. XI).
Es sind nun freilich nicht solche, doch nur mehr formelle Gründe, als vielmehr
principielle Auffassungen, welche mich bestimmen, die Bevölkerungslehre hier in die
„Grundlegung“ hinein zu ziehen und sie grade an dieser Stelle, zwischen dem voraus-
gehenden 3. Buche und dem 2. Kapitel dieses 4. Buchs, welches den Bedarf und die
Einkommenlehrc vom Vertheilungsstandpunct aus behandelt, zu setzen.
Allerdings halte ich auch jetzt noch Rau’s und meine frühere Ansicht aufrecht,
dass die Bevölkerungslehre nicht kurzweg eine politisch - ökonomische Lehre ist und
daher schon an sich einen Theil im System der Wissenschaft der Politischen Oekonomie
bilde. Sie ist mehr als das und auch in gewissem Sinne eine eigene selbständige
Gesellschaftswissenschaft neben der Politischen Oekonomie. Diese Auffassung vertritt
auch Rüinelin (Schönberg’s Handbuch I, 3. A„ S. 724), dem ich darin beistimme,
wenn er sagt, „die Bevölkerungslehre ist kein Zweig oder Bestaudtheil der Volks-
wirthschaftslehre, sondern ein ihr coordinirtes Glied der Gesellschaftswissenschaften,
das nur im Verhältniss einer innigen wechselseitigen Einwirkung, eines unentbehr-
lichen Hilfswissens zu ihr steht. Aber sie greift zugleich auch über die wirthschaft-
lichcn Fragen nach allen Richtungen hinaus; sie berührt ebenso auch physiologische,
anthropologische, politische, historische Probleme “ Rümelin möchte an eine
grundlegende und einleitende allgemeine Gesellschaftslehre als erste der Zweiglehren
die Bevölkerungslehre, als zweite die Volkswirtschaftslehre anschliessen. Er zieht
daher auch den mir richtig scheinenden Schluss, dass diese Lehre im System der
Politischen Oekonomie nicht ein den übrigen Abschnitten gleichartiger und coordinirter
Bestandteil sei. Nur solche Thatsachen und Regelmässigkeiten aus dieser Lehre
gehörten in die Politische Oekonomie, welche von den Gesichtspuncten der letzteren
aus bedeutsam und eingreifend erschienen (eb. S. 724).
Dieser von mir in der Hauptsache geteilten Auffassung gemäss ziehe auch ich bei
Weitem nicht die ganze Bevölkerungslehre jetzt hierher, sondern nur die eigentlich
volkswirtschaftlichen Seiten derselben. Deren sind zwei, die eine, welche
mit dem volkswirtschaftlichen Productionsproblem, daher mit dem menschlichen
Arbeitsfactor, vor Allem nach dessen quantitativer, aber auch nach dessen
qualitativer Seite, zusammenhängt, weil in einer Hauptbeziehung die Menge und
theilweise auch die Art der Arbeit und weiter die Höhe der Production, demnach
die Grösse des Volkseinkommens und Volksvermögens, mithin auch des „Dividendus“
für die Verteilung von den Bevölkerungsverhältnissen, Zahl, Zusammensetzung. Eigen-
schaften (Geschlecht, Alter u. s. w.) der Bevölkerung bedingt ist; die zweite Seite
sodann, welche in ähnlicher Weise mit dem Vertheilungsproblem zusammen-
hängt, weil wiederum in einer Hauptbeziehung, und in dieser Hinsicht unabhängig
von der Organisation und Rechtsordnung der Volkswirtschaft, von den Besitzvcrhält-
nissen u. s. w., die Bevölkerungsgrössc für die individuelle Einkommen- und Ver-
mögcnsvertheilung eine entscheidende Bedeutung hat. der „Divisor“ ist, von dessen
Grösse bei gegebener Productivität der nationalen Arbeit und gegebener Grösse von
Volkseinkommen und Volksvermögen unvermeidlich schliesslich die „Quotienten“ als
relative wie als absolute Grössen abhängen, welche den Einzelnen, den Familien als
Einzeleinkommen und Vermögen überhaupt zufallen können. Für diese beiden Grund-
probleme der Social -Oekonomie (§. 5, S. 21) ist daher die Bevölkerungslehre von
entscheidender Bedeutung, indem sie zeigt, wie die Zahl, die Veränderung der Zahl,
die Zusammensetzung der Bevölkerung aus verschiedenartigen Individuen, besonders,
aber nicht allein, nach Geschlecht und Alter, die Veränderung in dieser Zusammen-
setzung auf wirtschaftliche Veihältnisse . auf Production und Verteilung einwirken
und umgekehrt durch solche Verhältnisse selbst beeinflusst werden, ja wie Production
und Verteilung in ihrer Gestaltung und Entwicklung mehr oder weniger auf der
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Bevölkerungslehre u. Socialismus.
447
Gestaltung und Entwicklung der Bevölkerungsverhältnisso und umgekehrt diese, nach
dem hier obwaltenden Wechsel wirkuugs- und Wechselbedingungsverhältniss, wieder
auf der Gestaltung und Entwicklung der Production und Verkeilung beruhen.
Besonders wichtig ist hier dann die Untersuchung der Fragen, welche wirt-
schaftlichen Voraussetzungen und welche wirthscbaftlichen Folgen in
Bezug auf Prodnction und Verkeilung Veränderungen in Zahl und Zusammen-
setzung der Bevölkerung (besonders nach Altersclassen) haben. Grade diese Fragen
sind es, welche aus der Bevölkerungslehre und aus den Problemen, mit welchen sich
dieselbe beschäftigt, in die Politische Oekonomie und, wenigstens in principieller und
genereller Bebandlungsweise, schon in die „Grundlegung“ gehören. Nach dieser Auf-
fassung ist denn auch die sich an den Namen von R. Malthus knüpfende Lehre
und die ganze daraus hervorgegangene berühmte Controverse zwar nicht nur, aber
doch auch und in bevorzugtem Maasse grade eine socialökonomische Lehre, zu
welcher der Nationalökonom als solcher, nicht bloss, ja nach dieser wirt-
schaftlichen Seito der Fragen überhaupt nicht unmittelbar der Statistiker, Historiker,
Politiker Stellung zu nehmen hat.
Alle concrete historische Gestaltung von Production und Verkeilung in der
Volkswirtschaft wird nun allerdings wesentlich mit bedingt von der concreten Ge-
staltung der Organisation und der Rechtsordnung, namentlich der Rechts-
ordnung für „Freiheit und Eigenthum“, der Privateigenthumsordnung, auch in Bezug
auf die sachlichen Productionsmittel, Boden und Kapital, der Vertragsrechtsordnung;
wird mit bedingt von der unter dem Einfluss dieser Organisation und Rechtsordnung
sich vollziehenden historischen Gestaltung und Entwicklung der Besitz- und Erwerbs-
verhältnisse (Grundeigenthumsvertheilung!). Aber eben doch nur mit bedingt, nicht:
ausschliesslich bedingt. Vielmehr bildet die Bevölkerungsbewegung, die Ver-
änderung in Zahl und Zusammensetzung der Bevölkerung eben eine andere wesent-
liche Bedingung für die Gestaltung von Production und Verkeilung und einen
Factor, welcher insbesondere selbst wieder auf die Besitz- und Erwerbsverhältnisse
einen schliesslich beherrschenden Einfluss ausübt, einen Einfluss, welchem gegenüber
der Einfluss der concreten volkswirtschaftlichen Organisation und Rechtsordnung auf
jene Verhältnisse zurücktritt. „Schon eine mittlere eheliche Fruchtbarkeit von 3 bis
4 Kindern sprengt bei gleicher Gütertheilung (im Erbgang bäuerlichen Besitzes) in
alten Culturländcrn in 1U0 Jahren jede Agrarverfassung und kommt bei unhaltbaren
Zuständen an“ (Rümelin, Reden und Aufsätze, 1881, S. 591). Nur unter Berück-
sichtigung dieses mit Naturgewalt, förmlich mechanisch sich vollziehenden Einflusses
einer gegebenen (bezw. angenommenen) Bevölkerungsbewegung, welche selbst wieder
das Product wirtschaftlicher Verhältnisse, des Trieblebens und psychischer Factoren
ist, lässt sich daher das volkswirthschaftliche Productions- und Vertheilungsproblem
und lassen sich auch die Fragen von Bedarf, Auskommen und diejenigen der aus dem
Verthcilungsstandpuncte erörterten Einkommenlehre (Kapitel 2 dieses Buchs), sowie
die weiteren Fragen der volkswirthschaftlichen Organisation (Buch 5 und 6) und
Rechtsordnung (2. Theil der Grundlegung) richtig behandeln. Daher gehört die an-
gedeutete volkswirthschaftliche Seite der Bevölkerungslehre in der That in die Poli-
tische Oekonomie und auch schon in die Grundlegung und fiudet grade an dieser
Stelle, wo wir sie hier behandeln, ihren richtigen Platz.
§. 192. Fortsetzung. Die Bevölkerungslehre und der Socialismus.
Speciell in dieses Buch, welches nach principieller Behandlung der wirthschaft-
lichen Fragen strebt und eine seiner Aufgaben in principieller Auseinandersetzung
mit dem Socialismus sieht, gehören jene beiden Seiten der Bevölkerungslehre,
namentlich die zweite, hinsichtlich der Beziehung zwischen Bevölkerungsbewegung
und Verkeilung, auch noch aus einem besonderen Grunde. Der wissenschaftliche
Socialismus glaubt in seinen Hauptvertretern, mit seltenen Ausnahmen (§. 193, 196),
grade in der Bevölkerungslehre einen Standpunct einnebmen zu sollen, von welchem
aus die Malthus'sche, im Kern von der wissenschaftlichen Nationalökonomie, — in
der Sprechweise der Socialisten: von der „vulgären Bourgeois-Oekonomie“ — gebilligte
Auffassung (§. 195) scharf abgelebnt wird. Die Thatsachen, auf welche sich die
„Malthusianer“ stützen, können zwar nicht ganz geleugnet werden, aber sie werden
anders ausgelegt. Sie sollen das Product nicht von physischen und psychischen Fac-
toren sein, welche, wenn auch individuell und nach Völkern, Zeitaltern, Klassen ver-
schieden, doch im Ganzen dem Menschen als solchem eigenthümlich sind, zu seiuer
29*
448 4. B. Bevölkerung u. Volkswirthsch. Vorbemerkungen. §. 192, 193.
Naturausstattung gehören, sondern das Product von Factoren, welche nur unter unserer
gegebenen geschichtlichen Gestaltung der Besitz- und Erwerbsverhältnisse, nur bei
unserer Rechtsordnung für die sachlichen Productionsmittel und unserer volkswirt-
schaftlichen Organisation so wirken, wie es die Erscheinungen in der Bevölkerung bei
uns zeigen. In der Maltbus'schen Lehre hätte man es danach nur mit einer histo-
rischen Kategorie von Erscheinungen im Menschenleben zu thun (Marx’ Standpunct.
s. sein Kapital 1. A. I, 618, vgl. u. §. 196). Nicht das Bevölkerungsproblem biete
Schwierigkeiten für die wirtschaftliche und weiterhin physische, geistige, sittliche
Hebung des Volks, auch der Massen, sondern dies Problem sei überhaupt gar keines
oder löse sich wenigstens einfach, sobald die socialistische wirtschaftliche Rechts-
ordnung für die sachlichen Productionsmittel — Beseitigung des Privateigenthums
daran , des „Monopols“ der Grund- und Kapitalbesitzer, der ausschliesslichen Inhaber
der Arbeitsinstrumente und Arbeitsmittel — und die socialistische wirtschaftliche
Organisation für Production und Veitheilung angenommen und durchgefübrt werde.
Nur auf dem Boden unserer heutigen Rechtsordnung und Organisatiousform biete eine
„zu rasche“ oder überhaupt eine grosse Volkszunahme Bedenken und sei dieselbe
auch nur zu fürchten. In der socialistischen Ordnung und Organisation werde sie
gar nicht eintreten oder nur wohltätig wirken. „Proletariat“ sei eine Folge unserer
Rechts- und Wirthschaftsverhältnissc, nicht eine Gefahr, welche das in der Bevölkerungs-
bewegung mitspielende Triebleben schon an sich überall und immer mit sich führe.
Diese durchaus optimistische Auffassung halte ich für die zweite grosse
Irrlehre des Socialismus, neben der früher besprochenen psychologischen hin-
sichtlich der Motive des wirthschaftlichcn Handelns (Buch 1 , besonders §. 30 ff.),
von welcher sie freilich in einer Hinsicht nur eine Consequenz ist. Der Kern von
Malthus’ Theorie — und nur um diesen Kern handelt es sich, nicht um die
mehrfach angreifbare Begründung in allen Einzelheiten, noch vollends um die Fassung
(geometrische, arithmetische Reihe, s. u. §. 194) — steht und fällt mit der heutigen
„kapitalistischen Productionsweise“ durchaus nicht (gegen K. Marx, Kapital I.
bes. Kap. 6). Im Gegentheil, wie die psychologische Seite in Bezug auf die Motivation
im wirthschaftlichcn Thun und Lassen der Individuen, wie in Verbindung vor Allem
hiermit, schon die ökonomisch - technischen Schwierigkeiten der „Organisation der
Arbeit“, so würde grade in einer socialistisch organisirten Volkswirtschaft mit
höchster psychologischer Wahrscheinlichkeit und nach dem Schluss aus allem, was
wir von den die Bevölkerungsbewegung bestimmenden Factoren wissen, eine andre,
kaum geringere Schwierigkeit in der Notwendigkeit der gesetzlichen Bevöl-
kerungsregelung bestehen, mehr wie in jedem anderen Volkswirthschaftssystem, —
cs müsste denn eben selbst die physisch-sinnliche und die geistig-sittliche Natur des
Menschen in der „neuen Gesellschaft“ eine nicht nur gradweise verschiedene, sondern
specifisch-wesensandere werden: die socialistischen ütopieen, von denen im 1. Buche
genügend gehandelt worden ist.
§. 193. Fortsetzung. Nothwendige Behandlungsweise der Lehre
in der Politischen Oekonomie. Die Behandlung der „volkswirtschaftlichen“
Bevölkerungslehre muss gegenüber der bisher in den nationalökonomischen Werken
üblichen und in einem ersten wichtigen Puncte auch gegenüber Malthus allerdings
einige nicht unwichtige Veränderungen erfahren, womit gleichzeitig beliebten Ein-
wänden von gewissen Gegnern, so den freihändlerischen Optimisten, entgegen ge-
treten wird.
Einmal muss die Erweiterung eines einzelnen, mehr oder weniger abgeschlossenen
Volkswirthschaftsgebiets zu einem Theile des Weltwirthschaftsgcbiets mehr
berücksichtigt werden, neueren tatsächlichen fortschreitenden Entwicklungen gemäss.
Der internationale Waarenaustausch, der Bezug von Landesproducten, auch Nahrungs-
mitteln, voran Brotkorn, aus der Fremdo, die Bezahlung derselben mit Producten
feinerer heimischer Arbeit (Fabrikaten), die nicht nur interlocalen, sondern auch die
internationalen Wanderungen, insbesondere die Massenauswanderung aus alten Cultur-
ländern in neue, noch schwach bevölkerte, zum Tkeil erst noch neu zu besiedelnde
und zu urbarende mit jungfräulichem guten Boden, — das sind nicht nur wichtige
Thatsachen im practischcu Leben, sondern auch solche, deren Voraussetzungen und
Folgen die volkswirtschaftliche Bevölkerungstheorie mehr Beachtung schenken muss,
als dies namentlich im älteren Malthusianismus und auch von Malthus selbst geschieht,
obwohl auch dieser schon diese Seiten mehr gewürdigt hat, als ihm Gegner wohl
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Bcvölkcrungslohre in d. Polit. Oekonomie.
449
nachsagen. Bei der unbefangenen Untersuchung dieser Seiten des Problems wird
man aber nicht zu einer „Widerlegung“ von Malthus, sondern zu einer bloss vor-
sichtigeren und bedingteren Fassung seiner Sätze gelangen. Im Uebrigen wird grade
der Kern seiner Lehre nur bestätigt werden. Insbesondere wird sich ergeben, dass
die wirtschaftlichen Voraussetzungen einer immer stärkeren Bevölkerungsvermehrung
und Volksdichtigkeit, bei starkem Bezug von Agrarproducten, Nahrungsmitteln aus dem
Auslande und Fabrikatcnausfuhr zur Bezahlung, schwierig zu erfüllen und von einer
Reihe Factoren abhängig sind, von denen jeder selbst wieder eigenthümliche Voraus-
setzungen und Folgen hat; dass ebendeshalb auch dio Folgen einer an solche Voraus-
setzungen gebundenen, vermeintlich „unbedenklichen“, oder selbst durchaus er-
wünschten Volkszunahme ernste Bedenken genug bieten. Nur die Unhaltbarkcit der
Malthus’schen wie jeder sonstigen „mathematischen“ Fassung (z. B. auch der Que-
telet’schen, s. u. §. 197) des sogen. Bevölkerungsgesetzes, der Wachsthumstendenzen,
bezw. gar der Wachsthumsfähigkeiten der Bevölkerung einer-, der Unterhalts-, nament-
lich auch der Nahrungsmittel andrerseits wird sich bei der Erhebung des volkswirt-
schaftlichen Bevölkerungsproblems zu einem weltwirtschaftlichen noch schärfer heraus-
stellen. Indessen ist diese Unhaltbarkeit auch von Malthus' meisten Anhängern schon
längst eingeräumt worden, ohne dass man den Schluss von Gegnern, wie Carey
u. a. m. (8. u. §. 196), hätte zuzugeben brauchen, dass das Fallenlassen oder die —
übrigens auch nicht strict mögliche — tatsächliche „Widerlegung“ der bekannten Mal-
thus’schen Formel von der Zuwachstendenz der Bevölkerung in geometrischer, der
Nahiungsmittel, bezw. der Zuwachsmöglichkeit der letzteren nur in arithmetrischer
Progression ein Preisgeben der Malthus’schen Lehre in ihrem Kerne selbst sei.
Sodann muss m. E. die Beweisführung in der Frage mehr und tiefer und vor
Allem vielseitiger als es von Malthus und auch seinen besten und wissenschaftlichsten
Anhängern in der Regel geschehen ist, die in Betracht kommenden psychologi-
schen Momente, welche auch liier überall mitspielen, berücksichtigen und auf sie
Bezug nehmen. Die das menschliche Triebleben bestimmenden Factoren sind auch
hier, ebenso wie auf dem ganzen Wirtschaftsgebiete, verwickelter, mannigfaltiger,
differenziren sich individuell nach Classen, Berufen, Völkern, Zeitaltern mehr, als
häufig in der Beweisführung angenommen worden ist. Aus dem Geschlechtstrieb kann
hier so wenig allgemein und sicher immer deducirt werden, wie aus dem Trieb des
Selbstinteresses in wirtschaftlichen Dingen. Manche Einwände und Gesichtspuncte
der Gegner enthalten hier Beachtenswertes. Die Ausführungen im 1. Boche über
die wirtschaftliche Natur des Menschen sind hier wieder mehrfach in Bezug zu
nehmen. Freilich aber trifft auch wieder ein Ergebniss jener obigen Analyse der
Motive zu : wie trotz aller individuellen DifFerenzirung der Motivation im Wirtschafts-
leben der Grundtrieb des wirtschaftlichen Selbstinteresses, wenn auch selbst in
verschiedener Stärke, DifFerenzirung, Combination mit und Abschwächung, hie und da
selbst Aufhebung durch andere Motive ein im Ganzen beherrschender bleibt,
so nicht minder auf diesem Gebiete des Bevölkerungswesens, trotz ähnlicher Com-
binationen und Kreuzungen mit anderen Motiven, der Geschlechts trieb. Das
sollten wiederum radicale Gcsellschafts- und Wirthschaftsreformatoren wie die Socia-
listen am Wenigsten vergessen. Denn cs folgt aus diesen Verhältnissen mit Not-
wendigkeit. dass alle socialen und wirtschaftlichen Einrichtungen, welche direct und
indirect durch psychische Medien hindurch auf Verminderung des Verantwortlich-
keitsgefühls für Kindererzeugung hinwirken und alles zu thun suchen, um die öko-
nomischen repressiven Hemmnisse der Volksvermehrung zu beseitigen, grade das
B e völke r u n gsp robl era zu einem immer schwierigeren für die Gesell-
schaft machen: so doch sicherlich wiederum nach höchster psychologischer Wahr-
scheinlichkeit in einer socialistischcn Wirtschaftsorganisation.
Endlich muss das Bevölkerungsproblem in der Beweisführung und ganzen Be-
handlung in der Politischen Oekonomie mehr als wie gewöhnlich geschieht hier als
ein wesentlich nationalökonomisches aufgefasst werden, nicht als ein statisti-
sches, psychologisches, anthropologisches, ethisches, culturhistorisches, allgemein
historisches u. s. w. Wohl sind einzelne Argumente nur und andre am Besten aus
der Bevölkerungsstatistik zu entnehmen, aber Bevölkerungsstatistik und volkswirtschaft-
liche Bevölkerungslehre decken sich nicht (s. u. §. 197). Jene umfasst ein viel wei-
teres Gebiet, hat mit manchen speciellon Erscheinungen und Problemen (z. B. in der
mathematischen Behandlung des Bevölkerungswechsels, in der Ableitung der mittleren
A
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450 4. 3. Bevölkerung u. Volkswirthseh. Vorbemerkungen. §. 193, 194.
Lebensdauer, der Absterbeordnung und der Feststellung der Methoden dafür) zu thun,
welche nicht in die Politische Oekonomie hineinzuziehen oder in Betreff deren hier
höchstens Act von den Ergebnissen der Statistik zu nehmen ist. Auch auf ein-
zelnes Physiologische, Anthropologische, Ethische. Culturhistorische, allgemein (auch
politisch) Historische ist da und dort in der volkswirtschaftlichen Bevölkerungslehre
Bezug zu nehmen, zur Beweisführung und Erläuterung. Aber die Summe der popu-
lationistischen Thatsachen dieser Art gehört wieder nicht in die Politische Oeko-
nomie, daher z. B. die concrote Bevölkerungsgeschichte einzelner Länder, Zeitalter,
wie etwa in den schönen Aufsätzen von v. Inama-Sternegg und Ed. Meyer
über mittelalterliche und antike Bevölkerung im Handwörterbuch der Staatswissen-
schaften nicht und ebensowenig die Fülle culturhistorischer Anecdotik über Bevöl-
kerungsverhältnisse und Erscheinungen in Roscher’s darin so reichhaltigem 6. Buche
in seinem B. I. Auch hier ist — zugleich gemäss unserem oben dargelegten und be-
gründeten methodologischen Standpuncte (§. 65 ff.) — eben Statistik, Geschichte,
Cnlturgeschichte von Erscheinungen und Verhältnissen, welche auch eine volkswirt-
schaftliche Seite haben, nicht das. was als solches in die nationalökonomi-
sche Betrachtung dieser Erscheinungen und Verhältnisse gehört.
Ja, diese Betrachtung leidet sichtbar in einer Darstellung, welche die Samm-
lung und Vorführung des statistischen, des geschichtlichen Materials über Bevölkerungs-
verhältnisse und etwa die Aufsuchung von Regelmässigkeiten in den bezüglichen Er-
scheinungen mit zur Aufgabe von national ökonomischen Werken machte. Die
eigentliche Aufgabe, grade nur die wirtschaftlich en Voraussetzungen und Folgen
von bestimmten Erscheinungen in der Bevölkerung (Zunahme. Abnahme, Stillstand,
rasche, langsame Zunahme durch Geburtsüberschuss, Altersclassenvertheilung , Ein-
und Auswanderung u. s. w.) genauer zu erforschen, zu analysiren, daraus Schlüsse
für das Bedenkliche, Erfreuliche, Wünschenswerthe, zu Vermeidende einer bestimmten
Gestaltung und Entwicklung (nach der Aufgabe Nr. 4 u. 5 in §. 62, 63) zuziehen, und
soeben die Erkenntniss der volkswirthschaftlich en Seite der Bevölkerungsfrage,
einer Schrift über Politische Oekonomie gemäss, soweit als möglich zu fördern. —
grade diese eigentliche Aufgabe kommt dabei zu kurz, wie selbst das sonst so
reichhaltige und vortreffliche sechste Buch Roscher’6 bestätigen möchte. Die Fülle
litterarhistorischer und culturhistorischer Notizen, die treffliche Characteristik der Be-
völkerungserscheinungen in verschiedenen wirtschaftlichen Zeitaltern und die histo-
rische Uebersicht der verschiedenartigen vorgekommenen Maassregeln der Bevölkerungs-
politik bieten eben doch noch nicht eine eingehende principie Ile Untersuchung der
wirtschaftlichen Voraussetzungen und Folgen einer grossen Volksdichtigkeit,
einer relativen Uebervölkerung, des Angewieseuseins auf immer stärkeren Import von
Agrarproducten und Export von Fabrikaten, insbesondere, worum es sich doch vor-
nemlich handelt, unter den gegebenen Verhältnissen der modernen Culturwelt. Unter
den neueren Theoretikern ist es vornemlich Rümelin, welcher in seinen zwar nur
skizzenhaften, aber doch hinlänglich die entscheidenden Puncte würdigenden, scharfen
und geistvollen hierhergehörigen Aufsätzen grade dieser wirtschaftlichen Seite
der Bevölkerungsfrage gerecht wird (s. u. §. 195). Auch die Nationalökonomen be-
handeln meistens zu ausschliesslich die statistische Seite der Fragen, liefern nichts
beweisende statistische Untersuchungen über thatsächlichc Zuwachsraten der Bevölke-
rung und der Production und erörtern die Fragen der positiven Bevölkerungspolitik als
solche der Verwaltungspolitik, lauter mit der wirtschaftlichen Seite des Problems zu-
sammenhängende, aber doch nicht diese Seite erschöpfende, geschweige sie allein
bildende Puncte. Im folgenden ersten Kapitel liegt ein Versuch vor, gerade jene
Seite der Frage, die w irthscli aftli ch en Voraussetzungen und Folgen verschieden-
artiger Bevölkerungs-, Volksdichtigkeits- und Wachsthnmsverhältnisse der Bevölkerung
zum eigentlichen Untersuchur.gsgegenstand nach den Gesichtspnncten der Politischen
Oekonomie zu machen ; ein Versuch, für welchen die angedeuteten Gesichtspuncte
wenigstens die leitenden waren. Für diesen Versuch sind aber allerdings eingehende
statistische Untersuchungen im 1. Abscli. des 1. Kap. vorausgeschickt worden, dieselben
aber möglichst so geführt, wie es die „ wirtschaftliche Bevölkerungslehre“ verlangt.
Erst eine derartige bezügliche Arbeit liefert dann auch das Fundament für
alle weiteren Erörterungen in der Grundlegung. So zunächst schon für die Fragen
des zweiten Kapitels dieses 4. Buchs, welche nach meiner jetzigen Auffassung ohne
ein solches vorausgelegtes Fundament für die wirtschaftliche Seite der Bevölkerungs-
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Litteratur.
451
lehre doch nicht genügend erledigt werden können. Ich erkenne in dieser Hinsicht
einen Mangel in den früheren Auflagen (2. Auf!., S. 134 — ISO) an. Sodann aber
sind auch die gesammten Organisations- und Rechtsfragen erst von dem auf jenem
Fundament sich erhebenden Standpuncte aus sicherer za behandeln: eine Einsicht
und Ueberzeugang, welche ich namentlich wieder durch die Beschäftigung mit den
socialistischcn Gedankenkreisen und Plänen gewonnen habe.
§. 194. Litteratur, insbesondere Malthus und seine Lehre. Gute
litterarhistorische und bibliographische Hilfsmittel für die ganze Bevölkerungslehre
und auch für die wirthschaftliche Seite der Frage, insbesondere für die Malthus’sche
Controverse, bieten zunächst folgende Arbeiten. Robert v. Mo hl, Geschichte und
Litteratur der Staatswiss., B. III, Erlangen 1838, Abh. 14, Geschichte und Litteratur
der Bevölkerungslehre, S. 411 — 517, eine vorzügliche, reichhaltige und besonnene
Arbeit; ferner L. Elster, der fleissige und sehr gelungene Haupttheil der Abh. über
Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik im Handwörterb. d. Staatswissenschaften
(II, 465), wesentlich eine knapp gehaltene, aber recht vollständige Litteraturgcschichte
der Lehre (bes. S. 469 — 528), woneben die eigene Behandlung der Controverse in
der mir nach dem Obigen erforderlich erscheinenden Weise allerdings zu sehr zurück-
tritt. Besonders beachtenswerth ist in diesen beiden Abh. die im Ganzen wohl richtige
Classification der Ansichten der Autoren älterer wie neuester Zeit. Auf die Biblio-
graphie dieser Mohl’schen und Elster’schen Arbeiten sei hier besonders hingewiesen.
Ich muss mich hier auf die Characterisirung der Hauptrichtuugen und die Hervor-
hebung einzelner wichtiger Autoren und Schriften beschränken. Für Weiteres wäre
eventuell auf die V. Hauptabtheilung dieses Werks (die Litteraturgeschichte der Polit.
Oekonomio) zu verweisen. S. ferner J olles, Ansichten d. deutschen nat.-ökon. Schrift-
steller des 16. u. 17. Jahrh. über Bevölkerungswesen in Conrads Jahrb. N. F. B. 13,
1886; H. Sötbcer, die Stellung der Socialiston zur Malthus’schen Bevölkerungslehre,
Berl. 1S86. Bibliographische, littcrar- und dogmengeschichtliche Notizen finden sich
mehr oder weniger in allen im Folgenden genannten Schriften, vornemlich in den
reichen Noten zu Wappäus’ Bevölkerungsstatistik und in den Noten bei Roscher,
bes. §. 254 (20. Aufl. S. 731 ff. Note 2).
„Die Ansichten der Theoretiker über diesen Gegenstand (Bevölkerung und Be-
völkerungspolitik) lassen regelmässig einen Wechsel von Ebbe und Fiuth bemerken:
während der letzten schwärmt man für die Vermehrung des Volks, die man unbedingt
als eine Wohlthat betrachtet; hernach wieder ängstigt man sich vor Uebervölkerung“
(Roscher I, S. 732). Man wird dabei aber doch in der Regel den Einfluss der
concreten Verhältnisse des Bevölkerungswesens, der geringen oder grossen Volks-
zunahme, Volksdichtigkeit, der Zeit- und Landesverhältnisse, auch der wirtschaftlichen,
politischen (Wehrkraft !), welche das Eine oder Andre wünschenswert!) oder bedenklich
erscheinen lassen, ferner auch den Einfluss der jeweiligen Verwaltungspolitik in Bezug
auf die Bevölkerung (Ein-, Auswanderungsrecht, Zugrecht, Eheschliessungsrecht, be-
günstigende oder hemmende legislative und administrative Maassregelu) auch auf die
Ansichten der Theoretiker nicht verkennen können. Bis zum 19. Jahrhundert leidet
ausserdem auch alle theoretische Erörterung der Bevölkerungsfragen an dem Mangel
oder der Unzuverlässigkeit der Bevölkerungsstatistik, besonders in Betretf der Zahl der
Bevölkerung auch sogar in der unmittelbaren Gegenwart und des eigenen Landes
(so noch im 18. Jahrhundert), von der und von dem man handelt, vollends für weiter
zurückliegende Zeiten (Alterthum, Mittelalter) und für fremde Länder.1)
Eine halbwegs wissenschaftliche Behandlung der Bevölkerungsfragen beginnt kaum
vor dem 17. Jahrhundert und gelangt erst mit der Herrschaft des Mercantilismus in
Theorie und Praxis zu einer gewissen Bedeutung und methodischen Ausbildung. Die
vorherrschende, wenn auch nicht ausnahmslose Ansicht ist schon im 17. Jahrhundert,
besonders in dessen 2. Hälfte, namentlich in Deutschland, und wird im 18. Jahrhundert
*) Controversen Uber die Grösse der Bevölkerung in den Culturstaaten des Alter-
thums, über das Verhältniss der gegenwärtigen und ehemaligen Bevölkerung (z. B. in
Frankreich im 18. Jahrhundert und zur römischeu Zeit), über die wirkliche Ab- oder
Zunahme und wahre Höhe der Bevölkerung noch im 17., 18. Jahrhundert (Frankreich,
England), Controversen. z. B. über die antike Bevölkerung, Uber Alt-Italiens, der Stadt
Rom Bevölkerung, sind zwar auch heute noch nicht erledigt und können mit dem
spärlichen und unsicheren überkommenen Material nicht sicher entschieden werden.
452
4. B. Bevölkerung u. Volkswirthsch. Litteratur. §. 104.
immer mehr eine der Yolksvermehrung, grossen Volkszahl und Dichtigkeit günstige:
im Ganzen, zumal in Deutschland, in Uebereinstimmung mit dem Bedurfniss, den An-
schauungen und der Verwaltungspolitik der Praxis, namentlich im Zeitalter des auf-
geklärten Absolutismus. Die eng zusammenhängende Bevölkerungs- und Wirthschafts-
und Cultorpolitik in der 2. Hälfte des 17. und im 18. Jahrhundert war ein noth-
wendiges Ergebniss der gegebenen Verhältnisse nach den furchtbaren Zerrüttungen,
des 30jährigen und anderer Kriege. In dem wirthschaftlichen Musterlande der Zeit,
in den Niederlanden, sah man auch die wirthschaftlichen Vortheile grosser und dichter
Bevölkerung, wobei freilich, wie in Betreff der gesammten wirthschaftlichen Ent-
wicklung, der richtige Einblick in den Causalzusammenhang zwischen Bevölkerung
und Volkswirtschaft nicht immer bestand. Die Gefahren zu grosser Volkszahl, zu
rascher Zunahme wurden indessen zeitweise und von einzelnen Theoretikern wie
Praktikern doch schon in dieser Periode nicht immer verkannt, selbst überschätzt,
Auswanderung, Colouisation als Abhilfmittel empfohlen und versucht. Und der für
jeden ein wenig Nachdenkenden doch auf der Hand liegende Zusammenhang zwischen
Volkszahl, Zunahme derselben und volkswirtschaftlichen Hilfsmitteln, Entwicklung
der Production, des Verkehrs wurde doch auch nur ausnahmsweise ganz übersehen.
Es fehlt daher auch nicht an Stimmen und gelegentlichen Aeusserungen einzelner
Autoren, die sonst anders stehen, welche an Malthus'schc Anschauungen anklingcn
und mit mehr oder weniger Recht als „Vorläufer von Malthus“ bezeichnet werden,
so in Italien im 16. Jahrhundert G. Botero, im 18. Genovesi, Ortes, in England
Raleigh, im 16. und 17.. Child im 17., J. Stewart, Young im 18., in Deutsch-
land namentlich J. Möser). Doch sie bildeten die Minderheit (s. Mohl, a. a. 0.,
S. 468 ff., Elster a. a. 0. S. 486 ff.). Fast am Einseitigsten, aber eben wohl be-
sonders unter dem Einfluss von Anschauungen , welche die betreffenden Autoren in
Folge der notorischen Bedürfnisse ihrer Zeit und ihrer Länder nach einer grösseren
Volkszahl und unter der herrschenden Verwaltungspolitik gewonnen hatten, stand die
deutsche Cameralistik und Polizeiwissenschaft der Mitte und zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts, so auch in ihren hervorragendsten Vertretern, von Justi, von
Sonnenfols u. A. m. (vgl. die Citate aus mehreren Schriften bei Elster a. a. 0.
S. 482 ff.). Die „populationistische“, der Volksvermehrung fast um jeden Preis, mit
jedem Mittel günstige Theorie dieser Männer ist das Seitenstück von ihrer und ihrer
Zeitgenossen sonstiger cameralistischcr und polizeiwissenschaftlicher, ja rechtsphilo-
sophischer Theorie (Chr. Wolff!) und beide sind der Reflex der practischen Bedürf-
nisse und der Verwaltungpraxis. Ich möchte den Satz von Elster, „die gekenn-
zeichnete Bevölkerungspolitik (des 17. und 18. Jahrhunderts) stützte sich auf die
herrschende Bcvölkerungslehre jener Zeit“ (a. a. 0. S. 476) eher umkehren, mindestens
ihn auch in dieser umgekehren Fassung für richtig halten. Denn wie gewöhnlich
auf solchen Gebieten haben Theorie und Praxis sich freilich wohl auch hier gegen-
seitig beeinflusst
Auch die Physiok raten entzogen sich dem Einfluss dieser Zeitanschauungen
meistens nicht und führten nur, ihrer principiellen Anschauung gemäss, zurück-
bleibendes Wachsthum der Volkszahl und zu geringe Volksdichtigkeit gern auf Miss-
stände in der landwirtschaftlichen Cultur zurück. Die Hebung der letzteren war
ihnen daher auch ein Mittel zur Vermehrung der Bevölkerung.
Theologen und bibelgläubige Laien vertraten auch unter der Berufung auf das
bekannte Bibelwort „Seid fruchtbar und mehret Euch und erfüllet die Erde“ die der
Volksvermehrung günstige Auffassung, wofür der erste Statistiker seiner Zeit, der Probst
J. P. S ü s s m i 1 c h , ein besonders wichtiges Beispiel in der Mitte des 1 8. Jahrhunderts ist
A. Smith hat die Bevölkerungsfrage nur gelegentlich gestreift aber noch keine
principielle Stellung zu ihr eingenommen. Reichthum und äusserste Armuth hält er
für gleich ungünstig für die Volksvermehrung, erkennt aber die Begrenzung der Be-
aber sie werden doch, freilich z. Th. schon seit Hume’s Zeiten, in ganz andrer
wissenschaftlicher Weise, mit viel mehr Kritik, namentlich gegen phantastisch über-
triebene Zahlen, jetzt erörtert. Vgl. über das Alterthnm den gut zusammenfasseuden
Aufsatz von Ed. Meyer im Handwörterb. d. Staatswiss. II, 443 ff. und bes. Bel och,
Bevölkerung der griech.-röm. Welt, 1886 I; über die noch unsichereren und spär-
licheren Daten für das Mittelalter v. In ama-Sternegg, eb. II, 433 ff, mit weiteren
Littcraturangaben S. 442.
M<hus und seine Lehre.
453
völkcrung durch die Subsistenzmittel deutlich an (s. wcalth of nations, B. I, ch. VIII,
4. Lond. Aug. 1786. auch ch. IX. p. 255: „countries are populous not in proportion
to the numbcr of peoplo whorn their produce can clooth and lodge, but in proportion
to that of those whorn it can feed“).
Diese Bevölkerungslehre des IS. Jahrhunderts war also überwiegend opti-
mistisch, aber entsprach im Ganzen doch den Zeitverhältnissen und practischen
Bedürfnissen der Länder und, wie bemerkt, wurde sie auch nicht von allen Anhängern
kritiklos und ohne jede Rücksicht auf die Frage der vorhandenen Unterhaltsmittel
und deren Vermehrbarkeit vertreten. Dieser optimistischen Auffassung huldigte u. A.
auch der socialistisch angehauchte englische Schriftsteller Godwin, dessen Schriften
und Aufsätze dadurch eine gewisse bleibende litterarische Bedeutung beanspruchen,
dass er es war, welcher das Auftreten von Th. Robert Malthus, nach dessen eigenem
Bekenntniss, zuerst veranlasst hatte. (Godwin in seinem Enquircr über Geiz und Ver-
schwendung, 1797, dem eine Schrift enquiry concernig political justice and it»
iufluence on general virtue and happiness 1793 vorangegangen war, welche später
noch 3 Auflagen erlebte. Erheblich später erschien mit specieller Polemik gegen
Malthus Godwin’s Schrift on population. London 1820. S. über Godwin Mohla. a. 0.
5. 496, Elster a. a. 0. S. 502, den bibliograpb. Artikel „Godwin“ von Lippert im
Handwörterb. d. Staatswiss. III, S. 80; Malthus’ Vorrede zur 2. Aull, seines essay, 1803.)
Die grosse bleibende Bedeutung von Malthus liegt darin, dass er jenen opti-
mistischen Ansichten über den unbedingten Segen der Volksvermehrung entgegentrat,
die Kehrseite aufdeckte, den nothwendigen Zusammenhang zwischen Volkszahl, Dichtig-
keit, Vermehrung und Unterhalts-, speciell Nahrungsmittel und deren Beschall barkeit
und Vermehrung nachwies, die Gefahren zeigte, welche nothwendig aus einer Ueber-
holung der Nahrungsmittelvermebrung durch die Bevölkerungsvermehrung hervorgehen
müssten und nach geschichtlicher Erfahrung hervorgegangen wären, die namentlich
auf den Geschlechtstrieb zurückzufuhrende starke Volksvermehrungstendenz einerseits,
die Schwierigkeiten einer stets damit Schritt haltenden Vermehrung der Unterhalts-
mittel andrerseits hervorhob und eine Lebre von den Hemmungsmitteln (checks) der
Volksvermchrang entwickelte, nach welcher dieselben zweierlei Art seien, repressive,
positive, insbesondere Laster und Elend, woraus sich mehr Todesfälle und präventive,
negative, moralische Selbst beschränkung (moral restraint) in Bezug auf Vcrhcirathung
und Kindererzeugung, woraus sich weniger Geburten ergäben, während gewisse Laster,
Ausschweifungen nach beiden Seiten hemmend wirkten. Er empfiehlt allein moralischo
Selbstbescbränkung und sucht zu beweisen, dass ohne diese unter den starken Antrieben
zur Volksvermehrung die letztere stets die Tendenz habe, die Vermehrung der Unter-
haltsmittel zu überholen, wo dann nichts Andres eintreten könne und werde, als eine
Wiederverminderung der Bevölkerung durch Elend und in directer und indirecter Folge
davon durch vermehrte Todesfälle. Diese Sätze sind in ihrem Kerne, der das sogen.
Malthus’sche Bevölkerungsgesetz bildet, und in dem wahren Sinne, welchen sie bei
Malthus selbst haben, unumstösslich und von einleuchtendster, in der That auch
orfahrungsmässig bestätigter Wahrheit. Leider hat sie Malthus selbst, allerdings doch
im Grunde mehr zur Erläuterung und zur knappen, leicht verständlichen Fassung seiner
Lehre, zu sehr zugespitzt, sie zu absolut formulirt und sich sogar verleiten lassen, für
sie eine Art mathematischer Formel aufzustellen : die Bevölkerung, wenn sie durch
keinerlei Hinderniss aufgebalten werde, verdopple sich alle 25 Jahre und wachse von
Periode zu Periode in geometrischer Progression. Die Subsistenzmittel könnten sich
dagegen niemals rascher als nach einer arithmetischen Progression vermehren (Kap. 1
des essay). Diese Formel trifft einmal überhaupt nicht zu. gilt vollends nicht für die
Subsistenzmittel und beruht auch bei der Bevölkerung auf einem statistischen Fehler.
Ferner lassen sich aber überhaupt die viel zu mannigfaltigen, veränderlichen Verhält-
nisse und Einflüsse, um welche cs sich hier bandelt, gar nicht unter eine solche ein-
fache und knappe mathematische Formel bringen. Und endlich liegt hier, wie auf
anderen Gebielen der Politischen Oekonomie, bei einem derartigen Versuch wieder die
Verwechslung zwischen einem wahren Naturgesetz und einem socialen Gesetz vor.
Nur um ein sociales Gesetz kann cs sich bei dem Bevölkerungsgesetz handeln. Die
Auffassung desselben als ein Naturgesetz kommt nur der gegnerischen Ansicht zu
Gute. Der Haupttheil der Malthus so reichlich gewordenen Polemik trifft die natur-
gesetzliche Auffassung seines Bevölkerungsgesetzes. Wenn man diese aber fallen lässt,
so ergiebt 9ich auch, dass diese Polemik und die sogen. „Widerlegung“ von Malthus
454
4. B. Bevölkerung u. Volkswirthsch. Littcratur. §. 194, 195.
nur die Form, nickt den Kern der Sache treffen und in keiner Weise durchschlagen
(vgl. bes. B. I, ch. 1 des unten gen. Hauptwerks von Malthus). Immer auch noch
zu schroff formulirt, aber doch weniger den angedeuteten Einwänden ausgesetzt, als
die Formel, welche Malthus aufstclltc. sind die Sätze, in welche er (am Schluss seines
2. Kap. im 1. Buche) seine Lehre zusammenfasst und von denen er alsdann nament-
lich den zweiten und dritten mit Hilfe des von ihm gesammelten, reichen, wenn auch
gegenwärtig durch weit mehr und besseres zu ersetzenden und zu ergänzenden histo-
risch-statistischen Materials in seinem ganzen umfassenden Werke zu beweisen sucht:
„1) die Bevölkerung ist nothwendig durch die Subsistenzmittel begrenzt; 2) die Be-
völkerung vermehrt sich unveränderlich überall, wo die Subsistenzmittel sich ver-
mehren, falls sie nicht durch sehr Mächtige und deutliche Hemmnisse (checks) daran
gehindert wird ; 3) diese Hemmnisse und diejenigen, welche die überwältigende Macht
der Bevölkerung zurückdräugen und die Wirkungen dieser Macht im Gleichgewicht
mit den Subsistenzmitteln erhalten, sind alle auf moralische Selbstbeschräukung, Laster
und Elend zurückzuführen.“
Auch noch in einem anderen Puncte bedarf die Lehre von Malthus einer Be-
richtigung, cs ist der Punct, wo auch die socialistische und verwandte Polemik nicht
ganz ohne Erfolg gegen ihn einsetzt, nur dass dieselbe nach der anderen Seite noch
viel mehr der Einschränkung und Berichtigung bedarf. Malthus hat natürlich , ähn-
lich wie Ricardo, nach dem Stande der Naturwissenschaften und der Productions-
technik seiner Zeit noch zu wenig die durch naturwissenschaftlich-technische Fort-
schritte bedingte und in gewissem Umfang der Verwirklichung fähigo Entwicklungs-
möglichkeit der Productivität der Arbeit (auch auf Boden, im Ackerbau) berücksichtigt.
Das war ein begreiflicher Fehler. Malthus war aber auch darin ein Kind seiner Zeit,
dass er die geschichtlich überkommene und gegebene volkswirtbschaftliche Organi-
sation und Rechtsordnung zu sehr als etwas Festes ansah und die günstige Rück-
wirkung einer Veränderung derselben auf gesteigerte Productivität der Arbeit in allen
Gebieten der Production zu wenig mit in Erwägung zog, nach der technischen wie
auch nach der psychologischen Seite. Der Socialismus, einigermaassen auch andre
Optimisten, wie Carey, übertreiben nur wieder die Tragweite dieser Gesichtspuncte
und behandeln Organisation und Rechtsordnung der Volkswirthschaft, aller Psycho-
logie und Erfahrung zum Trotz, zu sehr wie Wachs in den Händen geschickter
Socialreformatoren.
Trotz dieser und ähnlicher Einwände nimmt Malthus durch diese seine Lehre
auf dem Gebiete der Bevölkerungslehre eine ähnliche Stellung ein, wie A. Smith auf
demjenigen der ganzen Politischen Oekonomie. Man kann das Frühere (S. 2) schon
citirte Wort Roschers über Smith auf Malthus ebenfalls anwenden : er steht im Mittel-
punct der litterarischen Bewegung, seine beistimmenden wie anders stehenden Vor-
läufer weisen auf ihn hin, alle Späteren nehmen in erster Linie Stellung zu ihm, als
Anhänger, als Gegner in mancherlei Abstufungen, aber Niemand kann ihn und hat
ihn ignorirt. Die richtige Bedeutung seiner Lehre hat wohl R Umelin besonders
treffend characterisirt: „Die bekannten Sätze von Malthus sind ebenso anfechtbar in
ihrer statistischen und psychologischen Begründung im Einzelnen als unumstösslich
und von einleuchtendster Wahrheit im Ganzen“ (Reden, JS75, S. 305). Malthus nimmt
durch diese seine Leistung eine bleibende Stelle unter den ersten Meistern des Fachs
ein, wird mit Recht zu den „classischen“ englischen Nationalökonomen gerechnet, in
einer Reihe mit A. Smith und Ricardo und verdient es daher auch, dass die von ihm,
zwar nicht zuerst angedeutete, aber zuerst bewusst vertretene und fundamentirte Lehre
seinen Namen trägt, dass, wenn man den Ausdruck „Gesetz“ brauchen will, was nach
unserem oben (§. 89) festgestellten Begriff hier zulässig erscheint, dies Bevölkerungs-
gesetz das „Malthus'sche“ dauernd und offen genannt wird, auch wenn man
darunter nicht die unhaltbare Malthus’sche Formel, sondern den dargelegten Kern
der Lehre vom Zusammenhang zwischen Bevölkerung und Unterhaltsmitteln versteht.
Roscher hätte eben deshalb, da er wesentlich dieselbe Ansicht über Malthus und
dessen Lehre hegt, wie sie hier vertreten wird, die Nachgiebigkeit gegen Vorurtheile
und Gegner von Malthus nicht haben sollen, den Ausdruck „Malthus’schcs“ Be-
völkerungsgesetz aufzugeben, „um flüchtige Leser vor dem Wahn zu schützen, als ob
von ihm etwa das gelehrt würde, was der grosse Haufen mit dem Wort „Mal-
thusianismus“ bezeichnet, worauf sie vielleicht den ganzen Abschnitt überschlagen
möchten“ (? !). Meint er doch selbst, die fernere Zukunft werde Malthus, wie Ri-
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Die Malthus’sche Lehre in der Litteratur.
455
cardo, „in ihre volle Ehre als nationalökonomische Forscher and Entdecker vom aller-
ersten Rang wieder einsetzen“ (Vorwort za B. I). Wer hatte sie denn entsetzt, ausser
einige Fachmänner zweifelhaften Ranges, dio einen Malthus, Ricardo eben nicht ver-
standen und eine Berichtigung von Ncbenpuncten für eine Widerlegung der Haupt-
sachen gehalten haben , und einige Schreier aus dem grossen Haufen ? Leute vom
Schlage des Herrn E. Dtlhrin g, die den „Pfatfen Malthus“ verhöhnen, Confusionarien
and Phantasten wio Carey, gallige Polemiker, wie K. Marx, der Malthus ob einiger
den seinen ähnlicher Gedanken bei Früheren einen „Plagiator“ nennt, sind hier doch
wohl nicht die competenten Stimmen, mit Rücksicht auf welche man jene Namens-
bezeichnung ändern müsste.
Das Malthus’sche Werk ist zuerst als Skizze u. d. T. essay on the principle of
population, 1798, anonym erschienen, dann erweitert in 2. Aufl. 1803. Bis zu Mal-
thus’ Tode (1834, geb. 1766) erschienen 6 Aufl., eine 7. 1872. Mehrfach Uebcr-
setzungen ins Deutsche, von Hcgewisc h , Altona 1807 (nicht vollständig), neuerdings
von F. Stöpel, Berlin 1879, ins Französische von P. u. G. Provost, mit Einleitung
von Rossi, kurzer Biographie von Ch. Cointe, Noten der üebersetzer u. J. Gar-
nier’s, mehrfache Auflagen (ich benutzte dio von 1845), auch als Thoil der Coli,
des principaux economistes. S. über Malthus fast alle Schriften über die Bevölkerungs-
lehre, über nat.-ökon. Literaturgeschichte (Kautz, Gesch. II, §. 73 fF., Ingram,
deutsche Uebersetz. S. 151 ff, Eisenhart, Gesch. 2. A. S. 78 fl., Cossa, intro-
ducione, 3. ed. p. 323 ff., mehr zur Characteristik Herrn Düliring’s selbst und seiner
Manier als zur Beurtheilung von Malthus Dühring, krit. Gesch. d. Nat.-Oekon.
2. A. Berl. 1875, S. 174 ff.; dann insbesondre R. v. Mohl a. a. 0. S. 479 ff, Elster
a. a. 0. S. 484 ff., mit der bei beiden reichlich angegebenen weiteren Litteratur der
verschiedenen Richtungen der Anhänger und Gegner von Malthus.
§. 195. Fortsetzung. Die Malthus’sche Lehre in der Litteratur.
In der oben angegebenen Beschränkung auf den Kern und in Gemässhcit der weiter
im nächsten Kapitel folgenden Ausführungen hat die Lehro von Malthus in der neueren
Nationalökonomie weit überwiegend Zustimmung gefunden, in England wie auf dem
Gontinente, auch in Deutschland. Berichtigt hat man nur Einzelnes, die Formel, die
Beweisführung. Für zahlreiche einzelno Schriftsteller sei auf Mohl und Elster ver-
wiesen. Ich beschränke mich auch hier auf die Hervorhebung einiger Namen.
In England hat Ricardo nicht die Lehre selbst bohandelt, aber sie gebilligt
(Baumstark’s Uebersetz. 2. A. S. 368). J. St Mi 11 hält in seinen principles of pol.
econ. allen Einwänden gegenüber an dem Kern der Malthus’schen Lehre durchaus
fest, mit der richtigen Bemerkung, dass es immer nur ephemere, bald vergessene
Theorieen seien, welche dagegen in’s Feld geführt würden. Er behandelt die Lehre
in s. 1. Buche, von der Production, im Kap. 10. vom Gesetze der Arbeitsvermehrung,
§. 2, 3. Von Senior s. seine two lectures on population, London 1831, mit einem
Briefwechsel mit Malthus. Er steht der Frage optimistischer gegenüber. Aeltere noch
beachtenswerthe englische Werke sind: Sadler, law of population etc., Lond. 1830,
ein Gegner, und Thornton, overpopulation and its remedy, Lond. 1846, im Wesent-
lichen Anhänger. Von Neueren sei Marshall genannt, der eine gute Behandlung
der Bevölkerungslehre in seinen principles of economics gegeben hat, ebenfalls in der
Lehre von der production oder supply, book 4, ch. 4 ff. Er berücksichtigt dabei die
neuesten Wirthschaftsvcrhältnissc mehr, meint, die erste These von Malthus bleibe
bestehen, die beiden anderen seien etwas zu berichtigen, macht mir aber den neueren
naturwissenschaftlichen Hypothesen — oder Dogmen — über die Beziehung von Ge-
hirnthätigkeit und Zeugungskraft, bezw. Lust schon etwas zu viel Zugeständnisse (I. ed.
p. 233). Er (wie auch Sidgwick) halten auch das Gesetz der abnehmenden Boden-
erträge, welches für die Bevölkerungslehre seine besondere Bedeutung hat, fest.
Sidgwick, principles of pol. ec. 2 ed. Lond. 1887, steht ähnlich : (B. l,ch.4, S. 140 ff)
Malthus* law of population (and the law of diminishing returns frorn Land) are valid,
when duly qualified, as abstract Statements of tendencies, also the concrete Statement
that in old countries population is limeted by the difficulty of procuring subsistence;
but the lirnit is not rigid, and the Standard of comfort that partly determines it is
variable (s. Resum6 im Inhalt).
In America stehen die Anhänger Carey’s (n. §. 196), auch H. George
anders zur Lehre und unter den eigenthümlichen Verhältnissen eines solchen neuen
Landes neigen auch wohl andere Oekonomisten eher zu einem gewissen Optimismus.
456
4. B. Bevölkerung u. Volkswirthsch. Litteratur. §. 195.
In Frankreich hat die liberal-individualistische Nationalökonomie Smith'acher
Richtung doch seit J. B. Say’s Zeiten überwiegend Malthus’ Standpunct eingenommen,
so insbesondere Say selbst (cours complet d’6con. pol. p. VI und trait6 d’ticon. pol.
livre II, ch. 11). Etwas abweichend, namentlich, wie die Socialisten und die Neueren
überhaupt darauf hinweisend, dass die gegebene Rechtsordnung und Organisation der
Wirtschaft, die Besitzverhältnisse (Grundeigenthum) — darauf läuft seine Argumen-
tation, principiell aufgefasst, hinaus — practisch gewöhnlich mehr als der direct©
Mangel an Subsistenzmitteln die Bevölkerungsvermehrung hemme und zu Zuständen
der Uebervölkerung führe, steht Sismondi zu der Frage (nouv. princ. d’6con. pol.,
livre 7, vergl. Mohl, a. a. 0. S. 510, Elster a. a. 0. S. 495 und ders. in Conrads
Jahrb. N. F. B. 14, S. 321 ff., 345 ff. über Sismondi). Ferner haben die freihändlerischen
Enthusiasten und Vertreter des Dogmas der volkswirtschaftlichen „Harmonie“, wie
Fr. Bastiat, eine mehr principiell gegnerische Stellung zu Malthus eingenommen,,
aber eben hier, wie sonst, sich über Thatsachen mit Phrasen und mit der üblichen
petitio principii hinweggesetzt, dass Malthus im Ganzen Unrecht haben müsse, weil
sonst die volkswirtschaftliche Harmonie gestört oder selbst zerstört werde (s. harmo-
nies economiques, mehrfach, s. Stellen bei Elster im Handwörterb. S. 510). Auf
richtigerem Standpuncte steht die Monographie von J. Garnier, du principe de
Population, 2. 6d. Paris 1885 (1. 1857). Wesentlich Malthusianer ist M. Block.
Frankreich zeigt im Bevölkerungswesen die in der modernen Culturwelt (neben
Irland, wo eben noch besondere Umstände obwalten) alleinstehende Erscheinung einer
im Vergleich zu anderen Ländern ungemein langsamen einheimischen Volksvermehrung,
welche in neuerer Zeit noch immer langsamer geworden ist und in den letzten Jahren
gelegentlich selbst schon einer Abnahme und zwar in Folge Uebcrwiegens der Todes-
fälle über die Geburten Platz gemacht hat, trot/dem bekanntlich die Auswanderung
in Frankreich gering, der Zuzug Fremder bedeutend ist. Diese Erscheinung wird vor-
nemlich mit aus politischen Gründen im Vergleich mit der raschen Volkszunahme in
germanischen und anderen Ländern in Frankreich seit lange und neuerdings noch
mehr mit einer gewissen Aengstlichkeit betrachtet Sie ist auch auf die theoretischen
Anschauungen Uber Bevölkerung nicht ohne Einfluss geblieben. Characteristisch für
französische Anschauungen hat man sie sich wohl mit auf eine Weise zu erklären
gesucht, welche dem französischen Selbstgefühl oder richtiger der nationalen Eitelkeit
nicht zu sehr Abbruch thut. Die These, dass mit fortschreitender Volksdichtigkeit,
grösserem Wohlstand und höherer Cultur die Bevölkerungszunahme, besonders durch
Verminderung der Geburten, der Durchschnittskinderzahl in der Ehe immer langsamer
werde, also in gewissem Sinne ein Symptom höherer Entwicklung sei, ist grade in
Frankreich seit länger nicht selten besonders gern vertreten worden. Dabei hat man
freilich ihre relative Richtigkeit sehr übertrieben, indem man sich über die viel weniger
mit der These stimmenden Thatsachen andrer Länder (England, Deutschland, Italien) hin-
wegsetzte (s. u. §.207 — 214). Scharf trat mir selbst schon diese Auffassung auf einem
kleinen statistischen Congress entgegen, welcher im Jahre 1867 bei Gelegenheit der Welt-
ausstellung in Paris stattfand und das Thema behandelte (Legoit u. A. m.). Darüber
ein Aufsatz von mir im Bremer Handelsbl. 1S67 vom 21. und 28. Sept. In neueren
Aeusserungen P. Lcroy-Beauli eu’s klingen verwandte Anschauungen durch (vgl.
die Citate von Elster, Handwörterb. S. 519, 527): immer eine gewisse Neigung,
sich über unangenehme oder für unangenehm geltende Thatsachen hinwegzutäuschen.
S. im Uebrigcn den Art population im nouveau dictionn. d'ßcon. polit. von Lcvasseur,
woselbst II, 517 eine Zusammenfassung der „experimentellen Bevölkerungsgesetze“
in 17 Sätzen, sowie ders. la population fran<;aise, 3 vol. Par. 1889/91.
Auch die italienische Nationalökonomie Smith’scher Richtung steht wohl im
Ganzen auf Malthus’schem Boden in den angegebenen Grenzen. Sie hat aber in ein-
zelnen ihrer Vertreter Eigenthumlichkeiten. Hervorzuheben ist etwa Messedaglia,
della teoria della populazione etc. vol. I, Verona 1858 und besonders aus neuester
Zeit A. Loria, la legge di populazione ed ll sistema sociale, Siena 1882 und ders.
in dem Werke analisi della proprietä capitalista, Torino 1889 in den hierhergehörigen
Ausführungen, bes. vol. I, 1. 1, cap. 5, p. 615 ff.
In Deutschland ist in der wissenschaftlichen Nationalökonomie, etwa ausser-
halb der extrem freihändlerischen . dem Bastiat'schen volkswirtschaftlichen Harrno-
nismus huldigendeu und der socialistischen Kreise, der modiiieirte Malthusianismus
wohl als die vorherrschende Richtung zu bezeichnen, auch unter den Vertretern der
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Die Maltlms'sche Lohre in der Litteratur.
457
neueren socialen Auffassungen („Kathedcrsocialisten“, „Staatssocialisten“, „ethische“,
„socialpolitische“, „historische“ Schule), wenn auch mit mancherlei kleineren Ver-
schiedenheiten unter den einzelnen Autoren. S. die Uebersicht bei Elster a. a. 0.
S. 515 tT. Hervorzuheben ist aus der schon etwas zurückliegenden Litteratur R.
?. Mohl’s verständige (nur den phantastischen Carey viel zu sanft behandelnde) Er-
örterung der Frage, theils in seiner genannten Literarhistorischen Arbeit, theils und
namentlich in seiner Polizeiwissenschaft, s. 3. Aufl. Tub. 1866 I, §. 12 — 20. Ferner
Rau, welcher die Bevölkerungsfrage, wie schon bemerkt, nicht in systematischer
Weise erörtert, aber doch zu ihr deutlich Stellung nimmt und sie für einzelne national-
ökonomische Lehren verwerthet. S. seine Grundsätze d. Volks wirthschaftslehrc, 8. A.,
B. 1, §. 196, 201, bes. die Noten, in der Lehre vom Arbeitslohn, und 6eine Volks-
wirthscbaftspolitik, 5. A.. B. 1, §. 11 ff., bei den „Maassregeln in Bezug auf die Zahl
der Arbeiter", ein Abschnitt, den Rau im Inhaitsverzeichniss selbst als „Bevölkerungs-
politik“ bezeichnet. Die eingehendste neuere deutsche Behandlung der Bevölkerungs-
lehre in nationalökonomischen Schriften ist das stoflreiche« wenn auch fast mehr die
culturhistorische, als die volkswirtschaftliche Seite behandelnde 6. Buch im 1. Band
von W. Roscher’s System, 20. Aufl., S. 662 — 771), wo ich nur, wie schon bemerkt,
das Fallenlassen des Namens „Malthus'sche Lehre“ bedauere und wo nach meiner Auf-
fassung, wie es freilich einmal Roscher’s Standpunct entspricht, die principielle Be-
handlung des Problems zu sehr zurücktritt. Eine verständige Behandlung der Frage
hat Gerstner, Grandlehrcn der Staatsverwaltung II, 1. Abth. BeTÖlkcrungslehre,
Würzb. 1864, gegeben (s. bes. S. 99 — 114). Schaf fle steht im Ganzen doch auch
auf Malthus’schem Boden, früher nur vielleicht weniger scharf als neuerdings. Vgl.
bes. seine „Bevölkerungslehre“ in der 2. Aufl. des Gesellschaft!. Systems S. 419 — 431,
in der 3. Aufl. II, S. 566 ff.. Socialer Körper II, 234 ff. („Bevölkerungsgesetz, vom
Standpunct der Entwicklungslehre“), auch III, 1 ff. (Familie als Organ der Bevölkerung),
51 ff. (Stand und Bewegung der Gesammtbevölkerung) und mehrfach passim. Auch
H. v. Mangold t (s. bes. seinen treulichen Aufs. Bevölkerung im 2. B. des Bluntscbli-
Brater’schen Staatswörterbuchs), A. Lange (Arbeiterfrage, Kap. 1, 2, auch 3, 4 und
„Mill’s Ansichten“ Kap. 1) urtheilen im Ganzen zu Gunsten von Malthus. Lange hält,
auch Marx gegenüber, den „richtigen theoretischen Kern der Malthus’schen Lehre“
fest (Arb.fr. S. 14). Ich stimme mit seinen Ausführungen darüber vollständig tiberein,
namentlich auch mit seiner in der zweitgenannten Schrift erfolgenden trefflichen Ab-
fertigung Carey ’s. Nicht minder vertreten G. Sch mol ler (in s. Grundfragen und
sonst), G. Cohn (bes. in seinem System I, 1. H.-A. 2. Kap.) den gekennzeichneten
Standpunct. Vornemlich sind in dieser Hinsicht aber verschiedene Arbeiten Rümelin’s,
wie schon bemerkt, rühmend hervorzuheben: in seinen „Reden und Aufsätzen“, 1875,
tiber die Malthus’schen Lehren, S. 305, über Stadt und Land, S. 333, auch Uber den
Begriff und die Dauer einer Generation S. 285, über die menschliche Lebensdauer S. 356;
dann, mehrfach von bes. Bedeutung für die volkswirtschaftliche Seite des Problems,
die „unbehaglichen Zeitbetrachtungen“ in der Allgemeinen Zeitung (24. — 31. Januar
1878) und letztre Aufsätze weiter ausführend und überarbeitend der wichtigste und
eingehendste hierhergehörige Aufsatz Rümelin’s über die Uebervölkerungsfrage in den
„Reden und Aufsätzen“. 1881, N. F. S. 568 ff, worin zwar einzelne Ausführungen und
auch hie und da die statistischen Beweisführungen als irrig, auch in der Aufdeckung
von Causalzusammenhängen etwas Übereilte Schlüsse beanstandet werden können, aber
die Argumentation in ihren Hauptpunctcn durchaus richtig ist, so dass das Ganze zum
Besten gehört, was wir über die volkswirtschaftliche Seite der Bevölkerungsfrage
besitzen. Dazu kommt dann die gen. Abh. Rümelin’s im Schönberg’schcn Handbuch
B. I über die Bevulkerungslehre, welche in B. III, 3. A„ durch Geffcken’s Abh.
Über Bevölkerungspolitik, Auswanderung und Colonisation noch eine Ergänzung findet
Manchfach der Rümelin’schen Auffassung verwandte Ansichten habe ich selbst in
einer Artikelserie über Volksvermehrung und Auswanderung in der Allgemeinen Zei-
tung, Beilage Nr. 160 — 170, Juni 1880, vertreten, welche Arbeit hier und im Fol-
genden von mir mehrfach benutzt worden ist S. auch Elster a. a. 0. S. 525, der
sich wesentlich ebenso wie ich hier zur Malthus’schen Lehre stellt.
§. 196. Fortsetzung. Deberwiegend polemische Litteratur. (Carey.
Socialistcn.) Ungeachtet so seit länger in weiten wissenschaftlichen Kreisen der
Kern der Malthus’schen Lehren nicht bestritten war, hat es doch von Anfang an und
bis in die Gegenwart hinein nicht an Gegnern gefehlt und unter dem Einfluss von
458
4. B. Bevölkerung u. Volkswirthsch. Litteratur. §. 196.
solchen und bei gewissen Strömungen im öllentlichen Leben ist sogar Malthus ausser-
halb jener wissenschaftlichen Kreise gelegentlich vervehmt und verlästert worden. Der
„Pfafio Malthus“ und seine „pessimistische“ Lehre, das „Phantom der Uebervölkerung“
erregten Anstoss, ja Erbitterung, die Lehre galt mitunter als eine besonders charac-
teristischc Erscheinung in der „kapitalistischen Bourgeoisökonomie“ oder wurde kurzweg
verspottet. Optimisten der harmonistischen Richtung des Bastiat’schen Freihändler-
thums wie des Careys’chen Schutzzöllnerthums, die Socialisten mit wenigen Ausnahmen
verwarfen die Lehre entweder ganz, ihnen war sie nur eine „veraltete Schuldoctrin“,
welche gleich der Ricardo’scben Grundrentenlehre höchstens noch an den Universitäten,
diesen „steten Depositorien des verrottetsten alten Plunders“, ein Scheinleben führe.
Oder man gab höchstens zu, wie Seitens Marx u. A„ das Malthussche Gesetz gelte
nur unter unserer heutigen privatkapitalistischen Wirtschaftsordnung, nicht allgemein.
Indessen sind doch diese ablehnenden Meinungen nicht allgemeiner durebgedrungeu.
Die einzelnen Einwendungen, auch wo sie etwas Richtiges enthielten, wie in dem
Hinweis der Socialisten auf die von Malthus und seinen Anhängern zu wenig berück-
sichtigte Bedeutung der Fragen der wirtschaftlichen Organisation und Rechtsordnung
für das ganze Problem oder wie in dem optimistischen Hinweis auf Auswanderung,
Colonisation , weltwirtschaftlichen Productenaustausch , hat man Seitens der Mal-
thusianer unbefangen geprüft, Manches davon angenommen, aber unschwer nacli-
weisen können, dass damit der Kern der Lehre nicht widerlegt, mitunter gar nicht
berührt oder, bei richtigem Verständniss der Sache, sogar bestätigt werde. Seitdem
nun aber in wissenschaftlichen und Laienkreisen der Darwinismus und sein „Kampf
ums Dasein“ mit mehr oder weniger Recht die Modedoctrin des Tages für die Er-
klärung der Entwicklung in der organischen Welt geworden ist und Darwin sogar
selbst seine berühmte Lehre als eine Erweiterung des Malthus’schen Gedankens be-
zeichnet hat, wagen auch wieder Kreise und Männer, welche sich durch eine solche
nicht immer mit den feinsten Wallen geführte Kampfweise wie diejenige der Anti-
Malthusianer zu leicht einschüchtern lassen, olfeuer den Malthus’schen Standpunct zu
vertreten, nunmehr auch so ziemlich ohne die Gefahr, darob eines „wissenschaftlich
überwundenen Irrthums“ geziehen zu werden. Und sogar aus socialistischem Lager
hat Malthus neuerdings wieder Anerkennung erfahren.
Die Gegner gehen von verschiedenen Gesichtspuncten aus, welche jedoch auch wohl
wieder bei dem und jenem Autor verbunden werden. Sie lassen sich danach und nach ihrer
sonstigen Richtung classificiren, wie es von Mo hl und jungst von Elster geschehen ist. Auf
deren Arbeiten für das Einzelne verweisend hebe ich auch hier wieder nur einige Autoren
und Schriften hervor, welche auch grade noch in neuerer Zeit eine gewisse Bedeutung
beanspruchen oder sie wenigstens nach der Ansicht von Anhängern beanspruchen dürfen.
Dies gilt namentlich von dem Americaner II. Carey, obwohl es schwer ver-
ständlich ist, wenn man grade dieses Autors kaum glaublich oberflächliche und platte
„Gegenbeweise“ und „Widerlegung“ von Malthus liest, wo sich vielfach ein völliges
Missverständniss des Kerns der Malthus’schen Lehre und eine staunenerregende Ver-
kennung der Erfordernisse eines Inductionsschlusses findet, z. B. in dem köstlichen
Beispiel von der geringen Durchschnittskinderzahl der americanischen Präsidenten
zum Beweis der Abnahme der Zeugungslust bei hervorragenden (?) Intelligenzen
(Lehrbuch S. 614) oder in dem ähnlich zutreffenden Beispiel von den Indianern, deren
Vermehrungstendenz unter der Anspannung der geistigen Kräfte bei der Jagd leide
(Soc. sciencc III, 302 ff.)! Die Beweisführung Carey ’s beruht im Uebrigen theils auf
einer petitio principii, wie in der Behauptung, dass eine so disharmonische Lehre
wie die Malthussche unmöglich richtig sein könne, weil sie der Harmonie in der
Welt widerspreche; theils ferner auf Halbwahrheiten, mit denen hier nichts zu be-
weisen ist. wie der Annahme nothwendig steigender Arbeitsproductivität bei grösserer
Volksdichtigkeit, engerem Zusammenwohnen, stärkerer Reibung der Menschen, wo eben
alle wesentlichen Gegenwirkungen übersehen werden; endlich auf naturwissenschaft-
lichen unbewiesenen und mit den augenfälligsten Tbatsachen in der Menschwelt in
Widerspruch stehenden Hypothesen oder selbst blossen Speculationen in Betreff eines
vermeintlich allgemein gütigen und feststehenden Naturgesetzes in der ganzen organi-
schen Welt, einschliesslich der Menschheit, wonach mit der Entwicklung des Nerven-
systems und der Gehirnthätigkeit die Fruchtbarkeit regelmässig abnehme, daher, auf
die Menschheit angewandt, mit der Entwicklung des geistigen Lebens und der Cultur
von selbst ein Gleichgewichtszustand zwischen Bevölkerung und Unterhaltsmitteln und
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Polemische Litteratur gegen Malthus.
459
beider Vermehrung sich herstelle. Aehnliche Auffassungen sind zwar mitunter auch
von Naturforschern vertreten (s. u.), aber ermangeln eben bisher des Beweises jeden-
falls bei ihrer Anwendung auf die Menschenwelt. Bei Carey werden sic auch nur
durch die dilettantische naturwissenschaftliche Analogiespielerei zu beweisen gesucht.
Phantastische Ideen Uber die Entwicklungsfähigkeit der Technik in der Production,
über die Abnahme des Nabrungsbedarfs bei stärkerer Ersetzung der Muskelarbeit
durch Maschinenthätigkeit und übertriebene Anklagen gegen die bestehende wirt-
schaftliche Organisation und Rechtsordnung, z. B. des Grundeigenthums, wie in Irland,
als alleiniger Ursache proletarischer Volksvermehrungsverhältnisse, laufen ausserdem,
ähnlich wie bei den Socialisten, auch bei Carey mit unter. Sein Gesetz der „sich
selbst regulirenden Bevölkerungszunahme“ schwebt daher völlig in der Luft und ist
in keiner Weise geeignet, die Malthus’sche Lehre zu ersetzen. Carey gehört übrigens
auch zu denjenigen, welche sich einbilden, durch Widerlegung der Malthus’schen
mathematischen Formel die Malthus’sche Lehre selbst widerlegt zu haben. S. seine
Ausführungen in seinen principles of pol. econ. 3 vol. Philad. 1837 — 40, III, 1 ff.,
in den principles of social Science, 3 vol. Philad, 1858 ff., bes. III, Kap. 46 ff. (auch
deutsch von Adler, München 1863 — 64), kürzer in seinem von Adler übersetzten
Lehrbuch der Volkswirtschaft (München 1666), Kap. 38 ff. Ueber ihn, speciell seine
Bevölkerungslehre u. A. Mohl in der Litt.gesch. S. 509 und in den Noten in seiner
Polizeiwissenschaft, wo zwar Carey richtig abgewiesen und gelegentlich verspottet,
aber er sonst noch zu glimpflich behandelt wird; A. Held, Carey’s Socialwissensch.
u. s. w. Würzburg 1866, bes. 2. B., 2. A„ §. 41 ff.. S. 134 ff.; Lange in „Mills An-
sichten“; Elster a. a. 0. S. 510; Lexis, Art. Carey, im Handwörtcrb. II. 810, wo
es ebenfalls heisst: „die Malthus’sche Bevölkerungslehre verfolgte Carey mit einer
wahren Leidenschaft, ohne indessen etwas Stichhaltiges gegen den eigentlichen Kern
derselben vorzu bringen“. — In Deutschland hat auch hier E. Dühring in seinen
nationalökonomischen Schriften die Carey’schen Ansichten angenommen (Kritische
Grundlegung. Cursus der Socialökonomie, Literaturgeschichte), ohne damit mehr Er-
folg als mit seiner sonstigen übertreibenden Hochschätzung Carey’s zu finden, es
auch nur in der Verhönung des „Pfaffen Malthus“ weiter als sein Meister bringend.
Vgl. z. B. die vortreffliche Anzeige von Dühring’s krit. Grundlegung von v. Scheel
in Hildebr. Jahrb. VI, 352 ff. So ist im Ganzen auch diese besonders scharfe Oppo-
sition gegen den Kern der Malthus’schen Lehren schon jetzt wieder verhallt. Auch
von ihr hat sich Mill’s W'ort in seinen principles (book I, ch. 10 §. 1) bestätigt.
In der „naturwissenschaftlichen“ Polemik gegen Malthus steht übrigens,
wie bemerkt, Carey nicht allein. Nicht ganz dieselben, aber verwandte Ansichten
haben schon früher Doubleday (true law of population etc., London 1640, und
neuere Aufl., s. Mohl Litt.gesch. S. 497), dann namentlich Herbert Spencer ver-
treten (theory of population, Lond. 1652, auch in seinen principles of biology, 2. ed.
Lond. 1867, deutsch von Vetter, Stuttg. 1876/77; darüber Mohl a. a. 0. S. 447,
Elster a. a. 0. S. 513 ff.). Hier wird aus einem behaupteten Fortschritt der „Indi-
viduation“ des Menschen mit der Culturentwicklung ebenfalb, freilich erst für eine
ohnehin unbestimmt ferne Zukunft eine Abnahme der Vermehrungstendenz und Frucht-
barkeit abgeleitet: geistvolle, vielleicht ein Korn Wahrheit enthaltende, aber doch iin
Grunde des festen Bodens der Thatsachcu entbehrende luftige „sociologische“ Specula-
tioneu, mit denen doch in der Frage nichts bewiesen wird. Es ist cheractcristisch,
dass sich an dergleichen vermeintlich feste „wissenschaftliche Ergebnisse auch Socia-
listen anklammern, wie z. B. Bebel, um Malthus zu „widerlegen“. W;ie wenig
überdies für eine ganze Bevölkerung aus den Carey 'sehen und Spencer’schcn Sätzen
folgen würde, selbst wenn sie für gewisse Individuen und Classen, dio eigentlichen
geistesarbeitenden, zutreffen sollten, was freilich auch höchst zweifelhaft ist. hat schon
Mohl (Litt.gesch. S. 498) sehr richtig hervorgehoben.
Nicht alle, aber grade die Koryphäen des Socialismus sind erklärte Gegner
von Malthus’ Lehre. S. Einzelnes in der gen. Schrift von Heinr. Sötbeer, in dem
Aufs. Elstcr’s a. a. 0. S. 502 ff., auch in dem Aufs. Platter’s, Marx und Malthus
in Hildebr. Jahrb. B. 29, 1877, S. 321 — 341. Fourier wie Proudhon, Engels,
Marx, Lassalle, Rodbertus, Bebel u. a. m. sind solche Gegner. Marx, auch
hier der wichtigste bezügliche Autor (s. bes. Kapital I, Kap. 6 u. A. S. 603. 617 ff
der 1. Aufl.) erkennt das Malthus’sche Gesetz nur für die gegenwärtige kapitalistische
Productionsweise , nicht allgemein an. Jjde besondere historische Productionsweise
460
4. B. Bevölkerung u. Volkswirthsch. Littcratur. §. 196.
habe ihre besondren, historisch gütigen Productionsgesetze, ein abstractes Populations-
gesetz existire nur für Pflanze und Thier, nicht für den Menschen. Nur unsere volks-
wirtschaftliche Organisation und kapitalistische Accumulation schaffe die Ueber-
völkerung. Und ähnlich Andere, mit daneben unterlaufenden sonstigen Argumenten,
wio z. B. bei Bebel (die Frau, 9. Aufl , Stuttg. 1891, im Abschnitt von Bevölkerung
und Uebervölkerung, S. 350 ff.), wo mit der grössten Sicherheit auch die unsichersten
naturwissenschaftlichen und technischen Behauptungen, z. B. hinsichtlich der Ab-
hängigkeit der Vermehrungsfähigkeit der Bevölkerung von der Art der Ernährung
(S. 371), hinsichtlich der Entwicklungsfähigkeit der landwirtschaftlichen Bodenerträge
aufgcstcllt und damit die Malthus’sche Lehre „widerlegt“ wird: die Beweisführung
hier, wie in der ganzen Schrift Bebels (z. B. in dem Abschnitt „die Frau in der
Vergangenheit“ mit den prähistorischen und primitivhistorischen Hypothesen und
Speculationen über früheren Geschlechtsverkehr u. s. w. !) zugleich ein Beispiel des
anmaassendsten autodidactischen Dilettantismus, der unsicherste Hypothesen, Conjec-
turen und wilde Speculationen für feste Ergebnisse der Wissenschaft ansieht. Immer
noch günstiger ist gegenüber solchen Auslassungen die Schrift des Socialisten Scbippel,
das moderne Elend und die Uebervölkerung, Leipz. 1883, ferner H. George, Fort-
schritt und Armuth, Deutsch, 18S11), zu beurtheilen.
Trotzdem ist aber, wie schon angedeutet (§. 192), aus der socialistiscben Polemik
gegen Malthus ein Punct als wenigstens relativ berechtigt anzuerkeunen , wenn er
auch schon von andrer Seite hervorgehoben worden ist und seine Tragweite eben viel
geringer ist, als diejenigen, welche ihn betonen, cinräumen wollen : es muss, wie oben
(S. 454) bemerkt, zugestanden werden, dass allerdings die gegebene Organisation
und Rechtsordnung der Volkswirtschaft, speciell für die sachlichen
Productionsmittel und davon abhängig für die Gestaltung der Production
und Verteilung ein wesentlicher Factor in der Bevölkerungs-, Volkszunahme und
Uebervölkerungsfrago ist. Hemmungen der Production, starke Ungleichheit der Ein-
kommen- und Vcrmögensvertheilung, welche aus einer bestimmten Organisation und
Rechtsordnung hervorgehen (Grundbesitzvertheilung, Kapitalconcentration), können hier
erschwerend wirken, eine Volkszunahme, Volkszahl bedenklich, eine gegebene Bevöl-
kerung, wenigstens partiell, local und zeitweilig, als relative Uebervölkerung erscheinen
lassen , während das unter anderen , günstigeren Verhältnissen der Organisation und
Rechtsordnung nicht oder nicht in dem Maasse der Fall sein würde. Eben deshalb
muss diese Seite der Sache mehr berücksichtigt werden, als es bei deu Malthusianern
üblich ist und namentlich früher üblich war. Selbst Kümelin’s Ausführungen er-
heischen hier hie und da mit Bezug auf diese Seite Ergänzungen und Berichtigungen.
Indessen die Socialisten übersehen hier doch auch ihrerseits wieder Wesentliches.
So zunächst, dass eine gegebene Organisation und Rechtsordnung, Besitzgestaltung,
auch wenn man wollte, nicht so beliebig und vollends nicht rasch und mei-
stens nicht über ein gewisses Maass hinaus umgcstaltct werden kann: die
unhistorische und unreale Illusion, in welcher sich der theoretische und politische
Socialismus bewegt. Sodann: ob eben überhaupt eine radicale Umgestaltung der Pro-
ductions- und Vertheilungsordnung, wie sie der radicale Socialismus plant, möglich
und, wenn selbst dies, Dauer und guten Erf olg versprechend sein würde; dafür
bleibt der Socialismus auch hier wieder den Beweis schuldig. Und endlich: selbst
wenn mehr oder weniger bedeutende organisatorische und wirthscbaftsrechtliche Re-
formen und schliesslich sogar die geplante Hinüberführung der heutigen „kapitalisti-
schen“ in die socialistischc Volkswirtschaft gelänge, spricht eben, wie schon früher
hervorgehoben, alle psychologische Wahrscheinlichkeit und alle bisherige Erfahrung
in Betreff der physischen und psychischen Factoren, von welchen die Volkszunahme
abhängt, dafür, dass das Schreckgespenst der Uebervölkerung nicht verschwindet, son-
dern grade erst recht auftaucht, d. h. dass Malthus Recht behält. Nicht, wie Marx
will, jede historische Productionsordnung hat ihr eigenes Bevölkerungsgesetz, sondern
nach dem stets geltenden Gesetz nur ihren eigenen Bevölkerungsspielraum,
welcher vielleicht in einer Hinsicht bei einer Volkswirtschaft ohne privates Grund-
und Kapitalcigenthum und bei gleichmässigcrcr Verteilung des Einkommens grösser,
*) S. Uber diesen H. Sötbeer, a. a. 0- S. 101 ff. und meine Recension in der
Tüb. Zeitschr. 188J, S. 619 ff. George’s Polemik gegen Malthus erhebt sich freilich
nicht viel über diejenige Carey’s.
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Polemische Litteratar gegen Malthu9.
461
als unter unseren heutigen Verhältnissen sein kann, aber' jedenfalls auch seine enge
Grenze hat, wenn nicht Uebervölkerung und in ihrem Gefolge die repressiven Hemm-
mittel der Volksvermehrung eintreten sollen. Da würde sich denn doch wieder zeigen,
dass, wie Mi 11 sagt, „die Nothwendigkeit des Znrückhaltens der Bevölkerungszunahme
sich nicht auf einen Zustand der Ungleichheit des Eigenthums beschränkt“ (principles,
B. I, ch. 13, §. 2). Ob aber eben unter den in einem socialistischcn Gemeinwesen
obwaltenden Verhältnissen dieses „Zurückhalten“ leichter als jetzt und überhaupt ohne
directen Zwang möglich und wirksam sein wird, das bleibt immer die grosse Frage.
Miil’s Satz, dass man allenfalls dem Individuum ein unbedingtes Existenzrecht, nicht
aber das Hecht, beliebig viel neue Individuen in Existenz zu setzen, gewähren könne,
dürfte grade in einem socialistischen Gemeinwesen die grösste practische Be-
deutung gewinnen.
Das jedoch möchte zuzugestehen sein, dass alle Fragen der volkswirt-
schaftlichen Organisation und Rechtsordnung, insbesondere daher
auch diejenigen der Grandbesitz- und der Kapitalvertheilung sowie
der Einkommen- und Vermögensverth eilung überhaupt zugleich mit
aus dem Gesichtspan cte des Be v ölkerungs w esens zu behandeln sind,
wie cs im weiteren Verlaufe in diesem Werke auch geschieht. Es muss gezeigt
werden, wie die und die Organisation und Rechtsordnung auf die Bevölkerungsver-
mehrung einwirkt, an welche organisatorische und rechtliche Voraussetzungen letztre
gebunden ist und welche Anforderungen dieserhalb in dieser Hinsicht zu stellen sind.
Hier ist eine Lücke in der Malthos’schcn Bevölkerungslehre und zugleich in den
nationaiökonomiscben Lehren von der Einkommen- und Besitzvertheilung anzuerkennen,
auf welche die socialistische Polemik und Beweisführung zwar einseitig, aber nicht
durchaus unrichtig hinzeigt und welche es auszufüllen gilt. Es wird sich dabei aber
auch wieder ergeben, dass der Kern der Malthus’schen Lehre nicht alterirt wird.
Mit der Bevölkerungslehre steht die nationalökonomische Lehre vom Arbeits-
lohn in näherem Zusammenhang, öfters wird jene in der Litteratur grade bei Ge-
legenheit letztrer erörtert. Auch das von Lassalle sogen, „eherne Lohngesetz“,
welches er freilich mit Unrecht als Lehre Ricardo ’s und der classischcn britischen
Nationalökonomie hinstellt, steht in deutlicher Verbindung mit der Bevölkerungslehre.
Jungst hat die deutsche Socialdemokratie dieses eherne Lohngesetz fallen lassen und
bezügliche Stellen darüber aus dem Gothaer Parteiprogramm in das neue Erfurter
(1891) nicht aufgenommen. Das ist auf Anregungen von K. Marx zurückzuführen,
für dessen Standpunct in der Bevölkerungslehre es characteristisch ist, dass er in
jenem Lohngesetz nur eine Anerkennung der Malthus’schen Lehre sieht, weshalb er
das Vorhandensein jenes Gosefzes leugnet. Sei die Malthus’sche Theorie richtig, so
könne man das Lohngesetz nicht aufheben, auch wenn man die Lohnarbeit aufhebe,
denn dann beherrsche das Gesetz nicht nur das System der Lohnarbeit, sondern jedes
gesellschaftliche System (s. Marx, zur Kritik des socialdemokratischen Parteipro-
gramms, in der „Neuen Zeit", IX, B. 1, S. 570). Ein ganz folgerichtiger Schluss
von Marx, nur dass damit nichts für ihn und seine Polemik gegen die Malthus'sche
Lehro bewiesen, sondern diese Polemik als auf einer petitio principii beruhend erwiesen
wird. Man braucht Lassalle’s ehernes Lohngc9ctz nicht anzuerkennen, muss aber eben
zugeben, dass in jedem Zustand der Gesellschaft, der volkswirtschaftlichen Organi-
sation und der Rechtsordnung die Volkszunahme Gefahren für die Aufrechthaltung
hoher Löhne oder, in einem socialistischen Gemeinwesen, absolut hoher Individual-
anthcile am Volkseinkommen mit sich führt, worüber auch Marx nur mit Behaup-
tungen, nicht mit Gegenbeweisen hinweg kommen kann.
Uebrigens fehlt es doch auch unter den Socialisten nicht an Anhängern der
Malthus’schen Lohre (s. Elster a. n. 0. S. 507). So hat Winkelblech (Mario)
sie doch im Wesentlichen, trotz Abweisung mancher Folgerungen, anerkannt, zwar
auch von Fortschritten der Production viel erwartet, aber auch dabei die Nothwendig-
keit von legislativen und administrativen Hcmmmittcln gegen abnorm starke Volks-
zunahme nicht verkannt (Untersuch, über die Organisation der Arbeit, 2. Auf!., bes. II,
220 ff. IV, 67 ff. Nebenbei hat auch er, wie Andere, auf Vorgänger von Malthus
hingewiesen, ohne wie Marx daraus den Vorwurf des Plagiats gegen ihn zu erheben.
Er nennt ihn mit Recht: nicht den Entdecker, sondern den Begründer des Bevölkerungs-
fesetzes II, 220). Ferner hat sogar einer der jüngeren Theoretiker der deutschen
ocialdemokratie, K. Kautsky, in einer tüchtigen wissenschaftlich gehaltenen Schrift
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Theil. Grundlagen. 30
462
4. B. Bevölkerung u. Volks wirthschaft. Litteratur. §. 196, 197.
(der Einfluss der Volksvermehrung auf den Fortschritt der Gesellschaft, Wien, 1680)
sich in gewissem Sinne zu Malthus bekannt. Er kritisirt ebenfalls die mathematische
Formel, berichtigt die Behauptung, dass die Lebensmittel sich bloss in arithmetischer
Progression vermehren könnten. Das ..Malthus’sche Recept“, dass die Arbeiter sich
zum Zweck der Lohnerhöhung langsam vermehren müssten, weist auch er in der
heutigen „kapitalistischen Productionsweise“ ab, weil im Maschinenzeitalter daun nur
um so mehr Maschinen an die Stelle der vertheuerten Handarbeit treten würden.
Dagegen erkennt er die Gefahr, welche aus der starken Tendenz zur Volksvermehrung
für die Lage des Volks hervorgehe und vollends im „Socialstaate“, bei einer Schwä-
chung der „präventiven Checks“ hervorgehen müsse, offen an. Er will seine Partei-
genossen zu der Ueberzeugung bringen, dass „ohne Berücksichtigung des Bevölkerungs-
gesetzes eine befriedigende Lösung der socialen Frage unmöglich sei“. Er gelangt
dann zur Forderung einer absichtlichen „Regelung der Bevölkerungsbewegung“, mittelst
präventiven Geschlechtsverkehrs. Wenn Kautsky, wie Bebel (Frau, S. 357) sagt,
jetzt längst nicht mehr auf dem Boden dieser Schrift stehen sollte, so bewiese das
nichts gegen den Werth derselben, wie man auch vom Standpuncte der Physiologie
und der Moral über sein Abhilfmittel gegen zu grosse Volkszunahme denke.
In letzterer Hinsicht hat sich aber neuerdings eine theoretische und agitatorische
Bewegung, besonders in England, aber auch auf dem Continente, entwickelt, welche
die Malthus’sche Lehre anerkennt, nur von „moral restreint“ keinen genügenden Er-
folg erwartet und sich offen, freilich in Ueberschätzung der Macht des Geschlechts-
triebs, der physiologischen Nothwendigkeit seiner Befriedigung, der Gefahren seiner
Nicht-Befriedigung und in Unterschätzung der physiologischen, ästhetischen und ethi-
schen und schliesslich auch populationistischen Bedenken gegen das befürwortete
Mittel, für den präventiven Geschlechtsverkehr, mit absichtlicher Verhinderung der
Zeugung, bezw. künstlicher Regelung der letzteren („facultative Sterilität“), erklärt:
der sogen. Neu- Malthusianismus. Es sind namentlich Mediciner, aber doch
sie nicht allein, sogar Frauen, welche diesen Standpunct einnebinen, ihn offen ver-
treten und besonders im Interesse der Hebung der unteren Klassen bei diesen dafür
Propaganda machen: eine Verallgemeinerung des „Zwei - Kindersystems“, welches
practisch in Frankreich, hier wohl in Zusammenhang mit Erbrecht und besonders auch
unter der ländlichen Bevölkerung, verbreitet, aber auch in anderen Ländern, selbst in
Deutschland da und dort unter bäuerlicher Bevölkerung, nicht unbekannt ist S. darüber
Elster a. a. 0. S. 519 — 522 und daselbst die Litteratur. Hervorzuheben: Elements of
social science or physical, sexual and natural religion, by a Dr. of medicine, Lond.
1854, in zahlreichen Auflagen; auch deutsch: Grundzüge der Gesellschaftswissenschaft,
Berlin 2. A. 1S76 und seitdem mehrfach. Hier und in anderen ähnlichen Schriften zum
Theil unerhörte, ja ekelhafte Ausführungen, wenn auch ein gewisser wissenschaft-
licher Ernst nicht bestritten werden soll; auch eben lediglich „medicinischer“
Standpunct (wie öfters in der medicinischen Prostitutionslitteratur). mit Ansichten über
dio physiologische und schliesslich auch psychologische Nothwendigkeit und Heilsam-
keit der Befriedigung des Geschlechtstriebs, die Gefahren einer Nicht-Befriedigung,
welche als feste wissenschaftliche Sätze hingestellt werden, wahrend sic mindestens
gesagt unbewiesen, zum Theil reine Behauptungen sind.
Immerhin wird aber zuzugestehen sein, dass hier ein Gebiet vorliegt, auf welchem
Manches strittiger sein dürfte, als es nach den geschichtlich überkommenen ethischen
und religiösen Anschauungen bei uns, rein negirend, aufgefasst zu werden pflegt. Es
giebt zu denken, wenn Männer wie Rümelin sich in kaum rnisszu verstehender
Weise nicht ohne Weiteres ablehnend Uber das französische Zweikindersystem äussern.
Gegenüber der optimistischen deutschen Anschauung über die starke Volkszunahme,
welche er wegen der seiner Ansicht nach unbestreitbaren Symptome der Uebcr-
völkerung verwirft, meint er: „man möge auf hören, auf das französische Beispiel
einer langsamen Volksvermehrung verächtlich herabzublicken und mit dem hoch-
müthigen Pharisäer zu sprechen: ich danke Dir Gott, dass ich nicht bin, wie dieser
da, fast als ob die französischen Ehepaare nicht so gut wie die deutschen im Stande
wären, auch 5 — G Kinder zu erzeugen, statt 2 — 8, wenn sie dies wollten, und als ob
sie mit ihrer Sitte schlimmer wären und schlimmer fuhren als wir mit der unsrigen ;
dann soll man uns diese Sitte nicht als den „dunkeln Punct“ wrarnend hinstellen, wie
wenn es bei uns nicht viel dunklere Puncte gäbe, wie wenn es überhaupt in diesen
Dingen ohne dunkle Puncte abgehen könnte und blosse Sittenpredigten im Stande
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Statistische Litteratur.
463
wären, die dämonischen Gewalten der sexuellen Naturtriebe zu bändigen und die
furchtbaren Gefahren, die der Gesellschaft daraus erwachsen, fernzuhalten“ (Reden
und Aufsätze, N. F. 1881, S. 613 ff.).1)
Die Extreme berühren sich auch hier wieder. Der socialistische Optimismus
findet sein Gegenstück in dem freihäud lerischcn, harmonistischen Optimismus
in der Bevölkerungsfrago, bei Bastiat und seinen Anhängern, und zugleich begegnet
hier eine verwandte Anschauung über die Hilfsmittel gegen Uebervölkerung. Dort
Abschaffung der kapitalistischen Productionsweise, hier grade umgekehrt völlig freie
sociale und wirtschaftliche Rechtsordnung und Bewegung, aber mit der angenommenen
Folge, dass dann Alles sich schon von selber genügend regeln werde: durch liberale
Agrarverfassungen, Entwicklung der Communicationsmittel, Freihandel, internationalen
Agrarproducten- und Fabrikatenaustausch, Auswanderung und Besiedelung der neuen
Welt und uncultivirter oder wenig cultivirter Gegenden. Auf diesem Standpuncte steht
im Ganzen die deutsche Freihandelsschule. Vgl. den Aufs, von Keferstein „Volk“
in Rentzsch’ Handwörterb. der Volkswirtschaftslehre (Leipz. 1866). M. Wirth, in
seiner Nationalökonomie z. B. I, 4. A. Köln, 1881 S. 178 ff., E. Wiss (früher Heraus-
geber der Berl. volksw. Vierteljahrschrift) das Gesetz der Bevölkerung und die Eisen-
bahnen, Berlin 1867. Eine neueste Schrift geht mir während der Ausarbeitung dieses
zu: Prof. L. Hoffmann, die Bevölkerungszunahme ist keine Gefahr; gegen die
Malthusianer, Stuttg. 1S92.
§. 197. Fortsetzung. Statistische Litteratur. Alle Schriften über
Bevölkerung beschäftigen sich mehr oder weniger eingehend mit der statistischen
Seite der Fragen und verwertlien statistisches Material. Auch die Fach-Statistiker,
insbesondere die Bevölkerungsstatistiker, haben begreiflich die Malthus’scbe Lehre
berücksichtigt, ihre statistischen Grundlagen geprüft, namentlich die „geometrische
Progresssion“ untersucht und berichtigt, die thatsächlichen Verhältnisse der Volkszahl,
Veränderungen durch die natürliche Bewegung (Geburt, Tod) und durch die localen
und internationalen Wanderungen auf Grund der amtlichen Statistik, der Geburts-,
Heiraths-, Sterbestatistik, der Wanderungsstatistik, der Volkszählungen festzustellen,
auch die Entwicklung der Production der Güter und der Steigerung der Productions-
fähigkeit zahlenmässig zu bestimmen und so Beiträge zur Frago von der Zuwachs-
rate der Production (Malthus’ arithmetischer Progression) zu liefern gesucht Es
muss dabei aber doch immer festgehalten werden, dass die Malthus'sche Frage
und was mit ihr zusammenhängt nicht eine statistische, sondern eben eine volks-
wirtschaftliche ist und die Statistik nur Thatsachcn liefen), Causal- und con-
ditionelle Zusammenhänge aufdecken, falsche deductive Schlüsse berichtigen helfen
kann, kurz eben auch hier nur als Methode (§. 80 ff.) in Betracht kommt, deren
sich der Nationalökonom mit über auch hier nicht allein zu bedienen hat Das wird
zu oft übersehen. Der Statistiker als solcher hat daher hier auch nicht das letzte,
nicht das entscheidende Wort, was z. B. Wappäus (Bevölk.statistik, I, 43) auch direct
anerkennt: die tiefere Untersuchung Uber die Malthus’sche Lehre u. s. w. komme der
Politischen Oekonomie zu. Wenn der Statistiker sich zur Malthus'schen Lehre äussert,
wird er eben Nationalökonom, der auch mit den volkswirthschaftlichcn und allen den
übrigen, im Vorausgehenden berührten Beweisgründen operirt. Die einzelnen Statistiker
haben sich übrigens zur Lehre verschieden gestellt. Quetelet erkennt sie an, sucht
nur trotz seiner Zweifel über die Anwendbarkeit mathematischer Formeln auf diesem
Gebiete eine andre Formel für die Bevölkerungszunahme aufzustellen, die er auch
*) Guter der neueren Litteratur, welche den präventiven Geschlechtsverkehr be-
fürwortet, befindet sich auch eine kleine Schrift von „Dr. A. Wagner, zur Errettung
des deutschen Volks aus seiner Verarmung, Berlin, Breslau, Leipzig“ (1891). Da es
mir passirt ist, dass ich in socialdemokratischen Volksversammlungen und Blättern
(Cassel) für den Verfasser dieser Schrift gehalten und heftig angegriffen worden bin,
sei doch auch hier die für den Kundigen freilich unnöthige Bemerkung gemacht, dass
ich selbstverständlich dieser Schrift völlig fern stehe, mir ihr Verfasser (es soll ein
Lehrer in Breslau sein [?]), ebenso wie bis zu jenen Angriffen seiue Schrift gänzlich
unbekannt waren und hier nur eine zufällige, allerdings sogar auf den Anfangsbuch-
staben des Vornamens sich erstreckende Namensvetterschaft vorliegt. Mir jene Bro-
schüre zuzuschreiben, verrieth nicht oben viel kritische Befähigung bei den Herren
Socialdemokraten.
30*
464
4. B. Bevölkerung u. Volkswirthschaft. Litteratur. §. 197.
noch in der 2. Aufl. seines bekannten Hauptwerks aufrecht erhalt, ohne sie übrigens
irgend als richtig zu beweisen: „la populatiou tend k croitre selon une progression
göomdtrique; la rösistance ou la seinme des obstacles k son döveloppement est toutes
choses Egales d'ailleurs, comme le carr6 de la vitesse avec laquelle la population tend
k croitre“, — ein ebenso vergeblicher, als auch principiell falscher Versuch, Ver-
hältnisse, welche von so vielen variableu Factoren abhängen, in einer einfachen mathe-
matischen Formel zusammenzufassen (Sur l’bomme et lc d^veloppement de ses facultas,
1. 6d. Paris, 1835, deutsche Uebersetzung von Riecke, Stuttg. 1835, hier S. 290,
2. 6d., physique sociale, Brux. et Paris 1869, hier tom. I, 432). Wappäns, überall
den Widerspruch der Thatsachcn mit der Malthus’schcn Formel, besonders in Betreff
der Volkszunahme in geometrischer Progression und der Verdopplung unter selbst
günstigsten Umständen in 25 Jahren zeigend, bemerkt doch, ohne Bedenken zu äussern,
also doch wohl beistimmend, dass „gegenwärtig die Nationalökonomie die Grund-
ansichten von Malthus als ein festes Eigenthum der Wissenschaft ausieht“ und
weist auf Roscher hin (Bevölk.stat. I, 44). Kein geringerer dagegen als Ernst Engel
hat sich, früher wenigstens, in sehr optimistischer Weise, mit Carey sehen Argumenten,
absprechend über die Malthus’sche Lehre geäussert (s. das Citat bei Elster a. a. 0.
S. 512 aus der sächs. Statist. Zeitschr. 1855 S. 141 ff.).
Die grossen Fortschritte der Bevölkerungsstatistik gewähren gegenwärtig viel
besseres Material zur Erläuterung und Beweisführung in allen Einzelheiten des Bevöl-
kerungsproblems , soweit dieses sich überhaupt statistisch untersuchen lässt, vollends
verglichen mit dem unvollkommenen Material, welches Malthus zur Verfügung stand.
Die genaueren Volkszählungen, auch mit ihrer Altcrsstatistik, die sichereren standes-
amtlichen Aufzeichnungen über Geburten, Eheschliessungen, Todesfälle, die Ver-
besserungen der Wanderungsstatistik, welche freilich immer noch erhebliche Mängel
hat, machen es leicht, manche frühere Annahmen oder Beweisführungen mit und
Schlüsse aus statistischen Daten, bei Malthus und vielen Anderen, zu berichtigen.
Auch die verbesserte Productiousstatistik und wirthschaftlicho Statistik überhaupt er-
möglicht Berichtigungen früherer Annahmen, wenn sie auch immer noch in wichtigen
Puncten im Stich lässt oder nur unsichere Schlüsse gestattet. Mit allen solchen
Berichtigungen wird aber wiederum in der volkswirtschaftlichen Seite der Bevöl-
koruugsfragc keine principielle Aendcrung an dem Kern der Malthus’schcn Lehre
notwendig.
Früher waren es mehr privatstatistische Werke, welche das für die Be-
völkerungsfrage wichtige statistische Material zusammentrugen und schlussberechtigend
verarbeiteten. Neuerdings sind auch die amtlichen Tabellenwerke selbst herbei-
zuziehen, namentlich wo sie, wie z. B. diejenigen der Deutschen Reichsstatistik, Auf-
sätze in den amüichen statistischen Zeitschriften, Vergleichungen nicht nur aus
längeren Perioden für dasselbe Gebiet und desseu Theile, sondern auch mit fremden
Ländern anstollen. Von besonderem Interesse sind Vergleichungen aus Jahren und
Gebieten mit bestimmt wechselnden äusseren Verhältnissen (Friedens-, Kriegszeiten,
Perioden wirtschaftlichen Aufschwungs und der Depression, der Krisen, verschie-
dener Ernten und Preise der Lebensmittel u. s. w.) und unter Ländern mit specifisch
verschiedener natürlicher und durch Wanderungen vermittelter Volksbewegung, daher
z. B. besonders zwischen Grossbritannien und seinen Theilen, dem Deutschen Reich
und seinen Bestandteilen einer-, Frankreich andererseits, Europa einer-, Nordamerica,
Australien andererseits. Im Folgenden werden, bei der hier nur möglichen spärlichen
Hereinziehung statistischer Daten, besonders das Deutsche Reich und Frankreich ver^
glichen und deren Daten zur Illustration und Beweisführung benutzt werden. Nament-
lich stellen im Grossen und Ganzen Preussen und Frankreich scharfe Gegensätze der
Erscheinungen in der Bevölkerungsbewegung dar, wenn auch wieder mit mancherlei
Verschiedenheiten in den einzelnen Gebietsteilen.
Aus der Littoratur der Bevölkerungsstatistik werden hier nur einige
Hauptwerke genannt. Die wichtigsten sind immer noch: Quetelet’s Schriften,
namentlich sein Werk über den Menschen (S. 432 u. vorhin), Wappäus’ Bevölkerungs-
statistik (S. 432). auch A. v. öettingen’s Moralstatistik (S. 432). S. ferner G.
Mayr ’s Gesetzmässigkeit im Gescllschaftsleben, München 1877, und die Handbücher
der Statistik, soweit sio statistische Daten selbst bringen, bes. Kolb, auch Walcker.
Von älteren Werken: Bernouilli, Handbuch der Populationistik , Ulm 1841, mit
Nachtrag 1843; Horn, Bevölkeruugswissenschaftliche Studien aus Belgien, Leipzig 1854.
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Statistische Litteratur.
465
Hauptdaten aller Länder jährlich im Gothaer Jahrbuch. Vergleichungen im Bulletin
de 1 institut de statistique internationale. Sorgfältigste Bearbeitung des statistischen und
Schätzungsmaterials für die ganze Erde in den verschiedenen Jahrgängen der „Be-
völkerung der Erde“, von ßehm und Hermann Wagner, neuerdings von letzterem
und Supan, zuletzt No. VIII, Gotha 1891. Heiraths-, Geburts-, Ein- und Aus-
wanderungsstatistik etc. auch in v. Neumann-Spallart’s und v. J uraschek’s
Uebersichten der Weltwirtschaft. Zusammenstellung einiger wichtiger Zahlen in
H. Rauchberg’s Aufs. Bevölk.statistik der neuesten Zeit im Handwörterbuch d.
Staatswiss. II, 427 — 433, auch in Elster’s Aufs. S. 523 !f. (Eb. die Abh. Bevöl-
kerungswechsel von Lexis S. 456 ff.)
Aus der amtlichen Statistik ist besonders auf die grossen Tabellen werke über
Stand. Eigenschaft (Zusammensetzung) der Bevölkerung nach den jedesmaligen Volks-
zählungen und auf die gleichen über die Bewegung der Bevölkerung zu verweisen.
Die Hauptdaten daraus meistens in den amtlichen Zeitschriften und Jahrbüchern.
Daselbst daun auch Jahresreihen über die Veränderungen und etwaige Vergleiche.
Die statistischen Bureaux und Aemter aller Länder wetteifern in Reichthum und
Sorgfalt der bezüglichen Publikationen neuerdings immer mehr. Für die Zwecke des
Folgenden sei namentlich auch hier auf die Daten im Statist. Jahrbuch des Deutschen
Reichs und auf die Veröffentlichungen des reichsstatistischen Amts über die jährliche
natürliche Bewegung der Bevölkerung und über Auswanderung hingewiesen. In Be-
treff der natürlichen Bewegung werden hier Vergleichungen mit den Daten anderer
Hauptstaaten vorgenommen, welche ich hier vorncmlich benutze. S. die bezügliche
neueste Publikation: Stand und Bewegung der Bevölkerung des Deutschen Reichs und
fremder Staaten (alle europäischen ausser Portugal, doch fehlen gewisse Daten eben
auch für einige andere Länder), mit graphischen Darstellungen, N. F. B 44 der
Statistik des Deutschen Reichs, Berlin 1892, mit Einleitung von Becker und Schu-
mann: ein eminentes statistisches Werk, dem übrigens andere ähnliche vergleichende
(so vom schwedischen Bureau, stat. internat., 6tat de population, Stockholm, 1875 — 76,
vom italienischen Bureau, populazione, movimento dello stato civile, J. 1865 — 83,
Roma 1884) vorangegangen sind. Uebersicht über Geburten u. s. w. im Deutschen Reich
J. 1890, in den Vierteljahrsheften, 1892, auch mit einigen Vergleichungen mit anderen
Grossstaaten. Es ist ein besonderer Vorzug dieser reichsstatistischen Arbeiten, der grade
für die wissenschaftliche Seite der Bevölkerungsstatistik ins Gewicht fällt, dass man nicht
nur nach „Staaten“ und administrativen Abtheilungen (Provinzen u. s. w.), also nach
grade in Deutschland vielfach rein zufälligen Landes- und Volksabthcilungen einer selt-
samen geschichtlichen Entwicklung der Staaten- und Grenzbildung, sondern auch nach
einer Art geographisch - und volkswirtschaftlich- natürlichen gruppenweisen Gebiets-
einteilung die Materialien, so für die natürliche Bewegung der Bevölkerung, verarbeitet.
Aus dem Reichsgebiet hat man so 15 „Gebietsgruppen“ gemacht, wobei man sich
freilich immer noch stark an die Staats- und Provinzialgrenzen anlchnt, aber doch
mancherlei sich näher stehende Theile, auch wenn sie zu verschiedenen „Staaten“
oder Provinzen gehören, namentlich die Kleinstaaten unter sich und mit anderen
zusammenfasst (z. B. K. Sachsen und die 8 thüring. Staaten, Rheinpfalz und Eisass,
Würtemberg, Baden und Ilohenzollern). Man erreicht so auch immerhin ein wenig
mehr Annäherung an die Stammoseintheilung der Nation (vgl. das letztgen. Heft
S. 18), was für bevölkerungsstatistische Fragen von Interesse ist. Die mechanische
französische Departementseintheilung und ähnlich die verwandte anderer Länder zer-
reisst willkührlich auch hier dergleichen, wie alle historischen Bande, zum Nachtheil
auch für die Statistik.
Uebcr Statistik der Ein- und Auswanderung, ferner der örtlichen Ver-
th ei lung der Bevölkerung (nach Grössen der Wohnorte, Stadt und Land, auch nach
Geburtsorten) ist ebenfalls in erster Linie jetzt auf die amtlichen statistischen Publi-
cationen selbst zu verweisen. In der obigen statistischen und nationalökonomischen
Litteratur werden diese Verhältnisse regelmässig mit berührt. Die neuere deutsche
Colonial bewegung hat natürlich auch auf die litterarische Behandlung der be-
treffenden Fragen eingewirkt. Für diese Litteratur muss aber auf die anderen Tbcile dieses
Werks (2. Thcil der Grundlegung, in den Abschnitten von den socialen Freiheitsrechten,
Practischo Nationalökonomie) hingewiesen werden. Vergl. u. A. bes. W. Roscher
und Jan nasch, Colonicen, Colonialpolitik und Auswanderung, 3. A., Leipzig 1S85,
ferner Geffcken’s Abh. im Schönberg sehen Handbuch B. III, mit weiterer Litteratur.
466 4. B. Bevölkerung u. Volkswirtlisch. 1. K. Bcvölk.lehre. 1. H.-A. Statist. §. 198.
Ein eigentümliches, geistvolles, auch in wichtigen Poncten wohl das Richtige
treffendes, in anderen freilich doch daneben schiessendes Werk ist endlich auch hier
noch rühmend zu erwähnen: Georg Hansen (nicht mit Georg Hanssen, dem Göttinger
Altmeister, zu verwechseln, übrigens auch Schleswig-Holsteiner), die drei Bevölkerungs-
stufen, „ein Versuch, die Ursachen für das Blühen und Altern der Völker nach-
zuweisen“, München 1889. Die Haupttendenz desselben lässt sich nur mit dem ge-
brauchten (und allerdings allein bisher vorhandenen) statistischen, geschweige dem
historischen Material vom Verfasser nicht genügend erhörten, wenn auch bis zu einem
gewissen Grade wahrscheinlich machen: wie beständig ein Austausch zwischen Land-
und Stadtbevölkerung erfolgt und erfolgen muss, um das Volk physisch und geistig
in Kraft und Blüthe zu erhalten und welche heillosen Folgen daher der Untergang
der Landbevölkerung auch für die Gesammtheit hat: ein ernstes Memento auch hin-
sichtlich der Wirkungen des weltwirthscbaftlichen Industrialismus auf die Bevölkerung.
(S. auch Buchen borger, Agrarpolitik S. 010.)
Erstes Kapitel.
Die volkswirtschaftlichen Seiten des
Bevölkerungswesens.
(T olkswirthsehaftliclic Bevölkcrungslehrc.)
Erster Hauptabschnitt.
Be völkerungs statistische Thatsachen und
U nter suchungen.
1. Abschnitt.
Theoretisches.
I. — §.198. Das volkswirtschaftliche Productions-
und Vertheilungsintcressc in Bezug auf Grosse und
Zusammensetzung der Bevölkerung und auf Ver-
änderungen darin.
1. Standpunct des Productionsinteresses. Volks-
wirtschaftlich betrachtet ist die Bevölkerung eines Volkswirth-
schaftsgehiets in ihren arbeitsfähigen, arbeitswilligen und tatsächlich
arbeitenden Gliedern der Vertreter des Factors „wirtschaft-
liche Arbeit“ in der Production der wirtschaftlichen Güter.
Setzt man übrigens gleiche Umstände voraus, d. h. nimmt man
an, dass die für den Nutzeffect der nationalen Arbeitsleistung
mit entscheidenden Momente die gleichen bleiben, — wie die Be-
herrschung der Naturkräfte für die Zwecke der Production, der
Stand der Technik, die Kapitalvcrfügung, die individuelle Arbeits-
fähigkeit und Arbeitslust, die Einrichtung der Arbeitsgliederung
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Volks wirthsch. Productionsinteresse in der Bevölk.frage.
467
(Arbeitsteilung), des unternehmungsweisen Betriebs — , so hängt
die Productionsfähigkeit und die wirkliche Productionsleistung in
einer Volkswirtschaft in einem gegebenen Zeitpuncte notwendig
von der Grösse und der Zusammensetzung (Gliederung)
der Bevölkerung aus den genannten Gliedern'einer- und den übrigen
andrerseits ab.
Die Zunahme der Production in Quantität und Qualität ist
dann unter denselben Voraussetzungen von der Zunahme der
Bevöl kerung oder von einer für die Arbeitsleistung günstigeren
Zusammensetzung der Bevölkerung oder von Bei dem zu-
gleich abhängig. Insofern bedeutet daher Vermehrung und günstigere
Zusammensetzung der Bevölkerung Vermehrung der nationalen
Arbeitsfähigkeit und, wenn gewisse andre Bedingungen zugleich er-
füllt werden, auch regelmässig tatsächliche Vermehrung der Arbeits-
leistung und damit der Production.
So gelangt man zum Standpunct des volkswirtschaftlichen
Productionsinteresses in der Bevölkerungsfrage : es erheischt,
wenn man die Angelegenheit zunächst für einen gegebenen Zeit-
punct, imRuhepunet, betrachtet: eine möglichst grosse Be-
völkerung, mit möglichst vielen und tüchtigen arbeitsfähigen, arbeits-
willigen und wirklich arbeitenden Gliedern (Individuen), um Viel
und Tüchtiges an wirtschaftlichen Gütern produciren zu können;
und es erheischt ferner, wenn man die Angelegenheit im Fluss
der Bewegung unter Annahme steigenden Volksbedarfs
an wirtschaftlichen Gütern (für eine grössere, aber auch für eine
besser lebende Bevölkerung) betrachtet, eine Zunahme und eventuell
eine andre, der Arbeitsleistung günstigere Zusammensetzung
der Bevölkerung.
In Betreff letzterer kommt von natürlichen Momenten namentlich die Alters-
classcn vertheilung, vor Allem in ihrer Bedeutung für die Arbeitsfähigkeit (Unter-
scheidung nach „productiven“ und „u n productiven“ Jahren, d. h. im Wesent-
lichen zwischen ziemlich Erwachsenen bis zu einer gewissen Altersgrenze — z. B.
über 15 bis incl. 70 oder auch nur 65, 60 Jahre — einer- und Kindern und Greisen
andererseits), sodann auch die Geschlechtervertheilung uuter homogener, der
gleichen Rage, Nationalität angehöriger Bevölkerung vorncmlich in Betracht; weiter
aber sind auch noch andere Umstände wichtig, wie die körperlich-geistige Verschieden-
heit der Individuen, das Verhältnis der in dieser Hinsicht normalen und anomalen
Menschen (Gebrechliche, an organischen Mängeln leidende, geistig und sittlich Schwache),
der Gesundheitszustand, der Bildungsstand u. a. m.
Von besonderer Wichtigkeit wird behufs Steigerung der Arbeitsleistung und damit
der Production die Zunahme und günstigere Zusammensetzung der Bevölkerung einer-
seits, wenn die übrigen für den Nutzeffect der nationalen Arbeit in der Volkswirt-
schaft maassgebenden Umstände gleich bleiben oder sich nicht so entwickeln lassen
und entwickeln, wie es das Productionsinteresse fordern würde, oder ihre Entwick-
lung Bedenken bietet, wie z. B. in gewissen Verhältnissen der technischen Arbeits- /
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468 4. B. Bevölker. u, Volkswirthsch. 1. K. Bevölk.lchre, 1. H.-A. Statist. §. 199.
tcilung, der Maschinenanwendung; anderseits, wenn die Entwicklung dieser Um-
stände selbst die Vermehrung und andere Zusammensetzung der Bevölkerung zur
Voraussetzung hat.
Von diesem Standpuncte des Productionsinteresses aus fragt
sich daher bezüglich der Bevölkerung, welches die thatsäch-
lichen erfahrungsmässigcn und die etwa abzuleitenden mög-
lichen Verhältnisse der Vermehrung und Zusammensetzung
der Bevölkerung sind.
Hier ist vor Allem bei der Statistik in Betreff der Thatsachen und ihrer
conditionellen und causalen Abhängigkeitsverhältnisse von physischen (physiologischen),
psychologischen , ethischen , socialen , wirthschaftlichcn , politischen u. s. w. Factoren
Rathes zu erholen. Soweit sich diese Abhängigkeitsverhältnisse feststellen lassen, er-
geben sich auch Anhaltspuncte zu Schlüssen hinsichtlich dessen, was in Betreff der
Grösso, Zunahme, Zusammensetzung der Bevölkerung als möglich erscheint, daher
auch hinsichtlich dessen, was cintrcten, bezw. , wenn dies möglich und zulässig ist,
was absichtlich, z. B. auch Seitens der Gesetzgebung und Verwaltung, geschehen
muss, wenn eine bestimmte Veränderung der Bevölkerung nach Grösse und Zusammen-
setzung im Productionsinteresse liegt und erstrebt werden soll.
§.199. — 2. Standpunct des Vertheilungsinteresses.
Von der Grösse und von der Zusammensetzung der Be-
völkerung, hierbei zunächst noch ganz von der socialen und
ökonomischen Klassenschichtung, der Vermögens-, Einkoramensver-
theilung unter einer gegebenen Bevölkerung eines Volkswirthschafts-
gebiets abgesehen, hängt aber auch die Grösse und einigermaassen
auch die Art des Bedarfs an wirthschaftlichen Gütern ab.
Die Grösse der Bevölkerung ist unmittelbar von Einfluss auf den Bedarf, w'enn
man eine bestimmte Lebensweise und Art der Bedürfnissbefriedigung, daher z. B.
auch, soweit das hier mit entscheidet, ein bestimmtes Klima, bestimmte nationale
Eigenschaften, als gegeben, die und die Art der Bedürfnissbefriedigung auch als
nothwendig voraussetzt. Und zwar kommt, wenigstens nach den sittlichen und recht-
lichen Anschauungen, Sitten und Rechtsnormen unserer Culturperiode, die ganze
Bevölkerung hier in Betracht, die nicht arbeitsfähigen, selbst die nicht arbeitswilligen
und die tbatsächlich nicht arbeitenden Bestandteile eingeschlossen, da dieselben min-
destens zu erhalten sind oder nach den Rechtsprincipien unserer Volkswirtschaften
auch „arbeitsloses“ Einkommen zn ihrer Bedarfsdeckung beziehen können. Neben der
Grösse ist aber die Zusammensetzung (Gliederung) der Bevölkerung, nach Lebens-
alter, Geschlecht, auch die Arbeitsart ebenfalls von Bedeutung, weil Umfang und Art der
regelmässigen und wiederum der notwendigen Bedürfnissbefriedigung einigermaassen
auch davon mit abhängen.
Nimmt man dann wieder die ProductionsfUhigkeit und wirk-
liche Productionsleistung bezüglich der Menge und Art der wirth-
schaftlichen Güter in der ganzen Volks wirthschaft als gegeben an,
so entscheidet offenbar die Grösse und die Zustimmensetzung der
Bevölkerung über die absolute und relative mögliche Höhe und
auch über die Art der Güter, welche als Einkommenquote den
Einzelnen, den Familien aus dem volkswirtschaftlichen Productions-
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Volkswirthsch. Vertheilungsinteresse in der Bevölker.frage.
469
ertrag oder dem Volkseinkommen im Durchschnitt Zufällen
können, daher bei einer gleichen Vertheilung auch zufallen
würden.
In unseren historischen, auch in allen heute vorhandenen Volks-
wirtschaften besteht nun aber principiell und praktisch eine Organi-
sation und Rechtsordnung, welche auf ungleiche Vertheilung des
Volkseinkommens unter Individuen, Familien, Classen hinwirken.
Insbesondere, aber durchaus nicht allein, hat das Rechtsprincip des
Privateigenthums an sachlichen Productionsraitteln (Roden, Kapital)
unmittelbar und mittelbar diese Folge. Für die Vertheilungsfrage
ergiebt sich daraus, dass eine Quote des Volkseinkommens zur
Gewährung überdurchschnittlicher Einkommen für gewisse
Individuen, Familien und Classen abzusetzen ist und nur die
Restquote für die Masse der Bevölkerung mit unterdurch-
schnittlichem Einkommen verbleibt. Diese Restquote ist es
dann, in welche diese Masse der Bevölkerung, daher namentlich
die sogenannten unteren „arbeitenden Classen“ und die ihnen wirt-
schaftlich und social nahestehenden, sich theilen müssen. Die
Grösse und die Zusammensetzung dieser Volksmasse entscheiden
daher wieder darüber, welche absolute und relative Quote von
diesem Reste des Volkseinkommens auf die Einzelnen und die
Familien im Durchschnitte überhaupt fallen können.
Damit gelangt man zum Standpunct des volkswirthschaftlichen
V ertheilungsin teresses in der Bevölkerongsfrage: es er-
heischt, bei gegebener Production, daher Höhe und Art des Volks-
einkommens, eine nicht zu grosse Gesammt- Bevölkerung und
eine Zusammensetzung der letzteren aus Bestandtheilen, welche
mit der Durchschnittsquote der Einzelnen und Familien als Ein-
kommen zu genügender Bedürfnissbefriedigung ausreichen, also
damit eventuell wenigstens vorlieb nehmen können. Dieses Desi-
derat tritt bei einer Organisation und Rechtsordnung in der Volks-
wirtschaft, welche die Ungleichheit der individuellen, der Fami-
lien- und Klasseneinkommen ermöglichen, nur um so stärker
hervor und in gesteigertem Maasse, je mehr dies der Fall ist und
eine je kleinere Quote vom Volkseinkommen daher für die Masse
der Bevölkerung verfügbar bleibt. So kann vom Vertheilungs-
standpuncte aus auch das Dilemma auftauchen, bei gegebener
Productionsfähigkeit und Ergiebigkeit eine Verminderung (und bzw.
andere Zusammensetzung) der Bevölkerung oder eine andere Ge-
staltung der Organisation und Rechtsordnung wünschen zu müssen,
470 4. B. Bovölker. u. Volks wirthsch. 1. K. BevölkJehrc. 1. H.-A. Statist §. 200.
welche für die Volksmasse eine grössere Quote des Volksein-
kommens zur Verfügung bringt.
Hinsichtlich der Zunahme der Bevölkerung aber erheischt
das Vertheilungsinteresse, dass dieselbe nicht rascher vor sich gehe,
al9 die Zunahme des Volkseinkommens, und dass insbesondere die
Masse der Bevölkerung, bei dem Kechtsprincip ungleicher Ver-
theilung des Volkseinkommens, nicht rascher wachse, als der ab-
solute Betrag (die Gebrauchswerthmenge) jener Restquote vom
Volkseinkommen , welche hier für diese Volksmasse allein ver-
fügbar ist.
So in beiden Fällen unter der regelmässig zutreffenden Voraussetzung wenig-
stens, dass die ganze Bevölkerung oder doch die untere Volksmasse nicht nur nicht
oine Verminderung und Verschlechterung ihrer Bedürfnisbefriedigung ertragen kann,
sondern eine Vermehrung und Verbesserung derselben berechtigt und auch im natio-
nalen Gcsammtintercsso zu wünschen ist
Diese Desiderate treten wieder um so zwingender hervor, je
mehr die Steigerung der Production die Vermehrung und eventuell
eine bestimmte, für Arbeitsleistung günstigere Zusammensetzung
der Bevölkerung selbst zur Voraussetzung hat, also nicht die
übrigen, die Productionsfähigkeit und Ergiebigkeit bestimmenden
Momente sich günstiger gestalten lassen; ferner aber auch, je mehr
die Umstände, welche die Ungleichheit der Vertheilung des Volks-
einkommens bedingen und bewirken, als feste gegebene Thatsachen
anzusehen sind, sich nicht oder nicht wesentlich ändern lassen,
vielleicht aus anderen Gründen im gesammten volkswirtschaft-
lichen und Culturinteresse, etwa weil sonst ein nachteiliger Ein-
fluss aut die Ergiebigkeit der Production droht, unverändert er-
halten werden müssen, sodass die „ Klassen quoten“ — der
„Besitzenden, nicht „besitzenden“ Classen u. 8. w. — keine Ver-
schiebung zu Gunsten der unteren Volksmasse erfahren können
und dürfen.
§. 200. — 3. Ergebniss. Im Ganzen muss man daher,
immer unter den beiden Voraussetzungen, dass in allem Uebrigen
die Productions- und Vertheilungsverhältnisse gleich bleiben, sagen:
dem Productionsinteresse entspricht grössere Bevölkerung und
raschere und stärkere Zunahme derselben, soweit diese Zu-
nahme die wirtschaftlich arbeitenden Glieder betrifft; umgekehrt
dem Vertheilungsinteresse entspricht kleinere Bevölkerung und
unter Umständen Abnahme, jedenfalls nur langsamere und
geringere Zunahme derselben, insbesondere der nur ver-
zehrenden, nicht producircnden Individuen und Classen, aber auch
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Antagonismus des Productions- u. Vertheilungsinteresses. 471
eine Zunahme der wirtschaftlich arbeitenden Glieder nur dann
und in dem Maasse, als dieselbe die Voraussetzung gesteigerter
Production ist.
Hier liegt daher unverkennbar ein Antagonismus der
Interessen in Bezug auf Grösse und Zunahme der Bevölkerung
von den beiden unterschiedenen Standpuncten aus vor. Dieser
Antagonismus bildet den Hauptpunct, um welchen sich die volks-
wirtschaftliche Betrachtung des Bevölkerungsproblems dreht.
In der Malth urschen Lehre werden vor Allein die angedeutoten Bedenken be-
tont, welche sich vom Standpuuct des Vertheilungsintercsscs aus erheben, und au sich
ganz richtig. Aber allerdings wird dabei, wie oben bemerkt (S. 447 u. S. 400), nicht
immer genügend berücksichtigt, dass diese Bedenken bei einer Organisation und Rechts-
ordnung, welche in der hervorgehobenen Weise Ungleichheit der Vertheilung, vollends
starke Ungleichheit zur Folge haben, schärfer hervortreten, also in einer Hinsicht bei
einer entsprechenden Aenderung dieser Organisation und Rechtsordnung mehr zurück-
treten könnten, — freilich nur, wenn hierdurch nicht eine noch raschere Zunahme
der Bevölkerung herbeigeführt wird. Die socialistischen Gegner von Malthus und ein-
zelne andre knüpfen hier mit ihrer Polemik an. Aber sie übersehen oder unter-
schätzen zweierlei: einmal, dass bei einer solchen Aenderung die Bevölkerung zu-
nächst wenigstens in der That wahrscheinlich noch rascher steigt und dadurch
der „Druck der Bevölkerung auf die ünterhaltsmittel“ noch grösser wird; sodann, dass
eben die Frage ungelöst bleibt, ob bei einer solchen Aenderung das Productions-
interesse nicht leidet. Jedenfalls bleibt so auch hier der Satz bestehen, dass die
schliessliche wirtschaftliche Lage des Volks und seiner einzelnen Glieder maassgebend
bestimmt wird von dem Verhähniss der Grösse und Zusammensetzung des Volks zur
Höhe und Art des Volkseinkommens und von dem Vcrhältniss, in welchem sich diese
beiden Momente gegen einander ändern, gleichmässig oder ungleichmässig und hier
in welcher Richtung und in welchem Grade. Darüber kommt keine wie immer
organisirte und rechtlich eingerichtete Volkswirtschaft hinaus, dass die Lage des
Volks und der Einzelnen sich durchschnittlich verschlechtert, wenn die Zunahme der
Bevölkerung rascher und grösser als diejenige des Volkseinkommens ist, — wenn der
Divisor mehr wächst als der Dividendus. Es kann sich daher nur fragen, bei welcher
gewesenen oder bestehenden Organisation und Rechtsordnung der Volkswirtschaft
erfahrungsmässig der Divisor oder Dividendus mehr gewachsen ist und wächst und
weiter, ob und welche Entwicklung beider Grössen in Zukunft und etwa auch unter
Voraussetzung anderer, als bisheriger. Organisation und Rechtsordnung auf Grund
bisheriger Erfahrungen und auf Grund psychologischer Deductionen wahrscheinlich
ist Darum dreht sich das socialistische Bevölkerungsproblem.
Andere Gegner von Malthus, wie die optimistischen und „harmonistisclien“ Frei-
händler und Schutzzöllner (S. 448 u. S. 458), stimmen mit den Socialisten darin überoin,
dass sie aus grösserer Bevölkerung auf gleichem Raum, also bei höherer Yolksdichtig-
keit und namentlich bei stärkerer localer Concentration der Bevölkerung, im Ganzen
eine mehr als der vergrösserten Bevölkerungszahl entsprechende Steigerung der Lei-
stungsfähigkeit als notwendige, fast naturgemässo Folge ableiten oder vielmehr ohne
Weitrcs und ganz allgemein behaupten und auf diese Weise den Dividendus, das
Volkseinkommen, immer rascher und stärker als den Divisor, die Bevölkerung, steigen
lassen: die eigentliche Frage, welche aber eben umgangen wird. Wo etwa noch
Missstände und Bedenken bleiben, werden dieselben auch hier übrigens auf Mängel
der volkswirtschaftlichen Organisation und Rechtsordnung zurückgeführt und ent-
sprechende Aenderungen in dieser gefordert, wobei man sich eben gewöhnlich nur
schon die genauere Angabe solcher Aenderungen zu leicht macht und vollends ihre
Durchführbarkeit für zu sicher hält.
Welche Schwierigkeiten hier nun erfahrungsmässig und da-
nach sowie nach psychologischen Deductionen mit Wahrscheinlich-
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472 4. B. Be?ölker. u. Volkswirthsch. 1. K. Bevölk.lehre. 1. H.-A. Statist. §. 201.
keit bei jedweder volkswirtschaftlichen Organisation und Rechts-
ordnung für die richtige Wahrnehmung des Vertheilungsinteressea
in den Bevölkerungsverhältnissen sich geltend machen, — nach
dem in diesen mitspielenden Triebleben, nach den psychologischen
Rückwirkungen äusserer Verhältnisse und Einflüsse auf dies Trieb-
leben und wieder dadurch nach dessen Wirkungen auf die Be-
völkerungsbewegung — , das ergiebt sich auch mit aus be-
völkerungsstatistischen Thatsachen.
In der „volkswirtschaftlichen Bevölkerungslehre“ muss nach
allem Gesagten durchweg der Standpunct des Productions- und
des Vertheilungsinteresses auseinander gehalten werden.
Das riöthigt aber nicht zu einer formalen Trennung der ganzen Untersuchung,
die im Gegentheil bei dem engen Zusammenhang der Sache nicht zweckmässig ist
und nur zu Wiederholungen fuhren würde.
II. — §. 201. Zur Terminologie, Technik und Kritik
der Bevölkerungsstatistik vom Standpuncte volks-
wirtschaftlicher Betrachtung aus.
Das Nähere gehört in die Werke über Statistik (s. o. S. 140) und Bevölkerungs-
statistik (o. S. 432, 465), auch über Verwaltnngslohre (L. Stein, Mo hl u. A.). Aber auf
Einiges muss auch hier eingejrangcn werden, um die Anforderungen an die Be-
völkerungsstatistik vom nationalökonomischen Standpuncte aus klarzustellen und za
begründen : zugleich auch ein methodologischer Beitrag hinsichtlich der statistischen
Methode auf einem einzelnen statistischen Gebieto (§. 80 ff.)- Vcrgl. für Einzelnes
vornemlich Wappäus, Bevölk.statistik und die Einleitung in der oben S. 465 gen.
grossen Arbeit über Stand und Bewegung der Bevölkerung im Deutschen Reich und
fremden Staaten.
In der Bevölkerungsstatistik wird der Stand und die Be-
wegung der Bevölkerung unterschieden, wonach sich dann auch
die technischen statistischen Operationen in zwei wesentlich ver-
schiedene, aber sich ergänzende trennen.
Unter dem Stand der Bevölkerung versteht man die Zahl
der in einem bestimmten Zeitpuncte in einem bestimmten Gebiete
vorhandenen lebenden Menschen (sogen, wirkliche, faetische, orts-
anwesende Bevölkerung); unter der Bewegung der Bevölkerung
die Veränderungen, welche ira Zeitverlanf in einer Bevölkerungs-
zahl durch Geburt und Tod („natürliche“ Bewegung) und
durch Wanderungen („örtliche“, „räumliche“ Bewegung)
vor sich gehen.
A. Der Stand der Bevölkerung. 1. Volkszahl.
Sic wurde früher meistens nur durch Schätzungen ermittelt, am Besten
durch Schätzungen auf Grund von Vcrhältnisszahlen, d. h. von Zahlen, welche man
mittelst partieller Zählungen gewonnen hatto, deren Ergebnisse man zu einem be-
stimmten, ebenfalls gezählten Factum (z. B. Familienzahl, Wohnhauszahl, Wohnungs-
zahl, namentlich Geburtszahl, Sterbezahl) in Verhältnis brachte und dann veraü-
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Theoretisches. Stand der Bevölkerung. Volksiabl. 473
gemeinerte. Dafür lassen sich übrigens bereits gewisse wissenschaftliche Grundsätze
aufstellen , welche den Werth der Schätzungen und der übrigen Operationen wenig-
stens erhöhen. Die neuere, freilich erst nach und nach im 19. Jahrhuudert selbst in
den Culturstaatcn allgemein angenommene allein richtige Methode ist die wirkliche
Volkszählung, die Grundlage aller genaueren Bevölkerungsstatistik: eine grossartige,
mühsame, kostspielige Verwaltungsoperation, für deren Technik sich eine Reihe wissen-
schaftlicher und practischcr Grundsätze aufstcllen lassen, wie das die neuere Theorie
und Praxis auch getlian haben. Durch Befolgung solcher Grundsätze ist es allmälig
gelungen, wenigstens im grössten Theil Europas (in „Cultur-Europa“), nemlich ausser-
halb Russlands und der Türkei, auch in den meisten amcricanischcn Staaten, besonders
in Nordamerica, in Australien, in Indien, Japan und den kleinen unter wirklicher
europäischer Herrschaft stehenden africanischcn Gebieten den wahren Stand der Be-
völkerung periodisch mit einiger Sicherheit festzustellen. S. H. Waguer-Supau,
Bevölk. d. Erde. Nr. VIII, Vorwort. Für 56 — 57% der muthmaasslichcn Bevölkerung
der Erde liegen jetzt Zählungen vor.
Für die uns hier beschäftigenden Fragen und für deren Er-
örterung mittelst bevölkerungsstatistischer Daten ist in Betreff der
durch Schätzungen und Zählungen gewonnenen Zahlen des Stands
der Bevölkerung dann zunächst von zwei wichtigen Thatsachen
Act zn nehmen:
Einmal: ganz zuverlässige, daher genau vergleichbare
Zahlen für dasselbe Land aus verschiedenen Zeitpuncten und vollends
für verschiedene Länder fehlen aus der Zeit vor dem 19. Jahr-
hundert, selbst noch aus dem ersten Drittel dieses Jahrhunderts
grossentheils. Die verschiedenen Zahlen sind nach verschiedenen
Methoden, von verschiedenen Organen verschiedener administrativer
Tüchtigkeit aufgenommen und auch deswegen nicht immer sicher
vergleichbar. Man muss daher bei Vergleichungen älterer Daten
untereinander und mit neueren und bei Schlüssen daraus sehr vor-
sichtig vorgehen, um wirklich Beweise führen zu können.
Sodann, der zweite Punct: im Laufe der Zeit, zumal in
diesem Jahrhundert, besonders vom zweiten Drittel, zum Theil
erst von der Mitte an und mitunter noch später sind die Volks-
zählungen auch in demselben Lande und in immer mehr Ländern
der Culturwelt immer vollkommener, ihre Ergebnisse daher immer
zuverlässiger geworden. Vergleichungen verschiedener Perioden und
Länder und Schlüsse daraus werden daher auch statthafter und
sicherer. Aber andrerseits hat gerade diese Verbesserung des
Zählungswesens einen Umstand für Vergleichungen und Schlüsse
noch störender werden lassen: jede neuere Zählung pflegt gegen
die frühere verbessert zu sein, zählt daher leicht Individuen jetzt
mit, welche in der früheren Periode schon lebten, aber übergangen
waren und überhaupt jetzt alle Individuen oder fast alle, früher
eine grössere Zahl nicht. Ein Theil der späteren höheren Zahl
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474 4. B. Bevölker. u. Volkswirthsch. 1. K. Bevölk.lehrc. 1. H.-A. Statist. §. 201, 202.
kann also eventuell nicht einer wirklichen Volkszunahme, sondern
nur einer solchen in den Tabellen der Statistik entsprechen.
Es möchte dies z. B. wahrscheinlich selbst in West- und Mitteleuropa in Betreff
der Zahlen aus dem zweiten verglichen mit denen aus dem ersten Drittel unseres Jahr-
hunderts, namentlich der Zahlen aus dem 2. und 3. Jahrzehnt gegenüber späteren
gelten, wie wohl mit Recht von vielen Statistikern angenommen wird. Ist das richtig,
so folgt, dass die besonders starke Zunahme der Bevölkerung in den ersten Zeiten
nach der grossen französischen Kriegsperiode in manchen Ländern (auch Deutschland,
Frankreich) doch in Wirklichkeit etwas kleiner war, was bei Vergleichungen mit der
späteren Zeit und bei Schlüssen dann zu berücksichtigen ist. Da die Fehlergrössen
von einer Zählungsperiode zur anderen und in verschiedenen Ländern wieder manchfach
verschieden gewesen sein werden, ergiebt sich für Vergleichungen und Schlüsse aber-
mals eine Schwierigkeit. Durch ganz zuverlässige Daten der Statistik der Bewegung
der Bevölkerung liessen sich jene Fehler wohl feststellcn und eliminiren. Aber solche
Daten fehlen vielfach, besonders für die Wanderungen, aus früherer Zeit, auch in
diesem Jahrhundert, und sind nicht mehr genügend zu beschaffen.
Für genaue Vergleichungen auch zu unseren Zwecken hier
ist ferner zu beachten, dass die Volkszählungen, zum Theil bis in
unsere Zeit hinein, sich nicht immer auf ganz denselben Umfang
der Bevölkerung erstrecken, was wieder, zumal für kleinere Ge-
biete, Orte Störungen bewirkt.
Die Bevölkerungsstatistik unterscheidet namentlich die fac tische oder orts-
anwesendo Bevölkerung, zu welcher alle im Normalzeitpuncte der Zählung am
Zahlungsorte lebende Menschen gehören, einerlei welcher Staatsangehörigkeit, Orts-
angehörigkeit, welchen dauernden Wohnsitzes, ob dauernden oder vorübergehenden
Aufenthalts u. s. w. Das jetzt meistens angenommene richtige Princip ist, diese Be-
völkerung zu zählen, daun etwa unter den in der „Volksbeschreibung“ (s. u.) bei der
Zählung zu ermittelnden „Eigenschaften“ festzustellen, welches die Staats-, Gemeinde-,
Orts-, Aufenthalts-, Wohnortsangehörigkeit, der Geburtsort, die Aufenthaltsart (dauernd,
vorübergehend) u. s. w. jedes einzelnen Gezählten sei. Danach kann man dann die
rechtliche Bevölkerung (Reichs-, Staatsangehörige, Ausländer, Orts-, Gemeinde-
angehörige, Fremde), die für einzelne spcciclle Verwaltungszwecke festzustellende
(z. B. im Zollverein ehemals die „Zollabrechnungsbevölkerung“, nach welcher die
Zolleinkünfte vertheilt wurden), die dauernde, die Wohn-, die nur vorübergehend
anwesende (flottirende) Bevölkerung rechnungsmässig construircn, wie das für manche
Verwaltungszwecke geboten ist und geschieht. Ergänzungen erfolgen dann durch die
Mitzählung der zeitweise oder vorübergehend Abwesenden (z. B. der im Auslande,
in einem anderen inländischen als dem Wohnorte sich befindenden Inländer): eine
technisch schwierige, an Fehlern, Auslassungen leidende und in Verbindung mit der
Zählung der Anwesenden leicht zu Doppelzählungen führende Operation. Offenbar
bedingen nun alle diese Momente kleinere und grössere Fehler, welche wieder die
Vergleichbarkeit stören, besonders abermals zwischen den neueren vollständiger und
sicherer gewordenen und den älteren unvollständigeren und unsichereren Zahlen und
auch zwischen Ländern verschiedener Zählungsmethoden und verschiedener technischer
und administrativer Qualität des Volkszählungswesens. Indem ferner etwa für ein
Land oder einen Ort aus verschiedenen Zeiten die Zahl einer verschiedenen „Be-
völkerung“ vorlicgt, z. B. der der Wohn-, der rechtlichen, der factisclien (so aus
Frankreich, wo erst neuerdings der ücbergang von der Wohn- zur factischcn Bevöl-
kerung in der Zählung erfolgt ist), oder die Zahlen verschiedener Länder, Orte sich
auf solche verschiedene „Bevölkerungen“ beziehen, ergeben sich wieder weitere, mehr
oder weniger erhebliche Störungen für Vergleichungen, die um so weniger leicht zu
beseitigen sind, da mitunter vielleicht (namentlich aus früherer Zeit) nicht einmal
sicher feststeht, auf welche „Bevölkerung“ sich eine betreffende Volkszahl bezieht,
oder es keine Mittel giebt, die verschiedenen Zahlen auf dieselbe „Bevölkerung“
(rechtliche, factische, wohnhafte) umzurechucn. Lauter Momente, welche zeigen, dass
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Theoretisches. Stand der Bevölkerung. Volksbeschrcibung. 475
schon ans solchen in der Beschaffenheit des statistischen Materials lie-
genden Gründen die „exacte statistische inductive" Beweisführung Manches zu wün-
schen übrig lassen muss, selbst ganz abgesehen von den unvermeidlichen Kehlern in
allem solchen Material, welche die Folge der unüberwindlichen Schwierigkeiten bei
allen, auch den rationellsten und sorgfältigsten statistischen Aufnahmen sind (§. 80 IT.).
Ein Hauptübelstand bleibt meistens, dass zwar die Fehlerquellen, auch die Richtung,
wie sie sich geltend machen, aber nur selten die Grösse der wirklich sich ergebenden
Fehler festgestellt werden können. Neuere sorgfältige Privat- wie amtliche Statistiker
müssen sich daher auch gewöhnlich damit begnügen , nur auf solche Fehler hin-
zuweisen.
§. 202. — 2. Volksbeschreibung. Die Volkszählung er-
giebt zunächst nur den Stand der Bevölkerung in einer Zahl.
Mit ihr wird aber regelmässig die sogenannte Volksbeschreibung
oder Eigenschaftsstatistik der Bevölkerung verbunden, d. h.
es werden gleichzeitig mit der Zählung eine Reihe von Merk-
malen der gezählten Individuen amtlich statistisch aufgenommen
und später danach dann tabellarisch zusammengestellt. Grade
diese Volksbeschreibung, welche sich früher nur auf einige Haupt-
merkmale, wie Geschlecht, Kindesalter und Erwachsensein, etwa
auch Religionsbekenntniss zu erstrecken pflegte, ist in den neueren
Zählungen der Culturstaaten immer reichhaltiger, detaillirter, zu-
verlässiger geworden und hat so auch für die volkswirtschaftliche
Bevölkerungslehre sehr werthvolles Material zur Verfügung gestellt.
Neben der Aufnahme des Geschlechts bietet die genauo Aufnahme des
Lebensalters, bei der Zählung selbst etwa sogar des Geburtstags, in den Tabellen-
werken wenigstens des Geburtsjahrs, bezw. des danach sich bemessendeu Alters für
unsere Zwecke besonders grosses Interesse, indem so cino ziemlich genaue Classifica-
tion der Bevölkerung nach Altersclassen möglich wird. Die bezügliche Auf-
nahme galt noch bis Mitte unseres Jahrhunderts für eine kaum lösbare, weil zu
schwierige administrative Aufgabe, während sie jetzt immer allgemeiner durchgeführt
worden ist.
Freilich liegen auch hier sogar beim Geschlecht, vollends beim Alter
Fehlerquellen vor, die wiederum die Daten nicht immer ganz sicher vergleichbar
machen, zumal aus weiter auseinander liegenden Perioden desselben Landes und aus
verschiedenen Ländern auch noch in derselben Zeit. Wo z. B. Interessen oder Vor-
urtheile bestehen. Seitens der zu zählenden und zu beschreibenden Bevölkerung die
Zahlen in BctrelF des einen oder anderen Geschlechts zu verkleinern oder zu ver-
grössern, wie etwa wegen der Steuerverhältnisse (männliche Kopfsteuer), der Militär-
conscriptionsrerhältnisse die Zahl der männlichen Personen kleiner anzugeben, selbst
den Aufnahmeorganen gegenüber direct Täuschungen vorzunehmen (polnische Juden
in Russland), wo der Einblick in die ehelichen und Familien Verhältnisse erschwert,
weibliche Personen verborgen oder ignorirt werden (Muhamedaner, Verhältnisse in
Britisch-Indien , die wohl noch beim Census von 1881 auf Auslassungen von weib-
lichen Personen bei der Zählung hinwirkten), da ist nicht einmal die Geschlechts-
statlstik richtig. In der Altersstatistik ergeben sich aus ähnlichen Gründen (Steuer-,
Militärverhältnisse), namentlich aber aus der in den unteren Volksclassen , in der
Landbevölkerung selbst heute noch und sogar bei uns, vollends früher und in anderen
Ländern nicht so seltenen ungenauen Kenntniss des eigenen Lebensalters, Geburts-
jahrs freilich noch viel grössere Fehler. So z. B. hinsichtlich sehr alter Personen
(über 90, Uber 100 Jahre), wie nachträgliche Prüfungen der Einzelfälle, auch durch
Controle der Kirchenbücher, Standesregister, wo sie möglich war, gezeigt haben;
ferner ergiebt die öfters wahrgenommene stärkere als der Wahrscheinlichkeit ent-
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476 4. B. Bevölker. u. Volkswirthsch. 1. K. Bevölk.lebre. 1. H.-A. Statist. §. 202.
sprechende Besetzung von gerissen Altersclassen, so in den „runden“ Jahren der
Jahrzehnte des Alters (30, 40, 50 u. s. w.), dass offenbar hier uurichtige Angaben
zu Grunde liegen. Hat man doch selbst wohl nachwcisen können (Livland), dass bei
solchen Angaben auch hier das weibliche Geschlecht die Neigung hat, das Alter
niedriger, das männliche, es höher anzugeben, als es wirklich ist. Lauter Fehler-
quellen, welche wiederum um so misslicher sind, da man nicht immer sicher ihr
Vorhandensein, die Richtung ihrer Wirkung, namentlich aber nicht die Grösse dieser
Wirkung angeben kann. Man wird nur im Ganzen sagen dürfen, dass das neuere
Material immer besser wird. Daher kann es für zeitliche und theilwoile für örtliche
und Landesvergleichungen und Schlüsse daraus immer zuverlässiger benutzt werden,
wird aber freilich zum Vergleich mit älterem Material nicht brauchbarer. Der
auch wirthschafdich so wichtige „Altersaufbau“ einer Bevölkerung für unsere
Zwecke hier ist indessen doch wohl mit dem jetzigen Material hinlänglich sicher
festzustellen.
Von anderen natürlichen Thatsachen der Yolksbeschreibung sind national-
ökonomisch die Zahlen über gewisse körperliche und geistige Ge brech cn, dann Uber
authropo metrische Verhältnisse in der Bevölkerung ebenfalls von Interesse, Daten,
welche freilich nicht immer bei der Volkszählung selbst ermittelt werden und werden
können , eben deshalb aber auch weniger vollständig zu sein pflegen. In der Volks-
zählung lassen sich nur solche Thatsachen gut ermitteln, welche offenkundig und nicht
penibel von den Gezählten selbst oder von ihren Angehörigen anzugeben sind, daher
z. B. Blindheit, Taubstummheit, Cretinismus u. dgl. Umfassende anthropometrische
Untersuchungen über das ganze Volk, besonders die Classen, Berufsstände wären
nationalökonomisch, vollends bei Vergleichen zwischen verschiedenen Zeiträumen und
Ländern sehr werthvoll, lassen sich aber mit der Volkszählung nicht wohl verbinden.
Man ist daher auf Material aus der Recrutirungsstatistik und aus Specialaufnahmen
angewiesen. Die zeitliche und örtliche Vergleichbarkeit des ersteren leidet aber unter
der Verschiedenheit der Hecresergänzungssysteme, der Prüfungsmethoden und der
militärischen Anforderungen botreffs der Einstellung, und das übrige Material ist
■selten umfassend genug.
Aus dem Gebiet der socialen und verwandten Thatsachen der neueren mit
der Zählung verbundenen Volksbeschroibung sind diejenigen über den sogen. Civil-
stand der Bevölkerung (ledig, verheirathet, geschieden), besonders für die erwachsene
Bevölkerung, jetzt regelmässig vorhanden und nationalökonomisch sehr wichtig. Ferner
bieten auch diejenigen über die Religion und Confession, über die Sprache,
namentlich die regelmässig in der Familie gebrauchte, ein natürliches und sociales
Merkmal, als das statistisch meist allein erfassbare, wenn auch dafür nicht ausreichende
Kennzeichen der Nationalität (Juden!), Uber die Verbreitung gewisser Bildungs-
elcmente (Kenntniss von Lesen und Schreiben bei der Bevölkerung, welche ein
gewisses Lebensalter überschritten hat) für die volkswirtschaftliche Seite des Be-
völkerungsproblcms Interesse genug, z. B. um bei zeitlichen und örtlichen Vergleichungen
die Verteilung der Religionen (Juden, Christen) und Confessionen (Evangelische,
Katholiken), auch der Nationalitäten und die Veränderungen der Verteilung darin
(z. B. bei den Juden, ihr „Zug nach Osten“, vom Land in dio Städte, von kleinen in
grosse Städte) zu rcrfolgen. Die Aufnahme der wirtschaftlichen Stellung
endlich (Erwerbende oder Erwerbstätige, Angehörige, Selbständige, Unternehmer, in
Dienst Stehende, Beamten, Gehilfen, Lohnarbeiter u. s. w.) und der Bcrufsverhält-
nisso, wofür neben oder statt der Volkszählungen auch wohl besondere Berufs-
zählungen (deutsche von 18S2) vorgekommen sind, die Com binationen der be-
treffenden Daten mit anderen, Geschlecht, Alter, Religion und Confession, Nationalität,
ist natürlich für eine Menge Specialfragen des Bevölkerungswesens und der Volks-
wirtschaft vou grossem Werth, Fragen, auf welche wir aber in diesem Abschnitt
nicht weiter einzugehen haben.
Mit Hilfe der zeitlichen und räumlichen (örtlichen) Ver-
gleichungen der Daten derVolkszählungen und V olksbeschreibungen
aus verschiedenen Perioden, Ländern und Orten wird dann auch
ein Einblick in die Abhängigkeitsverhältnisse conditioneller
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Verkeilung der Bevölkerung Uber den Raum.
477
und causaler Art bei den Bevölkerungserscheinungen und den Ver-
schiedenheiten und Veränderungen darin erlangt.
Dabei handelt es sich um die eigentliche Anwendung der statistischen
Methode nach den im ersten Buche dargeiegten üesiclitspunctcn und Grundsätzen
(§. SO fi’.) Die Mannigfaltigkeit der Einflüsse, die Wechselwirkungsverhältnisse er-
schweren freilich die Lösung der hier vorliegenden Aufgaben. Vorsicht in der
Schlussziehung thut daher auch hier Noth. Sie ist von den Bevölkcrungs-, den Moral-
statistikern , beim Suchen nach und der Aufstellung von „Gesetzmässigkeiten“ und
„Gesetzen“ ($5. S6 ff.) der Erscheinungen, auf diesem Gebiet nicht immer genügend
bewiesen worden.
§. 203. — 3. Vertheilung der Bevölkerung über den
Raum (dasGcbiet) und Volksdichtigkeit und Berechn ungen
dafür. Unter den Thatsachencomplexcn und Reihen, welche durch
technische Verarbeitung des Materials der Volkszählung und
Volksbeschreibung zum Augenschein gebracht und in Tabellen zu-
sammengestellt werden, sind auch für die volkswirtschaftlichen
Seiten der Bevölkerungsfragc, namentlich für die hier in der „Grund-
legung“ mit zu behandelnden, die Verhältnisse der Vertheilung der
Bevölkerung im Ganzen und in ihren wichtigsten Unterscheidungen
(so Geschlecht, Alter) über das Gebiet von besonderer Wichtigkeit.
Einmal die Vertheilung auf die Wohnorte, sodann die Vertheilung
über das Gebiet im Ganzen und in seinen einzelnen Abtheilungen,
woraus sich die gesammte und die locale Volksdichtigkeit
ergiebt.
Die Vertheilung der Bevölkerung auf die Wohnorte wurde
früher und wird doch auch heute noch, wenn auch in geringerem
Grade, vornemlich mit durch wirthscbaftliche Umstände und
zwar durch solche bedingt, welche doch in letzter Linie durch die
Natur und die Technik der Productionszwcige selbst wieder be-
dingt werden: die landwirtschaftliche, auch forstwirtshchaftilche
und verwandte Arbeit einer-, die stoffverarbeitende, industrielle,
mercantile und fast alle übrigen, auch die liberale, die politische
Berufsarbeit (Schutz, Sicherheit, Leitung, Verwaltung, öffentlicher
Dienst) andrerseits. Jene überwiegend, selbst fast bis zur Aus-
schliesslichkeit „auf dem (platten) Lande“, in den Dörfern, auf
den Ilöfcn, in kleinen (Acker-) Städten, diese „in der Stadt“, in
mittleren, grösseren, in Gross- und Weltstädten. Daher grade auch
das volks wirthschaftlicbe Interesse, welches sich an diese
Statistik der Wohnortsbevölkerung, an die statistische Unter-
scheidung von „Stadt und Land“ und an die Statistik der
Grössenclassen der Ortschaften, sowie an die Statistik
der nach sich folgenden Volkszählungen in diesen Verhältnissen
A. Wagner. Grundlegung. 3. Auflage. 1. Theil. Grundlagen. 31
478 4. B. Bevölker. u. Volkswirthsch. 1. K. Bevölk.lehre 2. H.-A. Statist. §. 203.
sich ergebenden Veränderungen anknüpft. Auch hier sind es dann
wieder zeitliche und räumliche Vergleichungen, welche
für die volkswirthschaftliche Betrachtung, für die Ableitung von
Abhängigkeitsverhältnissen anzustellen sind. Für die Anstellung
solcher Vergleichungen und für die SchlussziehuDg daraus bietet
aber das statistische Material wieder gewisse Schwierigkeiten, die
beachtet sein wollen und zur Vorsicht mahnen.
Der historische und vcrwaltungsrechtliche Begriff „Stadt“ hat gewechselt und
ist auch heute nicht der gleiche in verschiedenen Ländern nach Stadt- und Land-
gemeindeverfassung. Er ist mitunter als verwaltungsrechtlicher, wie in Frankreich
und einigen anderen ihm folgenden Läudem, verschwunden. Hier kann man sich also
nicht an dies Kriterion in der Statistik halten. Die eigentliche Besiedlungs-, Coloui-
sationsgeschichtc einzelner Länder, z. B. solcher, wo historisch noch heute das „Hof-
system“ statt des „Dorfsystems“ (Westfalen) oder wo grosse (Ritter-) Güter und Höfe
(„Gutsbezirke“) statt oder neben Dörfern bestehen oder vorherrschen (norddeutsches
Colonisationsgebiet auf früher slawischem Boden östlich der Elbe), bestimmt natürlich
auch die örtliche Verkeilung der Bevölkerung, die Art und Grösse der Wohnsitze
mehr oder weniger und dauernd, auch heute noch bei Freizügigkeit, Gewerbefreiheit,
Eisenbahnen u. s. w. Da diese Verhältnisse nach Zeitaltern und Ländern öfters durch-
greifend verschieden sind, auch wenn etwa dieselben Benennungen (Stadt, Hof, Dorf)
üblich sind, sind auch unmittelbare statistische Vergleichungen misslich oder nur
bedingt zulässig. Der mit verbliebene Ackerstadt-Character selbst bedeutender Städte
im Mittelalter (Frankfurt a. M., Bücher), der Industriesitz-Character älterer und neuerer
hausindustrieller Landgemeinden und neuerer Fabrikorte auf dem Lande stört wiederum
Vergleiche von „Stadt“ mit „Stadt“, „Land“ (Landgemeinden) mit „Land“. Es ist
daher ein zwar begreifliches, auch kaum durch ein besseres zu ersetzendes, aber doch
ein unvollkommenes Aushilfsmittel , wenn die neuere Bevölkerungsstatistik nach dem
rein mechanischen Moment der blossen Bevölkerungsgrösse unterscheidet und
nur danach „Ortschafts- und Wohnortsclasscn“ in ihren Tabellen bildet, so z. B. jetzt
gewöhnlich die Orte bis 2000 Einwohner als „Land“ den grösseren als „Städten“
gegenüber stellt. Ausserdem kommt hier noch, wie freilich auch bei der Unter-
scheidung nach vorwaltungsrechtlichen Begriffen und Verwaltungseinhciten die weitere
Schwierigkeit hinzu, richtig zu bestimmen, was als Ortseinheit zu gelten habe. Diese
Schwierigkeit lässt sich nur mit einer gewissen W’illkühr, genauer bloss nach sorg-
fältiger localer Untersuchung jedes einzelnen Falls lösen, indem festgestellt wird,
welche Vororte, abgelegene Häuser u. s. w. noch zum Orte gerechnet werden sollen.
Je nach der concreten Entscheidung sind aber die Ergebnisse leicht erheblich ver-
schieden, was dann wieder bei Vergleichungen stört. (Vorstädte, Vororte grosser
Städte; selbständige Communcn neben einander, wie Hamburg-Altona, Elberfeld-
Barmen, Berlin-Charlottenburg und andre Vororte.) Als Ortseinheit im statistischen
Sinne müsste gelten, was wesentlich eine wirtschaftliche und culturlicho
locale Gemeinschaft darstellt. Aber feste Merkmale fehlen dafür eben, und bei
der heutigen Entwicklung des Verkehrswesens noch mehr als früher, weil dabei Vor-
orte, „Villencolonieen“ und dergl. vom Hauptort auch räumlich weiter getrennt sein
können. Alles das will auch bei der volkswirtschaftlichen Seite der Frage von Stadt
und Land, Klein-, Mittel-. Gross-, Weltstadt berücksichtigt sein.
Eine besonders wichtige Seite auch des volkswirtschaftlichen
Bevölkerungsproblems betrifft die sogenannte Volksdicb tigk eit.
Da hohe Dichtigkeit mitunter fälschlich mit Uebervölkerung
identifiert wird, während nur ein Zusammenhang zwischen beiden
bestehen kann, aber nicht notwendig bestehen muss (s. u. 2. H.-A.),
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Volksdichtigkeit.
479
ist es auch für unsere Betrachtung geboten, die statistische Frage
der Berechnung der Volksdichtigkeit richtig zu erledigen.
Unter Volksdichtigkeit (auch wohl relative Bevölkerung ge-
nannt) versteht man diejenige Bewohnerzahl, welche auf eine be-
stimmte Flächeneinheit fallt, indem man die gesammte Bevölkerung
zum Gebiet in Beziehung setzt. Regelmässig wird in der Be-
völkerungsstatistik diese Volksdichtigkeit als eine aus D urc fa-
sch n ittsberecbnungen hervorgehende Zahlengrösse behandelt,
was sie auch sein kann und für die statistischen Zwecke in der
Regel aus äusseren, auch technischen Gründen sein muss. Aber
zum Begriff der Volksdichtigkeit gehört nicht nothwendig der
Character der Durchschnittsgrösse. Im Gegentheil ist dieser Character
eigentlich ein störender Umstand.
Meistens berechnet inan, wie viel Menschen im Durchschnitt auf eine Raum-
einheit des ganzen Staatsgebiets und seiner Verwaltungsabtheiluugen (Provinzen,
Kreise u. s. w.), allenfalls auch der und der geographischen Gebietsabschnitte kommen.
Früher wurde hier gewöhnlich die (geographische) Quadratmeile, neuerdings wird auch
bei uns und sonst vielfach das Quadratkilometer als Kaumeinheit genommen. Letzteres
hat den Vortheil, dass man mit kleineren, daher für Gedächtniss, Niederschrift und
Vergleichung bequemeren Zahlen operirt; für alle älteren Relativzahlen, und für alle
älteren Leute, welche noch an die Quadratmeilengrundlage gewöhnt sind, ergiebt sich
nur die lästige Noth Wendigkeit der Umrechnung. Das Keductiousvcrhältniss ist übri-
gens einfach, rund 1 : 55 (1 Qu.-M. = 55.063 □ Kil.), also z. B. 2750 Einwohner
p. □ M. = 50 p. □ Kil.
Das Missliche ist aber nun, dass bei solchen Durchscbnittsberechnungen die
concreten Verhältnisse leicht zu sehr verwischt werden uud zwar um so
mehr, für je grössere Gebiete man Durchschnitte berechnet und je mehr zufällige
Abgrenzungsverhältnissc ein wirken, z. B. ob eine grosse Stadt, die vielleicht au der
Grenze zweier Provinzen, Bezirke, Kreise liegt, zur einen oder anderen dieser Ver-
waltungsabtheilungen gehört und dazu dann gerechnet hier die Ziffer der Volksdichtig-
keit sehr erhöht, während dieselbe dort viel kleiner erscheint. Diesem störenden
Umstand lässt sich auch schwer und völlig genügend überhaupt nicht abhelfen.
Namentlich die Städtebevölkerung, zumal der Grossstädte, auch die hohe Be-
völkerung ganzer Industrie- und Montanbezirke beeinflusst dio Durchschnittszahlen
auch für grössere Landestheile leicht bedeutend. (Brandenburg 1885 mit Berlin 91.8,
ohne Berlin 58.9 Einw. p. Qu.-Kil.). Wenn etwa in demselben Landestheil schwach
bevölkerte rein agrarische. Gebirgsdistricte sich befinden, entspricht die Durchschnitts-
ziffer den Verhältnissen der Wirklichkeit weder im einen noch im anderen Falle. Sie
täuscht nur. Auch zu Vergleichungen mit anderen Zeiten, Gegenden eignet sie sich
wenig und führt dabei irre.
Ein corrcctercs Verfahren der Feststellung der Volksdichtigkeiten wäre folgendes.
Es ist freilich auch von gewissen störenden Mängeln nicht ganz zu befreien und
macht statistisch-technisch grosse Schwierigkeiten, aber es lieferte doch erheblich
bessere Resultate als die jetzt übliche Durchschnittsberechnung und wurde auch für
das volkswirtschaftliche Problem der Volksdichtigkeit gute Dienste leisten. Man
müsste nemlich für das ganze Staatsgebiet ein Netz kleiner Raumquadrate entwerfen,
(womöglich Quadratkilometer, was freilich bei der Durchführung sehr viel Mühe
machte, aber auch Kaumcinheiten von der Grösse der Quadratmeile, des Quadrat-
myriameters böten schon sehr viel Interesse). Für jedes solche Quadrat wäre dann
die Bevölkerung zu ermitteln, was nach dem heutigen Zählungswesen keine zu grossen
Schwierigkeiten hat uud darauf wären tabellarisch in absoluten uud rela-
tiven Zahlen (Procenten) Zusammenstellungen der Quadrate für die
grösseren administrativen oder sonstigen Gebietsabtheilungen zu
31*
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480 4. B. Bevölk. u. Volkswirthsch. 1. K. Bcvölk.lehre. 1. II. -A. Statist. §. 203, 204.
machen. Auf diese Weise würde man ein viel richtigeres Bild der wahren Volks-
dichtigkeitsvcrhältnisse erhalten, nebenbei bemerkt auch für graphische Darstellungen
der Dichtigkeit besseres Material. Vergleichungen nach solchen Daten würden gleich-
falls brauchbarer als diejenigen nach den heutigen rohen Durchschnittsdaten sein.
Der Mangel auch dieser Methode liegt darin, dass doch auch hier nicht nur die
Wahl der Kaumgrösse, sondern auch die Entwerfung jenes Netzes kleiner Quadrate
willkUhrlich ist, und je nachdem die Grenzen eines Quadrats danach so oder so fallen,
sich, besonders wieder wegeu der Städte, grosse Dichtigkeitsverschiedeuheiteu ergeben
würden, Städte vielleicht auch verschiedenen Quadraten zugetheilt werden müssten.
(Bei Zugrundelegung von kleinen Dreiecken desselben Flächeninhalts statt Quadraten
würde sich jener Mangel etwas, aber auch nur ein wenig vermindern lassen.) Aber
immer bliebe dies Verfahren dem heutigen erheblich überlegen.
Eine Annäherung an dieses Verfahren besteht darin, dass man für die ad-
ministrativen Einheiten, fUr welche meistens die absoluten Bevölkerungszahlen
vorliegen, namentlich für die kleineren (wie unsre Kreise oder wenigstens Bezirke,
Departements) die Dichtigkeitsdurchschnitte berechnet und dann feststellt, wie viele
solcher administrativen Einheiten von der Gcsammtzahl derselben
die und die Dichtigkeitsziffern haben. S. u. Tab. XXVIII. Die betrellenden
absoluten Zahlen und Quoten lassen sich dann wieder mit den analogen anderer Länder
vergleichen, wobei freilich meist nur annähernd gleich grosse administrative Einheiten
(z. B. preussische Bezirke und französische Departements) und bestimmte administrative
Theilo von solchen aus practischen Gründen werden verglichen werden können , was
ein störender Umstand bleibt Besser als die blossen rohen Durchschnittsdichtigkcit9-
zilTern eignen sich jene Zahlen indessen immer zum Vergleich.
Nur für gewisse gröb o re Vergleichungen der Dichtigkeit behalten die üblichen
Berechnungen übrigens doch ihren Werth. Und in Ermangelung jener anderen muss
man sich ihrer auch sonst allgemeiner bedienen. Auch hier sollten dann übrigens
gewisse Grundsätze bei der Berechnung von Durchschnittsdichtigkeiten gleichmässig
befolgt werden. So betreffs der Art des Gebiets, welches zu Grunde gelegt wird,
grössere Landseeen, ganz wüste Strecken, Wüsten, Steppen, Hochgebirge u. dgl. m.
wären eventuell in gewisser gleichmässigcr Weise auszuscheiden , da sic eben gar
nicht oder so gut wie gar nicht bewohnt sind und sein können. Auch in dieser Hin-
sicht lassen aber die Berechnungen bisher viel zu wünschen übrig.
Grade für die volkswirtschaftliche Seite der Dichtigkeitsfrage, z. B. für
die Ermittlung der wirklichen Dichtigkeit in rein agrarischen Gegenden nach der
Verschiedenheit der Bodengüte, Höhenlage, des Klimas, des Ackerbausystems, wäre
jenes correctere Verfahren von grossem Werth. Ueber die bisherigen Versuche in
dieser Kichtung s. u. §. 220.
B. — §. 204. Die Bewegung der Bevölkerung, be-
sonders die natürliche. Sie bietet für die volkswirtschaft-
lichen Seiten des Bevölkerungsproblems in mancher Hinsicht noch
mehr Interesse als Stand und Beschreibung der Bevölkerung, weil in
ihr die dynamischen Momente unmittelbarer hervortreten und
die eonditiouellen und causalen Abhängigkeitsverhältnisse des Be-
völkerungswesens sich an ihr schärfer verfolgen lassen.
1. Von besonderer Wichtigkeit ist für die volkswirtschaftliche
Bevölkerungslehre zunächst die durch Geburten und Todes-
fälle dargestellte sogenannte natürliche Bewegung der Be-
völkerung und die bezügliche Statistik, an welche sich diejenige
der Eheschliessungen anschliesst. Die letztere bietet als eine
Reflexerscheinung grade auch wirtschaftlicher Verhältnisse eben-
falls für uns besonderes Interesse und steht ausserdem wegen der
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Natürliche Bewegung der Bevölkerung.
481
beherrschenden Bedeutung, welche nach unseren Rechtsnormen und
Sitten die Ehe für die Zeugungen und Geburten hat, mit der
Statistik der Geburten in nächster Beziehung.
Die Geburts-, Heiraths- und Todcsfallstatistik ist in unseren Ländern, namentlich
wegen des Zusammenhangs dieser drei Thatsachenreihen mit religiösen und kirch-
lichen Acten (Taufe, Trauung, Beerdigung) schon länger, früher als die Volkszählung,
und vollkommener als die Bevölkerungsstatistik, ausgebildet worden, besonders seit der
Kirchenspaltung im Rcformationszeitaltcr (System der Kirchenbücher, das viel
älter ist, aber seitdem erst regelmässiger wird), auch bereits mit für staatliche Ver-
waltuugszwecko und unter staatlichen Einflüssen immer mehr im 17. und 18. Jahr-
hundert, wo dann auch die statistische Vcrwerthung der Daten in Verwaltung und
Theorie beginnt. Daher sind schon aus dieser Periode manchfach leidlich vollständige
Statistiken dieser „Bewegung“ vorhanden, deren Daten auch bereits damals, vor der
genügenden Ausbildung der Volkszählungen, zur Grundlage rationeller Schätzungen
der Bevölkerungszahlen gedient haben. Mit der Verweltlichung des Srandesamtswesens
und der Kegistrirung der Geburten, Eheschliessungen und Todesfälle (System der
Civilstandsregister) seit dem Zeitalter der französischen Revolution und mit der
genaueren und eindringenderen administrativen und technischen Regelung des etwa
verbliebenen, durch Geistliche der Religionsgesellschaften geführten Kirchenbuch-
systems sind dann im 19. Jahrhundert in den Culturstaaten, namentlich in Europa,
die Aufzeichnungen über jene drei Facta immer vollständiger und zuverlässiger ge-
worden. Gegenwärtig kann man wohl annehmen, dass wenigstens in West- und Mittel-
europa hier eine Vollständigkeit und Genauigkeit erreicht ist, wie auf keinem anderen
Gebiete der Bevölkerungsstatistik und zum Theil aller Statistik (etwa die ölfentliche,
auf controlirten Rechnungen beruhende Finanzstatistik ausgenommen). Daher sind
Vergleichungen der statistischen Daten und Schlüsse daraus auf diesem Ge-
biete für die votncmlich in Betracht kommenden Staaten auch in besonderem Grade
zulässig. Für frühere Zeiten werden die betreffenden zur Verfügung stehenden Daten,
ebenso wie für manche Länder mit mangelhafteren bezüglichen Einrichtungen (Russland,
Irland) noch heute, nicht für ebenso vollständig und richtig, den neueren Daten daher
nicht gleichwertig gelten können. Namentlich sind früher und in Ländern mit fehl-
ender bürgerlicher Gleichberechtigung der Religionen und Confessionen noch jetzt
wohl manche Auslassungen von Daten bezüglich der Bewegung der Bevölkerung in
gewissen Kreisen, so denen der nicht geduldeten oder nicht gleichgestellten Culte,
anzunehmen. Ferner sind die älteren, aus Kirchenbüchern construirten Geburtslisten
nicht immer lückenlos, weil nicht die Thatsache der Geburt, sondern der Taufe ver-
zeichnet wurde. Bei Vergleichungen zwischen älteren und neueren Daten und zwi-
schen den Daten eines in verschiedenem Grade zuverlässigen Registrirungssystems
(z. B. zwischen mittel- und westeuropäischen mit russischen, irischen, americanischen)
ist also immer Vorsicht nothwendig. Schlüsse aus sich zeigenden Verschiedenheiten der
statistischen Daten können möglicher Weise der Wirklichkeit nicht ganz entsprechen.
Bei der üeburtsstatistik (und in Folge dessen auch bei der Todesfallstatistik)
bildet auch heute noch die Behandlung der Todtgeburten einen störenden Umstand.
Ganz vollständige Kegistrirung, auch wenn sie gesetzlich voi geschrieben ist, wird hier
kaum erreicht werden. Und locale wie internationale Verschiedenheiten in der Re-
gistrirung sind auch wohl schwer ganz zu vermeiden, z. B. zwischen katholischen und
protestantischen Ländern und nach Sitten und Rechtsnormen (s. Reichsstat. a. a. 0.
B. 44, S. 13*). Regel ist aber iu unseren Staaten die Anmeldepflicht auch für die
Todtgeburten zur Registrirung und dann meistens die Aufnahme derselben sowohl in
die Geburts- als gleichzeitig in die Sterbcfallstatistik. Eine wichtige Ausnahme bddet
in dieser Beziehung jedoch u. A. England, wo die Geburts- und Todesstatistik die
Todtgeburten nicht umfasst, was bei Vergleichungen zu beachten ist. Die Zahl der
Todtgeburten ist in Deutschland 3.9 — 4% der Geborenen, in Frankreich 4.4. in anderen
europ. Ländern mit einigermaassen zuverlässiger Statistik zwischen 3 und 4; für Eng-
land wird in der gen. Reichsstatistik 3.6 °/0 bei den Geburten hinzugeschlagen. —
Ob die Statistik der unehelichen Geburten immer und überall ganz vollständig ist,
könnte a priori auch zweifelhaft erscheinen. Doch sind nach Allem bleibende Unter-
lassungen der Anmeldungen und demnach Auslassungen in der Statistik auch hier
482 4. B. Bcvölker. u. Volks wirthsclr. 1. K. Bevölk.lehre. 1. H.-A. Statist. §. 2Ü4, 205.
wenigstens in unseren Ländern wohl nur selten, so für länger lebende und nicht
sehr bald nach der Geburt sterbende Kinder. Dagegen ist allerdings mit Verheim-
lichung von Geburten, ünentdecktbleibcn derselben und der etwaigen Beiseiteschaflung
der Kinder und der Kinderleichen zu rechnen, wofür aber doch kaum erheblichere
Zahlen anzunehmen sind, wenigstens bei uns nicht. Mehr Störung veranlasst das
Findelwcsen, namentlich das, wo Kinder auch ohne jede Controle der Ueberb ringer
aufgenommen werden (System der „Drchlade“). Hier entstehen Unsicherheiten, ob
solche Kinder überhaupt bereits regisrirt waren, ob sie ehelich oder unehelich sind.
Statistische Zweifel bes. in Italien. — Einige, aber wohl noch kleinere Lücken
kommen auch in der Statistik der Todesfälle vor (Vorschwundeno, bisweilen Fälle
von Selbstmord, Mord, gewisse Unglücksfälle).
Es ist nach dem Allen auf die Statistik der natürlichen Be-
wegung der Bevölkerung für die Fragen des Bevölkerungswesens
und auch für die volkswirthschaftlichen Seiten dieser Fragen auch
wegen der guten Beschaffenheit dieser Statistik besonderer
Werth zu legen. Indem diese Statistik dann mit derjenigen des
durch die Volkszählung ermittelten Standes der Bevölkerung und
mit der Volksbeschreibung in Verbindung gebracht wird, ergänzen
und controliren sie die Daten beider gegenseitig. Für die be-
sonders wichtige Frage der Veränderung des Stands der Be-
völkerung und der Verhältnisse der Zusammensetzung werden auch
erst durch die Statistik der natürlichen Bewegung der Bevölkerung
die hauptsächlichsten causalen Momente aufgedeckt.
Die genannte Statistik giebt zunächst wieder nur die Zahlen
der drei Facta, auf welche sie sich bezieht, und gestattet Einblicke
in die Beziehung der Thatsachenreihen zu den Kategorien Zeit
und Raum (Ort) durch entsprechende Tabcllarisirung nach Zeit-
und Gehietsabschnitten. Indem aber nun auch hier, analog der
Volksbeschreibung bei den Volkszählungen, in den amtlichen Re-
gistrirungen eine Reihe weiterer Momente oder Merkmale,
welche die registrirten Facta betreffen, aufgezeichnct und danach
dann statistisch zusammengestellt und tabellarisirt werden, gewinnt
man erst ein reiches Material zur Ermittlung wichtiger specieller
conditioneller und causaler Einflüsse und Abhängigkeitsverhältuisse
für die verschiedenen Seiten und darunter auch für die wirt-
schaftliche des Bcvölkerungsproblems.
Natürlich hängt hier Alles ab von dem Umfang und der Art der standesamt-
lichen Aufzeichnungen und der Vollständigkeit und Zuverlässigkeit der An-
gaben der zur Meldung u. s. w. verpflichteten Personen. In letzterer Hinsicht zeigen
sich nur wieder in den Altersangaben (bei den Hcirathcn, Todesfällen) einige der
Missständc wie bei den Volkszählungen, soweit nicht die Forderung der Verlegung
von Geburtsscheinen hier Abhilfe gewährt und überall besteht und durchgesetzt werden
kann. Ferner ist die Angabe der Todesursachen sicher oft sehr unzuverlässig,
wenn nicht ein gutes System der Todtenscheine, mit der Vorschrift von Angaben
Sachverständiger (Aerztc) über die Todesursache besteht, vorausgesetzt, dass dio letztere
von solchen Organen richtig angegeben werden kann und wird. Auch bei uns
(Deutschland, Preußen) genügen die betretenden Einrichtungen noch nicht. In
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Natürliche Bewegung der Bevölkerung.
483
ereterer Hinsicht, in Bezug auf die standesamtlichen Aufzeichnungen selbst, werden
aber eben nicht alle Anforderungen gestellt, welche das statistische Iutcresse gebietet,
zum Thcil nicht, weil man gewissen Vorurtheilen der Bevölkerung, mehr noch weil
man der Arbeitslast und Bequemlichkeit der Standesbeamten Rechnung trägt oder das
statistische Interesse nicht tlborall für wichtig genug hält, um es zu berücksichtigen,
(was in einigen Puncten auch von der deutschen Civilstandesgesetzgebung gelten
möchte). Natürlich kann dann auch die auf den staudesamtlicheu Aufzeichnungen
beruhende Statistik der Bewegung der Bevölkerung nicht das erforderliche Material
zur Beantwortung mancher Fragen bieten. In Betreff der Geburten sind z. B. die
Lebensalter der Eltern, das Alter der Ehe, die Zahl der lebenden und verstorbenen
Kinder aus derselben Ehe, auch für die so wichtige Frage der durchschnittlichen
nominellen — iucl. die vor der Emancipation sterbenden — und nachhaltigen — exel.
der letzteren — ehelichen Fruchtbarkeit, der durchschnittlichen Dauer der Periode
der Kindererzeugung für Mann und Frau, der Vermehrung der Bevölkerung durch
die ehelicho Progenitur von Bedeutung, auch grade wieder für die volkswirtschaft-
liche Seite der Fragen. Aber die standesamtlichen Aufzeichnungen Uber solche
Puncte fehlen vielfach (so auch bei uns). Die Statistik lässt uns daher im Stiche.
Mitunter werden auch wohl solche Aufzeichnungen gemacht, aber die Daten nicht
oder nicht genügend statistisch zusammengestcllt und verarbeitet, z. B. hinsichtlich
der Lebensalter, der Civilstandsverhältnisse der Eheschlicsscnden, in welchen Ver-
hältnissen sich wirtschaftliche Einflüsse characteristisch abspiegeln. Namentlich liegt
nicht aus allen Ländern, deren Bewegungsstatistik sonst brauchbar ist, und nicht
immer lange zurück bezügliches statistisches Material vor oder cs ist nicht genau
vergleichbar. Mit das beste Material über dergleichen Momente besitzen wir. Dank
der Anregung Quotelet’s und anderer dortiger Statistiker, schon länger aus Bel-
gien. In Deutschland hat cs nicht bei den Statistischen Bureaux, aber wohl
bei den leitenden Behörden mitunter an dem erforderlichen Interesse für die Sta-
tistik gefehlt.
§. 205. Rechnungsgrössen aus dem Gebiet der
Statistik der natürlichen Bewegung der Bevölkerung.
Auch für die volkswirtschaftliche Seite des Bevölkerungsprobleras
sind dann wieder gewisse Berechnungen wichtig, welche mit
dem Material der Statistik der natürlichen Bewegung der Bevölkerung
angestellt werden, weil erst diese Berechnungen Einblick in wichtige
und maassgebende Grössen- und A bhängigk ei ts Verhältnisse
gewähren. Zum Theil schliessen sich diese Berechnungen zugleich
an Thatsaehen der Volkszählungsstatistik mit an. Namentlich die
sogenannte Geburts-, Heiraths-, Sterblichkeits Ziffer oder
Frequenz, die durch das Verhältniss der Geburten zu den Todes-
fällen bewirkte absolute und relative Grösse der Veränderung
im Stande der Bevölkerung (Geburten-, Todesfallüberschuss,
Vermehrung, Verminderung der Volkszahl dadurch), die mittlere
und die wahrscheinliche Lebensdauer der Bevölkerung, das
Durchschnittsalter der Lebenden und Gestorbenen und
ähnliche Berechnungen, dann besonders die Sch wankun gen und
Verschiedenheiten nach Zeit und Raum, welche in diesen
absoluten und relativen Zahlen hervortreten und auf betreffende
Abhängigkeitsverhältnisse hindeuten u. A. m. ziehen auch die
Aufmerksamkeit des Nationalökonomen in hohem Maasse auf sich.
484 4. B. Bevölkcr. u. Volkswirthsch. 1. K. Bevölk.lchre. 1. H.-A. Statist. §. 205.
Er sieht sich vor die Aufgabe gestellt, mit Hilfe dieser Daten die
wirthschaftlichen Voraussetzungen und Folgen bestimmter Erschei-
nungen im Bevölkeriiogswesen nach der statistischen Methode
(§. 80 ff.) zu erforschen oder an jenen Daten deductive Schlüsse
auf diesem Gebiete zu prüfen (§. 74, 75, 93). Wenn dabei das
Ergebniss mitunter ein negatives ist, z. B. dass ein etwa
a priori als wahrscheinlich oder sicher angenommener oder auf
Grund ungenügenden Thatsachen-Materials gezogener Schluss auf
Zusammenhänge, z. B. etwa zwischen dem wirthschaftlichen Beruf,
dem Aufenthalt in Stadt oder Land und der Heiraths-, Geburts-,
Sterblichkeitsfrequenz nicht oder nicht so wie vorausgesetzt be-
steht, so ist das natürlich auch ein Gewinn der Erkenntniss, auch
wenn ein weiteres positives Ergebniss nicht erlangt wird.
Unter der Geburts-, Heiraths-, Sterblichkeitsziffer oder Frequenz
wird das Yerhältniss der in einem bestimmten Zeitraum (Jahr. Jahrestheil, Periode
von Jahren) und Land (Staat, Verwaltungsabtheiluug, Ort) vorgekommenen Geburten,
Ehcschlicssungcn und Todesfälle zur Zahl der in demselben Zeitraum und Gebiet
lebenden gesammteu Bevölkerung oder — und im Allgemeinen besser — zur Zahl
bestimmter Theilc und Kategoricen dieser Bevölkerung verstanden (z. B. bei
den Geburten zur Zahl der Eiwacbscnen, speciell der Frauen im gebärfähigen Alter,
bei den unehelichen Geburten zu derjenigen der unveiheirathcten Frauen in diesem
Alter, bei den Eheschliessonden zur Zahl der erwachsenen Unverheiratheten von einem
gewissen Lebensalter an, bei den Todesfällen nach Geschlecht, Altcrsclassen, Civil-
stand, Beruf u. s. w. der Verstorbenen zur Zahl der gleichzeitig Lebenden derselben
Kategorie, bezw'. zu einer berechneten Zahl für die als stationär gedachte Bevölkerung.
Dass es richtiger sei, solche Theilc der Bevölkerung zur Berechnung der Frequenzen
zu benutzen, wird mit Kecht in der Keichsstatistik B. 7, S. VI, 5 ff. und jüngst wieder
im gen. B. 44, S. S* fl. hervorgehoben und statistisch nachgewiesen). Diese „Fre-
quenzen“ und die zeitlichen und örtlichen Verschiedenheiten und Schwankungen darin
sind für die Ermittlung von Abhängigkeitsvcrhähnissen , Voraussetzungen, Folgen von
besonderer Wichtigkeit. Die physiologische und dio psychologische Seite der Be-
völkerungsfrage (§. 207 ff.), die Frage von den Beförderungs- und Hcmmungsmittcln der
Volkszunahmo (§. 219), der Einfluss wirthschaftlicher, socialer, politischer Factoren wird
durch diese Frequenzen oft in besonders significanter, schlussberechtigender Weise be-
leuchtet. Schwierigkeit macht nur die Feststellung der richtigen Grundzahl der Be-
völkerung, zu welcher die Zahlen der Geburten u. s. w. in Yerhältniss gesetzt werden.
Ganz streng corrcct, namentlich ohne ausserordentlichen Iiecbnungsaufwand. ist diese
Grundzahl kaum zu bestimmen. Man findet sie. für nicht zu lange Perioden und bei
nicht zu grosser Veränderung der Anfangs- und Endzahlen, nur leidlich richtig aus dem
Mittel zwischen letzteren beiden (z. B. aus dem Mittel des ganzen Bevölkerungs-
stands oder des betreffenden Thcils davon nach zwei Volkszählungen, wenn es sich
um die zwischen dieser liegende Periodo handelt). Formell berechnete man dio
Frequenzen früher meistens in der Form eines gewöhnlichen Bruchs: 1 Geburt u. s. w.
auf x Lebende. Neuerlich hat sich auch hier die Procent- oder Promillcbcrcchnung,
auf 100 oder 1000 der mittleren Bevölkerung so und so viel Procent oder Promille
Geburten u. s. w., eingebürgert.
Ans der Vergleichung der Zahlen des etwaigen Geburts- oder Todesfall-
Überschusses in der Periode zwischen zwei Volkszählungen mit den Zahlen der
Vermehrung oder Verminderung des Stands der Bevölkerung nach diesen Zählungen
ergiebt sich, wenn beide Zahlenreihen als gleich zuverlässig angenommen
werden, die Erklärung dieser Vermehrung oder Verminderung der Bevölkerung und,
wenn Differenzen verbleiben, die Grösse der Veränderung der Volkszahl durch Wan-
derungen. Jene Annahme der vollen Gleiehwerthigkeit der beiden genannten Zahlen-
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Rechnuugsgrössen für die natürl. Beweg, der Bevölker.
485
reiben bedarf indessen, nach dem Früheren (S. 4SI), der Einschränkung. Die Daten
der Statistik der natürlichen Bewegung bieten vollends früher, aber auch wohl heute
noch und selbst in den ersten Staaten der Culturwelt etwas mehr Garantie der Richtig-
keit. Zur Ziffer lässt sich jedoch der Unterschied nicht wohl bringen, er ist nur bei
Schlüssen aus den Daten nicht ganz zu vergessen. Misslich ist ferner häufig, dass die
Termine der Volkszählungen und der Perioden, für welche die Statistik der Bevöl-
kerungsbewegung aufgestellt wird, nicht genau zusammcnfallen und hier dann mehr
oder weniger conjecturale Umrechnungen erfolgen (z. B. im Deutschen Reich Zahlungs-
termin 1. December, Periode der Bewegungsstatistik das Kalenderjahr). Nimmt man,
der Wirklichkeit gemäss, die Daten der Bewegungsstatistik als annähernd correct an,
und diejenigen der Volkszählungen hypothetisch als gleichwcrthig, so ergäbe die
Differenz z. B. zwischen dem Geburtsuberschuss und der durch Zählung constatirten
Vermehrung oder Verminderung der Bevölkerung auch genau den Verlust durch
Wanderungen. Nimmt man, wohl ebenfalls der Wiiklichkeit gemäss, an, dass die
Zählungsstatistik die etwas incorrectere ist, so würde auch die so abgeleitete Ziffer für
den Wanderverlust etwas unsicherer. Unter der wahrscheinlichen Voraussetzung der
Verbesserung der Zählungsergebnisse bei jeder späteren Zählung stellte die abgeleitete
Ziffer des Wandervcrlusts nur ein Minimum dar, dessen Abweichung von der Wirk-
lichkeit nur auf andre Weise festgestcllt werden könnte. Bei den mehr oder weniger
unvermeidlichen Mängeln aller interlocalen wie internationalen Wanderungsstatistik
(§. 206) behauptet aber jene abgeleitete Ziffer für den Verlust, wie natürlich um-
gekehrt für den Gewinn durch Wanderungen, doch einen grossen Werth (s. 224—228).
Die absoluto Zahl der Veränderung. Vermehrung, Verminderung
der Bevölkerungsgrösse zwischen zwei Zeitpuncten, z. B. zweier Volkszählungen, pflegt
zur Verdeutlichung und zur besseren Vergleichbarkeit wieder in eine Relativ zahl,
Proceut oder Promille von der anfänglichen oder einer anderen Bevölkerungszahl,
umgerechnet zu werden. Für die richtige Berechuungsmethodo dieser Relativzabl
kommt folgende Erwägung in Betracht Man hat es hier. z. B. im gewöhnlichen
Falle der Volksvermehrung, mit einer zunehmenden Bcvölkerungszahl zu thun, die
durch Einrückeu neuer, immer stärker besetzter Jahrgänge der Bevölkerung ins Zeu-
gungsalter und durch hierdurch absolut vermehrte Geburten im Lauf der Periode,
gleiche Geburtsfrequenz vorausgesetzt, auch fortschreitend immer mehr wächst, nament-
lich stärker als der Einbusse an Grösse und Wachsthum entspricht, welche sie durch
die Todesfälle und durch Entgang an Geburten in Folge des Aufhörens der Kinder-
zeugung in den aus dem Zeugungsalter ausscheidenden, aber eben — und zwar auch
schon von früher her, in den noch jüngeren Jahreu — schwächer besetzten Jahr-
gängen der Bevölkerung erleidet. Daher ist es nicht richtig, wenn man einfach das
Vermehrungsprocent (und danach z. B. die Länge der Verdopplungsperiode) direct
aus der Vergleichung der Zahl der eingetreteneu Vermehrung mit der ursprünglichen
Zahl und etwa, zum Behufe der Ermittlung der jahresweisen Vermehrung, durch ein-
fache Division dieses Vermehrungsprocents der ganzen Periode durch die Auzahl der
Jahre berechnet. Diese Ziffer würde um so fehlerhafter und zwar um so mehr zu
hoch, je länger die Periode ist. welche man zum Ausgangspunct nimmt und je stärker
in ihr die Vermehrung war. Dio richtige Methode ist die Anwendung der Zinses-
zinsrochnung. Das seiner grösseren Einfachheit wegen empfohlene Verfahren
(dem auch Rümelin, Schönbcrg’s Handbuch 3. A. I. 760. Note bedingt das Wort
redet), die Procentvermehrung nach dem Mittel zwischen der Anfangs und Endzahl
der Bevölkerung zu berechnen, ist allerdings iin Ergebniss weniger fehlerhaft, als
die gleiche Berechnung nach der Anfangszahl, aber doch immer nur einigermaassen
statthaft, wenn die Periode nicht sehr lang und die absolute Vermehrung der Be-
völkerung so keine, auch in den einzelnen Zeitabschnitten keine zu ungleiche, zu
grosse war.
Das Zuwachs- (oder Abnahme-)Procent der Bevölkerung ist auch für die
volkswirtschaftliche Seite der Bevölkerungsfrage wieder von besonderem Intercsso
und spielt daher hier eine wichtige Rolle (s. §. 214 ff, 223. 228). Freilich ist mit
wenigen bevölkerungsstatistischen Zahlen so viel Missbrauch getrieben worden wie mit
diesen, z. B. bei der Anwendung eines bestimmten bisherigen (auch grösseren) aus
einer kurzen Periode abgeleiteten Vermehrungsprocents auf diu Zukunft, während man
leicht nach weisen kann, zu welchen Unmöglichkeiten man gelangt, wenn man mit
demselben Procentsatz zurückrechnet. Mit Recht hat Rümelin damit öfters die Un-
486 4. B. Bevöllcer. u. Volkswirthscli. 1. K. Bcvölk.lehrc. 1. H.-A. Statist. §. 205.
thunlichkcit gezeigt, einen grade in einer Periode constatirten Procentsatz der Ver-
mehrung als einen für lange Zeiträume geltenden anzunebmen. Nichts bat auf
diesem Gebiete, vom Einfluss der Wanderungen selbst abgesehen, mehr gewechselt
(§. 214, 223). Aus solchen Procentsätzen, des Geburtsüberschusses, der durch die
Volhszählung ermittelten Vermehrung, wahrscheinliche zukünftige Verdopplungsperioden
und ungcheuro Volkszahlen abzuleiten, wie cs auch Malthusianer wohl gethan haben,
ist daber irreführend und werthlos. Jedenfalls lässt sich damit auch in der wirt-
schaftlichen Seite der Bevölkerungsfrage nichts beweisen.
Die Altersclassonstatistik der lebenden Bevölkerung nach der Volks-
zählung und die Statistik der Sterbefällo in Verbindung mit derjenigen der er-
reichten Lebensalter der Gestorbenen lassen sich, jede von beiden allein,
theils in Verbindung mit einander, zu mancherlei verschiedenen Berechnungen ver-
wenden , welche in der Bevölkerungsstatistik und für practische Zwecke (Lebensver-
sicherungswesen) Bedeutung haben und auch das allgemeine nationalökonomische
Interesse wegen der Beziehung zu den volkswirtschaftlichen Seiten des Bevölkerungs-
problems berühren. Indessen ist grade in letzterer Hinsicht grosse Vorsicht bei der
Auswahl und der Benutzung der ausgewählten Berechnungen, bei Vergleichungen
derselben und bei Schlussziehungcn aus ihnen auf wirtschaftliche Voraussetzungen
und Folgen notwendig. Auch können öftere einfachere Berechnungen anderer Art
dieselben, ja bessere Dienste leisten, nicht nur, weil sie einfacher und nach un-
bestritteneren Methoden angestcllt werden, sondern auch, weil sie das für die volks-
wirtschaftliche Betrachtung Wesentliche schärfer hervortreten lassen und geringere
Gefahr irriger Schlüsse mit sich bringen.
Vom Standpunct der Volkswirtschaft und zwar von demjenigen speciell des
Productionsinteresses aus wird man wünschen müssen, dass das Verhältnis* zwischen
den sogen productiven und unproductiven Lebensjahren, z. B. 15/20 — 65/70
zu den Jahren bis 15/20 und über 65/70, in der Bevölkerung ein möglichst günstiges
sei. Wie sich dies Verhältniss wirklich im concreten Falle gestaltet, ergiebt sich
unmittelbar aus der Altcreclassenstatistik der Bevölkerung nach der Volkszählung doch
am Sichersten und Einfachsten. Man kann nun freilich auch argnmentiron : wenn
viele Individuen in einer Bevölkerung ein höheres Alter, weit in die productive
Lebensperiode und über dieselbe hinaus erreichen, so muss sich das in einem hohen
Durchschnittsalter der Lebenden und auch der Sterbenden ausdrücken, z. B. in
Vergleich mit einem anderen Volke, wo die Verhältnisse anders liegen. Das nach
den Volkszählungsdaten berechnete Durchschnittsalter (mittlere Lebensalter) der Le-
benden und das nach den Stcrbeliston berechnete Durchschnittsalter der Gestorbenen
hat man daher auch wohl benutzt, um für die ganze Bevölkerung die productiven
und unpioductivcn Jahre zu unterscheiden und Vergleiche zwischen verschiedenen
Völkern anzitidellen. Allein in diesen Durchschnittszahlen wird Alles viel rnohr ver-
wischt. als in der einfachen Altersclassenstatistik. Die unproductiven Jahre der Kinder
und der Greise, wozwischen doch zu unterscheiden ist, fallen zusammen und compen-
siren sich mehr oder weniger. Jene Durchschnittsgrössen sind das Product zu vieler
und mannigfaltiger Verschiedenheit der Altcreverhältnisse der Lebenden und Gestor-
benen und können trotzdem sehr ähnlich sein.
Aehnliclie, selbst noch grössere Bedenken bietet die Benutzung der für die
mittlere und für die wahrscheinliche Lebensdauer von ganzen Bevölkerungen
berechneten Zahlcngrösscn zu Vergleichen und Schlüssen daraus auf volkswirtschaft-
liche Voraussetzungen und Folgen von Verschiedenheiten dieser Zahlengiössen. Bei dem
grossen Einfluss der immer in dieser Altereclasse relativ hohen, wenn auch wieder sehr
verschiedenen Kindersterblichkeit (§. 211) auf die allgemeine Sterblichkeit und bei
der Abhängigkeit der absoluten Zahl der Todesfälle im Kindesalter von der so ausser-
ordentlich verschiedenen Geburtszilfer ist auch die mittlere und die wahrscheinliche
Lebensdauer der Bevölkerung, für den Zeitpunct der Geburt berechnet, wenig brauchbar
zu Vergleichen und Schlüssen auf die Beziehungen zwischen Bevölkerung und Volks-
wirtschaft. Jedenfalls muss man dann zuvor erst künstlich eine ,.stationärc“ Be-
völkerung (mit Gleichheit der Zahl der Geborenen und Gestorbenen) construirt haben,
um eine richtige Bechnung-'grundlagc für die Berechnung der Sterblichkeit und der
mittleren Lebensdauer zu gewinnen, was aber ohne manche unsichere Conjecturen
kaum abgeht. Die Wanderungen, für das ganze Staatsgebiet die Ein- und Aus-
wanderung, für inländische Orte und Gegenden die interlocalen Ab- und Zuzüge, (§. 224 ff.)
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Rechnungsgrösseu für die natürl. Beweg, der Bevölkor.
487
in welchen Volksbewegungen die Altcrsclassenvertheilung eine von der durchschnittlichen
der Gesammt- und der sesshaften Bevölkerung nicht unerheblich abweichende ist,
-bedingen ferner ebenfalls mancherlei Verschiebungen und Störungen für die Berech-
nungen z. B. der mittleren Sterblichkeit, Lebensdauer, des Durchschnittsalters der
Lebenden und Gestorbenen, so dass abermals Vergleiche solcher Rechnungsgrössen
und Schlüsse daraus auf jene Beziehungen misslich werden, wenn man nicht wiederum
hypothetisch und conjcctural diesen störenden Factor der Wanderungen zuvor eliminirt
hat Nationalökonomische, socialpolitische „Beweisführungen“ mit mittleren Lebens-
dauern, deren (öfters nur behaupteten, jedenfalls unsicheren) Verschiedenheiten nach
Zeiten und Ländern, z. B. mit der wohl behaupteten Zunahme der mittleren Lebens-
dauer in der Neuzeit verglichen mit früheren Perioden (für welche letzteren ohnehin
richtige, vergleichbare Daten nicht vorliegen) sind daher mit grosser Skepsis zu be-
trachten. Besser unterbleiben sie.
Dies um so mehr, weil das wichtigste hierher gehörige Verhältniss. die mitt-
lere Lebensdauer ganzer Bevölkerungen, aus äusseren, aber kaum zu be-
seitigenden Gründen, nemlich wegen der Unmöglichkeit administrativer Controle aller
Individuen von der Geburt an während ihrer ganzen Lebensdauer, bis zum Tode des
letzten gleichzeitig Geborenen, wegen der unbewältigbaren Verwaltungsarbeit hierfür,
und wegen der Wanderungen u. s. w., vollends in der Gegenwart, für ganze Be-
völkerungen sich direct und daher allein co rrect überhaupt nicht feststellen lässt,
sondern nur Näherungswortho mittelst unvollkommenerer Methoden, in der vorlior
angedeuteten Weise, dafür berechnet werden können. Diese Methoden, selbst die
Terminologie sind in der Bevölkerungsstatistik nicht einmal unbeerbten. Die Berech-
nungen sind complicirt und schwierig und die erlangten Zahlen sind ebon wieder
Durchschnittsgrössen, welche aus sehr verschiedenen Componenten hervorgehen können.
Unter „mittlerer Lebensdauer“ versteht man (seit Deparcieux) „die Anzahl Jahre,
welche der Mensch von einem gewissen Alter an im Durchschnitt noch zu leben
Aussicht hat“ (Hopf in Kolb’s Statistik, 7. Aufl. S. 819), also auf Grund statistischer
Durchschnittserfahrung (Wappäus’ „Vitalität“, Bevölkcrangsstat. II, 15). Andere (so
Wappäus) verstehen unter „mittlerer Lebensdauer“ einer Bevölkerung „die Anzahl
von Jahren, welche durchschnittlich ein jeder der innerhalb eines Jahres Verstorbenen
durchlebt hat“ (eb. II, 1), eine Zahl, welche natürlich stark von der Geburtsziffor und
der Kindersterblichkeit beeinflusst wird, also vollends nicht unmittelbar für unsere
Zwecke brauchbar ist. Unter „wahrscheinlicher Lebensdauer“ wird die Anzahl
Jahre verstanden, für welcho in einem bestimmten Lebensalter die Erlebenswahrschein-
licbkeit */8 ist, d. h. ebenso gross, als die Wahrscheinlichkeit, alsdann todt zu sein.
Sie ist für uns hier noch weniger verwendbar. Für alles Weitere über die Termino-
logie, die Berechnungsmethodeu und deren Werth, die Streitfragen auf diesem Gebiete
ist auf die fachstatistische, namentlich auch die mathematisch-statistische Littcratur
(s. o. S. 140 n. S. 432) zu verweisen. S. auch für die Lifteraturgeschichte des Gegen-
stands (Stcrblichkcitstafeln u. s. w.) Karup, Handb. d. Lebensversicherung, Leipzig
1871, 2. A. 1885, Populäre Behandlungen des Themas: Hopf, in Kolb’s Statistik,
so 7. A. S. 812— S26, Rümelin im Schönberg’schen Handb.. Abh. Bevölkerung, I,
3. A. S. 749 — 755 (über Sterbetafeln u. Lebenswahrschcinlichkoiten, wo aber nicht
allen Ausführungen beizustimmen sein möchte). Bei beiden mancherlei statistische
Daten. Eingehende statistische Erörterungen bei Wappäus, Bevölkcrungsstat.. bes.
Kap. 5 im 2. B., mit reichstem Material bis Ende der 50er Jahre, doch auch mit
einzelnen Ausführungen , deren Richtigkeit nicht unbestritten ist. Westergaard,
Lehre von der Mortalität und Morbilität.
§. 206. — 2. Die räumliche (örtliche) Bewegung der
Bevölkerung oder die Wanderungen. Diese zweite Art
der Bevölkerungsbewegung, durch welche der Stand und die Zu-
sammensetzung der Bevölkerungen Aenderungen erleidet, ist für
die volk8wirtkschaf'tlicbe Betrachtung deshalb noch wichtiger, als
die natürliche Bewegung, weil sie unmittelbarer mit volkswirt-
schaftlichen Verhältnissen, als ihren Voraussetzungen und Folgen,
488 4. B. Bevölk. u. Volkswirthsch. 1. K. Bevölk.lchre. 1. H.-A. Statist. §. *206.
verknüpft ist. Manches in Betreff der Einflüsse, Abhäigigkeits-
verhältnisse, Zusammenhänge liegt hier auch sichtbarer vor Augen
oder lässt sich wenigstens leichter aufdecken und feststellen. Frei-
lich aber keineswegs Alles. Verwaltungspolitische Versuche, in
die Bewegung bewusst regelnd einzugreifen, sind auf diesem Ge-
biete begreiflich zahlreicher gewesen und wichtiger geworden, als
auf dem Gebiete der natürlichen Bewegung. Freilich deswegen
aber auch noch nicht immer erfolgreicher, da auch hier mächtige
Strömungen, wie in den grossen Massenwanderungen, sich geltend
machen, denen gegenüber die regelnde, vollends die kreuzende,
hemmende Verwaltungspolitik nicht immer besondere Erfolge hat
erzielen können. Im zweiten Theile der Grundlegung, bei der Er-
örterung der socialen Freiheitsrechte, wird dies weiter untersucht
werden.
Für die statistische Controle und Feststellung der inter-
localen wie internationalen Wanderungen liegen nun eigentümliche
Schwierigkeiten vor, wie sie in dieser Weise nur in geringem
Maasse, meistens gar nicht, bei der natürlichen Bewegung Vor-
kommen. Sie erklären es, dass von jeher, aber auch heute noch,
ja zum Theil gerade heute nach Sitten, Rcchtsanschauungen, Rechts-
normen und nach den jetzigen Communicationsverhältnissen , die
Statistik der Wanderungen unvollständig war und ist.
Diese Schwierigkeiten entspringen offenbar folgenden Umständen: die öffentliche
Gewalt und ihre Verwaltung verfolgt bei der Aufnahme Zwecke, welche in der Be-
völkerung unpopulär, bei den Betroffenen oft unmittelbar missliebig sind (Steuer-,
Militär-, polizeiliche u. dgl. Zwecke), deren Erfüllung mindestens lästig und unbequem
ist, wie die Erfüllung der Meldepflichten, oder etwa bestenfalls Zwecke, deren Nutzen
nicht allgemein, jedenfalls nicht immer von den durch die Controlen Betroffenen ein-
gesehen, noch weniger als ein Nutzen für sie selbst empfunden wird, wie doch z. B.
im Ganzen bei den standesamtlichen Meldungen und Acten. Daher spricht hier nicht
nur kein eigenes Interesse für die regelmässige Anmeldung der Wanderung mit,
sondern dies oft oder doch das vermeintliche Interesse dagegen. Strafandrohungen
für unterlassene An- und Abmeldungen werden zwar nicht immer fehlen, aber theils
müssen sie doch mit Rücksicht auf die Verhältnisse und Anschauungen sehr Maass
halten, wirken daher psychologisch nicht erheblich, theils kann man ihrer Verwirk-
lichung sich zu leicht entziehen, als dass sie grössere Bedeutung erlangen könnten.
Zumal die Grundsätze der persönlichen Freiheit und die daraus abgeleiteten Rechts-
normen, Anschauungen und Sitten bei unseren modernen Culturvölkern und im „Zeit-
alter des Dampfes“ nöthigen auch zum Verzicht auf Controlen und amtliche Auf-
nahmen der örtlichen Bewegung der Bevölkerung, vollends etwa um bloss statistischer
Interessen Willen. Namentlich die Wanderungen im In lande, bei denen das Gesagto
meistens in besonderem Maasse gilt, entziehen sich daher der fortlaufenden Con-
trole und Aufnahme auch in den Ländern strengeren polizeilichen Meldewesens immer
mehr oder weniger und sind nur nachträglich in ihrem Ergebniss durch dio Volks-
zählungen, die Geburtsort-Aufnahme, sicherer zu constatiren. Bei den Wanderungen über
die Grenzen, bei Aus- und Einwanderungen brauchen nicht immer dieselben Rück-
sichten genommen zu werden und werden sie auch nicht genommen. Allein bei
strengem Passsystem hat man dann hier mit heimlicher Grenzuberschreitung (Russ-
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Die Wanderungen.
489
land), mit Bestechung der Controlorgane, bei freiem Verkehr, wie im ganzen West-
und Mittel-Europa und America, auch hier wieder mit Unterlassung von An- und
Abmeldungen zu rechnen. Nur der zufällige Umstand, dass die überseeische Massen -
aus- und Einwanderung eben auf Schiffsbenntzung angewiesen ist uud sich auf einige
Ein- und AusschifFhäfen concentrirt, ermöglicht eine bessere, wenn auch keine ganz
ausreichende Controle und Aufnahme und daher eine leidliche Vollständigkeit der
Daten, wobei sich dann die europäischen Einschilf- und die amcricanischen AusschilF-
zahlea gegenseitig einigermaasseu controliren. Innerhalb des europäischen und ameri-
canischen Continents bei Landverkchr bleiben die Controlen immer mangelhaft, die
Zahlen deshalb lückenhaft.
Bei Vergleichungen, Schlüssen und Beweisführungen mit dem
direct gewonnenen statistischen Material überWanderungen ist daher
wegen unvollkommener Beschaffenheit dieses Materials wiederum
Vorsicht geboten. Gewöhnlich steht das Material an Werth und
Verwerthbarkeit für statistische, volkswirtschaftliche Fragen hinter
dem aus den Volkszählungen indirect für Wanderungsstatistik
abgeleiteten zurück, dient aber immerhin zu dessen Ergänzung nach
einigen Seiten. Vornemlich gilt das von der relativ wohl besten
hierhergehörigen Wanderungsstatistik , der überseeischen Massen-
Aus- und Einwanderung.
Dieselbe ist begreiflich im Laufe unseres Jahrhunderts erst ordentlich organisirt
und erst nach und nach, mit der steigeuden Bedeutung der Aus- und Einwanderung
selbst und in Verbindung mit (Jesichtspuncten und Maassregeln der Aus- und Ein-
wanderungspolitik sowie wegen der vcrhältnissmässigen Leichtigkeit der Controle an
den Hafen immer besser geworden, so auch in Deutschland. Neben der Ermittluug
der Zahlen erfolgt hier jetzt gewöhnlich auch eine Aufnahme gewisser Eigen-
schaften der Aus- und Einwanderer, Geschlecht, Alter, Civilstand, Nationalität, ört-
liche Herkunft, Familienverband, Berufe u. dgl., was für die Gewinnung auch des
Einblicks in die wirtschaftlichen und socialen Voraussetzungen , Ursachen , Folgen
des Phänomens, namentlich in Verbindung mit dem Zeifpunct der Wanderung, wichtig
ist. Die von derjenigen der Gesammtbevölkerung abweichende, für das Auswande-
rungsland in Betreff des Productionsinteresses ungünstigere, für das Einwanderungs-
land günstigere Geschlechts- und Altcrsvertheilung nnter den Auswanderern ist z. B.
ein Umstand, welcher für die volkswirtschaftliche Beurteilung der Erscheinung mit
ins Gewicht fällt (s. §. 225 — 22T).
Viel unvollkommener, weil unvollständiger ist das Material
der directen inländischen Wanderungsstatistik auf Grund polizei-
licher Meldepflichten lind laufender polizeilicher Controlen. Viel-
fach fehlt es an diesen Pflichten uud Controlen überhaupt ganz,
so im Allgemeinen ausserhalb Deutschlands in West- und Mittel-
europa. Um so wichtiger wird hier das Volkszählungsmaterial
und dessen zweckmässige Verarbeitung zur Verwerthung für die
hier vorliegenden statistischen, administrativen, volkswirtschaft-
lichen, socialpolitischen Fragen und Interessen.
In dieser Beziehung liegt vielerlei Material und manche trelTlichc Bearbeitung
desselben jetzt vor, so in der Geburtsstatistik der factiscbcn Bevölkerung. Für
die volkswirtschaftliche, und socialpolitische Seite der Bevölkerungsfrage ist besonders
wichtig, zu verfolgen, wie sich unter dem Einfluss der Wanderungen, und zwar hier
490 4. B. Bevölker. u. Volkswirtlisch. 1. K. Bevölk.lehre. 1. H.-A. Statist. §. 206, 207^
doch auch, mit wenigen Ausnahmen, wie etwa Irland, Scandinavien, weit mehr noch
durch die inländischen Wanderungen als durch eigentliche Auswanderung die Ge-
schlechts-, Alters-, Civilstandsvertheilung verschoben hat und beständig ver-
schiebt (Städte, Gressstädte, Industrie- und Montanbezirke, die massenweise vom Land
und aus kleinen Orten Bevölkerung an sich hcranziehen , anderseits eben das platte
Land, Dörfer, Kleinstädte). Die blossen Zahlen der Veränderung der Bevölkerung,
der verschieden starken Vermehrung, lassen hier noch gar nicht die volle Bedeutung
dieser Momente erkennen. Die Veränderungen und Verschiedenheiten der Geschlechts-,
Alters- und Civilstandsvertheilung müssen dazu erst hinzugenommen werden. Sie
erklären dann auch wieder erst manche andere bevölkerungsstatistische Verschieden-
heiten, z. B. die Verschiedenheiten der Geburts-, Heiraths-, Sterbeziffern, welche man
sonst vielleicht gar nicht recht erklären kann oder falsch erklärt, wie das z. B. Ka-
rne lin einmal in dem hübschen Aufsatze Uber Stadt und Land an einem guten
Beispiel gezeigt hat. (S. u. §. 224 ff)
Bei allen bevölkerungsstatistischen Vergleichungen nach Raura-
grössen (Ländern) ist endlich auch hier wieder die schon früher
(S. 435) ausgesprochene Mahnung wichtig, nur einigermaassen
homogene, daher eben allein wirklich vergleichbare Gebiete zu
vergleichen, somit z. B. grosse, mittlere, kleinere Staatsgebiete je
untereinander, aber nicht oder nicht ohne Weiteres mit solchen der
anderen Gruppe, wohl aber wieder Provinzen eines Grossstaats
mit einem Mittelstaate, Kreise beider unter sich und mit einem
Kleinstaate u. dgl. m. Die directe Vergleichung von ganz hete-
rogenen Gebietsgrössen führt fast nothwendig irre.
Trotzdem kommt sie immer noch vor und dient selbst zu Schlussziehungen.
Zum Theil freilich, weil die amtliche Statistik sich eben an die politische, admini-
strative Einteilung für die practischen Zwecke anschliesst. Sogar in der vortreff-
lichen genannten neuesten Arbeit des reicbsstatistischcn Amts werden noch mehrfach
Reuss ä. L., Birkenfeld, Lübeck direct mit preussischen Provinzen und Mittelstaaten
verglichen und Schlüsse aus Verschiedenheiten gezogen!
Ks ist nach dem Allen klar, welche grosse Bedeutung eine
eorrecte Bevölkerungsstatistik und die nach richtiger Methode an-
gestellten Vergleichungen statistischer Daten und Berechnungs-
grössen, sowie die daraus gezogenen Schlüsse gerade auch für die
volkswirtschaftlichen Seiten des Bevölkerungsproblems haben.
Eine ungemeine Fülle von Einzelfragen taucht dann hier auf, welche sich mit
Hilfe der statistischen Methode mehr oder weniger sicher und erfolgreich behandeln
lassen. Das ist aber natürlich nur in monographischer Ausführlichkeit in Werken
über Bevölkerungsstatistik selbst möglich. Hier müssen wir uns mit der Heraushebung
einiger wichtigerer Fragen und Puncte begnügen, welche für eine grundlegende
Untersuchung jener volkswirtschaftlichen Seiten des Bevölkcrungsproblems nach den
früher angedeuteten Gesichtspuncten (§. 198 — 2001 besonders in Betracht kommen.
Da die statistischen Daten, um welche es sich hier handelt, aber auch für viele andere
Fragen, welche in dieser Grundlegung und in den Theilcn der Praktischen Volks-
wirtschaftslehre und der Finanzwissenschaft behandelt oder doch berührt werden,
wichtig sind, ist Manches auch mit Rücksicht darauf in folgendem Abschnitt etwas
eingehender behandelt worden, immer aber wesentlich nur das, was mit der volks-
wirtschaftlichen Seite zusammenhängt.
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491
2. Abschnitt.
ßeyOlkcriingsstatistische Ergebnisse.
I. — §. 207. Die mögliche und die th atsäch lieh e
natürliche Bevölkerungsvermehrung.
Die Materialien sind tbunlichst aus neuerer und neuester Zeit und wesentlich
nur aus europäischen Ländern genommen, da wir cs hier doch vorncmlich mit dem
heutigen europäischen Bevölkerungsproblem zu thun haben. Die meisten stammen
aus der genannten reichhaltigen vergleichend -statistischen Arbeit des reichsstatist.
Amts (B. 44), mit Ergänzungen aus älteren Arbeiten (so im Juliheft 1879 der Monats-
hefte, Uber die Volkszahl der deutschen Staaten seit 1816), auch ans dem reichsstat.
Jahrbuch und anderen Jahrbüchern und amtlichen Quellen bis in die letzte Zeit
hinein. In jener rcichsstatistischen Arbeit sind nicht nur für die deutschen Staaten,
sondern, soweit das Material vorlag, auch für wichtige fremde, allerdings aus-
schliesslich europäische, viele Daten bis 1841 zurück und bis 1885/86 hin initgctheilt:
besseres, einen längeren Zeitraum und mehr Länder umfassendes Material, als cs
bisher für derartige vergleichende statistische Untersuchungen benutzt werden konnte.
Für die Periode bis etwas Uber die Mitte unseres Jahrhunderts (in die oüer Jahre
hinein) bildet auch hinsichtlich des Materials Wappäus’ sorgfältiges Werk noch
immer die beste, wenn auch secundäre Quelle, die hier auch benutzt wurde. Einzelno
neueste Daten sind auch dem zuverlässigen Gothaer Hofkalendcr und Jahrbuch mit-
unter entnommen worden. Erst Detail Untersuchungen Uber einzelne Länder können
freilich Manches genauer aufkläreu. Vgl. die von Neumann (Tüb.) herausgegebenen
werthvollen „Beiträge zur Geschichte der Bevölkerung in Deutschland seit Auf. d.
19. Jahrhunderts“, bes. B. 1 von v. Bergmann, B. 2 von Markow. Ferner für
Oesterreich Hainisch, Zukunft der Doutsch-Oesterreichcr, Wieu, 1892.
Für die natürliche Vermehrung der Bevölkerung sind physio-
logische und sociale Factoren (darunter auch ethische, Cultur-,
Sitten-, politische, Rechts-, wirtschaftliche psychologisch wirkende in-
begriffen) maassgebeud. Dieersteren entscheiden Uber die mögliche
maximale Vermehrung, daher über das maximale jährliche Ver-
mehrungsprocent und davon abhängig über die minimale Länge der
Verdopplungsperiode durch Ueberschuss der Geborenen über die Ge-
storbenen. Die letzteren, die socialen Momente, bestimmen die Ab-
weichungen der Vermehrung von jenem physiologisch möglichen
Maximum und somit die tatsächliche Vermehrung. Wir fassen
zunächst das physiologisch mögliche Maximum für die Menschheit
überhaupt ins Auge. Dabei wird allerdings, soweit es sich um sta-
tistische Daten bandelt, wesentlich nur mit Erfahrungen aus der euro-
päischen Menschheit und deren Abkömmlingen operirt. Dass
auch unter dieser und vollends unter der gesammten Menschheit
eine natürliche Differcnzirung auch in Bezug auf „physio-
logischmögliche“ Vermehrungsfäkigkeit, unter Natureinflllssen,
wie Klima, Race, Nationalität, Stammesart, vielleicht auch der
Ernährungsweise und der psychisch geistigen Gesammtentwicklung
stattfinden mag, braucht nicht bestritten zu werden, lässt sich aber
hier nicht näher, und mit den vorhandenen Erfahrungsthatsachen über-
. /
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492 4. B. Bevölker. u. Volkswirthsch. 1 K. Bevölk lehre. 1. II.-A. Statist. §. 208, 209.
haupt noch nicht genügend sicher verfolgen. Der etwaige Einfluss
solcher Factoren, so derjenige mir wahrscheinliche und statistisch wohl
hervortretende der Nationalität, des Stammes ist von demjenigen
der mancherlei socialen Momente schwer zu trennen, kommt aber
allerdings möglicher Weise in der t hatsächlichen Gestaltung
der Vermehrung der Bevölkerung mit zur Geltung. Das Problem
der „physiologisch-möglichen“ ßevölkerungsvermebrung bat übrigens
auch noch eine specielle mehr practiscbe Bedeutung für die Be-
völkerungsfrage innerhalb einer 8 oci al istische n Volkswirthschafts-
organisation, in welcher die heutigen hemmenden socialen Factoren
nicht oder doch weniger wirken würden, während es fraglich bleibt,
ob sie durch andere genügend ersetzt würden.
A. — §. 208. Physiologisch mögliche Vermehrung.
Die natürliche Vermehrung der Bevölkerung hängt, rein physio-
logisch betrachtet, offenbar von folgenden fünf Factoren ab : l)von
der Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter in der Bevölkerung;
2) von der Zahl der fruchtbaren Frauen hierunter; 3) von der
Höbe der Geburtsfrequenz, d. h. von der Zahl der Geburten, welche
eine Frau durchschnittlich während ihres gebärfähigen Alters
leistet, bzw. nach physiologischer Auffassung wahrscheinlich leisten
kann; 4) vou der Zahl der Kinder, insbesondere der wenigstens
etwas lebensfähigen, daher einige Zeit lebenden Kinder, welche
auf einen Geburtsact durchschnittlich fallen; 5) von der Grösse
der Sterblichkeit. Je grösser die Zahlen für No. 1, 2, 3, 4 und
je kleiner die Zahlen für No. 5 sind, desto grösser wird die natür-
liche Vermehrung. Mit den vorhandenen Materialien lässt sich nun
erfahrungsmässig für unsere europäischen und einige andere Völker,
die von jenen abstammen, statistisch feststellen, welche Zahlen-
verhältnisse für No. 1, 3, 4, 5 sich in der Wirklichkeit und bei
grösseren Bevölkerungsmengen, die allein hier statistisch in Be-
tracht kommen und etwas beweisen, finden, ln Anknüpfung hieran
und unter Benutzung anderer Erfahrungsthatsacheu , zum Theil
auch statistischer, kann man mit einiger Sicherheit, wiederum
wenigstens für grössere Hevölkerungen , ableiten, welche Grösse
als Maximum für No. 1, 3, 4 und als Minimum für No. o an-
genommen werden darf. Am Wenigsten sicher, mangels genügender
statistischer Aufnahmen und Daten, ist die Beantwortung der No. 2
betreffenden Frage. Einigcrmaassen lässt sich aber so doch er-
mitteln, welches das physiologisch mögliche Maximum und
weiter das auch thatsächlich noch für etwas grössere Volks-
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Physiologisch mögliche Vermehrung.
493
zahlen unter besonders günstigen Umständen mögliche Maximum
der natürlichen Volksvermehrung sein möchte. Es bewegt sich
muthmaasslieh um 3 °/0 der Bevölkerung herum, ich möchte es
auf Grund der im Folgenden (§. 204 — 213) angestellten Unter-
suchungen auf c. 2.8% veranschlagen (vgl. hes. §. 213).
Die betreffende Frage ist öfters in der Bevölkerungsstatistik erörtert worden, s.
schon J. G. Hoffman n, in dem Aufs, über die Besorgnisse, welche die Zunahme
der Bevölkerung erregt, in der Sammlung kl. Schriften staatswirthsch. Inhalts, Bert.
1843, S. 30 fl., bes. S. 34, dors. Uber die Grenzen des Wachsthums der Bevölkerung
in den christlichen Staaten Europas, im Nachlass kl. Schriften, Berl. 1847, bes.
S. 202. Zum Tlieil im Anschluss an ihn namentlich dann Wappäus I, 90 ff. und
dazu die Noten S. 121 fl'. Er formulirt die einzelnen Puncte aber etwas anders, über-
sieht den Punct No. 2 uud behandelt das ganze Problem auch sonst abweichend.
S. ferner Rilmolin, Reden, 1. Folge S. 31 2 IT.
§.209. Ausführungen zu den einzelnen fünfPuncten.
Zu No. 1: Nach Klima, Race u. dgl. schwankt bekanntlich An-
fang, Ende und Dauer des gebährfähigen Alters der Frauen.
Mit Hoffman li und Wappäus u. A. eine Dauer von 29 Jahren
(bei uns vom 17. — 45.stcn incl.) durchschnittlich anzunchmen,
möchte auch für das physiologische Maximum zu hoch gegriffen
sein. Die Frauen dieses Alters schlagen beide auf nahe 20% der
Bevölkerung in unseren Ländern an, was annähernd mit neueren
Daten stimmt. Rümelin u. A. nehmen wohl richtiger, mindestens
für unsere Bevölkerungen , nur c. 22 Jahre Dauer der Gebäbr-
fähigkeit an (etwa 19—41); die Frauen dieses Alters betragen etwa
16.5%. Die durchschnittliche Dauer der ehelichen Fruchtbarkeit
bei uns schätzt Rümelin auf nur 12 — 13 Jahre.
In der gen. reichsstatist. Arbeit wird, um Sud- und Nordeuropa gleicher Weise
zu berücksichtigen, das gebährfahige Alter mit über 15 — 50 Jahre angenommen
(Einl. 3. 54). Im Deutschen Reich standen im Mittel von 1872 — SO iu diesem Alter
von 1000 weiblichen Personen 492.2, in dem von 20 — 45 350.3, von 15 — 45
442.8, was ziemlich jener Annahme von Wappäus entspricht. In Westösterreich war
der Promillesatz der Fraucu von 15 — 45 Jahren 1871 — 80 452.7, in Frankreich
1872 — 80 448.4. Nach den allerdings nur wenigen vorliegenden Daten Uber das
Alter der Mütter bei der Niederkunft (s. B. 44 d. Reichsst. S. 178 der Tabellen) ist
die Zahl der Geburten von Frauen, insbesondere verheiratheter , im Alter von über
45 — 50 Jahren sehr klein, in einigen deutschen Kleinstaaten auf 100 letzterer Frauen
1.3, in einigen nordischen Ländern 1.3. 2.4, 2.7, 4.3 (Norwegen), bei verheiratheten
Muttern von über 50 J. ganz verschwindend (in jenen deutschen Staaten 0.01, Nor-
wegen 0.06%), bei verheiratheten Muttern von 40 — 45 aber allerdings doch noch
10.2 in deutschen, 12 — 18.7% in scandinavischen Ländern. In der Altersclasse
15 — 20 sind die Krauen natürlich viel fruchtbarer (in jenen deutschen Staaten kommen
auf 100 verheirathetc Frauen 59.3, in Dänemark sogar 72.9 % Niederkünfte). Klein
ist nur bei uns und doch ziemlich überall die Zahl der in diesem Alter schon ver-
heiratheten Frauen (im Deutschen Reich 1872 — SO, 1.7, Max. Prov. Posen 4.1, auch
West- Oesterreich 1.9, England, Schottland 2.7, selbst in Italien nur 4.5, Frankreich
6.1, Griechenland 10.5, Galicien u. Bukowina 9.9, Rcichsstat. B. 44, Tab. S. 116,
122), was natürlich zu beachten ist, wenn cs sich um die unter unseren socialen
u. s. w. Verhältnissen mögliche ücburtszilfer und die davon abhängige Volks-
vermehrung handelt.
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Theil. Grundlagen.
32
494 4. B. Bcvölkcr. a. Volkswirtlisch. 1. K. Bcvölks.lehrc. 1. H.-A. Statist. §. 210.
Zu No. 2: Genaue statistische Daten über Unfruchtbar-
keit der Ehen sind wenige vorhanden (u. a. aus Frankreich).
Aber dass für unsere Frage mit diesem Umstand der Unfrucht-
barkeit vieler Frauen zu rechnen ist, folgt doch wohl aus der
notorisch nicht unerheblichen Zahl kinderloser Ehen.
Von diesen steht es ja freilich dahin , wie weit dio Ursache in der Fran oder
in dem Manne, bz. in dem concreten Ehemanne in Bczujr auf die concreto Ehefrau
liegt, ferner, ob die bisher kinderlose Ehe cs dauernd bleibt. Aber wenn man, wohl
gegen die Wirklichkeit und getreu medicinische Ansichten, selbst nur die Hälfte der
Fälle unfruchtbarer Ehen auf Rechnung der Frau setzt, etwa mit unter der hier auch
nicht zu übersehenden Annahme, dass man vielleicht einen Thcil der unfruchtbaren Ehen
auf zu spätes Heirathen von Frauen in unseren socialen Verhältnissen schieben muss, so
bleibt doch immerhin für die hier behandelte Frage mit diesem Umstand weiblicher
Unfruchtbarkeit zu rechnen. Nimmt man mitHümelin (a. a. 0. S. 314) an, dass %
der gebährfähigen Frauen unfruchtbar seien, so wurde die Quote der nach Wappäus für
die Progenitur in Betracht kommenden Frauen von 20 sinken auf c. 17%, wenn man
die Fälle alle, auf IS — 19, wenn man sio zur Hälfte auf Rechnung der Frau setzt.
Nach der niedrigeren Annahme der Dauer der Gebährfähigkeit von 22 Jahren ergäbe
6ich hiernach aber nur eine Quote von c. 14.1, bzw. von c. 15.3%.
§. 210. Fortsetzung. Näheres über die Geburts-
frequenz.
Zu No. 3: Auch bei der Frage nach der möglichen
durchschnittlichen Zahl der Geburten (Niederkünfte) können die
vorliegenden statistischen Daten nicht unbedingt entscheiden, da
die statistisch ermittelte Fruchtbarkeit der jetzigen gebährenden
Frauen, speciell in der Ehe, eben auch das Ergehn iss unter unseren
socialen Verhältnissen ist, so dass man unvermeidlich hier auf
gewisse Conjecturcn angewiesen wird.
Mit Physiologen und Statistikern wie Wappäus wird mau
es für möglich halten können, dass eine gesunde und auch bei
zahlreichen Geburten gesund bleibende — eben eine schwer zu
erledigende Frage! — und selbst stillende (daher schwerer con-
cipirende) Frau allerdings alle 2 Jahr während ihrer Periode der
Gebährfähigkeit gebähren kann. Darauf hin hat man auch eine
Geburtsfrequeez von 10% der Bevölkerung (hei 20% Frauen in
dem genannten Alter) als „physiologisch möglich“ bezeichnet, wenn
das auch, wie Wappäus (I, 91) selbst meint, „aus Gründen, die
eben in den socialen Verhältnissen civilisii ter Länder liegen“,
tbatsächlich sicher bei Weitem nicht erreicht werden würde. Mau
muss aber auch schon behaupten, dass eine solche Frequenz in
irgend etwas grösseren Bevölkerungen überhaupt nicht, jeden-
falls nicht auf irgend einige Dauer und auch schwerlich
bei uncivilisirten Völkern, Vorkommen kann, vielmehr für Durch-
schnittsverhältnisse auch schon physiologisch uicht
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Maximum der Geburtsfrequenz.
495
möglich erscheint, weil sie an sanitäre, medieinische und
anderweite rein natürliche, physiologische Voraussetzungen
gebunden wäre, die sich nur sehr unwahrscheinlich allgemein er-
füllen können. Auch mit Rücksicht auf die Unfruchtbarkeit vieler
Frauen müsste ohnehin die Zahl 10 auf 9% und vermuthlich dar-
unter, nach der obigen Annahme einer überhaupt kleineren Quote
der gebährfähigen Frauen noch erheblich mehr, auf 7 — 8 und
darunter, und endlich wegen der angedeuteten, muthmaasslich
auf die Dauer allein möglichen weiblichen Geburtsleistung auf
noch ansehnlich weniger herabgemindert werden. Ich möchte die
Wappäus’sche Annahme von 5% Geburtsfrequenz, die er nur für
die „Zustände des Lebens in Cnltursstaaten“ als Maximum annimmt,
auch fast für das richtigere dauernde physiologische Maximum,
wenigstens für Völker unserer Racen und Klimata, anseben, jeden-
falls nur wenig mit der Ziffer höher gehen, vielleicht bis auf
6°/0 oder ein Geringes darüber allerhöchstens.
Die statistischen Thatsachen aus neuerer Zeit ergeben Folgendes (nach B. 44
der Reichsstatistik). Die Geburtsziffer für die ganze Bevölkerung — allerdings nach
dem Früheren (S. 484) kein ganz correcter Vergleichuugsmaassstab — berechnet,
war in zehnjährigen Durchschnitten (bei einzelnen Ländern in Theilen einer solchen
Periode) (B. 44 der Reichsstat. , Einl. S. 11 und dazu gehörige Tabellen) auf 1000
der mittleren Bevölkerung incl. Todtgeborene (bei Gr.-Britannien und Russland excl. *):
Tab. I. Geburtsfrequenz verschiedener Länder.
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1841—50
37.58
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32.6
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31.8
31.9
1851—60
36.80
36.2
41.4
27.8
84,2
31 8
34.4
1861—70
38.77
30.5
45.2
38.5
27.8
85.2
48.9
83.7
32.1
1871—80
40.68
37.7
45.6
38.U
26.6
35.4
49.3
34.1
82.1
1881—90
38.18
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Maxim, s)
42.61
38.8
50.2
40.7
29.2
36.8
51,8
35.1
36,2
Minim.
(33.80
(85.94
31.2
82.6
34 3
32 0
85.1
25.7
23.7
31.5
46.4
28.4
29.7
Die Maximaljahre sind beim Deutschen Reich 1870, West- Oesterreich 1878,
Galicien 1864, Italien (nur aus 1868 — 80) 1876. Frankreich (immer ohne Eisass-
Lothringen gerechnet) 1841. Gr.-Britannien (ohne Irland, bis 1860 ohne, dann mit
Schottland) 1876, Russland (ohne Polen ond Finnland, aber nur aus 1867 — 80) 1873,
Belgien 1811 und 1874, Norwegen 1859. Die Minimaljahrc sind beim Deutschen
Reich das ersto 1855 (niedriger als selbst 1847 und 1848 mit 34.61 und 84.71),
das zweite, das durch den Krieg naturgemäss einen starken Ausfall gebende J. 1871
’) Die Ziffern stimmen übrigens in den verschiedenen Publicationen des reichs-
statist. Amts in den Decimalen nicht immer ganz überein, vgl. B. 44 Einl. S. 11,
Tab. S. 3, Jahrb. 1S8S S. 14.
8) In einem einzelnen Jahre der ganzen Periode.
32 *
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4
496 4. B. Bcvölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lehre. 1. H.-A. Statist. §. '210.
(1870 40.09, 1872 41.09), West-Oesterreich das erste 1855, zweite 1848, Galicien
das erste 1855, das zweite 1848, Italien 1880, Frankreich 1880 (zunächst, zwischen
1841 — SO, dann 1855 mit 25.9. 1847 mit 26.2), das zweite, das Kriegsjahr 1871
(1870 26.7, 1872 27.9, wie 1801. Maximum seitdem), Gr.-Britannien 1847, Russland
1878 (Türkenkrieg, sonst 47,9 in 1868 und 1881), Belgien 1847 (zunächst dann 1846
mit 28.9, 1849 mit 29.0, 1855 29.3), Norwegen 1869.
In den einzelnen Gebietstheilen dieser Länder zeigen sich natürlich grosse Ver-
schiedenheiten der Durchschnitte, der Maxima und Minima. Duter den preussischen
Provinzen haben nach dem lUjähr. Durchschnitt die östlichen, z. Th. slavischen
Provinzen das Maximum, so Posen 1871 — SO 46.22 (Min. 1851 — 60 43.46). Preussen
1861—70 46.08 (wenig geringer iu den drei anderen Decennien), Ostpreussen 1851 bis
60 44.70; dagegen das Minimum Schleswig -Holstein 1841 — 50 32.3, Hannover
1841 — 50 32.17 (in beiden seitdem Steigerung jahrzehntweisc). Die Maxima nach
einzelnen Jahren und provinzweise finden sich in Ostpreussen mit 52.65 iu 1849
(nach 1S4S! und nach vorausgehendem Minimum in der ganzen Periode in 1848,
nach der Theuerung von 1847, mit 34,75, iu 1850 wieder 46.37), in Westpreussen
ebenfalls in 1849 mit 50.51 (in 184S auch nahezu das Minimum der Periode mit
39.79, noch etwas kleiner nur im Kriegsjahrc 1871 mit 39.41). In Posen war das
Maximum in 1845 49.19, 1849 47.87 und wiederum nach dem Kriege in den 70 er
Jahren zwischen 47 — 48 und i. J. 1875 48.03. Auch in Berlin, dessen Verhältnisse
nach seiner Bevölkerungsgliederung, besonders seiner Alterszusammensetzung aber
nicht unmittelbar eine Vergleichung gestatten, ist in einzelnen Jahren die Geburts-
ziller von 40 öfters, von 45 auch noch überschritten und ein Maximum von 47 05
in 1876 vorgekommen (Mitte der 80 er Jahre dagegen nur c. 36). Auch in Schlesien
wird 43 — 44 erreicht, in Westfalen 44 einmal überschritten, in Rheinland 43, aber
die Durchschnitte bleiben niedriger, und die hohen Zahlen bilden hier und in den
anderen Provinzen, wo 40 kaum einmal erreicht wird, die Ausnahme. In Bayern
kommen zeitweise die hohen Zahlen von 45 und darüber in der Mitte der 70 er Jahre
iu den nicht-fränkischen rechtsrheinischen Provinzen , also im eigentlichen Alt- oder
Südbayern, vor und wird 1871 — 80 hier ein Durchschnitt von 43.41 erreicht, auch
in der Pfalz findet sich 1876 das Maximum von 44.77. K. Sachsen zeigt hohe und
steigende Decennial- Durchschnitte, 1871 — 80 mit 44.69, Maximum 1876 mit 47.27,
Würtemberg ähnlich bz. 44.76 (1S71 — 80) und 47.16 (1875). Niedriger, durchschnitt-
lich unter 40, bleiben Baden, Hessen und die übrigen Mittel- und Kleinstaaten, in
denen nur ausnahmsweise 40 erreicht wird (einzelnen thüringischen), mehrfach 35 ein
Maximum bildet. Doch sind die Zahlen dieser Gebiete wegen ihrer Kleinheit und
specifischcn Verhältnisse nicht direct vergleichbar. Jedenfalls ist auch in Deutsch-
land dem starken Tempo und der grossen Geburtsfrequeuz nach dem französischen
Kriege, besonders Mitte der 70er Jahre, ziemlich überall wieder eine erhebliche
Abnahme, wenn auch mit Schwankungen, gefolgt (s. u. §. 218 ff.).
Die hohen Frequenzen von 45 — 50 und darüber, wenigstens in den einzelnen
Jahren , und in Landestheilen selbst von der Grösse preussischer Provinzen und
deutscher Mittelstaaten zeigen , dass man osteuropäischen (galicischen , russischen),
slavischen hohen Frequenzzahlen doch vielleicht nicht ganz mit dem Misstrauen gegen
ihre Richtigkeit begegnen darf, welches sich zunächst bei ihrem Aublick wohl ein-
stellt und bei der Unzuverlässigkeit der Statistik wenigstens in Russland wohl nicht
von vornherein unberechtigt ist. Für das mittlere und das östliche Russland wird im
Durchschnitt von 1871 — 80 bei den nach dem Familienstand unterschiedenen Neu-
geborenen sogar eine Frequenz von 50.4 und bzw\ 53.4 berechnet (Reichsstat. B. 44.
Tab. I. S. 64 und Note S. 70). Finnland zeigt geringere Frequenzen (fast immer unter
40), Ungarn (i. w. S.) aber auch im neueren Durchschnitt über 43, mit Jahres-
Maximum von 45 — 46, Serbien auch 40 — 41 und 44 — 45 im längeren Durchschnitt,
46 — 47 in einzelnen Jahren, Rumänien und Griechenland dagegen bleiben (wenn die
Daten correct sind , was iu Griechenland und früher wohl auch in Rumänien zu be-
zweifeln ist), jenes mit, dieses ohne Todtgcborene, unter 30, doch weisen die letzten
Jahre auch iu Rumänien meist 35 — 37 auf. — Dass die französische niedrige
Geburtsfrequenz doch ziemlich allein steht, auch nicht etwa romanischen Völkern
heute zu Tage eigcnthümlich ist. zeigt schon der Vergleich mit Italien, auch mit dem,
allerdings zu mehr als der Hälfte germanischen Belgien. Aber auch Spanien hat
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Gebartsfrequenz.
497
eine Durchsclinittsfrequenz (1861 — 70) von 38.1, mit Jahresschwankungen nur zwischen
39.7 und 35.7, Rumänien, wenn man es mit als romanisch gelten lassen will, zeigt
jetzt, wo vermuthlich die Daten erst vollständiger sind, die höhere, Italien gleich
kommende Frequenz. Bloss Irland und Griechenland haben ähnlich niedrige Geburts-
frequenz wie Frankreich, Irland (ohne Todtgeboreno) im Durchschnitt 26.3 — 26.5, in
den 80 er Jahren nur noch 23 — 24. Neben bekannten anderen hier mitspielenden
Momenten auch wohl der Alterszusammensetzung der Bevölkerung, und unter der
Annahme, dass die irischen Daten, welche für unvollständig gelten, doch nicht gar zu
sehr hinter der Wirklichkeit Zurückbleiben — keltische Verwandtschaft mit Frankreich?
Nach allen diesen Daten wird man eine Geburtsfrequenz von
45 — 50 Promille der Gesammtbevölkerung allerdings auch für etwas
längere Perioden im slavischen Osten als erreichbar und thatsäch-
lich erreicht ansehen dürfen, in der continentalen und grossbritannischeu
germanischen und in der romanischen Bevölkerung Europas, ausser-
halb Frankreichs, von 35 — 40, in der nordgermanischen von
30 — 35, wobei die höhere Grenzziffer etwa mit, die niedrigere
ohne Todtgeborene anzunehmen wäre. Ich bezweifle auch nach
diesen Thatsachen, ob eine höhere Geburtsfrequenz als 50 — 60,
höchstens noch ein wenig darüber als „physiologisch-mög-
liche“ angenommen werden darf.
Die erwähnten Thatsachen, die hohe slaviscbe, die bei uus in
günstigen Jahren stark und rasch steigende Frequenz, ein wichtiger
Punct in der Schwankungsstatistik, auf welchen wir noch zurück-
kommen (§. 217 ff), zeigen aber auch, wie selbst unter socialen
Verhältnissen der Gegenwart — oder gerade hier werden die
Socialisten auf dem Boden ihrer petitio principii sagen — das
physiologische Maximum der Frequenz trotz eines so bedeutenden
Theils lediger und nicht gebührender Frauen gar nicht so sehr
stark unterschritten und bei gewissen Anreizungen, wie in günstigen
Jahren, ihm sofort erheblich näher gekommen wird, was genug
zu denken giebt.
Hält man sich auch hier an die an sich correctere Berechnung
der Geburtsfrequenz nach der Anzahl der Geburten (Geborenen),
welche nicht auf die ganze Bevölkerung, sondern auf die An-
zahl der Fr aucn im gebährfähigen Alter fallen, so er-
geben sich nicht ganz dieselben, aber doch ähnliche Unterschiede
und Reihenfolgen der Geburtsfrequenzen der Länder oder Völker,
wie bei der vorausgehenden üblichen Berechnungsweise. Man ge-
langt auch hier zu einer auf die ganze Bevölkerung berechneten
physiologisch möglichen Maximal-Geburtsfrequenz, welche von dem
obigen Anschlag, freilich unter gewissen hypothetischen Annahmen,
nicht allzuviel abweicht.
S. Rcichsslat. B. 44, Einl., S. 9, 10, Tab. S. 76, 77. f“ ■
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498 4. B. Bevölk. u. Volksw.scb. 1. K. Bevölk.lehre. 1. H.-A. Statist §. 210.
Die weibliche Bevölkerung zwischen 15 und 50 Jahren kann auf c. 25% der
Gesammtbevöikerung veranschlagt werden. Die Geburtsfrequenz (incl. Todtgeborene)
war im Deutschen Reich 1872 — SO 164 Promille, auf alle diese Frauen, 293 auf die
verheiratheten , 30 auf die unverbeiratheten (uuehelichc Kinder) , mit Schwankungen
dieser drei Daten in den einzelnen Jahren zwischen bzw. 170 und 158, 30 und 29,
303 und 276, und mit Schwankungen nach Provinzen. Provinztheil- Gruppen. Mittel-
staaten zwischen bzw. 204 (Rg.-Bz. Arnsberg) uud 145 (Hannover und Eisass- Lothringen,
135 Mecklenb.-Schwerin) von kleineren, nicht genau vergleichbaren Gebictsthcilen ab-
gesehen, in der Gesammtfrcquenz, 38 (unehel. Frequenz). (Rg.-Bz. Breslau und Liegnitz)
und 9 (Rg.-Bz. Münster und Minden), 351 (eheliche Frequenz) (Rg.-Bz. Düsseldorf)
und 256 (Hannover, 224 Meckl. - Schwerin) Die gleichen Quoten eiuiger auderer
Länder (meist auch aus 1871 — 80) waren im Vergleich mit Deutschland (vgl. auch
u. Tab. UI S. 505):
Tab. II. Gebährfrequenz der Frauen.
Auf 1000 15 — 50 Jahre alte Frauen und zwar
verheirathete,
nicht verheir.,
kommen jährlich
überhaupt
ehelich
Geborene
unehelich
Geborene
im Ganzen
Deutschem Reich
293
30
164
Westöstor reich
258
40
145
Galicien, Bukowina
260
47
175
Italien
254
24
149
Frankreich
174
18
106
Belgien
289
19
142
Norwegen
268
20
129
Schweden. Dänemark zeigen ähnliche Zahlen wie Norwegen, Niederlande wie
Belgien (etwas höher in Col. 1 und 3). Schweiz wie Italien (in der ehcl. Frequenz,
niedriger in der unehelichen und gesammten, hier 125).
