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Full text of "Grundlegung der politischen Oekonomie"

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Lehr-  und  Handbuch 

der 

politischen  Oekonomie. 

In  einzelnen  selbständigen  Abtheilungen. 

In  Verbindung  mit 

A.  Buchenberger  K.  Bücher  H.  Dietzel 

gToSBh.  Ministerialrath  Professor  der  Statistik  und  Professor  der  Staatswissen- 
in  Karlsruhe  Nationalökonomie  in  Leipzig  schuften  in  Bonn 

und  Anderen  bearbeitet  itnd  herausgegeben 

von 

Adolph  Wagner 

Professor  der  Stautswisstfhschaften  in  Berlin. 


Erste  Hauptabtheilung: 

Grundlegung  der  politischen  Oekonomie. 

Dritte  Auflage. 

Erster  Theil. 

Grundlagen  der  Volkswirtschaft. 


Erster  Halbband. 


Leipzig. 

C.  F.  Winter’sche  Verlagshandlung. 


1892. 

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Grundlegung 

der 

politischen  Oekonomie. 


Von 

Adolph  Wagner. 


Dritte 

wesentlich  um-,  theilweise  ganz  neu  bearbeitete  und  stark  erweiterte  Auflage. 


Erster  Theil. 

Grundlagen  der  Volks  wir  thschaft. 

Erster  Halbband. 


Einleitung  und  Buch  1 — 3. 

Wirthschaftliche  Natur  des  Menschen ; Object,  Aufgaben.  Methoden,  System 
der  politischen  Oekonomie.  — Elementare  Grundbegriffe.  — Wirthschaft 

und  Volkswirtschaft.) 


Leipzig. 

C.  F.  Winter' sehe  Verlagshandlung. 

1892. 


LIBRARY  OF  THE 

LELAND  STANFORD  JR.  UNIVERSITY . 

OL.  l±-j5  33 

JAN  14  1901 


Vorwort 

zur  dritten  Auflage. 

Seit  mehreren  Jahren  hat  dieses  Werk  im  Buchhandel  gefehlt. 
Die  neue  Auflage  hat  sich  wegen  anderweiter  Arbeiten,  vornemlich 
aber  auch  deswegen  verzögert,  weil  ich  die  Nothwendigkeit  em- 
pfand, das  ganze  Buch  stärker  umzuarbeiten.  Ich  hätte  es  auch 
eigentlich  vorgezogen,  zunächst  an  der  Finanzwissenschaft  weiter 
zu  arbeiten  und  diese  endlich  zum  Abschluss  zu  bringen.  Aber 
ich  glaubte  schliesslich  doch,  dem  Wunsche  der  Verlagshandlung 
nachkommen  zu  sollen  und  die  Neubearbeitung  der  Grundlegung 
in  die  Hand  zu  nehmen,  damit  das  Buch  nicht  gar  zu  lange  fehle. 

Die  zweite  Auflage  ist  im  Frühjahr  1879  erschienen.  Schon 
diese  lange  Spanne  Zeit,  welche  zwischen  den  beiden  Auflagen 
liegt,  bedingte  erhebliche  Aenderungen,  um  den  Entwicklungen 
der  Wissenschaft  Rechnung  zu  tragen  und  das  Buch  mit  meiner 
eigenen  wissenschaftlichen  Auffassung  im  Einklang  zu  erhalten. 
So  ist  diese  dritte  Auflage  in  der  That  eine  „wesentlich  um-,  theil- 
weise  ganz  neu  bearbeitete  und  stark  erweiterte“  geworden. 

In  Verbindung  mit  einer  Umänderung  und  Erweiterung  des 
ganzen  Plans  für  das  Gesammtwerk  und  mit  der  Gewinnung  einer 
Reihe  neuer  Mitarbeiter  für  einzelne  Theile,  worüber  ich  mich  im 
Eingang  dieses  Bands  selbst  (S.  lff.)  näher  geäussert  habe,  hat 
aber  auch  die  Grundlegung  selbst  in  dieser  neuen  Auflage  materielle 
und  formelle  Aenderungen  und  Erweiterungen  erfahren. 

Es  wurde  ihr  auch  äusserlich  als  einer  „ersten  Hauptabtheilung“ 
(„Grundlegung  der  Politischen  Oekonomie“)  die  Stellung  eines  ge- 
meinsamen Fundaments  für  das  ganze  Werk  gegeben  und  sie,  wie 
von  der  practischen,  so  auch  von  der  theoretischen  Nationalökonomie 
getrennt  (s.  S.  2 und  §.  102  ff.,  S.  266  ff.).  Der  frühere  eine  Theil 
wrnrde  in  zwei  zerlegt  und  der  Inhalt  und  Umfang  erweitert. 
Der  erste  Theil,  unter  dem  eigenen  Titel  „Grundlagen  der  Volks- 
wirthschaft“,  entspricht  der  ersten  Abtheilung  der  zweiten  Auflage 
(S.  1—342  daselbst),  aber  ist  durch  umfängliche  Ausführungen 
über  die  wirtschaftliche  Natur  des  Menschen,  die  Motivation  im 
wirtschaftlichen  Handeln  („ökonomische  Psychologie“),  über  Ob- 
ject, Aufgaben,  Methoden  („Methodologie“),  System  der  Politischen 
Oekonomie  (S.  70—285)  und  Uber  die  Beziehungen  zwischen  Be- 
völkerung und  Volkswirtschaft  („volkswirtschaftliche  Bevölkerungs- 


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VI 


Vorvrort  zur  dritten  Auflage. 


lehre“,  im  Beginn  des  2.  Halbbands)  stark  erweitert  worden.  Diese 
Abschnitte  fehlten  in  den  beiden  ersten  Auflagen  völlig,  gehörten 
aber  in  das  Werk  und  doch  wohl  am  Richtigsten  gerade  an  die 
Stelle,  wo  sie  sich  jetzt  befinden.  Die  Methodologie  und  Systeraato- 
logie  war  früher  erst  für  den  Schluss  der  Grundlegung  geplant  ge- 
wesen. Der  zweite  Theil  der  Grundlegung  wird  dann  die  Gesammt- 
heit  der  wirthschaftlichen  Rechtsfragen  enthalten,  welche  in  der 
zweiten  Auflage  von  S.  343—821  behandelt  wurden,  zugleich  aber 
auch  sich  auf  das  mit  ausdehnen,  was  in  den  beiden  ersten  Auflagen 
auf  diesem  Gebiete  noch  rückständig  geblieben  war,  so  die  Lehre 
vom  „Inhalt  des  Eigenthums“  (vgl.  2.  Aufl.  §.  286,  S.  587  ff.).  Dieser 
zweite  Theil  soll  den  Titel  führen:  „Volkswirthschaft  und  Recht, 
besonders  Vermögensrecht,  oder  Freiheit  und  Eigenthum  in  volks- 
wirtschaftlicher Betrachtung.“ 

Zunächst  erscheint  jetzt  Theil  1 der  Grundlegung.  Um  das 
Buch  nicht  noch  länger  im  Buchhandel  ganz  fehlen  zu  lassen  und 
es  gleichzeitig  mit  der  Buchenberger’schen  Agrarpolitik  zum  Be- 
ginn des  nächsten  Wintersemesters  zur  Verfügung  zu  stellen,  haben 
sich  Verfasser  und  Verlagshandlung  entschlossen,  die  im  Druck 
fertige  erste  Hälfte  dieses  Thcils,  enthaltend  die  Einleitung  und 
die  ersten  drei  Bücher,  als  ersten  Halbband  von  Theil  1 jetzt  apart 
herauszugeben.  Die  zweite  Hälfte  ist  im  Druck  und  folgt  binnen 
Kurzem.  Sie  enthält  die  Bücher  4 — 6:  Bevölkerung  und  Volks- 
wirthschaft, Organisation  der  Volkswirthschaft,  der  Staat,  volks- 
wirtschaftlich betrachtet. 

Alle  einzelnen  Abschnitte  des  Buchs  sind  mehr  oder  weniger 
stark  überarbeitet,  auch  gegen  die  vorige  Auflage  noch  mehr  er- 
weitert, als  es  den  Anschein  haben  könnte,  indem  jetzt  auch  in 
dieser  3.  Auflage  der  Grundlegung  die  corapendiösere  Einrichtung 
des  Drucks  wie  in  den  neueren  Bänden  und  Auflagen  der  Finanz- 
wissenschaft (Anwendung  von  Petitschrift  für  alles  Detail  und  alle 
näheren  Ausführungen  auch  im  Text)  stattgefunden  hat. 

Die  sachlich  wichtigste  Veränderung  in  dieser  Auflage  und 
speciell  in  dieser  ersten  Hälfte  des  ersten  Theils  liegt  aber  in  der 
in  den  früheren  Auflagen  fast  ganz  fehlenden  „Einleitung“  (vgl. 
2.  Aufl.  S.  1 — 4 und  jetzige  3te  S.  5 — 67)  und  vor  Allem  in  dem 
neuen  nunmehrigen  ersten  Buche  von  der  wirthschaftlichen  Natur 
des  Menschen,  der  Motivationstheorie,  Methodologie  und  Syste- 
matologie  (vgl.  2.  Aufl.  S.  8—12  und  jetzige  3te  S.  70—285).  Man 
wird  hier  überall  den  Einfluss  spüren,  einmal  des  Socialismus,  ins- 


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Vorwort  zur  dritten  Auflage. 


VII 


besondere  in  den  Anregungen  zu  „ökonomisch -psychologischen“ 
Studien  und  Erörterungen;  sodann  auch  der  neuerlichen  methodo- 
logischen Controversen  zwischen  K.  Men  ge r und  der  deutschen 
jüngeren  historischen  Schule.  In  erstcrer  Hinsicht  hielt  ich  eine 
Auseinandersetzung  mit  der  einseitigen  ökonomischen  Psychologie 
des  Socialismus  für  unabweisbar,  die  Ergebnisse  derselben  aber  auch 
für  das  Studium  und  die  Entwicklung  der  Politischen  Oekonomie 
im  Allgemeinen  für  grundlegend.  Grade  in  seiner  Psychologie  liegt 
die  eigentliche  Schwäche  des  extremen  (radicalen)  theoretischen 
wie  practischen  Socialismus.  In  der  anderen  Hinsicht,  in  dem 
Metboden8treit,  verdanke  ich  K.  Menger  und  der  ganzen  „öster- 
reichischen theoretischen  Schule“  (vgl.  §.  19)  viel  und  bekenne 
das  hier  gern,  ohne  freilich  mich  durchaus  auf  ihre  Seite  zu  stellen. 
Wie  Neumann,  dem  ich  hier  in  den  theoretischen  Partien,  wie 
in  der  Finanzwissenschaft  (vgl.  2.  Theil  S.  19 ff.)  ebenfalls  für 
vielerlei  Anregung  und  Belehrung  Dank  schulde,  suche  auch  ich 
eine  gewisse  vermittelnde  Stellung  einzunehmen,  wobei  ich  freilich, 
um  die  beiden  Hauptrufer  auf  den  extremen  Seiten  im  Methoden- 
streit zu  nennen,  K.  Menger  näher  als  G.  Schmoller  stehe.  Die 
Auseinandersetzungen  mit  der  jüngeren  deutschen  historischen 
Richtung  waren  mir  lange  ein  Bedürfnis.  Wenn  sie  hie  und  da 
etwas  scharf  ausgefallen  sind,  so  bitte  ich  zu  bedenken,  dass  es 
sich  nicht  nur  um  Verwahrung  gegen  einseitige  Richtungen,  welche 
ich  meiner  Uebcrzeugung  nach  für  schädlich  halte,  sondern  zugleich 
auch  um  Verwahrung  gegen  die  überhebende  Art  handelt,  wie  der 
jüngere  Historismus  Alles  behandelt,  was  sich  nicht  in  seinem 
Fahrwasser  bewegt,  d.  h.  was  nicht  auch  die  historische  Induction 
allein  gelten  lassen  und  concrete  Wirtschaftsgeschichte  mit  Poli- 
tischer Oekonomie  identificiren  will:  Einseitigkeiten  der  entgegen- 
gesetzten, aber  nicht  minder  bedenklicher,  ja  im  Grunde  noch  bedenk- 
licherer Art,  als  die  viel  gerügten  der  älteren  britischen  deductiven 
und  abstracten  Richtung  (vgl.  §.  15,  16  und  passim  mehrfach). 

Der  principielle  socialpolitische  Standpunct,  den  ich  in  den 
früheren  Auflagen  einnahm,  ist  im  Uebrigen  in  dieser  3.  Auflage 
in  keiner  Weise  verändert,  am  Wenigsten  abgeschwächt  worden,  auch 
nicht  in  den  wirthschaftlichen  Organisations-  und  Rechtsfragen,  wie 
schon  das  l.Buch,  mehr  noch  die  zweite  Hälfte  dieses  Bands  und  der 
zweite  Theil  der  Grundlegung  zeigen  wird.  Auch  meine  Stellung  zu 
Rodbertus  und  Schäffie  ist  keine  andere  geworden,  — denjenigen 
Autoren,  welchen  ich  mich,  bei  vielfacher  Abweichung  in  Einzel 


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Vorwort  zor  dritten  Auflage. 


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heiten  und  auch  in  Principienpuncten,  doch  anderseits  in  gewissen 
principiellen  Auffassungen  am  Nächsten  fühle  und  von  welchen  ich 
jedenfalls  glaube  am  Meisten  gelernt  zu  haben. 


Ueber  Manches,  was  ich  hier  im  Vorwort  mit  berühren  müsste, 
habe  ich  mich  in  der  „Einleitung“  (vgl.  bes.  §.  5,  7 — 12)  näher 
ausgelassen,  da  die  betreffenden  Puncte  eine  allgemeine  Bedeutung 
für  die  Bearbeitung  der  Politischen  Oekonomie  haben,  und  erlaube 
mir  hier  daher,  darauf  hinzuweisen. 


In  dieser  dritten  Auflage  habe  ich  auch  dahin  gestrebt,  meine 
„Grundlegung“  dem  neuen  Plane  für  das  gesammte  umfassende 
„Lehr-  und  Handbuch  der  Politischen  Oekonomie“  möglichst  an- 
zupassen. Ueber  diesen  Plan  verbreiten  sich  die  ersten  Seiten 
(S.  1—3)  dieses  Bands  weiter.  Hier  sei  nur  noch  hervorgehoben, 
dass  wir  einzelnen  Bearbeiter  uns  auch  untereinander  unsere  wissen- 
schaftliche Selbständigkeit  und  innerhalb  der  von  einem  Jeden  be- 
arbeiteten Theile  freie  Bewegung  wahren.  Insbesondere  liegt  es 
mir,  als  dem  Herausgeber  des  Gesammtwerks,  fern,  meinen  Herren 
Mitarbeitern  in  Bezug  auf  principielle  Auffassungen  und  Streit- 
fragen vorgreifen  zu  wollen.  Wie  bei  allen  solchen  Werken  von 
verschiedenen  Autoren,  wenn  die  letzteren  sich  auch  in  Manchem 
nahe  stehen,  wird  es  grade  in  Bezug  auf  solche  Auffassungen  und 
Fragen  auch  unter  uns  nicht  an  Meinungsverschiedenheiten  fehlen. 
Das  muss  man  bei  einem  Zusammenwirken  verschiedener  Männer 
der  Wissenschaft  ob  der  anderen  Vortheile  der  wissenschaftlichen 
Arbeitsteilung  willen  hinnehmen  (vgl.  §.  9 und  10).  — 

Ich  hoffe,  dass  nunmehr  das  ganze  Werk,  welches  in  dem  ge- 
planten grossen  Umfang  allein  zu  bearbeiten  meine  Kräfte  weit 
überstiegen  hätte,  wie  ich  mich  immer  mehr  überzeugen  musste, 
rascher  vorrückt  und  in  absehbarer  Zeit  vollendet  vorliegt.  Ich 
selbst  werde  noch  mehr  als  bisher  mich  darauf  einrichten,  mög- 
lichst alle  meine  für  literarische  Arbeit  überhaupt  verfügbare  Zeit 
dem  Werke,  bzw.  den  von  mir  übernommenen  Theilen  zu  widmen. 
Und  wie  der  gleichzeitig  erscheinende  erste  Band  von  Herrn  Min.rath 
Buchenberger’s  Agrarpolitik  zeigt,  werden  meine  Herren  Mitarbeiter 
auch  nicht  säumen,  ihre  einmal  übernommene  Aufgabe  zu  erfüllen. 

Berlin,  September  1892. 


Dr.  Adolph  Wagner. 


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Inhaltsübersicht. 


Die  zweite  Zahl  in  Eckklammern  hinter  der  Paragraphenzahl  ist  diejenige  der 
zweiten  Auflage.  Wo  sie  fehlt,  ist  der  Gegenstand  in  dieser  dritten  Auflage  erst  neu 

aufgenommen  worden. 

Seite 

Plan  des  Gesammtwerks  (2.  Aufl.  S.  5,  6) 1 

Grundlegung  der  Politischen  Qekonomie 5 

Einleitung  (2.  Aufl.  S.  1 — 5) 5 

Erstes  Kapitel.  Ziel  und  Aufgabo  dieses  Werks,  insbesondere  der 

Grundlegung  5 

§.  1.  Die  Smith’scho  oder  britische  Oekonomik 5 

2.  Die  Krisis  der  britischen  Oekonomik 9 

§.  3.  Die  kritischen  Leistungen  des  Socialismus  und  seine  positiren  Mängel  12 

§.  4.  Der  Methodenstreit 16 

§.  5.  Das  Bedürfnis  und  die  Aufgaben  einer  neuen  Grundlegung  der  Poli- 
tischen Qekonomie  18 

§.  6.  Individuum  und  Gemeinschaft 22 

7.  Ziel  und  Aufgabe  dieses  Werks 25 

§.  S.  Specialarbeit  und  zusammenfassende  Arbeit 26 

§.  9.  Zusammenwirken  verschiedener  Autoren  auf  dem  Gebiete  zusammen- 
fassender Arbeit  in  Sammelwerken  . . . . . . . . » . , 28 

§.  10.  Arbeitsteilung  in  Sammelwerken  der  Politischen  Qekonomie  und 

speciell  in  diesem  Werke 31 

§.  11.  Die  geistige  Individualität  der  Gelehrten  als  Factor  ihrer  Arbeitsweise  32 

§.  12.  Die  Bearbeitung  der  Grundlegung 35 

Zweites  Kapitel.  Verhältnis«  zu  anderen  Standpuncten  und  litte- 

rarische  Nachweisungen  für  die  Grundlegung 37 

§.  13.  Der  Socialismus  37 

§.  14.  Dem  Standpuncte  dieser  Grundlegung  verwandte  Standpuncte  in  der 

Litteratur  41 

§.  15.  Die  deutsche  historisch  -nationalOkonomische  Richtung 46 

jj.  16.  Historisch -nationalökonomische  Litteratur 51 

§.  17.  Der  Kathedersocialismus 57 

jj$.  IS-  Der  Staatssocialismus 58 

g.  19.  Die  neuere  theoretische  Richtung,  besonders  in  Oesterreich  ...  03 

jj.  20.  Die  Socialökonomie  als  eigene  selbständige  Wissenschaft  ....  65 


X Inhaltsübersicht. 

Seite 

Erster  Thell t>9 

Die  Grundlagen  der  Volkswirt!) schaft . 69 

Erstes  Buch. 

Die  wirthschaftliche  Natur  des  Menschen.  Object,  Aufgaben. 

Methoden,  System  dor  Politischen  Oekonomie TO 

Erstes  Kapitel.  Die  wirthschaftliche  Natur  des  Menschen  ...  70 

§.  21.  Litteratur.  Aufgaben  dieses  Kapitels 70 

1.  Abschnitt.  Analyse  der  wirtschaftlichen  Natur  des  Menschen  . 73 

§.  22.  [1.]  — I.  Bedürfnis.  Befriedigung.  Befriedigungstrieb  ....  73 

§.  23.  [2.]  — 1.  Die  Bedürfnisse 74 

§.  24.  [1,  06,  139.]  Einteilung  der  Bedürfnisse 75 

§.  25.  — 2.  Befriedigung 70 

§.  26.  [1.]  — 3 Der  Befriedigungstrieb 77 

§♦  27.  [2.]  — II.  Die  Arbeit 79 

§.  2S.  [3.]  — III.  Qekonomisches  Princip SO 

§.  29.  [4.]  - iv.  Wirtschaft.  Wirthschaftliche  Natur  des  Menschen. 

Wirthschaftslchre 81 

2.  Abschnitt.  Diffcrcnzirung  und  Combination  der  Motive  im  wirt- 

schaftlichen Handeln . 83 

8.  30.  — I.  Die  wirthschaftliche  Natur  bei  den  Individuen.  1.  Individuelle 

(subjective)  Di  deren  zirung S3 

§.31.  — 2.  Die  wirthschaftliche  Natur  als  eine  blosse  Seite  der  mensch- 
lichen Katar 84 

§.  32.  — 3.  Der  Mensch  als  einheitlich  handelndes,  wenn  auch  von  ver- 
schiedenen Motiven  bestimmtes  Wesen S5 

§.  33.  [207.]  — II.  Analyse  der  Motive  im  wirtschaftlichen  Handeln,  ins- 
besondere die  Dilferenzirung  der  egoistischen  Motive St» 

§.  34.  [207  ] — A.  Egoistische  Motive.  1.  Erstes  Leitmotiv:  Streben  nach 
dem  eigenen  wirtschaftlichen  Vorteil  und  Furcht  vor  eigener 
wirtschaftlicher  Noth.  a)  We9en  und  Function  dieses  Motivs  . . SS 

§.  35.  — b)  Behandlung  dieses  Motivs  in  der  Theorie 90 

§.  36.  — c)  Bedeutung  des  Motivs  für  Theorie  und  Praxis  des  Wirtschafts- 
lebens und  bezügliche  Aufgaben 91 

§.  37.  [207.]  — 2.  Zweites  Leitmotiv:  Furcht  vor  Strafe  und  Hoffnung  auf 

Anerkennung,  a)  Wesen  und  Function  des  Motivs 93 

§.  38.  — b)  Bedeutung  des  Motivs  für  Theorie  und  Praxis  des  Wirtschafts- 
lebens und  bezügliche  Aufgaben 96 

§.  30.  [207.]  — 3.  Drittes  Leitmotiv:  Ehrgefühl,  Geltungsstreben,  Furcht 

vor  Schande  und  Missachtung,  a)  Wesen  und  Function  dieses  Motirs  9S 
§.  40.  — b)  Bedeutung  des  Motivs  für  Theorie  und  Praxis  des  Wirtschafts- 
lebens und  bezügliche  Aufgaben 100 

§.  41.  — c)  Besonders  wichtige  Fälle.  (Oeffentlichcr  Dienst.  Socialistisches 

Wirtschaftssystem.  Ergebnisse 103 

§.  42.  [207.]  — 4.  Viertes  Leitmotiv:  Drang  zur  Betätigung.  Freude  am 
Thätigsein,  auch  an  der  Arbeit  als  solcher  und  an  den  Arbeits- 
ergebnissen als  solchen,  sowie  Furcht  vor  den  Folgen  der  Untätigkeit 
(Passivität),  a)  Wesen  und  Function  des  Motivs 100 


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Inhaltsübersicht. 


XI 


Seite 


§.  43.  — b)  Bedeutung  des  Motivs  für  Theorie  und  Praxis  des  Wirthschafts- 

lebens  und  bezügliche  Aufgaben 

10S 

§.  44.  Die  Differenzirung  der  egoistischen  Motive  des  wirtschaftlichen 

Handelns  in  ihrer  Bedeutung  für  die  Frage  der  Methode  in  Theorie 

und  Praxis 

11? 

§.  45.  [207.]  — B.  Unegoistisches  oder  fünftes  Leitmotiv:  Trieb  des  inneren 

Gebots  zum  sittlichen  Handeln,  Drang  des  Pflichtgefühls  und  Furcht 

vor  dem  eigenen  inneren  Tadel  (ror  Gewissensbissen).  — a)  Wesen 

dieses  Motivs  und  Function 

115 

§.  40.  b)  Bedeutung  des  Motivs  für  Theorie  und  Praxis  des  Wirthschafts- 

lebens  und  bezügliche  Aufgaben 

117 

3.  Abschnitt.  Ergebniss 

121 

§.  47.  — I.  Ergebniss  für  die  Theorie 

121 

S.  4S.  — II.  Ergebniss  für  die  Praxis 

122 

§.  49.  — III.  Auseinandersetzung  mit  dem  Socialismus.  1.  Die  Lehre  vom 

wirtschaftenden  Menschen  als  auch  in  seiner  Motivation  einem 

Product  der  Verhältnisse  und  ihre  teilweise  Richtigkeit  .... 

123 

50.  — 2.  Einwände  gegen  die  Tragweite  der  dargelegtcn  Lehre  . . . 

12S 

§.  3J.  — 3.  Schlussergebniss  hinsichtlich  der  Motivation 

130 

§.  52.  — IV.  Bedeutung  der  Motivationstheorio  für  den  psychologischen 

Unterbau  der  socialökonomischen  Methodologie  und  der  ganzen  Social- 

Ökonomie 

13? 

§,  53.  — V.  Fehler  der  verschiedenen  theoretischen  Richtungen  .... 

135 

Zweites  Kapitel.  Object,  Aufgaben,  Methoden,  System  der  Poli- 

tischen  Ockonomic 

1 M7 

§.  54.  Vorbemerkung  und  Litteratur 

137 

Erster  Hauptabschnitt.  Object  und  Aufgaben 

142 

§.  55.  — I.  Zusammenhang  von  Object,  Aufgabe,  Methode  und  System  . 

142 

§.  56.  — II.  Das  Object 

143 

§.  57.  — III.  Die  Aufgaben  und  die  Classification  der  Wissenschaften  . . 

144 

§.  5S.  — A.  Die  drei  ersten  oder  die  theoretischen  Aufgaben  .... 

146 

§.  59.  — 1.  Die  erste  Aufgabe 

147 

§.  60.  — 2.  Die  zweite  Aufgabe 

14s 

8.  61.  — 3.  Die  dritte  Aufgabe 

151 

§.  62.  — B.  Die  drei  letzten  oder  die  practischcn  Aufgaben 

154 

§.  63.  — 1.  Die  vierte  und  die  fünfte  Aufgabe 

15s 

§.  64.  — 2.  Die  sechste  Aufgabe 

164 

Zweiter  Hauptabschnitt.  Methoden 

165 

1.  Abschnitt.  Allgemeines 

166 

§.  65.  — I.  Einleitung.  Dcduction  und  Induction 

166 

8.  66.  — II.  Allgemeine  Characteristik  beider  Methoden 

1 GS 

2.  Abschnitt.  Das  dednetive  Verfahren 

1 7° 

§.  67.  Die  Methode  der  Deduction  in  der  Politischen  Ockonomie.  A.  Art 

und  Weise  und  Voraussetzung  ihrer  Anwendung 

172 

§.  6S.  — B.  Die  (,,exacte“)  Deduction  unter  den  drei  Voraussetzungen  und 

ihre  mathematische  Formulirung  („mathematische  Methode“)  . . . 

175 

XII 


Inhaltsübersicht. 


Seite 

§.  69.  — C.  Das  Verhältnis  der  deductiv  gewonnenen  Ergebnisse  zur 

Wirklichkeit  der  Erscheinungen 177 

§.  70.  — D.  Die  Annäherung  der  deductiv  gewonnenen  Ergebnisse  an  die 
Wirklichkeit  durch  methodische  Acndcrung  der  Voraussetzungen  der 

Deduction ISO 

$.  71.  Durchführung  der  Veränderungen  der  drei  Voraussetzungen  im  Ein- 
zelnen   182 

§.  72.  — E.  Die  auf  dem  dednetiven  Verfahren  aufgebaute  Wirthschafts- 

Wissenschaft  als  „logische**  Wissenschaft 186 

§.  73.  — F Deductiv  abgeleitete  wirtschaftliche  Gesetze ISS 

§.  74.  — G.  Die  Fehlerquellen  des  dcductiven  Verfahrens 190 

§.  75.  — H.  Das  Bedürfnis  nach  einer  Ergänzung  des  deductivcn  Verfahrens  193 

3.  Abschnitt.  Das  inductive  Verfahren 194 

§.  76.  — I.  Die  Bedingungen  der  Induction  und  das  Beobachtungsrcrfahrcn 

dafür 194 

§.  77.  — II.  Die  einzelnen  Bcobaehtungsmethoden  im  inductiven  Verfahren  196 
§.  78.  — A.  Die  unwissenschaftliche  tägliche  Beobachtung  wirtschaftlicher 

Erscheinungen 197 

§.  79.  — B.  Die  wissenschaftliche  Einzelbeobachtung 200 

§.  80.  — C.  Die  wissenschaftliche  Massenbeobachtung:  Statistik  und  Historik  202 
§.81.  — 1.  Die  Statistik  als  Methode,  a)  Wesen  und  methodologischer 

Werth 206 

§.  82.  — b)  Anwendung  der  statistischen  Methode 211 

§.  83.  — 2.  Die  Historik,  d.  h.  die  Geschichte  als  Methode,  c)  Im  All- 
gemeinen und  bezüglich  der  ersten  und  dritten  Aufgabe  . . . . 216 

§.  84.  — b~)  Die  historische  Methode  in  ihrer  Fortbildung  zur  vergleichend- 

historischen,  insbesondere  auf  dem  Gebiete  der  zweiten  Aufgabe  ♦ 220 


§ 85.  — c)  Anwendung  der  historischen  Methode 223 

4 Abschnitt.  Wirtschaftliche  Gesetze 225 

§.  86.  Einleitung  und  Littcratur 225 

§.  87.  — I.  Die  allgemeine  Frage  von  der  Zulässigkeit  des  Ausdrucks 
..Gesetz;*  und  die  Begrifibestimmung  von  „Gesetz“  im  allgemeinsten 

Sinne 228 

§.  SS.  — II.  Verschiedene  Arten  von  Gesetzen 230 

§.  89.  — III.  Wirtschaftliche  Gesetze 234 

§.  90.  — III.  Wirtschaftliche  Bewegungs-  und  Entwicklungsgesetze  . . 237 

§.  91.  — V.  Ergebnis 241 

5.  Abschnitt.  Die  Verbindung  der  Methoden 242 

§.  92.  — I.  Der  Auf-  und  Ausbau  der  Politischen  Oekouotnio  ....  242 
§.  93.  — A.  Das  inductive  Verfahren  als  Controlmittel  (im  „Ergänzungs- 

dienst>>  anderer  Methoden) 243 

§.  94.  — B.  Das  inductive  Verfahren  als  selbständiges  Mittel  zuin  Ausbau 

der  Politischen  Oekonomie  ijm  ..Ersatzdienst**  statt  anderer  Methoden)  245 

§.  95.  — II.  Ergebnisse.  A.  Im  Ganzen 246 

§ 96.  — B.  Ergebniss  im  Einzelnen  für  das  Verhältnis  der  Methoden 

zu  den  Aufgaben 247 


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Inhaltsübersicht. 


XIII 


Seite 


§.  97.  — C.  Ergcbniss  für  das  Verhältniss  der  Methoden  bei  einzelnen 

Fragen  and  in  den  einzelnen  Theilen  des  Systems 

250 

Dritter  Haaptabsch  nitt.  System  und  Verwandtes 

252 

| Abschnitt  Die  Politische  Oeknnnmie  als  Wissenschaft 

252 

§.  98.  Einleitung  und  Litteratur 

252 

$.  99.  — L Privatökonomik  und  ihr  Verhältniss  zur  Politischen  Oekonomie 

255 

100.  [53  1 — II.  Politische  Oekonomie.  A.  Begriff . 

258 

§.  101.  — B.  Name 

263 

2.  Abschnitt.  System  der  Politischen  Oekonomie 

266 

§.  102  — I.  Bisherige  Entwicklung  des  Systems 

266 

§.  103.  — II.  Das  System  selbst.  A.  Bildung  desselben.  (Hauptcinthcilung.) 

271 

5$.  104.  — B.  Begründung  und  Durchführung  dieses  Systems 

273 

§.  105.  — C.  Weiteres  über  die  Systematik  in  der  theoretischen  und  all- 

gemeinen  wie  in  der  practischen  und  speciellen  Nationalökonomie, 

insbesondere  die  Stellung  der  Lehre  vom  Verkehrswesen  im  System 

279 

§.  106.  — III.  Die  Stellung  der  Politischen  Oekonomie  im  Kreise  der  vor- 

wandten  Wissenschaften  • 

281 

§.  107.  — IV.  Hilfswissenschaften  der  Politischen  Oekonomie 

284 

Elementare  Grundbegriffe 

286 

§.  108.  (2.  Aufl.  S.  8.)  Litteraturnachweis  und  Vorbemerkungen  über  die 

Grundbegriffe 

2S6 

Erstes  Kapitel.  Die  Güter 

288 

§.  109.  [7.]  — I.  Die  Unterscheidung  rein -ökonomischer  und  socialer  oder 

historisch-rechtlicher  Standpuncte  der  Betrachtung  in  der  Politischen 

Oekonomie 

288 

110.  [5.1  — II.  Die  Güter  im  Allgemeinen.  A.  Begriff 

288 

§.  111  [5.1  — B.  Entwicklung  der  Güter 

289 

§.  112.  [G.J  — C.  Einteilung  der  Güter.  Innere  und  äussere 

289 

§.  113.  [7,  8.]  — D.  Einthcilung  der  äusseren  Güter.  Freie  und  wirth- 

schaftliche.  1.  Rein  - ökonomischer  Standpunct 

290 

§.  114.  [9.]  — 2.  Socialer  (historisch -rechtlicher)  Standpunct 

291 

§.  115.  [10.J — III.  Arten  der  Erwerbung  wirtschaftlicher  Güter.  A.Uebersicht 

293 

§.  116.  [11  .J  — B.  Vorkommen  und  Berechtigungen  dieser  Erwerbsarten  . 

295 

§.  117.  [12,  13-1  — C.  Entwicklung  der  verkehrsmässigen  Erwerbsart.  Tausch. 

Arbeitsgliederung  und  Verkehr 

297 

§.  118.  [14.]  — D.  Ursprung  des  Tauschs  und  Bedingungen  der  Entwick- 

lang  von  Tausch  und  Verkehr  

299 

§.  119.  [15.]  — IV.  Umfang  des  Begriffs  „wirtschaftliches  Gut“  und  Ein- 

theilung  (Arten)  der  wirtschaftlichen  Güter.  A.  Uebersicht  . . 

299 

§.  120.  [16 — 18]  — B.  Die  Streitfrage  über  den  Begriff  „wirtschaftliches 

Gut“ 

301 

§.  121.  [19,  20.]  — Einbeziehung  der  Dienste  in  den  Begriff  des  wirth- 

schaftlichen  Guts 

3 (>4 

§.  122.  [21,  22.]  — Tausch-  und  Verkehrsgüter 

Zweites  Kapitel.  Das  Vermögen  (und  Kapital) 

306 

§.  123.  (2.  Aufl.  S.  30  ff.)  — Vorbemerkungen  und  Litteratur 

306 

XIV 


Inhaltsübersicht. 


Seite 

§.  124.  [23,  24.)  — I.  Vermögen  im  Allgemeinen.  A.  Doppelter  Ver- 

mögensbegriü’ 309 

§.  125.  [25.]  — 13.  Einteilung  des  persönlichen  Vermögens  in  öllentliches 

und  Privatvermögen 311 

§.  12b.  f2C.]  — C.  Begriff  des  Reichtums 311 

§.  127.  — II.  Einthcilung  oder  Arten  des  Vermögens,  insbesondere  Kapital.  — 

Vorbemerkungen  (2.  Aufl.  S.  36  ff.) 312 

§.  12b.  [27.1  — A.  Die  zwei  Vermögenszwecke  und  -Arten 313 

tj.  129.  [28.]  — B.  Der  DoppelbegriH'  Kapital 315 

§.  130.  [29.]  — C.  Bedingungen  für  die  Zugehörigkeit  der  Güter  zum  Kapital  317 

{$.  131.  [30.]  — D.  Kicht-Identität  von  National-  und  Privatkapital  . . . 31S 

§.  132.  [31.]  — E.  Ergebniss.  Abhängigkeit  des  Kapitalbegrill's  von  der 

Rechtsordnung 310 

§.  133.  [321.  — F.  Todtes  Kapital 320 

Drittes  Kapitel  Der  Werth 320 

§.  134.  (2.  Aufl.  S.  4411.)  Vorbemerkungen  und  Littcratur 320 

§.  185.  Fortsetzung.  Die  Grenznut/entheorie  und  die  sich  daran  anschliessende 

neueste  Behandlung  des  Werths  in  der  Litteratur 323 

§.  136.  [33,  34.1  — I.  Werth  im  Allgemeinen.  Gebrauchswerth.  A.  Ab- 
leitung des  Wcrthbegritfs 327 

§.  137.  [35,  36.]  — B.  Der  Werth  als  Gebrauchswerth.  Individueller  und 

socialer 329 

$♦  138.  [37.1  — C.  Der  Gebrauchswerth  als  Mengen-  oder  Gattungswerth  oder 

als  concreter  und  abstracter.  1.  Concrcter  Werth 333 

§.  139.  [3S— 40.]  — 2.  Abstracter  Werth 335 

§.  140.  [41 — 43  1 — II.  Der  Tausch-  oder  Verkehrswerth 336 

§■  141.  [14,45.]  — III  Der  Preis.  A.  Begriff 338 

§.  142.  [46,  47.J  — B.  Bestimmgründc  der  Höhe  von  Tauschwerth  und 

Preis  im  freien  Verkehr 340 

§.  143.  [48,  65,  66.]  Andere  Grundbegriffe.  Geld.  Credit 342 


Drittes  Buch.  Wirthschaft  and  Volksivirthschaft 346 

§.  144.  (2.  Auf).  S.  60  ff.)  Vorbemerkung  und  Litteratur 346 

Erstes  Kapitel.  Wesen  und  Arten  der  Wirthschaft.  Einzel-, 

Volks-  und  Weltwirtschaft 34<) 

§.  145.  [49.]  — 1.  Die  Wirthschaft  im  Allgemeinen.  A.  Begriff  der  Wirth- 
schaft   849 

§.  146.  [50.1  — II-  Technik  und  Ockonomik 350 

§.  147.  [51.]  — I.  Die  Einzelwirtschaft.  A.  Begrill' 351 

$$.  14S.  [52.1  — B.  Arten  der  Einzelwirtschaft 351 

§.  149.  [53.J  — IV.  Dio  Volkswirtschaft.  A.  Begrill'  und  Wesen  . . . 353 

§.  150.  [54.]  — B.  Entwicklung  der  Volkswirtschaft 356 

§.  151.  [55,  56.]  Die  vier  einzelnen  Momente,  welche  die  Entwicklung  der 

Volkswirtschaft  beherrschen 357 

§.  152.  [57  ] — V.  Dio  Weltwirtschaft.  A.  Begrill’  und  Wesen  ....  361 

§.  153.  [5$.]  — B.  Die  Entwicklung  der  Weltwirtschaft 361 

§.  154.  [62,  59 — 61.]  Die  vier  einzelnen  Momente 362 


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Inhaltsübersicht. 


XV 


Seite 

Zweites  Kapitel.  Das  Leben  der  Einzel  wirthschaft  in  der  Volks- 
wirtschaft   369 

§.  155.  (2.  Aufl.  S.  80  if.)  Vorbemerkung  und  Litteratur 369 

1.  Abschnitt.  Der  Wirtli sch aftsbetricb  und  die  selbständige  Function 

oder  die  active  Seite  der  Einzelwirtschaft 370 

§.  156.  [63.]  — I.  Einleitung.  Das  doppelseitige  Leben  der  Wirtschaft  . 370 

§.  157.  [64.]  — II.  Wirthschaftsbetricb  und  äusserer  Wechsel  im  Gütcr- 

bcstand  der  Wirtschaft.  A.  Wesen  dieses  Wechsels 371 

§.  15S.  [65,  66.]  B.  Dio  Verträge  für  die  verkehrsinässige  Erwerbung  der 

Güter,  insbesondere  die  Crcditvertrügo 372 

§.  159.  [67 — 69.]  — C.  Hauptarten  des  äusseren  Güterwechscls  ....  375 

§.  160.  [70,  71.]  — D.  Schema  der  Ein-  und  Ausgänge 378 

§.  161.  [72.]  — E.  Natural-  und  Geldrechnung  bei  dem  äusseren  Güter- 

wechsel 382 

§.  162.  [73  ] — F.  Das  Ziel  des  Wirthschaftsbetriebs 383 

2.  Abschnitt  Einzel  Wirtschaft  und  Vermögen  unter  den  Ein- 

wirkungen der  Ausseuwelt,  besonders  unter  dem  Einfluss 
der  Conjunctur  in  der  Volkswi rthschaft  oder  die  passive 

Seite  der  Einzelwirth Schaft 384 

§.  163.  [74.]  — I.  Hierher  gehörige  Fälle 384 

§.  164.  [74.]  — A.  Natürliche  Veränderung  der  Qualität  der  Güter  . . . 384 

§.  165.  [75.]  — B.  Veränderte  Kenntniss  der  Eigenschaften  der  Güter.  . 386 

§.  166.  [76.]  — II.  Dio  Conjunctur.  A.  Wesen  und  Wirkung 386 

§.  167.  [81.]  — B.  Die  einzelnen  Hauptmomente,  welche  die  Conjunctur 

bilden 389 

§.  168.  [77—79.]  C.  Bedenken 392 

§.  169.  [80.]  — D.  Wissenschaftliche  Stellungnahme  gegenüber  der  Con- 
junctur   396 

Drittes  Kapitel.  Ertrag  und  Einkommen  oder  die  Einkommen- 
lehre aus  dem  Productionsstandpunct  betrachtet 399 

§.  170.  [2.  Aufl.  S.  110.]  Vorbemerkung  und  Litteratur 399 

1.  Abschnitt.  Ertrag  der  Einzelwirtschaft  und  Einzeleinkommen  400 

§.  171.  [82.]  — I.  Ertrag.  A.  Begriffsbestimmungen 400 

§.  172.  [82,  S3.]  — II.  Nähere  Betrachtung  der  Kosten.  Einzel-  und  volks- 

wirthschaftliche  Kosten  . . , 400 

§.  173.  [84.]  — II.  Einkommen.  A,  Begriff,  Umfang 405 

§.  174.  [85.]  — B.  Freies  und  gebundenes  Einkommen 409 

2.  Abschnitt.  Ertrag  der  Volkswirtschaft  und  Volkseinkommen  . 411 

§.  175.  [2.  Aufl.  S.  119.]  Vorbemerkung  und  Litteratur 411 

§.  176.  [S6.]  — I.  Anwendung  der  erörterten  Begriffe  aus  dem  Wirthschafts- 

betrieb  auf  die  Volkswirtschaft 413 

§.  177.  [S7.]  — II.  Ermittelung  und  statistische  Erfassung  von  Roh-,  Rein- 
ertrag der  Volkswirtschaft  und  Volkseinkommen.  A.  Erste  (reale) 

Methode 413 

§.  178.  [88.]  — B.  Zweite  (personale)  Methode 417 

§.  179.  [87.]  — C.  Bedeutung  des  freien  Volkseinkommens 420 


XVI 


Inhaltsübersicht. 


Seite 

Viertes  Kapitel.  Einzel-und  volkswirthscbaftlicheWerthschätzung  421 

§.  180.  [89.]  — I.  Einzelwirthschaftliche  Wertschätzung 421 

§.  181.  [90,  91. J Betrachtung  einiger  besonderer  Verhältnisse.  Vertheilung 
von  Gebrauchsvermögcn  und  Kapital,  von  Natural-  und  Geldkapital 

der  Wirtschaften 422 

§.  182.  [92]  — II.  Volkswirtschaftliche  Werthschätzung 424 

§.  183.  [93.]  Statistik  des  Volkseinkommens  und  Volksvermögens  ....  427 

Fünftes  Kapitel  Kennzeichen  des  Volkswohlstände 428 

§.  184.  [2.  Aufl.  S.  180  ff.]  Vorbemerkung  und  Litteratur 428 

§.  185.  [110,  111.]  I.  Geschichtliche  und  statistische  Thatsachen  als  Kenn- 
zeichen   430 

§.  186.  [112.]  Einzelne  Kennzeichen 431 

Sechstes  Kapitel.  Verkehrszustände  in  der  Volkswirthschaft  . . 439 

§.  187.  [2.  Aufl.  S.  191.]  Vorbemerkung  und  Litteratur 439 

§.  188.  [113]  — I.  Natural-  und  verkehrswirthschaftlicher  Zustand  als 

Gegensatz 440 

§.  189.  [114.]  — II.  Verkehrs  wirtschaftliche  Phasen.  Natural-,  Geld  und 

Creditwirthschaft 441 

§.  190.  [115.]  III.  Papiergeldwirthschaft 442 

Druckfehler 444 


♦ 


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Plan  des  Gesanuntwerks. 


Bisher  sind  von  diesem  Werke  vier  Bände  erschienen,  der 
erste  Theil,  die  „Grundlegung“,  in  2.  Auflage  und  drei  Bände 
Finanzwissenschaft  (der  erste  in  3.,  der  zweite  in  2.  Auflage). 
Mit  dieser  dritten  Auflage  der  „Grundlegung“  tritt  zugleich  eine 
Abänderung  und  eine  Erweiterung  des  Plaues  für  das  gauzc  Werk 
ein  *).  Die  Abänderung  ist  zwar  im  Ganzen  sachlich  nicht  erheb- 
lich, indessen  wie  die  Erweiterung  doch  mit  durch  sachliche,  im 
Uebrigen  überwiegend  durch  äussere  Gründe  veranlasst  worden. 
Diese  Gründe  sind  die  Gewinnung  neuer  Mitarbeiter  in  grösserer 
Zahl,  welche  mir  nach  dem  unerwartet  frühen  Tode  E.  NasscV) 
gelungen  ist,  und  der  Wunsch,  dem  Werke  in  allen  seinen  Thcilcn 
die  durch  den  Stoff  und  die  heutige  Entwicklung  der  Wissenschaft 
gebotene  und  der  bereits  erreichten  Ausdehnung  der  Finauzwissen- 
schaft  entsprechende  ebenfalls  eingehendere  Behandlungsweise  au- 
gedeihen  zu  lassen.  Der  Plan  ist  nach  den  mit  meinen  Herren 
Mitarbeitern  getroffenen  Verabredungen  im  Wesentlichen  festgestellt, 
kann  aber  vielleicht  in  Einzelheiten  noch  kleinere  Abweichungen 
bei  der  Ausarbeitung  seihst  erfahren.  Auch  die  Ilauptgliederung 
des  ganzen  Werks  ist  etwas  abgeändert  worden,  indem,  wohl  der 
Sache  und  insbesondere  der  von  mir  principiell  vertretenen  Auf- 
fassung gemäss,  der  „Grundlegung“  auch  äusserlich  die  Stellung 
eines  solchen  gemeinsamen  Fundaments  für  das  ganze  Werk 
gegeben  worden  ist.  Ueber  die  Anreihuug  einer  eigenen  fünften 

*)  S.  meinen  ersten  Plan  in  der  Vorrede  zur  1.  Auflage  der  Grundlegung 
(1875),  S.  X — XVIII,  und  in  der  Uebersicht  der  2.  Auflage  (1S7U)  S.  5,  sowie  die 
Bemerkungen  in  Betreff  der  Finanzwissenschaft,  3.  Band  (1S80 — 89)  S.  1 in  der  Note 
und  2.  Band,  2.  Auflage  (1890)  S.  1. 

s)  Ueber  ihn,  sein  Ausscheiden  aus  der  Mitarbeiterschaft  und  meinen  Plan, 
andere  Mitarbeiter  zu  gewinnen,  s.  Finanzwissenschaft  2.  Bd.  2.  Auf!.  Vorwort  i>.  XIII. 

A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  I.  Theil.  Grundlagen.  1 


2 


Plan  des  Gesamnitwerk*. 


Abtheilung  literarhistorischen  Inhalts  schweben  noch  die  Verhand- 
lungen. Die  früher  gehegte  Absicht,  einen  immerhin  schon  grösseren 
litterargeschichtlichen  Abriss,  in  der  Weise  anderer  ähnlicher  Werke, 
auch  Rau ’s,  in  einen  späteren  Abschnitt  der  Grundlegung  aufzu- 
nehmen, ist  aus  inneren  sachlichen  und  aus  äusseren  Gründen  auf- 
gegeben worden.  Ein  solcher  blosser  Abriss  würde  nach  der  ge- 
sammten  umfassenden  Anlage,  welche  das  ganze  Werk  nunmehr 
und  schon  in  den  bisherigen  drei  Bänden  der  Finanzwissenschaft 
erhalten  hat,  nicht  mehr  genügen.  Er  gehört  auch  sachlich  nicht 
eigentlich  in  die  Grundlegung,  noch  in  einen  der  anderen  Theile, 
sondern  beansprucht  eine  selbständigere  Stellung.  Die  Bearbeitung 
der  Litteraturgeschichte  in  der  dabei  gebotenen,  ebenfalls  eingehen- 
deren Weise  erfordert  dann  aber  auch  einen  Specialisten  der  Materie, 
den  ich  dafür  zu  gewinnen  hoffe. 

Noch  bemerke  ich,  dass  ich  dem  Werke  statt  des  bis- 
herigen Namens  „Politische  Oekonomie“  lieber  den  mir  passender 
erscheinenden  und  auch  für  die  von  mir  vertretene  Richtung  geeig- 
neteren „Socialökonomie“  gegeben  hätte,  den  ich  im  Buche 
selbst  öfters  anwende.  Ich  bin  bei  dem  alten  Namen  als  dem  ein- 
mal auch  bei  uns  wie  bei  den  übrigen  Culturvölkern  üblichen  ge- 
blieben. 

Das  ganze  Werk  zerfällt  demnach  jetzt  in  fünf  „Haupt- 
abtheil ungen“ , innerhalb  deren  wieder  je  nach  Bedürfniss 
„Theile“  unterschieden  werden.  Diese  „Theile“  bilden  entweder 
je  einen  „Band“  oder  mehrere  Bände.  In  Betreff  der  letzteren 
werden  möglicher  Weise  noch  Abänderungen  eintreten.  Die  folgende 
Uebersicht  ergiebt  das  Nähere: 

I.  Erste  Hauptabtheilung:  Grundlegung  der  Poli- 
tischen Oekonomie.  Bearbeiter  A.  Wagner. 

1.  Theil  (und  Band).  Grundlagen  der  Volkswi^th- 
seliaft. 

2.  Theil  (und  Band).  Volkswirtschaft  und  Recht, 
besonders  Vermögensrecht  oder  Freiheit  und  Eigenthum 
in  volkswirtschaftlicher  Betrachtung. 

II.  Zweite  Hauptabtheilung:  Theoretische  Volkswirt- 
schaftslehre. Bearbeiter  II.  Dietzel. 

III.  Dritte  Hauptabtheilung:  Practische  Volkswirt- 
schaftslehre. 


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Plan  des  Gesammtwerks. 


3 


1.  Theil.  Verkehrswesen  und  Verkehrspolitik1).  Be- 
arbeiter A.  Wagner. 

2.  Theil.  Agrarwesen  und  Agrarpolitik,  in  zwei 
Bänden.  Bearbeiter  A.  Buchenberger. 

3.  Theil  (ein  Band).  Forstwesen  und  Forstpolitik, 
mit  Anhang:  Jagd  und  Fischerei.  Bearbeiter  K.  Bücher  und 
A.  Buchenberger. 

4.  Theil.  Gewerbe-  und  Handelswesen  und  -Politik, 
in  zwei  Bänden.  Bearbeiter  K.  Bücher. 

IV.  Vierte  Hauptabtheilung:  Finan  z Wissenschaft. 

Bearbeiter  A.  Wagner. 

1.  Theil  (und  Band).  Einleitung.  Ordnung  der  F inan z- 
wirthschaft.  Finanzbedarf.  Privater werb.  3.  Auflage.  1883. 

2.  Theil  (und  Band).  Theorie  der  Besteuerung:  Ge- 
btihrenlehre  und  allgemeine  Steuerlehre.  2.  Auflage.  1890. 

3.  Theil  (und  Band).  Specielle  Steuerlehre.  Geschichte, 
Gesetzgebung,  Statistik  der  Besteuerung  einzelner  Län- 
der: Uebersicht  der  Steuergeschichte  wichtigerer  Staaten  und  Zeit- 
alter bis  Ende  des  18.  Jahrhunderts.  Die  Besteuerung  des  19.  Jahr- 
hunderts. Einleitung.  Britische  und  französische  Besteuerung. 
1.  Auflage  1886 — 89  (Gesaramtausgabe  des  Bandes  1889). 

4.  und  eventuell  5.  Theil  (und  Band).  System  der  spe- 
ciellen  Steuerlehre  und  Lehre  von  den  öffentlichen 
Schulden.  (Noch  nicht  erschienen.) 

V.  Fünfte  Hauptabtheilung.  Litteraturgeschichte  der 
Politischen  Oekonomie  (einschliesslich  Socialismus).  Bearbeiter 
noch  unbestimmt. 

In  dieser  dritten  Auflage  der  Grundlegung  sind  gegen  die 
beiden  ersten  auch  einzelne  Aenderungen  der  formellen  Anordnung 
des  Stoffs  vorgenommen  worden  und  Abschnitte  über  die  Moti- 
vation ira  wirtschaftlichen  Handeln,  Uber  Aufgabe,  Methode 
und  System  der  Politischen  Oekonomie,  sowie  Uber  die  Bevöl- 
kerungslehre sind  hinzugekommen.  Die  Begründung  dafür  wird 
im  Buche  selbst  gegeben. 

*)  Maass  und  Gewicht.  Geld-  und  Miinzwescn,  Credit-  und  Bankwesen,  Ver- 
sicherungswesen, Communications-  und  Transportwesen. 


Grundlegung  der  Politischen  Oekonomie. 

Einleitung. 

Erstes  Kapitel. 

Ziel  und  Aufgabe  dieses  Werks,  insbesondere  der 

Grundlegung. 

§.  1.  Die  smith’sche  oder  britische  Oekonomik. 
Eine  neue  „Grundlegung“  der  gesaramten  Politischen  Oekonomie 
wird  in  den  letzten  Jahrzehnten  immer  dringender  als  eine  Noth- 
wendigkeit  empfunden.  Ausserhalb  des  kleiner  und  kleiner  werden- 
den Kreises  der  Anhänger  der  älteren  liberal- individualistischen 
Oekonomik,  der  sogenannten  britischen  (Smith’schen)  Freihandels- 
schule, wird  das  wohl  fast  allgemein  zugestanden. 

Für  fast  ein  Jahrhundert  hat  Adam  Smith  den  Grund  gelegt 
gehabt.  Ein  unvergänglicher  Ruhm,  welcher  ihm  bleibt.  Auch 
dann,  wenn  noch  mehr  als  bisher  die  Uebcrzeugung  sich  verbreiten 
wird,  dass  seine  Originalität  geringer  war,  als  man  lange  ange- 
nommen hat,  selbst  seine  allgemeine  wissenschaftliche  Bedeutung 
und  Fähigkeit  geringer,  als  diejenige  einzelner  seiner  unmittelbaren 
Vorgänger  und  Zeitgenossen,  auf  deren  Schultern  vielmehr  doch 
auch  er  stand.  Denn  das  bat  entgegen  früheren  Annahmen,  die 
neuere  sorgfältigere  litterarhistorische  Forschung,  durch  Männer 
wie  W.  Roscher,  W.  Hasbach1)  u.  A.  m.  auch  bei  uns  vertreten, 
unzweifelhaft  nachgewiesen.  Wahr  bleibt  von  A.  Smith  gleichwohl 


J)  S.  Roscher,  Zur  Geschichte  der  englischen  Volkswirthschaftslebre,  Leipzig 
1850,  1851.  Derselbe,  Geschichte  der  Nationalökonomik  in  Deutschland,  München 
1874,  vielfach  passim,  besonders  §.  135,  S.  593  tf.  — W.  Hasbach,  Die  allge- 
meinen philosophischen  Grundlagen  der  von  Quesnay  und  Smith  begründeten  Poli- 
tischen Oekonomie,  Leipzig  1890.  Derselbe,  Untersuchungen  über  A.  Smith  und 
die  Entwicklung  der  Politischen  Oekonomie,  Leipzig  1891. 


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6 


Einleitung.  1.  K.  Ziel  und  Aufgabe.  §.  1. 


das  schöne  und  gerechte  Wort  Roschers  *),  dass  Smith’s  Ruhm  nicht 
verkleinert  wird  durch  solche  Nachweise;  dass  A.  Smith  nach  wie 
vor  als  der  Koryphäe  der  Politischen  Oekonomie  bezeichnet  werden 
kann,  auf  welchen  „alles  Frühere  als  Vorbereitung  auf  ihn,  alles 
Spätere  als  Fortsetzung  von  ihm  und  Gegensatz  zu  ihm  erscheint“: 
Zielpnnct  und  Ausgangspunct  zugleich.  Ein  grösserer  Ruhm  kann 
keinem  Sterblichen  in  der  Geschichte  der  Wissenschaften  zu  Theil 
werden. 

Und  wären  wirklich  ein  Hume,  sogar  ein  Stuart2),  ein  Turgot,  ein  Qucsnay, 
in  einer  Beziehung  selbst  ein  Justi3),  wie  bald  dieser,  bald  jener  neuere  litterar- 
liistorische  Forscher  oder  Kritiker  A.  Smith’s  gelegentlich  behaupten,  nicht  nur  grossere 
Geister,  tiefere  Denker,  ein  Hume  und  manche  andere  bedeutendere  Philosophen,  sondern 
die  genannten  — um  nur  diese  zu  nennen  — gerade  auch  „grössere  National- 
ökonomen“. als  A.  Smith  gewesen!  Die  eine  Thatsache  ist  doch  unumstösslich,  dass 
A.  Smith  durch  sein  Werk  einen  unendlich  viel  grösseren  Erfolg  für  Theorie  und 
Praxis  des  Wirtschaftslebens  erzielt  hat,  als  irgend  einer  dieser  seiner  „Rivalen“  und 
irgend  ein  anderer,  welcher  ausser  diesen  noch,  und  mitunter  mit  kaum  geringerem 
Rechte  als  einer  von  diesen,  genannt  werden  könnte. 

Die  „Theorie  des  ökonomischen  Liberalismus  und 
Individualismus“  — wie  man  sie  wohl  mit  einem  geeigneten 
wissenschaftlichen  Ausdruck  am  Besten  nennen  wird  — oder,  nach 
ihrem  leitenden  Rechtsprincip  bezeichnet,  die  „Theorie  des 
Systems  der  freien  wirthschaftlichen  Concurrenz“  — 
auf  der  Grundlage  der  Rechtsprincipien  der  persönlichen  Freiheit, 
des  Privateigenthums  und  privaten  Erbrechts  an  den  sachlichen 
Productionsmitteln,  Boden  und  Kapital,  und  der  Vertragsfreiheit,  — 
diese  Theorie  führt  daher  doch  mit  Fug  und  Recht  den  Namen 
der  „8m  ith’ sehen“  und  nach  der  Volksangehörigkeit  des  Meisters 
denjenigen  der  neueren  „britischen“  Oekonomik. 

Auch  eine  andere  Thatsache,  an  deren  Richtigkeit  neueren 
Litterarhistorikern  des  Fachs  gegenüber  festzuhalten  sein  möchte, 
vermindert  den  Ruhm  und  die  Bedeutung  von  A.  Smith  nicht,  wenn 
sie  ihm,  seinem  Werke  und  seiner  Schule  auch  eine  andere,  rich- 
tigere und  in  einer  Hinsicht  allerdings  eine  etwas  herabgeminderte 
Stellung  einräumt:  die  Thatsache,  dass  das  smitb’sehe  „System“ 
und  die  sich  ihm  anschliessende  ganze  britische  Oekonomik  doch 
kein  eigentlich  „ neues  Sy  st  em“  im  Sinne  eines  neuen,  ganz 
eigenthümlich  ausgebildeten  Gedankenkreises,  sondern  nur  eine 
Phase  eines  solchen  Systems,  und  nicht  einmal  die  erste,  sondern 
die  zweite  Phase  desselben  ist. 


*)  Roscher,  Geschichte  a.  a.  0.  S.  594. 
-)  H asb  ach,  Smith,  S.  229. 

8)  Ebcnd.  S.  225. 


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Die  smith’sche  oder  britische  Oekonomik. 


i 

Der  zeitliche  Vorrang  vor  den  Briten  gebührt  den  französischen 
Physiokraten,  welche  doch  zuerst  mit  tieferem  wissenschaft- 
lichen Verständniss  in  der  Volkswirtschaft  einen  auf  dem  mensch- 
lichen natürlichen  Triebleben  beruhenden,  daraus  hervorgegangenen, 
dadurch  fungirenden  natürlichen  Organismus  erkannt  haben.  Ihre 
philosophischen  und  ihre  ökonomischen  Grundanschauungen  sind 
im  Wesentlichen  doch  auch  diejenigen  der  smith’schen  Lehre  und 
der  britischen  Oekonomik.  Ihre  ökonomische  Doctriu  ist  wie  die 
letztere  eine  Philosophie  des  Individualismus  und  des  Liberalismus 
auf  ökonomischem  Gebiete.  Deswegen  wird  die  ganze  Lehre  am 
Richtigsten  als  „physi okratisch -smith’ sehe  oder  „physio- 
kratisch  - britische“  Oekonomik  zusammengefasst  werden  *). 

Sie  ist  in  einer  anderen  Hinsicht  ein  Seitenstück  jener  individualistisch-liberalen 
Rechts-  und  Staatsphilosophie  und  der  theoretischen  Politik,  welche  sich  seit  der 
Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  aus  dem  älteren  Naturrecht  heraus,  wenn  auch  zum 
Theil  sich  von  ihm  emaucipirond,  entwickelt  und  bis  gegen  die  Mitte  unseres  Jahr- 
hunderts geherrscht  hat. 

A.  Smith  und  seine  Schule,  darunter  vor  Allem  der  be- 
deutendste der  Nachfolger,  der  viel  verkannte,  auch  von  der 
jüngeren  deutschen  historischen  Schule  meist  gar  nicht  ver- 
standene D.  Ricardo,  haben  gerade  an  den  einzelnen  ökono- 
mischen Lehren  der  Physiokraten  viele  nothwendige  und  wichtige 
Berichtigungen  vorgenomraen.  Darin  liegt  eines  der  besonderen 
wissenschaftlichen  Verdienste  auch  von  A.  Smith  selbst.  Die  smith’- 
sche  und  die  weitere  britische  Oekonomik  ist  deshalb  als  eine 
neue  und  höhere  Entwicklungsphase  des  ökonomischen  Indivi- 
dualismus und  Liberalismus  anzuerkennen,  aber  doch  eben  als  eine 
Phase  dieser  Doctrin,  zu  welcher  sie  selbst  noch  voll  und  ganz 
gehört. 

Denn  die  allgemeinen,  gegenwärtig  in  ihrer  Unzulänglichkeit  erkannten  philo- 
sophischen, die  psychologischen  Grundanschauungen ; die  auf  ihnen  aufgebaute  Lehre 
von  den  volkswirtschaftlichen  Naturgesetzen:  die  ungeschichtliche  Betrachtung  des 
Wirtschaftslebens  und  des  Staats  und  seiner  Zwecke  sowie  seiner  Stellung  zur  Volks- 
wirtschaft; die  einseitige  Verurteilung  der  geschichtlich  überkommenen,  vielfach 
noch  bestehenden  Beschränkungen  der  wirtschaftlichen  Freiheit;  die  Auffassung  von 
..Freiheit  und  (Privat-)  Eigenthum“,  von  Vertragsfreiheit,  der  Consecjuenz  beider,  als 
natürlich-ökonomischer  statt  als  historisch- rechtlicher  und  veränderlicher  Katcgorieen; 
die  Folgerungen  für  die  „natürliche“  Notwendigkeit,  Richtigkeit  und  im  Individual- 
wie  im  Gesammtinteresse,  segensreich  und  gerecht,  ja  allein  gerecht  fungirende  Wirk- 
samkeit der  ..wirtschaftlichen  Freiheit“,  der  „freien  wirtschaftlichen  Concurrenz“, 
und  die  weiteren  besonderen  Folgerungen  hieraus  für  alle  einzelnen  Gebiete  des 
Wirtschaftslebens  und  seiner  Rechtsordnung,  der  ausserordentliche  Optimismus  in 


*)  Ingram,  Geschichte  der  Volkswirtschaftslehre  (deutsch  von  Roschlau, 
Tübingen  1890),  fasst  die  Doctrin,  mit  einigen  weiteren  Vorläufern,  ganz  gut  unter 
dem  Namen  „System  der  natürlichen  Freiheit“  zusammen , seine  „dritte  neuzeitliche 
Phase“. 


8 


Einleitung.  1.  K.  Ziel  und  Aufgabe.  §.  1,  2. 


Bezug  auf  die  zu  erwartenden  Wirkungen  der  wirtbschafllichen  Freiheit:  dies  alles 
ist  doch  in  der  Hauptsache  der  Doctrin  der  Physiokraten,  der  französischen  „Oekono- 
misten“,  den  Forschern  nach  „unwandelbaren  physisch -moralischen  Naturgesetzen, 
welche  allem  socialen  Leben  zu  Grunde  liegen,“  *)  und  der  smithisch-britischen  Doctrin 
gemeinsam.  Jene  angeführten  Puncte  sind  aber  durchaus  das  Wesentliche,  nicht 
die  Speciallehren,  in  denen  beide  Lichtungen  auseinander  gehen,  wie  in  Betreff  der 
Productivitat  der  verschiedenen  Berufe  und  Arbeiten,  des  Boden-Reinertrags  (produit 
net),  der  Grundrente,  der  „einzigen  Steuer“  vom  Bodenertrag  bei  den  Physiokraten. 
Nach  jenem  Gemeinsamen  und  Wesentlichen  erscheint  die  Doctrin  als  eine  in  diesen 
entscheidenden  Puncten  einheitliche. 

Nach  ihrem  wichtigsten  Princip  für  die  wirthschaftliche  Rechts- 
ordnung, zugleich  nach  demjenigen,  welches  die  für  die  Praxis 
gewonnene  Bedeutung  der  Doctrin  am  Richtigsten  kennzeichnet, 
kann  man  die  Lehre  auch  kurzweg  diejenige  des  Systems  der 
freien  Concurrenz  neunen.  Diesen  Namen  wird  die  der  Lehre 
entsprechende  weltgeschichtliche  Epoche  im  Leben  entwickelter 
Völker,  wie  unsere  heutigen  „modernen“,  vielleicht  in  der  Zukunft 
allgemein  führen. 

Der  geschilderte  Sachverhalt  thut  der  Bedeutung  der  britischen  Öekonomik  und 
ihres  ersten  Meisters  auch  deswegen  wenig  oder  gar  nicht  Eintrag,  weil  die  Theorie 
des  ökonomischen  Liberalismus  und  Individualismus  grade  vorncmlich  in  dem  Gewände 
und  der  Form,  welche  sie  bei  und  durch  A.  Smith  und  seine  Schule  erhalten  haben, 
in  der  Wissenschaft  der  Culturvölker  einige  Menschenalter  lang  geherrscht  und  in  der 
Praxis  ihre  Verbreitung  und  Anerkennung  erlangt  hat.  Der  Physiokratismus  hat 
freilich  im  französischen  Revolutionszeitalter  direct  und  indirect  vielleicht  einen  noch 
grösseren  Einfluss  in  Frankreich  ausgeübt,  so  z.  B.  in  den  Finanzfragen.2)  Aber  nicht 
er,  sondern  der  Smithianismus  hat  der  Theorie  und  Praxis  der  Cultunvelt  sein 
Gepräge  aufgedrückt 

Freilich  bleibt  ja  wahr,  dass  die  besprochene  Doct rin  selbst  wieder  eine  reife 
Frucht  der  vorausgehenden  wissenschaftlichen  Arbeit  in  Philosophie  und  Wirthschafts- 
lehre  war,  auch  beeinflusst  worden  ist  durch  die  ganze  geistige  Atmosphäre  der  Zeit, 
in  welcher  sie  ausgebildet  und  formulirt  wurde.  Auch  ohne  Adam  Smith  würde  es 
eine  Theorie  des  „ökonomischen  Individualismus  und  Liberalismus“  und  auch  gerade 
eine  britische  bezügliche  Theorie  gegeben  haben.  Aber  so  verhält  es  sich  im 
(iebiete  der  Geistes-  und  im  Grunde  aller  Wissenschaften,  zumal  im  Gebiete  der  socialen 
und  politischen  Wissenschaften  nothwendig  stets.  Das  vermindert  Bedeutuug  und 
Werth  der  individuellen  Leistung  im  grossen  geschichtlichen  Zusammenhänge  der  Ideen- 
entwicklung betrachtet,  „vor  Gott“,  gewiss,  aber  nicht  vom  Standpunct  einer  einzelnen 
Periode  und  der  Individuen  aus,  „nicht  vor  den  Menschen.“  Schliesslich  sind  es 
eben  doch  einzelne  Individuen,  in  welchen  sich,  wie  in  einem  Brennpunct.  alles 
das  vereinigt  und  von  welchen  alles  das  zum  klaren  wissenschaftlichen  Ausdruck  gebracht 
wird,  was  in  unzähligen  Anderen  an  Gedanken  lebt  und  gährt,  aber  zu  keiner  an- 
gemessenen Form  gelangt.  Dieser  Brennpunct  war  wieder  A.  Smith  und  diese 
angemessene  Form,  in  der  sie  allein  weiter  wirken  konnte  und  wirkte,  hat  er  der  neuen 
ökonomischen  Doctrin  gegeben.  Das  ist  wiederum  der  Ruhm  und  das  unvergängliche 
Verdienst,  welche  ihm  gebühren  und  welche  kein  objectiver  Kritiker  ihm  rauben  wird3). 

*)  Quesnay,  Mirabeau  (pere),  Dupont  de  Nemours  (physiocratic  176S)  u.  A.  in. 
S.  auch  Roscher,  Geschichte  der  Nationalökonomik  in  Deutschland  §.  109,  Ingram, 
a.  a.  0.  S.  SO  !f„  90. 

2)  Meine  Finanzwissenschaft  III,  378. 

8)  In  den  beiden  vortrefflichen  neueren  Schriften  Hasbach’s.  denen  ich  viel 
verdanke  und  in  Vielem  ganz  beistimme,  wird  m.  E.  dies  Verdienst  von  Smith  nicht 
genügend  hervorgehoben.  Hasbach  hat  mich  durch  seine  Erörterungen  in  meiner 
lange  bestehenden  Ansicht  über  A.  Smith  nicht  erschüttert,  sondern  bestärkt. 


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Die  Krisis  der  brit.  Oekonomik  und  der  Socialismus. 


9 

Noch  mehr  and  noch  unbedingter  ist  ja  vollends  für  die  Praxis  ein  ähnliches 
Zagesiäädaiss  hinsichtlich  des  Smith  sehen  Werks  zo  machen.  Hin  wissenschaftliches 
Wert,  auch  wenn  es.  wie  ein  narionaiOkonomisches  von  der  Art  des  wealth  of  nations. 
sich  unmittelbar  mit  Fragen  der  Praxis  der  Zeit  beschäftiget,  kann  und  wird  immer 
asr  soweit  auf  deren  Behandlung:  Einfluss  gewinnen,  als  es  eben  Forderungen  stellt, 
welche  -im  Geist  der  Zeit**  liegen  und  ohnehin  schon  durch  die  Entwicklung  der 
f-rae tischen  Dinge  zur  Erfüllung  reif  sind  oder  demnächst  reif  werden.  Ein  derartiges 
Wert  wml  niemals  mehr  bewirken  können,  als  etwa  das  Tempo  der  Entwicklungen 
ia  der  öffentlichen  Meinung  und  im  practischen  Leben,  daher  auch  in  der  Gesetz- 
gebung zu  beschleunigen,  indem  es  noch  unklareu  und  erst  sich  herausringe mieu 
Gedanken  und  Bestrebungen  den  klaren  Ausdruck  und  das  deutliche  Ziel  giebt.  Eine 
grössere  Bedeutung  kann  auch  A.  Smith  nicht  beanspruchen.  Auch  ohne  ihn  würde 
sicherlich,  bedingt  und  begünstigt  durch  die  Entwicklung  der  ökonomischen  und 
technischen  Gesammtverhältnissc  der  modernen  rulturvölker,  der  ökonomische  In- 
dividualismus und  Liberalismus  seinen  Siegeslauf  durch  die  Welt  gemacht  haben. 
Aber  wiederum:  mindert  nur  oder  nimmt  gar  dies  A.  Smith  seinen  Kuhrn.  sein  Ver- 
dienst, seine  Bedeutung?  Sicherlich  nicht  im  Geringsten.  Im  Gegentheil : es  zeigt  nur, 
welcher  im  höchsten  Sinne  realistische  Oekonomist  er  war.  der  die  Signatur  einer 
neuen  geschichtlichen  Entwicklungsperiode  so  scharf*  und  so  richtig  erkannte,  um  förm- 
lich ein  Programm  dafür  aufstellei}  zu  können,  das  im  allem  Wesentlichen  verwirklicht 
worden  ist.  nicht  nur  in  Smith 's  Vaterlande,  sondern  iu  dem  grössten  Theil  der  Cultur- 
weh  europäischer  Civilisation. 

§.2.  Die  Krisis  der  britischen  Oekonomik  und  der 
Social  i sm  us.  Allein  auch  der  Smithianismus , auch  der  allge- 
meine ökonomische  Individualismus  und  Liberalismus  bat  iu  Wissen- 
schaft und  Leben,  in  Theorie  und  Praxis  seine  Zeit  gehabt. 

Seine  tieferen  philosophischen  und  psychologischen  Grundlagen  sind  erschüttert 
Seine  rationalistische,  mechanische  und  ungeschichtliche  Auffassung  des  Gesellschafts- 
und Wirtschaftslebens  weicht  immer  mehr  einer  historischen  und  organischen.  Seine 
eoge,  einseitige  und  selbst  kleinliche  Lehre  vom  Staate  und  vom  wesentlich  alleinigen 
Rechtszweck  desselben  macht  wieder  einer  anderen  Platz,  welche  sich  mehr  der  früheren 
eudämonistischen  oder  Wohlfahrtsstaatstheorie  nähert,  ohne  in  deren  Fehler,  deren 
nüchternen  platten  Utilitarismus,  deren  schrankenlose  Willkuhr  gegenüber  der  berechtigten 
Freiheitssphäre  des  Individuums  zu  verfallen.  Seine  Voranstellung  des  Individuums, 
seine  Neigung,  dessen  „Wesen“  — oder  das,  was  dafür  gilt  — dessen  natürliche 
Triebe.  Wünsche,  Bestrebungen  zum  Ausgangs-  und  Ziolptinct  alles  Gemeinschafts- 
lebens zu  machen,  — an  sich  folgerichtig  im  Sinne  der  Idee  des  „Individualismus“  — 
wird  verdrängt  durch  die  entgegengesetzte  Idee:  die  Gemeinschaft  und  deren 
Lebensbedingungen,  welche  zugleich  doch  auch  solche  des  Individuums  als  Glieds  der 
Gemeinschaft  sind,  werden  bewusst  vorangestellt  , ans  ihnen  heraus  werden  die  noth- 
wendigen  Grenzen  auch  für  die  Freiheitssphäre  des  Individuums  und  seines  EigcnÜiums, 
daher  auch  für  die  wirtschaftliche  Freiheit  abgeleitet. 

So  tritt  die  gesellschaftliche,  die  „ social  is tische“  an 
Stelle  der  individualistischen  Betrachtung  des  Wirtschaftslebens 
und  Behandlung  der  Wirthschaftsprohleme.  „Socialismus“  und 
„Communismus“  nehmen  die  Stelle  von  „Individualismus“  und 
„Liberalismus“  ein.  Im  radicalen  wissenschaftlichen  und  practisch- 
agitatorischen  Socialismus  geschieht  dies  nur  leider  bereits  wieder 
mit  jener  Neigung  zum  Hintibergehen  ins  andere  Extrem,  wie  sic 
psychologisch  begreiflich,  und  in  Theorie  und  Praxis  so  oft  walir- 
zunehmen  ist.  Allein  diese  Uebertreibuugcn  rechtfertigen  es  nicht, 
das  Richtige  und  Berechtigte  im  ökonomischen  Socialismus  gegen- 


10 


Einleitung.  1.  K.  Ziel  und  Aufgabe.  §.  2. 


über  dem  Individualismus  zu  verkennen,  sobald,  wie  es  freilich 
nothwendig,  aber  auch  möglich  ist,  in  der  neuen  Richtung  Maass 
gehalten  wird. 

Der  britischen  Oekonomik  gegenüber  ist  weiter  festzustellen,  dass  der  ausserordent- 
liche Optimismus  ihrer  Lehre  und  Politik  auf  allen  Gebieten  des  wirtschaftlichen 
Lebens  immer  weniger  mehr  Stich  hält.  Stets  und  überall  glaubte  sie  wesentlich  nur  Gutes 
für  den  Einzelnen  und  die  Gesaminthcit  von  der  ..wirtschaftlichen  Freiheit“  erwarten 
zu  dürfen;  lehrte  sie,  dass  alle  berechtigten  wirtschaftlichen  Interessen,  welche  die 
Menschen  verfolgten,  in  „natürlicher  Harmonie“  stünden,  ein  Satz,  den  Basti at  am 
Einseitigsten,  wenn  auch  am  Glänzendsten , aber  keineswegs  zuerst  und  allein  vertreten 
hat.  Auch  A.  Smith  neigt  schon  dazu.  Handgreifliche  Erfahrungen  zeigen,  wie 
beschränkt  sich  diese  günstigen  Erwartungen  nur  erfüllt  haben  und  wie  viele  und 
schwere  unerwartete  ungünstige  Folgen  eingetreten  sind.  Immer  mehr  bestätigte  sich 
ein  Wort  Lange ’s,  dass  die  angegriffenen  Beschränkungen  der  wirtschaftlichen 
Freiheit  in  den  älteren  Rechtsordnungen  auch  heilsame  Schranken  der  Kapitalmacht 
waren,  die  uns  in  der  heutigen  Ordnung  nur  zu  sehr  fehlen.  Immer  mehr  erwies 
sich  die  theoretische  Lehre  von  der  „natürlichen  Interessenharmonie“  beim  Verfolgen 
des  wirtschaftlichen  Individualvortheils  als  ein  Sophisma  der  Dialectik.  Statt  jenes 
Optimismus  verbreitet  sich  immer  mehr  ein  Pessimismus,  welcher  gewiss  oft  über- 
trieben ist,  die  guten  Seiten  der  freien  Concurrcnz  zu  gering,  die  üblen  zu  hoch 
anschlägt,  aber  doch  auch  in  vielen  Einzelheiten  und  namentlich  hinsichtlich  der 
Grundwirkung  der  wirtschaftlichen  Freiheit  nicht  unberechtigt  ist. 

Viel  bedenklicher  und  unberechtigter  erscheint,  dass  sich  an 
diesen  Pessimismus  gegenüber  dem  nunmehr  Bestehenden  bereits 
wieder  ein  neuer  Optimismus  gegenüber  dem  neu  Werdenden  und 
zu  Erstrebenden  anknüpft.  Hier  wird  alles  Heil  von  einer  völligen 
principiellen  Veränderung  der  wirthscbaftlichen  Rechtsbasis,  ein 
„Himmel  auf  Erden“  erwartet,  wenn  die  wirthschaftsrecbtlicben 
und  wirthschaftsorganisatorischen  Forderungen  des  Socialismus  er- 
füllt werden:  der  Optimismus  des  radicalen  Socialismus. 

Diese  Doctrin  glaubt  mit  den  neuesten  und  vermeintlich  durchaus  sicheren  natur- 
und  geschichtswissenschaftlichen  Forschungsergebnissen  der  „Evolutionstheorie“,  der 
„Prähistorie“  und  der  „Primitiv-Historic“  die  bisherigen  Entwicklungen  des  Wirt- 
schaftslebens allein  richtig  erklären  zu  können.  Sie  will  sie  sogar  auf  die  einfachen 
Formeln  ihrer  „materialistischen“  Geschichtsauffassung  zurückführen  und  meint  danach, 
wie  die  „einzig  richtige“  Diagnose  der  wirthscbaftlichen  Zustände  und  Leiden,  so  auch 
die  „allein  richtige“  Prognose  zu  stellen.  Die  Entwicklung  müsse  und  werde  mit 
naturgesetzlicher  Notwendigkeit  zu  einer  ganz  anderen  wirthschaftsrechtlichcn  und 
wirthschaftsorganisatorischen  Gestaltung  der  Dinge  hinüberführen:  von  der  dein  öko- 
nomischen Individualismus  und  Liberalismus  allein  vorschwebenden  „privatwirthschaft- 
lichcti“  Organisation  der  Volkswirtschaft,  — d.  h.  der  auf  der  Basis  der  wirtschaft- 
lichen Freiheit  des  Individuums  und  des  vollen  und  ausgedehnten  Privateigenthums 
desselben,  wie  an  allen  Sachgütern,  so  auch  an  allen  beweglichen  wie  unbeweg- 
lichen. sachlichen  Productionsmitteln  stehenden  Organisation  — zu  einer  völlig 
„gemeinwirthschaftlichen“,  völlig  , socialistisch-communistischen“,  auf  der  Basis  des 
ausschliesslich  gesellschaftlichen  Gemeineigentums  an  den  sachlichen  Productions- 
mitteln. Eine  Doctrin,  welche  psychologisch  noch  viel  eigentümlicher  als  national- 
ökonomisch ist,  rnit  wahrem  Glaubensfanatismus  ihre  Adepten  erfasst  und  aus  un- 
sicheren oder  halbwahren,  aber  für  „wissenschaftlich  unumstösslich“  geltenden  Sätzen 
neue  Dogmen  schmiedet.  Das  wichtigste  davon  ist,  dass  „der  Mensch“  in  psychischer, 
sittlicher  wie  physischer  Hinsicht  ausschliesslich  das  Product  ererbter  Eigenschaften 
und  der  äusseren,  d.  h.  in  letzter  Linie  stets  der  wirthscbaftlichen  Umstände  und  Ein- 
flüsse sei.  Daher  werde  er  denn  auch  mit  Umänderung  dieser  letzteren  wie  physisch, 
so  psychisch  und  sittlich  ein  „anderer“,  nicht  nur  graduell  ein  besserer,  sondern 


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Die  Krisis  der  brit.  Ockonomik  uud  der  SocialUmu». 


11 


förmlich  ein  „wesensanderer“,  mit  anderen  Trieben,  Motiven,  Wünschen,  Be- 
strebungen. Ein  neues  Evangelium  des  — Supermaterialismus,  mit  dem  sich  in  selt- 
samster und  doch  wieder  bei  gegebenen  Vordersätzen  psychologisch  begreiflicher 
Mischung  hier  eine  hypcrideologischc  Anschauung  verbindet;  ein  mixtum  compositum 
von  höchsten  modernen  vermeintlich  sicheren  Wissenschaftsergebnissen  mit  blödestem 
Dogmatismus,  wohin  man  mit  dem  Socialismus  „auf  dem  Wege  von  der  Utopie  zur 
Wissenschaft“  gelangt  ist.  Geschichtsphilosophisch,  völkerpsychologisch  und  social- 
ethisch aber  betrachtet  doch  eine  wundersame  Umkehr  vom  extremsten  Indivi- 
dualismus und  Liberalismus  im  Wirtschaftsleben , wo  der  organisirten  Gesellschaft 
nichts  mehr  zu  thun  übrig,  dem  Staate  schier  kein  Platz  mehr  zu  bleiben  schien,  zum 
extremsten  Gegenteil,  wo  Alles  von  der  organisirten  Gesellschaft,  vom  Staate  — der 
sich  freilich  durch  die  socialistisch  organisirte  Gesellschafts-  und  Wirtschaftsordnung 
selbst  wieder  überflüssig  machen  soll!  — gerade  auf  ökonomischem  Gebiete  erwartet 
wird.  Und  doch  wieder  entgegengesetzte  Ansichten  des  ökonomischen  Individualismus 
uud  Socialismus,  welche  im  Kern  nahe  verwandt  sind:  die  höchste  Schätzung,  ja 
üeberschätzung  des  „irdischen  Gutes“,  das  grenzenlose  Streben  nach  Verbesserung 
des  materiellen  Lebens  der  Individuen,  woraus  dann  schon  die  culturelle  und  sittliche 
Hebung  ..von  selbst“  folge,  ist  beiden  gemeinsam:  in  den  Mitteln  und  Wegen  zum 
Ziel,  nicht  im  Ziele  selbst  gehen  sie  auseinander.  Darin  liegt  die  Wahrheit  des  Satzes, 
dass  der  Socialismus  aus  derselben  Würze»,  wie  der  Individualismus  stamme,  ja  folge- 
richtig aus  letzterem  herausgewachsen  sei. 

Indessen  stehe  man  zu  diesen  Fragen,  wie  inan  wolle,  und 
weise  man  auch  die  Ansprüche  des  Socialismus  hinsichtlich  seiner 
tieferen  entwicklungsgeschichtlich  begründeten  Grundauffassungen 
des  gesellschaftlichen  und  wirtschaftlichen  Lebens  und  seine  prac- 
tiseben  Forderungen  ab  als  zu  weitgehend  und  unvereinbar  mit 
der  menschlichen  Natur,  wie  sie  einmal  wrar,  ist  und  bleiben  wird 
auch  bei  noch  so  grossen  Veränderungen  der  äusseren,  der  wirth- 
schaftsrechtlichen  und  wirthsehaftsorganisatorischen  Verhältnisse,  — 
wenigstens  in  den  Zeiträumen,  von  immerhin  vielen  Jahrtausenden, 
mit  welchen  jede  menschheitsgeschichtliche  Betrachtung 
allein  zu  rechnen  hat;  und  die  Zeiträume  geologischer  Perioden, 
darwinistischer  Entwicklungsperioden  stehen  hierfür  ausser  Frage  — . 
Das  muss  doch  immerhin  zugegeben  werden , dass  gerade  die 
wesentlich  den  Grundsätzen  des  ökonomischen  Individualismus  mit 
zu  verdankende,  wTenn  auch  freilich  noch  stärker  durch  die  Ent- 
wicklung der  Technik  bedingt  gewesene  Gestaltung  des  practischen 
Wirtbschaftslebens  in  den  letzten  Menschenaltern  zur  Entwicklung 
des  ökonomischen  8ocialismus  und  hierdurch  zur  Kritik  der  libe- 
ralen Oekonomik  als  Wissenschaft  geführt  hat.  Die  socialistische 
Doctrin  ist  für  diese  Krisis  mehr  als  irgend  ein  anderer  wissen- 
schaftlicher Factor  von  Einfluss  gewiesen.  Mehr  insbesondere  als 
die  neuere  organische  und  historische  Staats-  und  Wirthschaftslehre, 
welche  freilich  ebenfalls  zu  dieser  Krisis  beigetragen  haben,  mehr 
vollends  als  der  neueste  deutsche  natioualökonomische  Historismus, 
der  das  wrobl  gelegentlich  für  sich,  seine  „neue“  „historisch-psycho- 
logisch-inductive“  Methode  in  Anspruch  genommen  hat. 


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12 


Einleitung-.  1.  K.  Ziel  und  Aufgabe.  §.  2,  3. 


Der  wichtigste  Gesichtspunct  der  „historischen  Nationalökonomie“ , welcher  von 
den  älteren  deutschen  Meistern  dieser  Richtung , W.  Roscher,  K.  Knies  immer  so 
scharf  hervorgehoben  war,  ist  derjenige  der  „Relativität”,  der  Vermeidung  des 
„Absolutismus  der  Lösungen“  in  practischen.  wirthschaftspolitischen  Fragen. 
Die  diesem  Gesichtspuncte  zu  (irunde  liegende  Auffassung  enthält  nun  allerdings  den 
wahren  Kern  der  „Evolutionstheorie“  in  der  Anwendung  der  letzteren  auch  auf  das 
menschliche  gesellschaftliche,  wirtschaftliche  Lebeu , und  die  Unterscheidung  von 
„absoluten“,  „rein  ökonomischen“  und  „historischen“,  „historisch -rechtlichen“  Kate- 
gorieen  in  den  Organisations-  und  Rechtsverhältnissen  der  Volkswirtschaft  weun  uicht 
deutlich  ausgesprochen,  so  doch  implicite  in  sich.  Allein  einmal  hat  der  Socialismus 
mindestens  gleichzeitig,  zum  Theil  früher  und  jedenfalls  unabhängig  von  der  neueren 
deutschen  „historisch- ökonomischen“  Schule  ähnliche  Gesichtspuncte  und  Lehren  ver- 
treten (St.  Simon,  vor  Allein  Rodbertus,  Marx,  Engels).  Sodann  hat  er  mit  grösserer 
dialectischer  Schärfe  und  logischer  Consequenz  in  den  theoretischen  und  mit  schär- 
ferer Analyse  in  den  practischen  Problemen  die  Notwendigkeit  nachgewiesen , dass 
der  ökonomische  Individualismus  so  wirken  musste,  wie  er  gewirkt  hat.  Endlich  hat 
er,  was  das  Wichtigste  ist,  viel  bedeutenderes  positives  Vermögen  gezeigt,  als  bisher 
wenigstens  die  deutsche  oder  sonstige  „historische“  Nationalökonomie,  aus  der  ihm 
mit  dieser  gemeinsam  eigenen  geschichtlichen  Betrachtung  die  principiellen  Ergebnisse 
der  Entwicklungen  heraus  zu  arbeiten,  den  causalen  und  conditionellen  Zusammenhang 
der  Erscheinungen  zu  entwirren,  das  Wichtige  und  Maassgebende  vom  Nebensächlichen 
und  Unbedeutenden,  das  Grosse  vom  Kleinkram  zu  unterscheiden. 

§.  3.  Die  kritischen  Leistungen  des  Socialismus 
und  seine  positiven  Mängel.  Die  besondere  Leistung  des 
wissenschaftlichen  Socialismus  ist  der  Nachweis  des  beherrschenden 
Einflusses  der  Privateigenthumsordnung,  speciell  des  Privat- 
eigenthums „an  den  sachlichen  Productionsmittcln“  (Boden,  Kapital) 
auf  die  Gestaltung  der  Production  und  der  Vertheilung  des  Pro- 
ductionsertrags , zumal  bei  Wegfall  aller  Beschränkungen  der  Ver- 
fügungsbefugnisse  des  Privateigenthtimers  im  System  der  freien 
Concurrenz.  Dieser  Nachweis  ist  eine  kritische  Leistung  ersten 
Hanges,  deren  Werth  weder  durch  die  Uebertreibungen  des  Socia- 
lismus, noch  durch  die  ungenügende  Begründung  der  positiven 
Gegenforderung  eines  allgemeinen  Ersatzes  jenes  Privateigen- 
thums durch  ein  „gesellschaftliches  Gemeineigenthum“  an  den 
sachlichen  Productionsmitteln  aufgehoben  wird. 

Durch  diese  seine  Leistung,  nicht  durch  seine  einseitige  Werthlehre  hat  der 
Socialismus  gerade  auch  für  die  Theorie  des  ökonomischen  Individualismus  und 
Liberalismus  zumeist  die  Krisis  herbeigeführt.  Denn  diese  Theorie  hatte  die  ge- 
schichtlich überkommene,  zu  Recht  bei  uns  bestehende  Privateigentbumsordnung  theils 
gar  nicht  hinsichtlich  ihres  wirtschaftlichen  Einflusses  auf  Production  und 
namentlich  auf  Vertheilung  des  (arbeitstheilig  gewonnenen)  Productionserfrags  unter- 
sucht, sondern  als  etwas  Selbstverständliches,  im  Wesentlichen  Unabänderliches,  noch 
dazu  mitsammt  der  mit  ihr  verbundenen  Privatrechtsordnung  ihrer  einzelnen  Normen, 
des  Vertragsrechts  u.  s.  w.  hingenommen;  theils  batte  jene  Theorie,  wo  sie  sieb  mit 
dem  Privateigenthnmsprincip  beschäftigte,  dasselbe  mit  vielfach  sehr  einseitigen  wirt- 
schaftlichen Erwägungen  unterstützt,  um  es  für  Volks-  wie  für  Privatwirtschaft  gleich 
uothwendig  und  heilsam  erscheinen  zu  lassen.  Keine  der  modernen  kritischen  Richtungen 
gegenüber  der  britischen  Oekonomik,  auch  nicht  die  deutsche  „historische“  National- 
ökonomie älterer  wie  neuerer  Phase,  hat  an  diesen  eineu  Kempunct  des  gesummten 
nationalökonomischen  Problems,  an  die  Eigenthumsordnung,  ihre  Kritik  so  erfolgreich 
wie  der  Socialismus  eingesetzt.  Ja,  von  Knies  abgesehen,  der  auch  hier  sich  als  der 


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Kritische  Leistungen  und  positive  Mängel  de»  Socialismus. 


13 


tiefgründigste  Theoretiker  der  historischen  Schule  erweist,  hat  sie  sich  kaum  näher 
mit  der  principiellen  Seite  der  Frage  der  Eigenthumsordnung  beschäftigt. 

Wie  man  nun  auch  wieder  diese  sociaiistisehc  Kritik  der  Privat- 
eigent kumsordnung  und  die  positive  Gegenforderung  gesellschaft- 
lichen Gemeineigenthums  an  den  sachlichen  Productionsmitteln 
beurteile:  man  kann  und  darf  an  dieser  Kritik  und  diesem  Postulat 
nicht  mehr  einfach  vorübergehen,  sondern  muss  sich  mit  beiden 
selbst  wieder  auseinandersetzen,  sowohl  um  dieser  Probleme  selbst 
willen,  als  um  dem  ökonomischen  Individualismus  gegenüber  die 
richtige  Stellung  zu  erringen. 

Durch  den  Socialismus  — und  zwar  hier  speciell  durch  sein 
Postulat  und  durch  die  mit  diesem  in  Verbindung  stehende  weitere 
Forderung  einer  wesentlich  „gemeinwirthschaftlicken“  statt  der 
privatwirthschaftlicken  Organisation  der  Volkswirtschaft  — ist 
aber  auch  das  andere  grosse  Hauptproblem,  dasjenige  der  Frei- 
heit und  ihrer  Rechtsordnung,  in  ein  neues  Stadium  getreten.  Hier 
begeht  der  Socialismus  nun  jedoch  trotz  seiner  scharfen  Kritik  der 
wirthschaftlichen  Freiheit  im  System  des  ökonomischen  Individualis- 
mus und  Liberalismus  principiell  denselben  Fehler,  wie  letzterer: 
auch  er  fasst  die  Freiheit  als  Axiom,  statt  als  Problem  auf 
(G.  Cohn),  ein  schwerstes  Problem  gerade  jeder  socialistiscben 
Rechts-  und  Wirtschaftsordnung. 

So  wenig  wie  die  Theorie  der  britischen  Oekouomik,  auch  in  ihren  (kontinentalen 
Ausläufern,  eiuschliesslich  desjenigen , welchen  immer  auch  die  deutsche  historische 
Nationalökonomie  älterer  und  jüngerer  Richtung  noch  bildet,  so  wenig  hat  der 
Socialismus  in  Bezug  auf  die  Freiheit  die  hier  für  die  Nationalökonomie  vorliegende 
schwierige  Aufgabe  richtig  erfasst.  Überhaupt  nur  ernstlich  in  Angriff  genommen, 
geschweige  gelöst.  Seine  Kritik  der  wirthschaftlichen  Freiheit  in  der  bestehenden 
Rechtsordnung  hat  wieder  in  besonderen  Maasse  zur  Krisis  der  britischen  Oekonomik 
beigetragen.  Aber  während  die  Forderung  des  gesellschaftlichen  Gemeineigenthums 
wenigstens  ein  Versuch  ist,  aus  der  blossen  Negative  herauszukommen  und  etwas  Posi- 
tives an  die  Stelle  des  durch  die  Kritik  Verworfenen,  der  Frivatcigenthumsordnung, 
zu  setzen,  unterbleibt  selbst  ein  solcher  Versuch  in  der  Frage  der  Freiheit.  Die 
bisherige  wirtschaftliche  Freiheit  wird  verworfen,  aber  die  Beantwortung  der  Frage, 
wie  das  Freiheitsproblem  bei  völlig  socialistischer  Organisation  der  Volkswirtschaft 
behandelt  werden  soll,  wird  nicht  einmal  ernstlich  versucht,  obgleich  es  handgreiflich 
ist,  dass  gerade  dies  Problem  hier  wieder  besondere,  neue  und  eigentümliche 
Schwierigkeiten  machen  würde.  Das  alles  wird  — einfach  der  Zukunft,  der  dermal- 
einstigen  Praxis  des  „Socialstaats“  uberlassen,  was  denn  freilicli  sehr  bequem  ist, 
aber  der  Pflicht  einer  neuen  Social-  und  Wirtschaftswissenschaft,  wie  sie  nach  den 
Prätensionen  seiner  Gläubigen  der  Socialismus  sein  soll,  wenig  entspricht. 

Es  liegen  hier  gerade  für  den  Socialismus  in  Rezug  auf  die 
Freiheit  und  die  Durchführung  der  geplanten  Wirtbschaftsorgani- 
sation  nicht  nur  practisehe,  ökonomisch-technische,  sondern  psycho- 
logische Probleme  ersten  Ranges  vor.  Mehr  an  diesem  Umstand, 
weil  er  in  seinen  Gemeineigenthums-  und  Wirtschaftsorganisation»- 


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14 


Einleitung.  1.  K.  Ziel  und  Aufgabe.  §.  3. 


Plänen  psychologisch  höchst  Schwieriges,  verrauthlich  Unmög- 
liches verlangt,  als  an  den  ja  sicher  auch  vorhandenen  ökonomisch- 
technischen Schwierigkeiten  möchte  er  scheitern.  Diese  erscheinen 
immerhin  nicht  von  vorneherein  so  nahezu  unlösbar,  als  die  psycho- 
logischen. Mindestens  auf  einige  Dauer  einer  solchen  Organisation 
ist  nicht  wohl  zu  rechnen,  auch  wenn  es,  unwahrscheinlich  wie 
selbst  das  ist,  vorübergehend  den  Anhängern  des  Socialismus  ge- 
lingen sollte,  die  politische  Macht  zu  gewinnen,  um  sich  ernstlich 
an  den  Versuch  der  Verwirklichung  ihres  Programms  in  der  Praxis 
zu  machen. 

Diese  psych  ologischc  Seite  des  ganzen  Problems  ist  aber  doch  gerade  etwas, 
woran  eine  theoretische,  eine  wissenschaftliche  Erörterung  nicht  vorbei  gehen,  sondern 
womit  sie  sich  allem  zuvor  beschäftigen  muss,  — auch  um  für  ihre  Kritik  des  Bestehenden 
die  richtige  Tragweite  der  Schluss«  zu  bestimmen.  Mit  dem  blossen  Hinweis  auf 
die  Evolutionstheorie  und  auf  die  „Ergebnisse“,  will  grossentheils  sagen:  die  Thesen 
und  — petitiones  principii  der  „materialistischen  Geschichtsauffassung“  wird  diese 
psychologische  Aufgabe  nicht  gelöst,  sondern  nur  umgangeu.  Hic  Rhodos,  hic  salta! 
I)as  muss  sich  der  Socialismus,  welcher  als  „Wissenschaft“  gelten  will,  entgegenrufen 
lassen.  Sonst  sind  und  bleiben  seine  „Argumente“  — Behauptungen,  seiue  „wissen- 
schaftlichen Lehrsätze“  — Glaubenssätze,  Dogmen,  und  einseitigere,  unbegreiflichere, 
aller  Erfahrung  mehr  Hohn  sprechende  Dogmen,  als  sie  jemals  der  extremste  öko- 
nomische Individualist  und  Harmonie-Apostel  vertreten  hat.  „Socialistiscbe  Dogmen“, 
welche  psychologisch  betrachtet,  trotz  des  ihnen  umgehängten  wissenschaftlichen 
Mäntelchens  der  Evolutionstheorie  und  materialistischen  Geschichtswissenschaft  schon 
an  das  alte  „credo,  quamquain“,  ja  „credo,  quia  absurdum  est“  erinnern.  Freilich, 
von  einem  anderen  Standpuncte  betrachtet,  auch  wieder  eine  Bestätigung  des  alten 
Satzes,  dass  das  „Glaubensbed  ürfniss“  dem  Menschen  nicht  auszutreibeu  ist  und 
so  auch  eine  Selbstwiderlcgung  der  socialistischen  Hauptthese  von  der  Möglichkeit 
einer  psychischen  und  damit  ethischen  Wesensänderung  der  menschlichen  Natur. 

Diese  Schwäche  des  Socialismus  liegt  demnach  in  den  Ueber- 
treibungen  seiner  Kritik  gegen  den  ökonomischen  Individualismus 
und  vollends  in  seinen  positiven  wirthschaftsrechtlichen  und  wirth- 
schaftsorganisatorischen  Forderungen  mehr  noch  auf  dem  psycho- 
logischen, als  auf  dem  ökonomisch-technischen  Gebiete  — welche 
beide  Gebiete  freilich  gerade,  weil  es  sich  auf  dem  letzteren  um 
menschliches,  von  Trieben  und  Motiven  bestimmtes  Thun  und  Lassen 
handelt,  enge  Zusammenhängen  — . Das  weist  auch  von  dieser  Seite 
auf  einen  Umstand  hin,  welcher  für  die  heutige  wissenschaftliche 
Aufgabe  der  Nationalökonomie  bestimmend  und  zugleich  von  der 
sonstigen  Kritik  der  britischen  Oekonomik  mit  liecht  in  den  Vorder- 
grund geschoben  worden  ist.  Es  zeigt  sich  nemlich , dass  volks- 
wirtschaftliche Probleme,  weil  sie  mit  dem  Menschen,  seinem  Thun 
und  Lassen,  daher  seinen  Motiven  und  Trieben  untrennbar  ver- 
bunden sind,  in  erster  Linie  eben  überhaupt  psychologische 
Probleme  sind  und  als  solche  aufgefasst  und  behandelt  werden 
müssen.  So  auch  in  Allem,  wo  es  sich  um  Hechts-  und  Organi- 


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Psychologische  Seite  der  ökonomischen  Probleme. 


15 


sationsfragen  in  der  Volkswirtschaft  handelt.  Die  Nationalökonomie 
als  Wissenschaft  ist  in  einer  Hinsicht  angewandte  Psycho- 
logie. 


Das  wurde  in  den  Anfängen  dieser  Wissenschaft,  als  dieselbe  noch  mehr' als 
Theil  der  Ethik,  Politik  and  des  älteren  Natorrechts  behandelt  wurde,  weniger  über- 
sehen, als  später.  Es  ist  das  grosse  Verdienst  von  W.  Hasbach,  das  jüngst 
wieder  genauer  nachgewiesen  zu  haben.  Ganz  vergessen  ist  es  allerdings  niemals. 
Aber  die  Psychologie  der  Disciplin  wurde  in  der  britischen  Doctrin  eine  zu  enge, 
zu  grobe,  zu  einseitige.  Sie  beschränkte  sich  schliesslich  immer  mehr  auf  wenige 
Sätze  von  einer  gewissen  allerdings  vorhandenen  Allgemeingiltigkeit  in  Bezug  auf  die 
Men>cbennatur  überhaupt,  wie  in  der  Lehre  vom  „wirtschaftlichen  Eigennutz“,  vom 
„Streben  nach  Vermögen“,  Sätze,  deren  Relativität  in  der  Wirklichkeit  aber  doch  auch 
wieder  nicht  genügend  beachtet  wurde.  Vorsichtig  mit  solchen  Sätzen  operirend  ver- 
mochte man  immerhin  unter  strenger  Festhaltung  der  Voraussetzungen  der  Üeduction 
zu  manchen  wichtigen  Schlüssen  und  Lehrsätzen  der  wirtschaftlichen  Theorie  zu 
gelangen.  Aber  wenn  man  solche  Lehrsätze  ohne  Weiteres  auf  das  practische  Leben 
anwandte,  geriet  man  damit  doch  leicht  auf  Abwege  und  in  gefährliche  Irrthümer. 
Denn  der  „wirtschaftliche  Mensch  der  Theorie“  und  der  concrete,  von  mancherlei 
Trieben  uud  Motiven,  auch  in  seinem  „wirtschaftlichen“  Verhalten  bestimmte  indivi- 
duelle Mensch  oder  jener  „allgemeine  Mensch“  und  der  „historische  Mensch“  ent- 
sprechen sich  eben  nicht  genau.  Eine  entwickeltere,  feinere  Psychologie,  die  Ein- 
sicht in  die  Macht  der  „umgebenden  Verhältnisse“,  der  „Gewöhnung“  fuhren  hier 
zu  einer  Berichtigung  der  Schlüsse  der  älteren  Theorie. 

• Der  Socialismus  teilt  nun  mit  dem  Historismus  das  Verdienst,  dies  erkannt  zu 
haben.  Aber  er  verfällt  wieder,  wie  freilich  zum  Theil  auch  dieser,  in  das  andere 
Eitrem.  Er  sieht  das  „wirtschaftliche  menschliche  Wesen“  als  etwas  zu  leicht 
variables  und  zu  grosser  Veränderungen  fähiges  an.  Ein  wiederum  auf  ungenügender 
Psychologie  beruhender  Trugschluss  von  grosser  Bedeutung  für  die  Würdigung  der 
socialistischen  Theorie  und  der  practischeu  wirthschaftsrechtlichon  und  wirthschafts- 
onrauisationischen  Postulate  des  Socialismns.  Denn  schliesslich  sind  eben  doch  die 
„Menschen“  das  Baumaterial  für  alle  socialen  und  volkswirtschaftlichen  Organisationen. 
Diese  Menschen  aber  haben  eine  im  Wesentlichen  bestimmt  gegebene,  wesens- 
unveränderliche psychische  wie  physische  Natur,  mit  im  Ganzen  typischem  Triebleben, 
im  Ganzen  typischem  Bestimmtwerden  durch  die  gleichen  Motive.  Nach  Individuen, 
»och  in  der  Masse  der  Individuen  nach  Zeitaltern,  Ländern,  Völkern.  Entwicklungs- 
stufen, Gassen  bestehen  wohl  kleinere  Verschiedenheiten  und  treten  kleine  Veränderungen 
rin.  Allein  gegenüber  jen#m  Festen  und  Wesensgleichen  in  der  menschlichen,  auch 
psychischen  Natur  sind  sie  geringfügig,  vollends,  bei  der  Macht  der  Gewöhnung,  in 
kurzer  Zeit.  Eben  darin  liegt  die  Berechtigung  der  Dcduction  aus  dem  Motiv  des 
»irthschaftiichen  Vortheils.  was  die  neuere  historische  Nationalökonomie  mit  Unrecht 
bemängelt  (s.  u.).  Die  Lehre  des  Socialisinus  von  der  Bedingtheit  des  Menschen  durch 
die  äusseren  ökonomischen  Verhältnisse  wird  durch  diese  Einsicht  von  der  Wesens- 
unveränderlichkeit  des  Menschen  anf  ihr  richtiges  Maass  von  Wahrheit,  das  sie  ent- 
hält. beschränkt.  Damit  werden  auch  die  extremen  Folgerungen  aus  dieser  Lehre, 
gerade  auch  für  die  Praxis  des  Wirtschaftslebens,  als  vor  Allem  psychologisch 
unrichtig,  die  bewertenden  Forderungen  als  psychologisch  unerfüllbar  abgewiesen. 
Aber  auch  umgekehrt  wird  allerdings  durch  diese  Verschiebung  — oder  neue  Hin- 
schiebung — der  ökonomischen  Probleme  auf  das  psychologische  Gebiet  ein  neuer 
Staudpunct  für  die  Kritik  des  ökonomischen  Individualismus  gewonnen.  Denn  auch 
dieser  litt,  wie  gesagt,  vor  Allem  bei  der  Anwendung  seiner  Sätze  auf  die  Praxis 
an  einer  zu  einseitigen  Psychologie,  vereinfachte  sich  dadurch  schwierige  practische 
fragen  zu  sehr  und  löste  sie  unbefriedigend.  Ueberspannt  der  Socialismus  seine  An- 
forderungen au  den  Menschen  hinsichtlich  des  „Menschenmöglichen“,  d.  h.  eben  des 
psychologisch  Möglichen,  sich  dabei  auf  eine  fadenscheinige  Wissenschaft  und 
deren  vermeintlich  sichere  Ergebnisse  stützend,  fordert  er  vom  Menschen  „zu  viel“, 
so  begeht  umgekehrt  der  Individualismus  den  entgegengesetzten  Fehler:  er  fordert  vom 
Menschen  „zu  wenig“,  er  würdigt  alle  anderen  psychischen  Motive  neben  dem 
Trieb  des  wirthschaftiichen  Selbstintcrcsses  und  den  daraus  hervorgehenden  Motiven 


lö  Einleitung.  1.  K.  Ziel  und  Aufgabe.  §.  4. 

nicht  genügend,  bei  manchen  seiner  Vertreter  gar  nicht,  er  sieht  diesen  Trieb  als 
etwas  zu  Constantes,  Unveränderliches,  Gleichmässiges  au,  dem  es  „menschen unmög- 
lich“ und  nicht  einmal  wünschenswerth  sei,  Zügel  anzulegen,  und  er  gelangt  damit 
auch  seinerseits  zu  einer  falschen , zu  materialistischen  Auffassung  vom  „würthscbaft- 
lichcn  Menschen“  des  wirklichen  Lebens. 

‘ Weiteres  gerade  über  diese  Puncte  im  1.  Kapitel  des  1.  Buchs  unten. 

§.  4.  Der  Methoden  streit.  Folgt  aus  dem  Gesagten  und 
aus  den  Zugeständnissen , welche  darin  nach  verschiedenen  Seiten 
der  neueren  zur  Krisis  der  britischen  Oekonomik  führenden  Kritik 
gemacht  worden  sind,  dass  Eine  Behauptung  richtig  sei:  diese  an- 
gegriffene, ja  schon  zum  Theil  preisgegebene  Doctrin  habe  vor 
Allem  an  einer  falschen  unbrauchbaren  Methode  gelitten? 
Das  sei  ihr  Hauptfehler  gewesen  und  eben  deshalb  könne  nur  von 
einer  Aenderung  der  wissenschaftlichen  Methode  ftir  die  Fort- 
bildung der  wissenschaftlichen  Theorie  und  einer  Theorie,  welche 
zugleich  für  die  Praxis  des  Wirtschaftslebens *)  werthvoll  sei, 
Gutes  erwartet  werden? 

Diese  Behauptung  wird  mit  mehr  oder  weniger  Schärfe  von  der  „deutschen 
historisch-nationalökonomischen  Schule“,  besonders  der  jüngeren  Richtung  (,G.  Schmoller 
u.  A.  m.)  aufgestellt.  Sie  hat  aber  auch  sonst,  auch  in  England,  w'ennglcich  hier 
selten  in  derjenigen  Einseitigkeit  wie  bei  einzelnen  deutschen  historischen  National- 
ökonomen, neuerdings  Unterstützung  gefunden  (Ligram  u.  A.).  Der  Vorwurf  ist,  die 
britische  Oekonomik,  zumal  in  der  Richtung  Ricardo’s,  habe  sich  wesentlich  nur  und 
in  einseitiger  Weise  der  Methode  der  Deduction  aus  willkührlich  angenommenen  Vor- 
aussetzungen und  Ursachen,  insbesondere  aus  dem  Triebe  des  wirtschaftlichen  Selbst- 
interesses, das  als  ein  in  allen  Individuen  aller  Zeiten  und  Länder  gleichmässig  wir- 
kender Factor  angesehen  worden  sei,  bedient.  Sie  sei  dabei  ganz  abstract  verfahren, 
ohne  es  vorher  wie  hinterher  für  notwendig  zu  halten,  die  Richtigkeit  ihrer  Voraus- 
setzungen, Ursachen,  Factoren  und  Schlüsse  zu  untersuchen,  in  völliger  Vernach- 
lässigung der  Erfahrung,  wie  sie  namentlich  die  Geschichte  der  Volks  Wirtschaft 
ergebe.  So  könnten  eben  die  Ergebnisse,  die  Sätze  dieser  Wissenschaft  gar  keinen, 
höchstens  nur  ganz  bedingten,  hypothetischen  Werth  haben.  Das  habe  man  jedoch 
stets  vergessen,  dio  Ergebnisse  für  absolute,  unbedingte  Wahrheiten  gehalten  uud 
danach  dann,  ohne  Rücksicht  auf  die  concreten  Verhältnisse,  gar  dio  Praxis  meistern 
und  nach  der  Schablone  einer  falschen,  günstigen  Falles  nur  zufällig  hie  und  da  ein- 
mal zutreffenden  Theorie  gestalten  wollen.  Nur  indem  die  Wissenschaft  von  diesem 
Irr-  und  Abwege  umkehre,  ihre  Methode  gründlich  ändere,  statt  von  willkührlichen 
psychologischen  und  sonstigen  apriorischen  Anuahmen  überall  streng  von  der  Erfah- 
rung ausgehe,  daher  beobachte,  beschreibe,  Material  zur  Vergleichung  sammle,  dieses 
verarbeite,  daraus  erst  Schlüsse  ziehe,  in.  a.  W.  nur  iudem  die  historisch-statistische 
und  auf  feinerer  Psychologie  beruhende  Induction  an  Stelle  der  speculativen  De- 
duction trete,  werde  ein  wirklicher  Fortschritt  der  Wissenschaft,  ja  überhaupt  erst  eine 
„Wissenschaft“  von  der  Volkswirtschaft  möglich. 

Es  wird  die  Aufgabe  einer  besonderen  Erörterung  im  2.  Kapitel  des  1.  Buchs 
unten  sein,  das  Richtige  und  Unrichtige,  namentlich  das  Unklare  und  Uebertreibende 
dieser  Auffassung,  zu  untersuchen  und  ihr  eine  andere  Auffassung  über  die  der 


’)  Ich  sehe  hier  noch  von  der  ebenfalls  vertretenen  Ansicht  ab,  dass  die 
„Wissenschaft“  eine  derartige  Aufgabe  überhaupt  nicht  habe,  da  sie  nur  darstellcn 
und  erkenuen,  erklären,  nur  die  Fragen  nach  dem  „Was  ist?“  „Wie  ist  es  geworden?“, 
nicht  nach  dem  „Was  soll  sein?'*  beantworten  solle,  — eine  Frage  der  Aufgabe  der 
Wissenschaft,  die  mit  der  der  Methode  zusammeuhängt.  S.  u.  §.  57,  62  ff. 


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Der  Methodenstreit. 


17 


Nationalökonomie  angemessene  Methode  oder  richtiger,  angemessenen  Methoden  gegen- 
uberzostellen  und  za  begründen.  Vorläufig  muss  es  hier  au  einigen  kritischen  Bemer- 
kungen bezüglich  der  vorausgehenden  Ansicht  und  Behauptung  genügen. 

Je  nach  der  Art  der  Probleme,  um  welche  es  sich  handelt, 
je  nach  der  von  diesen  Problemen  bestimmten  Specialaufgabe  der 
Wissenschaft  und  sicherlich,  wie  immer,  auch  mit  je  nach  der  indi- 
viduellen Geistesanlage,  Neigung  und  Richtung  der  betreffenden 
einzelnen  wissenschaftlichen  Vertreter  (§.  11;  ist  auch  in  der  bri- 
tischen wie  in  der  continentalen  Volkswirtschaftslehre  des  ökono- 
mischen Individualismus  bald  mehr  die  speculative  Deduction,  bald 
mehr  die  Induction  das  tatsächlich  angewandte  methodische  Ver- 
fahren gewesen. 

Bei  einzelnen  Autoren  liegt  wohl  die  Neigung  vor,  erstercs  voran  zu  stellen 
(Ricardo.  Senior,  Mill,  Herrmann),  zum  Theil  aber,  weil  die  behandelten  Probleme 
dieses  zweckmässig  erscheinen  Hessen  (Preis-,  Vertheilungs-  oder  Einkommenlehre). 
Aber  gerade  z.  B.  A.  Smith  selbst  hat  sich  beider  Methoden  in  Verbindung  mit  ein- 
ander bedient,  so  sehr,  dass  bis  heute,  auch  noch  bei  den  neuesten  ihn  behandelnden 
Littera rh ist ori kern  des  Fachs,  die  Ansichten  darüber  auseinandergehen,  ob  er  vornern- 
lich  deductiv  oder  inductiv  verfahren  sei.  Schon  das  beweist,  dass  jener  allgemeine 
Vorwurf,  in  der  früheren  britischen  Oekonomik  sei  immer  nur  deducirt  worden,  un- 
begründet ist.  Dass  aber  überhaupt  immer  mit  Unrecht  in  der  Nationalökonomie 
tuid  auch  in  der  üblichen  Weise,  dabei  das  wirtschaftliche  Selbstinteresse  vornemlich 
zum  Ausgangspunct  zu  nehmen,  deducirt  werde,  ist  eben  — eine  Behauptung,  welche 
auch  von  ihren  Vertretern  bisher  in  keiner  Weise  genügend  begründet  worden  ist  und 
welche  durch  die  eigenen  volkswirtschaftlichen  Arbeiten  auf  Schritt  und  Tritt  Lügen 
gestraft  wird.  Denn  auch  diese,  so  auch  die  „historischen  Nationalökonomen“,  be- 
dienen sich  bei  jeder  Gelegenheit,  mitten  in  den  „cxactesteu  historischen  Forschungen“ 
zur  Erklärung,  zur  Beweisführung  der  Deductiouen  aus  dem  wirtschaftlichen  Interesse 
und  aus  den  damit  in  Verbindung  stehenden  Motiven,  Handlungen,  Unterlassungen 
und  mit  vollem  Rechte. 

Nicht  in  der  Benutzung  der  Methode  der  Deduction,  auch  nicht 
in  dem  an  sich  richtigen  Streben  nach  abstracten  Ergebnissen  bei 
der  Behandlung  der  Probleme  hat  die  Theorie  des  ökonomischen 
Individualismus  in  ihren  in  Betracht  kommenden  britischen  wie 
continentalen  Vertretern  gefehlt.  Vielmehr  darin  lag  allerdings  öfters 
ihr  Fehler,  dass  sic  diese  Methode  nach  ihren  psychologischen 
Prämissen,  wie  vorhin  schon  gesagt  wurde,  nicht  genügend  funda- 
mentirt  und  nach  den  Voraussetzungen  ihrer  Anwendbarkeit  auf 
die  concreten  Verhältnisse  des  Wirtschaftslebens  nicht  vorsichtig 
genug  gehandhabt  hat.  Nicht  um  eine  völlige  Aenderung  der  Me- 
thode der  Deduction  und  gar  um  ihren  gänzlichen  Ersatz  durch 
die  Methode  der  Induction  kann  es  sich  daher  handeln,  welches 
letztere  Ziel  zn  erreichen  nicht  einmal  möglich,  und  wenn  möglich 
nicht  unbedingt  richtig  noch  erwünscht  wäre.  Nur  eine  Verbes- 
serung des  deductiven  Verfahrens,  eine  feinere  und  tiefere  psycho- 
logische Begründung  und  Ausbildung  desselben,  eine  vorsichtigere 

A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlagen.  2 


18 


Einleitung.  1.  K.  Ziel  und  Aufgabe.  §.  4,  5. 


Anwendung,  zumal  in  concreten  practischen  Fragen,  ein  stetes  Fest- 
und  In-Acht-Behalten  der  Voraussetzungen,  unter  welchen  deducirt 
wird,  eine  schärfere  Einsicht  in  die  nothwendigeu  Grenzen  der 
Anwendbarkeit  dieser  Methode,  nach  den  Gebieten  von  Fragen, 
Arten  von  Problemen , wissenschaftlichen  Specialaufgaben , eine 
richtige  Verbindung  in  vielen  Fällen  mit  der  Induction,  — nicht 
in  allen,  was  eben  nicht  möglich!  — ein  richtiger  Ersatz  der  De- 
duction  in  gewissen  Fällen  durch  die  Induction,  das  ist  die  Aufgabe. 

Hier  haben  auch  hervorragende  Vertreter  der  britischen  Oekonomik  gewiss  öfters 
Fehler  begangen.  Aber  es  waren  dann  regelmässig  nicht  sowohl  Fehler  der  Methode, 
auch  nicht  solche,  die  unvermeidlich  im  Wesen  der  Methode  liegen,  sondern  Fehler 
in  und  bei  der  Anwendung  der  Methode.  Es  bedurfte  nicht  erst  des  Auftretens 
der  deutschen  historischen  Nationalökonomie,  welche  sich  immerhin  hier  in  ihrer 
Kritik  Verdienste  erworben  hat,  um  das  zu  erkennen.  Indem  diese  Richtung  dann 
auch  wieder  in  das  andere  Extrem  ging,  den  Werth  richtigen  deductiven  Verfahrens 
unterschätzte,  denjenigen  ihres  eigenen  inductiven  Verfahrens  überschätzte  und  ihrer- 
seits die  Grenzen,  wo  das  letztere  den  Dienst  versagt  oder  weniger  leistet,  als  das 
andere,  verkannte,  hat  sie  sicher  ebenso  viel,  wenn  nicht  mehr  geschadet,  als  dies 
allerdings  bezüglich  der  britischen  Schule  einzuräumen  ist.  Aber  auch  in  letzterer 
waren  es  doch  immer  nur  einzelne  zu  einseitig  oder  zu  ausschliesslich  sich  der  De- 
duction  bedienende  Nationalökonomen,  keineswegs  alle,  welche  dieser  Vorwurf  trifft. 

Kurz,  nicht:  Deduction  oder  Induction,  sondern  Deduction 
und  Induction,  in  beiden  Fällen  möglichst  sorgfältige,  correcte, 
dem  Ideal  beider  Methoden  sich  annähernde  Ausbildung  und  Hand- 
habung beider,  die  Benutzung  einer  jeden  möglichst  immer  da,  wo 
sie  nach  der  besonderen  Art  der  zu  lösenden  Aufgaben  vornemlieh 
hingehört,  soweit  als  möglich  — es  ist  eben  nicht  immer  möglich ! 
— die  Verbindung  beider,  wenn  auch  im  concrcten  Falle  die  eine 
oder  die  andere  voransteht  und  vorangeht  — das  ist  die  richtige 
Lösung  des  Methodenstreits. 

Allgemeine  Vorwürfe  in  Hinsicht  der  Methode,  wie  sie  der  jüngere  deutsche 
nationalökonomische  Historismus  mitunter  mit  einem  Selbstgefühl,  welchem  die  Klar- 
heit und  logische  Schärfe  seiner  Beweisführung  nicht  entspricht,  der  ganzen  älteren 
Theorie  der  britischen  Oekonomik  wohl  gemacht  hat.  sind  ungerecht  und  unrichtig. 
Zu  bessern  in  der  Begründung,  Ausbildung,  Verfeinerung  und  Handhabung  der  Me- 
thoden ist  gewiss  viel,  zu  ändern  in  den  Methoden  selbst  wenig  oder  nichts.  Die 
beiden  Haupt-Methoden  sind  in  der  Nationalökonomie  durch  den  Stoff  und  durch  die 
Aufgaben  gegeben  (§.  66  ff.).  Auch  das,  was  an  der  deutschen  „historischen“  Methode 
richtig  und  berechtigt  ist,  ist  nicht  neu.  Auch  viele  ältere  Theoretiker,  Systematiker  und 
Monographen,  vollends  Bearbeiter  praetischer  Fragen  haben  diese  Methode  benutzt, 
wiederum  Adam  Smith  nicht  ani  Wenigsten.  Und  ganz  unabhängig  von  der  deutschen 
historischen  Nationalökonomie  haben  Sociologen  wie  A.  Comte  ähnliche,  freilich  auch 
zu  weit  gehende  Bedenken  gegen  Deduction  und  Abstraction  der  britischen  Oekonomik 
erhoben. 

§.5.  DasBcdtirfniss  und  die  Aufgaben  einer  neuen 
Grundlegung  der  Politischen  Oekonomie.  Die  britische 
Oekonomik,  die  Theorie  des  ökonomischen  Individualismus  und 
Liberalismus  hat  sonach  (§.  2)  eine  Krisis  durchzumachen,  welche 


L 


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Neue  Grundlegung  der  Politischen  Oekonomic. 


19 


alle  ihre  Grundlagen  erschüttert.  Daraus  ergiebt  sich  in  einer 
ersten  Beziehung  das  Bedürfniss  einer  neuen  Grundlegung.  Es 
handelt  sich  dabei  um  eine  eingehende  kritische  Auseinander- 
setzung mit  der  britischen  Oekonomik,  mit  dem  Ziele, 
so  festzustellen , was  von  letzterer  nicht  mehr  haltbar  und  aufzu- 
geben, was  von  ihr  festzuhalten,  wenn  auch  vielleicht  mehr  oder 
weniger  umzugestalten  ist.  Unter  den  Angriffen  der  Kritik  ver- 
langen diejenigen  des  Socialismus  besondere  Beachtung.  Es  sind 
die  schärfsten  und  die  tiefstgründig  principielien. 

Der  ökonomische  Socialismus  hat  aber  ausser  dieser  kritischen 
eine  positive  Seite  in  seinen  bekannten,  auf  die  ganze  wirt- 
schaftliche Rechtsordnung  sich  beziehenden  Forderungen.  Letzteren 
Hegt  ein  Versuch  der  allgemeinen  theoretischen  Begründung,  ausser 
in  den  Ergebnissen  der  soeialistiscben  Kritik  des  ökonomischen 
Individualismus,  insbesondere  in  den  socialistischcn  Werthlehre  zu 
Grunde.  In  diesem  Auftaueheu  des  kritischen  wie  des  positiven 
Socialismus  liegt  ein  zweiter  Umstand,  in  welchem  das  Bedürf- 
nis einer  neuen  Grundlegung  seinen  Ursprung  nimmt,  liier  handelt 
es  sich  um  eine  eingehende  kritische  Auseinandersetzung 
mit  dem  Socialismus,  theils  um  eine  Antikritik  seiner  Kritik 
der  individualistischen  ökonomischen  Theorie  und  der  geschichtlich 
überkommenen  wie  der  neueren,  jener  Theorie  entsprechenden 
ökonomischen  Praxis,  theils  um  eine  Kritik  der  positiven  Lehren 
und  Forderungen  des  Socialismus,  besonders  in  Bezug  auf  die 
wirtschaftliche  Rechtsordnung  und  auf  die  an  letztere  sich 
knüpfende  Organisation  der  Volkswirthschaft. 

Natioualökonomische  Untersuchungen  über  die  wi rth- 
scha  ft  liehe  Rechtsordnung,  namentlich  über  die  Alles  be- 
herrschende Pr  i v atr ec  hts Ordnung,  und  über  die  Organi- 
sation der  Volkswirthschaft,  namentlich  Uber  das  V er- 
hält n iss  von  Privat-  und  Gern  ein  wirthschaft  darin  zu 
einander,  principielle  Erörterungen  über  „Freiheit  und  Eigen- 
thum“ in  volks  wirthschaft  lieber  und  socialpolitischer 
Betrachtung  sind  es  hiernach  vornemlich,  welche  in  eine  neue 
Grundlegung  der  Politischen  Oekonoraie  gehören.  Die  letztere  ist 
dadurch  zu  einer  wahren  Social  Ökonomie  umzugestalten. 

Nationalökonomische  Untersuchungen  dieser  Art  haben  der  britischen  Oekonomik, 
auch  in  deren  continentaler,  französischer,  italienischer,  deutscher  Gestalt  — grossen- 
theils  noch  die  neuere  historische  Nationalökonomie,  abgesehen  von  Knies,  ein- 
geschlossen — fast  ganz  gefehlt.  Erst  das  Auftreten  Schäffle’s  mit  seinen  wichtigen 
bezüglichen  Arbeiten,  insbesondere  bereits  mit  seinem  „gesellschaftlichen  System  £ 

2* 


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20 


Einleitung.  1.  K.  Ziel  und  Aufgabe.  §.  5. 


menschlicher  Wirtschaft“,  in  welchem,  schon  nach  dem  vielbedcutenden  Titel,  die 
Aufgabe  richtig  erfasst  war,  hat  hier  Wandel  zu  schaffen  begonnen.  Denn  um  ein 
gesellschaftliches  System,  um  eine  wahre  Socialökonomie  handelt  es  sich 
in  der  That.  Zu  einer  solchen  muss  die  Politische  Oekonomie  durch  eine  neue  Grund- 
legung erhoben,  in  sie  dieselbe  dadurch  verwandelt  und  so  das  stark  privatökonomische 
Element,  welches  der  britischen  Oekonomik  auch  als  „Politische  Oekonomie“  noch 
anhaftet,  vollends  abgestreift  werden.  Gesichtspuncte  der  grossen  socialistiscben 
Theoretiker,  vor  Allem  von  Rodbertus,  sind  dabei  vielfach  mit  Recht  zu  verwerten,  auch 
bei  Abweisung  der  socialistiscben  Forderungen  filr  Rechtsordnung  und  Organisation 
der  Volkswirtschaft.  Nur  hat  sich  dabei  die  Antikritik  der  socialistiscben  Kritik  der 
geschichtlich  überkommenen  und  bestehenden  Verhältnisse  die  notwendige  Unbefangen- 
heit und  Objectivität  zu  erhalten.  Dann  braucht  man  sich  nicht  zu  scheuen,  manches 
richtige  Ergebniss  der  socialistischen  Kritik  anzuerkennen. 

Bei  den  hiernach  zunächst  und  vornemlich  in  die  „Grund- 
legung“ der  Soeialökonomie  gehörigen  kritischen  wirtschaftlichen 
und  wirthschaftsorganisatorischen  Untersuchungen  und  Erörterungen 
wird  folgenden  drei  Aufgaben  besondere  Aufmerksamkeit  zu  wid- 
men sein: 

1.  Viele  der  wichtigsten  Probleme  sind  in  der  oben  angedeu- 
teten Weise  als  psychologische  in  erster,  als  practisch  ökono- 
misch-technische in  zweiter  Linie  aufzufassen  und  zu  behandeln. 
Daher  muss  das  Triebleben  und  Motivsystem  (die  „Moti- 
vation“) des  Menschen  genauer  betrachtet  und  zum  Ausgangs- 
punct  der  ganzen  Grundlegung  genommen  werden.  Insbesondere 
sind  dabei  die  Momente  der  sittlichen,  auch  der  religiösen  An- 
schauung, der  Sitte  und  Gewöhnung  in  Verbindung  mit  Trieb- 
leben, Motivsystem  und  Rechtsordnung  zu  verfolgen  (1.  Buch,  1.  Kap.). 

Hier  gilt  es  daher  die  zu  enge,  zn  grobe  „ökonomische  Psychologie“  der 
Smith’schen  Theorie  und  des  practischeu  Systems  der  freien  Concurrcnz  zu  berichtigen 
und  zu  verbessern.  Das  fuhrt  auch  zu  der,  wie  bemerkt,  erforderlichen  Berichtigung 
und  Verbesserung  der  Methoden,  welche  bei  den  verschiedenen  Aufgaben  der 
Wissenschaft  anzuwenden  und  zum  Theil  diesen  selbst  wieder  anzupassen  sind. 

2.  Bei  den  grün d begrifflichen  Erörterungen,  bei  den 
Fragen  der  allgemeinen  volkswirtschaftlichen  Rechts- 
ordnung und  bei  der  Betrachtung  und  Beurtheilung  der  ge- 
schichtlichen Entwicklungen  des  Wirtschaftslebens  wird 
es  sich  ferner  darum  handeln,  möglichst  den  rein -ökono mischen 
und  den  historisch -rechtlichen  Standpunct  der  Betrachtung 
und  danach  dann  absolute,  rein-ökonomische  und  va- 
riable, historisch- rechtliche  Kategorieen  zu  unterscheiden. 
Dies  entspricht  wiederum  einem  vornemlich  vom  wissenschaftlichen 
Socialismus,  nicht,  jedenfalls  nicht  zuerst  von  der  historischen 
Schule  der  Nationalökonomie,  der  es  eigentlich  am  Nächsten  ge- 
legen hätte,  vertretenen  Gesichtspuncte,  besonders  des  Rodbertus. 

Jene  Unterscheidungen  haben  zu  erfolgen  für  leitende  Grundbegriffe,  wie 
wirtschaftliches  Gut,  Vermögen,  Capital,  Werth,  Preis,  Kosten,  Geld,  Unternehmung, 


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Aufgaben  einer  neuen  Grundlegung. 


21 


für  Grundinstitute  der  Rechtsordnung,  wie  das  ..Eigenthum“.  Bei  den  historisch-recht- 
lichen Kategorieen  kommen  dann  die  grossen  geschichtlichen  Eutwicklungspbasen  der 
V olkswirt hschaft  in  Betracht,  wobei  die  Ergebnisse  der  wirthschafts-  und  rechts- 
geschichtlichen Forschungen  gebührend  zu  verwerthen  sind. 

3.  Jede  eigentliche  V o 1 k s wirthschaft  beruht  auf  dem  Princip 
der  A r b e i t s t h e i 1 u n g (A  r b e i t s g l i e d e r u n g).  Wo  dies  Princip 
noch  fehlt  oder  nur  wenig  entwickelt  ist,  besteht  eben  Überhaupt 
noch  keine  „Volks“-Wirthschaft  oder  bestehen  erst  Ansätze  dazu.  — 

In  der  „arbeitsteiligen“  Volkswirtschaft  treten  dann  als  die  beiden 
Grundprobleme  das  „Prod  uctionsproblera“  und  das,,  Pro- 
blem der  Verth eiluug  des  arbeitstheilig  gewonnenen 
Productionsertrags“  unter  den  bei  der  Production  betheiligten 
Personen  überall  deutlich  hervor,  trennen  sich  von  einander,  aber 
hängen  immer  auf  das  Engste  zusammen.  Von  dem  dem  ent- 
sprechend zu  combinirenden  Doppelstandpunct  jedes  dieser  beiden 
Probleme  aus  müssen  gerade  auch  die  Fragen  der  „Grundlegung“ 
untersucht  und  erörtert  werden. 

Die  Lösung  des  Productions-  und  Vertheilungsproblems  gestaltet  sich  bei  ver- 
schiedener Organisation  der  Volkswirtschaft  verschieden,  namentlich  je  nach  gemcin- 
und  privatwirthschaftlicher  und  damit  wieder  zusammenhängend,  bei  verschiedener 
wirtschaftlicher  Rechtsordnung,  namentlich  nach  Verschiedenheit  der  Behandlung 
der  persönlichen  Freiheit  und  Unfreiheit,  der  Eigenthumsordnung  (Privat-  oder 
Gemeineigenthum)  und  des  Vertragsrechts.  Bei  diesem  kommt  es  besonders  darauf  an, 
ob  die  Bestimmung  des  Inhalts  des  Vertrags  allein  oder  nur  in  beschränktem  Maasse 
von  dem  „Willen  der  Parteien“  abhängt  — indem  letzteren  Falles  die  Rechtsordnung 
gewisse  materielle  Normen  des  Vertrags  rechts  vorschreibt  und  deren  Aufhebung  durch 
den  Willen  der  Parteien  verbietet  und  für  ungiltig  erklärt.  — Production  und  Ver- 
keilung werden  von  Organisation  und  Rechtsordnung  der  Volks  wirthschaft  bestimmt, 
ja  beherrscht.  Das  Ideal,  welches  für  Production  und  Vertheilung  unter  gegebeneu, 
bezw.  angenommenen  psychologischen,  ökonomisch-technischen  und  culturellen  Voraus- 
setzungen aufgcstellt  werden  kann,  wird  so  nach  dieser  Organisation  und  Rechts- 
ordnung mehr  oder  weniger  erreichbar.  Daher  treten  wieder  Forderungen  in  Betreff 
beider  letzteren,  geschichtlich  wechselnd,  hervor,  um  eine  grössere  Annäherung  an 
das  Ideal  der  Production  und  Vertheilung  zu  ermöglichen.  Die  Thatsachen,  Er- 
scheinungen, Entwicklungen  des  Wirtschaftslebens,  die  Fragen  der  wirtschaftlichen 
Organisation  und  Rechtsordnung  unter  dem  Doppelgesichtspuncte  der  Production 
und  der  Vertheilung  behandeln,  heisst  aber,  untersuchen,  was  dem  Productions- 
uud  dem  Vertheilungsinteresse  entspricht,  ob  und  wie  diese  zusammenfallen 
oder  sich  kreuzen,  welches  den  Vorrang  hat.  in  welchem  Verhältnis  eine  so  und  so 
gegebene,  durch  den  Einfluss  der  Organisation  und  der  Rechtsordnung  gestaltete  oder 
durch  eine  Veränderung  beider  sich  muthmaasslich  so  und  so  gestaltende  Production 
und  Vertheilung  zu  dem  jeweiligen  Ideal  der  Production  und  Vertheilung  stehen. 

In  der  Wirklichkeit  ist  Alles  hier  in  Wechselwirkung,  Production  und  Vertheilung, 

Organisation  und  Rechtsordnung,  jene  ersteren  beiden  mit  diesen  letzteren  beiden 
immer  je  untereinander.  Psychologische  Factoren  kommen  auch  liier  in  eigentüm- 
licher Weise  zur  Geltung.  Grade  jene  Wechselwirkungsvcrhältnisse  und  das  Mitspielen 
und  Variircu  der  psychologischen  Factoren  muss  in  der  Socialökonomie,  zumal  in  deren 
Grundlegung,  verfolgt  werden. 

Die  beiden  extremen  Richtungen  der  Theorie,  der  ökonomische  Individualismus 
wie  der  Socialismus,  haben  in  dieser  Hinsicht  entgegengesetzte,  aber  principicll  die- 
selben Fehler  begangen.  Der  erstere  hat  die  Abhängigkeit  der  Production  und  Ver- 
teilung von  Organisation  und  Rechtsordnung  zu  wenig  beachtet;  das  Productious- 
problem  zu  einseitig  in  den  Vordergrund  geschoben;  das  Vertheilungsproblem  zu  sehr  / K 


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22 


Einleitung.  1.  K.  Ziel  und  Aufgabe.  §.  5,  6. 


als  das  sccundäre  angesehen;  Organisation  und  Rechtsordnung  einer  bestimmten  Periode 
zu  sehr  als  die  selbstverständlichen  im  Wesentlichen  unveränderlichen,  als  absolute, 
statt  als  historische  Kategorieen  betrachtet;  Möglichkeit,  Nothwendigkeit,  Zweckmässig- 
keit einer  Aenderung  von  Organisation  und  Rechtsordnung.  Production  und  Vertheilung 
zu  wenig  untersuch  t oder  wähl  ohne  Weiteres  wegen  der  „wirtschaftlichen  Natur 
des  Menschen“  gemäss  dem , was  diese  Doctrin  nach  ihrer  einseitigen  Psychologie 
darunter  verstand , als  ausser  Frage  stehend  angenommen. 

I)io  andere  Doctrin,  der  Socialismus,  hat  mit  Recht  die  Fragen  der  Organisation , 
der  Rechtsordnung  und  das  Vertheilungsproblom  besonders  betont.  Aber  die  psycho- 
logischen mehr  noch  als  die  practischcn  ökonomisch -technischen  Bedingungen  einer 
Aenderung  dieser  Verhältnisse  hat  er  zu  leicht  genommen;  den  Character  der  historischen 
Kategorie  bei  Organisation  and  Rechtsordnung  übertrieben;  das  (iebundensein  beider, 
wie  durch  die  äussere  Natur,  so  durch  die  physisch-psychische  Natur  des  Menschen 
unterschätzt;  das  Feste,  Unveränderliche  oder  nur  wenig  und  höchst  langsam  Veränder- 
liche der  psychischen  Seite  des  Menschen  neben  dem  historisch  Variablen  zu  wenig 
gewürdigt;  zu  einseitig  das  Vertheilungsproblem,  zu  wenig  ernstlich  das  Productions- 
problem  behandelt;  namentlich  letzteres  zu  sehr  als  ein  bloss  technisches,  zu  wenig 
als  ein  gleichzeitig  und  in  hohem  Maasse  psychologisches  angesehen.  — Denn 
bei  der  Sprödigkeit  der  äusseren  Natur  kommt  unvermeidlich  Alles  darauf  an,  richtige 
Motive  der  Arbeitsleistung  genügend  wirksam  zu  machen;  Autorität,  Disciplin, 
Subordination  in  allen  auf  Einrichtung  und  Durchführung  des  Productiousprocesses 
sich  beziehenden  Verhältnissen  ordentlich  zu  gestalten:  Puncte,  welche  bei  jeder 
denkbaren  Einrichtung  der  Production  für  den  schliesslicheu  Erfolg  der  letzteren,  von 
welchen  doch  alles  abhängt,  das  Entscheidende  sind.  Und  auch  bei  dem  Vcrthcilungs- 
problem  hat  der  Socialismus  die  in  der  Natur  des  Problems  selbst  liegenden 
Schwierigkeiten  wiederum  mehr  noch  psychologischer  als  practisch- technischer  Art 
und  wiederum  zunächst  einerlei,  welche  Rechtsordnung  und  Organisation  für  die 
Vertheilung  bestehe,  viel  zu  leicht  genommen.  Fehler  bei  der  Behandlung  beider 
Probleme,  welche  die  nothwendige  Folge  seiner  falschen  Psychologie,  selbst  wieder 
eine  Consequenz  seines  „hyperideologischen  Supermaterialismus“  sind. 

Die  freilich  nicht  leichte.  Aufgabe  einer  neuen  socialökonomischen  Grundlegung 
ist  auch  hier,  möglichst  den  Fehler  des  ökonomischen  Individualismus  und  Socialis- 
mus zu  vermeiden  und  eine  richtige  Mitte  aufzufinden  und  innezuhalten. 

§.6.  Individuum  und  Gern  ei  risch  alt.  Alles  zusammen- 
lassend ergiebt  sich:  der  Punct,  um  den  sich  auch  in  der  Poli- 
tischen Oekonomie  als  einer  wahren  Socialökonoraie,  und  insbe- 
sondere in  der  Grundlegung  dafür,  Alles  dreht,  ist  die  alte  Frage 
vom  Verhältniss  des  Individuums  zur  Gemeinschaft, 
von  der  Combinatiou  des  Individual-  und  Socialprincips 
in  der  gesellschaftlichen  und  wirtschaftlichen  Rechtsordnung  und 
Organisation. 

Wer  mit  der  älteren  „individualistischen“  Rechts-  und  Staats- 
philosophie und  mit  der  ihr  verwandten  britischen  Oekonomik  das 
Individuum  in  den  Mittelpunct  aller  Betrachtungen  stellt  und  zum 
Zweck  des  Gemeinschaftslebens  macht,  kommt  notwendig  zu  den 
Resultaten  jener  britischen  Schule.  Aehnlich,  wer  die  ganze  Privat- 
rechtsordnung, speciell  das  Privateigentum,  nur  aus  dem  Gesichts- 
puget  des  Individualinteresses  betrachtet  und  nur  in  Zweckbeziehung 
zu  letzterem  setzt,  gelangt  ebenso  notwendig  zur  bloss  individual- 
rechtlichen („rein  privatrechtlichen“)  Auffassung  und  Behandlung 
dieser  Rechtsordnung  auch  als  der  Grundlage  der  Volkswirtschaft. 


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Individuum  und  Gemeinschaft. 


23 


Wer  dagegen  vor  Allem  zunächst  nach  den  Bedingungen 
des  wirtschaftlichen  Gemeinschaftslebens  forscht  und 
nach  denselben  die  Sphäre  der  wirtschaftlichen  Freiheit  des  Indi- 
viduums, die  Befugnisse  auch  des  Privateigcnthtimers  in  Bezug  auf 
die  ihm  gehörenden  Eigenthumsobjecte,  die  Grenzen  der  Vertrags- 
freiheit auch  in  Hinsicht  des  Inhalts  der  Verträge,  bestimmt;  wer 
die  ganze  Privatrechtsordnung,  auch  das  Privateigenthum  selbst, 
zuvörderst  in  ihrer  Zweckbeziehung  zu  und  ihrer  Function  für  das 
Gemeiuschaftsinteresse  betrachtet,  der  kommt  — nicht,  wiewohl 
behauptet  wird,  einfach  zum  „Socialismus“,  wohl  aber  zu  einer 
Anschauung  und  Lehre,  welche,  allerdings  auch  das  Wahre  im 
Socialismus  anerkennend,  gerade  hier  die  eigentlichen  volkswirt- 
schaftlichen Grundprobleme  sehen:  diejenigen  der  Organisation  der 
Volkswirtschaft,  der  Beziehungen  von  Recht  und  Wirthschaft,  der 
Regelung  von  „Freiheit  und  Eigenthum“  nach  dem  zu  combiniren- 
deu  Doppelgesichtspuuct  des  Gemeinschafts-  und  des  Individual- 
interesses und  nach  dem  Zielpunct  eines,  seihst  wieder  beständig 
zu  verändernden  Compromisses  zwischen  diesen  beiden  Interessen. 
Die  Geschichte  der  Volkswirtschaft  und  der  Rechtsordnung  stellt 
den  Process  dieses  Compromisses  zwischen  diesen  Interessen, 
zwischen  dem  „Social-  und  Individual princip“  dar.  Der 
Socialismus  übertreibt  das  erste,  der  ökonomische  Individualismus 
das  zweite  dieser  Principien.  Die  unbefangene  Wissenschaft  und 
die  rationelle  ökonomische  Praxis  und  Politik  haben  beide  Ein-' 
seitigkeiten  zu  vermeiden,  aber  doch  auch  wieder  anzuerkennen, 
dass  das  Socialprincip  das  vorherrschende  ist  und  sein  muss 
und  soll. 

Eine  derartige  Stellung  zu  den  volkswirtschaftlichen  Fragen 
kann  man  wohl  passend  eine  social  ökonomische,  zu  den 
Rechtsfragen , auch  denjenigen  des  Privatrechts,  eine  social- 
rechtliche  nennen. 


Sie  unterscheidet  sich  wesentlich  von  der  noch  überwiegend  privat  ökonomischen, 
wenn  sich  auch  bereits  politisch -ökonomisch  nennenden  Stellung  der  britischen 
Üekonomik.  Nicht  minder  von  der  wesentlich  individualrechtlichen  Stellung  unserer 
Jurisprudenz,  namentlich  unserer  privatrechtlichen , vornemlich  romanistisch 
denkenden,  construirenden,  begründenden,  und  von  jener  bisherigen  Rechtsphilosophie, 
welche  die  Gedanken  und  Auffassungen  dieser  Jurisprudenz  meist  einfach  und  ganz 
unkritisch  übernommen  hat.  Weit  näher  steht  der  socialrechtlichen  Auffassung  der 
Geist  des  germanischen  Rechts  und  dessen  Jurisprudenz.  Aber  nicht  minder 
unterscheidet  sich  die  socialökouomische  und  socialrechtliche  Stellung  von  der  Stellung 
des  Socialismus , weicher  ohne  Compromisse  mit  dem  Individualprincip  glaubt  aus- 
kommen  zu  können,  in  Widerspruch  mit  aller  Psychologie  und  mit  aller  geschieht-^ 
liehen  Erfahrung. 


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24 


Einleitung.  1.  K.  Ziel  und  Aufgabe.  §.  6 7. 


Diese  socialökonomische  und  socialrechtliche  Auffassung  und 
Stellung  führen  auch  von  dem  Pessimismus  und  dem  Optimismus 
des  Individualismus  wie  des  Socialismus  in  gleicher  Weise  ab. 

Sie  veranlassen  nicht  den  Wahn,  dass  das  System  der  freien  Concurrenz.  wo 
der  wirtschaftliche  Eigennutz  des  Individuums  die  nahezu  einzige  Triebfeder  ist,  ja 
sein  soll,  die  „beste  der  wirtschaftlichen  Welten“  sei;  dass  nichts  Besseres  gethan 
werden  könne  und  solle,  als  möglichst  alles  „dem  freien  Sinei  der  wirtschaftlichen 
Kräfte“,  will  sagen  des  Eigennutzes,  zu  überlassen;  dass  die  schier  einzige  Aufgabe 
sei,  die  Production  zu  vermehren,  zu  verbessern,  zu  verwohlfeilem  und  dazu  deu 
technischen  Fortschritt  „durch  die  Concurrenz“  anzuspannen,  welche  letztere  hier 
immer  die  Panacee  ist.  Es  wird  vielmehr  von  jenem  socialökouomiscben  und  social- 
rechtlichen  Standpuncte  aus  nicht  verkannt,  welche  schwere  unvermeidliche  Nachtheile 
für  die  Gemeinschaft  und  für  alle  Einzelnen,  auch  die  scheinbar  Begünstigten , die 
„Starken“ , aus  diesem  „System  der  freien  Concurrenz“  hervorgehen  müssen  und 
notorisch  hervorgegangen  sind.  Es  werden  daher  hier  auch  für  die  volkswirtschaft- 
liche Theorie  und  Praxis  grosse  und  schwere  Aufgaben  gestellt  und  deren  Lösung 
in  Aussicht  genommen. 

Aber  diese  Lösung  wird  nicht  im  reinen  Socialismus  gefunden,  vor  Allem 
weil  dessen  Aberglaube  nicht  geteilt  wird,  dass  unter  Menschen,  nach  dereu 
psychischem  und  danach  bestimmtem  ethischen  Wesen,  sich  die  psychologischen  und 
practisch  ökonomisch- technischen  Schwierigkeiten  einer  socialistischen  Organisation 
und  Rechtsordnung  der  Volkswirtschaft  überwinden  lassen;  und  wenn  Das  selbst 
möglich  wäre,  dass  dabei  vielleicht  audre,  aber  muthmaasslich  weit  grössere  und  un- 
erträglichere Ucbelstände  für  die  Gemeinschaft  und  die  Einzelnen  hervortreten  würden, 
als  die  jetzt  bestehenden. 

Leidet  unter  dem  ökonomischen  Individualismus  gewiss  die 
Gleichheit,  so  unter  dem  Socialismus  die  Freiheit.  Beides 
schlimm , aber  das  Schlimmere  wohl  doch  noch  das  Letztere. 
Zwischen  beiden  Gefahren  gilt  es  wiederum  einen  Mittelweg  zu 
finden  und  in  der  Praxis  zu  wählen.  Das  eben  ist  das  Ziel  der 
socialökonomischen  und  socialrechtlichen  Auffassung,  welche  beiden 
Principien,  dem  Social-  wie  dem  Individualprincip,  durch  rich- 
tige Com  promisse  gerecht  zu  werden  sucht,  ohne  das  Schwierige 
gleich  für  unmöglich , aber  auch  ohne  das  Unmögliche  nur  für 
schwierig  zu  halten. 

Dass  dabei  auch  unter  den  günstigsten  Umständen  das  etwa  als  Ideal  für  Pro- 
duction und  Vertheiluug  vorschwebende  Ziel  niemals  erreicht  wird;  dass  jede  Aeude- 
rung  der  Rechtsordnung  und  der  Organisation  neben  neuem  Guten  manches  neue 
Ueble  schallen,  manches  alte  Gute  beseitigen,  manches  alte  Üeble  erhalten  wird,  ist 
gewiss  und  keinem  Verständigen  dieser  Richtung  unbekannt.  Es  handelt  sich  immer 
nur  um  ein,  oft  vielleicht  recht  geringfügiges.  Mehr  oder  Weniger  von  Besser 
und  Schlechter,  wozwischen  selbst  die  genaue  Bilanz  zu  ziehen  schwierig  genug 
sein  kann.  Aber  das  gilt  von  diesem  Standpuncte  aus  gegenüber  der  Kritik,  welche 
ihm  von  beiden  Seiten,  des  Individualismus  und  des  Socialismus,  wieder  zu  Theil  wird, 
für  keinen  irgend  durchschlagenden  Einwand,  sondern  im  Grunde  für  selbstverständ- 
lich. Denn  unter  menschlichen,  unter  irdischen  Verhältnissen  ist  ein  Ideal 
wohl  allenfalls  aufzustellen , aber  doch  niemals  zu  erreichen.  Immer  mit  der  Ueber- 
zeugung,  dass  man  Alles  zu  thun  suchen  muss,  um  sich  dem  Ideal  mehr  zu  nähern, 
und  dass  man  immerhin  Einiges  in  dieser  Richtung  erreichen  kann,  aber  nicht  minder 
stets  in  der  Einsicht  , dass  das  Ideal  ewig  unerreichbar  sein  und  alles  Erreichbare 
nur  die  Entfernung  der  Wirklichkeit  vom  Ideal  um  Weniges  vermindern  wird:  das 
ist  der  Standpuuct  der  socialökonomischen  und  socialrechtlichen  Aufassung  gegenüber 


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Ziel  unc  Aufgabe  dieses  Werks. 


25 


practischen  Reform  fragen  des  Wirtschaftslebens.  Von  ihm  aus  werden  nicht  gleich 
bequemer,  und  oft  genug  egoistischer  Weise  — in  dem  mit  dem  Gesammtinteresse  zu 
leicht  identificirten  Glasseninteresse  der  Besitzenden  — Unmöglichkeiten  angenommen, 
wo  nur  mehr  oder  minder  grosse  psychologische  und  practische  Schwierigkeiten  und 
Ansprüche  auf  Opfer  der  Besitzenden  vorliegen,  wie  es  der  ökonomische  Individualis- 
mus so  leicht  thut.  Aber  auch  ebenso  wenig  werden  gleich  in  leichtfertiger  Weise 
Möglichkeiten  als  sicher  realisirbar  hingestellt,  wo,  wie  bei  den  Phantasieen  des 
Socialismus  fiir  seinen  künftigen  „Socialstaat“,  nicht  bloss  enorme  practische  Schwierig- 
keiten, sondern  für  jede  ernstere  und  tiefere  Betrachtung  der  menschlichen  Natur  und 
des  Verhältnisses  der  Menschen  zur  äusseren  Natur,  sowie  der  Individuen  zur  Gemein- 
schaft und  zu  sich  untereinander  mit  höchster  Wahrscheinlichkeit  unüberwindliche 
psychologische  Hindernisse  und  eben  deshalb  so  gut  wie  Unmöglichkeiten  vorliegen. 

Solchen  entgegengesetzten  Einseitigkeiten  gegenüber  sucht  die 
socialökonoraische  und  soeialrechtliche  Auffassung  Realismus 
und  Idealismus  richtig  zu  verbinden:  d.  h.  den  Menschen 
zu  nehmen,  wie  er  ist,  aber  auch  sein  und  werden  kann,  als 
entwicklungsfähig,  auch  in  psychischer,  in  ethischer  Be- 
ziehung, aber  immer  als  „Menschen“,  nicht  als  „Teufel“,  nicht 
als  „Engel“.  Und  Engel,  wenn  nicht  gar  ein  Gott  seihst  — und 
an  das  alte  „Eritis  sieut  deus“  wird  man  bei  den  socialistischen 
Phantasiegebilden  nur  zu  oft  wieder  gemahnt!  — müssten  die 
Menschen  erst  sein,  wenn  der  volle  Socialismus  in  Erfüllung  gehen 
können  sollte. 

§.  7.  Ziel  und  Aufgabe  dieses  Werks.  Unser  Ziel  ist, 
diesen  socialökonomischen  und  socialrechtliehen  Staudpunet  in  Be- 
zug auf  die  wirthschaftsorgauisatorischen  und  wirthschaftsrechtlichen 
Verhältnisse  zur  Geltung  zu  bringen.  Insbesondere  wird  dies  mit 
vollem  Bewusstsein  und  unter  möglichster  steter  Festhaltung  und 
Folgerichtigkeit  dieses  Standpunctes  in  den  vom  Verfasser  selbst 
bearbeiteten  Theileu,  daher  vor  Allem  in  dieser  „Grundlegung“, 
erstrebt  und  als  die  zu  lösende  Aufgabe  betrachtet. 

Specicll  ferner  auch  in  manchen  Ausführungen  mehr  principieller  Natur  in  ver- 
schiedenen bezüglichen  Abschnitten  der  Finanzwissenschaft  (Staatseigentbums-,  Ver- 
staatlichongsfragen  bei  Privaterwerbs-,  Gebühren- , Regal-  und  Monopolzweigen , bei 
Erörterungen  über  das  socialpol i tische  Moment  in  der  Finanz-  und  Steuerpolitik  u.  s.  w.). 
Dem  Plane  nach  ähnlich  später  in  der  Lehre  vom  Verkehrswesen. 

Die  auch  nur  einigermaassen  befriedigende  Lösung  dieser  an 
sich  schon  so  schweren  Aufgabe  wird  durch  die  vielen  Berührungen 
einer  „Socialökonomie“  mit  anderen  Disciplinen , welche  ihr  als 
Hilfswissenschaften  zu  dienen  haben,  vollends  noch  schwieriger. 