Nimmt man die hohe eheliche Geburtsfrequenz im Deutschen
Reiche mit rund 290 oder im Reg.-ßez. Düsseldorf mit 350 Pro-
mille als eine allgemein und dauernd von der ganzen weiblichen
gebährfäbigcn Bevölkerung pbysiologich erreichbare und diese
weibliche Bevölkerung wieder auf rund 25°/0 der gesammten an,
obgleich der Uebertragung der Gcburtsfrequenz bei den verheiratbeten
auf alle anderen Frauen manche Bedenken entgegenstehen, so er-
hielte man eine Maximal-Geburtsfrequenz, auf die ganze Bevölkerung
berechnet, von allerdings c. 7.25% im ersten, 8.75% im zweiten
Falle, was, nach dem Früheren, wesentlich zu hoch erscheint.
Legt man, wohl richtiger, eine Geburtsfrequenz aller gebühr-
fähigen Frauen von etwa 250 Promille zu Grunde, so würde eine
Maximalfrequenz von 6.25% auf die Gesammtbevölkerung gerechnet
herauskommen, was annähernd unserer obigen Annahme entspräche.
Verglichen mit der wirklichen von c. 3.5 — 4% im europäischen
Durchschnitt zeigte sich dann freilich auch, welches starke Hemm-
mittel (check) für die thatsächliche Geburtsfrequenz unsere Ehe-
ordnung dadurch ist, dass durch sie, namentlich auch wegen der
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Geburtsfrequenz.
499
Verheiratung erst geraume Zeit nach Eintritt der Gebährfahigkeit,
doch ein erheblicher Theil der gebährfähigen weiblichen Bevölkerung
vom Gebühren grösstenteils mit Erfolg ausgeschlossen wird , wie
die liberall so viel geringere, bei uns nur c. 10°/0 der ehelichen
betragende uneheliche Geburtsfrequenz der unverheiratheten gebühr-
fähigen Frauen zeigt. In einer anderen „Gesellschaftsordnung“,
mit anderem Ehe- oder Geschlechtsverkehrs - Rechte würde das
doch anders liegen und daher leicht eine allgemein höhere
Geburtsfrequenz, auf die ganze Bevölkerung berechnet, als die sich
jetzt bei dieser zeigende, eintreten können, wenn — nicht der
„präventive Geschlechtsverkehr“, nach dem neueren Vorschläge
(8. 462) Abhilfe gewähren soll. Gerade diese Seite der Frage ist
für die Kritik gewisser socialistischer Illusionen über das volks-
wirtschaftliche Bevölkerungsproblem wiederum nicht unwichtig.
Zu No. 4: Hier handelt es sich um die Fragen der sogen.
Mehrlingsgeburten und deren statistische Bedeutung für die
Bevölkerungsvermchrung durch die Geburten. Genügendes stati-
stisches Material liegt hierüber seit länger vor. Es ergiebt sich
daraus, dass die statistische Bedeutung dieses Phänomens für die
hier erörterte Frage ganz untergeordnet ist.
Schon die Zahl der Zwillingsgeburten ist klein, c. 1 °/o ^er Geburten, c. 2Vg%
der Geborenen, auch davon kommen schon 2 — 3 mal soviel todt zur Welt, als bei den
einfachen Geburten. Die Lebensfähigkeit und Lebensdauer der Zwillinge ist wohl
auch geringer, wenn auch keine genaue Statistik dafür vorliegt. Die Zahl der Drillings-
und sonstigen Mehrgeburten ist so minimal und die Kinder sind gewöhnlich so wenig
lebensfähig, wenn sie selbst lebendig geboren werden, dass man von diesen Fällen
ganz absehen kann. Sie haben mehr nur ein rein physiologisches oder pathologisches
Interesse. Im Deutschen Reich (e.vcl. einige Kleinstaaten und Eisass -Lothringen)
kamen 1870 — 80 jährlich 19.1 39 Zwilliiwsgeburten , l2.3%o von allen Geburten
(darunter 9S7.56°/oo einfache), 209 Drillingsgeburten, und 2 Vier-, bzw. Fünflings-
geburten (im Ganzen 8 in 3 Jahren, davon eine Fünflingsgebart), oder zus. 0.1 3%«,
vor. Unter 1000 Geborenen überhaupt waren 24.69 Mehrlingskinder. In anderen
Ländern sind die Zahlen nicht sehr verschieden, hier und da ein Geringes bei Zwillingen
höher, nur Frankreich, neben Spanien, Rumänien, steht auch hier mit bloss 9.81
Zwillingsgeburten etwas zuruck (s. B. 44 d. Reichsstat. Einl S. 60, Tab. S. 140, 178).
Schlägt man zur Zahl der Geburtsacte also etwa 1 °/0 hinzu, was bei den durchaus
nur approximativen Ziffern, mit welchen wir es in der hier erörterten Frage zu tbun
haben, aber nicht ins Gewicht fällt, so hat man der statistischen Bedeutung der
Mehrlingsgeburten genügend Rechnung getragen.
§. 211. Fortsetzung. Näheres über die Sterbefall-
frequenz, besonders Kleinkindersterblichkeit.
Zu No. 5 : Für die Entscheidung der Frage der physiologisch
möglichen natürlichen Bevölkerungsvermehrung kommt endlich gegen-
über der maximalen Geburtsfrequenz die minimale Sterblich-
keit in Betracht. Die directe Feststellung ist selbstverständlich
nicht möglich , die vorliegenden statistischen Thatsachen ergeben
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500 -i- B. Bevölk. u. Volkaw.sch. 1. K. Bevölk.lelire. 1. H.-A. Statist. §. 211.
immer Dur Grössen, welche Functionen unserer socialen Verhält-
nisse mit sind. Immerhin wird man auch diese Daten wiederum
mit zur Beweisführung herbeiziehen müssen und dürfen. Aber un-
vermeidlich bleibt hier für Conjectureu ein noch weiterer Spielraum
als bei der Geburtsfrequenz. Für solche Conjecturen lassen sich
jedoch richtige Anhaltspuncte hinsichtlich der Verhältnisse und
Einflüsse, welche für die Sterblichkeit in Betracht kommen, fest-
stellen, wozu man dann auch wieder statistische und andere Er-
fahrungsthatsachen benutzen kann.
Die Sterblichkeit ist nach allen Erfahrungen n atu r gemäss
nach den Lebensaltern sehr verschieden. Art und Maass dieser
Verschiedenheit sind nun zwar gewiss wieder von den socialen
Verhältnissen beeinflusst, durch Aenderungen darin also selbst
einer Veränderung Fähig, die Erfahrung»-, auch die statistischen
Thatsacben der Sterbefrequenz in den Lebensaltern also insofern
variable Grössen in Abhängigkeit von den socialen Verhältnissen,
so dass man aus den einer bestimmten Bevölkerung in der und
der Zeit entnommenen Daten nur wieder mit Vorsicht Schlüsse
auf ein noth wendiges Maass der Sterblichkeit ziehen kann.
Auf dieser Erkenntniss der Abhängigkeit der Sterblichkeit von
socialen Factoren beruht ja auch alle rationelle Theorie und Ver-
waltungspolitik zur Verbesserung, zur Verminderung der Sterblich-
keit. Aber die Grösse der Verschiedenheit und der im Ganzen
regelmässige Gang der Sterblichkeit, wie er sich bei allen kleineren
zeitlichen und örtlichen Abweichungen unverkennbar ergiebt, zeigt
doch auch deutlich, dass eine gewisse Eigenart der Sterbefrequenz
eine natürliche Mitgabe des Lebensalters ist, dass es daher
für deren hier in Frage stehende Verminderung gewisse natür-
liche Grenzen giebt , welche zwar nicht unverrückbar sind, in-
dessen sich doch nicht über ein nicht zur Zahl zu bringendes, aber
deshalb doch vorhandenes Maass verschieben lassen möchten.
Dies gilt von den drei grossen Abschnitten, in welche man
das menschliche Lebensalter für diese Fragen nach aller bisherigen,
hier aber auch wohl allgemein gütigen Erfahrung zerlegen kann,
nicht in gleichem Grade, aber es gilt doch für alle drei: das frühe,
namentlich das allererste Kindesalter (stufenweise: Leben
vor der Geburt, unmittelbar nach derselben, erste Wochen, Monate,
1., 2. Jahr, etwa noch 3. — 5. Jahr), das spätere Kindes- und
das erwachsene Alter bis zur Schwelle des Greisenalters
(5—10 bis 60, 65, 70 Jahre) und das Greiscnalter über letztere
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Sterblichkeit, bet. der Kleinkinder.
501
Jahre hinaus bis zum Tode. Für den letzten Abschnitt scheint die
Grenze der Sterblichkeit und Lebensdauer am Wenigsten verrlickbar
zu sein. Für das Kleinkindesalter lässt sich durobr Verbesserung
der socialen Verhältnisse eine erhebliche Verminderung der Durch-
schnittssterblichkeit erreichen, aber gross wird diese Sterblichkeit
hier nach Allem in Vergleich zu den mittleren Altersclassen immer
bleiben. Nur für den mittleren Lebensabschnitt milchten die Chancen
günstiger liegen, wenn alles geschieht, was „menschenmöglich4'
zur Verbesserung der Lebensverhältnisse ist. Dass hier überhaupt
mit N aturfactoren zu rechnen ist, ergiebt wohl auch die überall
wahrnehmbare Verschiedenheit der Sterblichkeit zwischen dem
männlichen und weiblichen Geschlecht und in den ver-
schiedenen Lebensaltern beider, die sicher zwar auch mit, zum
Theil nachweisbaren, socialen Factoren zusammenhängt, aber sich
daraus nicht allein erklären lässt.
Dem Kinde droht schon vor und bei der Geburt der Tod,
dem Knaben mehr als dem Mädchen , wie die Statistik der Todt-
geburten zeigt.
Im Deutschen Reich (1872 — SO) kommen 4% Todtircborcnc unter den Geborenen
vor mit Jahrcsschwankungcn von 3.9 — 4.1 und Schwankungen in den grösseren
Gebietsgruppen nach mehrjährigem Durchschnitte von 5% (Rp.-Bz. Breslau und
Lieguitz) und 3.1 (Oppeln, 2.9 in Alt-Bayern, doch sind die Zahlen gewisser katholischer
Gegenden wohl nicht ganz richtig, wahrscheinlich etwas zu niedrig). Die todtgeborenen
Knaben Uberwiegen stark, weit mehr als sie es bei den lebendgeborenen thun (im
Deutschen Reich kommen bei den Geburten auf 100 lebende Mädchen 105.4 Knaben,
auf 100 todtgeborene Mädchen 12S.9) (Reichsstat. B. 44, Einl. S. 58, Tab. S. 170,
Daten f. fremde Länder eb. S. 177). Die localen Unterschiede, ebenso der höhere
Procentsatz Todfgeborener bei unehelichen Geburten (in Deutschland hier 5, bei den
ehelichen 3.9 °/0, eine, wie Schumann a. a. O. in der Reichsstatistik mit Recht sagt,
um so erheblichere Differenz, weil die unehelichen Mütter häufiger in einem Lebens-
alter mit an sich geringerer Frequenz der Todtgeburten stehen) und andere incdiciuische
Erfahrungen beweisen, dass bei den Todtgeburten sociale Factoren mitspielen; wie
weit das eine Geburtsstatistik nach Woldstandskatejrorien u. dgl. noch mehr zeigen
würde, mag dahingestellt bleiben. Ein gewisser Procentsatz der Todtgeburten wird
aber doch als n o t h we n d i g aus Nat u rve r h ä 1 1 n issen hervorgehend, mindestens
bei Culturvölkeru , anzusehen sein. Die Verschiedenheit der Todtgeburten nach den
Geschlechtern beweist das wohl mit, wenn auch, wie ich zugebe, doch nicht unbedingt.
Die grosse Sterblichkeit im ersten und überhaupt im früheren
Kind es alter, nach den vorhin angegebenen Zeitstufen, wird
durch alle Erfahrung und die Statistik aller Länder bestätigt, frei-
lich auch die sehr verschiedene Höhe dieser Kleinkindersterblichkeit.
Der Einfluss mannigfacher socialer Factoren, Wohlstand, Bildung,
Gewissenhaftigkeit, Sittlichkeit der Eltern, Zustände der hygienischen
Verhältnisse, des Sanitäts- und Medicinal wesens, Auftreten von
Epidemien u. a. dgl. m. lässt sich theilweise auch aus zeitlichen
und örtlichen statistischen Vergleichungen, theils, wenn auch weniger
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502 4. B. Bcvölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lcbrc. 1. H.-A. Statist. §. 211.
genau, aus bekannten anderen Erfahrungsthatsachen nachweisen.
Danach hat man es in erheblichem Maasse gerade in der Kinder-
sterblichkeit mit einer variablen, deu socialen Verhältnissen
stark unterliegenden, bei einer Verbesserung derselben verminderungs-
fähigen Grösse zu thun. Allein alle weiteren Erwägungen in Be-
treff des Phänomens, alle in Betracht kommenden physiologischen,
medicinischen Erfahrungsthatsachen und doch auch wieder zu-
lässige Schlüsse aus günstigen statistischen Daten über Klein-
kindersterbliehkeit führen doch wieder zum Ergebniss, dass diese
grosse Sterblichkeit wohl sich vermindern lässt, aber eine relativ
starke, besonders im ersten Lebensjahre, gegenüber allen übrigen
Altersclassen, selbst die hohen (wenn auch nicht die höchsten) ein-
geschlossen, auch unter den günstigsten Verhältnissen
bleiben wird, insofern eben doch etwas Natürliches ist.
Das ist ja auch von vornherein bei der physischen Natur des kleinen Kindes
und bei den unvermeidlichen Gefahren, denen es durch und während seiner Entwicklung
unterliegt, auch wegen des Characters der Krankheiten, denen cs besonders leicht aus-
gesetzt ist, begreiflich. Gesundheitliche und sittliche Besserung der Eltern, vor und
nach der Geburt des Kindes, Hebung der ökonomischen Lage und Bildung derselben,
naturwissenschaftlich - medicinische Fortschritte, lauter Factoren , mit deneu ja nicht
mit Unrecht, aber wie gewöhnlich übertreibend der socialistische und sonstige Optimis-
mus rechnet, werden das nicht principiell, wenn auch dann uud wann graduell ändern
können. Selbst ein platonisches Aussetz- oder Tödtungssystem „schwächlicher“ Kinder
böte bei der Unbestimmtheit der Merkmale uud bei der Ungewissheit späterer Ge-
fahren keine genügende Abhilfe, während das drastische Mittel ja selbst nur sofort zu
erhöhter Kindersterblichkeit führte.
Für die Frage des Einflusses einer somit als mehr oder
weniger feste Minimalgrösse gegebenen Kleinkindersterb-
liebkeit auf die Volksvermehrung kommt nun gerade für unsere
Frage von der natürlichen Volksverraehrung der Zusammenhang
dieser Sterblichkeit mit der Geburtsfrequenz in Be-
tracht. Besonders grosse, namentlich dauernd besonders
grosse Gesammtsterblichkeit einer Bevölkerung findet sich
meistens bei besonders grosser Geburtsziffer und ist nach-
weisbar vornemlich darauf zurückzuführen , dass eben von der
grossen Kleinkinderzahl ein erheblicher Theil sehr bald wieder
stirbt. Selbst vorübergehende Ursachen höherer Gesammtsterb-
lichkeit, wie wirtschaftliche Nothstande, Seuchen, Epidemien de-
cimireti vor Allem eben auch die kleinen Kinder und steigern die
allgemeine Sterbeziffer durch die grosse Kindersterblichkeit unter
grosser Kinderzahl bei einer starken Geburtsfrequenz. Die viel
ungünstigere Steiblichkcit in Deutschland gegenüber Frankreich,
in manchen (nicht allen) unseren geburtsreichen Provinzen gegen-
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Kleiukindcrsterblichkeit.
503
liber den geburtsarmen ist in erheblichem Maasse auf die grössere
Geburtszahl zurUckzuflihren, indem der Tod unter den Kindern
wieder eine reiche Ernte hält. Freilich gehen aber Geburt« - und
allgemeine Sterbeziffern nicht parallel und ebenso wenig wächst
die Kleinkindersterblichkeit immer proportional der Geburtsziffer
oder gar progressiv zu ihr. Auch Länder, z. ß. England, Landes-
theile, z. B. Rheinland und Westfalen, mit ziemlich hoher Geburts-
ziffer haben eine massige Gesammtsterblichkcit (s. Tab. III), zeigen
also, dass sich das vereinigen lässt. Aber eine Gefahr ist doch
nicht zu verkennen, dass mit der Zahl der Geburten die Kinder-
sterblichkeit eher wächst, als abnimmt, weil die Kinder weniger
gepflegt werden, sich zu rasch folgen, vielleicht auch deswegen
schwächer sind, ihr Leben selbst den Eltern weniger Werth hat,
die ökonomischen Mittel knapper werden u. 8. w. Die regelmässig
wahrnehmbare grössere Sterblichkeit unter den unehelichen Klein-
kindern, auch psychologisch begreiflich, zeigt derartige Einflüsse
besonders und refleetirt sich dann auch in der höheren Gcsammt-
8terblichkeit von Ländern mit starker Zahl unehelicher Geburten.
Ungünstige Verhältnisse dieser Art zeigen bei uns besonders Alt-
Bayern, aber auch Würtemberg und die östlichen preussischen Pro-
vinzen, Ungarn, Galicien. Bei uns, wie in manchen anderen Ländern
hoher Geburtsfrequenz, sind so Ilunderttausende von Kindern nur
ein rasch durchlaufender Posten, der alsbald wieder in den Todes-
listen erscheint. Mit Recht von Rümelin etwas Trauriges, ja
eine Schmach genannt, ethisch wie wirtschaftlich jedenfalls ein
schwerer Uebelstand, Aber wenn auch bei geringerer Geburts-
frequenz und unter günstigeren Veihältnisscn selbst bei grosser
sich ein solches Vcrhältniss mildern kann: ein erhebliches
Gontingent zum Todtenbudget, namentlich im ersten Lebens-
jahr, werden die Kleinkinder immer stellen und stellen sie auch
heute in den Ländern mit geringerer allgemeiner wie Kindersterb-
lichkeit.
Das ergiebt sich aus jeder bezüglichen Statistik, auch aus den Daten und Be-
rechnungen in der neuesten vergleichend -statistischen Arbeit des reichsstat. Amts
(s bes. Einl. S. 6711'., Tab S. 1S2; cs müssen aber für die Frairc des Zusammen-
hangs zwbchcn Geburtsfrequenz und allgemeiner wie Kindersterblichkeit verschiedene
Tabellen und Daten vereinigt werden). Das Material ist zu umfassend, um hier Auf-
nahme finden zu können. Folgende Tabellen Ul und IV geben wenigstens einige
Anhaltspuncte (meist für 1872 — 80). Reihenfolge der Länder nach der Kindersterb-
lichkeit im 1. Lebensjahre (s. gen. Werk Eiul. S. 67, Tab. S. 182, 176).
504 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lchre. 1. H.-A. Statist. §. 211.
Tab. III. Sterblichkeits- und Gebährfrequenz in
deutschen Ländern.
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23
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63
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14
6
R.-B. Breslau- Liegnitz
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21
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18
Baden
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55
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24
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6
11
11
16
Franken (Baiern)
313
62
21
27 3
275
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157
7
10
18
18
Westpreussen
309
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35
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334
30
188 1
8
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3
2
Brandenbg. (ohn. Berl.)
306
04
25
25.8
271
35
102
9
10
21
14
Pr. Posen
292
78
32
28.4
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25
187
10
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3
Ostpreussen
1 286
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32
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11
7
12
12
R.-B. Oppeln
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7
Elsass-Lothringen
281
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22
20.0
280
20
145
i 13
13
15
25
6 Thür. Staaten
279
62
22
25.0 1
253
37
158
14
21
27
17
Hamburg
1 279
87
24
25.9
265
26
142
15
15
22
28
Provinz Sachsen || 272
70
20
26.0
277
34
169
10
13
16
10
Braunschweig
255
73
26
25.5
250
34
151
17
17
28
22
Hessen
240
50
19
24.1
272
24
156
18
24
20
20
Pommern
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20
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21
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23
Mecklenburg-Schwerin
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10
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25
29
29
29
R.-B. Arnsberg
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204
26
11 2
1
R.-B. Münster-Minden | 180
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27
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21
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22
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20
145 • 28
26
26
25
Schleswig-Holstein !l 179
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16
21.0
257
28
147
1 29
28
24
24
Tab. IV S. 505.
Die erste Tabelle (III) Uber die deutschen Gebietsgruppen zeigt iin Ganzen einet*
Zusammenhang zwischen der Kindersterblichkeit und der allgemeinen Sterblichkeit,
wie die ziemliche Uebereinstimmung der Bangordnung in Col. 8 und 9 ergiebt.
Aber einige Verschiebungen treten doch ein . worauf die Altersclassenvertheiiung
mitunter von Einfluss wegen der verschiedenen Sterblichkeit in den Lebensaltern sein
kann. Zwischen der Geburtsfrequenz (in der hier berechneten Weise) (Col. 10. u. 11)
und der Kindersterblichkeit (Col. 9) macht sich aber ein Zusammenhang viel weniger
geltend, weder bei der ehelichen noch der ganzen Geburtsfrequenz, in ciuigeu Fällen
(Berlin, Düsseldorf, übrige Rhcinproviuz, Arnsberg) verschiebt sich die Rangordnung
sogar ausserotdentlich , was den Einfluss socialer Factoren auf die Kinder- und all-
gemeine Sterblichkeit ergiebt. günstigere Umstände wie in Rheinland, ungünstigere wie
in Berlin. Die Verhältnisse der hohen Kindersterblichkeit in Südbaiern. Würtemberg
erscheinen nach der Verschiebung der Reihenzahlen in Col. 10, 11 verglichen mit 8, 9
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Sterblichkeit.
505
Tab. IV. Sterbl ichk eits- und Geburtsfrequenz
europäischer Länder.
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Spanien
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Schweiz
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30.8
6 (5)
Niederlande
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66
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24.3
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10
157
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7 (6)
Frankreich
210
29
22.4
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18
106
• 25.4
8 (7)
Finnland
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22.2
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9 —
Gr. -Britannien
174
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20
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10 —
Dänemark
165
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15
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27
132
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11 (8)
Schweden
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41
20
18.3
248
24
125
80.5
12 (9)
Irland
114
41
15
18.2
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V
V
26.5
13 —
Norwegen
111
39
16
17.0
268
20
129
31.0
11(10)
Griechenland
111
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15 —
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11
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4
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9
12
14
10
13
auch noch bedenklicher. Mehrfach besondors in den Gebieten mit niedriger Geburts-
zificr (Col. 10, combinirt mit 11) ist aber doch auch gleichzeitig die Kindersterb-
lichkeit niedrig, was auf einen Zusammenhang der Erscheinungen hier doch hin-
weisen möchte.
In der 2. Tabelle (IV), wo wegen des Fehlens der Daten für Geburtsfrequenz
der gebhärfähigon Frauen in einigen Ländern noch eine besondere Colonne (8) für die
Geburtsfrequenz in der üblichen Weise (von der Gesammtbcvölkerung) berechnet ist,
ist die Gesammtsterblichkeit und dio Kindersterblichkeit nach der Reihenfolge der
Länder in Col. 9 und 10 in grosser Oebereinstimmung, nur Westösterreich und Deutsch-
land stehen in der Kindersterblichkeit noch ungünstiger als in der gesäumten, was
wieder auf besondere ücbelständo in jener bei uns hinweist. Die eheliche und die
Gesammtgeburtsfrcquenz, und zwar letztere in beiden Berechnungsweisen, zeigt auch
hier viel erheblichere Abweichungen in der Reihenfolge der Länder von derjenigen
in der Sterblichkeit (Col. 11 bis 13 verglichen mit Col. 9 und 10). aber grade in den
Ländern mit Maximis und Minimis auch einige sehr deutliche Ucbercinstimmungen,
welche auf den nahen Zusammenhang der Sterblichkeits-, besonders der Kleinkinder-
sterblichkeitsfrequenz mit der Geburtsfrequenz hinweisen. Die Länder mit besonders
hoher Geburtsfrequenz (Galizien, Deutschland. Spauien, Italien, Westösterreich) haben,
wenn auch nicht genau in derselben Reihenfolge, eine höhere Kinder- und allgemeine
Sterblichkeit, die Länder mit geringerer Gebartsziffer, besonders Frankreich, auch eine
niedrigere Sterblichkeit. In dieser Tabelle IV möchten einige der grösseren Ab-
*) Die Zahlen in Col. 1 — 4 ohne Würtemberg und Hamburg.
s) Die eingcklammerten Zahlen in Col. 9 und 10 zeigen die Reihenfolge an,
wenn die 5 Länder, wo in Col. 5 und 7 die Daten fehlen, weggelassen werden.
506 4. B. Bevölk. u. Yolksw.sch. 1. K. BcvölkJchre. 1. H.-A. Statist. §. 212.
weichungen in der Reihenfolge der Geburts- und Sterbefallfrequenzen besonders bei
den Mittelstaaten sich übrigens, wie z. Th. auch in Tab. III, daraus erklären, dass
in diesen Ländern und Landestheilcn mit kleinerer absoluter Gesammtbevölkerung
zufällige Momente mehr einwirken nnd die Zahlen daher mit denjenigen der grossen
Länder sich, wie oben schon bemerkt, nicht so gut vergleichen lassen. In der Ta-
belle IV fehlt (wie in dem gen. B 44 der Reichsstatistik, S. t»7, 1S2) Belgien.
Mit einer Geburtsfiequenz der verheirateten gebärfähigen Frauen von 289, aller
Frauen von 142 nähert cs sich in erstercr Ziffer Deutschland, in der zweiten West-
Österreich, seine Geburtsfrequenz von der Gcsammtbevöikerung (lebende) ist 32.6,
etwas höher als in Dänemark, seine Sterblichkeitsfrequenz (ohne Todtgeborene) 22.9,
etwa wie die französische.
Eine etwas andere Berechnung der Kleinkindersterblichkeit ergiebt ähnliche
Resultate, nemlich das Verhältnis zwischen den Lebendgeborenen und
den im ersten Lebensjahre Gestorbenen (s. B. 41, Eiul. S. 70, 71, Tab. S. 1S3),
Hiernach war in dem grössten Tbeil des Deutschen Reichs die Sterblichkeit iin
1. Lebensjahre auf 1000 223 (eheliche 212, uneheliche 351), mit Abweichungen von
372 in Südbaiern bis 155 in Hannover (bei der notwendigen Beschränkung
der Vergleichung auf vergleichbare annähernd gleiche Gebiete, in kleineren Gebieten
gehen die Zahlen bis auf 125 herab, übrigens je nach den zu Grunde gelegten Durch-
schnittsjahren mit kleinen Abweichungen). In Russland ist die Zitier 206, im Osten
sogar 345, in Westösterreich 256, Galizien, Bukowina 257, Italien 214, Gross- Bri-
tannien 145, Frankreich 166, in Schweden aber nur 130, in Norwegen sogar nur 101,
in Irland 97. üeberall sind die Zahlen für die unehelichen Kinder ungünstiger, selbst
fast bis zum Doppelten (Frankreich 300 gegen 155). Nicht allein, aber doch vor-
nemlich bei geringerer Geburtsfrequenz wird die Sterblichkeit im 1. Jahre erheblich
niedriger. Sie aber wesentlich noch unter 10 °/0 bringen zu können, das irisch-
norwegische Minimum (bei ehelichen Kindern in Norwegen ist sie 99, bei unehelichen
auch hier 120 %ob erscheint doch nicht sehr wahrscheinlich. Auch von deutschen
kleineren Gebieten ist es nur das Grossh. Oldenburg, welches solchen Zilfcrn näher
kommt (bei ehelichen 119, bei unehelichen auch gleich wieder 243, i. G. 125 %o)*
Dass im üebrigen Natu r factoren hier cinwirken , ergiebt sich wohl auch wieder
aus der überall in allen Ländern und Gebietsgruppen, allen Jahren, bei ehelichen und
unehelichen Kindern grösseren relativen Sterblichkeit der Knaben im 1. Lebens-
jahre verglichen mit den Mädchen. Eine nicht unwesentliche Abnahme der Sterb-
lichkeit im 1. Jahre ist für Deutschland von 1872 — 80 übrigens nachgewiesen, von
über 340 bis auf unter 270.
§. 212. Fortsetzung. Sterblichkeit im späteren
Kindes- und im erwachsenen Lebensalter. Nach Ablauf
des ersten Lebensjahres (und schon vorher) nimmt die Sterb-
lichkeit erheblich ab, wenn sie auch bis zum sechsten Jahre
nicht unbeträchtlich bleibt. In die Einzelheiten hinein können wir
das hier nicht näher verfolgen. Eine allgemeine Characteristik der
Erscheinung genügt für unsere Zwecke.
Vergl. die Tabellen im B. 44 der Reicbsstatistik S. 62 der Einl. u. S. 182 der
Tabellen, daselbst auch für grössere Altersdassen graphische Darstellungen für das
Deutsche Reich.
Der allgemeine Gang der Sterblichkeit ist überall im Ganzen
so gleichmässig , wenn auch in den verschiedenen Lebensaltern,
Zeiten und Ländern wieder mit von veränderlichen socialen Ver-
hältnissen (Kriegsdienst, Berufsart) abhängig, dass auch hier der
Einfluss von Naturverhältnissen nicht zu verkennen ist. Wo
die Sterblichkeit im ersten Lebensjahre besonders hoch ist, bleibt
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Sterblichkeit in höherem Kindesalter und bei Erwachsenen.
507
sie, wie vou vornherein wahrscheinlich ist,^ auch in den nächsten
Perioden des Kindesalters gewöhnlich noch höher, als da, wo sie
auch zuerst kleiner war: der „Durchsiebungsprocess“ zieht sich
über eine Reihe von Lebensjahren hin. Später tritt dann aber
begreiflich eine gewisse Ausgleichung ein, indem die Sterblichkeit
in den mittleren und höheren Altersclassen in Ländern mit solcher
schon früher „durchsicbter“ Bevölkerung auf das Maass der all-
gemeinen Sterblichkeit anderer, in den jüngeren Classen günstigerer
Länder und selbst darunter fallt. Ein charactcristischcs Beispiel
bietet Südbayern (s. die aufS. 508 folgende Tab. V). Vom ersten
Lebensjahre an etwa bis zur Zeit der Pubertät vermindert sich
die Sterblichkeit überall fast regelmässig. Das Minimum erreicht
sie, nach Quinquennien berechnet, in Europa fast ausnahmslos in
der Periode des 10. — 15. Jahres. Beinahe ebenso niedrig, meist
nur ein Geringes höher, in weuigen Fällen selbst noch etwas
niedriger, ist sie in der Periode des 15. — 20. Jahres. Die grossen
Differenzen zwischen verschiedenen Ländern im frühen Kindes-
alter fehlen meistens, die Länder nehmen aber mehrfach eine
wesentlich andere Rangordnung ein.
In Deutschland ist die Sterblichkeit vom 10.— 15. Jahre auf 1000 Lebende der
Altcrsclasse 4.1 (Min. Thüringen 2,9, Würtemberg. K. Sachsen 3.0, aber auch Sud-
bayern mit nur 3.1, Max. jetzt K.-B. Munster, Minden, Westprensscn mit 5.5, Grosah.
Oldenburg mit 5.6), Norwegen hier nur ebenfalls 4.1, Frankreich 4.3, Gross- Bri-
tannien 3.0.
Nach der Pubertätszeit steigt die Sterblichkeit wieder langsam,
aber stetig und regelmässig von Jahr zu Jahr, von Quinqueuuium
zu Quinquennium, stärker wird sie nach dem 50. Jahre und von
da an mit steigend grösser werdenden Zunahmedifferenzen gegen die
vorausgehende Periode bis ins höchste Alter hinein, obgleich die
Zahlenwerthe hier bei der viel kleineren absoluten Zahl der Fälle
weniger sicher werden. In den mittleren Jahren werden die Sterb-
lichkeitsverhältnisse der einzelnen Länder sich im Ganzen noch
ähnlicher, um nur im höheren und höchsten Alter wieder mehr
Verschiedenheiten zu zeigen.
Nur an folgenden Beispielen aus Ländern sonst sehr verschiedener, zum Theil
hier extreme Gegensätze zeigender Bevölkerungsbewegung mag der Gang der Sterb-
lichkeit, nach Lebensaltern hier noch illostrirt werden. Deutschland: (ohne Wurtem-
bergs und Hamburgs Zahlen) und Frankreich, Südbayern und Norwegen (Keichsstat.
B. 44, Tab S. 182). S. Tab. V. S. 508.
Bei einer Zusammenfassung der Lebensalter in grössere Classen von
Lebensjahren, wie sie die gen. reichsstat. Arbeit gemacht hat (siehe S 63), erhält
man folgende Ergebnisse, mit Heraushebung nur einiger Hauptländcr und der Maxima
und Minima in jeder Classe (Deutschland ohne Würtemberg, bei „überhaupt“ auch
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508 B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk. lehre. 1. H.-A. Statist. §. 212. 213.
ohne Hamburg), bei den Gebietsgruppen ganz kleine absichtlich unberücksichtigt
gelasssen. S. Tab. VI.
Tah. V. Sterblichkeit nach Lebensaltern.
Auf 1000 Lebende des betreffenden Alters komuion Gestorbene (ohne Todtgeborcne):
Lebensalter
Deutschland
Frankreich
Südbaiern
Norwegen
überhaupt
26.8
22.4
34.1
17.0
0— 1
Jahr
294.0
210.0
560.0
111.0
1— 2
-
70 0
1
29.0
/ 65.0
39.0
2— 5
-
25 0
\ 19.0
16 0
5—10
-
8.7
6.7
7.1
6.6
10-15
-
4.1
4.3
3.1
4.1
15—20
-
5.1
6.0
4.2
5.5
20—25
-
7.5
8.4
6.9
7.4
25—30
-
8.8
9.8
8.2
8.0
30—35
-
10.0
9.8
9.5
8.0
35—40
-
11.8
10.1
10.9
9.3
40—45
•
13.4
11.4
11.9
9.6
45—50
-
15.9
13.0
14.5
10.8
50—55
-
21.0
17.0
19.0
13 0
55—60
-
29.0
22.0
26.0
17.0
60—65
-
41.0
33 0
38.0
26.0
65—70
-
63.0
50.0
62.0
40.0
70—75
-
94.0
80.0
97.0
58.0
75 — SO
-
145.0
122.0
137.0
88.0
Uber 80
-
234.0
201.0
279.0
162.0
Tab. VI. Sterblichkeit nach grösseren Altersclassen.
Auf 1000 Lebende kommen Gestorbene im Alter von Jahren
unter 15
15—40
40—60
Uber 60
Überhaupt
Deutschland
I 41
8.3
19.0
76.0
26.8
1. Maximum j
69
11.0
23.0
84.0
34.1
(Berlin)
(Arnsberg)
(Arnsberg)
(Hess.-Nass.)
(Sadbaiern)
2.
64
10.0
21.0
82 0
29.9
(Südbaiern)
(Herz.Oldenb.)
(verschied.)
(MUnst Mind.
(Berlin)
Franken)
1. Minimum
25
7.0
16.0
67.0
20.9
(Herz.Oldenb.)
(Anhalt)
(Schlesw- Hol-
(Bcrl. Schles-
(M.-Schwer.)
stein. Schwer.)
wig-IIolstein'l
2. -
26
7.3
17.0
69.0
21.0
(Schlw.- Holst.
(Pommern)
(Pomm. Süd-
(Westpreuss.
(Schleswig-
M. -Schwerin.)
baiem u.a. m.)
Pommern)
Holstein)
West-Oesterr.
47
9.7
19 0
76.0
29.3
Italien
50
9.6
18.0
77.0
30.0
Frankreich
27
8.7
16.0
09.0
22.4
Gr. -Britannien
27
8.2
18.0
71.0
20.9
1. Maximum
60
12.0
31.0
98.0
37.1
(Galizien)
(Galizien)
(Galizien)
(Galizien)
(Galizien)
2.
51
10.0
21.0
85.0
30.4
1. Minimum
(Spanien!
(Spanien)
(Spanien)
(Spanien)
(Spanien)
16
7.3
12.0
60.0
17.0
2.
(Irland)
(Dänemark)
(Norwegen)
(Norw. Finnl.)
(Norwegen)
19
7.4
14.0
64.0
18.2
(Norwegen)
(Norwegen)
(Schweden)
(Dänemark)
(Irland,
18.3 Schwed.
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Ergebnis« bez. der natttr). Volksvermehrung.
509
Diese letzte U ebersicht (VI) zeigt in den Maximis nnd Minimis der Sterblich-
keit bemerkenswerthe Goustanz derselben oder ähnlicher (so der skandinavischen)
grösserer Länder in allen Altersclasscn, weniger. aber immerhin auch einigermaassen,
bes bei den Minimis in den deutschen Ucbictsgruppen (gewisse norddeutsche Länder,
was sieh durch Herbei/.iehcn der den angegebenen nächsten Zahlen noch mehr ergiebt).
Eme Sterblichkeit der Kinder (bis 15 Jahre) von 1.5 — 2, der
zweiten Classc (15 — 40 J) von 0.75 — 1, der dritten (40 — 60 J.)
von 1.25 — 1.5, der vierten (über 60) von 6 — 7°/0 und eine Ge-
sammtsterblicbkcit (ohne Todtgeburten) von 1.75 — 2% wird inan
nach diesen Tbatsachen neuerer europäischer Statistik liier als
Minimum ableiten dürfen. Dasselbe kann nur unter besonders
günstigen Umständen, namentlich auch wieder nur bei einer, wenn
nicht unbedingt sehr niedrigen, so doch höchstens bei einer mittleren
Gebnrtsfrcqucuz, erreicht werden. Ob cs danach gerechtfertigt
ist, hypothetisch ein noch niedrigeres Minimum als „physiologisch
möglich an/.unehmen, ist schwer zu entscheiden. Es möchte
kaum zu wagen sein, die Frage zu bejahen, jedenfalls dürfte wohl
nur um Weniges, vielleicht noch x/4% für die Gcsammtsterblielikcit,
herabgegangen werden, aber nur bei gleichzeitiger Annahme nicht
sehr hoher Geburtsfrequenz. Ist letztere stärker, so wird auch das
Minimum um ,/2°/0 und mehr zu erhöben sein.
§. 213. Das Ergebnis 8 wäre daher auf Grund der voraus-
gohenden Ausführungen in BctretT des physiologisch mög-
lichen Maximums der Bevölkerungsvermehrung durch Geburts-
iiberschuss: bei grösster denkbarer Geburtsfrequenz von 5, viel-
leicht von 6—6.25% und geringster hierbei noch anzunehmender
Minimalsterblichkeit von 2.5 — 2.75 % ein Zuwachs von 2.25 — 2.5
im einen, von 3.25 — 3.5 im zweiten, von 3.5 — 3.75 im höchsten
Falle, letztere Proportion nach Allem, wenn nicht unmöglich, so
für einige Dauer und für grössere Bevölkerungen mit
regelmässiger Altersgliederung schon nicht mehr wahr-
scheinlich. Das wahrscheinlichste erreichbare Maximum möchte
zwischen der ersten und zweiten Proportion liegen, daher 2.75 — 3%,
im Mittel c. 2.8 betragen. Ein Ergehniss, zu welchem auch Andere,
so Wappäus, der 3% annimmt, gelangt sind. Die Verdoppelungs-
periode ist bei e. 2.8% c. 25.2 Jahre1). Eine immer nur unter
J) Nach Wappäus I, 112 ergeben sich bei folgenden Zunahmequoten die bei-
stehenden Verdopplungsperioden :
Zunahme Vcrdopp.per. Zunahme Verdopp.per. Zunahme Verdopp per.
0 2°/0
340.9 Jahre
0.667
104.3 Jahre
2 5
28.1 Jahre
0.25
277.0 -
1.0
69.7 -
3.333
21.1 -
0.333
208.3 -
1.25
55.8 -
4.0
17.7 -
0.4
173.6 -
1.333
52.3 -
0.5
139.0 -
2.0
35.0 -
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflago. 1. Theil. Grundlagen. 33
510 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lehre. 1. H.-A. Statist. §.214, 215.
besonders günstigen Umständen in einem grösseren
Gemeinwesen einige Dauer hindurch als möglich erscheinende Zu-
nahme.
Malthus’ Annahme einer regelmässigen Verdopplungsperiode von 25 Jahren ist
daher mit liecht schon lango als viel zu optimistisch, oder von seinem Staudpuncte
aus gesprochen, als viel zu pessimistisch angesehen worden.
B. — §. 214. Wirkliche Volksvermehrung.
Die wirklichen Zunahmeraten der Bevölkerung, soweit man
sie aus zuverlässiger Statistik der Bewegung der Bevölkerung und
aus Volkszählungen constatiren kann, sind wenigstens in alten,
ganz besiedelten Culturländern, wie den europäischen, viel geringer
und zwar selbst im 19. Jahrhundert, wjo nach Allem in vielen
Ländern eine raschere Zunahme stattgefunden hat, als vielleicht
jemals früher, und viel geringer sogar in den in dieser Hinsicht
die stärkste Zunahme zeigenden Ländern, wie einigen germanischen
und muthmaasslich auch slavischen. ln einzelnen Jahren wird
wohl ein Geburtsüberschuss von 14 — 1.6 °/0 in grösseren Ländern,
selbst bis 1.8, ja bis 2 und 2.3 °/0 und etwas darüber in grösseren
Landestbeileu erreicht, in längeren Perioden ist er auch hier
um einige Decimalen selbst in den günstigsten Fällen kleiner.
Nur junge überseeische Colonialländer mit allseitig günstigen
Lebensbedingungen haben vielleicht perioden weise einen
natürlichen Zuwachs, also auch hier von Einwanderung (und deren
weiterem Geburtsüberschuss) abgesehen, welcher jenem vorhin ab-
geleiteten Maximum gleich oder nahe kommt, also nicht viel unter
3°/o beträgt, aber wie es scheint, auch nur vorübergehend, so die
Vereinigten Staaten von Nordamerica in den ersten Jahrzehnten nach
ihrer Selbständigkeit, wenn die Berechnungen wenigstens einiger-
maassen zuverlässig sind. Eine Verlangsamung des natür-
lichen Zuwachses ist aber auch hier eingetreten und in Europa
ebenfalls mehrfach, wenn auch nicht allgemein und gleichmässig,
im Laufe des 19. Jahrhunderts, für das man fast allein genügend
zuverlässiges Material hat, zu constatiren, in Ländern mit rascherer
wie langsamerer Vermehrung. Grosse periodische Schwan-
kungen des Geburtsüberschusses, durch solche in der Geburts-
wie auch in der Sterblichkeitsziffer verursacht, zeigen sich ohnedem
hier. Sie sind namentlich für die volkswirtschaftliche Seite der
Frage von Interesse, weil sie mehrfach deutlich unter wirtschaft-
lichen Einflüssen (Erwerbsverhältnisse im Allgemeinen, Preisver-
hältnisse der Hauptlebensmittel) stehen (s. u. §. 217).
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Wirkliche Volksvermehrung.
511
Wo die Statistik der Bewegung der Bevölkerung nicht ausreicht, sind die Daten
der Volkszählungen mit zu benutzen. Aber diese sind eben das Ergebniss auch der
Wanderungen und zugleich der jeweiligen Technik uud Qualität des Zäblungsweseus,
so dass sie keine sicheren Schlüsse auf die wirkliche Veränderung der Volkszahl Über-
haupt und speciell auf das Vcrhältuiss zwischen Geborenen und Gestorbenen gestatten.
§. 215. Einzelne Ansführungen. Erste Hälfte und
Mitte des 19. Jahrhunderts.
Für die frühere Zeit des 19. Jahrhunderts sei auch hier vornemlich auf
Wappäus’ Werk, hinsichtlich des Deutschen Reichs auf das Juliheft 1879 der
Statistik des Reichs verwiesen. Vornemlich soll hier wieder nur das letzte halbe Jahr-
hundert, seit 1841, betrachtet werden, für welches das relativ zuverlässigste Material
vorliegt und in dem gen. B. 44 der Reichsstatistik gut bearbeitet wird. Deber die
frühere Zeit nur einige Bemerkungen.
Für die Vereinigten Staaten von Nordamerica liegt ein
freilich unvermeidlich zum Thcil mit Conjccturalzahlen rechnender
Versuch vor, die natürliche Zunahme der weissen Bevölkerung,
abgesehen von der Einwanderung, zu berechnen. Das Maximum
wäre danach anfangs fast 3% (2.89 °/0) gewesen.
S. T ucker, Progress of tho United States etc. Ncwyork 1843, an den sich nament-
lich gute Ausführungen von Wappäus angeschlossen haben (I, 92 IT., 122 — 127,
auch ders. in Stein-Wappäus Haudb. d. Geogr. I, 192, 496 ff.). Die betreffenden
Durchschnittsraten dieser Zunahme in den 6 Jahrzehnten von 1790 — 1850 wären
danach gewesen: jährlich 2.s9, 2.83, 2.74, 2.64, 2 52, 2,27 °/0, also niemals 3%
erreicht und auch hier eine fortschreitende Abnahme des Zuwachses. In Australien
war 1887 — 90 der mittlere jährliche Geburtsüberschuss c. 1.67 % der Bevölkerung.
In Europa constatirt man für das 19. Jahrhundert vielfach,
in Ländern rascherer (germanische) und langsamerer (Frankreich)
natürlicher Zunahme, eine besonders starke Vermehrung in den
ersten Zeiten nach Abschluss der französischen Kriegsperiode, also
seit 1815 — 20.
Freilich vornemlich auf Grund der Daten der Volkszählungen, bei welchen man
mit dem schon mehrfach hervorgehobenen Umstande der allmäligen Verbesserung
der Zählungen zu rechnen hat, ohne durch Controlo der theils fehlenden, theils auch
noch unvollständigeren Statistik der natürlichen Bewegung der Bevölkerung den inuth-
maasslichen Fehler der Volkszählungsstatistik zur Ziffer bringen zu können. Aber eine
starke Vermehrung nach jener Kriegszeit, dio dann später wieder langsamer wurde, —
um freilich hinterher, besonders in neuester Zeit, in vielen Ländern, den meisten
ausser Frankreich, von Neuem, wenn auch meist nicht mehr so hoch, wie 1815 — 20 11'.,
zu steigen — möchte doch richtig bleiben, ist von vornherein wahrscheinlich und mit
anderen ähnlichen Erfahrungen in Ucberciustimmung.
Einige Beispiele zum Beleg: im Gebiete des heutigen Deutschen Reichs
wird vom reichsstat. Amt auf Grund sorgfältiger, aber eben nicht überall mit voll-
ständigem uud correctem Material operirender Berechnung die Zunahme folgender
Maassen angegeben (s. Juliheft 1879 S. 63, Hauptdaten regelmässig im stat. Jahrb.,
so £ 1892 S. 2). S. Tab. VH. S. 512.
Hier kommen aber auch die Wanderungen, neuerdings daher die Mehr-
Auswanderungen, übrigens mit erheblichen Schwankungen in den einzelnen Perioden
zum Ausdruck. Im Kgr. Preussen (heutigen Umfangs) allein wäre die Zunahme
(Juliheft 1879 S. 43) zuerst 1.67 (1816 — 19) und 1.69 (1819 — 22) gewesen, um
1828 — 37 auf 0.77 herab, 1837 — 40 wieder auf 1.67 hinauf zu gehen, seitdem aber
unter diesem Satze zu bleiben (Minim. 1846 — 49 0.42, 1852 — 55 0.43, Maxim.
1858 — 61 1.26, 1872 — 75 1.04%, nach einer mit 1875 abschliessenden Berechnung'*.
33 *
512 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk. lehre. 1. II. -A. Statist. §. 215.
Tab. VII. Bevölkerungsvermehrung im Deutschen Reich
1816—1)0.
Jahr
1000 Einwohn.
Jährl.Zunahme%
Jahr
1 000 Ein wohn.
Jährl. Zunahme %
1816
24,833
—
1855
36.114
0.40
1820
26,294
1.43
1860
37,747
0.88
1825
28,113
l.:<4
1865
39.656
0,99
1830
29.520
0.98
1870
40.S18
0.58
1835
30,938
0.94
1875
42,729
0.91
1840
32.7S7
1.16
1880
45.236
1.14
1845
34,398
0.96
1885
46,858
0.70
1 850
35,397
0.57
1 890
49,428
1.07
In Baiern sank die Zunahme von 0.96 in 1S18 — 27 mit Schwankungen, aber ziemlich
stetig auf 0.09 in 1846 — 40 (cb. S. 44). In Sachsen, dessen ältere Daten wohl
noch weniger sicher, ist eine Zunahme von 1 °/0 fast immer überschritten, abgesehen
von einer olfenbar falschen höheren Zahl 1.64 1861 — 64 erreicht worden (eb. S. 44). —
Für die ganze Periode 1816 — 75 (eb. S. 63) berechnet sich die Zunahme in längereu
Zeiträumen für das Deutsche Reich: 1816— 34 auf 1.15, 1834— 52 auf 0.88, 1852 — 67
auf 0.75, 1867 — 75 auf 0.80 °/0. Nach den statistischen Gebietsabschnitten der Reichs-
statistik war die Zunahme (abgesehen von Berlin und den Stadtstaaten) 1814 — 34 am
Grössten, 2.22%, im li.-B. Gumbinnen, 1.84 in der Provinz Preussen (grösste
Zählnngsvcrbesserungen?), 1834 — 52 1.73 iin R.-B. Marienwerder, 1.58 in der Pro-
vinz Brandenburg (ohne Berlin) und Pommern, 1852 — 67 1.85 im R -B. Arnsberg,
1.75 im R -B. Düsseldorf, 1867 — 75 2.72 ebenfalls in Arnsberg (eb. S. 64), Auch
hier: Einfluss der Wanderungen, welche in neuerer Zeit mehr nach den industriellen
westlichen, früher mit nach den agrarischen östlichen Gegenden gingen.
In Frankreich (Ann. stat. 1888, p 18) wäre nach der Statistik der Be-
wegung der Bevölkerung der Geburtenüberschuss im J. 1816 auf 0.81 % gestiegen,
vorher (seit 1806) war er schon in einem Jahre auf 0,38 gesunken. Dieser Satz ist
seitdem nicht wieder erreicht worden. Mit Schwankungen, aber im Ganzen mit deut-
licher Tendenz zum Sinken, ist er schon vor 1848 mehrfach unter 0.5 gewichen,
1854 — 55 (Krimkrieg, Theuerung) ist bereits zweimal ein Ueberschuss der Todesfälle
eingetreten, auch danach die Zunahme nicht wieder auf 0.5 gestiegen (Max. 0.49 in
1862); im Kriege von 1870 — 71 überwogen wieder die Todesfälle (um 0.28 und
1.22 auch danach war in 1872 das Maximum des Geburtsübcrschnsses nur 0.49,
1874 0.48, seitdem fast stetig weniger, in neuester Zeit auch im Frieden sogar wieder
inehr Todesfälle als Geburten (1890/91, Epidemien. Influenza).
Die Verlangsamung der Zuwachsrate zeigt sich hier uud wie schon bemerkt,
mehrfach, aber keineswegs überall und stetig und bat auch grade in germanischen
Ländern wieder neuerdings öfters einer unter Jabresschwankungen doch ziemlich an-
haltenden Steigerung der Rate Platz gemacht. Sic aber ohne Weiteres zu einem
„statistischen Gesetz“ zu stempeln und auf die steigende Yolksdichtigkcit zurück zu
führen, durch die sic noth wendig werden soll, ist unzulässig, wenn anck ein nicht
seltener Trost in Frankreich (s. o. S. 456 u. folg. $5. 216).
Nach einer Berechnung von Hermann Wagner, damals Rcdacteur des sta-
tistischen Theils des Gothaer Hofkalenders, stellt sich für die Zeit nach den fran-
zösischen Kriegen bis in die 60er Jahre in wichtigeren europäischen Staaten folgende
Veränderung der Bevölkerung nach den Volkszählungen heraus (Goth. Jahrb. 1S69
S. 994 , die correcte Bcreclinungsformel im Vorwort daselbst S. YD. Reihenfolge
nach der Grösse des Zuwachses. S. Tab. VIII. S. 513.
Für Vergleichungen und Schlüsse ans dieser Tabelle ist freilich Manches zu
bedenken. Kleine und grosse Staaten gestalten auch hier wieder keinen unmittelbaren
Vergleich. Die Zahlen sind wegen der Verschiedenheit der Zählungsqualität nicht
gleichwertig. Well bei einigen Staaten die früheren Perioden, wo die Zunahme
rascher war, fehlen, ist auch für diese die Durchschnittszunahme in der Hauptperiode
im Vergleich mit den anderen Staaten zu klein (Sachsen, Dänemark. Niederlande,
Belgien, bes. Süddeutschlaml). Endlich zeigt sich neuerdings in einigen Staaten
(Gr.-Britauuien. Irland, Sc&ndinavien, Süddeutschland, auch Preussen) auch die Aus-
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Tab. VIII. Volks zunah me (-Abnahme) in europ. Staaten 1821 — 65.
Wirkliche Bcvülkerungsvermehrung,
518
0/
Io
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1.11
1.34
1.33
1.22
1.81
1.23
0.59
1.09
0.66
0.31
0.70
—0.71
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Bayern, Wfi
514 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lohre. 1. H.-A. Statist. §. 210.
Wanderung von Einfluss, wenigstens periodenweise, wenn sie auch vielleicht auf die
Dauer die thatsächliche Zunahme der Gcsammtbevölkerung ganzer Länder mitunter
nicht wesentlich auf hält. (§. 225 ff.)
§. 216. Fortsetzung. Mitte und zweite Hälfte des
19. Jahrhunderts. Für das letzte halbe Jahrhundert ist eine
bemerkenswerthe Erscheinung die mehrfache, wenn auch unter
zeitlichen Schwankungen sich vollziehende, schon erwähnte Wicder-
zunahme der Zuwachsrate, besonders durch Geburtsüber-
schuss, in Europa, unter dem deutlichen Einfluss der Wallungen
im wirtschaftlichen und politischen Leben (§. 217); ferner trotz
stark steigender, wenngleich auch erheblichen Schwankungen unter-
liegender überseeisch er Massena us Wanderung, die in der
Regel in grösseren Ländern und Gebieten dennoch verbleibende
bedeutende Volkszunahme, so dass also die A us Wanderung
vomGeburt8Überschuss nur einen Th eil aufzehrt. Davon
bilden nur Irland und kleinere Lnndestbeile, freilich, unter dem
gleichzeitigen Einfluss der inneren Wanderungen, in Preussen und
Deutschland doch schon solche von der Grösse von Regierungs-
bezirken und Provinzen, Ausnahmen. Auch in diesen Verhältnissen
treten wirthscha ft liehe Einflüsse besonders, mehr als ehedem,
hervor, in Deutschland namentlich die immer raschere Entwicklung
der Industrie, des Bergbaus, Städtewesens: schon nicht mehr bloss
der Uebergang aus der „Agricultur-“ in die „Industrie- und
Mercantilperiode“, sondern wie in Grossbritannien die selbständigere
und intensivere Entwicklung der letzteren. Das allein abweichende
Bild in den Erscheinungen der europäischen Bevölkerungsbewegung
zeigt ausser Irland Frankreich.
Dio folgenden Daten, welche anch für die Folgerungen im nächsten Kapitel
besonders wichtig sind , wurden wieder nach den Materialien des B. 44 der Reichs-
statistik in der für unsere Zwecke passenden Weiso zusammengestellt. Diese vorzüg-
liche Arbeit des reichsstatist. Amts liefert überall anch die erforderlichen Relativzahlen,
mit denen wir hier zu operiren haben. Für eine Menge einzelner Puncto und Fragen
findet sich daselbst weiteres Material, namentlich für Deutschland in Bezug auf die
einzelnen Staaten, Gebietsteile und Gruppen. Dafür ist im Wesentlichen auf das
Werk selbst zu verweisen. S. zur Ergänzung bis incl. 1800 die Viertelj.-Hefte der
Reichsstatistik 1802 II. 1, S. 18. auch S. 5. Hier wird jetzt Einzelnes nur mehr zum
Beispiel und zur Illustration und besseren Characteristik einiger wichtiger Thatsachen
hervorgehoben.
Zunächst als Beispiele zweier in der Bovölkcrungsbcwegu ng sehr ver-
schiedener Länder, das Deutsche Reich und Frankreich. S. Tab. IX,
S. 515.
Man ersieht aus Tab. IX sofort, dass es in Deutschland die hohe Geburts-
frequenz ist. welche Frankreich gegenüber den grossen Geburtsüberschuss und die
starke Volksznnahme trotz der bedeutenden Mchrauswanderung bewirkt. Die Geburts-
frequenz war fast immer mehr als 10. neuerdings mehr als 12. ja über 13%« grösser
als die französische, die Sterblichkeit, welche im letzten Jahrzehnt etwas zurück-
gegangen ist, überragt die französische nur um 4, jetzt um 8°/oo- höchste in der
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Wirkliche Volksvcrmehrung.
515
Tab. IX. Bevölkerungsbewegung im Deutschen Reich
und Frankreich von 1841 — 90.
Auf 1000 der mittleren Jahresbevölkerung jährlich
Land
Geborene
(incl. Tot
Gestorbene
tgeborene)
2
Geburts-
überschuss
3
Wander-
verlust
(+ Gewinn)
4
Volks-
zunahme
5
Deutsches Reich
1841—50
37.6
28.2
9.4
1.7
7.7
1851—60
36.8
27.8
9.0
2.5
6.5
1861—70
38 8
28.4
10.3
2.2
8.1
1871—80
40.7
28.8
11.9
1.8
10.1
1881— 90 *)
38.2
26 5
( 11.3
\ 12.1
4.3
1.4
7.0
10.7
Maximum *)
42.6
32.2
14.5
c 5.0
11.4
im Jahre
1876
1866
1876
1881
1876—80
Minimum2)
33.5
24.8
4.25
c. 0.5
1.77
im Jahre
1 855
1860
1848
1877
1853—55
Frankreich3)
1841 — 50
28.2
24.2
4.0
-j-0.4
4.4
1851- 60
27.3
25.0
2.3
+ 0.1
2.4
1861—70
27.3
24 8
2.6
+ 0.2
2.8
1871—80
26.6
24.8
1.7
+ 0.3
2.0
1881—90
25.1
23.3
1.8
00
1.76
Maximum
29.2
35.9
6.7
—
—
im Jahre
1841
1871
1845
—
—
Minimum
23.0
21.9
— 1 2.2
—
—
im Jahre
1S90
1889
1871
—
—
50 jäh r. Periode vorgekommene französische Geburtsfrequenz ist immer noch 3%o
kleiner als die kleinste deutsche. Das Maximum der französischen Sterblichkeit in
einem Jahre ist sogar höher als das in Deutschland vorgekommene, freilich in dem
Kriegsjahre 1871 (wo sie in Deutschland 31.03 war, wobei die Todesfälle im Kriege
auf französischem Boden nicht alle aufgenommen zu sein scheinen). Das zweite
französ. Maximum der Todesfälle war mit immerhin nur 29.5 im Kriegsjahr 1870,
das dritte im Kriegs- und Theuerungsjahr 1854 mit 28.4. In Deutschland traf das
Maximum der Todesfälle auf das Kriegs- und Cholerajahr 1860, das zweite und
dritte Maximum auf die Kriegsjahre 1871 und 1872 mit 31.03 und 30.02, das vierte
Maximum auf das Revolution+hr 1848, das unter den Nachwirkungen der Theuerung
von 1846/47 litt, mit 30.46. Aber der Ueberschuss der Geburten über die Todes-
fälle ist selbst in diesem hierfür das Maximum zeigenden Jahre 1848 in Deutschland
mit 4.25 noch höher als er in einem der 5 Decennialdurchschnitte in Frankreich war.
Nur in 11 einzelnen von den 50 Jahren von 1841—90 war er hier höher, meist nur
ein Weniges, davon noch in 6 im 1. Decennium 1S41 — 50, in 3 im 2. 1851 — 60, in
1 im 3. 1861 — 70, in 2 im 4. 1871 — 80, selbst hier aber nach dem Kriege nur 4.8
*) In Col. 3 — 5 die erste Reihe für 1881 — 85, die zweite für 1886—90.
*) Der Wanderverlust, bezw Gewinn lässt sich nur durch die Volkszählungen
indircct ermitteln, daher nur für die Perioden, welche zwischen zwei Zählungen liegen,
nicht für ein einzelnes Jahr. Die Zahlen in Col. 5 sind daher nur geschätzt auf
Grund der überseeischen Auswanderung in den betreibenden Jahren.
8) 8. über das Ergcbniss der Zählung von 1891 den Bericht des Ministers des
Innern an den Präsidenten der Republik, im Bulletin de Statist. 1892, I. 40 ff.
510 4. B. Bevölk. u. Volksw.scb. 1. K. Bevölk.lehre. 1. H.-A. Statist. §. 126.
in 1872 lind 4.0 in 1874, in keiuem Jahre mehr im 5. Decenniuin 1881.— 90, während
der GcburtsUberschuss in den letzten Jahrzehnten in Deutschland noch frewaehsen
ist, und zwar neuester Zeit erfreulicher Weise bei verringerter Geburtsziffer durch
Abnahme der Sterblichkeit. In Frankreich ist sogar in 5 Jahren unter den 50 ein
Ucbcrschuss der Todesfälle gewesen, davon allerdings in den 2 Krieg sjahten 1870/71
(2.8 und 1.22%o) und in den zwei Krimkriegs- und Theucrungsjahicn 1^54 und 1855
(2 und 0.9). aber auch bereits in dem ruhigen Friedensjahro, freilich höherer Preise
des Getreides. 1890 (und ebenso 1891). In Deutschland, dies als Ganzes genommen,
ist ein solcher Fall in diesem halben Jahrhundert nicht vorgekommen und auch nur
selten in einzelnen grösseren Gebietsteilen gewesen (s. u.). Auch trotz unserer
grossen überseeischen Auswanderung hat in keinem Jahre die Bevölkerung im ganzen
Reiche positiv abgenommen. Sogar in dem Jahre der grössten deutschen Auswande-
rung 1881, wo die constatirtc überseeische 211 000 Kopf betrug, thatsächltch noch
etwas höher war, ca. 5°/0o- »bsorbirte sie vom damaligen Geburtsüherschuss von 1 1.57
°/n0 noch nicht die Hälfte und übertraf nur etwas den kleinsten Geburtsüberschuss eines
einzelnen Jahres in der ganzen Periode (4.25). Auch nach Abzug jenes grössten
Wanderverlusts in einem Jahre verblieb in Deutschland 1881 noch ein Ueberscliuss
von ca. d. h. soviel wie in einem einzigen, hierin aber ganz alleinstehenden
Jahre, 1S45, einmal der französische Geburtsüberschuss im Maximum betrug (6.7°/00)
Die kleinste, nach Abzug der Mehrauswanderung vorgekommene jährliche Volkszu-
nahme (1 1 /ou in 1853 — 55) war immer noch so gross wie der neuere französische
Geburtsüherschuss (1871 — 90) und wie die ganze Volkszuuahme in Frankreich im
letzten Jahrzehnt 1881 — 90.
Die Zahlen Frankreichs liefern das wichtige statistische Ergebniss, dass bei
einer Geburtsfrequenz von nur 23 — 24 (incl. Todtgeborene, ohne diese von ca. 22 — 23).
sogar bei mässiger Sterblichkeit die Bevölkerung eben nur in der Stabilität
der Zahl erhalten wird. Jede auch nur kleinere Vermehrung der Todesfälle führt
zu einem positiven Rückgang der Bevölkerungszahl (so in 1890 in Frankreich) und
auch bei gleichbleibender Sterblichkeit hat jede kleine weitere Verminderung der
GeburtszifTer denselben Erfolg. Da sich die Sterblichkeit schwer, namentlich nicht
in kurzer Zeit erheblich vermindern lässt, zumal nicht allgemein in einem grossem
Lande, so kann nur durch Steigerung der Geburtszillor noch eine natürliche Volks-
vermehrung durch Geburtsüberschuss herbeigeführt werden. In dieser Lage ist
Frankreich, dessen neuere Geburtsziller von 23 — 24 (incl. Todtgeborene, die hier ca.
1 — 1 ,2°/00 betragen) demnach bei dort gegebener, schon nicht hoher Steiblichkcit
eben deshalb als das Minimum bezeichnet werden kann, das zur Erhaltung auch nur
des Gleichbleibens der Bevölkerungszahl wenigstens im Durchschnitt nothwendig ist.
(Frankreich hatte eine Geburtsziller 1890 ohne Todtgeborene von 219°/oo« eine
Ziffer, welche die Sterblichkeit dort nur in wenigen Jahren nach unten zu erreicht,
ganz ausnahmsweise unterschritten hat).
Die mitgethcilten Zahlen Deutschlands und Frankreichs sind natürlich das End-
ergebnis aller der zahlreichen Verschiedenheiten der betreffender. Daten in den
einzelnen Landesthcilen. Wir können die Untersuchung hierauf in diesem Werke
nicht ausdehnen, obwohl dadurch erst der richtige Einblick in dieses Thatsachengebiet
und für vielerlei Schlüsse das vorhandene statistische Material gewonnen wird. Nur
einige Zahlen von Maximis und Minimis seien noch aus einzelnen Gebietsteilen
im Deutschen Reich hei vorgehoben und zwar in Betreff der in irgend einem etwas
grösseren Gebietsteil (preuss. Provinzen , Gebietsgruppen der Rcicbsstatistik) vorge-
kommenen Durchschnittsmaxima und Minima in einem der 5 Decennien und in
einem einzelnen Jahre in dem halben Jahrhundert 1841 — 90 auf 1000 der mittleren
Jahresbevölkerung. S. Tab. X. S. 517.
Die Schwankungen selbst zwischen den 10jährigen Maximis und Minimis, mehr
noch den einjährigen sind, wie man sieht, doch recht gross. Die östlichen z. Th.
slavischen Gebiete haben grösste Geberts-, aber auch Sterblichkeitsmaxima und im
Ganzen auch die grössten Schwankungen in der Bilanz zwischen Geborenen und Ge-
sloibcnen. Uebrigens finden sich auch noch einzelne grössere Gebiete, welche in
einzelnen Jahren einmal einen Ucberschuss der Todesfälle oder wenigstens nur einen
ganz kleinen Geburtsoberschuss hatten, so z. B. in Ostpreußen 1852 auch ein Aus-
fall von 0.21, in Westprcusscn in demselben Jahre von 0.08, in Berlin 1849 von 0.85
(1871 unter den besonderen Verhältnissen, hricgslazarethe, Kriegsgefangene, 3,39),
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Wirkliche Volksvermebrung.
517
Tab. X. Deutsche Maxima und Minima der natürlichen
Bevölkerungsbewegung nach G e b i e t s t h e i 1 e n.
Auf 1000 der mittleren Jahresbevölkerung
Geburtsfrequenz
(incl. Todtgcborcne)
Sterblichkeitsfrcqu.
(incl. Todrgeborene)
Gebu rtsüberschuss
( — Deficit)
lOjähr. Maximum
40-22
30.14
16.3
Gebiet
Pr. Posen
Westpreussen
Pr. Posen
Jahro
1871 — 1880
1851 — 1800
1881 — 1890
Einjähr. Maximum
52.05
52.89
23 77
Gebiet
Pr. Ostprensson
Pr. Po«>en
Ostpreussen
Jahr
1849
1852
1849
lüjähr. Minimum
30.89
21.71
4.23
Gebiet
Elsass-Lothringen
Schleswig- Holstein
Südbaiern
Jahre
1851-1800
1851 — 1880
1851—1860
Einjähr. Minimum
27 45
19.05
— 7.08
Gebiet
Elsass-Lothringen
Schleswig-Holstein
Pr. Posen
Jahr
1855
1850
1852
1S55 in Schlesien von 2.41, 1854 und 1855 (Krimkrieg, Theucrung) in Elsass-Loth-
ringcn von 0.90 und 3.35 (1871 von 2.34) %o- Die genauere Analyse zeigt überhaupt
deutlich provinzielle, wohl mit Stammesart und Sitte zusammenhängende Verhältnisse
der natürlichen Bewegung, bei Geburten, Todesfällen, Ueberschuss, wie sich u. A. aus
den ähnlichen Zahieu in benachbarten Gebieten (so u. A. besonders deutlich im
ganzen Hauptgebiet des niedersächsischen Stammes, auch wiederum mit Aehnlichkeit
mit den nordgcrmauischen Verhältnissen) ergiebt. Die Ueberlegenheit der deutschen
Geburtsfrequenz auch in jedem grösseren Gehietstheil über die allgemeine französische
zeigt Tab. X ebenfalls. Selbst das elsass- lothr. zehn jäh r. Minimum, das niedrigste
in Deutschland, steht noch über dem französischen Durchschnitt der Geburtsfrequenz,
wenigstens letztere »eit 1851 genommen, das einjährige ebenfalls in Elsass-Lothringen
vorkommende nur wenig unter dem ganz im Beginn der Periode, 1841, zu bildenden
einjährigen französischen Maximum.
Eine Vergleichung bloss des Gcburtsüberschusses und des Gewinns und Ver-
lusts durch Wanderungen liefert noch die Tab. XI auf S. 518 für eine grössere
Reihe grosser und mittlerer Länder in Europa. In der germanischen . freilich wenn
die Zahlen zuverlässig sind, auch in der slaviscli- russischen Welt sind die üeburts-
überschüssc meistens über l°/0 jährlich, neuerdings auch fast überall gewachsen, auf
1.1 bis fast 1.4u/o* In Oesterreich mit seiner national -gemischten Bevölkerung sind
sic kleiner, auch schwankender, ebenso in Italien, wo aber in neuester Zeit ein ger-
manischen Ziffern nahekommender GeburtsUbcrschuss erreicht wird. Belgien , Irland,
die Schweiz, stehen etwas zurück, kommen so Frankreich etwas näher, aber immerhin
doch selbst Irland, dessen Statistik ohnehin für unvollständig gilt, und sogar noch in
der neuesten Zeit weit über Frankreich, das auch vom romanischen Spanien, wenn
die wenigen Zahlen für dieses zuverlässig sind und einen Vergleich gestatten, bedeu-
tend übertrolien wird. Frankreich ist dann freilich das einzige Land, welches
dauernd, wenigstens bis 18S0. einen kleinen Wanderungsgewinn durch Mehrein-
wanderung zeigt. Aber derselbe kommt gegenüber der grossen Volkszunahme, welcho
selbst die Länder der Massenauswanderung, Gr.-Britannien, Deutschland, Scandinavien
dank ihrem starken Geburtsuberschuss behalten, gar nicht in Betracht. Es ergiebt
sich, wie namentlich die germanischen Länder durch ihre ungemein starke
Geburtsziffern in die Lage gesetzt werden . ungeheure Menschenmassen an die neue
Welt ab/.ugeben und diese somit der germanischen Völkerfamilie definitiv zu gewinnen,
ohne selbst eine grosse Einbusse an ihrem Bevölkerungszuwachs zu erleiden. Von
der romanischen Welt gilt das neuerdings nur einigermaassen ähnlich von Italien,
während Russlands Gcburtsüberschuss , wenn er in der Wirklichkeit den statistischen
Zahlen entspricht, eine Verbreitung der Bevölkerung in den weiten Räumen des
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518 4. B. Bevölk. u. Volksw.seh. 1. K. Bcvulk.lchre. 1. H. -A. Statist. §. 2 1 G.
Tab. XI. Geburtsüberschuss und Wandcrnngsverlust in
europäischen Ländern.
Auf 10 )0 der mittleren Bevölkerung jährlich
Verlust (f Gewinn) durch
Geburtsüberschuss
Wanderungen
1841
1851
1861
1871
1881
1841
! 1851
1861
1871
1S81
bis
bis
bis
bis
bis
bis
1 bis
bis
bis
bis
1850
1S60
1870
1880
1S903)
1850
1
1860
1870
18v0
1890
1.
2.
3.
4.
5.
6.
i_ -
t.
8.
9.
10.
Deutsches Reich
9.4
9.0
10.3
11.9
11.4
1.7
2.5
2.2
1.8
2.9
Westösterreich
6.1
6.9
6.6
7.5
7.2
0.6
0
1.0
0 5
—
Galizien, Bukowina
1.9
4.2
11.0
7.5
10.1
0.1
t 3.0
0.1
f 0.3
—
Ungarn
—
2.3
7.3
—
1 5
—
Frankreich *)
4.0
2.3
2.6
1.7
2.3
t 0.4
t 0.1
t 0.2
t 0.3
0.0
Grossbritannien 4)
10.2
11.9
12.7
14.1
13.9
f 2.0
0.7
0.8
0.9
Irland
—
9.7
S.2
6.0
—
—
16.7
12.6
—
Italien
—
—
7.3
7.0
102
—
—
0.5
13
—
Spanien
—
—
9 2
—
—
—
—
3.7
—
—
Russland
—
—
12.0
13.7
13.6
—
—
0.6
f 0.5
—
Schweiz
—
—
—
7.3
7.3
—
—
—
0.8
—
Belgien
6.1
7.8
8.5
9.8
10.0
t 12 1
1.5
1.1
0 6
—
Niederlande
6.9
m» ■*
l . 1
10.1
12.1
13.2
0.2
0.6
2.0
0 4
—
Dänemark
10.1
1 1.9
1 0.9
12.0
13.8
0.4
t 0.8
0.8
2.2
Schweden
10.5
11.1
11.1
1 2.3
12.1
0.1
0.7
3.7
3.2
—
Norwegen
12.5
15.9
12.9
13.9
13.9
0.9
1.9
5.1
4.0
—
Finnland
12.0
7.2
7.4
8.0
7.1
f 0.4
0.7
0.9
t 0.6
russischen Reichs in Europa und Asien ermöglicht und auch cinigermaassen zur
Folge zu haben scheint. Darin, dass trotz eines nicht ganz unbeträchtlichen Geburts-
überschusses Irland eben auch jetzt noch immer durch die Auswanderung (übrigens nicht
nur nach America, sondern auch nach Gros^britannien), wie seit den 1840er Jahren,
an Bevölkerung verliert, liegt der wesentliche Unterschied der Bevölkerungsverhält-
nisse dieses keltisch -germanischen Massenauswanderungslandes gegenüber den ger-
manischen und Italien.
Schliesslich kommen nun natürlich und gerade auch für die
volkswirtschaftlichen Seiten der Bevölkerungsfrage die
absoluten Zahlen der Geborenen und Gestorbenen, des Ueber-
schusses ersterer oder letzterer, des Wanderungsverlustes und Ge-
winns und der wirklichen Veränderung der Volkszahl und daher,
auf gegebenem Gebiete, der Dichtigkeit in Betracht.
Letzteres Vcrhältniss noch für die spätere Betrachtung in §. 229 (f. zurückstellend
und für die übrigen Zahlen auf die erwähnten statistischen Weikc verweisend, stelle
ich hier nur in Tab. XII einige absolute Zahlen des Geburtsüberschusses (bzw.
Dcficits) für 5 Hauptländer und in Tab. XIII die schliesslich nach den Zählungen
(bzw. Berechnungen) eingetretene Veränderung der Bevölkerung für dieselben und
einige weitere europäische Länder, sowie für die Vereinigten Staaten von Nordamerica
und für Australien zusammen.
*) Immer ohne Elsass-Lothringcn. bis 1860 ohne, seit 1861 mit Savoyen und Nizza.
*) Bis 1860 nur England und Wales, seit 1861 auch mit Schottland.
3) Beim Deutschen Reich. Frankreich, Grossbritannien, Irland, Italien tür
1881 — 1890, bei den anderen meist für 18S1 — 1885 oder 1886.
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Wirkliche Volksvermehrung.
519
Tab. XII. Absoluter Geburtsltberschuss in fünf
europäischen Ländern.
Gcburtsüberschuss ( — Deficit) in 1000 Kopf (absolute Zahlen)
Jahr
im jährlichen Durchschnitt
Deutsches
Gross-
West-
Italien4)
Reich
Frankreich
britannien *)
Österreich
1841—1850
320
134
172
77
1851—1860
326
79
226
91
—
1861—1870
408
94
312
93
183
1871— 1SS0
511
64
396
113
192
18S1— 1890
551
67
405
1 1 5 3)
317
Maximum
627
223
441*)
150
381
Jahr
1876
1845
1877
1876
1889
Minimum
147
— 445
283 8)
— 75
61
Jahr
1855
1881
1864
1855
1867
Tab. XIII. Absolute Volkszabl einiger Länder im
19. Jahrhundert. 1000 Kopf.
Deutsches Reich6)
Frankreich6)
Grosshritannien7)
-
1816
24 833 = 1000
1816
27.769 = 1000 j! 1 1S01
10.501 —
1840
32.787 = 1323
1841
32.721 = 1178
11821
14,092 = 1000
1870
40.818 = 164t
1870
36,765 — 1324
1841
17,5^4 = 1244
1890
Zunahmo
49,428 = li-90
1891
Zunahme
38,343 = 1381
1871
1880
26.072 = 1850
33,090 = 2348
1816—90
24,595
1816—91
ohne Savoy.
nnd Nizza
10,574
9,684 = 1349
Zunahme
1821—91
18,998
Oesterreich ohne Ungarn8)
Italien
Europäisches Russland0)
1818
13.380 = 1000
!
—
1840
16.575 = 1289
—
— —
— —
1869
20.218 = 1510
1871
26,801 = 1000
1870
65.705 = 1000
1890
Zunahme
23,710 = 1772
1
1890
Zunahme
30.15S = 1125
1^86
Zunahme
85,200 = 1297
1819—90
10,330
1871—90
3.357
i 1870-86
19,495
’) Bis I960 nur England und Wales, später auch Schottland.
3) Seit 18t>1.
3) Nur in 1881— 1886.
4) Seit 1863, für 1863—1871 und 1S72 — 1980, 1881—1890.
6) Gebiet des heutigen Deutschen Reichs von Anfang an gerechnet. Zahlen
nach der Reichsstatistik.
6) Ohne Eha-NS-Lothringcn (1816 1,281.000, 1871 1,550,000) auch vor 1870 und
bis 1861 ohne, seitdem mit Savoyen und Nizza gerechnet, wodurch ein Zuwachs von
Anfangs 737.000 Kopf, die mit ihrer weiteren Vermehrung seitdem eigentlich für
1870 und 1891 zum Vergleich abzusetzen wären. Für 1816 und 1870 (Anfang 1871)
berechnete, für 1841 und 1891 gezählte Bevölkerung. Im Mai 1S72 gab die Zählung
selbst nur 36,103 000.
’) England. Wales, Schottland, ohne die Canalinseln. Daten der Volkszählungen.
*) Mit Galizien und Bukowina. Nur Civilbevölkerung. S. österr. Jahrb. 1890, S. 1.
®) Unsichere Bevölkerungszahlen. Hier ohne Polen nnd Finnland.
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520 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk. lehre. l.H.-A. Statist. §.217.
Schweiz
Niederlande
Belgien
—
1829
2.613 =
1000
_
1800
2.507
=
1000
1839
2.860 =
1094
1846
4.337 = 1000
1870
2,669
=
1064
l 1869
3,580 =
1370
1871
5.020 = 1157
1888
2,933
=
1170
1889
4,511 =
1726
1890
6,147 = 1417
Zunahme
Zunahme
Zunahme
1860—89
426
1829—89
1.899
1 846—90
1,810
Dänemark
Schweden
JL > .
Norwegen
—
- -
1815
2.465 =
1000
1815
885 = 1000
1S40
1,283
S=
1000
1840
3.139 =
1273
1840
1 264 = 1407
1870
1,785
=
1391
1870
4.169 =
1691
1870
1,740 = 1966
1890
2,172
=
1S49
1890
4.785 =
1941
1890
1,989 = 2259
Zunahme
Zunahme
Zunahme
1840—90
S89
! 1815 — 90
2,320
1815—90
1,104
Irland1)
Vereinigte Staaten a)
Nordamerica
Britisch - Australien
1801
5,216
1790
3,930
1821
6.802
=
1000
1820
9.638 =
10001
!
■ — —
1841
8.195
=
12n5
1840
17,069 =
1771 1
1851
6,572
=
966
1870
3S.926 =
4039
1S63
1,331 = 1000
1861
5,799
—
852 1
1 1 890
62,981 —
6533 1
1871
1.922 = 1307
1871
5.412
==
797 1
Zunahme
1891
4,523 = 3398
1891
4.706
=
692
1820 bis
1
Zunahme
Abnahme
1821—91
2,096
1
i
1890
51,343
1863—91
3,192
i
Die ältere» Zahlen in Tah. XIII sind nicht so sicher wie die späteren und
unter sich nicht so gleichwertig, aber mit diesem Vorbehalt doch zu Vergleichungen
brauchbar. Leider liegen nicht einmal so sichere Zahlen für alle Länder aus der
Zeit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor.
§.217. Ergebnisse bezüglich der Vol ksvci mehrung.
Die mitgetheilten Zahlen der beiden letzten Tabellen XII und XIII
und mehrerer der früheren zeigen für die volkswirtschaftlichen
Seiten der Bevölkerungsfrage zweierlei deutlich. Einmal für das
Ver t h ei lung s problem, welche Bedeutung eine auf grossem Ge-
burtsüberschuss beruhende starke Volksvermchrung wogen der
Kosten der Aufer/.iehung der Kindergenerationen, als volkswirt-
schaftlicher Belast ungscoef li eie nt, hat, so in Deutschland
verglichen mit Frankreich. Sodann , wie nun freilich die so er-
*) Die erste für sicherer geltende Zählung ist die von 1821. Kleine Ab-
weichungen, je nachdem die Militärbevölkerung (20 — 30,000) mit gezählt oder nicht.
Hier inbegriffen.
*) Wirkliche Zählbcvölkcrung auf dem jeweiligen Unionsgebiet, das sich freilich
im 19. Jahrhundert sehr vergrößerte , aber doch meist um zunächst sehr schwach
bevölkerte Gebiete.
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Ergebnisse bezüglich der Volksvermehrung.
521
reichte Volksvermehrung, namentlich wenn die Altersclassenver-
theilung, die Vertbeilung zwischen „productiven“ und „unproductiven“
.Jahren wenigstens nicht ungünstiger wird, auch für das Pro-
ducti o n sp ro b 1 em absolut die Vermehrung des Factors „Ar-
beit“, Arbeitsfähigkeit (wenn auch wegen der verschiedenen
Geschlechtsvertheilang nicht immer in gleichem Grade) bedeutet;
sowie nicht minder für das ebenfalls mit der Bevölkerungsfrage
zusammenhängende politische und militärische Problem,
die Vermehrung des Factors „Macht“, Wehrkraft.
Auch in dieser Hinsicht sind die Vergleichungen zwischen Deutschland und
Frankreich, Nord- und Süddeutschland, auch Preussen und Oesterreich ebenfalls
belehrend. Der Ausgang der politischen Ereignisse von 1S66 und 1870/71 hängt
wenigstens auch mit dieser Bevölkerungsbewegung zusammen , wenn auch andere
Factorcn , und darunter so manche Imponderabilien, dabei noch mehr eingewirkt
haben mögen. Und der Niedergang der französischen Bedeutung in der grossen
Weltpolitik, der Politik der Machtfragen , was dann so manches Andere im Gefolge
hat, ist doch auch mit eine Folge davon, dass die Bevölkerung Frankreichs von gut
ca. ,/7 der europäischen um 1815 auf weniger als V9 in der Gegenwart herab-
gegangen ist, während ausserhalb Europas die wichtigsten Weltgebiete den Germanen
gewonnen und von ihnen besiedelt und bevölkert wurden, Franzosen aber auch hier
eher ab- als zugenommen haben. An diesen Thatsachen würde selbst der Rückgang
Eisass- Lothringens an Frankreich, dessen Verlust, wie gesagt, ja wenigstens eine
Mitfolge dieser Bevölkerungsbewegungen war, nichts irgend Wesentliches ändern.
Das ist freilich die Glanzseite der germanischen, die trabe Seite der französischen
Bevölkerungsbewegung. Die ungünstige und günstige Kehrseite liegt in beiden Fällen
in der Einwirkung der Volksvermehrung durch Geburtsüberschuss auf die Belastung
der Erwachsenen, auf die steigende Concurrenz im Leben, welche sich die Menschen
machen, und auf die Verhältnisse der Vcrinögcusvermebrung und Verkeilung.
Wie begreif lieh, wenigstens unter heutigen Rechts- und Verkehrs-
verhältnissen, ja wie nothwendig in gewisser Hinsicht bei solchem
natürlichen Bevölkerungszuwachs, wie ihn die germanischen Völker
zeigen, auch die Auswanderung, andrerseits die Erweiterung
des auswärtigen Markts für Bezug und Absatz von Producten,
zumal bei ungünstigen Naturverhältnissen (Scandinavien) , auch
die directe Ausdehnung des einheimischen Markts durch Zollver-
einigungen , Colonienerwerb , Eroberung von passendem Gebiet
wird, — das geht aus den mitgetheilten Zahlen wobl auch deutlich
hervor. Die grossen Hauptculturgebiete der neuen Welt zeigen in
ihrer eigenen raschen Volkszunahme mit durch die Einwanderung
aus Europa schliesslich doch auch die Wirkungen der europäischen,
namentlich germanischen Volksvermehrung. Aber man sieht auch,
wie rasch sich diese neuen bisher volksarmen Gebiete, zugleich^
bei der grossen weiteren natürlichen Zunahme ihrer älteren wie
neueren Einwanderungsbevölkerung, anfüllen und so sieh nach
und nach, wenn auch zunächst nur in einzelnen ihrer Theile, den
Bevölkerungsverhältnisscn der alten Welt zu nähern beginnen, wie
522 4. B. Bevölk, u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lehre. 1. H.-A. Statist. §. 21 S.
es im nordamerikanischen östlichen und mittleren Gebiete immer deut-
licher wird (§.234). So erweitert sich freilich das nationale zu einem
internationalen Bevölkerungsproblem, das europäische, insbesondere
west- und mitteleuropäische zu einem den Haupttbeil der neuen
Welt mit umfassenden. Aber es zeigt sich auch schon hier, dass
Auswanderung und Theilnahme am Weltverkehr nur zeitweilige
Abhilfsmittel gegen die Folgen einer raschen natürlichen Volks-
vermehrung sein können.
II. — §. 218. Die Schwankungen in der natürlichen
Volksbewegung, ihre Bedingungen und Ursachen.
A. Allgemeines und Theoretisches.
Im Vorangehenden ist schon vielfach der zeitlichen und örtlichen Verschieden-
heiten in der durch Geburten und Todesfälle verurachten natürlichen Bewegung der
Bevölkerung und davon abhängig weiter des Standes der Bevölkerung gedacht worden.
Zeitliche Verschiedenheiten zeigten sich in kleineren Zeitabschnitten, den Jahren, und
in grösseren, in Perioden von Jahren'). Oertliche Verschiedenheiten traten in der
Statistik der einzelnen Länder und Völker, sowie in denjenigen der Gebietstheile,
ebenfalls deutlich mit hervor. Diese Verschiedenheiten deuten auf Einflüsse, auf
causalc und conditionelle Zusammenhänge und Abhäigigkeitsverhältnisse hin, welche
sich zum Theil schon ohne Weiteres ergeben, zum Theil durch eine Untersuchung
der zeitlichen und örtlichen Umstände und der Verschiedenheiten der lezteren ab-
leiten lassen. Auch hier wird wieder die Vergleichung und mittelst ihrer die
Anwendung der Methoden der experimentellen Forschung (§. 8011.) Platz zu greifen
haben.
Nicht schon an sich Zeit und Raum (Ort), sondern Ursachen und Bedingungen
der natürlichen Bevölkerungsbewegung, welche nach Zeit und Ort wechseln, können
die Verschiedenheiten dieser Bewegung allein erklären. Es ist die interessante Auf-
gabe der vergleichenden Bevölkerungsstatistik, diesen zeitlichen und örtlichen Ursachen
und Bedingungen nachzugehen, ihren directen und indirecten Einfluss festzustellen,
womöglich zu messen und so Einblick in die und Vcrständniss der Abhängigkcits-
verhältnisse der Bevölkerungserscheinungen zu gewinnen. Die Verbesserungen der
statistischen Technik haben die Erfüllung dieser Aufgabe erheblich gefördert. Hier
handelt cs sich für uns nur darum, aus den Ergebnissen der statististischen Ver-
gleichungen einige Thatsachen hervorzuheben und daraus einige Schlüsse für unseren
Zweck , für das Verständnis der volkwirthschaftlichen Seiten des Bevölkerungsproblems,
zu ziehen und zugleich zu begründen.
Die einzelnen, auch für uns hier in der Socialökonomie be-
achtenswerthen Thatsachen der natürlichen Bevölkerungsfrequenz,
welche die Statistik ergiebt, lassen sich in zwei Gruppen, je
nach ihrer Einwirkungstendenz oder ihrer wirklichen Einwirkung
auf die Veränderung des Stands und der Zusammensetzung der
Bevölkerung bringen. Die eine Gruppe umfasst der Volksvermehrung
') Auch innerhalb des Jahres, uacli den Jahreszeiten, Monaten ergeben sich
characteristische Verschiedenheiten, in den Conceptionen und Geburten, in den Todes-
fällen, was hier indessen nicht näher verfolgt werden soll, obwohl es z. B. bei den
Conceptionen mit physiologischen und psychologischen Seiten des Bevölkerungsproblems
zusammenhängt und insofern doch auch für die volkswirtschaftlichen Seiten dieses
Problems von Interesse ist. S. u. A. in dein gen. B. 44 der Reichsstatistik die Unter-
suchungen über die „Bevölkerungsbewegung nach Monaten“. Einl. S75lf u.Tab. S 187 ff.
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Schwankungen in der natürl. Volksbewegung. — Allgemeines.
523
günstige, die andere dieser ungünstige Thatsachen. Zu jener ge-
hört die Vermehrung der Heirathcn, als der für die Fortpflanzung
in unseren socialen Verhältnissen wichtigsten Einrichtung des frucht-
baren Geschlechtsverkehrs, die Verringerung des Lebensalters, in
welchem die Heirathcnden in die Ehe treten, die Vergrösserung
der Zahl der stehenden Ehen, namentlich derjenigen von Ehegatten
im Lebensalter des der Kindererzeugung günstigen und ausdrück-
lich darauf abzielenden ehelichen Geschlechtsverkehrs, die Ver-
mehrung der Geburten, an sich (rein vom populationistischen, nicht
vom socialen und ethischen Standpuncte betrachtet) auch der un-
ehelichen, endlich die Verminderung der Todesfälle, und hier, was
gleichzeitig die Zusammensetzung der Bevölkerung berührt, nament-
lich die Verminderung der Todesfälle im wirtschaftlich productiven
Lebensalter. Zur zweiten Gruppe gehören die gerade entgegen-
gesetzten Thatsachen, also insbesondere die Verminderung der
Heiraten , der stehenden Ehen , der Geburten , die Erhöhung der
Lebensalter der Ehescbliessenden, die Vergrösserung der Sterb-
lichkeit. Alle Umstände, welche auf die Thatsachen der ersten
Gruppe in der angegebenen Richtung steigernd einwirken, kann
man als der Volksvermehrung förderliche, alle Umstände, welche
umgekehrt, also ebenfalls steigernd auf die Thatsachen der zweiten
Gruppe, einwirken, kann man als der Volksvermehrung hinder-
liche, sie hemmende bezeichnen.
Die Verfolgung der zeitlichen und örtlichen Veränderungen
in der Statistik der Heiraten, Geburten, Todesfälle, stehenden
Ehen , der Lebensalter der Eheschliessenden , der Gestorbenen
führt nun gerade zur Auffindung solcher förderlichen und hinder-
lichen Umstände. Die letzteren erscheinen hier als Bedingungen,
welche auf die in der Bevölkerungsbewegung mitspielendeu phy-
sischen und psychischen Factoren als Förderungs- und als
Hemmungsmittel einwirken und erst durch das Medium dieser
Factoren, daher in direct, den Gang der Bevölkerungsbewegung,
die Veränderungen in der Zahl und Zusammensetzung der Bevölkerung
bestimmen. Jene Umstände erleichtern oder erschweren die
Eheschliessung, die Erhaltung der Familie, der Kinder und be-
wirken so , dass die psychischen und physischen Reize zur Ehe-
schliessung, zum Familienleben, zum Geschlechtsverkehr und zur
Kindererzeugung in wie ausser der Ehe stärker oder schwächer
wirksam werden, weil die etwaigen psychischen Bedenken gegen-
über jenen Reizen mehr zurück- oder mehr hervortreten. Jene
0
524 4. B. Bcvölk. u. Volksw.scb. 1. K. Bevölk. lehre. 1. II. -A. Statist. §219.
Umstände erleichtern und erschweren aber auch die Erhaltung und
Schonung des Lebens und bewirken so, dass die das Leben be-
drohenden Gefahren leichter oder schwerer, mit grösserem oder
geringerem Erfolg überwunden werden. Man hat es daher hier
wieder mit einem verwickelten Gefüge physich-psychischer Factoren
in der Bevölkerungsbewegung zu thun , dessen jedesmalige Ge-
staltung und Wirksamkeit die thatsäehliehe natürliche Bewegung
der Bevölkerung, wie sic in den Geburten und Sterbefällen sich
zeigt, bestimmt. Die Veränderungen und Verschiedenheiten der
statistischen Zahlen weisen zunächst immer nur auf die äusseren
als Bedingungen fungirenden Umstände hin. Erst die Analyse
der letzteren und die Zurückführung ihres Einflusses auf die direct
einwirkenden physischen und psychischen Factoren deckt die hier
obwaltenden Abhängigkeitsverhältnisse in befriedigender Weise auf
und macht sie verständlich.
Die Malthns'scltc Theorie von den präventiven, d. h. zugleich, wie man ca auch
ausdrUckcn kann, den wesentlich psychologisch wirkenden, und den repressiven, d. h.
den wesentlich physiologisch wirkenden llcinmmittcln (checks) der Volksvermehrung
(S. 453) stimmt mit dem Obigen uberein. Nur muss sie eben zu einer Theorie der
Hemm- u n d Förderung&mittcl erweitert werden. Dine Theorie der letzteren enthält sic
allerdings iinplicite und in manchen Ausführungen von Maltbus und seinen Anhängern
schon mit, aber dieselbe muss doch auch deutlich als die andere Seite der Theorie
der Checks heraustreten. Ferner sind namentlich in der ganzen Theorie der Förderungs-
und Hcmminittel die psychologischen Momente, welche gerade hier mitspielen,
schärfer hervorzuheben und zu analysiren. Was oben für die Bevölkcrungslehre überhaupt
verlangt wurde (S. 449), gilt von dieser Theorie in besonderem Maasse: das betreffende
Problem oder die beiden Probleme, welche in den Einflüssen der Fördernngs- und
Hemmmittel enthalten sind, stellen eben nicht nur physiologische, sondern immer zu-
gleich auch psychologische Probleme dar Das ist gerade für die Fragen vom Einflüsse
der socialen, der wirthschaftlichcn Verhältnisse, der bezüglichen Organisationen, der
Wohlstands- und Bildtingsdiflcrcnzen, daher der socialökonomischen Classcnschichtung
auf die natürliche Bevölkerungsbewegung so wichtig zu beachten; nicht zum
Wenigsten auch für das Bevölkerungsproblem in einer socialistischen Organisation
der Production und Vertheilung der wirthschaftlichcn Güter.
B. — §.219. Die Fördernngs- und Hem mungs mittel
der natürlichen Volksvermehrung. Die Statistik zeigt
namentlich in den zeitlichen und örtlichen, dauernden und ver-
änderlichen Verschiedenheiten und Schwankungen der Thatsacben,
welche die natürliche Volksbewegung betreffen, dass hier über-
haupt Einflüsse einwirken, welche mächtig genug sind, sich in der
Masse der Fälle, in der „grossen“ und „grösseren“ Zahl (S. 214)
geltend zu machen und dadurch den betreffenden Zahlen ihrGepräge
aufzudrUcken. Man kann aus der Statistik dann auch regelmässig
jene förderlichen und hemmenden Einflüsse ableiten, 'welche für die je-
weilige Volksvermehrung bestimmend sind. Die Wahrnehmungen,
welche man hier macht, rechtfertigen es, auch bei Cullurvölkeru von einer
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Förderung^- u. Hemmmittel der natürl. Yolksvermehruug. 525
Tendenz zur Volksvermehrung, mindestens von einer Tendenz
zu sprechen, durch die Geburten immer wieder Ersatz für die
Todesfälle zu schaffen und so den Bevölkerungsstand wenigstens
einigermaassen zu erhalten. Diese Tendenz tritt bei ver-
schiedenen Völkern zeitweilig und bleibend und auch hei demselben
Volke zeitlich und örtlich in verschiedenem und wechselndem Grade
hervor. Dabei sind gewisse nationale Eigenthtimliehkeiten kaum
zu verkennen. Dieselben, ein Product der ganzen Volksanlage und
Volksgeschichte, bedingen und bestimmen die bei allen Schwan-
kungen dauernden, daher einigermaassen constanten Verschieden-
heiten in der natürlichen Volksbewegung und machen eine be-
stimmte durchschnittliche Heiraths-, Geburts-, Sterbeziffer und
davon abhängig eine bestimmte Gestaltung des Stands der Bevölke-
rung und Richtung dieser Gestaltung zu einer einigermaassen
fest gegebenen Grösse. Aber daneben Uussren sich auch
die jeweilig fördernden und hemmenden Einflüsse deutlich überall,
wenngleich wiederum in verschiedenem und wechselndem Maasse.
Deutschland, speciell Norddeutschland (Preussen) und Frankreich
z. B. mit ihren grossen und wenigstens für längere Perioden con-
statirten bleibenden Verschiedenheiten der natürlichen Volksbe-
wegung, zeigen das. Sie beweisen, in Verbindung mit zahlreichen
anderen Beispielen aus verschiedenen Ländern und Zeitaltern, dass
in der That jene genannten Einflüsse auch für Culturvölker ihre
Bedeutung haben und in gewisser Weise universeller Natur in
der Menschenwelt sind, dass man daher mit ihnen mindestens
mehr oder weniger allgemein und überall als mit Förderungs- und
Hemmungsmittel der erwähnten Wirksamkeit im concreten Falle
rechnen muss.
Pessimistische Auffassung des Lebens, Negation seiner Nothwendigkeit, Wille,
wenigstens keine neuen Geschlechter ins „elende Dasein dieser Welt“ zu rufen, wie der-
gleichen wohl in einzelnen modernen Köpfen hier und da spukt, religiöse und sittliche
Verwerfung des Geschlechtsverkehrs, auch des ehelichen, überhaupt, wie etwa in früh-
christlicher Zeit, mussten eine gewaltige Ausdehnung gewinnen, bevor sich etwa ein
Einfluss solcher Gesinnungen in der Bewegung der Bevölkerung sollte deutlicher
zeigen können. Oder anderseits der heutzutage schon hie und da gepflegte und
empfohlene präventive Geschlechtsverkehr müsste erst allgemein und dauernd Maxime
und Praxis geworden sein, wenn er einen deutlichen Einfluss auf die Volksbewegung
zeigen sollte. Die kleinen Geburtsziffern, wie in Frankreich (S. 515), weisen auf die
hier vorliegende Gefahr hin. Aber gerade die französische Heiraths- und Geburts-
statistik ergiebt doch, dass auch hier die Bevölkerung jeweilig denselben wechselnden
fördenden und hemmenden Einflüssen, wenn auch im Ganzen in geringerem Grade,
unterliegt, wie in anderen Ländern.
Die statistische Beobachtung zeigt nun, dass g li n stige wirth-
sehaftliche und sociale Verhältnisse und namentlich solche günstiger
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Theil. Grundlagen. 34
526 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevftlk.lehre. 1. H.-A. Statist. §. 219.
werdende, welche auf ungünstige folgen, regelmässig einen
förderlichen Einfluss auf die Bevölkerungsbewegung und dass
umgekehrt ungünstige wirtschaftliche und sociale Verhältnisse
und wiederum analog ungünstiger werdende den entgegen-
gesetzten, hemmenden Einfluss ausüben. Im ersten Falle ver-
mehren sich die Eheschliessungen, namentlich auch diejenigen
zwischen bisher ledigen und zwischen jüngeren Personen, vermindert
sich das Heirathsalter, vermehrt sich die Geburtszahl, die eheliche,
wie auch wohl selbst die uneheliche, verringert sich die Zahl der
Todesfälle, auch besonders in den Altersclassen mit regelmässig
grösserer Sterblichkeit, steigt in der Bevölkerung etwas die Zahl
der verheiratbeten Personen, insbesondere unter den Erwachsenen
auch relativ, und selbst allgemein in der ganzen Bevölkerung re-
lativ, wenigstens so lange, als nicht etwa die rasche Vermehrung
der Geburten hier wieder Verschiebungen der Quoten bewirkt. Im
zweiten Falle treten bei allen diesen Thatsachen die entgegen-
gesetzten Bewegungen ein. Dort ist daher das Ergebniss eine
raschere und stärkere, hier eine langsamere und schwächere natür-
liche Volksvermehrung, vielleicht selbst ein Stillstand oder sogar
eine Abnahme der Bevölkerung.
Alle diese Erscheinungen sind das Ergebniss von psychischen
und physischen Massenwirkungen auf Menschenmassen. Die grosse
Masse der Bevölkerung ist es, welche hier beeinflusst wird. Für
sie macht sich die Gunst oder Ungunst der allgemeinen wirt-
schaftlichen und socialen Verhältnisse unmittelbar und mittelbar
geltend, physisch, wie in der Lebensweise, im Gesundheitszustand,
psychisch, wie in der frohen oder trüben Auffassung der Lebens-
aussichten. Diejenigen Glieder der Gesellschaft, welche in ihrer
persönlichen wirtschaftlichen und socialen Lage vom Stande der
allgemeinen Verhältnisse nicht oder nur wenig berührt werden,
unterliegen natürlich auch den betreffenden Einflüssen wenig oder
gar nicht, obgleich selbst gewisse psychische Wirkungen, z. B. von
schwereren allgemeinen Notständen (Seuchen, Krieg) auch bei
ihnen sich kundgeben werden und in Verminderung der Heiraten,
der Geburten auch in diesen Kreisen sich zeigen. Wenn die Statistik
der Bewegung der Bevölkerung deutlich den Einfluss der Gunst und
Ungunst der allgemeinen Lage abspiegelt, so ergiebt sich nur wieder,
dass eben für den grössten Theil der Bevölkerung auch die per-
sönliche Lage der Einzelnen wirklich oder der Annahme nach
von jener allgemeinen Lage bestimmt wird. Die Veränderungen
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Förderuugs- u. Hemmmittel der natürl. Volksvennehrung. 527
in der Zahl derjenigen Thatsacben, welche wie Heirathen, Kinder-
erzengungen direct unter dem Einfluss des menschlichen Willens
und der Handlungen und Unterlassungen stehen, zeigen aber
auch dass die Bevölkerung in ihrer Masse von bestimmten Er-
wägungen der Folgen und der eigenen Verantwortlichkeit für
die Folgen in Bezug auf diese Thatsacben geleitet wird, „Vernunft“
das blosse Triebleben mit beeinflusst, wenn auch nicht ausschliess-
lich beherrscht: ein wichtiger Punct für die Würdigung der Be-
deutung der socialen und ökonomischen Organisation in der Be-
völkerungsfrage. Wie mächtig aber eben doch das geschlechtliche
Triebleben hier bleibt, zeigt wohl am Deutlichsten die Thatsache,
dass jeder durch solche Erwägungen bestimmten Verminderung,
also häufig auch Verschiebung von Heirathen, jeder Verminderung
der Geburten immer alsbald wieder mit dem Wegfall oder dem
Nachlassen der ungünstigen Umstände, welche psychisch als Hemm-
mittel gewirkt haben, eine rasche Steigerung der Heirathen und
Geburten folgt, gewissermaassen , als hätte die Bevölkerung Ver-
säumtes nachzuholen. Nicht selten folgt daher einem Minimum
von Heirathen und Geburten ein Maximum beider, wie auch, was
aus anderen, auch physiologischen Gründen begreiflich ist — nament-
lich weil die schwächeren Elemente in der ungünstigen Zeit be-
sonders stark ausgeschieden wurden — wohl ein Minimum von
Todesfällen auf ein Maximum folgt.
Die Grösse der Schwankungen, der Extreme ist ein Gradmesser
in mehrfacher Hinsicht: für die Grösse der wirklichen oder der
psychisch angenommenen Differenz zwischen Gunst und Ungunst
der allgemeinen Lage, für das Maass der Abhängigkeit der per-
sönlichen Lage der Einzelnen hiervon, aber auch für das Maass
des Leichtsinns, der Unbedachtsamkeit, wie eine Bevölkerung eine
günstige allgemeine und eine momentan dadurch verbesserte per-
sönliche Lage auf sich wirken lässt, und umgekehrt für das Maass
der Vorbedachtsamkeit, wie sie sich diesem Einfluss entzieht oder
wenigstens nicht gedankenlos sanguinisch Preis giebt. Dass in
günstiger Lage die Heiraths- und Geburtsziffer nicht zu rasch und
stark, unverhältnissmässig, über den Durchschnitt steigt, in un-
günstiger Lage nicht zu sehr herabgeht, während etwa gleich-
zeitig die Todesfälle enorm steigen, das muss als das Wünschens-
werthere bezeichnet werden. Dass Heirathen und Geburten aber
in ungünstigen Zeiten überhaupt herabgehen, wird als Zeichen ver-
nünftiger Vorbedachtsamkeit angesehen werden dürfen. Es ist
34*
A
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52b 4. B. Bcvölk. u. Yolksw.scli. 1. K. Bevölk.lehre. 1. IL-A. Statist. §. 220.
kaum zu leugnen, dass Frankreich in allen diesen Puncten ein
besseres Bild zeigt, als Deutschland und der slavische Osten,
zumal als einige deutsche Gebiete mit durchschnittlich grosser
Geburtsziffer.
Die wirtschaftlichen Verhältnisse machen sich in doppelter
Weise hier als Förderungs- und Hemmungsmittel geltend, Einflüsse,
welche sich dann wieder nach der Entwicklungsstufe der ganzen
Volkswirtschaft, den vorwaltenden Hauptberufen der Bevölkerung
differenziren. Einmal kommen die Erwerbs Verhältnisse, sodann
die Consumtions- und demnach die Ausgabe Verhältnisse in
Betracht.
Bei den ersteren entscheiden daher für die ländliche selbstwirtschaftende
Bevölkerung (Bauern. Pachter, grössere Gutsbesitzer) die Ernten und Absatzpreise, für
die industrielle Unternchmcrbcvölkerung die Conjuncturen und die Absatzpreise,
für beide auch die auszulegenden Productionskosten, die Löhne, Preise der bezogenen
und verarbeiteten Producte u. s. w.; für die Arbeiterbevölkerung die Regel-
mässigkeit der Beschäftigung und die Lohnhöhe. Bei den Consumtionsverhältnissen
kommt es vor Allem auf die Preise der nothwendigen Unterhalts-, besonders der
Nahrungsmittel, zumal des hauptsächlichen, wie des Brotkorus und Brotes, bei der-
jenigen Bevölkerung an, welche diese Artikel ein kaufen muss, daher namentlich
bei der städtischen, der industriellen, der auf Geldlohn gesetzten Arbeiterbevölkerung.
Es ist klar, dass hier das Vorwalten der Natural- und der Geldwirthschaft, der agrarisch-
ländlichen und der städtisch-industriellen Thätigkeit, daher auch die Vertheilung der
Bevölkerung auf Landwirtschaft und Industrie, Land und Stadt, der Character der
Industrie, die grössere oder kleinere Abhängigkeit von den Conjuncturen des
Wirtschaftslebens erhebliche Unterschiede auch für die Bedeutung jener in den
Wirthschaftsverhältnissen liegenden Pörderungs- und Hemmungsmittel in Bezug auf
die Bevölkerungsbewegung bedingen muss. Der lange und schon früh beobachtete
Einfluss des Standes des Preises des Brotkornes macht sich in der industriellen Phase
der Volkswirtschaft nicht mehr ebenso stark als früher, aber immer doch auch
heute noch deutlich geltend, wie noch die neueste vergleichend - statistische Arbeit
für Deutschland zeigen konnte. Aber natürlich ist der Einfluss der Schwankungen
der grossen volks- und weltwirtschaftlichen Conjuncturen (1871 ff. und der Rückschlag
seit Mitte der 70 er Jahre) jetzt mehr als ehedem und auch bei uns zu spüren.
Auch hier sind die Zusammenhänge und Abhängigkeitsverhältnisse übrigens öfters
verwickelte und kann dassellbe Ereigniss auf mancherlei verschiedene Weise in der-
selben Richtung oinwirken, mehr direct, mehr indirect. Z. B. die Missernte kann den
Korn- und Brotpreis steigern und so direct die Consumentcn, welche Brot kaufen müssen,
in ungünstige Lage bringen, aber auch die Kaufmittel der Landwirte, weiter der an
diese und die Arbeiter absetzenden Städter und Industriellen vermindern. Dadurch
können Erwerbsstockungcn . Lohn- und Gewinnverminderungen bewirkt und auf diese
Weise indirect, durch verschiedene Zwischenglieder hindurch, auf weite Kreise der
Bevölkerung ein ungünstiger Einfluss ausgeübt werden, welcher sich in der Bevölkerungs-
bewegung abspiegelt.
§. 220. Schlüsse bezüglich der Förderungs- und
Hemiumittel für die Frage der Volks Vermehrung. Man
kann dann nach Allem in Betreff der angedeuteten förderlichen und
hemmenden Einflüsse, in Erweiterung der Malthus'schen Lehre von
den Hemmmitteln (Checks) der Volksvermehrung, auf Grund der
statistischen Beobachtungen und der Analyse der hier mitspielenden
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Förderungs- u. Hemmmittel der natürL Volksvermehrung.
529
Umstände die folgenden Sätze für die natürliche Bevölkerungs-
bewegung und den von ihr abhängigen Stand der Bevölkerung
aufstellen :
Die Bevölkerung hat unter dem Einfluss des geschlechtlichen
Trieblebens, auch des Sinnes für Familienleben unter normalen
Verhältnissen regelmässig eine deutliche starke Tendenz zur Er-
haltung ihres Stands mittelst Wiedererzeugung des natürlichen
Abgangs, welchen sie durch die Todesfälle erleidet, durch Ge-
burten und gewöhnlich auch eine ebenfalls deutliche starke Tendenz,
durch GeburtsUberschuss ihren Stand zu vermehren. Diese Tendenz
ist in jedem Volke zu gegebener Zeit, auch während längerer
Perioden, eine einigermaassen feststehende gegebene Grösse, welche
als Product der physisch -psychischen, ethischen Constitution und
Eigenschaften des Volks erscheint. Jene Tendenz wird aber je-
weilig theils direct und mittelst Zurüekdrängung ihrer Gegen-
tendenzen auch indirect gefördert, theils in ihrer Wirksamkeit
gesteigert durch wirkliche Lebenserleichterung und günstigere Lebens-
auffassung in der Gegenwart und für die Zukunft in Zeiten, in
welchen die Bevölkerung in wirtschaftlicher und socialer Beziehung
günstiger lebt und zu leben hofft, als für gewöhnlich: hier wirken
die psychologisch präventiven Tendenzen schwächer oder ver-
wandeln sich in ihr Gegentheil und wirken die physiologisch re-
pressiven Tendenzen ebenfalls schwacher; es vermehren sich die
Ehen, die Geburten, während unter solchen Verhältnissen gleich-
zeitig die Zahl der Sterbefälle abzunehmen pflegt. Jene Ver-
mehrungs-Tendenz wird aber auch umgekehrt theils direct und
durch Stärkung ihrer Gegentendenzen indirect geschwächt, theils
in ihrer Wirksamkeit gehemmt durch wirklich erschwerte Lebens-
lage uud Furcht davor in Gegenwart und Zukunft in Zeiten , wo
die Bevölkerung in wirtschaftlicher und socialer Beziehung un-
günstiger lebt und zu leben fürchtet, als für gewöhnlich: hier zeigen
sich die psychologisch präventiven und die physiologisch repressiven
Tendenzen stärker; es vermindern sich die Ehen, die Geburten,
während unter solchen Verhältnissen gleichzeitig die Zahl der
Sterbefälle zuzuuehraen pflegt.
Die wirkliche natürliche Volksbewegung, die für sie mnass-
gebenden Verhältnisse der Eheschliessungen, Zeugungen und Ge-
burten und Todesfälle, demnach weiter der Stand der Bevölkerung,
insbesondere Richtung und Maass seiner Veränderung hängen daher
- einmal von einer mehr oder weniger, wenigstens für gewisse Zeit-
530 4. B. Bcvölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lehre. 1. H.-A. Statist. §. 220, 221.
räume, gegebenen ziemlich constanten Grösse, der in
einer Bevölkerung einmal bestehenden Vermebrungstendenz und
daraus folgenden tbatsächlichen Vermehrung; sodann aber von
einer wechselnden Grösse ab, derjenigen der Wirksamkeit,
welche die gegebene Vermebrungstendenz unter dem Einfluss ver-
änderlicher concreter psychischer und physischer Förderungs- und
Hemmungsmittel in bestimmter Zeit und an bestimmtem Ort that-
säcblick erlangt. In letzterer Hinsicht zeigt sich dann die Leichtig-
keit oder Schwierigkeit, eine Familie zu begründen und für mehr
Menschen Unterhalt zu beschaffen, sowie die hierüber herrschende
Ansicht, oder, kurz gesagt, der wirkliche und der angenommene
Unterhaltsspielraum von entscheidender Bedeutung. Indem aber
eine bestimmte Ansicht über das, was in Bezug auf den Unter-
halt einerseits ausreichend, andrerseits nothwendig sei, in einer
Classe, einem Volke, einem Zeitalter zur herrschenden wird, kann
diese Ansicht dann auch zu einem Factor werden, welcher hier
dauernd auf die Heiraths- und Geburtsfrequenz einwirkt, damit
deren Durchschnittsgrösse und so auch jene als gegebene
Grösse anzunehmende nationale Vermehrungstendenz mit bestimmt,
bzw. ändert, sie beschleunigt, sie verlangsamt. So erklären sich die
dauernden Vermehrungsverhältnisse und die Veränderungen, welche
darin erfolgen, bei der Bevölkerung überhaupt und bei verschiedenen
Völkern und in verschiedenen Zeitaltern bei demselben Volke.
Ich sehe in den vorausgehenden Sätzen nur eine Erweiterung der Malthus’-
schen Lehren von der starken Vermehrungstendeuz der Bevölkerung und von den Checks
dagegen, nicht eine eigentliche Umänderung; daher auch mehr nur eine Modificatioa
ihrer Fassung, als ihres Inhalts. Malthus hat nur zu sehr verallgemeinert und die
Vermehrungstendenz, wie die Gegentendenzen für zu gleichmässig unter den Völkern
angesehen, während hier doch dauernde Verschiedenheiten bestehen, sei es als Folge
von Verschiedenheiten des geschlechtlichen Trieblebens selbst, sei es als Folge von
Verschiedenheiten in den Wirkungen dieses Trieblebens auf die Volksvermehrung
(Verbreitung des „moral restraint“, des präventiven Geschlechtsverkehrs in Völkern,
Ständen. Classen) oder sei es von mehr oder weniger bleibenden, einem Volke eigen-
tümlichen Verschiedenheiten in der Art und Stärke der Gegentendenzen (Furcht vor
Mangel, Noth, vor erschwerter Lebenslage für sich, vor Gefährdung der gesellschaft-
lichen Stellung für sich und die Nachkommen, bestimmte Sitten in Bezug auf Heirathen
u. s. w.). Daher wird man eine im Ganzen als constantc Grösse gegebene Ver-
mehrungstendenz und die zeitlichen und örtlichen Schwankungen darin, bzw. in
der Verwirklichung dieser Tendenz, unterscheiden müssen. Ferner sind eben
den Malthus’schen Hemmmitteln die Förderungsmittel der Vermchrungstendenz
und ihrer Wiik&amkeit gegenüber zu stellen und bei beiden statt directer und in-
directer, positiver, repressiver und negativer, präventiver besser physisch und psychisch
wirkende zu unterscheiden, d. h. solche, wo direct in Folge besserer oder schlechterer
Lebenshaltung weniger oder mehr Todesfälle , aber auch indirect weniger oder mehr
menschenverheerende Uebcl cintreten oder sich verbreiten (Seuchen, Krieg) und
anderseits solche, wo aus Furcht vor Verschlechterung der eigenen oder der Angehörigen
Lebenslage Heirathen, Zeugungen, Geburten unterbleiben, sich vermindern oder
erfolgen und zahlreicher werden. Von besonderer Wichtigkeit sind dauernde Ver-
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Statistische Belege für die Frage der Förderangsmittel etc.
531
Änderungen der Heiraths-, Geburts- und Sterbefrequenz und bestimmte Richtungen,
welche diese Frequenzen, von den kleineren zeitlichen Schwankungen abgesehen, in
Bezug auf Zunahme, Abnahme, Gleichbleiben auch im Durchschnitt zeigen. Denn
sic weisen darauf hin, dass die physischen und psychischen Förderungs- und Heinm-
rnittel selbst eine gewisse constante Gestaltung und Wirksamkeit erlangt haben und
das Volksleben sich ihnen dauernd angepasst hat, so eventuell in den Ansprüchen in
Bezug auf die Lebenshaltung, in den Sitten in Bezug auf Ileirathen, Kinderzeugen,
in den physisch-psychischen Bedingungen der Lebensdauer und der Sterblichkeit
§. 221. Statistische Belege zum Vorausgehenden,
namentlich für constante Verhältnisse und dauernde
Verschiedenheiten der natürlichen Volksbewegung.
Die meisten der früheren Tabellen und manche einzelne statistische Daten in
den Ausführungen der §§. 210 — 216 enthalten auch schon die Belege für die
Ausführungen im §. 219 und fiir die Schlösse daraus in §. 220. Namentlich die
dauernden constanten Verhältnisse der natürlichen Bewegung der Bevölkerung
und die gleichen Verschiedenheiten in der Geburtsfrequenz. Sterblichkeit, im Geburts-
Uberschuss nach Ländern, Gebietsteilen, Völkern, Stämmen (Deutschland) ergeben
sich schon zur Genüge aus jenen Tabellen und Dateu. Was dabei die entscheidenden
Ursachen und Bedingungen seien, physischer, psychischer Volkscharacter, vor-
herrschende Beschäftigung (agrarisch -ländliche, industriell - städtische) , gesammtc
Lebensweise (Landleben, Stadtleben), Sitten, äussere Verhältnisse, wie Klima u. s. w.,
bleibt dabei allerdings meistens dahin gestellt. Die bestimmte constante Gestaltung
der natürlichen Bewegung ist regelmässig das Ergebniss aller dieser Momente, welche
als Ursachen und Bedingungen, als bleibende und beherrschende Förderungs- und
Hemmungsmittel hier mitspiclen. Die vergleichend -statistische Methode kann aber
zur Ermittelung des tatsächlichen Einflusses einzelner solcher Momente und der
annähernden Feststellung der Grösse dieses Einflusses mit einer gewissen Wahrschein-
lichkeit fuhren. Freilich ist bei der Anwendung dieser Methode und bei Schlössen
aus den verschiedenen statistischen Daten, als den bedingten und bewirkten Erschei-
nungen. auf die Bedingungen und Ursachen, z. B. auf das und das einzelne Moment
und die und die Abhängigkeit einer Erscheinung von demselben, grosse Vorsicht
nothweudig. Dies gilt u. A. von der Zurückführung von Verschiedenheiten der
Heiraths-, Geburts-, Sterblichkeitsfrequenz auf den vorwaltenden Beruf und die gesammte
Lebensweise einer Bevölkerung, Verschiedenheiten, wie sie sich etwa zwischen „Stadt
und Land“, Gross- und Kleinstadt zeigen. Denn hier muss immer erst nachgewiesen
werden, ob jeuo Verschiedenheiten uicht etwa nur oder überwiegend Folge einer Ver-
schiedenheit der Geschlechts-, Altersvertheilung in der Bevölkerung, davon abhängig
einer Verschiedenheit der Zahlen der erwachsenen Ledigen, Verheiratheten, der Lebens-
alter der letzteren sind (vgl. den gen. Aufsatz li ü m e 1 i u’s Uber Stadt und Land). Das genau
festzustellen, ist aber öfters mit dom vorhandenen statistischen Material nicht möglich
oder setzt eine zumal für den Privaten nicht zu bewältigende Rechenarbeit voraus.
Grade für die volkswirthschaftliche Seite des Bevölkerungsproblems ist der Zusammen-
hang zwischen der Bevölkerungsbewegung, ihreu drei Hauptpuncten, dem Geburts-
Überschuss einer- und dem vorherrschenden wirtschaftlichen Beruf und der dadurch,
sowie durch den Wohnort (Stadt, Land, Art und Grösse des Orts) bedingten Lebensweise
andrerseits von besonderem Interesse. Doch muss ein Eingehen darauf der monographi-
schen Behandlung dieser Fragen Vorbehalten werden. Die Arbeiten auch der besten
Statistiker haben hier dio vorerwähnte notwendige Vorsicht bei Vergleichen und
Schlüssen nicht immer bewährt und sind dadurch in BctrefF der Abhängigkeit der
Bevölkerungsbewegung von Beruf, Thätigkcit, Wohnort und Lebensweise mitunter zu
falschen, jedenfalls zu unsicheren Ergebnissen gelangt. Vgl. über bezügliche Ein-
flüsse z. B. Wappäus, II, Kap. 9, S. 476 ff.. Engel, Bewegung und Bevölkerung
in Sachsen, G. Mayr, Gesetzmässigkeit.
Aus den in den früheren Tabellen für Länder und Gebietsteile enthaltenen
Daten lassen sich auch einige Rückschlüsse auf den Einfluss von Volksart, Hauptberuf,
Lebensweise auf dio Volksbewegung machen, z. B. in Deutschland beim Vergleich
wesentlich agrarischer östlicher und mittlerer Provinzen, wie Ost- und Westprcusscn,
Posen, Pommern, Mecklenburg, Schleswig- Holstein, Hannover mit dem industriellen
532 4. B. Bevölk. n. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lehre. 1. H.-A. Statist. §. 221.
Westen, Theilen von Rheinland und Westfalen, K. Sachsen. Aber in diesen Zahlen
kommen doch auch andre Factorcn, Stammesart, von Beruf unabhängige Sitten u. s. w.
mit zur Geltung. Ferner sind die Zahlen eben das Ergebnis» von Durchschnitts-
berechnungen, worin sich die Verschiedenheiten der einzelnen Bestandtheilc des Ge-
biets, der Stadt- und Landverhältnisse, des Berufs bereits ausgleichcn und in ver-
schiedener Weise. Bei der ländlichen Bevölkerung sind die agrarischen Besitz- und
Wirthschaftsverhältnisse (Klein-, Mittel-, Grossbesitz und Betrieb), ferner etwaige länd-
liche Hausindustrieverhältnisse auch wieder von einem gewissen Einfluss auf die
Bevölkerungsverhältnisse, die natürliche Volksbewegung; ähnlich bei der städtisch-
industriellen die Betriebsformen, Handwerk, Fabrik. In den Landes-Durchschuitts-
zahlen kommt das wieder zur Ausgleichung. Auch hier kann aber immer erst wieder
richtiger verglichen und aus Vergleichen ein zuverlässigerer Schluss auf constante
Einflüsse von Beruf, Lebensweise u. s. w. auf die Bevölkerungsbewegung gemacht
werden, wenn man die Geschlechts-, die Altersclassification, die Grösse und die Lebens-
alter der in der Ehe lebenden Bevölkerung mit berücksichtigt.
Zur Ergänzung der früheren Tabellen und Daten wird hier nur noch in der
folgenden Tab. XIV ein Beitrag zur Statistik der Ehoschliessungen gegeben,
ebenfalls vornemlich um die constanten Verhältnisse und Verschiedenheiten ein-
zelner Länder und Landestheile, bezw. Völker und Volksthcile, daneben aber auch
die Schwankungen dieser Zahlen unter dem Einfluss variabler zeitlicher Einflüsse
zu zeigen. Die Eheschlicssungcn sind auch für die volkswirtschaftliche Seite des
Bevölkerungsproblems eine besonders wichtige Erscheinung, in deren bleibender Durch-
schnittszahl constante Eigentümlichkeiten von Land und Leuten, von Erwerbs-, Besitz-,
Sittenverhältnissen sich geltend machen. Anderseits auch eine Erscheinung, in deren
absoluter und relativer Zahlengrösse, Zusammensetzung nach Lebensaltern und Civilstand
der Heiratenden sich der Einfluss veränderlicher Zeit- und Ortsverhältnisse, des
Erwerbslebens, politischer Umstände, Hoffnung und Furcht, besonders characteristisch
abspiegelt. Erst die ganz ins Einzelne gehende Vergleichung und Analyse der
Daten und bedingenden und verursachenden Umstände, wiederum unter Berücksichti-
gung namentlich der Altersgliederung der Bevölkerung, gestattet freilich auch hier
sicherere Schlüsse auf Art und Maass der Zusammenhänge und Abhängigkeitsverhält-
nisse. Auf die interessante Seite grade der Eheschliessungsstatistik als eines Gebiets
der Moralstatistik sei hier nur im Vorbeigehen hingewic»en (s. Quetelet's,
A. v. Oettingen's Schriften, inoiue Gesetzmässigkeit der scheinbar willkührlichen
menschlichen Handlungen u. A. in.). Ueber Heirathsfrequenz im Allgemeinen s.
Oettingen, Moralstatistik. 3. A. 1. Abtli. 2. Kap. und die Tabellen 1 — 6 im An-
fang. Reichsstatistik B. 44. EinL S. 8 U’., 44 ff'.
S. Tab. XIV auf S. 533.
Die Tab. XIV zeigt, dass die Trauungsziffern der grossen Staaten, abgesehen
von Russland, und zum Theil auch diejenigen der Mittelstaaten, nicht allzusehr in
den Durchschnitten von einauder ahweichen. Irland (mit muthmaasslich auch unvoll-
ständigen Zahlen) steht apart da. Der slavischc Osten hat die höchsten Zahlen. Eine
wenn auch nicht regelmässige, aber doch in neuester Zeit deutliche, ziemlich all-
gemeine kleine Abnahme der Hciruthen, auch in den Decennialdurchschnitten, ist
unverkennbar. Sehr bemerkenswert!!, zum Beleg des Einflusses äusserer günstiger und
ungünstiger Umstände auf die Erwägungen (den ..Hang" zur Verheirathung zu schreiten),
sind die Schwankungen, die Minima in wirtschaftlichen und politischen Notzeiten
(Kriege), die Maxima mehrfach danach, nach wiedcrerlangter Ruhe und bei Besserung
der Verhältnisse, worüber noch im nächsten §. 222 mehr. — Für die Zahlen der
Heirathsfrequenz und die Veränderungen in letzterer in einzelnen Gebietsteilen
Deutschlands liefert die gen. reichsstatist. Arbeit reiches Material.
Eine bessere Berechnung der Heirathffrequenz als die übliche, in Tab. XIV
gegebene ist auch hier diejenige, welche die Frequenz unter dem heiratsfähigen
Theil der Bevölkerung, daher unter den unverheirateten Erwachsenen von einem
bestimmten Lebensalter zeigt. Da dieser Theil nach dem verschiedenen Altersaufbau
der Bevölkerung verschiedener Länder eine ungleiche Quote au>macht, ergeben sich
auch andere Reihenfolgen und mehr Abweichungen in der so berechneten Heiraths-
frequenz. Auch darüber Daten und Berechnungen der Relativzahlen in B. 44 der
Reichs&tatistik (s. bes. Einl. S. 8 ff., 44 fl'., Tab. S. 166 ff.). Dauach heirateten z. B.
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Heirathstatistisches.
533
Tab. XIV. Hcirathsfrequcnz im Vcrhältniss zur ganzen
Bevölkerung.
Auf 1000 der mittleren Jahresbevölkerung kommen jährlich
Eheschliessungen
Deutsch.
Reich
West-
Oesterr.
Frank-
reich
Gross-
Britanu * 2)
Italien3)
Europ.
Kusslud.4 *)
Galiz.
Bukowina
1841—50
8.05
7.70
8.0
8.05
___
9.55
1851—60
7.81
7.25
8.0
8.45
—
—
855
1861—70
8.52
8.1
7.8
8.15
7.55
9.9
9.85
1871—80
8.61
8.1
8.0
8.0
7.70
9.3
9.15
1881— 90 *)
7.81
}7.65
7.5
7.38
8.00
9.1
8.50
Maximum
10.30
9.75
9.98
8.95
9.1
10.25
11.65
Jahr
1872
1869
1872
1853
1865
1872
1867
Minimum
6.99
5.95
6.05
6.95
5.65
7.25
9.25
Jahr
1 855
1855
1870
1886
1866
1877
1866
V
Irland6)
Nieder-
lande
Belgien
Schweiz6)
Däne-
mark
Schwed.
Norweg
1841—50
"
7.4
6.8
.
7.9
7.45
7.8
1851—60
—
7.9
7.4
—
8.85
7.60
7.7
1861-70
5.25
8.2
7.5
7.45
6.55
6.65
1871-80
I 4.7
8.1
7.35
7.7
7.85
6.80
7.25
1881—90
! 4.3
7.1
6.95
6.86
7.72
6.42
6.62
Maximum
5.5
8.9
835
9.0
9.9
8.60
8.55
Jahr
1865
1850
1858
1S74
1851
1847
1854
Minimum
! 3.9
6.3
5.55
6.8
5.6
5 2
6.15
Jahr
1880
1847
1847
1881
1864
1865
1869
von 1000 über 15jährigen unverheiratheten Personen beiderlei Geschlechts jährlich im
Durchschnitt (meist von 1872—80):
Tab. XV. Heirathsfrequenz Heiraths fähiger:
Ungarn
81.4
Frankreich
50.4
Schweiz
42.6
Galiz.. Bnk.
73 l
Nicderland
50.3
Griechenland
41.8
Deutsch. Reich
55.7
Dänemark
49.4
Belgien
41.5
Gross- Bri tan n.
53.1
Italien
48.6
Schweden
40.S
Finnland
52.7
West-Ocsterr.
47.5
Irland
25.8
Spanien
51.8
Norwegen
43.2
In den einzelnen grösseren Gebietsthcilen des Deutschen Reichs war das Ma-
ximum der Heirathsfrequenz während der Periode 1872 — 80 im Kgr. Sachsen mit
65.67 (Anhalt mit 05.92), auch Westpreussen . Pr. Posen, Pr. Sachsen, Thüringen
J) Bei Deutschland 1881 — 90, bei den anderen Ländern 1881 — 86, bei einzelnen
1881—84 oder 85.
*) Bis 1860 ohne, von 1861 an mit Schottland.
■) Für 1863-71, 1872—80. 1881— S6.
4) Für 1867-70, 1871—80. 1881—85.
6) Für 1864-70, 1871—80, 1881 — 86.
6) Für 1871—80, 1881—86.
534 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch, 1. K. BevölkJehrc. 1. H.-A. Statist. §. 222.
hatte» eine Frequenz vou 63 — 64 oder von fast 63 (Berlin); das Minimum traf auf
Elsass- Lothringen mit 43.37, Südbaiern mit 47.02, Baden mit 48.11, Rheinprovinz und
Franken mit 51 — 52. Der wohl von Nationalökonomen mitunter behauptete durch-
greifende Einfluss der Agrarverfassung, Grundbesitzvertheilung auf Heiraths- (auf
Geburts-)frequenz ergiebt sich liier nicht sicher.
§.222. Fortsetzung. Statistische Belege für Schwan-
kungen und Bewegungsrichtungen der natürlich en Be-
völkerungsbewegung.
Für die mehr wechselnden, von veränderlichen Factoren abhängigen Ver-
hältnisse der natürlichen Bevölkerungsbewegung und für die Lehre von den För-
derungs- und llemmungsmittelu dieser Bewegung sind die Schwankungen und
Schwankungsrichtungen der Frequenzen in kurzen Zeiträumen, nach der üb-
lichen Zusammenfassung und Verarbeitung des statistischen Materials insbesondere in
einzelnen Jahren, und die Richtungen der Bewegung der Frequenzen wieder
in längeren Zeiträumen, in Perioden von Jahren, von besonderem Interesse.
Auch dafür geben die meisten früheren Tabellen und Daten schon mancherlei zum
Beleg dienendes Material, uud wurde bei der Erörterung bereits öfters auf die eben
erwähnten Puncte hingewiesen. Die genauere statistische Beweisführung ist uns au
dieser Stelle auch hier nicht möglich. Die gen. reichsstatist. Arbeit liefert auch für
diese Verhältnisse, besonders für die jährlichen Schwankungen, viel gutes Material
und die erforderlichen Berechnungen (vgl. u. A. S. 15 lf. uud die graphischen Dar-
stellungen bei S. 20 für Deutschland in 1841 — 85).
Die Grösse der jährlichen Schwankungen gegenüber dem Mittel einer längeren
Periode, das plötzliche Hinabgeheu nach unten oder Hinaufschnellen weit über den
gewöhnlichen Stand oder gegen das Vorjahr zeigt das Vorhandensein und die Grösse
des Einflusses starker Förderungs- und Hemmungsmittel, aber auch die Zugänglich-
keit der betreffenden Bevölkerung für derartige Einflüsse an. Diese Zugänglichkeit
kann wieder von der wirtschaftlichen und socialen Lage, aber auch vom Volks-
character abhängen
Auch die neuere und neueste Statistik zeigt noch deutlich den Einfluss von
Brottheuerungen , Erwerbsstockungen, politischen Krisen, Kriegen und anderseits von
günstigen Erwerbsverhältnissen, politischer Ruhe und Ruhegefühl auf die Bewegung
der Bevölkerung, lu ersterer Hinsicht kann z. B. ziemlich allgemein in Europa für
die Theuerungsjahre 1846 — 47, 1854 — 55 (wo ausserdem da uud dort der Krimkrieg
und Seuchen einwirkten) eine deutliche und starke Abnahme der Eheschließungen
und Geburten (so in Deutschland), meist auch eine Zunahme der Todesfälle (weniger
in Deutschland, wo andere FactoTen mächtiger sind) constatirt werden. Das Minimum
oder eine demselben nahekommende Quote der Trauungen und Geburten und mehr-
fach das Maximum oder eine sich demselben nähernde Quote der Sterbefälle findet
sich in dieser halbhundertjährigen Periode meistens in den genannten Jahren. Wo
einzelne Länder in einem anderen Jahre das Minimum bezw. Maximum zeigen, er-
klärt sich das aus besonderen Verhältnissen, wie namentlich aus Kriegs- u. dgl. Zeiten,
aus dem Auftreten von Epidemieen, die aber grade auch in Zeiten wirthschaftlicher
Notstände sich leicht am Stärksten verbreiten (1854, 1866). Schwerere, zumal länger
andauernde Kriegszeiteu zeigen sich begreiflicher W’oise direct von Einfluss, nicht
nur und nicht einmal am Meisten, wenn sich nicht schwere Epidemieen gleichzeitig
stark verbreiten, bei der heutigen Art der Kriegsführung, die nicht mehr allgemein
verheert und Unterhaltsmittel zerstört, in der Steigerung der Todesfälle (die 1870 — 71
nur in Frankreich unter dem Einfluss ganz abnormer Verhältnisse, Commune u. s. w.
sehr bedeutend war); vielmehr ebenso sehr, ja noch mehr selbst sofort in der geringeren
Zahl der Eheschliessungen und bald darauf der Geburten, was aus dem Kriegsberuf
eines grossen Theils heiraths- und gcschlechtsverkehrsfähiger Männer sich ja einfach
erklärt (s. 1870 — 71, bes. in Frankreich, Deutschland, 1859, 1866 in Oesterreich,
Italien, 1877 in Russland, 1848, 1850, 1864 in Dänemark). Aber auch indirect sind
schwere Kriegs-, Revolutionszeiten von Einfluss auf Abnahme der Trauungen, Ge-
burten in der nicht unmittelbar vom Kriege berührten Bevölkerung; psychologische,
nicht unverständliche Momente spielen hier mit und zeigen grade den Einfluss solcher
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Belege für Schwankungen der natiirl. Bewegung.
535
„präventiv" wirkender Factoren (Frankreich, Theile von Deutschland 1871 — 72, mehr-
fach grösserer Ausfall an Trauungen und Geburten als zu erwarten gewesen wäre,
wenn dieser Ausfall bloss auf die iin Kriege abwesenden Männer zurückzuführen wäre,
von G. Mayr näher für Baiern erwiesen).
Nicht minder aber nimmt man wahr, dass günstige Zeiten des Erwerbslebens,
der politischen Verhältnisse und Aussichten der allgemeinen „Hoffnungsseeligkeit"
übereinstimmend zu einer raschen und starken Zunahme der Eheschliessungen, Ge-
barten, auch wohl, wenngleich nicht in demselben Maasse, da hier mancherlei Andres
mit ein wirkt, zu einer Abnahme der Todesfälle führen. Förmlich sprungweise zeigt
sich jene Zunahme besonders unmittelbar nach schwereren Nothzeiten, wie Kriegen,
Theucrungeu, Erwerbs.>>tockungen, so vielfach in Europa nach 1S46 — 47 in 1848 — 41),
nach 1854 — 55 in 1856 ff, nach 1870 — 71 in 1872 11'., natürlich vor Allem in den
Ländern, welche vorher von dem Nothstand am Meisten getroffen waren, vorausgesetzt,
dass sie nicht förmlich ruinirt worden, wo dann die Ausgleichung länger dauert.
Die wirklichen oder annähernd die Maxima der Trauungs-, Geburtsfrequenz und zum
Theil auch die Minima der Sterbefrequenz fallen vielfach in die genannten günstigen
Jahre (Deutschland, Frankreich). Auf das Minimum des Geburtsuberschusses oder
selbst auf das Deberwiegen der Todesfälle in der vorausgehenden Nothstandszeit folgt
daher nicht selten das Maximum jenes Ueberschusses in der darauf folgenden günstigen
Zeit: eben ein statistischer Beleg für die vorhandene, immer wieder wirksam werdende
Tendenz der Bevölkerung sich zu vermehren oder wenigstens Verluste möglichst aus-
zugleichen (§. 219, 220).
Die früheren Tabellen und die Erläuterungen dazu enthalten auch für die eben
hervorgehobenen Thatsachen schon viele Belege. In der folgenden Tab. XVI sind
noch einige weitere Daten für besonders characteristische Perioden (die Theuerungs-
zeiten 1846 — 47 und 1854 — 55 und die Kriegszcit 1870 — 71) für Deutschland und
Frankreich, unter den grossen Ländern ziemlich die Extreme der natürlichen Volks-
bewegung in Westeuropa, ferner für die Periode um 1540 — 50 für zwei wesentlich
agrarische, auch in den Grundbesitzverhältnissen nicht die extremsten Gegensätze
zeigende, freilich national nicht gleichartige Provinzen, Ostpreusseu und Hannover,
zusammengestellt, welche in den Schwankungen der Frequenzen ziemlich scharfe
Unterschiede zeigen, ersteres grosse, letzteres kleine (beide übrigens in Deutschland
hierin nicht die Extreme, s. Reichsstatistik ß. 44, Einl. S. 15). Erst umfassendere
Vergleichungen auch mit normaleren Zeiten und mit Ländern, in denen diese Ein-
flüsse sich ähnlich zeigen und fehlen oder nicht so stark waren, liefern aber die
genügenden Belege. Das betreffende Material fordert jedoch zu viel Raum. Für die
zu vergleichenden Länder können wegen der ungleichen Berührung durch Kriogs-
und dergl. Verhältnisse nicht immer dieselben Perioden zur Beweisführung gewählt
werden. Die Theuerungs- und wirtschaftlichen Nothstandsjahre (Krisen u. s. w.) sind
dagegen unter heutigen Verhältnissen für Europa ziemlich dieselben, wenn sich auch
gradweise mancherlei Verschiedenheiten in den einzelnen Ländern zeigen.
Für Vergleichungen der Trauungs-, Geburts-, unehelichen Geburtsfrcquenz sind
übrigens auch die betreffenden Eheschlicssungs-, Niederlassungsgesetze u. dergl. zu
beachten. Sind darin Veränderungen erfolgt, z. B. wie in den letzten Jahrzehnten in
deutschen Mittelstaaten , besonders in Baiern, so äussert das auch auf jene Fre-
quenzen Einfluss und stört die Vergleichbarkeit der Zahlen mit denen anderer Zeiten
und Länder.
Die Materialien zu Tab. XVI aus B. 44 der Reichsstatistik.
S. Tab. XVI auf S. 536.
Die deutschen Zahlen ergeben meistens eine stärkere Sensibilität der Frequenzen
gegenüber den äusseren hemmenden und fördernden Einflüssen als die französischen,
ähnlich die ostpreussischen als die hannoverschen. Aber alle ergeben doch immerhin
principiell die gleiche Sensibilität, in derselben Richtung, was eben für die Frage der
Förderungs- und Hemmungsmittel das Bemerkenswerthe ist. Frappante Ausgleichungs-
tendenzen zwischen Extremen in der Bevölkerungsbewegung zeigen die Verhältnisse
in Ostpreussen 1849 verglichen mit 1847 — 48. Immer kommt aber nach kürzerer oder
längerer Zeit wieder das ziemlich constante Verhältnis der Frequenzen uud der Vor-
mehrungstendenz zur Geltung,
Die gauze Be wegu ngsrichtung der drei Frequenzen und ihres Ergebnisses
für den Stand der Bevölkerung wird durch die Daten der Mehrzahl der früheren
536 4. B. Bevölk u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lehre. 1. H.-A. Statist. §. 222.
Tab. XVI. Schwankungen in der natürlichen Bewegung
der Bevölkerung.
Auf 1000 Lebende kamen
Jahr
Getiaute
Personen
Geborene
incl. Todtgcb.
tsches R
-Q
© ©
C bi'.
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c- O
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Geborene
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Personen
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© — •
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Unehelich
Geborene
cn
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93 ZS
£ 'S
£
© ©
w -C
ZS
1845
16.3
38.9
26.7
4.14
|
12.0
16.3
28.8
22.1
2.1
6.7
184«
15.8
37.4
28.6
4.14
8.8
15.3
28. 1
24.1
2.1
3.9
1847
14.4
34.6
29.7
3.72
4.15
14.2
26.2
24.8
1.9
1.4
1848
1 5.3
34.7
30.5
3.51
4.25
16.7
27.2
24 4
2.0
2.8
1849
16.4
39.7
28.6
4.45
11.05
15.7
28.5
28.5
2.1
0.1
1850
17.0
38.7
27.2
4.54
11.5
16.7
27.5
22.3
2.1
5.2
1853
15.3
36.0
28.6
3>4
7.4
15.5
26.6
22.7
2.0
3.9
1854
14.15
35.4
28.3
3.68
7.0
15.1
26.5
28.4
2.1
- 2.0
1855
14.0
33.5
29.4
3.52
4.1
15.8
25.9
26.8
1.9
-0.9
185«
15.05
34.9
26.6
3.94
8 3
15.8
27.3
24.3
2.0
3.0
1857
16.70
37.5
26.7
4.40
8.85
16.3
26.9
24.9
2.1
2.0
1869
19.0
39.4
28.5
4 03
10.8
16.5
27.0
24.7
2.1
2.3
1870
15.4
40.1
29.0
4.05
11.1
12.1
26.7
29.5
2.1
2.S
1871
1 6.4
35.9
31.0
3.52
4.9
14.4
23.7
35.9
1.8
-12.2
1872
20.6
41.1
30.6
3.66
10.5
19.5
27.9
23.2
2.1
4.8
1873
20.0
41.3
29.9
3.81
11.4
17.7
27.3
24.5
2.1
2.8
1874
19.1
4 1 .75
28.4
3.62
13.4
16.6
27.4
22 6
2.1
4.7
Ostprcussen
Hannover
1844
20.0
43.9
25.8
4.07
18.1
14.8
31.6
23.5
3.10
S.l
1845
i 17.8
38.8
35.5
3.76
3.3
15.0
32.3
22.7
3.29
9.6
184«
19 3
39.9
33.4
3.31
6.4
14.7
31.6
27.0
3.54
4.6
1847
16.1
39.5
47.6
3.42
-8.1
14.6
28.6
27.1
3.04
1.5
1848
19.4
34.7
47.6
2.69
-12.9
16 2
31.2
26.1
3.03
5.1
1849
24.1
56.6
28.9
4.74
23.8
17.2
34.3
23.1
3.73
11.1
1850
22.2
46.6
30.2
5.03
16.4
17.3
34.0
23.0
3.67
11.0
1851
21.2
49.1
28.9
4.97
20.2
16.8
33.5
22.1
3.56
11.4
1852
j 17.8
43.4
43.6
4.07
-0 2
16.2
32.4 i
24.4
3.32
8.0
1853
19.2
44.4
42.8
3 66
1.6
16.8
32.5 !
24.4
3.31
S.l
1854 |
17.1
41.6
38.2
3.42
3.4
16 1
31.4
24.0 1
3.16
7.4
1855
17.3
41.6
39.4
3.32
2.15
15.8
31.7
25.0
3.15
6.6
185«
18.7
40.0
31.0
3.61
9.0
16.1
32.2
22.0
3.26
9.6
Tabellen und der Tabelle XIV ebenfalls beleuchtet. Man muss aber freilich hier
mit Schlüssen hinsichtlich einer mehr oder weniger bleibenden Tendenz einer
solchen Bewegungsrichtung noch besonders vorsichtig sein. Einmal sind die Zeit-
räume, für welche man mit einiger Sicherheit die Bewegung der Bevölkerung und
die Aenderung der Voiks/ahl verfolgen kann, doch viel zu kurz, höchstens einige
Menschenalter, meistens noch viel weniger lang. Es ist von vornherein, auch bei so
rascher Veränderung der wirtschaftlichen und socialen Verhältnisse wie in der Gegen-
wart, nicht wahrscheinlich, dass in solchen kleinen Zeiträumen auf diesem Gebiete
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Belege für Schwankungen der natürl. Bewegung.
537
grosse, principielle Veränderungen, wie es solche in der ganzen definitiven Beweguugs-
ricbtung wären, vor sich gehen. Die unbefangen geprüften Daten ergeben solche
auch nur ausnahmsweise, wie etwa in BetrelT der Heiraths-, der ehelichen Geburts-
frequenz eine gewisse Tendenz zur Abnahme, so letzteres in Frankreich, ersteres
vielleicht neuerdings allgemeiner (S. 533). Natürlich muss man überhaupt hier nur
mit Durchschnitten aus längeren Perioden operiren, wie z. B. mit 5- oder löjährigeu
aus einem grösseren Zeitraum. Aber auch diese Durchschnitte können durch zufällige
Zeiteiuflüsse, durch Ausgleichung von Extremen übereinstimmen oder in bestimmter
Richtung abweichen, ohne dass dadurch sicher eine Aenderung der constanten Ge-
staltung und Richtung bewiesen wird. Je nachdem man die Durchschnitte bildet,
sie ein Jahr mit, ein andres nicht mit umfassen, ergeben sich abermals leicht Ueber-
einstimmungen oder Verschiedenheiten, welche nichts beweisen. Auch wenn dann
etwa periodische Durchschnitte, selbst 10jährige, eine gewisse Richtung zeigen, z. B.
im Deutschen Reich von 1851 — 60 durch 1861 — 70 hindurch in 1871—80 eine auf-
steigende der Heiraths-, Geburtsfrequenz — bezw. 7.81, 8.52, 8.61 und 3»>.S0, 38.77,
40.68 °j'00 — , auch des Geburtsüberschusses — 8.96, 10.33, 11.92°/0o — , danebeu die
Sterblichkeit eine ebenfalls etwas ansteigende — 27.84, 28.44, 28.76 °/oo — ♦ und Iuau
aus solcheu Thatsacben eine constante Tendenz, bezw. eine definitive Aenderung
früherer constanter Verhältnisse ableiten wollte, wie dergleichen gegenüber solchen
Zahlenreihen wohl geschieht — wie leicht kann eine solche Annahme durch Er-
fahrungen aus weiterer Zeit umgestossen werden! So in diesem Beispiel: denu im
folgenden Jahrzehnt 1881 — 90 war die Heiraths- und Geburtsfrequenz wieder gesunken,
jeue auf 7.81 %o* wie 1S51 — 60, diese auf 38.18, noch etwas unter 1861 — 70, der
Geburtsüberschuss allerdings fast auf seiner Höhe geblieben , aber doch nicht weiter
gestiegen, 11.70, auch dies nur, weil auch die Sterblichkeit eine absteigende Rich-
tung, wie die GeburtszilTer, erhalten hat, 26.48 %o- Man sieht auch aus diesem Bei-
spiel. wie aus zahlreichen anderen und wie jedes Nachdenken über die Bildung von
solcheu Durchschnittszahlen ergiebt, dass eben eine solcho Grösse, welche wie der
Geburtsüberschuss noch dazu das Ergebniss zweier Reihen verschiedenartiger That-
sachen ist, aus ganz verschiedenen Gründen gleichgeblieben sein oder sich ge-
ändert haben kann und die Annahme eines bestimmten Grundes immer erst bewiesen
werden muss.
Bei Durchschnittszahlen der Frequenzen, falls dieselben in der üblichen Weise
für die Gesammtbevölkerung berechnet werden, ist aber, w'enn man aus diesen Zahlen
eine bestimmte Tendenz ableiten will , auch wieder zu bedenken , dass die Zahlen
unter dem Einfluss einer bei demselben Volke verschieden gewordenen, bei ver-
schiedenen Völkern an sich verschiedenen Geschlechts- und Altersgliederung der Be-
völkerung sich so und so gestalten müssen. Das muss auch bei Vergleichungen und
Schlüssen daraus gebührend berücksichtigt werden. Eben deshalb sind für Trauungs-
und Geburtsfrequenzen Berechnungen nicht von der Gesammtbevölkerung, sondern von
einem Theil derselben, wie den Hciratbsfähigcn, den gebärfähigen Frauen, das Rich-
tigere. Da die allgemeine Sterblichkeit durch die Kindersterblichkeit mit beeinflusst
wird und diese letztere bei grosser Geburtsfrequenz häutig wieder grösser wird, so
muss eigentlich auch für die Sterbefrequenz in einem bestimmten Theil der Bevöl-
kerung (z. B. der über 5jährigen) eine Grundlage zur Berechnung gesucht werden.
Allein die Annahme der Zahlengrcnzen für solche Bovölkerungstheile ist wieder mehr
oder weniger willkuhrlich, die gleichen Grenzen passen nicht für alle Völker (Ilei-
rathsalter, Gebärfähigkeit!) und für nur etwas weiter zurückliegende Zeiten fehlt es
an der Altersstatistik der Bevölkerung, um die Freqaenzberechnungen richtig ausführen
zu können. So lassen sich abermals „Bewegungsrichtuugen“ und definitive Aende-
rungen der Frequenzen nicht oder nur unsicher ableiten.
Zeitliche Veränderungen auch der Durchschnittszahlen wie das Gleichbleiben
derselben können ohnehin wieder das Ergebniss der verschiedensten Veränderungen
der wirthscbaftlicheu und socialen Verhältnisse sein, so dass die Durchschnittszahlen
auch wenn sie eine bestimmte Tendenz des Beharrens oder der Veränderung in der
und der Richtung zeigen, zunächst Uber die Ursachen dieser Tendenz noch gar
nichts ergeben.
Nicht selten ist von Statistikern, Nationalökonomen, Politikern, so namentlich in
Frankreich (S. 456), aber nicht nur hier, die Ansicht vertreten worden, die Statistik
538 4. B. Bevölk. u. Volksw.scli. l.'K. Bevölk.lehre. l.H.-A. Statist. §.222.
zeige mit fortschreitender Bevölkerungsvermehrung: und Volksdicbtigkeit eine im
Ganzen regelmässige und wenigstens in längeren Perioden constante Abnahme der
Vermehrungsquotc, besonders eine Abnahme der (allgemeinen, namentlich ehelichen)
Fruchtbarkeit, der Geburtsfrequenz, auch wohl der Hcirathsfrequenz. A priori wäre
das ja, wenigstens für altbesiedelte, schon ziemlich volksdichte Länder mit allgemein
in Besitz genommenem Boden nicht unverständlich und nicht ganz unwahrscheinlich
und manche Thatsachcn der Statistik, auch in den früheren Tabellen und den Er-
örterungen dazu enthaltene, lassen sich zum Beleg anführen. Aber von einer der-
artigen „statistischen Regel“ oder „Gesetzmässigkeit“ kann gegenüber so
zahlreichen Ausnahmen bedeutendster Art, wie sie die Statistik hier zeigt, und gegen-
über der Analyse der Umstände, welche bei der Trauungs- und Geburtsfrequenz und
bei der Volksdicbtigkeit in Betracht kommen, doch nicht die Rede sein. Es sind in
diesem Jahrhundert mehrfach grade die Länder mit grösster Volksdichtigkeit, welche,
wenn auch mit Schwankungen, dauernd die grösste weitere Vermehrung, sei es durch
Geburtsuberschuss, sei es durch Wanderungen, aufweisen, Gross-Britannien, besonders
England, Theile von Deutschland, Kgr. Sachsen, Rheinland, auch das Deutsche Reich
im Ganzen und noch neuerdings, wo unsere Volksdichtigkeit bereits lange nicht unbe-
trächtlich die französische überstiegen hat, ferner Italien. Die Trauungs- und Geburts-
frequenzen dieser Länder sind meist nicht die höchsten vorkommenden, aber durchweg
ziemlich hohe, jedoch auch bei steigender Volksdichtigkeit nicht dauernd abnehmende,
mehrfach, so in den genannten deutschen Ländern und einigen weiteren von ähnlichen
Verhältnissen, wie die Geburtsüberschüsse desgleichen, eher steigende. Gross-Britannien,
auch Deutschland zeigen allerdings im Ganzen, die bevölkertsten Gegenden aber nicht
in besonderem Maasse, im letzten Decennium, seit 1881, eine Abnahme der Trau-
ungen, Geburten, aber nach einer ungewöhnlichen Zunahme in Deutschland im voraus-
gehenden. in Gross-Britannien im zweitvoransgehenden Jahrzehnt. Ob diese Bewegung
von Dauer ist, steht nach früheren Erfahrungen dahin. Auch die sich an Volkszahl
vermehrenden, volksdichtcr gewordenen wesentlich agrarischen Gegenden mit Klein-
und Mittclbesitz zeigen keine entschiedene Abnahme der Trauungs- und Geburts-
frequenzen. die Hinüberbildung unserer Volkswirtschaft aus der agrarischen in die
industriell -montanistische Phase, die steigende Entwicklung des Städtewesens bat
keinen durchgreifenden, vielfach kaum einen sichtbaren Einfluss auf jene Frequenzen
und auf den Geburtsüberschuss ausgeübt, wenn aber einen, so eher einen etwas stei-
gernden, als den entgegengesetzten, ohne dass man von „proletarischer Volksvermeh-
rung“ reden müsste. Tiefere constante Veränderungen sind nach Allem bei Trau-
ungen und Geburten nicht eingetreten, trotz der so rasch gewachsenen Dichtigkeit.
Eher zeigt sich eine Abnahme der Sterblichkeit
Es wurde zu weit fuhren, das Alles im Einzelnen mit statistischen Zahlen zu
belegen, aber es Hesse sich thun. Die gen. reichsstatistische Arbeit giebt vielerlei
Material dafür. Von einem wirklichen „Gesetz“ der Abnahme der natürlichen Zu-
wachsrate der Bevölkerung bei steigender Volksdichtigkeit, besonders einer Abnahme
der Geburtsfrequenz, zumal der ehelichen, Hesse sich auch nur sprechen, wenn aus
dieser steigenden Dichtigkeit allgemein als nothwendige Folge eine auf solche Ab-
nahme des Zuwachses bewirkende Aenderung des physisch-psychischen Wesens, des
Trieblebens, der Willensrichtung der Menschen abzuleiten wäre. In einzelnen Gesell-
schaftsclassen, den höheren, reicheren, auch wohl in gewissen ländlichen Mittelclassen
mag man Spuren, ja deutlichere Beweise solcher Aenderung finden. Aber eine ein-
fache Function der wachsenden Volksdichtigkeit wäre eine solche Aenderung auch
hier nicht und bezügliche Wahrnehmungen ohne Weiteres zu verallgemeinern, bliebe
auch unstatthaft.
Eher könnte man denken, dass die allgemeine Zunahme des Wohlstands
durch psychologische Medien hindurch hemmend auf die von Trauungs- und Geburts-
frequenz abhängige Volksvermehrnng einwirkt, zu späterer Heiratii, geringererer
Kinderzahl in der Ehre führe. Wahrnehmungen in den wohlhabenderen Gassen hat
man auch wohl zum Beleg für diese Ansicht herangezogen, aber wiederum leicht zu
sehr verallgemeinert, von einem Volke auf das andre, von einer Gasse auf das ganze
untere Volk zu leicht übertragen. Eine für Frankreich von Tallquist angestellte
Untersuchung weist auf einen gewissen Zusammenhang zwischen steigender Steuer-
kraft und höherem Vermögensbesitz und Abnahme der durchschnittlichen Kinderzahl.
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Ergebnisse hinsicbtl. der natllrl. Volksbewegung.
539
welche auf die verheiratheten Frauen kommen, hin. S. Tallquist, recherches Statist,
sur la tendcnce ä une moindro ftconditö des mariages. Helsingfors 1886, Tab.
S. 88 ff., im Auszug im Art. population von Levasscur im dictionn. d’6con.
pol. II, 521). Aber auch hier liegen doch zu mancherlei Einflüsse vor und von einem
„Gesetz“ der Fruchtbarkeits-Abnahme mit der Wohlstands -Zunahme wird man auch
für Frankreich selbst, geschweige für andre Länder nicht reden dürfen.
Es ist wichtig, das Alles zu beachten, weil die optimistischen Anti-Malthusianer
(§. 196) mit Argumenten, welche sich auf solche vermeintlich feststehende „That-
sachcn“ oder „Gesetze“, wie die besprochenen, stützen, gern operiren, utn sich über
unliebsame Malthus’sche Bedenken hinwegtäuschen zu können. Die in der Regel
starke Vermehrungstendenz der Bevölkerung bleibt eine Thatsachc, mit welcher einmal
zu rechnen ist und findet nicht „von selbst“ ihre jeweilige richtige Beschränkung,
es sei denn durch die „repressive Gegentendenz“ vermehrter Sterblichkeit.
III. — §. 223. Ergebnisse hinsichtlich der natür-
lichen Volksbewegung. Die vorausgehenden statistischen
Thatsacken und Untersuchungen haben den Beweis geliefert, dass
die unter dem Einfluss des Geschlechtsverkehrs und der natürlichen
Sterbeordnung stehende Bevölkerungsbewegung ihr jeweiliges und
innerhalb gewisser Grenzen auch in gewissem Umfang ihr bleibendes
Maass durch eine Reihe äusserer Umstände erhält, welche theils
psychologisch fördernd oder hemmend auf Eheschliessung, Zeugungen
und Geburten, theils physiologisch fördernd oder hemmend auf die
Sterblichkeit einwirken. Solcher Umstände kann man vornemlich
dreierlei unterscheiden, ökonomische, ethische und recht-
liche, welche zum Theil wieder unter einander in Verbindung
und seihst wieder in einem Wechselwirkungs- und Wechselbe-
dingungsverhältniss stehen.
Die ökonomischen Umstände, ihrerseits wieder von politischen (Krieg, Frieden)
beeinflusst, kommen in den Erwerbs- und in den Consumtions- bezw. Ausgabeverhält-
nissen zur Geltung, in verschiedener Art und in verschiedenem Maass, je nach der
Entwicklungsstufe der Volkswirtschaft, nach der Art des Berufs, der Beschäftigung,
des Erwerbs, in der oben (S. 528) angedeuteten Weise. Die ethischen Momente
äussern sich in den Sitten des Geschlechtslebens, in Bezug auf Eheschlicssung. Lebens-
alter dafür, auf ausserchelichcn und ehelichen, der Zeugung und den Geburten förder-
lichen oder sie hemmenden Geschlechtsverkehr, daher eventuell präventiv hinsichtlich der
Heirathen und Geburten; anderseits in Bezug auf die ganze physische und geistig-
sittliche Lebensweise, unter wiederum förderlichen oder hemmenden Rückwirkungen
derselben auf Eheschliessungen, Zeugungen, Geburten und auch auf die Sterblichkeit.
Nach ganzen Zeitaltern, nach Völkern, Classen, Ständen, Berufen, nach Stadt und
Land, nach dem vorherrschenden wirtschaftlichen und socialen Character des Wohn-
orts treten auch in diesen Sitten und ethischen Momenten erhebliche Verschieden-
heiten und Veränderungen ein. Aelterc „patriarchalische“, den Einzelnen mehr
bindende, sittenstrengere, einfachere Zeiten haben manche Hemmungsmittel in Sitte
und sittlichen Anschauungen besessen, welche in moderner Zeit, bei individualisti-
scherer Gestaltung der bezüglichen Lebensauffassungen, bei grösserer Laxheit dor
Geschlechtssitten fortgefallen oder geschwächt worden sind. Die rechtlichen Momente
endlich gelangen namentlich direct im (materiellen) Ehescbliessungsrecht, indirect im
Zug-, Wanderungs- und Nicderlassungsrec.ht, im Erwerbs- und Besitzrecht (Agrar-
verfassung. Gewerbeordnung) zur Geltung, in Bezug auf die Zahl der Trauungen, die
Lebensalter und Civilstandsverhältnisse der Eheschlicssenden, die eheliche und die
uneheliche Geburtsfrequenz, dadurch, insbesondere in Betrctf der letzteren, auch wieder
hinsichtlich der Sterblichkeit. Die älteren Rechtsordnungen, welche den Einzelnen
540 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lehre. 1. H.-A. Statist. §. 223.
mehr nach tiesichtspunctcn von Gemeinschaftsintercssen banden , wirkten wie die
analogen älteren Sitten und sittlichen Anschauungen mehr hemmend auf die Be-
völkerungsvermehrung. besonders in Bezug auf Verheirathung. Die neueren „liberalen“
„individualistischen“ Rechtsordnungen wirken mehr fördernd, während allerdings bei
den ersteren der uneheliche, wenigstens der zu Geburten führende zum Nachtheil des
ehelichen Geschlechtsverkehrs begünstigt wurde, wenn nicht Sittenstrenge eine besondere
Kraft und damit Memmungswirkuug behauptete.
Die Verbesserung der materiellen Lebensverhältnisse, die ver-
mehrte naturwissenschaftliche Einsicht in die Bedingungen von
Gesundheit und Krankheit, die besseren Vorkehrungen für das
Gesundheitswesen und zur Verhütung und Beschränkung von
Seuchen und Epidemien, die Entwicklung der Verkehrsmittel, als
der wichtigsten Vorbedingung zur Ausgleichung von Ernteausfällen
der Hauptnahrungsmittel und damit zur Verhütung von Hungers-
noth und von ganz exorbitanten Preissteigerungen, der grössere
innere und äussere Rechtsschutz, die selteneren, kürzeren Kriege
und die humanere, nicht die Productivkräfte selbst systematisch
oder wenigstens unbedacht zerstörende Kriegsführnng und sonstige
sociale und doch auch ethische Fortschritte (so in der Pflege der
Kranken, der Schwachen, der Kinder, der Greise) erklären es,
dass sich bei Culturvülkern die Sterblichkeit vermindert, namentlich
nicht in wirtschaftlichen und politischen Nothzeiteu die „repressiven
Tendenzen der Volksvermehrung“ völlig verheerend auftreten und
ganze Bevölkerungen decimirt oder vernichtet werden. Aber, wie
die fast überall noch grosse Kleinkinder -Sterblichkeit, zumal die-
jenige in einigen Ländern, wozu leider auch deutsche gehören,
zeigt, liegen hier doch auch bei Culturvölkern , wie den heutigen
europäischen, noch manche ernste Uebelstände vor, welche um so
schlimmer erscheinen, wenn die Kleinkindersterblichkeit die Be-
gleiterin grosser Geburtsfrequenz, unehelicher wie ehelicher, ist.
Wo die allgemeine Sterblichkeit, z. B. bei Epidemien, in Folge
von Berufskrankheiten, und die Kindersterblichkeit in gewissen
Volksclassen , wie den unteren, arbeitenden, dürftigeren besonders
stark ist und bleibt, weist das neben gewiss mitspielenden ethischen
und Bildungsmängeln — freilich wenigstens teilweise wieder eine
Folge von ökonomischen und dadurch bedingten allgemeinen Lebens-
verhältnissen — doch vornemlich auf ökonomische Missstände hin.
Diese können aus unzulänglicher volkswirtschaftlicher Production,
zu kleinem Volkseinkommen hervorgehen, sind möglicher Weise
aber doch auch wenigstens die Mitfolge einer zu ungünstigen, zu
ungleichmässigen Verteilung des an sich vielleicht für eine bessere
Lebenshaltung der unteren Classen ausreichenden Volkseinkommens.
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Ergebnisse hinsichtlich der natUrl. Volksbewegung.
541
Die vermehrte Einsicht in die Zusammenhänge zwischen Einzel-
nnd Familien-Einkommen, Familiengrösse und Lebensführung, das
Bedürfnis nach Erhaltung der einmal erreichten und gewöhnt ge-
wordenen und nach weiterer Verbesserung dieser Lebensführung,
der Wunsch, seine Angehörigen, seine Nachkommen wenigstens in
dieser Hinsicht nicht wieder in eine schlechtere Lage und damit
regelmässig in eine tiefere sociale Classenschicht herabsinken zu
sehen; anderseits freilich auch egoistische Bequemlichkeit und Ge-
nusssucht, mindestens Ueberschätzung der materiellen Lage und
Annehmlichkeiten können freilich bei Culturvölkern , zunächst bei
deren höheren Classen, dann aber auch weiter allgemein zu einer
stärkeren Macht der „präventiven Tendenzen der Volksvermehrung“
führen. Das tritt in der Statistik in Verminderung der Heiraths- und
Geburtsziffer, besonders auch der ehelichen, der Erhöhung der
Lebensalter der Eheschliessenden , in gewissen Civilstandsverhält-
nissen der letzteren (Vermehrung der Trauungen unter bereits ver-
heiratet gewesenen), in Verminderung der Zahl der in der Ehe
lebenden in der Bevölkerung hervor.
Neben Ökonomischen spielen auch hier Factoren der Sitte, der sittlichen An-
schauung (in Bezug auf ausserehelichen Geschlechtsverkehr, präventiven auch in der
Ehe, wie anderseits wirkliche geschlechtliche Enthaltsamkeit aus moralischen und aus
Vernunft- und Vorsichtsgriinden), ferner solche der Rechtsordnung, wie wohl nament-
lich Gestaltung des Erbrechts, insbesondere des agrarischen (Frankreich muthmaass-
lich, auch deutsche bäuerliche Gegenden) mit. Die geringere Trauungs- und Geburts-
frequenz. die kleineren Schwankungen derselben in günstigen und ungünstigen Zeiten,
welche die Statistik, auch die früher mitgetheilten Daten , in manchen Ländern und
Landestheilen zeigen und andere statistische Daten , so über die Verhältnisse der
Lebensalter, des Civilstands. der Quote der in Ehe Lebenden unter der Bevölkerung
heirathsfähigen Alters, machen es, neben den freilich unvollkommenen Ergebnissen
der „täglichen Beobachtung“ (J$. 78) besonders in den höheren und wohlhabenderen
Ständen, in Betreir deren Trauungs- und ehelichen Geburtsfrequenz die Statistik noch
kein genügendes Material gesammelt hat, nicht unwahrscheinlich, dass sich gewisse
Classen und selbst grosse Volkskreise der Culturvölker dem Einfluss der Fürdcrungs-
mittel der Trauungs- und Geburtsfreqnenz weniger hingeben, als andere Classen, als
die Masse der unteren, namentlich der Arbeiterbevölkerung, und als ganze Völker
niedrigerer Culturstufe; sowie dass jene ersteren Classen und Volkskreise psychisch
den Erwägungen für grössere Vorsicht in Bezug auf Verheirathung und Kiudererzeu-
gnng stärkeren Einfluss auf sich gewähren, dass daher die „Prävention“ dauernd
stärker wirkt; in welcher Form und mit welchen Mitteln in Bezug auf die Kinder-
erzeugung muss dahin gestellt bleiben. Nur zeigen sich doch auch in dieser Hinsicht,
bei Trauungen und Geburten auch unter den Culturvölkern, innerhalb desselben Volks
von Land zu Land, Landcstheil zu Landestbeil, Zeit zu Zeit und selbst unter den
höheren Classen, bei welchen jene psychischen Präventivtendenzen vielleicht schon
allgemein mehr, als unter der übrigen Bevölkerung, verbreitet sind, sehr erhebliche
Unterschiede. Ob man dieselben auf nationale, physische, psychische, ethische, auf
Culturverschiedenbeiten, auf Einflüsse bestimmter ökonomischer, rechtlicher Factoren
im concreten Fall zurückführen kann, muss immer erst speciell genau untersucht
werden, wird sich aber häulig nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, nicht selten
überhaupt auch nicht einmal mit einer solchen nachweisen lassen. Dass eine stärkere
Entwicklung der Präventivtendenzen selbst in einer grossen Bevölkerung überhaupt
A. Wagnor, Grundlegung. 8. Auflage. 1. Thoil. Grundlagen. 35
542 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lehrc. 1. H.-A. Statist. §. 224.
möglich sei, dann aber freilich auch Gefahren einer das nationale, das politische, das
volkswirtschaftliche Interesse schädigenden zu starken Verringerung des natürlichen
Zuwachses durch Geburtsüberschuss mit sich bringen könne, möchte das Beispiel der
französischen Bevölkerungsbewegung im 19. Jahrhundert immerhin beweisen.
Jedenfalls ergiebt die Statistik aber auch bei Culturvölkern,
wie den heutigen europäischen, unter den hier bestehenden öko-
nomischen, socialen, sittlichen Verhältnissen, die Fähigkeit und die
Neigung zu weiterer, je nachdem auch zu starker Vermehrung.
Dafür liefern gerade die doch im Ganzen, in periodischen Durch-
schnitten, sich zeigende relative Stabilität der Trauungs- und Geburts-
frequenz und die Erhöhungen dieser Frequenzen in günstigen Zeiten
und selbst darüber hinaus, in mehr oder weniger langen Zeit-
räumen, den Beweis. Die Verminderung beider in ungünstiger Zeit
zeigt dann jedoch, dass die Bevölkerung Erwägungen, welche zur
Prävention in Bezug auf Eheschliessung und (fruchtbaren) Ge-
schlechtsverkehr führen, zugänglich ist. Die Vermehrung der
Todesfälle in solcher Zeit, die grosse Kindersterblichkeit, die nicht
mehr so stark wie früher, aber immer doch noch deutlich hervor-
tretende Wirkung von Theuerungen, Epidemien auf vermehrte
Sterblichkeit liefert indessen auch den Beweis, dass auch gegen-
wärtig noch mit dem Repressivprincip zu rechnen ist, vollends
dann, wenn eben nicht Prävention genügend wirksam war, wie
z. B. im Falle sehr grosser Kindersterblichkeit bei starker Ge-
burtsfrequenz. Soll Repression vermieden werden, sind darauf
hinwirkende ökonomische Reformen in Bezug auf die Productions-
und Vertheilungsordnung nicht möglich oder nicht durchzusetzen
oder haben sie nicht den erforderlichen Einfluss, so muss ver-
mehrte Prävention als das einzige Mittel zur Abhilfe bezeichnet
werden.
IV. — §. 224. Die Wanderungen. Der zweite Factor,
welcher für die Grösse und die Gliederung der Volkszahl, daher für
die Ergebnisse der Volkszählung von Einfluss ist, sind die Wande-
rungen, die örtliche Bewegung der Bevölkerung, die nationalen oder
heimischen, interlocalen Wanderungen innerhalb eines Staats-
und Volkswirthschaftsgebiets und die internationalen von einem
solchen Gebiete zum anderen, die Ein- und Auswanderung.
A. Die heimischen Wanderungen, deren allgemeinere
Bedeutung, Ursachen, Wirkungen — ein sehr umfassendes social-
ökonomisches Thema — hier nur kurz berührt werden können,
gehen vor Allem, wenigstens soweit sie massenhaft sind und daher
für die örtliche Vertheilung der Bevölkerung eine grössere Be-
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Die Wanderungen; die heimischen.
543
deutung gewinnen, aus wirtschaftlichen Motiven hervor: um
Gelegenheit zum Erwerb oder zu besserem Erwerb zu erlangen.
So von jeher, so vollends in unserer Zeit, unter dem Einfluss so
starker Förderungsmittel, wie das moderne Communicationswesen,
die neuere, dem Grossbetrieb günstige Productionstechnik , die
Freizügigkeit, die freiheitliche Wirthschaftsordnung, insbesondere
auf gewerblichem Gebiete (Gewerbefreiheit). Sociale Einflüsse
wirken in derselben Richtung: der Zug nach der freieren Be-
wegung, der individualistischen Gestaltung der Lebensverhältnisse,
der besseren socialen Stellung (auch abgesehen von derjenigen,
welche durch die Rechtsstellung und die ökonomische Lage be-
dingt ist) , dem genussreicheren Leben (Stadt gegenüber Land)
u. dgl. mehr.
Persönliche und Familienverhältnisse machen sich dem gegenüber doch nur bei
Einzelnen geltend und üben auf die Massenbewegungen keinen Einfluss. Das die
ältere, die mittelalterliche einheimische Wanderung mit bestimmende Momeut, Suchen
nach besserem Rechtsschutz, höherer Rechtsstellung, welches die Landbevölkerung,
die ünfreien mit in die Städte führte, ist dagegen unter der Rechtsordnung im mo-
dernen Staate kaum mehr ein wichtiger Factor in den Wanderungen, ebenso wenig,
beim Grundsatz der Religionsfreiheit, religiöse Motive. Und nur in Ländern sehr
grosser Ausdehnung, mit wesentlichen Verschiedenheiten des Klimas, der Boden-
beschaffenheit und der Besiedlung, wie etwa in Russland, Nordamerica werden
klimatische Momente als Factoren der heimischen Wanderungen mit anzusohen
sein, während die Motive auch hier doch wesentlich wirthschaftliche sind. Für
agrarische Gegenden macht sich für Zu- und Abzug ausser der Rechtsordnung
für den Grundbesitz und dessen Vertheilung auch die Fruchtbarkeit des Bodens mit
geltend. Der Geburtsüberschuss findet in fruchtbareren Gegenden begreiflich leichter
als in unfruchtbaren dauernde Unterkunft, muss aus letzteren dagegen bei einer einmal
erreichten Volksdichte mehr durch Wanderungen abfliessen (s. die u. gen. Arbeit von
Schumann, 2. Halbb., S. 524, auch passim „Bäuerl. Zustände“, Schriften d. Ver.
f. Soc.polit.). Auf die bezüglichen Rechtsfragen. Zugrecht u. s. w. wird im 2. Th.
der Grundlegung, bei der Untersuchung der persönlichen Freiheit, eingegangen.
Die einheimischen Wanderungen, namentlich diejenigen, welche
zu bleibender oder wenigstens länger dauernder Veränderung des
Wohnsitzes führen — im Unterschied zu den kürzeren periodischen
Wanderungen, z. B. in der Arbeiterwelt, „Sachsengängerci“ u. dgl.
und zum Reiseverkehr — , sind es auch noch in der Gegenwart
regelmässig, welche in unseren europäischen Ländern vornemlich
die grossen örtlichen Bevölkerungsverschiebungen bewirken, nicht
die Auswanderung ins Ausland und die Einwanderung von da,
welche in dieser Hinsicht von geringerem Einflüsse ist.
Go mindestens von einzelnen wenigen, meistens nur kleineren Gebietstheilen und
fast nur von Irland abgesehen, für welches die Wanderungen nach der britischen
Hauptinsel übrigens auch stark neben der überseeischen Auswanderung die Volks-
abnahme mit erklären. Nur bei einzelnen Städten, Weltstädten, wie London, Paris,
grossen Seestädten kommt auch die Einwanderung von Ausländern für die Volks-
zunahme mehr mit in Betracht; dann etwa vorübergehend der periodische ausländische
Arbeiterzufluss bei grossen Bauten (Bahnen, Canälen u. dgl.).
35*
544 4. B. Bevölk. u. Yolksw.scb. 1. K. Bevölk.lehre. l.H.-A. Statist. §.224.
Die einheimischen Wanderungen haben hier auch in unseren
Ländern neuerdings öfters den Geburtsüberschuss des platten Landes,
der kleinen Städte in die Industrie- und Montanbezirke, in die
grösseren, namentlich die Gross-, die Welt-, die bedeutenderen
Handelsstädte tiberführt und vielfach mehr als der Geburtstiber-
schuss die Bevölkerung in den letztgenannten Gegenden und Orten
so stark vermehrt, den etwaigen kleinen Geburtsüberschuss daselbst
ergänzt, den vorkommenden Ueberschuss der Todesfälle, den Aus-
wanderungsabfluss ersetzt. Für die Fortwanderungsgegenden und
Orte haben die einheimischen Wanderungen so den Einfluss der
neuerlichen, vielfach, wenn auch unter starken Schwankungen
gerade auch aus diesen Gegenden sich recrutirenden überseeischen
Auswanderung noch gesteigert, das Wachsthum der Bevölkerung
gehemmt, da und dort und hie und da auch wohl in einzelnen
Orten, in kleineren und mitunter doch auch schon in grösseren
Gebietstheilen, bis zur Grösse von Provinzen, wie den preussischen,
selbst einen Rückgang der Bevölkerung verursacht. Ausserdem
haben die einheimischen Wanderungen aber auch in den Abzugs-
und Zuzugsgegenden und Orten die Gliederung der Bevölkerung
nach Geschlecht und Alter, auch nach Civilstand, Berufsstellung
und Beruf mehr oder weniger verschoben und so von den natür-
lichen , durch die Geburtsziffer und die Sterblichkeit bedingten
Ordnung abweichen machen. Das wirkt aber dann wieder weiter
auf die Trauungs-, Geburts-, Sterbefrequenz, die wirtschaftliche
Productivität dieser nunmehr verschieden von der natürlichen
Ordnung und verschieden in den einzelnen Gegenden und Orten
zusammengesetzten Bevölkerung ein. So entstehen durch diese
Wanderungen auch wieder Einflüsse auf die natürliche Bewegung
der Bevölkerung von nachhaltiger Bedeutung. Soweit die Aenderung
des Wohnsitzes, damit vielfach verbunden der Lebensweise, des
Berufs, des „gesellschaftlichen Mediums“, in welchem die Menschen
leben, auch wieder auf das physische, psychische, ethische Sein,
Denken, Wollen Einflüsse äussert, sind die Wanderungen natür-
lich auch in dieser Beziehung von wichtigem Einflüsse. Einige
der characteristischsten Erscheinungen auch des geistigen, sittlichen,
politischen Lebens der Bevölkerung und Veränderungen darin iu
unserer Zeit sind so mit auf die heimischen Wanderungen znrück-
zuführen, welche selbst wieder vornemlich ein Product der Um-
gestaltung der technischen und wirtschaftlichen Verhältnisse sind.
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Die heimischen Wanderungen.
545
Die genauere statistische Verfolgung der einheimischen Wanderungen, bezw.,
was meistens allein möglich ist, ihrer Ergebnisse, wie sie dann erst die Volkszählungen
constatiren und die aus diesen stammenden Daten (so für die Geburtsortstatistik der Orts-
anwesenden und Wohnbevölkerung) kundthun, müssen wir uns hier versagen. In jenen
Ergebnissen und Daten hat man zugleich das Ergebniss der natürlichen Bewegung der
Bevölkerung und der Ein- und Auswanderung, ohne das gewöhnlich im Einzelnen genau,
namentlich was die Ergebnisse der heimischen und der zwischen In- und Ausland sich
vollgehenden Wanderungen anlangt, zerlegen zu können. Man muss sich daher mit
annäherungsweiser Abschätzung des Einflusses der einheimischen und der fremd-
ländischen Wanderungen häufig begnügen.
Auch in Deutschland zeigt die Statistik , was von vornherein auzunehmen war.
dass erst mit der Entwicklung der Grossindustrie, dem Oebergang aus der vorwaltend
agrarischen und handwerklichen in die mehr industrielle und städtische volkswirth-
schaftliche Phase, mit dem neuen Dampfcommunicationswesen und mit der durch das
Alles erst mächtig gewordenen Wirksamkeit des Freizügigkeitsprincips, der Gewerbe-
freiheit, die einheimischen Wanderungen, die Vermengung der örtlichen Bevölkerung,
das Strömen in die Städte und Industrie- und Moutaugcgenden, auch die periodischen
Wanderungen der Feld- und anderer Arbeiter, die Richtung der Wanderung immer
mehr von Osten und Nordosten nach der Mitte und nach dem Westen (auch in Betreff
der Juden aus den preussisch-polniscbeu Ländern, namentlich seit der rechtlichen
Gleichstellung der Juden), so bedeutsam geworden sind und so ausserordentliche locale
Verschiebungen der Bevölkerung, so grosse Vermehrung derselben in den Zuzug-
gegenden und Orten bewirkt haben. Die noch in den ersten Jahrzehnten dieses
Jahrhunderts, besonders nach der Kriegszeit, wahrnehmbare Veränderung der Volks-
zahl der einzelnen Landestheile — wobei man freilich hier besonders mit älteren
Mängeln und späterer allmäliger Verbesserung der Zählungen und mit daraus ent-
springenden Störungen der Vergleichungen zu rechnen hat — lässt mehrfach auf
einen Zug vom Westeu und Süden nach dem Norden und Osten, von den volks-
dichteren in die weniger dichten Gegenden, auch in agrarische, schliessen. Seit der
industriellen und der Eisenbahnentwicklung, seit den 40er Jahren, wird die Richtung
der Wanderungen immer mehr eine entgegengesetzte, nach Mitte und Westeu gehende,
in die Städte und Industriebezirke. Aehnliches zeigt sich in anderen Ländern.
Materialien zur genaueren Untersuchung dieser Einflüsse und Verhältnisse bieten
für Deutschland jetzt auch wieder bes. die gen. neueren Publicationen des reichsstat.
Amts (s. u. A. Juliheft 1879 der Monatshefte S. 64 ff.), auch die aus manchen Län-
dern vorhandenen und jetzt verarbeiteten Daten der Geburtsstatistik der Ortsbevölke-
rung. woraus sich die Zusammensetzung einer solchen zu bestimmter Zeit nach der
örtlichen Herkunft ihrer Glieder ersehen und Schlüsse auf die Wanderungen und ihre
Richtungen mit ziehen lassen (eine Störung machen die Weg- und Zugezogenen, welche
am Zahlungstermin bereits gestorben waren und bei den Weggezogenen die Aus-
wanderer, die im Inlande nicht mehr anderswo als Zugezogene erscheinen). S. eine
vortreffliche Bearbeitung des reichsstatist. Materials für 1885, mit Untersuchung der
muthmaasslichen und nachweisbaren Einflüsse, in dem Aufs, von Schumann, die
inneren Wanderungen in Deutschland, Allgcm. Statist. Archiv 1890, 2. Halbbd.
S. 503 fT. , ein werthvoller Beitrag zur Erörterung der volkswirtschaftlichen Be-
dingungen und Ursachen der Wanderungen.
Nach dem gen. Juliheft 1879 der Reichsstatistik ersieht man, dass in der 60jähr.
Periode 1816 — 75, die hier in die 4 kleineren 1816 — 34, 1834 — 52, 1852' — 67
und 1867 — 75 geteilt wird , die gesummte Volksvermehrung, als das gemeinsame
Ergebniss der drei Momente, natürliche Bewegung, heimische Wanderungen und Ein-
und Auswanderung, anfangs mehrfach am Stärksten im agrarischen Osten und Norden
(.Ost-, Westpreussen , R.-B. Bromberg, Pommern) war — freilich vorbehaltlich des
erwähnten Fehlers wegen anfangs grösserer Unvollständigkeit der Zählungen grade
hier — , später immer mehr die Gegenden mit Grossstädten und mit hochindustrieller
und montanistischer Entwicklung die stärkste Vermehrung, die rein agrarischen
Gegenden die kleinste oder wenigstens nur eine mittlere Vermehrung aufweisen. (S.
bes. a. a. 0. S. 65, 67 die Zusammenstellung der Reihenfolge, welche die unter-
schiedenen 90 Gcbietstheile des Reichs in den 4 genannten kleineren Perioden in
Bezug auf die Volksvermehrung eingenommen haben und unten Tab. XVII u. XVIII
546 4. B. Bevülk. u. Volksw.sch. 1. K. Bcvölk.lchre. 1. H.-A. Statist. §. 224.
nebst Erläuterungen dazu). Die hohen jährlichen Zunahmeprocente einiger Gegenden
und Orte zeigen schon, dass man es hier mit einem starken Mehrzufluss durch Wan-
derungen zu thun hat. In agrarischen Gegenden giebt sich, wie auch Schumann
nachweist, in Betreff des Festhaltens und des Abflusses des Geburtsüberschusses neben
demjenigen der einmal erreichten Volksdichtigkcit und Fruchtbarkeit des Bodens der
Einfluss der Agrarverfassung, wie auch für die Auswanderung, kund, wenn auch
nicht immer so stark, als a priori und nach politischer Tendenz öfters geschlossen
worden ist.
In der vergleichend-statistischen Arbeit des reichsstat Amts (B. 44) finden sich
für die einzelnen deutschen Staaten und die großen Verwaltungsabtheilungen der
grösseren für 1841 — 85 Berechnungen der Zunahme (bzw. Abnahme) der Volks-
zählungen, des Geburtsüberschusses (bzw. Deficits) nach der Statistik der Bewegung
der Bevölkerung und des aus dem Vergleich dieser beiden Daten sich ergebenden
Wanderverlusts und Gewinns. Letztere Ziffer wird bei dieser Feststellungsweise
natürlich durch die Fehler in den Zählungen und Geburts- und Sterbezahlen beeinflusst
und ist ausserdem mit das Resultat der Ein- und Auswanderung. Aber sie ist doch
auch einigermaassen brauchbar, um die Bedeutung der heimischen Wanderungen er-
messen und Rückschlüsse auf die hier einwirkenden wirtschaftlichen Einflüsse machen
zu lassen. Für das ganze Roichsgebiet kommt in der betreffenden Ziffer der Aaswande-
rungsverlust, dem hier nicht, wie in vielen Landestheilen durch die heimischen
Wanderungen, ein betreffender Gewinn gegenüber steht, noch schärfer zum Ausdruck
(s. o. Tab. XI auf S. 518). Die folgenden beiden Tabellen XVII und XVIII auf
S. 547 und 548 geben für das ganze Deutsche Reich und für die wichtigeren Staaten,
sowie für die preussischen Provinzen und baierischen Proviuzialgruppeu für 1841 — 85,
bzw. 90 die Relativzahlen für die genannten 3 Thatsachen an nnd zeigen so den
Einfluss der heimischen Wanderungen und freilich davon ungetrennt auch der Ein-
und Auswanderung. (Nach den Tabellen S. 2 ff in B. 44 und den Berechnungen im
ersten Vierteljahrheft 1892 der Reichsstatistik, S. 6, 17 ff.).
Bei Vergleichungen der Zahlen der beiden Tabellen XVII und XVIII und
Schlüssen daraus muss hier der vorherrschende wirtschaftliche Cbaracter der einzelnen
Länder und Provinzen und der einzelnen Perioden einigermaassen als bekannt voraus-
gesetzt werden. Da die Länder und Provinzen in dieser Hinsicht erhebliche Unter-
schiede in der agrarischen und industriellen Entwicklung, der Bodenbeschaffenheit
und geographischen Lage, der Agrarverfassung zeigen und da doch vornemlich erst
seit den 1850er Jahren und dann mit immer mehr Macht die industrielle und gross-
städtische Entwicklung beginnt, ist gerade dies deutsche Material der beiden Tabellen
für Schlüsse auf den Einfluss wirtschaftlicher Factoren auf die Bevölkerungsbewegung
überhaupt und auf die in Wanderungen sich vollziehende werthvoll. Man beobachtet
leicht, wie die Geburtsüberschüsse in den vorwaltend agrarischen Gegenden, nament-
lich des Ostens und Nordens und der Gebiete mit viel Grossgrundbesitz (Ost- und
Westpreussen, Posen, Pommern, Mecklenburg, z. Th. Schlesien, Hannover, Schleswig-
Holstein, aber doch auch mit anderen Agrarverhältnissen Hessen -Nassau, Hessen,
Pfalz, Franken, Baden, Württemberg) durch die Wanderungen neuerdings immer
mehr abfliessen, theils nach Westen, in die Städte und Industriesitze, teils über See,
während die industriellen Gegenden, die Grossstädte ihren Geburtsüberschuss behalten
oder nur wenig vermindert und ihre Volkszahl durch die Zuwanderungen wohl noch
gesteigert sehen (Berlin, Hamburg, Bremen, Königr. Sachsen, Rheinland, Westfalen,
Prov. Sachsen, Braunschweig, Anhalt). Zufällige Umstände, wie die politische Ab-
trennung von Hamburg, Bremen aus den Provinzen, in denen sie liegen, von Frank-
furt a. M. aus dem süddeutschen Gebiet, lassen das noch deutlicher hervortreten. Der
Einfluss von Städten wie Berlin, München (in den Ziffern Südbaierns), macht sich
besonders geltend. Erst bei einer weiteren Zerlegung der Länder in Abteilungen
zeigen sich die Einflüsse der wirtschaftlichen Verhältnisse noch deutlicher, während
die Zahlen Preussens und der Mittelstaaten, ebenso diejenigen grösserer Provinzen
von sehr verschiedenem Wirthschaftscbaracter in den einzelnen Landestheilen, so
Schlesiens. Rheinlands, Westfalens, eben wieder bereits ausgeglichene sind. Industrielle,
montanistische, Grossstädte enthaltende Ländertheile, — z. B. R.-B. Oppeln und Brcslan
gegenüber R.-B. Liegnitz in Schlesien, R.-B. Hannover gegenüber den anderen
Bezirken der Provinz, R.-B. Arnsberg in Westfalen gegenüber Minden und Münster,
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Heimische Wanderungen
547
Tab. XVII. Gewinn und Verlust der Bevölkerung in
deutschen Staaten
auf 1000 der mittleren Jahresbevölkerung jährlich.
Deutsches
Reich
1
Grossherzogthum Baden
Sachsen -Weimar
O /-N
Geburts-
überschuss
Volkszunahm*
( — Abnahme
Wanderverlus
(4- Gewinn)
Geburts-
Überschuss
Volkszunahm
( — Abuahiue
Wauderverlus
(4* Gewinn)
Geburts-
überschuss
Volkszunahm
( — Abnahme
- -
ii
i±
1841—50
—
9.35
7.69
1.66
10.01
5.14
4.96
8.96
5.53
3.42
1851 — 00
8.90
6.50
2.40
7.03
-0.05
7.08
9.49
3.93
5.56
1861—70
10.33
7.13
2.21
9.62
7.08
2 01
i 10.45
5.04
8.40
1871 — 80 j
11.92
10 08
1.84
11.08
7.33
3.75
! 11.79
7.99
3.80
1881—85
11.28
7.02
4.20
9.93
3.84
6.09
10.63
2.74
7.87
1886—90 1, «2.05
10.07
1.98
—
6.90
—
—
7.00
—
Preussischer Staat1)
Grossberzogthum Hessen
Oldenburg*)
1841—50
9.90
9.14
0.82
10 71
4.98
1
5.73
6.77
2.30
4.24
1851—00
9.96
8.54
1.43
8.59
0.02
8.57
7.48
5 08
2.60
1861—70
11.19
9.22
1.90
10.12
2.71
7.41
8.40
3.48
5.32
1871—80
I 12.52
10.45
2.08
12 03
9 75
2.18
9.00
8.19
1.42
1881—85
1 1.98
747
4 51
9.81
4 22
5.59
1054
2.65
7.88
1896—90
—
1 1 .20
—
-
7.40
—
—
—
—
Baierischer Staat
1
Grh. Mecklenbg. Schwer.
Herzogth. Braunschweig
1841—50
6.36 ! 3 73
2.63
10.52
7.93
2.59
4.7t
1.20
3.46
1851 — t'.o
! 5.54
2 95
2.59
9.83
2.02
7.82
8.34
4.60
3.74
1801 —70
j 7.14
4.82
2.32
9.92
2.33
7.59
8.41
10.24
4- L83
1871—80
9.51
8.47
1.04 I
11.09
3.15
7 44
10.39
12.00
4- 1-60
1SS1— 95
8.97
5.02
3.95
9.56
-0.66
10.22
10.53
12.82
4-2.19
1886—90 1
! —
6 31
— 1
—
1.10
—
—
16.10
—
Königreich Sachsen
Eisass - Lothringen
Herzogthum Anhalt
1
1841—50
, 11.01
J 1.99
4-0.98
7.76
4.04
3.72
7.91
5.53
2 38
1851—60
12.0.4
13.24
4*M5
5.32
— 0.25
5 58
13 19
13.38
4-0.19
1861—70
12.39
14.11
4- 1.72
0 62
0.29
6 32
12 79
11.56
1.23
1871—80
13.79
1 5.96
+ 2.17
7.32
-0.0»
7.36
14.05
14.02
0.03
1881— S5 t
1 2.96
1 3.58
4- 0.62
6 77
-0.34
7.11
13.93
12.96
0.97
18s6— 9.» |
—
19.20
—
—
4 9*»
—
—
18.30
—
Königreich Würtember«:
Staat Hamburg
Staat Bremen
t
1841-50
9.72
5.79
3.92
3.38
1 2.38
4- 9.02
8.75
13.13
4- 4 39
1851—60
0.32
1.71
8.03
4.11
14.94
4- 10.83
9.23
1697
4- 7.74
1861—70
9.37
5.56
3.81
7 40
23.77
4- 10.32
9.39
20.52
4- 11.13
1871—80 1
12.21
8.02
3.58
11.01
30.73
4- 19.72
15.76
20.66
4- 10.90
1881—85
1061
2.35
8.26
1 1.30
26 54
4- 15.18
12.18
1095
1.23
1886—90
—
4.10
—
-
36.40
—
—
17.10
—
*) Preusscn auch vor 1860 in jetzigem Umfang gerechnet.
3) Nur das Herzogthum, daher ohne Fttrst. Lübeck und Birkenfeld.
548 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk lehre. 1. H.-A. Statist. §. 224.
Tab. XVIII. Gewinn und Verlust in preussischen
Provinzen und baierischen Gruppen
auf 1000 der mittleren Jahresbevölkerung jährlich.
Berlin
Pommern
Hessen -Nassau
'fi
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4) . — .
s §
JS 5
CS —
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Wanderverlust
(4* Gewinn)
70
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1841—50
6.20
24.32
+ 13.12
14.70
14.32
0.38
9 00
5.23
3.77
1851—60
8.87
18.48
+ 9.601
14.23
1 1 .95
2.46
7.60
0.95
0.66
1861—70
7.84
40.67
+ 32.82 1
13.32
4.96
8.20 ,! 9.45
4.12
5 32
1871—80
10,73
33.16
4-22.441
1523
6.98
8 25
11.21
10.57
0.63
1881—85
10.01
31.62
4-21.61 j
12.72
— 4.56
17.28 j
I 9.62
4. SO
4.82
18^ — 00
10.80
36.40
4- 25.60 i
—
2 00
__
! -
8.80
Ostpreussen
Brandenbg. (ohne Berl.)
Westfalen
1841—50
7.68
6.00
0.97
13.14
12 95
0.19
9.19
6.94
2.26
1851 — 50
8.82
10.98
4- 1-58
11.93
10.00
1.94
1 10.01
7.92
2.09
1861—70
10.51
9.40
1.11
11.70
7.46
4.23
10.55
9.98
0.57
1871—80
11.20
6.32
4.SS
11.99
10. *»2
1.16
13.71
14.54
+ 0.83
1881— S5 1
10.65
2 55
8.10
| 10.93
6.49
4.44
15.22
15.21
0.01
1886—00 !
—
— 0.10
—
11 46
16.03
4.57 ;
—
19.30
—
Westpreussen
Provinz Sachsen
Rheinland
1841—50
12.13
13.41
4-1.18
10 17
9.18
0.99
10 34
9.87
0.48
1851—60
0.80
11.03
4-1.24
11.66
8.72
2.94
10.79
10.90
+ 0.12
1861—70
13 61
11.05
2 55
1 1 .02
7.62
3.39
11.42
11 54
+ 0.12
1871—80
15.06
7.29
7.77
12.88
9.57
3.31 i 13.24
13.12
0.12
1881—85
14.47
0.34
14.13
1 12.67
9.80
2.87 i
12.17
12 88
0.71
1886—00
3 60
- II -
12.10
- i
-
16.20
—
Posen
Provinz Hannover
I
i
Pfalz
1841—50 11.13
1851—60 " 7.44
10.44
||
0.69 7.75
i
3.16
4.59
14 07
5.97
8.11
6.58
0.85
8.88
4.49
4.39
10.03
— 1.72
11.75
1861—70 ; 13.80
1871—80 L 16.18
7.S9
5.91
9.39
4.59
4.80
11.85
2.73
9.12
7.84
8 34
10.21
7.94
2.27
14.93
8.91
6.02
1881—85 I
14 73
1.42
1331 !
10.82
4.93
5.89 |
13.97
5.54
8.43
1886—00 :! 10.02
4.20
15 72
_
9.50
— II —
9 00
—
Schlesien
Schleswig - Holstein
Franken
1841—50
8.50
8.30
0 26 9 52
8.14
1.38
6.19
2.70
3.49
1851—60
8.46
7.87
0.53
11.29
7.86
3.4 1
5.77
1.99
3. 78
1861—70
11 02
9.72
1.30
11.19
5.50
5.69
7.47
5 09
2.38
1871—80 I
11.04
8.14
2.90
11.72
7.60
4.12
10.23
7.64
2.59
1881—85
9.25
5.13
4.12
12.23
4.09
8.14
8.47
2.40
6.07
1886—00
—
5.40
— 1
-
11.30
—
—
—
*) Diese Zahlen scheinen in den Decimalen einen Fehler zu enthalten.
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Heimische Wanderungen.
549
Tab. XVIII. Gewinn und Verlust in preussischen
Provinzen und baierischen Gruppen
auf 1000 der mittleren Jabresbevölkerung jährlich.
i
ii
1!
Geburts-
Uberschuss
Südbaiern
Volkszunahme
( — Abnahme)
Wanderverlust
(-f- Gewinn)
1911—50
4 43
3.87
0.57
1951—60
4.23
4.92
+ 0.59
1861—70
5.72
5.15
0.57
1871— SO
7.70
8.92
+ 1.22
1881—85 '•
8.08
6 63
1.45
1886—90 ,
—
—
—
R.-B. Düsseldorf im Rheinland gegenüber den anderen, besonders Coblenz und Trier
R.-B. Oberbaiern gegenüber den anderen baierischen, die k. sächsischen Kreishaupt-
mannschaften Leipzig, Dresden, Zwickau gegenüber Bautzen, der Württemberg. Neckar-
kreis gegenüber den anderen, der badische Kr. Mannheim desgleichen, — halten ihren
Geburtsüberschuss fest oder gewinnen noch durch Mehreinwanderung in stärkerem
Maasse, als das Land oder die Provinz, zu welcher sie gehören. ELass- Lothringen
zeigt schon in der französischen Zeit den starken Abfluss der Bevölkerung, vornem-
licb nach Westen, üebrigens werden alle solche Zahlen auch noch in anderer Weise
von Zufälligkeiten beeinflusst. So würde z. B. Brandenburg ohne Berlin eine kleinere
Volkszunahmo zeigen, wenn nicht die doch schliesslich von Berlins Entwicklung ab-
hängigen, an Volkszahl stark steigenden Vororte administrativ von Berlin getrennt
wären, daher zur Mark gehörten; ähnlich, wonn nicht in Schleswig-Holstein sich der
Einfluss der Hamburger Entwicklung, namentlich neuerdings, mit geltend machte.
Die mitgetheilten Datcu lassen nur in dem Rest der Volkszu- und Abnahme,
welcher von Gebnrtsüberschuss bleibt, das Endergebnis der heimischen und
fremdländischen Wanderungen ersehen. Die Gebnrtsortstatistik hat den Vorzug, den
wirklichen Austausch der Bevölkerung zu zeigen, freilich, wie bemerkt, ohne
die mittlerweile gestorbenen ehemals Fortgezogenen und die Ausgewanderten in den Zu-
zugorten berücksichtigen zu können. Dadurch wird noch ein genauerer Eiublick in
die Bedeutung der Wanderungen überhaupt und für die Vermischung der Bevölkerung
erlangt, auch mehrfach die Erkenntniss der wirtschaftlichen Einflüsse und die socialen
Folgen der Wanderung gefördert, so u. A. für das von Georg Hansen behandelte
interessante Problem (s. o. S. 460). Auch hierfür ist der gen. Aufsatz von Schumann
beachtenswert.
Am Bedeutsamsten und Schärfsten tritt das Ergebniss namentlich auch der
heimischen Wanderungen schliesslich in der Volkszahl der Städte und der kleineren
einzelnen Landestheile (Kreise und deren Theile) und in der zeitlichen Veränderung
dieser Volkszahl hervor. Darüber unten in §. 238 und in den §§. über Volksdichtig-
keit, 229 ff.
B. — §. 225. Ein- und Auswanderung.
Ueber die statistische Ermittelung und die Mängel und Lücken derselben 8. o.
§. 206. Auch hier haben wir cs nur mit der Erscheinung der Massen Wanderung, nicht
mit der Wanderung vereinzelter Personen und wesentlich nur mit der modernen
überseeischen Massenaus- und Einwanderung zu thun, ferner bloss mit denjenigen
Seiten dieses wichtigen Phänomens, welche mit der volkswirthschaf tlichen
Bevölkerungsfrage der Gegenwart näher Zusammenhängen. Eine allge-
meinere Betrachtung der mancherlei sonstigen Seiten der Erscheinung liegt ausserhalb des
Zwecks dieser Erörterungen. S. dafür die hübsche reichhaltige Abh. von Philippovich
von Philippsborg im Handwörterb. der Staatswiss., zugleich auch mit für die
Statistik, nebst dem Anhangsartikel über Italien von L. Bodio, I., 1000—1041.
Daselbst auch Litteraturübersicht S. 1033. Ferner die neuste Publication des Ver. f.
Socialpolitik über Auswanderung in Deutschland 1892.
550 4. B. Bcvölk. u. Volksw.scli. 1. K. Bcvölk.lehrc. 1. H.-A. Statist. §. 225.
Die moderne Massenwanderung ans der alten europäischen
in die neue überseeische Welt wird ausschliesslicher als frühere
ähnliche Wanderungen, namentlich diejenigen innerhalb Europas,
durch wirthschaftliche Beweggründe bestimmt, welche gerade
mit den verschiedenen Bevölkerungsverhältnissen, der verschiedenen
Volksdichte in Verbindung stehen, wenn auch dadurch keineswegs
allein und unmittelbar hervorgerufen werden.
Auch die älteren grossen Wanderungen sind vielfach mit und öfters vornemlich
durch wirthschaftliche Gründe veranlasst worden , so die grosse germanische Völker-
wanderung. Aber politische Momente, Eroberungssucht, Wunsch, einen religiösen
Glauben zu verbreiten oder sich religiösen, politischen Verfolgungen zu entziehen,
absichtliche Vertreibung von Fremdnationalen, Andersgläubigen waren ausserdem
nicht seltene Gründe der Wanderungen. Heute spielen solche Gründe selten auch
nur nebenbei in der Masscnaus- und Einwanderung mit. Ein Beispiel wäre allen-
falls noch die mormonischc Bewegung in America, die freilich innerhalb desselben
Staatsgebiets sich vollzog, die mohamedanische Auswanderung aus Ländern , welche
unter christliche Herrschaft gekommen sind, allenfalls die mennonitische u. dgl.
kleinere Wanderbewegungen. Man könnte auch an die beginnende jüdische halb
Auswanderung, halb Vertreibung aus dem slavischen Osten denken, aber dieselbe hat
keine religiösen, sondern wesentlich sociale und wirthschaftliche Gründe, bei den
Vertriebenen und Auswandemden, wie bei den Vertreibenden.
Der tiefe und letzte entscheidende Grund der europäischen
überseeischen Massenauswanderung „kleiner Leute“ — welche doch
die grosse Hauptmenge bilden — in die neue Welt liegt in den
wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Erwerbslebens in der Heimath,
iu der grossentheils wirklich vorhandenen , anderseits wenigstens
vermeintlichen Leichtigkeit, drüben Erwerb zu finden, namentlich
auch billig Land zu erlangen, wozu wohl auch hie und da noch
Wünsche kommen, sich gewissen öffentlichen Lasten daheim zu
entziehen und eine nicht nur wirtschaftlich , sondern auch social
bessere Stellung zu erreichen. Eigentlich politische Motive (so
etwa in Bezug auf Verfassungs- und Regierungsform und Wünsche
eines Wechsels darin) spielen dagegen direct bei der Massenaus-
wanderung nach Allem wenig mit. Die wirkliche und ver-
meintliche Differenz der wirthschaft liehen und doch
vornemlich dadurch bedingt der socialen Lage ist es,
welche den meist entscheidenden Einfluss bildet. Diese Differenz
ist nun nicht allein, aber doch in besonderem Grade direct die
Folge der verschiedenen Bevölkerungsverhältnisse im Aus- und
Einwanderungslande, indirect von solchen Verhältnissen, welche
wieder mit denen der Bevölkerung Zusammenhängen, wie allgemeine
Occupation und erfolgter Uebergang des Bodens ins Privateigen-
tum, höherer Preis des Bodens, erschwerter Erwerb desselben,
gesteigerte wirthschaftliche Concurrenz bei allgemein grösserer oder
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Auswanderung.
551
doch bei einer die heimischen Erwerbsquellen und Ge-
legenheiten überschreitender Volksdichtigkeit (Seandinavien,
östliches Deutschland) in den altbesiedelten, stärker bevölkerten
europäischen Ländern in Vergleich zur neuen Welt, wenigstens zu
grossen Theilen derselben, welche für die Auswanderer mit in
Betracht kommen. Das Schwergewicht einer alten geschichtlichen
Entwicklung und Tradition, einer historisch überkommenen, zu
Rechte bestehenden Grundbesitzgestaltung fällt ausserdem, wie
auch für die heimischen Wegwanderungen in andere Theilc des
Inlands, mit in die Wagschale.
Die Verbesserung und Verwohlfeilerung der Communicationen,
der allgemein grössere Rechtsschutz, auch im neuen Heimathlande,
in heutiger Zeit, die freiere persönliche Bewegung sind nur förder-
liche Bedingungen, nicht selbst Ursachen der immer gewaltiger
gewordenen überseeischen Massenauswanderung. Nachdem die-
selbe aber einmal längere Zeit in Gang ist, die Einwanderer im
neuen Lande sich eingelebt und günstig wirtschaftlich entwickelt
haben, kommen dann auch noch persönliche Momente, verwandt-
schaftliche, bekannt8chaftliche, landsmannschaftliche (nationale)
Beziehungen zwischen drüben und hüben, neben rein wirtschaft-
lichen und socialen mit zur Geltung. Sie führen in geeigneten
günstigen Zeiten neue Scbaaren in die neue Welt, auch mit der
Unterstützung durch materielle Mittel der bereits Vorangegangenen.
Grade durch diese Massenwanderungen werden aber nun freilich
auch allmählig die neuen Länder den alten in den Bevölkerungs-
verhältnissen, dadurch in den wirtschaftlichen , socialen, in den
Grundbesitzgestaltungen ähnlicher Das wird Uber kurz oder lang
doch wahrscheinlich eine Verminderung der Auswanderung, nicht
nur, wie heute schon oft, in gewissen wirtschaftlich ungünstigen Peri-
oden, sondern dauernd bewirken, wenigstens soweit die Massen-
bewegung eben durch jene Differenz der Lage und gerade auch
der Bevölkerungsverhältuisse in der alten und neuen Welt hervor-
gerufen wird.
Je mehr sich daher z. B. Nordamerica anfallt, desto mehr müssen die Bevölkerungs-
Verhältnisse zu ähnlichen „Maltbus’schen Fragen** wie in Europa fahren. Die Excesse
des freien Concurrenz-Systems, die Entfesselung wilder Bodenspeculationen
und Festlegung von Landmassen in Händen von Speculanten bewirken das nicht wohl
unmittelbar selbst, wie H. George annimmt, als dass sie eben nur diejenigen Ent-
wicklungsprocesse verfrilhen, beschleunigen und auch schon bei noch geringerer
Bevölkerung bervortreten lassen, welche aus der natürlichen und durch Einwanderung
bewirkten Volksvermehrung so wie so nothwendig über kurz oder lang hervorgehen.
Auch die besonders rasche und grossartige Entwicklung der Technik wirkt in
Nordamerica in derselben Kichtung, weil und soweit dadurch der Bedarf an (Hand-)
552 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk. lehre. 1. H.-A. Statist. §. 226.
Arbeitskräften besonders stark vermindert und so in agrarischen wie in Industrie-
gebieten auch schon bei geringerer Volkszahl und Dichte die Bevölkerungs- und
die Wirtbschaftsverhältnisse für die Volksmasse in diesem besonderen Puncte vielleicht
sogar schon schwieriger werden, als hierin ceteris paribus in Europa.
Auf die fördernden und hemmenden Factoren, Ursachen wie
Bedingungen der überseeischen Massenaus- und Einwanderung wird
durch die betreffende Wanderungsstatistik nun auch wieder
Licht geworfen. Sie liefert namentlich einen Erklärungsschlüssel
für die zeitlichen und örtlichen Schwankungen der
Bewegung und damit für Puncte des Bevölkerungsproblems,
welche auch die wirtschaftlichen Seiten des letzteren betreffen.
Sie zeigt ausserdem die dauernden oder zeitweiligen Verschieden-
heiten in der Betheiligung der einzelnen Nationen
und Stämme an der europäischen Auswanderung und lässt so
das starke Mitspielen eines nationalen Moments in dieser Be-
wegung neben den übrigen, auch den wirtschaftlichen Factoren
erkennen.
§. 226. Statistischer Excurs über die überseeische europäische
Massenauswanderung und dortige Einwanderung.
S. die amtlichen Daten jährlich in der Statistik des Deutschen Reichs, Monats-,
jetzt Vierteljahrshefte, daraus die hauptsächlichen im Jahrbuch. Für Grossbritannien,
Nordamerica jährliche Reports, für Italien eine eigne statistische Publication, für die
anderen Länder Daten in ihren sonstigen Statist. Werken, Jahrbüchern u.s. w. Vergleichende
Internat. Statistik iu B. 44, N. F., der Reichsstatistik. Eine italienische vergleichende
Statist. Arbeit Uber überseeische Auswanderung auch im Bulletin de l’institut internst,
de statisL tom. II, Heft 2, tom. III, H. 3 und 4 (1887, 1888). Die Hauptdaten
immer für alle Länder im Gothaer Jahrbuch. S. auch v. P hilippov ichs und
Bo d io ’s Abhandlungen und B. 52 der Sehr. d. Ver. f. Socialpolit. über Aus-
wanderung. — Da wir diese statistischen Daten auch noch weiter in der „Grund-
legitim“, bes. im 2. Theil (bei den Erörterungen über die socialen Freiheitsrechte)
mehrfach benutzen, ist in diesem §. 226 das statistische Material reichlicher ge-
geben worden.
Die überseeische europäische Masscuauswanderung des 19. Jahrhunderts ist in
der Hauptsache eine gewaltige germanische, deutsche, britische, scandi-
navische Völkerwanderung, an der ausserdem im stärksten Maasse nur noch die
keltisch -germanische Bevölkerung Irlands, neuerdings auch die italienische
betheiligt ist und in allerjüngster Zeit auch die slavische (und jüdische) Ost-
europas etwas mehr Theil zu nehmen beginnt. Frankreich namentlich in seinen rein
französischen Theilen (vor 1871). auch im Ganzen doch Spanien stehen erheblich
zurück. Mehr als letzteres hat Portugal eine Auswanderung (bes. nach Brasilien).
Die germanische Auswanderung, besonders die deutsche und scandinavischc,
wendet sich weit überwiegend, letztere beide zu 90% und mehr nach den Vereinigten
Staaten von Nordamerica, die irische desgleichen, ausserdem nach Britisch-Nordamcrica
und Australien, welche beide aber nur für die britische Auswanderung in stärkerem
Grade das Ziel sind. Britisch-Nordamerica ist jedoch theilweise nur Durchgangsland
nach den Vereinigten Staaten, wio die starke Einwanderung in letztere aus Canada
u. s. w. zeigt. 70 — 80% der gesammten britischen und irischen Auswanderung geht
nach Gesammt-Nordamerica. Auch nach Südafrica wenden sich etwas germanische Ein-
wanderer. Das romanische Süd- und Mittelamerica wird von ihnen nur schwächer,
meist ganz schwach, aufgesucht. Es ist das Hauptziel der italienischen (bei dieser
zu 70 — 80%) und sonstigen romanischen, auch mit der kleinen französischen
Auswanderung (zu 50 — 60%), welche übrigens auch nach einzelnen Theilen der
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Uebersceische Massenauswanderung.
553
Vereinigten Staaten und Canada geht. Das bisherige stark nationale Gepräge
der überseeischen Massenauswanderung ist so unverkennbar und beweist, dass die
übrigen, auch die wirtschaftlichen, die durch die Massen- oder Dichtigkeits- und Zu-
nahtnevorhältnisse der Bevölkerung bedingten Factoren nicht gleiclunässig, sondern
bisher wenigstens nur in Verbindung mit einem bestimmten nationalen Moment,
bzw. auf dasselbe einwirken. Allerdings sind die germanischen Auswanderungsländer
eben auch diejenigen einer besonders starken natürlichen Vermehrung der Bevölkerung,
ferner mehrfach die am Weltverkehr besonders stark betheiligten und auch diejenigen,
welche in den überseeischen, für die Einwanderung von Europäern am Besten ge-
eigneten Gebieten die sprachliche, die sociale, die politische Herrschaft haben und
wegen der Ansiedelung und Verbreitung von Volks- und Stammesgenossen auf die
in der Heiinath Zurückgebliebenen die meiste Anziehungskraft gerade mit steigender
Einwanderung aus dom Mutterlande immer mehr ausüben. Aus den übrigen Theilen
der alten Welt kommt, nach dem ziemlichen Aufhören des Negcrsclavenimports , nur
die chinesische Auswanderung nach der neuen Welt (America, Australien), wie
auch nach andereu Theilen Asiens in den letzten Jahrzehnten in Betracht, ist aber
durch gesetzliche und administrative Maassregcln , namentlich in Nordamerica, bereits
wieder gehemmt worden: ein auch wirthschaftspolitisch interessanter Fall, über den
mehr im 2. Theile der Grundlegung beim Einwanderungsrecht, wo auch andere
Seiten der Ein- und Auswanderungsfrage erst behandelt werden.
Die Masscnhaftigkeit und die — , mit starken Schwankungen in den
kleineren Perioden und in den einzelnen Jahren (s. u. Tab. XXI) — erfolgte Zu-
nahme der europäischen Auswanderung, sowie die Betheiligung der einzelnen Länder
und Völker daran, lässt sich am Besten und für unsere Zwecke hier genügend an der
Einwanderung in die Vereinigten Staaten von Nordamerica ersehen,
welche zugleich in die causalen Verhältnisse jener Schwankungen und der europäischen
Wanderung überhaupt guten Einblick eröffnet. Die genauere Registrirung der nord-
americanischon Einwanderung erfolgt dort seit Ende 1819. Neuerdings werden die
Einwanderer auch von den bloss als Reisende, mit der Absicht des Wiederrückreisens
Ankommenden unterschieden. Auch der Reiseverkehr ist natürlich immer grösser
geworden. Doch verlieren seine Zahlen gegenüber denen der Einwanderung ihre
Bedeutung. Eine scharfe Trennung ist auch der Natur der Sache nach nicht mög-
lich. Ob die Einwanderung über Land, besonders von Britisch -Nordamcrica her,
vollständig sicher controlirt wird, steht dahin. Ebenso, ob neuerliche Erschwerungen
der Einwanderung geheime Einwanderung, etwa über Land, begünstigen. Doch
kann jedenfalls durch allo solche Umstände keine erhebliche Fehlerstörung der amt-
lichen Zahlen erfolgen.
Die folgenden beiden Tabellen XIX und XX betreffen die nordamericanische
Einwanderung. Die germanische lässt sich nicht ganz genau ausscheiden, da die
britische, deutsche, österr.-ungarische, schweizerische, britisch-uordamerikanische, auch
andere nationale Elemente, wenn auch wohl nur in geringer Zahl (mit Ausnahme
der österr.-ungarischcn) umfasst, und die „nicht specificirte“ aus Grossbritannien und
Irland vollends. Der Fehler wird aber nicht allzugross, wenn man diese nicht speci-
ficirte und diejenige aus den genannten Ländern ganz als germanische rechnet und
dafür die grosse irische, die belgische, französische, russische, auch diejenige anderer
aussereuropäischen Länder, w'elchc alle, zumal die irische, germanische Elemente
mit enthalten , bei der germanischen unberücksichtigt lässt. Die „deutsche“ Ein-
wanderung, namentlich für die frühere Zeit, vor 1871, wird ausserdem auch in der
americanischcn Statistik nicht genau richtig sein, bzw. früher gewesen sein.
Die rromillcberechnung (%« der nordamericanischen Einwanderung von der
Bevölkerung des betreffenden Herkunftslands um 1890) hat nur den Zweck, die
ungefähre Bedeutung dieses überseeischen Abzugs in den einzelnen Ländern zu
verdeutlichen und vergleichbar zu machen. Natürlich sind von den Einwanderern von
1821 — 90 viele nicht mehr am Leben, aber immerhin noch die grosse Mehrzahl, da
die meisten doch erst in den letzten Jahrzehnten angelangt sind. Mit ihrem Zuwachs
durch natürliche Vermehrung repräsentiren die Auswanderer auch einen erheblich
grösseren Ausfall für das Heimathland, — freilich nur unter der Annahme, wenn
in letzterem ohne die Auswanderung die heimische natürliche Bevölkeruugsvermehrung
ebenso gro^s gewesen sein würde, was sich natürlich nicht feststellcn lässt. In den
europäischen Ländern, deren Auswanderung in starkem Maasse, wie die britische.
554 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lehre. l.H.-A. Statist. §.226.
und überwiegend, wie die romanische, nach anderen überseeischen Ländern geht,
ist die Promiileziffer zum Vergleich mit den anderen Landern sehr zu erhöhen. (Die
Zahlen, nach den aintliclieu ainericanischcn, aus dem Gothaer Jahrbuch 1892, S. 628.)
Tab. XIX. Einwauderung in die Vereinigten Staaten von
Nordamerica für zehnjährige Perioden.
Absolute
Zahl in
1000 Kpf.
Steigerung
Maximum i
Jahr
n 1000 Kopf
Kopf
Minimum in 1000 Kopf
Jahr ) Kopf
1821—30
143
= 1,000
1828
27.4
1823
6.3
1831—40
599
= 4,189
1840
84
1831
33
1841—50
1,713
= 11,979
1850
362
1843
52
1851—60
2.598
= 18.168
1854
428
1859
121
1861—70
2.467
= 17,252
1869
385
1861
92
1871—80
2,945
= 20.595
1880
593
1877
131
1881—90
5,189
= 36,287
1882
730
1885
351
Summe
1 5,654
—
—
—
—
Tab. XX. Einwanderung nach den Vereinigten Staaten
aus anderen Ländern von 1821 — 90.
Absolute
Zahl in
1000 Kopf
Promille
der Be-
völkerung
des betr.
Landes
um 1890
Absolute
Zahl in
1000 Kopf
Promille
der Be-
völkerung
des betr.
Landes
um 1890
Irland
3,508
852
Italien
402
12
England und Wales
1,682
66
Frankreich
369
10
Schottland
334
106
Spanien, Portugal
44
2
Nicht Specificirte
793
—
Belgien
45
7
Grossbrit. u. Irland1)
6,317
166
Komanische Länder
860
—
Deutschland
4,554
96
Europ. Kussland
339
4
Schweden, Norwegen
954
129
And. Europa
13
—
Dänemark
146
68
Europa a)
13,915
c. 42
Schweiz
174
59
Westindien
94
Niederland
103
22
Mexico
27
Oesterreich-Ungarn
454
11
Centralamerica
2
Germanische Länder
Sudamerica
11
(obige auss. Irland)
9,194
—
Atlantische Inseln
34
—
Brit.-Nordamerica
1,047
c. 200
Pacif. Inseln
25
—
Germanische Länder
And. Länder, ausser
(incl. Br.-Nordam.)
10,241
Asien u. Africa
199
—
Mittel-, Sudamerica
und Inseln, Austr.
392
—
Africa
1
—
China
291
—
Uebriges Asien
8
—
Ges. -Einwanderung
15,654
—
oder °/oo der Uuions-
bevölkerung
i
c. 250
l) Die nicht Specificirten für die Promillcbcrcchnung pro rata auf die 3 Theilc
yertheilt.
*) Die Promilleberechnung incl. der Einwanderung über Britisch - Nordamcricr..
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Ueberseeische Massenauswanderung.
555
Die abnorme Gestaltung der irischen Auswanderung zeigt sich aus der Pro-
milleberechnung am Schlagendsten, ebenso, dass die britisch-nordamericauische Ein-
wanderung in die Vereinigten Staaten grossentheils Durch Wanderung von Europäern
sein wird. Die Bedeutung der schwedisch-norwegischen Auswanderung tritt ebenfalls
in dem Promillesatz scharf hervor, — beachtenswerth bei einem so dünn bevölkerten
Laude für die wirthschaftliche Seite der Bevölkerungsfrage. Die scandinavische (iucl.
dänische) Auswanderung geht mit verschwindenden Ausnahmen nach den Vereinigten
Staaten, so dass obige Zahlen ziemlich die ganze darstellen. Von der deutschen
kommen nach der deutschen Auswanderungsstatistik in den lSTUer Jahren 92, neuer-
dings meist noch mehr, 95 — 98 °/0, auf diejenige nach den Vereinigten Staaten, der
Rest geht meist nach Sudamerica. Die überseeische Einwauderungsstatistik, soweit
sie vorhanden, bestätigt das ziemlich genau. Die schweizerische Auswanderung wendet
sich zu Uber 80% nach den Verein. Staaten, der Rest auch meist nach Sudamerica.
Die irische Auswanderung möchte auch zu 85 — 90% auf die Vereinigten Staaten
zu rechnen sein, die übrige gebt meist nach brit. Colonieen in America und nach
Australien. Dagegen geht von der englischen und schottischen zwar auch die er-
heblich grössere Hälfte direct oder Uber Britisch-Nordamerica nach den Vereinigten
Staaten, jedoch ein bedeutender Theil nach Canada u. s. w. und nach Australien, ein
weiterer kleiner Theil nach anderen Ländern und Colonieen. Nach der erst seit 1853
die Herkunft der Auswanderer über britische Häfen unterscheidenden Statistik macht
die Gcsammtauswanderung (übrigens incl. Reisende) aus dem Vereinigten Königreich
1853 — 90 7,129,000 Einheimische aus, wovon 4,296,000 Engländer und Schotten,
2.833,000 Iren. Von jenen gingen 2.398,000 oder 56 — 57% nach den Vereinigten
Staaten direct, von den Iren 2,342.000 oder 83 %. Nach den brit.-aineric. Besitzungen
gingen 557,000 Engländer und Schotten und 175,000 Iren, aber von da aus vielfach
weiter nach den Vereinigten Staaten. Dies berücksichtigend wird man mit 60 bis
65% der britischen, 90% der irischen Auswanderer nach den Vereinigten Staaten
kaum zu hoch greifen. Nach Australien gingeu 1853 — 90 1,038,000 Briten, 293,000
Iren, nach anderen Ländern bezw. 321,000 und 23,000. Die Einwanderung in
Canada war von 1881 — 90 886,000, Max. 1883 133,000, Min. 1881 48,000. Die
Einwanderung nach Australien ist grösstentheils germanischer, namentlich britischer,
daneben irischer Nationalität. Die deutsche und scandinavische Auswanderung dahin
ist unbedeutend. Der starken Einwanderung (1S81 — 90 zus. 2,235,000, Max. 1886
253.000, Min. 1881 166,000) steht eine starke Auswanderung gegenüber, 1881 — 90
1.622.000, was auf einen lebendigen Wanderungswechscl, auch wohl zwischen den
einzelnen austral. Colonieen, hinweist.
Zur Würdigung des maassgebenden Einflusses der nordamericanischen Wirt-
schaftslage und (in den 1860er Jahren besonders, während des Bürgerkriegs) der
politischen Lage als des die „zeitliche Auswanderungswelle“ (Kurve) vornemlich bestim-
menden Factors (s. u.) ist es wichtig, festzustellen, dass die germanische und irische
Massenauswanderung so ganz überwiegend nach dem Vereinigten Staaten sich wendet.
Anders steht es mit der romanischen und hier auch namentlich mit der
italienischen Auswanderung, welche der Zahl nach die wichtigste ist und von der
die beste Statistik vorliegt (jährlich in der Statistica dclla emigrazione italiana, frei-
lich nach nicht ausreichenden Grundlagen, s. darüber Bodio, Handwörterbuch der
Staatswissensch. I, 1035). In dieser überwiegt im Ganzen, übrigens mit erheblichen
Schwankungen auch in den jährlichen Quoten, welche von der überseeischen Aus-
wanderung auf diejenige nach Nordamerica kommen, die Auswanderung nach Süd-
america, besonders nach Argentinien und Brasilien. Von der überseeischen Aus-
wanderung 'Italiens nach America, ausser Europa, gingen in der Periode starker
Auswanderung von 1886 — 90 von 653,000 im Ganzen 176,000 oder rund ca. 27%
nach Nordamerica. Hier ist daher auch die politisch-wirthschaftliche Lage in Süd-
amcrica der wesentlich die Höhe der Gesammtanswauderung mit bestimmende
Factor. 1889 — 1890 sank sie sehr, vornemlich diejenige nach Brasilien und
Argentinien, während diejenige nach Nordainerica stieg. Das starke Ueberwiegcn
der Romanen unter den Einwanderern in Südamerica wird auch durch die Statistik
der dortigen Einwanderungsländer und, wo sie vorlicgt, durch die Nationalitätsstatistik
bestätigt. So kamen von 65,000 Einwanderren in Brasilien in 1889 (1888 132,000,
1885—89 261,000) 34,920 aus Italien, 15,240 aus Portugal, 8662 aus Spanien, 584
556 4. B. Bevölk. u. Volks w.sch. 1. K. Bevölk. lehre. 1. H.-A. Statist. §. 226.
aus Frankreich, 387 aus Belgien, nur 1903 aus Deutschland, 76 aus England, 126 aus
Schweden. In Argentinien wanderten 1890 138,000 ein (1889 261,000, 1886 — 90
770,000), davon waren 1990 direct nach Bucnos-Ayres 77,815 gekommen, worunter
39,122 Italiener, 17,104 Franzosen, 13,560 Spanier, nur 1271 Deutsche und 1109
Engländer, der Best aus andern Ländern. Die Auswanderung nach den africa-
ni sehen Ländern am Mittelmcer und nach anderen Welttheilen ist auch von Italien
aus schwach.
Die ungeheure Vermehrung der europäischen Massenauswanderung in die neue
Welt im Laufe dieses Jahrhunderts seit der politischen Ruhe in Europa und Nord-
america nach der französischen Kriegszeit tritt in Tab. XIX in der Progressions-
berechnung am Deutlichsten hervor. Nimmt man hinzu, dass in den letzten Jahr-
zehnten auch die Auswanderung nach Australien, im letzten die nach Südamerica
immer grösser geworden ist, so wrünle sich für die europäische Gesammtauswanderung
in der neueren und neuesten Zeit eine noch stärkere Progression zeigen. Der kleine
Rückgang in den 1960er Jahren ist vornemlich auf das Stocken der Auswanderung
nach Nordameriea während des Bürgerkriegs zurück zu führen. Auch in den 1870er
Jahren ist der Durchschnitt der 50er noch nicht so sehr viel überholt, erst in den
80er Jahren steigt die jährliche Einwanderung nach den Vereinigten Staaten fast auf
das Doppelte der vorausgehenden Jahrzehnte. Die Stockung in den 60er Jahren,
andere ähnliche Wahrnehmungen in anderen überseeischen Einwanderungsländern, so
jungst in Argentinien, Brasilien, zeigen schon, wie sehr die jeweilige wi rthsc haft-
liche, sociale und politische Lage dieser Länder sich als Förderungs- und
Hemmungsmittel der europäischen Auswanderung geltend macht: ein wichtiger Punct
in der Frage der conditionellen und causalen Verhältnisse dieser Auswanderung.
Noch mehr ergiebt sich das, wenn man die zeitliche Schwankung der Aus-
und Einwanderung mehr im Einzelnen, ja h res weise und für jedes einzelne Ein-
wanderungs- wie Auswanderungsland, bei beiden dann weiter für die einzelnen Ge-
bietsteile (Provinzen u. dgl.) verfolgt. Letztres kann hier nicht wohl geschehen.
Aber für die ganzen Staatsgebiete ist doch in der folgenden Tabelle XXI einiges
bezügliche Material zusammengestellt und in den Erläuterungen dazu einiges weitere
auch für Gebietsteile gegeben worden, weil cs auch für die uns hier beschäftigenden
principiellen populationistischen . wirthschafis- und socialpolitischon Fragen unerläss-
lich ist, einen Einblick in die Schwankungsursachen der Auswanderung zu erhalten
und dadurch zugleich implicite manche aufgetauchte Meinung über diese Ursachen
und über diejenigen der Auswanderung überhaupt zu berichtigen und je nachdem ganz
zu widerlegen.
Die Materialien für die einzelnen Länder sind nicht ganz gleichwertig, noch
gleichartig. Die deutsche amtliche Auswanderungsstatistik bezieht sich nur auf die
deutschen Einschiflhäfen, namentlich Bremen und Hamburg, neuerdings (regelmässig
seit 1871/72) auch auf die über Antwerpen und über französische Häfen, in neuester
Zeit (seit 1885) auch auf die Uber Rotterdam und Amsterdam Auswandernden. Die
sonstige Auswanderung, über britische Häfen u. s. w., fehlt hier. Doch umfasst die-
jenige über die genannten continentalcn Häfen die grosse Masse, besonders immer
mehr in den letzten Jahrzehnten, so dass aus den Zahlen dafür die Gesammtbewegnng
ersehen werden kann. Ob die nationale Scheidung der Auswanderer immer ganz
genau, namentlich früher und im Auslande (so zwischen Reichsdeutschen und son-
stigen Deutschen) erfolgt ist und erfolgt, steht dahin. Aber sehr erhebliche Fehler
werden kaum vorliegen. S. B 41 der Reichsstatistik, Tab. S. 157 IT., Viorteljahrs-
hefte 1892, N. I. S. 85 ff. und die am Eingang dieses § 226 gen. amtlichen Quellen,
sowie zur Ergänzung Gothaer Jahrbuch, v. Neumann - Spallart's Uebersichten.
v. Philippovich’s Aufs, im Handwörterb. d. Staatswiss. u. Kolb’s Statistik, wo-
selbst die Daten vor 1870.
S. Tab. XXI auf S. 557.
In den Zahlen der Tab. XXI und ebenso in denjenigen früherer Zeit, soweit
sie sich linden, tritt deutlich der Parallelismus der europäischen über-
seeischen M assen au s w a nd e r u n g in allen hauptsächlich betheiligten
Ländern hervor, namentlich den germanischen, auch selbst in Frankreich: der
grosse Aufschwung im Beginn der 70er und wiederum noch stärker im Anfang der
80er Jahre, die sehr bedeutende Verminderung Mitte der 70er und von Neuem, aber
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Ueberseeischo Massenauswanderung;.
557
Tab. XXI. Europäische überseeische Auswanderungs-
bewegung von 1871 — 90 in 1000 Kopf.
Einwai
ind. Ve
Sta,
zusam.
derung
reinigt.
tten
aus
Europa
Ausw d.Ver.
Königr. Gros9-
Brit. u. Irland ,
Deutsche Aus-
wanderung üb.
contin. Häfen
ß
i>
rD
o
CO
Norwegen
1
Dänemark
|
Schweiz
Frankreich
Italien
1
1871
347
297
193
76
17.4
12.3
3.9
4.2
_
_ '
1872
43S
381
210
128
15.9
13.9
6.7
5.5
15.8
—
1873
423
369
228
110
13.6
10.4
7.2
5.5
8.4
—
1874
261
208
197
48
7.8
4.6
3.3
3.0
7.6
—
1875
191
144
141
32
9.7
4.0
2.1
2.0
4.3
—
1876
157
115
109
30
9.4
4.4
1.6
2.0
2.2
19
1877
131
96
95
23
7.6
3.2
1.9
1.9
2.1
21
1878
153
112
1 13
26
9.0
4.9
3.0
2.6
2.3
21
1879
251
184
164
36
17.6
7.6
3.1
4.3
3.6
37
1880
593
442
228
117
42.1
20.2
5 7
7.3
4.6
33
1881
720
600
243
221
46
26.0
8.0
10.9
4 5
41
1882
730
603
279
204
50
29
11.6
12.0
4.9
60
1883
570
499
320
174
32
22
8.4
13.5
4.0
64
1884
461
408
242
149
24
14.8
6.3
9.6
6.1
56
1885
351
327
208
110
23
14.0
4.3
7.6
6.1
74
1886
393
385
232
83
33
15
6 8
6.3
7.3
83
1887
517
508
281
1 05
51
21
8.8
7.6
11.2
130
188s
597
537
280
104
50
21
8.7
8.3
—
205
1889
444
433
258
96
—
13
9.0
8.4
—
124
1890
455
443
221
97
—
11
10.3
7.7
—
115
schwächer, Mitte der SOer, worauf dann länger eine gewisse Gleich mässigkeit der
Bewegung, jedoch auf einem höheren Zahlenniveau, eintritt. Maximum und Minimum
fallen fast immer in dasselbe oder in die Nachbarjahrc in den verschiedenen Ländern.
Dies deutet doch unverkennbar darauf hin. dass hier die Schwankung der Be-
wegung von ein und demselben Hauptfactor abhängt, vom übereinstim-
menden Gang der gesammten wirtschaftlichen Bewegung, namentlich in dem als
Hauptzielpunct wirkenden Nordamerica, dessen wirtschaftlich günstige und ungünstige
Conjuncturen in der auf- und absteigenden Bewegung, in den Maximis und Minimis
der Auswanderung in jeder Periode sich abspiegeln, wobei zu bedenken ist, dass die
europäische wirtschaftliche Lage, zumal in den Ländern grösserer industrieller Ent-
wicklung, mit der nordamericanischcn in Wechselwirkung steht und einigermaassen
parallel geht. Nur die italienische Curve bewegt sich anders, hängt, wie schon
bemerkt, mehr vom Gang der wirtschaftlichen Bewegung in Südamerica ab, zeigt
danach aber auch starke Schwankungen, so eine Abnahme in jüngster Zeit.
In der Periode vor J870 treten in der nordamericanischen Einwanderung, der
britischen, irischen, deutschen Auswanderung ähnliche Erscheinungen und Einflüsse
darauf hervor. Die periodischen nordamericanischcn und britischen Wirtschafts-
krisen wirken stets stark vermindernd, die Aufschwung- und Speculationspcrioden
stark steigernd ein, woneben dann der Einfluss besonderer Umstände, wie der Theue-
rung (Kartoffelkrankheit) 1S46 — 47, der politischen Ereignisse in Europa 1848 ff., der
Goldentdeckungeu in Californien 1848 ff., in Australien 1851 ff, der beginnenden
Reaction des Amcricanerthums gegen die Einwanderung Mitte der 50er Jahre (Know-
nothing-Bewegung), des americanischen Bürgerkriegs 1861 ff, sich zeigt, in einzelnen
Ländern, so in Irland 1846 ff. in besonderem Maassc. Aber die durchgängige
l) Incl. der meist geringen nicht- transatlantischen Auswanderung (einige 100rt
jährlich).
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflago. 1. Tbeil. Grundlagen.
558 4. B. Bevölk. u. Volks w.sch. 1. K. Bcvölk.lchre. 1. H.-A. Statist. §. 226.
Bewegung wird doch von der jeweiligen Hauptgestaltung der wirtschaftlichen Lage
und deren Richtung bestimmt. Schon in den 30er Jahren sinkt die Einwanderung
in den Vereinigten Staaten vom Maximum von 79, UDO in 1837 ( Krisis i auf 39,000
in 1838, die Gesamrntauswanderung (incl. Fremde) aus Gr.-Britannien und Irland von
72.000 auf 33,000 (nach den Vereinigten Staaten von 37,000 auf 14.000, diejenige
nach Brit. Nordamerica von 30.000 auf 4600), die deutsche Einwanderung nach den
Vereinigten Staaten von 24,000 in 1837 (Maximum der Periode) auf unter 12.000,
um dann in allen Fällen in den folgenden Jahren wieder zu steigen. Nach einem
neuen starken Rückschlag 1842 auf 43 wächst daun die Bewegung eine Reihe vou
Jahren fortwährend, bis 1854, wo sie das Maximum erreicht In Europa bcs. in
Gr.-Britannien fallen in diesen Zeitraum die Speculationsjahro 1844 — 47 („railway-
mania"), dann das Theuerungsjahr 1840 — 47 und die grosse Handelskrise von 1847,
darauf die contiuentalen politischen Wirren 1848 lf., der Rückschlag dagegen 1850 ff.,
der Krimkrieg und neue Thouerung 1854 fH Die Einwanderung in die Vereinigten
Staaten wächst von 52,000 in 1843 in den folgenden Jahren auf 77, 114, 154, 235,
227, 297, 362, 379, 372, 369 bis 428 Tausend Kopf in 1854. Die Auswanderung über
Gr.-Britannien und Irland incl. Fremde steigt vou 57,000 in 1843 auf 369,000 in
1852, diejenige nach den Vereinigten Staaten allein vou 28,000 auf 244.000 (1851
267,000), diejenige britischer Uuterthaneu allein erreicht im Ganzen 1853 278,000,
1854 267,000. In diesem Zeitraum fand auch die grosse erstmalige irische Massen-
auswandernng statt: 1845 noch 78,000, 1S46 110,000, 1847 218,000, seitdem nur
einmal (1848) etwas unter, fast stets Uber 200,000, 1853 293,000. Auch die deutsche
Einwanderung in die Vereinigten Staaten zeigt dieselbe Bewegung: sie stieg von
14.000 in 1843 auf 74.000 in 1847, erfährt dann 1848 und 1849 einen kleinen Rück-
gang (auf 58,000 und 60,000), steigt 1850 von Neuem auf 79,000. 1851 — 54 ist sie
72, 146, 142, 215 Tausend, womit sie in diesem Zeitraum ihr Maximum erreicht,
ein Jahr nach der britischen und irischen. Darauf erfolgt allgemein eine starke Ab-
nahme und eine mit Schwankungen andauernde sinkende Richtung: Die Einwanderung
nach den Vereinigten Staaten fällt auf die Hälfte, ja auf unter ein Viertel; schon
1855 ist sie nur 208 (gegen 428 in 1854), 1857 zwar wieder 251, nach der damaligen
schweren Welthandelskrise, die in Nordamerica entsprang und dort besonders stark
auftrat. 1858 und 1859 nur 123 und 121, nach einer kleinen Steigerung in 1860
auf 154, in 1861 und 62 im Beginn des Bürgerkriegs nur je 92 Tausend Kopf. Auch
die ges&mmt-britische Auswanderung sinkt 1855 auf 150, beträgt von 1858 (nach der
Krise von 1857!) bis 1862 unter 100, 1861 nur 65 Tausend. Die deutsche Einwande-
rung in die Vereinigten Staaten sinkt ebenso 1855 auf den dritten Theil von 1854,
auf 72,000, und geht unter Schwankungen bis 1862 auf 28,000 hetab. Von 1863 an,
dann immer mehr mit dem Siege der Kordstaatcii in der Union und mit dem Wieder-
aufleben der Volkswirtschaft daselbst nimmt die Bewegung wieder rasch einen
grossen Aufschwung. Die Einwanderung in die Union ist schon 1863 fast doppelt
so hoch wie 1861 und 62, 176.000, steigt weiter bis 349,000 in 1866 und hält sich
nach einem Rückgang um 50,000 in 1867 und 68 in die 70er Jahre hinein auf dieser
Höhe (1869 385,000), um dann die aus Tab. XXI zu ersehenden Zilleru zu erreichen,
d. h. in den Jahren 1872 — 73 zu culminiren. und von da au, wo keine besonderen
politischen Factoren mehr störend eiugreifen, sich noch genauer als früher dem Gang
des Wirtschaftslebens in der geschilderten Weise anzupassen: nicht das Maximum,
wie mau a priori dcducirt hat, in Zeiten der Depression, sondern in denjenigen des
wirtschaftlichen Aufschwungs in Europa, nicht das Minimum in solchen Zeiten,
sondern grade in denen der Depression zu erreichen. Die Hauptperioden des Auf-
schwungs (bis 1873, 1879 — 83), des Abschwungs (1873 — 79, 1883 fr.), des gleich-
massigeren Geschäftsgangs (1885 ff.) in der Union reflectiren sich so in der euro-
päischen Auswanderungs-, der nordamericanischen Einwanderungsbewegung deutlich.
Auch die britisch-irische nationale Auswanderung steigt sofort 1863 auf das Doppelte,
193,000. und hält sich mit kleineren Schwankungen als früher (Min. 1867 und 68
138 und 186 Tausend) etwa auf dieser Höhe (Max. 1873). Die deutsche Einwan-
derung in der Union steigt von 1863 au auch alsbald wieder, zuuächst jedoch lanjr-
samer, stärker erst 1866 fr.: 1863 33, 1805 83, 1866 — 70 116, 133, 123, 125,
92 Tausend. Mögen die politischen Ereignisse von 1 866 hier etwas mitgewirkt haben,
wie mehrfach behauptet worden ist: die Bewegung der britischen Auswanderung ist
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Ueberseeische Massenauswanderung. 559
doch nicht so sehr verschieden , diejenige der schweizerischen und skandinavischen
ebenfalls nicht.
In Bestätigung einer Untersuchung Giffen’s für Grossbritannien und — eines
bekannten Worts des Fürsten Bismarck, dass die periodische Vermehrung der Aus-
wanderung grade auf Verbesserung der wirtschaftlichen Lage hinweise, —
worüber ihn seine politischen Gegner stark mitgenommen haben — kann mau daher
v. Neumann-Spallart darin boistimmen, wenn er sagt: „in Zeiten wirtschaft-
licher Prosperität ist überhaupt die Lebhaftigkeit der Wanderungen und des Menschen-
abflusses aus Europa, in Zeiten der DeprcsMon dagegen die Retardation dieser Er-
scheinung als characteristisch anzusehen“ (üebersichten der Weltwirtschaft, Jahrg.
1 8S1/S2, S. 6S). Davon ist für die Erklärung der causalen und couditionellen Ab-
hängigkeitsverhältnisse der Massenauswanderung (wie ähnlich auch der heimischen
Wandeningen) Act zu nehmen. Mit Recht sieht daher Neumann auch in der Aus-
und Einwanderung reflectorische Symptome zur Beurtheilung der wirtschaft-
lichen Lage.
Neben ein fl üsse, wie sie bei Erörterung der deutschen Auswanderung öfters her-
vorgehoben worden sind, besonders von Seiten derjenigen, welche in dieser Bewegung
etwas Uebles und ein Symptom politischer, socialer, wirthschaftsrechtlicher, ihnen
bedenklich erscheinender Momente sehen, z. B. Furcht vor Krieg, vor Militarismus
(1S06 tf., 1871 ff. in Deutschland), politische Auffassungen (1850 ff., 1860 fl. in einigen
Gegenden, z. B. Hannorer), Grundbesitzverhältnisse (preussischer Osten), Freihandels-
und Schutzzollpolitik (jene 1864 ü'., 1871 ff., diese 1879 ff.), Agentenwcrbungen u. s. w.,
wirken ja gewiss in hie und da auch zahlreicheren Fällen mit, aber grade die grosse
Uebereinst iminung der Bewegung in Europa zeigt, dass hier viel
mächtigere, universellere Einflüsse entscheiden. Wenn es iu Deutsch-
land z. B. 1866 ff., 1S71 ff. Kriegsfurcht, Militärlast gewesen wären, die die Aus-
wanderung so steigerte, wrarum gleichzeitig dieselbe Erscheinung in Gr.-Britaunien,
Irland, Schweiz?!
Für unsere Bevölkerungsfrage ist aber nicht minder beachtenswert!» , dass es
hiernach grade die Zeiten einer rascheren natürlichen Volksvermehrung, durch Ver-
mehrung der Heiraths-, Geburtsfrequenz, Verminderung der Sterbefrequenz, sind, in
denen bezw. nach denen die heutige Massenauswanderung als Ventil stärker wirkt, und
dass umgekehrt in und nach Zeiten langsamerer natürlicher Vermehrung auch die Aus-
wanderung schwächer wird. Es sind dariu nicht direct causalc Abhängigkeitsverhält-
nisse, wohl aber wichtige begleitende und folgende Erscheinungen von gegenseitig
sich compensirendcr Wirkung auf die Bevölkerungsbewegung zu sehen. Iu Deutsch-
land folgte z. B. auf die Maxima des Geburtsüberschusses 1844 — 45 damals die starke
Auswanderung, 1845 — 47, auf die neuen Maxima jenes 1849 — 51 dio Steigerung der
Auswanderung 1852 — 54, auf die anhaltende Höhe des Geburtsüberschusses 1858 — 65,
1867 — 70 die nur zeitweise durch den nordamericanischen Bürgerkrieg gehemmte neue
Auswanderungsvcrmehrung 1865 — 69. Der ungeheuren Steigerung des Geburtsüber-
schusses von 1872 ff. ging einigennaassen parallel die zweimalige maximale Steigerung
der Auswanderung 1871 — 73, 1880 — 84, freilich mit einer starken Unterbrechung iu
den Jahren der Depression 1874 — 79. So wurde in der Culminationsperiode der Aus-
wanderung der 70er Jahre V4, der 80er Jahre Vs bis fast */2 des GeburtsUberschusses
durch die überseeische Auswanderung wenigstens für die Gesammtzahl der Bevölkerung
anfgewogen, während dann freilich seit Mitte der 80er Jahre der fortwährend hoch
bleibende, sich selbst noch steigernde Geburtsüberschuss bei der Wiederabnahme der
Auswanderung nur noch zu */« durch diese compensirt wurde.