Philosophie  im  Allgemeinen,  specicll  Psychologie,  Logik  und  Erkenntnisstheorie, 
Rechtsphilosophie,  Rechts-  und  Wirtschaftsgeschichte,  Statistik,  Jurisprudenz,  auch 
des  Privatrechts,  allgemeine  Staafswissenschaft  und  (theoretische)  Politik , öffentliches, 
namentlich  Verwaltungsrecht,  Naturwissenschaften,  Technologie.  Privatökonomik  der 
verschiedenen  Productionszweige,  Mathematik,  Wahrscheinlichkeitsrechnung,  uud  was 
nicht  noch  von  Theildisciplinen  weiter  bieten  zahlreiche,  oft  entscheidend  wichtige 
Beruhruugspuncte  mit  der  Socialökonomie.  Es  waltet  hier  ein  ähnlicher  Sachverhalt, 


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26 


Einleitung.  1.  K.  Ziel  und  Aufgabe.  §.  7,  S. 


wenn  auch  keine  so  schwere  Aufgabe,  wie  bei  der  sogenannten  „Sociologie“  ob. 
Deren  Ausbildung  zu  einer  wirklichen  Wissenschaft  rindet  ja,  abgesehen  von  dem 
unklaren  Ziel  und  der  auch  aus  anderen  Gründen  kaum  lösbar  erscheinenden  Aufgabe, 
auch  gerade  an  diesen  unendlichen  Bezügen  zu  jenen  anderen  Wissenschaften  kaum 
zu  überwindende  Schwierigkeiten. 

Wer  diese  Schwierigkeiten  erkennt,  wird  nur  mit  Zagen  an 
die  Aufgabe  gehen,  indessen  auch  auf  Berücksichtigung  dieser  Um- 
stände Seitens  einer  objectiven,  billig  denkenden  Kritik  rechnen 
dürfen. 

Aber  ist  überhaupt  die  Stellung  der  Aufgabe  selbst 
berechtigt?  Auch  das  wird  wohl  bestritten.  Denn  vielfach 
heisst  es:  das  Einzige  von  Werth  und  Bedeutung  für  deij  Fort- 
schritt der  Wissenschaft  ist  Specialarbeit,  nicht  zusammen- 
fassende. 

§.  8.  Specialarbeit  und  zusammenfassende  Arbeit. 
In  unserem  Zeitalter  ist  die  Nothwendigkeit  weit-  und  immer  weiter- 
gehender wissenschaftlicher  Specialisirung  immer  mehr  erkannt 
worden. 

Diese  Specialisirung  ist  im  letzten  Grunde  doch  die  Folge  der  gewonnenen  Ein- 
sicht, dass  die  Probleme  in  allen  Wissenschaften  viel  schwieriger,  die  Complicationen 
des  causalen  und  conditionellen  Zusammenhangs  der  Erscheinungen  viel  grösser  sind, 
als  man  früher  annahm.  Daher  müssen  die  vom  inductiven  Verfahren  geforderten 
Beobachtungen  viel  zahlreicher,  mannigfaltiger  und  sorgfältiger  sein,  verlange  das 
deductivc  Verfahren  erst  eine  viel  vorsichtigere  Vorbereitung  seiner  Voraussetzungen 
zur  gütigen  Schlussziehung  und  eine  viel  umfassendere  Prüfung  dieser  Schlüsse. 

Nun  droht  aber  diese  Specialisirung  auch  den  Gesichtskreis 
der  Specialisten  immer  mehr  einzuengeu,  den  Blick  vom  grossen 
Zusammenhang  der  Dinge  abzuwenden,  Verständniss,  Interesse  da- 
für beinahe  zu  ertödten. 

Gerade  diesen  Verhältnissen  gegenüber  hat  daher  die  zu- 
sa  m men  fassen  de  Arbeit,  welche  das  Einzelne  nicht,  wie  in  der 
Specialforschung  immer  mehr,  seiner  selbst  wegen,  sondern  nur 
in  seiner  Bedeutung  für  das  Ganze  würdigt,  doch  wueder  ihre  un- 
verkennbare Nothwendigkeit  und  auch  rückwirkend  ihren  Werth 
für  die  nicht  ganz  in  Mikrologie  aufgehende  Specialforschung. 

Allerdings  wird  auf  dem  gegenwärtigen  Standpunct  so  ziemlich  aller  Natur- 
und  Geisteswissenschaften  die  zusammenfassende  Arbeit  nicht,  wie  früher  so  leicht, 
namentlich  auch  in  der  Politischen  Oekonomie,  glauben,  etwas  Fertiges,  end- 
giltig  Abgeschlossenes  geben  zu  können.  Aber  sie  wird  es  doch  für  möglich, 
jedenfalls  für  eine  richtig  gestellte  Aufgabe  halten,  von  einer  in  bestimmter  Zeit  er- 
reichten wissenschaftlichen  Gesammtentwicklnng  und  Gesammtanscbauung  ein  einiger- 
maassen  zutreffendes  Bild  zu  geben. 

Allein  hier  entstehen  nun  die  Schwierigkeiten  für  die  zusammen- 
fassende  Arbeit  aus  dem  Vorherrschen  der  wissenschaftlichen 
Specialarbeit. 


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Specialarbeit  und  zusammcnfassende  Arbeit.  27 

Die  letztere  erfordert  so  viel  Zeit  und  Kraft,  dass  meist  ein  Jeder  durch  seine 
eine  oder  seine  wenigen  Specialitäten  ganz  in  Beschlag  genommen  wird,  selbst  inner- 
halb des  Gebiets  seiner  engeren  Fachwissenschaft  wieder  nur  auf  einigen  wenigen 
Specialgebieteb  ganz  zu  Hause  ist.  andere  Theilc  seiner  Wissenschaft  nur  noch  mehr 
oder  weniger  verfolgt,  vollends  aber  mit  anderen  Wissenschaften  immer  mehr  die 
Fühlung  verliert.  Und  doch  ist  es  ein  alter  Erfahrungssatz  der  Geschichte  der  Wissen- 
schaften, wie  befruchtend  Erkenntnisse,  Sätze,  Methoden,  Ideen  der  einen  auf  die 
andere  eingewirkt  haben.  Wo  es  sich  zumal  um  nothwendige  Fühlungen  mit  so 
vielen,  zum  Theil  weit  entlegenen  anderen  Wissenschaften  handelt,  wie  in  der  Poli- 
tischen Oekonomie  als  Socialökonomie,  machen  sich  die  angedeuteten  Schwierigkeiten 
f>xr  eine  zusammenfassende  Arbeit  natürlich  noch  stärker  geltend. 

Soll  deswegen  diese  zusammenfasseude  Arbeit  unterbleiben? 
Etwa,  wie  man  gemeint  hat,  wenigstens  auf  dem  Gebiete  unserer 
Wissenschaft  ein  paar  Mensclienalter  lang,  bis  die  Specialforsehung, 
besonders  die  wirthschaftsgescbichtliehe,  entsprechende  Fortschritte 
gemacht,  mehr  und  besseres  Baumaterial  gefördert  haben  wird? 
Abgesehen  davon,  dass  letztere  Forderung  schon  deswegen  in  sich 
zerfällt,  weil  sie  nach  einigen  Menschenaltern  gerade  so  gut,  viel- 
leicht noch  aus  mehr  Gründen,  gestellt  werden  kann  und  die 
Specialforschung  „fertig“  im  eigentlichen  Sinne  niemals  sein  wird, 
abgesehen  hiervon  muss  u.  E.  jene  Frage  aus  entscheidenden 
anderen  Gründen  verneint  werden. 

Einmal  ist  das  praktische,  auch  das  Lehr-  und  Lern- 
bedürfniss  viel  zu  gross,  um  auch  nur  für  einige  Zeit  die  Auf- 
gabe der  zusammenfassenden  neben  der  Specialarbeit  ganz  zurück- 
stellen zu  können. 

Es  würde  dann  nur  um  so  mehr  flache  Popularisirung,  wie  aus  ähnlichen 
Gründen,  weil  die  Berufeneren  sich  der  zusammenfassenden  Arbeit  zu  wenig  widmen, 
in  den  Naturwissenschaften,  Platz  greifen.  Bei  der  engen  Beziehung  der  National- 
ökonomie zum  practischen  Leben,  zu  den  politischen,  socialen  Fragen,  zu  den  Auf- 
gaben der  Gesetzgebung,  bei  der  fortwährenden  Beschäftigung  der  Tagespresso  mit 
volkswirtschaftlichen  Erscheinungen  und  Fragen  um  so  stärker  und  — um  so  ge- 
fährlicher. Dem  engen  Dunstkreis  des  Specialistcn  gegenüber,  in  welchem  der  Ge- 
lehrtendünkel,  oft  schon  in  recht  jungen  Jahren,  besonders  üppig  wuchert . mag  doch 
auch  darauf  hingewiesen  werden,  dass  ja  auch  schon  das  Erforderniss  des  akade- 
mischen Unterrichts  im  mündlichen  Vortrage  zu  einer  solchen  zusammenfassenden 
Arbeit  nötbigt.  Sie  sollte  demnach  doch  wohl  in  litterarischen  Werken,  wo  an  die 
Qualität  nur  noch  höhere  Anforderungen  gestellt  werden,  nicht  als  etwas  Massiges, 
wissenschaftlich  Geringwerthiges  angesehen  werden. 

Sodann  aber  wird  nur  durch  die  zusammenfassende 
Arbeit  etwas  geleistet,  was  die  blosse  Specialarbeit  überhaupt 
uie  leisten  und  die  Wissenschaft  doch  nicht  entbehren  kann,  ja 
etwas,  das  für  den  wissenschaftlichen  Fortschritt  und  rückwirkend 
für  fruchtbare  Specialarbeit  selbst  wieder  von  entscheidender  Be- 
deutung ist : die  richtige  Würdigung  alles  Einzelnen  für 
das  Ganze  der  Wissenschaft. 

Nur  die  zusammenfassende  Arbeit  zeigt  die  wahre  Bedeutung  der  Ergebnisse 
der  Specialarbeit,  die  Lücken  der  Erkenntniss,  welche  geblichen,  die  Besultate,  welche 


28 


Einleitung.  1.  K.  Ziel  und  Aufgabe.  §.  8,  9. 


gewonnen  sind;  weist  auf  die  wichtigen  weiteren  Aufgaben  hin;  fuhrt  zu  den  richtigen 
Fragestellungen  auch  für  die  Specialarbeit ; verhütet,  wozu  der  Specialist  so  leicht 
geneigt  ist,  dass  man  den  Wald  vor  lauter  Bauinen  nicht  sieht;  mahnt  — auch  ein 
„ethisches  Moment“  — die  Specialforschung  und  ihre  Jünger  zur  Bescheidenheit,  in- 
dem sie  ihr  die  oft  für  das  Ganze  der  Wissenschaft  so  geringfügige  Wichtigkeit  ihrer 
„Forschungsergebnisse“  klar  macht;  die  Neigung  zur  Ueberschätzung  desseu,  was  der 
eigenen  Schulrichtung  angehört,  zur  Unterschätzung  dessen,  was  einer  anderen  Rich- 
tung zu  verdanken  ist,  auf  die  sachliche  Berechtigung  prüft. 

Man  wird  sonach  bei  objectiver  Betrachtung  zugeben  müssen, 
dass  hier  wie  überall  zusammen  fassende  und  Special- 
arbeit neben  einander  her  zugehen  haben,  keine  der 
anderen  entbehren  kann,  beide  gleich  werthvoll  sind.  Die  zusammen- 
fassende ist  auch  gewiss  nicht  die  in  Hinsicht  der  Geistesthätigkeit 
und  Geistesanspannung  leichtere.  Im  Gegenthcil  wegen  ihres  noth- 
wendigen  Durchdringens  zu  den  leitenden  Puncten,  ihres  geistigen 
Beherrschens  des  Materials,  ihres  Umfangs  und  ihrer  Berührungen 
mit  anderen  Wissenschaften  ist  sie  die  weit  schwierigere.  Sie  ist 
endlich  jedenfalls  auch  diejenige,  welche  die  Führung  hat,  wie 
insbesondere  auch  die  Geschichte  der  Politischen  Oekonomie  in 
dem  Einfluss  der  Werke  der  grossen  Systematiker  und  derjenigen 
Autoren,  welche  mit  den  grossen  Principienfragen  sich  beschäftigen, 
aller  Werthlegung  auf  die  monographische  und  specialistische  Lite- 
ratur uueraehtet,  deutlich  zeigt. 

§.  9.  Das  Zusammenwirken  verschiedener  Autoren 
auf  dem  Gebiete  der  zusammen  fassenden  Arbeiten  in 
Sammelwerken.  Bei  der  Grösse  und  Schwierigkeit  der  zusammen- 
fassenden Arbeit  in  der  Socialökonomie  und  der  auch  auf  diesem 
Wissenschaftsgebiete  eingetreteuen  und  sich  immer  mehr  entwickeln- 
den Specialisirung  der  Studien  steht  man  nun  freilich  auch  hier 
wie  in  anderen  grossen  Fachwissenschaften  vor  einem  Dilemma. 

Je  mehr  ein  Einzelner  für  das  ganze  Gebiet  die  zusammen- 
fassende Arbeit  allein  oder  grössteutheils  für  sich  zu  leisten  sucht, 
desto  mehr  versagen  natürlich  seine  Kräfte,  desto  .weniger  wird  er 
auf  allen  Theilen  des  Gebiets,  was  er  freilich  auch  für  die  Bewäl- 
tigung der  zusammenfassenden  Arbeit  und  für  die  genügende 
Leistung  darin  in  einzelnen  Theilen  sein  muss,  selbst  Specialist 
sein  können.  Desto  langsamer  kann  seine  Arbeit,  wenigstens  bei 
einem  im  grossen  Styl  angelegten  umfänglichen  Werke,  vorrücken. 
Desto  unwahrscheinlicher  wird  sie  nach  den  gegebenen  Verhältnissen 
der  Lebensdauer,  der  Arbeitskraft  und  der  für  eine  solche  Arbeit 
dem  Einzelnen  verfügbaren  Arbeitszeit  vollendet  werden.  So  werden 
grosse  umfassende,  ins  Einzelne  gehende  Werke  aus  der  Feder 


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Zusammenwirken  verschiedener  Autoren. 


29 


Eines  Autors  allein  auch  bei  dem  heutigen  Stande  der  wissen- 
schaftlichen Arbeit  auf  dem  Gebiete  der  Politischen  oder  Social- 
ökonomie immer  schwieriger. 

\v  asRau  seinerzeit  für  ein  übrigens  auch  viel  kleiner,  mehr  noch  als  Grundriss 
angelegtes  Werk  noch  leisten  konnte,  ist  eben  heute  bei  der  seitdem  eingetretenen 
Entwicklung  und  Specialisirung  der  Wissenschaft  für  Einen  Mann  allein  kaum  mehr 
möglich.  Die  Rau,  die  Koscher,  die  Stein  sind  freilich  auch  selten  gesät.  Selbst  der 
Bienenfleiss  eines  Roscher  hat  über  ein  Menschenalter  gebraucht,  sein  grosses  Werk 
so  weit  zu  fordern,  wie  es  jetzt  in  den  vier  Theilen  vorliegt.  Ganz  fertig  ist  es  immer 
noch  nicht  und  in  der  Anlage  ist  es  ausserdem  auf  einen  viel  kleineren  Umfang  be- 
stimmt. geht  es  anf  Einzelnes  nicht  genauer  ein.  Die  „principielle  Erörterung“  fehlt 
ihm  grossentheils,  gerade  sie  erfordert  besonderen  Raum,  wird  aber  freilich  auch  in. 
E.  allein  den  verschiedenen  Seiten  eines  Problems  erst  gerecht.  Der  geniale  L.  Stein 
war  sicher  bis  in  sein  hohes  Lebensalter  auch  ein  Mann  von  seltener  Arbeits-  und 
Verarbeitungskraft,  wie  seine  umfangreichen,  zuin  Thcil,  wie  die  kleine  Verwaltungs- 
lehro  und  die  Finanzwissenschaft,  in  mehreren  Auflagen  (3,  bezw.  5)  erschienenen, 
darin  immer  stark  um-  und  überarbeiteten  Werke , neben  den  zahlreichen  kleineren, 
Aufsätzen,  Zeitungsartikeln  u.  s.  w.,  zeigen.  Aber  auch  er  ist  trotz  seiner  Arbeitskraft, 
seiner  Fähigkeit  zum  Formuliren,  und  trotz  seiner  flüchtigen  Schnellarbeit — grade 
auch  in  seinen  grossen  Werken  — mit  seinem  im  grossen  Styl  angelegten  Haupt- 
werke, der  grossen  Verwaltungslehre,  nicht  fertig  geworden.  Andere  deutsche  Werke 
gestatten  nach  Anlago  und  Ausdehnung  keinen  Vergleich.  G.  Cobn’s  auf  eine  An- 
zahl Bände  berechnetes  System  ist  doch  von  vornherein  absichtlich  in  kleinerem  Maass- 
stab angelegt,  aber  einstweilen  auch  bei  Colin’s  grosser  Arbeitskraft  und  schriftstellerischen 
Gewandtheit  doch  noch  nicht  über  die  zwei  Bände  der  Grundlegung  mid  der  Finanz- 
wissenschaft hinausgerückt.  In  der  ausländischen  Litteratur  fehlt  bisher  ja  fast 
allgemein  noch  grade  der  Theil,  auf  den  wir  Deutschen  besonderes  Gewicht  legen,  die 
practische  Nationalökonomie,  ferner  die  Grundlegung,  eine  besondere  Forderung  von 
meinem  Standpnncte  aus.  vielfach  auch  die  ausgebildete  Finanzwissenschaft.  Die 
fremden  „Systeme“  sind  nach  Anlage.  Umfang  und  Inhalt  in  unserem  Sinne  ,,Com- 
pendien“  oder  wie  die  vortrefflichen  Arbeiten  L.  Cossa’s  Grundrisse  und  kommen 
als  solche  nicht  in  Vergleich. 

Diese  Verhältnisse  und  die  angedeuteten  inneren  und  äusseren 
Gründe  flihreu  daher  neuerdings  auch , wie  immer  mehr  schon 
länger  auf  anderen  grossen  Wissenschaftsgebieten,  zur  Entstehung 
von  Sammelwerken,  zu  welchen  sich  v e r s c h i e d e n e A u t o r e n 
für  ein  im  grösseren  Styl  angelegtes  Werk  vereinigen,  unter  formaler 
oder  realer,  doch  auch  in  diesem  Falle  unvermeidlich  sich  in  ihrer 
Einwirkung  grosse  Beschränkungen  anferlcgender  Redaetion  eines 
Einzelnen  oder  einer  Redactionsgesellschaft:  das  Priucip  der  der 
heutigen  Specialisirung  jeder  Fachwissenschaft  entsprechenden 
Arbeitsteilung  von  förmlichen  Encyclopädieen , wo  es  schon 
lange  eingebürgert  war,  nun  auch  auf  die  zusammenfassende  Arbeit 
in  der  einzelnen  Wissenschaft  übertragen.  Ein  immerhin  wissen- 
schaftsgeschichtlich bemerkenswerthes  Entwicklungsstadium.  Der 
unverkennbare  äussere  Erfolg  dieses  Vorgehens  ist  freilich  nicht 
allein  entscheidend,  aber  er  beruht  doch,  zum  Theil  wenigstens, 
auch  mit  auf  guten  sachlichen  Gründen. 

Abgesehen  von  den  „Staatslexicis“,  „Staatswörterbüchern“  (Rotteck  und  Welcker, 
Blantschli  a.  A.),  die  grade  auch  zahl-  und  umfangreiche  volkswirtschaftliche  Artikel 


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30 


Einleitung.  1.  K.  Ziel  und  Aufgabe.  §.  9,  10. 


gebracht  haben,  ist  auf  verwandtem  Gebiete  zu  erinnern  an  die  v.  Holtzendorffschen 
Unternehmungen  (Encyclopädie  der  Rechtswissenschaft,  Strafrecht),  das  End  emann’schc 
Handelsrecht,  das  grosse  quellenreiche  Marquardsen’sche  Handbuch  des  öllentlichen 
Rechts,  das  Binding’sche  Unternehmen;  dann  auf  dem  Gebiete  der  Politischen 
Oekonomie  namentlich  au  das  Schönbcrg'sche  Handbuch  der  Politischen  Oekonoinie, 
welches  besonders  gut  eingeschlagen  und  in  9 Jahren  bereits  zur  3.  Auflage,  nun- 
mehr in  3 starken  Räuden  , gediehen  ist,  ferner  an  das  ausserordentlich  umfang-  und 
inhaltreiche,  im  Erscheinen  begriffene  Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften  unter 
der  Redaction  von  Conrad,  Elster,  Lcxis,  Löning,  das  zu  der  lexiealiseben 
alphabetischen  Form  zurnckgekehrt  ist.  Dem  Vernehmen  nach  wird  von  Seiten  einiger 
Anhänger  der  „historischen“  Nationalökonomie  trotz  aller  ablehnenden  Haltung  gegen 
die  zusammenfassende,  die  „systematische“  Arbeit,  doch  nunmehr  auch  ein  derartiges 
zusammen  fassendes  Sammelwerk  vorbereitet,  unbekümmert  um  den  Widerspruch  mit 
der  Auffassung  eines  Führers  dieser  Richtung,  wonach  es  noch  wenigstens  ein  paar 
Menschenalter  dauern  soll,  bis  derartige  Arbeit  neben  der  specialistischen  und  mono- 
graphischen wieder  am  Platze  sei.  Aus  der  fremden  Litteratur  seien  die  französischen 
„dictionnaires“  von  Block,  das  im  Erscheinen  begriffene  „nouveau  dictionnaire  d'economie 
politique“  von  L.  Say  und  Challey,  das  vollends  gross  angelegte  „dictionnaire  de 
iinances“  von  L.  Say,  Foyot  und  Lanjalley  erwähnt. 

Die  Hauptvortheile,  w'elche  auch  den  äusseren  Erfolg  dieser  Sammelwerke  mit 
erklären  und  ihn  gerechtfertigt  erscheinen  lassen,  liegen  auf  der  Hand:  die  Ver- 
einigung vieler  Kräfte,  welche  auf  ihrem  Gebiete  Specialisten  sind,  der  rasche  Fort- 
gang der  Arbeit  bei  einem  solchen  System  der  Arbeitsteilung,  die  baldige  Vollendung 
auch  bei  grossen  umfassenden  Werken,  das  schnellere  Bedürfniss  nach  neuen  Auflagen 
auch  bei  grossen  kostspieligen  Werken,  w'o  sich  daun  auch  eine  innere  sachliche  Ver- 
vollkommnung durch  die  vereinigte  Arbeit  Vieler  mit  geringerer  Muhe  herbeiführen 
und  immerhin  die  Einheitlichkeit  etwas  fördern  lässt.  Gewiss  bedingen  freilich, 
vollends  bei  dem  hierauf  berechneten  mechanisch-alphabetischen  System,  das  moderne 
Bedürfniss  und  die  übermässige  moderne  Neigung,  ein  Werk  bloss  „zum  Nachschlagen“, 
zu  rascher , tluchtiger  Orientirung  zu  haben , den  äusseren  Erfolg  dieser  als  „Nach- 
schlagewerke“ mit  dienenden  Sammelwerke  wesentlich  mit.  Insofern  fördern  die 
letzteren  nicht  grade  immer  das  ein  zusammenhängendes  Durchlesen  und  Durch- 
denken eines  grösseren  Werks  verlangende  solide  wissenschaftliche  Studium.  Auch 
die  Neigung  zur  Beschränkung  auf Specialitäten  wird  aus  den  Kreisen  der  Wissen- 
schaft leicht  auf  immer  weitere  Kreise  durch  diese  Werke  übertragen:  gleichfalls 
keine  unbedenkliche  Folge. 

Indessen  der  diesen  Werken  anklebende  Hauptmangel  ist  noch  ein  anderer: 
die  ungenügende,  wenn  nicht  ganz  fehlende  Einheitlichkeit,  die  Lücken,  die 
Widersprüche.  Dieser  Mangel  ist  nicht  völlig  zu  beseitigen,  auch  nicht  von  einer 
wirklich  thätigon  Redaction,  deren  Macht  ihren  Mitarbeitern  gegenüber  doch  unver- 
meidlich beschränkt  ist.  Je  mehr  Mitarbeiter,  je  mannigfaltiger  die  Standpuncte,  je 
mehr  die  Abweichungen  unter  einander,  desto  mehr  geht  natürlich  die  Einheitlichkeit 
in  die  Brüche.  Daraus  ist  weder  der  Redaction  noch  den  Mitarbeitern  ein  Vorwurf 
zu  machen:  der  Fehler  liegt  in  der  Aufgabe  selbst,  die  Aufgabe  aber  ist  durch  die 
Entwicklung  auch  der  Einzel  Wissenschaften  gestellt  worden.  Auch  die  grosse  Un- 
gleichmässigkeit  der  Einzelarbeiten  in  formeller  Hinsicht,  in  Umfang,  Behandlungs- 
weise lässt  sich  nicht  genügend  abstellen.  Selbst  die  nahe  Verwandtbeit  der  Richtung, 
der  Auffassung,  des  principiellen , des  methodologischen  Standpnncts  hilft  Uber  diese 
Schwierigkeiten  nicht  hinweg.  Es  sind  eben  doch  immer  verschiedene  Menschen 
und  — Gelehrte,  welche  hier  Zusammenwirken  und  dabei  nnmöglicb  oder  nnr  zum 
Schaden  der  Sache  das  Beste  opfern  können,  was  sie  haben,  ihre  geistige  Individualität. 
Man  muss  daher  bei  Sammelwerken  mehrerer  Autoren  die  Ansprüche  in  den  au- 
gedeuteten Beziehungen  beschränken  und  die  unausbleiblichen  Mängel  in  Betreff  der 
Einheitlichkeit  durch  die  erwähnten  unverkennbaren  Vortheile  aufgewogen  annehmen. 

Je  geringer  die  Anzahl  der  Mitarbeiter,  je  mehr  dieselben  wenigstens  in  gewissen 
Grundanscliauungcn  über  Methode,  Aufgabe,  Ziel  Ubereinstimmen,  je  mehr  die  Ver- 
keilung des  Stoffs  unter  ihnen  den  Specialstudien,  der  Anlage,  der  Neigung  eines 
Jeden  entspricht  und  — das  Wichtigste  von  Allem  — je  mehr  die  von  dem  Einzelnen 
bearbeiteten  Theile  selbständige  Glieder  und  insofern  einigermaassen  wieder  je 


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Arbeitsteilung;  in  Sammelwerken  und  in  diesem  Werke. 


31 


ein  kleines  Ganzes  für  sich  darstellen,  desto  mehr  werden  die  Vortheile  des 
Zusammenwirkens  die  Nachteile  überwiesen  und  namentlich  die  Einheitlichkeit  nicht 
g3r  zu  sehr  stören.  Freilich  bedingt  aber  eine  kleinere  Anzahl  Zusammenarbeiteuder 
wieder  eine  Uebernahme  grösserer  Theile  des  ganzen  Werks  durch  den  Einzelnen, 
welcher  dann  nicht  leicht  in  dem  ganzen  von  ihm  Übernommenen  Gebiete  gleich- 
massig  Specialist  seiu  wird. 


§.  10.  Arbeitsteilung  in  Sammelwerken  der  Poli- 
tischen Oekonomie  und  speciell  in  diesem  Werke, 
ln  der  Politischen  Oekonomie  liegt  es  nahe,  nach  den  üblichen 
drei  grossen  Ilaupttheilen , der  theoretischen,  allgemeinen, 
der  practischen,  speciellen  Volks wirthschafts  lehre 
und  der  Finanzwissenschaft  und  dann  etwa  weiter  auf  dem 
grossen  Gebiete  der  speciellen  Volkswirtschaftslehre  nach  den 
näher  zusammenhängenden  Gegenständen  den  Stoff 
unter  mehrere  Mitarbeiter  zu  vertheilen,  ln  der  speciellen  National- 
ökonomie trennen  sich  die  Einzelgebiete  wieder  nach  sachlichen 
und  mit  Rücksicht  auf  die  Arbeitsteilung  der  Studien  auch  nach 
persönlichen  Gesichtspuncten  und  können  demnach  eher  von  ver- 
schiedenen Personen  bearbeitet  werden.  Aehnlicbcs  würde  von  der 
Finanzwissenschaft  gelten.  Bei  einem  solchen  Vorgehen  werden 
auch  die  verbleibenden  Mängel  in  Bezug  auf  Einheitlichkeit  geringer 
werden  können  und  weniger  stören. 

Schwieriger  und  misslicher  ist  eine  Theilung  des  allge- 
meinen theoretischen  Theils  unter  verschiedene  Mitarbeiter 
und  sonach  die  in  der  nunmehrigen  Bearbeitung  dieses  Werks 
erfolgte  Trennung  der  „Grundlegung“  von  der  theoretischen  National- 
ökonomie und  die  Uebernahme  dieser  beiden  Theile  durch  ver- 
schiedene Personen.  Denn  gerade  hier  ist  die  Einheitlichkeit  der 
Auffassung,  Behandlung,  Durchführung  am  Meisten  Bedürfnis. 

Wenn  anderseits  hier  auch  die  zahlreichsten  Berührungen  mit  allen  jenen  anderen 
Wissenschaften  vorliegen,  welche  die  Lösung  der  Aufgabe  dem  einzelnen  Autor  so 
erschweren,  so  wiegt  selbst  das  daraus  abgeleitete  berechtigte  Bedenken,  dass  ein 
Einzelner  für  sich  dieser  Schwierigkeiten  weniger  als  mehrere  vereint  Herr  werden 
dürfte,  nicht  so  schwer,  als  das  andere  Bedenken,  grade  hier  die  nothwendigo  Ein- 
heitlichkeit bei  einer  Theilung  der  Arbeit  unter  verschiedene  Personeu  zu  sehr  ge- 
fährdet zu  sehen. 


Ich  gestehe  daher  zu,  dass  nur  besondere  Umstände  diese 
Theilung  der  Bearbeitung  der  Grundlegung  und  der  theoretischen 
Nationalökonomie  unter  verschiedene  Personen  in  diesem  Werke 


rechtfertigen,  können  und  dass  das  angedeutete  Bedenken  nicht 
ganz  verschwindet. 


Diese  Erwägung  hatte  mich  auch  früher  bestimmt,  wenigstens  die  Grundlegung 
und  die  theoretische  Nationalökonomie  für  mich  zu  reserviren  und  sie  allein  zu  be- 
arbeiten. Indessen  die  Ueberzcugung . die  ich  nach  längerer  Erfahrung  gewinnen 
musste,  dass  meine  Kraft  und  Zeit  für  eine  auch  hier  geplante  eingehende  und  umfang- 


4 

i 


32 


Einleitung.  1.  K Ziel  und  Aufgabe.  §.  10,  11. 


reiche  Behandlung  dieser  Theile  des  Werks  nicht  ausreichen  würde,  — zumal  neben 
der  Oebernahme  andrer  Theile,  wie  vor  Allem  der  Finanzwissenschaft  und  des  Ver- 
kehrswesens, auf  deren  Gebieten  ich  mich  am  meisten  als  Specialist  fühlen  darf  uud 
wovon  ich  die  Finanzwissenschaft  schon  grossentheils  fertig  gestellt  hatte  — diese 
Ueberzeugung  bestimmte  mich  doch . meine  Bearbeitung  auf  die  Grundlegung  nun- 
mehr zu  beschränken.  Da  es  mir  gelungen  ist,  als  Bearbeiter  für  die  theoretische 
Nationalökonomie  einen  mir  in  Richtung  und  Methode  besonders  nahe  stehenden 
Gelehrten,  welcher  sich  mit  diesem  Theile  mit  Vorliebe  beschäftigt  hat,  zu  gewinnen, 
darf  ich  auch  hollen,  dass  zwischen  der  Grundlegung  und  diesem  anderen  Theile  des 
Werks  keine  zu  grossen  Differenzen  in  der  Gesammtauffassung  hervortreten.  Völlig 
worden  dieselben  freilich  hier  wie  auch  zwischen  mir  und  den  anderen  Herren  Mit- 
arbeitern in  unseren  verschiedenen  Theilen  und  diesen  Herren  unter  einander  nicht  zu  ver- 
meiden sein.  Das  muss  man  bei  einem  Sammelwerke  verschiedener  Autoren  hinnehmen. 
In  der  practischen  Nationalökonomie  und  in  der  Finanzwissenschaft  werden  etwa  sich 
zeigende  Mcinungsdifferenzen  übrigens  auch  bei  der  grossen  Relativität  aller  Ansichten, 
welche  grade  hier  anzuerkennen  ist,  weniger  bedenklich. 

Mehr  stören  kann  wieder  die  verschiedene  Auffa«sung  zwischen  den  Bearbeitern 
der  Grundlegung,  der  Theorie  einer-  und  anderseits  der  Literaturgeschichte. 
Erwünscht  wäre  deshalb  gewiss  wieder  die  Bearbeitung  der  letzteren  durch  den  Be- 
arbeiter der  Grundlegung  und  der  Theorie,  um  der  grösseren  Einheitlichkeit  der 
Auffassung  Willen.  Indessen  fühlte  ich  mich  hier  nicht  Specialist  genug  und  wagte 
es  nicht,  neben  den  anderen  umfänglichen  von  mir  übernommenen  Arbeiten  an  diesem 
Werke  mit  Rücksicht  auf  Kraft,  Zeit  und  Lebensdauer  die  Literaturgeschichte  selbst 
mit  zu  übernehmen,  da  ich  nicht  sicher  war,  ob  es  mir  möglich  sein  würde,  die 
erforderlichen  weiteren  Specialstudien  in  absehbarer  Zeit  zu  Ende  zu  führen. 

§.  11.  Die  geistige  Individualität  der  Gelehrten 
als  Factor  ihrer  Arbeitsweise.  Bei  den  im  Vorausgehenden, 
namentlich  in  den  letzten  vier  Paragraphen  behandelten  Puncten 
und  Fragen  ist  Eines  Umstands  noch  nicht  näher  gedacht  worden, 
welcher  doch  gerade  für  jede  wissenschaftliche  Arbeit  von  ent- 
scheidender Bedeutung  ist.  Er  hat  bisher  auch  selten  gebührende 
Würdigung,  in  der  Regel  gar  keine  weitere  Beachtung  gefunden. 
Ich  meine:  die  geistige  Individualität  jedes  einzelnen 
Mannes  der  Wissenschaft  und  wissenschaftlichen  Schriftstellers,  wie 
sic  nicht  nur  im  selbstverständlich  so  verschiedenen  Maasse, 
sondern  vor  Allem  auch  in  der  naturgegebenen  Art  seiner 
Anlage,  Begabung,  und  wesentlich  davon  abhängig  in  seiner  wissen- 
schaftlichen Methode  und  Arbeitsweise,  seiner  Neigung,  Richtung, 
seinem  Studiengang,  seinen  Studienobjecten  hervortritt  und  schliess- 
lich doch  seine  ganze  geistige  Arbeit  beherrscht.  In  der  Kunst, 
wo  es  freilich  offener  liegt,  im  practischen  Leben  und  Wirken  ist 
die  Bedeutung  dieses  Factors  weniger  verkannt  worden.  In  der 
Wissenschaft  glaubt  man  sie  ignoriren  oder  das  Mitspielen  eines 
solchen  Factors  selbst  für  unerlaubt  halten  zu  sollen.  Aber  er 
lässt  sich  einmal  nicht  eliminiren. 

Namentlich  bei  deu  üblichen  Schu  (Streitigkeiten  über  die  ,, richtige  Methode*1, 
wie  'sie  neuerdings  auch  in  der  deutschen  Nationalökonomie  so  anmuthig  geführt 
werden,  in  der  einer  bestimmten  sreistigen  Individualität  entsprechenden  litterarischen 
Kritik  der  Arbeiten  anderer  „Richtungen“  zeigt  sich  die  Ignorirung  oder  falsche  Be- 


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(ieistigc  Individualität  und  Arbeitsweise. 


33 


ortheilung  des  Mitspielens  jenes  Factors  in  recht  unerfreulichen  Folgen:  hochmütiges, 
bornirtes.  schulmeisterliches  Absprechen  über  andersartige  Leistungen,  als  die  eigenen 
Qod  der  der  geistesverwandten  Freunde,  Beurtheilung  aller  litterarischen  Arbeiten 
immer  nur  an  dem  Maassstab  der  eigenen  geistigen  Individualität,  die  damit  wie  selbst- 
verständlich zur  allein  berechtigten  gemacht  und  zur  Alles  allein  entscheidenden  — 
.päpstlichen“  — Instanz  erhoben  wird,  was  denn  manches  Weitere,  auch  für  die 
äasseren  Lebensverhältnisse  und  persönlichen  Bestrebungen  nicht  Unwichtige,  aber 
reuig  Erwünschte  mit  sich  führt. 

Man  wendet  freilich  wohl  ein,  die  wissenschaftliche  Methode 
sei  etwas  durchaus  Objectives,  nichts  Subjectives,  die 
„richtige“  Methode  sei  durch  Lehre  und  Beispiel  übertragbar  und 
müsse  im  Interesse  „wahrer  Wissenschaft“  übertragen  werden, 
was  „Duldung“  in  der  litterarischen  Kritik  u.  s.  w.  gegen  Ver- 
treter „falscher“  Methode  ausschliesse. 

So  wird  etwa  gegenwärtig  seitens  der  „historischen  Nationalökonomie“  das  Auf- 
treten gegen  die  rückständigen  Anhänger  veralteter  „Schuldogmatik“,  Seitens  „historisch- 
psychologisch  inductiver  Forscher“  gegeu  die  alten  Sünder  der  „abstracten  Deduction“, 
Seitens  der  Specialisten  und  Monographen  gegen  die  Systematiker,  zumal  gegen  die, 
welche  mit  unzulänglichen  Mitteln  weit  verfrüht  „Systeme  zusammenschmiedeten“, 
..Theorieen  construirten,“  zu  rechtfertigen,  mindestens  zu  entschuldigen  gesucht. 

Allein  nicht  nur  liegt  hier  eine  besten  Falles  sehr  übertriebene 
Geringschätzung  einer  anderen  als  der  eigenen  Methode  und  eine 
gleich  übertriebene  Uebersehätzung  der  eigenen  Methode  und  deren 
Leistungsfähigkeit  vor,  — m.  E.  auch  eine  confuse  methodologische 
Auffassung  und  Stellung,  mit  in  Folge  der  unzulänglichen  Unterschei- 
dung der  verschiedenartigen  Aufgaben  der  Wissenschaft  (§. 55 ff.)  — : 
selbst  davon  abgesehen,  ist  es  eben  ein  Irrthum,  dass  die  Me- 
thode und  alles,  was  mit  ihr  in  Betreff  der  wissenschaftlichen  Auf- 
fassung, Stellungnahme,  Aufgabestellung  u.  s.  w.  zusammenhängt, 
etwas  so  durchaus  Objectives,  durch  Lehre  Uebertragbares  sei. 
Die  Methode  und  Arbeitsart  eines  Jeden  ist  wesentlich  mit  bedingt 
durch  seine  geistige  Individualität,  die  der  Einzelne  so  wenig  wie 
seine  physische  Eigenart  abstreifen  kann.  Dass  er  danach  in 
bestimmter  Weise  arbeitet  und  nach  dem  ihm  innewohnenden 
eigenen  Maassstab  die  Arbeit  Anderer  beurtheilt,  ist  daher  auch 
nicht  zu  tadeln.  Was  aber  bei  aller  Anerkennung  einer  gewissen 
..Naturgebundenheit“  auch  der  einzelnen  geistigen  Individualität 
verlangt  und  auch  erreicht  werden  kann,  ist  nur,  dass  Jeder  sich 
der  Grenzen,  die  ihm  hiernach  gesteckt  sind,  bewusst  wird  und 
dass  er  den  seiner  eigenen  Individualität  entsprechenden  Maassstab 
anderen  Individualitäten  gegenüber  nicht  für  den  allein  richtigen 
hält.  So  wird  grössere  Gerechtigkeit  gegen  Andere,  aber  auch  gegen 
«ch  selbst  und  die  Erkenntnis  erreicht  werden,  dass  gerade  auch 
auf  wissenschaftlichem  Gebiete  die  Leistlingen,  welche  von  der 

Tagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Tliell.  Grundlagen.  3 


34 


Einleitung.  1.  K.  Ziel  und  Aufgabe.  §.  11,  12. 


Verschiedenheit  der  geistigen  Individualität  abhängen,  sich 
zu  ergänzen  haben,  — nach  dem  alten  Worte:  es  sind  mancher- 
lei Gaben,  aber  es  ist  Ein  Geist.  Nur  so  wird  man,  im  wahren 
Interesse  der  Wissenschaft,  dahin  gelangen,  dass  ein  Problem  nach 
den  verschiedenen  Seiten,  welches  es  bietet,  genügend  behandelt 
wird.  Wenn  in  irgend  einer  Wissenschaft,  so  ist  das  aber  in  der 
Politischen  Oekonomie  als  einer  Socialrkonomie  wichtig. 

Der  leidige,  hüben  und  drilben  einseitig  und  verbitternd,  mit  verlet/endem  Hocli- 
muth  und  engem  Blick  aber  am  Meisten  von  der  jüngeren  deutschen  historischen 
Schule  — z.  B.  in  den  ürtheilen  über  Ricardo,  über  die  neuere  verdiente  österreichische 
„deductive  Schule“  — geführte  Methoden  streit  liefert  zahlreiche  Belege  für  das 
Gesagte.  Die  Einen  werfen  den  Anderen  vor,  dass  sie  einseitig  „deductive“,  „dogma- 
tische“, die  letzteren  jenen,  dass  sie  einseitig  „inductive  Köpfe“  seien.  Hiermit  be- 
stätigen sic  nur  die  Wahrheit,  dass  grade  in  dieser  Hinsicht  die  geistigen  Individuali- 
täten nach  ihrer  Naturanlage  sich  oben  unterscheiden.  Daraus  sollte  man  entnehmen, 
wie  gleichfalls  aus  einer  unbefangenen  Prüfung  des  Wesens,  der  Vorzüge,  der  Mängel 
jeder  der  beiden  Hauptmethoden,  aus  einer  Untersuchung  der  Voraussetzungen  beider, 
der  Anwendbarkeit  derselben  je  nach  den  speciellen  Aufgaben,  welche  vorliegen,  folgt, 
dass  beide  Methoden  und  die  mit  ihnen  Arbeitenden  sich  zu  ergänzen 
haben.  Statt  dessen  glaubt  der  Eine  auf  den  Anderen  herab  sehen  zu  können, 
weil  er  anders  argumentirt , anders  arbeitet,  sich  andere  Kragen  , der  Wissen- 
schaft andere  Aufgaben  zur  Lösung  stellt,  als  er! 

Gewiss  ist  der  „ideale“  wissenschaftliche  Kopf  derjenige,  welcher  in  sich  die 
Eigenschaften  des  deductiven  und  inductiven  Kopfes  gleiclnnässig  vereinigt.  Aber 
solche  Ideale  schafft  die  Natur  auch  im  geistigen  Leben  nur  in  den  aller  seltensten, 
dann  freilich  phänomenalen  Fällen.  In  der  Kegel  überwiegt  die  eine  oder  andere 
Geistesanlage,  mitunter  bis  zu  dem  Grade,  dass  es  dem  specifisch  „deductiven“  oder 
„inductiven  Kopf“  schwer  fällt,  für  die  Beweisführung  des  Anderen  Verständniss  zu 
erlangen.  Nicht  selten  wird  mit  einer  solchen  einseitigen  Beanlagung  eine  besondere 
geistige  Leistungsfähigkeit  in  der  betreffenden  Richtung  verbunden  sein.  Aber  wenn 
das  dazu  fuhrt,  der  eigenen  Auffassungs-  und  Arbeitsweise  eine  absolute  statt  einer 
immer  nur  relativen  Berechtigung  beizulegen  und  umgekehrt  etwa  derjenigen  des 
Andersbeanlagten  nicht  einmal  eine  solche  relative  Berechtigung  zuzugestehen,  so 
liegt  doch  eine  grosse  persönliche  Beschränktheit  vor.  Dieselbe  wird  dadurch  nicht 
entschuldigt,  dass  sie  auf  „ehrlicher  üeberzeugung“  beruht  und  wird,  mit  dem  üblichen 
Hochmuth  gegen  den  Anderen  verbunden,  vollends  unentschuldbar. 

Gewiss  hängt  es  mit  dieser  naturgegebenen  Verschiedenheit  der  geistigen  Anlage 
zusammen  und  ist  insofern  in  gewissen  Grenzen  auch  berechtigt,  ja  völlig  gar  nicht 
anders  möglich,  dass  ein  Jeder  nach  seiner  Anlage  sich  seine  Aufgaben  in  der 
Wissenschaft  sucht.  Auch  das  ist  begreiflich  und  nicht  unberechtigt,  dass  ein  Jeder 
Interesse  und  Werth  der  Arbeiten  Andrer  darnach  bemisst,  wie  weit  diese  eben  seiner 
eigenen,  von  seiner  individuellen  Anlage  bedingten  Auffassung  und  Richtung  ent- 
sprechen: m.  a.  W.  er  wird  danach  unwillkührlich  mehr  oder  weniger  sympathisch 
oder  antipathisch  zur  fremden  Leistung  stehen.  Das  ist  sein  gutes  Recht.  Aber  er 
kommt  ins  Unrecht,  wenn  er  sich  verleiten  lässt,  sein  Urtheil  zum  allgemein  gütigen 
erheben  zu  wollen,  cs  für  objectiv  auszugeben , während  es  nur  ein  subjectives,  nicht 
nach  seinem  Willen,  aber  wohl  nach  seiner  Geistesanlage  ist.  Der  Einzelne  wird  z.  B. 
auf  dem  Gebiete  unserer  Wissenschaft  seiner  geistigen  Individualität  nach  eine  de- 
ductive oder  eine  inductive  Beweisführung  für  überzeugender  halten,  für  sich  mit 
Recht,  aber  als  allgemeine  Norm  für  Alle,  auch  für  Andcrsbeanlagte,  eben  nicht 
mit  Recht..  Das  möchte  in  der  Hitze  des  Methodenstreits  auch  oft  vergessen 
worden  sein. 

Gefährlich  für  die  Entwicklung  der  Wissenschaft,  wie  auch  ethisch  in  so  mancher 
Hinsicht  bedenklich,  wird  es  vollends,  wenn  nun  eine  einer  bestimmten  Geistesanlage 
entsprechende  methodische  Richtung  durch  An-  und  Zusammenschluss  verwandter 
„Köpfe“  zu  einer  „Schulrichtung“  oder  „Schule“  wird,  wie  in  Epigonenperioden 


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Die  Bearbeitung  der  Grundlegung. 


35 


in  Wissenschaft  und  Kanst  so  leicht.  Dann  bestärkt  man  sich  gegenseitig  — „unter 
sich“  — nur  immer  mehr  in  der  Einseitigkeit.  Die  Schulrichtung  fahrt  zur  — 
„Verschulung“,  wofür  die  Geschichte  der  Wissenschaften  und  der  Künste  so  manche 
bedauerliche  Beispiele  geliefert  hat. 

Es  ist  nicht  überflüssig  und  nichts  weniger  als  ein  hors  d'oeuvre  in  diesem 
Werke  und  an  dieser  Stelle,  das  Vorausgehende  einmal  hervorzuheben,  gegenüber 
Tendenzen , welche  sich  auch  in  der  deutschen  Wissenschaft  zeigen.  Auch  in  der 
Politischen  Oekonomie  soll  dann  wohl  nur  Eine  Arbeitsweise,  nur  Eine  Aufgabe- 
Stellung  gelten.  Mit  der  Frage,  von  der  wir  ausgingen,  — Beziehung  von  Special- 
und  zusam  men  fassender , analytischer  und  synthetischer,  historischer  und  systemati- 
scher, descriptiver  und  principiell  erörternder  Arbeit  und  Berechtigung  auch  immer 
der  zweiten  in  dieser  Reihe  neben  der  ersten  — hängt  das  Gesagte  auch  eng  genug 
zusammen.  Denen,  an  deren  Adresse  diese  Apostrophe  geht,  möchte  ich,  das  Dichter- 
wort  etwas  verändernd,  zurufen: 

„Was  man  den  Geist  der  Wissenschaft  heisst. 

Das  ist  am  End  der  Herren  eigener  Geist, 

In  dem  die  Wissenschaft  sich  bespiegelt.“ 

Zur  Herstellung  eines  allseitig  befriedigenden  wissenschaftlichen  Werks  im  grossen 
Styl  über  Socialökonomie  sind  geistige  Eigenschaften,  Fähigkeiten,  Studien  und  Kennt- 
nisse erforderlich,  wie  sie  seit  A.  Smith  wenigstens  noch  nicht  wieder  in  Einer  Per- 
sönlichkeit in  genügendem  Maasse  vereinigt  gefunden  worden  sind  und  wie  sie  heute 
zu  vereinigen  nach  einer  Entwicklung  von  vier  Menschenaltern  freilich  auch  viel 
schwerer  geworden  ist,  als  zu  Zeiten  A.  Sraith’s.  Um  einmal  durch  Namennennung 
— wenigstens  einiger  Hauptnamen  — concret  zu  werden:  die  spcculativc  Abstractions- 
und  Coüstructionsfähigkoit  und  geniale  Intuition  eines  Schäffle  und  L.  Stein,  eines 
Rodbertus  und  Marx,  die  dialectische  Fähigkeit  beider  letzteren  und  eines  Engels, 
Lassalle,  die  deductive  Begabung  und  logische  Schärfe  eines  Ricardo,  Hermann, 
v.  Thünen,  Marx.  Knies,  Neumann,  Menger,  die  Tiefe  und  vielseitige  geschichtliche 
Auffassung  und  Bildung  eines  Roscher,  Knies,  Rodbertus,  Schmoller,  die  Genialität 
auf  statistischem  Gebiete  eines  Engel,  die  geniale  Verknüpfung  des  Oekonomischen 
und  Politischen  bei  einem  List,  die  systematische  Gründlichkeit,  Nüchternheit  und 
Objectivität  eines  Rau,  — Alles  dieses  und  noch  manches  Weitere,  wie  ausgedehntestes 
und  intensivstes  Specialstudium  auf  allen  Gebieten  der  Theorie  und  Praxis  der  Volks- 
wirtschaft in  Gegenwart  und  Vergangenheit,  wie  genaueste  Fühlung  mit  allen  den 
früher  genannten  Wissenschaften,  welche  für  uns  als  Hilfswissenschaften  in  Betracht 
kommen,  müsste  sich  vereinigen,  um  alle  Ansprüche  befriedigen  zu  können.  Man 
wird  sich  eben  deshalb  bescheiden  müssen. 

§.  12.  Die  Bearbeitung  der  Grundlegung.  Zumal 
für  denjenigen  Theil  dieses  Werks,  welcher  doch  der  schwierigste 
nach  seiner  Aufgabe  sein  möchte,  für  die  Grundlegung,  bin 
ich  mir  voll  bewusst,  dass  es  sich  nur  um  Versuche  handeln 
kann,  welche  milder  ßeurtheilung  bedürfen. 

Mit  diesen  Versuchen  mache  ich  nicht  den  Anfang.  Namentlich  Schäffle  ist 
mir  darin  schon  in  seinem  gesellschaftlichen  System  der  menschlichen  Wirtschaft  mit 
gutem  Erfolge  vorangegangen  (s.  n.  S.  42  ff.)  Er  und  Rodbertus  (s.  u.  S.  39  ff.)  sind  die 
beiden  zeitgenössischen  Schriftsteller,  welchen  ich  mich  für  Anregungen  zu  Ausführungen, 
wie  denen  in  der  Grundlegung,  am  Meisten  verpflichtet  fühle,  ln  wichtigen  Lehren,  be- 
sonders in  denjenigen  über  die  Organisation  der  Volkswirtschaft,  speciell  über  das  gc- 
meinwirthscbaftliche  System  schliessc  ich  mich  näher  an  Schäffle  an.  Auch  Knies’ 
Hauptwerk  bin  ich  besonderen  Dank  schuldig.  Dasselbe  ist  in  einer  Hinsicht  ebenfalls  als 
ein  Versuch  einer  Grundlegung,  welcher  von  einem  anderen  wissenschaftlichen  Stand- 
puncte  ansgebt,  anzusehen.  Diesem  Standpunctc  stehe  ich  aber  nicht  so  fern,  als 
es  scheinen  könnte. 

Meinem  wissenschaftlichen  Standpuncte  gemäss  strebe  ich  auch 
in  der  „Grundlegung“  nach  systematischer  Behandlung  und 

3* 


36 


Einleitung.  1.  K.  Ziel  und  Aufgabe.  §.  12. 


unter  gewissen  Voraussetzungen  und  in  gewissen  Grenzen  nach 
dogmatischer  Formulirung  und  abstracter  Fassung  der 
Ergebnisse  der  Untersuchung. 

Dies  Bestreben,  wie  das  ähnliche  Schäffles,  erfährt  zwar  von  der  jüngeren 
deutschen  historisch-nationalökonomischen  Richtung  den  Vorwurf,  es  sei  nicht  richtig, 
die  veraltete  Schuldogmatik  durch  eine  neue  „Dogmatik“  zu  ersetzen,  statt  sich  auf 
Darstellung  des  historischen  Verlaufs  der  wirthschaftlichen  Erscheinungen  und  Ent- 
wicklungen zu  beschränken,  neue  unhaltbare  und  mindestens  verfrühte  Versuche  der 
Systematisirung  zu  machen,  statt  concret  zu  describiren,  zu  schildern,  unreale  Ab- 
stractionen  zu  bilden.  Indessen,  diesen  Vorwurf  ertrage  ich  auch  mit  Schaff le  zu- 
sammen ruhig.  Zur  Widerlegung  genügt  es  hier,  auf  das  Vorausgeschickte,  ferner 
auf  die  Erörterungen  im  2.  Kapitel  der  Einleitung  (besonders  §.  15),  sowie  auf  das 
spätere  Kapitel  von  Aufgabe,  Methode  und  System  im  ersten  Buche  Bezug  zu  nehmen. 
Im  Uebrigen  gilt  es  aber  bemüht  zu  sein,  soweit  die  Kräfte  reichen,  durch  das  Werk 
selbst  die  ja  nicht  in  jeder  Hinsicht  unrichtigen  Bedenken  zu  widerlegen , welche  mit 
jenem  Vorwurfe  in  Verbindung  stehen1). 

Besonders  hervorheben  möchte  ich  an  dieser  Stelle  nur  noch, 
dass  Ziel  und  Aufgabe,  welche  mir  gerade  in  der  Grundlegung 
vorschweben  (§.  7),  die  principielle  Widerlegung  der  ,, britischen 
Oekonomik“,  des  „Systems  der  freien  Concurrenz“  und  die  Er- 
setzung dieser  Lehre  durch  eiue  besser  fundamentirte  Socialökono- 
mie, der  individualrechtlichen  durch  eine  socialrechtliche  Auffassung 
der  wirthschaftlichen  Rechtsordnung,  unbedingt  systematische 
Behandlung,  dogmatische  Formulirung  und  abstracte  Fassung 
der  Ergebnisse  fordern. 

Nur  diese,  nicht  die  „historische  Darstellung“  der  Entwicklung  einzelner 
wirtschaftlicher  Erscheinungen  und  Einrichtungen,  auch  nicht  die  kritische  Analyse 
und  Beurteilung  einzelner  wirtschaftlicher,  socialer  Zustände,  endlich  auch  nicht  die 
Erörterung  einzelner  Keformfragen  kann  das  leisten.  In  der  Grundlegung  handelt  es 
sich  vomemlich  um  zwei  freilich  eng  zusammenhängende,  aber  doch  theoretisch  und 
practisch  zu  unterscheidende  Reihen  von  Problemen,  nicht  nur  um  zwei  einzelne 
Probleme:  um  die  allgemeinsten  Principienfragen  einmal  der  Organisation,  zweitens 
der  Rechtsordnung  der  Volkswirtschaft.  Die  Beschäftigung  mit  diesen  Problemen 
uud,  so  weit  das  in  der  Wissenschaft  möglich  ist,  die  Lösung  derselben,  führt  not- 
wendig zu  der  Behandlungsweise  des  Gegenstands  nach  den  augedeuteteu  Zielpuncten. 

*)  Vgl.  unten  in  §.16  das  über  Schmoller  Gesagte  und  dessen  dort  er- 
wähnte bezügliche  Ausführungen.  Den  Schmollcr’schen  verwandte  Ansichten  bei 
einem  meiner  Kritiker,  A.  Held,  „Uber  einige  neuere  Versuche  zur  Revision  der 
Grundbegriffe  der  Nationalökonomie“,  Hildebrand’s  Jahrbücher  1876,  B.  27,  S.  144  ff. 
Ebendaselbst  aber  auch  eine  andere  Stimme  hierüber,  H.  v.  Scheel,  1877,  B.  28, 
S.  131.  Ob  meine  Vorwürfe  über  die  überhebendc  Art  der  jüngeren  historischen 
Richtung  gegenüber  anderen  Richtungen  und  Arbeitsweisen  unbegründet  sind,  mag  ein 
Citat  einer  neuesten  bezüglichen  Aeusserung  G.  Schmoller’s  beantworten.  Derselbe 
sagt  (Preuss.  Jahrbücher,  1 802,  I,  458):  „Leben  wir  doch  in  einer  Zeit,  in  der,  um 
mit  Taine  zu  reden,  die  wissenschaftlichen  Operationen  auf  dem  Gebiete  der  Moral- 
und Staatswissenschaften  nicht  mehr,  wie  es  wünschenswerth  wäre,  ausschliesslich  in 
den  Händen  von  geschickten , scharfsinnigen  und  vorsichtigen  Geschichtsforschern. 
Rechtgelehrton  und  Volkswirthen  ruhen,  sondern  ebenso  sehr  in  denen  von  Stuben- 
gelehrten, Dilettanten  und  öffentlichen  Marktschreiern.  Die  Folge  sind  halbfertige  Ent- 
würfe von  Wissenschaften,  voreilige  Systeme,  ,,  „heillose  Compositioncn  und  mörderische 
Explosionen““  — Sapienti  sat. 


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37 


Zweites  Kapitel. 

Verhältnis  zu  anderen  Standpuncten  und  litterarische 
Nachweisungen  für  die  Grundlegung. 

§.  13.  Der  Socialismus.  Der  Standpunct  dieses  Werks 
steht  in  der  historischen  Grundauffassung  des  Wirtschaftslebens 
als  eines  mit  der  wirtschaftlichen  Rechtsordnung  in  Wechsel- 
wirkung stehenden  Entwicklungsprocesses  und  in  der  Kritik  der 
Theorie  und  Praxis  des  ökonomischen  Individualismus  dem  wissen- 
schaftlichen Socialismus  nabe,  er  deckt  sich  aber  auch  in  diesen 
Puncten  nicht  mit  ihm.  Er  w’eicht  noch  mehr  und  principiell  von 
ihm  ab  in  den  positiven  Lehren  und  Forderungen  hinsichtlich  der 
der  Annahme  nach  naturnotwendigen  Weiterentwicklung  der  heu- 
tigen privatkapitalistischen  Wirthschaftsperiode  zur  voll  und  ganz 
socialistischen , auf  der  Grundlage  des  alleinigen  gesellschaftlichen 
Gemeineigentums  an  den  sachlichen  Productionsmitteln , Boden 
und  Kapital,  d.  h.  zur  rein  gemeinwirtschaftlichen  statt  der  privat- 
wirthschaftlichen  oder  der  combinirt  gemein-  uud  privatwirtbschaft- 
lichen  Organisation. 

Der  wissenschaftliche  Socialismus,  und  zwar  vornemlich  doch  erst  in  der  ihm 
durch  die  Deutschen  gegebenen  Form  uml  tieferen  Begründung,  der  Verdienste  der 
früheren  Engländer  uud  Franzosen  unbeschadet1),  hat  in  der  Unterscheidung  der  rein- 
ökonomischen  und  der  historisch  - rechtlichen  Auffassung  und  der  bezüglichen  Kate- 
gorieen  des  Wirtschaftslebens , im  Nachweise  der  Wechselwirkung  zwischen  Hecht, 
auch  Privatrecht  und  Wirthschaft,  in  der  Darlegung  des  Einflusses  der  Productions- 
technik  auf  Wirthschaft  und  Hecht,  in  der  Aufdeckung  und  Erklärung  der  für  die 
grossen  geschichtlichen  Entwicklungsperioden  der  Volkswirthschaft  und  damit  schliess- 
lich auch  der  Politik  und  Cultur  mit  maassgebenden  materiellen  Factorcn  sich  m.  E. 
unzweifelhafte  Verdienste  ersten  Hangs  erworben , auch  hier  grössere  als  irgend  eine 
andere  Richtung  der  neueren  Nationalökonomie.  Gerade  den  vom  Socialismus  aus- 
gehenden Anregungen  entspringt  das  Bedürfniss,  die  alte  mehr  noch  privat  ökono- 
mische „Politische*"  in  eine  wahre  „Socialökonomio“  hinüberzubilden  und  er, 
der  Socialismus,  giebt  dazu  auch  die  wichtigsten  Hilfsmittel  an  die  Hand. 


x)  So  hoch  ich  Anton  Monge r ’s  Schrift  „das  Recht  auf  den  vollen  Arbeits- 
ertrag1* (s.  u.  §.  14)  auch  bezüglich  der  litterarhistorischeu  Seite  schätze,  so  glaube 
ich  doch.  Menger  thut  Rodbertus  und  Marx  Unrecht  mit  dem  Vorwurfe,  sie  hätten 
„ihre  wichtigsten  socialistischen  Theorieeu  englischen  und  französischen  Theoretikern 
entlehnt,  ohne  die  Quellen  zu  nennen**  (s.  Vorwort  zu  Menger's  Schrift),  was  ihm  zu 
beweisen  auch  nicht  gelingt.  Aehnliche,  ja  gleiche  Ideen  uud  selbst  diesen  an- 
gemessene sehr  ähnliche  Fassungen  beweisen  das  noch  nicht.  (S.  a.  a.  0.  1.  Aull. 
S.  53.)  Ebensowenig  wird  Menger  darin  beizustimmen  sein,  dass  Rodbertus  und 
Marx  „von  ihren  Vorbildern  an  Tiefe  und  Gründlichkeit  bei  Weitem  übertroflen 
wurden“.  Auch  für  Proudhon  haben  ja  Andere  mitunter  alles  Verdienst  in  Anspruch 
genommen,  das  gewöhnlich  Rodbertus  und  Marx  zugeschrieben  wird.  Diese  beiden 
sind  es  aber  doch  vornemlich.  welche  den  „Socialismus“  als  ökonomische  Doctrin 
begründet  und  von  dem  Phantastischen  und  Vagen  der  nicht- deutschen  früheren 
Socialisten  losgelöst,  ihn  zu  einem  nationalökonomischen  System  erhoben  haben. 


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38 


Einleitung.  2.  K.  Andre  Standpuncte.  Litteratur.  §.  13. 


Meine  wesentlichen  und  principiellen  Abweichungen  vom  Socia- 
lismus  ergeben  sich  schon  aus  dem  Früheren  (§.  2,  3)  und  werden 
in  diesem  ganzen  Werke  überall  näher  hervortreten.  Sie  betretfen 
die  einseitige  und  tibertreibende  Hervorhebung  des  leiten- 
den Gedankens  der  „materialistischen  Geschichtsauffassung“,  ferner 
die  vollends  einseitigen  Consequenzen , welche  aus  letzterer  zur 
Erklärung  der  geschichtlichen  Entwicklung  des  Wirtschaftslebens 
und  gar  erst  des  ganzen  Gesellschafts-,  Cultur-  und  geistigen  Lebens 
gezogen  werden.  Alle  anderen  Factoren,  selbst  Volksanlage,  Reli- 
gion und  die  von  ihr  ausgehenden  Motive  und  die  Legion  sonstiger 
Umstände  ignorirt  der  in  jener  materialistischen  Geschichtsauffassung 
befangene  Socialismus  oder  er  leugnet  ihre  Selbständigkeit  oder  er 
sucht  sie  gar  in  gewaltsamster  Weise  auf  die  materiellen,  tech- 
nischen, wirtschaftlichen  Verhältnisse  und  Zustände  allein  zurtick- 
zuftihren:  eine  Prokrustesmanier 1).  Meine  Abweichungen  sind  end- 
lich, in  Zusammenhang  mit  dem  eben  Gesagten  und  nach  den 
früheren  Ausführungen  vor  Allem  psychologischer  Art. 

Wesentlich  daraus  folgt  für  mich  die  Unmöglichkeit,  dem  Socialismus  in 
seinen  m.  E.  vor  Allem  psychologisch  unhaltbaren  Consequenzen  bezüglich  der 
Weiterentwicklung  von  Volkswirtschaft  und  Rechtsordnung  und  in  seinen  „zukunftstaat- 
lichen“ Phantasieen  mich  anzuschliessen.  Ich  kann  nicht  zugeben,  dass  hier  der 
Socialismus  den  Weg  „von  der  Utopie  zur  Wissenschaft“  (Kr.  Engels!  schon  zurück- 
gelegt  hat,  sondern  linde  ihn  noch  tief  in  der  Utopie  stecken  geblieben.  Das  hindert 
mich  nicht,  auch  hier  Einzelnes  als  erwägenswert  und  ausführbar  anzusehen,  mehr 
als  andere  meiner  Kachgenossen , oder,  in  der  Terminologie  des  Tages,  „Staats- 
socialist“,  nicht  „voller  (radicaler)  Socialist“  zu  sein2). 

Auch  alle  diese  Vorbehalte  uud  Abweichungen  hindern  mich 
ebensowenig,  den  hohen,  vor  Allem  kritischen  — aber  nicht  nur 
kritischen  — Werth  der  deutschen  socialistischen  Hauptlitteratur 
für  die  Fortbildung  der  Politischen  Oekonomie  zur  Socialökonomie 
anzuerkennen.  Die  Schriften  von  Rodbertus,  Marx,  Engels, 
Lassalle  sind  ein  Ferment  ohne  Gleichen.  Die’ jüngeren  socia- 
listischen Theoretiker  haben  freilich  im  ausgeprägtesten  und  un- 
günstigsten Maasse,  litterargeschichtlich  betrachtet,  den  Charactcr 
des  blossen  Epigon enth ums,  einer  „Schule“,  ja  einer  „ver- 


*)  Zeuge  des  mehr  noch  Engels  als  schon  Marx,  vollends  aber  beider  .jüngere 
Schule“,  wie  sie  z.  B.  in  der  „Neuen  Zeit“,  in  der  „Volkstribüne“  sich  äussert. 

*)  Ich  beziehe  mich  hierfür  ausser  auf  dies  Werk  auf  meine  beiden  Aufsätze 
„Finanzwissenschaft  und  Staatssocialismus“  in  der  Tübinger  Zeitschr.  f.  Staatswissen- 
schaften. B.  43.  1887.  eine  polemische  Auseinandersetzung  mit  Roscher  und  besonders 
mit  L.  Stein  zu  Gunsten  des  Staatssocialismus.  S.  ferner  verschiedene  principielle 
Ausführungen  in  meiner  Finanzwissenschaft,  so  I.  3.  Aufl.  §.  27,  S.  45  ff. , und  II, 

2.  Aufl.  S.  207  ff.,  381  ff,  sowie  meinen  Aufsatz  über  „sociale  Finanz-  und  Steuer- 
politik“ iu  Braun  s Archiv  f.  soc.  Gesetzgebung  B.  4.  1891  und  meine  Rede  über  das 
neue  socialdcmokratische  Programm  auf  dem  evangelisch-socialen  Congress  (April  1892). 


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Der  Socialismus.  Litteratur. 


39 


schulten“  Secte.  Aber  einzelne  Talente,  wenn  auch,  wie  Bebel, 
stark  dilettirende,  fehlen  sicher  auch  hier  nicht. 

Der  üble  Einfluss  des  politischen  Parteilebens , der  agitatorischen  Verwerthung 
der  wissenschaftlichen  Doctrin  tritt  hier  grell  zu  Tage:  eine  Unduldsamkeit  gegen  alle 
anderen  Richtungen,  gegen  die  „Bourgeoisökonomen“,  ein  bomirtes,  hochmüthiges 
Absprechen  über  alles,  was  nicht  auf  den  Socialismus  als  Wissenschaft  schwört,  eine 
Verhöhnung  aller  abweichenden  Meinungen,  die  auch  immer  nur  auf  Mangel  an  Con- 
sequenz  oder  an  geistiger  Fähigkeit  oder  gar  an  moralischem  Muthe  zurtlckgefuhrt 
werden.  Auch  hier  sind  es,  wie  gewöhnlich,  die  Jüngsten,  „die  Neusteu,  die  am 
Meisten  sich  erdreusten“,  — wieder  der  alte  gemeinsame  Zug  des  „Menschenthums1*. 
Das  giebt  nicht  gerade  einen  guten  Vorgeschmack  für  die  „Freiheit  der  wissenschaft- 
lichen Forschung**  im  social is tischen  Zukunftsstaate  und  für  den  wissenschaftlichen 
Fortschritt  in  diesem,  — und  eine  Weiterentwicklung  in  Wissenschaft  und  Leben 
würde  doch  auch  gerade  nach  der  „Evolutionstheorie“  und  „materialistischen  Geschichts- 
auffassung“ hier  eintreten  müssen!  Es  offenbart  sich  so  schon  die  Gefahr,  dass  der 
Socialismus  aus  einer  „Wissenschaft“  eine  — Glaubenslehre  werde,  der  Lehrsatz 
zum  Dogma.  Nebenbei  bemerkt:  diejenige  Seite  des  Socialismus,  welche  auch  prac- 
tisch  die  gefährlichste  Folge  der  socialdemokratischen  Agitation  sein  möchte. 

Wir  beschränken  uns  hier  absichtlich  auf  Angaben  über  die  deutsche  socia- 
listische  Litteratur,  weil  gerade  diese  für  die  in  die  Grundlegung  gehörenden 
Fragen  allgemeinere  Bedeutung  gewonnen  hat  Für  die  sonstige,  namentlich  eng- 
lische und  französische,  muss  hier  auf  die  Litteraturgeschichte  verwiesen  werden. 
Ueber  die  ältere  englische  hat  Anton  M enger  jüngst  neue  Aufschlüsse  gegeben 
(S.  3"  Note  1).  Auch  hier  gilt,  was  Eingangs  (§.  1)  von  Smith  gesagt  wurde:  Der 
entscheidende  Einfluss  auf  die  Theorie  der  Nationalökonomie  geht  von  den 
deutschen  Socialisten  aus,  auch  wenn  dieselben  nicht  die  ersten  Vertreter  dieses 
Standpuncts  gewesen  sind,  und  auch  wenn  sie,  was  ich  freilich  bestreite,  an  wissen- 
schaftlicher Bedeutung  unter  den  Fremden,  den  Engländern  und  Franzosen,  steheu 
sollten. 

Vor  Allen  ist  Rodbertus  zu  nennen,  dessen  fast  sämmtliche  grösseren  und 
kleineren,  auch,  wegen  gelegentlicher  Excurse,  die  practischen  und  historischen  Ar- 
beiten hierher  gehören.  In  allen  finden  sich  geistvolle  geschichtsphilosophische,  echt 
socialrechtliche  Ausführungen.  Dieselben  behaupten  ihren  Werth  auch  für  denjenigen, 
welcher,  wie  ich,  in  wichtigen  Principienpuncten  und  Theoremen,  so  in  der  Lehre 
von  der  Grundrente,  von  der  Krisis,  in  der  Bevölkerungslehre  und  in  deu  practischen 
Vorschlägen  Rodbertus  vielfach  nicht  beistimmt.  S.  namentlich:  „zur  Erkenntniss 
unserer  staatswirthschaftlichen  Zustände**,  1.  Heft,  5 Probleme,  Neubrandenburg  und 
Friedland  1842.  im  Abriss  von  J.  Zeller,  mit  Anhängen  (auch  dem  1.  socialen 
Brief),  Berlin  1985.  — Sociale  Briefe  an  v.  Kirchmann.  No.  1 — 3,  Berlin  1850 — 51, 
No.  *2  und  3 in  *2.  Auflage  noch  von  Rodbertus  selbst  besorgt  u.  d.  T.  „zur  Beleuch- 
tung der  socialen  Frage“,  Berlin  1975;  2.  Aufl.  dieser  Ausgabe,  herausgeg.  von 
Moritz  Wirth,  Berlin  1890.  Neue  Ausgabe  des  1.  Briefs,  mit  kleinen  Aenderungen 
von  Rodbertus  selbst,’  in  „Aus  dem  litterarischen  Nachlass  von  Dr.  Carl  Rodbertus- 
Jagetzow“,  heransgegeben  von  A.  Wagner  und  Th.  Kozak,  III.  Band,  „Zur  Beleuchtung 
der  socialen  Frage,  Theil  II“,  Berlin  1885,  daselbst  S.  93 — 192.  In  demselben  Werke 
Band  II.  „das  Kapital,  4.  socialer  Brief“,  Berlin  1884.  S.  ferner  in  Band  III  den  Auf- 
satz aus  1837  „Rodbertus’  staatswirthschaftliche  Ideen  vor  50  Jahren.  Die  Forderungen 
der  arbeitenden  Classen“,  S.  193 — 223.  Aus  den  kleineren  Schriften  von  Rodbertus 
auch  noch:  über  den  Normalarbeitstag,  zuerst  in  der  Berliner  Revue  1871,  später  in 
der  Tüb.  Ztschr.  f.  Staatswissenschaft  B.  34.  1878,  S.  3*23  ff'.,  nebst  Briefen  von  Rod- 
bertus und  Peters  darüber,  und  in  dem  gen.  Werk  von  Zeller,  sowie  in  dem  Sammel- 
band „Kleine  Schriften  von  Rodbertus**  herausgeg.  von  Moritz  Wirth.  Berlin  1890. 
Aus  den  practischen  Arbeiten  von  Rodbertus  s.  in  der  Schrift  „zur  Erklärung  und 
Abhilfe  der  heutigen  Creditnoth  des  Grundbesitzes“,  2 Thcile,  Jena  1809  (auch  in 
2.  Aufl.  Berlin),  gelegentliche  Excurse.  so  (in  der  1.  Aufl.)  II,  S.  265  ff.  Aus  den 
historischen  Arbeiten  über  altrömische  Agrar-  und  Steuerverhältnisse  gleichfalls 
Excurse.  Hildebrand’s  Jahrbücher  B.  2,  4.  5,  8,  so  die  Ausführungen  priucipieiler 
Art  über  den  Unterschied  antiker  uud  moderner  Volkswirthschaft  (IV,  341 — 350.  V, 
268  ff.,  VIII.  437  ff.).  Manches  gerade  auch  für  die  Grundlegung  Beachtenswe 


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Einleitung.  2.  K.  Andre  Standpuncte.  Litteratur.  §.  13,  14. 


in  den  Briefen  von  Rodbertus,  so  in  denen  an  mich,  in  meinem  Aufsatze  ..Einiges 
von  und  über  Rodbertus- Jagetzow“,  in  der  Tüb.  Ztschr.  f.  Staatswiss.  B.  34.  1878, 
S.  199  ff.;  z.  B.  über  die  Behandlung  der  Nationalökonomie  und  ihrer  Grundbegriffe 
S.  220  11'.,  ferner  namentlich  in  den  Briefen  an  Rudolf  Meyer,  von  diesem  heraus- 
gegeben u.  d.  T.  „Briefe  und  socialpolitische  Aufsätze  von  Dr.  Rodbertus-Jagetzow“, 
2 Bände,  Berlin  1SS1  (ohne  Jahreszahl);  s.  auch  über  Rodbertus  in  Scbmoller’s  Jahrb. 
f.  Gesetzgebung  u.  s.  w.  des  Deutschen  Reichs,  1891,  B.  1 (Autobiographisches  und 
Briefe). 

Aus  der  „Rodbertus-Litteratur“  s.  meinen  vorgenannten  Aufsatz,  meine  Vorworte 
bezw.  Einleitungen  zu  der  von  mir  in  Verbindung  mit  Schuhmacher,  später  mit  Kozak 
besorgten  Herausgabe  von  3 Bänden  „aus  Rodbertus'  litterarischem  Nachlass“;  ferner 
Th.  Kozak,  Rodbertus’  socialökonomische  Ansichten,  Jena  1882  (daselbst  Uebersichten 
von  Rodbertus’  Publicationen  S.  7 ff.,  357);  G.  Adler,  Studie  über  Rodbertus,  1^85; 
H.  Dietzel,  C.  Rodbertus,  2.  Abtheil.  (Leben  und  Socialphilosophie),  Jena  1886/1888; 
Moritz  Wirth.  Rodbertus,  in  der  Allgern.  deutschen  Biographie,  B.  2S1). 

Von  den  neueren  Vertretern  des  deutscheu  demokratischen  wissenschaft- 
lichen Socialismus  ist  doch  auch  neben  der  überall  mitspielenden  Tendenz  und  den 
Uebertreibungen  der  Kritik  des  Bestehenden  grade  für  die  Fragen  der  Grundlegung 
in  Bezug  auf  den  Aufschluss  der  Erkenntmss  der  thatsächlichcn  wirtschaftlichen 
Entwicklung  und  der  Bedingungen  dafür  und  in  Bezug  auf  ökonomische  Grundprobleme 
Ausserordentliches  geleistet  worden.  Das  kann,  und  muss  man  m.  E.  ihnen,  wie 
Rodbertus  gegenüber,  anerkennen,  auch  wenn  man  wiederum  vielfach  den  Ergebnissen 
Doctrincn,  (Werthlehre!)  und  Forderungen  nicht  beistimmt. 

Das  Wichtigste  rührt  von  K.  Marx  her.  Es  genügt  hier,  die  Hauptschriften 
zu  nennen.  S.  namentlich  dessen  „zur  Kritik  der  Politischen  Oekonomie“,  1.  Heft 
Berlin  1859.  Dann  das  Hauptwerk  der  ganzen  betreffenden  Litteratur:  das  Kapital 
Kritik  der  politischen  Oekonomie,  1.  B.  der  Productionsproccss  des  Kapitals,  1.  Aufl  , 
Hamburg  1867,  4.  Aufl.  herausgeg.  von  Fr.  Engels.  1890  2.  B. , der  Circulations- 
process  des  Kapitals,  nach  Marx’  Tode  von  Engels  herausgegeben.  Hamburg  1885. 
Ein  Abriss  der  Doctrin  für  den  Zweck  der  Agitation  ist  das  „communistische  Manifest1* 
von  Marx  und  En  ge  1s  1818  (5.  deutsche  Ausg.  Berlin).  Eine  populäre  Darstellung  lieferte 
ein  jüngerer  socialdemokratischcr  Autor  K.  Kautsky.  K.  Marx'  ökonomische  Lehren.  Stutt- 
gart. S.  über  Marx  u.  A.  Gross,  K.  Marx,  Leipzig  1885  (erweitert  aus  der  deutschen  Bio- 
graphie). Ebenfalls  K.  Marx,  Elend  der  Philosophie  (Antwort  auf  Proudhon’s  Philosophie 
des  Elends).  Deutsch  Stuttgart  1SS5.  — Vgl.  auch  den  Brief  von  Marx  zur  Kritik  des 


*)  Ueber  — unnütze,  übrigens  von  Rodbertus  durch  unrichtige  Auslastungen 
mit  verschuldete  — Prioritätsstreitigkeiten  zwischen  Rodbertus  und  Marx  s.  u.  A. 
Fr.  Engels  im  Vorwort  zu  Marx’  Capital  B.  II  Hamburg  1885,  S.  VIII  ff.,  sowie 
in  der  Vorrede  zur  deutschen  Ausgabe  der  Marx'schcn  Schrift,  „das  Elend  der  Philo- 
sophie“, Stuttgart  1885.  und  dazu  meine  Bemerkungen  in  der  Einleitung  zum  3.  Bande 
von  Rodbertus'  litterarischem  Nachlass  S.  XXVII — XXXI.  Der  Vorwurf  eines  Plagiats 
von  Rodbertus  gegen  den  grossen  demokratischen  Socialisten  ist  nach  Engels  über- 
zeugender Darstellung  sicher  unrichtig.  — Ueber  einen  thörichten  Streit,  welcher  sich 
über  Rodbertus’  litterarischen  Nachlass  und  speciell  über  meine  behauptete  Mitschuld 
au  der  Gefahr  von  Verlusten  Rodbertus’scher  Schriften  erhoben  hat,  durch  einen 
überspannten  Rodbcrtosianer,  Moritz  Wirth.  Verfasser  eines  anderen  sonderbaren 
Buchs  „Bismarck.  Rieh.  Wagner  und  Rodbertus“,  ein  Schriftsteller  welcher  durch 
seine  kritiklose  üebertreibung  von  Rodbertus’  Leistungen  und  Bedeutung  dem  von  ihm 
Verehrten  mehr  schadet  als  nützt,  s.  Wirth ’s  Pamphlet  „der  drohende  Untergang  des 
Nachlasses  von  Rodbertus“,  Leipzig  1884  und  darauf  meine  Replik  und  Widerlegung 
all  des  Geredes  in  der  Einleitung  zu  B.  III  des  Nachlasses,  S.  XXXIV  ff, , XLV  fl’ 
worauf  Herr  M.  Wirth  nichts  Berichtigendes  erwidern  konnte,  freilich  aber  auch 
nicht  so  ehrlich  und  anständig  war,  seine  Insinuationen  zuruck/unehmcn.  Vi>l.  auch 
11.  Dietzel,  das  Problem  des  litterarischen  Nachlasses  von  Rodbertus,  Conrad  s Jahrb. 
N.  F.  B.  XIII.  Ueber  andere  ebenso  grundlose,  wie  gehässige  Insinuationen  gegen 
mich  und  meine  Beziehungen  zu  Rodbertus  Seitens  Herrn  Rud.  Meyers  vielfach 
in  Noten  in  seinen  „Briefen  u.  s.  w.  von  Rodbertus“  s.  meine  Replik  in  derselben 
Einleitung  S.  XL  ff. 


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Socialismus.  Litteratur. 


41 


(jothaer  Programms  der  deutschen  Socialdemokratie  (1875)  in  der  „Neuen  Zeit“,  1891, 
XI,  1.  B.  S.  561  tf. 

Sodann  aus  den  neueren  Schriften  von  Fr.  Engels,  Herrn  E.  Dühring’s  Um- 
wälzung der  Wissenschaft  Leipzig  187b,  2.  AuH.  Zürich  1S85  besonders  2.  und  3.  Ab- 
schnitt, in  den  grossen  nicht- polemischen  Theilen  eine  rein  wissenschaftliche  Fach- 
schrift, wohl  das  Bedeutendste,  was  neben  Marx  in  dieser  Richtung  vorliegt.  Der- 
selbe, die  Entwicklung  des  Socialismus  von  der  Utopie  zur  Wissenschaft,  Zürich  1883, 
4.  Aufl.  Berlin  1891,  derselbe,  der  Ursprung  der  Familie,  des  Privateigenthums  und 
des  Staats  (im  Anschluss  an  Morgan ’s  Forschungen),  Zürich,  1.  Aufl.  1884,  Stuttgart 
4.  Aul  1892.  Ueber  Engels  und  A.  Neue  Zeit,  XI,  1.  B.,  S.  225  tf. 

Ferner  F.  Lassallc,  System  der  erworbenen  Rechte,  2 Theile,  Leipzig  1861 
(a.  A.  bcs.  I,  193  lf.),  2.  Aufl.  von  L.  Bücher,  1880,  das  grosse  rechtsphilo- 
sophische Werk,  die  wissenschaftliche  Hauptleistung  Lassalle’s,  von  principiellcr  Be- 
deutung für  die  socialrechtliehe  Auffassung  auch  der  Privatrechtsordnung.  Hier 
allein  ist  Lassalle  originell  uud  nur  mit  dieser  Schrift  gehört  er  unter  die  litterarischcn 
Koryphäen  des  Socialismus,  neben  Rodbertus,  Marx,  Engels.  In  seinen  ökonomischen 
Schriften  hängt  er  wesentlich  von  Rodbertus  und  Marx  ab  und  tritt  ausschliesslich 
oder  überwiegend  der  Agitator  hervor.  Aber  für  die  Gesammtentwicklung  des  Socia- 
Iismus  sind  auch  diese  Streitschriften.  Reden  u.  s.  w.  nicht  zu  übersehen.  Die  wichtigste 
and  auch  wissenschaftlich  bemerkenswertheste  ist  die  gegen  Schulze -Delitzsch  gerichtete, 
aoeh  u.  d.  T.  Kapital  und  Arbeit,  Berlin  1861.  Fast  alle  dieser  kleineren  Schriften 
enthalten  aber  Hierhergehöriges.  Eine  Gesammtausgabe  der  „Reden  uud  Schriften“, 
herausgeg.  im  Aufträge  des  Vorstands  der  soe.-dem.  Partei  Deutschlands  von  E.  Bern- 
stein ist  1892  im  Erscheinen  begriffen.  Vgl.  über  Lassalle  und  seine  Beziehungen 
ax  Rodbertus:  Briefe  von  F.  Lassalle  an  C.  Rodbertus,  mit  einer  Einleitung  von 
A.  Wagner,  Berlin  1878  (B.  I „aus  d.  litterar.  Nachlass  von  Rodbertus“).  Ueber 
Lassalle  u.  A.  Brandes,  F.  Lassalle,  Berlin  1877,  v.  PI  euer,  F.  Lassalle,  Leipzig 
1884  (aus  der  deutschen  Biographie). 

Die  vier  genannten  Autoren,  Rodbertus  auf  der  einen,  Marx,  Engels,  etwas 
»pan  stehend  Lassalle  könnten  wohl  als  „die  Classikor  des  deutschen  wissenschaft- 
lichen Socialismus“  gelten.  Alles  Andere  hat  in  wissenschaftlicher  Hinsicht  durch- 
aus den  Character  des  Epigonen  th  ums,  auch  die  Schriften  von  Liebknecht,  Bebel, 
Kautsky.  Schippel,  Bernstein,  den  vielleicht  bedeutendsten  neueren  Autoren  dieser 
Richtung : das  Meiste  ist  popularisirende  und  agitatorische  Litteratur.  S.  etwa  K au  ts  k y , 
Thoma*  Moore,  Bebel,  die  Frau  (11.  Aufl.  1891),  derselbe,  Ch.  Fourier,  Schippel, 
das  moderne  Elend  und  die  moderne  Uebervölkerung.  und  weiter  die  verschiedenen 
Schriften  der  bei  Dietz  in  Stuttgart  erscheinenden  „Internationalen  Bibliothek“  und 
den  sonstigen  socialistischen  Verlag  dieser  Buchhandlung.  Unter  den  Zeitschriften 
bringen  die  „Neue  Zeit“  (10.  Jahrgang  1891/92),  das  frühere  Richter’sche  Jahrbuch 
der  Socialwissenschaft  und  Socialpolitik,  die  Wochenschrift  „Volkstribüne“  (Berlin) 
neben  Populärem  und  Agitatorischem  auch  gelegentlich  Theoretisches,  principielle 
Erörterungen  und  Proben  „socialistischer  Philosophie“,  welche  für  die  „ökonomische 
Psychologie“  und  — den  materialistisch  - ideologischen  Dogmatismus  des  Socialis- 
mus beachtenswertb  sind.  Vgl.  z.  B.  die  Aufsätze  über  den  Entwurf  des  neuen 
Parteiprogramms  in  der  „Neuen  Zeit“  1891,  XI,  2.  B. 

§.  14.  Dem  Standpuncte  dieser  Grundlegung  ver- 
wandte Stand  puncte  in  der  Litteratur.  Als  Autoren,  welche 
in  mancherlei  Wichtigerem  und  Principiellem  und  mehr  noch  iu 
Nebenpuncten  abweichen,  aber  doch  den  hier  in  der  Grundlegung  ver- 
tretenen wenigstens  mehr  oder  weniger  verwandte  Grundanschau- 
ongen  hegen,  glaube  ich  vor  Allem  A.  Schäffle,  dann  A.  Lange, 
U.  v.  Scheel,  H.  Hösler,  F.  Tönuies,  ferner  Juristen  wie 
r.  Ihering,  Anton  Menger,  auch  wohl  Gierke  nennen  zu 
dttrfeu.  Männer,  welche  durchaus  nicht  „Eine  Schule“  bilden,  noch 
bilden  wollen,  einzeln  von  einander  und  von  mir  vielmehr  vielfach 


42 


Einleitung.  2.  K.  Andre  Staudpuncte.  Litteratur.  §.  14. 


sehr  abweicheu.  Aber  in  einem  entscheidenden  Pnncte  haben  sie 
unter  sich  doch  wieder  Gemeinsames,  welches  auch  meinen  Stand- 
punct  mit  dem  ihren  verbindet:  Sie  alle,  in  dieser  Hinsicht  den 
Socialisten  ähnlich,  treten  von  der  socialen  Seite,  von  dem 
Interessenstandpunct  der  Gemeinschaft  an  die  Wirthscbafts- 
und  Rechtsfragen  heran,  erkennen  die  gegenseitige  Bedingtheit  von 
Recht,  auch  Privatrecht,  und  Wirtschaft  und  ziehen  daraus  Folge- 
rungen. Sie  setzen  so  eben,  wie  ich*  an  die  Stelle  der  üblichen 
älteren,  wesentlich  noch  privatökonomischen  die  social  ökonomische 
Auffassung  der  Volkswirtschaft  und  der  Volkswirtschaftslehre, 
an  Stelle  der  üblichen  individualrechtlichen  die  soci a 1 rechtliche 
Auffassung  alles  Rechts,  auch  des  Privatrechts,  der  Privateigen- 
thums-, der  Vertragsordnung.  Das  beginnt  allmälig  weiter  zu 
wirken  und  so  jene  allgemeinere  Verschiebung  des  Standpuncts 
in  der  Politischen  Oekonomie  zu  bewirken,  welche  vom  ökonomi- 
schen Individualismus  ab  mehr  zum  Socialismus  hinführt,  ohne  in 
letzteren  auszulaufen.  Jeder  Einzelne  ist  im  Wesentlichen  unab- 
hängig vom  Anderen  zu  dieser  Anschauung  gelangt  und  vertritt  sie 
in  ihm  eigentümlicher  Weise,  was  gerade  das  Beachtenswerte 
ist.  Einem  Jeden  aber  schwebt,  mehr  oder  weniger  klar  und 
folgerichtig,  doch  das  Ziel  vor,  zwischen  Individualismus 
und  Socialismus  eine  richtige  Mittelstellung  zu  ge- 
winnen, auch  wenn  dabei  der  Eine  meint,  noch  auf  dem  Boden 
des  Individualismus  zu  stehen,  der  Andere  sich  vielleicht  selbst 
schon  für  einen  vollen  Socialisten  hält. 

Weil  solche  Auffassungen  nicht  rein  in  die  eine  oder  die  andere  der  beiden 
doctrinäron  Schablonen  passen,  unterliegen  sie  leicht,  wie  es  auch  mir  begegnet  ist. 
doppelseitigen  Angriffen  und  werden  von  dem  Staudpuncte  der  „Klarheit“  und  — 
Beschränktheit  des  reinen  Individualisten  oder  Socialisten  wohl  der  „Unklarheit“,  des 
..Mangels  an  Folgerichtigkeit“ . selbst  in  Uebertragung  des  Tadels  auf  das  ethische 
Gebiet,  des  „Mangels  an  Muth  der  Ueberzeugung'1  beschuldigt.  Auch  werden  die 
betreffenden  Autoren  wohl  wegen  einzelner,  scheinbar  sich  widersprechender 
Auffassungen  und  Acusserungen  von  den  Vertretern  der  beiden  gegnerischen  Stand- 
puncte,  wenn  das  opportun  erscheint,  für  sich  vindicirt.  was  natürlich  nicht  richtig  ist. 

A.  Schaffte  gehört  mit  seinen  grösseren  und  kleineren  Schriften  hierher,  die 
an  dieser  Stelle  aber  nicht  alle  aufgeführt  zu  werden  brauchen.  Die  wichtigsten 
für  die  Grundlegung  sind:  das  gesellschaftliche  System  der  menschlichen  Wirtschaft, 

2.  Auflage  (in  Form  und  Fassung  mehrfach  der  3 ten  vorzuziehen),  Tübingen  1867, 

3.  Aufl.  in  2 Bänden  eb.  1873;  Kapitalismus  und  Socialismus,  Tübingen  1870;  die 

Quintessenz  des  Socialismus,  ursprünglich  ein  Aufsatz,  in  zahlreichen  Auflagen,  (zuerst 
anonym  1874.  neuste  1891)  erschienen,  die  knappste,  formvollendetste  und  klarste, 
das  System  des  Socialismus  als  solchen.  — nicht  desjenigen  einer  Parteischablone 
oder  eines  einzelnen  Theoretikers  — die  Voraussetzungen  und  Consequenzcn  völlig 
objectiv  darlegende  Schrift  Schälfle's,  mit  welcher  der  Verfasser  sich  aber  nicht, 
wie  man  ihm  vorgeworfen,  einfach  als  vollen  und  reinen  Socialisten  bekannt  hat;  zur 
Ergänzung  dazu,  nicht  in  dem  Schaff le  ungerecht  und  gehässig  vorgeworfenen 
Widerspruch  dazu:  die  Aussichtslosigkeit  der  Socialdemokratie,  Tübingen  1885, 


k. 


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Verwandte  Standpuncte.  Litteratur, 


43 


4.  Anfl.  1891.  Das  neuere  bezügliche  Hauptwerk  Schäffle’s  ist  der  „Bau  und  Leben 
des  socialen  Körpers“ , encyclopädischer  Entwurf  einer  realen  Anatomie.  Physiologie 
und  Psychologie  der  menschlichen  Gesellschaft,  mit  besonderer  Rücksicht  auf  die 
Volkswirthschaft  als  socialen  Stoffwechsel.  4 Bände,  Tübingen  1875 — 78,  neue 
Auflage  1880.  Dies  Werk  ist  ein  wahrer  „socialer  Kosmos",  cs  macht  freilich 
nach  Form  und  Inhalt  das  Studium  nicht  leicht,  enthält  auch  Vieles,  was  aus  dem 
Rahmen  der  Politischen  Üekouomie  weit  herausfällt  und  namentlich  zu  einer  all- 
gemeinen „Sociologie“  gehört.  Wer  einer  solchen  neuen  Wissenschaft,  welche  das  ganze 
Gesellschaftsleben  einheitlich  zusammenfassen  will,  als  einem  überhaupt  und  jedenfalls 
in  der  bisher  versuchten  Weise  kaum  lösbaren  Problem  skeptisch  oder  ganz  ablehnend 
gegenüber  steht,  dem  wird  es  nicht  leicht  und  nicht  überall  möglich,  Schällle  hier 
zu  folgen.  Auch  die  Dcbertragung  der  naturwissenschaftlichen  Entwicklungstheorie 
auf  das  sociale  Gebiet  und  die  Ziehung  realer  Analogieen  zwischen  dem  „Socialen 
Körper“  und  der  Natur  bilden  neue  Versuche  in  einer  Richtung,  welcher  doch  wesent- 
liche principielle  Bedenken  gegenüberstehen.  Man  wird  öfters  bezweifeln  dürfen,  ob 
dieser  geniale  Versuch  Schälfle’s  das  Berechtigte  eines  solchen  Vorgehens  besser, 
als  es  frühere  Versuche  gethan,  beweisen  kann.  Auch  ich  vermag  dem  Verfasser 
hier  vielfach  nicht  zu  folgen.  Aber  gleichwohl  darf  man  m.  E auch  hier  nicht  die 
grosse  Förderung  socialer  und  volkswirtschaftlicher  Probleme  und  die  mehrfach  durch- 
aus geniale  und  originelle,  wie  auch  immer  anregende  Behandlungsweise  verkennen, 
welche  auch  diesem  grossen  Werke  eines  so  eminent  speculativ  und  constructiv 
beanlagten  Kopfes  zn  verdanken  ist.  Der  Specialist.  der  „exacte  Historiker“  auf  einem 
einzelnen  Gebiete,  der  mikrologische  Kritiker  mag  daran,  wie  an  den  andren  grossen 
Werken  Schäffle’s,  leicht  Manches  tadeln,  manches  schiefe,  manchen  falschen  oder 
übereilten  Schluss,  auch  Fehler  in  der  Thatsache  finden:  davor  ist  der,  welcher  sich 
auf  ein  kleines  „Forschungsgebiet  beschränkt,  freilich  bewahrt.  Aber  das  Ver- 
dienst Schäffle’s  für  die  Aufdeckung  grosser  leitender  Ziclpuncte  und  für  die 
Erweckung  des  Verständnisses  vom  Zusammenhang  socialer  uud  wirtschaftlicher 
Verhältnisse  sollte  darüber  auch  von  einem  billig  denkenden  und  nicht  bloss  am 
Maassstab  seiner  eigenen  Anlage,  Arbeitsweise  und  Richtung  Alles  messenden  Kritiker 
nicht  verkannt  werden.  Für  die  Nationalökonomie  und  grade  für  Fragen  der  Grund- 
legung enthält  der  „Sociale  Körper“  zahlreiche  wichtige  Erörterungen  an  vielen 
Stellen.  Vorneinlich  gehört  der  dritte  Band  (der  sich  auch  als  2.  Aull,  des  Kapitalis- 
mus und  Socialismus  bezeichnet)  hierher,  besonders  im  12.  Hauptabschnitt  (S.  234 — 548\ 
der  sociale  Stoffwechsel  und  seine  w'irthschaftliche  Regelung.  Mit  den  Erörterungen 
darin  stimme  ich  vielfach  überein,  wie  auch  umgekehrt  Schäfflc  sich  zu  meiner 
Genugthuung  zu  meinen  in  der  Grundlegung  enthMtencn  Auffassungen  öfters  bei- 
stimmend äussert.  — Ausser  diesem  Werke  Schäffle’s  sind  auch  seine  neueren  practischen 
Schriften  über  Arbeiterversicherung,  Kreditwesen  wegen  ihrer  ganzen  principiellcn 
Stellungnahme  und  bezüglichen  Ausführungen  hier  ebenfalls  mit  zu  nennen,  so  die 
Incorporation  des  Hypothekarcredits,  der  corporative  Hilfscasscnzwang,  ferner  zahl- 
reiche seiner  Aufsätze,  besonders  in  der  Tübinger  Zeitschrift  für  Staatswisseuschaft. 
aus  älterer  Zeit  und  bis  in  die  neueste  Zeit  hinein.  Manches  steht  in  der  Sammlung 
..gesammelte  Aufsätze“,  2 Bände  Tübingen  1885 — S6.  — Von  meiner  „staatssocialisti- 
schcn“  Richtung  weicht  Schällle  mehr  ab.  Einiges  in  unserer  verschiedenen  Stellung- 
nahme zum  Staate  und  zu  dessen  auch  wirtschaftlichen  Aufgaben  mag  sich  psycho- 
logisch mit  der  Verschiedenheit  der  Eindrücke  erklären,  die  Jeder  von  uns  durch 
seinen  ganzen  Lebensgang,  schon  durch  den  Aufenthalt  in  verschiedenen  Staaten, 
erhalten  hat.  In  Württemberg  bilden  sich  andre  Lebenscindrücke  vom  Staate  als  in 
Preussen.  Aber  trotz  solcher  Differenzen,  vornemlich  über  die  practischen  Mittel  und 
Wege  der  Socialpolitik  und  einer  überall  von  „socialen“  Gedanken  getragenen  Wirt- 
schafte-, ja  allgemeinen  Politik,  fühle  ich  mich  in  gewissen  Grundanschauungen  über 
die  heutige  Volkswirthschaft  und  über  deren  Fortentwicklung  und  in  der  objectiv 
kritischen  Stellung  zum  Socialismus  doch  Schäfflc  sehr  nahestehend,  mehr  als  fast 
jedem  Anderen  meiner  Fachgenossen.  Es  ist  uns  auch  wohl  beiderseits  geschehen, 
kurzweg  mit  den  Socialisten  zusammengeworfen  zu  werden:  mit  Unrecht.  W ir  eignen 
uns  beide  aus  der  socialistischen  Lehre  und  aus  den  practischen  Folgerungen  Manches 
au.  aber  immer  „cum  bcneficio  inventarii“  und  suchen  den  Socialismus  ebenso  un- 
befangen in  seinen  Irrthümern  wie  in  seinen  Wahrheiten  zu  erkennen.  — 


Schällle  (s.  seinen  Kapitalismus  und  Socialismus,  besonders  S.  250  11.)  ha 


i 


44 


Einleitung.  2.  K.  Andre  Standpuncte.  Litteratur.  §.  14. 


Verdienst,  das  bedeutende  Werk  von  Karl  Mario  (Prof.  Winkelblech).  Unter- 
suchungen Uber  die  Organisation  der  Arbeit  oder  System  der  Weltökonomic,  wieder 
mehr  in  den  Vordergrund  und  in  die  neuere  Litteraturbewegung  geschoben  zu  haben. 
Dasselbe  erschien  zuerst  1849  ff.,  ohne  wesentlichen  Erfolg  zu  haben  oder  nur  grössere 
Beachtung  zu  linden.  Eine  neue  Ausgabe  davon  ist  in  Tübingen  18S5 — S6  veran- 
staltet worden.  Es  kann  gerade  hier  au  dieser  Stelle  mit  genannt  werden,  wenn  es 
auch  vielfach  anders  steht,  als  die  übrigen  hier  erwähnten  Werke. 

Gewissen  Anschauungen  des  Schaffte  sehen  Socialen  Körpers,  und  zwar  mehr 
auch  in  den  von  mir  nicht  oder  weniger  getheilten,  begegnet  man  in  dem  immerhin 
gedankenreichen,  aber  dilettantischeren  Werke  von  P.  von  Lilienfeld,  Gedanken 
über  die  Socialwissenschaft  der  Zukunft,  Mitau  1873 — 79,  4 Bände. 

Der  leider  so  früh  verstorbene  A.  Lange  hat  kein  geschlossenes  System  der 
Socialökonomie,  wie  Schäffle,  und  auch  keine  umfassenderen  zusammenhängenden,  das 
Gesammtgebiet  der  Grundlegung  behandelnden  principiellen  Erörterungen  hinterlassen, 
was  grade  bei  diesem  ausgezeichneten  Autor  sehr  zu  bedauern  ist.  Aber  vieles 
einzelne  Hierhergehörige  ist  vorhanden,  besonders  in  seiner  Schrift  „Mill’s  Ansichten 
über  die  sociale  Krage  und  die  angebliche  Umwälzung  der  Socialwissenschaft  durch 
Carey“,  Duisburg  1866;  in  der  „Arbeiterfrage“,  1.  Aufi.  1865,  namentlich  3.  Aufl. 
Winterthur  1875  *)  (4.  Auflage,  Vorwort  von  Bleuler  1879),  der  bedeutendsten 
deutschen  Arbeit  hierüber;  in  Lange’s  Geschichte  des  Materialismus,  3.  Aufl.  Iser- 
lohn 1877,  II,  453  ff.  (Volkswirthschaft  und  Dogmatik  des  Egoismus).  Als  eigentlicher 
voller  Socialist,  wie  es  wohl  geschehen,  kann  Lange  doch  noch  nicht  bezeichnet 
werden.  S.  über  ihn:  Ellissen,  F.  A.  Lange,  eine  Lebensbeschreibung,  Leipzig  1891, 
besonders  in  dem  Kapitel  „Lange  als  Socialpulitiker“,  S.  228  ff.  Dieses  hübsche  Buch 
wird  freilich  dem  Menschen  mehr  als  dem  Nationalökonomeu  (und  als  vollends  dem 
Philosophen  Lange)  gerecht,  doch  ist  auch  das  genannte  Kapitel  nicht  übel. 

H.  v.  Scheel  gehört  mit  manchen  seiner  früheren  kleineren  Schriften,  Auf- 
sätze und  Kritiken  hierher,  in  welchen  sich  immer  die  Vorzüge  dieses  Autors:  Klar- 
heit, principielle  Schärfe,  Knappheit  der  Form  zeigen.  Sie  liefern  manchen  brauch- 
baren Baustein  zu  einer  socialökonomischcn  und  socialrechtlichen  Behandlung  der 
Volkswirtschaftslehre.  ihrer  Grundbegriffe,  sowie  zur  Kritik  der  wirtschaftlichen 
Kechtsordnumr  und  der  Reform  der  letzteren.  S.  seine  Theorie  der  socialen  Frage, 
Jena  1871  ; Erbschaftssteuer  und  Erbrechtsreform,  2.  Aufl.  Jena  187S3);  volkswirt- 
schaftliche Bemerkungen  zur  Reform  des  Erbrechts,  in  Hirth's  Annalen  1877,  S.  97  ; 
Eigenthum  und  Erbrecht,  Berlin  1877;  unsere  socialpolitischen  Parteien,  Leipzig  1878. 
Ausserdem  manche  kleinere  Aufsätze  und  Kritiken,  besonders  in  Hildebrands  Jahr- 
büchern. Zu  vergleichen  auch  die  beiden  Abhandlungen  v.  Scheel’s  im  Schönberg  schcn 
Handbuch  der  Politik.  Oekon.  (3.  Aufl.  B.  I)  über  die  politische  Oekonomie  als  Wissen- 
schaft und  über  Socialismus  und  Communismus. 

H.  Rösler  hat  das  doppelte  Verdienst,  in  der  neueren  deutschen  antiindi- 
vidualistischen litterarischen  Bewegung  zuerst  mit  grösserer  Schärfe  gegen  den 
Smithianismus  principielle  Angriffe  gerichtet  und  ferner  das  Rechtsmoment  in 
den  Wirthschaftsbegriffcn . die  nothwendige  sociale  Seite  in  aller  Rechtsordnung, 
auch  im  Privatrecht,  stärker  betont  zu  haben.  Ersteres  vornemlich  in  der  allerdings 
wohl  manchfach  das  Ziel  überschiessenden  Schrift;  „über  die  Grundlehren  der  von 
A.  Smith  begründeten  Volkswirtbschaltsthcorie“,  Erlangen  1868,  2.  Aufl.  1871;  letztres 
besonders  in  seinem,  von  der  individualistisch- liberalen  Doctrin  (auch  des  öffentlichen 
Rechts)  begreiflich,  aber  im  Ganzen  mit  Unrecht  abgelchnten  Lehrbuch  des  deutschen 


l)  Gegen  den  naiven  Vorwurf  des  prätentiösen  deutschen  Gewerkvereinstheoretikers 

L.  Brentano  (Arbcitsvcrhäitniss  gemäss  den»  heutigen  Recht,  Leipzig  1876,  S.  V), 

Lange  habe  es  versäumt,  „sein  Buch  entsprechend  der  durch  Brentano’s  Arbeit  er- 
langten Erkenntnis»  neu  durchzuarbeiten“,  m.  a.  W.  Lange  habe  nicht,  gleich  Brentano, 
in  der  Gewerkvereinsorganisation  der  Arbeiter  nach  englischem  Muster  die  Panacee 
für  die  Lösung  der  „Arbeiterfrage“  gefunden,  habe  ich  Lange  schon  in  einer  Be- 
sprechung des  Brentauo’schen  Buchs  in  der  Jenaer  Littcraturzeitung  1877  v.  5.  Mai 
in  Schutz  genommen.  Nach  Gang  der  Dinge  und  Erfahrungen  seitdem  würde  es 

wohl  kaum  mehr  nothwendig  sein. 

-)  Vgl.  meine  Finanzwisseusch.  B.  2.  2.  Aufl.  S.  568,  5l * * * V8  ff. 


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Verwandte  Standpunctc.  Litteratur. 


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VerwaJtnngsrcchts,  1.  B.  das  sociale  Verwaltungsrecht,  2 Abtheilungen  (1 . Einleitung. 
Personenrecht,  Sachenrecht,  2.  Berufsrecht,  Erwerbsrecht),  Erlangen  1 87 2/ 1 ST 3.  Es 
tritt  bei  Rösler  vielleicht  das  juristische  Moment  vor  dom  ökonomischen  zu  sehr  her- 
vor, aber  die  sociale  Seite  des  Rechts  wird  in  vielen  einzelnen  treffenden  Erörterungen 
gut  betont  und  begründet.  In  dieser  Auffassung  stimme  ich  Rösler  bei,  wenn  ich 
mich  auch  nicht  immer  seinen  Ergebnissen  anschliesscn  kann.  S.  von  ihm  noch  die 
Erörterungen  über  die  Gesetzmässigkeit  der  volkswirtschaftlichen  Erscheinungen  in 
Hirth’s  Annalen  1875  und  seine  Vorlesungen  Uber  Volkswirtschaft,  Erlangen  1878. 
(Seine  Grundsätze  der  Volkswirtschaftslehre , Rostock  1864,  stehen  noch  anders  als 
seine  späteren  Schriften  und  bieten  nichts  Besonderes). 

Von  dem  jüngeren  Philosophen  F.  Tönnies  (Kiel)  rührt  eines  der  tiefstgründigen 
socialphilosophischcn  Werke  der  neuesten  Zeit  her:  Gemeinschaft  und  Gesellschaft, 
Abharidl.  des  Communismus  und  Socialismus  als  empirischer  Culturformcn,  Leipzig  1887. 
Ein  Werk,  das  durch  seine  höchst  abstracto  Form  und  seine  schwere  Darstellungs- 
weise auch  dem,  welcher  sorgfältig  dem  Verfasser  auf  seinen  Gedankcngängon  zu 
folgen  sucht,  grosse  Mühe  des  Verständnisses  macht,  aber  diese  Mühe  auch  lohnt. 
Es  behandelt  vornehmlich  die  Organisationsfragen  der  Volkswirtschaft  in  Verbindung 
mit  den  psychologischen  Factoren  und  vertritt,  in  näherem  Anschluss  an  Marx  und 
Gierke,  auch  von  Schäffle  und  mir  berührt,  eine  Auffassung  der  gesellschaftlichen 
und  volkswirtschaftlichen  Entwicklung,  welche  die  tieferen  Grundzüge  der  letzteren 
trefflich  darlegt,  freilich  in  abstract  deducirender  Weise  mehr  als  in  historisch  de- 
scribirender.  Einen  Versuch,  den  gedankenvollen  Inhalt  des  Werks  durch  Zusammen- 
ziehung und  andere  Fassung  leichter  zugänglich  zu  machen,  hat  Baltzer  in  der 
Schrift  „F.  Tönnies,  Gemeinschaft  und  Gesellschaft“.  Berlin,  1890  gemacht1). 

ünter  den  Juristen  hat  kein  Geringerer  als  der  grosse  Komanist  von  Ihering. 
in  Anknüpfung  an  sein  berühmtes  Werk  „Geist  des  römischen  Rechts“,  in  seinem 
Buche  „der  Zweck  itn  Recht“  (B.  1,  Leipzig  1878,  2.  Aull.  18S4.  B.  2,  eb.  1883, 
2.  Aull.  1886)  eine  meiner  „socialrechtlichen“  ähnliche  Auffassung  des  Rechts  und 
seines  Verhältnisses  zum  Wirtschaftsleben  vertreten.  Meine  in  der  1.  Auflage  dieser 
Grundlegung  (S.  500  Noto  1)  ausgesprochene  Hoffnung  ist  dadurch  glänzend  in 
Erfüllung  gegangen.  Ihering  erörtert  (s.  „Zweck“.  I.  Kap.  8)  ebenfalls  aus  den 
Bedingungen  des  Gemeinschaftslebens  heraus  die  Freiheits-  und  Eigeu- 
thumsfragen,  im  Wesentlichen  in  Uebereinstiminung  mit  meiner  in  der  Grundlegung 
niedergelegten  Grundanschauung  (s.  a.  a.  0.  S.  511).  Besonders  wichtig  für  die 
nationalökonomische  Eigenthutnslehre  ist  Ihering's  Auffassung  des  Eigentums.  Siehe 
darüber  auch  im  „Geist“  I.  3.  Aufl.  S.  7.  Beachtenswert  für  die  unten  im  1.  Kap. 
des  1.  Buchs  behandelten  Puncte  die  Erörterungen  über  Zwecke  und  Motive  als 
„Hebel  der  socialen  Bewegung“  in  B.  1.  des  „Zwecks.“  — Unter  sonstigen  Romanisten 
sei  für  verwandte  Gesichtspunctc  J.  Baron  genannt,  in  Erörterungen  über  Erbrecht, 
auch  in  einer  Besprechung  der  1.  Aufl.  dieser  Grundlegung  in  Pözl’s  kritischen 
Vierteljahrschr.  1877. 

Der  germanistischen  Jurisprudenz  und  ihren  Vertretern  lag  eine  „social- 
rechtliche“  Auffassung  auch  des  Privatrechts  von  vornherein  näher  und  findet  sich 
daher  hier  auch  mehr.  Die  vollen  Gonsequenzen  haben  aber  auch  die  Germanisten 
nicht  immer  gezogen.  Das  Hauptverdienst  hat  sich  hier  G.  Gierke  in  seinem  grossen 
stupenden  Werke,  das  deutsche  Genossenschaftsrecht.  3 Bände  1868 — 81.  erworben, 
welches  durch  Verbindung  des  juristisch  -constructiven  und  dogmatischen  mit  dem 
historisch-describirenden  Element  grade  für  die  in  die  socialökonomische  Grundlegung 
gehörende  principiclle  Erörterung  von  besonderem  Wcrthc  ist.  Jüngst  hat  Gierke 
sodann  durch  seine  scharfe  eingehende  Kritik  des  Entwurfs  des  deutschen  bürgerlichen 
Gesetzbuchs  (zuerst  in  Schmollers  Jahrbuch,  18S8,  dann  auch  selbständig  erschienen) 
sich  wesentlich  auf  einen  ausgesprochen  socialrechtlichen  Standpunct  gestellt  und  die 
snperindividualistische,  romanisirende  Tendenz  dieses  Entwurfs  treffend  gekennzeichnet 

*)  S.  eine  gute  Uebcrsicht  des  Gedankengangs  der  Tönnies’schen  Schrift  in  der 
Besprechung  von  Sch  mol  ler.  in  dessen  Jahrbuch  1868,  XII,  717—719,  mit  richtiger 
Anerkennung  des  Werths  des  Buchs,  nur  unter  der  den  historischen  Nationalökonomen 
üblichen  Reserve  hinsichtlich  der  Methode.  Allein  grade  hierin  zeigt  das  Tönniessche 
Werk,  dass  man,  wenn  auch  unter  Mitbenutzung  der  historischen  Arbeiten  (Gierke), 
doch  einen  solchen  Gegenstand  auch  erfolgreich  ganz  anders  behandeln  kann. 


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46  Einleitung.  2.  K.  Andre  Standpuncte.  Litteratur.  $.  14,  15. 

und  bekämpft:  wahrscheinlich,  wie  einzelne  andere  ähnliche  Versuche,  ohne  ent- 
sprechenden Erfolg  für  die  Umgestaltung  jenes  Entwurfs,  aber  ein  Zeichen  der  Zeit, 
dass  doch  auch  unter  den  Lehrern  des  Privatrechts  die  socialukouotnischcn  und  social- 
rechtlichen  Auffassungen  immer  mehr  getheilt  werden. 

Noch  bestimmter  und  mit  grösserer  Annäherung  zu  socialistiscben  Auffassungen, 
tritt  dies  bei  dem  Juristen  Anton  M enger  (dem  Bruder  des  N'ationalökonomen 
Karl  Menger)  hervor.  Derselbe  hat  in  seiner  vorzüglichen  Schrift  „das  Hecht  auf 
den  vollen  Arbeitsertrag  in  geschichtlicher  Darstellung“,  Stuttgart  1587,  2.  Aufl.  1S91. 
den  Zweck  verfolgt,  „die  Grundideen  des  Socialismus  vom  juristischen  Standpuncte 
aus  zu  bearbeiten,“  worin  er  mit  liecht  die  wichtigste  Aufgabe  der  Rechtsphilosophie 
unsrer  Zeit  erblickt.  Er  hat  ferner  specicll  einmal  vom  Auschauungs-  und  Interessen- 
standpunct  der  unteren  arbeitenden  Classen  eine  Kritik  an  dem  Eutwurfe  des  deutschen 
bürgerlichen  Gesetzbuchs  geübt,  welche  da  und  dort  wohl  Schiefes  enthält  (z.  B.  in 
der  Frage  der  unehelichen  Geburten),  aber  in  Vielem  berechtigt,  im  Ganzen  höchst 
bemerkenswerth  ist.  S.  Menger’s  Arbeit  im  Braun’schen  Archiv  für  sociale  Gesetz- 
gebung 1889/1890  B.  II  und  III : „Das  bürgerliche  Recht  und  die  besitzlosen  Volks- 
classen“  (auch  selbständig  erschienen).  Eine  Arbeit  von  grundlegender  Bedeutung 
für  die  socialrechtlicho  Auffassung  auch  des  Privatrechts. 

In  diese  socialrechtliche  Richtung  gehören  auch  die  Schriften  A.  Samter's. 
die  den  dilettantischen  Character  nicht  verleugnen  können,  den  begreiflich  nament- 
lich juristische  Recensenten  gerügt  haben,  aber  doch  manches  Beachtenswerthe  bieten, 
dessentwegen  Samter  wohl  einige  Schwächen  zu  Gute  gehalten  werden  könnten.  Siehe 
seine  Sociallehre,  Leipz.  1875.  sein  gesellschaftliches  und  Privateigenthum,  Leipz.  1877 
(darüber  und  über  meine  im  Resultate  abweichende  Stellung  zur  Grundeigenthumfrage 
meine  Anzeige  in  der  Jenaer  Litteratur-Ztg.,  31.  März  1877);  dann  sein  Hauptwerk, 
das  Eigenthum  in  seiner  socialen  Bedeutung.  Jena  1879.  — S.  sonst  etwa  noch: 
A.  Lindwurm,  das  Eigentumrecht  und  die  Menschheitsidee  im  Staate,  Leipz.  1S7S. 

§.  15.  Die  deutsche  historisch-nationalüko nomische 
Richtung.  In  dieser  steht  gesondert  ftir  sich,  aber  gehört  doch 
mit  hierher  und  sogar  an  die  Spitze  Friedrich  List.  Sonst 
sind  in  dieser  Richtung  zunächst  die  ältere,  vornemlich  durch 
W.  Roscher,  K.  Knies,  theilweise  auch  noch  durch  Rr.  Hilde- 
brand  vertretene,  auch  in  der  Gegenwart  noch  zahlreiche  jüngere 
Fachmänner  umfassende  und  die  jüngere  Schule , voran 
G.  Schmoller  und  die  ihm  Näherstehenden,  in  mancher  Hinsicht 
und  zumal  für  uns  hier  in  diesem  Werke  auseinander  zu  halten. 
Gewisse  allgemeinere  Auffassungen  und  Forderungen  sind  von  der 
älteren  Richtung  zuerst  ansgegangen,  werden  von  der  jüngeren 
festgehalten,  aber  weitergeführt  und  sind  auch  von  Fachmännern 
ausserhalb  der  im  engeren  Sinne  „historischen“  Schule  der  National- 
ökonomie, auch  im  Ganzen  vom  Verfasser  dieses,  angenommen 
worden.  Die  jüngere  historische  Schule  steht  in  der  Frage  der 
Methode  und  der  Aufgaben  unserer  Wissenschaft  dagegen 
mehrfach  anders.  Sie  neigt  ferner  zu  einer  Vermischung  von  con 
ereter  Wirthschaftsgescliichte  und  Politischer  Oekonomie,  zu  einer 
zu  weitgehenden  Ablehnung  der  älteren  britischen  Dogmatik  als 
einer  Grundlage  für  die  eigentliche  wirtschaftliche  Theorie,  zn 
einer  Verkennung  des  Unterschieds  von  concreter  Wirtschafts- 
geschichte und  „specieller“  oder  „practischer“  Nationalökonomie 


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Deutsche  historisch-nationalökonoinische  Richtung:. 


47 


(„Yolkswirthschaftspolitik“)  als  eiues  eigenen  Haupttheils  der  Poli- 
tischen Oekonomie,  ja  selbst  zu  einer  Verwischung  des  Unterschieds 
in  Aufgaben , Methoden , Rehandlnngsweise  zwischen  Wirtschafts- 
geschichte und  Wirthschaftstbeorie  („theoretischer“  Nationalökono- 
mie)1). Soweit  diese  Tendenzen  der  jüngeren  historischen  Schule 
hervortreten,  stehe  ich  denselben  auch  in  diesem  Werke,  wie  über- 
haupt, ablehnend  gegenüber. 

Friedrich  List  hat  das  grosse  Verdienst,  den  nationalen 
Standpunct  der  Politischen  Oekonomie  vor  dem  kosmopoli- 
tischen der  britischen  Doctrin  mit  Schärfe,  wenn  auch  mit  grosser 
Einseitigkeit,  hervorgehoben  zu  haben.  Er  stellt,  in  echt  histo- 
rischer Auffassung,  zwischen  Individuum  und  Welt  Nation,  Land 
und  Staat,  zwischen  die  Einzel-  und  die  Weltwirtschaft  die  natio- 
nale Volkswirtschaft  und  deckt  die  allgemeinen  historischen  Ent- 
wicklungsbedingungen der  letzteren  auf. 

Seine  viel  zu  schablonenhafte,  aber  einen  richtigen  Kern  enthaltende  Lehre  von 
volkswirtschaftlichen  Entwicklungsstufen,  von  den  volkswirtschaftlichen  Productiv- 
kräften und  deren  Entwicklungsbedingungeu,  von  der  Bedeutung  der  gesellschaftlichen, 
politischen,  bürgerlichen  Institutionen  und  Gesetze  neben  und  zum  Theil  vor  den  In- 
dividuen, Naturfonds,  Kapitalien  für  die  Entwicklung  der  Volkswirtschaft,  seine  prin- 
cipielle  Auffassung  von  Freihandel  und  Schutzzoll  als  historisch  bedingter  handels- 
politischer Systeme,  — dies  und  manches  Andre  zeugen  vom  Geiste  richtiger  und 
grossartiger  wahrhaft  historischer  Anschauung  und  Erfassung  des  Wirtschaftslebens, 
insofern  ist  List  nicht  nur  ein,  sondern  einer  der  grössten  „historischen“  National- 
ökonomen, wenn  auch  weniger  Gelehrter,  als  Politiker  und  Agitator,  wie  G.  Scbmoller 
mit  Recht  bemerkt.  Die  Mängel  seiner  Methode  und  Beweisführung,  die  Verkennung 
der  Bedingungen  eines  wahren  historischen  Inductionsbeweises  iu  den  Abrissen  der 
concreten  handelspolitischen  Geschichte  und  zahlreiche  andere  Schwächen  in  der  Be- 
weisführung und  Schlussziehung  können  ihm  diesen  Ruhm  nicht  nehmen.  Gerade  die 
nationale  Auffassung  der  Volkswirtschaft  im  List  sehen  Sinne  ist  zugleich  eine 
echt  historische.  Bemerkenswerth  ist  nur,  dass  List  (was  auch  neuere  Kritiker  wie 
Eheberg  und  Schmoller  übersehen)  noch  wenig  von  der  heutigen  eigentlich  social- 
politischen  Anschauung  berührt  ist.  Auch  ihm  steht,  wie  der  von  ihm  so  bitter 
bekämpften  britischen  Oekonomik,  das  Productionsproblem  und  die  Förderung  des 
Productionsinteresses  noch  ganz  im  Vordergründe;  in  den  Mitteln  zum  Ziele,  nicht  im 
Ziele  selbst  weicht  er  vom  Smithianismus  ab.  Das  Vertheilungsproblem  vernachlässigt 
er  oder  behandelt  es  in  der  ungenügenden  Weise  der  Früheren.  Auch  darin  zeigt 
sich,  welche  Förderung  der  theoretischen  Erkenntniss  eben  doch  erst  dem  Socialismus, 
nicht  der  historischen  Schule  zu  verdanken  gewesen  ist.  In  Betracht  kommt  hier 
für  die  Grundlegung  namentlich  List’s  Hauptwerk,  das  „nationale  System  der  Poli- 
tischen Oekonomie“,  1.  Aufl.  Stuttgart  1S41,  7.  Auf],  mit  historischer  und  kritischer 
Einleitung  von  Eheberg,  eb.  1883. 

Die  ältere  deutsche  historische  Schule  stellt  eine  Reaction 
gegen  Einseitigkeiten  der  britischen  Oekonomik  (insularer 
wie  continentaler  Richtung)  dar. 

Solche  Einseitigkeiten  sind,  um  mit  Roscher  und  Ingram2)  zu  reden,  eine 

*)  S.  dagegen  auch  Knies,  Polit.  Oekon.  2.  A.  Vorwort  S.  VII. 

s)  Koscher,  Gcsch.  d.  deutschen  Nationalökonomik  S.  912  fr.;  über  die  extreme 
deutsche  individualistische  Richtung  S.  1014  ff.  Ingram,  nothwendige  Reform  d.  Volks- 
wirthsch.lelire,  deutsch  v.  Scheel,  Jena  1879;  ders..  Gesell,  d.  Volkswirt!]. lehre  S.  207  ff. 


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48  Einleitung.  2.  K.  Andre  Standpuncte.  Litteratur.  § 15. 

zu  ausschliessliche  Neigung  zu  und  Werthlcgung  auf  die  abstracto  Deduction,  nament- 
lich in  der  Ricardo’schen  Richtung;  eine  schon  in  der  Theorie,  vollends  in  practischea 
Fragen  zu  weit  gehende  Isolirung  und  Loslösung  der  ökonomischen  von  den  mit  ihnen 
verknüpften  sonstigen  socialen  Erscheinungen;  die  zu  absolute,  statt  der  richtigen 
historisch  relativen  Beurtheilung  der  wirtschaftlichen  Erscheinungen  und  Einrichtungen 
und  Lösung  der  wirthschaftspolitischen  Fragen;  die  vielfach  falsche,  namentlich  viel 
zu  optimistische  Beurtheilung  der  freien  Concurrenz  und  ihrer  Folgen  und  die  viel 
zu  weit  gehende  Verdrängung  des  Staats,  seiuer  Thätigkeit,  seiner  regulirenden  Wirt- 
schaftsordnung aus  der  Volkswirtschaft. 

Hier  ist  die  historische  Schule  im  Ganzen  im  Recht  mit  ihren 
abweichenden  Auffassungen  und  Forderungen.  Aber  hier  und  da 
auch  schon  in  ihrer  älteren,  vollends  in  ihrer  neueren  Periode  reagirt 
sie  in  Betreff  der  Methode  der  Politischen  Oekonomie  wieder  etwas 
zu  stark,  unterscheidet  sie  in  Betreff  der  Aufgaben  zwischen  denen 
der  Theorie  und  der  Volkswirthschaftspolitik  nicht  immer  richtig 
und  klar  und  wirft  sie  der  ganzen  britischen  Doctrin  Manches 
vor,  was  nur  an  einzelnen  Anhängern  derselben  zu  tadeln  und  wohl 
öfters  begleitende  Erscheinung,  aber  nicht  nothwendige  Folge  dieser 
Doctrin,  deren  Methode,  Auffassungsweise  ist. 

Beizustimmen  ist  der  historischen  Schule  wohl  in  dem  Verlangen,  dass  grössere 
Vorsicht  angewendet  werde  bei  der  Generalisirung  in  der  Theorie,  bei  der  Aufstellung 
der  Voraussetzungen  des  dcductiven  Verfahrens,  vollends  bei  der  Uobertragung  solcher 
Schlüsse  der  Theorie,  welche  nur  unter  angenommenen  oder  naebgewiesenen  Voraus- 
setzungen richtig  sind,  auf  die  Verhältnisse  des  concreten  wirtschaftlichen  Lebens. 
Nicht  minder  werden  die  wirtschaftlichen  Erscheinungen  mit  Recht  in  ihrem  ge- 
schichtlichen Entwicklungsprocess  als  etwas  Werdendes  und  sich  Veränderndes  ver- 
folgt und  wird  die  Aufhellung  und  Erklärung  dieses  Processes  als  eine  der  Aufgaben 
der  Wissenschaft  der  Politischen  Oekonomie  angesehen.  In  practischen  Fragen  wird 
gleichfalls  mit  vollem  Rechte  der  „Absolutismus  dor  Lösungen“  (Kn  ies)  verworfen  und  bei 
der  Entscheidung  solcher  Fragen  dem  Relativitätsprincip  gehuldigt.  S.  u.  B.  1,  Kap.  2. 

Eine  grössere  Verschiedenheit  der  Ansichten  besteht  zwischen 
uns  und  nicht  der  älteren,  namentlich  der  von  W.  Roscher  ver- 
tretenen, wohl  aber  der  jtingeren  historischen  Richtung  hinsichtlich 
der  „Theorie“  und  der  dogmatischen  Fassung  dieser 
Theorie  in  unserer  Wissenschaft,  sowie  hinsichtlich  des  Werths  der 
Theorie  und  Dogmatik  der  britischen  Ockonomik. 

In  der  jüngeren  Richtung  linden  sich  — freilich  bei  ihren  Anhängern  bisher 
niemals  ganz  klar  entwickelte  — Ansichten  über  das  Wesen  einer  nationalökonomischen 
Theorie  und  über  die  erkenntnisstheoretischen  Bedingungen  der  Aufstellung  einer 
solchen,  welchen  ich  nicht  beizutreten  vermaa:.  Die  britische  Oekonomik  hat  hier 
nicht  nur  ungleich  klarer  die  Aufgabe  und  die  Bedingungen  zu  ihrer  Lösung  erkannt, 
sondern  auch  bereits  das  Wesentlichste  für  den  Auf-  und  Ausbau  der  Theorie  ge- 
leistet. Gewiss  ist  ihre  Methode  vieler  Verbesserungen,  ihre  Beweisführung  tieferer 
psychologischer  und  historischer  Begründung  bedürftig,  aber  auch  fähig.  Der  Haupt- 
mangel der  Theorie  und  Dogmatik  der  britischen  Oekonomik  liegt  in  der  Verkennung 
des  historischen  Oharacters  des  privatwirthschaftlichen , auf  freier  Concurrenz  be- 
ruhenden Verkehrssystems.  Mit  diesem  Mangel  verbindet  sich  der  weitere,  dass  die 
britische  Oekonomik  die  „Volkswirtschaft“  in  diesem  privatwirthschaftlichen  Verkehrs- 
system aufgehen  lässt,  daher  durch  eine  Theorie  dieses  letzteren  bereits  eine  Theorie 
der  Volkswirtschaft  gegeben  zu  haben  glaubt.  Allein  diese  beiden  Mängel  lassen 


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Deutsche  historisch-nationalökonomisehe  Richtung. 


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sich  sehr  wohl  berichtieen,  ohne  dass  ihretwegen  kurzweg,  mit  historischen  Nationalöko- 
nomen der  jüngeren  S*chulc,  die  Theorie  und  Dogmatik  der  britischen  Oekonomik  als 
vermeintlich  völlig  veraltete  Schulconstructionen  auf  durchaus  unhaltbarer  Grundlage, 
einfach  fallen  gelassen  werden  müssten. 

Nach  unserer  Ansicht  dürfen  die  britische  Theorie  und  Dogmatik 
unter  bestimmten  Voraussetzungen  einen  grossen  und 
dauernden  Werth  beanspruchen.  Sie  haben  im  Wesentlichen 
richtig  den  Knochenbau,  die  entscheidenden  Hauptpuucte  und 
Grundzüge  der  Statik  und  Dynamik  des  privatwirthschaftlichen 
Yerkebrssystems  aufgedeckt  und  verstehen  gelehrt,  unter  den  recht- 
lichen und  den  psychologischen  Voraussetzungen,  welche  im  Ganzen 
in  Verkehrsgesellschaften  entwickelter  Culturvölker,  wie  der  mo- 
dernen, vorliegen.  Was  Uberseheu  oder  nicht  genügend  beachtet 
oder  falsch  gewürdigt  wurde,  war,  dass  diese  beiderlei  Voraus- 
setzungen in  der  concreten  Wirklichkeit,  auch  heute  bei  uns,  nie- 
mals so  genau  und  allgemein  zutretfcn,  wie  in  der  theoretischen 
Analyse  der  Erscheinungen  und  in  der  Beweisführung  angenommen 
wird,  sowie  dass  jene  Voraussetzungen  überhaupt  nicht  in  dem 
Maasse  constante,  wie  man  annahm,  sondern  immer  mehr  oder 
weniger  variable,  einigermaassen  historische,  nicht  abso- 
lute, Kategorieen  sind. 

Die  Vorgänge  selbst  im  privatwirthschaftlichen  Verkehrssystem,  sogar  einer  be- 
stimmten Zeit  in  einem  bestimmten  Lande,  vollends  in  der  allmäligen  Entwicklung 
dieses  Systems  sind  daher  auch  nicht  so  einfach  mechanisch  zu  erklären,  wie  die 
Theorie  und  Dogmatik  der  britischen  Oekonomik  es  zu  thun  versuchen.  Das  Moment 
der  „Zeit“  (Zeitverlauf.  Zeitdauer)  spielt  z.  B.  eine  weit  grössere  Rolle,  als  hier  früher 
vielfach  angenommen  wurde,  wie  jüngst  aber  auch  von  Männern,  wie  Marshall, 
welche  ähnlich  wie  ich  zu  diesen  Fragen  der  Theorie  und  Dogmatik  stehen . voll- 
kommen anerkannt  wurde.  Zumal  die  Vorgänge  der  Volksw irthschaft  kann  man 
daher  nicht  nach  den  einfachen  mechanischen  Principien  der  zu  einseitig  privatwirth- 
schaftlichen Theorie  der  britischen  Oekonomik  allein  erklären. 

Berichtigt  man  diese  Mängel,  was  nicht  bloss  nach  den  Gesiehts- 
puncten  der  historischen  Nationalökonomie,  sondern  recht  wohl 
aus  dem  Geiste  der  britischen  Oekonomik  selbst  heraus  möglich 
und  auch  schon  geschehen  ist,  so  entzieht  mau  der  Kritik  des 
jüngeren  Historismus  den  Boden  und  das  Wesentliche  der  Ergeb- 
nisse der  britischen  Theorie  und  Dogmatik  bleibt  bestehen. 

Im  Einzelnen  ist  dann  mancherlei  zu  berichtigen,  anders,  feiner,  psychologisch 
tiefer  zu  begründen,  sind  neben  dem  Typischen  die  concreten  Erscheinungen  als 
solche,  neben  dem  Allgemeinen  und  Gesetzmässigen  das  Individuelle  und  Abweichende 
mehr  zu  beachten  uud  zu  verfolgen.  Das  bedingt  aber  immer  nur  einen  Um  - und 
Weiterbau,  nicht  einen  völligen  Neubau  der  Theorie  und  Dogmatik,  ganz  überwiegend 
nur  vorsichtigere  Formulirungcn  der  Lehrsätze,  vermehrte  Berücksichtigungen  der 
variablen  Factoren  — auch  psychologischer  Art  — , nicht  völlig  neue  Lehrsätze  in 
der  Theorie  des  privatwirthschaftlichen  Verkehrssystems.  So  in  Hauptlehrcn,  von 
Production.  Arbeitsteilung,  Umlauf,  Preis,  Productionskosten,  Verteilung,  Ein- 
kommen. Daran  halte  ich  hier  mit  der  älteren  gegen  die  jüngere  deutsche  historisch- 
nationalökonomische Schule  fest.  Da  aber  auch  in  einem  stark  modificirten  privat- 
A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlagen.  1 


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50  Einleitung.  2.  K.  Andre  Standpuncte.  Litteratur.  §.  15,  16. 

wirtschaftlichen  Verkehrssystem  — z.  B.  bei  wesentlicher  Beschränkung  der  Ver- 
tragsfreiheit, bei  bedeutender  Entwicklung  anderer  Motive  neben  und  au  Stelle  des- 
jenigen des  wirtschaftlichen  Vorteils  — und  da  selbst  in  einem  gemein  wirtschaft- 
lichen (socialistischen)  Productions-  und  Vcrtheilungssystem  immer  doch  „Menschen“ 
mit  gegebener  physisch-psychischer  Natur  und  die  gegebene  äussere 
Natur  die  Grundlagen  der  Wirtschaft  sind,  so  gestatten  die  Lehrsätze  der  Theorie 
und  Dogmatik  des  rein  privatwirthschaftlichen  Verkehrssystems  auch  eine  bedingte 
Anwendung  auf  solche  andere  Verhältnisse.  (S.  u.  Buch  1 , bes.  Kap.  1 , Abscbn.  2 
und  Kap.  2.) 

Uebereinstimmend  mit,  aber  noch  entschiedener  als  die  ältere 
und  die  jüngere  historische  Schule,  hierin  mich  der  socialistischen 
Auffassung  wieder  mehr  nähernd,  halte  ich  nur  das  privatwirth- 
schaftliche  Concurrenzsystem  in  seiner  modernen  Gestaltung,  das- 
selbe auch  als  ein  Ganzes  betrachtet,  für  eine  vorübergehende 
Phase  der  Organisation  der  Volkswirthschaft  und  für  viel  tiefer 
greifender  Umänderungen  bedürftig,  als  auch  die  historische  Schule, 
mit  seltenen  Ausnahmen,  einräumt.  Namentlich  die  ganze  eigent- 
liche Rechtsgrundlage  unseres  heutigen  privatwirthschaftlichen 
Systems,  die  Rechtsordnung  für  Freiheit,  Privateigenthum  und  Ver- 
träge, erscheint  mir  mehr  als  der  historischen  Schule  als  etwas 
geschichtlich  Wandelbares  und  durch  absichtliche  legislative 
Eingriffe  zu  Veränderndes.  Und  nicht  minder  halte  ich  die  in  der 
ganzen  Volkswirthschaft  erreichte  Stellung  des  privatwirthschaft- 
lichen Systems  für  etwas  Wandelbares,  das  auch  wieder  absicht- 
lich verändert  werden  kann  und  muss. 

Die  historische  Schule  ist  mir  hier  einerseits  zu  quietistisch,  was  übrigens  auch 
mit  ihrer  abweichenden  Auffassung  der  Aufgaben  der  Disciplin  zusammenhängt, 
anderseits  noch  zu  sehr  geneigt,  in  ihren  Reformbestrebungen  sich  mit  einem  Curiren 
an  den  Symptomen  zu  begnügen,  nicht  auf  die  tieferen  Ursachen  von  Uobelständen, 
auf  die  wirthschaftsrechtlichen  Normen  für  Freiheit  und  Eigenthum,  zurückzugehen. 
An  den  Fragen  der  mehr  gemein-,  weniger  privatwirthschaftlichen  Organisation  der 
Volkswirthschaft  und  für  die  privatwinhschaf(Uche  an  den  Fragen  der  bewussten 
schärferen  Einschränkung  der  freien  Bewegung  und  Regelung  des  Verkehrs,  der  Ver- 
träge durch  „zwingendes  Recht“,  kann  und  darf  man  nicht  so  Vorbeigehen,  wie  es  im 
Ganzen  die  historische  Schule  thut.  Mehr  als  für  letztere  liegen  daher  für  mich  die 
grossen  Probleme  in  der  Grundlegung,  wie  namentlich  auch  in  der  specielien  (prac- 
tischcn)  Nationalökonomie  in  denjenigen  wirtschaftlichen  Rechtsfragen,  welche 
sich  auf  die  eigentlichen  Grundinstitute  des  Rechts,  auch  des  Privatrechts, 
beziehen,  auf  die  Freiheits-,  Eigenthums-,  Vertragsrechts-Ordnung. 

Nicht  allein  von  der  jüngeren,  aber  mehr  von  ihr  als  von  der 
älteren  historischen  Schule  weiche  ich  in  methodologischen 
und  in  Ansichten  über  die  Aufgaben  der  Wissenschaft  der  Poli- 
tischen Oekonomie  ab. 

Hierfür  auf  die  Ausführungen  oben  in  §.  4 und  unten  im  zweiten  Kapitel  des 
ersten  Buchs  (§.  66  IT.)  verweisend,  beschränke  ich  mich  hier  nur  auf  einige  Bemerkungen. 
Die  Methode  der  speculativen  Deduetion,  wie  sie  grade  der  Psychologie  auf  wirt- 
schaftlichem Gebiete  entspricht,  wird,  zumal  von  der  jüngeren  Schule,  bereits  wieder 
zu  sehr  zu  Gunsten  der  historisch -statistischen  Inductionsmethode  zurückgedrängt, 
freilich  mehr  behauptetermaassen  als  in  don  eigenen  Arbeiten  der  Schule  selbst 


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Deutsche  historisch-nationalökonomische  Richtung. 


51 


Die  Schwächen  der  ersteren  Methode  werden  zu  sehr,  diejenigen  der  letzteren  zu 
wenig,  umgekehrt  die  Vorzüge  jener  zu  wenig,  dieser  zu  sehr  hervorgehoben  ; für  die 
Anwendbarkeit  der  ersteren  zu  enge,  der  zweiten  zu  weite  Grenzen  gezogen.  In 
Betreff  der  Aufgaben  neigt  der  jüngere  Historismus  insbesondere  zu  sehr  dazu, 
Schilderung  (Description)  concreter  Einzelheiten,  kaum  selbst  noch  Aufdeckung  des 
Causalzusammenhangs  der  Erscheinungen  und  ihrer  Entwicklung  als  eigentliche, 
beinahe  alleinige  Aufgaben  anzuerkennen,  d.  h.  eben  Wirthschaftsgesc h ichte  und 
St  atistik  zur  „Politischen  Oekonomie“  zu  machen.  Suchen  nach  dem  Typischen, 
beurtheilen,  Ziel  aufstellen.  Weg  weisen  zum  Ziele  — Beantwortung  der  Fragen:  wie 
ist  etwas?  was  soll  sein?  wie  ist  es  zu  erreichen?  neben  den  Fragen:  was  ist?  was 
war?  wie  ist  es  geworden  ? — wird  zu  sehr  in  den  Hintergrund  geschoben,  beinahe 
als  Aufgabe  abgewiesen.  Auffassungen,  in  welchen  die  historische  Nationalökonomie  mit 
sich  selbst  und  mit  der  richtigen  Abweisung  des  Characters  einer  Naturwissenschaft  für 
die  Politische  Oekonomie,  auch  mit  ihrem  Vorgehen  auf  ihrem  Lieblingsgebiete,  der 
..practiscben“  Nationalökonomie,  freilich  in  Widerspruch  kommt,  ohne  sich  dessen  klar 
bewusst  zu  werden.  (S.  u.  Buch  1,  Kap.  2,  Hauptabschu.  1,  bes.  §.  57  ff.) 

Nicht  bei  der  ganzen  jüngeren  historischen  Schule,  wohl  aber  bei  einzelnen 
ihrer  Anhänger  findet  sich  dabei  eine  der  individuellen  Anlage  entsprechende,  sub- 
,'ecdv  ganz  berechtigte  Vorliebe  für  archivalische  geschichtliche  „Forschungen“  — der 
nicht  ganz  anspruchslose  Name  für  die  in  die  „Richtung“  gehörenden  Arbeiten  — , 
für  concrete  historisch -statistische  Schilderungen.  Aber  die  gewiss  erfreulichen  Er- 
gebnisse werden  leicht  in  ihrer  Bedeutung  für  die  Politische  Oekonomie  überschätzt, 
mikrologischen  Dingen  mehr  Werth  beigelegt  als  sie  haben.  (Geschichte  einzelner 
Zünfte.)  ünd  nicht  selten  verbindet  sich  hiermit  eine  Abneigung,  gelegentlich  eine 
förmliche  Idiosynkrasie  gegen  andere  Arbeitsgebiete  und  andere  Arbeitsaufgaben,  als 
die  eigens  gepflegten.  Da  tritt  denn  wohl  auch  bei  den  Vertretern  der  „ethischen“ 
Nationalökonomie,  wie  sich  die  jüngere  historische  Schule  auch  gern  nennt,  ein  Dünkel, 
eine  Ausschlusstendenz  gegen  alles,  was  nicht  zur  Lehre  der  „Richtung“  schwört, 
eine  Unbilligkeit  des  Crtheils  oder  auch  — das  bekannte  andere  derartige  Kampf- 
mittel — ein  Todtschweigen  hervor,  wie  sie  die  ältere  historische  Schule  auch  gegen- 
über von  ihr  bekämpften  Richtungen  und  Männern  sich  nicht  hat  zu  schulden  kommen 
lassen.  Wie  wohlthuend  berühren  W.  Roscher’s  anerkennende  Ortheile  über  einen 
A.  Smith,  einen  Rau!  Epigonenhafte  Züge  der  jüngeren  Schule,  die  vollends  eine 
bereits  sehr  deutliche  und  berechtigte  Reaction  gegen  diesen  „Historismus“  ver- 
wirken werden. 

§.16.  Historisch-nationalökonomische  Litteratur.  Hier  für  die  Grund- 
legung kommen  auch  aus  der  historischen  Schule  wesentlich  nur  diejenigen  Arbeiten 
ia  dieser  Litte raturübersicht  in  Betracht,  welche  sich  auf  die  allgemeineren 
Principienfragen  der  Organisation  und  Rechtsordnung  der  Volkswirtschaft,  auf 
Methodologie,  Fragen  der  Aufgaben  u.  dgl.  m.  beziehen.  Anderes  ist  erst  in  den 
einzelnen  Abschnitten  der  Grundlegung  und  auch  in  den  anderen  Thcilen  dieses 
?anzen  Werks,  besonders  in  der  practischen  Nationalökonomie  zu  nennen.  Vornemlich 
in  deren  Gebiet  gehören  die  wichtigen  und  werthvollen  wirthschafts-historischen 
Arbeiten  der  Schule,  wie  die  allgemeineren  von  Inama-Steruegg  (deutsche  Wirt- 
schaftsgeschichte), Lamprecht,  die  agrarhistorischen  von  G.  Hanssen,  A.  Meitzen, 
die  gewerbegescbichtlichen  von  G.  Schön berg,  G.  Schmoller  und  dessen  näheren 
Schillern,  die  bevölkerungsgeschichtlichen  von  Bücher,  um  nur  einige  Hauptrichtuugcn 
oad  Autoren  zu  nennen.  Reiche  bezügliche  Bibliographien,  worauf  es  an  dieser 
Stelle  genügen  mag,  für  diese  wirthschaftsgeschichtliche  Litteratur  zu  verweisen,  geben 
die  einzelnen  Specialartikel  im  Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften. 

In  der  Fachlitteratur  lassen  sich  zwar  die  ältere  und  jüngere  historische  Richtung 
and  diese  beiden  von  anderen  „kathedersocialistiscben“  und  von  der  „staatssocialistischen“ 
Richtung  (§  17,  IS)  wohl  unterscheiden.  Aber  mehrfach  besteht  doch  eiue  nähere 
Verwandtschaft  aller  dieser  Richtungen  und  der  einzelnen  Autoren  unter  einander. 
Auch  lässt  sich  der  Einzelne  und  selbst  mitunter  ein  und  derselbe  Autor  in  seinen 
verschiedenen  Arbeiten  und  nach  seiner  persönlichen  wissenschaftlichen  Entwicklung 
weht  immer  genau  in  eine  bestimmte  Specialrichtung  einfach  wie  in  ein  Schema 
t-iafugen.  In  diesem  § 16  finden  sich  daher  einige  Autoren  und  Schriften  mit  genannt, 
welche  auch  bei  den  Katheder-  und  den  Staatssocialistcn  mit  erwähnt  werden  könnten. 

4* 


52 


Einleitung.  2.  K.  Andre  Standpuncte.  Litteratur.  §.  IC. 


Das  bedeutendste  Werk  grade  über  die  Principienfrageu  der  Grundlegung,  über 
Methode  u.  s.  w.  ist  das  Buch  von  K.  Knies,  die  politische  Oekonomie  vom  Stand- 
punct  der  geschichtlichen  Methode,  Braunschweig  1853,  2.  Aufl.  u.  d.  T.  die  politische 
Oekonomie  vom  Standpunct  der  Geschichte  („neue,  durch  abgesonderte  Zusätze  ver- 
mehrte Auflage“),  eb.  1883.  In  diesen  Zusätzen  zahlreiche  und  werthvolle  kritische 
Auseinandersetzungen  mit  der  neueren  Litteratur  Uber  Priucipienfragen,  Rechtsfragen 
u.  s.  w.,  darunter  mehrfach  mit  meinen  Ausführungen  iu  der  Grundlegung.  Auch 
in  dem  Specialwerke  von  Knies,  Geld  und  Credit  (Berlin  1S73,  1874,  2.  Aufl.  von 
Geld  eb.  1885),  so  in  I,  Kap.  1,  2,  3,  Abschnitt  1 finden  sich  Ausführungen  über 
Puncto  der  Grundlegung. 

Von  W.  Roscher’s  grossem  System  der  Volkswirtschaft  gehört  der  1.  Baud, 
die  „Grundlagen  der  Nationalökonomie“,  1.  Aufl.,  Leipzig  1854,  20.  Aufl.  1892,  be- 
sonders in  der  Einleitung  (so  Kap.  3,  Methoden)  im  1.  Buche  Kap.  4 und  5 (Un- 
freiheit und  Freiheit,  Gütergemeinschaft  und  Privateigenthum),  im  3.  Buche  Kap.  1,  7. 
das  5.  Buch  (Bevölkerung)  vornehmlich  hierher;  ferner  einzelne,  Principielles  mit 
berührende  Ausführungen  der  drei  andren  Bände,  namentlich  der  Finanzwissenschaft. 
Das  ganze  Roscher’ sehe  Werk  kommt  hier  für  seinen  Gesammtstandpunct  und  für  die 
Art  der  Ausführung  der  Aufgabe  von  diesem  Standpuncte  aus  in  Betracht  Es  ist 
die  grossartige,  stoffreiche  Ausführung  des  für  Roschers  Standpunct  immer  noch 
besonders  beachtenswerten  Grundrisses  für  Vorlesungen  über  Staatswirthschaft  nach 
geschichtlicher  Methode,  1843.  S.  ferner  im  Allgemeinen  Roschers  Geschichte  der 
Nationalökonomik  in  Deutschland,  München  1874,  welches  Werk  ausserordcntlichsten 
Fleisses  und  umfassendster  Belesenheit  nur  unter  der  dem  Verfasser  einmal  gestellten 
Aufgabe,  sich  wesentlich  auf  Deutschland  zu  beschränken,  — wie  bei  allen  bezüglichen 
„Geschichten  der  Wissenschaft“  der  historischen  Commission  der  Baierischeu  Akademie 
der  Wissenschaft  — leiden  musste,  wodurch  Manches  in  schiefe  Stellung  gebracht 
wurde.  S.  daselbst  die  Ausführungen  Uber  einzelne  Richtungen,  so  deu  Katheder- 
socialismus § 209  ff.,  die  deutsche  Manchesterschule  § 205. 

Bruno  Hildebrand  , die  Nationalökonomie  der  Gegenwart  und  Zukunft,  Frank- 
furt a.  M.  1848,  1.  B.  (einziger).  Ferner  die  von  ihm  gegründete  Zeitschrift  „Jahr- 
bücher für  Nationalökonomie  und  Statistik“.  Darin  verschiedene  hierhergehörige 
Aufsätze  von  ihm,  u.  A.  der  programmatische  ErölTnungsaufsatz  „die  gegenwärtige 
Aufgabe  der  Wissenschaft  der  Nationalökonomie“,  1.  B.  (1863),  mit  principiellen 
Erörterungen  Uber  volkswirtschaftliche  Gesetze,  wirtschaftliche  Natur  des  Menschen, 
Methode  u.  s.  w.,  worin  bereits  eine  Hinneigung  zu  den  Einseitigkeiten  und  Ueber- 
treibungen  der  späteren  historischen  Schule  hervortritt. 

Unter  den  jüngeren  deutschen  Nationalökonomen  der  historischen  Richtung, 
welche  sich  von  den  Einseitigkeiten  der  neueren  historischen  Schule  freigehalten 
haben,  ist  namentlich  G.  Schöubcrg  zu  nennen,  mit  kleineren  Schriften  und  Auf- 
sätzen. wie  Volkswirtschaft  der  Gegenwart  in  Leben  und  Wissenschaft,  1869,  Volks- 
wirtschaftslehre Berlin  1873,  Arbeitsämter  1871,  über  die  deutsche  Freihandelspartei 
und  die  Partei  der  Eisenacher  (kathedersocialistischcn  Versammlung),  in  der  Tübinger 
Zeitschr.  f.  Staatswissensch.  B.  29  , 1873  , zur  Litteratur  der  socialen  Frage  eb. 
B.  28,  1S72,  u.  a.  m.  Jetzt  besonders  der  einleitende  Aufsatz  Uber  die  Volkswirt- 
schaft im  1.  Bande  des  grossen  Schönberg  sehen  Handbuchs  der  Politischen  Oekonomie, 
3.  Aufl.,  Tübingen  1890.  Dieses  ganze  Werk  auch  für  die  gegenwärtige  Auffassung 
und  Bchandlungswei.se  der  Politischen  Oekonomie  unter  deutschen  Fachmännern  ausser- 
halb des  engsten  Kreises  der  neueren  historischen  Schule. 

Die  oben  besprochene  jüngere  historische  Richtung  hat  ihren  Hauptvertretcr 
in  G.  Schm  oller.  Wegen  dieser  seiner  Bedeutung  und  wegen  der  grade  zwischen 
uns  in  besonderem  Maasse  bestehenden  principiellen  RichtungsdiflTerenzen  und  Meinungs- 
verschiedenheiten über  Methode,  Aufgabe  und  Behandlungsweise  der  Politischen 
Oekonomie-  glaube  ich  es  hier  nicht  unterlassen  zu  dürfen,  auf  ihn  hier  etwas  näher 
einzugehen.  Der  auf  seinen  grossen  Spccialgebieten , der  Geschichte  der  Gewerbe- 
verfassung und  der  preussischen  Verwaltungsgeschichte,  so  hoch  verdiente  und  Balm 
brechende  Führer  der  jüngeren  historischen  Richtung  der  Nationalökonomie  gehört 
mit  verschiedenen  grösseren  und  kleineren  Arbeiten,  auch  Recensionen  u.  dgl.  auch 
in  diese  Uebersicht  der  „grundlegenden“  Litteratur.  Er  ist  ausserdem  wegen  der 
Haltung,  welche  er  deu  von  ihm  ausgehenden  oder  unterstützten  Zeitschriften  und 


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Deutsche  historisch-nationalökonomische  Richtung.  Litteratur.  53 

Sammelwerken  (Jahrbuch  für  Gesetzgebung  u.  s.  w.  des  Deutschen  Reichs,  seit  1SS1, 
Staats-  und  socialwissenschaftliche  Forschungen)  grundsätzlich  hat  zu  geben  gesucht 
omi  wegen  seines  ablehnenden  Standpuncts  gegen  die  „ältere  Schuldogmatik“,  wegen 
seiner  Stellungnahme  in  der  Frage  der  Methode,  dor  Aufgabe  der  Politischen  Ocko- 
nomie  hier  besonders  hervorzuheben. 

Gewisse  socialökonomische,  socialrcchtliche  und  ethische  Anschauungen  und 
Postulat«,  gewisse  Zielpunctc  der  Disciplin  und  der  Social-  und  Wirthschaftspolitik, 
das,  was  der  jüngeren  mit  der  älteren  historischen  Richtung  gemeinsam  ist,  trennt 
meine  Anschauung  nicht  nur  nicht  von  Schmoller.  sondern  sind  uns  im  Wesentlichen 
gemeinsam.  Auch  in  der  Nothwendigkcit  einer  tieferen  psychologischen  Begründung 
der  Wissenschaft  stimmen  wir  überein.  In  Maass  und  Tempo  unserer  Forderungen 
an  die  Wirthschafts-  und  Socialpolitik  mehr,  als  in  den  Principieu  dafür,  wenngleich 
auch  mit  in  diesen,  gehen  wir  etwas  auseinander,  was  vielleicht  mehr  im  Tempera- 
ment. als  in  der  Verschiedenheit  der  Auffassung  des  „Historikers“  und  des  „Dogma- 
tikers“ liegt.  Mit  Schindlers  hauptsächlich  hierher  gehöriger  nach  Inhalt  nnd  Form 
rortrefTlichen , wenn  auch  nicht  in  allen  Ausführungen  hinlänglich  scharf  und  klar 
gedachten  und  vielfach  zu  aphoristischen  Streitschrift  gegen  H.  v.  Treitsclike  „über 
einige  Grundfragen  des  Rechts  und  der  Volkswirtschaft“  (Ilildebrand’s  Jahrbücher 
1S74  und  1S75,  auch  selbständig,  Jena  1875),  einer  Art  allgemeinerer  philosophischer 
Begründong  der  Theorieen  der  jüngeren  „ethischen“  historischen  Schule,  bin  ich  eben- 
falls grossentheils  einverstanden.  Hier  wie  in  seinen  anderen  bezüglichen  Aufsätzen 
betont  Schmoller  das  Moment  der  Sitte  und  der  Sittlichkeit  mehr,  dasjenige  des 
Zwangs  und  des  Rechts  weniger  als  ich,  was  aber  auch  wieder  mehr  auf  ein  Ab- 
weichen in  Maass  und  Grad,  als  in  Principien  hinauskommt. 

Eine  schärfere  und  in  der  That  principielle  Trennung  besteht  zwischen 
aus  dagegen  in  BetrefF  der  Methode,  der  Aufgaben  der  Politischen  Üekonomie,  des 
Verhältnisses  der  Wirtschaftsgeschichte  zur  Wirthschaftstheorie,  der  W ürdigung  der 
älteren  britischen  Theorie  und  Dogmatik  und  aller  Systematik  überhaupt,  auch  wohl 
hinsichtlich  der  Stellung  der  Politischen  Oekonomie  zu  den  verwandten  Wissenschaften, 
insbesondere  zur  sogen.  Socialwissenschaft.  Damit  hängt  eine  verschiedene  Anschauung 
über  die  Berechtigung  verschiedenartiger  wissenschaftlicher  Arbeitsweise  (§.  11) 
zusammen.  Für  Schmoller  ist  alles,  was  nicht  zur  historisch-statistischen  „exacton 
Forschung“  gehört,  mehr  oder  weniger  Gedankenspielerei.  Mit  Worten  wie  „specu- 
Utive  Betrachtung“  iu  der  „noch  metaphysischen“  Periode  der  Wissenschaft,  in  Comte’- 
icher  Weise,  wird  es  stigmatisirt  und  damit  abgethan.  Worte,  Worte!  darf  man  wohl 
«rwidem.  Und  Worte,  Worte!  auch  bei  dem  Lieblingsausdruck  und  Begriff  „exact“ 
— für  historisch -statistische  „Forschung“!  Auf  dem  Gebiete  der  „Geisteswissen- 
schaften“, wo  doch  zuvor  die  Anwendbarkeit  eines  solchen  Ausdrucks  und  Begriffs 
erst  einer  sehr  genauen  Prüfung  bedürfte,  bis  zu  weicher  dieser  Begriff  selbst  an 
..Eiactheit“  und  Klarheit  noch  nicht  weniger  als  Alles  zu  wünschen  übrig  lässt. 
f$.  u.  A.  den  besonders  charactcristischen  Aufsatz  Uber  Zweck  und  Ziel  seines  Jahr- 
buchs. mit  dem  Schmoller  dasselbe  \,B.  V,  JS81)  bei  der  Uebernahme  der  Redaction 
einleitete.) 

In  entsprechender  grösserer  Ausführung,  in  einer  zusammenhängenden,  auch  hier 
vermuthlich  von  ihm  abgelehnten,  aber  gerade  besonders  wünschenswcrthen  „systema- 
tischen“ Weise  hat  sich  Schmoller  bisher  über  die  angedeuteten  Puncte  nicht  ge- 
äußert. Vornemlich  liegen  nur  kurze  Glaubensbekenntnisse,  Thesen,  kritisch-polemische 
Wendungen  vor,  aus  denen  die  principielle  Auffassung  sich  doch  nicht  immer  sicher 
entnehmen  lässt  Offenbar  wird  dabei  Manches  schärfer  zugespitzt,  treten  die  Gegen- 
sätze stärker  hervor,  als  es  eigentlich  der  Sachlage,  Schmoller’s  wirklicher  Meinung 
und  — seinen  eigenen  vielen  werthvollen  sonstigen  Arbeiten  entspricht.  Seine  kleineren 
Aufsätze,  vor  allem  seine  Recensionen,  worin  sich  Gelegenheit  giebt,  die  genannten 
Fragen  zu  berühren,  sind  bei  aller  scheinbaren  Objoctivität  und  allein  Maassc  in  der 
Form  der  Kritik  und  der  Polemik,  doch  von  einem  starken  Subjectivismus  und  einem 
grossen  Selbstgefühl  getragen.  Aber  der  leicht  etwas  überlegene,  dadurch  nicht 
selten,  gegen  den  Willen  Schmoller’s,  verletzende  Ton  gegen  Alles  und  Alle,  welche 
ia  Methode.  Aufgabestellung.  Arbeitsweise,  wissenschaftlicher  Gesammtauffassung  von 
ihm  abweichcn,  ihm  nicht  congenial  und  sympathisch  sind , kann  es  doch  nicht  ver- 
argen. dass  Schmoller  gerade  in  principiellen  Fragen,  in  theoretischen,  begrifflichen  — 


54 


Einleitung.  2.  K.  Andre  Standpuncte.  Litteratur.  §.  16. 


die  trotz  Allem  auch  der  Historiker  nicht  vermeiden,  kann!  — , in  rechtlichen,  auch 
selbst  in  methodologischen  Puncten  sich  nicht  immer  selbst  ganz  klar  und  sich  seiner 
selbst  auch  nicht  immer  ganz  sicher  ist.  Wie  seine  grossen  wirthschaftsgeschichtlichcn 
Arbeiten  zeigen,  liegt  auch  seine  hohe  Begabung  weit  mehr  auf  anderen  Gebieten 
und  in  anderen  Richtungen.  Er  hat  selbst  gelegentlich  gesagt,  dass  die  Historiker 
einer  Wissenschaft  selten  deren  ebenso  berufene  Theoretiker  sind,  was  sich  auch  an 
ihm  selbst  bestätigen  möchte  (u.  A.  auch  nach  dem  — hier  beabsichtigten  — theo- 
retischen Ergebniss  der  vorzüglichen  wirthschafts-  und  culturhistorischen  Unter- 
suchungen über  Arbeitsteilung  und  Untcrnchmungsformen).  Soweit  aber  aus  seineu 
mehr  sporadischen  Aeussernngen,  in  gelegentlichen  Excursen.  ferner  implicito  aus  den 
wirthschaftsgeschichtlichcn  und  practischon  Arbeiten  Schmoller’s  sein  Gesammtstand- 
punct  und  seine  ganze  Auffassung  über  unsere  Diflerenzpuncte  zu  entnehmen  sind, 
z.  B.  in  der  Kritik  Schall des,  Menger’s,  des  Schönberg’schen  Handbuchs,  meiner 
Fiuanzwissenschaft , Vorworten,  Programmaufsätzen  seiner  Zeitschriften,  zahlreichen 
Recensionen  (noch  jüngst  Hasbach’s),  kann  ich  nur  sagen,  keinen  entscheidenden 
Grund  zur  wesentlichen  Aenderung  meines  eignen  wissenschaftlichen  Standpuncts  ge- 
funden zu  haben,  so  sehr  auch  ich  mich  Schmoller  für  vielfachste  Förderung  ver- 
pflichtet weiss.  Vermochte  ich  mich  nicht  mehr  zu  ändern,  so  liegt  das  wohl  an 
meinem  „dogmatischen  Kopf“  und  meiner  „metaphysischen“  Ader  (§.  1 1).  Dann  kann 
ich  eben  auch  nichts  dafür.  Und  immerhin  geht  es  vielen  Anderen  ebenso  wie  mir 
und  bin  ich,  nebenbei  bemerkt,  selbst  von  der  Statistik  zur  Nationalökonomie  gekommen 
und  glaube  gezeigt  zu  haben,  dass  ich  „inductive“  Beweise  mit  statistischem  und 
historischem  Material  auch  fuhren  kann,  dass  ich  mit  der  Deduction  überall  Induction 
verbinde,  aber  — die  erstere,  aus  nachgewiesenen,  wie  selbst  aus  angenommenen 
Voraussetzungen,  in  unseror  Disciplin  mir  vielfach  die  beweiskräftigere  erscheint,  zu- 
mal auf  dem  Gebiete  der  Theorie.  In  der  „Grundlegung“  kommen  unsere  Differenz- 
puncte  unvermeidlich  schärfer  zum  Vorschein,  als  es  auf  anderen  Gebieten,  z.  B.  der 
practischon  Nationalökonomie  der  Fall  sein  wurde1). 

S.  von  Schmoller  u.  A.  noch  die  gesammelten  Aufsätze  „zur  Litteraturgeschichte 
der  Staats-  und  Socialwissenschaften“  Leipzig  1888  (darin  u.  A.  der  Aufsatz  über 
Schäfflc,  Mengcr,  Dilthey);  darüber  die  Besprechung  von  H.  Dietzel,  in  den  Göttinger 
Gelehrten  Anzeigen,  1889.  Ferner:  Das  Einleitungscircular  der  staats-  und  social- 
wissenschaftlichen Forschungen ; das  Vorwort  zu  dem  Werke  „die  Strassburger  Tucher- 
und Weberzunft“  (Strassburg  187s);  die  Recension  des  Schönberg’schen  Handbuchs 
der  Politischen  Oekonomie , Jahrb.  1 882 , II , dazu  meine  Gegenbemerkungen  in  der 


*)  Hinsichtlich  der  Recensionen  Schmoller’s,  die  gerade  für  seinen  principiellen 
Staudpunct  oft  am  Bezeichnendsten  sind,  mag  mir  auch  dem  Specialcollegen  gegenüber, 
nachdem  er  meine  Finanzwissenschaft  seinerseits  in  seiner  Weise  recensirt  hat,  eine  Be- 
merkung gestattet  sein.  Viele  davon,  besonders  ausserhalb  der  Specialitätcn  Schmoller’s. 
gehen  zu  wenig  auf  die  Sache  selbst,  auf  die  im  behandelten  Gegenstand  liegenden 
sachlichen  Diflerenzpuncte  der  wissenschaftlichen  Behandlung  ein,  sondern  geben  ein 
Crtheil  über  den  Autor  der  Schrift,  indem  derselbe  an  Schmoller’s  subjectiver  geistiger 
Anlage,  Arbeitsweise  und  Arbeitsneigung  wie  an  einem  objectiven  Maassstabe  ge- 
messen und  dann  etwa  noch,  wie  in  der  Schule,  prädicirt  wird,  günstig  der  Richtungs- 
verwandte, ungünstig  der  Andere,  nicht  einmal  in  Betreff  seiner  gerade  besprochenen 
Leistung,  sondern  nach  seiner  ganzen  geistigen,  wissenschaftlichen  Persönlichkeit,  mit 
Note  1,  2,  3,  4 u.  s.  w.  Das  ist  doch  nicht  eigentlich  die  Aufgabe  der  Recension, 
und  — es  ist  das  Verletzende.  Etwas  mehr  Duldsamkeit,  etwas  mehr  Wohlwollen, 
auch  etwas  mehr  Fähigkeit  und  — Wille,  ihm  nicht  congenialc  Persönlichkeiten  und 
Leistungen  anzuerkennen  (Schäfflc!  K.  Menger!),  wäre  doch  wohl  kein  unbilliges  Ver- 
langen. Wenn  aber  das,  was  allenfalls  dem  Meister  ob  anderer  Verdienste  zu  Gute 
gehalten,  obwohl  auch  bei  ihm  lieber  vermisst  wird,  bei  jungen  Schülern  und  Mit- 
arbeitern in  der  Recensirthätigkeit  und  in  dgl.  m.  noch  stärker  bervortritt,  so  ist  das 
wohl  noch  weniger  zu  billigen.  Es  zeigt  aber,  dass  Kichtungsexclusivität  auch  ethisch 
nicht  eben  günstig  wirkt.  Mit  dem  Interesse  der  „allein  sclisrmachenden“  — Glaubcns- 
wahrheit,  nein  Wisscnscbaftswahrheit,  etwa  in  der  Methoden-,  der  Aufgabenfrage, 
wird  doch  da  leicht  etwas  gedeckt,  was  — nicht  wissenschaftlich,  sondern  „echt 
menschlich“  ist. 


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Ilistorisch-nationalökonomische  Litteratur. 


55 


Tüb.  Ztschr.  f.  Staatswiss.  Bd.  39,  18S3,  S.  263  ff.  In  dem  Streite  mit  K.  Menger, 
veranlasst  durch  Schmoller’s  in  der  Form  höfliche,  aber  etwas  von  oben  herab  kom- 
mende Kecension  des  werthvollen  Mengcr’scben  Bachs,  Untersuchungen  über  die  Me- 
thode der  Socialwissenschaftcn  (s.  u §.  19)  hat  Schmoller  sachlich  kaum  den  Sieg 
behauptet,  nur  dass  leider  sein  scharfsinniger  Gegner,  ein  „theoretischer“  Kopf  ersten 
Hangs,  wie  Schmoller  ein  „historischer“,  die  sich  eben  gegenseitig  schwer  verstehen, 
sich  zu  einer  Form  der  Polemik  hat  hinreissen  lassen,  zu  welcher  Schmoller  keinerlei 
Anlass  gegeben  und  wodurch  Menger  seiner  Sache  nur  geschadet  hat.  Von  anderen 
Aufsätzen  Schmoller’s  s.  für  die  Grundlegung  namentlich  noch  den  „über  Gerechtig- 
keit in  der  Volkswirtschaft“,  Jahrbuch  V,  1881. 

Aehnliche  einseitige  Tendenzen  wie  bei  Schmoller  finden  sich  bei  einzelnen 
anderen  Fachmännern  der  „Strassburger  Schule“,  wie  Knapp,  Brentano  (classische 
Nationalökonomie,  Antrittsrede,  Loipzig  1888). 

Aber  auch  unter  den  historischen  deutschen  Nationalökonomen  hat  sich  die 
Mehrzahl  doch  von  solchen  Einseitigkeiten  frei  gehalten.  Man  erkennt  auch  da.  wie 
wir  es  unsererseits  thun,  die  Berechtigung,  ja  die  Notwendigkeit  verschiedener 
methodischer  und  principieller  Richtungen  und  einer  wissenschaftlichen  Arbeitsteilung 
nach  Sach-  und  Studieugebieten,  Anlage,  Neigung  an  und  glaubt,  dass  erst  eine  Zu- 
sammenfassung aller  Richtungen  u.  s.  w.  gerade  dem  Wesen  einer  Wissen- 
schaft der  Politischen  Oekonomie  als  Socialökonomie  entspricht. 

In  die  ausländische  Wissenschaft  ist  neuerdings  die  historische  Richtung 
der  Disciplin  ebenfalls  gedrungen,  nach  Italien,  Nordamerika,  England,  auch  Frank- 
reich. Aber  von  der  Ausschlusstendenz  gegen  andere  Richtungen,  von  der  Aburtei- 
lung über  die  Leistungen  der  früheren  Autoren,  besonders  der  Briten,  hat  man  sich 
hier  doch  in  der  Regel  frei  gehalten.  Eine  Neigung  dazu  tritt  nur  vereinzelt  hervor, 
in  England  etwa  bei  Cliffe  Leslie,  bei  Ingram  in  seiner  vortrefflichen  kleinen 
Geschichte  der  Volkswirtschaftslehre,  bei  dem  Wirtschaftshistoriker  Rogers.  In 
Frankreich  hat  Gide  das  entschiedene  Verdienst,  der  historischen  und  socialpolitischen 
Richtung  Raum  gewonnen  zu  haben  ( in  der  von  ihm  herausgegebenen  Zeitschrift 
Revue  d’econ.  politique).  Wo  er  vielleicht  schon  etwas  zu  weit  geht,  erklärt  sich  seine 
Stellungnahme  wohl  mit  aus  der  begreiflichen  Reaction  gegen  die  entgegengesetzte 
Einseitigkeit  der  „Pariser  Schule“,  welche  u.  A.  im  „Institut“  — wie  in  deutschen 
Akademieen  ähnlich  einseitig  der  Historismus  die  seine  — nur  ihre,  d.  h.  wesentlich 
die  alte,  mehr  abstract  deductive,  freihändlerische  Richtung  quand  m£me  gelten  lässt. 
S.  darüber  Gide’s  Aufsatz  in  der  Polit.  Science  Quarterly  (America).  Dec.heft  1890. 
C'haracteristisch  dafür  ist  M.  Block ’s  auch  noch  jüngste  litterarische  Thätigkeit,  etwa 
in  der  Richtung  der  „Berliner  Freihandelsschule“;  so  in  Block’»  Quintessenz  des 
Kathedersocialismus , Berlin  1 879 , in  seinem  Werk  „les  progrös  de  la  Science  econo- 
mique  depuis  Ad.  Smith“,  2 vol.  Paris  1890,  mit  übrigens  reichhaltigem  litterar-  und 
doemengcschichtlichcm  Material.  Compctcnteste  Fachmänner  des  Auslands,  wie  in 
Italien  vor  Allem  L.  Cossa  mit  seiner  ausgesprochenen  Vorliebe  für  die  Litterar- 
historie  des  Fachs,  der  Belgier  E.  de  Lavelcye,  die  Engländer  Sidgwick, 
Mars  hall,  Key  n es,  zahlreiche  jüngere  amerikanische  Gelehrte,  welche  in  Deutsch- 
land ihre  Bildung  erhielten,  der  historischen  und  socialpolitischen  Richtung  gewonnen 
wurden,  aber  dieselbe  mit  Maass  vertreten  und  an  Kernpuncten  der  älteren  Theorie 
festbalten,  wie  u.  A.  besonders  die  Männer  der  Harvard  Onivcrsity  und  deren  Organ, 
das  Quarterly  Journal  of  Economics,  nehmen  die  ähnliche  vermittelnde  Stellung 
ein , wie  in  Deutschland  doch  im  Ganzen  die  Hauptvertreter  der  älteren  historischen 
Schule,  ferner  von  Männern,  welche  Schmoller’s  und  meine  ungefähren  Coätancn 
sind  (um  mich  auf  Nennung  dieser  zu  beschränken),  G.  Cohn , Conrad , Lexis,  Nasse, 
Neumann,  Schönberg,  wohl  auch  im  Ganzen,  trotz  seiner  besonderen  Hinneigung  zur 
Gruppe  „Schmoller,  Knapp,  Brentano“  noch  v.  Miaskowski.  u.  A.  m.,  und  wie.  wenig- 
stens seinem  Streben  nach,  auch  der  Verfasser  des  vorliegenden  Werks1). 


*)  Unter  den  neueren  Engländern  beziehe  ich  mich  besonders  auf  Marshall 
und  dessen  treffliches  Werk  „principles  of  economics“,  1.  Aull.  London  1890,  2.  Aull. 
1591.  Darüber  eine  eingehendere  Besprechung  von  mir  im  Quarterly  Journ.  of  Eco- 
nomics, Aprilheft  1891  (Harvard  University  in  Nordamerica'),  worin  ich  mich  über 
die  im  Text  berührten  Puncte  geäussert  habe.  S.  ferner  das  tüchtige  Buch  von 


5(5 


Einleitung.  2.  K.  Andre  Standpuncte.  Litteratur.  §.  10,  17. 


Unter  den  deutschen  Fachmännern  ausserhalb  der  engeren  historischen  Schale 
kommen  mit  Arbeiten  für  die  ..Grundlegung“  (freilich  mehr  noch  für  die  „theoretische 
Nationalökonomie“)  besonders  Fr.  J.  Neu  mann  (Tübingen)  und  G.  Cohn  in  Betracht. 
Von  jenem  gehören  hierher  die  wichtigen  Arbeiten  über  die  wirtschaftlichen  Grund- 
begriffe und  über  die  Gestaltung  des  Preises  im  1.  Baude  des  Schönberg’schen  Hand- 
buchs (in  dessen  verschiedenen  Auflagen'),  sowie  die  älteren  Aufsätze  gleichen  Inhalts 
in  der  Tüb.  Ztschr.  f.  Staatswiss,  B.  25,  20,  3(5:  ferner  die  selbständige  Schrift 
„Grundlagen  der  Volkswirtschaftslehre“.  1885).  Auch  die  Neumann  sehen  Arbeiten 
über  Steuern  kommen  nach  ihrem  Inhalte  teilweise  mit  in  Betracht.  S.  dieselben 
und  darüber  meine  Finanzwissenschaft,  II,  2.  Aufl.  S.  15)  ff. 

G.  Cohn  hat  in  seinem  vorzüglichen  System  der  Nationalökonomie,  1.  Band, 
Grundlegung,  Stuttgart  1885,  eines  der  besten  und  zugleich  formgewandtesten  Bücher 
über  Politische  Oekonomie  geschrieben,  mit  welchem  ich  besonders  in  Betreff  der 
Methodologie  (Einleitung  1.  Kap.)  und  den  Erörterungen  über  die  Gestaltung  des 
Wirtschaftslebens  (System  der  Wirtschaft,  2.  Hauptabschnitt,  worin  eine  Reihe  der 
von  mir  in  meiner  Grundlegung  behandelten  Puncto  durchgenommen  werden)  vielfach 
Ubereinstimme.  Näher  habe  ich  mich  in  dem  Aufsätze  „systematische  Nationalöko- 
nomie“ in  Conrad’s  Jahrbüchern,  B.  40  (N.  F.  12),  1880  (S.  15)7  ff.)  darüber  aus- 
gesprochen. S.  in  Cohn  s Werk  auch  den  Abriss  einer  Geschichte  der  Nationalökonomie 
(Einleitung,  Kap.  3),  Ausführungen,  denen  ich  mich  nicht  ungeteilt,  aber  in  höherem 
Maasse  als  anderen  literarhistorischen  Schriften  und  Ucberblicken  anschliessen  kann. 
Von  G.  Cohn  sind  ausserdem  manche  Aufsätze  über  Principicnpuncte  der 
Grundlegung  zu  nennen,  welche  jetzt  meistens  in  den  beiden  Bänden  „volkswirt- 
schaftliche Aufsätze“,  Stuttgart  1SS2,  und  „nationalökonomische  Stulien“ . Stuttgart 
18S6.  gesammelt  vorliegen.  Im  ersten  Buche  u.  A.  „Wehrsteuer“,  „Ehre  und  Last  in 
der  Volkswirtschaft“,  „Arbeit  und  Armuth“. 

Nicht  mit  eigenen  Schriften  und  Aufsätzen  gerade  über  die  Probleme  der  Grund- 
legung, wohl  aber  mit  mancherlei  bezüglichen  Ausführungen  in  seinen  Arbeiten  über 
besondere  Gegenstände  ist  auch  W.  Lcxis  hier  zu  nennen.  So  seine  vortrefflichen 
Abhandlungen  über  Handel  und  Consumtion  im  1.  Bande  des  Schönberg  scheu  Hand- 
buchs, Einleitungen  und  Excursc  in  seinen  statistischen  und  historischen  Arbeiten 
(über  französische  Ausfuhrprämien),  in  zahlreichen  Aufsätzen,  Recensionen  in  den 
Fachzeitschriften.  Die  Verbindung  abstract  deductiver  und  historisch-statistischer  Be- 
handlung, scharfer  begrifflicher  Erörterung,  feiner  psychologischer  Analyse  zeichnet 


Keynes,  scopc  and  incthod  of  political  economy,  London  1891,  mit  welchem  ich  in 
diesen  Fragen  grösstenteils  Ubereinstimme.  Darin  u.  A.  die  Zurückweisung  der  zu 
grossen  Ansprüche  des  neueren  Historismus,  auch  der  Polemik  eines  Cliffe  Leslie 
(p.  296  ff.).  Mit  vollem  Rechte  hält  Marshall  an  der  „Continuität“  in  der  Entwick- 
lung der  Wissenschaft  fest.  Von  ihm.  von  neueren  amerikanischen  Schriftstellern  wird 
gegenüber  den  Ucbertreibungen  und  Unklarheiten  des  Historismus  einem  Ricardo,  den 
neuere  deutsche  Autoren  gelegentlich  kurzweg  eine  „Verirrung“  nennen  — noch 
jüngst  ziemlich  so  der  hochverdiente,  aber  auch  zur  Einseitigkeit  des  jüngeren  Histo- 
rismus neigende  Hasbach  — mit  Fug  und  Recht  und  in  richtiger  literarhistorischer 
Dankbarkeit  wieder  die  maassgebende  Bedeutung . trotz  aller  seiner  Einseitigkeit,  vin- 
dicirt.  Vollkommen  zutreffend  urtheilt  Marshall  (I,  1.  Aufl.  p.  519)  über  Ricardos 
Froductionskostcnlehrc:  ihre  Grundlagen  seien  bis  heute  intact  geblieben,  viel  sei 
dazu  gefügt,  viel  darauf  gebaut,  wenig  davon  genommen.  Mit  dieser  maassvolleti  Be- 
sonnenheit vergleiche  man  deutsche  Urthcile  des  jüngeren  und  jüngsten  Historismus 
über  Ricardo  und  Uber  andere  ältere  Autoren  seiner  Methode  und  Richtung.  Ein 
Hermann  wird  bei  uns  von  manchem  jüngeren  Fachmann  kaum  mehr  gekannt,  sein 
unübertroffenes  Hauptwerk  findet,  wie  auch  ein  v.  Thtlnen,  im  Auslände  um  so  mehr 
dankbare  Würdigung.  Ueber  die  „neuen  Doctrinen“  sagt  Marshall  (Vorwort  p.  V) 
ganz  richtig:  „they  havo  supplemcnted  tho  older,  have  extended,  developed,  and  some- 
times  corrected  them.  and  ofteu  have  given  thern  a different  tone  by  a new  discussion 
of  emphasis;  but  very  seldom  have  subverted  them.“  Aehnlicbes  gilt  vom 
jüngeren  Historismus.  Aach  in  der  deutschen  Wissenschaft  wird  das  wieder  anerkannt 
werden,  davor  ist  mir  nicht  bange.  Die  jüngere  „österreichische  Schule“  (§.  19), 
H.  Dietzel  u.  A.  m.  werden  dafür  sorgen. 


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Kathedcrsocialismus. 


57 


alle  Arbeiten  von  Lexis  iin  hoben  Grade  aus.  Aohnliches  pilt  unter  den  Jüngeren 
von  Büeher’s  Arbeiten,  wolcbe  aber  gleichfalls  wesentlich  den  Specialgebieten  an- 
gehören. Wie  die  Ergebnisse  der  bis  torischen  Forschungen  für  die  nationalöko- 
nomische Theorie  verwerthet  werden  können  und  müssen,  zeigt  z.  B.  sein  vortreff- 
licher Art.  Gewerbe  im  Handwörterb.  d.  Staatswiss.  B.  III. 

§.  17.  Der  Kathed ersoeialism us.  In  dem  im  §.  15  auch 
von  uns  zugestandenen  Maasse  gehören  so  ziemlich  alle  diejenigen 
deutschen  Nationalökonomen , welche  mit  dem  Spitznamen  „Ka- 
thedersocialisten“  von  ihren  freihändlerischen  Gegnern  seit 
Beginn  der  1870er  Jahre  zusammengefasst  werden,  auch  zur 
historisch-nationalökonomischen“  Schule.  Dieser  Name  „Katheder- 
soeialisten“  ist  von  den  so  Bezeichneten  nicht  weiter  abgelehnt, 
öfters  selbst  gebraucht  worden.  Was  man  indessen  so  zusammen- 
fasst, umseblicsst  Richtungen  und  Personen,  welche  unter  sich 
principiell  und  practisch  weit  auseinander  gehen.  Das  Gemeinsame 
ist  wesentlich  nur  der  historische  Standpnnct  in  der  angedeuteten 
Beschränkung  und  die  Abweisung  der  extremen  Richtung  des  öko- 
nomischen Individualismus  und  Liberalismus,  des  sogenannten 
Manchester-Stand  puncts. 

Während  sich  der  eine  Flügel  stark  dem  Socialismus  nähert,  Einzelne  darin  ihn 
namentlich  in  der  Form  des  Staatssocialismus  vertreten,  steht  der  andere  Flügel 
der  älteren  liberalen  Doctrin  und  Praxis  noch  sehr  nahe,  nur  dass  auch  er  die 
„freie  Concurrenz“  nicht  so  zum  Dogma  macht,  nicht  so  optimistisch  auffasst  und 
mehr  Ausnahmen  für  notliwendig,  mindestens  für  berechtigt  und  zweckmässig,  auch 
allgemeinere  für  erwägenswerth  hält.  Zu  diesem  Flügel  gehört  auch  jene  englischen 
Vorbildern  folgende  Richtung , welche  an  Stelle  der  Concurrenz  der  Individuen,  wie 
in  der  älteren  Theorie  und  Praxis,  diejenige  der  organisirten  Verbände  von 
Arbeitern  und  Arbeitgebern  (trade  unions,  Gcwerkvereins-Organisation  u.  s.  w.)  setzen 
will  (Brentano).  Innerhalb  dieser  Extreme  von  links  nach  rechts  — oder  rechts  nach 
links,  wenn,  man  will  — um  Namen  zu  nennen,  etwa  von  Schätrie  und  mir  bis  zu 
Nasse,  Conrad,  Brentano,  zeigen  sich  wieder  in  theoretischer  und  practischer  Richtung 
die  verschiedensten  Nuancen,  zahlreiche  Berührungs-  und  Uebereinstitnmungspuncte 
Aller  mit  Allen,  der  Einzelucn  unter  einander,  aber  auch  ebenso  viele  und  starke 
Diü'erenzpuncte.  Eine  wissenschaftliche  oder  practische  einheitliche  „Richtung“  oder 
„Schule“  stellt  der  Kathedersocialismus  also  in  keiner  Weise  dar. 

Ein  andrer  gemeinsamer  Name  ist  schon  wegen  dieses  Umstands  kaum  passend. 
Die  von  einzelnen  Seiten  vorgeschlagenen,  wie  „ethische“,  „realistische“, 
„socialpolitische“  Richtung,  sind  an  sich  angreifbar  und  wurden  wieder  nur  für 
einzelne  Richtungen  innerhalb  des  „Kathedersocialismus“  allenfalls  geeignet  sein.  Auch 
hier  mehr,  um  eine  gewisse  Färbung  und  Tendenz  einer  Richtung  und  eines  Autors 
(z.  B.  etwa  des  „Ethischen“  bei  Männern  wie  G.  Schönberg,  G.  Schmoller,  G.  Cohn) 
als  um  die  Gesammtrichtung  auch  nur  eines  einzelnen  Autors  richtig  zu  bezeichnen. 
Daher  verbleiben  wir  lieber  bei  dem  „historisch  gewordenen“  Namen  „Katheder- 
socialismus“. 

Eine  Darlegung  dieses  Kathedersocialismus  hat  hiernach 
keinen  Sinn.  Eine  kritische  Auseinandersetzung  mit  ihm  ebenso- 
wenig. Eine  ihm  specifisch  eigentümliche  Litteratur  hat  er  gleich- 
falls nicht.  Es  kann  sich  nur  darum  handeln , auf  die  Lehrmei- 
nungen einzelner  in  ihm  enthaltener  Richtungen  und  zu  ihm  ge- 


58 


Einleitung:.  2.  K.  Andre  Standpuncte.  Litteratur.  §.  IS. 


hörender  Autoren  von  Fall  zu  Fall  referirend  und  kritisch  einzu- 
gehen, wozu  auch  die  principiellen  Erörterungen  in  der  Grundlegung 
mehrfach  Anlass  geben. 

Die  wcrthvollcn  Materialsammlungen , Gutachten,  Referate  und  Vcrhandlungs- 
berichte  Uber  praktische  wirthschaftspolitische  Fragen  in  den  „Schriften  des  Vereins 
für  Socialpolitik“  haben  etwa  nur  d as  Gemeinsame  des  Standpunctcs,  dass  die  radical 
individualistische,  rein  freihändlerische  Auffassung  und  Behandlung  abgelehnt  und 
nach  einem  positiven  Aufbau  der  Wirtschaftsordnung  gestrebt  wird. 

§.  18.  Der  Staatssocial ismus.  Auch  mit  dem  Namen 
„Staatssocialismus“  werden  wohl  verschiedene  Richtungen 
belegt.  Mitunter  hat  man  gegnerischerseits  den  Staatssocialismus 
und  den  Kathedersocialismus  kurzweg  identificirt.  Das  ist  unrichtig 
uud  abzuweisen. 

Der  Kathedersocialismus  ist  nach  dem  Gesagten  eben  überhaupt  kein  einheitlicher 
Begriff,  eigentlich  überhaupt  kein  Begriff,  sondern  ein  populärer  Collectivname  für 
verschiedene  Richtungen,  welche  dem  reinen  ökonomischen  Individualismus  antagonistisch 
sind ; jedenfalls  als  Begriff  aber  etwas  viel  Weiteres  als  der  Staatssocialismus.  Dieser 
gehört  wohl  zu  jenem,  aber  stellt  nur  Eine  von  vielen  Richtungen  in  ihm  dar  und 
eine  bisher  keineswegs  sehr  verbreitete. 

Mitunter  ist  neuerdings  jede  Maassregel  „positiver  Socialpolitik“, 
durch  welche  irgend  wie  in  das  „freie  Spiel  der  wirtschaftlichen 
Kräfte“  eingegriffen  wird,  besonders  auf  dem  Gebiete  der  Arbeiter- 
verhältnisse, kurzweg  staatssocialistisch,  Staatssocialismus  genannt 
worden. 

So  selbst  die  Arbeiterschutzgesetzgebung,  mehr  noch  die  neuere  deutsche  auf 
dem  Zwangsprincip  beruhende  Arbeiterversichcrungsgesetzgebung ; gewisse  social- 
politische Einrichtungen  im  Finanz-  und  Steuerwesen. 

Oder  man  hat  auch  Maassregeln  wie  die  Uebernahme  grosser 
wirtschaftlicher  Unternehmungen  auf  die  öffentlichen  Körper,  auf 
Staat,  Gemeinde,  Staatsbahnwesen  und  Eisenbahnverstaatlichung 
u.  dgl.  m.  ohne  Weiteres  so  genannt.  Das  ist  unter  gewissen  Vor- 
aussetzungen auch  nicht  unzulässig.  Aber  diese  Voraussetzungen 
liegen  bei  diesen  Maassregeln  nicht  notwendig  immer  vor  und  in 
der  Praxis,  sowie  bei  ihren  theoretischen  und  politischen  Vertretern 
waren  sie  bisher  sogar  in  der  Regel  nicht  vorhanden. 

Mau  kann  nur  sagen:  die  und  die  Maassregeln , wie  die  genannten,  haben 
meistens  , wohl  oder  übel,  unabhängig  vom  Willen  ihrer  Beförderer,  eine  staats- 
socialistisch e Seite  und  Folge  und  können  eine  staatssocialistische  Tendenz  haben. 
Kur  im  letzteren  Falle  stellen  sie  bewussten  Staatssocialismus  dar. 

Ganz  einseitig  und  tendenziös  ist  es,  wenn  in  den  Entwürfen  zu  dem  neusten 
(Erfurter)  Programm  der  Socialdemokratie  ein  (in  das  Programm  selbst  nicht  mit 
aufgenommener  Passus)  den  Staatssocialismus  als  ein  „System  der  Verstaatlichung  zu 
fiscal i sehen  Zwecken“  bezeichnete  und  ihn  verwarf  (Prot,  der  Erf.  Parteitags, 
Berlin  1891  S.  14).  Diese  Zwecke  können  mitspielen.  — und  zum  Vortheil  graile 
der  Gemeinschaft  — aber  sie  sind  nicht  das  Entscheidende. 

Der  eigentliche  Staatssocialismus  ist  nun  in  der  That,  wie 
der  ökonomische  Individualismus  und  Socialismus,  eine  eigene 


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Staatssocialismus. 


59 


geschlossene  ökonomische  Doctrin  und  ein  System  der 
Wirtschaftspolitik.  Er  nimmt  bewusst  und  mit  be- 
stimmten Tendenzen  und  Zielpuncten  und  gewollten 
Folgen  eine  vermittelnde  Stellung  in  Theorie  und  Praxis  der 
Volks wirthschaft  zwischen  jenen  beiden,  dem  Individualismus  und 
dem  Socialismus,  ein.  Das  thut  zwar  im  Grunde  jede  nicht  extreme 
individualistische  oder  socialistische  w’irtbschaftlichc  Doctrin  und 
vollends  jede  bisher  geschichtlich  vorgekommene  Praxis,  jede  con- 
creto Volkswirthschaftspolitik,  welche  stets  auf  ein  Compromiss 
zwischen  Individual-  und  Socialprincip  (§.  6)  hinausläuft.  Der 
Staatssocialismus  unterscheidet  sich  hiervon  indessen  als  Doctrin 
und  Wirtschaftspolitik  dadurch,  dass  er  principiell  dem  Socia- 
lismus entgegenkommt,  weil  er  dessen  Kritik  th  eil  weise  für  be- 
rechtigt und  dessen  Forderungen  iu  Bezug  auf  die  Eigenthums- 
ordnung t heil  weise  für  erfüllbar  und  die  Erfüllung  für  erwünscht 
hält.  Insoweit  entfernt  er  sich  auch  principiell  vom  Indivi- 
dualismus. Aber  anderseits  hält  er  gegenüber  jenen  Forderungen 
des  Socialismus  wieder  eine  principielle  Schranke  inne,  weil 
er  eine  principielle  Berechtigung  und  Notbwendigkeit 
auch  des  Individualismus  und  zwar  im  Gemeinschaftsinter- 
esse anerkennt.  Nur  einen  schrankenlosen  Individualismus,  nicht 
einen  nach  socialen  Rücksichten  einzuschränkenden,  verwirft  er. 

Demgemäss  vertritt  auch  der  Staatssocialismus  und  mit  aus  den  Gründen  der 
socialistischen  Kritik  die  Ersetzung  von  Privateigenthum  an  Kapitalien  und  Grund- 
stücken durch  „gesellschai  tlich es“ , d.  h.  aber  gleich  genauer  bezeichnet  durch 
staatliches,  communales  und  dgl.  Eigenthum  und  damit  die  Ersetzung  von 
Privatwirtschaft  durch  Gemeinwirthschaft.  Aber  er.  beschränkt  seine  Forderung  auf 
eine  theilweisc  Ersetzung,  nemlich  nur  da,  wo  es  nach  Lage  der  concretcn  Ver- 
hältnisse, ökonomisch  und  technisch  möglich  und  zweckmässig  und  zu- 
gleich socialpolitisch  wunschens werth  und  passend  ist.  Das  Vorhandensein 
dieser  Bedingungen  nimmt  er  nicht,  wie  der  Socialismus  in  seinen  Behauptungen, 
überall  von  vornherein  unbedingt  als  erwiesen  an,  sondern  er  verlangt  erst  den  Beweis 
dafür.  Er  setzt  sich  dabei  auch  über  die  psychologischen  wie  practisch-technischen, 
politischen  Bedenken  und  Schwierigkeiten  einer  gemeinwirthschaftlichen , auf  der 
Grundlage  gesellschaftlichen  Gemeineigenthums  ruhenden  Organisation  der  Volkswirt- 
schaft nicht  einfach  hinweg,  sondern  hält  eine  eingehende  objective  Auseinander- 
setzung mit  denselben  für  erforderlich  und  für  seine  Aufgabe. 

Danach  verbleibt  ihm  auch  für  einen  grossen,  den  grössten  Theil  der  Volks- 
wirtschaft die  Privateigen  thumsordnung  und  die  pri  vatwirthschaftlic  he 
Organisation,  wiederum  nicht  im  Interesse  der  Besitzenden,  sondern  im  Gesellschafts- 
und Volkswirthschaftsinteresse  selbst.  Freilich  verzichtet  er  dabei  auf  den  Versuch, 
in  der  Weise  der  älteren  Doctrinen  (der  Nationalökonomie , der  Rechts-  und  Staats- 
philosophie) die  Grenzen  zwischen  Privat-  und  gesellschaftlichem  Gemeineigentum, 
zwischen  privat-  und  gemeinwirthschaftlichcr  Organisation,  zwischen  Individuum  und 
Staat  ein  für  allemal,  „principiell“  aus  dem  „Wesen“  — oder  dem,  was  man 
so  nennt  — sei  es  des  Staats,  sei  es  der  Individualfreiheit  ableiten  zu  wollen.  Denn 
er  sieht  dieses  „Wesen“  selbst  und.  jene  Grenzen  als  etwas  notwendig  und  zweck- 
mässig historisch  Veränderliches  an.  Bei  der  jeweiligen  Feststellung  dieser 


(iO  Einleitung.  2.  K.  Andre  Standpuncte.  Litteratur.  §.  17. 

Grenzen , auch  bei  der  Verschiebung  zu  Gunsten  von  Gemeineigenthuin  und  Gemein- 
wirtschaft , hat  auch  nac  h Ansicht  des  Staatssocialismus  die  Entwicklung  und  der 
jeweilige  Stand  der  Productionst echuik  ein  gewichtiges  Wort  mitz.usprechen, 
freilich  aber,  und  zwar  vor  Allem  auch  aus  psychologischen  Gründen  und  um 
des  Freiheitspostulats  Willen,  nicht,  wie  der  Socialismus  will,  das  alleinige 
Wort.  Wieder  unter  Benutzung  der  socialistischen  Kritik  und  der  Erfahrungen  hin- 
sichtlich des  privatwirthschaftlichen  Systems  und  seiner  Function  unter  dem  Rechts- 
grundsatz  der  freien  Concurrenz  hält  der  Staatssocialismus  nur  principiell  eine 
beschränkende  Regelung  des  Privateigenthums  an  den  sachlichen  Productions- 
mitteln,  des  Vertragsrechts  und  des  ganzen  privatwirthschaftlichen  Systems  für  not- 
wendig  und  berechtigt.  Grade  dadurch,  das  erkennt  er,  soll  wieder  und  muss  und 
kann  auch  allein  das  Privateigenthum  als  ein  doch  in  erster  Linie  dem  G ein  ein - 
sebaftsinter esse  dienstbares  Rechtsinstitut,  und  das  privatwirthscbaftlic.be  System 
als  ein  ebenfalls  zuerst  für  dieses  Interesse  fungirendes  System  der  ganzen  Volkswirt- 
schaft, wirklich  in  den  Dienst  der  Gemeinschaft  gestellt  werden.  Wie  dabei 
aber  im  einzelnen  Falle  vorzugehen  ist,  entscheidet  der  Staatssocialismus  nicht  nach 
einfachen  „Principien“ , „Thesen“,  „Axiomen“,  sondern  unter  steter  Berücksichtigung 
der  mitspielenden  psychologischen  Factoren  und  der  practisch-technischen.  auch 
der  politischen  Seite  der  Dinge  nach  genauer  Untersuchung  der  concreten 
Verhältnisse. 

In  der  Kritik  der  geschichtlich  überkommenen  bestehenden  Verhältnisse  des 
Wirtschaftslebens  und  des  Wirthschaftsrcchts  hütet  sich  der  Staatssocialismus  vor 
den  Uebertreibungen , vor  dem  Pessimismus  des  Socialismus.  In  der  Annahme  der 
Veränderungs-  und  Verbesserungsmftglichkeit  der  wirtschaftlichen  und  socialen  Ver- 
hältnisse durch  die  vom  Socialismus  geforderten  wirthsc haftsrechtlichen  und  wirth- 
schaftsorganisatorischcn  Reformen  hütet  er  sich  aber  nicht  minder  vor  den  optimistischen, 
wie  phantastischen  Uebertreibungen  des  Socialismus.  Er  hält  auch  hier  an  den 
psychologischen  mehr  noch  als  an  den  practisch-technischen  Bedenken  und 
Schwierigkeiten  einer  rein  socialistischen  Rechtsordnung  und  Organisation  fest,  er 
verkennt  bei  letzterer  nicht  die  ausserordentlichen  Bedenken  für  die  „Freiheit“,  die 
persönliche,  die  wirtschaftliche,  die  politische,  die  geistige,  für  den  productions- 
technisohen  Fortschritt,  für  die  Arbeitsintensivität,  für  die  Bevölkerungsbewegung. 
Aber  anderseits  giebt  er  dem  Socialismus  darin  Recht,  dass  die  gesellschaftliche  und 
volkswirtschaftliche  Function  des  „völlig  losgebundenen“  Privateigenthums  an  * 
den  sachlichen  Productionsmitteln  und  des  „völlig  entfesselten“  privatwirth- 
sehaftlichen  Coucurrenzsystcms  sowohl  für  die  Production  der  Güter  als  für  die  Ver- 
teilung des  Productionsertrags  eine  vielfach  ausserordentlich  nacht  heilige  ist. 
Er  stimmt  dem  Socialismus  auch  darin  bei,  dass  alle  wirklich  tiefer  greifenden 
volkswirtschaftlichen  Reformen  solche  auf  dem  Gebiete  der  Eigenthumsordnung 
tuud  implicite  der  Vertragsordnung)  und  der  ganzen  volkswirtschaftlichen 
Organisation  sein  müssen.  Insbesondere  im  modernen  entfesselten  Privat- 
kapitalismus als  Wirtschaftssystem  sieht  auch  der  Staatssocialismus  eine  Ein- 
richtung, welche  für  eine  gesunde,  dem  wahren  Gesellschafts-  und  Volkswirtschafts- 
interesse entsprechende  Lösung  des  Productions-  und  Vertheilungsproblcms  nicht 
geeignet  ist,  ohne  freilich  den  Ersatz  dieses  Systems  für  so  einfacli  und  so  leicht, 
wie  der  Socialismus  es  thut,  zu  halten.  Jede  Erscheinung  das  Wirtschaftslebens, 
jede  Einrichtung  der  wirtschaftlichen  Rechtsordnung , aber  auch  zahlreiche  und 
wichtigste  Erscheinungen  des  gesellschaftlichen  Lebens,  der  Cultur.  der  Sitte,  Sittlich- 
keit, welche  er  eben,  nicht  allein,  wie  der  Socialismus,  aber  immerhin  mit  als  Functionen 
wirtschaftlicher  Verhältnisse  — wie  freilich  dann  diese,  wechselwirkend,  auch  wieder 
als  Functionen  der  gesellschaftlichen , sittlichen  Verhältnisse  u.  s.  w.  — ansieht, 
bringt  er  in  Zusammenhang  mit  den  allgemeinen  Fragen  der  Eigenthumsordnung  und 
Wirtschaftsorganisation,  untersucht  sie  in  ihrer  Wechselwirkung  mit  Production  und 
Verteilung,  beurteilt  sie  nach  dem  Ergcbniss  dieser  Untersuchung  und  nimmt 
wesentlich  mit  danach  seine  Stellung  zu  ihnen  und  zu  allen  auf  sie  bezüglichen 
Fragen  der  Wirtschaftspolitik  und  Rechtsordnung. 

Diese  Andeutungen  mögen  vorläufig  genügen,  um  ersehen  zu  lassen,  was  ich 
hier  unter  „Staatssocialismus“  verstehe.  Der  Ausdruck  selbst  ist  neu,  hat  sich 
aber,  wie  „Kathedersocialismus“,  ja  mehr  als  dieser,  bei  uns  wie  bei  den  anderen 


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Staabsocialismux 


61 


Culturvölkern  rasch  eingebürgert,  um  einen  freilich  den  meisten  Gegnern  und  manchen 
Anhängern  nicht  genügend  klar  umgesehlosscnen  socialpolitischen  Gedankenkreis  zu 
bezeichnen.  Ich  halte  an  dem  Ausdruck  im  Sinne  des  Vorausgehenden  fest.  Er 
ist  auch  schwer  durch  einen  anderen  ähnlich  geeigneten  und  namentlich  ebenso 
erwünscht  kurzen  zu  ersetzen.  Ein  Mangel,  weil  von  vornherein  Vorurtheile  und 
Missverständnisse  leicht  hervorrufend,  ist  freilich  die  ausschliessliche  Bezugnahme 
auf  den  Staat  in  dem  Ausdruck.  Festzuhalten  ist  um  so  mehr,  dass  hier  nach  der 
Regel  „a  potiori  tit  donominatio“  verfahren  ist.  Der  „Staat“  bezeichnet  hier  alle 
anderen  öffentlichen  Körper,  namentlich  die  Verbände  und  Gemeinden,  auch  öffentliche 
Zweckverbände  mit;  ferner  der  „Staat“  im  Worte  „Staatssocialismus“  kommt  nicht 
nur  als  die  „Gemeinwirthschaft“,  welche  unmittelbar  (wie  auch  die  Gemeinde  u.  s.  w.) 
Wirthschaftsaufgaben , auch  materielle  (z.  B.  Verkehrswesen)  übernimmt,  sondern 
auch  als  der  Factor  für  Aus-  und  Fortbildung  wie  jeder  so  auch  der  privatwirth- 
schaftlichen  Rechtsordnung  bei  entwickelten  Culturvölkern  in  Betracht.  „Staatssoeialis- 
mus"  schliesst  daher  begrifflich  nicht  den  Gedanken  der  Uebertragung  der  gesaminten 
Production  und  Vertheiluug  auf  den  Staat  in  sich  und  besagt  ebenso  wenig  den 
grundsätzlichen  Ausschluss  des  privatwirthschaftlichen  Systems  aus  der  Volkswirt- 
schaft. Wohl  aber  inag  der  Ausdruck  passend  gleich  auf  die  Aufgabe  der  Regelung, 
Xormirung  der  ganzen  wirtschaftlichen  Rechtsordnung,  auch  derjenigen  für  den 
privatwirthschaftlichen  Verkehr,  namentlich  durch  den  Staat  und  im  „socialen“ 
Interesse  hindeuten.  In  besonderen  Fällen  muss  man  sich  genauerer  Beschreibungen 
und  Umgrenzungen  bedienen,  hier  und  da  auch  statt  von  „Staatssocialismus“  von 
„Communalsociaiismus“  und  Aehnlichem  sprechen. 

Auf  dem  Boden  eines  „Staatssocialismus“,  „staatssocialistischer“ 
Anschauung  in  diesem  Sinne  steht  auch  diese  „Grundlegung“. 
Ueberall  wird  dabei  an  das  geschichtlich  Ueberkominene  und  zu 
Hecht  und  thatsäehlick  Bestehende  angeknlipft,  dasselbe  aber  nach 
den  angedeuteten  Gesiehtspuncten  geprüft  und  danach  fortzubilden 
gesucht,  nur  unter  steter  sorgfältiger  Berücksichtigung  der  psycho- 
logischen und  aller  sonstigen  Seiten  und  eventuell  Bedenken  und 
Schwierigkeiten,  auch  der  productionstechnischen,  der  vertheilungs- 
technischen, der  politischen  einer  jeden  Frage,  welche  bei  jeder 
Aeuderung  des  Bestehenden,  bei  jeder  weiteren  Annäherung  au 
socialistische  Ziele  auftauchen. 

Die  „historische“  Nationalökonomie  und  die  übrigen  Richtungen  innerhalb  des 
iogen.  Kathedersocialismus  haben  sich  diesem  Staatssocialismus  gegenüber  mehr  ab- 
lehnend als  beistimmend  verhalten,  dürfeu  also  in  der  That  verlangen,  nicht  ohne 
Wcitres  mit  demselben  zusammengeworfen  zu  werden , wie  es  in  der  in-  und  aus- 
ländischen namentlich  polemischen  Litteratur  nicht  selten  geschehen  ist. 

Für  die  principiellen  Erörterungen,  die  dogmatischen  Formulirungen  u.  dgl.  in. 
auf  „staatssocialistischer“  Grundlage  und  nach  dementsprechender  Anschauung  darf 
ich  mich  wohl  besonders  auf  meine  eigenen  einschlägigen  Arbeiten  beziehen.  Männer 
wie  Schäü'le , einzelne  historische  Nationalökonouien,  wie  Schönberg,  Schmoller,  auch 
G.  Cohn  u.  A.  m.  vertreten  auch  wohl  einzelne  Ansichten,  welche  man  „staats- 
socialistisch“  nennt  und  allenfalls  so  nennen  kann.  Aber  sie  begründen  sie  doch 
überwiegend  anders  und  ziehen  andre  Consequenzen  daraus.  Sie  lebuen  daher,  von 
ihrem  Standpunctc  aus  nicht  unrichtig,  die  Bezeichnung  ..Staatssocialistcn“  für  sich 
ab.  Ihre  Arbeiten  sind  deshalb  nicht  hier,  sondern  waren  schon  oben  anzuführen. 

Schon  in  den  beiden  ersten  Auflagen  der  Grundlegung,  sowie  in  der  Finanz- 
wissenschaft1) habe  ich  im  Ganzen  den  Standpunct,  welchen  ich  den  „staatssociaüstischen“ 


*)  S.  daselbst  in  B.  1 (3.  Aufl.)  die  Abschnitte  über  die  Geschichte  der  Finanz- 
wissenschaft §.  27  ff.,  über  die  Principienfragen  bei  den  Privaterwerbszweigen  (.ein- 


62 


Einleitung.  2.  K.  Andre  Standpuncte.  Litteratur.  §.  18,  19. 


im  besprochenen  Sinne  nenne,  vertreten.  In  dieser  neuen  Auflage  suche  ich  diesen 
Standpunct  noch  schärfer  zu  entwickeln,  aber  nach  beiden  Seiten,  des  Socialismus 
wie  des  Individualismus,  ihn  auch  noch  deutlicher  abzugrenzen.  In  den  Aufsätzen 
über  „Finanzwissenschaft  und  Staatssocialismus“  (Tüb.  Ztsch.  f.  Staatswiss.  Jahrg,  1SS7) 
bin  ich  ebenfalls  genauer  auf  grundlegende  Principienfragen  eingegangen. 

Aus  der  Litteratur  sind  sonst  vornemlich  kritische  Erörterungen  über  die  Priu- 
cipienfragen  hervorzuheben,  welche  bei  der  Behandlung  der  practischen  Special- 
fragen der  neueren  Wirthschafts-  und  Socialpolitik,  auch  der  Finanz- 
und  Steuerpolitik  aufgetaucht  sind.  Die  berühmte  Kaiserliche  Botschaft  vom 
17.  November  1881  hat  auch  hier  als  Ferment  gewirkt1)  Namentlich  die  Fragen 
der  Arbeiterorganisation,  der  Arbeiterversicherung,  des  Arbeiterschutzes,  die  Special- 
frage des  Versicherungszwangs,  der  Staatsbeiträge  znr  Arbeiterversicherung,  ferner  die 
Frage  der  Verstaatlichung  der  Eisenbahnen,  der  Tarifpolitik  dabei,  der  finanziellen 
Behandlung  der  Bahnen,  auch  die  socialpolitische  Seite  der  Frage  von  Freihandel  und 
Schutzzoll  (Agrarzölle)  u.  A.  m.  haben  vielfach  den  Anlass  zu  neuen  und  tieferen 
principiellcn  Erörterungen  über  das  Verhältniss  von  Individuum  und  Gemeinschaft, 
über  die  Berechtigung  der  Staatshilfe  in  wirthschaftlichen  Verhältnissen,  über  die 
Fragen  der  Staatsthätigkeit  gegeben.  Die  betreffende  Speciallitteratur  ist  an  dieser 
Stelle  nicht  näher  anzugeben.  Auch  in  der  Grundlegung  ist  sie  aber  bisweilen  für 
Einzelnes  mit  heranzuzieheu.2) 

Mehr  zusammenfassende  systematische  Litteratur  des  Staatssocialismus  fehlt  bisher 
noch.  Vornemlich  die  Gegner,  Freihändler,  Ultramontane  haben  versucht,  den  Staats- 
socialismus zu  systematisiren,  um  ihn  besser  angreifen  zu  können,  aber  sie  machen 
eine  Carricatur  oder  einen  Popanz  aus  ihm.  Dies  gilt  z.  B.  von  der  Streitschrift  der 
drei  Freihändler  Bamberger,  Barth,  Brömel  „gegen  den  Staatssocialismus“, 
Berlin  1884  (aus  der  Sammlung  volkswirthschaftlicher  Zeitfragen.  Herausgegebeu  von 


schliesslich  Eisenbahnen)  §.201,  §.  2 1 S,  §.  267.  In  B.  2 (2.  Aufl.)  die  mehrfachen, 
sich  mit  den  Fragen  der  Grundlegung  nahe  berührenden  Erörterungen  über  das 
socialpolitische  Moment  im  Gebühren-  und  Steuerwesen  f§.  15  ff.,  Wesen  der  Gebühren, 
§.  20  ff.  Entwicklung  derselben.  §.  49  volkswirtschaftliche  Gebühren,  §.  65  Gebühren 
bei  Coinmunalanstalten , §.  85  ff.  Grund  der  Steuer,  §.  102  fl'.  Beziehung  der  Steuer 
znr  volkswirtschaftlichen  Organisation  und  Eigenthumsordnung,  § 127  finanzpolitische 
Steuerprincipien,  §.  131  volkswirtschaftliche  Steuerquellen,  §.  236  ff.  Besteuerung, 
der  Conjuncturengewinne  u.  A.  m.).  Es  ist  mir  von  befreundeter  Seite  wohl  die  Frage 
entgegengetreten . ob  ein  grosser  Theil  der  bezüglichen  Erörterungen,  besonders  im 

2.  Bande  der  Finanzwissensehaft  überhaupt  systematisch  nicht  richtiger  ganz  in  die 
Grundlegung  gehöre.  M.  E.  sind  indessen  in  letzterer  mehr  die  allgemeineren,  in 
der  Finanzwisseuschaft  (ähnlich  in  der  practischen  Nationalökonomie)  mehr  die  spe- 
ciclleren  Erörterungen  zu  geben,  um  durch  diese  eine  Frage  zum  Abschluss  zu 
bringen.  Wiederholungen  lassen  sich  dabei  nicht  ganz  vermeiden,  weil  dieselben 
Fragen , nur  nach  einem  etwas  verschiedenen  Standpuncte  der  Betrachtung , zu 
behandeln  sind.  In  der  Finanzwissenschaft  (wie  in  den  unten  weiter  genannten  Auf- 
sätzen) suche  ich  immer  nachzuweisen,  dass  die  allgemeiner  gehaltenen  principiellcn 
Erörterungen  in  der  Grundlegung  doch  auch  für  concrete  practische  Fragen  frucht- 
bringend, zielgebend  sind  und  dass  umgekehrt  jede  solche  Frage  erst  richtig  bcurtheilt 
werden  kann,  wenn  sie  mit  den  grossen  Principienfragen  der  volkswirtschaftlichen 
Organisation  und  Rechtsordnung  in  Zusammenhang  gebracht  wird. 

*)  S.  darüber  auch  schon  meine  Ausführungen  in  der  Finanzwissenschaft  I, 

3.  Aufl.  S.  50. 

2)  Von  meinen  eigenen  hierher  gehörigen  Arbeiten  beziehe  ich  mich  ausser  auf 
die  vorhin  genannten  für  die  weitere  Ausführung  mancher  Puncte  in  dieser  Grund- 
legung u.  A.  besonders  noch  auf  die  Abhandlung:  „Der  Staat  und  das  Versicherungs- 
wesen“. in  der  Tüb.  Ztschr.  f.  Staatswiss.,  B.  37,  1881  (auch  selbständig  ausgegeben, 
Tübingen  1881);  die  Abh.  Versicherungswesen  im  2.  B.  (3.  Aufl.)  des  Schöuberg'schen 
Handbuchs  der  Politischen  Oekonoinie;  die  Abh.  Grundbesitz  Nr.  I.  im  B.  4 des 
Handwörterbuchs  der  Staatswissenschaften;  sowie  auch  wieder  auf  die  Abh.  „Dcber 
sociale  Finanz-  und  Steuerpolitik“  im  Braun’schen  Archiv  für  sociale  Gesetzgebung, 
1891,  B.  4. 


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Neuere  theoretische  Richtung,  bes.  in  Oesterreich. 


63 


der  Berliner  volkswirtschaftlichen  Gesellschaft) ; von  B am  berge  r 's  Artikel  Sociaiisme 
d etat  im  Nouveau  dictionnaire  d’economie  politique  (1891);  von  der  Schrift  L.  Say’s, 
Le  sociaiisme  detat.  Paris  1884:  von  der  ultramontanen  Schrift  Willi.  Maier’s,  „Der 
Staatssocialismus  und  die  persönliche  Freiheit“,  Regensburg  und  Amberg  1884;  von 
dem  Pamphlet  S.  Emele’s,  „der  Socialismus,  Rodbertus-Jagetzow,  das  Manchesterthum 
und  der  Staatssocialismus“,  Sigmaringen  1885.  In  anderen  Arbeiten  wird  der  Staats- 
socialismus  zu  weit  gefasst,  in  der  oben  angedeuteten  Weise  die  neuere  deutsche 
Wirthschafts-  und  Social politik,  der  Kathedersocialismus  zu  sehr  mit  ihm  identificirt, 
ao  von  M.  Ströll,  die  staatssocialistischo  Bewegung  in  Deutschland,  Leipzig  1885; 
auch  die  verdienstvollen  Arbeiten  des  Engländers  Dawson  leiden  an  diesem  Fehler, 
>o  die  Schrift  Bismarck  and  state  socialism,  London  1890.  K.  Umpfenbach,  Alters- 
versorgung und  Staatssocialismus,  Stuttgart  1883,  bleibt  unklar1)-  Ich  nenne  noch 
den  Abschnitt  „Finanzwissenschaft  und  Staatssocialismus  in  Stein ’s  Finanzwissenschaft, 
5.  Aull.  I.  148 — IGO,  worauf  sich  mein  genannter  Aufsatz  unter  diesem  Titel  vor- 
aemlich  bezieht.  Aus  der  englischen  Litteratur  z.  B.  der  Aufsatz  von  Rae,  state 
H>cialism.  Contempor.  Review  Aug.-Sept.  1888,  Schriften  von  H.  Spencer,  wie  mau 
versus  state. 

§.19.  Die  neuere  theoretische  Richtung,  besonders 
in  Oesterreich.  Die  Unklarheiten  und  Uebertreibungen  des 
jüngeren  deutschen  Historismus  haben  sich  in  der  ausländischen 
Wissenschaft  überhaupt  nur  vereinzelt  und  auch  da  nicht  in  gleichem 
Grade  gezeigt.  Wo  man  das  Berechtigte  in  der  historischen  Rieh- 
tnng  anerkannte,  geschah  es  meistens  etwa  in  dem  Umfange  und 
in  der  Weise,  wie  ich  es  oben  (§.  15)  gleichfalls  gethan  habe. 
Action  oder  zu  weitgehende  Reaction  ruft  aber  glücklicher  Weise 
immer  wieder  in  der  „freien  Wissenschaft“  ausserhalb  der  engeren 
Schulrichtungen  Reaction  hervor.  Eine  solche  in  der  deutschen 
Wissenschaft  in  schärferen  Gang  gebracht  zu  haben,  ist  das  Ver- 
dienst K.  M engeres  in  Wien.  Unter  seiner  Führung  oder  in  seiner 
Begleitung  hat  eine  Anzahl  Fachmänner,  voruemlich  in  Oesterreich, 
die  theoretischen  Probleme  der  Politischen  Oekonomie  wieder 
mit  Fug  und  Recht  in  den  Vordergrund  geschoben,  voran  das 
Werthproblem.  Jene  Reaction  beruhte  vornemlich  auf  einer 
scharfen  Kritik  der  Ziele  und  Methoden  der  historischen  Richtung 
und  auf  einer  einschneidenden  erkenntnisstheorctischen  Untersuchung 
der  Methodologie  und  der  verschiedenen  Aufgaben  der  Disciplin, 
wobei  der  Deduction  wieder  die  ihr  gebührende  Stellung  gegeben 
worden  ist.  Diese  Kritik,  wie  diese  Untersuchung  und  ihr  metho- 
dologisches Ergebniss  ist  auch  für  die  „Grundlegung“  wichtig. 

Man  braucht  nicht  allen  einzelnen  Ergebnissen  der  Untersuchung  beizu- 
summen,  um  doch  den  Ausgangspunct  für  richtig  halten  zu  können:  „Die  Erkennt- 
^bswege,  die  Methoden  der  Forschung  richten  sich  nach  den  Zielen  dieser  letzteren, 
Bach  der  formalen  Natur  der  Wahrheiten , deren  Erkenntniss  angestrebt  wird“ 
'h.  Menger,  Untersuchungen,  Vorwort  S.  VI).  Die  Deduction  auf  dem  Gebiete  der 


*)  Ueber  die  meisten  hier  genannten  Schriften  Näheres  in  meinem  Aufsatze  über 
Fuunzwissenschaft  und  Staatssocialismus,  Tüb.  Ztschr.  1887,  S.  G7blF. 


64  Einleitung.  2.  K.  Andre  Standpuncte.  Literatur.  §.  19. 

theoretischen  Nationalökonomie  ist  durch  diese  Bestrebungen  K.  Menger’s,  seiner 
Schule  und  Anhänger  mit  Hecht  auch  in  der  deutschen  Wissenschaft  gegenüber  den 
Prätensioueu  des  Historismus  wieder  zu  Ehren  gebracht  worden.  Ein  entschiedenes 
Verdienst,  auch  vom  Standpuncte  Desjenigen  aus,  welcher  auch  im  Methodenstreit 
eine  mehr  mittlere  Stellung  glaubt  einnchmen  zu  sollen,  wie  der  Verfasser  dieses. 
Für  die  „Grundlegung“  ist  diese  neuere  theoretische  Richtung  sowohl  durch  ihre 
Methode  als  durch  dio  Arbeiten  über  ökonomische  Grundlehren,  wie  das  Werth-  und 
Preisproblem,  die  Kapitalzinstheorie,  die  Gemcinwirthschaft,  die  Staatswirthschaft  u.  A.  m. 
von  Bedeutung.  Meinungsverschiedenheiten  über  die  „Grenznutzen-Theorie“  und  deren 
Tragweite,  sowie  über  Methode  und  System,  wie  sich  weiter  unten  zeigen  wird, 
hindern  mich  nicht,  den  hohen  Werth  von  Mengor’s  und  seiner  Schule  Leistungen 
anzuerkennen.  Dass  dieselben  im  Ausland  mehr  als  in  Deutschland  Beifall  gefunden 
haben,  ist  aus  mancherlei,  auch  aus  mitspielendcn  persönlichen  Momenten  und  Ein- 
llüssen  von  Schulrichtungen  zu  erklären,  beweist  aber  nichts  gegen  den  Werth  dieser 
Leistungen.  Eine  gewisse  Neigung  zur  Uebertreibung  und  Einseitigkeit  mag  da  und 
dort,  zumal  in  der  Hitze  des  Streits,  auch  bei  dieser  Reaction  gegen  den  Historismus  mit 
unterlaufen,  wie  fast  immer,  wenn  eine  berechtigte  Ueaction  gegen  eine  andere  Ein- 
seitigkeit eiutritt.  Das  wird  schon  wieder  berichtigt  werden.  Die  einzelnen  Autoren 
der  Richtung  haben  auch  nicht  die  sectenartige  Unselbständigkeit  gegen  einander  und 
gegen  K.  Menger,  wie  ihnen  in  Deutschland  wohl  vorgeworfen  wird.  Das  beweisen 
die  Schriften  von  v.  Böhm-ßawerk,  E.  Sax  u.  A.  in.  Und  Männer  wie  der  jüngere 
Dietzel  haben  auch  gezeigt,  dass  man  auf  eigenen  Wegen  zu  einer  ähnlichen 
Behandlung  der  theoretischen  Probleme  kommen  und  auch  in  wichtigen  Grundlehren, 
wie  in  der  Werth-  und  Grenznutzen-Theorie,  abweichen,  „ausserhalb  der  jungen  öster- 
reichischen Schule“  stehen  kann,  ohne  das  Verständnis»  für  die  Berechtigung  der 
letzteren  zu  verlieren. 

An  dieser  Stelle  sind  nur  einige  Hauptarbeiten  von  specieller  Bedeutung  auch 
für  dio  Grundlegung  zu  nennen. 

K.  Menger’s  Grundsätze  der  Volkswirtschaftslehre,  1.  Theil,  Wien  1871.  — 
Die  Hauptschrift:  Untersuchungen  über  die  Methode  der  Socialwissenschafton  und  der 
politischen  Oekonomie  insbesondere,  Leipzig  1868.  Darüber  u.  A.:  H.  Dietzel  in 
Conrads  Jahrbüchern,  B.  42  (N.  F.  VIII),  1884,  auch  N.  F.  B.  48  (IX);  Schmoller 
in  s.  Jahrbuch  B.  7 1888,  daraus  in  seinem  Buche  „zur  Literaturgeschichte  der 
Staats-  und  Socialwissenschaften“.  S.  auch  meine  Bemerkungen  in  Conrad’s  Jahr- 
büchern (Aufsatz  systematische  Nationalökonomie)  B.  46  (N.  F.  12)  1886.  S.  203  If. — 
Gegen  Schmoller  replicirte  Menger  in  der  Schrift  „die  Irrthümer  des  Historismus  in 
der  deutschen  Nationalökonomie“,  Wien  1884,  sachlich  vielfach  richtig,  in  der  Form 
leider  nicht  ebenso.  S.  ferner  Menger’s  Aufsätze  in  Conrads  Jahrbüchern , zur 
Theorie  des  Kapitals.  B.  51  (N.  F.  17),  1888  und  Grundzüge  einer  Classification  der 
Wirtschaftswissenschaften,  B.  53  (N.  F.  19),  1889. 

E Sax.  Wesen  und  Aufgabe  der  Nationalökonomie,  Wien  1684;  dann:  Grund- 
legung der  theoretischen  Staatswirthschaft,  Wien  1887  (darüber  in  meiner  Finanz- 
wissenschaft II.  2.  Aull , S.  26). 

E.  v.  Böhm-Bawerk,  Kapital  und  Kapitalzins,  1.  Abth.  Geschichte  und  Kritik 
der  Kapitalzinstheorien,  Innsbruck  1884,  2.  Abth.  positive  Theorie  des  Kapitals, 
eb.  1889.  — Aufsätze  über  Theorie  des  wirtschaftlichen  Güterwerths,  in  Conrad’s 
Jahrbüchern  B.  47  (N.  F.  13)  1SSÖ  (andere  Schriften  über  Werth,  Preis  von  Wieser, 
Zuckerkaudl  s.  u ). 

Dargun,  Egoismus  und  Altruismus.  Leipzig  1885.  Derselbe,  Art.  Altruismus 
im  Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften  B.  I. 

G.  Gross,  Wirtschaftsformen  und  Wirthschaftsprincipieu,  Leipzig  1SS8,  Der- 
selbe. Art.  Gemein  Wirtschaft,  Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften.  B.  III. 

II.  Dietzel,  über  das  Verhältnis»  der  Wirthschaftslehre  zur  Socialwirtschafts- 
lehre (Diss.).  Berlin  1682.  Der  Ausgang  der  Socialwirthschaftslehro  und  ihr  Grund- 
begriff. Tüb.  Ztschr.  f.  Staatswiss.  B.  39,  1883.  Beiträge  zur  Methodik  der  Wirt- 
schaftswissenschaft, Conrad’s  Jahrbücher  B.  43  (N.  F.  17),  1884. 

Die  neuere  theoretische  Richtung  hat,  selbst  vom  Auslande  aus,  auch  wieder 
die  Aufmerksamkeit  auf  ein  seinerzeit  wenig  beachtetes,  fast  vergessenes  Buch: 
Gossen.  Entwicklung  der  Gesetze  des  menschlichen  Verkehrs,  1853,  neue  Ausgabe, 
Berlin  1889  gelenkt. 


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Socialökonomie  alb  selbständige  Wissenschaft. 


65 


Gate,  m.  E.  im  Ganzen  zutreffende  Behandlung  des  neueren  Streits  Uber  Ziel, 
Aufgabe,  Methode  in  der  Freiburger  Antrittsrede  von  Philippovieh  von 
Philippsberg,  über  Aufgabe  und  Methode  der  Politischen  Oekonomio,  Freiburg 
1886.  Auch  zu  nennen  Berg  hoff- Ising,  über  die  historisch -ethische  Richtung  in 
der  Nationalökonomie,  Leipzig  1889. 

§.20.  Die  Social  Ökonomie  als  eigene  selbständige 
Wissenschaft.  Die  in  diesem  Kapitel  vorgeführten  und  be- 
sprochenen verschiedenen  Standpuncte  in  unserer  Wissenschaft, 
d.  h.  in  der  als  Socialökonomie  aufgefassten  und  behandelten 
Politischen  Oekonomie,  werden  uns  in  dieser  Grundlegung  ebenso 
zu  kritischen  Auseinandersetzungen  mit  ihnen  Anlass  geben,  wie 
der  Standpunct  des  „ökonomischen  Individualismus  oder  Liberalis- 
mus“ oder  der  britischen  Oekonomik.  So  verschieden  und  zum 
Theil,  wie  der  des  Individualismus  und  Socialismus,  scharf  anta- 
gonistisch diese  Standpuncte  nun  auch  untereinander  sind,  das  ist 
ihnen  allen  doch  gemeinsam,  dass  sie  die  „Politische  Oekonomie“ 
als  ein  eigenes,  sich  von  anderen,  wenn  auch  mehr  oder  weniger 
verwandten  ab  grenzendes  Wissenschaftsgebiet  auffassen. 

Auch  der  wissenschaftliche  Socialismus  negirt  nicht  eine  Politische  Oekonomie 
als  eigene  Wissenschaft,  er  will  die  ältere  „liberale"  nur  zu  einer  „socialistischen" 
fortbilden.  Im  jüngeren  Historismus,  so  bei  G.  Schmollcr1),  findet  sich  allerdings 
auch  wohl  Hinneigung  zu  einer  Auffassung  und  gelegentliche  Andeutungen  davon, 
dass  dermaleinst  die  Politische  Oekonomie  in  eine  allgemeine  Socialwissenschaft  auf- 
zugehen  bestimmt  sei.  Indessen  zu  klaren  Forderungen  hinsichtlich  einer  solchen 
Umbildung  der  Politischen  Oekonomie  und  zu  ernstlichen  Vorbereitungen  dazu  hat 
das  noch  nicht  geführt. 

An  dieser  Auffassung  der  Politischen  Oekonomie,  — auch  als 
Socialökonomie“  — , als  einer  eigenen  selbständigen  Wissen- 
schaft mit  eigenen  Objecten  und  Aufgaben  und  beiden  an- 
gepassten Methoden  wird  auch  hier  festgehalten.  Sie  gehört  in 
die  Gruppe  der  Social-  und  Staatswissenschaften,  aber  sie  ist 
nicht  „die“  Social-  und  Staatswissenschaft,  weder  nach  ihrer 
bisherigen,  noch  muthmaasslich  nach  ihrer  zukünftigen  Entwicklung. 
Aach  wenn  eine  Sociologic  oder  eine  Social-  oder  Gesellschafts- 
wissenschaft in  einem  engeren  Sinne  sollte  aufgestellt  werden 
dürfen,  eine  Annahme,  welcher  wir  skeptisch,  vollends  für  jetzt, 
aber  auch  für  die  Zukunft,  gegenüber  stehen , so  würde  die  Poli- 
tische Oekonomie  — auch  wieder  als  „Socialökonomie“,  wie  wir 
es  thun,  aufgefasst  und  behandelt  — nicht  in  dieser  Sociologic 
aafgehen  oder  zu  dieser  erweitert  wrerden  dürfen  oder  können, 


l)  S.  z.  B.  seine  Rezension  des  Scbönberg’schcn  Handbuchs,  Jahrbuch  f.  Gesetz- 
gebung 1882,  B.  2 S.  249  ff. 


A-  Wjgnor,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlagen. 


5 


66 


Einleitung.  2.  K.  Andre  Standpuncte.  Litteratur.  §.  20. 


sondern  eine  eigene  selbständige  Wissenschaft  mit  eigenen  Objecten, 
Aufgaben,  Methoden  auch  hier  bleiben  müssen. 

Der  Umstand,  dass  volkswirtschaftliche  Erscheinungen  und  Einrichtungen  auch 
gesellschaftliche,  „sociale“  sind,  dass  jede  von  ihnen  eine  sociale  Seite  und  umgekehrt 
jede  sociale  Erscheinung  und  Einrichtung  ihre  wirtschaftliche  Seite  hat,  dass  hier 
überall  Wechselwirkungen  bestehen;  die  Einsicht,  welche  die  historische  National- 
ökonomie nicht,  wie  sic  wohl  behauptet,  zuerst  gewonnen,  wohl  aber  weiter  entwickelt 
hat,  dass  alle  volkswirtschaftlichen  Erscheinungen  und  Einrichtungen  immer  im 
Zusammenhang  mit  den  übrigen  gesellschaftlichen , politischen,  culturlichen  zu  be- 
trachten und  in  der  Wirklichkeit  niemals  ans  diesem  Zusammenhang  ganz  heraus  zu 
lösen  sind ; die  weitere  Einsicht,  dass  daher  auch  bei  der  Analyse  und  der  Isolirung  der 
volkswirtschaftlichen  Erscheinungen  und  Einrichtungen  in  der  Theorie,  bei  dem 
Herausschalen  des  Typischen  aus  dem  Individuellen  und  Concreten,  des  Wirtli- 
schaftsgesetzmässigen  in  der  Entwicklung  jenes  Zusammenhangs  mit,  jener  Bedingtei? 
durch,  jenes  Verhältnisses  der  Wechselwirkung  dieser  Erscheinungen  und  Ein- 
richtungen zu  sonstigen  socialen  niemals  vergessen  werden  darf:  das  Alles  bedingt 
durchaus  nicht  das  Aufgehen  der  Politischen  Oekonomie  in  eine  engere  Sociologie 
oder  in  eine  weitere  Social-  oder  Gesellschaftswissenschaft.  Gerade  für  die  letztere, 
wie  für  die  gesammten  Rechts-,  Staats-  und  Socialwissenschaften  und  für  alle  Ver- 
suche in  der  Richtung  einer  eigenen  „Sociologie“  kann  nur  eine  in  ihrem  Gebiete 
selbständige  Politische  Oekonomie  wieder  den  fruchtbringenden  Dienst  einer  wichtigen 
Hilfswissenschaft  leisten.  Bei  einer  Vermischung  der  Grenzen  zwischen  der  Poli- 
tischen Oekonomie  und  der  Sociologie  oder  allgemeinen  Socialwissenschaft  wird  Alles 
unklar  und  verschwommen , in  derselben  Weise  wie  in  der  früheren , hier  noch  den 
Ursprung  mit  aus  der  älteren  deutschen  Cameralwissenscbaft  olfenbarenden  deutschen 
Politischen  Oekonomie  bei  der  dort  üblichen  Vermischung  der  Grenzen  zwischen 
Technologie  und  Politischer  Oekonomie  und  wie  bei  der  Behandlung  der  letzteren 
mehr  als  Privatökonomie.  Jede  volkswirtschaftliche  Erscheinung  und  Einrichtung 
hat,  wie  ihre  sociale,  so  ihre  technische,  rechtliche,  — öffentlich-  und  privatrechtliche 
— privatökonomische  Seite.  Auch  diese  Seiten  sind  in  der  Politischen  Oekonomie  so 
wenig  wie  die  sociale  Seite  zu  ignoriren,  in  Bezug  auf  ihre  Einwirkung  und  Rückwirkung 
auf,  wie  auf  ihr  Beeinflusstwerden  durch  die  volkswirtschaftliche  Erscheinung  oder  Ein- 
richtung, zu  denen  sie  gehören.  Aber  wie  deswegen  die  Trennung  von  Politischer  Oeko- 
nomie und  Privatökonomie  nebst  Technologie  — nach  den  scharfen  Unterscheidungen 
Hermann ’s  — , von  erstcrer  und  Rechtswissenschaften  und  sonstigen  Staats- 
wissenschaftcn  gleichwohl  richtig  und  festzuhalten  ist,  so  auch  diejenige  von  Politischer 
Oekonomie  und  Socialwissenschaft  oder  „Sociologie“.  Auch  in  methodologischer 
Hinsicht  folgt  aus  dem  socialen  Moment  in  jeder  volkswirtschaftlichen  Erscheinung 
und  Einrichtung  so  wenig  als  aus  ihrem  technischen,  rechtlichen  Moment  — wenn 
letzteres  vom  socialen  hier  noch  unterschieden  wird  — , dass  eine  „Isolirung“  dieser 
Momente  für  den  Zweck  der  Untersuchung  methodologisch  unzulässig  sei.  Im 
Gegentheil,  gerade  weil  wirtschaftliche  Erscheinungen  und  Einrichtungen  diese  ver- 
schiedenen Seiten  bieten,  von  jeder  derselben  aus  beeinflusst  werden  und  sich  diese 
Seiten  wieder  gegenseitig  beeinflussen,  kann  nur  durch  eine  — wenn  auch  nur 
hypothetische,  dem  Zweck  der  Analyse  dienende  — Trennung  oder  Isolirung 
der  Seiten  und  Ursachen  zur  wissenschaftlichen  Erkenntniss  fortgeschritten  werden. 
Nur  so  wird  die  complexe  Erscheinung  in  ihre  C-omponenten  aufgelöst,  wie  in  den 
classischen  Untersuchungen  von  Thünen’s.  Und  wenn  überhaupt,  so  ist  nur  auf 
diesem  Wege,  durch  Ausbau  der  „speciellcn“  Wissenschaften  von  der  Gesellschaft 
das  erforderliche  Material  für  eine  allgemeine  Sociologie  zu  gewinnen. 

Die  llauptschriften  von  Comte,  Spencer,  wie  der  ganzen  sociologischen 
Schule  des  In-  und  Auslands,  welche  sich  vornehmlich  an  die  Genannten  anschliesst, 
ferner  die  Speciallitteratur  über  „Urgesellschaft“,  Entwicklung  der  Familie  etc. 
(Lewis  Morgan,  Lippert,  Fr.  Engels),  nicht  minder  die  ethnologische 
Litteratur  und  diejenige  über  primitive  Rechsverhältnisse  und  vergleichende 
Rechtswissenschaft  (Sir  II.  Maine,  Bastian,  Post,  Köhler  u.  A.  in.)  bieten 
daher  sicherlich  auch  dem  National-  und  Socialökonomen  viel  Anregendes  und  manches 
werthvolle  Material.  Wenn  ein  Fachökonomist  wie  Schälfle  letzteres  verwerthet,  wird 
auch  die  Politische  und  Socialökonomie  besonderen  Vortheil  davon  ziehen.  Aber  für 


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Socialökonomie  als  selbständige  Wissenschaft. 


67 


unsere  Disciplin  ist  doch  diese  genannte  Litteratnr  diejenige  von  Hilfswissen- 
schaften, wie  die  juristische,  historische,  philosophische,  technologische  etc.  Daran 
halten  wir  auch  hier  fest,  um  nicht  ins  Grenzenlose  abzuschweifen.  Panegyrikern 
der  Sociologie,  wie  L.  Gumplovicz  gegenüber,  dessen  Schriften  gleichwohl  des- 
wegen nicht  unterschätzt  werden  sollen  (Rassenkampf,  sociologische  Untersuchungen. 
Innsbruck  1883,  Grundriss  der  Sociologie,  Wien  1885,  Sociologie  und  Politik,  Leipzig 
1S92)  behaupten  die  Ausführungen  W.  Dilthey’s,  auch  wenn  man  denselben  keines- 
wegs überall  zustimmt,  doch  im  Ganzen  ihre  Zutreffendheit  (Einleitung  in  die  Geistes- 
wissenschaft I,  Leipzig  1883,  besonders  S.  108 — 150).  „Wachsende  Ausdehnung  und 
Vervollkommnung  der  Einzelwissenschaften“,  insbesondere  der  Politischen  Oekonomie 
als  einer  solchen  nach  Objecten,  Aufgaben,  Methoden  eigenen  Einzelwissenschaft, 
scheint  auch  uns  das  richtige  Ziel,  nicht  eino  unklare  und  verschwommene,  einzige 
grosse  Socialwissenschaft  oder  „Sociologie“.  Ich  verweise  hierfür  auch  auf  den  guten 
und  scharfen  Artikel  „positivism“  (und  A.  Comte)  von  Cl6mence  Roy  er  und  den 
Artikel  „sociologie“  im  Say-Cbailley ‘sehen  nouveau  dictionnaire  d’ecouomic  politique, 
vol.  II,  Arbeiten,  welche  zugleich  mehr  als  der  lediglich  absprechende  Artikel  von 
Gothcin,  „Gesellschaft  und  Gesellschaftswissenschaft“  im  3.  B.  des  Handwörterbuchs 
der  Staats  Wissenschaften  bieten,  wonn  auch  insbesondere  der  erstere  ähnlich  ab- 
lehnender Tendenz  ist.  In  der  von  Gothein  Comte  nachgerühmten  schlagenden  Kritik 
der  Hohlheit  der  Abstractionen  der  „classischen  Nationalökonomie“  finden  sich  eben 
nur  bereits  dieselben  Unklarheiten  über  Aufgabe  und  Methode  der  Politischen 
Oekonomie  wie  bei  dem  jüngeren  deutschen  nationalökonomischen  Historismus. 


Erster  Theil. 


Die  Grundlagen  der  Volkswirthschaft. 


Abweichend  von  der  vorigen  Auflage,  wird  der  Gegenstand  hier  formal  in 
„Bücher“,  statt  wie  damals  in  „Kapitel“,  alsdann  werden  die  „Bücher“  in  Kapitel 
und  diese,  soweit  erforderlich,  weiter  in  „Hauptabschnitte“  und  „Abschnitte“ 
eingetheilt.  Die  sachlichen  erheblichen  Erweiterungen  in  dieser  dritten  Auflage, 
namendich  die  nunmehrige  Einbeziehung  der  Methodologie  und  der  Bevölkcrungs- 
lehre,  haben  aber  auch  sonstige  grössere  Veränderungen  in  der  Behandlung  und  Ein- 
teilung des  Stoffes  verursacht  In  der  2.  Auflage  waren  in  vier  Kapiteln  behandelt: 
die  elementaren  Grundbegriffe  — die  Wirthschaft  und  die  Volkswirtschaft  — die 
Organisation  der  Volkswirtschaft  — der  Staat,  volkswirtschaftlich  betrachtet, 
hu  1.  Kapitel  handelte  der  1.  Hauptabschnitt  in  Kürze  von  der  „wirtschaftlichen 
Natur  des  Menschen“.  Die  Bevölkerungslehre  wurde  nur  gelegentlich  berührt  Ein- 
gehende Erörterungen  über  „die  wirtschaftliche  Natur  des  Menschen“  werden  jetzt 
im  1.  Kapitel  des  ersten  Buches  zugleich  als  Einleitung  zur  Methodologie  gebracht. 
Die  weiteren  Ausführungen  über  „elementare  Grundbegriffe“  des  früheren  1.  Kapitels 
folgen  jetzt  in  Buch  2,  das  3.  Buch  entspricht  den  ersten  4 und  dem  6.  und  7.  Haupt- 
abschnitte des  früheren  Kapitels  2.  Der  5.  Hauptabschnitt  des  letzteren  bildet 
mit  der  dabei  vorangehenden  Bcvölkerungslehre  jetzt  das  4.  Buch.  Das  frühere 
Kapitel  3,  Organisation  der  Volkswirth Schaft,  ist  nunmehr  das  5.  Buch,  das  Kapitel  4, 
vom  Staate,  das  6.  Buch  geworden.  Die  Paragrapheneintheilung,  welche  in  den  ersten 
beiden  Auflagen  in  Uebereinstimmung  gehalten  war,  musste  jetzt  geändert  werden, 
wurde  aber  der  Cebersicht  des  Zusammengehörigen  wegen  und  um  danach  verweisen 
zu  können , doch  als  zweckmässig  beibehalten.  Die  Nummern  der  früheren  Para- 
graphen sind  in  Eckklammem  hinter  den  Nummern  der  neuen  angegeben,  wo  der 
behandelte  Gegenstand  derselbe  ist. 

Die  jetzige  Einteilung  des  ersten  Theils  gestaltet 
eich  hiernach  folgendermaassen. 

1.  Buch.  Wirthschaftliche  Natur  des  Menschen.  Ob- 


ject, Aufgaben,  Methoden,  System  der  Politischen 
Oekonomie. 

2.  Buch.  Elementare  Grundbegriffe. 

3.  Buch.  Wirthschaft  und  Volkswirtschaft. 

4.  Buch.  Bevölkerung  und  Volks  wirthschaft. 

5.  Buch.  Organisation  der  Volkswirtschaft. 

6.  Buch.  Der  Staat,  volkswirtschaftlich  betrachtet. 


Erstes  Buch. 

Die  wirtschaftliche  Natur  des  Menschen. 

Object,  Aufgaben,  Methoden,  System 
der  Politischen  Oekouomie. 


Erstes  Kapitel. 

Die  wirtschaftliche  Natur  des  Menschen. 

§.  21.  Littcratar.  Aufgaben  dieses  Kapitels.  Aus  der  national- 
ökonomischen Litteratur  gehören  vornemlich  die  Erörterungen  über  dio  Grund- 
begriffe, ferner  auch  diejenigen  über  die  Methode  hierher,  worin  regelmässig 
auf  die  „Natur  des  Menschen“,  insbesondere  die  „wirtschaftliche“  Natur  ein- 
gegangen, auf  diese  Andres  zurückgeführt,  aus  dieser  abgeleitet  wird.  S.  darüber 
unten  vor  Buch  2 und  vor  Kapitel  2 dieses  1.  Buchs  Weiteres  im  Zusammenhang. 

Im  Allgemeinen  ist  die  psychologische,  mehr  noch  die  ethische  Litteratur, 
soweit  sie  sich  mit  dem  Triebleben,  den  Motiven,  der  Willensbildung 
des  Menschen  beschäftigt,  hervorzuheben.  Freilich  liefert  sie  meistens  keine  besondere 
Ausbeute  für  die  national  ökonomische  Seite  des  Problems,  das  in  der  Regel 
von  den  betreibenden  Autoren  gar  nicht  oder  nicht  näher  verfolgt  wird.  Die  all- 
gemeinen Erörterungen  der  Psychologen  und  Ethiker  gestatten  daher  wohl  eine  gewisse 
Anwendung  auf  unser  Gebiet,  aber  genau  welche  und  in  welchem  Maassc,  bleibt 
gewöhnlich  erst  noch  zu  entscheiden. 

Deshalb  muss  doch  der  Nationalökonom  selbst  den  Versuch  machen,  für  seine 
Zwecke  eine  den  Aufgaben  seiner  Disciplin  entsprechende  Theorie  der  menschlichen 
Triebe  und  Motive,  welche  das  wirth schaft liehe  Handeln,  Thun,  Unterlassen 
bestimmen,  eine  wirtschaftliche  Motivationsichre  aufzustelleu.  Das  Folgende 
knüpft  für  diese  Aufgabe  der  Grundlegung  an  die  Ausführungen  der  §§.  1 — 4 und 
§.  207  der  2.  Auflage  der  Grundlegung  an.  Im  letztgenannten  Paragraphen  war  bereits 
ein  Versuch  gemacht  worden,  „psychologische  Motive,  welche  die  Höhe  der  Arbeits- 
leistung bestimmen“  abzuleiten  und  zu  analysiren,  sowie  weiter  (§.  208  ff.)  auf  Grund 
dieser  Analyse  Erscheinungen,  wie  die  unfreie  und  freie  Arbeit,  und  beider  letzteren 
ökonomische  Anwendbarkeit  und  Nutzeffect  zu  erklären.  Allein  diese  Ausführungen 
hätten  mit  an  die  Spitze  des  Werks  und  gerade  in  den  Abschnitt  von  der  „wirt- 
schaftlichen Natur  des  Menschen“  gehört,  wohin  ich  sie  jetzt  ziehe,  denn  sie  suchen 
einen  allgemeineren  Erklärungsschlüssel  für  wirtschaftliches  Handeln  überhaupt  zu 
bieten,  nicht  nur  für  die  Frage  nach  der  Höhe  der  Arbeitsleistungen.  Auch  halte 
ich  sie  für  brauchbar'  mit  als  Grundlage  der  Methoden  Ich  re.  Das  habe  ich  seit 
der  2.  Aufl.  der  Grundlegung  mehrfach,  u.  A.  in  dem  Aufsätze  „systematische  National- 


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Litteratur. 


71 


Ökonomie“  (Conrad’s  Jahrbücher,  B.  46,  N.  F.  12,  1886,  S.  228  ff.) l)  nachzuweisen  ge- 
sucht. Im  Folgenden  führe  ich  diese  Erörterungen  in  diesem  und  dem  nächsten 
Kapitel  jetzt  weiter  aus.  S.  auch  Quartcrly  Journal  of  economics  (.Amerika,  Harvard 
Uuiversity)  vol.  I,  p.  118 If.  und  Keynes,  scope  etc.  (s.  u.)  p.  224. 

Auch  im  Kapitel  von  der  Organisation  der  Volkswirthschaft  (2.  Aufl.  S.  196  ff.) 
habe  ich  schon  früher  ebenfalls  an  die  Triebe  und  Motive  näher  angeknupft,  um  die 
Organisation  zu  erklären  und  in  den  verschiedenen  Organisationsprincipien  und  Systemen 
die  verschiedenen  Triebfedern  nachzuweisen.  Das  geschieht  auch  in  dieser  3.  Aufl. 
Aber  systematisch  richtiger,  ja  nothwendig  ist  es  doch,  Ausführungen  wie  in  diesem 
Kapitel  voranzuschicken. 

Aus  der  psychologischen  Natur  beschränke  ich  mich  hier  auf  die 
Nennung  zweier  neuerer  Werke,  welche  ich  mehrfach  benutzte:  H.  Höffding, 
Psychologie  in  Umrissen,  aus  dem  Dänischen  übersetzt  von  Bend  ixen,  Leipzig 
1887,  u.  A.  über  Triebe,  Motive,  Willen  (S.  113 ff.,  296ff.,  396ff.),  W.  Wrundt, 
Grundzüge  der  physiologischen  Psychologie,  2 B.,  3.  A,  Leipzig  1887,  ebenfalls  be- 
sonders über  Triebe,  Willen  (II,  410  ff.,  463  ff.).  Vgl.  ausserdem  in  Mill’s  Logik 
das  6.  Buch  von  der  Logik  der  Geisteswissenschaften  und  in  W'undt’s  Logik  den 
gleichen  Abschnitt  (II,  478  ff.). 

Aus  der  neuesten  ethischen  Litteratur  nenne  ich  hier  auch  nur  diejenigen 
Schriften,  welche  ich  besonders  benutzt  habe.  Sie  repräsentiren  auch  verschiedene 
Richtungen.  Herbert  Spencer,  Thatsachen  der  Ethik,  doutsch  von  Vetter,  Stutt- 
gart 1879,  bes.  Kap.  1,  2,  7,  10 — 12. — Wr.  W'undt,  Ethik,  Stuttgart  1886,  u.  A.  im 
Abschnitt  von  den  Principien  der  Sittlichkeit  S.  372 ff.  — H.  Steinthal,  allgemeine 
Ethik,  Berlin  1885  (S.  312 ff. , über  den  psychologischen  Mechanismus  des  mensch- 
lichen Handelns,  Mechanismus  der  Triebe).  — N.  Porter,  elements  of  moral  Science, 
London  1885,  bes.  1.  part  (theory  of  duty).  — H.  Höffding,  Ethik,  deutsch  von 
Bendixen,  Leipzig  1888  (vielfach).  — Th.  Ziegler,  sittliches  Sein  und  sittliches 
Werden,  Grundlinien  eines  Systems  der  Ethik  (populäre  Vorträge),  Strassburg  1890; 
Derselbe,  die  sociale  Frage  eine  sittliche  Frage,  2.  Aufl.,  Stuttgart  1891.  — 
Paulsen,  System  der  Ethik,  2.  Aufl.,  1891,  vielfach,  bes.  3.  Buch,  Grundbegriffe 
und  Principienfragen,  Kap.  2,  6,  auch  3.  Buch  (Tugend-,  Pflichtenlehre).  — v.J  be- 
ring, Zweck  im  Recht,  I,  vielfach. 

S.  immerhin  auch  von  katholischer  Seite:  Ratzinger,  Volkswirthschaft  in 
ihren  sittlichen  Grundlagen,  Freiburg  1883.  — F.  Ha  sie  r,  über  das  Verhältniss  der 
Volkswirthschaft  und  Moral,  Passau  1887. 

Für  die  nationalökonomische  Litteratur  verweise  ich  vomemlich  auf  die 
späteren  Angaben  über  die  Litteratur  der  Methode  und  der  Grundbegriffe.  In 
neuester  Zeit  hat  sich  die  litteraturgeschichtliche  und  kritische  Forschung  näher  mit 
der  psychologisch -ethischen  Auffassung  der  menschlichen  Natur  bei  Adam  Smith 
beschäftigt.  S.  darüber  besonders  Hasbach’s  genannte  Schriften;  ferner  Zeyss, 
A.  Smith  und  der  Eigennutz,  Tübingen  1889,  W.  Neurath,  A.  Smith,  Wien  1884, 
E.  Nasse,  über  A.  Smith  in  den  Preuss.  Jahrb.  1878.  W.  Paszkowski,  A.  Smith,  Halle 
1890  (Diss.),  Dr.  Schubert,  Smiths  Moralphilosophie  in  W'undt’s  philos.  Studien,  IV,  4 
(1891);  auch  die  neueren  Werke  über  A.  Smith  von  D ela  tour  (Paris  1S86), 
Haldanc  (1887,  London).  Die  deutschen  Schriften  von  Onckeu,  v.  Skarzyuski, 
H.  Iiösler  über  die  Grundlehreu  (s.  o.  S.  44).  Vielfach  gehören  für  Litteratur- 
geschichtliches  über  den  ganzen  Gegenstand  dieses  Kapitels  die  genannten  Bücher 
von  W.  Hasbach  hierher.  — S.  sonst  Rau,  I,  §.  1 ff..  Derselbe  in  der  Tübinger 
Ztschr.  f.  Staatswiss.  B.  26,  1870,  in  dem  Aufsatz  Volkswirtschaftslehre  im  Verhältniss 
zur  Sittenlehre.  — W.  Roscher,  I,  §.  1 ff.  — Hermann,  staatswirthschaftliche 
Untersuchungen,  S.  1 ff.  — Schütz,  sittliches  Moment  in  der  Volkswirthschaft, 
Tüb.  Ztschr.  f.  Staatswiss.  B.  1 (1844).  — Knies,  Politische  Oekonomie,  2.  Aufl., 
S.  223 ff.,  bes.  in  dem  Zusatz  S.  243 ff.  — Schäffle,  Mensch  und  Gut  in  der  Volks- 
wirthschaft, Deutsche  Vierteljahrsschr.  1861,  jetzt  in  seinen  gesammelten  Aufsätzen  I. 
158;  Derselbe,  Gesellschaftliches  System,  3.  A.  I,  §.  11  ff.,  4}.  23,  §.  186ff.  — 
Passim  Manches  in  v.  Mangel  d’s  Volkswirtschaftslehre.  — G.  Schmoll  er,  Grund- 


*)  Der  Band  führt  irrtümlich  auf  dem  Titel  die  Zahl  45  statt  46  und  im 
Inhaltsverzeichniss  ist  durch  ein  Versehen  mein  Aufsatz  nicht  angegeben. 


72  1-  B.  1.  K.  Wirtschaft!.  Natur  des  Menschen.  Littcratur.  §.  21,  22. 

fragen,  bes.  Kap.  3.  — Neu  mann  in  den  oben  S.  56  genannten  Aufsätzen,  auch  seine 
„Grundlagen  der  Volkswirthschschaft“.  — 0.  Schönberg  in  seinem  einleitenden 
Aufsatz  im  Handbuch,  I,  3.  A.,  §.  2 ff.  — G.  Cohn,  I,  S.  23ff.  — W.  Neurath, 
passim  mehrfach  in  seinen  nationalökonomischen  Schriften,  Aufsätzen,  Vorträgen,  so 
in  seinen  volkswirtschaftlichen  und  socialphilosophischcn  Essays,  Wien  1880,  bes. 
I — III;  in  dem  Vortrag  Moral  und  Politik,  Wien  1891.  — F.  A.  Lange,  Geschichte 
des  Materialismus,  II,  3.  A.,  S.  453  ff. , Volks  Wirtschaft  und  Dogmatik  des  Egoismus. 

— K.  Menger,  Untersuchungen  S.  71  ff.  — E.  Sax,  Grundlegung,  vielfach.  — 
H.  Dietzel  in  den  oben  S.  64  genannten  Arbeiten.  — 0.  Gerl  ach.  Über  die  Be- 
dingungen der  wirtschaftlichen  Thätigkeit,  Jena  1890,  bes.  S.  57  ff. 

H.  Sidgwick,  principles  of  political  economy,  2.  ed.,  London  1887,  introduction 
. ch.  3,  book  3,  ch.  9.  — A.  Marshall,  principles  of  economics  I,  1.  und  2.  ed., 
London  1890.  1891,  bes.  book  1,  ch.  6.  — Keynes,  scope  a method  of  political 
economy,  London  1891.  — Rieh.  Ely,  introduction  to  political  economy,  New-York 
1889,  p.  151  ff. 

H.  Baudrillard,  rapports  de  la  morale  et  de  l'iconomie  politique,  Paris  1860. 

— Ch.  Gide,  principes  d’6conomic  politique,  2.  ed.,  Paris  1889,  Vorbemerkungen, 
dann  p.  33  ff , 1 28  ff  — M.  Block,  les  progres  de  la  Science  economique  depuis 
A.  Smith,  2 voL,  Paris  1890,  bes.  vol.  1.  Einleitung  und  1.  Buch  (auch  ftir  mancherlei 
Litteratur-  und  Dogmengeschichtliches,  in  scharfer,  freilich  meist  sehr  einseitiger 
Tendenz  gegen  die  deutsche  historische  und  socialpolitische  Schule,  aber  doch  gerade 
in  den  hierher  gehörigen  Erörterungen  mit  mancher  beachtenswerten  kritischen 
Bemerkung). 

M.  Minghetti,  dell’economia  publica  a delle  sue  attinenze  colla  morale  e con 
diritto,  Firenze  1859.  — L.  Cossa,  guida  alla  Studio  d.  econ.  politica,  verschiedene 
Auflagen,  deutsch  von  Moormeister,  Freiburg  1880,  allgemeiner  Theil.  Einzelnes 
in  Schriften  und  Aufsätzen  von  A.  Loria,  so  C.  Darwin  e l’economia  politica. 
Milano  1884  (aus  Rivista  filosof.  scient.);  derselbe  in  dem  grossen  Werke  analisi  della 
proprietä  capitalista,  2 vol.,  Torino  1889.  — G.  Lampertico,  transformismo  e 
sociologia  (Nuovo  Antologia  1884,  vol.  45),  — G.  Ducati,  snlla  libera  concorrenza 
Parma  1881. 

Auch  mit  hierher  gehört  ein  eigentümlicher  Litteraturzweig  wenigstens  in 
einer  Hinsicht;  deijenige  der  socialen  Utopien.  Die  hier  behandelten  Probleme 
berühren  sich  mit  psychologischen  Fragen  und  diese  treten  dabei  öfters  besonders 
merkwürdig  hervor.  Mehr  oder  weniger  gehört  die  ganze  socialistische  und 
communistische  Litteratur,  zumal  der  extremen  Richtnugen,  hierher,  in  der  Kritik 
des  Bestehenden,  wie  in  den  Gedanken  über  und  in  den  Gemäldeentwürfen  für  eine 
neue,  bessere  Zukunftswelt  der  Gesellschaft,  so  besonders  Ch.  Fourier’s.  R Owen’s 
Schriften,  aus  der  neuesten  Zeit  A.  Bebel’s  „Frau“.  Sodann  aber  ist  auf  die  eigent- 
lichen „Utopien“  im  engem  Sinne,  mit  ihren  zum  Theil  mährchen-  und  roman- 
artigen  Einkleidungen  des  StofTs  zu  verweisen.  S.  über  diese  ganze  Litteratur  den 
Aufsatz  R.  v.  Mohl’s  über  „Staatsromane“  in  seiner  Geschichte  und  Litteratur 
der  Staatswissenschaften,  I,  167 II'. ; Klein  Wächter,  die  Staatsromanc,  Wien  1S9I  ; 
H.  v.  Scheel  im  Schönberg’schen  Handbuch,  I,  3.  A.,  S.  116;  überhaupt  die  litterar- 
geschichtlichen  Werke,  welche  auf  den  Socialismus  und  diesem  verwandte  Schriften 
näher  eingehen. 

Von  Plato’s  Staat,  Th.  Morus’  Utopien  bis  zu  den  modernsten  Erscheinungen, 
welche  im  Gefolge  der  neuesten  socialistisehen  Theorieen  und  Agitationen,  sowie  der  Ent- 
wicklung der  Technik  hervorgetreten  sind  — die  interessanteste  derartige  Schrift  ist  wohl 
die  schnell  über  die  Welt  verbreitete  von  Bellamy,  „Rückblick  aus  dem  Jahr  2000“,  auch 
in  mehrfachen  deutschen  Uebcrsetzungen,  so  von  v.  Gizycki  — liegt  doch  hier  überall 
der  Schwerpunct  der  Fragen  im  Psychologischen:  in  den  Voraussetzungen  — 
auch  gelegentlich  Erörterungen  darüber  — über  die  menschliche  Natur,  das  Seelen- 
leben, die  Triebe,  die  Motive,  über  die  Einwirkungen  innerer  und  äusserer  Art  auf 
den  Menschen,  über  das,  was  constant,  was  variabel,  was  durch  „Erziehung“  und 
durch  welche  Art  der  Erziehung  in  einer  beabsichtigten  Richtung  zu  beeinflussen 
ist  u.  s.  w. 

Auch  die  kritische  Litteratur,  welche  der  Socialismus  und  die  älteren  und 
neueren  Utopien  hervorgerufen  haben,  ist  nach  dieser  Seite  beachtenswcrth , z.  B. 


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Die  Bedürfnisse. 


73 


W.  Schäfer,  die  Unvereinbarkeit  des  socialistischen  Zukunftsstaats  mit  der  mensch- 
lichen Natur,  2.  (und  mehrfache)  Aufl.  (zuletzt  1891);  Th.  Ziegler's  schon  genannte 
Schrift:  die  sociale  Frage  eine  sittliche  Frage;  V.  Kathrcin  (S.  J ),  der  Socialismus, 
eine  Untersuchung  seiner  Grundlagen  und  Durchführbarkeit  (aus  des  Verfassers  Moral- 
philosophie),  Freiburg  i.  Br.  1890;  E.  Richter,  socialdemokratische  Zukunftsbilder, 
Berlin  1891.  F.  Gregovorius,  der  Himmel  auf  Erden,  Leipzig  1891  (düster  über- 
treibend in  der  Schilderung  der  Folgen  des  Siegs  der  Socialdcmokratie , aber  mit 
manch’  richtiger  Ausführung  psychologischer  Art)  u.  v.  A.  m.  Ich  beziehe  mich 
ausserdem  auf  einige  Ausführungen  in  meinem  Aufsatz:  Grundbesitz,  die  volkswirt- 
schaftliche Principienfrage  der  Rechtsordnung,  Handwörterbuch  f.  Staatswiss.  IV,  bes. 
S.  1341t  und  auf  meinen  Vortrag  auf  dem  3.  evang.-soc.  Congress  über  das  neue 
socialdemokratische  Programm  (1892). 


1.  Abschnitt. 

Analyse  der  wirtschaftlichen  Natur  des  Menschen. 

I.  — §.  22  [1].  Bedürfnis 8.  Befriedigung.  Befrie- 
digungstrieb.  Wie  alle  Lebewesen,  nur  in  dem  seiner  physisch- 
psychischen Natur  als  „höchster  Form  des  organisirten  Stoffs“  ent- 
sprechenden gesteigerten  und  steigerungsfähigen  Maasse  ist  der 
Mensch  ein  bedürftiges  oder  Bedürfnisse  empfindendes 
Wesen,  d.  h.  er  hat  „Gefühle  des  Mangels,  mit  dem  Streben,  diesen 
Mangel  zu  beseitigen“  (v.  Hermann1)).  Wird  dieses  mit  dem 
Bedürfniss  selbst  gegebene,  die  eine  Seite  desselben  darstellende 
Streben  erfüllt,  so  verschwindet  oder  vermindert  sich,  regelmässig 
nach  der  Natur  des  Menschen  aber  nur  zeitweilig,  jener  Mangel, 
d.  h.  es  erfolgt  Befriedigung  des  Bedürfnisses.  Jenes  Streben 
znr  Beseitigung  des  Mangels  kann,  weil  es  den  Menschen  antreibt, 
Befriedigung  des  Bedürfnisses  zu  erlangen,  Befriedigungstrieb 
genannt  werden. 

l'eber  den  richtigen  Ausgangspunkt  in  der  Wissenschaft  der  Politischen  Oeko- 
nomie  ist  öftere  gestritten  worden.  Rau  ging  vom  Gute  aus  (§.  1),  ebenso  bis  zur 
1.  Aufl.  seines  B.  I Roscher,  Hermann  von  den  Bedürfnissen  (2.  Aufl.,  S 1 IF.), 
ebenso  Bastiat  (harmonies  economiqucs)  und  nach  ihm  Viele,  z.  B.  M.  Wirth 
(Grundzüge  der  Nationalökonomie).  Neuerdings  hat  Sch  äff  le  als  besonders  betonten 
Ausgangspunct  den  Menschen  selbst  genommen  (Deutsche  Vierteljahrschrift  1861) 
and  nach  ihm  Roscher  (§.  1)  seit  der  5.  Aufl.  Lindwurm,  Grundzüge  der  Staats- 
und Privatwirthschaftslehre  (Braunschweig- 1 866),  stellt  den  Begriff  der  Wirtschaft 
«a  die  Spitze.  H.  Dietzel  hat  in  der  Abb.  über  den  Ausgangspunct  in  der  Social- 
wirthschaftslehre  (Ztschr.  f.  Staatswiss.  ß.  37,  1883)  eine  scharfsinnige  Kritik  der  ver- 
schiedenen Ansichten  geliefert  und  als  „Grundbegriff-  der  Wirtschaftswissenschaft*1 
die  wirtschaftliche  Handlung  hingestellt  (S.  65).  Seine  Behandlung  des 
Gegenstandes  ist  für  meine  Umarbeitung  dieses  Abschnitts  mit  von  Einfluss  gewesen, 
ohne  dass  ich  mich  ihm  weiter,  als  es  hier  geschehen,  anzuschliesscn  vermochte. 
S.  auch  Note  2 in  der  2.  Aufl.  S.  9,  von  Neueren  bes.  auch  Neumann,  in  seinen 
obengenannten  Arbeiten. 


b Staatswirthschaftliche  Untersuchungen,  2.  Aufl.,  S.  5. 


74  1.  B.  1.  K.  Wirthschaftl.  Natur  des  Menschen.  1.  A.  §.  23. 

§.23  [1],  1.  Die  Bedürfnisse  sind  innere  psychische, 
wenn  ihre  Befriedigung  allein  durch  psychische  Vorgänge  im  Inneren 
des  einzelnen  fühlenden,  denkenden  Menschen  erfolgt  (Gefühls-, 
Gedankenwelt,  Seelenleben);  äussere,  wenn  die  Befriedigung 
Beziehungen  zur  Aussenwelt,  zur  äusseren  leblosen  und 
lebendigen  Natur  wie  zu  anderen  Menschen,  voraussetzt.  Jedes 
Mittel  zur  Befriedigung  eines  Bedürfnisses  wird  Gut  genannt. 
Den  inneren  und  äusseren  Bedürfnissen  entsprechen  innere  und 
äussere  Güter. 

Die  physische  Natur  des  Menschen  bedingt  schon  zur  Erhaltung 
seines  Lebens,  die  physische  und  psychische  vollends  zu  seiner 
Entwicklung  weit  länger  und  intensiver  als  diejenige  des  Thieres, 
auch  in  den  höchsten  Thierclassen,  pflegender,  schützender, 
fördernder  persönlicher  Dienste  anderer  Menschen.  Sie  macht 
die  Existenz  und  Entwicklung  jedes  Einzelnen  hierdurch  von  vorn- 
herein in  besonderem  Maasse  von  menschlichen  Gemein- 
schaftsbeziehungen abhängig,  stempelt  den  Menschen  auch 
hierdurch  zum  Gemeinschaftswesen.  Seine  physische  Natur 
bedingt  ferner  wie  bei  allen  Lebewesen,  aber  wiederum  nach  Art, 
Umfang,  Entwicklung  seiner  Bedürfnisse  in  ungleich  stärkerem 
Maasse,  die  Verfügung  über  einzelne  sachliche  oder  stoffliche 
Bestandteile  der  Aussenwelt,  über  „Sachgüter“,  um  diese  Be- 
dürfnisse ihrer  Befriedigung  entgegenzuführen.  Aber  auch  die 
psychische  Natur  des  Menschen  bedarf  zum  Theil  solcher  Sach- 
güter zur  Befriedigung  der  ans  ihr  entspringenden  inneren  Bedürf- 
nisse, um  Eindrücke  zu  gewinnen  u.  s.  w\,  woraus  sich  ein  Zu- 
sammenhang zwischen  inneren  und  äusseren  Bedürfnissen,  bezw. 
Gütern  ergiebt 

Danach  zerfallen  die  menschlichen  äusseren  Bedürfnisse  vor 
Allem  in  die  zwei  Hauptarten:  nach  persönlichen  Diensten 
anderer  Menschen,  insbesondere  zu  Pflege,  Schutz,  Förderung, 
und  nach  Sachgütern.  Die  äusseren  Güter  sind  daher  persön- 
liche Dienste  Anderer  und  Sachgüter. 

Zwei  absolute,  rein-ökonomische,  weil  aus  dem  Wesen  der  menschlichen 
Natur  folgende  Kategorien  der  Bedürfnisse  und  der  Güter,  auch  bei  jedem  einzelnen 
Menschen,  die  Sachgüter  unbedingt,  die  persönlichen  Dienste  wenigstens  in  gewissen 
Lebensperioden  ebenfalls. 

Nicht  in  diesem  ihrem  Grundcharacter,  sondern  nur  in  ihrer 
besonderen  Art  und  ihrem  Umfang  sind  die  (inneren  wie 
äusseren)  Bedürfnisse  und  Güter  nach  Individuen,  Classen,  Ständen, 
Völkern,  nach  Zeit  und  Ort  verschieden. 


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Die  Bedürfnisse. 


75 


Die  menschlichen  Bedürfnisse  sind  ferner  in  dieser  ihrer  be- 
sonderen Art  nnd  ihrem  Umfang  einer  grossen  Vermehrung, 
Vervielfältigung,  Verfeinerung  fähig , welche  auch  viel- 
fach, wenn  auch  nicht  immer  und  nicht  mit  naturgesetzlicher  Noth- 
wendigkeit,  bei  Einzelnen  wie  bei  Gruppen  (Völkern)  eintritt,  in 
Verbindung  mit  der  Entwicklung  des  physisch-geistigen  Lebens: 
Wirkung  und  wieder  Ursache  dieser  Entwicklung.  Genauer  gesagt: 
diese  Entwicklung  des  menschlichen  Lebens  selbst,  denn  diese  ist 
nichts  Andres  als  die  Entwicklung  der  Bedürfnisse,  freilich  auch 
der  psychischen,  inneren. 

Der  Unterschied  von  Mensch  und  Thier,  auch  der  höchsten  Thierclasse,  liegt 
mit  hierin  und  erscheint  auch  hiernach,  trotz  der  sonstigen  Verwandtschaft  thie- 
rischer  und  menschlicher  Bedürfnisse,  Befriedigungen  und  Befriedigungstriebe  als  ein 
absoluter. 

Die  Thatsache  und  die  Möglichkeit  der  Verschiedenheit,  Vermehrung.  Ver- 
vielfältigung und  Verfeinerung  der  menschlichen  Bedürfnisse  nach  Individuen,  Völkern, 
Zeit  und  Art  sind  das  feststehend  o Moment  in  der  Menschenwelt.  Die  sich  concret 
findende,  verschiedene  Gestaltung  der  Bedürfnisse  nach  deren  besonderen  Art  und 
Umfang  sind  das  historisch  variable  Moment,  welches  es  rechtfertigt,  von  be- 
stimmten Arten  von  Bedürfnissen  und  Gütern  als  historischen  Kategorieen  zu  sprechen. 

Die  menschlichen  Bedürfnisse  sind  einer  Vermehrung  u.  s.  w.  fähig.  Nur 
das  lässt  sich  erfahrungsmässig  allgemein  sagen.  Schon  von  einer  Tendenz  der 
Vermehrung  ist  im  Hinblick  nicht  nur  auf  die  Lebensverhältnisse  ganz  roher  Völker, 
sondern  auch  auf  die  Stabilität  des  Bedürfnissstandes  auf  schon  höheren  Wirthschafts- 
stufen,  so  bei  Nomaden,  und  unter  Völkern  und  Volksdassen  mit  fest  durch  liecht 
und  Sitte,  auch  durch  religiöse  Anschauungen  gebundenen  Lebens-,  Berufs-,  Erwcrbs- 
verhältnisseu  (Kastenwesen  u.  dgl.)  nicht  ganz  allgemein  zu  reden.  Man  generalisirt 
da,  wie  so  oft,  Erscheinungen  bei  den  eigentlichen  Entwicklungsvölkern,  bei  Cultur- 
völkern,  und  hier  häufig  sogar  wieder  nur  bei  einigen  Volksdassen,  wie  besonders 
der  städtischen  Bevölkerung,  sowohl  in  Betreff  der  äusseren  wie  der  inneren,  der 
materiellen  wie  der  psychischen  Bedürfnisse  zu  sehr.  Völker,  deren  Verhältnisse 
allerdings  zumeist,  aber  doch  nicht  allein  das  Untersuchungsobject  der  Politischen 
Oekonomie  bilden.  Noch  weniger  darf  aus  der  Erfahrung  hinsichtlich  der  that- 
sächlichen  Entwicklung  der  Bedürfnisse  bei  solchen  Völkern  und  bei  der  grossen 
Mehrzahl  ihrer  Angehörigen  der  Schluss  gezogen  werden,  dass  die  regelmässig 
wahrnehmbare  Vermehrung  u.  s.  w.  der  Bedürfnisse  etwas  naturgesetzlich  Noth- 
wendiges  sei.  Vielmehr  ist  von  vornherein  zu  betonen,  dass  die  Menschen  dazu 
fähig  sind  oder  dazu  fähig  werden  können,  ihre  Bedürfnisse,  den  Umfang,  die  Art 
der  Befriedigung  derselben  zu  beurtheilen  und  danach  über  die  Befriedigung  selbst 
zu  entscheiden.  Urtheile  und  Entscheidungen,  welche  dem  ethischen  Gebiete  an- 
gehören, zwar  nicht  nach  einem  absoluten,  unveränderlichen,  sondern  nach  einem 
variablen  sittlichen  Maassstabe  erfolgen  und  erfolgen  dürfen,  aber  die  Anwendung 
eines  solchen  Maassstabes  doch  immer  gestatten.  Es  ist  wichtig,  dass  von  vorn- 
herein, daher  schon  hier,  für  die  individuelle  wie  namentlich  auch  für  die  sociale 
Seite  der  Bedürfnisse  und  ihrer  Entwicklung  und  Gestaltung  festzustellen  und  festzuhalten, 
so  für  die  Fragen  des  individuellen  und  des  Standes-  und  Classen-Luxus,  für  die  Fragen 
der  Vertheilung  des  Volkseinkommens  auf  Classen  und  Einzelne,  weil  von  dieser  Verkei- 
lung Umfang  und  Art  der  Bedürfnisbefriedigungen  mit  abhängen,  auch  für  die  Fragen 
der  Steigerung  des  individuellen  Familien-,  Volkseinkommens  unter  dem  Impuls  gesteiger- 
ter Bedürfnisse.  Gerade  das  Bedürfnis  und  seine  Entwicklung  sind  hiernach  Momente, 
welche  immer  auch  dem  Gebiete  der  Ethik  zu  vindiciren  sind,  was  in  der  Wissen- 
schaft der  Politischen  oder  Socialökonomie  nicht  scharf  genug  betont  werden  kann. 

§.  24  [1,  96,  139].  Ei  nt  hei  lung  der  Bedürfnisse. 

Von  einer  weiteren  Eintheilung  der  Bedürfnisse  kann  hier  theils  überhaupt,  theils 


V 


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76  1.  B.  1.  K.  Wirtliscbaftl.  Natur  des  Menschen.  1.  A.  §.  24,  25,  26. 

zunächst  abgesehen  werden.  Namentlich  die  deutsche  systematische  Wissenschaft  hat 
liier  öfters  zahlreiche  Classen  und  Arten  unterschieden,  mitunter  aber  fast  zuviel 
Scharfsinn  dabei  aufgewandt,  weil  die  weitgehende  Classification  nicht  immer  be- 
sondere wissenschaftliche  und  practische  Bedeutung  hat1). 

Wir  begnügen  uns  hier  mit  der  vorläufigen  blossen  Hervor- 
hebung zweier  EintheiluDgen , welche  erst  später  weiter  verfolgt 
werden  sollen: 

a)  Existenzbedürfnisse,  deren  Befriedigung  zum  Be- 
stehen des  Menschen  selbst,  absolut  oder  relativ,  nothwendig  ist, 
wonach  diese  Bedürfnisse  in  solche  ersten  und  zweiten  Grades 
unterschieden  werden  können;  anderseits  Culturbedürfnisse, 
deren  Betriedigung  einmal  zur  Erhöhung  des  feineren  Lebens- 
genusses, materieller  wie  immaterieller  Art,  sodann  zur  weiteren 
Entwicklung  des  Menschen,  insbesondere  seiner  geistigen  Seite,  dient. 

Weiteres  hierüber  im  4.  Buche,  Bevölkerung  und  Volkswirthschaft  (2.  Aufl.  §.  96). 

b)  Individualbedürfnisse,  welche  aus  dem  physisch- 
geistigen Wesen  des  Einzelnen  als  solchen  hervorgehen,  und  Ge- 
meinbedürfnisse, welche  beim  Einzelnen  aus  dessen  Angehörig- 
keit zu  menschlichen  Gemeinschaften  entspringen. 

Weiteres  darüber  im  5.  Buche,  Organisation  der  Volkswirthschaft  (2.  Aufl.  §.  139). 

§.  25.  — 2.  Befriedigung.  Das  unbefriedigte  Bedürfniss 
ruft  Gefühle  des  Unbehagens,  der  Unlust  hervor  und  erweckt  gerade 
dadurch  den  Befriedigungstrieb,  d.  h.  regt  zu  Tbätigkeiten,  Hand- 
lungen an,  deren  Zweck  — instinctiv  wie  beim  Thiere  und  noch 
dem  kleinen  Kinde,  auch  bei  dem  Menschen  in  besonderen  ano- 
malen Lagen,  oder  bewusst,  wie  beim  normalen  entwickelten 
Menschen  — eben  auf  Befriedigung  der  Bedürfnisse  und  Beschaffung 
der  geeigneten  Mittel  oder  Güter  dafür  hinausgeht.  Die  Befriedi- 
gung der  Bedürfnisse  ist  dann  mit  Behagen,  mit  Lustgefühlen  ver- 
bunden. Die  Erfahrung  in  Bezug  auf  diese  Lustgefühle  bei  der 
Befriedigung,  das  Vorschweben  derselben  in  der  Erinnerung  wirkt 
auf  den  Befriedigungstricb  im  bewusst  bandelnden  Menschen  an- 
spornend ein  und  giebt  demselben  die  Richtung  seiner  Betätigung2). 

Die  Analogieen  zwischen  dem  Menschen  und  dem  Thier,  zumal  dem  hoch- 
organisirten  Thier,  in  Bezug  auf  Bedürfniss,  Befriedigung  und  Befriedigungstrieb 


J)  S.  mit  das  Beste  darüber  bes.  bei  v.  Hermann,  staatswirthschaftl.  Unter- 
suchungen, Abh.  II  (Bedürfnisse),  und  Schäfflc,  gesellschaftliches  System,  3.  A.  I, 
S.  103  ff. 

2)  Hier  hängt  die  ökonomische  Lehre  mit  der  psychischen , psychophysischen 
und  physiologischen  von  Empfindung,  Vorstellung,  von  Reiz,  Trieb,  Wille  zusammen. 
Vgl.  Höffding,  Psychologie,  S.  124  ff,  150  ff. , 391  ff  Wundt,  Psychologie  I, 
289  ff,  II,  225  ff,  261  ff,  463  ff 


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Befriedigung,  Befriedigungstrieb. 


77 


liegen  nahe,  brauchen  aber  hier  nicht  weiter  verfolgt  zu  werden.  S.  u.  A.  Spencer’s 
Thatsachen  der  Ethik,  Kap.  1 u.  2 (Handeln  im  Allgemeinen  und  Entwicklung  des 
Handelns). 

Es  gehört  zum  Wesen  des  Bedürfnisses  der  Lebewelt,  dass 
jede  Befriedigung  stets  nur  eine  gewisse  Zeitdauer  hat,  verzehrt 
wird  oder  sieh  verzehrt  und  dasselbe  Bedürfniss  dann  von  Neuem 
hervortritt.  Daher  die  beständige  Wiederholung  zwischen 
Bedürfniss,  Erwachen  und  Wirken  des  Befriedigungstriebs,  dem- 
gemiissem  Handeln  und  erzielter  Befriedigung. 

Mit  der  Vermehrung  und  Vervielfältigung  der  Bedürfnisse  demnach  ein  immer 
regerer  stetiger  Wechsel  zwischen  Bedürfniss  und  Befriedigung,  eine  immer  stärkere, 
unaufhörlichere  Anspannung  des  Befriedigungstriebes,  ein  immer  intensiveres  „Leben“, 
aber  auch  eine  immer  grössere  Lebensunrulie,  Thätigkeit  und  Beanspruchung  der 
physischen  und  psychischen  Organe,  welche  sich  freilich,  in  gewissen  Grenzen,  diesen 
Verhältnissen  anpassen  können  und  anpassen.  Die  gesteigerte  Leistungsfähigkeit  der 
Organe  tritt  dann  mit  der  Entwicklung  der  Bedürfnisse  und  der  Befriedigungen 
wieder  in  Wechselwirkung,  eine  physiologische  und  auch  eine  psychophysische  That- 
sache  von  Bedeutung  auch  für  die  nationalökonomische  Betrachtung  des  Bcdürfniss- 
triebs.  Die  Steigerung  der  Ansprüche  an  die  Qualität  und,  in  gewissen  Fällen  und. 
iu  gewissen  Grenzen,  auch  an  die  Quantität  der  Bedürfnisbefriedigung  hängt  damit 
zusammen'). 

§.  26  [1].  — 3.  Der  Befriedigungstrieb.  Er  erscheint 
in  seiner  schärferen  Form  als  Trieb  der  Selbsterhaltung 
hinsichtlich  der  Befriedigung  der  ExistenzbedUrfnisse  ersten  Grads, 
als  Trieb  des  persönlichen  oder  Selbstinteresses  hinsicht- 
lich der  Befriedigung  der  übrigen  Bedürfnisse.  Als  mit  dem  Be- 
dürfniss selbst  schon  gegeben  und  bei  dem  Ursprung  des  Bedürf- 
nisses in  der  physisch-psychischen  Natur  des  Menschen  ist  er  selbst 
und  in  seinen  beiden  Erscheinungsformen  eine  Naturthatsache, 
etwas  dem  Menschen  wie  analog  jedem  Lebewesen  Angeborenes, 
demnach  auch  an  sich  ethisch  Berechtigtes. 

Deshalb  ist  seine  Bezeichnung  oder  auch  die  Bezeichnung  des  Selbstinteresses 
mit  Ausdrücken,  welche  sprachgebräuchlich  auf  ein  Moment  des  sittlich  Verwerflichen 
oder  Bedenklichen  hindeuten,  überhaupt  und  gerade  auch  in  der  Politischen  Ockonoinie 
zu  vermeiden.  So  die  Bezeichnung  mit  dem  Namen  Eigennutz,  Egoismus  (in  der 
üblichen  engeren  üblen  Bedeutung1),  Selbstsucht,  Eigensucht.  Der  Ausdruck 
Sei  bsti  nteressc  (selfintercst)  könnte  ähnlichen  Bedenken  unterliegen,  aber  wenigstens 
nach  deutschem  Sprachgebrauch  erscheint  er  doch  als  ein  neutraler,  welcher  benutzt 
werden  darf.  Knies’  (2  A.  S.  236)  „Selbstliebe“  hätte  doch  schon  wegen  der  sprach- 
gebräuchlichen  Nebenbedeutung  mehr  Bedenken.  Er  spricht  auch  vom  „Trieb  zur 
Selbsterhaltung  und  zum  Wohlbehagen“  (Streben  nach  dem  Eigenwohl).  Nur  in  der 
Ausartung  kann  der  Befriedigungstrieb,  das  Selbstinteresse  Eigennutz,  Egoismus 
genannt  werden,  daher  auch  auf  wirtschaftlichem  Gebiete  nur,  wenn  sie  sich  geltend 
machen,  ohne  die  durch  Gewissen,  Sittengesetz  und  Hecht  gezogenen,  freilich  wandel- 


*)  Das  We bersche  und  Fechn ersehe  Gesetz  Uber  die  Intcusität  der  Em- 
pfindungen (vgl.  Höffding,  Psychologie  S.  136,  Wundt,  Psychologie  I.  350  fr.) 
harrt  noch  seiuer  Verwertung  fhr  die  nationalökouomische  Lehre  von  Bedürfniss  und 
Befriedigung.  S.  indessen  Gossen,  Gesetze  des  menschlichen  Verkehrs,  2.  A.  S.  5 II., 
E.  Sax,  Staatswirthschaft,  S.  1 78  (s.  auch  daselbst  $.  SS,  b4). 


78  1.  B.  1.  K.  Wirthschaftl.  Natur  des  Menschen.  1.  A.  §.  26,  2T. 

baren,  aber  im  concreten  Fall  sehr  wohl  fühlbaren  und  bekannten  Schranken  zu 
achten.  Vgl.  auch  Schönberg,  I,  in  seiner  Abh.  §.  3. 

Der  Trieb  der  Selbsterhaltung  kann  unter  Umständen 
allerdings  mit  der  Macht  einer  Naturkraft  wirken  und  dann  oft- 
mals berecbtigtermaassen,  ohne  Verletzung,  ja  in  Gemässheit  eines 
sittlichen  Gebotes.  Aber  selbst  in  extremsten  derartigen  Fällen, 
z.  B.  wenn  es  sich  um  Errettung  des  eigenen  Lebens  aus  Gefahren 
bandelt,  wirkt  der  Selbsterhaltungstrieb  doch  mit  durch  das  Medium 
psychischer  Vorgänge  und  mancherlei  Motive,  und  vollends  verhält 
es  sich  in  anderen  Fällen  so.  Er  ist  daher  in  diesen  nicht  eine 
reine  Naturkraft  und  auch  seine  Vergleichung  mit  einer  solchen 
hinkt  und  muss  jedenfalls  mit  Vorsicht  vorgenommen  werden. 

Das  persönliche  oder  Selbstinteresse  ist  noch  weniger 
auch  nur  mit  einer  Naturkraft  zu  vergleichen,  geschweige  dass  in 
demselben  eine  solche  zu  sehen  ist.  Nicht  nur  steht  es,  kann  und 
soll  es,  wie  jeder  menschliche  Trieb,  unter  der  Leitung  der  Ver- 
nunft und  des  Gewissens  stehen,  nicht  nur  ist  jede  aus  ihm  her- 
vorgehende Handlung  eine  verantwortliche,  welche  einem,  freilich 
geschichtlich  etwas  wechselnden  sittlichen  Urtheil  unterliegt:  das 
Selbstinteresse  vollends  wirkt  auch  immer  durch  das  Medium  eines 
ganzen  Systems  seelischer  Motivation  im  einzelnen  Menschen.  Die 
einen  Motive  entspringen  aus  dem  Selbstinteresse,  zeigen  unter  sich 
aber  doch  mancherlei  Verschiedenheiten  in  ihrem  Wesen  und  in 
ihrer  Wirkungsweise.  Die  anderen  Motive  kreuzen  sich  mit  jenen 
ersteren.  So  kommt  es,  dass  selbst  diejenige  concrete  Handlung, 
zu  welcher  das  Selbstinteresse  den  Anstoss  gegeben  hat,  doch 
keineswegs  immer  rein  das  Resultat  desselben,  sondern  häufig  eine 
Resultirende  verschiedener  Motive  ist,  daher  auch  in  der  Wirklich- 
keit anders  ausfällt,  als  sie  es,  unter  der  Annahme  des  allein  und 
„rein“  wirkenden  Selbstinteresses  thun  würde. 

Die  britische,  die  Ockonomik  des  Individualismus  und  Liberalismus,  hat  das, 
wenigstens  in  manchen  ihrer  Vertreter,  zu  wenig  beachtet,  auch  in  ihrer  Methodo- 
logie für  die  ökonomische  Theorie,  bei  ihrer  Handhabung  der  Methode  der  specula- 
tiven  Deduction  „aus  dem  wirtschaftlichen  Selbstinteres.se“,  dem  „Streben  nach  Ver- 
mögen“ (oder  aus  dem  „wirtschaftlichen  Eigennutz“)  heraus,  vollends  in  der 
Verwertung  der  so  gewonnenen  Sätze  der  Theorie  für  practische  concrete  Fragen 
und  Verhältnisse.  Fehler,  welche  freilich  für  jene  Oekonomik  und  ihre  Methode  nahe 
liegen,  aber  gleichwohl  nicht  notwendig  damit  verbunden  sind.  Die  „wirklichen“ 
Menschen  sind  eben  von  mancherlei  verschiedenartigen,  in  derselben  Richtung 
wirkenden,  aber  doch  durch  ihr  Nebeneinanderwirken  sich  modificirendcn  und  auch 
von  sich  kreuzendeu  Motiven  oft  auch  bei  ein  und  derselben  Handlung,  auch  einer 
„wirtschaftlichen“  Handlung,  bewegt.  Sie  entsprechen  so  nicht  allgemein  und  im 
concreten  Falle  jedenfalls  nicht  ohne  Weiteres  den  „Menschen  der  absoluten  wirt- 
schaftlichen Theorie“,  den  „bloss  vom  Eigennutz  getriebenen“  „absoluten  Markt- 
menschen“ (city  inen).  Ihre  Handlungen  fallen  daher  auch  anders  als  diejenigen  der 


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Arbeit. 


79 

letzteren  aus.  Diese  wichtige  Wahrheit  ist  in  der  britischen  Oekonomik  öfters  über- 
sehen worden.  Sie  festzuhalten  ist  durchaus  nothwendig,  aber  auch  bei  der  An- 
wendung der  Methode  der  Deduction  aus  dem  Selbstinteresse  recht  wohl  möglich. 
Die  Anerkennung  jenes  Fehlers  bedingt  daher  auch  keineswegs  das  Preisgeben  dieser 
Methode,  wie  die  historische  Nationalökonomie  in  einigen  ihrer  Vertreter  um  jener 
Wahrheit  M illen  anzunehmen  geneigt  ist. 

II.  — §.  27  [2].  Arbeit.  Flir  die  Menschheit,  diese  als 
ein  Ganzes  betrachtet,  ist  gegenüber  der  constanten  Beschaffen- 
heit der  äusseren  Natur  und  den  dadurch  bedingten  Beziehungen 
zwischen  menschlicher  Bedürfnisbefriedigung  und  dieser  Natur  die 
Arbeit  die  unbedingte  Voraussetzung  zur  Beschaffung  und  Ver- 
wendung von  Gütern,  insbesondere  auch  äusseren  Gütern,  und  da- 
mit zur  Erzielung  der  Möglichkeit  der  Befriedigung  der  Bedürfnisse : 
die  „Verbindungsbrücke  zwischen  Bedürfnis  und  Befriedigung“ 
(besoin,  effort,  satifaction,  Basti at).  Für  den  Einzelnen,  für 
ganze  Gruppen  von  Einzelnen  nach  natü rlic heil  Verhält- 
nissen (wie  die  Kinder,  die  Greise,  die  Kranken),  für  gewisse 
Stände,  Gassen,  Völker  nach  rechtlichen  und  Machtverhält- 
nissen gilt  das  freilich  nicht  oder  nicht  in  gleichem  Maasse,  je 
nach  der  persönlichen,  der  socialen  Lage  und  Stellung  der  Be- 
treffenden, indem  freiwillig  oder  gezwungen  die  Arbeit  Anderer 
ihnen  die  Güter  zur  Verfügung  stellt.  Von  diesen  für  die  sociale 
und  historische  Stellung  der  menschlichen  Arbeit  freilich  sehr 
wichtigen  Verhältnissen  abgesehen  wird  die  Arbeit  regelmässig 
übernommen,  weil  der  Mensch,  durch  die  Erfahrung  und  Vernunft 
geleitet,  erkennt,  dass  er  nur  durch  die  Arbeit  zu  Gütern  und 
damit  aus  den  Unlustgetühlen  des  Mangels  im  unbefriedigten  zu  den 
Lustgefühlen  im  befriedigten  Bedürfnis  gelangen  kann. 

Arbeit  (im  wirthschaftlichen  Sinne)  ist  nun  eine  als  solche 
oder  als  blosses  Mittel  zum  Zweck  der  Ermöglichung  der  Bedürfnis- 
befriedigung mit  Opfern  (Pein,  Last,  Unannehmlichkeit,  Kraft- 
und  Zeitaufwand,  insofern  mit  Opfer  von  „Leben“)  verbundene  per- 
sönliche Anstrengung  menschlicher  Kräfte. 

Begriffsbestimmungen  der  Arbeit  fehlen  auffällig  genug  vielfach.  Rau  nennt 
tarvor bringende  productive  Arbeit  die  Anwendung  der  menschlichen  Kraft  als  Ur- 
sache von  Veränderungen  in  der  Körperwelt,  S.  Autl. , §.  $4,  was  mit  seiner  zu 
tßgen  Begrenzung  des  Begriffs  wirtschaftliches  Gut  zusammenhängt,  s.  unten. 
Roscher  erwähnt,  dass  zum  Begriff  Arbeit  immer  ein  Merkmal  der  Muhe,  die  auf 
men  ausserhalb  ihrer  selbst  liegenden  Zweck  gerichtet  ist,  gehöre,  §.  36  Anm.  1. 
& aoch  v.  Mango) dt,  §.5  u.  Art.  Arbeit  im  Staatswörterbuch,  Hermann,  S,  7,  !) 
Arbeit  als  Lebensaufopferung  characterisirt).  Schäffle,  soc.  Körper,  III,  252. 

Diese  Auffassung  der  Arbeit  als  Last  steht  nicht  im  Widerspruch  mit  der  gleich- 
es richtigen  Auffassung  derselben  Arbeit  als  sittlicher  Beruf  und  Lebens- 
aufgabe, und  insofern  auch  wieder  als  etwas,  das  als  solches  iunere  Befrie- 
digung. demnach  Lust,  Freude  gewährt,  wird  also  durch  letztere  Auffassung  nicht 
ausgeschlossen.  Bei  der  Bemessung  des  Lastmoments  in  der  Arbeit  wird  daher  auch 


80 


1.  B.  1.  K.  Wirtschaft!.  Natur  des  Menschen.  1.  A.  §.  28,  29. 


diesem  etwa  initspielonden  anderen,  diesem  Lustmoment,  welches  auch  in  dem  Gefühl 
der  Pflichterfüllung  liegen  kann,  Rechnung  getragen.  Nur  soweit  es  sich  um  eine 
auch  in  letzterer  Beziehung  unnöthige,  auch  dafür  unwirksame  Arbeit  handelt,  gilt 
das  im  folgenden  §.  28  Gesagte. 

Die  Arbeit  muss  sich  wegen  des  beständigen  Wechsels  zwischen  Bedürfniss  und 
Refriedigung,  wegen  der  nur  vorübergehenden  Dauer  der  letzteren  und  wegen  der 
Vermehrung,  Verviefältigung  und  Verfeinerung  der  Bedürfnisse  immer  von  Neuem 
wiederholen , regelmässig  und  planvoll  fortgesetzt  werden  und  immer  wirksamer, 
erfolgreicher  zu  werden  suchen. 

111.  — §.  28  [3].  Oekonomisches  Princip.  Bei  aller 
auf  Bedürfnisbefriedigung  gerichteten  Thätigkeit  leitet  den  Men- 
schen — und  darf  und  oft  auch  soll  ihn  leiten  — das  ökono- 
mische oder  das  Princip  der  Wirtschaftlichkeit,  ein 
durchaus  psychologisches  Princip,  d.  h.  das  Streben,  freiwillig 
nur  solche  Arbeit  vorzunehmen,  bei  welcher  nach  der  inneren 
Schätzung  des  Menschen  die  Annehmlichkeit  der  Befriedigung  die 
Pein  der  Anstrengung  (des  Opfers)  überwiegt,  sowie  das  fernere 
Streben  nach  einer  möglichst  hohen  Summe  (Maximum)  Arbeits- 
erfolg und  damit  Möglichkeit  der  Befriedigung  für  ein  möglichst 
geringes  Maass  (Minimum)  nicht  in  sich  selbst  ihren  Zweck  und 
Lohn  allein  tragender  Anstrengung  oder  Opfer  in  der  Arbeit. 

Immer  finden  daher  hier  psychische  Vorgänge  der  Vergleichung  und 
Prüfung  statt,  von  deren  Ausfall  dio  Uebernahme  der  Arbeit,  der  Eifer,  auch  der 
zu  höherer  Anstrengung  führende  Eifer  dabei,  insofern  wieder  der  Erfolg  der  Arbeit 
abhängt.  Je  mehr  nach  den  mitwirkenden  Motiven  das  Lastmoment  der  Arbeit  ver- 
ringert, das  Lustmoment  in  ihr  selbst  an  dadurch  erlangten  inneren  Gütern  und  das- 
jenige im  Erfolg,  in  den  Ergebnissen  der  Arbeit,  wie  auch  in  der  dadurch  zu  er- 
zielenden Befriedigung  mittelst  äusserer  Güter  erhöht  wird,  desto  besser.  Lastmoment 
und  Lustmoment  sind  daher  in  der  Arbeit  zweckmässig  in  Verbindung  zu  bringen, 
damit  letzteres  das  crstcrc  auf  hebt  oder  vermindert:  eine  wichtige  Aufgabe  der 
„Organisation  der  Arbeit“  (der  Production)  und  der  erziehlichen  Entwicklung  des 
. Trieblebens  und  der  Motivation.  (Einseitige,  carrikirte,  aber  nicht  an  sich  unrichtige 
Gedanken  Ch.  Fourier’s  und  anderer  Socialisten.) 

In  der  Hauptsache  konnte  das  ökonomische  Princip  bei  wirthschaftlicbcn  Unter- 
suchungen nie  verkannt  werden.  In  den  Vordergrund  der  Betrachtung  ist  es  be- 
sonders durch  Hermann ’s  Lehre  von  der  Wirtschaft  und  von  der  Trennung  von 
Oekonomik  und  Technik  gestellt,  2.  Aufl.,  S.  6 ff.  Die  Formulirung  s.  bei  Schäffle, 
2.  Aufl.  des  gesellschaftlichen  Systems,  S.  3,  332,  3.  Aufl.  I,  17.  Vcrgl.  auch  dess. 
Aufs,  über  Gebrauchswerth  und  Wirtschaft  nach  den  Begriffsbestimmungen  Hermanns, 
Tub.  Zeitschr.  XXVI  (1870).  Der  erste  Satz  im  Texte,  worin  ich  das  Princip  for- 
inulirte.  ist  in  SchäfTle's  Formulirung  nicht  enthalten,  fehlt  auch  bei  Held,  Grund- 
riss S.  9,  findet  sich  aber  mit  Recht  bei  0.  Michaelis  „Das  Kapitel  vom  Werte“ 
(aus  einer  Abhandlung  von  1863  in  s.  u.  Faucher’s  Viertel jahrsschr.  f.  Volkswirt- 
schaft u.  s.  w.)  in  seinen  Volkswirtschaftlichen  Schriften,  1873,  II,  241.  — Gewiss 
hat  11.  Dietzel  (^eitschr.  f.  Staatswiss.  B.  89,  S.  29)  darin  recht,  dass  das  öko- 
nomische Princip  eigentlich  ein  ganz  allgemeines  Princip  des  vernünftigen,  zweck- 
mässigen Handelns  und  demgemäss  nur  allgemeiner  zu  fassen  sei.  Aber  damit  ist 
die  Bedeutung  dieses  Princips  specicll  für  die  wirtschaftlichen  Handlungen  und 
Erscheinungen  doch  nicht  vermindert,  geschweige  widerlegt.  Auf  dem  wirtschaft- 
lichen Gebiet  lässt  sich  nur  eine  genauere  Wirksamkeit  des  Princips  verfolgen  bei  der 
Beschaffung  der  Güter  (Production  iui  w.  S.)  und  bei  der  Vollziehung  der  Be- 
friedigung (Consumtion). 


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Oekonomisches  Princip.  Wirthschaft. 


81 


IV.  — §.  29  [4j.  Wirth schaft.  Wirthsch aftliche 
Natur  des  Menschen.  Wirth  schaftslehre.:. 

Ci 


1.  Der  Inbegriff  der  auf  fortgesetzte  Beschaffung  und  Ver- 
wendung von  Gütern  zur  Bedürfnisbefriedigung  gerichteten,  plan- 
voll nach  diesem  ökonomischen  Princip  erfolgenden  Arbeitäthätig- 
keiten  in  einem  geschlossenen  oder  geschlossen  gedächten  mensch- 
lichen Bedürfnis-  und  Befriedigungskreise  ist  * (ifri  allgemeinsten 
Sinne  des  Worts)  die  Wirthscliaft;  jede  einzelne  hierzu  gehörige 
Thätigkeit  ist  eine  wirth  schaftliche,  ökonomische  Hand- 
lung, jede  einzelne  bezügliche  Erscheinung  ist  fcine  wirtschaft- 
liche Erscheinung. 


Man  kann  zweifelhaft  sein,  ob  man  beim  WirthsckaftsbcgrüT  sagen  soll;  Arbeits- 
thätigkeiton  oder  bloss  Thätigkeiten.  Indessen  selbst  die  blosse  Verwaltang  des 
Vermögens  zum  Zweck  des  Rentenbezugs  nötliigt  stets  zu  Thätigkeiten,  welche  unter 
den  Begritf  Arbeit  gehören  und  ebenso  die  Verwendung  des  erzielten  Einkommens 
zur  Bedürfnissbefriedigung.  Ueber  das  Maass  und  die  Art  det  Arbeit  des  Wirth- 
schaftssubjects  sagt  der  Begriff  der  Wirthschaft  aber  überhaupt  nichts  aus.  . 

Kan  defmirt  die  Wirthschaft,  consequent  seinem,  in.  E.  unhaltbaren, Standpuncte 
(s.  unten),  nur  Sachgüter  wirth  schaftliche  Güter  zu  nennen,  als  „Inbegriff  von 
Verrichtungen,  welche  zur  Versorgung  einer  Person  oder  einer  Verbindung  mehrerer 
Personen  mit  Sachgütern  bestimmt  sind,  oder  welche  sich  auf  die  Erlangung  oder 
Benutzung  von  Vermögen  beziehen“,  §.  2.  Hermann  zieht  das  Princip  der  Wirt- 
schaftlichkeit mit  herbei,  indem  er  die  Wirthschaft  bezeichnet  als:  „Die  quan- 
titative Ueberwachung  der  Herstellung  und  Verwendung  der  Güter  in  einem 
gesonderten  Kreise  von  Bedürfnissen“,  — eine  Begriffsbestimmung,  welche  in  dieser 
Formulirung  aber  nicht  recht  verständlich  ist  und  erst  eingehender  Erläuterung  dafür 
bedarf,  die  ihr  Hermann  auch , und  zwar  vortrefflich . giebt.  Die  sehr  eingehenden 
Erörterungen  Schäffle’s  in  seinem  System  (s  Sachregister  s.  V.  Wirthschaft), 
im  Ganzen  das  Beste,'  was  wir  über  Wesen  und  Arten  der  Wirthschaft  und 
ihrer  Organisation  besitzen ; ermangeln  im  Einzelnen  etwas  der  Präcision,  vergl. 
z.  B.  gleich  I.  4.  Lind  wurm ’s  Analyse  des  Wirthscbaftsbegrilfs,  a.  a.  0.  S.  18  11.. 
untersucht  getrennt  die  Merkmale  „Wirth“  und  „Schaffen“.  — . Ncumann  (Abh.  Grund- 
begriffe in  Schönberg ’s  Handbuch,  3.  A.  I.  162)  knüpft  den  Begriff -Wirthschaft  an 
vorausgehende  andere  von  ihm  erörterte  Begriffe  und  bringt  ihn  in  unmittelbare  Ver- 
bindung mit  dem  Vermögensbegriir:  Wirthschaft,  Inbegriff  von  Thäfigkeiton  (bezw. 
mit  einem  Vorbehalt,  auch  Arbeitsthätigkeiten)  zur  Gewinnung:  oder  Erhaltung  von 
Vermögen  für  Jemand  (also  nicht  auch:  zur  Verwendung?).  »*-’D ictzol,  Tüb.  Ztschr. 
B.  37,  S.  65),  Wirthschaft,  der  Inbegriff  der  wirtschaftlichen  Handlungen  eines 
Subjects.  . > 


2.  Wirth  schaftliche  Natur  des  Menschen.  Die  Natur 
des  Menschen,  welche  sich  aus  dem  Wesen  menschlicher  Bedürf- 
nisse, aus  deren  Befriedigung,  aus  dem  Befricdigungstrieb  — als 
Trieb  der  Selbsterhältung  und  des  Selbstinteresses  — , aus  der 
Stellung  der  Arbeit  und  Wirthschaft  und  aus  der  Schätzung  aller 
dieser  Momente  in  der  Seele  des  Menschen,  daher  mittelst 
der  Erwägungen,  Vergleichungen  und  Urtheile  unter  dem  Walten 
des  ökonomischen  Princips  ergiebt,  nennen  wir  seine  wirthschaft- 
liehe  Natur. 


A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlagen. 


6 


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82 


1.  B.  1.  K.  Wirtschaft  Natur  des  Menschen.  1.  A.  §.  29,  30. 


Dieselbe  ist  freilich  selbst  wieder  keine  absolut  fest  gegebene, 
durchaus  bei  Allen  gleichmässige,  sondern  wie  unter  sonst  gleich- 
artigen Individuen,  so  nach  Classen,  Ständen,  Völkern,  Zeitaltern, 
Ländern,  nach  Sittenzustand  und  Cultur  bei  den  Einzelnen  ver- 
schieden in  der  innerlichen  Empfindung  der  Bedürfnisse  wie  in  der 
Schätzung  der  angegebenen  Momente.  Sie  steht,  wie  alles  Psychische 
im  Menschen,  unter  der  Einwirkung  des  Willens,  lässt  sich  erziehen, 
ist  mancherlei  anderen  Motiven  zugänglich,  weil  sie  nur  eine 
Seite  der,  nicht  die  menschliche  Natur  überhaupt  ist,  modificirt 
sich  historisch , aber  tritt  bei  allen  Menschen  doch  im  Kern  über- 
einstimmend, in  den  von  ihr  beherrschten  Motiven,  Gedanken,  Be- 
strebungen, Handlungen  im  wirthschaftlicben  Leben  hervor.  Denn 
die  Gr  und  züge  der  wirtschaftlichen  Natur  liegen  fest  in  der 
menschlichen  körperlich-geistigen  Organisation  und  verändern  sich 
so  wenig  wie  die  äussere  Natur  wenigstens  in  den  für  Menschen- 
geschichte in  Betracht  kommenden  Zeiträumen.  Insofern  ist  diese 
„wirtschaftliche  Natur  des  Menschen“  nach  diesen  ihren  Grund- 
zügen  als  eine  absolute  Kategorie  zu  betrachten,  mit  welcher 
man  im  Wirtschaftsleben  stets  als  mit  einem  stark  mitspiclenden, 
oft  entscheidenden  Factor  bei  den  Einzelnen  zu  thun  hat. 

Keinerlei  wirtschaftliche  Untersuchung  ist  möglich  ohne  diese  Annahme,  für 
die  man  sich  vor  Allem  auf  die  innere  Prüfung  und  die  „allgemeine  Lebenserfahrung“ 
berufen,  aber  auch  — auf  die  psychologische  Auslegung  aller  geschichtlichen  Er- 
fahrungen über  wirtschaftliche  Erscheinungen.  Einrichtungen  und  Rechtsnormen  be- 
ziehen kann.  Denn  wir  sind  übcihaupt  nur  im  Stande,  menschliches  Handeln  im 
Allgemeinen  und  wirtschaftliches  im  Besonderen  bei  uns  unbekannten  Dritten,  daher 
auch  in  früheren  (iescbichtsperioden , zu  verstehen,  indem  wir  ihm  die  psychischen 
Triebfedern  und  Motive,  die  wir  aus  eigener  innerer  Prüfung  und  unmittelbarer 
Beobachtung  um  uns  kennen,  zur  Erklärung  unterlegen.  Ebenso  können  wir  auch  die 
aus  diesem  Handeln  hervorgehenden  Erscheinungen . die  mit  Rücksicht  auf  dasselbe 
geschalfenen  Einrichtungen  und  Rechtsnormen  nur  durch  Zuruckfuhrung  auf  die 
menschliche  Natur,  aus  der  sie  entsprungen,  für  die  sie  bestimmt  waren  oder  sind, 
uns  verständlich  machen.  Jede  Untersuchung  und  Prüfung  z.  B.  der  Bestimmungen 
einer  älteren  Rechtsordnung  (Agrarverfassung,  Gewerbeverfassung  — Zunft!  — , 
Handclsrerfassung,  Zinsgesetze  u.  v.  a.  m)  zeigt  uns  dann,  dass  diese  Normen,  z B. 
in  der  Beschränkung  der  freien  wirthschaftlicben  Bewegung,  Menschen  mit  der- 
selben wirtschaftlichen  Natur,  wie  wir  selbst  sie  haben,  voraussetzen.  Auch  die 
„exactcste  staatswirthschaftliche  Forschung“  kann  keinen  Schritt  ohne  diese  Annahme 
gehen.  Eine  feinere  psychologische  Analyse  der  wirthschaftlicben  Natur  des  Menschen 
und  genaue  Beobachtungen,  wie  sich  die  letztere  zeitlich  und  örtlich  offenbart  und 
auch  dill'erenzirt  und  modificirt,  sind  natürlich  weiteres  Erforderniss.  Aber  die 
„historische“  Schule  (§.  13)  übertreibt  wieder  die  individuelle  Verschiedenheit  und 
die  geschichtliche  Difierenzirung  und  Veränderung  der  wirthschaftlicben  und  der 
allgemein-menschlichen  Natur  und  übersieht  das  Gleichmässige,  Feste,  überschätzt  das 
Variable,  unterschätzt  das  Constantc. 

Dieses  Co n staute  in  der  wirtschaftlichen  Natur  des  Menschen,  daher  in 
seinem  Triebleben,  seinen  Motiven,  gestattet  dann  auch  den  Schluss,  ja  macht  ihn 
notwendig,  dass  insoweit  die  wirtschaftlichen  Handlungen  und.  soweit  diese  dafür 
entscheiden,  die  wirtschaftlichen  Erscheinungen  selbst  constant,  daher  auch  gleich- 


b. 


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Die  wirthschaft!.  Natur  bei  den  Individuen. 


83 


mässig  sein  werden.  Ein  für  alle  Methodologie  der  Disciplin  wichtiger 
Schluss  und  zugleich  ein  solcher,  welcher  es  rechtfertigt  von  „Gesetzen“,  d.  h. 
roa  gleichmässigem  Verlaufe  wirtschaftlicher  Handlungen  und  Erscheinungen  unter 
der  Voraussetzung  des  Obwaltens  und  ausschliesslichen  Einwirkens  gerade  der  wirt- 
schaftlichen Natur  des  Menschen  zu  sprechen;  daher  freilich  doch  nur  von  Ge- 
setzen als  Gestaltungstendenzen,  nicht  von  Naturgesetzen,  da  die  Triebe 
und  Motive  in  der  wirtschaftlichen  Natur  wohl  regelmässig  in  der  abgeleiteten 
Weise  wirken,  aber  nicht  notwendig  so  wirken  inüsseu  und  auch  wirklich  nicht 
immer  so  wirken  (§.  74,  auch  §.  86  ff). 

3.  Der  geordnete  Inbegriff  der  die  Wirthschaft  im  obigen  Sinne 
betreffenden  Lehren  ist  die  Wissenschaft  der  Wirthschaftslehre, 
Oekonomie  oder  besser  Oekonomik:  der  allgemeinere,  weitere 
Hegriff  gegenüber  den  engeren  Begriffen  National-,  Politische-, 
Social-  wie  auch  Privatökonomik. 

„Itn  Griechischen  heisst  die  Familie  oixog,  oixict,  die  Haushaltung  olxovo/xia , 
die  Wirthschaftslehre  olxovofuxt].  Daher  sollte  man  eigentlich  nur  die  Wirthschaft 
UekoQomie.  die  Wirthschaftslehre  aber  Oekonomik  nennen.  Darum  wird  neuerlich  vou 
Chde  (,184‘J)  und  Koscher  (1854)  das  Wort  Nationalökonomik  gebraucht“ 

• Kau,  §.  2,  Anm.  f). 


2.  Abschnitt. 

Üifferenzirung  und  Combination  der  Motive  im  wirtli- 

schaf't  liehen  Handeln. 

Das  Folgende  in  Kürze  im  Wesentlichen  in  meinem  Aufsatze  in  Conrad's  Jahr- 
büchern, B.  46  (N.  F.  12),  S.  228  ff  Hier  jetzt  jedoch  auch  mit  einigen  principiellen 
Änderungen  der  Auffassung. 

I.  — §.30.  Die  wirtschaftliche  Natur  bei  den  Indi- 
viduen. Die  im  vorigen  Abschnitt  analysirte  wirtschaftliche 
Natur  des  „Menschen  schlechtweg“  bildet  den  Ausgangspunct  für 
alle  weiteren  Erörterungen  in  der  Wirthschaftslehre.  Dabei  sind 
aber,  wie  sich  freilich  ausdrücklich  oder  iiuplicite  aus  dem  Voraus- 
gehenden schon  ergiebt,  einige,  vornemlich  drei  wichtige  Puncte 
uieht  ausser  Acht  zu  lassen:  die  individuelle  Diftereuzirung  der 
wirtschaftlichen  Natur,  die  Thatsache,  dass  die  wirtschaftliche 
Natur  nur  eine  Seite  der  ganzen  menschlichen  Natur  ist  und  die 
weitere  Thatsache,  dass  der  Mensch,  wenn  auch  von  verschiedenen 
Motiven  bestimmt,  doch  ein  einheitlich  handelndes  Wesen  ist. 
Manche  bedenkliche  Irrthümer  bei  Theoretikern  der  liberal-indivi- 
dualistischen Oekonomik  sind  daraus  entstanden,  dass  diese  Puncte 
nicht  oder  nicht  genügend  oder  nicht  richtig  berücksichtigt  worden 
sind. 