Welche Bedeutung für die Bevölkerung Europas und der neuen Welt, besonders
der Vereinigten Staaten, die Gesammtaus- und Einwanderung hat, ergiebt sich bereits
aus den Daten der Tabelle XX und aus anderen, im Vorausgehenden mitgetheiltcn.
Zur Ergänzung sei noch bemerkt, dass die ganze deutsche Auswanderu»»g seit An-
fang der 1820er Jahre bis 1890 auf ca. 5.4 Mill., d. h. auf eine hinter der heutigen
Bevölkerung des Kgr. Baieru nur wenig zurückbleibendo Zahl, geschätzt wird (nach
Fortführung älterer Schätzungen des reichsstatist. Amts bis zur Gegenwart, s. Goth.
Jahrb. 1892 S. 499). Das wäre von der gegenwärtigen Bevölkerung ca. 11%, was
aber nicht verhindert hat, dass die Bevölkerung des Reichs von 1816 — 90 sich ver-
doppelte, von 24.8 auf 49.4 Mill. gestiegen ist. Im Jahre 1891 ist dio überseeische
36*
560 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lehre. 1. H.-A. Statist. §. 227.
deutsche Auswanderung wieder etwas gestiegen (auf ca. 120,000, Viertelj. hefte 1892,
1, S. 85). Die beiden Hafen Bremen und Hamburg kommen unter den deutschen
fast allein in Betracht, von fremden, ausser etwaigen britischen, bes. Antwerpen. Die
Hamburg-Bremer Auswanderungsstatistik (in den dort, handelsstat. Publicationen und
in der Auswanderungsstatistik des reichsstat. Amts) spiegelt die zeitlichen Schwan-
kungen der Bewegung natürlich ziemlich ebenso ab, wie andere Statistiken (s. z. B.
Gothaer Jahrb. 1802 S. 499). Da aber auch Fremde, Nicht-Deutsche, besonders iu
wachsender Zahl seit 1880 und namentlich seit 1886 Osteuropäer (aus Oesterreich,
Ungarn, Russland), sich in Hamburg und Bremen einschitfen, d. h. Auswanderer, wie
die aus slawischen Ländern, bei denen die Bewegung erst neuerdings stärker geworden
ist und von specifischen heimischen Factoren mit beeinflusst wird, zeigen die Ham-
burg-Bremer Gesammtdaten nicht durchweg den gleichen Parallelismus, wie die bri-
tischen, deutschen, scandinavischen. Iu den letzten Jahren gingen mehr Fremde als
Deutsche über die deutschen Häfen fort (1886 — 91) bez. :
100, 93, 106, 107, 168, 197 Fremde gegen
67, 79, 81, 74, 85, 93 Deutsche.
Im Ganzen sind von 1832 — 91 4,921.000 Personen Über deutsche Häfen ausgewandert'.
Nur a/3 Mill. weniger als die heutige Bevölkerung des Kgr. Baiern. Für das Ver-
einigte Königreich ergiebt die amtliche Berechnung ebenfalls incl Nicht-Briten eine
Gcsammtauswanderung (mit Reisenden) über die dortigen Häfen nach überseeischen
Ländern von 1815 — 90 von 12.8 Mill., wovon 8.55 direct nach den Vereinigten Staaten,
2.02 nach brit. Nordamerica, 1,69 nach Australien (und Neuseeland), 0 54 nach andren
Ländern. Früher gingen Continentale, auch Deutsche mehr über britische Häfen als
neuerdings. Anderseits gehen Briten und Iren kaum über continentale Häfen fort
Die Gesammtzahl aller einheimischen Auswanderer des Ver. Königreichs wird man
für die Zeit vor 1853, wo sie statistich nicht apart ermittelt wurde, von 1815 — 52
wohl auf 2 — 272 Mill. (von 3,47 Mill. aller Auswanderer über brit. Häfeu) schätzen
dürfen, daher (s. o. S. 555) die Zahl von 1815 — 90 auf ca. 9 — 97a MilL oder auf
ca. 25 °/o der gegenwärtigen Bevölkerung des Ver. Königreichs, das gleichwohl da-
neben seine im Inland gebliebene Bevölkerung in jener Zeit von ca 19.5 auf 37.9 Mill.
vermehrt hat. Allerdings haben die europäischen Auswanderuugsländer, bes. Gross-
britannien, Italien, etwas auch Deutschland, auch einige überseeische Rückwanderung
und in Grossbritannien ist auch die Gesammteinwanderung (bezw. Zahl der Ankom-
menden) nicht unerheblich, 50 — 100,000 und mehr im Jahre, neuerdings mit steigenden
Zahlen. Dieselbe Quote von ca. 25 %• welche die brit. Inseln, ohne Gegenrechnung
letztrer Einwanderung, durch Auswanderung verloren hätten, beträgt die Gesammt-
einwanderung in die nordamerican. Union von 1821 — 90 von der gegenwärtigen dort
lebenden Bevölkerung. Während Europa, insbesondere die germanischen Länder,
neuerdings auch Italien, in dem Zeitraum von 1825 — 90 etwa 42 °/00 seiner heu-
tigen Bevölkerung an die Union abgegeben, dabei aber selbst noch ausserordentlich
stark, zumal in den Ländern der Massenauswanderung (ausser Irland und neuerdings
einigen östlichen deutschen Ländern) seine einheimische Bevölkerung vermehrt hat.
hat die Union also mehr als das Sechsfache dieser Quote von ihrer heutigen Be-
völkerung, in Folge des Geburtszuwachses aus der Einwanderungsbevölkerung natür-
lich noch weit mehr, aus Europa erhalten. Der Gesammtverlust Europas an über-
seeische Länder durch Auswanderung seit 1815 — 20 bis 1890 wird 20 Millionen kaum
übersteigen, d. h. ca. 60 Promille der heutigen europäischen Bevölkerung erreichen.
Mit dieser „Völkerübertragung“ ist aber auch die Gewinnung der neuen Welt und
von Thcilen der übrigen Erdtheilc für europäische Cultur, die Germauisirung, leider
überwiegend die Anglicanisirung jener Länder erreicht worden. Und welche wirth-
schaftliche Bedeutung hat diese Wanderung nicht sammt ihren Folgen! W eiche Be-
deutung für Rhederei. Schifffahrt und Handel hat allein das überseeische Transport-
geschäft, die „Menschen-Ausfuhr“ gehabt und hat sie heute noch!
§. 227. Fortsetzung. Andere statistische Verhältnisse der über-
seeischen Auswanderung. Für die ökonomische und populationistische Seite der
Auswanderung kommen aber ausser den besprochenen Zahlenverhältnissen noch die
örtliche Herkunft, die Geschlechts-, Alters- und Berufsvertheilung
unter den Auswanderern, für andere ökonomische Seiten der Frage die Aufer-
zie hungskosten und das mitgenommene Vermögen der Auswanderer in
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Andro Statist. Verhältnisse der Auswanderung.
561
Betracht. Auf die beiden letzten Puncte werden wir hier nicht eingehen. *) Die
vier erstgenannten lassen sich wenigstens theilweise mit Hilfe der Auswanderungs-
statistik, auch der deutschen, verfolgen, worüber hier aber einige Bemerkungen ge-
nügen mögen.
Die Statistik der örtlichen Herkunft der Auswanderer (so jetzt in Deutsch-
land für den Haupttheil der über deutsche und die wichtigsten anderen continentalen
Häfen gehenden nach Unterscheidung der preussischen Provinzen und der Einzelstaaten,
genauer für Italien) liefert namentlich das Mittel, gewisse apriorische Annahmen und
Vorurteile, auch solche politisch und wirthscbaftspolitisch tendenziöser Art, über die
besonderen Ursachen der localen Massenauswanderung zu berichtigen, bezw. sorgfältigere
apriorische Schlüsse der Deduction zu bestätigen. So ergiebt sich, dass natürlich kein
directcr Zusammenhang zwischen Volksdichtigkeit sowie der mit dieser
etwa verwechselten absoluten Uebervölkerung und der Grösse der Auswanderung, ihrer
absoluten Zahl und ihrer Höhe im Verhältniss der Bevölkerung, besteht. Es kommt
vielmehr auf die Erwerbsverhältnisse, die Erwerbs- und Arbeitsgelegen-
heiten an. Daher leicht, wie grade in der neueren und neuesten Zeit, die stärkste
Auswanderung, wie auch heimische Fortwanderung, im deutschen, wesentlich agrari-
schen Osten mit geringer Volksdichtc, freilich auch mit starkem Geburtsüberschuss,
die schwächste in hochindustriellen, sehr volksdichten Gegenden (Rheinland, West-
falen, beide Sachsen), wohin auch in Zeiten der wirtschaftlichen Depression nur die
heimische Einwanderung etwas stockt und von wo alsdann allenfalls heimische Fort-
wanderungen, nicht sowohl grössere Auswanderungen erfolgen. Grundbesitzver-
theilung, Agrarverfassung scheinen mehr einen Einfluss zu üben, wie auch
auf die heimischen Fortwanderungen, so vielleicht jetzt im deutschen Nordosten.
Aber dass man auch hier vorsichtig urteilen muss, ergiebt sich u. A. daraus, dass
auch in Deutschland die Auswanderung nach ganzen Perioden in verschiedenen
Gegenden mit ganz verschiedenen Agrar- und Grundbesitzverhältnissen culminirte, in
den 50er Jahren am Rhein , in Westfalen , z. Th. in Südwestdeutschland mit stark
verbreitetem, freilich z. Th. proletarischem Kleingrundbesitz, in den 60er Jahren an
der Weser und zwischen Weser und Elbe, in Hannover, Hessen-Nassau, dort mit viel
mittlerem und bäuerlichem Besitz, in den 70er Jahren an der Oder und östlich davon,
in Pommern, Posen, Preussen, in den Süer Jahren wiederum hier und an der Weichsel,
besonders in Westpreussen, während doch auch grossgrundbesitziiehe Länder wie die
Mecklenburg, jetzt wenigstens kleinere als jene östlichen und nur etwa dieselbe mittel-
grosse Auswanderung, wie gegenwärtig die Bauernländer Hannover, Schleswig-Holstein
und die Kleinbesitzläudcr Südwestdeutschlands, andere eine noch geringere haben, so
Ostpretissen , Schlesien , rechtsrheinisches Baiem (z. B. Westpreus>en 1S85 — 91 600
bis 1100 p. Jahr auf 100,000 Einw., das Maximum, Ostpreussen nur SG — 137, Posen
400 bis Über 1000, Schlesien 50 — 70. Mecklenburg-Schwerin 200 — 400, Hannover
260 — 400 u. s. w. Vgl. die betreflenden Tabellen der Reichsstatistik, die letzten Daten
in d. Viertelj. heften 1S92. I, S. $6, für Preussen specicll Bödiker die preuss. Ein-
und Auswanderung seit 1844, Düsseldorf 1879). Auch die bleibenden Ver-
schiedenheiten der Auswanderungsstärke und zeitlichen Bewegung in den ein-
zelnen Gegenden, Provinzen, Ländern innerhalb eines Sprach-, Staats- und Wirt-
schaftsgebiets, wie des deutschen, zeigen wieder, dass hier wohl etwas wie Stammesart
und Sitte, mitspielen mag, was. mindestens bisher noch, dem nationalen Moment der
Verschiedenheiten der Auswanderung ganzer Volksgebiete ähnlich ist. Die grosse
Auswanderung aus dünn oder nur mittelstark bevölkerten agrarischen Gegenden bäuer-
lichen wie Grossgruudbesitzes mit vorherrschender Kornproduction in den 80er Jahren
weist auch wohl auf den Einfluss der agrarischen Krisis hin. Bei unfruchtbarem
Boden , fehlender Industrie und stagnirendem Städtewesen muss freilich bei jeder
Agrarverfassung und Grundbesitzvertheilung die natürliche Volksvermehrung zu Wan-
derungen und eventuell aueh zur Auswanderung führen. Dafür liegen auch in
*) S. darüber v. Philippovich a. a. O. S. 1012 ff., Becker, in Schmoller’s
Jahrb. XI, B. 2 (1887) S. 1 ff., R. Jannasch, im Export, 1887. Auch E. Engel s
Berechnungen über den „Werth des Menschen“. Keine dieser Borechnungsweison und
Behandlungen der volkswirtschaftlichen Seiten des Problems ist einwandfrei und
befriedigend.
562 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bovölk.lehrc. 1. H.-A. Statist. §. 22S.
Deutschland Belege vor. Ein Preisdruck auf die wichtigsten Agrarproducte, wie ia
den SOer Jahren, wird das aber früher und schärfer zu Wege bringen.
Das Geschlecht anlangend, so überwiegt regelmässig bei der Auswanderung
begreiflicherweise das männliche Geschlecht, in Deutschland jetzt etwa mit 55 — 56
gegen 43 — 44 % des weiblichen, anderswo, so in Italien, noch mehr; übrigens etwas
verschieden nach den Altersclassen, bei den Kindern sind beide Geschlechter in der
deutschen Auswanderung ziemlich gleich , bei den Auswanderern im rüstigsten pro-
ductiven Alter (21 — 40, 50 Jahren) die Männer erheblich stärker vertreten. Bei der
familienweisen Auswanderung, welche in Deutschland früher ca. 9/a, in neuester
Zeit weniger, doch meist einige 50 °/0 von allen Auswanderern beträgt, überwiegt das
weibliche Geschlecht etwas, bei der Auswanderung von Einzelpersonen das männliche
erheblich, bei uns hier im Verhältniss von 2:1. Es ist das insofern wichtig, als
hiernach in Auswanderungsländern, wie auch die Statistik zeigt, in der zurück-
bleibenden Gesammtbevölkerung das weibliche Geschlecht überwiegen wird, auch
grade schon in jüngeren Jahren der Erwachsenen, und umgekehrt die Einwanderungs-
länder mehr kräftigsten männlichen Zuwachs erhalten (§. 239 ff.).
Aehnliches gilt vom Lebensalter der Auswanderer. Schon die Kinder sind,
da die Einzelauswandercr natürlich fast nur den Erwachsenen angehören und Familien
mit grosser Kinderzahl bei der Auswanderung besondere Schwierigkeiten finden, etwas,
wenn auch nicht viel, schwächer, die älteren (schon über 40 Jahre) und vollends die
ältesten Altersclassen. die Greise erheblich schwächer, dagegen die kräftigsten, arbeits-
rüstigsten. zeugungsfähigsten Leute zwischen 20 und 30. auch nach 30 — 40 Jahren
wesentlich stärker unter den Auswanderern als unter der Gesammtbevölkerung ver-
treten. Der Altersclassenaufbau der Bevölkerung im Heimathlande wird also un-
günstig, derjenige in der Fremde günstig beeinflusst, dem Inlande besonders arbeits-.
heiraths-, zeugungsfähige Elemente entfuhrt, dem Auslande zugeführt, was für die
wirtschaftliche und die populationistische Seite der Frage beachtenswert ist. (Ge-
nauere statistische Daten zum Beleg in der deutschen Statistik, danach u. A. in
Philippovick’s gen. Aufsatz). (S. u. §. 241 ff.)
Weniger sichere Aufschlüsse giebt die Auswanderung- und Einwanderungs-
Statistik und ergänzend etwa der nordamericanische Census über die Beru fsstell u ng
und den Beruf der Aus- und Einwanderer. Die Angaben sind meist zu unvoll-
ständig und ungenau, die Rubrik „ohne oder ohne bestimmte Berufsangabe“ zu gross,
(so in Deutschland in der Hamburger Auswanderungsstatistik), so manche Personen
wechseln freiwillig oder gezwungen den heimischen Beruf im neuen Lande. Auch
kann nur durch einen genauen Vergleich der jedem Beruf und jeder Berufsstellung
ungehörigen Auswanderer mit der Zahl der betreffenden Genossen im Heimathlande
und hier wieder mit derjenigen in der Heimathsgegend ein sichererer Schluss auf
causale Verhältnisse gezogen werden. Dass die grosse Masse der Auswanderer
niedrigeren Lebens-, Berufsstellungen und Berufen angehört, der Schaar der „kleinen
Leute“ ist freilich gewiss. Die Verkeilung auf agrarische und städtisch-industrielle
Berufe, auf Lohnarbeiter und kleine Handwerker, Gewerbtreibende, Landwirthc ist
schon viel unsicherer nach dem vorhandenen statistischen Material vorzunehmen.
Einige Thatsachen des americanischen Census und der deutschen Auswanderungs-
statistik machen es nicht unwahrscheinlich, dass die deutschen Auswanderer sich be-
sonders stark aus gewissen besseren städtischen Gewerben, Handwerken recrutiren oder
wenigstens in America darin Beschäftigung finden, die ländliche Beschäftigung, zumal
als ländlicher Arbeiter, schwächer darin vertreten ist. Aber doch sind selbst die be-
dingten Schlüsse, zu denen z. B. Philippnvich a. a. O. (S. 100S, 1022) kommt,
nicht unanfechtbar. Allerdings sind die Klagen der östlichen Grundbesitzer wohl
noch mehr gegen die heimischen Wanderungen , als gegen die Auswanderung ihrer
Arbeiter gerichtet.
C. — §. 228. Ergebnisse hinsichtlich der Wanderungen
und der Volksvermehrung überhaupt. Unmittelbar be-
wirken die Wanderungen, wie die bezügliche Statistik näher zeigt,
öfters erhebliche Veränderungen der localen Bevölkerungszahl, der
Geschlechts-, Alters-, Berufsgliederung der Bevölkerung. In den
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Ergebnisse hinsichtlich der Wanderungen u. s. w.
563
Zuzugs- und Einwanderungsorten und Gegenden steigern sie auch
wohl mittelbar, genügende wirtschaftliche Erwerbsquellen, Erwerbs-
und Arbeitsgelegenheiten vorausgesetzt, durch Zuführung frischen
Blutes, heiraths- und zeugungsfähiger und williger Elemente die
natürliche Vermehrungsfähigkeit und wirkliche Vermehrung der
Bevölkerung. In den Fortzugs- und Auswanderungsorten und Ge-
genden wird aber auch wieder mehr Kaum geschafft und der
Menschenabfluss nicht immer, aber doch öfters durch fortdauernden
hohen Geburtsüberschuss mehr oder weniger ersetzt, daher die
Volkszahl wenigstens nicht notwendig dauernd und jedenfalls
nicht stets um den vollen Betrag der Wegziehenden vermindert.
Eine danernde positive Abnahme der Bevölkerung in nur etwas
grösseren Gebieten ist selbst bei der heimischen und der über
See gehenden Massen Wanderung des 19. Jahrhunderts nur eine
seltene Ausnahme, welche, wie in Irland, auf ganz besondere
Verhältnisse zurückzuführen ist. Selbst ein annähernder Still-
stand der Bevölkernngszahl ist in grossen Gebieten eine seltene
Erscheinung, wie neuerdings in Frankreich, wo er sich nicht
durch Mehrauswanderung, sondern durch eine ungewöhnlich niedrige
Geburtsfrequenz erklärt. Nur in kleineren Gebietsteilen, von
der Grösse etwa der preussischen Kreise, und in noch kleineren
Theilen, sowie häufiger unter dem Einfluss specieller örtlicher Ver-
hältnisse, der Lage, der wirtschaftlichen Zustände, in einzelnen
ländlichen Ortschaften und Städten nimmt man wohl auch für
längere Perioden eine wirkliche Abnahme der Bevölkerung in Folge
heimischer Fort- und überseeischer Auswanderung wahr. Für die
grösseren Volks- und Staatsgebiete, in welchen sich die heimischen
Wanderungen natürlich ausgleichen und nur locale Verschiebungen
der Bevölkerung darstellen, zeigt sich selbst bei der grössten bis-
herigen Massenauswanderung ausser Landes, namentlich über den
Ocean in die neue Welt, mit Ausnahme Irlands nirgends in Europa
eine wirkliche Verminderung der Bevölkerung, sondern immer
wieder eine baldige Ausfüllung der entstandenen Abnahme durch den
Geburtsüberschuss. Wie die gerade in den Massenauswanderungs-
ländern, ausser Irland, hervortretende weitere, meist sogar besonders
starke Erhöhung der Volkszahl zeigt — Gr.-Britannien , Deutsches
Keicb, bisher selbst Italien — macht sich an sich und im Vergleich
zu den Ländern geringer Auswanderung sogar zeitweilig nicht
einmal immer eine erhebliche Verringerung der Zuwachsrate geltend:
die Tendenzen der natürlichen Volksverraebrung sind so anhaltend
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564 4. B. Bevölk. u. Yolksw.sch. 1. K. Bevölk.lehre. 1. H.-A. Statist. §. 22S.
und so stark, zumal wenn äussere Förderungsmittel, wie günstigere
wirtschaftliche Lage, hinzukommen, dass die durch die Aus-
wanderung gerissenen Lücken immer bald wieder mehr als ersetzt
sind. Auch deswegen kann man die Auswanderung volkswirth-
scbaftlich und populationistisch nicht immer einen Verlust nennen,
wenigstens, was die Zahl der Bevölkerung anlangt. Etwasanders
steht es hinsichtlich der Gliederung nach Geschlecht und Alter,
welche durch die Auswanderung allerdings ungünstiger wird.
Die statistischen Belege für das Vorausgohende liegen in den früheren Tabellen,
Daten und Erläuterungen dazu. Für eine umfassende, allseitig genügende Beweis-
führung reichen sie freilich noch nicht aus, Hessen sich aber aus dem reichen heute
vorliegenden Material leicht vervollständigen. Hier nur noch einiges Wenige zur
Ergänzung.
Irland zeigt ja allerdings, wie auch in einem grösseren Gebiete durch Aus-
wanderung über den Ocean und freilich auch durch diejenige nach Grossbritannien,
welche für das ganze Vereinigte Königreich als heimische Wanderung gelten muss,
die Gesammtbevölkerung nachhaltig fast ununterbrochen und bedeutend vermindert
werden kann, allerdings auch unter Mitwirkung — wenn die betreffenden Zahlen genügend
correct sind, was zweifelhaft ist — einer ungewöhnlich kleinen Heiratlisfrequenz. die
sich noch immer weiter vermindert hat und neuerdings nicht viel höher als halb so
gross wie sonst in Westeuropa, auch in Grossbritannien, ist, ferner unter Mitwirkung
einer sehr kleinen, sich ebenfalls noch vermindernden, jetzt sogar hinter der fran-
zösischen stehenden Geburtsfrequenz. Beide Erscheinungen, sehr niedrige und sich
verringernde Heiraths- und Geburtsfrequenz, freilich wohl die Mitfolge der Wanderungs-
bewegung, welche heiraths- und zeugungsfähige Elemente in besonderem Maasse
fortführt. Jedenfalls in Verbindung mit der niedrigen Geburtsfrequenz allerdings
auch eine recht niedrige Sterblichkeit und so doch noch nicht gauz unbedeutender
Geburtsüberschnss . zwar nicht halb so hoch wie in Gr. -Britannien, aber doch noch
mehr als doppelt so hoch, wie in Frankreich, jedoch bei Weitem nicht ausreichend,
um den riesigen Wanderungsverlust zu decken. Daher das phänomenale Endergebniss
für die Volkszahl: die bis 1841 sehr rasch bis 8.179 Mill. gestiegen, schon 1851
auf 6.552 gesunken und seitdem in den folgenden Jahrzehnten (nach den Zählungen)
weiter, 1861 auf 5.799, 1871 auf 5,412, 1881 auf 5,175, 1891 auf 4.706 Mill. Dem
Geburtsüberschuss von 1864 — 70 von 0.97, von 1871 — 80 von 0.82% stand ein Wander-
verlust von bzw. 1.67 und 1.26% jährlich gegenüber (s. o. S. 505, 513, 518, 520^.
Frankreich zeigt, wie trotz geringer Auswanderung und zeitweiliger Mebr-
einwanderung (S. 515) bei neuster Zeit etwas abnehender Heiraths-, niedriger und
weiter sinkender Geburtsfrequenz die Bevölkerung auch in einem grossen Gebiete nur
sehr wenig steigt, ja bei einiger Vermehrung der Todesfälle (1886 — 88) fast gar
nicht mehr, bei etwas weiterer Vermehrung derselben (1890) sogar zurückgeht, zumal
wenn gleichzeitig die Geburtsziffer sinkt (Geburtsüberschuss 1886 — 89, 52.616. 56.536,
44.772. 85.646, Ausfall 1890 38.446, Geburtszahl 1886-90: 912.8. 899.3, 882.6,
880.6. 838.1, Stcrbefälle desgl. 860.2, 842.8, 837.9, 794.8, 876.5). Wie unter dem
Einfluss der heimischen Wanderungen sich die Volkszahl in den einzelnen Gebiets-
theilen verschiebt und unter dem zusammenwirkenden Einfluss derselben und der
örtlichen Verschiedenheit der Geburts- und Sterbefrequenzen, sowie bei dem Umstande,
dass es doch nur einige Gegenden und Orte sind, nach denen eine Mehreinwanderung
Fremder erfolgt, zahlreiche und grosse Gcbietstheile an Bevölkerung mehr oder weniger
dauernd ab-, andere auf Kosten jener und durch die fremde Einwanderung auch
bei geringem oder fehlendem üeberschuss zunehmen können, — dafür liefert Frank-
reich auch lehrreiche Belege. Von 1881 — S5 haben nach der Zählung von S7
Departements 29 an Bevölkerung ab-, 58 zugenommen , von 1886 — 91 bereits bzw. 32
und nur 55. hier jene tun 399.000 ab , diese um 523.000 zu . bei einer Gesammt-
zunahme von bloss 124,000, während der Geburtsüberschuss 1886 — 90 nach den
Standesregistern ca. 203.000 gewesen, also die Mehrauswanderung c. 78.000 in fünf
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Ergebnisse hinsichtlich der Wanderungen u. s. w.
565
Jahren betragen hätte. Im Jahre 1890 uberwogen nur in 27 Departements die Geburten,
in 60 die Todesfälle. Von 56 Städten Uber 30.000 Einwohner hatten 9 eine meist nur
kleine (zus. 9.603 Kopf) Abnahme, 47 eine Zunahme (zus. 350,026 Kopf) in dieser
erstmaligen der französischen fünfjährigen Zählungsperioden im Frieden, 1886 — 91, er-
fahren, wo die Bevölkerung im Ganzen abgenommen hat. Die kleinstädtische und die
ländliche Bevölkerung neben der fremden Einwanderung hat also zu Gunsten jener
grösseren Städte einen wirklichen Verlust erlitten, die Gesammtbevölkerung durch
diese Wanderungen muthmaasslich an innerer Kraft zu weiterer natürlicher gosunder
Vermehrung wieder etwas cingebtisst. (S. den Bericht über die letzte Volkszählung
von 1891 im Bull, de stat. 1891, sowie den Aufs, über die Ergebnisse dieser
Zählung und Uber die Bewegung der Bevölkerung in 1890 in Block’s Annaire 1892).
Wie trotz der grossen Auswanderung sonst auch noch neuerdings überall die
Bevölkerung in den betreffenden Staatsgebieten gestiegen ist, ergeben die früheren
Daten und Tabellen (s. bes. S. 519). Grossbritanniens Volkszahl stieg von 1871 bis
1891 noch von 26.07 auf 33.00 Mill., wobei die Kuck- und Neueiuwanderung aller-
dings etwas mitgewirkt hat. Schweden hat trotz der relativ enormen Auswanderung
zwischen 1880 — 90 seine Bevölkerung doch noch von 4.566 auf 4,784, Norwegen
desgleichen bei zeiiweise noch grösserer Auswanderung von 1.819 (Wohnbevölkerung)
auf 1.989 (factische) zwischen 1875 — 90 vermehrt. Dänemarks Bevölkerung ist
von I88r — 90 von 1.969 auf 2.172. die der Schweiz (wo auch Einwanderungen in
Betracht kommen) von 2.846 auf 2.933 Mill. gestiegen. Auch Italien hat vom J.
1881 (Zählung) bis J. 1890 (Berechnung) bei sehr grosser überseeischer Auswande-
rung im letzten Jahrzehnt doch noch seine Bevölkerung von 28.46 auf 30.16 Mill.
vermehrt.
Ucber die Veränderung, bzw. Zunahme der Bevölkerung im heutigen Deutschen
Reich, in seinen wichtigeren Staaten und grosseren Gebietsteilen in diesem Jahr-
hundert enthalten die grösseren Tabellen und Daten (S. 512, 513, 515, 518, 519) ebenfalls
bereits viele Zahlen. Es ist aber von Interesse, hier noch etwas mehr ins Einzelne
zu gehen, um das vereinigte Ergebniss der natürlichen Volksbewegung, der heimischen
und der Aus- und Einwanderungen etwas näher zu verfolgen, wofür die gen. Publi-
cationen des reichsstat. Amts (bes. Juliheft 1879, N. F. B. 44, Vierteljahrh. 1892, I)
die Zahlen, auch die wünschenswerten Relativzahlen liefern.
Hiernach haben von den unterschiedenen 90 Gebietstheilen (Kleinstaaten , Reg.-
Bezirke in Preussen, Provinzen, Kreise und dergl. der Mittelstaaten, Schleswig,
Elsass-Lothringen auch vor der Annexion immer schon eingerechnet), in der Periode
von 1816 — 34. bis zur Gründung des einheitlichen Wirtschaftsgebiets für den grösseren
Theil des heutigen Reichs im Zollverein, in einer Periode, wo die Auswanderung
noch unbedeutend, die heimischen Wanderungen noch klein waren , alle zugenommen
(Max. jährlich 2.22 %, R.-B. Gumbinnen, Min. R -B. Osnabrück 0,05%): von 1834
bis 52, der ersten Aufschwungsperiode im Zollverein, der Zeit des Beginns des
Eisenbahnbaus, aber auch der Zeit der Theucrung 1846 — 47, der politischen Be-
wegungen 1848 1F. haben von jenen 90 89 zugenommen (Max. jährlich Berlin 2.73,
Min. Waldeck 0.10%). nur 1 abgenommen (R.-B. Osnabrück 0.05°/o); in der dritten
Periode von 1852 — 67, wo wiederum Theuerungs- und ungünstige Zeiten zu Anfang,
die Speculationsperiodo 1856 — 57, die Handelskrise von 1857, die politischen Ereignisse
von 1859, 1864, 1866 einwirkten, das Eisenbahnnetz, die industrielle Entwicklung,
die Beteiligung am Welthandel aber schon immer grösser wurden, haben doch immer
noch 83 zugenommen, freilich davon eine grössere Anzahl sehr wenig (Max. Berlin
3.08, 12 weniger als %%) und 7 haben abgenommen (Max. hess. Prov. Oberhessen
0.41, R.-B. Cassel 0.51); von 1S67 — 75. in der Periode des französischen Kriegs,
der grossen Speculationszeit nach demselben, des beginnenden Rückschlags, haben
noch 79 zugenommen, datunter 13 um weniger als % — 1 (Max. Berlin 3.98, Brom.
Staat 3.20. Hamb. Staat 2.99, R.-B. Arnsberg 2.72, Kr. Mannheim 2,22, R.-B. Düssel-
dorf 2.02, Kr. Dresden 2%) und II haben abgenommen, darunter beide Mecklen-
burg, R.-B. Stralsund, beide Eisass, Lothringen, dies im Max. 0.84%. letztre 3
unter politischen Einflüssen. Eine ähnliche Berechnung nur getrennt für die deutschen
Staaten, preuss. ganzen Provinzen (und Hohenzollern), rechts- und linksrheinisches
Baiern, für die 4 Volkszählungsperioden von 1871 — 90 ergiebt, dass nur 2 preuss.
Provinzen wirklich abgenommen haben, Pommern 18S0 — 85 (starke Auswanderung)
5G6 4. B. Bevölk. n. Volksw.scb. 1. K. Bevölk. lehre. l.II.-A. Statist. §.228.
um 0.45%; jährlich Zunahme JS71 — 75 0.53. 1875 — 80 1,04. auch 1885 — 90
wieder 0.20%) und Ostprenssen 1885 — 90 um 0.01% (Zunahme 1S80 — 85 auch nur
0. 26% jährlich); Wcstpreussen und Posen haben 1>80 — S5 sehr wenig mehr zu-
genominen, bzw. 0.03 und 0.14%. 1885 — 90 (grösserer Agrarschutz) auch sie wieder
mtdir, 0.86 und 0.42%. Abgenommen hat ausserdem das Gebiet von Hohenzollem
in den 2 letzten Zahlperioden, um 0 27 und 0.19%* Von den übrigen deutschen Staaten
zeigen nur die beiden Mecklenburg mehrmals eine Abnahme, Schwerin 1871 — 75
um 0.18 und wieder 1880 — S5 um 0.O7 (1885 — 90 Zunahme von 0.11) und Strclitz
in der ersten, dritten und vierten Periode (um 0.34. 0.38, 0.08%), ferner in der
1. Periode Waldeck (0.67) in der ersten und dritten Eisass- Lothringen 0.29 und
0.03%). Klein, unter 7 4% gesunken, war die Vermehrung in der 3. Periode in
Württemberg (0.24%), ebenso in Oldenburg (0 24). in der ersten in Schwarzb.-Sonders-
hausen. in der 3. und 4. Per. in Waldeck (0.02, 0.25).
Geht man auf kleinere Gebietseinteilungen Prenssens und der Mittelstaaten,
Regierungsbezirke, Kreise ein, so ergeben sich natürlich unter dem Einfluss der
Wanderungen und der Verschiedenheit der natürlichen Vermehrung grössere Ver-
schiedenheiten und auch mehr Fälle einer Abnahme oder einer ganz geringen Zunahme.
So hat nach Regierungsbezirken 1S85 — 90 im ostpreuss. Gumbinnen die Bevölkerung
ein Weniges ab-, im R.-B. Königsberg um noch weniger zu-, in Pommern in den
B.-B. Cöslin und Stralsund ab-, nur im R.-B. Stettin zugenommen. In Baiern zeigen
in derselben jüngsten Periode 3 von 8 Bezirken, Oberfranken, ünterfranken, Oberpfalz
(dies nur ganz geringfügig) eine Abnahme, Niederbaiera eine nur sehr kleine Zu-
nahme. In Würtemberg hat der Jagstkreis abgenommen. Die Bevölkerungsstatistik
der Kreise in Preussen u. s. w. giebt noch mehr Einblick in das Detail der Ver-
änderungen. ebenso die Statistik der Ortsbevölkerung, worauf wir hier nicht weiter
eingehen können, (S. u. A. über die Orte mit über 2000 Einwohnern im Deutschen
Reich etc. die Zu- und Abnahme der Bevölkerung daselbst von 1885 — 90 die Viertel-
jahrshefto 1892, N. II). Neben zahlreichen kleinen Landstädten kommen doch ver-
einzelt auch Fälle vor, wo unter ungünstigen Conjuncturen grössere Städte über 10,000.
selbst Uber 20.000 Einwohner eine Abnahme oder einen relativen Stillstand zeigen,
Beispiele sind Stralsund, das mehrfach abnahm , unter heutigen Verkehrsverhältnissen
sehr ungünstig liegt, 1885 28.984, 1890 27.814 E. , aus ähnlichen Gründen Emden.
Die gewaltigen nachhaltigen Verschiebungen der Bevölkerungszahl und der
weiteren Vermehrung derselben ergiebt auch die Statistik der Ortschaftsbevölkerung
nach Grössenclassen. Darüber mehr unten in §. 237. So sind im Deutschen Reiche
1907 — 85 die jährlichen Zunahmer)üoten gewesen bei
Tab. XXII.
Berlin 3.36%
allen Städten über 100.000 E. 2.66 „
., Orten von 20 — 100,000 E. 2.36 „
5—20,000 E. 1.83 „
2—5,000 E. 0.99 „
„ solchen Orten überhaupt 1.85 ,.
kleineren Orten (plattes Land) 0.20 „
bei der Gesamuitbevölkcrung 0.86 „
(S. für Weiteres: Keichsstat. n. F. B. 32, auch B. 30. Oct.-Heft, mit Rücksicht auf
den Einfluss der Eisenbahnen auf die örtliche Bevölkerungsveränderung; ähnliche
Arbeiten für einzelne Staaten, so für Preussen, in der Zeitschr. des Stat. Bureaus,
ein Aufsatz von Jan nasch).
Nattirlich, dass nun diese Wanderungen auch durch ihren
Einfluss auf die Zusammensetzung der Bevölkerung nach mancherlei
anderen Richtungen weiter wirken , was wieder für die populatio-
nistische wie die wirtschaftliche Seite der Bevölkerungsfrage wichtig
ist. Namentlich die Vermischung, welche sich so in der Be-
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Ergebnisse hinsichtlich der Wanderungen u. s. w.
567
völkerung in Bezug auf Nationalität, Stamm, natürliche und er-
worbene körperliche, geistige, sittliche Eigenschaften u. s. w. voll-
zieht, wenn auch erst nach und nach, da die landsmannschaftlichen
Elemente, zumal im fremden Sprach- und Confessionsgebiet, länger
zusammen zu halten pflegen, wird auf die Dauer von grosser Be-
deutung auch populationistisch , für die natürlichen Vermehrungs-
verhältnisse, wie für Vermischung alter, die Ausbildung neuer
körperlicher, geistiger, sittlicher Eigenthtimlichkeiten werden. Schon
jetzt zeigt sich das in den Gross- und Weltstädten, in den Industrie-
bezirken, in den Masseneinwanderungsländern etwas. Welches
neue Volksthum wird sich bei grösserer Volksdichte in den Ver-
einigten Staaten in einigen Menschenaltern, vollends in einigen
Jahrhunderten herausgebildet haben, wenn die nicht -britischen
Nationalitäten amalgamirt werden und die Union ein einziges poli-
tisches Gemeinwesen verbleiben sollten!
Wertbvolle Einblicke in diese aus den Wanderungen hervorgehenden Ver-
mischungen der Ortsbevölkerung giebt namentlich dio Geburts Statistik der letzteren.
Vgl. für Deutschland B. 32 der Iieichsstat., Auszug im Jahrb. 1890, über Berlin
speciell Statist. Jahrb. v. Berlin XIII, S. 8. Die Berechnungen betreffen daun auch
den Bevölkerungsaustausch durch Wandeningen , insbes. durch die heimischen. So
waren z B. vor der Berliner ortsanwesendeu Bevölkerung am 1. Dec. 1885 von 1,315,230
(nach Abzug von 51 Personen ohne Angabe) nur 557.220 in Berlin selbst
geboren, 683,405 in anderen Tlieilen des preuss. Staats, davon 45.324 in Ost-,
41.183 in Westpreussen , 251.646 in M. Brandenburg ausserhalb Berlin, 81,663 in
Pommern, 58.776 in Posen. 99.783 in Schlesien, 69.446 in Prov. Sachsen, 3661 in
Schlesw. -Holst., 9016 in Hannover, 6595 in Westfahlen. 5081 in Hess.-Nass., 11,105
in Rheinland, 126 in Hohcnzollern. 67.140 in anderen Staaten des Reichs, davon in
Baiern 3479, in K. Sachsen 12.821, in Würtemberg 1498, in Baden 1571, in Grossh.
Hessen 1010, in beiden Mecklenburg 12,450. in den sächs. HcrzogthUmern 6054, in
den Hansastädten 3105, in Braunschweig 2308, in Oldenburg 716, in Elsass-Lothringen
1306, der Rest in den übrigen Kleinstaaten; im Rcichsausland und auf dem Meer
(nur 2) geboren waren 17.405, davon in Oesterr.-üngarn 6417, in Russland 4163, in
der Schweiz 903, in den Vereinigten Staaten 1059 u. s. w. Welches „neue Deutsch-
thum“, mit Verwischung und Vermischung der Stammesart bildet sich so. Und wie
verwischt in nationaler und Stammes-Hinsicht ist erst die Bevölkerung von Orten wie
Wien. London, Paris, Newyork u. s. w! Durch ..Bevölkerungsaustausch 4 innerhalb der
reichsgebürtigen Bevölkerung hatte 1885 nach der Geburtsortstatistik Berlin 028,066
mehr gewonnen als abgegeben (geborene „Berliner44 ausserhalb Berlins fanden sich
doch auch im Reiche 112,479, freilich über die Hälfte davon in der Mark Branden-
burg, meist in den Berliner Vororten), aber auch Rheinland hatte 104, Westfalen 45,
Königreich Sachsen 140, Baden 10, Ilerzogthum Braunschweig 1S.6, Anhalt 2.7, Staat
Lübeck 11.6, Staat Bremen 47, Staat Hamburg 188, Elsass-Lothringen (aus allen
Theilen des Reichs) lu7 Tausend gewonnen, ein Gewinn, den die übrigen preussischen
Provinzen und deutschen Einzelstaaten aus ihrer Geburtsbevölkerung hergegeben hatten,
absolut am Meisten die vorwiegend agrarischen Länder (Ostpreusscu 158, West-
preussen 56, Mark Brandenburg 1 16, Pommern 117, Posen 119, Schlesien 228, Provinz
Sachsen 168, Schleswig-Holstein 9, Hannover 41, Hessen-Nassau 14, Hohcnzollern 4,
Baiern 40, W'ürtemberg 62, Grossh. Hessen 10, beide Mecklenburg 69. Oldenburg 6,
die kleinen thüring, Staaten 62,000, den kleinen Rest die übrigen. Bei den Mittel-
staaten und in den preuss. Provinzen erscheinen die Wanderungen in diesen Zahlen
zu klein, weil diejenigen innerhalb des Heimathsstaats, bezw. der Provinz hier
nicht berücksichtigt sind).
568 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk. lehre. 1. H.-A. Statist. §. 229.
Wie in der Fremde doch noch die nationalen und landsmannschaftlichen Be-
ziehungen auf ein Zusammenhalten einwirkcn, ergiebt die französische Heiraths-
statistik der nicht-staatsangebörigen Bevölkerung in der starken ZilTer der Heirathen
unter Landsleuten gegenüber den Mischlieirathen mit der französischen und andeis-
natiorialen Bevölkerung, wobei natürlich in den mehrfach nur kleinen Zahlen zufällige
Einflüsse mitwirken und zu bedenken ist, dass beide Geschlechter derselben fremden
Nationalität überhaupt nicht gleich stark und in entsprechendem Alter und so nament-
lich nicht immer an demselben Ort vertreten sind (s. die Statistik für 1 890 in Blocks
Ann. 1892, S. 30).
VI. — §. 229. Volksdichtigkeit
A. Behandlung der ganzen Frage.
Deber die Bercchnuugsmethode und die Mängel blosser Durchschnitte s. o.
§. 203. bcs. S. 479.
Von ähnlichen Ansichten über diese Mängel ausgehend und ähnlichen Gesicbts-
puncten folgend, haben namentlich Geographen und geographische Statistiker
schon seit länger beachtenswerthe Versuche gemacht, die Volksdichtigkeit correcter,
mehr der Wirklichkeit entsprechend statistisch darzustellen und rationellere Methoden
dafür und namentlich auch für die kartographische Behandlung der Volksdichte
zu finden. Dieses letztere Problem hat die neuere wissenschaftliche Kartographie öfters
beschäftigt, in Deutschland namentlich seit H. Berg haus’ physik. Atlas (1849).
Vgl. auch Petermann, Skizze zur Uebersicht der Dichtigkeit der verschiedenen Theile
der Erde, in den Geogr. Mittheil. 1859, bcs. aber Behm in Behrn und H. Wagner.
Bevölkerung der Erde, Nr. II, 1S74. S. 91 ft, Uber die betreffende Methode. G. Mayr
in d. Beitr. z. Statist, v. Baiern. Heft 22, Delitsch, kartogT. Darstellung der Be-
völkernngsdichtigkeit von Westdeutschland, auf Grund hypsometrischer und geognosti-
scher Verhältnisse, Leipzig 1865. Einer der ersten practischeu Versuche, die Mängel
der üblichen Durchschnittsberechnungen der Voiksdichtigke.it zu vermeiden und ein
richtigeres Princip auch für die kartographische Darstellung der Volksdichte nament-
lich in kleineren Gebietstheilen zu gewinnen , rührt von dem Dänen Ka v en her (däu.
stat. Tab.werk N. F. B, 12), wo nach den Materialien der Zählungen von 1S45 und
1855 das Gebiet Dänemarks in 1700, das Schleswig-Holsteins in 150 Theile zerlegt
und dafür die Berechnungen ausgeführt wurden. Behm a. a. 0. unterscheidet nur 3,
aber immerhin doch 3 Dichtestufen (Uber 8000, 2 — 8090 [ein zu grosser Spielraum!]
und unter 2000 p. Q- Meile) für die Erdtheile und fügt weitere Berechnungen hinzu.
S. ferner die Karte der Volksdichtigkeit in Deutschland mit Text in Petermann’s
geogr. Mittheil. 1874. Heft 1, auch in Reichsstat. B. 30. Märzheft nach der Zählung
von 1875, Sydow-H. Wagner, method. Schulatlas Karte 10, Volksdichte auf der
Erde, und Karte 14 in Mitteleuropa, auch R. Andrce, Handatlas, Karte 17, Deutsch-
land; die Arbeit nebst Karte über die Volksdichiigke.it in Vorder- Indien von H.
Wagner in Behm u. Wagner. Bevölk. d. Erde N. IV. 1876.
Neuerdings sind aus dieser geographisch -statistischen Richtung, welche dabei
namentlich den Einflüssen der Natur (Höhe, Klima, Bodenart, Bodenbeschaffenheit)
auf die Besiedlung, die Volksdichte u. s. w. nachgeht, interessante und höchst fleissige
Special-Arbeiten hervorgegangen, welche auch die Beachtung des NationalöLonomen
in hohem Grade verdienen. So in der Göttinger Diss. von Sprecher von Bernegg,
Vertheilung der bodenständ. Bevölkerung im rhein. Deutschland i. J. 1820 (Göft. 1887),
ferner in den von A. Kirchhoff herausgegebenen „Forschungen zur deutschen
Landes- und Volkskunde“, u. A. B. V, N. 3, Käsemacher, Volksdichte in der
thüring. Triasmulde, und jüngst B. VII. N. 1 L. Neumann (Prof. d. Geogr. in Frei-
burg i. Br.) Volksdichte in Baden, mit einer Höhenschichten- nnd Volksdichtekarte,
eine „anthropogeogr. Untersuchung“ (ly92) (daselbst umfassende Litteraturübersicht).
Erst durch derartige, ganz ins Detail eingehende Arbeiten werden, neben anderen,
auch die mit der volkswirtschaftlichen Frage der Volksdichte zusammenhängenden
Seiten statistisch richtig behandelt nnd wird in die conditionellcn und causalen Ab-
häigigkeitsverhältnisse ein sichererer Einblick verschafft, als dies bei der Benutzung
von Durchschnittsgrössen für die Dichtigkeitsmessung grösserer Gebietsteile, vollends
ganz grosser Länder, wo der Durchschnitt eben alles Verschiedene und Conerete ver-
wischt, möglich ist.
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Volksdichtigkeit. Behandlung der Frage.
569
Diese und ähnliche neuere Arbeiten, wohin ich auch die von Levasseur
(popul. franc. u. Bull, de 1‘inst internat. de stat. 1888, III. H. 3, p. 04 if.) rechne,
dienen der neueren „anthropo geographischen“ Richtung, wie sie namentlich
Fr. Ratzel vertritt. Dessen bezügliches geistvolles, wenn auch zu sehr coustruirendcs
und inehr nur Probleme andeutendes als lösendes Werk ist für die hier behandelten
Fragen ebenfalls nicht ohne Interesse: „Anthropogeographie“ (Anwendung der Erd-
kunde auf dio Geschichte), 1. B. Stuttg. 1882, S. 41 ff'., Einfluss der Naturbedingungen
auf die Menschheit, S. 143 ff., Vertheilung der Wohnstätten, Zus.fassuug S. 137 ff.,
mit Zurückführung der Erscheinungen auch in der Menschen weit auf Moritz U agner’s
„Migrationstheorie“), B. 2, Stuttgart 1891 (geograph. Verbreitung der Menschen, bes.
S. 180 ff, über Dichtigkeit der Bevölkerung, S. 255 ff, über Beziehungen zwischen
Dichte und Culturhöhc, S. 201 ff., über die Bewegung der Bevölkerung, und auch
sonst in diesem Bande mancherlei Ausführungen, welche mit dem uns hier beschäfti-
genden Problem Zusammenhängen.)
Auch diese Frage der Volksdichte liegt freilich für den „Anthropogcographen“,
den Naturforscher, den Statistiker anders als für den Nationalökonomen: die Höhenlage,
die Bodenart, der Mangel an agriculturfähigem Boden , die Abnahme der Erträge des
Ackerlandes bei ungünstigerem Klima werden jene als mitwirkende Ursachen der ge-
ringeren Volksdichte und der langsamen oder selbst unmöglichen ferneren Volkszunabme
nachweisen. Allein in weiteren Grenzen ist doch eine Zunahme und eine stärkere
Volksdichto bei in dustrieeller und überhaupt bei jeder Entwicklung möglich, wo
die Ortsbevölkerung nicht allein oder gar nicht auf an Ort und Stelle gewonnene
Bodenproducte, namentlich Nahrungsmittel angewiesen ist, sondern diese im Austausch
gegen Industrieprod ucte und politische n. s. w. Dienstleistungen beziehen kann. Mit
dieser Möglichkeit erweitert sich der Spielraum der Volksdichte und der Zunahme
der letzteren ausserordentlich, nur dass eben dabei jene rechtlichen und wirtschaft-
lichen Bedingungen erfüllt werden müssen, welche ein solches Austauschsystem zur
Voraussetzung hat und jene Schwierigkeiten . daher auch jene Bedenken eintreten,
welche die Erfüllung dieser Bedingungen und die Folgen eines solchen Austausch-
systems begleiten. In diesen Puncten hat man es wesentlich nur mit der volkswirt-
schaftlichen Seite der Volksdichte zu thun, welche dann freilich wieder physiologische,
sanitäre, sociale, culturliche, ethische Puncte des Bevölkerungsproblems berührt. S.
auch unten Hauptabschnitt 2 dieses Kapitels.
Vorbehaltlich aller der soeben wieder und der in §. 203 an-
gedeuteten Bedenken hinsichtlich der Benutzung von Dichtigkeits-
grössen, welche Durchschnittszahlen sind, und mit Ver-
wahrung gegen alle voreilige und schiefe Schlussziehungen aus
statistischen Grössen dieses Characters dienen doch die so be-
rechneten Dichtigkeitsziffern dazu, gewisse Haupt Verschieden-
heiten in den Beziehungen zwischen der Volkszahl und dem
Raum, auf welchem dieselbe lebt und wirthschaftet, deutlicher, auch
in ihren Voraussetzungen und Folgen verständlicher zu machen,
als es der Vergleich bloss der absoluten Volkszahlen thut. Man
vergleicht hier passend zunächst die Durchschnittsdichte von Länder-
gebieten, welche von Natur oder nach der Culturentwicklung homo-
gener sind und so für die Beziehungen zwischen Bewohnern und
Boden unter sich mehr Aebnlichkeit haben, daher z. B. ganz grosse,
mittelgrosse, kleine, namentlich geographisch ähnlich gelegene, ähn-
liches Klima, ähnliche Boden beschaffenheit besitzende je unter ein-
ander. Hierbei kann man doch einigermaassen zutreffend annehmen,
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570 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lehre. l.H.-A. Statist. §.230.
dass solche Gebiete dann hinsichtlich der wirthschaftlichen Cultivir-
barkeit nicht völlig verschieden sein werden. Alsdann wird eine
solche Vergleichung immerhin für gewisse Fragen der Bevölkerungs-
lehre, auch der wirthschaftlichen, Werth haben und lehrreich sein.
Betrachtet man ferner von vornherein die Volksdichte wenigstens mit
als ein Product der natürlichen Ausstattung der Länder für die wirth-
schaftliche Cultur, so ergiebt eine Vergleichung dieser Dichte selbst
von Gebieten natürlicher Heterogenität immerhin, wie verschieden
wenigstens für den Zeitpunct der Vergleichung die Volksdichte als
solches Product ausgefallen ist. Das lässt dann wieder mancherlei
Schlüsse nach rückwärts und nach vorwärts zu; so für die Frage
des Einflusses des Menschen selbst auf die Schaffung wirtschaft-
licher Lebensbedingungen für sich, für die Fragen der Wanderungen,
des Abflusses aus Ländern hoher Volksdichte in andere geringer
u. dgl. m.
In solchen Erwägungen liegt die Berechtigung, doch auch
grosse, nach natürlicher Ausstattung und bisheriger Culturentwicklung
sowohl heterogene als homogenere Länder auf ihre durchschnitt-
lich e Volksdichte zu prüfen und zu vergleichen. Dabei mag man
passend mit ganz grossen Ländern beginnen, um zunächst einmal
in der verschiedenen Durchschnittszahl den llaupteharacter in Bezug
auf Volksdichte scharf hervortreten zu lassen. Indem man dann
diese Länder in kleinere und immer kleinere Theile zerlegt, werden
sich schrittweise auch die Durchschnittszahlen der Dichte dafür
immer mehr der Wirklichkeit annähern, bis man mit Darstellungen
und Vergleichungen der Dichtigkeit kleinster Gebietstheile in der
oben (§. 203) dargelegten Berechnuugs- und Behandlungsweise
schliesst.
B. — §. 230. Statistik der Volksdichtigkeit.
Nach den Gesichtspuncten des vorigen §. 229 sind die folgenden Tab. XXIII
bis XXVIII entworfen worden. In denselben wird die Frage der Volksdichte fort-
schreitend von den Erdtheilen beginnend bis zu Gebietsgrössen von der Art unserer
^preussisch-deutschcn) Kegierungsbezirke verfolgt. Ein noch weiteres, an und fUr sich
für die Erledigung der ganzen Frage erwünschtes, ja noihwendiges Hinabgehen, etwa
bis zu Gebietsgrössen von der Art unserer Kreise, muss der monographischen Be-
handlung der Frage Vorbehalten bleiben. Hier fehlt dafür auch der Kaum, da zahl-
reiche Tabellen und Daten für die Fortführung der Untersuchung bis in dieses Detail
hinein erforderlich sind.
Die Materialien für die Tabellen, auch die Dichtigkeitsberechnungen für 1 Qn.-
Kil. zum Theil nach Nr. VIII der „Bevölkerung der Erde“ von II. Wagner und
A. Supan, S. XI fl'., doch mit Abweichungen in der Zusammenfassung der Länder-
gruppen und sonst in Manchem, ferner aus dem Gothaischen Jahrbuch, Jahrgang
1892. Die übrigen Daten aus den neuesten amtlichen Statist. Publicntioncn, Jahr-
büchern u. s. w., namentlich den rcichsstatistischen. Die Zahlen meist aus der neuesten
Zeit, um 1890.
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Statistik der Volksdichtigkeit.
571
Da die absolute Grösse des Landes und der Bevölkerung auch für die Wür-
digung der Dichtigkeitszahl von Bedeutung ist und au und für sich Interesse bietet,
ist sie in Tab. XXIII u. XXIV beigefujrt worden, und zwar auch nach der gen.
Arbeit „Bevölkerung der Erde“, wo die Zahlen für die Gebietsgrössen, welche nicht
auf genauen Vermessungen beruhen, und für die geschätzten Volkszahlen der Länder
ohne eigentliche Volkszählung ihre sorgfältige Begründung linden. S. ebenda auch für
die Erdiheile und die Gebietsgruppen, was dazu und nicht dazu gerechnet wurde (in
Betreff abgelegener Inseln, der Landseeeu u. s. w.). S. Tab. XXIII, S. 572.
Die grossen Grundunterscbiede der bisher erreichten Volks-
dichte lässt die Tabelle XXIII frappant hervortreten. Bei den Erd-
theilen Asien and Afrika beruhen dabei freilich die absoluten Grund-
zahlen grossentheils nur auf mehr oder weniger unsicheren Schätzungen
(China! Mittelafrika!). Da ein bedeutender Theil des nördlichen
Gebiets von Asien, America und selbst Europa aus klimatischen
Gründen wenig oder gar nicht besiedelbar ist und in den tropischen
Gebieten ähnliche Gründe die Besiedlung überhaupt oder wenigstens
für die europäischen Völker hindern, ist natürlich bei Vergleichungen
der Volksdichte der Erdtheile und der grossen Gebietsgruppen
dieses Umstands zu gedenken. Die Differenzen der Volksdichte
sind wesentlich mit ein Ergebniss dieser Einflüsse. Aber auch der
Einfluss der bisherigen gesammten Besiedlungsgeschichte und Wirth-
schafts- und Culturentwicklung tritt doch in den Dichtezahlen
deutlich mit hervor, so beim Vergleich von Europa mit America,
von Central- und Nordwest- mit dem übrigen Europa. Für die
Bevölkerungsfrage ist das zu beachten wichtig, im Hinblick auf die
Aussichten von Aus- und Einwanderung, für das allmälige Nach-
rücken der zurückgebliebenen Länder auf die Dichtigkeitsstufe
vorangeschrittener, so in den Verhältnissen Americas, Australiens
gegenüber Europa, Osteuropas gegenüber Mittel- und Westeuropa.
In historischer Retrospectivc betrachtet, ist der Schwerpunct der
europäischen Volksdichte vom Mittclmeergebiete im Alterthum nach
Nordwest- und Centraleuropa gerückt, wesentlich erst in der neueren
und neuesten Zeit, unter dem Einfluss der technischen und wirt-
schaftlichen Entwicklung und der modernen Richtung des Welt-
verkehrs. Dass so grosse Verschiebungen in Zukunft sich wieder-
holen sollten, in der Richtung nach Ost- und Nordeuropa und Nord-
america, ist zwar aus mancherlei Gründen, klimatischen, mit der geo-
graphischen Lage zusammenhängenden, nicht wahrscheinlich. Aber
eine gewisse Verschiebung findet doch durch die Auswanderung
über See, die innere Colonisation Nordamericas und durch die starke
natürliche Volksvermehrung des slavisehen Ostens, die schwächere
des übrigen Europas, zumal Frankreichs, schon jetzt statt und
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572 1. B. Bcvölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lehre. 1. H.-A. Statist. §. 230.
Tab. XXIII. Grösse, Bevölkerung, Volksdichte der Erd-
theile und ihrer geographisch-politischen Haupttlieile.
Erdthcile
Gebietsgrösse
1000
Quadratkilom.
Bevölkerung
absolut,
Millionen Kopf
Dichte
auf
1 Qu.-Kilom.
Europa
9.730
357.4
o7
«1 4
Asien
41.143
826 0
19
Africa
29.207
164.0
5
America
3S. 334
121.7
3
Australien
7.690
3.23
0.4
Ocean. Inseln
1.899
7.42
4
Polargebiete
4.4S3
0.08
—
Erde
135.491
1479.73
11
Europa:
Central *)
1.328
105.85
80
Nordwest*)
315
37.89
124
Nordost3')
815
8.96
11
Süd west4)
1.410
90.16
64
Südost 5)
526
18.48
35
Ost0)
5.336
96.04
IS
Asien7):
Sibirien
12.4S8
4.31
0.3
ßuss.Centr.-Asien u.Turkestan
4.342
7.11
1.6
Vorder
7.522
38.37
5.0
Centr. u. Ost ....
11.717
412.36
35.0
[davon China
4.005
350.0
90.0]
[ „ Japan
382
40.07
105 J
Vorderindien
3.942
285.68
73
[davon Brit. Indien . . .
3.656
278.58
76 ]
Hinterindien
2.126
38.68
18
Ostind. Inseln
2.004
39.46
20
Africa7):
Nord
3.564
21.19
7
Sahara
0.180
2.50
0.4
Nordtrop. Zone
10.303
101.76
10
Südtrop. „
7.842
31.96
4
Aussertrop. Sudafr
1.317
3.55
3
A me rica7):
Nord
19.810
79.66
4
[davon Brit
8.412
5.27
0.6]
., Ver. Staat. . . .
9.212
62.98
7
t „ Mexico ....
1.947
11.40
6
Central
547
3.23
6
Westindien
244
5.4S
22
Süd
17.732
33.34
•>
davon Brasilien ....
8.361
14.60
1.7]
„ Paraguay ....
253
0.33
1.3
Uruguay ....
179
0.71
4
Argentinien . . .
2.789
3.20
1.2
Chile
776
3.17
4
Noten 1 — 7 s. S. 573.
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Statistik der Volksdichtigkeit
573
würde bei einer dauernden Verringerung der wirtschaftlichen
Hilfsmittel Central-, West- und Südeuropas noch schärfer werden.
Nur die Aufrechthaltung der Suprematie in Technik, Wirt-
schaft und Cultur in den letztgenannten Theilen Europas kann
das verhüten. Die Notwendigkeit eines Zusammenhaltens von
„Cultureuropa“ gegen den slavischen Osten wie gegen Nordamerica,
und ganz Europas, Americas und Australiens gegen die ungeheuren
Bevölkerungsmassen der asiatischen continentalen Culturvölker
springt auch aus den absoluten und relativen Bevölkerungszahlen
hervor.
§. 231. — Die einzelnen europäischen Reiche
und Staaten.
Die Tab. XXIV (auf S. 574) enthält die Daten für die gegenwärtigen euro-
päischen Staatsgebiete. Grade für diese Daten gilt die mehrfach schon ge-
machte Bemerkung, dass nur Länder von ungefährer Gleichheit der Grösse, Bevöl-
kerungsverhältnisse, wirtschaftlichen Stellung u. s. w. verglichen werden können, so
hier iu Bezug auf die Volksdichte. Daher z. B. die europäischen Grossstaaten
nebst Spanien unter einander, wobei nur Russland wegen seiner ungeheuren Land-
grösse und geringen Gesammtentwicklung sich nicht ohne Weitres mit den anderen
vergleichen lässt. Dagegen können nicht wohl diese Grossstaaten unmittelbar mit
den Mittelstaaten verglichen werden, von denen z. B. Belgien und HoUand nur ihre
besonders hohe Volksdichte ihrer geographischen Lago und ihrer mit dadurch be-
dingten Function für den Weltverkehr Deutschlands und Frankreichs verdanken. Volks-
und — was grade hier geboten ist — weltwirtschaftlich betrachtet kommt in der
Grösse der Bevölkerung und der Volksdichte dieser beiden Staatsgebiete die central-
und westeuropäisch- contincntale volkswirtschaftliche Gesammtentwicklung mit zum
Ausdruck, wie in derjenigen Sachsens und R.-B. Düsseldorfs die deutsche, in der
des Dep. du Nord die französische, Lancasters die britische. Die bei den Statistikern
übliche Behandlung solcher Fragen im engen Rahmen der politischen Staatsgrenzen,
regelmässig, wie iu dem hier besprochenen Falle, eines Products zufälliger Geschichts-
gestaltung, führt auch hier irre und bedarf nach solchen volkswirtschaftlichen Ge-
sichtspuncten der Berichtigung.
Die Vergleichung der Durchschnittsdichtigkeit in der Gegen-
wart vom Deutschen Reich und Frankreich mit 91 und 71 giebt
genug zu denken. Sie zeigt, wie wirtbschaftliche Entwicklung und
politische Ruhe selbst bei grosser Auswanderung eine natürliche
Volksvermchrung bei uns in diesem Jahrhundert ermöglicht haben,
durch welche wir in Bezug auf Volksdichte nunmehr weit über
*) Deutsches Reich, Oesterreich-Ungarn (mit Bosnien und Herzegowina, Lichtcu-
stein), Schweiz, Luxemburg, Niederlande, Belgien.
*) Gr.-Britannicn und Irland (N. 2 u. 3 in der „Bevölk. d. Erde“ als Nordwest-
europa zusammengefasst, besser doch zu trennen).
*) Dänemark, Schweden, Norwegen.
*) Frankreich, Spanien, Portugal, Italien mit den kl. selbständ. u. fremdländ.
Gebieten (Malta, Gibraltar).
8) Türkei mit Bulgarien, aber ohne Bosnien und Herzegowina, ferner Rumänien t
Serbien, Montenegro, Griechenland.
°) Russland mit Polen und Finnland.
7) S. „Bev. d. Erde“ VIII, S. XII die Bestandtheile der Gobietsgruppen.
A- Wignor, Grnndlopnnp. 3. Anflapo. 1. Tholl. Grundlagan. 37
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574 4. B. Bevölk. n. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lehre. 1. H.-A. Statist. §.231.
Tab. XXIV. Grösse, Bevölkerung und Volksdichte der
einzelnen europäischen Reiche und Staaten.1)
Gebietsgrösse
1000
Quadratkilom.
Bevölkerung
absolut,
1000 Kopf
Dichte
auf
1 Quadratkilom.
Deutsches Reich9)
540.4
49,424
91
Oesterreich-Ungarn8)
625.5
41.345
66
davon West-Oesterr.
300.2
23.896
79
„ Ungarn etc.
325 3
17.450
53
Bosnien, Herzegowina
51.1
1,336
26
Schweiz8)
40.8
2, ‘»33
72
Luxemburg
2.59
211
82
Niederlande
33.0
4.558
138
Belgien
29.5
6.147
208
Dänemark
38.3
2.172
57
Schweden
450.6
4,785
11
Norwegen
325.3
1,989
6
Gr.-Britann. u. Irland
314.6
37.888
124
davon Engl. u. Wales
150.7
29.001
192
., Schottland
78.9
4,033
51
„ Irland
84.3
4,706
56
Frankreich
536.4
38.343
71
Spanien 8)
497.2
17,247
35
Portugal 4)
89.4
4.307
48
Italien
286.6
30.158
105
Griechenland
65.1
2.217
34
Europ. Türkei6)
168.5
5.600
32
Bulgarien, Ostrumelien
96.7
3,154
33
Montenegro
9.1
200
22
Serbien
48.1
2.157
45
Rumänien
131.0
c. 5.000
38
Europ. Russland
4889.
c. 85,4
17
Russ.- Polen
111.9
8.257
65
Finnland
373.6
2,33S
7
Frankreich hinaus gekommen sind, während um 1816 Deutschland
nur 46, Frankreich bereits 53 Volksdichte auf 1 qkm besass.
Italien steht nicht mehr so sehr viel über Deutschland. Gross-
britannien und Irland, zumal England allein, überragt aber freilich
bei Weitem uns und Italien, dank seiner heutigen wirtschaftlichen
Weltstellung. West -Oesterreich Ubertrifft auch bereits Frankreich
und steht, trotz seiner dünn bevölkerten Alpenländer, im Durch-
schnitt zwischen Deutschland und Frankreich etwa in der Mitte.
*) In der Reihenfolge der Tab. XXIII.
9) Ohne Bodensee, Schweiz auch ohne Genforseo.
3) Ohne canar. Inseln.
4) Ohne Madeira u. Azoren.
5) Mit Kreta.
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Statistik der Volksdichtigkeit.
575
Die Länder der pyrenäischen und der Balkanhaibinse!, uralte Cultur-
gebiete, stehen dagegen beute ungemein zurück hinter den grossen
Gebieten Mittel- und Westeuropas, „den transalpinen“ im antiken
Sinne, Gallien, Germanien, Britannien : ein Beleg dafür, wie „poli-
tische“ Factoren freilich auch hier mit einwirken und wie es eben
im heutigen Zeitalter der Technik und des Wirthschaftslebens
andere Factoren, als Klima und agrarische Bodenfruchtbarkeit sind,
welche die Bevölkerungsgrösse und Dichte maassgebend mit be-
stimmen. Dass indessen auch rein oder noch überwiegend agrarische
Länder eine gute mittlere und selbst eine bedeutendere Volksdichte
sogar im östlichen Mitteleuropa erreichen können, zeigen Russisch-
Polen, Ungarn, Galicien (s. Tab. XXVII).
Unter den Mittelstaaten Europas ist der Vergleich von
Belgiens und Hollands Dichte mit derjenigen der Schweiz, dann
der Dichte dieser drei Länder mit derjenigen der scandinavischen
Staaten und Dänemarks, auch mit derjenigen Schottlands und Irlands
beachtenswerth , zum Beleg wie stark doch allerdings von Gunst
und Ungunst des Klimas, des Bodens, der geographischen Lage
die ge8ammte Entwicklung auch der wirtschaftlichen und dadurch
wieder der Bevölkerungsverhältnisse selbst heute noch bedingt ist.
§. 232. — Volksdichte in kleineren Gebiets-
theilen Deutschlands.
In der folgenden Tabelle XXV wird zunächst für grössere, in der Nr. XXVI
für kleinere Gebietstbeile des Deutschen Reichs die Volksdichte ersichtlich ge-
macht. S. Tab. XXV auf S. 576, Tab. XXVI auf S. 577.
In den beiden Tabellen XXV und XXVI ist in den drei Colonnen Deutschland
von Nord osten nach Sudwesten in drei ost- westliche Streifen zerlegt und das geo-
graphische mit dem politischen und administrativen Einthcilungsprincip ver-
bunden worden. Bei jeder Anknüpfung an die politische und administrative Ein-
theilung zerreisst man freilich, zumal in einem einheitlichen Volkswirthschaftsgebiet
wie hier, mancherlei geographisch und wirthschaftlich Zusammengehöriges, was aber
ohne ein Eingehen auf specicllstc Einzelheiten, und auch dabei doch nur wieder mit
einer gewissen Willkühr, nicht zu vermeiden ist. Die Verkeilung der Bevölkerung
grosser Städte, Weltstädte, wie Hamburg und Berliu, deren Gesammtentwicklung und
Bevölkerungsgrösse nicht das Product einer einzigen Landschaft, in der sie liegen —
auch nicht von der Grösse einer Provinz — ist, macht dabei natürlich wieder be-
sondre Schwierigkeiten. Immerhin giebt es ein richtigeres Bild, wenn mau z. B. die
Bevölkerung Hamburgs und Lübecks zur schleswig-holsteinschen, Bremens zur hanno-
verschen (R.-B. Stade). Berlins zu Brandenburg rechnet, als wenn man die Volksdichte
dieser Provinzen und Bezirke ohne diese, von Schleswig- Holstein ja ganz zufällig
politisch getrennten Städte feststellt. Man muss nur immer bei der Beurteilung der
Zahl daran denken, dass man in ihr den Einfluss der betreffenden Städte mit zum
Ausdruck gebracht sieht. Gebiete wie die der kleinen deutschen Staaten, Anhalt,
Braunschweig. Oldenburg, Lippe u. s. w., gehören natürlich für unsere Betrachtung,
wie geographisch, so wirthschaftlich und populationistisch zu der betreffenden Provinz,
in der sie liegen. Da in Deutschland die Provinzen und Mittelstaaten aber auch
nur annähernd geographische, stammesartige, wirtschaftliche Einheiten innerhalb des
37*
576 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. BevölkJehre. 1. H.-A. Statist §. 232.
Tab. XXV. Volksdichtigkeit des Deutschen Reichs
nach geographisch - admini strativen Gebietstheilen
von Provinzialgrösse.1)
Norddeutschland
Auf lQu.kil.
: Bewohner
Mitteldeutschland
Auf lQu.kil.
Bewohner
Süddeutschland
= -
3 S
-1
Ostpreussen
53
Schlesien
105
Südbaiern
63
W7estpreussen
56
Posen Pr.
61
Bair. Franken
82
Pommern
51
Brandenburg
103
[Wünemberg
104]
Mecklenburg
45
[dgl. ohne Berlin
64J
dgl. mit Hoh.zoll.
102
[Schleswig-Holstein
65]
[Pr. Sachsen
102]
Baden
110
dgl. mit Encl.
97
dgl. mit Encl.
104
[Gr. Hessen
129
[Hannover
59]
Kgr. Sachsen
233
[Sudhessen allein
165
dgl. mit Encl.
66 |
Thüringen
104
[Pfalz
123
[Westfalen
120]
[Hessen-Nassau
106]
Südhessen u. Pfalz
141
dgl. mit Encl.
119
dgl. mit Encl.
99 Eisass- Lothringen
111
Rheinland
173
I
Gesammtgebicts bilden, sind freilich auch die so gebildeten „provinzialen“ Ge-
bietstheile in Tab. XXV und vollends die „bezirklichen“ in Tab. XXVI immer
nur mit Vorbehalt für unsere und verwandte Fragen der Untersuchung zu Gruode zu
legen. In den anderen Ländern kehren ähnliche Bedenken wieder. Desgleichen bleibt
die immerhin starke Verschiedenheit der Grösse der Gebietstheile in beiden
Tabellen ein die Vergleichung und Schlüsse daraus störender Factor, ein Umstand,
welcher sich bei dieser Behandlung des Gegenstands nicht beseitigen lässt, bei der
Scblussziehung nur wieder beachtet werden muss und auch einigermaassen es
werden kann.
In den grösseren (provinzialen) Theilen der Tab. XXV
gleichen sich natürlich mehr wie in den kleineren (bezirklichen)
der Tab. XXVI die Durchschnitte der Volksdichte aus, so in Betreff
der Bevölkerungszahlen grosser Städte in sonst dünner bevölkerten
Provinzen (Schleswig-Holstein mit Hamburg, Brandenburg mit Berlin,
Oberbayern mit München) und zwischen etwaigen vorwiegend
industriellen und montanistischen stark und agrarischen schwächer
bevölkerten Landestheilen (Westfalen, Rheinland, K. Sachsen).
*-■ . -
*) Mit möglichster Zusammenfügung dessen, was geographisch und volkswirth-
schaftlich einigermaassen zusammen gehört , aber mit Anlehnung an die historisch-
politische und administrative Eintheilung: daher die preuss. Provinzen, die grösseren
Mittelstaaten, die baier. genannten Provinzgruppen in den durch den Namen von
Staat oder Provinz bezeichnetcn Grenzen, nur bei Rheinland incl. das oldenb. Birken-
feld. Sonst aber: bei Mecklenburg beide zusammen; Schleswig-Holstein mit Enclaven:
Staat Hamburg und Lübeck , oldenb. Fürst Lübeck ; bei Hannover mit Enclaven :
Herz. Braunschweig, Herz, (nicht das ganze Grosshz.) Oldenburg, Staat Bremen; bei
W estfalen mit Enclaven ; Lippe u. Schaumb.-Lippe ; bei Provinz Sachsen mit EncL :
Anhalt; bei Thüringen: die 4 sächs. Lande, beide Schwarzburg, beide Reuss; bei
Hessen - Nassau mit Enclaven: Waldeck und hess. Prov. Oberhessen; bei Südhessen
und Pfalz: hess. Prov. Starkenburg und Rheinhessen nebst baier. Pfalz. Die ein-
geklammerten Zahlen sind für die Zusammenstellung in Tabelle XXVIII unten nicht
berücksichtigt, sondern statt ihrer die betreffenden, die Enclaven umfassenden.
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Statistik der Volksdichte.
577
Tab. XXVI. Volksdichtigkeit des Deutschen Reichs
nach geographisch - administrativen Gebietstheilen
von Bezirksgrösse.1)
Norddeutschland
Auf lQu.kil.
Bewohner
Ost-westl.
Mitteldeutschland
23 o
o =
°"o
z *
o «
< ®
Suddeutschland
Auf lQu.kil.
, Bewohner
Gumbinnen
<
55 |
Oppeln
119
Niederbaiern
62
Königsberg
50
Breslau
119
Oberbaiern
66
Marienwerder
4S
Liegnitz
77
[dgl. ohne München
45]
Danzig
74
Posen
64
Oberpfalz
56
Köslin
40
Bromberg
65
Schwaben
68
Stettin
62
Frankfurt a. O.
59
Oberfranken
82
Stralsund
52
Potsdam
142 i
Mittelfranken
92
Meckl.-Strelitz
33 |
[Potsdam ohne Berlin
68].
Unterfranken
74
- Schwerin
44
Magdeburg
93
Würt. Donaukreis
78
[Schleswig- Holstein
65]
Anhalt
118 ]
[ - Schwarzw.kr.
101]
dgl. mit Encl.
97 j
Merseburg
105 !
dgl. mit Hoh.zoll.
92
Lüneburg
37
Erfurt
123 |
Würt. Neckarkreis
200
[Stade
so] ;
Bautzen
150 '
[dgl. ohne Stuttgart
158]
Stade mit Bremen
73
Dresden
219 I
- Jagstkreis
78
Hildesheim
90 1
Leipzig
243 S
Bad. B. Constanz
68
Herz. Braunschweig
109 !
Zwickau
284 f
- Freiburg
99
Hannover
92
S.-Altenburg
129 1
- Karlsruhe
173
Herz. Oldenburg
52
S.- Weimar
91 ]
- Mannheim
128
Osnabrück
48
S.-Coburg-Gotha
106 1
Hess. Pr. Starkcnb.
139
Aurich
70
S.-Meiningen
91 ]
- Rheinhessen
224
[Minden
105]
Beide Reuss
160
Pfalz
123
Minden mit 2 Lippe
106
Beide Schwarzburg
89
Obereisass
134
Münster
74 i
[Thüringen
104]|
Untereisass
130
Arnsberg
174
[Cassel
81]
Lothringen
82
Düsseldorf
361
Cassel mit Waldeck
73 1
Köln
208
Wiesbaden
150 |
Aachen
136
Oberhessen
81 {
Coblenz
102
I
Trier mit Birkenfeld
99
1
t
Aber der Einfluss von Lage im deutschen Wirthschaftsgebiet und
zum Ausland, Klima, Bodenart, vorwaltender wirtschaftlicher Be-
schäftigung, Agrarverfassung , Industrie- und Städteentwicklung
zeigt sich doch in den Daten der Tab. XXV noch mehrfach recht
deutlich: rein oder doch überwiegend agrarische Gegenden, nicht
allzu günstiger Bodenart und Klimas, mit einer den Grossgrund-
besitz begünstigenden Verfassung, nicht besonders vorteilhafter
geographischer Lage bringen es auch bei uns, bisher wenigstens,
noch auf keine hohe Volksdichte (45 — 63, das ganze Küstengebiet
an der Ost- und Nordsee, im Innern Prov. Posen, Brandenburg, im
1) Die preuss. Regierungsbezirke und die Provinzial- und Kreis- und ßezirks-
eintheilung der Mittelstaaten in den administrativen Grenzen, Schleswig-Holstein mit
den Enclaven wie in Tab. XXV (Hamburg, Lübeck, Fürst Lübeck).
578 4. B. Bevölk.lehre. 1. K. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. H.-A. Statist. §. 232.
Süden Südbaiern, namentlich Hamburg, Bremen, Berlin, München ab-
gerechnet). Allgemein für den Durchschnitt der Provinz höhere Zahlen
setzen grosse Städte (Brandenburg mit Berlin, Schleswig-Holstein mit
Hamburg), entwickelte grössere Industriebezirke (Rheinland, West-
falen mit Arnsberg, K. Sachsen, Schlesien, Thüringen, Prov. Sachsen,
Theile von Süddeutschland) oder besonders günstige Agrarver-
hältnisse, nach Boden, Producten, Agrarverfassung, Absatz u. s. w.
(Prov. Sachsen, West- und Südwestdeutschland) voraus. Die ganz
hohen Zahlen (Sachsen, Rheinland, besonders einige Theile davon)
finden sich nur unter besonders mächtigen Einflüssen hochindustrieller,
grossstädtischer, hochintensiv-agrarischer Entwicklung.
ln den kleineren (bezirklichen) Gebietstheilen der
Tab. XXVI tritt das Alles noch deutlicher hervor, indem sich hier
die provinzialen Dichteziffern der Tab. XXV in ihre Componenten
auflösen.
Die administrative und die politische Eintheilung ist hier mit den angedeuteten
Modificationen in Betreff der kleinen cnclavirten Gebietstheile für Preussen and die
Mittelstaaten (bis incl. Hessen) zu Grunde gelegt. Die daneben (in der 2. Colonne)
gestellten thüringischen Kleinstaaten bleiben freilich, wie auch Mecklenburg-Strelitz,
hinter der Durchschnittsgrösse der Bevölkerung eines der übrigen bezirklichen Gebiets-
theile zum Theil nicht unerheblich zurück, wurden aber, um „Thüringen“ einmal
aufzulösen, hier apart aufgeführt. Auch die preussischen Bezirke weichen unter
einander (Düsseldorf 1,973,000, Stralsund 20S.000!) und von denen der Mittelstaaten
zum Theil erheblich an Grösse ab, was wieder bei Vergleichen und Schlüssen daraus
zu beachten bleibt.
Wie sehr die specifisch hochintensive Industrieentwicklung, namentlich gewisser
Fabrikzweige, und damit zusammenhängend die städtische Entwicklung die ganz hohen
Zahlen der Volksdichte bedingt, ergiebt besonders der Vergleich der 5 Bezirke der
Rheinprovinz (Düsseldorf. Cöln, Aachen, Coblenz, Trier), der 3 Westfalens (Arnsberg,
Minden, Münster), der 4 des Kgr. Sachsen (Zwickau, Leipzig, Dresden, Bautzen) je
unter einander. Den Einfluss auf starke Erhöhung der Durchschuittszißer des Bezirks
durch grosse Städte zeigt ß.-B. Potsdam mit und ohne Berlin, Oberbaiern mit und
ohne München: zwei Städte, die eben wirtschaftliche Mittel und Bevölkerung aus
Kreisen weit über den Bezirk hinaus herbeiziehen. Rein agrarische, wenig günstige
Bezirke sinken auf 50, 40 und darunter (Ostsee-, z. Th. auch Nordseegebiet, Ober-
baiern), während die süd westdeutschen, bes. die rheinischen Gegenden vorwaltend
agrarischen Characters doch, freilich immer auch hier mit Hilfe mehr städtischer und
industrieller Bevölkerung, auf erheblich grössere Ziffern der Dichte kommen.
So wird manches Schlaglicht auf die Bedingungen der Volksdichte schon durch
die verschiedenen Daten der Tab. XXVI geworfen, wenn man sie mit den gegebenen
und als bekannt vorauszusetzenden wirtschaftlichen und sonstigen Verhältnissen der
einzelnen Bezirke in Zusammenhang bringt. Genauer Hesse sich das aber auch hier erst
durch Auflösung der Dichtigkeitszahlen in ihre Componenten, mittelst Rückgehens auf
die Ziffern für Kreise und noch kleinere Einheiten verfolgen. S. über die badischen
und rheinländischen Verhältnisse die gen. Arbeiten von Neumann (Freiburg) und
Sp recher von Bernegg.
Von Interesse für die ganze Frage der Volksdichte ist auch die Vergleichung
mit den Verhältnissen der Nachbarländer ausserhalb des Reichs. Die hohen Ziffern
des R.-B. Düsseldorfs begegnen nur in einigen niederländischen, belgischen und nord-
französischen (Depart. du Nord) Bezirken wieder, mit ähnlich günstigen Industrie-,
Handels-, Agrarverhältnissen, grossen Städten u. s. w. An die sächsischen schliessen
sich verwandte nordböhmische Verhältnisse an.
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Statistik der Volksdichtigkeit.
579
§. 233. — Volksdichte in kleineren Gebietsteilen
anderer Länder, besonders Europas.
In der folgenden Tab. XXVII sind nun für einen grossen Theil des übrigen
Europa sowie für Theilo von America und Asien ähnliche Dichtezahlen zusammen*
gestellt worden.
S. Tab. XXVII auf S. 5S0— 5S3.
In dieser Tab. XXVII entsprechen die grösseren Gebietsgruppen und Pro-
vinzen u. dgl. den deutschen Provi nzialabtheilungen der Tab. XXV einigermaassen,
ebenso die kleineren den deutschen Bczirksabtheilungen der Tab. XXVI. Aber
"bei der Verschiedenheit der Gesammtgrösse der einzelneu Länder und bei der Ver-
schiedenheit der administrativen Eiutheilung eines jeden ergeben sich nur Grössen,
welche annähernd, immer nur unter den mehrfach für solche Vergleiche hervor-
gehobenen Vorbehalten, unter einander und mit den betreffenden deutschen ver-
glichen werden können. Für alle Schlüsse aus solchen Vergleichen sind daher
auch wieder Vorbehalte geboten. Nimmt man diese und vergisst sie bei den Ver-
gleichungen und Schlüssen im Einzelnen nicht, so lassen sich doch immerhin werth-
volle Folgerungen aus den zahlreichen Daten über die Verhältnisse der Volksdichtig-
keit in Tab. XXVII ableiten.
In Oesterreich - Dngarn tritt der entscheidende Einfluss der Boden-
besch affen heit und des Klimas, ebenso wie in der Schweiz in der niedrigen
Dichte der Alpenländer deutlich hervor, zumal derer, in welchen nicht grosse Städte
(Wien) und Industriesitze die Dichte erhöhen.
Ohne Wien zeigen die gesammten österreichischen und schweizerischen Alpen-
ländcr, in der in der Tab. innegehaltenen Eiutheilung, dieselbe Dichte (4S) und auch
kleinere, geographisch ähnliche Gebiete ähnliche Zahlen. Mit diesen stimmen die-
jenigen aus den französischen Alpengegenden überein. Die Ziffern bleiben aber
meist doch höher als in den nordischen Gegenden Russlands, Scandinaviens und selbst
Schottlands. In der für Oesterreich hier bloss verfolgten Provinzialgruppirung sind,
von den reinen Alpenprovinzen abgesehen, die Dichtedifferonzen zwischen den mehr
industriellen Provinzen mit Gressstädten und den mehr rein agrarischen Provinzen
nicht so gross wie in Deutschland und vollends in Grossbritannien. Es zeigt sich
also dort noch eine gleichmässigere Bevölkerungsverteilung. Die schweizer
Verhältnisse ergeben grosso Differenzen der Dichte zwischen den einzelnen Kantonen
nach Klima, Boden, wirtschaftlicher Thätigkcit, Städtewesen. Aber die Kantone sind
zu verschieden in der Grösse, die Schweiz zu klein im Ganzen, der Einfluss der
Nachbarländer herüber und hinüber (Deutschland, Frankreich) zu bedeutend (Basel,
Genf), als dass man aus den Schweizer Verhältnissen der Dichte sonst vielschliessen dürfte.
In Italien fällt bei der hier auch nur nach der Provinzialeintheilung ver-
folgten Volksdichtigkcit dio relativ hohe Dichte in allen diesen Landest eilen , ab-
gesehen von Sardinien, auch heute noch auf. Der Einfluss der Boden boschaffcnheit
(und nach der Höhenlage auch des Klimas) tritt in Mittel- gegenüber Ober- und
Unteritalien, in Umbrien, Latium, Abruzzen, Basilicata gegenüber der lombardischen
Ebene, Campanien noch immer deutlich hervor. — Sardinien und Corsika fallen un-
gemein ab: geographische Lage, Boden- und allgemeine Cultur- und politische Ein-
flüsse machen sich entscheidend goltend.
In den Niederlanden und Belgien sehen wir ungemein hohe Dichte in den
mercantil, bezw. industriell und montanistisch und in Bezug auf Städte, unter dem
Einfluss davon auch im Ackerbau hoch intensiv entwickelten Provinzen : 8 von 20 Pro-
vinzen mit über 200 Bewohnern auf dem Quadratkilometer! In solchen Verhältnissen
tritt aber, wie schon bemerkt, auch der Einfluss der geographischen Lage am Mün-
dungsgebiet von Rhein, Maass und Schelde und damit an derjenigen Stelle hervor,
worüber ein grosser Theil des Weltverkehrs des westlichen und mittleren Continents
naturgemäss geht. Wie die abgelegeneren und durch die Bodenbeschaffenheit weniger
begünstigten Gegenden auch in diesen Ländern nur eine viel niedrigere Dichte bisher
erreichen konnten, zeigen einige audere niederländische und belgische Provinzen, wo
die Dichte auf die Zahl Pommerns und Mecklenburgs sinkt.
In Frankreich macht sich im Vergleich mit fast allen übrigen hier berück-
sichtigten europäischen Ländern auch in den Zahlen der Volksdichtigkeit der Depar-
(Forts. des Textes S. 583.)
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580 1. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. BevölkJehre. 1. H.-A. Statist §. 233.
Tab. XXVII. Volksdichtigkeit in einigen andern Ländern
nach geographisch-administrativen Gebietstbeilen.
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3 #2
Oesterr. -Ungarn
66
Schweiz9) gröss. Kant.
71
Sardinien
30
Ganz Ungarn
53
Kanton Bern
78
Ung.u. Siebenbürgen
55
Zürich
197
Corsika
32
Kroatien
52
* - Aargau
138 |
[Bosnien, Herzegow.
26]
St. Gallen
114 !
Oder*)
Ganz Westöstcrr.
79
Waadt
78
Ober-Italien
12S
Bukowina
61 |
Luzern
90
Mittel -
85
Galizien
84 !
Graubünden
13 !
Unter
116
Schlesien
116
Wallis
19
N iederlande4)
138
Mähren
102
Tessin
45
Groningen
120
Böhmen
112 1
Oder: Alpen-Schweiz
48
Drcntbe
49
Nicderösterr.
133
üebrige Schweiz
143
Friesland
102
[dgl. ohne Wien
65]
Italien
105
Oberyssel
89
Oberösterr.
65
Yenetien
120
Gelderland
101
Steiermark
57
Lombardei
160
Utrecht
162
Krain
49
Piemont
112
Nord-Holland
305
Triest, Istr., Görz
87
Romagna
114
Süd
321
[dgl. ohne Triest
68]
Parma, Modena
100
Limburg
116
Dalmatien
41
Ligurien
181
Nordbrabant
99
Kärnthen
35
Marken
98
Seeland
112
Salzburg
24
Umbrien
61
Oder Nord-Ost-Niederl.
94
Tirol
30
Toscana
94
i Mittel-
284
Vorarlberg
45
Abruzzen etc.
81
Süd-West-
106
Latium (Rom)
81
Belgien
Oder l * * 4) :
Apulien
93
t Limburg
93
Alpenländer
60
Basilicata
55
! Luxemburg
49
dgl. ohne Wien
48
Campanien
190
Namur
93
Sudetenländer
110
[dgl. ohne Neapel
156]
Lüttich
260
Karpathen -
60
Calabrien
86
Antwerpen
247
Illyrische -
42
j Sicilien
128
| Brabant
343
l) Oesterreich-Ungarn s. Herrn. Wagner: „die Bevölkerung der Erde“
Nr. VIII, S. 258. Oesterr. Alpenländer: Ober-, Niedorösterreicb, Salzburg, Tirol und
Vorarlberg, Steiermark, Kärnthen, Krain; Sudetenländer: Böhmen. Mähren, Schlesien;
Karpatheniänder: Galizien, Bukowina, Ungarn, Siebenbürgen ; illyr. Länder: Küstenland,
Dalmatien, Kroatien (mit Fiume) und hier auch Bosnien und Herzegowina.
*) Schweiz. Scheidung nach ganzen Kantonen zwischen Alpenschweiz und
übriger Schweiz, daher nur nach dem vorwaltenden Character und ungefährer
Zugehörigkeit zum einen oder andren Tbeil. Als Alpenschweiz wurde gerechnet:
Kantone Luzern, beide Appenzell (224 u. 73 Dichte), St Gallen. Schwyz, Uri (Dichte 16),
beide Unterwalden (ob d. Walde 19 Dichte), ganz Bern, Wallis, Graubunden. Tessin,
daher doch neben Hochalpengebieten auch niedrige Gebiete und industrielle; zur
„übrigen Schweiz“ alle anderen Kantone, von denen natürlich ganz städtische wie
Baselstadt und Genf sehr hohe Dichtigkeitsziü'ern haben.
8) Italien. Zu Oberitalien: Yenetien, Lombardei, Piemont, Romagna, Parma-
Modena, Ligurien; zu Mittelitalien: Marken, Umbrien, Toscana, Abruzzen u. Molise,
Latium (Rom); zu Unteritalien die übrigen in der Tabelle genannten Landschaften
des Festlands.
4) Niederlande: zu Ost-Niederlanden die ersten 5, zu Mittel- die mittleren 3,
zu Südost- die letzten 3 Provinzen der Tabelle.
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Statistik der Volksdichtigkeit.
581
u
M 4>
I 23 S
.'O*o
iä
Hennegan
Ostüaodern
Westflandern
Oder 3):
Oestliches Belgien
Mittleres
Sü d restliche
Max. Gironde
Min. Landes
o»>
71»
82
Westliches
274
rankreich2);
7 1
Depart. gruppen
N ö ril liehe
180
Max. Seine (Paris)
6227
- Nord
294
Min. Seine-Marne
02
Nördliche ohne Paris
128
Nordwestliche
76|
Max. Seine inf6r.
SO
Min. Eure-Loire
48
Nordöstlich e
58
Max. Meurtho-Mos.
S 3
Min. Haute-Marne
40
0 östliche
74
Max. Khone
277
Min. Haute- Saöne
54
Alpendepart.
46
Max. Isere
70
Min. Basses Alpes
18
Südöstl. u. Mit-
!
tclmeer
70
Max. Khunemünd.
119
Min. Var
47
Ob. Centraldep.
5Sj
Max. Fuy-de-Dome
72
Min. Lozöre
27
Unt. Centraldep.
51
Max. Allier
58
Min. Indre
44
Westliche
84
Max. Finistöre
05
Min. Mayenne
66
Mittlere wcstl.
59
Max. Char. in&r.
68
Min. Vienne
49)|
Min.
Süd-
Max.
Min.
Coreika
Gr.- Britannien nd.
Irland1)
E n g 1 a n d
Gebietaabtb . , G raf-
sr haften n. dg!.
M etropoli t(Lond.)
Davon Middlesex
Snrrey
Süd-Östiiche
Max. Kcnt
Berkshire
midi änd.
Bedfordsh.
Hnntingdonsb.
0 östlich e
Max. Essex
Min Norfolk
S Udwestliche
Max. Somersebh.
Min. Wilt u. Dorsct
West-mitländ.
Max. Staffordsb.
Min. Herefordsh.
Nord-mitländ.
Max. Nottinghamsh.
Min. Rutlandsh.
Nord westliche
Max. Lancash.
Min. Chesb.
Yorkshire
Max. Westriding
Min. Northrid.
Nördliche
Max. Dnrham
Min. Wcsimorelaud
Monmouthsh.
Wales(m.Monmouth
86)
129
209
I80ö
4480
882
180
2S8
128!
1U5
185|j
621
121
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114 j
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204
358
54
128.
209 :
54
619
803
27W
242
341
«7.
134
389
33'
11', s
80i;
3 §
^ o
91
Süd- W ales
97
Max. Glamorgan
329
Min. Brecknock
31
Nord - Wales
57
Max. Flintsh.
118
Min, Montgomery
29
Inse Man
95
Canalinseln
471
ch ott 1 a n d
51
Nördliches
13
Max. Orkneyinsaln
29
Min. Sutherland
4
Nord-westL
9
Nord-östl.
44
Max. Aberdeen
55
Min. Naim
IS
Oat-M idland
58
Max. Clackmaunan
220
Min. Perth
19
Wcst-Midland
29
Max. Dumbartoa
135
Min. Argyi
9
Südwestliches
263
Max. Lanark
454
Min. Ayr
75
Südöstliches
127
Max. Edinburgh
467
Min. Pecbles
16
Südliche
24
Max Roxbonrgh
31
Min. Kirkcudbr.
16
rland
56
Leinster
61
Max, Dublin
467
Min. Wicklow
31
Munster
48
Max. Cork
58
Min. Cläre, Kerry
37
Ulster
73
Max, Antrirn
139
Min. Donegal
38
*) Belgien: zu östlichem die ersten 8, zu mittlerem die folgenden 4, zu nörd-
lichem die letzten 2 Provinzen der Tabelle.
*) Frankreich. Die Eintheilung in geographische Gebietsgruppen und die
Yertbeilung immer der ganzen Departements darauf nach Herrn. Wagner, in der
Bevölkerung der Erde Nr. VIII, S. 17, woselbst die einzelnen Departements mit ihrer
speciellcn Yolksdichte genannt sind. In der Tab. XXVII sind nui d e Departements
mit Maximal- und Minimaldichte in jeder geographischen Groppe angeführt worden.
*) Gr.-Britan nien und Irland. S. ebenfalls die Daten für die einzelnen
Grafschaften u. s. w., von denen hier nur in jeder Grnppe diejenigen mit Maximal-
und Minimaldichte genannt wurden, bei Herrn. Wagner, Bevölkerung der Erde,
Nr. VIII, S. 19 u. 260.
1 Google
582 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lehre. 1. H.-A. Statist §. 233.
T73
3-
"
Gonna ught
41
Max. Sligo
63
Min. Galway
34
D ä nein ark
57
Ineelämter
94
dgl ohne Kopenhagen
70
J UÜand
37
Schweden1)
Line:
11
G o 1 1 a ri d
28
Max. Malmöhos
77
Min.Kroubg. Ins. Gott
16
Svearike
16
Max. Stockholm Geb.
52
Min. Kopparberg
7
N orrlan d
1
Max. Westnorrland
8
Min. Norbotten
ü
Norwegen*)
6
Stifter und Aemter:
Ch ristian ia
22
Max. Jarlsb., Laurv.
13
Min. Baskerud
7
Christianssand
9
Max. Staranger
13
Min. B ratsberg
6
Hamar
1
Bergen
8
Drontheim
6
Tromaoe
2
Max, Nordland
3
Min. Finnland
ö
Finnland3)
6
Max. Nyland
20
Min. Uleaborg
1.
u.
C
G '*
.i-*: w
~~ es
JR n ss 1 a n d (ohne Pol.)4)
17
Gruppen und Gou-
vernements,
Nord-(Gr088-)B.
4.2
Max. Wjatka
19
Min, Archangel
0 3
Cen tral-(Gross-)
37
Davon nördl.
29
Max. Jarosl.
36
Min. Pskov
22
Bozw. S U d 1.
45
Max. Moskau
66
dgl. ohne Stadt Mosk.
43
Sonst. Max. Kursk
50
Min. Kaloga u. and.
10
Ostseepror.
27
Max. Petersburg
31 |
dgl. ohne Stadt Pet.
15
Min. Estland
20 l
W estr usfll,(oh.Pod.)
29
Max. Kowno
38
Min. Minsk
19
K l.rassl. (m.Podol )
51
Max. Podolien
60
Min. Tschemigow
42
Sudrnssland
21
Max. Bessarab.
35
Mio. Don'sches Geb.
12
K a s a n
17
Max. Kasan
32
Min. Perm
8
Astrachan
9
Max. Saratow
27
Min. Astrachan
3.5!
Ross. Polen6)
65
Max. Warschau
99
dgl, obae Stadt W.
68
Min. Siedlce
47
.
d 5
*
Nordamer. Union8)
m
I
Gruppen u. Staaten
Non -Engl, St.
2t
Max, Rhode- Island
106
Massachusetts
104
Min. Haine
8
MittJ. atlaut.
46
Max. New- Jersey
71
Newyork
47
dgl. ohne Newyork
und Broklyn
30
Max. Pennsylvanien
45
dgl. ohne Philad.
36
Min. Delaware
32
Nord 5 s tl Gentr.
»
Max. Ohio
34
Min. Wiscons., West-
vtrginien
12
Nord westl. Gentr.
1
Max. Missouri
15
Min. Nord-Dacota
1
Südatlant.
11
Max. Virginien
15
Min. Florida
2
S ü d ö s t L Gent r.
12
Max. Tennessee
16
Min. Alab., Misste.
II
SüdwestL Gentr.
4
Max. Louisiana
'» 0
Min. Territorien
0,7
Felsengebirge
0,7
Max. Colorado
1.5
Min. Wyoming
; 0.2
Plateau
0.4
Torr. Utah
0,0
Nevada
0.2
Pacif. St.
2
Max. Califora.
8
&
gh
O
3
r|“;
O
U
*) Schweden. S. ebendas. S. 24 das Einzelne.
*) Norwegen. S. eb. S. 25, 261.
*) Finnland. S. eb. S. 263.
4) Russland. S. eb. das Einzelne S. 50. Goth. Jahrb. 1892 S. 1022 (unricht.
Angabe für Dichte ganz Russlands, ausser Polen und Finnland, mit 20, statt mit 17;
auch iucl. Polen nur 18).
ö) Russisch-Polen s. Bevölk. d. Erde S. 51.
6) Nordam. Union s. Supan in Bevölk. d. Erde S. 205 ff., auch mit einigen
anderen Berechnungen, so für die Volksdichte nach Oberflächengestaltung (Maxim,
atlant Ebene 29, Gebiet der Vorhöhen 27, Min. 0.3, 0.5 Felsengebirge, Prärien,
grosse Ebenen), mittlerer Temperatur, Höhenlage der Gegenden u. a. m. Die 3 Haopt-
gruppen der Union nach der Eintheilung bei Supan S. 200. Näheres im Oensusbericht.
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Statistik der Yolksdicbte.
583
Auf lQu.kil.
Bewohner
.
Auf lQu.kil.
Bewohner
— «H
<ö
a o
r te
5*
Hauptgruppen
Centralprov.
39
1
Centralnipon
164
der Union
i
Max. gröss. Distr.
61
Max.
304
Nordstaaten
17
Min. - - 31—23
- noch 3mal üb.
200
Sudstaaten
8
Berar
58
Min.
86
Weststaaten
i:
Max.
86
Westnipon
171
Min.
39
Max.
348
Britisch-Indien m.
Haiderabad
46
Min.
104
Schutzstaaten1)
Max.
81
Shikoku
157
Gebiete , Divisions,
Min. gröss. Distr. 38
—27
Max.
203
Districte.
Maisu r
58
Min.
82
Assam
30
Max.
75
Kiu-shiu
141
Max. Surmathal
129
Min.
35
Max.
258
Min. (Bergdistr.)
4
Madras
89
- noch 2mal üb.
200
Bengalen
139
Max.
225
Min.
54
Max. Presid. Div.
263
- vielfach 200-
-100
Schätzungen für
mehrfach über
200
Min. gröss. Distr. 47 — 45
China3)
Min. gröss. Distr. 37
— 16
- Bergst. Distr.
18
Eigent!. China
88
Nord westprov.
160
Born bay
46
Nördl. u. nordwest-
Max. Benares, Ebene
242
Max. klein. Distr.
193
liehe Provinzen
47
mehrfach über
200
- gröss. -
117
Max.
120
Min. gröss. Distr. 78
—28
- Präs.
18
Min. 9
— 18
Panjab mit
|
Barod a
98
Centr. u. unt. Prov.
146
Kaschmir
42
Brit. Barma
17
Max.
210
Max.
197}
Ceylon
42
Min.
97
mehrfach über
100
Max.
101
Sudöstl. Küst.prov.
108
Min. gröss. Distr. 63
-18
Min. 14—7
Max.
170
Rajputanageb.üb
30
Japan4)
105
Min. 60
-83
Max.
120
Gruppen u. Theile:
Südwestl. Binn.prov.
53
Min. gröss. Distr.
9—2
Jeso
44
Max. (?)
112
Ccntral-Iudia
48.
Nordnipon
77
Min. 25
—31
Max. gröss. Distr.
75
Max.
136
Min. - - 51
-41
Min.
49
tementalgruppen und einzelnen Departements die schwache Volksvermehrung geltend.
Von wenigen Departements abgesehen, wo sich der Einfluss grosser Städte, hoch-
industrieller oder mercantiler Entwicklung und heimischer und fremder Zuwanderungen
besonders deutlich zeigt (Seine mit Paris, Nord mit Lille und grosser Industrie, Rhone
mit Lyon, Rhönemündungeu mit Marseille) gehen die Dichtigkeitsziffcru nirgends viel
Uber den Durchschnitt des ganzen Staats und erreichen nicht eine Höhe wie in Gross-
britannien, Deutschland, Italien. Das erklärt sich mit daraus, dass die heutigen fran-
zösischen Zahlen bei der geringen absoluten Volkszunahme nicht den heutigen der anderen
Länder, sondern etwa denjenigen entsprechen, welche diese Länder auch in ihren
einzelnen Theilen schon vor einem Menschenalter und länger erreicht hatten. In
*) Britisch-In d ien. S. vieles Detail darüber in Herrn. Wagner, Bevölk.
d. Erde Nr. IV (1876) und Nr. VIII S. 79 ff., 260. Die Zahlen der Tabelle noch
die des Census von 1881. Das Detail bietet auch hier besondres Interesse, indem
die Beziehungen zwischen Dichte und Lage, Bodenart, Bodencultur näher verfolgt
werden (s. u.).
#) Japan s. eb. S. 117; vgl. auch Rathgen, Japans Yolkswirthsch. u. Staats-
haushalt, Leipzig 1891, S. 135 ff.
a) China. S. Herrn. Wagner, Bevölk. d. Erde Nr. VIII, S. 104 6., mit
Kritik der Schätzungen der Bevölkerung.
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584 4. B. Bovölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lcbrc. 1. II. -A. Statist. §. 233.
Frankreich erscheint die ganze Bevölkerung übrigens so auch noch gleichinässiger
— wenigstens nach der Vergleichung nach Departementalgruppen und Departements —
vertheilt, als in Deutschland und vollends in Großbritannien. In einigen Departements
sinkt indessen die Dichte unter dem Einfluss der Bodenart, des Klimas, der Abgelegen-
heit, der mangelnden Industrie auf so niedrige Zahlen, wie kaum in ähnlich grossen
Bezirken Deutschlands. Die inneren Wanderungen in die Grossstädte und Industriebezirke
haben dazu mit beigetragen, aber auch der durchweg kleine GcburtsUberschuss,
welcher durch seine Höhe in Deutschland den gleichen Einfluss der heimischen und
der hier noch hinzutretenden Auswanderungen mehr ausgleicht.
In Grossbritannien und Irland zeigen sich in Tabelle XXVII grössere
Differenzen der Volksdichte als in irgend einem anderen Lande. Die Maxima steigen
viel höher als in den dichtbevölkertsten Provinzen und Bezirken des Continents. Die
Minima sinken viel tiefer, selbst auf das Niveau russischer, scandinavischer und nord-
amcricanischer Minima (wenigstens wenn man in letzteren Ländern sich auf den Ver-
gleich mit überhaupt noch oder bereits besiedelten Gebieten beschränkt). In diesen
eigentümlichen Gestaltungen der Verteilung der Volksdichte auf das ganze Staats-
gebiet tritt allerdings der Einfluss von Wirthschaftsfactoren, der hochindustriellen
und inercantilen Entwicklung, der Agrarverfassung, der dadurch bedingten inneren
Wanderungen (in der neueren Zeit und schon länger) besonders deutlich hervor. In-
dessen wirkt doch auch Andres mit darauf ein, dass die Unterschiede so gross sind:
klimatische und Factoren der Bodenbeschaffenheit, wie in Schottland, besonders dem
nördlichen, und in Wales, die in jeder Hinsicht abnorme Lage der Dinge in Irland,
und ausserdem der Umstand, dass die in der Tabelle benutzte Einteilung des Landes
hier mehrfach Bezirke und Gruppen (so namentlich in Schottland und Wales) von be-
sonders grosser absoluter Verschiedenheit der Grösse der betreffenden Gebiete und
Bevölkerungen, auch namentlich eine Anzahl sehr kleiner Bezirke enthalt. Bei dieser
treten dann Differenzen auch in der Dichte schärfer hervor. Aber auch wenn man
das Alles berücksichtigt, bleibt der mächtige Einfluss der genannten Wirth-
schaftsfactoren doch unverkennbar: vor Allem die ungeheure Entwicklung der
Industrie und des Handels, die Concentration beider in einigen Gegenden und Puncten,
in riesigen Städten, auch selbst von London abgesehen, die Verödung des platten
Landes durch die Fortwanderungen, aber doch auch, wie besonders in Irland, Schott-
land mit unter dem Einfluss der Agrarverfassung und der neueren mit durch die Frei-
handelspolitik bedingten landwirtschaftlichen Entwicklung, von der Körner- zur Vieh-
und Weide-, ja — zur Jagdwirthschaft. Bei einer anderen Volkswirthscbaftspolitik
und namentlich bei einer anderen Agrarverfassung würde die Hypertrophie der In-
dustrie- und städtischen Bezirke geringer, aber auch die Atrophie der agrarischen
Gegenden schwerlich so gross sein. Grossbritannien ist auf seine heutige ökonomische
Politik mit durch seine geographische Lage hingedrängt, aber auch nur durch diese
letztere ist jene Politik möglich geworden und — bisher wenigstens — ohne sonstige,
namentlich für die Machtstellung des Staats verhängnissvolle Folgen geblieben: es
nutzte seine günstige Lage im heutigen Weltverkehr und seine insulare, relativ poli-
tisch gesicherte Lage aus, liess aber auch seine Wehrkraft und diejenigen Volksclassen
verkümmern, aus denen sich dieselbe vornemlich rccrutirt: die ländliche Bevölkerung.
Irland hat jetzt bloss 56, im Jahre 1841 hatte es 97 Volksdichte!
In Dänemark und ganz Scandinavien zeigt sich der beherrschende Einfluss
der nördlichen Lage und Bodenbeschaffenheit auch heute noch deutlich. Nur in den
Bezirken der Hauptstädte, von denen Kopenhagen für das kleine dänische Volks- und
Staatsgebiet unverhältnissmässig angeschwollen ist (’/, der Staats-, */4 der Insel-
bevölkerung) und in den südlicheren Theilen werden die niedrigeren Dichtigkeits-
zahlen Mitteleuropas erreicht, in allen anderen weit unterschritten. Der Einfluss des
Golfstroms macht ja, namentlich in Norwegen , noch nördlicho Gegenden bewohnbar
und wirthschaftlich brauchbar, welche in America dauernd culturunfahig sind, aber
der Gcbirgscharacter und die Höhenlage kommen als weitere und definitive Hinderung
hinzu. Der grosse Geburtsüberschuss bleibt daher nicht im Lande, sondern wendet
sich nach Nordamerica, soweit die grösseren Städte, Industrie und Seeberuf ihn nicht
aufnehmen können.
Bei der Bourtheilung der Daten für Russland in Tab. XXVII ist daran zu er-
innern, dass die russischen Bevölkerungsaufnahmen in den meisten Gouvernements den
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Statistik der Volksdichtc.
585
Anforderungen moderner rationeller Volkszählungen nicht entsprechen. Daher sind
die Daten nicht immer ganz sicher und wohl auch unter einander nicht gleichwerthig.
Indessen werden die Zahlen doch zur Berechnung der Volksdichte leidlich brauchbar
sein. Die Grösse der Gouvernements und der Gruppen von solchen stört aber freilich
wieder die Vergleichung mit den Zahlen des übrigen, in allen seinen Dimensionen
Russland gegenüber so viel kleineren Europa. In diesen riesigen Gouvernements giebt
es auch nach der Verbreitung und Grösse der Städte, nach Bodenbeschaffeuheit u. s. w.
wieder mancherlei Verschiedenheiten der Volksdichte, welche in den Durchschnitts-
zahlen verschwinden. Wo indessen nicht die gute und namentlich die schlechte Boden-
beschaffenheit, Verbreitung von Wald u. dgl. sehr stark einwirkt und nicht innerhalb
eines Gouvernements in dieser Beschaffenheit grosse Verschiedenheiten bestehen, sind
die Dichtedifferenzen innerhalb eines Gouvernements bei der viel geringeren Ent-
wicklung des Städtewesens und der Industrie, der weithin glcichmässigen Be-
schaffenheit von Boden und Klima, der Gleichheit oder Aehnlichkeit der Agrarver-
fassung meist nicht so bedeutend und eher kleiner als grösser wie in den analogen
Provinzialgebieten Westeuropas. Die relativ grosse Gleichheit der Dichte benachbarter
geographisch einigermaassen zusammengehöriger Gouvernements (so besonders im süd-
lichen Central- und in Kleinrussland) orgieb^ das auch. Man sicht, dass, abgesehen
vom eigentlichen Polen, von grossen Gobietsgruppen nur in 2, im südlichen Thcile
von Central- und in Klcinrnssland, die niedrigeren mitteleuropäischen Provinzialdichten
(45 — 51) erreicht, uur von wenigen einzelnen Gouvernements etwas überschritten werden
(vgl. auch unten Tab. XX VIII). Dies trotz der notorisch grossen natürlichen Volks-
vermehrung in unserem Jahrhundert. Wie tief die Dichte ohne Einrechnung der
Grossstädte Moskau und Petersburg (mit 753 und 801 Tausend Einwohner um 1SS5)
in den betreffenden Gouvernements gleich wieder sinkt, zeigen die Zahlen der Tabelle.
Das Petersburger „Gouvernement“ ohne die Hauptstadt, das alte Ingcrmanland, in der
Ecke des Finnischen Meerbusens, bis zum 60. Breitengrad reichend, auch heute noch
fast eine Einöde, und Gouvernement Moskau ohne die Hauptstadt mit einer nicht
höheren Dichte als das ganze südliche Centralrussland. Die übrigen Gouvernements
aber haben Dichten höchstens wie die Alpenländer, meist viel niedriger (s. auch dafür
Tabelle XXVIII). Die inneren Wanderungen, in die Hauptstädte, nach Mittel- und
Sudrussland, nach Asien tragen dazu wohl bei. Sie zeigen aber wohl auch, dass
bei den gegebenen geographischen, klimatischen, Bodenbeschaffenheitsbedingungen im
grössten Theile selbst des europäischen Russlands hier wohl dauernde starke
Hemmnisse einer grössereu Volksdichte liegen möchten, mindestens, solange die
Bevölkerung vorwiegend auf Ackerbau und gewisse primitivere Hausindustrie an-
gewiesen ist und der Ackerbau sich nicht selbst hebt, vielleicht unter dem Einfluss
grossrussischer Agrarverfassung sich nicht oder nicht genügend heben kann. Ob und
wie weit die neuere Ausdehnung des Getreideabsatzes ins Ausland zur Erweiterung
und Verbesserung der landwirtschaftlichen Cultur und dadurch indircct zur Ermög-
lichung einer grösseren ländlichen und durch die Steigerung der Kaufkraft der letz-
teren auch zu einer grösseren städtischen Bevölkerung geführt hat und weiter führen
kann, wage ich nicht zu beantworten.
Russi sch -Polen zeigt immerhin eine grössere Volksdichte als die günstigsten
Theile des eigentlichen Russland. Es steht im Durchschnitt der Provinz Posen hierin
gleich, selbst etwas höher, einzelne Gouvernements sinken auf die Ziffer vom R.-B.
Bromberg. Gegen Galizien steht es nicht unerheblich zurück.
§. 234. — Volksdichte in Nordamerica.
Gegenüber allen diesen Thatsachen in Bezug auf die Volks-
dichte Europas ist es doch von Interesse, einen Blick auf das
grosse überseeische Haupteinwanderungsland, die nordamerica-
nische Union zu werfen. Steht dieselbe bei der ungeheuren
Grösse ihres Gebiets und der in grossen Theilen desselben noch
fast fehlenden oder eben erst beginnenden Besiedlung auch im
Durchschnitt des ganzen Landes weit hinter Europa, selbst hinter
586 4. B. Bevöik. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk. lehre. 1. H.-A. Statist. §. 234.
Russland zurück, so haben die alten nördlichen und mitteren Staaten
der Ostküste doch bereits einzeln die Dichtigkeit Mitteleuropas
erreicht, selbst überschritten, während freilich auch hier andere
nur die Dichte der europäischen Alpenländer und schwächst be-
völkerter Flachländer zeigen. Der „Zug nach Westen“ in der
europäischen Einwanderung und zum Theil bei der Bevölkerung
der Ostküstenstaaten selbst erklärt sich aus diesen Verhältnissen
mit. Die grossen mittleren Gebiete sind durch ihn erschlossen und
Millionen haben hier bereits eine bleibende Stätte gefunden. Die
Durchschnittszahlen der Volksdichte in den freilich meist sehr
grossen inneren Staaten, bis zu einem Umfang von 1/8 und mehr des
Deutschen Reichs oder Frankreichs, sind aber bisher noch durchweg
sehr niedrig geblieben, zumal an mittel- und westeuropäischem
Maassstabe gemessen. Sie stehen noch auf und unter den Ziffern
der schwächer bevölkerten Theile Russlands. Nur in einzelnen
Gegenden dieser Binnenstaaten, und besonders wo grosse Städte
sich gebildet haben, gehen die Zahlen höher. In den noch weiter
nach Westen, Süden, Norden gelegenen Staaten und Territorien
finden sich nur ganz geringe Dicbtigkeitsziflfern. Am stillen Ocean
hat es auch Californien, freilich für ein riesiges Gebiet (410 000 qkm)
erst auf eine Dichte von 3 (1.21 Mill. Einw.) gebracht. Sicher finden
in der Mitte und im Westen der Vereinigten Staaten noch Millionen
und aber Millionen Platz. Indessen Klima, Bodcnbescbaffenheit
hemmen hier doch vielfach wohl definitiv eine starke Dichte.
Die interessanten Berechnungen nach den Censusmaterialien über die Yerthei-
lung der Bevölkerung nach der Seehöhe, nach der mittleren Jahrestemperatur und
anderen ähnlichen Momenten (s. Supan, iu der Bevölk. d. Erde Nr. VIII S. 210)
zeigen, dass hier gewisse natürliche Begünstigungen und Hemmungen vorliegen, welche
die Tendenz haben, einen dauernden und entscheidenden Einfluss auf die Volksdichte
auszuüben. Alles Umstände, welche für die europäische Auswanderungsftage und für
die volkswirtschaftliche Seite der Bevölkerungsfrage zu beachten sind.
§. 235. — Volksdichte asiatischer Länder.
In der Tab. XXVII sind endlich auch noch einige Daten für
die grossen asiatischen Reiche enthalten. Besonders die britisch-
indischen Verhältnisse, welche jetzt nach eigentlichen Volks-
zählungen genauer verfolgt werden können, bieten grosses Interesse
für die Vergleichung mit den europäischen Verhältnissen. Be-
merkenswerth ist namentlich, dass die Durcbschnittsdichte nicht
nur, wie iu Europa in kleinen Gebieten, Bezirken, Provinzen,
sondern in grossen, ja nach europäischem Maassstab gemessen,
in riesigen Gebieten eine ausserordentliche Höhe erreicht.
Digitized by Google
Statistik der Volksdichte.
587
Z. B. schon 1881 in Bengalen 139, auf einem Gebiet von 508,000 Qu.kü., nicht
viel weniger als Deutsches Reich oder Frankreich, mit 64.0 Mill. Einw., in Nieder-
bengalen allein 171, auf einem Gebiete fast so gross wie Irland. Aehnliches zeigt
sich in China, sogar noch stärker: in den Central- und unteren Provinzen eine Dichte
von 146 sogar auf einem Gebiet grösser als Deutsches Reich und Frankreich zusammen
(1.144.000 Qu.kil. mit 164.7 Mill. Einw.), — freilich, wenn die Schätzungen einiger-
maassen richtig sind. Aber durch die Zählungen Indiens bekommen sie doch
indirect eine gewisse Bestätigung.
Innerhalb der grossen Gebiete dann allerdings auch hier wieder
starke Verschiedenheiten der Dichte auch in diesen asiatischen
Gebieten, nach Höhenlage, Klima, Bodenbeschaffenheit, allgemeinen,
auch rechtlichen, politischen, Culturbedingungen. Welche ungeheure
Menschenmassen in solchen Ländern, bei günstigerem Klima, so
leben können, freilich in primitiver Einfachheit der Lebenshaltung,
„proletarisch kümmerlich“ nach europäischem Maassstahe, zeigen
diese Verhältnisse. —
Japan endlich nähert sich in seinen Bevölkerungsverhältnissen bei vorherr-
schender agrarischer und eigener altindustrieller Thätigkeit schon jetzt den Verhält-
nissen der entwickelsten Länder Westeuropas, welche diese erst in der Epoche der
maschinellen Industrie- und Verkehrsentwicklung erreicht haben: eine sehr beroerkens-
werthe Tbatsache, freilich auch hier eine Bevölkerung, welche nach europäischem
Bedtlrfnissstab eine mehr als kümmerliche Lebenshaltung hat.
Die asiatischen Verhältnisse sind für das ganze Bevölkerungs-
problem auch deswegen besonders wichtig, weil sie zeigen, dass
selbst bei einem niedrigen Volkseinkommen und bei grossen Reich-
thümern Einzelner eine sehr starke Bevölkerung und deren weitere
starke Vermehrung möglich ist, wenn eben die Masse in kümmer-
licher Weise ihr Leben fristet.
Die britisch-indische Bevölkerung stieg von 18S1 — 91 von 259.2 auf 285.7 Mill.,
um 10.7 °/0, fast so stark, wie die deutsche. Wie Hungersnö'the als „repressives
Hemmmittel“ wirken, zeigen dann solche asiatische Bevölkerungen allerdings auch noch
deutlich. In Mysore in Indien ist wesentlich durch die Noth von 1877 die Bevöl-
kerung von 5.055,000 auf 4,186,000 gesunken (s. Herrn. Wagner in Bev. d. Erde
Nr. VIII S. 86).
§. 236. — Vergleichende Ueber sicht der Volks-
dichtigkeitsverhältnisse verschiedener Länder.
In der folgenden Tab. XXVIII werden die Daten der Volks-
dichtigkeit nach Gebieten von Bezirks- und von Provinzialgrösse
für einige wichtige Länder auf Grund des Materials der früheren
Tabellen noch einmal übersichtlich zusammengefasst. Freilich sind
bei Vergleichungen und Schlüssen daraus die mehrfach hervor-
gehobenen Vorbehalte hier wieder besonders nothwendig, da eben
die der Classification zu Grunde liegenden geographisch-administra-
tiven Gebietstheile in den einzelnen Ländern mannigfach nach
Grösse und Character verschieden sind.
588 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. J.K. Bevölk.lelire. l.H.-A. Statist. §.236.
Die am Ende der Colonnen in der Tab. XXVIII angegebenen Zahlen der Ge-
sammtheit der betreffenden Bezirke und Provinzen, der absoluten Durchschnitts-
grösse des Gebiets und der Bevölkerung und der absoluten Maxima und Minima beider
für die betreffenden Gebietsteile jedes Landes sind daher bei der Schlussziehung mit
zu berücksichtigen. Wo z. B., wie in Grossbritannien in der Bezirksabtheilung, die
Zahl der Bezirke grösser ist, zeigt die Tabelle genauere Abstufungen, als in den
Ländern mit kleinerer Bezirkszahl. Doch stört hier, grade z. B. in Grossbritannien
wieder, die sehr grosse Differenz zwischen Maximum und Minimum.
Indessen, cum grano salis betrachtet, giebt die Tab. XXVIII doch auch vor-
zügliche Einblicke in die Abstufungen der Volksdichte innerhalb der einzelnen Länder
und in die characteristischen Verschiedenheiten der letzteren in Betreff dieses Ver-
hältnisses.
S. Tab. XXVIII auf S. 589.
Es bestätigt sich gleich beim Ueberblick der Tabelle die
Richtigkeit der im Vorausgehenden gemachten Bemerkungen über
das Eigentümliche der Volksdichte der verschiedenen Länder.
Die erste Abtheilung der Tabelle, wo kleinere und daher zahl-
reichere Gebietstheile unterschieden werden, ist besonders lehrreich.
Wie sehr Deutschland hier in der Dichte Frankreich überschritten
hat, wie bei uns in den Grenzen zwischen 60—125 Einw. p. qkm
bereits die meisten Bezirke liegen, volle zwei Drittel (49),
10 schon oberhalb dieser Grenze, nur 13 unterhalb, in Frankreich
dagegen nicht die Hälfte (40) innerhalb, nur 3 oberhalb, volle 44
unterhalb, das ist doch in hohem Maasse beachtenswerth und giebt
genug zu denken. So manche neuerliche Wahrnehmungen über
wirtschaftliche Schwierigkeiten in Deutschland finden mit in diesen
Verhältnissen ihre Erklärung. In Grossbritannien und Irland treten
die starken Verschiedenheiten, fast Extreme der Volksdicbte, an
sich und im Vergleich mit anderen Ländern, frappant hervor:
10% der Bezirke riesig bevölkert, über 300 Einwohner p. qkm,
aber ebensoviel nur mit 50 — 60, fast doppelt soviel beinahe 20 °/0,
nur mit 30 — 40 und eine ganze Anzahl noch viel geringer. Die
hypertrophische Bevölkerungsentwicklung der Niederlande und
Belgiens zeigt sich ebenfalls sofort deutlich.
In der zweiten Abteilung der Tabelle, welche die Dichten
der Provinzialgebiete übersichtlich macht, treten besonders die
grossen Gegensätze Mittel- und Westeuropas einer-, Russlands und
der nordamericanischen Union andrerseits scharf hervor. Ferner
wiederum der Vorsprung, welchen Grossbritannien, Deutschland,
auch Italien vor Frankreich erreicht und auch noch vor Oesterreich
behalten haben.
Neben der industriell- montanistisch -mercantilen Entwicklung
mit ihrem Einfluss auf die inneren Wanderungen hat hier in West-
und Mitteleuropa die raschere und langsamere natürliche Volks-
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Statistik der Volksdiehtigkeit
589
Tab. XXVIII. Classification der Volksdichtigkeits-
verhältnisse1).
Bezirks- u.dgl.Gcbietc; Prorinzial- u. dgl. Gebiete
Auf 1 Qu.kil.
Bewohner
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125—1 50
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3
—
— .
100-125
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2
—
2
90—100
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4
1
—
1
—
—
80— 90
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1
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2
8
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1
1
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—
70— 80
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—
1
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00- 70
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1
1
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5
—
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40 50
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2
16
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•
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30— 40
3
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—
1
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20— 30
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30— 20
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—
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5— 10
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4
6
Unter 5
—
.
1!
—
—
—
« —
—
—
4
16
Zahl
72
20
87
320-
21
15
17
6
12
25
50
48
Durch sehn. Grösse
Je 10 Qu.-kil.m.
751
312
616
262
257S
2001
1748
1041
4466
1865
9778
16152
Durchschn. Berölk.
1000
, 686'
536
439
315
2806
1593
1774
1
1785
3185
1641
1708
1305
Max. Grösse
je 10 Qu.kil. tu.
'2111
513
1072
1102
4696
7838
2935
1670
6011
2455
85893
68834
Max. Berölk. 1000 j,2984
Min Grösse
je 10 Qu.kü.m, | 114
1129
2961
3252
4710!
5959
3907
3660
7966
4988
8026
5998
138
48
J
1082
261
528
624
3748
26»
2729
324
Min. Berölk. 1000 1
171
132
80[
ßl
677
116
839
782|2327
118!
329!
46
Vermehrung in diesem Jahrhundert den einzelnen Ländern die ver-
schiedene Stellung in der Volksdichte ihrer Gebietstheile wesentlich
mit gegeben. Die inneren Wanderungen haben sich auch in Frank-
reich in derselben Richtung der Verschiebung der Volksdichten
geltend gemacht, aber wurden in den Gebieten des Fortzugs nicht,
wie in den anderen Ländern, durch starken Geburtsüberschuss
einigermaassen ausgeglichen. Paris und die französischen Industrie-
und Handelsbezirke wachsen daher relativ stärker auf Kosten
») Nach den Daten der Tab. XXV, XXVI, XXVII und in Betreff der ausscr-
deutschen Lander nach den weiteren erforderlichen Daten, welche in Tab. XXVII
i nicht alle Aufnahme fanden. Russland hier ohne Polen (und Finnland) gerechnet,
l Oesterreich ohne Ungarn. Die erste, eingeklainmerte Ziffer bei Nordamcrica bezieht
sich auf den kleinen District Columbia (Washington), und ist in der Gesammtzahl nicht
1 einberechnet. S. auch die Note zu Tab. XXV S. 576 am Schluss.
A. Wagner, Grundlegung. 8. Auflage. 1. Thefl. Grundlagen. 38
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5P0 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bcvölk.lehre. 1. H.-A. Statist. §. 237.
der übrigen Landestheile, als das von den betreffenden Städten
(Berlin) und Gebieten Deutschlands und ähnlich anderer Länder gilt.
C. — §. 237. Städte, besonders Grossstädte, nament-
lich in Deutschland.
Das starke Mitspielen der städtischen localen Bevölkerunfsanhänfnngen bei grosser
Volksdichtigkeit ist schon im Vorausgehenden öfters hervorgehoben worden. Diese
Seite der Frage statistisch naher zo verfolgen, ist von besonderem Interesse und mit
dem jetzt vorhandenen statistischen Material und bei dessen Bearbeitung meist schon
in den statistischen Bureau* auch nicht schwierig. Nur in der richtigen Feststellung
des Begriffs „Stadt" und in der richtigen Begrenzung der einzelnen Stadt, besonders
der modernen Grossstadt, bieten sich, wie oben (S. 47S) bemerkt, gewisse Schwierig-
keiten, welche sich völlig befriedigend nicht lösen lassen. Indessen führte cs in diesem
Werk zu sehr ins Detail und verlangte zu viel Baum, wenn hier eine genauere, an
sich erst genügende statistische Behandlung dieses Gegenstands erfolgen würde. Wir
begnügen uns daher mit einigen Andeutungen, einigen spcciclleren Zahlen nur für
das DeuNche Beich und nur wenigen Daten für die grösseren Städte anderer Länder
zum Vergleich. Das Material für die letzte Volkszählung von 1890 im Deutschen
Beich liegt noch nicht vollständig bearbeitet vor. Vergl. namentlich Vieteljahrshefte
1892, Heft 2, Gemeinden und Wohnplätze von 2000 Einwohner und mehr. Für die
Volkszählung von 1885, B. 32, N. F. (S. 20 11. d. Einl.) der Beichsstatistik , woraus
die hier mitgetheiltcn Daten.
Für die Gegenden, die kleineren und grösseren Gebietsthcile sehr
starker Volksdichtigkeit, namentlich einer den Landes- oder Staats-
gebietsdurchsehnitt erheblich übersteigenden, übt die städtische,
zumal die gross städtische locale Concentration der Bevölkerung
regelmässig einen besonders bedeutenden Einfluss aus. Die Be-
völkerung dieser Städte treibt ausser etwas Milchwirtschaft, Garten-
cultur und gartenartigem Feldbau an der Peripherie grösstentheils
meist nur Gewerbe, Mandel, liberale und andere persönliche Dienste,
in leitenden und dienenden Stellungen (als Unternehmer, Arbeiter).
Sie ist also für ihre Versorgung mit Nahrungsmitteln und Roh-
und Hilfsstoffen zur Verarbeitung fast ganz auf den Austausch
ihrer städtischen Erzeugnisse mit näheren und heute gewöhnlich
mehr noch mit ferneren, in- wie ausländischen Gegenden ange-
wiesen. Daraus ergiebt sich, dass gerade für die Volkswirt-
schaft 1 ic h e Seite der ganzen Bevölkerungsfrage und der localen
Volksdichtigkeitsfrngc speciell die grossstädtische Entwicklung be-
sonders wichtig ist. Je mehr sie vorwärts geht, desto mehr entfeint
man sich von den einfacheren Verhältnissen der naturalen Eigenpro-
duction der Nahrungsmittel und Verarbeitungsstoffe und gerätb in
das künstliche System des Austauschs, der Geld-, Credit-, und
Weltwirtschaft. Die Statistik der absoluten und relativen Grösse
und Zunahme der grossstädtischen Bevölkerung liefert einen wichtigen
Gradmesser für diese Entwicklungen, ähnlich, aber fast noch
besser, als die Berufsstatistik der Bevölkerung (§.243 ff.). Was sehr
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Städtische Bevölkerungsstatistik.
591
grosse locale Volksdichte volkswirtschaftlich eigentlich bedeutet,
tritt dabei in besonders scharfer Weise hervor.
Von Interesse ist daher die Grössenclassification der
Wohnorte (Städte, Gemeinden), die absolute Volkszahl, welche in
jeder Grössenclasse lebt, die Quote dieser Zahl von der Gesammt-
bevölkerung, die zeitliche Veränderung in diesen absoluten und
relativen Zahlen. Besonders beachtenswert ist die Entwicklung
der eigentlichen Gross- und Weltstädte, der staatlichen und pro-
vinzialen Hauptstädte, wiederum in Bezug auf absolute und relative
Zahlen. Denn diese Städte sind die Mittel- und Brennpuncte der
wirtschaftlichen und geistigen Cultur, liben die stärkste Anziehungs-
kraft aus auf die übrige Bevölkerung des Staats-, Provincial- und
Wirtschaftsgebiets und darüber hinaus, setzen sich am Meisten
aus Elementen verschiedenster örtlicher (Geburts-) Herkunft zu-
sammen und äussern durch ihre gesammten Lebensverhältnisse,
durch die von ihnen ausgehenden Ideenströmungen, Sitten, sitt-
lichen Anschauungen, Moden, durch ihre Presse wieder auf die
Bevölkerung im ganzen Lande einen bedeutenden Einfluss. Sie
und ihre Bevölkerungen zumeist schaffen jene ganze geistig-sittliche
Atmosphäre und bilden sic um, welche als das „milicu“ für
die „ökonomische Psychologie“ und die ökonomische Motivation
und damit für die Gestaltung und Entwicklung der wirtschaft-
lichen Handlungen und des ganzen Wirtschaftslebens so wichtig
wird (§. 33 fl*.).
Für das Deutsche Reich im heutigen Gebietsumfang zeigen die Tab. XXIX
und XXX die neueren Entwicklungen dieser städtischen Verhältnisse von JS6T — 'JO,
wobei aber für 1867 nicht alle betrelfenden Zahlen Vorlagen und für 1890 noch nicht
alle. S. auch schon oben S. 500, Tab. XXII.
Tab. XXIX. Bevölkerungvertheilung nach Wohnorten
(Stadt und Land) im Deutschen Ke ich.
Stadt-
Land-
Bevölkerung
in Orten
Zus.
Stadt-
Land-
über
unter
Bevölkerung
2000 Einw.
in MiU.
Einw.
MiU.
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14.64
25.46
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35.5
64.5
1871
14.79
26.22
41.01
36.1
63.9
1875
10.61
26.07
42.73
39.0
61.0
1880
1 8.72
26.51
45.23
41.4
58.6
1885
20.48
26.38
46.86
43.7
56 3
18901) (?
c. 23.12) (? c. 26 3)
49.42
(? c. 46.7)
(? c. 53.3)
*) Die eingeklammerten Zilferu Schätzungen.
38*
592 4. B. Bevölk. u. Yolksw.sch. 1. K. Bevölk.lehrc. 1. H.-A. Statut. §. 237.
Tab. XXX. Grössenclassifi cation der Wohnorte (Städte)
im Deutschen Reich.
Zahl
1871
1875
1880
1S85
1 890
Gressstädte . . .
8
12
14
21
26
Mittelstädte. . .
75
88
102
116
124
Kleinstädte . . .
529
591
642
«83
0
Landstädte . . .
1716
1 >37
1950
1951
?
Bevölkerung
1000 Kopf
Grossstädte . . .
1969
2666
3273
4446
5983* )
MitteLtädte . .
3147
3488
4027
4172
?
Kleinstädte . . .
4588
5124
5671
6055
?
Landstädte . . .
5087
5379
5749
5806
9
Andere Orte . .
26219
26070
26514
26379
9
Unter 1000 Einw.
lebten in
Grossstädten. . .
18
62
72
95
1211)
Mittelstädten . .
77
82
SO
S9
9
Kleinstädten , .
112
120
126
129
?
Landstädten . .
124
126
127
124
?
Anderen Orten. .
639
610
586
563
(? c. 533^
Als Grossstädte sind hier die Uber 100,000, als Mittelstädte die Urte von über
20,000 — 100.000, als Kleinstädte diejenigen von Uber 5000 — 20.000, als Landstädte
diejenigen von 2 — 5000 Einwohnern gerechnet. Der Begriü „Stadt'1 und „Ort'1 in
diesem statistischen Sinne deckt sich nicht immer (s. o. S. 578). Wie mitunter nicht
unwesentlich die Zahlen der Bevölkerung und danach selbst diejenigen einer solchen
Ortsgrössen - Classification durch die Zufälligkeit der Communalgrenzeo beeinflusst
werden, ergeben grade auch einige deutsche grossstädtische Vcrhültniss der neuesten
Zeit. In der Tabelle, wie in der amtlichen Statistik sind hier die Orte (Städte) nach
den Coinm unalbezirken und Grenzen gezählt, also z. B. Hamburg-Altona. Elber-
feld-Barmen, Berlin-Charlottenburg als je 2 Orte. Wurde man sie, grade nach der
für uns hier maassgebenden wirtschaftlichen Betrachtung, vereinigen, so veränderten
sich entsprechend die Zahlen der Orte und die dazugehörigen Bcvöikcrungs zahlen in
den einzelnen Grössenclassen. Berlin in seinem Weichbild hat z. B. (1. I)ec. 1S90)
1,578,794 Einw. ; die unmittelbar anstossenden Vororte, welche jetzt auch meist direct
die Berliner Strassenzüge fortsetzen, erhöhten diese Zifler um Ilundcrttausende; so
wenn man nur die 3 grössten t,Charlottenburg, Schöneberg, Bixdorfl mit dazu fugte,
um 141,282, auf 1,710,076 und mit Inbegriff von 7 weiteren grössten Vororten um
weitere 77,000, auf 1,787.000. Die sonstigen kleineren und local etwas entfernteren,
aber im Grunde ganz zu Berlin, dessen Wirthschaftsleben und „wirthschaftsgeistigcr“
Atmosphäre gehörenden Vororte mussten aber eigentlich auch noch hinzugerechnet
worden, um die wahre Berliner Volkszahl zu erhalten, welche ftir die uns hier be-
schäftigende Frage in Betracht kommt. — Wie sehr die Wcichbildsbegrenzung hier
den wahren Sachverhalt verdeckt und Acnderungen in jener die Bevölkorungsgrösse
verschieben , zeigt sich an den beiden anderen nach Berlin jetzt grössten Städten
Deutschlands: Hamburg und Leipzig. Jenes nahm 1S85 auch ohne seine Vororte
noch die 2. Stelle ein (305.690 Einw.), 1890 ist es in dieser Begrenzung trotz seines
Wachsthums auf 323,923 Einw. an die 5. Stelle gerückt, nach Leipzig, Müucheu.
Breslau. Allein mit seinen 10 gemeiudcselbständigcn Vororten (245.337 Einwohner^
hat es 569.260 Einwohner und steht damit weitaus an 2. Stelle. Rechnet man aber,
sachgemäss als seinen „bolstein’schen Vorort auch Altona mit 143,249 Einwohner
hinzu (von anderen kleinen benachbarten Orten abgesehen), so steigt seine Bevölkerung
auf 712,509, — die eigentlich bevölkerungs- und wirtlischafta statistisch richtige,
’) Gross-Berlin, Gross-Hamburg, Gross-Leipzig (dies nach Stand am 1. Jauuar 1891'
gerechnet gegen V* Million oder 10 °/0(t mehr (131). S. Text.
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Städtische Bevölkerungsstatistik.
593
zu benutzende und mit anderen zu vergleichende Zahl. Leipzig ist von 1885 — 90 nur
an die zweite (oder „Gross-Hamburg“ gerechnet, an die dritte) Stelle gerückt, weil
grosse Einverleibungen von Vororten stattgefunden haben (ohne diese hatte cs 1885
170,310, nach dem Gebietstand vom 1. December 1890 aber schon 251,224 Ein-
wohner, am 1. December 1890 wirklich 293.525 und mit neuen Einverleibungen am
1. Januar 1891 353,272 Einwohner). Auch in München, in Magdeburg (nominell
stieg dessen Bevölkerung von 1885 — 90 von 114,291 auf 202,235 Einwohner, aber
auf dem in diesem Zeiträume cinverleibten und dem alten Stadtgebiet wohnten 1885
auch schon 159,520 Einwohner) und in anderen Orten erklären sich neuere Volks-
zunahmen und dadurch erlangte andere Stellungen in der Grössenreihe aus solchen
Einverleibungen mit (so ist München von 1885 — 90 dadurch in die Stelle vor Breslau
gerückt). Streng genommen müsste man also in der That hier Ort für Ort erst auf
Grund genauer Localkenntniss vornehmen und seine „wahre“ Bevölkerung feststellen
(s. o. S. 478). Das lässt sich hier und von Privaten überhaupt kaum durchführen.
Aber es ergiebt sich, dass auch derartige Grössenclassifi cationcn der Statistik ihre
anklebenden Mängel haben und Schlüsse daraus immer gewisse Vorbehalte voraussetzen.
Natürlich, dass auch in anderen Landern dieselben Verhältnisse vorliegen. Bei
London und überhaupt bei britischen Städten auch nach der Eigentümlichkeit der
Communalverfassung, bei italienischen Städten dgl., bei Paris, Wien u. a. m. ergeben
sich dieselben Notwendigkeiten der Zahlcncorrectur. Wien z. B. ist durch die Er-
weiterung zu „Gross-Wien“ von ca. 806,000 Einwohner in lSSS auf ca. 1,365,000 Ein-
wohner 1890 gestiegen.
Legt man für statistische Untersuchungen, wie die uns hier beschäftigenden, die
klein eren Bevölkcrungszahlen der Städte, besonders der Grossstädte, zu Grunde, so
ergiebt sich, dass die betreffenden Daten die Entwicklung in der Richtung zum Gross-
stadtthum schwächer hervortreten lassen, als der Wirklichkeit entspricht. Das ist
zu beachten, auch für die Schlussziebungen.
Die Daten der Tab. XXIX und XXX bedürfen sonst kaum einer weiteren Er-
läuterung, sie sprechen deutlich für sich. Bemerkenswerth ist immerhin, dass die
Bevölkerung der Wohnoite unter 2000 Einwohner, die Landbevölkerung, noch nicht
absolut abgenommen hat, trotz heimischer Wanderungen und der Auswanderung. Das
wäre dann dem starken Geburtsüberschuss zu verdanken und ergäbe eine günstige
Abweichung von Frankreich. Allein, wenn man alle die kleinen Vororte von Städten,
besonders wieder Grossstädten, immer mehr schon städtischen Characters, deren Be-
völkerung je unter 2000 Einwohner zählt, abrechnen würde, fragt sich, ob nicht doch
bereits eine wirkliche und nicht ganz unbeträchtliche Abnahme sich herausstcllte.
Ausserdem ist aber besonders nach dem Altersaufbau , den Civilstandsverhältnissen,
vielleicht auch nach der Geschlechtsvertheilung die ländliche Bevölkerung wohl un-
günstiger als ehemals in Folge der Wanderungen zusammengesetzt.
In Gross britannien ist die Entwicklung ähnlich, nur noch rapider und stärker
zu Gunsten der städtischen Bevölkerung. Diese erreichte schon 1850 hier die volle
Hälfte, schon 1871 61.8%. Frankreich ist hier dagegen wieder zurückgeblieben,
wenn es auch die gleiche Entwicklungstendenz zeigt (1871 31.06 % städt. Bevölkerung
in Orten über 2000 Einwohner).
Die folgende Tabelle XXXI enthält noch eine Uebersicht der grösseren Städte
einiger Länder nach Grössenclasscn für die letzten Zählung&periodeu (um 1890). Dabei
ist freilich die genaue Vergleichung des Einzelnen nur unter denselben Vorbehalten,
wie in Betreff der Uebersicht der Städte des Deutschen Reichs statthaft, was Vororte
von Grossstädten, selbständige Zählung von grossen Nachbargemeinden (z. B. Newyork
und Broklyn) anlangt. Indessen auch so ergiebt sich doch ein ganz guter Einblick
in diese Verhältnisse des Städtewesens und bezüglich der Bedeutung desselben für die
volkswirtschaftliche Seite der Bevölkerungs- uud der Volksdichtigkeitsfrage.
S. Tab. XXXI auf S. 594.
Das üebergewicht der „Grossstädto“ über 100,000 Einwohner in Grossbritannien,
aber auch bereits im Deutschen Reich und in Nordamerica ist bemerkenswert, auch
wieder Frankreich gegenüber. Wie sehr die politischen und wirtschaftlichen Central-
puncte regelmässig alle andre Städte ihres Landes, auch die grössten, überragen, tritt
auch deutlich hervor, ln Nordamerica würde Newyork (1,515.000 Einwohner) mit
Broklyn (806,000 Einwohner) vereinigt auch bereits in die erste Classe mit über
594 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bcvölk.Ichrc. 1. H.-A. Statist. §. 237.
Tab. XXXI. G rüssenclassen der grösseren Städte (Orte)
in verschiedenen Ländern.
Städte
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15
2
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4
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17
11
29
18
19
25— 50.000
61
11
22
11
13
4
4
[22]
57
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[SC]
[16]
üeber 100.000
Volkzahl derselben
26
5
1
3
4
4
12
12
30
12 ;
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Mill.*5)
gleich Promille der
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2.95
0.51
0.79
0.39
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0.87
5.00
3.01
10 76
3.48
9.70
Gcs.bevölk.
131
124
29
173
151
-
97
130
100
284
37 '
155
2 Mill. Einwohnern steigen, Berlin mit seinen Vororten ist jetzt nahe daran und wird,
wenn die bisherige Entwicklung so weiter geht, in nicht ferner Zeit Paris (1S91
2,448,000 Einwohner, ganzes Seinedepartements 3,142.000, wovon ein grosser Theil
freilich auch zu „Gross- Paris“ als Einer Stadt gehört) an Einwohnerzahl übertreflen.
Freilich bleiben beide hinter London doch noch immer weit zurück, das jetzt in den
Grenzen des statistischen Districts 4,211,000 Einwohner, mit allen sonstigen Vororten
aber kaum viel unter 5 Mill. Einwohner zählt.
Man kann mancherlei weitere Rechnungscombinationen an diese Grössenclassi-
fication der Städte knüpfen, z. B. wie gross absolut und als Quote von der Gcsammt-
bevölkerung die Volkszahl jeder Grösscnclasse Ist, wie in den 2 letzten Reihen der
Tabelle XXXI für die Grossstädte über 100,000 Einwohner geschehen ist. Gross-
britanniens vorauseilende Entwicklung wird durch die Thatsache, dass daselbst über
28 °/o4cr Bevölkerung (Irland eingerechnet) in solchen Städten wohnen, scharf beleuchtet.
Die Bedeutung der Hauptstadt und die Steigerung dieser Bedeutung ergiebt sich
aus der Berechnung, der wie vielste Landesbewohner Hauptstädter ist. in bequemer
ücbcrsicht. So war Londoner 1801 der 17., 1841 der 14., 1871 der 9.8te, 1891 der
ca. 7.6te Brite, Pariser 1801 der 49., 1821 der 42., 1841 der 37., 1871 der 18.6te,
1891 der 15.6tc (bez. ca. 13.Ste, Vororte mitgerechnct) Franzose; Berliner 1816 der
125. Deutsche (auf heutigem Reichsgebiete) (der 52. Preusse), 1S40 der 100. Deutsche
(der 45. Preusse), 1864 der 60. Deutsche (der 30. Preusse), 1891 der 31. Deutsche
(der 16. Preusse des vor-OG-er Umfangs des Staats) (incl. Vororte schon circa der
*) Hamburg mit Vororten zweitgrössto deutsche Stadt.
*) Brüssel mit Vororten grösste belgische Stadt.
8) Letzte Rubrik: Städte von 30 — 50.000 Einwohner.
4) Die Gemeinden, die öfters erheblich grösser als die eigentlichen Orte.
6) Letzte Rubrik: Städte von 40 — 50.000 Einwohner.
ö) Bei Deutschem Reich mit den Zahlen für Gross-Berlin. -Hamburg, -Leipzig,
bei Frankreich mit Zuschlag für Vororte von Paris, bei Grossbritannien fallen die
Vororte Londons ohnehin meist unter die Städte mit über 100,000 Einwohner.
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Ergebnisse bezüglich der Volksdichtigkeit.
595
27. Deutsche). Man sieht, dass trotz der bundesstaatlichen Gestaltung auch des heu-
tigen Doutscheu Reichs sich die Centripetalkraft der jungen Reichshauptstadt, des
ersten Centralpuncts, welchen das Deutsche Volk in seiner bisherigen Geschichte er-
reicht hat. in derselben immer mächtigeren Weise geltend macht, wie in allen Ein-
heitsstaaten, wenn auch die mittelstaatlichen Hauptstädte die Entwicklung immer etwas
hemmen. Die junge italienische Kapitale ist in dieser Hinsicht noch weit zurück,
noch ist erst der 71. Italiener ein Römer, aber die neuere Entwicklung der alten
Weltstadt geht doch schon in derselben Richtung wie diejenige andrer moderner Haupt-
städto.
D. — §. 238. Ergebnisse bezüglich der Volks-
dichtigkeit. Aus den vorausgehend mitgetheilten statistischen
Thatsaehen kann man für die causalen und conditionellen Ver-
hältnisse der Volksdichtigkeit und der Verschiedenheiten derselben
wenigstens für die europäisch-nordamericanische Welt wohl einige
allgemeinere Sätze ableiten. Ob dieselben ebenso für wärmere
Länder, für die asiatischen Culturländer gelten, mag dahin ge-
stellt bleiben.
In unseren Ländern der gemässigten Zone findet sich eine
sehr starke Volksdichtigkeit und eine weitere Steigerung derselben
durch Geburtsübcrschuss und durch Mehrzu- und Mehreinwanderungen
regelmässig nur in einigen, meistens nur in wenigen, auch
nicht immer sehr ausgedehnten Gebieten. Es sind das solche, in
welchen hohe Entwicklung von Industrie, Bergbau, Städtewesen
auf dem Austausch von Fabrikaten und politischen und Cultur-
leistungen mit den Roh-, namentlich Agrarproducten anderer, viel
dünner bevölkerter Gegenden des Inlands und des Auslands beruht.
Mehr oder weniger ist daher Fernabsatz derProducte
und Leistungen und Fernbezug der Rohstoffe und
Nahrungsmittel hier Voraussetzung der grossen Volks-
dichtigkeit.
Die Abhängigkeit der letzteren von der Bodenfruchtbarkeit und vom agrarischen
Bodenerträge der Gegenden dieser grossen Dichte selbst tritt hier zurück. Wohl
aber besteht zwischen der hohen Volksdichte, dem grossen Bedarf an Agrarproducten
für diese Bevölkerung, den lohnenden Absatzpreisen wenigstens mancher Agrarproducto
auch für die agrarischen Gebietsteile solcher dicht bevölkerten Gegenden ein Ver-
hältnis der Wechselwirkung: es liegen die Bedingungen für intensivere, auch für
hochintensivste Landwirtschaft mit Specialculturen vor, welche ihren lohnenden Ab-
satz in die Städte und Industricsitze hat, ihrerseits städtischen Dünger und Kunst-
dünger benutzen kann und nun auch selbst wieder mehr Menschen beschäftigt und
ernährt. So wird auch dadurch wieder die Bedingung für höhere allgemeine Volks-
dichtigkeit in solchen Gegenden erfüllt.
Aber alle Wirtbschafts - und Lebensbedingungen werden bei
solcher auf der genannten Voraussetzung beruhenden hohen Volks-
dichtigkeit künstlicher. Schon die Erhaltung dieser Dichtigkeit
ist an mancherlei schwierige ökonomische, technische, rechtliche,
politische Voraussetzungen geknüpft, welche sich nicht immer sicher
596 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bcvölk.lclire. 1. H. -A. Statist. §. 23S.
verbürgen lassen. Daraus entsteht die Gefahr, hier hohe Volks-
(lichtigkeit, mindestens zeitweise, bei Verkehrs- und Absatzstockungen
u. dgl., in Uebervölkerung libergehen zu sehen. Vollends die
immer weitere Steigerung dieser Volksdichtigkeit in gewissen
Gegenden steigert auch die Künstlichkeit solcher Verhältnisse und
macht die Erfüllung ihrer Voraussetzungen immer schwieriger. Je
mehr volksarme Gegenden des In- und Auslands (so die Länder
der Masseneinwanderung) allmälig aber selbst bevölkerter werden,
hei sich Industrie, Cultur, Städtewesen entwickeln, desto weniger
können sie mehr als Absatzmärkte der Producte und Leistungen
der volksdichten Gegenden und Länder und als Bezugsquellen der
Rohproducte, Nahrungsmittel, sowie als Aufnahmeplätze der Zu-
uud Einwanderung dienen. Sehr grosse Volksdichtigkeit
der einen Landestheile und ganzer Länder setzt in-
sofern geringere, selbst sehr geringe der anderen,
im In- und Auslände, mit welchem Austausch von
Producten und Leistungen besteht, voraus.
In diesen Verhältnissen der gegenseitigen Abhängigkeit volks-
dichter und volksdünner Gegenden und Länder liegt das Bedenk-
liche in volkswirtschaftlicher Beziehung für die Gebiete hoher,
vollends durch Geburtsüberschuss und Mehr -Zuwanderung noch
immer stärker werdender Volksdichtigkeit. Diese Erwägungen
ergeben, dass hier doch eine freilich nicht ziffermässig zu be-
stimmende, nicht leicht absolute, sondern stets eine einigermaassen
elastische und etwas elastisch bleibende Grenze, aber eben doch eine
Grenze für die Volksdichtigkeit und für die Volksvermehrung
vorliegt, deren Druck deutlich genug empfunden wird und als
Warnung gelten muss. Den verschiedenerlei — freibändleriscben,
schutzzölincrischen, socialistischen (§. 192 ff.). — Optimisten
gegenüber ist das durchaus festzuhalten. Die erreichte hohe und
selbst noch zunehmende Volksdichtigkeit gewisser Gegenden und
ganzer Länder West- und Mitteleuropas beweist wahrlich nichts
gegen Malthus.
Wo Industrie, Handel, Städtewesen fehlen, die Voraussetzungen
dafür sich nicht schaffen lassen, wo die locale Bevölkerung daher
wesentlich auf die landwirtschaftliche Cultur für den eigenen
Bedarf angewiesen ist, da sind die Grenzen für die Volksdichtig-
keit und für weitere Volksvermehrung viel enger gezogen. Sie
können hier leicht als so gut wie absolute sich geltend machen.
Freilich in ungleichem Grade, später oder früher je nach Boden-
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Goscblechtsvertheilung.
597
fruchtbarkeit, Klima, agrarischer Technik und Intelligenz der Land-
leute, nach Agrarverfassung, Lebenshaltung und Lebensansprüchen
der Bevölkerung, aber immer verhältuissmässig bald und scharf
werden sie sich fühlbar machen. Bei dauerndem GebnrtsUberschuss
werden Fortwanderungen, sonst die präventiven und, wenn sie nicht
wirksam genug sind, die repressiven Tendenzen die Ausgleichung
herbeiführen müssen. Das lehrt in Europa Irland auch heute noch
und in Asien Indien und China.
Die Entwicklung landwirtschaftlicher Specialculturen , bei welchen mehr
Menschen Beschäftigung und Eiwerb finden können, bietet in rein agrarischen Gegenden
kein genügendes Hilfsmittel, weil cs eben ohne heimische Industrie, grössere Städte
und Fernverkehr an Absatz für die Producte dieser Specialculturen unter den hier
besprochenen Voraussetzungen fehlen wurde.
Insbesondere an diese wichtigen Ergebnisse hinsichtlich der
Frage der Volksdichtigkeit ist im 2. Hauptabschnitt dieses Kapitels
näher anzuknüpfen.
VI. — §. *239. Ge8chlechtsvertheilung in der Be-
völkerung.
In allen vorausgehenden statistischen Thatsachcn, Untersuchungen und Er-
örterungen in diesem ganzen 2. Abschnitte (von §. 207 an) haben wir es wesentlich
mit der Bevölkerung überhaupt zu thun gehabt, wenn auch dabei ab und zu
die Unterscheidung dieser Bevölkerung nach ihrer Gliederung (Zusammensetzung)
berührt wurde. Im Folgenden wenden wir uns noch, zwar auch nur in Kürze, aber
doch etwas näher, zur Betrachtung der beiden Hauptmomente der natürlichen
Gliederung der Bevölkerung, derjenigen nach Geschlecht und Alter, welche
beide auch für die volkswirthschattlichen Seiten der Bevölkerungsfrage besonders
wichtig sind, sowohl für die Betrachtung vom Productions- als für diejenige vom
Vertheilungsstandpuncte aus. Daran soll sich dann auch noch ein Blick in die social -
ökonomische Gliederung der Bevölkerung nach wirtschaftlicher Berufs- und
Erwerbs-Stellung und Art anknüpfen (§. 248 ff.), eine Seite der Bevölkerungs-
statistik, welche indessen hier nur in ihren Hanptpuncten und Kategoriccn herein-
gezogen wird. Denn nur mit diesen gehört sie in diese „Grundlegung“.
A. Allgemeine U ebersiebt. Die Geschleclitsvertheilung
in der Bevölkerung beruht natürlich zunächst auf der Verkeilung
der beiden Geschlechter unter den Neugeborenen, — die wesent-
lich physiologische oder biologische, anthropologische Seite
der Frage; sodann auf den Veränderungen, welche diese Ver-
keilung hei der Geburt einmal durch die verschiedene Sterb-
lichkeit der Geschlechter «an sich und wieder in den einzelnen
Lebensjahren und sodann durch die Wände run’gen erfährt.
Die Verschiedenheit der Sterblichkeit der Geschlechter ist eine,
wie man nach ihrer Constanz annehmen möchte, ebenso feste
Ordnung der Natur, wie die Verkeilung der Geschlechter unter
den Neugeborenen. Sie hängt aber ausserdem deutlich von socialen
Faetoren, wie Beruf, Lebensweise mit ab. Nur, soweit letztere
5118 *L B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lchrc. 1. H.-A. Statist. §. 239.
wieder durch die Naturordnung selbst mehr oder weniger fest be-
stimmt sein sollten — , die Streitfrage, welche meistens von beiden
Seiten nur in Form der petitio principii gelöst“ wird — könnte
man auch hier von naturgebundener Gestaltung der verschiedenen
Sterblichkeit der Geschlechter reden. In dem Einfluss der Wan-
derungen, der heimischen wie der Aus- und Einwanderung, an
welcher die Geschlechter in verschiedenem Maasse betheiligt sind
(S. 562), hat mau es wiederum mit socialen Factoren zu thun.
Wegen der verschiedenen Sterblichkeit der Geschlechter in den
einzelnen Lebensaltern und ebenfalls wegen der verschiedenen
Betheiligung der Geschlechter an den Wanderungen iu diesen
Lebensaltern hat die Bevölkerung, zumal die durch Wanderungen
stark beeinflusste, auch einen verschiedenen Altersaufbau der
beiden Geschlechter (§. 241 fi.).
Eine allgemeinste, mit grösster Constanz in jeder nur etwas
grösseren Bevölkerungszahl sich zeigende statistische Erfahrnngs-
thatsachc ist, dass die Neugeborenen sich nicht gleichmässig auf
die beiden Geschlechter vertheilcn, sondern dass die Knaben
regelmässig Uberwiegen und zwar (bei den Lebendgeborenen)
ziemlich Überall und constant um 4 — 6°/0 (104 — 106 Knaben auf
100 Mädchen): ein wahres statistisches „Gesetz“.
Es ist dieses Ucbcrwiegen der männlichen Geburten zugleich diejeuige bc-
völkeruugsstatistischc Thatsache, welche „das befriedigendste bisher bekannte Beispiel
für die Anwendbarkeit der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf bevölkerungsstatistische
Beobachtungen darbietet“ (Lexis). Eine Erscheinung, in Hinsicht deren in der That
auch nach den Anforderungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung es berechtigt ist, von
einem „Gesetz“ zu sprechen, weil die Abweichungen von der Kegel sich innerhalb
der Grenzen , welche die Wahrscheinlichkeitsrechnung hier nur zulassen kann , halten
und mit der Annahme eines festen causalcn Abhängigkeitsverhältnisses noch vereinbar
sind. S. Uber diese Seite der Frage bes. \V. Lexis, Geschlechtsvcrbältniss der
Geborenen u. Wahrscheinlichkeitsrechnung. Hildebr. Jahrb. 1876, B. 27, Ders. Zur
Theorie der Massenerscheinungen, S. 64 11. u. Ders. im Art. Geschlechtsverhältniss iiu
Handw.b. d. Staatswiss. lll, 816, woselbst weitere Litteratur. Die ganze Frage seit
Graunt und SUssmilch ein Lieblingsobject der Untersuchung der Bevölkeruugsstatistikcr,
das aber in diesem Werk nicht näher zu verfolgen ist.
Es genüge die Bemerkung, dass die zeitlichen und örtlichen Verschiedenheiten
und Schwankungen des männlichen Geburtsilberschusses sehr gering, weun auch
sichtbar sind. Bei den Todtgeborencn linden sich mehr Knaben als bei den Lebend-
geborenen im Verhältnis zu den Mädchen (S. 501). Ueber die Ursachen und Be-
dingungen der Thatsache überhaupt und ihrer kleineren zeitlichen, örtlichen, nationalen
und sonstigen Verschiedenheiten sind bisher von Physiologen und Statistikern nur
Hypothesen aufgestellt. Dieselben, zumal diejenigen der Statistiker, aber doch auch
die bisherigen der Physiologen, liefern indessen keine eigentliche Erklärung und
sind auch bisher nicht genügend gesichert. Länger vertretene, mit manchem Material
stimmende sind durch spätere und genauere Untersuchungen an grösserem und
besserem Material und noch besseren Methoden widerlegt oder wenigsten nicht sicher
bestätigt worden. So die (lange verbreitete, mit der allgemeinen Thatsache der
männlichen Mehrgeburten stimmende, aber sonst, namentlich physiologisch nichts
erklärende) sogen. Holäcker- Sadler’sche Hypothese, dass „die Altersverschiedenheit
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Geschlechtsvortbcilung.
599
der Eltern vou wesentlichem Einfluss auf das Geschlecht der Geborenen sei, indem
bei überwiegendem Alter des Vaters mehr Knaben, anderenfalls mehr Mädchen ge-
boren wurden“ (Lcxis II. W. B. S 817), was neuere Untersuchungen nicht bekräftigten
(s. eb.). Auch die neuesten physiologischen Erklärungsversuche, z. Th. nach Ana-
logien mit höheren Säugethieren und selbst mit Pflanzen, sind bisher nicht über den
Character von Hypothesen hinausgekommeu und liefern auch wieder nicht eine eigent-
liche „Erklärung" (Thury, Richarz , Dtising u. A.). S. über die statistische Unter-
suchung der Frage bes. Wappäus, Bevölks.st. II, S. 150 1F. u. Oettingen, Moral-
statist., meine Gesetzmässigkeit u. aus der Speciallitteratur neuere Arbeiten von
\V. Sticda (Geschlccbtsverh. d. Gehör. 1875), I'rancke. Schumann, Kollmann,
Lehr u. A. (näher angegeben bei Lcxis, H. W. B. S. 820), sowie Lexis’ Resum6
eb. S. 817.
Für unsere Zwecke ist es genügend, constatiren zu können,
dass das kleine Uebergewicht der Knaben bei den Geborenen eine
ganz allgemeine Thatsache der Bevölkerungsstatistik ist. Die-
selbe trifft, soweit man bisher Beobachtungen bat, auch für andere
Hassen als die kaukasische, für andere Völker als die europäischen,
für andere Culturstufen als die unsrigen im Wesentlichen ebenso
zu (u. A. auch für polygame Völker; die wohl vorgekommene Er-
klärung oder Rechtfertigung der Polygamie mit einem Ueberschuss
weiblicher Geburten ist völlig aus der Luft gegriffen). Die zwar
kleinen, aber sehr constanten, insofern zu den nationalen Eigen-
thümlichkeiten gehörigen nationalen, ferner die Verschiedenheiten
bei ehelichen und unehelichen Geburten (etwas mehr Knabenüber-
schuss bei jenen), diejenigen in der Bevölkerung verschiedener
Berufe und Lebensweise — wo ein etwas stärkeres Plus der Knaben-
mehrgeburten auf dem Lande gegenüber den Städten sich zu be-
stätigen scheint — in Bezug auf den Knabenüberscbuss unter den
Geborenen sind im Uebrigcn doch zu geringfügig, um auf die
geschlechtliche Gliederung der Bevölkerung eineu etwas stärkeren
Einfluss auszuüben. Daher sind diese kleinen Differenzen bei den
Geborenen auch für die volkswirtschaftliche, die politische (mili-
tärische) Seite der Frage der Gesehlechtsvcrtheilung nicht weiter
besonders wichtig.
Nach der neuesten vergleichenden Arbeit des reichsstat. Amts (N. F. B. 44, S. 176)
kamen im Deutschen Reich 1872 — 80 im Mittel auf 1000 Mädchen unter den Ge-
borenen 1002 Knaben (cinjähr. Max. 1067, Min. 1059. Max. nach den grösseren
Gebietsgruppen im Deutschen Reich von 1872 — 80 1069 [Pommern, Brandenburg ohne
Berlin, R.-B. Münster und Minden]. Min. 1051 [Würtembcrg, 1054 Baden], kleiuc
Gebiete zeigen grössere DiH'ercnzen. 1077 — 1017); unter den ehelichen 1063. den un-
ehelichen 1051, den Lebendgeborenen 1054, den Todtgeborcnen 1289. Unter den
verglichenen übrigen enrop. Gross- und Mittelstaaten, ebenfalls nach mehrjährigem
Mittel, war das Max. bei allen Landern 1076, in Galizien und Bukowina, 1U71 in
Italien, 1109 (? Rumänien), das Min. 1058 Belgien und Dänemark (Frankreich hatte
1068, bei Lebcndgeborenen allein 1047, Grossbritannien nur bei letzteren 1042, Russ-
land auch nur bei diesen 1050).
600 4. B. Bevölk. u. Voiksw.sch. J.K. Bevölk.lckre. 1. H.-A. Statist. §.239.
Der Ueberschuss der Knaben bei den Geburten bewirkt, dass
in den jüngeren Lebensjahren in der Bevölkerung das männliche
Geschlecht etwas Uberwiegt. Allein das gleicht sich bald aus,
weil die Sterblichkeit der Knaben von der Geburt an (ja schon
vor und bei der Geburt, wie die viel grössere Anzahl todtgcborener
Knaben als Mädchen beweist), zumal in den ersten Lebensjahren,
aber im Allgemeinen etwa bis ins höhere Kindesalter, doch meist
nicht mehr ganz bis zur Zeit der Geschlechtsreife, eine ungünstigere
als diejenige der Mädchen ist.
Um diese Zeit und von da an ungefähr in der ganzen Periode
des geschlechtlichen Zusammenlebens, bis gegen Ende der 40er
Lebensjahre besteht am Meisten eine annähernde Gleichzahl der
beiden Geschlechter in der Bevölkerung, wenigstens unter normalen
Verhältnissen, d. h. unter solchen, welche nicht durch Wanderungen
und durch anomal stark das Leben der Männer mehr gefährdende
Berufe der letzteren zu abweichender Verkeilung der Geschlechter
führen. In diesen Jahren, zum Tbeil schon vom 10— löten, mehr
noch von 15 — 20 bis 40 — 45, auch noch bis 45 — 50 ist die Sterblich-
keit beider Geschlechter nicht mehr so wesentlich verschieden, wenn
auch im Ganzen noch etwas günstiger bei den weiblichen ; jedoch
mit Schwankungen in den kleineren Perioden, hie und da auch
einmal etwas ungünstiger für die Frauen, namentlich in der Lebens-
periode, wto die Geschlechtsfunction des Weibes (in der Zeit der
Entwicklung der Geschlechtsreife und in der Hauptzeit der Gebähr-
thätigkeit) am Stärksten wirksam wrird.
Nach dieser Periode bis ins höhere und höchste Lebensalter
tibenviegt im Ganzen normal w ieder das weibliche Geschlecht, wiegen
durchweg grösserer Sterblichkeit der Männer, welche letztere erst
im Greisenalter für beide Geschlechter wieder gleichmäs.siger wird.
Doch scheinen sich hier die Verhältnisse bei verschiedenen Völkern auch ab-
gesehen von dem Einfluss von Berufs Verhältnissen etwas verschiedener als im Kindes-
alter zu gestalten. Auch bei einzelnen europäischen Bevölkerungen (in Italien, Spanien,
Griechenland, Galizien und Bukowina, selbst iu einzelnen deutschen Gebieten wie
Westfalen) zeigt sich ausnahmsweise im höheren Alter eine ungünstigere Sterblichkeit
der Frauen (s. u.).
Im Ganzen kann die verschiedene Sterblichkeit der Geschlechter
in den einzelnen Lebensaltern und besonders den grösseren hier
unterschiedenen Perioden derselben , in der dargelegten Weise als
eine statistisch feststehende Thatsache gelten.
Eine allgemeine physiologische Erklärung fehlt, denn die Annahme einer
grösseren passiven Widerstandsfähigkeit des weiblichen Organismus ist nur ein anderer
Ausdruck für die Thatsache selbst. Eher kann man an eine stärkere Lebensabsorption
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Geschlochtsvertheiluug.
601
des männlichen Organismus dnreh ziemlich alle Lebensphason hindurch denken, wie
sie durch Geschlechtscharacter, Thätigkeit, Lebensweise, Beruf eben auch durch-
schnittlich bedingt ist. Das Leben des Knaben und des Mannes ist im Ganzen direct
und indirect mehr gefähidot als das des Mädchens und der Frau. Es bleibt dabei
bemerkensworth, dass dio spcciüschc Geschlechtsfunction des Weibes sich nicht als
durchgreifend die Sterblichkeit steigernder Factor zeigt, wenn auch, wie bemerkt,
in den Jahren der hauptsächlichen Gebührthätigkeit die weibliche Sterblichkeit sich
-der männlichen mehr nähert und sie hier und da erreicht und etwas überschreitet.
Die regelmässige Sterblichkeit des männlichen Geschlechts wird
aber nun unter besonderen Verhältnissen durch die spccifischcn
Gefahren bestimmter Berufe gesteigert. Das kann sich bei grosser
Verbreitung solcher Berufe und bei besonders starker Lebensge-
fährdung auch in der Erhöhung der allgemeinen männlichen Sterb-
lichkeit zeigen.
Namentlich der K riegs beruf in Kriegszeiten, einzelne gefährliche Erwerbsberufe
(Seewesen, gewisse bergmännische, industrielle Thätigkeit) sind hier von Einfluss und
verschieben durch die grössere Sterblichkeit der Männer in ihnen die natürliche Ver-
theilung der Geschlechter, besonders in den betreffenden Lebensaltern.
Endlich aber führen die einheimischen und die internationalen
Wanderungen die beiden Geschlechter in ungleichem Maasse
überhaupt und besonders in gewissen Lebensaltern fort und herbei.
Sie liben so auf die wirkliche Geschleehtsvcrthcilung der Bevölkerung
im Ganzen und wieder in bestimmten Altcrsclassen einen ziemlich
erheblichen Einfluss aus. Jedenfalls ändern sie die von der Ge-
schleehtsverthcilung bei den Gehurten und von der verschiedenen
Sterblichkeit bedingte „natürliche“ Geschlechtsvertheilung mehr
oder weniger.
Da in der zurückgebliebenen Bevölkerung im einen und in der durch Zu- und Ein-
wanderung vergrösserten im anderen Falle so die Geschlechtsvertheilung eine andere wird,
übt auch weiter die verschiedene Sterblichkeit der Geschlechter überhaupt und in den ver-
schiedenen Alterschiassen noch ihren Einfluss aus. Im Ganzen sehen namentlich die
Länder der Mas-enauswauderung trotz des Knabeuiiberschusses bei den Geburten und
auch dann, wenn nicht jene besonderen Umstände, wie Krieg und andere Berufs-
gefahren mehr Männer dahinraffen, in ihrer Gesammtbevölkerung die weibliche, die
Länder der Masseneinwanderung die männliche Bevölkerung und zum Tbeil gerade
in den volkswirtschaftlich und populationistisch wichtigsten mittleren Lebensjahren
noch besonders uberwiegen (s. u.). Die heimischen Wanderungen äussern in den
"Wegzug- und Zuzuggegenden vielfach einen ähnlichen Einfluss, aber doch nicht immer
und nicht in demselben Grade. Denn der specilisch weibliche Massenberuf der
Dienstboten fuhrt auch Weiber in starker Zahl von der Geburtsheimath fort, oft auf
die Dauer. Und die Beschäftigung der Frau in der Fabrik hat ähnliche , wenn auch
dem Grade nach an sich und vollends im Vergleich mit den betreffenden Männern
geringere Wirkungen. In der wesentlichen Verschiedenheit der Geschlechts- und der
geschlechtlichen Altersclasscnvertheilung der Bevölkerung nach Stadt, besonders Gross-
stadt und Land, industrieller und agrarischer Gegend gelangt daher der Einfluss der
heimischen Wanderungen und in ihm derjenige der wirtschaftlichen Berufsverhältnisse
mit zum Ausdruck.
Da doch im Ganzen das männliche Geschlecht, namentlich
in den productivcrcn Lebensjahren , der Hauptträger der wirt-
schaftlichen, der politischen, der Culturarbeit ist, so sind Klick-
602 4. B. Bevülk. u. Volksw.scb. 1. K. Bevölk.lelire. 1. H.-A. Statist §. 240.
Wirkungen der Gescblechtsvertheilung überhaupt und derjenigen in
bestimmten Altersclassen auf das volkswirtschaftliche Produetions-
interesse nicht wohl zu bestreiten. Dieses wird in Einwanderungs-
ländern begünstigt, in Auswanderungsländern benachteiligt. Aebnlich
verhält es sich in einheimischen Zuzugs- und Fortzugsgegenden
öfters. Nimmt man, wohl nicht mit Unrecht, an, dass die durch-
schnittliche weibliche wirtschaftliche Bedürftigkeit geringer als die
männliche ist, so liegen die Dinge vom Standpuncte der volks-
wirtschaftlichen Verteilung betrachtet indessen nicht in demselben
Maassc günstiger und ungünstiger, wie vom Standpuncte des Pro-
ductionsinteresses aus. Aber die Erwerbsfähigkeit, mindestens die
Erwerbsthätigkeit der Frauen fehlt vielfach oder ist beschränkter
und sie müssen vom Einkommen der Männer mit unterhalten werden.
Daher wirkt eine grössere Anzahl weiblicher Personen in der Be-
völkerung ähnlich wie eine grössere Quote Kinder, nemlich doch
wieder als höherer Belastungseoetficient für die männliche erwachsene
Bevölkerung: d. h. das Vertheilungsinteresse wird dadurch un-
günstig berührt.
B. — §. 240 Statistische Belege. S. die Werke über Bevölkerungsstatistik,
wo die Gescblechtsvertheilung mit Vorliebe genauer verfolgt wird, so bei Wappäus,
v. Oettingcn, G. Mayr u. a. m.1). Auch in dem gen. B. 44 N. F. der Reichs-
statistik sind viele vergleichende Daten gegeben worden. S. bes. Eiul. S. 21 ü'., 24 fL,
in Combination mit Altersgliederung, Tab., Verhältnisszahlen, bcs. S. 114 ff., 170 ff.
Aus diesem neuesten reichen Material, meistens aus 1 S7 1 oder 1872 — 80, sind die
folgenden Daten im Text und in den Tab. XXXII — XXXIV entnommen, mit Er-
gänzungen für die neue Welt aus anderen Quellen.
S. Tab. XXXII auf S. 603.
Der Einfluss der Wanderungen zeigt sich im Deutschen Reich, Gross-
britannien. Schweden, Norwegen u. a. als Auswandcrungsländern, in den Vereinigten
Staaten und Australien als Ein wanderungsländern deutlich, auch gegenüber Frankreich.
Seit der neuerlichen starken Auswanderung wird auch Italien verinuthlich bald eine
andere Geschlechtsvertheilung aufwei*en. In Nordamerica, Südaustralien war fniher
das Uebergewicht der Zahl der Männer noch grösser. Je stärker die Bevölkernng
wächst, auch durch Geburtsüberschuss, und eine jo kleinere Quote selbst die neue
Masseneinwanderung in kurzen Zeiträumen von der bereits grösseren ansässigen Be-
völkerung beträgt, desto mehr wird auch in den grossen Einwanderungsländern die
Geschlechtsvcrthcilung in der Bevölkerung eine der normalen gleichkommende. In
den älter colonisirten, den atlantischen Kustenstaaten Uberwiegt schon jetzt (bz. schon
1881) das weibliche Geschlecht (z. B Massachusetts fast 1080, New-York fast 1030);
in den neueren, den westlichen Staaten ist das männliche um so stärker vertreten.
Aehnlich in Australien, wo in Ncu-Süd Wales 1888 nur 812 weibliche auf 1000 männ-
liche Bewohner kamen. Bei Indien wirkt vielleicht frühere Beseitigung weiblicher
Kinder nach. Die Zahlen der Weiber sind daselbst aber auch vcrmuthlich unvollständiger,
als die der Männer bei der Zählung aufirenoinuien.
Die einheimischen Wanderungen spiegeln sich am Deutlichsten in den Zahlen
der Geschlechtsvenheilung in der Bevölkerung in den Maximis und Minimis inuer-
’) Eine jüngste Arbeit von K. Bücher über die Geschlechtervertheilung auf
der Erde, in G. v. Mayr’s stat, Arch. 1801 — 92, 2. Halbb., geht mir leider erst
beim Druck zu.
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Geschlechtsvcrtheilung. Statistische Belege.
603
Tab. XXXII. Geschlechtsvcrtheilung unter den Geborenen
und unter der ganzen Bevölkerung nebst Verkältn iss der
Sterblichkeit beider Geschlechter zu einander.
Auf 1000
Auf 1000
männl. komm, weibl.
männl. komm, weibl.
unter den
unter den
Geb. Bevölk.
Gest.
Geb.
Bevölk.
Gest.
1.
2.
8.
1.
2.
2.
Deutsches Reich
949
1037
SSO
Schweden
950
1004
910
Extreme nach
Grossbritannien
961
1058
890
Differ. in Bevölk.
Westösterreich
946
1052
870
(Col. 2)
Irland
947
1051
940
Max. Breslau, Liegn.
952
1101
S40
Finnland
953
1049
930
„ Oppeln
945
1085
830
Norwegen
950
1047
930
„ Ostpreussen
954
1084
840
Schweiz
950
1044
880
Min. Arnsberg
947
925
920
Deutsches Reich
949
1037
SSO
„ Düsseldorf
953
972
900
Dänemark
952
1033
940
„ tlbr. Rheinland
950
999
920
Spanien
93S
1026
910
Berlin
955
1012
SCO
Galizien. Bukowina
934
1020
910
Ganz Prcussen
94H
10:t 1
890
Niederlande
951
1025
940
„ Baiern
948
1051
880
Ungarn
951
1015
•>
Königr. Sachsen
948
1047
800
Frankreich
955
1008
930
Würtembcrg
959
1073
870
Belgien
955
995
?
Baden
955
1051
900
Italien
940
992
900
Elsass-Lothringen
917
1 040
880
Griechenland
895
919
980
Ver. Staat, in 18S0
__
965
—
Austr. Col. in 1 88S
—
843
—
Indien in 1881
—
954
—
halb des Reichs (preuss. Bezirksgruppen) ab. Wenn Orte wie Berlin (auch Hamburg)
doch einen weiblichen Ueberschuss haben, kommt die weibliche Dienstbotenzahl, in
Sachsen wohl auch diese (Gressstädte) und die weibliche industrielle Bevölkerung mit
in Betracht.
Die Col. 1 und 3, welche in beiden Abtheilungen der Tab. XXXII die Ge-
schlcchtsproportion der Bevölkerung flankiren, zeigen das ücberwiegen der Knaben bei
den Geburten und die günstigere weibliche Sterblichkeit. Die Differenz zwischen
Col. 2 und 1 ergiebt, unter Berücksichtigung der Sterbliehkeitsproportion der Col. 3,
das Maass des Einflusses, welchen die Wanderungen auf die Umwandlung der ur-
sprünglichen Geschlechtsproportion bei den Geburten in dasjenige unter der Gesammt-
bevölkerung ausüben. natürlich verschieden, auch in der Richtung, je nachdem es
sich um Ab- oder Zuzug handelt.
Die folgende Tab. XXXIll giebt einen Einblick in die verschiedene Sterblichkeit
der Geschlechter in den verschiedenen Lebensaltern.
S. Tab. XXXIII auf S. 004.
Es wird dadurch auch die frühere Uebersicht der allgemeinen Sterblichkeit
(§. 212, bes. Tab. V u. VI, S. 500) noch ergänzt. Die Daten nach gen. B. 44 der
Reichsstat. S. 179 fl. Diejenigen für das Deutsche Reich scliliessen die Daten für
Würtembcrg und Hamburg z. Th. nicht uiit ein. Ebenda sind auch für die meisten
übrigen Staaten Beobachtungen gleicher Art angestellt. Erheblichere Verschieden-
heiten der relativen Sterblichkeit der Geschlechter linden sich wenig. Für die
höchsten Altersclassen sind die absoluten Zahlen so klein, dass die Wert he der Relatir-
zahlon unsicher werden. So zeigt z. B. eine doppelte Berechnung für das Deutsche
Reich, einmal für 1872 — 80 (excl. Wttrtemberg, Hamburg und einige Kleinstaaten)
und zweitens für 1876 — 80 (incl. Würtembcrg) nur geringe Unterschiede bis zum 80.,
ja 90. Jahre, grössere alsdann (a. a. O. S. 179). Nur im höheren Kindesalter (5 — 10 J.),
mehr noch in der Periode der Entwicklung der Geschlechtsreife (10 — 15, auch 15 — 20 J.,
mit kleinen Unterschieden zwischen südlichen und nördlichen Ländern, die verständlich
604 4. B. Bevölk. u. Volksw.scli. 1. K. Bevöik.lehre. 1. H.-A. Statist. §. 240.
Tab. XXXIII. Sterblichkeit der Geschlechter in den
verschiedenen Lebensaltern.
Auf 1UÜ0 Lebende Gestorbene (ohne Todtgeboreue)
Alter, Jahre
Deutsch Reich Westösterr.
n
rnänul. weibl. inännl. weibl.
> I
Italien Frankreich Grossbritann.
i
uuinni.; weibl inännl. weibl. männl.j weibl.
Ueberhaupt
2S.5 1
25.2
31,4
27.2
30.6
29.3
23.2 ,
21.6
Ij
Unter 1 321
267
350
287
300
267
229
191
i
1— 2
71
60
86
S3
170
169
■
1
’ 1
2— 3
34
33
44 i
42
58
59
6S
60
ii
3 — 4
23 j
23
30
28
36
37
4— 5
IS
IS
24
23
28 !
20
5— 10
8.8
8.6
10.7
10-7
12.2
12.S
6 5
6.9
10— 15
3.0
4.2
:
4-0
5.8
6.6
3.0
4.7
\
15— 20
5.3
4 0
6.7
6.5
6.6
7.3
5.5
6.5
20— 25
l 8.1
6.0
10.9
8.3
10.5
9.1
9.5
7.4
1
25— 30
8.8
8.0
10.*
9.6
94
10.5
97
9.8
30— 35
ki 9.8
10.2
11. 1
10.4
9.7
11.1
0.8
9.9
35— 40
12
11.6
1 2.8
11.5
11.4
12.3
10.4
9.9
40— 45
14.7
12.2
ii 15.0
121
13 6
12.7
12.2
10.5
11.9
45 — 50
10.5
13.5
1 18.1
14.0
16.8
14.2
14.2
50 — 55
24
18
24
19
22
19
19
15
55— GO
32
26
31
25
2S
26
24
j 20
GO— 05
44
38
43
30
41
40
35
31
65 — 70
66
60
59
57
61
64
53
47
1
70— 75
07
01
101
147
99
95
; ioi
84
76
.
75 — 80
140
142
143
131
1 138
130
116
SO — 85
216
1 205
! 227
225
186
199
i IST
1 182
$5 — 00
303
279
■ 340
310
255
262
237
i 230
1
00—100
35G
| 331
412
377
' 236
225
| 303
j 270
i
Ucber 100
, 360
322
i! 300
300
11 240
j 232
!l 433
257
22.7
20.2
193
154
69
64
28
28
19
18
14
13
7.0
6.5
3.9
3.9
o.5
5.7
7.6
7.0
86
s.o
10.4
9.6
12.8
11.1
14.8
12.3
18.4
14.3
22
17
31
25
39
32
61
52
82
72
128
113
200
176
294
255
464
428
467
469
sind) und in der folgenden Periode der hauptsächlichen Gebährthätigkeit der Frauen
(20 er, auch wohl mitunter noch 30er Jahre des Alters) nähert sich die weibliche
Sterblichkeit der männlichen, kommt ihr gleich und Ubertrilft sie öfters etwas. Der
genauere Vergleich einzelner Länder verschiedenen Klimas und Nationalität, z. B.
Italiens, Scandinavicns , bietet besonderes Interesse. In wiefern die italienischen
Daten, welche einiges Auffallende und Abweichende zeigen, völlig correct sind, muss
dahin gestellt bleiben.
Auf die Verschiedenheit der Altersclassification beider Geschlechter (männlicher,
weiblicher Altersaufbau) kommen wir im folgenden §. 241 noch zurück. Wie sich
nach der Geschlechtsvcrtheilung bei den Geburten und bei den Altcrsclasscn der
Sterbefülle und Wanderungen schliesslich das Verhältnis der männlichen zur weib-
lichen Bevölkerung in den verschiedenen Lebensaltern stellt, ist für die volkswirt-
schaftliche Seite der Bevölkerungsfrage ebenfalls von besonderem Interesse. In der
amtlichen und Privatstatistik ist das öfters genauer ermittelt oder berechnet worden.
Die gen. treffliche Arbeit Schumanns in B. 44 der Reichsstatistik liefert auch
hierüber lehrreiche Berechnungen und Untersuchungen für 4 grössere Altcrsclassen
der Bevölkerung. 0 — 15, 15 — 10, 40 — GO und über 60 Jahre (Einl. S. 31), zugleich
mit Berücksichtigung der relativen Sterblichkeit der Geschlechter in diesen Classen.
Für unsere Zwecke wäre cs erwünscht, wenn die 3. Classe bis zum 70. oder wenigstens
bis zum 05. Jahre ginge. Für das Deutsche Reich liegen die Berechnungen für die
Gebietsgruppen vor. Einige dieser Daten sind in Tab. XXXIV zusamincngestellt
worden. Bei den Diffcrenzzahlen der deutschen Gebiete blieben die einzelnen Klein-
staaten, welche die gen. reiebsstat. Arbeit besonders giebt, wieder unberücksichtigt,
weil sic aus zu kleinem uud der zufälligen Gebietsbegrenzung entstammendem Material
herrühren.
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Geschlechtsvertheilung. Statistische Belege.
605
Tab. XXXIV. Verhältniss der Geschlechter zu einander
in grösseren Altersclasscn.
Auf 1000 männliche kommen weibliche Personen:
Unter 15 Jahren
15 — 40 Jahre
40 — 60 Jahre
Uber 60 Jahre
1.
2.
3.
4.
Deutsches Reich
Differenzen:
997
1044
1069
1126
1. Maximum
1038
1144
1167
1602
Gebiet
Südbaiern
B. Oppeln
Breslau, Liegnitz
Berlin
2. Maximum
1036
1135
1126
1292
Gebiet
Würtemberg
Pr. Posen
Elsass-Lothringen
Ostpreussen
1. Minimum
970
875
918
941
Gebiet Münster, Minden
B. Arnsberg
B. Arnsberg
Münster, Minden
2. Minimum
971
960
953
1000
Gebiet
B. Arnsberg
Berlin
B. üüsseld. Rhcinl.ohneDüsseld
Westösterreich
1006
1055
1111
1079
Galizien, Bukow.
1012
1063
1009
894
Ungarn
1006
1034
996
1000
Griechenland
901
957
861
940
Italien
965
1020
992
965
Spanien
976
1065
1030
1029
Frankreich
976
1011
1010
1068
Grossbritannien
996
1074
1101
1200
Irland
972
1104
1196
1057
Schweiz
1002
1057
1072
1077
Belgien
9S4
9S4
992
1087
Niederlande
989
1021
1035
1175
Dänemark
980
1042
1039
1189
Schweden
982
1055
1123
1315
Norwegen
971
1073
1070
1204
Finnland
994
1029
1108
1330
Es ergiebt sich aus dieser Tabelle, dass im Kindesalter unter dem Einfluss des
männlichen Geburtsuberschusses und weil hier sich die Wanderungen noch nicht be-
sonders geltend machen, regelmässig auch in der Bevölkerung die Knaben überwiegen,
aber doch nur mit nicht seltenen Ausnahmen. Diese sind dann wohl auf die un-
gewöhnlich ungünstige Sterblichkeit der männlichen Kleinkinder mit zurückzuführen,
wie in Südbaiern, Würtcmberg (auch in Hohenzollern, Baden und anderen deutschen
Ländern mit Mädchenüberschuss im Kindesalter), in Oesterreich, Schweiz, wo statistisch
eine relativ hohe Sterblichkeit der Knaben verglichen mit den Mädchen hervortritt
(s. Reichsstat. a. a. 0. S. 32).
In der 2. Altersclasse, derjenigen der kräftigsten Lebensjahre, macht sich inner-
halb Deutschlands wie ausserhalb der Einfluss der Wanderungen und der wirtschaft-
lichen Hauptberufe der Bevölkerung stark geltend, derjenige der hier auch für das
männliche Geschlecht nicht so viel ungünstigeren Sterblichkeit (100 : 06 in Deutsch-
land, gegen 100:88 im Kindesalter) kaum. Die preussischen östlichen Provinzen
(ausser Brandenburg), Mecklenburg, Hessen-Nassau, Franken, Thüringen, Würtemborg
Pfalz haben hier alle ein ziemlich starkes Uobcrwiegen der Frauen (6 — 14 %), ein
schwächeres (01 bis 5 °/0 und mehr), haben Westfalen ohne Arnsberg, Pr. Sachsen.
Hannover, Rheinland ohne Düsseldorf, K. Sachsen, Südbaiern, Baden. Elsass-Lothringen,
Hessen, Oldenburg und verschiedene Kleinstaaten. Nur Berlin und Brandenburg, Arns-
berg und B. Düsseldorf, Braunschweig und (ein Weniges) Schleswig-Holstein haben hier
einen mäunlichen Ueberschuss in der Bevölkerung, Hamburg fast ein Gleichgewicht (1004).
Die Massenauswanderungsländer, Deutschland, die übrigen germanischen, auch Spanien,
Italien, die österr.-ungar. Lande (wo Andres mehr mitspielon muss) zeigen weniger
Männer, so besonders im Vergleich mit Frankreich, Belgien.
In der 3. Classe, von 40 — 60 Jahren ergeben sich innerhalb Deutschlands wie
in den anderen Ländern, wohl unter Nachwirkung der Wanderungen in jüngeren
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Tbeil. Grundlagen. 39
606 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lehre. 1. H.-A. Statist. §. 241.
Jahren» yielfach ähnliche Verhältnisse wie in der vorausgehenden Classe, doch so,
dass der weibliche Ueberschuss meistens noch grösser geworden ist, oder da eintrat,
wo er früher fehlte. Indessen finden sich mehrfach Ausnahmen, welche, wie in
Galizien, Italien, mit nicht so günstiger Sterblichkeit der Frauen Zusammenhängen
können.
In der höchsten Altersclasse, von über 60 Jahren, überwiegt mit ganz wenigen
Ausnahmen überall das weibliche Geschlecht und meistens, z. Th. erheblich stärker,
als in den jüngeren Jahren. In Deutschland macht nur R.-B. Minden und Münster
(von kleineren Gebieten Hohenzollern, Birkenfeld), von fremden Ländern nur Gali-
zien u. s. w., Italien, Griechenland hiervon eine Ausnahme: hier überwiegt in dieser
Classe das männliche Geschlecht, auch zeigt sich (ausser in Hohenzollern) hier eine
grössere weibliche Sterblichkeit. Im Ganzen tritt der Einfluss der Sterblichkeit auf
die Geschlechtsvertheilung unter der Bevölkerung in diesen höheren Jahren wieder
stärker hervor. Die auffallend hohe Zahl alter Frauen gegenüber alten Männern in
Berlin findet durch ähnlich hohe Zahlen in den 3 Hansestädten ihre Wiederholung. —
Im Einzelnen kann man für Massenauswanderungsländer, namentlich für solche, welche
es schon lange sind, und für Länder mit gefährlicheren Lebensberufen der Männer
mehrfach (nicht allgemein, wie Irland zeigt) ein besonders grosses üeberwiegen der
Frauen im höheren Lebensalter und eine weitere Steigerung im höchsten Alter nach-
weisen, (über SO und 90 Jahre, s. Wappäus II, ISO, 212, der für den Durchschnitt
einer Reihe von 11 europ. Ländern berechnet:
Tab. XXXV.
Auf 1000 Männer Weiber:
ü — 5 Jahre 980
30 — 40 Jahre
1025
5—10
„ 977
40—50
1017
10—15
„ 970
50—60
W
1068
15—20
„ 984
60—70
1*
1173
20—25
„ 1068
70—80
M
1171
25—30
„ 1042
80—90
Vf
1345
über 90
VI
1552
Für manche Specialfragen der Bevölkerungsstatistik und auch für manche be-
sondere Puncte der volkswirtschaftlichen Seite der Bevölkerungsfrage und für andere
wirtschaftliche Specialfragen, auch solche der practischen Nationalökonomie, z. B. der
Lebensversicherung, des Wittwenkassen wesens, ist grade diese Verschiedenheit der Ver-
teilung der Geschlechter in den Altersclassen besonders wichtig. Sie verdient daher auf-
merksam beachtet zu werden. In der gen. reichsstatistischen Arbeit liegt noch viel
weiteres Material gut verarbeitet vor, um den interessanten Gegenstand ins Einzelne
hinein zu verfolgen.
VII. — §. 241. Altersvertheilung in (1er Bevölke-
rung (Altcrsclassification). A. Allgemeine Uebersicht.
Wichtiger noch als die Geschlechtsvertheilung ist für die volkswirtb-
schafi liehe Seite der Bevölkerungsfrage die Vertheilung der Lebens-
alter und die danach sich ergebende Classification der Bevölkerung.
Denn hiervon hängt wieder die Vertheilung der Lebensjahre ab,
welche aus natürlichen und aus socialen Gründen productiv und
unproductiv oder nur theilvveise productiv sind und, soweit bloss
natürliche Gründe obwalten, auch nur so sein können : der wichtige
Punct in dieser Frage für das volkswirtschaftliche Production»-
prohlem, aber zugleich der fast noch wichtigere für das Vertheilungs-
problem, weil sich danach entscheidet, welcher Theil der Bevölkerung
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Altersverthcilung.
607
naturnothwendig oder nach den einmal in Bezug auf die Lebens-
alter bestehenden soeialökonomischen Erwerbsverhältnissen von dem
anderen unterhalten werden muss, also für diesen den ökonomischen
„BelastUDgscoefficienten“ darstellt.
Von besonderer Bedeutung ist daher vor Allem die absolute
und relative Grösse der Bevölkerung im Kindesalter, d. h. etwa
bis zum vollendeten löten Lebensjahre.
Wie man dieses Alter hier zu begrenzen habe, ist allerdings nicht so ohne
Weiteres zu bestimmen. Meistens wird es auch in der Altersstatistik der Bevölkerung
mit nach einem w irthsch aftli ch en Gesichtspunct, bis zu demjenigen Leben-jahre
gerechnet, wo regelmässig in der Masse der Bevölkerung die Erwerbsarbeit beginnt
und der junge Mensch (beiderlei Geschlechts) die Last seiner Erhaltung seinen Eltern
oder Angehörigen oder sonstigen rechtlich Verpflichteten oder thatsächlich bisher
Helfenden wenigstens theilweise abnimmt. Dieses Lebensjahr hängt mit der natür-
lichen Entwicklung des menschlichen Organismus zusammen, bildet daher einiger-
maassen auch die natürliche Grenze des Kindesaltcrs: annähernd die Zeit des Ein-
tritts der Geschlechtsreife, ein Zeitpunct, welcher freilich nach Klima, Iiace, Nationalität,
selbst unter den europäischen Culturvölkern, etwas verschieden ist. Es ist zugleich
etwa der Zeitpunct, wo die Schulpflicht zu enden und auch thatsächlich für die grosse
Masse des Volks der Schulbesuch aufzuhören, die kirchliche Confirmation stattzufinden
pflegt. Für den grossen europäischen Durchschnitt kann man so das löte, am Besten
das vollendete löte Jahr annehmen, wie es, zum Theil in Verbindung mit der neuer-
lich beliebten Quinqueunialperiode auch in der Statistik jetzt meistens geschieht (früher
mehr das vollendete 1 4te Jahr). Physiologisch ist dieses Jahr allerdings für süd-
liche Völker etwas zu hoch, für nördliche noch etwas zu niedrig. Und volkswirt-
schaftlich bleiben bei einem solchen Ansatz die thatsächlichen Verhältnisse,
welche bei dem Einzelnen von allgemeinen socialen uud wirtschaftlichen Umständen
und von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten socialen Classe abhängen. unberück-
sichtigt. Denn in den unteren Classen, wenigstens bei Hausindustrie und Fabrikwesen,
solange ein allgemeines Verbot der Kinderarbeit fehlt, auch im Handwerk wenigstens
vom vollendeten 14. Jahre an, etwas auch in der Landwirtschaft und im Gesinde-
dienst u. dgl. beginnt die Erwerbsarbeit und damit die mindestens theilweise öko-
nomische Emancipation von der Familie früher; bei den höheren Gassen andrerseits
bekanntermaassen viel später, wenn überhaupt (Haustöchter!). Mau kann daher die
Bevölkerung im Kindesaltcr bis iucl. 15 Jahro nur im Grossen und Ganzen und unter
den angedeuteten Vorbehalten als die durch Altersverhältnisse unproductive
anschen.
Beginnt man dann das „erwachsene“ „productive“
Alter vom 16ten Lebensjahre an, so kann auch das in der volks-
wirtschaftlichen Betrachtung der Altersclassitication und bei
►Schlüssen daraus wiederum nur mit Vorbehalten geschehen.
Denn die regelmässige Erwerbsthätigkeit und auch , nach den hier obwaltenden
Berufen, die Erwcrbsfähigkeit der höheren Gassen fängt erst viel später an. Aber
auch in der Masse des Volks sind die Erhaltungskosten meist noch einige Jahre lang
von den Eltern etc. wenigstens zu ergänzen und auch hier tritt manchmal Erwerbs-
fähigkeit und Thätigkeit erst etwas später ein. Für die ökonomische Betrachtung
kann daher namentlich die Altersclasse 16 — 20 noch nicht allgemein, für die höheren
Schichten kaum die Classe 26 — 30 Jahre schon als productiv gelten. Bei den statistischen
Zahlen und bei Schlüssen daraus will das wiederum bedacht sein.
Nicht minder macht die Frage Schwierigkeit, mit welchem
Lebensjahre man die „productive“ Altersclasse ab sch Hessen soll.
39*
(508 4. B. Bevölk. u. Volks w.sch. 1. K. Bevölk.lehrc. 1. H.-A. Statist. §. 241.
Man pflegt dafür das vollendete 60., 65., auch 70. Jahr anzusehen,
kann für jedes derselben und für dazwischen liegende manche
Gründe geltend machen. Aber allgemein und durchaus passt wieder
nach den natürlichen, den socialen, den individuellen Verhältnissen
kein einzelnes bestimmtes Jahr immer als Norm und als statistische
Grenzziffer.
Physiologisch wird man sich mehr für das 70. als für ein jüngeres Jahr ent-
scheiden. Volkswirtschaftlich ist für die Masse der nnteren und theilweisc auch der
Mittelclassen (in städtisch-industrieller und in ländlicher Beschäftigung) das 65. wohl
richtiger, weil die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit hier früher und stärker abzunehmen
pflegt. Man könnte mit Rücksicht darauf wohl auf ein noch jüngeres Jahr zurückgehen.
Aber für Durchschnittsverhältnissc ist doch das 6t)ste wohl eine etwas niedrige Grenze.
In den höheren Classen kann man hier eher das 70sto annehmen. Auch kommt doch
in Betracht, dass die ältere Bevölkerung von dem Doppelstandpunct der Production
und der Vertheilung aus nicht der Bevölkerung im Kindesalter gleich gestellt werden
kann: sie ist im Ganzen weder wirtschaftlich so unproductiv noch so ausschliesslich
und namentlich nicht so direct wie diese Bclastungscoefflcicnt für Dritte, für die
Haoptclasse der Bevölkerung im kräftigen productiven Alter.
Innerhalb der drei Hauptclassen des Kindes-, des mittleren und des älteren
Lebensalters lassen sich kleinere Altersclassen, welche nur einige Jahre (z. B. '5 , 10)
oder selbst nur 1 Jahr umfassen , auch für die volkswirthschaftliche Auffassung mit
Rücksicht auf die Aenderungen in der Productivität und in dem Gewicht als Be-
lastungscoefflcient für Andere weiter unterscheiden, so z. B. das jüngere (bis 5, bis 10),
das höhere (10 — 15 Jahre) Kindes-, das jüngere und höhere Greisenalter (65 — 70.
70 — 75, über 75, über 60 Jahre), ln der mittleren Lebensaltcrclasse kann man auch
wieder passend grössere Zwischenclassen bilden, z. B. 15 — 20 — 40, die Zeit der auf-
steigenden und für die Arbeitermassen meist productivsten und erwerbsgünstigsten
Jahre. 40 — 60 — 65 die Zeit der wieder abnehmenden Productivität und des sinkenden
Erwerbs in diesen Kreisen, freilich umgekehrt wohl meistens des Höhcpuncts der höheren
Classen darin. Die 4 Jahresgruppen der Reichsstatistik (B. 44) bis 15, 15 — 40,
40 — 60, über 60 (besser bis 65) können so hier auch für unsere Zwecke, immer mit den
geäusserten Vorbehalten, gut benutzt werden.
Die Vertheilung der Lebensalter in der Bevölkerung wird
normal, d. k. wenn nicht die zu erwähnenden besonderen
Umstände einwirken, wesentlich bedingt von der Geburtsfrequenz
und von der Sterblichkeit in den verschiedenen Lebensjahren.
Auch wenn bei hoher Geburtsfrequenz (gewisse germanische, slavische
Länder) eine grössere Quote der Kleinkinder wieder stirbt, als in
Ländern mit geringerer Geburtsfrequenz (Frankreich u. a. m., s. o.
§. 211), so bleibt doch regelmässig ein grösserer Ueberschuss von
Kindern vorhanden, welcher die Quote der Bevölkerung im Kindes-
alter bei entsprechender Höhe der Geburtsfrequenz dauernd erhöht,
— den durch die Kinder für die erwachsene productive, erwerbende
Bevölkerung gebildeten Belastungscoeffieienten steigert (Deutschland,
Grossbritannien gegenüber Frankreich). Oberhalb des Alters der
Kleinkinder macht sich dann die relative Sterblichkeit der einzelnen
Lebensjahre und Jahresclassen geltend, wofür auf die frühere Dar-
legung des Sterblichkeitsverhältnisses zu verweisen ist (§. 211, 212).
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Altersvertheilung.
609
Da die Sterblichkeit der beiden Geschlechter im Kindes- und späteren Alter
verschieden ist (§. 240), zeigt sich auch die Geschlechtsvertheilung, als Resultat der
darauf einwirkenden Umstände, auf die durchschnittliche Verthcilung der Lebens-
alter in der Gesammtbevölkerung etwas mit von Einfluss. Länder mit einem Ueber-
schuss der weiblichen Personen müssen daher auch in der Altersvertheilung ein etwas
anderes Bild geben, als Länder mit einem Gleichgewicht beider Geschlechter oder
einem Ueberechuss des männlichen: die älteren Jahrgänge werden im Ganzon in
ersterem etwas stärker besetzt sein.
Diese normale Yertheiiung der Altersclassen in der Bevölkerung
wird nun auch hier wieder, wie diejenige des Geschlechts, mehr
oder weniger verschoben durch besondere Umstände, welche
einzelne Altersclassen in ungleichem Maasse berühren. Dahin
gehören Calamitäten, wie Krieg, Epidemien (z. B. unter Kindern),
wirthsch ältliche Nothzeiten (mit höherer Sterblichkeit der schwächeren
Elemente, Kinder, Greise) und namentlich auch wieder Ein- und
Auswanderung, an welcher, nach dem Früheren (§. 225 ff.), die
verschiedenen Altersclassen ungleich betheiligt sind.
Die Länder der Massencinwanderung sind daher hier wieder etwas begünstigt,
diejenige der Auswanderung benaclitheiligt , weil die Altersclassen der beginnenden
und der stärksten Productivität mehr als die übrigen die wandernden sind (S. 562).
In der Altcrselasseustatistik der Einwanderungsländer tritt das nur nicht so deutlich
hervor, weil hier oft die grosse Geburtsfrequenz der einheimischen Bevölkerung die
Quote der Kinder stark erhöht. Die Bevölkerung in höherem, im Greisenalter muss
ferner in jungen Einwanderungsländern, wo die Einwanderung gross ist und so
gegenüber der einheimischen Bevölkerung stark ins Gewicht fällt, wieder ein kleinerer Theil
werden, selbst bei günstiger Sterblichkeit in allen Altersclassen, denn die Einwanderer
füllen namentlich die jüngeren uud mittleren Jahrgänge an. — Grosse, andauernde
Kriege mit starken Verlusten durch Schlachten, Krankheiten und Elend unter dem
Heere (russischer Feldzug von 1812!) schwächen natürlich die Jahrgänge der be-
treffenden männlichen Altersclassen, was sich 1 — 2 Menschenalter lang in der Gliederung
der Bevölkerung nach dem Lebensalter bemerkbar machen kann ; so in Frankreich
nach der grossen napoleonischen Kriegszeit lange hin später in der schwächeren Be-
setzung derjenigen Jahrgänge der männlichen Bevölkerung, welche durch die Kriege
früher besonders mitgenommen worden wareu. — In Irland wurde durch die Noth-
zeit des 5. Jahrzehnts dieses Jahrhunderts grade die Kindergeneration besonders ver-
mindert. — Manche Einflüsse, so diejenigen der Epidemien, zumal unter den Kindern,
werden freilich vornemlich nur in der Altersclassitication der localen, einigermaasseu
stabilen (namentlich nicht durch Wanderungen stark beeinflussten) Bevölkerung hervor-
treten; nicht leicht in der Bevölkerung ganzer Länder oder grösserer Landestheile.
Dafür sind sie selten mächtig genug oder beschränken sich wenigstens nicht scharf
auf bestimmte Altersclassen oder werden in ihrer Wirkung durch andere Momente
gekreuzt und aufgehoben.
Unter allen Einflüssen auf die Gliederung der Bevölkerung
nach dem Alter ist derjenige der Geburtsfrequenz der deutlichste
und für die volkswirtschaftliche Seite der Frage auch der wichtigste.
Die auf die grössere Geburtsfrequenz zurückzuführende stärkere
Quote der Bevölkerung im Kindesalter macht sich am
Meisten als höherer Belastungscoefficient und verminderter Pro-
ductivitätscoefficient für die Gesammtbevölkerung in der Volks-
wirtschaft geltend. Hierin liegt der unverkennbare Nachteil der
610 4. 13. Bevölk. u. Volksw .sch. 1. K. Bcvölk.lehre. 1. H.-A. Statist. §. 242.
Länder mit starker Geburtsfrequenz und hoher Quote der Kinder
gegenüber einem Lande mit ganz entgegengesetzten Erscheinungen
wie Frankreich. Nur die sehliessliche Folge der höheren Geburts-
frequenz, das raschere und stärkere Wachsthum der Gesammtbe-
völkerung, kann hier wieder Ausgleichungen herbeifuhren, nemlich
wenn und soweit als diese grössere Bevölkerung Uber absolut
stärkere Jahrgänge im productiven Alter verfugt und die wirt-
schaftliche Productivität dieser Bevölkerungstheile stärker als deren
Bedarf an wirtschaftlichen Gütern wächst. Aber Schwierigkeiten
und Bedenken aller Art bleiben immer.
Wir kommen darauf im nächsten Hauptabschnitte dieses Kapitels, bei den volks-
wirthscliaftlichen Folgerungen, zurück. Der ganze Punct hängt eng mit den „Mal-
thus’schen Fragen'4 zusammen uud ist einer der wichtigsten grade für die volkswirth-
schaftliche Betrachtung des Bevölkerungsproblems.
B. — §. 242. Statistische Belege.
S. für Material aus etwas weiter zurückliegender Zeit wieder vornemlich
Wappäus. (II, 40 ff., 126 ff.); auch für die ganze hier behandelte Frage sind seine
Ausführungen besonders beachtenswerth. Nach den von ihm berechneten Zahlen aus
den damals noch unvollständigeren Daten der Altersstatistik einer Reihe von Ländern
ist die Tabelle XXXVI zusammengestellt worden. Die europäischen Länder umfassen
hier Frankreich, Grossbritannien mit Irland, Niederlande, Belgien, Schweden. Norwegen,
Dänemark mit seinen damaligen deutschen Provinzen (Schleswig-Holstein, Lauen bürg),
Sardinien und Kirchenstaat. Deutschland fehlt hier also fast ganz. Die americani-
schen Länder sind die Vereinigten Staaten und Canada. Die Zahlen aus Mitte der
40er und Anfang der 50er Jahre (Irland bei den curop. Ländern noch nach der Zählung
von 1841, also vor der grossen Yolksabnahme).
Tab. XXXVI. Altersclassificat ion der Bevölkerung in
verschiedenen Gebieten um Mitte des 19. Jahrhunderts.
Auf 10,000 Lebende:
Jahre
Europ.
Länder
Arner.
Länder
Frank-
reich
Grossbrit.
(ohnelrl.)
Belgien
Norwegen
0 — 5
1120
1512
929
1300
1164
1353
5—10
1066
1389
922
116S
1091
1140
10—15
993
1229
880
1072
978
1000
15—20
941
1095
881
988
899
855
20—25
887
JlSl'ij
832
935
90S
891
25—30
806
802
817
753
851
30—40
1373
1222
1475
1308
1352
1356
40—50
1107
807
1247
982
1180
876
50—60
846
488
1017
690
780
781
60—70
548
265
646
451
549
569
70— SO
250
113
301
222
269
246
80 — 90
5S
33
63
56
71
73
über 90
5
5
5
5
6
9
Oder
0—15
3179
4130
2731
3546
3233
3493
15—40
4007
4159
3990
4048
3912
3953
40—60
1753
1295
2264
1672
1960
1657
über 60
S61
416
1015
734
895
897
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Altersvertheilung. Statistische Belege.
611
Die Verschiedenheiten zwischen europäischen und americanischen Ländern,
Grossbritannien und Frankreich bestätigen die Bemerkungen im vorigen §. Der Ein-
fluss der Massenauswanderung kommt damals und in den Daten der aufgeführten
europäischen Länder (ausser bereits etwas in Grossbritannien) aber noch nicht stark
zur Geltung, mehr, aber immerhin auch noch nicht so stark wie später, der Einfluss
der Einwanderung in America, Die Daten für die nordamericanische Union allein
weichen nur wenig von den in der Tab. XXXVI angegebenen Durchschnittsdaten für
America (nemlich incl. Canada) ab.
Nach den Daten in Band 44 der Reichsstatistik sind die folgenden Tab. XXXVII
und XXXVIII zusammengestellt worden. S. daselbst bes. Einl. S. 24 u. Tab. S. 114 ff.,
wo die Berechnungen auch für die übrigen europäischen Länder. In der Tabelle sind
die Geschlechter getrennt worden, um die Verschiedenheiten im Altersaufbau derselben
zu zeigen. Die Daten für die nordamericanische Union sind von mir nach dem
Compendium of the tenth census (1880), part. I, Washington, 1883, p. 607 be-
rechnet worden.
S. Tab. XXXVII auf S. 612.
S. Tab. XXXVIII auf S. 612.
Der Vergleich zwischen dem Deutschen Reich und Grossbritannien einer-, Frank-
reich andrerseits ergiebt namentlich, wie die grosse Geburtsfrequenz dort im 1. Lebens-
jahre auf eine hohe Quoto, ca. 3 °/0 der Bevölkerung, 1 % mehr als in Frankreich,
einwirkt. Schon in den folgenden Jahren sind wegen der grösseren Sterblichkeit
unter den Kleinkindern die Jahrgänge nicht mehr in demselben Grade stärker be-
setzt wie in Frankreich. Aber in der ganzen ersten fünfjährigen Periode hat Deutsch-
land und Grossbritannien doch beiuaho 4 °/0 Kinder mehr in der Bevölkerung als
Frankreich. Das wirkt bis zu Ende der 20er Jahre nach. In der Hauptaltersperiode
der Militärdienstleistung (20 — 30, bez. — 35 Jahre) hat Deutschland immerhin noch
eine etwas grössere Quote seiner männlichen Bevölkerung stehen, als Frankreich,
bzw. 1586 und 2281 auf 10,000 gegen 1560 und 2271 (in der Periode 20 — 25 allein
ist allerdings Frankreich etwas überlegen). Erst in den 30er Jahren steigen dann die
Quoten der Bevölkerung der betreffenden Altersclassen und im Ganzen immer mehr
mit höherem Alter in Frankreich über diejenigen in Deutschland und Grossbritannien
weit hinaus. Einen „retardirenden“, „conservativen“ Einfluss dieser reicheren Be-
setzung der mittleren und höheren Lebensalter auf die französische „Volksseele“, wie
man nach der Annahme einzelner Statistiker vermuthen müsste, sucht man freilich
wohl in Frankreich vergebens. Im Gegentheil: rerum novarum semper studiosi, wie
ihre alten gallischen Vorfahren, sind die Franzosen heute noch mehr als jedes andro
europäische Volk. Nordamerica (Union) zeigt in der ersten Kindesperiode (bis 5 J.)
ziemliche Uebereinstimmung mit Grossbritannien, im späteren Kindesalter höhere
Quoten; hinterher aber nur in der Periode 20 — 25 Jahre stärkere Besetzung der
Jahrgänge und mehrfach abermals grosse Gebereinstimmung mit Grossbritannicu, erst
vom 40. — 45. Jahre an werden die Quoten, und zwar im Ganzen wachsend, immer kleiner.
In Tab. XXXVIII (nach Reichsstat. B. 44 Einl. S. 25) sind die Länder nach
der Reihenfolge der Kinderquote in der Bevölkerung geordnet. Man sieht, wie doch
in Mittel- und Westeuropa (ohne Galizien u. s. w.) die Unterschiede dieser Quote nicht
sehr gross sind, nur Frankreich steht weit zurück. Auch Spanien, Belgien, Italien
weit über ihm. Das Gleiche — die Kleinheit der Unterschiede — gilt von der Klasse
der üebcr-60-jährigen (hier ohne Spanien mit vielleicht nicht ganz richtigen Zahlen
und ohne Ungarn und Finnland), während hier Frankreich viel stärker vertreten ist
In den mittleren Jahren zeigt Frankreich mehr Uebereinstimmung mit dem übrigen
Europa, namentlich in der ersten Hälfte (15 — 40 Jahre) dieser Periode. Irland weist
hier doch grössere Verschiedenheiten von Frankreich als in der Geburtsfrequenz und
mehr Uebereinstimmung mit Grossbritannien (d. h. England und Schottland) auf.
Nordamerica (Union) steht in der Reihenfolge der Kinderquoten hoch, aber nicht an der
Spitze, in der Classe der 15 — 40jährigen am Günstigsten (von Spanien mit einer
höheren, aber kaum ganz corrceten Quote abgesehen), eine Mitfolge der Einwan-
derung, während es in den letzten Classen erheblich hinter Mitteleuropa zurückweicht.
Zerlegt man die Kindesperiode wieder in kleinere Zeiträume und für die ersten
5 Jahre in Einzeljahre (nach den Berechnungen in B. 44 S. 118, 122 d. Tab ), so
ergeben sich einigo weitere Verschiedenheiten. Irland hat die ersten Kinderjahrgänge
612 4. B. Bevöik. u. Volksw.sch. 1. K. Bcvölk. lehre. 1. H.-A. Statist. §. 241.
Tab. XXXVII. Altersclassification der Bevölkerung in ver-
schiedenen Ländern um 1870 — 80. Auf 10,000 Lebende:
Jahre
Deutsches Reich
Frankreich
»
Grossbritannien
(ohne Irland)
Jord-
anier.
männl. weibl.
zus.
männl. weibl.
zus.
mänul.
weibl.
zus.
1 zus.
0—1
316
300
— —
308
i
206
199
203
306
287
296
2SS
1—2 :
277
267
272
187
181
184 i
270
255
262
256
2—3
274
264
269
195
190
193
279
263
271
2S4
3—4
262
252
257
192
186
189
272
258
265
255
4—5
241
232
236
1S7
183
185 1
262
253
260
279
Zus.O — 5
1370
1315
1342
967
939
954
1383
1316
1354
\ 1361
5—10
1151
1109
1130
899
872
886
1257
1170
1203
1292
10—15 '
1054
1010
1032
881
848
864
1114
1040
1076
1139
15—20
947
926
936
i 864
849
856 {
1000
952
975
99S
20—25
837
S50
844
850
912
SSI |
874
906
891
1014
25—30 !
749
766
757
710
706
708 l
767
800
784
| S13
30—35
695
702
699
. 711
698
705
664
685
675
i 673
35—40
624
630
627
691
676
683
579
598
589
1 599
40—45
548
555
551
1 649
635
642
529
547
538
l 492
45—50 4S2
493
487
603
604
603
441
460
451
I 416
50 — 55
440
460
450
544
549
547
394
411
403
1 366
55—60 |
367
3S5
377
481
493
487
1 305
320
312
255
60—65
295
317
306
1 414
419
417
267
289
279
239
65—70
205
221
213
311
324
317
183
205
194
114
70—75
134
146
140
i 221
234
227
131
150
140
99
75— SO
6S
75
72
' 130
145
137
73
87
80
•' 56
über SO
34
1
40
37
! 74
l
97
86
47
l
64
56
i 44
.1
Tab. XXXVIII. Alte rsclassifi cation nach grösseren
Altersperioden in verschiedenen Ländern um 1870—80.
Auf 1000 Lebende der beiden Geschlechter:
Länder
Bis 15 Jahre
15 — 40 Jahre
40—60 Jahre
über 60 Jahre
Griechenland
387
402
154
57
Galizien, Bukow.
381
401
176
41
Jordanier. Union
379
410
153
58
Grossbritannien
363
391
171
75
Ungarn
355
402
183
60
Irland
352
375
177
96
Deutsches Reich
350
386
187
77
Finnland
346
398
188
68
Niederlande
345
375
195
85
Norwegen
344
375
191
90
Dänemark
337
376
194
93
Schweden,
333
376
203
88
Spanien ')
330
412
193
65
Belgien
329
376
197
98
Italien
323
392
202
83
Westösterreich
322
391
203
84
Schweiz
319
384
20H
89
Frankreich
270
383
228
119
*) Für 1 SOI— 70.
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Altersvcrtheilung. Statistische Belege.
613
auch schwach besetzt, aber doch immer noch wesentlich stärker als Frankreich. Bei
der Vergleichung der Länder in Tab. XXXVIII ist übrigens wieder daran zu er-
innern, dass grosse und mittlere Länder auch hier nur mit Vorbehalt unter einander
verglichen und Schlüsse aus solchen Vergleichungen gezogen werden dürfen.
Zwischen den Wappaus'schen Daten in Tab. XXXVI und denen der Reichs-
statistik in Tab. XXX VIII liegt etwa ein Meuschenalter. Grosse Veränderungen sind,
z. B. in Grossbritannien und Frankreich, nicht eingetreten, aber immerhin bemerkbare
und auch wegen der Richtung beachtenswerthe. Die Kinderquotc hat sich dort noch
etwas erhöht, hier noch etwas ermässigt, die Quote der Aeltesten ist in Frankreich
nicht unbedeutend, in Grossbritannicu eiu Geringes gestiegen. Die Quote der 15- bis
40 jährigen hat in beiden trotz der Verschiedenheit der Geburtsfrequenz und der Aus-
wanderung ziemlich gleichmäßig eiu wenig abgenommen. Die Quote der 40 — 60jährigen
ist in beiden Staaten fast dieselbe geblieben. In Belgien sind kleine Verschiebungen
zu Gunsten der ältesten Classe. zu Ungunsten der Kinder und der jüngeren Mittel-
kategorie eingetreten. In Norwegen hat die ältere Mittelclassc, etwas die Kiuder-
quote zu-, die jüngere Mittelclassc abgenommen, was wohl auf die Auswanderung zu-
rückzuführen ist. In Nordamerica hat besonders die Kinderquote, etwas auch die
Quote der 15 — 40jährigen bereits gegen die Zeit vor 30 Jahren abgenommen. Die
beiden anderen sind gewachsen, d. h. die Altersclassification ist derjenigen der alt-
europäischen Culturländer bereits ähnlicher geworden.
Auch die weiteren Vergleichungen der ältern Wappaus'schen mit den neueren
reichsstatistischen Berechnungen der Quoten der Altersclassen für andere Länder sind
lehrreich. Doch muss ich dafür auf die Werke selbst verweisen. Es sei nur noch
angeführt, dass in Irland die Kinderquote 1841 3825 war, neuerdings nur 3525 auf
10,000 ist (von 0 — 5 J. 1260 und bzw. 1162).
Die Verfolgung der Vertheil ung der Altersclassen in die kleineren Gebiete der
grösseren Länder hinein ist deswegen von Interesse, weil sich dabei mehr der Einlluss
der localen Geburtsfrequenzen, Sterblichkeiten der Lebensalter und der heimischen
neben den internationalen Wanderungen zeigt. Die gen. reichstatistische Arbeit ge-
stattet das wiederum für das Deutsche Reich genauer und zwar auch für beide Ge-
schlechter getrennt nach den einzelnen Staaten, Provinzen und anderen Gebiets-
abschnitten zu verfolgen (Einl. S. 25, Tab. S. 114 IT.). Es würde zu weit führeu,
diese Materialien hier hincinzuzichcn und specieller zu aualysircu. Es sei nur er-
wähnt, dass die nahe liegende Vermuthung in den hauptsächlichsten Zuwanderungs-
gegenden eine Verstärkung, in den Fortzugsgegenden eine Schwächung besonders der
Quote der Jüngeren in der Mittelclasse (15 — 40 J.) zu finden, ihre Bestätigung erhält.
In Berlin z. B. steigt diese Quote (.für beide Geschlechter zusammen) auf über die
Hälfte der Bevölkerung (518%0) (männliche allein 532), auch in Hamburg auf 461,
Bremen 440, R.-B. Arnsberg 401, R.-B. Düsseldorf 403, Königreich Sachsen 400,
während sie in den östlichen und nördlichen und den sonstigen überwiegend agrarischen
Gebieten (mit einzelnen Ausnahmen) unter den Reichsdurchschnitt von 380, auf
360 — SSO fällt. Die Verschiedenheit der Geburtsfrequenz, welche sich in der Kinder-
quote (bis 15 J.) geltend macht, lässt das übrigens in einigen östlichen Gegenden
etwas zu stark hervortreten. Aber leicht bewirken die heimischen und sonstigen Fort-
wanderungen doch, dass die Bevölkerung in solchen Gegenden in Bezug auf die productivste
Altersclassc ungünstiger gegliedert und der Belastungscoefficient, welcher die Kinder-
und Greisegeneration darstellt, grösser wird. In Posen z. B. ist die Quote der Kinder
und der Greise über 70 J. 414, in Pommern 306, in Berlin nur 289, im Königreich
Sachsen 374, im R.-B. Düsseldorf 300. Das will doch Alles in den Bevölkerungs-,
Freizügigkeits- und auderen socialökonomischen Fragen beachtet sein.
VIII. — §. 243. Die Berufsverth eilung in der Be-
völkerung.
A. Behandlung der ganzen Frage.
Die Bcrufsvertheilung ist für eine Menge volkswirtschaftlicher Fragen, nament-
lich solcher, welche in die Practische Volkswirtschaftslehre gehören, von grosser Be-
deutung. Die neueren Volkszählungen oder besondere agrar-, gewerbe- und namentlich
eigentliche berufsstatistische Aufnahmen haben auch viel wichtiges und wertvolles
614 4. B. Bcvulk. u. Yolksw.sch. 1. K. Bevölk.Iehre. 1. H.-A. Statist. §. 243.
Material über die Berufsvertheilung hervorgefördert. Allein eine fruchtbare Benutzung
dieses Materials bedingt ein solches Eingehen in das Einzelne und namentlich auch
eine vorausgehende oder begleitende genauere Erörterung und Verständigung über die
methodische Seite der Berufsstatistik, wie es hier schon aus Rücksichten auf den
Raum ausgeschlossen ist. Hier in die „Grundlegung“ und speciell in dieses Kapitel
von der Bevölkerung gehört auch immerhin nur Weniges aus diesem Gebiete. Ein
kurzer Blick in dasselbe muss und kann auch hier unserm Zwecke genügen. Auch
dabei handelt es sich nur um Beispiele.
Die Berufsstatistik bietet bei der heutigen weitgehenden Arbeitsteilung, der Ver-
bindung von Nebenberufen mit dem Hauptberuf, der Beweglichkeit der Berufs-
verhältnisse, den Wanderungen u. s. w. u. s . w. ungemeine Schwierigkeiten. Schon
die Beantwortung der Frage, was ermittelt werden soll, ist hier viel schwieriger, als
bei den meisten sonstigen Tbatsachcn der Bovölkerungstatistik. Die weiteren Fragen,
wie ermittelt werden soll (Aufnahmeverfahren), wie, nach welchen Gesichtspuncten
das aufgenommene statistische Urmaterial zusammcngestellt und verarbeitet werden soll,
stellen neue Probleme. Die wichtigste Feststellung und Unterscheidung von Haupt-
und Nebenberuf, von Erwerbstätigen und Anderen, von Selbständigen (Unter-
nehmern u. s. w.) und im Dienstvcrhältniss in deu Productionsbetrieben Stehenden, von
Hausgesinde und wirtschaftlichem Arbeitspersonal, von Angehörigen im Familien-
verband, welche nur unterhalten werden oder mit verdienen, die richtige Berufs-
bezeichnung und Einschaltung des betreffenden Berufs in die richtige Berufsclasse und
vieles Andere mehr führen bei der Uraufnahme selbst und bei der Verarbeitung des
Urrnaterials auf Schritt und Tritt zu Zweifeln und Unsicherheiten, welche mit dem besten
Willen nicht immer genügend gelöst werden können. Auch bei der Berufsaufnahme
eines einzelnen Landes, einer besonderen, wie im Deutschen Reiche 1SS2 (5. Juni)
oder einer mit agrar- und gewerbsstatistischen Aufnahmen, wie bisher gewöhnlich,
verbundenen, lässt sich eine völlige Gleich mässigkeit des Verfahrens nicht ver-
bürgen. Anordnungen, Instructionen, nachträgliche Revisionen fuhren auch nicht zu
einer solchen. Die localen Verhältnisse, Auffassungen, Benennungen sind eben zu
verschieden, zu mannigfaltig. Man denke, dass im Deutschen Reiche 18S2 ein Ver-
zeichnis von 6179 Berufsbenennungen, in England 18S1 sogar von 11 — 12,000
aufgestellt wurde (v. Scheel). Selbst die vermuthlich beste bisherige Berufsaufnahme,
eben die deutsche, welche getrennt von den periodischen Volkszählungen eigens für
den Zweck stattfand, lässt daher doch in ihren Ergebnissen zu wünschen übrig. In
die Unmasse der Schwierigkeiten und Zweifel einer derartigen Operation gewährt die
treuliche Verarbeitung der Materialien dieser Aufnahme im reichsstatistischen Amt selbst
den besten Einblick (s. namentlich die „Einleitung“ zu den betreffenden reichhaltigen
umfangreichen Publicationen Uber die Berufsstatistik, in B. 2 N. F. der Reichsstatistik.
1884. Weiteres in B. 3 und 4; Hauptdaten in B. VI — XII des statistischen
Jahrbuchs).
In den verschiedenen Ländern sind, trotz der im Ganzen in den heutigen Cultur-
staaten übereinstimmenden technischen, wirtschaftlichen , rechtlichen Grundlagen der
Berufsverhältnisse, die Verschiedenheiten der letzteren doch meist noch grösser als
innerhalb eines einheitlichen Wirthschafts- und Staatsgebiets. Noch mehr Unterschiede
zeigen die Methoden und die Durchführung des Aufnahmeverfahrens sowie die Zu-
sammensetzung und Verarbeitung des statistischen Urrnaterials. Deswegen fehlt den
betreffenden Daten noch mehr das, was für unsere Zwecke vor Allem in Betracht
kommt und doch bei der übrigen Bevölkerungsstatistik im Ganzen genügend vorhanden
ist: die Vergleichbarkeit in viel höherem Grade. Jede Vergleichung der
statistischen Daten setzte eigentlich immer er?t eine genaue Vergleichung und Kritik
der einzelnen Aufnahmemethoden und Verarbeitungsweisen voraus, wenn man sich
vor unrichtigen Vergleichen der Daten und vor falschen Schlüssen daraus hüten will.
Auch dafür sei auf das Werk des reichsstatistischen Amts über die Deutsche Berufs-
statistik verwiesen. Daselbst werden auch die Aufnahmen einiger anderer europäischer
Länder und Nordamericas (Union) zum Vergleich mit herangezogen (s. bes. B. 2, Einl.
S. 28 ff.). Mit Vorsicht und Umsicht und doch vielleicht schon in grösserem Umfange,
als es die Verschiedenheit des Materials eigentlich gestattet. Jedenfalls bleiben
Zweifel genug, ob und was aus den Daten verschiedener Länder und wie weit es
vergleichbar ist, wie übrigens in jener Arbeit auch immer hervorgehoben wird. In
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Berufsvcrtheilung.
615
Ermangelung anderer besserer vergleichbarer Daten können wir uns hier aber nur
an die Zusammenstellungen des reichsstatistischen Amis, unter den angedeuteten
Reserven, halten.
Günstiger ist, dass in einem grossen Volkswirthschaftsgebiotc wie dem deutschen,
Provinzen. Staaten, Gebietsteile sehr verschiedener Berufsverhältnisse enthalten sind.
Freilich bietet gerade dieser Umstand wieder für eine einheitliche, notwendig mit
bestimmten Merkmalen, Kategoriecn, Schablonen operirende Aufnahme besondere
Schwierigkeiten. Wie dieselben gelöst sind, das ist aus dem deutschen amtlichen Werke
selbst zu entnehmen. Für uns liegt keine Veranlassung vor, an der erfolgten Lösung
hier Kritik zn üben, was die Aufgabe monographischer Behandlung des gauzen
statistischen Problems der Berufsaufnahme wäre. Es mag nur bemerkt werden, dass
manche der hier auftauchenden scheinbar lediglich technisch -statistischen Fragen mit
volkswirtschaftlichen, mit socialen Principienfragen Zusammen-
hängen und zwar auch mit solchen, welche uns hier in der ,, Grundlegung“ nahe
liegen, z. B. was den Begriff „Erwerbstätige“, „Dienende“ anlangt. Die Erörterung
darüber hängt mit der Lehre von der „Productivität“, die Behandlung z. B. der
reinen Rentiers, der Pensionäre mit der principiellcn Auffassung des Privateigenthums
an Boden und Kapital, der Pension zusammen. Die Entscheidung des Statistikers
wird folgerichtig eigentlich nach seiner principicllen Stellung in diesen volkswirt-
schaftlichen Fragen stattfinden müssen und danach dann von anderer Sette Beistimmung
oder Widerspruch erfahren (vgl. die Bemerkungen in gen. ß. 2 der Reichsstatistik,
Einl. S. 13, Uber das Hausgesinde, wo dieser Punct berührt wird). Es liegt sogar
grade für den Nationalökonomeu ein Reiz vor, die Auffassungen, die Unter-
scheidungsmerkmale zwischen den Berufen, wie sie in der amtlichen Berufsstatistik
Vorkommen, nach seinen Gesichtspnncten zu prüfen: eine bisher noch wenig ver-
folgte Aufgabe. Hier ist das indessen unmöglich. Wir müssen nicht nur die Daten,
sondern auch die zusammenfassende Bearbeitung derselben zu Gruppen u. s. w., wie
sie einmal die amtliche Statistik geliefert hat, von dieser übernehmen, ohne sie des-
halb überall für ganz richtig anzuerkennen.
S. Uber die Methodik der Beiufsaufnahme und Materialverarbeitnng ausser dem
gen. grossen reichsstatistischen Werke (in der „Einleitung“ namentlich in den „Vor-
bemerkungen“ zu den einzelnen Abschnitten) den sehr knappen, aber gut übersicht-
lichen Artikel des jetzigen Directors des reichsstatistischen Amts, H. v. Scheel, über
„Beruf und Berufsstatistik“ im Handwörterbuch d. Staatswiss. , B. II, S. 31*5 — 403,
auch mit Angaben über die bezüglichen Aufnahmen andrer Länder und einigen ver-
gleichend-statistischen Daten, ferner Rümelin über Berufsstatistik im Anhang zu
seiner Abh. Bevölkcrungslehre im Schönberg sehen Handbuch, 3. A. II, 774 — 783 (mit
Daten aus der Reichsstatistik).
B. — §. 244. Bedeutung der Berufsvertheil ung ftir
das volks wirthschaftlic he Bevölkerungsproblem.
Die Beruf svertheilung (Berufsgliederung) in der Be-
völkerung steht zunächst in Verbindung mit der natürlichen Ge-
schlechts- und Altersgliederung, ohne derselben genau
parallel zu gehen und ihr überall und alle Zeit in derselben Weise
zu entsprechen. Klimatische, nationale Factoren in ihrem Einfluss
auf die Entwicklung der Kinder, technische, socialökonomische,
rechtliche und Sittenverhältnisse in ihrem Einfluss auf Frauen- und
Kinderarbeit machen sich auch hier geltend und bewirken Ver-
schiedenheiten nach Völkern, Zeiten, Berufsarten.
Im Uebrigen ist die Berufsvertheilung vornemlich die Folge
des technischen und wirtschaftlichen Princips der Arbeits-
teilung. Gleichzeitig steht sie unter dem Einfluss der früheren,
616 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lehre. 1. II. -A. Statist. §. 243.
noch nachwirkenden und der bestehenden Rechtsordnung in
der Volkswirtschaft. In letzterer Beziehung ist namentlich das
Rechtsprincip der persönlichen Freiheit und desPrivat-
eigenthums an den sachlichen Productionsmitteln, an
Grundstücken , Gebäuden, Kapitalien, die historisch überkommene
Grundbesitzvcrtheilung und Agrarverfassung, die Gewerbeverfassung
auch hier von Bedeutung. Auch die geltende Rechtsordnung für
den Familien verband und für die daraus hervorgehenden Rechte
und Püichten zwischen Familienhaupt und Familiengliedern äussert
ihren Einfluss.
Hier in der „volkswirtschaftlichen Bevölkerungslehre“ sind
namentlich diejenigen Verhältnisse der Berufsgliederung wichtig,
welche mit dem volkswirtschaftlichen Productions- und Vertheilungs-
problem in Beziehung, eigentlich in Wechselwirkung stehen. Von
diesen Verhältnissen erscheinen folgende drei hier besonders be-
achte nsw’erth.
1. Das Verhältniss der erwerbstätigen und der ge-
sammten übrigen Bevölkerung.
Letztere wird direct oder indirect durch die Thätigkeit der ersteren mit erhadteu.
d. b. mit wirthschaftlichen Gütern, wie die Familienangehörigen, Anstaltsinsassen
(Arme, Gefangene), je nach der Rechtsordnung auch mit eigenem Einkommen, wie
Rentiers, Pensionäre, Hausarme versehen. Die Geschlechts- und Altersvertheilung
in der Bevölkerung kommt namentlich hier in diesem Puncte mit zur Geltung, wiederum
aber ohne dass die Verschiedenheiten in den Quoten der Geschlechter und der Lebens-
alter genau in den Proportionen von Erwerbstätigen und unterhaltenen Angehörigen
hervortreten.
Ceteris paribus bedeutet eine grössere Quote Erwerbstätiger
in der Bevölkerung eine grössere Productionsfäbigkeit und Pro-
ductionsergiebigkeit, ein höheres Nationaleinkommen, eine geringere
Belastung dieses, in diesem Sinne „productiven“ Volkstheils mit
der Unterhaltung der Uebrigen : eine Erhöhung des Productivitäts-,
eine Ermässigung des Belastungscoefficienten in der Gesammtbe-
völkerung.
2. Die („sociale“) Berufsstellung.
I). h. ob der Einzelne selbständig als Unternehmer, Leiter, Arbeit-
geber, als Besitzer eigener sachlicher Productionsmittel, als ein solcher, welchem
Andre die ihnen gehörigen derartigen Mittel zur selbständigen Benutzung zur Ver-
fügung gestellt haben, als Rechts- und Wirth schaftsobject fungirt, daher auch
mit der Rechtsfolge, dass er zunächst das Privateigenthum an den neu gewonnenen
Producten besitzt und die sonst an der Production Betheiligten nach Vertrag (und
Sitte, Rechtsnorm) für ihren Antheil abfindet; oder ob es sich um Abhängige in
verschiedener Dienststellung (als höheres, als niederes Arbeitspersonal im
Geschäft, im Productionsbetrieb, als Hausgesinde) handelt.
Von dieser socialen Berufsstellung hängt die Art und die Höhe
der Leistungen des Einzelnen im Productionsprocess und seine
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617
Berufsverthcilung.
Stellung im Vertheilungsprocess der arbeitstbeilig gewonnenen
Producte oder Erträge, deshalb auch mehr oder weniger die Art
und Höhe seines Antheils (Einkommens) vom Gesammtertrage ab.
Hier treten daher die Personen der betreffenden Berufsstellung als
sociale Classen der grossen Erwerbsgesellschaft, welche die
Volks wirth8chaft bildet, mit ihren Interessengegensätzen in
Bezug auf Zuschiebung der Arbeitslast in der Production und auf
Erzielung von Antheilen am Productionsertrage, hervor. Hier zeigen
sich zumeist die Folgen des Rechtsprincips des privaten Grund-
und Kapitaleigenthums und der sich daran knüpfenden (privatwirth-
schaftlichen) Organisation der Volkswirtschaft (siehe Buch 5 unten
und Abth. 2 der Grundlegung).
3. Endlich ist die Berufsart des Einzelnen von Wichtigkeit.
Davon häDgt sowohl einmal wieder die Art und Höhe seiner Mitwirkung
am gesammten nationalen Productionsertrage, als andrerseits nament-
lich auch seine Stellung im Volks- und weltwirtschaftlichen Austausch-
und Verkehrssystem und in den hierdurch bedingten Abhängigkeits-
verhältnissen ab.
Je ausschliesslicher eine Berufsart wirtschaftliche Güter (Sachgüter. Dienst-
leistungen) für den Bedarf Dritter, nahe, fern Wohnender, In-, Ausländer producirt,
daher auf einen Absatz an sich und auf einen lohnenden Absatz dieser Güter an-
gewiesen ist, um selbst zu gesicherter und genügender Verfügung über die wieder
von Anderen producirten Güter zum eigenen Bedarf zu gelangen: desto mehr er-
scheint einzel- und volkswirthschaftlich eine solche Berui'sart zu ihrer und ihrer An-
gehörigen sicherer und gedeihlicher wirtschaftlicher Existenz an alle jeue verwickelten
Voraussetzungen gebunden, von welchen die Sicherheit, Regelmässigkeit und hinlängliche
„Lohnendheit“ (die richtige Preisbildung) des Absatzes und Austauschs der eigenen,
des Bezugs und Eintauschs der fremden Güter abhängt.
Für die Bevölkerungsfrage ergiebt sieb daraus, dass eine
grosse und steigende Quote der Bevölkerung, der erwerbstbätigen
Personen, wie der Angehörigen der letzteren, in derartigen Berufs-
arten, daher besonders in der Industrie, zumal in der auf Massen-
und Fernabsatz berechneten Gross* und Hausindustrie, im Bergbau,
im Handel, in den öffentlichen und privaten liberalen Berufen, im
Gesindedienst, aber freilich auch in der nach Art und Menge ihrer
Erzeugnisse auf Absatz an Dritte (Städte, Industriegegenden, Aus-
land) angewiesenen Landwirtschaft eben ihre Bedenken hat.
Sobald in dem complicirten und fcingliedrigen Absatz- und Bezugs-
system, in welchem die eigenen und fremden Leistungen und Pro-
ducte zum Austausch kommen, nicht Alles ordentlich in Gang bleibt,
treten unvermeidlich Störungen und Gefahren ein. Die repressiven
Tendenzen der Volksvermehrung greifen vielleicht sofort Platz,
jedenfalls ergeben sich Nothwendigkeiten , dass die präventiven
618 4. B. Bcvölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lehre. 1. H.-A. Statist. §. 245.
Tendenzen hinlänglich zur Wirksamkeit gelangen. Thun sie das
nicht, so müssen die repressiven Tendenzen um so stärker wirken
oder wenigstens die Lebenslage der Bevölkerung, zumal
der unteren Classen, auf ein niedrigeres Maass zurück-
sinken oder darauf verbleiben, lieber einer Volkswirtb-
schaft mit sehr weiter Zurückdrängung der für den eigenen (Natural-)
Bedarf arbeitenden agrarischen Bevölkerungsquote zu Gunsten der
übrigen schwebt daher doch immer mehr oder weniger nahe ein —
Damoklesschwert, was für die Bevölkerungsfrage bei „hoch in-
dustriellen“ Nationen genug zu denken giebt (s. u. §. 251).
C. — §. 245. Berufsstatistisches.
Wir beschränken uns hier auf diese drei Unterscheidungen in der Berufs-
gliederung, nehmen dieselben auch in der Weise der deutschen Berufsstatistik , be-
trachten dabei namentlich nur den Hauptberuf jeder Person und fassen nur die
grösseren Gruppen von Berufsarten bei dem dritten Puncte ins Auge. Vielerlei kleinere
weitere Unterscheidungen siud freilich möglich und von Interesse, so die Verfolgung
der Verhältnisse der Nebenberufe und der Combinationen mit dem Hauptberufe, die
Combinatiouen der drei Unterscheidungen mit Geschlecht, Alter, Familienstand, die
Untersuchung der Verhältnisse der einzelnen Berufe in jeder Berufsgruppe und Berufs-
art, nach den beiden ersten Unterscheidungspuncten, die Verhältnisse des Betriebs-
umfangs (Gross-, Mittel-, Kleinbetrieb) in den Hauptzweigen und den wichtigeren
Einzelzweigen der nationalen Arbeit, in Verbindung mit den Besitzgrössen u. v. A. m.
Aus dem Gebiete dieser Tbatsachen kann hier in Folgendem indessen nur Einzelnes
mit berührt werden. Die deutsche ßerufsstatistik , schon in der vortrelHichen Be-
arbeitung des Materials in der „Einleitung“ zu B. 2 der Keichsstatistik N. F., vollends
in den Tabellen und weiteren Ausführungen, in den folgenden Bänden, enthält hier
eine Fülle von Material für zahlreiche volkswirtschaftliche Specialfragen, welche mit
den Berufsverhältnissen in Verbindung stehen.
1. Statistik der erwerbsth ätigen und der übrigen
Bevölkerung.
Nach der deutschen Berufszählung von 1882 (Reichsstatistik N. F. B. 2, Einl.
S. IG) verthcilt sich die hier ermittelte Gesammtbevölkerung folgendcrmaassen in
absoluten Zahlen:
Tab. XXXIX. In 1000 Kopf im Deutschen Reich:
Erwerbs-
Häusliche
Angehörige
Berufs-
Gesammt-
tätige
Dienstboten
lose U. 8. w.
zabl
1.
2,
3.
4.
5.
Ueberhaupt
17,632
1,325
24,911
1,354
45.222
Davon unter 15 Jahren
460
63,7
15,380
42,4
15,940
Männliche
13,373
42,5
8.083
652
22.151
Davon unter 15 Jahren
318
2,4
7,625
26,4
7.971
Weibliche
4,259
1,282
16,828
702
23,071
Davon unter 15 Jahren
143
01,2
t ,7oo
16
7,975
Die Erwerbstätigen nur im Hauptberuf. Nebensächlich erwerbend waren
in Col. 2 230,500 (davon männliche 8.4U0, weibliche 228,000), in Col. 3 636,000
(m. 54.500. w. 581, OOo), in Col. 4 180.000 (m. 110,100, w. 79.500), im Ganzen
1,052,000 (m. 163.000, w. 889.000). Die Dienstboten in Col. 2 sind nur die im
häuslichen Dienste wirkenden, bei der Herrschaft lebenden; die landwirtschaftlichen
und gewerblichen Dienstboten sind in Col. 1 bei den Erwerbstätigen mit enthalten.
Die Col. 4 umfasst die berufslosen Selbständigen (auch Rentner, Pensionäre, von
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Berufsvertheilung. Erwerbstätige und übrige.
619
Unterstützung Lebende'), Anstaltsinsassen aller Art. in Berufsvorbercitung Begriffene
und für sich (ausserhalb ihrer Familie) Lebende (Studenten, Schüler über 14 Jahre
u. dgl.). Zu den „Angehörigen“ in Col. 3 gehören ausser den in der Familie lebenden
Kindern namentlich die Hausfrauen, welche nicht für sich einen eigenen Haupt-
beruf ausüben.
Man sieht schon ans diesen absoluten Zahlen, wie die Scheidung
zwischen den Erwerbstätigen und der übrigen Bevölkerung von
den Geschlechts- und den Lebensaltersverhältnissen (Erwachsene —
Kinder) vorherrschend bestimmt wird.
Die folgende Tabelle XL giebt nach der Reichsstatissik B. 2, Einl. S. IG die
Verhältnisszahlen der hier besprochenen Hauptgliedcrnng der Bevölkerung für
das Deutsche Reich nach der Berufszählung von 1882, für die übrigen Länder meist
nach Aufnahmen um 18S0 (Italien 1871, Schweiz, Schweden 1870, Norwegen 1870).
Wie bemerkt, sind nach der Verschiedenheit der Aufuahmemetbodcn und der Ver-
arbeitung des Urmaterials freilich die Daten und die danach berechneten Verhältniss-
zahlen der verschiedenen Länder nicht glcichwerthig und nicht ganz gleichartig.
Daher entsprechen die sich zeigenden Differenzen in der Verkeilung der Bevölkerung
anf die einzelnen Gruppen nicht sicher genau der Wirklichkeit, was bei Schlüssen zu
beachten ist. Nur eine annäherungsweise Vergleichung ist also statthaft. Die
Quellen der Daten der anderen Länder a. in der Reichsstatistik a. a. 0. In diesem
Werke sind diese Daten den deutschen soweit als möglich vergleichbar gemacht.
Mehr lässt sich eben vorläufig bei der Verschiedenartigkeit der Aufnahmen und der
Verarbeitung nicht erreichen. S. Tabelle XL auf S. 620.
Auch hier tritt deutlich hervor, dass Geschlecht und Lebens-
alter (Kindcsalter) einen beherrschenden Einfluss auf die Scheidung
zwischen Erwerbstätigen und Angehörigen ohne Erwerb ausüben,
aber nicht in dem Sinne, wie man a priori vermuten möchte,
dass, wo mehr weibliche Personen und Kinder in der Bevölkerung,
die Quote der Erwerbstätigen allgemein und entsprechend niedriger
wäre und umgekehrt.