1.  Individuelle  (subjectivc)  Differenzirung  der 
wirt h sc  h äl  tlichen  Natur.  Beim  Einzelnen  als  Individuum 
und  als  Glied  einer  örtlich  und  zeitlich  selbst  wieder  veriinder- 

6 * 


84 


1.  B.  1.  K.  Wirthschaftl.  Natur  des  Menschen.  2.  A.  §.  30 — 32. 


liehen  Gemeinschaft  differenzirt  und  modificirt  sich  danach 
das,  was  wir  die  „wirthschaftliche  Natur“  des  Menschen  nennen, 
möglicher  und  tbatsächlicher  Weise  mehr  oder  weniger,  wenn  auch 
in  der  im  vorigen  §.  29  angedeuteten  Weise  bei  allen  Menschen 
als  Menschen  ein  starkes  Element  dieser  wirtschaftlichen  Natur 
constant  bleibt.'  Zahlreiche  variable  Elemente,  welche  bei  den 
allen  wirtschaftlichen  Handlungen  zu  Grunde  liegenden  psychischen 
Vorgängen  mitspielen  können  und  mitspielen,  gestalten,  sich  eben 
nach  den  in  di  viduel len  „Seelen“  verschieden.  Schlüsse,  welche 
das  unbeachtet  lassen,  sind  daher  principiell  unrichtig  und  tat- 
sächlich im  concreten  Falle  ebenfalls  oder  hier  doch  nur  zufällig 
richtig.  • ,N 

Es  ist,  von  den  freilich  wieder  unterlaufenden  Uebertreibungen  abgesehen',  ein 
Verdienst  der  „historischen- Nationalökonomie",  dass  sie  den  Fehlet1  der  älteren  bri- 
tischen Doctrin  berichtigt  hat,  die  „wirthschaftliche  Natur“  des  Mensöhcn,*  woil:sie  in 
den  Grundzügcn  allerdings  die  gleiche  ist,  nuu  auch  bei  den  Einzelnen  als 
genau  dieselbo  anzusehen  und' dabei  eine  Abstraction  bezüglich  der  „wirtschaft- 
lichen Natur“  aus  einer  bestimmten  . Geschichtsperiode  und  bei  bestimmten  Völkern 
(Gegenwart,  moderne  europäische  Culturvölker) , ja  bei  bestimmten  Classen  dieser 
Völker,  den  im  Concurrenzkampf  stehenden  gewerblichen  Unternehmern  (dem  „Händler- 
thum“), zu  einer  allgemein  gütigen  zu  generalisiren : ein  der  älteren  Methode  nicht 
inhärenter,  aber  sie  oftmals  begleitender  Fehler.  Als  Menkchen  haben  freilich 
alle  Individuen  gewisse  grosse  Grundzüge  ihrer  wirtschaftlichen  wie  ihrer  gesammteu 
physisch-psychischen  Natur  gemeinsam.  Aber  als  Individuen  an  sich  und  wieder 
als  Individuen,  welche  Glieder  eines  bestimmten  Stammes,  Volks,  einer  Classe,  eitjes 
Stands,  eines  Berufs  u.  s.  w. , Angehörige  eines  Landes,  Staats,  einer  Kirche,  eines 
Zeitalters  sind,  haben  sie  Verschiedenheiten  ihres  Denkens,  Fühleus,  Strebens  u.  s.  w„ 
welche  auch  auf  ihre  wirtschaftlichen  Handlungen  Von  Einfluss  sein 
können  und  oftmals  es  mehr  oder  weniger  sind.  Damit  djfferenjtir^i  vsich  auch  diese 
und  folgeweise  wieder  die  wirtschaftlichen  Erscheinungen  im  cojicreten  Falle. 
Nur  weil  eben  doch  unter  dem  überwiegenden  Einfluss  des  Conslahten- in'  ihter Wirt- 
schaftlichen Natur  -7-'  und  bei  der  Constanz  der  äusseren  Natuf, — die  -It^viduen 
trotz  dieser  ihrer  individuellen  und  historischen  Verschiedenheiten  .wirtschaftlich 
wieder  in  der  Maske  der  Fälle  gleichmässig  handeln,  und  so  weit  ‘sie  es'tdiw  ft&st 
sich  für  diese  Masse  der  Fälle  eine  gleichinässige  Gesta(tu^g,3bLeitop,  z.  B.  in 
der  Bildung  der  Preise,  Löhne,  Zinsen.  Aber  dieser  Schluss  ist  ,nu,r  ein  Wahrschein- 
lichkeitsschluss, der  noch  seiner  besonderen  Prüfung  auf  seine  -RiÄtiglicit  bedarf,  da 
doch  auch  in  der, Masse  der  Fälle  die  variablen  Factoren  bei  den  handelnden  Indi- 
viduen einen  stärkeren  Einfluss  behaupten  können.  Vollends  der  Schluss  von  der 
Masse  der  Fälle  auf  den  einzelnen  Fall  ist  von  vornherein  gewagt  und  bedarf  erst 
einer  Prüfung  der  concreten  mitspiclcnden  Factoren. 

§.  31.  — 2.  Die  wirt lisch aftli 6 he  Natur  als  eine  blosse 
'•Seite  der  menschlichen  Natur.  -Die^wirthschaftliche  Näturi*, 
wie  sie  im  §.  29  abgeleitet  und  cliaracterisift  wurde,  ist  nicht  die 
ganze  Natur  des  Menschen,  sondern  nur  eine  Seite  derselben. 
Auch  als  solche  Seite  ist  sie  bei  den  Einzelnen,  diese 
wiederum  als  Individuen  an  sich  wie  als  Glieder  menschlicher 
Gemeinschaften  genommen,  nichts  völlig  Constantes,  ganz  Gleich- 
massiges,  weder  an  sich  — „absolut“  — , noch  im  Verhältniss  zu 


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Die  wirtbschaftL  Natur  bei  den  Iudividuen. 


85 


den  übrigen  Seiten  der  menschlichen  Natur  — „relativ“  wie 
auch  bei  ein  und  demselben  Individuum  nicht,  je  nach  den  Lebens- 
umständen desselben. 

Allerdings  bleibt  die  „wirthschaftlicbe  Natur“  des  Menschen,  aus  den  früher 
dargelegten  (»runden,  stets  eine  Seite  seiner  ganzen  Natur,  auch  bei  jedem  Einzelnen, 
insofern  etwas  Constautes.  Aber  nach  Naturanlage,  Temperament,  Erziehung,  innerem 
Seelenleben,  äusseron  Umständen  und  Einflüssen  des  Einzelnen  an  sich  und  als  Glieds 
ron  Gemeinschaften,  ab  Persönlichkeit,  welche  unter  variablen  zeitlichen  und  räum- 
lichen Einflüssen  steht,  ist  diese  Seite  seiner  Natur  an  sich  und  neben  den  auderen 
Seiten  verschieden  entwickelt  und  einer  verschiedenen  — auch  zielmässig  beabsich- 
tigten — Entwicklung  fähig.  Von  nicht  geringem  Einfluss  auf  diese  historische,  örtliche, 
individuelle  Diiferenzirung  der  wirthschaftiichou  Natur  als  einer  Seite  der  ganzen 
Natur  des  Menschen  sind  Zeitanschauungen,  sittliche,  religiöSegAhschaoungen,  Ge- 
staltung der  Erziehung,  aber  namentlich  auch  Einrichtungen  und  Rechtsnormen  im 
Wirtschaftsleben  selbst.  Es  ist  eine  der  bedenklichen  Seiten  und  Folgen  des 
,:Systems  der  freien  Concurreuz“  und  der  geistigen,  sittliohen  Atmosphäre,  aus  welcher 
dies  System  entsteht  und  auf  welche  es  dann  selbst  wieder  ruckwirkt,  dass  die  „wirt- 
schaftliche Seite“  der  menschlichen  Natur  übermässig  und  zu  sehr  auf  Kosten  anderer 
Seiten  sich  entwickelt,  der  „wirtschaftliche“,  der  Erwerbs-Gesichtspunct  alles  über- 
wuchert (Mammonismus,  Pleonexie,  Geldgier,  Spielgeist.  Speculationscharactor  des 
Wirtschaftsleben , Ueberhandnehmen  des  Erwerbsgeists  auch  in  liberalen  Berufen, 
fast  alleiniges  Walten  desselben  in  den  materiellen  Berufen  u.  dgl.  m.).  Adtere  wirt- 
schaftliche Rechtsordnungen  corporativen  Characters  (Zunftwesen)  mögen  neben  guten 
auch  manche  üble  Einwirkungen  auf  die  psychische,  die  sittliche  Natuf  der  Einzelnen 
gehabt  haben,  wie  wir  das  heute  noch  in  analogen  Verhältnissen  \BureaukrAtie,  cor- 
porativc  Schulen,  Universitäten)  ähnlich  sehen.  Aber  jene  Rechtsordnungen  liessen 
die  wirtschaftliche  Natur  der  Angehörigen  nicht  zu  so  einseitiger,  so  übermässiger 
Entwicklung  kommen,  ln  einer  „socialistischen“  Rechtsordnung  des  Wirtschafts- 
lebens. der  Production  und  Verteilung,  würde  immerhin  ebenfalls  eine  Cojrectur, 
eine  Modification  dieser  jetzt  überspannten  Entwicklung  der  wirtschaftlichen  Natur 
möglich,  selbst  wahrscheinlich  und  an  sich  etwas  Erwünschtes  sein.  Nur  dürfte  man 
sich  hier  nicht  wieder  der  Illusion  hingeben,  die  „wirtschaftliche  Seite“  der  Natur 
des  Einzelnen  ganz  unterdrücken  zu  können  und  ohne  Schaden  für  die  Gesamiutheit 
unterdrücken  zu  dürfen.  Ein  gewisses  normales,  wenn  auch  nach  Individuen  und  Zeit- 
altern nicht  ganz  stabiles  und  gleichmässiges  VerhäJtniss  der  einzelnen  Seitfcn  der 
menschlichen  Natur  ist  auch  hier  das  Richtige. 

§.  32.  — 3.  Der  Mensch  als  einheitlich  handelndes, 
wenn  auch  von  verschiedenen  Motiven  bestimmtes 
Wesen.  Gerade  weil  die  wirtschaftliche  Natur  nur  eine  Seite 
der  ganzen  Natur  des  Menschen  ist,  -sind  auch  die  wirtschaftlichen 
Handlungen  nicht  notwendig  nur  von  wirtschaftlichen  Motiven, 
insbesondere  von  den  aus  dem  Trieb  des  Selbstinteresses  hervor- 
gehenden, abhängig.  Sie»  können  vielmehr  zugleich  mit  und  unter 
Umständen  selbst  stärker  .mit,  ja  sogar  gelegentlich  allein  von* 
anderen  Motiven  bechfflftf$>t  und  bestimmt  werden  und  werden  das 
tatsächlich  auch  öfters.  Gerade  im  concreten  Falle  begeht  auch 
der  Einzelne  die  wirtschaftliche  Handlung  als  einheitliches 
Wesen,  welches  stets  einer  Summe  vou  Beweggründen  verschie- 
dener Art  und  Stärke  und  in  verschiedener  Combination  unterliegen 
kann  und  vielleicht  gerade  in.  diesem  Falle  thatsächlich  unterliegt. 


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86 


1.  B.  1.  K.  Wirthschaftl.  Natur  des  Menschen.  2.  A.  §.  32,  33. 


Daher  fallen  diese  Handlungen  alsdann  auch  anders  aus,  als  wenn 
sie  rein  durch  das  Selbstinteresse,  durch  das  Streben  nach  dem 
grösstmögliehen  wirtschaftlichen  Eigen  vortheil  liir  das  kleinst- 
mögliche  Opfer,  bestimmt  würden. 

Wiederum  ein  Punct.  welchen  die  ältere  Theorie  viel  zu  wenig,  in  der  Regel 
gar  nicht . und  namentlich  hei  der  Analyse  concreter  Verhältnisse  nicht  genügend 
beachtet  hat.  Was  für  den  „Händler“,  den  „city  man“  im  Grossverkehr,  im  Börsen- 
treiben unserer  privatkapitalistischen  Geschichtsperiode  allerdings  zu  gelten  pflegt,  aber 
doch  auch  da  nicht  einmal  ausnahmslos  — eben  weil  auch  der  Händler,  auch  der 
moderne  Börsenmann,  immer  doch  „Mensch“  bleibt  — . das  wurde  ohne  Weiteres  auf 
die  wirtschaftenden , zumal  auf  die  im  Tauschverkehr  stehenden  Menschen  aller 
Zeiten,  Länder,  Berufe  u.  s.  w.  gleichmässig  übertragen.  Und  was  für  den  Einen  nach 
dessen  individueller  Persönlichkeit  zutraf,  wurde  ebenso  ohne  Weiteres  auf  jeden 
Anderen  angewandt,  als  ob  alle  Einzelnen  in  gleichem  Maassc  und  ausschliesslich 
nur  wirtschaftlichen  Motiven  zugänglich  wären.  Die  einseitigste  Psychologie,  welche 
man  sich  denken  kann.  Das  einfache  Niederreissen  der  „störenden“  — aber  ander- 
seits schützenden ! — älteren  wirtschaftlichen  Rechtsordnungen  , die  gewaltsame 
Gleichstellung  der  agrarischen,  industriellen,  mercantilen  Rerufe  im  Wirthschaftsrecht. 
die  Anwendung  des  Freihandels  auf  die  verschiedensten  Länder  und  Völker,  m.  a.  W. 
das  „Scheeren  Aller  über  Einen  Kamm“  war  mit  die  Folge  dieser  einseitigen  Psycho- 
logie und  dieser  Verkennung  des  Charactcrs  jeder  wirtschaftlichen  Handlung  als  einer, 
wie  j e de  menschliche  Handlung,  von  mancherlei  Motiven  immer  mit  bestimmbaren 
und  oft  wirklich  mit  bestimmten. 

II.  — §.  33  [207 j.  Analyse  der  Motive  imwirtbschaft- 
lichen  Handeln,  insbesondere  die  Differenziru  ng  der 
egoistischen  Motive.  Gerade  weil  die  „wirtschaftliche  Natur“ 
nur  eine  Seite  der  menschlichen  Natur  ist,  weil  Jeder  doch  als 
einheitliches  (Willens-')  Wesen  handelt,  wie  überhaupt,  so  auch  auf 
wirtschaftlichem  Gebiete,  können  auch  hei  der  einzelneu  wirt- 
schaftlichen Handlung  verschiedene  Motive,  in  verschiedener  Stärke 
und  Combination,  mitwirken.  Diese  Motive  bestimmen  das  wirt- 
schaftliche Handeln  teils  als  menschliches  Handeln  überhaupt, 
teils  als  speciell  wirtschaftliches  Handeln.  Sic  entspringen  teils 
dem  Befriedigungstrieb , insbesondre  auch  dem  wirtschaftlichen 
Selbstinteresse,  teils  stehen  sie  mit  anderen  Seiten  der  psychischen 
Natur  des  Menschen  in  Verbindung. 

Dasjenige  Motiv,  welches  die  Nationalökonomie  meistens  allein 
in  seiner  Wirksamkeit  verfolgt  hat,  das  Streben  nach  dem 
wirtschaftlichen  (Eigen)  Vortheil,  erscheint  gerade  bei 
der  wirthscha  ft  liehen  Handlung  besonders  mächtig  und  wichtig, 
aber  doch  wiederum  nicht  als  allein  wirksam.  Es  muss  auch  zur 
richtigen  Würdigung  seiuer  selbst  und  seiner  Wirksamkeit  als 
Glied  einerKategoric  ihm  verwandterMotive  aufgefasst 
weiden,  welche  man  wegen  ihrer  aller  Beziehung  auf  positive  Lust- 
gefühle (oder  Vermeidung  von  Unlustgcfühlen)  des  eigenen  empfin- 
denden und  urteilenden  „Ich“  unter  dem  — hier  ohne  üble  Neben- 


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Analyse  der  Motive  im  wirtbschaftl.  Handeln. 


87 


bedentung  genommenen  — Ausdruck  egoistische  Motive  zu- 
sammenfassen  kann.  Diese  egoistischen  Motive  d ifferenziren 
sich  dann  und  eines  dieser  Differentiale  ist  das  Motiv  des  wirt- 
schaftlichen Vorteils.  Aber  zur  Erklärung  der  wirtschaftlichen 
Handlungen  und  demgemäss  Erscheinungen  muss  man  gerade  auch 
die  anderen  egoistischen  Motive  mit  heranziehen,  — was  wiederum 
die  ältere  Theorie  nicht  genilgend  gethan  hat. 

Den  egoistischen  Motiven  kann  jedoch  auch  beim  wirtschaft- 
lichen wie  bei  allem  menschlichen  Handeln  ein  nicht-egoisti- 
sches Motiv  corrigirend  zur  Seite  und  selbst  ersetzend  an  ihre 
Stelle  treten : ein  Motiv,  bei  welchem  es  sich  zwar  mit  um  eigene 
Lustgefühle  oder  Vermeidung  von  Unlastgefühlen  handelt,  aber  doch 
nicht  diese  Gefühle  oder  diese  wenigstens  nicht  allein  das  treibende 
Moment  darstellen.  Freilich  wird  dies  Motiv  daher  nach  der 
„menschlichen  Natur“,  „wie  sie  einmal  ist“,  selten  ganz  rein  als 
unegoistisches  erscheinen,  mit  egoistischen  Bezügen,  wie  mit 
Schlacken,  leicht  immer  etwas  versetzt  bleiben.  Aber  dennoch  kann 
und  darf  es  seinem  eigentlich  treibenden  Moment  nach  als  ein 
un egoistisches  gelten. 

Es  lassen  sich  dann  folgende  Gruppen  von  Motiven  im  wirt- 
schaftlichen Handeln  bilden. 

Die  Bezeichnung  der  einzelnen  Motive  ist  nach  dem  wichtigsten  und  charac- 
teristischsten  (josichtspuncte  bei  einem  jeden  gewühlt  worden , wiederum  nach  dem 
Satze  a potiori  fit  denominatio.  Alle  einzelnen  Seiten,  alle  Erscheinungsweisen  eines 
Motivs  können  durch  eine  solche  Bezeichnung,  bei  welcher  auch  Knappheit  des  Aus- 
drucks zu  erstreben  war.  aber  nicht  genau  wiedergegeben  werden.  Deshalb  bedarf 
es  bei  jedem  einzelnen  Motiv  einer  Erläuterung  seines  Inhalts,  d.  h.  der  Seiten  und 
Erscheinungsweisen,  welche  darunter  fallen.  Um  im  Folgenden  einen  kurzen  Ausdruck 
anwenden  zu  können,  werden  die  Motive  als  „Leitmotive“  1 — 5 und  in  jedem  Falle 
dann  mit  der  betreffenden  Nummer  (erstes,  zweites  u.  s.  w.)  bezeichnet. 

A.  Egoistische  Leitmotive. 

1.  Strebeu  nach  dem  eigenen  wirthscbaftlichen  Vortheil  und 
Furcht  vor  eigener  wirtschaftlicher  Noth. 

2.  Furcht  vor  Strafe  und  Hoffnung  auf  Anerkennung. 

3.  Ehrgefühl,  Geltungsstreben  und  Furcht  vor  Schande  und 
Missachtung. 

4.  Drang  zur  Betätigung  und  Freude  am  Thätigsein,  auch  an 
der  Arbeit  als  solcher,  und  an  den  Arbeitsergebnissen  als  solchen, 
sowie  Furcht  vor  den  Folgen  der  Untätigkeit  (Passivität). 

B.  U n egoistisch  cs  Leitmotiv. 

5.  Trieb  des  inneren  Gebots  zum  sittlichen  Handeln , Drang 
des  Pflichtgefühls  lind  Furcht  vor  dem  eigenen  inneren  Tadel  (vor 
Gewissensbissen). 


$8  1.  B.  1.  K.  Wirtschaft].  Natur  des  Menschen.  2.  A.  §.  33,  34. 

Bei  jedem  dieser  Motive  ist,  was  die  Fassung  gleich  zeigen 
will,  eine  Doppelseite  zu  unterscheiden:  eine  angenehme,  eine 
unangenehme,  die  Erregung  von  Lustgefühle n und  die  Ver- 
meidung von  Unlust  ge  fühlen. 

f!  .:  Dies  gHt  allerdings  zugestandenermaassen  auch  von  dein  fünften  Motiv.  Auf 
die,,  öfters  bejahte  Frage,  ob  man  deswegen  doch  auch  dieses  Motiv  als  ein 
„egoistisches“'  in  dem  hier  gemeinten  Wortsinn  ansehen  muss,  kommen  wir  zurück  (§.  45). 

Man  kann  diese  Doppelseite  auch  allenfalls  als  die  positive 
und  die  negative  bezeichnen.  Zur  Erklärung  der  psychischen 
Vorgänge  im  wirtschaftlichen  Handeln  ist  die  Unterscheidung  nicht 
unwichtig. 

Den  egoistischen  Motiven  oder  kurzweg  dem  „Egoismus“ 
wird  in  der  ethischen,  dann  in  der  neueren  sociologischen  Theorie 
und  danach  auch  wohl  von  Nationalökonomen  der  „Altruismus“ 

gegenübergestellt. 

* • » 

"Wenn  nur  dieser  Altruismus,  wenigstens  in  seinen  wichtigsten  Erscheinungs- 
formen. nicht  wieder  nur  ein  „erweiterter  Egoismus“  wäre!  Wo  er  das  nicht  ist,  geht 
er  in  das  fünfte  Motiv  über.  Bei  demselben  handelt  es  sich  gerade  auch  um  Altruis- 
mus," um  wirtschaftliche  Opfer  „für  Andere“,  aber  doch  noch  um  mehr  als  das. 
Deshalb  erscheint  uns  die  Aufstellung  und  die  Fassung  des  fünften  Motivs  als  des 
Gegensatzes  zu  den  egoistischen  Motiven  richtiger,  als  die  Gegenüberstellung  von 
Egoismus  und  Altruismus.  Im  Folgenden  wird  bei  einzelnen  Motiven  noch  des 
Altruismus  gedacht  werden.  Für  die  ganze  Lehre  sei  auf  die  Ausführungen  neuerer 
Ethiker  Uber  Egoismus,  Altruismus,  Sympathie,  Gewissen  u.  s.  w.  daher  auf  die  oben 
S.  71  genannten  Schriften  Bezug  genommen. 

Da  jedes  der  fünf  Motive,  wie  gesagt,  alle  ihm  verwandten  Spielarten  um- 
fasst, möchte  es  möglich  sein,  die  wenigstens  im  wirtschaftlichen  Leben  vorkom- 
menden Motive  ohne  Zwang  und  ohne  eines  der  letzteren  zu  übersehen,  auf  die  fünf 
Hanptftlle  als  die  Leitmotive  zurückzuführen.  Natürlich,  dass  auch  hier  nach  In- 
dividuen, Völkern,  Zeitaltern.  Culturstufen  zahlreiche  Nuancen  eines  jeden  Leitmotivs 
und  der  zu  ihm  gehörigen  Spielarten  Vorkommen,  ebenso  wie  mancherlei  verschieden- 
artige und  wechselnde  Oombinationen.  Das  hindert  aber  doch  nicht,  zum  Zweck  der 
Analyse  der  Motive  für  die  Theorie  der  wirtschaftlichen  Handlungen  eine  solche 
fünffache  Katogorisirung  vorzunehmen  und  die  weitere  Erörterung  daran  zu  knüpfen. 

Für  die  Fragen  der  wirtschaftlichen  Organisation  und  der  Rechtsordnung,  auch 
für  diejenigen,  welche  sich  auf  den  Gegensatz  von  Individualismus  und  Socialismus, 
priratwirthschaftiiche  und  gemeinwirtschaftliche  Organisation  der  Volkswirthschaft, 
Privateigenthum  und  Gemeineigenthum  an  den  sachlichen  Productionsmitteln  beziehen, 
ist  die  Analyse  der  Motive,,  die  Würdigung  jedes  einzelnen  und  die  Untersuchung 
der  Combination  der  Motive  von  auschlaggcbender  Bedeutung.  Auch  deshalb  wird, 
nach  dem  Zwecke  dieses  Werks  (§.  7),  hier  auf  diese  Dinge  näher  cingegangen. 

A.  — §.  34  |207].  — 1.  Erstes  Leitmotiv:  Streben  nach 
d e in  eigenen  wirtschaftlichen  V o r t h e i 1 « n d Furcht 
vor  eigener  wirtschaftlicher  Noth. 

a)  Wesen  und  Function  dieses  Motivs.  Dies  Motiv 
entspringt  unmittelbar  dem  Befriedigungstrieb,  schon  als  dem  Trieb 
der  Selbsterhaltung,  dann  auch  als  dem  Trieb  des  Seihstinteresses. 
Es  bewirkt  wirtschaftliche  Thätigkeit,  Arbeit,  Uebcrnahme  von 
Opfern  (§.  27),  um  Güter  für  die  Befriedigung  der  eigenen  Bedürf- 


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Erstes  Leitmotiv:  Wirtschaftlicher  Yortheil. 


89 


nisse  des  Ietztre  empfindenden  und  urtheilenden  Subjects  (des  „Ich“) 
zu  beschaffen  und  zu  verwenden.  Hierbei  kommt  dann  das  öko- 
nomische Princip  (§.  28)  zur  Geltung. 

Soweit  es  sich  um  die  Befriedigung  der  ExistenzbedUrfnisse 
ersten  Grads  (§.  24)  handelt,  ist  dieses  erste  Motiv,  wenn  nicht 
das  einzige,  so  doch  gewöhnlich  das  stärkste,  um  zur  Arbeit  an- 
zutreiben, indem  e’s  regelmässig  jeden  Widerstand  in  der  eigenen 
Natur,  in  anderen  Motiven  überwiudet.  Bei  den  ExistenzbedUrfnissen 
zweiten  Grads  und  den  CulturbedUrfnissen  gilt  das  dagegen  nicht 
in  gleichem  Maasse  und  nicht  so  allgemein  noch  so  regelmässig. 

Trägheit.  „silsscs  Nichtsthon4*,  Gewohnheit  an  bestimmte  Lebensführung  und 
Arbeilsärt,  Bedürfnisslosigkeit . individuelles,  Völker-,  Standes-,  zeitalterwcises  Nicht- 
werthlegen oder  Nicht-soviel- Werthlegen  auf  weitere  materielle,  auf  Culturgenüsse, 
Höherschätzen  des  Ucberirdischcn  als  des  Irdischen , sittliche , religiöse  An- 
schauungen u.  s.  w.  können  vielfach  die  Entwicklung  dieses  ersten  Motivs  hemmen, 
dessen  Wirksamkeit  kreuzen  oder  selbst  aufheben.  Sie  thun  dies  auch  ohne  Zweifel 
vielfach,  wie  die  Erfahrung  lehrt,  bei  Individuen  auf  allen  Cultnrstufen . aber  selbst 
bei  der  grossen  Masse  der  Bevölkerung,  ja  sogar  bei  so  gut  wie  allen  Gliedern  der- 
selben auf  gewissen  Culturstufen , mit  unter  dem  Einlluss  äusserer  Verhältnisse 
(Klima),  der  ganzen  Lebens-  und  Anschauungsweise  (religiöse  Momente). 

Grade  bei  fortschreitenden  Völkern  und  Individuen,  d.  h.  eben  bei  solchen, 
welche  ihre  Bedürfnisse  vermehren,  verfeinern,  vervielfältigen  (§.  23),  ist  aber  ander- 
seits dies  erste  Motiv  auch  regelmässig  dasjenige,  welches  dauernd  und  selbst  in 
steigendem  Grade  zu  wirtschaftlicher  Thätigkeit.  zu  Arbeit  anspornt  und  so  die  Be- 
dingungen zur  Befriedigung  der  äusseren  Bedürfnisse  zu  erfüllen  ermöglicht.  Auch 
hier,  ja  grade  wieder  hier  treten  jedoch  Combinationen  und  Kreuzungen  mit  den 
anderen  Motiven  hervor,  wodurch  die  Wirksamkeit  dieses  ersten  Motivs  theils  ver- 
stärkt, theils  auch  gehemmt  wird,  was  wiederum  von  der  älteren  „classischen“  Theorie 
und  noch  heute  von  deren  Nachläufern  ^Manohesterschule)  nicht  genügend  beachtet 
worden  ist. 

4 

Dieses  erste  Motiv  hat  die  classische  britische  Theorie  und 
die  ganze  Doctrin  des  ökonomischen  Individualismus  ihren  Erörte- 
rungen des  wirtschaftlichen  Handelns  und  der  von  diesem  be- 
dingten wirtschaftlichen  Erscheinungen  zur  psychologischen  Er- 
klärung vornemlicb,  meistens  ganz  ausschliesslich  zu  Grunde  gelebt; 
auch  wohl  mit  der  Annahme,  dass  nur  dieses  Motiv  ein  „wirt- 
schaftliches“ sei,  mit  welchem  und  mit  dessen  Wirksamkeit 
sich  im  Grunde  die  „Wirth  schalt  sichre“,  auch  die  Politische 
Oekonomie,  allein  zu  beschäftigen  habe. 

Damit  wurde  die  Wirksamkeit  anderer  Motive  nicht,  wie  man  der  älteren 
Schule  wohl  vorgeworfen  hat,  kurzweg  geläugnet  oder  gar  gemissbilligt.  sondern  nur 
die  Ansicht  vertreten,  dass  diese  anderen  Motive,  so  wichtig  und  so  berechtigt  sie 
practisch  oft  sein  möchten,  doch  als  „nicht- wi rthschaft lieh c“  nicht  in  die 
Wirthschaftslehre  gehörten,  sondern  in  die  Ethik.  Psychologie,  Politik  u.  s.  w. 

Auf  dieses  erste  Motiv  wurde  ferner  in  der  älteren  Theorie 
auch  vornemlich  oder,  in  der  angedeuteten  Weise,  wieder  ausschliess- 
lich die  Methode  der  Disciplin  begründet:  die  Deduction  aus 


90 


1.  B.  1.  K.  Wirtlischaftl.  Natur  des  Menschen.  2.  A.  §.  35,  3t>. 


diesem  Motiv,  denn  das  will  die  Deduetion  „ans  dem  Selbst- 
interesse“, „aus  dem  Eigennutze“  im  Gruude  bedeuten. 

Oh  und  wie  weit  dieses  Vorgehen  richtig  und  berechtigt  ist,  wird  später,  be- 
sonders im  Abschnitt  von  der  Methode  im  nächsten  Kapitel  erörtert  werden.  Vor- 
läufig nur  die  wiederholte  Bemerkung,  dass  es  unter  gewissen  Voraussetzungen  und 
Cautelcn  nicht  nur  zulässig,  sondern  auch  zweckmässig,  ja  nothwendig  ist  (g.  4,  $.t>7  ff.). 

§.  35.  — b)  Behandlung  dieses  Motivs  in  der  Theo- 
rie. Dieses  erste  Motiv  wird  aber  nun  in  der  älteren  Theorie 
vielfach  als  zu  allgemein  und  gleichmässig  verbreitet  und  wirkend, 
zu  sehr  einer  wahren  Naturkraft  gleichend,  zu  unüberwindlich, 
überall  ohne  Weiteres  als  berechtigt,  als  naturgemäss  und  unbedingt 
nothwendig,  auch  in  seiner  Wirksamkeit  zu  sehr  als  allseitig  — wie 
für  denjenigen,  der  sich  dadurch  leiten  lässt,  so  auch  für  die 
ganze  Verkehrsgcsellschaft,  der  er  angehört,  — günstig  wirkend 
angenommen.  Die  individuelle  und  historische,  nach  Zeitaltern, 
Culturgemeinschaften  erfolgende  Differenzirung  dieses  Motivs  wird 
dabei  ebenso  übersehen,  wie  seine  ^tatsächliche  und  oft  richtige 
und  nothwendige  Combination  mit  anderen  egoistischen  Motiven 
und  seine  mögliche  und  öfters  ^tatsächliche  Ersetzung  durch  diese 
und  durch  das  unegoistische  fünfte  Motiv.  Ueberall  laufen  hier  die 
oben  bei  der  „wirtschaftlichen  Natur  der  Individuen“  (§.  30—32) 
hervorgehobenen  einseitigen  und  unrichtigen  Auffassungen  unter. 

Trotzdem  geht  es  aber  doch  wieder  viel  zu  weit,  wegen  dieser 
eben  dargelegten  Umstände  dieses  erste  Motiv  als  ein  allgemein 
wirksames  überhaupt  nicht  gelten  lassen  und  daher  auch  die  Be- 
rechtigung deductiver  Schlüsse  aus  ihm  in  Bezug  auf  wirtschaft- 
liche Handlungen  und  Erscheinungen  ganz  bestreiten  zu  wollen. 

Dazu  neigen  einzelne  Vertreter  der  historischen  Nationalökonomie,  specieü  in 
der  Methodenfrage . so  Schm  oller1).  Sie  begeben  dabei  den  entgegengesetzten, 
aber  dem  Grade  nach  einen  noch  grösseren  Fehler,  als  ihre  Gegner,  die  Oekonomen 
der  älteren  Theorie.  Ob  der  individuellen  und  der  historischen  Differenzirung  und 
Modification  des  Motivs  des  wirtschaftlichen  Vorteils  und  ob  der  verschiedenen  und 
wechselnden  Stärkegrade  und  Combinationen  dieses  mit  anderen  Motiven  verlieren  sie 
den  Blick  für  das  bleibende,  constante  „allgemein  Menschliche“  grade  dieses  ersten 
Motivs.  Das  ist  aber  in  der  That  ein  noch  grösserer  Fehler  als  das  Uebersehen  jener 
Differenzirung  dieses  Motivs  u.  s.  w.  Ein.  wie  sich  zeigen  wird,  auch  filr  die  Streit- 
frage der  Methode  beachtenswerter  Punct. 

’)  Grundfragen  S.  37:  ..Alle  concreten  volkswirtschaftlichen  Organisationsfragen 
sind  also  bedingt  durch  die  Vorfrage,  wie  die  psychologischen  Grundtriebe  bei  dem 
fraglichen  Volk  durch  Sitte  und  Hecht  modificirt  sind.  Darum  ist  mir  auch  die 
Lehre  von  dem  Egoismus  oder  Interesse,  als  dem  psychologischen,  steten  und  gleich- 
inässigen  Ausgangspunct  aller  wirtschaftlichen  Handlungen  nichts  weiter  als  eine 
bodenlose  Oberflächlichkeit“.  Ich  möchte  diese  Aeusserung  eine  bodenlose 
Uebertreibung  nennen,  weil  dabei  das  Kind  mit  dem  Bade  ausgeschüttet  wird,  so 
richtig  ja  der  Einwand  ist,  dass  der  Egoismus  keinen  steten  und  gieichmässigen 
Ausgangspunct  bilde.  Ob  Knies.  Polit.  Oek.,  2.  A.,  S.  219  der  Sclimoller’schen 
Aeusserung  ganz  beistimmt,  ist  nicht  recht  klar. 


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Erstes  Leitmotiv:  Wirtschaftlicher  Vortheil. 


91 


Gerade  dieses  erste  Motiv  ist  es  sodann,  welches  sich  practisch 
oft  „altruistisch“  erweitert,  d.  h.  es  wird  zum  Motiv  des 
Strebens  nach  dem  wirtschaftlichen  Vortheil  A nder er,  allerdings 
regelmässig  solcher  Anderen,  an  deren  wirtschaftlichem  Ergehen 
der  Handelnde  ein  (Liebes-  oder  sympathisches)  Interesse,  gewöhn- 
lich ein  näheres  persönliches  Interesse  hat,  das  ihn  eben  zu  der 
betreffenden  wirtschaftlichen  Handlung  antreibt.  Dies  ist  der 
im  Ganzen  wohl  wichtigste  Fall  des  Altruismus,  aber  eben  auch 
derjenige,  welcher  am  Deutlichsten  zeigt,  dass  trotz  des  etwa 
ausserdem  statttindenden  Mitspielens  anderer  Motive,  auch  gerade 
hier  etwa  des  Drangs  des  Pflichtgefühls,  der  Liebe,  der  Hingebung, 
der  Sympathie,  doch  dieser  Altruismus  ein  wohl  etwas  modificirter, 
immerhin  aber  nur  ein  verkappter  Egoismus  ist. 

Die  hauptsächlichen  Einzelfalle  beziehen  sich  wenigstens  in  unserer  socialen 
Periode  auf  die  wirtschaftliche  Familie nfürsorge  des  Familien-  und  Wirthscbafts- 
hauptes,  insbesondere  im  engeren  und  engsten  Kreise  (Kinder,  Ehegatten,  Eltern;  schon 
weniger  andere  nabe  Blutsverwandte,  wie  selbst  Geschwister),  üebrigens  ist  hier  des 
„historischen“  Characters  unserer  heutigen  „Familie“  zu  gedenken.  Im  Zeitalter  der 
gens,  der  Sippe  u.  dgl.  m.,  vielleicht  in  einer  socialistisch  organi&irten  Gesell- 
schaft mag  sich  das  etwas  anders  gestalten.  Auch  in  dem  in  einer  Hinsicht  ja  „un- 
egoistischen“ Falle,  der  Fürsorge  für  die  Angehörigen  nach  dem  eigenen  Tode 
mittelst  der  gewöhnlichen  Kapitalbildung,  daher  in  den  Verhältnissen  des  Erbrechts, 
das  hier  neben  der  auch  für  die  Gesellschaft  wichtigen  ökonomischen  Seite  eine  be- 
deutsame sittliche  Seite  zeigt,  noch  schärfer  — vollends  „unegoistisch“  — bei  der 
Lebensversicherung  auf  den  Todesfall,  bei  der  Wittwen-  und  Waisen  - Kentenver- 
sicherung tritt  doch  in  anderer  Hinsicht  das  „egoistische“  Moment,  innere  Beruhigung 
für  die  wirtschaftliche  Sicherung  meistens  der  nächsten  und  liebsten  Angehörigen 
zu  erlangen,  auch  wieder  unverkennbar  hervor.  Das  Motiv  des  erfüllten  Pflicht- 
gefühls, der  erfüllten  Liebcspflicht  zeigt  sich  aber  freilich  ausserdem  hier  deutlich. 
Anderseits  aber  wiederum  das  Mitspielen  anderer  Motive,  welche  vornemlich  zu  dem 
dritten  Leitmotive  (Ehrgefühl  u.  s.  w.)  gehören : Gedanken  von  „Nachrede“  u.  dgl. 
Kurz,  der  „Egoismus“  ist  diesem  „Altruismus“  durchaus  nicht  fremd.  Polare  Gegen- 
sätze. wie  nach  Ansicht  einiger  Sociologen.  sind  sie  durchaus  nicht,  was  Ethikcr  auch 
selten  verkannt  haben. 

36.  — c)  Bedeutung  des  Motivs  für  Theorie  und 
Praxis  des  Wirtschaftslebens  und  bezügliche  Auf- 
gaben. Für  alle  Wirthscbaftsverbältnisse,  namentlich  für  die 
Probleme  der  Organisation  und  der  Rechtsordnung  treten 
dann  in  Bezug  auf  das  erste  Motiv  immer  Hauptfragen  hervor,  wie 
die  folgenden : wie  wirkt  dies  Motiv  tatsächlich  lind  wie  kann  es 
wirken ; wie  differenzirt  und  wie  combinirt  es  sich  mit  anderen 
Motiven  und  wie  wird  cs  durch  diese  moditicirt,  ersetzt;  was  er- 
scheint in  dieser  Beziehung  „menschlich  möglich“  und  erwünscht; 
was  hat  zu  geschehen,  um  das  Motiv  für  den  Betreffenden  seihst 
und  für  Andre,  für  die  Gemeinschaft  wirtschaftlich  möglichst 
günstig  wirksam  zn  machen;  verdient  sein  freies  Walten,  seine  — 


/ •* 


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92 


].  B.  1.  K.  Wirtschaft!.  Natur  des  Menscheu.  2.  A.  §.  36,  37. 


rechtliche  und  sittliche  — Einschränkung,  seine  Ersetzung  durch 
andre  Motive  den  Vorzug  und*  wenn  dies  der  Fall,  ist  überhaupt 
und  wann  und . wie  ist  eine  solche  Einschränkung  und  Ersetzung 
richtig,  zweckmässig,  erreichbar?  \ . 

• * ■ i 

Lauter  Fragen  von  höchster  practischer  und  auch  theoretischer  Bedeutung, 
welche  sich  dann  auf  jedem  Specialgebiet  des  Wirtschaftslebens  — der  „Production“ 
und  „‘Verteilung“  — in  zahlreiche  einzelne  bezügliche  Fragen  specialisiren.  In  der 
Beantwortung  dieser  Fragen  gehen  die  theoretischen  und  prartischö'n  Richtungen  und 
Schulen  auseinander,  vor  Allem  am  Weitesten  die  Richtung  der  freien  Conourrenz 
und  diejenige  des  Socialismus.  Aber  alle  Richtungen  begehen  den  gemeinsamen 
Fehler,  die  Beantwortung  dieser  schwierigen  Fragen  zu  leicht  zu  nehmen,  dabei  zu 
sehr  zu  generalisircn  und  zu  schablonisiren. 

Die  beiden  gegnerischen  Richtungen  des  Individualismus  und  Socialismus  ver- 
fallen in  den  entgegengesetzten  Fehler,  jener  das  erste  Leitmotiv  fllr  zu  fest,  zu 
mächtig  und  unveränderlich  in  der  Natur  des  Menschen  begründet,  für  zu  wenig 
diflercnzirbar  und  mit  anderen  Motiven  combinirbar  und  durch  sic  ersetzbar,  sein 
Wirken  für  den  Betreuenden  und  sogar  für  die  Gemeinschaft  für  zu  günstig  zu  halten ; 
dieser,  der  Socialismus,  umgekehrt  dies  Motiv,  sei  es  durch  innere  Umbildung  des 
Menschen,  sei  es  durch  äussere  Umstände  und  durch  die  Rückwirkung  dieser  auf  jene 
Umbildung,  für  zu  weit  inodificirbar,  verdrängbar,  leitbar  zu  Gunsten  der  wirtschaft- 
lichen Interessen  Anderer,  der  ganzen  Gemeinschaft  oder,  soweit  nöthig,  für  zu  weit 
ersetzbar  durch  andere  Motive,  für  zu  entbehrlich  im  Wirtschaftsleben,  auch  für  zu 
einseitig  ungünstig  unter  unseren  heutigen  wirtschaftlichen  Verhältnissen  wirkend 
anzusehen. 

Dass  man  es  hier  unter  allen  Umständen  mit  schwierigsten  psychologischen 
Problemen  zu  thun  hat,  wird  von  keiner  dieser  Seiten  genügend  beachtet,  Alles,  wenn 
auch  in  entgegengesetzter  Weise,  zu  mechanisch  anfgefasst.  Den  grösseren  Irr- 
thum begeht  aber  doch  wohl  der  Socialimas  und , wenn  auch  in  geringerem  Grade, 
aber  doch  ähnlich,  die  historische  Richtung  der  Nationalökonomie  in  ihren  Annahmen, 
ihrem  „Glauben“  an  die  weitgehende  Dilierenzirbarkeit  und  Ersetzbarkeit  des  ersten 
Motivs,  als  der  Individualismus  in  seiner  Annahme  der  Constanz  und  Uuersetzbarkcit 
dieses  Motivs. 

Jedenfalls  muss  es  in  der  Wirthschaftspraxis  und  in  der 
Wirtlisehaftslehre  immer  als  Aufgabe  anerkannt  werden,  zu  unter- 
suchen, welches  die  individuelle  und  gesellschaftliche  Wirkung  des 
Motivs,  des  Strehens  nach  dem  wirtschaftlichen  Vortheil,  auf  die 
wirtschaftlichen  Handlungen  und  folgeweise  auf  die  wirtschaft- 
lichen Erscheinungen  sei  und  was  erwünscht  und  erreichbar  sei, 
um  nachteilige  Wirkungen  dieses  Motivs  möglichst  zu  beseitigen 
oder  zu  vermindern,  es  an  vortheil  haften  Wirkungen  — Beides  ins- 
besondere auch  für  Dritte,  für  die  Gemeinschaft  — möglichst  er- 
giebig zu  machen. 

Auf  die  Zweckmässigkeit , ja  Noth Wendigkeit,  den  Erfahrungstatsachen  gemäss, 
das  Motiv  selbst  zu  leiten,  es  so  zu  sagen  zu  erziehen,  es  mit  anderen  Motiven  zu  com- 
biniren,  es  je  nachdem  dadurch  zu  ersetzen,  führt  die  Untersuchung  dann  stets  hin. 

Insbesondere  wird  auch  im  „freien  Verkehr“,  bei  persönlicher  Freiheit  und 
Privateigentum  an  den  sachlichen  Productionsinittcln,  ein  solches  Vorgehen  sich  not- 
wendig erweisen.  Die  „feineren“,  wenn  gleichwohl  auch  egoistischen  Motive,  welche 
zur  Gruppe  3 und  4 gehören  (Ehrgefühl.  Betätigungsdrang),  werden,  wie  die  ge- 
schichtliche Entwicklung  es  namentlich  mit  der  Gruppe  3 gethan  hat,  mit  dem  ersten 
Motiv  zu  verbinden,  hier  und  da  auch  ganz  an  dessen  Stelle  zu  setzen  sein  (Staats- 
dienst! „Immateriallohn“).  Die  schwierige  Frage  bezieht  sich  nur  immer  auf  die 


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Zweites  Leitmotiv:  Furcht  vor  Strafe. 


93 


Grenze:  wie  weit?  Die  noch  schwierigere  Frage  ist  alsdann,  ob  und  wie  weit 
das  fünfte  Leitmotiv  (Pflichtgefühl)  neben  dem  und  statt  des  ersten  Motivs  wird  in 
Function  treten  können. 

Das  socialistisehe  Prgblem  dreht  sich  aber  um  ganz  dieselben  Fragen: 
würde  mau  ohne  das  erste  Motiv  überhaupt  und  zur  Genüge,  insbesondere  unter  hin- 
länglicher Wahrung  des  Productionsinteresscs,  auskommen  oder  dieses  Motiv  erfolg- 
reich, und  ohne  seine  Nachtheile  im  heutigen  freien  Verkehr,  regeln  und  so  in 
Function  treten  lassen  können5?  Das  ist  die  psychologische  Hauptfrage weiche 
zwischen  dem  ökonomischen  Individualismus  und  Socialismus  und  zwischen  den1  ihnen 
entsprechenden  Systemen  der  wirtschaftlichen  Organisation  und  Kechtsordiihng  liegt 
und  Entscheidung  fordert. 

Von  besonderer  Bedeutung  ist  endlich  immer  die  Untersuchung 
der  wichtigen  Specialfragen,  welche  das  Productiohsintei^sse 
betreffen,  nemlich  in  welchem  Maasse  Art  und  Höhe  der  Arbeite^ 
leistungen  (einschliesslich  derjenigen  des  Unternehmers,  auch  der- 
jenigen, welche  den  technischen  Fortschritt,  das  Erfindungswesen 
betreffen)  gerade  von  dem  Wirken  des  ersten  Motivs  abhängen ; 
ob  und  wie  weit  dies  Motiv  und  nur  dieses  günstig  oder  wenigstens 
günstiger  als  die  andern  Motive  wirkt;  ob  und  wie  weit  seine- un- 
gehinderte Function  daher  im  Gesammtinteresse,  zur  Vermehrung, 
Verbesserung,  technischen  Kostenverminderung  der  Production  liegt 
oder  ob,  wie,  wann  es  durch  andere  Motive  in  dieser  Hinsicht 
passend  ergänzt  oder  völlig  ersetzt  werden  kann? 

Die  Fragen  von  Lohn,  Gewinn,  Heute,  von  privat-  und  gcmcinwirthschaftlicher, 
individualistischer  und  socialis  tisch  er  Organisation  und  Hechtsordnung  lwängen  mit 
diesen  Specialfragen  nach  dem  Einfluss  des  ersten  Motivs  auf  die  Arbeitsleistungen 
wiederum  eng  zusammen,  was  keiner  weiteren  Ausführung  bedürfen  wird. 

Bemerkungen  über  das  erste  Leitmotiv , welche  hier  noch  Platz  linden  könnten, 
bringen  wir  absichtlich  lieber  im  Zusammenhang  mit  den  Ausführungen  über  die 
anderen  Leitmotive,  wo  die  kritische  Erörterung  öfters  darauf  hinführt. 

§.  37  [207].  — 2.  Zweites  Leitmotiv:  Furcht  vorStrafe 
und  Hoffnung  auf  Anerkennung,  a)  Wesen  und  Function  des 
Motivs.  Hierhin  gehören  die  zahlreichen  und  wichtigen  Fälle, 
wo  die  Rücksicht  auf  Autoritäten,  wegen  der  Nachtheile  irgend- 
welcher Art  (nicht  nothwendig  ökonomischer  Art,  wenn  auch  mit- 
unter solcher,  z,  B.  Geldstrafen),  welche  von  diesen  drohen,  wegen 
der  Unlustgefühle,  welche  von  diesen  Autoritäten  bewirkt  werden 
können,  aber  auch  wegen  der  Belohnungen,  regelmässig  nicht- 
ökonomischer Art,  wie  Lob,  Billigung,  Freundlichkeit,  Anerkennung, 
welche  diese  Autoritäten  ertheilen  können , die  wirtschaftlichen 
Handlungen,  die  Arbeit,  die  Beschaffung,  auch  die  Verwendung  der 
Güter,  die - Verschiebung  wirtschaftlichen  Genusses  oder  die  Ent- 
haltung-davon  beLdeii'von  diesen  Autoritäten  abhängigen  Personen 
beeinflussen,'*  je  nachdem  entscheidend.  Das  hier  mitspielendi 
Motiv  ist  thäils  Furcht  Vor  den  Autoritäten,  welche  in  letzter  Linie 


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1.  B.  1.  K.  t\Virthscbaftl.  Natur  des  Menschen.  §.  37. 


doch  auf  Furcht  vor  Strafe  durch  dieselbe  binauskommt,  theils 
Hoffnung  auf  Erregung  von  Lustgefühlen,  welche  nur  durch  diese 
Autoritäten  hervorgerufen  werden  können. 

Es  können  hier  Combinatiouen  und  nahe  Verwandtschaft  mit  anderen  Motiven, 
dein  dritten,  dem  ersten,  auch  dem  fünften  vorliegen,  aber  doch  sind  die  psychischen 
Vorgänge  verschieden.  Bei  dem  dritten  Motiv  handelt  es  sich  um  Ehre  bei  und  An- 
erkennung durch  dritte  Personen  nicht  noth wendig  autoritativer  Art,  bei  dein  hier 
besprochenen  zweiten  um  dergleichen  grade  Seitens  Autoritäten  mit  Strafge- 
walt;  bei  jenem  um  Furcht  vor  Schande,  bei  diesem  um  Furcht  vor  Strafe.  Bei 
dem  ersten  Motiv  kommen  nur  wirtschaftliche  Vorteile  und  Nachtheile,  dadurch 
bedingte  Lust-  und  Unlustgefühle,  bei  dem  zweiten  theils  nicht- ökonomische  Vor- 
theile, teils  als  Strafe  entzogene  ökonomische  Vortheile  (z  B.  Nahrungsentziehung 
oder  Qualitätsverminderung)  oder  aufgelegte  Nachtheile  (z.  B.  vermehrte  Arbeitslast. 
Geldstrafen,  Pfändungen,  Confiscationen)  in  Betracht  Bei  dem  fünften  Motiv  kann 
Achtung  vor  dem  Gebot  der  Autorität,  dem  man  sich  pflichtmässig  unterwirft,  z.  B. 
nach  der  Stimme  des  Gewissens,  des  religiösen  Glaubens,  der  entscheidende  Factor  zum 
wirtschaftlichen  Handeln  (z.  B.  im  Almosengeben)  sein.  Aber  nur  wenn  diesem  Ge- 
bot, dieser  Gewissensstimme  aus  Furcht  vor  Strafe  wegen  Verletzung  des  Gebots  gefolgt 
wird,  geht  das  Motiv  hier  in  das  zweite  Uber.  So  wird  es  oft,  aber  nicht  nothwendig 
und  nicht  tatsächlich  immer  sein.  Ist  es  aber  nicht  so,  erfolgt  die  Handlung  wirk- 
lich nur  aus  Achtung  vor  dem  Gebot  der  Autorität,  aus  Pflichtgefühl,  das  zu  thun,  was 
die  Autorität  (Gott)  nach  der  Stimme  des  Gewissens,  nach  der  Forderung  des  Glaubens 
verlangt,  so  ist  das  fünfte,  nicht  das  zweite  Motiv  doch  die  treibende  Potenz. 

Bei  diesem  zweiten  Motiv  wird  daher  als  äusseres  Mittel 
gewöhnlich  ein  äusserer  Zwang  verbunden  mit Strafand rohu ng 
bei  Ungehorsam  angedroht  und  eventuell  ausgelibt.  Aber,  von 
extremen  Fällen  abgesehen,  kommen  Zwang  und  Strafe  doch  wieder 
nur  durch  das  Medium  solcher  psychischen  Vorgänge  zur  Wirk- 
samkeit, welche  den  Betreffenden  selbst  zu  wirthschaftlichen  Hand- 
lungen (bzw.  Unterlassungen)  bewegen  (Arbeitszwang,  Sparzwang, 
Zahlungs-,  Steuerleistungs- Zwang  u.  s.  w ).  Insofern  ist  aller  so- 
genannte „äussere“,  „psychische“  Zwang,  soweit  er  ein  Handeln 
des  Gezwungenen  selbst  oder  ein  unmittelbar  durch  ihn  erfolgendes 
Unterlassen  zum  Zweck  und  zum  Ergebniss  hat,  doch  immer  ein 
innere r oder  psychischer. 

Boi  der  („technischen“)  Einrichtung  und  Anwendung  von  Zwang  und  Strafe  ist 
das  auf  wiithschaftlichem,  wie  auf  jedem  anderen  Gebiete  wichtig  zu  beachten.  Die 
Möglichkeit  der  Wahl  zwischen  Zwang,  Strafe  und  anderen  auf  Handeln  und  Unter- 
lasse» cinwirkendeu  Mitteln  (Rath,  Beispiel  und  Anerkennung,  Gewährung  wirt- 
schaftlicher Vortheile  u.  s.  w.)  beruht  gerade  darauf,  dass  alle  diese  Mittel  psychisch 
einwirken,  nur  eventuell  in  verschiedener  Art  und  Maass,  wo  dann  nach  Vergleichung 
in  letzterer  Beziehung  die  Wahl  getrollen  werden  kann. 

Auf  grossen  und  wichtigen  Gebieten , in  ganzen  Zeitaltern 
spielt  nun  dieses  zweite  Motiv  mit  seinen  Hilfsmitteln  des  Zwangs 
und  der  Strafe  eine  grosse,  mitunter  die  entscheidende,  selbst  die 
einzige  Bolle,  sowohl  in  Bezug  auf  Handeln  und  Unterlassen  Über- 
haupt, als  auch  auf  wirtschaftliches  insbesondere. 

In  ersterer  Hinsicht  sei  an  Heer,  Schule,  an  die  präventive  Einwirkung  ron 


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Zweites  Leitmotiv:  Furcht  vor  Strafe. 


95 


Polizei,  Justiz  erinnert,  wenn  auf  diesen  Gebieten  liier  auch  meistens  andere  Motive 
sich  mit  dem  zweiten  coinbiniren,  öfters  es  ersetzen. 

Auf  dem  wir  tbseba  ft  lieben  Gebiete  würden  sich  viele  Er- 
scheinungen und  Entwicklungen,  ganze  Wirthsehaftsverfassungen 
und  Zustände  ohne  die  Wirksamkeit  dieses  zweiten  Motivs  psycho- 
logisch gar  nicht  erklären  lassen.  Die  Theorie,  welche  nur  das 
erste  Motiv  kennt  und  anerkennt,  muss  hier  entweder  auf  alle  Er- 
klärung verzichten  oder,  wie  sie  es  ja  auch,  unhistorisch  genug, 
gethan  hat,  über  alle  Wirthschaftszustäude  und  Erscheinungen,  in 
welcher  das  Motiv  der  Furcht  u.  s.  w.  — L’nfreiheitsverhältuisse!  — 
sich  wirksam  zeigt,  ein  Verdict  fallen.  Sie  verfährt  dann  nur 
folgerichtig,  wie  sie  es  ebenfalls  einseitig  und  namentlich  öfters  zu 
früh  oder  zu  allgemein  gethan  hat,  unbedingt,  nicht  historisch 
und  örtlich  relativ  nrtheilend,  wirthschaftliche  Organisationen,  Ein- 
richtungen, Rechtsnormen,  in  welchen  das  zweite  Motiv  zur  Geltung 
kommt,  ohne  Weiteres  durch  solche  andere  ersetzen  zu  wollen,  wo 
dies  nicht  mehr  der  Fall  ist  und  namentlich  dem  ersten  Motiv 
offener  Spielraum  gewährt  wird. 

Alle  Verhältnisse  hierarchisch  beherrschter  oder  beeinflusster  Arbeiter.  Gaben- 
spender, wo  letztere  aus  Furcht  vor  der  directen  Strafgewalt  der  hierarchischen  Auto- 
ritäten oder  vor  der  Strafgowalt  des  diesen  Autoritäten  zur  Seite  stehenden'  Gottes 
oder  der  Götter  handeln:  analoge  Verhältnisse  bei  weltlichen  Autoritäten  ^Des- 
potismus); ferner  die  Verhältnisse  persönlich  unfreier  Arbeit,  des  Arbeitszwangs; 
weiter  diejenigen  der  Arbeitsregelung  in  älteren  Wirthsehaftsverfassungen 
(gemeinsame  Feldarbeit  bei  Geineineigenthum  am  ländlichen  Boden,  Hauscommunions- 
rerhältnisse , Ackerbau  mit  Flurzwang.  familienwirtbschaftlicber  Betrieb,  gewisse 
hausindustrielle  Verhältnisse,  gewisse  Eimichtungen  im  Zunftwesen),  Überhaupt  alle  Ein- 
richtungen mit  Straf-,  Züchtigungsrecht  des  Stammes-.  Geschlechts-,  Familienhauptes  als 
des  leitenden  Arbeitsherrn  über  seine  üntergegebenon , Familienglieder,  Lohnarbeiter, 
Dienstboten  u.  dgl.  in. ; ja  auch  noch  mancherlei  Verhältnisse  bei  moderner  „freier 
Lohnarbeit“  (Arbeitsordnungen,  Strafen,  im  Fabrikbetrieb,  Tadelsertheilung, 
„Schelten“  in  allen  Betrieben,  in  der  Haushaltung  [Dienstboten !]  u.  s.  w ) beruhen 
psychologisch  betrachtet,  mehr  oder  weniger  auf  Einwirkungen  durch  dieses  zweite 
Motiv,  wenn  sich  damit  auch  andere  Motive  coinbiniren.  Aehnliches  Kilt  von  den 
Verhältnissen  der  Consumrcgelung,  des  Sparzwangs,  worauf  die  auf  Zwang  be- 
ruhenden, mit  Zwangsbeiträgen  der  Betheiligten  (Arbeiter,  Unternehmer)  eingerichteten 
Arbeiter-  und  anderen  Personalversichcrungcn.  Feuerversicherung  u.  s.  w„  doch  hinaus- 
kommen. Das  ganze  Steuergebiet  endlich,  als  ein  doch  auch  eminent  wirt- 
schaftliches. ist  vom  Zwangsprincip  durchzogen  und  ist  mit  Strafbestimmungen  aller 
Art  verbunden,  wodurch  es  mit  unserem  zweiten  Motiv  psychologisch  in  Verbindung  tritt. 

Das  in  jeder  Hinsicht  grade  ancb  für  die  vorliegenden  psychologischen 
Fragen  der  Motivation  interessanteste  und  allgemein  Wirtschaftsgeschichte!)  wichtigste 
Gebiet  ist  dasjenige  der  persönlichen  Unfreiheit,  insbesondere  — doch  nicht 
ausschliesslich  — der  unteren,  handarbeitenden  Classen.  Dasselbe  bietet  die  Ge- 
legenheit, mit  dem  zweiten  Motiv  eine  grosse  Probe  seiner  Wirksamkeit  anzustcllen 
und  es  in  dieser  Hinsicht  mit  der  Wirksamkeit  anderer  Motive,  namentlich  des  ersten, 
bei  der  „freien“  Arbeit,  sowie  mit  der  Wirksamkeit  von  Combinationen  des  reinen 
und  modificirten  zweiten  mit  anderen  Motiven,  besonders  mit  dem  ersten,  dritten, 
fünften  zu  vergleichen.  Der  eigentümliche,  mit  aus  wirtschaftlichen  Gründen 
zu  erklärende  Process  der  allmäligen  Modifieationen.  Milderungen  der  persönlichen 
Unfreiheit,  des  schlicsslichen  Unproductivwerdens  jeder  Art  unfreier  Arbeit,  des  Ersatzes 


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1.  B.  1.  K.  Wirtbschafd.  Natur  des  Menschen.  2.  A.  §.  88. 


derselben  durch  freie  Arbeit  findet  seinen  Erklärungsschlüssel  wesentlich  mit  in  der 
Lehre  von  den  das  wirtschaftliche  Handeln  bestimmenden  Motiven  und  speciell  in 
dem  Nachweis,  dass  und  wann  und  warum  das  zweite  Motiv  für  Quantum  und  nament- 
lich für  Quäle  (Art  und  Güte)  der  Arbeit  nicht  genügend  wirksam  gemacht,  daher 
mit  anderen  Motiven,  besonders  dem  ersten  und  dritten,  im  Interesse  des 
Arbeitseffects  combinirt  und  schliesslich  dadurch  ersetzt  werden  muss  und  tat- 
sächlich mit  aus  diesem  Grunde  ersetzt  wird.  Im  2.  Theil  bei  den  Ausführungen 
über  persönliche  Unfreiheit  und  Freiheit  wird  das  näher  verfolgt  werden. 

§.  38.  — b)  Bedeutung  des  Motivs  f*ür  Theorie  und 
Praxis  des  Wirtschaftslebens  und  bezügliche  Aufgaben. 
Für  alle  Wirthschaftsverhältnisse,  insbesondere  für  diejenigen,  bei 
welchen  es  sich  um  Arbeitsdienste  für  Dritte  oder  im  arbeits- 
teiligen Producti^nsbetrieb  handelt,  ferner  in  den  grossen  Prin- 
cipienfragen  der . Organisation  und  Rechtsordnung  taucht  dann 
wiederum  die  Aufgabe  auf,  den  Erfolg  des  zweiten  Motivs  und 
derjenigen  Einrichtungen,  welche  die  Wirksamkeit  gerade  dieses 
Motivs  zur  alleinigen  oder  zur  besonderen  Voraussetzung  haben, 
zu  untersuchen.  Auch  wo  es  sich  darum  handelt,;  die  Wirksamkeit 
anderer  Motive  einzuschränken  oder  zu  beseitigen,  so  in  mehr.ge- 
meinwirthschaftlicher,  „socialistischer“  Organisation  etwa  diejenige 
des  ersten  Motivs  (wirtschaftlicher  Vorteil),  entsteht  die  Frage,  ob 
und  welches  andere  Motiv  dafür  wirksam  oder  wirksamer  gemacht 
werden  kann  und  soll.  Können  dann  voraussichtlich  die  übrigen 
Motive  nicht  genügend  in  Function  treten,  so  muss  eventuell  auf 
das  zweite  Motiv  zurticUgegriffen  werden.  Alsdann  aber  fragt  sich 
wieder,  ob  dies  möglich,  muthmaasslich  von  genügendem  Erfolg  be- 
gleitet und  ob  es  nicht  mit  anderen  unliebsamen,  vielleicht  uner- 
träglichen Folgen  — so  für  die  „Freiheit“,  für  das  ganze  Em- 
pfindungsleben — verbunden  sein  würde. 

Das  ist  das  Dilemma,  vor  welchem  der  Socialismus  mit  seiner  geplanten 
Wirtschaftsorganisation  steht.  Gelingt  es  ihm  nicht,  dem  ersten  Motiv. noqh  eine 
genügende  Wirksamkeit  für  die  Arbeitsleistungen,  den  technischen  Fortschritt  u„s.  w. 
in  seiner  Organisation  zu  belassen,  was  picht  unmöglich,  aber  schwer,  wenn  überhaupt 
mit  den  sonstigen  Principjen  des  Socialisinus  über  die  individuellen  Anteile  am 
Productionsertrag  und  Ji^ujentlich  mit  dem  Streben  nach  Gleichheit  der  ökonomischen 
Lage  in  Einklang  zu  setzen  ist,’  .vermag  er  nicht  das, dritte,  vierte  und  vor  Allem 
das  fünfte  Motiv  in  seinem  System  zu  ordentlicher,  mächtiger,,  wiederum  mit  seinen 
Principien  aber, noch  yereinbarer  l<'unct(on  zu  setzen.,  die.Oombinatiou  dieser  Motive 
psychologisch  und  practisch  richtig  Jtu  gestalten, und  ,ein  jedes  hierbei  zu  genügender 
Wirksamkeit  zu  bringen , wgs , y<?nn  möglich  s jedenfalls  wiedpr  ausserordentlich 
schwierig  ist  .und  durch  <dpn  üblichen  Hinweis  auf  andere  und  „bessere“  Erziehung 
— gegenüber  dem  Cortstanteg.ii)  der  menschlichen  und  speciell  in  der  wirtschaft- 
lichen Natur  des  Menschen!  r—,  .nicht  .hinlänglich  wahrscheinlich  gemacht  wird:  so 
bleibt  eben  nichts  Anderes  üjmg,  als  auf  Zwang,  Strafandrohung,  kur/,  auf  das 
zweite  Motiv  zurückzugreifen, 

Zu  diesem  richtigen  Schjuss.  kommen  die  Gegner  des  Socialismus  und  dem 
hat  der  Socialismus  , der  wissenschaftliche , politische , agitatorische , nichts 
Haltbares  entgegenzusetzen  gewusst.  Damit  ist  noch  nicht  Alles,  was  der 
Socialismus  behauptet  und  fordert , für  unrichtig,  was  seine  Gegner  einwenden. 


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Zweites  Leitmotiv:  Furcht  vor  Strafe. 


97 


für  richtig  und  allgemein  beweisend  erklärt,  die  Frage  der  Wirtschaftsorganisation 
und  Rechtsordnung  überhaupt  nicht  schon  ganz  zu  Üngunsten  des  Socialismus  und 
zu  Gunsten  etwa  des  privatwirthschaftlichen  Concurrenzsystems  erledigt.  Aber  mit 
dem  Hinweis  des  Socialismus,  dass  von  „Freiheit“  im  heutigen  Wirtschaftssystem 
doch  für  die  grosse  Masse  der  Bevölkerung  nicht  zu  reden  sei,  auch  hier,  nur  mehr 
oder  weniger  verkappt,  das  zweite  Motiv  und  in  seiner  übelsten  Form  das  erste 
(..Furcht  vor  Noth“,  „Hunger“)  in  Wirksamkeit  stehe,  beweist  der  Socialismus  doch 
für  seine  positive  Forderung  noch  nicht  viel.  Denn  wenn  es  wahrscheinlich  ist,  dass 
bei  deren  Durchführung  schliesslich  Zwang,  Strafandrohung.  Furcht  ganz  allgemein 
und  selbst  in  besonders  harten  Formen  angewandt  werden  müssten,  so  bleibt 
eben  unerwiesen,  ob  damit  das  Productionsinteresse  überhaupt  und  vollends  besser 
ab  bisher  befriedigt  und  ob  nicht  die  „Freiheit“  noch  weit  mehr  und  psychisch 
lästiger  beschränkt  werden  würde.  Die  dann  etwa  erreichte  grössere  „Gleichheit“ 
— in  der  „gemeinsamen  Unfreiheit“  Aller  ist  demgegenüber  doch  ein  leidiger 
Trost,  der  doch,  ethisch  betrachtet,  hinsichtlich  der  bestehenden  Verhältnisse,  nur  auf 
Erfüllung  der  vom  Neidgefühl  dictirten  Forderungen  beruht. 

In  meinem  Vortrag  auf  dem  3.  evangelisch-socialen  Congrcss  (1892’)  Uber  das  neue 
socialdemokratische  Programm  ist  der  im  Vorausgehenden  entwickelte  Gedankongang 
der  rothe  Faden  in  meiner  Kritik.  S.  auch  Buchenberger,  Agrarpolitik,  I,  224. 

Gewiss  ist  nun  das  zweite  Motiv  gerade  ethisch  nicht  gtinstig 
zu  beurtheilen. 

Es  steht  nicht  nur  hinter  dem  fünften,  sondern  auch  hinter  den  besseren  Er- 
scheinungsweisen des  dritten  und  hinter  dem  vierten  in  dieser  Hinsicht  zurück,  nicht 
aber  durchaus  hinter  dem  ersten.  Das  hat  die  liberale  Nationalökonomie  wohl  implicite 
oder  ausdrücklich  in  ihren  Erörterungen  zu  Gunsten  der  wirtschaftlichen  Freiheit 
und  des  ersten  Motivs  zu  allgemein  angenommen. 

Aber  auch  dies  Motiv  muss  historisch  und  realistisch 
aufgefasst  und  beurtheilt  werden. 

In  historischer  Hinsicht  ist  nicht  zu  verkennen,  dass  das 
Motiv  dann  im  Zusammenhang  mit  gegebenen  allgemeinen  Ver- 
hältnissen steht. 

Nach  der  ganzen  Culturstufe  eines  Volks,  einer  Volksclasse , nach  der  Technik 
einer  Productionsweise  (Agrarverhältnisse!)  kann  cs  allgemeiner  notwendig,  solbst 
unentbehrlich  sein , um  bestimmte  wirtschaftliche  Handlungen  , Unterlassungen, 
Arbeitselfecte  u.  s.  w.  zu  erzielen.  Seine  Einschränkung,  sein  Ersatz  durch  andere 
Motive  ist  nicht  beliebig  möglich,  auch  nicht  immer  heilsam,  weder  für  die  Nächst- 
betrotl'cnen , noch  für  die  Gemeinschaft  (verfrühte  und  ganz  unpassende  Emanci- 
pationen),  sondern  setzt  immer  erst  gewisse  allgemeinere  culturlicho,  technische, 
organisatorische  Entwicklungen,  andere  Wirtschaftseinrichtungen  voraus , welche  sich 
aber  ebenfalb  nicht  aus  dem  Nichts  oder  durch  blossen  „guten  Willen“,  Gesetze  u.  s.  w. 
schallen  lassen.  In  vielen  Fällen  wird  man  sich  daher,  statt  mit  radicaler  sofortiger 
Beseitigung  von  Einrichtungen,  welche  auf  Zwang,  Strafandrohung  und  dem  Kück- 
griir  auf  das  Motiv  der  Furcht  beruhen,  mit  Schutz  vor  Missbrauch  dieser 
Hilfsmittel  begnügen  und  selbst  damit  vorsichtig,  unter  Erwägung  aller  weiteren, 
auch  indirecten  Folgen.  Vorgehen  müssen  (Beschränkung  des  Züchtigungsrechts  des 
Arbeitsherren  gegenüber  den  Unfreien).  In  den  heutigen  Verhältnissen  der  euro- 
päbchcn  Colonisation  in  Afrika  B.  wird  nach  solchem  Gesichbpunct  auch  die  Frage 
der  Stellung  zur  einheimischen  Sclaverei  zu  entscheiden  sein. 

Auch  hierbei  kann  erwogen  und  psychologisch  und  nach  äusserer  Erfahrung 
begründet  werden,  Furcht  vor  Strenge,  Strafe,  Zwang  durch  die  andre  Seite  des 
zweiten  Motivs,  Anerkennung,  Lob,  freundliche  Behandlung  zu  ersetzen,  bezw. 
passend  zu  ergänzen,  um  z.  B.  bei  Unfreien  grössere  Arbeitslust,  grössere  Vor-  und 
Umsicht  hervorzurufen.  Damit  nähert  man  sich  der  Wirksammachung  des  dritten  und 
fünften  Motivs  (schon  Erfahrungen  und  Rathschläge  bei  antiker  Sclaverei).  Aber  auch 
dieses  Vorgehen  kann  wirtschaftlich  und  selbst  pädagogisch  und  damit 
A.  Wagno  r,  Grundlognng.  3.  Anflage.  L.  Theil.  Grundlagen.  7 


98 


1.  B.  1.  K.  Wirthschaftl.  Natur  des  Menschen.  2.  A.  §.  38,  39. 


ethisch  nicht  unbedingt  empfohlen  werden,  weil  sein  Erfolg  von  anderen  Um- 
ständen, von  zeitlich  und  örtlich  variablen  Factoren,  wie  natürlich  von  individuellen 
Verhältnissen  der  betreffenden  Personen  abhängt. 

Realistisch  betrachtet  erscheint  das  zweite  Motiv  aber 
selbst  endgiltig  mehr  oder  weniger  unentbehrlich,  mindestens  znr 
Ergänzung  der  andren  Motive,  wenn  man  Menschen  und  Dinge 
nimmt,  wie  sie  sind  und  einigermaassen  auch  vermuthlich  immer 
bleiben  werden  und  berücksichtigt,  dass  die  anderen  Motive  nicht 
leicht,  in  manchen  Fällen  überhaupt  kaum  ebenso  wirksam  für 
wirthschaftliches  Handeln  als  das  zweite  Motiv  gemacht  werden 
können. 

Wären  Intelligenz,  Verstehen  des  wahren,  eigenen,  wirtschaftlichen  Interesses, 
Ehr-  und  Pflichtgefühl  in  eigenen , in  der  Angehörigen  und  in  Dritter  wirtschaft- 
lichen Angelegenheiten , Arbeitsfreude  (viertes  Motiv),  Selbsterkenntnis  hinlänglich 
verbreitet  oder  Hessen  sich  diese  Eigenschaften  und  Motive  mit  Wahrscheinlichkeit 
durch  Erziehung,  Beispiel,  Ausbildung,  genügend  entwickeln,  so  könnte  man  viel- 
leicht auf  das  zweite  Motiv  ganz  verzichten.  Wer  derartigen  Optimismus  nicht  hegt, 
wird  daran  zweifeln.  Der  Socialismus  bewegt  sich  hier  wieder  in  hypcrideologischen 
Gedankenkreisen  und  in  einem  sehr  unrealistischen  Optimismus.  Auch  nur  durch  das 
erste  Motiv  alles  Erforderliche  an  Arbeitseifer.  PUnctlichkeit,  Ordnung,  Schonung  (der 
Stofle,  Werkzeuge,  Maschinen  u.  s.  w.),  an  Um-  und  Vorsicht  zu  erreichen,  erscheint 
sehr  schwierig  und  verspricht  keinen  genügenden  Erfolg.  Ohne  Strafen  für  Ver- 
gehen und  Versehen  im  Arbeitsdienst  — und  seien  es  wenigstens  Tadelsertheilungen 
— wird  man  schwerlich  bei  irgend  einer  denkbaren  Organisation  des  Productions- 
betriebs  und  der  Arbeit  überhaupt  auskommen,  auch  nicht  im  „Socialstaat“.  Aller- 
dings können  die  Strafen  aber  vielfach  wirtschaftliche  sein  (Lohnabzüge,  Geld- 
strafen, ungünstigere  Arbeitsbedingungen  u.  A.  in.),  wobei  dann  das  Motiv  der  Furcht 
vor  ihnen  in  das  erste  Motiv  mit  übergeht. 

In  den  späteren  Erörterungen  über  den  Zwang,  die  „ZwangsgemeinwirthschaH“ 
im  5.  Buche,  von  der  Organisation  der  Volkswirtschaft,  werden  uns  diese  und  ver- 
wandte Fragen  weiter  beschäftigen. 

§.  39.  — 3.  Drittes  Leitmotiv:  Ehrgefühl,  Gelt ungs- 
streben,  Furcht  vor  Schande  und  Missachtung, 
a)  Wesen  und  Function  dieses  Motivs. 

Gerade  hier  handelt  es  sich  um  mancherlei  Motive,  welche  unter  sich  viele  Ver- 
schiedenheiten zeigen , auch  einzeln  und  gruppenweise  ethisch  sehr  verschieden  zu 
beurteilen  sind.  Nach  dem  gewöhnlichen  populären  Sprachgebrauch  können  sie 
auch  vielleicht  nicht  alle  unter  die  Bezeichnung,  welche  hier  für  das  Leitmotiv  ge- 
wählt worden  ist.  ohne  Weiteres  gebracht  werden.  Aber  es  mangelt  uns  eine  andere, 
passendere  Bezeichnung  des  Characteristischen  in  dem  Leitmotiv.  Bei  genügender 
Erläuterung  wird  auch  die  Ausdehnung  des  hier  gewählten  Ausdrucks  auf  alle  unter 
dieses  dritte  Motiv  gereihre  Specialfälle  zulässig  werden.  Die  Zusammenfassung  der 
Fälle  unter  Einer  Kategorie  rechtfertigt  sich  aber  dadurch,  dass  alle  diese  Special- 
motive.  welche  wir  hierher  ziehen,  doch  in  der  That  grade  im  psychologischen 
Kern  Ubereinstimmen. 

Das  Wesen  dieses  dritten  Motivs  liegt  darin,  dass  aus  einem 
Streben  nach  Geltung,  Anerkennung,  „Ansehen“  bei 
Anderen  gehandelt,  auch  wirthschaftl  ich  gehandelt  wird. 
Dieses  Streben  nimmt  aber  sehr  verschiedene  Erscheinungsformen 
an.  Seiue  genauere  Analyse  ergiebt  einerseits  höhere,  feinere, 


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Drittes  Leitmotiv:  Ehrgefühl. 


99 


edlere,  verständigere,  ethisch  und  ästhetisch  günstiger  erscheinende 
Gesichtspuncte,  welche  das  Haudeln  bestimmen,  als  bei  den  beiden 
ersten  Motiven,  andrerseits  niedrigere,  gröbere,  ordinärere,  gemeinere, 
ethisch  und  ästhetisch  ungünstiger  erscheinende. 

Gerechtes  Selbstgefühl,  vornehmer  Stolz,  Standesbewusstsein  und  Verlangen  nach 
Anerkennung  der  Standes-(Bcrufs-)genosscn , berechtigter,  aber  auch  schon  unberech- 
tigter Wunsch  der  Auszeichnung  vor  Anderen,  des  Zuvorthuns,  des  Hervorragens, 
Bedürfnis  nach  Anerkennung  im  Allgemeinen,  Ehrgefühl,  Ehrliebe,  doch  auch 
Herrschsucht,  Ehrgeiz  in  allen  Phaseu  und  Formen,  und  auch  hohle  Prahlerei,  ge- 
meine Eitelkeit  — und  grade  diese  nicht  am  Wenigsten  — , sodann,  zum  Theil  als  Gegen- 
seite dieser  Motive,  Furcht  vor  Schande,  vor  Missachtung,  vor  Nichtachtung,  vor 
Oebersehenwerden.  vor  Verkanntwerden  in  Betretrder  Fähigkeiten,  Kenntnisse,  Character- 
eigensehaften  — das  und  Aehnliches  sind  die  wichtigeren  günstigen  und  ungünstigen 
Erscheinungsformen  dieses  dritten  Motivs. 

Bei  allen  diesen  Formeu  tritt  der  egoistische  Character 
des  Motivs  — im  neutralen,  wie  vielfach  gerade  hier  auch  im  üblen 
Nebensinn  des  Worts  — deutlich  hervor,  oft  schärfer,  gröber,  wirk- 
samer als  bei  den  zwei  ersten  Motiven. 

Der  gemeinsame  psychologische  Kern  aller  Erschei- 
nungsformen des  Motivs  ist  aber  doch  unverkennbar:  er  ist  die 
Erregung  von  inneren  Lustgefühlen  durch  die  Empfindung  der 
Geltung,  des  Ansehens  bei  Anderen,  insbesondere  bei  solchen, 
auf  deren  Urtheil  über  sich  man  im  concreten  Fall  Werth  legt 
(bzw.  die  Verhütung  von  inneren  Unlustgefühlen  durch  die  Ver- 
meidung der  Empfindung  der  Nichtgeltung  oder  der  ungünstigen 
Beurtheilung  bei  Anderen). 

Darin  liegt  auch  der  äusserliche  Character  des  Motivs  in  ethischer  Hinsicht, 
die  ledige,  leidige  Rücksicht  auf  das,  „was  die  Leute  über  Dich  sagen  oder  — 
de  nkcn*\  die  schwächliche  Furcht  vor  dem  „Gerede  der  Leute“,  im  Unterschied  zum 
fünften  Motiv  innerlichen  G'haracters,  mit  der  Rücksicht  auf  das,  „was  Du  selbst. 
Dein  Gewissen,  Dein  Gott  über  Dich  sagt  oder  denkt“. 

Auch  der  Unterschied  vom  ersten  Motiv  ist  beachtenswerth.  Auch  in  scheinbar 
ganz  verwandten  oder  gleichen  Fällen  zeigt  er  sich  doch  psychologisch  deutlich. 
Aus  beiden  Motiven  wird  vielleicht  gleich  energisch  gearbeitet,  um  viel  zu  erwerben, 
über  viele  Güter  zu  verfügen  und  mit  dem  gleichen  wirtschaftlichen  Erfolg.  Aber 
bei  dem  ersten,  um  nun  die  Güter  selbst  zu  geniesseu  und  durch  diesen 
Genuss  sich  Lustgefühle  zu  verschallen.  Bei  dem  zweiten,  um  dadurch,  dass 
Andren  die  Ergebnisse  des  Erwerbs,  die  Vornahme  des  Genusses  Sichtbarwerden, 
sich  Lustgefühle  dieser  specifischen  Art  — auch  etwa  selbst  der  Neiderregung 
bei  Andren  — zu  erringen.  Im  concreten  Fall  können  ja  beide  Arten  Lustgefühle 
verbanden  sein,  z.  B.  bei  der  Kleidung,  an  deren  Schönheit  man  sich  wirklich  selbst 
freut  und  Uber  deren  Bewunderung  Seitens  Andrer  man  Lustgefühle  emplindet.  Im 
letzteren  Falle  können  diese  wieder  aus  verschiedenen  Erwägungen  entspringen,  z.  B. 
erregt  sein  durch  das  Bewusstsein,  dass  Andere  den  Geschmack  in  der  Wahl  der 
Kleidung  anerkennen,  aber  auch  etwa  dadurch,  dass  sie  den  Aufwand,  welchen 
sie  darstellt,  bewundern  u.  s.  w.  Das  Streben  nach  materiellen  Genüssen  dieser  Art 
und  die  psychische  Bewegung  zu  wirtschaftlichen  Handlungen,  welche  zu  diesen 
Genüssen  fuhren  (beim  Erwerb  der  Mittel  dafür,  wie  bei  der  Verwendung  dieser 
Mittel  für  diesen  Zweck)  werden  sich  oft  auf  das  erste  und  dritte  Motiv  zugleich 
zurückfahren  lassen,  aber  beide  sind  doch  sehr  wohl  zu  unterscheiden,  wenn  auch 

7 * 


100  1.  B.  1.  K.  Wirthschaftl.  Natur  des  Menschen.  2.  A.  §.  39,  40. 

bei  genauester  Selbstprüfung  oder  Beobachtung  Dritter  kaum  in  ihrem  Stärkeverkältaiss 
zu  messen. 

Für  unsere  Disciplin  sind  diese  Verhältnisse  sehr  wichtig.  Man  ersieht  immer 
wieder,  dass  die  psychologische  Analyse  der  Motive  eine  Hauptaufgabe  ist. 
Welche  Rolle  spielt  im  Wirtschaftsleben  für  Erwerb  und  Verbrauch  Grossthuerei, 
für  reich  Gelten- Wollen,  Eitelkeit  aller  Art  neben  wirklicher  Genusssucht! 
Was  neben  dem  ersten  Motiv  selten  gebührend  beachtet  worden  ist 

Die  ja  nicht  unrichtige  Hinweisung  historischer  Nationalökonomen  auf  die  Macht 
der  Sitte,  der  Nachahmung  — z.  B.  in  der  Mode  — erklärt  doch  hier  an  sich 
noch  nichts.  Dazu  ist  erst  die  Zurückführung  auf  die  hier  zu  Grunde  liegenden 
Motive  notwendig.  Das  hier  besprochene  dritte  Motiv  spielt  in  der  Sitte  nicht 
die  alleinige,  aber  eine  ganz  besonders  mächtige  Rolle,  oft  eine  grössere  als  das  erste 
Motiv:  man  will  es  „Andren  gleich  thun“,  nicht  um  eines  materiellen  Genusses  selbst 
willen,  sondern  wegen  des  Genusses,  Andren  zu  zeigen,  dass  „man  es  auch  kann“ 
(Parvenues !). 

Die  Specialmotive,  welche  hier  in  dem  dritten  Leitmotiv  unter- 
schieden wurden,  flicssen  an  ihren  Grenzen  schwer  unterscheidbar 
in  einander  über.  Sie  combiniren  sich  in  mancherlei  verschiedener 
Weise  miteinander  und  wieder  mit  anderen  Motiven,  namentlich 
dem  ersten,  hier  öfters  zu  dessen  ethischer  und  ästhetischer  Läute- 
rung und  Erhebung,  aber  auch  nur  gar  zu  leicht,  zu  dessen 
Nachtheil  und  ethischer  Herabwürdigung,  mit  dem  fünften  Motiv. 
Daraus  folgen  wichtige  Fingerzeige  für  die  Beurtheilung  und 
Wirksammachung  dieses  dritten  Motivs  auf  dem  wirtschaftlichen 
Gebiete. 

§.  40.  — b)  Bedeutung  des  Motivs  für  Theorie  und 
Praxis  des  Wirthschaftslebens  und  bezügliche  Aufgaben. 
Auch  hinsichtlich  dieses  Motivs  liegt  dann  wieder  die  Aufgabe  vor, 
es  nach  seiner  thatsächlichen  und  möglichen,  günstigen  und  un- 
günstigen Function  im  Wirtschaftsleben,  besonders  für  die  Ge- 
staltung der  Organisation  und  der  Rechtsordnung,  nach  seiner  Ein- 
wirkung auf  Production  und  Verteilung  des  Productionsertrags 
und  Verwendung  des  letzteren  zu  untersuchen. 

Tief  in  der  psychischen  Natur  des  Menschen  und  recht  eigent- 
lich auch  im  menschlichen  Gemeinschaftsleben  begründet  diffe- 
renzirt  es  sich  doch  wieder  an  sich  und  in  seinen  Erscheinungs- 
formen, deren  Combinationen  und  in  den  Combinationen  mit 
anderen  Motiven  individuell,  nach  Zeitaltern,  Ländern,  Völkern, 
Classen  ausserordentlich  mannigfaltig.  Bald  treten  die  günstigen, 
bald  die  ungünstigen  Seiten  und  Erscheinungsformen  mehr  hervor. 
Wegen  der  ersteren  wäre  cs  nicht  wünschenswert,  wegen  der  Be- 
gründung in  der  menschlichen  Natur  wäre  es  nicht  möglich,  das 
Motiv  überhaupt  oder  auch  nur  eine  seiner  wichtigeren  Erscheinungs- 
formen — selbst  schwerlich  eine  der  feineren  psychologischen 


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Drittes  Leitmotiv:  Ehrgefühl. 


101 


Nuancen  der  letzteren  — unwirksam  zu  machen.  Das  Motiv  selbst 
und  seine  Erscheinungsformen  enthalten  ein  starkes  festes,  con- 
stantes  Element,  neben  zahlreichen  variablen.  Aber  sicher  ist, 
gerade  auch  wegen  letzterer,  dass  dies  Motiv  stark  von  äusseren 
Umständen,  Einrichtungen,  Anschauungen  im  Volke,  in  der  Classe 
abhängt,  mit  diesen  sich  in  seiner  Stärke,  in  seinen  Erscheinungs- 
formen verändern  kann  und  verändert,  danach  auch  absichtlich, 
planmässig  ,, erzogen“,  günstig  oder  ungünstig  entwickelt  werden 
kann.  Daraus  folgen  entsprechende  practische  Aufgaben,  auf 
welche  anch  die  Wissenschaft  hinweisen  muss. 

Für  die  nationalökonomische  Betrachtung  verdient  wieder 
der  Zusammenhang  und  die  Wechselwirkung  zwischen  diesem  Motiv 
und  seinen  Erscheinungsformen  einerseits  und  der  wirtschaftlichen 
Organisation  und  Rechtsordnung  andrerseits  besondere  Be- 
achtung, namentlich  auch  die  Wirksamkeit  des  Motivs  in  den 
Wirthschaftsverfassungeu  der  grossen  Productionsgebiete  (Ur-,  be- 
sonders Agrarproduction,  Gewerbe,  Handel,  liberale  Berufe,  öffent- 
licher Dienst)  und  in  den  historischen  Phasen  dieser  Verfassungen. 
Die  günstigen  und  ungünstigen  Erscheinungsformen  und  Seiten 
des  dritten  Motivs  entwickeln  sich  je  nach  der  Verschiedenheit 
dieser  Organisation,  Rechtsordnung  und  Wirthschaftsverfassung  in 
verschiedener  Art  und  Grad.  Auch  für  die  socialistische  Frage 
liegen  hier  wieder  nicht  unwichtige  psychologische  Probleme  vor. 

Die  ältere  Rechtsordnung  im  Ganzen  und  besonders  die 
älteren  Wirtbscbaftsverfassungen  der  „Gebundenheit“  auf  allen 
Productions- , Erwerbs-  und  Arbeitsgebieten  haben  regelmässig  die 
Wirksamkeit  des  ersten  Motivs  bei  den  Einzelnen  eingeschränkt. 
Sie  haben  sich  um  so  mehr  einiger  der  anderen  Motive  bedient, 
wie  des  zweiten,  des  fünften,  aber  gerade  in  bemerkenswerther 
Weise  auch  des  dritten,  um  auf  Thätigkeit  und  Art  der  Pro- 
duction, Quantum  und  Quäle  der  Arbeit,  auch  auf  Art  des  Erwerbs 
überhaupt  und  auf  Verbrauch,  Verwendung  desselben  einzuwirken. 

Rein  sind  bei  diesem  dritten  Motiv  — wiederum  nach  dem  „Constanton“  in 
aller  menschlichen  Natur  auch  bei  allen  Einzelnen  — überhaupt  die  günstigen  und 
ungünstigen  Seiten  und  Erscheinungsformen  nicht  zu  trennen.  Aber  im  Ganzen  über- 
ragten früher  wohl  die  günstigen.  Das  Ehren-  und  das  Pllichtmoment,  d.  h.  eben  das  dritte 
und  fünfte  Motiv,  trat  im  Berufe  schärfer,  das  Erwerbsmoment,  d.  h.  das  erste  Motiv, 
schwächer  hervor.  M.  a.  W'.,  auch  das  Gewerbe  war  mehr  und  zuerst  „Beruf“,  in 
jedem  Beruf  stand  das  gewerbliche  und  erwerbliche  Moment  mehr  zurück.  Am 
Deutlichsten  zeigte  sich  das  in  der  corporativen  Gestaltung  auch  der  Erwerbs- 
arbeit, der  Productionszweige.  in  der  berufs ständischen  Ordnung,  mit  der  eigenen 
Standesehre,  dem  eigenen  Standesbewusstsein,  dem  Zugehörigkeitsgefühl  zu  einem 
genossenschaftlichen  Ganzen  als  dienendes  Glied , als  „Genosse1* , einem  Ganzen , dem 


102  1.  B.  1.  K.  "Wirthschaftl.  Natur  des  Menschen.  2.  A.  §.  40,  41. 


anzugehören  Ehre  war,  dessen  Ehre  der  Einzelne  theilte,  dem  aber  auch  der  Einzelne 
Ehre  zu  machen  hatte,  auf  das  die  Unehre,  die  Schande,  die  untüchtige  Leistung  des 
Einzelnen  mitfiel.  Daher  die  gegenseitige  Controle  der  Genossen,  die  Aufnahme-,  die 
Ausschlussbcdingongcn , die  Strafen  für  verletzte  Standesehre  mit  bedeutenden  und 
grossontheils  guten  Folgen  für  die  wirtschaftlichen  Handlungen,  für  die  Arbeit,  für 
den  Verbrauch,  für  die  Lebensweise  u.  s.  w.  Einige  der  schönsten  und  besten  Seiten 
und  Folgen  der  Gilden-  und  Zun  ft  Verfassungen  treten  hier  hervor.  Sie  tarnen 
auch  Dritten,  den  „Consumenten“  in  der  Tüchtigkeit  der  Leistung,  in  der  guten  Be- 
schaffenheit der  Waare  (Qualitätscontrole,  Verwendung  guter  Roh-  und  Hilfsstoffe, 
richtiger  technischer  Mittel  u.  s.  w.)  zu  Gute.  Das  wichtige  und  schwierige  Problem 
der  Qualitätscontrole  im  Consumenteninteresse  ward  so  besser  gelöst,  als  in  anderen 
Wirtbschaftsverfassungeu,  z.  B.  bei  unserer  modernen  Gewerbefreiheit,  wo  man  diesem 
Problem  fast  rathlos  gegenübersteht,  da  das  „wirtschaftliche  (Absatz-)  Interesse“ 
der  Producenteu  — d.  li.  das  erste  Motiv  — und  die  „freie  Concurrenz“  derselben 
nicht  genügend  helfen  und  Ehrgefühl  nicht  mehr,  Pflichtgefühl  wenigstens  noch  nicht, 
Furcht  vor  Strafe  u.  s.  w.  nicht  ausreichend  Ersatz  schaden. 

ln  der  neueren  „liberalen“  Rechtsordnung,  iui  System  der 
freien  Concurrenz,  in  den  Wirthschaftsverfassungen  der  „indivi- 
dualistischen Ungebunden  heit“  auf  allen  wirtschaftlichen 
Gebieten  hat  dagegen  das  erste  Motiv  alle  anderen , insbesondere 
auch  dieses  dritte  überwuchert,  wenigstens  in  dessen  ethisch, 
ästhetisch  und  social  günstigen  Seiten.  Ein  schwerer  ökonomischer 
und  ethischer  Nachtheil.  Die  wirtschaftliche  und  sociale  Atomi- 
sirung  hat  Momente  wie  Standesehre,  Genossencontrole  in  ihrem 
Einfluss  auf  die  Güte  der  wirtschaftlichen  Leistung,  des  Products, 
wenn  nicht  ganz  beseitigt,  so  jedenfalls  sehr  abgeschwächt. 

Die  Folgen  hiervon  sind  für  den  Erwerb  und  Verbrauch 
eigentümlich  und  in  der  Tliat  bedenklich. 

Ungehemmt  oder  wenig  gehemmt  durch  die  andren  Motive,  namentlich  auch 
durch  dieses  dritte,  begünstigt  durch  die  „freie  wirtschaftliche  Bewegung",  an- 
gestachelt durch  die  „freie  Concurrenz“  treibt  das  erste  Motiv  immer  mächtiger  zu 
Erwerb  auf  jede  Art,  um  jeden  Preis,  in  möglichster  Höhe:  non  ölet!  Mit  dem  Weg- 
fall oder  der  Abschwächung  andrer  Rücksichten,  andrer  Maassstäbe  für  die  gesell- 
schaftliche Schätzung  des  persönlichen  Werths  der  Menschen  wird  der  Maassstab  des 
Gelderwerbs,  des  Geldbesitzes  zum  einzigen  oder  hauptsächlichen.  Die  öffentliche 
Meinung  passt  sich  dem  an  und  steigert  so  die  Bedeutung  und  die  Wirksamkeit  des 
ersten  Motivs  — des  „Strebens  nach  Vermögen“  in  der  britischen  Doctrin  — noch 
immer  mehr  und  macht  es  zum  fast  ausschliesslich  wirksamen , zumal  in  der  Sphäre 
der  zum  materiellen  Wirtschaftsleben  gehörigen  Berufe,  aber  auch  über  diese  hinaus, 
bei  vielen  nur  noch  sogenannten  „liberalen“  Berufen.  „Dollar  wird  Köuig,“  Jeder 
Beruf  wird  nicht  nur  mit,  eventuell  nebenbei,  sondern  in  erster  Linie,  wenn  nicht 
ausschliesslich  Erwerbszweck. 

Diese  Sachlage  bat  aber  eigenthiimlichc  Rückwirkungen,  von 
denen  das  erste  Motiv  selbst  wieder,  zum  Theil  aber  auch  die 
anderen  Motive,  besonders  das  hier  besprochene  dritte,  mit  ge- 
troffen werden. 

Die  oft  bedenkliche  Art  des  Erwerbs,  die  häufige  Leichtigkeit  (Spcculation ! 
Ausnutzung  von  Conjuncturen),  die  Höhe  des  Erwerbs  steigert  die  Genusssucht  „Wie 
gewonnen,  so  zerronnen.“  Das  erste  Motiv  wirkt  nun  im  Hinblick  auf  diese  Ermög- 
lichung vermehrter,  feinerer  materieller  Genüsse  nur  wieder  stärker.  Aber  das  blosse 


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Drittes  Leitmotiv:  Ehrgefühl. 


103 


Viel-Haben.  Viel-Erwerben.  Yiel-Genicssen  befriedigt  eben  in  der  Mehrzahl  der  Fälle 
die  Menschen  als  „gesellschaftliche  Wesen“  doch  noch  nicht  allein.  Andere  Personen 
müssen  Theil  nehmen  (Yerilppigung  der  Geselligkeit!),  namentlich  aber  darum  wissen, 
dass  man  diese  Genüsse  hat,  sie  „sich  leisten  kann“,  ebenso  wie  Andre  oder  noch 
besser  als  sie;  dass  man  „das  Geld  nicht  zu  achten  braucht  und  nicht  achtet“. 

Und  da  setzt  dann  wieder  das  dritte  Motiv  iu  seinen  ethisch  und  ästhetisch 
bedenklichen  Erscheinungsformen,  besonders  als  Eitelkeit,  ein:  leichtfertiger,  frivoler 
Verbrauch  erfolgt,  nicht  sowohl  oder  doch  nicht  nur  um  des  Genusses  desselben 
Willen,  als  um  damit  zu  prunken,  zu  prahlen,  die  Aufmerksamkeit  auf  sich  zu  ziehen. 
Ein  üppiger  Tafel-,  Kleidungs-,  Wohnungs-,  Reiseluxus,  ein  iiusserheher  Scbein- 
Bildungsluxus  mit  Kunst  und  Wissenschaft  (und  mit  deren  Vertretern!),  aus  Eitelkeit, 
Grossthuerei  u.  s.  w.  Das  Alles  wirkt  dann  auf  die  Verbreitung  von  Genusssucht,  auf 
Neid  Andrer  hin.  Der  ganze  Consum  der  Nation  und  mit  ihm  die  ganze  Production 
bekommt  eine  ökonomisch,  social,  sanitär,  ethisch  bedenkliche  Richtung. 

Psychologisch  durchaus  begreiflich.  Der  moderne  Parvenü,  der  an  der  Börse 
reich  geworden,  stellt  nur  den  characteristischsten  Typus  einer  ganzen  Entwicklung 
dar.  die  wiederum  vor  Allem  auch  psychologisch  erlässt  werden  muss.  Das  Er- 
werben, Besitzen,  Geniessen  befriedigt  ihn  eben  doch  nicht  genügend.  Geltung,  An- 
sehen, Auszeichnung  begehrt  er  doch  daneben,  kann  sie  aber  inner-  und  ausserhalb 
seiner  nächsten  Kreise  nur  durch  ostentatives  Auftreten  und  Ausgaben  erlangen:  d.  li. 
eben  das  dritte  Motiv  wird  für  sein  Handeln,  auch  sein  wirthschaftliches  Handeln 
wirksam  in  den  Formen  der  Eitelkeit  und  Prahlsucht.  Die  Titel-  und  Ordenssucht 
solcher  Kreise  ist  ebenfalls  bekannt.  Auch  hier  muss  nur  zu  oft  der  Zweck  das 
Mittel  heiligen,  bei  Beiträgen  „mit  öffentlicher  Namensnennung“  für  patriotische, 
politische,  kirchliche,  Wohlthätigkeitszwecke  u.  s.  w.  Leidige  Triebfedern  der  Eitel- 
keit müssen  in  Spannung  gebracht  und  dann  in  Auslösung  gesetzt  werden,  um  „die 
Taschen  zu  ölfuen“.  Aber  alles  das  sind  doch  Erscheinungen,  welche  die  „öko- 
nomische Psychologie“  nicht  übersehen  darf. 

§.  41.  — c)  Besonders  wichtige  Fälle.  (Oeffent lieber 
Dienst.  Socialist isclies  Wirtschaftssystem.  Ergebniss.) 

u)  Förmlich  iu  ein  System  haben  die  grossen  anerkannten 
Autoritäten  wie  Staat  und  Kirche  in  der  hierarchischen  Ordnung 
ihres  Dienstes,  im  Rang-,  Titel-,  Ordenswesen  und  anderen  Formen 
der  autoritativen  Anerkennung  diejenigen  Momente  gebracht,  welche 
durch  das  Medium  des  dritten  Motivs  auf  tüchtige  Leistung  hin- 
wirken sollen. 

Diese  an  sich  ja  höchst  äusscrlichen  Dinge  bilden  förmlich  ein  Seitenstück 
der  Entlohnung  der  Arbeitsdienste  im  Gehaltssystem  und  beruhen  doch  auf  richtiger 
Erkenntniss  der  Menschen,  „wie  sic  einmal  sind“:  freilich  auch  wieder  mit  der 
ethisch -misslichen  Wechselwirkung,  dass  ..die  Menschen  immer  mehr  so  werden“, 
weil  inan  sie  förmlich  dazu  erzieht,  Werth  auf  diese  Dinge  zu  legen. 

Aber  wiederum  realistisch  betrachtet,  ist  auch  zuzugestehen  , dass  der  Staat 
hier  eiu  guter  Psychologe  ist,  welcher  die  Bedeutung  unsres  dritten  Motivs,  freilich 
auch  der  ungünstigeren  Erscheinungsformen  desselben  (Eitelkeit!)  kennt.  Es  darf 
auch  sogar  weiter  eingeräumt  werden,  dass  dem  ganzen  Rang-,  Titel-,  Ordenswesen1) 

J)  Dasselbe  ist  nicht  mit  der  rein  sachlichen,  auf  der  nothwendigen  Stufen- 
leiter der  Acmtcr  im  Staats-  und  Kirchendienst  beruhenden  Rangordnung  der  Diener 
zu  verwechseln.  Diese  entspricht  der  Arbeitstheiluug  und  der  specifischcn  Ver- 
schiedenheit und  Höhe  des  gesellschaftlichen  Werths  der  Dienste  im  Aemtcrsystcm. 
Auch  hier  spielen  zwar  bei  der  Einrichtung  Rücksichten  auf  die  verschiedenen 
Motive,  welche  das  Handeln  bestimmen,  deutlich  mit  (das  erste  Motiv  in  der  Gehalts- 
abstufung, das  zweite  im  Disciplinarrecht.  das  dritte,  weil  der  Rang  des  Amts  selbst 
wieder  iu  verschiedenem  Maasse  Ehre  auf  den  Amtsträger  abfallen  lässt,  das  vierte,  weil 
von  diesem  Rang  des  Amts  Genuss  der  Thätigkeit,  Einfluss,  Macht  abhängt,  das  fünfte. 


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104 


1.  B.  1.  K.  Wirtschaft).  Natur  des  Menschen.  2.  A.  §.41. 


ein  richtiger  und  schöner  und  an  sich  auch  ethisch  berechtigter  psychologischer 
Gedanke  zu  Grundo  liegt:  dass  auch  äussere  Ehren  von  Vertretern  der  Gemein- 
schaft sollen  ausgehen  und  grade  für  den  Durchschnitt  (das  Normale)  überragende 
Dienste  für  die  Gemeinschaft  ertheilt  und  dadurch  den  auf  diese  Weise  Belohnten 
Ansehen  in  der  öffentlichen  Meinung  und  ihnen,  wie  allen  Gliedern  der  Gemeinschaft, 
ein  Ausporn  (ein  „Motiv“,  eben  in  gewissen  Erscheinungsformen  des  dritten  Motivs) 
zu  tüchtigen  Leistungen  im  Gesammtin teresse  gegeben  werden  soll.  Indem 
Niclit-Staatsdiener  in  dieses  System  äusserer  Auszeichnungen  mit  hincingezogen  werden, 
wird  das  betreffende  Motiv  nur  noch  allgemeiner  wirksam  zu  machen  gesucht,  psycho- 
logisch und  practisch  im  Princip  ganz  richtig. 

Nicht  die  Institution  des  Hang-,  Titel-,  Ordenswesens  an  sich  ist  daher  an- 
zugreifen und  kurzweg,  als  auf  dem  blossen  Motiv  der  Eitelkeit  beruhend,  ethisch  zu 
verurtheilcn . sondern  nur  ihre  practische  Durchführung.  Diese  ist  aber  frei- 
lich so  gut  wie  unvermeidlich  so  mangelhaft,  dass  dadurch  der  Werth  der  ganzen 
Institution  doch  practisch  und  ethisch  sehr  fragwürdig  wird.  Denn  die  beiden 
Voraussetzungen,  auf  denen  die  richtige  Anwendung  der  Einrichtung  beruhen  würde, 
sind  schlechterdings  auch  in  einer  nur  cinigermaassen  genügenden  Weise  nicht  zu 
erfüllen:  es  lässt  sich  kein  richtiger,  practisch  anwendbarer  Maassstab  für  die  Werth- 
schätzungen der  Leistungen  finden,  nach  denen  die  Ehren  u.  s.  w.  ertheilt  werden 
müssten,  und  es  giebt  und  kann  nicht  geben  eine  wirklich  unparteiische,  objective 
Instanz  für  die  richtige  Handhabung  eines  solchen  Maassstabes,  selbst  wenn  er  ge- 
funden wäre.  Daher  unterliegt  die  Durchführung  der  Einrichtung  der  Willkühr, 
bestenfalls  der  Schablone,  wie  meistens  im  Staatsdienst,  zu  dessen  blossem  Anhängsel 
sic  grosscntheils  wird.  Dass  freilich,  wenn  die  Einrichtung  erhalten  bleiben  soll,  eine 
gründliche  Reform  nothwendig,  aber  trotz  der  obigen  principiellen  Bedenken  auch  in 
gewissen  Grenzen  möglich  wäre,  ist  wohl  nicht  zu  bestreiten. 

Psychologisch  anspornend  auf  die  Leistungen,  wenn  auch  nicht  immer  in  der 
richtigen  Weise  und  mit  den  rechten  Mitteln,  wirkt  die  Einrichtung  gleichwohl  ohne 
Zweifel  dennoch.  Im  Staatsdienst  haben  die  ihr  entspringenden  Ehren  auch  noch 
als  eine  Art  Immateriallohn  die  wirtschaftliche  Bedeutung,  in  gewissem  Umfang 
Materiallohn  ersetzen,  bezw.  ersparen  zu  können:  eine  nicht  unwichtige  wirtschaft- 
liche Seite  der  Frage,  auch  eine  Seite,  welche  schon  mit  dem  folgenden  Puncte  zu- 
sammenhängt. 

Je  mehr  andere  Motive  fehlen  oder  nur  schwach  wirken,  desto 
mehr  muss  natürlich  immer  mindestens  ein  bestimmtes  Motiv  vor- 
handen sein  und  wirken , wTie  in  allem , so  auch  im  wirtschaft- 
lichen Handeln.  Gerade  in  Wirtschaftsordnungen , welche  das 
erste  Motiv  beschränken,  das  zweite  grossentheils  nicht  anwenden, 
das  vierte  und  fünfte  nicht  genügend  entwickeln  können,  muss 
daher  das  dritte  nur  zu  um  so  mächtigerer  Wirksamkeit  gebracht 
werden.  Der  Staatsdienst,  zumal  der  Monarchie,  liefert  wieder  ein 
Beispiel  auf  einem  analogen  Gebiete.  In  den  materiellen  Wirth- 
schaftssphären  würde  bei  einer  richtigen  ethischen  Auswahl  der 
verschiedenen  Erscheinungsformen  des  dritten  Motivs  manches 
Günstige,  manche  Besserung  heutiger  Erscheinungen  im  System  der 
freien  Concurrenz  zu  erzielen  sein. 


weil  das  Amt  das  Pflichtgefühl  erweckt  und  dann  von  letzterem  ein  günstiger  Einfluss 
auf  die  Qualität  der  Leistung  erwartet  wird  u.  s.  w.).  Aber  diese  Dienstrangordnung, 
auch  mit  ihren  Amtstiteln,  welche  letzteren  doch  zunächst  aus  practischen  Gründen 
der  Unterscheidung  gebotene  technische  Namen  siud,  hat  doch  auch  sonst  eine 
andre  psychologische  Grundlage  als  die  im  Texte  besprochene  Einrichtung. 


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Drittes  Leitmotiv:  Ehrgefühl. 


105 


ß)  Im  soci al istisch en  Wirtschaftssystem  widerspricht  die 
Anwendung  des  dritten  Motivs,  auch  in  seinen  besten  Erscheinungs- 
formen, vollends  in  den  anderen,  wo  Specialmotive  der  Eitelkeit 
in  Wirksamkeit  treten,  dem  grossen  ITauptprincip  des  Socialismus, 
der  Gleichheit.  Denn  im  eminentesten  Maasse  beruht  das 
dritte  Motiv  auf  dem  Gedanken  der  socialen  Ungleichheit  der 
Einzelnen,  der  Familien,  wenn  auch  nicht  nothwendig  ebenso  der 
ökonomischen.  Gleichwohl  würde  gerade  der  Socialismus  auf 
dieses  dritte  Motiv  vermuthlich  stark  recurriren  müssen. 

So  wenigstens,  wenn  es  ihm  nicht  gelingen  sollte,  nach  den  utopischen  An- 
sichten mancher  seiner  Vertreter,  das  vierte  und  fünfte  Motiv  zu  weit  mächtigerem 
Einfluss  zu  bringen,  als  welchen  sie  gegenwärtig  und  in  aller  Vergangenheit  gehabt 
haben ; wenn  er  der  Nothwcndigkeit  enthoben  sein  wollte,  das  unliebsame  zweite  Motiv 
bis  zur  Unerträglichkeit  zur  Anwendung  zu  bringen  und  wenn  er  nicht,  seinen  son- 
stigen Principien,  auch  demjenigen  einer,  wenn  nicht  völligen,  doch  annähernden 
ökonomischen  Gleichheit  zuwider,  das  erste  Motiv  zu  stark  zur  Wirksamkeit  brächte. 
Aus  diesem  Dilemma  kommt  der  Socialismus  wieder  nicht  heraus,  so  lange  er  mit 
„Menschen“,  nicht  mit  Engeln  oder  Göttern  seine  socialökonomischen  Hauten  ausfuhren 
muss.  Der  berufene  „Führercultus“,  die  Verbreitung  der  Photographien  der  Führer, 
wogegen  sich  consequent , aber  erfolglos  manche  überzeugte  Ideologen  der  Social- 
demokratie auflehnen,  giebt  einen  Vorgeschmack  der  Dinge,  die  kommen  müssten. 
Wir  erinnern  uns,  in  den  1870er  Jahren  in  einem  socialdemokratischen  Blatte  einmal 
die  Frage  erörtert  gesehen  zu  haben:  wird  es  im  Socialstaat  Champagner  geben  und 
wer  wird  ihn  trinken?  Die  Kranken  zur  Erholung  und  die  besonders  Ausgezeichneten 
zur  Extrabelohnung,  lautete  die  Antwort.  Psychologisch  nicht  übel  gedacht.  Warum 
aber  nicht  ebenso  Orden,  Titel  oder  ähnliche  äussere  Auszeichnungen,  wenn  auch  in 
neuen,  aber  unvermeidlich  ebenfalls  äusserlich  wahrnehmbaren  Formen  für 
die  „besonders  verdienten“  „Genossen“?  Das  widerspräche  freilich  dem  social- 
demokratischen Postulat  der  „Gleichheit“,  aber  es  entspräche  dem  echt  menschlichen 
Bedürfniss  nach  „Ungleichheit“,  auch  nach  einer  äusserlich  hervortretenden,  wie  in 
den  hier  besprochenen  Dingen.  Und  ob  die  gleichmässigstc  Erziehung  und  sonstige 
Lebensweise  von  Jugend  an  daran  viel  ändern  wird?  Das  ist  wiederum  einer  der 
Sätze,  an  die  man  mit  den  Socialistcn  „glauben“  muss,  auch  wenn  Erfahrung  und 
Verstand  dagegen  sich  auf  lehnen. 

y)  Für  unser  gegebenes  Wirtschaftssystem  und  dessen  organi- 
satorische und  rechtliche  Weiterbildung  gelangt  man  aus  den 
Erörterungen  über  dieses  dritte  Motiv  zu  dem  wichtigen  Er- 
gehn iss,  dass  Einrichtungen,  welche  die  Wirksamkeit  dieses 
Motivs  in  seinen  besseren  ethischen  Erscheinungsformen  wieder 
stärken  würden,  gewiss  erwünscht  wären.  Bei  Reformen  wird 
darauf  der  Blick  mit  hinzulenken  sein.  Ein  Erfolg  in  dieser  Hin- 
sicht ist  zum  Theil  die  Voraussetzung  dafür,  das  erste  Motiv  un- 
bedenklicher in  seiner  Wirksamkeit  einschränken , das  zweite 
mehr  ausser  Function  treten  lassen  zu  können.  Die  alte  Zeit  der 
Rechtsordnungen  der  Gebundenheit  war  in  diesem  Puncte  der 
modernen  Zeit  der  Rechtsordnungen  der  individualistischen  Un- 
gebundenheit unzweifelhaft  überlegen. 

Vor  Allem  auf  dem  gewerblichen  und  mercantilcn  Gebiete  würden  Ein- 


106 


1.  B.  1.  K.  Wirtschaft!.  Natur  des  Menschen.  2.  A.  §.  42. 


richtungcn,  wie  neue  corporativc  Gestaltungen,  hier  durch  Stärkung  oder  eigentlich 
durch  neue  Einbürgerung  der  Standesehre,  des  Standesgeists  manche  Uebel- 
stände  beheben  oder  vermindern  können.  Die  Analogien  des  öflentlichcn  Dieusts,  des 
Lehrdicnsts , W'ehrdiensts  möchten  das  bestätigen.  Auch  in  liberalen  Berufen 
scharfer  Erwerbstendenz  und  mit  starker  Concurrenz  der  Glieder  (Aerzte,  Rechts- 
anwälte, Schriftsteller)  wäre  durch  solche  Einrichtungen  Manches  zu  bessern.  Das 
erwachte  Standesbewusstsein  der  industriellen  und  montanistischen  Lohnarbeiter,  zumal 
der  gewerkschaftlich  organisirten,  wie  es  sich  in  den  schweren,  oft  von  vornherein  so 
aussichtslosen  Lohnkämpfen  bei  Strikes  zeigt,  liefert  immerhin  den  Beweis,  dass  in 
diesen  Kreisen  selbst  schwerste  wirtschaftliche  Opfer  von  Einzelnen  aus  einem  mäch- 
tigen Beweggrund  der  Standesehre  und  des  Pflichtgefühls  — „Einer  für  Alle,  Alle  für 
Einen“  — übernommen  werden  , d.  h.  das  dritte  und  fünfte  Motiv  überwältigen  hier 
wenigstens  zeitweise  die  Wirksamkeit  des  ersten.  Eine  ethisch  und  social  beachtens- 
werte und  erfreuliche  Erscheinung. 

§.  42.  — 4.  Viertes  Leitmotiv:  Drang  zur  Bethä- 
t i g u n g und  Freude  amThätigscin,  auch  an  d e r A r b e i t 
als  solcher  und  an  den  Arbeitsergebnissen  als  solchen, 
sowie  Furcht  vor  den  Folgen  der  Unthätigkeit  (Pas- 
sivität). 

a)  Wesen  und  Function  des  Motivs.  Das  Vorhanden- 
sein, das  Wesen  und  das  Mitspielen  eines  solchen  Motivs  neben 
anderen,  mit  welchen  cs  sieh  combinirt,  unter  Umständen  auch 
statt  andrer,  tritt  auf  dem  Gebiete  menschlichen  Handelns  im  All- 
gemeinen und  wirtschaftlichen  Handelns  insbesondere  weniger 
deutlich  und  schwerer  von  den  anderen  Motiven  unterscheidbar 
hervor,  als  dies  von  einem  der  letzteren  gilt.  Als  eigenes  selb- 
ständiges Motiv  ist  dieses  vierte  Motiv  daher  auch  nicht  immer 
beachtet  und  betrachtet  worden.  Dennoch  wird  man  sein  Vor- 
handensein, seine  Eigenart  und  seine  Bedeutung  anerkennen  müssen. 
Auch  wenn  keines  der  vier  anderen  Leitmotive  in  irgend  einer 
seiner  Erscheinungsformen  mitspielt,  wird  das  menschliche,  auch 
das  wirtschaftliche  Thun  nicht  so  zu  sagen  auf  den  Nullpunct  der 
Bewegung  reducirt  werden.  Denn  ein  ,, Handeln“  irgend  einer 
Art,  ein  handelnd  Bcschäftigt-sein  gehört  zum  Wesen  menschlichen 
Lebens,  ein  darauf  Hintreiben  zum  Wesen  der  menschlichen  Seele. 
Dieses  Handeln  wird  sich  dann  aber  als  dasjenige  eines  ver- 
nünftigen Wesens  vernünftige  Ziel-  und  Strcbepunete  suchen  und 
solche  eventuell  auch  auf  dem  wirtschaftlichen  Gebiete  linden. 

Würden  nun  bloss  diejenigen  Ziel-  und  Strcbepunete  hier  in  Betracht  kommen 
können , welche  bei  den  anderen  vier  Motiven  vorschweben,  so  würde  man  allerdings 
dieses  vierte  Motiv  nicht  als  ein  eigenes  besonders  hervorheben  dürfen ; es  wäre  höchstens 
eine  begleitende  Erscheinung  oder  ein  bei  den  anderen  Motiven  mitspielendes  Moment. 
Allein  so  liegt  die  Sache  hier  doch  nicht  nothwendig  und  auch  thatsächlich  nicht 
immer.  Sondern  der  Bethätigungsdrang  sucht  sich  das  wirtschaftliche  Gebiet  otwa 
aus,  weil  die  Person,  welche  von  ihm  zum  Handeln  angetrieben  wird,  ihrem  Berufe, 
ihrer  Stellung  nach  diesem  Gebiete  angehört,  hier  ein  ihr  angemessenes  Feld  der 
Thätigkeit  findet. 


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Viertes  Leitmotiv:  Drang  zur  Bethiitigung. 


107 


Allerdings  wird  die  Person  hier  in  der  Kegel  auch  Erfolge  bestimmter  wirt- 
schaftlicher Art  erzielen  wollen,  auf  welche  es  ihr  bei  ihrem  Handeln  ankommt. 
Diese  Erfolge  werden  dann  bei  genauerer  Beobachtung  und  Analyse  der  mitspielenden 
Specialmotive  iin  Gebiete  der  anderen  vier  Leitmotive  liegen,  vielleicht  nur  besonders 
eigentümlichen  Erscheinungsformen  eines  dieser  Motive  oder  gewissen  Combinationcn 
von  solchen  entsprechen:  am  Häutigsten  wird  es  sich  darum  handeln,  „Leistungsfähig- 
keit zu  zeigen“,  „Glück  zu  zeigen“  (Spiel!),  „Macht  zu  gewinnen“,  „Einfluss  zu  er- 
ringen“, „mehr  Vermögen  als  Andre,  als  Kivalen  zu  erlangen“,  nicht  sowohl  um  des 
Besitzes  selbst,  als  um  grösserer  Macht,  Geltung  Willen  u.  dgl.  m.,  d.  h.  es  wird  das 
dritte  Motiv  (Ehrgefühl,  Ehrgeiz.  Eitelkeit  u.  s.  w.)  besonders  oft  beteiligt  sein. 
Auch  eigentliches  Erwerbsinteresse,  daher  das  erste  Motiv,  wird  öfters,  aber  doch 
nicht  notwendig  immer  hier  mitspielen.  In  anderen  Fällen  werden  gemeinnützige 
Motive  (zum  fünften  Leitmotiv  gehörend)  mit  einwirken.  Aber  es  bleibt  häuiig  immer 
noch  ein  „Kest“,  der  in  keinem  der  anderen  Motive  aufgeht,  und  gerade  mit  diesem 
„Rest“  als  einem  eigenem  Motiv  haben  wir  es  hier  zu  tun. 

Das  Wesen  dieses  vierten  Motivs  liegt  dann  in  dem  Reiz,  dem 
Antrieb  zum  Handeln,  hier  eventuell  zum  wirtschaftlichen  Handeln, 
wegen  der  Lustgefühle , des  Genusses,  der  Freude,  welche  das 
Handeln  als  solches,  d.  h.  als  Bethätigung  und  Beschäftigt- 
sein  von  Seele  und  Geist  für  diese  selbst  in  sich  enthält  und  welche 
die  Fortschritte  und  Ergebnisse  der  Bethätigung  als  solche  be- 
wirken. Umgekehrt  wird  die  mangelnde  Bethätigung,  die  Passi- 
vität in  diesem  Sinne,  das  Müssigsein  als  Moment  der  Erregung 
von  Unlustgefühlen  — und  sei  es  schliesslich  bloss  Langeweile  — 
empfunden  und  gescheut.  Und  das  eben  treibt  wieder  zur  Acti- 
vität  an. 

Oft  genug,  gerade  auf  wirtschaftlichem  Gebiete,  wird  diese 
Bethätigung  eben  Arbeiten  im  ökonomischen  Sinne  (§.  27),  mit 
dem  äusseren  Erfolgzweck  der  Beschaffung  und  Verwendung  vou 
Gütern,  sein.  Dann  nimmt  das  Motiv  die  Form  der  Freude  an 
der  Arbeit  (Arbeitsfreude)  als  an  einer  zweckmässigen  und  er- 
folgreichen Bethätigung  der  Kräfte,  ja  des  Lebens  selbst,  und 
weiter  auch  die  Form  der  Freude  an  den  Fortschritten  und  an  den 
Endergebnissen  des  Arbcitserfolgs  als  solchen  an:  eine  Freude, 
die  wieder  oft  mit  Freude  aus  einem  der  andren  Leitmotive,  dem 
ersten,  dritten,  fünften,  verbunden  sein  mag,  aber  doch  mit  diesen 
nicht  zusammenfällt  und  auch  gesondert  von  ihr  und  allein  Vor- 
kommen kann  und  vorkommt. 

Das  Lastmoment  in  der  Arbeit  (§.  2T)  braucht  damit  nicht  zu  verschwinden, 
nicht  unfehlbar  zu  werden,  das  ökonomische  Princip  (§.  2S)  nicht  ausser  Function  zu 
treten.  Aber  das  Lustmoment  in  der  Arbeit  spielt  mit,  überwiest  vielleicht  und 
bildet  au  sich  schon  einen  Factor,  welcher  das  Lastmoment  vermindert  oder  aufhebt. 
Die  Freude  an  den  Fortschritten  und  Endergebnissen  des  Arbeitserfolgs  ist  auch  nicht 
die  Freude  au  den  letzteren,  weil  dieselben,  den  anderen  Motiven  gemäss,  wirt- 
schaftliche Genüsse  unmittelbar  schaffen  oder  ermöglichen,  oder  weil  sie  Ansehen  er- 
bringen oder  weil  sie  Pflichterfüllung  enthalten  und  die  in  dieser  liegende  Befrie- 
digung verschaffen,  was  ja  Alles  mitspielen  kann  und  oftmals  mitspielt.  Vielmehr 
handelt  es  sich  um  eine  Freude,  welche  sich  aus  derjenigen  am  Arbeiten  als  einem 


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108 


1.  B.  1.  K.  Wirthschaftl.  Natnr  des  Menschen.  2.  A.  §.  43. 


Thun,  an  der  Arbeit  als  einer  Thätigkeit  und  an  den  Erfolgen  der 
Arbeit  selbst  als  den  gewollten  Erfolgen  dieser  Thätigkeit  mit  innerer 
Nothwendigkeit  ergiebt. 

§.  43.  — b)  Bedeutung  des  Motivs  für  Theorie  und 
Praxis  des  Wirtschaftslebens  und  bezügliche  Aufgaben. 
Dieses  vierte  Motiv  kann  hiernach  eine  wahrhaft  ideale  Wir- 
kung ausüben:  es  erhebt  durch  die  Lust  an  der  Arbeit  als  solcher 
Uber  die  Last  der  Arbeit,  adelt  damit  die  Arbeit  und  bewirkt,  dass 
die  Arbeit,  auch  die  wirtbschaftliche,  welche  Mittel  zum  Zweck,  zur 
Beschaffung  und  Verwendung  von  Gütern  ist,  in  Einer  Hinsicht 
Selbstzweck  wird. 

Das  vierte  Motiv  bört  auch  damit  noch  nicht  auf,  ein  „egoistisches“  in  dem 
früher  besprochenen  Sinne,  auf  das  angenehme  Empfinden  eines  urtheilcnden  „Ich“  sich 
beziehendes  zu  sein.  Und  um  unverkennbare  Lustgefühle  handelt  es  sich  doch  auch 
hier,  ja  grade  hier  um  vielleicht  sehr  starke  und  specifisch  eigentümliche.  Dieselben 
stehen  im  Ganzen  ethisch  höher  als  die  den  drei  ersten  Motiven  zu  Grunde  liegenden. 
Die  allgemeinere  ökonomische  Bedeutung  des  Motivs  liegt  aber  darin,  dass  das 
Lastmoment,  welches  bei  jeder  Arbeit  vorhanden  und  der  Hemmungsfactor  für 
die  Ausübung  der  Arbeit  und  für  Art  und  Höhe  des  Arbeitserlblgs  ist,  hier 
durch  die  Arbeit  als  Lustmoment  selbst  mehr  oder  weniger,  unter  Um- 
ständen sogar  vollständig  aufgewogen  wird.  Damit  entfällt  die  Hemmungswirkung  jenes 
Lastmomcuts  und  ein  ganz  andrer  Arbeitselfcct  entwickelt  sich. 

Hat  man  es  hier  bei  dieser  Auffassung  etwa  mit  blossen  Phan- 
tasien der  Ideologie  zu  thun?  Gewiss  nicht!  Wichtige  und  be- 
kannte Thatsachen  bestätigen,  dass  das  vierte  Motiv  solche  ideale 
Wii  kung  haben  kann  und  vielfach  hat. 

Die  geistigen,  zumal  die  höheren  geistigen  Thätigkeiten  auf  den  Gebieten 
von  Kunst,  Wissenschaft,  Litteratur.  Beredsamkeit,  Erfindungen,  auch  bei  gewissen 
Thätigkeiten  des  öffentlichen  und  kirchlichen  Dienstes  u.  dgl.  m.  sind  unwiderlegliche 
Beispiele,  wie  die  blosse  Freude  an  der  Arbeit  und  am  Ar  bei  tsergebniss, 
selbst  ganz  ohne  jeden  Neben-  oder  gar  Hauptzweck,  des  Gelderwerbs,  des  materiellen 
Genusses  mittelst  der  Arbeitsergebnisse,  des  Ruhmes  durch  letztere,  auch  des  erfüllten 
Pflichtgefühls,  der  Erreichung  irgend  eines  anderen  äusseren  Zwecks,  das  Motiv  und 
mitunter  ein  stärkeres  als  jedes  andere  Motiv , welches  in  analogen  Fällen  mitspielen 
mag,  werden  kann  und  wird.  Intensivste  Arbeit,  auch  angestrengteste,  Kräfte  bis  bei- 
nahe zum  letzten  Athemzug  verzehrende,  unter  äusseren  und  inneren  Schwierigkeiten 
und  Leiden  aller  Art  erfolgende,  wird  vielleicht  unter  dem  Einfluss  keines  anderen 
Motivs  verhältnissmässig  so  oft,  unter  Beiseitesetzuug  jeder  anderen  Rücksicht  aus- 
geübt.  Die  Freude  am  Schaffen  hilft  über  Alles  hinweg.  Welcher  echte  Künstler. 
Dichter,  Mann  der  Wissenschaft  kann  das  nicht  bestätigen,  auch  selbst  dann,  wenn 
es  ihm  ausserdem  auf  den  äusseren  Erfolg,  den  Erwerb,  die  Anerkennung  mit  an- 
kommt? Nicht  unter  allen  Umständen,  aber  doch  überwiegend  wird  die  starke  Wirk- 
samkeit des  Motivs  auf  dem  Gebiete  der  geistigen  Arbeit  freilich  auch  an  die 
Voraussetzung  der  eigenen  freien  Wahl  von  Beruf  und  speciellem  Arbeitsobject 
geknüpft  sein,  was  wiederum  der  Socialismus  nicht  genügend  berücksichtigen 
möchte  (s.  u.). 

Auch  in  der  materiellen  Production  fehlt  es  nicht  an  wenigstens  ähn- 
lichen Fällen.  Einmal,  wo  es  sich  um  Arbeiten  handelt,  welche  das  geistige 
Princip  in  dieser  Production  darstellen,  daher  bei  den  Leitungs-,  Combinations-  (auch 
selbst  Speculations-,  Conjuncturenbenutzungs-,  den  darauf  bezüglichen  Rechnung»-), 
den  Veranschlagungsarbeiten  für  technische  Verbesserungen,  für  Kostenverminderungeu, 
für  Absatzverbesserungen,  für  günstigere  Preisstellungen,  mithin  insbesondere  um 


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Viertes  Leitmotiv:  Drang  zur  Betätigung. 


109 


Arbeiten  des  Unternehmers  oder  der  ökonomischen  und  technischen  Leiter;  sodann 
speciell,  wo  die  in  dieser  und  in  anderer,  auch  im  Dienstverhältnis  ausgefibter 
Arbeit  mit  enthaltene  ästhetische,  künstlerische,  erfinderische  und  ähnliche  Thätigkcit 
mit  in  Betracht  kommt,  ein  Ganzes  geschaffen  wird  (Kunsthandwerk  u.  dgl.).  Endlich 
aber  kann  das  Motiv  auch  selbst  bei  der  spccialistischen  gewöhnlichen  technischen 
Verrichtung  noch  mitspielen,  auch  bei  der  Theilung  der  Verrichtungen  unter  Mehrere, 
so  z.  B.  wenn  das  Ergebniss  der  von  Einzelnen  ausgeübten  Verrichtung  noch  eine 
derartige  Selbständigkeit  hat.  um  einen  gewissen  ästhetischen  Genuss,  eine  persönliche 
Befriedigung  über  den  Erfolg  der  Arbeit,  über  die  nach  dem  eigenen  Urtheil  „gute“ 
Ausführung  derselben  gewähren  zu  können,  wofür  es  in  der  agrarischen,  besondors 
in  der  handwerklichen,  liausindustrieUen , seltener  in  der  Fabrikations- Arbeit  an  Bei- 
spielen nicht  fehlt. 

Eine  genaue  Grenze,  wo  die  Möglichkeit  der  Wirksamkeit 
dieses  vierten  Motivs  auf  hört,  giebt  es  auch  weder  subjectiv  noch 
objectiv.  Die  Grade  der  Wirksamkeit  sind  nach  Subjecten,  nach 
empfindenden  urtheilenden  Personen,  nach  Anlage,  Ausbildung, 
Gewohnheit,  Lebensführung  derselben,  wie  nach  Objecten,  nach 
Art  und  Maass  der  Thätigkeit  oder  Arbeit,  um  die  es  sich 
handelt,  ausserordentlich  verschieden.  Aber  das  möchte  doch  keinem 
Zweifel  unterliegen,  dass  es  zahlreiche  und  wichtige,  auch  ganz 
unentbehrliche  Arten  von  Arbeit  giebt,  bei  denen  auch  günstigen 
Falles  das  Lustmoment  ein  Minimum  wird  oder  verschwindet 
und  das  Lastmoment  ein  Maximum  wird  oder  allein  empfunden 
wird.  Hier  mag  durch  Verstärkung  der  Momente,  welche  die 
andern  Motive  — besonders  das  erste  und  zweite,  schwieriger, 
wenn  überhaupt,  der  Natur  der  Sache  nach,  das  dritte  — be- 
einflussen, auch  — und  eventuell  vornemlich  — durch  das  fünfte 
Motiv  der  innere  psychische  Widerstand  gegen  die  betreffende 
Arbeit  überwunden  werden  können.  Das  vierte  Motiv  wird  sich 
dabei  aber  kaum  mit  in  Wirksamkeit  oder  doch  nicht  in  eine  im 
Arbeitseffect  bemerkbarere  Wirksamkeit  setzen  lassen. 

Es  gilt  das  nicht  nur  von  ästhetisch  widerwärtigen  wie  unangenehmen  Reinigungs- 
und dergleichen  Arbeiten,  von  ungewöhnlich  schweren,  belästigenden  Arbeiten,  woran 
man  in  solchen  Fällen  vornemlich  gedacht  — Hinweise,  womit  man  auch  die  Ideo- 
logien des  Socialismus  öfters  besonders  gern  abgetrumpft  hat.  Das  möchten  nicht 
einmal  immer  die  practisch  am  Schwersten  zu  erledigenden  Fälle  sein.  Schwieriger, 
veil  viel  allgemeiner,  sind  die  Verhältnisse  der  auf  weitgehender  technischer  Arbcits- 
theiluug  und  Maschinenanwendung  beruhenden  Production,  daher  namentlich  in  der 
modernen  Industrie,  im  Fabrikwesen.  Denn  eine  der  unvermeidlichen  Folgen  ist  hier 
die  Zerlegung  des  Arbeitsprocesscs  in  zahlreiche  einzelne  Phasen,  mit  wesentlich 
mechanischer  Arbeit,  wo  jede  Theilarbeit  oder  technische  Verrichtung  ja  unbestreitbar 
i»  nothwendiger  Beziehung  zum  Arbeitsganzen  steht,  aber  nirgends  als  solche  hervor- 
tritt, und  auch  nicht  irgendwie  als  ein  kleines  Ganzes  erscheint,  das  als  solches 
überhaupt  und  gut  herzustellen,  dem  Einzelnen  Arbeitsfreude  macht.  Damit  aber 
fehlt  das,  was  das  Lustmoment  in  der  Arbeit  selbst  bildet,  „fehlt  leider  nur  das 
geistige  Band“,  und  nur  das  Lastmoment  macht  sich  empfindbar.  Ja  es  wird  wohl 
noch  besonders  gesteigert  durch  die  der  Arbeitstheilung  und  den  technischen  Mecha- 
nismen mit  zu  verdankende  tödtende  Eintönigkeit  der  Verrichtungen,  durch  die  trotz- 
dem etwa  gesteigerte  Nothwendigkeit  angespannter  Aufmerksamkeit  bei  jeder  Ver- 


HO  ].  B.  1.  K.  Wirthschaftl.  Natur  des  Menschen.  2.  A.  §.  43. 

richtung,  durch  die  unangenehmen  äusseren  Lebensbediugungen,  unter  denen  die  Arbeit 
ansgeübt  wird  u.  dgl.  m. 

Besonders  in  den  socialistischen  Ideen  und  Plänen  der 
„Organisation  der  Arbeit“  spielt  der  Gedanke,  durch  Steigerung 
des  Lusteffects  der  Arbeit  selbst  die  letztere  zu  einer  weniger 
lästigen,  selbst  zu  einer  beliebten  Beschäftigung  und  dadurch  sie 
wirksamer,  productiver  zu  machen,  eine  Bolle.  Und  logisch  con- 
sequent,  psychologisch  auch  nicht  unrichtig,  je  weniger  man  auf 
Motive  wie  das  erste  und  zweite,  so  stark,  wenn  überhaupt,  wie 
im  heutigen  Wirtschaftssystem  recurriren  will,  und  je  deutlicher 
man  einsieht,  dass  man  das  dritte  und  fünfte  Motiv  schwer  zu 
hinlänglich  mächtigen  Triebfedern  der  Arbeit  machen  kann. 

Zu  einem  förmlichen  System  hat  Fourier  in  seiner  Trieblehre  diesen  Gedanken 
ausgebildet,  mit  vielem  Phantastischen,  „bis  zur  Verrücktheit“,  wie  man  wohl  gespottet 
hat,  aber  doch  mit  einem  Kern  von  Wahrheit,  der  für  die  hier  behandelten  Fragen 
nicht  werthlos  ist  Auch  neuere  socialistische  Theoretiker,  z.  B.  Bebel,  verfolgen 
in  ihren  Plänen  diesen  Gedanken  wieder  mehr,  freilich  auch  mit  grossen  ideologischen 
Uebertreibuugen. 

Die  augedeuteten  Schwierigkeiten,  welche  sich  aus  der  Art 
der  Arbeiten,  namentlich  bei  der  weitgehenden  Arbeitsteilung  und 
Maschiuenanwendung,  ergeben,  werden  indessen  dabei  nur  immer 
viel  zu  leicht  genommen. 

Man  greift  daher  auch  sofort  zu  Hilfsmitteln,  wie  Verminderung  der  Arbeits- 
zeit, höherem  Entgelt  bei  gewissen,  nicht  an  sich  lockenden  Arbeiten,  womit  man  aber 
doch  das  vierte  Motiv  schon  wieder  fallen  lässt  und  sich  zum  ersten  wendet.  Oder 
man  glaubt  durch  den  häutigen  Wechsel  in  der  Arbeit  die  Anziehungskraft  der  einen 
Arbeit  zu  steigern,  die  Unlust  zur  andern  zu  vermindern,  womit  man  aber  letzteren 
Falles  bei  vielen  Arbeiten  doch  nichts  erreichen  kann  und  aller  Arbeit  den  Gharacter 
des  Dilettantischen  zu  sehr  anheftet  und  damit  ihren  Erfolg  beeinträchtigt.  Oder  man 
denkt  an  Zwangsreihenfolge  für  lästige  Arbeit  oder  au  Uebertragung  derselben  zur 
Strafe,  womit  man  vollends  das  Gebiet  einer  Wirkung  des  vierten  Motivs  verlässt  und 
wieder  zu  dem  ominösen  zweiten  gelangt. 

Jedenfalls  kommt  man  auch  über  den  naturgemässen, 
wenn  auch  fliessenden  Unterschied  der  „liberalen“,  der  mehr 
oder  weniger  geistigen,  dann  der  leitenden  Arbeiten  einer- 
und der  gewöhnlichen  materiellen,  der  im  Arbeitstheilungssystem 
ausgeiibten  Handarbeiten  andrerseits  nicht  hinaus.  Wohl  bei 
jenen,  nur  mehr  ausnahmsweise  bei  diesen  wird  daher  das  vierte 
Motiv  in  allen  seinen  Erscheinungsformen  und  in  jeder  denkbaren 
Organisation  der  Arbeit  zur  Wirksamkeit  zu  bringen  sein.  Auch 
in  einer  socialistischen  Organisation  wird  man  hierüber  nicht  hin- 
weg kommen. 

Mau  könnte  allenfalls  daran  denken,  wie  das  auch  geschehen  ist,  das  Recht,  an 
sich  angenehme  Arbeiten  zu  übernehmen,  wie  eine  Art  Belohnung  zu  gewähren  und 
an  die  Bedingung  zu  knüpfen,  dass  ein  gewisses  Quantum  andrer  Arbeiten  in  einer 
Lcbensperiodo  (Bcllamy)  oder  regelmässig  neben  den  angenehmen  Arbeiten  aus- 
geübt werden  müsse.  Allein  die  „technische“  Durchführung  eines  solchen  Gedaukens 


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Viertes  Leitmotiv:  Drang  zur  Betätigung. 


111 


würde  gTosse  Schwierigkeiten  machen,  und  ganz  übersehen  wird  dabei,  dass  grade 
die  Ausschliesslichkeit  der  Concentration  auf  Eine  Arbeitsart  nur  „Meister  schallt“, 
sowie  dass  die  so  erzwungene  Verbindung,  bezw.  Abwechslung  zwischen  ganz  hetero- 
genen Arbeiten  auch  auf  die  Qualität  der  Leistung  beider  wenigstens  ungünstig  ein- 
wirken kann,  wenn  auch,  wie  ich  zugebe,  nicht  notwendig  immer  so  einwirken 
muss.  Ja  bisweilen  kann  in  der  That  umgekehrt  ein  solcher  Arbeitswechsel  günstig 
sein  (regelmässige  Körperarbeit  von  Kopfarbeitern!).  Nur  darf  man  aber  auf  solche 
Fälle  nicht  gleich  wieder  ein  ganzes  System  des  heilsamen  und  allgemein  Erfolg 
steigernden  ArbeitsefFects  aufbauen. 

Das  Ergebnis«  ist,  dass  dieses  vierte  Motiv  gewiss  erwünscht 
ist,  wann  und  wo  es  in  der  dargelegten  Weise  wirksam  gemacht 
werden  kann.  Aber  in  der  materiellen  Production  und  zumal  in 
der  modernen,  durch  die  heutige  Technik  und  die  davon  wieder 
abhängige  Arbeitsteilung  bedingten  Productions weise  ist  es  schwerer 
und  beschränkter  als  in  der  früheren  anwendbar  zu  machen. 
Auch  in  der  socialistischen  Organisation  der  Production,  wo  die 
Arbeitsfreude  der  selbständigen  Leitung  und  der  eigenartigen  bei 
dieser  vorkommenden,  durch  sich  selbst  Befriedigung  gewährenden 
Thätigkeiten  so  gut  wie  fortfiele,  wenn  und  soweit  als  — in  der 
Consequenz  des  socialistischen  Systems  — centrale  Oberleitung  der 
ganzen  Production  (auch  alsdann  in  Betreff  der  technischen  Pro- 
cessc  wenigstens  in  der  Hauptsache!)  stattfände,  würde  grade 
dieses  Motiv  weuiger  als  in  der  heutigen  Organisation  in  Function 
treten  können.  Die  gegentheiligen  Auffassungen  von  Socialisten 
sind  Behauptungen,  welche  vor  einer  genaueren  objectiven  Ana- 
lyse der  in  Betracht  kommenden  Verhältnisse  nicht  Stich  halten. 

Der  Socialismus  setzt  sich  eben  auch  hier  wieder  hyperideologisch  Uber  die 
naturgemässe,  oft  in  den  einzelnen  technischen  Momenten,  aber  nicht  im  ganzen 
technischen  Wesen  sich  verändernde  Art  der  Arbeit,  zumal  der  Handarbeit  in  der 
materiellen  Production,  hinweg.  Er  übersieht  auch,  dass  seine  Panacee,  der  Fort- 
schritt der  Technik,  hier  nicht  viel  hilft.  Nicht  einmal  das  Lastmoment  in 
der  Arbeit,  bei  den  menschlichen  Verrichtungen , wird  hier  immer  geringer,  sondern 
nur  verändert,  der  physische  Kraftaufwand  wird  vielleicht  kleiner,  alle  anderen 
Seiten  der  physischen  Arbeit  und  die  Umstände,  unter  welchen  die  Arbeit  ausgeübt 
wird,  werden  leicht  lästiger,  unangenehmer  (Fabrikbetrieb!  Maschinenanwendung!). 
Gewiss  mag  dieser  Uebelstand  durch  ein  anderes,  vom  Socialismus  empfohlenes  Hilfs- 
mittel, Verminderung  der  Arbeitszeit  (besonders  der  täglichen),  gemildert  werden. 
Aber  beseitigt  wird  er  auch  dadurch  noch  nicht  und  in  Betreif  der  ökonomisch-tech- 
nischen Ermöglichung  der  Verkürzung  der  Arbeitszeit  laufen  wieder  ideologische 
Uebertreibungen  unter.  Das  Lustmoment  in  der  Arbeit  wird  dagegen  nach  der 
Art  der  Technik  und  nach  den  schon  angedeuteten  Verhältnissen,  vollends  bei  den 
arbeitstheilig  in  Verbindung  mit  Maschinen  ausgeübten  Verrichtungen  der  Hand- 
arbeiter kleiner,  bis  zum  Verschwinden. 

Nicht  selten  begeht  der  Socialismus  auch  eine  völlige  Verwechslung  der  Lage 
des  Consumenten  der  Arbeitsproducte  und  des  Producenten  der  letzteren,  namentlich 
des  mit  Handarbeit  dabei  betheiligten  Arbeiters:  der  Fortschritt  der  Technik  fuhrt 
— oder  kann  wenigstens  fuhren  — die  Productc  dem  Consumenten  besser,  wohl- 
feiler, bequemer  zu  (wie  in  den  Schilderungen  der  „Utopisten“,  jüngst  wieder  in 
hubscher  Weise  Bellamy’s,  auch  nach  einzelnen  Ausführungen  Bebel  s).  Aber  die 
technischen  Arbeitsprocesse  bei  der  Herstellung  der  Producte  bedingen  eher  un- 
angenehmere. lästigere  Thätigkeiten,  wenn  auch  nicht  immer  schwerere  (Muskel-) 


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112  1.  B.  1.  K.  Wirthschafü.  Natur  des  Menschen.  2.  A.  §.  44. 

Arbeit  der  Arbeiter.  Für  die  Frage  von  den  Motiven,  welche  auf  die  Arbeit  selbst 
einwirken,  ist  aber  grade  der  letztere  Umstand  der  entscheidende,  welcher  namentlich 
vor  einer  Ueberschätzung  dieses  vierten  Motivs  warnen  muss.  Die  an  sich  — logisch 
und  psychologisch  — richtige  Forderung  einer  Verkürzung  der  Arbeitszeit  grade  bei 
diesen  Arbeiten  und  eines  Wechsels  der  Arbeit  behebt  die  hier  in  der  Sache  selbst 
liegenden  Schwierigkeiten  nicht  und  hat  andere  Bedenken,  wie  sie  im  Vorausgehenden 
schon  mit  berührt  wurden. 

Mit  einem  uralten  bekannten  Worte:  „im  Schweisse  seines 
Angesichts“  muss  auch  bei  entwickelter  Technik  die  Menschheit 
oder  wenigstens  ein  grosser  Theil  derselben  die  Bedingungen 
dafür  erfüllen,  dass  die  Güter  zur  Befriedigung  der  Bedürfnisse 
der  Menschheit  zur  Verfügung  gestellt  werden  können.  Ueber 
diese  Wahrheit  kommt  man  mit  den  ideologischen  Uebertreibungen 
der  möglichen  practischen  Tragweite  des  vierten  Motivs  nicht  hinaus. 

§.  44.  Die  Differenzirung  der  egoistischen  Motive 
des  wirtschaftlichen  Handelns  in  ihrer  Bedeutung 
für  die  Frage  der  Methode  in  der  Theorie  und  Praxis. 
Die  vorausgehende  Analyse  der  egoistischen  Leitmotive,  ihrer 
Spielarten,  Combinationen  und  ihres  Einflusses  auf  das  wirthehaft- 
liche  Handeln  im  Allgemeinen,  sowie  bei  den  einzelnen  Subjecten 
und  in  den  concreten  Fällen  hat  ergeben,  — trotzdem  wir  dabei 
manches  Einzelne  übergehen  mussten  oder  nur  kurz  berühren  und 
nicht  Alles  in  alle  Verästelungen  der  Motivation,  Combination  und 
Wirksamkeit  verfolgen  konnten  — wie  ausserordentlich  com- 
plicirt  auch  schon  die  egoistischen  Motive  sind,  welche  auch  bei 
einer  wirthschaftlichen  Handlung  wenigstens  mitspielen  können 
und  oftmals  thatsächlich  mehr  oder  weniger  mitspielen. 

Diese  Motive  sind  aber  nun,  von  dem  fünften  unegoistischen  noch 
abgesehen,  die  Momente,  welche  als  Ursachen  undBeding  ungen 
auf  die  wirthschaftlichen  Handlungen  und  damit  auf  die  wirth- 
schaftlichen Erscheinungen  einwirken  und  diesen  die  äussere 
Gestalt  und  Erscheinungsform  geben.  Hier  liegt  daher 
auch  ein  höchst  complicirter  causalcr  und  conditioneller 
Zusammenhang  zwischen  Motiven  als  Ursachen  und  Be- 
dingungen einer-  und  Handlungen  und  Erscheinungen  als  Wir- 
kungen und  Folgen  andrerseits  vor. 

Es  ergiebt  sich  daraus  für  die  Theorie  die  Nothweudigkeit 
der  Vorsicht  bei  allen  Schlussziehungen,  Deductionen,  aus 
den  Motiven  auf  die  Wirkungen  sowie  der  zunächst  nur  hypo- 
thetische Character  aller  solcher  Schlüsse:  ein  entscheidender 
Punct  auch  für  das  methodologische  Problem  in  der  Theorie. 
Die  verschiedenen  Formen  und  Combinationen  der  egoistischen  Motive, 


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Methodol.  Bedeutung  der  Differenziruug  der  egoist.  Motive. 


113 


ihr  Wirken  in  derselben  und  in  sich  kreuzender  Richtung  müssen 
genau  constatirt,  die  Stärke  jedes  Motivs  geprüft  werden,  wenn 
man  sicher  gehen  will. 

ln  der  grossen  Zahl  der  Fälle  kann  man  dann  öfters  er- 
fahrungsmässig  nachweisen  und  demnach  annehmen,  dass  Ein  Motiv 
oder  Eine  bestimmte  Combination  von  Motiven  vorwaltet,  bis  zur 
Ausschliessung  der  anderen,  und  die  letzteren  an  Stärke  überragt: 
weil  die  auf  der  Gleichmässigkeit  der  Constanz  der  physisch- 
psychischen Organisation  der  Menschen  beruhende  Motivation  und 
Handlungsweise  der  Menschen  sich  geltend  macht,  so  in  der 
Allein-  oder  der  Vorherrschaft  des  ersten  Motivs  auf  dem  Wirth- 
schaftsgebiete.  Ist  das  richtig,  so  ist  auch  der  Schluss  auf  den 
Ausfall  der  Handlung  und  Erscheinung  sicherer,  selbst  bis  zu 
einem  hohen  Maasse  sicher. 

So  ist  die  ältere  Theorie  bei  ihrer  Deduction  aus  dem  ersten  Motiv 
verfahren.  Aber  sie  hat  dabei  eben  öfters  zu  sehr  generalisirt  oder  die  Voraus- 
setzungen ihrer  Deduction,  das  alleinige  Vorhandensein  und  die  rücksichtslose  Wir- 
kung des  ersten  Motivs  zu  sehr  ohne  genaue  Prüfung  angenommen;  auch  nicht 
beachtet,  dass  sich  zeitlich,  örtlich,  in  Völkern,  Classen  die  gesammte  durch- 
schnittliche Motivation  immerhin  ändern  kann,  wenn  man  auch,  dem  Constanten 
der  menschlichen  Natur  gegenüber,  grade  mit  dieser  Annahme  vorsichtig  sein  muss, 
woran  es  wieder  die  historische  Richtung  und  der  Socialismus  fehlen  lassen. 

Eine  doppelte  Prüfung  bleibt  so  immer  noth wendig:  die- 
jenige der  Voraussetzungen  in  Bezug  auf  die  Motive  und  die- 
jenige der  Wirkungen  in  Bezug  auf  die  Handlungen  und  Er- 
scheinungen. Daraus  ergiebt  sich  schon  die  Nothwendigkeit 
empirischer  Methoden  auch  nebeu  der  psychologischen  Deduction 
aus  Motiven,  d.  h.  die  Nothwendigkeit  der  Induction  (§.  68  ff.,  75). 

An  dieser  Stelle  sei  nur  betont,  dass  die  Differenzirung 
der  egoistischen  Motive  für  alle  diese  Fragen  besonders  zu  beachten 
ist.  Die  ältere  Theorie  hat  in  der  Regel  nur  das  erste  Motiv 
zum  Ausgangspunct  ihrer  Erörterungen  genommen  und  es  nicht 
genügend  beachtet,  wie  dies  nur  ein  Fall,  wenn  auch  wohl  im 
Ganzen  der  Hauptfall  der  auch  auf  wirtschaftlichem  Gebiete  mit- 
spielenden egoistischen  Motive  und  Motivecombinationen  ist. 
Gerade  weil  auch  in  zahlreichen  Fällen  andere  egoistische  Mo- 
tive mitspielen,  wird  auch  im  grossen  Durchschnitt  der  Fälle 
die  wirtschaftliche  Handlung  und  Erscheinung  im  Productions- 
und  Vertheilungsgebiete  nicht  so  einfach  typisch  ausfallen, 
als  wenn  nur  das  erste  Motiv  allein  oder  in  voller  Stärke  mitwirkte. 

Im  concreten  Einzelfalle  ist  die  Vorsicht  der  Schlussziehung 
aus  Motiven  auf  Handlungen  und  Erscheinungen  aber  vollends  ge- 

A.  Warner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Tbeil.  Grundlagen.  S 


114  1.  B.  1.  K.  Wirthschaftl.  Natur  des  Menschen.  2.  A.  §.  44. 

boten,  weil  gerade  hier  — vielleicht  weil  der  betreffende  Fall  eben 
wirklich  ein  Ausnahmefall  von  der  Regel  ist  — andere  als  das 
oder  die  vorausgesetzten  Motive  mitspielen  können  und  vielleicht 
das  Ueberge wicht  haben. 

So  z.  B.,  indem  das  zweite,  dritte  oder  vierte  Motiv  statt  des  ersten  oder 
stärker  als  dieses  mitspielen.  Würde  eines  dieser  Motive  2 — 4 oder  eine  bestimmte 
Gombination  gewisser  Erscheinungsformen,  z.  B.  des  dritten  und  vierten,  zu  allgemeinerer 
Verbreitung  und  genügender  Stärke  der  Wirksamkeit  gebracht  werden  können,  z.  B. 
im  „Socialstaate“  aus  der  heutigen  Ausnahme  zur  Kegel  werden,  unter  dem  Einfluss 
veränderter  Erziehung,  Lebensweise  u.  s.  w.  der  Bevölkerung,  — so  unwahrscheinlich 
das  nach  dem  Früheren  ist  — so  würden  freilich  auch  die  wirthschaftlichen  Hand- 
lungen und  Erscheinungen  anders  als  heute,  bei  dem  regelmässigen  Vorwalten  des 
ersten  Motivs  im  Wirthschaftsleben , ausfallen.  Für  Deductionen  aus  solchen  ver- 
änderten Motiven  oder  Motivcombinationen  wäre  dann  aber  doch  das  Feld  geöffnet. 
Methodologisch  wäre  nur  wieder  die  Aufgabe,  fcstzustellen , in  wie  weit  die  Voraus- 
setzungen des  Wirkens  solcher  Motive  der  Wirklichkeit  entsprechen. 

Dass  für  die  Fragen  der  practischen  Wirthschafts- 
(und  Social-)  Politik  die  Differenzirung  der  egoistischen  Motive 
und  der  einzelnen  Erscheinungsformen  derselben  nicht  minder  die 
grösste  Beachtung  verdient,  daher  für  die  richtige  Methode 
dieser  ganzen  Politik  genau  berücksichtigt  werden  muss,  bedarf 
nach  dem  Vorausgehenden  wohl  keiner  besonderen  Ausführung  und 
Begründung  weiter:  die  ethisch  besseren,  höheren,  feineren,  an- 
ständigeren Motive  und  die  betreffenden  Erscheinungsformen  der- 
selben, d.  h.  doch  im  Ganzen  die  besseren  Formen  der  Leitmotive 
3 und  4,  müssten  in  den  Einrichtungen,  Organisationen,  Rechts- 
ordnungen des  Wirtschaftslebens  möglichst  begünstigt,  zu  einem 
„Maximum“  der  Wirksamkeit  gebracht  werden,  um,  vollends  in 
Verbindung  mit  dem  fünften  Motiv,  das  Bedürfniss  nach  der  Wirk- 
samkeit und  nach  starker  Wirksamkeit  des  ersten  und  zweiten 
wenigstens  doch  abschwächen  zu  können.  Denn  freilich  wird  nach 
dem  Constanten  in  der  wirthschaftlichen  Natur  schwer  noch  Wei- 
teres, gar  eine  Auslösung  dieser  beiden  Motive  1 und  2 aus  der 
das  wirthschaftliche  Handeln  bestimmenden  Motivation  möglich  sein. 

Die  geschichtlichen  Organisationen,  Einrichtungen  und  Rechts- 
ordnungen im  Allgemeinen  und  auf  den  Speeialgebieten  der  Pro- 
duction und  Vertheilung  sind  danach  ethisch  und  ökonomisch  mit 
zu  beurtheileu,  auf  welche  Motive  und  Motivcombinationen  sie  für 
das  wirthschaftliche  Handeln  der  Menschen,  worauf  sie  sich  beziehen, 
vornemlich  zurückgreifen.  Ihr  Erfolg  für  das  Quantum  und  Quäle 
der  Production,  für  den  technischen  Fortschritt  ist  daher  nicht  nur 
nach  den  äusseren  Ergebnissen  an  Gütern  und  an  Kosten,  sondern 
immer  auch  mit  nach  diesen  psychologischen  Grundlagen  und  Mo- 
tiven, welche  den  Willen  bestimmen,  zu  beurtheileu. 