Das müsste sich sonst in den Zahlen Frankreichs gegenüber denen Deutschlands,
Grossbritanniens deutlich zeigen (vgl. auch Reichsstat. B. 2. S. 15). Die ungleiche
Quote der Personen in höherem Lebensalter (S. 01 0,61 2) i»t allerdings hier auch möglicher
Weise von Einfluss. Sonst aber macht sich eben der Umstand mit geltend, dass mehr
Frauen und Kinder mit erwerbstätig sind. Die höchsten Quoten der Erwerbstätigen
weist Italien, im Ganzen und bei jedem der beiden Geschlechter, auf, vornemlich,
wenn auch nicht allein, weil hier ungewöhnlich viel Kinder (bis 15 J. gerechnet) unter
die Erwerbstätigen (von 1000 noch nicht 15jährigen J27, bei den männlichen 110,
bei den weiblichen 150) gerechnet sind, 3 — 4 mal so viel als bei einigen anderen,
in diesem Puucte vergleichbaren Ländern. Auch bei den Dienenden finden sich in
Italien weit mehr Kinder, als sonst. Auch unter den Erwachsenen ist in Italien
die Quote der Erwcrbsthätigen und Dienenden zusammen (bei beiden Geschlechtern
zusammen und beim weiblichen, nicht beim männlichen Geschlecht) die grösste, aber
die Differenzen sind kleiner (Italien 708. Deutsches Reich 030, England 644 beide Kate-
gorien zusammen gerechnet, bez. 607. 5S7, 503 für die Erwerbsthätigen allein). Soweit
diese Verschiedenheiten der Wiiklichkeit entsprechen, also wieder nicht nur Folge ver-
schiedenen Aufnahme- und Bearbeitungsverfahrens des Statist, Materials sind, zeigen
sich vielleicht gerade in diesen italienischen Daten klimatische, nationale Ver-
hältnisse neben den Erwerbsverhältnissen von Einfluss, daher ungünstig für Frauen
und Kinder in Italien (vgl. die Daten S. 18 der Einl. zu B. 2 d. Reichsstat.).
Ob man sonst aus den Daten der Tab. XL für die Hereinziehung von Weib
und Kind in die Erwerbsarbeit, für die Gunst und Ungunst der allgemeinen Erwerbs-
und Wohlstandsverhältnisse (Rentiers u. dgl. in grösserer Anzahl unter den Berufs-
620 4 B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lehre. 1. H.-A. Statist. §. 245.
Tab. XL. Gliederung der Bevölkerung nach Beruf und
Erwerb in verschiedenen Ländern. Von je 1000 waren:
Gesammtbevölkerung Männl. Bevölkerung Weibliche Bevölkerung
Länder
1
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Dienende
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31
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2
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465
35
480 20
592
19
309
20
844
51
586
19
Ungarn
427
28
531 14
58
0
323
13
200
49
725
16
Italien
do. (ohne gcw.
510
31
453
077
10
313
i
353
52
595
Nebenerw.)1 2) I 510
16
468
677
10
313
353
23
624
Schweiz
1 448
36
452 1 64
619
9
314
58
284
63
584
69
Frankreich
373
68
508 1 51
540
50
314
j 50 I
206
80
002
52
Engl. u. Wales
374
55
571
597
16
387
163
92
745
Schottland
SSO
42
578
593
13
394
181
69
750
Irland
i 393
, •
51
556
589
12
394
205
88
707
Dänemark
370
516 j 44
554
408
1 38
191
760
t 49
Norwegen
Norweg. (gcw.
361
i
597 l 42
520
i
442
! 38
210
1
744
| 46
Nebenerw.)3)
454
504 42 i 599
363
I 38
31
i
637
! 46
Schweden
347
570 | 82
514
412
! 74
193
718
! 89
Ver. Staaten
32jT | 22
653
573
1 5
422 ;! 09
38
893
losen in Frankreich, der Schweiz, günstige Verhältnisse in Nordamerica), für den Ein-
fluss der vorwiegend agrarischen und industriellen Entwicklung auf die Quoten der
erwerbstätigen und der Übrigen Bevölkerung, für die Fähigkeit oder Unfähigkeit
(Frankreich, England gegenüber Deutschland), Neigung oder Abneigung (Europa gegen-
über Nordainerica), häusliche Dienstboten zu halten, u. f. a. m. aus den Daten der
Tabelle Weiteres und Bestimmtes mit einiger Sicherheit ableiten kann, muss dahin
gestellt bieiben. Ich möchte es nicht ganz verneinen, aber noch weniger es sicher
behaupten. Manche Zahlen weichen zu sehr ab, als dass man sic als der Wirklichkeit
entsprechend ansehen möchte (so die hohe Zahl für die Dienenden, bes. die männ-
lichen. in Frankreich, verglichen selbst mit den britischen).
Innerhalb der einzelnen Länder zeigen sich in den Provinzen, Gebietsabtheilnugen.
Orten manche Verschiedenheiten der Quoten der hier unterschiedenen Bevölkerungs-
theiie. Mit der Grösse der Städte steigt in Deutschland (und ausserhalb) im Ganzen
die Quote der Dienstboten, der Rentiers, Pensionäre u. dgl. Ein deutlicher Einfluss
1) Berechnung, wenn die oben (S. 61S) angegebenen, lediglich nebensächlich
beschäftigten Personen bei den Erwerbstätigen eingerechnet, bei den andrer Kate-
gorien abgesetzt werden.
2) Berechnung, wenn 397,000 „mit Hausarbeit beschäftigte Personen“ nicht wie
in der ersten Reihe, bei den Dienenden, sondern bei den Angehörigen einge-
rechnet werden.
8) Berechnung, wenn 168,000 dem Fatnilienhanpt beim Erwerb helfende Personen
nicht, wie in der ersten Reihe, bei den Angehörigen, sondern bei den Erwerbs-
tätigen eingerechnet werden.
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Berufsvertheilung. Errerbsthätige u. Uebrige.
621
des vorwaltenden wirtschaftlichen Cbaracters eines Landestheils (agrarischen, industriellen)
auf die Gestaltung der Quoten, namentlich auf das Verhältniss der Erwerbstätigen
(mit und ohne häuslich Dienende gerechnet) zur übrigen Bevölkerung macht sich, in
Deutschland wenigstens, kaum bemerkbar. Yorwaltend agrarische Länder haben die
meisten und die wenigsten Erwerbstätigen (Max. Südbaiern 488, Franken 441, Pfalz
439. Min. Mecklenburg, Schleswig-Holstein, Ostpreussen, Hessen-Nassau, Wcstfahlen,
Posen, Pommern. Wcstpreussen 370 — 344). Stark oder vorwaltend industrielle Gegenden
stehen dem Maximum nabe (Eisass- Lothringen 442, Königreich Sachsen 412, Berlin
411) und wieder in der Mitte oder näher zum Minimum (Rheinland 373, ebenso die
3 Hansestädte). (Vgl. Weitores a. a. 0. S. 19 11.) Ob man mit der Reichsstatistik
(S. 21) hier und in Betreff der Stellung Deutschlands im Vergleich zu anderen
europäischen Ländern einen Einfluss klimatisch-nationaler oder mit Stammes-
Verhältnissen in Verbindung stehender Factoren annehmen darf, — „es zeigo sich
mit grosser Bestimmtheit die Tendenz einer Zunahme der Erwerbstätigen von Norden
nach Süden*4, (S. 20) — ist mir, mindestens gesagt, zweifelhaft. — Ergänzungen zu
den Tbatsachen in diesem §. 245 und zu den Ausführungen darin finden sich im
Folgenden noch mehrfach in den §§. 246 11'.
Als Ergebniss wird man auf Grund der neueren Berufs-
statistik, nach der Tabelle XL und weiteren statistischen Materialien,
immerhin etwa Folgendes aufstellen können: Die Tabelle XL be-
stätigt, was im Voraus aus der „täglichen Beobachtung“ (§. 78)
und aus Schlüssen daraus sich ergab, dass die Erwerbsarbeit der
Nation überall weit überwiegend auf der erwachsenen und,
wenn auch in geringerem Grade, überwiegend auf der männlichen
Bevölkerung ruht. Sie gestattet in Verbindung mit anderem vor-
handenen Material, das auch einigermaassen zu beziffern und
zugleich das Verhältniss zwischen der erwerbsthätigen und der
übrigen Bevölkerung annähernd durch eine Durchschnittszahl aus-
zudrücken. Meist sind über zwei Fünftel der Bevölkerung
erwerbsthätig (einschliesslich der im häuslichen Dienste thätigen),
aber mit Schwankungen zwischen einem Drittel (Nordamerica,
auch (?) Scandinavien) und mehr als der Hälfte (Italien).
Von der erwachsenen (über 15 -jährigen) Bevölkerung sind
nahezu drei Fünftel erwerbsthätig, mit den häuslich Dienenden
zwei Drittel; von der männlichen Bevölkerung ebenfalls
etwa drei Fünftel, mit den Dienenden nur ein Geringes mehr,
von der weiblichen in Europa bloss ein Fünftel bis ein
Drittel, mit den Dienenden ein bis zwei Fünftel. Von der
männlichen erwachsenen Bevölkerung gehören dagegen
neun Zehntel (Deutsches Reich 921, England 914 %„) zu den
Erwerbsthätigen, einschliesslich der häuslich Dienenden, je nach
der Verbreitung männlicher Dienstboten, noch etwas mehr (Deutsch-
land nur 3, England 25 während die erwachsene weib-
liche Bevölkerung, freilich unter Nichteinrechnung der Haus-
frauen u. dgl. zu der Kategorie, nur ein Viertel und darüber
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Tbeil. Grundlagen. 40
622 4. B. Bcvölk. u. Volksw.sch 1. K. Bevölk.lehre. 1. H.-A. Statist. §. 246.
(Deutsches Reich 273, England 240, Italien allerdings 440) Erwerbs-
thätige und selbst mit Einschluss der Frauen in häuslichen Diensten
nur ein Drittel bis zwei Fünftel (Deutsches Reich erwachsene
weibliche Dienstboten 81, England 132, Italien hier nur 69) zählt *).
Natürlich ist das das Ergebniss von socialen Verhältnissen,
wie den heute in der Culturwelt bestehenden. Eine völlige sociale
und wirth8chaftliche Emancipation des weiblichen Geschlechts und
Gleichstellung desselben im Erwerbsleben mit dem männlicheu würde
auch eine Verschiebung der Quoten zuwege bringen, den Belastungs-
coefficienten , welchen überwiegend die Kinder und Frauen in der
Bevölkerung darstellen, mehr zu Ungunsten des Weibes verschieben
müssen. Umgekehrt würde natürlich der weitere Ausschluss des
weiblichen Geschlechts und der Kinder aus der regelmässigen
Erwerbsarbeit die Quote der Erwerbsthätigen und Dienenden ver-
mindern, diejenige der zu unterhaltenden Angehörigen und damit
den Belastungscoefficienten für die männlichen Erwachsenen erhöhen.
Die umfassendere Ausbildung und strengere Durchführung des
Arbeiterschutzrechts auf allen Arbeitsgebieten, nicht bloss in der
Fabrik, sondern auch im Kleingewerbe, Hausindustrie, Handel,
Landwirtschaft, Gesindedienst hätte diese Folge2).
Auf die Bedeutung, welche die überwiegende Belastung der
Erwachsenen und Männer mit der nationalen Erwerbsthätigkeit
in populationistischer Beziehung bat, namentlich bei grosser Volks-
dichtigkeit, starker Geburtsfrequenz und hohem Geburtsüberschuss
und auf Volkswirt bscbaftliche Folgen, welche mit dieser Belastung
in Verbindung stehen , wird im folgenden Hauptabschnitt zurück-
zukommen sein.
§. 246. — 2. Statistik der Berufsstellung.
Die Bernfsstellung wird hier wieder an der Hand der Berufsstatistik des Reichs
(s. Einl. zu Bd. 2, S. 63) und in den dortigen Combinationen mit den grossen Gruppen
der materiellen Berufsarten betrachtet. Für die Unterscheidungsmerkmale ist auf die
*) Erwähnt sei noch, dass vod allen Erwerbsthätigen die Kinder in Deutschland
27.6, dio Greise (über 60 -jährigen) 83.5, die anderen daher 888.9 °l!0n ausmachen; in
Italien die Kinder mehr, 70.8. in England 47.6 und Nordamcrica 64.3, auch die Greise
in England (dio Uber 65 -jährigen) 45.6 und Nordamerica 57.8, etwas weniger. Die
mittlere Kategorie ist nicht viel von der deutschen verschieden (England 906.8, Nord-
america 877.9%0), (s. v. Scheel. Staat'wisscnschaftl Handwörterbuch II. 402).
a) Dass moderne hochindustrielle (fabrik-, manufactur-, hansindustrielle) Länder
in dieser Beziehung keine sehr starke (England. Schottland verglichen mit ganz
Deutschland), öfters nicht einmal eine deutlich wahrnehmbare (deutsche Länder unter
einander verglichen) Erhöhung der Quote der Erwerbsthätigen unter den Kindern haben,
zeigt doch, zumal im Vergleich mit Italien, dass jene Industrie nicht oder, dank dem
Arbeiterschutz, nicht mehr so nachteilig, wie vielfach angenommen wird, auf dio
Ucberlastung der Kinder mit Erwerbsarbeit einwirkt.
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Stati&tik der Berafstellaog.
623
Ausführungen in dieser amtlichen Statistik zu verweisen. Die „Selbständigen“ um-
fassen ausser dem Hauptcontingent der Eigentümer, Unternehmer, Arbeitgeber u. s. w.
auch die leitenden Beamten und sonstigen Geschäfts leiter (Directoreu u. s. w.).
Sie zerfallen insbesondere beim Gewerbe in solche Selbständige, welche für eigene
und wolche für fremde Rechnung („zu Hause, in eigener Wohnung, für ein fremdes
Geschäft“) arbeiten. Zum „höheren“ Arbeitspersonal gehört das Verwaltungs- und
Aufsichts-, das Rcchnungs-, Bureaupersonal, Geschäfts- und Handlungsreisende,
Schreiber, überhaupt wissenschaftlich, technisch, kaufmännisch (vor- und aus-)ge-
bildetes Personal. Zu den „Arbeitern“ alles niedere Gehilfeu-, Arbeiter-, Tage-
löhnerpersonal u. s. w.
Die folgende Tab. XLI giebt nach der Berufszählung von 1682 die wichtigsten
Daten für diese Verhältnisse im Deutschen Reich, ergänzt zugleich die Daten im
Vorausgehenden über Erwerbstätige und Sonstige und enthält die Hauptgruppirung
der wirtschaftlichen Berufe, worauf im nächsten §. 247 eingegangen wird, mit.
S. a. a. 0. S. 69 der Einleitung, woselbst und in den zugehörigen Tabellen
weiteres Detail, bes. in Betreff verschiedener Behandlung der in der Landwirtschaft
mitthätigen Familienglieder und in Betred' weiterer Unterscheidung verschiedener
Arten landwirtschaftlicher Arbeiter, wie Knechte, Mägde, Tagelöhner mit und ohne
selbständigen Landwirtschaftsbetrieb. Je nach der verschiedenen Zusammensetzung
der einzelnen Kategorieen verschieben sich dann auch die Proportionen, ln der
Tabelle sind die Daten nach der Hauptberechnung der amtlicbeu Statistik gegeben,
doch bei der Landwirtschaft u. s. w. ist in den eingcklammerten Zahlen auch mit-
getheilt, wie sich diese Zahlen verändern, wenn die mitarbeitenden Familienglieder,
statt zum niederen Arbeitspersonal und damit zu den Erwerbstätigen , zu den An-
gehörigen der selbständigen landwirtschaftlichen u. s. w. Erwerbstätigen
gerechnet werden. Die Rubrik Landwirtschaft umfasst auch Viehzucht u. s. w., sowie
die (viel geringeren) Zahlen von Forstwirtschaft. Fischerei, die Rubrik Industrie auch
den Bergbau und das Bauwesen, die Rubrik Handel und Verkehr auch Gast- uud
Scbankwirthschaft mit. Für dio Quotenberechnung in Spalte 5 und 6 sind die
„Dienenden“ („für häusliche Dienste, im Haushalt der Herrschaft lebend“) iu Spalte 2
als Erwerbstätige in die Bcruft>abthciiung D eingerechnet worden. S. Tab. XLI
auf S. 624.
Hebt man die materiellen Berufe A bis C allein heraus, so erhält man für
diesen Theil der erwerbstätigen Bevölkerung im Ganzen und nach den drei Haupt-
gruppen der Berufe die Daten der Tab. XLII. S. dieselbe auf S. 625.
Das Ergehn iss für das ganze Deutsche Reich ist, dass von
den Erwerbstätigen der materiellen Berufe beinahe ein Drittel
den Selbständigen, über zwei Drittel den Abhängigen angebören.
Im Handel (Gast* und Scbankwirthschaft u. s. w.) ist diese Quote
der Selbständigen am Grössten, in der Landwirtschaft am Kleinsten,
umgekehrt verhält es sich mit dem Arbeits-, besonders dem niederen
Arbeitspersonal. Das höhere fällt der Zahl nach nur beim Handel
u. s. w. etwas stärker ins Gewicht.
Diese Verhältnisse verschieben sich nun aber mehr oder weniger
local und innerhalb der grossen Berufsgruppen vornemlich nach
der Verteilung und Bewirtbschaftungsart des ländlichen Grund-
besitzes und der Agrarverfassung, sowie nach dem Betriebsumfang
der Geschäfte, besonders in der Industrie, auch, theils damit zu-
sammenhängend, theils unabhängig davon, nach Land und Stadt,
Klein-, Mittel-, Grossstadt, namentlich auch im Handel u. s. w.
Bei vorwaltendem ländlichen Mittel- und Kleinbetrieb, von Eigen-
40*
624 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölkdohre. 1. H.-A. Statist §. 246
Tab. XLI. Berufsstellung der Bevölkerung im Deutschen
Reiche nach der Berufszählung von 1882.
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6.
1
I. Selbständige:
A. Land-, Forstwirthsch.
! 2,288
395
6,310
8,993
1,145
1.901
[Einrechn, arbeitender
Familiengl. als Angh.
!
2,288
395
8,276
10.459]
_
[2,336]
B. Industrie auf eig.Rechn.
i 1,862
263
4,141
6,266
932
1,327
— auf fremde Rechn.
340
3
432
775
170
171
— zusammen
2,202
266
4,573
7.041
1,102
1,498
C. Handel und Verkehr
702
267
1,618
2.5S6
351
513
Summe I
5,191
928
12,502
18,620
2,598
3,912
[Einrechn, arbeitender
Familiengl. als An-
gehörige bei A
5,191
928
14,468
20,586]
[4.247]
II. Höheres Arbeitspers.
A. Land-, Forstwirthsch.
67
13
128
208
33
43
B. Industrie etc.
99
14
158
272
50
57
C. Handel und Verkehr
142
21
188
351
71
73
Summe II
307
48
475
830
154
173
III. Niederes Arbeitsp.
A. Land-, Forstwirthsch.
i 5,882
17
4,126
10,025
2,944
2,213
[Ansetz, arbeitender
Familiengl. als An-
|
gehörige bei I, A
3,947
17
4,095
8,059]
—
[1,778]
B. Industrie etc.
I 4,096
22
4,627
8,746
2,050
1,929
C. Handel und Verkehr
727
8
859
1.594
364
351
Summe III
10,705
47
9,612
20,365
5,358
4,493
[Ansetz, arbeitender
Familiengl. als An-
1
gehörige bei I, A
8,771
47
9,580
18,398
[4,058]
D. Lohnarb, wechs. Art
u. häusl. Dienst
398
2
539
938
862
500
E. 1. Milit Dienst etc.
452
15
75
542
226
116
2. Civil. D. Über. Berufe
579
149
952
1 .681
290
339
SummcI-IIIu.Du.E
17,632
1,190
24.154
42,976
9.488
9,533
F. Berufslose
1. V. Veruiög. Leb.
1
810
134
648
1,593
406
323
2. V. Unterstütz. Leb.
17S
0.5
S1
259
89
57
3. Ohne Berufsangabe
. 34
0.2
22
56
n
12
Summe aller Obigen
18,654
1,325
24,905
44,884
10,000
-
9,925
In Berufsvorber. etc.,
Anstaltsinsassen
332
0.3
5
338
75
Summe Aller
18,986
1,325
24,910
45,222
10,000
1 0,000
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Statistik der Berufsstellung: der Berufsarten.
625
Tab. XLII. Quoten der erwerbstätigen Bevölkerung im
Deutschen Reiche nach der Berufsstellung in den
materiellen Berufen in 1000-Theilen.
Im Ganzen
Landwirt-
Industrie
Handel
schaft U. 8. w.
u. s. w.
u. s. w
Selbständige
320
278
344
447
Höheres Arbeitspersonal
19
8
16
90
Niederes Arboitspersonal
661
714
640
463
thümern, Pächtern steigt die Quote der Selbständigen in der Land-
wirtschaft, sinkt diejenige des Arbeitspersonals; umgekehrt bei
überwiegendem ländlichen Grossgrundbesitz und Betrieb. Aehnlich
verhält es sich bei Industrie und Handel u. s. w., bei Kleingewerbe,
Handwerk, Hausindustrie einer-, Grossindustrie, Fabrikwesen andrer-
seits, bei Klein- und Grossgast- und Schankwirtbschaft, in Klein-
und Grossstädten beim Detailhandel.
Das statistisch näher zu belegen und zu verfolgen, ist hier nicht der Ort. S.
für Deutschland B. 2 der Berufszählung S. 79 ff. der Einleitung. Die Zahlen, bezw.
Quoten der Gebietsteile sind natürlich regelmässig ein Ergebniss der combinirten
Wirkung der Verhältnisse zwischen Selbständigen und Arbeitern iu den verschiedenen
hier vertretenen Berufen und zugleich der verschiedenen Besitz- und Betriebsumfangs-
grössen in den drei grossen materiellen Borufsgruppen. Die grosse absolute Zahl der
„selbständigen“ Landwirthe bei stark verbreitetem Kleingrundbesitz und Kleinbetrieb
und die grosse absolute Zahl der Fabrik- und Bergarbeiter bei stark entwickelter
Grossindustrie und Montanwesen üben dabei auf die Proportionen einen starken Ein-
fluss aus.
§. 247 — 3. Statistik der Berufsarten.
Auch hier mit Beschränkung auf die grossen Hauptgruppen, wie sie schon in
Tab. XLI unterschieden wurden. Die weitere Unterscheidung in die einzelnen Be-
rufe und in die Specialgruppen innerhalb der Hauptgruppen kann hier, braucht
aber auch für unsere Zwecke hier nicht verfolgt zu werden. S. bes. B. 2 der Iieichs-
stat. a. a. 0. Einl. S. 27 ff., mit den Vergleichungen anderer Länder S. 30, auch
für die Unterscheidungsmerkmale und die Rubricirung der einzelnen Berufe in die
grossen Gruppen, sowie für die Behandlung der Daten fremder Länder, um zu einiger-
maassen vergleichbaren Zahlen zu gelangen. Die folgenden Tabellen sind diesen
Materialien entnommen. S. die Tabelle XLIII auf S. 626.
Die Tab. XLIII enthält wieder dieselben Hauptgruppen und diese in derselben
Begrenzung wie die Tab. XL. Sie dient zugleich zu deren Ergänzung nach einigen
anderen Zahlcncombinationen und Gesichtspunctcn. Bei der Berechnung der Quoten
(Spalte 5 und 6) ist auch hier wieder die häuslich dienende Bevölkerung za Gruppe D
(wechselnde Lohnarbeit etc.) gestellt.
Hiernach kommen — oder kamen wenigstens noch vor
10 Jahren, in 1882 — im Deutschen Reich immer noch etwas über
zwei Fünftel der Bevölkerung überhaupt, wie der erwerbsthätigen
(Arbeitgeber und Arbeiter aller Art zusammengerechnet nebst den
selbständigen Berufslosen, s. Tab. XL) auf die von der Landwirt-
schaft lebende und von oder in dieser erwerbstätig beschäftigte.
Das ist zugleich immer noch die grösste Quote, welche auf eine
626 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lehre. 1. H.-A. Statist. §. 247.
Tab. XLIII. Vertretung der Berufsabtheilungen in der
Reichsbevölkerung ira Deutschen Reiche in 1882.
Absolute Zahlen in 1000 Kopf.
Erwerbstätige
~ und berufslose
Selbständige
Häuslich
Dienende
Angehörige
w (incl. nebensächl.
erwerbende)
Zusammen in
der Boruftsabth.
Auf
« .
Js ® a.
5.
1000
Ut
©
2
o
*
— •
W
6.
A. Landwirthschaft etc.
8.236
425
10.564
19,225
412
416
dav. Forst« irthsch. etc.
116
14
255
385
6
8
B. Industrie etc.
6,396
303
9.359
16,058
320
348
C. Handel etc.
1,570
295
2.665
4,531
79
94
D. W'echs. Lohnarb. etc.
398
2
539
938
86
50
E. Milit., Civ. und freie
Berufe
1,031
165
1,027
2,223
52
46
F. Berufslose Selbständ.
1,022
135
751
751
51
39
In Berufsvorber., in An-
stalten etc.
322
0.3
2
5
7
Summe
18,986
1,325
24,911
45,222
1000
1000
der grossen Hauptgruppen der Berufe fällt. Die Industrie (nebst
Bergbau, Bauwesen) beschäftigt nicht ganz ein Drittel der
Erwerbsthätigen, umfasst, bzw. ernährt etwas über ein Drittel
der Bevölkerung. Beide grosse Gruppen zusammen beschäftigen
nicht ganz drei Viertel der Erwerbsthätigen, umfassen etwas
über drei Viertel der Bevölkerung. Nur der etwa ein Drittel
so grosse Rest der Erwerbsthätigen und der Bevölkerung kommt
auf alle übrigen Berufe. Jede Gruppe derselben steht weit hinter
den beiden ersten Hauptgruppen zurück, wenn auch, wie in der
Quotenberechnung, die sämmtlichen im Haushalt Dienenden (Dienst-
boten) zur Rubrik D und mit dieser als besondere Gruppe gerechnet
werden, nicht zu den einzelnen anderen Berufsgruppen, in welchen
sie dienen.
Geschieht letzteres, so verändert sich die Gruppe D in den Quoten natürlich
entsprechend (auf 21°/00 in beiden Keihen) und erhöhen sich die Quoten der anderen
Gruppen hingegen demgemäss um Etwas, so bei Landwirtschaft etc. auf 442 und
445, bei Industrie auf 343 und <355, Handel etc. auf 84 und 100, bei Abth. E auf
55 und 49, bei F auf 55 und 42.
Stellt man alle anderen Gruppen derjenigen der Landwirt-
schaft u. 8. w. (A) gegenüber, so kommen diese demnach auf
fast drei Fünftel der Gesammtzahl der Erwerbsthätigen u. s. w.
und der Bevölkerung, bilden also immerhin schon im Verhältniss
von c. 3:2 die Mehrheit. Das ist für den Character der heutigen
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Statistik der Berufsarten.
G27
deutschen Volkswirtschaft beachtenswert und giebt einen gewissen
Maassstab für den Grad, in welchem diese Volkswirtschaft aus
der agrarischen in die industriell -mercautile Phase sich bereits
hinüber gebildet hat. Auch die Industrie und Handel und Ver-
kehr u. 8. w. allein beschäftigen schon fast ebenso viele Menschen,
nur eine noch wenig kleinere Quote als die Landwirtschaft u. s. w.
und ernähren und versorgen (ohne und vollends mit dem Contingent
häuslicher Dienstboten gerechnet) schon nicht unerheblich mehr
Personen als die Landwirtschaft u. s. w. Für die Gravitirung
des Schwerpuncts der volkswirtschaftlichen Interessen ist das
wieder wichtig.
Innerhalb eines grossen Volkswirthschaftsgebiets, wie des
deutschen, treten die einzelnen Hauptberufe dann freilich in sehr
verschiedener Ausdehnung hervor. In Industriebezirken, in Städten,
besonders Grossstädten, überwiegen die industriellen, mercantilen,
die Beamten- und liberalen Berufe, in agrarischen Gegenden die
landwirtschaftlichen , in mancherlei verschiedenen Abstufungen,
je nach der Entwicklung der Verhältnisse. Hier treten daher
örtlich und provincieil dieselben Verschiedenheiten auf, wie sie
zeitlich die Entwicklung der gesammten Volkswirtschaft aufweist.
Dio deutsche Berufsstatistik gestattet diese Verhältnisse zilFermässig genauer zu
verfolgen (s. bes. Einleitung zu B. 2 S. 34 ff ). Auch hier üben aber die Verschieden-
heiten der Vertheilung und Bewirthschaftswcise des ländlichen Grundbesitzes, der
Agrarverfassung, ferner dio Verschiedenheiten der Enverbsverhältnissc (Fabrik-, Haus-
industrie, Handwerk) einen Einfluss mit aus. Auch in hochindustriellen Gegenden
mit vorherrschendem Kleingrundbesitz (.Itheinland) sinkt z. B. unter den Erwerbs-
tätigen die Quote der in der Landwirtschaft Beschäftigten und steigt unter jenen
die Quote der industriell Beschäftigten nicht so hoch, als in Gebieten, wo die Grund-
besitzvertheiluug und Verfassung eine andere ist (K. Sachsen). S. für Deutschland
die Quoteuberechnungen in B. 2, S. 40 der Einleitung. Dio folgende Tabelle XLIV
hebt daraus die Maxirna und Minima in den grossen Berufsgruppen nach den Pro-
viucial- und den ähnlichen Gebictsgruppen der Reichsstatistik für dio erwerbstätige
und für die Gesammtbcvölkerung hervor; die Zusammensetzung der Berufe in den
Gruppen wie in den früheren Tabellen.
S. Tab. XLIV auf S. 628.
Die Verschiedenheiten in den Rubriken D und F lassen bezweifeln, ob überall
bei der Aufnahme ganz nach denselben Grundsätzen verfahren worden ist Im
Uebrigcn entsprechen die Zahlen aber durchaus dem, was auch sonst hinsichtlich des
vorwaltcnden Wirthschaftsrharacters der einzelnen Landestheile bekannt ist. Natürlich,
dass aber auch hier wieder in verschiedener Weise in den Zahlen Ausgleichungen
der Verhältnisse zum Ausdruck gelangen, so z. B. in Rheinland zwischen den hoch-
industriellen und den übrigen Regierungsbezirken, ebenso in Westfaten. Die rheinischen
hocbindustriellen Bezirke wurden sonst dein K. Sachsen noch näher stehen, nur dass
die Verschiedenheit der Agrarverfassung doch auch hier solche der Quoten bedingt. —
Im Ganzen besteht zwischen den beiden Abteilungen I und II der Tab. XLIV ein
Parallelismus der Daten, aber keine völlige Uebereinstimmung, woher auch in beiden
nicht immer ganz dieselben Landestheile erscheinen.
Im Ganzen nimmt ferner regelmäßig mit der Grösse der Ortsbevölkerung die
Quote der landwirtschaftlich Erwerbsthätigen ab und nehmen, wenn auch nicht völlig
628 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. BcvölUehrc. 1. H.-A. Statist. §. 247.
Tab. XLIV. Maximal- und Minimalquoten der Bevölkerung
nach den grossen Berufsgruppen in den Provinzial- und
ähnlichen Gebieten des Deutschen Reichs1).
I. Auf 10,000 Erwerbstätige und berufslose Selbständige kommen:
Land-
wirtschaft
etc.
A.
Industrie
etc.
B.
Handel
etc.
C.
Lohnarbeit
wechselnd.
Art etc.
D.
Oeff. Dienst
und freie
Berufe
E
Kj.
i
Ohne Beruf
und ohne
Berufs-
angabe
F.
1. Max.
6495
5546
1076
369
913
895
in
Pr. Posen
K. Sachsen
Schl.-Holst.
Ostpreuss.
Els.-Lothr,
Südbaiern
2. Max.
6334
4708
1022
356
764
877
in
Ostprcuss.
Westfalen*)
H. -Nassau3)
Mecklenbg.
Hessen
Franken
1. Min.
2242
1711
552
72
399
36Ü
in
K. Sachsen
Pr. Posen
Pr. Posen
Franken
Westfalen
Westfalen
2. Min.
3403
1718
554
74
406
397
i» |
Rheinland
Ostpreuss.
Ostpreuss.
Würtemb.
Franken
Rheinland
II. Auf 10,000 Einwohner kommen Berufszugehörige:
1. Max.
6467
5625
1223
363
677
810
in
Pr. Posen
K. Sachsen
Schl.-Holst.
Mecklenbg.
Els.-Lothr.
Südbaiern
2. Max.
6439
4731
1196
359
612
691
in
i Ostpreuss.
Rheinland
K. Sachsen
Ostpreuss.
Schl.-Holst.
Franken
1. Min.
1998
1682
614
57
357
372
in
K. Sachsen
Ostpreuss.
Ostpreuss.
Würtemb.
Westfalen
Westfalen
2. Min.
3178
1721
694
63
397
380
in
Rheinland
Pr. Posen
Pr. Posen
Franken
Ostpreuss.
Gr. Hessen
regelmässig, die Qooteu der fünf anderen Berufsgruppen zu. So kamen nach den
Berechnungen der Reichsstatistik a. a. 0. nach den 5 (irössenclassen der Ortsbevölkerung
(unter 20U0, 2 — 5000, 5 — 20,000, 20 — 100,000, über 100.000 E) auf die landwirth-
schaftlicho Bevölkerung bezw. (von unten nach oben) 0447 — 2628 — 987 — 342 — 138 E.
auf 10.000, für die Rubriken B bis F sind die Quoten für das platte Land (d. b. Orte
bis 2000 E.) bezw. 2444 — 4S9 — 67 — 220 — 324. Das Max. von B hatten die Orte
von 5 — 20,000 E. , 535S (die beiden höchsten, Classen bezw. 5283 und 4734); das
Max. von C die grössten Städte, 2061. Auch besteht hier wie auch bei D und F
eine der Steigerung der Ortsbevölkerung genau parallel gehende Steigerung der Quoten.
Das Max. von D hatten ebenfalls die grössten Städte. 504, das von E die zweitgrössten.
1117 (grössten 1073), das von F wieder die grössten, 890.
Zwischen der Verbreitung der Hauptberufe in der Be-
völkerung und der Volksdichtigkeit der Gebietstheile (§.230 ff,
237, 238) erscheint von vornherein ein Wechselwirkungsver-
J) Abgesehen von Berlin und den 3 Hansestädten, deren Verhältnisse
hier doch nicht direct vergleichbar sind. Die Quoten sind hier in der Reihenfolge
der Berufe der Tabelle: Berlin, Erwerbstätige: 75 — 5690 — 2182 — 438 — 989 — 626,
Einwohner: 77 — 5429 — 2456 — 385 — 969 — 684: Hansastadte, Erwerbstätige:
700— 4414— 3012— 531— 660— 6S3, Einwohner 643—4265—3262—459—647—725.
*) Drittes Max. mit 4605 Kheinl. (mit Hohcnzollern).
8) Drittes Max. mit 1002 K. Sachsen.
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Statistik der Berufsarteu.
629
hältniss wahrscheinlich, ja nothwendig, ebenso zwischen dem
ersteren Moment nnd der Verbreitung und der Grösse der
Städte. Das bestätigt auch die Berufsstatistik, speciell die deutsche,
im Allgemeinen hinsichtlich des ersteren, genauer noch, wie die
vorausgehenden Daten schon ergeben, hinsichtlich des zweiten
Verhältnisses. Ein völliger Parallelismus zwischen Volksdichtigkeit
und vorwaltend agrarischen einer-, industriell -mercantilen und
sonstigen höheren Berufsarten andrerseits kann aber nicht wohl
bestehen, weil die absolute und relative Grösse der landwirtschaft-
lichen Bevölkerung von Grundbesitzvertheilung, Agrarverfassung,
Klima, Bodengüte und Art, Betriebssystemen u. 8. w. immer mehr
oder weniger mit abhängt. Ebenso, weil auf die Verbreitung von
Bergbau, Industrie, Handel u. s. w. gleichfalls Naturfactoren, wie
Vorhandensein von Bergbausubstanzen, geographische Lage, Wasser-
strassen, sonstige Communicationsmittel, Wasserkräfte, technische
Bedingungen der Industrie u. s. w. mit von Einfhisss sind. Solche
Umstände verdecken aber den Zusammenhang von Volksdichtigkeit
und vorherrschenden Erwerbsberufsarten mehr, als dass sie ihn
widerlegten. Im Grossen und Ganzen ist doch eine durch-
schlagende Bedeutung des Wechselwirkungsverhältnisses zwischen
beiden Momenten kaum zu verkennen.
In den Erörterungen in B. 2 der deutschen Berufsstatistik (S. 45 der Einleitung)
möchte Letzteres nicht soweit, wie es richtig ist, anerkannt werden, wenn auch im
Ganzen die Auffassung mit der im Yorausgehenden dargelegten ubereinstimmt. Hier
wird z. B. in Bestätigung der Annahme, dass die dichtbevölkerten Landestheile vor-
wiegend starke industrielle und schwache landwirtschaftliche Bevölkerung, die dünn-
bevölkerten das umgekehrte Verhältniss haben, hinzugefugt, „aber es fehlt viel daran,
dass die Gebietstheile nach der Dichtigkeit ihrer Bevölkerung in derselben Reihe nach
einander folgen, wio nach der Stärke ihrer industriellen oder in umgekehrter Reihe,
wie nach der Stärke ihrer landwirtschaftlichen Bevölkerung“. Ganz richtig, aber aus
den augedeuteten Umständen auch ganz erklärlich. Ebenso, dass noch weniger genau
die Handels- und Verkehrsbevölkerung im Zusammenhang mit der Volksdichtigkcit
steht. Desgleichen, dass „nur ganz im Allgemeinen sich sagen lässt, dass industrielle
oder dem Handel und Verkehr zugehörige und städtische Bevölkerung zugleich stark
und schwach vertreten seien; im Einzelnen kämen hiervon bedeutende Abweichungen
vor.“ Einen bestimmteren Zusammenhang zwischen Art der Erwerbsthätigkeit und
Ortsgrösse, gemäss den vorhin angegebenen Daten, erkennt dagegen auch die amtlicho
Erläuterung der Berufsstatistik an.
Den besprochenen Verschiedenheiten der Vertretung der Haupt-
berufe in den einzelnen Gebietstlieilen eines grossen, einheitlichen
Volkswirtbschaftsgebiets, wie des deutschen, begegnet man dann
ähnlich bei der Vergleichung der ganzen Staats- und
Volkswirthschaftsgebiete, welche die Glieder der Welt-
wirtschaft sind, wieder. Die Stellung, welche z. B. hochin-
dustrielle Gebiete, wie K. Sachsen und Theile von Rheinland und
(530 4. B. Bevölk. u. Volksw.scli. 1. K. Bcvölk.lehre. 1. H.-A. Statist. §. 247.
Westfahlen, rein agrarische, wie Mecklenburg und die preussischen
Nordostprovinzen einnehmen, haben hier England, Schottland,
Belgien einer-, Ungarn, z. Th. Oesterreich, Italien, Scandinavien
andrerseits. Die übrigen europäischen Länder stehen zwischen
diesen Extremen.
Die genauere statistische Vergleichung wird hier wieder durch die mehrfach
hervorgehobenen verschiedenen Methoden der Aufnahme und Verarbeitung des berufs-
statistischen Materials erschwert. Nur unter Vorbehalt und unter der ausdrücklichen
Hervorhebung, dass die Vergleichung der Daten verschiedener Länder auch in diesen
Puncten bezüglich der Hauptberufe bloss eine ganz annäherungsweise sein kann
und die Schlüsse daraus daher nicht minder nur einen begreuzten Werth haben, ist
es statthaft, einigo Vergleichungen anzustellen. Das ist in der amtlichen Erläuterung
der deutschen Berufsstatistik auch geschehen. Aus den daselbst gegebenen Daten und
Berechnungen (s. B. 2, Einl. 29 fF.) ist die folgende Tabelle zusammengestellt worden.
Für die Verhältnisse der fremden Länder sind die dort gegebenen Ausführungen zu
vergleichen. Reihenfolge nach der forst- und landwirtschaftlichen Bevölkerung.
S. Tab. XLV auf S. 631.
Die Berufsgruppen sind hier wieder wie in den vorigen Tabellen gebildet worden,
bei den fremden Staaten, soweit es ging. Die starken Abweichungen in Gruppe D
und F (berufslose Selbständige u. s. w. und Anstaltsinsassen mit ihren Dienenden uud
Angehörigen) deuten wohl mehr Differenzen in der Aufnahme und Verarbeitung des
Materials, als in der Wirklichkeit bestehende, an. In geringerem Maasse, aber ver-
mutlich immer auch etwas gilt das von den anderen Gruppen, bes. wohl von C.
Die Unterschiede der Zahlen der einzelnen Länder in C erklären sich aber jedenfalls
doch vornehmlich aus der wirklichen Verschiedenheit der Verhältnisse. Die Gruppe
umfasst ausser Handel auch Land- und Wassertransport, Gast- und Schankwirthschaft.
In den Daten für letztere allein (so Frankreich bei den Erwerbstätigen 31.8°/oo*
England 19.2, Deutsches Reich 15.9) mögen auch Aufnahmeverschiedenheiten mehr
mit cinwirkcn. Den hohen Zahlen der ganzen Abtheilung C entspricht aber die
starke Verbreitung des Handels allein (incl. Versicherung) in Schottland , England mit
über 100o/oo der Erwerbstätigen, in Frankreich mit 83.4 (?). in Nordamerica, des
Land- und Wassertransports in England, Schottland, Nordamerica, des Wassertrans-
ports in Norwegen (56.6 %o der Einwohner gegen 29.4 in Dänemark, 5.2 im
Deutschen Reich).
Die Sonderstellung Englands und Schottlands in der heutigen Welt-
wirthschaft, die ungeheure Zurückdrängung der landwirtschaftlichen
Berufe und Bevölkerung auf unter ein Fünftel, ja auf
ein Siebentel, die ausserordentliche Steigerung der industricll-
mercautilen auf über die Hälfte der Erwerbstätigen tritt in
Tab. XLV schlagend hervor. Die mehrfach angedeuteten Gefahren
einer solchen überspannten Entwicklung aber nicht minder. Die
Verhältnisse der grösseren und kleineren Continentalstaaten in der
Tabelle und Nordamericas erscheinen demgegenüber doch die
günstigeren. Wenn auch hier in einzelnen, selbst grösseren Ge-
bietsteilen sich ähnliche Berufsvertheilungsverhältnisse, wie in
Grossbritannien, finden, so bei uns in K. Sachsen (mit 555 °/ou in-
dustrieller, 100 mercantiler etc. und auch nur noch 224 °/00 land-
wirtschaftlicher Erwerbstätiger) , so sind es eben doch nur
Th eile des einheimischen Gesammt- Volks Wirtschaftsgebiets,
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Statistik der Berufsarten.
631
Tab. XLV. Vergleichung der Vertheilung der Haupt-
gruppen der Berufe in verschiedenen Ländern.
I. Auf 1000 Erwerbsfäbigo kommen:
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3
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* a
*Q oj
5
<V O
«
A.
’C
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| *
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etc.
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^ 5 o
TZ ’ji «w
g -© «
F.
Ungarn
672
121
28
141
38
Italien
626
228
60
43
43
—
Westösterreich
55)8
222
42
97
41
« — -
Irland
468
280
82
146
54
_
Nordamericanische Union
47a
214
124
115
44
Deutsches Reich
467
363
89
23
5S
_
Frankreich
463
819
137
•SM*.
61
Schweiz
459
419
76
14
32
- —
Schottland
ISS
54$
158
62
44
England und Wales
140
545
172
81
62
-
II. Auf 1000 Einwohner kommen:
Norwegen
552
170
122
44
44
68
Westösterreich
551
228
56
84
41
40
Schweden
548
104
34
75
61
178
Frankreich
488
249
1*24
—
57
82
Dänemark
452
229
96
92
67
64
Deutsches Reich
425
355
108
21
49
50
Schweiz
425
368
88
11
38
70
nicht der Durchschnitt des Ganzen, welche Derartiges, an und
für sich auch kaum Gesundes zeigen. Der Menschenaustausch
und die Verbindung mit den übrigen Theilgcbieten des Gesammt-
gebietes lassen die Sachlage hier immerhin noch anders erscheinen.
Auch hier sei wieder daran erinnert, dass die di recte Vergleichung so ungleich
grosser Länder von so verschiedener Stellung in der Weltwirtschaft, wie zwischen
den Ländern der Tab. XLV, nur bedingt zulässig ist. Das wird auch in den amtlichen
Erläuterungen der Beichsstatistik nicht genügend beachtet Die Lage in Sachsen ist
z. B. günstiger als diejenige Englands und Schottlands, weil Sachsen zunächst Glied
der deutschen Volkswirtschaft, erst dann der Weltwirtschaft, Grossbritannien dagegen
dies unmittelbar ist. Von der Lage Bheinlands gilt dasselbe wie von derjenigen
Sachsens. Diejenige der Schweiz, deren industrielle Bevölkerung derjenigen Gross-
britanniens, Sachsens, Rheinlands unter den verglichenen Ländern am Nächsten kommt,
ist dagegeu wieder ungünstiger als die Lage der genannten beiden deutschen Landes-
theile, ähnlich, aber noch ungünstiger, als diejenige Grossbritanniens (nicht nur wegen
der geographischen Lage, Gebirgsformation , Mangel an Colonialbesitz seitens der
Schweiz), weil die Schweiz eiu kleineres Gebiet und als solches auch unmittelbar auf
Producieoaustausch mit dem Auslande angewiesen ist, von dessen handelspolitischen
Maassregeln u. s. w. directer getrolfen wird. Aehnlicbes gilt von Belgien, Niederlanden;
die Folge der politischen and wirtschaftlichen Abtrennung von dem
grossen Staats- und W'irthschaftsgebiet, zu dem alle drei naturgemäss nach Lage,
Volksthum, Geschichte gehören.
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632
4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lehre. 2. H.-A. Folgerungen §. 248.
Hiermit beenden wir die Vorführung bevölkerungsstatistischen
Materials und die daran geknüpften Untersuchungen und Erörterungen.
Es gilt jetzt, aus den statistischen Thatsachen Schlüsse für die
volkswirtschaftliche Auffassung der Bevölkerungsfrage zu ziehen.
Das ist die Aufgabe des folgenden zweiten Hauptabschnitts dieses
Kapitels.
Zweiter Hauptabschnitt
Volks wirtschaftliche Folgerungen.
I. — §. 248. Volksvermebrung und Productions-
interessc.
Wieder anknüpfend an die einleitenden Erörterungen zur
volkswirtschaftlichen Bevölkerungslehre (§. 198 ff.) lassen sich
nunmehr folgende Ergebnisse feststellen.
Die vorausgehenden bevölkerungsstatistischen Thatsachen und
Untersuchungen rechtfertigen den Schluss, dass die Bevölkerung
eines Landes, und zwar auch eines altbesiedelten, bereits dichter
bevölkerten, regelmässig die Tendenz hat und auch die Fähigkeit
besitzt, sich zu vermehren. Sie vermag sich insoweit im volks-
wirtschaftlichen Productionsinteresse in Bezug auf ihre Zahl
dem etwa wechselnden Bedarf an Arbeitskräften durch ihre natür-
liche Vermehrung innerhalb derjenigen Grenzen anzupassen, welche
dem Geburtsüberscbuss naturgemäss und durch die Einwirkungen
der socialen Verhältnisse gezogen sind, sowie innerhalb derjenigen
weiteren Grenzen, welche von den Geschlechts- und den Alters-
verhältnissen abhängen. Daher kommt hier namentlich die Frist
in Betracht, welche zwischen der Geburt und der Erlangung der
Arbeitsfähigkeit notwendig verlaufen muss, um eine Bevölkerungs-
vermehrung durch Geburtstiberschuss zu einer dem volkswirt-
schaftlichen Productionsinteresse entsprechenden Vermehrung der
nationalen Arbeitskraft zu machen.
Verlangt dieses Interesse die letztere Vermehrung, so wird es
für die Volkswirtschaft wichtig, dass die Förderungsmittel der
natürlichen Volksvermehrung stärker, die Hemmungsmittel, die
präventiven und die repressiven Tendenzen (§. 219) schwächer
wirksam werden. Namentlich muss ein grösserer Theil der Neu-
geborenen das Lebensalter der Arbeitsfähigkeit erreichen und in
demselben länger verbleiben, also die Sterblichkeit entsprechend
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Volksvennehrung und Productionsinteresse.
633
vermindert werden. . Eine demgemässe Gestaltung der wirtschaft-
lichen und socialen Lebensverhältnisse auch der Masse der Be-
völkerung ist hierfür die Voraussetzung. Sie liegt daher auch in
diesem Falle nicht nur im persönlichen Interesse der unteren Classen
und im volkswirtschaftlichen Vertheilungsinteresse, sondern auch
im volkswirthchaftlichen Productionsinteresse.
Reicht die so herbeigeführte natürliche Vermehrung der Be-
völkerung und insbesondere der Altersclassen der letzteren im
wirtschaftlich productiven Alter und des Hauptträgers der nationalen
Arbeit, des männlichen erwachsenen Theils der Bevölkerung, für
die Bedürfnisse der volkswirtschaftlichen Production noch nicht
aus, so tritt die Frage der Wanderungen in den Gesichtspunct
des Interesses der Production. Die Fort- und Auswanderung, zumal
der Erwachsenen und der Männer im productivsten Lebensalter
ist dann gegen dieses Interesse, die Zu- und Einwanderung liegt
dagegen in demselben, sei es vorübergehend, sei es selbst dauernd,
wenn der Geburtsüberschuss zu schwach, die Vermehrung der Er-
wachsenen zu gering und zu langsam ist oder auch beide, Geburts-
Überschuss und Quote der Erwachsenen, ihre natürliche und durch
die gegebenen socialen Verhältnisse bedingte Grenze erreicht haben.
Sei es ferner local, provincial, allgemein im ganzen Volkswirth-
schaftsgebiete, wo dann je nachdem die Gestaltung der heimischen
wie der internationalen Wanderungen das Productionsinteresse in
verschiedenem Maasse berührt.
Zahlreiche, im vorigen Abschnitt mitgetheilte und besprochene
statistische Thatsachen zeigen auch, dass sich in Wirklichkeit
vielfach, ja regelmässig die Bevölkerung in ihrer natürlichen und
in ihrer Wanderungsbewegung, innerhalb eines grossen Volkswirth-
schaftsgebiets und von Land zu Land, in altbesiedelten, bereits
dicht bevölkerten, wie in neubesiedelten, noch dünn bevölkerten
Gebieten, dem volkswirtschaftlichen Bedarf an Arbeitskräften,
damit dem Productionsinteresse, anzupassen sucht und anpasst.
Die fernere und keineswegs allgemein langsamer und schwächer werdende natür-
liche Volksvermehrung durch Geburtsüberschuss selbst noch in dicht bevölkerten und
immer dichter bevölkert werdenden Ländern und Landestheilen , wie so vielen
europäischen; die Steigerung und das Hochbleiben der natürlichen Zuwachsraten auch
sogar hier; die Zu- und Einwanderungen in dicht, wie die industriellen, montanistischen,
städtischen Bezirke im In- und Auslande, in dünn, wie die überseeischen Einwanderungs-
länder bevölkerte Gebieto ist ein Beleg hierfür.
Die Gefahr ist aber dabei auch schon hier nicht zu ver-
kennen, dass die allgemeine und die locale Volksvermehrung durch
Geburtsüberschuss und durch Wanderungen den Volkswirtschaft-
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634 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lehrc. 1. H.-A. Folgerungen §. 248
liehen Bedarf an Arbeitskräften — natürlich hier gemeint: an solchen
jeder Art, von der höchsten geistigen, bis zur niedrigsten ge-
meinen — übersteigt.
Dnd zwar wieder vorübergehend, zeitweise oder bleibend, allgemein, für alle
oder fast alle Erwerbszweige, spcciell für einzelne davon, allgemein im ganzen
Lande oder tbeilweise an einzelnen Orten, in einzelnen Gegenden. Ferner auch
wieder unbedingt, absolut nach den an sich überhaupt noch möglich erscheinenden
Verhältnissen der volkswirthscbaftlicheu Organisation, der Technik der Production,
der irgend vernünftiger Weise noch denkbaren und ausführbaren Gestaltung der
Production und des Absatzes; wie vollends bediugt, relativ, nach den einmal
gegebenen und nicht oder nicht sofort oder nicht genügend zu verändernden socialen,
rechtlichen dem Sittenzustand entsprechenden, den technischen Verhältnissen der
volkswirtschaftlichen Organisation, des Besitzes, der Productionsemricbtung. S. darüber
unten § 257 if.
Namentlich bedingt die höhere Volksdichtigkeit, welche von
natürlicher Vermehrung und von Wanderungen herrührt, sowie die
stärkere locale Coneentration der Bevölkerung (Städte) ver-
wickeltere Erwerbs Verhältnisse, unsichereren Absatz
der eigenen und damit unsichereren Bezug der fremden
Producte, was neue Bedenken hervorruft.
Hat sich jene Gefahr bereits verwirklicht, dann liegt auch
vom Standpuncte des Volkswirt hschaftlichen Pro-
ductionsinteresscs aus betrachtet — Uebervölkerung
vor, absolute oder relative, allgemeine oder partielle, allgemeine
oder locale, dauernde oder zeitweilige: d. h. es sind mehr Menschen
da, als überhaupt als Arbeitskräfte gebraucht und genügend be-
schäftigt werden können, es ist die Volksvermehrung, die natür-
liche und die durch Wanderungen bewirkte, zu rasch und zu gross,
es müssen daher hier Hemmungen, vielleicht schon repressiver
Art, eintreten (§ 250—260).
Solange eine derartige Gefahr aber nicht vorliegt, sondern
wirklich ein steigender Bedarf an regelmässig und lohnend zu be-
schäftigenden Arbeitskräften aus der volkswirtschaftlichen Ent-
wicklung hervorgeht, welcher nur durch natürliche Volksvermehrung
und Zu- und Einwanderung gedeckt werden kann, erheischt auch
das volks wirtschaftliche Productionsinteresse eine solche Ver-
mehrung und Wanderung, daher auch die Erfüllung der technischen,
ökonomischen und rechtlichen Voraussetzungen hierfür: das ge-
nügende Vorhandensein, die nachhaltige Sicherung von Unter-
haltsmitteln, in erforderlicher Art, Menge, Güte, sowie
die weitere Vermehrung und qualitative Aenderung und Verbesserung
dieser Unterhaltsmittel für eine wechselnde, vielleicht auch Umfang
und Art ihrer Bedürfnisse steigernde Bevölkerung.
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Volksvermehrung und Productionsintcrcsse.
035
Die Erfüllung dieser Voraussetzungen kann auf zweierlei Weise
geschehen: einmal auf dem Gebiete der volkswirthschafilichen
Production durch eine entsprechende volkswirthHchaftliche Organi-
sation, welche die Productivität der Arbeit, die Entwicklung dieser
Productivität, der Productionstechnik, die genügende und richtige
Bildung und Verwendung des Nationalkapitals (§. 129) und die
zweckmässige Benutzung des nationalen Bodens verbürgt, und
zwar in einem mindestens mit der Vermehrung der Bevölkerung
Schritt haltenden, womöglich in einem stärkeren Maasse; sodann
auf dem Gebiete der Vertheilung des Volkseinkommens und
Volksvermögens durch eine solche Art der Vertheilung, welche
auch für die grosse Masse der Bevölkerung eine genügende Be-
dürfnissbefriedigung nach Umfang und Art ermöglicht und gewährt.
„Genügend“ heisst aber hier diejenige Bedürfnisbefriedigung, bei
welcher die physischen und psychischen hier mitspielenden Factoren
mächtig genug wirken, um die vom Interesse der Production ver-
langte nachhaltige Vermehrung der Bevölkerung und Auferziehung
einer hinlänglich starken Quote arbeitsfähiger erwachsener, ins-
besondere männlicher Personen herbeizuführen.
Dabei ist dann eines wichtigen Umstands zu gedenken. Die
jeweilige Art der Vertheilung des Volkseinkommens und Volks-
vermögens, die jeder solcher Vertheilungart zu Grunde liegenden
volkswirtschaftlichen Organisations- und Reehtsordnungs-Principien
üben hier wieder einen Einfluss aus, sowohl auf die psychischen
und physischen Bedingungen der (natürlichen) Volksvermehrung,
als auf die psychischen Motive wirthscbaftlichen Handelns, in Bezug
auf Wirksamkeit der Arbeit, Arbeitseifer, Gestaltung und Fortschritt
von Technik und Oekonomik der Production, Bildung und Ver-
wendung des Nationalkapitals, Benutzung, Anbau u. s. w. des
nationalen Bodens. Aenderungen principieller Art in der
Organisation und Rechtsordnung der Volkswirtschaft und dadurch
schliesslich der Vertheilung von Volkseinkommen und Volksver-
mögen müssen daher immer möglichst nach ihrer erfahrungsraässigen
oder doch psychologisch wahrscheinlichen Rückwirkung auf die
Tendenzen der Volksvermehrung und auf die psychologische Moti-
vation des wirtschaftlichen Handelns betrachtet werden.
Eine Verbesserung z. B. der unteren Klassen auf Kosten der oberen, die
Productionsmittel besitzenden, die Production leitenden könnte vielleicht die Productivität
der nationalen Gesammtarbeit schädigen , weil diese oberen Klassen dann weniger
leisteten, ohne die Leistungsfähigkeit und thatsäcbliche Leistung der unteren ent-
sprechend zu steigern. Was dann auf der einen Seite für die Ermöglichung reich-
63t) 4. B. Bevölk. u. Volksvr.sch. 1. K. Bevölk.lehre. 2 H.-A. Folgerungen §. 249.
baitiger, die Sammc der Arbeitskräfte steigernder natürlicher Volksvermebrung ge-
wonnen würde, drohte auf der anderen Seite wieder verloren zu geben (§ 27U).
Hier hängt daher die Bevölkernngsfrage auch bei der Be-
trachtung vom Standpuncte des Productionsinteresses aus mit den
Problemen der volkswirtschaftlichen Organisation und Rechtsordnung
und Verteilung zusammen. Nur bei einer befriedigenden Lösung
dieser Probleme kann auch das volkswirtschaftliche Productions-
interesse an Vermehrung der Bevölkerung, um vermehrter Arbeits-
kräfte Willen, sicher, nachhaltig und ohne anderweite neue Ge-
fahren befriedigt werden.
In den Beziehungen zwischen Volksvermehrung, Productivitäts-
steigerung und Vertheilungsfragen liegt daher auch der Schwer-
punct des „volkswirtschaftlichen Bevölkerungsproblems“. Bloss vom
Standpuncte des Productionsinteresses aus betrachtet gelangt man
bei gegebener Vertheilungsordnung nur zu dem Postulat: allein
eine solche Volksvermehrung ist volkswirtschaftlich heilsam und
erwünscht, welche selbst wieder die Bedingungen einer mindestens
ebenmässig, wo möglich einer mehr als verhältnissmässig
gesteigerten Productivität und wirklichen Production liefert. An
diesen Satz ist im weiteren Verlauf anzuknüpfen (§ 260).
II. — §. 249. Volksvermehrung und Vertheilungs-
interesse (vgl. o. §. 199, 200). Die im vorigen Abschnitt mit-
getheilten bevölkerungsstatistischen Thatsachen und die dort bereits
daran geknüpften Erörterungen rechtfertigen nun nicht minder den
Schluss, dass die regelmässig in der Bevölkerung obwaltende
Tendenz und Fähigkeit zur natürlichen Vermehrung und die Neigung
der Bevölkerung, in heimischer Wanderung und Auswanderung
dahin zu strömen, wo es wirklich oder vermeintlich wirtschaftlich,
social besser geht, auch für das volkswirtschaftliche Vertheilungs-
interesse ernste Gefahren in sich birgt (§ 260).
Diese Gefahren treten nach der Verschiedenheit der mit ein-
wirkenden concreten Verhältnisse in verschiedenem Grade hervor.
Ganz fehlen werden sie nicht leicht Sie werden aber grösser mit der Steigerung
der allgemeinen lind der localen Volksdichtigkcit; mit der Notwendigkeit, in einem ver-
wickelten, feingliedrigcn Arbcitsstheilungs- und Verkehrssystem, vielleicht in weiter
Ferne, Absatz für die eigenen wirtschaftlichen Güter, Bezugsquellen für die bedurften
Producte suchen, Fabrikate ans-, Rohstoffe und Nahrungsmittel in die heimische Volks-
wirtschaft und nach den Wohn- und Productionsorten einführen zu müssen: mit
einer für die productive Arbeit der Nation ungünstigen Verteilung der Geschlechter
und Altersklassen und einer dadurch bedingten starken Belastung der productiven,
daher besonders der männlichen erwachsenen Bevölkerung (§. 239, 240); mit der Ver-
minderung der Quote der Erwerbstätigen (§. 245), der Personen in selbständiger
Berufsstellung (§. 246), der mit landwirtschaftlicher u. s. w. Thätigkeit beschäftigten
Personen (§. 247) in der Bevölkerung im Vcrhältniss zu den übrigen.
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Volksyermehrang und Vertheilungsinteresse. G37,:
Jene Gefahren werden ferner auch im conereten Falle grösser
werden können durch eine sehr ungleich massige Vertheilung
des Volkseinkommens und Vermögens, daher durch die rechtlichen
und organisatorischen Voraussetzungen dafür, wie das Privateigen-
thum an den sachlichen Productionsmitteln, die privatwirthschaftliche
Organisation, die historisch überkommene Grundbesitzvertheilung
und die bestehende Agrarverfassung, die Gewerbeentwicklung, den
Grossbetrieb, die Gewerbeverfassung.
Aber bloss dadurch geschaffen werden diese Gefahren
nicht, wie der Socialismus in seinem populationistischen Optimis-
mus (§. 192, 196) annimmt. Auch durch eine kleinere oder grössere,
selbst durch eine principielle, Privateigenthum an Boden und Kapital,
privatwirthschaftliche Organisation der Production und Vertheilung
ausschliessende, Gemeineigenthnm und gemeinwirthschaftliche Organi-
sation (Buch 5) einführende Aenderung dieser Verhältnisse werden
diese Gefahren nicht beseitigt. Wahrscheinlich würden sie
dabei vielmehr erhöht, weil die präventiven Tendenzen der natür-
lichen Volksvermehrung verwuthlich geschwächt würden, vollends,
wenn die Bedingungen der Productivität der nationalen Arbeit
und die Productivität selbst bei einer solchen Veränderung der
Organisation und Rechtsordnung, wegen der nachtheiligen Rück-
wirkung auf die Motivation des wirthschaftlichen Handelns, un-
günstigere würden, was wenigstens leicht der Fall sein könnte
(mangelhaftere Leitung, Controle der Productionszweige, geringerer
technischer Fortschritt u. A. m ).
Alle im vorigen Abschnitt mitgetbeilten Thatsachen rechtfertigen
daher auch den Schluss, dass auch unter unseren heutigen Ver-
hältnissen der Technik, Oekonomik und Cultur mit der Gefahr
einer Ueberholung der Unterhaltsmittel, der Höhe und Zunahme
des Volkseinkommens durch die Volksvermehrung gerechnet werden
muss: m. a. W., es droht, vom Vertheilungsstandpuncte aus be-
trachtet, auch für unsere Culturperiode und gerade bei
der hohen Volksdichtigkeit und starken localen Be-
völkerungsconcentration derselben — Uebervölkerung, sobald
es nicht gelingt, die Schwierigkeiten, welche ein complieirtes Arbeits-
theilungs- und Verkehrssystem im Nah- und Fernabsatz und Be-
zug der Producte unvermeidlich in sich birgt, sicher zu überwinden.
Die hier drohende „Uebervölkerung‘‘ ist anderer Art, als diejenige
auf niedrigeren Stufen der wirthschaftlichen Entwicklung, aber sie
ist deswegen doch vorhanden und bietet aus manchen Gründen
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Theil. Grundlagen. 41
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638 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lehrc. 2. H.-A. Folgerungen. §. 250.
nur noch mehr Bedenken und ist schwieriger zu vermeiden und
zu heilen, als eine Ucbervölkerung früherer Wirthschaftsperioden.
Mit dieser Frage der Uebervölkerung haben wir uns jetzt
zunächst zu beschäftigen.
III. — §. 250. Die U ebervölk erungsfrage. In dieser
wichtigsten und auch für das theoretische Verständniss wie für
die Bevölkerungspolitik schwierigsten Frage der Bevölkerungslehre
ist viel Verwirrung durch irrige Auffassungen und unklare Ver-
mengung verschiedener, scharf zu unterscheidender Seiten des Pro-
blems entstanden.
Eine vielfach verbreitete, auch heute noch nicht völlig über-
wundene Ansicht hat hohe Volksdichtigkcit und Ueber-
völkerung theils förmlich identificirt und verwechselt,
theils nicht richtig unterschieden. Auch wo man in dieser
Hinsicht zu besserer Einsicht durcbgedrungen ist, hat man die
Beziehungen zwischen Volksdichtigkeit, niedriger, wie
hoher, und Uebervölkerung noch nicht immer richtig er-
fasst. Namentlich zog man aus der erlangten Einsicht in die
technischen und ökonomischen Bedingungen höherer und steigender
Volksdichtigkeit als einer Folge- und Begleiterscheinung der Ent-
wicklung von Technik, Oekonomik und Cultur übereilt und ein-
seitig optimistisch Schlüsse.
So namentlich den, dass nun auch jede weitere Steigerung der Volksdichtigkeit
und der damit regelmässig verbundenen stärkeren localen Bovölkeruugsanhäufung.
höheren Quote der in Industrie u. s. w., Handel, liberalen Berulcu beschäftigten Erwerbs-
tätigen „unbedenklich“, ja erfreulich und nützlich sei, ohne der neuen und grossen
Schwierigkeiten des Bevölkerungsproblems grade unter solchen Verhältnissen
zu gedenken. Damit gelangte man in Betreff der Beziehungen zwischen Volksdichtigkeit
und Uebervölkerung nur in das andere Extrem: man verkannte, man leugnete wohl
ausdrücklich jede solche Beziehung und sah die l'ebervölkerungsgefahr nunmehr ein-
seitig als eine Begleit- und Folgeerscheinung früherer, niedrigerer wirtschaftlicher
Entwicklungsstufen an, eine Gefahr, die auf „unserer hohen Stufe“ verschwunden sei.
Statt dessen hätte man erkennen müssen, dass diese Gefahr nach den in der Be-
völkerung wirksamen Verinehrungstendenzen immer, auf allen Stufen volkswirtschaft-
licher Entwicklung vorhanden ist, nur nach der Verschiedenheit der technischen und
ökonomischen Verhältnisse in verschiedener Weise sich kundgiebt, in verschiedenen
Formen hervortritt. M. a. W. die üebervölkerungsfrage gehört zur Kategorie derrein-
ökonomischcn Fragen, nur ihre concreto Gestaltung zur Kategorie der
historischen Erscheinungen und Fragen (s. folg. §. 251).
Hier liegt auch wieder der principielle Hauptirrthum in der
optimistischen Bevölkerungslehrc des Socialismus (Marx) und in
der schiefen Polemik gegen Malthus’ Lehre (§. 196). Mit diesem
Irrthum hängt dann der weitere schon angedeutete zusammen —
ohne übrigens einfach damit zusammenzufallen, weshalb er denn
auch von Gegnern des Socialismus vertreten wird (§. 195 ff.) — ,
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Die Uebervölkerungsfrage.
639
als ob die Gefahr der Uebervölkerung nur eine Begleit- und Folge-
erscheinung eines bestimmten wirtbschaftsrechtiichen und wirth-
schaft8organisatori8chen Productionssystems, namentlich auch des
unsrigen, des auf Privateigenthum an den sachlichen Productions-
mitteln beruhenden, ungleiche Art und Höbe des Einkommens der
Einzelnen bedingenden sei, also mit principieller Aenderung dieser
Eigenthums- und Productionsordnung entfallen würde.
Wie schon bemerkt (S. 637), auch diese unsere Eigenthnms- und Productions-
ordnung hat ihre specifisch e Uebervölkerungsgefahr, ob auch nur eine grössere, als
die ihr entgegengesetzte socialistische, ist mindestens sehr fraglich, psychologisch
betrachtet unwahrscheinlich. Die socialistische würde eine andere, aber jedenfalls
auch eine ihr eigene spocifische Uebervölkerungsgefahr haben, wie eine jede
historische Phase der Volkswirthschaft.
Endlich ist noch ein sehr verbreiteter Irrthum auf diesem Ge-
biete, dass zwischen absoluter und relativer Uebervölkerung
nicht oder nicht genügend und nicht richtig unterschieden wird:
weil jene erstere selten da ist, auch die letztere geläugnet oder die
Symptome jener auch als diejenigen der anderen betrachtet werden,
und wenn dieselben nicht vorliegen, die Uebervölkerung nicht als
vorhanden gilt (§. 2 57 ft.)
Mit diesen verschiedenen Irrthümern, welche unter sich mehr-
fach, wie man sieht, näher Zusammenhängen, ist eine Auseinander-
setzung hier geboten, um zur Klarheit in der Uebervölkerungsfrage,
und damit zu einem positiven Ergebniss in der volkswirtschaft-
lichen Bevölkerungslehre zu gelangen. Erst nach einer solchen
Auseinandersetzung wird man zu einer richtigen Auffassung des
Wesens dieser Erscheinung und zu einer Begriffsbestimmung auf
Grund der Analyse kommen können.
In Betreff der Litteratur sei auf die Ausführungen und Citate oben in §. 101
bis 197 verwiesen. Mit das Beste, wenn anch mehr nnr sporadisch und skizzenhaft,
enthalten die gesammten Arbeiten Küinelin's auch über diese Seite der Be-
völkerungsfrage (S. 457). Die meisten Autoren, auch die neueren, und auch diejenigen,
welche auf Malthus’schem Boden stehen, behandeln die Fragen m. E. nicht principieü
und scharf, sowie namentlich nicht casuistisch genug, begnügen sich mit
historischen und statistischen Daten, die allein noch nichts beweisen, und uberzeugen
so diejenigen, welche einen principieü anderen Standpunct einnehmen, doch nicht.
Auch von Roscher gilt das. In dem Aufsatz von L. Elster liegt hier m. E. eine
wesentliche Lücke in der Behandlung der ganzen Bevölkerungsfrage. Die älteren und
neueren britischen Ökonomisten (auch Mars hall), aber auch neuere deutsche
Malthusianer, wie G. Cohn, mit welchen ich im Ganzen wesentlich übereinstimme,
müssten in. E. n. auch mehr die verschiedene historische Gestaltung der Be-
völkerungs- und speciell der Uebervölkerungsfrage in verschiedenen historischen
Phasen der technischen und ökonomischen Entwicklung hervorheben. Gewiss liegt
hier eigentlich nur Ein Problem, aber dies eben je nach der Verschiedenheit dieser
Verhältnisse in immer neuen Formen, weil unter immer neuen Bedingungen, vor.
Das wird zu wenig betont, dadurch aber den principiellen optimistischen Gegnern,
den Anti-Malthusianern aller Richtungen, das Spiel erleichtert; diese halten „Malthus
für widerlegt“, weil diejenigen Argumente, mit welchen für eine Geschichtsperiode
41 *
640 4. B. Bevölk. n. Voiksw.sch. 1. K. Bevölk.lehrc. 2. H.-A. Folgerungen §. 251.
richtig opcrirt wird , für eine andere ' nicht oder nicht ohne Weiteres und etwa nur
mit den und den Modificationen gelten. Die Duplik muss nachweisen, dass mit solchen
Gegengründen Malthus nicht widerlegt wird, weil sich für andere Perioden die älteren
Argumente sehr wohl mit Erfolg modificiren uud^mit neuen verbinden und durch diese
ersetzen lassen.
A. — §. 251. Die Uebervölkerun gsfrage und die
volks wirtkschaftlichen Entwicklungsphasen. Hobe
Volksdiehtigkeit und Uebervölkerung sind in der That durchaus
nicht identisch, weder prineipiell, noch praktisch. Im Gegentheil :
bei jedem Maassc der Volksdichtigkeit kann Uebervölkerung vor-
liegen, drohen und praktisch findet sich letztere gar nicht selten
bei sehr kleiner Volksdichtigkeit. Wie sich aus den früheren Aus-
führungen (§. 229 ff.) ergiebt, steht die Volksdichtigkeit mit der
gesammten Technik, Oekonomik, Rechtsordnung und Cultur einer
Periode, eines Volks Wirtschaftsgebiets in Wechselwirkung. Von
maassgebender Bedeutung ist dafür vor Allem das Verhältniss der
Bewohner und Wirthschafter zur Beherrschung der Naturkräfte,
davon abhängig zur Technik des Werkzeug- und Maschinenwesens,
zum Boden und zur Technik seiner Ausbeutung und Bearbeitung.
Davon hängt die ganze technisch-ökonomische Art der
menschlichen Arbeit gegenüber der Aufgabe ab, wirtschaftliche,
insbesondere Sachgüter, für die Bedürfnissbefriedigung zu beschaffen.
Nach dieser Arbeitsart unterscheiden sich zumeist die grossen
technisch-ökonomischen, rechtlichen und culturhistorischen Phasen
oder Stufen der Volkswirtschaft liehen Entwicklung.
Jagd, Fischerei, Sammeln wildwachsender Nähr- und Nutzpflanzen, Nomaden-
wirthschaft; etwas Ackerbau daneben auch schon auf solchen früheren Stufen, aber
noch ohne bleibende Wohnsitze; dann Ackerbau mit fester Sesshaftigkeit, mit Vieh-
zucht, als einem regelmässigen Glied der landwirthschaftlichen Thätigkeit verbunden:
extensiver, allmkhlig intensiver werdender Ackerbau mit mannigfaltigen Feld- und
Betriebssystemen, sich in der Weise entwickelnd, dass immer mehr Theile des
agrarischen Bodens regelmässig zur Gewinnung von menschlichen und thierischen
Nahrungsmitteln und üewerkstoflen benutzt und, wenn auch vielfach mit mehr als
verhältnissmässig steigenden Kosten, immer grössere Roherträge gewonnen werden
(„Gesetz der Production auf Land“, §. 255); Verbindung von Gewerkthätigkeit mit der
Bodenarbeit, natural wirtschaftliche Herstellung der Gegenstände der Kleidung,
Wohnung, dos Werkzeugs für den eigenen Bedarf, in der Einen einheitlichen agrarisch-
gewerklichen Wirtschaft — antike Oekenwirthschaft, bäuerliche Wirtschaft — , Aus-
dehnung dieser Productionsthätigkeit auf Versorgung des Bedarfs vou Arbeitsherren,
von Dritten ausserhalb der Wirtschaft, „für den Markt“ — wieder antike Oekenwirth-
schal't, mittelalterliche Frohnhof- und Grundherrschaft, bäuerliche und grössere, adlige
Gutswirtschaft — ; Ilinzutritt von Handelstätigkeiten; Abtrennung von Gewerk und
Handel und Entwicklung zu eigenen wirtschaftlichen Berufsthätigkeiten , auch locale
Abtrennung von Ackerbau und Concentration iu Städten, welche nun selbst sich zu
Mittelpuncten von Gewerbe, Handel, öffentlicher Verwaltung^- und liberaler Berufs-
tätigkeit entwickeln; so schärfere Trennung von Stadt und Land, aber intensivere
Wechselwirkung zwischen beiden und Ausbildung eines regelmässigen festen Aus-
tauschsystems zwischen ihren beiderseitigen Productcn und Leistungen; Entwicklung
von Manufactur, Fabrik, Grossindustrie aus, neben, statt handwerklichem Kleingewerbe
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Die Ucbcrvölk. frage u. die volkswirthsch. Phasen.
641
und Hausindustrie; Fernabsatz von feineren, mit Verbesserung der Communications-
mittel auch von gröberen und für den Massenconsum bestimmten Gewerkserzeugnissen,
Fernher-Bezug von Rohstoffen, Hilfsstoüen, Nahrungsmitteln, so dass die Abhängigkeit
von der Menge, Art, Bcwirthschaftungsmcthode des nahe gelegenen, des heimischen
agrarischen Bodens zurücktritt; Welthandel und weltwirtschaftlicher Verkehr und regel-
mässiges Austauschsystem darin nach den früher (§. 150) dargelegten Gesichtspuncten.
Diese Phasen oder Stufen der volkswirtschaftlichen Ent-
wicklung sind freilich nicht scharf von einander getrennt, folgen
sich auch nicht überall und allezeit in dieser hier dargelegten oder
irgend einer anderen fest bestimmten Reihe. Sie gehen vielmehr
in einander über, wie alle Verhältnisse historischer Entwicklung,
und zeigen in ihrer Reihenfolge, in den Berufsarbeitstheilungsver-
hältnissen und Berufscombinationen und in vielen Einzelheiten
manche Verschiedenheit. Aber gleichwohl stellen sie Typen dar
nach der Art der menschlichen Arbeit, nach dem Verhältuiss der
letzteren zur äusseren Natur, nach den Austausch- und Verkehrs-
gestaltungen und den Bedingungen dafür, nach der Art, Menge,
den (natürlichen, rein volkswirtschaftlichen, §. 172) Productions-
kosten der gewonnenen und zum Austausch, zur Verteilung behufs
des Consums gelangenden Sachgüter und Dienstleistungen.
Es ist hier nicht die Aufgabe, jene Entwickluugsphasen genauer zu betrachten
und im Einzelnen zu schildern. Das gehört, soweit überhaupt in dieses Werk, mehr in
die practischc Volkswirtschaftslehre, so insbesondere, was die Entwicklung des Boden-
anbaus und der gesammten Agrarverhältnisse anlaugt (s. darüber Buchenberger,
Agrarpolitik I, Einl. Abschn. 1). Hier sei nur daran erinnert, dass in den genannten
primitiven Stufen rein occupato rische Arbeit, Gewinnung freier Naturgaben statt-
findet, dann die Natur an geleitet wird, solche gebrauchswerthige Güter herzustellen,
welche bedurft werden, hierin durch fortschreitende Naturkenntnisse und Verwertung
in der Technik immer mehr Erfolg erzielt wird und die menschliche Arbeit aus der
Muskelleistung sich mehr zur Gehirnleistung, damit aus dem selbst Kraft gebenden
zum nur noch leitenden Factor erhebt. Ebenso sei daran erinnert, dass auf jeder Ent-
wicklungsstufe neue Rechtsbed Urfnisse entstehen, daher neue Rechtsnormen,
besonders für die sachlichen Productionsmittel, zumal den Boden, und für die Arbeits-
verhältnisse sich ausbildcn müssen.
In Verbindung mit dem Allen stehen dann nun auch die Be-
völkerungsverhältnisse: die Voraussetzungen bestimmter
Höhe der Volksdichtigkeit, bestimmter Vertheilung der Altersclassen,
(z. Th. auch der Geschlechter), der Erwerbstätigen und der übrigen
Bevölkerung, der socialen Berufsstellungen, der Hauptberufsarten
und der weiteren Gliederungen in denselben; stehen die grösseren
und kleineren Schwierigkeiten, diese Voraussetzungen einer
bestimmten Volksdichtigkeit, einer bestimmten Gliederung der Be-
völkerung nach den angedeuteten Unterscheidungen und einer
weiteren Steigerung dieser Volksdichtigkeit, einer Veränderung
dieser Gliederung zu erfüllen; ergiebt sich für jede Phase der
volkswirthschaftlichen Entwicklung ein gewisses Normalmaass
642 4. B. Bevölk. u. Volksr.sch. 1. K. Bcvölk.lehrc. 2. H.-A. Folgerungen. §. 251.
der richtigen, den Gesammtverhältnissen der Technik, Oekonomik,
Arbeitstheilung, des Absatzes und Bezugs der Producte, der be-
stehenden Rechtsordnung für Besitz, Productionseinricbtung und Er-
tragsvertheilung entsprechenden Volksdichtigkeit und — eine
freilich wieder nicht durchaus feste, immer etwas elastische, aber
doch eine Grenze (S. 596), wo bei ungenügender Erfüllung der
wirtschaftlichen Lebensbedingungen der Bevölkerung die vor-
handene Volkszahl, bei weiterer natürlicher oder Wanderungs-
vermehrung der Bevölkerung, zumal der unproductiven (Kinder),
ohne gleichzeitige und mindestens ebenmässige Fortschritte in Be-
zug auf die Erfüllung jener Lebensbedingungen die steigende
Volkszahl in — Uebe rvölkerung Uberzugehen droht (§. 238).
Jede der angedeuteten Entwicklungsphasen, jede „Productions-
ordnung“, mit den socialistischen Theoretikern zu sprechen, hat
nicht ihr eigenes „Bevölkerungsgesetz“, wohl aber nach
den wirtschaftlichen Lebensbedingungen, welche in ihr bestehen,
ihren eigenen „Bevölkerungsspielraum“, ihre eigene „Be-
völkerungs-Fassungs- oder Aufnahmekraft“ (Capacität). Wird diese
erreicht oder droht sie überschritten zu werden , so droht in jeder
Phase hei an und für sich sehr ungleicher Volksdichtigkeit Ueber -
Völker ung, von der primitivsten Jägerphase bis zur modernen
hochindustriell-mercantilen weltwirtschaftlichen.
„Ungefährlich“ in dem Sinne, dass Vermehrung der Be-
völkerung, Steigerung der Volksdichtigkeit ja nicht nothwendig
„Uebervölkerung“ bedeute, ist daher unter den einmal ge-
gebenen wirthscha ft liehen Lebensbedingungen auf
einer volks wirthscha ft liehen Entwicklungsstufe eine
solche Vermehrung und Steigerung keineswegs. Vielmehr fuhrt
sie in der That die Gefahr der Uebervölkerung jedesmal näher.
Nur wenn und soweit es gelingt, alsdann die Voraussetzungen der
Entwicklung der Wirthschaftsverhältnisse zu einer höheren Stufe
mit einem grösseren Spielraum der Volksdichtigkeit zu erfüllen,
wird diese Gefahr überwunden.
Gewiss ist nun auch geschlechter- und stammesweise, wie
familien- und einzelweise und schliesslich in ganzen Völkern gerade
der durch die Volksvermehrung bedingte „Drang
nach Unterhaltsmitteln“, neben dem Drang nach besserer
Lebensweise, ein Hauptfactor für die Entwicklung des Wirtschafts-
lebens von Phase zu Phase, von Stufe zu Stufe, in der vorhin an-
gedeuteten Weise. Gelingt es, die gesammten Voraussetzungen
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Die Ueberyölk. frage u. die volkswirthschaftl. Phasen.
643
für eine solche Entwicklung zu erfüllen und bleibend zu verbürgen
und ebenso diejenigen für eine immer weitere Entwicklung der
Wirthschaftsverhältnisse, so verschwindet die vielleicht eben noch
vorhandene Gefahr der Uebervölkerung oder tritt doch zeitweise
zurück. Dann kann die Bevölkerung kürzer oder länger hindurch,
in kleinerem oder grösserem Maasse weiter steigen, die Dichte zu-
nehmen, wie das ja auch die Bevölkerungsgeschichte und Statistik
zeigt. Aber ist das länger hindurch und in bedeutenderem Maasse
geschehen (19. Jahrhundert, Deutschland!), so wird immer wieder
ein Zeitpunct eintreten, wo unter den nunmehr erreichten
und gegebenen Wirthschaftsverhältnissen abermals —
die Uebervölkerung hervortritt und nun erst durch neue
wirtschaftliche, technische, rechtliche, sociale Fortschritte be-
schworen werden kann.
Die Frage ist daher immer wieder von Neuem, ob für eine
fortdauernd wachsende , dabei noch ihre Lebensansprüche und Be-
dürfnisse steigernde Bevölkerung sich die nun wieder erforderlich
werdenden wirtschaftlichen n. s. w. Voraussetzungen erfüllen und
sicher verbürgen lassen? Das wird allerdings durch den erreichten
Gesammtfortschritt einerseits erleichtert, aber andrerseits durch die
grösser und anspruchsvoller gewordene Volkszahl und durch die
Complication der zu erfüllenden Bedingungen schwieriger. Gerade
für die Phase der volkswirtschaftlichen Entwicklung in unserer
Zeit möchte sich das herausstellen , für die Verhältnisse des welt-
wirtschaftlichen Verkehrs hochindustrieller Nationen, trotz aller
„Wunder der Technik“ und aller Fortschritte in letzterer. In dieser
Hinsicht ist vor dem leichtsinnigen Optimismus der Anti-Malthusianer
jeder Richtung zu warnen (§. 191 — 197).
Gewiss, wo auf dem Jagdrevier von Jägerstämmen lange noch
nicht ein Mensch auf dem Quadratkilometer Unterhaltsmittel ge-
winnen kann, da steigt die Volksdichtigkeit von Stufe zu Stufe
mit der Entwicklung der Wirthschaftsverhältnisse auf 10, 50, 100
und mehr, bis auf einige 100 Kopf in hochindustriellen für den
Fernabsatz arbeitenden Gegenden und selbst auf Tausende in gross-
städtischen Verhältnissen. Und sogar die untersten Kreise der Be-
völkerung leben vielleicht, vermuthlich selbst, besser als früher oft
ihre Vorfahren auf einer niedrigeren wirtschaftlichen Entwicklungs-
stufe. Aber die Bedingungen für die Erwerbs- und damit für
die Lebenssicherung sind unendlich verwickelter, und darin liegt
es, dass man wohl von einem — Damoklesschwert, ohne schwarz zu
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644 4. B. Bcvölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lehre. 2. H.-A. Folgerangen. §.252.
malen, sprechen darf, welches über unserer modernen Erwerbs-
gesellschaft, insbesondere z. B. Uber der in unseren Fabrikgegenden
und grossstädtischen Verhältnissen lebenden Bevölkerung, welches
über Gebieten wie dem K. Sachsen, dem R.-B. Düsseldorf, Uber
grossen Theilen Belgiens, über ganz England schwebt, das schon
oben (S. 618) von uns gebrauchte Bild. Darüber kommt man mit
aller Schwärmerei über den technischen Fortschritt in Industrie
und Ackerbau, im Maschinen-, Dampf- und Electricitäts -Zeitalter,
nicht hinweg; ebensowenig mit dem Trost, dass eben eine immer
stärkere Betheiligung am Welthandel stattfinden müsse und Hilfe
gewähre.
§. 252. Fortsetzung, insbesondere die Ueber-
völkerungsfrage für hochentwickelte Industrieländer
der Gegenwart.
Eine unbefangenere Betrachtung der Verhältnisse und namentlich
der Bedingungen, unter welchen allein eine grosse Volksdichtig-
keit und eine immer weitere Steigerung derselben, des Städte-
wesens, der Quoten der industriell-mercantilen und sonstigen nicbt-
landwirthschaftlichen Berufe unter der erwerbsthätigen Bevölkerung,
ungefährlich, d. h. ohne „Uebervölkerung“ darzustellen, erscheinen
könnte, nöthigt zu einer viel grösseren Reserve in der weit ver-
breiteten freudigen Genugthuung über eine solche Entwicklung.
Ja mit Recht, wenigstens von einem gewissen Stadium einer der-
artigen Entwicklung an und unter etwa sonst noch ungünstigen
Umständen, wie sie u. A. für Deutschland nicht zu leugnen sein
möchten, wird eine pessimistische Ansicht, wie diejenige Rümelin’s
eher am Platze sein.
Das mag hier für die Verhältnisse hochentwickelter Volks-
wirtschaften in der „Fabrik- und Handelsperiode“, mit starker
Betheiligung am Welthandel und mit grossem Import von Nahrungs-
mitteln und Rohstoffen, Export von Fabrikaten noch etwas näher
betrachtet werden.
Es gilt in dieser Hinsicht, zunächst die Verhältnisse der einzelnen
in Betracht kommenden wichtigeren Volkswirtschaftsgebiete sieh
zu vergegenwärtigen, um die Chancen im weltwirtschaftlichen
Concurrenzkampf für eine weitere Entwicklung der Bevölkerung
danach mit zu veranschlagen.
Vgl. auch oben §. 153, 154, Ausführungen , welche durch das Folgende noch
ihre Ergänzung nach concretcn Verhältnissen einzelner Länder linden.
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Uebervölkerungsfrago bei hoher volkswirthsch. Entwicklung.
645
England (Grossbritannien) mit seiner in dieser Richtung bereits am Weitesten
gediehenen Entwicklung, aber auch mit seiner politisch gesicherteren, eine grosse
agrarische Bevölkerung, den Brunnquell der Wehrkraft, daher eher entbehrlich
machenden und für den heutigen Welthandel so besonders günstigen geographischen
Lago, seinem grossen Colonialbesitz, seiner stamm-, sprach-, sittenverwandten Be-
völkerung in einem Theil dieses Besitzes und auch in seinen ehemaligen Colonial-
gebieten, welche sich bereits politisch emancipirt haben, wie die Vereinigten Staaten
von Nordamerica und in den noch besessenen, welche cs vielleicht einmal thun werden,
wie Canada, Australien, Südafrica, endlich mit seiner enger begabten, aber arbeitsamen,
energischen Bevölkerung, seinen Bodenschätzen an Kohle und Eisen, seiner lange
und mächtig entwickelten, dadurch concurrenzfUhigen Industrie, seinem dank langer
Suprematie in Technik, Industrie, Handel, Geldgeschäft und langer ungestörter politischer
Ruhe entwickelten riesigen Kapitalreichthum kann hier als das eine extremste, aber
wegen der angedeuteten Umstände nicht ungünstigste Beispiel der angedeuteten Ent-
wicklung dienen.
Deutschland, d. h. das heutige Deutsche Reich, mit seiner erst jung
errungenen, noch nicht als selbstverständlich feste Thatsache geltenden politischen
Einheit, mit seiner politisch und volkswirtschaftlich viel ungünstigeren geographischen
Lage, seinem viel dringenderen politischen Wehr-(bezw. Abwehr-) Bedürfnis , daher
auch dem starken Bedürfniss. seine ländliche Bevölkerung als Hauptgrundlage der
Wehrkraft zu erhalten, mit der späteren und schwierigeren Entwicklung seiner Industrie
und seiner Betheiligung am Welthandel, mit seinem Mangel an genügendem Colonialbesitz
und an fremden Märkten mit stamm-, sprach- und sittenverwandter Bevölkerung bietet
immer noch ein viel weniger extremes, aber doch wegen der angedeuteten Dmstände
ungünstigeres Beispiel. Sein im Durchschnitt für Ackerbau nur massig günstiges
Klima und nur mässig fruchtbarer Boden, einzelne nationale Eigenthümlichkeiten seiner
Bevölkerung (weniger wirthschaftliche Arbeitsenergie als die angelsächsischen Vettern
jenseits des Canals und Oceans, Hang zum Lebensgenuss und zur „Gemüthlichkeit“
[Wirthshausleben, Trink- und Rauchgenüsse!] u. A. in.), ungünstigere politische und
wirthschaftliche, dadurch z. Th. auch culturliche Entwicklung, ausser im 19. Jahr-
hundert, seit langer Zeit, geringerer Kapitalreichthum in Folge von dem Allen, fallen
als weitere ungünstige Momente mit ins Gewicht. Die verbreitete Schulbildung, der
hohe Stand des Unterrichtswesens, die militärische Bildung und Kräftiguug der Nation,
der Kohlen- und Eisenreichthum bieten indessen einige Compensation.
In beiden Ländern, Grossbritannien und Deutschland, bat man aber mit der
ziemlich gleich starken natürlichen Bevölkerungsvermehrung (S. 513, 518, 519) und
mit dem hohen Belastungscoefficienten der grossen Kinderquote, von über einem Drittel
der Gesammtbevölkerung (S. 612), zu rechnen. Dadurch wird, auch bei nebenhergehender
grosser überseeischer Massenauswanderung (S. 554, 557), die Lage noch erschwert
und die Frage der Uebervölkerung in Folge solcher starken Volksvermehrung noch
ernster, zumal für Deutschland.
In dieser Hinsicht bietet Frankreich wegen seiner in beiden genannten
Puncten abweichenden Bevölkerungsverhältnisse ein günstigeres Bild. Sein unruhiger
Nationalcharacter, seine unsteten inneren politischen Verhältnisse, sein Chauvinismus
in der auswärtigen Politik und seine „Revanche -Gesinnung“ führen aber, trotz der
politisch und volkswirtschaftlich günstigen, namentlich in beiden Beziehungen, vollends
in der ersten, günstigeren geograpl ischen Lage als Deutschland und trotz seiner
älteren industriellen Entwicklung, wohl dazu, dass jene in diesem Puncte in den
Bevölkerungsverhältnissen liegenden Vortheile wieder einigermaassen aufgewogen
werden.
Italien hat die alten grossen Vortheile seines Klimas, aber freilich heute nicht
mehr der geographischen Lage für einen Haupttheil des Weltverkehrs. Und politisch
günstig ist diese geographische Lage, zumal im Zusammenhang mit der jungen
politischen Einheitsentwicklung, auch nicht gerade. Hier bieten sich Analogien mit
Deutschland, die auch in den Bevölkerungsverhältnissen (Dichte, Vermehrung, hohe
Kinderquote) hervortreten, worin Italien Deutschland weit näher als Frankreich steht.
Seine noch jüngere Gross- und noch weniger auf Massenartikel gerichteto Industrie,
der Mangel an Kohle, Eisen, sind aber trotz der hohen natürlichen Begabung und
Intelligenz — worin die Italiener vielleicht immer noch in der europäischen Völker-
(546 4. B. ßevölk. u. Yolksw.sch. 1. K. Bcvölk.lehrc. 2. H.-A. Folgerungen §. 252.
familic am Höchsten stehen — , trotz der Arbeitsamkeit und Genügsamkeit seiner Be-
völkerung wieder Momente von Bedeutung für die uns hier beschäftigenden Fragen,
worin Italien ungünstiger als Deutschland steht. Daher erscheinen seine Chancen im
w’eltwirthschaftlicben Kampf preeäror und seine Bevölkerungsverhältnisse der Gefahr,
zur Uebervölkerung zu fuhren, noch näher gerückt.
Diese vier leitenden europäischen Culturvölker der Gegenwart haben aber sämmt-
lich ein relativ kleines heimisches Gebiet: klein im Vcrhältniss zu ihrer Be-
völkerung und (von Frankreich abgesehen) zu deren weiterer Vermehrung durch den
grossen Geburtsübcrschuss in unserer Zeit, so dass eben auch ihre Durchschnitts-
dichte, wenn auch in den einzelnen Theilen des Gebiets sehr ungleich, rasch wächst
(S. 574, 5S9); klein ferner auch insofern, als schon nach den klimatischen Verhältnisen
manche wichtige Bodeuproducte, Nahrungs-, Genussmittel, Itoh- und Hilfsstoffe der
Industrie nicht oder nicht in genügender Menge und Güte oder zu kostspielig (nach
natürlichen oder volkswirthschaftlichen Kosten berechnet, §. 172) gewonnen werden
können und Bezug solcher Artikel aus der Fremde daher nothwendig wird.
In d ieser Hinsicht steht nur Grossbritannien mit seinem Colonialbesitz
zusammen („Greater Britain“), die nordamericanische Union und cinigermaassen auch
das russische europäisch -asiatische Weltreich anders da. Diese umfassen so weite
Gebiete, so verschiedenen Klimas und verschiedener Boden beschalfenheit, Bodcninhalts,
(Mineralsubstanzen), dass ein jedes davon sich so ziemlich innerhalb seiner
politisch-volkswirthschaftlicben Grenzen selbst genügen kann oder doch könnte: ein wie
für alle anderen volkswirthschaftlichen, besonders — aber durchaus nicht allein —
für die handelspolitischen, so auch für die hier in Erörterung stehenden Be- und
Ucbervölkerungsfragen wichtiger Punct. Was schon oben (am Schluss des §. 230,
S. 573) bei der Besprechung der Volksdichtigkeitsverhältnisse hervorgehoben wurde,
ergiebt sich auch aus dieser Erwägung wieder: nur die Aufrechthaltung der Suprematie
in Technik, Wirthscbaft und Cultur und das Zusammenhalten West- und Mitteleuropas
— denn was von den genannten vier Hauptländern gesagt wurde, gilt auch von den
übrigen — ermöglicht hier wie die dauernde Führerschaft in der Cultur der ganzen
Welt, so auch eine weitere Volksvcrmchrung und immer grösser werdende Volksdichtig-
keit. Aber bei letzterer wird es freilich wieder vielfach schwer uud schwerer, diese
Stellung zu behaupten und rückt eben deshalb dabei die Gefahr der Uebervölkerung
wieder näher.
Es spielt aber hier in Bezug auf die Concurrenzverbältnisse
und die davon mit bedingte weitere Entwicklungsfähigkeit der
Volksdicbtc „Cultureuropas“ gegenüber dessen Pflanzstaaten, be-
sonders germanischer Nationalität in der neuen Welt, in Nord-
america und Australien, noch ein anderer Umstand mit, welcher
in der Frage nicht übersehen werden darf: das Gewicht einer
alten geschichtlichen Entwicklung aller für die Frage
wichtigen Verhältnisse der gesummten wirtschaftlichen Rechts -
Ordnung und der mit dadurch bedingten Besitzgestaltung,
namentlich — übrigens keineswegs allein — der Grundbesitz-
vertbeilung und der ganzen Agrarverfassung. Dies Gewicht
macht sich allerdings mitunter als Bleigewicht für den ökonomisch-
technischen Fortschritt der Production und als nachtheiliger Factor
geltend für die Verhältnisse der Vertheilnng des Productionsertrags.
Es ist insofern auch unter Umständen für die Zunahme der
Volksdichte und für die Gefahr, eine Vermehrung der Bevölkerung
zur Uebervölkerung werden zu sehen, ein erschwerendes Moment.
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Uebervölk.frage bei hoher volkswirthsch. Entwicklung.
647
Allerdings besteht ja in den europäischen Pflanzstaaten der neuen Welt im
■Wesentlichen dieselbe Privateigenthumsordnung, insbesondere auch für den Grund und
Boden, wie in West- und Mitteleuropa. Die americanische Landspeculatiou, die Fest-
legung von grossen Landmassen, agrarischen, montanistischen, städtischen Bodens in
Händen von einzelnen privaten Speculanten und von Erwerbsgesellschaften , gerade
^uch vielfach von Boden, welcher erst der Besiedlung und Cultivirung entgegengefilhrt
werden soll, ist sogar eine eigentümliche Frucht des Privatcigentbumsprincips und
<ler Speculationsfreiheit in jenen neuen Gebieten , wie sie in dieser Weise in Europa
sich kaum findet. Aber das alles greift doch nicht so tief ein, lässt sich auch
immerhin im Wege der Gesetzgebung uud der diese unterstützenden Reaction der
öffentlichen Meinung gegen derartige Missbrauche, wie die angedeuteten Landspecu-
lationen, leichter beseitigen oder beschränken und reformiren, als die im Volkabewusst-
sein, in Sitte und Rechtsanschauungen fest gewurzclte alte Privateigenthumsordnung,
Besitz-, namentlich Grundbesitzvertheilnng und Agrarverfassung in Europa, auch speciell
z. B. in Grossbritanuien , Deutschland, Südeuropa. Der Socialismus, welcher alle
solche Rechtsbildung wie Wachs in den Händen eines energischen und geschickten
■Gesetzgebers ansieht (vgl. o. B. 1), weiss freilich leicht mit solchen Schwierigkeiten
fertig zu werden, z. B. mit denen, welche eine historisch überkommene, zu Recht
bestehende Besitzordnung, namentlich eine Grundbesitzvcrtheilung mit Agrarverfassung,
wie in grossen Theilen der oben genannten Länder (in Deutschland besonders in den
Gebieten ländlichen, „ritterschaftlichen“ Grossgrundbesitzes, bäuerlichen Anerbenrechts
u. A. m.) mit sich bringt, wenn man wirklich mit Recht eine bestimmte Grund-
besitzvertheilung und Agrarverfassung als ein Hemmmittel auch dor sonst möglichen
Vermehrung der Bevölkerung und Steigerung der Volksdichte sollte auseheu können:
auch keineswegs immer eine so leicht und einfach zu beantwortende, wenn auch mit-
unter wohl zu bejahende Frage, da mancherlei Weiteres, Klima, Boden beschatfenheit,
Lage, Verkehrsmittel, Kapitalbesitz, Absatzverlniltniss etc., ausserdem hier mitspricht.
Der Socialismus decrctirt hier eben einfach: Aufhebung, principiclle Aenderung
der Rechtsordnung, der Besitzverhältnisse, nach der Schablone seines Recepts, un-
bekümmert um dessen ökonomisch-technische Durchführbarkeit und Bewährung. Be-
sonnenere Urtheiler, selbst wenn sie die Möglichkeit zugeben , dass eine bestimmte
•Grundbesitzvcrtheilung und Agrarverfassung (so die grossgrundbesitzliche) populatio-
uistisch in Bezug auf Vermehrung der Bevölkerung und Unterhaltung einer grösseren
Yolksdichtigkeit nachtheilig und eine audre (so die kleingrundbesitzliche) günstiger
wirke und selbst wenn sie eine tiefgreifende bezügliche Reform der Rechtsordnung
und der Besitzverhältnisse deshalb und vom Standpuncte des volkswirtschaftlichen
und nationalen Gesammtintoresses aus betrachtet für discutabel halten, z. B.
gegenüber mecklenburgischen, pommerschen, theilweise schlesischen, böhmischen Ver-
hältnissen, — besonnenere Urtheiler werden mit Recht gegen die socialistischon (und
hie uud da auch gegen die von liberal- individualistischer Seite, z. B. in Fragen der
Agrarverfassung vertretenen) Forderungen einwenden: dass eben solchen Verhältnissen
gegenüber mit eingewurzelten Interessen, Anschauungen, Rechtsgrundsätzen als mit
festen Factorcn gerechnet werden muss. Es bedarf immer eist unvermeidlich lauge
dauernder Einwirkungen auf die öffentliche Meinung, sorgsamster Erwägungen jedes
Für und Wider, auch der billigen Rücksicht auf einmal bestehende Privatrechte und
Privatinteressen, auf die guten Seiten, welche eventuell mit den angriffenen bestehenden
Verhältnissen auch für das Gemeinwesen, für die Gcsammtheit verbunden sind (z. B.
in der Frage des ländlichen Grossgrundbesitzes der Rücksicht auf die historische
Function desselben für das politische, sociale Leben, für öffentliche Dienstverhältnisse
[prenssischcs „ Junkercrthum “!]). bevor sich solche schwer wiegende Rechts- und
Interessenfragen im Wege der Reform — die allein hier in Rede steht — in der
und der Richtung und so und so entscheiden lassen. Bis dahin sind einmal bestehende
Rechts- und Besitzverhältnissc ähnlich wie natürliche Umstände, wie technische Factorcn,
wie ökonomisch -technischer und allgemeiner Bildungsstand, wie Sitten und sittliche
Anschauungen der Bevölkerung in der Bevölkerungs- wie in anderen socialökonomischen
Fragen als etwas Gegebenes zu betrachten und zu behandeln, das, wenn überhaupt,
so nur allmählig einer Aenderung entgegengeführt werden kann.
Mit grundstürzenden Doctrinen und Principien kommt man eben der Macht —
wenn man so will: dem Bleigewicht — der geschichtlichen Erbschaft von Rechts-
648 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölkdehre. 2. H.-A. Folgerungen. §. 253.
normen, wohlerworbenen Privatrechten, Privatinteressen, Sitten, Vornrtheilen, ökonomisch-
technischen Gewohnheiten gegenüber nicht aus. Die sittlich-geistige Natur der „historisch
gewordenen“ Bevölkerung eines Volkswirthschaftsgebiets ist so wenig, als die äussere
Natur, beliebig und vollends sofort auf ein Wachtwort der Theorie hin wie Wachs
einer Umgestaltung fähig. Das müsste sie sein, wenn auch ökonomisch -technische
Proceduren und Verhältnisse der Rechtsordnung sich jeder idealen Forderung der
Social- und Wirthschafts- wie hier der Bevölkerungstheorie und Politik gemäss sofort
umändem sollten.
§.253. Fortsetzung. Die Gründe, welche zur An-
nahme einer Ueb ervölk eru n gsgefahr auch für unsere
Culturvölker nöthigen. Erwägt man das Alles, so wird man
sich auch vor der Illusion hüten, als wäre für unsere hochent-
wickelten Industrieländer der Gegenwart eine Gefahr der Ueber-
völkerung ein Hirngespinst, mit welchem nicht ernstlich zu rechnen
wäre.
„Ungefährlich“ ist eine hohe Volksdichtigkeit und deren
weitere Steigerung und sind die ökonomischen Bedingungen beider
deswegen nicht, weil
1) Oekonomik und Technik auch in unseren Zeitaltern hoher
Blüthe der Technik und grossen Fortschritts der letzteren nicht
beliebig ins Unbegrenzte, zumal nicht in kürzerer Zeit sich
entwickeln, am Wenigsten auf dem hier vor Allem in Betracht
kommenden Gebiete, des agrarischen Bodenanbaus. Eine feste
Grenze der Entwicklung besteht auch hier freilich nicht, aber deshalb
doch auch eine jeweilig sehr reelle Grenze, welche sich wirksam
genug erweist.
Neben der Beschränktheit der Prodoctivitftt des agrarischen Bodens, namentlich
desjenigen bestimmter BodenbeschafTenheit und gewisser örtlicher Lage und neben dem
durch menschliche Maassregeln nur wenig beschränkbaren Einfluss des Klimas auf
das Ackerland, besonders bezüglich der Hauptfrüchtc, kommt auch Anderes immer
in Betracht, So besonders die historisch überkommene und eben unvermeidlich mehr
oder weniger als etwas Gegebenes hinzunehmende Grundbesitzvertheilung, Bewirth-
schaftungsweise, geistig-sittliche, übereinen bestimmten ökonomisch-technischen Bildungs-
grad verfügende Beschaffenheit der productiven Classen, der Leiter, Gehilfen, Arbeiter
der Betriebe, specieU der landwirtschaftlichen. Gewiss kann durch intellectuclie,
moralische Hebung dieser Classen, ihres technischen Könnens, ihres ökonomischen
Wollcns eine Steigerung der Productivität der Arbeit erreicht, damit eine Quelle er-
schlossen werden, aus welcher mehr Menschen und eventuell selbst besser und mit
geringeren volkswirtschaftlichen Kosten erhalten werden können, so namentlich im
Landwirtschaftsbetriebe. Die Aufgabe, in dieser Richtung zu wirken, wird anzoer-
kennen sein. Aber der Erfolg hat seine Grenzen und verlangt geraume Zeit. Wenn
der Socialismus hier einfach wieder durch sein Reccpt „rationeller Grossbetrieb“
glaubt alle Schwierigkeiten leicht, „spielend“ lösen zu können, so übersieht er eben,
wie gewöhnlich die Factoren der ökonomisch -psychologischen Motivation (§. 30 ff.),
mit welcher auch hier in dieser Frage gerechnet werden muss, und nicht minder die
vorhin angedeuteten Schwierigkeiten , welche eine bestimmte productive Classe, wie
vollends die ländliche, als Product einer ganzen langen geschichüichen Entwicklung,
in dieser Hinsicht darbietet. Speciell in der Frage der agrarischen Production
wird ausserdem hier wichtiges Natur- Gegebene vergessen, wie die locale Decen-
tralisation des Ackerbaus, der nur begrenzte Vorzug, welchen hier überhaupt ökonomisch-
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Uebervölk.gefahr für unsere Culturvölker.
G49
technisch der Grossbetrieb hat (vergl. auch meinen Aufs. „Die Principienfrage der
wirtschaftlichen Rechtsordnung beim Grundbesitz“, als Abschnitt I des Art. Grund-
besitz im Handwörterb. d. Staats Wissenschaften, IV, bes. über ländliches Grundeigentum).
Soweit ausserdem bei der Entwicklung der Landwirtschaft etwa auf einzelne
Specialculturen, Handelsgewächse u. dgl. , als auf Mittel zu lohnender Beschäf-
tigung auch grösserer Mengen ländlicher Bevölkerung gerechnet wird, Uborsioht man,
dass solche Culturen nach Bodenart, Klima, weiter aber nach natürlichen Productions-
kosten und Absatzverhältnissen nur einer beschränkten Ausdehnung fähig sind. Ob
und wie weit sich ferner Absatz erzielen lässt, hängt wieder von der Kauffähigkeit
der nicht-ländlichen, der städtischen, industriellen Bevölkerung etc. ab, daher von den
weiteren gesammten Voraussetzungen dieser Kauffähigkeit. Damit geht die Frage in
die unten unter No. 3 erörterte über.
2) Der zweite Grund, dessentwegen eine Uebervölkerungsgefahr
gerade bei hoher und steigender Volksdichtigkeit auch in unserer
Zeit und bei den höchstentwickelten Nationen als vorhanden anzu-
nehmen ist, liegt in der wenigstens relativ starken Festigkeit
und geringen, zumal nicht raschen Umänderungsfähig-
keit der historisch überkommenen Rechtsordnung für Production
und Verkeilung, der gegebenen Besitz-, namentlich Grundbcsitzver-
theilung und Agrarverfassung; sowie in den socialen, ökonomischen,
technischen Bedenken, welche eine Umänderung dieser Ver-
hältnisse auch vom Standpunct des Gesammtinteresses, nament-
lich des volks wirthschaftliehen Productionsinteresses
aus betrachtet, leicht immer und schwerlich jemals ganz ohne
Berechtigung bietet.
Dafür genügt cs im Wesentlichen, auf das vorhin Gesagte zu verweisen. Es sei
nur etwa noch hinzugefügt, übrigens ebenfalls schon früheren Bemerkungen (so S. 03“)
gemäss, dass grade die Uebervölkerungsgefahr hier selbst noch steigen würde, wenn
die Productivität der nationalen Gesammtarbeit und namentlich der auch hier aus
ökonomisch -technischen Gründen die meisten Schwierigkeiten bietenden agra-
rischen Bodenarbeit nicht sicher und alsbald bei einer Umgestaltung jener Rechts-
ordnung wachsen, vollends wenn sie abnehmen sollte, während etwa, nach psycho-
logisch z. B. in einem socialistischen System sehr plausibler Vermuthung, die Tendenz
der natürlichen Volksvermchrung sich noch verstärken, thatsächlich namentlich die
Geburtsfrequenz zunehmen sollte: der schon früher erwähnte Fall, die Ver-
minderung des Dividendus, des Volkseinkommens, die Erhöhung des Divisors, ein
arithmetisches Verhältnis, dessen nothwendige Consequenz jede denkbare „gesell-
schaftliche Ordnung“ über sich ergehen lassen muss.
3) Der dritte Grund endlich, welcher zur Annahme einer sehr
reellen Uebervölkerungsgefahr, zumal bei immer weiterer Be-
völkerungsvermehrnng auch bei unseren ersten Culturvölkern nöthigt,
liegt in den preeären Verhältnissen des Fernabsatzes
der Industriep roducte und des Fernbezugs der Agrar-
und sonstigen Roh p roducte, in der fraglichen be-
ständigen Steigeruugsfähigkeit dieses Verkehrs und der
nicht minder fraglichen hinlänglichen Lohnend heit des-
selben, unter den Bedingungen, von welchen er abhängt. Diese
650 4. B. Bevölk. ü. Volksw.sch. 1. K. Bcvölk.lehre. 2. H.-A. Folgerungen. §. 234.
Bedingungen, ohnehin schon meist verwickelt' genug, werden aber
eben immer schwerer zu erfüllen.
Von allen rein politischen Momenten und von handelspolitischen Einflüssen selbst
abgesehen, welche beide hier thatsächlich sehr in Betracht kommen, macht die ver-
mehrte Concurrenz der Industrie- und Handelsvölker auf ihren eigenen und auf dritten
Märkten, die eigene industrielle Entwicklung der fremden Volker, deren Markt bisher
versorgt werden konnte (Colonieen, Nordamerica, asiatische Kulturländer), den Fern-
absatz nicht nur immer preeärer, sondern auch nothwendig immer weniger lohnend.
Das ist es. worunter neuerdings mehr und mehr Grossbritannien leidet, seitdem die
continentale Concurrenz schärfer geworden ist.
Damit vertheuert sich, wenigstens mittelbar, — grade nach der Seite des rein
volkswirtschaftlichen Kostenaufwands betrachtet — auch der Nahrungsmittel- und
Rohstofl'bezug aus der Fremde, sogar wenn letztere Artikel nicht selbst direct teurer
werden, denn ihre Bezugskosten werden für das Inland — Europa — durch die Menge
der Arbeit, welche auf die zur Bezahlung dienenden Exportartikel verwendet wird,
repräsentirt. Von letzteren Artikeln muss eine immer grössere Menge als Gegenwert
zum Eintausch der fremden Producte überlassen werden. Sobald daher nicht durch
beständigen technischen und ökonomischen Productionsfortschritt die ..natürlichen“
Kosten (§. 172) der exportirten Industrieproducte immer weiter ermässigt werden
können, muss nothwendig an den einzelwirthschaftlichen Kosten, „welche Einkommen
bilden“, gespart werden, d. h. es wird die auf diese Artikel verwendete Arbeit not-
wendig immer schlechter reell bezahlt: Löhne und Gewinne müssen fallen.
Damit aber hört die Exportindustrie auch auf, die bei ihr betheiligte Bevölkerung
ordentlich erhalten zu können: d. h. die gegebene Bevölkerung wird zur Ueber-
völkerung, die sich weiter vermehrende vollends. Bald müssen die repressiven
Tendenzen Platz greifen oder die Lebensführung der Bevölkerung, zumal der unteren
Klassen — aber schliesslich auch des grössten Theils oder der ganzen übrigen —
muss sinken, kann wenigstens nicht weiter steigen, schwerlich auch nur so hoch wie
bisher bleiben, materieller und Kulturfortschritt muss stocken, ein allgemeiner Rück-
gang ist nicht zu vermeiden. Er wird um so stärker werden, je weniger die präventiven
Tendenzen der Volksvermehrung auch dann wirken, je schwächer und später die
repressiven genügend in Function treten.
§.254. Folgen des Eintritts einer Uebcrvölkerungs-
gefahr auf hohen Entwicklungsstufen. Natürlich ist
unter solchen Umständen die Losung: möglichster Fortschritt der
Technik und Oekonomik der Production, Erfüllung aller Bedingungen
dafür; Verbesserung, Verwohlfeilerung der Communications- und
Transportmittel, um den Productenaustausch möglich und lohnend
zu machen; Rechtssicherheit und politische Ruhe, „Frieden“ um
jeden Preis, um den Verkehr lebhaft und lohnend zu erhalten oder
zu machen; liberale, „freihändlerische“ auswärtige Handelspolitik
zu demselben Zweck; Gestaltung der gesammten wirtschaftlichen
Rechtsordnung für Production und Verteilung so, dass die erstere
möglichst fortschreitet, die letztere die genügende Erhaltung der
Volksmassen und deren weitere Vermehrung ermöglicht, soweit
das überhaupt von der Lösung des Vertheilungsproblems, nicht des
Productionsproblems abhängt — daher agrarische, gewerbereehtliche
Reformen in dieser Richtung — ; schliesslich, aber nicht zuletzt
und nicht am Wenigsten: Erweiterung der auswärtigen Märkte,
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Folgen der Uebervölkcruugsgefahr auf hohen Stufen.
651
Erschliessung neuer, „Colonieen“, „Handelsverträge“ zu diesem
Zweck, um lohnenden Massenabsatz von heimischen Fabrikaten,
billigen Bezug von Nahrungsmitteln, Rohstoffen zu erzielen.
Alles principiell ganz richtig, eine Lebensfrage im wört-
lichsten Sinne für die dichte, städtisch concentrirte, überwiegend
in nicht-landwirtbschaftlichen Berufen beschäftigte erwerbstätige
Bevölkerung; eine um so dringendere Lebensfrage, je grösser die
unproductive, die Kinderquote, die nicht erwerbstätige Quote, der
zweifache Belastungscoefficient, je höher die Quote der nicht-land-
wirthschaftlich arbeitenden Personen, je rascher die weitere natür-
liche und Wanderungsvermehrung, je schwächer die Auswanderung
in der Bevölkerung. Der „Kampf um den Markt“ unter den Cuitur-
völkern in der Gegenwart erklärt sich so sehr einfach — wesent-
lich mit aus den Bevölkerungsverhältnissen des 19. Jahrhunderts.
Die wirtschaftliche, dio Lebenslage, auch der Massen, ist und bleibt auch
leidlich, solange es gelingt, durch technische Fortschritte die Concurrenzschwierigkeiten
zu überwinden, solange die Absatzmärkte einigermaasseu aufnahmefähig bleiben. Aber
in den Zeiten der Krisen, der rückgehenden Conjuncturen, der sinkenden Nachfrage,
der weichenden Preise, der kürzer und länger — aber eben vielfach und neuerdings
mehr und mehr: immer länger dauernden — Absatzstockungen und „flauen Geschäfts-
lage“ zeigen sich die Uebclstände immer mehr, tritt die Uebervölkerung, zumal in den
(jrossstädten, den Industriegegenden unverkennbar hervor. Und das wirkt daun weiter
auf alle einheimischen Verhältnisse, auf alle Bevölkerungs- und Berufskreise, nicht
am Wenigsten auch auf die überfüllten liberalen und öffeutlicheu Berufe, ein: überall
unverkennbare Symptome der Uebervölkerung.
In den, wie gesagt, immer kürzer werdenden Zeiten günstiger Conjuncturen,
regen und lohnenden Absatzes in» Auslande und für die mehr verdienende städtisch-
industrielle Bevölkerung dann auch im Inlande tritt zwar eine gewisse Erholung,
Beruhigung, ein gewisser Aufschwung ein. Aber einmal wirkt er, wie sich zeigte
(§. 219 fl.), als starkes neues Förderungsmittel der Volksvermehrung, steigert die Heiraths-,
Oeburtsfre<]uenz, schwächt die präventiven und wohl auch zugleich die repressiven Ten-
denzen der Volksvermehrung, erhöht die Kinder<iuote, den Belastungcoefflcienten. alsbald.
Sodann ruft er, bei seiner notorisch kurzen Dauer, nun vollends eine wahre stcaple chasc,
ein wildes speculatives Rennen hervor, um möglichst mit von der günstigen Gonjunctur
zu profitiren, unterstützt durch die Rechtsordnung des Systems der freien Concurrenz,
durch die sittliche Atmosphäre, die sich hier entwickelt (§.30,4$), durch das rück-
sichtslose Walten des „ersten Leitmotivs“, das Streben nach dem wirtschaftlichen
Eigenvortheil (§. 34). Die Folge ist aber nur ein um so schnellerer und stärkerer
Rückschlag der Gonjunctur, wo sich dann in Erwerblosigkeit oder ungenügendem Erwerb
wiederum die Symptome der Uebervölkerung deutlich offenbaren.
Natürlich sind es nach unserer wirtschaftlichen Rechtsordnung
immer noch weniger, wenn auch oft genug und zumal in zahl-
reichen Einzelfällen, die „besitzenden“ Classen, die Inhaber der
sachlichen Productionsmittel , welche hier leiden, als hauptsächlich
die unteren, „arbeitenden“, namentlich die industriellen,
diestädtischen Arbeiterclassen, auf welche der Druck der Lage
am Schwersten lastet. Bei ihnen zeigt sich danD, mindestens local
652 4. B. Bevölk. u. Volksw.scb. 1. K. Bevölk.lchre. 2- H.-A. Folgerungen. §. 255.
und zeitweise, die „Uebervölkerung“ noch unverkennbarer. Aber
gleichwohl ist sie doch bereits ein allgemeines Uebel.
Kommen dann noch besondere Uebelstände, Missernten, grosse
Theuerung der Brotfrüchte und Hauptnahrungsmittel, schädigende,
namentlich fremde handelspolitischeMaassregeln, politische Störungen,
Krieg und Kriegsbefürchtungen u. dgl. m. hinzu, so steigert sich
natürlich Gefahr und Noth. Aber geschaffen werden sie nicht
erst dadurch.
Das Heilmittel liegt auch nicht in irgend welchen Reformen,
selbst nicht den radicalsten, der wirtschaftlichen Rechtsordnung,
auch wenn dieselben nicht, wie bemerkt (S. 637 u. S. 640), die
Lage leicht noch schwieriger machten.
Solche Reformen mögen unter Umständen immerhin wünschenswerth sein , vom
volkswirtschaftlichen, vom populationistischen Standpunctc, im Vcrtheilungsinteresse :
ohne wirksame Steigerung der präventiven Tendenzen der Volksvermehruug wurden
sie doch bestenfalls nur vorübergehend wirken können.
Dasselbe gilt von allen Maassregeln und Cautelcn, um die Be-
dingungen lohnenden Nah- und Fernabsatzes der Erzeugnisse
besser zu sichern und günstiger zu gestalten, alte Absatzmärkte
zu erhalten, neue zu erschliessen.
Auch das wird, wie sich aus dem Vorausgehenden ergiebt, zumeist schwieriger.
Selbst soweit und solange es gelingt, kann auch dies Hilfsmittel bestenfalls nur zeit-
weise (oft auch Überhaupt nur local) helfen. Auch hier um so weniger, je mehr
dabei, wie gewöhnlich, die Bevölkerungsvermehrung nur noch gefördert wird. Auch
hier vielmehr nur, wenn dauernd die präventiven Tendenzen der Volksvcrraehrung
mächtiger wirksam werdeu.
Auswanderung, auch Massenauswanderung ist zwar unter
solchen Bevölkerungsverhältnissen sehr erklärlich und im Ganzen
ein nicht unerwünschtes Ventil. Aber wenn sie nicht einen Um-
fang erreicht, wie bisher, ausser der aus besonderen Umständen
mit zu erklärenden irischen, noch keine selbst der riesigen Aus-
wanderungsbewegungen der neuesten Zeit, und wenn sie nicht
Berufs- und Volkskreise (auch nach Geschlecht und Alter) umfasst,
welche vornemlich „überzählig“ sind, wirkt auch sie nicht stark genug.
Sie bildet so wiederum nur ein partielles, wie die Schwankung der Aus-
wanderungsbewcgnng zeigt (S. 557), auch ein nur zeitweilig etwas stärker wirkendes
Hilfsmittel. Dasselbe kommt kaum auch nur als ein solches in Betracht, wenn die
zurückbleibendo heimische Bevölkerung nur um so mehr und um so rascher der Ver-
mehrungstendenz huldigt und die Lücke der Fortgezogonen ausfüllt.
Aehuliches gilt von den heimischen Wandeningen, welche ohnehin leicht
gleich im Zuzugsgebiete die Gefahr der Uebervölkerung (in Städten, Iudustricgegendcu)
näher rücken.
§.255. Fortsetzung. Verbleiben der Uebcrvölkerungs-
gefahr bei grösserer Beschränkung von Production
und Austausch auf den heimischen Markt. Grund-
L
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Uebcrvölkcrungsgefahr und heimischer Markt.
653
und Bodeugesetz. Die Unsicherheit, "auf eine forcirte Export-
industrie, welche durch niedrige Löhne — oft beinahe Hungerlöhne
oder solche, welche z. B. beim weiblichen Geschlecht durch Pro-
stitutionserwerb ergänzt werden und ergänzt werden müssen, wofür
es leider an Beispielen nicht fehlt — oder durch übermässige Aus-
dehnung des Arbeitstages und Ueberspannung der Arbeitskraft den
Wettkampf aushält, die Erhaltung einer grossen, dichten, sich noch
stark vermehrenden Bevölkerung (K. Sachsen !) zu begründen, wird
indessen auch öfters eingestanden.
U. A. geschieht dies auch von socialistischcr Seite, ferner von Seite der
theoretischen und practischen Vertreter einer nicht nur im Arbeiterinteresse, sondern
im socialen und volkswirtschaftlichen Gesamintinteresse liegenden Erhöhung der
Arbeitslöhne, um die Arbeiter consumtionsfähiger und damit auch gegenüber den
Producten der nationalen Arbeit kaufkräftiger zu machen. Die Socialistcn denken
dabei mehr an die Iteduction der Gewinne (Profite) der kapitalistischen Unternehmer
und Arbeitgeber, die Anderen mindestens ebenso sehr an Ueberwälzung der Last
höherer Löhne auf die Preise der Arbeitsproducte und damit auf die Käufer und
Consumcntcn, besonders aus den wohlhabenderen Classcu.
Das Hilfs- und Heilmittel soll hier die Steigerung der Kauf-
kraft der inländischen, namentlich der Arbeiterbevölkerung selbst
sein. Dadurch soll der einheimische Markt aufnahmefähiger
werden, er mehr an die Stelle des preeären fremden treten, sollen
die Arbeiter mehr für sieh selbst produciren und ihre Produete
unter sich zum Austausch bringen.
Auch das ist gewiss vielfach erwünscht und in einigem Um-
fang auch wohl ausführbar.
Wie weit, insbesondere in Bezug auf ein „Steigen der Löhne auf Kosten der
Profite”, steht freilich nicht nur practisch dahin, es ist auch ein Punct von principieller
Bedeutung, welcher mit der Privateigenthums Grundlage und der privatwirthschaftlichcn
Organisation der Volkswirtschaft zusammenhängt. Darauf ist hier jetzt nicht ein-
zugehen (s. Buch 5 unten und Abtheilung 2 der Grundlegung).
Hier ist nur einzuwenden, dass allein auf diese Weise — und
ebenso, wenn etwa die ganze socialistische Vertheilungsordnung
durchgeführt und der nationale gesamnite Productionsertrag, nach
Reservirungen für die Bildung des Nationalkapitals, für die öffent-
lichen Bedürfnisse u. s. w., als Arbeitseinkommen und Consumtions-
fonds zur Verkeilung gelaugte — der Gefahr der Uehervölkerung
doch auch noch nicht, namentlich nicht dauernd vorgebeugt wäre,
ja eher diese Gefahr noch näher rücken könnte.
Denn einmal würde nur die Richtung der, an sich eventuell
gleichbleibenden, Gesammtproduction eine, vielleicht erfreuliche Ver-
änderung erleiden: mehr „Arbeiterconsumptibilicn“, weniger Genuss-
mittel für die besitzenden und wohlhabenden Classen producirt
werden. Sodann aber wäre der Bedarf an Nahrungsmitteln, gewerk-
A. Wagner, Grundlegung. S. Auflage. 1. Theil. Grundlagen. 42
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054 4. B. Bevölk. n. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lehre. 2. H.-A. Folgerungen. §. 255.
liehen Roh- und Hilfsstoffen unter den Voraussetzungen dieses Falles
— d. h. bei Beschränkung von Fabrikatenexport, daher auch
von Nahrungsmittel- und Rohstoffimport — mehr auf heimischem
Boden zu decken, für eine materiell besser lebende, reichlicher ge-
nährte, sich weiter vermehrende heimische Bevölkerung in steigendem
Maasse. Da würde sich aber bald wieder zeigen, dass das nach
Klima, Bodenbeschaffenheit, abnehmender Productivität des Bodens
nur mit höheren Kosten möglich wäre, — wenigstens sobald
der bestgeeignete Boden bereits ganz in Anspruch genommen ist
und nicht immer im mindestens gleichen Verhältniss zum steigenden
Bedarf an Bodenproducten die agrarische Technik fortschreitet und
die Tendenz der Steigerung der Kosten der Bodenbearbeitung auf
demselben Grundstück überwindet. Das ist aber nach aller
Erfahrung mit der Bodenbearbeitung unwahrscheinlich.
Das „Grund- und Bodengesetz “, das „Gesetz der Pro-
duction auf Land“, wie die britische Oekonomik (Senior) es auf-
gestellt hat und nennt, d. h., dass der Boden, insbesondere der
agrarische die Tendenz hat, von einer freilich nicht festen, sondern
etwas elastischen Grenze an eine grössere Menge (und bessere Art
und Güte) der Bodenproducte nur unter im Allgemeinen progressiv
ungünstigeren Bedingungen herzugeben, — dieses Gesetz ist eben
keine Chimäre, kein blosses Gedankenproduct der „abstraeteu
deductiven Nationalökonomie“, sondern beruht auf wichtigen festen
Erfahrungsthatsachen. Es lässt sich nicht mit dem Hinweis
auf immerwährenden technischen Fortschritt, der eben gerade
hier seine, wenn auch nicht durchaus unverrückbare, doch praktisch
sehr wirksame Grenze hat, widerlegen. Bestenfalls wird, mit
.1. St. Mi 11 zu reden, durch den technischen Fortschritt die Wirk-
samkeit des Gesetzes im concreten Falle etwas hiiiausgeschoben,
das Gesetz aber nicht aufgehoben.
Näheres gehört nicht hierher, sondern in die „Theoretische Volkswirtschafts-
lehre“ und in die Lehre vom Agrarwesen und der Agrarpolitik, wo namentlich die Lehre
von den Feldbau- und Betriebssystemen mit in dem Bodeugesctz ihre tiefere Be-
gründung iindet. Ich halte hier die ältere Senior -Mill'sche, übrigens schon von
früheren Autoren, auch von Turgot vertretene Lehre für durchaus richtig und die
Fassung des Gesetzes bei diesen Autoren für die immer noch beste. S. ber. ior.
polit economy, sein „vierter Elcmentarsatz“ der Wissenschaft: „that, agricultural
skill remaining the same, additional labour employed on the land within a
given district produccs in general a less proportional return, or in other
words, that though, witli every increasc of the labour bestowed, the Aggregate
return is increased. the increase of the return is not in proportion of the incrcase
of the labour“; mit der weiteren Conseqnonz: dass darin ein Hauptunterschied zwischen
Ackerbau (bzw. überhaupt Bodenbearbeitung) und Industrie liegt: additional labour,
wlien employed in manufactures is inore, when employed in agriculture is less
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Grand- und fiodengesetz.
655
efficient in proportion (z. B. 4. cd., 1858, p. 26, 81 ff.). Dazu die vortrefflichen Aus-
führungen von J. St. Will in seinen principles. Buch 1, Kap. 12, wo auch dem Ein-
wand mit dem technischen Productionsfortschritt bereits richtig und völlig genügend
Bechnung getragen, aber auch nachgewiesen wird, dass damit das Gesetz nicht wider-
legt wird (s. bes. Kap. 12 am Schluss). Von neueren britischen Occonomisten :
Marshall, B. 4, Kap. 2 und 3, mit guten Erörterungen über das ganze Problem
und richtiger Verwerthung des Gesetzes für die Productionstheorie im Allgemeinen.
S. auch Sidgwick, princ. B. 1, Kap. 6. Von den deutschen Autoren bes. Koscher 1,
§. 34, in der neuesten 20. Aufl. mit richtiger Abweisung der gegnerischen optimistischen,
aber thatsächlich widerlegten Anschauungen der Socialisten, wie Rodbertus, G. George
und der Schwärmereien und Schimpfereien eines Bebel („die Frau“, wo u. A. eben
die Kosten frage, der entscheidende Punct. in den Ideen von landwirthschaftlich-
technischen Fortschritten und Reformen in keiner Weise genügend beachtet wird).
Aus der Agrarpolitik vgl. Koscher’s und Buchenberger s Ausführungen über die
Entwicklung der Feldbau- und Betriebssysteme. Aus der landwirthschaftlich-technischen
Litteratur gehören Mittheilungen Uber die Ergebnisse der Düngung verschiedener
Art, der Pflügung (Tiefpflügen u. dgl.) u. A. m. zur Begründung der Thatsacben,
welche das „Bodengesetz4’ bethätigen, mit hierher (s. einige Daten bei Roscher I,
§. 34 , Note 3).
Auch auf die Gefahr hin, von jüngeren Fachgenossen, die schnell fertig mit dem
Urtheil und Wort sind, ebenfalls der Beweisführung mit einem „alten Ladenhüter'4
geziehen zu werden, halte ich an dieser gut begründeten, freilich auch richtig zu
verstehenden und auszulegendcn Lehre der britischen Oekonomik vom Bodeuiresetz
durchaus fest. Blosse Behauptungen, missverständliche Auslegungen, z. B. als ob die
Bedeutung der landwirtschaftlich -technischen Fortschritte von den Vertretern des
Bodengesetzes verkannt würde, schwärmerische Tiraden über die unbegrenzte Fort-
schrittsfähigkeit der Technik sind keino Widerlegung. Solange wir nicht das chemische
Problem, die Nahrungsmittel unmittelbar, ohne stolfumformende Mitwirkung des landwirt-
schaftlichen Bodens, aus den Grundstoffen der Natur herzustelleu, gelöst haben —
wozu es doch noch eine gute Weile hat! — wird auch mit dem Bodengesetze in der
Frage zu rechnen sein. Ob selbst dann die „Kosten frage“ aufhörte, eine maass-
gebende Rolle zu spielon und desshalb immerhin noch ferner wenigstens mit in Be-
tracht zu kommen, steht auch noch dahin.
§.256. Die Allgemeinheit der Thatsache der Ueber-
völkerungsgefahr. Nach allen diesen Erwägungen und Er-
örterungen wird man die Gelahr einer Uebervölkerung alseine
unter jedem Wirtschaftssystem und in jeder Phase der volks-
wirthschaftlichen Entwicklung zu berücksichtigende anerkennen
müssen. Sie geht aus dem menschlichen Triehleben hervor und
kann nur durch dessen Beherrschung wirksam überwunden werden,
d. h. durch die präventiven Ilemmmittcl der Volksvermehrung.
Sonst wird man über die üblen Folgen der Uebervölkerung und
die Nothwendigkeit, dass die Repression die Ausgleichung herbei-
führe, nicht hinwegkommen. Die letzte Aufgabe liegt daher auch
in dieser Beherrschung eines Naturtriebs in der Bevölkerung und
für die Gesellschaft in der Herbeiführung solcher Verhältnisse,
welche diese Beherrschung begünstigen, daher die präventiven
Tendenzen wirksamer machen.
Eben deshalb ist noch eines weiteren Bedenkens hier zu er-
wähnen : der leicht auf die Bevölkerungsvermehrung z u fö r de rl i c h e n
42*
(556 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lehre. 2. H.-A. Folgerungen. §. 257.
Rückwirkung von Verbesserungen in der Lage der Volks-
masse. Es ist wohl möglich, ja es ist, wie man nach vielfältiger
Beobachtung, insbesondere nach den Thatsacben der Bevölkerungs-
statistik bezüglich der Heiratbs- und Geburtsfrequenz in „günstigen“
Perioden (§. 219 ff.), sagen muss, erfahrungsmässig fast wahr-
scheinlich, auch wegen der mitspielenden psychologischen Momente
verständlich, dass zumal eine plötzliche Verbesserung der materiellen
Lebenslage der Volksmassen die präventiven Tendenzen der Volksver-
mehrung abschwäche. Hierin liegt auch eine unverkennbare
Gefahr der Wirkung aller Verbesserungen der Lebenslage, welche
sich von selbst, durch Verkehrs Vorgänge, technische Entwicklungen
wie durch gesetzgeberische, administrative, caritative Maassregeln
vollziehen, namentlich der Wirkung plötzlicher, „ruckweiser“,
graduell starker Verbesserungen auf die Bevölkerungsbewegung.
Tritt diese Wirkung ein, dann werden auch diese Verbesserungen
schwerlich dauernd sein können. Das bleibt auch wieder das
schon mehrfach angedeutete entscheidende Bedenken bei einer
socialistischen Productions- und Vertheilungsordnung unter
völliger Heirathsfreiheit und Freiheit des Geschlechtsverkehrs, ver-
bunden mit Abnahme der Versorgungspflicht bezüglich der Kinder
von den Eltern und Uebertragung dieser Pflicht auf die „Gesell-
schaft“.
Was aber ist nun nach dem Allen das Wesen, welches sind
die charakteristischen Merkmale der socialökonomischen Er-
scheinung oder des betreffenden Zustands, welche wir hier unter
dem Ausdruck „Uebervölkerung“ behandelt haben? Das
wird sich, wie oben (S. 639) Vorbehalten wurde, nunmehr be-
stimmen lassen: eine Aufgabe, welche mit der folgenden Unter-
scheidung in Verbindung steht und im Zusammenhang mit ihr
hier gelöst werden soll.
B. — §. 257. Absolute und relative Uebervölkerung.
Hierzwischen wird in der ganzen Frage oft nicht genügend unter-
schieden. Namentlich die Optimisten der verschiedenen Richtungen
denken an Zustände absoluter Uebervölkerung. Sie glauben dann
leicht, wenn sie diese im streitigen Falle nicht findeu, damit auch
das Vorhandensein von Uebervölkerung überhaupt, von relativer
Uebervölkerung widerlegt zu haben: die wesentlich allein hier in
Rede stehende, wichtigere und schwieriger zu beurtheilende und zu
behandelnde Erscheinung, ein verhängnisvoller theoretischer Irr-
thum (§. 250).
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Absolute Uebervölkerung.
657
1. Unter „absoluter“ Uebervölkerung könnte wohl nur ein
Zustand verstanden werden, welcher etwa folgende Merkmale auf-
weist: ein Zustand nemlich, in welchem wirklich für einen be-
stimmten Zeitraum und für eine gegebene, nothwendig zu versorgende
Volkszahl das überhaupt vorhandene, in den erforderlichen con-
creten Unterhalts-, namentlich Nahrungsmitteln schon bestehende
oder darin im gebotenen Zeitpuncte und an gebotener Stelle um-
setzbare Volkseinkommen, bzw. auch Volksvermögen, schlechter-
dings nicht ausreicht, diese Volkszahl zu erhalten, bzw. zu ernähren.
Ein solcher Zustand erscheint möglich und kommt auch in grösserer
und geringerer localer Ausdehnung in abnormen Zeitlagen und
unter besonderen ungünstigen Umständen vor. So in Kriegs-,
Revolutionszeiten , dann allgemeiner auf primitiveren Stufen
des Wirtschaftslebens, wo die Bevölkerung auf freie Naturgaben
angewiesen ist, einfachen Ackerbau treibt, grosse Missernten ein-
getreten sind und es an technischen Mitteln, namentlich Communi-
cations- und Transportmitteln, auch etwa an Handelseinrichtungen
zur Herbeischaffung des Erforderlichen aus der Ferne, sowie an
ökonomischen Mitteln zum Einkauf, zur Bezahlung dieses Erforder-
lichen fehlt.
Derartig: sind die Verhältnisse in den aus Missernten, politischen Ereignissen
bervorgegangenen Hungersnöthen früherer Zeiten und heute noch von Ländern, welche
in dieser Hinsicht zurückgeblieben sind (Indien, China ; auch der russische üothstand
im Jahre 181)1 — 92 bot noch etwas Analogieen und vor nicht langer Zeit überhaupt
die Hungersnötbo in europäischen, namentlich communicationsarmen Ländern).
Auf höheren Wirthschaftsstufen wird gerade ein derartiger
allgemeiner Zustand, welcher nicht aus vorübergehenden poli-
tischen, sondern aus technischen und ökonomischen Ver-
hältnissen entspringt, sehr selten sein, wenn überhaupt Vorkommen.
Nur in einzelnen, meist auch nur in kleineren Volkskreisen und
mehr sporadisch und vorübergehend mag er hie und da zu finden sein.
Da handelt es sich dann auch um acuto Nothstände, denen nicht mit regel-
mässig längere Zeit zu ihrer Wirksammachung erheischenden Maassregeln auf dem
Productionsgebiete, als vielmehr mit solchen auf dem Vertheilungsgebiete, mittelst
öffentlicher und privater Nothstandshilfe, entgegen zu wirken ist, — mit Mitteln, welche
freilich im schliesslichen Effect von denen, welche sie noch besitzen und entbehren
können, zu Gunsten der in Noth befindlichen Bevölkerung freiwillig oder gezwungen
(Steuern) hergegeben werden müssen. Die vorher wirksamen repressiven Tendenzen
der Volksvermehrung lassen es eben nicht zu allgemeinerer absoluter Ueber-
völkerung kommen.
Allein, wenn absolute Uebervölkerung nicht vorhanden ist,
beweist das, wie gesagt, nichts für die Frage der relativen Ueber-
völkerung.
658 4. B. Bevölk. u. Yolksw.sch. 1. K. Bevölk.lchrc. 2. H.-A. Folgerungen. §. 258.
§. 258. — 2. Diese letztere, wie der Ausdruck andeutet, ist
eben eine nicht für sich und bloss nach den Grössenbeziehungen
zwischen Bevölkerung und Volkseinkommen (Volksvermögen) zu
bemessende, sondern eine Erscheinung, bei welcher die ganze in
Betracht kommende Mannigfaltigkeit der socialen, technischen,
wirtschaftlichen, rechtlichen, der Cultnrmomente einer Periode in
ein Verhältniss zur Bevölkerung gebracht wird. An diesem Verhält-
niss gemessen ergiebt sich dann für jede der Stufen der Wirth-
schaftsentwicklung (§. 251) und für das ganze Volk wie für Theile
und Classen desselben, allgemein oder local, einige Dauer hindurch
oder kurz vorübergehend, eventuell ein Zustand, welcher als relative
lieber völkerung bezeichnet werden kann und muss. Daher treten hier
in Bezug auf das Maass der Volksdichtigkeit, bei welchem Ueber-
völkerung besteht oder nicht, und in Bezug auf das Maass der
Bedürfnisbefriedigung, bei welchem Uebervölkerung anzuerkennen
ist oder nicht, namentlich Verschiedenheiten nach jenen Stufen
der Wirthschaftsentwicklung ein. Und zwar in Betreff dieser beiden
Puncte in umgekehrter Richtung: eine Volksdichtigkeit, welche auf
einer niedrigeren Stufe als Uebervölkerung wirkt, kann auf einer
höheren Stufe ganz normal und unbedenklich sein. Und wo wegen
des niedrigen Ranges der Bedürfnisbefriedigung auf einer höheren
Stufe Uebervölkerung vorliegt, braucht das auf einer niedrigeren
Stufe, z. B. bei einem viel geringeren Bedürfnissstande und lästigerem
Arbeitsmaass der Bevölkerung, nicht der Fall zu sein.
Das Wesen und die specifischen Merkmale solcher relativer
Uebervölkerung lassen sich daher folgendermaassen in einer Formel
bestimmen.
Dieselbe passt auf diese Erscheinung in allen Fällen, auf allen Stufen, wenig-
stens mit geringen, sich leicht ergebenden Modificatiouen, ist hier aber den Verhält-
nissen des hochentwickelten Wirthschafts- und Culturlebens in unserer Zeit angepasst
worden. Sie lautet demnach:
*
Relative Uebervölkerung liegt vor, wenn die Bevölkerung, ins-
besondere ihre sogen, arbeitenden Classen, bei aller Fähigkeit und
allem guten Willen zur Erwerbsthätigkeit nicht sichere und ge-
nügende Beschäftigung uud Erwerb findet, und zwar nach Maass-
gabe folgender drei Reihen von Umständen: einmal nach den
gegebenen ökonomisch-technischen Verhältnissen der Pro-
duction, insbesondere nach den Bedingungen für den Ab-
satz der Arbeitserzeugnisse und für die dafür erlösten Preise
sowie nach denjenigen für den Bezug und die Preise der be-
durften Producte; ferner nach der gegebenen Rechtsordnung
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Relative Uebervölkerung.
659
für Production und Verkeilung; endlich aber auch nach den auf
Grand der einmal erreichten Lebenshaltung gestellten Ansprüchen
sowohl in Betreff der Art, des Maasses, des Lastgefühls der Arbeits-
leistung, als auch bezüglich der Art, des Maasses, des Lustgefühls
der Entlohnung, bzw. der Bedürfnissbefriedigung.
Die beiden erbten Reihen von Umständeu werden gewöhnlich in der Frage
berücksichtigt, die letzte Reihe, die Ansprüche dagegen nicht. Und doch ist
grade dieses Moment etwas sehr Wesentliches in der Frage der relativen Uebcr-
völkerung. Wenn man davon nach den in der Formel angedcuteten Einzelheiten ab-
sieht, wird man öfters Uebervölkerung nicht annehmen, wo sie unverkennbar vorliegt.
Denn freilich, ein (Arbeits-)Einkommen weit unter dem Betrage dessen, welches zur
Befriedigung selbst nur der nothwendigen Existenzbedürfnisse zweiten Grads im volks-
üblichen Umfange (§. 24) ausreicht, und für eine überlästige Arbeitsart und über-
mässige Arbeitsmenge — z. B. eine Arbeitslast in einem unmässig verlängerten Ar-
beitstage, — ein solches Einkommen mag vielleicht noch abfalien. Aber das recht-
fertigt eben nicht, hier das Vorhandensein von relativer Uebervölkerung zu läugnen.
Jedes Volk, jede Classe, jedes Zeitalter, jede Gegend will nach ihrem Maass-
stabe in diesen ihren Ansprüchen an Arbeitslast und Befriedigungsart und Umfang
gemessen, beurtlieilt werden. Wird ihnen nach diesen zu viel an Last zugemuthet
und zu wenig an Lust gewährt, so werden sie sich bedrückt fühlen. Geht dieses
Uebermaass an Last und Untcrmaass an Lust aber aus den angedeuteten ersten
zwei Reihen von Umständen nothwendig hervor, so besteht ebon — relative Ueber-
völkerung.
Namentlich für die Beantwortung der Frage, ob, wann und in wie weit auf
verschiedenen Wirthschafts- und Culturstufen relative Uebervölkerung
vorhanden sei. ist das Moment der „Ansprüche“ von entscheidender Bedeutung. Für
Asiaten, für Chinesen mag ein Arbeitsmaass noch erträglich sein und ein Befriedi-
gungsmaass noch völlig genügen, welches für Europäer und deren Abkömmlinge in
der Neuen Welt unerträglich uud ungenügend ist: unter jeuen wird cs nicht, unter
diesen sehr wohl auf Uebervölkerung hindeuten können. Aehnliches gilt theilweise
von Continental-Europäern gegenüber Briten, von Slaven, Italienern gegenüber Deut-
schen, ebenso von früheren Verhältnissen der Bevölkerung, z. B. in West- und Mittel-
europa, gegenüber heutigen.
Ein Symptom oder eine Wirkung der relativen Uebervölkerung
wird daher auch nicht nothwendig und in der That auch in Wirk-
lichkeit nur ausnahmsweise die Auslösung der repressiven Tendenzen
der Volksvermehrung, eine allgemein grössere Sterblichkeit, nicht
einmal nothwendig immer eine grössere Kindersterblichkeit sein.
Vielmehr wird sich die Wirkung in einem Druck auf das Ein-
kommen, auf die Löhne, in einer Ausdehnung des Arbeits-
tages, einer Steigerung des zu übernehmenden Arbeits-
maass es zeigen. Selbst darin aber nicht immer direct, sondern
indirect: ein sonst mögliches Steigen des Einkommens,
Verminderung des Arbeitsmaasses wird unterbleiben.
M. a. W. die ganze Lebenshaltung, naeü Arbeitslast und Umfang
und Art der Bedürfnissbefriedigung gemessen, wird wieder weiter
herabgedrückt oder niedrig gehalten: die eigentlich cultur-
f ein d liehe Wirkung der Uebervölkerung, auch vom Standpuncte
des Gesammtinteresses, auch selbst von demjenigen des volkswirth-
660 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lchre. 2. H.-A. Folgerungen. §. 25S.
schaftlichen Productionsinteresses aus, wenn die Arbeitsfähigkeit
und die Arbeitslust UDter solchen Verhältnissen, wie leicht möglich,
leiden.
Wirkt die Repression aber hier nicht, so bleibt auch die Ur-
sache in Kraft, welche ungünstige wirthschaftliche Verhältnisse
herbeiführt: eben das Missverhältnis zwischen Bevölkerung
und Unterbaltsmitteln, bzw. sachlichen Productions-
mitteln, um Unterbaltsmittel direct oder durch Austausch zu ge-
winnen.
Besonders schwer wird sich hier immer eine ungünstige Altersc lassen-
vertheilnng, namentlich eine hohe Kinderquote in der Bevölkerung erweisen
(§. 241). Die Auferziehung der neuen Generation, hier noch dazu der Annahme nach
einer fortschreitend grösseren, neben der Erhaltung der sonst nicht Erwerbsthätig*:..
besonders der alten Leute, der Berufslosen, uöthigt bei einem Zustande der Cebet-
völkerung vollends zur Einschränkung der Bedürfnisse, sowohl der erwerbstätig?:,
erwachsenen, productiven Bevölkerung, als freilich auch der übrigen, weiche, wit
namentlich die Kinder, unmittelbar von jener unterhalten werden.
Würde es sich bei dieser Einschränkung nur um Verminderung oder Aufgeba
eines sonst möglichen, unnötigen , vielleicht sogar schädlichen Luxus handeln. *
wäre das kein durchschlagendes Bedenken. So mag hier und da bei einzelne»
Familien und Ständen die Wirkung der grossen Kinderzahl sein (Verhältnisse in ein-
zelnen Kreisen des Mittelstandes). Aber meistens und namentlich für die Masse ihr
Bevölkerung liegt die Sache ungünstiger. Hier erfolgt eine dem Einzelnen wie auch
der Gesammtheit schädliche Einschränkung der Lebenshaltung, eine un-
genügende materielle, sittliche, geistige Pflege und Ausbildung der Kinder, cia.
Verkümmerung der Eltern, der alten Leute, der Frauen insbesondere, ein unvennrid-
licher Verzicht auf Antheilnahme an Cultnrgütem, welcher auch wieder für die social?
Gesammtentwicklung von Uhlen Folgen ist. Ein allgemeines Aufsteigen der Nation
auf ein berechtigtes höheres Bedürfniss- und damit Culturniveau wird unter diese»
Verhältnissen eben gehindert, bestenfalls sehr verlangsamt.
Nicht minder wird natürlich auch die Bildung des Nation alkapit als gehemmt.
Diese vollzieht sich in unseren Volkswirtschaften einmal grösstentheiis durch das
Medium der Bildung von Privatkapital (§. 127 ff.), daher durch Erübrigungen aas
dem Einkommen der Privatpersonen nach Abzug des Bedarfs. Verzehrt letzterer mehr
oder weniger notwendig das Einkommen, bleibt für die Volksmasse überhaupt wenig
freies Einkommen (§. 174) übrig, so kann eben die private und damit hier die
nationale Kapitalbildung nur langsamer und schwächer vor sich geben. Oder aber —
sie erfolgt abermals um den hoben Preis einer weiteren Einschränkung der Lebens-
haltung, der Bedürfnisbefriedigung, oft genug derjenigen, welche wie bei geistigen,
culturlichen, Bildungsbedürfnissen im Einzel- wie im Gesammtintercsse stattfindea
sollte. Auch daher also wieder nachtheilige Folgen.
Vergleichungen zwischen den kinderreichen und kinderarmen Familien desselben
socialökonomischen Standes, nicht nur bei den Arbeitern, auch beim Mittelstände bis
weit in die Kreise der Bevölkerung mit höherem Einkommen, freilich vornemlich
persönlichem oder Arbeitseinkommen, hinauf, Vergleichungen zwischen Gegenden und
Ländern mit grösserer und geringerer Durchschnittskinderzahl in der Familie, grösserer
und geringerer Kinderquoto in der Bevölkerung. Vergleichungen ganzer grosser Volks-
gebiete, so zwischen Deutschland und Frankreich, liefern deutliche Belege für die
vorstehenden Sätze.
Auch in den einzelnen Berufsk reisen, hei uns vielleicht mehr noch im
Mittelstando . z. B. im Beamtenstande, bei den sonstigen liberalen Berufen, in den
höheren abhängigen Stellungen des Gewerbe- und Kaufmannsstandes (Commis u. s. w.i,
als im eigentlichen Arbeiterstando zeigen sich die Symptome und die Folgen einer
solchen relativen Gebervölkerung. Auch hei Freiheit der Berufswahl recrutirt sich
doch die künftige Generation der Berufsangehörigen vornemlich aus den Abkömm-
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Ucbcrvölkerungsfrago und Vertheilungsproblem.
G61
lingen der bisherigen Generation, was ja aus leicht ersichtlichen Gründen begreiflich
genug ist. Wenn aber jede solche Generation grösser und im Laufe von ein bis zwei
Menschenaltern doppelt so gross wird, wenn nach Sitte, nach Vorurtheilen , nach
Bildungsgang u. s. w. nur wenige Glieder in andero Berufe hinUbergehen, umgekehrt
aber dio Nachkommen aus anderen Berufen, wiederum nach Bildungsgang, wegen
gewisser sonstiger Vorzüge des betreffenden Berufes, wegen Vorurtheilen in diesen
einrücken, z. B. aus den unteren Classcn und unteren Mittelclassen in den Beruf der
höheren Beamten, der Aerzte, Anwälte, der Techniker, Kaufleute, so muss natürlich
eine Ueberfüllung entstehen. Dieselbe wird, wenn die Verhältnisse bleiben, immer
drückender werden. Denn nur ausnahmsweise wird von Menschenalter zu Menschen-
alter der nationale Bedarf an Arbeitskräften in einzelnen solchen Berufen in dem-
selben Vcrhältniss wachsen. Deuten nicht unverkennbare Zeichen in West- und
Mitteleuropa, zumal in Deutschland, auf derartige Verhältnisse und Zusammenhänge
der Erscheinungen bin?
Die „Verbreitung der Bildung“, auch höherer, die Ausdehnung und Ver-
wohlfeilerung der Benutzung des öffentlichen Unterrichtswesens, von der Volksschule
bis zu Polytechnikum und Universität, ist unter solchen Bevölkerungsverhältnissen nicht
unbedingt ein Hebel zur Emporhebung der Bevölkerung, eher oft umgekehrt ein Mittel
zur Herabdrückung der höheren Stände und der oberen Mittelstände auf ein niedrigeres
Niveau der Bedürfnissbefriedigung und der Cultur. Die Concnrrenz wird in allen
Kreisen gesteigert, mit einigen guten, mit noch mehr üblen ethischen Folgen für die
Nächstbetheiligten und für die Gesammtheit (s. Buch 1 Kap. 1 u. Buch 5). Dio Ansprüche
an das Leben, an Lebensgenuss, an äussere Stellung, an Bildungsmittcl wachsen, die
materiellen Mittel nicht in demselben Maassc, wenn sie nicht gar ganz fehlen oder
geringfügig sind (Lage der Berufe mit Universitätsbildung bei uns). Das Miss-
verhältniss zwischen erlangter formaler Bildung, darauf begründeten Lebensansprüchen
in materieller und ideeller Richtung einer-, Lebensstellung, Aussichten, Einkommen,
Vermögen andrerseits wird grösser. Unzufriedenes Bildungsproletariat ist die noth-
wendigo Folge.
C. — §. 259. Die Uebervölkerungs frage und das
Vertheilungsproblern. Gewiss kommt in dem Allen nun auch
die Frage der Vertheilung des Nationaleinkommens und National-
vermögens mit in Betracht, aber nicht in erster Linie, wie nach
der Meinung so vieler, namentlich der Socialisten, sondern nur als
Nebenmoment neben der Bevölkerungsbewegung und der daraus
hervorgebenden Uebervölkerung. Ja, man kann weiter gehen und
mit Recht behaupten: diejenige „Vertheilung“, welche sich
auf der Rechtsbasis des Privateigenthums an den sachlichen Pro-
ductionsmittcln und im Wesentlichen mittelst Verträgen im privat-
wirthschaftlichen Organisationssystem vollzieht, fällt eben zwischen
Besitzenden und Nicht-Besitzenden, zwischen „Kapital und Arbeit“,
zwischen „Grundbesitz und Arbeit“, so ungünstigftir die Arbeiter aus,
weil sie unter dem Druck der grossen Bevölkerungsdichtigkeit, der
Vermehrung derselben, der Ueberholung des Bedarfs an Arbeitskräften
jeder Art durch das Angebot von solchen steht. Der „Lohndruck“,
die Erhöhung des Arbeifsmaasses, die Verlängerung des Arbeits-
tages geht wesentlich aus diesen Verhältnissen der Be-
völkerungsbewegung hervor. Die letztere ist das mechanische
662 4. B. Berölk. u. Volksw.scb. 1. K. Bevölk.lehre. 2 H.-A. Folgerungen. §. 259.
Moment, das sich immer wieder mit elementarer Gewalt im Ver-
theilungsprocess Geltung verschafft.
Das „Kapital“ findet eben hier immer wieder Arbeitskräfte, welche ihm zu den
ungünstigsten Bedingungen zu Dicuste sein müssen, um leben, um Kinder erhalten
zu können. Durch Rechtsnormen, durch Sitten und sittliche Anschauungen, durch
Massenorganisationen der Arbeitskräfte (Gewerkvereiusweseo) mag das etwas gemildert
werden. Aber das durch die Bevölkerungsbewegung vornemlich mit bestimmte Ver-
hältniss zwischen Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrago gewinnt immer wieder den
wesentlich entscheidenden Einfluss. Die Ersetzung der menschlichen Arbeit durch
die Maschine wirkt ja in derselben Richtung, aber sic ist nicht, wie der Socialismus
wähnt, der hier allein entscheidende Umstand.
Das würde sich vielleicht in der Form und etwas im
Maasse, aber nicht nach Princip und Art ändern, wenn das
socialistische Programm ausgeführt würde, das gesellschaftliche
Gemeineigenthum an den sachlichen Productionsmitteln, die gesell-
schaftliche Ordnung der Production und der Vertheiiung einträte.
Denn das Tempo und die Stärke der Volksvermehrung, des Ge-
burtsüberschusses — von der gerade in einem „socialistischen“
Gemeinwesen sehr heiklen Frage der Wanderungen, der Freizügig-
keit, der Ein- und Auswanderungsfreiheit selbst abgesehen — würde
auch hier jedenfalls der eine bestimmende Factor für den mög-
lichen „Anteil des Einzelnen am Gesammtproduct der arbeits-
theiligen Volkswirtschaft“ bleiben. Darüber kommt keine denk-
bare „Organisation der Arbeit“ hinaus.
Alsdann steht man aber wieder vor der schon mehrfach
erwähnten Hauptfrage: ist es auf Grund aller psychologischen Er-
fahrung wahrscheinlich, dass in der „socialistischen Volkswirt-
schaft“ die Bevölkerung langsamer als in der heutigen, das Natio-
naleinkommen dagegen rascher wächst? Wer das nicht zu
bejahen wagt und eher nach Allem das Gegentheil für wahrschein-
licher hält, der wird wiederum einräumen müssen, dass die Ge-
fahr einer durchschnittlichen Verschlechterung der Lebens-
lage eintritt, selbst wenn kein Pfennig „Besitzeinkommen“ an
„volkswirtschaftliche Drohnen“ abgeht; dass, wie wir es schon
oben ausdrückten, wenn der Divisor, die Bevölkerung, noch rascher,
der Dividendus, das Volkseinkommen, noch langsamer, als heut-
zutage, wächst, der Quotient unvermeidlich für den Einzelnen
kleiner werden muss.
Alles das beweist daher auch, dass die „Bevölkerungsfrage“
und die „Uebervölkerungsgefahr“ in der That vom Socialisraus
ebenso ernst, wenn nicht noch ernster beachtet werden muss, als
das im gegenwärtigen und in jedem früheren System der wirtschaft-
lichen Rechtsordnung und Organisation und als es auf der heutigen
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Schlusssätze und Postulate.
663
und auf jeder früheren volkswirtschaftlichen Entwicklungsstufe
geboten ist (§. 192, 196).
D. — §.260. Schlusssätze und Postulate. Wir haben
oben (S. 636, Schluss von §. 248) ein Postulat formulirt, welches
vom Standpuncte des Productionsinteresses aus für das Maass der
Bevölkerungsvermehrung aufzustellen war. Dasselbe Postulat be-
hält nach den vorausgehenden Erörterungen auch bei der Be-
trachtung der Bevölkerungsfrage vom Vertheilungsstandpuncte aus
seine Geltung, muss aber hierfür dann noch nach einigen Seiten
ergänzt werden. Es kann dann etwa folgendermaassen lauten:
Bei gegebener Productionstecbnik, gegebenen Communications-,
Absatz-, Bezugsverhältnissen, gegebener Rechtsordnung für Pro-
duction und Vertheilung, gegebener Lebenshaltung der Massen,
daher auch bei gegebenen Ansprüchen der letzteren in Bezug auf
Arbeitslast, Art, Maass und auf Bedürfnissbefriedigungslust, Art,
Umfang ist nur eine solche Volks Vermehrung zu wünschen, welche
selbst wieder durch ihre Bereitstellung von arbeitsfähigen und
arbeitswilligen Gliedern (Erwerbsthätigen) die Bedingungen einer
mindest ebenmässig, womöglich einer verhältnissmässig noch stärkeren
Steigerung der Gliterproduction, des Volkseinkommens, erfüllt.
Nur in diesem Maasse ist eine Volksvermehrung vom Stand-
puncte der Vertheilung betrachtet auf allen Stufen der volkswirt-
schaftlichen Entwicklung und unter allen Systemen der volkswirth-
sehaftlichen Rechtsordnung und Organisation möglicher Weise
unbedenklich. Bei einer stärkeren Vermehrung tritt immer wieder
die Gefahr der relativen Uebervölkerung mit ihrer notwendigen
Folge der Verkleinerung des auf den Einzelnen fallenden Ver-
theilungsquotienten oder Anteils am Nationaleinkommen ein. Damit
aber werden leicht auch die Bedingungen der Culturentwicklung
der Gesammtheit untergraben. Notwendig tritt das ein, wenn
die Herabsetzung der Lebenshaltung zu einer Beschränkung in
der Befriedigung notwendiger und berechtigter materieller und
ideeller Bedürfnisse führt.
In einer volkswirtschaftlichen Rechtsordnung und Organisation,
wie derjenigen der bisherigen geschichtlichen Entwicklung, der
heute auch bei den Culturvölkern bestehenden, der Privateigen thums-
ordnung und der privatwirthschaftlichen Organisation, ist das Maass
der nach dem Vorausgehenden zulässigen Volksvermehrung noch
enger begrenzt. Denn von dem Volkseinkommen geht hier eine
mehr oder weniger hohe Quote an die die sachlichen Productions-
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664 4. B. Bcvölk. u. Volksw.sch. 1. K. Bevölk.lehre. 1. H.-A. Folgerungen §. 260.
mittel besitzenden und damit producirenden, die Leitung der natio-
nalen Production führenden Classen und überhaupt an die Berufs-
stände, Volkskreise, Familien und Einzelnen, welche ein über-
durchschnittliches Einkommen beziehen, vom gesammten
Nationaleinkommen ab (§. 199). Nur der hiernach verbleibende
Rest dieses letzteren und dessen Bewegung und Entwicklung
(nach dem absoluten Gebrauchswerthbetrage bemessen) ist daher
hier die für die Vertheilung unter die übrige, die nicht-besitzende,
die untere, die Arbeiterclasse zur Verfügung stehende Werthgrösse.
Entscheidend sind mithin die Proportionen des Wachsthums dieser
Grösse einer-, des genannten Bevölkerungstheils andrerseits für die
Höhe des Vertheilungsquotienten. Dieser Bevölkerungstheil darf
nicht rascher, womöglich nicht einmal so rasch wachsen, als jener
verfügbare Theil des Nationaleinkommens. Sonst muss, wenn
auch selbst das ganze Nationaleinkommen stärker wüchse, als die
Gesammtbevölkerung, nothwendig wieder hier, fürdieseVolks-
t heile, Uebervölkerung eintreten mit ihren angedeuteten Folgen.
Im Interesse dieses Haupttheils des Volks und, soweit dies
Interesse auch ein solches der ganzen Volksgemeinschaft ist, in
demjenigen der letzteren, erscheint es erwünscht, dass die Zunahme
des Nationaleinkommens mehr jenem Volkstheil zur besseren Be-
friedigung seiner materiellen und zur Befriedigung wahrer be-
rechtigter CulturbedUrfnisse zu Gute komme, daher eventuell — hier
einerlei auf welchem Wege, durch welche Mittel — auf Kosten
der besitzenden Classen und der Kreise und Personen überdurch-
schnittlichen Einkommens, mindestens in der Art, dass der weitere
Zuwachs des Nationaleinkommens nicht diesen letzteren, sondern
jener Masse des Volks ganz oder doch grösstentheils zufalle. Die
Privateigenthumsordnung und die privatwirthschaftliche Organisation
erschwert das, ohne es durchaus zu hindern. Es ist eine principielle
socialökonomische Frage der volkswirtschaftlichen Organisation
(Buch 5) und Rechtsordnung (Abtheilung II der Grundlegung), die
Gestaltung der Vertheilung des Nationaleinkommens und National-
vermögens und zumal des weiteren Zuwachses beider mehr in die
angedeutete Richtung hinüber zu leiten. S. auch folgendes 2. Kapitel
dieses 4. Buchs hierüber.
Aber der Erfolg selbst der gelungensten bezüglichen Ein-
richtungen und Maassregeln, selbst einer rein socialistischen Pro-
ductions- und Vertheilungsordnung ohne jedes Besitzeinkommen,
vorausgesetzt, was freilich zu bezweifeln ist, dass dabei das volks-
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Schlusssätze und Postulate.
665
wirtschaftliche Prodnctionsproblem genügend, mindestens nicht
schlechter, vielleicht sogar besser gelöst würde, als auf dem Boden
der bestehenden Rechtsordnung und Organisation, — der Erfolg
von dem Allen ist wiederum durchaus abhängig von dem
Maasse derBevülkerungsvcrmehrung. Geht diese rascher
als diejenige des ganzen Nationaleinkommens oder des für die
Masse verfügbaren, wenn auch grösser werdenden Theils desselben
vor sich, wozu eben Tendenzen bestehen, so muss sich der Ver-
theilungsquotient abermals notwendig verkleinern.
Soll das vermieden, soll die Gefahr der relativen Uebervölkerung,
welche hier immer, unter allen wirtschaftlichen Rechtsordnungen
und Organisationen, eintritt, beseitigt, andrerseits die traurige Even-
tualität eiuer Niedrigbaltung der Lebensführung, der Culturcnt-
wicklung oder eines Hervorkommens der repressiven Tendenzen
der Volksvermehrung verhütet werden; ist auch die unter solchen
Verhältnissen erwünschte Auswanderung nicht im erforderlichen
Maasse in Gang zu bringen und darin zu erhalten und versagt
die Hilfe des technischen Fortschritts in der Production, zumal im
Landbau, und die Hilfe der Absatzerweiterung wie des hinlänglich
lohnenden Absatzes heimischer Producte und Leistungen auf fremden
Märkten, der Bezugserweiterung und des lohnenden Bezugs fremder
Producte und Leistungen aus diesen Märkten — wie das nach den
früheren Ausführungen anzunehmen ist — : so giebt es überhaupt
nur ein durchschlagendes Hilfsmittel auf die Dauer:
die genügende Wirksamkeit der präventiven Tendenzen
der Volksvermehrung, auch, ja gerade auch in der hochent-
wickelten Volkswirtschaft der „Agricultur-, Manufactur- und
Welthandelsphase“ mit grosser Volksdichtigkeit; aber nicht minder
auch, ja vollends auch, in einer socialistisch eingerichteten
Volkswirtschaft und in jeder sich einer solchen Einrichtung, z. B.
durch legislative und administrative Maassregeln zu Gunsten der
arbeitenden Classen und der „kleinen Leute“ überhaupt nähernden
(Arbeiterschutz, Arbeiterversicherung, Unentgeltlichkeit oder hinter
der Kostendeckung zurückbleibende Bezahlung öffentlicher Ein-
richtungen und Leistungen [Volksschule], „sociale“ Finanz- und
Steuerpolitik) *).
Robert Malthus behält somit in allem Wesentlichen
Recht!
*) Vgl. besonders meine Finanzwissenschaft I, 3. Aufl., §. 27, und II. 2. Auf!.,
§. S2, 159, 160 and die Ausführungen im folgenden Kapitel.
666 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 2. K. Bedarf u. Verth eil.problem. §. 261.
Hiermit haben wir die Behandlung der „volkswirtschaftlichen
Bevölkcrungslehre“, soweit das für unsere Zwecke geboten war
(§. 191 ff.), beendigt. Eine Grundlage ist so auch für alles Folgende,
zunächst insbesondere für die Erörterungen im zweiten Kapitel
dieses vierten Buchs und im fünften Buche (Organisation der Volks-
wirtschaft) gewonnen, auf der wir weiter zu bauen haben.
Zweites Kapitel.
Der Bedarf und das Vertheilungsproblem
oder die Einkommenlehre vom Vertheilungs-
standpunct betrachtet.
§. 261. [2. A. S. 134 — 136.] Vorbemerkungen. Dieses Kapitel bringt die
oben in §. 170 angekündigte Ergänzung der dort nur vom Productionsstand-
puncte behandelten Einkommeulehre nunmehr vom Vertheilungsstaudpuncte
und damit auch vom Standpuncte der Erörterung des Scin-sollens, der Auf-
stellung eines Richtuugsziels aus, zugleich in Gemässheit unseres methodologischen
Staudpuncts (s. §. 57, 62 fl'.).
Wesentlich den Anregungen der socialistisch en Theoretiker ist durch ihren
scharfen Hinweis auf die vorwiegende Bedeutung des V erth ei lun gs problems die
Berichtigung der Einseitigkeiten der früheren Nationalökonomie zu verdanken. Diese
vertrat hier in ihren Untersuchungen meist nur den Prodociions- und selbst nui den
Producentenstandpunct. Indessen sind die Conscquenzen dieser neueren Auffassung
bisher meistens nur in der im engeren Sinne sogenannten socialen Frage, in der
„Arbeiterfrage“, zur Geltung gekommen, in der V ol ks w i rt lisch af ts le h re,
als Ganzes genommen, namentlich in der Formulirung der Probleme der
Theorie, noch wenig. Diese Aufgabe gilt es jetzt zu lösen. Die folgenden Er-
örterungen in diesem Kapitel enthalten einen Versuch dazu, für welchen nur wenige
unmittelbare Vorarbeiten, abgesehen von einem Tbeil der Litteratur über
die Arbeiterfrage und über sociale Organisation im Allgemeinen, vorhanden sind.
A. Smith. Ricardo, lind ihre englischen Nachfolger (mit tbeilweiscr Ausnahme
von J. St. Mill), J. B. Say und die meisten späteren Franzosen (mit tbeilweiscr
Ausnahme von Sismondi), die Deutschen nicht nur bis auf Rau und Hermann,
sondern selbst (im Wesentlichen wenigstens) einschliesslich Roscher s haben die in
diesem Kapitel erörterten Puucte theils gar nicht, theils nur nebenbei und nicht
principiell behandelt. Wichtige Gesicht.»puncte. aber nicht systematisch-dogmatische
Erörterungen und Formulirnngcn der einschlagenden Probleme enthalten Sismondi s.
Hildebrand’s und Knies’ öfters genannte Schriften.
Einige Beispiele für die ältere Behandlungsweise. Rau erörtert im 4. Abschnitt
des 1. Theils (Zustände der Volkswirtschaft) §. 73 — S1 eigentlich nur die formale
Seite dieser Zustände (Classification der Einkommenverhältnisse, § 76 fl'., s. unten in
diesem Kapitel im zweiten Abschnitt, bes. §. 2^*5) Im 1. Abschnitt der Lehre
von der Verteilung (§. 140 fl.) betrachtet Kau „die Verteilung im Allgemeinen“
nur ganz kurz und auch bloss von der formalen Seite. Dasselbe gilt von
seinen Erörterungen über „das Volkseinkommen im Ganzen“ §.245 — 251, in welchen
ausserdem ausschliesslich der Productionsstandpunct eingenommen wird. Diese Er-
örterungen sind daher schon oben im 3. Kapitel des 3. Buchs (S. 399 ff.) berührt
worden. Nur im 4. Buch, in der Lehre von der Verzehrung, besonders im 1. Ab-
schnitt §. 319 ff., finden sich bei Rau sporadische Bemerkungen (besonders §. 322.
325, 326) über die eigentlich vol ks wirtschaftliche Bedeutung der Ve r t h e i lu n g
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Vorbemerkungen zu Kapitel 2.
667
des Volkseinkommens. Ich führe dies an. nicht nur um zu zeigen, dass diese Behand-
lungsweise nicht mehr genügen kann, sondern weil dieso ganze dürftige Behand-
lung des eigentlich bedeutsamsten Punctes der Einkommenlehre bei Rau, nemlich
der Frage nach den volkswirtschaftlichen und culturlicben Wirkungen einer be-
stimmten Art der Vertheilung des Nationaleinkommens und -Vermögens (trotz der
Bemerkungen Rau 's in §. 140) und, damit zusammenhängend, der Krage nach der
w ünschens wert hen Vertheilung, überhaupt charakteristisch für die ältere und fast
noch die ganze bisherige Nationalökonomie ist, daher auch keineswegs einen Vorwurf
speciell gegen Rau bildet. Hermann in seinen Untersuchungen behandelt zwar die
Bedürfnisse eingehend genug (2. Auf]. Abth. II, S. 78 — 103), aber ..das Einkommen
in Bezug auf die Bedürfnisse“ handelt er in wenigen Sätzen, mehr formalen Inhalts,
ab (S. 594). Dies entspricht auch dem doch noch überwiegend prir atwirthschaft-
lichen Standpnncte des Hermann’schen Werkes. Auffallender ist, dass auch Roscher
eine principielle Erörterung der volkswirtschaftlichen Wirkungen der Vertheilung
des Volkseinkommens ebenfalls vermissen lässt, denn seine wie immer reichen, fleissig
zusammengestellten und geistvoll ausgelegten geschichtlichen Notizen über die Ver-
theilung können hier noch weniger als in anderen Fällen einen Ersatz für eine solche
Erörterung bilden oder eine solche selbst darstellen. Freilich hängt dieser vielleicht
absichtliche Mangel mit Roscher s Methode und mit unrichtigen Schlussfolgerungen
hinsichtlich der Aufgabe der Volkswiithschaftslehre zusammen (s. o. §. 4 u. 1. Buch
Kap. 2, bes. §. 54 — 64). Aber das Beispiel der Einkommen- und Verthcilungslchre
ist auch gerade ein Hauptbeweisstück, dass Roschers Lehrmcinung hier einer ein-
greifenden Modilication bedarf. Vcrgl. Roscher I, §. 147, 148, §. 203 ff. ^7 Kap.
des 3. Buchs, Vertheilung des Nationaleinkommens, besonders §. 205, wo er sagt:
,.Zur wirtschaftlichen Blüthe eines Volks kann eine Harmonie der grossen, mittleren
und kleineren Vermögen die unentbehrliche Voraussetzung heissen“, wo aber die im
Anschluss an diesen Satz noth wendige principielle Erörterung der Vertheilungsfrage
ausbleibt). Dann 4. Buch von der Consumtion. §. 206 ff., mit nur sporadischen, das
Vertheilungsproblem betreffenden Bemerkungen, z. B. §. 214, 221, 224, 330. Auch
in den neuesten Auflagen bringt Roscher zwar einzelne kritische Bemerkungen gegen
socialistische oder diesen sich nähernde Auffassungen, einiges neuere statistische
Material zur Vertheilungsfrage aber, treu seinem methodischen Standpnncte und
seiner ja aus anderen Gründen begreiflichen Absicht, auch am Texte der Para-
graphen seines berühmten Lehrbuchs nicht viel zu ändern, auch jetzt noch keine
eigentlich principielle Ausführungen. Seine gelegentlichen polemischen Wendungen,
auch gegen mich, sind aber eben deswegen m. E. nicht durchschlagend, denn sie
treffen immer höchstens nur Consequenzen der gegnerischen Principieu, nicht letztere
selbst. Vergl. dagegen von Früheren schon besonders Bernhard i a. a. O. §. 14 — 17.
sonst noch v. Mangoldt, Volkswirtschaftslehre Kap. 12 ff. und jetzt G. Cohn’s
Grundlegung, bes. 1. H. A. Kap. 3, 2. H A. Kap. 3, 3. H. A. Kap. 3.
Die ältere Nationalökonomie, auch in ihren eben genannten strengwissenschaft-
lichen Vertretern, vollends aber in den Schriften und Artikeln der freihäudlerischen
Publicistik, der Männer des Laisscr-faire, hat die Einkommenlehre aus dem Grunde
zu einseitig aus dem Standpuncto der Production behandelt, weil sie die Production
als das schlechtweg, und, logisch sowohl als wirklich, nothwendig vorangehende
Moment — das prius — für die nachfolgende Vertheilung betrachtete. Daher
der stete, freilich selbstverständliche practische Rath in der Arbeiterfrage: „zuerst
mehr produciren, dann könnt Ihr auch mehr vertheilcn“ (s. u. passim im 1. und
2. Abschnitt). Natürlich ist eine vorherige grössere Production immer die conditio sine
qua non lür ein zu vertheilendes grösseres G esa m in tprodoct. Aber daraus
folgt nicht, dass die Production allein die Voraussetzung der Vertheilung überhaupt
und einer gewissen Art der Vertheilung ist. Vielmehr ist auch ebenso w’olil
umgekehrt eine bestimmte Art der Vertheilung des Volkseinkommens eine
maassgebende Bedingung für eine bestimmte Art der Production und
innerhalb gewisser Grenzen — z. B. weil die Arbeitslust der arbeitenden Classe
einwirkt, ein mindestens ebenso wichtiges Moment, als die möglichst im Productions-
interesse zu begünstigende Spar- und Kapitalbildungstendenz der besitzenden Classen
— selbst für die Höhe der gesammten Production. Production und Verthei-
lung des Volkseinkommens stehen also immer in Wechselwirkung und
das eben muss auch die Einkommenlehrc berücksichtigen. Es ist in Folge dessen
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i)(>8 4, B. Bevölk. u. Volksw.scb. 2. K. Bedarf u. Vertbeil.problem. §. 261.
unvermeidlich, mit der Lehre vom Einkommen oder von der Vertheilang sogleich die-
jenige vom Bedarf oder vom Auskommen und vom Bedtlrfnissstaud za ver-
binden und principiell die Fragen zu erörtern, ob und wie weit eine Ungleich-
heit der individuellen Einkommen nothwcndig oder zulässig ist; ob und wie weit
derjenigen Gestaltung der Einkommenverhältnisse, welche sich auf einer gegebenen
Basis des Rechts, besonders im System der freien Concurrenz, ergiebt, entgegen zti
arbeiten ist, insbesondere durch den Staat und durch Reformen des Rechts,
namentlich des Privatrechts ( Eigen th um. Vertragsrecht); und demgemäss
auch, welches das Ziel ist. das für die Vertheilung des Volkseinkommens erstrebt
werden soll. Principielle Erörterungen hierüber fuhren daun notbweudig zu höheren
und allgemeineren Fragen der Rechtsphilosophie und der Politik und müssen
den innigen Zusammenhang der Vertheilung des Volkseinkommens mit
der gcsamiuten gesellschaftlichen Rechtsordnung Uber Personenstand
(Freiheit und Unfreiheit) und Eigent hum, sowie den maassgebenden Einfluss der
Vertheilung auf die Entwicklung der Cultur und Bildung des Volks überhaupt und
seiner verschiedenen W’ohlst&ndsclassen insbesondere darlegen. Die folgende Er-
örterung über die Einkommen- Vertheilung in diesem Kapitel leitet daher zugleich
zu den Untersuchungen des Buchs 5 von der Organisation der Volkswirtschaft. 6 vom
Staate, und der 2. Abtheilung der Grundlegung, vou Volkswirtschaft und Recht hinüber
und iiudet dort erst ihren Abschluss. Sie hat in dieser 3. Aufl. erhebliche Er-
weiterungen erfahren.
Wie man sieht, hängt die hier cingeschlagcne Behandlungsweise auch wieder
mit der Streitfrage über die Aufgaben und die Methoden der Socialökonomie
zusammen. Dafür ist jetzt in dieser 3. Auflage dieser Grundlegung auf die ein-
gehenden Erörterungen im 2. Kapitel des 1. Buchs, welche in den beiden ersten
Auflagen fehlten, zu verweisen. Die richtige principielle Erörterung des Verthei-
lungsproblems und der Einkommeulehre vom Vertheilungsstandpuncte aus liefen zu-
gleich wieder in. E. einen Beleg für die Nothwendigkeit und die Richtigkeit der obou
in der Frage der Aufgabe und Methode erfolgten Stellungnahme.
Die Warnung vor „Ideologie4*, und wenn sie seihst aus dem Munde eines
Mannes wie W. Roscher kommt (s. Syst. I, §. 28 fl.), darf vor solchen Unter-
suchungen nicht zurückschrecken (vgl. auch §. 292).
Bei principiellen Erörterungen über die richtige Vertheilung des Volks-
einkommens und bei Anerkennung des Erfordernisses, wenigstens für jedes Zeit-
alter und Volk ein ideales Ziel der Entwicklung der Vertheilung aufzustellea.
muss nur stets den möglichen und auf Grund der bisherigen Erfahrung wie der
psychologischen Analyse der Triebe und Motive wahrscheinlichen Rückwirkungen
auf das gesammte Volksleben und insbesondere auch auf die Be v ölk eru n gä-
be wegung, die natürliche wie die in den Wanderungen sich vollziehende, thunlicbst
Rechnung getragen werden. Beides geschah schon in den früheren Auflagen, jetzt
in dieser dritten geschieht cs in letzterer Hinsicht in besonderer Bezugnahme auf da>
vorige Kapitel.
Die gegebenen Verhältnisse der Bevölkerung und der Bevölkerungs-
bewegung, des Sitten- und Culturstandes und ausserdem diejenigen des Gc-
sauimtstandes der technischen Production, des Absatzes und Bezugs
der Producte und der Entwicklungen darin bilden aber auch zugleich die Be-
dingungen für die Gestaltung des Vertheil ungsproccsses. Sie sind daher auch nach
dieser Seite bei allen principiellen Erörterungen über Vertheilung des Volksein-
kommens. Aufstellung eines Entwicklungsziels dafür, entsprechend zu berücksichtigen.
In allen diesen Beziehungen ist Manches vom Socialismus zu lernen, aber auch vor
dessen Optimismus und Hyperideologie zu warnen. Es wird nicht nothwcndig sein,
darauf jedesmal des Ausführlichen zurück zu kommen. Im 1. Buche und im vorigen
Kapitel dieses 4. Buchs ist oftmals auf diese Zusammenhänge hingewiesen worden.
Aus der weiteren Littcratur verweise ich vornemlich auf die vorzüglichen,
mehrfach schon genannten Schriften A. Lange's (s. o S. 44), bcs. die Arbeiterfrage.
„Mills Ansichten u. s. w.“ und die einschlagendcn Abschnitte der Geschichte des
Materialismus. S. ferner J. St. Mill, politische Oekonomie, Buch II und IV. und
wieder besonders Rodbertus’ (S. 87) genannte Arbeiten, die nur leider diese wichtigen
Principicnfragen immer bloss aphoristisch behandeln und nur geistvolle Streifblickc
darauf werfen, sodann S cliäf fl e. Syst. 3. Aufl., besonders §. 282 ff. (II, 378 fl’.). §. 31 2 ff.
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Vertheilung und Bedarf im Allgemeinen.
669
§. 346 IT. (eb. S. 562 ff.) u. Soc. Körpor, bes. III, 2S4, 450. 491. Schäffle stellt
ebenfalls eine ideale Forderung für die wirkliche Einkommenvertheilung auf und
nennt sehr schön „die volkswirtschaftlich beste Gestaltung der Einkommenprocesse
in der menschlichen Gesellschaft'* diejenige „Vertheilung des gesellschaftlichen Pro-
ductionscrtrags, bei wrelcher die sittliche Gemeinschaft im Ganzen und in der Ab-
stufung aller ihrer Gliederungen (freilich wieder wresentlich eine Folge der Ver-
theilung! möchte ich hinzufügen) zum höchsten Maasse der Gesittung und hiernach zum
höchsten Maasse aller wahrhaft menschlichen Befriedigungen zu gelangen vermag. Kurzer:
der an Vervollkommnung der Gesellschaft fruchtbarste Einkomuienprocess
ist das Ideal volkswirtschaftlicher Vertheilung der Güter durch die Gesammtheit aller
Einkommen“. S. auch G. Sc hm oller, Grundfragen, passim, H. Bischof, Nat.
ökön. B. 3, S. 440 ff. und jetzt manchfach passim G. Cohn a. a. Ü., sowie Mit-
hoff, Schönbergs Handbuch B. 1, auch Anton Menge r. Recht auf den vollen
Arbeitsertrag (s. o. S 37 Note, S. 46) und überhaupt die in §. 13 u. 14 genannten
Schriften. Wie übrigens doch schon vor langen Jahren einzelne Männer die Ein-
seitigkeit der herrschenden nat.-ökon. Lehre erkannten, zeigen die Ausführungen
R. v. Mohl’s, bes. über die polit. Oekonomie in d. Deutschen Viert.j.schr. 1840, H. 3.
S. darüber E. Meier, Tüb. Ztschr. 1879, S. 4>4 ff, 501 ff
Ueber Statistik der Vertheilung des Volkseinkommens u. dgl. in. siehe oben
§. 175, 184 auch 185. 186 mit Litteratur.
1. Abschnitt.
Vertheilung und Bedarf im Allgemeinen.
I. — §.262 [94]. Bedeutung der Ein kommen-Vertheilung
und Ziel der volkswirthscbaftlichen Entwicklung. Erst
die Vertheilung, nicht schon die Grösse des Volkseinkommens
und Volksvermögens unter der Bevölkerung entscheidet darüber,
in welcher ökonomischen Lage sich die Mitglieder des Volks, die
Classen, Berufsstände, Familien und Individuen, namentlich die
grosse Masse des Volks (die sog. unteren Classen) befinden. Be-
deutende Höhe des Volksvermögens und Einkommens und zu-
gleich eine solche Vertheilung desselben, dass auch die in
ungünstigerer ökonomischer Lage befindliche Masse der Bevölkerung
ihr genügendes Auskommen aus eigenem Einkommen zur
vollständigen Befriedigung aller nothwendigen Bedürfnisse und zur
Theilnahme an wichtigeren Culturgtitern eines Zeitalters fortdauernd
gesichert weiss, ist daher das zu erstrebende Ziel der volks-
wirtschaftlichen Entwicklung, — wenigstens in jenen
Perioden der Weltgeschichte, wo mit der Erklärung der persön-
lichen Freiheit aller Bewohner auch das letzte Individuum aufge-
hört hat, nur als Mittel für die Zwecke Anderer in Betracht zu
kommen.
Das bedarf zunächst einer näheren Begründung.
II. — §. 263. Begriff der Vertheilung.
(Zusatz zur 2. Aull. S. 137.) Es ist selbst gegenwärtig noch, nach meiner
persönlichen Erfahrung mit der Presspolemik, nicht überflüssig, gegenüber den laien-
A. Wagnor, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Theil. Grundlagen. 43
(570 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 2. K. Bedarf u. Vcrtheil.probl. 1. A. Im Allgem. §. 263.
haften Missverständnissen und der spiessbürgerlichcn Angst in gewissen Kreisen des
Publicums. daran zu erinnern, dass „Vertheilung“ ein allgemeines Problem in
jeder auf Arbcitst Heilung beruhenden Volkswirtschaft ist. In diesem Sinne
haben natürlich auch alle wissenschaftlichen Nationalökonomen seit den Anfängen
einer Theorie der Volkswirtschaft den Ausdruck (distribuzionc, distribution im
Französischen und Englischen) als technischen Kunstausdruck gebraucht und
von einem „Vertheilungsproblcm“ gesprochen, dasselbe in ihren Systemen und
Theorien behandelt, die rein individualistischen, privatwirthschaftlichen (Ricardo!)
wie alle anderen. Dennoch begegnet selbst in Kreisen der „Gebildeten“ wohl
hie und da ein gewisser Argwohn, als handle es sich hier um ein „teilen wollen“,
wie man es thöricht genug den extremen Social isten und Communisten nachsagt. Denn
dabei missversteht inan ja selbst die eigentlichen bezüglichen Ideen uud Pläne dieser
Richtungen ganz. Im wissenschaftlichen Socialismus handelt es sich z. B. vielmehr
umgekehrt in der Hauptforderung der „Vergesellschaftung der Productionsmittel“ um
eine Beseitigung der privatrechtlichen und privatwirthschaftlichen „Thcilung“ dieser
Productionsmittel unter zahlreiche einzelne Privateigenth Urner und um eine Zu-
sammen fügu n g derselben in der Einen Hand der Gesammtheit, durchaus nicht
um eine „Beraubung der Reicheren“ zum Zweck der Uebertragung dieses „Raubes“
an die Aermeren, die Nicht-Besitzenden. Aber Missverständnisse und Acngstlichkeiten
dieser Art zeigen, dass auch hier begriffliche und principielle Erörterungen
geboten siud, was die „historische Nationalökonomie“ wieder zu sehr verkannt hat.
Dieselben dienen auch dazu, die eigentlichen Streitpuncte zwischen den
verschiedenen, namentlich den principiell in Betreff der Rechtsordnung gegnerischen
Richtungen deutlich heraus zu heben und eine Verhandlungsbasis zu schaffen , auf
der es wenigstens möglich ist, sich gegenseitig zu verstehen, wenn mau sich auch nicht
vereinbart.
Für den Begriff der „Vertheilung“ ist wieder der rein-öko-
nomische und der geschichtlich-rechtliche Standpunct
zu unterscheiden (§. 109). Jener führt zu einem allgemeinen
Begriff, von dem zweiten Standpunct aus gestaltet sich dieser Be-
griff dann wieder nach Maassgabe der bestehenden geschichtlichen
und rechtlichen Verhältnisse, welche auf die Gestaltung der Ver-
theilung einwirken, verschieden.
A. Allgemeiner, rein ökonomischer Begriff. „Ver-
theilung“ ist hier derjenige wirtschaftliche Vorgang (Process),
durch welchen ein in und von einer aus verschiedenen Personen
und Personenkreisen (Classen) gebildeten Arbeits- und Guterbesitz-
Gemeinschaft arbeitstheilig gewonnener Gesammt-Rein-
ertrag an die mit Arbeit oder Güterbesitz dabei betheiligten
Classen und Personen als deren Einkommen gelangt.
Dieser „Reinertrag“ versteht sich hier im volkswirtschaftlichen Sinne,
also nach Abzug der bloss natürlichen oder vo lkswirthschaftlichon Kosten,
welche ..genusslos verzehrt“ werden, also kein Einkommen bilden (§. 172).
Für die ganze Volkswirtschaft, wenn das „Volk“, die gesammte Bevölkerung als
die Arbeits- und Guterbesitzgemeinschaft gedacht wird, ist er das Volks- oder National-
einkommen (§. 176), das nationale „Gesammtproduct“ des Socialismus. Er wird ge-
wonnen durch die vereinigte Arbeit und mit Hilfo der vereinigten sachlichen Pro-
ductionsmittel — Grundstücke, Gebäude, Kapitalien — in jener Gemeinschaft. Der
Zweck der Vertheilung ist, die neuen Güter an die einzelnen Personenkreise und Per-
souen zur Ermöglichung der Bcdürfnissbefriedigung der letzteren gelangen zu lassen :
als „Consumtionsfonds“. Wie weit zu anderen Zwecken, das hängt mit von der
Rechtsordnung ab, z. B. beim Zweck der Kapitalbildung. Bei einer die private
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Begriff der Verkeilung.
671
Kapitalbildung auch als Form der Bildung des National- oder Socialkapitals aus-
scbliesscndeu Rechtsordnung und volkswirtschaftlichen Organisation, wie der socia-
listischen. würde der Zweck der Verkeilung sich streng auf Verwendung der er-
haltenen Portion (die auch hier „Einkommen“ genannt werden könnte) zu Gebrauchs-
und Nutzvermögen (§. 1'24 fl.) beschränken. Was zur Erneuerung und zur Vermehrung
des Nationalkapitals aus den neu gewonnenen Gütern bestimmt wäre, käme hier gar
nicht erst „zur Verkeilung“, sondern würde davon von vornherein zurückbehalteu.
B. — §. 264. Historisch-rechtlicher Begriff der
Vertheil ung.
Hier kommen, wie schon die eben vorangehende Bemerkung ergiebt, ähnliche
Momente wie bei den Fragen vom National- und Privatkapital (§. 127 ff.) und bei
den Arten des Erwerbs wirthschaftlicher Güter («$. 115 ff.) in Betracht. Auf die
dortigen Ausführungen kann daher hier, um Wiederholungen zu vermeiden, ver-
wiesen werden.
Die Vertheilung gestaltet sich hier vor Allem nach der Rechts-
ordnung verschieden, wonach sich dann für verschiedene Rechts-
ordnungen und damit zusammenhängend und in Wechselbeziehung
stehend — bedingend und bedingt — für verschiedene Verhältnisse
der volkswirtschaftlichen Entwicklung auch der allgemeine öko-
nomische Begriff der Vertheilung historisch differenzirt.
Maassgebend ist hier namentlich Folgendes:
1) Ob und in welcher Weise persönliche Unfreiheit
eines Theils der Arbeitskräfte oder volle persönliche Freiheit der
letzteren besteht.
Bei jener nimmt der den Unfreien zur Kräfteerhaltung und Erneuerung, den
unfreien Kindern zum Aufwachsen bis zur Arbeitsfähigkeit gegebene nothwondige
Unteihaltsbedarf denselben Character wie das Futter u. s. w. beim Vieh an. Damit
scheidet er aus dem Einkommenbegrilf und aus der Vertheilung im hier besprochenen
Sinne aus, daher auch aus der Zugehörigkeit zu den „Einkommen bildenden“ einzel-
wiithschaftlichcn Kosten. Er geht in die Kategorie der natürlichen, der eigentlich
volkswirtschaftlichen Kosten über (§. 172), — wenn man am Hechtsbegriff der Un-
freien streng festhält.
2) Welches Rechtsprincip für die Ordnung des Eigen-
thums an den sachlichen Productionsmitteln — insbesondere Grund-
stücken, Gebäuden, jeder Art Kapital — besteht, namentlich ob
reines und volles Privateigenthum, ob irgend eine Art Colleetiv-
eigenthum, speciell (socialistisches) „gesellschaftliches Gemein-
eigenthum“.
Hiernach richtet es sich , ob und welches Besitz- oder Renteneinkommen und
ihm verwandtes neben reinem Arbeitseinkommen zulässig ist, also aus dem Vcrtheilungs-
process hervorgeht. Ferner hängt die Form der Bildung des Nationalkapitals hiermit
zusammen. Ausserhalb der Privateigenthumsordnung kommt eben in der, vorhin am
Schluss des letzten §. erwähnten Weise, vom „Gesammtproduct“ derjenige Theil,
welcher als Kapital fungiren soll, gar nicht erst zur Vertheilung. Innerhalb jener
Ordnung erfolgt dagegen die Kapitalbildung erst neu ans den zur Vertheilung als
Einkommen an die Einzelnen (Privaten) gelangten Quoten des Gesammtproduct».
3) Endlich ist maassgebend das im Productions- wie im Ver-
theilungsproccss obwaltende Regulirungsprincip und, damit
43*
672 4- B. Bevölk. u. Yolksw.sch. 2. K Bedarf u. VertlieU.probl. 1. A. Iin Allgem. §. 264.
verbunden, aber nicht ganz damit zusammenfallend, die Ilegu-
lirungsform. Beim Productionsprocess handelt es sich um die
Art der Leitung und der ganzen Einrichtung der Production, sowie
um die Folgen des Regulirungsprincips und der Regulirungsform
im Vertheilungsprocess für die Verhältnisse der Production (z. B.
bei den Entlohnungsformen der Arbeit). Beim Vertheilungsprocess
kommt von den oben in §. 115 ff. besprochenen typischen Formen
des abgeleiteten Erwerbs insbesondere die Zutheilung von
Gütern durch Autoritäten oder die autoritative und die ver-
kebrsmässige oder die durch Verträge sich vollziehende Ge-
staltung der Vertheilung in Betracht.
Vgl. bes. die Ausführungen in §. 115, 116.
a) Bei der erstgenannten Form wird der Antheil der mit
Arbeit oder Gtiterbesitz an der Production und — sei es folge-
weise hiervon, sei es ihrer Bedürftigkeit halber — am Productions-
ertrage betheiligten Personenkreise und einzelnen Personen durch
eine anerkannte Autorität, welche zugleich voranssetzungs-
weise die Macht (Zwangsgewalt) hat, ihren Willen und ihre Ent-
scheidung durchzusetzen, nach Art, Maass, Zeitpunct, Ort
bestimmt.
Diese Autorität kann dabei möglicherweise ganz nach ihrer
Wi 11k Uhr verfahren. Sie wird aber regelmässig, schon aus
practischen Gründen, aus psychologischen Motiven, um sich selbst nicht
zu schaden, mehr noch aus principiellen Gründen, wie Erwägungeu
der Gerechtigkeit, Billigkeit, des Wohlwollens, der Belohnungs- oder
der Strafabsicht, nach bestimmten Grundsätzen vorgeben.
Diese Grundsätze können dann aber auch hier in die Sitte über-
gehen und umgekehrt aus dieser hervorgehen, Bestandtheile der
sittlichen Anschauungen und schliesslich der Rechtsnormen
werden.
Dabei lassen sich als leitende Grundsätze für die Vertheilung
wohl vornemlicb drei unterscheiden. Zunächst derjenige der Be-
dürftigkeit und derjenige der Leistung des Empfängers in
der Production, eventuell mit absichtlichen Bevorzugungen oder
Benachteiligen, um zu einem gewissen höheren Maass der Leistung
anzuspornen, von einem gewissen geringeren Maass abzuschrecken
oder um auf die Regelung der Bedürfnisbefriedigungen cinzuwirkeu.
Manche Modificationcn nach verschiedenen Gesichtspuncten und
nach Combinationen mehrerer sind dabei möglich und in der
Praxis üblich, auch psychologisch, namentlich mit Rücksicht auf
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Historisch - rechtlicher Begriff der Vertheilung.
673
die Verhältnisse der Motivation im wirtschaftlichen Handeln und
Unterlassen („Sparen“, Consum-Einschränken, -Regeln) richtig. Aber
auch noch ein dritter Grundsatz kann neben oder statt desjenigen
der Bedürftigkeit und der Leistung und in Combination mit den-
selben befolgt werden: die Gewährung von Anteilen in Art und
Höhe, um eine gewisse ökonomische und dadurch sociale
Stellung des Empfängers, etwa zur Auszeichnung, zu er-
möglichen, eventuell, und vorausetzungsweise, nicht bloss in dessen
eigenem, sondern in einem allgemeinen Interesse, z. B. auch in
einem öffentlichen (Verhältnisse des Besoldungswesens im Öffent-
lichen Dienst).
Die Verhältnisse der „Vertheilung“ in primitiveren Zuständen, bei Geschlechts-
verbänden u. dgl. bieten manche Belege. Ein typisches Beispiel, durch dio ver-
schiedensten Zeitalter hindurch mit den gleichen GrundzUgen, liefert der Familien-
verband (S. 2%), wo im Ganzen der Grundsatz des Bedürfnisses, aber combinirt
mit und modificirt durch diejenigen der Leistung, der erforderlichen oder für wün-
schenswerth und berechtigt geltenden socialen und ökonomischen Stellung des Glieds,
dio „Vertheilung“ beherrscht. Ein anderes Beispiel ist die Regelung der Be-
soldung im öffentlichen Dienst (System einer Art „Socialtaxen“, daher in 1. Linie
nach Leistung, aber mit Rücksicht auf Bedürfnis, Ausbildungskosten, im allgemeinen
Interesse liegende sociale und ökonomische Stellung sowie mit sonstigen Gesichts-
punctcn der den psychischen Motiven Rechnung tragenden Lohnpolitik, vcrgl. meine
Fin.wiss. I, 3. A., §. 152 ff.).
In einem streng socialistischen Vertheilungssystem würde es sich ebenfalls
um die Wahl zwischen diesen verschiedenen Regulirungsgrundsätzen , muthinaasslich
aus practiscbcn, psychologischen Motiven, um die Combination derselben handeln,
lieber diesen heiklen und in der That auch besonders schwierigen Punct äussert sich
indessen der Socialismus nicht gern deutlich. Immerhin kommt auch in den social-
demokratischen Programmen und in der Begründung und Auslegung derselben die
„Vertheilungsfrage“ schon vor, wobei es sich dann namentlich um die Wahl zwischen
den beiden genannten Grundsätzen, Bedürfniss und Leistung, als Vertheilungsmaass-
stab handelt. S. Goth. Programm (1875): (Punct l) ..der Gesellschaft, d. h. allen
ihren Gliedern gehört das gesammtc Arbeitsproduct bei allgemeiner Arbeitspflicht,
nach gleichem Recht. Jedem nach scinon vernunftgemässen Bedürfnissen”,
während in dem früheren Eisenacher Programm (1 9ti‘J) (II, 3) „unter Abschaffung
der jetzigen Productionsweisc (Lohnsystem)“ genossenschaftliche Arbeit und in ihr
„der volle Arbeitsertrag für jeden Arbeiter“ erstrebt wurde. Also: Princip
der Leistung, aber ohne genügende Andeutnng, wie diese bemessen und ob nach
ihrer Verschiedenheit der Antheil des Einzelnen abgestuft w’erden solle. Das neueste
Erfurter Programm (1891 ) schweigt sich Über die Vertheilungsfrago aus, was an sich,
zumal in Verbindung mit der Kritik, welche Marx auch an diesem Puncte des
Gothaer Programms geübt hat. charactcristisch ist (vgl. den schon früher genannten
Brief von Marx in der „Neuen Zeit“, 1891 B. IX, 1, S. 567). Man speculirt aber über
die Frage: ob Jedem nach seinen Bedürfnissen oder Jedem nach seiner Leistung ein
Antheil am Ertrage zu gewähren und etwa Jedem nach seinen Fähigkeiten auch ein
Authcil an der Arbeit zu übertragen sei (vgl. meine Rede über das Erfurter soe.-dem.
Programm auf dem cvang. soc. Congress 1892, S. 40). — Jedenfalls ergiebt sich, dass
bei einem Vertheilungssystem nach dem Princip autoritativer Zutheilung immer noth-
wendig dieselben grundsätzlichen Streitfragen auftauchen, welche daun auch wie ein
rother Faden dio ganze socialistischc Litteratur, soweit sie sich mit dem Vertheilungs-
problem beschäftigt, durchziehen.
Auch wo irgend wie autoritativ, durch Gesetzgebung, Verwaltung in die im
Ganzen vertragsmässige Reguliiung der Vertheilung cingegriffen wird, taucheu übrigens
dieselben Fragen auf, nach welchen Grundsätzen dieses Eingreifen erfolgen, welchen
674 4 B. Bcvulk. u. Volksw.scb. 1. K. Bedarf u. Vcrtlieil.probl. 1. A. Im Allgern. §. 264.
der genannten man als Ziel ins Auge fassen, wie inan zwischen ihnen combiniren
soll. — Und wenn man bei dieser vertragsinässigen Regulirung den Arbeibhcrrn,
Arbeitgeber, Unternehmer, als eine Autorität betrachtet, welche nach dem Gcsichts-
punct der Zweckmässigkeit, der Billigkeit auch die Lohnvcrhältnissc ihrer Arbeiter im
Interesse der Unternehmung, wio in demjenigen der Arbeiter selbst regeln möchte,
so werden auch in einem solchen Falle jene genannten Grundsätze wieder als Ziel-
puncto der privaten Lohnpolitik, welche eben hier zugleich Politik der Ertragsvertbci-
lung wird, hervortreten.
b) Die Vertrags massig sich vollziehende Verkeilung des
arbeitstheilig (und „besitztheilig“) gewonnenen Gesamratertrags ist
die Consequenz der auf persönlicher Freiheit der Arbeitskräfte und
auf der Rechtsordnung des Privateigentkums an den sachlichen
Productionsmitteln beruhenden Productions- und Vertheilungsordnung.
Die vornemlich in Betracht kommenden Verträge sind der Arbeits-
dienstmietbe- oder Lobnvertrag, der Pacht-, Mieth-, Darlehus- (Zins-)
Vertrag, und für den Bezug der in der Production bedurften, für
den Absatz der von ihr gelieferten Producte, sowie für den Umsatz
der empfangenen Güter, bzw. Geldbeträge in die bedurften Güter
concreten Gebrauchswerths der Tausch-, in der Geldwirthschaft
der Kaufvertrag. Bei diesem wird der Geldpreis der Güter
(Waaren), welche für die aus dem Productionsertrag erhaltenen
Antheile erworben werden, schliesslich im Effect ein wichtiges
Mittelglied der Verkeilung.
Nach der geschichtlichen Rechtsordnung wechselt nun freilich das Maass der
Frcihoit der Vertragsschliessung, insbesondere auch, was den Inhalt der genannten
für die Vcrthcilung maassgebendsten Verträge anlangt. Jede von Erfolg begleitete
Einwirkung der Rechtsordnung auf diesen Inhalt, z. B. bei Preis-, Zins-, Lohntaxen,
äussert daher auch ihren Einfluss auf die endgiitige Verthoilung des Productions-
ertrags. Hierbei treten dann für das „ob überhaupt“, wenn dies bejaht wird, für das
Richtungsziel und das Maass dieser Einwirkung die vorerwähnten grundsätzlichen
Fragen hervor, wie namentlich die Geschichte des genannten Taxwesens es deut-
lich zeigt.
Fernerüben auch bei sonstiger Vertragsfreiheit Sitte, sittlic ho Anschauung.
Billigkcitsgcfühl und dgl. m. doch vielfach, allerdings wieder wechselnd nach
Zeitaltern und Culturverhältnisscn, einen grösseren oder kleineren Einfluss auf das
Ergcbniss des Vcrtragsschlusses, auf die wirkliche Bildung von Preis, Pacht-, Mieth-,
Darlehnszins, Lohn aus, d. h. sic bewirken, dass diese Beträge sich anders stellen, als
wenn sie rein vertragsmässig, nach der Machtstellung der Parteien und nach deren
Willen, normirt würden. Auch das ist dann wieder für die endgiitige Gestaltung der
Verkeilung des Productionscrtrags von Bedeutung. Die betreffenden Einflüsse dürfen
daher namenüich im concreten Falle bei der Behandlung der Vertheilungsfragc nicht
übersehen werden. Die Art ihrer Gestaltung, die Richtung, das Maass ihres Sich-
gcltend-machens lässt wieder das Mitspielen von mancherlei verschiedenen Gesichts-
puncten erkennen, darunter auch der vorhin besprochenen grundsätzlichen (Rücksicht
auf Bedürfniss, auf sociale und ökonomische Stellung der Betheiligten, Beeinflussung
der Leistung und Aehnliches).
Auch die Vertrags mässige Regulirung der Verkeilung er-
fährt daher in der Wirklichkeit mancherlei Beeinflussungen. Voll
und rein kommt sie nicht allgemein, auch in der Rechtsordnung
der „freien Concurrenz“ nur auf einzelnen Gebieten , zur Geltung.
4
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Historisch- rechtlicher Begriff der Vertheilang.
675
Nur unter den entsprechenden Vorbehalten kann man daher für
unsere modernen, auf dem Princip der Vertragsfreiheit im Wesent-
lichen beruhenden Volkswirtschaften den hier zutreffenden
„historisch -rechtlichen“ Begriff der Verteilung formuliren.
Er würde hiernach folgendermaassen lauten:
„ Vertheilung“ in unseren Verhältnissen der Rechtsordnung
und Organisation ist derjenige wirtschaftliche Vorgang (Process),
durch welchen der in einer wesentlich nur vertragsmässig ver-
bundenen Arbeits- und Güterbesitz- Gemeinschaft arbeitsteilig ge-
wonnene Gesammtreinertrag an die mit Arbeit oder Güterbesitz
dabei beteiligten Classen und Personen im Wesentlichen ver-
tragsmässig als deren Einkommen gelangt.
Auch hier handelt cs sich, wie bei dem rein- ökonomischen Begriff der Ver-
theilung (S. 6T0) um den Reinertrag im volkswirtschaftlichen Sinne, sowohl
im einzelnen Productionsbetriebo (Unternehmung) als in der ganzen Volkswirtschaft
(„Volkseinkommen“). Die vertragsmässig verbundene Gemeinschaft wird durch die
Lohnarbeiter, Gehilfen, Beamten aller Art, als persönlich Freie, durch die Leiter der
Production und die Rcchtsinhaber (Privateigentlnlmer) der sachlichen Productionsmittel
gebildet Durch den Zusammentritt dieser Personen kreise und Personen nebst ihren
Productionsmitteln entsteht eben ausser der Arbeits- auch eine Besitzgemeinschaft zu
Zwecken der Production. Der so gewonnene Gesammtertrag ist dann wieder vertrags-
mässig zu vcrtheilen. In den bezüglichen Verträgen liegt also eigentlich zweierlei
als „Wille der Parteien“ anerkannt: einmal das vertragsmässige Zusammenwirken
mit Arbeit und Productionsmitteln, sodann das vertragsmässige Theilen des Ertrags.
III. — §. 265. Die methodischen Voraussetzungen
einer principiellen Erörterung des Vertheilungspro-
blems. Nur unter bestimmten Voraussetzungen lässt sieb über-
haupt an eine derartige Erörterung gehen. Für das vorliegende
Problem kann man vier solcher Voraussetzungen oder richtiger
Reihen von Voraussetzungen aufstellen, in Bezug auf die Bevölkerung,
die Technik, die Rechtsordnung, auf gewisse gesellschaftliche
Glaubenssätze (Axiome).
1. In Betreff der Bevölkerung muss eine gegebene
Grösse, Gliederung (natürliche, Geschlechts-, Alters-, sociale nach
den oben in §. 245 — 247 besprochenen drei Unterscheidungs-
momenten) und eine gegebene natürliche und Wanderungsbe-
wegung, daraus hervorgehend eine gegebene Aenderung der
Zahl und der Gliederung der Bevölkerung zuvörderst angenommen
werden. Hiervon hängt die Gestaltung und Bewegung des „Divisors“
in dem Vertheilungsproblem ab.
Für alles auf die Bcvülkerurg Bezügliche ist hier jetzt nur auf das vorausgehende
Kapitel dieses 4. Buchs zu verweisen.
2. Auch der Stand der Productionstechnik (einschliesslich
der Technik des Communications- und Transportwesens), die Be-
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676 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 2. K. Bedarf u. Verthcil.probl. 1. A. Im Allgem. §. 265.
dingungen und das Maass des Fortschritts darin, sind als ge-
gebene Verhältnisse anzunehrnen. Davon hängt wesentlich mit die
Gestaltung und Bewegung des „Dividendus“ in dem Vertheilungs-
problem ab.
Auch dafür ist mit auf das vorige Kapitel zu verweisen, ausserdem auf die
Lehre von der Production in der „Theoretischen“ Volkswirtschaftslehre und auf die
„Practische“ Volkswirtschaftslehre.
3. Ebenso ist die Rechtsordnung der Volkswirthschaft und
deren Weiterentwicklung in bestimmter Richtung als
etwas Gegebenes anzunehrnen. Daher namentlich die Rechts-
ordnung für persönliche Unfreiheit, Freiheit, die Eigenthumsordnung
für die sachlichen Productionsmittel. ln unseren Volkswirtschaften
ist mithin die Voraussetzung: volle persönliche Freiheit, auch der
unteren Classen, Ausschluss jeder Art rechtlicher persönlicher Un-
freiheit, Institution des Privateigenthums an den sachlichen Pro-
ductionsmitteln, im Wesentlichen Vertragsfreiheit, namentlich was
den Inhalt der Verträge anlangt, daher auch vorwiegende privatwirth-
schaftliche Organisation der Volkswirthschaft. Die ganze Ein-
richtung mit der auch ökonomisch so wichtigen Rechtsfolge der
Uebertragung der Leitung der Production an die Privateigenthtimer
der Productionsmittel, der Erlangung des Privateigenthums an den
neuen Producten seitens desselben und des Bezugs von Renten-
oder Besitzeinkommen durch sie.
Dafür ist auf die folgenden Bücher 5 und 6 und auf die 2. Abtheilung der
Grundlegung von Volkswirthschaft und liecht, namentlich Vermögensrecht zu verweisen.
4. Endlich ist aber eine vierte Reihe von Voraussetzungen
hier zu machen, deren Mitspielen in allen practischen Verhältnissen
der Vertheilung und in jeder theoretischen Erörterung des Ver-
theilungsproblems nicht immer genügend erkannt wird und doch
durchaus beachtet werden muss.
In jeder Entwicklungsstufe der Volkswirthschaft, der Gesell-
schaft und Cultur sind gewisse ,, Annahmen“ verbreitet Uber das,
was in Bezug auf die wirtschaftliche Rechtsordnung, die Organi-
sation, die Vertheilung des Productionsertrags, damit zusammen-
hängend die socialökonomische Classenschichtung der Gesellschaft
notwendig, richtig, zweckmässig, gerecht und billig sei, daher
bestehen mtisse und solle, zu erhalten, in der und der Weise zu
entwickeln gesucht werden mtisse und solle.
Auf (»rund regelmässig der (i e w ö h n u n g an das geschichtlich Ucberkommene und
Bestehende bilden sich solche Annahmen, werden durch Vernunftgründe, welche der
Wille sich zurechtlegt, unterstützt, gelten dadurch wohl auch für dauernd und unbedingt
richtig, so sehr jede geschichtliche Auflassung das widerlegt, werden auch psycho-
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Voraussetzangen princip. Erörterung des Verthcil. problems.
677
logisch, in it Rücksicht auf die menschliche Motivation, zu begründen gesucht und gern
als durch das Gcsainintintercsse gefordert angesehen. Aber bei genauerer und
unbefangenerer Prüfung, bei Berücksichtigung des notorischen geschichtlichen Wan-
dels der Anschauungen in Bezug auf diese Annahmen, muss man doch zugestehen:
rein rational sind dieselben nicht zu begründen. Sie haben weit mehr die
Natur von nicht rein vernnnftgemäss und erfahrungsmässig zu begründenden Glau-
benssätzen, welche ein Product der gesellschaftlichen Gcsammtentwicklnng sind.
Sie gelten alsdann aber bei ihrer Benutzung in Theorie und Präzis als selbstver-
ständliche Axiome, die man gar nicht erst zu beweisen hat und doch zum Aus-
gangspunct namentlich für alle Erörterungen hinsichtlich des „ S ei n-so Ileus“ der
Dinge macht. Diese Dinge sollen eben so sein, wie es diesen Annahmen entspricht.
Die letzteren erlangen auf diese Weiso eine ungeheuere Bedeutung und dennoch sind
sie, wissenschaftlich gesprochen, Vorurtheile, Ergebnisse unvollkommener Inductions-
schlüssc, verallgemeinerter Deductioncn und petitiones principii, Annahmen des
erfolgten Beweises für das erst zu Beweisende, freilich mit Vernunftgründen meist
nicht ausreichend Bcweisbaro.
Das gilt von den grossen rechtlichen Grundfragen,
welche sieh auf das Oh und Wie der persönlichen Unfreiheit und
Freiheit, der Eigenthumsordnung, oh und wie Privat-, ob und wie
Gemeineigenthum, auch an den sachlichen Productionsmitteln, auf
das Ob und Wie und Wie weit der Vertragsfreiheit, auf dasjenige
der Classenschichtung, der Berufsfreiheit, der Differenz der indivi-
duellen, familienweisen, standesweisen ökonomischen und socialen
Stellung beziehen. Das gilt auch weiter von deu Annahmen be-
züglich dessen, was — auch im Gesammtinteresse — nothwendig,
richtig, zweckmässig, gerecht und billig sei hinsichtlich der mate-
riellen Lage, namentlich des davon abhängigen Minimal-
maasses der Bedürfnisbefriedigung, hinsichtlich des Bildungs-
antheils, der politischen Rechte der unteren Classen.
Es gilt, nebenbei bemerkt, ähnlich auf dem rein-politischen Gebiete, in
Betreff der Staatsformen (Wurzeln der Monarchie, der Republik im „Glauben“),
der ständischen Gliederung (Aristokratie, Adel) u. s. w.
Alle die bezüglichen Annahmen sind etwas erfahrungsgemäss
mehr oder weniger zeitlich und örtlich-historisch Veränderliches.
Sie gelten aber für eine gegebene Zeit und einen gegebenen
Ort (Land u. s w.) dennoch für solche selbstverständliche feste
Axiome, welche Richtschnur und Maass des Scinsollens liefern
— bis sie in der geschichtlichen Fortentwicklung der Kritik er-
liegen, um anderen „Glaubenssätzen“ ähnlichen Charakters Platz
zu machen. Bis dahin aber beherrschen sie die öffentliche Meinung
und üben dadurch ihren Einfluss aus. So auch auf dem hier er-
örterten Gebiete des Verth eilungs problems. Nur, indem
allmählig dann der „Glaube“ an die Noth wendigkeit und Richtig-
keit der alten Axiome wankt, ein vielleicht sogar entgegengesetzter
sich verbreitet, die Gemüther, die Gewissen zu beherrschen bc-
<378 4. B. Bcvölk. u. Volksw.scb. 2. K. Bedarf u. Yerthcil.probl. 1. A. Im Allgcin. 265.
ginnt, das „gesellschaftliche Gewissen“ die Dinge anders auffasst,
kommen dann auch andere „Glaubenssätze“ zur Geltung, schliess-
lich zum Siege, die nunmehr dem Sein -sollen in Gesellschaft,
Volkswirtschaft, Politik, Cultur Richtung und Maass ertheilen und
sich dann auch für die veränderte Auffassung unseres Vertbeilungs-
problems von Bedeutung erweisen.
Uns, d. b. den heutigen Culturvölkern der europäischen Gesittung gilt die per-
sönliche Freiheit der ganzen Bevölkerung als Axiom. Zugleich glauben wir aus dem
Princip derselben möglichst weitgehende („individualistische“) Folgerungen ziehen zu
sollen, so in Betreff der Vertragsfreihcit. Noch gilt uns aber überwiegend die sociale
Klassenschichtung als etwas unter menschlichen Verhältnissen und auch unter unseren
heute bestehenden technischen und ökonomischen Lebensbedingungen Natürliches.
Gebotenes und vom Gesammtintcresso Gefordertes, daher auch die ökonomischen und
wirthschaftsrechtlichen Voraussetzungen dafür, das Privateigenthum an den sachlichen
Productionsmitteln, die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen, das Erbrecht.
Aber die socialistischc Lehre beginnt an diesem Axiom von der Natürlichkeit, Noth-
wendigkeit und dem Nutzen dieser Classcnschichtung zu rütteln. Ob mit durch-
schlagendem allgemeinen Erfolg, das steht freilich noch dahin.
Die Hebung der unteren Classen in jeder Hinsicht ist aber bereits ein
Glaubenssatz der modernen Culturvölker geworden, und das „gesellschaftliche Gewissen“
sucht die in ihm enthaltenen Forderungen durchzuführen, indem es den Verstand anregt,
auf den verschiedensten Gebieten die Mittel zur Erreichung des Ziels zu erforschen: Ver-
minderung der Arbeitslast, Beschränkung der Arbeitszeit, Schutz gegen Arbeitsgefahren
(Arbeiterschutzwesen) : bessere Sicherung des Erwerbs, Sicherung von Einkommen in
abnormen Zeiten (Krankheit, Invalidität, Alter. Arbeilervcrsicherungswesen); Begünstigung
von Lohnerhöhungen (Gewährung des Coalitionsrechts, der Bildung von Gewerkvercinen);
Verbesserung der Gesundheitsverhältnisse (Wohnungswesen, Krankheitsbekämpfung,
präventiv und repressiv); Verbreitung von Elementarbildung und unentgeltliche oder
wohlfeile Gewährung der Mittel dafür (freie Volksschule); Sicherung dieser Bil-
dungsverbreitung im Interesse der Betheiligten wie im Gesammtinteresse (Princip der
Schulpflicht); Gewährung politischer Wahlrechte auch an die unteren Klassen, um
ihnen die Ausübung eines Einflusses, die Geltondmachung ihrer Interessen in der Gesetz-
gebung und Verwaltung zu ermöglichen; Gestaltung des Finanz- und Stcuerwesens,
der Zwecke und Arten der Ausgaben, der Arten der Einnahmen, der Einrichtung der
Steuern, z. B. durch stärkere Belastung der Besitzenden, der höheres Einkommen Be-
ziehenden, nach Interessen der unteren Stände; mehr und mehr auch schon Aenderung
der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Stellung der Frau: Das und
Aebnliches sind Postulate, welche in unserer Zeit zu jenen gesellschaftlichen
Glaubenssätzen und Axiomen gehören, die immer mehr als „selbstverständlich“ gelten.
Die Verwirklichung dieser Forderungen rcagirt aber unmittelbar und mittelbar
auf die Verteilung des Ettrags selbst. Ja, ökonomisch gesprochen, jene Maassrcgeln
sind eben nur Mittel, um die Verteilung des Volkseinkommens für die unteren
Classen günstiger zu gestalten. Ob das ein durchaus richtiges Ziel, ob diese Mittel
die richtigen, ob sie vom erwarteten Erfolg begleitet seien, das steht hier jetzt nicht
zur Frage. Genug, die zu Grunde liegenden „Annahmen“ bestehen eben.
In einer mittelalterlich ständischen Gesellschaft, mit ihren privilegirten Ständen,
den geschlossenen Rechtssphären derselben war das völlig anders. Absichtlich sollte
der Adel durch seinen grösseren Grundbesitz, seine Besitzvorrechtc eine höhere Stel-
lung cinnehinen als der Bauer, der Städter. Allgemein erschien der Unterschied der
Stande, der Berufe, der Einkommen- und Vermögensvcrhältnisso, von „Reich und
Arm“, als eine natürliche oder, was nach den Anschauungen der Zeit dasselbe be-
deutet, als eine göttliche Ordnung, die im Volksbewusstsein wurzelte. Die auf solchen
Anschauungen beruhende Vertheilungsordnung war eine aristokratische, wie die
heutige in unserem demokratischen und socialistischcn Zeitalter nach dessen An-
schauungen eine demokratische zu werden strebt. Mit dieser stehen die aus den
früheren geschichtlichen Rechtsordnungen herrührenden Reste der aristokratischen —
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Ziele der Volkswirtschaft!. Entwicklung hei uns.
679
wie z. Th. noch im ländlichen Grundbesitz — und die aus dem System der freien
Concurrcnz entsprungene neue plutokratische Vertheilungsordnung dem inneren Wesen
nach in Widerspruch.
Gewiss ist es nun für die Wissenschaft und für eine wirk-
lich rationelle Praxis geboten, bei Erörterungen Uber das Ver-
theilungsproblem und bei Maassregeln zu einer Lösung desselben
solche „gesellschaftliche Glaubenssätze“ nicht unbesehen als un-
bedingt richtig und maassgebend anzuerkennen. Aber jedenfalls
müssen beide stets mit solchen Sätzen rechnen und sie ebenso,
wie die drei anderen Reihen von Voraussetzungen, bei der theo-
retischen und practischen Behandlung des Vcrtheilungsproblems
berücksichtigen.
IV. — §. 266. Ziele der volkswirtschaftlichen
Entwicklung für unsere Culturperiode. Auf Grund
des Vorausgehenden lässt sich nun auch in Anknüpfung an die
vorläufigen Bemerkungen in §. 262 näher bestimmen, welche
Ziele der volkswirtschaftlichen Entwicklung bei uns heute auf-
zustellen sind.
A. Für das Product ionsproblem. Entsprechend der bereits
erreichten hohen Entwicklung und dem starken weiteren Fortschritt
der modernen Productionstechnik auf naturwissenschaftlicher Grund-
lage, der erreichten und weiter fortschreitenden Entwicklung der
Arbeitsfähigkeit der Bevölkerung, dem vorhandenen und weiteren
Wachstbums fähigen Kapitalreichthum ist eine Einrichtung der Pro-
duction zu erstreben, welche ein immer grösseres und aus immer
passenderen und mit geringeren Kosten gewonnenen Gütern be-
stehendes Volkseinkommen beschafft.
Passendere Güter, d. h. solche, welche unmittelbar für den nothwendigen und
berechtigten Volksbedarf geeigneter oder, welche sicher und vorteilhaft in die er-
forderlichen Güter umzusetzen sind. Mit geringeren Kosten gewonnene Güter, d. h.
mit immer kleineren natürlichen Froductionskosten erlangte oder m. a. W. eine
mit minimalen natürlichen Kosten maximale Nutzcflecte schallende Production ist das
Ziel. (Schäfflc.)
Das setzt immer zugleich eine entsprechende Organisation und Rechtsordnung
der Volkswirtschaft voraus: wie schon oben bemerkt, die Probleme des 5. u. G. Buchs
und der 2. Abtheilung der Grundlegung, der Productionslchre in der „Theoretischen“
und bezüglicher Abschnitte in der „Practischen“ Nationalökonomie, besonders der
Agrar-, Gewerbe-, Haudclslehrc.
B. Für das Vertheilungsproblem. Auf Grund der
wesentlich der modernen Technik und der gesammten Culturent-
wicklung der Bevölkerung zu verdankenden heutigen und danach
auch eines weiteren Fortschritts fähigen Productivität der nationalen
Arbeit und unter der erforderlichen Rücksichtnahme auf die für
unsere Zeit mehr und mehr maassgebend gewordenen „gesellscbaft-
680 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 2. K. Bedarf u. Vertheil.probl. 1. A. Im Allgem. §. 265.
liehen Axiome“ hinsichtlich des Sein-sollens der Vertheilung lassen
sich folgende Forderungen aufstellen.
Ob und wie weit dieselben sich verwirklichen lassen, hängt aber
stets mit von der Bevölkerungsgrösse und Gliederung und
von Art, Richtung und Maass der Veränderungen darin ab.
Ferner, soweit die geschichtlich überkommene und zu Recht be-
stehende Rechtsordnu n g der Volkswirtschaft, namentlich für
die sachlichen Productionsmittel, und die Grund- und K api tal-
besitz verth eilung hier etwa hemmend einwirken, kommtauch
in Betracht, ob und wie weit hierin überhaupt Aenderungen mög-
lich und nicht etwa auch dem allgemeinen Productionsinteresse der
Volkswirtschaft und dem wahren Culturinteresse der Volksgesammt-
heit schädlich sind. Nur vorbehaltlich der Beschränkungen, welche
sich aus diesen Sätzen ergeben, sind daher die folgenden Forderungen
berechtigt und als Zielpuncte für die Vertheilung aufzustellen:
Erreichung auch für die Masse der Bevölkerung, die sogen,
unteren Classen, eines genügenden Auskommens aus eigenem Ein-
kommen zur Befriedigung der nothwendigen Existenzbedürfnisse
nach Art und Umfang der erreichten Lebenshaltung des Volks
(s. §. 268) und zur wachsenden Theilnahme an wichtigeren Cultur-
gtitern des Zeitalters. M. a. W. zur Erreichung einer „menschen-
würdigen Existenz“, wie sie den Anschauungen des Zeitalters
auch in Betreff des der Masse der Bevölkerung angemessenen
Maasses der Bedürfnisbefriedigung entspricht.
Die Billigung des Ziels scbliesst aber auch die Billigung
derjenigen Mittel und Wege zur Erreichung dieses Ziels ein,
welche sich als unumgänglich erweisen. Wenn daher auch an der
Organisation und Rechtsordnung unserer Volkswirtschaft und an
der vertragsmässigen Regulirung der Vertheilung als Regel festge-
halten wird, daher auch an derjenigen Einkommenbildung der
Classen und Einzelnen, nach Art und Höbe des Einkommens, welche
aus diesen Verhältnissen hervorgeht, so muss doch principiell
die Berechtigung zugestanden werden, in diese Vertheilung und
Einkommenbildung regulirend einzugreifen, soweit dies not-
wendig und nach obigen beiden Vorbehalten zulässig ist, um das
aufgestelltc Ziel zu erreichen. D. h. wie sich zeigen wird, es sind
im Princip directe und indirecte Zuwendungen aus dem Volks-
einkommen zu billigen, ja zu fordern, im Effect daher freilich auf
Kosten derjenigen Theile dieses Einkommens, welche durch die
vertragsmiissige Vertheilung des Productionsertrags den besitzenden
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Auskommen.
681
Classen und den Beziehern über -durchschnittlichen Einkommens
zugefallen sind. Welche Folgerungen das für die Gestaltung der
Rechtsordnung mit sich bringt, wird später zu erörtern sein (§. 271 fl’.).
V. — §. 267 [95]. Das Auskommen. Ein relativer Begriff:
Es bezeichnet, auf die Einzelwirtschaft oder besser nur auf die-
jenige physischer Personen, auf die Individual- und Familien-
wirthschaft des Menschen angewendet, — übrigens auch auf die
ganze Volkswirtschaft, als Inbegriff vornemlich dieser letzteren
Wirtschaften, anwendbar, — das Gleichgewicht zwischen
dem aus den Bed ü r fn issen bervorgehenden Bedarf an wirt-
schaftlichen Gütern und dem Einkommen, sowohl dem
aus der vertragsmässigen Regulirung der Verteilung hervorge-
gangenen, danach selbst „erworbenen“, als dem etwa in der an-
gedeuteten Weise durch Zuwendungen ergänzten, ohne dass ein
Rückgriff auf das aus früheren Wirthschaftsperioden berührende
Vermögen stattfiuden muss.
Nach dom verschiedenen Umfang der Bedürfnisse wird daher auch bei gleicher
Grösse des Einkommens bald Auskommen vorhanden sein, bald nicht, und ebenso
bei gleichem Umfang der Bedürfnisse die Höhe des Einkommens darüber entscheiden,
ob Auskommen besteht. Jedenfalls muss aber iu jeder Wirtschaft das Auskommen
erstrebt werden. Demnach kann weder iu der Einzel- noch in der Volkswirtschaft
regelmässig das fehlende Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen und dem Ein-
kommen mit durch Verbrauch des Vermögens oder Kapitals zur Befriedigung der Be-
dürfnisse hergestcllt werden. Denn bei der steten Erneuerung der Bedürfnisse würde
immer von Neuem auf das Vermögen oder Kapital zurückgegrift'en, dies also allmählig
aufgczchrt werden müssen. Es fehlte dann die notwendige Nachhaltigkeit d^r
Quelle, ans welcher die Befriedigung der Bedürfnisse erfolgt. Diese Nachhaltigkeit
besitzt nur das Einkommen. Deshalb ist auch in der V olkswirt h schaft zu-
nächst auf ein zum Auskommen genügendes Einkommen aller Einzelwirtschaften
physischer Personen und auf ein dazu ausreichendes Volkseinkommen hin zu streben,
erst in zweiter Linie auf dauernde Vermehrung des Vermögens jener Wirtschaften
und auf ein grosses Volksvermögen.
Nach den früheren Begriffsbestimmungen (§. 124) gehört jede momentan vor-
handene, aus dem Einkommen fliessende Gütermenge zum Vermögen. Davon kann
aber der dauernd bleibende, daher zur nachhaltigen Vermehrung aus dem Ein-
kommen dienende Betrag unterschieden werden, der hier gemeint ist: im Wesent-
lichen das Nutzvermögen und das Kapital.
VI. — §. 268 [96]. Bedürfnissstand und Classification
der Bedürfnisse. Die Höhe des Einkommens, welche zum
Auskommen eines Menschen oder einer Familie und dann wieder
des ganzen Volks erforderlich ist, ist eine relative Grösse, abhängig
vom jedesmaligen Bedürfnissstande oder Bedarf. Letzterer
ist im Einzelnen selbstverständlich mannigfach verschieden. Für
die volkswirthschaftliche Würdigung des Bedürfnissstands kommt
folgende Classification der Bedürfnisse in Betracht.
S. schon oben §. 24 in Kürze, ltau, §. 75, unterscheidet allgemein mensch-
liche. volksthümliche, gesellschaftliche, individuelle Bedürfnisse, Kose her, §. 1, Natur-,
682 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 2. K. Bedarf u. Vcrthcil.probl. 1. A. Im Allgem. §. 268.
Anstands-, Luxusbedürfnisse. Sehr eingehende Untersuchung bei Hermann, Abb. II.
S. SÜ fl'. Vgl. auch Schäffle, Syst. I, 99 ff., Menger, I, 35 ff., Samter, Soc.lehre
Buch 1. — Uebcr die wichtige, apart zu behandelnde Gattung der Gemeinbedurf-
nisse s. u. B. 5. Ueber die für die volkswirthschaftliche Frage vom Auskommen und
Bedarf wichtige Haushaltstatistik s. o. §. 174 S. 409.
1) Bedürfnisse, deren Befriedigung zum Bestehen des
Menschen nothwendig ist: Existenzbedürfnisse.
Insbesondere materielle, nemlich Nahrung, Wohnung, Kleidung, künstliche
äussere Erwärmung und Beleuchtung, Gesundheitsfürsorge, ferner immaterielle,
namentlich das für das Zusammenleben der Menschen und für jeden Verkehr noth-
wendige erste Gomeinbedürfniss einer gewissen socialen Ordnung und eines
gewissen Rechtsschutzes.
Hinsichtlich der Befriedigung dieser Bedürfnisse ist zu unter-
scheiden:
a) der absolut unumgängliche Umfang, in welchem die
Befriedigung erfolgen muss: Existenzbedürfnisse ersten Grads.
Dieser Umfang hängt bei den materiellen Existenzbedürfnissen von der Natur
des Menschen selbst (Minimalbedürfniss an Nahrung, an Mitteln der Wärme-
bildung und Wärmeerhaltuug im Körper, zur Kraftcrhaltung, Krafterneuerang.
Körperausbildung bei Kindern u. s. w.) und von der äusseren Natur des Landes,
in welchem der Mensch lebt (Klima u. s. w.) ab.
Für die Gesellschaft kommt auch der absolut nothwendige Aufwand zur
Auferziehuug, bzw. schon zur physischen Gewinnung einer neuen Generation hiermit
in Betracht (entsprechende Ernährung und Pllegc der Schwangeren, Säugenden, der
Kinder bis zur vollen Arbeitsfähigkeit), ferner der absolut nothwendige Aufwand zur
Erhaltung der Kranken, Alten, Schwachen u. s. w„ nach den sittlichen Anschauungen
und der Rechtsordnung des Zeitalters.
Nach den Untersuchungen des englischen Arztes Dr. Smith muss die tätliche
Nahrung eines Durchschnitts- Weibes in England 3900 Gran Kohlenstoff und ISO Gran
Stickstoff, diejenige eines Durchschnitts -Mannes daselbst bez. 4300 und 200 Gran
mindestens enthalten, um Hungerkrankheiten zu vcimeidcn, d. h. für das Weib so
viel Nahrungstoff als in 2 Pfund gutem Weizenbrot enthalten sind, für den Mann 1 ,
mehr. Nach Marx, Kapital I, 042, wo weitere, z. Th. erschreckende Thatsachen
über mangelhafte Ernährung englischer Arbeiter in der Zeit der Baumwollnoth 1862
bis 1863. Ausführliche Auszüge aus Marx bei Schäfflc, Syst. II, 422 ff. Siehe
auch Lange, Arbciterfr. Kap. 4. — Nach E. Wolff, landwirthsch. Füttcrungslehre
und Theorie der menschlichen Ernähr.. Stuttg. 1801. S. 297, citirt in Graf z. Lippe-
Wcissenfcld, ration. Ernähr, d. Volks, Leipz. 1806, braucht ein erwachsener Mann
mit einem Körpergewicht von 140 Pfd. bei mittlerem körperlichen und geistigen Kraft-
aufwand zur für fortdauernde Gesundheit erforderlichen Ernährung täglich in
Grammen Kohlenstoff 331, Stickstoff 18.75, Proteiustoff 120, Stärkemehl-Aequivalent
exel. Fett 540, Fettstoffe 35, Mineralstoffe 10, Phosphorsäure 3.5. Weiteres Detail in
der Schrift von Lippe. S. auch G. Jäger, die menschliche Arbeitskraft (B. 20
u. 27 d. ..Naturkräfte“, naturwiss. Volksbiblioth.). München 1878. Ueber Speise und
Trank daselbst S. 130. Nach den hter mitgcthciltcn Untersuchungen von Von
braucht ein erwachsener arbeitender Mensch täglich 118 Gramm trockenen Eiweisses
und daneben 205 Gramm Kohlenstoff in Form von Fetten oder Kohlenhydraten zur
Nahrung. In welchen Arten lind Mengen einzelner gebräuchlicher Nahrungsmittel
dieser Bedarf an Nährstoffen enthalten ist, ebenda S. 131. — Einfluss des Klimas
übrigens bekanntlich nicht nur auf das Klcidungs-, Wohnungs-, sondern auch auf Grösse
und Art des Nahrungsbcdürfnisscs — Vergl. auch Engel, Preis der Arbeit, Berlin
1860, besonders Uber die natürlichen Selbstkosten der Arbeit und derselbe, der Preis
der Arbeit bei den deutschen Eisenbahnen, Zeitschr. d. K. Preuss. Statist. Büreaus 1874
(XIV.), 93 ff.
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Classification der Bedarfnisse.
683
b) Der von Sitte und Gewohnheit, von der „Lebens-
haltung“, vom „Lebensmaassstab“ des Volks und der ver-
schiedenen Bevölkerungskreise (Classen) a b hä n gige Umfang der
Bedürfnissbefriedigung: Existenzbedürfnisse zweiten Grads.
Standard of life der Engländer, von Lanire u. A. in. ..Lebenshaltung“ ver-
deutscht: Lebensmaassstab scheint mir ebenso treffend und im Deutschen recht wohl
zulässig. Eine räumlich und zeitlich oder geschichtlich ebenfalls sehr wechselnde
Grösse. Ktlr jede Zeit und jedes Land ist jedoch nach einem gewissen billigen Er-
messen und Tactgefuhl ein Umfang der Befriedigung der materiellen Bedürfnisse wohl
festzustellen, welcher auch für die ungünstig situirten Familien und für die Masse des
Volks als relativ unentbehrlich bezeichnet werden muss und welcher daher vom
Einkommen auskömmlich gedeckt werden sollto.
Die materiellen Bedürfnisse sind streng genommen quantitativ für den ein-
zelnen Menschen beschränkt, dagegen qualitativ einer um so grösseren Stei-
gerung uud Verfeinerung fähig. Hier berührt sich die Frage mit der des Luxus
S. Rau, über Luxus, 1S17, bcs. Roscher, über Luxus, Arch. d. polit. Oekon. 1843
(Ans. d. Volkswirthscb., 8. A. 1878, I, 103). Syst. I, §. 225 ff., v. Mangold t. über
Luxus im Staatswörterbuch, Lexis, Abh. volkswirthscb. Consumtion in Schön bergs
Handbuch Bd. 1. Die Entwicklung des Luxus wird bei den begüterten Classen
durch eine grosse Ungleichheit der Vertheilung des Volkseinkommens und
Volksvermögens leicht übermässig entwickelt. Es ist dem gegenüber, wie
überhaupt der obwaltenden Tendenz der Vermehrung, Vervielfältigung und Ver-
feinerung aller Bedürfnisse gegenüber, zu betonen, dass der Bedürfnissstand und seine
Entwicklung nicht das Product reiner Naturtriebe sind, sondern stets unter einem
sittlichen Urthoil stehen und steben sollen (§. 23). Eine richtige sittliche
Beschränkung der Bedürfnisse kann und muss daher häufig grade bei den Ver-
mögenden in Frage kommen.
2) Bedürfnisse, deren Befriedigung einmal zur Erhöhung
des feineren Lebensgenusses materieller wie immaterieller
Art (z. B. privater Kunstluxus), sodann zur weiteren Ent-
wicklung des Menschen, insbesondere der geistigen Seite
seines Wesens, dient: Culturbedürfnisse, zu welchen auch die
meisten aus dem menschlichen Zusammenleben hervorgehenden
Gemein bedlirfn isse (Buch 5) gehören.
Eine ganz feste Grenze zwischen den Bedürfnissen bloss feinerer Lebensgenusses
und wahren Culturbedürfnissen ist nicht zu ziehen. Die letzteren folgen zwar auch
aus dem Wesen des Menschen, aber ein bestimmtes natürliches Minimal-
maass und ein richtiges, vom sittlichen Urtheil angegebenes Maxim almaas s ,
w'ic im Ganzen bei den materiellen Bedürfnissen, lässt sich weder für den Ein-
zelnen noch für ein Volk feststellen. Der Bedürfnissstand ist hier durchaus ein
Product der Geschichte, zeitlich und räumlich daher völlig verschieden. Die höhero
uud feinere Ausbildung, zugleich aber eine vor der Kritik des Gewissens und der
Vernunft standhaltende Gestaltung dieses Bedürfnissstands darf als Ziel der mensch-
lichen Entwicklung betrachtet werden. Das ist freilich auch nur wieder einer jener
„Glaubenssätze“ in unserer Geschichtsepoche (§. 263). Auffassungen, in welchen der
Werth des äusseren und des rein intcllcctnellcn Lebens tiefer gestellt werden, führen
zu anderen Schlüssen, beruhen aber allerdings auch ihrerseits nur wieder auf „Glau-
benssätzen“. So Diogenes'sche Bedürfnislosigkeit, christliche Armuth , puritanische
Lebensweise als Ziel. Nach der allgemeinen geschichtlichen Erfahrung erscheint
gleichwohl ein endgiltigcr Ruhepunct im Bedürfnissstande wenigstens bei „Ent-
wicklungs-“, d. h. eben bei Culturvölkcrn nicht vorhanden.
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f>84 4. B. Bovölk. u. Yolksw.sch. 2. K. Vertheil.problem. 2. A. Regelung. § 26V.
2, Abschnitt.
Regelung der Vertheilung.
1. — §. 269. Volkswirt hschaftliche Würdigung
des Bedürfnissstands und demgeraässe Forderungen
f U r die Vertheilung des Volkseinkommens im Allge-
meinen.
Vgl. in der 2. Aufl. §. 97 ff. Formell und zum Theil auch sachlich sind diese
Ausführungen hier in der 3. Aufl. wesentlich reräudort worden, wenn sie auch auf
demselben principiellcn Boden stehen.
Unter Berücksichtigung dessen, was nach der Grösse nnd
Gliederung der Bevölkerung und der Vermehrungsrate der letzteren
sowie nach der Grösse und Vermehrung des Volkseinkommens und
dem Stande der Productionstechnik überhaupt in Betreff der Be-
friedigung der wirtschaftlichen Bedürfnisse in einem Volke zu
gegebener Zeit als erreichbar erscheint, gilt es nun, einen gegebenen
Bedürfnissstand eines Volks und seiner Classeu hinsichtlich seiner
Ausreichendbeit und seiner sittlichen Berechtigung zu prüfen.
Findet sich hierbei, dass dieser Bedürfnissstand und das für
die Deckung der ihm entspringenden Bedürfnisse verfügbare Ein-
kommen hei gewissen Classen, Personenkreisen und einzelnen
Personen zu niedrig ist, niedriger als Volkszahl und Höhe des
Volkseinkommens es bedingen, so taucht die Frage auf, ob nun-
mehr auf eine Aenderung der Vertheilung des Volksein-
kommens zur Abstellung dieser Lage hingestrebt werden soll und darf.
Das setzt das Anerkenntniss voraus, dass jene Classen und
Personen berechtigte und anderen Rücksichten vor-
gehende Ansprüche haben, ihr Einkommen direct und in-
direct aus anderen Theilen des Volkseinkommens, wenn auch auf
Kosten der Bezieher dieser andern Theilc, ergänzt zu erhalten,
um ihren Bedürfnissstand erhöhen zu können und doch ihr Aus-
kommen nicht zu verlieren. Um diesen Ansprüchen aber Richtung,
Maas s und G renze zu gehen, muss zunächst nothwendig wieder ein
idealer classeu weiser Bedürfnissstand aufgesucht und dieser zum
Maassstab genommen werden. Dadurch wird dann auch Richtung.
Maass und Grenze für die zu erzielende Aenderung der Vertheilung
des Volkseinkommens wenigstens nach der einen Seite bestimmt.
Was in dieser Hinsicht nun der berechtigte und richtige ideale
Bedürfnissstand einzelner Classen sei, wird im Einzelnen sehr
verschieden beantwortet werden und überhaupt niemals ganz ohne
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Volkswirthsch. Würdigung des Bedürfnissstands.
685
subjective Willktihr. Aber in gegebener Zeit und durch den Ver-
gleich des Bedtirfnis8standes der verschiedenen Classen, namentlich
der reicheren und ärmeren, bildet sich doch, bei Culturvölkern
wenigstens, eine gewisse gemeinsame Ansicht über das Wesent-
liche.
Freilich , soweit es sicli namentlich um Tbcilnahmc an Culturgüteru handelt,
auf Grund jener „Glaubenssätze“ hinsichtlich des Richtigen und Nothwendigen. Aber
das genügt hier auch. Die Berechtigung gewisser Forderungen wird danach allmälig
in der öffentlichen Meinung anerkannt, und so setzen sich dann diese Forderungen
durch diese nach und nach durch, in der Sitte und, soweit diese betheiligt, ist in
der Rech tsord nun g. In der Praxis des Staats liegt dasselbe Problem in der
Regelung der Besoldungen vor und wird hier ähnlich gelöst: man normirt die
Besoldungen auch ausserhalb des Concurrenzsystems, mit nach idealen Bedürfniss-
ständen, welche man für die verschiedenen Beamtenclassen stufenweise aufstellt.
Für unsere Zeit handelt es sich darum, die Folgerungen aus
dem anerkannten Hauptgrundsatz der Rechtsordnung, der persön-
lichen Freiheit und der Gleichberechtigung, gerade auch
für diese Frage des berechtigten Bedürfoissstandes zu ziehen.
Zugleich ist dabei von der erreichten hohen Produ cti vität
der nationalen Arbeit, dem Ergebuiss der modernen Productions-
tcchnik, Act zu nehmen. Der Grundsatz der Freiheit und Gleich-
berechtigung führt nothwendig auch in wirtschaftlicher Beziehung
zu Ansprüchen in Bezug auf Bedlirfnissstand und Einkommen,
welche in früheren Rechtsverhältnissen und auf älteren diesen ent-
sprechenden Culturstufen nicht auftauchen konnten. Die Pro-
ductivität der Arbeit aber bietet in ganz andrer Weise als früher,
wenngleich auch nicht so schrankenlos, wie Optimisten meinen
(§. 278), die Möglichkeit, diese Ansprüche, wenigstens in gewissem
Umfange, auch iür die unteren Classen der Bevölkerung zu be-
friedigen. Daraus eben ergeben sich, wenn die Vertheilung
des Volkseinkommens die Erfüllung jener Ansprüche für diese
Classen verhindert, Forderungen, diese Vertheilung mehr mit diesen
Ansprüchen in Uebereinstimmung zu bringen, daher eventuell auch
die Rechtsordnung (die Eigenthums-, die Vertragsordnung) zu ver-
ändern, wenn und soweit das für eine Veränderung der Vertheilung
erforderlich ist.
Mit Recht wird besonders auch in der neueren deutschen social istischo n
Litteratur, von Rodbertus, Marx, Engels immer darauf hingewiesen, wie sehr
die Entwicklung der modernen Productionstcchnik und die darauf beruhende Steigerung
der Productivität der nationalen Arbeit die Sachlage in Bezug auf die Berechtigung
und die Erfüllbarkeit der Ansprüche der unteren Classen günstig verändert hat. Die
Ucbertreibungcn , deren sich dabei manche Socialisten zu Schulden kommen lassen
(so Bebel), auch die Thatsache, dass die Fortschritte der Technik weit mehr in der
Industrie als im Ackerbau zur Geltung kommen (§. 255. 278). nöthigen nicht, dieses
Zugeständnis zurückzunchmcn. Bedenklicher ist, dass die socialistischen Theoretiker
A. Wagno v, Grundlegung. 8. Auflage. 1. Theil. Grundlagen. 44
686 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 2. K. Vertheil.probl. 2. A. Regelung. §. 270.
die gleich zu erwähnenden Gründe gegen einen Eingriff in die Vertheilung nicht oder
nicht genügend berücksichtigen. — Auf den Zusammenhang des Princips der Freiheit
und Gleichberechtigung mit den wirtschaftlichen Ansprüchen der unteren Classeo,
mit dem Auftauchen der sogen, socialen Frage hier hat vortrefflich H. v. Scheel,
Theorie der socialen Frage (Jena 1871) hingewiesen.
§. 270. Noth wendige Rücksichten bei Aufstellung
und Durchführung der Forderungen bezüglich einer
Aenderung der Vertheilung. In diesen beiderlei Beziehungen
ist nun aber immer der möglichen und wahrscheinlichen Rück-
wirkungen auf die Bevölkerungsbewegung und auf die
Bedingungen, von welchen der Fortschritt der Pro-
ductionstechnik und Oekonomik, daher die Producti vität
der nationalen Arbeit abhängt, zu gedenken. Daraus ergiebt
sich auch hier wieder die Eventualität, die Forderungen selbst
oder ihre Durchführung einschränken zu müssen, wenn sich
nachtheilige Rückwirkungen zeigen, welche nicht mit in den Kauf
genommen werden können oder dürfen.
Aber auch noch hierüber hinaus ist bei der Entscheidung zu
bedenken, dass die Frage der Vertheilung des Volkseinkommens,
daher auch des Ob, Wie und Wie weit einer ungleichmässigen
Vertheilung nach den verschiedensten Seiten eine solche des volks-
wirtschaftlichen und socialen Gesammtinteresses ist. Sie muss
daher stets mit, ja richtig aufgefasst, eigentlich immer nur
nach diesem Ges am m tinteresse entschieden werden. Nur wenn
daher eine andere Vertheilung als die vertragsraässig auf Grund
der bestehenden Rechtsordnung erfolgende nicht bloss im Interesse
einzelner Classen, auch der gesammten unteren liegt, sondern
wenn dies Interesse zugleich ein solches der ganzen Volksge-
meinschaft ist; ferner nur, wenn die bei einer Aenderung der
Rechtsordnung eintretende Aenderung der Vertheilung nicht andere
Classeninteressen in höherem Grade schädigt, als das Interesse
der Volksgemeinschaft dies gestatten darf: nur dann und nur
insoweit dürfen jene Forderungen bezüglich der Veränderung
der Rechtsordnung, um die Vertheilung zu ändern, aufgestellt und
durchgeführt werden.
In diesen Erwägungen liegt nach einer zweiten Seite ein
Maass und eine Grenze für die zu erzielende Veränderung der
Vertheilung des Volkseinkommens (s. o. S. 684).
Aus dem Allen aber ergiebt sich, dass es sich hier und zwar
auch heutzutage bei unseren Culturvölkeru, bei dem heute erreichten
Stand der Productivität der nationalen Arbeit und bei den heute
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Rücksichten bei Forderungen bezügl. Aeuderung d. Vertheilung.
687
verbreiteten oder sich immer mehr verbreitenden „Axiomen“ hinsicht-
lich der Möglichkeit, sittlichen und wirtschaftlichen Notwendig-
keit und Zweckmässigkeit der Hebung der uuteren Classen — ,
(lass es sich hier doch niemals bloss und überhaupt nicht in
erster Linie um Classeninteressen, selbst nicht der grossen Be-
völkerungsmasse, der Gesammtheit der sogen, arbeitenden und
unteren Classen, um Ansprüche dieser handelt, sondern stets
um Interessen der ganzen Volksgemeinschaft und um daraus
abzuleitende, damit zu begründende Ansprüche bezüglich einer
Veränderung der Vertheilung und der dieser zu Grunde liegenden
Rechtsordnung.
Aus dieser An- und Einsicht folgt aber auch des Weiteren be-
züglich der Rechtsordnung, dass hier niemals bloss von
Rechten einer Classe gegenüber den anderen Classen und der
Gesammtheit, sondern immer zugleich auch nur mit von Pflichten
die Rede sein kann ; dass auch die Volksgemeinschaft niemals bloss
gegen eine Classe Pflichten hat, sie zu unterstützen, zu heben,
z. B. mittelst gewisser Maassregeln die unteren Classen, sondern
immer auch Rechte, eine gewisse Bescheidung der Classe
zu verlangen, wenn das wegen der Zusammenhänge aller Seiten
des socialen, wirtbschaftlicben Lebens, der Culturentwicklung und
wegen der Rückwirkungen des Einzelnen auf Anderes vom Ge-
sammtintcresse verlangt wird. Stets kann daher nur ein System
von correlativen Rechten und Pflichten der Volksgemeinschaft
gegenüber Classen und Einzelnen jeder Classe und jedes zu ihr
gehörigen Einzelnen gegenüber der und den anderen Classen und
der Gemeinschaft, von correlativen Ansprüchen und Beschei-
dungen oder Verzichtleistungen anerkannt werden. Ein blosses
Classeninteresse und sei es dasjenige des grössten Theils der Be-
völkerung, z. B. desjenigen der unteren Arbeitermasse, hat niemals
berechtigten Anspruch auf alleinige Berücksichtigung, vielmehr
steht ihm immer auch eine correlative Classenpflicht der Bescheidung
gegenüber. Und nur, soweit es vom Gesammtinteresse der Volks-
gemeinschaft gefordert oder doch gebilligt wird, ist es selbst wieder
berechtigt und dürfen Forderungen in Bezug auf Vertheilung und
Rechtsordnung nach ihm aufgestellt und durchgeführt werden.
Nach solchen Gcsichtspuucten ist denn auch zwischen den verschiedenen Classen-
interessen in der Vertheilungsfrage abzuwägen. Das Interesse hier begünstigter
Classen hat grade so sehr Anspruch auf Berücksichtigung, wenn cs zugleich im
Gesammtinteresse der Volksgemeinschaft liegt, als das Interesse der hier nicht be-
günstigten Classen im anderen Falle. Die theoretische und practischo Schwierigkeit
44*
608 4. B. Bcvölk. u. Volks w. sch. 2. K. Vertlieil.probl. 2. A. Regelung. §. 270.
liegt auch weniger in der Feststellung der einzelnen Classeninteressen , als in dieser
Abwägung und in der Entscheidung darüber, ob, wie, wo, wie weit ein Classen-
interesse ein Gemeinschaftsinteresse ist, daher z. B. ein nach der bisherigen Recbts-
und Vertheilungsordnong vorhandenes erhalten oder eingeschränkt, ein bisher nicht
so wahrgenommenes ferner zur Bescheidung gezwungen oder einer besseren Befriedi-
gung zugefuhrt werden soll. Hat man aber nach richtiger Abwägung einmal ent-
schieden, dann kann allerdings sowohl ein Eingrilf in die freie Bewegung als in die
Eigonthums- und Besitzordnung, in dio Consequenzen des Frcihcits- und des Privat-
eigenthumsprincips, für und gegen die unteren, nicht besitzenden, aber auch für uni
gegen die oberen, besitzenden Classen vom Gcsammtintcresse gefordert und durch
dasselbe genügend gerechtfertigt werden.
Das darf man sich freilich nicht verhehlen, dass man bei
Aenderungen der Vertheilung, welche durch solche der Rechts-
ordnung herbeigeführt werden sollen, auf Schritt und Tritt zu
Auseinandersetzungen mit dem Frei hei ts- und (Privat-) Eigen-
thum sprincip und beider Consequenzen genöthigt wird.
So mit jenem in den Verhältnissen, welche mit der Bevölkerungsbewegung
Zusammenhängen tz. B. Eheschliessuugsrccht, Pflichten aus dem Familienverband);
oder in den Verhältnissen, welche die Verwendung des Einkommens betreflea
(Fragen der Consumregelung, der Benutzung von Besteuerungsmaassregeln dazu, vgl.
meine Fin. I, 2. A. §. 250 ff., der Zwangsersparungen, z. B. mittelst Zwangsbeiträgen
der Versicherten für ihre oder ihres Eigenthums Versicherung [Arbeiterversicberung.
Feuerversicherung]). So hat man es ähnlich mit Fragen des Privateigen thums-
princips zu thun, z. B. bei der Beschränkung der Ausnutzongsmöglichkeit des
Eigenthums, bei Beseitigung oder Einschränkung wohlerworbener Privatrechte, bei
üebertragung von Lasten auf das Eigcntbum, welche es bisher nicht oder nicht in
dem nunmehrigen Maasse zu tragen hatte, bei Regelung der Armenlasten und ganz
allgemein bei einer Finanz- und Steuerpolitik, welche, nach dem richtigen Sinne
des Grundsatzes der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, dem höheren Besitz und
dem grösseren Einkommen auch mehr als verhältnissmässige öffentliche Lasten auflegt
(Princip der Progressivsteuer; vgl. meine Fin. II, 2. A. §. 156 ff.).
Für Theorie und Praxis ergiebt sich aus dem Vorausgebenden,
dass hier zwischen verschiedenen Interessen, Principieu lind deren
Consequenzen Com promisse unvermeidlich sind. Und zwar am
so mehr, je schwieriger und unsicherer zu bestimmen ist, ob, wie,
wto und wie weit ein Classeninteresse mit dem Cesammtinteresse
sich deckt oder nicht.
Die Erörterung und die Entscheidung wird dabei jene vier Reihen von Voraus-
setzungen, in Betreff der Bevölkerung, der Technik, der Rechtsordnung, der gesell-
schaftlichen Axiome oder Glaubenssätze hinsichtlich des Sein-sollens, stets beachten
müssen (§. 265). Ebenso dio möglichen und wahrscheinlichen Rückwirkungen einer
bestimmten Entscheidung hinsichtlich des Eingreifens in die Rechtsordnung und in
die daraus hervorgehende — bei uns die vertragsmässigo — Vertheilung auf die Be-
wegung der Bevölkerung und auf die Entwicklung von Technik und Oekonomik des Pro-
ductionsbetriobs. Endlich ist nicht minder ins Auge zu fassen, ob die Veränderungen
der Rechtsordnung, welche durch eine bestimmte Veränderung der Richtung, der An
und des Maasses der Vertheilung geboten sind, eben nicht um anderer Rücksichten
Willen zu bedenklich erscheinen und daher doch unterbleiben oder nur beschränkter
ausgeführt werden müssen. So, weil dio bestehende Rechtsordnung anderweit
günstige, im Gcsammtintcresse liegende, auf andre Weise gar nicht oder nicht ge-
nügend zu sichernde Wirkungen bat oder weil jene Aenderungen sonstige, dem
Gesammtinteresse zu sehr widersprechende Wirkungen mit sich führen wurden. Aber-
mals bedingt das Alles — die Nothwendigkeit von Compromisscn.
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Forderungen in Betreff der Vertheilang.
689
Beispiele liegen in agrarischen Regulirungen, wo etwa mit Rücksicht
auf die Gefährdung des volkswirtschaftlichen Productionsinteresses, des passenden
Bodenanbaus, auf die Notwendigkeit und auf die im Interesse der Volksgemeinschaft
liegende sociale Function des Grossgrundbesitzerstands nicht so weit gegangen wird,
als bloss das Interesse der gleichmässigeren Verteilung von Besitz und Bodenerträgen
verlangen würde und als sonst vielleicht zulässig wäre. Oder gewerbe-, handeis-, bank-,
böisenpolitische Reformen, wo man im Interesse der Production, des Absatzes, der
Kapitalbildung und Concentration, des Städtewesens, der von ihm ausgehenden oder
vorncmlich getragenen Culturentwicklung freiere Bewegung, ungleichmässigere Ein-
kommen- und Vermögensvertheilung zulässt, als andere Rücksichten es bedingen
würden. Oder finanz- und steuerpolitische Maassrcgeln, bei denen man aus ähnlichen
Gesichtspuucten in der Besteuerung der Reicheren, der höheren Stände nicht so
consequent vorgeht, als cs der Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit
fordern und wiederum auch andere Rücksichten gutheissen oder wenigstens zulassen
würden.
II. — §. 271 [97a]. Forderungen in Betreff der Ver-
th e i I u n g in der Beziehung zu Bedürfnissstand und
Befriedigung der Bedürfnisse im Besonder n. A. Auf-
stellung des Rechts auf Existenz. Wir unterscheiden hier
die Befriedigung der Existenzbedürfnisse, besonders des ersten
Grads, und diejenige der feineren Existenzbedürfnisse zweiten
Grads, sowie der Culturbedürfnisse (§. 268).
Auch vom Standpunct des Einzelnen aus hat die Frage,
in welchem Verhältniss die Befriedigung dieser verschiedenen Be-
dürfnisse richtiger Weise stehen soll, ihr Interesse, u. A. hier für
die Beurtbeilung des Luxus als einer individuellen oder
Privatangelegenheit bezüglich der Verwendung des Einkommens.
Man wird auch für den Einzelnen den Existenzbedürfnissen ersten Grads den
Vorrang vor allen anderen, auch vor den Culturbedürfnissen einräumen müssen, weil
ihre genügende Befriedigung Bedingung der Existenz und der Entwicklung des
Individuums überhaupt ist. Dagegen ist ein solcher Vorrang nicht ebenso unbedingt
den Existenzbedürfnissen zweiten Grads vor den Cultnrbcdürfnisscn zuzugestehen,
mindestens nicht für den Einzelnen, welcher für sich allein zu sorgen hat. Anders
kann die Sache im Familienverbande bezüglich der Existenzbedürfnisse zweiten Grades
bei den zu unterhaltenden Angehörigen liegen. Für den Einzelnen allein kann
dagegen wenigstens ein gewisser Vorrang für gewisse richtige und wichtige Cultur-
bedürfnisse anerkannt werden, nemlich principiell aus dem Gesichtspunctc des ethi-
schen Scin-sollens mit Rücksicht auf die geistige und sittliche Seite und Bestimmung
des Menschen.
Iudessen hier iu der Socialökonomie handelt es sich um
die Betrachtung der Frage vom Standpunct der Volksgemein-
schaft aus. Die Frage liegt nach Zeitaltern, nach ökonomisch-
technischen Entwicklungsverhältnissen, nach den geltenden gesell-
schaftlichen Axiomen bezüglich des Sein-sollens verschieden,
gestattet daher wieder nur eine historisch-rechtliche Be-
antwortung. Sie beschäftigt uns hier nur für • die Culturvölker
europäischer Civilisation in der Gegenwart.
690 4. B. Bcvölk. u. Volksw.scb. 2. K. Vertheil .probl. 2. A. Regelung. §. 271.
1. Erörterung für die Befriedigung der Existenzbedürf-
nisse ersten Grads, soweit diese Befriedigung von der Ver-
th eilung des Volkseinkommens abhängt. Recht auf Existenz.
Hier ist als ein erster leitender Grundsatz aufzustellen: kein
einzelner Mensch soll, soweit die Ge m ein schaft es
hindern kann, bloss aus Mangel an wi rthschaftlichen
Mitteln z ur Befriedigung jener Bedürfnisse untergehen.
Ja, diese Befriedigung soll sogar in einem nach Art und Maass
bestimmten Mi ui mal umfang stattfinden, wie er annähernd der
erreichten Lebenshaltung der unteren Schichten der Handarbeit«-
classen entspricht.
Insoweit besteht eine sittliche Pflicht der Gemeinschaft,
zu helfen, eine Pflicht, welche auch als Rechtsnorm zu fassen
ist; alsdann mit der Rechtsfolge, dass in die vertragsmässige Ver-
keilung des Volkseinkommens auf der Grundlage der persönlichen
Freiheit und des Privateigenthums eingegriffen, dass daher insofern
und insoweit als nöthig ein Recht der Gemeinschaft gegenüber
den besitzenden Classen und den Classen und Personen höheren
Einkommens, dieselben zur Hilfsleistung, bzw. zur Hergabe von
Mitteln in Anspruch zu nehmen, anerkannt wird.
Flir das Individuum, die Familie in der eine solche
Hilfe nothwendig machenden Lage, ergiebt sich ein Anspruch
auf Hilfe, welcher als Rechtsnorm formulirt das Recht auf
Existenz, daher auf Gewährung der hierzu erforderlichen wirt-
schaftlichen Mittel im angedeuteten Umfang, genannt werden kann.
Diesem Individual- und Classenrecht auf Existenz entspricht aber
als Correlat die Pflicht — lind demgemäss das Recht der
Gemeinschaft — sich den notwendigen, wenn auch human
und nach dem Stand der Productivität der nationalen Arbeit in
verschiedener Weise aufzustellenden und durchzuttihrenden Be-
dingungen zu fügen, welche die Verwirklichung des Rechts auf
Existenz allein möglich machen und die mit demselben verbundenen
Gefahren beseitigen. Solche Bedingungen sind eventuell: die An-
erkennung von Arbeitspflichten bei vorhandener Arbeitsfähig-
keit und nach Maassgabe derselben, eventuell die Ausübung eines
Arbeitszwangs, die Anerkennung eines Rechts der Gemein-
schaft, in die Verwendung des Individual- und Familienein-
kommens, daher mittelst Consumregelung und Zwang zu Ersparungen,
und endlich nicht minder eines Rechts, regelnd, eventuell hemmend,
in die Bevölkerungsbewegung, insbesondere in die Eheschliessungen
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Recht auf Existenz.
691
und in die Wanderungen, einzugreifen; namentlich soweit das wegen
des Verhältnisses zwischen dem Volkseinkommen und dessen Be-
wegung (Dividendus) und der Volkszahl und Gliederung und deren
Bewegungen (Divisor) geboten ist und soweit auch wiederum
im Gemei nsch aft sinter esse berechtigte Interessen der be-
sitzenden und der Classen und Personen höheren Einkommens zu
schonen und zu schützen sind.
In dieser Weise gefasst und begründet, auch mit den hier an-
gedeuteten Beschränkungen, stellt das „Hecht auf Existenz“
einen ungeheuren sittlichen und rechtlichen Fortschritt in unserer
Cnlturperiode verglichen mit früheren Zeiten und anderen Ländern
und Völkern dar: einen wahren Fortschritt der Gesittung,
welcher sich unter dem Einfluss christlicher Anschauung mit
vollzogen hat.
Dass dabei ein solches Recht noch nicht formal und etwa unter diesem Namen
anerkannt ist, was bisher in der Praxis allgemein zugegeben werden muss, und dass
auch die Theorie noch vielfach, selbst vielleicht noch überwiegend, sich zögernd und
ablehnend dagegen verhält, ist keine Widerlegung der vorausgehenden Sätze und kein
Beweis dafür, dass ein solches Recht nicht bestehe und nicht anzunehmen sei.
Ebensowenig beweist die Art der Verwirklichung des Rechts in dieser Frage etwas,
z. B. ob man es, wie bisher regelmässig bei unserem öffentlichen Armenrecht, mit
einem Seitens des Einzelnen nur im Beschwerdeweg innerhalb der Verwaltung geltend
zu machenden, in diesem Sinne nicht mit einem eigentlichen persönlichen (Individual-)
„Recht“ oder wirklich mit einem solchen zu thun habe. Maassgebend für die hier
vertretene Auffassung ist. dass ein solches „Recht“ der sittlichen Auffassung der
Gesellschaft einem der erwähnten „Glaubenssätze“ hinsichtlich des Sein-sollens ent-
spricht, und dass in der That in der Rechtsordnung, wenn auch eventuell nur
erst im Vcrwaltungsrccht und nach dessen Normen und Formen, Einrichtungen
bestehen, welche implicitc, bei richtiger begrifflicher Abstraction und Zurück-
führung des Concreten auf die ihm zu Grunde liegenden Principien , auf ein solches
„Recht auf Existenz“ hinauskommen.
Das gilt aber schon heute von dem bei den meisten Culturvölkern bestehenden
öffentlichen Armen recht oder wenigstens von der Art, wie hier vom Gemein-
wesen für Arme gesorgt wird. Vgl. preuss. Landrecht, Th. II, Tit. 19 §. 1 (s. u. S. 098).
Einerlei, wie gesagt, in welcher rechtsformalen Weise hier der Anspruch auf Armen-
unterstützung geltend gemacht wird, er wird doch anerkannt. Namentlich verpflichtet
der Staat die Gemeinden und Verbände auch rechtlich, für ihre Armen zu sorgen,
und wacht über die Erfüllung dieser Pflicht. Das hat aber als Cor re lat eine
Steuerpflicht innerhalb der Gemeinschaft zur Deckung der Kosten dieser Armen-
unterstützung im Gefolge (eigentliche Armensteuern, wie die poor rate in England,
s. meine Fin.wiss. III, §. 157 ff. oder, selbst bei einem formellen Verbot solcher
„Armensteuern“, wie es in Deutschland vorkommt, allgemein höhere Gemeinde-
abgaben hierfür, bzw. die Rechtspflicht der Gemeinden, den Bedarf der Arinen-
verwaltung in den Haushaltsctat einzusetzen und für dessen Deckung mit zu sorgen.
Vergl. Stein, Verwaltlehre 2. Aufl. S. 79G fT., im Allgemeinen Emminghaus,
Armenwesen, Berlin, 1870, Aschroth. Art. Armenwesen im H.-W.-B. d. Staats-
wiss. I). Selbst wo, wie in romanischen Ländern, besonders in Frankreich, eine
eigentliche communalo Arinenunterstützungs - Rechtspflicht nicht besteh^, läuft die
Sache doch practisch auf nicht so sehr viel Anderes hinaus.
Auch in dem jetzt sich ausbildenden Arbeiterversicherungsrecht kann
man doch eine Consequenz des Gedankens des „Rechts auf Existenz“ sehen : nur eben
auch mit Ziehung der angedeuteten Consequenzen zu Gunsten der Gemeinschaft,
692 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 2. K. Vertheil.probl. 2. A. Regelung. §. 271.
nemlicb den Versicherten zu Beiträgen, d. h. zu einer bestimmten Venrendong
seines Einkommens, zu Zwangsersparungen zu nöthigen, wie anderseits Dritte, die
Arbeitgeber, oder unmittelbar die Volksgemeinschaft (und in ihr dann freilich
mittelbar die Versicherten als Steuerträger, bei indirecten Steuern eventuell mittelst
Consumregelung, — Reichszuschuss bei der deutschen Altersversicherung) mit
hierfür zu belasten, d. h. eben doch in die „vertragsmässige Einkorn menvertheilung“
einzugreifen.
Auch auf dem Gebiete des agrarischen Ablösungs- und Pachtwesens
(deutsche Grundentlastung, neuere irische Pachtnormen) liegen ähnliche Fälle vor.
Hier werden z. B. die zu einer selbständigen wirthschaftlichen Existenz in minimalem
Umfange erforderlichen Bedinguugeu des Wirthschaftsbetriebes gewährt, die Pacht-
zinsen so angesetzt, dass sic einen zur Erhaltung der Pächterfamilie ausreichenden
Reinertrags-Authcil für diese übrig lassen, unter Hintansetzung der Rechte und Inter-
essen Dritter (vgl. z. B. prouss. Gesetz v. 2. Mai 1850 über Ablösung und Kegulirung
der gutsherrl. und bäuerl. Verhältnisse §. 63: der Besitzer der Hofstclle darf verlangen,
dass ihm nach Abzug der Abfindung des Gutsherrn ein Drittel des Reinertrags der
Stelle bleibe; umso viel ist die Abfindung zu vermindern). — Ein Ausnahmefall ver-
wandter Art, aber immerhin auch ein solcher, welcher auf dem in Recht auf Existenz
enthaltenen Princip beruht, ist die öffentliche Beschlagnahme von Nahrungsmitteln u. s. w.
in Notbzciten (belagerte Orte, Missernten).
Welcher Unterschied gegen frühere, rohere Zeiten ! Mit ans
Mangel an materiellen Mitteln, aber doch eben auch, weil die ent-
sprechenden sittlichen Anschauungen und Rechtsnormen fehlten,
da wohl Kinderaussetzung, Verlassen, Tödten der Greise.
Wie auch der Umfang der Bedürfnisbefriedigung von den
dem Recht auf Existenz zu Grunde liegenden Anschauungen be-
einflusst wird und sich demgemäss einigermaassen nach der er-
reichten Lebenshaltung der unteren Volksclassen richtet, ergiebt
sich aus der Art der Verpflegung der öffentlichen Armen (englische
Armenhäuser), der Strafgefangenen.
Auf dem Gebiete des Steuerwesens ist in dem Streben, das sog. Existenz-
minimum frei zu lassen, unmittelbar bei directcn, namentlich Personalstenern.
mittelbar durch Ausschluss der nothwendigen Nahrungsmittel aus der indirecten Ver-
brauchshesteucrung, auch eine Tendenz sichtbar, welche auf demselben Gedanken, wie
die Gewährung des Rechts auf Existenz, beruht). (Vgl. meine Fin.wiss. II, 2. A. §. 167.
auch G. Schanz, im H.w.b. d. Staatswiss. III, 325 ff.).
Das „Recht auf Existenz“, obwohl auch hier nicht immer so
genannt und gefasst, liegt mehr oder weniger klar gewissen soeia-
lis tischen Auffassungen zu Grunde. Es hängt, wie sich gleich
zeigen wird, mit dem socialistischen „Recht auf Arbeit“ zusammen,
welches seine nothwendige Consequenz ist, von dem jedoch auch
ein anderes, als subsidiäres auch in unserer Rechtsordnung unter-
schieden werden kann (§. 273). Aber das Recht auf Existenz
steht mit einem anderen, in der socialistischen Vertheiinngstheorie
vorkommenden Rechte, dem „Recht auf den vollen Arbeitsertrag“,
in einem Widerspruch, welcher nur durch Compromiss gelöst werden
kann und noth wendig in der Praxis so gelöst werden muss.
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Recht auf Existenz.
693
Die schärfsten und besten Ausführungen hierüber in Anton Menger’s Schrift
das Recht auf den vollen Arbeitsertrag. Es ist für unsere Zwecke nicht nothwendig,
auf die sonstige literarische Behandlung des Rechts auf Existenz hier einzugehen.
Sie ist wenig umfangreich und wissenschaftlich unbedeutend.
Zur socialökonomiscben Würdigung des Hechts auf Existenz
sind die Consequenzen desselben lür die Vertheil ung des
Volkseinkommens und damit für die Eigenthnras verhä It-
nisse einer- und für die noth wendige Stellung der Gemeinschaft,
und zwar unter jeder denkbaren Gestaltung der volkswirtschaft-
lichen Organisation, zur Bevölkerungs frage andrerseits be-
sonders wichtig.
In ersterer Hinsicht liegt in der Anerkennung des genannten
Rechts zugleich das Zugestilndniss, dass die Gemeinschaft Interesse,
Pflicht und Recht hat, in das Privateigenthum einzugreifen und
der Ungleichheit der Einkommen eine Schranke zu setzen, wenn
und soweit als die Verwirklichung des Rechts auf Existenz dies
nothwendig macht.
Ein Schluss von zwingender Folgerichtigkeit, wenn man die principiclle Be-
gründung jenes Rechts richtig erfasst und als richtig zugiebt. Es folgt daher auch
für die Frage des Privateigenthums, dass diesem nur ein relativer, kein absoluter
Anspruch auf Schutz und Schonung zugestanden werden kann. In derThat: zuerst
kommt das Recht des Individuums auf Existenz, soweit die Gemeinschaft dies Recht
ökonomisch anerkennen kann und ethisch anerkennen muss, dann erst und soweit cs
mit jenem Rechte nach dieser Pflicht der Gemeinschaft vereinbar ist, kommt das
Recht des Individuums, sein Eigenthum, sein in der vertragsraässigen Vcrtheilung
erlangtes Einkommen (practisch: sein Uber-durchschnittliches Einkommen) unverkürzt
zu behalten. Unsere einseitig den Anschauungen und Interesseu der besitzenden
Classen dienende Privatrechtsentwicklung hat diese richtige Reihenfolge schier um-
gedreht. Vgl. hierzu Schäfflc, System II, §.282. S. 378 — 394 (trelllich, s. auch
die kurze Formulirung der in diesem §. 282 entwickelten Gedanken in der Inhalts-
übersicht I, S. XXXV). — Die Consequenz des Rechts auf Existenz ist daher auch,
dass in einem Gemeinwesen, welches die persönliche Freiheit und die Gleichberech-
tigung (den principicll gleichen „Menschenwerth“) aller seiner Angehörigen anerkennt,
auch keinem noch so kleinen Thcilc des Volks ein unbedingtes Rocht auf ein
grösseres Einkommen, folgewciso auch auf Befriedigung der Existenzbedürfnisso
zweiten Grads und der Cnlturbedurfnisse zugestanden werden kann, wenn jenes Ein-
kommen und diese Befriedigung wenigstens indirect einem anderen Volksthcil selbst
jene minimale Bedürfnisbefriedigung entzöge (vgl. die Daten von Marx I, 1. A., 642 fl'.,
aus dem 6. report on public health 1863).
Der besonders in der Discussion der Arbeiterfrage gemachte Einwand, dass
auch in solchem Falle eine Abhilfe der Noth der unteren Classen nicht möglich sei,
weil es an den ihnen allein nöthigen naturalen Gütern (Volksnahrungsmittel,
Brot u. s. w.) fehle und die etwa für die Wohlhabenderen producirten Güter den Un-
bemittelten nichts nützen, überschicsst das Ziel. Denn sobald eben Güter letzterer Art
vorhanden sind, beweist dies schon, dass an dem in unserem Falle angenommenen
Nothstandc der unteren Classen nicht oder doch nicht allein dio Kleinheit des Volks-
vermögens und Volkseinkommens schuld ist. Vielmehr müssen hier Productionsmittel
im weiteren Sinne (Arbeitskräfte, Kapitalien, Boden) da sein, die in diesem Falle
eben nur in die Herstellung von Gütern des Bedarfs der unteren Classen hinüber-
geleitet werden müssen. Oder m. a. W.: nicht die Production ist an sich zu klein,
sondern ihre Richtung ist volkswirtschaftlich nachtheilig und dies kann und muss
in dem im Texte angenommenen Falle geändert werden. Es wird, besonders in der
694 4. B Bcvölk. u. Volksw.sch. 2. K. Vertheil.probl. 2. A. Regelung. §. 272.
Lohn frage, so oft übersehen, dass eine bestimmte Vertheilung des Volks-
einkommens immer auch bestimmte Richtungen und Arten dor Pro-
duction zur Folge hat. Bei grosser Ungleichheit des Einkommens geht diese Rich-
tung mehr auf Luxusartikel für die Wohlhabenden, bei grösserer Gleichheit mehr
auf Artikel des Massenconsums, auch bei gleicher Höhe des gesammten Kapitals und
Volkseinkommens. S. o. Vorbemerkungen in §. 261.
Die Verpflichtung der Gemeinschaft, das Recht auf Existenz
durchzuftihren, kann aber nicht weiter gehen, als die ökonomische
Möglichkeit dazu. Diese aber hängt einmal vom Stande der Pro-
ductionstechnik und Oekonomik und von den socialen und recht-
lichen Bedingungen dieses Standes und seines Fortschritts, sodann
von der Bevölkerungszahl und deren Entwicklung ab. Daher muss
die Gemeinschaft auch das Recht beanspruchen, den Classcn und
Individuen diejenigen Beschränkungen aufzulegen, welche sich
hiernach als nothwendig erweisen. Droht die natürliche und Wan-
derungsbewegung die Verwirklichung des Rechts auf Existenz un-
möglich oder in einer dem Gemeinschaftsinteresse widersprechenden
Weise zu schwierig zu machen, so sind Beschränkungen der
Eheschliessung und damit indircct der natürlichen Volks-
vermehrung und ebenso Beschränkungen der Wanderungen,
namentlich der heimischen Zu- und der Einwanderungen
aus dem Auslande, nothwendig und berechtigt. Hier liegt zugleich
die Conscquenz der Malthu s’schen Bevölkerungslehre vor, welcher
der extreme Individualismus und der Socialismus sich in gleicher
Weise mit Unrecht entzogen haben.
Für das Weitere ist hier jetzt in dieser 3. Aull, auf das vorige Kapitel dieses
Buchs zu verweisen, welches an die Stelle der wenigen, aber principioll überein-
stimmenden Bemerkungen über die Berölkcrungsfrage in der 2. Anti. S. 145. 146
getreten ist. Namentlich bei der Erörterung der socialökonomischon Seite des Ehe-
schliessungsrechts und des Zugrechts (Freizügigkeit), worauf in der 2. Abtli. der
Grundlegung bei den socialen Freiheitsrechten näher eingegangen wird, ist der an-
gedeutete X^unct von besonderer Wichtigkeit.
B. — §. 272. Durchführung des Rechts auf Existenz.
Nar um Andeutungen, um Fingerzeige handelt cs sich hier. Alles
Weitere, namentlich zur Begründung des Einzelnen, zur Auseinandersetzung mit naho
liegenden und auch da und dort hervorgetretenen Einwänden, müsste einem besonderen
„System der Socialpolitik“ Vorbehalten bleiben. Daher das Folgende auch mehr in
Form von Thesen ohne umfassende Beweisführung. Aber cs erschien doch erwünscht,
diese Andeutungen hier zu machen. In der vorigeu Auflage fehlten sie, was ich doch
als einen Mangel erkannt habe.
Für die Durchführung eines Rechts auf Existenz — die Frage
immer unter den heutigen Verhältnissen der Völker europäischer
Civilisation betrachtet — sind zunächst die Arten oder Reihen
von Fällen, um welche es sich hier handelt, nach ihren cha-
rakteristischen Merkmalen, danach die Bedingungen, welche
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%
Durchfuhr, d. Rechts auf Existenz. Unvcrschnld. Erwerbsunfähigkeit. (395
vorliegen, und die speci eilen Forderungen bei jeder Art von
Fälleu zu unterscheiden. Iu Verbindung hiermit sind die Fol-
gerungen aus der Aufstellung dieser Forderungen zu ziehen und
die prac tischen Mittel und Wege anzugeben, welche zur
Verwirklichung dieser Forderungen in Erwägung kommen und
eventuell zu wählen sind. Man hat es daher hier mit jenen drei
practischen Aufgaben zu thun, welche früher auch für die
Wissenschaft der Socialökonomie aufgestellt wurden (Buch 1,
§. 62-64).
Die Arten von Fällen lassen sich in folgende vier unter-
scheiden: schuldlose Erwerbsunfähigkeit und Mittellosigkeit, schuld-
loser Mangel an Erwerbsgelegenheit, selbstverschuldeter Mangel
an Unterhaltsmitteln, selbstverschuldeter Erwerbsmangel.
1. Zur ersteren Art gehören die besonderen Fälle der mittellosen
Waisen, Kranken, auch Geisteskranken, Invaliden, Altersschwachen
und ähnliche. Das gerade hier unmittelbar hervortreteude Recht
auf Existenz und die ihm correlativc Pflicht der Gemeinschaft, zu
helfen, führt zu der speciellen Forderung, diesen Kategorien von
Personen mit Mitteln der Gemeinschaft und zwar auch mit solchen,
welche direct und indirect den erwerbenden und bemittelten Per-
sonen entzogen werden, Hilfe zu leisten. Dies geschieht im öffent-
lichen Armenwesen und Recht, im Arbeiterversicherungs-
wesen, auch wohl noch auf andere Weise (unentgeltliche öffentliche
Leistungen).
a) Die wichtigste hierher gehörige Einrichtung ist das öffentliche Armen-
wesen und das wichtigste Recht, das (active und passive) öffentliche Armen-
rcch t.
Dieser Einrichtung und diesem Rechte kanu zur Seite treten, eventuell in der
Praxis so, dass beide nur subsidiär in Betracht kommen, die auf dem caritativen
Princip beruhende private, kirchliche, Vereinsarmenpflege. Aber mindestens eine
solche subsidiäre Pflicht öffentlicher Körper („Zwaugsgemein Wirtschaften“) muss
im Rechte anerkannt sein, was vielfach in unseren Culturstaaten, namentlich den ger-
manischen. auch der Fall ist, wenn in Einrichtung und Recht des Armenwesens
implicito das Recht auf Existenz gewährt sein soll.
b) In einer dem wirtschaftlichen Princip von Leistung und Gegenleistung mehr
oder weniger, mitunter völlig entsprechenden Weise wird in der Einrichtung der frei-
willigen (facultativen) wie der obligatorischen, auf dem Zwangsprincip beruhenden
„Arbeiterversicherung** das caritative und das öffentliche Armenwesen in seiner
üblichen Gestalt und Durchführung ersetzt, in der Krauken-, Unfall-, Invaliden- und
Alters-, Wittwen- und Waisenversicherung (bezügliche Einrichtungen im öffentlichen
Dienst für die Beamten, s. Fin. I, 8. A. §. 164 ff., deutsche und andere neuere Ar-
beiterversicherung). Völlig, wenn die betreffenden Versicherungsbeiträge an die Ver-
sicherten ausreichend bemessen und ausschliesslich aus Beiträgen der Versicherten
selbst, bezw. aus Fonds, welche die letzteren allein aufgebracht haben, bestritten
werden; t heil w eise, wenn andere Privatpersonen, wie namentlich die Arbeitgeber,
die Kosten einer ausreichende Unterstützung gewährenden Arbeiterversicherung allein
oder zusammen mit den Versicherten und etwaigen Dritten tragen und wenn ein
696 4. B. Bevölk. u. Volksw.scli. 2. K. Vertheil.probl. 2. A. Regelung. §. 273.
öffentlicher Körper Beiträge leistet (Reichszuschuss bei der deutschen Alters- und
Invalidenversicherung). In beiden letzteren Fallen liegt hier aber nur eine andere
Kegulirung der öffentlichen Armenlast vor, wie schon oben bemerkt. Beiträge
der Arbeitgeber erscheinen zugleich als eine Acnderung der vertragsmässigen Ver-
thcilung des Gesammtcrtrags der Production zwischen Arbeiter und Arbeitgeber.
Zwangsbeiträgo als eine dieser Aendcrung der Vertheilung zu Grunde liegende
Aenderung der Rechtsordnung zwischen „Kapital und Arbeit“, freilich, streng ge-
nommen. nur wenn jene Beiträge nicht etwa zu entsprechenden Lohnverkürzungen
führen. Beiträge der Arbeiter selbst und auch öffentlicher Körper (aus Steuern) haben
ökonomisch und rechtlich die Bedeutung von bestimmten Verwendungsarten des Ein-
kommens, Zwangsbeiträge der Arbeiter von zwangsweisen Consumregelungen und Er-
sparungen. Beiträge öffentlicher Körper aus solchen Steuern, welche nicht auf die
Versicherten selbst fallen, wirken im Effect wie Verkürzungen des aus der verkehrs-
mässigen Regelung hervorgegangenen Einkommens Andrer. — Mit Eingriffen der
Rechtsordnung in die Vertheilung des Productionsertrags, bzw. in die Ver-
wendung des Einkommens hat man es hiernach bei der obligatorischen Arbeiter-
versicherung immer in der einen oder anderen Weise zu thun. Wer das nicht er-
kennt oder bestreitet, verfolgt die hier obwaltenden Priucipien in ihrer ökonomischen
Wirkung nicht weit geuug oder unrichtig. Es ist daher auch völlig consequent, wenn
die ökonomischen Individualisten und „Freihändler“ diese, wie jede andere obliga-
torische Versicherung (z. B. bei Brandschäden) verwerfen (vergl. meinen Aufs.
Staat und Versicherungswesen in der Tüb. Ztschr. 1SS1, auch selbständig erschienen,
und meine Abli. Versicherungswesen im Scliönberg’schen Handbuch B. III).
c) Auch die Steuerfreiheiten speciell für „Arme“ im verwaltungsrecht-
lichen Sinne, die unentgeltliche Gewährung öflcntlicher Leistungen für sie
(„Armenschulc“. „Armenrecht“ im Process, bei Beanspruchung von Rechtshilfe, „freie
oder billigere Fahrt“ u. dergl. bei öffentlichen Verkehrsanstalten u. a. Aehnliche)
gehören mit hierher, soweit es sich um Bedürfnisse handelt, welche nach der herr-
schenden Auffassung zu den Existenzbedürfnissen gehören, deren Befriedigung gewähr-
leistet werden soll. So ein Minimum von Bildungscrlangung. von Rechtshilfe.
§. 273. — 2. Bei der zweiten Reibe von Fällen, schuld-
losem Mangel an Erwerbsgelegen heit — und ähnlich: an
genügender — kommen vor Allem diejenigen wirtschaftlichen
Verhältnisse in Betracht, wo, bei persönlicher Fähigkeit und gutem
Willen zu arbeiten, es nach Lage der Dinge auf dem ,. Arbeits-
markte“ an ausreichender Nachfrage nach Arbeitskräften fehlt.
Daran kann freilich wieder mancherlei Verschiedenes schuld sein: allgemeinere
und partielle Erwerbsstockungen, welche aus Absatzstockungen hervorgehen — der
ominöse moderne Fall der „Krisen“ im technischen Sinne des Worts — ; zeitliche,
locale Ueberfüllung des Arbeitsmarktes wegen zu starken Zuzugs von Arbeitskräften
(Freizügigkeitsfrage), Ueberfüllung von einzelnen Berufszweigen der nationalen Arbeit
wegen zu starken Andrangs des Nachwuchses dazu (Uebcrvölkerungsfrage). überhaupt
alle die mannigfaltigen Verhältnisse, welche auf „rückgängige Conjuncturen“ im
Wirtschaftsleben hinwirken, Acnderungen der Productionstechnik, der Verkehrs-
wege, Ersetzung der Arbeitskräfte durch Maschinen u. s. w. (jj. 167).
Dauernde Abhilfe kann hier nur entweder die Steigerung,
bessere Ordnung, mehr an natürlichen Productionskosten sparende
Gestaltung der Production (technischer Fortschritt), daher eine dies
Alles möglichst begünstigende volkswirtschaftliche Organisation,
oder die Verminderung und günstigere Gliederung der Bevölkerung
(auch durch Wanderungen), die langsamere Volksvermehrung oder
endlich eine Combination zwischen diesen beiden Momenten bringen.
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Durchfuhr, d. Rechts auf Existenz. Schuldloser Erwerbsmangel.
697
Ein grosser Theil der Fragen der Bevölkerungslehre, der socialen
Freiheitsrechte (Eheschliessungs-,. Zug-, Ein- und Auswanderungs-
recht), der Eigenthumsordnung in deren Rückwirkung auf die Pro-
ductivität spielt auch hier mit.
Indessen, alles das kommt für chronische Nothstände und
Schwierigkeiten in Betracht, wobei es auf die tieferen Ursachen
einzuwirken gilt. Dadurch kann auch bestenfalls nur langsam
und allmählig Besserung der Verhältnisse erreicht werden. In
den hier in Rede stehenden Fällen handelt es sich aber um acute
Nothstände, denen durch unmittelbar wirkende Maassregeln
allein abgeholfen werden kann.
Als solche kommen hier in nothwendiger Consequcnz des Rechts
auf Existenz in Betracht: das Recht auf Arbeit, als ein sub-
sidiäres Recht auch unserer Erwerbsordnung, insbesondere
die Beschäftigung arbeitsloser Erwerbsfähiger, ferner
subsidiär die Ausdehnung des öffentlichen Armen-
rechts auf diese Personen, wenn dieselben nicht oder nicht
ausreichend oder nur gegen unzulängliche Löhne auf diese Art
beschäftigt werden können.
a) Das hier gemeinte Recht auf Arbeit ist das Recht für diejenigen Personen,
welche nicht auf dem freien Arbeitsmarkte Erwerbsarbeit finden können, solche von
öffentlichen Autoritäten direct oder durch deren Vermittlung bei Privaten zu-
gewiesen zu erhalten und zwar zu einem mindestens die Befriedigung der Existenz-
bedürfnisse im Umfang der unteren Arbeiterschichten gestattenden Lohne (gemeiner
Arbeitslohn). Diesem Recht entspricht die Pflicht der Gemeinschaft, hierfür die Ein-
richtungen zu trefFen und die Mittel (eventuell durch Rückgriff auf die Besteuerung)
zu beschaffen, aber als Correlat auch die Pflicht der betreffenden Individuen, die
übertragene Arbeit zu übernehmen, das Recht der Gemeinschaft, dies zu verlangen
und dafür die erforderlichen Zwangs- und Strafmittel anzuwenden.
Eine nicht nur practischc, sondern auch in der Frage mit vorliegende theo-
retische Schwierigkeit betrifft die Auswahl der Arbeit. Diese wird mit Rück-
sicht auf die Kräfte der Betreffenden zu bestimmen und namentlich auch darnach im
Umfang zu bemessen sein. Andernfalls geht die Person in die Kategorie unter b über.
Aber eine freie Wahl der zuzuweisenden Arbeit und eine Bestimmung derselben
genau nach dem bisherigen Beruf des Arbeitslosen ist keine nothwendige und
keine allgemein durchführbare Consequenz dieses Rechts auf Arbeit. Ebensowenig
eine Loh n bestimm u ng nach freiem Vertrag zwischen der öffentlichen Autorität,
als dem Arbeitgeber oder Arbeitsvermittler, und dem so beschäftigten Arbeitslosen.
Wohl aber ist Sicherung geboten, dass der Lohn dem angedeuteten Maasse ent-
spreche.
In unserer, auf der Rechtsgrundlage der persönlichen Freiheit und des Privat-
eigenthums beruhenden (wesentlich „privatwirtschaftlich organisirten“) Volkswirt-
schaft (Buch 5 u. Abth. 2) ist dieses „Recht auf Arbeit“ aber nur ein subsidiäres,
d. h. bloss eine unter gewissen Umständen notwendig werdende Consequenz
des Rechts auf Existenz, — im Unterschied zu einer socialistisch organisirten
Volkswirtschaft, wo dieses Recht und die correlativc Arbeitspflicht der Eckstein
des persönlichen Arbeitsrechts sein müsste. Practisch kommt daher bei uns das Recht
auf Arbeit auch nur in den angedeuteten Ausnah me fällen zur Geltung, vornern-
lich dann und da, wo nach Lage der Umstände, unter dem Einfluss der Jahreszeit
(Winter), plötzlicher Erwerbsstockungen (in Folge politischer Ereignisse, sanitärer
698 4. B. Berölk. u. Volksw.sch. 2. K. Verthoii.probl. 2. A. Regelung-. §. 273.
Verhältnisse [Seuchen, Cholcrazeitcn], anderer Elcmentarereignisse, mit elementarer
Gewalt plötzlich cinbrechender Handels-, Creditkrisen u. dgl. m.) Erwerbsfähige un-
vorhergesehen keine Arbeit linden. -Hier wird auch in unseren Culturstaaten
bereits regelmässig auf die angedeutete Weise zu helfen gesucht
Allerdings wird eine derartige Hilfegewährung Seitens öffentlicher Autoritäten
und ein correlativer Anspruch arbeitsloser Erwerbsfähiger nicht allgemein, bisher,
wie einzuräumen ist. nur selten unter dem technischen Ausdruck des „Rechts auf
Arbeit“ zusammengefasst. Im Gegenthcil wird das wohl abgewiesen, weil man in diesem
„Recht auf Arbeit'* etwas Gefährliches sieht, etwas, was zum Rüstzeug des reinen
Socialismus gehöre und wegen der Consequenzen , zu denen cs führe, ausserhalb der
socialistisch organisirten Volkswirtschaft und Gesellschaft, daher bei uns, theoretisch
unhaltbar und pradisch undurchführbar sei. Auch diese Streitfrage ist hier nicht
auszutragen. Es mag an der Bemerkung genügen, dass hier eben zwischen dem
socialistischcn Recht auf Arbeit und diesem Recht als einem in der angedeuteten
Weise subsidiärem auch in unserer Erwerbsordnung zu unterscheiden sein möchte.
Hier cs zu bestreiten, scheint mir gegenüber den sittlichen Anschauungen, welche
in dieser Beziehung bei uns bereits herrschen, und gegenüber dem unvermeidlichen
tatsächlichen Vorgehen in der Praxis auf einen Wortstreit hinaus zu laufen. In einer
oft angeführten Stelle des preussischeu Landrechts findet sich das Recht auch bereits
formulirt (Thcil II, Tit. 19, §. 2, nach dem in §. 1 als Verpflichtung des Staats
formulirten Recht auf Existenz).
Freilich kommt man bei der Durchführung dieses Rechts auf Arbeit, ab-
gesehen von den Schwierigkeiten der Mittelbeschaflung — wofür eben doch schliess-
lich die sonstigen Methoden der Einnahmebeschaffung öffentlicher Körper in Betracht
kommen — , auch abgesehen von der Wahl der Arbeitsarten, vor Allem in die Zwangs-
lage, sich mit dem F reiz ügigkeitsgrutids atz und mit der wenigstens thatsich-
licli etwa gewährten Einwauderungsfreiheit auch für Ausländer (Industrie-
gegenden, Handels-, andere Grossstädte, überseeische Länder) auseinander setzen zu
müssen. Ein Ausweisungsrecht gegenüber arbeitslosen Ausländern in Bezug auf das
ganze Inland wird unter unseren heutigen Verhältnissen noch nicht abzuweisen sein.
Auch Inländern gegenüber wird dasselbe in Bezug auf heimische Orte so lange müssen
Platz greifen dürfen , als die Mittel zur Hilfegewährung (wie ähnlich im Falle der
communalen Armcnuntcrstützungspflicht) von den kleineren öffentlichen Körpern,
bezw. namentlich von den Ortsgemeinden, auf ihre alleinige Rechnung aufzubringen
sind. Die Freizügigkeit führt hier daher leicht zu unhaltbaren Verhältnissen, wie
sich das gegenwärtig in Deutschland zeigt Die Ausübung auch nur eines solchen
subsidiären Rechts auf Arbeit, ebenso wie des Armenrechts (namentlich des unter b
zu erwähnenden ausgedehnteren) Seitens der verschiedenen kleinen Körper, der Ge-
meinden und dann etwa noch örtlich in verschiedenem Maasse drohte in Verbindung
mit Freizügigkeit zu unbilliger, auch zu unerträglicher Ucberlastung einzelner Ge-
meinden u. s. w. zu führen. Daher ist die noth wendige Cousequenz: entweder in
solchen Fällen arbeitslosen Erwerbsfähigen die Freizügigkeit zu beschränken, der Ge-
meinde ein — jedenfalls länger als z. B. die 2jährige Frist der Erwerbung des Unter-
stützungswohnsitzes — dauerndes Ausweisungsrecht gegenüber Zugezogenen zu ge-
währen, oder das Recht auf Arbeit, wie das Armenrecht, und in Conseqnenz der
modernen staats wirtschaftlichen Gestaltung der Erwerbsordnung, zu einem, wenn
auch etwa von der Gemeinde administrativ zu handhabenden, doch mit den Mitteln
des Staats und unter seiner Controle durchzuführenden staatlichen Recht aus-
zugestalten.
Man sieht, dass hier bekannte wichtige Fragen über die richtige Gestaltung des
Armenrechts, des Rechts des Unterstützungswohnsitzes, des Zugrechts analog auf-
tauchen. Es muss aber hier an diesen Andeutungen genügen. Vgl. u. A. die Abh.
Armenwesen von Löning im Schönberg’schen Handbuch B. III, den Aufs. Armen-
wesen von Aschrott im Handwörterb. d. Staatswiss. B. 1 und daselbst die Spccial-
artikel über die Arinengesetzgebung verschiedener Staaten. Ueber das Rechtsprincip
des Rechts auf Arbeit (im Unterschied zum Recht auf Existenz und zum Recht
auf den vollen Arbeitsertrag) wiederum das Schärfste von Anton Meng er a. a. 0.
b) In denjenigen Fällen, wo aber nicht in der soeben besprochenen Weise kraft
eines subsidiären Rechts auf Arbeit auch in unserer Erwerbsordnung für die arbeiis-
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Hecht auf Arbeit. Ausdehnung des Armenrechts.
699
losen Erwerbsfähigen gesorgt werden kann, vermag man sich der ebenfalls subsidiären
Ausdehnung des öffentlichen Armenrechts auch auf diese Personen (und ihre Familien)
nicht zu entziehen: daher Uber die Kategorie der Erwerbsunfähigen (unter 1 in §. 272)
hinaus. Allerdings kann — und wird in der Praxis — auch liier durch die carita-
tive Hilfe in mancherlei Formen vorgesorgt werden. Es ist auch wohl zulässig, wenn-
gleich nicht unbedingt geboten und nicht ohno Bedenken, diese Art Ililfe voran-
geheu, auch ihr gegenüber die Ausdehnung des öffentlichen Armenrechts nur
subsidiär eintreten zu lassen. Aber subsidiär muss das Armenrecht hier noth-
wendig eintreten und sind demgemäss Einrichtungen und Mittclbcschalfungeu zu
verlangen.
Die Nothwendigkcit hiervon wird mit durch die Entwicklung der Volkswirt-
schaft bedingt. Jo mehr letztre in die industriell-mercantilc Phase tritt, die untere
arbeitende Bevölkerung aus ihrem Geburtsort in andere Orte zur Aufsuchung von
Erwerbsarbeit übersiedelt, je leichter dann hier, zumal in unserem auf freier Con-
currenz beruhenden Wirtschaftssystem, Erwerbsstockungen eintreten, sowie in Folge
der Entwicklung derTechnik(Maschinenwesen) Arbeiter überflüssig werden. — desto wich-
tiger und häufiger wird die Nothwendigkcit, auch erwerbsfähige Arbeitslose als „Arme“
im verwaltungsrechtlicben Sinne anerkennen und auf sie das Armenrecht ausdehnen
zu müssen. Dieser berühmte und „berüchtigte“ Grundsatz des englischen Armen-
rechts war zwar dort schon vor der neueren wirtschaftlichen Entwicklung Rechtens
und in Cebung. Er hat gewiss sein Missliches, wie sich dort auch gezeigt hat, aber
doch auch wieder seine Notwendigkeit Es ist daher auch begreiflich, dass man ihn
nicht auigegeben hat. auch nicht in den Reformen der neueren Zeit (bcs. 1834), da
er grade durch die neuere Entwicklung der britischen Volkswirtschaft vollends un-
vermeidlich geworden ist. Man hat sich damit begnügen müssen, durch Reformen in
der praetischcn Ausübung der öffentlichen Armenpllege nur die allerdings nicht zu
leugnenden Gefahren des Priucips möglichst zu vermeiden. Eine Consequenz der
sittlichen Anschauungen und der Rechtsideen, welche dem Recht auf Existenz zu
Grunde liegen, ist er jedenfalls. Freilich wird es als Aufgabe anzuerkennen sein,
diejenigen Classen und Personenkreise, welche den Hauptvortheil von der Verwertung
der Arbeitskraft der Arbeiter, auch der zugewanderton , vielleicht absichtlich heran-
gezogenen, während des guten Geschäftsgangs gehabt haben, die Arbeitgeber,
Fabrikanten u. s>. w„ auch speciell mehr als die gesammte übrige Bevölkerung, even-
tuell allein oder doch in erster Linie, mit den Kosten einer solchen Armenpflege für
arbeitsfähige Erwerbslose zu belasten : ein wichtiger Gcsichtspunct für die Frage der
Mitlelbeschaffung in dieser Armenpflege. — Vergl. aus der neueren Littcratur den
Aufsatz von D. H. Meier Uber Armenwesen in Grossbritannien in Emminghaus’
Sammelwerk Uber Armenwesen , bes. jetzt Aschrott, das englische Armenwesen,
Leipzig 1886 u. ders. darüber im H.w.b. d. Staatswiss. I, 873 ff.
Für die Beschallung der Mittel kommen sonst dio Grundsätze des allgemeinen
Armenrechts auch hier zur Anwendung (offene oder verhüllte Armensteuern , Auf-
nahme der erforderlichen Ausgaben in den Etat der unterstützungspflichtigcn Körper-
schaft. des Verbands u. s. w.). Hinsichtlich der Schwierigkeiten der Durchführung
des Princips, der Conflicte mit der Freizügigkeit, der Cautelen, der Consequenz, den
Staat, als die grösste Volksgemeinschaft im einheitlichen Volkswirthschaftsgebiet, hier
mit den Lasten der Armenpflege zu belegen, ist auf die Bemerkungen unter 1 in
§. 272 zu verweisen.
§. 274. — 3. Bei der dritten Reihe von Fällen, bei selbst-
versehuldetem Mangel an Unterhaltsmitteln, für die
eigene Person und für diejenigen, welche dieselbe zu unterhalten ver-
pflichtet ist (Familie), liegt unrichtige, zu grosse, falsch auf die
Bedlirfnisskategorien vertheilte, zu kostspielige Consumtion oder
unrichtige Verwendung des voraussetzungsweise sonst genügendes
Auskommen gewährenden Einkommens (und Vermögens) vor. Auch
das ist für die Gemeinschaft nicht gleichgiltig, sobald daraus die
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700 4. B Bevölk. u. Volksw.sch. 2. K. Vertbcil.probl. 2. A. Regelung. §. 274.
Gefahr entsteht, mit Unterstützungen aus öffentlichen Mitteln ein-
treten zu müssen, weil sonst die Erhaltung der Existenz des Be-
treffenden und seiner Angehörigen, dem Recht auf Existenz zuwider,
gefährdet würde. Daher muss wiederum als Consequenz jenes
Rechts ein Recht und eine Pflicht der Gemeinschaft dem Betreffenden
und den Seinen gegenüber abgeleitet werden, eventuell präventiv
Vorkehrungen gegen solche Gefahren zu treffen. Dem entspricht
correlativ die sittliche Pflicht des Betreffenden, diese Vorkehrungen
zu berücksichtigen und, soweit es sich um Zwang dabei handelt,
die Rechtspflicht, sich diesem Allen zu fügen.
Mancherlei Maassregeln der Praxis und Rechtssätze oder
wenigstens Keime zu solchen, Ansätze zu bezüglichen Sittenhildungen
finden sich auch bereits in unserer Culturperiode in dieser Richtung.
Aber sie sind noch nicht genügend organisch und systematisch
entwickelt und auch die Theorie hat es an bezüglicher Vorarbeit
noch fehlen lassen.
Man kann wohl dreierlei Arten von Maassregeln unter-
scheiden, solche, welche auf ein zweckmässiges wirtschaftliches
Handeln anspornend einwirken, also den Willen beeinflussen
sollen, solche, welche jenes Handeln lehren, also die Fähig-
keit beeinflussen sollen, wobei im Uebrigen in beiden Fällen
Freiwilligkeit des Handelns vorausgesetzt wird, und drittens
solche, welche direct oder indirect auch hier zum Zwang greifen.
Einige Beispiele mögen hier zur Erläuterung genügen.
a) Zum Ansporn zu richtigem wirtschaftlichen Handeln in Bezug auf die
Verwendung des Einkommens und die Consumtion dient die Institution eines gut
eingerichteten, soliden, hinlängliche Gelegenheit, Bequemlichkeit der Benutzung bie-
tenden Sparcassen wesens, vornemlich für die unteren Classen. Dasselbe kommt
hier nicht bloss, ja nicht einmal in erster Linie als Mittel in Betracht, die Privat-
kapitalbildung in diesen Kreisen behufs Rentenbezugs, auch nicht auf diese Weise die
Nationalkapitalbildung zu befördern, obgleich Beides mit Recht mitspielt. Vornemlich
dient es oder kann und soll es wenigstens mit dazu dienen, Reiz und Gelegenheit zu
geben, bei schwankendem Einkommen und schwankendem Verbrauch ein mehr
dauerndes Gleichgewicht zwischen beiden , eine dauernde Garantie des Auskommens
herbeizuführen, indem in günstigeren Zeiten Erübrigungen zur Deckung der Ausfälle
in ungünstigeren gemacht werden (Roservcfondsbildung, §. 162). Alles um so noth-
wendiger, je mehr nach der Entwicklung der Volkswirtschaft, der Macht der Con-
junctur (§. 166 II'.) hier Schwankungen in den Erwerbs- und Vcrbraucbsverh<nissen
(Preisen der Bedarfsgegenstände) Vorkommen. Neben der Sicherheit der Anlage, der
Zinshöhe, der nach Bedurfniss möglichen, doch nicht zu leichten Rcalisirbarkeit der Gut-
haben ist hier bequeme Gelegenheit zur An- oder Einlage von Spargeldern, besonders
in kleinen Raten, auch um Ausgabeversuchungen zu entgehen, von besonderer Wichtig-
keit (Einrichtung eines regelmässigen Abholungsdicnstes hei den Einlagen nach A.
Scherl ’s Plan, gebilligt in den Gutachten von Roscher sen. und jun., Evcrt, mir
u. A. 1890 — 91). — Sonst kommt Alles in Betracht, wodurch zweckmässige und spar-
same Consumtion, haushälterische Einkommenverwendung auch bei den unteren Classen
direct und indirect durch Erweckung bezüglicher den Willen bestimmender Motive und
II
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Selbstverschuldeter Mangel an Unterhaltsmittelu.
701
durch Beseitigung oder Zurückdrängung von Versuchungen zur Verschwendung, zu
unpassenden und schädlichen Consumtionen begünstigt wird: Hebung der materiellen
und sittlichen Lebenshaltung dieser Classen, vor Allem Verbesserung und Preis-
ermässigung der Wohnungen, Beschränkung des Wirthshauswesens und des Con-
sums der Alcoholica (daher insofern auch Einflüsse der dritten Reihe von Maassregeln,
unter c), unnützen Kleidungsluxus der Frauen u. dgl. m., auch Gewährung von Ge-
legenheit zu besseren, edleren, wohlfeileren Genüssen und Freuden, als dem Wirths-
hauswesen, der Kneipe und dem, was darum und daran hängt; freilich aber auch
ausreichende, gesunde Nahrung ermöglichende, dadurch Reizmittel, wie Alcohol,
Tabak, entbehrlicher machende Löhnung und grössere Stabilität der Erwerbs-
verhältnisse, der Preise der Hauptbedarfsartikel. Auch hier steht daher immer das
Problem — besserer Regelung von Production und Vertheilung zur Discussion.
b) Belehrend, die Fähigkeit richtiger Consumregelung und Einkommenver-
weudung steigernd wirkt wieder mancherlei ein. Alle neueren Untersuchungen über
Arbeite rverhältnisse, besonders der Fabrikarbeiter, haben z. B. gezeigt, dass die mangel-
hafte wirthschaftlich-technische Ausbildung der Arbeiterfrauen Ihr ihren Hausfrau-
und Mutterberuf nicht unwesentlich auch bei leidlich auskömmlichen und regelmässigen
Löhnen zur Störung des Gleichgewichts zwischen Einkommen und Consum beiträgt,
z. B. die Unfähigkeit im Kochen, die Unkenntniss der Waaren zu schlechten und
theuren Speisen führt, den Mann auch deswegen leichter ins Wirtbshaus treibt; die
Ungeschicklichkeit in weiblicher Nadelarbeit zu Vergeudungen, zur Unterlassung recht-
zeitiger oder schlechter Ausführung nothwendiger Flickarbeit, zu theurem Einkauf von
mancherlei Nöthigem und Unnöthigem im Laden, auf Bestellung der Anlass wird, was
zu Hause besser und wohlfeiler herzustellen wäre. Mit Recht wird hier neuerdings
manchfach auf Verbreitung der erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten hingewirkt.
— Verbreitung von Hanshaltkunde, Haushaltrechucn , Buchführung über Einnahmen
und Ausgaben wirkt ähnlich, desgleichen auch hier Verbreitung der Kenntniss edlerer
Genüsse. — Einrichtungen, welche das Auskommen erleichtern, wie Consumvereine,
Grosseinkäufe von Gebrauchsartikeln, Hausbau- und Wohnungsvereine, Einrichtungen
zur Ansammlung der Posten für grössere Terminausgaben (Wohnung!) in kleinen Be-
trägen und Achnliches mehr sind auch hier empfehlenswerth , selbst wenn sie prin-
cipiell, wegen ihrer möglichen Rückwirkung auf den Vertheilungsprocess, auf die
Einkommen bildung, die Löhne, nicht dauernd und durchgreifend nutzen sollten.
c) Endlich sind aber auch hier Zwangsmaassregeln und regulative Ein-
griffe principiell nicht auszuschliessen , wenn jene freiwillig erfolgenden Maass-
nahmen nicht ausreichen, um die hier bespiochene selbstverschuldete Mittellosigkeit
vermeiden zu helfen, und die Gemeinschaft daher mit ihren Mitteln eingreifen müsste.
Hierin liegt, wie nicht bestritten werden kann und soll, ein Moment der Bevor-
mundung, welches den Vorurtheilen des Liberalismus und Individualismus wider-
spricht, aber dem wahren Interesse der betroffenen Volksclassen selbst, ihrer durch-
schnittlichen ethischen Beschaffenheit, ihrem Mangel an genügender und richtiger
Selbstbeherrschung und Voraussicht, und auch dem Gesammtinteresse der Volksgemein-
schaft entspricht. Die Praxis hat daher diesen Gesichtspunct auch im Zeitalter des
Liberalismus und Individualismus nie ganz aufgegeben, so in den gleich zu erwähnenden
Fällen. Sie ist neuerdings, zum Thcil nach ungünstigen Erfahrungen mit dem „Gehen-
lassen“, mehrfach wieder zu strengeren Grundsätzen zurückgekehrt, in den freiesten
Gemeinwesen der Welt selbst in besonders scharfem Maasse (Nordamerica). Sie hat
in anderen Fällen ähnliche Grundsätze, modificirt nach den Bedürfnissen, um die es
sich handelt, anzunehuieu begonnen. Und auch die Theorie hat ihr Studium den hier
vorliegenden Fragen des Princips und der Verwirklichung eines Princips der Regelung
und des Zwangs wieder zugewandt und angefangen. Manches anzuerkennen, was sie
vor nicht lauge noch verwarf. Es ist aber hier für theoretische und practische Arbeit
noch viel zu thun übrig.
Wichtigere hierher gehörige Fälle sind: die regulirende Wirtbshaus- und
namentlich Schank wirthschafts-Politik, nach dem Gesichtspunct, die Ver-
suchung zum Consum alkoholischer Getränke, besonders des Branntweins, zu ver-
mindern, die Gelegenheit dazu zu erschweren (Ausschluss des Schaukgewerbes von
dem Grundsatz der Gewerbefreiheit, System der obrigkeitlichen Schankconcessionen,
entsprechende Besteuerung dafür [LicenzsystemJ, sonstige Controlcn, „Polizeistunde“
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Thcil. Grundlagen. 45
702 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 2. K. Vertheil.probl. 2. A. Regelung. §. 275.
für Schluss der Locale, Ausschluss notorischer Säufer u. dgl. von der Verabreichung
von Getränken, besonders Branntwein, Verantwortlichkeit der Wirthe dafür u. dgl. m.;
anderweite, als gewerbliche Regelung des Schankwesens [Gothenburger System], Verbot
des Ausschanks alkoholischer Getränke [nordamericanische Staaten]). — Politik der
indirecten Verbrauchsbesteuerung, besonders für Branntwein, in der aus-
drücklichen Absicht, den Consum zu vertheuern und ihn dadurch einzuschränken,
daher nach diesem Gesiclitsponcte, nicht oder nicht bloss noch zuerst im fiscalischeo
Interesse, die Besteuerung, namentlich den Steuersatz zu bestimmen (lange ausgespro-
chene Tendenz in Grossbritannien, vgl. meine Fin.wiss. III, §. 134, Dow eil ’s Won
daselbst S. 287, ähnlich in einigen anderen Ländern), — Verbot, Beschränkung.
Regelung, Besteuerung des Glücksspiels aus ähnlichen Gründen. Aehnliche Ten-
denzen und Maassregeln bei öffentlichen sonstigen Lustbarkeiten (Tanz, Genehmi-
gungsrecht, Controle der Obrigkeit, Besteuerung). — Desgleichen beginnend solch«
Verfahren auf dem Gebiete des Sittlichkeitswesens, wo überwiegend bisher
indessen noch andere Gesichtspuncte (Verhütung öffentlichen Aergernisses, Sittlichkeits-
polizei aus ethischen, religiösen Gründen) vorwalten, aber Vieles auch aus dem hier
besprochenen ökonomischen Standpunct zu begründen wäre (Wirthshaus-, Lnst-
barkeitspolitik nach dieser Seite). — Manches könnte sich noch anschliessen und
wird sich wohl allmälig anschliessen (Regelung des Börsenwesens, Börsen-
spiels mit aus diesem Gesichtspuncte. des Wcttwesens, bei Rennen, wo die
Regelung und Besteuerung begonnen hat u. A. m.).
Aber es gehören hierher auch noch ganz andere Fälle, bei welchen das gleiche
Princip, nur verhüllter, zu Grunde liegt. So bei den schon erwähnten Einrichtungen
der Zwangsersparung, wie im obligatorischen Arbeiterversicherungs- (ähnlich
Feuerversicherungswesen) mit Zwangsbeiträgen der Versicherten, wozu auch diejenigen
gehören, welche die Versicherten etwa in der Form von directen, aber auch selbst
von indirecten Steuern entrichten, wenn aus deren Ertrag Zuschüsse zu solchen Ver-
sicherungseinrichtungen geleistet werden (der schon mehrfach daher oben zu erwäh-
nende Reicbszuschuss zur Altersversicherung).
Diese Zwangsersparungen oder zwangsweisen Einkommenverwendungen — worauf
jene hinauskommen — mittelst Besteuerungsmaassregeln liessen sich zu einem System
ausbilden, indem aus den Steuererträgen nicht die allgemeinen öffentlichen Aus-
gaben, soudern speciell Zwecke und Einrichtungen für die unteren Classen ausgefuhrt
würden. (Verwendung von Salzsteuern, Tabaksteuern, Ertrag eines Tabak-, Brannt-
weinmonopols grade hierfür, vcrgl. meine Fin.wiss, 2. A. §. 251, bes. S. 607, sowie
meine Abhandlung Versicherungswesen im Schöuberg’schen Handbuch III, 3. Aufl
§. 24 S. 987).
Ob, wie, wie weit, wann, wo ein solches Verfahren richtig wäre, haben wir
hier jetzt nicht zu erörtern, Möglich ist es jedenfalls, zweckmässig auch in man-
chen Fällen, ja, im Grunde ist es in der Praxis eigentlich in alter Uebung, wenn
man sich auch dabei dieser Zusammenhänge und dieser principiellen Seite der
Sache nicht immer bewusst ist. Denn wenn die grosse Masse von öffentlichen Lei-
stungen (Rechtsschutz! öffentliche Verwaltungsthätigkeit, Volksschule, Verkehrswesen
u. s. w.) doch notorisch auch in bedeutendstem Maasse den untern Classen zu Gute
kommt und mit allgemeinen Steuern, zu denen diese Classen beitragen, bestritten
wird, wie es notorisch ebenfalls geschieht, so läuft das Ganze, principiell erfasst, doch
eben auf eine, die Einkommenverwendung zwangsweise regulirende
Finanz- und Steuerpolitik mit hinaus: d. h. auf das, was hier in Frage steht.
Berücksichtigt man, wahrheitsgemäss, dass viele dieser öffentlichen Leistungen den
unteren Classen etwas gewähren, was, in unserer Culturepoche wenigstens, zu den
„Existenzbedürfnissen“, selbst 1. Grads, gehört, so ergiebt sich aus dem Angeführten,
dass wir auch hier bereits weit tiefer im „bevormundenden“, consumregelnden (in-
sofern: „socialistischen“) „Vertheilungssystem“ stecken, als wir meistens glauben.
§. 275. — 4. Bei der vierten Reihe von Fällen endlich,
denjenigen selbstverschuldeten Erwerbsmaugels, hat
man es mit den ökonomischen Folgen sittlicher Schäden auf dem
Arbeitsgebiete und in der ganzen Lebensführung zu tliun: Arbeits-
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Selbstverschuldeter Erwerbsmangel.
703
sehen, Liederlichkeit, Leichtsinn, Vagabundenthum u. dgl. m.
Diesen Fällen stehen sittlich oder auch zugleich rechtlich verbotene
Erwerbsarten nahe, Bettelei Erwerbsfähiger und nur durch eigene
Schuld Arbeitsloser, Prostitutionserwerb, andere verbrecherische
Erwerbsarten (Diebstahl u. s. w.). Hier wird die Gemeinschaft
zwar auch solchen Personen gegenüber das Recht auf Existenz
anerkennen, aber unter den von ihr zu stellenden sittlichen und
rechtlichen Bedingungen, daher mit Recht und Pflicht für sich,
gegen die Betreffenden mit Repression der verwerflichen Lebens-
weise und Erwerbsart, eventuell mit Strafe und Zwang dagegen
einzuschreiten und neben pädagogischen Besserungsmitteln zum
Arbeitszwang zu greifen. Soweit die Gemeinschaft dabei Unter-
halt gewährt, wird sie denselben im eigenen Interesse auf das
zwar auch historisch veränderliche, aber jedenfalls dasjenige je-
weilige Minimalmaass nach Menge und namentlich nach Art und
Güte der Bedürfnisbefriedigung beschränken müssen, welches nach
den Lehren der Physiologie, aber doch auch nach den Anschauungen
einer humaneren Zeit zur Erhaltung der Existenz und der Arbeits-
kraft ausreicht Und correlativ diesen Rechten und Pflichten der
Gemeinschaft wird zwar diesen Classen und Personen wieder das
Existenzrecht zu gewähren, aber auch die Pflicht aufzulegen sein,
sich diesen Bedingungen, unter welchen es allein die Gemeinschaft
einräumen und durchführen kann, zu fügen.
Es gehört daher hierher das grosse Gebiet der Bettel-, Vagabunden-, Arbeits-
scheu-, Prostitutionspolizei u. s. w., die (Zwangs-) Erziehung verwahrloster Kinder
(Rettungshäuser), die Gestaltung des Strafvollzugs nach der hier besprochenen wirt-
schaftlichen Seite (Maassstab für die den Strafgefangenen verschiedener Art zu ge-
währende Bedürfnisbefriedigung, abgesehen von der etwaigen Abstufung der letzteren
als einer Form der Strafabstufung).
Soweit es sich hier aber um Verhütung der berührten Fehler, Laster und
Verbrechen und dabei nicht um wirklich individuelle Verhältnisse, Bedingungen und
Ursachen davon, sondern um allgemeinere, in den gesammten socialen, wirtschaft-
lichen, Bildungs-, Sittlichkeitszuständen u. s. w. liegende, handelt, kommt freilich auch
hier wieder sehr Vieles von dem in Betracht, was bei den vorangehenden drei Kate-
gorieen von Fällen mitspiclt. Denn die Probleme bei dieser vierten Kategorie hängen
zwar keineswegs allein, wie der Socialismus wieder übertreibend geneigt ist anzu-
nehmen. aber doch auch immer mehr oder weniger mit den Fragen der volkswirt-
schaftlichen Organisation und Rechtsordnung, der Gestaltung und Entwicklung von
Production und Verteilung zusammen. Unverschuldete Erwerbsstockungen, ungenü-
gende Fürsorge in Krankheit, ungenügende Löhne u. dergl. führen zu Noth, Mittel-
losigkeit. Müssiggang u. s. w. und damit nur zu leicht zu Arbeitsscheu, Vagabunden-
tum, Verbrechen, Prostitution. Die furchtbare Verbreitung der letzteren hat doch
nicht allein, im Ganzen wohl weniger in der Sittenlosigkeit , der Sinnlichkeit, selbst
nicht der Genuss-, Putzsucht u. s. w. der Frauen, nicht einmal in der Sinnlichkeit und
frivolen Anschauung und Lebensweise der Mänuer, als eben in der Erwerbsnoth, in
der Schwierigkeit, Beschäftigung zu finden, in den unzureichenden Löhnen in vielen
Zweigen der weiblichen Arbeit ihren tieferen Grund. Die moderne wirtschaftliche
Entwicklung hat hier auch vielfach ungünstigere Verhältnisse bei den verschiedenen
45*
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704 4. B. Bevölk. u. Volksw.scb. 2. K. Vertheil.probl. 2. A. Regelung:. §. 276.
Fällen dieser 4. Kategorie geschaffen. Vieles hängt ausserdem bei denselben auch
hier wieder mit der Bevölkerungsfrage, den Verhältnissen relativer Uebervöikc-
rung, der Noth in grossen kinderreichen Familien, den Wanderungen, dem Zuströmen
in die Städte mit wenngleich öfters höherem, so doch unsichererem Erwerb und weit
mehr sittlichen und wirtschaftlichen Versuchungen zusammen.
C. — §. 276. Principielle Bedeutung solchen Vor-
gehens.
Bei mancherlei Verschiedenheiten im Einzelnen in den hier
unterschiedenen vier Reihen von Fällen, in welchen es sich um
die Durchführung des Rechts auf Existenz handelt, ergiebt sich
doch, dass allen bezüglichen Forderungen gewisse gemeinsame
„gesellschaftliche Axiome“ oder „Glaubenssätze“
(§. 265) zu Grunde liegen. Ebenso laufen alle angedeuteten practischeo
Mittel und Wege zur Erfüllung dieser Forderungen, namentlich
soweit es sich dabei um Anwendung von Zwang handelt, auf ein
gemeinsames Princip hinaus.
1. ln ersterer Hinsicht liegt die Annahme zu Grunde, dass die
vertrag8mässige Vertheilung des Volkseinkommens (und Volksver-
mögens) nicht schon von selbst dem Einzelnen und ganzen Classen
die Befriedigung der Existenzbedürfnisse auch nur des ersten Graden
verbürge und thatsächlich gewähre, auch wenn an und für sich
die Grösse und Gliederung und die Höhe des Volkseinkommens
das ermöglichen würden. Die Einen hätten dabei oft zu wenig, die
Anderen zu viel, in letzterer Hinsicht auch mehr, als im Interesse
der Volksgemeinschaft liege. Dazu tritt dann die weitere Annahme,
es sei Pflicht der Gemeinschaft und berechtigter Anspruch der bei
der vertragsmässigen Vertheilung zu ungünstig fahrenden ClasseD
und Personen, dass diese Vertheilung in gewisser Weise, in ge-
wissem Umfang durch Eingriff der Rechtsordnung ver-
ändert werde. Eine Pflicht zu Gunsten der Aermeren, aber im
Gemeinschaftsinteresse selbst liegend und durch dieses Begründung,
Ziel und Maass findend. Diese Annahmen, diese gesellschaftlichen
Anschauungen sind es, welche zur Aufstellung und Gewährung des
Rechts auf Existenz und zu allen den einzelnen, daraus abzu-
leitenden, im Vorausgehenden besprochenen Forderungen, im Ge-
biete des Armenwesens, Arbeiterversicherungswesens, in Bezug auf
das subsidiäre Recht auf Arbeit auch in unserer Erwerbsordnung
u. s. w. fuhren: der treibende Factor in der Bewegung
bezüglich der erforderlichen Um- und Weiterbildung der Rechts-
ordnung, der Schaffung der erforderlichen Einrichtungen.
Insofern hat man es doch auch hier durchaus mit inneren
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Principielle Bedeutung des Vorgehens.
705
psychischen Vorgängen, Motiven, Willensrichtungen, oft zunächst
bei Einzelnen, in kleineren Kreisen, dann allmälig in immer weiteren
zu thun, bis gewisse derartige Annahmen ein Gemeingut des Zeit-
alters werden und nunmehr die daraus entspringenden Forderungen
hinsichtlich der Aenderung der Rechtsordnung, auch der Hintan-
setzung von anderen Einzel- und Classeninteressen, der Aufhebung
und Beschränkung wohlerworbener Rechte durchgesetzt werden.
Derartige Fälle zeigt die Geschichte auf dem Wirthschafts- und verwandten Ge-
bieten vielfach (Aufhebung der Sclaverei, Leibeigenschaft, Schutz der Bauern gegen
das „Legen“ Seitens des Gutsherrn, Beseitigung der bäuerlichen Lasten, Aufhebung
von Gewerbevorrechten, Beseitigung, Beschränkung von Steuerprivilegien, u. dgl. m.).
Grosse Staatsmänner, wirksame Agitatoren haben hier oft vorgearbeitet, erstere viel-
leicht gegen starken Widerstand das durchgesetzt, was bald als nothwendig und richtig
erkannt wurde (agrar-, gewerbe-, handelspolitische Reformen).
Was unserer Geschichtsepoche aber wieder besonders eigen-
tümlich ist, besteht darin, dass nunmehr gerade solche Ideen
und sittliche Anschauungen der Notwendigkeit und Berechtigung,
aber auch der ökonomischen Möglichkeit sich verbreitet haben zu
Gunsten der unteren arbeitenden Classen: diese sollen
mindestens in dem Umfang gesichert, gehoben werden, wie es
unseren Ausführungen über das Recht auf Existenz und dessen
Durchführung entspricht. In der üblichen Ausdrucksweise: das
neunzehnte Jahrhundert ist in seinem letzten Viertel zur Erkennt-
nis gelangt, dass der Auf- und Ausbau einer „positiven Social-
politik“ zu Gunsten der (hand-) arbeitenden Classen
die besondere Pflicht und Aufgabe für unsere Culturvölker sei, und
dass zur Durchführung dieser Aufgabe auch die Rechtsordnung,
soweit nöthig, umgeändert werden müsse.
In dieser klaren Erkenntniss und in diesem offenen folgerichtigen Zugeständnis
liegt insbesondere die hohe principielle Bedeutung des Vorgehens des Deutschen
Reiches in dieser Richtung. Die berühmten Sätze aus den Motiven zur Unfallver-
sicherungs-Vorlage (Anfang 1SS1) und bald darauf aus der Kaiserlichen Botschaft
vom 17. Mai 1SS1 an den Deutschen Reichstag sind von mir schon in der Finanz-
wissenschaft (3. A. S. 50) zur Unterstützung dortiger Ausführungen über die „sociale“
Phase der Finanz- und Steuerpolitik herangezogen worden. Sic fassen das, worauf
es ankommt und was ich speciell hier unter den sittlichen Anschauungen als dem
„treibenden Factor“ für die Um- und Weiterbildung der Rechtsordnung verstehe, so
vortrefflich im Lapidarstil zusammen, dass ich auch hier die wichtigsten Stellen wört-
lich anführen möchte.
„Durch positive, auf die Verbesserung der Lage der Arbeiter ab-
ziclende Maassregeln“, so heisst cs in jenen Motiven, müssen die bedenklichen Er-
scheinungen in der Arbciterwelt bekämpft worden. „Es ist nicht zu verkennen, dass
in der Unsicherheit des lediglich auf der Verwerthung der persönlichen Arbeits-
kraft beruhenden Erwerbs .... Miss stände begründet sind, welche zwar durch
gesetzgeberische Maassregeln nicht völlig aufzuheben sind, deren allmäligc Mil-
derung aber auf dem Wege besondrer, die eigenthümlichen Verhältnisse der Arbeiter
berücksichtigender Gesetzgebung ernstlich in Angrilf genommen werden muss.“ „Dass
der Staat sich iu höherem Maasso als bisher seiner hilfsbedürftigen Mit-
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706 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 2. K. Vertheil.probl. 2. A. Regelung. §. 276.
glieder annehme, ist nicht bloss eine Pflicht der Humanität und des Christenthams.
von welchem die staatlichen Einrichtungen durchdrungen sein sollen, sondern auch
eine Aufgabe staatserhaltcnder Politik, welche das Ziel zu verfolgen hat, auch in des
besitzlosen Classen der Bevölkerung, welche zugleich die zahlreichsten und am We-
nigsten unterrichteten sind, die Anschauung zu pflegen, dass der Staat nicht bloss
eine noth wendige, sondern eine wohlthätige Einrichtung sei “ „Das Bedenken,
dass in die Gesetzgebung, wenn sie diesos Ziel verfolge, ein socialistisches Ele-
ment eingeführt werde, darf von der Betretung dieses Wegs nicht abhalten. Soweit
dies wirklich der Fall ist, handelt es sich nicht um etwas ganz Neues, sondern um
eine Weiterentwicklung der aus der christlichen Gesittung erwachsenen modernen
Staatsidoe, nach welcher dem Staate neben der defensiven, auf den Schutz bestehender
Rechte abzielenden, auch die Aufgabe obliegt, durch zweckmässige Einrich-
tungen und durch Verwendung der zu seiner Verfügung stehenden
Mittel der Gesammtheit, das Wohlergehen aller seiner Mitglieder, nament-
lich der schwachen und hilfsbedürftigen positiv zu fördern . . . „Auch
die Besorgniss, dass die Gesetzgebung auf diesem Wege namhafte Erfolge nicht er-
reichen werde, ohne die Mittel des Reichs und der Einzelstaaten in
erheblichem Maasse in Anspruch zu nehmen, darf von der Betretung dieses
Wegs nicht abhalten, denn der Werth von Maassnahmen, bei welchen es sich um die
Zukunft des gesellschaftlichen und staatlichen Bestands handelt, darf nicht an den
Geldopfern, welche sie vielleicht erfordern, gemessen werden.“
In demselben Geist und Sinn heisst es dann in der Botschaft von ISS 1 : Die
Ueberzeugung des Kaisers ist, „dass die Heilung der socialen Schäden nicht aus-
schliesslich im Wege der Repression socialdemokratischer Ausschreitungen, sondern
gleichmässig auf dem der positiven Förderung des Wohls der Arbeiter zu
suchen sein werde.“ .... es gelte, „dem Vaterlande neue und dauernde Bürgschaften
seines inneren Friedens und den Hilfsbedürftigen grössere Sicherheit und
Ergiebigkeit des Beistandes, auf den sie Anspruch haben, zu hinterlassen“.
In diesem Sinne wird auf die Vorbereitung der Arbeiterversicherungs-Gesetzgebunr
hingewiesen und u. A. bezüglich der durch Alter und Invalidität Erwerbsunfähigen
gesagt: „sie haben der Gesammtheit gegenüber einen begründeten An-
spruch auf ein höheres Maass staatlicher Fürsorge, als ihnen hat bisher
zu Theil werden können.“ „Für diese Fürsorge die rechten Mittel und Wege zu
finden, ist eine schwierige, aber auch eine der höchsten Aufgaben jedes Gemeinwesens,
welches auf den sittlichen Fundamenten des christlichen Volkslebens steht“
Führt man das Alles auf die principiellen Ausgangspuncte zurück, so ist eine
völlige üebereinstimmuug mit der hier von uns vertretenen Auffassung nicht zn
läugnen.
2. In zweiter Hinsicht, bezüglich des gemeinsamen Princips,
welches den Mitteln und Wegen zur Erfüllung der gestellten
Forderungen zu Grunde liegt, ergiebt sich, dass in der That doch
schliesslich Alles darauf hinauskommt, direct und indirect durch
Umänderungen des Rechts, durch Einrichtungen und Maassregeln
der angedeuteten Arten, m. e. W. durch „sociale“ Volkswirth-
schafts- und Finanzpolitik regulirend in die vertragsmässige
Vertheilung des Einkommens (und Vermögens) und in
die sonst freie Verwendung des Einkommens und in
die Consumtion einzugreifen.
Das Einzelne ist schon aus den frühereu Ausführungen zu entnehmen. Auch
die angeführten Stellen aus den Motiven zur Unfallversicherungs- Vorlage und aus der
Kaiserlichen Botschaft von 1SS1 sind in dieser Hinsicht deutlich genug, selbst,
wenn sie ganz wörtlich genommen werden („die zur Verfügung stehenden Mittel der
Gesammtheit verwenden zur Förderung des Wohlergehens namentlich der Hilfsbedürf-
tigen und Schwachen“, u. a. m.), vollends wenn man sie auf ihr Princip zurück-
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Weitere Forderungen für Theilnahme an Culturgtltern. 707
fuhrt — bzw., was leider gegenüber öfterem anderen Verfahren auch gesagt werden
muss, die logische Consequenz und den Muth hat, sie darauf Zurückzufuhren, und
ebenso, wenn man an Specialbestimmungen der verschiedenen Arbeiterversicherungs-
gesetze (Beiträge der Arbeiter, Arbeitgeber, Reichszuschuss (wenigstens in einem
Falle]) denkt.
„Socialpolitische“ Verwendung von Finanzmitteln für Zwecke, welche allein oder
in besonderem Maasse den unteren Classen zu Gute kommen, ohne dass von diesen
in Stenern und Gebühren die betreffenden Kosten ganz gezahlt werden (unentgeltliche
Volksschule, sanitäre Verhältnisse, Arbeiterversicherung, Armenwesen): „sociale“ Finanz-
politik in Bezug auf die Einnahmebeschafl'ung, die Besteuerung (Renteneinkommen,
Unteraehmergewinn an den Staat, die Gemeinde bei den „Verstaatlichungen“, „Ver-
communalisirungen“ von Eisenbahnbetrieben, Besteuerung conscquent nach dem Princip
der Leistungsfähigkeit); „socialpolitische“ Behandlung der Fragen, welche sich auf
Handel, Spcculation. Börsentreiben, Ausbeutung der Conjuncturen beziehen, um so
den ökonomisch unverdienten, zu leichten Gewinn der Privaton zu hindern oder zu
erschweren und zu vermindern (§. 16!)): dies Alles und manches Aehnliche bedeutet,
ökonomisch und principiell nach seinem gewollten Eliect betrachtet, nichts
Andres, als: regulircnder Eingriff in jenen Process der freien vertragsmässigen
Verthcilung des Productionsertrags , welcher sich auf dem Boden unserer volkswirt-
schaftlichen Rechtsordnung und Organisation vollzieht, — ebenso wie im Falle von
agrarischen, gewerblichen Regulirungen. — Ueber die „sociale“ Finanz- und beson-
ders Steuerpolitik, nach allen Seiten betrachtet, verbreitet sich meine Finanzwissen-
schaft in B. I und bes. in B. II eingehend.
III. — §. 277. Forderungen bezüglich der besseren
materiellen Lebensweise und der Theilnahme der
Bevölkerung an Culturgütern.
Vgl. in der 2. Aufl. §. 98 fT. (2. Abschn. §. 99 tT. S. 150 IT). Auch diese Aus-
führungen sind in dieser 3. Aufl. formell und in Einzelheiten, nicht im Ganzen, sach-
lich verändert worden. Der principielle Standpunct und die dadurch bedingte ganze
Behandlungsweise ist jedoch auch hier dieselbe geblieben.
Die Erfüllung solcher Forderungen wurde oben (S. 669) bereits
als das Strebziel der volkswirtschaftlichen Entwicklung bei den
Culturvölkern in unserer Geschichtsepoche anerkannt. Man kann
dafür einen zweiten Hauptgrundsatz in folgender Weise auf-
stellen: in unserer Zeit — also ein wichtiges historisch- variables
Moment! — kann, ja soll und muss auch im Gemeinschaftsinteresse
jeder Mensch zu einer gewissen Verbesserung seiner materiellen
Lebensweise, zu einer gewissen Erhöhung seiner Lebenshaltung
und zu einer gewissen Theilnahme an Culturgütern möglichst sicher
gelangen können, um dadurch selbst für die sittliche und intellec-
tuelle Culturgemeinschaft ein werthvolleres Mitglied zu werden.
Auch daran soll er nicht durch einen Mangel an materiellen Mitteln,
welcher nur aus der vertragsmässigen Vertheilung des Volksein-
kommens (und Vermögens) hervorgeht, gehindert werden. Inso-
weit ist wiederum ein regulativer Eingriff in den Ver-
th ei lungsprocess im Princip zulässig, berechtigt, ja auch im
Gemeinschaftsinteresse geboten. Ob, wann, wie, wie weit in Wirk-
lichkeit, das hängt aber von einer Reihe von Erwägungen ab, aus
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708 4. B. Bevölk. u. Volksw.scli. 2. K. Verth cil.problem. 2. A. Regelung §. 277.
welchen sich auch Bedenken, namentlich wegen der auch dem
Gemeinschaftsinteresse etwa schädlichen Rückwirkungen eines solchen
Eingriffs ergeben. Diesen Bedenken ist, gerade auch im Ge-
meinschaftsinteresse, gebührend Rechnung zu tragen. Es
kann sich daraus dann die Nothwendigkeit einer Einschränkung,
unter Umständen eines Verzichts auf diesen Eingriff ergeben,
Doch führt die unbefangene, möglichst alle mitspielenden Momente
und namentlich als Leitstern stets das Gemeinschaftsinteresse richtig
betrachtende Untersuchung dahin, dass unter unseren heutigen
Verhältnissen der Entwicklung und des Fortschritts der Productions-
technik sowie bei dem einmal erreichten Culturstand und bei den
nunmehr für dessen weitere Erhöhung maassgebenden Factoren
die Gründe für einen regulativen Eingriff in die Vertheilung schwerer
wiegen als die Bedenken. Das wichtigste unter den letzteren
bleibt die Gefahr einer zu raschen Volkszunahme.
Die zur Begründung des Vorausgehenden erforderliche princi-
pielle Untersuchung lässt sich auch als eine Beantwortung der
Frage bezeichnen: welches ist die socialökonomische Be-
rechtigung einer ungleichen Vertheilung des Volkseinkommens und
wo liegen die nothwendigen Schranken in dieser Hinsicht?
In der 2. Aafl. wurde so der 2. Abschnitt der hier erörterten Lehre §. 99 ff.
S. 150 fl', bezeichnet. Auch hier ist jetzt Manches geändert worden.
Wiederum ist es eine Thatsache von hoher culturhistorischer
Bedeutung, dass in unserer Epoche mehr und mehr die sittliche
Nothwendigkeit und Berechtigung einer entsprechenden Hebung
der unteren Classen anerkannt, dies zu einem jener „gesellschaft-
lichen Glaubenssätze“ wird, ja schon geworden ist. Man sieht
diese Entwicklung als eine Consequenz des Princips der persön-
lichen Freiheit an, erkennt die Möglichkeit, sie zu erreichen, in
der Steigerung der Productivität der nationalen Arbeit, und scheut
auch nicht mehr die weitere Consequenz, eventuell durch Aenderuug
der Rechts- und der Besitzordnung zur Verwirklichung jener
Forderungen zu gelangen. Man erkennt dabei aber auch mit
Recht, dass es sich hier um wichtige Interessen der ganzen
Volksgemeinschaft handelt, daher in erster Linie um deren,
um wahrster allgemeinster Culturinteres sen des ganzen
Volks Willen, das angedeutete Ziel aufgestellt, demselben auf
die bezeichnete Weise nähergekommen, aber auch danach genauer
Richtung, Maass und Grenze gesetzt werden soll.
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Forderungen beztlgl. Theilnahme an Culturgutern.
709
Die Beschränkung übermässiger Arbeitslast, zu langen Arbeitstages der unteren
Classen, die grössere Sicherung des Erwerbs und die Erhöhung der Löhne, um eine
materiell bessere, gesundere, die Arbeitskraft mehr erhaltende und fördernde Lebens-
weise, in einigem Maasse auch ein an zulässigen und richtigen Genüssen reicheres
Leben auch jenen Classen zu verschaß'en, um eine bessere Auferziehung der heran-
wachsenden Generation zu erzielen; die Verbesserung der Wohnungs-, der Gesund-
heitsverhältnisse, die Verbreitung der Schulbildung, die Stärkung der sittlichen, der
religiösen Bildung, die Gewährung politischer Rechte zur Theilnahme an der Gesetz-
gebung u. v. a. m. wird erstrebt, in der deutlichen Erkenntniss, dass das für unsere
Zeit berechtigt und nothwendig sei und grade auch im Interesse des ganzen
Volks erreicht werden müsse und, unter gewissen Bedingungen und Cautelen, nach
dem Stand der Productionstechnik zu erreichen und dann zu erhalten nützlich sei.
Für die Beantwortung der Frage, ob, wie und in welchem
Maasse ein regulativer Eingriff in die Verthcilung nach obigen Ge-
sicbtspuncten zulässig, berechtigt und selbst nothwendig sei, sind
zunächst die Voraussetzungen hierfür zu untersuchen, darauf
die speciellen Zielpuncte und die daraus entspringenden
Forderungen näher zu bestimmen, und endlich wieder die
Mittel und Wege anzugeben, welche zur Erfüllung dieser For-
derungen gewählt werden können und sollen.
A. — §. 278. Voraussetzungen für die Aufstellung
und Durchführung solcher Forderungen. Dieselben können
nach folgenden drei Gesichtspuncten unterschieden werden: solche,
welche vorhanden sein müssen, einmal wenn die Erfüllung jener
Forderungen möglich, sodann, wenn sie nothwendig, endlich,
wenn sie zulässig, selbst räthlich und berechtigt sein soll.
1. Hinsichtlich der Möglichkeit der Erfüllung kommt wieder
dreierlei in Betracht, die Bevölkernngsverhältnisse, die Pro-
duction s Verhältnisse in Bezug auf die Bildung des Volksein-
kommens, die Ver th eil ungs Verhältnisse des Volkseinkommens.
a) Nur, soweit Zahl und Gliederung der Bevölkerung, be-
sonders das Verhältniss der productiven (erwachsenen, namentlich
männlichen) zur unproductiven (namentlich den Kindern) und die
Bewegung beider, die natürliche, wie die durch Wanderungen be-
dingte, sich entsprechend gestalten, daher nicht in Missverhältnis
zur Höhe, Entwicklung und Vertheilung des Volkseinkommens stehen
oder in ein solches kommen, ist überhaupt, wenigstens in einiger
Allgemeinheit und in einigem Betrage, sowie auf einige Dauer, die
Erfüllung der Forderungen möglich. Gerade in dieser Beziehung
drohen immer Gefahren, Uber welche, wie öfters hervorgeboben,
insbesondere der Socialismus, aber auch andere „arbeiterfreund-
liche“ Bestrebungen viel zu leicht hinweggehen. Es genügt, auf
das vorige Kapitel von der Bevölkerung zu verweisen.
710 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 2. K. VcrtheiLprobl. 2. A. Regelung. §. 27$.
b) Die Production 8 Verhältnisse liegen für die Möglich-
keit der Erfüllung jener Forderungen bei den Culturvölkern in
Folge der grossartigen Fortschritte in den Naturwissenschaften und
in der practischen Verwerthung der letzteren in der chemischen
und mechanischen Technik heute in mancher Hinsicht sehr günstig,
wohl günstiger als jemals früher.
Von allen einzelnen dieser Fortschritte ist bisher keiner wichtiger und allseitig
wirtschaftlich und gesellschaftlich folgenreicher gewesen, als die Auffindung der
Mittel und Wege, die Dampfkraft für den Menschen nutzbar zu machen. Dadurch
ist ein Princip von wahrhaft erstaunlicher Productivität für die Technik und
Oekonomik des Productiousprocesses, für die Ersetzung tierischer und menschlicher
Muskelkraft, anderer todter Naturkräfte (Wind, Schwerkraft), als bewegender, Kraft
gebender Factoren, in gewissem Maasse auch für die Ersetzung der menschlichen
Muskelkraft durch Geisteskraft (Gehirnarbeit) gewonnen und dadurch auch die Stei-
gerung des Volkseinkommens und Volksvermögens, die Ersparung an natürlichen
Productionskosten und an Arbeitsaufwand in hohem Maasse ermöglicht worden, mehr wie
je. Durch die Maschine wird aber nicht nur (Muskel-) Arbeit abgenommen, sondern durch
die nun erst mögliche Concentration riesiger Kräfte auf Einen Punct, durch die Ver-
bindung der Bewegung gebenden Maschine (Motor) mit Werkzeugmaschinen werden
überhaupt vielfach erst ganz neue, besonders qualificirte Leistungen im Productions-
process technisch ausführbar und ökonomisch nicht zu kostspielig (Popper). In der
Verwerthung nunmehr aber auch der Electricität, worin wir durchaus erst im
Beginn stehen, mit dem Princip der Debertragung von Naturkräften (Wasser) über
weitere Räumo, ist eine neue, vielleicht noch wirksamere Quelle der steigenden Pro-
ductivität der Arbeit erschlossen. Vollends in ihrer Gesammtheit sind diese natur-
wissenschaftlich-technischen Fortschritte so gewaltig, dass schon gegenwärtig, wo wir
in mancher Beziehung erst noch im Anfang der wirtschaftlichen Verwerthung der-
selben stehen und täglich neue hinzukommen (Electricität), die ökonomischen Lebens-
bedingungen der Culturvölker erheblich und günstig verändert worden sind. (In der
2. A. §. 104 a S. 162 ist das ähnlich, aber etwas zu einseitig, ohne die folgenden
Einschränkungen, daher auch mit etwas zu optimistischem Schluss dargelegt worden:
„von Grund aus verändert", wie ich es dort ausdrückte, sind die ökonomischen
Lebensbedingungen der Culturvölker selbst durch die ausserordentlichen Fortschritte
der Technik in der Gegenwart nicht, wie sich aus dem Folgenden ergiebt).
Es sind nemlich doch auch wesentliche Einschränkungen
nicht zu übersehen.
Auf dem Gebiete der unmittelbaren Urproduction, namentlich in der
Land wirthschaft, für die Gewinnung der wichtigsten menschlichen und Hausvieh-
Nabrungsmittel und vieler der wichtigsten geweikÜchen Roh- und Hilfstolfe, ähnlich
in der Forst wirthschaft sind dio ökonomisch -technischen Fortschritte, bisher
wenigstens, von viel begrenzterer practischer Bedeutung, sowohl in Bezug auf die
Menge, Art, Güte der Producto (Rohertrag), als namentlich auch in Bezug auf die Ver-
minderung oder wenigstens die uicht-progressive, selbst die nicht-proportionale Stei-
gerung der natürlichen Productionskosten bei quantitativer und qualitativer Steigerung
der Roherträge (g. 255). Auf heimischem Boden, zumal bei bereits erfolgter
Urbaruug und regelmässiger Benutzung des meisten, vorhandenen oder wenigstens
einigermaassen culturfähigeu, die Kosten deckenden Bodens und bei bereits erreichter,
dem Bedarf entsprechender starker Steigerung der Roherträge (intensive, hochintensive
Wirthschaft), sind daher die erforderlichen Agrar- und Forstproducte , vollends für
eine wachsende und besser — auch qualitativ in Betreff der Nahrungsmittel! —
lebende Bevölkerung allgemein überhaupt gar nicht immer, jedenfalls aber
vielfach nur mit wachsenden Kosten zu gewinnen. Sollen sie in grösserer Menge
immer mehr aus der Fremde bezogen werden, so setzt das eine Ueberwindung aller
der Schwierigkeiten und Bedenken voraus, welche Fernabsatz und Fernbezug mit sich
bringen (§. 254). Diese Ueberwindung wird nun grade durch den technischen Fort-
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Begrenzte Fortschritte in den Productionsverhältnissen.
711
schritt auf dem Gebiete der Industrie und des Communications- und Trans-
portwesens. wo die erwähnten günstigen Seiten am Bedeutendsten henrortreten,
wesentlich und mit diesen Fortschritten proportional, hie und da selbst progressiv er-
leichtert. Allein ob auch dabei unter Einwirkung all der hier mitspielendeu Factoren
immer bleibend und genügend, so dass wirklich eine Erhöhung der Gebrauchs-
werth-Menge des Nationaleinkommens und Vermögens das definitive Ergebniss ist,
bleibt doch wieder fraglich. Zu optimistisch darf man daher auch in dieser Hinsicht
nicht sein.
In Betreff des dritten Hauptzweigs der ürproduction , des Bergbaus, ist aber
doch stets auch daran zu denken, dass wir den Boden an den bezüglichen, nicht
wieder ersetzbaren Substanzen (Kohle!) in steigendem Maasse erschöpfen, also im
wahren Sinn des Worts „vom Kapital zehren“, Raubbau treiben. Das wäre noch un-
bedenklicher, wenn wir auch hier practisch es als völlig gleichgiltig bezeichnen
könnten, ob die Bergbauproducte in der Heimath oder in der Fremde für uns ge-
wonnen werden. Denn wenn bei den grossen bauwürdigen Vorräthen der Erde an
diesen Producten auch die Gefahr der Erschöpfung practisch weit ferner liegt, ganz
ausgeschlossen ist sie eiomal auch hier nicht (Gold!), ferner aber sind wir bei Bezug
aus der Fremde wieder zum gesteigerten Fabrikatenexport, unter all den angedeuteten
Schwierigkeiten, genöthigt. Die Kostensteigerung im Bergbau, besonders bei wachsen-
dem Tiefbau, bei Mitbenutzung der schlechteren Reviere, ist ebenfalls in Erwägung
zu ziehen. Auch hier bleibt es fraglich, ob und wie weit der technische Fortschritt
dieser Steigerung hinlänglich entgegen wirken kann. Nur, wenn es sicher wäre, dass
der Bedarf an Montanproducten durch Fortschritte der Technik sich absolut oder
relativ verringern, gar theilweise (Kohle!) völlig ersetzen Hesse, z. B. durch Benutzung
der natürlichen Wasserkräfte für Electricität, würden alle diese Bedenken mehr zurück-
treten, zum Theil allerdings verschwinden. Aber ob und was hier zu erreichen sein
wird, lässt sich doch einstweilen noch nicht irgend genauer übersehen. Man hat es
höchstens mit optimistischen Phantasieen, auch allerdings nicht bloss der Laien und
Dilettanten (Bebel, Socialisten), sondern genialer Techniker (Siemens u. A.) zu thun,
welche eben erst realisirt sein müssten , wenn man in der uns hier beschäftigenden
theoretischen Lösung des Problems auf dergleichen bauen dürfte. Auch hier bliebe
ausserdem immer noch die Kostenfrage ungelöst (s. schon o. S. 655).
Nur auf dem Gebiete der sogen. Stoffveredlung, der Industrie i. e. S.,
wird man schon jetzt dem technischen Fortschritt für die Herstellung von Gütern und
für die Verminderung vieler Kostenelemente dabei eine grössere practische Bedeutung
einräumen können; daher insoweit auch für die Bildung, die Gewinnungskosten,
die Höhe, die Zusammensetzung des Nationaleinkommens. Aehnliches gilt, mit ent-
sprechender Tragweite für den nahen und fernen Austausch der Producte, auch
hinsichtlich des Communications- und Transportwesens. Eine verbesserte
Lebenslage in Bezug auf die Befriedigung derjenigen materiellen, auch Luxusbedürf-
nisse, welche unmittelbar mit Industrieerzeugnisson befriedigt werden können, auch
mancher geistiger (Papier. Bücher, Presse!) erscheint danach in der That auch für
die Volksmasse heute und weiterhin in grösserem Umfange möglich. Im Wohnungs-,
Wohneiurichtungs-, Kleidungswesen ist das wichtig genug.
Aber auch hier bleibt immer zweierlei zu bedenken, was die Tragweite des
technischen Fortschrittes und den oft übertriebenen Optimismus (so wieder namentlich
der Socialisten) hinsichtUch dieser Tragweite einzuschränken gebietet: einmal, auch
für die Industrie bedarf es doch stets des dem Boden zu entnehmenden Roh- und
Hilfsstoffs, der aus dem heimischen Boden unmittelbar, aus dem fremden mittelbar,
durch alle die dabei zu überwindenden Schwierigkeiten hindurch gewonnen werden
muss; sodann, — die Nahrungsmittel, die Brennstoffe, die Baumaterialien
u. dgl. m. , m. a. W. die eigentlichen Bod on prod uc te selbst bleiben eben
doch unter allen Umständen für die Bedürfnisse der Menschenwclt (und der ihr dien-
lichen Thierwelt) das Wichtigste. Und in dieser Hinsicht kann man, nach allem
Gesagten, auch betreffs des technischen Fortschritts und seiner schliesslichen ökono-
mischen Wirkung auf das Volkseinkommen, nicht so übertrieben optimistisch sein.
Hier liegt zugleich das immerhin recht wesentliche Korn Wahrheit in der — phy-
siokratischen Doctrin.
712 4. B. Bevölk. n. Volksw.sch. 2. K. Vertheil.probl. 2. A. Regelung. §. 27‘j.
Jedoch, auch vorbehaltlich aller dieser wichtigen und nicht
immer von den Enthusiasten des technischen Productionsfortschritts
genügend beachteten Einschränkungen hinsichtlich der Möglichkeit
weiteren und der Tragweite des erreichten und erreichbaren tech-
nischen Fortschritts, bleibt es doch wahr, dass im Zeitalter von
Dampf und Electricität in der That die ökonomischen Lebensbe-
dingungen der Culturvölker viel günstiger liegen, als ehedem. Das
ermöglicht eine Steigerung des Nationaleinkommens, welche auch
der grossen Masse der Bevölkerung, . freilich nur bei nicht zu
schnellem Wachsthum der letzteren, in der That wenigstens zu
Gute kommen kann.
§. 279. — c) Bei gegebener Höhe und Art des Volksein-
kommens hängt es endlich mit von der jeweiligen Vertheilung des
letzteren — welche auch die Art der im Volkseinkommen steckenden
naturalen Güter, weil die Richtung der Production, mit bestimmt (S. 693)
— ab, ob und wie weit die unteren Volksclassen auch feinere
Existenz- und gewisse Culturbedürfnisse mit befriedigen können.
Ist nun auch bei hohem Volkseinkommen die Vertheilung eine
sehr ungleiche, die Quote, welche von jenem in irgend einer Form
(Rente aller Art, Unternehmer-, Speculations-, Conjuncturgewinn,
höherer Lohn, besonders Beamtengehalte u. dgl.) an die besitzenden
und höheren Classen und an die Personen mit erheblich überdurch-
schnittlichem Einkommen gelangt, eine bedeutende, so wäre es
wenigstens rein arithmetisch aufgefasst möglich, durch eine
gleichmässigere, die Einkommen der höheren Classen u. s. w.
vermindernde, den Einkommen der unteren Classen etwas zulegende
Vertheilung jene Forderungen hinsichtlich der Bedürfnissbefrie-
digungen dieser letzteren Classen zu erfüllen. Auch was in dieser
Beziehung bei der auf der Grundlage des Privateigenthums an den
sachlichen Productionsmittelu und der privatwirthschaftlichen Organi-
sation der Volkswirtschaft beruhenden Vertheilung des Volksein-
kommens in unseren modernen Volkswirthschaften so, wiederum
die Frage rein arithmetisch aufgefasst, geschehen könnte,
wäre keineswegs, wie man öfters gegen derartige Ideen eingewandt
hat, etwas so Unerhebliches.
Selbst H. v. Treitschke (der Socialismus und seine Gönner, Preussische
Jahrbücher 1875, I, S. 265) spricht hier Sätze über dio unvermeidliche Niedrigkeit
des Einkommens der Massen wegen der Niedrigkeit des Gcsammteinkommens selbst
reicher Völker aus, die zwar sehr allgemein, u. A. in dem Witzworte von der
.,Tbeilung“ Rothschilds mit den Arbeitern, für wahr gelten, es aber durchaus nicht
sind, wie grade jede statistische Berechnung selbst nur auf Grund der Einkommen-
steuerdateu, die doch bekanntlich bei den Reicheren immer mehr hinter der Wahrheit
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Gleichmässigere Vcrthcilung des vorhandenen Volkseinkommens. 713
Zurückbleiben, belegt So berechnet z. B. Hirth, Annal. 1S74 S. 932 ff. nach den
ungemein niedrigen Schätzungen der preussischen Classen- und Einkommen*
Steuer für 1S73 das Gesammteinkommen von 8.743.2S4 Personen auf 1305.18 Mill.
Thaler, also auf 1 Person im Durchschnitt fast 150 Thlr. Bei 8,395,000 Pers. mit
einem Einkommen bis incl. 500 Thlr. ist das Gesammteinkommen S30.8 Mill. Thlr.
oder für 1 Pers. ca. 99 Thlr., bei 225,000 Pers. von 500 — 1000 Thlr. ist es 102
Mill. Thlr. oder für 1 Pers. 720, bei 123,284 Pers. in der Einkommensteuer (über
1000 Thlr. Einkommen) 312.38 Mill. Thlr. oder fllr 1 Pers. 2533 Thlr. Würde nun
z. B. durch ein richtiges Progressivsteuersystem, durch Hebung der Löhne auf Kosten
der Gewinne der Unternehmer und Kapitalisten im freien Verkehr, durch Steigen der
Preise der Consumptibilien der Wohlhabenderen zu Gunsten der Arbeiter u. s. w. und
durch die hier in diesem Abschnitt besprochenen regulativen Eingriffe in die Ver-
keilung auch nur bewirkt, dass ein Drittel des Gesammteineinkommens der Ein-
kommensteuerpflichtigen reell auf die Personen mit unter 500 Thlr. Einkommen über-
tragen würde, so gestattete dies eine Steigerung des Einkommens der letzteren im
Durchschnitt um ca. 12.4 Thlr. oder um ca. 12.5 °/0, eine Steigerung, welche jedoch
bei den Personen mit kleinstem Einkommen viel bedeutender werden könnte. Und
dabei sind die Ergebnisse grade der früheren preussischen Einkommensteuer-
schätzung, bes. für die höheren Einkommen, viel zu niedrig. Ich halte es nicht für
unmöglich, durch Veränderungen wie die erwähnten, die kleinsten Einkommen in
Deutschland, z. B. die bis 300 Thlr., trotz der Millionen der Percipieuten , um ein
Drittel zu steigern, woraus ökonomisch (auch für die Richtung der Production,
daher für die Vermeidung von Absatzkrisen u. s. w.) und culturlich nur günstige Folgen
resultirten, ohne dass eine der Trcitschke’schen Einwendungen zuträfe. Vergl.
auch schon die besseren Daten für Hamburg, Annal. 1875, S. 335. Weiteres Ma-
terial zur Beurtheilung dieser Frage in Engel’s Aufs, über die Classen- und Ein-
kommensteuer und Vertheilung des Einkommens in Prcussen in d. Zeitschr. d. Preuss.
Stat. Bur. 1875. R. Michaelis in der Schrift „Gliederung der Gesellschaft nach
dem Wohlstando“ hat die Geringfügigkeit einer Verbesserung der ökonomischen Lage
der unteren Classen durch eine Ausgleichung zwischen höheren und niederen Einzel-
einkommen mittelst der von ihm vornemlich gebrauchten Daten der neuen deutschen
grossstädtischen Wohnungsstatistik nachzuweisen gesucht. Er nimmt dabei das „heiz-
bare Zimmer“ als vergleichbare Einheit, obgleich er natürlich selbst die mangelhafte
Vergleichbarkeit dieser Zimmer in schlechten Arbeiterwohnungen und reichen Luxus-
wohnungen nicht übersehen kann (S. 71). Trotzdem wird die Berechnung für Berlin
(S. 71) u. für die anderen betrachteten Städte durchgeführt, wie sich die Dinge bei einer
„Gütervertheilung nach commuuistischem Idealo“ gestalten würden. Das Ergebniss ist
z. B. für Berlin (und ähnlich für die andren Städte), dass bei einer gleichen Ver-
theilung der „augenblicklich vorhandenen“ heizbaren Zimmer schon die Bewohner der
Wohnungen mit 2 heizbaren Zimmern geschmälert wurden. Daher der „Schluss aus
der exacten Forschung“: „eine gleichmässigere Gütervertheilung kann erst bei einer
weit grösseren Masse von wirthschaftlichen Gütern erreicht werden; es ist also vor
allen Dingen eine Steigerung der Productionsfähigkeit der Gesammtheit erforderlich.“
(S. 72.) Letzteres ist in gewissem Umfang richtig. Es wird aber durch diese „exacte
staatswissenschaftliche Forschung“ nicht bewiesen. Denn erstens lässt sich „die
Gesammtheit der heizbaren Zimmer nicht als Repräsentantin der Gesammtheit der
Güter“ fassen; zweitens sind zumal in unseren deutschen Grossstädten die „heizbaren
Zimmer“ in den verschiedenen Kategorieen von Wohnungen nicht für diesen Zweck
vergleichbare Einheiten, sondern ungeheuer verschieden, so dass schon deswegen jedes
Zimmer in den besseren Wohnungen mit irgend einer Zahl multicipirt werden müsste,
um den Zimmern in den schlechten Wohnungen vergleichbar zu werden; drittens
kommt es nicht auf die „augenblicklich vorhandenen heizbaren Zimmer“ für diese
Frage an, sondern auf den Kapitalaufwand für die betreffenden Bauten und Woh-
nungen, der bei den feineren Wohnungen ungleich höher ist. Mit dem Gesammt-
kapital, das für die Wohnungsbeschaffung verfügbar ist, liesse sich daher eine für die
kleinen und mittleren Leute immerhin nicht unwesentlich bessere Befriedigung des
Wohnungsbedürfnisses erzielen. Die Beweisführung des Verf.s ist ein eclatantes Bei-
spiel, dass eine planlose „exacte Forschung“ ohne scharfe Formulirung der betreffenden
theoretischen Probleme in die Irre führt — Giffen berechnet den Werth des
britischen Volksvermögens 1865 auf 6113, 1875 auf 8548 Mill. Pf. St. So wenig
714 4. ß. Bevölk. u. Volksw.sch. 2. K. Vertheil.probl. 2. A. Regelang. §. 279.
sicher solche Berechnungen sind (s. o. S. 175), so ergiebt sich doch auch daraus die
arithmetische Möglichkeit einer wesentlichen Verbesserung der ökonomischen
Lage der unteren Ciassen, während Giffen’s Specialisirung der Vermögensobjecte eine
absolut nur geringfügige Theilnahme dieser Ciassen an dieser Steigerung des Volks-
vermögens aufweist. S. auch Engels, Dühring’s Umwälzung S. 235 (1. A.).
Seitdem das Vorausgehende (wörtlich aus der 2. Aufl. S. 158 — 159 Note 16)
geschrieben wurde, ist Dank der verbesserten Einkommeubesteuerung mehr und besseres
statistisches Material zur Beantwortung einer solchen „rein arithmetischen“ Ver-
theilungsfrage hinzugekommen. Dasjenige aus einzelnen grossen Städten (Hamburg),
kleinen Ländchen (Sachsen- Weimar) ist wegen dor Besonderheit der Verhältnisse aller-
dings nicht wohl hierfür brauchbar; viel mehr schon das vorzügliche Material aus
dem K. Sachsen, in der trefflichen Bearbeitung von V. Böhmert in der K. sächs.
stat. Ztschr., namentlich aber nunmehr das Material aus Preussen, also aus einem
grossen Volkswirthschaftsgebict mit wirklich genügender Mannigfaltigkeit der Pro-
ductionsarten und der localen, provinziellen Verhältnisse. Obgleich bisher erst die
Ergebnisse der ersten Einschätzung auf Grund des neuen Gesetzes von 1891 vorliegen,
für 1. April 1892 — 93, wo sicher noch manche Mängel und Lücken trotz der Declara-
tionspflicht für die höheren Einkommen (über 3000 M.) untergelaufen sind, hat sich
nicht nur allgemein eine erhebliche Vergrösserung des Gesammteinkommens der steuer-
pflichtigen Bevölkerung (d. h. derjenigen mit über 900 M. Einkommen p. Censit) gegen
die bisherigen Einschätzungen nach dem älteren unvollkommenen Verfahren ergeben,
sondern auch gezeigt tgegen A. Sötbeer’s Anschlag, wie schon oben einmal be-
merkt ward), dass sich grade die grösseren Einkommen, diejenigen aus den Städten,
aus Industrie, Handel, Kapital besonders höher gegen früher herausgestellt haben.
Das bestätigt vollends die hier vertretene arithmetische Möglichkeit einer Einkommen-
erhöhung der untern Ciassen durch eine diesen günstigere Vertheilung selbst des
heutigen gesammten Volkseinkommens. S. bes. die amtliche Schrift: Mittheilungen
aus der Verwaltung der directcn Steuern im preuss. Staat, Statistik der Einkommen-
steuerveranlagung Jahr 1892/93, Berlin 1892.
Das gesammte veranlagte Einkommen der physischen Censiten ist in 1892/93
gegen 1891/92 gestiegen von 4273.7 auf 5724.3 Mill. M. oder um 34.2 °/0, die Zahl
der Censiten von 1,997,638 auf 2,435,858, das Gesammteinkommen der Censiten mit
einem Einkommen von über 3000 M. stieg dagegen von 1887.4 auf 2S12.3 Mill. M.
oder um 49.0 %, — war also entschieden bisher besonders unterschätzt — die An-
zahl dieser Censiten von 254,280 auf 316,889, (a. a. 0. S. II fl'.). Auch diese Zahlen
bestätigen, dass die arithmetische Bedeutung einer gleichmässigeren Einkommen-
vertheilnng keineswegs geringfügig für die unteren Ciassen wäre. Nach einer Specifi-
cation der Censiten nach Einkominenclassen (mit kleiner Abweichung der veranlagten
Gesammteinkommen gegen die vorausgehenden Daten aus rechnerischen und steuer-
technischen Gründen) ergab sich Folgendes (ebenfalls nur physische Personen)
(a. a. 0. S. 324):
Gruppe, M. Ein-
kommen
Censiten
absolut
Censiten
auf
100,000
Veranlagt.
Einkommen
Mül. M.
Dgl. in
Pro-
mille
Durchschnitts-
eink. des Ceu-
siten M.
900— 3.000
2,118,969
86,991
2912.0
510.9
1,374
3.000— 6.000
204,714
8,404
832.4
146.0
4.664
6,000— 9,500
55,381
2,274
411.7
72.2
7,435
9,500— 30,500
46.096
1,892
714.6
125.4
15,405
30,500— 100,000
9,039
371
451.6
79.2
49,965
100.000—6,750,000
1 ,659
68
377.6
66.2
227,598
Summa
2,435,858
100,000
5700.0
1000.0
2,339
über 3000 M.
316,889
13,009
2788.0
489.1
8,800
Würden bei einer arithmetischen Ausgleichung alle Einkommen der hier in
Frage kommenden Censiten mit bisher über 900 M. auf den Durchschnittsbetrag von
2339 M. gebracht, so wTäre das eine Erhöhung des Einkommens von 1374 M. der
Censiten der 1. Gruppe (900 — 3000 M. Einkommen) um 60.2 °/0.
Für die untersten Kategoricen dieser Gruppe und vollends für die hier nicht mit
inbegriffene steuerfreie Bevölkerung unter 900 M. p. Censit (bez. meistens: Familien-
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Preußische Einkommeu-Vertheilung.
715
haupt) Einkommen (20,945,227 physische Personen — nicht Censiten — von einer
Gesammtbevölkerung von 29,895,2241) würden sich natürlich manchfach andere Procent-
veränderungen ergeben, für die grosse Masse der steuerfreien Bevölkerung eine andere,
mitunter auch eine relative kleinere Erhöhung des Einkommens, je nach den Zahlen
der Köpfe (Censiten), ihres bisherigen und des so zu erhöhenden Einkommens. Aber
unbedeutend wäre der EU’cct auch hier nicht. Würde z. B. mit dem Einkommen der
Censiten der niedrigsten Steuerstufe (900 — 1050 M., 658,811 Censiten mit 642.54
Mill. M. Gesammteinkommen) in der angedeuteten Weise verfahren, so erhöhte sich
dasselbe vom jetzigen Durchschnitt von c. 975 M. um c. 140 %•
Für die gesammte Bevölkerung kann man solche Berechnungen nicht ebenso genau
durchfuhren, weil man keine Einschätzung der steuerfreien Bevölkerung bat. Macht
man für letztere einen approximativen Anschlag, wie cs die Statistiker, Sötbeer u. A.,
gethan, um das gesammte Volkseinkommen zu ermitteln, so ist natürlich der Werth
einer so gewonnenen Zahl noch unsicherer. Ausserdem wird man auch für das nach
dem jetzigen besseren preussischen Veranlagungsverfahren stcuerveranlagte Einkommen
noch eino Quote binzuschlagen müssen, für nicht oder zu niedrig dcclarirtes, auch
für die gesetzlichen Abzüge vom Einkommen zur Feststellung des steuerpflichtigen,
welche zum wirklichen Einkommen wenigstens theilweise gehören. Namentlich bei
den höheren Einkommen, denjenigen aus Kapital, Gewerbebetrieb, Landwirthschaft
wird so noch Manches hinzukommen. Schlägt man diesen nicht versteuerten Betrag
bei den Censiten von über 900 M. Einkommen auch nur auf 10 % (m- E. wahr-
scheinlich zu niedrig) an und schätzt man für die nicht steuerpflichtige Bevölkerung
auf den Kopf ein Durchschnittseinkommen von c. 150 M. — Sötbeer berechnet für
die Bevölkerung mit unter 525 M. Einkommen p. Censit 199 M. p. Kopf, wonach
für diejenige bis 900 M. p. Censit wohl mehr als 150 M. anzurechnen wäre (?) — ,
so stiege das Einkommen aller Steuerpflichtigen in Prcussen auf c. 6270 Mill. M.,
dasjenige der nicht steuerpflichtigen Bevölkerung (unter 900 M. Censiten-Einkommen)
wäre rund c. 3150 Mill. M., das gesammte preussische Volkseinkommen — immer ab-
gesehen von den principiellen Einwendungen gegen jede derartige Berechnungs-
weise des Volkseinkommens, wie sie oben §. 175 ff. gemacht wurden — erhöbe sich
auf 9420 Mill. M. Das wäre p. Kopf der Bevölkerung 316 M. (Sötbeer berechnet
für 1888 nach der alten Einschätzung und nach seinen Zuschlägen dazu 329). Würde
nun das Einkommen der steuerpflichtigen Bevölkerung gleichmäßig auf die ganze
Bevölkerung vertheilt, so würde immerhin dasjenige des Kopfs der nicht-steuerpflich-
tigen von dem angenommenen Betrage von 150 M. auf diese Ziffer von 316 M. oder
um c. 105 % steigen können, natürlich je nachdem mehr oder weniger, wenn der hier
angenommene Einkommenbetrag der nicht steuerpflichtigen Bevölkerung und der Zu-
schlag zum Einkommen der steuerpflichtigen Bevölkerung in Wirklichkeit niedriger
oder höher anzusetzen wäre, womit sich dann freilich auch das Gesammteinkommen
des Volks und der davon auf den Kopf fallende Betrag entsprechend erniedrigte oder
erhöhte. S. für W’eiteres die in §. 171 angegebene Litteratur, besonders Sötbeer’s
Arbeiten, die Daten bei ßob. Meyer im Artikel Einkommen im Handwörterbuch
d. Staatswiss., den Aufsatz die Zunahme der grossen Einkommen in Hirth’s An-
nalen 1893.
Also in der That: eine gleicbmässigere Vertheilung des Volks-
einkommens würde den unteren Classen auch heute schon eine
umfassendere Bedürfnissbefriedigung ermöglichen. Ob man darauf
hinstreben und die dazu erforderliche Umänderung der Rechts-
ordnung in Aussicht nehmen darf und soll, ist dann freilich eine
ganz andere als diese bloss aritbmethisebe Frage. Sie ist wiederum
vom maassgebenden Standpunct des Gesammtinteresses und
des auf die Dauer von dessen Befriedigung doch auch mit ab-
hängigen wahren Interesses der unteren Classen zu betrachten und
zu entscheiden. Die Antwort darauf ist mit im Folgenden, nament-
716 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 2. K. Yertheil.probl. 2. A. Regelung. §. 280.
lieh in den Ausführungen über die Zulässigkeit und Räthlichkeit
der Erfüllung der oben aufgestellten Forderungen enthalten (§. 282).
§. 280. — 2. Voraussetzungen hinsichtlich der
Noth wendigkeit der Aufstellung und Durchführung
von Forderungen, welche dem zweiten Hauptgrund-
satz en tsp rechen (S. 707 u. S. 709). Hier kommt es auf die
Vergleichung der gesammten ökonomischen und socialen Lage
an, welche die unteren, arbeitenden und die höheren, besitzenden
(Hassen und beider einzelne Abtheilungen (Berufsgruppen) auf dem
Boden der bestehenden volkswirtschaftlichen Organisation and
Rechtsordnung und unter den hier obwaltenden auch ethischen Factoren
(Sittlichkeit, Sitte) erreicht haben. Entscheidend ist hier vor Allem
die relative Classenlage und deren Entwicklung auch bei stei-
gendem Volkseinkommen, daher das Antheilsverhältn iss ins-
besondere der unteren, arbeitenden und der besitzenden Classen,
erst in zweiter Linie die absolute Classenlage. Eine bezügliche
Untersuchung, um zu einer Beantwortung der Frage der Noth-
wendigkeit der Erfüllung obiger Forderungen zu gelangen, bedingt
dann zweierlei, einmal die Ermittlung von Thatsachen bezüg-
lich der maassgebenden Verhältnisse, sodann die Ziehung von
Schlüssen aus diesen Thatsachen mittelst Vergleichung der letzteren
und danach die Fällung von Urtheilen (erste practische Auf-
gabe, §. 62, 63).
a) Die Thatsachen für die richtige Vergleichung sind mittelst
des inductiven Beobachtungsverfahrens, namentlich des statistischen,
durch Enqueten über die Lage der einzelnen Volksclassen, be-
sonders — aber nicht allein! — der unteren, durch persön-
liche unmittelbare Nachforschungen festzustellen.
Vergl. oben in Buch 3 Kap. 5 von den Kennzeichen des Volkswohlstands, bes.
§. 186, S. 433. Hinzuzufügen zur Littcratur das Ende 1892 erschienene grosse
Sammelwerk des Vereins für Socialpolitik über die Verhältnisse der Landarbeiter.
Die gesammte sociale und ökonomische Lage, als Product der Gesammt-
heit der technischen, ökonomischen, rechtlichen, ethischen Factoren u. s. w. kommt
in Betracht: Arbeitsart, Maass, Erwerbssicherheit, Einkommenhöhe, Consumtionsvcr-
hältnissc nach allen Seiten, Lebenslage und Lebensweise u. s. w.
Allein solche Untersuchungen müssten sich, m. E. für alle be-
züglichen Fragen (die „Arbeiterfrage“ i. e. S.), namentlich aber
auch für das uns hier beschäftigende Problem ebenso syste-
matisch und eingehend auf die übrigen Volksclassen
und Erwerbsgruppen erstrecken.
So z. B. auf die Bauern verschiedener Kategorie, die Hausindustriellen, die
Handwerker, die kleinen Kaufleute (Krämer), auf das mittlere und höhere Arbeits-
personal der materiellen Berufe, auf das untere und mittlere (Subaltern-) öffentliche
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Frage der Noth Wendigkeit der Regelung der Vertheilung.
717
Beainteuthuin. Aber nothwendig sogar, und grade für die Entscheidung der hier vor-
liegenden Frage: auch auf die höheren Besitz- und Erwerbsschichten der Bevöl-
kerung, das höhere Beamtenthum, die höheren liberalen Berufe, namentlich aber auch
auf die „Spitzen der modernen Erwerbsgesellschaft“, die grösseren
Gutsbesitzer und Landwirthe („Rittergutsbesitzer“), die grösseren Fabrikanten, Kauf-
leutc, Banquiers, Börsenleute, Speculanten aller Art, Rentiers u. s. w. Denn auch bei
diesen Classen und Personen liegt immer die Gefahr vor, einzelne Beobachtungen
zu sehr zu verallgemeinern. Nur systematische und eingehende Erfor-
schung der Thatsachcn kann auch hier zu sichereren Ergebnissen und Urtheilen
fuhren.
Namentlich käme es auch hier darauf an, Art und Maass
der „Arbeit/4 oder dessen, was euphemistisch so genannt wird
(Speculantenthätigkeit, Ausnutzung von Conjuncturen, Börsentreiben
u. 8. w., §. 167, 168), an sich und im Verhältnis zum Er-
werb, zum Einkommen, zur Vermögensbildung, besonders
bei den grösseren Privatcapitalisten , ferner auch die Lebens-
weise, die Verbrauchsarten und die Höhe des Verbrauchs
(Luxus aller Art!) durch ein umfassendes systematisches Verfahren
zu ermitteln. Nur so Hesse sich das Material für die weitere Auf-
gabe (unter b) gewinnen und feststellen, ob und wie weit einzelne
wahrgenommene Erscheinungen singulär oder Regel, vielleicht selbst
typisch sind.
b) Erst durch die Ziehung von Schlüssen aus der Ver-
gleichung der s o ermittelten Thatsachen und durch die Be-
gründung eines Urtheils darauf gelangt man zu einer sichereren
Antwort auf die Frage, ob die Erfüllung der erwähnten Forderungen
nothwendig sei. Die Ermittlung der Thatsachen ist die noth-
wendige, wichtige und oft schwierige Vorarbeit, aber immer doch
nur die Vorarbeit hierfür. Diese Schlussziehung aus der Ver-
gleichung, namentlich der relativen Classenlage, des re-
lativen Wachsthums der grossen nationalen Einkorn men-
zweige, des relativen Classcnantheils am Volkseinkommen
ist das schliesslich doch Wichtigere.
Beschränkungen der Betrachtung auf Eine Classe und auf deren einzelne, freilich
auch zu vergleichende Verhältnisse, z. B. zwischen Arbeitsart und Maass einer-, Ent-
lohnungsmaass andrerseits bei den unteren arbeitenden Classen, zwischen ihrer Lebens-
haltung in verschiedenen Gegenden, Orten und Zeiten, iu verschiedenen Arbeitszweigen
und verschiedener Dienststellung (z. B. noch heute bei Landarbeitern), Ermittlungen Uber
die absolute Gestaltung von Arbeitsmaass und Art und Lebenshaltung reichen hier
doch noch nicht aus. Erst durch Vergleichung der analogen Verhältnisse bei
anderen Classen, besonders bei den höheren, besitzenden, reicheren, grösseres Ein-
kommen, öfters leichter, für eine geringere Arbeit, vielleicht so gut wie ohne wirth-
schafdiche „Arbeit“ gewinnenden Classen, bei den Arbeitgebern, namentlich den
grossen (G rossland wirthe. Grossindustrielle, Gross-Bergwerkbesitzern u. s. w.) ergeben
sich die erforderlichen Schlüsse zur Begründung eines Crtheiles darüber, ob die und
die Behauptungen hiusichtlich der bestehenden Verhältnisse des Erwerbs, des Ver-
brauchs allgemeiner begründet, ob die und die Forderungen hinsichtlich Aenderung
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Theil. Grundlagen. 46
718 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 2. K. Vertheil.probl. 2. A. Regelung. §. 2 SO.
dieser Verhältnisse und eventuell der ihnen zu Grunde liegenden volkswirtschaftlichen
Organisation und Rechtsordnung berechtigt, ihre Erfüllung selbst noth wendig sei.
Es wird auch hier nie ganz ohne subjective Willkühr im
Urtheil abgehen. Aber damit widerlegt man doch nicht das Ge-
sagte. Gerade auf diesem Wege und allein auf ihm gewinnt man
ein Urtheil über Missverhältnisse in der Arbeitslast, im
Process der Vertheilung, der privaten Einkommens- und Vermögens-
bildung und einigermaassen auch über das Maass dieser Miss-
verhältnisse.
Z. B. zwischen der Arbeitslast und dem Entlohnungsmaass der unteren, der ver-
schiedenen Kategorieen der mittleren und schliesslich der höchsten ökonomisches
Classen, über die Unterconsumtion der einen, die Ueberconsumtion der anderen, nach
Quantum, namentlich nach Art und Quäle bemessen, über das Unbillige, das Un-
verdiente der Lage dort und hier. Daraus entwickeln sich daun wieder Keime zn
neuen gesellschaftlichen Glaubenssätzen hinsichtlich des richtigen Sein-sollens in
Bezog auf Arbeitsart, Maass, Last, Genussart, Maass, Lust, m. e. W. in Bezug auf
Richtung und Gestaltung der Vertheilung, wodurch dann bezüglichen Aendcrangeo
der Rechtsordnung vorgearbeitet, der Boden dafür vorbereitet wird.
Alle diejenigen, welche, sei es an der Erhaltung, sei es an der Aenderung der
bestehenden Vertheilung zunächst und zumeist interessirt sind, sollten objectiv genog
sein, um die Nothwendigkeit solcher alle Classen umfassenden Untersuchungen ein-
zusehen. Die letzteren würden sich dann allerdings bei den besitzenden Classen
mit auf die Vermögensverhältnisse erstrecken müssen, daher namentlich auf die
Art, die Höhe, die Zeitdauer für die Bildung, die Anlage (Grundbesitz!) des
Vermögens. Besonders bei dem eigentlich modernen Privatreichthum, der
Fabrikanten, Kaufleute, Banquiers, Speculauten, Börsenleute u. s. w. würde erst eine
umfassende systematische Untersuchung dieser Vermögensbildung und der Lebensweise
dieser Classen ein begründetes Urtheil über die Art, das Maass des Erwerbs, über
das Verhältniss desselben zum Erwerb der arbeitenden Classen und andrer Erwerbs-
stände (Landwirthe, liberale Berufe, Beamte), über den directen oder in Form von
Forderungsrechten (Verschuldung) sich vollziehenden Uebergang von städtischem und
ländlichem Grundeigenthum an diese neue kapitalistische Aristokratie, über den Privat-
luxus derselben gestatten. AuchdievielumstritteneErwerbsweisedesJudenthums Hesse
sich erst so richtiger, objectiver feststellen. Vorurtheile und falsche Verallgemeinerungen
wären nur so zu berichtigen, Behauptungen und Annahmen nur so zu bestätigen.
Die sorgfältigsten Enqueten über die Lage der arbeitenden Classen oder einzelner
Gruppen derselben (Land-, Bergbau-, industrielle, Fabrikarbeiter) allein reichen für
die hier vorliegende und für alle sonstigen Fragen, welche sich auf die Verbesserung
der Lage der Arbeiter beziehen, nicht aus. Der Nachweis z. B., dass die Löhne,
absolut betrachtet, „auskömmlich“ seien, d. h. dass damit ein gewisser Bedürfniss-
stand, den man eben mit mehr oder weniger Recht als „hinreichend“ ansieht, gedeckt
werden könne, dass sie sich gegen früher dem Geldbeträge nach und selbst nach
ihrem effectiven Betrage (unter Vergleichung der Preise der Arbeiterconsumptibilien)
gehoben hätten, dass die arbeitende Classe bedeutende Summen erspart habe (Spar-
cassenstatistik) beweist unmittelbar für sich allein noch nicht viel für das
Berechtigte oder Unberechtigte weiterer Forderungen der arbeitenden Classen. Wenn
daneben die Arbeitgeberclassen oder wenigstens zahlreiche Gruppen und einzelne
Personen darin (Grossfabrikanten) ihre Lebenslage, ihren Verbrauch, besonders quali-
tativ (Luxus), ihre Vermögensbildung in ganz anderer Weise verbessert, gesteigert
haben, so ist eben unbestreitbar, dass sic oder wenigstens Theile von ihnen relativ
viel stärker als die arbeitenden Classen wirtschaftlich sich gehoben haben, dass die
Differenz der Classcnlagen eine viel grössere geworden, in. a. W., dass diese
Classen der Besitzenden, welche die Production leiten, die Conjuncturen ausbeuten,
die Speculationsgewinne einheimsen u. s. w., vom Volkseinkommen und Volksvermögen
eine steigende Quote, vom steigenden Ertrag der nationalen Arbeit bei wachsender
Productivität der letzteren einen immer grösser werdenden Antheil erlangen.
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Untersuchungen über Noth wendigkeit der Regelung der Vertheilung. 710
<iie „Vertheilung“ des Productionsertrags daher für sie immer günstiger, für die
unteren Classen wenigstens relativ ungünstiger werde. Und das eben ist das
Entscheidende, was auch auf eine Aenderung der Vertheilung und zu diesem Behuf
auf eine Aenderung der Organisation und der Rechtsordnung der Volks wirthschaft
hindrängt, wenn nicht die eben augezweifelte Nothwendigkeit und Verdientheit
dieses Maasses der günstigeren Einkommengestaltung der höheren Classen bewiesen
ist. Allein, solange umfassende systematische, sorgfältige, ins Einzelne gehende
und namentlich alle Erwerbsclassen und Borufsstäude einbeziehende Untersuchungen
über die genannten ökonomischen Puncte fehlen, hat man keinen festen Boden unter sich.
Eine Statistik über den Besitzwechsel des ländlichen und städtischen Grund-
eigenthums nach Stand und Beruf, Stellung (auch Religion und Confession, Juden-
thum!), nach früherem und jetzigem Besitzer, eine ähnliche Statistik der Hypo-
thekenverschuldung nach Schuldner und Gläubiger, desgleichen über die
gewerblichen Unternehmungen, zur Ergänzung Enqueten und Steuerdeclarationen
(Vermögenssteuer) zur ungefähren Ermittlung des Besitzes an Inhaber- und sonstigen
Werthpapieren unter den einzelnen Classen. Alles womöglich zurück für ein bis zwei
Menschenalter (was bei Grundbesitz am Ersten ausführbar) — das wären die For-
derungen , welche hier in Betreff der Ermittlung der privaten Vermögensverhältnisse
zu stellen wären.
Namentlich Rodbertus hat das lange eingeschen und daher auch bezügliche
Forderungen vertreten, freilich, ohne sich der technischen Schwierigkeiten solcher
statistischer u. s. w. Aufnahmen . hier wie in anderen Fällen , gcuügend bewusst ge-
worden zu sein; der politischen, des offenen und geheimen, mindestens des
instinctiven Widerstands der besitzenden Classen, zumal der Interessenten der moderneu
wirtschaftlichen Entwicklung nicht zu gedenken. Vergl. Rud. Meyer, Emancipa-
tionskampf (1. A.) II, 779. Rodbertus hat auch einen Entwurf für die Anstellung
der ihm vorschwebenden Enquöten ausgearbeitet. Vergl. Band II, „Aus dem litter.
Nachlass von Rodbertus“, her.geg. von A. Wagner u. Th. Kozak, Berl. 1885 S. 22 1F.
In diesem Werke auch eiu Versuch, an freilich völlig unzulänglichem englischen
statistischen Material die Entwicklung der Einkommcnbildung zu zeigen, S. 4G, 76, 88,
dazu meine kritischen Bedenken eb. im Vorwort S. VIII ff. Das Problem ist aber
gleichwohl von Rodbertus immer scharf und richtig, wenn auch zu eng und zu ein-
seitig erfasst: ihn beschäftigte stets die „sociale Frage“ als „Frage vom An-
theilsverh ältniss der arbeitenden Classen am gesammten nationalen Productions-
ertrage. Er wollte sich in allen seinen Ideen und Vorschlägen darauf beschränken,
dies Antheilsverhältniss, das er bei steigender Productivität der nationalen
Arbeit im „freien Verkehr“ für relativ zurückgehend annahm, mindestens
entsprechend dieser Steigerung der Productivität selbst mit steigen zu lassen“ —
(aus meinem Vorwort eb. XXIV). Vgl. dazu u. A. auch die Fragmente aus unvollen-
deten Arbeiten von Rodbertus in dem gen. Buche S. 243 ff.
Auch die bisher vorliegenden statistischen Daten aus der Einkommen-
besteuerung (hie und da auch aus der Vermögensbesteuerung, Schweiz) einiger
Länder geben noch keine genügenden Anhaltspuncte zur Erledigung der hier er-
örterten Frage von den Classenantheilen und von deren Entwicklung. Einmal sind
die Veranlagungen zu unsicher (Preussen bis 1891), auch reichen sie meist nicht
weit genug zurück und haben im Recht oder wenigstens in der Praxis Veränderungen
erfahren, welche die Vergleichbarkeit älterer und neuerer Daten stören. Sodann er-
strecken sie sich nicht immer auf die ganze Bevölkerung (die niedersten Einkommen
sind öfters frei, also besonders das Arbeits- oder Lohneinkommen), oder sie treffen
notorisch die einzelnen Einkommenkategorieen (grosse, kleine, Kapital-, Grund-, Ge-
werbe-, Arbeitseinkommen) ungleich. Und endlich unterscheiden sie nicht genügend
nach den hier für unsere Frage wichtigen Gesichtspuncten.
§.281. Fortsetzung. In Ermangelung solcher umfassender
systematischer Untersuchungen über die relative Classenlage
und über die Entwicklung des relativenClassenanthcils der
verschiedenen Classen am nationalen Arbeitserträge, am Volksein-
kommen, auch bei dessen die steigende Productivität der Arbeit
46*
720 4. B. Berölk. u. Volksw.sch. 2. K. Venheil.probl. 2. A. Regelung. §. 281.
begleitendem absoluten Wachsthum, ist man Ihr die Beantwortung
der Frage von der Nothwendigkeit der Erfüllung der oben
aufgestellten Forderungen auf Schlüsse aus den deductiv abge-
leiteten, inductiv bestätigten Tendenzen der Entwicklung der
Einkommen- (und Vermögens-) Vertheilung im „freien Verkehr “,
ferner auf die Ergebnisse der systematischen Untersuchungen der
Lage der Arbeiter und auf alles das angewiesen, was der Augen-
schein „notorisch“ ergiebt. Letzteren Falles operirt man hier
freilich mit der unvollkommenen Methode der „täglichen Beob-
achtung“, deren Mängel oben (§. 78) dargelegt wurden.
Soweit solche Hilfsmittel zu einem Urtheil ausreichen, was,
wie gesagt, nur bedingt und in beschränktem Maasse der Fall ist,
möchte doch kaum zu leugnen sein, dass die Lage der unteren
arbeitenden Classen, absolut betrachtet, nach Einkommensicherung,
Einkommenhöhe, Lebenshaltung im Ganzen genommen, auch wo
absolute Verbesserungen erfolgt sind — was vielfach der Fall —
auch heute noch sehr viel zu wünschen übrig lässt, d. h. mehr, als nach
der Productivität der nationalen Arbeit und der absoluten Höhe
und Zunahme des Volkseinkommens noth wendig erscheint. Nicht
minder möchte einzuräuraen sein, dass diese Lage trotz steigenden
Volkseinkommens und Vermögens, relativ nicht entsprechend
sich gehoben hat, namentlich verglichen mit derjenigen der grösseren
Unternehmer, Arbeitgeber, der „oberen Zehntausend“ der modernen
bürgerlichen Gesellschaft. Insbesondere wenn bei diesen letzteren
Personenkreisen die Art des Erwerbs, die Grösse des Einkommens,
die Höhe und Schnelligkeit der Vermögensbildung, die Art
und Höhe des Verbrauchs (die Arten des Luxus), das „Arbeits-
maass“ und das „Genussmaass“ oder doch das Maass der mate-
riellen Genussmöglichkeit unter einander und mit den analogen
Verhältnissen der unteren arbeitenden und mehr und mehr auch
der unteren und selbst mittleren Mittelclassen (Klein- und Mittel-
bauern, Handwerker, Kleinindustrielle, Kleinkaufleute oder Krämer,
mittlere Beamten, gewisse Schichten in den liberalen Berufen)
verglichen werden, — wenn man das Alles berücksichtigt, wird
man, zumal bei der Höhe und dem Wachsthum des heutigen
Volkseinkommens und Vermögens, kaum zu einem anderen Schluss
gelängen können, als dem, dass die „Vertheilungsfrage“, ge-
rade als Frage derC lassen an th eile betrachtet, nicht befriedigend
gelöst ist: d. h. nicht so, wie es der erreichten Productivität
der nationalen Arbeit, den verbreiteten und sich verbreitenden
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Nothwendigkeit der Vortheilungs-Regelnng.
721
„Glaubenssätzen“ hinsichtlich des richtigen Sein-sollens bezüglich
der Lebensweise und wie es dem wahren Gesaramtinteresse der Volks-
gemeinschaft als einer sittlichen und Culturgemeinschaft entspricht.
Die Niedrigkeit des Einkommens der Masse der Bevölkerung wird durch
unmittelbare Beobachtung und ziffermässig hinlänglich genau auch durch die Steuer-
statistik bewiesen. In Preussen z. B. 7Ü.1 % der Bevölkerung steuerfrei, weil darunter
kein Ceusit (Familienhaupt, Einzclsteuernder) Uber 900 M. Einkommen! (s. o. S. 714).
Auch wenn man hierbei berücksichtigt, dass unter diesen Leuten und ebenso unter
den Ccnsitcn der unteren Steuerstufen, zumal auf dem Lande, manche Unterschätzung
des Einkommens statttindet, besonders bei der Veranschlagung der Naturaleinnahmen
und bei deren Umrechnung in Geld, so ändert sich dadurch an der Thatsache selbst
nicht viel. Die Statistik der Haushaltbudgets von Arbeitern und anderen „kleinen
Leuten“ zeigt, wie trotz der oft quantitativ kaum genügenden, qualitativ sehr niedrigen
Befriedigung der nothwendigen materiellen Bedürfnisse kaum etwas als wirklich
„freies“ Einkommen (§. 174) übrig bleibt, d. h. als ein solches, welches für die
Befriedigung der hier in Frage stehenden feineren materiellen und Culturbedürfnisse
verwendbar wäre. Einzeluntersuchungen über die Ernährungsweise, die Kleidung,
die geringfügigen Quasi-Luxusbedürfnisse bestätigen das. Namentlich aber die Woh-
nungsverhältnisse sind notorisch und nach allen genauen statistischen Aufnahmen
meist ausserordentlich ungenügend, oft. wie in Grossstädten, wahrhaft scandalös, auch
in sittlicher Hinsicht. Und dies Alles neben vielfacher Unsicherheit und Schwankend-
heit der Beschäftigung, des Erwerbs, des Einkommens, und neben einem hohen Ar-
beitsmaass (langer Arbeitstag, Sonntagsarbeit, wenig freie Zeit, oft starke Arbeitslast
bei der Arbeit).
Freilich bestehen unter den Arbeitern, zumal den städtischen und industriellen,
viele Abstufungen von Arbeitsart, Maass, Lohn, danach von Lebensweise (qualiti-
cirte, gemeine Arbeit, mit zahlreichen Stufen zwischen höchster und niederster). Wo
erfolgreiche, dem Princip der persönlichen Freiheit und der wirtschaftlichen , der
Vertragsfreiheit entsprechende Organisation der Arbeiter (Coalitionsrecht,
Gewerkvereine) stattgefunden hat, findet sich wohl einige Besserung in allen Ver-
hältnissen, wenngleich nicht in dem von einseitigen theoretischen und practischen
Parteigängern des Gewerkvereinswesens (in Deutschland z. B. von L. Brentano und
seinen Gesinnungsgenossen bezüglich Englands) behaupteten Maasse, nicht mit der
behaupteten Bürgschaft der Dauer und der durchgreifenden Wirkung (so gegenüber
rückgehenden Conjuncturen, Krisen, technischen Fortschritten, im Maschinenwesen
u. s. w., wodurch vorübergehend oder länger und selbst bleibend menschliche Arbeits-
kräfte entbehrlich werden), und bestenfalls wesentlich nur mit der Folge, dass sich
aus der Masse der unteren arbeitenden Classen ein kleiner Theil als „vierter Stand“
etwas emporhobt, hinter welchem die übrigen Schichten um so mehr zurück stehen
(Fr. Engels). Aber soweit man selbst die günstige Wirkung der Gowerkvereinsorgani-
sation zugeben mag: die Erlangung des Rechts zu dieser Organisation bildet eventuell
eben vielfach erst eine Errungenschaft der neueren und neuesten Zeit, welche noch nicht
überall erreicht ist und in einer Hinsicht zu jenen Veränderungen der geschichtlich
überkommenen Rechtsordnung gehört, die hier in Frage stehen.
Diesen im Wesentlichen doch notorischen, durch die neueren Untersuchungen
über Arbeiterzustände aber auch genauer ermittelten und bestätigten Verhältnissen
gegenüber nun die ökonomische und dadurch bedingt die sociale Lage wenigstens der
höheren Kreise der modernen Erwerbsgesellschaft! Die Höhe von Einkommen und
Vermögen, die Art des Erwerbs, die raffinirte Genusssucht, die Bildung wahrer
Riesenvermögen selbst in einer Generation (Nordamerica), oder doch in 1 — 2 Men-
schenaltern! Bei „Semiten“ und „Ariern“ (Yankees), aber freilich bei den Juden
in besonderem Maasse.
Gewiss öfters bei persönlich verdienten Technikern, Fabrikanten, Kauf-
leuten, aber doch auch hier häufig, bei aller Hochschätzung der persönlichen' Leistung
muss es betont werden, unter dem Einfluss von glücklicher Speculation, Ausbeutung
der Conjuncturen, mit Hilfe von Schutzzöllen u. dgl. m. und in einem Missver-
hältnis zur Lage der Arbeiter, welche, wenn auch nur als untergeordnete Glieder
722 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 2. K. Vertheil.probl. 2. A. Regelung. §. 281.
doch an dem hohen Gewinn, dem grossen Vermögen des Arbeitgebers mitgewirki
haben, selber aber bei der „vertragsmässigen“ Regelung der Vertheilung — im Wesent-
lichen auf die zeit- und ortsüblichen Löhne angewiesen blieben.
Cnd neben solchen persönlich verdienten Leitern der Betriebe doch nun
auch die Schaar der blossen Speculanten, Geldgeschäfte vermittelnder Banquiers.
Börsenleute, bei welchen von solchem „persönlichen Verdienst“ wenig oder gar nicht
gesprochen werden kann und von welchen doch oft die grössten Vermögen gebildet
worden sind! (Jüdische und sonstige Parasiten.) Dass diese Kreise auch wieder nicht
selten Verluste erleiden, einzelne „Weltlirmen“ zu Grunde gehen, beweist um so
weniger, weil diese Verluste häufig genug nur wieder auf Vermögensübertragungen
an andere glücklichere Speculanten hinauslaufen und so zur noch grösseren Ver-
mögcnsconcentration hinführen: wie die Bläschen und Blasen auf der Oberfläche ron
Flüssigkeiten, welche sich auflösen, indem sie sich mit den grösseren verbinden.
Diese Vertreter des modernen beweglichen Kapitals und der modernen
Lebensweise sind es dann aber auch, welche, ohne grosse und gute historische
Familientraditionen, wie eine alte Grundaristokratie sie hat, ohne ein sociales Pflicht-
gefühl gegenüber Staat und Gesellschaft, dem persönlichen Genuss, dem ostentativen,
dadurch aufreizenden Prunk nur um so mehr huldigen. Von ihnen geht vornemlicb
der üble Einfluss auf andere Gesellschaftskreise bezüglich der Erwerbsweise, Erwerbs-
sucht, Spiclsucht, Genusssucht, ganzen Lebensweise und Anschauung aus, wodurch
die geistig-sittliche Atmosphäre gebildet wird, welche für das wirtschaftliche Leben,
für die Motivation im wirtschaftlichen Handeln so entscheidend ist (s. Buch 1, Kap. 1
Abschn. 2 u. 3). Darin mehr noch als in der durch den erfolgreichen Erwerb
dieser Kreise bewirkten ungleichmässigen Einkommens- und Vermögensvertheilang,
liegt es begründet, dass das Gesamintinteresse der Volksgemeinschaft durch
die Erwerbsverhältnisse der oberen Kreise unserer Volkswirtschaften ernstlich ge-
fährdet erscheint.
Selbst Volkswirtschaften, wie die prcussisch-deutsche, wo alle solche
Entwicklungen doch erst jüngeren Datums und immer noch meist geringerer Inten-
sivität sind und in einer alüiistorischen , aristokratisch-bäuerlichen Agrarverfassung,
wenigstens in grossen Landestheileu, noch ein gewisses Gegengewicht finden, zeigen
bereits deutlich Symptome der hier angedeuteten Art. Das ergiebt sich unmittelbar
aus den Beobachtungen des Lebens schon mit hinlänglicher Sicherheit, wenn auch
mehr in allgemeinen Eindrücken als in ziffermässigen Belegen, z. B. wenn man die
Entwicklung einer Stadt wio Berlin seit einem Menschenalter verfolgt, namentlich in
den Kreisen der Geldwelt, in Bezug auf deren Lebensweise. Es lässt sich aber auch
cinigermaassen mittelst der Daten der Einkommensteuerstatistik zur Ziffer bringen.
So z. B. wenn man dio oben (S. 714) angeführten neuesten Daten aus Preussen nach
Stadt und Land unterscheidet. Wenn dabei auch mancherlei Weiteres einwirkt,
althistorische Vermögensverthcilung, durchgreifende, nicht erst moderne Erwerbs-
verschiedenheit auch nach Einkommenhöhe in städtischen und ländlichen Berufen,
verschiedene Vertheilung von liberalen Berufen, Beamtenthum auf Stadt und Land,
so zeigt sich doch , zumal in dem Vorwalten der grossen und grösseren Einkommen
in den Städten (und wie erst in einzelnen davon!) der Einfluss der modernen wirth-
schaftlichen Entwicklung wohl unverkennbar. So war nach dem gen. amtlichen Werk
(S. 30S, 311) die Vertheilung der Einkommengruppen folgende (wieder nur für die
physischen Personen):
Plattes Land Städte
—
Gruppe
Zahl
auf
Eink.
auf
Zahl
auf
Eink.
auf
Einkommen
der
100,000
Mill.
1000
der
100,000
Mill.
1000
M.
Gcnsiten
M.
M.
M.
Censiten
M.
M.
M.
5)00 — 3,000
946,668
5)2.287
1 256.5)
679.5
1.172,301
83,138
1655,1
429.9
3,000— 6,000
58,006
5,664
230.2
124.4
146,618
10,398
602.1
156.4
6,000— 0,500
1 1 .222
1,05)4
82.0
44.7
44,155)
3,132
329.1
85.5
0,500— 30,500
7,827
763
120.1
65.0
38,269
2,714
504.5
154.4
30,500—100,000
1,652
161
85.5
46.2
7,387
524
366.1
95.1
üeber 100,000
320
31
74.5
40.2
1,339
95
303.1
78.7
Summa
1,025,785
100,000
1849.9
1 000.0
1,410,073
100,000
38500
1000.0
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Nothwendigkeit der Vertbeilungs-Regeluug.
723
Man siebt, wie die Zahl der Censiten höheren und höchsten Einkommens in
den Städten viel mehr diejenige auf dem Lande überwiegt, als in der ersten Gruppe,
wo das Verhältniss noch 1.24 : 1, auch noch in der zweiten Gruppe, wo es freilich
schon 2.53 : 1 ist. In den höheren ist es aber durchweg 4 — 5 : 1, in der höchsten
4.16 : 1, wo doch grade die grossen alten grundaristokratischen Einkommen auf dem
Lande ins Gewicht fallen. Und dabei wird man immer annehmen dürfen, dass in
den Städten und vielleicht wieder besonders bei den grossen Einkommen die Ein-
künfte aus Zinsen, Gewerbe- und Handelsbetrieben, Spcculationen auch jetzt noch
weniger vollständig ermittelt, bezw. declarirt sind, die Differenzen also in Wirklichkeit
leicht noch grösser sein dürften.
Schlägt man das Einkommen auf den Kopf der steuerfreien Bevölkerung wie
oben (S. 715) auf 150 oder mit Anderen selbst auf 200 M. im Durchschnitt an, das
Gesammteinkommen dieser Bevölkerung von beinahe 21 Mill. (20,945.227) demnach
auf rund 3150 oder selbst auf 4200 Mill. M. vom ganzen preussischen Volkseinkommen
(mit dem 10 % Zuschlag für das versteuerte Einkommen, wie oben S. 715 an-
genommen) vou 9420, bezw. (nach dem höheren Anschlag für die steuerfreie Be-
völkerung) von 10,470 Mill. M., so würde dieser letztere Haupttheil von 70.1 % der
Bevölkerung davon nur ein Drittel (33,4 %), bezw. bei dom höheren Anschlag
nur zwei Fünftel (40.1%) beziehen. Die 10,698 Censiten, entsprechend etwa
40 — 45,000 Köpfen der Bevölkerung, der zwei obersten Einkommengruppen (über
30,500 M. p. Censit) im ganzen Staate beziehen dagegen 912 Mill. M. (829 Mill. M.
versteuertes Einkommen mit 10% Zuschlag) vom Volkseinkommen, d. h. p. Censit
85,200 M. p. Kopf bezw. c. 20,300 — 22,800 M. und während sie nur c. 0.134 bis
0.150 % der Bevölkerung ausmachen, haben sie immerhin bezw. 8.7 — 9.7 %, fast
ein Zehntel bis ein Neuntel des gesammten Volkseinkommens.
Das sind zwar noch immer nicht so extreme Gestaltungen wie z. B. in Gross-
britannien, soweit nach den dortigen Einkommensteuerdaten überhaupt eine ähnliche
Vergleichung, namentlich nach der classenweisen Gruppirung der Gesammteinkommen
der einzelnen Censiten, gemacht werden kann. Denn die Einrichtung der britischen
Einkommensteuer gestattet das nicht genau, so dass Schätzungen und Annäherungs-
berechnungen hinzutreten müssen. Hier wurde indessen schon vor einiger Zeit ver-
anschlagt, dass c. 8500 Censiten je über 100,000 M. Einkommen oder c. 30,000 Kopf
(mit Familienangehörigen gerechnet), d. h. c. 0.1 % der Bevölkerung c. 15.4 %,
über ein Siebentel des Nationaleinkommens bezögen (.Baxter, Sötbeer), was frei-
lich eine viel extremere Entwicklung wäre (S. noch Näheres unten in §. 322). Allor-
dings in dem Lande der reichsten alten Grundaristokratie und bei einer Agrarver-
fassung, welche das Zusammenhalten des Bodens begünstigt, aber anderseits in dem
Lande der höchsten modernen industriell-mercantilcn Entwicklung und einer relativ
günstigen Lage grosser Theile der Arbeiterbevölkerung, hinsichtlich deren man öfters
sogar angenommen hat, sie hätte sich in ihrer ökonomischen Lage absolut und relativ,
selbst den anderen Classen gegenüber, besonders verbessert (Giffen). Man sieht
aber immerhin, wohin die Entwicklung der Vertheilung des Volkseinkommens bereits
gelangt ist und in welcher Richtung sie geht.
Dem Allen gegenüber wird doch die Gefahr der Pluto-
kratie auf der einen, der knappen Lebenshaltung, um nicht
zu sagen der Verkümmerung, der Verproletarisirung der
grossen Masse der Bevölkerung auf der anderen Seite nicht als
Phantom bezeichnet werden können. Alles in Allem scheint uns
das Angeführte dazu auszurcicheD, die Frage der Nothwendig-
keit einer Aenderung der Vertheilung in der angedeuteten Richtung
bejahen zu dürfen. Freilich nur — an und für sich, nach
der Vergleichung der absoluten und relativen ökonomischen Lage
der unteren und höchsten Classen, ohne Rücksicht auf die etwaigen
Gegen bedenken. Ob deswegen auf eine solche Aenderung wirklich
724 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 2. K. Verthcil.probl. 2. A. Regelung. §. 282.
hingearbeitet werden soll, ergiebt sich mit aus den folgenden Er-
örterungen.
§. 282. — 3. Die Voraussetzungen für die Zulässig-
keit und Räthlichkeit der Erfüllung der Forderungen,
welche dem zweiten Hauptgrundsatz entsprechen (S. 709).
Hier liegt doch der Kern des Problems, namentlich weil es sich
hier um das eigentlich Entscheidende handelt: einmal um die Ab-
wägung der Interessen der verschiedenen ökonomischen Classen
vom Standpuncte des dauernden Gesammtinteresses der Volks-
gemeinschaft aus, und sodann um die Beantwortung der Fragen, ob
und in wie weit eine ungleiche, selbst eine erheblich ungleiche
Vertheilung des Volkseinkommens als erfabrungsmässige und psycho-
logisch wahrscheinliche Voraussetzung einer genügenden
ökonomisch -technischen Gestaltung der Production, eines
befriedigenden Fortschritts darin und als unbedingte Voraus-
setzung oder wenigstens stark mitwirkende Bedingung der gc-
sammten C ult urent Wicklung der Volksgemeinschaft ange-
sehen werden muss.
Ausser diesen Rücksichten sind auch hier wieder jene anderen,
im Vorausgehenden bereits berührten und erledigten Puncte bei
der Entscheidung mit zu beachten, worauf hier daher jetzt nicht
von Neuem genauer eingegangen zu werden braucht. Es genügt
sie zu erwähnen:
Einmal die thatsächliche Lage, welche die unteren Classen
im Concurrenzkampf um die vertragsmässige Regelung der Ver-
theilung bisher erreichen konnten, nach Arbeitsart, Maass, Last,
Sicherheit des Erwerbs, Einkommenhöhe und Genussmaass.
Die Beobachtungen hinsichtlich dieser Lage lassen ein regulirendes Eingreifen
in die Vertheilung, auch bezügliche Aenderungen der Rechtsordnung, mindestens in
der Richtung, dass die unteren Classen durch Organisationen, Intercsscnverbändo
sich selbst für den erfolgreichen Concurrenzkampf geeigneter machen , nach dem
Obigen schon nothwendig, daher auch hier zulässig erscheinen, soweit sich nicht aus
dcu unten folgenden Ausführungen Beschränkungen ergeben.
Sodann die Ansprüche in Betreff der ganzen Lebens-
haltung, welche diese Classen nach den Anschauungen des Zeit-
alters und nach dem Vergleich mit der Lebenshaltung der höheren
Classen, auch nach dem sich bei diesen selbst geltend machenden
Ansichten, nach den Gewissensregungen der besseren und
denkenden Elemente dieser höheren Gesellschaftskreise, zu erheben
berechtigt erscheinen.
Auch hiernach bcurtheilt, wird man die Zulässigkeit, die Räthlichkeit, die sitt-
liche Nothwendigkeit einer den unteren Classen eine bessere Lebenshaltung crinfig-
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Zulässigkeit einer Regelung der Verkeilung.
725
lichendcn Verkeilung und regulativer Eingriffe in die bestehende und sich anf der
gegebenen Grundlage vollziehende zu diesem Zweck zugcstchcn dürfen, — wiederum
vorbehaltlich der Bedenken und Einschränkungen, welche sich etwa aus dem Fol-
genden noch ergeben.
Endlich ist auch hier wieder der Bevölkerungsfrage zu
gedenken.
Hier bieten sich, nach den Ausführungen im 1. Kapitel dieses 4. Buchs, stets
wichtige Bedenken, ob und wie weit die Verbesserung der ökonomischen Lage der
unteren Volksmasse nicht alsbald zu einer stärkeren natürlichen und Wanderungs-
vermehrung führt, woraus dann wenigstens Gefahren hinsichtlich der Wettmachung
der Verbesserung der Lage hervorgehen können, unter gewissen Umständen hervor-
gehen müssen. Maassvolle Bevöikerungsvermchrung, günstigere Verkeilung zwi-
schen productiven und unproductiven Altersclassen, bieten allein die Bürgschaft, dass
diese Gefahren vermieden werden. Kommt es dazu nicht schon von selbst, so wird
eine regulirende Bevölkerungspolitik, namentlich auf dem Gebiete der Hei-
rathen, des Eheschliessungsrechts, und der Wanderungen, des Zugrechts im Inlande,
des Einwanderungsrechts gegenüber dem Ausland immer eine offene Frage bleiben.
Freilich hängt, nach den früher mitgetheilteu statistischen Thatsachen und daran
geknüpften Erörterungen (§. 219 ff.), manches Ungesunde in der Bevölkerungsbewegung,
besonders in der Heiraths- und Geburtsfrequenz, grade mit den Verhältnissen unserer
heutigen Organisation und Rechtsordnung der Volkswirthschaft zusammen, so die zu
rasche natürliche Vermehrung bei momentaner ruckweiser Verbesserung der Lage, wie
sic sich in Zeiten aufsteigender Conjunctur und Speculation einstellt.
Genauer muss dagegen hier auf die anderen erwähnten Zu-
sammenhänge eingegangen werden, namentlich auf denjenigen
zwischen Culturentwicklung und Einkommenvertheilung und anf
die hiermit gerade aus dem Geeichtspunct des Gesammtinteresses
der Volksgemeinschaft in Verbindung stehende Abwägung der ver-
schiedenen Classcninteressen. Hinsichtlich des Zusammenhangs
zwischen ökonomisch -technischem Productionsfortschritt und Ver-
keilung kann ebenfalls mehr auf Früheres, besonders auf die
Motivationstheorie im ersten Kapitel des ersten Buchs, Bezug ge-
nommen werden.
§. 283 [104]. — a) Zusammenhang der Vertbeilungs-
frage mit der Höhe des Volkseinkommens und Be-
dingtheit dieser Höhe und des Wachsthums der letzteren
durch die auf Grund der bestehenden Rechtsordnung
sich ergebende Ungleichheit der Vertheilung.
Der Grad, in welchem die ganze Bevölkerung anch bei relativ
gleichmässiger Vertheilung des Volkseinkommens ihre Existenz-
bedürfnisse befriedigen und an den Culturgütern des Zeitalters in
der gewünschten Weise Theil nehmen kann, hängt in letzter Linie
nothwendig von der Höhe dieses Volkseinkommens ab.
Ist diese Höhe zu gering für die Erreichung jenes Umfangs
der Bedürfnisbefriedigung der Bevölkerung, so muss unvermeidlich
726 4. B. Bovölk. u. Volksw.scb. 2. K. Vertheil.probl. 2. A. Regelung. §. 283.
eine entsprechende Beschränkung der Consumtion der Volksmasse
eintreten.
So ist allgemein die Sachlage in niedrigeren Stufen der volkswirthschaftiicbti
Entwicklung bei der hier noch schwachen Ausbildung der Technik, oder
m. a. W. der geringen menschlichen Beherrschung der Naturkräfte ftr
die Productionszwecke. Auch die Einschränkung des Mehreonsums der reichereü
und höheren Classen. welche gerade hier im Interesse der Gesammtcultar und deren
Entwicklung, wie sich zeigen wird (§. 2S4), nicht einmal wünschenswerth wäre, hätte
hier für die Verbesserung der Lebenslage des ganzen Volks keine grössere Bedeutung.
Denn der absolute Betrag des hierdurch disponibel werdenden, von den besser
Situirten bezogenen Theiles des Volkseinkommens ist hier zu unbeträchtlich. Hier
gilt daher der oft aufgestellte Satz, dass eine „Verstreichung“ des Einkommens der
Wohlhabenden und Reichen „nach Unten zu“ ohne practische Bedeutung ist.
Hat das Volkseinkommen aber bereits eine grössere Höhe
erreicht, was immer (von Ausbeutung anderer Völker durch Tribute
u. s. w. abgesehen) eine entsprechende Entwicklung der Pro-
ductionstechnik zur Voraussetzung hat, dann ist die Art der
Vertheilung dieses Volkseinkommens immer ein mehr oder
weniger wichtiges Moment für den Umfang der Consumtion im
Volke, daher besonders in den unteren Classen. Die arith-
metische Möglichkeit, eine Theil nähme der Massen an feineren
materiellen und an CulturgUtern in grösserem Umfang durch eine
gewisse Ausgleichung einer sehr ungleichen Vertheilung des Volks-
einkommens zu erreichen, ist hier zunächst, wie oben gezeigt
wurde (§. 279 ff.), nicht zu bestreiten.
In welchem Maassc, das hängt von den arithmetischen Factoren ab:
Höhe des Volkseinkommens, Grösse der Bevölkerung, bisherige Ungleichheit der
Vertheilung, Höhe der quotativen Verminderung dieser Ungleichheis u. s. w.
Gerade in der Gegenwart, mit ihrer der raschen Entwicklung der Technik za ver-
dankenden ungemein schnellen Vermehrung des Volkseinkommens und Volksvermögens,
ist wenigstens in Ländern mit sehr ungleicher Vertheilung durch eine solche
Ausgleichung eine Hebung der Consumtion der Massen arithmetisch möglich,
was. wie oben nachgewiesen, öfters mit Unrecht bezweifelt wurde (§. 279).
Ob man nun aber die Verwirklichung einer solchen Möglich-
keit für zulässig erklären darf, hängt von Erwägungen darüber
ab, ob und wie weit die bisherige Höbe dieses Volkseinkommens,
deren weiteres Wachsthum uud die Erfüllung der wuchtigsten Voraus-
setzung dafür, die Erhaltung der erreichten Oekonomik uud Technik
im Productionsbetrieb und der weitere Fortschritt darin, gerade
von der rechtlichen Zulässigkeit und tatsächlichen Möglichkeit un-
g lei eher Vertheilung und von dem bisherigen Maasse dafür abhängt.
Hier ist nun mit der psychologischen und erfahrungsmässigen
Thatsachc zu rechnen, dass, entsprechend namentlich dem ersten
Leitmotiv wirtschaftlichen Handelns, dem Streben nach dem wirt-
schaftlichen Vorteil (§. 34 ff.), auch gemäss dem Mitwirken des
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Ungleiche Vertheilung und Productionsinteresse.
727
dritten Leitmotivs in gewissen Formen (Ehrgeiz, Eitelkeit u. dgl. ,
§.39 ff.), die Aussicht, ein höheres Einkommen, Vermögen zu erzielen,
notorisch für den Einzelnen ein ausserordentlich mächtigerAn-
sporn zu grösserer wirtschaftlicher Energie, Tüchtigkeit, Thätig-
keit ist. Das wirthschaftliche Selbstinteresse wirkt hier freilich
zunächst für das Einkommen des Einzelnen, damit aber auch
mehr oder weniger für das Ganze, für das Volkseinkommen.
Soweit letzteres hierdurch stärker steigt, als es bei einer grösseren
Ausgleichung der Einzeleinkommen geschähe und soweit die so
erzielte Steigerung des Volkseinkommens nicht wieder nur zur
üppigeren Befriedigung der materiellen Bedürfnisse derjenigen Per-
sonen, welche das höhere Einkommen erzielen, dient, erscheint die
Ungleichheit der Einzeleinkommen in der That wieder
als nothwendig im G e s a m m t interesse, wenigstens im Princip,
wenn auch nicht ohne Weiteres in dem jeweilig vorhandenen oder
unter jenem Ansporn sich entwickelnden Maasse. Die Wissenschaft
darf daher damit nicht ohne Weiteres die ganze Frage als zu
Gunsten der bestehenden Rechtsordnung entschieden voraussetzen.
Wohl aber darf sie, namentlich dem Socialismus gegenüber, die
Frage aufwerfen, ob dieser Sporn in irgend einer anderen Organi-
sation der Volkswirtschaft, speciell der Production, bei irgend
einer anderen Rechtsordnung genügend wirksam bleiben oder
in seiner günstigen Wirkung für das Volkseinkommen genügend
durch andere Motive und Potenzen ersetzt werden könne und nach
psychologischer Wahrscheinlichkeit werde. Hier liegt die Schwierig-
keit des „Productionsproblems“, Uber welche sich der
Socialismus zu leicht hinwegsetzt und welche alle anderen, anti-
individualistischen ökonomischen Richtungen auch gern zu leicht
nehmen. Es genügt, auf die früheren Erörterungen über die Motive
(§. 33 ff.) zu verweisen.
Practisch spricht hier indessen nun der Stand der Technik
der Production wesentlich mit. Er kann einerseits andere
Einzelwirtschaften, namentlich sog. „öffentliche“ des Staats,
der Gemeinde u. s. w. neben den vornemlich vom wirthschaftlichen
Selbstinteresse getriebenen, d. h. neben den sog. Privatwirt-
schaften, ökonomisch und technisch auch in der Sphäre der
materiellen Production leistungs- oder concurrenzfähiger;
anderseits die Bedeutung jenes Sporns in diesen letzteren Wirt-
schaften relativ weniger wirksam machen.
728 4. B. Bcvölk. u. Volksw.scb. 2. K. Vertheil.probl. 2. A. Regelung. 283.
Denn auch diese Wirtschaften müssen wegen der Grösse der erforderlicher
Kapitalien, des Kisicos, der nothwendig ungestörten Fortdauer (Erbgang im Privat-
geschäft!) u. s. w. in wesentlichen Functen ähnliche Formen wie öffentliche Wirth-
schaften , damit aber auch deren Schwächen , aunehmen , so bei der Ersetztm?
des gewöhnlichen Privatgeschäfts durch die Erwerbs-, besonders die Acticn-
ges ellsch a ft: ein volkswirtschaftlicher Hauptpunct der Frage des Actiengesdl-
schaftswcsens !
Ist dies der Fall, dann ist aber die Höhe und weitere
Vermehrung des Volkseinkommens und Volksvermögens auch
ökonomisch-technisch und, tiefer gehend, wirthschaftspsychologiscb.
nicht mehr in dem früheren Maasse an die Ungleich-
heit der Vertheiluug gebunden.
Dass dies nun in der That in der Gegenwart nach dem er-
reichten Stande der Technik einigermaassen gilt, wenngleich mit
mehr Einschränkungen, als zu optimistische Auffassungen annehmen,
wurde oben schon zugegeben (§. 278). Das bedeutet aber ins-
besondere auch, dass die Gesellschaft der Culturvülker weniger
streng als jemals eine frühere Gesellschaft durch die gewisser-
maassen natürliche ökonomische Nothwendigkeit an starke Un-
gleichheit der Einkommen- und Vermögensvertheilung als an
eine unvermeidliche Bedingung einer allein wirk samen Organi-
sation der gesellschaftlichen Arbeit für den Productionsprocess ge-
bunden ist.
Damit ist die ö kono mische Möglichkeit einer materiellen
culturlichen Hebung der Massen unserer Bevölkerung auf doppelte
Art constatirt: durch die in grossem Maasse möglich gewordene
a bs o lute Steigerung des Volkseinkommens und durch die gleich
falls möglich gewordene Steigerung des Antheils der unteren
Classen an diesem grösseren Einkommen. Die sociale Classen-
schichtung, welche immer in der Hauptsache die Wirkung
der ökonomischen Ungleichheit ist, kann ebendeshalb jetzt noch
keineswegs fortfallen, wie der Socialismus wähnt, weil das Pro-
ductionsinteresse dabei doch noch immer bedenklich leiden könnte
und ausserdem auch entscheidende aridere Rücksichten (§. 284) sie
nothwendig machen. Wohl aber, was auch schon ein grosser Ge-
winn ist, kann sie weniger schroffe Ungleichheiten der Classen-
lage erhalten und leichtere Uebergänge von einer zur anderen
Classe, dem schon errungenen Recht gemäss, zulassen, als jemals
bisher in der Geschichte. Die ältere Classenschichtung hat ihre
Mission gehabt, wie einst die Unfreiheit, aber diese Mission wird
immer mehr beendigt.
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Ungleiche Vertheilung und Productionsinteresse.
72H
Genial und durchaus objectiv entwickelt das, wie schon oben bemerkt,
aus den maassgebenden causalen Momenten der Technik Fr. Engels, Düliring’s
Umwälzung, bes. im 3. Abschn.; freilich mit Hintansetzung der Gesichtspuncte, die
auch jetzt aus ökonomischen und culturlichen Grtlndeu fUr die Classen-
schichtung der Gesellschaft sprechen und in gewissem Maasse wohl immer gelten,
schon wegen der Verschiedenheiten der Begabungen. Aber an Tiefe der Auffassung
und Schärfe des Nachweises der dem socialen Classenwesen zu Grunde liegenden
ökonomisch-technischen causalen Factoren überragt hier Fr. Engels seine
Gegner ausserordentlich. Man vergleiche etwa mit seiner Darstellung diejenige von
H. v. Treitschke in den gen. Aufsätzen über den Socialismus, wo die Classen-
schichtuug Einl. IV so pathetisch verherrlicht wird, ohne genügende Rücksicht auf
den Eintluss der sich vollziehenden Umgestaltung der Technik.
Wo so nicht mehr nur die Möglichkeit solcher ökonomischer
und in deren Gefolge solcher socialer Veränderungen, sondern nach
dem Gesagten bedingt auch die Zulässigkeit derselben vor-
liegt, da werden sich diese mit naturgesetzlicher Kraft verwirk-
lichen, wenn auch, wie alles geschichtlich Werdende auf diesen
Gebieten, erst allmählig, freilich im rasch lebenden Zeitalter des
Dampfes wohl schneller als in ähnlichen Fällen ehedem. In solcher
Sachlage wird auch das ethische und politische Postulat
zu stellen sein, dass die höheren Classen und der Staat die lohnende
Aufgabe übernehmen, durch ihr beförderndes Entgegen-
kommen und Eingreifen dieser Entwicklung Vorschub zu leisten.
Dies Postulat mag in Bezug auf das Vertheilungsproblem in Rod-
bertas’ Worte gefasst werden: „es muss den arbeitenden
Classen ein mit dem steigenden Nationalreichthum
mit steigender Lohn gesichert werden“, — es muss
wenigstens verhütet werden, dass die colossale Steigerung der Pro-
ductivität der nationalen Arbeit überwiegend oder gar ausschliess-
lich den besitzenden Classen zu Gute komme.
Aber gleichwohl wird doch auch hier noch immer der mög-
lichen, wahrscheinlichen und thatsächlichen Rückwirkungen
einer zu weit gehenden Verminderung der Gelegenheiten, grösseres
Einkommen und Vermögen zu erreichen, auf Oekonomik und
Technik, namentlich auf deren weiteren Fortschritt, zu ge-
denken sein. Denn dabei kann die Gefahr drohen, das erste Leit-
motiv wirtschaftlichen Handelns zu sehr zu unterbinden.
Das übersieht namentlich wiederum der Socialismus in seinen Bestrebungen nach
Umgestaltung der Organisation und Rechtsordnung der Volkswirtschaft viel zu sehr.
Selbst in den bisherigen „Verstaatlichungen“ von Wirthschaftsbetrieben habeu sich hier
schon Bedenken ergeben.
Es nöthigt das dazu, auch in der Frage der Zulässigkeit, die
unteren Classen durch bessere Vertheilung des Productionsertrags
zu heben, selbst bei heutigem Stande der Technik, gerade im Pro-
ductionsinteresse nicht sowohl kurzweg das Princip aufzu-
730 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 2. K. Vertheil. probl. 2. A. Regelung. §. 2S4.
stellen, die privatwirthsehaftliche Organisation mit ihrem Motivation^
System sei völlig durch die socialistische zu ersetzen, sondern
nur zuzugestehen , dass von F a 1 1 z u Fall oder von Kategorie
von Fällen zu Kategorie von Fällen die Frage zu entscheiden und
heute allerdings öfters als früher zu bejahen sei, indessen ancb
heute noch keineswegs allgemein, vermuthlich niemals völlig,
gerade im Gesammtinteresse der Volksgemeinschaft. Aach der
„private U nternehmungsgeist“ ist eben doch ein Factor,
von welchem mächtige Fortschritte auf dem Productionsgebiete
ausgehen. Man braucht ihn deswegen nicht absolut zu entfesseln
und „Orgien der Erwerbsucht“ feiern zu lassen. Aber man kanD
und darf ihn auch nicht völlig lahm legen.
Auch hier sind es daher Fragen des Maasses, die nur
von Zeit zu Zeit, von Land zu Land, von Fällen zu Fällen richtig
entschieden werden können, um welche es sich handelt: bei der
Ersetzung der privaten Unternehmung durch öffentliche, wie bei
der Einschränkung der ersteren, wo sie im Gesammtinteresse
bleiben muss.
Auch das führt hier, wie immer, wieder zu jenem mittleren Standponefc
innerhalb der Extreme des reinen Socialiamus und des blossen individualistischen
Concurreuzbystems, den wir in diesem Werke einnehmen zu sollen glauben, wenn auch
unter Berufung auf alles hier Ausgeführte mehr als Andere in Annäherung an den
Socialismus (§. 52, 53, 296, Buch 5 und Abtheilung II der Grundlegung).
§. 284 [100 — 103, 104a]. — b) Abwägung eollidirender
ClasseninteressenundZusam menhang zwischen Cultur-
ent Wicklung und Vertheilung des Volkseinkommens.
Hier liegt schliesslich der wichtigste Punct für die Entscheidung der
erörterten Fragen. Leiden Culturinteressen der Volksgemeinschaft
unter einer Aenderuug der Einkorn menvertheilung? In wie fern
sind sie mit der ungleichen Vertheilung verknüpft? Das erheischt
genauere Prüfung.
Die Befriedigung der Existenzbedürfnisse zweiten Grades kommt
oft vornemlich auf die bessere und angenehmere Befriedigung
der feineren materiellen Bedürfnisse hinaus. Wenn die un-
gleiche Vertheilung des Volkseinkommens, bei einer gegebenen
Grösse des letzteren, hauptsächlich nur zur reichlicheren und
üppigeren Befriedigung dieser Bedürfnisse der besser situirten
Individuen, Familien und Classen führt, so bildet diese Ungleich-
heit des Einzeleinkommens leicht einen Schaden, selbst einen tiefen
Schaden der Volkswirtschaft zum dauernden Nachtheil des ganzen
Volks.
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Ungleiche Vertheilang und Culturinteresse.
731
Denn das üppigere Leben der Bemittelten pflegt diesen selbst physisch und
sittlich zu schaden, es ruft den Neid der unteren Classen besonders leicht hervor,
wenigstens sobald diese zu einem gewissen Bewusstsein gekommen sind, es führt zu
einer ungünstigen Richtung der ganzen nationalen Güterproduction (Luxusartikel der
Reichen statt Massengüter für Alle), und es fördert in der Hauptsache, von etwaigem
Einfluss auf Kunstluxus abgesehen, kein Culturinteresse des Volks. Nur soweit die
Aussicht, selbst an den Genüssen eines derartigen Lebens Theil zu nehmen, die
wirtschaftlichen Kräfte der Einzelnen auspornt, lässt sich dann die Ungleichheit
des Einkommens in Schutz nehmen, aber nicht so unbedingt, wie dies gewöhnlich
geschieht (§. 283).
Auch für Kunstluxus und insbesondere für die Entwicklung der bildenden
Künste gilt, dass öffentliche Mittel besser und grossartiger als private die
Blüthe reiner Kunst befördern. Der nachtheilige Einfluss der „Gründerperiode“ auf
die deutsche Malerei ist von den verschiedensten Seiten schon zugegeben worden.
Vergl. auch Springer’s Bericht Uber die bildenden Künste der Gegenwart, im amt-
lichen deutschen Bericht über die Wiener Weltausstellung, Braunschw. 1874, I, 107 ff.,
114, 116. Die „Familienbilder“ und Porträts von Parvenues der jüngsten Geldaristo-
kratie beiderlei Geschlechts (Damenporträts der neueren Zeit!), selbst von „ersten
Künstlern“, welche in ihrer Massenhaftigkeit unsere Ausstellungen füllen, werden
auch späteren Zeitaltern charactcristisch genug sein. Welche andre Physiognomieen
bei den Dürer, Holbein, Tizian, Velasquez, van Dyck u. s. w.!
Unter solchen Umständen kann und muss daher die Gesetz-
gebung eine gewisse Ausgleichung in derVertheilung
des Volkseinkommens ins Auge fassen. Selbst wenn dadurch
nur eine beschränkte Theilnahme der Massen des Volks an der
besseren Befriedigung der materiellen Bedürfnisse erzielt wird, weil
die in Betracht kommende Gütermenge dem ganzen Volksbedarf
gegenüber nicht mehr erlaubt, so ist dies ein Gewinn für das Ganze.
Freilich wird auch hier wieder zu unterscheiden sein, namentlich nach der
Verwendung des Reichthums (s. u.). Z. B. ein Land und eine Zeit, wie die in den
deutschen Grossstädten erlebte Periode von 1871 — 73, von 1889 1F., mit Prasserei,
Tafel- und Kleidungsluxus einer Parvcnuschaar von Börseumänncrn wird zur
Heilung eines regulativen Eingriffs in die Vertheiluug viel mehr bedürfen, als, viel-
leicht bei gleicher Höhe der hervorragenden Einzeleinkommen, ein Land und eine
Zeit mit Kunstmäcenatenthum und grossartiger Freigebigkeit des soliden Privatreich-
thums für wichtige öffentliche Zwecke der Bildung, Wohlthätigkeit u. s. w., wie etwa
in Basel (§. 336 ff.). Aus dem social politisch en Gesichtspuuct entscheidet also die
blosse arithmetische Höhe der Privateinkommen und -Vermögen wieder nicht allein,
sondern auch die Verwendung und die Erwerbsart des Privateigenthums
(Conjuncturengewinne, §. 166 ff., Spielgewinne des Gründerthums, der Börse) Uber das
Ob und Wie, das Maass der Anwendung des Grundsatzes der Vertheilungsregulirung.
Durch die Entwicklung und Befriedigung wirklicher Cultur-
bedürfnisse Seitens der bemittelten Classen und Einzelner wird
dagegen regelmässig auch die Culturhöhe des ganzen Volks mehr oder
weniger gesteigert. Auch diejenigen Bestandteile des Volks, die
untersten Classen, welche unmittelbar an der Befriedigung dieser
Culturbedürfnisse vielleicht noch gar nicht theilnehmen, sind doch
an der Steigerung der Gesammtcultur bereits interessirt. Was
ihnen davon nicht zu Gute kommt, werden ihre Nachkommen
wenigstens in gewissem Umfange mit gemessen. Auch hier wird
das Volk in seiner zeitlichen Entwicklung als Ganzes zu be-
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732 4. B. Bevölk. n. Volksw.sch. 2. K. Vertheil. prob). 2. A. Regelung. §. 284.
trachten sein. Die Opferung von Lebenden um der dauernden
Interessen des ganzen Volks Willen erfolgt ja z. B. auch
im Kriege mit Nothwendigkeit und vollständig mit Hecht. Nach
einem analogen Gesichtspuucte kann auch für Theile des Volks
eine ungünstige ökonomische und sociale Lage im dauernden
wahren Gesamm tinteresse des Volks gerechtfertigt werden.
Für die erste E nt Wicklung der Culturbedürfnisse erscheint
aber nun nach allgemeinster geschichtlicher Erfahrung die un-
gleiche Vertheilung des Volkseinkommens oder die individuelle
Einkommens- und Vermögensungleichheit als notli-
wendige allgemeine Voraus setz ung, freilich mit den dabei
nicht zu übersehenden Beschränkungen.
Diese Beschränkungen vernachlässigte H. v. Treitschke in seinen 'Aufsätzen in
den Preuss. Jahrb. über den Socialismus, besonders im ersten. Seine Darlegung machte
öfters den Eindruck, als empfinde er ein Behagen an der ökonomischen Ungleich-
heit der Menschen, während doch nur nothgedrungen eine solche Ungleichheit
und vollends ein bedeutender Grad derselben zuzugeben sein wird. Zu Aristoteles’
principicller Rechtfertigung der Sclaverei ist von Treitschke ’s Standpunct nur noch
ein Schritt (S. besonders den 1. Aufsatz S. 82 ff., 89, wo die doch im steten
Fluss befindliche „Gliederung der Gesellschaft** als Schranke für die Theilnahme
Aller an allen Culturgütern hingestellt wird, 106. Treffende Gegenausführungen von
Schm oller, a. a. 0. , besonders im 4. und 6. Abschnitt, z. B. S. 104 (Treitschke’s
Wiederaufnahme der Hall er sehen Staatstheorie).
«) Culturbedürfnisse entstehen und entwickeln sich bei solchen
Einzelnen zunächst, welchen die unmittelbare Sorge für die mate-
rielle Existenz wenigstens zum Theil abgenommen ist. Diese Per-
sonen gewinnen so Zeit für andere Thätigkeit und Geistesmusse
für die Entwicklung ihres geistigen Lebens: beides Voraussetzungen,
dass Culturbedürfnisse überhaupt empfunden werden. Diese Voraus-
setzungen sind aber ihrerseits an die andere Voraussetzung ge-
bunden, dass Personen und Classen existiren, welche jenen Einzelnen
die Sorge für die materielle Existenz im Wesentlichen abnehmen.
Die sociale und ökonomische Ungleichheit der Bevölkerung
ist insofern die Vorbedingung für die erste Entstehung
jeder höheren Cultur. Die grosse welthistorische Mission
der Sclaverei bei den wirklichen Culturvölkern, wie besonders
bei den beiden grössten Völkern des Alterthums, liegt in diesem
Zusammenhänge zwischen der social - ökonomischen Ungleichheit
der Volksclassen und der Entstehung und Entwicklung der Cultur.
Vom weltgeschichtlichen Standpuncte betrachtet, ergiebt sich so
die Rechtfertigung des Instituts der Sclaverei als rechts-
geschichtliche Erscheinung, wenigstens solange der Stand der
Productionstechnik noch niedrig ist, bei solchen Cultur-
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Ungleiche Vertheilung und Culturinteresse.
733
Völkern, bei denen das Institut nicht nur ein Mittel ist, die arbeits-
lose üppigere Befriedigung der materiellen Bedürfnisse einer kleinen
Minderzahl zu ermöglichen, sondern wahrer Culturentwicklung bei
der Herrenschicht und im ganzen freien Staatswesen zu Gute kommt.
Soweit stimme ich auch v. Trcitschke bei, der aber nicht genügend unter-
scheidet, in wie fern Sclaverei und gedrückte Lage der unteren Classen wirklich
eine Bedingung der ersten Culturentwicklung oder aber nur ein Mittel
üppigeren Behagens einer kleinen Minderzahl ist (s. a. a. 0. S. 91, mit der sehr
bedenklichen Aeusserung über üentz, Heine), — und ein solches Mittel wird immer
mehr dio fortdauernde Sclaverei. Vergl. auch Roscher, System I, §. 6S. In
den Bemerkungen von Büchsenschütz über den Einfluss der Sclaverei auf die
wirtschaftlichen Verhältnisse Griechenlands, a. a. 0. S. 206 ff., wird m. E. die
günstige Seite etwas zu wenig hervorgehoben, s. auch Roscher, §. 45. Die wahre
Kehrseite der Sclaverei zeigt gut Bücher, die Aufstände der unfreien Arbeiter
143 IT. vor Christus, Frankf. 1874. Jene relative Rechtfertigung der Sclaverei wird
selbst von den wissenschaftlichen Stimmführern des Socialismus anerkannt, so von
Fr. Engels (I)ühring’s Umwälz.) — aber freilich mit den nöthigen Beschränkungen,
namentlich mittelst Nachweises, wie das Alles vom Stande der Technik der Pro-
duction bedingt ist.
Auch soweit später und in gewissem Umfange bleibend
Culturbedürfnisse immer erst bei Einzelnen oder bei einem
kleinen Kreise zur Entstehung und Ausbildung kommen, muss
und darf das Vorhandensein einer grösseren unteren Volksschicht,
welche vornemlich die materiellen Existenzbedingungen des ganzen
Volks schafft und selbst nur geringen Antheil an den feineren und
höheren Bedürfnissen hat, als noth wendig bezeichnet werden.
Insoweit ist z. B. der Satz richtig: „ohne Dienstboten keine
Cultur“ (v. Treitschkc).
A. a. 0. S. S2, S3: „Die Millionen müssen ackern und schmieden und hobeln,
damit einige Tausende forschen, malen und regieren können“, wo, wie in der ganzen
Arbeit Treitschke’s, der sociale Gegensatz aber m. E. zu sehr verschoben
wird: als bestände er grade besonders zwischen unteren Handarbeitern und hohen
Geistesarbeitern, welche letzteren ohnedem der zufälligen Vermögens- und Einkommens-
verthoilung zumeist ihr geistiges Uebcrgcwicht, weil ihre höhere Bildung, verdanken,
während es sich um den Gegensatz zwischen kapitalistischen Unternehmern, Renten-
beziehern (Grund-, Kapitalrenten), Conjuncturen-, Speculations-, Spielgewinnstbeziehcrn
einer- und nichtbcsitzendcn Hand - und grossentheils auch Kopfarbeitern anderseits
handelt. Ausserdem fragt sich eben stets noch, ob das Maass der ökon omischon
Ungleichheit auch nur annähernd richtig ist, selbst wenn diese Ungleichheit bestehen
soll. Von der Beantwortung dieser Frage bängt dann wieder der zu erstrebende
Umfang der Theilnahme der Arbeiter, incl. Dienstboten, au den Culturgütern ab.
Mit der Rechtfertigung Gcntz ‘sehen Sybaritismus ist für jene Frage doch noch gar
nichts entschieden.
Man kann auch weiter zugeben, dass überhaupt die Ver-
schiedenheit der Art und Höhe von Einkommen und Vermögen, als
Grundlage der Classenschichtung der Gesellschaft, eine Diffe-
renzirung der socialökonomischen Lage bewirkt, welche
als solche wieder Mannigfaltigkeit der gesamraten Lebens-
verhältnisse, Bedürfnisse, Anschauungen, Sitten, welche Reibungen
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Thoil. Grundlagen. 47
734 4. B. Bcvölk. u. Volksw.sch. 2. K. Yertheil.problem. 2. A. Regelung. §. 264.
unter den Classen und damit in oft nicht geringem Maasse etwas
dem Culturfortschritt Förderliches bedingt. Die zu weit gehende
Einkommengleichheit führt leicht zu einer Eintönigkeit der
Lebensverhältnisse, welche wahrlich nicht culturförderlich ist.
Ein Gesichtspunct in der Frage, welcher nicht selten von den Vertretern der
grösseren oder gar der vollständigen Gleichmachung von Einkommen und Vermögen
und des blossen Arbeitseinkommens übersehen oder zu wenig beachtet wird. Eine
Gefahr auch in ultradcmokratischen Gemeinwesen, wo das etwa vorhandene höhere
Einkommen und Vermögen zu wenig sich kund zu gebeu wagt, selbst nicht in
edlen Genüssen.
ß) Auch diese und ähnliche Sätze über die Rechtfertigung der
Sclaverei, der Classenschichtung und Einkommenungleichheit führen
aber zum Missbrauch und zur bedenklichen Rechtfertigung socialer und
ökonomischer Ungleichheit, wenn sie nicht sofort die nötbige princi-
pielle und danach ihre practische Beschränkung erfahren.
Sic gelten überhaupt und jedenfalls namentlich zunächst nur für primitivere
Zeiten mit einem niedrigeren Stande der Productionstechnik, vor Allem
so lange die menschliche Muskelkraft fast alleiniger auch kraftgebender Factor (Motor)
ist; nicht mehr in gleichem Maasse, theilweise gar nicht mehr (Sclaverei!), wenn
die Naturkräfte, besonders die todten, technisch in ausreichendem Maasse für viele
wichtige Productiouszwccke benutzt werden können. Sie gelten daher ferner nur in
der angegebenen Weise in Zeitaltern eines noch niedrigen gesammten Volks-
einkommens, welches höchstens ausreicht, einer kleinen Anzahl Personen eine bessere
materielle Lebensweise und Befriedigung von Culturbedürfnissen zu ermöglichen, für
eine entsprechende Theilnahme der Massen aber viel zu gering ist. Sie gelten weiter
nur, soweit es sich um wahre Culturbedürfnisse, nicht um üppigere Befriedigung
der materiellen Bedürfnisse handelt und soweit jene Culturbedürfnisse sich wirk-
lich nur unter den angenommenen Voraussetzungen entwickeln, was häufig, aber
nicht immer, besondere nicht stets bei einem allgemein höheren Cultumiveau der
Nation, der Fall ist.
In dieser Hinsicht kommt es daher, wie schon berührt, wesentlich mit auf die
Verwendung an, welche die reicheren Classen von ihrem höheren Einkommen und
Vermögen machen. Verwendungen zu rein persönlichen, üppigen Genüssen, an sich
und für die Geniessenden selbst nicht einmal gut, haben auch weniger Anspruch auf
Schonung, wenn es sich um die volkswirtschaftliche Vertheilungsfrage handelt,
namentlich hier nur soweit, als wieder die Aussicht auf solche Genüsse ein durch andere
Motive nicht genügend zu ersetzender Ansporn zu höherer Productionsleistung ist
(§. 263). Verwendungen der Vermögenderen zu wahren Culturbedürfnissen können
auch der Gesamintcultur des Volks nützlich sein und erscheinen dann in deren Inter*
esse social gerechtfertigt, mit ihnen ihre Voraussetzung, das höhere Privateinkommen
und Privatvermögen. Endlich ist auch die Ar t des Erwerbes der höheren Einkommen
hier wieder mit zu beachten. Je geringer die persönliche Arbeitsleistung des Be-
ziehers ist, je mehr das Einkommen aus blossem Eigenthumsrecht (daher bei Ver-
pachtung, Vcrmiethung, Darlehen), nicht aus selbst benutzten und wirt-
schaftlich in der Production verwendeten Objecten, je mehr cs aus Speculations-,
Conjunctur-, Spielgewinn herrührt, desto weniger ist wieder aus volkswirtschaftlichen,
auch aus ethischen Gründen eine besondre Rücksichtnahme auf derartiges höheres
Einkommen geboten.
Unter den Culturbedürfnissen finden sich ausserdem manche ron so indivi-
dueller Art und von so geringer allgemeiner Bedeutung für den Cultur-
stand des ganzen Volks, dass mit ihrer, einer verschwindenden Minorität zu Gute
kommenden Befriedigung, also mit den dafür aufzuwendenden Mitteln aus dem Volks-
einkommen, die Beschränkung der Massen des Volks auf das unbedingt zur Existenz
Notwendige zu teuer erkauft erscheint. Vielmehr kann hier sehr wohl ein Fall
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Ungleiche Vertheilung und Cnltarinteresse.
735
vorlicgen, in welchem, zwar nicht vom Standpuncte des Einzelnen, der mit Recht
immer jedem von ihm empfundenen Culturbedurfniss den Vorrang geben mag, wohl
aber vom Standpuncte der Volkswirthschaft oder des Volks ans Cultnr-
bedurfnissc dieser letztgenannten Art hinter die wichtigeren Existenzbedtlrfnissc zweiten
Grads, deren Befriedigung in einem der berechtigten Sitte entsprechenden Umfange
bei der Masse der unteren Classeu vorausgesetzt, zurücktreten müssen. In allen diesen
Puncten hat v. Treitschke a. a. 0. (S. 85 ff., 89, 91, 93) manche wieder um-
gekehrt zu weit gehende, zu sehr verallgemeinernde Ansichten vertreten, welche mehr-
fach von Schmoller a. a. 0. gut berichtigt worden sind.
Die Conscq uenzen dieser Einschränkungen der Rechtfertigung der Ein-
kommenungleichheit sind wichtig genug, wie sich leicht durch Beispiele zeigen
lässt. So werden gewisse rein specialistische Wissenschafts-, Kunst- und
Ku nstluxusbedürfnisse (u. A. auf dem Gebiete der Kunstindustrie) nicht mit einer
knapp auf den notbwendigen Existenzbedarf der unteren Classen reducirten Lebens-
weise erkauft werden dürfen, mindestens nicht mehr in einem Zeitalter wie dem
unseren, wo persönliche Freiheit aller Individuen besteht. Noch weniger aber werden
solche ganz specielle Culturbedürfnisse einzelner Classen oder Personen wich-
tigeren allgemeineren Culturbedürfnisscn des ganzen Volks, deren Befriedigung gleich-
zeitig nach dem Standpuncte eines Zeitalters in möglichst weiten Kreisen erwünscht
ist, vorangehen dürfen. Und am Wenigsten dürfen sie etwa mit Staatsmitteln,
d. h. mit zwangsweise durch Steuern entnommenen Volksmitteln befriedigt werden,
solange nicht die richtigen allgemeineren Culturbedürfnisse des Volks in einem Zeit-
alter diejenige Befriedigung finden, welche der jeweilige Stand des Volkseinkommens
zulässt.
Das Gesagte wird in unserer Zeit in den an sich ja berechtigten Klagen Uber
das Zurückbleiben der modernen Kuustindustrie hinter der antiken und
z. Th. selbst der mittelalterlichen und über dasjenige der deutschen hinter der fran-
zösischen und z. Th. englischen oft übersehen. Kunstiudustrie lebt überwiegend vom
Privatreichthum (Wohnungsluxus u. s. w.) und wird eben deshalb bei einer gleich-
mässigeren Vertheilung des Volkseinkommens sich schwieriger entwickeln. Gegenüber
den antiken Sclavenstaaten , mittelalterlichem Grund- und Ilandelsreiohthum auf der
Basis von Leibeigenschaft, Monopolen u. s. w. sind daher die wirtschaftlichen
Bedingungen für die Entwicklung der Kunstindustrie jetzt allerdings ungünstiger, und
in Deutschland ungünstiger als in England und Frankreich, weil noch bei uns wohl
eine gleichmässigere Vertheilung des Nationaleinkommens besteht. Treitschke's
Worte für die grossen Privatvermögeu (im 2. Aufs. S. 269 ff.) gehen wieder zu weit.
Entwicklung der Exportindustrieen, die vielfach für den Luxus arbeiten, mit
Hilfe von Lohnreductionen, nach Minister Camphausen’s einstiger Empfeh-
lung, ist m. E. auch nur bedenklich.
Diese allgemeinen Grundsätze sind freilich im practisehen Leben
nicht immer leicht anzuwenden, weil es auch nach selbstverständlich
erforderlicher genauer und unbefangener Prüfung des concreten
Falls zweifelhaft bleiben kann, in wie weit ein wirkliches Cultur-
bedttrfni8S oder nur ein feineres materielles Bedürfniss (z. B. bei dem
Kunstluxus der Privathäuser und der Einrichtung der Wohnungen),
ein ganz specielles Culturbedürfniss kleiner Kreise oder ein
solches vorliegt, das wenigstens im Keim wichtigere allgemeine
Culturbedürfnisse in sich schliesst (z. B. bei gewissen wissenschaft-
lichen Bedürfnissen). Diese in der Natur der Sache liegende
Schwierigkeit muss eben im einzelnen Falle so gut wie möglich
durch objective Prüfung überwunden werden. Die Richtung, in
welcher die Entscheidung zu erfolgen hat, wird durch obige An-
deutungen wohl hinlänglich verständlich bezeichnet.
47*
736 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 2. K. Yerthcil.probl. 2. A. Regelung. §. 265.
U. A. wird man 'danach das Berechtigte ‘und Uebertreibende und Falsche in
unserer modernen Arbeiterbewegung bestimmen können. Auch practische
Fragen der Finanzpolitik, der Verwendung von Staats- und Gemeindemitteln far
feinere Culturbedürfnisse (Wissenschaft, Kunst, höherer Unterricht) lassen sich danach
mit entscheiden, z. B. die Schulgeldfrage, Verkeilung öffentlicher Mittel zwischen den rer-
schicdeneu Kategorieen von Schulen, ohne dass damit irgendwie der innige organische.
Zusammenhang des gesammten Schulwesens geleugnet, die Bedeutung der Gymnasien
und Universitäten für das ganze Volksleben verkannt zu werden braucht. Aber
immer ist auch hier die Frage, in welchem Verhältniss Öffentliche Mittel für die
verschiedenen Arten von Schulen verwenden?
B. — §. 285 [105 — 107]. Specielle Zielpuncte ftir die
Gestaltung der Einkommenvertheilung. Nach diesen
Gesichtspuneten ist das Ziel der volkswirthschaftlichen
Entwicklung genauer festzustellen und der Weg zur Erreichung
desselben anzugeben. Soweit die volkswirtschaftliche Entwicklung
auf Grund der bestehenden Rechtsordnung nicht schon „von
selbst“ als Ergebniss des Kampfes entgegengesetzter Interessen und
der Wirksamkeit gesunder Sittlichkeit und Volkssitte, also heutzutage
namentlich im System der freien Concurrenz (Buch 5, §. 307 ff),
auf dieses Ziel in Betreff der Production und Verteilung der
Güter hinstrebt oder auch nur: nicht den nächsten und zweck-
massigsten Weg dazu einschlägt, muss im Princip die Be-
rechtigung und die Verpflichtung des Staats zuge-
standen werden, durch seine Intervention die richtige
Correctur eintreten zu lassen.
Ob und wie weit dies nothwendig ist, muss aus der Untersuchung des concreten
Falles hervorgehen. Die Behauptung, dass es niemals nothwendig und immer
schädlich sei, wie die radical-freihändlerischo (Manchester-) Partei
früher anzunehmen die Neigung hatte, und die entgegengesetzte Behauptung, dass es
immer und im umfassendsten Maasse bis ins kleinste Detail hinein nützlich und ge-
boten sei, wie die extrem-socialistisch on Parteien meinen, sind beide gleich
weit von der Wahrheit entfernt und falsche apriorische, von der Erfahrung und Psy-
chologie absehende Sätze. Vorläufig kann aus den vorausgehenden Erörterungen viel-
mehr schon die Nothwcndigkeit verschiedener Organisationsprincipien der
Vol kswirthschaft abgeleitet werden, durch deren richtigo Combination dann
jenem Ziele zuzustreben ist (Buch 5, §. 301 ff.).
Die principielle Bedeutung der Aufstellung solcher den
vorausgehenden Erörterungen entsprechenden Zielpuncte besteht
wieder darin, dass eben unser Zeitalter solche Ziele mit klarerem
Bewusstsein, auch auf Grund der erlangten wissenschaftlichen Ein-
sicht in die Tendenzen der Einkommens- und Vermögensvertheilnng
im freien Verkehr (Rententheorie, Theorie der Conjuncturgewinne
u. s. w.) aufstellt, nach den sich bildenden Anschauungen und
„Glaubenssätzen“ (§. 265) bezüglich des sittlichen Sein-sollens
immer mehr als berechtigt anerkennt und die Erreichung dieser
Ziele im Gesammtinteresse der Volksgemeinschaft wünscht.
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Speciclle Zielpanctc für d. Einkommenvertheilung.
737
Pflege des religiösen Sinnes, der sittlichen Cultur u. s. w. Verbreitung von
Elementarbildung (Volksschulwesen, Schulpflicht); Theilnahme am geistigen, Wissen-
schafts-. Kunstleben der Nation (Volksbildungswesen, Volksunterhaltungswesen, Zugäng-
lichmachung der naturhistorischen, der Kunstsammlungen auch für die Masse der
Bevölkerung). Gewährung politischer Rechte, activer und passiver Wahlrechte zu
Vertretungskörpern, was wiederum ein gewisses Maass geistiger Bildung voraussetzt.
Die Aufstellung specieller Zielpuncte für die Vertheilung in
unserer Culturperiode lässt sich dann an folgendes Classifications-
schema der Einkommenverhältnisse der Individuen, bez.
Familien ankntlpfen. Dasselbe ergiebt sich aus der Betrachtung
des Verhältnisses, in welchem der Bedtirfnissstand eines Einzelnen
und einer Familie zu deren Einkommen und Auskommen steht,
unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Quellen des Einkommens.
Die Terminologie ziemlich nach Rau, §. 76 ff. Vergl. hierzu auch Kap. 5 in
Buch 3 (Kennzeichen des Volkswohlstands).
1) Günstige Einkommenverhältnisse.
Wo das Einkommen aus eigenem Erwerb (in der vertragsmässigen Vertheilung)
einen Bedürfnissstand mindestens deckt, welcher bereits die Existenzbedürfnisse zweiten
Grads in dem dem Lande und der Zeit üblichen Durcbschnittsumfang und die Theil-
nahme an den wichtigeren allgemeineren Culturgütern des Zeitalters in sich schliesst,
wo also Auskommen vorhanden ist. Hierher gehören folgende drei aufsteigende Stufen:
a) Wohlstand.
Wo der Einzelne und die Familie, wenn auch nur durch Arbeitseinkommen, ihr
Auskommen bei dem eben bezeichneten Mindestumfang des Bedürfnissstands haben,
auch das Einkommen ohne pcinlicho Beschränkung dieses Bedürfnissstands noch etwas
zur Reservebildung für abnorme Lagen und zur dauernden Vcrmögensbildung (Nutz-
vermögen und Kapitalbesitz) übrig lässt.
b) Reichtbum.
(In diesem Sinne des Worts, vergl. §. 126.) Wo das Einkommen über den ge-
nannten Umfang des Bedürfnissstands hinausgeht, die Existenzbedürfnisse zweiten
Grads reichlicher befriedigt werden können, eine umfassende Theilnahme an allen
wesentlichen Culturgütern möglich ist, das Einkommen aber auch vornemlich aus
Renten, also aus Privat -Kapitalbesitz und Privat -Grundbesitz — Renteneinkommen
dabei aus der eigenen Verwendung sowohl, als aus der Verleihung von Kapitalien,
Grundstücken, Gebäuden verstanden, nur dass die erstere etwa vorwaltet. — herrührt,
demnach das Einkommen hoch genug ist, um doch noch weitere und grössere Vcr-
mögensbilduug aus ihm zu gestatten und genügende freie Zeit für die Pflege geistiger
Culturinteresscn. für sociale und politische (unentgeltliche) Ehrenarbeit, für Ausübung
caritativcr Thätigkeit u. dgl. m. übrig bleibt. Letztres zwar thatsächlich bei den reichen
Classen, wenigstens was die Männer anlangt, bei der eigenen Verwendung des Be-
sitzes nicht immer der Fall, aber bei richtiger Zeiteintheilung und besonders bei rich-
tiger Beschränkung des Erwerbstriebs sehr wohl möglich.
c) U eher fl uss.
Eine höhere Stufe des Reichthums, auf welcher das Einkommen so überwiegend
Rentencinkommen ist, dass ein Beweggrund zu neuer Kapitalbildung kaum mehr vor-
handen ist, wenn nicht reiner Pleonexie gehuldigt wird (was freilich oft genug der
Fall) und auch die eigene Verwendung des Kapitals und Bodens in der Unter-
nehmung aus Rücksicht auf die Verminderung des Einkommens bei Verleihung der
Kapitalien und Verpachtung des Bodens u. s. w. nicht geboten erscheint.
2) Ungünstige Einkommenverhältnisse
Wo das eigens erworbene Einkommen besten Falles zur knappen Befriedigung
der Existenzbedürfnisse zweiten Grads noch ausreicht, aber zur Reserven- und Ver-
738 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 2. K. Vertheil.probl. 2. A. Regelung. §. 2S5.
mögensbildung, zur Zahlung von Versicherungsprämien (Arbeiterversicherung) nicht
mehr genügt und wo das Gesammteinkommen oft schon nicht aus eigenem Erwerbe
(Arbeit, Reuten) herrührt. Hierher gehören folgende drei absteigende Stufen :
a) Dürftigkeit.
Wo nur knappe Befriedigung der Existenzbedürfnisse, aber wenigstens noch aus
eigens erworbenen Mitteln stattfindet, die Theilnahme an Culturgütcrn jedoch fast
ganz fehlt oder nur unentgeltlich genossen wird, und Reservenbildung und neue Ver-
mögensbildung unterbleiben muss.
b) Armuth.
Wo das Einkommen aus fremden Mitteln unentgeltlich ergänzt werden muss,
um die Bedürfnissbefriedigung auch nur in dem Umfange, wie auf der Stufe der
Dürftigkeit, zu erzielen: Almosen, Armenunterstützung.
c) Elend, oder Mangel und Notb.
Wro in Ermangelung genügenden Einkommens und genügender Armenunter-
stützung auch die unentbehrlichen ExistenzbedUrfnissc nicht mehr ausreichend be-
friedigt werden können.
An dieses Schema anknüpfend darf dann gemäss den im
Vorausgehenden begründeten Forderungen und Zielen folgende Ge-
staltung der Einkommenverhältnisse im Einzelnen für unsere Cultur-
periode als erstrebenswerth bezeichnet werden:
1) Elend und Armuth im genannten technischen Sinne sind
ais sociale Classenzustände unter allen Umständen, einerlei
welches die Grösse des Volkseinkommens sei, möglichst aus der
Volkswirtschaft zu verbannen, soweit dies durch eine gleich-
mässigere Vertheilung dieses Einkommens erreichbar ist. Eventuell
sind Ergänzungen des frei erworbenen Einkommens durch Zu-
wendungen directer und indirecter Art (einschliesslich unent-
geltliche öffentliche Leistungen) geboten.
Es bleiben daher nur die Fälle bestehen, wo wirkliche persönliche Ver-
schuldung der Einzelnen und der Familien die Ursache des ungünstigen Einkommen-
verhältnisses und der Mittellosigkeit ist. Alsdann kann nur Anspruch auf dürftige
Armenunterstützung der nicht erwerbsfähigen Personen, immerhin aber doch eiuiger-
maassen nach dem Maasse der Lebenshaltung der untersten Classcn, gewährt werden.
So lange die Massen nicht einmal die nothwendigen ExistenzbedUrfnissc ersten
Grads befriedigen, müssen daher auch die Cultu rbedürfnisse der höheren Gassen
beschränkt werden. Vgl. im Uebrigen die Ausführungen in §. 272 — 275.
2) Dürftigkeit der Masse der Bevölkerung als socialer
Classenzustand ist womöglich nur soweit als dauernde Lage
zuzulassen, als sonst das Volkseinkommen nicht ausreicht, Cultur-
bedürfnisse entstehen und sich entwickeln zu lassen und als die
Ungleichheit des Einkommens, also die Möglichkeit, ein höheres
Einkommen zu erzielen, zugleich als Sporn des Selbstinteresses
ein unentbehrlicher Factor ist, um das Volkseinkommen auf
eine Höhe zu bringen und darauf zu erhalten, auf welcher Cultur-
bedllrfnisse entstehen. Directe und indirecte Ergänzungen des
“N
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Specielle Zielpuncte für d. Einkommenvcrtheilung.
739
Einkommens durch Zuwendungen sind daher bei der in Dürftigkeit
lebenden Volksmasse wiederum geboten.
Die Sclaverei (auch in ihren abgeschwächten Formen, als Leibeigenschaft
u. s. w.) ist daher, wie bemerkt, innerhalb der hiernach zu ziehenden Grenzen relativ
berechtigt als Mittel, die unteren Classen in Dürftigkeit zu erhalten. Sie hört auf,
dies zu sein, und die Dürftigkeit der Massen ist socialökonomisch verwerflich, sobald
das Volkseinkommen genügend gestiegen ist und die Ungleichheit des Einkommens
den Reichen nur oder vornemlich nur die Mittel zu üppigerem Leben bietet.
Insoweit ist in unserer Culturperiode ein regulirendes
Eingreifen in denVertheilungsprocess, durch legislative,
administrative Maassregeln der öffentlichen Gewalt, berechtigt, ja
vielfach nothwendig, wenn die vertragsmässige Vertheilung nicht
zu socialen Classenzuständen führt, welche den vorausgebenden
Zielpuncten entsprechen.
3) Wohlstand auch der Masse der Bevölkerung, daher
eine demgemässe Vertheilung des Volkseinkommens,
ist das noth wendige Ziel, sobald die erwähnten Voraussetzungen,
unter denen die Dürftigkeit der Masse durch die Culturinteressen
geboten erscheint, fortfallen können.
So in unserer Zeit, wo die Umgestaltung der Technik die Productivität
der nationalen Arbeit ungemein gesteigert hat. Dadurch, sowie durch die relative
Entbehrlichmachung der pri vatwirthschaftlichen Productionsform sind auch die Be-
dingungen für eine genügende Höhe und Steigerung und gleichmässigere Vertheilung
des Volkseinkommens günstiger geworden.
4) Darüber hinaus kann und darf aber privater Reichtbum
und einzeln selbst Ueberfluss rechtlich zulässig sein, dem
Einzelnen als Strebeziel für seine auch der Gesammtheit nützliche
stärkere wirthschaftliche Thätigkeit, als unter Umständen passendes
Mittel, das Nationalkapital in der Rechtsform des Privatkapitals
zu bilden und zur Verwendung zu bringen, auch als Mittel für die
Entwicklung höherer freier Bildung und für die Möglichkeit der
Ausübung von Ehrenarbeit aller Art und der Gewährung der Unter-
stützungen des earitativeu Systems (§. 336 fi.).
Spornt die Aussicht auf Reichthum in dieser Weise wirklich die wirtschaft-
lichen Leistungen an und wird der Reichthum in der angedeuteten Richtung ver-
wendet, so erscheint er, und damit die Ungleichheit des Privateinkommens und Privat-
vermögens, auch volkswirtschaftlich gerechtfertigt und nothwendig. Dadurch wird
zugleich von dieser Seite aus, also in Betreff der Wirkung auf die Consumtion be-
trachtet, das Rechtsinstitut des Privatkapitals und des privaten Grundeigentums volks-
wirtschaftlich gerechtfertigt, wie später aus dem Gesichtspunct der Production und
aus anderen, bei der Frage mitspielenden Rücksichten (2. Abth.). Nur wird in immer
grösserem Umfang in Verbindung mit öffentlichen Unternehmungen „öffentliches“
Kapital- und Grundeigenthum neben dem und teilweise statt des privaten auch im
angedeuteten Interesse der Consumtionsrcgelung zu verlangen sein. Im Ucbrigen
handelt es sich dann aber freilich im concreten Falle immer wieder um die ethische
Beurteilung der Consumtion und der für diese stattfindenden Production (Luxus).
740 4 B. Bcvölk. u. Volksw.sch. 2. K. Vertheil. probl. 2. A. Regelung. §. 2S5.
Mit dieser socialökonomischen Rechtfertigung von Reich-
thum und Ueberfluss und damit von grösserer Ungleichheit der
Vertheilung auch noch in unserer Culturperiode ist aber wiederum
noch nicht die Schrankenlosigkeit des Wachsthums von Ein-
kommen und Vermögen in Einer Hand, quantitativ und qualitativ
(letzteres namentlich, was die Vermögenslage in Grund und
Boden, weiter auch in Zins-Kapital anlangt), als nothwendige
Consequenz anerkannt. Diese Schrankenlosigkeit wird vielmehr
nicht durch das Gesammtinteresse verlangt, ist auch keine un-
bedingte Folgerung aus der grundsätzlichen Zulässigkeit von Privat-
reichthum und Privateigenthum an Productionsmitteln, sondern im
Gegentheil mit dem Interesse der Volksgemeinschaft unvereinbar.
Ein Maass und eine Grenze ist auch hier Erforderniss.
Darüber mehr beim „Anhäufungsrecht** als einer Consequenz des Privat-
eigenthumsprincips in der Lehre vom „Inhalt“ des Privateigenthums (Abtheilung II
der Grundlegung). Hinsichtlich der Frage beim Grundbesitz siehe die Agrarpolitik.
Bezüglich der Steuerpolitik, als Mittels der Correctur, siehe Band 2 meiner Finanz-
wissenschaft.
Im Laufe einer günstigen volkswirtschaftlichen Entwicklung
mit steigendem Volkseinkommen und danach dann auch mit
steigendem Volksvermögen und bei einer diese Steigerung nicht
überholenden Volksvermehrung wird sonach eine immer grössere
Verbreitung und zugleich eine Erhöhung des Wohlstands in
der Bevölkerung und hiermit verbunden eine umfassendere
Theilnahme der unteren Classen an den Mitteln zur besseren
Befriedigung der Existenzbedürfnisse und an den Cultur-
gütern des Zeitalters nach dem Vorausgehenden zu erstreben und
bei Benutzung der geeigneten Mittel auch zu erreichen sein. Da-
neben oder darüber hinaus behält jedoch der private Reichthum
seine Berechtigung und auch seine volkswirtschaftliche Function.
Das Ziel für die Volkswirtschaft kann daher im Ganzen wohl
kurz genannt werden: Volkswohlstand.
In der Praxis handelt es sich vor Allem um richtige und genügende
Höhe des Arbeitslohns und bei steigendem Nationaleinkommen und Volksvermögen
um ein Mitsteigen des Rcallohns (in naturalen Gütern) mindestens im Ver-
liältniss der Steigerung des Gesammtcinkommens. Kodbcrtus definirt demgemäss
auch die „sociale Frago“ einfach so: „Wio ist den arbeitenden Classen ein mit dem
steigenden Nationalreichthum mitsteigender Lohn zu sichern** (§. 279) und glaubt,
wie ich, dass die Erfüllung dieser Forderung „wahrscheinlich nur durch Maassrcgeln
erreicht werden kann, die vom Staate ausgehend ihre Hebel nicht an den
Einzelbetrieben oder auch nur an den verschiedenen Arbeiterclasscn je beson-
ders, sondern an dem nationalwirthschaftlichen Zustande im Ganzen
einsetzen“ (aus den Motiven des Antrags von Kodbcrtus. R. Meyer und Schu-
macher betreffend die Anstellung einer Enqufto zur Prüfung der wirtschaftlichen
Lage der ländlichen Arbeiterclasscn auf dem Congress deutscher Landwirtho Februar
1872, Bericht über d. Verhandl. d. 1. Congr., Berl. 1872, S. 93, abgedruckt auch im
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Durchführung der aufgcstelltcn Forderungen.
741
Vorbericht zu v. d. Goltz’ Bericht über die Lage der ländlichen Arbeiter, S. VII, wo
hinter: „nicht“ — [an den Einzelbetrieben] aber aus Versehen ein wenigstens für
die Rodbertus’sche Lehre sinnstörendes „nur“ eingeschoben). Auf diesem Gebiete
sind dio im Kapitel 5 des 3. Buchs erörterten Aufgaben, richtige Kennzeichen des
Volkswohlstands aufzufinden, besonders wichtig.
C. — §. 286. Durchführung der aufgestellten For-
derungen und Mittel und Wege dafür.
Auch diese Frage gehört nach der früheren Erörterung über die Aufgaben der
Politischen Oekonomie, ebenso wie die analoge Frage bezüglich des Rechts auf
Existenz, (§. 272) hierher. Sie fällt in das Gebiet der dritten practischcn Aufgabe
(§. 64). Doch muss es hier in der Grundlegung wieder an einigen Andeutungen
genügen. Näheres gehört in die Practische Nationalökonomie, in die Finanzwissen-
schaft und eventuell in ein umfassendes eigenes System der Socialpolitik. — In der
vorigen Auflage fehlten die folgenden Ausführungen, abgesehen von wenigen Be-
merkungen (so in §. 9‘J).
1. Principielles. Die vertragsmässige Vertheilung des Volks-
einkommens (und danach weiter des Volksverraögens) vollzieht sich
auf der Grundlage der dafür geltenden (privatrechtlichen, privat-
wirthschaftlichen) Rechtsordnung unter dem Einfluss der hier
spielenden Motive, daher nach deren individueller, classenweiser,
Zeitalter- und volksweiser Differenzirung und Combination (Buch 1,
Kap. 1). Daraus folgt, dass eine den obigen Zielpuncten gemäss
erstrebte Veränderung der Vertheilung schliesslich vor Allem durch
Veränderung der Motivation auf wirtschaftlichem Gebiete
herbeizuführen ist. Diese Motivation wird nun aber auch durch
äussere Umstände beeinflusst. Um sie selbst entsprechend zu
verändern, müssen daher diese Umstände in der erforderlichen
Weise zu gestalten, bzw. zu verändern gesucht werden. Zweierlei
Reihen von Umständen lassen sich dann hier unterscheiden, erstens
solche, welche die nach Aussen zu, auf das wirtschaftliche Handeln
einwirkenden sittlichen Anschauungen bezüglich des Sein-
sollens auch auf wirthschaftlichem Gebiete, in Hinsicht der Ver-
theilung überhaupt und der vertragsmässigen insbesondere, weiter
welche, in Anknüpfung hieran, die Sitten und Gewohnheiten
der im Verkehr stehenden, Verträge schlicsscnden Menschen be-
treffen, zweitens solche, welche sich auf Rechtsordnung und
Organisation beziehen.
Beides steht hier wieder in Wechselwirkung. Namentlich aber,
wie eine bestimmte volkswirtschaftliche Rechtsordnung und Organi-
sation wirkt, fungirt, hängt wesentlich von der Art und Macht der
sittlichen Anschauungen, der Sitten und Gewohnheiten der wirt-
schaftenden Menschen ab. Die erste und höchste Aufgabe zu dem
Zwecke einer besseren Richtung und Gestaltung der Vertheilung
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742 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 2. K. Yertheil.probl. 2. A. Regelung. §. 286.
nach den obigen Zielpuncten ist daher stets, die Veränderung,
Verbesserung, Hebung der sittlichen Anschauungen,
der Sittlichkeit in allen Kreisen und Classen des Volks, die
Verbreitung dem entsprechender Sitten und Gewohnheiten,
das Aufkommen und mächtige Ein wirken neuer „gesellschaft-
licher Glaubenssätze“ (§. 265) hinsichtlich eines jenen Ziel-
puncten entsprechenden nothwendigen Sein-sollens.
Wäre durch sparsame Entwicklung auf ethisch - psychischem
Gebiete allein hier alles Erforderliche zu erreichen, so wäre das
freilich das Beste. Allein mit einer solchen Annahme würde der
Standpunct der Betrachtung menschlicher, zumal wirthschaftlicher
Verhältnisse doch zu hoch, zu ideal genommen. Alle Erfahrung,
alle innere Prüfung des eigenen Ich spricht dafür, dass indirect
(mittelst davon ausgehender äusserer Einwirkung auf Motive, sitt-
liche Anschauungen, Sitten) und direct (und zwar um so mehr, je
weniger diese indirecte Einwirkung erfolgreich ist) durch ange-
messene Gestaltung der Organisation und Rechtsordnung der Volks-
wirtschaft die Annäherung an jene Zielpuncte und die Erfüllung
jener Forderungen zu erreichen gesucht werden muss.
Indirect müssen dadurch Versuchungen vermindert, die Entstehung und Wirk-
samkeit richtiger sittlicher Grundsätze begünstigt, das Hervortreten der besseren Mo-
tive und Motivecombinationeu, das Zurücktreten der bedenklicheren gefördert werden.
Direct muss die Rechtsordnung und Organisation so gestaltet werden, dass auch die
einer besseren Vertbeilung gegensätzlichen Motive wenigstens mehr oder weniger
überwunden, die in der gewünschten Richtung wirkenden, aber zu schwachen gestärkt
werden und so aus der Rechtsordnung uud Organisation eine Verkeilung hervorgeht,
welche der erstrebten möglichst gleicht.
Für alle einzelnen Fragen uud Puncte der Motivation und die Beeinflussung
derselben durch die Rechtsordnung genügt es, auf die Erörterungen hierüber im
1. Kapitel des 1. Buchs zu verweisen. Ueber die Bedeutung des Moments der Sitt-
lichkeit und Sitte auf dem wirthschaftlicheD Gebiete s. besonders Schmoller, über
Grundfragen des Rechts u. s. w. Abschn. III, wo u. A. S. 36 gewiss sehr richtig betont
wird, dass selbst bei der Preisbildung auf dem Markte die Quantitäten des Angebots
niemals direct, sondern nur durch das Medium gewisser psychologischer Processe
und gewisser Sitten auf die Käufer wirken. Ich habe, so sehr ich Schmoller in diesen
Ausführungen principiell beistimme, eben nur das Bedenken, ob der Standpunct hier
nicht doch ctwa9 zu hoch, zu ideal gewählt ist. Eben deshalb lege ich doch
noch mehr Gewicht auf die Durchführung des Priucips der „vertheilenden Gerechtig-
keit“ (eb. Abschn. IV) und dabei dann auch auf einschneidende Reformen des Rechts,
des Eigenthumsrechts, des Erbrechts, des Stcuerrechts durch dio Gesetzgebung, sowie
überhaupt auf die Ausbildung des zwangsgemeinwirthschaftlichen Systems neben und
z. Th. statt des privatwirthschaftlichen, caritativen und frei-gemeinwirthschaftlichen.
Vergl. unten Buch 5 u. 6 u. Abth. 2 der Grundlegung. „Lasset uns besser werden,
gleich wird es besser sein“, heisst es freiÜch sicher grade hier wieder. Aller äusserer
und innerer psychologischer Erfahrung nach reicht hier für „Menschen“ freilich auch
nicht eine kahle Vernunft- Ethik aus, mindestens nicht für die grosse Mehrzahl der
Menschen. Nur eine vom religiösen Bewusstsein und religiösen Glauben ge-
tragene Ethik erweist sich hier noch cinigermaassen erfolgreich (§. 46, S. 120). Das
wird von der deutschen „ethischen“ Nationalökonomie viel zu wenig beachtet, auch
von der „historischen“ nicht, der grade diese Seite der Frage sonst nahe liegen sollte.
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Aenderungen der Rechtsahndung und Organisation.
743
Nur Wilhelm Roscher macht in dieser Hinsicht aus seinen auf christlichem Boden
stehenden Anschauungen niemals ein Hehl.
§. 287. — 2. Aenderungen der Rechtsordnung und
Organisation der Volkswirthschaft. Dreierlei verschiedene
solche Aenderungen kommen hier nun in Betracht, bei jeder dann
mancherlei Einzelnes, wovon hier nur Einiges genannt, nicht näher
behandelt werden soll. Die zweite und die dritte Art der Aenderungen
stehen unter einander in näherer Beziehung, theils im Wechsel-
wirkungsverhältniss, theils die zweite Art als die Voraussetzung
•der dritten.
Erstens handelt es sich um Aenderungen innerhalb der
sogenannten (im folgenden Buche näher behandelten), im Uebrigen
verbleibenden privatwirthschaftlichen Organisation und ihrer
im Uebrigen gleichfalls verbleibenden Rechtsordnung
für Freiheit, Privateigenthum, Verträge in der Richtung, dass die
Aenderung unmittelbar zu einer Vertheilung des Volkseinkommens
mehr nach den aufgestellten Zielpuncten und Forderungen führt
oder mittelbar die Erfüllung der letzteren begünstigt, erleichtert.
Sodann kommen Maassregeln der Finanz- und Steuerpolitik
und eine bestimmte Wahl von Verwendungszwecken und von Arten
der Aufbringung öffentlicher Mittel dafür in Betracht, wodurch in
der Richtung jener Zielpuncte gearbeitet wird. Und endlich können
principielle Aenderungen der Organisation und Rechts-
ordnung der Volkswirtschaft ebenfalls zu diesem Zweck erfolgen,
indem die privatwirthschaftliche Organisation und ihre Rechts-
ordnung bezüglich der sachlichen Productionsmittel, des Privateigen-
tums daran, der socialistischen Forderung gemäss, durch die ge-
mein-, insbesondere die zwangsgemeinwirthschaftliche und deren
Rechtsordnung für das Eigentum, durch das „gesellschaftliche“,
„öffentliche“ oder Gemeineigenthum au Grundstücken und Kapital,
ersetzt wird; aber im Unterschied vom Socialismus, nicht all-
gemein und völlig, sondern nur theilweise und beschränkt,
nach dem System des „Staatssocialismus“ (§. 18). Daher
wird durch diese Ersetzung doch immer nur eine Ergänzung
der privatwirthschaftlichen Organisation und deren Rechtsordnung
herbeigeführt, bleibt die althistorische Combination von Privat-
und Gemeinwirthschaft, Privat- und Gemeineigentum bestehen,
nur erfolgt sie eben mehr so, dass die erstere mehr zurück-, die
letztere mehr vorgeschoben wird (§. 302).
a) Die Aenderungen der ersten Art lassen sich als social-
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744 4. B. Bcvölk. u. Volksw.sch. 2. K. Vertheil.probl. 2. A. Regelung. §. 287.
politische Regelungen und Beschränkungen im privat-
wirt hschaftlichen („freien“) Verkehr und seiner Rechts-
ordnung bezeichnen. Sie gehen darauf aus, die Ausbeu-
tung der social und ökonomisch schwächeren durch die stärkeren
Elemente im Verkehr zu erschweren, eventuell zu verhindern; ferner
die schwächeren Elemente selbst für den Concurrenzkampf stärker
zu machen; desgleichen der Ausbeutung der Conjuncturen und der
dabei sowie in der Speculation überhaupt vorkommenden Erlangung
leichter und grosser Gewinne ohne entsprechende Arbeit, daher
der Bildung der grossen Einkommen und Vermögen mehr Schranken
zu ziehen. Alles das setzt Regelungen, auch Beschränkungen
auf dem Gebiete des Privateigenthums, der Verträge, auch der ge-
sammten wirthschaftliehen Freiheit voraus, ohne dass damit aber
die leitenden Grundprincipien der Rechtsordnung und Organisation
ganz aufgegeben werden.
Daher handelt es sich für die unteren arbeitenden Classen hier um das grosse
und wichtige Gebiet des sog. Arbeiterschutzes (Fabrikgesetzgebung u. s. w.);
ferner allgemein um Regelungen, Beschränkungen der V ertragsfroih eit
wenigstens bei solchen Verträgen, wo Ausbeutungen der Schwächeren besonders leicht
Vorkommen, wie beim Darlehens- und Zins-, Micth-, auch unter Umständen beim
Pachtvertrag, wozu je nachdem weitere Fälle treten können, und zwar immer in der
Richtung, den Inhalt der Verträge mehr zu Gunsten der schwächeren Elemente zu
gestalten, in der Einsicht und nach der Erfahrung, dass die schwächeren Elemente
dazu nicht mächtig, nicht intelligent und erfahren, nicht willensstark genug sind, das
sonst zu erreichen. Maassregeln, Reformen im agrarischen, gewerblichen Handels-
recht u. s. w. können auch hier mit in Betracht kommen.
Die Stärkung der Schwächeren für den Concurrenzkampf erfolgt bezüglich der
Arbeiter durch die Organisationen der vereinzelten zu Verbänden, für einen
einzelnen Zweck (z. B. einen specicllcn Fall des Lohnkampfes), für dauernde Zwecke
zur Verbesserung der Lage, vornemlich zur Lohnerhöhung oder zur Verhütung von
Lohnherabsetzungen, zur Regelung der Arbeitszeit, der Arbeits-, Lohnzahlungsart, der
gesammten Bedingungen und Verhältnisse des Arbeitsvertrags. Daher, wenn die
Rechtsordnung das bisher verbot, oder nicht genügend gewährte, die Sicherung des
Coaliti onsrechts, der Gewerkvoreinsbildung u. Aehnlichcs m. Verwandt
sind Organisationen von vereinzelten, schwachen Gliedern für andere wirtschaftliche
Zwecke, bei deren Erreichung es auf Stärkung der Interessenten ankommt, z. B.
Consumvereino u. dgl.
Die Stärkung schwacher Berufsstände, die Erhaltung der kleinen und
mittleren Unternehmungen und Unternehmer, die Verhütung oder doch Erschwerung
ihrer Aufsaugung durch die stärkeren Elemente, durch Grossbetrieb, Grosskapital,
Grossgrundbesitz, dient ähnlichen Zwecken. Sie hat, ebenso wie die Beschränkung
der zu grossen und zu leichten Gewinne u. s. w., wieder durch entsprechende Ge-
staltung des agrarischen, gewerblichen, Handels-, Credit-, Actien-, Bank-, Börsen-
rechts u. s. w. zu geschehen.
Alles in Allem: es ist der neuerdings sogenannte „social-
politische“ Gesichtspunct, welcher bei der Ordnung des privat-
wirthschaftlichen Verkehrssystems und seines Rechts, des Privat-
wie Verwaltungsrechts, hier überall zur Geltung kommen soll.
Dieser socialpolitische Gesichtspunct bedeutet im Wesentlichen nichts
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Socialpolitische Regelungen. Sociale Finanzpolitik.
745
Anderes, als unter Erhaltung der Grundprincipien der bestehenden
Rechtsordnung für Freiheit und Eigenthum doch diese Principien
nicht als absolute zu behandeln, sondern darch einschränkende
Rechtsnormen missliebige Consequenzen derselben, wie sie
gerade im Vertheilungsprocess hervortreten und von da aus weiter
wirken können, zu verhüten.
Ob das genügt, ist hier jetzt nicht zu entscheiden. Wie es im Einzelnen aus-
geführt werden soll, wie die eben erwähnten Maassregeln und weitere, hier uner-
wähnt gebliebene — da cs sich hier für uns nur um die Hauptfälle als Beispiele
handelt — zu dem Zweck einzurichten sind, gehört auch nicht hierher, sondern nach
der principiellen Seite in andere Theile der Grundlegung, so besonders in die zweite
Abtheilung derselben, vornemlich aber und namentlich nach den Einzelheiten in die
verschiedenen Theile der Practischen Nationalökonomie.
§. 288. — b) Die hierhergehörigen Maassregeln der „socialen“
Finanz- und Steuerpolitik bestehen einmal darin, öffentliche
Mittel des Staats und sonstiger öffentlicher Körper („Zwangsgemein-
wirthschaften“, s. Buch 5, §. 340 ff) für solche Zwecke zu verwenden,
welche in der angedeuteten Richtung liegen. Alsdann kommen sie
direct und indirect vornemlich den unteren Classen zu Gute,
und erlangen hier, als „Vortheile“, „Genüsse“, „Bedürfnissbefrie-
digungen“, bzw. Möglichkeiten dazu den Charaetcr von „Zu-
wendungen“, zur Ergänzung des sonstigen Einkommens für die
betreffenden Classen und Personen. Sodann bestehen jene Maass-
regeln in der eigcnthümlichen Methode der Beschaffung der
hierfür und weiter auch der für die gesammten öffentlichen Ver-
wendungen dienenden öffentlichen Mittel, nemlich erstens in der
Uebertragung vonEigenth umsobjecten und wir th schäd-
lichen Unternehmungen, welche als Rentenquellen, als
Grundlage von Unternehmer-, Gewcrbs-, Conjuncturengewinnen dienen,
an den Staat u. s. w., sowie zweitens in der Einrichtung der
Besteuerung in der Art, dass die besitzenden und die Classen
höheren Einkommens einer Mehrbelastung, insbesondere für die
allgemeinen öffentlichen Zwecke, eventuell aber auch für diejenigen,
welche in der angedeuteten Weise den unteren Classen in höherem
oder alleinigem Maasse zu Gute kommen, unterliegen, und weiter
in der Art, dass die nicht besitzenden und die Classen niedrigeren
Einkommens in einer auf Consumregelung und Sparzwang hinaus-
kommenden Richtung besteuert werden.
Verwendungen von ödenUidien Mitteln zu den angedeuteten Zwecken sind z. B.
diejenigen für die (schulgeldfreie, unentgeltliche oder wenigstens durch die Schul-
gelder die Kosten nicht deckende) Volksschule, auch für mittlere und höhere
Schulen unter diesen finanziellen Voraussetzungen, wenn darin die Angehörigen der
unteren Classen Aufnahme finden; ferner die Verwendungen für Sauitäts- und
746 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 2. K. Vertbeil.problem. 2. A. Regelung §. 2S9.
Medicinalangelcgenheiten unter den gleichen Bedingungen; desgl. die Verwen-
dungen für Arbeiterversicherungswesen und manche ähnliche Fälle- Die Be-
schaffung von Mitteln in der angegebenen Weise erfolgt durch „Verstaatlichungen1*,
„Vercommunalisirungen“ von Verkehrsanstalten (Eisenbahnen!), Banken, Versicherungs-
anstalten, gewissen Fabriken (Beleuchtung-, Gas-) (s. Fin.wiss. II, 2. A. §. 65) u. s. w..
weiter im althistorischen staatlichen und communalen Domänen-, Forst-, Bergwesen:
sodann durch Regalisimngen und Monopolisirungen (wo der Reinertrag, z. B. eines
Tabakmonopols doppelter Art zu sein pflegt: Gewerbsgewinn, den sonst Private
gemacht, und etwaiges Plus durch Ausschluss der Concurrenz mittelst Ersparung an
Productionskosteu und mittelst höherer Preise, worin die Besteuerung in dieser Form
liegt). Die Besteuerung zur Mehrbelastung der höheren Classen und des Besitzes er-
folgt durch directe Steuern mit degressivem und namentlich progressivem Steuerlast
wie besonders bei Einkommen-, Vermögenssteuern, durch höhere Besteuerung des
fundirten oder Besitzeinkommens in irgend einer Form (Fin.wiss. II, 2. A. §. 183 ff.)
durch reelle Vermögenssteuern (eb. §. 131 fl’.), durch Erbschaftssteuern. Die Be-
steuerung der unteren Classen zu Zwecken der Consumregelung und des Sparzwangs
geschieht vomemlich durch gewisse indirecte Verbrauchssteuern, deren Erträge in
der angedeuteten Weise verwendet werden; aber auch directe Besteuerung (Classen-,
Einkommen-, Familien-, Kopfsteuern) kann unter Umständen hierfür mit dienen
(Fin.wiss. II, 2. A. §. 250 ff.).
Eine Einrichtung des Finanz- und Steuerwesens in dieser
Weise, mit diesen Zwecken und Mitteln, kann wiederum passend
mit dem Namen einer „socialen“ (socialpolitischen) Finanz-
und Steuerpolitik bezeichnet werden. Dieselbe bildet dann ein
Glied eines allgemeinen Systems der Socialpolitik oder der socialen
Wirtschaftspolitik und möchte als ein besonders geeignetes Mittel,
die Zielpuncte der letzteren auf dem Gebiete der Vertheilungsfrage
zu erreichen, angesehen werden dürfen.
Dies habe ich an anderen Orten nach allen bezüglichen Seiten näher darzulegen
und zu begründen gesucht. S. bes. Fin.wiss. B. I, 3. A. §. 27 und die dortigen Aus-
führungen über den Privaterwerb im ganzen Bande, sowie ebenso wesentlich den
ganzen B. II, 2. A.. daraus bes. über die Stcuerprincipien, namentlich die Principien
der Gerechtigkeit (2. A. S. 372 — 461). Ferner meine Aufsätze über Finanzwissen-
schaft und Staatssocialismus in dor Tüb. Ztschr. f. Staatswiss. 1887 und über sociale
Finanz- und Steuerpolitik in Brauns Archiv f. soc. Gesetzgebung, 1891. In allen
diesen Arbeiten ist es das besondere Bestreben, grade die Benutzung des Finanz- und
Steuerwesens für die Aufgaben der Socialpolitik zu begründen. Ueber die Benutzung
der indirecten Verbrauchsbesteuerung als Mittels zur Consumregelung und zum Spar-
zwang s. auch oben S. 702.
§. 289. — c) Endlich principielle Aenderungen der
Organisation und Rechtsordnung der ganzen Volkswirt-
schaft mehr in der Richtung der Hinüberführung in die gemein-
wirthschaftliche Organisationsform und in eine dementsprechende
Rechtsordnung für die sachlichen Productionsmittel, daher folge-
weise für die Ordnung der Production und Verteilung. Wie be-
merkt, steht diese dritte Reihe von Mitteln und Wegen mit der
eben besprochenen zweiten in näherer Beziehung. Uebertragungen
wirtschaftlicher Unternehmungen, Productionshetriebe an den
Staat und die übrigen öffentlichen Körper durch Verstaatlichungen,
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Principielle Aenderungcn der Rechtsordnung.