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Methode.  Bedeutung  der  Differenzir.  der  egoist.  Motive.  H5 

So  ist  das  moderne,  viel  gepriesene  System  des  ökonomischen  Individualismus, 
der  freien  Concurrenz  nicht  nur  in  Betreff  seiner  äusseren  Ergebnisse  genannter  Art 
oft  günstiger  beurtheilt  worden,  als  es  verdient  — Kräfteverschwendung,  Planlosigkeit 
der  Production!  — , vor  Allem  ist  es  nach  seiner  psychologischen  Grundlage,  als 
wesentlich  nur  auf  dem  ersten  der  Leitmotive  beruhend  und  als  dieses  Motiv  zu  un- 
gebührlicher Macht  vor  allen  anderen,  und  zu  Auswüchsen  hässlichster  Erscheinungs- 
formen treibend  (Speculationsschwindel,  Börsen  treiben,  Unreellität,  Geldgier,  Genuss- 
sucht u.  s.  w.)  in  hohem  Grade  zu  bemängeln.  Es  steht  daher  ökonomisch-technisch, 
trotz  unbestreitbarer  Glanzseiten  in  dieser  Hinsicht,  nicht  so  hoch,  als  cs  z.  B.  die 
freihändlerische  Panegyrik  rühmt,  ethisch  und  social  aber  tiefer,  als  die  Rechts- 
ordnungen der  Gebundenheit  und  als  ein  socialistisches  System  stehen  würde,  — 
wenn  sich  dieses  consequent  bei  dem  Constanten  im  Triebleben  und  in  der  Moti- 
vation der  menschlichen  Natur  durchführen  Hesse  und  nicht  muthmaasslich  wieder 
andere  psychologische  und  ethische  Mängel  (Motiv  2,  auch  3!)  zeigen  würde.  Das 
ungemein  schwere  und  wichtige  Bedenken  gegen  das  practische,  rein  auf  dem  ersten 
Motiv  aufgebaute  Wirtschaftssystem  des  Individualismus  ist  die  psychologisch 
begründete,  daher  diesem  System  mehr  oder  weniger  inhärente  Steigerung  der 
Erwerbssucht  und  der  Genusssucht,  die  Nötigung  fast  eines  Jeden,  der  wirtschaft- 
lich bestehen  will,  die  Triebfedern  des  ersten  Motivs  möglichst  ausschliesslich  auf 
sich  wirken  zu  lassen,  die  Verbreitung  von  Anschauungen  in  der  öffentlichen  Mei- 
nung, welche  das  als  fast  selbstverständlich  erscheinen  lassen,  die  Abschwächung 
selbst  der  anderen  egoistischen  Motive  bei  einem  Jeden,  der  für  sie  noch  zugänglich 
ist,  geschweige  die  richtige  Würdigung  des  fünften  Motivs  auch  für  das  wirtschaft- 
liche Leben.  Mit  dem  Worte  „die  Dummen  werden  nicht  alle“  setzt  man  sich  kühl 
über  die  Opfer  freilich  oft  ihrer  Erwerbsgier,  aber  auch  der  Ausbeutung  von  Leicht- 
sinn . Noth  und  begreiflicher  und  verzeihlicher  Uukenntniss  ökonomischer  Dinge 
(Börsenwesen,  Kapitalanlagen)  hinweg.  Mit  dem  schlimmen,  übertreibenden,  aber 
characteristischen  Worte  „heute  zu  Tage  erwirbt  man  die  Millionen  nicht,  ohne  mit 
dem  Aermel  an ’s  Zuchthaus  zu  streifen“  prüft  man  nicht  die  Art  des  Erwerbs:  non 
ölet  heisst  es  auch  hier.  Das  erste  Motiv  artet  unter  solchen  Umständen  freilich  zum 
gemeinen  Eigennutz  aus,  der  alles  wirtschaftliche  Handeln  immer  mehr  allein 
bestimmt  und  alles  gesellschaftliche  wie  individuelle  Leben  corrumpirt. 

Ein  Wirtschaftssystem,  in  welchem  Ehrgefühl,  Arbeitsfreude  eine  stärkere  Rolle 
spielen,  steht  gewiss  ethisch  und  social  höher.  Wiederum  fragt  sich  nur,  ob  und 
wieweit  es  ausführbar  und  wirksam  ist.  Erziehung  kann  da  gewiss  Mauches  leisten, 
aber  nicht  Alles.  Und  die  Gefahr  Hegt  immer  vor.  dass  die  üblen  Erscheinungs- 
formen des  dritten  Motivs  (übertriebener  Ehrgeiz,  Eitelkeit)  und  mögliche  Begleit- 
erscheinungen bei  dem  vierten  Motiv  (Gewinnung  von  Einfluss,  Herrschsucht)  sich 
eben  doch  auch  stark  verbreiten,  ja  verbreiten  müssen,  um  die  Motive  hinlänglich 
wirksam  zu  machen.  Dann  geräth  man  in  ethischer  Hinsicht  von  der  Scylla  in  die 
Charybdis. 

Da  bleibt  nur  Eines  übrig:  das  Motiv  des  Pflichtgefühls 
und  die  höchstmögliche  Entwicklung  seiner  Wirksamkeit  , wie  in 
allem  menschlichen  Handeln,  so  auch  im  wirthschaftlichen.  Denn 
allen  vier  Leitmotiven  und  ihren  speciellen  Erscheinungsformen 
kleben  eben  doch  die  Mängel  an,  welche  aus  ihrem  Wesen,  weil 
sie  sich  auf  die  Lustgefühle  des  „Ich“  beziehen , hervorgehen , so 
grosse  auch  ethische  Unterschiede  sich  im  Einzelnen  dabei  zeigen. 

B.  — §.  45.  Unegoistisches  oder  fünftes  Leitmotiv: 
Trieb  des  inneren  Gebots  zum  sittlichen  Handeln, 
Drang  des  Pflichtgefühls  undFurcht  vor  dem  eigenen 
inneren  Tadel  (vor  Gewissensbissen).  — a)  Wesen  und 
Function  des  Motivs.  In  seiner  reinen  Gestalt  erscheint 

6* 


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116  1.  B.  J.  K.  Wiithschaftl.  Natur  des  Menschen.  2.  A.  §.  45. 

dieses  Motiv  als  der  „kategorische  Imperativ“,  dem  man 
folgt,  weil  man  in  der  Seele  das  Gebot  des  Handelns  und  des 
So  und  So -Handelns  (bezw.  auch  Unterlassens)  fühlt  und  dieses 
Gebot  flir  richtig,  seine  Forderung  für  sittlich  gut  und  demnach 
die  Erfüllung  des  Gebots  für  eine  Pflicht  hält. 

Die  Befolgung  des  Gebots  ist  dann  freilich  regelmässig  auch 
hier  mit  Lustgefühlen,  die  Niehtbefolgung  mit  Unlustgefühlen  ver- 
bunden. Diese  Gefühle  können  es  nun  sein  und  sind  es  oft, 
welche  zum  Handeln  oder  Unterlassen  antreiben  oder  mit  antreiben, 
vielleicht  stark  und  stärker  als  jener  kategorische  Imperativ.  Als- 
dann hat  das  fünfte  Leitmotiv  allerdings  auch  wieder  ein  egoistisches 
Element  in  sich  oder  geht  selbst  in  diesem  auf.  Auch  ethisch  Be- 
denkliches kann  sich  dann  und  schliesst  sich  oft  genug  thatsächlich 
an;  eitle  Selbstzufriedenheit  Uber  die  eigene  gute  That,  weil  letztre 
den  eigenen  inneren  sittlichen  Werth  bekunde.  So  wird  es  bei 
altruistischen  Handlungen  auf  wirthschaftlichem  Gebiete  leicht  sein. 
Das  Motiv  entartet  dann  selbst  zum  Pharisäismus. 

Allein,  von  solcher  Entartung  abgesehen,  auch  wo  und  wenn 
das  Motiv  so  als  treibendes  Element  die  „Freude  an  der  eigenen 
guten  That“  und  das  in  dieser  Freude  liegende  Lustgefühl  in  sich 
enthält,  da  ist  doch  selbst  dieses  Lustgefühl  ein  ethisch  höher 
stehendes  als  bei  irgend  einer  Erscheinungsform  eines  der  vier  be- 
sprochenen, von  uns  unter  dem  Ausdruck  „egoistische“  zusammen- 
gefassten Motive;  auch  ein  specifiseh  andres  als  die  Lustgefühle 
bei  diesen  vier  Motiven;  desgleichen  die  Empfindung  bei  der  Ver- 
meidung der  Unlustgefühle  hier  bei  dem  fünften  Motiv  eine  specifiseh 
andre  als  im  analogen  Falle  bei  den  anderen  Motiven. 

Die  berechtigte  Zufriedenheit  mit  sich  selbst  braucht  nicht  zur  eitlen  phari- 
säischen Selbstzufriedenheit  zu  werden.  Insbesondere  die  Seelenruhe,  welche  das 
Handeln  (und  Unterlassen)  nach  dem  fünften  Motiv  zu  ihrer  eigentümlichen  Folge 
hat,  ist  ein  andersartiges  Lustgefühl,  als  diejenigen  sind,  welche  aus  dem  Handeln 
nach  den  anderen  Motiven  hervorgehen. 

Es  kann  aber  nun  auch  sein,  dass  das  Lustgefühl  überhaupt 
nicht  ein  Element  in  dem  fünften  Motiv  selbst,  sondern  nur  eine 
Begleit-  und  Folgeerscheinung  ist,  wenn  diesem  Motiv  gemäss  ge- 
handelt wurde.  Die  innere  psychische  Erfahrung  und  Prüfung  er- 
giebt,  dass  sich  dies  mitunter  wirklich  so  verhält.  Hier  bleibt  dann 
zwar  die  Thatsache  bestehen,  dass  die  „gute  That“  in  diesem  aus 
erfüllter  Pflicht  entsprungenen  Lustgefühl  ihren  Lohn  findet.  Aber 
diese  Aussicht  auf  den  Lohn  ist  hier  doch  nicht  die  Triebfeder  der 


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l’negoistiscbes,  fünftes  Motiv:  Pflichtgefühl. 


117 


Handlung.  Damit  verschwindet  das  egoistische  Element  in  diesem 
fünften  Motiv. 

Das  fünfte  Motiv  erscheint  ja  häufig  in  religiöser  Form,  auch  im  Christen- 
thum. Wirkt  es  hier,  um  für  das  handelnde  Individuum  Vortheile,  wenn  auch 
höchst  ideale,  überirdische  zu  erreichen,  so  in  bekannter  Weise,  um  „Ansjmich  auf 
Seligkeit  zu  erwerben“,  „um  der  ewigen  Seligkeit  Willen“,  d.  h.  wie  es  sich  doch 
immer  nur  anthropomorphistisch  vom  Menschen  vorsteücn  lässt,  um  Antheil  an  einem 
idealen  Zustand,  des  höchsten  Wohlgefühls  der  Seele  bei  und  mit  Gott  zu  erlangen, 
so  kann  dem  Motiv  ein  egoistischer  Character  nicht  abgesprochen  werden.  Anders, 
wenn  das  Motiv  die  gute  That  bewirkt,  weil  sie  gut  ist  oder  weil  sie  ein  Gebot 
Gottes  ist,  dem  der  Handelnde  Gehorsam  zu  leisten  — auch  und  grade  ohne  jede 
Idee  eines  Entgelts  — sich  verpflichtet  fühlt,  weil  er  weiss,  dass  Gott  nur  das  Rich- 
tige. das  Gute  will  und  wollen  kann:  dann  erst  verschwindet  jener  egoistische  Character 
des  Motivs  völlig.  (Das  Arbeiten  in  erster  Linie  um  Gottes  Willen,  wie  Adam 
Müller  es  ausdrückt.) 

Man  begreift  aber,  dass  Religionen , Kirchen  in  ihren  Lehren  auch  leicht  und 
lieber  an  die  „schwache  Seite“  des  Menschen  appelliren , idealen  Lohn , Seligkeit  in 
Aussicht  stellen,  um  den  Widerstand  anderer  Triobe  und  Motive  zu  überwinden  und 
„gute  Handlungen“  eher  zur  Entstehung  zu  bringen.  Das  Gebiet  des  Almosenwesens, 
der  Armenpflege,  der  Barmherzigkeit  ist  ein  Beispiel  (katholische  Lehre  von  den 
guten  Werken).  Der  höchste  ethische  Standpunct  ist  das  gewiss  nicht,  aber  — ein 
psychologisch  begreiflicher  und  practischer.  Wenn  sich  dann  nach  der  religiösen 
und  kirchlichen  Lehre  auch  noch  Gesichtspuncte  des  zweiten  Motivs  (Furcht  vor 
Strafe)  und  nach  der  practischen  Gestaltung  des  dritten  Motivs  (Handeln.  Geben  „vor 
den  Leuten“)  neben  dem  so  leicht  unterlaufenden  Pharisäismus  anknüpfen,  so  wird 
das  fünfte  Motiv  in  seinem  Kern  vielleicht  ganz  aufgehoben  und  bleibt  nur  noch  seine 
äussere  Erscheinung  übrig.  Nur  wie  Menschen  und  Dinge  wohl  oder  übel  meistens 
sind,  wird  man  eben  bei  dem  fünften  Motiv  diese  mitspieleuden  egoistischen  Momente 
schwer  und  selten  ganz  verdrängen  können.  Oft  wird  man  sich  in  der  Praxis  damit 
zufrieden  geben  müssen,  wenn  nur  von  dem  Kern  des  Motivs  noch  etwas  übrig  bleibt. 

Sieht  man  nun  aber  von  all  den  Lustgefühlen  als  mitspielenden 
Momenten  und  als  Begleit-  und  als  Folgeerscheinungen  des  fünften 
Motivs  ab,  so  erscheint  dasselbe  in  der  That  als  das  ethisch 
höchste,  dessen  Wirksamkeit  auch  auf  dem  Wirtschaftsgebiete 
erwünschter  als  diejenige  jedes  der  andern  vier  Motive  wäre,  um 
sich  dem  Idealzustand  der  Production,  des  technischen  Fortschritts 
darin,  der  Arbeitsleistungen  nach  Menge,  Art  und  Güte,  der  Ver- 
teilung des  Productionsertrags  möglichst  zu  nähern.  Aber  gerade, 
weil  es  das  ethisch  höchste  ist,  welches  im  Menschen  am  Meisten 
Verleugnung  oder  doch  Beschränkung  der  egoistischen  Triebe  und 
Motive  verlangt,  ist  es  auch  das  bei  Weitem  am  Schwierigsten  zu 
verwirklichende,  oft  gar  nicht,  in  der  Regel  bestenfalls  nur  neben- 
bei mitwirkende  Motiv,  wie  im  menschlichen  Handeln  überhaupt, 
so  vollends  im  wirtschaftlichen  Handeln,  in  der  Beschaffung  und 
Verwendung  von  Gütern  und  in  der  darauf  bezüglichen  Arbeit. 

§.  46.  — b)  Bedeutung  des  Motivs  für  Theorie  und 
Praxis  des  Wirtschaftslebens  und  bezügliche  Auf- 
gaben. Die  Bedingungen  für  die  günstige  Entwicklung  und 
stärkere  Wirksamkeit  des  fünften  Motivs  in  seiner  Reinheit  und 


118  ].  B.  1.  K.  Wirtschaft!.  Natur  des  Menscheu.  2.  A.  §.  45. 

als  eines  allgemeinen,  nicht  nur  bei  einzelnen  bevorzugten  Indivi- 
duen auch  auf  wirtschaftlichem  Gebiete  mitwirkenden,  liegen  in 
solchen  Lebensverhältnissen  und  sittlichen  Anschauungen  des  Volks, 
welche  den  Kampf  gegen  die  egoistischen  Motive  erleichtern  und 
ein  sittliches  Ideal  enthalten,  dem  nachzustreben  zu  einem  mäch- 
tigen inneren  Gebot,  mithin  zum  Antrieb  in  zahlreichen  Einzelnen 
wird.  Man  kann  daher  aus  dem  Wesen  der  Seelenvorgänge  in 
der  Motivation  wirtkschaftlicben  Handelns  und  aus  der  Erfahrung 
durch  Beobachtungen  dieses  Handelns  und  der  dadurch  bestimmten 
wirtschaftlichen  Erscheinungen  ahleiten,  dass  von  grösster  Be- 
deutung sind:  einerseits  — negativ  — Minderung  der  Ver- 
suchungen, sich  nur  oder  überwiegend  von  den  egoistischen 
Motiven  oder  von  vornherein  von  ethisch  bedenklichen  Erscheinungs- 
formen dieser  Motive  leiten  zu  lassen;  andrerseits  — positiv  — 
Kräftigung  von  Momenten,  welche  auf  das  Pflichtgefühl,  als 
treibende  Potenz  zu  sittlich  und  Ökonomisch  richtigem  Handeln, 
stärkend  einwirken. 

In  ersterer  Hinsicht  sind  daher  wieder  die  concreten  Ein- 
richtungen, Organisationen  und  Rechtsordnungen  des 
Wirtschaftslebens  in  ihrem  Einfluss  auf  Art,  Function  und  Stärke 
der  egoistischen  Motive  so  wichtig. 

Sie  erschweren  — wie  das  Wirtschaftssystem  der  freien  Concurrenz  im  Ganzen, 
wegen  der  in  ihm  zu  sehr  losgebundenen  Wirksamkeit  des  ersten  Motivs  — oder  er- 
leichtern — wie  im  Ganzen  in  den  älteren  Rechtsordnungen  der  Gebundenheit  — die 
Entwicklung  des  fünften  Motivs,  wenigstens  neben  den  anderen  Motiven.  Sie  beein- 
flussen auch  das  Hervortreten  der  günstigeren  oder  der  ungünstigeren  Erscheinungs- 
formen jener  anderen  Motive  und  wirken  auch  dadurch  fördernd  oder  hemmend  auf 
die  Entwicklung  und  die  Stärke  des  fünften  Motivs  mit  ein. 

In  der  zweiten  Hinsicht  kommt  es  auf  die  ethischen 
Mächte  an,  welche  in  der  Seele  des  Menschen  wirken. 

W'elche  Factoren  hier  nun  von  Einfluss,  welche  von  entscheidender  Bedeutung 
sind,  ist  freilich  im  Allgemeinen  streitig  und  im  concreten  Fall,  auch  bei  objectivster 
Selbstbeobachtung  und  bei  schärfster  Menschenkenntniss,  ausnehmend  schwierig  zu 
bestimmen.  Man  wird,  auch  ohne  in  die  Einseitigkeit  und  den  heutigen  Dogmatismus 
des  Materialismus  zu  verfallen , wohl  zugestehen  dürfen . dass,  wie  andre  körperliche 
und  geistige  Eigenschaften,  so  auch  die  ethischen  und  darunter  die  mit  dem  fünften 
Motiv  in  Verbindung  stehenden  bei  Individuen,  Classcn,  Stämmen,  Völkern  mit  ein 
Ergebniss  der  V ererbu  ng  sind,  obwohl  alle  genaueren  physiologischen  Bedingungen 
dafür  noch  so  gut  wie  unbekannt  sind  und  man  selbst  nur  sehr  bedingt  von  einem 
empirisch-statistischen  Beobachtungsgesetz  der  Vererbung  sprechen  kann. 

Man  wird  weiter  sagen  dürfen,  dass  Beispiel,  Erziehung,  Gewohnheit, 
Sitte,  daher  die  entsprechenden  äusseren  Lebens  Verhältnisse  und  die  An- 
schauungen, welche  man  aus  seiner  Umgebung  durch  Ucbcrtragung , Nachahmung 
übernimmt,  einen  Einfluss  äussern;  deshalb  hier  auf  dem  Wirtschaftsgebiete  wieder 
die  Einrichtungen,  Organisationen,  Rechtsordnungen  und  das  ganze  practische  Getriebe 
des  Wirtschaftslebens,  der  darin  liegende  Geist.  Auch  in  dieser  Hinsicht  zeigen  sich 
wieder  vielfach  üble  Einflüsse  des  individualistisch-liberalen  Wirtschaftssystems  (An- 
schauungen über  das  im  Erwerb,  in  der  Speculation,  im  Handel,  an  der  Börse  Er- 


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Unegoistisches,  fünftes  Motiv:  Pflichtgefühl. 


119 


laubte.  ja  zum  Gelingen  Noth  wendige):  sittlich  corrumpircnde  Einflüsse,  die  schon  das 
Ehrenmoment  in  der  Arbeit,  das  dritte  Motiv,  abschwächen,  das  fünfte  vollends  gar 
nicht  aufkommen  lassen.  Wie  sehr  aber,  wenn  auch  regelmässig  unter  Mitwirkung 
egoistischer  Motive,  vielleicht  in  deren  edleren  Erscheinungsformen  (3.,  4.  Motiv),  in 
der  That  doch  das  Handeln  und  doch  auch  das  wirthschaftliche  Handelu,  durch  der 
Entwicklung  des  fünften  Motivs  günstige  Organisationen,  Einrichtungen  und  Normen 
in  ethisch  bessere  Richtung  gebracht  werden  kann,  zeigt  die  Erfahrung  in  den  Berufs- 
ständen des  ölFentlichen  Civil-  und  Militärdiensts  und  des  Kirchendiensts  in  der 
Stärkung  des  Pflichtgefühls.  Freilich  nach  Zeitaltern,  Ländern,  Völkern,  Regierungen, 
Kirchen,  wie  natürlich  vollends  nach  Individuen  sehr  verschieden.  Aber  die  gün- 
stigen Entwicklungen  beweisen  doch  die  Möglichkeit,  durch  bewusste  Thätigkeit  das 
Pflichtgefühl  zu  entwickeln. 

Unter  allen  Factoren  sind  aber  schliesslich  doch  die  vom  Ein- 
zelnen selbsttbätig  in  sich  aufgenommenen  Mo ralp rin cipien  als 
die  dem  Gewissen  und  dem  Gebot  der  für  maassgebend  er- 
achteten Autorität  entsprechenden,  die  wuchtigsten  und  ethisch 
höchsten  für  die  Entwicklung  des  fünften  Motivs  in  dessen  reiner 
Form  wie  auf  jedem  Gebiete  des  Handelns,  so  auch  insbesondere 
auf  demjenigen  des  wirtschaftlichen  Handelns. 

In  einer  Yerkchrsgesellschaft,  wo  Allo  demgemäss  handeln  würden , das  Rechte 
um  des  Rechten,  das  Gute  um  des  Guten  Willen  thäten , arbeiteten , weil  es  und  wie 
cs  Pflicht  ist,  sich  gegenseitig  entlohnten,  tauschten,  kauften  und  verkauften  und  auch, 
soweit  notliwendig,  unentgeltlich  wirthschaftliche  Hilfe  gewährten,  wie  es  dieser  Pflicht 
entspricht,  da  wäre  wieder  der  Idealzustand  des  wirthschaftlichen  Handelns  und  damit 
des  Wirtschaftslebens,  wie  nach  den  Ergebnissen,  so  nach  der  ethisch-psychologischen 
Grundlage  dieser  Ergebnisse  erreicht. 

Die  „Ethisirung“  des  Wirthschaftslebens,  die  Schärfung 
des  Gewissens  hinsichtlich  des  sittlich  Erlaubten  und  Unerlaub- 
ten, Richtigen  und  Unrichtigen,  Rechten  und  Unrechten  in  den 
wirthschaftlichen  Handlungen  ist  nun  gewiss  denkbar  ohne  Be- 
ziehung zur  Religion  und  kommt  bei  Einzelnen  auch  ohne  diese 
Beziehung  zur  Geltung. 

Durch  eine  Erziehung,  welche  planmässig  auf  diese  Ethisirung  und  Gewissens- 
schärfung hinwirkt,  durch  practischcs  Beispiel,  welches  die  Einrichtung  auch  des 
wirthschaftlichen  Handelns  nach  solchen  ethischen  Normen  zeigt,  die  Möglichkeit,  den 
Segen  davon  beweist,  zur  Nachahmung  aneifert,  durch  die  Entwicklung  einer  öffent- 
lichen Meinung,  welche  ein  demgemässes  Handeln  günstig,  das  entgegengesetzte 
ungünstig  beurtheilt  (also  unter  Wirksammachung  des  dritten  Motivs),  durch  Ein- 
bürgerung bezüglicher  Handlungsweisen  in  die  Sitte  und  allmälig  in  die  allgemeinen 
Sittlichkeitsnormen  eines  Zeitalters,  kann  wohl  auch  in  weiteren  Kreisen  eine 
grössere  Verbreitung  und  eine  stärkere  Wirksamkeit  des  fünften  Motivs  herbeigeführt 
werden.  Namentlich  dio  Entwicklung  altruistischer  statt  rein  egoistischer  wirth- 
schaftlicher  Handlungen  und  auch  solcher  altruistischer,  welche  nicht  nur  dem  nächst- 
stehenden Personeukrcise  des  Handelnden  zu  Gute  kommen,  sondern  beliebigen  Dritten, 
als  .»Mitmenschen“,  wo  daher  der  oben  betonte,  auch  noch  egoistische  Charactcr  des 
Altruismus  verschwindet,  — namentlich  die  Entwicklung  eines  solchen  unegoistischon 
Altruismus  erweist  sich  hier  als  Aufgabe,  welcho  auf  dem  angedeuteten  Wege  doch 
nicht  von  vornherein  ganz  unlösbar  erscheint. 

Allein  umfangreichere  Erfahrungen  in  Betreff  grösserer  Personen- 
kreise, gar  ganzer  Völker  Uber  die  practiscbe  Möglichkeit  einer 
solchen  erfolgreichen  Ethisirung  des  Wirthschaftslebens  und  einer 


120  1.  B.  1.  K.  Wirtksckaftl.  Natur  des  Menschen.  2.  A.  §.  46,  47. 


allgemeineren  Entwicklung  der  Wirksamkeit  des  fünften  Motivs  auf 
wirtschaftlichem  Gebiete  ohne  Zusammenhang  mit  der 
Religion  liegen  nicht  vor.  Vielmehr,  wo  wenigstens  Einiges  in 
dieser  Richtung  erreicht  wird,  ist  es  geschichtlich  in  diesem  Zu- 
sammenhang von  Moral  Vorschriften  und  Religion  geschehen. 

Allerdings  ja  auch  nur  in  geringem  Maasse,  so  dass  man  ge- 
wiss einem  bekannten  gegnerischen  Einwand  vielfach  recht  geben 
muss:  auch  die  EthisiruDg  des  Wirthschaftslebens  unter  Einfluss 
der  Sittengebote  im  religiösen  Gewände  ist  nur  in  sehr  be- 
schränktem Maasse  gelungen. 

Damit  bestätigt  man  freilich  nichts  Anderes  als  die  bekannte  Thatsache,  dass 
auch  die  höchsten  Religionsformen,  wie  die  jüdische  und  sogar  die  christliche,  die 
„natürlichen  Menschen“  nur  wenig  gebessert  haben,  — was  nichts  gegen  den  Werth 
der  Religion,  sondern  nur  Alles  für  die  Richtigkeit  der  Annahme  der  ethisch  tief 
mangelhaften  — wie  jeder  Unbefangene  jedweden  Glaubens  oder  Unglaubens  cs 
zugestehen  muss  — oder,  im  Grunde  doch  ganz  in  demselben  Sinne,  für  die  „sün- 
dige“ Natur  des  „natürlichen  Menschen“  beweist.  Alles  Gesichtspunctc  und  Er- 
wägungen, welche  für  unsere  wirtschaftlichen  Fragen  , besonders  für  diejenigen  der 
Organisation  und  Rechtsordnung,  wahrlich  nichts  Gleichgiltiges  und  Ueberflüssigcs 
sind,  wie  man  wohl  von  der  oder  jener  Seite  einwenden  wird,  sondern  Etwas  von 
fundamentaler  Bedeutung  für  die  grössten  und  schwierigsten , namentlich  für  die 
zwischen  Individualismus  und  Socialismus,  Privat-  und  Gemeinwirthschaft,  freier  Con- 
currcnz  und  streng  regelnder  Wirtschaftsordnung  spielenden.  Denn  hier  handelt  es 
sich  immer  um  Cardinalfragen  der  Psychologie,  der  Motivation,  der  Ethik  in  Bezug 
auf  die  Menschen  und  ihre  Motive  im  wirtschaftlichen  Leben,  Fragen,  von  deren 
Erörterung  und  Entscheidung  eben  auch  die  Antwort  auf  die  Fragen  der  Wirtschafts- 
organisation und  alles  damit  in  Verbindung  Stehenden  abhängt. 

Auch  weiter  ist  wohl  nicht  zu  leugnen,  dass  die  Moralvorschrift 
in  Form  des  religiösen  Gebots  und  Verbots  selten  in  dem  vorhin 
erwähnten  höheren  Sinne  der  Folgsamkeit  gegen  ein  Gebot  oder 
Verbot  der  nur  Richtiges  und  Gutes  fordernden  Autorität,  — 
Gottes  — , eingewirkt  hat,  daher  nicht  sowohl  als  Ausfluss  des 
fünften  Motivs  in  dessen  Reinheit,  sondern  häufiger  oder  selbst 
meistens  oder  wenigstens  in  grösserem  oder  geringerem  Maasse 
auch  mit  durch  das  Medium  des  zweiten  Motivs  (Furcht  vor  Strafe, 
Hoffnung  auf  Anerkennung,  auf  ideellen  Lohn). 

So  iu  Handlungen  der  Barmherzigkeit,  Wohlthätigkcit,  Ehrlichkeit,  bei  Arbeits- 
tucktigkeit.  Fleiss,  Nüchternheit,  Sparsamkeit,  bei  Vermeidung  von  Unchrlichkeit,  von 
Ausbeutung,  bei  „freiwilligen“  Gaben  an  Kirche,  Stiftungen,  für  religiöse  Zwecke  u.  dgl.  m. 

Allein  das  beweist  doch  auch  nur  wieder,  dass  das  fünfte 
Motiv  zu  seiner  Wirksamkeit  meistens  der  Einkleidung  in  religiöse 
Formen,  der  Verbindung  mit  religiösen  Anschauungen  Uber  die 
Bestrafung  des  Bösen  und  die  Belohnung  des  Guten  psychologisch 
bedarf.  Auch  das  ist  für  die  ökonomische  Psychologie  und  Moti- 
vationstheorie bcachtenswerth  und  für  Theorie  und  Praxis  des 
Wirth schaftslebens  von  Bedeutung. 


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3.  Abschnitt. 

Ergebnisse. 

I.  — §.  47.  Ergebniss  für  die  Theorie.  Für  diese 
folgt  ans  dem  Vorausgehenden,  dass  jeder  deductive  Schluss  aus 
einem  der  vier  egoistischen  Motive  um  so  bedingteren  Werth  hat, 
je  mehr  das  fünfte  Motiv  iu  dem  betreffenden  Falle  ab  ändernd 
einwirkt,  namentlich  dem  Handeln  eine  andre,  vielleicht  entgegen- 
gesetzte Richtung  giebt,  oder  es  modificirt.  Das  ist  indessen  nicht 
immer  die  Folge,  sondern  es  kann  durch  das  fünfte  Motiv  auch 
eine  aus  anderen  Motiven  hervorgehende  Handlung  in  der  Richtung 
dieser  Motive  noch  gefördert  werden. 

Z.  B.  Arbeitsanstrengung  aus  einem  oder  mehreren  der  ersten  Motive  nun  noch 
gesteigert  durch  das  fünfte.  Aber  wo  umgekehrt  das  fünfte  Motiv  gegen  das  erste 
ankämpft  und  die  diesem  entsprechende  Erstrebung  eigenen  wirtschaftlichen  Vor- 
teils ermässigt,  werden  die  deductiven  Schlüsse  aus  dem  ersten  Motiv  erhebliche  Ein- 
schränkungen erleiden. 

Nur  der  Umstand  — eine  Thatfragc,  welche  freilich  in  grossem  Umfang  bejaht 
werden  muss  — , dass  das  erste  Motiv  theils  allein,  theils  in  Verbindung  mit  einem 
oder  mehreren  der  anderen  egoistischen  Motive  die  wirtschaftlichen  Handlungen  des 
Menschen  so  vorwiegend  beherrscht  und  bestimmt,  bringt  es  mit  sich,  dass  eine  Ver- 
nachlässigung des  fünften  Motivs  in  der  grossen  Zahl  der  Fälle  keinen  erheblichen 
Fehler  des  Schlusses  bewirkt.  Aber  mindestens  im  Einzel  falle  ist  doch  immer  erst 
zu  erforscheu,  ob,  wann,  wie  weit  das  fünfte  Motiv  mitspielt  oder  überwiegt,  wenn 
der  Schluss  aus  den  egoistischen  Motiven,  zumal  aus  dem  ersten  allein,  sich  richtig 
erweisen  soll,  z.  B.  in  Fragen  der  Löhne,  Preise,  Zinsen,  der  sonstigen  Arbeits- 
bedingungen (Arbeitszeit,  Arbeitsschutz  u.  s.  w.),  wenn  der  ökonomisch  mächtigere 
Tbeil  aus  Barmherzigkeit,  aus  sittlichen  Bedenken,  nach  dem  Spruch  seines  (Je Wissens 
seine  Uebermacht  nicht  so  weit  zur  Geltung  bringt,  als  er  es  nach  der  Sachlage  vermöchte. 

Würde  sich  nun  etwa  ergeben,  was  wiederum  durch  Beobachtung  ermittelt 
werden  müsste,  dass  wirklich  in  weiteren  Kreisen  solche  Uesichtspuncte  und  Motive 
mitwirken,  so  würde  auch  eine  allgemeinere  Modification  des  doductiv  aus  dom 
ersten  Motiv  abgeleiteten  Schlusses  erfolgen  müssen.  In  welcher  Weise  und  in  welchem 
Maasse,  das  Hesse  sich  annähernd  wohl  aus  der  Mitwirkung  des  fünften  (wie  auch 
z.  B.  des  dritten,  vierten)  Motivs  ableiten,  genau  wäre  es  erst  durch  Beobachtung 
festzustellen 

Je  mehr  andrerseits  im  practischen  Wirtschaftsleben  er- 
fabrungsmässig  die  egoistischen  Motive,  zumal  das  erste,  vorwiegen, 
die  ethischen  Gesiehtspuncte  des  fünften  Motivs  zurückstehen  oder 
fehlen,  im  Ganzen  oder  wenigstens  in  gewissen  Personenkreisen  auf 
gewissen  Gebieten,  z.  B.  im  Handelsverkehr,  desto  mehr  treffen  die 
Schlüsse  aus  den  egoistischen,  besonders  aus  dem  ersten  Motiv  mit 
den  wirklichen  Thatsachen  des  Wirtschaftslebens  zusammen. 

Freilich  auch  nicht,  von  anderen  Grüuden  abgesehen,  in  jedem  einzelnen  Falle, 
weil  hier  vielleicht  andere  Motive  Modificationcu  der  wirtschaftlichen  Handlungen 
bewirkt  haben,  aber  doch  in  der  Kegel  in  der  grossen  Masse  der  Fälle. 

Die  Aufgabe  ist  dann  wieder  nur,  zu  erforschen,  wie  in  einem 
Zeitalter,  in  einem  Volke,  in  einer  Wirtschaftsgemeinschaft  die 
Motive  im  Durchschnitt  beschaffen  sind. 


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122  1.  B.  1.  K.  Wirtschaft].  Natur  des  Menschen.  3.  A.  §.  47,  48. 


Grade  weil  in  der  modernen,  namentlich  in  der  neuesten  Zeit  die  wirtschaftenden 
Menschen  sich  ganz  überwiegend  selbst  mit  vollstem  Bewusstsein  und  vollster  Ab- 
sichtlichkeit von  dem  ersten  Motiv  leiten  lassen,  die  anderen  Motive,  vollends  das 
fünfte , zurücktreten , ist  die  Deduction  aus  dem  ersten  Motiv  hier  so  allgemein  be- 
rechtigt (§.  67  ff.).  Das  Eindringen  der  Geldwirthschaft,  der  Speculation,  der  kauf- 
männischen Gesichtspunctc  u.  s.  w.  in  immer  weitere  Kreise  unserer  Bevölkerung,  die 
„Veramericanisirung“  oder  auch  die  „Verjudaisirong“  macht  die  Leute  dem  Händler- 
thum, den  „city  men“  auch  im  grossen  Durchschnitt  ähnlicher.  Daher  kann  ohne 
erheblichen  Fehler  vom  Mitspielen  des  fünften  Motivs,  auch  von  allen  oder  doch  den 
günstigeren  Erscheinungsformen  des  dritten,  vierten  abgesehen  und  allein  oder  vor- 
ncmlich  aus  dem  ersten  dcducirt  werden.  Lauter  Puncte,  welche  für  die  Fragen  der 
Methodologie  wichtig  sind  und  auf  welche  wir  dabei  zurückkommen  werden 
(s.  u.  Kap.  2,  llauptabschn.  2). 

Vorläufig  nur  die  Bemerkung,  dass  nach  dem  Gesagten  offenbar  die  Methode 
der  Deduction  aus  dem  ersten  Motiv  nach  Zeitaltern  und  Völkern,  wegen  der 
historischen  DifFcrenzirung  der  Motivation  im  wirtschaftlichen  Handeln,  einen  histo- 
risch verschiedenen  Werth  hat:  grade  für  die  moderne  Zeit  einen  grösseren 
als  für  ältere  Perioden,  für  die  europäisch-americanische  Culturwelt  einen  grösseren, 
als  für  die  Völker  der  anderen  Erdtheile  auf  anderen  Culturstufen,  auch  für  ent- 
christlichte,  überhaupt  irreligiöse  Zeitalter  einen  grösseren  als  für  diejenigen 
eines  festen  religiösen  Glaubens,  welcher  auch  für  das  Wirtschaftsleben  sittliche 
Normen  aufstellt  und  sie  in  dem  Menschen  zu  autoritativen  und  befolgten  Geboten  und 
Verboten  macht.  Die  modernen  Menschen  werden,  die  Menschen  Griechen- 
lands und  Roms  in  der  späteren  Zeit  wurden  eben  vornemlich  vom  ersten  Motiv  im 
Wirtschaftsleben  beherrscht  und  handeln  daher  wirtschaftlich  meistens  so,  wie  das 
aus  der  Wirksamkeit  dieses  Motivs  folgt.  Immerhin,  wie  gesagt,  auch  heute  noch 
verschieden  nach  Wirtschaftsgebieten : der  moderne  Händler,  Börsianer,  „Gründer“, 
der  sie  in  Processen  verteidigende  Rechtsanwalt  entspricht  den  Voraussetzungen  von 
Leuten,  welche  wesentlich  nur,  wenigstens  in  ihren  geschäftlichen  Verhältnissen, 
vom  ersten,  wenig  nur  daneben  vom  zweiten  (Furcht  vor  Strafe!)  und  von  besseren 
Formen  des  dritten  (Furcht  vor  Schande!),  so  gut  wie  nicht  von  den  übrigen  besseren 
Specialmotiven  der  Leitmotive  3 und  4 und  vom  Leitmotiv  5 bestimmt  werden:  so  kann 
man  ihre  wirtschaftlichen  Handlungen  in  der  That  mit  grosser  Sicherheit  im  Einzel- 
fall wie  in  der  Masse  der  Fälle  aus  dem  ersten  Motiv  ableiten.  Aber  die  Ausdehnung 
des  Speculationswcsens,  Börsenspiels  (Fonds-,  Grundstücksspeculation)  auf  immer  weitere 
Kreise  bedingt  auch  in  diesen  immer  mehr  die  Motivation  des  „Händlcrthums“. 
Ein  Vortheil  für  die  Anwendung  der  Methode  der  Deduction , ein  hoher  ethischer 
und  socialer  Nachtheil  im  Leben.  Auf  den  hier  besprochenen  Punct  hat  mit  Recht 
u.  A.  H.  Dietzel  in  der  Methodenfrage  hingewiesen. 

II.  — §.  48.  Ergebniss  für  diePraxis.  FürdiePraxis 
ergiebt  sich  aus  dem  Gesagten,  dass  die  Wirksamkeit  des  fünften 
Motivs  viele  Aufgaben  auf  dem  Productions-  und  dem  Vertheilungs- 
gebiete zu  lösen  erleichtern  würde:  mehr  und  bessere  Arbeit,  ver- 
nünftigere, sittlichere  Gestaltung  der  Vertheilung  des  Productions- 
ertrags  und  der  Consumtion,  geringerer  Aufwand  für  Controlen 
und  dgl.  wäre  die  nothwendige  Folge.  Das  ökonomisch  und 
ethisch  Schädliche  in  der  Wirksamkeit  der  anderen  Motive,  be- 
sonders des  ersten,  aber  auch  des  dritten  und  zweiten,  würde  sich 
sehr  vermindern  oder  ganz  beseitigen  lassen.  Das  Gute  in  dem 
dritten  Motiv  (Ehrgefühl)  und  das  Motiv  der  Arbeitsfreude  würden 
in  Verbindung  mit  dem  fünften  Motiv  zu  gesteigerter  und  zu  noch 
erfreulicherer  Wirksamkeit  kommen,  das  Berechtigte  im  ersten 
Motiv  nicht  unterbunden  werden.  Denn  auch  nach  dem  fünften 


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123 


Motiv  bleibt  der  Satz  bestehen:  „Der  Arbeiter  ist  seines  Lohnes 
werth.“  Kurz:  die  Ethisirung  des  Wirtschaftslebens  wäre 
auch  ökonomisch  ein  ungemeiner  Vortheil. 

Um  einen  vollen  und  allgemeinen  Ersatz  der  anderen,  auch 
des  ersten  Motivs  durch  das  fünfte  handelt  es  sich  dabei  aber 
allerdings  nicht.  Er  wäre,  wiederum  nach  dem  „ Consta nten“ 
in  der  wirtschaftlichen  Natur  des  Menschen,  nicht  wohl  möglich, 
auch  nicht  erwünscht,  da,  wie  eben  erwähnt,  die  günstigen  Seiteu 
der  anderen  Leitmotive  berechtigt  und  von  guter  Wirkung  sind, 
das  Mitwirken  der  besseren  Erscheinungsformen  die  ganze  Auf- 
gabe, auch  bezüglich  des  Wirksammachens  des  fünften  Motivs, 
psychologisch  und  practisch  erleichterte.  Aber  wohl  eine  Durch- 
dringung der  ganzen  Motivation  des  wirtschaftlichen  Handelns 
mit  den  ethischen  Gesichtspuncten  des  fünften  Motivs  wäre  zu  er- 
streben. Bei  einer  solchen  Beschränkung  der  Aufgabe  entfallen 
oder  vermindern  sich  wenigstens  die  Einwändc  und  Bedenken, 
welche  aus  dem  „Wesen“  der  wirtschaftlichen  und  der  ganzen 
menschlichen  Natur  entnommen  werden  und  mit  darauf  hinaus- 
gehen, dass  insbesondere  die  Schwächung  des  ersten  Motivs  dem 
allgemeinen  Productionsinteresse  widerspräche. 

Wäre  aber  auch  selbst  bei  einer  solchen  Beschränkung  — 
deren  Maass  zeitlich  und  örtlich  ja  verschieden  sein  könnte  und 
dürfte  — die  Lösung  der  Aufgabe  möglich,  „menschen- 
möglich“? 

Die  meisten  Menschenkenner,  die  meisten  Psychologen  und 
selbst  Ethiker,  fast  alle  Nationalökonomen  zweifeln  daran,  sind 
alle  mehr  oder  weniger,  meist  grossentheils  Pessimisten  in  diesem 
Punete.  Wiederum  nur  bei  Socialisten  begegnet  man  in  dieser 
Hinsicht  einem  mitunter  weitgehenden  Optimismus.  Derselbe  hängt 
mit  dem  Pessimismus  dieser  Richtung  in  Bezug  auf  unser  heutiges 
Wirtschaftsleben , auch  nach  dessen  ethischer  Seite,  zusammen. 

Er  ist  aber  in  letzter  Linie  ein  Product  der  ganzen  „materialistischen 
Geschichtsauffassung“  und  der  „Evolutionstheorie“  in  deren  An- 
wendung auf  Wirtschaftsleben  und  Gesellschaft. 

III.  Auseinandersetzung  mit  dem  Socialismus. 

§.  49.  — 1.  Die  Lehre  vom  wirtschaftenden  Menschen 
als  auch  in  seiner  Motivation  einem  Product  der  Ver- 
hältnisse und  ihre  theil weise  Richtigkeit.  Der  Mensch 
ist  nach  der  socialistischen  Lehre  nach  seinen  geistigen  und  sitt- 
lichen wie  nach  seinen  körperlichen  Eigenschaften  das  Product  der 

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124 


1.  B.  1.  K.  Wirtschaft!.  Natur  des  Menschen.  3.  A.  §.  49. 


Abstammung  (Vererbung)  und  der  äusseren  Lebensver- 
hältnisse und  Lebensansebauungen,  welche  wieder  be- 
dingt sind  durch  die  Wirthschaftsverhältnisse , daher  für  einen 
Jeden  durch  seine  Stellung,  welche  er  im  Wirtschaftsleben  ein- 
nimmt und  durch  die  hiervon  abhängige  Lebensweise. 

Nicht  von  Natur,  wie  dio  Rcligionssystcme,  die  Bibel,  das  Christentum  lehren, 
allgemein  sittlich  fehlerhaft,  schlecht,  „sündig“,  wenn  auch  fähig,  das  zu  werden, 
nicht  von  Natur  sittlich  tüchtig,  gut,  „sündenlos“,  weun  auch  ebenfalls  fähig,  das  zu 
werden,  ist  der  Mensch  als  Individuum  so,  wie  ihn  seine  Abstammung,  das  ihm  da- 
durch Vererbte,  seine  Umgebung,  seine  Lebensverhältnisse  machen  oder  werden  lassen. 
Daher  das  „einfache“  Recept:  sorget  für  günstige  Lebensverhältnisse,  dadurch  für 
günstige  Abstammungs-  und  Vererbungsverhältnisse,  daher  vor  Allem  für  günstige 
Wirthschaftsverhältnisse  eines  Jeden:  und  Ihr  habt  das  Problem  gelöst,  Ihr  er- 
haltet in  jeder  Hinsicht  bessere,  tüchtigere,  auch  sittlichere,  mehr  altruistisch  gesinnte 
Menschen,  kurz  solche,  bei  welchen  auch  dio  wirtschaftlichen  Handlungen  aus  dem 
fünfton  und  den  günstigen  Erscheinungsformen  der  vier  anderen  Motive  hervorgehen. 
„Erziehung“  ist  dann  auch  hier  die  Panacee,  um  die  schon  von  Geburt  zu  allem 
Guten  und  Tüchtigen  fähigen  Menschen  vollends  zu  vollkommenen  Species  ihrer  Gat- 
tung und  diese  Gattung  selbst  zu  etwas  auch  sittlich  viel  Vollkominnerem  als  die  bis- 
herige Menschheit  zu  erheben:  der  böse  Egoismus  wird  verschwinden,  der  edle 
Altruismus  herrschen.  Das  geplante  socialistische  Productionssystcm  auf  der  Grund- 
lage des  gesellschaftlichen  Gemeineigenthums  an  den  sachlichen  Productionsmittelu 
ist  der  wirthschaftsorganisatorischc  uud  wirthscbaftsrcchtliche  Hebel  zur  Erreichung 
dieser  idealen  Zustände.  Indem  der  Einzelne  dabei  ausserdem  für  die  Gemeinschaft 
und  für  sich  als  Glied  derselben  arbeitet,  nicht  mehr  für  die  „Drohnen“,  die  Unter- 
nehmer, Kapitalisten,  Grundeigentümer,  Rentuer  u.  s.  w. , wird  er  auch  den  ihm  ge- 
bührenden, jedenfalls  absolut  und  relativ  viel  grösseren  Anthcil  am  Productionsertrage, 
welchen  er  mit  gewonnen  hat,  erlangen  und  insoweit  das  erste  Motiv  in  richtiger 
Weise  auch  hier  auf  ihn  mit  einwirken.  Neben  dem  dritten  uud  vierten  Motiv,  die 
in  ihren  besseren  Formen  ausserdem  in  derselben  Richtung  mitwirken,  wird  das  fünfte 
Motiv  namentlich  in  viel  weniger  egoistischen  Formen  als  bei  dem  heutigen  Altruismus  — 
für  Weib,  Kind  u.  s.  w.  — , nemlich  in  der  social  und  sittlich  höheren  Form  altruistischer 
Gesinnung  für  die  ganze  Gesellschaft,  dio  grosse  Wirtschaftsgemeinschaft, 
wirken.  Auf  diese  werden  jene  Interessen,  jene  sympathischen  und  Liebesgefühle 
übergehen,  welche  in  der  auf  Privateigentum  an  sachlichen  Productionsmittelu  und, 
damit  in  enger  entwicklungsgeschichtlicher  und  ökonomischer  Verbindung  stehend, 
auf  fester  Ein-Ehe  (Monogamie)  und  Familie  beruhen  und  hier  so  eng  und  einseitig, 
andere  „Mitmenschen“  ausschliessend,  hervortreten:  sowenig  „christlich“  auch  im 
wahren  menschheitlichen  Sinn**  des  Wortes,  so  spiessbürgcrlich,  kaum  über  die  Pfähle 
des  Hauses  hinaussehend,  im  Grunde  nur  eine  kleine  Erweiterung  über  die  Interessen- 
sphäre des  eigenen  Ich  hinaus  darstellend,  das  überall,  indem  es  an  die  eigene 
Familie  denkt,  doch  nur  an  sich  selbst  denkt,  nur  sein  Ich  und  dessen  Interessen  im 
Sinne  hat. 

Der  grosse  socialistische  Gedanke  des  Christentums  harrt  noch  nach  1900 
Jahren  seiner  Verwirklichung,  die  ihm  nicht  durch  den  schwachen  Willen  des  Ein- 
zelnen, sondern  nur  durch  ein  Gesellschafts-  und  Wirtschaftssystem  werden  kann, 
welches  seinen  bestimmenden  Einfluss  auf  die  Lebensverhältnisse , die  Lebens- 
anschauungen und  die  hierdurch  umgewandclten  Gesinnungen  und  Motive  der 
Menschen  ausübt. 

Bei  aller  Unsicherheit  und  theilweise  Unhaltharkeit  der  Prä- 
missen, bei  aller  wissenschaftlichen  Unbewiesenheit  der  Ausgangs- 
punete,  welche  grossentbcils  Glaubenssätze,  nicht  wissenschaftlich 
feststehende  Sätze  sind,  hei  aller  Einseitigkeit  der  Folgerungen 
und  den  Mängeln  der  ganzen  Beweisführung,  bei  aller  an  bewusste 


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Bornirtheit  grenzenden  Missachtung  anderer  mit  einwirkender  Fac- 
toren:  der  ganze  Gedankengang,  wieder  ein  seltsames  Beispiel 
von  Supermaterialismus  und  Hyperideologie,  hat  doch  etwas  Grosses, 
Begeisterndes,  enthält  neben  viel  Falschem  und  Unhaltbarem  auch 
manche  wichtige  theoretisch  und  practisch  werthvolle  und  be- 
herzigcnswcrthe  Wahrheit,  welche  die  Psychologie,  die  Pädagogik, 
die  Ethik,  die  Politik,  die  Wirtlischafts-  und  Socialpolitik  bisher 
viel  zu  wenig,  meistens  gar  nicht  berücksichtigt  haben.  Es  wäre 
ein  grosser  Fehler,  das  gegnerischerseits  nicht  zugestehen  zu  wollen. 
Man  kann  diese  psychologischen  Lehren  und  diese  ganze  Doctrin 
von  den  Entwicklungsbedingungen  der  gesellschaftlichen  und  indi- 
viduellen Sittlichkeit  wie  alle  andren  socialistischen  Lehren  gewiss 
stets  nur  „cum  beneficio  inventarii“  antreten,  aber  man  darf  und 
muss  das  auch.  Es  ergeben  sich  hier  practisch  wichtige  Finger- 
zeige und  eine  auch  theoretisch  wichtige  Verbindung  realistischer 
und  idealistischer  Auffassung,  woraus  für  Praxis  und  Theorie  des 
Wirthschaftslebens  mancher  richtige  Wink  zu  entnehmen  ist. 

Schon  nach  einer  Beweisführung  hinsichtlich  der  Umstände, 
welche  als  Ursachen  und  Bedingungen  bei  den  heutigen  sittlichen 
Zuständen  und  vorherrschenden  Motiven  für  wirthschaftliches  Handeln 
auf  wirtschaftlichem  Gebiete  mitspielen,  ergiebt  sich,  dass  die 
socialistische  Lehre  mindestens  T heil  Wahrheiten  hinsichtlich 
des  Zusammenhangs  zwischen  Wirtschaftsordnung,  bestimmenden 
Motiven  und  Sittlichkeit  und  hinsichtlich  der  Abhängigkeit  letzterer 
beiden  von  ersterer  enthält.  Insofern  und  in  Hinsicht  auf  die 
Verhältnisse  bei  früheren  Wirtschaftsordnungen  (Agrar-,  Gewrerbe- 
verfassung)  entfällt  auch  der  Vorwmrf,  dass  der  Socialismus  hier 
rein  mit  Phantasien  und  apriorischen  unrealistischen  psycho- 
logischen und  anthropologischen  Constructioncn  operire:  er  kann 
sich  auf  Erfahrungen  berufen,  freilich  nur  partiell.  ImPrincip 
hat  er  so  mit  seiner  Beweisführung  nicht  ganz  Unrecht,  nur  über- 
treibt er  die  Tragweite  derselben  im  höchsten  Grade.  Der  quanti- 
tative Unterschied  zwischen  dem , was  in  der  socialistischen  Auf- 
fassung richtig  ist,  und  dem,  was  aus  diesem  Richtigen  abgeleitet 
wird,  ist  ein  so  gewaltiger,  dass  man  wohl  sagen  darf,  der  quanti- 
tative schlägt  durch  diese  seine  Grösse  doch  in  einen  quali- 
tativen um.  Das  mindert  die  Tragweite  der  Beweisführung 
wesentlich. 

Grade  das  praetischc  Wirthschaftssystem  der  freien  Concurrenz  wirkt  ja  aller- 
dings auf  das  erste  Motiv,  wie  wir  wiederholt  sahen,  ausserordentlich  anspornend  ein. 


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1.  B.  1.  K.  Wirthschaftl.  Natur  des  Menschen.  3.  A.  §.  49. 


verdrängt  die  Wirksamkeit  der  günstigen  Erscheinungsformen  der  andereu  Motive 
und  lässt  das  fünfte  Motiv  überhaupt  wenig  oder  gar  nicht  zur  Entwicklung  kommen. 

Auf  diese  Weise  bildet  sich  aber  jene  schon  erwähnte  geistige  und  sittliche 
Atmosphäre,  der  alle  Personen  im  Wirtschaftsleben  immer  mehr  unterliegen.  Die 
öifenlliche  Meiuung  und  das  sittliche  Gefühl  jedes  Einzelnen  stumpft  ab,  die  Art  des 
Erwerbs,  des  Verbrauchs  wird  gleichmütig.  „Gelderwerb  um  jeden  Preis“,  auch 
um  den  der  Ehre,  des  Anstands,  des  Gewissens,  „Gelderwerb  auf  jede  Art“,  auch 
durch  wildeste  Speculation,  durch  grösste  Ausbeutung  Anderer,  dorch  sittlich  bedenk- 
. lichsto  Mittel  mit  den  traurigston  Folgen  für  Andre,  auf  hässlichsten  Wegen  , „Geld- 
erwerb in  möglichster  Höhe“,  auch  weit  Uber  den  eigenen  Bedarf,  über  ein  ver- 
nünftiges Maass  des  Verbrauchs,  der  Lebensweise,  der  Vennögensbildung,  der  be- 
rechtigten Zukunftsfürsorge  für  sich  und  die  Seinen  hinaus,  „Geldverbrauch  zu  frivolster, 
thörichtster  Genusssucht  und  Eitelkeit“  — das  werden  die  Zielpuncte.  Die  Generationen 
werden  von  Jugend  auf  damit  bekannt,  daran  gewöhnt,  alle  Classcu  und  Stände  der 
Bevölkerung  wachsen  in  diesen  Anschauungen  auf  und  machen  dieselben  zu  den  ihrigen. 
Classen,  Stände,  Einzelne,  welchen  nicht  die  materiellen  Mittel  der  im  Concurrenzkampf 
Obsiegenden  zu  Gebote  stehen,  werdon  gegen  letztere  mit  Neid  und  Hass  erfüllt. 
Auch  Wohlthätigkeit  und  Hilfswcsen  aller  Art,  auch  geistige  Genüsse  und  Bildung 
werden  nicht  um  der  Sache  Willen,  aus  berechtigten  Motiven  gefördert  und  betrieben, 
sondern  vornemlich  aus  Eitelkeit. 

üm  Einzelnes  zu  nennen : auch  in  den  nichtgeschäftlichen  Kreisen  wird  Börsen- 
speculation,  Lotteriespiel,  Grundstückspeculation , zwar  nicht  immer  offen  getrieben, 
weil  die  „Geheimhaltung  der  Einkommens-,  Erwerbs-  und  Vermögensverhältnisse“ 
Princip  der  heutigen  Gesellschaft  ist  und  aus  manchen  Gründen,  auch  der  Besteuerung 
gegenüber,  festgehalten  wird.  Aber  kaum  noch  scheut  sich  Jemand  vor  Anderen, 
die  Thatsache  derartiger  Thätigkeit  und  Erwerbs  zu  verbergen,  weil  er  oder  seiner 
Meinung  nach  Andre  darin  etwas  Unanständiges,  etwas,  was  „unfair“  sei,  gar  etwas 
Unehrenhaftes  oder  sittlich  Anstössigcs  sehen.  Am  Wenigsten  verurthcilt  sein 
eigenes  Gewissen  seine  Erwerbsweise.  Und  wenn  es  vielleicht  einmal  mahnt,  so 
ist  der  Trost  genügend:  „sie  machen  es  Alle  so,  warum  nicht  ich  auch?“  In  den 
Geschäftskreisen,  zu  denen  aber  ein  immer  grösserer  Theil  auch  der  übrigen  Bevölke- 
rung auf  gewissen  wirtschaftlichen  Gebieten  gehört,  fehlt  vollends  für  das  „Unfaire“ 
und  für  die  üblen  Rückwirkungen  so  mancher  „Geschäfte“  auf  das  Gemeinwesen,  auf 
die  Lage  der  unteren  Classen  jede  Empfindung,  fast  schon  jedes  Verständniss  für 
andersartige  ästhetische,  ethische,  sociale  Auffassungen.  Wenn  reiche  und  reichste 
Leute,  nur  um  immer  noch  reicher  zu  werden,  durch  Speculationen , Cartelle,  Ringe, 
Trusts  wichtige  Verbrauchsgegenständo  übermässig  verteuern,  dadurch  Noth  und 
Elend  über  die  Abnehmer  bringen:  das  sittliche  Gefühl  so  wenig  als  ein  richtiges 
Ehrgefühl  dieser  Leute  und  ihrer  Geschäfts-  und  Geselligkeitskreise  reagirt  dagegen 
nicht.  An  den  Tafelgenüssen  und  Festfreuden  dieser  „Geldbarone“  Theil  zu  nehmen, 
scheut  sich  kaum  Jemand,  wenigstens  nicht  aus  Gründen,  die  mit  der  Art  des  Er- 
werbs Zusammenhängen.  Man  beneidet,  man  bewundert  die  Leute  vielmehr  und  be- 
wirkt so,  dass  das  dritte  Motiv,  in  der  Form  der  Eitelkeit,  nun  auch  noch  auf  sie 
einwirkt  und  ihre  wirtschaftlichen  Handlungen  im  Erwerb  und  im  Verbrauch  sittlich 
abermals  bedenklich  beeinflusst. 

Je  mehr  sich  aber  ein  solches  Wirtschaftssystem  in  dieser  Weise  entwickelt, 
desto  verderbter  wird  der  Volksgeist  auf  dem  ganzen  Wirtschaftsgebiete.  Einer  zieht 
den  Andern  mit  sich,  ja,  um  zu  bestehen,  muss  ein  Jeder  sich  ähnlicher  Mittel  be- 
dienen, auf  ähnlichen  Bahnen  sich  bewegen.  Geld  allein  oder  einige  äussere 
E ito lk eitsehren  werden  noch  gewürdigt.  Alles  Andere  verliert  seinen  socialen 
Werth.  Die  Volksseele  geht  in  Mammonismus  auf  und  jede  neue  Generation,  die  in 
diesen  immer  allgemeineren  und  intensiveren  Einflüssen  aufwächst,  zeigt  diesen  mam- 
monistischen  Geist  immer  stärker,  überträgt  ihn  durch  Beispiel,  Lebensanschauung  auf 
ihre  eigenen  Nachkommen  und  das  ganze  Geschlecht  passt  sich  diesen  Verhältnissen 
förmlich  an.  Wo  angestammte  Fähigkeit  und  Neigung  zu  derartigem  Erwerb  hiuzu- 
kornmt,  generationenlang  vielleicht  Berufe  betrieben  wurden,  welche  zum  Mammonis- 
mus besonders  hinneigen  und  zum  Erfolg  darin  Anlage,  Oebong,  Geriebenheit  in 
besonderem  Grade  bedingen  — wie  im  Handel,  Geld-,  Grcditgcschäft  — , da  mag  in 
der  That  wohl  selbst  von  einer  gewissen  Vererbung  der  bezüglichen  Eigen- 
schaften, Geistes-  und  Gemüthsart,  mindestens  von  einer  Uebertragung  von  Kindes- 


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127 


beinen  an  gesprochen  werden  dürfen  (Jadenthum).  Alles  Erscheinungen,  welche 
mit  dem  hier  behandelten  Problem  Zusammenhängen. 

Man  kann  auch  noch  auf  eine  andere  Seite  der  modernen  Entwicklung  hin- 
weisen,  unter  deren  Einfluss  die  ethischen  Beziehungen  der  Menschen  unter  einander 
sich  nachtheilig  gestalten.  Wie  im  Grossbetriebe,  zumal  dem  industriellen,  sich 
die  Beziehungen  zwischen  Arbeiter,  Gehilfen  und  Arbeitsherrn  lockern,  zu  bloss  ver- 
tragsmässigen  werden  und  den  Cbaracter  persönlicher  Beziehungen  von  Mensch  zu 
Mensch  verlieren,  so  tritt  in  den  Grossstädten,  dem  Product  moderner  technischer, 
ökonomischer,  politischer  Entwicklung,  eine  ähnliche  Lockerung  aller  rein  menschlichen 
Beziehungen  zwischen  Consumcnt,  Kunden  und  Producent,  Lieferant,  Händler  ein: 
Alles  löst  sich  in  vorübergehende  Geschäftsbeziehungen  von  Personen  auf,  die  sich 
weiter  nicht  kennen,  keinerlei  menschliches  Interesse  für  einander  haben,  nur  gegen- 
seitig ihren  wirtschaftlichen  Vortheil  verfolgen.  Natürlich,  dass  auch  das  auf  die 
Motivation  im  wirtschaftlichen  Handeln  und  einigermaassen  auf  den  sittlichen  Cka- 
racter  der  Leute  ein  wirkt.  Selbst  ausserhalb  des  wirthschaftlichcn  Gebiets:  im  bloss 
geselligen  Verkehr  verkümmert  die  Gern  üt  hssei  te,  weil  die  porsönlicheu  Beziehungen 
zu  äusserliche  bleiben.  Die  „grossen  Städte'1  werden  nach  der  Gemüthsscito  der  Be- 
wohner „Menschenwüsten“.  Wer  die  herzliche  Geselligkeit  in  kleinen  und  die  gemüth- 
lose  in  grossen  Städten  kennt,  wird  das  nicht  läugnen.  Die  Schuld  liegt  auch  nicht 
an  den  Einzelnen , sondern  in  der  That  an  den  Lebensverhältuissen , den  weiten 
Wegen,  den  W’ohnungszuständen,  dem  „Zeitmangel“.  Natürlich  Alles  cum  grano  salis 
genommen.  Aber  cs  trägt  dazu  bei,  das  ganze  Leben  nüchtern,  die  Herzen  leerer 
zu  machen  und  so  die  geistig -sittliche  Atmosphäre  zu  schallen,  das  „milieu“,  in 
welchem  auch  die  wirthschaftlichcn  Handlungen  ihren  ausgeprägt  geschäfts- 
mässigen,  d.  h.  egoistischen  Character  erhalten. 

Es  ist  in  der  That  in  den  dargelegten  Beispielen  so  nicht  zu 
verkennen,  dass  jene  socialistische  Lehre  von  der  Rückwirkung  der 
Wirtschaftsordnung  auf  das  Wirtschaftsleben , dieses  letzteren 
wieder  auf  die  Lebensanschauungen  und  auf  die  ethische  Ge- 
sinnung grosser  Kreise  und  schliesslich  des  ganzen  Volkes  ein 
bedeutendes  Stück  Wahrheit  enthält. 

Man  kann  ähnlich  an  anderen  Wirtschaftsordnungen,  so  auf  dem  gewerblichen 
Gebiete  am  Zunftwesen  in  dessen  guter  Zeit,  im  Unterschied  zur  Gewerbefreiheit, 
den  Beweis  führen,  wie  hier  auch  umgekehrt  die  Nonnen  des  Wirthschaftsrechts  Ver- 
hältnisse des  Wirtschaftslebens,  der  Concurreuz  schufen,  aus  welchen  andere  Lebens- 
verbältnissc  und  Anschauungen,  und  weiter  auch  bessere  ethische  Grundsätze  und  an- 
ständigeres und  sittlicheres  practischos  Verhalten  hervorgegangen  sind : mehr 

genossenschaftliches  Gemeingefühl,  mehr  Standesehre,  mehr  Pflichtgefühl  auf  dem 
Berufsgebiete,  weniger  unanständige  und  gewissenlose  Concurrcnz.  Und  eben  als 
„Bern  f mit  ge  werblich  er  Sei  te“,  nicht  alsblosseErwerbseinrichtungohne 
Berufspflichten  wurde,  wie  schon  oben  hervorgehoben  (S.  102),  jedes  „Gewerbe“ 
aufgefasst.  So  wenigstens  in  jener  älteren  Blütezeit  der  Zünfte,  wo  die  öffentlich- 
rechtliche  und  sociale  Seite  derselben  vorwaltete  und  noch  nicht  die  Erstarrung  zu 
„geschlossenen  Privatrechts -Corporationen“  mit  privilogirter  Wirtschaftsstellung  der 
Meister  eingetreten  war. 

Freilich  besteht  nur  auch  hier  ein  Wechselwirkungsver- 
hältniss,  ähnlich  wie  zwischen  Wirthsehaftstechnik,  der  damit 
zusammenhängenden  Oekonomik  und  der  Wirtschaftsordnung,  so 
zwischen  diesen  und  der  wirthschaftlich-ethischen  Lebensanschauung, 
Gewöhnung,  Motiven. 

Eine  Bevölkerung  wio  unsere  heutige,  mit  Anschauungen  wie  den  dargelegten, 
verliert  die  Fähigkeit,  sich  selbst  nur  in  ein  anderes  Wirtschaftssystem,  wo  sie  nicht 
so  vom  ersten  Motive  allein  im  Wirtschaftsleben  bestimmt  wird , hineinzudenken. 


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128 


1.  B.  1.  K.  Wirtschaft!.  Natur  des  Menschen.  3.  A.  §.  50. 


Sie  würde  auch  unmittelbar  gar  nicht  fähig  sein,  ihr  Dichten  und  Trachten,  ihre 
Motive  einem  solchen  System  anzupassen.  So  extremen  Forderungen,  wie  denen  des 
Socialismus  gegenüber  ist  sie  aus  voller  Ucberzeugung  gleich  mit  dem  Stigma  des 
Utopischeu  bei  der  Hand,  ohne  zu  beachten,  dass  sie  eben  ihre  Anschauungen, 
Gewohnheiten , Sitten , Motive  zum  Theil  wenigstens  durch  die  bestehenden  Wirth- 
8chaftsvcrhältnisse  gewonnen  hat.  Der  Socialismus  hat  hier  in  der  Tliat  im  Princip 
recht,  wie  schon  bemerkt,  manche  der  Einwände,  welche  gegen  ihn  erhoben  werden, 
als  unrichtig  abzulohnen  und  die  Einwirkung  der  Wirthschaftsordnuug  auf  die  An- 
schauungen, Gesinnungen,  Strebeziele  und  Motive  der  wirthschaftenden  Menschen 
zu  betonen. 

§.50.  — 2.  Einwäii de  gegen  dieTragweite  der  dar- 
gelegten Lehre.  Allein  gerade  der  Socialisnius  berücksichtigt 
hier  doch  zweierlei  nicht  genügend  und  eben  darin  liegt  trotz  der 
principiellen  theilweisen  Richtigkeit  seiner  Auffassung  die  Schwäche 
seiner  Beweisführung  in  wissenschaftlicher  und  die  zu  verrautheude 
Schwäche  seiner  Resultate  in  practiseher  Hinsicht. 

a)  Einmal  unterschätzt  er  die  Schwierigkeit,  eine  unter  einem 
anderen  Wirtschaftssystem  aufgewachsene,  unter  dessen  geistiger 
und  sittlicher  Atmosphäre  im  Denken,  Trachten,  Fühlen,  in  ihrer 
Motivation  auch  auf  wirtschaftlichem  Gebiete  so  und  so  gewordene 
Bevölkerung  nun  in  ein  ganz  andres  Wirtschaftssystem  hinüber- 
zuführen, flir  welches  dieselbe  mit  ihrer  einmal  historisch  ererbten 
und  entwickelten  Motivation  gar  nicht  passt.  Und  das  Alles  so- 
fort auf  Grund  des  Machtspruchs  einer  ökonomischen  Theorie, 
welche,  wäre  sie  selbst  vollständig,  nicht  nur  teilweise,  richtig, 
jedenfalls  zu  ihrer  Verwirklichung  in  der  Praxis  andere 
als  die  gegebenen  Menschen  mit  ihren  gegebenen  psychischen 
Eigenschaften  uud  Motiven  voraussetzt ,). 

Eigentlich  kommt  der  Socialismus  hier  mit  seiner  besprochenen  Theorie  über  die 
Wechselbeziehungen  zwischen  Wirthschaftsordnung  und  Motiven  der  wirthschaftenden 
Menschen  selbst  in  Widerspruch.  Jedenfalls  verfährt  er  ganz  ungeschichtlich, 
auch  dabei  in  Widerspruch  mit  seiner  oben  erwähnten  Theorie  und  mit  dem  richtigen 
Kern  seiner  Psychologie  und  Motivationslehre.  Denn  aus  diesen  folgt  doch  selbst 
schon,  dass  bestenfallcs  erst  in  langsamer  Umbildung  und  Gewöhnung  die 
Menschen  als  handelnde  Glieder  eines  socialistischcn  Wirtschaftssystems  den  Anfor- 
derungen des  letzteren  an  die  psychische,  ethische  Beschaffenheit  und  an  die  not- 
wendig mitwirkendeu  Motive  dieser  Glieder  sich  anpassen  inüssteu. 

Nur  das  bleibt  richtig,  dass  und  soweit  als  in  der  Tliat  das  bcsteheude  Wirt- 
schaftssystem auch  ethisch  nachtheilig  auf  die  Motivation  der  wirthschaftenden 
Glieder  und  auf  deren  ganze  Lebensanschauuug  und  Gesinnung  einwirkt , eben  auch 
aus  diesem  Grunde  passende  und  möglichst  weitgehende  Aenderungen  des 
Wirtschaftssystems  herbeigeführt  werden  müssten,  um  die  Schwierigkeiten 
psychologischer  Art  für  eine  Verbesserung  des  Wirtschaftssystems  nicht  immer  noch 
grösser  werden  zu  lassen.  Eine  sofortige  oder  nur  eiue  sehr  rasche  Durch- 


*)  Allerdings  sehen  das  Männer  wie  K.  Marx  wohl  ein.  S.  z.  B.  seine  be- 
merkenswerten kritischen  Ausführungen  über  das  Vertheilungsprincip  in  der  socia- 
listischen  Gesellschaft,  in  der  Kritik  des  Gothaer  Programms  (Neue  Zeit,  1S91 , IX, 
1.  B.,  S.  567).  Erst  später  könne  es  heissen:  Jeder  nach  seinen  Fähigkeiten,  Jedem 
nach  seinen  Bedürfnissen. 


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129 


Führung  des  socialistisclien  Programms  würde  im  Uebrigen  grade  nach  der  Psycho- 
logie des  Socialismus  selbst  auf  die  Erfüllung  der  alten  Forderung  hinauslaufen : sich 
selbst  am  eigenen  Schopfe  aus  dem  Sumpfe  herausziehen  zu  sollen.  Die  „anderen 
Menschen“,  die  der  Socialismus  brauchte,  sind  eben  nach  seiner  eigenen  Theorie 
nur  sehr  allmälig  aus  den  einmal  gegebenen  erst  „anders  zu  machen- 
den“ Menschen  zu  erlangen. 

Für  die  Praxis  des  Wirtschaftslebens , der  Wirtschafts- 
politik und  des  Rechts  folgt  aus  dem  Allen,  dass,  von  allen  anderen 
Gründen  abgesehen  (technischen,  im  bestehenden  Rechtszustand 
und  in  der  hinter  diesem  stehenden  Macht  liegenden  Verhältnissen) 
gerade  aus  psychologischen  Gründen  langsame,  wenn  auch 
eingreifende  Reformen  das  Richtige  und  Erfolg  Ver- 
sprechende, ja  eigentlich  das  allein  Mögliche,  wenigstens 
allein  dauernd  Mögliche  sind. 

Solche  Reformen  müssen  dabei  immer  die  Leute  zunächst  nehmen,  wie  sie  sind, 
sie  soweit  nöthig  umzubilden  suchen,  auch  durch  den  Einlluss  der  Wirtschaftsord- 
nung, aber  erst  wenn  das  und  soweit  als  das  gelungen  ist,  selbst  sich  derartig 
gestalten,  wie  sie  mit  solchen  veränderten,  daher  anderen,  besseren  Motiven,  vor 
Allem  mehr  dem  fünften  Motiv  zugänglich  gewordenen  Menschen  sich  ausführen 
lassen. 

Dass  der  richtige  psychologische  Weg  hierzu  freilich  nicht  der  des  agitatorischen 
Socialismus  ist,  den  Massen  „Classenbewusstsein“  beibringeu,  sie  nur  anspruchs- 
voller machen,  nur  auf  ihre  „verdammte  Bedürfnislosigkeit“,  als  auf  ihren  Haupt- 
fehler, schelten,  aber  nicht  von  ihnen  und  jedem  Einzelnen  darunter  in  erster 
Linie  Selbstzucht,  wenigstens  keine  andre,  als  den  „freiwilligen“  Gehorsam  gegen 
die  „Führer“,  verlangen;  dass  die  materialistische  Weltanschauung  hier  die  Ein- 
zelnen für  ein  viel  mehr  Aufopferung,  Gemeinsinn,  Pflichtgefühl  forderndes  Wirt- 
schaftssystem, wie  das  socialistische,  weit  weniger  wirksam  psychisch  geeignet  machen 
wird,  als  aller  Erfahrung  nach  eine  religiöse  Anschauung,  — das  bedarf  für  den 
Kundigen  und  halbwegs  unbefangen  Urteilenden  freilich  keines  Beweises.  Mit  dem 
letzteren  Einwurf  wird  aber  schon  das  zweite  Bedenken  berührt. 

b)  Ein  zweiter  Fehler  in  der  Beweisführung  des  Socialismus  ist 
nemlich  doch  der  noch  grössere.  Es  ist  der  mehrfach  schon  be- 
rührte, welcher  im  Princip  auch  gewissen  Argumentationen  einzelner 
historischer  Nationalökonomen  anhaftet:  weil  auch  das  geistig-sitt- 
liche Wesen  des  Menschen , weil  auch  die  psychische  Motivation 
sich  modificirt  und  differenzirt  und  direct  und  indirect  unter  äusseren 
Einflüssen,  wie  der  Wirtschaftsordnung,  steht,  wird  doch  nun 
wieder  diese  Modificirbarkeit  und  Differenzirbarkeit  und  die  Wirk- 
samkeit solcher  Einflüsse  übertrieben,  das  Constante  oder  höchst 
wenig  Veränderliche  in  der  menschlichen  Natur,  bei  den  Einzelnen, 
in  der  Motivation  auch  auf  wirtschaftlichem  Gebiete  unterschätzt, 
daher  in  unserem  concreten  Falle  selbst  die  Möglichkeit  ver- 
änderter, veredelter,  versittlichter  Motivation  in  den  wirtschaft- 
lichen Handlungen  unter  der  Einwirkung  veränderter  Wirtschafts- 
ordnung für  viel  zu  gross  angenommen. 

Da  geht  in  der  That  die  materialistische  Psychologie  des  Socialismus  wieder  ins 
Utopische  und  Ilyperideologisclie  über  und  behalten  die  Einwände  der  philosophischen, 
A_  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlagen.  9 


130  1.  B.  1.  K.  Wirtschaft).  Natur  des  Menschen.  3.  A.  §.  50,  51. 


psychologischen,  ethischen,  nationalökonomischen  Gegner  ihr  Recht,  — auch  selbst 
gegen  die  angedcuteten , wenn  auch  viel  weniger  weit  gehenden  Argumente  und  Be- 
hauptungen historischer  Nationalökonomen.  Auch  K.  Marx  kommt  hier  Uber  die  Be- 
fangenheit des  vulgären  Socialismus  nicht  hinaus,  wie  seine  in  der  Note  auf  S.  128 
citirten  Ausführungen  zeigen. 

Der  Mensch,  auch  der  edlere,  bessere,  auch  der  auf  wirt- 
schaftlichem Gebiete  von  den  höheren  und  besseren  Motiven  in 
seinem  Handeln  mitbestiramte,  bleibt  immer  — „Mensch“.  Auch 
der  einzelne,  vollkommenste,  ausgezeichnetste,  — vollends  die 
grosse  Mehrzahl. 

Und  eine  „natürliche  Charactcraristokratie“  auf  ethischem  Gebiete 
ist  eben  doch  wohl  auch  eine  unumstössliche  Thatsache,  deren  bedingende  und  be- 
stimmende Momente  wir  freilich  so  gut  wie  nicht  kennen,  muthmaasslich  niemals 
genügend  kennen  werden.  Das  alberne  Wort:  „was  der  Mensch  isst,  ist  er",  ist  doch 
nur  eine  These,  ein  Glaubenssatz  der  plattesten  materialistischen  Orthodoxie.  Auch 
die  „Vererbungstheorie“,  die  heutige  Modcdoctrin  des  fortgeschrittenen  Realismus, 
rechnet  ja  in  wissenschaftlicher  Hinsicht  mit  fast  lauter  unbekannten  Grössen  und 
phantasirt  sich  einige  Zusammenhänge  zurecht.  Aber  soweit  sie  sich  auf  „Erfahrung“ 
nach  freilich  denkbar  unvollkommenster  Methode  beruft,  geht  sie  eben  über  die  un- 
bestreitbarsten widersprechenden  Erfahrungen  für  ihre  These  einfach  hinweg. 
Wie  reimt  sich  z.  B.  mit  ihrer  Vererbungstheorio  die  grosse  physische  wie  psychische 
Temperaments-  und  Charactcrverschiedenhcit  von  Geschwistern  aus  demselben  Ehe- 
bund, abstammend  von  Eltern,  die  während  der  Zeugungsperiode  ihrer  Kindergeneration 
physisch  wie  psychisch  sich  nicht  wesentlich  verändert  haben?  Denn  mit  dem  blossen 
Hinweis  auf  die  blosse  Alterszunahme  der  Eltern  würde  man  doch  nur  einen  weiteren 
unbekannt  wirkenden  Factor  zu  Hilfe  nehmen,  dessen  ja  nicht  unmöglicher  Einfluss 
mit  der  Beschaffenheit  der  Kinder  auch  gar  nicht  proportional  ist.  Wie  reimt  sich 
mit  der  These  die  Verschiedenheit  von  Geschwistern,  welche  auch  unter  denselben 
Lebensverhältnissen  aufwachsen,  namentlich  unter  denselben  wirtschaftlichen  Exi- 
stenzbedingungen stehen?  Würden  Erwägungen  dieser  Art  nicht  einen  Satz,  — frei- 
lich auch  nur  eine  Hypothese  — dass  Jeder  eine  bestimmte  individuelle 
Ausstattung  physischer,  geistiger,  sittlicher  Eigenschaften  und  Entwicklungs- 
keime derselben  eigens  mit  sich  bekäme,  mindestens  ebenso  begründet  erscheinen 
lassen,  als  die  rein  materialistische  Hypothese  — denn  mehr  ist  es  noch  in  keiner 
Beziehung  — vom  entscheidenden  Einfluss  von  Vererbung  und  äusseren  Lebens- 
verhältnissen ? Jeder  Menschenkenner  wird  sicher  ebenso  viel,  ich  möchte  sagen  mfehr 
Beispiele  dafür  anführen  können,  dass  sich  ein  Individuum  durch  alle  Lebensperioden 
und  die  verschiedensten  äusseren  Lebensumstände  hindurch  nicht  verändert,  zumal 
nach  Temperament,  Character,  Motiven  „derselbe“  bleibt,  als  gegentheilige  Beispiele. 
Die  äussere  Form  der  Handlungen,  des  Auftretens  mag  sich  sehr , das  innere  Wesen 
wird  sich  meist  wenig  oder  gar  nicht  ändern.  Gegenüber  den  Uebertreibungen  der 
socialistischen  Lehre  ist  das  doch  wohl  festzuhalten. 

§.  51.  — 3.  Schlussergebniss  hinsichtlich  der  Moti- 
vation. Gerade  im  wirtbschaft liehen  Leben  wird  das  erste 
Motiv  aus  seiner  beherrschenden  Stellung  schwerlich  allgemeiner 
herausgedrängt  werden  können.  Das  practische  Problem  ist 
nicht,  es  durch  andere,  auch  nicht  durch  das  fünfte  und  die  guten 
Specialmotive  des  dritten  und  vierten  Leitmotivs  zn  ersetzen, 
sondern  cs  nur,  soweit  nöthig,  in  seiner  Wirksamkeit  einzu- 
schränken, es  mit  den  anderen  wünschenswerthen  Motiven  zu 
combinircn  und  so  in  seiner  Wirksamkeit  zu  modificiren,  end- 


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131 


lieh  es  wirksam  zu  erhalten,  wo  es  und  soweit  als  es  im  be- 
rechtigten Einzel-  und  im  Gesammtinteresse  günstig  wirkt. 

Diese  Gesichtspuncte  sind  namentlich  wieder  bei  allen  Fragen 
bezüglich  der  Einrichtungen,  Organisationen,  Rechts- 
normen des  Wirtschaftsgebiets  zu  beachten.  Die  practische 
Schwierigkeit  liegt  dabei  dann  grade  darin,  in  Bezug  auf  die 
Einwirkung  auf  die  Motive,  speciell  auf  das  erste,  das  Richtige  zu 
treffen,  nicht  zu  viel,  nicht  zu  wenig  vom  Menschen  als  nach 
Trieben,  Motiven,  Lustgefühlen,  Pflichtgefühl  handelnden  und 
handeln  könnenden  Wesen  zu  verlangen.  Der  Socialismus  verlangt 
zu  viel,  der  Individualismus  zu  wenig,  das  soeialistische  Wirt- 
schaftssystem bedarf  völlig  veränderter,  förmlich  psychisch 
wesensanderer  Menschen,  das  System  der  freien  Concurrenz 
stumpft  die  edleren  und  anständigeren  Motive  des  wirtschaftlichen 
Handelns  zu  stark  ab,  entfesselt  das  erste  Motiv  zu  sehr,  und  be- 
günstigt so  seine  Entwickelung  zum  Eigennutz.  Das  gilt  es  bei 
Reformen  dieses  Systems  zu  verhüten. 

Ueberall  liegen  da  dann  doch  Probleme  psychologischer 
und  ethischer  Art  vor.  Gewiss  sind  dafür  die  äusseren,  durch 
die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  bedingten  Lebensverhältnisse  und 
Anschauungen  teils  von  günstigem,  teils  von  ungünstigem  Ein- 
fluss. Theils  schaffen  oder  steigern  sie  Versuchungen  für  die  Ent- 
artung des  ersten,  des  dritten  Motivs,  theils  wirken  sie  auf  die 
Schwächung  und  Verkümmerung  des  vierten  und  fünften  hin. 
Aber  es  ist  und  bleibt  eine  Uebertreibung  der  Bedeutung  der- 
artiger Einflüsse,  auf  sie  alles  Böse  für  die  Motivation  im  wirt- 
schaftlichen Handeln  zu  schieben  oder  von  ihnen  alles  Gute  dafür 
zu  erwarten.  Es  ist  und  bleibt  nicht  minder  eine  Uebertreibung, 
die  allgemeine  menschliche  und  die  speciell  wirtschaftliche  Natur 
für  überhaupt  so  weit  gehend  abhängig  von  diesen  Einflüssen  und 
für  so  umänderungsfähig  in  der  psychischen  Motivation  und  in  der 
ethischen  Seite  zu  halten,  wie  es  der  Socialismus  thut.  Endlich 
und  vor  Allem  ist  es  eine  beim  Einen  bewusste,  beim  Anderen 
unbewusste  Selbsttäuschung  und  Täuschung  Dritter,  zu 
verkennen,  einmal:  dass  nach  aller  äusserer  geschichtlicher  Beob- 
achtung und  aller  innerer  Selbstprüfung  gerade  die  bösen  egoisti- 
schen Triebe  unserer  Natur  durch  Arbeiten  an  sich  selbst, 
eines  Jeden  an  seinem  Theil,  durch  In -sich-gehe n und  Selbst- 
zucht, durch  Hören  auf  die  Stimme  des  Gewissens  be- 
kämpft werden;  sodann:  dass  religiöser  Glaube  an  eine 

9* 


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132  1.  B.  1.  K.  Wirthschaftl.  Natur  des  Menschen.  3.  A.  §.  51,  52. 

höhere  Autorität,  au  Gott,  an  dessen  Allwissenheit,  dessen 
Allmacht,  dessen  Hilfe  im  Kampfe  mit  den  egoistischen  Trieben, 
dessen  Ge-  und  Verbote,  auch  dessen  Gerechtigkeit  und  Strafgewalt 
hier  die  grösste  Unterstützung  der  besseren,  unselbstischeren  Motive 
leistet.  Das  ist  eine  psychologische  und  historische  Er- 
fahrungssache ersten  Rangs. 

Der  einzelne  unbefangen  Urtheilende  mag  dabei  persönlich  zu 
einem  solchen  Gottesglauben,  auch  zum  christlichen , stehen,  wie 
er  will:  die  Wahrheit  des  Gesagten  wird  er  nicht  bestreiten  können, 
wenn  er  zwingender  psychologischer  Beweisführung  zugäng- 
lich ist.  Ein  Wirthschaftssystem , welches  wie  das  socialistische, 
die  höchste  Selbstverleugnung  und  Unterdrückung  der  bösen 
egoistischen  Triebe  und  Motive,  die  höchste  Entwicklung  des  Pflicht-, 
Ehrgefühls  und  desjenigen  der  Arbeitsfreude  verlangen  muss, 
gräbt  sich  durch  die  grundsätzliche  Negirung  der  Religion  und 
des  Glaubens  an  Gott  selbst  die  Wurzel  ab.  Denn,  wenn  und 
soweit  überhaupt  — und  engste  Grenzen  bleiben  ja  nach  allem 
Gesagten  doch  noch  gezogen  — es  psychologisch  ausführbar 
sein  sollte:  nur  aus  solchen  Wurzeln  könnten  und  müssten  sich 
die  Keime  entwickeln,  um  Menschen  zu  erhalten,  die  in  ihrer 
Motivation  wenigstens  einigermaassen  für  die  practische  Verwirk- 
lichung des  Socialismus  geeignet  wären. 

IV.  — §.  52.  Bedeutung  der  Motivationstheorie 
für  den  psychologischen  Unterbau  der  socialökono- 
mischen Methodologie  und  der  ganzen  Socialökono- 
mie. Aus  der  ganzen  vorhergehenden  Lehre  ergiebt  sich  für  das 
wirtschaftliche  Thun,  bzw.  Handeln,  dass  es,  wie  alles  menschliche 
Handeln,  durch  verschiedene  Motive  bestimmt  wird  und  be- 
stimmbar ist,  sowie  dass  im  Menschen  das  psychische  Vermögen 
liegt,  auch  im  wirtschaftlichen  Handeln  verschiedenen  Motiven, 
in  verschiedener  Combination  und  Stärke  durch  innere  Selbstzucht 
und  durch  Erziehung  und  Gewöhnung  zugänglich  zu  werden. 

Es  lässt  sich  dann  hierbei  unterscheiden  ein  allgemein 
menschliches  Moment  und  ein  individuell  variables  Moment. 

1.  Nach  dem  ersten  haben  wir  es  in  der  menschlichen  Moti- 
vation auch  auf  wirtschaftlichem  Gebiete  mit  Uranlagen  und 
Folgen  der  menschlichen  Natur  als  solcher  zu  thun.  Diese 
Natur  der  „Menschen“  ist  — wenigstens  in  allen  hier  allein  in 
Betracht  kommenden  historischen  Zeitaltern  — eine  physisch 
wie  psychisch,  aller  Evolutionstheorie  oder  richtiger  Evolutions- 


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133 


phantasie  zum  Trotze,  wesensgleiche:  die  „Menschheit“  ein 
eigenes,  constantes  Naturgebilde,  welches  sich  nach  unten  zu 
wie  physisch  so  auch  psychisch  von  allen  Thieren  principiell, 
nicht  nur  gradweise  unterscheidet,  nach  oben  zu,  „höheren  Wesen“ 
der  anthropomorphistischen  idealistischen  Phantasie  und  des  reli- 
giösen Glaubens,  „Engeln“,  „Göttern“,  der  Gottheit  gegenüber  aber 
nicht  minder.  Zum  allgemein  menschlichen  Moment  gehört  daher 
auch  die  wesensgleiche  Art  der  psychischen  Motivation  , 
wie  für  alles,  so  auch  für  das  wirthschaftliche  Handeln,  daher  die 
Fähigkeit,  jenen  verschiedenen  Motiven,  in  verschiedenen  Com- 
binationen  und  Stärkegraden,  zugänglich  zu  sein  oder  doch  zu- 
gänglich gemacht  werden  zu  können:  diese  Fähigkeit  als  eine 
allgemein  menschliche  Eigenschaft  und  Thatsache  genommen, 
welche  in  Art  und  Maass  ihrer  Entwicklung  und  allerdings  auch 
ihrer  eigenen  Entwicklungsfähigkeit  freilich  grosse  individuelle 
Verschiedenheiten  zeigt,  aber  doch  ein  Kriterion  des  Menschen  als 
solchen  ist,  wenn  man  von  gewissen  Stadien  des  Kindes-  und 
Greisenalters , von  gewissen  Zuständen  der  Körper-  oder  Geistes- 
krankheit bei  Einzelnen  absieht. 

Wäre  diese  specifiscli  gleiche  Fähigkeit,  nach  gleichartigen  Motiven  zu  handeln, 
nicht  allem,  was  wir  „Mensch“  nennen,  eigen,  so  wurde  es  unmöglich  sein,  sich 
gegenseitig  zu  verstehen  oder  doch  zum  Verständnis  unter  einander  gebracht  werden 
za  können  und  würde  die  Menschheit  nicht  in  derartige  Gruppen  zerfallen,  wie  sie 
uns  die  Geschichte  zeigt,  sondern  in  wesenartig  verschiedene  Gruppen.  Keine 
geschichtliche  Thatsache,  nicht  aus  der  fernsten  Zeit,  auf  die  wir  hinsichtlich  mensch- 
lichen Thuns  wenigstens  zurückschliessen  können,  gestattet  uns  irgend  etwas  einer 
derartigen  Annahme  sich  auch  nur  entfernt  Näherndes : für  die  wirklich  geschichtlich 
bekannteren  Zeiten  waren  die  Menschen  „im  Wesentlichen1*  psychisch,  nach  ihren 
Motiven  des  Handelns  so.  auch  physisch  so , wie  wir  Heutigen.  Nichts  spricht  dafür, 
dass  das  in  naher  oder  entferntester  Zukuuft  andors  werde. 

Damit  wird  auch  ein  C&rdinalpunct  für  die  Methodologie,  für  die  Berechtig- 
ung des  deductiven  Verfahrens,  insbesondere  desjenigen,  wo  man  aus  dem  ersten 
Motiv  ableitet , und  ebenso  ein  Cardinalpunct  für  alle  Fragen  der  Organisation , Ein- 
richtungen, Rechtsnormen  des  Wirtschaftslebens,  für  Alles,  was  „Bau  und  Leben  des 
socialökonomischen  Körpers“  betrifft,  festgcstellt.  Mit  „Menschen“  als  Menschen 
habeu  wir  es  einmal  zu  thun.  Das  Constante  in  diesen  Menschen,  ihrer  Moti- 
vation. ihrem  Handeln  geht  aus  dieser  Wcscnsgleichheit  aller  Individuen  hervor. 
Historische  und  socialistische  Nationalökonomie  übertreiben  hier  die  individuelle 
Differcnzi rung  in  ihren  Folgen  für  alles  und  auch  spcciell  für  wirtschaftliches 
Handeln  ganz  ausserordentlich. 

2.  Das  zweite,  das  individuell  variable  Moment  in  der 
menschlichen  Natur,  hat  aber  deswegen  doch  auch  seine  grosse, 
wenn  auch  nicht  diejenige  durchschlagende  Bedeutung  wie  das  erste 
Moment. 

Um  individuelle  Variabilität  handelt  es  sich,  nebenbei  bemerkt,  da  das 
curiose  unklare  Auffassungen  mitunter  beinahe  zu  verkennen  scheinen,  natürlich  doch 
stets.  Denn  das,  was  wir  zusammenfassend  die  Variabilität  und  Differenzirung  nach 


134  1.  B.  1.  K.  Wirtlischaftl.  Natur  des  Menschen.  3.  A.  §.  52. 

Zeitaltern,  Ländern,  Völkern,  Stämmen,  Gruppen,  Classen,  Ständen  u.  s.  w.  nennen, 
ist  doch  schliesslich  immer  die  Variabilität  und  Diflercnzirung  der  Individuen, 
als  der  allein  bestehenden  physisch -psychischen  Einheiten,  worüber  figürliche,  Ana- 
logien anwendende  Redeweisen  der  historischen  Nationalökonomie,  der  Sociologie,  der 
„organischen“  Auffassung  u.  s.  w.  so  leicht  hinwegsehen  lassen. 

Gerade  die  Variabilität  und  Differenzirung  der  Individuen  zeigt, 
dass  bei  Festbaltuug  des  Typus  im  körperlich-geistigen  Wesen  des 
Menschen,  daher  innerhalb  der  dadurch  gezogenen  Grenzen, 
doch  auch  eine  unendlich  mannigfaltige  Verschiedenheit 
der  Motivation,  der  Leitmotive  und  ihrer  Specialarten  und 
Nuancen,  der  Combinationeu  und  Stärkegrade  der  Motive,  des 
ökonomischen  und  ethischen  Werths  derselben  bei  den  Individuen 
stattfinden  kann  und  stattfindet. 

Eben  daraus  folgt  die  Aufgabe,  die  Motive  nach  ihrem  Werth 
für  das  Wirthschaftsleben,  für  Production  und  Vertheiluug  des  Er- 
trags, zu  beurtheilen,  zu  classificiren  und  darauf  hinzustreben,  die 
ökonomisch  und  sittlich  wünschenswerten  zu  grösserer  Wirksam- 
keit, zu  zweckmässiger  Combination  zu  bringen,  die  entgegen- 
gesetzten zu  verdrängen  oder  doch  iu  ihrer  Wirksamkeit  zu 
schwächen.  Der  Zielpunct  dabei  wird  das  wahre  und  berechtigte 
ökonomische  Interesse  der  Gattung  und  das  Interesse  ver- 
besserter Sittlichkeit  im  Volke  sein  müssen. 

Die  Erfüllung  dieser  Aufgabe  nach  diesem  Zielpunct  liegt 
nun  allerdings  im  Gebiete  der  sittlichen  und  intellectuellen  Er- 
ziehung zur  wahren  Cultur,  der  Zucht  des  Einzelnen  an  sich 
selbst,  der  äusseren  Erziehung  durch  Lehre,  Uebertragung,  Beispiel, 
Sitte,  durch  Entwicklung  der  feineren,  berechtigteren,  edleren  Formen 
der  egoistischen  Motive,  vor  Allem  aber  des  Pflichtgefühls. 
Dabei  wird  dann  jener  Einfluss  des  Zustands  der  Wirtschafts- 
organisation und  des  Wirthschaftsrcchls  auf  die  sittliche  Atmosphäre, 
dessen  oben  gedacht  wurde,  zu  berücksichtigen  und  eben  wegen 
dieses  Einflusses  Wirtschaftsorganisation  und  Recht  möglichst  so 
zu  gestalten  sein,  dass  dadurch  die  Motivation  des  wirtschaftlichen 
Handelns  günstig  beeinflusst  wird. 

Immer  wird  hier  jedoch  das  Erreichbare  von  — dem  Con- 
sta nt en  oder  nur  höchst  wenig  und  höchst  langsam  Modificirbaren 
und  sich  Modificirenden  in  der  allgemeinen  und  in  der  speciell 
wirtschaftlichen  Natur  des  Menschen  abhängen,  was  in  Theorie 
und  Praxis  niemals  vergessen  werden  darf.  Aber  anderseits  ist 
auch  niemals  eine  absolut  feste  Grenze  für  die  Entwicklung  der 
Motivation  in  günstiger  Richtung  gezogen,  und  wenn  das  Ideal  auch 


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Ergebuiise. 


135 


immer,  weil  wir  „Menschen“  sind  und  bleiben,  unerreichbar  und 
jede  Annäherung  daran  gegenüber  der  verbleibenden  Distanz  kaum 
merkbar  sein  mag,  so  wird  doch  die  Aufgabe  selbst  für  den  Ein- 
zelnen und  für  die  Gemeinschaft  immer  wieder  festgehalten  werden 
müssen.  Dann  erst  erfolgt  die  richtige  „Ethisirung“  der  Moti- 
vation und  des  Handelns  im  Wirtschaftsleben. 

Das,  was  in  dieser  Hinsicht  der  Einzelne,  die  Classe,  das 
Volk,  das  Zeitalter,  die  Menschheit  erreichen,  nicht  der  Güterbesitz, 
der  materielle  Keichthum  an  sich,  bildet  den  Maassstab  wie  ihres 
sittlichen  Werths  so  auch  der  wahren  Höhe  der  Entwicklung  der 
Wirtschaft  und  der  Cultur  der  Menschen. 

Für  die  Methodologie  aber  folgt  aus  dein  individuell  variablen  Moment  der 
menschlichen  Natur  zweierlei.  Einmal  muss  cs  neben  dem  constauten  Moment  des 
„allgemein  Menschlichen“,  insbesondere  bei  der  Deduction  aus  dem  ersten  Motiv,  ge- 
nügend mit  berücksichtigt  worden,  und  sodaun  sind,  um  dies  zu  ermöglichen,  Beob- 
achtungen innerer  psychischer  Art  an  sich  selbst,  aber  auch  äusserer  Art  an  den 
wirtschaftlichen  Handlungen  und  deu  davon  abhängigen  Erscheinungen  anzustclleu, 
in  welchen  die  Motive  der  Handlungen  Dritter  und  ibei  der  Schwierigkeit  objectiver 
und  selbständiger  Prüfung  unserer  eigenen  Motivo)  unserer  selbst  ja  allein  äusserlich 
hervortreten  und  Beobachtungsobject  werden  können.  Daraus  ergiebt  sich  die  Not- 
wendigkeit steter  Verbindung  deductiven  und  inductiven  Verfahrens  (§.  05, 
70,  75  f.,  70  £F.). 

V.  — §.  53.  Fehler  der  verschiedenen  theoretischen 
Richtungen.  Fassen  wir  zum  Schluss  dieses  Kapitels  die 
Fehler  zusammen,  welche  nach  den  hier  gewonnenen  Ergebnissen 
den  verschiedenen  wissenschaftlichen  Richtungen  der  Nationalöko- 
nomie vorgeworten  werden  dürften. 

Als  schwierige,  höchst  verwickelte,  feiue  Probleme  gerade 
der  Psychologie  hat  die  bisherige  Wissenschaft  die  national- 
ökonomischen  Probleme  nicht  immer  genügend  aufgefasst,  wenn 
auch  selten  dieser  Character  der  letzteren  ganz  verkannt  wurde. 
Der  Fortschritt  in  der  Vertiefung  der  Auffassung  ist  der  historischen 
Richtung  mit  zu  verdanken,  aber  diese  hat  dabei  selbst  wieder 
nicht  das  richtige  Maass  inue  zu  halten  und  nicht  immer  die  rich- 
tige Nutzanwendung  ihrer  besseren  psychologischen  Erkenntniss  zu 
machen  gewusst.  Der  Socialismus  ist  aber  noch  viel  weiter  ge- 
gangen und  hat  sich  über  die  psychologischen  Bedingungen  des 
menschlichen  Handelns  vielfach  ganz  hinweggesetzt:  wohl  von 
allen  sein  grösster  Fehler  in  seiner  Theorie  wie  in  seinen  prac- 
tischen  Bestrebungen  und  Zielen. 

Im  Einzelnen  war  der  Fehler  der  älteren  Theorie,  der  „briti- 
schen Öekonomik“,  wohl  vornemlich  der,  dass  sie  die  w irth- 
schaftliche  Natur  des  Menschen  zu  sehr  aus  der  allgemeinen 


136  1.  B.  1.  K.  Wirthschaftl.  Natur  des  Menschen.  3.  A.  §.  53. 

Natur  desselben  herauslöste,  mit  ihr  allein  in  ihren  Deductionen 
und  Erörterungen  operirte,  zu  ausschliesslich  den  Menschen  in 
seinem  wirtschaftlichen  Handeln  vom  ersten  Motiv  auch  im  Leben 
selbst  bestimmt  ansah,  die  anderen  Motive,  die  Combinationen  der- 
selben unter  einander  und  mit  dem  ersten  Motiv,  die  verschiedenen 
Süirkegrade  dieser  Motive,  auch  des  ersten,  nach  Individuen  und 
bei  diesen  wieder  nach  Zeitaltern,  Völkern,  Classen  u.  s.  w.  zu 
wenig,  in  der  Theorie  öfters,  selbst  absichtlich,  gar  nicht,  in  der 
Praxis,  in  der  Politik  auch  nicht  genügend  beachtete.  Diesen 
Fehler  gilt  es  vor  Allem  zu  vermeiden.  Wesentlich  um  dies  zu 
begründen,  wurde  die  Motivationstheorie  hier  so  eingehend  ent- 
wickelt. 

Die  historische  Richtung  hat  dazu  beigetragen,  diesen 
Fehler  zu  berichtigen.  Aber  sie  ist  ihrerseits  wieder  in  den  Fehler 
verfallen,  nun  gleich  den  Schluss  zu  ziehen,  der  eben  aus  dem 
Gesagten  nicht  folgt,  dass  auch  nicht  einmal  zum  blossen  Zweck 
der  methodischen  Isolirung  der  Ursachen  und  der  D e - 
duction  aus  einem  Motiv,  insbesondere  dem  ersten,  hypo- 
thetisch von  der  Wirksamkeit  der  anderen  Motive  abgesehen 
werden  dürfe,  um  zunächst  festzustellen,  wie  unter  dieser  Vor- 
aussetzung die  wirtschaftlichen  Handlungen  und  die  davon 
abhängigen  Erscheinungen  ausfallen  werden.  Wir  werden  im 
nächsten  Kapitel  sehen,  dass  ein  derartiges  methodisches  Vorgehen 
unter  gewissen  Bedingungen  durchaus  berechtigt  ist,  vielfach 
grösseren  erkennt nisstheoretischen  Werth  wie  jedes  andere  hat,  ja 
mitunter  — und  nicht  bloss  zeitweise,  wegen  noch  mangelnder 
Ausbildung  des  anderen,  des  inductiven,  sondern  dauernd  — das 
allein  mögliche  ist  (Kap.  2,  Hauptabschnitt  2). 

Der  Fehler  einzelner  historischer  Nationalökonomen,  nament- 
lich der  jüngeren  Richtung,  ist  ausserdem  noch,  umgekehrt  wie 
die  ältere  Theorie,  das  erste  Motiv  in  seiner  bleibenden  Be- 
deutung für  das  wirtschaftliche  Handeln,  daher  in  der  That  als 
wesentlich  „Constante“  zu  unterschätzen,  die  einzelnen  Motive, 
weil  sie  Zusammenwirken  und  weil  der  Mensch  als  einheitliches  Wesen 
handelt,  zu  wenig  zu  isoliren  und  mit  der  Verwerfung  der  hypo- 
thetischen Isolirung  der  Motive  die  Grundlage  des  deductiven  Ver- 
fahrens und  schliesslich  letzteres  selbst,  in  viel  zu  weitgehendem 
Maasse  zu  verwerfen. 

Der  Fehler  des  Socialismus  ist,  die  menschliche  Natur  im 
Ganzen,  bei  der  Menschheit,  und  bei  jedem  Einzelnen  als  etwas 


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Ergebnisse. 


137 


zu  ausschliesslich  von  äusseren  Umständen  Abhängiges  anzu- 
sehen, wenn  auch  eine  gewisse  Abhängigkeit  anzuerkennen  ist.  Da- 
her huldigt  er  einem  falschen  Optimismus  hinsichtlich  der  Ver- 
änderungs-  und  Verbesserungsfähigkeit  der  menschlichen  Natur 
und  Motivation  und  der  davon  bedingten  wirtschaftlichen  Hand- 
lungen und  Erscheinungen.  Er  überschätzt  dabei  für  eine  immer- 
hin, wenn  auch  nur  sehr  begrenzt  mögliche  Veränderung  und  Ver- 
besserung der  Motivation  der  Einzelnen  und  schliesslich  der  Gesell- 
schaft den  Einfluss  materieller  Factoren,  wie  der  Verhältnisse  des 
Wirtschaftslebens , und  unterschätzt  denjenigen  ideeller  Factoren, 
namentlich  auch  religiöser. 

Es  ist  die  Aufgabe,  diese  Fehler  der  älteren  theoretischen,  der 
historischen  und  der  socialistischen  Richtung  möglichst  zu  vermeiden, 
das  in  jeder  Richtung  enthaltene  Berechtigte  festzuhalten  und  zu 
verbinden  und  so  zunächst  den  psychologischen  Unterbau  der  Me- 
thode und  des  Systems  der  Socialökonomie,  iu  diesem  Werke  spe- 
ciell  des  grundlegenden  Theils,  herzustellen. 

Allerdings  ein  eklektisches  Verfahren,  welches  aber  der 
Complicirtheit  der  zu  behandelnden  Probleme  auch  allein  entspricht. 


Zweites  Kapitel. 

Object,  Aufgaben,  Methoden,  System  der  Politischen 

Oekonomie. 

§.  54.  Vorbemerkung  und  Litteratur.  Der  Gegenstand  dieses  Kapitels 
steht  mit  dem  des  vorangehenden  ersten  Kapitels  in  engem  Zusammenhang,  wird 
daher  auch  in  der  Fachlitteratur  in  solchem  behandelt.  Doch  ist  die  hier  von  mir  inne- 
gehaltene Trennnng  des  Gegenstands  absichtlich  vorgenommen  und  mit  Absicht  auch 
das  vorige  Kapitel  vorangcstellt  worden.  Zwischen  den  Lehren  von  den  Aufgaben  und 
der  Methodologie  wird  hier  ebenfalls  absichtlich  unterschieden  und  die  erste  wiederum 
absichtlich  im  1.  Hauptabschnitt  vorangeschickt.  Auch  das  ist  noch  nicht  allgemein 
üblich,  aber  im  Interesse  der  Sache  und  um  leichter  Klarheit  zu  gewinnen  noth- 
wendig.  Die  Wahl  der  Methode  richtet  sich  nach  der  Aufgabe. 

In  der  deutschen  allgemeineren  systematischen  und  theoretischen  Fachlitteratur 
pflegt  der  Gegenstand  dieses  Kapitels  in  den  „Einleitungen"  behandelt  zu  werden, 
auch  in  den  grösseren  Werken,  indessen  selten  in  der  von  der  Bedeutung  der  Sache 
geforderten  Scharfe  und  Ausführlichkeit.  Grade  bei  den  vielen  und  tiefgreifenden 
Controverscn  auf  diesem  Gebiete  genügen  wenige  thesenartige  Bemerkungen  nicht. 
Sie  liefern  keine  Beweisführung,  sondern  nur  Behauptungen  und  geben  durch  ihre 
kurze,  unvermeidlich  nicht  immer  unzweideutige  Fassung  selbst  zu  neuen  Zweifeln 
und  Meinungsverschiedenheiten  Anlass.  Auch  die  ausländische  allgemeinere  be- 
zügliche Fachlitteratur  ist  indessen  nicht  viel  weiter  gekommen. 

In  derjenigen  Fachlitteratur.  welche  den  Gegenstand  dieses  Kapitels  oder  wenig- 
stens Haupttheile  davon,  wie  die  Methodologie,  monographisch  behandelt,  liegen 
werthvolle  grössere  Ausführungen  vor.  Besonders  das  Auftreten  der  deutschen 


138 


1.  B.  2.  K.  Aufgaben,  Methoden,  System.  §.  54. 


historisch  - nationalökononiischcn  Richtung  und  die  Polemik  und  Keaction  derselben 
gegen  den  extremen  Smithianisinus  und  Kicardoismns,  dann  wieder  die  Einseitigkeiten 
und  Ucbertreibungen  des  jüngeren  Historismus  (§.  15,  16)  und  die  Keaction  dagegen 
haben  hier  zu  hervorragenden  Leistungen  im  Gebiet  der  Methodologie  geführt.  Mark- 
steine in  der  litterargeschichtlichen  Entwicklung  bilden  hier  die  Bücher  von  K.  Knies 
und  K.  M enger.  Von  Deutschland  ist  dann  der  litterargeschichtliche  Streit  über  die 
Methode  ins  Ausland  hiuUbergegangcn,  obwohl  es  hier,  wie  vor  Allen,  aber  nicht 
allein,  A.  Cointc  beweist,  an  ähnlichen  Bewegungen,  wenn  auch  geringeren  Erfolgs, 
schon  vor  dem  Auftreten  der  deutschen  historischen  Schule  nicht  gefehlt  hat.  Eine 
die  Bedeutung  des  Gegenstands  und  den  Stand  der  Streitfragen  der  Gegenwart  dar- 
stellende grössere  zusammen  fassende  Arbeit  fehlt  der  deutschen  Litteratur  noch.  Eine 
solche  liegt  in  dem  guten  Buche  von  Kcyncs  in  der  englischen  Litteratur  vor. 

Auf  einem  verwandten  Gebiete  giobt  es  Erörterungen  Uber  Aufgabe.  Methode, 
Uber  das  Ob  und  Inwieweit  und  Wie  in  Bezug  auf  „Gesetze“,  ,, Gesetzmässigkeiten“ 
in  umfassenderem  Maasse:  auf  dem  Gebiete  der  Statistik.  Namentlich  haben  hier 
theoretisch -statistische  und  moral -statistische  Untersuchungen  Anlass  zu  solchen 
Erörterungen  gegeben,  von  denen  hier  auch  für  die  Nationalökonomie  Act  zu  nehmen 
ist.  Es  ist  vorzugsweise  die  Süssinilch-Quetelet’sche  Bichtang  der  Statistik, 
auch  die  neuere  Keaction  gegen  dieselbe,  welche  zu  bezüglichen  Erörterungen  geführt 
hat.  Besonders  hervorzuheben  sind  daraus  auch  für  uns  hier  die  Arbeiten  von 
BtLmelin  und  neuerer  Moral-  und  Bevölkerungsstatistiker,  wie  Engel,  v.  Oettin- 
gen,  sowie  mathematischer  Statistiker,  wie  Knapp,  Lcxis,  Wostergaard.  Ich 
folge  unten  (§.  SU  11.)  mehrfach  genauer  meinen  eigenen  hier  cinschlageuden  älteren 
Arbeiten. 

Mehr  und  mehr  hat  man  aber  auch  in  der  neueren  Nationalökonomie  erkannt, 
dass  es  sich  in  der  Methodologie  einer  Specialwissenschaft  schliesslich  doch  immer  um 
die  allgemeineren  logischen  und  erkenntnisstheoretischen  Probleme 
handelt,  daher  auch  um  die  Anwendung  der  allgemeinen  Methodologie  auf  den  be- 
sonderen Kall  der  einzelnen  Wissenschaft.  Deshalb  wird  mit  Recht  Werth  auf  die 
genauere  Fühlung  mit  der  Fachliteratur  der  Logik  und  Erkenntnistheorie  gelegt, 
wobei  man  freilich  in  den  noch  unausgetragenen  Streit  Uber  das  Gemeinsame  und 
grundsätzlich,  nicht  nur  gradweise.  Verschiedene  zwischen  der  Logik  und  Erkcnntniss- 
theorie  der  Naturwissenschaften  und  der  Geisteswissenschaften  mit  hineingezogen  wird. 
Grade  die  Erörterung  des  bezüglichen  Problems  im  Gebiete  einer  Wissenschaft  wie 
der  Politischen  Üekonomic  als  Socialökonomie  bleibt  dann  aber  auch  nicht  ohne  Ge- 
winn für  diese  Streitfrage  und  für  die  allgemeine  Methodologie.  In  diesem  Werke, 
wo  es  sich  nicht  um  monographische  Behandlung  der  nationalökonomischen  Metho- 
dologie handelt,  sondern  um  die  Darstellung  und  Begründung  der  letzteren  im  Rahmen 
eines  allgemeineren  nationalökonomischen  Werks,  ist  die  methodologische  Frage  über- 
haupt nicht  zu  erschöpfen.  Aber  ich  habe  ihr  und  den  verwandten  Fragen  von  den 
Aufgaben  u.  s.  w.  einen  erheblich  grösseren  Kaum  widmen  zu  sollen  geglaubt,  als 
sonst  in  derartigen  Werken  üblich  ist.  Die  Gründe  ergeben  sich  aus  der  Einleitung 
und  aus  vielen  Stellen  dieses  ganzen  Werks.  Von  den  bezüglichen  neueren  Werken 
über  Logik  und  Erkenn tn issth corie  schliesso  ich  mich  dem  Mill’schen,  doch  auch 
jetzt  noch,  wie  vor  26  Jahren  in  meiner  Theorie  der  Statistik,  mehrfach  näher  an,  da 
ich  glaube,  dass  grade  für  die  national  ökonomische  Methodologie  doch  von 
keinem  Logiker  unmittelbar  und  mittelbar  mehr  als  von  Mill  zu  lernen  ist.  Die  Vor- 
würfe der  deutschen  Logiker  und  Erkcnntnisstheoretiker  gegen  Mill  und  gegen  seine 
die  „Logik  der  Geisteswissenschaften“  zu  sehr  nach  der  Logik  der  Naturwissenschaften 
behandelnde  Art(Dilthey,  Sigwart  u.  A.  m.)  habeich  nicht  ignorirt  Aber,  soweit 
ich  als  Nicht -Fachmann  mir  ein  Urtheil  bilden  konnte,  scheinen  sie  mir  überhaupt 
nicht  alle  zutreffend  zu  sein.  Sie  gehen  vielleicht  auch  in  der  an  sich  begreiflichen 
und  berechtigten  neueren  Keaction  der  Vertreter  der  „Geisteswissenschaften“  gegen 
die  Neigung,  bei  letzterer  alles  nach  naturwissenschaftlichem  Muster  einzurichten,  in 
Verkennung  des  principicllcn  Unterschieds  zwischen  Natur-  und  Geisteswissenschaften, 
doch  wieder  etwas  zu  weit.  Jedenfalls  aber  scheinen  mir  die  Mill’sctyen  Gesichts- 
puncte  auf  dem  Gebiete  unserer  Specialwissenschaft  im  Wesentlichen  festgehalten 
werden  zu  dürfen,  so  insbesondere,  was  die  Rechtfertigung  der  Doduction,  auch 
die  analoge  Anwendung  der  inductiven  Methoden  der  experimentellen  For- 
schung anlangt.  Ausser  Mill  hebe  ich  besonders  Sigwart  und  Wundt  hervor. 


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Vorbemerkung,  Littcratur. 


139 


Für  die  Littcratur  sind  auch  die  Angaben  oben  in  der  Einleitung,  Kap.  2,  und 
an  der  Spitze  des  vorigen  Kapitels  S.  70  ff.  zu  vergleichen. 

Nationalökonomische  Special-  und  monographische  Litteratur  Uber 
die  Gegenstände  dieses  Kapitols,  besonders  Uber  Methodologie,  Aufgaben:  K.  Knies, 
Politische  Oekonomie  (s.  o.  S.  52),  bcs.  III,  Abschn.  2.  3,  ü,  10,  11,  aber  überhaupt 
das  ganze  Werk.  — Kautz,  Nationalökonomik  als  Wissenschaft  (1.  Th.  der  Theorie 
und  Geschichte,  Wien  1S5S),  bes.  2.  Buch,  II.  Abschn.  (u.  A.  Aufgabe)  und  IV.  Abschn. 
(Methode,  S.  307  ff.),  mit  mancherlei  Litteraturangaben  zur  Methodologie,  worauf  hier 
ausdrücklich  verwiesen  werden  mag.  — E.  Pickford,  Einleitung  in  die  Wissen- 
schaft der  Politischen  Oekonomie,  Frankfurt  a.  M.  1860,  bes.  1.  Abschn.  Kap.  3 (Do- 
duction.  Geschichte,  Statistik).  — L.  Brentano,  Arbeitergilden  B.  II  (Leipzig  1872). 
S.  310  fl.  (üaeh  Comte).  — L.  Cossa,  guida  allo  Studio  etc.,  übersetzt  von  Moor- 
meister, Einleitung  in  das  Studium  der  Wirthschaftslehre,  Freiburg  1SS0,  bes.  im 
allgemeinen  Theil,  Kap.  4,  auch  3 (mit  weiteren  Litteraturangaben).  — Cairnes. 
character  a.  logical  method  of  polit.  economy,  2.  cd.,  London  1875.  — Sidgwick, 
scopc  a.  method  of  economic  Science,  London  1885.  — K.  Menger,  Untersuchungen 
über  die  Methode  der  Socialwissenschaftcn  und  der  Politischen  Oekonomie  ins- 
besondere, Leipzig  1883.  Derselbe,  die  Irrthümer  des  Historismus  in  der  deutschen 
Nationalökonomie,  Wien  1884.  — E.  Sax,  Wesen  und  Aufgaben  der  Nationalökon., 
Wien  1884.  Derselbe,  Grundlegung  der  theoretischen  Staatswissenschaft,  Wien  1887, 
Abschn.  I,  auch  sonst  passim,  so  §.  24,  25.  — II.  Dietzel,  Beiträge  zur  Methodik 
der  Wirthschaftswissenschaft,  Conrads  Jahrbücher,  B.  43  (N.  F.  17),  1884.  — E.  von 
Philippovicli,  über  Aufgabe  und  Methode  der  Politischen  Oekonomie,  Freib.  18SG 
(vgl.  darüber  H asb  ach  in  Schmollcr’s  Jahrbuch  X,  1886,  B.  2,  S.  99U).  — 
G.  Schmoller.  Grundfragen,  bes.  Abschn.  II  und  III.  Derselbe  in  der  Kecension 
von  Menger  und  Dilthey,  Jahrb.  1883  (jetzt  in  der  Sehr.  „Zur  Litteraturgesch.  etc.“, 
S.  275  ff.).  — W.  Hasbach,  Beitrag  zur  Methodologie  der  Nationalökonomie,  in 
Schmollcr’s  Jahrbuch  IX  (1885,  B.  1).  S.  545  ff.  (Anknüpfung  an  Sax’  Schrift)  Der- 
selbe, über  eine  andre  Gestaltung  des  Studiums  der  Wirthschaftswissenscb. , cb.  XI 
(1887,  B.  1),  S.  587,  mit  Zusatz  von  Schmoller,  S.  593.  — A.  Wagner,  Aufsatz 
Systematische  Nationalökonomie  in  Conrad ’s  Jahrbüchern  B.  46  (N.  F.  12),  1886.  — 
Klein  Wächter,  Wesen  u.s.  w.  d.  Nat.ök.,  Conrad’s  Jahrb.  B.  52  (N.  F.  18)  S.  601  ff.  — 
Kevnes.  scope  a.  method  of  polit.  economy,  London  1891  (auch  für  weitere  litte- 
rarische  Angaben).  — M.  Block,  progrös  de  la  Science  öconomique,  I,  Einleitung 
(ebenfalls  für  weitero  Litteratur).  — Art.  methode  von  A.  Li  esse  im  nouveau  dictionn. 
d’icon.  polit.  II,  256.  — 

Erörterungen  über  Methode.  Aufgabe  u.  dgl.  in  der  nationalökonomischen 
systematischen  Litteratur.  Vgl.  Einzelnes  in  der  hernach  genannten  litterar- 
geschichtlichen  Litteratur.  Hier  werden  nur  einige  wichtigere  Werke  hervorgehoben. 
Die  neueren  Schriften  enthalten  meistens  Ausführungen  über  Methode  u.  s.  w.  Kau, 
I (Volkswirtschaftslehre,  8 Auf!  , Heidelberg  und  Leipzig  1868),  Einleitung,  bes. 
§.4.  10 — 12.  — v.  Hermann,  staatswirthschaftliche  Untersuchungen,  1.  Abschn., 
Grundlegung,  passim.  — W.  Koscher,  System  I,  Einleitung,  bes.  Kap.  3,  auch  2. 
Derselbe  in  seinem  ursprünglichen  Grundriss  §.  1.  — Schäfflo,  gesellschaftliches 
System,  2.  Auf!.,  passim,  3.  Aufl.,  I,  bes.  §.  27,  28.  Derselbe,  socialer  Körper,  viel- 
fach passim  (s.  Kegister  u.  d.  W.  Wirthschafts-Methode  in  B.  4),  bes.  I,  120  ff  und 
Anhang  in  B.  IV,  480  ff.  — H.  v.  Scheel  im  Schönbcrg’schen  Handbuch,  Abh. 
Polit.  Oekon.,  § 5 — 7 (3.  A.,  S.  74  ff.).  — G.  Cohn,  System  I.  Einleitung  Kap.  1 
(auch  Kap.  2,  3 passim).  — W.  Neurath,  Elemente  der  Volkswirtschaftslehre, 
2.  Aufl.,  Wien  1892,  S.  4 ff.  und  passim  in  dem  geschichtlichen  Abschnitt. — Jevons 
theory  of  pol.  ccon.,  2.  ed.,  London  1879  (auch  3.  ed.).  — Sidgwick,  principles  of 
polit.  econ.,  2.  cd.,  London  1887,  Einleitung,  Kap.  2 und  3.  — Marshall,  princ.  of 
economics  I.  (2.  ed.,  London  1892),  Kap.  5,  auch  6 und  7.  — Gide,  princ.  decon. 
pol.  (3.  6d.,  Paris  1889).  allgemeine  Vorbemerkungen.  — L.  Cossa,  elementi,  1.  Th. 
— Patten,  premiscs  of  polit.  econ.,  Philadelphia  1885,  Einleitung;  Ders. , theory 
of  dynamic  economics,  Philadelphia  1892,  erste  Abschnitte.  — R.  Ely,  introduction 
to  polit.  econ.,  Neuyork  1889,  Theil  1,  bes.  Kap.  13.  14.  — 

Mehrfache  Berührungen  des  Gegenstands  und  Darstellung  der  Ansichten  der 
Autoren  über  Aufgabe,  Methode  u.s.  w.  in  den  Werken  der  nationalökonomischen 
Literaturgeschichte.  So  von  den  bereits  vorher  genannten  Schriften  in  denen 


140 


1.  B.  2.  K.  Aufgaben.  Methoden,  System.  §.  54. 


von  Cossa.  Block.  Vielfach  passim  in  \V.  Roscher’s  Geschichte  der  deutschen 
Nationalökonomik  (München  1874),  so  über  die  historischen  Nationalökonomen  und 
deren  Vorläufer,  über  die  deutscheu  Freihändler.  — Eisenhardt,  Geschichte  der 
Nationalökonomie,  2.  Autl. , Jena  1891,  bes.  im  4.  Buch  (kritische  Ergebnisse),  gute 
Ausführungen  über  Roscher  und  die  historische  Nationalökonomie  (S.  USA'.  233  ff.). 
— Ingram,  Geschichte  der  Volkswirtschaftslehre,  deutsch  von  Roschlau,  Tübingen 
1890,  bes.  in  dem  Abschnitt  über  Comto  und  die  historische  Schule  (S.  267  ff.), 
aber  hier,  wie  im  ganzen  Buche,  mit  etwas  zu  einseitiger  Neigung  zum  Historismus. 

Aus  der  philosophischen,  logischen  und  allgemeinen  methodo- 
logischen oder  die  Methodologie  verwandter  Disciplinen  behandelnden  Litteratur 
nenne  ich  hier:  A.  Comte,  cours  de  Philosophie  positive,  6 vol.,  Paris  1S30 — 42, 
(und  spätere  AuiL),  bes.  B.  4 (zu  einseitig  gegen  die  Methode  der  classischen  bri- 
tischen Ockonomik).  J.  St.  Miil,  A.  Comte  a positivism.  London  1866,  2.  ed., 
deutsch  von  Gomperz,  Leipzig  1874.  — Dufau,  de  la  m6thode  d’observation  dans 
son  application  aux  Sciences  morales  et  politiques,  Paris  1866.  — J.  St.  Mill,  System 
of  logic,  deutsch  von  Schiel  (die  von  mir  benutzte  Ausgabe),  System  der  deductiven 
und  inductiven  Logik,  2 B..  Braunschweig  1862 — 63.  Darin  bes.  Buch  3,  Induction, 
u.  A.  Kap.  8 (die  vier  Methoden  der  experimentellen  Forschung),  Kap.  11  (deductive 
Methode)  und  vor  Allem  Buch  6,  Logik  der  Geisteswissenschaften;  hier  u.  A.  über  die 
Nationalökonomie  in  Kap.  9,  §.  3 (S.  519  1F.).  Dazu:  Derselbe,  essays  an  some  un- 
settled  questions  of  polit.  econ.,  London  1844,  N.  5.  — Cornwall-Lewis,  treatiso 
on  the  method  of  reasoning  etc.  in  politics,  London  1S52.  — Jevons,  principles  of  Science, 
Lond.  1874:  Derselbe,  Studios  in  deductive  logic,  Lond.  1880,  auch  in  2.ed.  F.  A.  Lauge, 
Geschichte  des  Materialismus,  II,  3.  Aull.  (1877).  S.  453  ff  (Volkswirthschaft  und  Dog- 
matik des  Egoismus).  — W.  Wundt,  Logik,  2 B.,  bes.  B.  II,  Methodenlehre,  Stutt- 
gart 1883;  darin  namentlich  Abschn.  4,  Logik  der  Geisteswissenschaften,  speciell 
Kap.  3,  Logik  der  Gesellschaftswissenschaften,  worin  unter  N.  2 die  Methoden  der 
Volkswirtschaftslehre  (allgemeine  Richtungen,  abstracto,  historische,  S.  586  ff;  etwas 
zu  knapp,  aber  bemerkenswerth,  s.  mehrfach  unten  passim);  Derselbe,  Begriff  des 
Gesetzes,  philosoph.  Studien,  B.  3 (1886).  — Sigwart,  Logik,  ebenfalls  bes.  B.  II, 
Methodenlehre,  Tübingen  1878;  darin  hervorzuheben:  §.  85  über  Wahrscheinlichkeits- 
rechnung und,  als  über  „Hilfsquellen  der  Induction“,  über  statistische  Methoden  und 
über  die  Wahrscheinlichkeit  auf  statistischem  Boden.  §.101, 102.  — Zu  vergleichen  auch: 
W.  Dilthey,  Einleitung  in  die  Geisteswissenschaften,  Versuch  einer  Grundlegung 
für  das  Studium  der  Gesellschaft  und  der  Geschichte,  1.  (bisher  einziger)  B.,  Leipzig 
1883;  ferner  Herbert  Spencer,  introduction  ä la  Science  sociale,  Paris  1874  (in 
dieser  Ausgabe  der  biblioth.  scientif.  internat  von  mir  benutzt).  — E.  Bern  hei  in, 
Lehrbuch  der  historischen  Methode,  Leipzig  1889;  darin  u.  A.  hierher  Gehöriges  in 
den  Erörterungen  über  das  Verhältniss  der  Geschichtswissenschaft  zu  anderen  Wissen- 
schaften, bes.  zur  Politik,  Sociologie,  Naturwissenschaft,  Statistik  u.  s.  w.  (S.  66,  68, 
70  ff,  90  ff).  Weitere  verwandte  Litteratur  u.  in  §.  88. 

Auf  einen  auch  grade  für  die  Methodologie  wichtigen  Littcraturzweig,  den  der 
sog.  „mathematischen“  Richtung  in  der  Nationalökonomie  („ticonomie  politique  pure”) 
wird  unten  im  §.  68  eingegangen;  daselbst  finden  sich  bezügliche  litterarische  Angaben, 

Aus  der  statistischen  Litteratur  gehören  vorneinlich  diejenigen  Schriften 
hierher,  welche  über  Begriff.  Wesen.  Methode,  Einthcilung  der  Statistik,  über  stati- 
tistischo  „Gesetze“,  Gesetzmässigkeit  u.  dgl.  m.  und  über  andre  Puncte  der  Theorie 
der  Statistik  handeln.  S.  die  bezügliche  Litteratur  in  den  Werken  zur  Geschichte  der 
Statistik  und  in  den  litterargeschichtliehen  Abschnitten  der  allgemeinen  und  theo- 
retisch-statistischen Werke,  unter  denen  bes.  V.  John,  Geschichto  der  Statistik,  Stutt- 
gart 1884,  hervorzuheben  ist;  ferner  K.  Knies,  die  Statistik  als  selbständige  Wissen- 
schaft, Cassel  1850  und  meine  Abh.  Statistik  im  Bluntschli-Brater’schen  Staatswörter- 
buch X,  400  6.  (im  2.  Abschnitt,  Geschichte  der  Statistik,  S.  402 — 456).  Ueber  die 
erwähnten  theoretisch -statistischen  Puncte  handelt  mit  die  ganze  Litteratur,  welcho 
sich  an  die  „politischen  Arithmetiker“ , an  Süssmilch,  Quetelct  und  an  die  Moral- 
statistik. sowie  an  die  mathematische  Statistik  angeschlossen  hat  Vgl.  von  A.  Qu  ti- 
telet das  alte  Hauptwerk  sur  l’hommo  et  lc  developpement  de  ses  facultes,  Paris 
1835,  deutsch  von  Riecke,  Stuttgart  1838,  u.  d.  T.  physiquo  sociale  in  2.  Aufl. 
1869,  ferner  du  Systeme  social  et  des  lois  qni  le  regissent,  Paris  1848,  deutsch 
von  K.  Adler,  Hamburg  1848;  über  ihn  und  seine  weiteren  Arbeiten  s.  meine 


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Vorbemerkung  und  Litteratur. 


141 


„Gesetzmässigkeit“  I,  51  und  meine  Abh.  Statistik,  S.  484  If. , mehr  im  Anschluss  an 
ihn;  anderseits  die  Aufsätze  von  G.  Knapp  in  Ilildebrand’s  Jahrb.  B.  1 1>  (1871), 
neuere  Ansichten  über  Moralstatistik  S.  237  und  B.  18  (1872),  Qu6telet  als  Theoretiker, 
S.  SU,  auch  Wcstergaard,  Statistik,  S.  274  ff.  Quctelet  steht  im  Mittclpunct  der 
litterarischen  Bewegung,  früher  hat  er  mehr  Beistimmung,  selbst  panegyrische,  er- 
fahren , — auch  ich  neigte  mich  besonders  in  meiner  „Gesetzmässigkeit“  dazu  — , 
neuerdings  ist  ihm  mehr  kritisch,  bis  zur  Ablehnung  begegnet  worden,  womit  aber 
wohl  wieder  zu  weit  gegangen  wird.  Es  kann  hier  genügen,  auf  Al.  v.  Oettingen’s 
grosses  Werk  über  die  „Moralstatistik  und  ihre  Bedeutung  für  eine  Socialethik“ 
(3.  Aufl.,  Erlangen  1882),  auch  auf  die  reichen  litterarischen  Noten  dieses  Buchs  und 
auf  Westergaard,  Theorie  der  Statistik,  Bonn  1890,  bes.  S.  237  ff.  zu  verweisen. 

Wesentlich  in  Qu6tclet’s  Richtung  steht  meine  „Gesetzmässigkeit  in  den  scheinbar 
willkührlichen  menschlichen  Handlungen  vom  Standpunct  der  Statistik“,  2 Theile,  Ham- 
burg 1804;  mit  zu  mechanistischer  Anschauung,  wie  ich  seit  lauge  eingesehen 
und  zugegeben  habe.  An  dem  Ergebntss  der  theoretisch-kritischen  Erörterungen  des 
1.  Theils  im  Anhang  über  den  „Sinn  und  Begrilf  der  Ausdrücke  Gesetzmässigkeit  und 
Gesetz  in  der  Statistik“,  S.  63 — SO,  glaube  ich  indessen  im  Wesentlichen  festhalten  zu 
dürfen  (s.  u.  §.  86  ff.).  Zum  Theil  grade  an  diese  Schrift  haben  sich  Aufsätze  und  einige 
eigene  Schriften  von  Statistikern,  Philosophen,  Theologen  vielfach  polemisch  angeschlossen 
oder  sind  darüber  eingehendere  Besprechungen  geliefert  worden,  meist  mit  besonderer 
Bezugnahme  auf  die  Krage  der  Willensfreiheit  und  des  Verhältnisses  der  stati- 
stischen „Gesetze“  zu  ihr,  z.  B.  von  Helferich,  Gött.  Gel.  Anzeigen  1865,  S.  48611., 
von  dem  Theologen  Krank  in  der  Erlanger  Ztschr.  f.  Theologie,  1865,  S.  199  ff, 
von  Drobisch,  die  moralische  Statistik  und  die  menschliche  Willensfreiheit,  Leipzig 
1867.  von  Vorländer,  die  moralische  Statistik  und  die  sittliche  Freiheit,  Tüb.  Ztschr. 
1866,  B.  22,  S.  477  ff,  von  J.  Huber,  Studien,  München  1867,  N.  3.  Aus  späterer 
Zeit;  Iihenisch,  über  Moralstatistik,  Ztschr.  f.  Philosophie,  B.  68,  69.  — Mit  den 
in  diesem  Kapitel  zu  behandelnden  Problemen  hängen  alle  diese  Fragen  mehr  oder 
weniger  zusammen. 

Von  besonderer  Bedeutung  sind  unter  den  einschlagenden  theoretisch-statistischen 
Arbeiten  einige  vorzügliche  Aufsätze  Rümelin’s  geworden,  die  zum  Wichtigsten  und 
Besten  auch  für  Puncte  der  nationalökonoinischen  Methodologie  gehören.  So  nament- 
lich seine  zwei  Aufsätze  „zur  Theorie  der  Statistik“,  zuerst  in  der  Tüb.  Ztschr.  B.  19, 
1863  (S.  633 — 696),  der  zweite  aus  1874,  jetzt  beide  in  Rümeliu’s  „Reden  und 
Aufsätzen“,  Tübingen  1875,  S.  208 — 284.  Arbeiten,  welche  höchst  fermentativ  ge- 
wirkt haben.  Unter  Aufnahme,  aber,  wie  meine  Ausführungen  zeigen,  keineswegs 
unter  einfacher  Annahme,  der  Rümelin’schen  Auffassungen  in  seinem  damals  erst 
vorliegenden  ersten  Aufsatze,  mehrfach  in  kritischer  Stellungnahme  zu  ihm,  habe  ich 
dann  in  meiner,  im  Winter  1865 — 66  in  Dorpat  verfassten  Abhandlung  Statistik  im 
Bluntschli'schen  Staatswörterbuch,  unter  besonderer  Verwerthung  Quetelet’scher  und 
Engel’scher  Gcsichtspuncte,  eine  „Theorie  der  Statistik“  in  knappstem  Umriss  zu  ent- 
werfen gesucht  (S.  456 — 481),  worin  meine  frühere  zu  mechanistische  Anschauung 
bereits  moditicirt  ist,  — noch  vor  einem  Einfluss  der  Schriften  und  der  Polemik 
Oettingen’s,  Knapp’s,  Schmoller’s  u.  A.  ra.  gegen  mich,  was  wohl  von  letzteren  beiden 
Autoren  hätte  berücksichtigt  werden  können.  Dieser  Theorie  der  Statistik  glaube  ich 
auch  jetzt  noch  mehrfach  genauer,  auch  in  der  Fassung,  folgen  zu  dürfen  (s.  bos.  u. 
§.  77  ff.).  Eine  italienische  üebersetzung  meiner  Abh.  Statistik,  die  im  Original  nicht 
apart  in  den  Buchhandel  gekommen  ist,  erschien  in  Annali  di  statistica  1S79.  Ich 
beziehe  mich  ausserdem  für  meine  Behandlung  der  moralstatistischen  Probleme  auf 
meine  Besprechung  des  grossen  moralstatistischen  Atlas  von  Frankreich  und  England 
von  Guerry  in  der  Tüb.  Ztschr  B.  21,  1S65.  Von  Rümclin  sind  ferner  noch  seine 
beiden  Reden  über  den  Begriff  eines  socialen  Gesetzes  (1867)  und  über  Gesetze  in  der 
Geschichte  (1874),  jetzt  in  seinen  „Reden  und  Aufsätzen“,  S.  1 und  in  seinen  „Reden 
und  Aufsätzen,  neue  Folge“  (Tübingen  und  Freiburg  1881),  S.  11S  hervorzuheben. 
Aus  der  weiteren  bezüglichen  statistischen  Litteratur  nenne  ich  hier  noch:  E.  Engels 
vielfache  geistvolle  Aufsätze,  besonders  in  der  sächsischen  und  preussischon  statistischen 
Zeitschrift,  auch  die  Schrift  „Bewegung  der  Bevölkerung  im  Königreich  Sachsen“, 
bes.  Vorwort  (Dresden  1852).  — Dufau,  trait6  de  statistique,  Paris  1840.  — Wap- 
päus,  Bevölkerungsstatistik , 2 B. , Leipzig  1859,  1861.  Derselbe,  Einleitung  in 
das  Studium  der  Statistik.  Leipzig  1881.  — M.  Haushofer,  Statistik,  2.  A.,  Wien 


142  1.  B.  3.  K.  Aufgaben,  Methoden,  System.  1.  H.-A.  Object  u.  s.  w.  §.  55,  56. 


1882.  — G.  Mayr,  Gesetzmässigkeit  im  Gesellschaftsleben,  München  1877.  — 
M.  Block- v.  Scheel,  Statistik,  Leipzig  1879.  — A.  Meitzon,  Statistik,  Berlin 
1886.  — Westergaard’s  gen.  Werk.  — Rümelin’s  Abh.  Statistik  im  3.  B.  von 
Schönberg ’s  Handbuch.  — Gabaglio,  teoria  d.  stat,  2.  ed.,  18S8.  — Speciell  aus  der 
Litteratur  der  sogen,  mathematischen  Statistik  sind  auch  für  die  hier  zu  berührenden 
Probleme  zu  beachten  die  wichtigen  neueren  Arbeiten  von  Knapp,  über  Ermittlung 
der  Sterblichkeit,  1868  und  Theorie  des  Bevölkerungswechsels,  1874,  von  W.  Lexis, 
Einleitung  in  die  Theorie  der  Bevölkerungsstatistik,  1875  und  bes.  seine  Theorie  der 
Massenerscheinungen.  1877;  auch  bezügliche  Arbeiten  von  Fach-Mathematikern  (Witt- 
stein 1867,  Zeuner  1869). 

Leider  erst  nach  Abschluss  meiner  Arbeit,  als  die  betreffenden  Bogen  in  den 
Druck  gingen,  kam  mir  die  neueste  cinschlagcnde  Arbeit  Ncumann's,  Naturgesetz 
und  Wirthschaftsgcsetz  (Tüb.  Ztschr.  1892,  Heft  3)  zu.  S.  darüber  u.  §.  SO  If. 

Die  Frage,  ob  und  wie  w'eit  in  der  allgemeinen  (auch  politischen)  Geschichte 
von  „Gesetzen“,  „Gesetzmässigkeiten“  zu  reden,  wird  hier  und  da  in  der  vorausgehend 
erwähnten  Litteratur  mit  berührt.  Vgl.  die  gen.  Reden  von  Rümelin,  auch  Ncu- 
rnann’s  Aufsatz  (S.  453).  Sonst  Bernheim,  hist.  Methode,  S.  66  If.,  72,  90  ff.  (mit 
weiterer  Litteratur).  Die  Fachhistoriker  haben  meistens  den  Staudpunct  eines  Bucle 
rundweg  abgelehnt.  Vgl.  G.  Droysen’s  betr.  Aufsatz  in  v.  Sybel’s  Historischer 
Zeitschrift,  B.  9.  Geber  die  Frage  der  wirtschaftlichen  Gesetze  u.  §.  86—90. 

Geber  System atologischo  Fragen  handeln  die  nationalökonomischen  Werke 
gewöhnlich  in  Verbindung  mit  den  Fragen  der  Aufgabe,  Methode  u.  s.  w.  Besonders 
hervorzubeben,  ohne  dass  ich  ihr  grade  hier  immer  bcistiminen  kann,  ist  wieder  das 
Werk  von  K.  M enger,  auch  dessen  Aufsatz  in  Gonrad’s  Jahrb.  B.  53.  S.  u.  §.  9S. 


Erster  Hauptabschnitt. 

Object  und  Aufgaben. 

Die  Erörterungen  Uber  die  Aufgaben  hängen  mit  den  methodologischen  Fragen 
enge  zusammen.  Die  letzteren  werden  daher,  soweit  notwendig  oder  zweckmässig, 
schon  in  diesem  Abschnitt  mit  berührt,  einige  Puncto  davon  werden  schon  etwas 
näher  behandelt.  Im  darauffolgenden  2.  Hauptabschnitt  über  die  Methoden  wird  die 
betreffende  Lehre  aber  erst  zur  selbständigen  systematischen  Darstellung  und  zum 
Abschluss  gebracht.  Einzelne  Wiederholungen  sind  bei  dieser  Behandlungsweise 
nicht  ganz  zu  vermeiden,  aber  das  Darzustellcnde  wird  dadurch  an  Klarheit  und  Ver- 
ständlichkeit gewinnen. 

I.  — §.  55.  Zusammenhang  von  Object,  Aufgabe, 
Methode  und  System.  In  jeder  Wissenschaft  ist  zunächst  das 
Object  festzustellen,  mit  welchem  sie  sich  als  eigene  Wissen- 
schaft zu  beschäftigen  hat.  Aus  dem  Wesen  dieses  ihres  Objects 
folgen  die  Aufgaben,  welche  eine  jede  Wissenschaft  in  Bezug 
auf  ihr  Object  zu  lösen  hat.  Nach  diesen  Aufgaben  richtet  sich 
nothwendig  die  Methode  oder  richten  sich  die  Methoden, 
deren  sich  die  Wissenschaft  zur  Lösung  dieser  ihrer  Aufgaben  be- 
dienen muss.  Eine  Untersuchung  der  Aufgaben  hat  daher  einer 
Erörterung  der  Methoden  voran  zu  gehen. 

Eine  abstracto  Behandlung  der  Methodologie  gehört  in  die  Erkenntnistheorie 
und  Logik,  in  einer  concreten  Wissenschaft  ist  sie  nicht  geboten,  ja  nicht  am  Platze. 
Flicr  kann  die  Methodologie  nur  in  Verbindung  mit  concretcm  Object  und  concreten 
Aufgaben  fruchtbringend  behandelt  werden , was  in  dem  neueren  methodologischen 
Streit  im  Gebiete  der  Politischen  Oekonomie  auch  nicht  immer  beachtet  worden  ist. 
Auch  die  nothwendige  Abhängigkeit  der  £ahl  der  Methoden  von  den  Aufgaben  ist, 


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Object  u.  s.  w. 


143 


besonders  in  der  jüngeren  deutschen  historischen  Schule,  öfters  nicht  genügend  er- 
kannt oder  anerkannt  worden.  Mancher  Streit  über  die  Methode  w&ro  zu  vermeiden 
gewesen  oder  sofort  als  inüssig  erkannt  worden,  wenn  man  sich  zuvor  über  die  Auf- 
gaben verständigt  hätte,  oder  der  Streit  wäre  vom  Gebiete  der  Methoden  auf  dasjenige 
der  Aufgaben  übertragen  worden,  wo  er  vielleicht  berechtigt  war  und  erst  ausgetragen 
werden  musste.  Und  in  der  That  liegen  wichtigere  und  schwierigere  Streitfragen  auf 
letzterem  als  auf  ersterem  Gebiete  vor.  Für  alle  diese  Dinge  ist  besonders  auf 
K.  Menger’s  Buch  zu  verweisen.  Auch  wo  man  ihm  im  Einzelnen  und,  wie  ich, 
in  einigen  Ergebnissen,  so  für  das  System,  nicht  beistimmt,  wird  man  immer  durch 
seine  scharfsinnigen  Erörterungen  Belehrung  und  Förderung  erlangen.  Gegenüber 
den  Unklarheiten  der  historischen  Schule  ist  dieses  grosse  Verdienst  Menger’s  beson- 
ders anzuerkennen. 

Die  Bildung  des  Systems  einer  coocreten  Wissenschaft  bängt 
ebenfalls  wieder  mit  der  Natur  ihres  Objects  und  insofern  auch 
mit  den  auf  dieses  bezüglichen  Aufgaben  zusammen.  Doch,  wie 
unten  (§.  98)  näher  gezeigt  werden  soll,  nicht  in  dem  Sinne,  dass  das 
System  aus  den  verschiedenen  Aufgaben  der  Wissenschaft  folgt 
und  etwa  jeder  besonderen  Aufgabe  ein  eigener  Theil  des  Systems 
entspricht.  Die  verschiedenen  Aufgaben,  wenn  auch  nicht  notli- 
wendig  immer  alle  zusammen,  liegen  vielmehr  in  allen  Theilen  des 
Systems  vor,  freilich  öfters  in  verschiedenem  Maasse  und  mit  ver- 
schiedenen Anforderungen  in  Bezug  auf  die  Lösung  einer  jeden 
Aufgabe.  Im  Wesentlichen  wird  das  System  nach  formalen  Gesichts- 
puncten  der  Zweckmässigkeit  und  nach  der  sachlichen  Verwandt- 
schaft von  Specialpuncten  und  Specialfragen,  daher  auch  nach  dem 
ganzen  Cbaracter  beider  letzteren  gebildet  werden  können  und 
dürfen,  m.  E.  auch  so  gebildet  werden  müssen.  Dabei  werden 
aber  dann  allerdings  in  dem  einen  Theil  des  Systems  mehr  diese, 
im  anderen  mehr  jene  Aufgaben  der  Wissenschaft  hervortreten, 
auch  wohl  im  einen  eine  einzelne  Aufgabe  ganz  fehlen,  welche  im 
anderen  voransteht. 

S.  unten  in  diesem  Kapitel  den  3.  Hauptabschnitt  vom  System.  Hier  ist  einer 
der  Puncte,  wo  ich  von  K.  M enger  abweiche. 

II.  — §.  56.  Das  Object  der  Wissenschaft  der  Politischen 
Oekonomie  ist  die  wirthschaftliche  Erscheinung  oder 
Thatsache,  demnach  auch  das  ihr  zu  Grunde  liegende  wirth- 
schaftliche Thun  bzw.  Handeln  des  Menschen,  in  dem  oben 
(§.  29)  angegebenen  Sinne.  Daher  Alles,  was  sich  auf  die  Be- 
schaffung und  Verwendung  von  Gütern  zur  menschlichen  Bediirfniss- 
befriedigung  bezieht. 

Jede  solche  Erscheinung  bietet  nun  verschiedene  Seiten  der 
Betrachtung  hinsichtlich  ihrer  Existenz,  ihrer  Entstehung,  ihres 
Verlaufs,  ihrer  Entwicklung,  dies  Alles  als  Thatsachen  genommen ; 
hinsichtlich  der  Erklärung  dieser  Thatsachen  nach  der  causalen 


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144  1-  B 2.  K.  Aufgaben,  Methoden,  System.  1.  H.-A.  Object  u.  s.  w.  §.  56,  57. 

und  conditionellen  Seite;  hinsichtlich  der  Bedeutung  dieser  That- 
sachcn  für  den  Einzelnen  und  für  Gemeinschaften;  hinsichtlich 
ihres  Verhältnisses  zu  einem  vorschwebenden  Idealbilde  des  Kreises 
von  Erscheinungen , zu  welchem  die  einzelne  betreffende  Er- 
scheinung gehört;  endlich  hinsichtlich  der  ökonomisch -technischen 
Hilfsmittel,  deren  sich  der  Mensch  bedienen  kann  und  bedient,  um 
die  Gestaltung  der  Erscheinung  in  für  wünschenswerth  geltender 
Weise  zu  beeinflussen  und  zu  Stande  kommen  zu  lassen. 

Z.  B.  die  Höhe  des  Arbeitslohnes  für  eine  bestimmte  Arbeitsleistung  sei  die  Er- 
scheinung. Welches  die  Höhe  ist,  wie  sie  sich  verändert  hat  und  weiter  verändert, 
welche Gestaltungstendeuzen  oder  Begelmässigkeiten  („Gesetze“)  dabei  hervortreten,  welche 
Umstände  darauf  eingewirkt  oder  dabei  mitgespielt  haben,  wie  sich  die  Höhe  des  Lohns 
zu  den  Leistungen  und  den  Bedürfnissen  des  Beziehers,  zu  den  Leistungen  und  dem 
Einkommen  Anderer  verhält  u.  s.  w.,  wie  sie  sich  zu  dem  Idealbilde  der  Productiviiät 
der  Production  und  zu  demjenigen  der  Vertlieilung  des  Productionscrtrags  verhält, 
welche  Mittel  sich  bieten , um  sie  diesem  Idealbilde  zu  nähern : das  sind  die  ver- 
schiedenen Seiten  der  Betrachtung,  welche  die  Erscheinung  der  Höhe  des  Arbeits- 
lohns bietet,  wie  überhaupt,  so  auch  für  die  Wissenschaft,  wenn  man  alles  Einzelne 
auf  Kategorieen  näher  unter  sich  verwandter  Momente  zurückführt. 

Diesen  (6)  Seiten  der  Betrachtung  ihres  Objects  entsprechen 
die  (sechs)  Aufgaben  der  Wissenschaft  der  Politischen  Oekouomie. 

III.  — §.  57.  Die  Aufgaben  und  die  Classification 
der  Wissenschaften.  Die  Aufgaben  der  Politischen  Oekonomie 
als  Wissenschaft  können  in  Kürze  zusammenfassend  bezeichnet 
werden  als:  die  Feststellung  (Ermittlung)  der  Erscheinungen 
(und  ihres  Verlaufs),  die  Ermittlung  des  Typischen  darin, 
die  Erklärung  ihres  conditionellen  und  Causalnexus,  die  Be- 
urtheilung  ihrer  Bedeutung  (ihres  Werths),  die  Ziel- Auf- 
stellung für  ihre  Entwicklung,  die  Wegweisung  zu  diesem 
Entwicklungsziel.  Die  wreiter  folgende  Darstellung  und  Erörterung 
dieser  Aufgaben  wird  erst  genau  ergeben,  was  unter  eine  jede 
derselben  fallt. 

Um  den  wissenschaftlichen  Character  der  Probleme,  mit  welchen 
man  es  bei  verschiedenen  Aufgaben  zu  thun  hat,  hervortreten  zu 
lassen , kaun  man  jede  der  sechs  Aufgaben  in  die  Form  kurzer 
Fragstellungen  fassen. 

1.  In  Betreff  der  wirtschaftlichen  Erscheinungen:  Was  ist? 
Was  war?  Wie  ist  es?  Wie  war  es?  Was  und  wie  verläuft  es? 

2.  Zeigen  sich  im  Verlaufe  der  Erscheinungen  Gestaltungs- 
tendenzen oder  Regelmässigkeiten  und  welche?  Ergiebt  sich  aus 
dem  Individuellen,  dem  Concreten,  dem  Spcciellen  ein  Generelles, 
Principielles,  Typisches,  und  welcher  Art?  Ist  aus  dem  Regel- 


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Aufgaben  der  Polit.  Oekonomic. 


145 


massigen  des  Verlaufs  auf  eine  Gesetzmässigkeit  und  ein  Gesetz  zu 
sebliessen  und  auf  welche? 

3.  Welches  sind  die  Ursachen  und  Bedingungen  für  das  Was 
und  Wie  der  Erscheinungen,  des  Individuellen  wie  des  Typischen, 
und  der  Veränderungen  darin? 

4.  Welches  ist  die  Bedeutung  (der  Werth)  dieses  Was-  und 
Wie-Seins  und  Gewesenseins  der  Erscheinungen  für  die  Näcbstbethci- 
ligten  und  für  die  Gemeinschaften? 

5.  Was  soll  sein  hinsichtlich  dieses  Was  und  Wie  der  Er- 
scheinungen? 

6.  Was  hat  zu  geschehen,  was  ist  zu  thun,  um  dieses  Sein 
und  Sollen  der  Erscheinungen  herbeizuführen  oder  sich  ihm  mög- 
lichst zu  nähern? 

Ueberall  wo  das  Object  einer  Wissenschaft  dem  Einfluss  des 
menschlichen  Willens  ganz  entzogen  ist,  liegen  für  die  betreffende 
Wissenschaft  nur  die  drei  ersten  Aufgaben , eventuell  selbst  nur 
die  erste  oder  die  erste  und  die  zweite,  vor.  Das  sind  die  rein 
theoretischen  Wissenschaften  im  strengen  Wortsinn  oder  die 
bloss  auf  ein  Erkennen  ausgehenden.  Wo  das  Object  einer 
Wissenschaft  aber  dem  Einfluss  des  menschlichen  Willens  in  seiner 
Gestaltung  wenigstens  mit  unterliegen  kann  und  wo  die  Ausübung 
eines  solchen  Einflusses  menschlichen  Wohlfahrtsinteressen  zu  dienen 
vermag,  da  treten  auch  die  drei  letzten  Aufgaben  mit  hervor. 
Die  Wissenschaften,  bei  welchen  dies  der  Fall  ist,  sind  in  Bezug 
auf  diese  drei  letzten  Aufgaben  die  practischeu  Wissen- 
schaften, welche  zugleich  auf  ein  Lehren  zweckmässigen 
Handelns  und  Könnens  ausgehen , insofern  mit  K.  M enger 
„Kunstlehren“  genannt  werden  können.  Kurz  gesagt,  handelt 
es  sich  also  bei  den  theoretischen  Wissenschaften  um  Erlangung 
eines  Wissens  zum  Kennen,  bei  den  practischen  um  Erlangung 
eines  solchen  zum  Können,  aber  eben  um  Erlangung  eines 
Wissens  um  des  Wissens  Willen  doch  bei  beiden.  Auch 
die  letzteren  dürfen  daher  den  Namen  von  „Wissenschaften“ 
beanspruchen  (vgl.  u.  §.  99). 

Die  Politische  Oekonomie  und  die  Gruppe  von  Wissenschaften, 
zu  welchen  sie  gehört,  die  Gcsellscbafts - , Rechts-,  Staats-  und 
Wirtschaftswissenschaften , umfasst  nun  alle  sechs  Aufgaben,  sie 
wie  jede  der  übrigen  Wissenschaften  ihrer  Gruppe  ist  eine  theo- 
retische Wissenschaft  hinsichtlich  der  drei  ersten,  eine  practische 
hinsichtlich  der  drei  letzten  Aufgaben,  sowrohl  eine  Erkennen-Lehre 

A.  Waguor,  Grundlegung.  3.  Auflago.  1.  Thell.  Grundlagen.  10 


146 


1.  B.  2.  K.  1.  H.-A.  Aufgaben.  §.  57,  58. 


als  eine  Kunstlehre.  Als  theoretische  Wissenschaft  hat  sie  prin- 
cipiell  dieselben  Aufgaben  wie  die  rein  theoretischen  Wissen- 
schaften, was  für  die  Fragen  der  Methodologie  hervorzuheben 
wichtig  ist.  Nur  als  zugleich  practische  Wissenschaft  treten  bei 
ihr  jene  anderen  Aufgaben  noch  hinzu. 

Hiernach  ist  die  Streitfrage,  ob  die  Politische  Oekonomie  nur 
mit  der  Frage  nach  dem  „Was  ist?“  und  mit  den  damit  zu- 
sammenhängenden Fragen  zu  thun  habe,  nicht  auch  mit  der  Frage: 
„Was  soll  sein?“  zu  entscheiden,  d.  h.  auch  letztere  Frage 
unter  die  Aufgaben  unserer  Disciplin  zu  reiben1). 

Alle  empirischen  oder  Beobachtungswissenschaften,  Natur-  wie  Geisteswisseu- 
schaften  haben  es  mit  der  ersten,  regelmässig  mit  den  drei  ersten  Aufgaben  zu  thun. 
Die  reinen  Naturwissenschaften  beschränken  sich  darauf,  die  „beschreibenden“  selbst 
auf  die  erste  Aufgabe  allein,  die  „angewandten“,  z.  B.  die  Medicin,  die  Landwirth- 
schaftslehrc,  die  Technologie  ziehen  die  drei  letzten  Aufgaben  mit  heran.  Mathematik, 
Logik,  Erkenntnistheorie,  Psychologie  haben  nur  dio  drei  ersten,  Ethik,  Pädagogik 
auch  die  drei  letzten  Aufgaben  mit.  Wissenschaften  auf  dem  Grenzgebiete  der  Natur- 
und  Geisteswissenschaften , wie  die  Sprachwissenschaft , beschäftigen  sich  wieder  nur 
mit  den  ersten  Aufgaben,  ebenso  die  Geschichtswissenschaft.  Ob  die  letztere 
sich  aber  auch  nur  die  dritte  Aufgabe  mit  zu  stellen,  vollends  ob  sie  sich  auf  die 
zweite  und  dio  vierte  mit  auszudehnen  habe,  ist  strittig,  wird  von  Ranke  und  seiner 
Schule,  im  Unterschied  zu  Bucle  (Aufgabe  2 und  3)  uud  Schlosser  (Aufgabe  4)  ab- 
gelehnt.*) Eine  verwandte  Tendenz  zeigt  sich  aber  sogar  für  die  Politische  Oekonomie 
bei  „historischen“  Nationalökonomen  von  der  Richtung  G.  Schmoller’s,  unter  Hinweis 
auf  ein  bekanntes  „stolz  bescheidenes“  Wort  ltanke’s  über  dessen  Bestrebungen.  Es 
genügt  dem  gegenüber,  auf  die  Ausführungen  hier  und  im  Folgenden  zu  verweisen, 
dann  besonders  auf  K.  Menger,  Untersuchungen , namentlich  Kap.  1 des  1.  Buchs, 
Anhang  III,  aber  überhaupt  auf  das  ganze  Werk.  Auf  die  Unterscheidung  der  ersten 
und  zweiten  Aufgabe  komme  ich  unten  noch  zurück.  Soweit  Statistik  überhaupt 
als  eigene,  selbständige  Wissenschaft,  nicht  bloss  als  Methode  betrachtet  wird, 
hat  auch  sic  die  drei  ersten  Aufgaben  zu  behandeln.  Doch  besteht  auch  bei  ihr  eine 
Richtung,  diejenige  der  älteren  „beschreibenden“  Statistik  (Staatskunde),  welche  die 
Aufgabe  dieser  Wissenschaft  auf  die  ersto  beschränkt.  S.  darüber  meine  Abh. 
Statistik  im  Bluntschlischcn  Staats  Wörterbuch,  B.  X,  S.  400  ff.  und  die  oben  genannten 
Arbeiten  von  Knies  und  Rümelin  über  Statistik,  sowie  unten  §.  80. 

A.  — §.  58.  Die  drei  ersten  oder  theoretischen 
Aufgaben.  Sie  bilden  eigentlich  drei  Stufen  einer  einzigen 

l)  Vgl  darüber  treffend  auch  Knies  (Politische  Oekonomie,  2.  A.,  S.  34),  mit 
Citat  aus  seiner  Recension  von  Roschers  Werk  in  den  Gött.  Gel.  Anz.  1855  (N.  0 — 11): 
„Ich  bin  der  Meinung,  dass  die  Frage,  was  soll  sein?  keineswegs  als  eine  für  die 
Nationalökonomie  nach  geschichtlicher  Methode  ungehörige  betrachtet  werden  kann.“ 
Ferner  G.  Cohn,  System  I,  §.51,  der  ebenso  entscheidet.  Mein  genannter  Aufsatz  in 
Conrads  Jahrbüchern  B.  46,  S.  229.  Eisenhardt,  Geschichte,  2.  A„  S.  234  ff.;  auch 
Buchenbergcr,  Agrarpolitik,  I.  S.  2,  64.  Anderseits  Roscher,  System  I,  §.  23 ff. 
Auch  Klein  wächter,  in  Conrad’s  Jahrb.  B.  52  S.  603  (wohl  das  Ziel  üborschiessend). 

s)  Vgl.  0.  Lorenz,  Geschichtswissenschaft  in  Hauptrichtungen  und  Aufgaben, 
Berlin  1886,  S.  139  ff.  (gegen  Dubois-  Reymond);  ferner  Bern  heim,  historische 
Methode,  S.  70  ff.,  91  ff:  „cs  ist  nicht  die  Aufgabe  des  Historikers,  allgemeine  Sätze, 
Gesetze,  Ideen  aus  den  Ereignissen  zu  abstrahiren,  noch  die  Ereignisse  als  Wirkungen 
allgemeiner  Grundgesetze  mechanisch  abzulcitcn  und  quantitativ  zu  bestimmen , die 
qualitativen  Unterschiede  der  Individualitäten,  welche  den  wesentlichen  Inhalt  der 
Geschichte  bilden,  widersprechen  principiell  und  practiscb  dieser  Erkenntnissweise“. 
Nicht  einmal  von  empirischen  Gesetzen  sei  hier  zu  reden. 


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Die  theoretischen  Aufgaben.  Die  erste. 


147 


Aufgabe , nemlich  der , die  wirtschaftlichen  Erscheinungen 
richtig  kennen  und  verstehen  zu  lernen.  Zu  diesem  Behufe 
müssen  sie  nicht  nur  gestellt  und  nach  Möglichkeit  gelöst,  sondern 
auch  in  der  angegebenen  Reihenfolge  behandelt  werden.  Alle 
drei  Aufgaben  hängen  enge  zusammen,  die  nachfolgende  setzt  die 
Lösung  der  vorangehenden  voraus.  Die  Politische  Oekonomie  wäre, 
wenn  überhaupt  noch  eine  „Wissenschaft“,  mindestens  keine  eigene 
Wissenschaft  mehr,  sondern  nur  ein  Theil  der  Geschichtswissenschaft 
und  der  beschreibenden  Statistik  (Staatskunde)  zu  nennen,  wenn  sie 
sich,  nach  gewissen  Tendenzen  in  der  „historischen“  Richtung,  auf 
die  erste  Aufgabe  beschränkte.  Im  Gegentheil  hat  sie  sich  gerade 
bei  dieser  Aufgabe  anderer  Wissenschaften,  der  Geschichte,  der 
Statistik,  als  Hilfswissenschaften  und  Methoden  mit  zu  bedienen. 
Erst  mit  der  zweiten  und  dritten  Aufgabe  wird  sie  eine  wahre 
eigene  und  zwar  theoretische  Wissenschaft,  für  welche  die 
Lösung  der  ersten  Aufgabe  nur  die  Vorbereit ungsarbeit  zur 
Lösung  der  beiden  folgenden  als  ihrer  eigentlichen  und  Haupt- 
aufgaben  ist. 

Damit  wird  hier  die  vorbin  bereits  angedeutete  Neigung,  besonders  im  jüngeren 
Historismus,  abgelehnt,  die  erste  Aufgabe  nicht  bloss  einseitig  hervorzu heben,  sondern 
sie  sogar  beinahe  zur  alleinigen  auch  in  der  Wissenschaft  der  Politischen  Oekonomie 
zu  machen,  nur  oder  doch  zumeist  „Beschreibung“,  „Dccription“  , nicht  Ableitung 
von  Regelmässigkeiten  u.  s.  w..  nicht  Eindringen  in  den  Gausalzusam  menhang,  als 
Aufgabe  hinzustellen.  Folgeweise  wird  auch  die  Neigung  fUr  falsch  gehalten,  con- 
crete  — nicht  einmal  vergleichende!  — Wirtschaftsgeschichte  und  Wirth- 
schaftsstatistik  mit  Politischer  Oekonomie  als  Wissenschaft  zu  idcntificiren, 
namentlich  mit  der  sogenannten  „spcciellen“  oder  „practischen“  Nationalökonomie,  — 
eine  auch  logische  Verirrung  und  Verwirrung,  Grade  ftlr  die  Politische  Oekonomie, 
und  zwar  für  die  gesammtc,  als  eine  theoretische  Wissenschaft,  ist  die  zweite  und 
die  dritte  die  höhere  Aufgabe. 

Die  erste  und  zweito  Aufgabe  hängen  besonders  enge  mit  einander  zusammen. 
Ich  habe  sie  früher  (so  in  dem  Aufsatz  in  Conrad's  Jahrbüchern)  wohl  als  eine  ein- 
zige in  zwei  Phasen  zusammengefasst  Aber  es  ist  doch  richtiger,  von  vornherein  zu 
trennen.  Die  scharfen,  klaren  Auseinandersetzungen  K.  Menger’s  über  den  Gegen- 
satz zwischen  den  historischen  und  den  theoretischen  Wissenschaften,  entsprechend 
dem  Unterschied  zwischen  dem  Individuellen  und  dem  Generellen  der  Erscheinungen, 
haben  mich  bestimmt,  jetzt  so  vorzugehen.  Abweichend  von  Menget-  reihe  ich  aber  doch 
die  erste  Aufgabe  auch  mit  in  diejenigen  der  Politischen  Oekonomie.  (S.  u.  §.  103.)  Ich 
weise  daher  auch  nur  die  Forderung  ab,  dass  man  sich  in  dieser  Wissenschaft  auf 
blosses  Describiren  beschränken  solle,  nicht  die,  dass  letzteres,  allerdings  als  Arbeit, 
welche  wesentlich  die  wichtigeren  Aufgaben  Nr.  2 und  3 nur  vorbereitet,  auch 
eine  der  Aufgaben  unserer  Disciplin  sei.  Wenn  diese  Arbeit  bei  der  ersten  Auf- 
gabe dann  auch  vornemlich  historischer  und  statistischer  Art  ist.  so  kann  man  sie 
doch  immerhin  grade  als  Vorbereitung  zu  der  Materialsammlung  für  die  zweito  und 
dritte  Aufgabe  auch  eine  theoretische  nennen. 

§.  59.  — 1.  Die  erste  Aufgabe  ist  die  möglichst  genaue  Fest- 
stellung der  wirtschaftlichen  Erscheinungen  und  Vorgänge,  ihrer 
Entstehung,  ihres  Verlaufs,  ihrer  Entwicklung,  ihrer  Veränderung 
als  individueller,  concrcter  Thatsacben,  die  dabei  aber 

io* 


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148 


1.  B.  2.  K.  1.  H.-A.  Aufgaben.  §.  59,  60. 


bereits  durch  Massenbeobachtung  und  eventuell  womöglich 
Zählung  (statistisch)  zusammeugefasst  werden  können. 

Beobachten,  darstellen,  schildern,  zusammenstellen,  eventuell 
auch  bereits  vergleichen,  classificiren  und  tabellarisiren,  daher  be- 
nutzen derjenigen  Methoden,  welche  sich  zu  diesen  Zwecken,  ins- 
besondre zum  Beobachten,  bieten,  sind  die  technischen  Hilfsmittel 
zur  Lösung  dieser  ersten  Aufgabe. 

Demnach  und  allerdings  vor  Allem  und  wesentlich:  Anwendung  inductiven 
Verfahrens,  historischer  Forschung,  statistischer  Aufnahmen,  methodischer  Enqueten, 
methodischer  Einzelbeobachtung  ^wie  der  im  engeren  Sinne  „describircndcu“  National- 
ökonomen, z.  B.  der  Schildorcr  gewerblicher  Verhältnisse,  Arbeiterzustände  auf  (irund 
persönlicher  Nachforschung,  „Ocularinspection“) , sorgfältiger  und  objectiver,  wenn 
auch  nicht  systematischer  „täglicher  Beobachtung“  und  Sammlung  von  Lebens- 
erfahrung (§.  77  ff.).  Aber  bei  den  nothwendig  immer  verbleibenden  Lucken  der 
Beobachtung,  dem  Fehlen  von  Bindegliedern,  den  unterlaufenden  Beobachtungsfehlern, 
auch  bei  sorgfältigster  und  oft  wiederholter  systematischer  Beobachtung,  darf  und  muss 
doch  selbst  hier  das  deductive  Verfahren  immer  zugleich  mit  und  als  Ergänzung 
neben  dem  inductiven  angewandt  werden,  d.  h.  Schlüsse  aus  deu  möglicher,  wahr- 
scheinlicher oder  sicherer  Weise  — was  wieder  zu  beobachten  ist  — unter  den  ge- 
gebenen Verhältnissen  mitspielenden  psychischen  Motiven  sind  zulässig  und  selbst 
geboten,  um  wirthschaftliche  Thatsachen,  Erscheinungen  als  Folgen  menschlicher 
Handlungen  wenigstens  hypothetisch  zu  ermitteln. 

Indem  die  Thatsachen  dann  verglichen,  classificirt,  tabellarisirt 
werden  — Letzteres  vornemlich,  wenn  auch  nicht  ausschliesslich, 
in  Zahlen  ausgedrUckte  Thatsachen,  daher  in  der  statistischen 
Tabelle  (§.  82)  — , erfolgt  bereits  eine  Vorbereitung  des  gesam- 
melten Materials  für  die  Lösung  der  zweiten  und  dritten  Aufgabe. 

Auch  dieser  Umstand  rechtfertigt  es,  die  erste  Aufgabe  mit  für  die  Politische 
Oekonomic  selbst  zu  vindiciren  und  sie  nicht  ganz  anderen  Wissenschaften,  die  frei- 
lich sich  für  ihre  Zwecke  auf  die  erste  Aufgabe  beschränken  können,  wie  der  Wirt- 
schaftsgeschichte, Wirthschaftsstatistik,  allein  zuzuweisen.  Schon  das  ürmaterial 
der  individuellen  Thatsachen  muss  mit  Rücksicht  auf  die  zweite  und 
dritte  Aufgabe  aufgenommen,  gesammelt,  vollends  verarbeitet  werden, 
auch  wenn  dabei  zunächst  die  Lösung  der  ersten  Aufgabe,  die  blosse  Feststellung  der 
Thatsachen , der  entscheidende  Gesichtspunct  ist.  Für  die  Zwecke  der  Politischen 
Oekonomie  kommen  dann  allerdings  Wirtschaftsgeschichte  und  Statistik  nur  als  Hilfs- 
wissenschaften und  als  Methoden  in  Betracht.  Aber  als  solche  gehören  sie  hierher. 
Nur  die  Prfttension  ist  abzuwoisen,  dass  diese  Geschichte  und  Statistik  „Politische 
Oekonomie“  seion  und  vollends,  dass  diese  letztere  nichts  Weiteres  sei  (§.  76  ff.). 

§.  GO.  — 2.  Die  zweite  Aufgabe  schliesst  sich  an  die  erste 
unmittelbar  und  enge  an.  Es  ist  dem  beobachtenden  menschlichen 
Geiste  kaum  möglich,  sobald  er  die  Beobachtungen  der  Erschei- 
nungen nur  mit  einiger  Aufmerksamkeit  auf  sich  wirken  lässt,  das 
Aehnliche  und  Unähnliche,  das  Gleichmässige  und  Ungleichmässige 
der  Erscheinungen  in  ihrem  Vorkommen,  ihrer  Entwicklung,  ihrer 
Reihenfolge  zu  übersehen.  Je  mehr  dann  die  Beobachtungen  sich 
ausdehnen  oder  wiederholen,  um  so  mehr  werden  eventuell  das 
Zufällige,  Gelegentliche,  Nebensächliche  einer-  und  das  Wesentliche, 


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Die  theoretischen  Aufgaben.  Die  zweite. 


149 


Regelmässige,  Hauptsächliche  anderseits  oder  m.  a.  W.  das  Con- 
crete  und  Individuelle  und  das  Typische  und  Generelle, 
das  Variable  und  das  Constante  in  den  Erscheinungen  sich 
von  einander  abheben.  Durch  isolirende  und  generalisirende  Ab- 
straction  wird  dann  Beides  verstandesmässig  von  einander  getrennt 
und  zum  vollen  Bewusstsein  und  Verständniss  gebracht.  Dieses 
Typische  tritt  in  der  Masse  der  beobachteten  Fälle  als  empirische 
Regelmässigkeit  hervor,  welche  als  solche  bereits  auf  sie  be- 
dingende und  bestimmende  feste  oder  festere  Ursachen,  da- 
mit auf  eine  Gesetzmässigkeit  hin  weist.  Denn  für  unser 
immer  nothwendig  auf  Grund  des  Causalgesetzes  operirendes  Denken 
ergiebt  sich  der  Schluss  von  selbst,  dass  es  mächtigere,  tiefere, 
gleichmässiger  wirkende  Ursachen  sein  müssen,  welche  sich  im 
Typischen  der  Erscheinungen  durchsetzen.  Das  führt  dann  aber 
auch  zu  der  Annahme,  dass  das  Typische,  das  Generelle,  nicht 
das  Concrete,  das  Individuelle  dasjenige  sei,  welches  das  wahre 
Wesen,  den  eigentlichen  Grundcharacter  der  Erschei- 
nungen bilde,  und  dass  daher  die  Ermittlung  dieses  Typi- 
schen die  Aufgabe  — unsere  z weite  Aufgabe — sei,  welche  zur 
tieferen  Erkenntniss  der  Erscheinungen  führe,  als  die  blosse  Fest- 
stellung des  Individuellen.  M.  a.  W. : diese  zweite  Aufgabe  wird 
damit  für  die  Wissenschaft  zur  wichtigeren,  als  die  erste,  wenn 
die  Erfüllung  dieser  auch  vorangehen  muss. 

Nun  gehen  die  wirtschaftlichen  Erscheinungen  aber  auf  die 
wirtschaftlichen  Thätig k eiten  der  Menschen  mit  zurück  und  diese, 
bzw.  die  Handlungen  werden  als  Willensacte  durch  Motive  bestimmt. 
Daher  führt  gerade  die  Ermittlung  empirischer  Regelmässigkeiten 
der  Erscheinungen  als  muthmaasslicher  von  festen  Ursachen  be- 
dingter und  bestimmter  Gesetzmässigkeiten  zu  der  Annahme,  dass 
in  der  hier  mitspielenden  menschlichen  Motivation  ein  starkes, 
wenigstens  einigermaassen  consta ntes  Element  enthalten  sein 
und  sich  in  den  Handlungen  und  dadurch  in  den  Erscheinungen 
durchsetzen  muss.  Denn  nur  mit  dieser  Annahme  neben  der 
Annahme  des  Consta nten  in  der  äusseren  Natur  (der 
strengen  Naturgesetzlichkeit  hier)  ist  die  Wahrnehmung  von  Regel- 
mässigkeiten wirthschaftlicher  Erscheinungen  als  den  Folgen 
(Wirkungen)  menschlicher  Handlungen  vereinbar.  Nur  ein  einiger- 
maassen constantes  und  in  der  grossen  Mehrzahl  der  Fälle  constant 
wirkendes  Motiv  oder  eine  entsprechende  constante  und  constant 
wirkende  Combination  von  Motiven  bietet  nach  dem  Satze  vom 


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150 


1.  B.  2.  K.  1.  II. -A.  Aufgaben.  §.  60.  Gl. 


zureichenden  Grunde  eine  genügende  Erklärung  der  Regelmässig- 
keit der  wirtschaftlichen  Handlungen  und  Erscheinungen. 

Daher  drängt  die  Wahrnehmung  solcher  Regelmässigkeiten  mit 
Notwendigkeit  zur  Nachforschung  nach  einem  solchen  Motiv  oder 
einer  solchen  Motivcombination  hin,  mithin  zur  Analyse  der  das 
wirtschaftliche  Thun  bestimmenden  oder  dabei  irgend  mitwirken- 
den Motive.  Sowohl  die  eigene  innere  Selbstprüfung  als  die  Beob- 
achtung an  dem  Thun  (den  Handlungen)  Andrer  führt  dann  zu  dem 
Ergebniss,  dass  von  allen  den  im  vorigen  Kapitel  analysirten  Leit- 
motiven und  den  zu  einem  jeden  derselben  gehörenden  Special- 
motiven den  Character  einer  einigermaassen  Constanten 
nicht  eine  bestimmte  Combination  von  Leit-  und  Specialmotiven, 
sondern  nur  ein  einzelnes  Leitmotiv,  und  zwar  das  erste,  das 
Streben  nach  dem  eigenen  wirtschaftlichen  Vorteil,  allenfalls  mit 
der  „altruistischen“  Erweiterung  zum  Streben  für  diesen  Vortheil 
persönlich  Nahestehender,  an  sich  trägt. 

Allerdings  auch  nur  den  Character  einer  einigermassc n Constanten,  indem 
variable  Elemente  nach  Individuen,  Gassen,  Völkern,  Zeitaltern  u.  s.  w , wie  oben  hin- 
länglich betont  worden  ist,  auch  hier  mitspiclen  und  die  wechselnden  Combinationen 
dieses  ersten  Motivs  mit  anderen  Motiven  als  weitere  variable,  die  Wirksamkeit  jener 
Constanten  beeinflussenden  Elemente  sich  geltend  machen;  aber  anderseits  doch  in 
der  That  auch  in  der  grossen  Masse  der  Fälle,  zumal  im  entwickelteren  freien  Wirt- 
schaftsverkehr, wo  die  Personen  keinen  Grund  haben,  andere  ltücksichten  als  auf 
ihr  wirtschaftliches  Interesse  zu  nehmen,  eine  wirklich  einigermaassen  C on stau t e 
(§.  67  ff.,  Sl). 

Aus  dem  Allen  folgt,  dass  auch  gerade  wieder  bei  der  Lösuug 
dieser  zweiten  Aufgabe  der  Politischen  Oekonoraie  neben  der 
äusseren  Beobachtung  der  wirtschaftlichen  Erscheinungen  und  der 
Nachforschung  nach  Regelmässigkeiten,  nach  dem  Typischen  dieser 
Erscheinungen  in  grösseren  Beobachtungsreihen,  also  neben  der 
Anwendung  des  inductiven  Verfahrens,  das  dcductive  Verfahren 
und  zwar  speciell  die  Deduction  ans  unserem  ersten  Leitmotiv  be- 
rechtigt ist.  Ja,  man  kann  dann  auch  einen  Schritt  weiter  gehen 
und  auf  Grund  der  inneren  und  äusseren  Beobachtung 
der  die  wirtschaftlichen  Handlungen  bestimmenden  Motive  und  der 
überragenden  Bedeutung  des  ersten  Leitmotivs  dabei  mit  der  De- 
duction  aus  diesem  Motiv  beginnen,  in  der  Annahme  (Hypothese), 
dass  es  das  wirtschaftliche  Thun  bzw.  Handeln  bestimme  und  allein 
bestimme  (§.  68). 

Nothwcndig  bleibt  dabei  nur  immer  die  Berücksichtigung  der  Thatsachc,  dass 
diese  Annahme  selbst  in  der  Masse  der  Fälle  und  vollends  im  einzelnen  Falle  nicht 
immer,  namentlich  nicht  immer  genau,  sondern  nur  einigermaassen  zutrifft,  daher 
die  deductiven  Schlüsse,  im  Allgemeinen  und  zumal  im  Einzelfall  nur  einen  bedingten  , 
einen  mehr  oder  weniger  grossen  Wahrscheinlichkeitswerth  haben  und  einer  contro- 


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Die  theoretischen  Aufgaben.  Die  dritte. 


151 


lirendeu  Nachprüfung  an  den  Thatsachen  bedürfen,  d.  h.  dass  wieder  das  inductive 
Verfahren  mindestens  nachträglich  und  ergänzend  Platz  greifen  muss  (§.  74 , 75). 
Aber  die  vorsichtige  Anwendung  der  Deduction  aus  dem  ersten  Leitmotiv  auch  schon 
zum  Beginn  der  Untersuchung  wird  durch  diese  Erwägung  nicht  ausgeschlossen.  Bei 
der  Schwierigkeit,  mitunter  der  Unmöglichkeit  äusserer  Beobachtung,  namentlich  ge- 
nügend zahlreicher  und  genügend  fehlerfreier,  wird  um  so  mehr  Werth  und  Berech- 
tigung des  deductivcn  Verfahrens,  wenn  auch  immer  nur  in  den  angedcuteteu  Greuzen, 
anzuerkennen  sein.  Das  ist  zu  Gunsten  der  Ansichten  und  Methode  der  älteren  bri- 
tischen und  der  neueren  österreichischen  Schule  gegen  die  Behauptungen  des  jüngeren 
Historismus  festzuhalten. 

Für  den  Unterschied  des  Individuellen  und  Generellen  in  den  wirthschaftlichen 
Erscheinungen  und  für  die  Bedeutung  dieses  Unterschieds  für  die  Classification  der 
Wissenschaften  ist  auf  K.  Mcnger’s  „Untersuchungen“  zumeist  zu  verweisen.  Die 
Fachlitteratur  bietet  nichts  ähnlich  Eindringendes  und  Scharfes.  Auf  die  Erklärung 
und  Begründung  der  in  diesem  Paragraphen  gebrauchten  Ausdrücke  empirische  Regel- 
mässigkeit, Gesetzmässigkeit,  und  auf  die  Frage,  ob  diese,  insbesondere  der  zweite, 
überhaupt  in  der  Politischen  Oekonomie  gebraucht  werden  dürfen,  sowie  auf  die  ganze 
Frage  Uber  „Gesetze“  auf  diesem  Gebiete  komme  ich  im  nächsten  Abschnitte 
(Methoden)  noch  zu  sprechen  (§.  74,  86  ff.).  Ich  glaube  die  Terminologie  und  die  Auf- 
fassung festhalten  zu  dürfen,  welche  ich  bereits  vor  langen  Jahren  in  meiner  Schrift 
über  die  Gesetzmässigkeit  in  den  scheinbar  willkührlichen  menschlichen  Handlungen 
(I.  Schlussabschnitt)  und  in  meiner  Abhandlung  über  Statistik  im  Bluntschli’schen 
Staatswörterbuch  vertreten  und  dort  zu  begründen  versucht  habe.  Vgl.  auch  Neu- 
mann’s  neusten  Aufsatz  über  Natur-  und  Wirthschaftsgesetz  (o.  S.  142). 

§.  61.  — 3.  Die  dritte  Aufgabe  ist  die  Erklärung  der  Ur- 
sachen und  Bedingungen  des  causalen  und  conditioncllen  Zusammen- 
hangs der  wirthschaftlichen  Erscheinungen,  ihrer  Entstehung,  ihres 
Verlaufs,  ihrer  Wechselbeziehungen  und  Abhängigkeitsverhältnisse, 
und  zwar  hier  nun  sowohl  des  Individuellen  als  des  Generellen 
der  Erscheinungen : die  theoretisch  höchste  und  zugleich  die  Schluss- 
aufgabe, an  welche  erst  geschritten  werden  kann,  wenn  und  soweit 
als  die  beiden  ersten  Aufgaben  nach  Möglichkeit  gelöst  sind.  Die 
Arbeit  an  dieser  dritten  Aufgabe  bildet  aber  ersichtlich  nur  eine 
Fortsetzung  und  Vertiefung  derjenigen  an  der  zweiten.  Das  That- 
sächliche  der  Erscheinungen  feststellen,  das  Typische  in  ihnen 
ermitteln,  Beides  alsdann  auf  Ursachen  und  Bedingungen  zurück- 
führen  und  so  erklären  oder  nach  einander  beantworten,  was  ist, 
was  war,  was  ist  das  Wesentliche  dabei,  warum  war  und  ist  es 
und  so,  wie  es  war  und  ist:  das  ist  der  gebotene  methodische  Gang. 
Bei  der  Beschäftigung  mit  der  zweiten  Aufgabe  werden  wir  schon 
auf  Ursachen  und  Bedingungen  als  bestimmende  Factoren  hin- 
gewiesen, aber  nur  in  dem  Sinne,  dass  w*ir  zur  Annahme  des 
Vorhandenseins  solcher  aus  dem  Character  der  Erscheinungen 
und  ihres  Verlaufs  genöthigt  und  nur  etwa  muthmaassungsweise 
auf  bestimmte  (concrete)  Ursachen  und  Bedingungen  als  die  maass- 
gebenden oder  mitspielenden  geführt  werden.  Bei  der  dritten  Auf- 
gabe handelt  es  sich  dagegen  darum,  diese  Ursachen  und  Be- 
dingungen selbst  wirklich  zu  ermitteln,  ihren  Einfluss  auf 


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152 


1.  B.  2.  K.  1.  H.-A.  Aufgaben.  §.61. 


die  Erscheinungen  und  wie  gesagt  nunmehr  sowohl  auf  das  Indi- 
viduelle — daher  auch  die  Variationen , die  Abweichungen  vom 
Typischen  im  concreten  Fall  — als  auf  das  Generelle,  Typische 
der  Erscheinungen  möglichst  genau  zu  bestimmen , demnach  das 
Abhängigkeitsverhältniss  der  Erscheinungen  von  den  Bedingungen 
und  Ursachen,  das  Wirken  der  letzteren  in  derselben  und  in  sich 
kreuzender  und  überhaupt  bestimmt  in  welcher  Richtung  genau 
festzustellen,  eventuell  selbst  es  in  Formeln  und  sogar  unter  Zahl 
und  Maass  und  Rechnung  zu  bringen,  woran  wenigstens  mitunter 
bei  Vorhandensein  betreifenden  statistischen  Materials  gedacht 
werden  kann  (§.  81,  82). 

Die  Aufgabe  darf  hier  nicht  mehr  auf  die  Untersuchung  des 
Typischeu  nach  seinen  conditionellen  und  causalen  Seiten  be- 
schränkt werden,  wenn  dies  auch  immer  noch  die  Hauptsache 
bleibt.  Auch  die  Abweichungen  vom  Typischen,  welche  sich  even- 
tuell wieder  auf  Regeln  zurückführen  lassen,  und  schliesslich  die 
concreten  einzelnen  Erscheinungen  in  ihrer  individuellen  Gestaltung 
und  in  ihrer  Uebereinstimmung  mit  wie  in  ihrer  Abweichung  von 
partiellen  und  allgemeinen  Regelmässigkeiten  und  Typen  müssen 
wie  das  Typische  selbst  auf  ihre  bestimmten  Ursachen  und  Be- 
dingungen zurückgeführt  und  so  erklärt  werden.  M.  a.  W.  man 
muss  ebenso  suchen  zu  erklären,  warum  das  und  das  Typische 
sich  zeigt  und  warum  es  da  und  da  zurücktritt,  warum  die  und 
die  Ursache  und  welche  Ursache  oder  Ursachen  die  im  Ganzen 
beherrschenden,  sich  regelmässig  durchsetzenden  sind  und  warum 
da  und  da  andere  Ursachen  und  alsdann  welche  Ursachen  das 
Individuelle  bestimmen,  warum  es  ähnlich  mit  den  Bedingungen 
geht  und  welche  Bedingungen  dies  sind. 

An  irgend  einem  practisehen  Beispiel,  der  Preisbildung,  der  Lohnbewegung, 
der  Entwicklung  des  Grossbetriebs,  lässt  sich  leicht  verfolgen,  welche  Fragen  hier 
nach  dem  Vorausgehenden  bei  dieser  dritten  Aufgabo  auftauchen  und  der  Beant- 
wortung harren. 

Die  Unterscheidung  von  Ursachen  und  Bedingungen  ist 
bei  dieser  Aufgabe  beachtenswert!].  Sie  ist  aber  nicht  immer  ein- 
fach und  sicher  durchzuführen.  Die  Ursache  ist  das  Moment, 
welches  eine  wirtschaftliche  Erscheinung  bewirkt  und  ihr  die  und 
die  Gestalt  gegeben  hat,  die  Bedingung  dagegen  dasjenige,  welches 
sie  überhaupt  und  in  dieser  Weise  möglich  gemacht  hat(Ahrens). 
Ursachen  sind  die  bezüglichen  wirthschaftlichen  Thätigkeiten,  daher 
die  Willensacte  der  Menschen,  Bedingungen  theils  ebenfalls  mensch- 
liche Thätigkeiten,  theils  Einrichtungen,  Normen,  welche  freilich  ja 


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Die  theoretischen  Aufgaben.  Die  dritte. 


153 


immer  auch  menschlichen  Willensacten,  Handlungen  ihre  Entstehung 
und  Function  verdanken.  Als  Ursache  wirkt  bei  einer  wirthschaft- 
lichen  Erscheinung  die  menschliche  Handlung  unmittelbar  auf  deren 
Entstehen,  Gestaltung,  Verlauf  ein,  als  Bedingung  sowohl  die  Hand- 
lung wie  die  Einrichtung,  die  Norm  mittelbar,  indem  sie  die  Vor- 
nahme der  direct  verursachenden  Handlung  oder  die  Wirkung 
dieser  Handlung  oder  die  Handlung  so  und  so  vorzunehmen,  ihr 
so  und  so  zu  wirken  erst  möglich  macht,  fördernden,  hemmenden 
Einfluss  darauf  übt  u.  s.  w. 

Die  grossen  Organisationen,  Einrichtungen,  Normen  des  Staats,  der  Kcchts- 
ordnuDgen,  die  Thätigkeiten  der  öffentlichen  Körper  kommen  vorneinlich  als  Be- 
dingungen der  wirtschaftlichen  Erscheinungen  in  Betracht.  Aber  auch  die  Leitungs-, 
Controlarbeiten , die  Unternehmung  (der  unternchinungswcise  Betrieb  als  Organisation 
der  Arbeit  Dritter  gedacht),  die  Kapitalbeschaffung  für  den  concreten  Productious- 
zweck  sind  eigentlich  zunächst,  mindestens  in  der  Regel  zumeist  Bedingungen, 
nicht  Ursachen  derjenigen  wirtschaftlichen  Erscheinungen,  welche  die  Producte 
selbst,  die  Arbeitszeugnisse,  darstcllcu.  Hiernach  sind  überhaupt  nur  Natur  und 
direct  auf  die  Natur  einwirkende  Arbeit  Ursachen,  Factoren,  Kräfte  der  Pro- 
duction, Kapital  und  Unternehmung  Bedingungen  derselben.  Etwas  Derartiges 
schwebt  auch  gewissen  socialistischen  Richtungen  vor,  welche  nur  die  materielle 
Arbeit  in  der  Production  beachten.  Aber  der  Schluss  aus  solcher  Auffassung  ist  falsch. 
Die  Erfüllung  der  Bedingungen  für  die  Production  (Kapitalbeschaffung,  Verwen- 
dungsleitung, Unternehmertätigkeit)  ist  ebenso  wichtig,  je  nachdem  wichtiger,  als  die 
Erfüllung  der  Ursachen  der  Production,  die  directo  materielle  i,IIaud-)Arbeits- 
leistung.  Und  „Arbeit“,  „wirtschaftliche“  Arbeit  ist  Beides. 

Die  Methoden  zur  Lösung  der  dritten  Aufgabe  ergeben  sich 
wieder  aus  der  letzteren  selbst.  Hauptsache  ist  die  mindestens 
streng  logisch -gedankenmässige,  womöglich  experimentelle  oder 
nach  deren  Analogie  erfolgende  Isolirung  der  Ursachen,  Be- 
dingungen, Wirkungen,  Folgen.  Flir  die  gedankenmässige  Iso- 
lirnng  leistet  wieder  das  deductive  Verfahren,  wo  aus  nachge- 
wiesenen wie  angenommenen  psychischen  Motiven  abgeleitet  wird, 
besondere  Dienste.  Da  als  Ursache  wie  als  Bedingung  wirtschaft- 
licher Erscheinungen  menschliche  Thätigkeiten  und  demnach  von 
Motiven  bestimmte  Willensacte  in  Betracht  kommen,  so  wird  gerade 
hier  das  deductive  Verfahren  von  vornherein  eine  bevorzugte 
Stellung  einnehmen.  Freilich  wieder  auf  Grund  innerer  und  äusserer 
Beobachtung  wird  man  möglichst  diejenigen  Motive  festzustellen 
haben,  welche,  und  die  Art  und  Weise,  wie  sie  einwirken  und 
dann  auf  die  Beschaffenheit  der  Handlung  und  Erscheinung  als 
einer  Wirkung  schliessen.  Aber  auch  von  angenommenen  Ursachen 
und  Bedingungen  wird  man  ausgehen  dürfen,  um  dann  zu  er- 
forschen, wie  die  Ableitungen  daraus  mit  der  Wirklichkeit  stimmen, 
wonach  darauf  jene  ersteren  Voraussetzungen  der  Deduction  be- 
stätigt oder  berichtigt  werden.  Zu  diesem  Zweck  müssen  Be- 


154 


1.  B.  2.  K.  1.  H.-A.  Aufgaben  u s.  w.  §.  Gl,  G2. 


obachtungen  der  Erscheinungen  selbst  daher  immer  daneben  her- 
gehen, theils  um  an  solchen  Beobachtungen  die  Schlüsse  des  de- 
ductiven  Verfahrens  zu  prüfen,  zu  berichtigen,  genau  zu  machen, 
theils  aber  auch  um  aus  ihnen  Regelmässigkeiten  in  der  Gestaltung, 
Wiederkehr,  Entwicklung  der  Erscheinungen  und  Abweichungen  da- 
von abzuleiten  und  so  direct  auf  die  Ursachen  und  Bedingungen  ge- 
führt zu  werden.  Demnach  also  auch  hier  die  Anwendung  des  inductivcn 
Verfahrens.  Dasselbe  ist  dann  möglichst  so  zu  gestalten,  dass  es  die  Be- 
nutzung der  Methoden  der  experimentellenForscbung  und  mitderen  Hilfe 
eine  quasi-experimentelle  Isolirung  der  Ursachen  u.  s.  w.  ermöglicht. 

Namentlich  die  vergleichende  Statistik,  ungleich  mehr  als  die  vollends 
niemals  einen  „exacten"  Beweis  gestattende  Geschichte  (Historik),  wenigstens  die  rein 
historische  Methode,  und  immerhin  auch  noch  besser  als  die  vergleichende  historische 
Methode,  welche  sich  der  statistischen  doch  nur  nähert  (§.  81,  84  fl'.),  hat  hier  eine 
wichtige  Aufgabe,  als  direct  die  Ursachen  und  Bedingungen  — wenigstens  nach 
hoher  Wahrscheinlichkeit  — aufdeckendes  Probeverfahren  gegenüber  deu  Schlüssen 
der  Dcduction  aus  den  Motiven,  — allerdings  Beides  unter  der  Voraussetzung  einer 
genügenden  technischen  Ausbildung  der  Statistik.  Weiteres  hierüber  unten  in  der 
Methodenlehre  (§.  81  fl.,  S4).  wo  auch  darzulegen  sein  wird,  wie  die  Verwickeltheit 
des  causalen  und  conditionellcn  Zusammenhangs  die  Schwierigkeiten  der  ausschliess- 
lichen Anwendung  sowohl  des  deductivcn  als  inductiven  Verfahrens  steigert  und  die 
Ergebnisse  jedes  einzelnen  unsicherer  macht,  was  wiederum  nur  um  so  mehr  zur 
Verbindung  beider  Verfahren  nöthigt.  Dass  auch  dabei  das  deductive  Verfahren 
seinen  Vorzug  behauptet,  erklärt  sich  daraus,  dass  es  öfters  allein,  mindestens  ge- 
dankenmässig,  die  Ursachen  zu  isoliren  und  methodisch  von  den  einfacheren  zu  den 
verwiekeltercn  Fällen  vorzugehen  gestattet. 

B.  — §.  G2.  Die  drei  letzten  oder  die  practischen 
Aufgaben.  Hatten  cs  die  drei  analysirten  ersten  Aufgaben  mit 
dem  Sein,  Werden,  dem  Wesentlichen  und  dem  Gelegentlichen, 
mit  den  Ursachen  und  Bedingungen  der  wirtschaftlichen  Er- 
scheinungen zu  tliun,  so  die  drei  letzten  Aufgaben  mit  etwas  hier- 
von durchaus  Verschiedenem:  einmal  mit  Werthurtheilen,  die  vierte 
Aufgabe,  sodann  in  Anknüpfung  daran,  mit  Aufstellung  von  Ideal- 
bildern und  Messen  der  Wirklichkeit  daran , die  fünfte  Aufgabe, 
und  schliesslich  mit  Hinweisungen  auf  die  Mittel  und  Wege,  um 
die  Wirklichkeit  in  der  Richtung  nach  diesen  Idealbildern  zu  sich 
entwickeln  zu  lassen  und  zu  diesem  Behüte  auf  sie  zweckmässig 
einzuwirken,  die  sechste  Aufgabe. 

Die  Möglichkeit  und  die  Vernünftigkeit,  solche  practische 
Aufgaben  überhaupt  zu  stellen,  ist  an  zwei  nicht  zu  trennende 
Voraussetzungen  gebunden,  dass  es  sich  hier  nemlieh  um  mensch- 
liche Wo  bl  fahrt  si  nter  essen  handelt  und  dass  die  betreffen- 
den wirtschaftlichen  Erscheinungen  durch  den  menschlichen 
Willen  (Thun,  Handlungen,  Unterlassungen)  in  einer  diesen  Inter- 
essen mehr  oder  weniger  dienlichen  Weise  beeinflusst  werden  können. 


V 


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Die  practischen  Aufgaben. 


155 


Fehlte  die  erste  Voraussetzung,  so  hätte  es  keinen  Sinn,  selbst  nur  die  vierte, 
geschweige  die  fünfte  und  sechste  Aufgabe  zu  stellen.  Fehlte  die  zweite  Voraus- 
setzung, so  könnte  zwar  immer  noch  die  vierte  Aufgabe  auftauchen,  wenn  Wohlfahrts- 
interessen der  Menschen  in  Frage  kämen  — z.  B.  menschlich  nicht  beeinflussbaren 
Naturthatsachen,  so  doch  im  Wesentlichen  dem  Klima,  der  Bodenbeschaffenheit  (Structur, 
Inhalt)  gegenüber.  Selbst  die  fünfte  Aufgabe  fiele  nicht  nothwendig  völlig  fort, 
wenn  sie  auch  kein  practisehes  Interesse  mehr  hätte.  Aber  die  sechste  Aufgabe 
käme  natürlich  gar  nicht  in  Betracht. 

Die  Art  und  Weise,  wie  und  die  IutensivitHt,  in  welcher  die  drei 
practischen  Aufgaben  hervortreten,  wird  daher  auch  bestimmt  einer- 
seits von  der  Auffassung  dessen,  was  man  unter  menschlicher 
Wohlfahrt  versteht,  von  der  Werthlegung  darauf,  von  der  Bedeu- 
tung, welche  man  den  wirtschaftlichen  Dingen  für  diese  Wohlfahrt 
beimisst  und  anderseits  von  der  Ansicht  und  Einsicht,  dass  und 
wie  menschliche  Willensacte,  Handlungen  im  Stande  sind,  die 
wirthschaftlichen  Erscheinungen  in  der  Richtung  der  dem  vor- 
schwebenden Wohlfahrtsideale  sich  nähernden  Entwicklung  zu  be- 
einflussen. In  ersterer  Hinsicht  ist  deshalb  der  ganze  Cultur-, 
Sitten-,  Religionszustand  eines  Zeitalters,  in  zweiter  Hinsicht  das 
gewonnene  Verständnis  der  ökonomischen  und  technischen  Ent- 
wicklungsbedingungen des  Wirtschaftslebens,  die  naturwissenschaft- 
liche Einsicht  in  die  Naturkräfte  und  das  technische  und  ökono- 
mische Vermögen,  diese  Einsicht  für  die  Zwecke  der  Production 
zu  verwertben,  maassgebend.  Das  Auftauchen  der  drei  practischen 
Aufgaben  ist  demnach  selbst  wieder  als  ein  nothwendiges  Product 
eines  bestimmten  höheren  Entwicklungsstadiums  von  Technik, 
Wirthschaft  und  Cultur  anzusehen. 

Es  wird  so  erklärlich,  was  die  Geschichte  der  Volkswirtschaft,  der  Politik,  der 
Cultur  bei  höher  entwickelten  Völkern,  in  der  modernen  Welt  daher  besonders  seit 
dem  Ausgang  des  Mittelalters  in  den  letzten  Jahrhunderten  zeigt:  das  schärfere  und 
bewusstere  Hervortretcn  der  materiellen , der  wirthschaftlichen  Interessen  und  einer 
Wirthschaftsthcorie  und  Praxis,  welche  immer  zielbewusster  diesen  Interessen  dienen. 
Was  wir  in  der  Gegenwart  sehen , das  volle  Ucbcrgewicht  der  materiellen  Interessen, 
die  Ansicht  von  ihrer  entscheidenden  Bedeutung  für  das  geistige  und  sittliche  Volks- 
leben, die  Ueberzeugung  von  derselben  Bedeutung  des  technischen  Fortschritts  für 
die  menschliche  Wohlfahrt,  d.  h.  für  das,  was  man  heute  darunter  versteht,  — das 
Alles  ist  nur  ein  Glied  in  der  ganzen  Entwicklung  des  geistigen  Lebens  der  modernen 
Ctilturvölker.  Die  „materialistische“  Geschichtsauffassung  und  Evolutionstheorie  des 
Socialismus  mit  ihrer  Ueberschätzung  der  Möglichkeit  und  der  practischen  Bedeutung 
des  technischen  Fortschritts  stellt  nur  wieder  das  äusserste  Extrem  in  dieser  Entwick- 
lung dar. 

Es  ist  daher  klar,  dass  bei  Völkern  und  in  Zeitaltern,  wo  die  irdischen  Inter- 
essen nach  religiösen,  allgemein  verbreiteten  und  mächtig  Jedermann  beeinflussenden 
Anschauungen  an  Bedeutung  zu  rückstehen , Aufgaben  wie  unsero  drei  practischen 
überhaupt  wenig  hervortreten.  Nicht  minder,  wo  nach  Hecht  und  Sitte  und  nach  der 
sie  tragenden  allgemeinen  Volksübcrzeugung  das  gesammtc  Wirtschaftsleben,  die 
Stellung  der  Stände,  der  Einzelnen  darin  streng  gebunden  sind  und  vielleicht  sogar 
nach  der  herrschenden  religiösen  Auffassung  als  gottgewollte  Einrichtungen  gelten, 
da  fehlt  die  Kritik  des  Bestehenden  oder  bleibt  machtlos  auf  einzelne  Köpfe  be- 
schränkt und  damit  fehlen  auch  wieder  die  Bedingungen  für  das  Hervortreten  unserer 


1.  B.  2.  K.  1.  H.-A.  Aufgaben  u.  s.  w.  §.  62. 


156 

drei  Aufgaben.  Je  niedriger  der  Stand  der  Productionstecbnik  auf  allen  Gebiete ik 
wirtschaftlicher  Thütigkcit  ferner  ist,  je  sichtbarer  und  fühlbarer  bei  mangelnder 
Einsicht  in  Wesen  und  \\  irken  von  Naturkräften  die  äussere  Natur  wie  eine  fast  un- 
verrückbare Schranke  dem  Menschen  und  seinen  wirtschaftlichen  Bestrebungen 
gegen  ubersteht,  je  mehr  seine  Muskelkraft  in  der  Production  noch  allein  der  kraft- 
gebende Factor  ist.  seine  Geisteskraft  sich  nur  in  eng  begrenztem  Maassc  bei  der 
Lösung  der  technischen  Productionsprobleine  erfolgreich  betätigen  kann:  desto  mehr 
wird  natürlich  — und  grade  von  den  Vernünftigsten.  Nüchternsten  — der  historisch 
überkommene , tatsächlich  bestehende  Zustand  des  Wirtschaftslebens  als  etwas 
Natur n oth wendiges,  wenig  oder  nicht  Veränderliches,  die  mit  diesem  Zustaud 
verbundene  sociale  Ordnung  ebenfalls  als  etwas  Festes,  wieder  auch  als  etwas 
„Natürliches“,  nicht  als  etwas  in  Entwicklung  begritfenes  oder  gar  Willkuhrliches 
angesehen.  Und  abermals  tauchen  daher  in  der  Wissenschaft  und  in  der  Praxis  jene 
drei  Aufgaben  auch  gar  nicht  auf,  ja  es  giebt  unter  solchen  Verhältnissen  überhaupt 
noch  keine  „Wissenschaft“  vom  Wirtschaftsleben.  Nur  in  der  Phantasie,  im 
Mähreben,  in  eiuer  Zauberwelt  beschäftigt  sich  der  Volksgcist  mit  derartigen  Auf- 
gaben und  schafft  sich  ein  Bild  vom  ,,Sch!arafi'enlande“. 

Umgekehrt  natürlich,  je  mehr  religiöse  Anschauungen  an  Macht  verlieren,  das 
„Irdische“,  „Weltliche“  an  Wertschätzung  gewinnt,  die  Freude  daran  wächst,  die 
alte  wirtschaftliche  und  sociale  wie  die  politische  Gebundenheit  der  Classen,  Stände, 
Einzelnen  sich  lockert,  der  Kriticismus  und  Individualismus  sich  verbreiten,  das  in 
Kecht  und  Wirtschaft  Ueberkommenc  und  Bestehende  als  etwas  mehr  oder  weniger 
Willkuhrliches  erscheint,  die  Naturwissenschaften  fortschreiten,  die  auf  sie  gestützte 
Technik  „Wunder  schafft“,  welche  alle  frühere  Phantasie  und  Zauberwelt  übertreffen : 
desto  mehr  wird  das  Wirtschaftsleben  und  die  davon  bedingte  sociale  Ordnung  selbst 
Gegenstand  kritischer,  wissenschaftlicher  Betrachtung,  erkennt  man  es  als 
einen  sich  bewegenden,  sich  entwickelnden,  von  eigenen  „Gesetzen“  abhängigen 
Organismus,  prüft  man  es  an  einem  Wohlfahrtsideal,  vergleicht  daran  die  Wirklich- 
keit und  sinnt  auf  „Reformen“,  d.  h.  mau  stellt  sich  eben  immer  klarer  die  drei  hier 
in  Rede  stehenden  Aufgaben.  Einseitigkeiten,  wie  sie  dann  etwa  in  Betretf  der  Wür- 
digung des  technischen  Productionsfortschritts  und  seiner  weiteren  Entwicklung,  als 
eine  Art  „socialtechnische  Zukunftsmusik“  begegnen  — nirgends  mehr  als  in  den 
Phantasieen  des  Socialismus  — werden  dann  wieder  psychologisch  begreiflich,  zumal 
in  einem  Zeitalter  wirklichen  raschen  technischen  Fortschritts.  Die  nüchterne,  die 
wirklich  wissenschaftliche  Auffassung  muss  vor  Uebcrspanntheit  und  Illusionen  auch 
in  diesem  und  grade  in  diesem  Puncte,  hinsichtlich  eines  „socialistischcn  Schlaratfen- 
lands“  natürlich  warnen.  Aber  sie  darf  und  muss  doch  auch  den  richtigen  Kern  von 
Wahrheit  festhalten,  welcher  hier  immer  mit  vorliegt. 

Man  läuft  am  Wenigsten  Gefahr,  bei  der  Beschäftigung  mit 
den  drei  practischen  Aufgaben  den  wissenschaftlichen  Boden 
zu  verlassen,  wenn  man  in  Betreff  folgender  Puncte  besonnen  vor- 
geht. Einmal  wenn  man  das  geschichtlich  Ueberkoramene  und 
thatsächlieh  Vorhandene  selbst  als  ein  wenigstens  seinerzeit  Noth- 
wendiges  auffassen  und  verstehen  lernt,  das  eben  deswegen  auch 
seine  mindestens  relative  Berechtigung  hat  und  wenn  man  es  für 
alle  Reformfragen  in  Theorie  und  Praxis  zum  Ausgangspunct  nimmt 
Ferner  wenn  man  hei  der  allerdings  nothwendigen  und  richtigen 
Würdigung  des  Einflusses  der  Rechtsordnung  auf  die  Gestal- 
tung des  Wirtschaftslebens,  auf  Production  und  Verteilung  — , 
so  namentlich  bei  der  Würdigung  der  maassgebenden  Bedeutung 
der  Eigentums-,  auch  speciell  der  Privateigentbumsordnung  in  Be- 
treff der  sachlichen  Productionsmittel  hierfür  — in  der  Kritik  dieser 


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Die  practischen  Aufgaben. 


157 


Rechtsordnung  aus  den  wirtschaftlichen  und  socialen  Folgen  der 
letzteren  heraus  die  j eweilige  Rechtsordnung  doch  selbst  wieder 
als  ein  wenigstens  relativ  notwendiges  geschichtliches  Product 
auffasst,  welches  nur  wieder  mit  Aenderung  auch  allgemeiner  tech- 
nischer, wirtschaftlicher,  socialer,  cultnrlicher,  sittlicher  Verhält- 
nisse eine  passende  Aenderung  erfahren  kann.  Endlich  gilt  es  die 
wichtigste,  aber  auch  gefährlichste  Illusion  des  doctrinären  Radi- 
calismus, wie  gegenwärtig  namentlich  des  extremen,  wissenschaft- 
lichen wie  politisch -agitatorischen  Socialismus,  zu  vermeiden,  auf 
die  im  vorigen  Kapitel  schon  wiederholt  hingewiesen  wurde:  nem- 
lich  die  äussere  Natur,  weil  wir  grosse  Fortschritte  in  der  Erkennt- 
niss  ihrer  Gesetze  machen  und  diese  Erkenntniss  immer  mehr  in 
der  Technik  benutzen  lernen,  und  die  menschliche  psychische  Natur, 
weil  sie  von  äusseren,  auch  wirtschaftlichen , socialen  Lebensver- 
hältnissen beeinflusst  wird,  nicht  in  höherem  Grade  als  bewegliche, 
biegsame,  bildsame  Factoren  anzusehen,  als  sie  thatsächlich  sind. 

Iu  Betreff  der  äusseren  Natur  wird  dieser  Fehler  /.war,  wörtlich  gesprochen, 
kaum  gemacht,  indessen  in  der  Ueberschwänglichkeit,  mit  der  die  naturwissenschaft- 
lichen und  technischen  Fortschritte  gepriesen  werden,  läuft  eine  Anschauung  leicht 
unter,  welche  die  bleibende  harte  Sprödigkeit  der  Natur  selbst  zu  übersehen  geneigt 
ist.  In  BetrefF  der  psychischen  (und  ethischen)  Natur  des  Menschen  aber  macht  sich, 
wie  wir  früher  sahen,  die  Neigung  bemerklich,  die  Veränderungsfähigkeit  des  mensch- 
lichen Trieblebens  und  der  Motivation  nicht  nur  für  viel  zu  leicht,  sondern  auch  für 
viel  zu  gross  — selbst  in  denkbar  weitestgehenden  Fällen  — anzusehen,  woraus  denn 
jene  viel  zu  optimistischen  Folgerungen  des  Socialismus  gezogen  werden.  Hier  gilt 
es  vor  Allem,  für  die  nüchterne  Wissenschaft  auch  bei  der  Behandlung  der  prac- 
tischen  Aufgaben  Maass  zu  halten  und  sich  vor  dem  Wahne  zu  hüten,  dass  durch  die 
blosse,  wenn  auch  vielleicht  noch  so  richtige  Kritik  des  Bestehenden  schon  der 
Beweis  für  dessen  nothwendige  und  crspricssliche  Beseitigung  und  Beseitigbarkeit  und 
Ersetzbarkeit  durch  ein  völlig  Anderes,  Neues  geliefert  sei.  Denn  die  Möglichkeit  und 
die  bessere  Bewährung  eines  solchen  Neuen  ist  durch  eine  solche  Kritik  ja  nicht  schon 
bewiesen,  sondern  setzt  immer  einen  eigenen  directen  Beweis  voraus.  Bei  diesem  mag 
nicht  die  Angabe  jeder  Einzelheit  eines  socialökonomischen  zukünftigen  Neubaues  im 
Voraus  zu  verlangen  sein,  xvohl  aber  die  Vereinbarkeit  des  Bauplans  wie  mit  den 
Naturgesetzen,  mit  welchen  jede  Technik  in  der  Production  zu  rechnen  hat,  so  auch 
mit  den  psychischen,  im  Wesentlichen  festen  Grundzügon  der  menschlichen  Natur. 
Das  muss  namentlich  gegenüber  dem  positiven  Programm  des  Socialismus  und  der 
bequemen,  jetzt  sogar  mit  einem  wissenschaftlichen  Mäntelchen  gedeckten  Doctrin 
festgehalten  werden,  „keine  Gemälde  dos  socialistischen  Zukunftsstaats“,  als  etwas 
wissenschaftlich  Unthunliches,  Utopisches,  entwerfen  zu  wollen  und  zu  können  (s.  fol- 
genden g.)1). 

Dem  wissenschaftlichen  Character  der  drei  letzten  Auf- 
gaben lind  der  Einheitlichkeit  der  Disciplin,  in  welcher  diese  Auf- 
gaben eben  nur  ein  zweiter  Tlieil  der  wissenschaftlichen  Ge- 


*)  Vgl.  die  in  diesem  Puncte  characteristischen  Ausführungen  in  dem  Aufsatz 
„der  Entwurf  des  neuen  Parteiprogramms“  iu  der  socialdemokratischen  Zeitschrift 
Neue  Zeit,  B.  IX,  2,  S.  723  ff.,  749  ff.,  bes.  S.  757,  758.  Darüber  meine  Hede  auf  dem 
ev.-soc.  Congrcss  1892. 


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158 


1.  B.  2.  K.  1.  H.-A.  Aufgaben.  §.  62,  63. 


sammtaufgabe  sind,  entspricht  es  auch  allein,  wenn  bei  denselben 
an  die  Ergebnisse  der  Beschäftigung  mit  den  drei  ersten  Aufgaben 
angekniipft  wird.  Zu  diesen  Ergebnissen  gebärt  nun  u.  A.  nament- 
lich die  Erkenntniss  der  Einwirkung  der  Privatrechtsordnung,  be- 
sonders der  Privateigentums-  und  der  Vertragsrecbtsordnung  auf 
die  gesammte  Gestaltung  der  Production  und  Vertheilung  und  auf 
die  einzelnen  wirtschaftlichen  Erscheinungen  auf  beiden  Gebieten. 
Diese  Einwirkung  gilt  es  zu  beurteilen,  sie  an  einem  aufzustellen- 
den Idealbilde  der  Production  und  Vertheilung  zu  prüfen  und  danach 
Mittel  und  Wege  der  Reform  zu  erwägen,  aber  eben  immer  unter 
Berücksichtigung  der  gegebenen  äusseren,  wenn  auch  im  steigenden 
Maasse  durch  naturwissenschaftlich-technische  Fortschritte  unter  die 
Herrschaft  des  Menschen  gelangenden  Natur  und  der  im  Wesent- 
lichen ebenfalls  in  ihrem  Triebleben  und  ihrer  Motivation  gegebenen 
und  darin  nur  geringfügiger  und  besten  Falles  höchst  langsamer 
und  schwer  allgemeiner  zu  machender  Veränderungen  fähigen 
psychischen  menschlichen  Natur. 

Z.  B.  die  Bedeutung  der  Speculation,  der  Conjunctur  für  Production  und  Ver- 
theilung, der  Einfluss  der  zersplitterten  und  planlosen  Productionsweiso  auf  den  Gang 
der  Production,  die  Einwirkung  des  Privateigentums  an  den  sachlichen  Productions- 
mitteln  auf  den  Arbeitslohn,  auf  Kentenbildung  (Grundrente!),  auf  private  Kapital- 
bildung, auf  sociale  Stellung  wird  durcli  die  Untersuchungen  im  Gebiete  der  theo- 
retischen Aufgaben,  besonders  der  dritten,  ermittelt.  Es  ist  natürlich  und  wissen- 
schaftlich durchaus  berechtigt,  diese  Ergebnisse  nun  bei  der  Behandlung  der  practischen 
Aufgaben  zum  Ausgangspuncte  zu  nehmen  und  daraufhin  z.  B.  auch,  wenngleich  zu- 
nächst nur  vom  Standpuncte  der  Kritik  aus,  selbst  sehr  weitgehende  Veränderungen 
der  Eigenthumsordnung  für  wünschenswerth  zu  erklären.  Ob  und  wie  dieselben  dann 
zu  erfolgen  haben,  hängt  freilich  erst  von  der  vorhin  geforderten  Beweisführung  ihrer 
Ausführbarkeit  und  ihrer  wenigstens  muthmaasslich  besseren  Bewährung  ab.  Aber 
begreiflich  und  principiell  richtig,  auch  correct  wissenschaftlich  ist  es  doch,  dass 
grade  nach  jenen  Ergebnissen  aus  der  Arbeit  im  Gebiete  der  theoretischen 
Aufgaben  tiefgreifende  Eigenthumsreformen,  entsprechende  Veränderungen  der  wirt- 
schaftlichen Organisation  verlangt  werden  (z.  B.  in  den  Verhältnissen  städtischen, 
namentlich  grossstädtischen  Grundeigentums),  indem  eben  an  das  historisch  Ueber- 
kommene  und  zu  Recht  wie  tatsächlich  Bestehende  der  Maassstab  der  social - 
ökonomischen  Kritik  gelegt  wird.  Mit  der  Ausbildung  der  Politischen  Oekonomie 
als  theoretischer  Wissenschaft  hat  man  eben  einen  kritischen  Maassstab  gewonnen, 
welcher  früheren  Zeiten  fehlte.  Die  Diagnose  der  historischen  Wirtschaftsordnung 
ist  eine  ganz  andere  geworden,  die  Prognose  desgleichen.  Es  ist  nur  natürlich,  dass 
auch  das  therapeutische  Verfahren  sich  demgemäss  ändern  muss.  Hier  tritft  die  Ana- 
logie mit  den  Verhältnissen  auf  naturwissenschaftlieh-medicinischem  Gebiete  durchaus 
zu.  Die  Therapie  bleibt  freilich  auf  beiden  Gebieten  das  Schwierigste  und  bisher 
Mangelhafteste.  Aber  dass  sie  sich  in  den  Bahnen  der  wissenschaftlichen  Diagnose 
bewege,  ist  doch  ein  in  beiden  Fällen  gleich  berechtigtes  Verlangen,  bei  aller  Mangel- 
haftigkeit und  Lückenhaftigkeit  der  Diagnoso  selbst  noch.  Ein  blosses  Curiren  an 
den  Symptomen  ist  in  der  auf  den  Ergebnissen  der  theoretischen  Arbeit  der  Poli- 
tischen Oekonomie  sich  aufbauenden  wirtschaftlichen  Praxis  oder  Therapie  so 
wenig  mehr  ausreichend,  als  in  der  auf  naturwissenschaftlichem  Fundament  stehenden 
medicinischen  Therapie. 

§.  63.  — 1.  Die  vierte  und  fünfte  Aufgabe  stehen  in  so 


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Die  praetischen  Aufgaben.  Erste  und  zweite. 


159 


engem  Zusammenhänge,  dass  sie  gleich  vereint  hier  besprochen 
werden.  Bei  der  vierten  Aufgabe  handelt  es  sich  um  Werth- 
u r t h e i 1 e , bei  der  fünften  um  die  Gewinnung  eines  Maassstabes 
für  diese  Urtheile  an  einem  Idealbilde,  welches  theils  zu  diesem 
Zwecke,  dem  Vergangenen  und  Gegenwärtigen  gegenüber,  theils 
zu  dem  praetischen  Zweck,  dem  Zukünftigen  eine  Richtung  an- 
zuweisen, aufzustellen  ist. 

In  der  vierten  Aufgabe  sind  daher  die  wirtschaftlichen  Er- 
scheinungen und  ihr  Verlauf,  ihre  bisherige  Entwicklung  und  ihre 
Weiterentwicklungstendenz  zu  beurtheilen  in  ihrer  Bedeutung  oder 
ihrem  Werthe  für  die  durch  diese  Erscheinungen  nächstberührten, 
mit  ihnen  in  unmittelbarer  Verbindung  stehenden  Personen  (Pro- 
ducenten, Consumenten,  Theilnehmer  am  Productionsertrage,  Ver- 
käufer, Käufer  u.  s.  w.),  für  engere  und  weitere  Volkskreise,  schliess- 
lich für  die  ganze  socialökonomische  Gemeinschaft,  das  „Volk“, 
daher  hinsichtlich  des  Arbeitsmaasses , der  Arbeitsart,  der  Be- 
dürfnissbefriedigung  nach  Kosten,  Art,  Umfang,  Gesichertheit. 

Ein  solches  Urtheil  setzt  aber  Vergleichungen  und  diese 
setzen  wieder  einen  Maassstab  voraus,  wie  er,  wenn  auch  nicht 
immer  mit  klarem  Bewusstsein,  auch  bei  jedem  Urtheil  Uber  Er- 
scheinungen im  Gebiete  der  Production  und  Vertheilung  angewendet 
wird,  z.  B.  bei  der  Beurtheilung  der  Productivität  eines  ökonomisch- 
technischen  Verfahrens,  eines  Kostenbetrags,  eines  Preises,  eines 
Lohnes,  Gewinnes  u.  s.  w.  Unmittelbar  ergiebt  jede  Vergleichung 
zwischen  zwei  Erscheinungen  derselben  Art,  z.  B.  zwei  Productions- 
verfahren,  zwei  Kostensätzen,  zwei  Qualitäten,  Preisen  derselben 
Waare,  Löhnen  derselben  Arbeit,  zwei  ökonomischen  Lebenslagen, 
schon  Anbaltspuncte  zu  einem  Urtheil,  indem  die  Differenz,  welche 
die  Beobachtung  zeigt,  im  einen  Fall  günstig,  im  anderen  un- 
günstig erscheint  und  danach  sich  das  Urtheil  richtet.  Aber  da- 
mit wird  noch  kein  allgemeiner  Maassstab  gewonnen,  nach 
welchem  sich  ein  allgeinei  ne s Urtheil  fällen  Hesse.  Ein  solcher 
Maassstab  liegt  in  einem  Idealbild  e,  mit  welchem  man  dann 
die  Wirklichkeit  vergleicht  und  die  Differenz  zwischen  Ideal  und 
Wirklichkeit  misst. 

Ein  solches  Idealbild  darf  aber  natürlich  kein  willklthrliehes 
Phantasiebild  sein , das  keinen  practisch  brauchbaren  Maassstab 
abgeben  würde.  Es  braucht  aber  auch  keineswegs  ein  solches  zu 
sein.  Vielmehr  lassen  sich  genügende  Anbaltspuncte  finden , um 


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160 


1.  B.  2.  K.  1.  H.-A.  Aufgaben.  §.  63. 


ein  Idealbild  von  realistischem  Werthe,  welches  einen  brauch- 
baren Maassstab  abgeben  kann,  aufzustellen1). 

Die  Aufgabe  theilt  sich  für  das  Gebiet  der  Fragen  der  Pro- 
duction und  der  Vertheilung. 

Auf  erste  rem  muss  zunächst  nach  dem  jeweiligen,  empirisch 
festzustellenden  Stande  des  besten  ökonomisch-technischen 
Könnens  ermittelt  werden,  was  die  Production  qualitativ,  quanti- 
tativ, nach  dem  Kostenpuncte  überhaupt  zu  leisten  fähig  ist.  Damit 
ist  das  jeweilige  Ideal  der  ökonomisch- technischen  Leistungsfähig- 
keit der  Production  gefunden.  Mit  demselben  ist  die  ökonomisch- 
technische  Wirklichkeit  des  Producirens  zu  vergleichen  und  nach 
der  Differenz  zwischen  Ideal  und  Wirklichkeit  die  letztere  zu  be- 
urtheilen.  Das  Ziel  muss  dann  sein,  sich  diesem  Ideale  möglichst 
zu  nähern,  soweit  rein  ökonomisch -technische  Rücksichten  allein 
hier  maassgebend  sind,  was  frejlich  nicht  immer  der  Fall  ist.  So- 
dann ist  aber  auch  für  die  Production  und  ihre  Leistung  im  Ver- 
hältniss  zum  Güter  bedarf  für  die  Bedürfn  iss  befried  i- 
gung  ein  Ziel  aufzustellen  und  dadurch  wieder  ein  zweites  ent- 
sprechendes Ideal  zu  gewinnen,  welches  der  Wirklichkeit  zum 
Maassstab  der  Beurtheilung  dienen  kann.  Dieses  Ziel  und  Ideal 
äudert  sich  freilich  zeitlich  (geschichtlich)  und  örtlich  immer  wieder 
und  lässt  sich  nur  für  eine  gegebene  wirthschaftliche  Entwicklung 
und  für  eine  gegebene  Weiterbildung  derselben,  daher  besonders 
nur  für  einen  gegebenen  Stand  der  Productionstechnik  und  eine 
gegebene  Bevölkerungsgrösse  und  für  einen  gegebenen  Fortschritts- 
grad ersterer  und  Zuwachsgrad  letzterer  aufstellen.  Das  Ziel  muss 
unter  diesen  Voraussetzungen  sein,  dass  innerhalb  eines  Gemein- 
schaftskreises, wie  insbesondere  eines  Volks  (in  der  „Volkswirth- 
schal't“),  eine  richtige  Höhe  und  Beschaffenheit  und  ein  richtiges 
Kostenmaass  der  Production,  bzw.  der  Ergiebigkeit  derselben  und 
der  Producte  selbst  behufs  der  angemessenen  Bedürfnisbe- 
friedigung des  Gemeinschaftskreises,  des  Volks  erreicht  wird. 

Daher  in  ersterer  Hinsicht,  in  Betreff  der  Menge  und  Art  der  Producte  soviel 
und  Derartiges,  dass  die  gerechtfertigten  materiellen,  geistigen,  sittlichen  Bedürfnisse 
des  Volks  in  nicht  zu  kleinem  und  dürftigem , aber  auch  in  nicht  zu  grossem  und 
üppigem  Maasse  befriedigt  werden,  welches  letztere  ebenfalls  nicht  ein  „Ziel“  der 
wirtschaftlichen  Entwicklung  sein  darf,  wenn  man  in  der  Kegel  auch  nur  an  den 
andern  Fall,  an  die  Uebcrschreitung  der  Production  gegenüber  den  Bedürfnissen , an 
die  „zu  kleine“  Production  denkt.  In  zweiter  Hinsicht,  in  Betreff  der  Kosten,  ferner 


*)  Vgl.  auch  hier  wieder  die  zutreffenden  Bemerkungen,  welche  Knies  schon 
1S55  gegen  Koscher  wesentlich  ähnlich  machte.  Polit.  Oekon.  2.  A.  S.  -12.  Auch 
Eisenhardt,  Geschichte,  2.  A„  S.  234  ff. 


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Die  practischen  Aufgaben.  Erste  und  zweite. 


161 


eine  solche  Gestaltung  der  letzteren,  wolche  dem  erreichbaren  Kostenminimum.  daher 
dem  erreichten  Stande  der  Technik  und  dem  regelmässigen  Fortschritt  derselben  mög- 
lichst allgemein  entspricht,  was  dann  auf  die  Ermöglichung  angemessener  Bedürfniss- 
befriedigung  des  Volks  zurückwirkt  *). 

Damit  ist  das  Ideal  einer  den  Bedürfnissen  entsprechenden 
Leistungsfähigkeit  der  Production  gefunden,  mit  diesem  Ideal  ist 
wieder  die  Wirklichkeit  zu  vergleichen,  daran  zu  messen,  danach 
zu  beurtheilen  und  diesem  Ideal  gilt  es  sich  dann  in  der  Wirk- 
lichkeit möglichst  zu  nähern. 

Auch  auf  dem  Gebiete  der  Fragen  der  Vertheilung  ist  es 
möglich,  wie  wir  später  im  3.  Buche  näher  zeigen  werden,  ein 
Ziel  und  Ideal  aufzustellen , freilich  auch  hier  nur  ein  historisch 
und  örtlich  veränderliches,  namentlich  immer  nur  für  einen  ge- 
gebenen Stand  der  Productionstechnik  und  der  Bevölkerungsgrösse 
und  für  eine  gegebene  Fortentwicklung  beider.  Der  Antheil  der 
Classe  und  des  Einzelnen  am  Productionsertrage  entscheidet  über 
die  ihnen  mögliche  relative  Bedürfnisbefriedigung.  Wie  er  sich 
passend  zu  gestalten  hat,  ist  vom  Standpuncte  des  dauernden 
wahren  Interesses  der  Gemeinschaft,  des  Volksganzen  aus 
erwägen.  Sobald  einmal  die  Productionstechnik  die  Productivität 
der  nationalen  Arbeit  hinlänglich  gesteigert  bat  und  die  Bevöl- 
kerungsgrösse und  ihr  Wachsthum  sich  in  den  erforderlichen 
Grenzen  im  Verhältnis  zum  technischen  und  Productionsfortschritt 
hält  — immer  eine  indispensable  Bedingung  in  dieser  Frage, 
was  der  Socialismus  fälschlich  ganz  unbeachtet  lässt  — so  darf 
auch  bei,  ja  gerade  bei  einem  auf  der  Privateigenthumsordnung 
aufgebauten  Productionssystcm  als  ideales  Ziel  folgende  Vertheilung 
hingestellt  werden:  einmal  hinsichtlich  der  wesentlich  von  der  Ver- 
werthung  ihrer  Arbeitskraft  lebenden  Volksclassen,  der  sogen,  „ar- 
beitenden“ Classen  i.  e.  S.,  eine  Beantheiligung  derselben  am  Er- 
trage, welche  ihnen  die  Befriedigung  der  Bedürfnisse  in  einem  ihre 
physische,  geistige  und  sittliche  Entwicklung  verbürgenden  Um- 
fang und  in  einer  entsprechenden  Art  sowie  ihre  Theilnahme  an 
Culturgütern  gestattet  und  mit  steigender  Productivität  der  natio- 


*)  Vgl.  hierzu  das  Buch  vou  Ii.  Losch,  nationale  Production  und  nationale 
Berufsgliederung,  Leipzig  1892,  wo  die  wirkliche  technische  Leistung  auf  vielen 
Productiousgebieten  mit  der  unter  besonders  günstigen  Umständen  schon  erreichten 
verglichen,  die  Differenz  gemessen  und  die  allgemeine  Erreichung  dieser  technischen 
Höhe  als  ideales  Ziel  hingestellt  wird.  Lehrreiche  statistische  Ausführungen,  nur  dass 
bei  dem  Schluss  die  Bedingtheit  der  wirklichen  allgemeinen  Lage  der  Produc- 
tionstechnik durch  die  gegebenen  Verhältnisse , die  örtliche  Vertheilung  der  Be- 
völkerung und  dgl.  nicht  genügend  beachtet  wird. 

A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlagen. 


11 


162 


1.  B.  2.  K.  1.  H.-A.  Aufgaben.  §.  63. 


nalen  Arbeit  dieser  Classen  eine  mindestens  verhältnissmässig  mit- 
wachsende Verbesserung  ihrer  wirtschaftlichen  Lage  gewährt 
(Rodbertus);  sodann  hinsichtlich  der  besitzenden  und  höheren  Ge- 
sellschaftsclassen  eine  Höhe  und  Art  des  Erwerbs,  welche  ihren 
wirtschaftlichen  Leistungen  im  Interesse  der  Production  und  ihrer 
Function  im  Interesse  der  gesellschaftlichen  Cultur  entsprechen, 
daher  mit  richtiger  Beschränkung  des  Maasses  des  Erwerbs  und 
mit  tunlichstem  Ausschluss  ökonomisch  unreellen  und  ethisch  be- 
deoklichcn  Erwerbs. 

Mit  einem  solchen  Idealbilde  der  Verteilung  ist  dann  wieder 
die  wirkliche  Verteilung  und  die  dadurch  bedingte  Lebenslage 
und  Lebensführung  der  Classen  und  Einzelnen  zu  vergleichen, 
daran  zu  messen,  danach  zu  beurteilen. 

Die  Thatsachen  der  Wirklichkeit,  welche  man  zur  Lösung 
der  vierten  und  fünften  Aufgabe  braucht,  sind  durch  äussere 
Beobachtung  zu  ermitteln;  die  Thatsachen  zur  Feststellung  der 
idealen  Production  nicht  minder.  Bei  der  Ableitung  der  Ent- 
wicklungstendenzen der  beiderlei  Reihen  von  Thatsachen  wird  das 
aus  psychischen  Motiven  Schlüsse  und  Folgen  ableitende  Verfahren 
der  Deduction  aber  auch  hier  mit  zur  Anwendung  kommen.  Bei 
der  Aufstellung  der  Idealbilder  der  Production  und  Verteilung 
hat  man  sich  immer  auf  dem  Boden  derjenigen  Thatsachen  zu 
halten,  welche  hinsichtlich  der  gegebenen  äusseren  Natur  und 
psychischen  menschlichen  Natur,  der  gegebenen  Naturerkcnntniss 
und  der  Fortschritte  darin  und  des  gegebenen  und  nach  bisherigem 
Maasse  sich  weiter  entwickelnden  technischen  Vermögens,  sowie 
der  nachweisbaren  Entwicklungsfähigkeit  der  geistig -sittlichen 
Seiten  des  Menschen  einmal  vorlicgen.  Aber  innerhalb  der  hier- 
nach gezogenen  Grenzen  bleibt  dann  doch  ein  Spielraum  für  die 
Thätigkeit  der  gestaltenden  schöpferischen  Phantasie.  Diese 
letztere  ist  es,  welche  alsdann  realistische  Idealbilder  der  Pro- 
duction und  Vertheilung  sehr  wohl  aufstellen  kann  und  darf.  Bilder, 
welche  in  den  Einzelheiten  der  subjectivcn  Willktihr  nicht  entbehren, 
der  Berichtigung  durch  die  spätere  Erfahrung  bedürfen  werden, 
aber  doch  technisch  und  vor  Allem  psychologisch  richtig 
entworfen  sein  können,  um  sie  als  Etwas  hiustellen  zu  dürfen,  das 
ausführbar,  mindestens  als  Etwas,  dem  man  sich  durch  bewusst 
geleitete  Richtung  der  Production  und  Vertheilung  auch  in  der  Wirk- 
lichkeit nahem  zu  können  möglich  erscheint.  Bei  der  Erwägung  der 
Wahrscheinlichkeit  hierfür  wird  immer  die  Deduction  aus  inuth- 


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Die  practischen  Aufgaben.  Erste  und  zweite. 


163 


maasslich  mitwirkenden  Motiven  menschlicher  Handlungen  auf 
wirtschaftlichem  Gebiete  die  Hauptmethode  zur  Prüfung  sein. 

In  den  sogen.  Utopien  und  auch  in  den  Bildern  des  Socialismus  von  seinem 
„Zukunftsstaate“  oder,  wenn  man  diesen  neuerdings  vom  „correct  wissenschaftlichen“ 
Socialisnius  verworfenen  und  vermiedenen  Ausdruck  fallen  lässt,  von  seiner  socia- 
listischen  Productions-  und  Vertheilungsordnuug  wird  ja  im  Princip  ebenso  verfahren, 
wie  es  hier  gefordert  worden  ist.  In  einem  solchen  Verfahren  liegt  aber  auch  u.  E. 
nicht  der  Fehler  dieser  Utopien  uud  des  Socialismus.  Im  Gegeutheil  ist  es  ganz 
richtig  , so  vorzugehen  und  zur  Stützung  der  Kritik  des  Bestehenden  wie  zur  Unter- 
stützung der  positiven  Forderungen  der  Reform  (oder  der  „Revolution“)  auf  social- 
ökonomischem Gebiete  Idealbilder  der  Wirklichkeit  zum  Vergleich  gegenüber  zu  stellen. 
Diese  Idealbilder  müssen  eben  nur  technisch  und  psychologisch  richtig  ent- 
worfen sein  und  auf  diese  Seiten  hiu  selbst  wieder  eiue  freilich  immer  unvermeidlich 
von  der  bisherigen  Erfahrung  ausgehende  Kritik  vertragen.  Das  thun  die  uto- 
pistischen  uud  socialistischcn  Idealbilder  nicht  oder  viel  zu  wenig  und  eben  deswegen 
sind  sie  wissenschaftlich  unhaltbar,  in  der  That  nur  „utopisch“.  Grade  Die- 
jenigen, welche  so  tiefgreifende  Umgestaltungen  der  socialökonomischen  Rechtsordnung 
planen,  wie  die  Socialisten,  haben  sogar  die  Verpflichtung,  die  Ausführbarkeit 
ihrer  Pläne  und  die  bessere  Function  ihres  Systems  im  Vergleich  mit  den  bestehenden 
Einrichtungen  technisch  und  psychologisch  wenigstens  in  den  Grundzügen  nach- 
zuweisen und  plausibel  zu  machen.  Die  neuere  Wendung  des  Socialismus,  wonach 
er.  wie  schon  im  vorigen  Paragraph  bemerkt,  ein  solches  Verlangen  abweist,  unter 
dem  Vorwand,  es  zu  stellen  und  zu  erfüllen  sei  „unwissenschaftlich“,  entspreche  nur 
der  älteren  Phase  des  phantastischen,  philantropischen,  utopischen,  nicht  des  neueren 
„wissenschaftlichen“  Socialismus  (s.  die  o.  in  Note  1 S.  157  genannten  Aufsätze  der 
„Neuen  Zeit“)  ist  eine  bequeme  Ausrede  der  Verlegenheit,  wie  gesagt,  und  auch 
deswegen  unzulässig,  weil  ja  doch  in  der  principiellen  Forderung  der  Verwand- 
lung des  Privateigenthums  an  den  Productionsmittcln  in  gesellschaftliches  Gemein- 
eigenthum, der  Waarenproduction  in  socialistische  Productionsweise  (Erfurter  Pro- 
gramm von  1S91  nach  Marx’schem  Recept)  ein  bestimmter  Plan  aufgestellt 
wird.  Für  diesen  muss  man  doch  Ideen  der  Ausführbarkeit  und  Ansichten  der  Be- 
währung haben  und  kann  keinem  Gegner  — und  auch  gutgläubigem  Anhänger  — 
verdenken,  dass  er  darüber  etwas  hören  will.  Da  treten  nun  aber  sofort  Jedem 
schwerste  psychologische  wio  practisch-technische  Bedenken  entgegen,  mit  denen  sich 
der  Socialismus  auseinanderzusetzen  nicht  ablehnen  kann.  Thut  er  es  gleichwohl,  so 
muss  er  sich  auch  gefallen  lassen,  wenn  man  seine  „wissenschaftlich“  begründeten 
practischen  Ziele  Utopien  nennt.  Was  der  Socialbmus,  wie  jede  radicalcre  social- 
ökonomische Reformrichtung,  allein  verlangen  kann,  ist.  dass  man  sich  seine  Pläne  so 
vernünftig  und  zweckmässig  wie  möglich  entworfen  und  durchgeführt  denke  und  dass 
man  sie  dann  in  dieser  Gestalt  gegnerischerseits  kritisire.  Ein  Vorgehen,  wie  etwa 
in  Schälfle’s  Quintessenz  des  Socialismus.  Wenn  aber  auch  dann  noch  psychologische 
Bedenken  unwiderlegbar  bleiben,  so  wird  mau  wohl  der  Kritik,  auch  vor  der  Probe, 
Recht  geben  müssen. 

Bei  der  hier  erörterten  vierten  und  fünften  Aufgabe  treffen  diese  Bedenken  gegen 
das  Aufstellen  von  Idealbildern  als  ßeurtheilungsmaassstäben  nicht  zu,  sobald  man 
nur  in  der  angedeuteten  vorsichtigen  Weise  vorgeht,  immer  die  ökonomisch-technischen 
Bedingungen  des  Fortschritts,  die  Verhältnisse  der  Bevölkerungsbewegung  — welche 
der  Socialismus  ebenfalls  ganz  unberücksichtigt  lässt  — , vor  Allem  aber  das  mensch- 
liche, eriäbrungsmässig  bekannte  Trieblebcn  und  Motivationswesen  gebührend  beachtet. 
Eier  ist  eben  deshalb  der  Roscher’scho  Vorwurf  falscher  Ideologie,  „idealistischer 
Methode“  nicht  am  Platze.  Nebenbei  bemerkt  muss  ja  auch  in  jeder  Frage  de  lege 
ferenda,  der  kleinsten  wie  der  grössten,  so  vorgegangen  werden,  wie  hier  befürwortet 
wird:  man  muss  am  bestehenden  Recht  und  seinen  Folgen  Kritik  üben,  sie  an  einem 
Idealbildc  vergleichen  uud  nach  letzterem,  als  einem  Zielpunct,  das  neue  Recht  ge- 
stalten. So  wird  auch  in  jedem  einzelnen  Falle  verfahren.  Und  das  sollte  bei  den  grossen 
allgemeinsten  wirthschaftsrechtlichen  und  wirtschaftlichen  Reformfragen  nicht  auch 
geschehen  müssen?  Die  Ausführungen  W.  Roschers  über  die  von  ihm  sogenannte 
„idealistische  Methode“  (System  I,  §.  23 — 25)  scheinen  mir  dies  Alles  nicht  ge- 
ll* 


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164 


1.  B.  2.  K.  1.  H.-A.  Aufgaben.  §.  64. 


nügend  zu  beachten  und  das  Ziel  zu  Uberschiessen,  wie  ja  auch  von  dem  bedeu- 
tendsten Theoretiker  der  historischen  Schule,  von  Knies,  ebenfalls  gezeigt  wor- 
den ist  (s.  o.  Note  1 S.  160). 

§.  64. — 2.  Die  sechste  Aufgabe  ist  die  im  strengsten  Sinne 
practische,  auch  noch  gegenüber  den  beiden  vorausgehenden. 
Sie  beschäftigt  sich  mit  der  Frage  des  Geschehen-Solleus  oder 
Thun-Sollens  nach  der  Frage  des  Sein-Sollens  und  Werden- 
Sollens  bei  der  fünften  Aufgabe.  Oder  genauer  gesprochen,  sie 
widmet  sich  der  Untersuchung  der  Frage:  welches  sind  die  Mittel 
und  Wege  zur  Erreichung  des  aufgestellten  Idealbildes  der  Pro- 
duction und  Vertheilung  oder  zur  möglichsten  Annäherung  daran? 
An  dieser  Frage  kann  auch  die  Politische  Oekonomie  als  practische 
Wissenschaft  nicht  vorbei  gehen. 

Da  alles,  was  an  solchen  Mitteln  und  Wegen  in  Betracht 
kommt,  richtiges  Thun  und  Lassen  voraussetzt,  so  ergiebt  sich, 
dass  erforderlich  sind:  wieder  zuerst  und  zumeist  psychische 
Einwirkungen  auf  den  menschlichen  Wi Ile n,  um  ihn  zur  Wahl 
richtiger  Mittel  und  Wege  zu  bestimmen,  ferner  Hinwirkungen  auf 
richtiges  Erkennen,  daher  auch  Ausbildung  des  Wissens, 
um  diese  Wahl  zweckmässig  zu  treffen,  und  endlich  Hinwirkungen 
auf  richtiges  Können,  um  das  richtig  Gewollte  und  richtig  Er- 
kannte nun  auch  richtig  zur  Ausführung  zu  bringen. 

In  Betreff  des  ersten  Punctes  handelt  es  sich  daher  um  Ent- 
wicklung, Befestigung  und  Verbreitung  ökonomisch  und  sittlich 
richtiger  Anschauungen  und  Grundsätze,  Einbürgerung  derselben 
in  die  Gewohnheit  und  Sitte  auch  bei  den  Willensacten,  Ent- 
schlüssen, Handlungen,  Unterlassungen  im  wirtschaftlichen  Leben, 
um  bei  dem  Einzelnen,  bei  der  Classe,  bei  der  Gesammtheit  der 
Personen,  im  Volke,  die  richtigen  Motive  möglichst  zur  Wirk- 
samkeit zu  bringen.  Dafür  ist  auf  die  Erörterungen  im  vorigen 
Kapitel  zu  verweisen.  Erziehung  in  dieser  Richtung,  Lehren 
und  Lernen  der  Selbstzucht , richtiges  Beispiel  geben  und  befolgen, 
Entwicklung  von  äusseren  Lebens-  und  Wirthschaftsverhältnissen, 
welche  günstig  auf  die  Willensbildung  und  Willensäusserung,  auf 
das  wirtschaftliche  Thun  uud  Lassen  einwirken,  Beseitigung 
oder  wenigstens  Hemmung  ungünstig  einwirkender,  versuchlicher 
Verhältnisse  — das  sind  die  Factoren,  auf  welche  alles  ankommt. 

In  Betreff  des  zweiten  und  dritten  Punctcs  ist  die  Aufgabe 
wiederum  eine  erziehliche,  ein  Erziehen  zum  Lernen,  Verstand- 
ausbilden,  Wissen -aufnehmen,  Urteilen,  wie  zum  practiscken 


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Die  practischen  Aufgaben.  Die  dritte. 


165 


Thun , indem  die  Organe  und  Fähigkeiten  dazu  richtig  ans- 
gebildet, die  Verfahrungsarten  gelehrt  und  geübt,  entsprechende 
Gewohnheiten  richtigen  Vorgehens  eingebürgert  werden  u.  s.  w. 

Immer  ist  so  das  Individuum  das  Object,  auf  welches  so 
eingewirkt  werden  muss,  und  dessen  Wollen,  Wissen  und  Können 
doch  das  direct  Entscheidende  sind.  Möglichst  viele,  möglichst 
alle  Individuen  im  wirtschaftlichen  Leben  eben  in  diesen  drei 
Beziehungen  richtig  auszubilden  und  zum  richtigen  Thun  und 
Lassen  Willens  und  theoretisch  und  praktisch  befähigt  zu  machen 
und  wirklich  dazu  zu  bringen,  das  muss  das  Ziel  sein.  Je  mehr 
es  gelingt,  desto  mehr  wird  man  sich  dem  Idealbilde  der  Pro- 
duction, Verteilung,  Bedtirfnissbefriedigung  nähern. 

Hierbei  sind  aber  nun  auch  die  wirthsch  ältlich  en 
Organisationen  und  Einrichtungen,  sowie  die  Normen 
der  wi rthschaftlichen  Rechtsordnung  als  indirecte  Mittel 
und  Wege  zu  diesem  Ziel  zu  betrachten.  Die  bezüglichen  Fragen, 
die  damit  in  Verbindung  stehenden  Ge-  und  Verbote,  Zwang,  Straf- 
androhung, Strafverhängung  treten  daher  hei  dieser  sechsten  Auf- 
gabe speciell  hervor.  Organisationen,  Einrichtungen  und  Rechts- 
normen bestimmen  den  Spielraum  des  individuellen  Thuns  und 
Lassens  und  bestimmen  als  Bedingungen  in  dem  früheren  Sinne 
des  Worts  (§.  61)  das  Ob  und  Wie,  Wo  und  Wann  dieses  Thuns 
und  Lassens  selbst  mit.  Sie  sind  deshalb  möglichst  so  zu 
gestalten , dass  sie  bei  den  Individuen  richtige  Motive  des 
Willens  und  Handelns  zur  Wirksamkeit,  unrichtige  zur  Unwirksam- 
keit oder  zum  Verschwinden  bringen.  Von  diesem  Gesichtspuncte 
aus  wird  in  diesem  Werke  in  den  späteren  Büchern  auf  diese 
Dinge  und  Fragen  eingegangeu  werden.  Soweit  es  sich  um 
psychische  Einflüsse  dieser  Verhältnisse  handelt,  ist  davon  schon 
im  vorigen  Kapitel  gesprochen  worden. 

Iü  der  Politischen  Oekonomie  als  Wissenschaft  hat  man  es  dabei  freilich 
nicht  mit  den  concretcn  Problemen  eines  Landes  zu  einer  bestimmten  Zeit,  nicht 
mit  dem  practischen  Einzelfall  der  Frage,  was  geschehen  soll,  zu  thun.  Damit  be- 
schäftigt sich  die  concrete  Volks wirthschaftspolitik.  Aber  für  diese  liefern  die 
l ntersuchungen  im  Gebiet  unserer  sechsten  Aufgabe  und  die  Ergebnisse  davon  doch 
mit  die  leitenden  Gesichtspuncte,  die  Resultate  einer  vergleichenden  Behandlung  prin- 
zipiell gleicher  anderer  Fälle.  Auch  für  die  Lösung  concreter  practischer  Probleme 
arbeitet  daher  doch  die  wissenschaftliche  Nationalökonomie  vor,  wenn  sie  sich  mit  der 
sechsten  Aufgabe  erfolgreich  beschäftigt. 

Die  methodischen  Hilfsmittel  bei  dieser  Aufgabe  sind  wieder 
äussere  Beobachtungen  des  Wirklichen  und  seines  Verlaufs,  er- 
fahrungsmässige  Erprobungen  der  Organisationen,  Einrichtungen, 


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lOß  1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  1.  A.  Allgemeines.  §.  05. 

Rechtsnormen,  wie  der  Gewohnheiten  und  Sitten,  daher  per- 
sönliche Einzelbeobachtungen  (§.  78,  79),  statistische  Aufnahmen, 
Anstellung  von  Enqueten  u.  dgl.  m.  Aber  auch  hier  haben 
psychologische  Analysen  der  Motive,  Deductionen  aus  wirklich 
oder  voraussetzungsweise  wirkenden  Motiven  ein  grosses  Feld  der 
berechtigten  Anwendung.  Mitunter  sind  sie  selbst  allein  oder  am 
Besten  anwendbar. 

Namentlich  wird  bei  jeder  Erörterung  von  practischen  Reformfragen  der  Orga- 
nisation, der  Rechtsordnung  auch  hier,  wie  bei  der  fünften  Aufgabe,  immer  vor  Allem 
nach  psychologischen  Gcsichtspuncten  eine  Wahrscheinlichkeitsrechnung  anzu- 
stellen, eine  Wahrschcinlichkeits- Veranschlagung  vorzunehmen  sein,  ob  dies  und  das 
zu  thun,  einzurichten  richtig  sein  wird,  wie  es  zu  machen  ist,  welche  Folgen,  Rück- 
wirkungen es  haben  wird,  eben  weil  man  es  mit  „Menschen“,  mit  Wesen  bestimmter 
Triebe  und  Motive,  mit  im  Wesentlichen  gegebenem  Sittlichkeits-  uud  Sittenzustande, 
gegebenem  Wissen  und  Können  zu  thun  hat.  Die  allerdings  blossen  Wahrscheinliehkeits- 
schlüsse  des  deduetiven  Verfahrens  spielen  daher  bei  der  Lösung  der  sechsten  Auf- 
gabe eine  grosse  Rolle.  Man  muss  sich  mit  ihnen  um  so  mehr  und  um  so  länger 
begnügen,  weil  auch  die  Erfahrung  in  anderen  Fällen  nur  Analogieschlüsse  vielleicht 
noch  zweifelhafteren  Werths  zulässt  und  die  Erfahrung  mit  einer  zu  treffenden  Maass- 
regel, mittelst  Probe,  oft  in  einer  zu  fernen  Zukunft  liegt. 


So  haben  wir  die  Erörterungen  der  sechs  Aufgaben  — noch- 
mals kurz  zusammengefasst:  bezüglich  der  Thatsachen,  des 

Typischen,  des  Causalen  und  Conditionellen , der  Urtheile,  der 
Zielpuncte,  der  wegweisenden  Fingerzeige  — erledigt.  Diese  Er- 
örterungen führten  uns  schon  öfters  nebenbei  auf  die  methodo- 
logischen Fragen.  Die  systematische  Behandlung  der  letzteren, 
zu  welcher  wir  uns  jetzt  wenden,  ist  dadurch  aber  nicht  entbehr- 
lich geworden,  sondern  die  Ausführungen  in  diesem  ganzen  Abschnitt 
haben  sie  mit  vorbereitet. 


Zweiter  Hauptabschnitt. 

Methoden. 

1.  Abschnitt. 

Allgemeines. 

I.  — §-65.  Einleitung.  Nicht  mit  Einer  Methode,  sondern 
mit  zwei  Methoden,  d.  h.  crkenntnisstheoretischen  Hilfsmitteln, 
haben  wir  es,  wie  sich  schon  im  Vorausgehenden  wiederholt  ergab, 
in  der  Politischen  Oekonomie  zu  thun.  Diese  beiden  Methoden 
werden  mit  den  alten  wissenschaftlichen  technischen  Namen  am 
Zwcckmäs8igsten  auch  hier  bezeichnet,  als  Methode  der  (speculativen) 


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Methoden  Einleitung-. 


167 


Dednction  — deductives  Verfahren  — und  der  Induction  — 
induetives  Verfahren.  Beide  Methoden  gestalten  sich  nach  dem 
Object  und  den  Aufgaben  der  Politischen  Oekonomie  eigentümlich, 
aber  ihr  Grundcharacter  wird  dadurch  nicht  verändert.  Ihre  An- 
wendung richtet  sich  nach  den  speciellen  Aufgaben,  den  besprochenen 
sechs,  um  welche  es  sich  handelt;  danach  auch,  ob  die  eine  zuerst, 
die  andere  alsdann,  die  eine  mehr,  die  andere  weniger,  die  eine  mit 
grösserem  Erfolge,  die  andere  mit  geringerem  Erfolge,  allenfalls 
auch  einmal  die  eme  allein , die  andere  gar  nicht  anzuwenden  ist. 
Zu  erstreben  ist  im  Allgemeinen,  beide  Methoden  gemeinsam,  wenn 
anch  in  wechselnder  Reihenfolge  und  in  wechselndem  Maasse,  je 
nach  Aufgabe  und  Sachlage,  zur  Anwendung  zu  bringen.  Einen 
unbedingten  Vorrang  stets  und  überall  hat  keine  von  beiden, 
der  Streit  darüber  ist  müssig,  ein  betreffendes  Urtheil  nur  eine 
Behauptung,  welche  sich  dann  meist  aus  der  individuellen  Begabung 
(§.  11)  und  der  individuellen  Beschäftigung  auf  einem  bestimmten 
Aufgabengebiete  erklärt  und  erst  bewiesen  werden  muss.  Eine 
allgemeine  und  unbedingte  Ausschliesslichkeit  kann  eben- 
falls keine  von  beiden  in  der  Disciplin  beanspruchen.  Von  bezüg- 
lichen Ansichten  gilt  wiederum  das  eben  Gesagte. 

Es  giebt  auch  thatsächlich  keinen  Nationalökonomen , von  welchem , kaum  eine 
einzelne  nationalökonomische  Arbeit,  in  welcher  nur  die  eine  oder  andere  Methode 
allein  angewandt  worden  wäre.  Derartige  Ansichten  der  betreffenden  Autoren  selbst 
beruhen  auf  Selbsttäuschung.  Mindestens  unbewusst,  in  der  Regel  bewusst  werden 
fast  immer  beide  Methoden  benutzt.  Das  ist  in  der  Organisation  und  Function  unseres 
Denkvermögens  selbst  schon  begründet,  in  unserer  wie  in  anderen  Wissenschaften 
ähnlicher  Objecte  und  Aufgaben. 

Theils  die  falsche  Analogie  der  Naturwissenschaften,  gelegentlich  selbst  die  Vin- 
dication  der  Politischen  Oekonomie  für  diese,  theils  eine  begreifliche,  aber  über- 
treibende und  unklare  Keaction  des  nationalökonomischen  Historismus,  besonders  der 
jüngeren  Richtung  (§.  15),  gegen  Einseitigkeiten  der  britischen  Oekonotnik  in  Methode 
und  Behandlungsweise  (Ricardo,  Senior)  haben  mehrfach  zu  einer  besonderen  Werth- 
legung auf  die  Induction  geführt,  bisweilen  beinahe  zu  einer  Verwerfung  der  Deduc- 
tion.  Doch  sind  es  immer  nur  sehr  vereinzelte  Stimmen,  welche  so  geurtheilt  haben. 
Die  besondere  Zugänglichkeit  grade  der  wirtschaftlichen  Erscheinungen,  als  vom 
menschlichen  Willen  bestimmter  und  daher  psychologisch  zu  erklärender,  für  das 
deductive  Verfahren,  wird  dabei  ganz  unbeachtet  gelassen.  Vorwürfe,  wie  der  (z.  B. 
in  Anklängen  selbst  bei  Br.  Hildebraud),  dass  man  mit  dieser  Methode  in  der  Poli- 
tischen Oekonomie,  ähnlich  wie  früher  in  den  Naturwissenschaften  mit  der  Natur- 
philosophie, völlig  falsch  und  willkührlich,  rein  apriorisch  construirend  und  raisonnirend 
verfahre,  zerfallen  wegen  dieser  psychologischen  Seite  der  wirtschaftlichen 
Phänomene  schon  in  sich  selbst.  Zum  deductiven  Verfahren  gelangen  zu  können, 
danach  streben  bekanntlich  auch  die  „exactesten“  Naturwissenschaften,  nachdem  sie 
durch  Beobachtung,  durch  Induction  gewisse  Puncte  festgestellt,  als  Ursachen  ermittelt 
haben  und  nun  von  diesen  aus  dann  wieder  deduciren.  Die  psychologische  Grundlage 
der  Politischen  Oekonomie  gestattet  ganz  dasselbe  Verfahren  nur  bereits  in  einem 
früheren  Stadium  der  Arbeit.  Auch  hier  beginnt  man  allerdings  mit  Beobachtungen, 
aber  vorn em lieh  mit  inneren  in  Betreff'  der  eigenen  Motivation,  erkennt  hier  bestimmte 
Motive,  findet  sie  auch  durch  äussere  Beobachtungen  bestätigt  und  nimmt  sie,  wie 


168 


1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methodeu.  1.  A.  Allgemeines.  §.  65,  66. 


namentlich  das  Motiv  des  Strebens  nach  dem  wirthschaftlichen  Vortheil.  das  früher 
von  uns  so  genannte  „erste  Leitmotiv“  (§.  34  ff.),  zum  Ausgangspunct  der  Deduction. 
Es  ist  ein  besonderer  Vorzug  der  Politischen  Oekonomie,  welchen  scharfsinnige  Ver- 
treter der  Induction,  wie  der  Statistiker  Kümelin  (in  dem  Aufsatz  über  sociales 
Gesetz,  Reden  und  Aufsätze  S.  12),  mit  Recht  selbst  anerkannt  haben,  dass  man  hier 
so  Vorgehen  kann.  Eine  Erfahrungsmethode  ist  daher  die  Deduction  in  unserer 
Wissenschaft  doch  ebenfalls. 

So  vage  Ausdrucke  wie  „philosophische“  Methode,  wesentlich  im  Sinne 
der  deductiven,  werden  besser  vermieden,  so  wenn  Roscher  noch  in  seinem  Grund- 
riss (Göttingen  1843)  diese  und  die  „geschichtliche“,  „historische“  „Methode“  gegen- 
überstellt und  jene  verwirft  (§.  1).  Die  Unhalibarkeit  und  Unklarheit  des  Ausdrucks 
und  Gegensatzes  hat  schon  Knies  (Politische  Oekonomie,  2.  A.,  S.  455)  nachgewiesen. 

Aber  auch  der  Ausdruck  „geschichtliche“  Methode  für  eine  selbständige 
eigene  Methode  ist  zu  beanstanden  (Roscher,  System  I,  §.  26).  Was  so  genannt 
wird,  ist  nur  eine  bestimmte  Form  der  Beobachtungsmethode  oder  des  inductiven 
Verfahrens.  Mit  gutem  Grunde  hat  Knies  die  2.  Auflage  seines  tiefgründigen  Werks  nicht 
mehr  als  „Politische  Oekonomie  vom  Standpunct  der  geschichtlichen  Methode“,  wie  in  der 
1.  Auflage,  sondern  „vom  Standpunct  der  Geschichte“  betitelt.  S.  darüber  und  für 
weiteres  Bezügliche  seine  Vorrede  zur  2.  Aull.,  S.  VI,  dann  Abscbn.  I,  bes.  S.  351  ft, 
Abschn.  III.  N.  10  u.  11,  S.  453  11'.'  Noch  weniger  pa>send  ist  die  Bezeichnung  einer 
Methode  wie  der  „historischen“  in  der  Politischen  Oekonomie  als  „physiologische“ 
{Roscher.  System  I,  §.  26),  nach  hiukender  naturwissenschaftlicher  Analogie ; daher 
auch  die  Bezeichnung  der  Aufgabe  als  „Anatomie  und  Physiologie  der  Volkswirth- 
schaft“  (freilich:  „gleichsam“)  nicht  zu  billigen. 

In  ähnlicher  Weise  und  aus  principiell  gleichen  Gründen,  wie  bei  der  „histo- 
rischen“, lässt  sich  auch  der  Ausdruck  „mathematische  Methode“,  im  Sinne  einer 
selbständigen  eigenen  Methode  bemängeln  und  wird  er  besser  vermieden.  Was  man 
darunter  versteht,  ist  nur  eine  bestimmte,  mathematischer  Formeln  und  Construc- 
tionen  (Algebra,  Geometrie,  Diagramme)  sich  bedienende  Form  des  deductiven  Ver- 
fahrens, welche  unter  gewissen  Voraussetzungen  angewandt  wird  (s.  u.  §.  68).  Auch 
von  einer  allgemeinen  „Methode“  der  Analogie  (s.  Knies,  S.  479,  Kautz  I, 
389,  möchte  besser  nicht  gesprochen  werden. 

Vollends  Ausdrücke  wie  „theologische“,  „juristische“,  „idealistische“ 
„Methode“  (Roscher,  System  I,  §.  22  IT.)  richten  nur  Verwirrung  an.  Der  Ausdruck 
„Methode“  wird  hier  überhaupt  in  einem  anderen , nicht  im  erkenn tnisstheoretischen 
Sinne,  gebraucht.  Theils  handelt  es  sich  dann  dabei  um  Behandlungsweisendes 
Gegenstands  (wie  auch  bei  der  „historischen“ , der  „mathematischen“  „Methode“ 
s.  darüber  unten  §.69),  theils  um  die  Berücksichtigung  gewisser  Gesich tspu n c t e 
und  Principien  anderer  Wissenschaften  (oder  Dogmen)  in  der  Behandlung  und 
Lösung  der  Probleme. 

II.  §.  66.  Allgemeine  Characteristik  beider  Metho- 
den in  der  Politisch  en  Oekonomie.  Bei  der  Deduction 
wird  von  dem  wirklich  bekannten  oder  als  bekannt  angenommenen 
Allgemeinen  zum  unbekannten  Besonderen,  bei  der  Induction  vom 
bekannten  Besonderen  zum  unbekannten  Allgemeinen  vorgegangeD, 
bezw.  von  den»  einen  aus  nach  dem  anderen  gesucht.  Die  min- 
destens hypothetische,  eventuell  auch  bereits  erwiesene  Annahme 
ist  in  beiden  Fällen  dabei,  dass  zwischen  dem  Allgemeinen  und 
dem  Besonderen  ein  Zusammenhang  und  zwar  derjenige  von 
Ursache  und  Bedingung,  einwirkendem,  abhängig  machendem 
Moment  einerseits,  Wirkung,  Folge,  der  Einwirkung  ausgesetztem, 
abhängigem  Moment  andererseits  bestehe.  Die  weitere  stete 
Annahme  ist,  dass  gleiche  oder  gleichförmige  Ursachen  und 


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Characteristik  von  Deduction  und  Inductiou. 


idy 


Bedingungen  gleiche  oder  gleichförmige  Wirkungen  haben,  jene 
auf  diese,  diese  auf  jene  schliessen  lassen,  die  Wirkungen  den  Ur- 
sachen proportional  sein  müssen.  M.  a.  W.  man  operirt  bei  der 
Anwendung  beider  Methoden  unter  der  Voraussetzung  des  Causal- 
gesetzes  und  scbliesst  in  beiden  Fällen  in  prineipiell  derselben 
Weise.  Die  Deduction  geht,  kurz  gesagt,  somit  von  der  voraus- 
gehenden Ursache  zur  nachfolgenden  Wirkung,  die  Induction  von 
der  nachfolgenden  Wirkung  zur  vorausgehenden  Ursache.  Wendet 
man  beide  Methoden  auf  das  Object  der  Politischen  Oekonomie, 
die  wirtschaftliche  Erscheinung  an,  so  ergiebt  sich  von  vornherein, 
dass  sich  beide  gegenseitig  zur  Ergänzung  zu  dienen  haben. 

Mit  einer  Thatsache  der  inneren  und  äusseren  Beobachtung 
beginnt  man  in  beiden  Fällen  die  Handhabung  der  Methode,  nem- 
licü  mit  der,  dass  die  wirtschaftlichen  Erscheinungen  mit 
aus  menschlichen  Handlungen,  diese  aus  Willensacten,  diese  aus 
Motiven  hervorgehen  und  durch  diese  mit  ihr  Gepräge  erhalten, 
wenn  die  sonstigen  Umstände,  namentlich  diejenigen  der  äusseren 
Natur,  als  gegebene  Factoren  mit  gegebener  Einwirkung,  d.  h.  als 
constante  Grössen,  angesehen  werden.  Die  Deduction  nimmt  nun 
diese  Motive  zum  Ausgangspuncte,  sieht  sie  als  die  bewegenden 
psychischen  Kräfte  und  Ursachen  an  und  schliesst  aus  ihnen  der 
Reihe  nach  auf  die  Willensacte,  die  Handlungen,  folgert  dabei 
wieder  aus  gleichen  und  gleich  wirksamen  Motiven  gleiche  Er- 
scheinungen bei  der  Constanz  der  übrigen  Umstände.  Sie  muss 
dabei  aber,  um  zu  richtigen  Ergebnissen  zu  gelangen,  die  ein- 
wirkenden Motive  selbst,  ihre  Combinationen,  Kreuzungen,  ihre 
Wirksamkeit  richtig  bestimmen  und  richtige  Schlüsse  ziehen.  Zu 
diesem  Zweck  muss  sie  von  Beobachtungen  der  Motive  aus- 
gehen, Analogieschlüsse  in  Betreff  der  letzteren  ziehen  und  schliesslich 
möglichst  zur  Probe  ihres  Verfahrens  ihre  Schlüsse  in  Betreff  der 
Erscheinungen  mit  den  Beobachtungen  an  diesen  selbst  vergleichen, 
d.  h.  eben  sich  zur  Hilfe  des  inducti  ven  Verfahrens  bedienen. 

Die  Induction  nimmt  umgekehrt  die  wirthschaftlichen  Er- 
scheinungen selbst  zum  Ausgangspunct,  sieht  sie  als  mit  bewirkt, 
bedingt  durch,  abhängig  von  menschlichen  Handlungen  an  und 
sucht  sie  nun  der  Reihe  nach  aufsteigend  auf  Handlungen,  Willens- 
acte, Motive  zurückzufUhren,  ebenfalls  unter  Voraussetzung  der 
Constanz  der  sonstigen  Umstände  der  Aussenwelt.  Um  ihrerseits 
zu  richtigen  Ergebnissen  zu  gelangen,  muss  sie  die  Erscheinungen 
richtig  beobachten  und  sie  in  richtige  Verbindung  mit  der  genannten 


170  1.  B.  2.  K.  2.  II.-A.  Methoden.  1.  A.  Allgemeines.  §.  66. 

Reihe  von  Momenten  bringen.  Um  (len  Beweis  für  die  Richtigkeit 
zu  liefern,  muss  sie  dann  wieder  behufs  der  Probe  zum  deduc- 
tiven  Verfahren  greifen  und  nackweisen,  dass  ihre  Schlüsse  und 
Ergebnisse  sich  mittelst  dieses  Verfahrens  richtig  bestätigen  und 
somit  erklären  lassen,  d.  b.  dass  die  beobachteten  Erscheinungen 
wirklich  in  dem  Abhängigkeitsverhältniss  stehen  können,  welches 
durch  das  inductive  Verfahren  festgestellt  worden  ist. 

Bleibt  bei  diesem  Vorgehen  im  einen  wie  im  anderen  Falle 
ein  „Rest“,  welcher  die  Probe  des  anderen  Verfahrens  nicht  be- 
steht, so  werden  Fehler  in  der  Beobachtung,  in  den  Ausgangs- 
puncten,  in  den  Schlüssen  auzunehmen  sein.  Lässt  sich  die  Probe 
immer  je  mit  dem  anderen  Verfahren  aus  irgend  welchen  Gründen, 
namentlich  wegen  der  technischen  Schwierigkeit  oder  der  aus  dem 
Wesen  des  zu  lösenden  Problems  folgenden  Unanwendbarkeit  dieses 
anderen  Verfahrens  nicht  anstellen,  so  leidet  die  Sicherheit  des  nur 
mit  der  einen  Methode  gewonnenen  Ergebnisses  und  die  Richtig- 
keit des  letzteren  kaun  nur  mit  mehr  oder  weniger  Wahrschein- 
lichkeit — deren  Grad  sich  übrigens  unter  Umständen  wieder 
genauer,  selbst  mathematisch  genau,  bestimmen  lassen  kann  — 
angenommen  werden.  Die  Ergebnisse  haben  solange  nur  einen 
hypothetischen  Werth.  So  ist  der  Sachverhalt  allerdings  nicht 
selten,  vornemlich  bei  den  Ergebnissen  des  deductiven  und  der- 
jenigen Form  des  inductiven  Verfahrens,  welche  als  „historische 
Methode“  bezeichnet  zu  werden  pflegt. 

Die  Ergebnisse  jedes  der  beiden  Verfahren  für  sich  allein 
haben  hiernach  ohne  oder  vor  der  Prüfung  mittelst  des  anderen 
Verfahrens  in  Bezug  auf  die  Wirklichkeit  der  Erscheinungen  und 
auf  deren  Erklärung  stets  nur  einen  solchen  hypothetischen  Werth. 

Das  gilt  aber  nicht  nur  von  dem  deductiven  Verfahren,  wo  es  wenigstens  in 
neuerer  Zeit  sehen  mehr  verkannt  und  auch  von  den  Vertretern  dieser  Methode  nicht 
bestritten  wird.  Erst  wenn  und  soweit  als  es  gelungen  ist,  diese  Ergebnisse  der 
Dcduction  durch  die  äussere  Beobachtung  zu  bestätigen,  d.  h.  nachzuweisen,  dass  die 
wirklichen  Erscheinungen  mit  den  deductiv  abgeleiteten  übereinstimmen  — oder  wie 
und  warum  sie  es  im  concreten  Falle  nicht  thun  — , können  die  deductiven  Ergeb- 
nisse für  wirklich  richtig  gelten.  Aber  auch  umgekehrt,  erst  wenn  die  durch  das 
inductive  Verfahren  gewonnenen  Ergebnisse,  die  dadurch  festgestellten  Thatsachen, 
abgeleiteten  empirischen  Regelmässigkeiten  („Gesetze“),  aufgedeckten  causalen  und 
conditionellen  Zusammenhänge  ihre  Erklärung  mittelst  des  deductiven  Verfahrens  ge- 
funden oder  als  mit  den  bereits  bekannten  Ergebnissen  dieses  Verfahrens  in  Einklang 
stehend  erwiesen  sind , können  jene  erstereu  Ergebnisse  (des  inductiven  Verfahrens) 
beanspruchen,  als  richtig  beobachtet,  abgeleitet,  aufgedeckt  angesehen  zu  werden. 
Das  wird  in  den  an  sich  nicht  unrichtigen  Angriffen  des  deutschen  Historismus  gegen 
die  deductive  Methode  öfters  übersehen  Seine  Vorwürfe  treffen  seine  eigene  Methode 
ebenso,  wenn  er  sich  darauf  beschränkt,  diese  allein  anzuwenden. 


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Cliaracteristik  von  Deduction  und  Induction. 


171 


Auch  der  bloss  hypothetische  Werth  von  Ergebnissen, 
welche  nach  einer  richtigen,  wenn  auch  für  sich  allein  nicht  aus- 
reichenden wissenschaftlichen  Methode  richtig  gewonnen  worden 
sind  — eine  „Richtigkeit“,  welche  freilich  in  solchem  Falle  vor- 
läufig auch  erst  nur  hypothetischen  Werth  hat  und  noch  auf  andre 
Weise  geprüft  und  erhärtet  werden  muss  — ist  indessen  immerhin 
schon  ein  „Werth“,  Etwas  von  wissenschaftlicher  und  auch 
practischer  Bedeutung,  worüber  man  nicht  kurzweg  sich  hinweg- 
setzen kann,  wie  es  nicht  selten  geschieht. 

Gegenüber  blossen  Behauptungen,  den  oberflächlichen  generalisironden  Induc- 
tiousschlüssen  und  schiefen  und  einseitigen,  ebenfalls  ohne  Weiteres  verallgemeinernden 
Deductionen  des  „täglichen  Lebens",  in  wirthscbaftlichen  Dingen  z.  B.  dos  prac- 
tischen  Routiniers,  des  dilettantischen  Laien,  bei  welchen  ausserdem  Interesse,  Vor- 
urtheil,  l’nkenntniss  so  oft  mitspielen  und  den  Blick  trüben,  kann  auch  ein  solcher 
bloss  hypothetischer  Werth  von  Ergebnissen,  welche  mit  einer  Methode  allein  ge- 
wonnen siud,  selbst  schon  ein  recht  grosser  sein.  Jedenfalls  ein  solcher,  dass  der, 
welcher  ihn  nicht  mit  Hilfe  der  anderen  Methode  wirksam  bestreitet,  sondern  nur 
mit  Hilfe  des  eben  angedeuteten  Verfahrens  angreift,  noch  nichts  dagegen  aus- 
richtet und  zum  besseren  Gegenbeweis  verpflichtet  bleibt.  Mit  einem  beliebten  Stich- 
wort der  Tagespolitik  in  Fragen , deren  Entscheidung  nach  einer  Theorie,  d.  h.  z.  B. 
nach  einer  deductiv  begründeten,  — in  Finanz-,  Steuer-,  Arbeiter-,  Agrar-,  Ge- 
werbe-, handelspolitischen  Fragen  u.  s.  w.  — dem  Urtheilenden  unlieb  ist,  kurzweg 
sagen,  dass  man  es  in  solchen  Fällen  mit  „alten  Schulmeinungen"  zu  thun  habe, 
oder,  in  verwandter  Redeweise  des  Historismus,  dass  der  und  der  Satz  oder  Schluss 
nur  der  „veralteten  Schuldogmatik"  angehöre,  ist  natürlich  hier  gar  nichts  bewiesen. 

Welcher  wenn  auch  nur  einstweilen  hypothetische  Werth  von 
Ergebnissen  einer  Methode  allein,  der  deductiven  oder  der  induc- 
tiven,  der  grössere  sei,  lässt  sich  zwar  nicht  für  jeden  Einzelfall 
allgemein  sagen.  Aber  im  Ganzen  trifft  es  doch  wohl  zu,  diesen 
Werth  bei  den  deductiv  gewonnenen  Ergebnissen  höher  anzu- 
schlagen. 

Hier  wird  wenigstens  eine  Erklärung  von  Thatsachen,  Vorgängen,  Typischem 
der  Erscheinungen,  Zusammenhängen  gegeben,  welche  vielleicht  der  Correctur  bedarf, 
aber  bei  logisch  richtiger  Anwendung  des  Verfahrens  doch  psychologische  Wahr- 
scheinlichkeit, eventuell  schon  bis  zu  einem  hohen  Grade,  für  sich  hat.  Die  inductiv 
gewonnenen  Ergebnisse  crmaugeln  aber  als  solche  noch  einer  derartigen  Erklärung 
überhaupt  oder  doch  in  höherem  Maasse  und  stellen  nur  einzelne  Thatsachen,  besten- 
falls gehäufte  Thatsachen  und  empirische  Regelmässigkeiten  dar,  welche  ja  für  die 
Kenntniss  concreter  Zustände  manches  Interesse  bieten  mögen,  aber  unerklärt  oder 
unerklärlich  für  die  Wissenschaft  doch  einstweilen  nur  Rohstoff'  sind,  der  erst  noch  der 
Bearbeitung  harrt.  Dem  Historiker  und  Statistiker,  die  beide  oft  so  selbstzufrieden 
und  selbstgenugsam  sind,  darf  das  wohl  gesagt  werden. 

Ein  weiteres  Eingehen  auf  die  crkenntnisstheoretisclie  Darstellung  und  Kritik 
der  beiden  Methoden  gehört  nicht  in  dieses  Werk  und  nicht  zu  unserer  Competenz. 
Hier  kam  es  nur  darauf  an,  für  die  nationalökonomische  Methodologie  eine 
ganz  generelle  Charactcristik  der  beiden  Methoden  als  Einleitung  zu  den  für  uns 
wichtigeren  specielleren  Ausführungen  über  jede  Methode  für  sich  voranzuschicken. 
S.  sonst  die  oben  S.  140  angegebene  Litteratur  über  Logik  und  Erkeuntnisstheorie, 
besonders  Mill,  Logik  I,  Buch  3,  II,  Buch  6.  und  Wundt,  II,  17  ff.,  47$  ff.,  5H6  ff. 


172  3.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  2.  A.  Deduction.  §.  67. 

2.  Abschnitt. 

Das  deductive  Verfahren. 

I.  — §.  67.  Die  Methode  der  Deduction  in  der 
Politischen  Oekonomie.  A.  Art  und  Weise  und  Voraus- 
setzungen ihrer  Anwendung.  Diese  Methode  geht  nachdem 
Vorausgehenden  von  den  psychischen  Motiven  aus  und  sucht 
daraus  die  Willensactc,  Handlungen  und  Erscheinungen  auf  wirt- 
schaftlichem Gebiete  abzuleiten  und  so  zugleich  zu  erklären.  Sie 
beginnt  daher  mit  der  Ermittlung  und  Analyse  der  Motive  des 
Thuns,  d.  h.  in  der  That  mit  Beobachtungen,  solchen  des 
eigenen  Inneren  und  äusseren  Beobachtungen  von  Erscheinungen 
und  Handlungen,  auch  Dritter,  welche  sie  auf  ihre  Motive  zurück- 
zuführen sucht. 

Insofern  liegen  dieser  Methode,  wie  bemerkt,  in  der  That  in  ihrem  Ausgangs- 
puncte  dieselben  Operationen  wie  der  inductiven  Methode  zu  Grunde  oder,  was  das 
Nemliche  besagen  will,  sie  bedient  sieh  zur  Erlangung  ihrer  Operationsbasis  selbst 
des  inductiven  Verfahrens.  Der  Umstand,  dass  eine  eigene  innere  Prüfung  möglich, 
wenn  auch,  wie  immer  hier,  mit  vielen  Schwierigkeiten,  die  Selbsttäuschungen  und 
Irrthümer  zu  verhüten,  verbunden  ist,  giebt  der  deductiven  Methode  als  einer  aus 
Motiven  ableitcuden  in  allen  Wissenschaften  vom  menschlichen  Wollen  und  Handeln 
ihre  besondere  und  eigentümliche  Bedeutung  von  vornherein.  Und  der  weitere  Um- 
stand , dass  unter  den  Motiven  des  wirtschaftlichen  Thuns  eines  eine  so  besonders 
wichtige  Rolle  spielt,  giebt  wieder  schon  im  Ausgangspuuct  der  deductiven  Methode 
auch  grade  in  der  Politischen  Oekonomie  ihre  characteristische  Stellung  und  ihren 
besonderen  Werth.  Die  Frage  der  Anwendung  der  Methode  der  Deduction  in  der 
Politischen  Oekonomie  macht  daher  eine  Untersuchung  erforderlich,  wie  sie  im  vorigeu 
Kapitel  aufgestellt  worden  ist. 

Unter  den  Motiven,  welche  das  wirtschaftliche  Thun  be- 
stimmen, kann  an  und  für  sieb  jedes  den  Ausgangspunct  der  De- 
duction bilden  und  dann  unter  Voraussetzung  seines  alleinigen  oder 
so  und  so  mit  anderen  Motiven  sich  combinirenden,  aber  auch 
kreuzenden  Einflusses  abgeleitet  werden , wie  es  auf  das  Handeln 
einwirken  wird,  welches  daher  die  aus  diesem  Handeln  entspringen- 
den wirthschaftlichen  Erscheinungen  sein  werden. 

Man  könnte  so  eine  Theorie  der  wirthschaftlichen  Handlungen  und  Erschei- 
nungen unter  der  Annahme  der  alleinigen  oder  der  hauptsächlichen  Wirksamkeit  eines 
jeden  der  früher  unterschiedenen  Leitmotive  und  selbst  der  einzelnen  Specialmotive 
bei  einem  jeden  aufstellen  und  darauf  Combinationen  der  Motive  dabei  berücksich- 
tigen, welche  dann  zu  Modificationen  der  Schlüsse  führen  würden.  So  Hesse  sich  eine 
Theorie  des  Wirtschaftslebens  nach  egoistischen  Motiven  und  nach  dem  Motiv  des 
Pilichtgefühls,  nach  dem  alleinigen  Motiv  des  Eigenvortheils  und  nach  altruistischen 
Motiven,  nach  dem  Motiv  des  Ehrgefühls,  der  Arbeitsfreude  ausbilden.  Vgl.  Knies, 
Polit.  Oek.,  2.  A.,  S.  504.  Wundt,  Logik,  II,  591. 

Als  das  am  Allgemeinsten  im  Wirtschaftsleben  verbreitete 
und  am  Gleichmässigsten  wirkende  Motiv  ergiebt  die  psychologische 
Prüfung  und  die  äussere  Beobachtung  unserer  eigenen  wie  Andrer 


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Art  und  Weise  und  Voraussetzungen  der  Deduction. 


173 


wirthschaftlichen  Handlungen  das  erste  der  im  vorigen  Kapitel 
besprochenen  Leitmotive,  das  Streben  nach  dem  wirthschaft- 
lichen Eigenvortheil,  das  üblicher  Weise  sogenannte  wirt- 
schaftliche Selbstinteresse,  den  „Eigennutz“,  „Egoismus“  in  diesem 
Sinne  (§.  34  ff.).  Dass  freilich  auch  dies  Motiv  kein  wirklich 
gleiches  und  gleichmässig  wirkendes  bei  allen  Individuen,  in  allen 
Zeitaltern,  Völkern  u.  s.  w.  ist,  zeigt  jede  etwas  genauere  Beob- 
achtung und  ist  oben  genugsam  hervorgehoben  worden.  Dennoch 
ist  es  an  gleichmässiger  Verbreitung  und  constanter  Wirkung  im 
Ganzen  doch  jedem  der  anderen  Leitmotive  überlegen,  wenn  nicht 
stets  und  überall,  eine  Annahme,  welche  sich  indessen  auch  schon 
manchfacb  bestätigen  Hesse,  so  doch  in  den  Verkehrsgesellschaften 
unserer  modernen  Culturvölker.  Bei  der  Abstammung  des  Motivs 
aus  dem  Trieb  der  Selbsterhaltung  und  des  Eigenwohls  (§.  26)  ist 
das  auch  begreiflich. 

Daraus  erklärt  sich  und  rechtfertigt  sich,  dass  die  Methode  der 
Deduction  der  Politischen  Oekonomie  gerade  dieses  Motiv  vor  den 
übrigen  zum  Ausgangspunct  genommen  hat.  Es  ergehen  sieh  aber 
auch  sofort  die  Voraussetzungen,  unter  welchen  allein  ein 
solches  Vorgehen  zulässig  ist,  die  Grenzen  für  den  Werth  der 
mit  dieser  Methode  zu  gewinnenden  Ergebnisse  und  die  Forde- 
rungen hinsichtlich  der  Controle  und  Prüfung  der  letzteren. 

Bei  der  Aufstellung  der  Voraussetzungen  für  die  An- 
wendung der  Methode  wird  hier  mittelst  isolirender  Ab- 
straction  vorgegangen:  man  sieht,  zunächst  wenigstens,  absicht- 
lich von  dem  Mitspielen  anderer  Motive  neben  dem  genannten  ab; 
mau  sieht,  wiederum  zunächst  wenigstens,  ebenso  ab  von  der  indi- 
viduellen (daher  auch  zeitlichen,  örtlichen,  gruppenmässigen  u.  s.  w.) 
Differenzirung  des  Motivs  und  seiner  Stärke,  überhaupt  von  irgend 
einer  Modification.  Man  nimmt  es  daher  an  als  den  einzigen 
constanten  und  constant  und  gleichmässig  wirkenden 
Factor  für  das  menschliche  Handeln  im  Wirtschaftsleben,  im  Ver- 
kehr. So  gelangt  man  zu  einer  der  ersten  und  wichtigsten  Vor- 
aussetzungen (Prämisse)  im  deductiven  Verfahren  der  Politischen 
Oekonomie:  zur  Annahme,  dass  ein  Jeder  seinen  wirthschaftlichen 
Eigenvortheil  allein  und  gerade  so  wie  jeder  Andre  verfolgen 
wolle,  ohne  durch  andere  Motive,  Erwägungen,  Rücksichten, 
also  z.  B.  auch  nicht  durch  Sitte,  ethische  Momente,  Urtheil  Dritter 
u.  dgl.  m.,  sich  daran  hindern  zu  lassen.  Dazu  treten  aber,  wiederum 
wenigstens  zunächst , zwei  weitere  Voraussetzungen , welche 


174  1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  2.  A.  Deduction.  §.  67,  68. 

gleichfalls  mit  Hilfe  isolirender  Abstraction  zur  Auwendung  ge- 
langen. Es  wird  angenommen,  dass  ein  Jeder  seinen  wirtschaft- 
lichen Eigen  vortheil  richtig  und  Alle  ihn  gleichmässig  ver- 
stehen oder  kennen  und  dass  sie  durch  die  Rechtsordnung 
nicht  gehindert  sind,  diesen  Vortheil  wirklich  zu  verfolgen. 
M.  a.  W.  zu  den  Voraussetzungen  des  Wollens  und  Könnens 
tritt  noch  diejenige  des  Dürfe  ns.  Auch  bei  der  zweiten  und 
dritten  Voraussetzung  wird  von  individueller,  zeitlicher,  örtlicher 
u.  s.  w.  Differenzirung  des  Kennens  und  Könnens  wie  des  Dürfens 
abgesehen.  Die  dritte  Voraussetzung  entspricht  dem  System  der 
freien  wirtschaftlichen  Concurrenz,  dies  System  als  völlig  con- 
sequent  und  radical  durcbgeflihrt  angenommen. 

Es  ist  klar,  dass  demnach  die  Schlüsse,  die  Ergebnisse  des 
deductiven  Verfahrens,  diesen  drei  Voraussetzungen  gemäss,  in 
Bezug  auf  die  Wirklichkeit  nur  hypothetischen  Werth  haben, 
d.  h.  nur  mit  der  Wirklichkeit  der  Erscheinungen  genau  überein- 
stimmen können,  wenn  und  soweit  die  Voraussetzungen  selbst  mit 
der  Wirklichkeit,  daher  mit  den  in  dieser  wirksamen  äusseren  und 
inneren  Bedingungen  und  Ursachen  des  wirthschaftlichen  Handelns, 
insbesondere  mit  der  hier  vorliegenden  und  zur  Wirksamkeit  ge- 
langenden Motivation  übereinstimmen.  Ausserdem  muss  selbstver- 
ständlich immer  in  der  Durchführung  des  Verfahrens,  daher  nament- 
lich in  der  Schlussziehung  kein  logischer  Fehler  begangen  worden 
seiD. 

Da  nun  streng  genommen  jene  drei  Voraussetzungen  in  völliger 
Reinheit,  zumal  alle  drei  auf  einmal,  schwerlich  überhaupt  je  in 
der  Wirklichkeit  genau  erfüllt  werden,  so  kann  auch  das  logisch 
durchaus  richtig  abgeleitete  Ergebniss  der  Deduction  — und  gerade 
dieses  — absolut  genau  überhaupt  niemals  sich  mit  dem  wirk- 
lichen Thatbestand  und  Verlauf  der  wirthschaftlichen  Erscheinungen 
decken. 

Dennoch  behauptet  das  deductiv  gewonnene  Ergebniss  seinen 
Werth  und  die  ganze  zunächst  streng  unter  den  genannten  drei 
Voraussetzungen  angewandte  Methode  der  Deduction  nicht  minder. 
Denn  es  wird  so  doch  ein  Bild  der  Erscheinungen  gewonnen, 
welches  wenigstens  in  den  Grundzügen  der  Wirklichkeit  mehr 
oder  weniger  ähnelt  und  ihr  durch  weitere  Modificatiouen 
der  Voraussetzungen  noch  mittelst  derselben  Methode  (§.  70)  immer 
mehr,  schliesslich  bis  zu  einem  hohen  Grade,  ähnlich  gemacht 


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175 


„Exacte“  Dcductiou. 

werden  kann.  Zur  Bestimmung  der  Grenzen  des  Werths  der 
zuerst,  unter  den  vollen  Voraussetzungen  der  Methode  gewonnenen 
Ergebnisse,  und  des  Werths  der  Ergebnisse,  welche  im  weiteren 
Verlauf  des  methodisch  durchgeführten  deductiven  Verfahrens  ge- 
wonnen werden,  fehlt  es  auch  nicht  an  Hilfsmitteln. 

B.  — §.  08.  Die  („exacte“)  Deduction  unter  den 
drei  Voraussetzungen  und  ihre  mathematische  Formu- 
lirung  (,, mathematische  Methode“)*  Wenn  genau  unter  den 
genannten  Voraussetzungen  aus  dem  Leitmotiv  des  Strebens  nach 
dem  wirtschaftlichen  Vortheil  richtig  deducirt  wird,  so  sind  die 
Ergebnisse  dieses  Verfahrens  unter  diesen  Voraussetzungen  auch 
durchaus  richtig.  Die  Methode  der  Deduction,  und  diese  allein 
im  Gebiete  der  Politischen  Oekonomie,  verdient  daher  alsdann 
hier  auch  den  Namen  einer  „exacten“,  nur  die  so  erzielten  Er- 
gebnisse den  von  „exact“  gewonnenen,  im  Sinne  der  exacten 
Wissenschaften.  Die  Methode  kann  sich  denn  auch  hier  sogar 
des  Hilfsmittels  der  exacten  Wissenschaften,  der  mathematischen 
Formulirung,  des  algebraischen  Ausdrucks  in  ihrem  ganzen  Ver- 
fahren und  in  der  Fassung  ihrer  Ergebnisse  bedienen.  Sie  ge- 
winnt dadurch  vollends  den  Character  einer  exacten.  Die  mit  ihrer 
Hilfe  entwickelte  Politische  Oekonomie  wird  in  dem  Umfang, 
in  welchem  die  Methode  angewendet  wird,  so  selbst 
eine  exacte,  auch  eine  streng  theoretische  Wissenschaft,  welche 
mit  der  theoretischen  Mechauik,  Physik  in  der  That  mit  Recht 
öfters  verglichen  wrorden  ist. 

Will  man  den  auf  dem  Gebiete  einer  Geisteswissenschaft  immer  etwas  miss- 
lichen. mir  persönlich  wenigstens  auch  stets  zu  prätentiös  klingenden  Ausdruck  „exact“ 
im  Gebiete  der  Politischen  Oekonomie  überhaupt  nicht  lieber  ganz  vermeiden,  so  kann 
man  ihn  jedenfalls  nur  in  der  angegebenen  Weise  anwenden,  nicht  in  Bezug  auf 
eine  der  Inductionsmethodcn  und  auf  deren  Ergebnisse  in  unserer  Disciplin,  am 
Allerwenigsten,  nach  einem  sehr  beliebten,  aber  ganz  schiefen  Sprachgebrauche  des 
jüngeren  Historismus  (besonders  G.  Schmoller's  und  der  ihm  Nahestehenden),  auf 
die  sogen,  „historische  Methode“  und  auf  die  mit  dieser  gewonnenen  Ergeb- 
nisse. Dann  immer  noch  eher  — aber  auch  nur  missbräuchlich  — auf  die  stati- 
stische Methode  und  auf  das  mit  ihr  Erforschte  (§.  80  H'.).  Der  Inductionsmethode 
überhaupt,  vollends  aber  der  „historischen“,  fehlt  nicht  weniger  als  Alles,  um  sich 
und  ihre  Ergebnisse  „exact“  nennen  zu  dürfen.  Man  kann  hier  nur  der  Karl 
Menger’sehen  Auffassung  und  Terminologie  nicht  bloss  den  Vorzug,  sondern  runter 
dem  erwähnten  Vorbehalt,  auch  bei  der  Deduction  lieber  den  Ausdruck  „exact“  zu 
vermeiden)  auch  allein  Hecht  geben. 

Was  hier  Uber  die  Anwendung  der  Mathematik  gesagt  wurde,  bestätigt  eine 
frühere  Bemerkung  in  §.65,  dass  der  Ausdruck  „mathematische  Methode“  in  der 
That  auch  nicht  correct  ist  und  besser  vermieden  oder  wenigstens  nur  in  dem  aus 
dem  Vorausgehenden  sich  ergebenden  Sinne  für  die  „mathematische  Formu- 
lirung des  streng  unter  den  erwähnten  drei  Voraussetzungen  operirenden  deductiven 
Verfahrens"  angewendet  wird.  Eine  eigene  selbständige  „Methode“  ist  die 
mathematische  vollends  nicht,  sondern  nur  eine  bestimmte  Form  der  exacten  deduc- 


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176 


1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  2.  A.  Deduction.  §.  68. 


tiveu  Methode,  wobei  algebraische  Zeichen  und  Formeln  und  geometrische  Dar- 
stellungen ftlr  gewisse  Grössen-  und  gegenseitige  Abhängigkeitsverhäitnisse  (Relationen) 
ökonomischer  Elemente  zur  Anwendung  kommen.  Dadurch  kann  eine  knappere  und 
schärfere  Fassung  nationalökonomischer  Sätze  als  mittelst  Wortfassung  erreicht  werden, 
aber  neue  Wahrheiten  werden  doch  dadurch  nicht  gewonnen.  Das  haben  nicht 
alle  Vertreter  dieser  mathematischen  Methode  immer  so  klar  erkannt,  wie  jüngst 
Mar  sh  all  (priuciples  of  cconomics  I,  Vorwort),  der  sich  besonders  gern  der  Me- 
thode, der  Diagramme  u.  s.  w.  als  Darstellu ngsmittel,  aber  nicht  eigentlich  zur 
Beweisführung  selbst  bedient. 

Namentlich  auf  den  Gebieten  von  Problemen,  wo  das  streng  deductive  Verfahren 
sich  am  Besten  anwenden  lässt,  in  der  Werth-,  Preis-,  Kosten-,  Vertheilungstheorie, 
kann  diese  mathematische  Formulirung  aber  immerhin  eigentümliche  Vortheile 
bieten.  Der  Werth  der  so  gewonnenen  Ergebnisse  ist  freilich  durchaus  begrenzt 
durch  den  Werth  des  deductiven  Varfahrens  überhaupt,  aber  soweit  ist  er  doch 
auch  anzuerkennen.  Damit  viel  weniger  weit,  als  einige  scharfe  mathematische  und 
„abstracto“  Köpfe,  welche  diese  „mathematische  Methode“  in  der  Nationalökonomie, 
namentlich  im  Gebiete  der  genannten  Fragen  angewandt  haben,  wohl  aunehmen, 
aber  doch  weiter,  als  die  einseitigen  „historischen  Köpfe“  es  zugeben  wollen.  Ganz 
richtig  sagt  hierüber  W.  Wundt  (Logik  II.  588):  „Indem  hierbei  (in  der  abstracten 
Theorie  von  Werth  uud  Tausch  u.  s.  w.)  von  der  Qualität  der  Werth-  und  Tausch- 
objecte ....  ganz  abgesehen  werden  kann,  gewinnt  die  Untersuchung  einen  Character 
logischer  Allgemeinheit,  welcher,  da  alle  jene  Begriffe  eine  quantitative  Beschaffen- 
heit besitzen  und  in  bestimmten  Relationen  zu  einauder  stehen,  zur  mathe- 
matischen Formulirung  der  Schlussfolgerungen  herausfordert.  In  der  That  ist  eine 
solche  mehrfach  mit  Erfolg  versucht  worden  (er  citirt  Walras  uud  Jcvons).  Sie  hat 
den  Vorzug,  dass  sie  zu  vollkommen  präcisen  Definitionen  nöthigt,  verwickelte  Schluss- 
folgerungen übersichtlicher  gestaltet  und  manche  Irrungen  vermeiden  lässt,  welche 
bei  der  unbestimmteren  logischen  Form  der  gewöhnlichen  Darstellung  leicht  sich  ein- 
stellen können.“ 

Im  Princip  sind  deswegen  die  Versuche  einer  „mathematischen  National- 
ökonomie“ oder  einer  mathematisch  behandelten  „reinen“  Politischen  Ockonomie 
(üconomie  politique  pure  von  Wal  ras  u.  A.  in.)  so  berechtigt,  wie  eine  zunächst 
rein  deductiv  behandelte  Nationalökonomie,  ja  ist  die  mathematische  Formulirung  oder 
„Methode“  eine  Verfeinerung  des  deductiven  Verfahrens,  eine  Steigerung  des 
exacten  Characters.  Das  möchte  ich  auch  den  scharfsinnigen  und  wie  immer  bedeut- 
samsten polemischen  Ausführungen  von  Knies  gegenüber  (Polit.  Oekon.,  2.  A., 
S.  500  ff.)  gegen  Walras,  v.  Thüncn  festhalten.  Nicht  diese  mathematische  Formu- 
lirung  oder  Methode  ist  zu  beanstanden  oder  ganz  zu  verwerfen,  sondern  die  nur 
bedingte  und  ziemlich  eng  begrenzte  Bedeutung  der  Ergebnisse  ist  her- 
vorzuheben, ganz  aus  denselben  Gründen,  wie  die  gleich  begrenzte  Bedeutung  des  rein 
deductiven  Verfahrens,  das  uns  hier  beschäftigt.  Was  Roscher  (System  I,  §.  22) 
über  die  „mathematische  Methode“  sagt,  daran  anerkennt  und  dagegen  einwendet, 
gilt  eben  in  Betreff  des  deductiven  Verfahrens  überhaupt. 

S.  Liltcratur  über  die  Anwendung  der  Mathematik  in  der  Nationalökonomie  bei 
Roscher  in  den  Noten  zu  §.22.  Ilervorznhebcn  sind:  Cournot,  rcchcrches  sur 
les  principes  inathomatiques  de  la  theorie  des  richesses,  Paris  183S,  später  ohne 
Formeln  principes  de  la  theorie  des  richesses,  Paris  1863  und  Revue  sommaire  des 
doctrines  economiques  (s.  über  ihn  Mars  ha  11  a.  a.  O und  I.exis  in  dem  Art. 
Cournot,  Hamlwörterb.  d.  Staatswiss.  II,  889).  Mehrere  Schriften  von  L.  Wal  ras. 
bes.  seine  Elements  dticonoinie  politique  pure,  Lausanne  1874,  1877*.  theorie  mathe- 
matique  de  la  richesse  sociale,  Lausanne  1883:  Theorie  der  Preisbestimmung  wirt- 
schaftlicher Güter  (deutsch),  Stuttgart  1881  (s.  darüber  Lexis  in  Conrads  Jahr- 
büchern B.  37,  N.  F.  3,  1881,  S.  427  ff.).  — W.  St.  Jerons,  thoory  of  political 
economy,  London  1871  (s.  darüber  W.  Böhmert,  Jovons,  Leipzig  1891).  — Von 
Deutschen:  v.  Thttuen,  isolirter  Staat,  Gossen,  Entwicklung  der  Gesetze  des 
menschlichen  Verkehrs,  Braunschweig  1854,  neue  Ausgabe  Berlin  1889.  Laun- 
hardt,  mathematische  Begründung  der  Volkswirtschaftslehre,  Leipzig  1884  (s.  darüber 
Lehr  in  Conrads  Jahrb.  B.  45.  N.  F.  11,  1885,  S.  162  ff).  Ueber  die  ganze  Rich- 
tung Knies  a.  a.  0.,  Keynes,  scope  a.  rnethod  ch.  8. 


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Deductive  Ergebnisse  und  Wirklichkeit. 


177 


C.  — §.  69.  Das  Verhältniss  der  deductiv  ge- 
wonnenen Ergebnisse  zur  Wirklichkeit  der  Erschei- 
nungen. Mit  den  wirklichen  wirthschaftlichen  Erscheinungen 
würden  richtig  abgeleitete  Schlüsse  der  Deduction  genau  überein- 
stimmen, wenn  in  der  Wirklichkeit  die  drei  Voraussetzungen,  unter 
denen  dcducirt  wurde,  genau  so  vorlägen.  Das  ist,  wie  schon  be- 
merkt, nicht  der  Fall,  eben  deswegen  die  Incongruenz  der  de- 
duetiven  Ergeboisse  und  der  Wirklichkeit.  Aber  andrerseits  offen- 
bar auch:  je  mehr  die  Verhältnisse  der  Wirklichkeit,  unter  denen 
wirtschaftliche  Handlungen  vor  sich  gehen  und  wirtschaftliche 
Erscheinungen  hervortreten,  den  drei  Voraussetzungen  entsprechen, 
desto  mehr  müssen  richtige  deductive  Schlüsse  mit  der  Wirklich- 
keit harmoniren. 

Es  folgt  daraus,  wie  schon  früher  in  anderem  Zusammenhang 
hervorgehoben  wurde,  dass  der  Werth  der  in  der  bisher  erörterten 
Weise  angewandten  Methode  der  Deduction  um  so  grösser  ist  und 
wird,  je  mehr  wirtschaftliche  Handlungen  und  Erscheinungen 
unter  solchen  wirklichen  Voraussetzungen  vor  sich  gehen,  bzw.  zu 
Stande  kommen,  welche  den  hypothetisch  angenommenen  ent- 
sprechen. Werden  die  Differenzen  zwischen  diesen  Voraussetzungen 
geringfügig,  schliesslich  minimale,  so  muss  auch  die  Ueberein- 
stimmung  zwischen  deductivem  Schluss  und  wirklicher  Erscheinung 
eine  grosse,  schliesslich  eine  maximale  werden.  Daraus  ergiebt 
sich  zwar  immer  noch  ein  durchaus  begrenzter,  aber  doch 
bereits  ein  positiver,  nicht  mehr  bloss  rein  hypothetischer  Werth 
des  deductiven  Verfahrens  auch  für  die  wissenschaftliche  Erkennt- 
nis der  Wirklichkeit  des  Wirtschaftslebens  in  gewissen  Fällen. 

Die  Aufgabe  ist  dann,  wieder  beobachtungsmässig  zu 
untersuchen,  ob  und  wie  weit  zwischen  den  angenommenen  Vor- 
aussetzungen der  Deduction  und  den  wirklichen  Voraussetzungen 
der  wirthschaftlichen  Vorgänge  Ucbereinstimmungen  und  Ab- 
weichungen und  welche  eventuell  bestehen.  Insbesondere  ist  dies 
festznstellen  für  die  betreffenden  Personenkreise,  um  deren  wirt- 
schaftliche Handlungen  es  sich  handelt,  nach  der  psychologischen 
Beschaffenheit,  für  Stände,  Classen,  Völker,  Zeitalter,  Orte  u.  s.  w. 
und  namentlich  auch  für  bestimmte  Gru p pen  wirtschaftlicher 
Erscheinungen.  Es  wird  sich  dabei  dann  bald  finden,  dass  in  den 
einen  Fällen  mehr,  in  den  anderen  weniger,  in  gewissen  Fällen 
aber  in  der  That  in  sehr  hohem  Grade  die  wirklichen  Voraus- 
setzungen, unter  denen  wirtschaftliche  Handlungen  und  Erschci- 

A.  Wiener,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Tboil.  Grundlagen.  12 


17» 


1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  2.  A.  Deduction.  §.  69. 


nungen  zu  Stande  kommen,  den  im  streng  deductiven  Verfahren 
angenommenen  entsprechen.  Hier  wird  dann  zwar  immer  noch 
die  „Probe“  der  Richtigkeit  der  Deduction  durch  das  entgegen- 
gesetzte Verfahren  zum  vollen  Beweis  nothwendig  sein,  aber  doch 
auch  das  Ergebniss  der  reinen  Deduction  an  sich  schon  wirklichen 
practischen  Werth  haben. 

I)a,  wo  der  rein  geschäftliche  Standpunct  im  wirtschaftlichen  Leben  ein- 
genommen wird  und  völlig  freier  Vorkehr,  Vertragsfreiheit  besteht,  wie  am  Meisten 
im  Handel,  zumal  im  Grosshandel,  da  wird  der  deductive  Schluss  und  die  Wirk- 
lichkeit auch  übereinstimmen.  Je  mehr  die  geschichtliche  Entwicklung  des  Wirt- 
schaftslebens diesen  „rein  geschäftlichen“  Standpunct  zum  allgemeinen  macht,  daher 
diesem  entsprechende  Motive,  Anschauungen,  Sitten  sich  verbreiten  und  herrschen, 
mithin  mit  dem  Siege  der  reinen  Geldwirthschaft , mit  dem  Aufgehen  des  Berufs  im 
Gewerbe,  mit  der  Einbürgerung  des  Systems  und  der  rechtlichen  und  sittlichen  Grund- 
sätze der  freien  Concurrenz  in  allen  Bevölkerungskreisen,  desto  mehr  trifft  das  zu  (vgl. 
schon  oben  §.  47,  49).  In  den  älteren  Zeiten  bei  mehr  gebundeueu  ökonomischen  und 
Rechtsverhältnissen , bei  einem  anderen  Zustande  wirtschaftlicher  Sitten,  in  Gassen, 
Gegenden,  wo  der  ältere  Character  des  Wirtschaftslebens  sich  noch  behauptet,  ver- 
sagt das  deductive  Verfahren  mehr,  aber  auch  nicht  völlig. 

Die  Groppen  von  Erscheinungen  auf  den  Gebieten  des  „Umlauf?“  und  der 
„Vertheilung“,  daher  diejenigen  des  Tauschs,  Kaufs,  Preises,  der  Einkommen- 
bildung in  der  arbeitsteiligen  Production  auf  der  Grundlage  der  Privateigenthums- 
ordnung und  des  freien  Vertragsrechts,  die  Erscheinungen  des  Geld-,  Münz-,  Credit-, 
Bankwesens  und  anderes  Aehuliche  sind  deswegen  überhaupt  stets  mehr,  unter  den  an- 
gedeuteten modernen  Verhältnissen  aber  wirklich  in  besonderem  Maasse  durch  das 
deductive  Verfahren  in  einer  Weise  festzustellen,  abzuleiten  und  zu  erklären,  welche 
mit  den  wirklichen  Vorgängen  im  Wesentlichen  selbst  genau  übercinstimmt.  Bei 
dieser  ganzen  Gruppe  von  Erscheinungen  tritt  am  Meisten,  trotz  der  Abhängigkeit  von 
psychischen  Momenten,  ein  Mechanismus  der  Bewegung  hervor.  Eben  deshalb 
hier  auch  die  Anwendbarkeit  der  „mathematischen“  Methode.  Die  Erscheinungen 
auf  dem  Gebiete  der  „Production“  und  „Consumtion“  entziehen  sich  zur  Er- 
mittlung ihres  wirklichen  Aussehens,  Verlaufs  dem  deductiven  Vertahrcn  mehr,  aber 
doch  auch  nicht  so  weit,  wie  einseitige  Vertreter  der  nationalökonomischeu  Induction 
behaupten.  Ueberall.  wo  das  „ökonomische  Princip“  (§.  2S)  waltet,  das  ja  recht 
eigentlich  auch  ein  psychologisches  Princip  ist,  wo  es  sich  um  Steigerung  der 
Productivität  der  Arbeit  durch  Entbindung  und  Entwicklung  günstiger  Einflüsse  auf 
die  Arbeitslust,  durch  Ausdehnung  der  Herrschaft  über  die  Naturkräfto,  durch  Ver- 
mehrung und  Verbesserung  der  Arbeitstbcilung  handelt,  gestattet  das  deductive  Ver- 
fahren immerhin  auch  manche  erfolgreiche  Anwendung  zur  Erschliessung  der  Wirk- 
lichkeit der  Erscheinungen,  wenn  auch  hier  das  inductivo  Verfahren  an  sich  und  zur 
Probe  der  deductiven  Schlüsse  eine  grössere  Bedeutung  und,  falls  es  genügend  tech- 
nisch entwickelt  ist,  auch  sicherere  Ergebnisse  hat.  Durchaus  hiermit  übereinstimmend 
äussert  sich  Marshall,  princ.  of  economics,  Vorwort  p.  VII,  in  Bezug  auf  die 
Anwendung  der  Theorie  des  Normalwerths  auf  die  Handlungen  der  nichtgeschäftlichen 
wie  der  reingeschäftlichen  Gassen,  indem  nur  die  Anwendung  auf  erstere  nicht  mit 
derselben  Genauigkeit  des  Einzelnen  erfolgen  könne.  Die  ältere  Theorie  hat  gewiss 
zu  sehr  ohne  Weiteres  geschlossen,  dass  „jeder  Mensch“  im  Wirtschaftsleben  wie 
ein  geriebener  Geschäftsmann,  city  man,  handle;  die  historische  Schule  verfällt  in  den 
entgegengesetzten,  aber  noch  grösseren  Fehler,  bei  den  Nicht- Geschäftsleuten,  bei 
Menschen  anderer  Culturstufcn  eine  nicht  nur  gradweise,  was  richtig  ist,  sondern 
principiell  verschiedene  wirtschaftliche  Handlungsweise  anzunehmen. 

Für  die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  der  einen  Verkehrsge- 
sellsebaft,  so  der  modernen,  bei  den  heutigen  Culturvölkern,  er- 
giebt  daher  das  deductive  Verfahren  bereits  einen  wesentlich 


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Deduetivö  Ergebnisse  und  Wirklichkeit 


179 


richtigen  Einblick  in  die  Wirklichkeit  der  Erscheinungen  und 
in  ihre  Bewegung  (ihre  Tendenzen  gleichförmiger  Gestaltung 
und  Wiederkehr  oder  ihr  „Gesetz“,  s.  u.  §.  74,  87  ff.),  namentlich  in 
die  Richtung  der  Bewegung  und  in  die  Zielpuncte  dafür.  Für 
die  Verhältnisse  einer  anderen  Verkehrsgesellschaft,  so  einer  älteren, 
leistet  es  erheblich  weniger  und  versagt  da  und  dort  ganz  den  Dienst. 
Für  die  eine  Gruppe  von  Erscheinungen  ist  es,  wenn  auch  wieder 
nach  dem  ganzen  Character  der  wirtschaftlichen,  rechtlichen  Ent- 
wicklung und  Zustände  in  ungleichem  Maasse,  brauchbarer,  für 
die  andere  Gruppe  weniger  brauchbar,  bis  zur  vollen  Unzuläng- 
lichkeit. 

Auch  in  dem  günstigeren  Falle  wird  mit  der  Deduction  zwar  auch  noch  nicht 
das  letzte  Ziel  der  wissenschaftlichen  Aufgabe  erreicht:  die  Gewissheit,  dass  die 
abgeleiteten  Erscheinungen  genau  der  Wirklichkeit  entsprechen.  Dazu  bedarf  es 
immer  wieder  erst  der  Constatirung  der  Thatsachen  durch  die  Beobachtung  dieser 
selbst.  Auch  wird  die  Deduction  öfters  nur  die  grossen  Hauptzüge  der  Gestaltung, 
Bewegung,  Entwicklung  der  Erscheinungen  geben  können,  nicht  die  kleineren,  feineren 
Nebenzüge,  nicht,  wie  die  beobachtungsmässigo  Schilderung,  ein  photographisch  ge- 
naues Bild  alles  Einzelnen.  Aber  auch  diese  begrenzten  Leistungen  des  Verfahrens 
sind  doch  immer  schon  sehr  wichtig.  Die  Gru  n dstructur  und  Haupttendenzen 
der  Bewegung  vieler  wirtschaftlicher  Erscheinungen,  — im  Bilde  vom  „social- 
ökonomischen Körper'*:  das  Knochengerüst,  die  Bänder,  Sehnen,  Muskeln,  Nerven- 
stränge, der  Blutumlauf,  die  hauptsächlichen  Functionen  — werden  auf  diese  Weise 
doch  bereits  zur  Kenntniss  und  zum  Vcrständniss  gebracht.  Damit  ist  doch  schon 
sehr  viel  gewonnen,  mehr  und  Wichtigeres  als  mittelst  des  inductiven  Verfahrens,  das 
vomemlich  bisher  nur  zu  Controle,  Berichtigung,  Bestätiguug  und  zur  Verfeinerung 
der  deductiv  gewonnenen  Sätze,  zur  Ausmalung  des  Einzelnen,  des  Kleineren  gedient 
hat.  Die  nationalökonomischen  Lehren  auf  den  vorhin  genaunten  Gebieten  und  Er- 
scheinungsgruppen, wo  sich  das  deductive  Verfahren  besonders  anwendbar  gezeigt  hat, 
können  zum  Beleg  dienen. 

Aus  Allem  folgt,  dass  die  Deduction  in  Bezug  auf  die  Wirk- 
lichkeit der  Erscheinungen  Nälierungswerthe  verschiedenen 
Grades  giebt. 