747
Vercommunalisirungen, Regalisirungen, Monopolisirungen u. dgl.
sind auch hier die in Betracht kommenden Maassregeln. Aber diese
alsdann nicht sowohl oder wenigstens nicht nur aus den erwähnten
finanzpolitischen Gründen, noch aus bloss solchen Gründen, welche
in den sachlichen Bedürfnissen im einzelnen Falle liegen, z. B. bei
der Eisenbahnverstaatlichung in dem Bedürfnis des Verkehrswesens,
welches, der Annahme nach, auf diese Weise am Besten befriedigt
wird — der bisher wesentlich für diese Maassregel bei den Eisen-
bahnen maassgebende Gesichtspunct — ; sondern in der That aus
principiellen, die Organisation und Rechtsordnung der Volks-
wirtschaft betreffenden Gründen: nemlich um die Production anders
als privatwirthschaftlich zu ordnen, eben „ gemein wirtschaftlich“
(Buch 5, §.300 ff, 340 ff) und sie dadurch regelmässiger, planmässiger,
unabhängig von der im privatwirthschaftlichen Productionssystem ob-
waltenden Motivation zu gestalten, sowie ebenso die Vertheilung
principiell anders zu regeln, nicht nach den mechanischen Gesetzen
des freien Marktverkehrs wie im gewöhnlichen Lohnwesen, sondern
nach jenen Billigkeits- und Zweckmässigkeits - Gesichtspuncten
autoritativer Regelung (§. 264), wo die Einkommengestal-
tung für die Einzelnen nach Bedürfniss, Leistung und anderen
für passend gehaltenen Momenten,1 bzw. nach einer Com-
bination derartiger Rücksichten erfolgt, daher nach Analogie der
Verhältnisse im öffentlichen Dienst (Besoldungswesen). Hier wird
mithin in der That, unbeschadet der Fragen der Ausführung im
Einzelnen, das gethan, was der Socialismus will: Uebertragung
der sachlichen Productionsmittel an die Gemeinschaft, wie dieselbe
durch Staat, Gemeinde und ähnliche Körper für den grössten und
die kleineren Kreise der Bevölkerung im Volkswirthschaftsgebiete
vertreten wird, Ausführung der Production in „öffentlichen“ Be-
trieben, Vertheilung des Productionsertrags nach den zur Richt-
schnur genommenen, von der Rechtsordnung anerkannten, au-
toritativ durchgeführten Gesichtspuncten.
Hierdurch nähert sich allerdings die gesammte volkswirt-
schaftliche Organisation mehr der socialistiscben, gemeinwirthschaft-
lichen. Aber sie fallt damit nicht zusammen, weil nur auf einzelnen,
besonders hierfür geeigneten und danach ausgewählten Gebieten
so vorgegangen werden soll und, im Unterschied zur Annahme
des Socialismus, so vorgegangeu werden kann. Mau beschränkt
sich auf eine „st aatss ocialistische“ Regelung der Production
und Vertheilung.
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748 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 2. K. Vcrthcil.probl. 2. A. Regelung. §. 290.
Die weitere Begründung für diese Annäherung an die socialistische Organisation
und zugleich für diese Beschränkung liegt in den Ausführungen dieses ganzen Werks,
besonders des 1. Kapitels des 1. Buchs (wirthschaftliche Natur des Menschen), dieses
ganzen vierten und des folgenden fünften und sechsten Buchs, sowie der Abtheil. II
der Grundlegung. Auch im nächsten (3.) Abschnitt dieses Kapitels findet sich einiges
Weitere zur Begründung dieses unseres Standpuncts, der auch in der Einleitung
(§. 18) angedcutct wurde. Aber auch in der Finauzwissenschaft und in der Prac-
tischen Nationalökonomie werden vielfach diese Fragen berührt.
IV. — §. 290. Schlussbemerkungen über die Regelung
der Vertheil ung. Die Ausführungen dieses Kapitels und speciell
dieses zweiten Abschnitts desselben (§. 269 ff.) laufen alle auf die
Erfüllung einer Forderung meines grossen und verehrten social-
ökonomischen Lehrers Rodbertus hinaus: der wirthschaftliche
Verkehr darf sich nicht selbst überlassen werden, die Volks-
wirthschaft muss mehr Staat swirt ha chaft werden. Letzteres
hier auch gerade für eine befriedigendere Lösung des Vertheilungs-
problems, dessen Lösung im freien, sich selbst überlassenen Ver-
kehr so wenig befriedigend ausfällt. Auch hier wird aber absicht-
lich wieder eine Mittelstellung zwischen den Extremen des
reinen ökonomischen Individualismus und Concurrenzsystems und
des reinen Socialismus und autoritären Systems in Bezug auf die
Lösung des Vcrtheilungsproblems eingenommen: ein eklektisches
Verfahren (§. 53, S. 137), wie es m. E. die Complicirtheit des
menschlichen Motivationssystems und der volkswirtschaftlichen
Vorgänge unvermeidlich macht und wie es aller geschichtlichen
Erfahrung entspricht. Die Aufgabe der Theorie, der social-
ökonomischen Grundlegung ist es, die Notwendigkeit und Richtig-
keit einer solchen Mittelstellung und eines solchen eklektischen
Verfahrens zu zeigen und zu begründen. Die Aufgabe der ratio
nellen Praxis ist es, anknüpfend an die gegebene und nur so'
wenig und so langsam veränderliche menschliche Durchschnitts-
natur und an die gesammtc wirthschaftsgeschichtliche Entwicklung,
den von der Theorie aufgestellten Zielpuncten gemäss, hier den-
jenigen für die Vertheilang des Volkseinkommens, die Volkswirt-
schaft weiter und soweit als danach nötbig und — möglich ist,
umzubilden, daher in der Richtung dieser Ziele zu operiren und
sich so ihnen zu nähern zu suchen.
Die hier vertretene Auffassung beruht auf der Anerkennung
der auch durch alle höhere geschichtliche Entwicklung erwiesenen
Notwendigkeit der socialen Classenschichtung im Gesammt-
interesse der Volksgemeinschaft, als einer Culturgemeinschaft selbst,
daher auch auf der Nothwendigkeit der wirtschaftlichen Haupt-
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Schlussbemcrkuugen über Regelung der Vertheüung.
749
grundlage dieser Classenschichtung, der ungleichen Vertheilung
von Volkseinkommen und Vermögen (§. 284). Ob dafür durchaus
das Rechtsprincip des Privateigenthums an Grundstücken und
Kapital geboten ist, soll hier noch nicht untersucht und entschieden
werden, wird aber später, allerdings mit Beschränkungen, bejaht
werden und ward oben schon als zu bejahen angenommen.
Mit jener Auffassung wird auch eine ökonomische Aristo-
kratie als berechtigt, ja nothwendig anerkannt, selbst heute noch,
bei hochentwickelter Technik der Production und der davon be-
dingten Möglichkeit eines hohen Volkseinkommens. Aber freilich
muss diese Aristokratie den socialen, den Cultur-, den politischen
Interessen dienen, nicht nur dem Privatinteresse ihrer Mitglieder.
Es kommt daher bei ihr auf die Art des Einkommens- und Ver-
mögenser werbs und auf die Art und Verwendung der ihr
zu Gebote stehenden materiellen Mittel an. Die ökonomische
Aristokratie wird nur zu einer dem Gesammtinteresse dienenden
Cultur -Aristokratie, wenn sie in Bezug auf Art von Erwerb und
Verwendung Kritik verträgt und der wahren Culturentwicklung des
Volks dient (§. 284). Die Unbegrenztheit des Erwerbs, der Ein-
kommens- und Vermögensconcentration in einer Hand ist freilich
wiederum noch keine nothwendige Consequenz der Anerkennung
des Princips der socialen Classenschichtung und der ökonomischen
wie Culturaristokratie.
Aus allem hier in diesem Kapitel Entwickelten folgt das Be-
dürfniss nach einer solchen Organisation und Rechtsordnung der
Volkswirthschaft, welche die Annäherung an die hier aufgestellten
Zielpuncte und Forderungen in Bezug auf die Lösung des Ver-
theilungsproblems möglichst sichern.
Im folgenden vierten und fünften Buche dieser ersten und in der zweiten Ab-
theilung der Grundlegung werden mit nach diesem Gesichtspuncte die Fragen der
Organisation und Rechtsordnung behandelt werden.
Zuvor soll aber im letzten Abschnitt dieses Kapitels noch ein Blick auf andere
Standpuncte der Betrachtung des Vertheilungsproblems geworfen werden.
3. Abschnitt.
Andere Standpuncte der Betrachtung des Vcrtheilungs-
probloins, besonders in» Cominunismus und Socialismus.
Vgl. 1. Aufl. dieses Werks, §. 109, 2. Aufl., S. 168 ff. Es handelt sich
hier jetzt nicht um eine litterarhistorische Darstellung und Kritik der Auffassungen
des Ausdrucks und Begriffs Cominunismus und Socialismus bei den einzelnen Autoren
und Schulen dieser Richtungen, was in die Litteraturgeschichte der Politischen Oeko-
nomie gehört. Vielmehr soll hier nur eine kurze Darlegung dessen erfolgen, was
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Theil. Grundlagen. 48
750 4. B. Bevölk. u. Yolksw.sch. 2. K. Vertbeil.probl. 3. A. And. Standp. §. 291.
rationeller Weise nnter Comrounismus nnd Socialismus zu verstehen sei, weDn man
mit diesen Begriffen wissenschaftlich operiren will. Erst dadurch wird es möglich,
zu zeigen, worin der hier im Vorausgehenden und in diesem ganzen Werke vertretene
Standpunct sich von demjenigen eines solchen, auf sein Wesen zurückgeführten Com-
munismus und Socialismus unterscheidet und worin er damit übereinstimmt. Beides
ist Missverständnissen, Vorurtheilen und Entstellungen gegenüber, welche auch meiner
Behandlung des Vertheilungsproblems nicht gefehlt haben, geboten.
I. — §. 291 [108, 109]. Abweichende Standpuncte.
Das volkswirtschaftliche Problem guter, richtiger und gerechter
Vertheilung des Volkseinkommens ist früher über dem
Problem grösstmöglicher Production der Güter auch in
der Theorie nicht genügend zur Geltung gekommen. Es wird jetzt
in der Wissenschaft immer allgemeiner zugestanden, dass das ein
Fehler gewesen ist, und demgemäss die entscheidende Bedeutung
des Vertheilungsproblems anerkannt.
Besonders bat der ökonomische Individualismus der neueren Wissen-
schaft seit Ad. Smith das Vertheilungsproblem vernachlässigt und viel zu sehr eine
„richtige Vertheilung“ ohne Weiteres als noth wendiges Ergebniss des „sich selbst
überlassenen Verkehrs“ betrachtet oder auch einfach die petitio principii begangen,
grade die sich hier vollziehende Vertheilung und nur diese als die „an sich richtige“
und sogar als die „an sich gerechte“ anzusehen. Das Vertheilungspioblem darf wohl
gegenwärtig fast noch als das wichtigere dieser beiden Hauptprobleme der Volks-
wirtschaft bezeichnet werden. Der ökonomische Socialismun hat das Ver-
dienst. es in den Vordergrund geschoben zu haben. Aber er hat dabei den innigen
Zusammenhang zwischen beiden Problemen zu sehr hintangesetzt. Dieser ist im
Vorausgehendeu demgemäss überall hervorgehoben worden. Damit ist zugleich die
Grundlage für die volks wirtschaftliche Beurteilung des Rcchtsinstituts des
Privateigenthums, besonders des privaten Kapital- und Grundeigen-
thums, gewonnen worden (Abt. 2).
Aber hinsichtlich der Behandlung des Vertheilungsproblems
gehen die Standpuncte auch jetzt noch auseinander. Der hier
eingenommene Standpunct, welcher zur Aufstellung eines Ziels
der volkswirtschaftlichen Entwicklung überhaupt und der Lösung
des Vertheilu n gs problems insbesondere führt, steht im Wider-
spruch mit anderen Standpuncten, namentlich mit dem früher er-
wähnten jener Richtung in einem Theil der deutschen historischen
Schule der Nationalökonomie, welche die Aufstellung eines
Ziels der volkswirtschaftlichen Entwicklung überhaupt verwirft;
ferner mit dem Standpuncte des sogenannten Communismus und
des extremen Socialismus; endlich mit demjenigen des ex-
tremen ökonomischen Individualismus.
II. — §. 292 [109]. Abweisung eines Richtungsziels
in der bistorisch-nationalökonomischen Schule. Die
Berechtigung, ein solches Ziel aufzustellen, ist principiell mit
dem Einwand, dass damit bedenkliche Ideologie betrieben, nach
falscher „idealistischer Methode“ verfahren werde, be-
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Standpunct der historischen Schule.
751
stritten worden. Sie wurde schon oben im ersten Buche bei der
Erörterung Uber die Aufgabe der Wissenschaft der Politischen Oeko-
nomie als nothwendig und richtig nachzuweisen gesucht.
Darauf genügt es jetzt, hier Bezug zu nehmen (§. 57, 62 — 64). Siehe
namentlich Roscher I. §. 22 ff. Er steht der von uns vertretenen Ansicht
thatsächlich nach Ausweis des Inhalts seiner Werke auch nicht so fern und kaum
gegnerisch gegenüber, aber um so mehr erfolgt dann in den §. 23, 24, besonders 26,
die Abweisung des Aufetellcns von volkswirtschaftlichen Idealzuständen zu unbedingt.
In der dritten Aufgabe, die Roscher in §. 26 für sein System steUt, ist eigentlich
Alles das zugegeben, was ich fordere. Ein Widerspruch mit den Bemerkungen über
die idealistische Methode ist aber dann wohl nur um so unbestreitbarer. — Die
Frage, was soll sein? hat auch Schmoll er in seiner Schrift über Grund-
fragen von Recht und Volkswirtschaft vomemlich behandelt, ebenfalls in einem
gewissen Widerspruch mit seinem methodologischen und seinem Standpuncte in der
Frage der Aufgaben der Disciplin.
Grade die vorausgehende Behandlung des Vertheilungsproblems zeigt, dass es
sich bei der „Ziel-Aufstellung“, wie überhaupt bei den drei practischen Aufgaben
der Wissenschaft (§. 62), keineswegs um die Aufstellung unpractischer Ideal-
zustände, für welche keine Erfahrung vorliegt, nicht um Ausmalen von Utopien
handelt. Durch Beobachtung muss zunächst nachgewiesen werden, wie die Ge-
staltung der Volkswirtschaft den Bedürfnissen des Volks entspricht. Daran ist dann
eine principielle Untersuchung, wie die vorausgehendc, über den Bedürfnissstand und
sein Verhältniss zum Einkommen anzuknüpfen. Durch eine solche Untersuchung soll
ein von subjectiver Willkühr möglichst freier Maassstab gewonnen werden, an dem
man die Zustände prüft und durch den die Wirtschaftspolitik eine Directive
erhält. Auf Grund eines solchen Vorgehens wird ein ideales Ziel der Gestaltung
des Bedürfnissstandes, des Volkseinkommens und der Verteilung des letzteren für
ein bestimmtes Zeitalter und ein bestimmtes Volk (auch in dieser Hin-
sicht sind Roschers Bemerkungen in §. 26 unrichtig), bez. für die Culturvölker
unseror Race in der Gegenwart sehr wohl aufzustellen sein. Vollends von
demjenigen Standpuncte aus, welcher das System der freien Concurrenz (5. Buch,
§. 308 ff) nicht als einzige oder letzte Lösung des volkswirtschaftlichen Produc-
tions- und Vertheilungsproblemes anerkeunt, kann eine Aufstellung eines solchen Ziels
der volkswirtschaftlichen Entwicklung nicht nur nicht verurteilt, sondern muss sie
sogar gefordert werden.
III. — §. 293 [109a]. Standpunct des Comm unismus
und Socialismus. A. Begriffliches. Die Ausdrücke „Com-
munismus“ und „Socialism us“ werden so verschieden aufge-
fasst und sind namentlich im populären Sprachgebrauch so wenig
mit einem klaren Begriff verbunden, dass es nothwendig ist, hier
erst den Sinn und Begriff dieser Ausdrücke festzustellen, um den
Standpunct beider Richtungen gegenüber dem Vertheilungsproblem
klarstellen zu können.
S. oben in der Einleitung §. 13 die soeialistische Litteratur, §. 14 die Schriften
von Schäffle (bes. Quintessenz des Socialismus), von Mario (Winkel blech), Anton
Mengcr; L. Stein s bezügliche Schriften (o. S. 347). A. Held, Socialismus,
Socialdemokratie u. s. w., Leipzig 1878. G. Cohn, Was ist Socialismus? Berl. 1878
(Zeit- und Streitfragen, Heft 1US). Ders. in s. System, S. 133 fl'. H. Dietzel,
Rodbertus (s. o. S. 40); Ders., Aufs. Individualismus im H. W. B. d. Staatswiss.,
II. v. Scheel, Abh. Socialismus und Communismus im Schönberg’schen Handbuch,
B. I. Hier mehrfach andere Auffassungen. Ich habe indessen geglaubt, an der Be-
handlung der Frage in der 2. Aufl. (§. 109a ff.) formell und sachlich festhalten
zu dürfen. Vgl. auch die verschiedenen neueren Programme der deutschen Social-
48*
752 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 2. K. Vertheil.probl. 3. A. And. Standp. §. 293.
demokratie (Eisenacher, Erfurter, Gothaer) und Marx -Engels' com monistisches
Manifest (1848).
1. Communismus.
a) Wissenschaftlich kann unter „Communismus“
nichts Anderes verstanden werden als „Gemeinwi rth schaft“
(Buch 5, §. 300, 340ff.). Jeder andere „Sinn“ des Worts ist „Unsinn“.
Soweit Gemeinwirthschaft und insbesondere Zwangsgemeinwirth-
8chaft besteht, ist daher „Communismus“ vorhanden.
Demnach ist der Staat „Communismus“, soweit er finanziell auf eigent-
lichen Ste uern (im Unterschied von Gebühren, vgl. Fin. II, 2. A.. §. 15 fl., 83 ff.) beruht
und mit diesen Mitteln Aller für die Zwecke Aller, d. h. für die all-
gemeinen Staatszwecke, ohne Anwendung des Princips der speci eilen Ent-
geltlichkeit von Leistung und Gegenleistung wie im privatwirtbschaftlichen Verkehr
und im Gebührenwesen , daher ohne individuelle Abrechnung mit dem Einzelnen Uber
dessen Empfange und Leistungen, arbeitet, d. h. Leistungen producirt; die Ge-
meinde desgleichen. Die einzelne Staats- oder Gemeindeanstalt, welche ganz oder
theilweiso durch allgemeine eigentliche Steuern ihre Erhaltungs- und Betriebskosten
deckt, ist „Communismus“; die Staatseisenbahn, die Post, die Telegraphie
des Staats, welche zu ihren eigenen Einnahmen Zuschüsse braucht, ist „Communismus“.
Die allgemeine principielle Opposition gegen diesen
Communismus hat daher keinen Sinn. Sie ist nur im speciellen
Fall verständlich und läuft dann auf die alten beiden Streitfragen
hinaus: einmal Uber die richtigen Grenzen zwischen Staats-,
Gemeinde- u. s. w. Thätigkeit einer- und privater (einschliess-
lich erwerbsgesellschaftlicher) Thätigkeit andererseits; sodann Uber
die fi n an zielle Behandlung einer „öffentlichen“ Thätigkeit, nach
dem Princip der reinen Ausgabe, also der Deckung der Kosten
durch eigentliche Steuern oder nach dem GebUbrenprincip u. s. w.
Je mehr die öffentlichen Thätigkeiten des Staats, der Gemeinde und
ähnlichen Körper sich erweitern und je mehr das GebUbrenprincip
durch dasjenige der reinen Ausgabe verdrängt wird, desto mehr
„Communismus“, welcher allerdings insofern in steigendem
Maasse in Aussicht steht, was jetzt schon sich verwirklicht.
Vgl. Fin. I, 3. A. , §. 201, über die leitenden Finanzprincipien bei Staats-
thätigkeiten. Näheres im folgenden Buche 5, in den dortigen Erörterungen über
Gemeinbedürfnisse und Gemeinwirthschaft §. 325 1L, 340 ff.
Der Gebrauch des Ausdrucks „Communismus“ für „Gemeinwirthschaft“ ist
mir öfters als „provocirend“ und „irreführend“ zum Vorwurf gemacht worden , z. B.
von A. Held. Es scheint mir indessen richtiger, solche Ausdrücke ohne Rücksicht
auf die Vorurtheile der Menge anzuwenden, um grade zu zeigen, dass sie gar nicht
die bedenkliche Bedeutung haben , welche ihnen von denjenigen beigclegt wird, die
sie doch beständig, aber leider ohne klares Denken, als Schlagworte im Munde
fuhren. Vollends in wissenschaftlichen Controversen ist nichts bedenklicher als dieser
Rospect vor Schlagworten, wodurch die Gegensätze oft unnütz verschärft werden.
Das ist ebenso falsch, als die Sucht, die Gegensätze zu vertuschen. Vgl. Held ’s
Sehr, über Socialismus u. s. Bcsprech. d. Litter. d. Communalsteuerfrage in Courad’s
Jahrb. 18TS II, 250. Es ist notbwendig, immer darauf hinzuweisen, dass es sieb
auch beim „Communismus“ dem heutigen W'irthschafssystem gegenüber nicht um
ein Entweder-Oder, sondern um ein Mehr oder Weniger handelt. Nur
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Begriff vom Commanismus und Socialismus.
753
so gewinnt man eine gemeinsame Verhandlungsbasis selbst mit den extremsten „Com-
munisten“. Da man diese aber wenigstens hier „mit Gründen, nicht mit Flinten-
kugeln“ bekämpfen muss, so ist dies ein Vortheil.
b) In einem anderen „Sinn“, welcher meistens denjenigen, die
ihn als Freunde und Gegner anwenden, selbst unklar ist, wird
unter „Communismus“ oder wie er zum Unterschiede vom obigen
besser genannt wird, unter sogenanntem (reinem) Communismus ein
Gesellschaftszustand ohne jedes Privateigenthum verstanden, daher
nicht nur, wie in den Forderungen des ökonomischen Socialismus
der Gegenwart, ohne Privateigenthum an sachlichen Productions-
mitteln (Boden und Kapital), sondern selbst ohne Privateigenthum
am Gebrauchs-, mindestens am Nutzvermögen (§. 128). Der weitere,
auch nur unklar vorschwebende Gedanke ist dabei, dass, soweit
man in einem solchen Zustande überhaupt von individuellem „Ein-
kommen“ sprechen könnte, dies für alle Individuen oder Familien
völlig gleich oder m. a. W. die Ökonomische Lebenslage und Be-
dtirfnis8befriedigung die gleiche sei. Es ist dies ein kaum denk-
barer, geschweige practisch möglicher Zustand, über den kein
Wort zu verlieren ist.
Er wird aber kaum auch nur von einzelnen wirren Phantasten ausgemalt und
muss hier überhaupt nur aus einem äusseren Grunde erwähnt und einfach als thöricht
abgewiesen werden. Denn unklare oder tendenziöse Gegner des vorhin genannten
Communismus (im allein fassbaren wissenschaftlichen Sinn) und des modernen
ökonomischen Socialismus haben sich gern in ein Windmühlengefecht gegen diesen
sogenannten Communismus eingelassen und, ihrer eigenen Sache, d. h. derjenigen
der bestehenden Wirtschaftsordnung dadurch mehr schadend als nützend, sich den
falschen Anschein gegeben, als zögen sie die vermeintlichen Consequeuzen dieses
Socialismus u. s. w. und widerlegten dieselben durch die Identificirung des letzteren
mit diesem rein phantastischen Communismus. Ein leider gefährlicher Irrthum.
§. 294 [109b, 109c]. — 2. Socialismus. Kaum weniger
unklar sind, besonders bei seinen Gegnern, die Ideen, welche mit
dem Wort „Socialismus“ verbunden werden. Wissenschaft-
lich kann es sich nur um z w e i Bedeutungen des Worts handeln,
um eine allgemeinere und eine sp ec i eile re und in der letzteren
um einen extremen oder vollständigen und um einen partiellen
Socialismus, wie den Staatssocialismus (§. 18). Die allge-
meinere und die speeiellere Bedeutung hängen aber zusammen.
Held a. a. 0. bleibt an der allgemeinen Bedeutung vom Socialismus hängen,
wodurch dann die richtige Stellungnahme gegenüber dem modernen extremen
Socialismus unmöglich wird. S. bes. S. 37, 38. Vgl. schon oben §. G (Individuum
und Gemeinschaft).
a) Im allgemeineren Sinn ist „Socialismus“ der Gegen-
satz zum „Individualismus“, daher ein Princip der Ordnung
der Gesellschaft und Volkswirthschaft zunächst nach den Be-
dürfnissen dieser als G esammtheiten , Gemeinschafts-
754 4. B. Bevölk. a. Volksw.sch. 2. K. Yertheil.probl. 3. A. And. Standp. §. 294.
heiten, Totalitäten, oder von Gesellschafts wegen,
während „Individualismus“ ein Princip ist, das in Gesellschaft und
Volkswirthschaft das Individuum voran stellt, zum Ausgangs-
punct nimmt und dessen Interessen und Wünsche zur Norm
für die Gesellschaft und Volkswirthschaft macht.
Ganz richtig sagt Held S. 37: „Individualismus und Socialismus sind zwei ewig
gleichberechtigte Principien, von denen nie das eine das andere völlig ausschliessen
kann , sondern die nur zu verschiedenen Zeiten in verschiedenem Maassc neben
einander bestehen können.“ Aber wenn er sagt: Individualität, d. h. Freiheit, Socialis-
mus d. h. Ordnung , so ist diese Auslegung einseitig und unklar. Viel besser in
dieser Hinsicht die Ausführungen von Cohn a. a 0., S. 7 ff., nur dass hier die all-
gemeinere neben der neueren specielleren Bedeutung von Socialismus zu sehr
zurücktritt. Vgl. ferner, zum Theil abweichend, H. Dietzel in dem gen. Aufsatz
(mir erst während des Drucks zugehend).
Die („liberale“) Nationalökonomie der Physiokraten und der Smith’schen Schule
ist, wie die gleichzeitige Rechts- und Staatsphilosophie (Vertragstheorie), wesentlich
auf dies Princip des Individualismus gebaut. Die historische und organische
Rechts- und Staatslehre hat dies und die jetzige wissenschaftliche Nationalökonomie
muss dies als eine Einseitigkeit anerkennen. Das in diesem Sinn „socia-
list i sehe“ oder — um Missdeutungen und Entstellungen zu vermeiden — das
„sociale“ Princip muss vorangestellt werden. Dies ist in der Staatslehre schon
geschehen, in der Privatrechtslehre grösstcntheils noch zu thun, beginnt aber auch
hier (Ihering, bes. in der 2. Hälfte des 1. Bands des Zwecks im Recht, während
in der 1. Hälfte das individualistische Princip vornan steht), und ist auch in der
Nationalökonomie noth wendig. Der extreme Socialismus hat dies richtig erkannt
und danach gehandelt. Er ist aber in die andere Einseitigkeit verfallen und
hat das individualistische Princip, statt es zu modificiren, negirt.
Das Richtige ist nicht: Socialismus oder Individualismus,
sondern Socialismus und Individualismus, nur der erstere als
leitendes Princip der genannten Art voran stehend : auch hier:
kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl -Als auch und ein Mehr
oder Weniger. Dies ist auch der Standpunct dieses Werks (§. 6,
7, 18). Socialismus und Individualismus in diesem allgemeineren
Sinne sind zwei Lebensprincipien der Gesellschaft und Volkswirth-
schaft, ihre Verwirklichung in wechselndem Maasse durchzieht die
Geschichte beider letzteren. Das socialistische Princip ist aber
aus entwicklungsgesetzlicben, namentlich wieder mit der Productions-
Technik zusammenhängenden Gründen bei fortschreitenden Cultur-
Völkern, zumal unserer Periode, im Vordringen begriffen. Aus
dem Gesagten folgt auch, dass jede einzelne volkswirtschaft-
liche Erscheinung und volkswirthschaftspolitische Maassregel not-
wendig immer ein socialistisches und individualistisches Moment
enthält, von denen bald das eine, bald das andere zu begünstigen ist.
Held S. 37 ff., Cohn S. 7 ff. ebenso.
b) Auf dem Boden dieses eben erläuterten „Socialismus“ hat
sich nun in neuerer Zeit eine wesentlich ökonomische
Theorie entwickelt, welche mit dem Namen „Socialismus“
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Begriff von Socialismus.
755
belegt worden ist: der Socialismus im specielleren Sinn. Diese
Theorie, durch Franzosen und Engländer begründet, ist durch
Deutsche (einerseits Rodbertus, anderseits Marx, Engels,
Lassalle §. 13), grade in ihrem ökonomischen Kern, nach
der Seite der Kritik der bestehenden Wirtschaftsordnung, und der
Postulate für eine Neugestaltung der letzteren, wissenschaftlich aus-
gebildet und zu begründen gesucht worden. Diese deutsche socia-
listische Theorie bildet den „extremenSocialismus“ oder den
„modernen wissenschaftlichen ökonomischen Socia-
lismus“. Um zu ihm in den wichtigsten und schwierigsten
Fragen des volkswirtschaftlichen Productions- und Vertheilungs-
problems richtig Stellung zu nehmen, ist es notwendig, gegenüber
der bei vielen Anhängern und bei noch mehr Gegnern desselben
bestehenden grossen Unklarheit, ihn richtig und scharf in seiner
„Quintessenz“ darzulegen, so dass er auch für das populäre
Verständnis fassbar wird.
Meisterhaft geschehen in Schaf fle’s Quintessenz, S. 2 ff. , womit die weitere
Ausführung im Socialen Körper III, 419 ff., 457 ff. zu vergleichen. Cohn a. a. 0.
legt auf die bestimmte ökonomische Theorie des wissenschaftlichen Socialismus m. E.
nicht genug Gewicht. Meine Auffassung von mir zuerst formulirt in dem Aufsatz in
der Ztschr. ,,Der Staatssocialist“, Nr. 1, 1878.
Dieser extreme Socialismus ist ein dem heutigen entgegenge-
setztes System der wirtschaftlichen Rechtsordnung, wo die sach-
lichen Productionsmittel, d. h. Grund und Boden und Kapital,
nicht, wie jetzt meistens, im Privateigentum einzelner privater
Mitglieder (physischer und juristischer privatrechtlicher Personen,
wie Erwerbsgesellschaften) der Gesellschaft, sondern im öffentlichen
oder Gesammteigenthum der Gesellschaft oder (Volks ^Gemein-
schaft selbst, bez. ihrer Vertreter, sich befinden; wo daher nicht die
privaten, auf Gewinn (Kapital- und Unternehmergewinn) berechneten
Unternehmungen und nach den Bedingungen des Arbeitsvertrags
bezahlte Lohnarbeiter sich gegentiberstehen und je unter einander
selbst wieder concurriren; wo nicht die Production eine von den
einzelnen Unternehmern nach individuellem Ermessen des Bedarfs
bestimmte, daher im Ganzen regellose, vom Gang der Speculation
und dem Einfluss der Conjunctur abhängige ist, die Verkeilung des
Productionsertrags aber nach dem Zufall des „Gesetzes von An-
gebot und Nachfrage“ erfolgt; sondern wo die Production plan-
mässig nach dem vorher ermittelten und veranschlagten Bedarf
der Con8umenten von Oben aus geregelt, grossentheils in genossen-
schaftlicher Weise, oder in Staats-, Communalanstalten u. dgl. m.
756 4. B. Bevölk. u. Volksw.scb. 2. K. Vertheil.probl. 3. A. And. Standp. §. 295.
ausgeflihrt und ihr Ertrag in, der Annahme nach gerechterer und
zweckmässigerer, Art, als gegenwärtig mittelst des Gesetzes von
Angebot und Nachfrage und mittelst der „Lohnabfindungsverträge“,
unter die Producenten (Arbeiter) vertheilt wird, „autoritativ“, nach
Regulirungsprincipien , über welche freilich auch im Socialismus
noch keine Einmütbigkeit erreicht ist (Bedürfniss, Leistung, andere
Momente, Combination davon, s. o. §. 264).
Dieser extreme Socialismus ist daher ein neues grosses national-
ökonomisches System, welches als solches dem System des ökonomischen
Individualismus, d. h. der wissenschaftlichen Lehre der Physiokraten, A. Smiths
und seiner Schule von der Volkswirthschaft, eine Lehre, welche in unserer modernen
wirthschaftlichen Gesetzgebung im Wesentlichen Geltung erlangt bat, als Gegenpol
gegenüber steht. In diesem Socialismus handelt es sich . wie man sieht, um eine
grundsätzlich durchaus andere als die heute zu Recht bestehende Lösung des
volkswirthschaftlichen Productions- und Vertheilungsproblems. Zu diesem Zweck will
derselbe eine principiclle Umgestaltung von Hauptpunctcn des Privat-
rechts vornehmen, namentlich das Privateigenthum an Boden und Kapital, als
Productionsmitteln , und den heutigen Arbeitsvortrag beseitigen. Damit
würde alles Renteneinkommen für Private fortfallen und blosses Arbeits-
einkommen übrig bleiben.
Mit diesem extremen Socialismus steht dieses Werk wie
überhaupt, aus psychologischen, aus technischen Gründen (s. be-
sonders Buch 1, Kap. 1), so auch mit dem oben in der Behandlung
des Vertheilungsproblems eingenommenen Standpuncte in Wider-
spruch.
Die weitere und eingehende Auseinandersetzung mit diesem Socialismus, die
gegenwärtig eine der theoretisch und practisch wichtigsten Aufgaben der wissenschaft-
lichen Nationalökonomie bildet, erfolgt im Verlauf dieses ganzen W'erks, so schon in
den vorausgehenden Abschnitten und so namentlich auch in Buch 5 und 6 dieser und
in der ganzen zweiten Abtheilung, unter beständiger, selbstverständlich durchaus
objectiver Kritik der einzelnen Lehren und Postulate dieses Socialismus und mit
einem die wichtigsten Postulate wenigstens in ihrer Absolutheit ablehnenden
Ergebniss.
B. — §. 295 [109d]. Partieller Socialismus oder Staats-
socialismus und seine Berechtigung. Eine solche Behandlung ist
durchaus geboten, nicht nur durch die wissenschaftliche Bedeutung des
extremen Socialismus in der Kritik der anderen Theorieen und im
systematischen Aufbau einer neuen ökonomischen Theorie, sondern
mehr noch, weil der extreme Socialismus nur eine Uebertreib u ng
eines partiellen Socialismus ist, welcher in der geschichtlichen
Entwicklung des gesellschaftlichen und volkswirthschaftlichen Lebens
aller, besonders der Culturvölker längst bestanden hat und einen
wesentlichen, vielfach in nothwendiger und sichtbarer Ausdehnung
begriffenen Bestandtheil der überall bei uns vorhandenen gesell-
schaftlichen und wirthschaftlichen Rechtsordnung bildet. Damit
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Partieller oder Staatssocialismus.
757
wird aber ein partiell richtiger Kern auch im extremen Socialis-
mus anerkannt.
Es handelt sich daher auch hier, ebenso wie bei dem Socia-
lismus in der obigen allgemeineren Bedeutung dem Individualismus
gegenüber, nicht um ein Entweder-Oder, sondern um ein
Sowohl-Als auch und ein Mehr oder Weniger zwischen
diesem extremen ökonomischen Socialismus und dem ökonomischen
Individualismus der neueren Nationalökonomie. Gerade dieser
Umstand erschwert die theoretische und practische Aufgabe sehr,
denn damit erweist sich eine Abwägung von Fall zu Fall
unvermeidlich.
S. Cohn, S. 17 fl'.
1. Ganz oder theil weise auf dem Boden der Productions-
ordnung des Socialismus, in ökonomischer und rechtlicher Hin-
sicht, steht unsere Praxis bereits mit dem „öffentlichen“ Eigen-
thum des Staats, der Gemeinde u. s. w. an Grund und Boden und
an Kapitalien und mit dem Betrieb von materiellen Productions-
zweigen.
So durch ihr Staats-Domänen-, Forst-, Berg- und Hütten-, Fabrik-, Bank-
wesen u. s. w.; durch ihre grossen Staats- Verkehrswege und Anstalten, ihre Strassen,
Eisenbahnen, ihre Post, ihre Telegraphie; durch ihre Staatsmonopolo, wie Salz und
Tabak u. a. m. ; durch ihre öffentlichen Versicherungsanstalten; durch ihre etwaigen
Zuschüsse für Productivassociationen aus öffentlichen Geldern (nach Lassalle und Bis-
marck); durch ihre materiell - wirtschaftlichen Communalanstalten , für Gas- und
Electricitätsbcleuchtung. Wasserversorgung, Viehhöfe, Markthallen, Lagerhäuser u. s. w.,
sowie durch vieles Andre mehr (vgl. Finanzwiss. II, 2. A., §. 65 und überhaupt hier
über das Gebührenwesen der volkswirtschaftlichen Verwaltung, §. 49 IF. und in B. I,
3. A. Uber die Privaterwerbszweige, Buch 3, S. 471 ü.). Ueber die Berechtigung,
in solchen Fällen von „Socialismus“ zu sprechen, s. u. §. 298, 325 ff.
Der extreme Socialismus fordert nur, dass solches öffentliches
Eigenthum ganz verallgemeinert und daher allein herrschend
werde, ungeschichtlich und sich über die entgegenstehenden psycho-
logischen, technischen, ökonomischen und politischen Bedenken
und Schwierigkeiten mit einem abstract- absoluten Princip hinweg-
setzend. Dadurch bezeichnet er den äussersten Rückschlag
gegen seinen Gegen pol , den ökonomischen Individualis-
mus, welcher seinerseits nicht weniger ungeschichtlich,
seinem abstract- absoluten Princip gemäss, den Staat, die Ge-
meinde u. s. w. ganz aus dem Eigenthum an und aus dem Wirth-
schaftsbetrieb mit sachlichen Productionsmitteln herausdrängen will
oder wollte: vom Standpunct der Gegenwart so „utopisch“, wie
das socialistische Postulat.
2. Selbst auf dem Boden der Verth eilungsordnung des
758 4. B. Bcvölk. u. Volksw.sch. 2. K. Verthcil.probl. 3. A. And. Standp. §. 295.
Socialismus steht unsere Praxis, namentlich in Deutschland, bereits
lange in Bezug auf eine wichtige Arbeiter- oder „Producenten4 -
kategorie, die „öffentlichen Beamten“, namentlich im
Staatsdienst.
Auch hier erfolgt nicht unmittelbar nach individuellor Nachfrage und Angebot
die Lohnregelung, sondern auf Grund bestimmter Bedarfsscalen (BedQrfniss als
Princip der Vertheilung, s. o. §. 204) und zugleich bestimmter Abmessungen des
gesellschaftlichen Werths der betreffenden Arbeitsart wird ein Gehaltssystem, damit
ein System von „Socialtaxen“ aufgestellt, welches die Besoldungen der einzelnen
„Arbeiter“ regelt. Ein entwickeltes Pensionssystem (Ruhegehalte, Alterspensionen,
Wittwen- und Waisenpensionen) verbindet sich damit (vgl. Finanzwiss. I, 3. A., 2. Buch,
1. Kap., 2. A., §. 152 11'., wo die sociale Bedeutung dieser Einrichtung genauer
gewürdigt wird). Die Vorzüge dieses „Besoldungswesens" gegenüber dem „Lohn-
wesen" der gewöhnlichen Arbeiter sind augenscheinlich. Man hat das erkanut und
wegen der Uebelstände im letzteren grade neuerdings nach Einrichtungen gestrebt,
welche den Arbeiter durch ein entwickeltes Versicherungswesen in einiger Hinsicht
ähnlich wie den Beamten sicher stellen (Kranken*, Alters-, Invalidenversicherung etc.,
s. o. S. 695). Das lässt sich freilich, wie oben gezeigt, nicht ohne grössere Ein-
mischung in den „freien Arbeitsvertrag“ erreichen und führt unvermeidlich von der
Lohnregelung des ökonomischen Individualismus weiter ab.
So befindet man sich auch hier bereits und gelangt immer
mehr in einen „partiellen Socialismus“, von welchem das
staatliche Besoldungswesen ein sehr interessantes Beispiel ist
Aber überall ist die vom extremen Socialismus verkannte Auf-
gabe, an das geschichtlich Gewordene und rechtlich Bestehende
anzuknüpfen, allenfalls Entwicklungen in bestimmter Richtung,
die sieb ohnehin bereits anbahnen, zu postuliren, aber nicht
diese weiteren geschichtlichen Entwicklungen durch ein abstracto
absolutes Princip, dem sich Alles beugen müsse, anticipiren
zu wollen, ohne dass für die Verwirklichung das Wie und Wo
auch nur zu ersehen ist. Anderseits ergiebt sich auch hier wieder,
dass der extreme ökonomische Individualismus nicht weniger
einseitig, seinem abstract- absoluten Princip von der Notb-
wendigkeit und Erspriesslichkeit der „naturgesetzlicben“ Regelung
durch freie Individual -Verträge gemäss, bereits bestehende
Verhältnisse, schon erreichte und sich fortsetzende Ent-
wicklungen negirt. Die Wahrheit liegt in der Mitte zwischen
beiden Extremen.
Nach diesen hier nur kurz anzudeutenden Gesichtspuncten
sind die grossen Probleme, welche der wissenschaftliche Socialis-
mus nicht bloss, sondern die moderne, technische, wirt-
schaftliche und culturliche Entwicklung in die theo-
retische und prac tische Discussion geworfen haben,
schon im Vorausgehenden vielfach behandelt ^vorden und im
weiteren Verlauf noch öfters zu erörtern.
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Partieller oder Staatssocialismus.
759
Die Hauptforderung, die grundsätzliche Beseitigung alles
privaten Kapitals und Bodens, damit alles privaten Renten-
bezugs, und die grundsätzliche Ausschliesslichkeit blossen
Arbeitseinkommens ist zwar durch die moderne Entwicklung der
Technik mit hervorgerufen und insofern weniger unbedingt un-
ausführbar geworden. Aber gegen sie spricht nicht nur heute und
für unabsehbare Zeit noch die ganze bisherige geschichtliche Ent-
wicklung, sondern eine Reihe der schwerwiegenden psycho-
logischen (Buch 1 Kap. 1), technischen, ökonomischen, auch poli-
tischen Gründe uud wahrster Volks- Culturinteressen : nicht nur
Opportunitäts - sondern principielle Rücksichten.
Das ist schon im vorigen Abschnitt vom Standpunct der Consumtion aus mit
Bezug auf die Entwicklungsbedingungen der materiellen und der Culturbcdürfnisse
der Einzelnen und des Volks ausgefübrt worden. Die weiteren Argumente sind der
Function des Privatreichthums, des caritativen Systems, der freien Gemeinwirth-
schaften, der Rücksicht auf die individuelle Freiheit und auf die im Gesammt-
interesse wirkende Function des wirtschaftlichen Selbstinteresses der Individuen zu
entnehmen, wie sich dies im Einzelnen in der Lehre von der Organisation der Volks-
wirtschaft (Buch 5), von der persönlichen Freiheit und von der technischen,
ökonomischen und socialen Gesammtfu nction der beiden grossen Rechtsinstitute
des Privatkapitals und des privaten Grundeigentums (Abtheil. 2) zeigen wird: Unter-
suchungen, welche gegenwärtig noch zu umgehen, „Vogel-Strauss-Politik“ ist.
IV. — §. 296 [109e]. Standpunct des extremen öko-
nomischen Individualismus. Gegen diesen kann, wie sich
ans dem Vorausgehenden ergiebt, aber von unserem Standpuncte
aus auch nur Front gemacht werden. Diese Richtung erwartet
von dem „sich selbst überlassenen Verkehr“ in einer Volks-
wirtschaft, welche möglichst wenig Staats Wirtschaft ist, die
relativ beste, ökonomisch und technisch richtigste Lösung des
Productionsproblems und zugleich die richtigste und gerechteste
Lösung des Vertheilungsprobleras. Damit setzt sie sich, ebenso
wie der extreme Socialismus, Uber die geschichtliche Entwicklung
und die Thatsachen des volkswirtschaftlichen Lebens blind hinweg.
Sie erkennt nicht die Bedenken gegen solche übermässige Ein-
kommen- und Vermögensungleichheiten, welche wesentlich nur zur
üppigeren Befriedigung der materiellen Bedürfnisse der Reichen und zum Theil nur
auf Kosten der in Dürftigkeit darbenden Masse der Bevölkerung führen. Sic nimmt
ohne Weiteres an, als würden dergleichen Extreme in der Vertheilung des Volks-
einkommens am Besten und Sichersten vermieden, wenn im sogen. System der
freien Concurrenz Jedermann möglichst ganz auf sich selbst gestellt und die
volkswirtschaftliche Entwicklung demgemäss „frei gehen gelassen“ werde. Sie
übersieht, dass gerade daraus bei Anerkennung der vollen persönlichen Freiheit der
sich selbst überlassenen Massen und bei Statuirung vollsten Privateigen thums an den
wirtschaftlichen Gütern, namentlich an den Productionsmitteln, bei vollster Vertrags-
freiheit, eine Tendenz steigender Ungleichheit des Einkommens und
Vermögens hervorgeht Die Auseinandersetzung mit dieser ökonomischen Theorie
ist nicht minder wichtig, als diejenige mit dem extremen Socialismus. Auch sie
I
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760 4. B. Bevölk. u. Volksw.sch. 2. K. Vertheil. probL 3. A. And. Standp. §. 296.
erfolgte daher schon bisher und erfolgt weiter in den nächsten Büchern dieser und
in der ganzen zweiten Abtheilung der Grundlegung.
Weder der Quietismus der historisch-nationalökonomiseben
Schule — das Seitenstück zu demjenigen der historischen Rechts-
sehule, wo er jetzt bereits überwunden ist, — noch sogenannter
Communismus, noch extremer Socialismus mit seinen
pessimistischen Uebertreibungen, noch extremer ökono-
mischer Individualismus mit seinem bequemen Optimismus,
sondern ein mittlerer Standpunct wird daher hier vertreten. Von
diesem aus wird auch in der Theorie schon die principielle
Nothwendigkeit von Compromissen zwischen den Forde-
rungen verschiedener wirthchaftlicherOrganisationsprincipien (Buch 5,
§. 301 , 302) anerkannt. Dieser Standpunct ist es, welchen wir
schon in der Einleitung characterisirt haben und als den staats-
socialistischen am Besten glaubten bezeichnen zu dürfen (§. 16.)
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Fünftes Buch.
Die Organisation der Volkswirtschaft.
§. 297 (2. A. S. 196 — 200). Vorbemerkungen über die Behandlung des
Gegenstands und Litteraturnach weis. Vgl. hierzu die Einleitung S. 5 ff. und die
Litteraturnachweise darin, die Vorbemerkungen in §. 108 zum 2. Buche, in §. 144 zum
3. Buche (S. 346), namentlich das, was dort über die ungenügende Unterscheidung
des privat- und eigentlich volkswirtschaftlichen Standpuncts in der bisherigen
Behandlung der Politischen Oekonomie und über dio maassgebende Bedeutung der
Begriffe Wirtschaft und Volkswirthschaft für dicso Wissenschaft (S. 348)
gesagt wurde. S. ferner die Vorbemerkungen zum 6. Buche und in der 2. Abtheilung
zu den dortigen Büchern.
Als unmittelbare Vorarbeiten systematischer Art über den Gegenstand dieses
5. Buchs konnten mir für die beiden ersten Auflagen dieses Werks eigentlich nur
Schäffle’s Schriften, bes. sein gesellschaftliches System der menschlichen Wirth-
schaftslehre dienen, namentlich in der Lehre von den Ge meinwirthsc haften,
besonders in der 2. Aufl., deren formelle Behandlung dieses Gegenstands ich z. Th.
derjenigen in der 3. Aufl. vor/.iehe. S. 2. Aufl. S. 62 — 64, namentlich S. 331 ff.,
§. 176 ff (Allgemeinere Characteristik der Gemeinwirthscbafteu, dann bes. Arten der
Gemeinwirthschaften S. 357 ff., wo die m. E. im Wesentlichen doch nicht zu diesen
Gemeinwirthschaften zu rechnende Farn ilienwirth schaft (s. o. S. 148), dann die
Staats wirthschaft S. 374 ff in vorzüglicher Weise analysirt wird; über die
Wechselwirkungen des privat- und des gemeinwirthschaftlichen Systems S. 401 ff);
ferner 3. Aufl., II, 1 ff. (wirtschaftliche Triebfedern in der menschlichen Gesell-
schaft) und namentlich der 2. Hauptabschnitt über die Organisation der Volkswirth-
schaft. II, 20 ff., 83 ff., 69 ff„ 103 ff., auch I, 24. In der 3. Aufl. werden die drei
Organisationsprincipien , besonders auch dasjenige der freien Hingebung
(Liberalität) schärfer auseinandergehalten und die Consequenzen daraus gezogen, aber
die Systematik der Behandlung hat in der 3. Aufl. gegen die zweite nicht gewonnen.
Ich verdanke diesem Werke, wie einzelnen Monographien Schäffle’s über ein-
schlägige Puncte der Theorie vielfache Förderung, bin indessen unabhängig von ihm
auf die uns gemeinsamen Grundanschauungen gekommen. Unsere Uebereinstimmung
hierin hindert übrigens nicht, dass ich auch in einzelnen principiellcn Puncten, so
z. B. in der Begrenzung der gemcinwirthschaftlicheu Sphäre, in der Ausschliessung
der Familienwirthschaft daraus, z. Th. auch in der nationalökonomischen Analyse des
Staats, von Schäffle abweiche. Letzterer hat diese Probleme später im „Socialen
Körper“, bes. im 3. ß„ passim auch in den andren, wieder aufgenommen und sie in
mehreren Punctcn noch weiter gefördert. Vgl. bes. III, 365 — 398.
In der übrigen deutschen systematischen Litteratur, vollends in der
ausländischen fehlte ein diesem 5. Buch entsprechender Abschnitt früher fast
noch ganz. Nur sporadische Bemerkungen Uber die hier behandelten Gegenstände
oder Ausführungen über einzelne Priucipienpuncte (z. B. freie Concurrenz, Verhältniss
der Oekonomik zur Moral) waren zerstreut in anderen Thcileu des Systems der maass-
gebenden Autoren zu finden. Am Wenigsten, seinem vorwaltend cameralistisch-privat-
wirtbscbaftlichen Standpuncte gemäss, bei Rau, vgl. überhaupt den Abschn. I der
Einleitung des 1. Theils (Volkswirtschaftslehre) , damit indessen den unten er-
wähnten Aufsatz von 1S70. Die nationalökonomischen Systematiker der
/
J
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762
5. B. Organis. d. Volksw.sch. Vorbemerkungen. §. 297.
Smith’ sehen Schule haben im Wesentlichen das ganze Lehrgebäude der Politischen
Oekonomie auf das wirthschaftliche Selbstintere s so des Individuums
begründet, d. h. auf diejenige Potenz, welche nach der im Texte vertretenen Auf-
fassung nur dem privatwirthschaftlichen und theilweise dem frei-gemein-
wirthschaftlichen System in der Volkswirtschaft zu Grunde liegt, und welche selbst
in jenem nicht so rein und ausschliesslich zur Geltung kommt, wie vielfach angenommen
wird. — Das hat am Besten Knies in s. Polit. Oekouomie 1. A., bes. S. 147 fl.,
wenn auch vielleicht mit etwas zu scharfer Reaction gegen die herrschende Auf-
fassung, nachgewiesen, s. auch 2. A., S. 223 ff. und die Zusätze zu S. 243 ff.; ähnlich
Hildebrand, Nationalöknn., S. 27 ff, s. auch dessen Aufs, die gegenwärtige Auf-
gabe der Nationalökonomie in s. Jahrbüchern, 1863, B. 1; vgl. von Früheren Schütz,
das sittliche Element in der Volkswirtschaft, Tüb. Ztscbr. 1844, und von Neueren
besonders Schmoller’s Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft.
Ich nehme nunmehr in dieser 3. Aufl. besonders auf die darin neu enthaltenen
Ausführungen über ökonomische Psychologie und Motivation im 1. Kap. des 1. Buchs
Bezug. Erst dadurch wird m. E. auch für die Entscheidung der principiellen Fragen
in diesem 5. Buche die tiefere und allseitigere Begründung gegeben, welche in den
beiden früheren Auflagen in der Behandlung dieses Gegenstands noch gefehlt hat
oder wenigstens nicht ausreichend gegeben worden war. Doch glaube ich im
Uebrigcn die ältere Behandlung in der 2. Aufl. sachlich im Ganzen aufrecht halten
zu dürfen und fand auch an der formellen Bebandlungsweise nicht so viel zu ver-
ändern für geboten. Für die Debercinstimmung mit Autoren, wio Knies, Hildebrand,
Schäffle, Schmoller, Schönberg und neueren, welche z. Th. an meine Auffassung an-
geknüpft und daran Kritik geübt haben, wie G. Cohn, Gross. E. Sax (§. 298) und für
die Abweichungen von denselben möchte ich mich ebenfalls jetzt mit auf jenes Kapitel
über die wirthschaftliche Natur des Menschen im 1. Buche beziehen. Meine Auf-
fassung und Behandlung der Fragen der Organisation der Volkswirtschaft hier im
5. Buche sind wesentlich zugleich Consequenzen jener Grundauffassungen, wie ich sie
jetzt dort niedergelegt habe. Eben deshalb, räume ich eiu. hätten die Ausführungen
in jenem Kapitel des 1. Buchs schon in den früheren Auflagen nicht fehlen dürfen,
um diesem 5. Buche als Fundament zu dienen, daher auch ihm vorangehen müssen.
Im Folgenden habe ich deshalb auch nur auf einzelno Puncte der Kritik und Polemik
gegen meine Ansichten Rücksicht genommen.
Dass neben dem wirtschaftlichen Selbstinteresso („Eigennutz“) auch andre
Triebfedern die wirtschaftlichen Handlungen der Menschen bestimmen, ist zwar auch
früher nicht übersehen, auch oft hinsichtlich sittlich guter Potenzen (Liebe, Gemein-
sinn) als notwendig bezeichnet worden. Aber teils wurde die Berücksichtigung
dieser Momente (besonders der „Moral“, Ethik) wenigstens als ungehörig in der
Theorie der Politischen Oekonomie bezeichnet: es bewirke hier nur eine wissen-
schaftlich falsche Vermengung von Ethik und Ockonomik, wie im Ganzen
namentlich die spätere Smith’scho Schule, die Bastiat’sche Interessenharmonie-
Theorie und die sich an diese anschliessende sogen, deutsche Frei h andels-
schule argumontirte; teils beschränkte sich die Beachtung von Factoren, wie der
Gemeinsiun, auf kurze Berührung in einzelnen mehr practischen Fragen, wie bei der
grossen Mehrzahl der Schriftsteller; theils sollte wenigstens, nach Hermann ’s
bemerkenswerther Auffassung in der 1. Aufl. s. staatsw. Untersuchungen 1. Abh., in
der Theorie, in der im engeren Sinne sogen. Volkwirthschaftslehre , nur das
Sclbstinteresse , der Eigennutz der Individuen, nicht der Gemeinsinn oder ein der-
artiger Factor betrachtet werden und erst in dem practischen Theile, in der
Volkswirthschaftsp flöge, die Ergänzung der Theorie durch das Studium der Function
des Gemeinsinns erfolgen. Diese Ansicht ist derjenigen Rau’s analog, die theo-
retische Volkswirtschaftslehre und die ökonomische Politik zu trenne n,
d. h. schliesslich doch die Volkswirtschaft dort ohne Rücksicht auf den Staat zu
betrachten. (S. darüber jetzt oben §. 102 fl., bes. S. 268, 275.) In der 2. Aufl. s.
Unters, hat Hermann in der 1. Abh. S. 47 ff. dem Gemeinsinn seine Sphäre in der
Collecti v Wirtschaft, bei den öffentlichen Aufgaben der Gemeinden, Bezirke, Pro-
vinzen, des Staats im Ganzen, bei den von ihm sogen. Z weck wirtschaften für gewisse
Collectivzwecke einzelner Gruppen der Bevölkerung vindicirt. Ich kann dieser Auf-
fassung Hermanns, die mehrfach Anklang gefunden hat, nicht beistimmen. In der
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Vorbemerkungen. Littoratur.
763
theoretischen Nationalökonomie kann nicht nur der „Eigennutz“ betrachtet werden,
am Wenigsten als ganz gleich bleibende coustante Ursache, in der practischen National-
ökonomie oder in der Volkswirtbscbaftspflege nicht nur der Gemeinsinn, auf welchen
die wichtigsten Maassregeln, z. B. des Staats, nur bei einer durchaus gezwungenen
Sprechweise zurückgefübrt werden würden. Roscher (§. 11, Anm.) hat darin
Recht, dass Eigennutz und Gemeinsinn weder coordinirto noch erschöpfende Gegen-
sätze bilden, wenn ich dies auch anders verstehe als er. Auf den Gemeinsinu kann
man jedenfalls nur freiwillige Thätigkeiten zurückführen, also etwa einzelne der
unten sogen, freien Gemeinwirthscbaften , die meisten davon auch nicht mit Recht,
noch weniger die viel wichtigeren Zwangsgemeinwirthschaften. Der Gemcinsinn ferner
stebt dem Selbstintcresse nicht nothwendig entgegen, sondern verbindet sich mit
diesem oft sehr enge, wie besonders in manchen freien Gemeinwirthschaften.
Nach Roscher, §. 11, liegen der Wirthschaft regelmässig zwei geistige Trieb-
federn zu Grunde, Eigennutz und die Forderungen der Stimme Gottes in uns, des
Gewissens, worin richtig anerkannt wird, dass jene erste Triebfeder nicht allein
wirkt, noch wirken darf und soll, daher auch in der Nationalökonomie nicht allein
zu betrachten ist Aus dem harmonischen Zusammenwirken beider Triebfedern lässt
Roscher dann den Gemeinsinn entstehen. Damit könnte man nooh einverstanden
sein. Aber wenn es dann heisst: auf dem Gemeinsinne beruht stufenweise das Familien-,
Gemeinde-, Volks- und Menschhcitsleben. so sind hier doch schon nicht homogene
noch coordinirto Elemente neben einander gestellt, in denen der Gemeinsinn eine sehr
ungleichartige Rolle spielen müsste. In §. 12 heisst es dann weiter: durch den
Gemeinsinn werde das bellum omnium contra omnes, die Folge gewissenlosen Eigen-
nutzes zwischen den Einzelwirtschaften, zu einem höheren, wohl gegliederten
Organismus versöhnt; auf dem Gemeinsinn beruhten die so verschiedenen Formen
und Abstufungen der Gemein wirthschaft: die Haus-, Corporations- und
Associations- , die Communal-, dio Volkswirtschaft. Hiermit wird aber doch das
specifisch Verschiedenste auf diesen Gemeinsinn zurückgeführt und eben deswegen
dem letzteren eine m. E. unmögliche Leistungsfähigkeit zugetraut, welche mit den
erfahrungsmässigen Tbatsachcn in Widerspruch steht. Die Volks wirthschaft kurzweg
auf dem Gemeinsinn beruhen zu lassen, halte ich für ebenso einseitig, als sie mit der
vorgeschrittenen Smith’schcn Schule bloss auf das Sclbstinteresse zu begründen. Aehn-
lich wie ich urteilt über diese Lehre Roschers Knies, Pol. Oek. , 2. A., S. 250.
Auch in den neuesten Auflagen hat Roscher seine Lehre weder nach Inhalt, noch
nach Form irgend wesentlich geändert und nur in den Noten auf die abweichenden
Auffassungen neuerer Autoren hie und da Bezug genommen (s. 20. A. von B. 1, §. 11 fl'.).
A. Smith selbst hat nicht nur in seiner tbeory of moral Sentiments das
Sy mpathieprincip zum leitenden gemacht, sondern auch, wie schon Knies, 1. A.,
S. 14S gegen die Tradition gut berichtigte, das sellintercst der Einzelnen nicht so
unbedingt als mit dem Gesammtwohl übereinstimmend anerkannt, fern von Bastia t’schen
Illusionen über den Intcressenharmonismus. Der Ausdruck Gemeinwirthschaft wird
von Roscher ferner in kaum zulässiger Weise verallgemeinert, wenn er damit
einzel w irthschaftliche Gemeinwirthschaften, wie die Hauswirthschaft (einmal
dazu gerechnet) jedenfalls eine sein würde, die Corporations- und Communalwirthschaft
eine ist, und anderseits die Volkswirtschaft bezeichnet, welche ausserhalb eines
streng socialististischen Systems niemals eine Einzelwirthschaft mit einem Subject an
der Spitze ist (s. o. §. 147, 149).
Mir scheint nun das Zugeständniss nothwendig, dass in der Volkswirtschaft
verschiedene Organisationsprincipien neben einander bestehen, sich er-
gänzend und mod ifici rend, und demgemäss dann verschiedene, immer vor-
nemlich (nicht ausschliesslich. §. 335) auf j e ei n cm dieser Principien beruhende W' irt h-
schaftssysteme oder Kategorien von Einzelwirtschaften in Combination
treten.
Das Selbstinteresse muss dabei aber auch in seinem speciellen Gebiete, im
pri vatwirthschaftlichen, nicht als eine immer gleich bleibende noch als eine
immer gleich wirksame Kraft angesehen werden, sondern es steht selbst wieder
unter dem Einfluss der Sitte und Sittlichkeit (des Gewissens, in Roschers Ausdrucks-
weise): es kann und soll „moralisirt“, allgemeiner ausgedrückt: zu einem Culturfactor
erzogen werden. Diese Möglichkeit, bez. Notwendigkeit muss bereits in der
Untersuchung des privatwirthschaftlichen Systems oder in dem theo-
764
5. B. Organis. d. Volksw.sch. Vorbemerkungen. §. 297.
rctischen Tkeile der Politischen Oekonomio, den die deutsche Schule nach Raus
Vorgang von dem practischen zu trennen sucht (§. 103 ff.), beachtet werden und
daher auch bei den Schlüssen, welche man aus dem Wirken des Selbstinteresses ia
den einzelnen Verkehrsacten nach der Methode der Deduction ableitet. Die Annahme
eines „reinen“, „absoluten“, in allen Personen zu allen Zeiten und überall
gleich massig wirkenden Selbstinteresses hat deshalb in der Hypothese in
der Nationalökonomie doch ihre volle Berechtigung, aber nur in derjenigen Be-
schränkung, wie dies im Gegensatz zu manchen Anhängern der sogen, historisch«
Richtung in -Deutschland, aber in Uebereinstimmung mit J. St. Mill (Logik), jetzt
in dieser 3. Aufl. dieses Werks im 2. Kapitel des 1. Buchs (2. H.-A. Metbodenlebre:.
näher dargelegt und begründet wurde. Auch in der Theorie und io der Lehrt
vom privat wirtschaftlichen System müssen alsdann jedoch die aus dem Wirs«
eines solchen bloss hypothetischen reinen Selbstinteresses abgeleiteten Schlüsse
sofort ihre Berichtigung finden , indem die das Selbstiuteresse in der Wirklichkeit
selbst modificircndeu Factoren (andere egoistische und nichtegoistische Motive, s. <s.
§. 33 !F., 69 11'., gute und schlechte Potenzen, s. u. §. 315) mit in die Unter-
suchung gezogen werden. Dieser Forderung redet in seiner vortreff lichen Schrift
über Mill’s Ansichten in der socialen Frage auch Lange das Wort, indem er is
der Einleitung mit Recht sagt, dass die einstweilige Berücksichtigung der Moral ia
der angewandten Volkswirtschaftslehre nicht auf die Dauer genüge, soudem die Moral
wenigstens später, in die cxacte ökonomische Theorie mit aufgeuomoien werden
müsse (bes. S. 16 tf.). Ebenso in voller Zustimmung zu Lange, von dem er mit
Recht rühmt, dass er „in Bezug auf die Methodik der Volkswirtschaftslehre durchaus
den richtigen Standpunct vertrete“, v. Mango Id t, in seiner vorzüglichen letzten Abh.
„Volkswirtschaft im Staatswörterb. XI, 112, eine Auffassung, aus der v. Mangoldt
in seiner leider durch den Tod allgebrochenen „Volkswirtschaftslehre“ (Stnttg. 186$}
schon manche Consequenzen zog, mehr als in seinem Grundriss. Diese Annahme
eines nicht unwandelbaren Selbstinteresses ist in dem bedeutendsten theoretischen
Werke der historischen Schule, schon in der 1. Aufl. von Knies’ „Die Politische
Oekonomio vom St&ndpuncte der geschichtlichen Methode“, auch der rothe Fade«,
welcher die ganze Darstellung durchzieht Die Zusätze in der 2. Aufl. haben hier
noch manche weitere werthvolle Ausführungen gebracht. Auf dies Werk und a ni
Schmoller’s „Grundfragen“, bes. S. 37 ff. („der Egoismus ist niemals eine feste
Potenz, eine gleichmässige Grösse“) verweise ich daher besonders. Schmollet
gegenüber freilich mit den Vorbehalten, welche sich aus meiner Motivationsteorie
und Methodologie oben im 1. Buche ergeben (s. u. A. o. S. 90, Note). S. ferner
Hildebrand, Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft, S. 27 ff.; Ders., gegen-
wärtige Aufgabe der Wissenschaft der Nationalökonomie, gewissennaassen Programm-
aufsatz. Jahrb. I (1863), S. 5 fl.. 137 ff.; G. Cohn, Bedeutung der Nationalökon. n.
Stellung im Kreise der Wissenschaften, Berl. 1869; Bischof, Grundzüge eines
Systems d. Nationalökon., Graz 1874, S. 19 ff.; Contzen, Einl. in d. staats- und
volksw. Stud., Leipzig 1870. — Von besonderem Interesse ist auch die letzte Abh.
Rau ’s in der Tüb. Ztschr. 1870, XXVI, 106 — 121 „Bemerkungen über die Volks-
wirthschaftslebre und ihr Verhältnis zur Sittenlehre“, wo der verohrte Altmeister mit
der ihm eigenen ruhigen Objectivität und Klarheit die Einwendungen gegen die Be-
gründung der Volkswirtschaftslehre auf den Eigennutz auf ihr richtiges Maas;
zurückzuführen sucht, auch eine wirthscbaftlicho Sittoulchre statuirt (S. 110
und iregenüber dem mehr privatwirthscliaftlichen Standpuncte seines Systems doch
mancherlei Conccssioncn macht, freilich mehrfach in der Weise, dass er meint, die
bisherige Nationalökonomie habe die ihr zugeschriebene Einseitigkeit theils gar nicht
besessen, theils mit Recht fcstgehalten. Kau ’s Standpunct wird indessen am Besten
in Verbindung mit seiner Systematisirung und Einteilung der Politischen Oekonomie
geprüft; s. daher oben Buch 1, S. 266 fl'. Beachtenswert ist in jener Abhandlung
auch Raus Auffassung der Volkswirtschaft. Er sagt darüber S. 114: sic ist ein
aus Einzelwirtschaften in einem Volke bestehendes, auf der freien Verbindung
derselben beruhendes grosses Ganze, eine Vielheit, zusammengehalten durch das
Land und die Unterwerfung unter die uemliche Staatsgewalt Aber ans
letzterem Zusatze werden die Consequenzen hinsichtlich der staatlichen Organisation
der Volkswirtschaft nicht gezogen. Rau hat, wie sich S. 115 fl’, zeigt, doch immer
nur die tauschwirthschaftliche Seite der Volkswirtschaft, also das privat-
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Vorbemerkungen und Litteratur.
765
wirtschaftliche System vor Augen. Vgl. Roscher’s ganz richtige Bemerkung über
Rau in seiner Geschichto der Nationalökonomio, S. 860. — Die Beziehungen
zwischen Nationalökonomie und Moral sind mehrfach in der fran-
zösischen Litteratur untersucht, z. Th. in Folge der äusseren Anregung durch eine
Preisaufgabc der französischen Acad6mie des Sciences mor. et polit. im J. 1857 über
das Thema: „detcrmincr les rapports de la morale avec l’öconomie politique“. S. be-
sonders die preisgekrönte Schrift von A. Rondel et, du spiritualisme en economic
politique, Par. 1859, namentlich preface und introduction. Auch Baudrillart u. A. in.
Leber A. Smith speciell mit Rücksicht auf das Verbältniss von Ethik und Oekonomik
s. auch A. Oncken, Ad. Smith und Kant, 1. B.. Lpz. 1877, und v. Skarzynski,
A. Smith, Berl. 1878. Aus der neuesten Zeit die oben S. 71 gen. Schriften, bes.
Zeyss, Schubert und namentlich W. Hasbach (S. 5).
Ein zweites Organisationsprincip liegt denjenigen Einzelwirtschaften zu Grunde,
w’elche im Text mit dem Namen „caritatives System“ zusammengefasst werden.
Der Ausdruck „Gemeinsinn“ ist hier, wenigstens ohne Zwang, nicht allgemein
anwendbar. Es handelt sich um eine Reihe moralischer Potenzen und geistiger
Triebfedern, durch welche absichtlich und freiwillig das Selbstintercsse über-
wunden, nicht nur, wie im privatwirthschaftlichon Verkehr eines gesitteten und
sittlichen Volks, gezügelt oder modißeirt wird: daher das fünfte der von mir oben
unterschiedenen Leitmotive, der Trieb des inneren Gebotes zum sittlichen Handeln,
(§• 45, 46), vornemlich cinwirkt, eigentlich allein einwirken sollte, wenn auch andere
Motive, besonders Formen des dritten (§. 39 ff-, Eitelkeit u. dgl.!) vielfach mit oder
selbst allein wirken. Zwischen dem privatwirthschaftlichen und caritativen System ist
daher der Gegensatz ain Meisten ein priucipieller, wie dies u. A. die vorgeschrit-
tene Smith 'sehe Schule in ihrer Abneigung gegen gewisse Arten der Wohlthätigkcit
und Unterstützung zoigt, — gelegentlich selbst in der principiellen Verwerfung aller
Einnahmen, die nicht streng auf dem Princip von Leistung und Gegenleistung be-
ruhen, was z. B. in der Steuerlehre ganz folgerichtig zu der unhaltbaren Verallge-
meinerung des Gebührenprincips führt, (s. meine Finanz. I, 3. A. §. 201, 204, II, 2. A.
§. 15 ff., 83 ff)
Dagegen halte ich cs mit Knies für eine Täuschung und für unlogisch und mit
den Thatsachen in Widerspruch, das gemeinwirthschaftlichc System auf den
Gemeinsinn oder auf eine ihm verwandte geistige Triebfeder zurückzuführen. In
den freien Gemcinwirthschaften waltet doch in erster Linie ein richtig verstandenes,
wenn auch gezügeltes und sich absichtlich freiwillig beschränkendes Selbstinter-
esse vor den etwa mitspielcnden gemeinnützigen Motiven vor (§. 312). Die
viel wichtigere Gruppe der Zwan gsgemeinwirthschaften kann man aber überhaupt
ohne die unhaltbare Fiction eines frei geschlossenen Staatsvertrags gar nicht auf einen
freiwilliges gemeinsames Handeln der betheiligten Individuen voraussetzendeu
Factor, wie der Gemeinsinn, zurückführen, ebensowenig als auf das individuelle
Selbstinteresse, das in der That der Einfügung einer Wirtschaft in eiuc Zwangs-
gemeinwirthschaft oft abgeneigt ist und vom Standpunct des eiuzelwirthschaftlichen Vor-
theils aus mitunter mit Recht (§. 348). Die Zwangsgemeinwirthschaften beruhen vielmehr
auf einer freilich im Gesam mtintercsse der Gattung (des Volks, der Ortsbewohner,
einer gegen gewisse Gefahren zu schützenden Gemeinschaft von Personen u. s. w.),
aber eben deshalb oft mit Hinwegsetzung Uber das Interesse des Individuums,
von der organisirten Gewalt im Volke gegebenen Ordnung, in letzter Linie
daher immer auf dem Principe der organisirten und selbst wieder organisirenden
Staatsmacht, wenn auch dabei bei Untertanen und Obrigkeit die seelischen Mo-
tive, wie sie im 1. Buche dargclegt wurden, wieder mitspielen (§. 300, 346). So jetzt
auch in Modification seiner früheren Lehre, mir beistimmend Schäffle (Soc.
Körper III, 367). Diese organisirende Thätigkeit der Staatsmacht muss in der Volks-
wirtschaft im wahren Gesammtinteresso in der Bildung der Zwangsgemeinwirth-
schaften und in der Feststellung des Bereichs oder der Competcnz einer jeden, ein-
schliesslich des Staats, und damit auch in der Abgrenzung des Bereichs der drei
Wirtschaftssysteme gegeneinander, sich vollziehen: das ist die schwierige Aufgabe,
welche in der Lehre vom zwangsgemeinwirthschaftlichen System und vom Staate
speciell (Buch 6) zu lösen ist. Diese Aufgabe gehört aber in die Nationalökonomie,
wie dies allerdings bisher am Schärfsten und Consequentcsten die socialistischen
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Theil. Grundlagen. 49
766
5. B. Orgauis. d. Volksw.scb. Vorbemerkungen. §. 298.
Theoretiker Von St. Simon, Fourier und L. Blanc bis auf Rodbcrtus und
F. Lassallc betont haben, eine Forderung, welche den immer noch vorhandenen
richtigen Kern selbst in den Fourierschen Phantastereien bildet. Was Lassalle in
seinem Vortrag „Uber Verfassungswesen4', Berlin 1862, über die entscheidende Be-
deutung der realon Machtverhältnisse für die wirkliche (im Gegensatz zur papiernen)
politische Verfassung sagt, das gilt auch von der volkswirtschaftlichen Verfassung,
in welcher dio gcmeinwirthschaftlichc Organisation zu Gunsten der privatwirthschaft-
lichen und caritativen eingeengt, aber auch ebensogut und bei fortschreitenden Cultur-
völkern immer stärker auf Kosten dieser beiden anderen, besonders des privatwirth-
schaftlichen Systems, ausgedehnt werden kann und wird (s. schon oben §. 295
und unten Buch 6).
Von diesem Standpuncte aus erweitert sich dann freilich das Gebiet der
V o lksw i rthschaf ts 1 eh re sehr. Die früher nur sogenannte Volkswirtschafts-
lehre ist wenig mehr als eine Lehre des rein pri vat wirtschaftlichen Systems, der
man einen so engen Namen, wie Tauschlchre, Katallaktik, von xcnaM.ctytj,
Tausch (Whately), Plutologie. von Reichthum Oiearne) wohl allen-
falls geben konnte (s. o. S. 266). Die in diesem Werke von mir vertretene Auffassung
ist m. E. aber auch ciuc notwendige Conscquenz der Einbeziehung der persönlichen
Dienste und Verhältnisse in die wirtschaftlichen Güter (s. o. §. 121).
§. 298. Fortsetzung. Neuere Littcratur zur Kritik der Lehre von
der Organisation. Mehrfach sind meine Auffassungen und Begriffsbestimmungen,
so über Gcmeinbedürfniss, gemeinwirthschaftliches Princip und System, beider letzterer
Unterscheidung, Wesen der Gemeinwirthschaft u. a. in., wie sie in den früheren Auf-
lagen, besonders in der zweiten, gegeben waren (S. 197 ff.), in der neueren deutschen
Litteratur als Anknüpfungspunct lür weitere theoretische Untersuchungen über diese
Fragen der Organisation benutzt, dabei aber auch einer mehr oder weniger scharfen,
zum Theil ablehnenden Kritik unterzogen worden. Ich hebe daraus folgende Arbeiten
besonders hervor.
Gross hat in der beachtenswerten und klargedachten wie klar geschrie-
benen Schrift Wirtschaftsformen und Wirthschaftsprincipicn (Leipzig 1SS8), später
in Kürze in dem Art. Gemeinwirthschaft im H.-W.-B. d. Staatswiss. (II, 803) nach-
zuweisen gesucht, dass schärfer, folgerichtiger und klarer, als ich cs getan hätte,
zwischen Wirthschaftsprincipicn, „Grundsätzen, nach welchen bei der Verfolgung des
Wirth Schaftszwecks vorgegangen, nach welchen demnach der Verkehr gestaltet werde,“
und Wirtschaftsformen, „d. b. der verschiedenartigen Gestaltung der Wirthschafts-
subjectc“ unterschieden werden müsse. Die characteristischen Merkmale der Wirth-
schaftsprincipien lägen nicht in der Gestaltung des die einzelnen Wirthschaftsactc
vornehmenden Subjects, sondern in der Gestaltung der Wirthschaftsactc selbst (II.-
W.-B. II, 804). Ich gebe zu, dass ich vielleicht in der Wortfassung zu diesem Tadel
mitunter Anlass gegeben, im Sinne gleichwohl kaum. Auch bleibt cs meiner An-
sicht nach eben doch wahr, dass die „Gestaltung des Wirthsckaftssubjects“, wie bei
den Gemcinwirthschaften, eine Folge und anderseits eine Voraussetzung der Verwirk-
lichung des — nicht ausschliesslich, aber vornemlich (§. 335) — die Gestaltung der
Wirthschaftsactc bestimmenden Princips ist. In der Gemeinwirthschaft wird auch das
Wirthschaftssnbject so construirt, dass eine andere Motivation der wirtschaftlichen
Handlungen, als die in der Privatwirtschaft wegen der Macht des wirtschaftlichen
Selbstintercsses vorherrschende, erleichtert bezw. selbst erst ermöglicht wird. Doch
habe ich jetzt in der formellen Behandlung einigen der Gross’schcn Bedenken Rech-
nung getragen (s. u. A. bes. §. 300, 335).
Einiges in dieser Kritik von Gross stimmt dem Sinne nach mit kritischen Ein-
wendungen anderer Autoren gegen mich überein.
G. Cohn hat in dem Aufsatz Gcmeinbedürfniss und Gemeinwirthschaft, „ein
Wort zur Terminologie der Volkswirtschaftslehre“ (Tüb. Ztschr. f. Staatswiss. 1881,
B. 37, S. 464 — 495) namentlich meine Aufstellung und Fassung dieses Begriffs Gc-
meinbedürfniss angegriffen, ebenso wie den Umfang, welchen ich diesem Begriff durch
die Einreihung der zu diesen Bedürfnissen gerechneten Fälle gebe. Er gelangt eigent-
lich zur Verwerfung des ganzen Begriffs. Zum Theil knüpft er an die Verwendung
des Regrilfs bei anderen Autoren, bes. Hermann, Schäfflc an, sowie in meiner in
demselben Bande der Tüb. Ztschr. enthaltenen Abh. „der Staat lind das Versicherung?-
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Neuere Litteratur zur Kritik,
767
wesen“, „principicllc Erörterungen über die Frage der gemeinwirthschaftlichen oder
privatwirthschaftlicben Organisation dieses wirthschaftlichen Gebiets im Allgemeinen“
(eb. S. 102 — 172, auch selbständig erschienen), eine Arbeit, auf die ich mich auch
für die Fragen dieses 5. Buchs mitbeziehe (wie ebenfalls auf Weiteres hierüber in
meiner Abhandlung über Versicherungswesen im Schönberg’schen Handbuch, B. II).
Was mir G. Cohn hier eigentlich vorwirft, ergiebt sich aus einer Stelle seines Systems
B. I (S. 187) noch deutlicher: mein ganzer Begriff „Gemein bedürfniss“ sei nur aus
der hastigen Ungeduld zu erklären, das in der neueren Nationalökonomie betonte
Moment der Gemeinschaft in die ersten Begriffe der Wissenschaft hinein zu bringen,
wo dann mit logischer Nothwendigkeit alles Weitere aus dem so festgestelltun Begriffe
von selber folget „eines der schlagendsten Beispiele für die Willkühr, mit welcher
aus den Controversen der practischen Gegenwart die Entscheidung für eines der beiden
Extreme herausgenommen und um grösserer Beweiskraft Willen in die ersten Begriffe
der Wissenschaft hinein verlegt werde.“ M. a. W„ mein Begriff des Gemeinbcdürf-
nisscs, dessen Mängel Cohn in der gen. Abh. weiter zu zeigen sucht, beruht also
hiernach auf einer petitio principii und dient nur zur Vorwegnahme der Lösung
practischer Probleme der Gegenwart. Ich kann mich diesem Vorwurf gegenüber
indessen darauf beziehen, dass ich grade in den weitaus wichtigsten Fällen von
„Gemein Bedürfnissen“ mit den allgemeinsten menschlichen Gemeinschafts-
Verhältnissen zu thun habe, welche mit Lösung moderner practischer Fragen nicht
mehr als mit derjenigen von uralten Fragen des Menschengeschlechts zu thun haben.
Allerdings aber halte ich daran fest, dass auch auf diesem Gebiete, und n. A. in der
That auch durch Entwicklung der Productionstcchnik. neue Fälle von Gemeinbedürf-
nissen hinzutreten (s. auch Sax, Grundlegung, S. 198 — 199). Im Uebrigen möchte
ich mich zur Kritik von Cohn’s Polemik auch mit auf Sax beziehen, der zwar in
einzelnen Puncten Cohn beistimmt, aber doch au dem Begriff Gemeinbedürfniss
(Collectivbcdürfniss), mehr formell als sachlich von mir abweichend, festhält und
darauf selbst einen Haupttheil seiner theoretischen Staatswirthschaft aufbaut.
M. E. widerlegen sich Cohn’s Einwändc gegen meine Auffassung von Gemein-
wirthschaft schon durch mein Zugeständniss an Gross. Ich habe aber auch früher
schon deutlich hervorgehoben, dass z. B. die staatliche Gemeinwirthschaft nur ihrer
Construction und ihrer Hauptaufgabe nach dem gemeinwirthschaftlichen Princip der
generellen Kostendeckung huldigen könne und thatsächlich huldige (Herstellung all-
gemeiner öffentlicher Leistungen, die dann „frei genossen“ werden, und Kostendeckung
derselben mit allgemeinen, nach besonderen Maassstäben aufgelegten Steuern). Aber
ich habe stets zugleich betont, dass anderseits auch in der Gemeinwirthschaft privat-
wirthschaftlich verfahren werden könne und verfahren werde (2. Aufl. S. 216, wo
ausdrücklich auf Doinanialwirthschaft. Gebührenprincip hingewiesen wird). Dadurch
erledigen sich daher Cohn’s schiefe Fragestellungen Tüb. Ztschr. S. 492.
Cohn confundirt aber eben in der ganzen Streitfrage die drei Punctc, welche
es rechtfertigen, vom Vorhandensein von „Gemeinwirthschaft“ zu sprechen: einmal,
weun sachliche Productionsmittel an den öffentlichen Körper übertragen sind und
damit unter dessen Leitung, in dessen Auftrag producirt wird („partieller Socialismus
auf dem Productionsgebiete“ §. 295 S. 757); zweitens, wenn im öffentlichen Beamten-
system, nach dessen Normen für das Besoldungswescn, jene im vorigen Buche, Kap. 2,
mehrfach berührte besondere Art der ., Verkeilung des Productionsertrags“ zwischen
Arbeitern (Beamten) und Arbeitgeber (Staat) erfolgt („partieller Socialismus auf dem
Vertheilungsgebiete“ S. 758); drittens, wenn die producirtcn Güter (Leistungen) nach
dem Princip der generellen Kostendeckung mittelst allgemeiner Steuern ganz oder
wenigstens theilweise bezahlt werden, dem einzelnen Nutzuicsser aber dann unent-
geltlich oder nach anderen Preisnormen, auch wohlfeiler, als nach den Preisen im
Concurrcnzsystem, zur Verfügung stehen. Nur wenn alle diese drei Bedingungen
erfüllt sind, und zwar auch die letzte so, dass die Leistungen dem Einzelnen als
„freies Genussgut“ zustehen, ist volle, wenn eine oder zwei davon erfüllt sind oder
bei der dritten theilweise Kostendeckung nach specieller Entgeltlichkeit erfolgt (Ge-
bührenprincip), ist partielle Gemeinwirthschaft vorhanden, oder, nach meiner fest-
gehaltenen Terminologie (§. 293) voller oder partieller Communismus. Wenn nicht
ausdrücklich so gefasst, ging diese meine Ansicht doch implicitc aus den ganzen
Abschnitten der 2. Aufl. hervor, wo über diese Fragen gehandelt wurde. Was Cohn
49*
768
5. B. Organis. d. Volksw.sch. Vorbemerkungen. §. 298.
(a. a. 0. S. 4S6) über Unterscheidung eines formellen und materiellen Princips bei
der Gemeinwirthschaft sagt (im ersten Fall denke man an einheitliche Veranstaltung,
im zweiten an Ausschluss egoistischer Abrechnung zwischen Opfer und Genuss') ist
ganz richtig, aber doch wahrlich nicht von mir übersehen, wie schon meine von Cohn
oben in seiner Polemik unbeachtet gelassenen Ausführungen in §. 109 d (S. 171 ff.)
der 2. Auf!, zeigen. Man muss doch auch in solcher polemischer Kritik dem Gegner
nicht etwas imputiren, was er vernünftiger Weise nicht gemeint haben kann. So z. B.
wenn man eben bei in anderer Hinsicht verschiedenen Einrichtungen, wie altrömi-
scher Getreidcvertheilung und ücbernahme von Verkehrsaustaltcn , Gas- und Wasser-
werken auf Staat und Gemeinde, das hier allein gemeinte Aehnliche, nemlich
die Entziehung dieser Veranstaltungen zur Bedürfnisbefriedigung aus den Händen
der Privatwirtschaft und die dadurch bedingte Möglichkeit, andere als die
rein privatwirthschaftlichen Entgeltlichkeitsprincipien anzuwenden, ignorirt (vgl. 2. Aufl.
dieses Werks S. 206 Note 8 und Cohn, Tüb. Ztschr. S. 489 ff.). Denselben Einwand
habe ich gegen Cohns Bemerkung (eb. S. 488) über meine Auffasssung des fran-
zösischen Tabakmonopols (Tüb. Ztschr. 1879 S. 89) als eines gelungenen Stücks künst-
licher Organisation der Arbeit zu machen. „Ihr legt nicht aus, Ihr leget unter“, wo
dann freilich die Kritik leicht wird.
Das Bedeutendste und Schärfste zur Kritik meiner Lehre und zur Fortbildung
der Theorie der Gemeinbedürfnisse und der Gemeinwirthschaft hat E. Sax in seiner
Grundlegung der theoretischen Staatswirthschaft boigetragen. Von diesem Werke
kommen hier grössere Abschnitte in Betracht, specicll die Ausführungen im Abschn. IV
über Bedürfnis u. s. w. S. 172 ff., bes. über die Collectivbedürfnisse S. 179 ff., mit
der Kritik meiner Lehre von den Gemeinbedürfnissen S. 183 ff. Die übermässig
abstracte ßehandlungsweise und die Fassung machen es freilich auch hier, wie in
dem ganzen Werke, nicht leicht, dem scharfsinnigen, aber oft auch spitzfindigen
Denker immer genau zu folgen. Seine Polemik gegen mich und seine ganze Auf-
fassung hängt aber auch mit anderen Differenzpuncten unter uns, so über den Umfang
des Begriffs Gut zusammen, wo Sax die Dienste und Verhältnisse ausschliesst (S. 199 ff.,
vergl. obeu §. 120). Sax sucht nachzuweisen, dass Hermanns, auch Kodbertus*
(u. A. über das „Nationalbedürfniss“. Kapital, S. 73 ff., vgl. die Angaben von Sax
S. 182, Note) und ebenso meino Auffassung von Gemeinbedürfniss unzulänglich sei.
Er verwirft meine Begriffsbestimmung, gesteht indessen zu. dass meine „Liste der
Gemeinbedürfnissc“ objectivc Gemeinbedürfnisse im richtigen Sinne umfasse und
eine daran geübte Kritik (also, ohne dass Sax ihn neuut, diejenige Cohn's) ihr Ziel
vollständig vcifelile (S. 186), aber ich beginge Irrthümer in Betreff der Unterarten,
confundirte Bedürfniss und Gut und. wie alle anderen bisherigen Theoretiker, ignorirte
auch ich über dem Begriff Collcctivbedürfniss im objccton Sinne den Begriff im
subjectivcn Sinuc (S. 191). Ich kann dem Allen gegenüber doch nur zugeben,
dass meine Fassungen hier und da für diese Kritik Anbaltspuncte gegeben haben
mögen, nicht der m. E. doch nicht eigentlich misszuvcrstchende Sinn meiner Aus-
führungen. In Betreff dieses letzteren glaube ich mich auch mit Sax mehr einig, als
er annimmt, kann daher auch seine eigenen Erörterungen, so werthvoll sie inhaltlich
sind, doch nicht für so neu und eigenartig halten. Und ob sie in der Fassung wirk-
lich so viel gelungener sind? Ich finde die Fassung auch hier wieder zu abstract.
die Ausdrucksweise, wie oft bei Sax, zu geschraubt, was weder immer auf volle
Klarheit des Gedankens bei einem Autor hindeutet, noch wenigstens dem Leser diese
Klarheit Uber das, was der Autor eigentlich meint, zu gewinnen erleichtert. Zum
Beispiel S. 179 ff.: Anknüpfend an „collcctivistischc Bewusstscinserregungen“ entsteht
bei Sax das „Collcctivbedürfniss“ : „die Bewusstscinszustände der Gemeinschaft bezüg-
lich der Gebundenheit der concreten Lebenszwecke gegenüber den Dingen der Aussen-
welt. Die einzelnen Collcctivlebenszwcekc in dieser Bedingtheit sind die Gemein-
bedürfnissc im objcctivcn Sinne des Worts, die entsprechenden psychischen Vorgänge
in den collectivistisch verbundenen Individuen die Collectivbedürfuisse im subjectivcn
Sinne.“ Dann über die Beziehung der Collectivbedürfnisse im subjectivcn Sinne zu
den Individualbcdürfnissen (S. 191 ff.): „die im Collcctivbedürfniss vorliegende öko-
nomische Bedingtheit eines Coilectivlebeuszweck muss den von dem Verbände um-
schlossenen Individuen als solche Bedingtheit ihres persönlichen Zwecklebens er-
scheinen. insofern die collcctivistischc Lebensführung für jeden Einzelnen eben einen
Theil seines Lebens bildet“. Richtig, aber einfacher auszudrücken. Schliesslich: „die
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Neuere Litteratur zur Kritik.
769
Collectiv- und die Individualbedürfnisse finden wir in der ökonomischen Lebens-
führung der Menschen mit einander verwoben“ (S. 194); ein Unterschied der Art
finde zwischen beiden Gruppen gar nicht statt, vielmehr, wie zwischen den einzelnen
Bedürfnissen jeder Gruppe, nur ein Unterschied der Intensität, woraus dann weitere
Consequenzon gezogen werden.
Trotz aller Anerkennung des Gedankengehalts dieser und anderer Ausführungen
von Sax habe ich mich nach reiflicher Ueberlegung doch nicht zu einer wesentlichen
Aenderung meiner Auffassung und meiner Behandlungsweiso in diesem Buche, speciell
in den Erörterungen über Gemeinbcdürfniss , Gemeinwirthschaft bewogen gefunden.
Ich kann auch Sax nicht zugeben, dass so sehr erhebliche Meinungsverschiedenheiten
zwischen uns bestehen. Eine Auseinandersetzung Uber alles Einzelne nöthigte aber
zu einer hier schon aus Rücksichten auf den Raum ausgeschlossenen Ausführlichkeit
in der Antikritik, denn letztere müsste sich zu einer solchen des ganzen grossen
Sax’schen Werks erweitern. Mehr als ich es in einigen Puncten der Fassung
glaubte tbun zu können und zu sollen, habe ich deshalb Sax’ Wunsch, das Störende
meiner Darstellung zu beseitigen (S. 191), nicht erfüllen können (§. 300, 324 ff.).
Meine genannten Kritiker werden daher ihre sachlichen und theilweise ihre
formellen Bedenken gegen die Behandlung all’ dieser Fragen der Organisation auch
in dieser 3. Aufl. vermuthlich aufrecht halten, trotz meiner Zugeständnisse, welche
ich in der Abänderung einiger Sätze gemacht habe, — auch übrigens mehr, um
Missverständnisse, wie sie vorgekommen, auch bei den hier besprochenen Autoren, zu
verhüten, als weil ich es, gegenüber dem m. E. klaren Sinne auch meiner früheren
Fassung für durchaus geboten gehalten hätte.
Wesentlich nur referirend in Betreff meiner bezüglichen Lehren hat sich
G. Schön berg zu denselben verhalten (in s. Handb. I, Abs. 1, S. 10, 26 der 3. A.).
Mit den hier in diesem Buche behandelten Frageu hängt auch die practisch
wichtige und theoretisch bedeutungsvolle Uber die Principien der Kostendeckung
öffentlicher Leistungen des Staats u. s. w. zusammen. Diese Frage führt
einmal in die Finanzwissenschaft, insbesondere in die Gebührenlehro und die
Steucrlehre, in letzterer in die Lehre von den Steuervertheilungsprincipien (Principien
der Gerechtigkeit) und in die Lehre von der Wahl der Steuerarten und vom Steuer-
system hinein. Dafür beziehe ich mich auf den 2. Band meiner Finanzwisseuschaft,
2. Aufl., worin die bezüglichen Fragen eingehend principiell und mit Rücksicht auf
die Entscheidung in Geschichte und gegenwärtiger Praxis behandelt sind (s. bes.
a. a. 0. Gebührenlekre und eb. allgemeine Steucrlehre, bes. S. 372 ff.). Aus der
Gebührenlebre und aus der verwandten Lehre der Tarifregelungen der grossen
Verkehrsanstalten (Eisenbahnen), welche nicht oder noch nicht, wie Post und Tele-
graphie, als Gcbührenanstalten anzusehen sind, gehören namentlich die Erörterungen
über die Wahl der Tarif-, Taxprincipi en und Uber das Maass der An-
wendung der gewählten Principien hierher. S. darüber bes. die Behandlung dieser
Puncte in meiner Finanzwiss. B. 1, 3. A., S. 760 ff. mit den hier citirten Arbeiten
Fr. J. Neumann’s, G. Cohn’s, J. Lehr’s. Auch für alle die hierher gehörigen
finanz- und steuerwissenschaftlichen Fragen ist bes. auf Neumann’s bezügliche
Arbeiten (das Werk „die Steuer“ u. a. m., 8. darüber meine Finanzwiss. II, 2. A., S. 20)
zu verweisen: mit das Beste hierüber. Sodann aber führen die angedeuteten Prin-
cipienfragen über Kostendeckung in Gemeinwirthschaften in eine andere Seite des
allgemeinen Werth- und Preisproblems hinein, mit welcher sich die Theorie
neuerdings mehrfach zu beschäftigen begonnen hat: die Gestaltung dieses Problems
in „Verbänden“ u. dgl. Auch dafür ist namentlich zu verweisen auf Neumann’s
Arbeiten (Abh. Preis in Schönberg’s Handb., 3. Aufl., I, S. 249, Verbands-, Vereins-
und ähnliche Preise, bes. 2. A. , S. 269, Preisgestaltung in Fällen der Interessen-
gemeinschaft), G Cohn’s System I, §. 396 ff., E Sax’ Grundlegung. S. 249, Wcrth-
erscheinung und ihre collectivistische Form). Berührung dieser Seite des Werthproblems
auch in der neueren sonstigen Wcrthlitteratur (§. 135).
770
5. B. Ürganis. d. Volksw.sch. 1. K. Princ. u. Syst. §. 299.
Erste s Kapitel.
Die verschiedenen Organisationsprincipien
und Wirthschaftssy steme in der Volks wirthschaft.
I. — §. 299 [116]. Die Volkswirtschaft als natür-
licher Organismus und als künstliche Organisation,
ln den früheren Erörterungen über Begriff, Wesen und Entwicklung
der Volkswirtschaft (§ 149 ff.) wurde die letztere bereits als
Organismus und als durch den Staat und die Rechtsordnung be-
einflusste Organisation betrachtet. Auch im vorigen 4. Buche ist
diese Betrachtungsweise implicite überall festgehalten worden und
wurden daraus Folgerungen gezogen. Doch lag dabei bisher die
atomis tisch-mechanische Auffassung der Volks wirthschaft
und ihres Aufbaus aus den einzelwirthschaftlichen Elementen doch
noch vornemlich der Betrachtung zu Grunde. Jetzt ist jene Auf-
fassung durch eine eigentlich organische zu ergänzen,
wie sie allein dem Character der Volkswirtschaft als Organismus
vollständig entspricht.
Während bisher die Betrachtung vom Thcil oder Glied zum Ganzen ging und
verfolgte, wie sich die Vol ks wirthschaft aus diesen Gliedern heraus, gewUsermaasscn
in der Richtung von unten nach oben, entwickelt, muss jetzt umgekehrt das Ganze,
die Volkswirtschaft, zunächst ins Auge gefasst und ihre organische Structur
untersucht werden, um so das gl io d liehe Verhältnis der Einzelwirtschaften gegen-
über der Volkswirtschaft richtig festzustellen und die Umgestaltung der Glieder
durch das Ganze, dem sie angehören, kennen zu lerncu: eine Untersuchung gewisser-
maassen in der Richtung von Oben nach Unten. Daraus ergiebt sich dann erst die
wirklich volkswirtschaftliche (im Gegensatz zur bloss einzelwirthschaftlichen)
Function, welche jeder Gattung von Einzelwirtschaften und wieder jeder einzelnen
der letzteren im volkswirtschaftlichen Organismus übertragen ist.
Hinsichtlich dieses Organismus ist zuvörderst ein Irrthum zu
berichtigen, welcher gerade durch die Bezeichnung der Volkswirt-
schaft mit diesem Ausdrucke leicht erregt werden kann und auch
erregt worden ist: die Volkswirtschaft ist auch als „Organismus“
keineswegs bloss ein reines Naturgebilde. Ein solches, ein
„Naturproduct“ ist sie allerdings in einer Hinsicht, so gut
als das „Volk“ selbst. Sie wird wie dieses durch „Hunger und
Liebe“ zusammengehalten, verdankt in einer Beziehung wie das
Volk selbst Naturtrieben der Menschen, dem Trieb der Selbst-
erhaltung, dem Geschlechtstrieb ihre Existenz, ihre Fortdauer und
Weiterentwicklung. Aber so wenig als das „Volk“ ist auch die
Volkswirtschaft ein reines Naturgebilde, sondern sie ist zugleich,
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Volksw.sch. als Organismus u. Organisation.
771
wiederum ebenso wie jedes staatlich organisirte, durch seine Lehens-
geschichte erst entwickelte, zur Cultur nicht ohne Weiteres im
Laufe der Zeit „von selbst gekommene“, sondern absichtlich dazu
erzogene Volk, — ein Gebilde bewusster menschlicher That, ein
Kunstproduct. Menschliche, auf ein bestimmtes Ziel gerichtete,
planvoll durchgeführtc Willensacte geben der Volkswirtschaft ihre
bestimmt gewollte Gestalt, eine künstliche Organisation.
In den schönen Erörterungen über den volkswirthschaftlichcn Organismus
in s. System §. 13 tritt bei Roscher die Auffassung dieses Organismus als ein
Naturgcbilde doch noch zu stark hervor; daher wohl auch Roscber’s Festhalten
an dem irreleitenden Ausdruck „volkswirtschaftliche Naturgesetze“, den ich nach
v. Octtingen’s u. a. m. Erörterungen Uber statistische Gesetze jetzt auch glaube
aufgeben zu müssen (s. o. §. 86 — 91 über wirtschaftliche Gesetze).
Preusscns Volk und Preussens Volkswirtschaft sind treffende Belege,
wie dies für die letztere besonders G. Schinollerin s. historischen Aufsätzen über
Friedr. Wilh. L, Sybcl’s Zeitschr. 1873. über den preussischen Staat und die sociale
Frage, Preuss. Jahrb. 1874, in seinen neueren bezüglichen Arbeiten über die Ent-
wicklung der preussischen Volkswirtschaft in seinem Jahrbuch Band VIII ff. und
a. a. 0. dargelegt hat. Vergl. auch Roscher, Gesell, der Nationalökon., Kap. 16,
18, 19. Aber auch an alle anderen Culturstaaten , vielfach auch rühmend, ist zu
denken. Bei allen Fehlern im Einzelnen wird z. B. die gesammte Colbcrt’schc
Wirtschaftspolitik auch als Beweis gelten können, wie sehr bewusste, planvoll
durchgeführtc Willensacte eine Volkswirtschaft künstlich (im besten Wort-
sinn!), wenn auch nicht schaffen, wohl aber zur Blüthe bringen, „erziehen“,
indem sie aus dem tauschwirthschaftlichcn Naturgcbilde der Volkswirtschaft ein
Kunstproduct machen. Dies hat Fr. List in seinem nationalen System richtig erkannt
und grossartig entwickelt und begründet. Vergl. Cohn ’s Aufs, in der Tüb. Ztschr.
über Colbert, nach den neuern Qucllenwerken, B. XXV u. XXVI. Lehrreiche Aus-
führung obigen Gedankens in der Schrift von A. Freiherrn v. Dumrcichor, über den
französ. Nationalwohlstand als Werk der Erziehung. 1. Studie. Wien, 1879, bes. in
Bez. auf Kunst und Kunstindustric. Auch Farnham, innere französ. Gewerbepolitik
von Colbert bis Turgot, in Schmoller’s Forschungen 1878. Weiteres bes. in der Prac-
tischcn Nationalökonomie, namentlich in der Gewerbe- und Handelspolitik.
In der früheren Bezeichnung der Volkswirtschaft als Inbegriff der Einzelwirt-
schaften eines staatlich organisirten Volks (§. 119) und in den Bemerkungen über
die Ausbildung der concreten Volkswirtschaften unter dem Einfluss des concreten
Staats (§. 151 S. 359) ist diesem Character der Volkswirtschaft als Kunstproduct
oder, was dasselbe besagen will, als „S taats Wirtschaft“ (in diesem Sinuc des
Worts) auch bereits gebührend Rechnung getragen. Es geschieht dies noch prin-
cipieller, wenn die Volkswirtschaft nicht nur als Organismus, sondern zum Theil
wenigstens, als menschlich gewollte und von Menschen künstlich absichtsvoll und
planmässig gemachte Organisation zur Bedürfnisbefriedigung des Volks aufgefasst
wird. Die Bezeichnung als Organismus lässt dann mehr die natürliche Seite, im
strengen Sinne des Worts, hervortreten, ncmlich das Wesen der Volkswirtschaft, ein
aus Naturtrieben hervorgehendes Naturgcbilde zu sein; dasjenige Moment, welches
die physiokratisch- Smith sehe Nationalökonomie fast allein beachtet hat, wobei sie
aber nicht einmal die Eigenschaft der Volkswirtschaft als eines natürlichen Orga-
nismus gehörig zur Geltung brachte, sondern aus dem organischen Naturgebilde ein
blosses äusscrlich mechanisches Nebeneinander von Einzelhaushalten machte. Die
Bezeichnung als Organisation berücksichtigt anderseits das Moment, welches in
dieses Naturgebilde mit bewusster menschlicher Absicht planvoll hinein getragen
worden ist: das Moment selbst organsirender menschlicher Thätigkeif, durch welches
die Volkswirtschaft aus einem Naturproduct des blossen menschlichen Trieblebens
ein menschliches, vernunftgemäss cs Kunstproduct wird.
772
5. B. Organis. d. Volksw-sch. 1. K. Princ. u. Syst. §. 300.
Gerade die Volkswirtschaften der eigentlichen Culturvölker
tragen diesen Charakter einer künstlichen Organisation nachweis-
bar an sich und entwickeln ihn im Laufe der Geschichte immer
mehr.
S. schon oben bes. S. 359 ff. Die Bildung des Verkehrsrechts, die Ent-
stehung von Wiithscbaften des caritativen Systems und von Gemein wirth-
schaften aller Art, die stets mehr oder weniger, immer sehr bedeutsam eingreifende
Regelung der Volkswirtschaft durch den Staat und die immer umfassendere und
inhaltreichere directc Thätigkeit des Staats in der Volkswirtschaft, — alle diese
Momente machen aus dem Naturgebilde „Volkswirtschaft“ mehr und mehr ein
menschliches Kunstgebilde. Man muss in sehr primitive Lebensverhältnisse der
Culturvölker zurückgehen oder bei sehr rohen, wahrscheinlich auch wenig entwick-
lungsfähigen Völkern Umschau halten, wenn man wirklich Volkswirtschaften finden
will, welche wenigstens ei nigo rmaassen (wörtlich überhaupt kaum je) reine
Naturproducte, roino und blosse Tauschverbindungen der Individual- oder
Familien wirtschaften sind, wo nur der „Markt“ das Organ der Verknüpfung ist
(Prince-Smith, s. u. §. 313).
Aus dieser Auffassung der Volkswirtschaft als künst-
liche Organisation folgt u. A. der wichtige Schluss, dass ein
häufiger Einwand gegen alle sogen, „socialistischen“ Pläne
einer künstlichen Organisation der Volkswirtschaft oder,
wie es von dieser Seite gewöhnlich bezeichnet wird, einer „Organi-
sation der Arbeit“ (L. Blanc) in einer Hinsiebt wenigstens
hinfällig wird: nemlich der Einwand, dass ein derartiges Streben
nicht nur schädlich, sondern auch schlechterdings widersinnig
sei, weil es sich auf etwas Unmögliches richte. In vollster
Uebereinstimmung mit aller Erfahrung muss man vielmehr ein-
räumen, dass gerade die Volkswirtschaften der Culturvölker stets
mehr oder weniger künstliche Organisationen sind.
Auf dem hier abgewiesenen Standpunct stehen z. B. die deutschen Freihändler,
wie L. Bamberger in der Polemik gegen Socialismus und gegen Alles, was sie
damit zusammen werfen, s. dessen Deutschland und der Socialismus, z. B. S. 34 : „die
gegenwärtige Betrachtung geht von der Voraussetzung aus, dass die communistiscbe
Weltanschauung auf Unsinn beruht.“ Der bequemste, aber auch der flachste Stand-
punct. — Auch diejenigen, welche sich in dem überhaupt völlig unhaltbaren Gegen-
sätze zwischen „Staatshilfo“ und „Selbsthilfe“ in der socialen oder Arbeiter-
frage immer heftig auf die Seite der alleinigen Selbsthilfe schlagen, begehen den
Fehler, anzunehmen, als ob überhaupt eine einigermaassen entwickelte Volkswinh-
sebaft nicht immer ein mehr oder weniger künstliches Gebilde wäre, d. h. eben ein
solches, welches durch „Staatshilfe“ und nicht „von Natur“ so ist, wie es die
Gegner der Staatshilfe gerade im Moment, wo sie argnmentiren , vor Augen haben.
(S. schon meine Rede über die sociale Frage, aus 1871, S. 11 ff.)
II. — §. 300 [116a]. Die drei Organisationsprincipien
in der Volk s wi rtb s ch aft. — Die Organisation der Volks-
wirtschaft beruht nun auf drei verschiedenen Principien.
Auf einem jeden derselben beruht wieder je ein besonderes Wirt-
schaftssystem, in welchem die dazugehörigen Einzelwirthschaften
vornemlich, doch nicht ausschliesslich, nach dem betreffenden Princip
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Die drei Organisationsprincipien.
773
fungiren. Durch zweckbewusste menschliche That werden dann
diese drei Wirtschaftssysteme zur Gesammtorganisation der ganzen
Volks Wirtschaft verbunden. Diese Principien, bez. Systeme, welche
oben (§. 115) bei der Uebersicht der dem Einzelnen zugänglichen
Erwerbsarten wirtschaftlicher Güter schon kurz berührt wurden,
sind das privatwirthschaftliche oder „indivi dualistische“
(„speculative“, Schäffle), welches von der früheren National-
ökonomie meistens allein betrachtet und mitunter selbst als das
schlechtweg „wirtschaftliche“ und demnach auch in der Volks-
wirtschaftslehre allein zu würdigende aufgefasst worden ist,
ferner das gemein-, namentlich zwangsgemeinwirthschaft-
liehe oder „communistisch-socialistische“ und das
caritati ve.
Vergl. Schäffle au den in den Vorbemerkungen §. 297 genannten Stellen,
worauf ein für allemal zum Vergleich mit der Darstellung im Texte verwiesen wird.
Ich citire im Folgenden nur einzelne mir wichtiger erscheinende Formulirungen und
Ausführungen dieses hervorragendsten hicher gehörigen Autors. S. sein Gesellsch.-
System, 8. Aufl. I, 24: speculative, d. i. vom Privatint ercssc des Kapitals
getragene (letztres wohl eine etwas zu enge, zu einseitig moderne Formulirung: das
Privatintcresse des Kapitals tritt doch z. B. im Interesse des kleinen selbständigen
bäuerlichen oder industriellen Unternehmers sehr wenig hervor). Die anderen beiden
Organisationen „wirksamster Bedürfnisbefriedigung“ nennt er hier: die öffentliche
oder staatlich-corporativc, auf obrigkeitlicher Gewalt beruhende (also enger
als die im Text genannte gemeinwirthschaftlichc, wesentlich der dort ht-rvorgehobenen
zw an gsgemeinwirthschaftiichen entsprechend, vergl. jedoch auch 3. Aull. II, 103 ff.);
sodann die von freier Hingebung, Liberalität bewirkte Organisation. Die
diesem letzteren Zweck dienenden Einzel wirtschaften reiht Schäffle II, 104 zu den
freiwillige Verbindungen darstellenden Gemeinwirthschaftcn , welche auf ein-
seitiger Liberalität beruhen, denen er dann als zweite Abtheilung die auf wechsel-
seitiger (solidarischer) Hingebung der Glieder aneinander beruhenden freiwilligen
Verbindungen hinzufügt (Wecbselseitigkeitsvcreine u. s. w.). Diesen freiwilligen Ver-
bindungen stellt auch er als zweite Hauptart der Gemeinwirthschaftcn die Zwangs-
vetbindungen, Staat, Gemeinde, Corporationcn aller Art gegenüber. Schäffle’s und
meine Classification stimmt also im Wesentlichen, aber nicht ganz überein. Ich lege
bei der meinigen besondres Gewicht auf das Vorwalten des einen oder anderen Mo-
tivs und der der Bildung des Systems zu Grunde liegenden Potenz. Die Wirt-
schaften des caritativen Systems haben oft gewisse Aehnlichkeit mit gewissen freien
Gemeinwirthschaftcn und umgekehrt (z. B. Kirchen), aber die hauptsächlich leitenden
Principien sind doch verschieden: dort nicht an sich, sondern zunächst an Andre
denken, hier, bei den freien Gemeinwirthschaftcn, auch z. B. bei Wcchselseitigkeits-
vereinen, wie etwa Gegcnseitigkeits- Versicherungsanstalten, doch umgekehrt: zuerst an
sich, dann an Andre denken. So gestaltet sich wenigstens der Unterschied, wenn
man von dem freilich nicht fehlenden egoistischen Motiv, z. B. in den caritativen
Leistungen nach der katholischen Lehre von den guten Werken, absieht, was hier
wenigstens zulässig ist, sondern an das Walten des fünften Leitmotivs, Pflichtgefühl
(§. 45) denkt. — Ausserdem lege ich für die Unterscheidung der drei Systeme be-
sondres Gewicht, mehr und zum Thcil verschieden von Schäffle, auf die ver-
schiedenen Principien der Entgeltlichkeit der Leistungen. Vgl. jetzt auch
Schäffle, Soc. Körper III, 365 tf.
Die Bezeichnung des privatwirthschaftlichcn Princips als des „individualistischen“,
des gemein- bes. zwangsgemcinwirthschaftlichen als des „communistisch-socialistischcn“
entspricht der in §. 293 11. festgestcllten Terminologie und hebt den principioll ge-
774
5. B. Organis. d. Volksw.scb. 1. K. Princ. u. Syst. §. 300.
scllschaftswisscnscliaftlichcn, nicht nur den wirtschaftswissenschaftlichen, Gegen-
satz noch schärfer hervor.
Ich glaube trotz aller mir grade wegen dieser Terminologie gewordenen Poiemii
an derselben festhalten zu sollen.
Die Fassung im Text habe ich gegen die 2. Aufl. (S. 204) etwas geändert,
doch nur wenig, womit, glaube ich, den Einwendungen von Gross genügend Rad-
sicht getragen wird. Derselbe spricht statt von Organisationsprincipien. von Wirt fa-
se haftsprincipien (s. s. oben S. 766 gen. Schrift, S. 121 IF.), denen er dieselben
Namen wie ich giebt, aber denen er als ein besonderes Princip noch das eirec-
wirthschaftlichc für die Wirtschaft mit blosser Eigengewinnung der Güter voranstellt
(s. o. §. 115, S. 293). Den Ausdruck Wirtschaftssystem in dem von mir gebrauchten
Sinne vermeidet Gross. Er handelt dafür von ,.Wi rthschaftsform en*\ — E. Sai
(s. bes. Abschn. 1 seiner Grundlegung) gliedert die Erscheinungen in der Volks-
wirtschaft durchweg in die des Individualismus und C ol lec tivismus, in
trelflichen, tiefgründigen Erörterungen, aber doch im Ergcbniss weniger als in der
Fassung von mir abweichend.
Der Unterschied der drei Principien ist ein psychologischer,
welcher auf die Verschiedenheit der das wirtbschaftliche Handeln
bestimmenden Motive zurttckgeht. Am Deutlichsten ist das bei
dem ersten und bei dem dritten Princip. Aber auch bei dem
zweiten, dem gemeinwirthschaftlichen, handelt es sich bei der Ver-
schiedenheit von den beiden anderen mit um Unterschiede der
Motivation. Diese verschiedenen Motive führen in den drei Wirt-
schaftssystemen, welche sich an die drei Principien anknüpfen,
zu verschiedenen Grundsätzen der Entgeltlichkeit der
hergestellten und den Bedürftigen zugeführten Güter (Sachgüter,
Dienstleistungen). Damit hängen dann wieder verschiedene Me-
thoden der Kostendeckung, zum Tbeil auch der Her-
stellung und namentlich der Zuführung dieser Güter an die
Bedürftigen zusammen.
Diese verschiedenen Methoden treten am Schärfsten in denjenigen Fällen hervor,
wo jedes der drei Organisationsprincipien rein zur Geltung kommt. In der Wirklich-
keit zeigen sich aber Vermischungen der Principien, in Verbindung mit Com-
binationen verschiedener Motive, daher namentlich nicht immer rein diejenige Art der
Entgeltlichkeit der Leistungen und der Kostendeckung dafür, welche dem einzelnen
Princip entspricht.
Die Verschiedenheit der Production der Güter (Leistungen) in
den drei Wirtschaftssystemen, der Zuführung an die Bedürftigen,
der Methoden der Kostendeckung hängt aber teilweise auch mit
der ganzen technischen Natur der in Frage stehenden Güter
zusammen, so namentlich im gemeinwirthschaftlichen System;
ferner mit der ökonomisch-technischen Construction der-
jenigen Einzelwirtschaften, welche die bezügliche Production und
Zuführung dieser Güter besorgen, so abermals namentlich im
gemeinwirthschaftlichen System.
Das psychologische Diflcrenzmoment in der Motivation ist immer erkannt
worden, so auch von Sc büffle, von Sax, Gross und den anderen Schriftstellern,
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Die drei Organisationsprincipicn.
775
welche sich mit dem Problem von Egoismus und Altruismus in der Nationalökonomie
und Sociologie beschäftigten (Dargun, H. Dietzel u. A. in.). Yorgl. bes. Sax,
Wesen und Aufgaben der Nationalökonomie und Grundlegung, namentlich Abschn. I.
Auch in meiner Behandlung der Frage in den ersten Auflagen habe ich dieso psy-
chologische Seite vornemlich betont. Aber das angeführte ökonomisch - technische
Difierenzmoment ist von den anderen Autoren bisher nicht genügend, z. Th. gar nicht
weiter berücksichtigt, und auch von mir früher, obwohl cs mir mit rorschwobte und
ich es andeutete (2. Aufl. S. 205), doch nicht klar und scharf genug hervorgehoben
worden.
A. Das privat wirtschaftliche Princip beruht auf dem
ersten Leitmotiv wirtschaftlichen Handelns, dem Streben nach
dem eigenen wirtschaftlichen Vorteil, der möglichst strengen
Verwirklichung des ökonomischen Princips (§. 34 ff., 28). In der
Wirklichkeit tritt freilich häufig dieses Motiv in Combination mit
anderen Motiven (§.30 ff.), insbesondere mit den übrigen egoistischen
(§. 37 ff.). Soweit dies der Fall, kommt auch das privatwirth-
schaftliche Princip nicht rein zur Geltung. Wo und soweit als
es wirkt, erfolgt die specielle Entgeltlichkeit von Leistung
und Gegenleistung nach einem vereinbarten Interessenausgleich
zwischen denen, welche Güter austauschen, wobei jede Partei ihr
eigenes Interesse soweit als möglich — d. h. als es die sittliche
Auffassung und die Rechtsordnung zulässt — verfolgt. Das Princip
der Regulirung ist die Concurrenz, das ökonomische Ge-
setz der Reguliruug das Gesetz von Augebot und Nach-
frage im freien Verkehr, die Rechtsform der Regulirung ist
der Vertrag, das Ergebniss der Reguliruug ist der Vertrags-
oder Concurrenz-Preis des Gutes.
Einzelwirthschaften, welche so und soweit sie so ver-
kehren, Güter producircn, absetzen, den Productionsertrag ver-
theilen, datür die Güter, den Entgelt, die Kostendeckung erzielen,
heissen Privatwirtschaften; einzelwirthschaftliche Acte, Vor-
gänge, welche so erfolgen, sind privatwirthschaftlichc, daher, im
gegebenen Falle, auch wenn sie von Gemeinwirthschaftcn und cari-
tativen Wirthschaften (im „Privaterwerb“ beider) ausgeben (§. 335).
Das pri vatwirthschaftliche System in der Volkswirt-
schaft ist dasjenige, in welchem die Production (Beschaffung), die
Verteilung des Productionsertrag» unter den mit Arbeit und Güter-
besitz au der Production betheiligten Personen (§. 263) und die
Zuführung der Güter an die Bedürftigen nach dem privatwirth-
schaftlichen Princip erfolgt.
B. Das gemeinwirthschaftliche Princip ist die Consequenz
von Zwecksetzungen in grösseren und kleineren menschlichen
776 5. B. Organis. d. Volksw.sch. 1. K. Princ. u. Syst. §. 300.
Interessen-Gemeinschaften. DieseD Zwecksetzungen liegen bewusst
und unbewusst die verschiedenen, für das menschliche, auch wirt-
schaftliche Handeln maassgebenden Motive (Buch 1, Kap. 1) zu
Grunde. Sie erfolgen freiwillig, durch Vertragsschluss der
interessirten Mitglieder der zwecksetzenden Gemeinschaft, so bei
den unten sogenannten „freien“ Gemeinwirthschaften; zwangs-
weise, — wenigstens eventuell und soweit als nöthig — durch
eine zwecksetzende Autorität, welche durch die Majorität
der Mitglieder oder — der geschichtlich regelmässige Fall — durch
die überlegene Einsicht, und Macht auch einer Minorität,
selbst eines Einzelnen gebildet sein kann, in den unten so-
genannten Zwangs gemeinwirthschaften.
Bei der Bildung, Einrichtung und Function dieser Gemeinwirthschaften wirken
die verschiedenen, im 1. Buche analysirten Motive in mancherlei verschiedener Weise
und Combination ein, was zum Verständniss des gemeinwirthschaftlichen Princips
selbst zu beachten ist. Das Motiv des wirthscbaftlicheu Vortheils, aber immerhin
etwas moditicirt durch sociale Rücksichten , welche mit einzelnen Seiten und Formen
der anderen egoistischen Motive, und auch mit dem unegoistischen fünften Leitmotiv-
Zusammenhängen, kommt bei den freien Gemeinwirthschaften vornemlich zur Geltung.
Jenes erste Leitmotiv fehlt auch nicht bei den Zwangsgemeinwirthschaften , nur dass
hier bei den erst durch Zwang sich fügenden Mitgliedern das zweite Leitmotiv (Furcht
vor Strafe), bei allen das dritte (Ehrgefühl u. s. w.) und das fünfte (Pflichtgefühl)
mitspielen kann und meistens wird. Bei den Vertretern der Autorität in dieser
Zwangsgemeinwirthschaft ist das erste Leitmotiv regelmässig mit vorhanden, wenn
auch nicht immer klar bewusst und gefühlt, aber das dritte, vierte und fünfte stehen
eventuell voran oder bilden wenigstens insgesammt eine mächtige Triebfeder neben
dem ersten Motiv.
Das gemeimvirthschaftliehe Princip besteht dann darin, dass
auch die Production, die Verkeilung des Productionsertrags, die
Zuführung der Güter an die Bedürftigen, die Kostendeckung und
die Gestaltung der Entgeltlichkeit nach denjenigen Grundsätzen,
daher in derjenigen Art erfolgen, welche sich als Conseqtienzen der
angenommenen, den gesellschaftlichen Glaubenssätzen
(Axiome) über das richtige Sein-sollen (§. 265) ent-
sprechenden Zwecke der Gemeinschaft ergeben.
Nicht der einzige, aber ein Hauptzweck der Gemeinschaften
ist die Fürsorge für die Befriedigung von Gemeindebedürfnissen
unter den Mitgliedern der Gemeinschatt (§. 324 ff.. 341), daher die
Uebernahme der Production der für die Befriedigung dieser Bedürf-
nisse dienenden Güter (der „Gemeingüter“), die Regelung der
Vergütungen für die an dieser Production mit Arbeit Betheiligten
und die Zuführung der Güter an die Einzelnen. Hier kann dann
von der Richtschnur des privatwirthschaftliehen Princips, wie auch
der caritativen, mehr oder weniger, eventuell vollständig in Bezug
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Die drei Organisationsprincipicn.
777
auf die Kostendeckung der Production, die Vergütung der Produ-
centen, die Güterzufübrung an die Bedürftigen, und die Entgeltlich-
keit der den Bedürftigen zugeführten Güter abgesehen werden, indem
die Kostendeckung, die Vergütung der Producenten, die Bezahlung
der Güter nach and e ren, für richtig, zweckmässig, gerecht, billig,
social günstiger wirkend geltenden Normen erfolgt (§. 335). Ein
solches Absehen und Vorgehen nach solchen anderen Normen, be-
sonders bezüglich der Güterzuführung, Kostendeckung und Ent-
geltsregelung, muss aber auch nach der technischen Natur
vieler und gerade der wichtigsten Gemeingüter für Gemeinbedürf-
nisse (Rechtsschutz u. s. w.) und nach der noth wendigen öko-
nomisch-technischen Construction der dabei fungirenden
Gemeinwirthschaften erfolgen (§. 348, 349). Das gerade hier zur
hohen Bedeutung gelangende, vorerwähnte Moment. Wenn und
soweit als dies geschieht, sprechen wir von der Regelung dieser
Verhältnisse nach „ gemein wirthscha ft liebem“ Princip.
Vornemlich erfolgt hier die Kostendeckung der Production
und die Bezahlung der Güter durch die Empfänger, bezw. die Be-
dürftigen nach Normen, welche, im Unterschied von der vertrags-
mässig festgestellten „speciellen Entgeltlichkeit“ im privatwirth-
schaftlichen System, wohl als solche der generellen Entgeltlich-
keit bezeichnet werden können. D. h. die Kosten werden nach
autoritativ festgestellten Grundsätzen auf die an der Gemein-
wirthschaft überhaupt oder an den betreffenden Leistungen als
Empfänger betheiligten Mitglieder verth eilt oder es wird ein-
seitig durch die Autorität die Art und Höhe des Entgeltes für
die Leistung bestimmt. Im ersten Falle gelangt man in den
Zwangsgemeinwirthschafteu zur (allgemeinen, eigentlichen) Be-
steuerung, in freien Gemeinwirthschaften zur Regelung der all-
gemeinen Beiträge (§. 349); im zweiten Falle bei beiden Kate-
gorieen zum Gebührenwesen.
Einzelwirtschaften, welche, bezw. wenn und soweit als
sic nach diesem gemeinwirthschaftlichem Princip verfahren, ins-
besondere in den hervorgehobenen Fällen, können Gemeinwirth-
schaften heissen.
Das ge mein wirtschaftliche System in der Volks-
wirtschaft ist dann dasjenige, in welchem die Production, Ertrags-
vertheilung und Güterzuführung an die Bedürftigen nach diesem
gemeinwirthschaftlichen Princip erfolgt.
C. Das caritative Princip endlich ist dasjenige, in welchem,
778 5. B. Organis. d. Volksw.sch. 1. K. Princ. u. Syst. §. 301.
wenigstens nach dem zu Grunde liegenden Ideal, die egoistischen
Motive des wirtschaftlichen Handelns, insbesondere bei den
gebenden Subjecten das erste Leitmotiv des wirtschaftlichen
Vorteils, durch freie sittliche That, ohne äusseren Zwang über-
wunden werden und an ihre Stelle gewisse Formen und Arten des
fünften Leitmotivs, des Triebs des inneren Gebots zum sittlichen
Handeln auch auf wirtschaftlichem Gebiete treten (§. 45).
Die Kostendeckung der Production, der Entgelt für die Güter (Leistungen) bei
den Empfängern erfolgt hier nicht privatwirthscbaftlich, aber auch nicht gemeinwirth-
schaftlich: die Kostendeckung bei ganz unentgeltlich gegebenen Gütern freiwillig aus
sonst zur Verwendung stehenden Mitteln der Geber, wobei etwaige Regeln und Normen
der Beitragsleistung (wie in Arinenverciuen) wiederum des Zwangscharacters der Steuer
oder der als Bedingung des Beitritts normirten Beitragsloistung bei der freien Gemein-
wirthschaft entbehren; die Kostendeckung bei nicht voll von den Empfängern ver-
goltenen Gütern erfolgt nur mit durch den als Gegenleistung gegebenen Entgelt. Ob
und wie aber überhaupt ein Entgelt von den Empfängern der Güter verlangt und er-
hoben wird, bestimmt sich wesentlich nach Rücksichten auf die wirtschaftliche Lage,
sittliche Beschaffenheit (Würdigkeit) der Empfänger, wobei das für richtig gehaltene
Bedürfnissmaass das Kriterion für die Entscheidung mit abgiebt.
Einzelwirthschaften, daher auch Privat- und Gemeinwirth-
schaften in gewissen Fällen, welche und wenn und soweit als
sie naeh diesem caritativen Princip Vorgehen, können caritative
Wirtschaften genannt werden. Dabei lassen sich allenfalls active
derartige, die gebenden, und passive, die empfangenden, unter-
scheiden. Die Wirtschaft der einzelnen physischen Person
wird gewöhnlich nur höchstens teilweise eine solche active carita-
tive Wirtschaft sein. Dagegen können ad hoc Vereins-, Corporations-
wirthschaften gebildet werden und wesentlich ganz als solche
fungiren : ein gerade hier practisch wichtiger Fall, Stiftungs-
wesen u. dergl.
Das caritative Wirtschaftssystem in der Volkswirt-
schaft ist dann dasjenige, wo die Kostendeckung, Einkommen-
verwendung und Regelung, Güterzuführung nach diesem caritativen
Princip erfolgt.
Im Vorausgehenden ist gegenüber der 2. Aull. (S. 203, 206) eine neue Fassung
erfolgt, womit die im 1. Buche begründete Motivationsthcoric auch hier zur Ver-
werfung gebracht werden sollte. Zugleich wünschte ich so einigen Einwendungen
meiner Kritiker, Gross, Cohn, Sax die gebührende Rücksicht zu tragen.
III. — §. 301 [1 IG Schluss, 117 — 119]. Verbindung der
drei Wirtschaftssysteme in der Volk swirthsc ha ft
und Wechsel in dieser Verbindung. Kaum auch nur denkbar,
geschweige geschichtlich vorgekommen, ist eine Volkswirtschaft,
welche ausschliesslich auf einem und selbst nur ausschliess-
lich auf zweien dieser Organisationsprincipien beruht, sondern
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Verbindung der Wirtschaftssysteme.
779
immer besteht eine C o m binati on der letzteren, nur mit wechseln-
der Stellung und Bedeutung jedes Princips. Das Ganze der
Volkswirtschaft beruht eben auf dieser Combination und die Volks*
Wirtschaften in ihrer geschichtlichen Entwicklung und diejenigen
verschiedener Völker erhalten durch diese wechselnde Combination
ihre Eigenart.
Die blossen Tauschverkchrsverbindungen ganz roher Völker könnten allenfalls
als Beispiel von Volkswirtschaften rein privatwirthschaftlichcn Characters
gelten. Aber hier wird man eben noch kaum von Volkswirthscbaft sprechen
können, oder es wird wenigstens irgend eine, wenn auch noch so rohe staatliche
Organisation vorhanden sein müssen. Damit ist alsdann aber schon der üebergang
aus dem rein privatwirthschaftlichen Zustande in den gemciriwirthschaftlichcn (auch
mit Zwangslcistungen , Diensten, Naturalabgaben, Steuern an ein Staatsoberhaupt) ge-
macht. — Ein Beispiel eines wesentlich gemein wirtschaftlichen Zustands
einer Volkswirthscbaft könnte in jenem Paraguay 'sehen Jesuitenstaate gefunden
werden. — Jede weitere Ausdehnung der Staats- und Gemeindethätigkeit, die Ueber-
nalimc der grossen Anstalten des Verkehrswesens auf den Staat, der Gas- und Wasser-
werke u. dgl. in. auf die Gemeinde mit den Folgen für die Gestaltung der Production,
für die Ilegelung der Vertheilung des Productionscrtrags (Besoldungswesen im öffent-
lichen Dienst, statt Lohnwesen nach dem privatwirthschaftlichcn Marktprincip), für
die Regelung der Preise und damit der Entgeltlichkeit (Tax-, Tarifwesen), wie ander-
seits aber auch (gegen G. Cohn festzuhalten) jenes altrömische System der Getreide-
vertbeilung mittelst Ausbeutung der Provinzen in Form unentgeltlicher Gaben an die
Bürger u. s. w. kommt auf das stärkere Ilervortrcten des gemoinwirth-
scha ft liehen („com m un ist i sehe n“) Characters in der Volkswirthscbaft hinaus.
— Die umfassende Organisation der kirchlichen Armenpflege im Mittelalter und
z. Th. in der katholischen Kirche noch heute hat den Volkswirtschaften ihrer
Heimatländer einen stärker caritativen Character gegeben.
A. Unzulänglichkeit und Beschränktheit der An-
wendung und der Function jedes einzelnen Systems
für sich.
1. Das privatwirthschaftliche, auf reine und volle
Wirksamkeit des einzelwirthsehaftlicben Selbstinteresses im Verkehr
gegründete System, kann aus sich selbst heraus für viele
Güter und Bedürfnisbefriedigungen gar nicht oder nicht genügend
sorgen und fungirt auf seinem Gebiete vielfach so, dass seine Er-
folge einer Corrcctur bedürfen.
Für eine grosse und unermesslich wichtige Art von Bedürfnissen, nemlich für
die wichtigsten Ge in ei n b ed U rf n issc, kann es teils nur ungenügend, grossentheils
jedoch gar nicht die erforderlichen, zur Befriedigung dieser Bedürfnisse dienenden
Guter, die Gemeingüter, beschallen (§. 352 lf). Namentlich vermag cs aus sich
selbst heraus die ihm selbst unentbehrliche Rcchtsordn ung und Kechtsbasis
seines Verkehrs weder ordentlich herzustellen, noch zu erhalten. Vielmehr ist
die Herstellung und Erhaltung seiner Rechtsordnung, insbesondere durch den Staat,
erst die Voraussetzung der Entwicklung und des Gedeihens des privatwirth-
schaftlichcn Systems selbst.
Das wird sogar von den unbedingtesten Anhängern des möglichst rein privat-
wirthschaftlichcn Characters der Volkswirthscbaft, von der französischen und deutschen
Bastiat sehen Schule. Princc-Smith u. A. m. offen anerkannt: der Staat ist auch
ihnen der nothwendige Beschützer ..gegen Vergewaltigung“ (Pri nee -Smith, Art.
Handelsfreiheit in Roitzsch’ Handwörterbuch), und der Rcchtssch utzzw e c k der
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4
780
5. B. Organis. d. Volksw.sch. 1. K. Princ. u. System. §. 301.
I
Kant 'sehen Rechtsphilosophie und Staatslehre auch von ihnen gebilligt: der Staat,
der „Produccnt von Sicherheit“. Aber der Staat (d. h. eben das gemein wirthschaft-
licho System in seinem wichtigsten Vertreter, s. Buch 6) erscheint hier doch in der
That als deus ex machina und diese seine alleinige Function konnte Lassalle mit
Fug mit dem berühmten geflügelten Wort vom „Nachtwächterdienst“ verspotten (§. 383).
Ebensowenig bietet das privatwirthscbaftliche System eine Bürgschaft dafür, dass
der Verbrauch derjenigen Gemeingüter, welche es etwa selbst herzustellcn vermag,
in befriedigender Weise allen Bedürftigen ermöglicht werde. Ueberall muss hier das
gemein wirtschaftliche System daher zum Ersatz und zur Ergänzung des privat-
wirthschaftlichen cintreteu. Auch die Beschaffung und Verkeilung derjenigen Güter,
welche im Allgemeinen passend vom privatwirthschaftlichen System hergestellt werden,
ncmlich der grossen Masse der Sachgüter und immerhin auch vieler persön-
licher Dienste, erfolgt in diesem System aber nicht leicht völlig genügend nach
den Interessen der Gcsammthcit. Das gemcinwirthschaftliche System muss auch hier
corrigirend, Härten und Unbilligkeiten, welche das Walten des wirtschaftlichen
Selbstinteresses hervorruft, ausgleichend hinzutreten: d. h. namentlich an den Auf-
gaben richtiger Regelung der Vertheilung theilnchmcn, welche im 2. Kapitel
des vorigen Buchs behandelt worden sind (§. 269 ff.). (S. u. §. 332 ff., 341.)
2. Umgekehrt kann aber das gemeinwirth Schaft liebe
System, nach der wirthsehaftlichen Natur der Menschen, nach der
Motivation des wirthsehaftlichen Handelns (Buch 1, Kap. 1), nach
psychologischer Analyse und nach aller bisher vorliegenden Er-
fahrung, nur in bestimmten Fällen, namentlich den soeben
angedeuteten, passend und erfolgreich das privatwirthschaftliche
System in der Volkswirthschaft ersetzen und sonst in geeigneter
Weise ergänzen.
Den ganzen Ilerstellu ngs- und Vcrtheilun gspro cess der wirthschaft-
lichcn Güter, namentlich auch der grossen Masse der Sachgüter, nach den Ideen und
Zielen des extremen Socialismus (§. 294) gemeinwirthschaftlich und vorncmlich
zwangsgemeinwirthschaftlich von oben aus durch den Staat regeln und führen
zu wollen, hiesse unerhörte und wahrscheinlich für immer unerfüllbare Zumuthungen
an die Intelligenz, Gewissenhaftigkeit und ökonomische und technische Leistungs-
fähigkeit der leitenden Organe an der Spitze der Gemeinwirthschaftcn stellen. Aus
Einrichtungen, wie die Staatspost und andere Verkehrsanstalten, auch selbst wohl
wie das Militär wesen haben socialistische Stimmon öfters zu weitgehende Schlüsse
hinsichtlich der Leistungsfähigkeit einer gemcinwirthschaftliclien Organisation der
Production gezogen. Uebiigens kann man auch in solchen Auffassungen wohl einen
„erdigen Beigeschmack der Theoricen“ (Knies) finden: in Deutschland z. B. ist
das Vertrauen in die allgemeine Leistungsfähigkeit des Staats seit den grossen
Jahren 1864, 1866, 1 ST 0 ungemein gewachsen, was sich in manchem Urtheil über
volkswirthschaftspolitische Fragen, z. B. Staatsbahnen, Staatsbanken (Preussische Bank!)
deutlich zeigt. — Es würde durch diese maasslosc Ausdehnung der Gemcinwirthschaft
auch die individuelle Freiheit in unerträglicher Weise beschränkt. Darin liegt
die Schwäche aller bisherigen socialistischcn Systeme; man darf auch wohl sagen
die dem Socialismus inhärente Schwäche, welche die socialistischcr Theo-
retiker (die practischen Agitatoren selbstverständlich!) zu wenig beachten. Jede
gemein wirtschaftliche Organisation hat ein communistisch-sociatistisches Element und
bringt daher auch die hier erwähnte Gefahr mit sich. (Freilich darf man auch hier
nicht übertreiben. Vortrefflich weist Schäffle (Soc. Körper III, 540) die über-
triebenen Befürchtungen wegen der individuellen Freiheit bei mehr socialistischcr Orga-
nisation der Volkswirthschaft ab). Auch die berechtigte Function des wirt-
schaftlichen Selbstinteresses als einer auch im Gesa mmtin tcrosse höchst
wirksamen Potenz würde zum Nacht heil der Gesammtheit, also nicht nur der
Einzelwirtschaften, sondern der Volkswirthschaft unwirksam gemacht (§. 2S3).
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Verbindung der drei Systeme.
781
Somit kann es sich nur um die richtige organische Verbindung
des privat- mit dem gemeinwirthschaftlichen System für das wahre
Gedeihen der Volkswirtschaft handeln. Principiell ist nur anzu-
erkennen, dass die Art dieser Verbindung, daher der Functionen
beider Systeme in der Volks Wirtschaft, keine ein für allemal
v 7
(„principiell“) festgegebene, sondern eine geschichtlich-wechselnde
ist. Auch ist einzuräumen, dass hierbei die practische Bewährung
jedes Systems im concreten Fall eine entscheidende Bedeutung
hat und dass die Technik der Production hier ein gewichtiges
Wort mitspricht. Die moderne Technik (Dampf!) und die Not-
wendigkeit des Grossbetriebs aus Ökonomisch -technischen Rück-
sichten führten bereits und führen wohl immer mehr zu einer
absoluten und relativen Ausdehnung des gemein-, auch des zwangs-
gemeinwirthschaftlichen Systems auf Kosten des privatwirthschaft-
lichen, selbst in der Sachgüter-Production.
3. Aber auch selbst bei der glücklichsten, d. h. bei einer den
Anforderungen der Zeit und des Ortes am Vollkommensten ent-
sprechenden Combination des privat- und gemeinwirthschaftlichen
Systems ist eine weitere Ergänzung dieser beiden Systeme durch
das caritative nicht zu entbehren. Die Begründung der Volks-
wirtschaft ausschliesslich auf dieses System kann freilich schon
aus psychologischen, aus der Motivation des wirtschaftlichen
Handelns entspringenden Gründen nicht ernstlich in Frage kommen
und nicht einmal als ideales Ziel hingestellt . werden (§. 45 ff.).
Denn gegen allgemeine unentgeltliche Erlangung wirtschaftlicher
Güter erheben sich auch gewichtige sittliche und ökonomische Be-
denken vom Standpuncte des wahren dauernden Interesses der
Empfänger aus. Um so mehr ist zuzugeben, dass dem caritativen
System eine immerhin wichtige Function in der Volkswirt-
schaft neben dem privat- und gemeinwirthschaftlichen System
bleibt, wenngleich es diesen beiden zwar in gewissen Fällen gleich-
berechtigt, aber, ganz allgemein betrachtet, nicht als eoordi-
nirtes drittes Glied zur Seite tritt.
Das caritative System ermöglicht einmal eine sittliche Benutzung des privat-
wirthschaftlich erworbenen Reichthums der Individualwirthschaften, z. B. mittelst um-
fassender Privatwohlthätigkeit, Stiftungen, und führt dadurch zu einer Rechtfertigung
gerade solcher Gestaltungen der Volkswirthscbaft, welche, rein privatwirthschaftlich
ausgenutzt, am Leichtesten eine Schädigung der Gesammtinteressen eines Volks ver-
ursachen (§. 285). Das caritative .System fungirt ferner ebenso nothwendig als
crspriesslich zum Heile des Ganzen , indem es die Lücken in der Bedürfniss-
befriedigung mancher Individualwirthschaften. welche das privatwirthschaftliche System
‘allein oder selbst in Verbindung mit dem gemeinwirthschaftlichen bestehen oder ent-
stehen Üess, ausfüllt und diejenigen Härten und Disharmonieen im rein privatwirth-
A. Wienar, Grundlegung. 8. Auflago. 1. Theit. Grundlagen. 50
782
5. B. Organis. d. Volksw.scb. 1. K. Princ. u. Syst. §. 302.
schaftlichen Verkehr aasgleicht, welche selbst durch das gemeinwirthschaftliche System
nicht leicht gänzlich zu beseitigen sind. Aach hier ist namentlich an das grosse
Gebiet des Humanitäts- und Armenwesens im umfassendsten Sinn zu denken. Es
bleibt somit dem caritativen System stets ein weiterer oder engerer, geschichtlich
freilich stark wechselnder Spielraum und es muss auch als ein volkswirtschaftliches
Postulat bezeichnet werden, dass jenes System neben den beiden anderen wichtigeren
fongire. Namentlich wird in Uebergangszeiten des volkswirtschaftlichen Lebens, wo
sich grössere Mängel dos privatwirthschaftlichen Systems zu zeigen pflegen, für
welche es noch nicht gelungen ist. den Ersatzdienst und Correctivdienst des gernein-
wirthschaftlichen Systems, z. B. mittelst des Versicherungswesens, öffentlichen Pensions-
wesens u. dgl. m. richtig zu organisiren , dem caritativen System mitunter eine be-
sonders wichtige Ausgleichsfunction zufallen. Ein Beispiel ist: Organisation von
Hilfsvereinen aller Art bei Calamitäten, welche mit dem Wirtschaftsleben Zusammen-
hängen, aus Gefahren des neuen Maschinenwesens, aus Mittellosigkeit der Greise, der
Wittwcn hervorgehen , bevor durch ein gut eingerichtetes Versicherungswesen oder
durch Gesetze über Haftpflicht der Unternehmer Vorsorge getroffen ist. Ebenso:
freiwillige Leistungen der Arbeitgeber im gemeinnützigen Interesse der Arbeiter, —
besonders solange das Recht noch nicht genügende Vorkehrungen angeordnet hat,
aber eben auch über das Maass und die Katcgorieen und Fälle im Rechte hinaus.
Die allerdings oft Wirklichkeit gewordene Möglichkeit einer falschen („unwirtschaft-
lichen“) Wirksamkeit des caritativen Systems (z. B. Missbrauche bei der Armenpflege,
nicht genügende Ausscheidung des Erwerbsfähigen bei der Unterstützung: schlechte
Verwaltung von Stiftungen) kann gegen die principielle Berechtigung des letzteren in
der Volkswirtschaft sowenig geltend gemacht werden, als ähnliche Erfahrungen mit
einem der beiden anderen gegen die Berechtigung dieser Systeme (s. u. §. 336 fl).
B. — §. 302 [120]. Wechselnde Combination der drei
Systeme. Die Aufgabe dieser Combination überhaupt und ins-
besondere der Combination der beiden ersten untereinander wird
unvermeidlich dadurch sehr erschwert, dass es keine absolut
richtige, „natürliche“, ein für allemal gleichbleibende Com-
bination zwischen ihnen giebt und geben kano, was keines näheren
Nachweises bedarf.
Aus dem Wesen oder der Natur der Dinge, d. h. der maassgebenden Factoren,
der Natur des Menschen, des Staats, folgt eine solche feste Combination um so
weniger, da diese Factoren, als ursächliche Momente der Combination der Wirt-
schaftssysteme aufgefasst, selbst wieder nicht gleichbleibende, sondern geschichtlich
veränderliche Potenzen sind. Es gilt dies unzweifelhaft bis zu einem gewissen Grade
selbst von der wirtkschaftlichen Natur des Menschen und dem in ihr sich äussernden
angeborenen Triebe des wirthschaftlichen Selbstinteresses, unter dem Einfluss von
Erziehung, „Zucht“ und Cultur, von Zeit und Ort und Umständen und nach der Com-
bination mit anderen Motiven (Buch 1, Kap. 1). Es gilt ebenso vom Wesen der
einzelnen Wirthschaftsarten, wie namentlich auch der Gomeiuwirthschaften und des
Staats selbst, welche ihrerseits wieder Producte von Zeit und Ort und Umständen,
d. h. eben geschichtlich wandelbare Erscheinungen sind, bald mehr, bald weniger
ihrem Zweck entsprechend. So ist es z. B. eine häufige Erfahrung, dass zahlreiche
Vereine für materiell-wirthschaftliche (Consumvereinel), für Bildungs-, Unterhaltungs-
zwecke u. s. w. nur eine kurze Blüthezeit haben, oft in ihrer Jugend, wo das Interesse
der Betheiligten noch stark genug ist.
Die Combination der Systeme steht eben im Fluss der Ge-
schichte und kann selbst nur durch beständige Veränderung
eine richtige bleiben, d. h. eine solche, dass aus dem Zusammen-
wirken der drei Systeme die Verfügung über die höchstmögliche,
streng nach dem ökonomischen Princip gewonnene Summe ge-
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Wechselnde Combination der Systeme.
783
eignetster wirtschaftlicher Güter, eine quantitativ und qualitativ
zu maximalen Nutzeffecten führende, mit minimalen (natürlichen)
Kosten arbeitende Production, eine richtige Steigerung des Volks-
einkommens, aber auch die befriedigendste Verteilung des letz-
teren unter die Bevölkerung in der Volkswirtschaft nach den oben
in Kapitel 2 des 4. Buchs dargelegten Zielpuncten (§. 271 ff, 277 ff.)
hervorgeht.
Zur Erreichung dieses Ziels werden beständig Verschiebungen in den
Wirkungskreisen des privat- und gemeinwirthschaftliehen Systems sowie auch inner-
halb eines jeden derselben, z. B. zwischen den freien und Zwangsgemeiuwirthschaften
und zwischen den einzelnen letzteren, Staat, Gemeinde, Kreis u. s. w. untereinander,
sodann zur richtigen Ergänzung auch Veränderungen im Wirkungskreise des
caritativen Systems erfolgen müssen. Die wichtigsten politischen, socialpolitischen
und wirtschaftlichen Fragen der Organisation der gesammten öffentlichen
Verwaltung, der Decent ralisation der letzteren, des Selfgovernment, der
Provincial-, Kreis-, Gemeindeordnungen, des Vereinswesens; die Fragen
der Vertheilung der Leistungen z. B. im Schul-, Verkehrswesen (Strassen), Armen-
wesen u. s. w. zwischen diesen verschiedenen Organen; die Fragen des öffentlichen
(Staats-, Gemeinde-) und privaten Schul-, Verkehrswesens u. dergl. ; der Uebernahme
gewisser materieller Productionszweige auf den Staat (z. B. Forsten, Bergbau) und auf
die Gemeinde (z. B. Gas- und Wasserwerke) — , dies Alles sind Probleme, welche
mit der richtigen Combination der genannten Wirtschaftssysteme auf das Engste
Zusammenhängen.
So wenig dies, abstract betrachtet, zweifelhaft sein kann, und so leicht es ist,
für die Richtung dieser Verschiebungen und Veränderungen im Allgemeinen obiges
Ziel aufzustellen, so schwierig wird die Beantwortung der Frage, ob und wie eine
solche Verschiebung eintreten solle, im concreten Falle. Die verschiedenen volks-
wirtschaftlichen Parteien gehen darin am Meisten auseinander, weil sie, auch ohne
einseitig nur das eine oder andere der drei Organisationsprincipien gelten zu lassen,
doch dem einen oder anderen den Vorzug geben. In jedem Parlamente, auf jedem
mit volkswirtschaftlichen Fragen beschäftigten Congresse tritt dies in den Meinungs-
verschiedenheiten der Redner und Parteien hervor. Jede Verschiebung der genannten
Art aber führt unvermeidlich zu einer Ausdehnung oder einer Beschränkung der
Wirksamkeit des einen auf Kosten oder zu Gunsten deijenigen der beiden anderen
Principien. Ob, wann und wie weit dies gut ist, d. b. dem obigen allgemeinen
Ziele näher führt, kann nur und muss immer durch möglichst unbefangene Unter-
suchung des concreten Falls festgestellt werden. Auch nur etwas allgemeinere
Regeln, ausser denjenigen, welche aus der Umgestaltung der Technik im Pro-
ductionsprocess wohl abzuleiten sind (§. 301, 283), lassen sich dafür aber bloss durch
näheres Eingehen auf die Natur und Wirksamkeit eines jeden der drei Organisations-
principien oder Wirtschaftssysteme gewinnen, wie dies im Folgenden geschieht.
50*
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784
5. B. Organis. d. Volksw.sch. 2. K. Priv.wirthsch. Syst. §. 303.
Zweites Kapitel.
Das privatwirthschaftliche System.
§. 303 [2. A. S. 212 ff.]. Vorbemerkungen. Das Wesen des privat-
wirt h sch aftlichcn Systems legen am Besten die Erörterungen der National-
ökonomen Uber die Bildung der Waarenpreise unter dem Einfluss des ersten
wirtschaftlichen Leitmotivs (des „Eigennutzes") unter Voraussetzung freier Con-
currenz (des Mitwerbens) dar. dann die verwandten Erörterungen Uber den Process
der Vertheilung des Productionsertrags als Einkommen an die bei der Production
betheiligten Personen, daher über Lohn, Zins, Rente, Unternehmergewir.n unter dem
gleichen Einfluss, wobei im Wesentlichen die allgemeinen Preisregeln auf die ver-
dingte Arbeit, das verliehene Kapital, das verpachtete Grundstück angewandt werden.
Hierbei wird, — im Ganzen methodologisch auch richtig, sobald man sich nur bewusst
bleibt, dass man unter Voraussetzung bestimmter Hypothesen operirt.
deren Zutreffen in der Wirklichkeit bei der Anwendung der gefundenen Sätze auf
diese Wirklichkeit immer erst geprüft werden muss (§. 67 ff). — hier wird mittelst
der Methode der Dcduction aus dem Waltendes sich so viel als möglich geltend
machenden Selbstinteresscs heraus geschlossen; das Streben nach dem grössten
Vortheil uud dem kleinsten Opfer ist das leitende Princip.
Da man es unter dieser Voraussetzung mit einem relativ einfachen Causal-
vcrhältniss zu thun hat, so ist die Anwendung mathematischer Formeln und geo-
metrischer Figuren nicht besonders schwierig uud öfters versucht worden, um die
Probleme der Preisbildung damit zu lösen, so von Rau, im Anhänge zu §. 154, 164
und 216 des 1. Theils (S. Au fl. S. 368 U.), besonders umfänglich von v. Maugoldt.
Grundriss 1. Aufl., §. 46 ff., und überhaupt von den Vertretern der sogen, „inathe-
mathischen Methode" in der Politischen Üekonomie, wovon oben in der Methodenlehre
in Buch 1, §. 68 gehandelt wurde (Litteratur daselbst S. 176. S. auch die, übrigens
viel zu weit greifende, Bibliographie der Werke der mathematischen Behandlung der
Politischen Oekonoinie, zusammen gestellt von Jcvons in Conrad’s Jahrb. 1878. II, 379.
Eb. S. 295 ein Aufsatz von B. Weisz, die mathematische Methode in der National-
Oekonomie). Diese Versuche sind innerhalb ihrer Sphäre, d. h. eben inner-
halb des privatwirthschaftliche n Systems der Volkswirthschaft be-
rechtigt. Aber es ist für die frühere fälschliche Identiflcirung der Lehre vom
privatwirthschaftlichcn System mit der Volks wirthschaftsleh re schlechtweg
bezeichnend, dass man mit dieser etwa noch mathematisch formulirten Preis- und
Einkommentheorie, welche in letzter Linie immer auf das mit mathematischer
Sicherheit wirkende, nach der deductiven Methode in seiner Wirksamkeit verfolgte
blosse Selbstinteresse zurückgeführt wird, glaubte die wissenschaftlichen Aufgaben der
Politischen Oekonomic, von der Productionslehre abgesehen, gelöst zu haben. Jene
„iconomie politique pure“ des rein deductiven Verfahrens (S. 176) ist nur eine
hypothetische Formulirung des privat wirtschaftlichen Systems in der
Volkswirthschaft, von selbst hier schon sehr bedingter Giltigkeit in der Wirklichkeit,
wie oben schon bemerkt wurde. Denn unvermeidlich muss dabei das Selbstinteresse,
das „Streben nach Vermögen", wie es J. St. Mill hier gern nennt, unser erstes
egoistisches Leitmotiv (§. 34) als eine constante, selbst ganz gleich bleibende
und immer gleich wirksame, also als eine absolute Grösse oder Kraft in allen
verkehrenden Personen angesehen werden, — eine Annahme, welche zwar hypo-
thetisch zulässig und ein wichtiges methodologisches Hilfsmittel ist. aber in der
Wirklichkeit niemals genau so. wie sie hypothetisch angenommen wird, zntrifft.
Hier eben bilden, wie Knies, später besonders Schm oll er so richtig aus-
gefuhrt haben, Sitte und Sittlichkeit, herrschende Anschauungen u. s. w., noch
ganz abgesehen von der Gestaltung des Verkehrsrechts, ein Medium, durch welches
Angebot und Nachfrage erst hindurch gehen, bevor sie auf Preis und Einkommen cin-
wirken (§. 286). Selbst im Grosshandcl, für welchen man mit Recht die theo-
retischen Preisregeln am Ersten als unmittelbar auch in der Wirklichkeit zutreffende
bezeichnet, entzieht sich Angebot und Nachfrage, Wirksamkeit des Selbstinteresses.
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Vorbemerkungen.
785
„Qualität“ des letzteren, wenn man so sagen darf, Art und Stärke des „Strebens
nach Vermögen“ u. s. w. dem Einfluss jenes Mediums nicht durchaus, — was z. B.
für so manche Practiken des Börsenwesens zu beachten ist. Ich darf jetzt in dieser
3. Aufl. im Uebrigen hier wiederum auf das 1. Buch oben, auf die psychologische
Motivationstheorie und die Methodologie verweisen.
Hierzu kommt nun aber weiter, dass die Bildung der Preise und Einzeleinkommen
von dem Verkehrsrecht des privatwirthschaftlichen Systems und von der Mit-
wirkung des gemein wirthschaf tlichen und auch des caritativen Systems
überhaupt sehr maassgebend mit bestimmt wird, was bei jener bloss privatwirth-
schaftlichen Formulirung und Lösung der Probleme ganz übersehen wird und bei
manchen Untersuchungen , z. B. jenen mathematischen Formulirungen der Probleme,
zunächst auch übersehen werden muss. Die Annahmo einer „absoluten“ persön-
lichen Freiheit und eines „absoluten“ Eigenthumsrechts sind dann eben nur
weitere, aber principicll eben solche Hypothesen, wie die Annahme einer für alle
Individuen gleichen Motivation der wirtschaftlichen Handlungen im Concurrenzkampf:
Hypothesen oder Fictionen, durch welche man sich jeue verwickelten Probleme
der Volks Wirtschaft künstlich vereinfacht.
Dies Alles ergiebt, dass es ein Irrthum ist, die Volkswirthschaft in
diesem privatwirthschaftlichen Concurrenzkampf, den man sich selbst
noch dazu erst im Widerspruch mit der Wirklichkeit so einfach wie möglich construirt,
aufgehen zu lassen. Man kann nur so viel zugeben, dass dieser Concurrenzkampf
dem privatwirthschaftlichen System vornemlich. aber auch nicht ausschliess-
lich sein Gepräge giebt, weil andere Motive und Motivccombinationcn mit in Betracht
kommen, weil Sitte. Hecht u. s. w. mitwirken und er überhaupt nicht ein so
reiner Naturprocess ist, wie im Räsonnement des deductiven Verfahrens an-
genommen wird; ferner, dass dieses privatwirthschaftliche System eine Hauptseite,
aber eben doch nur eine Seite der Volkswirthschaft darstellt. Nur wenn «lies richtig
im Sinn behalten wird, werden die Erörterungen im Texte des folgenden 2. Kapitel
richtig aufgefasst werden. Die darin enthaltenen Formulirungen sind daher auch hier
nur der Vereinfachung des Räsonnemcnts wegen gleichfalls etwas absoluter hingestellt,
als den Gestaltungen in der Wirklichkeit entspricht, was über die von mir durchaus
festgehaltene Tendenz nicht täuschen darf.
Auch hier bezeichnet die historische Richtung der Nationalökonomie, be-
sonders mit ihrer wichtigen Theorie von der bloss relativen Giltigkeit der sogen,
volkswirthschaftlichcn Gesetze, welche nach rein deductivem Verfahren abgeleitet sind
(s. o. §. 73, bes. Knies, Polit. Oekon. 1. A. S. 2S4 ff.), bereits einen grossen wissen-
schaftlichen Fortschritt, namentlich in ihren Lehren vom Preise und Einkommen
gegenüber der mehr naturwissenschaftlich -mechanischen Auffassung der Smith’schen
Nationalökonomie, wie sie hier in Dcubchland auch Hermann (z. B. in seiner be-
rühmten Untersuchung Uber den Gewinn, 2. Aufl. S. 488 — 581) und (zwar weniger
mathematisch scharf als Hcrmanu, aber doch schon etwas mehr den zahlreichen
sonstigen Einflüssen Rechnung tragend) im Ganzen doch auch noch Rau vertritt
Vergl. dagegen namentlich Roscher's Lehre vom Preise und Einkommen, sowie die
neueren Arbeiten Neumann ’s auf diesem Gebiete. Noch mehr aber hat Schäffle
gerade durch seine durchgreifende Unterscheidung des privat- und gemciuwirth-
schaftliclien Systems in diesen Lehren die stets nur bedingte practische Be-
deutung und die der bisherigen Praxis und dem geltenden Rechte gegenüber viel-
fach noch bedingtere Berechtigung der privatwirthschaftlichen Preisbildung
nachweisen können. S. sein Ges.-System u. s. Soc. Körper III, bes. an den in §. 297
genannten Stellen. Ferner die neuere Theorie der „Verbandspreise“ in der oben
S. 799 genannten Litteratur.
Die „Deutsche Freihandelsschule“ in ihren Hauptvertretern (Prince-
Smith, 0. Michaelis u. s. w) ist dagegen ganz auf dem alten Standpuncte stehen
gebliebeu: sie untersucht nicht nur diese privatwirthschaftliche Preisbildung und Ein-
kommenvertheilung fast ausschliesslich, sondern erklärt sogar in einer seltsamen petitio
principii die daraus, d. h. die im Kampfe der sich gegenüber stehenden eigen-
nützigen Interessen bei möglichst freier Concurrenz hervorgehenden Gestaltungen und
Preise für die gerechtesten oder selbst für die einzig gerechten! Worauf es
dann freilich leicht ist, jede Beschränkung der freien Concurrenz, weil sie diese
786 5. B. Organis. d. Volksw.sch. 2. K. Priv.w.sch. Syst 1. A. Im Allgern. §. 304.
„gerechte Vertbeilung“ stört, jede Staatseinmischling, jede neue Organisation der
atomisirten privatwirthschaftlichen Erwerbsgesollschaft unserer modernen Zeit als nacb-
tbeilig zu bekämpfen! Siehe darüber unten in Abschn, 2 die Vorbemerkungen (§. 30»
und §. 312 ö' die dortigen literarischen Nachweise.
Auch hier sind der socialistischen Kritik der modernen Erwerbsgesell-
schaft und ihres Systems der freien Concurrenz bedeutende wissenschaftliche An-
regungen und doch auch viele positive Förderungen zu verdanken. Erst dadurck
sind gewisse Ansichten der historisch -nationalökonomischen Bichtang za grösserer
Bestimmtheit gebracht worden. Die wahre Bedeutung des Verkehrsrechts (incL
Eigenthumsrecht) für das privatwirthschaftliche System und die hohe Berechtieunz
des gemein wirthschaftlichen Systems in der Volkswirtschaft erkannt zu haben,
ist der grosse Kern positivsten wissenschaftlichen Verdiensts, welch«
in den Schriften der grossen socialistischen Theoretiker von St. Simon bis auf
Lass alle auch bei allen Maasslosigkeiten der Speculatiou und bei allen gehissizea
Uebertreibungen der Angriffe gegen die bestehende wirthschaftliche Ordnung deutlick
genug zu finden ist. (S. §. 13, 293 ff.)
1. Abschnitt.
Das privatwirthschaftliche System und seine Verkelirs-
rcclitshasis im Allgemeinen.
I. — §.304 [121, 122]. Die Privat wirthschafte n. Die-
selben sind in ihrem Wesen schon in §. 300 genügend characterisirt
worden. Hier sind nur noch einige Bemerkungen hinzuzufügen
und einige Folgerungen zu ziehen. Zu den Zwecken der Production
werden von der im Verkehr stehenden Privatwirtschaft die ihr
nicht selbst privateigenthümlich zur Verfügung stehenden sachlichen
Pioductionsmittel (Gruudstückc, Gebäude, Kapitalien) und die ihr
nicht durch ihr Rechts- und Wirthschaftssubject selbst gebotenen
und eventuell aus dem Familienverband verfügbaren Arbeitskräfte
zu der Arbeits- und Besitzgemeinschaft, welche der Productionsbe-
trieb darstellt, durch Verträge, den Tausch-, Kauf-, Arbeits-
oder Dienstmiethevertrag, die Creditverträge, den Pacht-, Mieth-,
Leihvertrag in erforderlicher Weise vereinigt (§. 264). Durch diese
Verträge werden zugleich die Antheile am (volkswirtschaftlichen)
Reinertrag der Production (§. 264) geregelt Bei der für den Ab-
satz der Producte (fertigen Güter) im Verkehr arbeitenden, ein
Glied im Arbeitsgliederungs- und Verkehrssystem bildenden Privat-
wirtschaft werden ebenso Tausch-, Verkaufverträge über diese
Producte geschlossen. Beim Abschluss aller dieser Verträge, speciell
bezüglich des Inhalts derselben, folgen nun im privatwirthsehaft-
lichen System alle in Betracht kommenden Personen wesentlich
den Bestrebungen, welche sieh aus dem ersten egoistischen Leit-
motiv, dem Streben nach dem wirtschaftlichen Eigenvortheil
(§. 34) und aus dem ökonomischen Princip (§. 28) ergeben. Nament-
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Die Privatwirtschaften.
787
lieh verfuhrt so das leitende Wirthschafts- und Rechtssubject der
Privatwirtschaft selbst, wodurch die von ihm abgeschlossenen
Verträge ihren Character und die daraus folgenden wirtschaft-
lichen Vorgänge ihr eigentümliches, eben „privatwirthschafdiches“
Gepräge erhalten. Insbesondere wird daher hier nach dem Grund-
sätze der speciellen, vollständigen und möglichst ge-
nauen, d. h. in jedem einzelnen Vertrage der höchst mög-
lichen Entgeltlichkeit der gewährten Leistungen und
der empfangenen Gegenleistungen vorgegangen.
Dieser Grundsatz verwirklicht sich in der Weise, dass jedes Gut (Sachgut, Dienst),
seinen bestimmten Preis, jedes Einzeleinkommeu (Lohn, Zins, Pacht- und Mieth-
rente, Unternehmergewinn, Spcculationsgewiun) seine bestimmte Höhe im Kampfe
der sich gegenüberstehenden, von jenem ersten egoistischen Motiv geleiteten Inter-
essenten auf jenem Puncte erhält, wo die Interessen der Kämpfer sich so weit aus-
gleichen, dass der Vertrag geschlossen wird. Dieser Ponct ist der ökonomische Aus-
druck für das Maass, in welchem es jedem Vertragsschliessenden möglich geworden
ist, sein wirtschaftliches Interesse zur Geltung zu bringen. Es erfolgt also, im
Unterschied vom gemeinwirthschaftlichen System, hier immer in jedem Vertragsscbluss
eine gegenseitige Abrechnung Uber den Werth der Güter (Leistungen u. s. w.),
die Jeder in den Interessenkampf hineinbringt Ein solcher Kampf, wie nicht ver-
kannt werden darf, liegt jedem Vertragsscbluss zu Grunde.
Für die vorausgehende I'ormulirung gilt die in der Vorbemerkung (§. 303) ge-
machte Bemerkung, dass sie hier der Einfachheit des Räsonnements wegen absoluter
erfolgt, als der Wirklichkeit entspricht. Es ist z. B. schon lange üblich, neben der
Concurrenz das Herkommen als mitwirkenden Regulator bei der Preisbildung und
Verkeilung zu bezeichnen (s. J. St. Mi 11, Polit. Oekon. B. 2, Kap. 4). Dies Her-
kommen ist eben nur ein gemeinsamer Ausdruck für die Summe der Sitten u. s. w.,
welche im Grunde genommen nicht Regulator neben der Concurrenz ist, sondern
welche die Coucurreuz selbst neben dem Selbstinteresse mit regulirt.
Denn grade, wie in Wirklichkeit die Interessen nach dem ersten Leitmotiv in den
Vertragsschlüssen sich geltend machen, hängt mit von der sonstigen Motivation, von
dem Medium der sittlichen Anschauungen und Sitten ab, durch welches sie erst bei
ihrer Verfolgung hindurch gehen müssen.
Als Hauptarten der Privatwirtschaften sind für
unsere Volkswirtschaft zu unterscheiden :
1) Die Einzel Wirtschaft einer physischen Person,
die typische Hauptform.
In der Familicuwirthschaft findet sie ihre naturgemässe Erweiterung, aber damit
zugleich schon eine Annäherung an die Gemeiuwirthschaft für die Verhältnisse
des Familienverbands (anders Schällle).
2) Die Einzelwirtschaften nicht-physischer (sogenannter
juristischer) Personen des Privatrechts.
Die speculativen Erwcrbsgcscllschaften , wie die olfene Handelsgesellschaft, die
Coinmandit-, die Acticngesellschaft und einzelne Arten der Genossenschaften, wie die
ältere Bergbaugenossenschaft und die Mehrzahl der modernen sogen. Wirthschafts-
genossenschaften , welche freilich den freien Gcmcinwirthschaften nahestehen oder
selbst überwiegend den Character der letzteren haben können (§. 343). Mancherlei
Zwischenbildungen gehören theils in die Kategorie der Privat-, theils in diejenige der
Gemein Wirtschaften. Die älteren Corporatiouon für Handelsbetrieb, Gewerbe-
betrieb hatten öfters solchen gemischten Character. In der alten Handwerkerzunft
liegt ein Element, das sie als Gemeinwirthschaft characterisirt.
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788 5. B. Organis. d. Volksw.sch. 2. K. Priv.w.scb. Syst 1. A. Im Allg. §. 305.
3) Alle Gemein wirth schäften endlich, auch die anf
Zwang beruhenden, wie besonders Staat und G e m e i n d e selbst,
können, wie schon bemerkt (§. 300), wenigstens theil weise anch
nach dem privatwirthschaftlichen System fungiren und thun dies
auch in der Regel: insoweit sind auch sie Privatwirt h schäften.
Z. B. der Staat hinsichtlich seiner sogen. Privaterwerbsthätigkeit , wie in der
eigentlichen Domanialwirtschaft und annähernd bei manchen Staatstätigkeiten, deren
finanzielle Behandlung nach dem sog. Gebührenprincip erfolgt. Das Nähere darüber
gehört in die Finanzwissenschaft (s. Band 1 u. 2 derselben).
II. — §. 305 [123]. Die Rechtsbasis im privatwirth-
schaftlichen System. A. Ihre Bedeutung. Der Verkehr
und jene Preis- und Einkommenbildungen darin haben zur noth-
wendigen Voraussetzung eine Rechtsbasis, welche als Be-
dingung und Schranke für die beiden Parteien im Kampfe
um die ökonomischen Bedingungen des Vertragsabschlusses wirkt
Diese Rechtsbasis ist nichts von Natur fest Gegebenes, nichts aus
dem Wesen des Menschen ohne Weiteres Folgendes, nichts l u-
veränderliches, sondern etwas geschichtlich stark Wandelbares.
Sic kann nicht vom privatwirthschaftlichen System aus sich selbst
heraus geschaffen werden, sondern wird durch die höchste Form
der Gemeinschaften, durch den Staat, wenn auch nicht ur-
sprünglich allein gesetzt und auch später nicht allein von ihm
weitergebildet, da, freilich vom Staat erst anzuerkennende, Ge-
wohnheitsrechtsbildung voran geht und immer etwas zur Seite
bleibt. Aber sie wird doch von ihm allein gesichert gegen
Bruch und vornemlich von ihm weiter gebildet. Sie ist ein
unbedingtes Bedürfnis für die Privatwirtschaften, ohne dessen
genügende Befriedigung die letzteren in der Fürsorge für andere
Bedürfnisse im verkehrswirthscbaftlichen Zustand der Volkswirt-
schaft (§. 188) grossentbeils lahm gelegt wären. Das g e me in-
wirt hschaftli che System erweist sich insofern als eine Voraus-
setzung des privatwirthschaftlichen, wie umgekehrt auch letzteres
als eine solche des ersteren. Darin findet der frühere Satz (§. 302),
dass immer eine Combination beider Systeme in der Volks-
wirtschaft stattfinden müsse, eine Bestätigung.
Die einmal bestehende Rechtsbasis, persönliche Freiheit, Eigenthum, Erbrecht.
Vertragsrecht, wird von der Nationalökonomie stillschweigend oder ausdrücklich als
die Voraussetzung ihrer Untersuchungen tlber Production, Umlauf und Vertheilung
der Guter angenommen, so auch von Kau. Dabei wird aber der Einfluss der Ver-
schiedenheit dieser Kechtsbasis auf die Volkswirtschaft nicht genügend beachtet und
die Möglichkeit ihrer Veränderung, sowie die wünschenswerte Richtung der letzteren
ebensowenig. S. dagegen Roscher, I. 1. B. Kap. 4 u. 5, Schäffle pass, bcs. Syst. II.
349 lf., 50ü ff. H. Rösler, soc. Vcrwaltungsrecht, I, §. 120 ff., 177 ff, 183 ff. —
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Rechtsbasis des priv.wirthsch. Systems.
789
Die spätere Smith sehe Schule, die Manchesterpartei, geht in ihren Untersuchungen
stets von einer natürlichen absoluten persönlichen Freiheit und von einem natürlichen
absoluten, möglichst für alle Sachen (nicht unbedingt: Verhältnisse) gleichen Eigen-
thums- und Erbrecht aus: — die zweite Fiction neben dem Dogma von der Allmacht
und steten Richtigkeit des absoluten wirthschaftlichen Selbstinteresses.
Von der Gestaltung der Rechtsbasis, auf welcher sich der
privatwirthschaftliche Verkehr vollzieht, hängt der Character des
privatwirthschaftlichen Systems wesentlich mit ab. Letzteres unter-
liegt daher dem geschichtlichen Wechsel in seinen Erscheinungs-
formen vorzugsweise mit in Folge eines Wechsels dieser Rechts-
basis. Absolute Sätze für die letztere giebt es nicht und kann
es nicht geben, denn der geschichtliche Process, in welchem sie
steht, ist ununterbrochen im Gange unter dem Einflüsse der
wechselnden Bedürfnisse und Anschauungen der Menschen, auch
speciell der Productionstechnik.
Selbst die maassgebenden Hauptprincipien der Recbtsbasis, neinlich diejenigen,
welche sich auf die verkehrenden Menschen und auf die Güter an und für sich, d. i.
auf Personenstand (persönliche Freiheit u. s. w.) und Eigenthum beziehen , wechseln
erfahrungsmässig erheblich. Zeitliche und örtliche Verhältnisse, nicht die sogen.
Natur der Menschen und Dinge allein, welche ohnehin keine einfache fixe Grösse ist,
entscheiden wesentlich mit. Dies verkannt zu haben, ist der grosse principielle Fehler
der neueren Volkswirthschafts-Wissenschaft der Schule von A. Smith. Namentlich
wieder in ihren letzten extremsten Ausläufern, der Bastiat’scben Richtung in Frank-
reich, der Manchesterpartei in England, der „deutschen Freihandelsschule“ in Deutsch-
land ; s. bes. den folgenden Abschnitt. Man kann für die Rechtsbasis des privat-
wirthschaftlichen Verkehrs nur Rcchtssätze relativen Werths aufstellen, welche immer
nur für ein gewisses Zeitalter und für gewisse Länder und Völker als die richtigen
gelten können. Dies gilt selbst von der persönlichen Freiheit, vollends vom Privat-
eigenthum, Erbrecht, Vertragsrecht. Genaueres hierüber erst in der 2. Abth. der
Grundlegung bei der kritischen Erörterung der Fragen von Freiheit uud Eigenthum
aus dem socialökonomischen Gesichtspuncte.
B. — §. 306 [1241. Die einzelnen Rechtsnormen,
welche für die Gestaltung der Rechtsbasis des privatwirthschaft-
lichen Systems und damit der Volkswirtschaft entscheidend sind,
betreffen folgende vier Puncte.
1) Die Rechtsnormen über den Personenstand, be-
sonders die persön liehe Unfreiheit, Freiheit und Gleich-
berechtigun g der in einer Volkswirtschaft verkehrenden Menschen.
Personenstaud , Personalstand hier als Collectivbegriff in einem ähnlichen, aber
weiteren Sinne, wie der römisch -rechtliche Status genommen, der nur dem Freien
zustand. Besonders hervorzuheben sind hier als maassgebende Momente: Das Rochts-
institut der Unfreiheit in seinen verschiedenen Formen, Sclaverei, Leibeigenschaft und
Schollenpflichtigkeit (glebae adscriptio, Colonat) u. s. w.; Frobnarbeit. — Die Unter-
scheidung von Ständen mit verschiedenem Verkehrsrecht unter den Freien. Dahin
können auch die im römischen Recht vorkommenden Mittelzustände zwischen
Freiheit und Unfreiheit gehören (Puchta, Instit. II, 456). Ferner die auch mit
privatrechtlichen Folgen verbundene Unterscheidung von Patriciern und Plebejern,
wenigstens in der älteren Zeit — Unterschiede im Verkehrarecht nach der Religion
(Apostaten, Häretiker. Juden): nach der Sprache (z. B. im deutschen Handwerk,
vergl. Stahl, dtsch. Handw , Giess. J874, I, 102); nach der ehelichen und unehe-
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790 5. B. Organis. d. Volksw.scli. 2. K. Priv.w.sch. Syst 1. A. Im AUgeio. §. 306.
liehen Geburt (eb. S. 91 ff.). — Die Unterscheidung von Staatsangehörigen und Aus-
ländern, so civcs und peregrini, dann latini im römischen Recht, Bürger und Metökcn
in Athen u. s. w. (Ausschluss vom Erwerb des Grundeigcnthums). Achuliche Gestal-
tungen vielfach in den mittelalterlichen Rechtssystemen und bis in die neueste Zeit
hinein, besonders was Grunderwerb, Handwciksbetrieb u. a. m. anlangt. Einzelnes
noch heute bei den Culturvölkern bestehend, mehrfach, auch z. B. in Nordameric.
Staaten kommt Unfähigkeit der Ausländer zum Grunderwerb noch vor. — Unter-
scheidung von Orts-(Gomeindc-)angehörigen und Ortsfremden u. dgl. in. ftlr Grund-
oder Hauserwerb, für selbständigen Geschäftsbetrieb, in unseren moderneu Staaten bis
in die neueste Zeit hinein von Bedeutung. Dgl. von Stadt- und Landbewohnern,
früher für Gewerbebetrieb vielfach entscheidend; allgemein aufgehoben bei uns erst
in der deutschen Gewerbeordnung vom 21. Juni 1S69, §. 2. — Die Gewährung voller
persönlicher Freiheit und rechtlicher Gleichheit an alle erwachsenen, im Besitz der
normalen Geisteskräfte belindlichen Staatsangehörigen oder selbst schlechtweg an alle
menschlichen Individuen, mit der Rechtsfolge freier Erwerbs- und Berufswahl (..freies
Recht zu arbeiten“), wie in der Hauptsache in unseren europäisch -americanischeu
Staaten der Gegenwart, jetzt Gleichstellung der Inländer und Ausländer im Allgemeinen
in der deutschen Gewerbeordnung vom 21. Juni 1969. §. 1, vergl. Jacobi, Gowerbe-
gesetzgebung im Deutschen Reiche. Berlin 1874, S. 20.
2) Die Rechtsnormen über das Eigenthum, insbe-
sondere das Priva teigen th um an wirtschaftlichen Gütern,
namentlich an Sachgütern, und iu Verbindung mit diesen Rechts-
normen diejenigen über das Erbrecht.
Maassgebend ist hier vorncmlich: ob und in welcher Art Privateigenthum an
Menschen zugelassen wird (Sclavcn recht). — Sodann die Unterscheidung des Eigen-
thumsrechts an beweglichen Sachen und Grundstücken und Verhältnissen (incl. sogen,
geistiges Eigenthum); bei ersteren die Unterscheidung nach dem Zweck, zwischen
Gebrauchsvermögen und Kapital (Privatvermögen, Kapitalbesitz, §. 129, 129); der
Umfang und der Inhalt der Rechte, welche das Privateigenthum gewährt. — Beim
Grund und Boden; ob derselbe gänzlich, theil weise, gar nicht vom Privateigenthum
der eigentlichen Privatwirtschaften ausgeschlossen und als eigentliches Gemein-
eigentum oder als „öffentliches“ Eigenthum von Zwangsgemeinwirthschaften. nament-
lich des Staats und der Gemeinden, Vorbehalten ist (Rcgalprincip); bei der Zulassung
privaten Grundeigenthums, ob dasselbe „beschränktes“ Eigenthum ist, wie im All-
gemeinen in den früheren Stufen des Volkslebens und in der germanischen Rechts-
bildung, oder ob dieses Immobiliareigenthum möglichst im Umfange und Inhalt der
Rechte, die es gewährt, dem Mobiliareigenthum gleichgestellt ist, wie unter dem Ein-
fluss des römisch-rechtlichen Eigenthuinsbegrifrs und im Interesse der Freiheit des
Verkehrs und der Geltung des Individuums immer vollständiger in der modernen
Volkswirtschaft; beiin Grundeigenthum ferner: ob und wie dasselbe nach seinem
Verwendungszweck als städtisches und ländliches, als Wohnungs-, Forst-, Bergwerks-,
landwirtschaftlicher, als Wege-Bodcn u. s. w. im liechte unterschieden wird und wie
in Beziehung zu dem Grundeigenthumsrecht das Wasser-, Jagd-, Fischereirecht ge-
regelt ist; ob und wie das Grundeigenthum durch Reallasten und Servituten beschränkt
werden kann; endlich, wie sich das Vertrags-, namentlich Veräusserungs-, Ver-
schuldungs-, Theilungs-, Zusammculcgungsrecht und das Erbrecht in Bezug auf
Grundeigenthum gestaltet. — Bei privatem Kapitaleigenthum : ob und in welchem
Maasse Beschränkungen in der freien Verfügung über dasselbe durch bestimmte
Bedingungen in der eigenen Verwendung (z. B. vorgeschriebener gewerblicher Bildungs-
gang). durch Bestimmungen über den Inhalt der Verträge, deren Gegenstand Kapital
ist. mittelst Lohn-, Zins-, Preistafel! u. s. w., durch öffentlich-rechtliche Regelung
der Verhältnisse der Lohnarbeiter, z. B. in Betreff der Arbeitszeit u. A. dgl. m., wie
im Allgemeinen im Mittelalter und in neuester Zeit wieder, vorhanden oder das
Kapitaleigenthum wesentlich dem Privateigenthum an Gebrauchsvermögen gleichgestellt
und daher ein möglichst unumschränktes ist, wie im Ganzen in der modernen Volks-
wirtschaft. — Bei Verhältnissen; ob und wie weit überhaupt ein Eigentum
(„geistiges Eigenthum“) oder ein demselben verwandtes selbständiges Recht anerkannt
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Die einzelnen Normen der Rechtsbasis.
791
wird (Urheberrecht an Schriftwerken, Kunstwerken, Erfindungen, Autor-, Patent-,
Musterschutzrecht u. s. w.). — Auch bei privatem Kapitaleigenthum und bei der
Rechtsordnung der „Verhältnisse“ kommt dann wieder die Gestaltung des Erbrechts
in Betracht, namentlich diejenige des Intestat- und des testamentarischen Erbrechts,
das Pflichttheilsrecht, der Theilungszwang. Auch das Steuerrecht ist bedeutsam, das
sich an das Eigenthum von Gebrauchsvermögen (Luxussteuern, indirecte Verbrauchs-
steuern auf wichtige Consumptibilien), von Kapital und Grundstücken nebst Häusern
(Ertragssteuern als Objectsteuern, Vermögenssteuer) und an das Einkommen daraus
(Renteneinkommen), sowie an das Erbrecht anknüpfu
Zur ökonomischen Würdigung der Privateigenthumsinstitution
ist immer zu beachten, dass die rechtliche Zulassung des Privat-
eigenthums an Menschen, Kapital und Grundstücken, d. h. an
Productionsmitteln die Voraussetzung für den privaten Renten -
bezug ist.
3) Die Normen Uber das Vertragsrecht, welche
wesentlich eine Consequenz der Rechtsnormen über den Personen-
stand und über das Privateigenthum sind.
Sie wurden daher unter der vorigen Nummer schon mit erwähnt, aber sind hier
auch noch apart herauszuheben. Besonders wichtig sind die Normen über den Tausch,
Kauf und Verkauf, über die verschiedenen Creditverträge, das Darlehen und den
Zins, die Miethe, die Pacht, über den Dienstmiethc- oder Arbeits - Lohn vertrag.
Namentlich ist zu beachten, ob das Recht nur über die Können der als rcchtsgiltig
anzusehenden, insbesondere der klagbaren Verträge (Mündlichkeit, Schriftlichkeit.
Zeugen, öllentlich« Beurkundung, Vorschrift bestimmter Formalien u. s. w.) oder auch
über den Inhalt der Verträge Bestimmungen enthält, welche nicht durch den Willen
der Parteien ausser Kraft gesetzt werden können; ob und wie weit Verträge wegen
ihres Inhalts rechtlich ungiltig, selbst strafbar, nicht oder nur bedingt klagbar
sind u. s. w. (Frage des pactum turpe, der conditio turpis u. dgl. , der Wucher-
verträge, der lex cogens.)
4) Die Rechtsnormen über die Giltigkeit sogen,
wohl erworbener (Privat-) Rechte, sowohl derjenigen, welche
auf einer anderen Rechtsbasis (z. B. bei ehemaliger Unfreiheit),
als derjenigen, welche auf der bestehenden Rechtsbasis ent-
standen sind.
Es handelt sich hier vornemlich um die wichtige Principienfrage, ob und wie
weit auch ohne oder selbst gegen den Willen des Berechtigten, also ausserhalb
des Vertragsrechts, ein solches „wohlerworbenes Recht“ aufgehoben, be-
seitigt, verändert, beschränkt werden kann, ob mit oder ohne, mit voll-
ständiger oder theilweiser Entschädigung, ob mit vertragsmässigem Uoberein-
kommen wenigstens über die Art und Höhe der Entschädigung oder mit Feststellung
auch der letzteren durch obrigkeitliche Autorität, Gesetz u. s. w.: die Frage der
Enteignung (^Zwangsenteignung, Expropriation; Entwährungswesen L. Stein s).
C. — §. 307 [125J. Die Verkehrs-Rechtsbasis des
privatwirthschaftlichen Systems in den modernen Volks-
wirt h s c h a ft e n. Dieselbe characterisirt sich bei deu europäischen
Culturvölkern und ihren Abkömmlingen in anderen Erdtheilen in
Bezug auf die hier allein in Betracht zu ziehende principielle
Gestaltung der eben erörterten vier maassgebenden Puncte also:
792 5. B. Organis. d. Volksw.sch. 2. K. Priv.w.sch. Syst 1. A. Im Allgem. §. SÖT.
1) Es besteht allgemeine persönliche Freiheit und
Gleichberechtigung der physischen Personen im Verkehr, mit
gewissen Beschränkungen für Unerwachsere und in geringem
Maasse noch für das weibliche Geschlecht, aber als Correlat auch
Selbstverantwortlichkeit, doch unter Gewährung der Hilfs-
leistungen Seitens der Gemeinschaft, welche oben dargelegt wurden
(§. 271 ff., Recht auf Existenz u. s. w.).
Physischer Zwang von Person zu Person ist daher ausgeschlossen. „Freie
co ut ractliche Vereinbarung“ ist das leitende Kechtsprincip im privatwirtb-
schaftlichen Verkehr. Die Vortheile, welche für die eine Partei aus der ungünstigere
ökonomischen Lage der anderen hervorgehen, bei Vertragsschlüssen über Preisbildung.
Bildung der Lohn-, Zins-, Mieth- und Pachtzinssätze u. s. w. soweit als möglich geltend
zu machen, ist rechtlich, von wenigen Ausnahmen, welche freilich im neuesten Hecht wieder
zahlreicher und wichtiger werden (Arbeitsrecht, Ziusrecht), abgesehen , durchaus statt-
haft. Als Consequenz der persönlichen Freiheit ist regelmässig eine Reihe „socialer
Freiheitsrechte“ gegeben: Recht der freien Eheschliessung, des freien Zugs fttr
Inländer (Freizügigkeit), Auswanderungsrecht (nicht ebenso: Einwanderungsrecht fttr
Ausländer), freies Reiserecht. Im Princip ist regelmässig auch die Wahl des
wir thschaftlichen Berufs frei; werden Bedingungen für die Ausübung eines
solchen gestellt (vorgeschriebener Lehr- und Bildungsgang, Fähigkeits- und Keuntui»-
nach weise. Prüfungswesen), so sind diese für Alle gleich und der Nachweis ihrer
Erfüllung ist Allen (mit gewissen Ausnahmen für Frauen, Kinder und junge Leute:
gestattet.
2) Es können immer mehr alle Sachgüter und ein Theil
der „Verhältnisse“ (§. 119). in das volle, d. h. möglichst
unumschränkte Privateigenthum der Privatwirtschaften
übergehen.
M. a. \V. das Privateigenthum dehnt sich immer weiter auf alle wirt-
schaftlichen Güter, wenigstens auf alle Sachgüter aus, wird immer gleichartiger
für alle Guterarton, einerlei, welches der Verwendungszweck derselben, für Gebrauchs-
Vermögen, Kapital, Grundstücke (und selbst z. Th. für Verhältnisse), für Mobilien und
Immobilien, und gewährt nach seinem Inhalte immer absolutere, umfassendere
Rechte. Regale (und Monopole) bestehen wenig mehr und werden meistens prin-
cipicll aus volkswirtschaftlichen Gründen (freilich nicht immer zureichenden) ver-
worfen. Nach Analogie des Eigenthums an Sachen, nur mit den durch die verschiedene
Natur des Rechtsobjects gebot'':. en Modificatiouen wird auch ein sogen, geistiges
Eigen thum an gewissen Verhältnissen (Urheberrecht, Autorrecht, Patentrecht u. s. w.)
gesetzlich sanctionirt. Endlich ist gewöhnlich volles Iutestaterbrecht. meist bis
zu den entferntesten Verwandtschaftsgraden, und öfters ein nur durch das P f 1 i c h 1 1 h e i 1 s-
recht mehr oder weniger beschränktes testamentarisches Erbrecht anerkannt,
ohne Unterschied für Mobil- und Immobileigenthum, für Gebrauchsvermögen und Kapital.
3) Das Vertragsrecht ist in Consequenz dieser Rechtsordnung
der persönlichen Freiheit und des Eigenthums in materieller
Hinsicht, d. h. in Bezug auf den Inhalt der Verträge immer
mehr von einer Einmischung der allgemeinen Rechtsordnung und
gewisser Autoritäten befreit worden. Der „Wille der Parteien“
— so ist die Rechtsfiction — bestimmt diesen Inhalt wesentlich,
meist ganz allein. Diese Verträge sind aber dann unbedingt rechts-
giltig, klagbar und nicht strafbar. Auch die Form der Verträge,
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Die moderne priv.wirthsch. Verkehrsrechtsbasis.
793
ihres Abschlusses und ihrer Aufhebung und Veränderung ist viel-
fach möglichst vereinfacht („formlos“) geworden, ohne Nachtheil
für die Giltigkeit und Klagbarkeit
Daher fast keinerlei Taxsystem mehr. Das Vorhandensein des pactum turpe und
der conditio turpis wird nur selten angenommen. Bei gewissen Crcditvcrträgen ist
namentlich ausser der Ausstellung der bezüglichen Schuldurkunden u. s. w. auch die
Weiterbegebung derselben an Dritte in hohem Grade formell vereinfacht worden
(Giro, Indossament, Blanco-Indossament, Inhaberpapier).
Auf alle diese Gestaltungen formeller und materieller Art, beim
Vertragsrecht, Eigenthum, bei der persönlichen Freiheit, haben
ökonomische Bedürfnisse und Rücksichten und speciell Gesichts-
puncte des ökonomischen Individualismus mit eingewirkt.
4) Die „wohlerworbenen Rechte“, auch diejenigen,
welche aus der Periode einer ganz anderen Rechtsordnung her-
rühren, werden als zu Recht bestehend anerkannt, sind daher
regelmässig nur vertragsmässig der Abänderung, Einschränkung,
Aufhebung fähig, und nach den formellen und materiellen Be-
dingungen, über welche mit den Berechtigten Vereinbarung erfolgt.
Aber im Falle gewisse „öffentliche“ Interessen es fordern, wird
eine Zwangsenteignung im Princip für zulässig erklärt, je-
doch nur mit grosser Vorsicht, mit vielen Cautelen und gegen
volle Entschädigung (wenigstens für damnum emergens) in der Praxis
durchgeführt.
Auch hierbei wird mitunter freie contractlichc Vereinbarung hinsichtlich der
Entschädigung Vorbehalten. Doch kommt auch eine Festsetzung der Entschädigung
einseitig durch gesetzliche Verfügung, durch Obrigkeit vor. Auch im letzteren Falle
pflegt sich die Entschädigung aber einigermaassen nach der Höhe des ökonomischen
Werths des beseitigten (oder verminderten) Hechts zu richten. Auch bei der Auf-
hebung von Grundlasten u. dgl. m. im Wege der Reform, wie in Deutschland (im
Gegensatz zu dem französischen revolutionären Vorgehen), haben freilich die Zeit-
verhältnisse ihren Einfluss auf die Höhe der Entschädigung ausgeübt , z. B. in der
Normirung der Ablösungscoefficientcn bei Zehent- und ähnlichen Lasten. Unentgelt-
liche Aufhebung des Jagdrechts auf fremdem Grund und Boden (preuss.
Ges. v. 31. Oct. 1848) u. s. w. S. Näheres über die Principienfrage im 2. Thl. der
Grundlegung (in d. 2. A., Kap. 5. S. 787 ff.). Bemerkenswerth auch für die all-
gemeine Frage ist, dass ökonomisch-technische Bedürfnisse, wie bei Bergbau,
bes. bei Wege-, namentlich Eisenbahnbau, wo es sich darum handelt, gerade das
uud das . da und da gelegene , so uud so beschaffene Grundstück zu erhalten , die
neueste Entwickung des Zwangsenteignuugsrechts bewirkt haben: gesellschaft-
liche, volks wirthschaftliche Interessen mussten dein Privateigenthumsrecht Vorgehen.
Ucber die verwandte Frage der Befreiung des ländlichen Bodens von Lasten siehe
Buchenberger, Agrarpolitik I, 1, Kap. 1; über Aufhebung von Gewerberechten
s. die Gewerbepolitik.
Das privatwirtlischaftliche System auf dieser Verkehrs rechtsbasis
nennen wir das moderne privatwirthschaftliche System der
freien Concurrenz.
Die „socialen Freiheitsrechte“ in Bezug auf Eheschliessung,
Niederlassung, Ein- und Auswanderung u. s. w. (Abth. 2) nach
794 5. B. Organis. d. Volksw.sch. 2. K. Priv.w.sch. Syst. 2. A. Modernes. §. SOS.
ihrer ökonomischen Seite betrachtet; die materielle Vertragsfreiheit,
daher namentlich die Freiheit der Preise, der Löhne, der Zinsen,
im Gegensatz zu Preis-, Lohn- und Zinstaxen; die Gewerbefreiheit,
der Freihandel, die Freiheit des agrarischen Grundeigenthums im
Gegensatz zu Zunftwesen und Staatsconcession im Gewerbe und
Handelsbetrieb, zu Schutzzoll und Prohibition im internationalen
Handel, zur älteren Agrarverfassung mit ihrer vielfachen Bindung
des Eigenthums, des Betriebs u. s. w. sind nur Bezeichnungen für
die freie Concurrenz auf einzelnen besonderen Gebieten der Volks-
wirtschaft und Consequenzen des allgemeinen Princips der modernen
freien Concurrenz im privatwirthschaftlichen System.
Mit diesem allgemeinen Princip haben wir es hier in der Grundlegung und zum
Theil in der „Theoretischen Volkswirtschaftslehre“ zu tliun, mit jenen Consequenzen
in der „Practischen Volkswirtschaftslehre“. Auch für die nationalökonomische Lehre
von der freien Concurrenz sind die Rechtsfragen , welche sich au die Eigenthums-
institution, das Privateigenthum, das Vertragsrecht anschliessen , von entscheidender
Bedeutung. Erst in der 2. Abtheilung der Grundlegung linden daher die folgenden
Erörterungen ihren Abschluss und in Manchem ihre tiefere Begründung.
2. Abschnitt.
Das moderne privatwirtlischaftliche System der freien
Concurrenz.
§. 308 [2. A., S.223J. Vorbemerkungen und Litt er a tu r. Die hierher gehörige
systematische und monographische Litteratur besteht eigentlich in der gesammten
physiokratisch-Smithischen nationalökonomischen Litteratur, wofür auf den
eigenen, in diesem Gesammtwerk geplanten litterargeschichtlichen Band zu verweisen
ist. Die neuere Litteratur, der ökonomische Individualismus und Liberalismus, in
England aus der Periode nach Smith-Malthus-Ricardo, in Frankreich aus der-
jenigen nach J. B. Say, in Deutschland nach Storch, Lotz, Rau, Hermann,
also im Allgemeinen die Litteratur der Epigoneuperiode, ist jedoch für die hier
erörterten Principienpuncte deswegen auch in der Wissenschaft zur Klarstellung der
Theorie besonders zu beachten, weil erst in ihr die vollen Consequenzen der
physiokratisch-Smithischen Prämissen gezogen werden. In dieser Hinsicht sind hervor-
zuheben: die Schriften von Senior, political economy (outiines). zuerst 1836, und
öfters (Gegner der Fabrikgesetzgebung), M’Culloch, principles of political economy,
zuerst Edinburg 1825 und öfter, deutsch von Weber, Stuttgart 1831, auch J. Mi 11
(Vater), Elements of political economy. Lond. 1821, deutsch von Jacob, Halle 1825;
aus der französischen Litteratur vor Allen des berühmten Autors der Lehre von der
natürlichen Interossenharmonie , Fr. Bastiat's, harmonies economiqucs, Paris 1S50
(deutsch von Prince-Smith. 1852), bes. Kap. 10 und zahlreiche kleinere Schriften
in s. oeuvres complets (mehrfache Ausg.); gegen Bastiat erscheint z. B. selbst
Ch. Dunoy er in seiner liberte du travail, 3 vol., Paris 1845, bes. vol. 2. noch als
nüchterner Lobredner der freien Concurrenz.
Die deutschen Systematiker von Bedeutung haben sich alle der freien
Concurrenz gegenüber, auch wenn sie sie priucipiell, dem Standpunct der Smith sehen
Schule gemäss, vertraten, doch vorsichtiger, im Einzelnen mitunter skeptisch
geäussert. Auch M. Wirth, der verdiente Systematiker der eigentlichen „deutschen
Freihandclsschule“, hat in seinen verbreiteten Grundzüpen der Nationalökonomie,
zuerst 1856, 1858 und seitdem in öfteren Auflagen, nicht immer die vollen rücksichts-
losen Consequenzen des Systems der freien Concurrenz gezogen und ist neuerdings
^ k.
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Vorbemerkungen und Litteratur.
795
mehrfach dem Standpunct der sog. socialpolitischen deutschen Schule näher getreten
(auch in practischen Fragen, wie Staatseisenbahnpolitik, Zettelbankpolitik).
Dagegen kann man das „moderno System der freien Concurrenz“ in seiner
theoretischen Formulirung wohl am Besten in den kleineren monographischen
Arbeiten theils über theoretische Principienpn n cte, theils über practische
Fragen, worin die verkehrsfreiheitliche Entscheidung theoretisch principiell be-
gründet wird, besonders über Gewerbefreiheit, Freihandel, Freiheit des Grund-
eigenthums, Bankfreiheit u. dgl. m. entwickelt finden. Die Form der Darstellung, dio
Nothwendigkeit der Pointirung lässt die Schriftsteller hier die Consequenzen oft
schärfer ziehen. In dieser Hinsicht ist namentlich auf die Wörterbücher, so das
ältere französische dictionnaire de l’äconomie politique, Paris 1851, 1853, 2 B.. das
deutsche Handwörterbuch der Volkswirtschaftslehre von Rentzsch (besonders die
Artikel von Prince-Smith, Böhmert, Emminghaus, Rentzsch u. A.), auch
auf einzelne Artikel in Rotteck-Wclcker’s Staatslexicon zu verweisen (Bluntschli-
Bratcr's Staatswörterb. , sowie H. Wagen er ’s Gesellschaftslexicon stehen auch in
den volkswirtschaftlichen Artikeln im Ganzen anders'». Prince-Smi th ’s Artikel
Handelsfreiheit in Rentzsch’ Handwörterbuch enthält in aller Kürze die ganze
Theorie der freien Concurrenz. Weitere Ausführungen über die theoretischen Puncte
und practischen Fragen aus dem Standpuncte der Theorie im Journal des Economistes
und besonders in Faucher’s (und früher 0. Michaelis’, Berlin) Viertelj.sch. für
Volkswirtschaft und Culturgeschichte. namentlich in den Art. von Prince-Smith,
0. Michaelis u. A. in., aber bis in die neueren und neuesten Bände hinein; ferner in
den Verhandlungen des Congresses der deutschen Volkswirtho seit
1S5S über die wichtigsten practischen volkswirtschaftlichen Fragen dieser Periode,
Anfangs besonders Uber Gewerbefreiheit und Verwandtes, Zolltarif. In der Gesammt-
richtung dieses Congresses wie in derjenigen mancher seiner Stimmführer ist freilich
in der neueren Zeit, besonders seit 1866. 1870, eine vielfach bemerkenswerte Mässigung,
hier und da selbst ein Umschwung eingetreten, w’oraus sich erklärt, dass bestiminto
Postulate und Lehrsätze der Theorie der freien Concurrenz heute auch von dieser
Seite aus nicht mehr so otfen und schroff vertreten, selbst hier und da abgelehnt
werden. Indessen braucht man nur in die früheren Verhandlungen des volkswirt-
schaftlichen Congresses und in die genannte Vierteljahrsschrift zu blicken, um sich
zu überzeugen, dass hier nur eine rückläufige Bewegung eingetreten ist. Vgl.
namentlich die Blumenlcse extrem freihändlerischer Aeusserungen der sogenannten
..deutscheu Freihandelsschule“ in Schönberg’s Aufsatz in der Tub. Ztschr. 1872,
S. 404 ff., sowie Roscher’ s auch hier wie stets von hoher Objectivität zeugendes
Urteil in seiner Geschichte der Nationalökonomie, S. 1014 ff. Es wirft der genannten
Schule in theoretischer Hinsicht mit Recht vor: sie sei zu abstract, zu wenig
historisch, zu optimistisch (letzteres wohl vor Allem!). Auch gegenwärtig hat
diese extreme deutsche „Manchesterrichtung“ , welche sich politisch z. Th. mit der
Fortschrittspartei („Deutsch-Freisinnige**) deckt, in der Wochenschrift „Nation“ noch
ein halb wissenschaftliches, halb populäres Organ ihrer Farbe, worin die Bam-
berger, Barth, Brömel, AI. Meyer den radicalen freihändlerischen Standpunct
der früheren Zeit nach Möglichkeit festhalten, gegen Schutzzoll, Gewerberechtsreform,
Staatssocialismus u. s. w. eifern. Die Richtung ist so geblieben, sie wird aber mit
weniger Geist und logischer Schärfe wie ehedem vertreten.
In den wissenschaftlichen systematischen Werken, den Lehr- und Handbüchern
fehlen zusammenfassende Erörterungen über das Priucip und System der freien Con-
currenz meistens ganz. Es wird davon gewöhnlich nur bei theoretischen uud prac-
tischen Specialfragen gehandelt, was aber nicht genügt. Rau kommt nur in der
Kurze in der Preislehre (bei den Bestimmgründen des Preises) I, §. 152. und in
der Lohnlehre I, §. 187, l‘J5 auf das „Mitwerben“ zu sprechen, ohne principiellc
Würdigung. Roscher legt in der Lehre vom Güterumlauf. I, §. i)7, die wirth-
schaftsgcschichtlichen Bedingungen für die Entwicklung der freien Con-
currenz dar und erachtet letztere doch für unsere Zeit als überwiegend günstig: die
Vermuthung sei für sie als die Regel , für Ausnahmen liege dem Behauptenden die
Beweislast ob. Die beherrschende Bedeutung, welche das Concurrenzprincip in der
heutigen Theorie und Praxis einnimmt, verlangt m. E. eine principiellcr ein-
gehende Untersuchung. Eine solche liefert J. St. Mi 11 im 4. Kap. des 2. B. seiner
796 5. B. Organis. d. Volks w.sch. 2. K. Priv.w.sch. Syst. 2. A. Modernes. §. SOS.
Polit. Oekon. doch auch noch nicht, trotz der schätzbaren Erörterungen dieses Kapitels
(es findet sich hier z. B. noch der Ausspruch: dass nur mittelst des Prinops der
Concurrenz die Volkswirtschaftslehre auf den Character einer Wissenschaft Anspruch
habe). Aehnlich M. Wirth, (jrundzüge I, 4 Auti., S. 41b tf. Principieller dageeea
ist schon früher Schäffle. ges. Syst. 2. Aufl., S. 63 ff., 3. Aufl., §. 2U2 ff., II. 2s i.
336 U', auch S. 526 ff. auf die allgemein-wirthschaftliche Bedeutung des Problems der fmea
Concurrenz eingegangon. S. auch Schäffle’s allgemeine Erörterung über „Wettstreit“
Soc. Körper, II, 412 ff. , und besonders über den Character der „modernen Volks-
wirtschaft der freien Concurrenz“ als der „Epoche der entfesselten Geld- und Credit*
wirthschaft“, eb. III, 417 ff. S. auch Rodbertus, Soc. Briefe, bes. 1 u. 2. Knies.
Politische Oekonomie, passim, bes. im 3. und 4. Abschn. d. Abth. III d. I. A_ tu*
S. 197 ff., 2. A., S. 223 ff., Hildebrand, Nationalökonomie, passim, z. B. S. 295.
G. Schmoller, Grundfragen, G. Cohn, System I. 2. Hauptabschn., Kap. 2, S. 394.
mit einer allgemeineren principiellen Erörterung über „freie Concurrenz und Verbände“.
„Privateigenthum und Gesammteigenthum“.
Statt immer wieder zum Beleg für die Ansichten über freie Concurrenz auf dk
oft citirten Physiokraten , besonders Turgot, auf A. Smith und die „CUssikcr
zurückgehen, habe ich es vorgezogen, neuere extreme Freihändler anzufuhrea.
Ich erkenne dabei den Werth der scharfen Logik und des grossen Abstractioas-
vermögeus bei den hervorragenderen Anhängern der „deutschen Freihandelsschute“.
besonders bei Pri n ce-S mi th , Faucher, Michaelis, wie anderseits z B bei
dem Rechtsphilosophen Lasson vollkommen an. Diese Schriftsteller stellen die Pro-
bleme klar und scharf hin und beantworten sie ebenso, während die deutsches
historischen Nationalökonomen vor lauter „Relativität“ mitunter zu gar keiner klares
Formulirung und Antwort kommen, auch nicht für gegebene Zeiten und Länder am
„den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen“ (S. 252 oben), — der entgegengesetzt;
Fehler wie beim „abstracten“ Verfahren, aber doch gewiss ebenso ein Fehler.
Besonders characteristisch ist Pri n ce-S mith, das geistige Haupt der sogen
deutschen Freihandelsschule. S. namentlich Schön berg ’s Aufs., Tüb. Ztschr. 1>72.
S. 404 ff. und die Aufsätze von Princc-Smith, „Handelsfreiheit“ in Rentzsch
Handwörterb., „Volkswirtschaftliche Gerechtigkeit“ in Eras’ Jahrb. f. Volkswirthsch I
(1868), der „Markt“ in Faucher ’s Vierteljahrsschr. 1863, IV, 143, die „sogenannte
Arbeiterfrage“, cb. 1864. IV, 192 („sogenannte“ — völlig consequent, denn weat
das „Naturgesetz von Angebot und Nachfrage“ allein Alles richtig und gerecht ent-
scheidet, so ist auch der Arbeitslohn und damit die ökonomische Lage des Arbeitet
eine unabänderliche Thatsache, über die es gar nichts mehr zu „fragen“ giebr:
ferner „die Socialdemokratie auf dem deutschen Reichstage“, eb. 1869, I. „Herrn
Dr. J. Jacoby’s Ziel der Arbeiterbewegung'*, eb. 1S70, I, 66; s. auch „über dk
Grenzen der Verpflichtung zur Aushilfe bei ausserordentlichem Notstände“, 1869.
II, 231. Die letzte Arbeit Prince-Smith ’s über den Staat und Volkshaushah
(Berl. 1S74) zeigt mannigfach gemässigtere und richtigere Auffassungen. Ich bemerke
dies ausdrücklich, weil diese kleine Schrift von seinen volkswirtschaftlichen Freunden
als Beweis für die Unrichtigkeit der Angriffe gegen die deutsche Freihandelsschule
benutzt worden ist. und auch Andere, z. B. A. Held (in der „Gegenwart“^ sie des-
halb gerühmt haben. Auch auf Princc-Smith wie auf seine Schüler war 1S6G and
1870 eben nicht ohne Einfluss geblieben. Im Text des §. 313 sind mehrfach fa>:
wörtlich Sätze aus den genannten Artikeln von Prince-Smith aufgenommen. S. diese
Aufsätze jetzt z. Th. in den von 0. Michaelis herausgegebenen gesammelten Schriften
von Prince-Smith, Berl. 1878. Neben den Arbeiten des letzteren sind die Aufsätze
von Faucher in d. Viertelj.schr., eb. die von Michaelis (z. B. über die wirth-
schaftiichc Rolle des Spec.ulationshandels), jetzt in dess. volkswirtschaftlichen Schriften.
2. ß., Berl. 1873, das wissenschaftlich Bedeutendste aus dieser Richtung. Allgemeiner
philosophisch den radiealen ökonomischen Individualismus zu begründen bat Lasson
versucht, so in d. Berl. Viertelj.schr. f. Volks wirthschaft 1874, I. Vgl. sonst auch
z. B. im Rentzsch sehen Handwörterb. den Art. „Concurrenz“ von Emminghaus,
„Gewerbefreiheit“ von Böhmen.
Wie sehr die Grundanschauung über freie Concurrenz schon physio-
kratischen, bezw. Turgot ’schen, nicht erst Smith’schen Ursprungs ist, hat u. A.
v. Scheel richtig hervorgehoben: über Turgot Tüb. Ztschr. 1868, womit zu ver-
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Wesen der modernen freien Concurrenz.
797
gleichen: v. Sivers, über Turgot, Hildebr. Jahrb. 1574, I., auch Leser, Begr. d.
Reichth. bei A. Smith und v. Skarzynski, A. Smith. Aus der neuesten Litteratur
gehören die Arbeiten von W. Hasbach über Quesnay und Smith (s. o. S. 5) auch
hierher. Uebcr die Angriffe auf die freie Concurrenz in der Litteratur s.
unten §. 315.
I. — §. 309 f 126]. Das Wesen der modernen freien
Concurrenz. Es besteht darin, dass sieb die Privatwirtschaften
im Verkehr in den Reehtsschranken halten müssen, welche durch
die im vorigen Abschnitt formulirten Principien der persönlichen
Freiheit, des Privateigenthums, des Vertragsrechts und der Sanction
geschichtlich überkommener und einmal zu Rechtens bestehender
„wohlerworbener Rechte“ gezogen sind. Innerhalb dieser Schranken
darf jede Privatwirtschaft ihr wirtschaftliches Selbstinteresse im
Verkehr, also namentlich im Process der Preisbildung für Sachgüter
und Dienstleistungen und bei der vertragsmässigen Festsetzung der
Arbeitslöhne, Leihzinsen, Pacht- und Mietzinsen u. 8. w., soweit
geltend machen, als es ihr beliebt und als sie es vermag.
„Die Concurrenz oder Mitbewerbung ist das freie Spiel der wirtschaft-
lichen Kräfte; sie äussert sich in der Wechselwirkung von Angebot und
Nachfrage, welche den Preis reguliren.** M. Wirth, a. a. Ü. Diese Umschreibung
ist ungenügend , wenn sie sich auch bis in die amtlichen Documeute , die Motive zu
Gesetzentwürfen des deutschen Rcichskanzleramts in den 1870er Jahren verstiegen hat.
Man könnte danach in der That an vollständige rechtliche Schranken-
losigkeit der freien Concurrenz denken, weshalb die im Text gegebene Formulirung
richtiger ist, bei welcher die Gefahr, die freie Concurrenz, wie so oft geschehen, für
eine absolute zu halten, von vornherein fortfällt.
Die günstigen Seiten und Folgen dieses Systems nicht bloss
für die einzelne Privat wirthschaft, sondern für die ganze Volks-
wirtschaft sind von der modernen Volkswirtschaftslehre oft
rühmend dargeiegt worden und in der That auch nicht zu ver-
kennen. Nur bat man dieselben zu allgemein, ihren Eintritt zu
sicher angenommen, ihre Bedeutung vielfach übertrieben und die
ungünstigen Seiten und Folgen nicht hinlänglich betrachtet.
Man identilicirte Möglichkeit, hier und da Wahrscheinlichkeit mit Wirklichkeit
und Gewissheit, urtheilte durchweg zu optimistisch, betrachtete zu einseitig Alles vom
Standpunctc des Productions-, nicht auch des Vertheilungsinteresses, fasste das ganze
Concurrenzsystem nicht als eine historische, sondern als eine naturgemässc rein-öko-
nomische Einrichtung auf, zog falsche Schlüsse aus dieser vermeintlichen Natur-
gemässheit und aus der angenommenen nothwendigen Allgemeinheit und Absolutheit
dieses Systems. Man hatte weiter eine ganz falsche Auffassung von Wesen und Be-
deutung des wirtschaftlichen Selbstinteresses und überhaupt eine theils unrichtige,
theils durchaus einseitige ökonomische Psychologie und Motivationstheorie, erblickte
im Selbstinteresse förmlich eine Naturkraft (nicht nur im Vergleich, in der Hypothese
der Methode), statt einen Trieb, von dem Motive ausgeheu. Man verfuhr auch in der
ganzen Behandlung der hier einschlagondcn einzelnen Fragen viel zu apodictisch absolut,
nicht historisch relativ, übertrieb auch da die möglichen, vollends die wirklichen guten
Seiten und Folgen und übersah oder würdigte doch viel zu wenig die ebenso unzweifel-
haften ungünstigen Seiten und Folgen und damit die Gefahren für Volkswirtschaft,
Cultur, Sittlichkeit
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Thefl. Grundlagen.
51
798 5. B. Organis. d. Volksw.sch. 2. K. Priv.w.sch. Syst. 2. A. Modernes. §. 310.
Für das Alles kann jetzt in dieser 3. Aufl. vornemÜch wieder auf die Aus-
führungen iin 1. Kap. des 1. Buchs Bezug genommen werden, wo die tiefere Be-
gründung der Kritik des Concurreuzsystoms nach der psychologischen Seite versucht
wurde. Für unrichtig halte ich es. wenn man den Vertretern der freien Cocurrenz,
der älteren und neueren Freihandelsschule kurzweg ihre Methode, die spoculative
Deduction, welche sie mit Vorliebe anwenden, vorwirft. Nicht diese Methode war
falsch, sondern die Handhabung derselben allerdings öfter. Die Kritik des Systems
lässt sich mit derselben Methode der Deduction liefern, z. Th. besser und zwingender
als mit der inductiven. Auch dafür sei auf die Methodologie im 1. Buch verwiesen
und unten auf §. 315.
II. — §. 310 [127]. Die günstigen Folgen der freien
Concurrenz. Nach der Beweisführung der liberal-individua-
listischen Schule liegen sie vornemlich auf dem Gebiete der Pro-
duction der Güter und treten hier sowohl in der technischen
als in der ökonomischen Seite der einzelnen, Güter erzeugenden
Privatwirthschaft und dadurch in der ganzen Volkswirtschaft
hervor.
Von allen Anhängern der freien Concurrenz wird das besonders hervorgehoben,
auch von denen, welche Bedenken wegen der Wirkungen derselben auf die Vertbeilung
äussern. Sie nehmen dann gewöhnlich an, dass jene Vortheile gross genug sind, um
alle Bedenken zu überwiegen, sowie, dass die Vortheile doch mehr oder weniger
Allen zu Gute kommen. In diesem ..Mehr oder Weniger“ liegt schon der schwache Punct
Die Concurrenz kann — nur dies darf man sagen, nicht: sie muss und
und wird, wie es oft geschehen ist; auch hier, wie in so vielen Sätzen der volks-
wirtschaftlichen Theorie, kann nur von einer Tendenz gesprochen werden; — sie
kann die Erzeuger zur bestmöglichen Technik neben der höchstmöglichen Oekouomik
bei der Herstellung und wiederum auf die Dauer zur Preisansetzung der Güter nach
dem geringsten Kostensätze, zu welchem die Güter jeweilig herzustellen sind (.. gesell-
schaftlich notwendige Productionskosten“), beim Absätze der Güter im Verkehr
zwingen. Vervollkommnung der technischen Produotionsmcthoden , daher namentlich
im notwendigen Interesse der Gesammtheit, Ersparung an jenen Niemandem
als Einkommen zu Gute kommenden eigentlich volks wirtschaftlichen oder natür-
lichen Productionskosten (§. 172), weil die unentgeltliche Mitwirkung der Natur-
kräfte zu erstreben, dafür die Technik zu gestalten, im hohen Interesse des privat-
wirthschaftlichen Subjects liegt (Maschinenwesen)1), Anwendung der höchstmöglichen
Intelligenz und Thatkraft, Lockung dazu durch Extragewinne bei einem hinter dem
Marktpreise zurückbleibcndeu eigenen Kostensätze oder bei grösserem Absätze in Folge
niedrigeren Preises („Kentenfunction“. v. Mangoldt, Schäffle2) sind oder, auch
hier richtiger gesagt, können die Folgen der freien Concurrenz sein.
*) Besonders gern hervorgehoben, und mit Recht, von Bastiat und Andren.
Die übliche Gestaltung des privatwirthschafüichcn Productionsbetriebs, mit ge-
dungenen Lohnarbeitern zu produciren, deren Löhne zu den cinzelwirthschaft-
lichen Productionskosten gehören, bietet hier einen besonderen Sporn zu tech-
nischen Fortschritten, Einführung von Maschinen u. s. w., um zunächst an den
Lohnauslagen zu sparen. Es ist eine nachweisbare Thatsache, dass die Ver-
breitung der Maschinen und die Verbesserung derselben bei starkem Steigen der
Arbeitslöhne am Raschesten vor sich geht, so z. B. auch in neuerer Zeit in Deutsch-
land in der Landwirtschaft. Freilich liegt darin auch gerade wieder die Gefahr für
die Arbeiter.
ä) Schäffle, ges. Syst. 2. Aufl. §. 09 S. 193 ff., s. auch dess. Theorie d. aus-
schliess. Absatzvcrh.; Syst. 3. Aufl. II, 75ff.,53Slf. Früher schon v. Mangoldt, Lehre vom
Ünternehinergewinn. Leipz. 1S55, S. 105, Art. Gütervertheilung im Staatswörterbuch IV,
5*9 fl'., ders., Volkswirtschaftslehre S. 4S6, Grundr. §. 120 ff. Von Hermann ist
die Verallgemeinerung des Reiitenpriucips bereits angebahnt. Vgl. darüber Berens,
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Günstige Folgen der freien Concurrenz. Kritik.
799
Das Volk oder die Volkswirtkschaft erlangt dann dadurch
den Gesammtbedarf an wirtschaftlichen Gütern, welcher sich bei
einem bestimmten Bedürfnissstande ergiebt, auf das Beste und
Billigste befriedigt. Das „Consumenteninteresse“ ist wahrgenommen,
der entscheidende Gesichtspunct der Schule, auch der einzelne
Consument wird so am Besten bedient. Damit ist auch das Pro-
duetionsinteresse gesichert. Aber nicht minder ist das Producenten-
und das Arbeiterinteresse so, ja eigentlich nur so, richtig zu
befriedigen. Jeder wählt sich die ihm passende Berufstätigkeit.
Jeder erlangt aber sogar auch so und nur so den richtigen, den
seinen Leistungen entsprechenden Anteil am Productionsertrag,
im Lohn, im Profit, im Gewinn: die ungeheuerliche, gleichwohl
begangene petitio principii liberaler Theoretiker, womit denn auch
das Vertheilungsproblem auf die allein richtige, gerechte, der An-
nahme nach allein mögliche Weise gelöst ist.
III. — §. 311 [127]. Kritik dieser optimistischen Be-
weisführung. Gegen diese liberal-individualistische Auffassung
erheben sich nun freilich wesentliche Bedenken, sowohl solche, auf
welche die vor- und umsichtigere Anwendung der Deduction und
die psychologische Analyse der im wirtschaftlichen Leben mit-
spielenden Motive selbst schon führt, als solche, welche durch
Beobachtung der Thatsacben dieses Lebens sich feststellen lassen.
So kann man naebweisen: die Voraussetzungen stimmen in
der Wirklichkeit mit denjenigen der Schule nicht überein; die
Folgen sind mancherlei andere, nicht diese günstigen, sondern
vielfach ungünstige, an sich und in Vergleich mit den Verhält-
nissen in früheren und anderen Wirtschaftsordnungen; die psy-
chologische Grundlage des Räsonnements ist zu eng und ein-
seitig, zum Thcil schief angenommen; die Rechtsgrundlagen
des Systems der freien Concurrenz, die Privateigenthumsinstitution,
die Vertragsfreiheit, die Consequenzen aus dem Rechtsprincip der
persönlichen Freiheit (die socialen Freiheitsrechte in liberaler Ge-
staltung, die freie Berufswahl) wirken gerade hier vielfach be-
denklich.
Versuch einer kritischen Dogmengeschichte der Grundrente, Leipzig 1868, S. 186 11'.;
der übrigens die Bedeutung einer Verallgemeinerung des Kentenprincips auch auf
ihr richtiges Maass znrückfuhrt. In der Anerkennung des ökonomischen Ver-
dientseins der Kenten geht mir Schiffte a. a. 0. auch etwas zu weit. Auch hier
spielen Glucksfälle, Conjuncturengewinno doch oft sehr wesentlich mit. Schälfle hat
demgemäss auch s. frühero Lehre in diesem Puncto berichtigt, s. Soc. Körper B. III.
51*
800 5. B. Grganis. d. Volksw.sch. 2. K. Priv.w.sch. Syst 2. A. Modernes. §. 312.
So ist es eben eine nicht selten falsche, oft gar nicht zutreffende Voraussetzung,
dass dio Vertragschliessenden sich cinigermaassen gleichstehen. Damit entfallen sofort
einige der optimistischen Consequenzen der Schule für die richtige, billige Gestaltung
der wirtschaftlichen Ergebnisse der Verträge.
Die gerühmte Kostenersparung erfolgt daher z. B. in der Production oft mehr
durch Lohndruck, als durch technische Verbesserungen. Ferner ist nicht zu übersehen,
dass der Bcdürfnissstand der Volkswirtschaft sich gerade in dem und wegen des
Systems der freien Concurrenz eigentümlich und keineswegs unbedingt dem Interesse
der Gesammtheit gemäss entwickelt, weil auch dio Vertheilung der Güter in der
“Volkswirtschaft durch das genannte System inaassgebeud und oft nicht günstig für
die Volksmasse mit bestimmt wird: Die Ungleichheit der individuellen Einkommen
bewirkt eine grosse Steigerung des Luxus der Reichen und diesen kommen dann als
Consumenten jene Productionsvortheile überwiegend zu Gute. Weiter ist zu beachten,
dass diese an sich möglichen günstigen Folgen der freien Concurrenz in der Wirk-
lichkeit nicht immer oder doch nicht vollständig cintreten, weil die Erzeuger statt
der Concurrenz unter sich die Vereinbarung eines Compromisses, die Abschliessung
eines Carteils, die Bildung eines Rings vorzieheu oder die schliesslichen Sieger in der
Concurrenz eine Art factisches Monopol erlangen. Auf diese beiden Endergeb-
nisse der Entwicklung strebt aber gerade im System der freien Concurrenz die Ge-
staltung des Productionsprocesses nach dein ihm in diesem System innewohnenden
Entwicklungsgesetze, wenigstens auf wichtigen Productionsgebieteu, hin. (S. die Lehre
vom Preise und den Productionskosten, besonders der Fabrikate, in der theorot. National-
ökonomie.) Ein besonders characteristisches Beispiel der Paralysirung der freien
Concurrenz durch Compromisse , Fusionen und factische Monopole liefert die Ge-
schichte des Privat bahuwesens in Nord-America, Grossbritannien und Frankreich
u, a. L. (S. Perrot, Eisenbahnreform, S. 81 11., und G. Cohn, Untersuchungen über
englische Eisenbahnpolitik, Leipzig 1874 — 75, 2 Bde.).
A. — §. 312 [128]. Insbesondere die behauptete „Natur-
gemässheit“ des Systems der freien Concurrenz und des freieu
Waltens des wirtschaftlichen Sclbstinteresses, die vorkommende
Annahme, dass ein derartiger Zustand der volkswirtschaftlichen
Rechtsordnung der allein und überall naturgemässe sei, das
sind Trugschlüsse der schlimmsten Art. Ihre Begründung
ist logisch, psychologisch und erfahrungsmässig unhaltbar, die
Folgerungen, zu welchen sic in der Theorie und Praxis wieder
führten, sind nicht weniger unrichtig.
Vgl. besonders die iu der Vorbemerkung genannte deutsche publicistische Litteratur.
In engem Zusammenhang mit diesen falschen Ansichten steht die Auffassung der
unter dem Impulse des wirthschaftlichen Selbstinteresses boi freier Concurrenz
stehenden „Gestaltungstendenzen“ der volkswirthschaftlichen Vorgänge schlechtweg
als „Naturgesetze“, — ein Ausdruck, der richtig verstanden, wie etwa von
Roscher (§. 13), allenfalls noch zulässig wäre, in der Beweisführung der volkswirth-
schaftlichen Publicisten , Congressredner u. s. w. aber zum Missbrauch geführt
hat und deswegen besser zu vermeiden ist (S. oben über „wirtschaftliche Gesetze“
§. 86 — 91.)
Die radicalen Freihändler z. B., welche jedem Lande jedweder Wirth-
schaf tsentwicklu ng unbedingten Freihandel anrathen, stehen auf dem Standpuncte
der allgemeinen Naturgemkssheit des Concurrcnzsystems. List in seinem natio-
nalen System hat diese Verallgemeinerung der Freihandelstheorie glänzend abgewiesen.
Die Auffassung ist übrigens eine notwendige Consequenz des ganzen Standpuncts,
daher bei den folgerichtigen Physiokraten schon zu finden.
1) Die Begründung der „Naturgemässkeit“ des Systems der
freien Concurrenz ist zunächst schon deswegen verfehlt, weil sie
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Unrichtige Ansichten über Naturgemässheit der freien Concurrenz. 801
auf einer Begriffs Verwechslung hinsichtlich des Wesens
des wirtbschaftlichen Selbstinteresses beruht.
Dies ist nicht eine Naturkraft im eigentlichen Sinne des Worts, wirkt keines-
wegs etwa in der wirthschaftlichen wie die Schwerkraft in der körperlichen Welt, wie
wohl gesagt wurde, sondern es ist ein menschlicher T r i e b , der als solcher zwar den
Willen anregt und zu Handlungen bestimmen kann und darf, auch oft, aber keines-
wegs nothwendig immer, bestimmen muss und noch weniger immer bestimmen soll.
Denn dieser Trieb wirkt nicht unmittelbar als Ursache der wirthschaftlichen Hand-
lungen des Menschen, sondern er führt zunächst nur zu Motiven für den Willen und
kann und wird auch thatsächlich durch Vernunft und Gründe geleitet, gezügelt, und
im einzelnen Falle seine Wirkung durch andere Motive selbst aufgehoben. Die sitt-
liche Verantwortlichkeit des Menschen für seine wirthschaftlichen Handlungen wird
durch das Vorhandensein des wirthschaftlichen Selbstinteresses daher auch nicht ver-
ändert. S. Buch 1, Kap. 1, bes. über das erste Leitmotiv, §. 34 tf., aber überhaupt
die ganze Motivationstheorie dort.
Zu einer Vergleichung des wirthschaftlichen Selbstinteresses mit der Schwerkraft
hat sich sogar E. Engel in seiner früheren Zeit, wo er allerdings, wie die Meisten
seiner Zeit- und Altersgenossen, noch zu einseitig an der naturwissenschaftlich-
mechanischen Auffassung der Volkswirtschaft und anthropologischen Statistik hing,
einmal verleiten lassen. (S. Zeitschr. d. Kgl. Preuss. Statist. Bür. 1860, S. 41.) Nur
hypothetisch kann eben, zum Zweck der Anwendung der Methode der Deduction,
das Selbstinteresse mit der Regelmässigkeit einer Naturkraft wirkend angesehen werden :
ob und wie weit dies mit der Wirklichkeit stimmt, ist immer erst speciell
zu untersuchen (§.60 11.), was so oft vergessen wird, besonders von der Schule
der freien Concurrenz. Die philosophische Grundanschauung rührt von den Physio-
k rate n her und ist diesen mit ihreu Zeitgenossen gemeinsam. Uebrigens habe auch
ich früher, wie ich einräume, gleich vielen anderen Nationalökonomen und Statistikern
ähnliche Fehler begangen: bestimmte Triebe oder äussere Impulse (wirt-
schaftlicher Vortheil, mancherlei Natureinllüsse) als nothwendig so und so wir-
kende Naturkräfte anzusehen, — womit menschliche Willensfreiheit unvereinbar,
aber auch jeder Culturfortschritt unerklärbar wäre. Dieser Irrthum hat in der Theorie
der freien Concurrenz und der auf diese gestützten Volkswirthschaftspolitik ver-
hängnissvollen Schaden gestiftet, u. A. verursacht, dass die nach dem „Naturgesetz
von Angebot und Nachfrage“ sich ergebenden Gestaltungen als das allezeit Rich-
tige und Gerechte gelten sollten, — auf welche petitio principii im Grunde alle
Polemik gegen eine Staatsintervention im wirthschaftlichen Verkehr hinaus läuft.
Auch hier ist die Gedankenreihe ganz physiokratischen, speciell Turgot’-
schen Ursprungs.
2) Erfahrungsgemäss ist das moderne System der freien Con-
currenz ein Product jüngster Geschichte. Warum es in
der heutigen Form das Endergebniss der geschichtlichen Ent-
wicklung sein soll, ist durchaus nicht einzusehen.
Als geschichtlich geworden, abhängig von den Kategorieen Ort und Zeit, er-
scheint es vielmehr von vornherein nur für gewisse Zustände bestimmt und noth-
wendig als etwas Vergängliches oder * mit einem bekannten La ssal le’ sehen
Ausdruck: das heutige System der freien Concurrenz ist eine historische, keine
logische, keine natürliche Kategorie. Eine in der Weise, wie es Lassalle (Syst. d.
erworb. Rechte u. Kap. u. Arbeit) von grossen rechtsgeschichtlichen Instituten, wie
Eigenthum, Erbrecht gemeint hat, durchaus aufrecht zu haltende Bezeichnung. H.
v. Treitschke’s Gegenbemerkungen, in s. 1. Aufs, über den Socialismus (a. a. 0.
S. 77 11.), zeigen doch nur, dass mit solcher Auffassung, wie mit Aüem, Missbrauch
getrieben werden kann. — Schon Knies sagt einmal ganz richtig, man solle doch
den künftigen Geschlechtern nicht immer nur die Rolle von Affen zumuthen.
Namentlich muss die Richtigkeit des (socialistischen) Einwands zugegeben werden,
dass jene so häufige Behauptung eine willkiihrlicho petitio principii sei: die heutige
Rechtsbasis des Systems, d. h. die heutigen Grundsätze der persönlichen Freiheit, des
802 5 B. Organis. d. Volksw.scli. 2. K. Priv.w.sch. Syst. 2. A. Modernes. §. 313.
Privateigentums, des Vertragsrechts, der Enteignung bildeten die schlechtweg natür-
lichen, die logisch noth wendigen, aber auch die allein nothwendigen und ausreichenden
Schranken der freien Concurrenz. Trcitschke (a. a. 0. S. 81) sagt selbst mit Recht,
niemals habe ein Volk das Eigenthum als ein so unumschränktes Recht angesehen,
wie es in den Theorieen des Privatrechts, losgetrennt vom Staatsrecht, erscheine.
Aber er unterlässt es, irgend welche Consequenzen aus dieser richtigen Auffassung
zu ziehen. Die Forderung vieler vernünftiger Socialisten, vollends aber der von
Treitschke hart angelasseuen „Katliedersocialisten“, geht auf nichts Weiteres hinaus,
als dass „Eigenthum“, „freie Concurrenz“ nicht einer rein individualistischen, d. h
rein privatrechtlichen Auffassung unterliegen, sondern stets dabei, und im geltenden
Recht bedeutend mehr als jetzt, der gesammtheitliche, gesellschaftliche, m. a. W.
der öffentlich - rechtliche Gesichtspunct zur Anerkennung kommen soll. (Siehe auch
Sc hm oll er, Grundfragen, S. 53 ff.: v. Ihering, Zweck im Recht B. 1, bes. 2. Hälfte,
u. unten Abth. 2, in der 2. Aufl.- Kap. 2 — 5.)
ß. — §.313 [129]. Falsche Folgerungen. Die Folgerungen,
welche aus der falschen Prämisse der „Naturgemässheit“ des Systems
der freien Concurrenz gezogen werden, sind nothwendig selbst wieder
falsch. Sie zeigen bei den consequentesten Vertretern des Systems
durch die rücksichtslose Einseitigkeit, in welcher sie formulirt
wurden, ihre eigene Unhaltbarkeit und damit von Neuem die-
jenige der Prämisse, aus welcher sie richtig abgeleitet worden
sind. Die wichtigsten solcher falschen Folgerungen sind wohl
folgende:
Die wirthschaftlichen Vorgänge auf der genannten Grundlage
des Systems der freien Concurrenz gelten als reine Naturnoth-
wendigkeit, erscheinen dadurch als an sich befriedigend
oder wenigstens als nicht abzuändern, und als an sich ge-
rechtfertigt.
Die freie Concurrenz bewirkt das wirtschaftliche Gedeihen der tüchtigen , also
der allein ein solches „verdienenden“ Privatwirthscbaften und dadurch eine gerechte
Gestaltung der ganzen Volkswirtschaft, insbesondere auch eine gerechte Verteilung
der wirthschaftlichen Güter, des Volkseinkommens und Volksvermögens. Eine weitere
Einmischung des Staats in den wirthschaftlichen Verkehr, über jene Functionen hinaus,
welche die Aufrechthaltung jener Rechtsbasis dieses Verkehrs mit sich bringt, ist
nicht nur naturwidrig und für den Einzelnen und für die Volkswirtschaft schädlich,
sondern auch ungerecht, weil sie andere Preisbildungen für Güter und Leistungen
mit sich bringt, als diejenigen, welche bei freier Concurrenz sich gestalten und die
allein richtigen und allein gerechten sind. Freiheit1), ihr eigenes wirtschaftliches
Wohl, dass jede Privatwirtschaft am Besten versteht, — auch eine der mit tausend-
fältiger Erfahrung in Widerspruch stehenden Fictionen der Schule der freien Con-
currenz! Ein von A. Smith herrührender Satz — nach Kräften, dem Impulse des
wirthschaftlichen Selbstin tcresses gemäss zu fördern, ist daher ein allgemeines Postulat.
*) Prince-Smith a. a. 0. 1863, IV, S. 163: „Von jeher hat eine einsichts-
lose Gewalt den Marktverkehr Beschränkungen unterworfen, welche Missgestaltungen
erzeugten, den Fortschritt des Wohlstands hemmten und Willkühr an die Stelle der
Gerechtigkeit setzten, denn im Wirtschaftsleben giebt cs für volle Gerechtigkeit keine
andere Bürgschaft als die absolute Freiheit.“ Einen fast gleichlautenden Satz von
Prince-Smith: „Zwang in den volkswirtschaftlichen Verkehr einführen heisst
Willkühr an die Stelle der Gerechtigkeit setzen“, citirt Rentzsch in s. Wörterbuch
S. 770 zustimmend. Ganz ähnlich noch später K. Braun (Johannes Berg) z. B. in
der „Gegenwart“ 1875 N. 13.
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Falsche Folgerungen hinsichti. des Syst. d. freien Concurrenz. 803
Die allein richtige Wirtschaftspolitik des Staats ist diejenige des „Laisser faire et
passer“.1) Die Volkswirtschaft — von den Vertretern dieser Richtung gern möglichst
privatwirthschaftlich „Volkshaushalt“ genannt — ist nur ein Nebeneinander von Einzel-
haushalten, von denen jeder für sich selbst zu sorgen hat Das einzige Organ, das
ihnen als Verknüpfung dient, ist der Markt, wo der Austausch der Leistungen und
Güter zwischen den Einzelhaushalten erfolgt.*) Hier wird nur abgerechnet und aus-
einandergesetzt. aber keine weitere Gemeinschaft gebildet. Nach dem Gesetz von
Angebot und Nachfrage erhält hier Jeder seinen richtigen Preis für seine Leistungen
und damit seinen gerechten Ersatz.8) Die freie Bewegung auf dem Markte darf Jeder
beanspruchen, aber er ist auch für sein wirthschaftliches Wohl auf sich selbst allein
angewiesen. Denn nur die drohende Noth spornt die Menschen zu richtiger wirt-
schaftlicher Thätigkeit an, die gern stark betonte eine Seite des ersten Leitmotivs
des Strcbeus nach dem wirtschaftlichen Vortheil (§. 34).4) Schutz gegen Concurrenz
(z. B. mittelst weiteren Eingreifens des Staats) enthebt der Notwendigkeit, ebenso
fleissig und geschickt zu sein als Andre (Mi 11). Im freien Marktverkehr des privat-
wirthschaftlichen Systems kann aber Keiner den eigenen Nutzen fördern, ohne gleich-
zeitig denjenigen Andrer mit zu fördern.6) Allerdings zeigt sich auf dem Markte eine
ungleiche Fähigkeit der Privatwirtschaften, Güter zu beschaffen, wegen der Ungleich-
heit der Hilfsvorräthe (Kapitalien), mit denen die einzelnen Wirtschaften arbeiten.
Aber die hierdurch Benachteiligten sind daran selbst schuld, weil weder sie noch
ihre Vorgänger (also Erbrecht!) etwas angesammelt oder erspart haben.8) Nicht die
Ungerechtigkeit der Zeitgenossen, sondern die Pflichtunterlassung der Vorgänger ist
also anzuklagen. „Es ist eine unbeugsame Bestimmung der Weltordnung, dass keine
Familie anders erlöst werde aus der ursprünglichen Nahrungsnot, als dadurch, dass
sie wirtschaftlich etwas vor sich bringe, haushälterisch etwas erübrige“ (Prince-
Smith).7) Die Privatwirtschaft (der absolute „Marktmensch“ dieser Auffassung)
l) „Laissez faire et passer, le monde va de lui-meine!“ Die Urheberschaft des
berühmten Schlagworts ist nicht ganz unzweifelhaft. Gewöhnlich wird es auf
Gournay, jenen physiokratischen Kaufmann, der auf Mal eshe r bes, Turgotu. A.
bedeutenden Einfluss hatte (vgl. L. De Lavergne, les 6con. frant;. au XVIII. siöcle,
Par. 1S70, p. 174) zurückgeführt und jedenfalls rührt seine agitatorische Verwertung
erst von den Physiokraten und den Smithianern her. Aber es sollen auch schon
französische Kaufleute in Remonstrationen gegen Colbert’s Tarifpolitik das Wort
gebraucht haben. Auch kommt der Gedanke schon fast ebenso formulirt bei
Boisguilbert vor.
*;• Dies und das Folgende fast wörtlich nach Princc-Smith, Handelsfreiheit,
a. a. 0. S. 459. Hier heisst es auch: der Freihandel kennzeichnet sich durch eine
radical-individualistische Auffassung volkswirtschaftlicher Verhältnisse.
8) Eb. Die von Prince-Smith verteidigte Lehre der volkswirtschaftlichen
Freiheit betrachtet diese „als Grundbedingung sowohl der möglich grössten Fülle als
auch voller Gerechtigkeit im Volkshaushalte“.
4) Näher ausgeführt, ganz auf der Basis der im Text entwickelten Theorie von
Lasson, Berl. Vierteljahrsschr. 1874, I, S. 34 ff. Schmoller’s scharfes Urteil
über ihn, Grundfragen S. 32, ist zu hart. — Die Behauptung, dass das Schulze'-
sche Genossenschaftswesen eigentlich der individualistischen Anschauung der Lehre
von der freien Concurrenz widerspricht, ist begründet und die wenigstens anfangs
etwas kühle Haltung der deutschen radicalen Smithiancr dazu, die später noch bei
einzelnen „Freihändlern“ etwas zu bemerken war, ist nur eine Consequenz des Prin-
cips der individualistischen Anschauung.
6) S. Prince-Smith a. a 0. bes. S. 440: Satz für Satz ein Programm. Der
im Text angeführte Satz wird dann auch auf „den verrufenen Spekulationsgewinn“
angewandt.
6) Prince-Smith eb.: „das Wesentliche alles Volkshaushalts beruht auf an-
gesammelten Ililfsvorräthen, auf Kapital Ganz gerecht ist es. dass in einem
Industrievolke diejenigen Familien, welche das meiste Kapital angesammelt haben,
auch den grössten Antheil au dem durch Kapital beschafften Mehrbeträge an Be-
friedigungsmitteln beziehen“.
7) Eb. S. 441, mit weiterer characteristischer Ausführung.
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804 5. B. Organis. d. Volksw.sch. 2. K. Priv.w.sch. Syst. 2. A. Modernes. §. 313.
muss durch den Staat nur „vor Gewaltigung“ geschützt werden, und dies geschieht,
indem der Staat jene Verkchrsrechtsbasis schützt.1) Die freie Concurrenz wird dann
die segen bringen de Ordnungsstifterin (V. Bö liniert).9) Der Handel ist bei ihr das
Werkzeug der vertheilenden Gerechtigkeit (Emininghaus).8)
Das Endergebnis des Wirkens des Selbstinteresses im System
der freien Concurrenz in der Volkswirtschaft ist eine vollständige
„Interessenharmonie“ der zunächst (aber nur scheinbar)
gegensätzlichen Interessen (Bastiat). Wirtschaftliche Uebelstände,
soweit sie überhaupt heilbar, sind daher regelmässig auch nur das
Product ein er Beschränkung der freien Concurrenz.
Das einzige Heilmittel ist also: Gewährung voller freier
Concurrenz.
C, — §. 314 [130], Unhaltbarkeit dieser Folgerungen.
Es ist leicht zu zeigen, dass diese durchaus optimistische Auf-
fassung des Systems der freien Concurrenz einmal auf theils
falschen theils unerwiesenen Axiomen beruht und auf reine peti-
tiones principii hinausläuft; sodann, dass dabei rein apriorisch
construirt und die ungünstigen Seiten der freien Concurrenz über-
sehen oder mit falschen Gründen beschönigt oder gerechtfertigt
werden ; endlich, dass dem System der freien Concurrenz noch eine
ganze Reihe weiterer Einwendungen entgegen zu stellen sind.
1) Falsche Axiome sind folgende Annahmen:
Dass die wirthschaftlichen Vorgänge sich mit Naturnotwendigkeit entwickeln,
dass Jedermann sein wirtschaftliches Interesse am Besten verstehe, dass Jeder allein
selbst Schuld und daher auch allein verantwortlich für sein wirtschaftliches Gedeihen
sei, — als ob es keine „Conjuncturen“ in der modernen Volkswirtschaft gäbe!
§. 160 ff. — ; Jeder mit seinem eigenen Nutzen auch immer denjenigen Anderer
fördere (ganz abgesehen von der Frage, in welchem Maasse dies geschehe); dass
Interessenharmonie aus der freien Concurrenz hervorgehe. Es ist eine völlig apriori-
sche Annahme und unerwiesene Behauptung, dass eine weitere Einmischung des
Staats in deu Verkehr immer nachtheilig und ungerecht und nur die Politik des
Laisser faire, die Gewährung immer grösserer freior Concurrenz richtig sei. Es läuft
*) Eb. S. 441: „Dem Staate erkennt der Freihändler keine andere Aufgabe
zu, als eben die eine: Production von Sicherheit“. Der „Rechtsstaat“ in grösster
Leerheit! Vergl. u. Buch 6, auch Vorbemerkung dazu.
4) Im Handwörterbuch S. 388 sagt Böhmert wenigstens fast wörtlich so: „Die
freie Concurrenz mit ihren segenstiftenden Wirkungen ist der zuverlässigste
Regulator des Erwerbslebens und der zwar unsichtbare, aber doch immer gegenwärtige
Gesetzgeber, der Ordnung (?) und Regel in die so ausgedehnten .... industriellen
Beziehungen zu bringen vermag.“ Böhmert steht übrigens seit lauge auch nicht
mehr auf diesem einseitig optimistischen Standpuncte der Schule und war immer einer
ihrer besonnensten und gemässigtsten Vertreter.
8) Eb. S. 169. Selbst dieser ebenfalls so gemässigte und durchaus besonnene
Anhänger der Freihandelsschule sagt hier freilich S. 170: „ein weites Gewissen hilft
manche Siege erringen: all zu grosse Scrupulosität ist verdientermaassen im Handel
im Nachtheil!“ Sapicnti sat! Wenn das schon die graue Theorie sagt, was wird erst
die grüne Praxis leisten! Vielleicht ein lapsus calami, aber kein unbedenklicher und
— ein characteristischer!
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Falsche Folgerungen aus der freien Concurrenz.
805
die Annahme, dass nur bei freier Concurrenz volkswirtschaftliche Gerechtigkeit
bestehe, auf die handgreifliche petitio principii hinaus, dass nur diejenigen Preis-
bildungen für Güter und Leistungen, daher auch nur diejenigen Lohnsätze, Zinssätze
u. s. w. als „gerecht“ gelten, welche rein nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage
zu Stande gekommen sind.
Man wird in allen Beweisführungen der Schule der absoluten freien Concurrenz.
namentlich auch in practischen Fragen der volkswirthschaftlichen Politik und Ge-
setzgebung, immer auf diesen eine blosse petitio principii enthaltenden Cirkelschluss
stossen: eine bestimmte Maassregel stört das „natürliche Verhältniss“ von Angebot
und Nachfrage, dieses Verhältniss hat allein günstige und gerechte wirthschaftiiche
Folgen, — folglich darf es nicht gestört werden, folglich ist jene Maassregel zu ver-
werfen und die freie Concurrenz von Angebot und Nachfrage allein richtig. — Es
wird dabei auch ganz übersehen, wenn nicht direct geläugnet, dass überhaupt doch
noch andre Principien als dasjenige der Regelung der Preise u. s. w. durch Angebot
und Nachfrage möglich seien, um überhaupt Absatz und Verkehr in Gang zu bringen,
Bedürfnisbefriedigungen mittelst Tausches realisiren zu lassen. Ein solches andres
Princip ist z. B. das der Reihenfolge verbunden mit einem Taxsyste m , so dass
wer zuerst kommt, zuerst befriedigt wird nach Taxen, keineswegs immer der zuerst,
der am Meisten zahlen kann (Droschken wesen u. dgl. m.). Dass Letzteres in zahl-
reichen Fällen nicht das Gerechtere ist, kann doch nicht bestritten werden.
Die Beweisführung für diese Gegenbehauptungen erfolgt in den §§. 315 IT.
2) Falsche Anwendung der deductiven Methode.
Durchweg ist diese Anschauung von der freien Concurrenz nur mittelst der
Methode der Deduction aus dem wirtschaftlichen Selbstinteresse heraus gewonnen,
aber dabei übersehen, dass diese Methode zunächst nur hypothetische Sätze unter
wenigen bestimmten, hypothetischen Voraussetzungen richtig feststellcn kann. Ob
und wie weit diese Sätze in der Wirklichkeit gelten, muss stets eist durch weitere
Untersuchungen, insbesondere durch Beobachtungen im wirklichen Verkehr, welche
Inductionsschlüsse gestatten, nachgewiesen werden. Dabei köuuen dann auch die
ungünstigen Seiten der freien Concurrenz vollends nicht mehr übersehen werden,
obgleich dieselben auch schon durch richtige Deduction aus dem Walten des Selbst-
intcresses im System der freien Concurrenz abzuleiten sind. S. jetzt Uber die richtige
Anwendung der Deduction oben §. 67 — 75.
3) Dem System der freien Concurrenz ist endlich noch ent-
gegenzuhalten :
a) Das wirthscha ft liehe Selbstinteresse bestimmt
thatsächlich die Handlungen der Menschen in wirthschaftlichen
Angelegenheiten nicht allein. Vielfach kann, öfters soll es dies
gar nicht thun, sondern andere Motive, andere Factoren wirken
neben demselben (§. 32, 33, 37—57, 315).
b) Das System der freien Concurrenz schafft selbst, je aus-
schliesslicher es herrscht, desto mehr eigenthümliche Uebelstände
im privatwirthschaftlichen Verkehr, Härten und Disharmonieen,
was sich auch rein deductiv ebenso sicher ableiten lässt, als die
früher erwähnten günstigen Folgen, und durch die Erfahrung be-
stätigt wird (s. §. 316 ff.)
c) Das privatwirthschaftliche System an und für sich, und bei
freier Concurrenz nur noch mehr, kann für die Befriedigung vieler
und wichtiger Bedürfnisse nach den ihm eigenen Verkehrsprincipien
806 5. B. Organis. d. Volksw.sch. 2. K. Priv.w. sch. Syst 2. A. Modernes. §. 315.
gar nicht oder nicht ausreichend sorgen, neralich für die-
jenige der GemeinbedUrfnisse (§ 325 ff).
D. — §. 315 [132, 133]. Die moralischen Factoren
neben dem Selbstinteresse im privat wirtschaftlichen
System.
Unter Bezugnahme auf die Analyse der das wirtschaftliche Handeln bestim-
menden Motive in dieser 3. Aufl. (Buch 1 Kap. 1) hätte ich vielleicht die folgenden
Ausführungen (2. Aufl. §. 132, 133, S. 235 — 2-10) weglassen oder sehr zusammen-
ziehen und kurzen können. Ich habe sie indessen doch grossentheils stehen lassen
und wörtlich übernommen, weil sie hier in der Kritik des Systems der freien Con-
currenz noch ihre besondere Bedeutung haben und zugleich eine Nutzanwendung
jener Motivationslehre auch für die hier erörterten practischeu Fragen enthalten.