Das  gilt  doch  selbst  da,  wo  es  sich  um  Verkeil rsgosellschaften  handelt,  welche 
den  drei  Voraussetzungen  der  strengen  Deduction  weniger  und  eventuell  recht  wenig 
entsprechen,  mindestens  bei  denjenigen  Gruppeu  von  Erscheinungen,  welche  an  sich 
die  Anwendung  der  Deduction  begünstigen.  Da  man  es  doch  auch  hier  mit  gewissen 
typischen  Grundzügen  der  menschlichen  Natur,  ihrem  Triebleben  und 
ihrer  Motivation,  neben  der  Constanz  der  äusseren  Natur,  zu  thun  hat,  kann  das 
auch  nicht  anders  sein.  Die  gegentheilige  Ansicht  des  Historismus  übertreibt  wieder 
die  individuelle,  nationale , zeitalterliche  Diiferenzirung  der  menschlichen  Natur,  wenn 
sie  zu  anderen  Ergebnissen  kommt.  Die  Züge,  welche  das  deductive  Verfahren  ab- 
leitet, werden  hier  noch  mehr  nur  ins  Grobe,  das  ganze  Bild  der  Erscheinungen  noch 
mehr  ins  Hohe  entworfen  sein,  aber  es  braucht  doch  nicht  falsch  zu  sein  und  ist  es 
auch  nicht  und  die  Leistungen  des  Verfahrens  sind  auch  hier  daher  nicht  werthlos 
(vgl.  die  ähnliche  Auffassung  bei  Marshall  a.  a.  Ö und  in  seinem  Buch  1,  Kap.  0 
daselbst). 

Die  Aufgabe  ist  mithin,  jene  Näherungswerthe  der  Wirklich- 
keit immer  näher  zu  bringen,  ihre  Abweichung  von  der  Wirklichkeit 
einerseits  genauer  zu  bestimmen,  womöglich  zu  messen,  andrerseits 

12* 


180  1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  2.  A.  Deduction  §.  70. 

zu  verringern,  womöglich  zu  beseitigen.  Zu  beiden  Zwecken  dient 
das  inductive  Verfahren  mit  und  ist  dazu  schliesslich  unentbehrlich, 
wenngleich  leider  nicht  immer  anwendbar,  so  dass  man  sich  eben 
dann  mit  dem  begnügen  muss,  was  das  deduetive  Verfahren  leisten 
kann 1).  Zu  beiden  Zwecken  ist  aber  auch  gerade  letzteres  unter 
gewissen  Modificationen  seiner  Anwendung  mit  brauchbar:  d.  h.  es 
lässt  sich  immerhin  so  verfeinern,  dass  die  Nähcrungswerthe,  welche 
es  gewinnt,  immer  geringere  Abweichungen  von  der  Wirklichkeit 
zeigen.  Dies  geschieht  auf  folgende  Weise. 

D.  — §.  70.  Die  Annäherung  der  dcductiv  gewon- 
nenen Ergebnisse  au  die  Wirklichkeit  durch  metho- 
dische Ae  nderung  der  Voraussetzungen  der  Deduction. 
Jede  der  drei  Voraussetzungen,  dass  im  wirtschaftlichen  Leben 
immer  nach  dem  ersten  Leitmotiv,  dem  wirtschaftlichen  Eigen- 
vortheil,  gehandelt  werden  will,  kann  und  darf,  lässt  sich  ein- 
zeln oder  je  zu  zweien  oder  zu  allen  dreien  auf  einmal  in  geringerem 
und  stärkerem  Maasse  modificiren.  Danach  ändert  sich  danu  not- 
wendig auch  der  abzuleitende  Schluss  auf  Willeusactc  und  Hand- 
lungen, auf  die  Bewegung,  die  Richtung,  die  Intensivität  der  Hand- 
lungen. 

Diese  Modificationen  der  Voraussetzungen  können  zunächst 
wieder  rein  hypothetisch  und  willkührlich  vorgenommcu 
werden.  Aber  natürlich  wird  dabei  bereits  das  Streben  obwalten, 
die  Modificationen  auf  Grund  der  persönlichen  Wahrnehmungen 
und  Kenntnisse  des  Operirenden  den  Verhältnissen  der  Wirklichkeit 
anzupassen.  Indem  man  dann  wieder  bei  den  Aenderungen  der 
Voraussetzungen  möglichst  methodisch  verfährt,  daher  in  Bezug 
auf  die  letzteren  systematisch  Beobachtungen  der  Wirklich- 
keit anstellt  und  auf  Grund  der  Ergebnisse  hiervon  die  Voraus- 
setzungen der  Deduction  bildet  und  dedueirt,  gelangt  man  zu 
Schlüssen  und  Ergebnissen,  welche  sich  den  wirklichen  Erschei- 
nungen und  Vorgängen  in  viel  höherem  Maasse  und  bei  correctem 
methodischem  Verfahren  in  der  Tbat  immer  genauer  nähern,  schliess- 
lich bei  hinlänglicher  Ausdauer  und  Vorsicht  in  der  Anwendung  des 
Verfahrens  bis  zu  dem  Puncte,  wo  sie  ihnen  wirklich  entsprechen 
(congruent  werden). 


*)  Ein  gutes  Beispiel  ist  die  Lehre  von  der  Steuerüberwälzung,  wofür  auf 
die  Untersuchung  im  2.  B.,  2.  Aull,  meiner  Finanzwissenschaft  (S.  332  11.)  und  auf  die 
dort  erwähnte  inductiv-statistische  Arbeit  von  Schanz  über  die  baierische  Biersteuer 
verwiesen  sein  mag. 


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Annäherung  der  deductiren  Ergebnisse  an  die  Wirklichkeit. 


181 


Allerdings  wird  daher  in  diesem  Stadium  des  deductiren  Verfahrens  in  Bezug 
auf  die  Feststellung  der  Voraussetzungen  die  (wiederum  innere  psychische,  wie  äussere) 
Beobachtung  in  umfassendem  und  immer  wachsendem  und  sorgfältigerem  Maasso 
mit  angewandt,  insofern  inductir  rorgegangen.  Dadurch  wird  alles  das  genau  zu 
bestimmen  gesucht,  was  im  concreten  Einzelfall,  aber  auch  in  den  Massenfällen  an 
Ursachen , welche  auf  Willen  und  Handlungen  psychisch  einwirkeu,  und  an  Be- 
dingungen vorhanden  ist  und  mitspielt,  unter  denen  sich  diese  Einwirkung  vollzieht 
und  die  Willensactc,  Handlungen  und  Erscheinungen  zu  Stande  kommen.  Aber  als- 
dann wird  doch  wieder  durchaus  inductir  verfahren:  man  schliesst  von  Ursache  und 
Bedingung  auf  Wirkung,  Folge.  Daher  verlässt  man  mit  diesem  Vorgehen  die  deduc- 
tive  Methode  noch  nicht. 

Es  sind  hier  zwar  keineswegs  allgemeine,  aber  doch  öfters  vorgekommene  Fehler, 
insbesondere  von  Oekonomisten  der  filteren  sogen,  britischen  Schule,  und  allerdings 
namentlich  in  Ricardo’scher  Richtung  zuzugesteheu.  Einmal  wurden  die  hypothetisch 
angenommenen  strengen  drei  Voraussetzungen  der  Deduction  nicht  immer  in  diesem 
ihrem  bloss  hypothetischen  Character  festgehalten,  Abweichungen  davon  in  der  Wirk- 
lichkeit nicht  genügend  beachtet  und  dann  die  hypothetisch  richtig  abgeleiteten  Er- 
gebnisse als  genau  mit  der  Wirklichkeit  sich  deckend  betrachtet.  Sodann  wurdo  die 
methodische  Aendernng  der  Voraussetzungen  der  Deduction  nicht  oder  nicht  ge- 
nügend vorgenommen,  das  deductive  Verfahren  in  einem  zu  frühen  Stadium  als  ab- 
geschlossen angesehen.  Allein,  wie  schon  früher  bemerkt  (§.  4,  bes.  S.  IS),  sind  das 
doch  nicht  Fehler  der  Methode,  welche  gegen  letztere  etwas  beweisen  — höchstens 
auf  Gefahren  derselben  hindeuten  — , sondern  Fehler  in  der  Anwendung  der 
Methode,  welche  denjenigen  zur  Last  zu  legen  sind,  die  sie  begehen.  Die  princi- 
piellen  Gegner  der  Methode,  wie  ein  Theil  der  historischen  Nationalökonomen,  köuncn  da- 
her, wie  sie  nicht  selten  versucht  haben,  solche  Fehler  nicht  zu  Gunsten  ihrer  Auffassung 
benutzen.  Es  folgt  aus  der  Möglichkeit  und  eventuell  der  Leichtigkeit,  bei  der  Do- 
duction  solche  Fehler  zu  begehen , nur  die  Forderung  eines  grösseren  Maasscs  Vor- 
sicht und  allerdings  auch  diejenige,  Controlen  der  Schlüsse  mittelst  des  inductivcn 
Verfahrens  anzuwenden  (§.  74  ff.),  aber  keineswegs  die  Unbrauchbarkeit  der  Methode. 

Mit  der  methodischen,  auch  auf  Grund  von  Beobachtungen  erfolgenden  Aende- 
rung  der  Voraussetzungen  der  Deduction  verlässt  man  diese  Methode  nicht,  sondern 
bildet  sie  nur  feiner  aus,  um  sie  practisch,  zur  Erschliessung  der  Wirklichkeit,  brauch- 
barer zu  machen.  Die  gegnerische  Kritik  , auch  in  der  historischen  Richtung,  macht 
es  sich  zu  leicht,  wenn  sic  ihren  Nachweis,  dass  die  Deduction  unter  den  drei  strengen 
Voraussetzungen  Ergebnisse  liefere,  welche  mit  der  Wirklichkeit  nicht  oder  nicht  aus- 
reichend stimmten,  für  einen  Beweis  der  „Unfruchtbarkeit  4 der  ganzen  Methode  auch 
in  deren  verfeinerter  Form  hält.  Es  ist  doch  die  erste  Anforderung  an  objective 
wissenschaftliche  Kritik,  dass  die  Position  des  Gegners  wenigstens  so  günstig  an- 
genommen wird,  als  sie  principiell  und  thatsächlich  sein  kann.  Dagegen  verstösst 
jene  Kritik,  ganz  abgesehen  davon,  dass  die  Ergebnisse  der  Deduction  unter  jenen 
drei  Voraussetzungen,  wie  im  vorigen  §.  09  gezeigt  wurde , doch  auch  schon  immer- 
hin einen  grösseren  Werth  haben,  als  dio  Kritik  von  Seiten  der  Vertreter  der  Induc- 
tion  zugeben  will. 

Die  methodischen  Aenderungen  der  Voraussetzungen,  unter 
welchen  deducirt  wird,  werden  passend,  wiederum  mittelst  isolircn- 
der  Abstraction,  so  vorgenommen,  dass  zuerst  die  erste  Voraus- 
setzung, dem  wirtschaftlichen  Vortheil  allein  und  Seitens  aller 
Einzelnen  gleichmässig  folgen  wollen,  verändert  wird,  möglichst 
den  beobachteten  Thatsachcn  gemäss,  während  die  beiden  andren 
Voraussetzungen  unverändert  bleiben;  dass  darauf  mit  der  zweiten, 
den  wirtschaftlichen  Vorteil  allseitig  richtig  kennen  und  ihm 
danach  folgen  können,  Aenderungen  erfolgen,  während  die  erste 
und  dritte  unverändert  bleibt;  und  danach  mit  der  dritten,  dem 


182  1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  2.  A.  Beduction.  §.  70,  71. 

Vortheil  gleichraässig  so  nach  der  Rechtsordnung  folgen  dürfen, 
so  verfahren  wird,  die  andren  beiden  die  gleichen  bleiben.  Indem 
man  die  Veränderungen  auf  zwei,  schliesslich  auf  alle  drei  Voraus- 
setzungen ausdehnt,  in  allen  drei  Fällen  sie  in  verschiedenem 
Maasse  vornimmt,  stets  unter  Benutzung  von  Beobachtungen,  welche 
die  Voraussetzungen  den  concreten  Verhältnissen  der  Wirklichkeit 
anzupassen  suchen,  nähert  man  auch  den  Werth  der  Schlüsse 
immer  mehr  der  Wirklichkeit.  Das  Verfahren  läuft  also  darauf 
hinaus,  neben  constanten  Factoren  methodisch  ge- 
wählte variable  Factoren  mehr  und  mehr  in  das  Rä- 
sonnement einzufügen  und  dann  abznlciten,  wie  unter  den 
so  gestellten  Voraussetzungen  die  wirtbschaftlichen  Erscheinungen 
aussehen  und  verlaufen.  Auch  hier  wird  schliesslich  zur  Controle 
und  Veritication  die  Beobachtung  der  Erscheinungen  selbst 
nothwendig  sein  und  soweit  als  möglich  erfolgen,  also  wiederum 
inductives  Verfahren  hinzutreten  müssen.  Aber  wenn  die  Voraus- 
setzungen in  Ucbercinstimmung  mit  der  Wirklichkeit  bestimmt  sind 
und  dann  nur  in  der  Deduction  selbst  Fehler  vermieden  werden, 
können  die  deductiven  Schlüsse  doch  auch  ohne  oder  vor  dieser 
Probe  schon  als  richtig  gelten. 

Die  Xothwendigkeit,  immer  mehr  veränderliche  Factoren  und  wechselnde  Com- 
binationen  derselben  unter  sich  und  mit  constanten  im  logischen  Räsonnement , auf 
welches  das  deductivc  Verfahren  hier  hinauskommt,  einzufügen,  macht  auch  die  An- 
wendung der  mathematischen  Methode  immer  schwieriger  und  bald  nutzlos  (§.  (3b). 
Im  Räsonnement  kann  man  hier  den  Einfluss  variabler  Factoren,  welche  als  Ursache  oder 
Bedingung  in  Betracht  kommen,  auf  Bewegung,  Bewegungsrichtung  der  Erscheinungen 
leichter  und  deutlicher  erfolgen. 

§.  71.  Durchführung  der  Veränderungen  der  drei 
Voraussetzungen  im  Einzelnen. 

1.  Die  Aenderungen  der  Voraussetzungen  in  Bezug  auf  das 
Wollen  — dem  wirtschaftlichen  Vortheil  iu  Willensacten  und 
Handlungen  zu  folgen  — können  sich  auf  zweierlei  beziehen,  ein- 
mal auf  die  Thatsache  der  individuellen,  classenweisen  u.  s.  w. 
Differenzirung  der  Stärke  des  Motivs,  sodann  auf  M itberück- 
sichtigung  anderer  Motive. 

a)  Gerade  der  erste  Punct  ist  besonders  wichtig,  um  die 
Voraussetzungen  der  Deduction  denen  der  wirklichen  Vorgänge 
mehr  anzupassen  und  so  die  Schlüsse  mehr  der  Wirklichkeit  der 
Erscheinungen  zu  nähern.  Denn  tatsächlich  ist  die  Stärke  des 
ersten  Leitmotivs  nach  Individuen,  Berufen,  Classen,  Völkern,  Zeit- 
altern, Ländern  u.  s.  w.  wesentlich  verschieden,  was  dann  auch 
wieder  auf  die  verschiedenen  Gruppen  wirtschaftlicher  Erschei- 


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Veränderungen  der  Voraussetzungen  der  Deduction. 


183 


nnngen  Einfluss  austibt,  je  nachdem  diese  Gruppen  je  mit  Individuen, 
Classen  u.  s.  w.  von  verschiedener  StUrke  des  Motivs  in  besondrer 
Beziehung  stehen. 

Z.  B.  inan  beobachtet , dass  die  practischen  Grundsätze  des  Händlerthuins  (der 
„city  men“),  von  denen  man  in  der  Ableitung  der  Preise  in  der  Deduction  ausgeht, 
eben  keineswegs  die  allgemein  verbreiteten  in  allen  Geselischaftsclassen  sind.  Daraus 
folgt  sofort,  dass  die  streng  dcductiv  ermittelte  Theorie  des  Preises  zunächst  nur  da 
genauer  zutreöen  wird , wo  cs  sich  um  das  Publicum  des  Händlerthums  handelt, 
daher  bei  den  Grosspreisen,  ausserhalb  dieses  Kreises  nicht,  daher  nicht  bei  den 
Kleinproisen.  Indem  man  hier  nun  die  einzelnen  Classen  (und  schliesslich  die  Indi- 
viduen) beobachtet  in  ihrem  Verhalten  im  Verkehr,  beim  Kaufen  u.  s.  w.,  findet  man, 
in  welcher  Weise  die  Leute  von  rein  geschäftlicher  Auffassung  abweichen.  Daraus 
kann  mau  dann  ableitcn,  wie  sich  hiernach  die  Bewegung,  Richtung  der  Preise,  ihr 
Verhältnis  zu  den  Productionskosten  gestalten  wird  , welche  Nachtheile,  welche  Vor- 
theile die  einzelnen  Classen.  je  nachdem,  haben  werden  u.  s.  w.  Implicitc  folgen  dann 
hieraus  für  die  richtigere  Bcurthcilung  von  Einrichtungen  des  Verkehrs,  der  Rechts- 
ordnung, z.  B.  des  Princips  der  freien  Concurrenz,  das  eben  auf  der  Voraussetzung 
auch  der  Gleichheit  des  wirtschaftlichen  Wollens  beruht,  so  mancherlei  werth- 
volle und  practisch  wichtige  Schlüsse,  ü.  A.  wird  man  namentlich  auch  bestimmen 
können,  wie  nachdem  Durchschnittsverhalten  der  Bevölkerung  und  der  Classe, 
des  Berufsstands  zu  dem  ersten  Leitmotiv  das  Princip  der  freien  Concurrenz  in  ver- 
schiedenen historischen  und  in  verschiedenen  Personenkreisen  ganz  verschieden  wirken, 
daher  auch  ganz  verschieden  beurteilt  werden  muss. 

h)  Zwecks  Mitbeilicksichtigung  anderer  Motive  als  mit- 
ein wirkender  Factoren  können  nach  und  nach  alle  anderen  Leit- 
motive und  die  verschiedenen  zu  ihnen  gehörigen  Specialmotive, 
die  wechselnden  Combinationen  derselben  mit  dem  ersten  Leitmotiv 
und  untereinander,  altruistische  Erwägungen  u.  s.  w.  unter  die 
Voraussetzungen  der  Deduction  eingefligt  werden.  Wiederum  vor- 
nemlich  in  der  Weise,  dass  auf  Grund  von  Beobachtungen  die 
wichtigeren  Fälle  mitspielender  anderer  Motive  und  vorkommender 
Combinationen  unter  diesen  Voraussetzungen  aufgenommen  werden, 
um  abzuleiten,  wie  sich  alsdann  die  Willensacte,  Handlungen, 
Erscheinungen  gestalten  werden.  Die  historische,  örtliche,  volks- 
mässige,  classen-  und  berufsweise,  individuelle  Difterenzirung  der 
gesammten  Motivation  im  wirtschaftlichen  Handeln  lässt  sich  hier 
nach  den  im  vorigen  Kapitel  dargelcgteu  Gesichtspuncten  mit  berück- 
sichtigen. Und  um  die  Methode  der  Deduction  zu  verfeinern,  ihre  Er- 
gebnisse der  Wirklichkeit  genauer  anzunähern,  ist  das  notwendig. 

Grade  dass  man  das,  zwar  keineswegs  immer,  auch  in  der  älteren  Theorie  nicht, 
aber  oftmals  unterlassen  oder  nicht  genügend  gethan  hat,  bedingte  die  häufige  In- 
congruenz  der  Ergebnisse  der  Deduction  mit  den  wirklichen  Erscheinungen.  Noth- 
wendig  und  natürlich  um  so  mehr,  je  mehr  nach  Zeitaltern,  Völkern,  Classen,  Indi- 
viduen, nach  Sitten  und  Gewohnheiten,  nach  sittlichen  und  religiösen  Anschauun- 
gen u.  s.  w.  die  betreffenden  Menschen  in  ihrer  Motivation  auch  auf  wirtschaftlichem 
Gebiete  eben  nicht  der  Voraussetzung  entsprachen,  nur  vom  ersten  Leitmotiv  des 
wirtschaftlichen  Vorteils  bestimmt  zu  werden,  sondern  von  den  anderen  Motiven 
mit  beeinflusst  wurden,  — eventuell  bis  zur  vollständigen  Ucberwindung  des  prac- 
tischen Einflusses  des  ersten  Motivs,  wie  unter  der  Einwirkung  mächtiger  religiöser 
Impulse:  „Gebet  Alles  den  Armen“  u.  s.  w. 


184 


1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  2.  A.  Deduction.  §.  71. 


Die  Erfüllung  dieser  Forderung,  entsprechend  der  Verschieden- 
heit der  wirklichen  Motivation,  die  Voraussetzungen  der  Deduction 
zu  ändern,  und  die  Vornahme  der  Deduction  unter  solchen  ver- 
änderlichen Voraussetzungen  ist  nun  gewiss  schwierig,  aber  sie  ist 
nicht  unmöglich,  wenngleich  auch  hier  wieder  das  Ideal  metho- 
dischen Verfahrens  nicht  erreichbar  sein  mag.  Auch  verändert  die 
so  gehandhabte  Methode  hier  wieder  nicht  ihren  Character  und 
geht  nicht,  wie  wohl  gemeint  worden  ist,  bereits  in  die  inductive 
über,  indem  ihre  Voraussetzungen  so  der  Wirklichkeit  nahe  ge- 
bracht werden.  Denn  es  werden  doch  immer  nur  noch  die 
als  Ursachen  und  Bedingungen  fungirenden  Thatsachen  beob- 
achtet, die  Erscheinungen,  welche  davon  abhängen,  deductiv  ab- 
geleitet. 

Anderer  Ansicht  ist  hier  Wundt  (Logik  II,  590  ff.),  aber  ich  vermag  mich  der- 
selben doch  nicht  anzuschlicssen.  Er  vergleicht  hier  die  Abstractioncn  und  Hypothesen- 
bildungen der  „abstraeten  Wirthschaftslehre“,  deren  Werth  er  gebührend  würdigt,  mit  den 
Voiaussetzungen  der  allgemeinen  Mechanik,  meint  aber,  der  Vergleich  falle  doch  zu  Un- 
gunsten der  ersteren  aus.  Man  könne  bei  dieser  doch  nur  objective,  nicht  subjcctive 
Bedingungen  in  das  Verfahren  einfügen.  Bei  einer  gründlicheren  Berücksichtigung 
der  psychologischen  Eigenschaften  der  Menschen  unter  den  subjectiven  Voraus- 
setzungen verliere  die  Theorie  ihren  exacten  Character,  der  grade  auf  ihrer  Einfachheit 
beruhe.  „Sobald  man  der  Mehrheit  widerstreitender  Motive  und  der  thatsäcblichen 
Ungleichheit  der  Menschen  Rechnung  tragen  will,  gelangt  man  zu  variablen  Factoren, 
deren  Wirksamkeit  von  Fall  zu  Fall  sich  verändert,  so  dass  dieselben  höchstens  nach 
jedem  Ereigniss  geschätzt,  nicht  aber  als  allgemeine  Voraussetzung  der  Erklärung 
aller  Ereignisse  zu  Grunde  gelegt  werden  kann.  Die  abstracto  Wirthschaftstheorie 
begiebt  sich  also  von  selbst,  wenn  sie  diese  Zugeständnisse  macht,  auf  den  Boden  der 
historischen  Nationalökonomik.“  Sie  könne  nur  etwa  statt  des  Eigennutzes  u.  s.  w. 
andere  Eigenschaften  in  ähnlicher  Ausschliesslichkeit  voraussetzen , die  dann  freilich 
zu  ebenso  einseitigen  Folgerungen  führen  würden  (s.  o.  §.  67).  Ich  möchte  hier  nur 
zugeben,  dass  die  Theorie,  bezw.  die  deductive  Methode  bei  der  Modification  der 
Voraussetzungen  ihren  „exacten“  Character  mehr  einbüsse.  Aber  das  ist  eigentlich 
kein  Nachtheil , denn  grade  dieser  so  bezeichnetc  Character  — d.  h.  die  Deduction 
streng  unter  den  drei  Voraussetzungen  — ist  das  Missliche,  weil  die  Methode  ihn 
überhaupt  nur  der  Annahme  von  Hypothesen  verdankt,  «reiche  mit  der  Wirklichkeit 
nicht  stimmen.  Was  sie  hier  (daher  auch  z.  B.  im  Puncto  der  mathematischen  Fass- 
barkeit) einbüsst,  gewinnt  sic  an  realem  Werth  bei  der  Veränderung  der  Voraus- 
setzungen in  der  Richtung  der  Wirklichkeit.  Nach  Kategoriecn  von  handelnden 
Subjecten  (Menschen),  daher  nach  Zeitaltern,  Völkern,  Classen  und  von  Gruppen 
wirtschaftlicher  Erscheinungen,  daher  in  der  oben  bereits  angegebenen  Weise,  wird 
man  in  der  Regel  die  Voraussetzungen  bezüglich  der  einwirkenden  Motivation  so  ver- 
ändern können,  dass  dieselben  mehr  und  mehr  der  Wirklichkeit  entsprechen.  Als- 
dann wird  man  doch  auch  hier  abzuleiten  vermögen,  wie  sich  die  Willensacte,  Hand- 
lungen. Erscheinungen,  deren  Verlauf  in  Gcmässheit  der  Modification  der  Voraus- 
setzungen gestalten,  namentlich  auch  im  Verhältnis  zu  der  Gestaltung  streng  unter 
den  drei  Voraussetzungen. 

An  der  angegebenen  Stelle  sagt  Wundt  auch  einmal:  „der  menschliche  Wille 
schlägt  nicht  wie  ein  gestossener  Körper  unter  der  Einwirkung  verschiedener  Motive 
eine  mittlere  Richtung  ein,  sondern  pflegt  einem  herrschenden  Motiv  ausschliesslich 
zu  folgen“.  Das  trifft  doch  kaum  immer  zu.  Ich  kann  z.  B.,  dem  ersten  Leitmotiv 
folgend,  für  einen  Minimalprcis  von  x eine  Waare  als  Käufer  erlangen.  Allein  Ehr- 
gefühl, Anstand,  Mitleid  u.  dul.  bestimmen  mich,  den  Preis  nicht  soweit  herab- 
zudrücken, anderseits  will  ich  doch  meinen  Vortheil  nicht  ganz  aufgeben,  d.  b.  nicht 


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Veränderungen  der  Voraussetzungen  der  Deduction. 


185 


nur  keinen  übermässig  hohen,  sondern  auch  nicht  den  üblichen  Preis  von  z.  B.  *—  x 

3 t 

zahlen,  vielmehr  bewillige  ich  schliesslich  etwa  einen  mittleren  Preis  zwischen  diesen  zwei 

Greuzen,  also  — x.  Dann  hat  doch  mein  von  verschiedenen  sich  kreuzenden  Motiven 
0 


bestimmter  Wille  in  der  That  eine  mittlere  Richtung  eingeschlagen.  So  aber  liegen 
die  Dinge  doch  im  Leben  nicht  selten,  spcciell  auch  öfters  im  Gebiete  der  wirtschaft- 
lichen Handlungen.  Auch  hier  ergeben  sich  Diagonalen  u.  s.  w.  Die  Veränderung 
der  Voraussetzungen  bezüglich  des  Wollcns  behufs  Anwendung  des  deductivcn  Ver- 
fahrens entspricht  dieser  Auffassung. 


2.  In  ähnlicher  Weise  lässt  sich  nun  auch  die  zweite  Vor- 
aussetzung, bezüglich  des  richtigen  Kennens  des  wirtschaft- 
lichen Eigenvortheils  und  demgemäss  des  ihm  Folgcn-Könnens 
verändern,  indem  man  namentlich  von  der  Annahme  gleich- 
massigen  Kennens  und  Könnens  der  Individuen  absieht.  Auch 
hier  ist  die  Aufgabe,  dann  diese  Veränderungen  der  Voraus- 
setzungen möglichst  der  Wirklichkeit  anzupassen,  daher  wieder 
dafür  Beobachtungen  methodisch  anzustellen  und  besonders  die 
Massendifferenzirung  dieses  Factors  nach  Zeitaltern,  Völkern, 
Orten,  Classen,  Berufen  u.  s.  w.  festzustellen  und  die  Ergebnisse 
für  die  Verfeinerung  der  Deductionsmcthode  zu  benutzen. 

Auch  danach  kann  man  dann  wieder  bestimmen,  welche  Modificationcn  die 
deductivcn  Schlüsse,  die  unter  den  Voraussetzungen  gleichmässigen  Kennens  und  Ver- 
folgen-Könnens  des  wirtschaftlichen  Vorteils  an  sich  richtig  abgeleitet  sind,  erfahren 
müssen,  um  sich  mit  der  Wirklichkeit  der  Erscheinungen  zu  decken.  Man  wird  z.  B. 
nunmehr  auch  dcductiv  ermitteln  können,  welche  Individuen,  Berufe,  Classen  im 
System  der  freien  Concurrenz  die  mehr  leidenden,  die  mehr  gewinnenden  sind,  weil 
sie  der  strengen  zweiten  Voraussetzung  weniger,  vielleicht  gar  nicht  oder  anderseits 
mehr,  vielleicht  vollständig  entsprechen;  wird  ableiten  können,  welche  verschiedene 
Bedeutung  das  ökonomische  Princip  je  nach  der  Modification  der  zweiten  Voraus- 
setzung für  das  wirtschaftliche  Handeln  der  Individuen,  Classen,  Zeitalter  u.  s.  w. 
in  den  Vorgängen  der  Production  wie  der  Verteilung  haben  muss  u.  s.  w. 

3.  Aeknlich  wird  dann  auch  die  dritte  Voraussetzung,  be- 
züglich des  VerfoIgen-Dürfen8  des  Vortheils,  verändert,  indem 
man  statt  von  freier  Concurrenz  und  der  ihr  zu  Grunde  liegenden 
Rechts-  (auch  Privatrechts-)  Ordnung  von  allgemeinen  oder  theil- 
weisen,  nach  Subjecten,  Objecten  unterscheidenden  Beschränkungen 
der  freien  Concurrenz  und  von  anderen  Rechts-,  auch  anderen 
Privatrechtsgrundlagen  ausgeht. 

Die  Modification  dieser  Voraussetzung  ist  von  besonderer  Bedeutung  für  alle 
Untersuchungen  der  Folgen  und  Einwirkungen  des  wirtschaftlichen  Rechts  und 
damit  in  Verbindung  stehender  Einrichtungen,  daher  namentlich  für  Fragen  der 
practischen  Nationalökonomie,  aber  doch  dafür  nicht  allein.  Auch  die  theoretischen 
Fragen  des  Umlaufs,  der  Verteilung,  von  Preis,  Lohn,  Zins  u.  s.  w.  gestalten  sich 
mit  der  Modification  der  dritten  Voraussetzung  ganz  anders,  z.  B.  bei  Monopol- 
verhältnissen, woraus  sich  dann  für  die  praclische  Seite  dieser  Fragen  auch  wieder 
Folgerungen  ergeben.  Auch  hier  sind  die  Aenderungen  der  Voraussetzungen  wieder 
möglichst  nach  Beobachtungen  der  Wirklichkeit  vorzunehmen,  um  dann  zu  dedu- 
ciren.  Grade  in  Betreff  dieser  dritten  Voraussetzung  hat  schon  die  ältere  Theorie 


186 


1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  3.  A.  Deduction.  §.  7t,  72. 


gegenüber  offenkundigen  Thatsachcn  der  Rechtsordnung  auch  unter  Annahme  von 
Modificationen  der  freien  Üoneurrcnz,  der  Vertragsfreiheit,  der  freien  Eigenthums- 
verfügung, unter  Berücksichtigung  von  anderen  historischen  öffentlichen  und  Privat- 
rechtsordnungen, z.  B.  der  Zunftverfassung,  der  Schutzzölle,  der  Privilegien  und  Mo- 
nopole, der  Verhältnisse  der  persönlichen  Unfreiheit,  des  fehlenden  oder  beschränkten 
Privateigenthums  am  Boden  u.  s.  w.  das  deductive  Verfahren  benutzt,  um  abzuleitcu, 
wie  unter  der  und  der  concrotcn,  historischen,  örtlichen  Voraussetzung  in  Bezug  auf 
Rechtsordnung  und  Concurrenz  die  wirtschaftlichen  Handlungen  und  Erscheinungen 
ansfallen  werden.  Freilich  sind  dabei  dann  wieder  öfters  Fehler  begangen  worden, 
die  jedoch  abermals  nicht  in  der  Methode  selbst,  sondern  in  mangelhafter  Anwendung 
der  letzteren  ihren  Grund  hatten.  Man  hat  z.  B.  unter  der  strengen  ersten  Voraus- 
setzung des  allein  und  gleichrnässig  Verfolgen-Wollens  des  Eigenvortheils,  deducirt  und 
die  Schlüsse  als  mit  der  Wirklichkeit  sich  deckend  angenommen,  ohne  zu  berück- 
sichtigen, dass  unter  anderen  Kechtsordnungen  und  damit  in  Verbindung  steheuden 
anderen  Wirtschaftsorganisationen  auch  das  cn.te  Leitmotiv  sich  weniger  stark, 
weniger  gleichrnässig,  nur  mit  anderen  Motiven  combinirt  und  dadurch  moditicirt 
geltend  macht.  Oder  man  hat  die  Ergebnisse  der  Deduction  unter  der  der  Wirk- 
lichkkcit  etwa  entsprechenden  Voraussetzung  einer  so  und  so  beschränkten  Concurrenz 
etwa  gar  schon  deswegen  ungünstig  beurteilt,  weil  sie  von  den  unter  Voraussetzung 
völlig  freier  Concurrenz  abzuleitenden  Ergebnissen  abwichcn,  indem  man  das,  was 
theoretische  Voraussetzung  der  strengen  Deduction  war,  in  einem  seltsamen  logischen 
Missverständniss  zum  practischcn  Postulat  des  Seinsollens  machte.  Solche  Fehler 
lassen  sich  aber  doch  vermeiden  und  werden  von  den  Vertretern  der  deductiven  Me- 
thode jetzt  allgemein  vermieden. 

Auch  die  Verhältnisse  von  wirtschaftlichen  Phantasiegebilden,  Utopien, 
voller  socialistischcr  Organisation  der  Production  und  Verteilung  und  der  dabei  ge- 
botenen Kechtsordnung  unterstehen  der  Beurteilung  mittelst  Anwendung  des  deduc- 
tiven  Verfahrens,  ja  nur  mittelst  dieses,  da  hier  ja  von  einer  Beobachtung  von  noch 
gar  nicht  existirenden  wirtschaftlichen  Erscheinungen  nicht  die  Rede  sein  kaun. 
Man  deducirt  unter  Voraussetzungen  einer  Rechtsordnung,  wie  sie  dem  betreffenden 
Gebilde  entsprechen  müsste,  indem  man  abzuleiten  sucht,  welche  Motive  wirtschaft- 
lichen Handelns  oder  welche  Combinationen  von  Motiven  hier  möglicher  Weise  init- 
spielcn  könnten  und  würden  und  wie  sie  auf  Handlungen  und  Erscheinungen  einwirken 
würden.  Auch  hierbei  kann  man  freilich  nur  von  der  uns  bisher  durch  innere  und 
äussere  Beobachtung  bekannten  menschlichen  Motivation  ausgehen , immerhin  aber 
eine  solche,  noch  auf  Grund  der  Erfahrung  und  des  psychologischen  Schlusses  mög- 
lich erscheinende  Modification  der  Motivation,  welche  den  Plänen  einer  socialistischen 
Organisation  günstig  wäre,  mit  in  Erwägung  ziehen.  Stösst  man  hier,  wie  es  u.  E. 
geschehen  wird . auf  unlösbare  oder  wenigstens  uns  auf  Grund  der  bisherigen  Erfah- 
rung über  die  Motivation  und  deren  Modiiicirbarkeit  unlösbar  erscheinende  Schwierig- 
keiten zwischen  den  Anforderungen,  welche  in  einer  solchen  Organisation  an  die 
menschliche  Motivation  gestellt  werden  müssten,  und  der  tatsächlichen  und  muth- 
maasslichen  Gestaltung  dieser  Motivation,  so  wird  man  zu  dem  deductiv  gewonnenen 
Ergebniss  der  wahrscheinlichen  psychologischen  Unmöglichkeit  einer  derartigen  Orga- 
nisation gelangen,  wie  wir  es  schon  im  bisherigen  Verlauf  unserer  Untersuchungen 
mehrfach  taten  (§.  3,  03).  Damit  ist  zwar  auch  hier  vor  wirklicher  Erfahrung  durch 
die  Probe  noch  keine  cndgiltige  Entscheidung  in  einer  solchen  Frage  gefällt,  aber 
doch  mindestens  die  Beweislast  dem  Vertreter  solcher  Organisationen  zugeschoben. 
(Vgl.  meine  Rede  über  das  socialdemokratische  Programm,  1 S!i2,  S.  3b.) 

E.  — §.72.  Die  auf  dem  deductiven  Verfahren  auf- 
gebaute Wirtschaftswissenschaft  als  „logische“ 
Wissenschaft.  Gestaltet  man  das  deductive  Verfahren  in  der 
angegebenen  Weise,  so  entspricht  cs  wissenschaftlichen  Anforde- 
rungen und  passt  sich  der  Natur  des  Objects  der  Wirtschafts- 
wissenschaft bzw.  auch  der  Politischen  Oekonomie,  der  aus  mensch- 
lichen Handlungen  und  Willensacten  hervorgehenden  wirthschaft- 


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Die  Wirtschaftswissenschaft  als  logische  Wissenschaft. 


187 


liehen  Erscheinung,  angemessen  an.  Das  logische  Element  der 
Disciplin  kommt  dabei  besonders  zur  Geltung.  Man  versteht  daher 
auch,  dass  man  die  Wirtschaftswissenschaft  wohl  eine  „logische“, 
will  sagen  auf  einem  methodisch  angewandten  Verfahren  logischen 
Käsonnements  beruhende  Wissenschaft,  welche  aus  bestimmten  Prä- 
missen ihre  Schlüsse  zieht,  genannt  bat  (Senior):  eine  nicht  an 
sich  durchaus  unrichtige,  aber  eine  zu  einseitige  Auffassung,  da 
man  auch  bei  diesem  Verfahren , um  es  practisch  werthvoll  zu 
machen,  doch  gerade  die  Prämissen  beobachtungsmässig  fest- 
stellen muss,  da  das  Verfahren  ferner  an  reichen  Fehlerquellen 
leidet  (§.  74)  und  da  es  der  Ergänzung  und  der  Controle  und 
Probe  seiner  Ergebnisse  durch  das  entgegengesetzte,  das  inductive 
Verfahren,  bedarf  (§.  75).  Aber  gegenüber  den  gegenwärtig  sich 
verbreitenden,  ebenso  einseitigen,  nur  viel  unklareren  Bestrebungen, 
umgekehrt  nur  die  Induction  gelten  und  der  Wirtschaftswissen- 
schaft den  reinen  Character  einer  Beobachtnngswissenschaft,  d.  h. 
hier  jetzt  einer  bloss  auf  Beobachtung  der  Erscheinungen  selbst 
beruhenden  Disciplin  vindiciren  zu  wollen , hat  jene  andere  Auf- 
fassung doch  eine  relative  Berechtigung.  In  welchem  Maasse,  das 
ergiebt  sich  aus  dem  Gesagten  und  aus  dem  Weiterfolgenden.  Auch 
der  angegriffene  Character  der  Wirtschaftswissenschaft  als  einer 
abstracten  lässt  sich  in  demselben  Umfang  wie  derjenige  einer 
„logischen“  Wissenschaft  des  angedeuteten  Sinnes  aufrecht  halten. 

Die  Auffassung  auch  der  Politischen  Üekonomie  speciell  als  einer  „logischen“ 
Wissenschaft  tritt  am  Schärfsten,  freilich  auch  am  Einseitigsten,  in  der  Ricardo’schcn 
Schule  und  bei  verwandten  Richtungen  des  Continents,  bei  Hermann,  v.  Thtlnen, 
Gossen,  neuerdings  bei  der  österreichischen  Schule  (§.  19),  ferner  aber  in  den 
Gruudlehren  grade  auch  beim  theoretischen  Socialismus,  bei  Rodbertus, 
Marx  und  seiner  grossen  Schule  hervor.  Aber  die  ganze  britische  oder  Smith ’sche 
Ockonoinik  neigt  nach  ihren  psychologischen  Ausgangspuncteu , dem  „Dogma  vom 
Eigennutz“,  und  nach  ihrer  Anwendung  des  deductiven  Verfahrens  dahin,  weniger 
A.  Smith  selbst,  der  sich  beider  Hauptmethoden,  auch  der  zweiten  in  grösserem 
Maasse.  bedient,  als  seine  Schule,  d.  h.  im  Wesentlichen  die  wissenschaftliche  National- 
ökonomie überhaupt  neigt  dahin,  bis  zur  Keaction  des  Historismus,  und  zwar  mehr 
des  jüngeren  und  jüngsten  (§.  15)  als  des  älteren,  welcher  in  der  Keaction  noch  Maass 
hält  und  das  psychologisch-deductivc  Verfahren  nicht  einfach  preisgiebt.  In  der  Ein- 
seitigkeit am  Weitesten,  auch  betreff  der  Hervorhebung  des  Werths  und  der  Aus- 
schliesslichkeit der  deductiven  Methode  und  des  streng  logischen  Characters  der  Poli- 
tischen Oekonoinie  ging  vielleicht  Senior  (political  cconomy,  in  vielen  Auflagen), 
dann  Stimmführer  der  „deutschen  Freihandelsschule“,  wie  Prince-Smit h.  Faucher 
(vgl.  z.  B.  dessen  Aufsatz  in  der  Berl.  volksw.  Vierteljahrschrift,  1S03,  B.  4,  S.  124  ff, 
„Schwächlinge  auf  logischem  Gebiete  u.  s.  w.“).  Schon  lange  nicht  so  einseitig  stand 
Pickford,  dessen  bezügliche  Ausführungen  vielfach  das  Richtige  treflen  möchten 
(Einleitung,  1.  Abschn.,  Kap.  3). 

Die  Einseitigkeit  der  älteren  Theorie  in  der  angedeuteten  Auffassung  hing 
übrigens  auch  mit  der  viel  zu  engen  Bestimmung  des  Gebiets  der  Politischen  Oeko- 
uomie.  mit  der  ungeschichtlichen  Ansicht  von  der  Volkswirtschaft  und  mit  der  ein- 
seitigen Werthlegung  auf  und  Beschäftigung  mit  gewissen  Problemen  zusammen.  In 


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1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  2.  A.  Deduction.  §.  72,  73. 


m 


ersterer  Hinsicht  identificirte  man  zu  sehr  die  Volkswirtschaft  mit  dem  freien  privat- 
wirthschaftlichen  System  in  ihr.  In  zweiter  Hinsicht  sah  man  in  dem  System  der 
freien  Concurrenz.  das  für  streng  dcductive  Schlüsse  eine  so  wünschenswerthe  Voraus- 
setzung ist.  zu  sehr  das  allein  richtige  und  practischc  System  der  Wirthschafbpolitik 
und  betrachtete  alles  Frühere  als  irrige  und  üble  Abweichungen  von  diesem  System. 
Und  in  dritter  Hinsicht  beschäftigte  man  sich  vorneralich  mit  solchen  Problemen, 
wie  dem  des  Tausches,  nebst  allem,  was  dazu  gehört,  d.  h.  mit  Folgen,  welche 
die  Anwendung  des  deductiven  Verfahrens  oder  die  Anwendung  der  deductiven  Logik 
besonders  gut  gestatten. 

Ueber  die  sonstige  Litteratur  s.  die  Angaben  oben  in  der  ücbcrsicht  des  §.  54. 
Von  Seiten  der  historischen  Richtung  ist  weitaus  das  Bedeutendste,  Klarste  und  Bote 
Knies’  Werk  auch  zu  den  hier  berührten  Fragen,  bes.  2.  A.,  S.  223  1T.,  453  11'.,  mit 
im  Ganzen  auch  richtigem  Maasshalten,  wie  man  es  bei  dem  Verfasser  von  „Geld 
und  Credit“  und  anderen  Facharbeiten,  in  welchen  überall  das  logische  Element  eine 
grosse  Rolle  spielt,  nicht  anders  erwarten  kann.  Von  der  anderen  Seite  ist  ähnliches 
Lob  hinsichtlich  der  Rechtfertigung  der  Deduction  K.  Menger’s  „Untersuchungen“ 
(wesentlich  dem  ganzen  Werke,  bes.  Buch  1)  zu  erthcilen,  worin  in  monographischer 
Ausführlichkeit  alle  Gründe  für  und  wider  und  alle  Einwendungen  der  principiellen 
Gegner  vortreft lieh  erörtert  werden.  Wie  weit  ich  mit  ihm  übereinstimme,  ergiebt 
sich  aus  diesem  ganzen  Kapitel.  Unsere  Ucbcreinstimmung,  besonders  hinsichtlich 
der  Methode  der  Deduction,  ist  eine  weite,  aber  keine  vollständige.  In  der  Annahme 
von  der  Zulässigkeit , ja  Notwendigkeit  der  Veränderung  der  Voraussetzungen 
für  das  deductive  Verfahren,  in  der  Forderung  der  beobachtungsmässigen  Feststellung, 
nicht  nur  der  hypothetischen  Annahme  der  Voraussetzungen  und  in  der  Ansicht,  dass 
mit  dieser  Annahme  und  dieser  Forderung  der  Boden  des  deductiven  Verfahrens  noch 
nicht  verlassen  sei,  weiche  ich  wohl  von  Menger  ab.  S.  ausser  seinem  Werke  be- 
sonders noch  die  oben  S.  64  genannten  H.  Dietzel’schen  Aufsätze.  Grössere,  auch 
principielle  Abweichungen  von  K.  Menger’s  Auffassungen  treten  dagegen  in  meinen 
Zugeständnissen  an  die  inductive  Methode,  in  meiner  Annahme  von  der  Xothwendig- 
keit  der  Berichtigung  der  deductiv  gewonnenen  Ergebnisse  und  von  dem  Erforderniss 
der  Ergänzung  und  theilweiso  der  Ersetzung  der  Deduction  durch  das  inductive  Ver- 
fahren hervor.  Vgl.  hierzu  auch  den  neuesten  o.  S.  142  genannten  Aufsatz  Neu- 
mann’s,  der  mir  aber  in  seinen  Ausführungen  gegen  Menger  zu  weit  geht. 

F.  — §.  73.  Deductiv  abgeleitete  wirtschaftliche 
Gesetze.  Ob  überhaupt  und  alsdann  in  welchem  Sinne  auf  wirt- 
schaftlichem Gebiete  von  „Gesetzen“,  „Gesetzmässig- 
keiten“ gesprochen  werden  darf,  ist  eine  Frage,  deren  Erledigung 
am  Schluss  der  methodologischen  Erörterungen  erfolgen  soll,  nachdem 
erst  die  inductive  Methode  behandelt  sein  wird  (§.  86 — 91).  Nimmt 
man  die  Frage  „Ob  ’?“  als  bejaht  an,  — eine  Annahme,  welche  wir 
später  rechtfertigen  werden  (§.  87,  89),  — und  statuirt  man  dann 
die  Ermittlung  dieser  „Gesetze“  auch  als  Aufgabe  des  deductiven 
Verfahrens,  so  würde  unter  einem  deductiv  ermittelten  „Gesetze“ 
einer  Erscheinung,  eines  Verlaufs  einer  Erscheinung  diejenige 
gleichförmige  Gestaltung  und  Wiederkehr  zu  verstehen  sein,  welche 
unter  gegebenen,  bzw.  angenommenen  Voraussetzungen  aus  dem  gleich- 
massigen  Walten  und  Wirken  der  einen  oder  mehreren  bekannten 
Ursachen,  daher  insbesondere  des  und  des  Motivs,  abzuleiten  ist. 
Strenge  („exaete“)  Gesetze  in  diesem  Sinne  giebt  es  dann  auf  dem 
Wirthschaftsgebiete  wieder  nur  in  der  Hypothese,  nicht  in  Wirk- 
lichkeit, nemlich  nur,  wenn  die  drei  Voraussetzungen,  unter  denen 


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Deductiv  abgeleitete  wirtschaftliche  Gesetze. 


189 


das  wirthscLaftliche  Handeln  erfolgt,  genau  in  der  strengen,  früher 
besprochenen  Weise  als  vorhanden  angenommen  werden,  was 
aber,  wie  wir  sahen,  in  der  Wirklichkeit  niemals  genau  vorkommt. 
Deductiv  abgeleitete  , .Gesetze“  der  wirklichen  Erscheinungen 
sind  daher  immer  nur  Tendenzen  der  gleichförmigen  Ge- 
staltung, welche  mit  den  unter  den  angenommenen  strengen  drei 
Voraussetzungen  abgeleiteten  Gesetzen  um  so  mehr  übereinstimmen 
werden,  je  mehr  die  wirklichen  Voraussetzungen,  unter  denen  die 
Erscheinungen  entstehen,  sich  entwickeln,  verlaufen,  jenen  angenom- 
menen gleichen  und  umgekehrt,  — wieder  nach  dem  Satze,  dass 
die  Wirkungen  den  Ursachen  proportional  sein  müssen. 

Unter  Bevölkerungen,  in  Zeitaltern,  unter  Classen,  Berufen  und  Individuen  und 
Gruppen  von  Erscheinungen,  wo  die  psychologischen,  das  Kennen  des  Eigenvorthcils 
und  das  ihm  folgen  Können  betretenden  und  die  rechtlichen  Voraussetzungen,  unter 
denen  die  Erscheinungen  zu  Stande  kommen,  den  strengen  hypothetischen  Voraus- 
setzungen wenigstens  annähernd  gleichen,  werden  daher  die  unter  letzteren  abgeleiteten 
(„theoretischen")  Gesetze  zunächst  hypothetischen  Characters  auch  in  Wirklichkeit 
annähernd  genau  zutreffen.  Daraus  folgt  die  Bedeutung  der  Tausch-,  Treis-,  Ein- 
kommen-Gesetze (z.  B.  in  Betreff  der  Keilte!),  der  für  Geld,  Münze,  Credit,  Banken, 
aber  auch  für  die  Entwicklung  der  Production  (Arbeitstheilong,  Maschinenanwendung, 
Grossbetrieb,  Bodenanbau  u.  s.  w.)  abgeleiteten  theoretischen  Gesetze  für  die  Wirklich- 
keit dieses  ganzen  Gebiets  von  Erscheinungen , mehr  oder  weniger  stets,  vomemlich 
aber  unter  unseren  heutigen  Verhältnissen,  wo  die  wirklichen  Voraussetzungen  den 
angenommenen  mehr  und  allgemeiner  entsprechen  und  ganz  besonders  unter  Völkern 
und  Classen  (Geschäftskreise,  Händlerthum,  city  men),  wo  dieses  in  noch  verstärktem 
Maasse,  mitunter  fast  vollständig  der  Fall  ist.  Es  sind  vorncmlich  die  Gcstaltungs- 
und  Bewegungsgesetzc  der  wirtschaftlichen  Erscheinungen,  teilweise  auch  die 
Entwicklungsgesetze  gewisser  Erscheinungen.  Einrichtungen,  Organisationen,  von 
einem  Stadium  typischer  Gestaltungen  zu  einem  anderen,  höheren,  welche  sich  so 
mittelst  des  deductiven  Verfahrens  ableiten  lassen  (§.  90). 

Die  Aufgabe  der  Beobachtung  gegenüber  solchen  deductiv 
abgeleiteten  Gesetzen  ist  dann  >viedcr  eine  doppelte,  einmal  die 
wirklichen  Voraussetzungen , unter  denen  die  Erscheinungen  vor 
sich  gehen,  und  ihr  Verhältnis  zu  den  angenommenen,  bzw.  den 
drei  regelmässigen , fcstzustellen , sodann  die  Gestaltung  der  Er- 
scheinungen selbst,  ihre  Bewegung,  ihre  Entwicklung  zu  beobachten 
und  aus  Beobachtungen  abzuleiten.  Bei  der  ersten  Aufgabe  handelt 
es  sich  daher  nur  um  die  Gewinnung  sicherer  Grundlagen  für  die 
Deduction,  aber  alsdann  um  Anwendung  des  deductiven  Verfahrens, 
bei  der  zweiten  Aufgabe  um  eine  selbständige  Benutzung  der  Beob- 
achtungsergebnisse zu  Zwecken  der  Controle  der  Richtigkeit  und 
daher  auch  behufs  Correctur  der  deductiv  abgeleiteten  Gesetze. 
Die  zweite  Aufgabe  gehört  schon  ausschliesslich  dem  Gebiete  des 
inductiven  Verfahrens  an.  Wir  kommen  unten  darauf  zurück  (§.76  ff.). 

Die  Streitfrage,  ob  es  wirtbscliaftliclic  (volkswirtschaftliche)  „Gesetze"  gebe 
und  ob  man  für  gewisse  Regelmässigkeiten  hier  diesen  Ausdruck  anweudeo  dürfe. 


190 


1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  2.  A.  Deduction.  §.  74. 


ist  theilweise  ein  Wortstreit,  da  eben  Alles  auf  den  Sinn  und  Begriff  „Gesetz“  (auch 
„Gesetzmässigkeit“)  ankommt,  aber  es  ist  damit  doch  auch  eine  prineipielle  Frage 
verknüpft.  In  ersterer  Hinsicht  sprechen  Erwägungen  der  Zweckmässigkeit  in  der 
Wahl  der  Terminologie  mit,  die  mich  zum  Festhalten  des  ohnehin  dem  altüblichen 
wissenschaftlichen  (nnd  populären)  Sprachgebrauche  entsprechenden  Ausdrucks  „Gesetz“ 
für  gewisse  Regelmässigkeiten  oder  Gleichförmigkeiten  der  Wiederkehr  der  Gestaltung, 
Bewegung,  Entwicklung  der  Erscheinungen  bestimmen.  In  principieller  Hinsicht  hat 
man  mitunter  Bedenken  gegen  den  Ausdruck  gehabt,  die  nicht  ohne  Bedeutung,  aber 
doch  kaum  ausschlaggebend  gegen  die  Benutzung  des  Worts  sind.  Es  ist  darüber 
aber  besser  erst  nach  den  Erörterungen  Uber  die  inductive  Methode  zu  handeln  (§.  66  ff.). 
Die  Eiuwäude  der  historischen  Richtung,  wenigstens  gegen  den  Gebrauch  des  Aus- 
drucks „Gesetz“  für  deductiv  abgeleitete  Regelmässigkeiten,  stehen  mit  den  Einwänden 
dieser  Richtung  gegen  das  ganze  deductivo  Verfahren  in  Verbindung,  übersebiessen 
daher  wie  diese  das  Ziel.  Auch  darüber  später  in  §.  66  ff. 

G.  — §.  74.  Die  Fehlerquellen  des  deductiven  Ver- 
fahrens. Es  sind  vornemlicli  dreierlei,  einmal  schiefe,  ein- 
seitige, selbst  ganz  falsche  Schlussziehungen  aus  den  angenommenen 
Voraussetzungen,  zweitens  irrige  Annahmen  bei  der  Stellung  der 
Voraussetzungen  und  drittens  falsche  Verallgemeinerungen  oder 
wenigstens  Ausdehnung  von  Schlüssen,  welche  nur  unter  bestimmten 
Voraussetzungen  richtig  sind,  auf  Fälle,  wTo  diese  Voraussetzungen 
nicht  oder  doch  nicht  so,  wie  angenommen,  vorliegen. 

1.  Im  ersten  Falle,  bei  unrichtigen  Schlüssen  aus  den  ange- 
nommenen Voraussetzungen,  handelt  es  sich  um  Fehler  in  der 
logischen  Operation.  Dieselben  sind  natürlich  immer  möglich, 
aber  Vorwürfe  darüber  treffen  wieder  nicht  die  Methode,  sondern 
nur  die,  welche  sie  nicht  zu  handhaben  verstehen.  Sie  werden  bei 
eigener  Wiederholung  der  Operation,  bei  Vornahme  derselben  durch 
Dritte,  bei  genügender  Schulung  und  Uebung  im  deductiven  Denken 
vermieden.  An  sich  sind  sie  natürlich  bei  der  strengen  Deduction 
unter  den  drei  Voraussetzungen  (§.  68),  wie  freilich  wohl  noch 
leichter  bei  dem  Verfahren  der  methodischen  Veränderung  der 
Voraussetzungen  (§.  70)  möglich.  Die  HinüberfUhruog  des  ersteren 
Verfahrens  in  die  mathematische  Formulirung  bietet  u.  A.  auch  den 
Vortheil,  alsdann  Fehler  der  Deduction  leichter  vermeiden,  gemachte 
Fehler  leichter  aufdecken  und  berichtigen  zu  können. 

Grade  zur  Denkschulung  und  -Uebung  empfiehlt  sich  hier  auch  didactisch 
die  Beschäftigung  mit  solchen  theoretischen  Problemen,  welche,  wie  diejenigen  der 
Tausch-,  Preis-,  Einkommenbildungs- Theorie,  die  Anwendung  des  deductiven  Ver- 
fahrens unter  den  strengen  und  unter  den  modificirten  Voraussetzungen  desselben  be- 
sonders gut  gestatten.  Daher  sind  auch  die  Schriften  der  Ricardo.  Senior,  Mill, 
Jevous,  Cairnes,  Marshall,  der  Hermann,  v.  Thünen,  v.  Mangddt,  der  Neumann,  Karl 
Mcnger,  Sax,  Böhm-Bawcrk  u.  A.  m.,  der  Rodbertns,  Marx  didactisch  so  werthvoll, 
nicht  minder  diejenigen  der  „mathematischen“  Nationalökonomen,  nur  dass  das  Stu- 
dium ihrer  Schriften  die  Beherrschung  der  mathematischen  Technik  bediugt1). 


x)  Zum  Schaden  der  Sacho  und  ihrer  selbst  wird  von  einem  grossen  Theil  der 
jüngeren,  einseitig  „historisch“  ausgebildeten  deutschen  Nationalökonomeu  dieso  Schu- 


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Fehlerquellen  des  deductiven  Verfahrens. 


191 


2.  Die  zweite  und  dritte  Fehlerquelle  öffnet  sich  besonders  bei 
der  Uebertragung  auf  und  Annäherung  an  die  Wirklichkeit  mit 
Schlüssen,  welche  unter  den  strengen  drei  Voraussetzungen  ge- 
macht werden  und  unter  diesen  vielleicht  — und  der  Annahme 
nach  in  der  Tbat  — ganz  richtig  sind.  Beiderlei  Fehler  hängen 
nahe  zusammen,  sind  aber  doch  zu  unterscheiden. 

Wie  wir  sahen,  gilt  es  zur  möglichsten  Annäherung  der  unter 
den  drei  Voraussetzungen  gewonnenen  Ergebnisse  an  die  Wirk- 
lichkeit thunlich  auf  Grund  von  Beobachtungen  über  die  in  Wirk- 
lichkeit vorliegenden  Voraussetzungen  für  das  Zustandekommen 
wirthschaftlicher  Handlungen  und  Erscheinungen  die  Voraussetzungen 
für  das  deductive  Verfahren  zu  bestimmen.  Man  wird  dabei  zunächst 
oft  hypothetisch  vorgehen  und  so  Vorgehen  dürfen,  aber  die 
Aufgabe  ist  immer,  diese  Hypothesen  der  Wirklichkeit  so  weit 
irgend  möglich  anzupassen,  daher  in  Betreff  der  thatsäehlichen 
Motivation  der  wirthschaftenden  Personen,  ihres  Kennens  des  wirt- 
schaftlichen Vorteils  und  Folgen-Könnens  und  ihres  Folgen-Dürfens 
nach  den  Verhältnissen  der  wirtschaftlichen  Rechtsordnung.  Irr- 
thümer  in  allen  diesen  Beziehungen  sind  nun  aber  sehr  leicht  und 
dann  natürlich  verhängnisvoll  für  das  an  sich  richtige  Ergebnis 
der  Deduction : es  leidet  unter  der  fälschen , schiefen , einseitigen 
Prämisse  und  kann  deshalb  nicht  richtig  sein,  den  wirklichen 
Thatsacbeu  der  Erscheinungen  nicht  entsprechen.  Mit  der  Com- 
plication  der  behandelten  Probleme  steigen  die  Schwierigkeiten 
und  die  Gefahren  der  Aufstellung  irriger  Voraussetzungen  noch. 

Das  Mittel  der  Abhilfe  ist  hier  einmal  eine  immer  erneute, 
sorgfältigere,  von  verschiedenen  Personen  auch  unabhängig  von 
einander  vorgenommene  Beobachtung  der  conereten  Voraussetzungen 
derjenigen  Deduction,  welche  den  Erscheinungen  der  Wirklichkeit 
gerecht  werden  soll,  — also  insofern  bereits  ein  Zurückgreifen 
auf  die  Induction,  wenn  auch  im  Dienste  des  deductiven  Verfahrens; 
sodann  aber  eine  Probe  darauf,  ob  und  wie  weit  man  richtige 


lung  und  Uebung  im  streug  deductiven  Denken  arg  vernachlässigt,  wie  ich  aus  eigener 
Erfahrung  in  Seminaren  u.  s.  w.  ersehen  habe.  „Sie  können  nicht  genügend  abstra- 
hiren  und  nicht  scharf  logisch  ein  Problem  durchdenken“,  das  ist  mein  Eindruck 
nicht  selten.  Eben  deswegen  sehen  sie  auch  so  oft  den  Wald  vor  lauter  Bäumen 
nicht.  Man  beobachtet,  nach  meiner  Erfahrung  als  academischer  Lehrer,  hier  immer 
«inen  vortheilhaften  Unterschied  zwischen  mathematisch  geschulten,  auch  den  an  ju- 
ristisches Denken  gewöhnten  jungen  Männern  gegenüber  den  lediglich  im  Sammeln 
ond  \ erarbeiten,  Archiv-Excerpiren  u.  s.  w.  geübten  Historikern;  nebenbei  auch  im 
Examen:  bei  letzteren  wohl  oft  bessere  ged äch  t nissmässige  , bei  ersteren 
bessere  gedankenmässige,  Denkfähigkeit  und  Denkübung  bekundende  Ergebnisse. 


192  1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  2.  A.  Deduction.  §.  74,  75. 

Voraussetzungen  der  Deduction  auch  wirklich  aufgestellt  hat,  an 
den  Erscheinungen  der  Wirklichkeit  selbst,  deren  Ge- 
staltung man  deductiv  ermittelt  hat.  Damit  gelangt  man  aber, 
wie  schon  bemerkt,  in  das  inductive  Verfahren  voll  und  end- 
giltig  hinein : man  sucht  nunmehr  von  den  Erscheinungen  als  Wir- 
kungen auf  die  Voraussetzungen,  als  Ursachen  und  Bedingungen, 
zurück  zu  schliessen,  freilich  in  dem  speciellen  Zweck,  die  Propor- 
tionalität oder  Disproportionalität  der  Erscheinungen  zu  den  dem 
deductiven  Verfahren  zu  Grunde  liegenden  Voraussetzungen  fest- 
zustellen. Zur  Würdigung  dieses  letzteren  Verfahrens  ist  es  wichtig, 
zu  beachten,  dass  die  hier  besprochene  zweite  Fehlerquelle  die 
Nothwendigkeit  der  Herbeiziehung  des  deductiven  Verfahrens  zur 
Controle,  Berichtigung  und  Ergänzung  bedingt. 

3.  Jede  wirtschaftliche  Erscheinung  der  Wirklichkeit  ist  ver- 
ursacht und  bedingt  durch  eine  Reihe  von  Factoren  verschiedenen 
Grades  der  Constanz  und  Variabilität  und  verschiedener  Combina- 
tionen , Kreuzungen , Wirkungen  in  derselben  Richtung  und  Wir- 
kungen in  verschiedener,  entgegengesetzter  Richtung  bis  zur  gegen- 
seitigen Aufhebung.  Die  Schwierigkeit  für  die  richtige  Anwendung 
des  deductiven  Verfahrens  ist,  bei  der  Feststellung  der  Voraus- 
setzungen für  die  Deduction  allen  diesen  Factoren  überhaupt  und 
stets  richtig  Rechnung  zu  tragen,  keinen  zu  vergessen,  keinen  falsch 
anzusetzen,  keinen  falsch  zu  würdigen,  keinen  zu  berücksichtigen, 
der  nicht  oder  nicht  so,  wie  angenommen,  jeden,  der,  und  jeden 
in  der  Weise,  wie  er  als  Ursache  oder  Bedingung  mitwirkt,  zu  be- 
rücksichtigen. Diese  Schwierigkeit  steigt  mit  der  Verwickeltheit 
der  causalen  und  conditionellen  Verhältnisse,  unter  denen  als  ihren 
Ursachen  und  Bedingungen  die  Erscheinungen  zu  Stande  kommen, 
mit  der  Schwierigkeit  der  bezüglichen , diese  Voraussetzungen  be- 
treffenden Beobachtungen  selbst,  ihrer  Anstellung  überhaupt,  ihrer 
vollständigen,  richtigen,  objectiven  Anstellung  insbesondere. 

Daraus  ergiebt  sich  mit  Nothwendigkeit  die  dritte  Fehlerquelle 
beim  deductiven  Verfahren : man  wird  so  leicht  einen  Schluss, 
welcher  unter  angenommenen  Voraussetzungen  richtig  ist,  für  all- 
gemeiner richtig  halten,  als  zulässig  ist,  oder  in  falsche  Vcr- 
allgemeiner ungen  verfallen,  indem  mau  die  ermittelten  und 
vielleicht  überhaupt  allein  ermittelbaren  Voraussetzungen  als  die 
auch  allein  oder  ebenso,  nicht  mehr  und  nicht  minder  im  concreten 
Fall  maassgebenden  betrachtet.  Die  meisten  Fehler,  welche  bei 
der  Anwendung  der  Deduction  in  der  Nationalökonomie  gemacht 


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Ergänzung  des  deductiven  Verfahrens. 


193 


worden  sind,  waren  wohl  derartige,  besonders  bei  der  Uebertragung 
von  Schlüssen,  welche  streng  unter  den  drei  Voraussetzungen  gezogen 
worden  waren,  auf  Verhältnisse  der  Wirklichkeit. 

Die  Hilfsmittel  gegenüber  dieser  Fehlerquelle  sind  die  nem- 
lichen,  welche  in  Bezug  auf  die  zweite  Fehlerquelle  angegeben 
worden  sind.  Die  Nothwendigkeit  des  inductiven  Verfahrens  zur 
Controle,  zur  Ergänzung,  zum  Ersatz  des  deductiven  folgt  aus  der 
Eigenthümlichkeit  dieser  dritten  Fehlerquelle  wiederum  in  beson- 
derem Maasse. 

Bei  der  zweiten  und  dritten  Art  von  Fehlern  wird  namentlich  wieder  so  oft 
vergessen,  dass  die  abstracten  wirthschaftenden  Menschen  der  Theorie,  des  deductiven 
Verfahrens  unter  der  ersten  unserer  Voraussetzungen,  und  die  wirklichen  Menschen 
im  Leben  nicht  dieselben  sind,  besonders  in  ihrer  Motivation  abweichen,  daher  an 
sich  richtige  Schlüsse  von  jenen  auf  diese,  von  wirtschaftlichen  Handlungen  jener 
und  davon  abhängigen  wirtschaftlichen  Erscheinungen  auf  wirtschaftliche  Hand- 
lungen dieser  und  davon  bedingte  und  verursachte  wirthschafdiche  Erscheinungen 
nicht  ohne  Weiteres  zulässig  sind.  Ferner  wieder,  dass  nach  Gruppen  von  Menschen 
(Classen.  Berufen)  und  von  wirthschafüichen  Erscheinungen  die  mitspielende  und  ent- 
scheidende Motivation  Verschiedenheiten  zeigt,  welche  in  der  einfachen  Deduction 
unter  der  ersten  Voraussetzung  nicht  angenommen  werden.  Aebnlich  geht  e9  dann 
mit  Statuirung  falscher  Voraussetzungen  und  mit  unrichtigen  Verallgemeinerungen  in 
Bezug  auf  die  Kenntniss  des  Eigenvortheils  und  auf  die  Rechtsordnung.  Nun  haben 
wir  ja  oben  (§.  70)  schon  anerkannt,  dass  grade  eine  metodische  Veränderung  der 
allgemeinen  Voraussetzungen  der  sonstigen  Deduction  geboten  sei,  um  der  Wirklich- 
keit entsprechende  Ergebnisse  zu  erhalten.  Aber  diese  Forderung  ist  eben  so  schwierig 
zu  erfüllen,  dass  Irrthümer  dabei  unterlaufen,  d.  h.  nichts  Andres,  als  dass  sich  eben 
die  zweite  und  dritte  Fehlerquelle  öffnet. 

H.  — §.  75.  Das  Bedtirfniss  nach  einer  Ergänzung 
des  deductiven  Verfahrens.  Aus  dem  Vorausgebenden,  ins- 
besondere aus  den  Erörterungen  über  die  Fehlerquellen  des  de- 
ductiven Verfahrens  folgt  das  wichtige  methodologische  ErgebDiss: 
dieses  Verfahren  allein  reicht  selten,  wenn  Überhaupt  einmal,  für 
sich  allein  aus.  Es  bedarf  zu  seiner  Ergänzung  des  zweiten,  ihm 
entgegengesetzten,  des  inductiven  Verfahrens.  Nur  durch  eine  Ver- 
bindung des  letzteren  mit  dem  deductiven  lassen  sich  Sätze  von 
genügender  wissenschaftlicher  und  practischer  Haltbarkeit  gewinnen, 
d.  h.  solche,  welche  der  Wirksamkeit  der  Erscheinungen  sicherer 
entsprechen,  und  lassen  sich  Fehler  des  deductiven  Verfahrens  auf- 
decken, welche  sonst  schwer  zu  vermeiden  und  oft  nicht  einmal  zu 
bemerken  sind. 

Namentlich  zwei  Aufgaben  hat  das  inductive  Verfahren  hier  zu 
erfüllen:  einmal  zur  Verificirung  der  als  Prämissen  der  De- 
duction angenommenen  (der  hypothetischen)  Voraussetzungen 
oder  auch  von  vornherein  gleich  zur  Ermittlung  der  Voraus- 
setzungen in  der  Wirklichkeit  zu  dienen,  aus  welchen  die  wirth- 
schaftlichen  Erscheinungen  dann  deductiv  abgeleitet  werden ; sodann 

A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlagen.  13 


194  1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  3.  A.  Induction.  §.  75,  76. 

die  Schlüsse  zu  controliren,  zu  verificiren,  zu  bestätigen,  zu  be- 
richtigen, welche  deductiv  abgeleitet  sind.  Im  ersten  Falle,  wie 
bereits  mehrfach  bemerkt  wurde,  verbleibt  man  im  Uebrigen  noch 
ganz  im  dednetiven  Verfahren,  bereitet  demselben  aber  den  Boden 
und  den  Weg  doch  schon  mittelst  der  zu  dem  anderen  Verfahren 
gehörigen  Beobachtungen  mit  vor.  Im  zweiten  Falle  ist  die  de- 
ductive  Operation  bereits  abgeschlossen , die  iuductivc  beginnt  erst 
danach.  In  beiden  Fällen  steht  das  inductive  aber  roch  im  Dienste 
des  deductiven  Verfahrens,  oder  m.  a.W.  es  liegt  eine  Ergänzungs- 
function des  erstcrcn  in  Bezug  auf  letzteres  vor.  Eine  selb- 
ständige Bedeutung  erlangt  das  deductive  Verfahren  hier  noch 
nicht,  es  ist  noch  ein  Hilfsverfahren  des  anderen.  Erst  indem 
es  zum  Ausgangspunct  der  Operation  gemacht  wird  und  ganz  an 
Stelle  des  deductiven  tritt,  die  Ersatzfunction  dafür  über- 
nimmt, wird  es  zu  einem  eigenen  selbständigen  Verfahren,  zu 
welchem  dann  umgekehrt  das  deductive  in  das  Verhältniss  des 
Hilfsverfahrens  tritt.  Die  gleich  im  Eingang  der  Methodologie 
(§.  65)  hervorgehobene  Thatsache  der  Doppelmethode  von  De- 
duction  und  Induction  im  Gebiete  unserer  Disciplin  wird  so  be- 
stätigt. Hiermit  gelangen  wir  dann  zur  näheren  Untersuchung  des 
inductiven  Verfahrens. 


3.  Abschnitt. 

Das  inductive  Verfahren. 

I.  — §.  76.  Die  Bedingungen  der  Induction  und 
das  Beobachtungsverfahren  dafür.  Hier  werden,  nach 
dem  Früheren  (§.  65),  umgekehrt  wie  in  der  Deduction,  die  wirt- 
schaftlichen Erscheinungen  selbst  zum  Ausgangspunct 
des  Verfahrens  genommen,  daher  mit  Beobachtungen  dieser 
Erscheinungen  begonnen.  Auch  hier  wird  nach  dem  allgemeinen 
Causalgesetz  operirt,  demgemäss  werden  die  beobachteten  Er- 
scheinungen als  etwas  durch  Anderes  Bedingtes  und  Bewirktes  an- 
gesehen und  wird  gesucht,  dieses  „Andere“  durch  Rückschluss  von 
den  betreffenden  Erscheinungen  aus  zu  ermitteln.  Die  Aufgabe  ist 
dann,  dieses  „Andere“  festzustellen  und  eventuell  in  seine  Bestand- 
teile aufzulösen,  um  es  so  in  seiner  Bedeutung  als  Bedingung  und 
Ursache  für  die  beobachteten  Erscheinungen  zu  erkennen.  So  sollen 
die  Entstehung,  Gestaltung,  Bewegung  dieser  Erscheinungen,  ihre 
Abhängigkeit  von  bestimmten  Bedingungen  und  Ursachen,  schliess- 


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Bedingungen  der  Induktion. 


195 


lieh  wieder  von  bestimmten  menschlichen  Handlungen,  Willens- 
acten und  Motiven,  der  Zusammenhang  der  conditionellen  und 
causalen  Verhältnisse  ermittelt  und  erklärt,  eventuell  für  den  Zu- 
sammenhang und  die  Abhängigkeitsverhältnisse  Maassbestiramungeu 
gewonnen  werden.  Alsdann  werden  wieder  umgekehrt  die  Er- 
gebnisse bezüglich  der  Bedingungen  und  Ursachen,  der  Abhängig- 
keitsverhältnisse und  des  Zusammenhangs  hypothetisch  zum  Aus- 
gangspunct  psychologischer  Deduction  aus  Motiven,  Umständen, 
Verhältnissen  genommen,  um  festzustellen,  ob  sie  sieh  so  befrie- 
digend als  diejenigen  Factoren  annehmen  lassen,  aus  welchen  die 
beobachteten  wirtschaftlichen  Erscheinungen  folgen  müssen  oder 
wenigstens  folgen  können,  und  mit  welchem  Grade  der  Wahr- 
scheinlichkeit. So  tritt  hier  das  deductive  Verfahren  zur  Ergänzung, 
Controle,  Bestätigung,  Berichtigung  des  inductiven  ein,  wird  zu 
einem  Hilfsv erfahren  für  das  letztere,  womit  die  Bemerkungen 
am  Schluss  des  vorigen  Abschnitts  sich  bestätigen. 

Der  Erfolg  und  der  wissenschaftliche  wie  practische  Werth 
des  inductiven  Verfahrens  hängt  natürlich  vor  Allem  von  der  Zu- 
verlässigkeit der  Beobachtungen,  sodann  aber  auch  von  der 
richtigen  Wahl  und  Einrichtung  eines  Beobachtungsverfahrens 
ab,  welches  von  vornherein  danach  eingerichtet  ist,  die  Erfüllung 
der  angedeuteten  Aufgaben  der  Induction  zu  ermöglichen  und 
thunlichst  zu  verbürgern. 

Zu  diesem  Behufe  muss  das  Beobachtungsverfahren  dem  eigen- 
thümlicben  Wesen  der  wirthschaftlichen  Erscheinungen  und  des 
ihnen  zu  Grunde  liegenden  Systems  von  Ursachen  und  Bedingungen, 
d.  i.  menschlichen  Handlungen,  Willensacten,  Motiven  entsprechen. 
Wie  jede  auch  nur  flüchtige  Betrachtung  der  wirthschaftlichen  Er- 
scheinungen ergiebt,  zeigen  dieselben  eine  gewisse  Regelmässig- 
keit und  Gleichförmigkeit  neben  vielen  einzelnen  Abweichungen 
hiervon.  Wie  ferner  zugleich  auch  wieder  die  innere  psychologische 
Prüfung  der  Motive  und  Willensacte  und  die  hinzukommende 
äussere  Beobachtung  der  Handlungen  Dritter  ergiebt,  spielen 
mancherlei  psychische  Motive  als  Factoren  in  den  wirthschaftlichen 
Handlungen  der  Menschen  mit,  aber  die  einen  regelmässiger,  con- 
stanter,  die  anderen  unregelmässiger,  nur  gelegentlich,  variabler. 
Wiederum  nach  dem  Satze,  dass  die  Erscheinungen  als  das  Be- 
dingte und  Bewirkte  den  bedingenden  und  verursachenden  Factoren 
proportional  sein  müssen,  wie  umgekehrt,  folgt,  dass  das  Regel- 
mässige der  Erscheinungen  auf  die  constanten  oder  ™nstnntpron_ 


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196  1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  3.  A.  Induction.  §.  76— 78. 

das  Unregelmässige  auf  die  variablen  oder  variableren  Factoren 
und  Combinationen  von  Factoren  zurlickzuführen  sein  muss. 
Welches  aber  die  wirkliche  Regelmässigkeit  der  Erscheinungen, 
die  Abweichungen  davon  und  die  kleineren  (partiellen)  Regel- 
mässigkeiten wieder  in  diesen  Abweichungen  sind,  das  ergiebt  sich 
nur  aus  einer  grossen  Zahl  beobachteter  Einzelfälle.  Diese 
Zahl  muss  so  gross  sein,  dass  in  ihr  die  constanten  und  variablen 
Factoren  und  Factorencombinationcn  mit  Wahrscheinlichkeit  in 
demjenigen  Verhältniss  zur  Geltung  gelangt  sein  werden,  welches 
ihrem  wirklichen  Vorkommen,  Mitspielen  und  ihrer  wirklichen  Be- 
deutung für  die  von  ihnen  mit  bedingten  und  verursachten  Er- 
scheinungen entspricht.  Für  die  Anforderungen  an  die  Grösse  einer 
hierfür  ausreichenden  Zahl  lassen  sich  nach  der  Wahrscheinlich- 
keitsrechnung Maassbestimmungen  finden,  sowie  mittelst  dieser 
Rechnung  zugleich  feststellen,  welchen  Werth  für  die  Rückschlüsse 
auf  bestimmte  Ursachen  kleinere  Zahlen  beobachteter  Fälle  haben. 

Au 8 dem  Allen  folgt,  dass  das  Beobachtungsverfahren  auf  dem 
wirtschaftlichen  (und  socialen)  Gebiete  zwei  Bedingungen  stets  zu- 
sammen erfüllen  muss:  es  muss  mit  höchster  Zuverlässigkeit  und 
Genauigkeit  der  Beobachtungen  selbst  genügende  M a s s e n h a f t i g - 
keit  der  beobachteten  Einzelfälle  und  strenge  Systematik 
und  Methodik  der  Beobachtungen  in  allen  seinen  Stadien  ver- 
binden. 

Kur  so  wird  mit  höchstmöglicher  Wahrscheinlichkeit  erreicht,  dass  alle  in  den 
wirtschaftlichen  Erscheinungen  betreffender  Art  vorkommenden  Gestaltungen  und 
Bewegungen,  das  Typische,  Generelle,  Regelmässige , wie  das  Individuelle,  Specielle, 
Unregelmässige  darin  zur  Beobachtung  gelangen  und  dass  die  Rückschlüsse  auf  die 
den  beobachteten  Erscheinungen  zu  Grunde  liegenden  conditionellen  und  causalen 
Factoren  richtig  sind,  weil  anzunehmen  ist,  dass  diese  Factoren  alle  und  zwar  in  dem 
Maasse  ihrer  wirklichen  relativen  Bedeutung  zur  Geltung  gelangt  sein  werden. 

Nur  ein  solches  Beobachtungsverfahren  entspricht  dem  Wesen 
der  wirthschaftlichen  Erscheinungen  und  ihrem  System  von  Ursachen 
und  Bedingungen,  welches  ihnen  zu  Grunde  liegt,  und  bildet  wieder 
den  Kern  des  ganzen  inductiven  Verfahrens  in  der  Politischen 
Oekonomie  oder,  allgemeiner  ausgedrückt,  den  Kern  der  social- 
wissenschaftlichen Induction. 

II.  — §.  77.  Die  einzelnen  Beobachtungsmethoden 
im  inductiven  Verfahren.  Man  kann  deren  vier  hauptsäch- 
liche unterscheiden,  von  welchen  die  erste  allerdings  nicht  im 
streng  wissenschaftlichen  Sinne  den  Namen  „Methode“  führt. 

1.  Die  unwissenschaftliche  tägliche  Beobachtung. 

2.  Die  wissenschaftliche  Einzelbeobachtung. 


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Die  einzelnen  Beobachtangsmethoden  der  Induction. 


197 


3.  Die  strengere  wissenschaftliche  Massenbeobachtung  oder  die 
Statistik. 

4.  Die  minder  streng-wissenschaftliche  und  weniger  massenhafte 
Beobachtung  oder  die  Geschichte  (Historik). 

Statistik  und  Geschichte  werden  hier  nicht  als  eigene  Wissen- 
schaften, sondern  als  Methoden  der  Beobachtung  aufgefasst. 

Die  erste  und  die  zweite  dieser  Methoden  genügen  den  An- 
forderungen, welche  nach  dem  Vorausgehenden  an  das  als  Grund- 
lage der  Induction  dienende  Beobachtungsverfahren  zu  stellen  sind, 
nicht,  können  daher  überhaupt  nur  als  Hilfsmethoden  und  auch 
als  solche  nicht  immer  und  alsdann  nur  mit  besonderer  Vorsicht 
angewandt  werden.  Zu  entbehren  sind  sie  und  ist  insbesondere 
die  erste  aber  nicht  ganz,  weil  die  beiden  andern  nicht  oder  noch 
nicht  oder  wenigstens  nicht  ausreichend  ausgebildet  und  benutzt 
werden  können.  Die  dritte  und  die  vierte  Methode  entsprechen 
principiell  beide  den  vorhin  aufgestellten  zwei  Bedingungen,  aber 
in  ungleichem  Grade,  die  dritte,  die  Statistik,  in  höherem,  die  vierte, 
die  Historik,  in  geringerem.  Man  kann  beide  auch  als  Eine  Me- 
thode mit  zwei  Unterarten,  einer  vollkommeneren  und  einer  un- 
vollkommeneren, zusammenfassen. 

Für  diese  Classification  der  Methoden  and  für  das  Folgende  verweise  ich  noch- 
mals besonders  aaf  die  oben  in  dem  litterarischen  Paragraphen  54  an  der  Spitze  dieses 
Kapitels  (S.  141)  genannten  vorzüglichen  Arbeiten  Kümelin’s  zur  Theorie  der  Stati- 
stik, sowie  auf  desselben  Aufsätze  über  den  Begriff  eines  socialen  Gesetzes  und  über 
Gesetze  in  der  Geschichte.  Ich  folge  sonst  in  der  Behandlung  des  Gegenstands  hier 
wieder  genauer  meineu  eigenen,  ebenfalls  oben  S.  141  genannten  älteren  Arbeiten 
über  Statistik,  mit  unwesentlichen  kleineren  sachlichen  Modificationen  der  Auffassung. 
Auch  aus  der  neueren  methodologischen  Litteratur  der  Nationalökonomie  und  aus  der 
deutschen  Fachliteratur  über  Logik  und  allgemeine  Methodenlehre  konnte  ich  mich 
nicht  davon  überzeugen,  dass  grössere  Veränderungen  meiner  Anschauungen  geboten 
seien.  S.  besonders  die  „Theorie  der  Statistik“  in  meiner  Abhandlung  Statistik  im 
Bluntschli'scbcn  Staatswöiterbuche,  X,  S.  456  ff.  Meine  damalige  (1867)  Bemerkung, 
dass  auch  Rümelin  in  seiner  ersten  Abhandlung  Uber  Statistik  (1863)  das  Gebiet  der 
letzteren  noch  zu  eng  auf  die  menschlichen  Erscheinungen  beschränke  (a.  a.  0.  S.  463), 
bat  er  in  seiner  zweiten  Abhandlung  (1874)  als  richtig  anerkannt,  indem  er  darin 
zugiebt,  dass  die  statistische  Methode  von  universaler  Anwendbarkeit  sei  (Reden  und 
Aufsätze,  S.  266). 

A.  — §.78.  Die  unwissenschaftliche  tägliche  Beob- 
achtung wirtschaftlicher  Erscheinungen.  Sie  ent- 
spricht der  einen,  an  die  Methode  der  Disciplin  zu  stellenden  An- 
forderung, der  Massenhaftigkeit  beobachteter  Einzelfälle,  möglicher 
Weise  mehr  oder  weniger,  indessen  doch  kaum  jemals  genügend. 
Sie  entspricht  jedoch  ganz  und  gar  nicht  der  zweiten  Anforderung 
strenger  Systematik  und  Methodik.  Wegen  der  Mängel  in  ersterer 
Hinsicht  giebt  sie  keine  vollständigen  Beobachtungsdaten , welche 


198 


1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  3.  A.  Induction.  §.  7S. 


mit  hinlänglicher  Wahrscheinlichkeit  als  Ausdruck  aller  mitspielenden 
Bedingungen  und  Ursachen  der  beobachteten  wirthschaftlichen  Er- 
scheinungen angesehen  werden  können.  Wegen  der  Mängel  in  der 
zweiten  Beziehung  sind  ihre  Ergebnisse  und  die  daraus  in  üblicher 
Weise  abgeleiteten  Schlüsse  auf  die  conditionellen  und  causalen 
Verhältnisse,  Zusammenhänge  und  Abhängigkeiten  unsicher,  sehr 
häufig  und  sehr  leicht  einseitig  und  schief.  Sie  stimmen  daher  mit 
der  Wirklichkeit  nicht  überein  und  entbehren  so  des  wissenschaft- 
lichen und  practischen  Werthes  oft  ganz,  fast  immer  theilweise  und 
selbst  grossentheils.  Dennoch  kann  man  dieser  „täglichen  Beob- 
achtung“ nicht  jeden  Werth  absprechen,  sic  überhaupt  gerade  auf 
dem  Gebiete  der  wirthschaftlichen  Erscheinungen  nicht  ganz  missen. 

Ihr  Werth  im  concreten  Falle  hängt  vorneinlich  von  der  geistigen  und  Character- 
qualität  des  Beobachters,  von  seiner  Fähigkeit,  Kenntniss,  Gelegenheit  zum  Beobachten 
und  causale  und  conditionclle  Zusammenhänge  intuitiv,  divinatorisch  zu  erkennen, 
seiner  üninteressirtheit,  Unparteilichkeit,  Aufmerksamkeit  u.  s.  w.  ab.  Und  völlig  ent- 
behrlich ist  diese  Beobachtung  auch  sonst  nicht,  weil  sie  und  soweit  sie  die  einzige 
anwendbare  oder  thatsächlich  angeweudete  ist.  also  die  an  sich  vollkommneren  Methoden 
fehlen  oder  versagen,  Ausserdem  ist  nicht  zu  übersehen,  dass  die  Anstellung  solcher 
täglichen  Beobachtungen  und  die  weitere,  wenn  auch  unwissenschaftliche  Zurück- 
führung  der  Beobachtungsergebnisse  auf  Ursachen  und  Bedingungen,  spontane,  gar 
nicht  zu  unterdrückende  geistige  Thätigkeiten  nach  der  Natur  unseres  Geistes  sind. 
Die  Aufgabe  ist  daher  nur,  dass,  was  wir  so  von  selbst  thun,  methodisch  zu  thun, 
um  Fehler  und  Trugschlüsse  möglichst  zu  vermeiden,  d.  h.  namentlich  die  tägliche 
Beobachtung  in  das  statistische  Beobachtungsverfahren  hinüber  zu  führen. 

„Die  massenhaften  vereinzelten  Beobachtungen  bilden  gewissermaassen  das  un- 
wissenschaftliche statistische  Beobachtungsverfahren,  welches  täglich  im  Leben  an- 
gestellt wird.  Der  Volksgeist  fasst  jene  Beobachtungen  (in  manchen  Fällen')  im  Sprich- 
wort zusammen,  wir  Alle  pflegen  dieselben  als  Grundlage  unserer  Urtheile  über  die 
meisten  regelmässigen,  aber  nicht  gleichförmigen,  weil  von  verschiedenen  Ursachen 
bestimmten  Erscheinungen  um  uns  her  zu  benutzen,  z.  B.  bei  unserer  Beurthcilung 
der  Witterung,  von  Land  und  Leuten,  der  körperlichen,  geistigen  und  moralischen 
Eigenschaften  der  Bevölkerung,  des  Nationalcharacters  u.  s.  w.  Der  menschliche  Geist 
operirt  dabei  stets  bewusst  oder,  wie  bei  den  Ungebildeten,  mehr  instinctiv  innerhalb 
des  allgemeinen  Causalgesetzes.  In  allen  solchen  Urtheilen  pflegt  daher  auch  ein 
Korn  Wahrheit  zu  sein,  wie  z.  B.  im  Sprichwort.  Aber  wie  weit  sie  wahr  sind, 
bleibt  grade  die  Frage.  Hier  kommen  denn  die  beliebten  Generalisationcn,  zumal 
wenn  jene  massenhaften  vereinzelten  Beobachtungen,  welche  eben  nur  zu  unvoll- 
kommenen Inductionen  hinreichen,  sich  mit  oberflächlichen  und  schiefen  Deductioncn 
verbinden,  was  so  ausserordentlich  häufig  der  Fall  ist.  Diese  in  der  Luft  stehende!» 
Generalisationcn  bilden  vornemlich  das,  was  wir  so  gerne  unsere  „Lebenserfahrung“ 
nennen,  — nur  zu  oft  in  politischen,  wirthschaftlichen,  mcdiciniscben  Fragen,  in  den 
Urtheilen  über  politische  Fähigkeiten  und  Stimmungen  der  Völker  u.  s.  w.  bei  bevor- 
zugten Geistern,  geschweige  bei  der  grossei»  Masse  ein  Mixtum  Compositum  ober- 
flächlicher Deductioncn,  unvollkommener  Inductionen  und  aphoristischer  Vorurtheilc. 
Das  Falsche  ist  eben  hier,  verwickelte,  von  vielen  Ursachen  in  wechselnder  Weise  ab- 
hängige Vorgänge  auf  Grund  weniger  unsystematischer  Beobachtungen  bcurtheilen  zu 
wollen.“  (Aus  meiner  Abh.  Statistik  im  Staatswörterbuch,  X.  S.  471.) 

Ein  besonders  häufiger  Trugschluss  aus  der  „täglichen  Beobachtung“  ist  stets 
und  namentlich  auch  auf  wirtschaftlichem  Gebiete  der  des  post  hoc,  ergo  propter 
hoc,  wo  der  mögliche  Causalzusammenhang  gleich  zum  wirklichen  gemacht  und  ohne 
Weiteres  aus  der  Zeitfolge  der  Erscheinungen  abgeleitet  und  dadurch  als  bewiesen 
angenommen  wird.  Namentlich  der  ungebildete  Practiker,  der  Routinier  urtheilt, 


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Die  unwissenschaftliche  tägliche  Beobachtung. 


199 


gleich  dem  grossen  Haufen  der  Laien,  überall  und  immer  gern  so  und  ist  schwer 
auch  nur  einer  Belehrung  zugänglich.  Auf  wirtschaftlichem  Gebiete  tritt  auch  noch 
mehr  als  auf  manchem  anderen  — obwohl  auch  hier  ähnliche  Fälle  oft  verkommen 
(politisches,  religiöses  Gebiet!)  — das  Mitspiclcn  des  Interesses  als  ein  störender 
Factor  auf,  schon  bei  der  Anstellung  der  Beobachtungen  selbst,  vollends  bei  der  cau- 
salen  und  couditionellen  Erklärung  des  Beobachteten,  z.  B.  bei  Fragen  der  Preis- 
bewegung, der  Wirtschaftspolitik,  bei  Beobachtung  von  Erscheinungen,  welche  man 
als  Folgen  von  bestimmten  missliebigen  wirthschafts-  Handels-  u.  s.  w.),  finanz-,  steuer- 
politischen Maassregcln  glaubt  erkennen  zu  können. 

Je  nach  dem  Maassc  der  individuellen  Fähigkeiten,  der  geistigen  Unabhängig- 
keit eines  Beobachters,  welcher  aus  einzelnen  Beobachtungen  Ursache  und  Bedingungen 
unsystematisch  ableitct,  werden  freilich  auch  diese  Fehler  wieder  mehr  oder  weniger 
hervortreten  und  auch  vermieden.  Ein  grosser  Practiker  des  Wirtschaftslebens,  ein 
grosser  Staatsmann  wird  gewiss  auch  aus  der  „täglichen  Beobachtung“,  wie  in  Allem, 
so  auch  hier  in  wirtschaftlichen  Dingen  einen  Erfahrungsschatz  von  Werth  ans&mmeln, 
Zusammenhänge,  Abhängigkeitsverhältnisse  in  der  That  intuitiv  erschauen  und  aus 
wenigen  Einzelbeobachtungen  das  „Gesetz  der  Erscheinung“  mitunter  richtig  ableiten. 
Ein  Beispiel  dieser  Art  ist  Fürst  Bismarck.  Aber  selbst  solche  Männer  vermeiden 
die  angedeuteten  Fehler  schwer  ganz,  generalisiren  doch  ebenfalls  gern  gleich  zu 
sehr,  wie  u.  A.  Bismarcks  einseitige  Zoll-Uebcrwälzungsthesc  zeigt  (s.  meine  Finanz- 
wissenschaft II,  2.  A.,  S.  337).  Ein  methodisches  Verfahren  behält  doch  seinen 
Vorzug.  Jedenfalls  kann  man  aber  so  manchem  anderen  wirtschaftlichen  und  staats- 
mäuuischen  Practiker,  welcher  „uach  berühmtem  Muster“  einige  persönliche,  oft 
schon  recht  unzuverlässige  oder  doch  ungenaue  Beobachtungen  generalisirt  und  un- 
unsichere  Inductionsschlüsse  in  wirthschaftspolitischen  Fragen  zieht , sich  immer 
kurzweg  auf  „seine  Erfahrung“  beruft,  das  alte  grobe,  aber  wahre  Wort:  quod  licet 
Jovi  u.  s.  w.  entgegenrufen. 

Eine  auch  nur  cinigcrmaassen  sichere  Nacbweisung  von  Causal- 
zusammenhängen  und  Zurückführung  von  beobachteten  Erschei- 
nungen, Vorgängen  aut'  bestimmte  Ursachen  und  Bedingungen, 
geschweige  die  Ermittlung  von  Maassbestimmungen  fUr  Abhängig- 
keitsverbältuisse  gestattet  die  unwissenschaftliche  tägliche  Beob- 
achtung nach  den  ihr  anklebcnden  angedeuteten  Mängeln  auch  des- 
wegen nicht,  weil  sic  keine  genügende,  oft  gar  keine  methodische 
Isolirung  der  Wirkungen  und  Ursachen,  auch  nicht  einmal  eine 
gedankenmässige,  vornimmt.  Das  ist  um  so  schlimmer,  da 
auf  wirtschaftlichem  Gebiete  von  einer  absichtlichen  experi- 
mentellen derartigen  Isolirung  nur  Zwecks  der  Erforschung  von 
Causalzusaramenhängen  u.  s.  w.  ohnehin  nicht  die  Kede  sein  kann. 
Soweit  aber  die  Thatsachen  des  Wirtschaftslebens  eine  Möglich- 
keit solcher  Isolirung  und  die  Mitbenutzung  der  letzteren  für  For- 
schungzwecke ergeben,  ist  dann  eben  nur  ein  streng  methodisches 
Verfahren,  wie  das  statistische,  im  Stande,  die  Thatsachen  ent- 
sprechend zu  verwertheu,  nicht  einmal  das  historische,  geschweige 
das  Verfahren  der  unwissenschaftlichen,  wenn  auch  massenhaften 
täglichen  Beobachtung.  Letztere,  als  Methode  angesehen,  steht 
daher  auch  gerade  in  dem  hier  besprochenen  Puncte  hinter  der 
deductiven  Methode  zurück,  deren  Stärke  in  der  strengen  wenig- 


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200  1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  3.  A.  Induction.  §.  78,  79. 

stens  gedankenmässigen  Isolirung  der  Ursachen  und  Wirkungen 
liegt. 

Am  Ersten  wird  der  täglichen  Beobachtung  noch  eine  gewisse 
Bedeutung  als  Controlmittel  für  deductive  Schlüsse,  wenn  und 
solange  als  bessere  Controlmittel,  d.  b.  die  anderen  Beobachtungsmetho- 
den fehlen,  ferner  als  ein  Fingerzeig  für  mögliche  Fehler  in 
den  Beobachtungen  und  den  Schlüssen  daraus  bei  diesen  anderen 
Methoden  zugestanden  werden  dürfen.  Aber  gross  und  sicher  in 
Betreff  der  Ergebnisse  wird  auch  diese  ihre  Bedeutung  selten  werden. 

Schon  die  unsystematische,  nur  immerhin  zahlreichere  Fälle  umfassende  tägliche 
Beobachtung  hat  z.  B.  die  optimistischen  deductiren  Schlüsse  Uber  das  Walten  des 
Selbstinteresses,  die  Wirksamkeit  des  Systems  der  freien  Concurrenz  berichtigen,  jeden- 
falls einschränken  können.  Wenn  historische,  statistische  Ergebnisse  mit  der  täglichen 
Beobachtung  in  Widerspruch  stehen,  wird  das  doch  mitunter  auf  Mängel,  Lücken, 
Sprünge  in  den  beiden  methodischen  Beobachtungsverfabren  hindeuten,  zur  Wieder- 
holung, Nachprüfung,  grösserer  Sorgfalt  in  der  Sammlung,  Sichtung,  Verarbeitung 
des  statistischen  und  historischen  Materials  bestimmen  u.  s.  w. 

B.  — §.  79.  Die  wissenschaftliche  Einzelbeob- 
achtung. Sie  erfüllt  die  eine  der  oben  gestellten  beiden  An- 
forderungen, diejenige  der  Methodik  oder  Systematik,  nicht  die 
zweite,  diejenige  der  Massenhaftigkeit  der  beobachteten  Einzel- 
fälle, hat  daher  für  unser  Gebiet  entgegengesetzte  Vorzüge  und 
Mängel,  wie  die  soeben  besprochene  „tägliche  Beobachtung“.  Sie 
genügt  deshalb  nur,  wo  man  es  mit  streng  typischen  Erscheinungen, 
mithin  mit  gewissen  Erscheinungen  des  Reichs  der  Natur,  wo  „das 
Einzelne  typisch  ist“  (Rümelin),  zu  thun  hat,  oder  m.  a.  W. , wo 
die  Erscheinungen  ausschliesslich  von  constanten  Ursachen  und 
Bedingungen  abhängen.  Sobald  hier  variable  Factoren  mitspielen, 
welche  wieder  Variationen  des  Typischen  bedingen  und  bewirken, 
ist  aber  selbst  auf  dem  Gebiete  der  Naturerscheinungen  die  wissen- 
schaftliche Einzelbeobachtung  nicht  ausreichend.  Sie  muss  viel- 
mehr auch  hier  in  das  statistische  Verfahren  hinüber  geführt  werden, 
um  neben  dem  Einfluss  der  constanten  Ursachen  denjenigen  oder 
diejenigen  der  variablen  abzuleiten  oder  den  Abweichungen  von 
der  Regel,  dem  auch  im  Naturgebiete  bereits  hervortretenden  Indi- 
viduellen, gerecht  zu  werden.  In  der  Men  sehen  weit,  im  Reiche  der 
menschlichen  Seele,  wie  wiederum  Rümelin  gut  hervorhebt,  ist  das 
Einzelne  aber  vollends  individuell,  d.  b.  hängt  eben  von  constanten 
und  variablen  Factoren  und  Factorencombinationen  mannigfaltigster 
und  wechselnder  Art,  als  seinen  Bedingungen  und  Ursachen,  ab. 
Daraus  folgt,  dass  auch  die  sorgfältigste,  genaueste  Einzelbeob- 
aebtung,  Beschreibung  von  Erscheinungen,  Vorgängen,  Entwick- 


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Die  wissenschaftliche  Einzclbcobaehtung. 


201 


luDgen  an  und  für  sich  hier,  daher  auch  auf  volkswirtschaftlichem, 
socialem  Gebiete  nur  den  Werth  der  Feststellung  des  Individuellen 
hat.  Für  das  Typische  dieser  Erscheinungen  u.  s.  w.  kann  sie  nur 
in  dem  Maasse  Bedeutung  beanspruchen,  als  entweder  die  Beob- 
achtungen an  anderen  analogen  Erscheinungen  wiederholt  werden 
und  zu  demselben  Ergebniss  führen,  d.  h.  eben  als  das  statistische 
Verfahren  angewendet  wird,  oder  das  Ergebniss  der  Einzelbeob- 
achtung durch  das  deductive  Verfahren  als  ein  allgemein  in  allen 
analogen  Fällen  zu  erwartendes  bestätigt  wird  und  alsdann  ver- 
allgemeinert werden  darf. 

Vgl.  Rümelin,  zur  Theorie  der  Statistik  (in  den  Reden  u.  s.  w.,  S.  215  11.); 
meine  Abh.  Statistik  (Staatswörterb.  X,  471,  476  ff.).  Grade  wenn  man  die  Erschei- 
nungen in  der  Natur  und  in  der  Menschenwelt  auf  die  ihnen  zu  Grunde  liegenden 
Bedingungen  und  Ursachen  und  Combinationen  beider,  auf  das  Zusammenwirken  con- 
stanter  und  variabler  Factorcn  zurückfübrt,  was  auch  Rümelin  a.  a.  0 , wie  ich  schon 
in  meiner  genannten  Abh.  Statistik  (S.  467)  hervorhob,  noch  nicht  genügend  gethan 
hat,  wird  man  in  diesen  Fragen  des  Beobachtungsverfahrens  und  der  ganzen  Metho- 
dologie die  richtige  Entscheidung  treffen.  Das  Fliessende  des  Unterschieds  zwischen 
dem  typischen  Einzelnen  in  der  Natur  und  dem  indivueüen  Einzelnen  in  der  Menschen- 
welt betont  übrigens  auch  Rümelin  schon. 

Mit  constanten  Erscheinungen,  weil  mit  constanten  Bedingungen  und  Ursachen 
haben  wir  es  am  Meisten  in  der  anorganischen  Natur,  daher  hier  auch  mit  dem 
streng  Typischen  des  Einzelnen  zu  thun,  so  in  den  Erscheinungen  und  Vorgängen 
des  Gebiets  der  Physik  und  Chemie.  In  der  organischen  Natur  treten  bei  jeder 
Einzelerscheinung  immer  mehr  variable  Factoren  mit  hinzu,  auch  erfolgen  wechselnde 
Combinationen  von  Factoren,  daher  immer  mehr  Abweichungen  des  Einzelnen  vom 
streng  Typischen,  was  sich  dann  bis  zu  den  höchsten  Gebilden  der  organischen  Natur 
hinauf  steigert.  In  den  Naturwissenschaften,  welche  sich  mit  der  organischen  Welt, 
mit  dem  physischen  „Leben“  beschäftigen,  deshalb  auch  schon  die  geringere  Zuver- 
lässigkeit und  Ausreichendheit  der  Einzelbeobachtung  (Physiologie  der  Pflanzen, 
Thiere,  des  Menschen).  Aber  auch  wo,  wie  bei  den  Erscheinungen  der  Witterung, 
verwickeltere  Combinationen  von  Ursachen  und  Bedingungen  obwalten  und  den  Erschei- 
nungen jenes  bunte  Bild  des  Wechsels,  des  „Unberechenbaren“,  des  „Wetterwendischen“ 
geben , muss  das  Beobachtungsverfahren  ein  anderes  werden , reicht  die  Einzcl- 
beobachtung  niemals  aus.  Gelangt  man  dann  auf  das  Gebiet  der  vom  mensch- 
lichen Seelenleben  mit  bestimmten  Erscheinungen,  so  muss  vollends  das  Beob- 
achtungsverfahren uach  dem  diesem  Verfahren  zu  Grunde  liegenden  System  von 
Ursachen  und  Bedingungen  sich  gestalten , daher  über  die  blosse  Einzelbeobachtung 
hinausgehen.  So  insbesondere  auch  bei  den  wirthschaftlichen  Erscheinungen.  Nur 
der  Umstand,  dass  hier  das  Motiv  des  wirthschaftlichen  Selbstintercsses  ein  so  con- 
stanter  Factor  ist  — und  freilich,  nach  dem  Früheren:  in  dem  Maasse,  in  welchem 
dasselbe  es  ist,  denn  nur  ein  relativ,  nicht  ein  absolut  cons-tanter  Factor  ist  auch  das 
Selbstinteresse  — , geltet  eben  die  Anwendung  der  Methode  der  psychologisch- 
speculativen  Deduction  hier  mit  Erfolg.  Aus  diesem  Sachverhalt  ist  aber  dann  auch 
wieder  zu  schliessen,  dass  eine  correcte  Einzelbeobacbtung  einer  solchen  wirthschaft- 
lichen Erscheinung,  bii  welcher  man  Grund  hat,  die  entscheidende  Bedeutung  des 
genannten  Motivs  auch  in  analogen  Fällen  anzunehmen,  doch  wieder  eine  allge- 
meinere Bedeutung  haben  kann.  Aber  diese  Annahme  ist  nicht  inductiv,  sondern 
deductiv  begründet. 

Wiederholung,  Prüfung,  Massenhaftigkeit  der  Beobachtungen 
neben  streng  wissenschaftlicher  Genauigkeit  jeder  Einzelbeobachtung 
oder  m.  a.  W.  Einführung  des  statistischen  Beobachtungsverfahrens 


202 


1.  B.  2.  K.  2.  H -A.  Methoden.  3.  A.  Induction.  §.  79,  SO. 


ist  hiernach  mit  der  wechselnden  Complieation  des  Bedingungs- 
und Verursachungssystems  und  mit  der  davon  abhängenden  immer 
individuelleren  Gestaltung  der  Einzelerscheinung  stets  mehr  und  mehr 
geboten. 

Nicht  zu  verwechseln  mit  dieser  Forderung  ist  die  Wiederholung  der  Einzel- 
beobachtung auch  bei  den  streng  typischen  Naturerscheinungen  aus  einem  ganz  an- 
deren Grunde,  uemlich  um  so  Beobachtungsfehler  zu  constatiren  und  zu  climi- 
nircn,  nicht  wie  in  den  anderen  Fällen,  spcciell  auch  in  denen  auf  wirtschaftlichem 
Gebiete,  um  das  Wesen  der  Erscheinungen,  das  Typische,  Generelle,  wie  das  Indi- 
viduelle, Specielle  derselben  zu  ermitteln.  Eine  Wiederholung  der  Beobachtungen 
kann  aber  auch  hier  zur  Verhütung  von  Bcobachtungsfehlern  ausserdem  noch  gleich- 
falls erwünscht  oder  notwendig  sein.  In  beiden  Fällen  werden  vielleicht  Durch- 
schnitte aus  den  verschiedenen  Beobachtungen  gezogen,  welche  aber  wieder  eine 
ganz  verschiedene  Bedeutung  haben,  dort,  um  das  wahrscheinlich  richtigste  Beob- 
achtungsresultat, liier  um  dasjenige  Verhältnis  zu  finden,  welches  gewissen  sich 
durchsetzenden  Bedingungen  und  Ursacheu  und  Combinationen  beider  am  Meisten 
entspricht  und  so  das  Typische  in  der  Erscheinung  am  Genauesten  hervortreten  lässt. 
(S.  meine  Abh.  Statistik,  S.  471.) 

Diejenige  geschichtliche  und  statistische  Darstellung,  welche 
sich  auf  ein  einzelnes  Phänomen  oder  auch  auf  eine  Reihe  von 
Phänomen  als  Einzelerscheinung  beschränkt,  ohne  weiter  zu 
vergleichen  und  sich  auf  die  Frage  nach  den  Ursachen  und  Be- 
dingungen der  Erscheinungen  cinzulassen  — wenigstens  nicht 
anders,  als  es  implicite  aus  der  Darstellung  selbst  sich  ergeben 
mag  — kommt  eigentlich  auf  die  blosse  Anstellung  von  wissen- 
schaftlicher Einzelbeobachtung,  wie  die  hier  besprochene,  hinaus. 
Dies  gilt  auf  unserem  Gebiete  daher  von  der  concrcten  histo- 
risch-statistischen descrihirenden  Richtung,  mithin  von 
der  Wirthschaftsgeschichte  und  Statistik  (Staatskunde)  eines  ein- 
zelnen Landes,  einer  einzelnen  Zeit. 

Ebendeshalb  sind  derartige  Arbeiten,  so  schwierig  und  verdienstvoll  sie  sein 
und  so  grossen  Werth  sio  für  die  Kenntniss  einer  concrcten  Entwicklung  und  Ge- 
staltung haben  mögen,  für  alle  national ökono mischen  Fragen,  welche  sich  auf 
das  Typische,  Generelle  der  Erscheinungen,  der  Ca usalzusammen hänge 
und  Abhängigkeitsverhältnissc,  auf  das  Soin-Sollcn  u.  s.  w.  beziehen  oder 
m.  a.  W. . welche  die  früher  (§.  57)  erwähnten  Aufgaben  2 — 6 betreffen,  doch  nur 
bestenfalls  Vorarbeiten,  vielleicht  wichtige,  werth volle,  aber  doch  immer  solche, 
welche  erst  durch  Vermehrung  und  Ausdehnung  auf  andere  concrete  Fälle  und 
in  Anknüpfung  daran,  durch  Vergleichung  der  Resultate  sich  zur  Beantwortung 
der  angedcuteten  weiteren  Fragen  und  Aufgaben  verwerthen  lassen.  Auch  das  hat 
die  historische  Nationalökonomie  zu  wenig  beachtet,  wenn  sie  nicht  etwa  von  vorn- 
herein, Nationalökonomie  mit  concretcr  Wirthschaftsgeschichte  und  Statistik  identi- 
licirend  und  verwechselnd,  überhaupt  nur  die  Constatirung  des  Thatsächlichcn  der 
Erscheinungen  und  ihres  Verlaufs  als  Aufgabe  der  Nationalökonomie  anerkennt,  d.  h. 
eben  nur  die  erste  der  früher  von  uns  unterschiedenen  Aufgaben  gelten  lässt 
(ij  57,  59,  S4). 

C.  — §.  80.  Die  wissenschaftliche  Massen  beob- 
acht ung:  „Statistik“  und  „Historik“.  Die  beiden  anderen, 
oben  (§.  77)  unterschiedenen  Beobachtungsmethoden,  die  dritte  und 


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Die  wissenschaftliche  Massenbeobachtung.  Statistik  und  Historik.  203 


vierte,  die  statistische  (Statistik)  und  die  historisch  e (Histo- 
rik , — wenn  man  diesen  kurzen  Ausdruck  in  diesem  Sinne,  und 
analog  dem  Worte  Statistik,  für  „historische  Methode“  bilden 
darf  — ) suchen  den  beiden  Anforderungen  der  Massenhaftigkelt 
und  der  Methodik  oder  Systematik  zugleich  gerecht  zu  werden, 
also  die  Vorzüge  der  beiden  ersten  Methoden  zu  vereinigen,  die 
Mängel  derselben  zu  vermeiden.  In  dem  Maasse,  wie  ihnen  dies 
nach  ihrer  ganzen  Beschaffenheit  gelingen  kann  und  gelingt,  er- 
füllen sie  die  hier  vorliegende  Aufgabe.  Die  Statistik  als  Methode 
kann  aber  hier  mehr  leisten,  sobald  eine  genügende  technische 
Ausbildung  derselben  gelungen  ist.  Alsdann  entspricht  sie  der  An- 
forderung der  Massenbcobachtuug  viel  mehr  und  gestattet  auch 
eine  viel  systematischere  Anstellung,  „Sammlung,  Sichtung  und 
Gruppirung  der  Beobachtungen.  Dadurch  wird  aber  der  Einblick 
in  die  conditionellen  und  causalen  Verhältnisse  der  Beziehung  und 
Abhängigkeit  oft  erst  ermöglicht,  immer  erleichtert  und  zugleich 
zu  strengerer  Beweisführung,  auch  zur  Anwendung  von  genauen 
Maassbestimmungen  und  des  Calculs  Gelegenheit  gegeben. 

Insbesondere  kann  durch  die  Be-  und  Verarbeitung  des  Beobachtungsmaterials 
(tabellarische  Behandlung)  förmlich  statt  der  bloss  gcdankeninässigen,  im  W esentlichen 
doch  noch  auf  ein  Kaisonnement  in  vagen  Begriffen  sich  beschränkenden,  hier  eine 
Art  experimenteller,  auf  quantitativ  bestimmte  Begrille  sich  stutzender  Isolirung 
der  Ursachen  und  Wirkungen  erfolgen,  die  Rechnung  ermöglicht  und  dadurch  der 
Beweisführung  und  den  Ergebnissen  hinsichtlich  der  conditionellen  und  causalen  Ver- 
hältnisse ein  grösserer  Grad  der  Sicherheit,  der  „Exactheit“  gegeben  werden.  Wo 
das  statistische  Verfahren  daher  überhaupt  anwendbar  ist,  was  freilich  nicht  überall 
der  Fall  ist  (§.  h2),  nimmt  die  Beweisführung  etwas  von  der  Strenge  der  Beweis- 
führung in  denjenigen  Wissenschaften  an,  welche  sich,  wie  die  experimentellen  Natur- 
wissenschaften, des  Hilfsmittels  des  willkUhrlich  zum  Behuf  der  Forschung  angestellten 
Experiments  bedienen.  Will  inan,  trotz  der  früher  hervorgehobenen  Bedenken  (§.  68. 
S.  175).  von  „exactcr“  Methode,  „cxacten*4  Ergebnissen  iin  Gebiete  der  Geistes-, 
der  Socialwisscnschaftcn  und  speciell  der  Politischen  Oekonomie  sprechen . so  wäre 
nur  wie  einerseits  nach  dem  Früheren  (§.  68)  bei  der  strengen  Methode  der  Dcduc- 
tion,  besonders  der  mathematisch  gefassten  und  den  so  erhärteten  Ergebnissen  dieser 
Methode,  so  andrerseits  bei  der  in  Rechnung  auslaufenden  statistischen  Methode  und 
den  damit  gewonnenen  Ergebnissen  der  Ausdruck  allenfalls  zulässig. 

In  allen  diesen  Beziehungen  steht  die  historische  Methode 
hinter  der  statistischen  erheblich  zurück,  sobald  es  sieh  um  irgend 
eine  andere  Aufgabe,  als  die  besprochene  erste,  die  blosse  Dar- 
stellung des  Thatsächlichen  der  wirtschaftlichen  Erscheinungen 
und  ihres  Verlaufs,  daher  um  mehr  als  wissenschaftliche  Einzel- 
beobachtung im  Sinne  der  zweiten  Methode  handelt.  Wird  diese 
historische  Einzelbcobaehtung  aber  systematisch  ausgedehnt,  ge- 
häuft, um  die  Ergebnisse  dann  zur  Grundlage  von  Vergleichungen 
zu  machen,  so  geht  sie  eben  in  die  statistische  über,  was  wiederum 
deren  grössere  Vollkommenheit  und  höhere  Brauchbarkeit  beweist. 

JT 

Ja 


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204 


1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  3.  A.  Induction.  §.  SO. 


Für  das  Gesagte  und  für  alles  Folgende  ist  mir  immer  im 
Sinne  zu  behalten,  dass  es  sich  hier,  wie  schon  bemerkt,  um 
Statistik  und  Historik  als  Methoden  der  Beobachtung  und  weiter 
der  Beweisführung  im  inductiven  Verfahren,  nicht  um  sie  als  eigene 
selbständige  Wissenschaften  handelt. 

Es  ist  eine  alte  Streitfrage,  ob  und  wie  weit  die  „Statistik“  überhaupt  eine 
solche  eigene  „Wissenschaft“  sein  könne  und  thatsächlich  sei,  und  im  bejahenden 
Falle,  worin  das  Wesen  dieser  Wissenschaft  bestehe,  oder  ob  man  es  bei  der  Statistik 
mit  einer  Methode  und  nur  mit  einer  solchen  zu  thun  habe.  Diese  Streitfrage  ist 
wohl  folgendermaassen  zu  entscheiden  Mit  dem  Ausdruck  „Statistik“  wird  nach  dem 
historisch  überkommenen  Sprachgebrauch,  wenn  man  eine  Statistik  als  Wissenschaft 
schaft  anerkennt,  zweierlei  wesentlich  Verschiedenes  bezeichnet,  einmal  eine  Wissen- 
schaft als  beschreibende  Staatskunde,  in  der  durch  Corning,  Achenwall, 
Schlözer  angebahnten  Richtung,  und  sodann,  soweit  gegenüber  der  Statistik  als  Me- 
thode hier  eine  besondere  „Wissenschaft“  der  Statistik  festgehalten  wird,  eine  in- 
ductive  Beobachtungswissenschaft,  welche  mit  Hilfe  der  Statistik  als 
einer  eigentümlichen  Methode  die  für  die  Behandlung  mit  dieser  Methode 
geeigneten  Erscheinungen  der  realen  Welt  nach  ihren  Causalverhältnisseu  zu  erklären 
und  die  Gesetze,  nach  denen  sie  sich  gestalten,  aufzudecken  sucht.  Also  eine  Tren- 
nung der  „Wissenschaft“  der  Statistik  in  zwei  gesonderte,  wenn  auch  unter  einander 
sich  im  Stoff  berührende  Wissenschaften,  eine  Auffassung,  deren  Begründung  das 
besondere  Verdienst  von  K.  Knies  in  seiner  scharfsinnigen  Schrift,  die  Statistik  als 
selbständige  Wissenschaft  (Cassel  1S50),  ist.  Vgl.  auch  Rümelin  (Tüb.  Ztschr.  1863, 
S.  668,  Reden,  S.  229.)  — 

Neben  einer  solchen  Statistik  als  einer  eigenen  Wissenschaft  auch  letzterer  Art 
hat  man  es  aber  sodann  jedenfalls  und  vor  Allem  bei  der  Statistik  mit  einer  eigen- 
tümlichen Methode  zu  thun  und  als  solche  kommt  die  Statistik  hier  allein  in 
Betracht.  Es  kann  dann  sogar  fraglich  werden,  ob  neben  der  Statistik  als  Methode 
eine  Statistik  als  Wissenschaft  in  dem  zweiten  eben  erläuterten  Sinne  des  Worts 
nach  statuirt  werden  könne  oder  müsse.  Das  möchte  immerhin  zulässig,  aber  nicht 
unbedingt  geboten  sein.  S.  über  diese  ganze  Controverse  besonders  die  genannte 
Schrift  von  Knies,  die  Aufsätze  über  Statistik  von  Rümelin  und  meine  Abh. 
Statistik  im  Staatswörterbuche,  welche  in  litterarhistorischer  Weise  die  Frage  erörtert 
(B.  X,  S.  400  ff.,  452  ff.,  469).  Ich  glaube  die  hier  von  mir  vor  26  Jahren  vertretene 
Auffassung,  auch  grossenthcils  in  der  Formulirung,  festhalten  zu  dürfen.  S.  aus  der 
oben  genannten  neueren  Litteratur  den  1.  B.  von  John,  Geschichte  der  Statistik, 
M.  Haushofer,  Statistik,  bes.  Buch  1,  Kap.  2 und  3,  Block-v.  Scheel,  Statistik, 
bes.  S.  56,  6S.  G.  Mayr,  Gesetzmässigkeit  im  Gesellschaftslebon , München  1877, 
S.  11  ff.  Westergaard,  Theorie  der  Statistik,  S.  271. 

Roscher  verkennt  (System  I,  §.  18)  die  Bedeutung  der  Statistik  als  Methode 
durchaus,  er  müsste  folgerichtig  grade  von  seinem  Standpuncte  aus  zur  Forderung  der 
„statistischen  Methode“  und  zur  thunlichsten  Ergänzung,  je  nachdem  auch  zur  Er- 
setzung der  „historischen“  durch  diese  gelangen  (s.  schon  meine  Abh.  Statistik, 
S.  467).  Sein  Satz:  „Statistik  nennen  wir  die  Schilderung  des  zuständlichen,  beson- 
ders gegenwärtigen  Volkslebens  nach  Maassgabe  der  Ent  Wicklungsgesetze, 
welche  von  den  oben  (in  s.  §.  16  ff.)  erwähnten  theoretischen  Wissenschaften 
beobachtet  (sic!)  worden  sind“  (Anfang  des  §.  18),  dreht  den  wirklichen  Sach- 
verhalt geradezu  um.  Denn  umgekehrt  ist  es  richtig:  mit  Hilfe  der  Statistik  als 
Methode  sind  eventuell  jene  „Entwicklungsgesetze“  erst  zu  beobachten  (bezw.  richtiger 
gesagt,  aus  Beobachtungen  abzuleiten)  und  auf  diese  W’eise  ist  den  betreuenden  „theo- 
retischen“ Wissenschaften  vorzuarbeiten,  von  diesen  dann  für  die  Ergebnisse  des  sta- 
tistischen Bcobachtungs-  und  Ableitungsverfahrcns  eventuell  die  Erklärung  und  Be- 
gründung zu  liefern.  Richtiger  inmerhin,  wenngleich  die  Statistik  noch  nicht  deutlich 
als  Inductionsmethodo  erkennend,  schon  Rau,  I.  §.  25  vgl.  mit  §.  12. 

Ucber  die  Beziehung  von  Geschichte  und  Statistik  s.  besonders  Bemheim’s 
historische  Methode,  S.  69,  74  1F.  Er  rechtfertigt  die  Geschichte  als  darstellende, 
schildernde,  sich  nur  mit  dem  Sein  und  Werden  der  von  ihr  betrachteten  Erschci- 


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Statistik  und  Historik. 


205 


nungen  beschäftigende  Wissenschaft  ganz  richtig  gegen  falsche  Angriffe  von  socio- 
logischer  und  von  derjenigen  statistischen  Seite,  welche  nach  Gesetzen  der  Erschei- 
nungen forscht.  Das  ist  auch  folgerichtig,  soweit  er  diejenigen  Aufgaben,  welche 
über  die  von  uns  oben  unterschiedene  erste  Aufgabe  der  Feststellung  des  thatsäch- 
lichen  Seins  und  Werdens  der  Erscheinungen  hinausgehen,  eben  mit  den  meisten 
Historikern  für  die  Geschichte  als  eigene  Wissenschaft  ab  weist,  insbesondere,  wie  in 
den  oben  S.  146,  Note  2 citirten  Satze  eine  Ableitung  von  „Gesetzen“  u.  dgl.  nicht 
als  Aufgabe  der  Geschichtswissenschaft  betrachtet  Eine  Ansicht,  welche  sich  ja  auch 
mit  sehr  guten  Gründen  unterstützen,  wenngleich  mit  einigen  anderen  anfechten  lässt. 
Jedenfalls  aber  wo,  wie  es  doch  auch  die  Historiker  für  ihre  Wissenschaft  thun, 
die  dritte  unserer  Aufgaben,  die  Erklärung  des  Causalzusammenhangs  der  concreten 
geschichtlichen  Erscheinungen  und  Vorgänge,  mit  ins  Auge  gefasst  wird,  ist  die  Sta- 
tistik mit  ihrem  Zahlenmaterial , d.  h.  mit  ihren  quantitativ  genau  bestimmten  Beob- 
achtungen, vielfach  unentbehrlich,  sicherlich  ein  werthvolles  Hilfsmittel  der  Beweis- 
führung. Bemheim’s  Ausführungen  unterscheiden  bei  Statistik  und  bei  Geschichte 
Methode  und  Wissenschaft  nicht  klar. 

Vollends  in  Wissenschaften,  wie  der  Politischen  Oekonomie,  wo  ausser  der  ersten 
die  übrigen,  insbesondere  auch  die  zweite  der  besprochenen  Aufgaben  (Auffindung 
des  Typischen,  Generellen)  in  Betracht  kommen,  wäre  eine  Beweisführung,  wie  die 
von  Beruheim  a.  a.  0.,  gegen  die  Statistik  unzutreffend.  Der  eigentümliche  Vorzug, 
quantitativ  genau  bestimmte  an  Stelle  der  dieses  Moments  entbehrenden,  daher  nur 
mehr  oder  weniger  vagen  geschichtlichen  Beobachtungen  zu  setzen,  bleibt  hier  der 
statistischen  vor  der  historischen  Methode.  Das  hat  die  neuere  Richtung  der  Wirth- 
sebafts-  und  Culturgeschichte  auch  erkannt,  indem  sie  oben  für  frühere  Zeiten  eben- 
falls möglichst  zahlenmässig  bestimmte  genaue  Angaben  zu  gewinnen  sucht  (Lam- 
precht,  v.  Iuama- Sternegg,  Bücher  u.  A.  m.).  Auf  dem  Gebiete  der  „historischen 
Bevölkerungsstatistik“  (Schönberg,  Bücher,  Höniger,  Jastrow  u.  A.  m.)  strebt  man  mit 
Erfolg  dahin,  die  statistische  Methode  auf  dem  historischen  Gebiete  einzubürgern, 
was  auch  für  die  politische  Geschichte  zu  werthvollen  Ergebnissen  zu  führen  beginnt. 

Würde  man  klarer  und  schärfer,  wie  es  nunmehr  in  der  Statistik  geschieht, 
auch  in  der  Geschichte  „Wissenschaft“  und  „Methode“  unterscheiden, 
was  hier  aus  ähnlichen  Gründen  zu  fordern  ist,  so  würde  auch  mancher  Streit  über 
die  „historische  Methode“  in  unserer  Disciplin  leichter  und  einfacher  zu  schlichten 
sein  (§.  84).  Auch  die  Verwechslung  von  concreter  Wirtbschaftsgescliichte,  als  einer 
descriptiven  Disciplin,  — wie  concreter  politischer  Geschichte  — und  Politischer 
Oekonomie  (theoretischer  wie  practischer)  — wie  theoretischer  Politik  oder  Staats- 
lehre — würde  dann  leichter  vermieden  und  sich  sofort  noch  deutlicher  als  falsch 
erweisen.  Die  concreto  Wirtschaftsgeschichte  stellt  sich  eben  nur  die  erste  und  da- 
neben allenfalls  die  dritte  der  oben  getrennten  Aufgaben,  bedient  sich  zu  deren  Lösung 
der  geschichtlichen  und  statistischen  Beobachtungen,  daneben  aber  auch  immerhin 
mit,  bei  der  ersten  zur  Ergänzung  der  Beobachtungslücken,  auch  zur  Aufdeckung  von 
Beobachtungsfehlern,  bei  der  dritten  sogar  in  stärkerem  Maasse  zur  Begründung  und 
Erklärung,  des  psychologisch -deductiven  Verfahrens.  Die  Politische  Oekonomie  stellt 
sich  neben  diesen  vor  Allem  die  zweite,  und  eventuell  die  weiteren  drei  practischen 
Aufgaben,  wo  sie  mit  der  historischen  Methode  der  Beobachtung  nicht  ausreicht  und 
mit  der  statistischen  und  deductiven  erheblich  besser  fährt,  besonders  wegen  der  schon 
oben  hervorgehobenen  Möglichkeit,  die  Ursachen  und  Wirkungen  gedankenmässig  und 
bei  der  statistischen  Methode  selbst  in  einer  Art  experimenteller  Weise  zu  isoliren. 

Aus  unzulänglichen  Gründen,  — zu  donen  neuerdings  auch  solche  getretou  sind, 
welche  aus  einer  an  sich  nicht  unberechtigten,  aber  wieder  zu  weitgehenden  Reaction 
gegen  die  „naturwissenschaftliche“,  „mechanistische“  Auffassung  des  Wirthschafts- 
und  socialen  Lebens  als  eines  Gebiets  des  Geisteslebens,  der  Wirthschafts-  und  Social- 
wissenschaften als  Theilen  der  Geisteswisseuschaften  ihren  Ursprung  haben  — hat 
man  in  der  Politischen  Oekonomie,  besonders  in  der  historisch -nationalökonomischen 
Schule,  die  zweite  Aufgabe,  die  Erforschung  des  Typischen,  und  die  weiteren  prac- 
tischen Aufgaben,  die  Aufstellung  von  Idealpostulaten , die  Beschäftigung  mit  dem 
Forschen  nach  dem  Sein-Sollcn  u.  s.  w.  mituutcr  abgewiesen.  Wer  das  thut,  mag 
auch  die  Statistik,  als  Methode,  ebenso  wie  die  spcculative  Deduction  hinter  die 
„historische  Methode“  auf  dem  Gebiete  unserer  Wissenschaft  reihen.  Aber  bei  der 


206 


1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  3.  A.  Induction  §.  Sl. 


Lösung  der  dritten  Aufgabe,  der  Miterforschung  der  causalen  und  conditionellen  Zu- 
sammenhänge, eine  Aufgabe,  welche  doch  auch  der  historische  Nationalökonom  nicht 
abweist,  wird  er  mit  der  historischen  Methode  allein  nicht  auskommen.  um  zwingendere 
Beweise  zu  führen.  Und  bei  der  Lösung  der  ersten  Aufgabe  wird  auch  er  sich  noth- 
wendig  so  viel  als  möglich  der  statistischen  Methode  bedienen  müssen,  um  eben  eine 
genauere  Feststellung  der  Thatsachen  nach  der  quantitativen  Seite  zu  erreichen. 

§.  81.  — 1.  Die  Statistik  als  Methode. 

a)  Wesen  und  methodologischer  Werth  dieser  Me- 
thode. Als  Methode  ist  die  Statistik  die  genaue,  womöglich  in 
Zahlen  ausgedrückte  und  dadurch  messbare  Quantitätsbestimmungen 
bezweckende  systematische  Massenbeobachtung  aller  der- 
jenigen Erscheinungen  der  realen  Welt,  daher  auch  der  wirtschaft- 
lichen Erscheinungen,  welche  als  Functionen  von  constanten  und 
variablen  (accid enteilen)  Ursachen  und  als  abhängig  von  eben 
solchen  Bedingungen,  keinen  absolut  gleichmässigen,  typischen,  son- 
dern einen  bloss  im  Ganzen,  in  der  Masse  der  Fälle  regelmässigen 
Character  (Gestaltung,  Entwicklung)  haben,  in  den  einzelnen  Fällen 
aber  unter  dem  vorherrschenden  Einfluss  der  variablen  Ursachen 
und  Bedingungen  mehr  oder  weniger  von  dieser  regelmässigen 
Gestaltung  abweichen  und  ein  individuelles  Gepräge  zeigen. 

Diese  Begriffsbestimmung  ist  hier  in  der  Fassung  etwas  verändert  gegen  die 
kürzere  in  meiner  Abh.  Statistik  im  Staatswörterbuch  (X,  46!»),  aber  nach  Sinn  und 
Inhalt  doch  damit  identisch.  Zur  weiteren  Erläuterung  und  Begründung  beziehe  ich 
mich  auf  die  ganze  dort  aufgestellte  „Theorie  der  Statistik*4  (S.  456 — 4b0),  auch  für 
das  Folgende,  worin  ich  mich  mehrfach  an  das  dort  Gesagte  anschlicssc.  An  dieser 
Stelle  handelt  es  sich  aber  nicht  darum,  alles  Dortige  zu  wiederholen. 

Unter  den  dem  inductivcn  Verfahren  dienenden  vier  Beob- 
achtungsmethoden ist  nur  die  statistische  geeignet,  die  wich- 
tigeren und  schwierigeren  Aufgaben  der  Politischen  Öko- 
nomie (§.  57)  neben  oder  an  Stelle  des  deductiven  Verfahrens 
überhaupt  zu  lösen.  Sie  hat  aber  auch  da,  wo  die  drei  anderen 
Beobachtungsmethoden  zur  Lösung  der  Aufgaben,  auch  der  ersten, 
mit  benutzt  werden  können,  Vorzüge  vor  diesen  anderen.  Nament- 
lich kann  mit  Hilfe  der  statistischen  Methode  der  Complicirtheit 
des  Verursachungs-  und  Bedingungssystems,  dem  Zusammentreffen, 
dem  sich  in  den  Wirkungen  Aufheben  und  Modificircn  der  con- 
stanten und  variablen  Ursachen  Kechnung  getragen , können  auch 
verwickelte  Erscheinungen,  Vorgänge  auf  ihre  bedingenden  und 
verursachenden  Factoren  mit  grösserer  Sicherheit  zurückgefühlt 
werden.  Die  quasi- experimentelle  Isolirung  der  Wirkungen  und 
Ursachen  und  Bedingungen,  die  Anwendung  der  Messung  und  Rech- 
nung auf  die  causalen  und  conditionellen  Beziehungen,  die  mathe- 
matische Bestimmung  des  Grads  der  Zuverlässigkeit  der  Beob- 


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Statistik  als  Methode.  W esen  und  Werth  derselben. 


207 


achtuogen  und  der  Sicherheit  der  Scblusszieliungen  aus  ihnen  wird 
bei  dieser  Methode  und  bei  ihr  unter  den  vier  Beobachtungs- 
methoden wieder  allein  möglich.  Auf  diese  Weise  kann  man  unter 
Umständen  dahin  gelangen,  qualitative  Verschiedenheiten  auf  quan- 
titative ztirückzuführen.  Die  zweite  und  dritte  Aufgabe  wird  so  mit 
Hilfe  dieser  Methode  besonders  erfolgreich  behandelt  und,  soweit 
als  überhaupt  die  statistisch  erfassbaren  Momente 
entscheiden,  auch  gelöst:  das  wirklich  Generelle,  Typische,  vom 
Individuellen,  Speciellen  genau  geschieden,  der  wirkliche  Causal- 
zusammenhang  sicher  festgestellt  und  dadurch  erst  der  Boden  ge- 
wonnen, wo  nun  die  Erklärung,  eventuell  deductiv,  zu  erfolgen 
hat,  jedenfalls  zu  versuchen  ist.  Auch  bei  den  drei  practischen 
Aufgaben  leistet  die  statistische  grösseie  Dienste  als  eine  jede  der 
drei  anderen  Beobachtungsmethoden. 

Der  Mangel  und  der  Uebelstand  bleibt  auch  bei  der  statistischen 
Methode,  dass  dieselbe  nicht  überall  und  immer  anwendbar  ist, 
theils  im  gegebenen  Fall  nicht,  weil  die  Dinge  zur  Zeit,  in  der  sie 
sich  zutrugen,  nicht  oder  nicht  genügend  statistisch  aufgenommen 
wurden,  theils  weil  sie  sich  damals  überhaupt  nicht  statistisch  auf- 
nehmen Hessen  oder  auch  jetzt  nicht  oder  noch  nicht  so  aufnehmen 
lassen,  theils  endlich,  was  natürlich  viel  wichtiger  ist,  weil  sie  sich 
überhaupt  der  quantitativen,  vollends  der  zahlenmässigen  Fest- 
stellung ihrer  Natur  nach  entziehen. 

In  ersterer  Hinsicht  ist  z.  B.  klar,  dass  das  statistische  Ver- 
fahren, was  man  oft  richtig  hervorgehoben,  aber  unrichtig  zu  einem 
einseitigen  Schluss  gegen  den  Werth  der  Statistik  benutzt  hat, 
auf  das  zeitliche  Nacheinander  der  Erscheinungen  häufig  nicht 
oder  viel  weniger  als  auf  das  räumliche  und  zeitliche  Nebenein- 
ander anwendbar  ist.  Allein  damit  ist  noch  nicht  viel  gegen  das 
statistische  Verfahren  bewiesen. 

Natürlich,  wenn  in  vergangenen  Zeiten  keine  entsprechenden  statistischen  Auf- 
nahmen auf  einem  Gebiete  von  Erscheinungen  erfolgt  sind,  so  kann  man  das  statistische 
Verfahren  in  Bezug  auf  dieses  Gebiet  auch  nicht  anwenden.  Das  gilt  aber  selbst- 
verständlich grade  so  hinsichtlich  der  anderen  drei  Beobachtungsmethoden,  auch  die 
historische  versagt,  wenn  keinerlei  betreffende  geschichtliche  Thatsachen  seinerzeit 
constatirt,  aufgezeichnet  worden  sind.  Mit  diesem  practisch  oft  richtigen  Einwaud 
gegen  die  Statistik  beweist  man  also  nichts,  weil  man  zu  viel  beweist  oder  eigentlich 
nur  Selbstverständliches  sagt.  Wie  die  neuerliche,  auf  diesen  Punct  gerichtete  archi- 
valische  Forschung,  Durchstöberung  alter  Register,  Rechnungen  u.  s.  w.  erwiesen  hat, 
ist  indessen  weit  mehr  selbst  zahlenstatistischer  Stoff,  freilich,  abgesehen  von  gewissen 
Rechnungen,  von  meistens  unsicherer  und  geringerer  Güte  als  aus  der  Neuzeit  und 
aus  der  Gegenwart,  schon  aus  viel  weiter,  bis  ins  Mittelalter  hinein  zurückliegenden 
Zeiten  noch  vorhanden,  als  man  früher  annahm.  Auch  weisen  sonstige  Spuren  auf 
manches  untergegangene,  aber  einst  doch  aufgenommene  statistische  Material  hin. 


208 


1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  3.  A.  Indaction.  §.  81. 


Je  länger  die  Jahresreihen  zuverlässig  ermittelter  statistischer  Thatsachen  werden, 
desto  mehr  wird  ganz  von  selbst  die  statistische  Methode  auch  auf  das  zeitliche 
Nacheinander  der  Erscheinungen  anwendbar. 

Ferner,  je  mehr  die  statistische  Technik  sich  vervollkommnet, 
schon  bei  der  ersten  Aufnahme  der  Thatsachen,  je  mehr  Arten  und 
Keihen  von  Thatsachen  für  diese  Aufnahme  sich  geeignet  erweisen 
und  je  mehr  Schwierigkeiten,  z.  B.  im  Widerstand,  in  der  Ab- 
neigung, im  Büdungsstand,  in  Vorurtbeilen  der  Bevölkerung,  ver- 
schwinden oder  sich  überwinden  lassen,  gerade  auch  auf  dem  Ge- 
biete der  wirtschaftlichen  Thatsachen  (wie  etwa  der  Einkommen-, 
Vermögens-,  Erwerbsverhältnisse),  desto  umfangreicher  und  sicherer 
wird  die  statistische  Methode  zur  Lösung  von  Fragen  und  Auf- 
gaben, wie  der  früher  besprochenen,  anwendbar. 

Vielfach  wird  man  sich  bis  dahin  denn  auch  statt  mit  genauen,  auf  Grund  von 
Zählungen  ermittelten  Zahlen  mit  Schätzungen  von  Zahlen  nothgedrungen  be- 
gnügen müssen.  Auch  solche  Schätzungen,  für  welche  man,  z.  B.  in  der  Bevölke- 
rungsstatistik, wissenscbastliche  Gesichtspuncte  aufstcllen  kann,  sind  nicht  werthlos, 
können  daher  unter  gewissen  Cantelen  auch  die  Grundlage  weiterer  Operationen  des 
statistischen  Verfahrens  bilden.  Eine  „ungefähre“  Zahlenangabo  muss  eben  öfters, 
kann  aber  auch  nicht  selten  für  manche  Zwecke  genügen.  Selbst  noch  allgemeinere 
Quantitätsbestimmungen  („viel“,  „wenig“,  „mehr“,  „weniger“,  „grösser“,  „geringer“  etc.) 
sind  in  Ermangelung  genauerer  Daten  nicht  aus  dem  Gebiete  der  statistischen  Me- 
thode schlechtweg  auszuschliessen , so  dass  auch  die  häufig  erfolgende  begriffliche 
Beschränkung  der  Statistik,  als  Methode,  auf  zahlenmässige  Angaben  zu  weit  gehen 
möchte,  wenn  die  Erreichung  genauer  zahlenmässiger  Angaben  auch  das  Ziel  sein 
muss  (s.  meine  Abh.  Statistik,  S.  474). 

Wenn  die  angedeuteten  Umstände  den  Werth  der  statistischen 
Methode  vermindern  und  je  nachdem  auch  dazu  führen,  dass  die- 
selbe mitunter  den  Dienst  ganz  versagt,  so  liegen  die  Verhältnisse 
noch  ungleich  ungünstiger  in  dem  anderen  erwähnten  Puncte,  dass 
eben  Vieles  sich  quantitativ,  zahlenmässig,  statistisch 
nicht  erfassen  lässt.  Allerdings  ist  es  ja  an  sich  nicht  un- 
möglich, alles,  was  als  Thatsache  in  der  realen  Welt  in  die  Er- 
scheinung tritt,  daher  auch  alle  wirthschaftlichen  Thatsachen,  zu 
zählen,  zu  messen,  quantitativ  zu  bestimmen,  wenn  sich  auch  von 
diesen  Thatsachen  Vieles  wiegen  unüberwindlicher  Schwierigkeiten 
der  Aufnahme  practisch  dieser  Behandlungsweise  entziehen  wird. 
Da  wird  dann  wieder  die  „tägliche  Beobachtung“,  die  wissenschaft- 
liche Einzelbeobachtung,  die  historische  Methode  und  eventuell  die 
Deduction  zum  Ersatz  eintreten  müssen.  Misslicher  ist  aber  noch 
ein  ganz  anderer  Umstand,  selbst  bei  denkbar  vollendetster  sta- 
tistischer Technik:  die  Thatsachen,  welche  in  die  Erscheinung 
treten,  sollen  doch  nicht  nur  constatirt,  beschrieben,  sondern  in 
ihrem  Sein,  Werden,  Verlauf,  Vergehen  erklärt,  auf  ihre  Be- 
dingungen und  Ursachen  zurückgeführt,  ihre  Abhängig- 


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Statistik  als  Methode.  Wesen  und  Werth  derselben. 


209 


keit  von  diesen  soll  ermittelt,  womöglich  gemessen  werden. 
Soweit  nun  die  Bedingungen  und  Ursachen  wieder  in  anderen, 
vorangehenden,  früher  in  die  Erscheinung  tretenden  bestimmten, 
äusserlich  genau  constatii  baren  und  quantitativ  bestimmbaren  That- 
sachen  bestehen,  müssen  und  können  eventuell  auch  diese  beob- 
achtet und  auch  statistisch  aufgenommen  werden.  Wo  das  mög- 
lich ist,  erweist  sich  gerade  das  statistische  Verfahren,  z.  B.  mittelst 
seiner  Tabellarisirung,  worin  schon  äusserlich  Functionenverhält- 
nisse hervortreten,  sehr  förderlich. 

Allein  im  Gebiete  der  Erscheinungen,  welche  direct  und  in- 
direct  auf  menschliche  Handlungen,  daher  auf  Willens- 
acte und  innere  psychische  Motive  zurückzuführen  sind,  wie 
auch  im  socialen  und  wirtschaftlichen  Gebiete,  liegen  gerade  die 
letzten  tieferen  Gründe,  Ursachen,  Bedingungen  der  Erscheinungen 
oft  weit  zurück,  wirken  nur  durch  eine  ganze  Reihe  von  Mittel- 
gliedern ein  und  entziehen  sich  der  äusseren  statistischen  Erfassung, 
sobald  sie  nicht  in  einzelnen  sichtbaren  Thatsachen,  welche  mit 
Sicherheit  als  von  ihnen  ausgehend  erkannt  werden  können,  deut- 
lich hervortreten.  Hier  spielen  geistige  Imponderabilien 
mit,  welche  allenfalls  als  mitwirkende,  mitbedingende  Factoren  mit 
mehr  oder  weniger  Wahrscheinlichkeit  ermittelt,  deren  Bedeutung 
jedoch  nicht  unter  Zahl  und  Maass  gebracht  wrerden  kann.  Dies 
gilt  aber  gerade  von  sehr  wichtigen  Momenten  im  Wirtschaftsleben. 


Wie  bedeutsam  ist  z.  B.  der  Einfluss  der  gesammten  Staatsthätigkcit  in  der 
Sicherung  des  Rechtsschutzes,  in  der  Hebung  des  Bildungsstands,  in  der  allgemeinsten 
Förderung  der  wirtschaftlichen  Interessen  durch  eine  Reihe  von  Einrichtungen  (Ver- 
kehrswesen u.  s.  w.)  auf  die  Entwicklung  der  Production!  Und  doch,  wio  vergeblich 
ist  das  Bemühen,  bei  dem  Mitspielen  von  anderen  Einflüssen  in  derselben  und  in  sich 
kreuzender  Richtung,  nun  sicher  im  Einzelnen  nachzuweisen , öfters  schon  ob. 
vollends  aber  in  welcher  Weise  und  zumal  erst  in  welchem  Maasse  bestimmte 
wirtschaftliche  Erscheinungen,  z.  B.  die  Entwicklung  des  und  des  Industriezweigs  in 
der  und  der  Zeit  und  Gegend,  grade  auf  diese  Staatsthätigkcit  und  auf  die  ein- 
zelnen dazu  gehörigen  Maassregeln,  Einrichtungen,  Acte  zuruckzuführen  ist.  Auch 
was  sich  hier  an  äusserlich  beobachtbaren  Thatsachen,  Erscheinungen  als  Wirkungen 
und  Ursachen  feststcllen  lässt,  wird  eben  gleichzeitig  von  so  mancherlei  verschiedenen  Um- 
ständen beeinflusst,  dass  der  specielle  Einfluss  der  allgemeinen  und  der  der  besonderen 
Staatsthätigkcit  doch  wieder  nur  etwa  im  Ganzen  wahrscheinlich  gemacht,  aber 
nicht  genau  unter  Zahl  und  Maass  gebracht  werden  kann. 

Vielfach  spiolen  hier  auch  allgemeinere  psychische  Momente  mit,  in  Be- 
treff deren  wiederum  das  Ebcngesagto  gilt,  z.  B.  die  Hebung  des  Volks-  und  Staats- 
bewusstseins durch  grosse  politische  Erfolge  reagirt  auf  das  Wirtschaftsleben  durch 
Erweckung,  Steigerung  der  wirtschaftlichen  Initiative  der  Unternehmer,  durch  Er- 
höhung des  Prestiges  auch  der  wirtschaftlichen  Leistungen  im  In-  und  Auslande 
(Deutschland  seit  18701).  Der  Uebergang  zu  einem  Schutzzollsystem  hebt  die  wirt- 
schaftliche Stimmung,  den  Mut  der  Unternehmer  u.  dgl.  m.  Gewiss  oft  sehr  wich- 
tige Einflüsse,  deren  Einwirkung  auch  im  Ganzen,  z.  B.  in  der  Steigerung  der  ge- 
sammten und  der  auf  gewissen  Gebieten  stattfindenden  Productionsthätigkeit,  in  der 
Ausdehnung  des  auswärtigen  Handels  mit  Sicherheit  sich  mag  nachwcisen,  richtiger 
A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  TheiL  Grundlagen.  l-l 


210 


1.  B.  2-  K.  2.  H.-A.  Methoden.  3.  A Induction.  §.  81 , 82. 


gesagt:  sicli  mag  sehr  wahrscheinlich  machen  lassen.  Aber  wiederum:  die  Nach- 
weisong  dieser  Einflüsse  im  Einzelnen  und  die  Messung  der  letzteren  bleibt  eben 
das  Unsichere,  vielfach  Unmögliche.  Da  man  nicht  cxperimentiren  kann,  da  notorisch 
so  mancherlei  Anderes  in  derselben  oder  in  sich  kreuzender  Richtung  gleichzeitig 
mitspielt,  kann  mau  auch  festgestellte  Thatsachcnreihen,  die  sich  einander  folgen  und 
im  Verhältnis  von  Ursache  und  Bedingung  zu  Wirkung  und  Folge  stehen  können, 
z.  B.  Maassregeln  einer  Schutzpolitik  und  Aufschwung  von  Productionszweigen,  doch 
eben  wiederum  nur  mit  vielleicht  grosser  Wahrscheinlichkeit  in  die  Beziehung  von 
wirklicher  Ursache  und  Wirkung  im  concreten  Fall,  aber  das  wirklich  bestehende  Ab- 
hängigkeitsverhältniss  doch  nicht  sicher  unter  Maass  und  Zahl  bringen.  Das  ist  die 
Schwierigkeit,  welche  im  Wesen  der  socialen,  der  wirthschaftlichen  Vorgänge  als  Pro- 
ducten  psychischer  Factoren  liegt  und  sich  genügend,  auch  mit  Hilfe  der  feinsten 
und  genauesten  statistischen  Methode,  nicht  überwinden  lässt.  Von  den  streitenden 
Parteien  wird  das  in  Bezug  auf  die  Erfolge  von  wirthschaftspolitischen  Maassregeln 
so  oft  vergessen,  mit  allen  Zahlen  kein  genügender  Beweis,  der  den  Gegner  überzeugen 
müsste,  geführt.  Daher  denn  auch  die  bleibende  Meinungsverschiedenheit  von  Geg- 
nern über  solche  Erfolge,  z.  B.  der  mercantilistischen  , schutzzöllnerischen  Handels- 
politik im  Ganzen  und  im  Einzelnen  in  einem  concreten  Falle:  „Ist  die  britische 
Handelsmarine  durch  oder  trotz  der  Navigationsacte  zu  ihrer  Blüthe  gekommen?“ 

Die  Unzulänglichkeit  der  statistischen  Methode,  hier  wo  solche 
Imponderabilien  bei  complicirten  Erscheinungen  im  Wirthschafts- 
leben  mitspielen,  ist  demnach  unbedingt  zuzugeben.  Aber  zu  Gunsten 
der  anderen  Beobaehtungsmethodcn,  auch  der  historischen,  folgt 
daraus  nichts.  Denn  diese  Methoden  bewähren  sich  hier  nicht  in 
höherem,  sondern  in  der  Regel  selbst  in  noch  geringerem  Grade. 
Man  kann  mit  denselben,  insbesondere  mit  der  historischen,  auch 
bcstenfalles  nur  gewisse  derartige  Einflüsse  als  vorhanden  con- 
statiren,  ihre  Bedeutung  aber  ebenso  wenig  oder  noch  weniger 
messen.  Olt  wird  man  die  Einwirkung  solcher  Einflüsse  nur  wahr- 
scheinlich machen  können.  Erst  wenn  und  soweit  es  gelingt,  sta- 
tistische Beobachtungen  mit  in  die  Beweisführung  zu  ziehen , wird 
man  vielleicht  den  Grad  der  Wahrscheinlichkeit  eines  Zusammen- 
hangs zu  steigern  vermögen. 

Das  wird  von  den  Vertretern  der  bistorischen  Methode  wieder  nicht  gebührend 
berücksichtigt.  Gewiss  kann  grade  bei  der  Anwendung  dieser  Methode  der  Thatsache 
des  Vorhandenseins  und  der  Mitwirkung  solcher  Imponderabilien  Rechnung  getragen 
werden.  Aber  die  Gewissheit  dieser  Mitwirkung,  geschweige  das  Maass  der  letzteren 
lässt  sich  damit  allein  nicht  feststellen,  z.  B.  wiederum  bei  der  Würdigung  des  Ein- 
flusses wirthschaftspolitischer  Maassregeln.  Nur  die  Benutzung  statistischen  Materials 
vermag  hier  etwas  weiter  zu  helfen,  aber  nach  dem  Gesagten  auch  nicht  weit  genug. 
Es  ist  daher  gewiss  richtig,  wenn  wirthschaftsgeschichtlichc  Untersuchungen  sich  mög- 
lichst dieses  Materials  mit  bedienen.  Aber  selbst  dann  bleiben  die  angedcuteten 
Mängel  der  Beweisführung,  auch  bei  der  sich  so  nennenden  „exactcsten“  wirtbschafts- 
geschichtlichcn  Forschung,  soweit  es  sich  um  die  sichere  Aufdeckung  bestimmter 
Zusammenhänge  und  Abhängigkcitsverhältnissc  der  Erscheinungen  und  um  die  Ge- 
winnung von  Maassbestimmungen  hierfür  handelt. 

Man  kann  auch  nicht  einwenden,  dass  das  eben  überhaupt  in  aller  Mensch- 
heitsgeschichte, auch  in  der  politischen  Geschichte,  nicht  anders  sei:  auch  hier  könne 
man  immer  nur,  auch  mit  den  Hilfsmitteln  der  genauesten  Thatsachenerforschung, 
Zusammenhänge,  Verkettungen  von  Ursachen  und  Wirkungen,  Einflüsse  von  allgemeinen 
Maassregeln,  von  Persönlichkeiten  mehr  oder  weniger  wahrscheinlich  machen.  Aller- 
dings verhält  es  sich  so.  Aber  auf  dem  wirthschaftlichen  Gebiete  sind  die  Schwierig- 
keiten doch  noch  grössere,  die  Ergebnisse  der  historischen  und  statistischen  Beob- 


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Anwendung  der  statistischen  Methode. 


211 


achtung  und  Untersuchung  in  Bezug  auf  die  Zusammenhänge  der  Erscheinungen  und 
auf  den  Einfluss  jener  angedeuteten  Imponderabilien  noch  unsicherer,  weil  es  sich, 
wenigstens  in  jeder  mehr  oder  weniger  freieu,  individualistischen  Gestaltung  des  Wirth- 
schaftslebens,  doch  um  spontane  oder  von  anderen  Motiven  bestimmte  individuelle 
Thätigkeiten  und  höchstens  um  mehr  oder  weniger  entfernte  Einwirkungen  jener  Fac- 
toren  auf  die  wirtschaftliche  Motivation  und  auf  die  daraus  hervorgehende  Hand’ 
lungsweise  der  Individuen  bandelt.  Hier  eben  zu  trennen,  was,  vollends  in  welchem 
Maasse  es  der  Wirklichkeit  entsprechend  auf  solche  Einwirkungen  zurückzuführen  ist, 
was  und  in  welchem  Maasse  nicht,  das  bleibt  das  mit  allen  Hilfsmitteln  der  äusseren 
Beobachtung,  auch  der  feinsten  historischen  und  statistischen  Methode,  eben  nicht  ge- 
nügend zu  lösende  Problem. 

Aus  dem  Allen  folgt,  dass  in  solchen  Fällen  immer  wieder  auf 
die  psychologische  Deduction  zurückgegriffen  werden  muss. 
Auch  diese  vermag  dann  freilich  nichts  Andres  als  Wahrscheinlich- 
keiten der  Zusammenhänge  und  Abhängigkeitsverhältnisse  fest- 
zustellen. Aber  diese  Wahrscheinlichkeiten  werden  einen  grösseren 
Werth  als  die  mit  den  Beobachtungsmethoden,  auch  der  historischen 
und  der  statistischen,  ermittelten  beanspruchen  können,  weil  die  Methode, 
mit  welcher  sie  gewonnen  wurden,  gleichzeitig,  voraussetzungsweise, 
die  bedingenden  und  verursachenden  Factoren  als  die  psychologisch 
in  ihrer  Wirksamkeit  begreiflichen  wird  nachgewiesen  haben. 
Genaue  Maassbestimmungen  für  die  Beziehungen  zwischen  Ur- 
sachen und  Bedingungen,  Wirkungen  und  Folgen  werden  zwar  auf 
diese  Weise  gleichfalls  nicht  erreicht,  wohl  aber  Bestimmungen  der 
Richtung,  in  welcher,  und  einigermaassen  auch  der  Intensität, 
mit  welcher  gewisse  Ursachen  und  Bedingungen  sich  wirksam  er- 
weisen, und  wiederum  hier  mittelst  der  Deduction  sicherer  und 
psychologisch  begreiflicher,  als  mit  den  Beobachtungsmethoden. 
Daher  dient  hier  die  deductive  Methode  doch  zur  besseren  Erklä- 
rung und  Verständlichmachung  der  Zusammenhänge  und  Abhängig- 
keitsverhältnisse. 

§.  82.  — b)  Anwendung  der  statistischen  Methode. 

Das  Nähere  hierüber  gehört  in  die  Schriften  über  Theorie  der  Statistik.  Ich 
beschränke  mich  auf  einige  Bemerkungen,  bei  welchen  ich  meiner  Abh.  Statistik 
ibes.  S.  468  ff.)  folge,  und  füge  einige  Stellen  daraus  wörtlich  ein.  Vgl.  Uber  die 
Bedingungen  der  Regelmässigkeit  und  Uber  die  Hauptsätze  der  Wahrscheinlichkeits- 
rechnung u.  A.  die  Ausführungen  W' est  ergaard ’s  (Statistik,  S.  10  ff.,  56  ff).  Als  Bei- 
spiel für  die  Behandlung  eines  Complexes  von  bestimmten  Erscheinungen  nach  der 
statistischen  Methode  behufs  Feststellung  des  Generellen  und  der  conditionellen  und 
cansalen  Verhältnisse  gemäss  den  von  mir  hier  in  der  Methodologie  vertretenen  Ge- 
sichtspuncten  beziehe  ich  mich  auf  die  Selbstmordstatistik  im  2.  Theil  meiner  „Gesetz- 
mässigkeit scheinbar  willkubrlicher  menschlicher  Handlungen“. 