Nach dem Früheren (Buch 1, Kapitel 1) ist es überhaupt
ein Irrthum, nur das wirtschaftliche Seihstinteresse, speciell das
Streben nach dem wirthschaftlichen Eigenvortheil und die Furcht
vor Noth, unter den mancherlei sonstigen egoistischen Motiven des
wirthschaftlichen Handelns in Betracht zu ziehen und das un-
egoistische fünfte Leitmotiv, den Trieb des inneren Gebots zum
sittlichen Handeln, ganz zu vernachlässigen. Denn nur aus der
Gesammtheit dieser Motive erklärt sich jenes Handeln. Hier haben
wir nur besonders diese verschiedenen Motive als sittlich gut
und schlecht wirkende Factoren oder Potenzen ins Auge zu
fassen, je nachdem sie den menschlichen Willen zu einer günstigen
oder ungünstigen Abweichung von der ihm durch das wirt-
schaftliche Selbstinteresse des Wirthschaftssubjects gegebenen Rich-
tung bestimmen: „sittlich gut“ und „schlecht“ — freilich wieder
nicht völlig absolute, sondern in Etwas historische Begriffe, aber
nach dem ganzen Culturzustaud eines Volks in einem Zeitalter doch
solche von einer hinlänglich sicheren Bestimmtheit, um hier auf
dem ökonomischen Gebiete in gegebener Zeit mit ihnen operiren
zu köunen.
Als gute Potenz in diesem Sinne des Worts wirkt unser
fünftes Leitmotiv, Liehe und Pflichtgefühl (Gewissens-
pflicht), welche sich in mancherlei Formen, als Familiensinn,
Gemeinsinn, bestimmte sittliche und religiöse Anschauung, Opfer-
willigkeit u. s. w., im Einzelnen nach Völkern und Zeiten, nach
dem Culturzustand, nach den Einrichtungen des Religionswesens
verschieden, im Wesen gleichmässig äussern1), ferner Ehrgefti h 1,
*) In Koscher 's Auffassung I, §. 11, 12, bei Hermann S. 44 fl’, sind zu
einseitig nur diese Potenzen dem Selbstinteresse gegenüber gestellt. Die unten
genannten schlechten Potenzen sind ebenfalls zu beachten. Hier liegt wieder die
Fiction der Schule der freien Concurrenz vor, bei Jedermann ein richtig ver-
standenes und richtig wirksames Selbstinteresse anzunehmen.
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Die moralischen Factoren neben dem Selbstinteresse.
807
Drang zum Thätigsein, somit eben überhaupt manche Formen
des dritten und vierten Leitmotivs (§ 39, 42).
Diese Motive fahren dazu, das wirtschaftliche Selbstinteresse nicht immer soweit
geltend zu machen, als es möglich und rechtlich erlaubt ist. Die erstgenannten sind die
Triebfedern der Geber im caritativen Wirtschaftssystem. Allerdings bringen solche
Motive auch die Gefahr der Unwirthscbaftlichkeit in der Volkswirtschaft mit sich,
namentlich auf Seite derjenigen, welchen die Vortheile ihrer Mitwirkung zunächst zu
Gute kommen (Almosen, Armenwesen). Aber diese Gefahr führt nicht zur principiellen
Verwerfung einer solchen Mitwirkung, sondern nur zur Forderung, den an sich richtigen
Motiven nicht blind, sondern mit verständiger, ebenfalls sittlich gebotener Erwägung
zu folgen, ob und wie und wie weit man ihnen im concreteu Fall mit Recht folge,
daher namentlich mit Rücksicht auf die muthmaasslichen Wirkungen der von dem
Motiv bestimmten Handlungsweise. Es ist die Aufgabe der Erziehuug bei dem Ein-
zelnen und der Cultur bei dem Volke, diese Motive möglichst zu entwickeln, aber
auch ihre richtige Anwendung zu sichern. Namentlich in letzterer Hinsicht kann
auch die Rechtsordnung bezügliche Cautelen zu trefTen haben (Armenwesen. Bettel.
Wohlthätigkeit). Wird die Aufgabe richtig gelöst, so wird sich insbesondere das
Volksvermögen und Einkommen günstiger vertheilen, als es rein nach privatwirth-
schaftlichen Principien geschieht.
Schlechte Potenzen im genannten Sinne sind vor Allein:
die eigennützige (egoistische) Ausartung oder Uebertreibung des
wirtschaftlichen Selbstinteresses (z. B. mittelst „Ausbeutungen“
im Verkehr — ein schwankender Begriff, der aber nicht aufhört,
etwas wirklich Existirendes richtig zu bezeichnen, weil die Grenzen
des Begriffs schwer genau zu bestimmen sind — ), ferner Träg-
heit, Unwissenheit in der Sphäre der Production, Prahlerei und
Genusssucht in derjenigen der Consumtion (Luxusfrage) ’).
Die Bekämpfung dieser Potenzen durch Erziehuug und Cultur bewirkt eine
grössere Production und zugleich eine günstigere, mehr den Interessen der Gesammt-
heit dienende Richtung der Production und dadurch indirect eine bessere Vertheilang
der Güter (Herstellung von Masscnconsumptibilien statt Luxusartikeln für eine kleine
Minderzahl des Volks).
Das Vorhandensein dieser Potenzen, überall und allzeit
mehr oder weniger, so auch heute hei unseren Culturvölkern, ist
eine so unbestreitbare Thatsache, dass deren Bedeutung und Be-
rechtigung auch die Anhänger des Systems der freien Concurrenz
nicht verkennen können und nur ausnahmsweise verkannt haben.
Sie stellen indessen zwei unrichtige Forderungen. Sie vindiciren
nemlicb in der Theorie die Würdigung dieser Factoren, insbesondere
auch der Liebe und des Pflichtgefühls, ausschliesslich für die
Moral: die Wirthschaftslehre habe sich damit nicht zu beschäftigen.
Sodann verlangen sie für die Praxis des Wirtschaftslebens, dass
jene Potenzen, als dem Gebiete der Moral angehörig, nur durch
freie sittliche That entwickelt, beziehungsweise unterdrückt werden,
nicht durch den Zwang des Staats, der sich durchaus auf die mit
*) S. Mill, Logik, deutsch von Schiel, II, 519 ff.
808 5. B. Organis. d. Volksw.sch. 2. K. Priv.w.sch. Syst. 2. A. Modernes. §. 315.
der modernen Rechtsbasis des privatvvirthschaftlichen Systems zu-
sammenhängenden Puncte beschränken müsse.
Es wird dabei gern betont, dass „die wachsende wirtschaftliche Einsicht1* schon
von selbst die Ausartungen des wirtschaftlichen Selbstinteresses unterdrücken und die
Correctur der aus dem Walten des letzteren hervorgehenden Schäden, soweit nötig,
bewirken werde, während jeder Zwang, als dem Lebensprincip der Moral wider-
sprechend, auch das sittliche Verdienst einer Handlung oder Unterlassung aufhebe.
I)ic „wachsende wirtschaftliche Einsicht“ ist eine Lieblingsphrasc der deutschen
Anhänger der freien Concurrenz und ein in practischen Fragen gern gebrauchtes Wort
einst auch auf den deutschen volkswirtschaftlichen Congressen, wenn man einsicht,
dass Nachteile der freien Concurrenz in einem gegebenen Falle unläugbar sind,
Abhilfe unvermeidlich ist, aber man nicht zu gesetzlichen Reformen greifen will,
welche den Principien der freien Concurrenz widersprechen oder welche man doch
auch für unwirksam, wenn nicht für schädlich halten zu müssen glaubt. Ein charac-
teristisches Beispiel die Beschlüsse des volkswirthschaftlichen (Kongresses in Mainz
(1869) über das Actiengesellschaftswcsen , Vcrhandl. (Berl. 1STÖ) S. 13, vergl. auch
mein Referat über Actienwesen in Eisenach 1873, Hildebr. Jahrb. XXI , 271 ff. Der
Trost beruht aber nicht nur in zahlreichen einzelnen Fällen auf einem Irrtum, son-
dern mitunter überhaupt auf einer principicll falschen Voraussetzung, so z. B. wenn
die Hoffnung ausgesprochen wird, dass schwindelhafte Fonds-, Effecten-, Waaren-
speculation nicht so leicht wiederkehren werde, weil die „Lehren der Krisis“ beachtet
werden würden. Grade diejenigen, z. B. viele Private, die in Deutschland an dem
Effectenschwindcl der Jahre 1871 ff. schliesslich viel verloren haben, werden die
Ersten sein, die bei einer neuen Speculationsära wieder zu gewinnen hoffen. Das
hat sich mittlerweile (1889 ff.) wieder bewahrheitet. Und noch mehr! Solche
Hoffnung täuscht factisch nicht, wenn eben nur in der neuen Aera rechtzeitiger die
Geschäfte abgewickelt werden. In diesem letzten Punct thut sich die „wachsende
wirtschaftliche Einsicht“ kund, mittelst deren aber höchstens einzelne früher Ge-
schädigte diesmal besser durchkommen, während der Schaden im Ganzen derselbe
bleibt und Andere Verluste erleiden.
1) Der Irrthum der ersten Ansicht beruht auf einer auch
theoretisch unstatthaften vollständigen Trennung des Gebiets der
Ethik und Oekonomik.
Es kann wohl erlaubt und für die theoretische Analyse zweckmässig, selbst notli-
wendig sein, von der Hypothese einer solchen Trennung auszugehen, um zu unter-
suchen, welches die wirtschaftlichen Handlungen der Menschen und danach die
wirtschaftlichen Vorgänge sein werden, wenn bloss das Selbstinteresse die Menschen
leitet. So verfährt man in der strengen Deduction (§. 67, 68). Aber es ist un-
zulässig, den rein hypothetischen Character solcher Untersuchungen zu vergessen
und. den Thatsachen des Lebens entgegen, anzunehmen, dass wirklich ein solches
Handeln bloss nach dem Triebe des Selbstinteresses erfolge oder vollends, dass es so
erfolgen solle. Dieser Schluss läuft immer auf die schon besprochene unrichtige Auf-
fassung des Selbstinteresses als Naturkraft und auf diejenige des Menschen nicht
als ein Wesen, welches von einer Menge verschiedener Triebe und Motive bestimmt
wird, sondern welches blind einem einzelnen Triebe mit Notwendigkeit folgen muss,
hinaus. Die Berücksichtigung der das Selbstintercssc tatsächlich modificirenden
moralischen Potenzen in der Wirthschaftslehrc führt daher nicht zu einer (Kon-
fusion von Ethik und Oekonomik, sondern ordnet die wirtschaftlichen Handlungen
nur unter die ethischen ein, für welche eine individuelle Verantwortlichkeit besteht.
In der Methodologie im 1. Buche, Kap. 2, bcs. im Abschnitt vom deductiven
Verfahren (§. 67 — 75) ist näher dargclegt worden , wio hier methodisch vorzugehen
ist. An dieser Stelle mag noch Folgendes hinzugefügt werden. Die Auffassung des
Selbstinteresses als constaute Ursache, der anderen, dasselbe modificirenden oder neben
ihm zur Geltung kommenden Potenzen als zufällige, accidentelle, störende (causcs
perturbatrices). in Uebertragung einer Auffassung und Terminologie der Physik in
Quctclet’schcr Weise auf das. Gebiet der menschlichen Handlungen (Statistik, National-
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Die moralischen Factoren neben dem Selbstinteresse.
809
Ökonomie) ist auch nur zulässig, wenn davon für methodologische Zwecke, nemlich
für die Anwendung der Methode der Deduction auf diesem Gebiete Gebrauch gemacht
wird, wobei dann die erforderlichen hypothetischen Annahmen hinsichtlich der
Causalverhältnisse aufgestellt werden. Aber es darf auch hier nicht wieder der un-
richtige Schluss abgeleitet werden, als ob in der Wirklichkeit das Vcrhältniss dioser
Potenzen zu einander dasjenige von constanteu und von störenden Ursachen wäre oder
vollends sein müsse. Ob es so ist oder ob es so sein soll, muss vielmehr immer erst
wieder im concreten Falle untersucht werden. Selbst in einem Falle, in welchem das
reine wirtschaftliche Interesse wirkt, ungestört durch andere Potenzen, und in welchem
auch keine wesentlichen Bedenken vorliegen, dass es so wirkt, gestaltet sich das Causal-
verhältniss hier doch immer anders als in reinen Naturverhältnisseu oder m. a. W.
das wirtschaftliche Selbstintcresse ist eben niemals eine reine Naturkraft, wirkt niemals
blind mit der Notwendigkeit einer solchen. Eine wirkliche Naturkraft muss unter
gegebenen Umständen stets da sein und stets ihrem ewig gloichbleibenden Wesen
gemäss wirken. Das Selbstintcresse kann aber sogar in bestimmten Fällen ganz als
wirkende Ursache ausser Spiel gesetzt sein, z. B. durch Furcht oder durch Pflicht-
gefühl, wenn wirklich beide allgemein wirken (vgl. oben §. 89, S. 234. wo an diesem
verschiedenen Sachverhalt in Betretf des Causalverhältnisses der wahre Unterschied von
reinen Naturgesetzen und wirtschaftlichen Gesetzen nachgewiesen wurde). Man denke
etwa an das bekannte „Gesetz“ der Geldverdrängung bei Doppelwährung, bei Papier-
währung. Gelingt es hier, was doch als Möglichkeit zugegeben werden muss und
wofür annähernd practischc Beispiele vorliegen (z. B. in England 1797 lf. patriotische
Haltung des Kaufmannsstands gegenüber den unciulösbar gewordenen Banknoten),
auch nur einigermaassen allgemein, Speculationsmanoeuvres, Valutageschäfte, Arbi-
tragen u. s. w. durch Furcht vor gesetzlicher Strafe (deren volle Unwirksamkeit in
solchen Fällen auzunuhmen, auch eine üebertreibung der Schule und der freien
Concurrenz ist) oder durch mächtigen Patriotismus zu bändigen: so wird sofort das
„Naturgesetz“ gar nicht existiren, weil die ihm zu Grunde liegeude Ursache gar nicht
existirt; ein Fall, wie er in reinen Naturphänomen nicht denkbar ist, denn hier kann
immer nur die Wirkung einer Ursache durch diejenige einer anderen paralysirt werden,
aber vorhanden und wirkend ist jene erste Ursache immer, was dagegen in dem
erwähnten volkswirtschaftlichen Beispiel nicht der Fall ist (s. o. S. 234). Dass im
Herzen vieler Individuen doch die selbstsüchtige Neigung nach jenen Speculations-
gewinnen bleibt, widerspricht dem nicht: in der Praxis des Verkehrs kommt davon
in uuserem Beispiel nichts zum Vorschein. Die Nutzanwendung auf andere practische
volkswirtschaftliche Fragen liegt nahe. S. überhaupt im 1. Buche den Abschnitt
von den wirtschaftlichen Gesetzen, S. 225 — 242.
2) Der Einwurf gegen den Zwang des Staats übersebiesst
das Ziel.
Er beruht einmal auf der schon abgewiesenen Annahme, als sei das Gebiet der
staatlichen Regelung der Wirthschaftsverhältnisse naturgemäss notwendig auf die
Aufrechterhaltung der modernen Verkehrsrechtsbasis beschränkt, — immer die alte
petitio principii. Im Zusammenhang hiermit steht sodann die weitere falsche An-
nahme, als sei in Bezug auf volkswirtschaftliche Verhältnisse Recht und Moral ein
für allemal fest geschieden , während grade hier grosse Grenzgebiete liegen , auf
welchen geschichtlich und von Land zu Land bald die rechtliche und eventuell
zwangsweise, bald die freie, sittliche Regelung vorkommt und richtig ist. Endlich
aber wird hier der Zwang als geschichtlich erprobtes und oft unentbehrliches Element
der Erziehung zur Cultur und damit erst zur Vornahme dessen als freie sittliche That,
was bisher erzwungen geschah, nicht gebührend gewürdigt.
S. Weiteres überZwang u. §. 345 ff., bes. 34S. Die vollständige Vermengung
von Recht und Moral, wie bei den eudämonistischen Philosophen des vorigen Jahr-
hunderts, besonders bei Cbr. Wolff, war gewiss durchaus fehlerhaft. Aber eine so
völlige Trennung, wie sie unter KanTschen Einflüssen in der neueren Zeit an-
genommen wird, besteht ebensowenig. Grade die Grenzen von Recht und Moral sind
auch geschichtlichem Wechsel unterworfen. Nordamericanische Temperance-
Gesetze erscheinen uns als falscher Eingriff in das Moralgebiet, aber ist unsere
Auflassung denn die allein allezeit entscheidende? Eine gewisse Wiederannäherung
810 5. B. Organis. d. Volksw.sch. 2. K. Priv.w.sch. Syst. 2. A. Modernes. §. 316.
an jene ältere Auffassung halte ich nicht für unrichtig. Der richtige Kern in der
eudämonistischen Staatsauff'assung ist heutzutage vielfach bereits wieder zur Geltung
gekommen (z. B. im öffentlichen Gesundheitswesen, in Maassregeln zur Schonung der
Arbeitskraft, wo Chr. Wolff’s Ideen wieder zu Ehren gelangen). L. Stein in s.
Verwaltungslehre sagt ganz mit Recht: den Inhalt hat die innere Verwaltung aus
der Wohlfahrtsstaatstheorie, die Garantieen für die Grenzen ihrer Thätigkeit aus der
Rechtstaatstheorie zu entnehmen. Der Vorwurf einer gewissen eudämonistischen
Tendenz, den z. B. II. v. Trcitschke gegen Schmoller ausspricht (Preuss. Jabrb.
1875. Aprilheft), ist m. E. gar kein Vorwurf, sobald eben nur Maass gehalten
wird in allem Eudämonismus. Auch hier dreht sich der berechtigte Streit wieder
nur um dies Maass, um das „Wie weit“, nicht um das Ob. Sehr gesunde An-
sichten Uber Staat und Staatszwang auch bei dem Schweizer H. Esc her, Handb. d.
pract. Politik, Lpz. 1863, bes. I, §, 1 — 19. — Die Auffassung des Zwangs als noth-
wendiges Erziehungsmittel in vielen Fällen bestimmte mich z. B. in der Frage der
Arbeiter-Invaliden- und Alterspensionscassen für Cassenzwang zu sein, schon lange,
ehe unsere Gesetzgebung dazu schritt, z. Th. in Widerspruch mit „vorsichtigeren“
Theoretikern, die nunmehr auch dafür sind. (S. Eisen, soe.-polit. Verhandl. 1874,
S. 126.) Treitschke in seiner Polemik gegen die Invalidencasse „für Millionen
Arbeiter“ a. a. 0. übersah diese Seite der Frage auch. Und jetzt haben wir solche
Cassen und sie fungiren ganz leidlich.
Die innere, principielle Berechtigung des caritativen und
des gemein wirtschaftlichen Systems der Bedürfnissbefriedigung
in der Volkswirtschaft neben dem p ri va t wirtschaftlichen er-
giebt sich aus dem Vorhergehenden von Neuem.
IV. — §. 316 [2. A. S. 240]. Näherer Nachweis der
Nachtheile im System der freien Concurrenz. A. Ans-
gangspuncte. Verfolgt man die polemische Kritik dieses Systems
noch genauer, als es im Vorausgehenden (§. 311) geschehen ia*t,
so ergiebt sich, dass sie vornemlich folgende drei Ausgangspuncte
genommen hat.
1. Sie ist einmal die not h wendige Folge einer theils
mehr theologischen, wie bei Adam Müller, theils mehr
ethischen Auffassung des Wirthschaftslebens überhaupt, weil
diese Auffassung dem individuellen Eigennutz gar keine, dem
dazu so leicht ausartenden Selbstinteresse nur eine beschränkte
Wirksamkeit, jedenfalls nur eine secundäre, nicht wie im System
der freien Concurrenz eine primäre, den Verkehr, die Production,
den Absatz beherrschende Rolle zusehreiben kann.
A. Muller’s Meinung (Elemente der Staatskunst, 8 B.. Berlin 1809) z. B., dass
der Landwirth in erster Linie aus Liebe zur Sache, um Gottes Willen, in zweiter
wegen do.r Frucht, in dritter wegen des Reinertrags arbeiten solle, widerspricht dem
Grundgedanken des Systems der freien Concurrenz schnurstracks. Diese und ähnliche
Auffassungen enthalten die tiefste principielle Opposition gegen dies System,
sind aber weder in der Litteratur, noch in der Praxis (Gesetzgebung) zu besondrer
Geltung gelangt, jedenfalls bedeutend weniger als die beiden anderen polemischen
Richtungen, welche sich direct gegen die Folgen der freien Concurrenz wenden. —
Sie sind aber doch bemerkenswert!!, denn sie weisen implicite auf die Mängel der
ökonomischen Psychologie und Motivationstheorie des ökonomischen Individualismus
und auf das fünfte unegoistische Leitmotiv hin (§. 45. 46), dem sie eine grössere
Wirksamkeit geben möchten. Es wird nur dabei wieder die Macht der anderen, der
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Weitere Polemik gegen freie Concurrenz.
811
egoistischen Motive übersehen, durch richtige Wirksamkeit dieser Motive das Wirt-
schaftsleben in die gebotenen Bahnen zu leiten.
2. Die eine der Richtungen, welche sich gegen die Folgen des
Systems wendet, geht von der Opposition gegen die Conseq uenzen
der freien Concurrenz auf den einzelnen wichtigen Pro-
ductions ge bieten aus, wünscht die alten bestehenden
Ordnungen möglichst erhalten, nur etwas reformirt, nicht
beseitigt.
So z. B. iu Betreff des ländlichen Grundeigenthums und der alten Agrar-
verfassung die Geschlossenheit der Bauergüter statt der von der iudividualistisch-
atomistischen Doctriu der freien Concurrenz geforderten freien Theilbarkeit. Ebenso
wünscht sie mehr von der alten Gewerbeverfassung beizubehalten statt der Gewerbe-
freiheit, ist mehr für ein rationelles Schutzzollsystem statt für internationalen Frei-
handel. Zu dieser Richtung gehören die Schriften der älteren und neueren conser-
vativen Agrar- und Gewerbepolitiker, der Schutzzöllner, wie namentlich Fr. List’s,
der neueren agrarischen Schutzzöllner. Allerdings wird hier die Opposition gegen
das ganze System der freien Concurrenz nur selten eine principielle, öfters wird
selbst, wie z. B. bei den Schut/zöllnern, grade im Interesse der Entwicklung der
Industrie die freie Concurrenz „im Ucbrigen“, nur eben nicht bei der Ungleichheit
der ökonomischen Lage der verschiedenen Völker im internationalen Handel, sogar
gefordert, z. B. in der Gewerbepolitik (Gewerbefreiheit). Aber man kann diese prac-
tisclie Polemik gegen die Postulate des Systems der freien Concurrenz auf den ein-
zelnen Gebieten leicht auf ihren gemeinsamen Ausgangspunot zurückfuhren und
fiudet alsdann, dass eben in jedem solchen Falle die „natürliche Ordnung“, die aus
dem Walten des individuellen Sclbstinteresscs hervorgeht, nicht für die wünschcns-
werthe, sondern eine künstliche Rechtsordnung, wie z. B. die geschichtlich
überkommene, wenn auch passend reformirte (eben die Schwierigkeit!) Agrar- und
Gewerbeverfassung, für richtiger und zweckmässiger gehalten wird: Das ist die Grund-
anschauung, welche principiell derjenigen der Anhänger des Systems der freien
Concurrenz gegenubersteht. Die letztere wird insofern vom conservativen Agiar- und
Gewerbepolitiker und dem Schutz/ölluer doch schliesslich selbst angegriffen, weil sie
die (wirklich oder vermeintlich) gute überlieferte Rechtsordnung der Hauptgebiete der
Volkswirtschaft zerstört. Im practischen Leben sind es die ökonomischen Mittel-
stände, die Bauern, Handwerker, Krämer, welche diese Polemik aufnehmen, weil
sie vom „Kapital“, vom Grossbesitz und Grossbetrieb immer mehr fürchten, aufgesogen
und verdrängt zu werden.
In ähnlicher Weise wird aber auch vom Standpuncte des
Consumenteninteresses gegen das moderne System der Con-
currenz polemisirt, weil dasselbe hier, was Qualität, Preiswürdig-
keit der Waaren anlangt, nicht so befriedigend, wie bei den Ein-
richtungen der älteren Wirtschaftsordnungen (Qualitätscontrolen,
Preistaxen) wahrgenommen werde.
Daher Hinweis auf die Verschlechterung der Waaren, auf die Fälschungen im
Handel und Wandel, in Qualität und Quantität, auf die Unmöglichkeit, vollends bei
heutiger Technik Seitens der Privaten eine ordentliche Qualitätscontrolle auszuüben,
auf die Preisverabredungen der Producenten, auf die widerwärtige Reclame mit ihren
unvermeidlich schliesslich doch vom Consuinenten zu zahlenden hohen Unkosten u. v. a. m.
Dabei wird auch hervorgehoben, wie es grade am Meisten die „kleinen Leute“ sind,
welche von solchen Missständen getroffen werden und sich am Wenigsten dagegen
schützen können.
3. Die letzte oppositionelle Richtung und zugleich diejenige,
welche die freie Concurrenz wegen ihrer Folgen für die Volks-
812 5. B. Organis. d. Volksw.sch. 2. K. Priv.w.sch. Syst. 2. A. Modernes. §. 3 1 *>.
wirthschaft am Meisten principiell angreift und welche gegen-
wärtig aus mancherlei Gründen am Schärfsten hervortritt, wendet
sich gegen dies System, weil die freie Concurrenz zu einseitig die
kräftigeren, begabteren, vielfach auch die gewissen-
loseren Elemente auf Kosten der Schwächeren be-
günstigt (§. 317) und daher zu mehr oder weniger schlimmen
Ausbeut ungs- und monopolistischen Herrschafts Ver-
hältnissen, zu einem neuen kapitalistischen Feudalis-
m u s , aber einem viel schlimmeren, weil nach Recht, Sitte, sitt-
lichen Anschauungen aller Pflichten haaren, als dem früheren,
mittelalterlichen, und damit zu bedenklichen Gegensätzen der
ökonomischen und socialen Lage und der ganzen In-
teressen zwischen nichtbesitzenden und besitzenden Classen
wenigstens führen kann und der Annahme nach zum Theil wirk-
lich führt.
Diese Richtung wird vertrete» durch die Socialisten und durch diejenigen
Nationalökonomen, welche diesen wenigstens in dieser Auffassung nahestehen. Diese
Schriftsteller leiten aus der freien Concurrenz nicht, wie die Freihändler, Bastiat
u. A. m,, eine gesunde Organisation und Interessenhannonie , sondern eine wahre
Desorganisation der Volks wirthschaft, eine Anarchie, eine unerträgliche Regel-
losigkeit, ein beständiges Schwanken der Production zwischen üeberspeculation und
Krise, eine immer ungleichmässigere Verkeilung des Nationaleinkommens und Ver-
mögens zwischen Artn und Reich als nothwendige Folge ab und suchen dies durch
den ^tatsächlichen Nachweis zu begründen. Prägnant tritt die grundsätzliche Polemik
gegen die freie Concurrenz bei L. Blanc, Organisation du travail, Par. 1840, hervor,
der dann auch positive Gegenforderungen aufstellt. Aber auch Sismondi in seinen
nouveaux principcs erkennt die tiefe Schattenseite der freien Concurrenz durchaus,
so z. B. I. 407. Die principiclle Polemik vieler Socialisten, besonders Fourier’s,
gegen den Handel, den „legalen Betrug“, führt in ihrer Consequenz ebenfalls zur
principiellen Polemik gegen die freie Concurrenz. Vcrgl. Mario (Wink elblech).
Syst, d. W'eltökou., Cassel 1850, z. B. I, Kap. 3 — 5. I, 156 fT. (Blanc u. Sismondi
ganz beigestimmt), 246 11’., dann II, Kap. S, S. 50 IE, Rodbcrtus' Schriften (auch
die Aufsätze über altrömische Verhältnisse), Marx. Kap., B. I, Engels’ Lage der
arbeitenden Classen in England und Duhring’s Umwälzung, bes. Abschn. 3, überhaupt
die oben §. 13 angegebene Litteratur, Schäffle, Soc. Körper III, 417 ff., „zur Kritik
der kapitalistischen Periode“.
Die richtige Ansicht von der freien Concurrenz kann man wohl mit Brentano
(Arbeitergilden, II, 314 und Inhalt S. XIV) so formuliren: die Concurrenz ist
nur das Princip der Starken; die Verbindung, fügt er hinzu, ist das Princip
der Schwachen, — gewiss, soweit eben spontane Verbindung der Schwachen aus-
reicht, darüber hinaus muss zwangsgemeinwirthschaftliche, besonders staatliche
Fürsorge ein-, boz. der freien Concurrenz entgegentreten. Mit „Gewerkvereinen“,
der Brentano'schen Panacee für alle Nöthen in der socialen Frage, kommt man auch
nicht aus. Das zeigt sich immer mehr, grade im classischen Lande dieser „Ver-
bindungen“, in England, wenn uns auch Enthusiasten, die Alles durch ihre Brille
ansehen, z. B. v. Schulze-Gävernitz, noch so sehr versichern, so komme man
„zum socialen Frieden“.
In diesen Fragen in Bezug auf die Nachtheile der freien
Concurrenz ist die Methode der Deduction, richtig geband-
habt, beweiskräftig genug und ist anderseits bei dem noch
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Hervortretende Uebelstände bei freier Concurreuz. . 813
bestehenden Mangel einer ausreichenden und zuverlässigen öko-
nomischen und socialen Statistik die freilich unvollkommene „täg-
liche Beobachtung“ ein mit zuzulassendes Mittel der Bestätigung
der Deduction (§. 78).
Die Deducirung der naehtheiligen Wirkungen der freien Concurrenz ist um so
mehr statthaft, weil z. Th. mit den best erforschten nationalökonomischen Gesetzen,
besonders mit dem Gesetze der Preise und der Productionskosten, der Beweis für die
Richtigkeit jener Deductionen geführt werden kann. Auch ist zu beachten, dass die
Gestahungstendenzen, welche diese Methode zunächst nur sicher abzuleiten vermag,
hier besonders in Betracht kommen: man muss darauf ausgehen, sie in der Wirklich-
keit nicht zur Geltung kommen zu lassen und demgemäss nach Gegenmitteln forschen.
Dass sie öfters noch nicht so vollständig zur Verwirklichung gelangt sind, ist gewiss
richtig, aber kein genügender Einwand, wie die unbedingten Vertreter der freien
Concurrenz und auch manche Vertreter der historisch -statistischen Richtung in der
Nationalökonomie mitunter annebmeu. Wenn sich erst einmal der ganze Process der
Zersetzung des Wirtschaftslebens durch die freie Concurrenz mehr oder weniger voll-
ständig vollzogen hat, wird sich das freilich auch inductiv genau ermitteln lassen.
Aber dann wird cs meistens zu spät zur Abhilfe sein.
B. — §. 317 [134]. Die kervortretenden Uebelstände.
Im privatwirthscbaftlicken System auf der Basis der freien Con-
ciirrenz entstehen mancherlei Uebelstände für die Masse der Be-
völkerung, theils in noth wendiger Folge der nicht zu läugnenden
Vortheile des Systems (§. 310), theils als weitere begleitende Er-
scheinungen und als mehr zufällige, aber häutige Folgen des-
selben. Selbst diejenigen Personen, welche durch das System be-
günstigt weiden und wirthschaftlich emporkommen, werden leicht
sittlich geschädigt. Namentlich aber zeigen sich die ungünstigen
Folgen des Systems am Meisten auf dem Gebiete der Vertheilung
der Güter in der Volkswirtschaft, ferner in den theils hierdurch,
theils schon durch die technische Gestaltung des Productions-
processcs wirthschaftlich bedingten socialen Abhängigkeits- und
Herrschaftsverhältnissen in der Bevölkerung, endlich wieder in
Zusammenhang mit diesen Momenten in den Einflüssen auf die
Sittlichkeit des ganzen Volks.
Es lässt sich dies Hervortreten von Härten und Disharmonieen im System der
freien Concurrenz schon aus dem Wesen und den natürlichen Entwicklungstendenzen
dieses Systems vermittelst der Methode der Deduction ableiten. Schon jetzt aber,
obgleich das System noch nicht nach allen Seiten streng durchgeführt und noch nicht
lange in unseren Culturstaafcn in Wirksamkeit ist, gestattet die Erfahrung, d. h. die
Induction aus den Beobachtungen der Wirklichkeit mittelst Statistik und Geschichte,
manche Bestätigungen der Deductionsschlüsse und zeigt sie ihrerseits immer allge-
meiner neue Uebelstände.
Insbesondere ist mit den Vortheilen des Systems der freien Con-
enrrenz für die Technik und Oekonomik der Production nothwendig
eine Gestaltung des Productions process es verbunden,
welche mehrere der genannten Uebelstände unvermeidlich mit sich
A- Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Theil. Grundlagen. 52
814 «*>• B. Organis. d. Volksw.sch. 2. K. Priv.w.scli. Syst. 2. A. Modernes. §. 316.
bringt. Es siegen nemlich im Concurrenzkampf einmal die für
diesen und dessen gegenwärtige Ftibrungsart begabteren, dann
aber auch häufig genug die gewissenloseren Elemente unter
den Privatwirtschaften über die schwächeren und scrupulöseren.
Endlich führt die Entwicklung des Grossbetriebs, welcher
gerade unter dem Einfluss moderner Technik (Dampf!) zwar nicht
so allgemein, wie der Socialismus behauptet, aber doch auf immer
mehr Gebieten, besonders auf einigen der wuchtigsten der in-
dustriellen Production, ebenfalls zum Siege oder doch zu
starker Uebermacht gelangt, weitere ökonomische und sociale
Gefahren mit sich, für welche die technischen Vortheile keines-
wegs immer eine genügende Compensation bilden.
§. 318 [135]. — 1. Der Sieg der begabteren Elemente,
insbesondere der betreffenden Vorstände der Privatwirtkschaften
führt ohne Zweifel einen grossen Theil der oben (§. 310) schon
zugestandenen Vortheile des Concurrenzsystems auch für das
Ganze, für die Volkswirtschaft, mit sich. Aber einmal entsteht
gerade dadurch so leicht die dort bereits erwähnte Gefahr des
factischen Monopols und sodann erfolgt dieser Sieg vielfach um
den Preis grosser materieller, socialer und moralischer Schädigung
der Masse der Bevölkerung. Weiter aber fragt sich eben: sollen
denn überhaupt die „Begabteren“ in der Volkswirtschaft siegen?
Wer sind die für diesen Sieg im Concurrenzkampf Begabteren ; sind
es wirklich diejenigen Classen, Personenkreise, Individuen, Familien,
deren Sieg im Interesse der Volksgemeinschaft als sittliche und
Culturgemeinscbaft liegt, auch wenn das Volk selbst in seinem zeit-
lichen Verlauf weit über die Dauer der einzelnen Generation
hinaus betrachtet wird? Endlich, mit welchen Mitteln wird der
Sieg dieser für den wirtschaftlichen Concurrenzkampf Begabteren
erfochten? Eine unbefangene Beantwortung dieser im engen Zu-
sammenhang unter sich und mit dem zweiten Puncte, dem Siege
der gewissenloseren Elemente (§. 320), stehenden Fragen ergiebt
wesentliche Bedenken hinsichtlich eines solchen Sieges der „Be-
gabteren“.
Man hat mit Hinweis auf das Darwinsche Gesetz des „Kampfs
uru’s Dasein“ diesen Sieg der Begabteren für eine unvermeidliche
Nothwendigkeit, aber zugleich auch für einen Vortheil des Ganzen
angesehen , wenigstens wenn die Krscheinung im grossen welt-
geschichtlichen Zusammenhang betrachtet wird, aber mit Unrecht.
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Sieg der begabteren Elemente.
815
Denn, abgesehen selbst von dem so stark bei der Entscheidung dieses Kampfes
mitspielenden sittlichen Factor der Gewissenhaftigkeit (§. 320), leidet diese Auffassung
wieder an dem schon mehrfach gerügten Fehler, dass die wirtschaftlichen Hand-
lungen und Erscheinungen als reine Thatsachen der Natur gelten. Dies ist aber
schon hinsichtlich der körperlichen Begabung der Menschen (verschuldete, ererbte
Krankheiten !), vollends hinsichtlich der geistigen, sittlichen Eigenschaften, der Kennt-
nisse, des Gharacters, des privaten Vermögensbesitzes (Erbrecht!) falsch.
In Anknüpfung an die Darwinsche Lehre, in diesem Puncte eine Verall-
gemeinerung der Mal thus’ sehen, hat Lange (in s. Arbeiterfrage) diese letztere
und implicite das Problem der Verteilung und der freien Concurrenz behandelt,
(besonders Kap. 1, 2, 4). Er vertritt denselben Standpunct wie ich hier. Schäffle
legt gewisse Puncte dieser Lehre, speciell das Gesetz der „natürlichen Auslese“ dem
„Bau u. Leben des Soc. Körpers“ zu Grunde und gelangt trotzdem zu einer gleichen
kritischen Beurteilung der freien Concurrenz (s. bes. III. 39S ff.). Die naturwissen-
schaftlichen Darwinianer (Hackel gegenüber Virchow, Oscar Schmid) ver-
wahren ihre Lehre sehr dagegen, dass sie sich zur Stützung des von ihnen freilich
wenig genug gekannten Socialismus brauchen lasse, und H. v. Treitschke nimmt
davon a. a. 0. sofort gern Act. Lange und Schäffle und die Socialisten werden aber
durch diese Einwürfe, was wenigstens die Kritik der freien Concurrenz be-
trifft, nicht widerlegt. In der Menschenwelt unserer Culturperiode wird der „Kampf
urn’s Dasein“ eben nicht nach dem rohen und schonungslosen Conen rrenzprincip
geführt werden dürfen.
Allerdings sind die Menschen schon von Natur nicht gleich,
persönliche oder individuelle Ungleichheit ist wie bei allen Orga-
nismen einer Gattung oder Art, so vollends bei der „höchsten
Form des Stoffs“ (Carey), beim Menschen, das Naturgesetz. Daraus
liesse sich überall sonst, aber gerade nicht beim Menschen, der
nothwendige und erwünschte Sieg der schon von Natur bevor-
zugten Individuen ableiten.
(S. Lange a. a. 0. Kap. 2, S. 54 ff.) Bei den Menschen ist eine Ausgleichung
dieser natürlichen Ungleichheit durch Erziehung und Cultur und durch den Schutz,
welchen die Gesaminthcit auch den schwächeren Elementen gewähren kann und jeden-
falls nach dem Volksbewusstsein unserer Culturperiode, mit einem Product christ-
licher Anschauung, gewähren soll, wenigstens theihveise möglich. Die natürliche Un-
gleichheit der Individuen führt vielmehr grade zu der Forderung, dass nicht alle
Elemente in der gleichen Weise rücksichtslos dem Concurrcnzkampfe ausgesetzt und
somit die schwächeren in demselben geopfert werden. Eine weitere Beschränkung
der freien Concurrenz ist gerade hieraus abzuleiten und in der Praxis neuerdings
immer mehr wieder durchgeführt worden (Arbeiterschutz, Einrichtungen der Kinder-,
der Altersfürsorge u. dgl. in.). Die natürliche Ungleichheit der Individuen, selbst in
körperlicher Hinsicht, wird aber durch das System der freien Concurrenz sogar auf
Generationen hinaus gesteigert (englische Erfahrungen mit Fabrikkindern), erscheint
also insofern selbst wieder als nichts „rein Natürliches“, sondern mit als ein Product
der wirthschaftlichen und socialen Verhältnisse, insbesondere auch der Bechtsbildung
und Gesetzgebung über diese letzteren. (Lange eb. ; Marx, Kapitel I, 198 ff. Die
sogen. Fabrikgesetzgebung zum Schutz der Kinderarbeit knüpfte z. Th. direct an die
ungünstigen Wahrnehmungen hinsichtlich der körperlichen Beschaffenheit der jungen
Fabrikarbeiter an, so in Preusscn. Treitschke in s. Aufs. Uber den Socialismus
hat die Möglichkeit, gerade unter den Menschen den Darwinschen Kampf ums Da-
sein wesentlich zu beeinflussen, übersehen a. a. 0. S. S7. Vergl. Lange, a. a. 0.
bes. S. 55 fU).
Zur natürlichen Ungleichheit tritt ferner alsdann die durchaus
in erster Linie auf veränderlichen menschlichen Institutionen be-
ruhende Ungleichheit der Kenntnisse und Bildung, des Gharacters
52*
816 5. B. Organis. d. Volksw.sch. 2. K. Priv.w.sch. Syst 2. A. Modernes. §. 31$.
und des Vermögensbesitzes hinzu, wodurch die angeborene körper-
liche, geistige und sittliche Ungleichheit der Individuen noch ge-
tseigert oder vermindert wird.
Die Möglichkeit, Kenntnisse und Bildung, und damit wieder vielfach grössere
oder geringere Erwerbsfähigkeit, ferner, abgesehen davon, die Möglichkeit. Vermögen
zu erlangen, wird durch die allgemeinen wirtschaftlichen und socialen Verhältnisse
auch für den Einzelnen maassgebend mit bedingt: insbesondere auch durch das Maass
und die Art des directen Eingreifens des Staats (Unterrichtswesen! Besteuerung!).
Wenn H. v. Treitsch ke die notwendige Class cn ord n u n g der Gesellschaft
so besonders stark gegon Sch mol ler betont, so mag man mit ihm Uber die Not-
wendigkeit, ja Naturgemässheit einer solchen Classenordnung an und filr sich ganz
einverstanden sein (§. 284). Aber daraus folgt nicht im Mindesten, dass eine be-
stimmte, gerade bestehende Classenordnung nicht durch menschliches absicht-
liches Eingreifen in hohem Maasse verändert und verbessert werden kann, — gerade
in der von den neueren deutschen Nationalökonomen angestrebten Richtung. Das er-
weist sich in unserem Zeitalter auch durch den Stand der Productionstechnik
in höherem Maasse möglich als jemals früher (§. 283). (S. auch Lange, Kap. 3
über das Glück.)
Der sehr beliebte Einwand in den gebildeten Gesellschaftskreisen, z. B. bei den
„Kopfarbeitern1* der liberalen Professionen, gegen die „Ungerechtigkeit'* höherer Lohn-
forderungen der gewöhnlichen Handarbeit ist deshalb so wenig zutreffend, weil er die
höhere geistige Bildung u. s. w. wiederum viel zu sehr als individuelles Verdienst
betrachtet. Sie ist aber viel mehr, wenn auch mit einzelnen günstigen Ausnahmen,
eine noth wendige Folge der Vertheilung des Pritvatvermögeus und Einkommens.
Jener Einwand läuft also auf einen Cirkelschluss hinaus.
U. A. würden Progressi vbesteucrung des Einkommens, Erbschaftssteuern,
Besteuerung der Conjuncturengewinne, besonders am Grundeigenthum, und überhaupt
sociales neben dem bloss fiscali sehen Steuerprincip Einkommen- und Ver-
mögensverschiebungen gegenüber der Gestaltung der Einkommen- und Veriuögensver-
theilung bei der bestehenden Besteuerung bewirken können, welche auch auf die
ökonomische Möglichkeit der Bildungscrlangung zurückwirken würden. — Selbst so
conservative und gemässigte Iiechtsphilosophen , wie z. B. A. Trend eien bürg in
s. „Naturrecht auf dem Grunde der Ethik“, 2. Autl. , Leipzig 1868, gestehen hier
dem Staate und der Besteuerung gewichtige Aufgaben zu, vgl. z. B. §. 158 (S. 359)
und §. 160.
Soweit aber der „Kampf um’s Dasein“ und der „Kampf um
die bevorzugte Stellung und um deren Erhaltung“ und soweit die
„natürliche Auslese“ auch in der Menschenwelt und speciell im
wirtschaftlichen Verkehr zur Geltung gelangen, wird doch nach
der vernünftig-geistigen Natur des Menschen ein ungemeiner
Unterschied unter allen Umständen anzuerkennen sein, auch beim
Vergleich selbst mit den höchst organisirten Thieren.
Die Menschen empfinden als vernünftige, der Erinnerung und der Beachtung
der Erfahrung fähige Wesen die Pein dieser Kämpfe. Durch Ausbildung der Geistes-
kräfte, auch der ökonomisch und social tiefstehenden Classen und Individuen, thun
die Culturvölker Alles, um das Bewusstsein des Menschenthums in jedem Individuum
zu wecken. Dadurch wird aber Jeder auch empfindlicher gegen die Pein jener
Kampfe und unvermeidlich wird sein Verlangen nach ökonomischer und socialer Hebung
lebhafter. Es wäre die grösste Grausamkeit, dies Bewusstsein methodisch zu wecken
(Schulwesen!) und dann den Massen dennoch zuzurufen: „Lasset jede Hoffnung
fahren, „„naturgesetzlich““ können nur Einzelne von Euch wirtschaftlich empor
kornmeu,“ — eine Behauptung, die ohnedem im Zeitalter hochentwickelter Productions-
technik stets nur in viel beschränkterem Maasse aufgestellt werden kann, als etwa
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Sieg der begabteren Elemente.
817
ehedem. Auch nach dieser Seite betrachtet, ist mit dem „Siege der Begabteren“ die
Krage der freien Concurrcnz nicht endgiltig entschieden.
Die hier berührte Seite der Frage des allgemeinen Volksunterrichts ist bisher
selten in ihrem Zusammenhänge mit der „socialen Frage“ behandelt worden. Wir
dürfen nicht vergessen . dass auch in dieser Hinsicht unsere Zeit völlig verschieden
von jeder früheren lieschichtsperiode ist: Elementarbildung der Massen, bis zum
letzten Proletarier, die Duclidruckerkunst erst so für das ganze Volk wirksam gemacht.
Und daun wundert man sich, dass die Massen nicht bei Fibel und Katechismus stehen
bleiben, — worüber allein sich zu verwundern wäre! Die allgemeine Schulpflicht er-
weist sich hier eben als ein gewagtes Experiment!
§. 319. Die für erfolgreichen wirtschaftlichen Concurrenz-
kampf begabteren Elemente der Bevölkerung sind diejenigen,
welche Anlage, Neigung, Schulung besitzen , ihre wirtschaftlichen
Handlungen den Bedingungen dieses Kampfes möglichst anzupassen.
Namentlich auf denjenigen Gebieten des Erwerbslebens, wo eine solche An-
passung zum Erfolg am Nothwendigsten ist, im Handel, zumal Grosshandel, llausir-
handel, Trödelhandel, gewissen Zweigen des Detailhandels, im Speculationsgeschäft
der Effecten- und Productenbörse, in der kaufmännischen Seite der industriellen und
landwirtschaftlichen Unternehmungen , siegen dann allerdings diejenigen Elemente,
welche es in dieser Anpassung am Weitesten bringen. Sie schaffen dann aber auch
jene wirtschaftliche Atmosphäre, die von diesen engeren Kreisen aus auf das ganze
Wirtschaftsleben schädigend einwirkt, die sittlich und ästhetisch hässlicheren Formen
und Arten der egoistischen Motive Uber die besseren, die Erwerbsgier über alle
anderen Rücksichten überwuchern lässt (§. 36 ff.. 47 II'.). Damit berühren wir schon
den folgenden Punct, den Sieg der gewissenloseren Elemente. Die Anschauungen,
die Lebensweise in diesen Classen werden dann, um nicht zu sagen durch Vererbung,
so doch durch Lehre und Beispiel auf die Familienangehörigen, die Kinder, die neue
Generation übertragen.
Sind diese so an die Spitze, wenigstens auf die Höben der
modernen Erwerbsgesellschaft gelangenden Elemente wirklich die
„Begabteren“, deren Sieg im Interesse der Volksgemeinschaft als
sittliche und Culturgemeinsckaft liegt?! Der Stoff, aus welchem
eine gute neue Aristokratie gezimmert werden kann ? Oder welcher
die geeigneten politischen, wissenschaftlichen, künstlerischen, volks-
wirtschaftlichen Führer und Kräfte der Nation liefern wird?
Auch wenn ein so emporkommender Volkstheil alsdann alle for-
malen Bildungselemente der Zeit sich aneignet, seinen Kindern
mit den im erfolgreichen Concurrenzkampf ergatterten grossen
Theilen des Volkseinkommens den besten intellectucllen Unter-
richt verschafft und diese so neue Staffeln in der Sphäre der
höheren Berufs- und Erwerbsarten nur um so leichter ersteigen
lässt? Die Antwort kann wohl nicht zweifelhaft sein.
Nicht allein, aber überwiegend ist eine derartige Entwicklung des J udent bums
seit seiner Einancipation ein Beleg für die Folgen dieses Siegs der in diesem Sinne „begab-
teren“ Elemente, denn eben grade das Judenthum ist nach seinen guten und glänzenden,
wie nach seinen üblen und hässlichen Seiten, der Naturanlage, des Characters. Tempera-
ments, der Neigung, — wenn man will: auch uralter Tradition, welche mit der Geschichte des
Judenthums zusammenhängt, wenn nur eben nicht diese Geschichte auch ein Ergebniss der
818 5. B. Organis. d. Volks w. sch. 2. K. Priv.w.sch. Syst. 2. A. Modernes. §. 307.
nationalen Eigenschaften von Israel wäre — das Judcntham ist für die Bedingungen
des Erfolgs in jenem wirtschaftlichen Concurrenzkampf besonders ausgestattet; die
Rechtsordnung des modernen privatwirthschaftlichen Concurrenzsystems ist ihm wie
auf den Leib (oder vielmehr: auf den Geist und Character) zugeschnitten. Und wenn
dann auch die errungene Erwerbsstellung, Einkommen- und Vermögenshöhe mit dazu
dient, neben einem Übertriebenen, geschmackloscu und aufreizenden Luxus, Mittel zur
Erhöhung der inteliectuellen Bildung zu bieten; wenn es seihst in Preusscn (von
Oesterreich-Ungarn gar nicht zu reden) schon Mitte der 80er Jahre dahin gekommen
war. dass es 9601 jüdische neben bloss 63,405 evangelischen und sogar nur 15.971
katholischen Gymnasiasten gab, während die Bevölkerung des Staats (in 1890)
nur 372,000 Juden auf 19.23 Mill. evangelische und 10.25 Mill. katholische Christen
(97,000 sonstige) zählte — die Quoten der Gymnasiasten bezw. 10.8, 71.2 und 18.8,
der Bevölkerung 1.33,64.9 und 33.7 % waren (s. Statistische Correspondenz des Preuss.
Statist. Bureaus, Näheres Jahrb. Jahrg. V, S 609, auch Stat. Handb. I. S. 439) —
wenn mehr und mehr auch die liberalen Berufe, zumal die dem wirthschaftlicheu Erwerbs-
leben nächststehenden (Advocatur, ärztlicherStand. Journalistik)von Juden überfüllt werden
— die getauften immer noch gar nicht mitgezählt: dann giebt eine solche Entwicklung der
Dinge (zumal in dem Zeitraum von zwei Mcnschenaltern 1) doch zu denken. Aber sic dient
doch auch zum Beleg dafür, dass der Zweifel, ob der Sieg der für den wirthschaftlicheu
Concurrenzkampf „begabteren“ Elemente im Interesse der Volksgemeinschaftals sittlicher
und Culturgemeinschaft liegt, seine Berechtigung hat. Gerechter Weise wird freilich hinzu-
zufügen sein, dass die „echt germanischen“ Elemente, welche das maasslose Concurrenz-
system in No rdam e ri ca an die Spitze und auf die Höhen der Erwerbsgesellschaft führt,
auch nicht eben einen viel erfreulicheren Sieg der „Begabten“ darstellen und dass die
Erfahrungen anderer moderner Länder (England, Frankreich) hinsichtlich der Elemente,
welche aus der eigenen Nation vielfach so emporsteigen, zu demselben Unheil führen.
Gewiss gelangen non auch gerade im Coneurrenzsystem und
durch dasselbe im guten Sinne des Worts „begabte“ Elemente
empor, tüchtige, fleissige, zur Förderung der Technik und Oeko-
nomik veranlagte, Talente und Genies der wirtschaftlichen Praxis,
wahre Pioniere des technischen und wirthschaftlicheu Fortschritts,
grossartigen und segensreichen Unternehmungsgeistes — und ohne
Zweifel deren auch sogar besonders viele semitischer, nicht
bloss „arischer“ Race, wie man billig zugestehen muss — ; solche
welche verdienen, höhere, auch führende Stellungen im Volks-
leben einzunehmen und deren „Sieg“ im wahren Interesse der
Volksgemeinschaft liegt. Gewiss würden manche, selbst viele solche
Elemente bei einer die freie wirthschaftliche Bewegung, die Aus-
nutzung der Conjuncturen , den Speculationserwerb mehr be-
schränkenden wirtschaftlichen Rechtsordnung gehemmt, in der
Ausbildung und Verwertung ihrer Kräfte gehindert werden, zn
ihrem, aber auch zum Nachtheil des Ganzen.
Sicherlich bietet grade in dieser Hinsicht die gemeinwirthschaftliche Organisation,
die „staatssocialistische“, vollends die rein socialistische Bedenken und Gefahren, welche
in der ganzen Organisationsfrage ins Gewicht bei der Entscheidung fallen. Einige
davon sind eine alte Erfahrung des „Staatsbetriebs“ von Wirthschaftsunternehmungen,
einige haben sich auch bereits bei den netteren „Verstaatlichungen“ (Eisenbahnen)
etwas zu zeigen begonnen. Aber das Alles beweist doch nur, dass jede Organisation
ihre Gebrechen und Schwächen hat, weil Alle — mit Menschen arbeiten müssen. Es
beweist für uns auch überzeugend, dass das andere Extrem des privatwirthschaftlichen
Concurrenzsystems, die rein socialistische Wirthschaftsorganisation, wie aus zahlreichen
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Sieg der gewissenloseren Elemente.
819
sonstigen, wie wir sahen vor Allem psychologischen, mit der Motivation zusammen-
hängenden (Buch 1, Kap. 1), so auch aus Gründen der hier angedeuteteu Art ver-
hängnisvoll wäre: wegen der zu grossen Hemmung von Elementen, welche die Initiative
im Wirtschaftsleben, in der Technik vertreten und welchen deshalb eine führende
Stellung ausserhalb einer immer leicht verknöchernden Bureaukratie gebührt. Und
ohne solche Bureaukratie für die Leitung, Einrichtung, Beaufsichtigung des ganzen
Productionsbetriebs käme der Socialismus nicht aus.
Aber im privatwirthschaftlichen Concurrenzsystem wird das
Emporkommen unlauterer Elemente zu sehr begünstigt, fast
durch die Bedingungen, unter welchen der wirtschaftliche Erfolg
erzielt wird, zur Notwendigkeit gemacht. Das ist kein „Sieg
der Begabten“, auf welchen man sich zur Rechtfertigung jenes
Systems berufen kann. Durch die folgende Erwägung wird dieser
Schluss bestätigt.
§. 320 [136]. — 2. Sieg der gewissenloseren Ele-
mente. In der freien Concurrenz siegen so nicht allein die
tüchtigeren, sondern oft genug nur die gewissenloseren Ele-
mente, welche die ihnen günstigen ökonomischen Verhältnisse rück-
sichtsloser ausbeuten (Ausartung des Selbstinteresses zum
Eigennutz). Ihnen kommt das System der freien Concurrenz
dadurch zu Gute, dass es das Gebiet des älteren Wirthsehafts-
rechts, welches Ausbeutungen von Noth, Leichtsinn, Unerfahren-
heit beschränkte, einengt und viele Entscheidungen dem Belieben
des Einzelnen, dem „Willen der Parteien“ überlässt, z. B. im Be-
treff des Inhalts der Verträge.
Daraus ergeben sich zwei grosse Gefahren: einmal werden
die von vornherein gewissenloseren Elemente noch gewissen-
loser, unsittlicher, denn der wirtschaftliche Erfolg lockt sie
und nur zu leicht wird das Strafgesetzbuch ihr alleiniger Moralcodex.
Meine Rede Uber die sociale Frage, S. 6. „Man erwirbt heutzutage die
Millionen nicht, ohne mit dem Aermel ans Zuchthaus zu streifen“, wie jener Wiener
Börsenmann sagte, s. Schmoller, soc. Frage, in den Preuss. Jahrb. 1S74. Diese
Aeusserung ist Schmoller höchlich verübelt, auch als von ihm selbst herrührend
bezeichnet worden, während er sic nur jenem Börsianer entnommen hat. Findet sie
nicht eine volle Bestätigung in folgendem Satze der National zeitung? Ein Satz,
von dem die Zeitung zwar „hofft, dass diese Praxis nicht viel Anhänger hat“, selbst
aber durch die Zeilen lesen lassen muss, wie trügerisch diese Hoffnung ist: „Wer
überhaupt an der Börse speculirt, muss immer mit gegebenen Verhältnissen und
besonders damit rechnen, dass an derselben jedes Mittel, dessen Anwendung
nicht offen mit dem Strafgesetzbuch in Conflict bringt, erlaubt ist“. (Wochcn-
börsenber. d. Nationalztg. v. 5. Juni 1875; das Durchschossene auch im Originaltext
so.) Und wie viel Belege kann man seitdem hinzufügen!
Aber auch die besseren Elemente werden ferner theils durch
den Erfolg der Anderen in Versuchung geführt, theils unmittelbar
durch die Concurrenz gezwungen, ähnlich gewissenlos zu verfahren.
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820 3. B. Organis. d. Volksw.sch. 2. K. Priv.w.sch. Syst. 2. A. Modernes. §. 321.
Die Lage ist im allgemeinen Verkehr oft ähnlich wie in dem speciellen Falle
des Schmuggels: auch der reelle Kaufmann wird durch die Schmuggelconcurrenz
gezwungen, ebenso zu handeln, oder er muss das Geschäft aufgeben, wo dann die
Schmuggler vollends freies Spiel haben. — In England gingen Anregungen zn
gesetzlichem Einschreiten des Staats in Fabriksachen öfters von humanen Fabri-
kanten aus, welche durch die Concurrenz an der freiwilligen Einführung von Re-
formen gehindert worden waren. Mehrfache Beispiele v. Plener, engl. Fabrikgesetz-
gebung, Wien 1871.
So verschlechtert sich fast unvermeidlich der
ganze Maassstab der geschäftlichen Moralität.
Davon liegen z. B. in Verfälschungen der Qualität der Waaren, in unrichtigem
Maass und Gewicht derselben, in Unredlichkeiten in den Creditverhältnissen . in
schleuderliaftem „Ausverkauf4, in widerwärtigstem Reclamewesen , im Börsentreiben,
im „Grundungs- und Emissionsgeschäft“, in der Verquickung der öffentlichen Presse
mit der Börse, in der Ausdehnung der Corruption auf Parlamente, da und dort selbst
auf das öllentliche Beamtenthum u. s. w. leider nur zu viele und zn deutliche Belege
heutzutage vor.
Nur ein paar characteristische Einzelheiten, grade aus Gebieten, welche weniger,
als z. B. das grosse Börsentreiben u. dgl., die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, üeber
vieles Derartige wird z. B. in den deutschen Handelskammerberichten seit
Jahren geklagt, das grosse Debel zugestanden, die vollständige Rathlosigkeit aber
ebenso, da „natürlich“ nicht von einer Rückkehr zu den „veralteten Beschränkungen“
die Rede sein könne. Aber „die eigene bessere wirtschaftliche Einsicht“, die „Selbst-
hilfe“ reicht eben nicht immer aus. Vgl. die preussischen Ilandelskammerberichte
für ISO!) (Berl. 1870). z. B. Magdeburg, S. 138, wo über die Schwindeleien im
Geschäft mit baumwollenem Strickgarn gesprochen wird und es heisst: „von Seite
der Regierung diesem üebelstande entgegenzutreten, halten wir für unausführbar,
da ein Zwang in Handclsangelegenheitcu wohl kaum noch dem Zeit-
geiste entspricht“ u. s. w. — Eb. S. 555 Iler, von Wesel: Klage über die
„Unsitte“, dass man bei Waaren, welche in Packet- oder anderen Formen verkauft
werden, die das Gewicht eines Pfunds darstellen, im Kleinhandel gewöhnlich ein
geringeres Gewicht erhält; Ausführung am Beispiel der Stearinlichte mit „Pfunden“
von 28, 2ti, 24 Loth und anderen Betrügereien. „Es ist dies, sagt der Bericht, ein
Uebelstand, den die Ge sch äfts w u t h der Concurrenz herbeigeführt hat, um dem
Gegner durch billigere Preise die Kundschaft zu entziehen und dennoch gut ver-
dienen zu können“. Wunsch nach einem abhelfenden Gesetze. — Eb. S. 9t;S Ber.
von Hildesheim, mit Anführung von Klagen über das Uebcrhandnehmen des Hausir-
handels und die Veranstaltung von Auctionen von Kaufmannswaaren. Aehnliche Be-
richte von Lüneburg S. 5(17: „mehr oder weniger schwindelhafte freiwillige
Auctionen“. In den letzten Jahren, besonders seit der Weltkrise von 1873 ff., sind
die Klagen immer allgemeiner geworden, nur oft tendenziös übertrieben oder einseitig
gewissen Ländern Vorwürfe gemacht (z. II. von Rculeux in seinem bekannten Wort:
„Schlecht und billig“ für die deutsche Industrie), während wesentlich Gleiches
von der übrigen Welt gilt (englischen Baumwoll waaren, die ordinären Sorten wegen
der schlechten Qualität vom indischen Markte verdrängt, selbst französische Seideu-
waaren). Vgl. die Citatc aus englischen Zeitungen bei Jagor a. a. 0„ die Verhand-
lungen über Verfälschung der Lebensmittel im Anschluss an den bezüglichen Gesetz-
entwurf im Deutschen Reichstage 1877 — 7S. Kein Mensch lüugnet die Uebel mehr,
aber auf die Ursachen, die liberale individualistische Wirthschaftsordnung.
wagen die Wenigsten hinzuweisen. Man begnügt sich mit dem Kuriren an den
Symptomen des Ucbels. Ist doch das „socialistische“ Tabakmonopol bei uns nicht
selten deshalb mit empfohlen, um gute unverfälschte Waare zn erhalten: also
das verpönte Recept der „planmässigen Regelung der Production“ ausserhalb des
Concurrcnzsystems !
§. 321 [137]. — 3. Der Sieg des Grossbet riehs über
den Kleinbetrieb.
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Sieg des Grossbetriebs.
821
Vgl. hierzu Scbmoller’s deutsche Kleingewerbe, Halle 1869, und überhaupt
die neuere Litteratur über Ge w erbe wesen, so G. Schön bergs Abh. in seinem
Handbuch B. II, zugleich für Speciallitteratur; das Buch von Losch, nationale Pro-
duction, von v. S chulze-Gäve rnitz, Grossbetrieb ein wirtschaftlicher und socialer
Fortschritt, Leipz. 1892. Aus der Statistik die Daten den Gewerbezählungen
(deutsche von 1875), der Berufsaufu ahmen (deutsche von 1882, s. o. §. 243),
E. Engel, die industrielle Enquöte, Berlin 1 S7 S (zu optimistisch), die agrar-
statistischen Aufnahmen, bes. über die Grössenverhältnisse der landwirtschaft-
lichen Besitzungen und Betriebe (auch in der deutschen Berufszählung tvou 1882).
Buchenberger, Agrarwesen I, Kap. 4. Eine nähere statistische Begründung ist
hier nicht zu geben. Es ist dafür auf die Practische Nationalökonomie zu verweisen.
Einige Daten in der 2. Aufl. S. 250. Auch die nähere theoretische Begründung der
Grossbetriebstendenz gehört in die Theoretischen Nationalökonomie (Productiouslehre,
Lehre von Productionskosten und Preis).
Auch die Entwicklung des Grossbetriebs steht im Causalnexus
mit dem System der freien Concurrenz, wenn sie auch stark durch
die Entwicklung der Productionstechnik bedingt ist.
Der Socialismus, welcher mit Vorliebe diese technisch gebotene
wUnschenswcrthe Grossbetriebstendenz iu seinen Beweisführungen
braucht, generalisirt zu sehr. Die Tendenz tritt in den verschiedenen
Productionszweigen nicht gleichmässig hervor, sie zeigt sich auch
in dem für die Fragen der freien Concurrenz wichtigsten Zweige,
in der Industrie (Stoffveredlung), nicht überall in gleicherweise,
aber allerdings mehrfach besonders frappant.
Denn hier kommen die ein wirkenden Factoren, die Ersparung an Generalkosten,
die Yortheile der Arbeitstheilung und des Maschinenwesens, die rechtliche Zulässigkeit
und tbatsächliche Möglichkeit, beliebig viel Arbeitskräfte jeder Art herbeizuziehen,
in einer Unternehmung zu vereinigen, im Lohnsystem abzulinden, ebenso beliebig viel
Kapital (Ciedit!) zu verwenden, vornemlich zur Geltung. Daher hier jetzt eine wesent-
lich andere Lage als im ehemaligen zünftigen Handwerk mit seinem vor-
geschricbenen technischen Bildungsgang des Meisters, mit der Beschränkung der
Lehrlings- und Gcsellcnzahl, der Beschränkung auf die Gesellen der Zunft u. dgl. in.
(Vgl. Schön borg, z. wirthsch. Bedeutung d. Zunftwesens im Mittelalter, Berl. 1868
(auch in Hildebr. Jahrb.), Gierke, deutsches Genossenschaftsrecht I, §. 38, Stahl,
deutsches Handwerk I (1874), bes. Sch mol ler, Strassb. Tücher- und Weberzunft,
375 IT., 453.) Dazu die Zinstaxen, öfters Lohn- und Preistaxen: Alles eine grund-
verschiedene Lage im Vergleich zu heute bewirkend. Die günstigen technischen und
ökonomischen Folgen der freien Concurrenz für die Production zeigen sich deshalb
auch in Hauptzweigen der Industrie am Meisten, freilich auch die erwähnten Ge-
fahren des Compromisses der Concurrentcn und des factischen Monopols Einzelner.
Besonders die mit grossen Motoren (Dampfmaschinen) arbeitende Industrie, daher die
metall-, namentlich eisenverarbeitenden, die Maschinen-, die Textilindustrie (Spinnerei,
Weberei), die chemische Industrie, der HütteDbetrieb, neigen stark zum Grossbetrieb.
Weiter der Bergbau, das Geld- und Bankgeschäft. Im Gross- und Kleinhandel, in Gast-
uud Schaukwirthschaft zeigt sich die Tendenz auch, aber doch nicht so gleichmässig.
Grade die Gewerbefreiheit, in Verbindung mit dem neueren Communicationswesen.
mit billigen Posttarifen (für Circulare, Kataloge. Proben, Packete) hat hier freilich die
Grossbetriebe im Waarcnvertricb unter den Consumentcn (Bazars, grosse Laden-
geschäfte mit Filialen, regelmässigem Waarenvcrsandt) begünstigt, z. Th. erst er-
möglicht. (Factische Monopolisirnngsbestrebungen Seitens einzelner Unternehmer durch
Erwerbung der besten Ladenstellen in Großstädten.) Auch die iudirecte Besteuerung,
besonders diejenige Form, welche sich an den Productiousbetrieb anknüpft und hier
namentlich die Form der RohstolFbesteuerung, der Besteuerung nach Betriebsmerkmalen
(Zucker, Bier, Branntwein, Fio. II, 2. A., §. 254) hat mannigfach einseitig den Gross-
822 ö. B. örganis. d. Volksw.sch. 2. K. Priv.w.scb. Syst. 2 A. Modernes. §. 321.
betrieb gefördert, weshalb hier die Statistik (z. B. der durchschnittlichen Vergrösserung
der betreffenden Fabriken) für die allgemeine Frage nicht ohne Weiteres beweisend
ist. Viel weniger allgemein lässt sich von einer Grossbetriebstendeuz rein aus öko-
nomisch-technischen Gründen in der Landwirtschaft, mehr dagegen wieder iu der
Forstwirtschaft sprechen, weshalb letztere auch deswegen sich für öffentliche Körper,
wie den Staat, besonders mit eignet (Fin. I, 3. A., §. 236 ff).
Der Socialismus, die Socialdeinokratie (auch in ihren Programmen) verallgemeinert
die Grossbetriehstendenz auf allen Productionsgebieten übermässig und tendenziös („die
ökonomische Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft führt mit Naturnotwendigkeit
zum Untergang des Kleinbetriebs“, erster Satz des neuen Erfurter Parteiprogramms
der deutschen socialdemokratischen Partei, 1891). Hier wird der Einfluss des rein
ökonomisch-technischen Moments auf die Entwicklung zum Grossbetrieb überschätzt, auch
da angenommen, wo er nicht oder weniger sich geltend macht, werden die mancherlei
anderen Momente, welche mitspielen, persönliche, sociale, auch einzelne technische, locale,
und dem Mittel- und Kleinbetrieb zu Gute kommen, übersehen oder tendenziös unbeachtet
gelassen, namentlich bei der Frage in der Landwirtschaft, aberauch in wichtigen in-
dustriellen, handwerklichen, mercantilen Gebieten (von mir in meiner Rede „überdas neue
socialdemokratischc Programm“ auf dem evang. soc. Congrcss 1892, S. 32 ff. gegen die
Uebertreibungen und zu weiten Verallgemeinerungen des Socialismus geltend gemacht
und mit statistischen Daten aus der deutschen landwirtschaftlichen Betriebs- und
Gewerbestatistik belegt). Auch von anderer Seite ist wohl übersehen worden, dass
bei allen für den Ortsbedarf arbeitenden Gewerben, deren immer noch viel sind
und verbleiben werden, auch bei heutiger Entwicklung von Technik, Communicationswesen,
Handel und bei Gewerbefreiheit, schon die Decentralisation der Bevölkerung, die
Verbreitung über das ganze Staatsgebiet iu zahlreiche kleinere und grössere Wohn-
orte dem Grossbetrieb vielfach eine Grenze zieht, wo er rein ökonomisch-technisch
vielleicht lohnend wäre. Das beachtet Losch in seinem genannten Buche zu wenig.
Für die Frage des landwirtschaftlichen Grossbetriebs wird cs von socialistischer Seite
auch nicht genügend berücksichtigt.
So wird gewiss die „Grossbetriebstendenz“ auch gegenwärtig und in Zukunft
nicht so allgemein sich verwirklichen können, als z. B. der Socialismus annimmt.
(8. auch G. Schmoller, Preuss. Jahrb. 1892, I.) Die segensreichen Folgen bezüglich
einer Verminderung des notwendigen Arbeitsmaasses. der Veränderung der Arbeits-
ort u. s. w. grade im Grossbetrieb für die Arbeiter selbst, womit der Socialismus und
die auf dem Boden unseres Wirthschaftsrcchts stehenden Anhänger des (besondere
industriellen) Grossbetriebs gern zu Gunsten des letzteren argumentiren, werden eben-
falls mannigfach übertrieben, die unvermeidlichen, grade in der Technik be-
gründeten üblen Folgen zu wenig gewürdigt. Wie aber eben ausser der rein
ökonomisch-technischen Seite auch das Wirthschaftsrech t, die Gewerbefreiheit
übermässigden Grossbetrieb begünstigt, dadurch die ConcentrationderGeschäftsgewinne.dcs
Kapitals , die Aufsaugung und Verdrängung der kleineren selbständigen Unter-
nehmungen, z. B. im Ladengeschäft des Handels, was so manche social bedenkliche
Folge hat, das darf doch auch nicht verkannt werden.
Unterschätzt, wie von Optimisten des liberalen Wirtschaftssystems, darf die
Grossbetriebstendenz so anderseits auch nicht werden. Die Gewerbe- und Berufs-
statistik lässt sie doch auf wichtigen Gebieten deutlich hervortreten, aber nicht einmal
immer so deutlich, wie cs den Verhältnissen der Wirklichkeit entspricht. Die kleinen,
auf fremde Rechnung, wenn auch in eigeucr Wohnung arbeitenden Hausindustriellen,
zahlreiche Handwerker, welche vomemlich oder ausschliesslich für das Magazin, den
Laden des Geschäftsmannes, nicht für Privatkunden arbeiten, daher fast ganz von
grösseren kapitalistischen Unternehmern abhängig sind, verhüllen das Grossbctriebs-
princip mehr nur noch, als dass sie die Existenzfähigkeit des Kleinbetriebs bewiesen.
Die mit wenig Gehilfen arbeitenden, an sich vielleicht noch sehr zahlreichen Gewerbe
solcher Art können daher statistisch dem concentrirten Grossbetrieb gegenüber noch
stark ins Gewicht fallen, auch nach der Gesammtzahl des Personals aller Art, Unter-
nehmer. Leiter, Gehilfen, welches sie beschäftigen, und dennoch die bereits eingetretene
Entwicklung zum Grossbetrieb und die weitere Entwicklung in dieser Richtung nicht
widerlegen. Auch die Daten der deutschen Gewerbezählung von 1875 und der Berufs-
Digilized by Google
Sieg des Grossbetriebs.
823
Zahlung von 1882 sind daher für derartige Fragen mit Vorsicht zu benutzen.
E. Engel hat z. B. in der genannten Schrift mehrfach einseitig und zu optimistich
geurtheilt (vgl. auch Einleitung zu B. 40 der preuss. amtl. Statistik über die gen.
Gewerbezählung).
Statistisch findet die Grossbetriebstendenz in der Industrie eine gute und un-
zweideutige Bestätigung in der durchschnittlichen Vergrösserung der Arbeiterzahl,
der Maschinenkräfte (bes. Dampf, Wasser), der Zahl der sonstigen Maschinen und
characterischcn, technischen Betriebsfactoren, Apparate u. s. w., Spindeln, Webstühlc,
Oefen, Kessel, der Menge der verarbeiteten Rohstoffe und gewonnenen Producte,
welche auf eine Unternehmung, Fabrik u. s. w. kommen. Dabei ist daher die Ver-
gleichung in verschiedenen Zeitpuncten in demselben Lande und der Verhältnisse von
Ländern verschiedener industrieller Entwicklung wichtig. Die raschen und grossen
Veränderungen der Productionstechnik stören jedoch hierbei die Vergleichungen öfters.
Auch ist zu bedenken, dass selbst die Durchschnittszahl der Arbeiter in Einer Unter-
nehmung wenig gestiegen, vielleicht sogar zunickgegangen sein kann, weil die Ersetzung
der Arbeitskräfte durch Maschinen, die Steigerung der Leistungsfähigkeit des einzelnen
Arbeiters mit Hilfe verbesserter productionstechnischer Hilfsmittel mittlerweile in erheb-
lichem Maasse vor sich gegangen ist (Kordamerica, Gr.-Britannien , aber immer mehr
auch die anderen Industrieländer). Die langsame Steigerung oder Abnahme der
Durchnittszahl der Arbeiter beweist also hier nichts für langsamere oder stockende
Entwicklung in weiterer Richtung des Grossbetriebs. Im Gcgeutheil: der letztere ist
nur „kapitalistischer“, mehr auf Verwendung von Naturkräften und Maschinen und
Einrichtungen dafür geworden: ein für die sociale Seite der Frage wichtiger, aber
noch ungünstigerer Punct. Denn die Nachfrage nach Arbeitskräften wird so ge-
schwächt. die Arbeiter gcrathen in eine preeäre Lage, vollends bei starker Volks-
vermehrung durch Geburtsuberschuss und Wanderungen.
Das neuerdings mit Recht auch von der socialen Seite behandelte technische
Problem. Kleinkraftmaschinen zu erfinden und herzustellen und wohlfeile motorische
Kräfte (Wasser, Dampf, Electricität u. s. w.) dem Klein- und Mittelbetrieb verfügbar
zu machen, um so dessen Concurrenzfähigkeit zu steigern, ist gewiss für die hier
erörterte Frage nicht unwichtig. (Vgl. z. B. Al brecht, die volkswirtschaftliche Be-
deutung der Kleinkraftmaschinen, Schmoller’s Jahrb. 1889, XIII, Heft 2.) Aber aus
technischen und aus allgemeineren ökonomischen Gründen wird man von der Lösung
dieses Problems, worin bereits Manches geschehen ist, auch nicht zu viel hinsichtlich
der Zurückdrängung der (irossbetriebstendenz erwarten dürfen. Vielleicht in einzelnen
Productionsbetrieben, wo auch sonst Kleinbetrieb Vortheile hat (z. B. Kunstindustrie),
aber kaum allgemein möchte hierdurch eine Abhilfe erreicht werden. Die relativ
niedrigeren Productionskosten und Preise der grösseren Motoren, Maschinen, mancherlei
technischer Apparate und Einrichtungen, die ebenfalls oft relativ niedrigeren Betriebs-
kosten dieser Maschinen u. s. w. verglichen mit Herstellungs- und Betriebskosten der
kleineren gewähren dem mit den ersteren Maschinen arbeitenden Gross- und Grösser-
Betrieb eine technisch begründete ökonomische Ueberlegenheit, welche nicht leicht
überwunden wird. Ob die Elcctricitätstechnik das ändern kann und wird, muss sich
noch zeigen. Die übrigen ökonomischen Vortheile des Grossbetriebs in Bezug auf
Production mit relativ niedrigeren Kosten sind so maunichfach und durch die Gesammt-
verhältnisse des Grossbetriebs bedingt, dass man vollends zweifeln kann, ob auch eine
sehr erfolgreiche technische Lösung des Problems der Kleinkraftmaschinen und der
Kraftzuführung (electrischer Strom) die Concurrenzbcdingungen zwischen Gross- und
Kleinbetrieb in Hauptzweigen der Industrie erheblich und allgemein zu Gunsten des
Kleinbetriebs wird verschieben können. Für einzelne Arten von Fabrikanlagen (z. B.
Spinnereien, s. Engel, Sachs, stat. Ztschr. 1856, S. 146, danach 2. Aull, dieses
Werks, S. 250 u. A. m.) liegen schon länger technisch-statistische Berechnungen
darüber vor, wie die Productionskosten nach Einheiten der Betriebskräfte oder Betriebs-
merkmale mit der Vergrösserung der Anlagen regelmässig abnehmen. Jedes Circular
von Maschinenfabriken für Motoren u. A. m. zeigt die relativ niedrigeren Preise
der grössereu Maschinen, Kessel u s. w. für die Einheit der Kraftleistung. Grösse
(Pferdekraft).
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824 5- B. Organis. d. Volksv.sch. 2. K. Priv.w.scb. Syst. 2. A. Modernes. §. 322.
§. 322. Indem nun aber diese ökonomisch -technischen Vor-
theile des Grossbetriebs von der Privatunternehmung im privatwirth-
schaftlichcn Coneurrenzsystem nach dem geltenden Wirthschafts-
rechte ausgenutzt werden, kommen sie eben doch, zunächst wenigstens,
dieser Unternehmung und ihren Inhabern, und nur etwa durch
manche Mittelglieder und oft nur langsam und unsicher, wenn
überhaupt, sei es den Arbeitern im Lohne, als einem Antheil an
dem durch die Verminderung der natürlichen Productionskosten
(§. 172) sich günstiger gestaltenden Reinertrag, sei es den Con-
sumenten im billigeren Preise der Producte zu Gute. Soweit
letztere beiden Folgen nicht oder doch nicht vollständig eintreteo,
steigt der Gewinn des Privatunternehmers, welcher ohnehin ab-
solut durch den Grossbetrieb wächst. So bildet sich aber eben
das grössere Einkommen, Vermögen, Privatkapital der Inhaber der
Grossbetriebe, und die relative Classenlage der „Privatbesitzer der
Productionsmittel“, der Leiter der Production einer-, der Arbeiter
anderseits geht immer weiter auseinander. Immer mehr Personen
gerathen in ökonomische Abhängigkeit vom Inhaber des Grossbe-
triebs. Im privatwirthschaftlichen System wird so der vielleicht
sonst im Gesammtinteresse liegende ökonomisch -technische Fort-
schritt zum Grossbetrieb für die Gesellschaft bedenklich, während
er im gemeinwirthschaftlichen , im socialistischen System zum all-
gemeinen Vortheil würde.
Bei extremerer Entwicklung, welche, wie gesagt, auch nach
ökonomisch-technischer Auffassung freilich lange nicht so allgemein
zu erwarten ist, als oft behauptet wird, aber doch bei freier Con-
eurrenz auf wichtigen Gebieten der Industrie, des Handels wahr-
scheinlich ist, droht so allerdings die Verdrängung des Klein-
durch den Grossbetrieb mit der nothwendigen Folge, dass die
Zahl der ökonomisch und social selbständigeren Personen (Unter-
nehmer, „Meister“ u. s. w.) relativ und mitunter selbst absolut ab-
nimmt und die industrielle Gesellschaft sich immer mehr in zwei
nur kurz vorübergehend durch den Lohnvertrag lose verbundene
Classen der grossen Unternehmer und Privatkapitalisten einer- und
der Lohnarbeiter anderseits scheidet. Uebergänge von letzterer
in die erste Classe, obwohl rechtlich durchaus zulässig, finden
thatsächlich wegen der Macht der ökonomischen Verhältnisse nicht
häufig statt.1) Die weitere Folge ist eine grosse dauernde Un-
*) lieber die optimistischen Ansichten der Schule der freien Concurrenz in diesem
Punctc s. Lause, Arbeiterfrage. Kap. 3 (Glück und Glückseligkeit. Darlegung der
geringen Wahrscheinlichkeit der Chancen des Gelingens).
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Sieg’ des Grossbetriebs.
825
gleichheit der ökonomischen und socialen Lage, des Bildungsstands
der beiden Schichten, ein schroffer Gegensatz der Interessen, eine
feindliche Spannung, wie sie nur jemals in einem anderen Systeme
des Wirthschaftsrechts vorhanden war.
Die übrigens vielfach auch zu allgemein und in zu bedeutendem Grade an-
genommene absolute Hebung der wirtschaftlichen Lage, des Lohneinkommens unserer
arbeitenden Classon von heute gegen früher mag man dabei selbst zugeben (s. auch
§. 2S4(. Wichtiger für diese Fragen ist eben noch, dass die Differenz in der
ökonomischen Lage und im Einkommen sich vcrgrössert, die Aussicht des Arbeiters,
in die höhere sociale Schicht aufzusteigen, sich verringert hat. der „Arbeiterstand“
nicht mehr, wie doch im Grossen und Ganzen im zünftigen Handwerk, eine Durch-
gangsstufe, eine Vorbildu ngsstufe für die höhere Stellung war, sondern ein
Lebensstand ist, mit der Aussicht, cs in älteren Tagen (aber selbst schon von den
40er Jahren an!) noch schlechter zu haben, — m. E. auch eine Erklärung der viel-
fach wahrgenommenen Verschlechterung der technischen Bildung und Leistung der
industriellen Arbeiter, die nicht so starkes Interesse wie früher an besserer Aus-
bildung haben. Die Behauptung, dass der Arbeiter wenigstens nicht das Kisico des
Geschäfts trage, ist daher ebenfalls nur sehr bedingt richtig. Jene beständigen
Wechsel zwischen Spcculation, Ueberspeculation. Krisis, Flauheit, wesentlich mit eine
Folge der „Concurrenzwuth“ und der „Conjunctur“, fallen zu Zeiten mit grösster
Schwere auf den Arbeiter, der dadurch sehr empfindlich am Kisico des Geschäfts
Thcil nimmt. Dies Alles trägt zur Steigerung der feindlichen Spannung zwischen
besitzenden und nichtbesitzenden Classeu bei. Gegen diese Auffassung z. B. Sötbcer
in dem Aufsatz das Gesammteinkommen und dessen Vertheilung im preussischen Staat,
im „Arbeiterfreund“ 1S75, XIII, 2''8 if., mit Anführung eines Worts des Engländers
Harri son über die social und ökonomisch heilsame und nothwendige Function des
grossen Pri vatkapitals in der Industrie, S. 295. Eben nur die eine Seite der
Frage! Wie man aber vollends den britischen Verhältnissen übermässigster Ver-
mögonsconcentration gegenüber — worauf ja freilich neben der industriellen Gross-
betriebstendenz andere Umstände, die Ilandelssuprcmatie, die Grossgrundbesitz-
verhältnisse u. A. m. mit einwirken — noch dem Optimismus huldigen kann, der „freie
Verkehr“ schalle die beste Vertheilung, ist mir unverständlich. Schon oben (S. 723)
habe ich meine Bedenken über die Ungleichheit der Einkoinmenvcrtheilung, welche
unter den bisherigen Einflüssen, darunter eben auch namentlich in Folge der Gross-
betriebstendenz auf vielen Gebieten, bereits erreicht ist, geltend gemacht. Nach
Baxter’s dort schon einmal in Betreif eines Puncts citirtcn. freilich unsicheren, aber
schwerlich zu ungünstigen Zahlen bezogen 85'fO Selbstthätige von 13,720.000 im
Ganzen 2523 Mill. Mark Einkommen von 16,282 Mill. M. Nationaleinkommen, d. li.
0.002% der selbstthätigen Bevölkerung verfügt über 15,4% des Volkseinkommens,
über 570 Mill. M. mehr als 4% Mill. der Selbstthätigen (also meist der Familien) der
untersten Classe. W’ic ungleich soll denn diese Vertheilung noch werden, bis sic
diesem Optimismus „bedenklich“ erscheint! (S. a. a. O. S. 292 selbst die Daten.)
Gewiss, die Production arbeitet im Grossbetrieb wohlfeiler,
öfters — freilich, beiWeitcm nicht allgemein! — auch besser. Sie liefert
dadurch auch den unteren Classen als Consumenten Manches, was
sie früher entbehren mussten, weil sie es nicht bezahlen konnten,
manches Andere billiger und besser (so Bekleidungsstoffe, einzelnes
Hausgcräth, auch Genussmittel [Zucker!], gewisse ordinärere Luxus-
artikel). Auch die Arbeitsbedingungen stellen sich öfters im Gross-
betrieb für die Arbeiter in Bezug auf Arbeitsart, Maass, Last und
auch wohl die Lohnverhältnisse günstiger als im Kleinbetrieb auf
demselben Gebiete der Production.
826 5. B. Organis. d. Volkswsch. 2. K. Priv.w.sch. Syst. 2. A. Modernes. §. 323.
Die Vertheilung, namentlich des aus der Industrie, dem Handel
herrlihrenden Einkommens und Vermögens in der Volkswirtschaft
wird aber ungleichmässiger, die Production nimmt auch deswegen
eine ungünstigere Richtung an, denn sie arbeitet doch in grossem
Umfang nur für den Luxus der Reichen. Das Einkommen der
letzteren schwankt aber selbst wieder sehr. Auch deshalb ein
schwankenderer Gang der Geschäfte, periodischer Wechsel von
Ueberspeculation und Ueberproduction, Krise, flauer Zeit. Der
Gesammtbedarf des Volks an wirtschaftlichen Gütern wird freilich
gerade in dem System der freien Concurrcnz vollkommener be-
friedigt, aber er gestaltet sich selbst wegen der erwähnten Ver-
hältnisse weniger den Interessen der Gesammtheit gemäss und oft
in hohem Grade nur nach den Interessen einer kleinen Minorität.
Schlimme, allen Betheiligten schädliche sociale Herrschaf ts-
und Abhängigkeits Verhältnisse zwischen öffentlich
rechtlich gleichberechtigten Staatsbürgern, in der That
ein neuer Feudalismus, aber, wie schon gesagt, ohne die
guten Seiten des letzteren, ohne sociale und sittliche und Rechts-
pflichten gegen die von ihm abhängige Bevölkerung, sind bei dieser
Gestaltung der Volkswirthschaft unvermeidlich. So bilden sich
auch neue Quellen der Unsittlichkeit auf beiden Seiten und ent-
stehen tiefe Gefahren für den Bestand von Gesellschaft, Staat und
Cultur.
Die vorausgebende Darlegung bezeichnet wesentlich nur die Gestaltungs-
tendenzen. Es ist die Aufgabe der Geschichte und besonders der Statistik,
für das einzelne Land und Volk und für eine bestimmte Zeit näher naebzuweisen.
wie weit diese Tendenzen sich hier verwirklich t haben. Verschiedenheiten
werden sich hier immer manche ergeben, namentlich auch deshalb, weil das System
der freien Coucurrenz in verschiedenem Umfange durchgefuhrt wird. Ihre tiefere
theoretische Begründung findet die Grossbetriebstendenz in der Industrie besonders in
dem Productionskostengesetze für Fabrikate und in der in der Industrie zeitweise vor-
kommenden Bildung von Reuten oder Extragewinnen derjenigen Producenten, welche
wohlfeiler produciren. aber zu dem dem höheren Kostensatz anderer Producenten ent-
sprechenden Preise absetzen können, eine Lage, welche dann die Mittel und Wege
zu einer Ausdehnung des Betriebs gewährt. S. oben über diese Function der Rente
S. 79S. Beachtenswerte Ausfuhrungen hierüber bei Schäffle, Soc. Körper, III,
433 11'. Weiteres in der Theoretischen Nationalökonomie.
V. — §. 323 [138]. Schlussergebniss. Aus allen voraus-
gehenilen Erörterungen folgt, dass das moderne privatwirthschaft-
liehe System der freien Concurrcnz einer notbwendigen Correetur
und Ergänzung bedarf. Alles Dargelegte, nicht zum Wenigsten
aber auch die Thatsache, dass die schwächeren Elemente unter
den Privat Wirtschaften die ungeheure Mehrzahl in einem Volke
bilden, führen zu dem Schluss, dass die freie Concurrcnz durchaus
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Schlussergcbniss. . ^27
nicht so allgemein und überwiegend günstige Folgen für die Pro-
duction hat. Aber auch wenn das in weit grösserem Umfange,
als es zugegeben werden kann, der Fall wäre: danach wäre das
ganze System gar nicht allein zu beurtheilen. Das muss gleich-
zeitig auch nach den Folgen des Systems für die Verthei In ng
des Productionsertrags, daher für die sociale Lage der Classen
und Personen und für die Sittlichkeit des Volks geschehen.
Danach betrachtet, ist das System überwiegend ungünstig zu be-
urtheilen. Es wird demgemäss am Allerwenigsten als Abschluss
der wirthschaftlichen Entwicklung zu betrachten sein. Das privat-
wirtschaftliche System auf dieser Grundlage der freien Concurrenz
verlangt auch wegen dieser notorischen Nachtheile theils eine
Correctur, theils eine Ergänzung, welche ihm besonders
durch das ge mein wirtschaftliche, daneben auch durch das
caritative System werden muss.
Vergl. die hiermit vielfach übereinstimmende Ansicht schon von Hob. v. Mohl,
nach den Auszügen aus verschiedenen Aufsätzen sehr gut dargestelit von Ernst Meier,
Tub. Ztschr. 1S7S, S. 495 If.
Bei der doch nur geringeren Bedeutung des caritativen neben dem privat- und
dem gemeiuwirthschaftlichen System wird dasselbe hier im Zusammenhang der Er-
örterungen des folgenden Kapitels mit behandelt (§. 330 — 339). Das empfiehlt sich
auch, weil das caritative System mit zur Fürsorge für die Befriedigung von (iemein-
bedürfnissen dient. An dieser Fürsorge kann auch das privatwirthscbaftliche System
noch mit thcilnehinen , aber nur in beschränktem Maasso und mit nicht immer be-
friedigendem Erfolge. Auch das wird erst im Kähmen der Erörterungen des folgenden
Kapitels gezeigt (ij. 332 11'.), sodass dann dort die Betrachtung des privatwirthschaftlichen
Systems erst ihren Abschluss findet.
Drittes Kapitel.
Das gemeinwirthschaftliche System.
Erster Hauptabschnitt.
Die Gemeinbedürfnisse und die Fürsorge für ihre
Befriedigung.
324 [2. A. S. 251]. Vorbemerkungen und Littcratur.
Ein noch wenig untersuchtes und doch hochwichtiges Gebiet. Von Kau, §. 73
noch ganz unbeachtet, von Koscher kaum berührt, dagegen schon etwas naher be-
trachtet in Hermann 's staatswirthschaftlichen Untersuchungen, l.A. S. 15 11’., und
eingehender in der 2. A. in der Abh. II von den Bedürfnissen, S. 7S If., pass., bcs.
94 if., 100 If., auch 90, 92; ähnlich, aber sehr kurz, in der Lehre von den Oemein-
wirthschaflen mehr nur vorausgesetzt, von Schäfflc. Syst. 3. Aull. I, 102. 100.
Kau. §. 75, nimmt den Ausdruck „individuelle Bedürfnisse“ in einem anderen engeren
Sinne, im Gegensatz zu den allgemein menschlichen, nationalen und gesellschafts-
ständischcn. Für die Lehre von den Gemeinwirthschaften ist die Untersuchung der
828 5. B. Örganis. d. Volksw.scb. 3. K. Gem.w.sch. Syst. 1. H.-A. Gem.bedürfo. |. 323
Gemeinbedürfnisse fundamental. Die Einbeziehung der Gemeinbedürfnisse in dk
Nationalökonomie hängt übrigens auch wieder mit der Anerkennung- der Prodactir.t»!
der Dienstleistungen und mit der Einreihung derselben und der „Verhältnisse“ '§ 119 1.
unter die wirtschaftlichen Güter zusammen, weshalb Rau ’s StiLlscb weig-en ober die*
Bedürfnisse und die für ihre Befriedigung bestimmten Güter, die Gemein- o-ier
Collectivgütcr, bei seinem Standpuncte in der Frage nicht auffallen kann. Hermias.'
„Collectivbedürfnisse“ sind mit den von mir sogenannten Gemein Bedürfnissen niefc:
identisch, wenn auch der zu Grunde liegende Gedanke ein ähnlicher ist. In d-jj
Gemeinbedürfnissen tritt der Character des Menschen als eines cruor rto/.tTixor naci
der Aristotelischen Auffassung besonders hervor. Geber die Polemik gegen xaeicc
Auffassung und Behandlung der Gemeinbedürfnisse (2. A. S. 251 ffl) von G. Coli
(Tüb. Ztschr. 1881, S. 461 ff.) und E Sax (Grundlegung §. 29 ff., S. 179 ff.), s. »•
ij. 298. Cohn (a. a. 0. S. 468 ff.) giebt auch längere Auszüge aus den Erörteruagea
von Hermann und zieht auch, was ich unterlassen hatte, die 1. Auti. der stia:.-
wirthschaftlichen Untersuchungen heran. Ich beziehe mich Cohn und Sar gegenüber
auf die Auseinandersetzungen mit ihnen in $$. 298.
Ueber R. v. Mohl’s Theorie der gesellschaftlichen Lebenskreise s. u. §. 33«.
Vergl. sonst besonders auch Ähren s, Naturrecht, 6. A.. Wien 1871, bes. II. 276 f,
286 ff., 319 ff. und passim.
1. Abschnitt.
Die Gcmeinheditrfiiissc.
I. — §. 325 [139]. Individual- und Gemeinbedürf-
nisse. Die Bedürfnisse des Menschen sind schon oben (§. 24.
8.76) vorläufig auch in I ndividualhcdtirfnissc, welche aus den
physisch -geistigen Wesen des Einzelnen als solchen und is
Getneinbedürfnisse (Collectivbedürfnisse), welche heim Einzelnen
aus dessen Angehörigkeit zu menschlichen Gemein-
schaften hervorgehen, unterschieden worden. Die Gemeinbe-
dlirfnisse sind daher eine Conscquenz der socialen (gesellschaft-
lichen) Natur des Menschen. Sie ergehen sich aus den Verhältnissen
des menschlichen Zusammenlebens in verschiedener Weise nach
den Zwecksetzungen der Gemeinschaften, welchen der Einzelne ah
Glied angehört.
Zu den Individualbedürfnissen gehören die materiellen Bedürfnisse, welche durtt
Sachgüter befriedigt werden, fast ganz, nur dass die Art und Weise der Befriedigan;
(selbst bei der Nahrung, mehr noch bei der Kleidung, Wohnung u. s. w.) auch schoa
durch das sociale Wesen des Menschen etwas beeinflusst wird (Sitten, Mode. Ab-
stand. übliche Art u. s w., also besonders bei den Existenzbedürfnissen zweiten Grads.
§. 268). Die Bedürfnisse nach persönlichen Diensten sind zwar auch vielfach no*T
Individualbedürfnisse, so namentlich bei der Jugend, beim Alter (Ptlesre u. dgJA
aber sic stehen noch mehr als die materiellen Bedürfnisse imter dem Einflüsse det
socialen Natur des Menschen. Die Individoalbedürfnisse sind selbstverständlich bcja
Menschen anders geartet als beim Thiere, aber doch jenem nicht specifisch eigee-
thümlich. Sie finden sich vielmehr ähnlich auch bei den Thieren, besonders bei den
höheren Thierarten.
Erst die Gern ein h cd ü rfnisse sind echt lind wesentlich
«
ausschliesslich menschliche Bedürfnisse, zu welchen man
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GcmeinbedUrfnisse. Wesen.
829
in der Thierwelt doch nur in einzelnen Fällen entfernte Analoga
findet.
In dor Tbierwclt wie in der Menschenwelt wird der Einzelne allerdings in eine
Gemeinschaft hinein geboren, welche für ihn die Verpflichtung fühlt und übernimmt,
seine Existenz und seine Entwicklung zu schützen und zu fördern, solange bis er das
selbst genügend zu thun vermag. Aber schon in dieser Lebcnspcriodo besteht zwi-
schen der Menschenwelt und selbst den höchsten Classeu der Thiere doch ein im
Wesentlichen spccifischcr Unterschied, welcher nach dieser Periode noch schärfer
wird. Die Gemeinschaftsbeziehung ist bei den Thieren eine nur physiologisch be-
gründete, daher auf das Verhältniss zwischen Erzeugern und Erzeugten in der Haupt-
sache sich beschränkende und mit der erreichten genügenden Entwicklung der letz-
teren endende. Bei den Menschen dagegen geht die auch hier zunächst physio-
logisch begründete Gemeinschaftsbeziehuug früh, auch in primitiver Stufe, in ethische
über, wird eine dauernde, auch über die Zeit der erreichten Emancipation hinaus,
und erweitert sich auf diejenigen, mit welchen die Erzeuger selbst in weiteren mensch-
lichen Gemeinschaftsbeziehungen stehen und verschiedene Gemeinschaften bilden (Fa-
milie, Geschlecht, Stamm, Volk, Standes-, Wohn-, Orts-, Landes-, Staatsgemeinschaft
u. a. m.). Der Einzelne wird daher liier gleich durch seine Geburt und dauernd Glied
mannigfaltigster menschlicher Gemeinschaften, wozu man wiederum in der Thierwelt
nur hie und da einzelne Analoga iindet. (Vergl. Schäfflc, Soc. Körper II, 40 ff.)
Diese zunächst wesentlich natürlichen Gemeinschaften
binden den Einzelnen, sowie er zum Bewusstsein kommt, auch mit
sittlichen Rechten und Pflichten an sich und machen ihn eben-
dadurch aus einem isolirten Atom, einem wahren „Individuum“,
einem bloss mechanischen Theil, zu einem Glied der Gemein-
schaft. Er fühlt sich als solches Glied und die Gemeinschaft,
d. h. natürlich, da diese immer in einer Hinsicht ein begriffliches
Abstractum ist, die anderen Glieder der Gemeinschaft, fühlen für
ihn als ein zu ihnen gehöriges Glied mit. Aus diesen Verhält-
nissen bildet sich das, was hier ein Gemei nbedürfniss genannt
wird, und darin findet es seine Erklärung.
Alle diese Gemeinschaften beruhen, unbewusst und bewusst, auf Zweck-
setzungen, dienen Zwecken, welche solche des Einzelnen als Glieds der Gemein-
schaft, damit aber auch der Gemeinschaft selbst sind. Diese sieht im Einzelnen ihr
Glied und durch Erhaltung, Sicherung, Förderang des Einzelnen erhält, sichert und
fördert sie sich selbst. Diesen Zwecken liegen aber eben jene Bedürfnisse zu Grunde,
welche aus den verschiedenen Gcincinschnftsbcziehungen, der Folge der socialen Natur
des Menschen und der Mannigfaltigkeit der Verhältnisse des menschlichen Zusammen-
lebens auf gegebenem Rauin in gegebener Zeit, hervorgehen.
Zu den ursprünglich natürlich, physiologisch begründeten Gemeinschaftsbe-
ziehungen treten mit der Entwicklung des Volkslebens, der wirtschaftlichen Ver-
hältnisse, der Arbeitsteilung, der Technik, der Cultur immer neue. Diese gehen
teils unmittelbar aus den Lebensverhältnissen hervor, machen sich, wie die rein
natürlichen (Familie, Sippe, Geschlecht, Gens, Stamm. Volk) „von selbst”, grade je
mehr die einfacheren ursprünglicheren dieser natürlichen Gemeinschaften (wie der-
jenigen des Familien-, des Geschlcchtsverbands) ihre Bedeutung verlieren oder für
die neuen Bedürfnisse und Zwecke des Gemeinschaftslebens nicht mehr ausreichen,
wie in der engeren durch das nähere Zusammenwohnen bedingten Ortsgemeinschaft
(Gemeinde). Theils werden neue Gemeinschaftsbezichungen nun auch aus Motiven
des Vorteils, des Interesses, des Ehr- und Pflichtgefühls, der fursorgenden Hilfe
und aus verstandesmässigen Erwäguugcu der Zweckmässigkeit künstlich herausgebildet,
wobei letzterenfalls dann Gesichtspunctc der ökonomischen und technischen Zweck-
A. Wagner, Grundlegnng. 3. Auflage. 1. Theil. Grundlagen. 53
830 5. B. Organis. d. Volksw.sch. 3. K. Gem.v.sch. Syst. 1. H.-A. Gem.bcdilrf. §. 325.
mässigkeit mitspielcn, vielleicht die entscheidenden sind. Vgl. hierzu die oben S. 15
besprochene Schrift von F. Tön nies, Gemeinschaft und Gesellschaft.
Wenn nun auch die Gemeinschaft nicht Selbstzweck ist,
sondern stets Mittel für die Zwecke der Einzelnen, der allein
wirklich lebenden, bedürfenden, fühlenden, denkenden, menschlichen
Individuen, aber dieser eben nicht als isolirter Atome, sondern
als in der Gemeinschaft begrifflich und thatsächlich zu einer Ein-
heit, einem Ganzen zusammengefasster Personen, so erscheint doch
auch so die Gemeinschaft als das Höhere, Wichtigere und
Dauernde (oder wenigstens, verglichen mit dem Individuum,
Dauerndere) den Individuen, auch als ihren Gliedern, gegenüber.
Ihre, der Gemeinschaft, Interessen sind — wenigstens voraus-
setzungsweise — auch die wahren Interessen des Individuums. Die-
selben werden dann als Gemeinschaftszweck gesetzt, welcher so
wieder zu etwas Selbständigem und den Individualzwecken Vor-
gehendem wird, aber in sich eben doch diejenigen Zwecke auch
des Individuums birgt, welche dasselbe nur in und mit Gemein-
schaften als deren Glied mit Erfolg erfüllen kann.
Damit gelangen wir zur genaueren Darlegung des Wesens
der „Gemeinbedürfnisse“. Es sind solche Bedürfnisse, welche
die Individuen als Glieder menschlicher Gemeinschaften
empfinden , denen sie von Natur und gezwungen oder nach freier
Wahl angehören — bewusst oder unbewusst empfinden: letzteren-
falls Dritte bewusst und pflichtmässig für sie (z. B. Erwachsene
für Kinder); Bedürfnisse ferner, welche sie um ihrer selbst,
wie um der Anderen, mit ihnen die betreffende Gemeinschaft
bildenden Individuen und um dieser Gemeinschaft Willen be-
friedigt haben wollen und müssen; und Bedürfnisse endlich, deren
Befriedigung es allein möglich macht, dass ein gesellschaft-
liches Zusammenleben, ein wirthschaft liebes Zn-
s a m m e n w i r k e n menschlicher, mit eigenem Willen begabter
Einzelwesen, darunter auch in gewissen Lebenszeiten und Lagen
des Individuums der Selbstfürsorge ganz oder grosscntheils un-
fähiger stattfinde, ohne allzu störende Reibungen und feindliches
Gegeneinanderwirken, als Folge von individuellen Willens- und
Ilandlungsconflicten , und mit möglichst zweckmässigem Für-
einander-Wirken, als Folge gemeinsamer Willens- und Handlungs-
richtung auf die Gemcinscbaftszwecke hin, sodass die Interessen
der Gemeinschaften und ihrer Glieder thnnlichst gefördert wTcrden.
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Wesen der Gemembedürfnisse.
t>31
Eine Darlegung des Wesens, keine eigentliche Begriffsbestimmung ist mit
diesen Säuen beabsichtigt. In einer knappen Formel wüsste ich keine andere Be-
griffsbestimmung der tiemeinbedürfnisse, als die am Eingang dieses §. gegebene, zu
liefern. Diese Darlegung weicht in der Fassung von den Ausführungen anderer
Autoren (Hermann, Schäfflc, Sax) mehr ab, als dem Sinne nach, wenn auch in
letzterer Hinsicht Meinungsverschiedenheiten zwischen uns bestehen, besonders Her-
mann gegenüber, trotzdem dessen Auffassung auch der meinen wieder Verwandtes
enthält. Auch er knüpft bei der Erörterung des Wesens der tiemeinbedürfnisse an
die sociale Natur des Menschen an („in allen Einzelnen lebt doch die Sociabilität als
Grundzug ihres Wesens“, staatsw. Untersuchungen 2. A. S. 93). Seine Begriffsbestim-
mung scheint sich mir mit seinen Ausführungen aber nicht recht zu decken und ist
mir zu eng: „Gemeiubcdürfnisse , Collectivbcdürfnisse“ heissen ihm „Bedürfnisse
einer Mehrheit von Menschen, als eines Ganzen, deren Befriedigung lediglich der
Gesammtbcit ohne Bezeichnung einzelner Mitglieder der Verbindung und ihres An-
theils dargeboten wird“ (S. 93). S. dazu G. Cohn 's Bemerkungen (a. a. 0. S. 473 ff.),
die mir aber das Schiefe, Falsche und zu Enge bei Hermann nicht zu treffen
scheinen. Sax’ Auffassung und Begriffsbestimmung (a. a. 0. S. ISO, s. o S. 70$)
stehen meiner Ansicht näher, mehr als Sax selbst anzunehmen scheint. Ich halte
nur seine Ausdrucksweise nicht für deutlich genug und seine Definition für zu
geschraubt.
Alles was ich hier in der Darlegung des Wesens der Gemeinbedürfnisse ent-
wickelt habe, lag implicite auch meiner älteren Auffassung in den früheren Auflagen
zu Grunde und hätte auch von meinen Kritikern als Kern meiner Lehre von den
Gemcinbcdürfnissen erkannt werden können. In ihrer Kritik tritt dieser Kern aber
m. E. nicht hervor. Ob ich jetzt nach der genaueren Darlegung meiner Gedanken
mehr Zustimmung bei den genannten Autoren finde, muss ich dahin gestellt sein
lassen. Waren ihre Vorwürfe, was ich eben bestreite, früher sachlich berechtigt, so
werden sie es auch jetzt noch sein, da meine sachliche Auffassung im Kern wie
gesagt dieselbe geblieben, nur, wie ich hoffe, Missverständnissen jetzt weniger aus-
gesetzt ist. Insbesondere halte ich G. Cohn gegenüber an der folgenden, von ihm
hauptsächlich mit angegriffenen, übrigens auch von Hermann angedeuteten Auf-
fassung fest.
Die Gemeinbedürfnisse weisen nun auch schon durch ihre
Natur auf ein anderes Princip der Regelung der Kosten-
deckung, der Entgeltlichkeitsverhältnisse und auf ein anderes
System der Veranstaltungen und Einrichtungen zur Beschaffung
(Production) der Befriedigungsinittel, der sogen. Gemeingüter,
und der Zuführung derselben zur Bedürfnisbefriedigung an die
bedürftigen Mitglieder der betreffenden Gemeinschaften hin: nem-
lich auf das gemein wirtschaftliche Princip und System,
statt des auf diesem Gebiete nur in geringem Maasse, wenngleich
immerhin mit anwendbaren privatwirtbschaftlichen und earitativen.
Das wird im Folgenden mit seine nähere Darlegung und Begründung
erfahren.
II. — §. 326 [139]. Arten der Gemeinbedürfnisse.
A. Das allgemeine und principale Gemeinbedürfniss der
Rechtsordnung in der Volksgemeinschaft und Volkswirtschaft.
B. Specielle Gemeinbedürfnisse, welche aus bestimmten
Gemeinschaftsverhältnissen hervorgehen. Theils specia-
lisirt sich danach das Gemeinbedürfniss der Rechtsordnung, theils
53 *
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832 5. B. Organis. d. Volksw.sch. 3. K. Gcm.w.sch. Syst. 1. H.-A. Gem.bedürf. §. 327.
entwickeln sich solche Gemeinbedürfnisse auch selbständig unter
dem Einfluss eines anderen Gemeinscbaftsmoments. Hierhin gehören:
1) die „räumlichen“ oder „örtlichen“,
2) die „zeitlichen“,
3) die im engeren Sinn so zu nennenden „gesellschaftlichen“
oder „Klassen-Gemeinbedürfnisse“ ; Ausdrücke, welche im Folgen-
den ihre Erklärung finden.
A. — §. 327 [140]. Das wichtigste, allen voranstehende Ge-
meinbedürfniss, welches aus dem menschlichen Zusammenleben
entspringt, ist dasjenige nach einer festen Rechtsordnung im
Volke, sowohl für die persönlichen Beziehungen der Individuen
unter einander und für die Sicherung der politischen Unab-
hängigkeit des Volks und seines Staats nach Aussen, als nament-
lich auch für den wirtschaftlichen Verkehr der Einzel-
wirtschaften.
Aehnlich Hermann S. 05, besonders auch was den Punct der Selbständigkeit
der Nation anlangt, characteristisch für Hermann’s nationalökonomische Entwicklung:
scharfes Hervortreten des „nationalen Machtzwecks“ in allen neueren deutschen
Staatswisseuschaften : Wahres Collectivbcdürfniss: dass der Landesverteidigung und
der Rechtspflege. S. auch v. Holtzcndorff, Priucipien der Politik, Berlin 1S69,
Kap. 8. Hermann specialisirt indessen die weiteren Gemeinbedürfnisse {§. 32S ff.)
nicht genügend.
Die Entwicklung der Persönlichkeit der einzelnen Volks- und Staatsangehörigen,
diejenige des Volks als Ganzen und die Ausbildung des privatwirthschaftlichen Ver-
kehrssystems selbst haben das Vorhandensein und die Sicherung einer solchen festen
Rechtsordnung zur unumgänglichen Voraussetzung. Diese Rechtsordnung muss die
näheren Bestimmungen für die Verkehrsrechtsbasis des privatwirthschaftlichen Systems,
bei den modernen Culturvölkern also namentlich die Bestimmungen über persönliche
Freiheit, Privateigenthum, Vertragsrecht u. s. w., über freie Goncurrenz und deren
etwaige weitere Beschränkung treffen (§. 306). Die Aufstellung und Wahrung dieser
Rechtsordnung bat im Wesentlichen der Staat zu übernehmen, welchem die noth-
wendigen Macht- und Zwangsmittel dafür zur Verfügung stehen müssen (Buch 6).
Die Theorie der unbedingten Ailgemcingiltigkeit der freien Concurreuz leidet
an der Inconscquenz, dass sie für diese, von ihr freilich viel zu einseitig formulirte
Vorkehrsrechtsbasis doch den Staat nicht entbehren kann. Vergl. o. §. 313, bes. die
Ansichten von Prince-Smith und seiner Schule, die eben doch den Staat wie
einen deus ex inachina brauchen, um „gegen Vergewaltigung zu schützen“. Die
neueren Naturrechtslehrer (Rechtsphilosophen) und theoretischen Politiker der or-
ganischen Staatsauffassung, wie z. B. Ahrens, a. a. 0., dann auch A. Tren-
del enburg a. a. 0. §. 93 ff., 103 ff., (Verkehr), §. 150 ff., 157 ff., 162 ff., H. Es eher
a. a. 0. haben die Einseitigkeit der nationalökonomischen Schulo der freien Concurrenz
auch in dieser Hinsicht seit lange abgewiesen. Trendelenburg irrt nur, wenn er
die Ansicht, gegen welche er polemisirt, kurzweg „die nationalökonomische“, statt
„eine nationalökonomische“ uennt.
Die Einrichtungen und Veranstaltungen zur Herstellung und
Zuführung des Gemeinguts der Rechtsordnung in der Volkswirth-
schaft lassen sich auch als die socialrechtlichen Voraus-
setzungen der Volkswirtschaft bezeichnen und sind für
die Production und Vertheilung des Ertrags der Volkswirtschaft
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Arten der Gemeinbedarfnisse.
833
oder des Volkseinkommens und Volksvermögens gleich wichtig,
zum Theil gradezu entscheidend. Sie hängen natürlich von der
Zeit und dem Ort wieder wesentlich ab, sind also in ihrer Er-
scheinungsform historische, keine absolute Kategorieen.
In diesem Werke sollen sie Fornemlich nur für die moderne Zeit der best-
und mitteleuropäischen Völker untersucht worden (Buch 6, Kap. 2 und überhaupt
Abtb. 2 der Grundlegung).
B. — §. 328 [141, 142]. Die speciellen Gcmein-
bedürfnisse.
1. „Räumliche“ oder „örtliche“ Gemeinbedürfnisse nennen
wir diejenigen, welche aus den Beziehungen der Menschen, des
Volks und seiner grösseren und kleineren Gruppen, zum Boden,
als ihrem Wohngebiete und Arbeitsfelde, oder m. a. W. aus
der räumlichen Bedingtheit und örtlichen Vertheilung
der Bevölkerung über das in Betracht kommende Gebiet (Land)
hervorgehen. Die Verschiedenartigkeit dieser örtlichen Vertheilung
bedingt verschiedenerlei örtliche Geuieinschaftsbeziehungen, an
welche sich dann bestimmte Gemeinbedürfnisse anknüpfen, einmal
nach Arten der räumlichen Gemeinschaft, um die es
sich handelt, ferner nach Arten d es Gemeinschaftsinteresses,
welches ein (objectives) Gcmeinbedürfniss hervorruft.
a) In ersterer Hinsicht sind nach den Zusammenlebe-Verhält-
nis8en von der kleinsten bis zur grössten räumlichen Gemeinschaft
Unterscheidungen zu machen.
Wohnung (selbst Zimmer, das verschiedenen Interessenten, Familien gemeinsam
als Wohnraum dient, proletarische Wohnungsverhältnisse), Stockwerk, Haus (Gemein-
samkeit der Treppen, Flure u. s. w.), der Strasse, des Stadttheils, der Gemeinde, des
Kreises, Bezirks, der Provinz, des Staates selbst, als des grössten Kreises räumlicher
Gemeinschaftsbeziehungen in der Volkswirtschaft, und darüber noch hinaus der
Staatennachbarschaft.
Für die Rechtsordnung stellt sich hier die Aufgabe, diese mannigfaltigen Ge-
meinschaftsbeziehungen zu regeln, um eine genügende Befriedigung der Gemein-
bedürfnisse zu sichern. Die Fürsorge hierfür liegt in den wichtigsten Fällen vor-
ncinlich dem gemein wirtschaftlichen System ob. Dabei ist die besonders
schwierige Aufgabe, die bezüglichen Functionen zwischen den freien und den
Z wangsgemein wirtschaften und wieder zwischen den einzelnen Arten der letz-
teren (Staat einer-, Selbstvcrwaltungskörper, Provinz, Kreis, Gemeinde andrerseits)
richtig zu verteilen (Fragen der üeccntralisation der Staatsverwaltung, Selbstregicrung
der kleineren räuuilicheu Kreise).
b) Objcctive Gemeinbedürfnisse nach Arten des örtlichen Gemein-
schaftsinteresses sind insbesondere folgende:
Die Enteignungs- (Z wan gsenteignungs-) Bedürfnisse, betreffend die Mittel
und Wege ausserhalb des Vertragsrechts zur Beseitigung der dem allgemeinen Inter-
esse entgegenstehenden Privatrechte (Eigonthums- und dingliche Rechte überhaupt)
am Grund und Boden, um diesen, bzw. bestimmte, da und da gelegene, so und so
beschaffene Grundstücke derjenigen Benutzung zuzuführen, welche die jeweilig dem
834 5. B. Organis. d. Volks w.sch. 3. K. Gcm.w.scb. Syst. 1. H.-A. Gem.bedürf. §. 328.
Gemeinschaftsiiitcres.se wichtigste und nothwondigstc tbzw. die dafür geltende) ist.
S. 2. Aufl., Abth. 2, Kap. 5 darüber. L Stein, Vcrwaltungslehre VII, 67; Handb.
1. A., S. 144, nennt das bezügliche Gebiet: Entwährung. Er versteht darunter: ,.das
Recht und das Verfahren des Staats, vermöge deren derselbe durch seine Verwaltung
ein wohlerworbenes Privatrecht, dessen Aufhebung als eine unabweisbar gewordene
Bedingung der allgemeinen Entwicklung anerkannt ist, gegen Rückerstattung seiues
Werths oder gegen Entschädigung und nach gesetzlichen Formen aufhebt*. Es ist
das grosse Verdienst Stein’s, hier für eine Reihe hochwichtiger einzelner Staats-
eingriife in das Privateigenthum ein oberstes leitendes Princip in der Wissenschaft
aufgestellt und begründet zu haben. Vor Stein war namentlich bei den National-
ökonomen die Untersuchung gewöhnlich auf die isolirten Fälle, Grundcntlastung
u. dergl. beschränkt. Die Enteignung bezieht sich nach dem rechtsphilosophischen
Begriff nicht auf den Boden allein, aber ist bei diesem vorzugsweise wichtig. Au
dieser Stelle kommt hier, wo es sich um örtliche Veihältnisse handelt, an die sich
ein Gemeiuschaftsinteresso knüpft, die Boden-Enteignuug auch besonders in Betracht. —
Es ist wieder ein Fehler der älteren Nationalökonomie, Fällo wie die Grundentlastung
als ganz cinzisr dastehend anzusehen. Aehnliclies kann und wird, bald zur Herstellung
wirtschaftlicher Verkehrsfreiheit (s. Dietzel, Syst. d. Staatsanleihen, Heid. 1855,
S. 106 und passim), bald zur Hiuübcrführung der privatwirtbschaftlichcn Einrichtung
für die Bedürfnisbefriedigung in die gemein wirtschaftliche in jedem Zeitalter eines
fortschreitenden Culturvolks und Culturstaats Vorkommen. Privattelegraphie, Privat-
eisenhahnen, Privatbergwerke, Privatwasscrleitungen , in Städten u. dgl. in. können in
einer baldigen Zukunft dieselbe Rolle im Enteignungswesen spielen, wie Zehnten in
den 30er und 40er Jahren in Deutschland. Die Bodeuenteignong geht in diesen
Fällen, wie freilich bei allem meliorirten Boden, bei mit Gebäuden besetztem, schon
in die kapitalistische Enteignung mit Uber. Allgemeinere derartige Enteignungen
(Fabriken. Bank-, Versicherungsgeschäftc) würden in einer zur vollen socialistischen
Organisation übergehenden Volkswirtschaft voraussetzungsweise auch Gemeinbedürfnisse
geworden bzw. als solche anerkannt worden sein. Jedenfalls sind Enteignungsbedürfnisse
als wahre Gern ein bedürfnisse im eminenten Sinne des Worts zu bezeichnen.
Gemeinbedürfnisse, welche sich an die geordnete Benutzung der Elemente
Wasser und Feuer anknüpfen. Auch für das Folgende ist L. Stein’s Verwaltungs-
lehre zu vergleichen, Handb. S. 150 If. Ich habe seine Terminologie zum Theil
adoptirt. Übrigens privatim in den Vorlesungen seit lange eine ähnliche Systemaük
wie er in der sog. Volks Wirtschaftspolitik oder wirtschaftlichen Verwaltung>lehre
befolgt. S. meine nachträglichen Bemerkungen zu dem Referat über Actiengesellsch.
in Hildebr. Jabrb. XXI, 335. Neben Stein vgl. auch H. Röslor, soc. Verwaltungs-
recht I, 2. Buch. — Gerneinbedürfnisse des Versicherungswesens, um zufällig
den Einzelnen betreffende Schäden von einer Gesammtheit tragen zu lassen (s. über
das allgemeine ökonomische Princip aller Versicherung meine Abh. Versicherungs-
wesen im Schönberg’schcn Handbuch B. III, im Anfang). — Gemeinbedürfnisse des
Verkehrswesens (in diesem Sinne), neinlich des Umlaufswesens (Maass und
Gewicht, Geld und Münze, Credit und Banken) und des Communications- und
Transportwesens (Wege, Transportierungen, Verkchrsanstalten) , um in den
arbeitsgegliederten Volkswirtschaften dem Verkehr die Mittel und Wege, deren er
zu seiner Entwicklung bedarf, zu gewähren. — Gemeinbcdurfnissc der Gesundheit
und Reinlichkeit (öffentliches Gcsundhoits- oder Sanitätswesen, Reinigungswesen).
Grade die neueste Entwicklung der naturwissenschaftlichen Kenntnisse auf diesem
Gebiete (Pilz-, Bacillen-Theorie u. s. w.) hat ad hominem demonstrirt, wie sehr es
sich hier uin G cm ei n bedürfnisse, nicht um blosse Individualbcdürfnisse handelt. —
Gemeinbcdurfnissc der Religio nsübun g; der Sittlichkeit; der Bildung und
des Unterrichts; der Humanität (Ililfs- und Armenwesen); der Vo rgn ü gu u gen
(z. B. Theater).
Endlich selbst Gemcinbedürfnisso hinsichtlich der gemeinsamen Versorgung mit
gewissen Sachgütern, wenn die Technik der Production und Vertheilung
dieser Güter dem Individualbedürfniss die Natur eines Gemeinbedürfnissos giebt^Gas,
Wasser u. A. m. in grossen Städten). (S. auch u. §. 334 und mein Referat
über Actiengesellsch. auf d. Eisen, soc.-pol. Versammlung 1873, besonders in Hildebr.
Jahrb. XXI, S. 272, These 5 u. C, und die Widerlegung der Einwendungen Engel s,
cb. S. 337. Jetzt meine Fin.wiss. II, 1. A., §. 314, 2. A., §. 65.)
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Arten der Gem.bedürfnissc. Ocrtliclic, zeitliche.
$35
Diese Entstehung von Gemeinbedürfnissen unter dem Einfluss der fortschreitenden
Technik wird von Cohn a. a. 0. besonders in meiner Theorie bemängelt und auch
Sa.t (Grundlegung S. 185, Note) sieht in dieser Auffassung eine Incongruenz mit der,
dass das sociale Wcscu des Menschen zu Gemeinbedürfnisseu führe. Ich meine, dass
diese Incongruenz- hier doch nicht besteht. Ein Einzelner mag das Bedtirfniss nach
Wasser, Gas als Individualbedürfniss fahlen, aber indem zahlreiche Einzelne als eine
Gemeinschaft dann finden, dass sie nur durch gemeinsame Veranstaltungen unter sich
überhaupt genügend zu einer Befriedigung eines solchen Bedürfnisses gelangen können,
daher sich zu diesem Gcineinschaftszwcck verbinden müssen, entsteht in der Tliat ein
Gemcinbedürfniss, ähnlich wie in den anderen Fällen und wie auch in dem Hauptfall
der Rechtsordnung und zwar hier unter dem Einfluss der Erwägungen, welche die
Technik der erforderlichen Veranstaltung herrorruft, grade aus den „Verhältnissen
des menschlichen Zusammenlebens“, hier des örtlichen, heraus, mit der Entwicklung
der Technik denn auch immer mehr. Die regelmässige Herstellung der Güter zur
Befriedigung solcher Gemeinbedürfnisse (Gemeingüter) verlangt oft besondere grosso
Anstalten hierfür, deren Uebernahme und Betrieb durch einzelne Arten der Gemcin-
wirthschaften statt durch Privatwirthschaften dann vielfach wieder durch die Rechts-
ordnung geregelt werden muss. (Vcrgl. mein gen. Referat, besonders Abth. I der
Thesen (1 — 7) und die dazu gehörigen Ausführungen, sowie die Debatte über diese
Puncte in der Eisen. Versammlung 1873).
§.329 [143]. — 2. „Zeitliche“ Gemeinbedllrfnisse nennen wir
solche, welche sich aus der „zeitlichen Vertheilung der Be-
völkerung“, daher aus der Gemeinschaft gleichen Lebens-
alters, aus der Zusammengehörigkeit zu Generationen
und aus den in diesen Gruppen sich bildenden Gern ein -
sc haftsinte ressen ergeben.
a) Das Volk setzt sich ja aus Individuen verschiedenen
Lebensalters zusammen und zerfällt dadurch in Altersgruppen
mit gewissen Gemeinschaftsinteressen, welche aus diesen Alters-
verhältnissen entspringen und hier dann zu speciellen Gemein-
bedürfnissen führen.
Von besonderer Bedeutung sind hier diejenigen Altersgruppen, deren Angehörige
unfähig oder ungenügend fähig sind, für sich selbst in wirtschaftlicher Hinsicht zu
sorgen. Hier entstehen eigentümliche zeitliche Gemcinbedürfnisse, besonders für die
Un erwachsenen oder die Kinder und zum Thcil auch für die erwerbs-
unfähigen und vermögenslosen alten Personen oder die Greise.
«) Die Gemeinbedürfnisse der Kinder bestehen im Unterrichts- und
Bildungsbcdürfniss (Frage des Schulzwangs), in dem Schutz vor früh-
zeitiger übertriebener Ausbeutung durch die Erwerbsarbeit (Arbeiter-
schutzrocht, Bestimmungen über Kinderarbeit), im Vorm uudschafts- und
Pflegschaftsbedürfniss bei Waisen. Für die Befriedigung dieser Bedürfnisse allein
die Eltern und die erwachsenen Verwandten sorgen zu lassen, hat sich erfahrungs-
gernäss als unzulänglich erwiesen. Es muss eben deshalb wieder eine eigentüm-
liche gemeinwirthschafüiche, eventuell caritativo Fürsorge eintreten. Der ursprüngliche
Widerstand der englischen und contiucntalen nationalökonomischen Theoretiker der
späteren Smith’schcn Schule, Seniors u. a. m. gegen Fabrikgesetzgebung dieser Art
ist jetzt ziemlich verstummt. Aber die innere principielle Abneigung z. B. eines so
ehrlich consequenten Mannes wie Prince-Smith gegen die Fabrikgesetze betr.
Kinderarbeit ist ein characteristisches Zeichen jener älteren Auffassung, die mit
Unrecht andere deutsche Freihändler als niemals vorhanden bezeichnet haben. Vgl.
Prince-Smith in d. Aufs. Jacoby’s Ziel der Arbeiterbewegung in der Berliner
Vierteljahrsschrift 1870, I.
83 1) 5. B. Organis. d. Volks.w.sc.h. 3. K. Getu.w.sch. Syst. 1. H.-A. Gcm.bedürf. §. 330.
ß) Bei den Greisen (Witt wen) fehlt die privatwirthscbaftlichc Erwerbsfähig-
keit des Alters oder der Lebensstellung wegen (z. B. bei Wittwen) rielfach. ohne dass
Rentenbezug immer Abhilfe gewährt. Insofern liegen hier wieder Gemeinbedürfnisse
der Altersversorgung (Arbeits- Invaliden, Alters-, Wittwen -Pensionswesen u. s. w.)
vor. für welcho das privatwirthscbaftlichc System auf der Basis der freien Concurrcnz
keine ausreichende Fürsorge trifft, weshalb abermals das gcmeinwirthschaftlichc. event.
das caritative System eintreten muss (Fragen des Arbeiter- Versicherungswesens).
Verwandte Fälle betreffen Kranke (auch Geisteskranke).
b) Das „Volk“ umfasst nicht nur das gerade lebende Ge-
schlecht, sondern seinem Begriff nach auch die späteren Gene-
rationen, die „noch ungeborenen Geschlechter“ mit. Aus
diesen Verhältnissen entspringen gewisse GemeinbedUrfnisse „künf-
tiger Geschlechter“ oder des „Volks in seiner Zukunft gedacht“:
Bedürfnisse, welche auf Wahrnehmung der Interessen dieser zu-
künftigen Menschen auch in der Volks wirthsebaft des jetzt leben-
den Geschlechts hinausgehen: insbesondere an möglichster Er-
haltung und richtiger (schonsamer) Benutzung der Natur-
schätze des Bodens, der Vorzüge des Klima’s.
Das privatwirthsckaftliche System bringt hier die Gefahr einer einseitigen Rück-
sichtnahme auf die Bedürfnisse der Jetztlebenden und oft selbst nur der augenblick-
lichen Privateigenthümcr des Bodens mit sich, was aus der Bewirthschaftung, der
Benutzung zur Vcrwirthschaftung der Naturschätze des Bodens führen kann. Es muss
daher wiederum durch die Rechtsordnung des Staats und zum Theil durch directes
Eingreifen des gemeinwirthschaftlichen Systems (Uebernahmc des Eigenthums an den
Staat, an die Gemeinde, Controlc des Staats über das private Grundeigenthum und
dessen Bewirthschaftung) diesen Gefahren im Interesse der künftigen Geschlechter
vorgebeugt werden: so im Forstbau, Bergbau, in der Jagd und Fischerei, vielleicht
später selbst in der Landwirtschaft (Gefahr der Erschöpfung des Bodens an Mineral-
substanzen, ohne Garantie des Wiederersatzes). Vgl. auch Es eher, Politik I. §. 3.
der mit Recht betont, dass auch der Staat die „noch ungeborenen Geschlechter“ mit
umfasse. — Die Forst- und Berghoheit, nicht zu verwechseln mit dem fiscalischcn
Bergregal, findet in diesen volkswirthschaftlic.il durchaus richtigen Gesichtspuncten ihre
principielle Berechtigung, was die Schule der freien Concurrenz und des absoluten
Privateigenthums auch nicht immer zugestanden hat.
Auch diese Kategorie der „zeitlichen Gemeinbedürfnisse“ hat vor Kritikern
(G. Cohn) keine Gnade gefunden. Ich halte sic gleichwohl aufrecht, natürlich ohne
mich auf den Namen zu capriciren, wenn mau einen anderen geeigneteren vorzieht,
den ich freilich nicht kenne. Der leitende Gedanke bei dieser Kategorie entspricht
durchaus dem. was oben über das Wesen der Gemeinbedürfnisse gesagt wurde. Dass
„Andere“, „Dritte“ (die Erwachsenen für die Kinder, die Kräftigcu für die Greise,
die Lebenden für die Noch-Ungeborencn) hier das Bedürfnis bewusst oder überhaupt
nur empfinden und für seine Befriedigung die Vorkehrungen treffen, tritt bei dieser
Kategorie besonders hervor, kommt übrigens auch sonst vor und führt nicht zur Ver-
werfung des Begriffs Gemeinbedürfniss.
§. 330 [144]. — 3. Gesellschaftliche oder Classen-
(Gruppen-)Gemeinbedürfnisse nennen wir die Gemein-
bedürfnisse der Gesellsc haftskreise und Interessengruppen
in der Bevölkerung, welche aus der Gemeinsamkeit eines
wichtigeren Interesses entstehen, das hier eine Anzahl Per-
sonen zu einer Interessengruppe verbindet und dieselben eben
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Arten der Gern bedürfnisse. Gesellschaftliche.
837
dadurch von anderen Gruppen und Einzelnen trennt. Die Be-
friedigung dieses den Einzelnen als Gliedern der Interessengemein-
schaft eigenen Bedürfnisses führt dann zu gemeinsamen Ver-
anstaltungen und Einrichtungen hierfür. Die mannigfachsten
physischen, wirtbschaftlichen, geistigen, sittlichen,
religiösen Interessen führen zu einer solchen Gruppirung der
Bevölkerung und damit zum Hervortreten solcher gesellschaftlicher
Gemeinbedürfnisse.
R. v. Mohl’s Theorie der gesellschaftlichen Lebenskroisc, d. h. „der
einzelnen je aus einem bestimmten Interesse sich entwickelnden natürlichen Genossen-
schaften“ (Gescb. u. Litt. d. Staatswiss., Erl. 1855, I. 101) kann hier im Wesentlichen
mit als Begründung dieser Kategorie von Gemeinbedürfnissen, theilweise auch der
räumlichen und zeitlichen dienen, unbeschadet der von Bluntschli, Escher,
v. Treitschke u. A. m. wohl mit Recht geäusserten Bedenken, ob Mohl’s aus
dieser Theorie gezogene Consequenzcn für die Systematik der Staats- und Gesell-
schaftswissenschaften nicht unhaltbar sind. Vgl. R. v. Mohl’s bezügliche Abh&ndl.
in d. Tüb. Ztschr. f. Staatswiss. 1351 und bes. d. 1. Monographie in d. Geschichte
d. Staatswiss. I, 69 fl'., namentlich 88, 89 ff., auch Dess. Encyclopädie d. Staatswiss.
§. 5. Er hebt besonders folgende Interessen bei Völkern der Neuzeit und von euro-
päischer Gesittung als Mittelpuncte gesellschaftlicher Kreise hervor: Gemeinschaft der
Nationalität und der Sprache, gemeinschaftliche Abstammung von geschichtlich aus-
gezeichneten oder rechtlich bevorzugten Familien, gemeinschaftliche persönliche Be-
deutung, gleiche Beschäftigung, gemeinschaftliche Verhältnisse des Besitzes (Grösse,
Art desselben), Gemeinschaft der Religion, enges räumliches Beisammenwohnen. Für
die Theorie der Gemeinbedürfnisse in der Politischen Oekonomie wird man noch mehr
specialisiren müssen, aber die von mir aufgeführten Gemeiubedürfnissc fügen sich
wohl alle unter eine oder die andere der Mohl’schen Gruppen der gesellschaftlichen
Lebenskreise. Vgl. auch Ahrnns, Naturrecht II, §. HO. S. 319 ff
Als besonders wichtigo einzelne Fälle erscheinen die kirchlichen
Gemcinbedürfnissc der Glaubensgemeinschaften, die Gemeinbedürfnisse der
wirtbschaftlichen Berufsgemeinschaften (mit den beiden Hauptgruppen in
der arbeits- und besitztheiligen Volkswirtschaft, der Arbeiter und Unternehmer (Arbeit-
geber), wahrer „socialer Classengemcinschaften“ und in beiden dann nach der
Berufsart mit zahlreichsten Spcciaiisirungen); dio Gemcinbedürfnissc nach Bil-
dung. Unterricht einer speciellcn Art (z. B. Fachschulwesen); nach geselliger
Erheiterung und Unterhaltung (Clubs u. s. w.) und viele andere. In manchen
Fällen können gesellschaftliche und örtliche Gemeinbedürfnisse in einander übergehen,
z. B. bei kirchlichen, Bildungs-, Unterhaltungsbedürfnisscn.
Dio Rechtsordnung des Staats hat auch im Gebiete dieser Gcmeinbedürfnisso und
der Vorkehrungen und Anstalten zu ihrer Befriedigung wieder wichtige Aufgaben zu
erfüllen. Der Staat muss insbesondere allen berechtigten Interessen der
Gesellschaftsgruppen die Möglichkeit, sich geltend zu machen, ge-
währen. wozu eine richtige Gesetzgebung über V er ei ns wesen und über die Erlangung
selbständiger Vermögeusfähigkeit solcher Vereine u. s. w. besonders nöthig ist. (S. u.
§. 343 ff: Ahrcns II, §. 62.) Aber er muss auch Uber sie alle seine Sou-
voränetät bewahren und unter den verschiedenen, vielfach gegnerischen Gruppen
das Princip des suum cuiquc, der glcichmässigen Behandlung vertreten
^Glaubensgemeinschaften, wirtschaftliche Classcnvereinel).
Das Gemeinbediirfniss der Rechtsordnung specialisirt sich
mithin auf den Gebieten der örtlichen, zeitlichen und gesellschaft-
lichen Gemeinbedürfnisse in der That, aber es geht in letzteren
keineswegs auf.
838 5. B. Organis. d. Volkswsch. 3. K. Gem.w.sch. Syst. 1. H.-A. Gem.bedürf. §. 331.
III. — §. 331 [§. 144, 145]. Fürsorge für die Be-
friedigung der Gemein bedürfnisse. Ob und wie weit
das gemeinschaftliche System die Fürsorge für die Befriedigung
der Gemeiubedürfuisse übernehmen muss und ob und wie weit nur
nach dem gemeinschaftlichen Princip oder auch nach dem
privatwirthschaftlichen oder caritativen, wenn auch Seitens der
Gemeinwirthschaftcn selbst, lässt sieh erst entscheiden, wenn unter-
sucht worden ist, ob und wie eventuell das privatwirthsehaft-
liche und das caritative System am Platze sind und die beiden
betreffenden Principien passend in Function treten können. Es
wird sich dabei ergeben, dass die Befriedigungsmittel für die Ge-
meinbedürfnisse oder die „Gemeingüter“ zwar überwiegend
durch das gern e in wirtb Schaft liehe System beschafft und den
Bedürftigen zur Verfügung gestellt werden müssen. Doch kann
in beschränktem Maasse auch das privatwirthschaftliche
und das caritative System interveniren, nicht immer erfolglos,
wenn auch insbesondere das erstere mit oft nur mangelhaftem Er-
folg. Ausserdem kann, ja soll und muss aber auch durch Gemein-
wirthschaften selbst, wenigstens in gewissen Fällen, mit nach dem
privatwirthschaftlichen Princip, hie und da auch nach dem cari-
tativen und durch (active) caritative Wirtschaften gleichfalls nach
dem privatwirthschaftlichen Princip gewirthschaftet werden, d. h.
Production, Zuführung, Entgelt der Gemeingüter erfolgen. Ge-
schichte und gegenwärtige Praxis bieten für alle solche Fälle auch
tatsächlich Beispiele. Indessen wird sich zeigen, dass auf solche
Weise doch weder ausreichend, vornemlich meist nur für die weniger
wichtigen Gemeinbedürfnisse und auch für diese häufig nur un-
zulänglich, die Befriedigung besorgt werden kann. Das wird zu-
nächst in den folgenden beiden Abschnitten erwiesen werden. Die
Unentbehrlichkeit des gemeinwirthschaftlichen Systems und die
Notwendigkeit, bei diesem nach dem gemeinwirtschaftlichen
Princip vorzugehen, wird durch den Nachweis hierüber am Besten
begründet.
2. Abschnitt.
Privatwirthschaftliche Fürsorge für Gemcinhecliirftiisse.
§. 332 [S. 260]. Vorbemerkungen. Einer solchen Fürsorge neigen sich,
nach ihren Grundanschauungen, die Anhänger des Systems der freien Con-
currcnz, also im Grossen und Ganzen die Schule von Ad. Smith zu, mit der
einzigen principiellen Ausnahme, dass für die Fürsorge für das erste aller Gemein-
bedürfuisse, das der Rechtsordnung, der Staat, also die höchste Form der
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Privatwirthsch. Fürsorge f. Gem.bedürfnisse.
839
Zwangsgemeinwirthschaft, in Anspruch genommen wird. Die Social isten umgekehrt
wollen auch für alle Gemeingüter principicll und möglichst stets in der Wirklichkeit
eine gemein-, besonders zw an gsgemei n wirtschaftliche Fürsorge. Die Vertreter
religiöser, kirchlicher Anschauungen befürworten in grösserem Umfange die An-
wendung des caritatirou Systems. Characteristisch ist gegenwärtig besonders die
Stellung der einzelnen wirtschaftlichen Parteien in Betreff dieses Punctes im Unter-
richts-, im Verkehrswesen: dort der Streit über staatliche und bezw. kirchliche und
gemeindliche Uebcrnahme (.Leitung, Einrichtung, Führung) und über die finanzielle
Behandlung des öffentlichen Schulwesens (Princip der reinen Ausgabe, Gcbührcn-
princip, Maass desselben, Fin. I, 8. A., §. 201, II, 2. A„ §. 48); hier, beim Ver-
kehrswesen, der Streit über private, resp. actiengesellschaftsmässige und anderseits
staatliche und gemeindliche (provinciclle u. s. w.) Uebcrnahme , Leitung und Betrieb
der betreffenden Anstalten und wieder über das leitende Finanzprincip (volle, teil-
weise Kostendeckung, genügende Kente, Ueberschnsswirthschaft, s. Fin. I, 3. A.,
§. 270 ff., II, 2. A., §. 54 ff), über die Tarifpolitik (eb. I, §. 275. 291 ff., II, §. 02).
Hinsichtlich des ersteren Gebiets und verwandter Puncte s. die Debatte auf dem Eisen,
soc.-polit. Congress 1873 in Anknüpfung an meine Thesen Uber die Einengung des
Actiengescllschaftswesens zu Gunsten besonders staatlicher und communaler Anstalten,
wo u. A. Schm oller mehr auf meiner, Engel und Gneist mehr auf der privat-
wirtschaftlichen Seite standen. In einzelnen practischen Fragen, z. B. ob Staats-
oder Privatbahnen, ob Staats- oder Privatzettelbanken, ob Cassenzwang für Arbeiter-
versichernngen oder nicht u. A. m., welche leitende Finanzpriucipien haben sich die
Ansichten auch sonstiger principicller Gegner übrigens vielfach genähert. Das
Nähere in meiner Fin. I. 8. A.. Buch 3 vom Privaterwerb und II, 2. A., Buch 4
von den Gebühren. Namentlich bei letzteren handelt es sich um die Frage, ob und
wie weit Gcmeinwirthschaftcn nach dem privatwirthscbafdichen Princip des speciellen
Entgelts von Leistung und Gegenleistung verfahren sollen: allgemeine Principienfragen
der Politischen Üekonomie. namentlich der Organisationsbüro, welche womöglich
immer zuerst nach sachlichen, dann erst nach finanziellen Rücksichten zu ent-
scheiden sind.
I. — §. 333 [145]. Zulässigkeit und Gebiet dieser Für-
sorge durch eigene Pri vatwirthschaften.
Eine privat wirthschaftlicke Herstellung von Gemein-
gütern kann in der Weise in Frage kommen, dass sich eigene
einzelne, reine Privatwirtschaften dieser Aufgabe nach den
Grundsätzen der Arbeitsgliederung („berufsmässig“) und
in der Absicht des Erwerbs widmen und daher die Gemein-
güter gegen speciellen Entgelt den Pedürftigen im Tausche
(Verkauf) überlassen. So ist auch thatsächlich früher und wird
noch jetzt für manche Gemeingüter gesorgt.
Sogar Fälle des Rechtsschutzes haben zu Zeiten hierher gezählt, solange der
Staat nicht selbst ausschliesslich für die Rechtsordnung sorgte, und werden sich unter
dieser Voraussetzung wiederholen. Hierher gehörige Fälle von allgemeinerer Be-
deutung sind z. B. die mittelalterlichen Uebergaben des eigenen Bodens an weltliche
Grosse und an die Kirche, mit Rückempfang, aber unter Beschwerdung des Bodens
mit Naturalabgaben und Diensten gegen Gewährung von Rechtsschutz, Abnahme des
Wehrdienstes. (S. Kap. 1 d. 2. Abth. der Grundlegung, in d. 2. A. §. 203.) — Ab-
findungen der Privaten mit Räubern, wie im alten (Fricdländer. Sittengesch. II,
42 ff) und wie noch im neuesten Italien. — Tribute an Seeräuber u. dgl. m. —
Aber auch in geordneten Staatsverhältnissen ist der Fall möglich und vorgekommen,
z. B. Organisation privater Schutzwachen für Waaren auf Messen u. dgl. Allgemeiner
in neuen Colonialländern, America, Australien zeitweise. Neueste Beispiele in den
Vereinigten Staaten bei Gelegenheit von Strikes und Lohnkämpfen, eine Folge mangel-
hafter Stellung und Leistungen der öffentlichen Gewalt, der Obrigkeit.
840 5. B. 0 rganis. d. Volksw.sch. 3. K. Gem.w.sch. SysL 1. H.-A. Gern. bedarf. §. 334.
Namentlich aber werden die Güter zur Befriedigung mancher örtlichen und
gesellschaftlichen sowie einiger zeitlichen Gemeinbedürfnisse auf diese
Art hergestellt. Beispiele sind Privatschulwesen, speculatives Versicherungswesen.
Verkehrsanstalten als Erwerbsunternehmungen (Privateisenbahnen, Dampfschifffahrt;.
Creditanstaltcn (Banken), Gasanstalten von Erwerbsgesellschaften betrieben, Privat-
theater u. A. m. Namentlich fungirt die Kapitalassociation, besonders die
Acticngesellschaft hier als Vertreterin des privatwirthschaftlichen Systems, wen»
es sich um Anstalten eines gewissen Risicos und grösseren Kapitalbedarfs
handelt. In technischer und ökonomisch er Hinsicht reicht diese privatwinh-
schaftliche Herstellung von Gemeingütern öfters aus, auch die Actiengesellschaft steht
darin nicht immer der öffentlichen Gemeinwirthschaft nach , mitunter voran. Beide
haben häufig gewisse gemeinsame Vorzüge und Nachtheile gegenüber dem Privat-
geschäft des einzelnen Menschen, z. B. Staats- und Actiengcsellschaftsbetrieb von
Trausportanstalten, weshalb die üblichen ökonomisch-technischen Einwände der Schule
der freien Coticurrenz gegen Staatsbetrieb oft gar nichts beweisen, z. B. in der Frag«
der Staatsbahnen, wo eben ausser dem Staate nur Actiengesellschaften , nicht
reine Privatunternehmungen in Betracht kommen können. S. Finanzwiss. 1 . 3.
§. 260 ff. Aehnliches Verhältniss bei Versicherungsanstalten, s. meine Abh. Ver-
sicherungswesen im Schönberg’schen Handb. III.
II. — §. 334 [146]. Beschränkte Anwendbarkeit and
Bedenken dieser privatwirthschaftlichen Fürsorge für
Gemei nbedürfnisse. Diese ergeben sich bei jeder unbefangenen
Untersuchung der einschlagenden Verhältnisse.
1) Ueberhaupt nur ein beschränkter und nicht der wich-
tigste Theil dieser Bedürfnisse lässt die Befriedigung durch das
privatwirthschaftliche System selbst zu. Namentlich verlangt das
wichtigste Gemeinhcdlirfniss, dasjenige der Rechtsordnung,
durchaus die Wahrnehmung durch den Staat selbst.
Nur dabei besteht die Garantie einer richtigen und gerechten Befriedigung
dieses Bedürfnisses für alle Staatsangehörige. Auch deshalb die principielle Be-
seitigung aller patrimonialcn Justiz in neuester Zeit, — ein Umstand, der in
Preussen, Oesterreich und anderen Ländern seit 1849 die Steigerung der Ausgaben
im Justizdepartement nicht unwesentlich mit vermehrt hat. (Vgl. z. B. über Oester-
reich meine Ordnung des österreichischen Staatshaushalts, Wien 1 ^63. S 44 ff. und
Blnntschli’s Staatswörterb. VII, 617). Ebenso bewährt sich bei den wichtigsten
örtlichen und zeitlichen Gemeinbedürfnissen meistens nur das gemeinwirthx'haft-
liche System, das um so ausschliesslicher eintreten muss, je grössere Kreise
der Bevölkerung an dem Gemeinbedürfniss betheiligt sind. Nur die Gern ein bedurfnLse
kleiner räumlicher Kreise und besonders diejenigen der gesellschaft-
lichen Interessengruppen, welche immer nur grössere oder kleinere Theile
oder Classcn der Bevölkerung betreffen, werden häufiger ohne Nachtheil oder selbst
mit Vortheil vom privatwirthschaftlichen System befriedigt. Aber auch hier ist von
Fall zu Fall zu untersuchen. Selbst gewisse Veränderungen der Technik der
Production können z. B. mitunter jeden Vorzug der Privatwirtschaft vor der
Gemeinwirthschaft beseitigen und den Uebcrgang zum gemcinwirthschaftlichen System
räthlich machen (städtische Gas- und Wasserversorgung, Omnibus- und Pferdebahn wesen).
2) Der beherrschende privatwirtliscliaftliche Erwerbsgcsiehts-
punct hei eigenen Privatwirtschaften kann zwar aneh bei der
Herstellung und dem Gebrauch von Gemeingütern Vortheile in
technischer und ökonomischer Hinsicht bieten. Aber die
Beschaffenheit vieler Gemeingüter wird gerade unter diesem
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Priv.wirthschaftl. Fürsorge für Gem.bedürfnisse.
841
Gesichtspuncte besonders leicht leiden, weil diese Güter nach
anderen als rein ökonomischen Rücksichten beurtheilt werden
müssen.
So z. B. die Leistungen der Schulen, selbst der Verkehrsanstalten (Eisenbahn-
wesen 1 S. über die Frage der Staats- und Privatbahnen Fin.wisa. I, 3. A. §. 270 ff.,
über Versicherungsanstalten s. meinen Aufsatz in der Tub. Ztschr. 1881 u. im Schön-
berg’schen Handb. III, 3. A., S. 972 ff.).
3) Die betreffenden Vorkehrungen zur Herstellung solcher
Gemeingüter verlangen häufig einen grossen Arbeits- und
Kapitalaufwand, ökonomisch und technisch am Besten con-
centrirt in einer oder wenigen Anstalten. Wird dem-
gemäss im privatwirtlischaftlichen System verfahren (Verkehrs-
anstalten, Banken, Versicherungsanstalten), so ergiebt sich die be-
sondere Gefahr factischer Monopole gerade hier (§. 310),
worunter die Versorgung der Consumenten dann bei diesen Gütern
in noch schlimmerer Weise leidet, als in anderen Fällen der ge-
wöhnlichen Sachgüterproduction.
Dieser Umstand spricht namentlich dagegen, die Versorgung mit manchen wich-
tigen Gütern des örtlichen Gemeinbedürfnisses, z. B. grosse Verkehrsanstalten (Eisen-
bahnen), Anstalten für städtische Gemeinbedurfnisse u. dgl. m. den Actiengesellschaftcn
zu überlassen, obgleich letztere technisch und ökonomisch wohl im Stande sind, die
erforderlichen Gemeingüter herzustellen.
Erfolgt keine entsprechende Centralisation, um solche Ge-
fahren zu vermeiden, so zeigen sich als nachtheilige Folgen Mangel
an Einheitlichkeit, Gieichmässigkeit in der Herstellung und Zu-
führung der Gemeingüter, höhere Kosten u. s. w.
4) Ein grosser und der wichtigste Theil der Gemein- '
bedürfnisse besteht aus Bedürfnissen so allgemeiner Bedeutung
für die ganze Bevölkerung, dass eine sichere Bürgschaft
dafür vorhanden sein muss, einem Jeden die Befriedigung zu
ermöglichen. Diese Bürgschaft fehlt oft bei der Herstellung der
betreffenden Gemeingüter durch Privatwirthschaften.
Dies lässt sich an folgendem practisch wichtigen und theoretisch lehrreichen
Beispiel ausfuhren. Ein wichtiger, gleichwohl früher wenig gewürdigter Gesichtspunct
in der Frage, ob das Eisenbahnwesen, das städtische Pferdebahn- und Oinnibusweseu
als öffentliche Unternehmung, des Staats, der Gemeinde oder als private, thatsächlich
daher meistens der Actieugesellschalten . eingerichtet werden soll, ist der folgende,
der nahe genug hätte liegen sollen, weil er im Postwesen, Telegraphen wesen schon
lange zur Geltung gelangt war. In jedem Eisenbahn-, Omnibusliniennetze sind Cnrse
von verschiedener Rentabilität enthalten, wahre Activ-, aber auch wahre Passivcurse.
Bei einheitlichem Eigenthums- und Betriebsverhältniss übertragen sich die finanziellen
Resultate dieser Curse gegenseitig, so dass dadurch auch die Fähigkeit wächst, un-
günstige Curse mit aufzunehmen oder m. a. W. in entlegenere Gegenden schwächeren
Verkehrs das Netz auszudehuen und dadurch immer weiteren Kreisen die Befriedigung
des betreffenden Verkehrsbedürfuisses zu ermöglichen. Darin liegt der grosso Vorzug
eines umfassenden Staatseisenbahnnetzes u. s. w. Wird ein solches Netz einer Acticn-
gcsellschaft übertragen, so entsteht wieder eine nicht leicht zu bekämpfende Tendenz
842 5. B* Organis. d. Volks v.scb. 3. K. Gcin.w.sch. Syst. 1. H.-A. Gem.bedurf §. 335.
eines factischcn Monopols und anderseits doch eine immer neue Schwierigkeit, das
Netz auch bei hoch rentablen liauptcursen auf schlecht rentirende Nebenlinien aus-
zudehnen. Denn es ist kaum möglich, einer Gesellschaft in dieser Beziehung stringente
Verpflichtungen aufzulegen. Die zukünftige Gestaltung lässt sich nicht so weithin
übersehen. Das Ergebnis ist dann oft das, welches wir in Prcussen im Eisenbahn-
wesen früher sahen: die guten Activlinien gehörten alten, verhältnissmässig kleinen
Gesellschaften, die schlechten Linien musste der Staat übernehmen oder mit Zins-
garantieen versehen. Ist das Netz einmal etwas mehr ansgebaut, so wächst auch das
Risico bei der Uebcrnabme neuer Strecken und dafür muss dann, gemäss den Grund-
sätzen des privatwirthschaftlichen Systems, wiederum einer Actiengesellschaft eine
besoudre Vergütung zu Theil werden. Oder m. a. W. der Ausbau unterbleibt oder
wird rertheuert und die allgemeine Bedürfnisbefriedigung wird erschwert , vielfach
unmöglich gemacht. Vgl. meine Fin.wiss. I, 3. A., bes. über Eisenbahnen §. 271 ff. ,
über Post II, 2. A., §. GO. Seit der grossen Eisenbahnverstaatlichung in Prcussen
konnte man jährlich erhebliche Summen für Bahnen zweiter Ordnung flüssig machen,
welche von dem Gesammtnetz finanziell mit getragen wurden , obigem Gesichts-
punct gemäss.
Nach der ökonomischen Lage und nach dem niedrigen Bildtings-
stande uud dem unzulänglichen Gefühl der Verantwortlichkeit der
Masse der Bevölkerung lässt sich mit Gewissheit annebmen, dass
ein Theil des Volks nicht im Stande oder nicht Willens (Unter-
richtswesen!) ist, die Kaufmittel zu verwenden, durch welche ihnen
die Befriedigung wichtiger Gemciubedürfnisse nach den privat-
wirthschaftlich von der Privatwirtschaft anzulegenden nothwendigen
Kosten oder Preisen ermöglicht wird. Eben deshalb muss wieder
das gemeinwirthschaftliche, insbesondere das zwaugsgemcinwirth-
schaftliche. mindestens aber das caritative System diese Bedürfniss-
befriedigungen vermitteln.
III. — §. 335. Befolgung des privatwirthschaftlichen
Princips durch Ge m ei nwirthsc haften und Wir th schäften
des earitativen Systems. Die bezügliche Frage fällt mit der
vorausgehend erörterten nicht zusammen, wird daher durch die
Erörterung derselben noch nicht erledigt. Es ist nun in der That
möglich und in gewissen Fällen und in gewissem Umfange zweck-
mässig, ja nothwendig, auch in der älteren und neueren Praxis
üblich, nach jenem Princip auch Gemein wiithschaften und caritative
Vorgehen zu lassen. Das geschieht bei jenen, besonders hei den
öffentlichen Zwangsgemeinwirthschaften, dem Staate, der Gemeinde
passend da, wo eine betreffende Anstalt, Einrichtung, Thätigkeit
Einzelnen allein oder in besonderem, ungefähr messbarem
Grade, mehr als Anderen, als der Allgemeinheit, zu Gute kommt
oder von den Einzelnen in Anspruch genommen, von ihnen noth-
wendig gemacht wird. Hier tritt mit Recht ein specieller Ent-
gelt ein, für welchen die Gesichtspuncte des privatwirthschaft-
lichen Princips und seiner Werthbemessung mit befolgt werden
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Friv. wirtschaftliches Trincip bei Geincinwirthschaften.
843
können, ja eventuell müssen. Das hierhergehörige Finanzgebiet bei
öffentlichen Körpern ist das sogen. G e b tih ren ge b i e t. Aehn-
liehes kann auch bei caritativen Wirtschaften in Frage kommen.
Aber ein wesentlicher und vorteilhafter Unterschied gegen-
über der Befolgung des privatwirthschaftiichen Princips im privat-
wirthschaftlichen System und bei dessen eigentlichen Gemeinwirtfa-
schatten bleibt auch hier: die Gemeinwirthschaft (und ähnlich die
active earitative) kann bestimmen, ob und wie weit, wo,
wann, in welcher Weise das privatwirthschaftliche Princip
statt des gemeinwirthschaftliehen (oder caritativen) angewendet
werden soll. Und zwar kann sie das bestimmen und ent-
scheiden nach sachlichen Gesichtspunctcn, nach der Natur
des Gemeiubedürfnisses und Gemeinguts, um welches es sich
handelt, nach dem Interesse, letzteres leichter zugänglich zu machen,
nach der Leistungsfähigkeit der Bedürftigen , weil sie eventuell
eine andere Kostendeckung (Besteuerung, Beitragserhebung) anzu-
wenden vermag. Für die Gemeinwirthschaft steht daher die rein
ökonomische, die finanzielle Seite der Frage in zweiter Linie.
Für die eigentliche Privatwirthscbaft ist dagegen diese Seite regel-
mässig und auch in der That nach der Natur dieser Wirtschaft,
die erste und entscheidende, selbst wenn das leitende Subject
anderen Motiven als dem des Eigenvortheils zugänglich ist; denn
schon die Concurrenz verhindert meist ein anderes Verfahren.
Die richtige, möglichst nach sachlichen Gesichtspuncten er-
folgende Anwendung des privatwirthschaftiichen Princips durch die
Gemeinwirthschaft, insbesondere durch die öffentliche Zwaugs-
gemeinwirthschaft (Staat, Gemeinde u. s. w.) verhütet dann in er-
wünschter Weise, dass das in* jeder solchen Gemeinwirthschaft
steckende „communis tische“ Princip nicht in zu weitem
Maasse und nicht in unrichtigen Fällen zur Geltung kommt. Es
bleibt in der Gemeinwirthschaft ein Vortheil, dass so zwischen
verschiedenen Kostendeckuugs- und Entgeltlichkeitsprincipien ge-
wählt werden kann, was bei den eigentlichen Privatwirtschaften
im Wesentlichen ausgeschlossen ist.
In der Gewährung von Zuschüssen aus allgemeinen Öffentlichen Mitteln (Steuern)
zur Kostendeckung öffentlicher Anstalten und Einrichtungen (z. B. Schul-, Verkehrs-,
Justizwesen), welche einen Theil ihrer Gcsammtkosten nach priratwirtbschaftlichem
Princip in Gebühren auf die speciellen Nutznicsscr legen, wird dann freilich auch
immer implicite anerkannt, dass eine Behandlung dieser Anstalten und Einrich-
tungen rein nach privatwirthschaftiichen Grundsätzen nicht für angemessen oder nicht
fUr ausführbar gilt.
844 5. B. Organis. d. Volksw.sch. 3. K. Gcm.w.sch. Syst. 1. H.-A. Gembcdurf. §. 336.
Dieser §. 335 ist in dieser 3. Auflage neu binzugefügt. Eine bezügliche Aus-
führung fehlte in den früheren, gehört aber hierher. Denn in der Tbat ist, mit
Gross (S. 766), dessen Anregungen ich hier gefolgt bin, zwischen der Handlungs-
weise der eigentlichen Privatwirtschaften im privatwirthschaftlichen System und der
Mitanwendung des privatwirthschaftlichen Princips auch durch Gemeinwirthschaftei».
wie der Staat, die Gemeinde, zn unterscheiden. Es liegt hier die allgemeine Frage
der Kostendeckung und der Werthbemessung und Normirung „in Verbänden“ vor.
üeber letztere s. oben die litterarischen Angaben S. 769. Soweit es sich um öffent-
liche Körper handelt, liegen die bezüglichen Fragen in der Finanz Wissenschaft,
insbesondere in der Gebührcnle hre und in der Lehre von den Principien der Ver-
theilung der allgemeinen Steuern (Gercchtigkeitsprincipien, Besteuerung nach da?
Leistungsfähigkeit und nach Leistung und Gegenleistung). Dafür kann ich hier as:
meine Finanzwissenschaft verweisen, wo die betreffenden Principienfragen, welche hie:
in der Grundlegung zu behandeln waren , weiter nach den finanziellen Conseqoeaz«;
verfolgt werden. S. bes. II, 2. A., Buch 4 von den Gebühren (u. A. §. 15 — 19. 761
Zu wenig Gebühren, zu wenig „Fiscalismus“ dabei oft nur — ein den höheren Classea
zu Gute kommender Communisinus, S. 198. Aehnlich hat mit Hecht K. Marx
geurtheilt, z. B. in der Abweisung der früheren socialdemokratischen Fordemae
unentgeltlichen höheren Schulunterrichts, unentgeltlicher Civilrechtsptlege. Leber dvt
Steuerverthcilung s. in Fin. II den ganzen 3. H.-A. des Kap. 3, S. 372 — 460. A
der sonstigen Steuerlitteratur bes. Neumann’s Arbeiten.
3. Abschnitt.
Fürsorge für Gemeiiibediirftiisse durch das caritative System
W V
und Function desselben überhaupt.
336 [S. 264]. Vorbemerkungen. In der systematischen Nationalökonomie
sind besonders Scliäffle’s Erörterungen auch hier hervorzuheben. Sie &tehen noch
sehr vereinzelt in dieser Littcratur. S. Syst. 3. Aufl., I, 24, 33 ff., 60, II, 12, b®.
89 ff., 177 ff., 325 ff’., 4S6. Soc. Körper III, 371 ff. Schäffle bezeichnet das ganze
Gebiet mit dem technischen Namen „Hingebung“ und zwar in der Form der Ein-
seitigkeit als Liberalität S. Vorbem. zu folg. Abschn. Hermann, Untersuch..
2. A., S. 44 fl’., kurz, aber principiell gut. Es ist sonst namentlich auf die Liuerarr
über Wohlthätigkeits- und Armenwesen zu verweisen, sowohl auf die Special-
littcratur als auf die Behandlung dieser Fragen in der V erwal t un gs 1 e h re oder
Polizeiwissenschaft. S. bes. L. Stein, Handb. d. Verwaltungslehre S. 411 (L
419 ff., R. v. Molil, Polizeiwiss. 3. Aufl., I, 3Ü7 ff., 352 ff., Rau, Volkswirthschafr?-
politik II, §. 324 ff. Bei Rau und Mohl auch die Spcciallitteratur. A. Etnminr-
haus. Armen wesen, Berlin 1869. Aschrott, Art. Armen wesen im H.-W.-B. dir
Staatswiss. Vgl. auch K. Siegel, Uber die Verkeilung der Liebeseaben, ein Beitrag
zur freiwilligen Armenpflege, Heidelberg 1877. Manche brauchbare Materialier
und wichtige Fingerzeige in den jährlichen „Berichten dos vaterländischen Frauec-
vercins“, Berlin.
Auch das Gebiet der „Gemeinnützigkeit“ im weiteren Sinne, über da?
eigentliche Wohbhätigkoitsgebict hinaus, gehört mit hierher. Auf demselben wird
wohl besonders gern vom Wirken des „Gemciusinns“ gesprochen. Auch hier
handelt es sich im Grunde um Fälle, welche wesentlich auf das fünfte Leitmotiv, des
Trieb des inneren Gebots zum sittlichen Handeln, zurückgehen (§. 45, 46) Nur sucht
sich der Wille nicht oder nicht bloss zu bethätigen in Fällen persönlicher Hilfe-
bedürftigkeit, wie im Armen-, Wohlthätigkeitswesen, sondern in solchen, wo es sich mehr
um Interessen eines grösseren Personenkreises (Gemeinde, District, Land) und insofern
mn Etwas handelt, was wahren „öffentlichen“ Interessen sich nähert: Verwendung«:
von Mitteln, Arbeitsleistungen auf dem Gebiete des Unterrichts-, Bildungs-, Kunstpflege-.
Sauitäts-, Erholung8-, Kirchenwesens u. dgl. m., Seitens eines reicheren und „gemein-
nützig“ gesinnten Patriciats (Städte; allgemeinere Functionen derart in der Schweiz.
Nordainorica, Gr.-Britannien, „Schenkungen“ bei Lebzeiten, Legate, Erbschaften Seitens
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Caritatives System.
845
reicher Leute). Vgl. E. Heitz, Art. Gemeinsinn im H.-W.-B. d. Staatswiss. III, 801.
v. Miaskowski, die Gesellschaft zur Beförderung des Guten und Gemeinnützigen in
Basel. Basel 1877.
Zweifelhafter kann mau sein, ob man ein anderes wichtiges Gebiet hierher
rechnen soll , das grade neuerdings mit Recht aus socialpolitischen Gründen in der
Praxis mehr in den Vordergrund tritt und auch die Theorie beschäftigt: das Gebiet
von gemeinnützigen Leistungen der Arbeitgeber für ihre Arbeiter,
über die vertragsmässigen Verpflichtungen hinaus. Denn wenn auch hier die besseren
Leitmotive wirthschaftlichen Handelns (Ehrgefühl, Thätigkeitsdrang, freilich auch —
Eitelkeit) und in der That auch das genannte fünfte Leitmotiv mitwirken, so ist doch
eine nähere Verbindung solcher Thätigkeiten mit dem Interesse dos Arbeit-
gebers als solchen, also insofern mit dem ersten Leitmotiv wirthschaftlichen Han-
delns, thatsächlich häufig vorhanden und wohl nicht selten dies Interesse der eigent-
liche Ansporn. Damit wird das, was hier geschieht und erstrebt wird, nicht
herabgesetzt und nicht für unrichtig noch für unwirksam erklärt , sondern nur
psychologisch characterisirt. S. hier namentlich die Schriften von Post, Muster-
stätteu persönlicher Fürsorge von Arbeitgebern für ihre Geschäftsangehörigeu, 2 Th.,
1889. 1892 und die von demselben Autor herausgegebencn Blätter für derartige Be-
strebungen (Wohlfahrtscorrespondeuz) (1892). Aehnliehe Mittheilungen in Zeitschriften
Uber Arbeiterverhältnisse aus Arbeitgeberkreisen (frühere „Concordia“).
Die Schule der freien Concurrenz muss natürlich im Humanitäts- und Armen-
wesen eine Verletzung ihres Hauptprincips: Leistung und Gegenleistung, sehen und
betont daher auch mit Recht die Gefahren jeder nicht streng iudividualisirenden.
Erwerbsfähige und Faullenzer nicht unbedingt ausschliesseuden, öffentlichen und privaten,
besonders auch kirchlichen Armenpflege, jeder zu willfährigen Gemeinnützigkeit. Aber
sic trägt dabei wieder der inneren principiellen Berechtigung und Nothwendigkeit der
liberaleren Unterstützung nicht immer vollständig Rechnung. Vgl. das gen. Sammel-
werk von Emminghaus. Die Manchesterrichtung und die kirchliche nicht individua-
lisirende Armenpflege stellen hier zwei Extreme dar, innerhalb deren das Richtige
wohl in der Mitte liegt. Die katholisch-kirchliche Armenpflege hat wohl practisch,
wie alle religiöse, öfters gefehlt, principiell auch sie nicht.
I. — §. 337 [147], Zulässigkeit und Gebiet dieser
Fürsorge. Die in §. 334 angedeuteten Mängel und Bedenken
fällen fort, wenn statt des privatwirthschaftlichen das earitative
System die Fürsorge für die Versorgung mit Gemeingütern Über-
nimmt. Dieses System kann in der That Bedeutendes auf diesem
Gebiete leisten, für zahlreiche und wichtige örtliche, gesellschaft-
liche und auch selbst für zeitliche Gemeinbedürfnisse, namentlich
solche, welche in pflegenden persönlichen Diensten, in Werken der
Barmherzigkeit, der Gemeinnützigkeit, liegen.
Die Erfahrung hat ganz besonders grossartige und erfolgreiche Wirkungen des
caritativen Systems unter dem Impulse religiöser Tendenzen und in der Form
kirchlicher Veranstaltungen aufzuweisen , vielleicht niemals mehr als in der
christlichen Kirche, besonders katholischer Confcssion. Ausserordentliche
Leistungen für Hilfs-, Armen-, Kranken-, Waisenweseu, für Unterricht
und Bildung u. s. w. sind hier zu verzeichnen. Es wird dies auch der Protestant
unzweifelhaft anerkennen müssen. Ob und wie weit hier die katholische Lehre von
der Bedeutung der guten Werke von Einfluss ist, bestimmt den sittlichen Werth
dieser Leistungen mit, ist jedoch für die hier in Betracht kommende Auffassung
gleichgiltig. — Auch das Juden thurn steht notorisch in Leistungen auf dem Ge-
biete des Hilfs- und Armenwesens sehr hoch, freilich deutlich mit im specifischcn
Interesse seiner Angehörigen als einer aparten, der übrigen Bevölkerung fremden, oft
von dieser angefeindeten nationalen und religiösen Gemeinschaft. — Auch Leistungen
im Gebiete des Rechtsschutzes und selbst in der materiellen Cultur (Strassen-
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Theil. Grundlagen. 54
846 5. B. Organis. d. Volks w sch. 3. K. Gem.w.scb. Syst. 1. H.-A. Gem.bcdürfn. §. 337.
anlagen, Rodungen. Verbreitung besserer Technik des Ackerbaues und der Gewerke)
haben nicht gefehlt. Beispiele liefern die Klöster in den ersten Jahrhunderten
nach der Einführung des Christenthums besonders in Mittel- und Nordeuropa
(Deutschland); die christlichen Missionare in Africa, America noch heute.
(Vergl. auch Brentano, Arb.versich. S. 37 ir.)
Ausser und neben religiösen und kirchlichen Impulsen haben freier Gemein-
sinn, Liebe für Wissenschaft und Kunst, Liebe zu seinen Orts- und Landsleuten,
zu seinem Volke, gemeinnützige Tendenzen, Humanität im besten Sinne des Worts
vorübergehend und bleibend freiwillig die Arbeit geleistet, die Mittel gewährt
und die Anstalten geschaffen, um die Befriedigung von Gemeinbedürfnissen
nach den Principien des caritativen Systems den Bedürftigen, auch ganzen Bevöl-
kerungen ohne Unterschied des Wohlstands, unentgeltlich oder gegen einen ge-
ringeren Entgelt, als es privatwirthschaftlich oder selbst gcmeinwirthschaftlich
anginge, zu ermöglichen (Armen- und Krankenversorgung. Kunstsammlungen, Biblio-
theken, Schulen u. s. w). In einzelnen alten deutschen Städten, Frankfurt a. M., Cöln.
Leipzig, Hamburg u. A. m., im Grossen und Ganzen in der Gegenwart wohl auf dem
Continent am Meisten in den reichen schweizer Städten (Basel!) ist Dergleichen
zu linden. Die republikanische Einfachheit des Privatlebens reicher Schweizer ver-
bunden mit solchen Leistungen sticht hier vortheilhaft ab gegen einen grossen Theil
der reichen Classen der übrigen Welt, üebrigens kann doch auch in Nordamerica.
England an die Astor (deutschen Ursprungs), Pcabody (nordamericanischer Geburt).
Vanderbilt jun. u. A. m. erinnert werden. Jener Sinnspruch im Zopfstyl, den
Joseph II. 1775 über den in Wien dem Publicum zur Verfügung gestellten Au-Garten
setzte: „allen Menschen gewidmeter Erlustigungsort von ihrem Schätzer“, bezeichnet
das innere Wesen solcher Leistungen recht gut.
Hier treten eben jene besseren Motive wirtschaftlichen
Handelns (Leitmotiv 3, 4, besonders 5, §. 39 — 46), jene sittlich
gu ten Potenzen, deren Berechtigung oben (§. 315) betont wurde,
zur Ueberwindung des wirtschaftlichen Selbstinteresses in Wirk-
samkeit. Der Privatreichthum erhält eine sittliche Weihe
und damit eine sociale Rechtfertigung (§. 285).
Soweit es sieb hierbei um mehr dauernde und von der
physischen Person des Gehers unabhängig gestellte, daher womög-
lich mit dem Rechte der juristischen Person ausgestattete und zu
selbständigen Ei nzelwirth schäften werdende Veranstaltungen
zur Fürsorge für Gemeinbedürfnisse handelt, kann man das ganze
Gebiet der Thätigkeit des caritativen Systems als Widmungs-
und S t i ftun gs wesen bezeichnen.
Es ist nun von gleicher Wichtigkeit, einerseits die allge-
meine Berechtigung, ja Not h wendigkeit der Function
des caritativen Systems gerade im Gebiete der Gemeinbedürfnisse
neben den beiden anderen Systemen und insbesondere auch noch
neben einem bestmöglichen, d. h. der Zeit und dem Orte gut
entsprechenden geiueinwirthschaftlichen System, zu begründen;
andererseits aber die unvermeidlich engen Schranken,
in denen, und die nothwendigen Ca ut eien, mit denen das cari-
tative System in der Regel allein durchführbar ist uud in und mit
denen es sich allein auf die Dauer wohlthätig bewährt, festzustellen,
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Caritat. System. Berechtigung und Nothwendigkeit
847
um so wiederum die Berechtigung und Nothwendigkeit des gemein-
wirthschaftlichen Systems auch von dieser Seite aus zu erweisen.
II. — §. 338 [148]. Die Berechtigung und Nothwendig-
keit des caritativen Systems liegt darin, dass es in der Volkswirt-
schaft immer Lücken in der Bedürfnissbefriedigung geben wird,
welche sich weder privat- noch gemein wirtschaftlich genügend
ausftillen lassen. Das privatwirthschaftliche System reicht nicht
aus, weil oft gar kein, mindestens aber kein hinlänglich starkes
Interesse besteht, hier Vorsorge zu treffen. Das gemeinwirtbschaft-
liche System aber muss nach bestimmten festen Hegeln operiren
und kann auf die Verschiedenheit der concreten Fälle häutig nicht
ausreichend Rücksicht nehmen.
Gerade hier zeigt sich die Stärke des caritativen Systems:
cs kann individualisiren. Das ist aber oftmals unbedingt
nothwendig, um allseitig in allen berücksichtigungswertben Fällen,
aber thunlickst auch nur in diesen, für genügende Bedtirfnissbe-
friedigungen zu sorgen.
In dem grossen Gebiete des Humanitäts-, Armen-, Hilfs- und Wohl-
thätigkei ts wesens und in verwandten Zweigen wird daher das caritative System
schwerlich je zu entbehren sein. Oeffentliche auch noch so gut organisirte
Armenpflege z. B. wird immer der Ergänzung durch Privatwohlthatigkeit be-
dürfen. Ein neues verwandtes und characteristisches Beispiel liefert auch in Deutsch-
land die Gründung privater Hilfsvereino für die Kriegsiuvaliden neben der gross-
artigsten öffentlichen, d. h. also gemeinwirthschaftlichcn Invalidenversorgung (Kaiser
Wilhelm-Verein); ähnlich die private Unterstützung der Krieger während der Feldzüge
selbst durch Gaben aller Art („Liebesgaben“) neben einem so umfassenden und gut
organisirten öffentlichen Verpflegungswesen, wie es in früheren Zeiten unerhört war.
Das caritativc System führt hierdurch zu einer Sittlichung des
privaten Vermögensbesitzes („mit dem anvertrauten Pfunde wuchern“),
des Renteneinkommens und damit zur volkswirtksckaftlichen, zur
socialen Rechtfertigung dieser Institution von der Seite der Ver-
mögensvcrtheilung aus. Es giebt ausserdem den besitzenden Classen,
ähnlich wie in einigen Fällen das gemeinwirthschaftliche System
(Ehrenämter, Selbstregierung u. s. w.), Gelegenheiten und Anreiz,
arbeitsfreie Zeit doch passend im Dienste der Gesammtheit zu ver-
wenden. Die privatwirthschaftliche Vermögensungleichhcit darf von
diesem, gewöhnlich übersehenen Gesichtspuncte aus als ökonomische
Voraussetzung mancher der edelsten, sittlichsten und auch mancher
der Allgemeinheit nützlichsten menschlichen Handlungen bezeichnet
werden. Eine völlig communistische oder extrem socialistische
Gleichmacherei des Vermögensbesitzes würde hier Wenig verbessern,
Vieles verderben.
848 5. B. Organis. d. Volksw.sch. 3. K. Gem.w.sch. Syst. 1. H.-A. Gem.bedürfn. §. 339.
III. — §. 339 1149]. Die uotbwendige Beschränktheit
der Function des caritativcn Systems ist auf der anderen Seite
doch ebensowenig zu verkennen.
1) Häufig sind schon die verfügbaren materiellen Mittel zu
klein, fiiessen nicht regelmässig, nicht nachhaltig genug, nur in
Zeiten tieferer Erregung der Gefntither. Schon auf den erwähnten
Gebieten des Hilfs wesens u. s. w., wo das caritative System
an und für sich am Besten fungiren kann, reicht es so notorisch
vielfach nicht aus.
Mancherlei Beispiele aus dem Wohlthätigkeitsvcreinswesen Hessen sich dafür
anführen. Stärkung der sittlichen Impulse. Schatfung eiuer sittlich - geistigen Atmo-
sphäre, wo die besseren Motive stärker wirken (Buch 1, Kap. 1), ist hier freilich die
Aufgabe, aber das wirthschaftliche Selbstinteresse lässt sich dadurch meistens nur in be-
schränktem Maasse überwinden. Auch bleibt cs dem gcmeinwirthscbaftlichen Zwange
gegenüber ein Nachtheil, dass die Last, welche die Herstellung der Güter im cari-
tativen System mit sich bringt, sich sehr ungleich auf die vermögenden Privaten ver-
theilt, indem die egoistischeren Elemente unter letzteren sogar von der Freigebigkeit
der Anderen indirect mit Nutzen ziehen.
2) Auch das caritative System kann vornemlick nur für die
oben hervorgehobeneu Bedürfnisse sorgen. Selbst hierbei aber
und vollends bei einer weiteren Ausdehnung seiner Function zeigt
sich erfahrungsgemäss eine Gefahr, welche unter Umständen ein
prineipielles Bedenken gegen das ganze System hervorruft: nemlich
die Gefahr einer grossen Abhängigkeit Derjenigen, welchen die
Leistungen des Systems zu Gute kommen, von Denen, welche
dieses System ausüben.
So von der Kirche, Stiftungen, reichen Privaten (Patronage, Klientel). Der Vor-
theil für die Bedürfnisbefriedigung wird dabei leicht durch Nachtheile für die ganz«
sociale Lage und für die geistige Freiheit des Volks aufgewogen. Eiu Punct, welcher
z. B. bei der Würdigung der caritativen Leistungen in der katholischen Kirche doch
mit ins Gewicht fällt.
3) Das System gereicht keineswegs immer Denjenigen, welche
ihm eine unentgeltliche Bedürfnissbefriedigung verdanken, zum
wirklichen nachhaltigen Vortheil. Ja, die Gefahr des Gegentheils
liegt öfters vor. Dadurch ergeben sich wesentliche ökonomische
und sittliche Bedenken.
Die eigene Thatkraft und vernünftige Selbsthilfe und Vorsicht erlahmen (Ge-
fahren bei der Armcnuuterstützung, bei der caritativen Beihilfe in ünglücksfalleir.
z. B. Untergrabung der Grundlagen richtigen Versicherungswesens). Ein von frei-
händlerischer Seite nicht mit Unrecht öfters hervorgehobeuer Punct, (so in Al. Meyer'»
Bemerkung über die grossartige private Wohlthätigkeit bei Gelegenheit des grossen
Meininger Brands von 1874, D. Handelsbl. 1874.) Faules Schmarotzen verbreitet sich
(Bettelei, Gefahren der kirchlichen, klösterlichen Unterstützungen). Eine Missleitung
der Arbeitskräfte kann die Folge sein (Eintritt Unbegabter in die goistigen Berufs-
arten bei Stipendienweseu u. dgl. m.). Der Werth der frei genossenen Vortheile
wird in den Augen der Geniessenden selbst herabgedrückt (Bedenken bei unentgelt-
lichem Unterricht).
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Carit. System. Beschränktheit seiner Function.
849
Allerdings sind alle diese Gefahren bei einer richtigen
Function des caritativen Systems zu vermeiden, insbesondere, wenn
das Princip der sorgfältigen Individualisirung bei der Zu-
lassung zu den Bedtirfnissbefriedigungen, welche das System ge-
währt, streng gewahrt wird. Aber von vorneherein ist es begreiflich
und alle Erfahrung bestätigt es, dass Fehler in dieser Beziehung
nicht immer vermieden werden und im Laufe der Zeit sich eher
vermehren als vermindern.
Z. B. bei Stiftungen, besonders, wenn die selbstverwaltenden Stifter dahingegangen
sind, und ganz allgemein, wenn die ursprünglich leitenden und vielleicht ganz berech-
tigten Ideen , welche die Anregung gaben , sich umgestalten oder verschwinden und
damit an Stelle der individualisireuden Leistung eine mechanische Handhabung über-
kommener Satzungen tritt: Gefahren bei allen auf religiöse Ideen, kirchliche An-
schauungen und auf die gehobene Stimmung einer verschwundenen Zeit gegründeten
Veranstaltungen des caritativen Systems. Wer z. B. die Stiftungsverwaltuug einer
alten, mit viel Stipendienfonds versehenen Universität kennt, wird zugestehen, wie
schwer cs ist, Fehler in der Vertheilung der Stipendien zu vermeiden.
4) Das caritative System bringt endlich besondere Gefahren
eines Verstosses gegen das ökonomische Princip, in Bezug auf
Verwaltungskosten u. dgl. mit sich.
Zumal in seinen dauerhaften Veranstaltungen; Misswirtschaft , Verschwendung
dann die Folge. (Mängel der Stiftungsverwaltung. Vgl. z. B. in Emminghaus’ Armen-
wesen S. 386, mit Berichten der badischen Landescommissäre über Ueberlingen).
Zweiter Hauptabschnitt.
Das Gebiet und die Function des gemeinwirthschaft-
lichen Systems.
1. Abschnitt.
Das gemeinwirthseliaftliche System Im Allgemeinen.
Insbesondere die freien Gemeinwirthschaften.
§. 340 [S. 269], Vorbemerkungen.
Litteraturnachwcis zu diesem Abschnitte s. o. §. 297, bes. Schäffle, a. a. 0.
Er unterscheidet (ges. Syst. II, 177 lf., 326 ff. uud mehrfach) bei der Hingebung die
Einseitigkeit und die Wechselseitigkeit, danach Liberalität und Soli-
darität. Zu letzterer rechnet er Gegenseitigkeitsvereine, ünterstützungsgenossen-
schaften, Standesgenossenschaften (Gewerkvereine u. a. in.). Alle diese auf einseitiger
und wechselseitiger Hingebung beruhenden freiwilligen Verbindungen bilden bei
Schäffle (II. 104) die eine Classc der Gemeinwirthschaften, zu denen dann
als zweite Classe die Z w an trs Verbindungen (Staat, Gemeinde, Corporationen) hinzu
treten. Die Gruppirung im Text trifft also nicht ganz mit dieser Schäfflc’schen
zusammen. Vgl. auch Schäffle, Soc. Körper III. 365 ff'. Die nahe Verwandtschaft
der Wirtschaften des caritativen Systems (auf einseitiger Hingebung beruhend) mit
einigen freien Gemeinwirthschaften habe ich im Text ebenfalls hervorgehoben. Es
giebt überhaupt Ueb er gangsformen und Grenzgebiete, die sich nicht streng in
das Schema fügen. Das gilt auch wieder von manchen freien Gemeinwirthschaften
$50 5. B. Organis. d. Yolksw.sch. 3. K. Gem.w.sch. Syst 2. H.-A. Gebiet. §. 340.
und Privatwirtschaften (z. B. Gegenseitigkeitsversicherung mit speculativer Versiche-
rung verbunden), sowie von freien und Zwangsgemeinwirthschaften.
Für die freien Gemeinwirthschaften ist sonst besonders auf die Speciallitteratur
Uber das ältere Gilde wesen, welches ehemals auch Rechtsschutzdienste mit
leistete, Zwecken der Religionsübung mit diente, dann über das neuere deutsche
Genossenschaftswesen (Erwerbs- und Wirthschaftsgenossenschaften), über Ge-
werkvercine und auch über das Versicherun gswesen auf Gegenseitigkeit
im Allgemeinen und neuerdings bes. über Arbeiterversicherungswosen zu
verweisen. Die principielle Stellung dieser Formen der Gcmeinwirthschaft in der
Organisation der Volkswirtschaft wird in dieser Litteratur allerdings nur ausnahms-
weise etwas genauer erörtert, wie z. Th. in Hub er’ s Schriften und im 2. B. des
Werks von Brentano Uber Arbeitergilden. Die meisten Schriften sind referierender,
technischer Natur und beschäftigen sich nur etwa mit Principienfragen in Bezug
auf den concretcn Gegenstand, den sie behandeln. Für nähere Litteraturangaben ist
daher auch auf die bezüglichen Abschnitte der Practischen Volkswirtschaftslehre,
bes. Büch er’ s Gewerbe- und Handelspolitik in diesem Gesammtwerk zu verweisen.
Vgl. für das Folgende etwa: V. A. Huber, Art. Association im Bluntschli’schen
Staatswörterb I, 456 — 500, ders., Reisebriefe aus Frankreich, Belgien und England,
3 B„ Hamb. 1S55. ders. in seiner Ztschr. „Concordia“, bes. 1. Heft, über d. all-
gemeine volkswirtschaftliche und sociale Bedeutung des Genossenschaftswesens, Leipz.
1861, auch H. 6 — 8. Schulze -Delitzsch, Associationsbuch für deutsche Hand-
werker und Arbeiter, Leipz. 1853 und öfter, ders., die Entwicklung des Genossen-
schaftswesens in Deutschland (Ausz. aus den Blättern für Genossenschaftswesen),
Berl. 1870, ders., die Genossenschaften in einzelnen Gewerbszweigen, Leipz. 1873,
ders., Jahresberichte über die auf Selbsthilfe gegründeten deutschen Erwerbs- und
Wirthschaftsgenossenschaften seit 1859 jährlich. — L. Brentano, die Arbcitergilden
der Gegenwart, 2 B., Leipzig 1871 — 72, bes. 1L, Kap. 1, 5. Ders., das Arbeits-
verhältniss gemäss dem heutigen Recht, Leipz. 1877 (vgl. darüber meine Recens. in
d. Jeu. Lit.ztg. 1878, No. v. 5. Mai); ders., Arbeiterversicherung, Lpz. 1878, ders.,
Arbeiterversicherungszwang, Berl. 1881. W. Hasbach, engl. Arbeiterversicheruugs-
wesen, Leipz. 1883, Bärnreither, die engl. Arbeiterverbände und ihr Recht. I.
Tüb. 1886. — G. Schönberg, Abh. Gewerbe und gewerbliche Arbeiterfrage in
B. II, 3. A. seines Handbuchs, auch für Litteratur. — Die einschlagenden Artikel
im Handwörterb. d. Staatswiss. (Genossenschaft. Gemeinwirthschaft von Gross u. A. m.).
G. Cohn, System I, bes 2. H. A. Kap. 2, ders., Ideen und Thatsachen im Genossen-
schaftswesen, Schmoller’s Jahrb. 1883. — L. Bamberger, die Arbeiterfrage
unter dem Gesichtspunct d. Vereinsrechts, Leipz. 1873. — Die Zeitschrift „Mitthei-
lungen der öffentl. Feuerversicherungsanstalten Deutschlands“, seit 1868, mehrfach
mit Aufsätzen Uber Principienfragen (öffentliche oder Actienanstalten). Meine Abh.
Versicherungswesen im Schönberg’schen Handb. B. III.
Für die geschichtliche Entwicklung des Genossonschaftsprincips, aller-
dings in der ihm von Gierke beigelegten ausserordentlich weiten Ausdehnung, was
jedoch für die principielle nationalökonomische Betrachtung der Wirtschaftsformen
und Systeme und der Bedeutung des Princips für die Organisation der Volkswirt-
schaft von besonderem Interesse ist. s. das grossartige Werk von Gierke, deutsches
Genossenschaftsrecht, 2 B., Berl. 1868 u. 1873. worin auch über die Entwicklung des
Gilden wesens Näheres. Vergl. darüber auch Wilda, Gildewesen im Mittelalter,
Berl. 1838, G. Schönberg, wirthschaftl. Bedeutung des Zunftwesens im Mittelalter,
Berl. 1868, Brentano I. Gildeu, Eiul.. Schmoller, Strassb. Tücher- u. Weberzunft.
Strassb. 1879, bes. S. 375 ff. , Schanz, z. Gesell, d. deutschen Gesellenverbände,
Leipz. 1876, Stieda, Entsteh, d. D. Zunftwesens, Hildebr. Jahrb. 27, 1 u. selbständig
1877, Pappenheim, altdänische Schutzgilden. Berl. 1886. K. Hegel. Städte und
Gilden der germanischen Völker im Mittelalter, 2 B., Leipz. 1891. Sohm, d. deutsche
Genossenschaft, Leipz. 1889, Gross, gilda mercatoria, Gött. 1883, ders., the gild
merchant, 2 vol., Oxf. 1890. Weitere Litteratur in Schönberg’s Handbuch und in
den regelmässig mit reichen Litteraturangaben versehenen Specialartikelu (Gewerbe,
Handwerk u. v. a. iu.) im Handwörterbuch der Staatswisseuschaften. Von beson-
derer Wichtigkeit ist die Entwicklung der Principicn der Freiheit („freie
Einungen“) uud des Zwangs iu diesem Genossenschaftswesen für die volkswirth-
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Gemeiuwirthsch. Syst, im Allgemeinen.
851
schaftlichc Betrachtung und speciell für das Verhältnis der freien und Zwangs-
gcmeinwirthschaften zu einander.
I. — §. 341 [150]. Die Aufgabe des gemein wirt-
schaftlichen Systems (§. 300) ist nach dem Vorausgehenden
einmal, Unvollkommenheiten, Härten, Disharmonien
auszugleichen, welche in der Bedürfnisbefriedigung des Volks
aus dem Walten des privatwirthschaftliehen Systems und insbe-
sondere der freien Coneurrenz hervorgeheu; sodann für die
Befriedigung der GemeinhedUrfnisse zu sorgen: Beides
weil und soweit als das privatwirthschaftliche uud das caritative
System nicht ausreichen. Es handelt sich also im gemeinwirth-
se haftliehen System um die Organisation eines richtigen Cor-
rectivdienstes neben dem privatwirthschaftliehen und eines
Ersatzdienstes statt dieses und des caritativcn Systems.
Regelmässig, aber, wie schon gezeigt, nicht ausnahmelos (§. 335),
wird dabei nach dem gemein wirthscha ft liehen Princip
in Bezug auf die Art der Production der Gemeingüter, die
Vertheilung der Erträge (Besoldungs- statt Lohnsystem), die Kosten-
deckung, die Zuführung der Güter an die Bedürftigen, die (generelle)
Entgeltlichkeit verfahren: daher nach Grundsätzen, welche principiell
von dem privatwirthschaftliehen und caritativen Princip ab weichen,
indem nach Gesichtspuncten der Billigkeit, Zweckmässigkeit, socialen
Nothweudigkeit u. dgl. ra. und daraus hervorgehenden Erwägungen
die Normen für die Regelung der genannten Verhältnisse festge-
stellt werden (§. 300).
Verwirklicht wird diese Aufgabe durch die einzelnen Gemein-
wirthschaften, welche wieder in der Form von Einzelwirthschaften
gebildet werden, zu dem Zweck, wesentlich nach dem gemein-
wirthschaftlichen Princip Vorgehen zu können, bzw. die Wahl
zwischen diesem und dem privatwirthschaftliehen (mitunter auch
dem caritativcn) zu haben, Combinatioueu zwischen den Principien,
z. B. in der Regelung des Entgelts, der Kostendeckung, vorzu-
nehmen (§. 335).
Von solchen Gemeinwirthschafteu sind nach dem Entstehungs-
grunde zwei wesentlich verschiedene Classen zu unterscheiden:
die freien und die Zwangsgemeinwirthschaften, deren
innere Verwandtschaft aber anderseits in vielen Puncten, u. A. in
der Regelung der Entgeltlichkeit und Kostendeckung
des gemeinwirthschaftlichen Productionsprocesses hervortritt.
852 3. B. Organis. d. Volksw.sch. 3. K. Gem.w.scb. Syst. 2. H.-A. Gebiet §. 342.
II. — §.342 [151]. Die freien Gemeinwirthschaften.
A. Wesen. Dieselben werden durch die freie That der bei
ihnen zunächst interessirten Privatwirthscbaften , bzw. deren Sub-
jecte gebildet und entstehen durch einen Vertrag derselben,
welcher die Uebernahine der Verpflichtung, der Gemeinschaft als
Mitglied beizutreten, die vereinbarten Pflichten zu übernehmen,
aber auch den Anspruch, die Mitgliedsrechte zu erhalten, zum Inhalt
hat. Es liegt ihnen demnach ein bewusstes Motiv des Vortheils zu
Grunde, oder m. a. W. sie beruhen, wie die Privatwirthscbaften, in
letzter Linie auch auf dem wirtschaftlichen Selbstinteresse, welches
die Privaten in der Vereinigung Kräfte und damit bessere oder in
manchen Fällen überhaupt erst mögliche Befriedigung bestimmter
Bedürfnisse gewinnen lehrt. Das Vorhandensein des Beweggrunds
des privaten Vortheils in diesen Gemeinwirthschaftcn schliesst
jedoch nicht das gleichzeitige Mitwirken socialer Gesichtspunete,
anderer egoistischer und gemeinnütziger Motive aus.
Vergl. oben die Vorbemerkungen zu diesem 5. Buche §. 297. Grade, weil nach
meiner Auffassung die Potenz, welche zur Bildung freier Gemeinwirtbschaften führt,
doch eine wesentlich andere als die in den Leistungen des caritativen Systems wirk-
same ist, schliesse ich mich der früheren Sch äffle’ sehen Gruppirung nicht ganz an.
Brentano’s Untersuchungen, a. a. ()., z. B. Arb.gildcn I, 12 IT., über die Entstehung
der alten Gilden und der neuen englischen Gewerkvereine gipfeln in dem llesultate, dass
besonders in Zeiten des Uebcrgangs, bei Auflösung alter Ordnungen, die schwächeren
Elemente, welche unter der Isolirung und der Desorganisation leiden, sich zu Gilden
zusammen thun. Die Gilden können hier als ein Beispiel freier Gemeinwirthschaften
gelten. Das Beispiel zeigt dann eben, dass das Interesse des Einzelnen doch der
letzte Entstehungsgrund solcher Vereinigungen zur Befriedigung gewisser Gemein-
bedürfnisse (Schutz, geordneter Gewerbetricb) ist und, wo und insoweit als Freiheit
für den Zusammentritt bestand, auch ehemals immer war, wie bei den ältesten kauf-
männischen und ilandwerkergildcn in Deutschland, und gegenwärtig wieder ist, wie
bei den heutigen facultativen gewerblichen Innungen, bei Arbeiter- und Arbeitgeber-
vereinen (Gewerkvereinswesen). Vergl. (iierke I, 180 und überhaupt daselbst §. 2G.
27 Uber die freie Einung, 37, 38 über die kaufmännischen Gilden und die Hand-
werkerzünfte verglichen mit §. 21 Uber die hofrechtlichen Genossenschaften. Das
Mitwirken des socialen, des gemeinnützigen Moments neben dem Einzel-Interesse ist
daneben gerade in der Geschichte der alten Gilden nicht zu verkennen. — Die „Ver-
tragstheorie“, welche jetzt beim Staate als aufgegeben gelten kann, ist bei den
freien Gemeinwirthschaften ganz richtig.
1) Dns Sclbstinteresse kann sich in den freien Gemein-
wirthschaften nicht in derselben Weise , wie im pri vatwirth-
scbaltlichen Verkehr, überhaupt nur eingeschränkter, auch in Folge
der Combination mit anderen Motiven, geltend machen.
Insbesondere muss die Privatwirtschaft, welche einer solchen Gemeinwirthschaft
beitritt, von vorneherein darauf verzichten, jenes Princip der speciellen, vollständigen
und genauen Entgeltlichkeit von Leistung und Gegenleistung, welches dem privat-
wirthschaftlichen Verkehr cigenthümlich ist (§. 304), in ähnlicher Strenge für die
Beziehungen zwischen sich und der Gemeinwirtschaft, zu welcher sie gehört, durch-
zuführen. Dieses Princip ist auch meist schon aus einem technischen Grunde, wegen
der mehr oder weniger sich zeigenden Incommensurabilität der gemeinwirthschaft-
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Die freien Gemeinwirthschaften. Wesen.
853
liehen Leistungen und des davon auf die einzelno betheiligte Privatwirtschaft ent-
fallenden Vorteils gegenüber den privatwirtschaftlichen Gegenleistungen unanwendbar.
Auch für die heutigen Erwerbs- und Wirthschaftsgenossenschaften. für Consum-, Roh-
stoff-, Magazinvereine, Volksbankcn u. s. w. gilt dieser Satz immer etwas.
2) Vermittelst des privatwirthschaftlicben Preisregu-
lators, An gebot und Nachfrage, lassen sich theils aus diesem
Grunde, theils weil die Gemeingüter für den Einzelnen überhaupt
nicht immer als Vortheile qualificirt werden können, theils weil
ihre Zuführung an die Bedürftigen genügend sicher gestellt sein
muss, die Beziehungen zwischen der betreffenden Gemein wirth-
schaft und den zu ihr gehörigen Privatwirtschaften, und dem-
gemäss auch die Bemessung der Gegenleistungen der letzteren
für die Leistungen der Gemeinwirthscbaft vielfach gar nicht regu-
liren. Es muss vielmehr ein anderes Entgeltlichkeits- oder Werth-
bestimmungsprincip nach der Natur auch der freien Gemeinwirth-
schaft und ihrer Leistungen obwalten: es werden Beiträge der
betheiligten Privatwirtschaften zur Bestreitung der Kosten der
Gemeinwirt schaft (also der Herstellungskosten ihrer Leistungen)
erhoben, diese Kosten mithin im Effecte auf diese Weise repartirt
oder umgelegt nach einem vereinbarten Maassstabe.
Dies tritt auch ganz äusserlich formell hervor bei gewissen Arten der Vereine
zur Gegenseitigkeitsversicherung, z. B. bei kleineren Hagelversicbernngsverbänden mit
Postnumerando-Zahlung der „Prämien“ nach Maassgabe der wirklich eingetretenen
Schäden.
Ein solcher Maassstab muss keineswegs und kann oftmals, wegen der Unmess-
barkeit oder des thatsächlichen Fehlens der Einzelvortheile , gar nicht der aus der
Gemeinwirthscbaft durch die einzelne Privatwirtschaft gezogene Vortheil sein, und,
wo diese Schwierigkeit selbst nicht entgegen steht, ist doch eine gleich genaue
Correspondenz der Einzclvortheile aus der Gemeinwirthscbaft und der Gegenleistung
der Privatwirtschaft in den Beiträgen an die Gemeinwirthscbaft, in der Art, wie sie
im priratwirthschaftlichen Verkehr erstrebt wird, nicht möglich. Denn es wird gar
nicht in jedem Einzelfall, wie bei freier Concurrenz, über das Verh<niss von Lei-
stung und Gegenleistung eine Bestimmung getroffen, sondern dies Verh<niss wird
generell, wie in einem Pauschalverfahren, regulirt. Daraus ergiebt sich, dass, wenn
auch der Vortheil der Privatwirtschaften das Motiv zur Bildung der Gemeinwirt-
schaft ist, dennoch das wirtschaftliche Selbstinteressc eine Einschränkung erfahren
und erdulden muss, namentlich in der Hinsicht, dass keine Bürgschaft für Gleich-
mässigkeit von Vortheil und Leistung oder von bestimmter Proportionalität beider bei
allen Mitgliedern besteht. Ein einfaches Beispiel, wie ein Leseverein mit festen
Mitglicdsbeiträgen (Kopf beitrag), aber tatsächlich ganz verschiedener Benutzung der
Lesegelegenheifen etc. des Vereins, Seitens der einzelnen Mitglieder, mag als Er-
läuterung des Gesagten dienen.
3) Auch die freie Gemeinwirtbsehaft, wenn auch nicht in
demselben Grade als die Zwangsgemein Wirtschaft, unterscheidet
sich von der Privatwirtschaft daher schon durch einen gewissen
„comm unistisc hen“ Characterzug (§. 293): an die Stelle des
privatwirthschaftlicben Princips der speci eilen Entgeltlichkeit
tritt das gemein wirtschaftliche Princip der generellen Ent-
854 3. B. Organis. d. Volksw.scn. 3. K. Gern. w. sch. Syst. 2. H.-A. Gebiet. §. 343.
geltlicbkeit von Leistung und Gegenleistung, an die Stelle des iso-
lirenden Princips des Lin zelinteresses tritt das vereinigende
Princip der Solidarität.
Hierbei wird nur eine gewisse Ucbereinstimmung des Gebrauchswerths der
Gesammthcit der Leistungen der Geincinwirthschaft und der Gesammtbeit der Gegen-
leistungen der Privatwirtschaften in den Beiträgen erstrebt. Die einzelne Privat-
wirthscbaft aber begnügt sich mit dem Bewusstsein, auch Vortheile, wenn auch bei
gleicher Gegenleistung (Beitrag) vielleicht nicht genau in demselben Maasse wie andre
betheiligte Privatwirtbscbaften, aus der Geincinwirthschaft zu ziehen, weil ihr das
etwaige Missverhältnis zwischen ihren Vortheilen und Leistungen nicht zu störeud,
die grösseren Vortheile der anderen nicht zu bedeutend erscheinen. An den ein-
fachsten Beispielen, wie auch hier wieder an einem Leseverein u. dgl. in., einem
Club lässt sich die Richtigkeit dieser Auseinandersetzung sofort leicht beweisen.
4) Ausserdem wirken aber in der Tbat auch andere Motive,
in manchen Fällen mächtiges sittliches Pflichtgefühl, reli-
giöse Beweggründe, Classen-, Standesrücksichten, gemeinnützige
Erwägungen u. dgl. m. öfters mit, wodurch sieh dann, ökonomisch
betrachtet, bei der auf solchen Motiven beruhenden Gemeinwirth-
schaft in ausgeprägterer Weise ein „communistiscber“ Cbaracter
ausbildet. Eine solche Gemcinwirtbschaft gleicht dadurch that-
sächlich, wenn auch nicht rechtlich, mehr den Zwangsgemein-
wirthschaften.
Auch geht sie unter Umständen in die Form einer Wirtschaft des caritativen
Systems über: die Beiträge werden etwa nach Wohlstands Verhältnissen auf die einzelnen
Betheiligten uingelegt, wobei die Reichen mit ihrer freien Zustimmung hoch, die
Aermeron vielleicht absichtlich gar nicht getrolfen werden, während auch sie, und in
gleichem Maasse wie jene, an den Leistungen der Gemeinschaft thcilnchmen. Dadurch
wird das privatwirthschaftliche Princip von Leistung und Gegenleistung immer weiter
eingeschränkt. Die Berufsgenossenschaften, die Kirchen als freie Verbände sind gross-
artige Beispiele dieser Entwicklung.
Alle solche Puncte, wie die hier behandelten , hängen mit den Grundprincipien
der Besteuerung eng zusammen. Es zeigt sich dabei aber am Besten, dass die
Steuerprincipien nicht nur eine finanzielle, sondern stets auch eine social-
politische, allgemein-? olkswirthschaftliche Seite haben, die bisher viel zu
wenig beachtet worden ist. Erörterungen Uber diese Principien gehören deshalb nicht
nur in die Finanzwissenschaft, sondern in den grundlegenden Theil der ganzen
Nationalökonomie , wie andrerseits in die rechtsphilosophische (naturrechtliche)
Analyse des Staats und seiner principiolleu Stellung zum Privateigenthum, s. z. B.
Trendelen hu rg, Naturrecht, §. 150. — Von diesem Gcsichtpuncte aus habe ich
die bezüglichen Fragen in der Finanzwisscnschaft behandelt (vgl. I, 3. A., §. 27 und
bes. ß. II. GebUhrenlchre und allgemeine Steuerlehre). S. auch Neumann, pro-
gressive Einkommensteuer, S. 47 U. und dessen weitere Erörterungen in dem Buch
Uber die Steuer und in seinen hierher gehörigen wichtigen und werthvollen Aufsätzen
über Steuerprincipien und Werth.
B. — §. 343 [152], Das Gebiet der freien Gemeinwirtb-
sehaften ist:
1) vornemlicli dasjenige der gesellschaftlichen oder
ClassengemeinbedUrfnisse (§. 330).
Die hier obwaltenden Interessen eignen sich in der Regel nicht für die Wahr-
nehmung durch Zwangsgemeinwirthschaften , öfters verbieten sie dieselbe sogar, weil
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Freie Gemeinwirthschaften. Gebiet.
855
sie nicht Interessen der ganzen Bevölkerung eines Staats, einer Gemeinde u. s. w. sind.
Aber geschichtlich haben mehrfach, z. B. in dem hochwichtigen Falle der
Kirchen, Zwangsgemeinwirthschaften auch hier fungirt. Die Ersetzung der letzteren
durch freie Gemein Wirtschaften kann alsdann das Postulat werden, dessen Verwirk-
lichung freilich gegenüber altgewohnten Verhältnissen Schwierigkeiten linden und für
die ganze Gemeinwirthschaft kritisch werden kann, wie sich bei den Kirchen zeigt.
Auch gewerbliche Verbindungen, wie die Zünfte, Arbeitervereine (Gewerkvereine)
sind hervorzuheben. Uebergänge in Zwangsverbindungen sind dabei gleichfalls vor-
gekommen, indem z. B. der Beitritt eine Bedingung der Befugniss zur Ausübung des
Gewerbebetriebs wird (Zünfte).
2) Ausserdem können auch einige der oben (§. 328, 329) ge-
nannten örtlichen und zeitlichen Gemeinbedürfnisse, selbst
specielle Rechtsschutzbedürfnisse (z. B. Schutz wacheu-Organi-
sation für Sonderzwecke) durch freie Gemeinwirthschaften passend
wahrgenominnn werden.
Wichtigere und allgemeiner vorkommende Fälle dieser Art liegen vor im Gebiete
des Versicherungswesens (Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit, gegen Feuersgefahr,
auf den Todesfall, Lebensversicherung. Begräbnisscassen, Wittwen- und Waisencasscn,
Rentenversicherung, Invaliden- und Alterspension, freie Arbeiterversicherungscassen),
des Credit- und Bankwesens (Pfandbrief-Institute des Grundbesitzes, sog. Volksbanken
nach dem Schulze’schcn Muster, RaiUeiseu’sche Darlehnscassen), des Communicatious-
und Transportwesens u. dgl. m. (Stras^enanlagen von Grundbesitzervereinen; Omnibus-
linien von freien Vereinen nächst interessirter Personen ; Schulvereine ; — Genossen-
schaften für Wohnungsbescbafftiog).
Gemeinde, Kreis und Staat, d. h. eben die wichtigsten
Zwangsgemein wirthschaften einer-, die sp e cu 1 at i ve n
Erwerbsgesellschaften (Actiengesellschaften) andrerseits lassen
freilich den freien Gemeinwirthschaften hier sowie auf dem Gebiete
der Veranstaltungen für wichtigere gesellschaftliche Gemeiubedürf-
nisse oft nur einen kleinen Raum übrig.
Ein characteristisches Beispiel ist bei uns gegenwärtig die Lage im Versicherungs-
wesen auf Gegenseitigkeit (s. meine Abh. im 3. B. von Schönberg ’s Handb. 3. A ,
S. 972). Das neuerdings sogen. Gebiet der „socialen Selbsthilfe“ gehört im
Uebrigen priucipiell vornemlich den freien Gemeinwirthschaften, nur dass Uebergänge
in Privatwirtschaften auch hier Vorkommen (§. 304).
Nach einer ein für allemal gütigen Formel lilsst sich die
Sphäre der freien Gemeinwirthschaften gegenüber derjenigen der
eben genannten beiden anderen Wirtschaftsformen und der ge-
wöhnlichen Privatwirtschaften natürlich nicht bestimmen. Die
Aufgabe in diesem speciellen Falle ist dieselbe wie bei der Com-
bination der drei Wirtschaftssysteme überhaupt (§. 320). Die
concreten Verhältnisse müssen entscheiden. Daher tritt gesell icht-
lich und örtlich auch viel Veränderung, Wechsel der Wirt-
schaftsformen auf diesem Gebiete ein.
C. — §. 344 [153]. Die juristische Form der freien Ge-
meinwirthschaften hängt vom geltenden Rechte ab. Sie ptlegt bei
uns gegenwärtig theils die freiere des Vereins, teils die
856 ». B. Organis. d. Yolksw.sch. 3. K. Gem.w.scb. Syst. 2. H.-A. Gebiet. §. 345.
strengere der Corporation zu sein. Es können aber auch
durch das Recht ganz besondere juristische Formen für die
Zwecke des freien Gemeinwirthschaftswesens geschaffen werden,
wie z. B. im Falle der neuen deutschen Erwerbs- und Wirthschafts-
genossenschal'ten, des Arbeitervereinswesens (Gewerkvereine).
In privat rechtlich er Beziehung ist alsdann von besonderer Wichtigkeit, ob
die Mitglieder der freien Gemeinwirthschaft solidarisch für letztere haften, bezw.
bürgen, wie bei den genannten deutschen Genossenschaften bis zur neuesten Gesetz-
gebung (von 1889). oder ob das Mitglied mit der Zahlung seiner Einlage oder seines
Beitrags (Umlage), oder etwa eines Mehrfachen davon seiner Verbindlichkeiten gegen
die Gemeinwirthschaft. daher auch eventuell gegen deren Gläubiger ledig ist. Diese
und die übrigen Vorschriften des Kechts Uber die Bildung, die innere Einrichtung,
die Vermögeusverhältnisse, die äussere rechtliche Stellung und die wirtschaftliche
Verkehrsfähigkeit der Vereine, Genossenschaften, Corporationen sind daher für das
freie Gemeinwirthschaftswesen mit entscheidend , hemmen oder fördern seine Ent-
wicklung. begünstigen oder schädigen sein Gedeihen und seine Function in der Volks-
wirtschaft. Die Bemühungen Sch ulzc-Delitzsch ’s u. A. um eine zweckmässige
p ri v at rec ht 1 ich c Stellung für das neuere deutsche Genossenschaftswesen zeigen iD
einem guten Beispiel dio hohe Bedeutung dieses rechtlichen Moments für die Bildung
freier Gemcinwirthschaften. (Norddeutsches Gesetz über diese Genossenschaften vom
4. Juli 18f»S. Deutsches Reichsgesetz vom 1. Mai 1889 mit uunmehr drei verschie-
denen Arten der Haftpflicht eingetragener Genossenschaften, mit unbeschränkter Haft-
pflicht. mit unbeschränkter Nachschusspflicht lind mit beschränkter Haftpflicht, nach
§. 2 des Gesetzes.) Schu lzc-Dclitzsch. Gesetzgebung Uber die privatrechtliche
Stellung der Erwerbs- und Wirthsehaftsgcnossenschaften , Berlin 1869. — üeber die
englischen Gewerkvereine (Trade-Unions) s. Brentano, a. a. 0. und Jan nasch, in
der Zeitschr. f. Schweiz. Statistik ^auch selbständig'), 1871. Ueber die deutschen Be-
strebungen zur Fortbildung des Vereinsrechts, insbesondere in Betreff von Vereinen der
Arbeiter und Arbeitgeber (Gesetzentwuif im deutschen Reichstage 1872) s. die auf der
Seite der Gegner dieser Gesetzgebung stehende in §. 336 gen. Schrift von L. Bam be rge r.
Aehnlicho Bestrebungen neuerdings (1892). aber noch nicht legislativ erledigt.
5. auch dio Verhandlungen des Vereins für Socialpolitik zu Frankfurt a. M. i. J. 1890.)
Den freien Gemeinwirtbschaften eine passende Recbtslorm und
Rechtsstellung zu verschaffen, ist namentlich auch deshalb von
grosser v o 1 k s wirtschaftlicher Wichtigkeit, weil alsdann das
privatwirthschaftliche System leichter richtig ersetzt, das caritative
passend ergänzt und dadurch Gebiet und Function der sonst noth-
wendigen Zwangsgemeinwirthschaften in oft erwünschter Weise
eingeschränkt werden können.
2. Abschnitt.
Die Zwangsgemeinwirthschaften.
§. 345 fS. 276J. Vorbemerkungen. Es entspricht nur dem Character der
neueren Volkswirtschaftslehre der physiokratischen und Smith’schen Richtung, wie
anderseits der parallel gehenden und genau correspondirenden Entwicklung der
neueren Verwaltungslehre unter den Einflüssen der Kant’schcn Rechts- und Staats-
philosophie, dass es an principicllen Erörterungen über den Zwang in der Volkswirt-
schaft fast ganz fehlt, und zwar nicht allein in der sog. theoretischen, sondern sogar
in der practischcn Nationalökonomie oder in der sog. Volkswirthschaftspolitik , in
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Die Zwangsgemeinwirthschaften. Vorbcmerkuugeu. $57
welcher doch das wohl oder übel stattfindende Eingreifen des Staats die Frage nach
der principiellen Berechtigung des Zwangs nahe legen musste. Diese Frage hängt natür-
lich auf das Engste mit derjenigen nach der richtigen Function des Staats in und für
die Volkswirthschaft und demgemäss mit der Frage nach den Grenzen der Staats-
thätigkeit auf diesem Gebiete zusammen. Eingehende Untersuchungen darüber fehlen
in der Volkswirtschaftslehre ebenfalls viel zu sehr, während die Resultate der rechts-
philosophischen Forschungen und derjenigen der theoretischen Politik keineswegs immer
in der Nationalökonomie einfach anzunehmen sind, grade weil sie die Ökonomische
Seite zu wenig beachten. Soweit die Frage vom Zwangsprincip iu der Volkswirthschaft
mit derjenigen von der richtigen volkswirtschaftlichen Stellung und Aufgabe des Staats
überhaupt zusammenfällt, ist auf das nächste Buch 6 und auf die litterarische Vor-
bemerkung dazu zu verweisen (§. 352).
Die bedeutendsten Erörterungen über das Zwangsprincip spcciell , nament-
lich auch über die Grenzen, iu welchen auch nur der Zwang vom Staate in der
inneren Verwaltung angewendet werden darf, sind in den Werken über Polizei-
wissenschaft oder , wie diese Disciplin neuerdings richtiger genannt wird , über
innere Verwaltungslehre enthalten. Die ältere Polizei Wissenschaft der sogenannten
Wohlfahrtsstaatsthcorio oder der Wo 1 ff’ sehen Rechtsphilosophie hat dein Character
dieser Philosophie und demjenigen der mercantilistischen Theorie und der Staatspraxis
des Zeitalters des aufgeklärten Despotismus gemäss nur viel zu allgemein auf den
Zwang grade auch im Wohlfahrts- und Culturinteresse , ja selbst zu Zwecken der
individuellen Moral und Religiosität recurrirt und dadurch begreiflicher, aber nicht
durchaus berechtigter Weise die „Polizcithätigkeit“ in der inneren und in der
volkswirtschaftlichen Verwaltung theoretisch und practisch in Misscredit gebracht.
Den Physiokratcu und A. Smith auf dem volkswirtschaftlichen , der Kaut 'scheu
Rechtsphilosophie auf dem rechtsphilosophischen und politischen Gebiete ist die Reaction
gegen die von Chr. Wolff und der Rechtsphilosophie und Polizeiwissenschaft seiner
Zeit gebilligte oder selbst geforderte maasslose Ausdehnung der Staatsthätigkeit und
sogar des Zwangs, zuerst in der Theorie, nach und nach auch in der Praxis zu ver-
danken gewesen. Aber diese Reaction ist viel zu weit gegangen. So berechtigt das
Forschen nach Grenzen der Staatsthätigkeit und des Zwangs speciell war, so not-
wendig Garantieen für die Innohaltung der jeweilig gesetzlich bestehenden Grenzen
von der Theorie gefordert werden mussten, so einseitig war die alleinige Betonung
des Rechtsschutz-Zwecks des Staats und so bedenklich war es, eigentlich den ganzen
Inhalt der inneren und volkswirtschaftlichen Verwaltung preis zu geben. Darin lag
ein unverkennbarer Rückschritt gegen die Wohlfahrtsstaatstheoric, der theoretisch
und practisch nachteilig genug gewirkt hat. Die physiokratisch-Smith’sche National-
ökonomie und die Kant'schc Rechtsphilosophie haben vereint hier nur zu entgegen-
gesetzten Einseitigkeiten wie der Mercantilismus und der politische Eudämonismus
geführt. Dadurch ging der Blick für die Unentbehrlichkeit des Zwangsprincips auch
in der Volkswirthschaft verloren.
Die Aufgabe, welche in der Wissenschaft von der letzteren, in der Politischen
Oekonomie vorliegt, ist wesentlich dieselbe, welche in der auf die neuere organische
und historische Staatsauffassung begründeten Inneren Vcrwaltungslehre zu lösen ist
und welche L. Stein doch auch R. v. Mohl gegenüber in seinem System der Ver-
waltungslehre so grossartig gefördert hat. Aus der Theorie des Wohlfahrtsstaats ist,
wie Stein die Aufgabe für die Innere Verwaltungslehre formulirt, der Inhalt der
Verwaltung zu entnehmen (s. auch oben §. 315, S. S10). Mau kann ähnlich sagen,
aus dieser Theorie und aus der mercantilistischen Theorie und Praxis ist die prin-
cipielle Berechtigung der umfassendsten Staatsthätigkeit in der Volkswirthschaft und die
gleiche principiellc 'Berechtigung des Zwangs in volkswirtschaftlichen Verhältnissen
zu entnehmen: der Grundsatz, dass die Volkswirthschaft, zumal fortschreitender Cultur-
völker, auch Staatswirthschaft ist und immer mehr werden muss (Rodb er tu s, s. oben
§. 150 11.). Aus der Kant’schen Rechts- und Staatsphilosophie hat dio Verwaltungs-
lehre dagegen das Ancrkcnntniss principieller Not h Wendigkeit einer verfassungsmässig
festgestellten und durch geeignete Organe mittelst eines geeigneten Verfahrens (Ver-
waltungsrechtspflege) geschützten Grenze zwischen Staats- und Privatthätigkeit und
einer Grenze des Zwangs zu holen. Aehnlich muss wieder dio Volkswirtschaftslehre
aus jener Philosophie und aus der physiokratisch-Smith’schen Nationalökonomie die
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858 5. B. Organis. d. Volksw.sch. 3. K. Gcm.w.sch. Syst. 2. H.-A. Gebiet. §. 346.
Lehre von der principiellen Berechtigung der Privattbätigkeit und von der Noth-
wcndigkeit einer principiellen Beschränkung des Zwangs aufnehmen. Zwischen dein
Staat und dem Individuum aber bedarf es in der Volkswirtschaft der Zwischen-
glieder, welche theils in den freien Gemeinwirthschaften, theils in den übrigen Arten
der Zwangsgcmeinwirthschaften (neben dem Staate) oder den politisch sogen. Selbst-
verwaltungskörpcrn zu finden sind. Die Politik, die Verwaltungslehre und die Poli-
tische Oekonomie verdanken hier der Gneist'scben Lehre von der Selbstverwaltung
die bedeutendste Förderung. Speciell über das Zwangsprincip in der inneren Ver-
waltung, d. h. eben über die Polizei, welche das Zwangsmoment in aller Verwaltung
darstellt, s. R. v. Mo hl, Polizei wiss., 3. Auf!., Tüb. 1886. I, §. 7, namentlich aber
L. Stein. Verwaltungslchre I (1. Aufl.), 196 fT., II. 62 fF., IV, Einl. 1 fL, z. Th.
1 — 88. Vgl. auch Ahrcns, Naturrecht II, §. 60, bes. S. 61 ff. S. sonst besonders
wieder Sch&ffle an d. in den Vorbemerkungen zu diesem 5. Buche, §. 297, S. 761
gen. Stellen s. Syst, und im Soc. Körper III, 36; ff. Passim G. Cohn. Syst. I,
2. H.-A., bes. Kap. 2; dcsgl. passim Sax, Grundlegung, bes. Abschn. II (collec-
tivistisclic Zwecksetzungen), v. Ehering, Zweck im Recht, I, Kap. 8.
I. — §. 346 [154]. Wesen. Die zweite, ungleich wichtigere
Classe der Gemeinwirthschaften, von wahrhaft fundamentaler Be-
deutung für den Aufbau der ganzen Volkswirtschaft, sind die
Zwangsgcmeinwirthschaften (§. 300).
Sie beruhen auf zwangsweisem Eingreifen einer mit hin-
länglicher Macht ausgestatteten Autorität, in letzter Linie immer
des Staats oder des Inhabers der „öffentlichen Gewalt“
in die Sphäre der übrigen Einzelwirtschaften, insbesondere der
Privatwirtschaften, oder m. a. W. auf der „Bewältigung der Ge-
sellschaft durch den Staat“, auf der Beugung des wirtschaftlichen
Selbstinteresses der Individuen, soweit notwendig und nicht andere
Motive schon hinlänglich mächtig dieses Selbstinteresse eiuschränkeu
und zurlickdrängen, unter die Interessen der Gemeinschaft, unter die
Zwecke der menschlichen Gesammtbeiten. Diese Zwecke lassen
sich nur zum Theil unter den Begriff des Vorteils (Interesses) des
Einzelnen bringen. Sie betreffen überwiegend Existenzbedingungen
der Gattung und des Einzelnen als Mitglieds der Gattung, Eut-
wicklungsbedingungen der ganzen Volkswirtschaft und auch des
privatwirthschaftlichen Systems in ihr, endlich sittliche Zwecke
der Gesammtheit wie des Einzelnen, woraus sich für letzteren
Pflichten gegen die Gesammtheit, speciell gegen den Staat ergeben.
Die Fürsorge für die wichtigsten Gemeinbedürfnisse (§. 327 ff.) ist
nur durch die Zwangsgemeimvirtbschaften zu erlangen.
Siehe für Weiteres schon oben die Ausführungen §. 300 ff, wo auch die auf
die Bildung der Zwangsgeineinwirthschaftcn hindrängenden Momente berücksichtigt
worden sind.
Gncist’s Schriften über englisches Verfassungs- und Verwaltungsrecht, sowie
seine mehr dogmatischen Schriften auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts sind für
das leitende Princip, die Bewältigung der Gesellschaft durch den Staat, hier vor allen
zu nennen. Vergl. u. A. Gneist, Rechtsstaat, Berlin 1872, bes. Abschn. I, II. IX,
130 ff, 2. Aufl. 1879. Gedanken der Stahlseilen Rechtsphilosophie kommen übrigens
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Die Zwangsgemeinwirthschaften. Wesen.
859
in der Theorie der Zwangsgemeinwirthschaften auch wieder vielfach zu Ehren („Auto-
rität, nicht Majorität"). — Die Zurückführung der Zwangsgemeinwirthschaften , voran
des Staats als Collectivwirthschaft, auf den Gemeinsinn habe ich oben schon in
den Vorbemerkungen zu diesem Buche, S. 763 als m. E. unhaltbar und nur auf einer
Fiction beruhend bezeichnet. Darin, dass die von ihm sogen, „öffentlichen“
Wirtschaftsorganisationen nicht auf den Gemeinsinn, sondern auf die öffentliche
Gewalt zu begründen sind, stimmt Schäffle mir jetzt bei, Soc. Körper III, 369.
S. auch Knies. Polit. Oekon.. 2. A., S. 223 lf.
Aber im Uebrigen sind es nicht neuere, sondern uralte Gedanken und Principien,
an welche auch die Politische Oekonomie hier wieder anzuknüpfen hat: antike
Anschauungen, trotz und wegen unserer modernen atoinistisch-iudividualistischen
Staatsauffassung und Voranstellung der Berechtigung des Einzelnen. Die Grund-
gedanken in Aristoteles’ Politik, ja selbst in Plato’s Staat hinsichtlich der
naturnoth wendigen Unterordnung des Einzelnen unter und Einordnung
desselben in den Staat sind in der That, richtig verstanden, nicht nur berechtigt für
altgrichische Verhältnisse, sondern unbedingt wahr, nicht Sätze von histo-
rischer Relativi tät, sondern von logischer Absolutheit. Die Nationalökonomie
hat dies viel zu sehr aus den Augen verloren. Namentlich das I. Buch von Aristoteles’
Politik, bes. Kap. 2 (ed. Bekker) darf daher auch hier nicht unerwähnt bleiben. Jene
berühmten Sätze: d/o txuou nokiq <pvoti toxiv, f-i'ntQ xul ul tiqGkcu xoivwviat
(paveQov oxi (pvoFt i/ nokiq £axl, xul oxi ttv&Qionoq ipvoti Txokixixov
£u)ov, xul o unokiq ötu ipvoiv xul ov 6iu x v%f]v i'/xoi ipuvkig toxiv ij
XQfixxiov r) uv&QiüTxoq, und endlich: bxi /uv ovv i/ 7t 6kiq xul ipvoet %u)
TLQOTtQOV ij txuoxoq örjkov' £ l yug fit/( ovxupxr/q txuoxoq yuiyioiktfg, b/toimq
roiq Ükkoiq pit()toiv t'Sti TiQ^q xo okkov ' o öh /ii/ dvvu/itvoq xoivioveiv fj
/jiq&tv Afo/ievoq di- avtuQXtiuv, nvO-iv /ttpoq noktutq, woxe tj iktjQ/ov r] &tb q
(Arist. de re publ. ed. min. Bekker p. 3, 4). — diese Sätze sind sämmtlich auch
Fundamen talp rin cipion für die Volkswirtschaftslehre.
II. — §. 347 [255]. Unter den einzelnen Arten der
Zwangsgemeinwirthschaften ist
1) der Staat die weitaus bedeutendste.
Er erscheint als Aufstellcr, Fortbildner (nach und neben dem Gewohn-
heitsrecht) und Garant der Rechtsordnung, insbesondere auch der Rechts-
basis des privatwirt h sc haftlichen Verkehrs (§. 305), er ist ferner der gröss t e
Kreis örtlicher und zeitlicher Gcmoinschaftsbeziehungcn und der daraus
hervorgehenden Gemcinbedürfnisse, er nimmt nach der geschichtlichen Entwicklung
vielfach Theil an der Fürsorge für gesellschaftliche Gemcinbedürfnisse und
überwacht die Einrichtungen und Maassregeln, welche die freien Gemein wirt-
schaften zur Befriedigung dieser gesellschaftlichen Bedürfnisse, alle Wirthschaften,
auch die Privatwirtschaften und caritativcn, zur Befriedigung aller Bedürfnisse
überhaupt trelfen. Die Function des Staats in der Volkswirtschaft wird im folgenden
Buche noch näher dargelegt werden.
2) Neben dem Staate fnngirt die (Orts-) Gemeinde.
In mehr oder weniger selbständiger, übrigens geschichtlich mannigfach wech-
selnder Sphäre als zweites Hauptglied der Zwangsgemeinwirthschaften, der wichtigste
Kreis der engeren räumlichen Gemeinschaftsbeziehungen.
3) Zwischen der Gemeinde und dem Staate stehen andere
allgemeinere Zwangsverbände (Selbstvervv altungskörper
höherer Ordnung).
In vielfach wechselnder Form und Wirkungssphäre, bald mehr nur als räumliche
Abteilungen der staatlichen Zwangsgcmeinwirthschaft. bald als mehr oder weniger
selbständige räumliche Zwangsgemeinwirthschaften : der Kreis (Grafschaft), der Bezirk,
die Provinz (Herzogthum), auch der Particularstaat (Einzelstaat, Kanton) im
Bundesstaat (Reich). Alle diese Körper fuhren als politisch-administrative
selbständige Einheiten den Namen „Selbstverwaltungskörper".
#(50 5. B. Organis. d. Volk$w.sch. 3. K. Gem.w.sch. Syst. 2. H.-A. Gebiet §. 345.
4) Aber auch für einzelne bestimmteGemeinschafts-
zwecke aus der Kategorie der örtlichen und der gesellschaft-
lichen Gemeinbedlirfnisse bat die geschichtliche Entwicklung
Zw an gs gemein Wirtschaften gebildet und bestehen deren gegen-
wärtig mitunter noch in den Culturstaaten oder treten neue Formen
solcher Gemeinwirthschaften hervor.
Das grossartigste schon erwähnte geschichtliche Beispiel sind die Kirchen
deren Umbildung von der Zwangs- in die freie Gemeinwirthschaft seit Jahrhunderte»
eines der grössten Probleme der Culturvölker ist. Auf dem Gebiete des Ver-
sicherungswesens, des Bankwesens liegen in den Assecuranzvereinen aut
Zwangsbeitritt (ältere Immobiliarfeuerassecuranz: Pensiouscasseu ; Wittweucasaen ftr
bestimmte Stände, Beamte; manche Arbeiterkranken- und Invalidencassen ; Knapy-
schaftscasscn im Bergbau; neuestes obligatorisches Arboitervcrsicherungs wesen —
Kranken-, Unfall-, Alters- und Invaliditätsversicherung); ferner in den öffentliche;
Banken, deren Benutzung zur Zahlungsvcrmittlung für die Kaufleute eines Orte;
obligatorisch war (ältere Girobanken), Beispiele von Zwangsgemeinwirthsckafte'
vor, welche bis in unsere Gegenwart hineinragen oder neu hinzugekomnien sind. Die
mittelalterlichen Hand wcrkerzUufto und kaufmännischen Gilden trugen eben-
falls wesentliche Merkmale solcher Gemeinwirthschaften an sich. (Siehe Gierke.
Geoosscuschaftsrecht I, 38, bes. Abschn. III, die Zunft als Gemeinwesen im Kleine:..
S. 383 ff.; eine Menge dieser Functionen der Zunft gestatten es, ihr den Charactei
einer Gemein- und Zwangsgemeinwirthschaft im Sinne des Textes beizulegen. Vergl
auch Schönberg und Sch mol ler über Zunftwesen a. a. 0.) Weiter bilde;
I) ei c h bau verbände und mancherlei ältere und neuere Vereine für landwirt-
schaftliche Meliorationen (Ent- und Bewässerungsanlagen u. dgl. in.) Beispiele
von Zwangsgcmeinwirthschaften für specielle Zwecke, welche heutzutage eine gro*e
practische Bedeutung haben. Auch die älteren Agrarverhältnisse, besonders bei
den germanischen Völkern, wie sie sich aus dem Gemeiueigenthum am Boden in
Feldgemeinschaft und Flurzwang entwickelten, haben mancherlei Gestaltungen mit sich
gebracht, welche mitunter Merkmale von Zwangsgemeinwirthschaftei» wahrnehatets
lassen. Beispiele vou Zweckverbänden für einzelne örtliche Gemeinbedürfnisse sied
endlich Wege-, Armen-, Sch ul verbände u. a. m.
III. — §. 348 [156, 157], Begründung des Zwangs-
nioments. Die wichtigste und schwierigste Frage, sowohl des
Princips als der practischen Anwendung und Durchführung. Man
wird dahei unterscheiden müssen: einmal den Zwang als absolute
Kategorie, allgemein oder wenigstens in den Hauptlallen, sodann
den Zwang als histori sch -rechtliche Kategorie und datnii
als ein Erziehungsmittel, eventuell mit der Tendenz, jeden-
falls mit der Möglichkeit, sich als solches durch seine Einwirkung
auf Sitte, Gewohnheit, Motivation der Bevölkerung oder der Kreise,
auf welche er angeweudet wird, allmählig unnöthig zu machen.
1) Staat und Gemeinde, dann Kreis, Bezirk, und Provinz
sind diejenigen Zwangsgcmeinwirthschaften, bei welchen für irgend
absehbare Zeit und unter allen in Betracht kommenden Verhält-
nissen der Zwang unentbehrlich erscheint. Der Zwang ist bei
ihnen also ein absolutes Existenzmoment, die Zwangsgemein-
wirthschaft mit Rücksicht auf sie eine absolute („natürliche“)
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Begründung des Zwangsmoments. göl
ökonomische und rechtliche Kategorie der Wirthscbaften in der
Volkswirtschaft.
Aber so doch auch nur im Ganzen, auf den Hauptge-
bieten der Function dieser Körper, nicht auf jedem einzelnen,
von ihnen etwa in ihre Thätigkeitssphäre gezogenen Gebiet, wo
vielmehr, soweit überhaupt Zwang, derselbe eventuell recht wohl
zu der zweiten, der historisch rechtlichen Kategorie gehören kann.
Ausserhalb der Doctrin des Anarchismus wird diese Auffassung wohl kaum
ernstlich bestritten, wenn auch im Socialismus Opposition gegen den Zwang im heutigen
„Classenstaat", gegen einzelne Zwangseinrichtungen desselben vorkommt. Dass in
einem socialistischen Volkswirthschaftssystera (im „Socialstaat“, ein freilich von
den Doctrinären des neuesten Socialismus verpönter Ausdruck) der Zwang vollends
eine Rolle und eine viel grössere und peinlichere als im heutigen Volkswirthschafts-
system und Staat spielen müsste, möchte zum Gewissesten dessen gehören, was man
psychologisch vom socialistischen System als einer „Zukunftssache“ vermuthen muss,
vgl. auch oben §. 38.
2) Bei der vorgenannten vierten Gruppe der Zwangsgemeinwirth-
schaften erscheint der Zwang dagegen nicht in demselben Maasse
als Existenz- und Gedeihensbedingung. Der Uebergang dieser
Wirthscbaften in freie Gemein wirthschaften und umgekehrt letzterer
in Zwangsgemein wirthschaften ist geschichtlich vielfach vorgekommen.
Die Hauptfrage ist daher hier immer, ob und inwieweit über-
haupt Zwang platzgreifen soll: eine niemals allgemein, sondern
nur nach den concreten Umständen zu entscheidende, also eine
örtlich und geschichtlich relativ zu beantwortende Frage.
Die Zwangsgemeinwirthschaften der vierten Gruppe, das Zwangs-
moment bei ihnen, sind daher nur historische Kategorieen des
Wirtschaftslebens : das Zwangsmoment ist bei ihnen nicht all-
gemein, sondern nur bedingungsweise notwendig, berechtigt
und zweckmässig und zwar dann, wenn die Bedingungen wesent-
lich bei ihnen ebenso liegen, wie in den Hauptfallen bei den natür-
lichen und notwendigen Zwangsgemeinwirthschaften des Staats,
der Gemeinde u. s. w. (§. 350).
Im Weiteren möchten folgende drei Kategorieen von Fällen
zu unterscheiden sein:
a) Historisch relativ, als Erziehungsmaassregel erscheint
der Zwang namentlich da und dann begründet, wenn das privat-
wirthschaftliche Selbstinteresse noch zu mächtig ist, aber einer
allmähligen Einschränkung durch Erziehung, Gewöhnung, Sitte
muthmaasslich entgegengeführt werden kann; ferner wenn es den
Privatwirtschaften noch an einem richtigen Verständniss ihres
durch Vereinigung am Besten zu wahrenden eigenen Interesses
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Theil. Grundlagen. 55
862 5. B. Organis. d. Volks w.soh. 3. K. Gem.w.sch. Syst 2. H.-A. Gebiet. §. 348.
fehlt, dies Verständnis aber gewonnen werden kann; endlich wenn
auch der erforderliche sittliche Gemeinsinn fehlt, aber auch dessen
Ausbildung und überhaupt die Erweckung und Wirksamkeit anderer
richtigerer und besserer Motive für erreichbar gelten kann. Nur
solange und in dem Maasse als in allen diesen Beziehungen hemmende
Missstände bestehen, so dass ohne Zwang die Bildung der unent-
behrlichen Gemeinwirtbschaften unterbleiben oder letztere nicht ge-
nügend fungiren würden, wird hier mit Recht zum Zwang ge-
griffen werden.
b) Schwieriger ist die Entscheidung darüber, ob man den
Zwang als historisch-relativ oder als nach der menschlichen Natur
wahrscheinlich stets nothwendig bezeichnen soll, in folgenden,
practisch wichtigen Fällen. Die Natur jeder und vollends der ge-
nannten, auf Zwang beruhenden Gemeinwirthschaften bringt es
unvermeidlich mit sich, dass die einer Gemeinwirthscbaft ange-
hörende Privatwirtschaft vielfach ihr specielles Interesse theils
gar nicht, theils wenigstens nicht in gleicher Weise wie im privat-
wirthschaftlichen Verkehr gewahrt sieht. Was hierüber im vorigen
Abschnitt (§. 342) hinsichtlich der freien Gemeinwirthschaften ge-
sagt wurde, gilt noch in verstärktem Maasse von den Zwangsge-
meinw’irthschaften. Insbesondere kann bei diesen der Regel nach
noch weniger eine genaue Deckung der Vortheile, welche die bei-
tretende Privatwirtschaft etwa erlangt, und der Gegenleistungen
derselben an die Gemeinwirtschaft stattfinden. Ueberbaupt aber
handelt es sich gerade in den Zwangsgemeinwirtlscbaften vielfach
gar nicht um individuelle Vortheile der Betheiligten, sondern um
Pflichten der letzteren gegen die Gesammtheit. Der privatwirth-
scbaftliche Gesichtspunct reicht eben deswegen für die Beziehungen
zwischen den Privat- und den Gemeinwirthschaften nicht aus.
Das hat u. A. wichtige Conscquenzen für die Stcuerlehrc, insbesondere für
die Anwendung der Steuerprincipien der Gerechtigkeit (s. Neu mann, progressive
Einkommensteuer S. 47 ff., 58 ff. u. meine Fin. II. 2. A. S. 372 ff, 428—400).
Aus dieser Sachlage darf man wohl ableiten, dass hier ohne
Zwang der Gemeinwirthscbaft gegenüber den Privatwirtschaften
nur in dem unwahrscheinlichen Falle einer nicht bloss gradweiseu,
sondern einer grundsätzlichen Aenderung der menschlichen
Motivation auszukommen ist. Dafür ist auf die Erörterungen im
1. Kap. des 1. Buchs zu verweisen. Der Zwang wird daher hier
doch wohl als unbedingte und dauernde Notwendigkeit, als ab-
solute Kategorie anzusehen sein.
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Begründung des Zwangsmoments.
863
c) Vollends wird man so urtheilen müssen, wenn man sich
die technische Natur und die Beschaffenheit derjenigen
Gerne in bedtirfnisse und Gemeingüter, um welche es sich bei
den wichtigsten Zwangsgemeinwirthschaften , Staat und Gemeinde,
handelt (ähnlich indessen auch bei den übrigen), vergegenwärtigt.
Diese Natur und Beschaffenheit sind derartig, dass, solange Menschen
„Menschen“ bleiben, ohne entsprechenden Zwang in den genannten
Gemeinwirthschaften nichts zu erreichen ist. An dem Beispiel des
staatlichen Rechtschutzes und der Machtentfaltung im Innern und
nach Aussen, der Hauptfunction des Staats, ist dies am Besten
nachzuweisen.
Gute Erörterungen hierüber und über verwandte Punctc, besonders der Steuer-
theorie, in E. Laspeyres’ Aufs. Staatswirthschaft im Staatswörterb. B. X. S. bes.
S. 77 ff. Vergl auch Esc h er, Politik I, 1. B., Trend eien bürg, Naturrecht, §. 150 If.,
Gneist, Rechtsstaat. 1. A. N. IX, v. Ihering, Zweck I. 1. A., S. 310 if.
Der Rechtsschutz und die wichtigsten übrigen Leistungen der vornehmsten Zwangs-
gemeinwirthschaften sind immaterieller Art. An einem Maassstabc ihres ökonomischen
Werths und desjenigen Vortheils, welchen der Einzelne etwa von diesen Leistungen
hat, fehlt es durchaus. Die letzteren können ferner ihrem inneren Wesen nach, dem
Zwecke des Staats und der übrigen Zwangsgemeinwirthschaften gemäss, meistens nicht
speciell verkäuflich sein, also dem privatwirtbschaftlichen Preisregulator von Angebot
und Nachfrage überhaupt gar nicht unterstellt werden. Zahlreiche und wichtige
Leistungen des Staats lassen sich endlich, wie gesagt, auch nicht, oder nnr durchaus
gezwungen, als Vortbeile für den Einzelnen hinstelleu, z. B. die grossen und kost-
spieligen Leistungen „zur Durchführung des nationalen Machtzwecks". Ja, für den
Einzelnen werden diese Leistungen und deren Voraussetzungen nicht selten zu Nach-
theilen oder gelten ihm wenigstens dafür (Militärpflicht, Steuerpflicht!) Diese Lei-
stungen sind jedoch insgesammt, die Rechtsschutzlcistungen voran, unentbehrliche
Bedingungen des socialen Zusammenlebens der Menschen und damit auch jedweden
wirtschaftlichen Verkehrs. Ihre Herstellung oder auch nur den Beitritt zu derjenigen
Gemeinwirthschaft, welche diese Herstellung übernimmt, dem freien Ermessen und
damit der Willkühr der Individuen zu überlassen, hicsse die Bedingungen des socialen
und volkswirthschaftlichen Organismus dem Zufall preisgeben und practisch oft genug:
diese Bedingungen gar nicht erfüllen.
Eben deshalb muss eine mit der nöthigen Zwangsgewalt
ausgerüstete Autorität bei der Bildung und Einrichtung der
Zwangsgemeinwirthschaften, voran des Staats, bei der Herstellung
und Verbürgung der materiellen Voraussetzungen daflir(Besteuerung!)
und bei der Durchführung der wichtigsten einzelnen Leistungen
hier stets vorhanden und thätig sein: d. h. das Zwangsmoment
ist absolute Kategorie.
IV. — §. 349 [158], Folgerungen für die Kosten-
deckung. Besteuerung im zwangsgemein wirtschaft-
lichen System. Der Staat, die Gemeinde und mehr oder
weniger jede andere Zwangsgemeinwirthschaft erlangt so freilich
jenen „communistischen“ Grundzug, welcher den Gemein-
55*
i
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8ß4 5. B. ürganis. d. Volksw,sch. 3. K. Gem.w.sch. Syst. 2. H.-A. Gebiet. §. 349.
wirthschaften anklebt (§. 342, 293), in noch viel stärkerem Maasse
und ganz unvermeidlich.
Der privatwirthschaftliche Widerstand gegen den Staat und die übrigen Zwangs-
gebilde der Volkswirthschaft und die Abneigung der Anhänger des Systems der frei«
Concurrenz oder der Vertreter der „Gesellschaft“ im St ein -Gneist’ sehen Sinne
gegen Einmischung des Staats in die Volkswirthschaft finden in diesem communisn-
schen Character ihre Erklärung.
Namentlich ergiebt sich Folgendes:
1) Das Princip der speciellen Entgeltlichkeit von
Leistung und Gegenleistung ist in der Zwangsgemeinwirthschaft
selbst in den Fällen, wo noch ein Sondervortheil für den Einzelnen
naebgewiesen werden kann, noch weniger anwendbar, als in den
meisten freien Gemeinwirthschaften. Die Unmöglichkeit aber, einen
solchen Sondervortheil irgend genau nach seinem ökonomischen
Werthe zu messen, bringt es mit sich, bei der Kostendeckung der
zwangsgemeinwirthschaftlichen Leistungen von dem Principe gleicher
Leistung und Gegenleistung grossentheils abzusehen.
Daher die zwar durchaus nothwendige und heilsame (§. 335), aber unvermeindlicfc
doch nur beschränkte Anwendbarkeit des sog. Gebührcnprincips in der Finanzverwal-
tung des Staats, der Gemeinden und des (privatwiithschaftlichen) Grundsatzes der
Besteuerung „nach dem Interesso“ (nach Leistung und Gegenleistung) neben
oder gar statt des (staatswirthschaftlichen) Grundsatzes der Besteuerung „nach der
Leistungsfähigkeit im öffentlichen, zumal im Staatshaushalt. S. darüber die ein-
gehenden Erörterungen im 2. Bande. 2. Aull., meiner Fin.wiss., bes. Buch 4, Ge-
bührenlehre, und § 178 — 188 über die genannten beiden Steuerprincipien ; aus der
finanzwissenschaftlichen Litteratur bes. Neuinann’s eindringende Erörterungen.
2) Bei denjenigen Leistungen der Zwangsgemeinwirthschaften,
welche sich gar nicht als Einzelvortheile qualificiren lassen, muss
natürlich von dem Principe gleicher Leistung und Gegenleistung
vollständig abgesehen werden. Die Kostendeckung des Staats u. s. w
hat daher hier durch Zwangsbeiträge (Steuern) der zwangsweise im
Verbände der betreffenden Gemein wirtbschaft stehenden Einzel wirth-
schaften zu geschehen, und zwar wesentlich durch Steuern, welche
nach dem Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähig-
keit aufgelegt oder vertheilt werden. Diese Natur der Zwangs-
gemeinwirthschaften und der hier erwähnten Leistungen, die un-
bedingte Nothwendigkeit derselben und der Umstand, dass die
Verwirklichung dieser Gemeinwirthschaften und dieser Leistungen
ohne die Besteuerung — voraussetzungsweisc, d. b. wenn nicht
andere finanzielle Deckungsmittel, insbesondere aus Privaterwerb,
verfügbar sind — unmöglich ist, bilden auch den tieferen, inneren
Rechtsgrund der allgemeinen Steuerpflicht im Staate u. s. w.
Daher die auch priucipiell theoretische Bedeutung dieser Lehre von den Zwaag?-
gemeinwirthsebaften für die Lehre von der Besteuerung. Hier hegt einer der wich-
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Folgerungen für die Kostendeckung. Besteuerung.
865
tigsten Berührungspuncte der socialökonomischen Grundlegung mit der Finanzwissen-
schaft. S. daher Weiteres bes. in der zweiten Aufl. meiner Fin.wiss. B. II, §. 85 ff.
3) Die Summe dieser Zwangsbeiträge lässt sich ökonomisch
als Gesammtgegenlei stung für die Gesammtheit der Leistungen
der Zwangsgemeinwirthschaft auffassen. Hier wird daher auch
wieder mit Rücksicht auf die möglichste ökonomische Werth-
corrcspondenz eine Vergleichung stattfinden dürfen und müssen,
z. B. der Leistungen des Staats mit der Summe der Steuern über-
haupt, freilich nur nach gewissen „Abwägungen“ der Werthe und
Opfer, wie in bestimmten Fällen in der „constitutionellen Budget-
wirthschaft“.
S. auch hier Fiu.wiss. I, 3. Aufl., §. 34, 35. Diese Ansicht kommt durchaus
nicht wieder einfach auf die alte Auffassung der Steuer als „Tausch“ hinaus, gegen
welche sich z. B. A. Held, Einkommensteuer, Bonn 1S72, S. 25 ff.. 31. wendet. Sie
hält aber den richtigen Kern in dieser Auffassung fest, was Held nicht thut und
was man vom volkswirtschaftlichen Standpuncte aus thun darf und muss, ohne die
„tiefer gedachte, vom wahrhaft historischen Geiste getragene“ Anschauung vom Staate
preis zu geben. Es müssen und dürfen freilich nur die Gesammth eiten der Steuern
und der Leistungen des Staats unter den ökonomischen Gesichtspunct von Leistung
und Gegenleistung gebracht werden, niemals die Steuer des Einzelnen und die
ihm zu Gute kommende Staatsleistung. Ohno den ersteren Gesichtspunct ist eine
geordnete Finanzwirthschaft nicht denkbar. Die rechtsphilosophischen Vertreter der
organischen Staatsauffassung gehen ähnlich wie hier Held öfters wieder zu weit in
der Reaction. S. meine Fin. II, 2. Aufl. §. 86.
4) Aber dem Einzelnen gegenüber kann von solcher
Werthcorrespondenz der Leistungen desselben an die Gemein-
wirthschaft und der von letzterer ausgehenden Leistungen für Gc-
sammtheiten (und für den Einzelnen als Mitglieds davon) nicht
die Rede sein, daher nicht bei dem Haupttheil aller Besteuerung,
dem nach dem Princip der Leistungsfähigkeit aufzulegen-
den. Die Kosten der Zwangsgemeinwirthschaft können vielmehr
bei diesen Steuern nur auf die Einzelnen an ihr Betheiligten nach
allg e meinen Maassstäben gleich mässig umgelegt werden.
Dieser Maassstab kann aber nicht in dem Werthe, Genüsse
und Vorth eil, welchen die Verbindung mit der Gemeinwirth-
schaft dem Einzelnen bietet, liegen, denn theils ist dieser Werth,
wie gesagt, im Einzelfall unmessbar, theils fehlt er hier voll-
ständig und ist nur eine Pflicht, kein Vortheil des Einzelnen
gegenüber der Gemeinwirthschaft anzuerkennen oder doch zu be-
achten. Der „com m unis tische“ Character der Zwangsgemein-
wirthschaft und besonders des Staats erscheint bei einer solchen
naturgemä8S gebotenen Besteuerung daher selbst wieder natürlich
begründet.
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866 5. B. Organis. d. Volks.w.sch. 3. K. Getn.w.sch. Syst. 2. H.-A. Gebiet. §. 350.
S. auch hierzu wieder die Ausführungen in meiner Fin.wiss. im 2. Bande der
zweiten Auflage a. a. 0. und Neumann’s Arbeiten. Aehnlich wie im Teit
Tren delen bürg. a. a. 0. §. 159 (S. 3t>0: Besteuerung Aufgabe der distribunrea
Gerechtigkeit; ihr Maass zuerst die Leistungsfähigkeit des Einzelnen: freilich mit
zu unsicherer Ableitung von Consequenzen und zu allgemein bleibenden Sitzes).
Auch Laspeyres, Staatswörterb., a. a. 0. X, 106 fF. Anders besonders E. Nasse,
Gutachten Uber Personalbesteuerung, 1S73, S. 3 ff., und im Ganzen anch A. Held.
Einkommensteuer und Gutachten über Personalbesteuerung, 1873. Vergl. ferner die
principiellen Erörterungen über diese Fragen der Kostendeckung und Besteuerung in
Verbindung mit dem allgemeinen Werthproblem in E. Sax’ Grundlegung der Staats-
wirthschaft, bes. Abschn. VI; auch G. Cohn, Syst. I, S. 525 ff. und Fin.vriss.
V. — §. 350 [159]. Die Berechtigung des Zwanges auch
für bestimmte einzelne Gemeinschaftszwecke und die Bildung
von Zwangs- statt freier Gemeinwirthsehaften hierfür ist hier-
nach unter folgenden Bedingungen vorhanden :
1) Wenn das Widerstreben der Einzelnen den vom
Wohl einer Gesammtbeit (Gruppe) geforderten Gemein-
schaftszweck vereiteln würde.
So zumal in dem Falle, dass das Wohl des Einzelnen durch den Zwangsbeitrirt
nicht irgend wesentlich verletzt, vielleicht sogar selbst gefördert würde; aber auch,
wenn das Wohl des Einzelnen nicht gefördert, vielleicht selbst gefährdet wird : Wehr-
wesen; Steuerwesen; Impfwesen; Schulwesen; Deichbauwesen; einzelne Fälle von
Zwang in Agrarsachen, dcsgl. in Versicherungsangelegenheilen. Näheres in der
Practischen Nationalökonomie, theoretischen Politik und Inneren Verw altungslehre
(Polizeiwissenschaft).
2) Wenn die Theilnahme des Einzelnen an den
Leistungen (Vortheilen) der Gemeinschaft nach der Natur der
betreffenden Gemeingüter nicht wohl behindert werden kann.
Daher erscheint cs billig, den Einzelnen auch zwangsweise zum Beitritt und zur
Mittragung der Kosten der Gemcinwirthschaft zu nöthigen. Wiederum besonders Fälle
in Agrarsachen, bei Deichbau, bei „Beiträgen“ im finanztechnischen Sinne statt indi-
vidueller Gebühren (meine Fin. II, 3. A , §. 74). Aber auch: ganz allgemein beim
staatlichen Rechtsschutz, welcher der Idee des Rechts gemäss nicht willkührlich
von Dissentirenden abgelehnt werden kann, mit der Folge, dass dann die öffentliche
Gewalt etwa diese Personen von der Gewährung des Schutzes ausschliesst.
3) Mindestens bedingt erscheint der Zwang zulässig, wenn es
sich bei einer Gemeinschaftsbildung und Leistung zwar um Ge-
währung von speciellen Vorth eilen an gewisse Mitglieder
handelt, aber diese Gewährung gerade auch im Gesammtinte resse
liegt und deswegen mit erfolgt.
Z. B. in Fällen des Versicherungswesens tBrandvereicherung, um auch der Ge-
meinschaft schädlicho Verarmung des Brandschaden Erleidenden zu verhüten : Ar-
beiterversicherung, um der Gemeinschaft erwünschte Sicherung der Arbeiter in ge-
wissen Fällen, um für sic, die Gemeinschaft, wichtige Verhütung von Erbitterung
der Arbeiter zu erreichen; Pensionscassenzwang für Beamte fWittwencassenj, um
Beamtenproletariat auch im Staatsiuteresse zu vermeiden).
4) Auch wenn durch eine grössere Betheiligung von
Personen , Benutzern , der Zweck einer Gemeinschaftseinrichtung
technisch besser, ökonomisch wohlfeiler erreicht wird.
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Postulate für Zwangsgemeinwirthschafton.
867
ohne dass für die eventuell ungern Beitretenden sich bemerkens-
werthe Nachtheile ergeben, wird der Zwang bedingt zulässig.
Z. B. ist so das Postregal in gewissem Umfang noch heuto zu begründen;
ähnlich der Zwang bei Versicherungsanstalten (Brandcassen) und bei manchen son-
stigen gemeinnützigen Anstalten und Einrichtungen. — Für alle derartigen Fragen
sei auf die Polizeiwissenschaft (auch deren allgemeinere Erörterungen) ver-
wiesen. S. Mohl (I, 3. A. §. 7).
Nach diesen Gesichtspnncten wird die Zulässigkeit des Zwangs
besonders auch in den oben (§ 330) erwähnten Fällen von Classen-
Geraeinbedürfni8sen zu entscheiden sein.
VI. — §.351 [160]. Postulate für Zwangsgemein -
wir thschaften überhaupt und für die Anwendung des
Zwangs speciell. Die Natur des Zwangsprincips, das psycho-
logisch Lästige dabei, bringt es mit sich, dass an alle Zwangs-
gemeinwirthschaften, insbesondere hinsichtlich der Ausdehnung und
Art und Weise ihrer Thätigkeiten auch an den Staat und die Ge-
meinde und in Betreff der Anwendung von Zwang auf einzelnen Ge-
bieten, folgende Anforderungen zu stellen sind:
1) Die Nothwendigkeit und Gemeinnützigkeit des
Zwangs, seiner Stärke, seines Umfangs, seiner Anwendung auf
den einzelnen Gebieten, muss möglichst objectiv festgestellt
werden.
Das Ziel ist. den Zwang nur da und nur soweit eintreten zu lassen, wo und
wie die einsichtige, ihr eigenes Bcsto richtig vorstehende, aber auch vom richtigen
sittlichen Gcmcin&inu und Pflichtgefühl getragene Privatwirtschaft freiwillig der
Gemeinwirthschaft sich anschliessen und alle Lasten derselben mit tragen würde. Der
Zwang muss daher möglichst immer, auch wo er als absolute Kategorie wird gelten
müssen, als ein Erziehungsmittel betrachtet werden und als solches angewandt
selbst darauf hinwirken, sich allmählig entbehrlicher zu machen (Zwang im Schul-
wesen, Schulpflicht, Versicherungswesen, bei wirtschaftlichen Meliorationen).
2) Zu diesem Behufe ist auch die möglichste Entwicklung
des Gemeinsinns und des sittlichen Pflichtgefühls sowie
des Verständnisses des richtigen eigenen Interesses und der
Wirksamkeit der übrigen günstig zu beurtheilenden Motive, welche
neben dem ersten Leitmotiv, dem Streben nach dem Eigenvortheil,
mitspielen können (Buch 1, Kap. 1), geboten, um so den Zwang ent-
behrlich machen, ihn wenigstens thunlicbst beschränken zu können.
Dadurch wird es namentlich möglich, das caritative System an Stelle des gemein-
wirthschaftlichen , z. B. im Humanitäts- und Armenwesen, und die freien Gemein-
wirthschaften an Stelle der Zwangsgemcinwirthschaften , z. B. im Schul-, Ver-
sicherungswesen, in grösserem Umfange treten zu lassen, den Zwang durch den
Rath, die Empfehlung zu ersetzen und auch die Staatsthätigkeit unter Umstünden
überhaupt zu beschränken.
3) Einen natürlichen, aus dem „Wesen“ der Zwangs-
gemein wiithschaft, besonders auch xles Staats und der Gemeinde
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868 5* B. Organis. d. Volksw.sch. 3. K. Gciu.w.scli. Syst. 2. H.-A. Gebiet. §. 351.
abzuleitenden oder einen auf endgiltigeErfahrnng gegründeten
schlechtweg „richtigen“ Bereich der Thätigkeit der ZwaDgs-
geraein8chaften giebt es nicht. Subjective Urtheile wirken vielmehr
hier immer mit ein, auch unvermeidlich bei den Inhabern der
Zwangsgewalt, bei welchen ohnehin durch die Verfügung über
letztere und damit auch über die materiellen Durclifübrungsmittel
(Steuern!) die Gefahr eines unrichtigen Vorgehens psychologisch
besonders nahe liegt. Daher müssen besondere Organe in
solchen Wirtschaften geschaffen werden, welche diesen Bereich
im concreten Falle möglichst richtig bestimmen und Notwendigkeit,
Umfang und Art des Zwangs objectiv feststellen, eventuell darüber
mit den Inhabern der Zwangsgewalt (Regierung) verhandeln. So
ergiebt sich auch vom volkswirtschaftlichen Stand puncte aus die
politische Forderung einer Vertretung der bei einer Zwangs-
gemeinwirthscbaft, wie Staat und Gemeinde, beteiligten Privaten
(Volksvertretungen).
4) Eine Hauptaufgabe ist stets, den wechselnden Bedürfnissen
gemäss in wechselnder Weise, die zwangsgemeinwirthsehaftlicben
Functionen zwischen dem Staate einer- und den Selbstver-
waltungskörpern andrerseits und wieder unter den letzteren
richtig zu vertheilen: zugleich eine Voraussetzung für die mög-
lichst richtige Erfüllung des folgenden fünften Postulats. Be-
sonders wichtig ist eine solche Theilung der Functionen in Bezug
auf die Anstalten der Fürsorge für örtliche Genieinbedürfnisse
(§. 328). Die politischen Fragen der Decentralisation der Staats-
und der Einrichtung der localen Selbstverwaltung müssen dem
gemäss auch socialökonomisch als bedeutungsvoll bezeichnet werden.
Die Verfass u n gs fragen in Staat, Provinz, Kreis, Gemeinde, die „Ordnungen"
dieser drei Gruppen autonomer Glieder des Staats werden daher auch für die Volki-
wirthschaft in doppelter Weise wichtig: einmal, weil erst durch diese Ordnungen di«
richtigen Gcmeinwirthscbaften orgauisirt werden, sodann weil die Organisirung der
Vertretungen die Garantie für möglichst richtige Bestimmung und Ausführung der
diesen Wirthschaften zu übertragenden Leistungen zur Bedürfnisbefriedigung oder
m. a. W. für die beste Production der betreffenden Güter liefert.
5) Jede Zwangsgememwirthscbaft muss als Einzelwirt-
schaft möglichst richtig ökonomisch und technisch geleitet und
eingerichtet werden. Namentlich ist auch in ihr dasPrincip der
Wirtschaftlichkeit (§. 28) streng durchzuftibren. Da das
Steuerrecht der Zwangsgcmeinwirthschaft hier besondere Ge-
fahren in sich birgt, so ist wiederum eineControle des Subjects
der Wirtschaft (z. B. der Regierung des Staats) durch die Vertretung
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Postulate für Zwangsgcmcinwirthschaften.
869
der Betheiligten ein nothw en diges, auch volkswirtschaft-
liches Postulat.
Errichtung unabhängiger Finanzcontrolorgane, System der constitutionellen Budget-
wirtbschaft im Staate. S. darüber auch Schäfflc, gescllsch. Syst. 2. Aufl. §. 205,
216, 3. Aufl. II, 371 ff.
Durch die Erfüllung dieser Forderungen wird dann auch, so-
weit dies überhaupt erreichbar ist, eine Garantie geschaffen,
dass in ökonomischer Hinsicht zwischen dem Werth e der ge-
sammten Leistungen der Zwangsgemeinwirthschaft und der Gegen-
leistungen der Privaten in Beiträgen und Steuern ein möglichst
richtiges Verhältnis bestehe.
S. o. §. 349 unter 3. Auch hier zeigt sich freilich wieder die Tauschwerth-
schätzung als unzureichend: die Gebrau chs werth Schätzung ist die allgemeinere
und die in vielen Fällen allein anwendbare. (S. o. §. 13S, 139.)
Welche Postulate an die Entwicklung des zwangsgemeiu-
wirthschaftlichen Systems, an sich und mit Rücksicht auf die Be-
dürfnisse und auf die Productionstechnik der modernen Cultur-
völker, sowie dem privatwirthschaftlichen System gegenüber, zu
stellen sind, das wird in Anknüpfung an den Hauptvertreter aller
Zwangsgemeinwirthschaft, den Staat, im nächsten Buche, u. A.
namentlich im 3. Kapitel, von der wachsenden Ausdehnung
der öffentlichen Thätigkeiten, erörtert.
In der zweiten Abtheilung, von Volkswirthschaft und Recht, haben diese Unter-
suchungen dann ihren Abschluss zu finden. Dadurch wird zugleich die Aufgabe,
welche in §. 169 der Conjunctur gegenüber und im 2. Kapitel des vorigen 4 Buchs
in Bezug auf das Vertheilungsproblem, bes. im 2. Abschn. hinsichtlich der Regelung
der Vertheilung, hervorgehober. wurde, ihrer Lösung entgegenzuführon gesucht.
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Sechstes Buch
Der Staat, volkswirthschaftlich betrachtet.
§. 352 [S. 2SS]. Vorbemerkung und Literaturnachweis. Vergl. die
Vorbemerkungen zum vorigen Buche oben S. 761 und die Vorbemerkungen zum letzten
Abschnitt des vorigen Kapitels S. 856.
Die beste unmittelbare Vorarbeit aus der systematischen nationale kono-
mischcn Litteratur, fast die einzige, welche den Namen einer nationalökono-
mischen Vorarbeit über den Staat als Ganzes verdient, rührt wieder vou
Schäffle her, s. namentlich dessen nationalökonomische Analyse des Staats in s.
gescllscbaftl. System, 2. Aufl., Kap. 31 — 34, 3. Aufl. I, 28 IT., II, 83 ff. („öffent-
liche Organisation der Volkswirtschaft“). Dazu Soc. Körper III, 365 IT., 457 ff.
bes. IV, 216 ff., passim auch vielfach in B. I u. II, s. Index.
Aus den mehr erörterten Gründen konnte die Nationalökonomie der physiokratisch-
Smith’schen Schule nicht zu einer principiellcn volkswirtschaftlichen Würdigung des
Staats kommen. Die Auffassung des Staats als blossen „Rechtsschutzproducenten“ ist
gerade auch volkswirthschaftlich viel zu enge. Vergl. über diese Auffassung und die
Consequenzen daraus besonders den Abschnitt des vorigen Buchs über freie Con-
currenz, §. 310, 313 ff., und die dort aufgeführtc Litteratur. S. dazu auch noch
Gon sei, Art. Staat in Rontzsch’ Handwörterbuch, wo es bei aller Mässigung
dieses Schriftstellers doch noch heisst: Der moderne Staat soll anerkennen, dass die
(wirtschaftlichen) Dinge „durch dio eigene Einsicht der Betheiligten und durch das
lebendige, im freien Verkehr waltende Naturgesetz sicherer und besser geregelt werden,
als durch seine (des Staats) Einmischung und Bevormundung mit ihrer menschlichen
Kurzsichtigkeit“ (S. 827). Für das Nähere verweist Gensei auf das genannte Wörter-
buch, das in der That in den meisten Artikeln ein charactcristischer Beleg der Stellung
der „deutschen Freihandelsschule“ zu der Frage vom volkswirtschaftlichen Berufe des
Staats ist. (Meine schon damals abweichende Stellung ergiebt sich aus meinem Art. Staats-
haushalt und Staatsschulden in diesem Wörterbuch.) S. auch Rentzsch, Staat und
Volkswirtschaft, Lcipz. 1863, besonders N. II, Competcnz des Staats, ein ganz guter
Abriss der Lehre der Freihandelsschule über die Stellung des Staats in und zu der
Volkswirtschaft, übrigens in einzelnen Punctcn, z. B. in der Staatswaldfrage, wo ein
Bcrgius noch den reinsten Manchcsterstandpunct vertritt und den klimatologischen
Gesichtspunct ganz vernachlässigt, doch für die Jetztzeit wenigstens für Beibehal-
tung der Staatswälder als „der Uebol kleinstes“ (S. 200).
Vergl. sonst für die Smith’sche Schule: A. Smith, wealth of nations, B. 5, I. Kap.
(Ausgaben des Staats), worüber die Späteren im Grunde wenig binausgckoinmen sind.
J. St. Mill, polit. Oekon., B. 5, Kap. 1, 8 — 11, und ders., on liberty, deutsch von
Gomperz (Leipz. 1860), besonders Kap. 1,4, 5. Carricatnr des Appells an deu „Staat“
in der Volkswirtschaft von Bastiat, Oeuvres IV, p. 327 ff. (petits pamphlets: l’ötat).
Weitere Litteratur s. bei Kautz, Nationalökon. I, 249.
Besonders bemerkenswert ist die Stellung der deutschen nationalökonomi-
schen Systematiker zum Staate. Rau geht nirgends principiell auf die Betrach-
tung des Staats aus dem volkswirtschaftlichen Gesichtspuncto ein. Bezeichnend dafür
ist, dass in dem ausführlichen Index zum ganzen System (Finanzwiss. 5. Aufl., II, 521)
zwar auf alle möglichen einzelnen Staats thätigkeiten und Staats an st alten
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Der Staat, volkswirthsch. betrachtet. Vorbemerkungen.
871
verwiesen wird, nirgends aber auf den Staat als solchen oder als Ganzes, In der
That kommt Rau auf ihn auch vornemlich nur bei den einzelnen Maassregeln
des Finanzwesens und der Volkswirthschaftspolitik zu sprechen. In der Einleitung
zum theoretischen Theile, §. 3 fT., wird der Staat nur eben kurz als Thatsache
berührt. Aus diesem Mangel einer principiollcn Erörterung ist Rau indessen kein
Vorwurf zu machen. Denn seine Behandlung ist wieder eine nothwendige Folge seiner
zu engen Begriffsbestimmung der wirtschaftlichen Güter und des Ausschlusses der
Dienstleistungen aus letzteren. — Hermann, der kein vollständiges System in seinen
staatswirthschaftlichcn Untersuchungen giebt, hat doch wenigstens in der Kürze den
Staat in seiner principiellen Bedeutung und Unoutbehrlichkeit für die Volkswirt-
schaft gewürdigt, sowohl in seiner Lehre von den Collectivbedürfnissen (2. A., S. 47 ff.,
lüu ff., oben S. 831), als in einer kurzen Erörterung Uber die Aufgabo des Staats
(S. 71 — 77). — Roschor kommt auch nur nebenbei ganz kurz auf den Staat zu
sprechen (I, §. 42. II, §. 1, vergl. übrigens I, §. 84'), obwohl seine Einbeziehung der
Dienstleistungen unter die wirtschaftlichen Güter m. E. eine eingehende principielle
Erörterung mit sich fuhren müsste. Roscher stellt den Staat unter die unkörperlichen
Kapitalien als das bedeutendste davon (I, §.42). — Knies spricht vom Staat im Zu-
sammenhang mit allgemeinen Ausführungen über die Volkswirtschaft unter der Ein-
wirkung der gesetzgebenden und verwaltenden Thätigkeit der allgemeinen Staats-
gewalt. (Pol. Oek , 2 A„ S. 106 ff., s. auch S. 254 ff.)
Factisch kommt diese nebensächliche Berührung des Staats in den volkswirt-
schaftlichen Systemen doch auf ein Ignoriren desselben zu leicht hinaus. Erörterungen
wie diejenigen von Dupont- White, l’individu et l'6tat, Par. 1857 (vergl. z. B. das
Rosume p. 341 ff, der Staat „le geraut des intörets collectifs“ p. 345), und von Karl
Dietzel in seinem System der Staatsanleihen, Heid. 1855 (z. B. S. 13 ff, 18., der
Staat als Organ der Gesammtwirthschaft, welche „die allgemeinste Grundlage und
Form menschlicher Culturentwicklung“ ist), ferner (in Krause-Ahrens’scher Richtung)
von Kautz, a. a. 0 Kap 9 blieben in der neueren Nationalökonomie der mächtigen
vorherrschenden Strömung in der Wissenschaft gegenüber so isolirt und ohne nach-
haltigen Einfluss, wie in der älteren etwa die sehr richtigen und, bei mancher Ueber-
schwänglichkeit, doch an guten volkswirthschaftlichen Gesichtspuncten reichen Elemente
der Staatskunst von Ad. Müller (1809), der dem Staate in seiner volkswirthschaft-
lichen Function die grösste Bedeutung zuschreibt. Unter den neuesten deutschen
Systematikern hat G. Cohn sehr kurze, zu aphoristische Erörterungen über den
Staat in seinem System gebracht, bes. §. 302, in dem Abschnitt über freie und öffent-
liche Verbände. Im Schönberg’schen Handbuch sollten m. E. eine oder zwei eigene
grössere Abhandlungen Uber die Principienfragen der volkswirthschaftlichen Organi-
sation und Uber Staat und Volkswirtschaft nach der Anlage des ganzen Werks im
grossen Styl enthalten sein. G. Schönberg selbst hat aber nur in seiner einleitenden
Abh. Volkswirtschaft im 1. B. seines Handbuchs am Schluss (3. A. I, S. 58 — 68) in
Kürze, aber gut, über „Staat und Volkswirtschaft1* gehandelt. E. Sax, Grundlegung
der theoretischen Staatswirthschaft . gehört seinem Gesammtinhalt nach auch hierher,
wenn darin auch über den Staat als solchen nicht näher gehandelt wird. Im Aus-
lande hat auch die neueste systematische Wissenschaft principiell über den Staat
in Beziehung zur Volkswirtschaft noch wenig gehandelt ( Marshai 1 nicht, mehr
schon Sidgwick, polit. econ. book 3, bes. ch. 3, Gide, princ. S. 590 ff. dürftig).
Seine Erklärung findet dieser Mangel principiellcr volkswirtschaftlicher
Erörterungen über den Staat — ausser in der Engheit und Schiefe der physiokratisch-
Smith'schen Lehre, besonders in deren moderner Gestalt in der Schule der freien
Concurrenz, — in der gleichzeitigen und parallel gehenden Entwicklung
des Naturrechts oder der Rechts- und Staatsphilosophie auf Rousseau'-
schcr und Kant’scher Grundlage. Erst die neuere historische und organische
Auffassung von Recht und Staat hat in dieser Rechtsphilosophie einen Umschwung
bewirkt, der wenigstens in einzelnen principiellen Hauptpuncten, z. B. in dem völligen
Aufgeben der Lehre von der Begründung des Staats auf den Staatsvertrag (contrat
social), ein vollständiger ist, — jener Staatsvertrag, der, wie Ah re ns mit Recht sagt,
zwar ein möglicher, geschichtlich auch öfters vorgekommener Entstehuugsgrund eines
concreten Staats ist, aber nicht der innere rechtlich-sittliche Grund des Staats über-
haupt, (Naturrecht II, 274). Aus diesem Umschwung gilt es für Recht und Staat
»72
0. B. Der Staat. Vorbeineikungcn. §. 352.
und Volkswirtschaft jetzt wieder die Consequenzen nach allen Seiten zu ziehen, was
allerdings auch in der Rechtsphilosophie noch keineswegs allgemein geschehen, in der
Nationalökonomie aber bisher kaum auch nur versucht worden ist.
Erschwerend für die nationalökonomische Betrachtung des Staats ist cs, dass unter
den neueren rechtsphilosophischen Systemen keines mehr entfernt zu so allgemeiner
Ausbildung und Giltigkeit gelangt ist. als s. Z. die Kant'sche Lehre, was mit der
ganzen Entwicklung der neueren Philosophie zusammenhängt. So erfreuen sich
z. B. die für den N atio n al ökon om e u besonders beachtenswerthen Be-
strebungen der Krause’schen Schule (Ahrens, Köder, v. Leonhardi, u. A.)
keineswegs einer nur cinigcrmaassen allseitigen Zustimmung unter den Philosophen,
wenigstens in Deutschland nicht. Der Erfolg dieser Philosophie in Spanien, Italien,
z. Th. in Frankreich, den ihre Anhänger rühmen (vergl. z. B. v. Leonhardi, die
hoho Bedeutung d. neueren Rechtsphilosophie im Allgem. u. bes. für den Rechtsstaat,
Separatabdruck aus der „Neuen Zeit“ H. 9, Prag 187-1, und vielfach Ahrens im
Naturrecht passim, z. B. II, 270 Anm.), hat nicht verhindert, dass deutsche Philo-
sophen, wie z. B. Zeller (Gesell, d. deutsch. Philos., München 1873, S. 905), von
einer „fast sectenartig zu nennenden Geschlossenheit und Solidarität4* der Männer der
Krause’scheu Schule sprechen und bemerken, dass die Verbreitung dieser Lehre im
Auslände z. Th. wenigstens darin ihre Erklärung linde, dass die Ausländer Krause
Vieles zuschreiben, was er von anderen deutschen Philosophen entlehnt, wenn auch
vielfach selbständig weiter geführt habe. Für die Nationalökonomie ist eine ge-
läuterte Rechtsphilosophie, welche für das Staats-, Rechts- und Wirtschafts-
leben die Consequenzen aus der organ ischen Auffassung des Staats und der Volks-
wirtschaft zieht, ein wesentliches Bedürfnis.
Nationalökonomie und Rechtsphilosophie müssen sich dabei aber
gegenseitig als Hilfswissenschaften betrachten.
Wir bedürfen der Rechtsphilosophie besonders in den Fragen über die prin-
cipielle Notwendigkeit des Staats für das Zusammenleben der Menschen ; über die
Competcnz des Staats oder über seine Zwecke und die Grenzen seiner Wirksamkeit
gegenüber der Sphäre des Individuums und der Vereine; über die Berechtigung des
Zwangs (§. 350) gegenüber dem Einzelwillcn ; über die Ordnung der persönlichen
Freiheit, des Eigentums, des Vertrags- und Erbrechts durch den Staat; über die
Durchführung des Princips der vertheilenden Gerechtigkeit in der Verteilung des
Volkseinkommens (Einkommen- und Auskommenlehre, Buch 4, Kap. 2) und in der
Besteuerung. In den Rechtsphilosophieen aller Zeiten von Plato’s Staat uud Ari-
stoteles’ Politik an bis auf die neueste Littcratur findet der Nationalökonom für
seine eigene Disciplin daher eine Reihe der wichtigsten grundlegenden Erörterungen.
Das wird wenigstens in der heutigen deutschen Wissenschaft, die sich von Einseitig-
keiten der späteren physiokratisch-Smith’schen Schule zu emancipiren sucht. Niemand
mehr verkennen (s. auch o. S. 859). Die endlosen theoretischen Discussioncn über
und Controversen in der sogen, „socialen44 und spcciell in der „Arbeiterfrage“ liefern
für dies rechtsphilosophische Bedürfniss der Nationalökonomie einen neuesten zu-
treffenden Beleg; zeigen auch wieder, dass die aus der blossen „Detailforschung“ ab-
geleiteten Specialforderungen ohne principielle und zusammenfassende Behandlung
der allgemeinen Probleme (z. B. in Bezug auf die Berechtigung eines staatlichen
Eingreifens in die Verkeilung) der sicheren Begründung entbehren.
Aber wie die Nationalökonomie der Fühlung mit der Rechtsphilosophie, so be-
darf umgekehrt gewiss in demselben Maasse um ihrer selbst willen die
Uechtsphilosophie der Fühlung wie mit dem positiven Rechte so auch mit
der Nationalökonomie.
In dieser Hinsicht erscheinen die bezüglichen Bestrebungen der Krause’schen
Schule von unserem Standpuucte aus besonders erfreulich. Bisher bewegt sich aber
auch diese Rechtsphilosophie in der nationalökonomischeu Seite ihrer Untersuchungen
doch noch sehr in vagen Allgemeinheiten, aus welchen der Mangel tieferen n&tion.il-
ökonomischen Verständnisses ebenso unverkennbar hervortritt, als der Mangel an Be-
herrschung des rechtsgcschichtlichen und des positivrechtlichen Stofls. Eine solche
Rechtsphilosophie kann den Nationalökonomen noch zu wenig als Leiterin dienen, weil
sie die eigentlichen Schwierigkeiten der Probleme meistens ungelöst lässt, ja sie oft
gar nicht empfindet und formulirt.
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Vorbemerkungen.
873
Freilich gilt dies von anderen philosophischen Richtungen noch ungleich mehr.
Hegelianer, wie Mich eiet in seinem Naturrecht, kommen dabei kaum noch zu etwas
Anderem als zu einer Rechtsphilosophie für den reinen, atomistischen Smithianismus
mit ihrem Princip der ,, Freiheit der Persönlichkeit im sittlichen Bunde*4 (I, 86) und
ihrer Construction eines immer noch fast absoluten Eigenthumsrechts und Vertrags-
rechts (I, 172 ff., 210 ff., vcrgl. auch über die Volkswirtschaft II, 5 — 58).
Aber auch Autoren, wie A. Trcndelcnburg, der in seinen Grundanschau-
ungen, in seinem Aufbau des Naturrechts „auf dem Grunde der Ethik“ und in man-
chen schönen principiellen Erörterungen über Person, Eigenthum, Staat, Verhältniss
des Staats zum Eigenthum, Regiment, Besteuerung sich nahe berührt mit der deutschen
„ethischen“ und socialpolitischen Schule der Nationalökonomie, gelangt doch in
Hauptpuncten und Controverson mehr nationalökonomischer Art über eine vage All-
gemeinheit und Scbematisirung auch noch nicht hinaus. Was nützt cs z. B., stets
„den Menschen“, „den menschlichen Willen“ schlechtweg der „Sache“ gegenüber zu
stellen und dann das Eigenthum einer Person zu bestimmen „als Dasjenige ausser
ihr, was als Werkzeug ihres Willens anerkannt wird“ (S. 205), wahrend in der
Wirklichkeit eben „die Menschen“ in dieser Abstraction gar nicht existiren, sondern
die Angehörigkeit zu einem wirtschaftlichen Stande, die „gesellschaftlichen Verhält-
nisse** auch entscheiden über die Möglichkeit, solche „Werkzeuge des Willens“ zu
erwerben und zu benutzen? Wie lässt sich überhaupt auch rechtsphilosophisch die
Eigcnthumslehrc und die Stellung des Staats zum Eigentum erörtern, ohne auf die
verschiedenen wirtschaftlichen Zwecke und demnach auf die grundverschiedenen
wirtschaftlichen Folgen der Eigenthumsarten einzugehen: Grundeigenthum, getheilt
wieder nach seinen Special-Zwecken, wo etwa nur das Bergrecht in seiner prin-
cipicllcn Sonderart einige Beachtung findet, aber nicht nur bei Michelet, sondern
auch bei Trcndelcnburg (S. 370) doch keine tieferen Erörterungen über die Not-
wendigkeit einer principielien Unterscheidung der Arten des Grundeigenthums nach
Arten seinerZwccke gepflogen werden: — Kapi tal eigenthum und Ge brauchs-
vermögen-Eigenthum, wo die wirtschaftliche Function als „Werkzeug des Willens**
sich so vollständig verschieden gestaltet?! Was bedeutet die eingehende Er-
örterung über die Begründung des Eigenthums auf Occupation, eine nur in primi-
tiven Verhältnissen wichtige Erwerbsart des Eigenthums, während sich Alles dreht
um die Begründung des Eigentums an den um ge formten Stoffen, wo daun ohne
Weiteres mittelst des Lohnvertrags der Arbeiter als abgefunden und nach der römisch-
rechtlichen Auflassung, in Widerspruch mit der Behandlung der Spccification (wenig-
stens in dem practiseh wichtigsten Falle) in diesem Rechte, der Eigentümer des ver-
arbeiteten Stoffs auch als solcher des umgeformten StofTs betrachtet wird (Michelet,
Naturrecht, I. 191, ähnlich wieder Treitschkc in s. Aufs. Uber Socialismus)? —
jener „Eigentümer“, der sich dann den vollen „Mehr werth“ des umgeformten
Stoffs über die verausgabten Kosten incl. Löhne aneignet?! Wenn aber alle solche
Sätze, weil sie in dem positiven Rechte enthalten sind, wenn weiter z. B. die in
letzterem stets unterlaufende Fiction von der „Freiheit“ der Vertragsschliessung,
unter ganz unzulässiger Gleichsetzuug der rein formalen (jetzigen juristischen)
und der realen (ökonomischen und socialen) Freiheit, einfach von der Rechts-
philosophie ohne nähere Prüfung als Axiome für ihre Deductionen übernommen
werden. — wozu braucht es dann noch einer besonderen „Rechtsphilosophie“,
eines „Naturrechts“, in dem Sinne, wie auch die neueren Vertreter der organi-
schen Staats- und Rechtsauffassung diese Disciplin sonst mit Recht noch aufrecht
erhalten?
Nur eine national ökono mische Vertiefung der Rechtsphilosophie, wie sie
wenigstens von der Krause sehen Schule in der Gonsequenz ihrer Grundanschauungen über
Individuum. Gesellschaft und Staat erstrebt werden muss und von Ah re ns u. A. erstrebt
wurde, wird hier von der immer noch zu abstracten, zu formalistischen Behandlung
der Lehren vom Staate und Rechte zu einer wahrhaft fruchtbaren und der National-
ökonomie zur Ergänzung und zur Leitung dienendon Rechtsphilosophie hinüberfuhren.
Eine Rechtsphilosophie freilich, welche in der Lehre vom Eigenthum die ökonomische
Seite der Eigenthumsfragen unberührt lässt, kann nur etwa mit einer Theorie der
schneidenden Werkzeuge, Messer u. s. w. verglichen werden, in welcher von der
Klinge nicht geredet wird. Aus der Krause’schen Schule ist der Nationalökonom auf
874
6. B. Der Staat. Vorbemerkungen. §. 352.
Ahrens’ „organische Staatslehre“ und auf Dess. Naturrecht, 6. AufL, 2 B., Wien
1870, vorläufig noch vornemlich angewiesen, was die rechtsphilosophische Betrachtung
des Staats und der „socialen Bedingungen der Volkswirtschaft“ (Verkebrsrecht, Eigen-
thum u. s. w.) anlangt. S. auch Abrens’ Abh. über Recht u. Kechtswisscnsch. im
Allgem. in v. Holtz endorff’s Encyclop. d. Rechtswissensch. B. 1.
Bei voller Anerkennung der Verdienste, welche sich Ah re ns auch um die
tiefere Begründung uationalökonomischer Priucipienfragen durch seine Rechtsphilosophie
erworben, muss aber grade gegen seine volkswirtschaftlichen Consequenzen
manches Bedenken erhoben werden. Ausser den Abschnitten Uber das Sachgüterrecht und
Forderungsrecht (II, 09 ff., 188 ff.) Lommt hier namentlich seine Staatslehre in Betracht
(Naturrecht II, 203 ff.). Hier bieten die Erörterungen über den Staatszweck §. 105 ff.
Vorzügliches, aber die Auffassung der Aufgabe des Staats im gesellschaftlichen und
volkswirtschaftlichen Leben (II, 287 ff, auch 319 ff., 465, 510 oder §. 135, 148)
genügt nicht, trotz der berechtigtsten Reaction gegen die abstract- individualistische
Freiheitslehre der radicalcn Smithiauer (II, 291), wie nach der viel zu weit gehenden
Zustimmung, welche Ahrens den Bastiat 'sehen und ähnlichen „Widerlegungen“
der Socialistcn zu Thcil werden lässt (bes. I, §. 27, bes. S. 206, auch II. 278, bei
sehr guten Bemerkungen I, 198 ff), allerdings auch nicht so sehr auffallen kann.
Ahrens knüpft hier, um die Aufgabe des Staats gegenüber den anderen gesellschaft-
lichen Lebenskreisen zu bestimmen, an seine sonst ganz brauchbare Formulinmg des
Bogrifls Bedingung im Unterschied von Causalität an (II, 287, I, 270): „durch eine
Ursache wird etwas unmittelbar wirklich , durch eine Bedingung dagegen wird es
möglich gemacht, dass etwas Anderes durch eine innere oder äussere Ursache wirk-
lich weide.“ (S. auch oben S. 152.) Der Staat soll demnach nur die Bedingungen
der wirtschaftlichen Entwicklung schaffen, seine Aufgabe sei auch hier nur eine
formell ordnende, nicht eine sachlich schaffende, materiell productive. Mau kann
höchstens zugeben, dass damit unter bestimmten geschichtlichen Verhältnissen ein
richtiges Ziel für die Gestaltung und Begrenzung der Staatsthätigkeit aufgestellt wird,
so im Ganzen etwa in den Verhältnissen eines volkswirtschaftlich schon entwickelten
Culturvolks der Gegenwart. Aber das obige Princip ist nicht für alle Verhältnisse
des Volkslebens richtig, kein absolutes, sondern doch auch nur ein historisch-relatives.
Es lässt ferner wegen der Schwierigkeit, ja oft der Unmöglichkeit, im conreten Falle
des volkswirtschaftlichen Lebens Bedingung und Ursache in der erwähnten Art zu
unterscheiden, vielfach ganz im Stich. Ahrens’ Verwertung seines leitenden Prin-
cips zur Feststellung der richtigen Staatsthätigkeit und zugleich der Grenzen dafür,
II, 288 ff, 510 11'., liefert dafür selbst den Beweis. Manche Thätigkeiteu werden hier,
zwar ganz richtig, aber kaum in voller Uebereinstimmung mit jenem Princip, dem
Staate zugesprochen, z. B. das Strassen wesen (S. 289), selbst das Postwesen (S. 513),
während Ahrens in seiner Polemik gegen die Socialisten den einmal bei uns be-
stehenden Bereich der Staatsthätigkeit doch noch viel zu sehr als den ohne Weiteres
richtigen anerkennt. Grade hier liegen ohne Zweifel wichtige Grenzgebiete, auf
welchen bald die staatliche, d. i. zwangsgemeinwirthschaftliche , bald die privatwirth-
schal'tliche Herstellung und Verthcilung der betreffenden Güter angezeigt ist. in unserer
Zeit aber die erstere mit Recht mehr hervortritt, d. h. m. a. W. gewisse Ideen des
Socialismus sich realisiren, Ahrens’ Princip zeigt sich auch hierbei als ein zu
absolutes. Vgl auch II, § 60, 62. Meine Stellung zu der Frage s u. in §. 360.
Neben Ahrens verweise ich auch auf Röder, Grundzüge des Naturrechts oder der
Rechtsphilosophie. 2. A., 2. Abth., Lpz. 1860, 1863, bes. d. 2. Abth. (Bes Theil,
Anwendung des Rechtsprincips auf die Lebensverhältnisse, u. A. über das Eigenthum.
S. 236 ff.). Die vielfach zutrellendc Erörterung über den Staat in der 1. Abth..
S. 213 ff. leidet doch in nationalökonomischer Beziehung ebenfalls darunter, dass
gewisse, durchaus nur relativ richtige Postulate in Betreff der Beschränkung des Staats
in Eingriffen in das wirtschaftliche Leben als allgemein giltige Sätze hingestellt
werden, vergl. z. B. I, 232. — S. ferner v. Ihering, Zweck im Recht I, Kap. 8,
bes. 305 ff. („Die sociale Organisation des Zwanges ist gleichbedeutend init Staat und
Recht“, S. 306.) Zum Vergleich einer in einigen Punctcn von der meinen ebenso
abweichenden, wie in anderen übereinstimmenden Auffassung vom Staate siebe
A. Lasson, von der Natur des Staats, philos. Monatshefte VI, 105, sowie jetzt
Dcss. System der Rechtsphilosophie, Berl. 1S82, bes. §. 29 ff. Lasson’s verschrobene,
auf extrem- individualistischem Boden stehen gebliebene volkswirtschaftliche Auffassungen
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Vorbemerkungen.
875
präjudiciren leider überall auch seinen Ansichten über Staat und Volks wirthschaft in
Beziehung zu einander. Sonst ist in der neueren italienischen rechtsphilosophiscben
Litteratur eine oder die andere Erörterung über den Staat enthalten, die hier mit
erwähnt werden kann. Vergl. z. B. D. Lioy, Philosophie des Rechts, übersetzt von
Di Martiuo, Berl. 1885, bes. S. 323 ff., aus der neueren deutschen Litteratur
bes. Paulsen's Ethik (S. 71).
Brauchbare Gcsichtspuncte für Einzelnes finden sich auch in Stahl’s
Rechtsphilosophie (vgl. z. B. II, 2, 2. Aufl., 2. Abschn., 1. Kap., 4. Abschn., 2. Kap.,
Finanzen, so die trefflichen Erörterungen über das eine der beiden Besteueruugs-
principien, welches in dem „Verhältnis der Vermögen erzeugenden Sociotät als eines
organischen Ganzen“ liegt, S. 420).
Mancherlei Bausteine für eine volkswirtschaftlich Probe haltende Rechts-
philosophie hat Lange geliefert, besonders in seinen „Ansichten Mills“ (namentlich
Kap. 2), in seiner „Arbeiterfrage“ (bes. Kap. 6). Aber die principielle Hauptfrage
über den „Staat und die Volkswirtschaft“ erfährt hier noch keine ein-
gehende Betrachtung.
Unter den Schriften, die mehr vom politischen, als vom rechtsphilosophischen
Standpuncte, aber doch auch von diesem aus die Stellung des Staats auch zur Volks-
wirtschaft erörtern, verweise ich für die Gesammtauffassung besonders auf
H. Escher’s Politik I, 1. B., Staatsmetaphysik. Neuere französische Litteratur
s. bei Ahrens, Naturrecht II, 277, Anm., so Pascal Duprat, de l'6tat, sa place et
son röle dans la vie des societ^s, 1852, E. Laboulayc, l’etat et ses limites, Rev.
internat., Nov. 1860, Ducpetiaux, mission de l’etat, ses rögles et ses limites, 1862.
Klöppel, Staat und Gesellschaft, Gotha 1887, Aus neuester Zeit auch die Litteratur
über Staatssocialismus (s. o. §. 18); dazu noch H. Spencer, man versus state,
„von der Freiheit zur Gebundenheit“ (Berl. 1891).
§.353 [S. 292]. Fortsetzung. Für die in diesem Buche angcstellte national-
ökonomische Aualysc des Staats kann die alte Frage über den Entstehungs-
grund des Staats als solchen bei Seite gelassen werden. Dagegen treten die beiden
anderen eng zusammengehörigen Haup tf ra ge n über den oder die Zwecke und
über die Grenzen oder den Bereich der Staatsthätigkcit auch für die national-
ökonomische Betrachtung besonders hervor.
Der neueren organischen Auffassung des Staats widerspricht die äusser-
liche Trennung verschiedener Staatszweckc ebenso sehr als die Annahme des
alleinigen Rechtsschutzzwecks der Kant’schen und der Smith’schen Schule oder als
die gewaltsame Subsumption aller im concreten Staate vorkommenden Thätigkeitcn
unter den Begriff dieses „Rechtszwecks“, wie er auch genannt wird. Es handelt sich
aber auch nicht um eine äusserlichc Trennung des einen einheitlichen Staats-
zwecks, sondern um eine Gliederung desselben und hier wird die Unterscheidung
des Rechts- und Machtzwecks einer- und des Cultur- oder Gnltur- und
Wohl fall rtsz wecks anderseits aufrecht erhalten werden dürfen, ganz in der
Weise, wie es neuere Rechtsphilosophen und theoretische Politiker der organischen
Staatsauffassung ebenfalls noch thun: s. z. B. v. Leon har di (a. a. 0. S. 10) und
Ahrens (II, 303), wenn er sagt, der Staat ist nicht abstracter Rechtsstaat, sondern
ein Cultur- und Humanitätsrechtsstaat. (Vgl. auch Röder 1, 214 ff, 223 ff.)
Im Grunde ist alles Wesentliche, auch für die nationalökonomische Auffassung des
Staats schon in dem Satze des Aristoteles enthalten: f / n6kig ytvofXkvt) zov
t'vexev, ovaa rov er (de re publ. I. 2, ed. Bekkcr, p. 3). Gute Erörterungen
darüber von II. Es eher (1, §. 7 — 11, bes. 10).
Für die nationalökouomischc Betrachtung werden aus dem Zweck und
Bereich des Staats dann nur die speciell ökonomischen und finanziellen
Consequenzen genauer abzuleiten sein, w’ie dies im Texte bes. im 3. und 4. Kapitel
dieses Buchs geschieht. In den Systemen der Finanzwissenschaft und hier in
der Lehre von den Staatsausgaben, pflegen sich auch gewöhnlich theils Be-
schreibungen der Staatsthätigkeiten. theils Erörterungen principieller Art über Zweck
und Bereich des Staats zu finden, so schon bei A. Smith a. a. 0., vergl. Rau,
Finanzwiss. 5. Aufl., I, §. 44 und meine Finanzwiss. I, 3. A., §. 1 ff., 7 ff, 32 ff.
Für diese Erörterungen, ebenso wie für die Principien der Besteuerung gilt jedoch
der Satz, dass sic, grade soweit es sich dabei um principielle Untersuchungen
876
6. B. Der Staat. Vorbemerkungen. §. 352.
handelt, mehr in den grundlegenden Thcil der ganzen Politischen Oekonomie.
als speciell in die Finanzwissenschaft (oder auch als nach Stein u. A. m. in die
Verwaltungslehre) gehören. In diesen letzteren Disciplincn ist die Bestimmung der
Staatszwecke und die Festsetzung des Bereichs der Staatsthätigkeit und der obersten
Steuerprincipien dann als schon erfolgt vorauszusetzen und sind nur speciell die
finanziellen u. s. w. Consequonzen daraus zu ziehen. Nach diesem Gesicht*punct
bin ich auch in der 2. Aufl. (§. 3Ü tf) und 3. Autl. (§. 32 tf.) des 1. Bauds meiner
Finanzwissenschaft verfahren.
Die Erörterung Uber die richtige Bestimmung des Bereichs oder der
Grenzen der Staatsthätigkeit gehört anderseits auch in die theoretische Politik
und in die allgemeine Staatslehre. Die Autoren entscheiden dann, je nachdem
sie mehr abstract dogmatisch oder concret historisch und statistisch ihren Gegenstand
behandeln, die Fragen auf Grund eines bestimmten rechtsphilosophischen Systems oder
nach einem ihnen vorschwebenden Ideal eines bestimmten geschichtlichen Staat
Hierher gehören als noch heute besonders beachtcnswerth W. v. Humboldt’s Ideen
zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, zuerst 1792
(neue Aull., Brest. 1851), eine Schrift auf dem ganz individualistischen Standpunete
des Kant’schen reinen Rechtsstaats, und insofern auch auf jenem A. Smith scheu
Standpuncte, wie er etwa von späten volkswirtschaftlichen Nachläufern, z. B. einem
Princc-Smith (§.313) vertreten wird. Mit dieser Schrift Humboldt's ist besonder;
Mill s Schrift Uber die Freiheit zu vergleichen, ebenso J. Simon’s libert6. jetzt
H. Spencer's vorhin genannte Schrift. Aus der neueren Litteratur siehe: G. Waitr,
Politik, Kiel 1862, bes. Abschn. 1 und 6, v. Holtzendorff, Politik, Berl. 1969.
bes. B. 3, auch für Gesamm taufgaben des Staats v. Roch au, Grundsätze der Real-
politik. 2. Th., Heid. 1869; besonders aber R. v. Mohl, Encyclopädie der Staats-
wissenschaft. namentlich §. 11 u. 12. und Ders., Staatsrecbt, Völkerrecht u. Politik.
1860 fT., vielfach, besonders im 3. B., Ausführungen des Rechtsstaatsideals Mohl's.
Bluutschli, Lehre vom modernen Staat. 1. Th. Allgemeine Staatslehre. 5. A..
Stuttg. 1875, bes. B. 1 über den Staatsbegriff, ß. 5 über den Staatszweck, auch
Th. 3, Politik passim. Bedeutender und für die nationalökonomische Betrachtung
brauchbarer als diese Werke der Juristen ist Schäffle, Soc. Körper B. 4. S. jetzt
auch W. Roscher, Politik, Stuttg. 1892. Sidgwick, elemcnts of politics, London
1891, sowie Dess. polit. econ. book III. Wie wenig unter den älteren Autoren der
Politik u. s. w. R. v. Mohl auf dem einseitigen Standpunct der Smith’schen Schale
in nationalökonomischen und socialpolitischen Fragen in Bezug auf Staatsinterrentioa
stand, ergiebt sich aus den neuerdings von E. Meier in s. schönen Aufsatz über
R. v. Mohl (Tüb. Ztschr. 1878, B. 34) wieder hervorgezogeneu Aufsätzen Mohl's über
Fabrikwesen (Rau’s Arcli. d. Pol. Oek. 1835, II, 141 tf. , Rotteck und Welckers
Staatlsex. 1. A., VI, 775) und über d. Pol. Oek. in d. D. Viertelj.schr. 1840. II. 3.
S. 1 Cf. Vgl. Meier a. a. 0. S. 494 CT. — Vgl. ferner das vorhin genannte Werl
von Escher uud die französischen Schriften, sowie Kautz a. a. 0. I, 249, 261;
ausserdem die oben S. S5S schon genannto polizeiwissenschaftliche und Ver-
w altungslitteratur.
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877
Erstes Kapitel.
Der Staat im Allgemeinen.
I. — §• 354 [161]. Der Staat als volkswirtschaftliche
Kategorie. Der Staat ist in neuerer Zeit von den National-
ökonomen öfters unter die Kapitalarten gereiht und als das
wichtigste (stehende) Immaterialkapital der Volkswirthschaft
bezeichnet worden.
S. Roscher, I, § 42 und besonders die guten Erörterungen von K. Dietzel,
System der Staatsanleihen, Heid. 1855, S. 11 ff., 16 ff., bes. 71 ff. und passim.
Diese Auffassung ist nicht unrichtig und entspricht der Ein-
reihung des Staats als wirtschaftliches Gut in die Classe der
„Verhältnisse“ (§. 119) und unter die Bestandteile des Volks-
vermögens (§. 124). Aber der universalen Bedeutung des Staats
an und für sich und speciell wieder für die Volkswirthschaft wird
nur die Auffassung des Staats als höchste Form der Zwangs-
gemein wirthschaften in der Volkswirthschaft, als wahre Ge-
sammtwirthschaft des staatlich organisirten Volks (§. 149 ff.,
299) gerecht.
Die Bezeichnung „Wirthschaft“ für den Staat ist im bisherigen Verlauf schon
oft gebraucht worden. Da cs dem gewöhnlichen Sprachgebrauch widerspricht, Staat,
Kirche u. s. w. „Wirthschaften“ zu nennen und zwar in dem Sinne, dass sie regel-
mässig gewisse Leistungen „produciren“, welche man oft ganz ohne Rücksicht auf
den sogen, wirtschaftlichen Gesichtspunct behandelt, so mag hier daran erinnert
werden, dass die Ausdehnung des Begriffs Wirthschaft selbst auf Staat und Kirche
eine notwendige Consequenz der Einbeziehung aller Arten Dienstleistungen in die
wirtschaftlichen Güter ist. Auch Staat und Kirche sind als „Veranstaltungen für die
regelmässige Herstellung von (meist immateriellen) Leistungen aller Art‘‘ für gewisse
Bedürfnisse vom volkswirtschaftlichen Standpuncte aus „Wirthschaften“, worin aber
in keiner Weise eine Herabziehüüg ihrer Leistungen in die Sphäre des materiellen
Interesses gefunden werden kann. S. §. 361.
Der so aufgefasste Staat lungirt alsdann auf den beiden
grossen Gebieten, in der Production und in der Vertheilung.
1) Im volkswirtschaftlichen Productionsprocess erscheint
er neben den „natürlichen“ Ursachen und Bedingungen aller
Production, den sogenannten Producti vfactoren Natur und
Arbeit, Kapital und Unternehmung, deren Zusammenwirken
für die Production der Güter erforderlich ist, als eigener, als der
die Rechtsordnung schaffende und sichernde Factor. Durch
diese seine Wirksamkeit erst schafft und sichert er die socialen
und rechtlichen Bedingungen dafür, dass die Production, ins-
besondere auch im privatwirtbschaftlichen System, theils überhaupt,
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Theil. Grundlagen. 56
878
6. B. Staat. 1. K. Im Allgemeinen. §. 374.
theils befriedigend vor sich gehen, jenes Zusammenwirken der
natürlichen Ursachen und Bedingungen erfolgreich stattfinden kann.
Diese Mitwirkung des Staats in und an der Production als „Ver-
mögen erzeugende Societät“ (Stahl) findet in der Ueberweisung
materieller Finanzmittel an ihn, insbesondere daher in den Steuern,
welche somit einen Theil der nothwendigen Productionskosten
bilden, ihren ökonomischen Entgelt. Es kommt darin das Princip
der Heproductivität dieser Finanzmittel, bezw. Steuern in den
Staatsleistungen zur Geltung, worin auch der ökonomische Er-
klärungs- und Rechtfertigungsgrund der Besteuerung liegt.
S. Fin. II, zweite Aufl., §. 87. Der ökonomische Grand der Besteuerung ist
mit dem Rcchtsgrund der Steuerpflicht nicht zu verwechseln (eb. §. S5 ff., s. auch
oben §. 349 ff.).
Unter dem Ausdruck „Productivfactor“ kann sowohl das bedingende, als das
ursächliche Moment in der Production verstanden werden. Natur und Arbeit
lassen sich als die ursächlichen, Kapital und Unternehmung — letztere als rein
ökonomische, nicht bloss als historisch - rechtlic he Kategorie eines be-
stimmten Volkswirthschaftssystcms betrachtet — als die bedingenden Momente im
Productionsproccss anschcn, wenngleich auch hier Ursache und Bedingung sich nicht
immer scharf unterscheiden (s. o. S. 152 u. S. 894). Dasselbe gilt vom Staate, welcher
in der Production zwar überwiegend als Bedingung, besonders gegenüber dem
privatwirthschaftlichcn System, aber doch auch zugleich als Ursache fungirt. Er
schafft die Einrichtungen, Anstalten, Leistungen auf immateriellem wie materiellem
Gebiete, welche seiner jeweiligen Aufgabebcstimmung und Thätigkeitssphäre ent-
sprechen, ist hier „Productions wirtbschaft“ (S. 378) und er wird dadurch
Bedingung aller Productionsthätigkeit anderer Wirtschaften. Ich halte daher an
der Bezeichnung des Staats als „Productivfactor“ fest. Coordinirt ist er den
anderen vier Momenten allerdings nicht, aber auch diese sind sich nicht coordinirt,
insbesondere ist das Kapital den Factoren Natur und Arbeit subordinirt, eist ein
Product beider, wie der Staat auch. Auch die Unternehmung ist wieder nicht dem
Kapital, auch nicht der Arbeit coordinirt, sondern selbst nur eine specifische Art der
Einrichtung des Zusammenwirkens von specifischer Arbeit und Kapital. (Gegen die
Identificirung von „Unternehmung überhaupt“, als allgemeine ökonomische Kategorie,
mit der modernen Form der Unternehmung, wio sie sich bei den Socialisten, aber
auch in einer unklaren Begriffsbestimmung der Unternehmung bei G. Sch mol ler
findet, möchte ich hier nur Einspruch erheben, ohne meine Auffassung an diesem
Orte näher zu begründen.) — Einwendungen gegeu diese Auffassung des Staats als
Productivfactor von v. Scheel in s. Anzeige d. 1. Aufl. d. Grundlegung in Hildebr.
Jahrb. 1876. B. 26, S. 49 (s. darüber schon in d. 1. Aufl. S. 474, Note) u. Polemik
dagegen von v. Skarzynski, Ad. Smith, Berl. 1878. Die Betrachtung des Staats
als Productivfactor, wenn auch nicht immer in dieser bestimmten Formulirnng,
ist doch schon häufiger zu finden und entspricht der gleich zu erwähnenden Auf-
fassung Müller’s und Stahl’s. Aber nicht minder wesentlich ist die Auffassung
des Staats als Verth eilungsregulator. eiu wenigstens in der Theorie bisher zu
wenig beachteter Punct. — Stahl’s Auffassung s. in seiner Rechtsphilosophie.
2. Aufl., II, 2, S. 420. Die Conscquenz dieser Auffassung für die Würdigung der
Steuern ist eine weittragende: der Staat nimmt eben, die Volkswirtschaft als Ganzes
aufgefasst, den besteuerten Einzelnen gar nicht etwas ihnen Gehöriges, nur von
ihnen Erworbenes, sondern er nimmt in den Steuern seinen Antheil am Pro
ductionsertrage der Einzelwirtschaften, ebenso wie ein stiller Gesellschafter, nach der
schönen Ad. Mül ler sehen Auffassung (Eiern, d. Staatskunst III, 75) gleichsam als
„Zinsen des unsichtbaren und doch schlechterdings nothwendigen geistigen National-
kapitals“, welches der Staat repr&sentirt.
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Der Staat als Volks wirthsch. Kategorie.
879
2) Im volkswirtschaftlichen Vertheilung sprocess ist der
Staat gleichfalls ein nothwendig raitwirkender Vertheilungs-
regulator, vermittelst dieser von ihm ausgehenden und von ihm
garantirten Rechtsordnung des Verkehrs, vermittelst seiner
Politik der Einnahmebeschaffung, besonders seiner Steuerpolitik,
und vermittelst seiner directen Theilnahme an der Production
anderer, auch materiell-wirthschaftlicher Leistungen.
Insbesondere giebt der Staat in der wirtschaftlichen Rechtsordnung dorch seine
Bestimmungen über persönliche Freiheit, Eigenthum, Erbrecht, Vcrtragsrecbt und
Giltigkeit erworbener Rechte dem Princip der Concurrenz erst seinen genaueren Inhalt
und Umfang (§. 306, 307) und greift dadurch wesentlich in die Vertheilung ein.
Der Bezug von Reinerträgen aus seinen Privaterwerbs- und Gebühreneinrichtungen
hat für die Vertheilung des Volkseinkommens tiefe Wirkungen, nicht minder die von
ihm befolgte Politik des Entgelts und der Kostendeckung seiner Leistungen , sowie
seine Besoldungspolitik im ötlentlichen Dienst.
II. — §. 355 [162]. Zwecke und Leistungen des Staats.
Um die Bedeutung, welche der Staat hiernach für die Volkswirt-
schaft hat, richtig zu würdigen, ist es auch in der Politischen
Oekonomie nothwendig, wenigstens in der Kürze orieutirend auf
die Zwecke und Leistungen des Staats überhaupt einzugehen.
A. Die Leistungen des Staats lassen sich volkswirt-
schaftlich unter dem Gesichtspunct der Arbeitstheilung be-
trachten.
Der Staat führt als Zwangsgemeinwirthschaft eine Arbeitstheilung durch, indem
er, ausschliesslich oder neben anderen Einzelwirthschaften , die Fürsorge für gewisse
Bedürfnisse, insbesondere für Gemeinbedürfnisse übernimmt, dadurch anderen Eiuzel-
wirthschaften die sonst hierfür nothwendige Thätigkeit (Arbeits- und Kapitalaufwand)
abnimmt, diese Thätigkeit also für andere Zwecke frei macht und. nach den ihm als
Zwangsgemeinwirthschaft zur Wahl stehenden, insbesondere nach dem eigenthümlichen
Princip der Kostendeckung mittelst Steuern (§. 34'.)), den Einzelwirthschaften oder der
ganzen Volkswirtschaft Steuern auflegt und seine Leistungen dafür zur Verfügung
stellt. Je nach der Art und Beschaifenheit, nach dem Umfang und Inhalt dieser Lei-
stungen gestaltet sich dann auch das Arbeitstheilungsverhältniss zwischen dem Staat
und den übrigen Einzelwirthschaften verschieden.
In dieser Hinsicht zeigt nun der geschichtliche Staat
nach Zeit und Land grosse Verschiedenheiten, je nach der Auf-
fassung und der Durchführung der Staatszwecke überhaupt und
der einzelnen Staatsleistungen insbesondere. Diese durch
Beobachtung sicher constatirte Thatsache beweist schon, dass es
ein müssiges und nothwendig verfehltes Beginnen ist, den Be-
reich der Staatsthätigkeit oder die Grenzen der letzteren
und damit, volkswirtschaftlich ausgedrückt, die Arbeitstheilung
zwischen dem Staate und den anderen Einzelwirthschaften, sei es
der Privaten, der Erwerbsgesellschaften, der freien oder der übrigen
Zwangsgemeinwirthschaften (Selbstverwaltungskörper) , besonders
56*
380 6- R- Staat. 1. K. Im Allgemeinen. §. 355, 356.
der Gemeinde, principiell ein für allemal feststellen zu
wollen.
A priori , aus dem „Wesen“ des Staats , lässt sich ein Princip hierfür nicht
ableiten, denn dieses „Wesen“ ist selbst wieder ein Product der Geschichte. Ebenso
wenig lässt sich aus dem Wesen der Einzelfrcibcit ein für allemal eine unUberschreit-
bare Grenze der Staatsthätigkeit bestimmen, da eben auch hier das Individuum
durchaus im Fluss der Geschichte steht. Die Bestrebungen der Rechtsphilosophen und
Politiker, z. B. wieder von W. v. Humboldt bis auf J. St. Mill, liefern einen
Beleg für diese Sätze. Es wird daher auch jedem neuen Versuch, mit dem eine neue
philosophische und politische Schule, wie z. B. diejenige von Krause und Ah re ns
(s. o. S. 672) debütirt, hierüber etwas endgiltig Abschliessendes zu sagen,
nur die grösste Skepsis entgegen zu stellen sein. Die Widersprüche selbst zwischen
Philosophen und Politikern verwandter Richtung sind bezeichnend genug und auch
unvermeidlich, weil hier ein Gebiet immer zugleich mehr oder weniger subjectiver
Ansicht vorliegt und anderseits die schliesslich im einzelnen Zeitalter und Staat
jedesmal entscheidenden religiösen, sittlichen und rechtlichen Anschauungen („der
Wille der erhabenen Autoritäten“, wie v. Kirchmann es formulirt) so ausserordent-
lich wechseln. Die nationalen Verhältnisse äussern zudem noch ihren besonders
berechtigten Einfluss. (S. Eschcr, Politik I, 71.) In den Fragen der Decentralisation
der Verwaltung und des Selfgovernments wird dies oft zu sehr vergesssen. Ähre ns
(Naturrecht II, §. 60, 105 — 107, 62, 110) ist ein neuer Beleg für die Richtigkeit der
Behauptung im Texte, bei aller Zustimmung, die ich ihm gebe. Aelinliches gilt von
den Ausfuhrungen von Röder (II, 1 ff.).
A posteriori, aus den Beobachtungen der wirklichen Staaten, sind
wohl Merkmale für einen Minim albereich und für gewisse Merkmale von Thätig-
keiten zu gewinnen, dessen und deren Vorhandensein die Voraussetzung für das
Vorhandensein jener Form menschlicher Gemeinschaften ist , welche mit dem Namen
„Staat“ bezeichnet werden soll. Aber für die über diesen Minimalbereich hinaus-
gehenden Leistungen und für die den letzteren zu ziehende Grenze ist aus den
Beobachtungen der Vergangenheit und Gegenwart nichts Endgiltiges zu entnehmen.
Man kann daraus nur gewisse Hauptzwecke des Staats und Grundformen staatlicher
Leistungen und hieraus wieder allgemeinere Regeln für muthmaasslich in bestimmten
geschichtlichen Verhältnissen richtige Staatsthätigkeiteu abstrahiren.
So wird es der Wirklichkeit immer Vorbehalten bleiben
müssen, durch die That zu beweisen, dass eine weitere Aus-
dehnung des Bereichs der Staatsthätigkeit, vielleicht auf ganz neue
Gebiete, zulässig ist und anderseits auch, dass unter Umständen
eine Beschränkung dieses Bereiches unter das vielleicht schon
übliche Maass ebenfalls richtig oder nach den gegebenen geschicht-
lichen Verhältnissen nothwendig sein kann.
B. — §. 356 [163]. Für die volkswirtschaftliche Betrach-
tung des Staats lassen sich hieraus folgende wichtige Sätze ab-
leiten, welche in der Praxis die Bedeutung von Axiomen der
Staatspolitik und folgeweise speciell auch der Finanzpolitik
erlangen :
1) Es ist nicht begrifflich noch durch Erfahrung endgiltig
festzustellen, welche einzelne Leistung allein Sache des
Staats und ebenso wenig, welche nicht Sache des Staats
sein soll.
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Zwecke und Leistungen des Staats.
881
Ein Satz, welcher z. B. mit vielen verbreiteten Anschauungen in der modernen
Volkswirtschaft in Widerspruch steht (Staatshilfe — Selbsthilfe, in der Arbeiterfrage;
Staats- oder Privatihätigkcit im Verkehrswesen u. dgl. in.). Dies ist von den Publi-
cisten und Rednern der deutschen Freihandelsschule, von den Secrctären der Handels-
kammern u. A. m. z. B. in dem Streite zwischen Schulze-Delitzsch und Lassalle
so oft gänzlich übersehen worden. Mit dem Schlagwort „Staatshilfe*1 wurden ohne
jede weitere Prüfung die besten Bestrebungen verurteilt. (S. meine Rede über die
sociale Frage S. 11.) Vergl. auch Ahrens, Naturrecht II, 293. Selbst Ah re ns,
Röder, Bluntschli und die meisten theoretischen Politiker der organischen Staats-
auffassung versehen es hierin immer noch, indem sie z. B. in ihren Erörterungen
über die Stellung des Staats zur Volkswirtschaft eine gewisse vermittelnde Auffassung,
einen „gemässigten Smithiauismus“ vertreten: in gegebenen Fällen oft ganz richtig,
aber mit Unrecht wird diese Auffassung wieder als eine „endgiltige“ hingestellt,
auch in Widerspruch mit der wahrhaft historischen Auffassung. Dies gilt z. B.
von Röder (I, 232>. Freier ist auch hier R. v. Mohl in den oben S. 876 gen,
Abhandlungen. Die Grenzen zwischen Staat und „Gesellschaft4’ , die u. A. Röder
besonders betont, sind auch fliessende, nicht principielle. — Ein cbaracteristisches
Beispiel, wie aus willktlhrlichcn Annahmen Uber die „richtige“ Bestimmung der Auf-
gabe und Thätigkeit des Staats zu Gunsten bestimmter practischer Maassnahmen
deducirt wird, war es, dass s. Z. im italienischen Parlament die Verstaatlichung der
Eisenbahnen damit angefochten wurde, „Gewerbetrieb“ sei keine Aufgabe des Staats,
also die Verstaatlichung falsch. Wobei ausserdem noch die willkührliche Auffassung
des Eisenbahnwesens als „Gewerbe“, des Eisenbahnbetriebs als „Gewerbetrieb“ unterlief.
2 ) Die Ausdehnung der Staatsthätigkeit ohne Wahl,
„aus Princip“, auf Kosten der privatwirthschaftlichen und zum
Thcil auch der caritativen und übrigen gemeinwirtlischaftlichen
Thätigkeit ist theoretisch falsch und practisch verwerflich.
Daher ist gegen die Wohlfahrtsstaatstheorie des vorigen Jahrhunderts, gegen die
Praxis der Staatsomnipotenz des aufgeklärten Despotismus und des reinen Polizei-
staats, aber auch gegen den rein socialistisch-communistischen Character des Staats
(.§. 293) Stellung zu nehmen. — Gute Darstellung der Wohlfahrtsstaatstheorie in
Funks Aufs, über Auffassung und Begriff der Polizei im vorigen Jahrhundert, Tüb.
Ztschr. B. 19 u. 20. Besonders beachtenswerth ist Chr. Wolff’s Theorie, die sich
in ihren practischen Conscqucnzen so merkwürdig mit den modernsten Forderungen
unserer extremen Arbeiterparteien in characteristischen Details berührt. Les extremes
se touchent! Roscher in der Geschichte der Nationalökonomie (S. 347 ff.) wird m. E.
der Bedeutung Wolffs nicht durchweg gerecht. Vgl. auch Zeller, Geschichte der
deutschen Philosophie, S. 211 ff., bes. 237 ff. 264, 267 und Bluntschli, Geschichte
des Staatsrechts und der Politik, München 1864, S. 213 ff.
3) Die principielle Beschränkung des Staats auf einen
einzigen, mehr oder weniger eng und willkührlich gefassten
Zweck, z. B. auf den Rechtsschutzzweck des abstracten
Rechtsstaats, und demgemäss die Proclamirung des Laisser faire
et passer in allen) Uebrigen für den Staat ist ebenso theoretisch
falsch und practisch unzulässig.
Daher ist dio sog. Manchcstcrtheorio der extremen Smith’schen volkwirthschaft-
lichen Schule mit ihren Postulaten für die Staatspolitik grundsätzlich zu verwerfen.
Die nahe Verwandtschaft der S mit h sehen volkswirtschaftlichen und der Kant'scheu
politischen Doctrin tritt hier wie überall hervor. — S. Röder I, 214.
4) In die Thätigkeiten zur Beschaffung der Güter für die Be-
dürfnisbefriedigung und zur Herstellung der Einrichtungen und
Anstalten für letztere haben sich nach dem Früheren (§. 302) die
882
G. B. Staat. 1. K. Im Allgemeinen. §. 356, 357.
Einzelwirtschaften des privatwirthschaftlichen, des caritativen und
des gemeinwirthschaftlichen Systems, also einschliesslich des Staats
und der Selbstverwaltungskörper, passend zu t hei len. Die hierzu
nothwendige Combination ist aber wieder einem beständigen
Wechsel unterworfen (§. 302). Der Staat, welcher kraft seiner
Souveränetät zwangsweise eingreifen kann, wird gerade hier-
bei und deshalb leicht Fehlgriffe begehen. Daher ist die möglichst
unbefangene Prüfung von Fall zu Fall zu verlangen und diese
durch die Einrichtung von Volksvertretungen und Finanz-
controlorganen der Regierung gegenüber (§. 351) zu garantiren.
Eine principiclle Forderung, zumal für unsere Culturperiode absolut und
relativ (u. A. auch aus technischen Gründen) steigender Ausdehnung der , .öffent-
lichen“ Thätigkeitcn (§. 3G2 ff).
5) Der Staat muss namentlich seinen eigenen Thätigkeits-
bereich nach den eoncreten Verhältnissen und Bedürfnissen richtig
gegenüber demjenigen der anderen Zwangsgemeinwirthschalten
oder der Selbstverwaltungskörper (§. 351 Nr. 4), die Sphäre
aller Zwangs- gegenüber den freien, und diejenige aller
freien Gemein wirthsebaften gegenüber den privatwirth-
schaftlichen und caritativen Wirthsebaften und Thätigkeiten
bestimmen.
Aufgaben der Deccntralisatiou der Verwaltung, der Selbstregierung der kleineren
räumlichen Kreise, der Gestaltung des Vercinswesens und seines Kcchts, insbesondere
auch des Erwerbsgesellschafts- (Actiengesellschafts-), Genossenschaftswesens und Kcchts.
überhaupt der Grenzziehung zwischen den gewöhnlichen Erwerbsthätigkeiten des Staats
und der Privaten. Die früher (§. 334, 343, 34S) berührten Fragen über etwaige Ein-
engung des Gebiets der Actiengesellschaften mittelst Ausdehnung der öffentlichen Unter-
nehmungen gehören auch hierher wieder.
6) In finanzieller Hinsicht kann der Grundsatz der Spar-
samkeit niemals für den Staat (ebenso wenig für andere
Zwangsgemeinwirthschaften) eine absolute, sondern nur eine
relative, überhaupt nur die Bedeutung einer Klugheitsregel,
aber nicht die Bedeutung haben, dass eine Ausgabe unbedingt
unterbleiben müsste.
Donu das hängt immer von dem Zweck derselben, dahor von der mit ihr herzu-
stellenden Staatsleistung ab. Die „Sparsamkeit“ kann mithin niemals ein leitender
Grundsatz des Staatshaushalts werden, sondern bedeutet bloss die Anerkennung und
möglichste Durchführung des ökonomischen Princips im Staatshaushalte, wie in jeder
Einzelwirthschaft. v. Male hu 8, Finanzwiss., Stuttgart und Augsburg 1S30, II, 13,
A. Wagner, Ordn. d. österr. Staatshaushalts, Wien 1 863, S. 6, meine Fin.wiss. I,
3. A. §. 34.
7) In finanzieller Beziehung ist wreiter nach der Natur
des Staats als Wirthschaft eine grundsätzliche Stabilität der
Einnahmen und die Anweisung des Staats bloss auf
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Sätze für die Staatspolitik.
883
solche Einnahmearten unzulässig, welche wie die privat-
wirthschaftlichen und wie stabile Steuern dem veränderlichen
und in Culturstaaten im Ganzen steigenden, von der Ver-
änderung und der Ausdehnung des Bereichs der Staats-
thätigkcit abhängigen Bedarf (§. 362 ff.) des Staats sich nicht an-
schmiegen können.
8) In Betreff der Frage der Kostendeckung der Staats-
leistungen, der Regelung des Entgelts fUr die letzteren bleibt
dem Staate immer die ausschliessliche Anwendung des gemein-
wirthschaftlichen Princips möglich (generelle Kostendeckung aus
allgemeinen Einnahmen, aus Steuern, unentgeltliche Zuführung
an und Bereitstellung der Leistungen für die Einzelnen). Aber es
kann und soll unter Umständen hier auch das privat wirt-
schaftliche, das Gebührenprincip Anwendung finden, mög-
lichst in erster Linie nach sachlichen, erst daneben und danach
nach finanziellen Gesichtspuncten und Rücksichten und in der
hierdurch bedingten Weise und dem hiernach passend zu er-
achtenden Maassc (§. 335).
C. — §. 357 [164]. Allgemeine Schlüsse in Bezug
auf Staatszwecke und Leistungen. Giebt es nach dem
Vorausgehenden thatsächlich und principiell keinen ein für allemal
feststehenden Bereich der Staatsthätigkeit, so lassen sich doch:
1) bei aller nach Zeit und Ort wahrnehmbaren Ver-
schiedenheit der letzteren überall und allzeit zwei eigent-
liche organische Staats zw ecke und demgemäss zwei
Hauptgruppen von Leistungen des Staats erkennen. Min-
destens Ansätze zu solchen Leistungen mltssen vorhanden sein,
wenn überhaupt die Zwangsgemeinschaft „Staat“ nach den für
diesen Begriff unentbehrlichen Merkmalen vorhanden sein soll.
(Folgendes Kapitel 2.)
2) Ferner kann erfahruugsgemäss aus der Geschichte fort-
schreitender Culturvölker, also aus zeitlichen Vergleichen so-
wohl als auch aus der Vergleichung der Staaten und Volkswirt-
schaften auf verschiedenen Entwicklungsstufen, mithin aus räum-
lichen Vergleichen1), eine bestimmte Entwicklungstendenz
Es wird Seitens der sogen, historischen Schule oft zu wenig beachtet,
wie die räumliche Vcrgleichang der zeitlichen in methodologischer Hinsicht
verwandt, aus äusseren Gründen aber oft vorzuziehen ist, weil nemlich das Material
reichlicher vorhanden, die Einfluss übenden Factoren leichter zu ermitteln sind.
S. die Vorrede zu meinem System der Zettelbankpolitik, Freiburg 1S7.!1, S. XI, u.
oben §. 80 ff.
884
6. B. Staat. 1. K. Im Allgemeinen. §. 357, 358.
oder ein sogen. „Gesetz“ der Entwicklung der Staatsthätigkeiten
für Culturvölker abgeleitet werden: das Gesetz der wachsen-
den Ausdehnung der „öffentlichen“, bez. der Staats-
thätigkeiten bei fortschreitenden Culturvölkern. (Kap. 3).
Dieses Gesetz — das Wort im allein, aber auch im zulässigen Sinne bei „volks-
wirthschaftlichen Gesetzen“ genommen, §. 89, — giebt wenigstens die Richtung an,
in welcher sich im concreten Falle muthmaasslich ebenfalls und mit Recht die Staats-
thätigkeit bewegen, daher namentlich die staatliche Gesammtwirthschaft gegenüber den
anderen Wirtschaften ausdehnen wird.
3) Ebenso lässt sich durch solche Beobachtungen ein Gesetz
für die Entwicklung und Umbildung der Art und Weise fest-
stellen, in welcher der Staat seine Thätigkeitcn aus führt, ein
Punct, welcher für die volkswirthschaftliche Betrachtung des Staats
von besonderer Wichtigkeit ist: das Gesetz des Vorwaltens
des Präventivprincips im entwickelten Rechts- und Cultnr-
staat, statt des blossen Repressivprincips, namentlich auf dem Ge-
biete der Thätigkeiten zur Verwirklichung des Rechts- und Macht-
zwecks. (Kap. 4).
4) Endlich kann man aus der Erfahrung auch die Bedin-
gungen ableiten, welche muthmaasslich vorhanden sein müssen,
um eine Staatsthätigkeit statt einer Privat- oder eine ThUtigkeit
andrer Wirthschaften, auch anderer öffentlicher Zwangsgemein-
wirthschaften (Provinz, Kreis, Gemeinde) überhaupt passend er-
scheinen zu lassen. Daraus kann man einige allgemeine Regeln
für die Feststellung des Bereichs der Staatsthätigkeit bei unseren
Culturvölkern ableiten, woraus sich dann wieder eine Richtschnur
für den einzelnen Fall ergiebt. (Kap. 5).
Da von dem Umfange, dem Inhalte und der Ausftlhru ngsart der Staats-
leistungen der Bedarf des Staats an materiellen Mitteln oder der Finanzbedarf
abhängt, so haben die folgenden Erörterungen namentlich auch für das Finanzwesen
und für die Wissenschaft von demselben, die Finanzwissenschaft, ihre principielle
Bedeutung. S. meine Fin.wiss. I, 3. A., §. 32 — 37.
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885
Zweites Kapitel.
Zwecke und Leistungen des Staats
und Durchführungsmittel dafür. Finanzwirthschaft.
S. die littcrariscben Angaben in den Vorbemerkungen zu diesem Buche §. 352,
358. Bes. zu vergleichen: R. v. Mohl. Encycl. d. Staatswiss. §. 11, 12. Waitz,
Polit., Abschn. 1, Kap. 2, und Abschn. 5, v. Holtzendorff, Principien der Politik, 3. B.,
s. bes. Kap. 7 u. S (nationaler Machtzweck), namentlich aber Es eher, Polit. §. 7 — 12.
Bluntsclili I, B. 5. S. 345. — Trondclenburg, Naturrccht §. 151, 152, 154,
155, Ahrens, Naturrecht §. 105 — 107 (II, 276 ff.), auch §. 60, v. Lconhardi
a. a. 0. S. 10, Röder I, 213 ff., Iherin g Zweck I, 1. A., 305 ff — Hermann,
staatsw\ Untersuch., 2. A., S. 47 ff, 72 ff, 93 ff., Schaffte an d. in den Vorbemer-
kungen S. 870 gen. Stellen. — Meine Fin. 2. A. I, §. 31 — 35, 3. A. §. 32 — 87,
Sax, Grundlegung, §. 63 ff
I. — §. 358 [165]. Die eigentlichen organischen Zwecke
der Zwangsgemeinschaft „Staat“ sind:
A. Der Rechts- und damit verbunden der Macht zweck.
B. Der Cultur- und Wohlfahrtszweck.
Beide Zwecke sind nicht äusserlich zu trennen, auch hei
ihrer Verwirklichung erscheinen sie häufig mit einander verbunden
in der einzelnen Leistung, z. B. vielfach in der Polizeithätigkeit,
so im Gesundheitswesen. Sie bedingen sich auch gegenseitig und
sind der Ausfluss der sittlichen Aufgabe des Staats als der
höchsten Form menschlicher Gemeinschaften. Aber gerade für
die volks wirth schalt liehe Betrachtung des Staats (und für die
finanzwissenschaftliche seines Bedarfs) empfiehlt sich
die Unterscheidung der beiden Zwecke.
A. — §. 359 [166, 167 J. Der Rechtszweck des Staats
besteht in der Fürsorge für das erste aller Ge mein!) edUrf-
nisse des menschlichen, völkerweisen Zusammenlebens, für die
Rechtsordnung im Inneren des Staats, des Volks und der
Volkswirtschaft und nach Aussen zu gegen andre Staaten,
Völker und Volkswirtschaften. Nach beiden Seiten, vor Allem
aber nach Aussen zu gerichtet erscheint der Rechtszweck als
(nationaler) Machtzweck: Aufrecht altung der Unabhängigkeit
oder der eigenen Souveränetät von Staat und Volk.
In Deutschland braucht man nach der Erfahrung von Jahrhunderten trüber
Geschichte die Bedeutung des nationalen Macht/.wccks auch für die materielle,
die Sachgüterproduction nicht mehr besonders zu erweisen. Der Vergleich mit
Grossbritaunien liegt nahe. S. besonders von Holtzendorff und Hermann
a. a. 0., auch die von den üblichen schweizerischen Illusionen ganz freien treffenden
Erörterungen von Esc her, I, §. 12, 13.
886
0. B. Staat. 2. K. Zwecke u. Leistungen. §. 359, 3G0.
Im Einzelnen handelt es sich bei dem Rechtszweck um
die hei dem principalen Gemeinbedürfniss der Rechtsordnung in
§. 327 bereits angeführten Puncte.
1) Im Inneren muss die Rechtsordnung für die Beziehungen
der Privaten zum Staate, für die persönlichen Beziehungen der-
selben unter einander und für den wirthschaftlichcn Verkehr (§. 306)
festgestellt, gegen Bruch gesichert, bei erfolgten Bruch wieder her-
gestellt, aber auch nach den als berechtigt erkannten Bedürf-
nissen, welche die Weiterentwicklung des Volks und der Volks-
wirtschaft mit sich bringt, fortgebildet und reformirt werden:
daher in ,, socialrechtlich er“, nicht bloss in individualrecht-
licher Richtung, mit dem Ziele der Lösung der socialen Aufgaben
zunächst innerhalb des nationalen Staats.
S. B. 4 Kap. 2 oben und 2. Abtheilung der Grundlegung. Zur Verwirklichung
dieser Aufgabe dient theils die gesetzgeberische Thätigkeit des Staats überhaupt,
thcils von den grossen Vcnvaltungsabthcilungen des entwickelten Staats (den „Mini-
sterien“) das Justizwesen, namentlich die Rechtspflege, gewisse Thcile des sogen.
Inneren Departements und der Polizei. Die Macht- und Zwangsmittel zur
Durchführung des. Staatswillens auf dem Gebiete der inneren Rechtsordnung stellen
die Organe der Justiz und der Inneren Verwaltung, insbesondere aber die
Polizei, nötigenfalls auch die bewaffnete Macht, das Militär.
2) Nach Aussen zu handelt es sich um den Schutz der
Staatsangehörigen, in Betreff ihrer Personen, ihres Eigenthums
und besonders auch ihrer wirtschaftlichen Interessen, daher nament-
lich um die Sicherung des volkswirtschaftlichen Marktgebiets fiir
Absatz und Bezug von Producten im Auslande.
Hierzu dienen Staats Verträge, diplomatische und consularischc Thätig-
keit, eventuell die bewaffnete Macht. Sodann kommt hier die Erfüllung jenes
nationalen Machtzwecks in Betracht, der vorneinlich durch die bewaffnete Macht
oder die Kriegsmacht i^Hecr und Flotte) präventiv und repressiv gesichert wird.
Der Rechts- und Machtzweck darl als erster und Haupt-
zweck des Staats betrachtet werden. Seine richtige Verwirk-
lichung gewährt aber zugleich die bedeutendste Förderung
aller Cultur- und Wo hl fahrt sinteressen und ist die Voraus-
setzung für die Erfüllung des Culturzwecks des Staats
und für die Entwicklung selbst des privatwirthschaftlichen Systems
in der Volkswirtschaft.
Wichtig gerade auch für die volkswirtschaftliche und
finanzielle Betrachtung des Staats ist die Wahrnehmung, dass
alle Thätigkeiten zur Verwirklichung des Rechts- und Machtzwecks,
welche der Staat früher vielfach mit den Privaten (Selbsthilfe) und
mit kleineren autonomen Organen, d. h., volkswirtschaftlich aus-
gedrückt, mit anderen örtlichen Zwangsgemeinwirthscbaften (Ge-
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Rechts- und Machtzweck.
887
meinde, Grafschaft), mit freien Vereinen (Corporationen) und be-
vorrechteten Privaten (Grundherrschaften) tbeilte, principiell und
immer consequenter auch thatsächlich ausschliesslich dem
Staate Vorbehalten werden und von Anderen nur in beschränk-
tem Maasse im besonderen Aufträge des Staats („übertragen“)
ausgeübt werden dürfen: der Staat allein Wehr- und Kriegs-,
Gerichts-, Polizeiherr, Friedensbewahrer, Gesetzgeber auf allen
Hechtsgebieten.
Die Nothwcndigkcit der einheitlichen Gestaltung und Leitung dieser Thätig-
keiten und der Concentratiou der Kräfte eines ganzen Staatsgebiets zur Durch-
führung dieser Thätigkeiten trägt dazu wesentlich bei. Entscheidend aber ist, dass
das Recht ein eines sein und einheitlich gehandhabt werden muss. Remcrkcns-
werth der Rückbildungsprocess in den deutschen Particularsonvcränetäten gerade im
Kriegswesen in unserem nenen Deutschen Reiche. Auch die Vorgänge in unserer
deutschen Gesetzgebung über Gerichtsorganisation, Process uud gesammtes bürgerliches
Recht, über Arbeiterrecht, wie früher schon im Wechsel- und Handelsrecht, daher
die bezügliche Ausdehnung der Reichscompetenz durch Verfassungsänderungen, sind
charactcristisch.
Im Rechts- und Machtzweck kommt das eigentliche Wesen
der als „Staat“ bezeiebneten Zwangsgemeinwirthschaft am Schärf-
sten zum Vorschein.
Der Cnltur- und Wohlfahrtszweck kann erfahre ngsgemäss auf ein Minimum in
der Praxis reducirt sein. Der Rechts- und Machtzweck muss immer, bei aller Ver-
schiedenheit seiner Durchführung und bei aller Theilung der dazu gehörigen Lei-
stungen mit Anderen, in wichtigeren Einrichtungen, Anstalten und Thätigkeiten her-
vortreten. Etwas dahin Gehöriges gehört daher zu den nothwendigen Merkmalen
dessen, was wir „Staat“ nennen. Daraus erklärt sich, dass weder zeitlich noch räum-
lich die Leistungen des Staats auf diesem Gebiete ebenso grosse Verschiedenheiten in
ürnfang, Inhalt und Form zeigen, als auf dem Gebiete des Culturzwecks.
B. — 8. 360 [168, 169]. Der Cultur- uud Wohlfahrts-
zweck des Staats besteht in der Förderung der Staats-
angehörigen in der Verfolgung ihrer Lebensaufgaben, der physischen,
wirthschaftlichen, sittlichen, geistigen, religiösen Interessen, nament-
lich soweit dabei Gerne i n bedürfnisse, örtliche und zeitliche, mit-
unter auch gesellschaftliche (§. 328 ff.), ins Spiel kommen.
Das Ziel des modernen Culturstaats der europäischen
Civilisation wird dabei sein müssen: möglichst nur die all-
gemeinen Bedingungen tUr die Entwicklung des selbst-
tätigen Individuums Seitens des Staats zu erfüllen und da-
durch unter Erhaltung der „Eigenthümlichkeit der Kraft und der
Bildung“ (W. v. Humboldt) des Einzelnen einen immer grösseren
Theil der Bevölkerung zum Mitgenuss an denCulturgütcrn
zu erheben. Die Beschränkung, welche sich der Staat hier-
nach auferlegen soll, lässt sich aber freilich nur als ideales Ziel
bezeichnen, im wirklichen Leben nicht immer festhalten. Jede
888
0. B. Staat. 2. K. Kochte u. Leistungen. §. 300.
Staatsthätigkeit soll aber bei uns darauf binausgehen, es immer
mehr zu ermöglichen, dass der Staat sich derartig beschränken
könne.
W. v. Humboldt’s Satz, den Mi 11 zum Motto für seine „liberty“ macht, kann
hier auch von einer anderen Staatsauffassung aus als Leitstern dienen: „Das. worauf
die ganze Grösse des Menschen zuletzt beruht, wonach der einzelne Mensch ewig
ringen muss und was der, welcher auf Menschen wirken will, nie aus den Augeu
verlieren darf, ist Eigen tli Um lieh keit der Kraft und der Bildung“. Geber
die Formulirung des Princips für die Grbnzen der Staatsthätigkeit hei Ahrens,
Naturrecht II, 280 11., auch 61 fl'., s. o. Vorbemerk, zu diesem Buch S. 874. Die
Formulirung im Texte rührt aus einer Zeit her. wo ich von Ahrens’ Formulirung
noch keine Kenntniss genommen hatte. Der dargelegte Standpunct ist auch von
Sch mo Her berechtigtermaassen in seinem Sendschreiben an H. v. Treitschke ver-
treten worden.
Die Leistungen des Staats sind hier dann doppelter Art:
1) sie fördern indirect die genannten Interessen, indem sie
Hindernisse beseitigen oder beseitigen helfen, welche die Kräfte
andrer betheiligter Wirthschaften übersteigen.
Z. B. Wasserbauten, Strassenanlagen, um eine Gegend besiedlungsfähig zu machen,
sanitäre Vorkehrungen.
2) Die Leistungeu des Staats bestehen ferner in der Her-
stellung von Einrichtungen und Anstalten, welche von
den Staatsangehörigen unter bestimmten Bedingungen unmittel-
bar zur Bedürfnissbefriedigung benutzt werden können.
Z. B. Schulen, Vcrkehrsanstalten.
Die „allgemeinen Bedingungen“ für die Entwicklung der Persönlichkeit werden
im Ganzen mehr durch die erste Art der Staatsleistungen gescharten. Aber auch viele
Leistungen zweiter Art verstossen nicht gegen dieses Princip für die Beschränkung
der Staatsthätigkeit. Ahrens’ ünterscheidung zwischen Bedingung und Cansalität
(s. o. Vorbem. S. 874) berührt sich mit derjenigen im Texte, fällt aber nicht ganz
damit zusammen.
Die Gesammtlieit dieser Leistungen zur Verwirklichung dieses
zweiten Staatszwecks steht an universaler Bedeutung den Leistungen
im Gebiete des ersten Zwecks nach, schwankt auch, zeitlich und
räumlich verglichen, im geschichtlichen Staate stärker als letztere
Leistungen. Ansätze selbst zu allen einzelnen Hauptkategorieeu
pflegen sich aber schon in sehr primitiven Verhältnissen des
Volkslebens und der staatlichen Verbindung zu finden. Und der
Staat fortschreitender culturfähiger Völker, so namentlich
der modernen, hört immer mehr auf, einseitig Rechtsstaat, im
Sinne der möglichst alleinigen Verwirklichung des Rechts- und
Machtzwecks, zu sein und wird immer mehr Cnltur- und Wohl-
fahrtsstaat, in dem Sinne, dass gerade seine Leistungen auf dem
Gebiete des Cultur- und Wohlfahrtszwecks sich beständig mehr
ausdehnen und einen reicheren und mannigfaltigeren Inhalt ge-
winnen (§. 365). Dadurch erlangt der Staat jenen „commu-
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Cultur- und Wohlfahrtszweck.
889
nistischen“ Character, welcher ihm noch vor den übrigen Ge-
meinwirthschaften besonders zu eigen ist (§. 349), in immer aus-
geprägterer Weise.
Auch die naturwissenschaftlichen und productionstecbnischcn Fort-
schritte tragen dazu mächtig bei , z. B. in Betreff der erlangten Kountuiss der all-
gemeinen Bedingungen der öffentlichen Gesundheit, der hier erforderlichen Gautelen,
der gebotenen, nur von der öffentlichen Gewalt direct oder von Anderen nach ihrer
Vorschrift unter ihrer Controle richtig zu treüenden präventiven und repressiven
Einrichtungen.
Die Staatshaltungen zur Durchführung des Cultur- und
Wohlfahrtszwecks bilden im entwickelten Staate das grosse Gebiet
der Inneren Verwaltung (i. w. S.).
Einzelne hierher gehörige Thätigkeitcn lassen sich von Thätigkeiten zur Ver-
wirklichung des Rechtszwecks nicht immer trennen, so mannigfach im Gebiete der
Polizei (Gesundheits , Wirthschaftspolizci u. a. in.) und der im engeren Sinue sog.
volkswirtschaftlichen Verwaltung (wirthschaftliche Rechtsordnung überhaupt.
Agrargesetzgebung. Gewerbeordnung, Handelspolitik, Geld-, Bank-, Verkehrs-, Ver-
sicherung>politik u. s. w.>. Ein absolutes Princip für die Eintheilung der Leistungen
des Staats auf dem Culturgebiet giebt cs nicht. Wechsel nach Zeit und Ort ist natur-
gemäss. Eben deshalb gehören auch in den modernen Culturstaaton die einzelnen
Leistungen oft zu verschiedenen Verwaltungsabtheilungen (Ministerien mit verschie-
denen Ressorts). Vergl. auch L. Stein 's Verwaltungslehre und Handbuch, beson-
ders 1. A. S. 140 fl. Ahrens, Naturrecht II, 287 ff., 510 ff. Meine Fin. 2. A. I,
§. 32, 3. A. §. 38 ff.
Die Eintheilung in folgende drei Hauptgruppen entspricht im
Ganzen den modernen Verhältnissen, namentlich Mitteleuropas:
1) Innere Verwaltung im engeren Sinne.
Mit den Thätigkeiten der amtlichen Statistik, des öffentlichen Gesundheitswesens,
des Hilfs- und Armen wesens u. s. w., und mit der gesammten sogen, inneren Ver-
waltung, welche freilich grossentheils zum Gebiet des Rechts- und Machtzwecks ge-
hört, in den Ministerien des „Inneren“, der Polizei.
2) Volkswirtschaftliche Verwaltung im engeren Sinne.
Mit der Handhabung der wirtschaftlichen Rechtsordnung im Allgemeinen, was,
wie auch die Feststellung dieser Ordnung, wieder mit zum Rechtszwecke gehört, mit
der gänzlichen oder theilweison Uebernahme gewisser allgemeiner, die ganze
Volkswirtschaft angehenden Angelegenheiten auf den Staat: „Verkehrswesen“
(Maass und Gewicht, Münze, Banken, Vcrsicherungs-, Communications- und Trausport-
wesen), endlich mit der „Volkswirthschaftspflege“ im Gebiete der privat-
wirthschaftlichen Thätigkeit (Ackerbau, Gewerbe, Handel), — in den Ministerien des
„Inneren“, der „Volkswirthschaft“, des „Handels, der Gewerbe und
öffentlichen Arbeiten“, der Bauten, der „Landwirtschaft“, der Vor-
kehrsanstalten (Eisenbahnen, Post, Telegraphie).
3) Verwaltung des Unterrichts- und Bildu ngs wesens,
sowie des öffentlichen Cultus.
Es handelt sich hier öfters um gesellschaftliche Gemeinbedürfnisse, wo dem Staat
mehr nur die Regelung der Thätigkeiten der betreuenden andren Gemeinwirth-
schaften als die directe Uebernahme zufällt, ln der Hauptsache gehören die bezüg-
lichen Staatsthätigkeiten zudem Unterrichts- und Cultusministcriuin mit
seinem üblichen Ressort in den modernen Staaten. Einzelne Thätigkeiten sind aber
öfters auch andren Ministerien übertragen, z. B. bestimmte Arten Fachschulen, Kunst-
pflege u. A. in. Ueber die finanzielle Seite der einzelnen Zweige s. meine Fin. I,
890
6. B. Staat. 2. K. Zweck und Leistungen. §. 361.
3. A., Buch 2, Kap. 2 (einzelne Gegenstände des eigentlichen Finanzbedarfs) und Buch 3
(Privaterwerbszweige), ferner II, 2. A., B. 4 (Gebühren).
II. — §. 361 [170]. Die Durchfllhru ogsmittel der
Staats thätigkeit. Den unmittelbaren Thätigkeiten zur Durch-
führung der beiden organischen Staatszwecke stehen diejenigen
Thätigkeiten gegenüber, welche hierbei als Durchführnngs-
mittcl dienen: einmal die oberste Handhabung der Staats-
gewalt und die Centralleitung, sodann die Finanz Ver-
waltung mit dem Staatshaushalte.
A. Die Centralleitung fällt der Regierung, welche als
das Rechts- und Wirthschaftssubject der staatlichen Zwangsgemein-
wirthschaft fungirt, zu, unter eventueller verfassungsmässiger Theil-
nahme der Volksvertretung, insbesondere an der Gesetzgebung und
Controle und der finanzwirthschaftlichen Einrichtungen und Ge-
bahrungen. In der Centralleitung vereinigt sich der Rechts- und
Culturzweck des Staats vollständig.
B. Zur Herstellung der von ihm verlangten, der Centralleitung
und der Durchführung der beiden organischen Staatszwecke die-
nenden Staatsthätigkeiten muss der Staat eine eigene Pro-
ducti o ns- oder Er wer bs wirth schaft führen (§. 159), welche
ihm die für jene Zwecke und Thätigkeiten nothwendigen wirt-
schaftlichen Güter, insbesondere Sachgüter, zur Verfügung stellt.
Diese Wirtschaft heisst Finanz wirthschaft oder Staatshaus-
halt und wird im modernen, insbesondere grösseren Staate regel-
mässig von einer eigenen obersten Staatsbehörde, von der Finanz-
Verwaltung geführt.
Näheres über sie gehört in die specielle Lehre von ihr, in die Finanzwissen-
schaft. S. Fin.wiss. I, dritte AuÜ. (die in diesen Abschnitten gegen die früheren
sehr erweitert und uingestaltet ist), 1. Buch, Ordnung der Finanzwirthschaft, besonders
Kap. 4, formelle Ordnung. Dazu zu vergleichen meine Abbandl. die Ordnung der
Finanzwirthschaft im Schönberg sehen Handbuch B. III, ebenfalls bes. die neueste
dritte Auflage.
Hier muss nur das Verhältnis» der Finanzwirthschaft
zu dem selbst wieder als Wirthschaftsart aufgefassten
Staate richtig verstanden werden. Zu diesem Zwecke sind, wie
in §. 159 bei den Privatwirtschaften, in der staatlichen Gesammt-
wirthschaft verschiedene Abtheilungen zu unterscheiden,
weiche in vieler Hinsicht wieder die Natur selbständiger Wirth-
schaft en annehmen.
1) Der Staat in seiner eigentlichen Function, d. h.
in der Handhabung der Staatsgewalt und in der Ausführung der
Staatszwecke mittelst der bezüglichen Leistungen begriffen, ist in
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Durchführungsinittel der Staatsthiitigkeit
891
Rücksicht auf die Herstellung dieser LeistungenPro-
ductionswirth schaft (§. 354). Die Mittel, welche er dazu
verwendet, werden, — soweit es sich nicht um gewisse persön-
liche, theils zwangsweise requirirte (Heer), theils unentgeltlich er-
langte (Ehrendienst) Dienstleistungen handelt (Fin. 1, §. 1), — von
der Finanzverwaltung beschafft, sind sachliche Mittel (Sachgüter,
Geld), erscheinen in der Finanzwirtbschaft als Ausgaben, in
der von ihr getrennt gedachten Staatsverwaltung als
Einnahmen, bez. Eingänge und wieder als Ausgaben zur Her-
stellung der Staatsthätigkeiten oder als deren Productionskosten.
Dies tritt deutlich in dein Begriff der Dotation der einzelnen
Verwaltungsabtheilungen hervor, daher auch in den Special -
rechnungen der letzteren. Der Staat in seiner eigentlichen Function
ist mithin auch Ausgabewirthschaft, mit Rücksicht auf die
Verwendung der ihm von der Finanzverwaltung überwiesenen
Mittel zur Herstellung seiner Leistungeu.
2) Der Staat als Ganzes und zwar als Wirthsch afts -
Ganzes betrachtet, in welcher Eigenschaft er auch die Finanz-
verwaltung in sich begreift, ist aber noch in einem zweiten Sinne
Productions- oder Erwerbs wirthschaft, insofern er durch
seine Wirthsehaftsabtbeilung, die Finanzwirthschaft, Güter für die
Verwendung zu seinen eigentlichen Staatszwecken erwirbt.
3) Die vom Staate getrennt gedachte Finanzwirth-
schaft hat endlich ebenfalls wieder die beiden Abtheilungen: die
E rw er b s wirthschaft, soweit Güter eingehen, die Ausgabe-
wirthschaft, soweit Güter für Staatszwecke und Leistungen aus-
gehen. Die Gestaltung der Ausgabewirthschaft hängt natürlich
von letzteren Leistungen ab und ist deshalb das finanzielle Spiegel-
bild der Productionswirthschaft des Staats in dem ersten (unter 1
festgestellten) Begriff: das System der Staatsleistungen wird zugleich
zum System der Ausgabewirthschaft oder des Finanzbedarfs.
v. Mango Id t verwechselt diese verschiedenen Abtheilungen oder Seiten, welche
der Staat als Wirthschaft hat, wenn er die Finanzwissenschaft nennt: die Lehre
von der Production der öffentlichen Dienstleistungen (Staatswörterb. XI. 1181. Das
ist die Verwaltungslehre, wahrend die Finanzwissenschaft die Lehre von der Be-
schallung und Verwendung der sachlichen Mittel für die Zwecke dieser Verwaltung
oder dieser Production der öffentlichen Dienstleistungen ist. S. jetzt meine Fin.wiss.
I, 3. A., §. 1—6.
892
6. B. Staat. 3. K. Ausdehn. d. ölF. Thätigkeiten. §. 362.
Drittes Kapitel.
Das Gesetz der wachsenden Ausdehnung der
öffentlichen, bez. der Staatsthätigkeiten.
§. 362 [S. 309]. Vorbemerkungen.
Vergl. Schäffle, Syst. 2. Aufl. §. 221, 222, 178, ISO, welcher jedoch mehr-
fach die abnehmende Tendenz der Staatstbätigkcit in der Sphäre des privatwirth-
schaftlichen Erwerbs in. E. noch etwas zu stark betont.
Vom finanziellen Gosichtspuncto aus ist die Erscheinung seit längerer Zeit
allgemeiner beachtet und hier auch frappant genug und ziffermäsaig zu belegen.
Man hat daher, wie ich selbst cs früher gethan. ein Gesetz des wachsenden
Staatsbedarfs bei fortschreitenden Völkern aufgestcllt. Dies ist jedoch nur die
finanzielle Formulirung des allgemeineren Gesetzes der Ausdehnung der Staats-
thätigkeiten. Letzteies ist die ürsachc, jenes die Wirkung. S. ümpfenbach,
Finanzwiss., 1. A., Erl. 1859, I, 25, meine Ordn. d. österr. Staatshaushalts, Wien 1863.
S. 2 if'., wo die im Texte aufgcstcllte Theorie bereits im Kern vollständig gegeben ist,
in ein Art. Staatshaushalt in ltentzsch' llaudwörterb., Rau- Wagner, Fin. 1, §. 1,
Anm. a., 2. A, I. §. 36, 3. A., §. 36. Schmoller verwahrt sich gegen die Auf-
stellung eines solchen finanziellen Entwicklungsgesetzes, ohne indessen etwas Sachliches
dagegen vorzu bringen (Jahrb. d. D. Reichs 1877, S. 110).
Vergl. die Daten für Oesterreich in meiner Ordn. d. österr. Staatshaushalts,
passim, v. Czörnig, österr. Budg. vergl. mit demjenigen anderer europ. Staaten II,
555, ferner die Daten in verschiedenen Jahrgängen des Goth Almanachs und über-
haupt in den statistischen Handbüchern, für die einzelnen Staaten in deren Statisti-
schen Jahrbüchern ; die neueren Arbeiten auf dem Gebiete der vergleichenden Finanz-
statistik von Gers tf cid t (Beiträge zur Reichsstcuerfrage, Leipz. 1879, vergleichende
Zahlen und Bilder zur Reichssteuerfrage, cb. 1881), von R. v. Kaufmann in Conrads
Jahrbüchern B. 49 und B. 52. Mancherlei Materialien im Schanz’schen Finanz-
archiv, auch im 1. Bande meiner Fin. wisseusch. Eine finanzstatistischc Beweisführung
gehört indessen nicht hierher. Sic setzt auch ein grosses Material voraus, welches
sich hier nicht wohl einreihen lässt. Einige Daten in der 2. Aufl. der Grundlegung,
S. 309, die ich hier nicht wieder aufnehmen und nicht erneuern w'ollte.
Eine umfassende Verarbeitung des Materials zur vergleichenden Finanz-
statistik (räumliche und zeitliche Vergleiche) fehlt leider, wäre aber ein grosses
Bcdürfniss. Erschwert wird eine solche Arbeit durch die Verschiedenheit der
Ressorts der einzelnen Verwaltungsabtheilungeu (Ministerien) in den verschie-
denen Staaten und durch die Veränderungen, welche auch in einem und
demselben Staate im Lauf der Zeit mitunter in den Ressorts vorgelien. Bei räum-
lichen und zeitlichen Vergleichen muss daher besondre Vorsicht angewandt werden.
Oft sind sehr detaillirtc Vorarbeiten, bei welchen die Ausgabeposten der Ministerien
und grösseren Ministerialdepartemonts in ihre einzelnen Bestandteile aufgelöst werden,
nöthig. — Dass keineswegs etwa nur. wie oft behauptet wird, die Ausgaben für Heer
und Flotte und für die Staatsschuld in den letzten Jahrzehnten gestiegen sind,
sondern auch und in einzelnen Fällen relativ noch stärker diejenigen für die wich-
tigsten sonstigen Gebiete der („friedlichen“, „productivon“) Staatstbätigkcit, ergiebt
jede unbefangene genauere Untersuchung auch, z. B. für Preussen, Baicrn und
anderen Staaten. Finanzstatistik Preusscns für 1860 — 69 im 3. B. d. Jahrb. d. amtl.
Statist. (1869). Blenck in d. Zeitschr. d. Statist. Bur. 1871 S. 156 (Vergleich der
Ausgabegruppen 1849, 55, 67, 69. Statist. Handbuch I, 1988, S. 502 (18S2 — $9),
Communallinanzen eb. S. 516 (1869 — 88).
Ebenso zeigt ein Vergleich mit Grossbritannien, Nord- Ameri c» , der
Schweiz, dass nicht nur in den continentalen Militärmonarchieen und bureaukra-
tischcn Staaten, wie man gleichfalls gern behaupten hört, eine starke Zunahme aller,
der Kriegs- und Friedcusausgaben , erfolgt, sondern dass überall auf fast allen
Gebieten eine Zunahme der Staatsthätigkeiten eingetreten ist. Die Verminderung
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Wahrnehmungen Uber Ausdehn. d. öffeut. Thätigkeiten.
893
des Goldwerths, welche allerdings zurErhöhung dcrAusgaben filr dieselben Thätig-
keiten fast überall mit geführt, erklärt dieSteigerung des Bedarfs doch nur zum keinen Theil.
Zum Theil noch schärfer tritt die Ausdehnung der öffentlichen Thätigkeiten
bes. neuerdings in Deutschland in der Steigerung der C o in m u n a 1 budgets und
der Commu n aisteuer n finanzstatistisch hervor. (VergL für Preusson die Zu-
sammenstellungen von Blcnck in d. Ztschr. d. preuss. stat. Bur. 1S71, S, 160 über
die Beiträge aller Art zu Provinzial-, Kreis-, örtlichen Gemeinde-, Pfarr- und Schul-
zwecken 1 S49 — (»7. Handbuch I, a. a. 0., sowie die neueren preussischen communal-
finanzstatistisehen Arbeiten von Herrfurth u. A. m. in den Ergänzungsheften der
Ztschr. des preuss. Statist. Bureaus.) Alle weiteren Fortschritte auf der Bahn der
Decentralisation der Verwaltung und der Selbstregierung, wie sie
durch die Kreis- und Provinzialordnungen gemacht werden, bewirken eine Weiter-
bewegung in der eben angedeuteten Richtung, d. h. eine vielleicht noch grössere Zu-
nahme der Gemeinde-, Kreis- und Provinzialthätigkeit als der directen Staatsthätigkeit,
aber anderseits im Ganzen eine immer stärkere Zunahme der gemein-, besonders
der zwangs gcmeinwirthschaftlichen Sphäre.
Die hier besprochene Entwicklungstendenz des Finanzbedarfs, dio W'irkung wie
gesagt, der Ausdehnung und Steigerung der öffentlichen Thätigkeiten, wird von keinem
neueren Finanztheoretiker und vernünftigen Politiker übersehen, geschweige bestritten.
Auch W. Roscher hebt sie hervor (Fin. §. 110). Die Praxis hat nur noch nicht
immer die richtige Consequenz zu ziehen gewagt: dass der Staat, die Gemeinde aus-
dehnungsfähige Einnahmen, vor Allem auch solcho Steuern braucht, den von mir
für die Besteuerung aufgestellten und mit Absicht an die Spitze aller Steuergrundsätze
gesetzten „finanzpolitischen“ Principien der „Ausreichendheit“ und „Beweglichkeit“
gemäss. Vergl. meine Fin. II, 2. A., §. 129 if. und die Abweisung einer gegneri-
schen Auffassung Vocke’s daselbst §. 123.
I. — §. 363 [171]. Allgemeine Wahrnehmung der
Ausdehnung der Staatsth ätigkeiten. Geschichtliche
(zeitliche) und räumliche, verschiedene Länder umfassende
Vergleiche zeigen, dass bei fortschreitenden Culturvölkern, mit denen
wir es hier allein zu thun haben, regelmässig eine Ausdehnung
der Staatsthätigkeiten und der gesammten öffentlichen, durch die
Selbstverwaltungskörper neben dem Staate ausgeführten Thätig-
keiten erfolgt. Dies offenbart sich in extensiver und intensiver
Hinsicht: der Staat und diese Körper übernehmen immer mehr
Thätigkeiten und sie führen die alten und neuen Thätigkeiten
immer reichlicher und vollkommener aus. Es werden
auf diese Weise immer mehr wirtschaftliche Bedürfnisse der Be-
völkerung, namentlich Gern ein bedürfnisse, zugleich stets besser
durch den Staat und jene Körper befriedigt. Der deutliche Beweis
dafür liegt ziffermässig in der Steigerung des finanziellen Staats-
und Communalbedarfs vor.
Der Staat speciell, als Wirtschaft zur Fürsorge der Be-
völkerung mit gewissen Gütern, besonders Gemeingütern für ge-
wisse Bedürfnisse aufgefasst, wird dabei absolut immer wichtiger
für die Volkswirtschaft und für die Einzelnen. Aber auch seine
relative Bedeutung steigt, d. h. eine immer grössere und
wichtigere Quote der Gesammtbedürfnisse eines fortschreitenden
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Theil. Grundlagen. 57
394
6. B. Staat. 3. K. Ausdehn. d. öff. Thätigkeiten. §. 363.
Culturvolks wird durch den Staat statt durch andere Gemein-
und Privatwirthscbaften befriedigt, — ein Satz, der nur den übrigen
Zwangsgemeinwirthschaften (Gemeinde, Kreis, Provinz) gegenüber
in Folge der Decentralisation der öffentlichen Verwaltung und der
Organisation der Selbstverwaltung mehrfach eine wirkliche, sonst
meist nur scheinbare Ausnahmen erleidet. Fasst man aber den
Staat mit diesen anderen, seine Thätigkeit ergänzenden Zwangs-
gemeinwirthschaften zusammen, was für mancherlei Zwecke noth-
wendig ist, so ergicbt sich auch eine Zunahme der gesammten
zwangsgemein wirtschaftlichen oder „öffentlichen“,
besonders der staatlichen und communalen, auf Kosten
der übrigen gemein- und privatwirtbschaftlichen Thätigkeit. Sow-eit
hier die Kostendeckung der öffentlichen Thätigkeit nach dem ge-
mein wirthschaftlichen Princip erfolgt, ergiebt sich so auch eine
Steigerung des „communistischen“ Charakters der
ganzen Vo lks wirthschaft. Aber, wenn auch nicht in ganz
demselben Maasse und derselben Art, ist schon die blosse Ueber-
nahme wirtschaftlicher Thätigkeiten auf die öffentlichen Körper,
selbst wenn dann ganz oder theilweise das privatwirthschaftliche,
das Gebührenprincip bei der Kostendeckung und der Regelung des
Eutgelts platzgreift, doch von einer solchen Wirkung begleitet (§. 300).
S. auch Koscher, I, §. 84, u. ders. Fin. §. 110. Vgl. oben §. 293.
Die typische Einheit des Wirtschaftslebens, die Familie, be-
friedigt so wachsend einen grösseren Theil ihrer Bedürfnisse
nicht mehr nach dem privatwirtbschaftlichen Princip der speciellen,
sondern nach dem gemeinwirthschaftlichen, mehr oder weniger
„communistischen“ Princip der generellen Entgeltlichkeit von
Leistung und Gegenleistung. Oder m. a. W. eine grössere Quote
der Ausgaben des Familienbudgets entfällt auf Steuern, besonders
an Gemeinde und Staat, auch auf Gebühren an sie, auf Beiträge
an freie Gemeinwirthschaften, Vereine u. s. w. Wo aber auch,
wie bei Anwendung des Gebtihrenprineips, das Princip der speciellen
Entgeltlichkeit bleibt, erfolgt die Preisnormirung doch immerhin
anders, nach Taxen (§. 137 ff.). Nicht minder wird die Pro-
duct ionsweise aus der regellosen privatwirtbschaftlichen eine
geregelte, welche nach autoritativer Bedarfsbemessung erfolgt, und
im öffentlichen Dienst mit seinem Besoldungswesen tritt auch flir
die Vertheiluug der Productionserträgc zwischen dem Rechts- und
Wirthschaftssubjeet und den „Arbeitskräften“ (Beamten) ein System
socialer Lohntaxen an Stelle der privatwirtbschaftlichen Lohnregelung :
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Wahrnehmungen über Ausdehn. d. ölf. Thätigkeiten.
895
Alles Gestaltungen in der Richtung einer mehr socialistischeo,
von der individualistischen abführenden Organisation der Volks-
wirtschaft, ihrer Productions-, Vertheilungseinrichtung und Be-
darfsdeckung (§. 295, 300 ff.).
Es ergiebt sich auch hieraus wieder, wie ungenügend die Tauschwerth-
schätzung iu der üblichen theoretischen Behandlung ist. Sie ist in sehr vielen Fällen
in der That keine stets nothwendig vorkommende , sondern eine historische Er-
scheinung, an deren Stelle in einer anderen Gestaltung der Volkswirthscbaft die Ge-
brauchswerth- und Kosten werthschätzung tritt. In welchem Umfange, —
das ist nur durch die spätere Erfahrung selbst zu beantworten. Jede Erwei-
terung des gemein-, besonders zwangsgemeinwirthschaftlichen Systems verengt aber
die Sphäre der Tauschwcrthschätzung. (S. oben in §. 187 meine Auffassung des
W'erths, nach Rodbertus’ Vorgang).
Die Ausdehnung der öffentlichen Thätigkeiten zeigt sich auf
den Gebieten beider Staatszwecke, im Grossen und Ganzen gleich-
massig. Productionstechnische Gründe führen dabei immer
mehr zu einer gesteigerten Thätigkeit des Staats, der Gemeinde
u. s. w. selbst in der Sphäre der materiellen und der Indivi-
dual bedürfnisse (§. 334, 343).
Gas- und Wasseranlagen der Städte u. s. w. Gerade in solchen Beispielen zeigt
sich, dass das Ahrcns’sche Priucip der Feststellung der Staatsthätigkeit auch für unsere
heutigen Culturstaatcn nicht ausreicht, siehe Vorbemerkungen zu Buch 6. Seite S74.
Die inneren Gründe für diese Ausdehnung der Staats- und
der zwangsgemeinwirthschaftlichen oder „Öffentlichen“ Thätigkeiten
überhaupt lassen sich zum Theil aus dem erfahrungsmässig fest-
stehenden Wesen des Staats, der Gemeinde bei fortschreitenden
Culturvölkern (a priori) ableiten, zum Theil ergeben sie sich in-
ductiv aus den einzelnen Thatsachen , in welchen die Ausdehnung
jener Thätigkeiten hervortritt. Ihre Kenntniss berechtigt uns, von
einem (volkswirthschaftlichen) Gesetze der wachsenden Ausdehnung
der öffentlichen und spcciell der Staatsthätigkciten zu sprechen,
ein Gesetz, welches für die Finanzwirthschaft als Gesetz des
wachsenden öffentlichen Finanzbedarfs des Staats und der Selbst-
verwaltungskörper zu formuliren ist.
In causaler Verbindung mit der Entwicklung, welche dieses
Gesetz veranschaulicht und in Begleitung von ihr geht in der
Volkswirthscbaft und dann wieder speciell im Staate eine gewisse
centralistische Richtung.
Diese ist bis zu ciucm bestimmten Grade unvermeidlich und berechtigt, erat
darüber hinaus wird sic bedenklich, ist aber auch über ein solches richtiges Maass
hinaus nicht durch die an und für sich richtige Ausdehnung des zwangsgemein-
wirthschaftlicheu Systems geboten. Insofern gilt es, durch Decentralisation, namentlich
in der Richtung vom Staate zu den kleineren räumlichen Zwangsgcmcinwirthschaften
bis zu den Gemeinden hin, und durch Selbstregierung und Ehrenamtssystem, ferner
durch Erleichterung und Begünstigung der freien Gern ein wirthschaften, des Vereins-
wesous, der Veranstaltungen des caritativen Systems u. s. w. hier gewissen Gefahren
57*
£96 6. B. Staat. 3. K. Ausdehn. d. öff. Thätigkeiten. §. 364.
möglichst zu steuern. Die gemeinwirthschaftliche Bedürfnisbefriedigung bleibt dabei
aber meist bestehen und nimmt nur mannigfaltigere Formen an. Im Folgenden wird
die Ausdehnung der öffentlichen Thätigkeiten speciell beim Staate näher verfolgt.
Die Ergänzung in Bezug auf die anderen öffentlichen Körper, besonders die Gemeinde,
ergicbt sich leicht. S. über das Commuualleben Schäfflc, Soc. Körper IV, 203 fl.
Auch Bluntschli 11 (Staatsrecht), B. 8.
II. — §. 364 [172]. Die Ausdehnung der Staatsleistungen
auf dem Gebiete des Rechts- und Machtzwecks zeigt sich
einmal in der Ersetzung anderer Thätigkeiten durch diejenigen
des Staats, sodann in vermehrter Staatsthätigkeit wegen
neuer Bedürfnisse. Im wachsenden Finanzbedarf liegt die
Wirkung dieser Entwicklung und der Beleg dafür. Ihre Er-
klärung und Begründung finden diese Vorgänge auf folgende Weise:
A. Ersetzung von Privat- und sonstiger gemein-
wirthschaftlicher durch Staats-Thätigkeit bei gleich-
bleibendem Bedürfnissstand. Es wird immer mehr Princip,
die bezüglichen Leistungen allein dem Staate zu übertragen
und sie nur in einzelnen Fällen in seinen» Aufträge und
unter seiner obersten Leitung und Controle von anderen
Gemeinwirthschaften oder Einzelnen ausüben zu lassen.
Diese Entwicklung erklärt und rechtfertigt sich dadurch, dass
nach der Idee vom entwickelten Staate gerade in diesen Leistungen
das Wesen des Staates liegt und dass die gute Qualität der
Leistungen von ihrer ausschliesslichen Ucbertragung auf den
Staat bedingt erkannt wird (§. 359).
1) Die Uebertragung von Staatsaufgaben auf diesem
Gebiete an kleinere, in beschränkter Sphäre autonome Organe
(Provinz, Kreis, Gemeinde) ist nur in begrenztem Maasse
(Polizei) zulässig, in den wichtigsten Fällen (Justiz, Heer)
unterbleibt sie durchaus. Aber soweit sie auch mit Recht im
Interesse der Decentralisation der Staatsverwaltung und der Organi-
sation der Selbstverwaltung stattfindet, bewirkt sie doch nur den
Uebergang gewisser Thätigkeiten von einer auf andere Zwaugs-
gemeinwirthschaften. Eine Einschränkung des gemeinwirthschaft-
licheu Systems im Ganzen erfolgt also nicht. Dies ist auch für
die finanzielle Seite der Decentralisationsfrage nicht zu übersehen.
2) Das System ganz oder grösstentheils unentgeltlicher Ehren-
ämter im „Selfgovernment“ nimmt zwar in einer Beziehung
der Zwangsgemeinwirthschaft etwas von ihren cbaracteristischen
Eigenthümlichkeiten, nemlich in Betreff der Kostendeckung der
Leistungen dieser Wirthschaft mittelst Steuern (§. 349). Aber diese»
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Aasdehnung der Thätigkeiten beim Rechtszweck.
897
System ist hier wie auf anderen Gebieten nur einer begrenzten
Anwendung fähig.
Denn die steigenden Anforderungen an die Qualität der Staatsleistungen verlangen
immer mehr qualificirtc Arbeit, d. h. die Arbeit berufsmässig gebildeter
Kräfte, für die Herstellung dieser Leistungen. Ein andrer Thcil der nothwendigen
Arbeit ist so mechanischer Art, dass er wiederum nur von berufsmässigen, allein
hinlänglich geübten Organen ordentlich geleistet werden kann oder wenigstens frei-
willige Ehrenamtsdiener sich dafür nicht in genügender Menge finden. Das neuere
deutsche -System, freiwillige Zählagcnten bei der Volkszählung zu benutzen,
liefert einen neuen Beleg. Man kann solche Personen wohl finden und brauchen für
dio Austragung und Einsammlung und für die Ausfüllung der Listen und Karten,
nicht aber für die Verarbeitung dieses Materials zu den Zwecken der Statistik. Im
Ehrenamtssystem liegt weiter eine an sich sehr wohl zu rechtfertigende Steuer-
prägravation für die Ehrenamtsdiener: zu den Geldsteucrn treten Steuern in der
Form von Dienstleistungen, eine partielle Verwirklichung von Progrcssivsteucrprincipien.
Von den Vertretern des Selfgovernment hat dies in Deutschland besonders K. Walcker
in seinen zahlreichen Schriften auf (ineist’scher Grundanschauung geltend gemacht
Aber gerade in dieser Wirkung des Systems liegt auch wieder eine wesentliche
Schranke seiner Anwendbarkeit. Für die volks wirtschaftliche Betrachtung ist end-
lich nicht zu übersehen, dass die Ehrenamtsarbeit doch eben auch Kosten macht
Nemlich stets dann, wenn die Arbeitszeit des Ehrenamtsarbeiters sonst nicht einfach
müssig verlaufen ist. War dies aber der Fall, so wird die Arbeit einer solchen
Person im Ehrenamtsdienst auch leicht nur wenig werth sein. — lieber das Ver-
hältniss des Ehrenamtsdiensts zum besoldeten Staatsdienerthum s. auch meine Fin. I.
2. A. §. 71, 72, 3. A. §. 152, 153.
B. — §. 365 [173]. Auftreten neuer Bedürfnisse, welche
vermehrte Staatsth ä tigkeit nöthig oder zweckmässig
machen. Dasselbe pflegt in grösserem Umfange zu erfolgen als
Wegfall von solchen Bedürfnissen einer niedrigeren Entwicklungs-
stufe auf einer höheren. Als die noth wendige Folge fortschreitender
Cultur ist zwar nicht selten gerade eine vermin der te Thätigkeit
des Staats auf dem Gebiete des R e c h t s zwecks a priori hin-
gestellt worden. Die in dieser Thätigkeit mit enthaltene „civi-
lisatorische“ Tendenz, als Erziehungsmittel zu wirken,
solle und müsse auch eine solche Folge haben. Auch die Er-
fahrung ist zur Bestätigung der Richtigkeit dieser Annahme be-
nutzt worden: offene gewaltsame Störungen der Rechtsordnung im
Inneren, gcwaltthätige Verbrechen, nach Aussen zu die Kriege
würden seltener mit der Erhöhung der Gesittung. Diese Auf-
fassung ist nicht schlechtweg falsch, aber einseitig und zu opti-
mistisch, auch verkennt sie die wichtigste Ursache der etwaigen
wirklichen Verbesserungen. Die entgegengesetzte Entwicklungs-
tendenz in vielen hierher gehörigen Erscheinungen bleibt dabei
ganz unbeachtet.
1) Die Gesittung der Bevölkerung und die Störungen der
inneren Rechtsordnung lassen sich durch die Culturgeschichte
und genauer und vollständiger durch die Moralstatistik, u. A.
898
6. B. Staat. 3. K. Ausdehn. d. öff. Thätigkciten. §. 365.
namentlich durch die C r i m i n a 1 Statistik und die Statistik der
Cmiprocesse, in ihrer Entwicklung verfolgen. Das vorliegende
und verarbeitete Material ist aber zu dürftig, zu wenig zuverlässig
und vergleichbar, das genannte statistische vor Allem noch zu jung,
um zu sicheren Schlüssen hinsichtlich auch nur der wichtigeren
Momente der Gesittung zu gelangen.
Die Beobachtungen der Moralstatistik reichen dazu schon deshalb nicht ans,
weil sic erst ganz kleine Zeiträume und zu kleino Tbcilc der Welt umfassen, ab-
gesehen davon, dass sic doch nur einzelne frappante Thatsachcn betreffen. Die ur-
sächlichen Momente, welche in den Thatsachen zur Geltung kommen, bieten dabei
noch besondere Schwierigkeit für die Beantwortung der Frage nach der Verbesserung
oder Verschlechterung der Gesittung.
Immerhin aber haben es culturhistorische und moralstatistische
Untersuchungen wahrscheinlich gemacht, was auch a priori zu ver-
mutben war, dass z. B. die Verbrechen mehr nur eine Form-
veränderung als eine wirkliche Abnahme oder vollends
als eine sittlich weniger bedenkliche Qualität zeigen: weniger
gewaltthätige, aber mehr feine, listige, tückische, geheime Ver-
brechen. Auf eine durchschnittliche Verbesserung der sittlichen
Lebensanschauungen und der davon bedingten Handlungen der
Menschen, auch der Bevölkerung in unseren sogen, „civilisirten“
Ländern, weist leider wenig hin. Ebensowenig freilich lässt sich
das Gegentheil sicher nachweisen.
S. die litterarischen Nachweise oben §. 112, S. 432. Wappäus, Bevölkerungs-
statistik, besonders II. 415 ff., 445, meine Gesetzmässigk. I, 28. Die beste, voll-
ständigste und am Weitesten (d. h. doch nur bis 1S26I) zurttckreichende Crimiual-
Statistik ist im Ganzen immer noch die französische mit ihren jährlichen Comptcs
rendus (ebenso auch für die Civilproccsse). Eine entschiedene Abnahme der Ver-
brechen selbst im Durchschnitt längerer Perioden zeigt sich nicht, wenn man nur
die ministeriellen, unter Napoleon III. sehr schönfärbenden Berichte genauer kritisirt
nach den Details der Zahlenstatistik. Die Qualitätsveränderung ist überwiegend die
vorbezeichncte ungünstige. Ein günstiger Einfluss der vermehrten intellectucllen
Bildung, wie sich letztere etwa in der vermehrten Elementarkenntniss (Lesen und
Schreiben) zeigt, ist kaum wahrzunchmen, was schon Wappäus mit Recht hervorhob.
Das ist auch nicht zu verwundern. Weit wichtiger muss gerade hier die Verbesserung
der sittlichen Bildung und der Religiosität wirken. Die Thatsache, dass unter
den Verbrechern Personen der höher gebildeten Stände nur schwach vertreten
sind, ist allerdings richtig. Aber einmal fallen hier wegen durchschnittlich besserer
ökonomischer Lage viele Versuchungen fort, sodann gestattet die Unvollkommenheit
der Berufsstatistik noch nicht immer sichere Vergleiche zwischen der nicht genügend
bekannten Zahl der Angehörigen der höheren Berufe und der Zahl der unter den-
selben vorkommenden Verbrechen mit den Erscheinungen unter der übrigen Be-
völkerung. Eine neuere vorzügliche Behandlung der Frage der Veränderung der
Criminalität s. bei v. Oettingon, Moralstatistik, 2. Aufl., §. 48, bes. 579 (auch in
der 3. Aufl.); wesentliche Uebereinstimmung mit Wappäus und meiner älteren
Schrift. Manches spricht dafür, bei Völkern mit steigender wirthschaftlicher Cultur
eine ähnliche Aenderung (aber keineswegs Verbesserung!) der Criminalität für
wahrscheinlich zu halten, wie sic Quetelet in seiner berühmten Darstellung der
Veränderung des penchant au crime mit steigendem Lebensalter der Verbrecher nach-
gowiesen hat, — eine Darstellung, deren Richtigkeit alle späteren Untersuchungen nur
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Ausdehnung der Thätigkeiten heim Wohlf.zwecke.
899
bestätigen konnten. Quetolet, Über den Menschen, 1. Ausg., deutsch von Riocko,
S. 547, meine Gesetzmässigkeit I, 36. Vgl. dazu auch G. Mayr, Gesetzmässigkeit,
S. 327 ff. — Bedenklichste Zunahme der sogen. Sittlichkeitsverbrechen bei dem altern-
den Menschen und in unserer heutigen Zeitl — Grosse Zunahme der Verbrechen und
Vergehen im Deutschen Reich. Preusscu, Baiern in den siebziger Jahren. Wohl über-
wiegend verursacht durch den Rückgang der Erwerbsverhältnisso. nach den speculativen
Excessen von 1871 — 73. Hinterher wieder günstigere Gestaltung. Auch vom Deutschen
Reich erscheint jetzt jährlich eine umfassende Criminalstatistik seit 1882.
2) Im Uebrigen aber sind die etwaigen günstigeren Er-
scheinungen im Gebiete der inneren Recbtsstörungen, ebenso wie
die grössere Seltenheit von Kriegen nicht immer auf höhere
Gesittung, also namentlich auf sittlicheren Willen zurück-
zuführen, obgleich es gewiss das grosse erhabene Ziel der Civi-
lisation ist, dies zu erreichen und damit den Staatszwang entbehr-
lich zu machen, das Rechtsgebiet zu Gunsten des Gebiets der
Sitte und Sittlichkeit einzuengen. Thatsächlich ist leider nicht zu
verkennen, dass vielfach nur die vermehrte, verfeinerte, grossartig
organisirte Prä ve nti v thätigkeit des Staats, in der Polizei, in
dem Organismus der Justizbehörden, in der bewaffneten
Macht eine Verminderung der Rechtsstörungen bewirkt, — ein
System, welches eine intensiv ausserordentlich gesteigerte
Staatsthätigkeit bedingt (§. 371 ff.) und darstellt.
S. auch v. Oettingen, 2. A. a. a. 0., S. 578, mit dem sehr zutreffenden Citat
aus E. v. Hartmann ’s Philosophie des Unbewussten (3. Aufl., S. 714).
3) Die Entwicklung der Volkswirtschaft, so nament-
lich die immer weiter gehende nationale und internationale Arbeits-
teilung, ferner das System der freien Concurrenz schaffen
immer complicirtere Verkehrs- und Rechtsverhält-
nisse (Creditwesen !). Daraus ergeben sich wieder leicht ver-
mehrte Rechtsstreitigkeiten und Rechtsstörungen, sowie Interessen-
gegensätze von Einzelnen und Gesellschaftsgruppen oder Classen
und demgemäss grössere Anforderungen an die repressive und
präventive Thätigkeit des Staats zur Verwirklichung des Rechts-
zwecks, an seine gesetzgeberische, die Gegensätze ausgleichende
oder versöhnende, wie an seine richterliche Wirksamkeit. Die
vermehrte Reibung, die andrerseits wohl nicht mit Unrecht
als besonders günstige culturliche und wirtschaftliche Folge der
grösseren Bevölkerung und Volksdichtigkeit bezeichnet wird, hat
sicher doch vor Allem auch diese Wirkung.
Die extensive und intensive Steigerung der Staatsthätigkeit
auf dem Gebiete des Rechts- und Machtzwecks ist bei Cultur-
völkern daher eine begreifliche, ja notwendige.
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900 6. B. Staat. 3. K. Ausdehn. d. öff. Thätigkeiten. §. 366, 367.
C. — §. 366 [174]. Grösserer Staatsbedarf als Wirkung
und Beleg. In der im längeren Jahresdurchschnitt überall fast
ununterbrochenen V er m eh run g des finanziellen Staatsbe-
darfs für die grossen Verwaltungsabtheilungen der Justiz, des
Inneren, der Polizei, des Heers, der Flotte, des diplomatischen
Dienstes findet diese Entwicklung, auf den Generalnenner „Geld1*
zurlickgeführt, ihren ziffermässigen Ausdruck und damit ihr Maas s,
wenn die durch Veränderung des Geldwerths und bessere Bezahlung
der Staatsdiener bewirkte Erhöhung des Bedarfs in Abzug gebracht
wird. Diese Vermehrung des Staatsbedarfs erlangt umgekehrt
aber auch durch diese in der Vermehrung der Staatsthätigkeit
liegende Ursache ihre Begründung und ihre oft angezweifelte
Rechtfertigung.
(§. 362.) Man wird daher mit dieser Tendenz der Steigerung des Finauzbedarfs
auch in der Theorie und Praxis des Finanzwesens, hier namentlich des Staatshaus-
halts, rechnen und die EinnahmebeschafTung, namentlich die Besteuerung, darauf mit
einrichten müssen: nicht nur um der dauernden Ordnung der Finanzen Willen, son-
dern auch im sachlichen Interesse, um für eine innerlich gebotene Entwicklung der
Staatsthätigkeit die materiellen Voraussetzungen zu erfüllen.
III. — §. 367 [175]. Die Ausdehnung der Staatsthätig-
keiten auf dem Gebiete des Cultur- und Wohlfahrtszwecks.
A. Im Allgemeinen. Auch sie ist im Grossen und Ganzen bei
fortschreitenden Völkern eine ebenso regelmässige, wenn
auch im Einzelnen hier mehr Aender ungen auf diesem Gebiete,
daher mitunter auch wieder Einschränkungen öfters Vor-
kommen und die zeitlichen und örtlichen Verschieden-
heiten bedeutender sind. Auch theilt gerade hier der Staat die
„öffentlichen** Functionen thatsächlich und durchaus passend mit den
Selbstverwaltungskörpern.
Der Grund für diese Gestaltung der Dinge liegt darin, dass
es sich im Einzelnen hier nicht um so durchaus wesentliche
Staatszwecke, wie im ersten Falle handelt und von der aus-
schliesslichen Uebertragung aller bezüglichen Leistungen
auf den Staat ähnlich wie bei den Hauptfällen des Gebiets des
Rechts- und Machtzwecks niemals ernstlich die Rede sein kann.
Die Aufgabe ist vielmehr gerade hier nach aller historischen Er-
fahrung und aller psychologischen Analyse der mitspielenden Motive
wirtschaftlichen Handelns die richtige Combination der drei
Systeme, des privat-, des gcmeinwirthschaftlicben und des caritativen
(§. 302), und die Einräumung der richtigen Stellung an den Staat
innerhalb (nicht wie bei dem Rechts- und Machtzweck ausser-
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Aasdehn, d. Thätigk. beim Cultur- u. Wohlf.zweck. 901
und oberhalb) der bezüglichen Thätigkeiten der anderen Wirth-
schaften.
Im einzelnen Falle wird daher nicht nur die Auffassung mehr darüber aus-
einandergehen, ob und wieweit eine Leistung grade rom Staate übernommen
werden soll, — was bei dem Rechts- und Machtzweck schon dadurch principiell ent-
schieden wird, dass die einzelne Leistung nothwendig zu dessen Verwirklichung
gehört, — sondern cs ist auch einzuräumen, dass nach Zeit und Ort und Umständen
eine Leistung bald besser vom Staate, bald von einer anderen Zwangs- oder von einer
freien Gemeinwirthschaft oder von einer Privatwirtschaft, und hier wieder bald nach
dem privatwirthscbaftlichen , bald nach dem caritativcn Princip übernommen werden
kann. M. a. W. die Frage, ob. wann und wie grade der Staat eine Thätigkcit über-
nehmen soll, ist hier doch gewöhnlich mehr eine Opportunitäts-, eine Zweck-
mässi gkeitsfrage, im anderen Falle eine Principienfrage. Selbst die Fälle sind
sicht selten, dass unter übrigens gleichen Umständen eiuo Leistung in der That ebenso
gut von einer anderen Wirtschaft als vom Staate ausgeübt werden kann. Namentlich
kann sich etwa der Staat in dieser Hinsicht ökonomisch und technisch nicht mehr
und nicht weniger zur Uebcrnahme einer Leistung eignen, als eine einzelne andere
Wirtschaft, nicht nur als eine Gemeinde, sondern als z. B. auch eine Erwerbs-, eine
Actiengesellschaft, und es wird zweifelhaft bleiben, ob andre Rücksichten, politische,
sociale, die Entscheidung für oder wider mit Sicherheit räthlich machen (z. B. Ueber-
nahme grosser Central-Zettelbanken, Eisenbahnen).
Es kommt daher bei der Frage, ob, wann, wie und inwieweit
eine einzelne Thätigkeit im Gebiete der Cultur und Wohlfahrt vom
Staate übernommen werden soll, auf die möglichst unbefangene
Prüfung des concreten Falles an. Zu diesem Zwecke muss wieder
die Noth wendigkeit einer Controle der Regierung,
welche letztere meistens leichter zur Ausdehnung als zur Ein-
schränkung der StaatsthUtigkcit geneigt ist, durch eine schon aus
finanziellen Rücksichten gewöhnlich mehr zum Gegentheil neigende
Volksvertretung betont werden (§. 351).
Bei dem bedeutsamen Mitspielcn des finanziellen Moments müssen alle diese
Fragen auch in der Finanzwissenschaft, besonders in der Lehro vom Privaterworb
und von den Gebühren berührt werden. Es ergiebt sich, dass dann regelmässig
vier Reihen von Fragen auftauchen: ob überhaupt auf den Staat (oder auf einen
anderen öffentlichen Körper) etwas übernehmen, in ,, öffentliches Eigenthum'* („Eigen-
thumsfrage“); im Bejahungsfälle: ob ausschliesslich so übernehmen („Regali-
sirung“ in diesem Sinne); weun so übernehmen: wie verwalten, ob durch den
Staat, bezw. eine Behörde desselben selbst (Eigenverwaltung oder Eigenbewirth-
schaftung), ob durch Delegirte, ob verpachten („ Verwaltungswege“) ; endlich, nach
welchem leitenden Fi n an zpri n ci p verwalten: Princip der reinen Ausgabe,
Kostendeckung durch andere Einnahmen, allgemeine Steuern, unentgeltliche Zu-
führung an, Benutzung durch die Bedürftigen (z. B. öffentliche Wege); Gebühren-
princip in verschiedenem Maasse, also ganz oder theilwcisc Kostendeckung dadurch,
demgemässe specicllo Entgeltlichkeit (z. B. Post); Princip des privatwirthschaftlichcn
Erwerbs mit Reinertragserstrebung eventuell Uber die Kosten (incl. Zins des Kapitals)
hinaus (z. B. Staatsbahnen); endlich unter Umständen selbst besteuerungsartige finan-
zielle Ausnutzung durch entsprechende Regelung der Benutzungstarife (z. B. älteres
Postwesen, ältere Finanzrcgale, heutige Monopole, wie Tabak, „Finanzielle Frage“).
Nach diesen Gesichtspunctcn sind die allgemeinen und specicllen Fragen auch von
mir in der Finanzwissenschaft in den hierher gehörigen Abschnitten von dem Privat-
erwerb und den Gebühren behandelt worden. S. bes. Fin. I, 3. A.. §. 201, 21S,
II, 2. A., §. 49, und daselbst weiter bei den einzelnen Zweigen die Erörterung der
vier Fragen.
902
G. B. Staat 3. K. Ausdehn. d. öff. Thätigkeiten. §. 368.
Eine allgemeine Entwicklungstendenz der Staats-
und der gesammten „öffentlichen“ Thätigkeit auf dem Gebiete des
zweiten Staatszwecks lässt sich indessen gleichwohl durch Beob-
achtung constatiren und aus den Verhältnissen des Volkslebens
auf höheren Culturstufcn auch erklären und begründen, und diese
Tendenz ist wie gesagt im Ganzen auch hier die einer stetigen
Ausdehnung der öffentlichen Thätigkeit.
B. — §. 368 [176]. Specielle Gebiete. 1. Sachgtiter-
production. Am Wenigsten trat dies bisher in den modernen
Staaten (ebenso wie im Alterthum und Mittelalter) in der gewöhn-
lichen Sachgüter production hervor. Hier ist vielmehr
mannigfach eine gerade entgegengesetzte Entwicklungstendenz
wahrzunehmen.
Der Grund und Boden ist immer mehr, und zum Theil aus inneren, mit
der Steigerung der Intcnsivität der Landwirtschaft zusammenhängenden Gründen in
Privathände und bei diesen in volles Privateigenthum Ubergegangen. (Siehe
Abth. II in der 2. Aull. Kap. 4, vom Grundeigenthum.) Handwerke, Fabriken,
Handelsgeschäfte wurdeu stets und werden vollends beute fast ausschliesslich von
den Privatwirtschaften betrieben. Auch die Fi nan zv erwaltung erwirbt ihr Ein-
kommen immer weniger privat wirtschaftlich, immer mehr steuerwirth-
schaftlich (Fin. I, 3. A., §. 217). Der Realbedarf des Staats an gewissen
naturalen Gütern, z. B. selbst derjenige für die Kriegsmacht, wird auch vielfach nicht
mehr eigens producirt, sondern mittelst der Steuereinnahmen von anderen Producenten
eingekauft (Fin. I, §. 16S). Man hat aus solchen Wahrnehmungen mitunter selbst ein
Gesetz abnehmender Staatsthätigkeit im entwickelteren Volke abgeleitet. So
wiederum sehr allgemein in der späteren Smith’schen Schule, besonders auch in
der Finanzwissenschaft derselben. Vgl. z. B. Pfeiffer’s Staatseinnahmen I,
94 ff.: principiello Forderung der Beseitigung aller privatwirthschaftlichen Einnahmen
des Staats. S. dagegen meine Fin. I, 2. A., §. 275, 3. A., §. 300. Aber selbst bei
Schäffle findet sich der kaum haltbare Satz in der 2. Aull, seines Systems noch:
„im Allgemeinen ist zu bemerken, dass das privatwirthschaftlichc System in steigendem
Grade fähig wird, immer mehr Aufgaben wirtschaftlich zu lösen, als es bisher für
dieselbe Aufgabe durch Gemcinwirthschaften geschah“ (§. 178, S. 335).
Allein man darf solche Fälle auch auf diesem Gebiete nicht
unrichtig verallgemeinern. Selbst jetzt schon sind viele andere
entgegengesetzte Erscheinungen zu verzeichnen und eine weitere
Entwicklung in dieser Richtung einer Ausdehnung der Staats-
oder wenigstens der Thätigkeit öffentlicher Körper auch auf dem
Gebiete der Sachgüterproduction lässt sich aus triftigen Gründen
als wahrscheinlich bezeichnen.
Ein entscheidendes Hauptmoment dafür ist die Um-
gestaltung der Production stechni k (Dampf! u. a. m.,
§. 283), welche „öffentliches“ Grund- und Kapitaleigenthnm
und „öffentliche“ Sachgüterproduction mit demselben bereits
gegenwärtig vielfach möglich gemacht und thatsächlich herbeige-
führt hat, auch dies muthmaasslich weiter thun wird. Denn mit
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Specielle Gebiete. Sacbgüterproduction.
903
diesem Wechsel der Productionstechnik wird der öffentliche Staats-,
Communalbetrieb ökonomisch -technisch leichter möglich, hat er
in dieser Hinsicht weniger Bedenken und specifische Vorzüge und
umgekehrt der Betrieb durch Privatwirthschaften, öfters durch die
allein hier zweckmässigen grossen Erwerbs- (Acticn-) Gesellschaften,
wird ökonomisch-technisch nicht leistungsfähiger und socialpolitisch
ungünstiger als jener öffentliche. Die etwaigen politischen Be-
denken solcher Entwicklung werden durch politische und ander-
weite Vortheile ausgeglichen.
Die Privatwirthschaften werden auch bereits mehrfach durch diese Betriebe
verdrängt (Verkehrsanstalten!). Sie zeigen sich in vieler Hinsicht unfähig, die un-
geheuren Kapitalien des modernen Productionsprocesses ri ch tig zu verwalten: Zeuge
des, die spcculative Vergeudung und Missleitung der Kapitalien in den Perioden der
Ueberspeculation, die furchtbaren Rückschläge in den Absatz- uud Creditkrisen hinterher,
die Wechselfälle der Conjunctur — lauter Momente, welche der Staats- und Com-
munalthätigkeit, d. h. der g emei n wirtschaftlichen Productionsweisc indirect Vor-
schub leisten (S. o. §. 283, 295, Fin. I. Buch 3 vom Privaterwerb. Fin. II, 2. A.,
Buch 4 von den Gebühren, wo Belege).
Der entwickelte Staat wählt nur mit Hecht sorgfältiger
diejenigen Saehgüterproductionszweige aus, für welche der Staats-
betrieb in technisch-ökonomischer Hinsicht sich am Meisten
eignet, gewisse Vorzüge besitzt, gewisse Nachtbeile, verglichen mit
anderen Wirtschaften nicht besitzt.
So sehen wir den Staat allerdings bis in die neueste Zeit vom Landwirth-
schafts-, Fabrik- und Handelsbetrieb immer mehr zurücktreten. Aberden
Forstbetrieb zieht er um so mehr an sich (Fin. I, 3. A., §. 236 ff.), einzelne
Arten des Bergbaus behält er wenigstens mitunter (eb. §. 249, 250), manche Bank-
geschäfte (ob. §. 259 ff.), welche sich an den Handel anschlicssen, übernimmt er.
Versicherungsgeschäfte könnten sich anreihen. Seinen Finanzbedauf deckt
der Staat allerdings mit Recht immer mehrdurchStcuern, aber dicUeberschüsse
der Forsten, Staatseisenbahnen und anderen Vorkehrsanstalten (Post),
des Bergbaus sind und bleiben ein wichtiger Einnahmeposten. Die Erhebung von
Verbrauchssteuern in der Form eines Monopols (Salz, Tabak) bewirkt weitere um-
fassende Thätigkeiten des Staats in der Sachgüterproduction, ja die Einrichtung
moderner Tabakregalverwaltungcn, wie z. B. der französischen, stellt förmlich ein Stück
gelungener „socialistischer Organisation der Arbeit“ dar (vgl. Fin. II. 2. A., §. 108).
Der Bedarf an Sachgütern wird für viele Verwaitungs/.weige allerdings durch Einkauf
bei Privatwirthschaften gedeckt, aber in grossem Umfange immer noch durch Eigen-
production, so in der Verwaltung des Heers und der Flotte noch vielfach, in neuen
Zweigen, z. B. dem Eisenbahnwesen, aus Zweckmässigkeitsgründen öfters ebenfalls
(Maschinenfabriken für einzelne Gegenstände des Bahnbedarfs, Reparaturwerkstätten).
So möchte im Ganzen, namentlich unter Berücksichtigung
der Gebiete der Verkehrsanstalten, des Wegebaus, Eisen-
bahn baus, im entwickelten modernen Staate schon jetzt eine
grössere Staatsthätigkeit in der Sphäre der materiellen
Production stattfinden, als früher.
Es ist dios u. A. auch deshalb noch besonders wichtig und beaebtenswerth,
weü hiernach der Staat auch als der weitaus grösste Arbeitgeber im Gebiete
der materiellen, physischen Arbeit in der Volkswirtschaft erscheint, nicht nur
904
0. B. Staat. 3. K. Ausdehn. d. öff. Thätigkeiten. §. 369.
in demjenigen der geistigen Arbeit, wo er oft für bestimmte Arbeitsarten der
einzige oder fast einzige Arbeitgeber ist (Beamtenthum), ciue Thatsache vou nicht zu
unterschätzender Bedeutung für die sog. Arbeiterfrage, besonders die Lohnfrage. (Vgl.
E. Laspeyres im Staatswörterb. X, 77. Kud. Meyer in seinem Emancipations-
kampf I, 387.) In Kaiser Wilhelm’» II. Botschaft vom Februar 1890 war einer der
schönen Gesichtspunctc : die staatlichen Bergbauunternchinungen zu wahren Moster-
anstalten zu machen, grade auch bezüglich der Fürsorge für die Arbeiter. Cnd
viel ist z. B. grade im prcussischen Saar - Kohlenbergbau in dieser Hinsicht ge-
leistet worden.
Je mehr aber jene productionsteehniscben Momente zur Geltung
kommen und je weniger sich ökonomisch, technisch und social-
politisch das privatwirthschaftliche System bewährt, desto mehr
werden Zweige der Sachgüterproduction in den dann immer
häufigeren geeigneten Fällen an den Staat und wohl besonders an
die Commune übergehen. Bezügliche Bestrebungen treten neuer-
dings immer öfter hervor.
ünd keineswegs nur in socialistischen Kreisen. Beispiele sind: Einrichtung der
Apotheken als öffentlicher Anstalten, womit mau der ausserordentlich schwierigen
Regelung der Frage der Apotheken als privatwirthschaftlichcr Unternehmungen ent-
hoben wurde, selbst bei einem System der Verzeitpachtung ; locale Vcrkehrsanstalten
(Pferdebahnen) an die Gemeinde; Sach- und Arbeiter- Versicherungswesen an den
Staat und Verbände u. a. in., Beleuchtungsunternehmungen (Gas, Electricitit) an
die Gemeinde.
§. 309 [177]. — 2. Andere Cnlturgebiete. Auf allen
anderen Gebieten des Cultur- und Wohlfahrtszwecks tritt die
Tendenz einer extensiven und intensiven Steigerung der
Staatsthätigkeiten vollends unzweifelhaft hervor.
1) Eine äussere Ausdehnung erfolgt in grossem Umfange
auf eine doppelte Weise: es werden bisherige Thätigkeiten
der Privatwirtschaften oder andrer Gemein wirthschaften
vom Staate übernommen und es entstehen ganz ueue Bedürf-
nisse, für welche der Staat allein oder vorzugsweise die Für-
sorge trägt So nimmt die zwangsgemeinwirthschaftliche Be-
dürfnisbefriedigung durch die Vermittlung des Staats absolut
und oft auch relativ in der Volkswirtschaft zu.
Beide genannte Fälle treten besonders dann ein, wenn eine grosse räumliche
und zeitliche Concentration und systematische Einheitlichkeit erforderlich ist
(§. 378, 379). Dazu eignet sich thcils allein der Staat, thcils hat die üebertragung
solcher Thätigkeiten an die Privatwirthschaften. z. B. an Erwerbsgcsellschaften. ihre
Bedenken, weil leicht laotische Monopole entstehen, z. B. im Bereiche der Vcrkehrs-
anstalten.
Die Ausdehnung der Staatsthätigkeit hängt auch öfters mit
dem Bedürfuiss nach höheren, vollkommneren, feineren
Leistungen zusammen, als sie Private und andre Gemeinwirth-
schaften liefern können, und mit der Notwendigkeit, den Er-
werb sgesichtspu net in der betreffenden Thätigkeit im sach-
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Andere Culturgebiete.
905
liehen Interesse hinsichtlich der Qualität der Leistung oder mit
Rücksicht auf die grosse allgemeine culturliche Bedeutung der
Thätigkeit zurticktreten, mindestens ihn nicht zum beherr-
schenden werden zu lassen, daher zwischen der Verwaltung
nach privatwirthschaftliehem , Gebühren -, gemeinwirthschaftliehem
Princip, zwischen voller und theil weiser, speciellcr und genereller
Entgeltlichkeit und Kostendeckung wählen, darunter richtig com-
biniren zu können, was bei den eigentlichen Privatwirthschaften
theils gar nicht möglich, theils sehr schwierig ist (§. 335).
Z. B. im Gebiete des Unterrichts- und Bildungswesens, der Verkehrsanstalten,
wo statt des rein privatwirthschaftlichen Verwaltungsprincips nun das sog. Gcbühren-
princip angewendet wird.
Auch der Umstand, dass ein grosser Kapitalaufwand für
die Einrichtungen und Vorkehrungen zur Vornahme der betreffen-
den Leistungen erforderlich ist und dass hierdurch, sowie durch
die ganze Technik des Betriebs die Ausführung der Leistungen
durch die gewöhnlichen Privatwirthschaften der Einzelnen mehr
oder weniger ausgeschlossen wird und etwa neben Staat und Ge-
meinde nur oder fast nur die Erwerbs-, besonders die Actien-
gesellschaft überhaupt als Concurrentin in Betracht kommt, führt
im Interesse der Sache und um den sonst dominirendeu Einfluss
solcher Gesellschaften zu beseitigen, zur Uebernahme der Leistungen
auf den Staat, z. B. bei den grossen modernen Verkehrsanstalten,
oder wenigstens auf die Provinz, den Kreis, die Gemeinde. Darauf
drängt auch die Wahrnehmung hin, dass das spcculative Privat-
kapital, besonders, aber nicht allein, in der Form der Kapital-
association (Actienwesen), oftmals selbst zu Vergeudungen, gewöhn-
lich aber wenigstens zur örtlichen und zeitlichen Deplacirung der
Kapitalien, damit zu grosser Regellosigkeit der Production
zu führen droht. Die Kapitalbewegung wird von der Börse und
von der momentanen Conjunctur ganz abhängig, wendet sich Ver-
wendungen zu, die überhaupt nicht oder nieht in diesem Umfange
wahrhaft volkswirtschaftlich productiv sind und ist zeitlich ausser-
ordentlich ungleichmäs8ig , eine Zeit lang fieberhaft erregt, um
hinterher ganz zu erschlaffen: lauter höchst nachtheilige Verhält-
nisse für den Gang der Production und des Erwerbs.
Auf diese viel zu wenig beachtete Seite der Frage der „öffentlichen“ Unter-
nehmungsform komme ich in der 2. Abth., u. A. auch bei den „socialen Freiheits-
rechten“ weiter zu sprechen. Besonders wichtig ist der Punct beim Eisenbahnwesen.
S. Fiu. 2. A., I, §. 233, 236, 256, 3. A., §. 272, 276.
Wichtigere einzelne Beispiele sowohl für die Uebertragung bisheriger Prirat-
thätigkeiten auf den Staat, die Gemeinde u. s. w. als für die gleich anfängliche
906
6. B. Staat. 3. K. Ausdehn. d. öffentl. Thätigkeiten. §. 370.
üebernahme von Leistungen für neue Bedürfnisse auf den Staat, in welchem Falle
öfters die Analogio der erforderlichen neuen zu alten bestehenden Einrichtungen
maassgebend ist, sind: Schulen, besonders höhere oder Specialschulen, technische.
Real-, neben classischen Schulen und Universitäten; Telegraphen (sehr charac-
teristisches Beispiel: die Cebcrnahme der Telegraphie mittelst Abkaufs der Privat-
gesellschaften auf den Staat sogar in Grossbritauuien 1869) und Eisenbahnen
neben Posten; städtische Verkehrsanstalten (Pferdebahnen und locale Dampf-,
clectrische Bahnen); Gas- und Wasserwerke (so in Berlin mittelst Auskaufs der
betreffenden Gesellschaft, Fin. II, 1. A, §. 314); Banken (Zeftelbanken, Sparcassen,
Hypotheken- und Grundcrcditbanken) ; Versicherungswesen (Peusionscassen,
Lebens-, Feuerversicherung) und viele andro mehr.
2) Eine intensive Steigerung der Staatsthätigkeiten auf
diesem Gebiete liegt noch mehr in der nothwendigen Entwicklung
auf der einmal betretenen Bahn, als die äussere Ausdehnung jener
Thätigkeiten. Denn der Civilisirungsprocess bewirkt immer steigende
Anforderungen hinsichtlich der Befriedigung der bezüglichen Ge-
mein- und Culturbedürfnisse: dieselben müssen allgemeiner,
reichlicher, vollkommener befriedigt, leichter zugänglich, die
Befriedigung dem Einzelnen wohlfeiler, wenn nicht unentgeltlich
möglich werden.
Daher z. B. mehr Schulen, mehr und gleichzeitig schwächer besetzte Classen
darin , mehr wissenschaftliche Arbeitsteilung unter den Lehrkräften ; feinere Aus-
bildung der Verkchrsanstaltcn, mehr Post- und Telegraphen bureaux, häufigere Be-
förderungsgelegenheiten, raschere und sicherere Beförderung; sorgfältigere Wahr-
nehmung aller Gcsundheitsintcrcssen der Bevölkerung, namentlich der unteren Classen,
welche sich nicht allein schützen können (öffentliches Gesundheitswesen, Fabrikaufsicht);
wachsende Theilnahme der Masse der Bevölkerung an wichtigen Culturgutern (Unter-
richt, Bildungsmittel) u. s. w.
IV. — §. 370 [178], Zeitweilige Stabilität in der
Entwicklung der öffentlichen Thätigkeiten. Finanzielle
Hemmungen. Auch in den modernen Staaten kommen Zeiten
grösserer Stabilität der Staatsthätigkeiten, besonders auf dem
Cultur- und Wohlfahrtsgebiete, vor. Daran pflegen politische,
sodann namentlich finanzielle Verhältnisse Schuld zu sein.
Eine schwierige Finanzlage hemmt natürlich einen Entwicklungsprocess, welcher
gewöhnlich nothwendig mit dem stärkeren Hervortreten der Stcuerwirthscbaft ver-
bunden ist, soweit nicht Gebührenerträge und Privaterwerbs- Uebcrschüsse sichere
Kostendeckung verheissen. Aber auf solche Perioden der Stabilität pflegen Zeiten
eine.r um so rastloseren Ausdehnung der Staatsthätigkcit zu folgen (in West- und
Mitteleuropa 184$ ff. verglichen mit 1815 — 1848). — Nicht selten wird von ihren Geg-
nern der sogen, constitutioneilen gegenüber der älteren absolutistischen Aera unserer
modernen Staaten der Vorwurf grösserer Kostspieligkeit, d. h. stark steigenden Staats-
bedarfs und daher zunehmender Steuerbelastung gemacht. Die bezüglichen That-
saclien sind nicht falsch, aber die Erklärung ist unrichtig und tendenziös: die con-
stitutionellc Aera begünstigt und ermöglicht die nothwendige und im Gesammtinteresse
liegende Entwicklung der staatlichen Gemeinwirthscbaft und darf die Beschaffung der
Mittel dafür durch Steuern leichter als die absolutistische Zeit wagen. Aehnliches
gilt vom Einfluss der neueren Gemeinde-, Kreis-, Provinzialordnungen. Wie sofort
finanzielle Hemmungen einen momentanen Stillstand oder ein langsameres Tempo der
dargestellten Bewegung bewirken, zeigte z. 13. die Lage Ende der 1870er Jahre in
Deutschland, spcciell in Prcusscn, r.jd wiederum 1892 ff.
■a.
i
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Zeitweilige Stabilität Finanzielle Hemmungen.
907
Umgestaltungen der wirtschaftlichen Rechtsordnung mitUeber-
nahme bisheriger Privatthätigkeiten durch den Staat (die Gemeinde
u. s. w.) sind ferner öfters mit bedeutendem einmaligen, in kurzer
Zeit sich zusammendrängenden Finanzbedarf verbunden, weil
wohlerworbene Privatrechte gegen Entschädigung abgelöst
werden.
S. o. §. 32S und 2. Abtb. der Grundlegung (in der 2. Aull., Kap. 5). Fälle
dieser Art sind in unseren Tagen in besonders grossem Umfange vorgekomtnon zur
Herstellung volkswirtschaftlicher Verkehrsfreiheit (s. Dietzel, Syst,
der Staatsanleihen, S. 106; meine Ordnung des österr. Staatshaushalts, S. 5), wobei
dann immer neben finanziellen Leistungen umfassende Thätigkeitcn des Staats im
Gebiete der Gesetzgebung und Verwaltung zur Durchführung der erforderlichen
Maassregeln zeitweilig oder bleibend geboten sind , z. B. Einrichtung von Com-
missionen für die Regelung der gutsherrlich-bäuerlichen Lasten, für Zehntablösung,
für „Auseinandersetzung“, für Gemeinheitstheilung und Zusammenlegung der Grund-
stücke u. dgl. m. Wichtigere Beispiele sind: Ablösung von Feudallasten, bäuerlichen
Grundlasten, Zehnten, Realgerechtsamen, Monopolen; von Zollrcchtcn u. s. w. (z. B. Ab-
lösung der Sund-, Stade-, Scheldezölle mittelst internationaler Verträge ; Entschädigung
Mecklenburgs für die Aufhebung der Elbezölle auf Kosten des Norddeutschen Bunds);
von Sclavereiaufhebung nicht zu reden (Verwendung von 20 Mül. Pfd. St. Seitens
Englands zur Entschädigung der Sclavenbesitzer in seinen westindischen Colonien für
die Aufhebung der Sclavcrei im Jahre 1833). Die Uebernahmc von Privatposten
(Ablösung der Thum- undTaxis’schcn Postrechto inTheilen des Gebiets der Norddeutschen
Bunds mit 3 Mill. Tblr. durch Gesetz vom 16. Februar 1867), von Privat -Telegraphen
(England), -Eisenbahnen (Deutschland), (s. Fin. I, 3. A., §. 279, mit vielen Einzel-
heiten^, -Canälen, -Dampfschifffahrten (z. B. Auskauf der Bodensee- Dampfschiflfahrts-
Gesellschaften durch süddeutsche Staaten) u. s. w. bewirkt dann auf einmal eine
grosse Ausdehnung der Staatsthätigkcit und Steigerung des Finanzbedarfs.
Aeknliche Ereignisse werden immer wieder von Neuem Vor-
kommen, wenn bestimmte Arten des Privateigentbums,
besonders des G ru ndeigenthums, und gewisse privatwirth-
schaftlicbe Unternehmungen in der Fortentwicklung der
Volkswirtschaft mit dem öffentlichen Interesse (wozu auch das
staatliche Finanzinteresse, z. B. in der Monopolfrage [Tabak] ge-
hören kann) in Conflict kommen und die genügende RechtsregeluDg
der Objecte und Betriebe in Privathänden zu viel Schwierigkeiten
macht oder ganz unmöglich ist. Solche Verhältnisse werden aber
durch die Consequenzen des absoluten Privateigenthums und der
rücksichtslosen freien Concurrenz stets von Neuem in wichtigen
Fällen heraufbeschworen (Eisenbahnen ! Auch bei grossstädtischem
Grundeigenthum, Kohlenbergwerken, z. B. England, kann die Frage
hervortreten).
Die augenblickliche Finanzlage mag den Process des Ucber-
gangs des betreffenden Eigenthums auf den Staat (und die Ge-
meinde) vorübergehend hemmen , wie sich z. B. längere Zeit
in der verschiedenen Eisenbabnpolitik finanziell günstig, wie Deutsch-
land, und ungünstig, wie Oesterreich und Italien, situirtcr Staaten,
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908
6. B. Staat. 4. K. Prävcntivprincip. §. 371.
Mitte der siebziger Jahre auch in dem Stocken der „Verstaat-
lichung“ der Privatbahnen selbst in Preussen zeigte, aber auf die
Dauer gewiss nicht. Deshalb wird immer wieder, unter Voraus-
setzung dauernder Fortschritte der Cultur und Volks wirthschaft
eines Volks, das Gesetz der wachsenden Ausdehnung
der Staats- und andrer z wangsgemeinwirthschaftlichen
Thätigkeit Geltung erlangen.
Viertes Kapitel.
Das Gesetz des Vorwaltens des Präventivprincips
im entwickelten Rechts- und Culturstaate.
§. 371 [S. 325]. Vorbemerkungen. Audi hier handelt es sich um eine
eminent politische Frage, die vom volkswirtschaftlichen und finanziellen Gesichts-
punct noch viel zu wenig erörtert ist. Einzelne Bemerkungen passim bei Schaf fl e,
L. Stein und in Realpolitiken , wie derjenigen von II. Esch er. Für den llaupt-
punct, das Heerwesen, s. L. Stein, Lehre vom Heerwesen, als Theil der Staats-
wirthschaft, Stuttg. 1874, wo aber die mir wesentlich erscheinenden volkswirtschaft-
lichen Gesichtspuncte dieses Kap. 4 fehlen. Die Verwaltung des Heerwesens wird
von Stein hier doch überwiegend von ihrer formellen, nicht von ihrer materiellen Seite
behandelt. Die Erörterungen aber „Nationalökonomie und Militärwirthschaft“ S. 215 ff.
sind viel zu einseitig, — wenn z. B. das Heer „nothwendig und immer uur ein
consuinirender Körper” genannt und gesagt wird, es gebe „keine Nationalökonomie
des Heerwesens“ (S. 210). Das Heer als wesentlichster Garant der Sicherheit und
Unabhängigkeit des Volks, des Staats und der Volkswirtschaft ist im eminenten Sinne
ein productiver Körper. Vgl. dagegen meine Fin. 1, 3. A., §. 182 ff., auch über
die eigentümliche zeitliche Verteilung des Heeresaufwands bei dem Präventiv-
princip. Lehrreich als grossartiges Beispiel der Praxis für einige der wichtigsten
Gesichtspuncte dieses Kapitels ist das eigentliche Kriegsfinanzwesen, in derZeit
der Kriegsführung und der Wiederherstellung der Kriegsmacht nach dem Frieden.
Eine eingehende qucllenmässigo Darstellung des deutschen Kriegsfinanzwesens im
letzten deutsch-französischen Kriege von 1870 — 71 liefert der betrelfendo Abschnitt in
meiner Abh. Reichsfinanzwesen iu v. Holtzendorff’s Jahrbuch des Deutschen
Reichs III, 1S74, S. 02 — 160. Vgl. hier u. A. die Erörterung über Prävention und
Repression im Heerwesen. S. 120 — 123. Das legislative und Verordnungsmatcrial für
das deutsche Heer stellt übersichtlich zusammen: v. Briesen, das Reichskriegswesen
und die preussische Militärgesetzgebung, Düsseldorf 1872.
Heerwesen und militärische Leistungen sind der wichtigste Fall,
welcher zur Erläuterung der hier aufgestellten Grundsätze und Regeln dienen kann.
Bei J ustiz, Polizei, anderseits bei Gebieten wie dem öffentlichen Gesundheits-
wesen liegt aber im Princip dieselbe Entwicklung vor Namentlich die neueren
naturwissenschaftlichen Fortschritte auf dem Gebiete der Erkenntniss von Krankheits-
ursachen und Bedingungen führen hier nothwendig neben oder vor Repressiv maassregeln
zu grossen zusammenhängenden Präveutiveinricbtungen , um Verbreitung von Krank-
heiten zu verhüten (Bekämpfung des Choletabacillus, der Reblaus, des Colorado-
käfers u. s. wX Im öffentlichen Gesundheitswesen wird so das Sanitätswesen
als Einrichtung zur Verhütung der Krankheiten oder als voraemlich Prkvcntiv-
veranstaltung auch hier vor das Med icinal wesen als Einrichtung der Heilung
der Krankheiten und Rcprcssivvcranstaltung treten und immer wichtiger (vergl.
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Veränderung in der Art der Durchfuhr, d. Staatszwecke.
909
L. Stein 's Verwaltungslohre, Gesundheitswesen). Wichtig sind für die liier be-
handelten Fragen auch die Beziehungen zwischen Prävention, Repression und Ver-
sicherung. S. darüber Em. Herrmann, Principien der Versicherung, und meine
Abh. Versicherungswesen im Schönberg sehen Handbuch, B. III. S. jetzt auch Fiu.,
2. und 3. A., I, §. 37.
I. — §. 372 [179]. Veränderung in der Art der Durch-
führung der Staatszwecke. In der Art und Weise, in
welcher der Staat seine Thätigkeiten ausführt, zeigt sich der Be-
obachtung dasselbe, wesentlich unter dem Einfluss der fort-
schreitenden Technik stehende Gesetz wie im Productions-
process der ganzen Volkswirtschaft überhaupt: der Kapital-
factor, besonders das stehende Kapital, hier in dauernden
festen Einrichtungen und Veranstaltungen bestehend, und die
qualificirte Arbeit treten immer mehr hervor. Die steigen-
den Anforderungen an die Qualität der Leistungen bedingen
dies mit.
Bei den Thätigkeiten des Staats im Gebiete der SachgUterproduction bedarf dies
keiner weiteren Erklärung. Schon die gewöhnlich zugelassene Concurrenz der Privat-
wirthschaften nöthigt hier zur gleichen Entwicklung der Technik. Die Leistungen
zur Durchführung des Cultur- und Wohlfahrtszwecks erfordern aber gleichfalls vielfach
grosse, kapitalbedürftige Veranstaltungen (Verkehrswesen, Unterrichtsweseu , Sanitäts-
wesen, Medicinalwescn), wobei dieselbe Entwicklung nöthig wird.
Besondre Beachtung verdient indessen der Entwicklungsgang
der Production derjenigen Leistungen, welche den Rechts- und
Machtzweck durchführen. Hierbei waltet aus zwingenden wirt-
schaftlichen und diesem Zweck entspringenden Gründen im fort-
schreitenden Volke und Staate immer mehr das Präventiv- statt
und neben dem blossen Repressivprincip ob. Die Verwirk-
lichung des Präventivprincips aber führt nothwendig wieder zu
vorwaltender Wirthschaft mit Kapital, stehendem Kapital
und qualif icirter (berufsmässiger) Ar beit (Beamtenthum,
stehendes Heer). Der Erklärungsgrund für das Hervortreten der
Prävention liegt in der Dringlichkeit des Bedürfnisses im ent-
wickelten Volks- und Staatsleben, dass Rechtsstörungen überhaupt
möglichst vermieden, nicht erst hinterher durch Repression wieder
beseitigt werden.
II. — §.373 [180]. Prävention und Repression. A. Im
Allgemeinen. Die Idee des Rechts und der Rechtsordnung
stellt das Abhandensein von Rechtsstörungen und der
Furcht davor im Inneren, wie nach Aussen zu, zwischen den
Völkern und Staaten, als das nothwendige Ziel der Entwicklung
hin. Dieses Ziel wird am Vollkommensten durch die Gesittung
erreicht, indem der freie Wille der einzelnen Menschen rechts-
A. Wagner, Grundlegung. 3. Auflage. 1. Theil. Grundlagen. 55>
/
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910
G. B. Staat. 4. K. Präventivprincip. §. 373.
störende Handlungen unterlässt. Soweit aber die Gesittung (Sitt-
lichkeit, Sitte) hierzu nicht ausreicht, ist das Zwangsprincip
des Rechts, in der Staatsmacht verwirklicht, unentbehrlich, um
sich dem Ziele soweit als möglich zu nähern.
Der Staatszwang kann nun indirect und direct einwirken.
Jenes, indem der Staat Vorkehrungen, Einrichtungen und An-
stalten schafft, um Rechtsstörungen von vornherein zu verhüten:
der auf solche gerichtete Wille der Menschen schreitet aus Furcht
oder aus der Ueberzeugung der Aussichtslosigkeit des Ge-
lingens gerade wegen der Maassnahmen des Staats nicht zu den
rechtsstörenden Handlungen selbst. (Mitunter handelt es sich auch
um den Fall, dass bedenkliche Unterlassungen auf diese Weise
unterbleiben.) Der Staat kommt hier den Rechtsstörungen zuvor
und handelt nach dem Präventivprincip. Im Gegensatz dazu
wirkt der Staatszwang direct ein mittelst der Repression,
indem er die ein getretenen Rechtsstörungen wieder gut macht,
sühnt, bestraft, die Rechtsordnung wieder herstellt.
Die Prävention ist vom Standpuncte des Rechts aus das
höhere, vom Standpuncte der Nützlichkeit und des practischen
Interesses der Einzelnen und der ganzen Volkswirthschaft aus
gleichfalls das richtigere und wichtigere Ziel. Das Streben muss
darauf hinausgehen, die Prävention möglichst richtig und aus-
reichend zu machen, damit die Repression gar nicht nöthig werde.
Je höher die Volkswirthschaft und die Cultur entwickelt sind, je
weiter namentlich auch die Arbeitstheilung, national und inter-
national, gediehen, je complicirter die Verhältnisse und Formen
des Verkehrs werden (Creditwirthschaft ! §. 189, Weltwirthschafts-
verkehr! §. 152 ff), desto nothwendiger wird nun die Prävention,
weil die einmal eingetretene Rechtsstörung viel schädlicher wirkt.
Das Bedürfniss nach umfassendster Präventivthätigkeit
des Staats wird daher mit dem Fortschritte des Volks und
seiner Wirthschaft immer dringlicher (störender Einfluss
von Kriegen auf die ausgebildete Volkswirthschaft, auf ihre Function
in der Weltwirtschaft!).
Die Bedingungen dafür, dass die Prävention zweckmässiger
und auch allgemein ökonomisch räthlicher, als die Beschränkung
auf Repression werde, treten aber erst bei höherer Entwicklung
des Volks und der Volkswirthschaft ein. Dann wird auch die Er-
füllung der Anforderungen, welche die Prävention stellt, erst raög-
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Prävention und Repression im Allgemeinen.
911
lieh. Zugleich bietet die Einrichtung der Prävention jedoch grössere
Schwierigkeiten als diejenige der blossen Repression.
Die Prävention erheischt ein umfassendes System von Einrichtungen und Ver-
anstaltungen. Schon die Entwerfung, vollends die Ausführung des Plans dafür setzt
eine grössere Entwicklung der Bildung voraus, theils der intellectuellen Bildung über-
haupt, theils der technischen insbesondere. Jenes System muss einheitlich möglichst
weit räumlich und zeitlich ausgedehnt werden, über das ganze Gebiet der Volkswirth-
sehaft und über die aufeinander folgenden Altersclasson und Generationen der Be-
völkerung (z. B. im Heerwesen). Demgemäss müssen die Einzelnen, die kleineren
autonomen Organe (Gemeinden), die „kleinen Herren“ und Herrschaften erst dauernd
und ausreichend dem Staatswillcn, der Gesetzgebung und der Zwangsgewalt des Staats
unterworfen sein, bevor ein solches System einheitlicher Präventiv maassregeln mög-
lich wird. Der Sieg der Präventivpolitik auf dem Gebiete des Rechts- und Macht-
zwecks fällt daher in der neueren Geschichte zeitlich mit dem Siege der absoluten
Fürstengewalt (17. Jahrhundert) zusammen, wenn auch hier eine längere Entwicklung
in dieser Richtung vorangegangen ist (Heeresverfassung). Mit der Fortentwicklung
des Volkslebens und der Volks wirthschaft speciell wachsen die Schwierigkeiten für
die Prävention aber wieder, weil die Verhältnisse, welche geregelt und überwacht
werden müssen, immer complicirter werden, während gleichzeitig die Anforderungen
an die Leistungen der Prävention steigen. Das System von Maassregeln und Ein-
richtungen zum Zweck der Prävention wird dadurch selbst immer grossartiger, com-
plicirter, künstlicher, braucht immer mehr und bessere Arbeitskräfte und Kapitalien,
erheischt deswegen einen immer grösseren regelmässigen Finanzbedarf und eine diesen
beschaffende umfänglichere Anwendung der Besteuerung, setzt daher auch stärkeres
Volkseinkommen und Volksvermögen voraus. Endlich muss aber das Präventivsystem
auch so eingerichtet sein, dass der Uebergang zur kräftigsten Repression, wenn er
etwa doch noch nöthig werden sollte, möglichst rasch, ohne Störungen und sicheren
Erfolg verheissend. eintreten kann. Die Repressivthätigkeit muss daher organisch an
die Präventivthätigkeit sich anschliessen , aus ihr herauswachsen. Sie wird dadurch
selbst wieder ganz anders gestaltet, als auf früheren Stufen des Volkslebens, wo die
Prävention noch wenig ausgebildet ist. Für die ökonomischen Voraussetzungen der
Bevorzugung der Prävention vor der blossen Repression sind die Verhältnisse lehr-
reich, welche auf dem Gebiete des Sachgüterschutzes die Wahl zwischen Prä-
vention und Repression bedingen. S. darüber meine Abh. Versicherungswesen im
Schönberg’schen Handb. III, 3. A„ §. 8 ff. (S. 951 ff.).
B. — §. 374 [181]. Das Präventivsystem auf den
einzelnen Gebieten. Das grossartigste Beispiel für eine
rationelle Entwicklung in der dargelegten Richtung liefert das
moderne Heerwesen der allgemeinen Wehrpflicht über-
haupt, die preussisch-deutsche Wehrverfassung insbesondere.
Das Gesagte gilt daher vorzüglich von der Durchführung des
nationalen Machtzwecks, wozu das Heerwesen das Mittel
ist, aber es ist principiell ebenso richtig auf den anderen Ge-
bieten des Rechtszwecks und eine Menge Analogien auf den ver-
schiedenen einzelnen Gebieten treten hervor. Gleichmässig zeigt
sich Überall, dass der Staat bei der geschichtlich vorausgehenden
vorherrschenden Repression mehr nur sporadisch von Fall
zu Fall, wenn Rechtsstörungen bereits wirklich erfolgt sind oder
wenigstens unmittelbar drohen, Thätigkeiten zum Schutze der
inneren Rechtsordnung und zur Sicherung der Unabhängigkeit des
58*
912
6. B. Staat 4. K. Präventivprincip. §. 375.
Volks nach Aussen zu ergreift. Bei (1er später vorwaltenden Prä-
vention dagegen schafft er feste stehende Einrichtungen
und Anstalten für alle auch nur möglichen Fälle von
Rechtsstörungen, — Einrichtungen, welche einerseits solche Störungen
verhüten, anderseits sie sofort im Keim erdrücken und bei weiterer
Entwicklung sie niederschlagen sollen.
Solche Einrichtungen sind: die gesammte Justizorganisation im Inneren,
mit ihren stehenden Gerichtshöfen verschiedener Instanzen, statt der gelegentlichen,
höchstens periodischen richterlichen Functionen früher; die Präventiv- und Repressiv-
organisation der Po liz ei (Behörden, Gensdarmerie, Polizeicorps) statt der doch mehr
vereinzelten Th&tigkeiten zur Friedensbewahrung in älteren Zeiten (obwohl grade hier
mit am Frühesten Keime zu regelmässiger Präventivorgauisation sich finden): das
Gefängnisssystem mit seinem grossen Gebäudekapital, seinen Abstufungen der
Strafarten statt der freilich „viel einfacheren“ Abstrafung der Diebe und andrer Ver-
brecher durch die rasch wirksame Repressiou des Galgens; der stehende diplo-
matische und Consulardienst statt der einzelnen Gesandtschaftsseudungen; end-
lich namentlich die grossartige Präventiv- und Repressivorganisation der stehenden
Heere (mindestens Cadres) und Flotten, in Verbindung mit grossen bleibenden
Befestigungen, Lagern, Arsenalen, Kriegshäfen, Kriegsschiffen, und mit Einrichtungen
zur vorherigen kriegerischen Einübung und eventuellen Einberufung einer Reihe
von Altersclassen der militärisch geschulten männlichen Bevölkerung zum wirklichen
Kriegsdienst, — statt der technisch unvollkommeneren, nicht für die vorherige krie-
gerische Einübung sorgenden älteren militärischen Einrichtungen (Heerbann-Aufruf,
lehensstaatliche Wehrverfassung u. s. w.), statt der Requisition der Kauffahrteischiffe
zum Kriegsdienste wie im Mittelalter und statt der Fürsorge für die Ausrüstung (Be-
waffnung), Verpflegung der Mannschaft nicht aus öffentlichen, sondern ganz oder
grösstentheils aus den Privatmitteln der dienstpflichtigen Leute selbst. Die Analogieen
auf dem Gebiete des Sanitäts- und Medicinal-, des Armen- und Wohl-
t hä tigk ei ts wesens u. a. m. bieten sich leicht.
III. — §. 375 [182, 183]. In volkswirtschaftlicher und
damit eng zusammenhängend in finanzieller Beziehung hat dieses
Vorwalten der Prävention noch einige besonders beachtenswerthe
Folgen. Es muss
1) eine förmliche Organisation des Staatsdiensts und
damit verbunden ein eigenthümlicbes System des Besoldungs-
wesens, nach Bedarfs- und socialen Werthtaxirungsscalen, ein-
treten, was von der privatwirthschaftlichen Regelung dieser Ver-
hältnisse ab und in eine Art socialistischer Ordnung hinüber
führt (§. 300).
Eine Reihe von Personen widmet sich nach dem Grundsätze fester Berufsarbeits-
theilung ausschliesslich dem Staatsdienste, bildet sich für denselben eigens kostspielig
aus, damit sie den hohen Anforderungen an die Qualität der Staatsleistungen ent-
sprechen können. Die Anzahl dieser Personen wächst mit der Ausdehnung der
Staatsthätigkeiten und mit der Einbürgerung der Prävention beständig. Die An-
forderungen an die specifische Ausbildung steigen gleichfalls fortwährend, besonders
auch mit der Benutzung jener grossen kapitalistischen Einrichtungen und Anstalten,
des Systems der Angrifls- und Vertheidigungsmittel (Fernwaffen) in Heer und Flotte,
welche wieder eigens qualificirte Arbeiter zu ihrer Leitung und Benutzung voraus-
setzen. Der Staatsaufwand an Löhnen (Gehalten) wächst ebenso relativ und absolut,
zumal je ausschliesslicher die Arbeiter im Dienste des Staats sich diesem Dienste
widmen müssen. Der Staat wird „B eamten Staat“, arbeitet mit fest angestellten.
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Volkswirthsch. u. finanz. Folgen des Präventivprincips.
013
berufsmässig gebildeten, besoldeten, pensionsberechtigten Beamten, — eine Entwick-
lung, welche grade durch die Präventivthätigkeit am Meisten nothwendig , (Heer,
Justiz, Polizei), und durch die Ausbildung des Ehrenamtsdiensts und Self-
governments doch nur in beschränktem Maasse aufgehaltcn, kaum positiv zurück-
gedrängt wird, S. auch u. §. 382. Näheres über den modernen Staatsdienst,
mit besonderer Rücksicht auf die Besoldungspolitik, in Fin. I, §. 53 fl'., 2. A., §. 71 ff,,
bes, 3, A., §. 152 — 167 von mir entwickelt. Vgl. namentlich auch die schönen Er-
örterungen von R. v. Mohl, Politik, in der Monographie „der Staatsdienst41 II, 347 ff.
Auch Laspcyres, Art. Staatswirthschaft im Staatswörterb. X, passim. Schäffle,
gesellschaftliches System, 2. Aufl., II, 209 ff. Stein, Ycrwaltungslehre, Gneist,
Verwaltung, Justiz und Rechtsweg (Berl. 1869), passim. — Auch der „Beamtenstaat44
ist daher in viel höherem Maasse nothwendiges Entwicklungsproduct, als früher oft
angenommen wurde, wenn auch die Verfassungs form auf Maass und Art dieser Ent-
wicklung ihren Einfluss ausübt.
2) Ebenso muss der Staat mit immer grösseren, kostspieligeren,
technisch vollkommeneren, künstlicheren und öfters erst durch
Uebung ordentlich zu handhabenden Kapitalien, besonders
stehenden, wirthschaften , und zwar wiederum zumeist wegen
des Vorwaltens der Prävention.
Hier handelt es sich theils um Grundstücke (Truppenübungsplätze, Schiess-
plätze) und besonders um Gebäude und deren Invontare für die mannigfaltigsten
Einzelzwecko der Staatsverwaltung (u. A. Kasernen statt des früheren Privatquartiers);
theils und namentlich um Werkzeuge und Maschinen, mittelst deren auch der
Staat die Kräfte seiner Arbeiter und der Natur auf den bestimmten Zweck hinleitet.
Am Wichtigsten ist wiederum das System der Kriegsmaschinen, Werkzeuge
und Vorkehrungen in den Angriffs- und Verthcidigungsmitteln des Land- und
Seekriegs (Vorwalten der Fern waffen, der Artillerie, anderseits die Vertheidigungs-
mittcl im Festungsbau, in der Panzerung u. s. w.). Geübtes, specifisch ausgebildetes
Personal ist dann besonders wieder für die Handhabung dieses Kriegsmaterials
erforderlich.
Werden nun auch die Kriege seltener und kürzer, so werden
sie doch viel wuchtiger, intensiver geführt und verlangen einen
ungeheueren Aufwand an Menschenkräften und Kapital (Geld) für
die Führung selbst und hinterher zum Wiederersatz der zerstörten
Kapitalien und zur Wiedergutmachung der geschädigten mensch-
lichen Existenzen („Retablissement“, Invalidenpensionswesen).
Vgl. Beispiele iu meiner Abh. Reichsfinanzwesen, Holtzendorff ’s Jahrb.
B. 3 a. a. 0., S. 121, 125 ff., 141 ff.
Auch in Bezug auf das Vorwalten der Prävention und auf
die damit verbundene „Kapital wirthschaft“ und „Wirthscbaft
mit qualificirter Arbeit“ ist der Einfluss der fortschreitenden
Naturerkenntniss (u. A., wie gesagt, auch im Gesundheitswesen,
wo man die Einflüsse der „elementaren Lebensbedingungen“
(Stein) der Bevölkerung, Luft, Licht, Wasser, kleinste Lebewesen,
Bacillen, Pilze u. s. w. immer mehr kennen lernt und alsdann an-
gemessen das „Prävenire“ zu spielen sucht), und der Einfluss der
fortschreitenden Technik augenscheinlich von entscheidender Be-
deutung. Man muss dies erkennen, um unbefangen grossen ge-
914
6. B. Staat. 4. K. Präventivprincip. §. 373 ö.
schichtlichen Erscheinungen, z. B. dem System der stehenden
Heere* und ihrer technischen Einrichtung, gerecht zu werden und
den mitwirkenden Einfluss persönlicher Verhältnisse in diesen
Dingen nicht zu überschätzen, z. B. den „Machthabern und Re-
gierungen“ nicht eine Schuld am „Militarismus“ zuzuwälzen,
welche sie nicht haben. Hier und in anderen ähnlichen Fällen,
überhaupt im „bureaukratischen“ Staate der Neuzeit handelt es
sich um mächtige entwicklungsgesetzliche Erscheinungen, denen
gegenüber der Wille der Einzelnen ein Factor von untergeordneter
Bedeutung ist.
S. ineiDen Aufs, in d. Tüb. Ztschr. 1879, S. 75, S2 , wo aus dieser Auffassung
die Folgerungen für die Finanzen gezogen werden. — Auch Engels, Dühring's
Umwälzung, hat diese Frage ganz richtig beurtheilt, nur dass er zu früh eine Ueber-
spannung, z. B. des Militarismus, annimmt, worauf dann wieder der Rückschlag ein-
treten würde. Den entscheidenden Einfluss der Technik entwickelt er auch hier
meisterhaft, S. 140 ff.
3) Die wichtige Folge des Präventivprincips für die Höhe und
besonders für die zeitliche Vertheilung des Finanzbedarfs
besteht dann im Unterschied von der Repression darin, dass
dauernd, hinsichtlich der bewaffneten Macht auch im Frieden,
ein verhältnissmässig hoher, im Ganzen gleichbleibender
Bedarf Jahr für Jahr wiederkehrt, welcher auch in Zeiten grös-
serer Rechtsstörungen (bürgerliche Unruhen, Kriege u. s. w.) doch
nur mässig durch die alsdann stärker eintretende Repression
gesteigert wird. Bei vorwaltender Repression ist dagegen der
laufende Bedarf geringer, ungewöhnliche Störungen der
Rechtsordnung treten aber leichter ein und steigern sodann direct
und indirect den Bedarf ausserordentlich.
S. Fin. I, 3. A., §. 183, 184, der Vergleich zwischen Preusseu und Nord-
america. Die Prävention führt, weü sie in ruhiger Zeit systematisch eingerichtet
wird, auch zu viel grösserer Sparsamkeit in der Beschaffung und Verwendung
der Mittel (Gambetta’s Kriegsführung 1870 — 71! Nordamerica im Bürgerkrieg.
S. v. Hock, Fin. Nordamericas, Stuttgart 1866, S. 442 ff.). Ebenso ermöglicht sie
leichter eine geordnete Besteuerung und damit die beste organische Verbindung
zwischen der staatlichen Gemeinwirthschaft und den Privatwirthschaften. L. Stein,
Heerwesen. S. 26 fl'., ist etwas zu leicht über die Schwierigkeiten der Militärfinanzen
hingegangen. Daher wohl auch das mangelnde Verständniss für eine grade kriegs-
finanziell so wichtige Function einer (so sparsamen) Einrichtung wie der Staats-
schatz (Finanzwissensch. 3. Aufl., S. 194b Vgl. dagegen meine Fin. 2. A., §. 66,
106 ff., 3. A., §. 75.
So verdient die Prävention volkswirtschaftlich, trotz der nicht
zu läugnenden Gefahr für die Volksfreiheit und einer über-
triebenen Ausdehnung in einzelnen Fällen, wie z. B. im Militär-
wesen , den Vorzug und entspricht den Bedürfnissen der höher
entwickelten Volkswirtschaft. Jene Gefahren aber müssen vor-
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Feststellung des Bereichs der Staatstbätigkeiten.
915
nemlich wieder durch eine ordentliche constitutioneile Budgetwirth-
schaft und mehr noch durch ein richtiges Erziehungs- und Unter-
richtssystem beschworen werden.
Das, was Plato so tiefsiunig durch die sorgfältige Erziehung der „Wächter“
in seinem „Staate“ erreichen wollte, ist heute eben wegen des Präventivsystcms und
der stehenden Heere ein grösseres practisches Bedürfuiss als jemals. Sein System
(II, Kap. 14 ir.) ist auch ein System geregelter Prävention grade gegenüber auswärtigen
Kriegen. Bei aller üeberspanntheit des socratisch-platonischen Staudpuncts im „Staate“
sind die Anschauungen in diesem Puncte wieder von ewigem Werthe.
Fünftes K ap i t e 1.
Die Feststellung des Bereichs der Staatsthätigkeit.
§. 370 [S. 332]. Vorbemerkungen. Die Ansichten hiertiber gehen noth-
wendig nach dem rechtsphilosophischen, politischen und volkswirtschaftlichen Stand-
punct auseinander. Insofern ist auf die allgemeine Litteratur Uber den Staat,
namentlich Uber den Staatszweck zu verweisen, s. o. die Vorbemerk, zu Buch 0,
S. 870IF. Vgl. besonders Ahrens a. a. 0. Auf jedem Standpuncte ergeben sich aber
Streitfragen hinsichtlich der Grenzziehung für die Staatsthätigkeit im concreten
Falle, wenn an und für sich (,4m Princip“) die Staatsthätigkeit für berechtigt an-
erkannt wird. Für die richtige objective Entscheidung solcher Streitfragen lassen sich
Kegeln aufstellen, wie dies im folgenden Kapitel geschieht: ein Punct, welcher grade
fUr die volks wirthschaftliche (und finanzwissenschafliche) Betrachtung
des Staats wichtig ist und bisher in der deutschen volkswirtschaftlichen Litteratur
wohl am Besten von Schäffle behandelt wurde. Ahrens a. a. Ü. enthält im Ein-
zelnen trotz seines m. E. nicht durchweg ausreichenden leitenden Princips (s. o.) viel
Vorzügliches (besonders II, 284 (F.). Sein Versuch, den Staatszweck qualitativ,
nicht, wie auch im Texte von mir geschieht, qualitativ und quantitativ zu
bestimmen, ist beachtcnswerth , aber doch nicht ganz gelungen (s. II, 284 vgl. mit
301). Für das Ausland (England, Frankreich) ist in der Theorie der Standpunct
W. v. Humboldt ’s noch heute ziemlich maassgebend, wie z. B. J. St. Mi 11 zeigt.
S. sonst vornemlich Schäffle, gesellscb. Syst. 2. Auf. bcs. Kap. 29, 31 fL,
namentlich §. 135, 190, mit mehrfach m. E. recht glücklichen Formulirungen der
Grundsätze , an welche ich mich im Texte in einigen Puncten unmittelbar ange-
schlossen habe. Auch Soc. Körper IV, 327 fF. ß. v. Mohl, Polizeiwiss. 3. Aufl. I.,
§. 3 IF. Für Einzelnes Laspcyres, Art. Staatswirthschaft im Staatswörterbuch X. —
Für vieles Einzelne u. für die finanzielle Seite der Specialfragen s. wieder die Fin.wiss.,
bes. d. Lehren v. Finanzbedarf und Privaterwerb im 1. B. und von den Gebühren im 2. B.
I. — §. 377 [184]. Bedingungen und Regeln für die
Feststellung des Bereichs der Staatsthätigkeit. Aus der
principiellen ausschliesslichen Uebertragung des Rechts- und Macht-
zwecks auf den Staat und aus den Erfahrungen hierüber und über
die Thätigkeiten des Staats zur Durchführung des Cultur- und
Wohlfahrtszwecks lassen sich für die Feststellung des jeweilig
richtigen Bereichs der Staatsthätigkeit folgende Bedingungen
und Erfahrungsregeln ableiten. Um die Formulirung derselben,
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916 6. B. Staat. 5. K. Bereich der Staatstbätigkeit. §. 377, 37$.
wie um die ganze nationalökonomische Analyse des Staats, bat
sich namentlich Schaf fl e wesentliche Verdienste erworben.
A. Die allgemeine Regel lautet: der Staat hat diejenigen
Thätigkciten zur Befriedigung der Bedürfnisse seiner Angehörigen
selbst zu übernehmen, welche weder die Privatwirtschaften,
noch freie, noch andere Zwangsgemein wirthschaften
(Selbstverwaltungskörper) überhaupt oder welche alle diese nur
weniger gut oder nur kostspieliger ausüben können.
Die Leistungen im Gebiete des Rechts- und Machtzwecks sind
auch hiernach wieder principiell dem Staate zu übertragen. Dieser
kann hier allein nach dem Erforderniss der Einheit und der ein-
heitlichen Handhabung von Recht und Macht das Nothwendige
leisten. Im Einzelnen ist es aber auch hier mitunter zweifelhaft,
theils ob eine bestimmte Leistung gerade allein zum Gebiete dieses
Rechtszwecks gehört, theils ob der Staat direct und allein sie aus-
üben oder die Ausübung etwa anderen Wirthschaften, namentlich
den Selbstverwaltungskörpern übertragen soll. Noch schwieriger
wird die Entscheidung bei Leistungen, welche zur Durchführung
des Cultur- und Wohlfahrtszwecks gehören. Bei diesen muss ge-
wöhnlich ein Zusammenwirken der verschiedenen Wirthschaftsarteu
eintreten.
B. Für die Staatsthätigkeit spricht nun in solchen einzelnen
Fällen die Vermuthung, wenn besonders folgende vier Be-
dingungen vorliegen, von denen die ersten drei die Verhältnisse
der Production, die vierte diejenigen der Consumtion betreffen:
neralieh wenn die tüchtige Herstellung (Production) der betreffenden
Leistung von der möglichsten zeitlichen Nachhaltigkeit, räumlichen
Ausdehnung und Einheitlichkeit oder selbst Ausschliesslichkeit der
erforderlichen Thätigkeiten in einer Hand abhängt, und wenn die
Benutzung (Consumtion) der Leistung entweder unvermeidlich, nach
der Natur der letzteren, eine gemeinsame ist, oder ohne besondere
Schwierigkeiten zum Vortheil Vieler und mit wenig oder gar nicht
vergrösserten Kosten eine gemeinsame werden kann: die Leistung
auch so beschaffen ist, dass sie einer Mehrzahl Einzelner, jedem
in unmessbarem Grade, zu Gute kommt.
Zum Thcil wörtlich nach Schäffle, besonders §. 1S5, 199. Er kommt zu
der Erörterung nur von einem etwas anderen Gesicbtsponcte aus ; er will nemlich die
Umstände nachweisen, „unter welchen die Tauschconcurrenz nicht durchaus der
höchsten Wirtschaftlichkeit dient, also ökonomisch oder auch natürlich ausge-
schlossen ist“, S. 345.
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Bedingungen f. Festeil. des Bereichs d. Staatsthätigk.
917
§. 378 [185]. — 1) Die zeitliche Nachhaltigkeit und
die räumliche Ausdehnung einer (Productions-) Thätigkeit
ins Auge zu fassen, ist recht eigentlich Sache des Staats.
Er ist für unbegrenzte Dauer berechnet und souverän in seinem Gebiete,
er umfasst nicht nur die jetzt lebende und wirkende Generation, sondern das Volk
in seiner geschic htlichen Entwicklung, nicht nur die hier und dort, sondern
die überall in seinem Gebiete lebenden Menschen. Daher ist der Staat auch der
geborene Vertreter aller Derjenigen, welche sich nicht selbst zu schützen, ihre Interessen
nicht wahrzunehmen vermögen (§. 329): der unerwachsenen und der greisen Generation,
der zukünftigen Geschlechter, der abseits vom grossen Verkehr, in unentwickelteren
privatwirthscbaftlichen Verhältnissen Lebenden, der im Concurrenzkampf Schwächeren,
— ein wichtiger Punct im Grossstaat, wo mit vollem Hecht öfters mit Staatsmitteln,
d. h. mit den Mitteln der Gesammtheit und daher mit einem verhältnissmässig be-
deutenderen Beitrag der reicheren, steuerfähigeren Landestbeile die Hebung von
ärmeren, in der Entwicklung zurückgebliebenen Theilen des Gebiets erfolgt. Ein in
Preussen mehrfach zwischen den politischen Parteien und den Vertretern des Westens
und Ostens erörterter Punct.
Der Staat wird mithin besonders passend da eintreten, wo
eine einzel-, namentlich privatwirthschaftliche Productionsart ein-
seitig bloss das, oft nur augenblickliche, Interesse des Wirtbschafts-
subjects wahrnimmt, auf Kosten dauernder allgemeiner Interessen
und zum Schaden der eben genannten Elemente des Volks. Er
wird theils die Leistung ganz auf sich nehmen, theUs die bezüg-
liche Thätigkeit der anderen Wirtschaften regeln und controlireu,
um diese nachtheiligen Folgen zu verhüten. Am Notwendigsten
ist dies in jenen besonders wichtigen Fällen, wo eine syste-
matische zeitliche Aneinanderreihung und räumliche Ausdehnung
der organischen Einrichtungen zur Productionsthätigkeit die Vor-
bedingung des Erfolges dieser letzteren überhaupt oder doch ihres
grösseren Erfolges ist.
Die Herstellung und Wahrung der Rechtsordnung, die
Gewährung von Rechtsschutz, besonders nach dem Präventiv*
princip, erweist sich auch nach diesen Gesichtspuncten wieder als
das Hauptgebiet unmittelbarer und ausschliesslicher
Staatsthätigk eit.
Daher z. B. beim Uebergang vom Staatenbund zum Bundesstaat, wie jüngst
bei uns, vor Allem das Militär wesen Reichssache. So werden im präventiven
Wehrsystem die Bewohner des ganzen Staatsgebiets und die ganze Reihe ge-
wisser Altersclassen systematisch für den sonst nicht zu erreichenden grossen Zweck
verbunden. So dehnt sich die Justiz- und P o 1 i z e i Organisation über das ganze
Land aus und gewährt dadurch erst die Bürgschaft für ihre durch den Zweck der
Institution verlangte genügende präventive und repressive Leistung (Gegensatz zu Asyl-
rechten u. dgl.). So verhütet der Staat mit der Beschränkung oder dem Verbote der
Kinderarbeit in den Fabriken, mit den Vorschriften über gewisse Vorkehrungen gegen
Gefahren (sanitäre Maassregeln u. s. w.) die Ausbeutung der Arbeitskraft zu Gunsten
des momentanen Vortheils der Arbeitgeber, aber auf Kosten des physischen, sittlichen
und geistigen Wohls der schutzlosen unteren Classen und der Heranwachsenden und
zukünftigen Generationen des Volks.
918
6. B. Staat. 5. K. Bereich der Staatsthätigkeit. §. 379, 3&0.
Aber auch viele wichtige Fälle der Staatsthätigkeit im
Gebiete der Cultur- und Wohlfahrtsförderung sind mit
Rücksicht auf die nöthjge zeitliche Nachhaltigkeit und räumliche
Ausdehnung der Leistungen geboten.
So erfolgt in der Uebernahme der Forsten in Eigenthum und Verwaltung des
Staats und in der Gesetzgebung und Controle über Privatforsten (Schutzwaldungen
u. s. w.) und Gewässer sowie in derjenigen über den Bergbau, die Jagd, die
Fischerei die Wahrnehmung der Interessen der künftigen Geschlechter. So werden
in der staatlichen Fürsorge für die systematische räumliche Ausdehnung des Strassen -
nctzes, der Verkehrsanstalten, der Schulen, der Einrichtungen im Gebiete
des Humanitäts-, Armen-, öffentlichen Sanitäts-, M ed i cinal wesens
u. s. w. die Interessen der Bewohner aller Theile des Staatsgebiets und aller socialen
Classcn gleich massiger wahrgenommen.
Es ist bezeichnend, wie daher gerade auf diesen Gebieten der moderne Staat
Thätigkeitcn immer mehr an sich zieht, welche früher etwa den Gemeinden und
Privaten mehr überlassen waren. Neben dem Militärwesen , der obersten Gerichts-
organisation, sind es gleichfalls die genannten Gebiete, wo die Centralgewalt des
Bundesstaats gegenüber den Particularstaaten mannigfach ihre Competenz be-
gründet: Deutsches Reich, z. Th. auch Schweiz. Wahrscheinlich führen die neueren
naturwissenschaftlichen Fortschritte auf dem Gebiete des öffentlichen Gesundheitswesens
auch zu grösserer Reichs- und Staats- statt blosser Communalthätigkeit (selbst in
England Tendenz hierzu). (Vergl. meine Pin. 2. A. und 3. A. I. §. 40.)
§. 379 [186]. — 2) Viele Leistungen für die Befriedigung der
Bedürfnisse des Volks erheischen ferner eine einheitliche oder selbst
eine ausschliessliche Leitung durch ein Wirthschaftssubject, teils,
weil nur so das betreffende Gut ordentlich herzustellen ist, — der
Hauptfall ist wieder die Rechtsordnung — , tbeils weil gleichfalls
nur so oder doch so am Besten für die erforderliche Nachhaltig-
keit und Ausdehnung der hergehörigen Thätigkeiten , auch für
Ermässigung der Kosten gesorgt werden kann, wie in vielen
der vorher genannten Fälle. Zur ausschliesslichen Uebernahme
einer Leistung in der Volkswirtschaft erscheint der Staat allein
berechtigt, zur einheitlichen Leitung er am Besten berufen.
Demgemäss ergiebt sich wiederum nach diesem Gesichtspunete
eine wuchtige Regel für die Bestimmung des Bereichs der Staats-
thätigkeit: wTo durch die Natur der Leistung eine ausschliessliche
oder einheitliche Leitung von einer Hand aus geboten oder sehr
zweckmässig ist, gleichzeitig aber die Ueberlassung dieser Leitung
an Andere besonders an Privatwirtschaften, wesentliche Bedenken
bietet, wTeil leicht ein Gewaltmissbrauch, ein factische6 Monopol
eintritt oder ein rechtliches nötig wird, und andrerseits die Staats-
controle die daraus hervorgehenden Gefahren nicht genügend aus-
schliesst, da wird die Staatsthätigkeit am Platze sein.
So wiederum vor Allem im Gebiete des Roch ts Schutzes im Zusammenhang
mit der Verwirklichung der Rechtsidce überhaupt. So aber auch öfters im Verkehrs-
wesen: bei Eisenbahnen, Posten, Telegraphen; im Geld- und Münzwesen: z. Th. im
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Bedingungen f. Feststen, des Bereichs der Staatsthätigk. 919
Bankwesen, besonders im Zettelbankwesen, im Versicherungswesen ; im Schulwesen:
Staats- statt Kirchenschulen u. dgl. m.. keine kirchlichen Universitäten, öffentliche
statt Privatschulen.
Aus dieser Regel sind auch Folgerungen für „öffentliches“ und gegen P rivat-
eigenthum an gewissen Grundstücken und gewissen Kapitalien zu ziehen, Puncte, auf
welche in der 2. Abthoilung zurück zu kommen ist.
§. 380 [187]. — 3) Gemeinsamkeit der Consumtion.
Die Natur der Leistungen für manche Arten der Bedürfnisbe-
friedigung bringt es mit sich, dass Einzelnen die Theilnahme an
dem betreffenden Vortheil oder Genuss (die Consumtion) nicht vor-
zuenthalten ist, wenn die Leistung überhaupt einmal erfolgt. Die
Herstellung der Leistung macht hier ferner öfters Kosten, welche
wenig oder gar nicht, jedenfalls nicht im Verhältnis des grösseren
Umfangs der Theilnahme an den Vortheilen der Leistung wachsen.
Die Vortheile lassen sich für den Einzelnen auch nicht genau
messen, ein Tauschwerthanschlag dafür erscheint unausführbar.
Hier ist demgemäss das gemeinwirthschaftliche Princip der Bedürf-
nisbefriedigung angebracht: gemeinsamer Consum, bez. freie (im
speciellen Fall unentgeltliche) Consumtion für den Einzelnen, aber
gemeinwirthschaftliche Production der Leistungen und Kosten-
deckung mittelst Beiträgen oder Steuern (§. 301, 341 ff., 349).
Der Staat selbst wird aber hier wieder besonders passend solche
Leistungen von allgemeiner Bedeutung für die Bevölkerung über-
nehmen, bei welchen gleichzeitig jene drei anderen, vorher er-
örterten Bedingungen vorliegen.
Das Gebiet des Rechtsschutzes erscheint auch hiernach als wahre Staatsangelegen-
heit, denn nach der Idee des Rechts muss Allen der Vortheil des Rechtsschutzes zu
Theil werden. Dieselbe judicielle, polizeiliche, militärische, volkswirtschaftliche
Thätigkeit vermag dann aber auch ohne oüer nur mit relativ kleiner Kostensteigerung
innerhalb gewisser Grenzen einer grösseren Anzahl Personen zu Gute zu kommen.
Hier liegt auch ein bekannter wichtiger ökonomischer Vortheil der Arbeitsteilung
vor: indem sich eine kleinere Anzahl Personen berufsmässig ausschliesslich und voll-
ständig einer Arbeit (z. B. dem Militärdienst das Heer, dem Postdienst die Post-
beamtenschaft u. dgl. m.) widmet, producirt sie das betreffende Gut oder die Dienst-
leistung im erforderlichen Umfang und möglichst gut und ökonomisch und nimmt
gleichzeitig allen Anderen die bezügliche Arbeit ganz ab, so dass eine grossartige
Oekonomie der Kräfte und eine allseitig bessere Ausnutzung der Kräfte im höchsten
volkswirtschaftlichen Interesse vom Productionsstandpuncte aus erfolgt. Man denke
etwa ati die 7, sage sieben selbständigen Postverwaltungen in Hamburg, an deren
Stelle erst im Norddeutschen Bunde die eine deutsche Verwaltung trat!
Es ist hier auch zu beachten, dass auch die für Repression bestimmten Einrich-
tungen, wie Justiz und Polizei, nicht bloss Demjenigen nützen, welcher zu seinen
Gunsten eine Repressiv thätigkeit des Staats erlangt, sondern indirect allen Anderen,
welchen dies Bcdürfniss wegen der präventiven Wirkung jener Einrichtungen erspart
bleibt. Ein wichtiger Gesichtspunct für die Frage, ob und wie weit die Kosten der
Civiljustiz von den Justizgebühren gedeckt werden oder die Justiz unentgeltlich fun-
giren soll. (Vergl. in Fin. II d. Gebührcnlehre, 1. A., §. 291 ff.. 2 A., §. 39 11'..
bes. §. 45.)
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920
6. B. Staat. 5. K. Bereich d. Staatsthätigkeit. §. 881, 382.
Auch andre Leistungen, wie die Herstellung und der Betrieb von Schulen,
Verkchrsanstalten, sanitären Vorkehrungen eignen sich wegen der Vortheile,
an denen ausser den Benutzern mehr oder weniger die ganze Bevölkerung Theil nimmt,
besonders für die Uebemahme durch den Staat. Für die Frage der Unentgeltlich-
keit und anderseits der Höhe des Schulgelds der öffentlichen, besonders der
niederen Schulen gilt dasselbe wie für die Frage der Deckung der Justizkosten. (S.
Fin. II, §. 206, 2. A., §. 48.)
II. — §. 381 [188]. Lösung weiterer Schwierigkeiten
in der Bestimmung der Staatsthätigkeiten. Die richtige
Entscheidung, ob Staats- ob Thätigkeit einer anderen Wirthscbaft,
besonders einer Privatwirthschaft. eintreten soll, wird freilich durch
die Natur des Staats selbst und seiner Leistungen auch im einzelnen
Falle erschwert. Denn der Staat steht kraft seiner Souveränetät
hinsichtlich der Bestimmung seiner Leistungen und kraft seiner
Finanzhoheit hinsichtlich der Mittelbeschaffung zur Kostendeckung
ausserhalb der freien Concurrenz.
Er kann also auch unpassende Thätigkeiten Übernehmen und festhalten oder über-
mässige Kosten dafür verwenden, ohne, wie die Privatwirthschaft, durch Absatzmangel
oder zu theure Production und zu hohe Preise zur Einstellung seiner Thätigkeit ge-
zwungen zu werden. Die Regierung, als Wirthscliaftssubject, wird ferner leicht geneigt
sein, die Bedeutung oder den Werth ihrer Leistungen zu überschätzen, ihre Thätig-
keiten zu weit auszudehnen, zu sehr nach alter Schablone auszuführen, unpassend alte
Thätigkeiten beizubehalten, statt sie ganz einzustellcn oder sie andren Wirtschaften
zu überlassen. Die Eigentümlichkeit der meisten Staatsleistungen, um die es sich
handelt, die Immaterialität, die spccielle Unverkäuflichkeit, die Art der Herstellung
vermittelst eines grossen Aemterorganismus erschwert immer und hindert oft gänzlich,
Werth und Kosten einer einzelnen Leistung genau zu bestimmen. Berechnung nach
dem Tausch- oder Goldwert ist gewöhnlich ganz ausgeschlossen. Vergl. Laspeyres.
Art. Staatswirthsch., Staatswörterb. X, 76 ff. und passim.
Die vollständige Ueberwindung aller dieser Schwierigkeiten
für die richtige Feststellung des Bereichs der Staatsthätigkeit kann
auch durch Befolgung der obigen Regeln natürlich nicht immer
gelingen und in einzelnen Fällen werden Fehler hinsichtlich der
Bestimmung der Competenz des Staats stets Vorkommen. Die zweck-
mässige Organisation der constitutionellcn Budgetwirthschaft muss
in dieser Beziehung auch wieder, nicht als das stets ausreichende,
aber als ein principiell richtiges und relativ bewährtes Hilfs-
mittel zur Lösung der Aufgabe bezeichnet werden.
Schäffle, ges. Syst. 2. Aufl. §. 205, 216.
Günstig ist dabei der Umstand, dass es sich bei der Fest-
stellung des Bereichs der Staatsthätigkeit und der Einrichtung des
Verwaltungssystems, nach welchem diese Thätigkeit ausgeführt,
die Staatszwecke verwirklicht werden, nicht um einen vollständigen
Neubau, sondern höchstens um einen Um- und Weiterbau zu
handeln pflegt.
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Lösung and. Schwierigkeiten. Beamtenthum.
921
Bei diesem ist die Masse der altüberkommenen Staatsleistungen gar nicht in Frage.
{Darin liegt die principielle Begründung der Forderung einer Trennung oines stabilen
und wandelbaren Budgets und der Ausscheidung der erstereu aus der jährlichen
parlamentarischen Bewilligung, nach englischem Vorgänge. S. Fin. I, 2. A. §. 56,
3. A. §. 64 und die dort citirte Litteratur, besonders Gneist.) Die Einschränkung
oder Ausdehnung der Staatsthätigkeit und die Acnderung des Verwaltungssystems im
einzelnen Falle wird dann doch immer bei einiger Fähigkeit, Tact und gutem Willen
der Regierung und der Volksvertretung leichter richtig entschieden werden.
Die geordnete Herbeizieh nng der übrigen autonomen
räumlichen Zwangsgemeinwirthschaften , der Provinz, des Kreises,
der Gemeinde, zur Mitwirkung und die Ausbildung der Selbst-
regierung und des Ehrenamtssystems, soweit es sich be-
währt, ferner die gute Einrichtung des Vereinswesens, der
Gesetzgebung über Erwerbs-, besonders Actiengesellschaften hebt
weitere Schwierigkeiten. Die Sphäre der Privatwirthschaften wird
dann auch im Grossen und Ganzen richtig bestimmt, nicht zu
sehr eingeschränkt, nicht zu weit ausgedehnt werden, aber noth-
wendig immer wieder von Zeit zu Zeit Veränderungen unter-
liegen.
III. — §. 382 [189]. Einfluss des Beamtenthums für
die Feststellung des Staatsbereichs. Die Thätigkeiten
des Staats müssen durch eine besondere Art von Arbeitern, durch
das Beamtenthum ausgeführt werden. Die Leistungsfähig-
keit dieses Beamtenthums ist daher schliesslich auch noch ein
hochwichtiger Punct, welcher bei der Feststellung des Bereichs
der Staatsthätigkeit und bei der Einrichtung des Verwaltungssystems
mit berücksichtigt werden muss. Diese Leistungsfähigkeit hängt
zum Thcil von dem System der Besetzung der Staatsämter,
besonders im sogen. Civildienst, selbst wieder ab, zum Theil
ist sie auch bei ein und demselben Beamtensystem vom Stande
der Cultur und der Sittlichkeit und Sitte des ganzen
Volks und Zeitalters mit abhängig. Je mehr es gelingt, ein
den Verhältnissen einer Zeit und eines Landes besonders richtig
angepasstes Beamtensystem auszubilden und je tüchtiger dieses
unter dem Einfluss richtiger Erziehung und günstiger Cultur- und
Sittenzustände fungirt, desto grösser ist natürlich die Leistungs-
fähigkeit des Beamtenthums und desto mehr Aufgaben können
ihm und somit dem Staate gestellt werden.
Hebung des Beamtenthums in technischer und geistiger
Fähigkeit, in sittlicher Integrität, in unabhängiger
Gesinnung neben voller, vom Staatsdienst geforderter Sub-
ordination wird damit zu einer weiteren wichtigen Voraus-
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922
0. B. Staat. 5. K. Bereich <1. Staatsthätigkeit. §. 3S2, 3S3.
Setzung der erfolgreichen extensiv und intensiv gesteigerten Staats-
thätigkeit.
Auch in dieser Frage muss wohl wieder mehr an antike Ideeu, wie in Plato's
„Staat", angekuüpft werden. Der Punct der richtigen Staatsdienererziehung ist bei
uns noch nicht genügend untersucht worden, was Civil- und was Militärdienst anlangt
(Frage der Cadettenhäuser).
Die Einrichtung des Systems der Besetzung öffent-
licher A ernte r erhebt sich dadurch zu einer hochwichtigen
Aufgabe für das Staatsleben und für die Volkswirtschaft und
ist nicht nur, was oft zu einseitig angenommen wird, von Bedeutung
für die im engeren Sinne politische (d. h. formal- politische) Seite
des Staatslebens und für die persönliche Stellung der Beamten.
Unter den Hauptsystemen der Besetzung öffentlicher Aemter
in den modernen Staaten zeichnet sich das in Deutschland ge-
schichtlich eingebürgerte, auch in anderen Ländern bemerkens-
werter Weise gerade für Richter gleichfalls übliche, besonders
durch die Leistungsfähigkeit des Beamtentums aus.
Es besteht darin, dass berufsmässige Organe nach Erfüllung gesetzlicher
Vorbedingungen, durch welche die Geeignetheit zur Bekleidung eines Staatsamts nach-
gewiesen werden soll, in systematischer Ordnung vom Inhaber der Staatsgewalt zu
besoldeten Acmtern ernannt werden. Die Ernennung giebt, sofort oder nach
einer Probezeit, einen Rechtsanspruch auf das klaglos verwaltete Amt, bez. aaf
dessen Besoldung (Gehalt), theils für die Lebenszeit, thcils für bestimmte längre
Perioden, worauf alsdann Anspruch auf Ruhegehalt (Pension) eintritt. (S. Fin. I.
3. A. §. 152 ff.)
Die Kostspieligkeit dieses Systems ist nur ein schein-
barer Nachtheil verglichen mit anderen Systemen.
Solche sind: besoldete Berufsbeamte ohne Recht auf das Amt (Frankreich);
für kürzere Zeit durch Volkswahl (direct oder indirect) ernannte besoldete, nicht
nothwendig berufsmässig gebildete Beamte (Schweiz, Nordamerica); frei-
willig und ganz oder fast ganz unentgeltlich dienende, gleichfalls nicht immer
berufsmässig ausgebildete Beamte wenigstens für gewisse Aemter, meist auf Zeit:
System der Ehrenämter.
Die Verbindung des Ehrenamtssystems, soweit es geht, mit
dem deutschen System der Aemterbesetzung, welches aber noth-
wendig v o r w i e g t , bietet wohl in unserer Zeit die beste Bürg-
schaft für ein leistungsfähiges Beamtenthum, welchem immer mehr
und grössere Aufgaben des Staats zur Ausführung übertragen
werden können.
Wir Deutschen werden mit Recht doch auch an die Ehren-Beamten höhere
Anforderungen hinsichtlich der Berufsbildung stellen. (Vergl. Königs, zur Ausbildung
und Stellung der Beamten in Preusseu, Berl. 1875.) Eine enge Grenze dieses Ehren-
amtssystems liegt u. A. schon in dem unentbehrlichen und stets steigenden Bedarf
technisch gebildeter Beamten, „die selbstredend am Wenigsten durch die Selbst-
verwaltung ersetzt werden können" (Königs a. a. 0. S. 8).
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Sta&tsaufgaben und Volkswirtschaftslehre.
923
IV. — §. 383 [190]. Die speciellen Aufgaben des
Staats als Untersuehungsgegenstand der systematischen
Volkswirtschaftslehre. Im Vorausgehenden ist der Staat
in seiner universalen Bedeutung für die Volkswirtschaft betrachtet
worden, jenem Standpuncte gemäss, wonach wir es in der Volks-
wirtschaftslehre zu thun haben mit der Volkswirtschaft staat-
lich organisirter Völker (§. 149, 299). Nach dieser allgemeinen
Würdigung des Staats und der generellen Feststellung seines Be-
reichs müssen in der systematischen Volkswirtschaftslehre folgende
vier vom Staate zu lösende Aufgaben noch specieller untersucht
werden :
1) Die Aufgabe des Staats in Bezug auf die Gestaltung des
allgemeinen wirtschaftlichen Verkehrsrechts.
D. h. auf die Regelung der grossen Rechtsinstitute der persönlichen Freiheit
(nach principiellcr Beseitigung aller Zustände der persönlichen Unfreiheit) und des
Eigentums, bez. der gesammten Eigenthumsordnung, einschliesslich des Vertrags-
rechts, des Erbrechts und der Behandlung wohlerworbener Rechte (Euteignungswesen),
(§. 305 ff.): jener Verhältnisse des öffentlichen und des Privatrechts, welche die
Rechtsbasis auch des privatwirthschaftlichcn Verkehrs bilden. Die Untersuchung der
dem Staate auf diesem Gebiete gerade nach dem volkswirtschaftlichen Uesichtspuncte
obliegenden Aufgabe erfolgt in der zweiten Abtheilung der Grundlegung: von „Volks-
wirtschaft und Recht, besonders Vermögensrecht oder von „Freiheit und Eigenthum
in volkswirtschaftlicher Betrachtung“.
2) Die Aufgabe des Staats in Bezug auf die Gestaltung des
speciellen wirthschaftlichen Verkehrsrechts.
D. h. auf die Regelung der Rechtsordnung der einzelnen grossen Zweige ins-
besondere der materiellen Production oder auf die Normirung der speciellen
wirthschaftlichen Berufsordnung, des hierauf bezüglichen Verwaltungsrechts.
Das ist näher zu untersuchen in dem dritten Haupttheil des Systems der Politischen
Oekonomie, d. h. in der sogenannten speciellen und practischen Volkswirt-
schaftslehre.
3) Mehrfach ist im bisherigen Verlauf bereits generell die
Frage erörtert worden, ob und inwieweit, wo und wann theils
Zwangsgemcinwirtbschaften überhaupt, theils insbe-
sondere der Staat selbst, als wichtigste Form derselben, direct
die Fürsorge für die Herstellung und Vertheilung von Gütern
neben oder auch ausschliesslich anstatt anderer Wirt-
schaften, namentlich der Privatwirtschaften und freier Gemein-
wirtschaften, in volkswirtschaftlich zweckmässiger Weise über-
nehmen sollen; ferner ob sie auf den übernommenen Gebieten stets
nach dem gemeinwirtbscbaftlichen Princip oder auch unter Um-
ständen nach dem privatwirthschaftlichen , dem Gebührenprincip
(§. 335) zu verfahren haben.
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924
6. B. Staat. 5. K. Bereich d. Staatsthätigkcit. §. 383.
Diese Frage ist speciell flir die einzelnen in Betracht kommenden Fälle
vornemlich ebenfalls in dem dritten oder speciellen und practischen Tbeile
der Volkswirtschaftslehre genauer zu untersuchen. Sie muss aber nach ihrer prin-
cipi eilen Seite, namentlich nach ihren Folgen filr die Eigonthumsordnung,
auch in der zweiten Abtheilung der Grundlegung noch mehrfach berührt und nach
ihrer finanziellen Seite in der Finanzwissenschaft, besonders in der Lehre
vom Privaterwerb und vou den Gebühren (Fin. I, 3. A. Buch 3, II, 2. A. Buch 4).
erörtert werden.
4) Die Aufgabe des Staats in Bezug auf die Führung seiner
eigenen Productions- und Erwerbswirthschaft, d. h. der Finanz-
wirthschaft oder des Staatshaushalts (§. 361).
Damit hat sich der vierte Theil der Politischen Oekonomie, die Finanz Wissen-
schaft, näher zu beschäftigen (Fin. I, 3. A., Einleitung und Buch 1).
Ende des ersten Theiles der Grundlegung.
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Verzeichniss
der im L Theile der „Grundlegung“ erwähnten
Schriftsteller und sonstigen Personen.
(Die Zahlen bedeuten die Seiten. Oefters ist derselbe Autor auf einer Seite mehrfach
genannt. Stellenweise kommt der Name eines Autors fast Seite für Seite vor. Das wird
in diesem Verzeichniss mit einem schrägen Strich zwischen zwei Zahlen [z. B. S. 5/15]
bezeichnet, ohne dass jede einzelne Seite besonders angegeben wird.)
Adler, Carl 459
Adler, Georg 41)
Adler, K. 140
Ahrens 152 828 832 837 85$
871/S75 SSO 881 885 888
889 893 915
Albrecht 813
Andree, K. 130
Andree, R. 5P>8
Aristoteles 330 132 818 859
812 815
Arnd 303
Aschrott 691 698 099 844
Asher 389 430
Astor 846
Auspitz 325
Bacr 435
Baernreither 850
Bagehot 440
Baltzer 45
Bainberger 62 63 112 795
850 856
Baron 45
Barth 62 195
Bastian 66
Bastiat 10 73 79 292 322
360 456 494 798 870 871
814
Baudrillart 12 301 165
Baumstarck 251 301 321
Baxter 363 412 123 825
Bebel 39 41 72 459 460 654
685
Beccaria 421
Becker 2. H.-B. VI. 429 432
465
Behm 465 568
Bcllamy 12 110
Beloch 452
Bendixen U
A. Wajjnor, Grundlegung. 3.
Berens 198
Berghoff-Ising 65
Bergius 360 810
Berghaus 568
v. Bergmann 491
Bcrnhardi 301 399 411 416
669
Bernheim 140 142 146 204
205 217 224
Bernouilli 464
Bernstein 41
Bescler 352
Beta 440
Bigelow 430
Binding 30
Birkmeycr 309
Bischolf, H, 669 764
Bismarck, Fürst v. 199 559
Blanc, Louis 341 429 166
112 812
Blenck 892 893
Block, Mor. 30 55 12 139
140 142 204 224 221 260
262 430 456
Biomeyer 385
Bluntschli 29 195 831 816
881 885 894
Bodio 429 549 552 555
Boeckh, A. 296 389 411 429
Boeckh, R. 429 432 436
Bödiker 561
v. Böhm-Bawerk 64 190 281
300 308 314 316 319
324/332 338 421
Böhmcrt, Vict. 410 433 114
195 196 804
Böhmcrt, Willi. 116 324
Bonar, 221
Botero 452
Bracbelli 430
Brandes, A. 41
Auflage. I. Tlieil. Grundlagen.
Braun, K. 802
Brentano 44 55 51 139 292
316 121 812 846 850 852
856
v. Briesen 908
Brömel 62 445 795
Bruch 394
Buchenberger 3 91 146 218
360 429 466 01 1 654 793
821
Bücher, Loth. 41
Bucle 142
Bücher 3 51 51 205 241 360
412 418 602 133
Büchsenschutz 296 291 330
375 319 411 429 733
Bülau 303
Burckhardt 406
v. Buschen 411 430
Carey 322 361 368 449
454/459
Cairnes 139 190 281
Challey 30
Chaptal 411 430
Child 452
Cicero 321
Clifle-Leslie 55 56
Cohn, Gust. 13 29 55/61 12
139 146 227 253 257 262
270 283/290 313 314 322
321 345 348 370 393 395
399 451 639 661 669
751/764 766 ff. 771 796
800 828 835 836 S50 858
866
Cohen-Stuart 321
Colbcrt 359
Comtc, A. 18 66 138 140
Conrad 30 55 51 434
Contzen 164
59
926
Autorenregister.
Cornwall-Lewis 140
Cossa 29 55 72 139 140 25S
202/266 283/287 435
Cournot 116 42 1
v. Czörnig LU 420 430 435
437 892
l>argun 64 775
Darwin 458 815
Dawson 63
De Lavergne s. Lavergne
Delitzsch 568
Delatour 14
Depareieux 481
Dieterici 430
Dietzel, Hein r. 2 40 54 56
64 12 13 SO 81 139 188
224 262 264 520 324/327
340 350 751 754 775
Dietzel, K. 3 17 834 874 874
Dilthey 54 67 138 140 240
Di Martino 815
Dowell 702
Drechsler 385
Drobisch 144
Droysen 142
Ducange 343
Ducati 12
Ducpetiaux 300 815
Dühring 266 322 330 455
450
Du fau 140 144
Dumesnil-Marigny 303
v. Duniroicher 114
Dunoyer 704
Dupin 430
Dupont (de Nemours) S
Dupont-Whitc 871
Duprat. Pascal 815
Eheberg II
Eisenhart 440 146 160 455
Elisscn 44
Elster 30 347 445 451/465
630
Ely, R. 12 430 210
Emele 63
Emminghaus 4 3 0 604 105
706 804 844
Engel, Ernst 35 438 144 243
•224 364 303 301 100 411
428/430 464 534 561 682
Hol 821 823 830
Engels, Fr. 12 35 38 40 41
66 3X0 450 685 714 721
720 733 S12 014
Escher, 1L 810 S32 836 831
863 815 87ß 880 885 008
Evcrt 700
Farnham 114
Fauchcr ^Berlin) 187 105 706
Fawcett 364
Fechner 435
Ferguson 264
Ficker (Statist) 420
Flatow 326
Fourier 12 80 140 347 453
166
Foyot 30
Fraucke 500
Frank (Theol.) 14 1
Friedländcr (Königsb. Hist.)
206 406 123 420 438 830
Friedländer (Dorpat) 321
Fulda 4U
Fullarton 430
Funk 881
Funke 434
Gabaglio 142
Gambetta 014
Ganilh 4U
Garnier, Jos. 455 456
Gavard 265
Gelfcken 457 465
Gcuovesi 266 452
Gcnsel 870
George, 4L 316 455 450 551
Gcrlach, 0. 72 326
Gerstfeldt 435 437 802
Gerstner 314 451
Gide 55 72 130 251 287 326
811
Gierke 41 45 821 850 852
860
Giffen 412 550 713
Gioja 303
v. Gizycki 12
v. Gneist 830 858 863 SOI 013
Godwin 453
Götz 364
Goldschmidt 344
v. d. Goltz 410 433 141
Gompcrtz 140
Gothein 61 353
Gossen 64 H 116 187 324
Gournay 803
Gregorovius 13
Gross (Engl.) 850
Gross, G. (Wien) 40 64 348
162 166 114 SSO
Gucrry 141 226 432
Gumplowicz 67
Guth 300
Haeckel 815
Haini8ch 40J
Ilaldanc 74
v. Haller 132
Haussen, Georg 51 434 46C
Hansen, Georg 466
Harrison 825
v. Hartmann 800
Hartmann 344
Haslcr U
Hassbach 5 8 15 54 56 71
130 165 101 850
Hasse 303
Hasse (Leipzig) 436
Haushofer, M. 144 201
Hausner 426
v. Haxthausen 370 430
Hearne 266 766
Hegel, K. 850
Hegewisch 455
Hehn 364
Heil 412
Heitz 845
Held, A. 36 80 286 281 230
300 306 308 310 313 321
342 316 388 389 304 450
751/754 796 865 866
v. Helferich 14J
v. Hermann, F. B. W. U 55
66 71/31 130 187 100
253/260 2S0/314 324 328
331 338 34V-153 360 375
383 3S6 300 1Q> 411
414/429 666 667 682 162
166 785 704 708 $06
S27/832 844 871 S$5
Ilerrfurth 803
lierrmaun, Em. 258 386 008
Heuscbling 444
v. Heyking 442 444
Hildebrand, Br. 46 52 167
347 430 066 162 764 796
Hildebrand, Rieh. 344 440
Hirt 433
Hirth 426 113
v. Hock 014
Höfi'ding 7 1 16
Höniger 205
Hollmann, J. G. 493
Hoffmann, L. 463
v. HoltzendorfT 30 832 816
885
Hopf 432 487
Horn 430 464
van Honten 221
Haber, G. 140
Huber, V. A. 850
Hufeland 286 303 321 334
v. Humboldt Wilh. 876 SSO
888 045
Hurnc 6 452
Jacobi 700
Jäger 682
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Autorenregister.
927
Jagor 365 Sil)
Januasch 465 56 1 566 856
Jastrow 205
Jcvons 130 140 176 100 324
326 440 7*4
v. Ihering 41 45 71 206 311
375 3SS 3S9 S02 858 S63
S74 8S5
v. Inama - Sternegg 51 205
360 420 450 452
Ingram 7 S 16 47 55 MO
455
John 140 204 221
J olles 451
v. Jurasclick 362 420 465
v. Justi 6 265 452
Käscinachcr 508
Kant, J. 780 SÜÜ S56 S57
871/875 SSI
Kantorowitz 305
Karup 4SI
Kathrein 13
v. Kaufmann, R. 437 802
Kaufmann 301
Kautz 131* 16S 227 253/264
270 283 455 S70 871 S76
Kautsky 40 41 461
Keferstein 463
Keller 430
Keynes 55 56 71 72 13S
130 116 224 227 287
KirchhofT 568
v. Kirchmann 30 8Sü
Kleinwächter 12 130 146 227
254 262 2S2 313
Klöppel 875
Knapp 55 138 141 142 210
432 436
Knies 12 10 35 46/52 11 16
81 138/140 146 160 164
168 172 176 ISS 204 227
253 261 270 307 311/314
321 332 342/345 353 430
466 762/764 780 784 7S5
106 801 850 871
Königs 022
Kohl 365
Köhler 66
Kolb 411 426 420 434 464
556
Kollmann 500
Komorzynski 326
Körösi 436
Kozak 30 40
Krause 872/875 880
Kries 214 215
Krug 430
Kumpf 312
JLabouloye 875
Lambl 434
Lampertico 72 265
Lamprecht 51 205 360
Lange, A. 10 41 44 72 1 10
202 360 380 420 433 457
450 66S 682 683 764 815
816 824 875
Langjallcy 30
Laspeyres 341 355 300 410
415 423 428 430 433 863
866 064 013 015
Lassalle, F. 35 38 41 323
360 386 305 403 450 461
766 787 SOI 881
Lasson 406 SÜ3
de Lav6leye, E. 55 411
de Lavergne, L. 411 803
Launhardt 176
Lcgoit 456
Lehr 176 325 400 760
v. Lcixner 410
v. Leonhardi 872 875 885
Leplay 400
Leroy-Beaulieu 430 456
Leser 311 701
Lcvasseur 456 530 560
Levi 434
Lewin 432
Lexis 30 56 56 138 142 116
214 215 226 363 432 440
450 465 508 500 683
Lieben 325
Liebknecht 41
Li esse 130
v. Lilienfeld 44
Lindwurm 46 73 S1 286 321
348 354 370 387 380 303
Lioy 875
Lippcrt (Culturhist.) 66
Lippert (Berl.) 455
v. Lippe- \Veis3enfeld,Graf6S2
v. Littrow 214
List, Fr. 35 46 47 265 347
354 360 362 364 367 368
771 SOI
Löning 30 608
Lorenz, Ott. 146
Loria 72 326 456
Losch liü 412 414 821 822
Lotz, sen. 286 321 704
Lotz, jun, 440
Lowe 411
Mac-Culloch 314 321 430
439 794
Macleod 313 440
Maier, Willi. 63
Maine 66
v. Malchus 420 882
Malesherbcs 803
Malthus 2. H.-B. VI. 287 301
445/458 471 510 524 530
630 665
v. Maugoldt 71 70 100 253
261 263 270 2S6 290 292
300 307 313 321 328 320
344/340 360 386 300 411
414 410 430 443 457 667
683 764 784 798 SOI
Markow 401
Mario (Winkelblech) 44 461
751 817
Marquardt 206 420
Marquardsen 30
Marshall 40 55 56 72 130
176/179 100 227 264 270
287 326 455 630 654 871
Martin 430
Marx, K. 12 35/38 41 fF.
128 130 163 187 240 287
322 323 328 330 341 343
360 300 403 448 455/461
673 682 685 693
v. Mayr, Georg 142 204 420
432 433 464 531 568 602
809
van Mees 327
Meier, D. 1L 600
v. Meier, Ernst 660 876
Meitzen, A. 51 142 430
Menger, Anton 37 39 41 46
322 660 603 608 753
Menger, L H.-B. VII. Karl 35
54 55 63 fl*. 72 138 130
142/151 175 188 100 224
227 233 254/264 273/277
287/290 301 308 313 314
321 343 336 682
Messedaglia 456
Meyer, Alex. 705 848
Meyer. Ed. 450 452 660
Meyer, Roh. 300 401 406/410
Meyer, Rud. 40 710 740 004
v. Miaskowski 55 845
Michaelis, Otto 80 321 303
785 705 706
Mich eiet 873
Michelis, R. 430 436 713
Mill, J. Stuart 17 138 140
111 100 213 214 270 202
301 3 IS 321 341 317 440
455 461 654 668 764 784
787 704 705 803 807 870
876 881 888 015
Minghetti 72
Mithoff 390/101 405 408 411
416 418 660
Möser, Justus 423 452
59*
928
Autorenregister.
v. Molil, Robert 72 208 283
443 451 /45S 4 72 (Witt S2S
S37 M4 857 S5S 807 hiß
889 SSä tJl 3 4115
Mohrhof 257
Moll 321
v. Moltke, Graf 408
Mommsen, Theod. 290
Montchretien doWatcvillc 204
Moormeister 72 129
Morgan 00
Morreau de Jonnes 411 420
Morus, Th. 12
Moser, L. 432
Müller, Adam 117 348 354
S10 Ml 878
Xasse 1 55 51 71 344 412
439 440 S00
Neumann, Fr. Jul. (Tüb.)
] . H.-B. VII. 35 55 50 72
75 81 141 151 ISS 191)
226/236 253 202 204 26S
276/290 300/311 321 320/
33 s 34S 349 358 389 100
401 406/421 125 433/436
491 709 7s j S44 S55 s02
504 866
Neumann, G. 430
Neumann (Freib. Geogr.) 568
578
v. Neumann-Spallart 341 362
300 390 412 425 420 429
430 439 405 550 559
Neurath 71 72 139
Neuwirth 393
Newmarch, \V. 31*5 49,0 43S
v. Oettingcn, Al. 141 220
432 433 437 464 532 599
000 771 898 599
Oldendorf!' 432
Onckcn 11 705
Oppenheim, Sal. 313
Ortes 304 452
Ovcrstone 439
Owen 72
Paasch c 439
Pappenheim MO
Paszkowski 71
Patten 325 320
Paulsen II 515
Peabody 546
Pebrer 411
Pechar 300 390 394
Peel, Sir Kob. 439
Perrot 500
Petermann 505
v. Pfeifer 257
Pfeiffer 902
v. Philippovich (v. Philipps-
berg) 2 II.-B. VII. 05 139
519 552 501 502
Pickford 139 167 224
Pierson 327
Plato 327 297 559 872 915
Platter 459
v. Plcucr 41 520
Pölitz 363
Porter 430
Porter, N. 71
Post 845
Princc-Smith i8l 275 307
30 s 34 s 772 779 7 s;,
794, 790 502 fl. 532 535 576
Proudhon 37 347 459
Provost, G. u. P. 455
Puchta 306 374 355 759
Quesnay 7 8
Quetelet 135 110 214 215
225 432 433 449 403 404
453 532 595
Rae 63
Kaleigh 452
Kathgcn 553
Ratzel 569
Ratzinger 71
Rau 1 2!) 35 51 II 73 79
51 139 264 252 257/268
275 276 253/291 297
299/307 31 1/31 S 315 321
322 328/358 369 315 356
399 166 465 lü 414/416
421 424 426 425 439
413/440 457 006 607 651
653 761/704 754/795 827
825 844 570 571 575
Rauchberg 405
Raveu 568
v. Reden 429 430
Kentzsch 794 502 570
Rhenisch 141
Ricardo 7 10 II 34 35 50
167 190 292 321/323 330
411 416 454 458 461 660
794
Richter, Eugen 73
v. Richthofen 300
v. Riecko 437
Riccko 110 132 104
Riehl -123
Rochau 870
Rodbertus 1. H.-B. VII. 12 26
35 37 38 39 1L 157 257 297
300/308 312 315 320/323
336 306 370 315 379 399
402/104 440 459 005 080
7 1 9 740 700 790 h\2 M7
Röder 574 575 556 852 885
Rösler, Herrn. 41 44 11 297
306 310 321 330 399 755
834
Rogers 55
Roudclct 765
Roscher, K. jun. 700
Roscher, Wilh. 5 II 8 12 29
35 40 47 51 521173 79
51 139 140 140 160 103
168 176 264 240 253/275
283 2S7 285 299 301 366
307 311/314 321 328 333
338 343/349 353/355 355
360 375 399 408/421 42s
439 445/457 465 654
666/668 651 653 766 133
743 751 763 765 771 785
785 795 506 827 811 576
877 893
Roschlau 7
Rossi 421
Rotteck 29 795
Rousseau 874
Royer, Clem. 67
Rümelin 111 142 165 197
261 264 214 226 227 432
446/462 485/494 531 615
639
Sadlcr 155
Samter 46 348 682
Saurow 436
v. Savigny 344
Sav, J. B. 301 311 411 456
666 194
Say, Leon 30 63 442
Sax.Em.64 72 77 1 39 1 90 265
270 287 290 308 316 325
327 348 350 354 762 107 fT.
774 828 534 858 876 571
Schäfer, W. 73
Schäfile 1. II.-B. Vn. 19 30
35/42 ff. 54 57 01 71 73 76
79/81 139 163 253 259/262
268 269 286/292 301 307
321/328 342 353 369 356
457 668 669 682 693 151
755 161 762 705 766 773
714 750 785 788 796/799
512 815 826/829 544^849
852 858 839 SOO 510 876
855 892 894 902 905 913
915 916 920
Schanz 180 363 692 550
Scharling 325
x. Scheel 30 41 44 139 142
204 253 202 210 283 300
321 344 413 415 429 433
439 459 615 022 6S6 751
878
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Autorenregister.
<)29
Scherl 700
Scbippel 41 460
Schmidt, Cour. 327
Schmidt, Osc. 815
Schmoller, 1. H.-B.VII. 6 35
36 45/57 61 64 65 71 90
139 141 175 216 240 241
270 297 353 357 390 392
399 406 408 411 445 457
669 732 735 742 751 762
764 771 784 796 802 803
810 816 819/822 839 850
860 878 888 892
Schnapper- Arndt 410
Schnitzler 411 430
v. Schönberg 30 51/57 01
72 78 205 268 271 308
349/353 436 439 762 769
795 796 821 850 860 871
Schubert, F. W. 429
Schubert, Dr. 71 765
Schütz 71 348 762
Schumacher 740
Schumann, 2. H.-B.VII. 465
501 543 545 599 604
Schulze-Delitsch 803 850 856
881
v. Schulze-Gävernitz 812 821
Schwabe 429 436
Senior 17 167 187 190 301
303 364 455 654 794
Seyd 438 440
Shakespeare 332
Sidgwick 55 72 139 348 455
654 871 876
Siegel 844
Siegwart 138 140 213 214
Simon. Jules 876
Sismondi 270 347 354 411
456 666 812
v. Sivers 797
v. Skarzynski 71 765 797 878
Smith, Adam 5/10 17 18 35
51 71 187 266 297 312
314 321 330 339 347 411
452 454 666 750 763 765
794 796 802 838 857 870
875 881
Sötbeer, Ad. 292 412 415
426 430 435 439 714 715
723 825
Sötbeer, Heinr. 451 459 460
Sohm 850
Sombart, W. 327
v. Sonnenfels 452
Spencer. Herb. 03 66 71 140
459 875 876
Spicker 430
Sprecher von Bernegg 568
578
Springer 731
Stahl, Jul. (Bcrl.) 307 858
875 878
Stahl (Nat.-ök.) 821
v. Stein, Lorenz 29 35 63
257 268 283 347 388 415
472 691 751 810 834 844
857 858 876 889 908 909
913 914
Steinlein 314
Steinthal 71
Stephan 438
Stuart, S. 6 452
Stieda, W. 599 850
Stöpel 455
Storch 301 303 312 321 411
438 794
Strassburger 433
Strauss 430
Ströll 63
St. Simon 12 347 766 7S6
v. Studnitz 433
Stürmer 437
Süssmilch 138 452
Supan 465 473 570 582 586
Supino 287
Sydow 568
Tallquist 538
v. Tongoborski 450
Thomas 321
Thompson 322 323
Thornton 316 455
v. Thünen 35 176 1S7 190
258 292
Tönnics 41 45 397 830
Tooko 389 395 430 138 439
Torrcns 321 421
v. Treitschke, H. 52 283 712
729 732 733 801 802 810
815 816 837
Trendelenburg 816 832 854
Tschitschcrin 379
Tacker 511
Turgot 6 312 654 796 801
803
Ubbelohde 385
Uhdc 81
Umpfcnbach 63 S92
Vanderbilt 846
Vetter 459
Vicbahn 430
Virchow 815
Vocke 893
Voit 682
Vorländer 141
Wagencr, Herrn. 795
Wagner, Dr. A. 463
Wagner, Herrn. 430 437 465
473 512 568 570 580/584
Wagner, Moritz 569
Waitz, Georg 876 885
Walcker, K. 464 894
Walras 176 324 326
Wappäus 141 389 430 432
451 463 464 487 491/494
509 511 531 599 602 610
898
Weber, Wilh. 77
Wciss, Bela 399 784
Welcker 795
Westergaard 138 14! 201
211 215 216 432 487
Whately 266 766
Wieser 64 287 324/327 335
421
Wilhelm I (ßotsch. von 1881)
705
Wilhelm II (Botsch. von 1890)
904
Winkelblech s. Mario
Wirth, Max 75 322 430 463
794 796 797
Wirth, Moritz 39 40
Wiss 463
Wittstein 142
WolkofF 301
WolfT, Chr. 452 682 809 857
gg 1
Wolf. J. 2. H.-B. VII 326
Wundt 71 76 77 138 140
171 172 176 184 224
Young 452
Zarncke 320
Zeller, Ed. 872 881
Zeller, J. 39
Zeoner 142 432
Zeyss 71 465
Ziegler 71 73
Zinckc 257
Zuckcrkandl 64 325
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Seite 482 Zeile 19 von oben lies sich statt sie.
484 Zeile 12 von unten lies diesen statt dieser.
504 Zeile 7 von unten lies Col. 8 statt 9.
519 Tab. XII in Col. Frankreich letzte Zahl (Jahr) lies 1871 statt 1881.
- 519 Tab. XIII. bei Gross- Britannien Jahreszahl lies 1891 statt 1880.
5G5 Zeile 5 von oben ist hinter „im Ganzen'1 einzuschaltcn : in den einzelnen
Jahren.
568 Abschnittziil'er lies V statt VI.
581 Note 1 lies westlichen statt nördlichen.
705 Zeile IG von unten lies 17. November statt 17. Mai.
736 Ueberschrift lies §. 285 statt 265.
760 letzte Zeile lies §. 18 statt 16.
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