Genügende  Massenhaftigkeit  und  richtige  Systematik 
möglichst  zuverlässiger  Beobachtungen,  welche  Qualitätsbestim- 
mungeu,  bezw.  Zahlenausdrücke  dafür  von  den  betreffenden  Er- 
scheinungen ergeben,  sind  die  Momente,  um  welche  es  sich  bei  der 
statistischen  Methode  handelt  und  von  denen  der  Werth  der  Ergeb- 

14* 


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212  1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  3.  A.  Induction.  §.  32. 

nisse  dieser  Methode  abhängt.  In  Betreff  der  Massenhaftigkeit  muss 
der  leitende  Gesichtspunct  sein,  möglichst  so  viele  sichere  Beob- 
achtungen einer  Erscheinung  (oder  eines  Complexes,  einer  Reihe 
von  Erscheinungen  derselben  Art)  anzustellen,  dass  die  Ursachen 
und  Bedingungen,  welche  bei  dieser  Erscheinung  überhaupt  mit- 
wirken,  nach  Wahrscbeinliehkeitsgründen  in  den  betreffenden  Beob- 
achtungen bereits  sämmtlich  und  in  der  Weise,  in  dem  Verhältniss 
zur  Wirksamkeit  gelangt  sind,  wie  es  den  constanten  und  gelegent- 
lich mitspielenden  variablen  Ursachen  und  Bedingungen,  der  Durch- 
schnittscombination  und  Durchschnittsbedeutung  und  Häufigkeit 
aller,  auch  der  variablen  Factoren,  entspricht.  Für  das  hiernach 
zu  fordernde  Maass  der  Masse  der  Beobachtungen  und  für  den 
Werth  der  Ergebnisse  nach  der  Grösse  der  Masse  lassen  sich 
mathematische  Regeln  aufstellen.  Die  Systematik  der  Beobach- 
tungen verlangt  eine  möglichst  genaue  Verfolgung  der  Verände- 
rungen der  Erscheinung  in  Zeit  und  Raum,  daher  zu  diesem  Zweck 
die  erforderliche  zeitliche  und  räumliche  Ausdehnung  der  Beob- 
achtungen, die  Zerlegung  von  Zeit  und  Raum  in  kleine  Theile, 
und  die  Beobachtung  der  Erscheinung  in  jedem  dieser  Theile.  Die 
so  gewonnenen  statistischen  Elementardaten  der  systematischen 
Beobachtung  werden  dann  aufgezeichnet,  registrirt,  geprüft,  ge- 
sammelt, classificirt,  gruppirt,  tabellarisirt,  letzteres  insbesondre  so, 
um  Functionenverhältnisse  hervortreten  zu  lassen  und  festzustellen. 
Darauf  werden  Gleichförmigkeiten  der  Wiederkehr,  der  Gestaltung, 
des  Verlaufs  der  Erscheinungen  und  Abweichungen  von  diesen 
Gleichförmigkeiten  gesucht  und  so  das  Generelle,  Typische  der 
Erscheinungen  vom  Individuellen  unterschieden.  Alsdann  werden 
die  sichtbar  oder  muthmaasslich  den  gleichförmigen  und  ungleich- 
förmigen Gestaltungen  und  Bewegungen  der  Erscheinungen  zu 
Gruude  liegenden  constanten  und  variablen  Ursachen  und  Be- 
dingungen und  bezüglichen  Combinationen  und  auf  diese  Weise 
schliesslich  Regelmässigkeiten  und  Regeln,  Gesetzmässigkeiten  und 
Gesetze  der  Erscheinungen  zu  ermitteln,  sowie  die  Erklärung  dafür 
und  für  die  Abweichungen  zu  gewinnen  gesucht.  Dieses  letzte 
Stadium  der  Erkenntniss  lässt  sich  aber  wieder  nicht  mittelst  der 
statistischen  Methode  allein  genügend  erreichen,  vielmehr  muss  hier 
wieder  die  Deduction  aus  psychischen  Motiven  hinzukommen,  um 
wirkliche  Erklärungen  zu  geben. 

Unter  den  technischen  Hilfsmitteln  des  statistischen  Verfahrens 
nimmt  die  Tabelle  eine  besonders  wichtige  Stellung  ein. 


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Anwendung  der  statistischen  Methode. 


213 


„Sie  erleichtert  nicht  nur  die  Cebersichtlichkeit,  besonders  der  Zahlendaten, 
ausserordentlich,  sondern  lässt  auch  schon  dem  physischen  Auge  die  Gleichförmig- 
keiten (und  die  Ungleichförmigkeiten)  entgegentreten.  Auch  die  formelle  kritische 
Prüfang  wird  durch  die  tabellarische  Zusammenstellung  erleichtert,  auffällige  (viel- 
leicht auf  Beobachtungs-,  Rechen-,  Schreibfehler  zurückzufuhrende)  Abweichungen  von 
der  Gleichförmigkeit  werden  in  der  Tabelle  am  Deutlichsten  hervortreten  ....  Die 
Hauptbedeutung  der  Tabelle  liegt  darin,  dass  sie  richtig  construirt,  zugleich  das 
functioneile  Verhältniss  zwischen  dem  statistischen  Object  und  den  darauf  ein- 
wirkenden Einflüssen  zum  Ausdruck  bringt.  „„Die  Tabelle  ist'*“,  wie  Engel  (Ztschr. 
d.  prenss.  stat.  Bur.,  1864,  S.  114)  sagt,  „„mit  einer  Sammlung  von  Functionen  ver- 
schiedener Art  zu  vergleichen,  indem  die  Werthe,  die  in  die  vorderste  Spalte  gesetzt 
werden,  den  Unabhängigen  oder  Unvariablen  entsprechen,  während,  wenn  man  bezüg- 
lich dieser  eine  Feststellung  getroffen  hat,  die  Werthe  in  allen  folgenden  Spalten  sich 
nur  nach  Maassgabe  jener  verändern,  mithin  die  abhängigen  Variablen  sind.  Letztere 
sind  aber  die  Functionen  der  ersteren.““  Dio  statistischen  Daten  Uber  ein  Object 
erscheinen  in  einer  solchen  Tabelle,  als  einer  Sammlung  von  Functionen,  dann  als  ab- 
hängige Variablen  der  nach  einander  zur  Prüfung  ihres  Einflusses  vorzuführenden 
Ursachen.  Man  wird  so  sofort  übersehen  können,  welche  Veränderungen  der  auf  ein 
Object  bezüglichen  Daten  unter  dem  Einfluss  räumlicher  und  zeitlicher  Veränderungen 
der  Ursachen  und  Bedingungen  erfolgen  ....  Die  Tabelle  mit  Zahlendaten  (bedingt 
selbst  eine  solche  mit  ungefähren  Quantitätsbestiminungen)  ist  eine  arithmetische 
Darstellung  des  functionellen  Verhältnisses  der  Erscheinung.  Auf  Grund  dieser  Daten 
kann  auch  eine  geometrische  Darstellung  dieses  Verhältnisses,  z.  B.  eine  Curvcn- 
zeichnung  in  einem  Coordinatensystem,  eine  sogen,  graphische  Darstellung  oder  eine 
bildliche,  mit  Farbenverschiedenheiten,  Schattenabstufungen  gegeben  werden.“  (Aus 
meiner  Abh.  Statistik,  S.  474  ff.) 

Bei  den  wichtigsten  Aufgaben,  zu  deren  Lösung  die  statistische 
Methode  in  besonderem  Maasse  beitragen  kann,  der  zweiten  und 
dritten  der  früher  von  uns  unterschiedenen,  also  zur  Auffindung 
des  Generellen,  Typischen,  des  Gesetzmässigen , des  oder  der  Ge- 
setze der  Erscheinungen,  der  conditionellcn  und  causalen  Zusammen- 
hänge und  Abhängigkeitsverhältnisse,  lässt  sich  die  statistische 
Methode  wohl  förmlich  nach  Art  der  experimentellen  For- 
schungsmethoden oder  wenigstens  in  der  Weise  ausbilden  und 
handhaben,  dass  mit  ihr  nach  Analogie  dieser  letzteren  Methoden 
verfahren  werden  kann.  So  können  mit  Hilfe  des  geeigneten  und 
entsprechend  bearbeiteten  (gruppirten,  tabellarisirten)  statistischen 
Materials  die  Methode  der  Uebereinstimmung,  die  Differenzmethode, 
diejenige  der  Rückstände  (Reste)  und  diejenige  der  sich  begleiten- 
den (concurrirenden)  Umstände  zu  einer  der  experimentellen  For- 
schung ähnlichen  Anwendung  gelangen. 

S.  über  diese  Methoden  Mi  11,  Logik,  3.  B.  Kap.  8 (Schiel’s  üebersetzung,  I, 
453  ff.)  und  dazu  Sigwart,  Logik,  II,  416  ff.  — Engel,  Bewegung  der  Bevölkerung 
im  Königreich  Sachsen  (1852),  Vorwort,  S.  V,  meine  „Gesetzmässigkeit“,  II,  Motto 
^hinter  dem  Titel)  aus  Engel,  meine  Abh.  Statistik,  S.  476.  Engel  sagt  hier  u.  A.: 
„Der  Causalzusammenhang  der  beobachteten  und  arithmetisch  aufgefassten  Erschei- 
nungen muss  analytisch  dargelegt  werden,  die  zeitlich  und  räumlich  wahrnehmbaren 
Verschiedenheiten  sind  zu  deuten  und  ihre  wahrscheinlichen  Ursachen  zu  ergründen  .... 
Die  einfachste  (zu  Grunde  zu  legende)  Methode  ist  die  der  Naturwissenschaften: 
zuerst  jede  einzelne  Erscheinung  an  sich  nach  allen  Seiten  kennen  zu  lernen,  sodann 
zu  ermitteln,  in  welchem  Zusammenhänge  sie  mit  andern  steht,  und  darauf  erst  diesen 
Zusammenhang  oder  das  Abhängigkeitsverhältniss  zu  messen.  Namentlich  müssen 


214 


1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  3.  A.  Induction.  §.  S2. 


Ursachen  und  Wirkungen  unterschieden,  ab  letztere  die  betreffenden  Erscheinungen, 
ab  crstcrc  möglicher  Webe  Alles  betrachtet  werdeu,  was  uns  umgiebt,  wahrschein- 
licher Weise  sehr  Vieles,  dessen  Einfluss  wir  uns  nicht  träumen  lassen.  Bei  der  gei- 
stigen Analyse  des  bunten  Gewirrs  der  Erscheinungen  kann  man  einen  ähnlichen 
Weg  wie  in  der  Chemie  einschlagen : die  Reihe  der  Erscheinungen  im  öffentlichen 
Leben  zu  gewissen  Gruppen  und  Abtheilungen  vereinigen,  diese  gleichsam  als  Rea- 
gentien  zur  Untersuchung  einer  bestimmten  Reihe  anderer  Erscheinungen  betrachten, 
darauf  zunächst  das  Vorhandensein  einer  Reaction,  sodann  die  Quantität  und  Qualität 
derselben  beobachten.“  Ich  füge  dem  aus  meiner  Abh.  Statistik  (S.  475)  noch  hinzu: 
„Nach  Feststellung  des  Vorhandenseins  einer  Reaction  sucht  man  die  Grösse  und  Be- 
schaffenheit des  Einflusses  mittelst  solcher  Beobachtungen,  welche  eine  bestimmte 
Modification  der  Ursache  (und  Bedingung)  und  der  Art  ihrer  Einwirkung  enthalten, 
zu  bestimmen  ....  Schliesslich  geht  mau  dann  daran , die  aufgefundenen  und  ge- 
nauer bestimmten  (gemessenen)  Abhängigkeitsverhältuisse  einer  Erscheinung  unter  sich 
und  mit  denjenigen  anderer  Erscheinungen  in  Zusammenhang  zu  bringen,  um  die 
generellere  Bedeutung  einer  Ursache  für  eine  Reihe  von  Erscheinungen  festzustellen 
und  dadurch  vielleicht  zu  einer  höheren  Ursache  empor  zu  steigen,  üeber&ll  handelt 
es  sich  hier  um  Schlüsse,  deren  logische  Richtigkeit  an  den  Denkgesetzen,  deren  wirk- 
liche, der  Realität  entsprechende  Richtigkeit  an  den  Gesetzen  der  Wahrscheinlichkeit 
geprüft  werden  muss.“  Die  Methoden  der  experimentellen  Forschungen  sind  hier 
wenigstens  nach  Analogie  anwendbar,  „trotz  der  fast  immer  mangelnden  Möglichkeit 
des  künstlichen  Experimentirens , weil  man  die  Beobachtungen  grade  wegen  der 
Mannigfaltigkeit  der  ein  statistisches  Object  beeinflussenden  Ursachen  (und  Bedingungen) 
so  einrichten  kann,  dass  sie,  den  Wechsel  Verhältnissen  der  realen  Welt  nachgehend, 
von  den  dadurch  gelieferten  natürlichen  Experimenten  Act  nehmen.“  (Eb.  habe  ich 
an  Beispielen  die  Anwendung  der  vier  genannten  Methoden  der  experimentellen  For- 
schung in  der  Statistik  gezeigt.) 

Eine  wichtige  Aufgabe  ist  bei  dem  Schluss  von  den  beob- 
achteten Wirkungen  auf  die  sie  herbeiführenden  Ursachen  die  Fest- 
stellung, ob  man  es  hier  mit  constanten  oder  variablen  Ursachen 
und  weiter,  ob  man  es  mit  einem  wirklich,  wie  angenommen,  be- 
stehenden Zusammenhang  und  Abhängigkeitsverhältniss  oder  mit 
einem  Spiel  des  Zufalls  zu  thun  habe.  Das  Erstere  ist  nach  dem 
„Gesetz  der  grossen  Zahl“,  Beides  alsdann  mit  Hilfe  der 
W a h r s c h e i n 1 i c h k e i t s 1 e h r e bez.  -Rechnung  zu  untersuchen. 

Auch  darüber  das  Nähere  in  der  Theorie  der  Statistik  und,  soweit  es  für  die 
Logik  und  Methodologie  in  Betracht  kommt,  in  den  Schriften  über  diese.  Vgl.  daher 
besonders  Mi  11,  Logik,  Buch  3,  Kap.  17  und  18  (II,  53  ff.),  Sigwarl,  Logik,  II, 
§.  85,  101,  102  (Hilfsmethoden  der  Induction,  statistische  Methoden,  Wahrscheinlich- 
keit auf  statistischem  Boden,  II,  502  ff.).  Lexis,  Theorie  der  Massencrscheinungen, 
Westcrgaard  a.  a.  0.  Rümelin,  Reden,  S.  15ff.  Meine  Abh.  Statistik,  S.  47011., 
460  ff.  und  die  daselbst  genannten  Schriften  (Q ui t eiet,  Littrow).  v.  Kries, 
Principien  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung,  Freib.  18S6,  bes.  Kap.  9. 

Das  Gesetz  der  grossen  Zahl  — ein,  wie  RUmelin  mit  Recht  bemerkt, 
nicht  glücklicher  Ausdruck,  ich  habe  es  das  „Gesetz  der  constanten,  die  Wirksamkeit 
der  accidentellen  Ursachen  überwindenden  Ursachen“  zu  nennen  vorgcscblagen  — 
besagt,  „dass  bei  der  Beobachtung  einer  grossen  Zahl  von  Erscheinungen  derselben 
Art  schliesslich  ein  gewisses  constantes  Zahlenvcrhältniss  hervortritt,  welches  desto 
früher  und  deutlicher  bemerkt  wird  , je  besser  und  unter  sich  gleichförmiger  die  Be- 
obachtungen, je  grösser  die  Anzahl  derselben  und  je  geringer  die  Abweichungen  der 
einzelnen  Beobachtungen  von  jenem  constanten  Zahlenvcrhältniss  sind“  (nach  Littrow). 
„Wir  beobachten  demnach  hier  eine  Regelmässigkeit  in  den  grossen,  eine  Unregel- 
mässigkeit in  den  kleinen  Zahlen.“  Dies  deshalb,  „weil  die  Erscheinungen  in  ihrer 
Entwicklung  von  constanten  und  veränderlichen  Ursachen  (und  Bedingungen)  beherrscht 
werden.  In  den  grossen  Zahlen,  d.  h.  in  der  Masse  der  Einzelfälle,  wirken  sie  ebenso, 


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Anwendung  der  statistischen  Methode. 


215 


nur  wird  ihre  Wirkung  hier  gestört  (bczw.  aufgehoben)  und  deshalb  verdeckt  durch 
die  gelegentlichen  Ursachen.  Diese  Störungen,  daher  das  Ob  und  Wie  der  Wirksam- 
keit der  gelegentlichen  Ursachen,  erfolgen  aber  wiederum  nach  einer  Ordnung:  Qu  6- 
telet’s  Gesetz  der  accidentellen  Ursachen.  Dies  Gesetz  zeigt,  „„wie  sich  auf  die 
Länge  eine  Reihe  von  Erscheinungen  vertheilt,  welche  von  constanten  Ursachon,  deren 
Wirkungen  aber  gelegentliche  Ursachen  stören,  beherrscht  werden.  Letztere  para- 
lysiren  sich  schliesslich  und  es  bleibt  am  Ende  das  Resultat  übrig,  welches  sich  un- 
abänderlich wiederholt  hätte , wenn  die  constanten  Ursachen  allein  wirksam  gewesen 
wären““.  Das  Gesetz  der  grossen  Zahl  schliesst  das  Gesetz  der  accidentellen  Ursachen 
implicite  mit  ein.  Die  Annahme,  dass  die  constante  Ursache  in  jedem  Einzelfalle 
mitwirkt,  aber  in  ihrer  Wirksamkeit  nach  einer  regelmässigen  Weise  von  einer  ge- 
legentlichen Ursache  mitunter  überwunden  wird,  ist  eine  logische  Nothwendigkeit. 
um  die  Gleichförmigkeit  in  der  grossen  Zahl  der  Fälle  zu  erklären“  (meine  Statistik, 
S.  460,  461). 

Dies  Alles  gestattet  eine  Anwendung  im  wirtschaftlichen  Gebiete  auf  die  Ver- 
hältnisse der  Motivation.  Bei  denjenigen  zahlreichen  Erscheinungen  (z.  B.  Preis- 
bildungen im  freien  Verkehr),  wo  das  erste  Leitmotiv,  das  Streben  nach  dem  wirt- 
schaftlichen Vortheil,  unter  den  Voraussetzungen  der  strengen  Deduction  (§.  ßS)  in 
der  Masse  der  Fälle  wirkt,  ergiebt  sich  eine  Gleichförmigkeit  der  Gestaltung  der 
Erscheinungen,  indem  jenes  Leitmotiv  die  constante  Ursache  darstellt;  in  einzelnen 
Fällen  treten  aber  andere  Leitmotive  modificirend,  paralysirend  hinzu:  die  gelegent- 
lichen Ursachen,  welche  die  Abweichungen  von  der  Regel  bestimmen. 

„Die  Bestimmung,  ob  eine  Verbindung  von  Erscheinungen  zufällig  oder  das 
Resultat  eines  Gesetzes  sei,  erfolgt  in  der  Weise,  dass  man  prüft,  ob  sie  relativ 
häufiger  vorkommt,  als  sich  ohne  Annahme  einer  darauf  hinwirkendeu  Ursache  nach 
Wahrscheinlichkeitsgründen  vermuthen  lässt“  (a.  a.  0.  S.  477),  wofür  dann  die  For- 
meln der  Wahrscheinlichkeitsrechnung  zur  Anwendung  gelangen  können.  Weiteres 
hierüber  in  den  oben  genannten  Schriften,  besonders  von  Lexis  , v.  Kries, 
Wcstergaard. 

Gegen  eine  derartige  Anwendung  der  statistischen  Methode  auf 
die  wirthschaftlichen  Erscheinungen  nach  Analogie  der  Methoden 
experimenteller  Forschung  auf  Naturerscheinungen  könnte  sich  der 
Einwand  erheben,  dass  man  dabei  wieder  in  den  Fehler  verfalle, 
diese  beiderlei  Erscheinungen  zu  sehr  als  homogene  zu  betrachten, 
während  sie  wegen  der  Abhängigkeit  der  ersteren  von  menschlichen 
Handlungen,  Willensacten,  psychischen  Motiven  eben  heterogene 
seien.  Indessen  würde  ein  solcher  Einwaud  nur  zutrefiend  werden, 
wenn  die  wirthschaftlichen  Erscheinungen  und  die  ihnen  zu  Grunde 
liegenden  Handlungen  entweder  indeterminirt  oder  nur  von 
völlig  variablen,  bei  jedem  handelnden  menschlichen  Individuum 
ganz  verschiedenen  Motiven  und  Motivecombinationen , von  „ganz 
unberechenbaren“  Factoren  abhingen.  Dass  das  nicht  der  Fall  ist, 
lehrt  die  innere  und  äussere  Beobachtung  und  wird  mit  durch  die 
Gleichmässigkeiten  der  Erscheinungen,  welche  auf  wirthschaftlichen 
wie  auf  anderen  Gebieten  von  menschlichen  Willensacten  und 
Handlungen  abhiingen  und  in  der  „grossen  Zahl“  der  Fälle  deut- 
lich hervortreten,  genügend  widerlegt.  Von  besonderer  Wichtigkeit 
sind  hier  gewisse  be  Völker  ungs-,  namentlich  sogenannte 
moralstatistisehe  Untersuchungen  solcher  Erscheinungen, 


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216  1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  3.  A.  Imluction.  §.  S3. 

welche  vom  „freien  Willen“  der  Handelnden  abhängen  oder  mit 
abhängen. 

An  dieser  Stelle  muss  es  an  diesem  Hinweise  genügen.  S.  oben  in  §.  54,  (S.  140) 
die  litterarischen  Angaben  und  die  Bemerkungen  dazu1). 

§.83. — 2.  Di eHisto rik,  d. b.  die  Geschieht e alsMethod  e. 
a)  Im  Allgemeinen  und  bezüglich  der  ersten 
und  dritten  Aufgabe.  Nach  den  wiederholten  Erörterungen 
im  Vorausgehenden  über  die  historische  Methode,  ihre  Berechtigung, 
ihre  Mängel  und  Unzulänglichkeit,  wird  es  möglich  sein  und  ge- 
nügen, hier  jetzt  diesen  Gegenstand  in  kürzeren  abschliessenden 
Ausführungen  zu  erledigen. 

Vor  Allem  ist  auch  bei  der  Geschichte  zwischen  ihr  als 
Wissenschaft  und  als  Methode  der  Beweisführung,  ähn- 

Bis  in  die  neueste  Zeit  hinein  ist  mir  gegen  die  zu  mechanistische  Auffassung 
der  moralstatistischen  Thatsachen  in  meiner  ersten  bezüglichen,  aus  1S63 — 64  her- 
rührenden  Schrift  über  „die  Gesetzmässigkeit  in  den  scheinbar  willkührlichen  mensch- 
lichen Handlungen"  eine  Polemik  zu  Theil  geworden,  deren  theilweise  sachliche 
Berechtigung  ich  selbst  längst  anerkannt  habe.  Ich  hätte  dabei  aber  vielleicht  er- 
warten können,  dass  man  sich  nicht  immer  nur  an  den  1.  Theil  genannter  Schrift, 
z.  B.  an  mein  oft  citirtes  Bild  — wie  ich  es  auch  damals  hingestellt  habe  — vom 
Märchenlande  mit  der  Annahme  gesetzlich  vorgeschriebener  „moral- 
statistischer"  Handlungen  (noch  jüngst  wieder  bei  Westcrgaard,  S.  280)  gehalten, 
sondern  meine  anderen  späteren  Arbeiten  mit  berücksichtigt  hätte.  Schon  der  2.  Theil 
meiner  genannten  Schrift,  die  Selbstmordstatistik,  — die  ich  wohl  auch  heute  noch, 
trotz  der  seitdem  oft  und  mit  natürlich  viel  reicherem  und  besserem  statistischen 
Material  erfolgten  Bearbeitung  des  Gegenstands,  die  eingehendste  vergleichend-stati- 
stische Untersuchung  eines  solchen  Thatsachcnkreiscs  nennen  darf,  welche  vorhanden 
ist,  — beweist  doch  meine  Vorsicht  in  der  Schlussziehung.  Meine  Abh.  Statistik  (aus 
1865 — 66)  ist,  glaube  ich,  den  Bedenken  wegen  zu  mechanistischer  Auffassung  bereits 
viel  weniger  als  die  etwas  ältere  Schrift  ausgesetzt  und  meine  „volkswirtschaftliche 
Grundlegung“  unterliegt  wohl  solchen  Bedenken  überhaupt  nicht  mehr.  Keiner  meiner 
zahlreichen  Kritiker,  A.  v.  Oettingen  ausgenommen,  hat  das  aber  berücksichtigt,  auch 
Knapp,  Westergaard,  Scbmoller  (noch  1SS8!)  nicht.  Mit  einigen  ablehnenden,  Öfters 
hochfabrenden  und  spöttelnden  Bemerkungen  sind  übrigens  die  von  mir  immer,  auch  in 
meiner  ersten  Schrift,  anerkannten  Schwierigkeiten,  die  Beziehung,  bezw.  den  Wider- 
spruch zwischen  der  grossen  statistischen  Regelmässigkeit  „wilikührlicher"  Handlungen 
und  der  menschlichen  „Willensfreiheit“  befriedigend  zu  erklären,  noch  durchaus  nicht 
beseitigt.  Mir  und  m.  E.  Jedem,  der  hier  klar  zu  sehen  wünscht,  bleibt  grade  auf 
dem  moralstatistischen  Gebiete  noch  ausserordentlich  viel  Problem.  Einzelne  Regel- 
mässigkeiten, z.  B.  die  Yertheilung  der  Selbstmorde  auf  die  Jahreszeiten,  zeigen  cino 
Macht  äusserer  Einflüsse,  die  dadurch  nicht  weniger  erstaunlich  wird,  dass  einige 
Leute,  die  immer  das  Gras  wachsen  hören,  sie  gar  nicht  auffällig,  sondern  ganz  er- 
klärlich finden.  Auch  G.  Schmoller’s  Ausführungen  (über  die  Resultate  der  Be- 
völkerungs-  und  Moralstatistik,  1869,  wiederholt  in  seiner  Schrift  „zur  Litteratur- 
geschichte  der  Staatswissenschaften“,  S.  272)  gehen  über  die  angedeuteten  Schwierig- 
keiten viel  zu  leicht  hinweg,  und  zwar  grado  für  den,  der  wirklich  „das  tieferblickende 
Auge“  (S.  183)  besitzt.  Ich  verkannte  nie,  auch  in  meiner  ersten  Schrift  nicht,  die 
Unzulänglichkeit  der  mechanistischen  Auffassung,  aber  was  die  Gegner  vorgebracht 
haben,  scheint  mir  vielfach  keine  klarere  und  bessere  Auffassung  an  die  Stelle  zu 
setzen.  Damit,  dass  man  von  „vulgärem“,  „trivialem“  Quetelctismus  spricht,  wie 
Knapp  u.  A. , beweist  man  doch  noch  nichts.  — Es  bedarf  übrigens  wohl  keiner 
besonderen  Hervorhebung,  dass  die  moralstatistischen  Controverscn  grade  für  die  uns 
hier  beschäftigenden  methodologischen  Fragen  von  besonderer  Wichtigkeit  sind. 


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Hi>torik  als  Methode. 


217 


lieh  wie  bei  der  Statistik  (§.  80,  S.  204)  und  ferner  in  Bezug  auf 
die  Anwendung  der  Geschichte  als  Methode  zwischen  den  ver- 
schiedenen Aufgaben  der  Politischen  Oekonomie  zu  unter- 
scheiden. 

Geschichte  als  Wissenschaft,  Wirthschafts-  (Finanz-,  weiter 
Cnltur-,  Social-)  Geschichte  als  Theil  dieser  Wissenschaft  ist  eiue 
unentbehrliche,  höchst  wertbvolle  Hilfswissenschaft  für  unsere  ganze 
Disciplin  und  Geschichte  als  Methode  wenigstens  für  gewisse  Auf- 
gaben der  Politischen  Oekonoraie  nicht  minder  wichtig,  in  be- 
stimmten Fällen  auch  unentbehrlich. 

Auch  wenn  sich,  nach  der  durchaus  heute  vorherrschenden  Ansicht  unserer 
Fachhistoriker,  die  Geschichtswissenschaft,  also  auch  die  Wirthschafts-  Geschichtswissen- 
schaft als  solche  aus  der  Stufe  der  bloss  referireuden  und  der  Stufe  der  pragmatischen 
zu  der  Stufe  der  genetischen  erhebt,  will  sic  auch  auf  dieser  Stufe  doch  nur  darstellen, 
schildern,  wie  die  von  ihr  behandelten  Dinge  sind,  geworden  sind,  sich  entwickelt  haben 
und  in  welchem  Zusammenhang  sie  unter  einander  stehen.  Sie  will  nicht  „allgemeine 
Sätze.  Gesetze,  Ideen  aus  den  Ereignissen  abstrahiren“ , nicht  „die  Ereignisse  als 
Wirkungen  allgemeiner  Grundgesetze  mechanisch  ableiten  und  quantitativ  bestimmen“ 
(Bernheim,  s.  o.  S.  140,  Note  2 und  S.  205). 

Mit  dergestalt  gefassten  Aufgaben  der  Geschichte  hat  es  nun 
die  Politische  Oekonomie  in  ihrer  ersten  und  theil  weise  in  ihrer 
dritten  der  oben  (§.  57)  unterschiedenen  Aufgaben  zu  thun. 
Bei  der  Lösung  dieser  Aufgaben  dient  ihr  daher  die  Geschichts- 
wissenschaft, speciell  die  Wirthschaftsgeschichts-Wissenschaft  als 
Hilfswissenschaft  und  dient  zugleich  das  geschichtswissenschaftlich 
festgestellte  und  geordnete  Tbatsacheninaterial  als  Mittel  der  Be- 
weisführung dafür,  dass  die  Dinge  so  sind  und  in  dem  Zu- 
sammenhang stehen,  wie  die  Geschichte  es  ergiebt 

Von  besonderer  Bedeutung  ist  diese  Hilfe  bei  der  ersten 
unserer  Aufgaben,  und  hier  vor  Allem  für  die  hinter  der  Gegen- 
wart zurückliegende  Zeit,  daher  für  die  Ermittlung  des 
„Was-  und  Wie-  früher  Gewesenseins“  und  des  „Was- 
und  Wic-Geword en seins“  der  wirtschaftlichen  Erscheinungen. 

Denn  hier  versagen  die  erste  nnd  die  zweite  Beobachtungsmethode  oder  das, 
was  mit  ihrer  Hilfe  seinerzeit  ermittelt  wurde,  wird  eben  erst  nach  geschichts- 
wissenschaftlicher Feststellung,  Prüfung  und  Ordnung  verwendbar  und  verwerthbar, 
d.  h.  das  betreffende  Tatsachenmaterial  wird  „historisches“  Material.  Und  hier  ver- 
sagt ferner  nicht  minder,  aus  den  angeführten  nicht  principiellen,  aber  thatsächlichen 
Gründen  (S.  207)  häufig  ganz,  fast  immer  mehr  oder  weniger,  die  statistische  Methode. 
Ebenso  kann  aber  hier  auch  mit  der  deductiven  Methode  vielfach  gar  nicht',  immer 
nur  unsicherer  und  mehr  nur  aushilfsweise,  zur  Ergänzung  von  Lücken  in  der  Be- 
weisführung mit  der  historischen  Methode,  als  selbständig,  „schöpferisch“  gearbeitet 
werden.  Soweit  Letzteres  überhaupt  möglich  ist,  können  deductiv  auch  nur  gewisse 
grosse,  oft  nur  ganz  grobe  Grundzüge,  nicht  ein  genaues,  der  Wirklichkeit  entsprechendes, 
farbenreiches,  das  Detail  mitgebendes  Bild  der  Erscheinungen  entworfen  werden.  Oh 
und  inwieweit  die  historische  Methode  allein , vollends  ohne  Hilfe  der  Statistik , für 
frühere,  zumal  für  weiter  zurückliegende,  unter  wesentlich  verschiedenen  Cultur- 


218 


1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  8.  A.  Induction.  §.  $3. 


zuständen  hervorgetretene  wirtschaftliche  Erscheinungen  ein  solches  Bild  wirklich 
geben  kann,  lässt  sich  freilich  nicht  allgemein  sagen.  Lückenhaft,  durch  Deduction 
und  — combinirende,  gestaltende  Phantasie  zu  ergänzen  wird  Vieles  daran  bleiben, 
um  so  mehr,  je  nabänderlich  unzureichend  oder  mit  Fehlern  behaftet  das  historische 
Material  ist  und  je  weniger  statistische  Daten  vorliegen.  Zu  einer  sicheren,  über- 
zeugenden Beweisführung  auch  nur  im  Gebiete  der  ersten  Aufgabe,  also  dafür, 
dass  „die  Dinge  wirklich  so  waren“,  wie  sie  die  Geschichtswissenschaft  darstellt, 
reicht  daher  die  Geschichte,  auch  als  Methode  betrachtet,  nicht  aus.  Aber  sie  leistet 
doch  mehr  als,  abgesehen  von  der  eben  eventuell  nicht  anwendbaren  statistischen 
Methode,  jede  andere.  Wir  erfahren  mit  ihrer  Hilfe  mehr  oder  weniger  genau,  wie 
die  wirtschaftenden  Menschen,  die  Bedingungen,  unter  denen  sie  handelten,  die 
Motive,  nach  denen  sie  es  tbaten,  und  die  wirtschaftlichen  Erscheinungen,  welche 
aus  diesem  Handeln  horvorgingen , waren.  Psychologisch -deductive  Schlüsse  sind 
dagegen  nach  dem  Früheren  grade  um  so  unsicherer,  je  mehr  die  Menschen  der  be- 
treffenden Periode  von  dem  ab  weichen,  was  in  der  strengen  Deduction  (§.  68)  als  ihr 
wirthschaftspsychologisches  Wesen  gilt  und  auch  von  den  uns  aus  eigenen  inneren 
und  unmittelbaren  äusseren  Beobachtungen  bekannten  Menschen  verschieden  waren. 

Je  umfassender  und  zuverlässiger  das  historische  Beobachtungs- 
material wird,  je  mehr  es  sich  mit  statistischem  verbinden  lässt, 
desto  besser  kann  die  ganze  erste  Aufgabe,  die  Ermittlung  des 
Thatsächlichen  der  wirtschaftlichen  Erscheinungen,  mit  der  histo- 
rischen Methode  gelöst,  durch  dieselbe  der  Beweis  geliefert  werden, 
„dass  die  Dinge  wirklich  so  sind“,  wie  sie  dargestellt  werden. 

Im  Ganzen  wird  daher  der  wissenschaftliche  W'erth  der  Methode  absolut 
wachseu,  je  mehr  man  sich  der  Gegenwart  nähert,  wenn  er  auch  relativ  gegenüber 
demjenigen  der  anderen  Methoden,  der  deductiven  und  der  drei  übrigen  Beobachtungs- 
methoden dann  abnimmt.  Denn  diese  alle  werden  voraussetzungsweisc  dann  auch 
anwendbarer.  Dass  sich  so  immer  mehr  Methoden  zu  demselben  Zweck,  der  Beweis- 
führung für  die  Richtigkeit  der  Schilderung  der  Thatsachen,  verbinden  lassen,  ist 
natürlich  ein  Vortheil  mehr. 

In  einer  anderen  Beziehung  leistet  die  Geschichte  noch  einen 
besonderen  weiteren  Dienst,  welchen  wiederum  für  vergangene 
Zeiten  keine,  für  die  Gegenwart  keine  der  anderen  Methoden 
ebenso  gut  leisten  kann.  Sic  schildert  die  politischen,  sittlichen, 
socialen,  culturlichen , religiösen  Verhältnisse,  das  „milieu“,  in 
welchem  die  wirtschaftenden  Menschen  standen  und  stehen,  strebten, 
wollten  und  streben,  wollen,  handelten  und  handeln  und  in  welchem 
die  wirtschaftlichen  Erscheinungen  als  T heile  der  Erscheinungen 
der  Menschenwelt  und  als  solche  beeinflusst  durch  alle  die 
anderen  genannten  Seiten,  welche  für  diese  Menschenwelt  in  Be- 
tracht kommen,  hervortraten  und  hervortreten.  Gerade  dadurch 
weist  die  Geschichte  nach,  ob  und  welche  Einflüsse,  einigermaassen 
auch  in  welcher  Richtung  dieselben  neben  wirtschaftlichen  auf 
Motive,  Willensacte,  Handlungen  der  Menschen,  auf  die  wirt- 
schaftlichen Erscheinungen  einwirkeu. 

Damit  werden  mit  Hilfe  dieser  Methode,  wie  ausserdem  freilich,  aber  weniger 
genügend  mit  Hilfe  der  ersten  und  zweiten  Beobachtungsmethode  und  in  Concurrenz 
mit  der  Hilfe  der  Methode  der  Deduction  jene  „Imponderabilien“  (S.  209)  gewürdigt, 


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Historik  als  Methode. 


219 


in  Betreff  deren  die  statistische  Methode  meistens  versagt.  Die  methodologische  iso- 
lirende  Abstraction  wird  hierbei  dann  freilich  verlassen,  damit  ein  Haupthilfsmittel 
der  cansalen  und  conditionellen  Erklärung  aufgegeben , aber  dafür  werden  auch  die 
Erscheinungen  in  descriptiver  Weise  in  denjenigen  Zusammenhang  gebracht,  in  wel- 
chem sie  in  der  Wirklichkeit  stehen,  was  dann  doch  wieder  gewisse,  wenn  auch  nur 
vagere,  unsichere  Schlüsse  auf  die  Abhängigkeitsverhältnisse  zulässt. 

In  allen  diesen  Beziehungen  ist  der  Werth  der  historischen 
Methode  für  die  Lösung  der  ersten  Aufgabe  auch  der  Politischen 
Oekonomie  unverkennbar.  Nur  hinter  demjenigen  der  statistischen 
Methode  steht  er,  von  dem  letzterwähnten  Vorzug  abgesehen, 
zurück,  weil  die  historische  Methode  nicht  zu  quantitativen  Be- 
stimmungen genauerer  Art  führt.  Um  so  mehr  ist  sie  hier  mit 
der  statistischen  zu  verbinden,  eventuell  durch  dieselbe  zu  ersetzen, 
wo  es  geht. 

In  Bezug  auf  die  dritte  Aufgabe,  welche  auch  in  der  Ge- 
schichtswissenschaft bei  einer  wirklich  genetischen  Behandlung 
derselben  nicht  ausgeschlossen  ist,  fällt  dagegen  das  Urtheil  Über 
die  historische  Methode  schon  viel  weniger  günstig  aus.  Denn 
die  Ursachen  und  Bedingungen  des  Was-  und  Wie -Seins,  -Ge- 
wordenseins und  - Werdens  selbst  nur  der  concreten,  individuellen 
wirtschaftlichen  Erscheinungen  sicher  festzustellen,  ist  sie  eben 
nach  allem  früher  Gesagten,  und  auch  trotz  des  soeben  ihr  ein- 
geräumten Vorzugs,  nicht  genügend  fähig. 

Sie  kann  wohl  das  Vorhandensein  causaler  und  conditionellcr  Zusammenhänge 
und  Abhängigkeitsverhältnisse  aufdecken,  aber  schon  nicht  immer  hinlänglich  sicher 
beweisen,  vollends  aber  dieselben  nicht  messen.  Eben  deswegen  kommt  sie  hier  über 
ein  Raisonnement  in  vagen,  statt  in  quantitativ  bestimmten  Begriffen  so  wenig  wie  die 
Deduction,  und  wie  die  erste  und  zweite  Beobachtungsmethode  hinaus  und  steht  sie 
darin  gegen  die  statistische  weit  zurück.  Auch  die  psychologische  Deduction  leistet 
hier  mehr,  weil  sie  auf  Ursachen  und  Bedingungen  als  wenigstens  m 'gliche  Er- 
klärungsgründe  der  Erscheinungen  zurückgeht  und  nicht  nur  äusserlich  dieselben 
schildert. 

Indessen  mittelst  der  im  Folgenden  erörterten  Fortbildung  der 
rein  historischen  zur  vergleichend -historischen  Methode 
kann  zwar  diesem  Mangel  quantitativer  Bestimmtheit  nicht  abge- 
holfen, aber  dennoch  ein  brauchbares  Hilfsmittel  gewonnen  werden, 
um  nach  Analogieschlüssen  auch  in  concreten  wirthschaft- 
lichen  Fragen  den  cansalen  und  conditionellen  Zusammenhang  und 
die  bezüglichen  Abhängigkeitsverhältnisse  aufzudecken.  Solche 
Analogieschlüsse  sind  aber  zulässig,  weil  wir  es  auch  bei  aller 
historischen,  örtlichen  Differenzirung  der  maassgebenden  Ursachen 
und  Bedingungen  doch  immer  mit  den  beiden  grossen  Constanten  — 
oder  wenigstens : wesentlich  Constanten  — , der  menschlichen  Natur, 
zumal  wie  dieselbe  auf  wirthschaftlichem  Gebiete  zur  Geltung 


220 


1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  3.  A.  Induction.  §.  84. 


kommt,  in  ihrem  Triebleben,  ihrer  Motivation,  und  der  äusseren 
Natur  zu  thun  haben.  Im  Uebrigen  gilt  das  im  folgenden  §.  84 
Gesagte  auch  für  die  Anwendung  der  vergleichend -historischen 
Methode  auf  dem  Gebiete  der  dritten  Aufgabe. 

§.  84.  — b)  Die  historische  Methode  in  ihrer  Fort- 
bildung zur  vergleichend-historischen,  insbesondere 
auf  dem  Gebiete  der  zweiten  Aufgabe.  Die  zweite  Auf- 
gabe der  Politischen  Oekonoraie  war  nach  dem  Früheren  (§.  57) 
die  Herausschälung  des  Generellen,  Typischen  aus  den  concreten, 
individuellen  Erscheinungen,  die  Ableitung  von  Regelmässigkeiten 
und  Gesetzmässigkeiten  der  Gestaltung,  Wiederkehr,  des  Verlaufs, 
der  Entwicklung  des  Typischen  und  Individuellen  in  den  Er- 
scheinungen. 

Eine  solche  Aufgabe  lehnt  wenigstens  die  neuere  Geschichtswissenschaft  für 
das  ganze  Gebiet  ihrer  Erscheinungen,  daher  insbesondere  für  die  politische  Geschichte 
i.  e.  S. , wie  bemerkt,  meistens  ganz  ab.  Würde  mau  ihr  aber  auch  diese  Aufgabe 
stellen:  mit  der  rein  historischen  Methode  wäre  sie  nicht  zu  lösen.  Denn  dieser 
fehlte  hierfür  nicht  nur  das  Moment  der  quantitativen  Bestimmtheit,  sondern  auch 
dasjenige  der  Massenbeobachtung  von  Erscheinungen,  welche  sie  als  qualitativ  ver- 
schiedene, rein  individuelle  ansieht.  Nun  kaun  gewiss  auch  für  die  „rein  politische“ 
Geschichte,  z.  B.  die  Entwicklung  der  Staatsformen , die  Gestaltungen  innerhalb  einer 
jeden,  den  Verlauf  von  politischen  Bewegungen  (Revolutionen)  die  Frage  auftauchen, 
ob  denn  nicht  auch  hier  in  aller  Verschiedenheit  des  Individuellen  „typische 
Züge“  sich  zeigen,  welche  auf  das  Vorhandensein  auch  unserer  zweiten  Aufgabe 
selbst  bei  diesem  Kreise  von  Erscheinungen  hinweisen.  Ist  das,  wie  kaum  zu  be- 
streiten sein  möchte,  zu  bejahen,  so  würde  sich  ergeben,  dass  die  heutige  Geschichts- 
wissenschaft selbst  der  politischen  Geschichte  gegenüber  ihre  Aufgaben  zu  eng  fasst. 

Auf  dem  Gebiete  der  Wirthschafts-,  der  Culturgeschichtc 
treten  einem  Jeden  die  „typischen  Züge“  so  deutlich  entgegen, 
dass  man  mindestens  bei  ihr  unsere  zweite  Aufgabe  nicht  wird 
abweisen  können  und  wollen.  Die  individuellen  Erscheinungen 
sind  eben  hier  doch  vollends  nicht  so  qualitativ  verschieden,  wie 
eine  die  Differenzirung  des  Minderwichtigen  übertreibende,  das  Ge- 
meinsame in  den  entscheidenden  Factoren  übersehende  Auffassung 
annimmt.  Das  tritt  aber  freilich  erst  deutlich  hervor,  wenn  in  um- 
fassender und  systematischer  W eise  Vergleichungen  stattfinden. 
Wie  die  statistische  Methode  erst  durch  solche  Vergleichungen 
wahrhaft  fruchtbar  wird,  so  auch  die  historische,  die  sich  dadurch 
aber  freilich  in  ihrem  Wesen  selbst  modificirt,  indem  sie  planmässig 
zur  vergleichend-historischen  wird. 

Mit  dieser  Fortbildung  der  rein  historischen  Methode  haben 
wir  es  auf  dem  Gebiete  der  Politischen  Oekonomie  behufs 
Lösung  der  hier  wenigstens  unbedingt  zu  stellenden  zweiten  Auf- 
gabe und  auch  behufs  der  Beihilfe  an  der  Lösung  der  practischen 


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Die  vergleichend  - historische  Methode. 


221 


Aufgaben  (§.  57 , 62  ff.)  zu  thun.  In  dieser  Form  kann  der  Me- 
thode hier  ein  öfters  erheblicher  Werth  nicht  abgesprochen  werden. 
Derselbe  bleibt  nur  deswegen  ein  mehr  oder  weniger  bedingter, 
weil  der  Methode  auch  in  dieser  Gestalt  Mängel  ankleben,  derent- 
wegen sie  wieder  den  Erfordernissen  einer  strengeren  Beweisführung 
nicht  genügend  und  weniger  als  die  statistische  und  als  die  de- 
ductive  Methode  — diese  wenigstens  innerhalb  der  Grenzen  ihrer 
Anwendbarkeit  — entspricht. 

Die  verbleibenden  Mängel  sind  wesentlich  drei:  einmal  setzt  man  sich  bei  der 
Anwendung  der  vergleichend  - historischen  Methode  über  die  qualitative  Ver- 
schiedenheit der  individuellen  Fälle,  welche  man  vorgleicht,  hinweg.  Das  ist  kein 
principieller  Fehler,  weil  eben  aus  den  mehrfach  angeführten  Gründen , wegen  der 
(relativen)  Constanz  der  menschlichen  und  der  äusseren  Natur,  doch  eine  generische 
Gleichmässigkeit  der  allen  Fällen  zu  Grunde  liegenden  Ursachen  und  Bedingungen 
und  daraus  auch  wieder  eine  generische  Gleichmässigkeit  und  eine  Vergleichbarkeit 
der  Erscheinungen,  als  der  Wirkungen  dieser  Ursachen  und  Bedingungen,  folgt.  Aber 
es  bleibt  doch  ein  thatsächlicher  Fehler,  der  deswegen  störend  ist,  weil  sich  für  seine 
Grösse,  seinen  Grad  keine  Möglichkeit  der  Messung  bietet. 

Sodann  lässt  sich  auch  die  vergleichend -historische  Methode  doch  nur  in  be- 
scheidenem Maasse,  nur  relativ,  dem  Erforderniss  der  Massenhaftigkcit  der  Be- 
obachtungen anpassen.  Mit  den  Fortschritten  der  Geschichtsforschung,  der  immer 
weiteren  Ausdehnung  auf  andre  Zeiten,  Länder,  Völker  bietet  sich  zwar  immer  mehr 
Material  zur  Vergleichung.  Aber  „massenhaft“  im  eigentlichen  Sinne  wird  es  immer 
nicht  und  ohnedem  steigen  die  Schwierigkeiten  der  Vergleichbarkeit  mit  der  Masse 
dieses  Stoffs,  weil  man  sich  dann  über  immer  mehr  und  verschiedenartigere  indi- 
viduelle Differenzen  des  zu  Vergleichenden  hiuwegsctzen  muss,  also  das  erste  Be- 
denken stärker  wird. 

Endlich  bleibt  immer  der  Mangel  der  quantitativen  Bestimmtheit  der  Be- 
obachtungen. Er  lässt  sich  nur  dadurch  beheben,  dass  möglichst  die  statistische, 
bezw.  vergleichend -statistische  mit  der  vergleichend  - historischen  Methode  verbunden 
wird.  Aber  das  ist  eben  oft  nur  in  geringem  Grade  zu  erreichen.  Soweit  es  ge- 
schieht, wird  dann  überhaupt  nicht  mehr  mit  der  historischen,  sondern  mit  der  sta- 
tistischen Methode  operirt. 

Das  Ergebniss  ist  souacb : die  vergleichend-historische  Methode 
nähert  sich  der  statistischen  Methode,  ja  man  könnte  sie  seihst  als 
eine  Abart  der  letzteren  auffassen.  Aber  sie  bleibt  unvollkommen. 
Denn  sie  gestattet  ihre  Anwendung  immer  nur  mit  mehr  oder 
weniger  grossen  Fictionen,  mittelst  deren  man  sieh  über  die  quali- 
tative Verschiedenheit  der  verglichenen  Objecte  hinwegsetzt,  so  dass 
bei  der  verbleibenden  Begrenztheit  der  Vergleichbarkeit  der  Objecte 
die  Schlüsse  aus  der  Vergleichung  weniger  sicher  und  beweiskräftig 
sind.  Sie  ist  auch  nicht  massenhaft  und  systematisch  auszugestalten 
und  entbehrt  der  quantitativen  Bestimmtheit  der  Beobachtungen, 
welche  sie  benutzt.  Eben  deshalb  erlaubt  sie  nicht  so  sicher,  öfters 
gar  nicht  genauer  eine  Isolirung  der  Wirkungen  und  Ursachen,  der 
Folgen  und  Bedingungen,  als  die  statistische  Methode,  ebenso  keine 
so  sichere  Zurückführung  der  beobachteten  und  verglichenen  Er- 
scheinungen auf  Hauptursachen  und  Bedingungen  und  Nebeuursachen 


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222 


1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  3.  A.  Induction.  §.  84,  85. 


und  Bedingungen,  auf  constante  und  variable  Factoren.  Deswegen 
sind  ihre  Resultate  in  Bezug  auf  die  Lösung  der  zweiten  Aufgabe, 
aber  auch  der  dritten  und  ebenso  der  practischen  immer  nur  mit 
Vorsicht  zu  benutzen.  Klar  ist  aber  freilich,  dass  die  historische 
Methode  nur  in  dieser  Fortbildung  zur  vergleichend -historischen 
überhaupt  wesentlichere  Dienste  zur  Lösung  aller  derjenigen  Auf- 
gaben zu  leisten  vermag,  welche  über  die  Darstellung  concreter 
wirtschaftlicher  Erscheinungen  hinausgehen. 

Der  nationalökonomische  Historismus,  besonders  in  der  jüngeren  Richtung 
(§.  15,  lö)  ist  sich  wohl  über  verschiedene  hierher  gehörige  Puncte  nicht  immer  klar 
geworden.  Seine  Neigung,  nur  die  historische  Methode  gelten  zu  lassen,  übersieht, 
dass  mit  letzterer  in  ihrer  reiuen  Gestalt  — also  ohne  Vergleichungen  — doch  nur 
die  erste  Aufgabe  allenfalls  gelöst  werden  kann,  aber  auch  nur  für  concrete  wirt- 
schaftliche Erscheinungen.  Aber  alsdann,  woran  es  an  Hinneigung  auch  nicht  gefehlt 
hat,  den  Schluss  ziehen,  dass  eben  deswegen,  weil  nur  hier  diese  eine  Methode  an- 
wendbar, die  erste  Aufgabe  überhaupt  allein  der  Politischen  Oekonomie  zu  stellen 
sei.  läuft  doch  auf  eine  augenfällige  petitio  priucipii  hinaus,  welche  noch  dazu  nur 
auf  der  doctrinaren  üeberschätzung  der  historischen  Methode  beruht.  Dabei  wird 
denn  auch  wieder  Wirtschaftsgeschichte  und  Politische  Oekonomie  verwechselt  oder 
identificirt.  Aber  selbst  in  ersterer  als  einem  Tbeile  der  Geschichtswissenschaft  und 
grade  als  einem  dem  Stolle  nach  aparten  Tbeile  wird  man  mindestens  die  dritte  Auf- 
gabe, die  Erforschung  der  Causalzusammcuhänge,  nicht  abweisen  dürfen  und  diese 
ist  mit  der  „rein  historischen“  Methode  wiederum  nicht  zu  lösen,  sondern  eine  Fort- 
bildung derselben  zur  vergleichenden  mindestens  dafür  geboten.  Stellt  man  der  Wirt- 
schaftsgeschichte auch  noch  die  zweite  Aufgabe,  die  Ermittlung  des  Typischen,  wie 
das  doch  von  Wirthschaftshistorikem  selbst  immer  mehr  als  berechtigt  an- 
erkannt wird,  so  kommt  man  vollends  mit  der  „rein  historischen“  Methode  nicht  mehr 
weiter  und  muss  dieselbe  in  die  vergleichende  hinüberbilden. 

Indem  man  das  getan  hat,  hat  man  auch  erfreuliche  Resultate  für  die  Erkennt- 
nis des  Typischen  der  Gestaltungen,  der  Entwicklungen  und  für  das  Verständuiss 
des  causalen  und  conditionellen  Zusammenhangs  erzielt.  Grosse,  weitere,  allgemeinere 
und  specicllere  Aufgaben  liegen  hier  noch  vor.  Aber  schon  die  bisherigen  Ergeb- 
nisse der  vergleichenden  Agrar-  und  Grundeigentums-,  Gewerbe-,  Handels-  und  bei- 
der Verfassungsgeschichte,  der  Arbeitsteilung,  der  ünternchmungsformen,  des  Geld-, 
Münz-,  Credit-,  Bank-,  Versicherungswesens  und  ihrer  Verfassungsgeschichte,  des 
Finanz-,  Einnahmearten-,  Steuer-,  öffentlichen  Creditwesens,  der  allgemeinen  volks- 
wirtschaftlichen Organisation  und  Organisationsprincipien  und  Systeme  u.  s.  w.  sind 
nur  wichtige  Hauptbeispicle,  innerhalb  welches  jeden  Spccialbcispiclc  sich  finden,  wie 
etwa  in  der  vergleichenden  Zunftgeschichtc,  der  Feldsystem -Geschichte.  Diese  Er- 
gebnisse sind  auch  für  die  Politische  Oekonomie  höchst  werthvoll.  Allein  man  muss 
sich  in  der  Frage  der  historischen  Methode  hier  doch  über  verschiedene  Puncte  klar  sein. 

Einmal:  die  concrete  wirthschafts- {finanz-)historischc  Forschung  fördert  nur 
Stoff  zur  Lösung  der  ersten  Aufgabe.  Erst  durch  vergleichende  Sammlung, 
Sichtung,  Prüfung,  Verarbeitung,  Zusammenstellung  desselben  wird  unmittelbarer  für 
die  anderen  Aufgaben  gearbeitet.  Sodann,  wenn  so  vorgegangen,  verglichen  wird, 
so  bildet  man  eben  die  „historische“  Methode  schon  wesentlich  um  zur  vergleichend- 
historischen, verlässt  dann  aber  auch  die  Auffassung,  Wirtschaftsgeschichte  und  Po- 
litische Oekonomie  zu  identificiren  und  stellt  sich  andre  Aufgaben  als  in  jener  allein. 
Und  endlich  wird  man  sich  doch  immer  der  inhärenten  Mängel  auch  der  ver- 
gleichend-historischen Methode  zur  Schlussziehung  und  Beweisführung  für  jede 
Frage  auf  dein  Gebiete  der  zweiten  und  dritten  theoretischen  und  der  weiteren  prac- 
tischen Aufgaben  bewusst  bleiben  müssen.  Wiederum  ist  daher  der  Gebrauch  des 
Ausdrucks  „exact“,  „exact  gewonnen“  für  die  Ergebnisse  auch  der  vergleichend- 
historischen Methode  nicht  nur  viel  zu  anspruchsvoll,  sondern  auch  völlig  unan- 
gemessen, weil  er  auf  einer  Verkennung  der  angedeuteten  Mängel  dieser  Methode 
beruht.  Diese  Einsicht  fuhrt  dann  auch  zu  der  Forderung,  soweit  es  irgend  geht, 


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. Anwendung  der  historischen  Methode. 


223 


die  statistische  Methode  mit  heranzuziehen,  aber  auch  zu  der  Anerkennung  des  Werths, 
welchen  überall,  auch  bei  wirtschaftshistorischen  Problemen,  die  deductive  Methode 
beanspruchen  kann. 

§.  85.  — c)  Anwendung  der  historischen  Methode. 
Für  die  Anwendung  der  vergleichend  - historischen  Methode 
kommen  analoge  Gesichtspuncte  und  Grundsätze  wie  für  die 
statistische  in  Betracht  (§.  82),  freilich  imitatis  mutandis  nach  der 
formalen  Verschiedenheit  des  Materials.  Gerade  weil  demnach 
Manches  zu  verändern  ist,  zeigt  sich  hier  wieder  die  höhere  tech- 
nische Vollkommenheit,  bessere  Brauchbarkeit  und  grössere  Ge- 
eignetheit der  statistischen  Methode  als  Mittel  strengeren  Beweises. 
Der  Analogieschluss  spielt  bei  der  vergleichend -statistischen  Me- 
thode bleibend  eine  grössere  Rolle.  Jene  Anwendung  der  Methoden 
experimenteller  Forschung  (§.  82  S.  213)  ist  zwar  auch  bei  dieser 
nicht  ausgeschlossen,  aber  viel  enger  begrenzt  und  sie  bedingt 
weit  mehr  Vorbehalte  und  weniger  sichere  Schlüsse,  einen  viel 
minder  gewissen  Werth  der  Ergebnisse.  Die  Bestätigung  durch 
Deduction  ist  daher  hier  in  höherem  Maasse  als  bei  der  statistischen 
Methode  geboten,  einigermaassen  ähnlich  wie  bei  der  ersten  Beob- 
achtungsmethode des  Inductionsverfabrens,  der  täglichen  un- 
systematischen Massenbeobachtung  (§.  78),  wenn  auch  der  wissen- 
schaftliche Cbaracter  der  vergleichend -historischen  Methode  mehr 
Garantie  bietet,  — wenn  und  soweit  als  er  im  concreten  Falle 
festgehalten  werden  kann. 

Am  Allermeisten  ist  Vorsicht  geboten , in  Fragen  der  prac- 
tischen  Wirtschaftspolitik  sich  kurzweg  auf  die  „historische 
Erfahrung“  zu  berufen,  wie  das  in  allen  Parteilagern  so  gern  ge- 
schieht, aber  auch  unter  Vertretern  der  Wissenschaft  nicht  selten 
ist.  Denn  das  „x“  ist  hier  eben  immer:  was  besagt  die  „histo- 
rische Erfahrung“  in  Bezug  auf  complexe  Erscheinungen,  welches 
ist  der  Inhalt  dieser  Erfahrung?  Und  zur  genauen  Bewerthung 
dieses  „x“  reicht  die  rein  - historische  und  auch  die  vergleichend- 
historische  Methode  auch  nur  mit  einiger  Sicherheit  meistens  nicht 
aus,  weil  sie  eben  die  gedankenmässige , geschweige  die  experi- 
mentelle Isolirung  der  Ursachen  nicht  genügend  gestatten.  Die 
statistische  und  die  deductive  Methode  thun  das  in  höherem  Grade, 
wenngleich  auch  nicht  genügend.  Deswegen  geben  sie  für  ein 
solches  „x“  immer  doch  mehr  und  sicherere  Näherungswerthe  als 
die  beiden  historischen  Methoden. 

Auch  das  wird  so  leicht  von  den  Vertretern  der  historischen  Nationalökonomie 
in  dem  Methodenstreit  übersehen.  Es  werden  z.  B.  gegen  die  deductive  Methode 


224 


1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  3.  A.  Induction.  §.  $5. 


Vorwürfe  erhoben,  dass  mit  derselben  keine  genügend  sicheren  Ergebnisse  zu  erzielen 
seieu.  Ganz  richtig!  Aber  verhält  es  sich  denn  mit  der  historischen  Methode  wenig- 
stens bei  allen  Aufgaben  Nr.  2 — 6 nicht  ebenso  oder  selbst  noch  ungünstiger  ?! 
Schwierigkeiten,  welche  in  den  Problemen  selbst  liegen,  werden  hier  der  Methode 
zur  Last  gelegt,  weil  dieselbe  ihnen  nicht  genügend  gewachsen  ist.  Was  aber  dann 
für  alle  Methoden  immer  mehr  oder  weniger  gilt.  Gewiss  sind  da  von  den  Vertretern 
der  Deduction  und  der  Statistik  öfters  ganz  ähnliche  Fehler  begangen  worden,  aber 
gegenwärtig  sind  dieselben  wenigstens  seltener  und  geringer  als  in  gewissen  Rich- 
tungen der  historischen  Nationalökonomie,  auf  deren  Mühle  immer  das  Wort,  „exacte 
historische  Forschung“  klappert  und  die  doch  nicht  einmal  den  erheblichen  Unter- 
schied zwischen  einer  historischen  und  vergleichend-historischen  Methode  und  zwischen 
den  mit  beiden  zu  lösenden  verschiedenen  Aufgaben  sich  klar  macht. 

Fehler  dieser  Art  sind  in  der  Methodologie  der  ganzen  historischen  National- 
ökonomie, mehr  bei  der  jüngeren  als  bei  der  älteren  (§.  15),  aber  auch  bei  dieser 
nachzuweisen.  Selbst  Knies  möchte  davon  (s.  [II,  Abschn.  10  u.  11,  S.  453  ff.  seiner 
Pol.  Oek.,  2.  A.)  nicht  ganz  frei  zu  sprechen  sein.  Bei  Roscher,  Schmoller,  Hasbach, 
Ingram  u.  A.  treten  sie  in  der  ungenügenden  Unterscheidung  zwischen  den  ge- 
nannten beiden  historischen  Methoden  und  in  den  einseitigen  Urtheilcn  über  die 
deductivc  Methode,  bei  Roscher  auch  in  dem  Urtheil  Uber  die  „idealistische“  Methode 
und  in  der  Verkennung  des  Wesens  und  Werths  der  statistischen  Methode  nur 
schärfer  hervor.  Mit  Recht  hat  W.  Wundt  (Logik  II,  593  ff.)  auf  die  Nothwendig- 
keit  grade  der  Statistik  zur  Ergänzung  der  geschichtlichen  Untersuchung  hin- 
gewiesen. Aber  seine  weiteren  bezüglichen,  freilich  sehr  kurzen  Ausführungen  leiden 
doch  auch  an  dem  Fehler,  die  Statistik  zu  eng  zu  fassen,  bei  der  historischen  Methode 
die  beiden  verschiedenen  Arten  nicht  zu  trennen  und  die  Leistungsfähigkeit 
der  historischen  Forschung  zu  überschätzen.  So  z.  B.  wenn  er  sagt  (S.  593) : 
„insbesondere  fällt  überall  da,  wo  man  ein  causales  Vcrhältniss  gegebener  wirth- 
schaftlicher  Zutsände  zu  gewinnen  sucht,  der  geschichtlichen  Entwicklung  die  Haupt- 
aufgabe zu  (?),  während  die  Statistik  nur  dazu  dient,  jene  Zustände  selbst  in  ihrem 
Detail  festzustellen“  (?).  Mit  Recht  wird  gleichwohl  alsbald  darauf  von  den  „im 
Allgemeinen  bloss  qualitativen  Ergebnissen“  der  historischen  Forschung  gesprochen.  — 
was  eben  doch  schon  eine  ungenügende  Leistung  ist.  Auch  die  weiteren  Bemerkungen 
Wundt’s  über  die  Beziehungen  zwischen  abstracter  Wirthschaftstheorie  und  historischer 
Nationalökonomie  verkennen  hier,  wie  auf  den  vorausgehenden  Seiten  (S.  588  ff.),  nicht 
den  Werth  und  die  Berechtigung  der  Deduction  und  der  abstracten  Theorie,  aber 
machen  doch  der  historischen  Richtung  zu  weite  und  vor  Allem  nicht  ganz  klare 
Zugeständnisse.  Was  hier  über  die  Psychologie  als  grundlegende  Discipliu  der 
Geisteswissenschaften  richtig  gesagt  ist  (S.  595),  scheint  mir  auch  nicht  zu  Gunsten 
des  inductiven,  sondern  gerade  des  deductivcn  Verfahrens  zu  gelten.  Es  ist  eben  eine 
Behauptung,  welche  auf  falscher  Auffassung  des  methodologischen  Verfahrens  in  der 
abstracten  Wirthschaftstheorie  beruht,  wenn  dieser  vorgeworfen  wird,  es  habe  in 
ihrem  logischen  Schematismus  die  Psychologie  ihre  grundlegende  Stellung  verloren, 
wie  Wundt  unter  Berufung  auf  Schmoller  bemerkt.  — Die  älteren  Ausführungen 
Pickford’s  (Einleitung),  die  neueren  Menger’s,  der  mir  nur  den  relativ  grossen 
Werth  der  vergleichend  - historischen  Methode  doch  auch  für  die  Thcorio  (die  Auf- 
gaben 2 und  3)  nicht  ganz  genügend  zu  würdigen  scheint  (vgl.  bes.  Untersuchungen, 
B.  2,  Kap.  2,  S.  118  ff. , bes.  S.  124  ff.,  über  die  Parallelismen  der  historischen  Ent- 
wicklung), die  Erörterungen  H.  Dietzel’s  a.  a.  0.  und  nunmehr  besonders  diejenigen 
von  Keynos  (scope  a metliod,  Kap.  9,  nebst  Anhang  S.  290  ff.),  auch  im  Ganzen  die 
von  M.  Block  (progrüs  de  la  Science  ccon.  I,  IS  ff.)  scheinen  mir  Mas  Richtigere 
mehr  zu  treffen,  wenn  auch  dabei  mitunter,  nicht  bloss  von  Mengcr,  der  historischen 
Methode  in  der  Form  der  vergleichend-historischen  weniger  Beachtung  geschenkt  und 
Werth  beigelegt  wird,  als  sie  mir  beanspruchen  zu  können  scheint. 

Für  das  Technische  in  Betreff  der  Gewinnung  des  histo- 
rischen Stoffs  gelten  auch  ftir  den  Wirthschaftshistorikcr  die  Grund- 
sätze der  allgemeinen  Geschichtswissenschaft. 

Dafür  sei  hier  auf  das  Buch  von  Bernheim  hingewiesen.  Es  ergiebt  sich  hier 
dann,  wie  bei  der  Statistik,  der  von  E.  Engel  wohl  sogenannte  Unterschied  zwischen 


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Wirtschaftliche  Gesetze. 


225 


statistischen  und  historischen  „Producenten“  und  „Consuinenteu“.  Schon  das  Princip 
der  Arbeitsteilung  wird  in  der  Kegel  eine  Trennung  zwischen  der  Thätigkeit  beider 
bedingen,  so  weit  es  sich  um  etwas  Anderes  als  um  Forschung  auf  einem  concreten 
wirthschaftsgcschichtlichen  Gebiete  und  Darstellung  der  Thatsachen,  also  um  etwas 
Anderes  als  um  unsere  erste  Aufgabe  handelt.  Jedenfalls  muss  aber  derjenige  National- 
ökonom. der  gleichzeitig  wirthschaftsgeschichtlicher  Specialforscher  sein  will,  allen 
Anforderungen  der  Quellenkunde,  Kritik  u.  s.  w.  der  Geschichtswissenschaft  entsprechen, 
eine  boi  dem  Umfang  der  Gebiete,  den  verschiedenen  Bedürfnissen  in  Bezog  auf 
Specialstudien  und  Kenntnisse  u.  s.  w.  schwer  zu  erfüllende  Anforderung.  Und  um- 
gekehrt, der  wirthschaftsgeschichtliche  Forscher,  welcher  auch  Nationalökonom  sein 
will,  darf  die  für  diesen  indispensablen  weiteren  Aufgaben  nicht  über  der  ersten 
vernachlässigen  oder  gar  vergessen.  Er  darf  aber  auch  nicht  das  ganze  Schuttgeröll 
historischer  Forschung  und  cultur-  und  wirtschaftshistorischer  Lesefrüchte,  nach 
einigen  Gcsichtspunctcn  der  abstractcn  Nationalökonomie  und  der  Deduction  geordnet, 
als  „nationalökonomisches  Ergebniss“  der  „inductivcn  historischen  Forschung“  hin- 
stellen. Denn  einmal  ist  es  eben  noch  nicht  ein  nationalökonomisches  Ergeb- 
niss und  zweitens  giebt  es  sich,  soweit  es  selbst  so  genannt  werden  dürfte,  als  Gewinn 
der  inductiven  Methode  aus,  während  es  doch  wesentlich  — historische  Umklcidung 
der  Ergebnisse  der  deductiven  Methode  ist.  Daran  erinnert  manche  „liistorisch“- 
nationalökonomischc  Arbeit. 


4.  Abschnitt. 

Wirtschaftliche  Gesetze. 

§.  SO.  Einleitung  und  Litteratur.  Eine  bezügliche  Erörterung  wurde 
oben  in  §.  73,  wo  von  dcductiv  abgeleiteten  Gesetzen  die  Kede  war,  Vorbehalten  bis 
nach  erfolgter  Behandlung  des  deductiven  Verfahrens.  Es  ist  hier  jetzt  die  geeignete 
Stelle  dafür  gekommen.  Die  ganze  Frage  steht  mit  den  übrigen  Gegenständen  dieses 
Kapitels,  besonders  mit  der  Methodologie,  und  dieses  ganzen  1.  Buchs  in  naher  Be- 
ziehung, war  daher  auch  wiederholt  schon  zu  berühren.  Sie  gehört  aber  w'icdcr  zu 
denjenigen,  welche  mit  grossen,  allgemeinsten,  schwierigsten  und  strittigsten  philo- 
sophischen Fragen  in  Zusammenhang  stehen  und  bildet  insbesondere  selbst  wieder  eine 
Specialfrage  der  allgemeinen  Frage  von  Begriff  und  Wesen  von  „Gesetzen“,  „Gesetz- 
mässigkeit“, Causalzusammenhang  in  der  realen  Welt  und  in  den  Wissenschaften  von 
letzterer.  Auch  diese  Frage  hier  nach  allen  Seiten  erschöpfend  zu  behandeln,  ist 
nicht  möglich.  Das  wäre  die  Aufgabe  der  Monographie. 

Gegenüber  einer  zu  grossen  Geneigtheit  der  älteren  abstracten  theoretischen 
Nationalökonomie  und  ebenso  der  Statistik  der  Quetelet’schou  Richtung , immer  gleich 
und  ohne  genügende  Reserve,  auch  ohne  zuvorige  Feststellung  des  Begriffs,  auf  volks- 
wirtschaftlichem, statistischem  Gebiete,  namentlich  auch  in  der  Statistik  „scheinbar 
willkührlichcr  menschlicher  Handlungen“,  der  Moralstatistik  u.  s.  w.  den  Ausdruck 
„wirtschaftliches“,  „statistisches“,  „moralstatistisches“  Gesetz  anzuwenden,  sogar  von 
„Naturgesetzen“  zu  sprechen,  ist  neuerdings  auch  hier  ein  Rückschlag  ein- 
getreten. Man  ist  der  Annahme  von  „Gesetzmässigkeiten“,  gar  von  „Gesetzen“  auf 
diesen  Gebieten  mitunter  ganz  entgegengetreten , jedenfalls  ihr  gegenüber  skeptischer 
und  reservirter  geworden,  mit  der  Begründung,  dass  es  sich  hier  immer  nur  höchstens 
um  gewisse  Regelmässigkeiten  handle,  die  ohnehin  kleiner,  als  meistens  angenommen, 
seien,  und  dass  man  cs  mit  Erscheinungen  zu  thun  habe,  welche  mit  oder  wesentlich 
allein  unter  dem  Einfluss  psychischer  Factoren  ständen  und  deshalb  nur  gewaltsam 
nach  einer  rein  mechanistisch-materialistischen,  schliesslich  doch  auf  petitioncs  prin- 
cipii  beruhenden  Anschauung  als  „gesetzmässig“  verlaufend  aufgefasst  werden  könnten. 
Die  neuere  anüqu6telctschc  Richtung  in  der  Statistik  (s.  o.  S.  141)  und  die  historische 
Richtung  in  der  Nationalökonomie  haben  hier  einen  ähnlichen  ablehnenden  Stand- 
punct  gegen  „Gesetze“  auf  den  hier  besprochenen  Gebieten  eingenommen  und  auch 
manchen  richtigen  Einwand  erhoben.  Aber  auch  in  diesen  Richtungen  ist  nicht 
immer  auf  die  Frage  von  Begriff  und  Wesen  von  „Gesetzen“  überhaupt  genügend  ein- 
gegangen  und  hat  die  Polemik  das  Ziel  namentlich  öfters  deswegen  uberschossen, 
weil  sie  „Gesetz“,  „statistisches“  Gesetz,  „wirtschaftliches“  Gesetz  ohne  Weiteres  für 
A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlugen.  15 


226  1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  4.  A.  Wirtschaft!.  Gesetze.  §.  86. 


..Naturgesetz“  nahm,  wozu  freilich  ein  unpassender  Sprachgebrauch  und  jene  zu 
mechanistische  Auffassung  von  „Gesetzen“  auf  diesen  Gebieten  mit  den  Anlass  ge- 
geben haben.  Mit  der  zutreffenden  Widerlegung  der  Ansicht  von  wirtschaft- 
lichen u.  s.  w.  „Naturgesetzen“  ist  nicht  schon  die  Annahme  von  „Gesetzen“  überhaupt 
widerlegt.  Die  Annahme  von  Gesetzen  und  damit  etwas  den  Naturgesetzen  im  Gebiete 
der  Naturwissenschaften  wenigstens  Analoges  auch  auf  dem  geisteswissenschaftlichen 
Gebiete  ist  dabei  auch  gewöhnlich  in  Folge  einer  unklaren  und  zwar  zu  strengen 
Auffassung  dessen,  was  vermeintlich  allein  ein  wirkliches  „Naturgesetz“  sei,  kurzweg 
abgelehnt  worden.  Man  hat  hier  nicht  untersucht,  inwiefern  denn  das,  was  man 
Gesetz  im  Sinne  von  Naturgesetz  in  den  Naturwissenschaften  nennt,  nicht  auch  ähn- 
lichen Einwänden,  wie  das  „Gesetz“  in  unseren  Wissenschaften  ausgesetzt  sei,  man 
daher  mit  solchen  Argumenten  zu  viel  beweise. 

Trotz  der  von  mir  zugestandenen,  mir  so  oft  vorgeworfenen,  viel  zu  mecha- 
nistisch-naturwissenschaftlichen Auffassung  in  meiner  Schrift  „die  Gesetzmässigkeit  in 
den  scheinbar  willkührlichen  menschlichen  Handlungen“  (s.  o.  S.  141),  war  ich  doch 
bereits  damals  (1S64)  zu  der  Einsicht  gelangt,  dass  man  sich  zum  Theil  nur  in  einem 
Wortstreit  bewege,  weil  der  Sprachgebrauch  in  Betreff  der  Ausdrücke  „Gesetz- 
mässigkeit“, „Gesetz“  eben  nicht  feststehe  und  von  den  einzelnen  Autoren  diese 
Worte  in  verschiedenem  Sinne  genommen  würden ; ferner,  dass  auch  der  naturwissen- 
schaftliche und  der  Sprachgebrauch  der  sogen,  exacten  Wissenschaften  in  Betreff 
dieser  Ausdrücke  nicht  feststehe  und  endlich,  dass  Untersuchungen  zum  Zwecke  einer 
principiellen  Begründung  eines  richtigen  Sprachgebrauchs  es  grade  nach  den  auch  bei 
den  Gesetzen  der  Natur-  und  exacten  Wissenschaften  obwaltenden  Verhältnissen  des 
Erkenntnissstadiums  zulässig  und  logisch  und  erkenntnisstheorctisch  richtig  erscheinen 
Hessen,  doch  auch  auf  statistischem,  auf  volkswirtschaftlichem,  überhaupt 
allgemein  auf  geisteswissenschaftlichem,  d.  h.  auf  solchem  Gebiete,  wo  psy- 
chische Factoren  einwirken,  von  „Gesetzmässigkeit“  und  „Gesetzen“  zu  reden.  Die 
bezüglichen  Untersuchungen  bilden  den  Anhang  zum  1.  Theil  meiner  Schrift  über 
„Gesetzmässigkeit“  (S.  63 — SO).  Ich  habe  schon  oben  mehrfach  darauf  Bezug  ge- 
nommen. Einiges  weitere  Dahingehörige  enthält  meine  Besprechung  des  moral- 
statistischen  Atlas  von  Guerry  in  der  Tüb.  Ztschr.,  B.  21,  1S04,  S.  273  ff.,  besonders 
S.  276 — 278,  2S1  — 285.  In  meiner  Abh.  Statistik,  Staatswörterbuch.  X,  456  ff,  bes. 
456 — 463,  474 — 477,  habe  ich  dann  versucht,  meine  Ansichten  über  diese  Puncto  in 
knapper  Weise  systematisch  zusammenzufassen.  Ich  glaube  nun,  wie  in  den  obigen 
Erörterungen  über  die  statistische  Methode  (§.  80 — 82),  so  auch  hier  in  Betreff  der 
„Gesetzmässigkeit“  u.  s.  w.  an  meinen  damaligen  Auffassungen  im  Wesentlichen  und 
zum  Theil  auch  noch  an  meinen  damaligen  Fassungen  festhalten  zu  dürfen.  Dies, 
obwohl  sie  sich  nicht  besonderer  Beachtung  erfreut  und  von  den  später  über  denselben 
Gegenstand  schreibenden  Autoren,  mit  Ausnahme  wieder  Al.  v.  Oettingen's,  kaum 
einmal  erwähnt  worden  sind  (auch  von  Rümclin  nicht,  dessen  Arbeiten  über  Ge- 
setze, nebenbei  bemerkt,  späteren  Datums  als  meine  genannten  sind,  auch  in  der 
neuesten  Arbeit  von  Neumann  nicht).  Besondere  Citate  aus  meinen  Aufsätzen  sind 
im  Folgenden  unterblieben.  Für  die  nähere  Begründung  und  auch  für  die  Ab- 
weichungen von  Anderen  möchte  ich  mich  aber  ausdrücklich  darauf  beziehen. 

Ueber  die  ältere  Litteratur  (bis  1865)  enthalten  meine  früheren  Schriften  a.  a.  0. 
mancherlei  Angaben  (s.  bes.  „Gesetzmässigkeit“,  S.  67  ff  und  den  Aufsatz  Uber  Guerry). 
Für  weitere  und  neuere  Litteratur  ist  auf  die  Angaben  oben  in  §.  54,  S.  140  ff.  zu 
verweisen,  namentlich  auf  die  betreffenden  statistischen,  philosophischen  Schriften, 
unter  denen  die  von  Rümclin  besonders  hervorzuheben  sind.  Er  steht  wie  in  seiner 
2.  Abh.  über  Statistik  etwas  anders  als  in  seiner  ersten  Abhandlung,  so  auch  in 
seiner  späteren  Arbeit  über  Gesetze  in  der  Geschichte  etwas  anderes  als  in  der 
früheren  über  den  Begriff  eines  socialen  Gesetzes.  In  allen  diesen  Aufsätzen  aber 
übertreibt  er  die  Anforderungen  hinsichtlich  der  Zulässigkeit  des  Ausdrucks  „Gesetz“ 
unter  Hinweis  auf  den  naturwissenschaftlichen  Sprachgebrauch,  der  deswegen  nichts 
beweist,  weil  er  einmal  auch  nicht  feststeht  und  zweitens  sich  auch  hier  zeigen  lässt, 
dass  in  gar  nicht  so  durchaus  von  dem  unseren  auf  wirtschaftlichem  Gebiete  ver- 
schiedenen Sinne  hier  von  Gesetzen  (als  „Tendenzen“)  gesprochen  wird.  (S.  auch 
dafür  meine  älteren  Arbeiten  und  bes.  Neumann’s  Aufsatz.)  S.  sonst  auch  Lexis’ 
gen.  Arbeiten,  auch  seinen  Art.  Gesetz  (im  gesellschaftlichen  und  statistischen  Sinne) 
im  Handwörterb.  d.  Staatswiss.,  III,  844 — 84‘J.  Vielerlei  litterarische  Angaben  neben 


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Wirtschaftliche  Gesetze.  Litteratur. 


227 


eigenen  Ausführungen  in  Kautz,  a.  a.  0.  I,  bes.  §.  64  ff.,  68  ffM  118  ff.  S.  sonst  bes. 
Knies,  Ptfl.  Oek.,  2.  A. , Abschn.il,  S.  474  ff.  und  passim,  sowie  K.  Meng  er, 
Untersuchungen,  bes.  B.  1,  Kap.  4 und  Anhang  2 u.  5,  und  ebenfalls  passim.  Klein- 
w achter,  Uber  Wesen  u.  s.  w.  der  Nationalökonomie,  Conrad ’s  Jahrbücher,  Band  52 
(N.  F.  18),  1889,  bes.  S.  607  ff.,  639  11.  (gegen  den  Ausdruck  „Gesetz’1,  nur  für  „Regel- 
mässigkeit“). G.  Cohn,  System,  §.  45  ff.  Marshall,  principles  of  economics,  B.  1, 
Kap.  7.  Keynes,  scope,  bes.  K.  2.  Block,  progres,  I,  B.  1,  K.  9.  van  Houten, 
das  Causalitätsgesetz  und  die  Socialwissenschaften,  Haarlem  1888. 

Die  neueste,  mir  leider  erst  während  des  Drucks  zugegangene  vorzügliche  Studie 
von  Neu  mann,  Naturgesetz  und  Wirthschaftsgesetz,  Tüb.  Ztschr.,  1892,  S.  405  ff., 
ist  zugleich  die  wichtigste  Arbeit.  Kürzer  hatte  Neumann  den  Gegenstand  schon  in  dem 
Schönberg’schen  Handbuche  (2.,  nicht  mehr  3.  Aufl. , I,  148  ff.)  behandelt  (wirt- 
schaftliche Gesetze:  „auf  regelmässig  fortwirkende  Ursachen  zurückzuführende  Regel- 
mässigkeiten in  der  Aufeinanderfolge  wirtschaftlicher  Erscheinungen“,  S.  149).  In 
dem  neuen  Aufsatze  leitet  Neomann  weit  umfassender,  aber  doch  ähnlich  wie  ich  in 
meinen  älteren  Arbeiten,  mit  einer  begrifflichen  Untersuchung  Uber  Gesetz  und  Natur- 
gesetz die  Erörterung  des  Wesens  wirtschaftlicher  Gesetze  ein,  wird  zwischen  diesen 
und  den  sonstigen  socialen  Gesetzen  aber  von  ihm  ein  m.  E.  zu  grosser  Unterschied  an 
genommen , die  Unmöglichkeit  exacter  wirtschaftlicher  Gesetze  (gegen  K.  Menger) 
nach  zuweisen  gesucht,  jedoch  an  „Gesetzen“  im  Gebiete  der  Wirtschaft  festgehalten 
und  der  Sprachgebrauch  auch  durch  Vergleichung  mit  den  „Gesetzen“  auf  anderen 
Gebieten  gerechtfertigt  Die  ganze  Arbeit  ist  auch  für  die  neuere  (auch  natur- 
wissenschaftliche) Litteratur  der  Frage  hervorzuheben.  Sie  hat  mich  veranlasst, 
diesen  Abschnitt  während  des  Drucks  noch  einmal  zu  revidiren. 

In  einigen  wesentlichen  Puncten  deckt  sich  Neumann’s  Auffassung  mit  meiner 
eigenen  älteren,  u.  A.  auch  darin,  dass  auch  Neumanu  unter  wirtschaftlichen  Ge- 
setzen vornemlich  Tendenzen  versteht  (S.  462).  In  anderen  Puncten  weiche  ich 
ab,  so  in  der  Ansicht  über  statistische  und  sociale  Gesetze,  zu  welchen  letzteren 
eben  doch  die  wirtschaftlichen  als  Nebenart  gehören , ferner  auch  etwas  iu  den  zur 
Begründung  von  Neumann  beigefügten  methodologischen  Erörterungen.  In  der  Wür- 
digung der  Deduction  steht  übrigens  Neumann  vielfach  ähnlich  wie  ich,  in  den  Be- 
merkungen gegen  Menger  Uber  die  Berechtigung  der  historischen  Methode  geht  er 
mir  etwas  zu  weit,  obgleich  wir  wohl  in  der  methodologischen  Gesammtauffassung  uns 
nicht  fern  stehen  möchten.  Grade  für  die  Frage  der  wirtschaftlichen  Gesetze  wäre 
aber  vielleicht  noch  eine  nähere  Erörterung  über  inductiv  abzuleitendc  Gesetze  er- 
wünscht gewesen.  Die  Begriffsbestimmung  Neumann’s  (wirtschaftliche  Gesetze  „der 
Ausdruck  für  eine  in  Folge  der  Macht  wirthschaftlicher  Zusammenhänge  aus  gewissen 
Motiven  sich  ergebende  regelmässige  Wiederkehr  wirtschaftlicher  Erscheinungen 
[Tendenzen  oder  Vorgänge}“  S.  462)  scheint  mir  gleich  zu  sehr  auf  die  deductive  Me- 
thode (Ableiten  aus  dem  „Eigennutz“)  hinzuweisen.  Die  Worte  „in  Folge  der  Macht 
wirthschaftlicher  Zusammenhänge“  sind  auch  wohl  hier  entbehrlich.  Diese  Zusammen- 
hänge wirken  doch,  wie  anderes  Aenssere,  als  Emjdindungen,  Vorstellungen,  Reize 
auf  die  Motive  selbst  ein  und  erst  dadurch  auf  die  Handlungen  und  Erscheinungen. 
Die  „regelmässige“  Wiederkehr  der  letzteren  ist  die  Folge  der  regelmässigen  Ge- 
staltung der  Motivation , aber  für  diese  Motivation  bildet  grade  die  Macht  wirth- 
schaftlicher Zusammenhänge  einen  unregelmässig  wirkenden  („störenden“)  Einfluss.  — 
Für  die  ganze  Frage  ist  Neumann’s  Abhandlung  von  grossem  Werth.  Eine  genauere 
Auseinandersetzung  mit  ihm  ist  hier  nicht  möglich  und  würde  mir  auch,  wenn  ich 
Neumann’s  Aufsatz  erhalten  hätte,  bevor  ich  diese  Ausführungen  beendigt  hatte, 
an  dieser  Stelle  nicht  möglich  gewesen  sein.  Meine  Uebereiustimmung  mit  ihm  ist 
grösser  als  meine  Differenzen  von  ihm  sind.  — Vornemlich  sind  mit  meinen  folgenden 
die  Ausführungen  Rümeliu’s  und  Neumann’s  zu  vergleichen,  die  zum  Theil  Seite 
für  Seite  hier  zu  citiren  wären1). 


*)  Im  Moment,  wo  diese  Blätter  in  den  Druck  geben,  kommen  mir  zwei  neue 
hierher  gehörige  Arbeiten  zu,  die  ich  nicht  mehr  benutzen  konnte,  beide  im  2.  Heft 
der  (österr.)  Ztschrift  für  Volkswirtschaft  u.  s.  w.  (1692,  B.  I)  von  Bonar,  Gebrauch 
des  Ausdrucks  „Gesetz“  in  der  Nationalökonomie,  und  von  John,  zur  Methode  der 
heutigen  Socialwissenschaft. 


15* 


228  1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  4.  A.  Wirthschaftl.  Gesetze. 

I.  — §.  87.  Die  allgemeine  Frage  von  der  Zulässig- 
keit des  Ausdrucks  „Gesetz“  und  die  Begriffsbe- 
stimmung von  „Gesetz“  im  allgemeinsten  Sinne. 

Angenommen,  dass  man  überhaupt  von  wirtschaftlichen  (volks- 
wirtschaftlichen) „Gesetzen“  sprechen  darf,  so  würden  dieselben 
zu  denjenigen  Gesetzen  der  realen  Welt  gehören,  welche  als  all- 
gemeinstes Merkmal  dasjenige  der  Gleichförmigkeit  der  Ge- 
staltung der  Erscheinung  bei  der  jedesmaligen  Wiederkehr  der 
letzteren  an  sich  tragen  (sogen.  Gesetze  der  Succession).  Eine 
bloss  solche  Gleichförmigkeit  der  Gestaltung  (gleichmässige  Wieder- 
kehr von  Vorgängen)  kann  aber  auch  nach  dem  weitesten  und 
losestem  Sprachgebrauch  hinsichtlich  des  Ausdrucks  Gesetz  noch 
nicht  ohne  Weiteres  „Gesetz“  genannt  werden.  Es  lässt  sich  von 
ihr  zunächst  nicht  mehr  sagen,  als  dass  sie  auf  ein  ihr  zu  Grunde 
liegendes  Gesetz  hindeuten,  ein  solches  enthalten  kann.  Ob  das 
wirklich  der  Fall  und  ob  jene  Gleichförmigkeit  bereits  „Gesetz“ 
heissen  darf,  hängt  einmal  von  einem  zweiten  sachlichen 
Merkmal,  von  dem  Character  der  Gleichförmigkeit  in  dem  so- 
gleich näher  darzulegenden  Sinne  des  Worts,  sodann  aber  auch 
von  Erwägungen  hinsichtlich  des  zweckmässigen  wissenschaft- 
lichen Sprachgebrauchs  ab.  Die  Gleichförmigkeit  deutet 
nemlich  nur  dann  wirklich  auf  ein  Gesetz  hin  und  kann  nur  dann, 
vorbehaltlich  der  Entscheidung  über  den  passenden  Sprachgebrauch, 
bereits  den  Namen  „Gesetz“  führen,  wenn  sie  nicht  auf  dem  Zu- 
fall, einer  Combination  zufällig  mehrfach  so  zusammenwirkender 
Bedingungen  und  Ursachen  beruht,  sondern  wenn  die  Annahme 
nicht  abzuweisen  ist,  dass  sie  die  nothwendige  Folge  und  Wirkung 
eines  festen  Abhängigkeitsverhältnisses  von  gewissen  (wenn  auch 
noch  nicht  weiter  bekannten)  Bedingungen  und  Ursachen  sein  muss, 
wodurch  die  Regelmässigkeit  oder  Gleichförmigkeit  bedingt  und 
bewirkt  wird.  Ob  dies  aber  der  Fall,  das  ist  wieder  nach  Gründen 
der  Wahrscheinlichkeit  zu  bestimmen  (S.  214).  Wird  es 
danach  bejaht,  so-  taucht  alsdann  die  weitere  Frage  hinsicht- 
lich des  Sprachgebrauchs  bezüglich  der  Anwendung  des  Worts 
„Gesetz“  auf. 

Bei  dieser  Frage  lässt  sich  eine  losere  (laxere)  und  eine 
strengere  Observanz  im  Sprachgebrauch,  danach  eine  aus- 
gedehntere und  eine  engere  Anwendung  des  Worts  „Gesetz“ 
unterscheiden  und  zwar  wieder  nach  zwei  verschiedenen  Momenten, 
nemlich  einmal  nach  dem  Maasse  derErkcnntniss  der  Ur- 


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Frage  der  Zulässigkeit  des  Ausdrucks  „Gesetz“- 


229 


Sachen,  Bedingungen,  der  conditionellen  und  causalen  Zusammen- 
hänge und  Abhängigkeitsverhältnisse  in  Bezug  auf  die  Gleich- 
förmigkeit der  Gestaltung  der  Erscheinung,  und  zweitens,  womit 
das  erste  Moment  freilich  zusammenhängt,  nach  der  Strenge  der 
Abhängigkeitsverhältnisse,  daher  auch  wieder  nach  dem  Character 
des  ganzen  Gebiets  von  Erscheinungen,  um  welche  es  sich  handelt. 
Man  kann  nun  gute  Gründe  für  Beides,  für  eine  ausgedehntere 
und  engere  Anwendung  des  Ausdrucks  Gesetz  geltend  machen  und 
nicht  schlechtweg  die  andere  Ansicht  falsch  nennen.  Wir  ent- 
scheiden uns,  mit  dem  allgemeinen  Sprachgebrauch,  für  die  aus- 
gedehntere Anwendung  des  Worts  „Gesetz“  und  sprechen  daher 
auch  von  „wirtschaftlichen  Gesetzen“. 

Für  die  Entscheidung  sind  Zwcckmässigkeitserwägungen  manssgebend,  ob  man 
noch  mehr  Gewicht  zunächst  auf  das  allen  („gesetzmässigen“)  Gleichförmigkeiten 
Gemeinsame  oder  gleich  auf  das  die  einzelnen  Kategorien  derselben  Unter- 
scheidende legen  soü.  Auch  hier  ist  nicht  einfach  zu  sagen,  was  das  Richtigere 
und  auch  nicht  einmal  unbedingt,  was  durchaus  das  Zweckmässigere  ist.  Denn  richtig 
— oder  noch  vorsichtiger  ausgedrückt:  nicht  unrichtig  — ist  Beides,  und  in  Betreff 
der  Zweckmässigkeit  lassen  sich  Gründe  für  und  wider  geltend  machen,  welche  wohl 
subjectiv  den  Einzelnen  verschieden  gewichtig  erscheinen,  es  aber  objectiv  doch  kaum 
sind.  Eben  deswegen  wird  man  auch  im  wissenschaftlichen  Sprachgebrauch  dem 
populären  folgen  dürfen , freilich  ihn  aber  dann  genauer  bestimmen  müssen.  Er  ist 
nun  für  die  weitere  Anwendung  des  Worts  „Gesetz“.  Gewiss  können  daraus,  wie 
sich  auch  grade  auf  geistes-,  social,  wirthschaftswissenschaftlichem  Gebiete,  in  der  Sta- 
tistik u.  s.  w.  gezeigt  hat.  Gefahren  bervorgehen,  dass  nun  zwischen  den  „Gesetzen“ 
der  verschiedenen  Erscbeinungsgebiete  nicht  genügend  unterschieden  wird  (s.  folgenden 
Paragraphen).  Die  missbräuchliche  Auffassung  der  „Gesetze“  auf  diesen  Gebieten  im 
Sinne  von  wirklichen  (sogar  „exacten“)  Naturgesetzen  hangt  mit  diesem  loseren 
Sprachgebrauch  zusammen.  Allein  sic  ist  doch  keine  nothwendige  Folge  davon,  sie 
kann  und  wird  jetzt  auch  immer  allgemeiner  vermieden.  Auch  gehen  die  neueren 
Einwendungen  und  Bedenken  von  superrigorosen  Vertretern  der  Geisteswissenschaften, 
hie  und  da  auch  wieder  von  historischen  Nationalökonomeu  und  Statistikern  zu  weit. 
Dazu  kommt  ein  doch  auch  vorhandener  weiterer  Vortheil.  nemlich  der,  nach  einem 
gemeinsamen  Merkmal  (der  in  der  angedeuteten  Weise  fest  bedingt  erkannten 
Gleichförmigkeit  der  Gestaltung  der  Erscheinungen)  auf  sonst  nach  den  obwaltenden 
causalen  und  conditionellen  Verhältnissen  sehr  verschiedenen  Erscheinungsgebieten  mit 
demselben  Worte  „Gesetz“  dieses  selbe  cbaracteristische  Merkmal  — und  in  dem 
eben  erwähnten  Puncte  ist  es  in  der  That  dasselbe  Moment  — zu  bezeichnen. 
Sind  auch  die  Gleichförmigkeiten  auf  dem  wirthschaftlichen , socialen  und  geistes- 
wissenschaftlichen Gebiete  w'egen  des  Einflusses  psychischer  Factorcn  anderen  cau- 
salen und  conditionellen  Characters  als  auf  dem  naturwissenschaftÜchen  Gebiete,  so 
sind  es  eben  doch  auch  Gleichförmigkeiten,  die  grade  als  solche  auf  unserem 
Gebiete  die  wissenschaftliche  Aufmerksamkeit  in  besonderem  Maasse  verdienen,  weil 
sie  hier  schwieriger  zü  erklären  sind. 

„Gesetze“  im  allgemeinsten  Sinne  würden  danach  als  solche 
Gleichförmigkeiten  der  Gestaltung  der  Erscheinungen,  demnach 
der  gleichmässigen  Wiederkehr  der  letzteren  (von  „Vorgängen“) 
zu  definiren  sein,  welche  nach  Wahrschcinlichkeitsgründen  als 
nothwendige  Folgen  und  Wirkungen  eines  festen  Abhängigkeits- 
verhältnisses von  gewissen  Bedingungen  und  Ursachen  angesehen 


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230  1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  4.  A.  Wirthschaftl.  Gesetze.  §.  $9. 

werden  müssen.  Die  Definition  von  Gesetzen  der  verschiedenen 
Haupt-  und  Specialgebiete  der  Erscheinungen  ergiebt  sich  daraus, 
so  betreffs  der  (reinen,  äusseren)  Naturerscheinungen,  wie  der- 
jenigen, wo  psychische  menschliche  Factoren  mitspielen,  daher 
der  socialen,  der  wirtschaftlichen  Erscheinungen.  Damit  ist  die 
Frage  noch  nicht  entschieden,  ob  es  auf  letzteren  Gebieten  „Ge- 
setze“ überhaupt  giebt,  noch  weniger,  welcher  besonderen  Art  sie 
sind,  sondern  nur  das  steht  fest:  dass,  wenn  sich  hier  Gleich- 
förmigkeiten der  Erscheinungen  von  der  bezeichneten  Art  finden, 
sie  auch  Gesetze,  auf  wirthschaftlichem  Gebiete  daher  Gesetze 
der  wirtschaftlichen  Erscheinungen  oder,  kurz  gefasst,  wirtschaft- 
liche Gesetze  genannt  werden  dürfen. 

II.  — §.  88.  Verschiedene  Arten  von  Gesetzen. 
Zwischen  Gesetzen  in  diesem  allgemeinsten  Sinne  ist  dann  wieder 
nach  den  zwei  bereits  angeführten,  in  Zusammenhang  stehenden 
Puncten  zu  unterscheiden,  einmal  nach  dem  Maasse  der  erreichten 
und  erreichbaren  Erkenntniss  der  Abhängigkeitsverhältnisse  und 
ferner  nach  der  Strenge  dieser  letzteren.  Mit  beiden  Puncten 
steht  auch  die  Art  der  Erkenntnissgewinnung  in  Verbindung  und 
diese  Art  sowie  das  erreichbare  Maass  der  Erkenntniss  werden 
wieder  von  dem  Character  des  Untersuchungsobjects,  daher  des 
ganzen  Gebiets  von  Erscheinungen,  um  welches  es  sich  handelt, 
bestimmt. 

Die  erste,  niedrigste  Stufe  nehmen  dann  sogen,  empirische 
Gesetze  ein.  Dieselben  stellen  noch  nichts  Weiteres,  als  solche 
auf  dem  Wege  äusserer  Beobachtung  der  Erscheinungen 
selbst  ermittelten  thatsächlichen  Gleichförmigkeiten  der  Wieder- 
kehr dar,  welche  in  der  angedeuteten  Weise  als  „Gesetze“  ange- 
sehen werden  dürfen.  Ueber  die  Art  der  die  Gleichförmigkeit 
bestimmenden  Ursachen  und  über  die  Art  des  Zusammenhangs 
zwischen  den  Ursachen  und  Wirkungen  ist  hier  noch  nichts  weiter 
bekannt.  Nur  die  Thatsache  eines  solchen  Zusammenhangs  steht  fest. 

Hierhin  gehören  die  wohl  im  engeren  technischen  Sinne  des  Worts  sogenannten 
..empirischen“  Gesetze  der  Naturwissenschaften , daher  eventuell  auch  die  eigent- 
lichen (causalen)  Gesetze  der  letzteren  in  einem  früheren  Stadium  der  Erkenntniss. 
Ebenfalls  hierhin  möchten  wir  die  statistischen  „Regelmässigkeiten“  rechuen, 
für  welche  eine  causale  Erklärung  fehlt.  Sprachgebräuchlich  könnte  sich  für  empirische 
„Gesetze“,  wie  auch  für  statistische  Regelmässigkeiten  der  Ausdruck  „Gesetz- 
mässigkeiten“ empfehlen,  welcher  den  entscheidenden  Punct  richtig  bezeichnet1). 


*)  Vgl.  Neu  mann,  S 409,  419,  aber  auch  schon  meine  Abh.  Statistik,  S.  458, 
459,  mit  dem  Beispiel  der  fortschreitenden  Erkenntniss,  die  sich  an  die  Namen  von 
Copemicus,  Keppler,  Newton  knüpft. 


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Verschiedene  Arten  von  Gesetzen. 


231 


Solche  empirische  Gesetze  oder  Gesetzmässigkeiten  müssen 
alsdann  nun  auf  ihre  Bedingungen  und  Ursachen  zurückzufUhren 
gesucht  werden.  Hierzu  dienen  einmal  als  Methoden  des  induc- 
tiven  Verfahrens  die  eigentlichen  Methoden  der  experi- 
mentellen Forschung  und  diejenigen  analogen,  welche 
nach  dem  Früheren  mit  Hilfe  der  Statistik  (und  im  unvollkom- 
meneren Grade  der  vergleichenden  Historik)  auch  auf  Gebieten 
angewandt  werden  können,  wo  dem  Menschen  eine  willkührliche 
Anstellung  von  Experimenten  nicht  möglich  ist.  Und  sodaun  dient 
hier  auch  als  Hilfsmittel  die  hypothetische  Deduetion  ans 
angenommenen  Voraussetzungen  hinsichtlich  der  etwa  einwirkenden 
Bedingungen  und  Ursachen,  um  festznstellen,  ob  und  welche  dieser 
Voraussetzungen  den  Thatsaelien  der  empirischeu  Gesetze  ent- 
spricht. Ist  es  auf  diese  Weise  gelungen,  das  empirische  Gesetz, 
die  statistische  Gesetzmässigkeit  auf  bestimmte  nächste  Ur- 
sachen, von  denen  sie  abhängen,  mit  Gewissheit  zurückzufUhren, 
so  darf  von  einem  eigentlichen  Gesetz  (nach  anderem  Sprach- 
gebrauch: von  einem  causalen  Gesetz)  gesprochen  werden. 

Der  grosse  met  ho  do  log  i sch  eGewinn,  wenn  es  gelungen  ist, 
solche  Gesetze  festzustellen,  besteht  darin,  dass  dann  immer  — sei  es 
überhaupt  zuerst,  wie  auf  naturwissenschaftlichen,  sei  es  gesicherter, 
wie  auf  wirtschaftswissenschaftlichem  Gebiete  — das  deductive 
Verfahren,  aus  wirklich  vorhandenen  (nicht  nur  aus  will- 
kührlich  angenommenen)  Ursachen  und  Bedingungen  abzuleiten, 
anwendbarer  und  mit  ihm  auch  die  Voraussage  in  Betreff  der 
Gestaltung  neuer  Erscheinungen  der  betreffenden  Art  möglich  wird. 
Der  zu  erstrebende  wissenschaftliche  Fortschritt  ist  dann , die 
nächsten  Ursachen  und  Bedingungen,  welche  als  Grund  des  Ge- 
setzes erkannt  worden  sind,  selbst  wieder  auf  ihre  Ursachen  und 
Bedingungen  zurückzufUhren  und  so  suecessiv  zu  einer  immer 
höheren  Art  von  immer  allgemeineren  Gesetzen  fortzu- 
schreiten, entsprechend  den  Stadien  immer  tiefer  dringender  Er- 
kenntui8S  der  causalen  und  conditionellen  Zusammenhänge  und 
Abhängigkeitsverhältnisse. 

Wie  weit  der  Mensch  hier,  auch  auf  naturwissenschaftlichem  Gebiete,  kommen 
kann,  lässt  sich  nicht  von  vornherein  angeben,  eine  bestimmte  Grenze  des  Erkennt- 
nissfortschritts  nicht  ziehen.  Nur  das  lässt  sich  sagen,  dass  cs  sich  in  aller 
menschlichen  Wissenschaft  bei  Gesetzen  und  Ursachen  immer  nur  uui  das  dem  mensch- 
lichen Geiste  überhaupt  allein  fassbare  Verhältnis?,  daher  niemals  um  letzte  End- 
ursachen (ontologische,  urwirkende,  wahre  causao  efficientes),  sondern  immer  nur  um 
Ursachen  handeln  kann,  welche  dem  menschlichen  Geist  als  selbst  wieder  bewirkte, 
als  in  diesem  Sinne  physikalische  gelten,  seien  sic  ihm  nuu  bereits  bekannt  oder  noch 
unbekannt  und  vielleicht  selbst  für  immer  unbekannt. 


232  1*  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  4.  A.  Wirtschaft).  Gesetze.  §.  68. 

Zwischen  den  eigentlichen  (causalen)  Gesetzen  derselben 
und  der  verschiedenen  Wissenschaften,  auch  der  beiden  grossen 
Hauptgruppen,  der  Natur-  und  der  Geisteswissenschaften,  besteht 
nun  der  Unterschied  einmal  in  dem  hinsichtlich  der  causalen 
und  conditionellen  Verhältnisse  erreichten  Erkenntnissstadium, 
ferner,  wieder  damit  zusammenhängend,  in  der  t hatsächlichen 
Art  dieser  Verhältnisse,  oder  des  ganzen  Causalsystems,  und 
der  dadurch  bedingten  Strenge  der  Abhängigkeit  der  Erschei- 
nungen als  Wirkungen  und  Folgen  von  den  Ursachen  und  Be- 
dingungen. 

Je  mannigfaltigere  Ursachen  und  Bedingungen  mitspiclen,  je  mehr  constante 
Ursachen  in  ihrer  Wirkung  durch  variable  gekreuzt  werden,  je  verwickelter  dadurch 
die  Causalzusainmenhänge  werden,  desto  schwieriger  ist  das  Alles  von  der  Erkenntniss 
zu  durebdringen,  desto  complicirter  sind  die  Gesetze  der  wirklichen  Erscheinungen 
selbst  wieder,  desto  mehr  wird  die  einfache  Gleichförmigkeit  der  Gestaltung,  der 
Wiederkehr  Ausnahmen,  Unregelmässigkeiten  zeigen.  Dies  selbst  in  dem  Maasse, 
dass  in  mehr  oder  weniger  zahlreichen  concreten  Einzelfällcn  die  Regelmässigkeit 
fast  verschwindet  und  so  eine  Gesetzmässigkeit,  ein  Gesetz,  selbst  im  bloss  allgemeinen 
und  im  Sinne  des  empirischen  Gesetzes,  überhaupt  gar  nicht  mehr  da  zu  sein  scheint. 
Diese  Annahme  beruht  aber  gleichwohl  auf  einem  Irrthum,  weil  dabei  eben  wieder 
zwischen  Gesetzen  verschiedener  Art  nach  Maassgabe  der  Art  der  mit- 
spielendcn  causalen  und  conditionellen  Verhältnisse  nicht  unter- 
schieden wird. 

Nur  da  wo  in  den  Ursachen  und  den  Bedingungen  einer  Er- 
scheinung keine  Veränderung  erfolgt,  daher  nur  dieselben  constanten 
Ursachen  genau  gleichmässig  und  unter  stets  denselben  Voraus- 
setzungen wirken , wird  die  Erscheinung  immer  mit  strengster 
Regelmässigkeit  verlaufen  und  für  diesen  Verlauf  ein  streng 
exactes  Gesetz  abzuleiten  sein.  Hier  giebt  es  keine  „Aus- 
nahmen“, hier  lässt  sich  das  Abhängigkeitsverbältniss  von  Ursachen 
und  Wirkungen  numerisch  feststellen  oder  ist  dies  wenigstens 
das  principiell  erreichbare  Ziel.  Hier  findet  daher  die  Rechnung, 
die  mathematische  Behandlungsweise  ein  Gebiet  ihrer  Anwendung. 

Sobald  dagegen  in  den  Bedingungen  und  Ursachen  Aende- 
rungen  eintreten,  zu  constanten  variable  Ursachen  hinzukommen, 
letztere  verschiedener  wechselnder  Art  sind  und  in  ihren  Combi- 
nationen  unter  einander  und  mit  den  constanten  wechseln,  können 
die  Erscheinungen,  welche  von  diesen  Ursachen  und  Bedingungen 
abhängen,  nicht  die  Gleichförmigkeit  der  Gestaltung,  die  Vorgänge 
nicht  die  Regelmässigkeit  zeigen,  wie  unter  den  Voraussetzungen 
des  vorigen  Falles.  Dann  kann  auch  nicht  mehr  von  exacten 
Gesetzen  der  Erscheinungen  die  Rede  sein , wenn  auch  immer 
noch,  bei  entsprechender  Entwicklung  der  Erkenntniss  in  Bezug 
auf  die  bestimmenden  conditionellen  und  causalen  Zusammenhänge 


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Verschiedene  Arten  von  Gesetzen. 


233 


und  Abhängigkeitsverhältnisse,  von  eigentlichen  (causalen) 
Gesetzen,  nicht  bloss  von  empirischen  Gesetzen  oder  blossen 
Gesetzmässigkeiten.  Die  numerische  Bestimmung  des  Abhängig- 
keitsverhältnisses, die  Anwendung  der  Rechnung  mag  nicht  ganz 
unmöglich  sein,  aber  wird  viel  schwieriger  und  wird  nicht  hin- 
sichtlich aller  in  Betracht  kommenden  Momente  gelingen.  Damit 
wird  wiederum  der  „exacte“  Character  solcher  Gesetze  ausge- 
schlossen. 

Die  wirklichen  Erscheinungen  der  realen  Welt,  und  zwar 
auch  diejenigen  der  äusseren  Natur,  nicht  bloss  die  in  das  Ge- 
biet psychischer  Einflüsse  gehörigen,  sind  nun  aber  regelmässig 
von  mehreren,  öfters  von  vielen,  constanten  oder  auch  von  con- 
stanten  und  vielerlei  variablen  Ursachen  und  Bedingungen  abhängig. 
Die  Gesetze  der  thatsächlichen  Gestaltung  dieser  Erscheinungen 
können  daher  auch  überhaupt  nicht  wahrhaft  exacte  sein1).  Viel- 
mehr stellen  alle  Gesetze,  welche  sich  für  die  tbatsächliche  Ge- 
staltung von  Erscheinungen  der  erwähnten  Abhängigkeitsverhält- 
nisse aufstellen  lassen,  immer  nur  Tendenzen  der  Gestaltung 
dar,  welche  anzeigen,  wie  unter  gewissen  hinsichtlich  des  Ein- 
flusses der  Ursachen  und  Bedingungen  auf  die  betreffende  Er- 
scheinung ermittelten  und  als  allein  einwirkend  angenommenen 
Voraussetzungen  die  Gestaltung  erfolgt. 

Grade  für  das  Yerständniss  des  Wesens  und  Characters  auch  der  wirtschaft- 
lichen Gesetze,  welche  für  den  wirklichen  Verlauf  der  wirtschaftlichen  Erscheinungen 
aufgestellt  werden,  ist  es  wichtig,  das  richtig  zu  erkennen  und  es  festzuhalten.  Ein 
Einwand,  welcher  nicht  selten  unter  Hinweis  auf  die  „exacten“  Gesetze  der  strengen 
Naturwissenschaften  gegen  den  Gebrauch  des  Ausdrucks  Gesetz  auf  dem  Gebiete  un- 
serer Wissenschaft  und  speciell  gegen  die  Bezeichnung  der  deductiv  aus  dem  Walten 
des  ersten  Motivs,  des  Strebens  nach  dem  wirthschaftlichen  Vortheil  (§.  34),  ab- 
geleiteten Regelmässigkeiten  als  „Gesetze“  gemacht  wird,  erscheint  gerade  hiernach 
hinfällig* * * * 8). 


*)  Wenn  dieser  letztere  Ausdruck  im  allerstrengsten  Sinne  genommen  wird,  so 

gilt  das  eben  Gesagte  auch  von  den  scheinbar  „allerexactesten“  Gesetzen,  welche  für 

die  wirkliche  Gestaltung  von  Naturerscheinungen  aufgestellt  werden,  z.  B.  von  den 

aus  dem  Gravitationsgesetz  abgeleiteten  Gesetzen. 

8)  Vgl.  auch  hier  besonders  die  Ausführungen  Neumann’s,  so  a.  a.  0„  S.  413. 
Er  sagt  hier  u.  A.  in  Betreff  der  sogen,  causalen  elementaren  Gesetze  der  Natur- 
wissenschaften: „Der  Wirklichkeit,  wie  sie  sich  direct  der  Beobachtung  zeigt,  können 
jene  Gesetze  nicht  entsprechen.  Denn  alles  Tbatsächliche  ergiebt  sich  regelmässig 
aus  einem  Zusammenwirken  mehrerer  Ursachen,  jene  Gesetze  aber  bringen  nur  Ten- 
denzen. d.  h.  eben  nur  die  Wirksamkeit  einzelner  Ursachen  als  solcher  zum  Aus- 
druck und  zeigen  sonach  als  „hypothetische“  oder  „ideale“  Gesetze  nur  was  geschehen 
wurde,  wenn  einzelne  Ursachen  allein  in  Wirksamkeit  wären.“  Schon  früher,  aber 
mit  Recht,  ähnlich  K.  Meng  er,  Untersuchungen,  Anhang  5,  S.  260  Er  bekämpft 
die  Meinung,  dass  die  Naturerscheinungen  in  ihrer  vollen  empirischen  Wirk- 
lichkeit streng  typisch  sind:  „Vom  Standpuncto  des  empirischen  Realismus  sind 
exacte  Naturgesetze  ebenso  unerreichbar,  als  exacte  Gesetze  der  Socialerscheinungen“. 


234  1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  4.  A.  Wirthscliaftl.  Gesetze.  §.  S9. 

III.  — §.89.  Wirtschaftliche  Gesetze.  Von  „exacten“, 
causalen  Gesetzen  könnte  nach  dem  Gesagten  in  der  Social- 
ökonomie, in  dem  auch  auf  naturwissenschaftlichem  Gebiete  immer 
bloss  relativen  Sinne,  nur  allenfalls  hinsichtlich  der  unter  den 
drei  Voraussetzungen  der  strengen  Deduction  abgeleiteten  Gesetze 
(§.  68,  73)  gesprochen  werden,  nicht  hinsichtlich  der  unter  Modi- 
ficationen  dieser  Voraussetzungen  (§.  70)  deductiv  noch  der  empi- 
risch auf  Grund  von  Beobachtungen  an  den  wirklichen  Erschei- 
nungen, daher  inductiv  gewonnenen.  Denn  wenn  jene  Voraussetzungen, 
um  sie  denen  der  Wirklichkeit  zu  nähern,  an  sich  ganz  mit  Hecht 
modificirt  werden,  kann  man  nicht  mehr  so  sicher  deduciren.  Die 
wirklichen  Erscheinungen  selbst  sind  aber  stets  das  Ergebniss  von 
Bedingungen  und  Ursachen,  welche  den  erwähnten  drei  Voraus- 
setzungen nicht  genau  entsprechen. 

Will  man  für  jene  deductiv  abgeleiteten  Gesetze  den  Namen 
„exacter“  (mit  K.  M enger)  anwenden,  so  würde  man  das  mit 
dem  naturwissenschaftlichen  Sprachgebrauch  nicht  unbedingt  ab- 
weisen können.  Dennoch  unterbleibt  es  besser,  wie  überhaupt  die 
Benutzung  des  Ausdrucks  „exact“  auf  unserem  Gebiete  (§.  68,  S.  175), 
weil  eben  doch  das  den  wirtbschaftlichen  Erscheinungen  zu  Grunde 
liegende  Verursachungssystem  aus  psychischen  Motiven  be- 
steht, welche  stets  nur  so  und  so  mitspielen  und  dann  so  und  so 
wirken  können,  nicht  wie  bei  den  reinen  Naturerscheinungen, 
aus  Ursachen,  die  immer  so  und  so  mitspielen  und  stets  so  und 
so  wirken  müssen,  wenn  auch  ihre  Wirkungen  durch  diejenigen 
anderer  Ursachen  thatsächlich  modificirt  oder  aufgehoben  werden 
können. 

Darin  nun  auch,  in  dieser  inneren  Verschiedenheit 
des  Verursachungssystems,  besteht  der  wahre  Unterschied 
von  reinen  Naturgesetzen  und  von  wirtbschaftlichen  Gesetzen, 
nicht  in  der  Verschiedenheit  der  Wirkungen,  wenn  die  Ursachen 
gegeben  (bzw.  angenommen)  sind. 

Ein  reines  Naturgesetz  gilt  immer,  die  Ursache  oder  Ursachen,  deren  Beziehung 
zu  den  Wirkungen  es  anzeigt,  stehen  niemals  und  können  niemals  ausser  Wirksamkeit 
stehen  und  wirken  notwendig  immer  so  und  so,  daher  mit  der  Folge  stets  gleicher 
Wirkung.  Aber  sie  können  in  der  thatsächlicheu  Gestaltung  der  wirklichen  Erschei- 
nungen sich  nicht  oder  nicht  genau  zeigen,  wenn  auf  diese  Gestaltung  auch  noch 
andere  Ursachen,  als  die  im  Gesetz  angenommenen,  eingewirkt  haben,  und  das  bleibt 
möglich  und  war  eventuell  der  Fall.  Ein  wirtschaftliches  Gesetz  gilt  aber  nicht 
immer,  sondern  immer  nur  danu,  wenn  die  Ursachen,  deren  Beziehung  zu  den 
Wirkungen  es  formulirt,  überhaupt  vorhanden  waren  und  grade  so,  wie  im 
Gesetz  angenommen  wird,  wirken.  Das  aber  eben  ist  hier  nicht  nothweudig, 
sondern  die  Ursachen  selbst  waren  vielleicht  thatsächlich  im  concreten  Falle  über- 
haupt gar  nicht  vorhanden  oder  wirkten  nicht  so  und  so  mit. 


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Wirtschaftliche  Gesetze  speciell. 


235 


Abweichungen  in  Gestaltung  und  im  Verlauf  der  wirklichen  Erscheinungen 
von  den  durch  das  Gesetz  angedeuteten  Gestaltungen  und  Verläufen  sind  daher  auf 
dem  Naturgebietc  auch  keine  Widerlegung  des  Gesetzes  selbst  und  des  in  ihm  for- 
mulirten  Causalzusammenhangs,  wenn  sie  sich  aus  der  tatsächlichen  Mitwirksamkeit 
anderer  Ursachen  erklären  lassen,  welche  im  concreten  Falle  die  Wirkung  — nicht 
das  Wirken  überhaupt  — der  im  Gesetz  vorgesehenen  aufgehoben  oder  beschränkt 
haben.  Abweichungen  gleicher  Art  auf  unserem  und  auf  jedem  Gebiete,  wo  psychische 
Factorcn  mitwirken,  können  sich  zwar  auch  so  erklären  und  beweisen  dann  ebenso 
wenig  gegen  das  Gesetz  selbst.  Sie  können  aber  auch  die  Folge  davon  sein,  dass  in 
der  Wirklichkeit  nicht  nur  die  im  Gesetz  angenommenen  Ursachen  eine  Aufhebung 
oder  Beschränkung  ihrer  Wirkungen  durch  andere  Ursachen  erfahren  haben,  sondern 
dass  jene  ersteren  Ursachen  überhaupt  gar  nicht  vorhanden  waren  oder,  wenn  dies, 
nicht  so  gewirkt  haben. 

Wirtschaftliche  Gesetze  bringen  daher  noch  in  einem  anderen, 
umfassenderem  Sinne  blosse  Tendenzen  der  tatsächlichen  Ge- 
staltung der  wirklichen  Erscheinungen  zum  Ausdruck,  als  dies 
nach  dem  Gesagten  von  elementaren  causalen  Gesetzen  auf  natur- 
wissenschaftlichem Gebiete  gilt.  Hier  werden  die  tatsächlichen 
Gestaltungen  der  Erscheinungen  dem  Gesetz  genau  entsprechen, 
wenn  nicht  andere  Ursachen,  als  die  in  diesem  angenommenen 
oder  berücksichtigten,  die  gesetzmässige  Wirkung  der  letzteren 
ausgeglichen  oder  verändert  haben.  Auf  unserem  Gebiete  wird  das 
nur  der  Fall  sein,  wenn  die  tatsächlich  mitspielenden  auch  die 
im  Gesetz  angenommenen  Ursachen  sind  und  ihr  tatsächliches 
Wirken  dem  angenommenen  entspricht,  was  eben  Beides  nicht 
nothwendig  ist. 

Allein,  dennoch  behaupten  auch  diese  wirtschaftlichen  Ge- 
setze als  Ausdruck  von  blossen  Gestaltungstendenzen  der  wirk- 
lichen Erscheinungen  ihren  hohen  Werth,  wenn  sie  in  richtiger 
wissenschaftlicher  Weise  gewonnen  worden  sind. 

Dies  setzt  bei  deductiv,  aus  Motiven  als  Ursachen,  bezw.  Bedingungen  (und  aus 
angenommenen  äusseren  Bedingungen,  wie  Naturthatsaeben,  Naturgesetzen)  abgeleiteten 
wirtschaftlichen  Gesetzen  voraus,  dass  diese  Ursachen  und  Bedingungen  nach  innerer 
psychischer  Prüfung  und  äusserer  Beobachtung  den  thatsächlich  mitspielenden 
wirklich  möglichst  entsprechen.  Hier  muss  also,  unseren  früheren  Erörterungen  gemäss 
(§  69  ff),  eine  Ermittlung  der  tatsächlichen  Voraussetzungen  des  deductivcn  Ver- 
fahrens oder  eine  tatsächliche  Controle  und  Verification  der  angenommenen  Voraus- 
setzungen stattfinden , demgemäss  das  inductive  Verfahren  für  diesen  Zweck  mit 
benutzt  werden.  Bei  zunächst  durch  äussere  Beobachtung  der  Erscheinungen  selbst 
abgeleiteten  empirischen  Gesetzen,  welche  mittelst  experimentellen  oder  0m  statistischen 
und  vergleichend-historischen  Verfahren)  quasi-experimentellen  Verfahrens  zu  eigent- 
lichen Gesetzen  durch  Aufdeckung  ihrer  Ursachen  und  Bedingungen  erhoben  worden 
sind,  muss  sich  die  weitere  Untersuchung  zur  Feststellung  des  wissenschaftlichen 
V erths  solcher  Gesetze  auf  die  Ermittlung  erstrecken,  ob  und  wie  weit  diese  Ursachen 
ünd  Bedingungen  die  Gesetze  genügend  erklären  und  als  die  auch  in  anderen  ana- 
logen Fällen  mitwirkenden  und  in  der  erkannten  Weise  so  und  so  einwirkenden  an- 
zunehmen sind.  Im  ersteren  Falle  daher  wieder  vornemlich  deductives,  im  letzteren 
abermals  dieses  und  neben  ihm  in  umfassendem  Maasse  beobachtungsmässiges  in- 
dactivea  Verfahren. 


236  3.  B.  2.  K.  2.  II.- A.  Methoden.  4.  A.  Wirthschaftl.  Gesetze.  §.  89,  90. 


Der  Werth  der  deductiv  gewonnenen  wirtschaftlichen  Gesetze, 
insbesondere  der  aus  dem  ersten  Leitmotiv  (dem  Streben  nach  dem 
wirtschaftlichen  Vorteil)  abgeleiteten  zur  Erschliessung  con- 
creter  Causalzusammenhänge,  der  aus  diesen  sich  ergebenden  Ge- 
staltung concreter  Erscheinungen  und  der  („complexen“  oder  „wirk- 
lichen“) Gesetze  dafür  ist  ein  ähnlicher  wie  der  Wert  exacter 
causaler  Elementargesetze  der  Naturwissenschaften  für  die  Lösung 
der  Probleme  der  concreten  Naturerscheinungen  und  ihrer  Gesetze, 
Aufgaben,  mit  welchen  man  es  in  den  angewandten  Naturwissen- 
schaften zu  thun  hat.  In  beiden  Fällen  zeigt  das  Gesetz  die 
Tendenzen  der  Gestaltung  unter  dem  Einfluss  der  constanten  oder, 
wie  nach  dem  Gesagten,  der  für  constant  geltenden  Ursachen. 
Stimmt  hiermit  die  concrete  Gestaltung  der  Erscheinung  nicht 
überein,  so  ist  das  Mitspielen  anderer  Ursachen  anzunehmen,  die 
alsdann  wieder  methodisch  durch  Beobachtung  und  Induction  und 
durch  Deduction  aus  hypothetisch  zur  Probe  angenommenen  Ur- 
sachen ermittelt  werden  müssen. 

Vgl.  auch  hier  bes.  Neumann,  a.  a.  0.,  S.  410  ff.,  414  ff.  — Ein  immerhin  zur 
Erläuterung  des  Aehnlichen  und  des  Verschiedenen  von  Natur-  und  wirthschaftlichen 
Gesetzen  brauchbares  Beispiel  ist  dasjenige  vom  Unterschied  zwischen  dem  mathe- 
matischen, von  der  Lage  eines  Puncts  auf  der  Erde  zum  Aequator  abhängigen,  und  dem 
physicalischen  oder  wahren  Klima,  welches  ausserdem  von  der  Höhe  des  Orts  über  Meer, 
von  continentaler  und  Küstenlage,  Beschaffenheit  der  Gegend  u.  s.  w.  abbängt.  Das 
Klima,  welches  ein  Ort  nach  dem  Gesetz  des  mathematischen  Klimas  haben  würde, 
modificirt  sich  nach  dem  Gesetze  des  wahren  Klimas  eines  Orts  wegen  der  Mitwirkung 
der  übrigen  Factoren , welche  dieses  wahre  Klima  mit  bestimmen.  Die  Gestaltung, 
welche  eine  wirtschaftliche  Erscheinung  nach  dem  „idealen“  wirthschaftlichen  Gesetz 
unter  den  drei  streugen  Voraussetzungen  der  Deduction  haben  würde  (§.  (iS),  modi- 
ficirt sich  ähnlich,  wenn  und  soweit  sich  diese  Voraussetzungen  modificiren  (,§.  (19,  70), 
d.  h.  eventuell  eben  andere  Factoren  mit  einwirke:).  Nur  tritt  auch  hier  wieder  jener 
besprochene  Unterschied  hervor,  dass  die  im  mathematischen  Klima  wirksame  Ursache 
immer  im  wahren  Klima  mitwirkt,  letzteres  stets  eine  Function  dieser  und  der 
übrigen  einwirkenden  Ursache  ist,  während  bei  der  wirthschaftlichen  Erscheinung  ein 
analoger  Sachverhalt  obwalten  kann,  aber  nicht  nothweudig  obwalten  muss.  Denn 
die  concrete  Gestaltung  der  Erscheinung  kann  auch  so  und  so  ausgefallen  sein,  weil 
dabei  nicht  nur  die  Wirkung  des  ersten  Leitmotivs  neutralisirt  worden , sondern  weil 
dieses  Motiv  auch  einmal  gar  nicht  mitgewirkt  hat. 

Nach  der  Analogie  zwischen  Elementargesetz  und  abgeleiteten 
Gesetzen  in  den  Naturwissenschaften  kann  man  wohl  unter  den 
wirthschaftlichen  Gesetzen  diejenigen  unterscheiden,  welche  als 
psychologisch -ökonomische  „Haupt-“  oder  „Grundgesetze“ 
(„primäre“,  Gesetze  ersten  Kangs)  und  „Folge-“  oder  (in  diesem 
speciellen  Sinne)  „abgeleitete“  Gesetze  („secundäre“ , Gesetze 
zweiten  Rangs)  erscheinen.  Die  ersteren  sind  diejenigen,  welche 
unmittelbar  aus  der  psychischen  Motivation,  daher  wieder  nament- 
lich aus  dem  ersten  Leitmotiv,  abgeleitet  werden,  Folgegesetze 


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Wirtschaftliche  Entwicklungsgesetze. 


237 


diejenigen,  welche  sich  als  Anwendungen  des  Grundgesetzes  auf 
einem  Gebiete  specieller  Erscheinungen  zeigen.  Die  Grundgesetze 
sind  zugleich  die  einfachen,  elementaren,  unter  den  „idealen“ 
Voraussetzungen  der  Deduction  abgeleiteten,  die  Folgegesetze  die 
complexen,  bei  welchen  den  thatsächlichen  Bedingungen  und  Ur- 
sachen der  speciellen  Erscheinungen  Rechnung  getragen  wird. 
Für  diese  Folgegesetze  ist  daher  wieder  das  inductive  Verfahren 
in  umfassendem  Maasse  anzuwenden,  um  diesen  thatsächlichen 
Einflüssen  gerecht  zu  werden. 

Als  ein  elementares  Grundgesetz  im  System  der  Arbeitsteilung  und  des  Ver- 
kehrs, daher  auf  dem  Gebiete  der  wirtschaftlichen  Erscheinungen  des  Umlaufs 
und  der  Vertheilung  kann  dasjenige  der  Preise  unter  den  drei  Voraussetzungen 
der  Deduction  gelten.  Das  diesem  „idealen“  Preisgesetz  am  Meisten  sich  nähernde  Folge- 
gesetz ist  das  Gesetz  der  Gross-Preise  („en  gros“)  unter  Händlern  im  freien  Verkehr. 
Weitere  Folgegesetze  mit  mehr  oder  weniger  Abweichungen,  nach  der  tatsächlichen 
Modification  der  Voraussetzungen  gegenüber  denjenigen  des  Hauptgesetzes,  sind 
die  Gesetze  der  Monopol-Preise,  der  Klein-Preise  („en  detail“),  die  Gesetze  der  Steuer- 
überwälzung, das  Gesetz  der  Verdrängung  des  guten  Geldes  durch  das  schlechtere  im 
System  der  (nationalen)  Doppelwährung,  das  Lohngesetz  (im  freien  Verkehr,  auch  bei 
Gewerkrereinsorganisationen  u.  s.  w.),  das  Zinsgesetz,  das  Kentengesetz,  schliesslich  das 
allgemeine  Gesetz  der  Einkommonrertheilung  u.  A.  in.  Auf  dem  Productions- 
ge biete  ist  das  Grundgesetz  die  Gestaltungstendenz  der  Production  in  ihrer  öko- 
nomisch-technischen Einrichtung  nach  dem  ökonomischen  Princip  (§.  28).  Folge- 
gesetze sind  dann  die  Gesetze  der  Entwicklung  des  Ackerbaus,  der  Entwicklung  der 
Arbeitstheilung,  des  Kapitalfactors  im  Productionsprocess.  der  Vertheilung  des  Kapitals 
auf  umlaufendes  und  stehendes,  der  Ersetzung  der  menschlichen  Arbeitskraft  durch 
die  Maschine,  der  Entwicklung  des  Grossbetriebs  u.  A.  m. 

IV.  — §.90.  Wirtschaftliche  Entwicklungsgesetze. 
Bei  den  wirtschaftlichen  Gesetzen  hat  man  neuerdings,  im 
Anschluss  an  die  naturwissenschaftliche  Entwicklungstheorie  und 
gewisse  Gesichtspuncte  der  letzteren  auf  das  socialökonomische 
Gebiet  übertragend,  wohl  zwischen  B e wegungs  ge  setz  en  und 
Entwicklungsgesetzen  der  Erscheinungen  unterschieden,  so 
im  wissenschaftlichen  Socialismus.  Der  hier  zu  Grunde  liegende 
Gedanke  ist  nicht  unrichtig,  aber  schon  nicht  ganz  leicht  klar  zu 
stellen  und  scharf  durchzuführen.  Das  Streben  aber,  nicht  nur, 
was  allenfalls  noch,  freilich  auch  nur  unter  besonderen  Cautelen, 
zulässig  ist,  auf  den  Gebieten  einzelner  Gruppen  von  Er- 
scheinungen, solche  „Entwicklungsgesetze“  abzuleiten,  sondern  für 
das  gesammte  Wirtschaftsleben  als  ein  Ganzes  ge- 
nommen und  hier  sogar  ein  einheitliches,  gar  ein  einfaches  all- 
gemeines Entwicklungsgesetz  finden  zu  wollen,  geschweige  die 
Ansicht,  es  bereits  gefunden  zu  haben,  muss  doch  der  höchsten 
Skepsis  begegnen,  ja  abgelehnt  werden. 

Bewegungsgesetze  sind  insbesondere  diejenigen,  welche 
unter  gegebenen  Voraussetzungen,  der  psychischen  Durchschnitts- 


238  1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  4.  A.  Wirthschafd.  Gesetze.  §.  90. 

motivation,  des  Standes  der  Productionstechnik , der  Rechts- 
Ordnung,  zum  Ausdruck  bringen,  wie  sich  die  zu  einer  Gruppe 
von  Erscheinungen  gehörigen  Einzelerscheinungen  die  Tendenz 
haben,  zu  gestalten.  Namentlich  das  Preisgesetz  und  die  Folge- 
gesetze desselben  stellen  solche  Bewegungsgesetze  dar.  Entwick- 
lungsgesetze der  Erscheinungen  sind  dagegen  solche,  welche 
die  gesetzmässigen  Veränderungen  der  Voraussetzungen 
der  wirtschaftlichen  Erscheinungen,  daher  namentlich  in  den  drei 
maassgebenden  Puncten,  der  psychischen  Motivation,  des  öko- 
nomisch-technischen Könnens  und  der  Rechtsordnung,  sowie  die 
gesetzmässigen  Rückwirkungen  der  einen  Reihe  von  Vor- 
aussetzungen auf  die  andere,  z.  B.,  gerade  nach  der  socialistischen 
Lehre,  der  ökonomisch- technischen  auf  die  rechtlichen  und  beider 
auf  die  psychologischen,  angeben.  Aus  solchen  Entwicklungs- 
gesetzen der  Voraussetzungen  der  wirtschaftlichen  Erscheinungen 
würden  darauf  wieder  als  Folgegesetze  Veränderungen  der  Be- 
wegungsgesetze  (selbst  „Entwicklungsgesetze  der  Bewegungsge- 
setze“) abgeleitet.  Auf  diese  Weise  gelangte  man  dann  auch  von 
einem  Stadium  typischer  Gestaltungen  zu  einem  anderen,  höheren 
(s.  S.  189)  und  zu  einem  Gesetz  für  die  Entwicklung  dieser 
Stadien,  was  in  der  That  eine  sehr  bedeutsame  wissenschaftliche 
Errungenschaft  wäre. 

Die  Gesetze  auf  dein  Productionsgebiete , wie  in  den  vorhin  genannten  Bei- 
spielen. sind  zuiu  Tlieile  nicht  oder  nicht  nur  Bewegungs-,  sondern  in  der  That  oder 
zugleich  Entwicklungsgesetze,  so  das  Gesetz  der  Entwicklung  des  Grossbetriebs  und  die 
damit  in  Verbindung  stehenden,  diese  Entwicklung  bedingenden  Gesetze  (vermehrte 
Arbeitsteilung , Maschinenwesen).  Hier  werden  allmälig  durch  die  Neugestaltung 
der  Productionsweise  die  Voraussetzungen  fUr  letztere  selbst  verändert,  der  hier  be- 
sprochenen Annahme  nach  „gesetzmässig** , und  so  wieder  die  Bewegungsgesetze  der 
Erscheinungen,  z.  B.  der  Lolin-  und  Gcwinn-(Unternehmergewinn-)BiIdung,  der  Bil- 
dung der  Productenpreise  verändert. 

Allein  solche  sogenannte  Entwicklungsgesetze  auf  dem  Gebiete 
einzelner  Erscheinungsgruppen  sind  jedenfalls  öfters 
bereits  sehr  complexe  Gesetze,  in  welchen  das  Causalsystem  so 
mancherlei  verschiedene,  auch  nicht-ökonomische  Factoren  enthält 
und  selbst  so  höchst  complicirt  ist,  dass  es  schon  fraglich  werden 
kann,  ob  man  hier  auch  nur  im  früher  aufgestellten  allgemeinsten 
Sinne  des  Worts  immer  den  Ausdruck  „Gesetz“  brauchen  darf. 
Das  gilt  von  den  angeführten  Beispielen  wohl  vom  „Gesetz“  der 
Grossbetriebsentwicklung,  wo  Theilwahrheiten  nicht  hinlänglich 
sicher  festgestellter  Tragweite  so  gern  generalisirt  werden.  Selbst 
wenn  man  sich  aber  hier  bei  der  Entwicklung  solcher  einzelner 
Erscheinungsgruppen  diesen  Bedenken  noch  verschliesst,  so  treten 


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Wirtschaftliche  Entwicklungsgesetze. 


239 


um  so  mehr  Zweifel  auf,  ob  man  flir  das  Ganze  des  Wirthschafts- 
lebe  ns,  fUr  den  gesammten  „socialökonomischen  Körper“  über- 
haupt von  Entwicklungs- Gesetzen  und  hier,  wie  bemerkt,  sogar 
von  einem  einheitlichen,  allgemeinen,  einfachen  solchen  „Gesetz“ 
reden  und  annehmen  darf,  dass  sich  ein  solches  Gesetz,  selbst 
wenn  es  vorhanden  wäre,  mit  den  uns  auf  socialökonomischem 
Gebiete  verfügbaren  Methoden  ableiten  Hesse,  überhaupt  jemals, 
vollends  schon  heute. 

Die  „materialistische  Geschichtsauffassung“  und  die  „Evolutionstheorie“ , mit 
deren  Hilfe  der  neuere  Socialismus  geglaubt  hat,  solche  Entwicklungsgesetze  oder  ein 
solches  gewinnen  zu  können,  sind  doch  eben  selbst  nur  Dogmen,  apriorische  Aunahmen. 
Ihre  Anwendung  hier  auf  unserem  Gebiete  und  zur  „Beweisführung“  beruht  auf 
einer  augenscheinlichen  petitio  principii.  Es  wird  damit  kein  Räthsel  gelöst,  sondern 
ein  neues,  nicht  begreiflicheres  an  die  Stelle  anderer  gesetzt.  Auch  methodologisch 
ist  das  Verfahren  durchaus  zu  beanstanden,  mit  welchem  hier  operirt  wird.  Die 
psychologisch-deductive  Methode  versagt  bei  so  complexen  Erscheinungen  wie  den- 
jenigen, welche  man  als  „Entwicklung  des  Wirthschaftslebens“,  der  „Volkswirtschaft", 
der  „Gesellschaft“  zusammenfasst,  den  Dienst.  Von  den  Inductionsmethoden  kann  schon 
aus  tatsächlichen  Gründen,  weil  es  an  genügendem,  geschichtlich  weit  zurück- 
reichendem und  aus  verschiedenen  Ländern  und  Volkswirtschaften  herrührendem  Be- 
obachtungsmaterial fehlt,  die  beste,  die  statistische  Methode,  nur  in  bescheidenem 
Maasse  angewandt  werden.  Die  noch  am  Ersten  anzuwendende  ist  die  ver- 
gleichend-historische Methode.  Allein  auch  bei  ihr  liegen  die  tatsächlichen 
Verhältnisse  nicht  viel  anders  als  bei  der  statistischen  und  principiell  zeigt  sie  grade 
bei  diesen  Problemen  die  ihr  als  historischer  Methode  anhaftenden  Mängel,  sie  ge- 
stattet keine  genauen  Quantitätsbestimmungen  und  ist  schon  deswegen  nicht  entfernt 
beweiskräftig  genug.  Die  zahlreichen  nicht-ökonomischen  Factoren , von  welchen  die 
Entwicklung  jeder  concreten  Volkswirtschaft  und  damit  aller  Volkswirtschaft  über- 
haupt abhängt,  die  „Imponderabilien“  (S.  209),  welche  hier  mitspielen,  können  nach 
keiner  der  verfügbaren  Methoden  genügend  in  Ansatz  gebracht  werden,  teils  über- 
haupt nicht,  teils  nicht  nach  Art  und  Maass  ihres  Einflusses. 

Die  partiellen  Entwicklungsgesetze  von  Gruppen  von  Erschei- 
nungen lassen  sich  vielleicht  auf  höhere,  allgemeinere  zurückführen. 
Dadurch  und  durch  eine  Verbindung  von  ersteren  mag  man  dahin 
kommen  können,  auch  für  die  Entwicklung  von  immer  grösseren 
Gruppen  von  Erscheinungen  gewisse  Tendenzen,  insofern  „Gesetze“ 
zu  gewinnen.  Aber  von  einem  allgemeinen  Entwicklungsgesetze 
der  Gesammtheit  der  Voraussetzungen  der  wirtschaftlichen  Hand- 
lungen und  damit  des  Ganzen  des  Wirthschaftslebens  bleibt  man 
auch  damit  noch  weit  entfernt.  Die  ungeheure  Menge  verschieden- 
artigster Factoren,  welche  hier  einwirken,  die  Verschiedenheiten 
ihres  Einflusses,  ihrer  Combinationen , die  Mannigfaltigkeiten  der 
psychischen  Differenzirung  (§.  30  ff.)  lassen  es  zweifelhaft  erscheinen, 
ob  man  hier  noch  von  einem  oder  einigen  Entwicklungs-,,  Gesetzen“ 
überhaupt  reden  darf,  auch  nach  apriorischer  Annahme.  W ahrscheinlich 
übersteigt  die  Aufgabe,  solche  Gesetze  oder  ein  solches  Gesetz  zu 
finden,  selbst  wenn  sie  bestehen,  die  Leistungsfähigkeit  der  mensch- 


240  !•  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  4.  A.  Wirthschaftl.  Gesetze.  §.  90,  91. 


liehen  Geisteskräfte  und  auch  derjenigen,  welche  durch  die  besten 
noch  anwendbaren  wissenschaftlichen  Methoden  unterstützt  werden. 
Jedenfalls  aber  müsste  erst  noch  unendliche  methodische  Arbeit 
geleistet  sein,  bevor  man  auch  nur  ernstlich  an  derartige  Versuche 
denken  kann.  Was  in  dieser  Richtung  geschehen  kann,  wird 
aber  immer  in  Zerlegung  der  complexen  Erscheinungen 
in  ihre  Componenten,  daher  in  Isolirung  der  Ursachen 
und  Wirkungen,  der  Bedingungen  und  Folgen,  mithin  in  der  An- 
wendung der  Methoden  der  Deduction  und  der  statistischen,  in 
zweiter  Linie  der  vergleichend -historischen  Induction  auf  einzelne 
Erscheinungen  und  auf  Gruppen  von  solchen  bestehen  müssen. 
Wie  weit  die  so  gewonnenen  Ergebnisse  sich  zu  allgemeineren 
und  immer  allgemeineren  wirtschaftlichen  Entwicklungsgesetzen 
generalisiren  lassen,  ist  natürlich  nicht  im  Voraus  zu  sagen.  Aber 
grösste  Vorsicht  wird  geboten  und  allzuviel  nicht  zu  erwarten  sein. 

Die  ganze  Frage  läuft  in  die  Probleme  der  Sociologie  aus.  Ich  beziehe 
mich  dafür  auf  die  Bemerkungen  in  der  Einleitung  (§.  20);  für  die  methodologische 
Seite  der  Probleme  auf  das  Buch  vonDilthey,  Einleitung  in  die  Geisteswissenschaft. 

K.  Marx  rühmen  seine  Anhänger  wohl  nach,  er  habe  den  grossen  Fortschritt 
gegenüber  den  „bürgerlichen  Ockonomcn“  gemacht,  einmal  die  wirtschaftlichen 
„Bewegnngsgesetze“,  welche  die  letzteren  entdeckt,  verfeinert,  sodann  aber  vor  Adlern 
neben  diesen  die  wirtschaftlichen  „Entwicklungsgesetze“  der  modernen  Gesellschaft 
ermittelt  zu  haben  (s.  Neue  Zeit,  IX,  B.  2,  S.  749).  Diese  „Leistung“  kommt  indessen 
doch  auf  wenig  Anderes  hinaus  als  darauf,  in  ganz  übertreibender  Weise  die  technisch 
begründete  Grossbetriebstendenz  zum  Alles  bestimmenden  „Entwicklungsgesetz“  generali- 
sirt  und  daraus  mittelst  einseitigster  Anwendung  der  Methode  der  speculativen  Deduction 
und  mittelst  tendenziöser  Verwerthung  historischer  und  statistischer  Daten  theils  zur 
Unterstützung  der  deductiven  Schlüsse,  theils  zur  inductiven  Gewinnung  gleicher  Re- 
sultate eine  Diagnose  und  „nothwendige“  Prognose  und  Therapie  deducirt  zu  haben. 
Die  ungeheure  Mannigfaltigkeit  des  wirtschaftlichen  Lebens  und  seiner  concreten  Ent- 
wicklungen nach  Ländern,  Völkern,  Zeitaltern,  gar  aber  erst  des  gesammten  gesell- 
schaftlichen Lebens,  auf  ein  einfaches  Entwicklungsgesetz,  auf  die  Entwicklung  der 
Productionstechnik  und  der  Rechtsordnung  für  die  sachlichen  Productionsmittcl,  zurück- 
führen und  dieses  „Gesetz“  in  eine  knappe  Formel  fassen  zu  wollen,  muss  als  ein 
vergebliches  Bemühen,  aber  auch  als  ein  solches  angesehen  werden,  welches  auf  einer 
völligen  Verkennung  der  Probleme,  namentlich  auch  der  psychischen  Seite  der- 
selben, und  auf  methodologischen  Grundirrtliümern  beruht. 

Die  historische  Nationalökonomie  ist  sich  der  Vergeblichkeit  solchen  Versuchs 
und  dieser  methodologischen  Irrthümcr  bewusst  und  hat  zum  Theil  selbst  dazu  bei- 
getragen , das  Unzulängliche  und  Missliche  solcher  Bestrebungen  und  vollends  der 
socialistischcn  Versuche  erkennen  und  begründen  zu  lehren.  Indessen  neigt  sic  mit- 
unter auch  ihrerseits  dazu,  mit  Hilfe  der  vergleichend-historischen,  ja  selbst  wohl  der 
rein  historischen  Methode  (§.  84),  (wobei  indessen  leicht  nachweisbar  Divination  und 
— verkappte  spcculative  Deduction  ein  gut  Stück  der  Arbeit  leisten  und  die  Lücken 
der  „inductiven“  Beweisführung  ergänzen),  einzelnes  Charactcristische  in  Entwicklungs- 
vorgängen ebenfalls  zu  Entwicklungstendenzen  und  einer  Art  allgemeinerer  Entwick- 
lungsgesetze zusammenzufassen  und  zu  generalisiren.  Auch  bei  einem  so  vorsich- 
tigen Gelehrten  wie  Roscher  fehlt  es  in  der  Agrarpolitik,  der  Gewerbepolitik  nicht 
an  Hinneigung  hierzu.  Gewiss  kann  aber,  wie  grade  Roscher  im  2.  und  8.,  auch  im 
4.  Bande  seines  Systems,  wie  ferner  besonders  G.  Schmoller,  K.  Bücher  zeigen, 
mittelst  der  historischen,  besonders  der  vergleichend  - historischen  Methode  mancher 
werthvolle  Beitrag  zur  Aufdeckung  allgemeinerer  Entwicklungstendenzen  auch  auf 


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241 


Ergebnis*. 


grösseren  Gebieten  von  Erscheiuungsgruppen  gewonnen  werden.  Ich  neune  als  ein 
Beispiel  die  vorzüglichen  Ausführungen  G.  Schuioller’s  über  die  Entwicklung  der  Stadt- 
wirthschaftlichen  zur  territorial-  und  staatswirthschaftlichen  Phase  der  Volkswirtschaft 
und  über  das  methodische  Mitwirken  der  mercautilistischen  Handels-  und  Zollpolitik 
dabei1').  Nur  bleibt  das  eben  Alles  weit  hinter  dem  Ziel  des  wissenschaftlichen 
Socialismus  hinsichtlich  der  wirthschaftlichen  Entwicklungsgesetze  zurück. 

Y.  — §.  91.  Ergebnis  8.  Nach  Allem  ist  demnach  auf 
wirtschaftlichem  Gebiete  allerdings  von  „Gesetzen“,  von  Haupt- 
nnd  Folgegesetzen,  von  Bewegungs-  und  auch,  freilich  noch  be- 
sonders bedingt,  von  Entwicklungsgesetzen  zu  sprechen.  Aber  mit 
Naturgesetzen  haben  dieselben  doch  nur  in  dem  dargelegten  be- 
schränkten Maasse  Aehnlichkeit,  ihre  principielle  Verschiedenheit 
ist  nach  der  Art  des  Verursachuugssystems  viel  grösser,  die  Strenge 
viel  geringer,  die  wirklichen  Erscheinungen  weichen  von  den  nach 
den  Gesetzen  zu  erwartenden  viel  „unberechenbarer“  ab,  als  auf 
dem  Naturgebiete,  vor  Allem,  weil  die  individuelle  psychische 
Motivation,  welche  die  menschlichen  Handlungen  und  damit  auch 
die  wirthschaftlichen  Erscheinungen  bestimmt,  zu  mannigfaltig  sich 
differenzirt,  als  dass  man  einfache  Formeln  dafür  aufstellen  könnte. 
Auch  die  feinste  Ausbildung  der  Methoden  hilft  über  die  hier  vor- 
liegenden Schwierigkeiten  nicht  hinweg. 

Dennoch  aber  besteht  ein  grosser  Vorzug  wie  auf  allen  geistes- 
wissenschaftlichen, so  insbesondere  auf  unserem  wirthschafts wissen- 
schaftlichen Gebiete  gegenüber  dem  naturwissenschaftlichen.  Er  liegt 
darin,  dass  wir  eben  psychologische  Methoden,  wie  die  Deduction 


*)  So  sehr  ich  Schmoller’s  Verdienste  in  dieser  Sache  anerkenne,  so  erlaube 
ich  mir  hier  doch  eine  Bemerkung  persönlicher  Art,  welche  aber  auch  mit  der 
Mcthodeufrage  zusammenhängt.  Schmoller  vindicirt  sich  gern  das  Verdienst,  diese 
wirtbsckalisgeschichtliche  Entwicklung  zuerst  gezeigt  uud  die  bezügliche  Würdigung 
des  Mercantilismus  zuerst  gegeben  zu  haben,  auch  wohl  mit  dem  Gedanken,  damit  die 
Leistungsfähigkeit  seiner  Methode  zu  zeigen  (vgl.  z.  B.  noch  jüngst,  21.  Apr.  1802  den 
Vortrag  in  der  Berliner  Akademie).  Und  Andere  haben  dies  Verdienst  anerkannt,  wie 
ich  es  auch  thue.  Nur  möchte  ich  zum  Beweise  dafür,  dass  man,  auch  ohne  Wirth- 
schaftshistoriker  von  Fach  zu  sein,  uud  unabhängig  von  solchen  zu  einer  gauz  ähnlichen 
Auffassung  selbständig  durch  Heraushebung  des  Typischen  in  den  Entwicklungen  und 
Heneralisirung  desselben  gelangen  kann,  auf  eine  wenig  beachtete  ältere  eigene  Arbeit 
verweisen.  In  dieser  habe  ich  an  20  Jahre  vor  den  bezüglichen  Arbeiten  Schmoller’s 
eine  der  seinen  mindestens  sehr  nahestehende  Auffassung  des  Mercantilismus,  seiner  Zoll-, 
Handels-  und  Wirtschaftspolitik  und  der  entscheidenden  allgomein-wirthschaftiichen  und 
politischen  Bedeutung  derselben  für  die  Herausbildung  der  wirthschaftlichen  Verhältnisse 
zur  modernen  nationalen  Volkswirtschaft  entwickelt  und  in  Kurzem  begründet.  S.  meinen 
Aufsatz  Zölle,  im  Staatswörterbuch  XI,  343 — 34G  (1S6S).  Schmoller  wird  diesen 
Aufsatz  nicht  gekannt  haben,  und  natürlich  ist  er  auf  seine  Auffassung  durch  seine 
Studien  und  — durch  seine  Generalisationen  selbständig  gekommen,  wie  ich  auch. 
Er  hat  seine  Auffassung  mit  dem  ganzen  Apparate  seiues  grossen  historischen  Wissens 
unterstützt.  Aber  meine  eigene  ältere  Arbeit  zeigt  doch  in  der  That,  dass 
— verschiedene  Wege  nach  Korn  führen,  was  ich  für  unseren  Methodenstreit  nur 
constatiren  wollte. 

A.  '.Variier  Gruudle^ua.,'.  3.  Auflage.  1.  Thoil.  Grundlagen.  16 


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242  !•  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  5.  A.  Verbind,  d.  Methoden.  §.  Dl — 93. 

• 

aus  Motiven,  anwenden  können,  daher  von  vornherein  auf  einem 
Stadium  stehen,  das  die  Naturwissenschaften  erst  erreichen  müssen: 
wir  kennen  bereits  Ursachen,  von  denen  wir  ausgehen  können.  Aller- 
dings bedürfen  nach  allem  Gesagten  und  nach  den  methodologischen 
Schlusserörterungen  im  nächsten  Abschnittim  concreten  Falle  die  Grund- 
lage dieser  Deduction,  die  Voraussetzungen,  von  denen  sie  ausgeht,  und 
die  Schlussfolgerungen,  welche  man  gezogen  hat,  einer  Controle 
durch  die  Beobachtung.  Aber  ein  Vorzug  bleibt  doch  bestehen. 

Und  dieser  Vorzug  zeigt  sich  nun  auch  in  Bezug  auf  die 
Gesetze  beider  Gebiete.  Wirtschaftliche  Gesetze,  welche  aus 
Motiven  abgeleitet  oder  darauf  zurückgeführt  sind,  sind  uns  hin- 
sichtlich der  causalen  Verhältnisse  wenigstens  insoweit  verständ- 
lich und  erklärlich,  als  uns  die  betreffenden  Motive  bekannt  und 
diese  verständlich  sind.  Bei  elementaren  Naturgesetzen  bleibt 
uns  aber  die  Ursache  selbst  unbekannt  und  an  sich  unverständ- 
lich. Allerdings,  die  weiteren  Gründe  unserer  Motive  und  die 
Gründe,  warum  die  und  die  Reize,  Empfindungen,  Vorstellungen 
so  und  so  auf  uns  wirken,  entziehen  sich  unserer  Kenntniss  und 
unserem  Verständniss  ebenfalls.  Aber  damit  beginnt  das  völlig 
Unbekannte  und  Unverständliche  doch  auf  dem  Gebiete  wirth- 
schaftlicher,  von  unseren  Handlungen  und  Motiven  abhängiger 
Erscheinungen  erst  in  einem  späteren  Stadium  als  bei  den  Er- 
scheinungen der  äusseren  Natur.  Was  wirtschaftliche  Gesetze 
an  „Exactheit“  gegenüber  Naturgesetzen  zu  wünschen  übrig  lassen, 
wegen  des  hier  das  Verursachungssystem  darstellenden  Motivations- 
systems, das  gewinnen  sie  so  an  leichterer  Ermittelbarkeit  und 
Verständlichkeit  eben  dieses  Umstands  wegen. 

5.  Abschnitt. 

Die  Verbindung  der  Methoden. 

I.  — §.02.  Der  Auf-  und  Ausbau  der  Politischen 
' Oekonomie.  Aus  allem  Vorausgehenden  folgt,  dass  das  inductive 
Verfahren,  auch  selbst  in  seinen  besten  Methoden,  der  statistischen 
und  vergleichend  - historischen , nicht  für  sich  allein  ausreicht,  die 
Politische  Oekonomie  als  Wissenschaft  mittelst  seiner  aufzubauen. 
Der  Grundriss  wird  immer  entworfen,  das  Fundament  wird 
immer  gelegt  werden  müssen  mit  Hilfe  des  Verfahrens  psycho- 
logischer Deduction.  Dieses  Verfahren  hat  freilich  seinen  Aus- 
gangspunct  auch  in  Beobachtungen,  insbesondere  in  eigenen 


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Auf-  und  Ausbau  der  Politischen  Oekonomie. 


243 


inneren,  vom  menschlichen  Triebleben  und  der  psychischen  Moti- 
vation auch  des  wirtschaftlichen  Handelns,  aber  eben  doch  in 
Beobachtungen  der  wirksamen  Kräfte,  nicht,  wiedas  inductive 
Verfahren,  der  bewirkten  Gestaltung  wirtschaftlicher  Erscheinungen. 

Indessen  nicht  nur  Grundriss  und  Fundament  werden  so  ge- 
wonnen, sondern  auch  der  Aufbau  der  grossen  Grundpfeiler, 

Stützen,  Hauptwände  des  wissenschaftlichen  Gebäudes  wird  zunächst 
mit  Hilfe  des  deductiven  Verfahrens  erfolgen  müssen  und  nur  auf 
diese  Weise  erfolgreich  geschehen  können. 

Das  inductive  Verfahren  hat  dann  einmal  als  Mittel  zur 
Controle  des  deductiv  hergestellten  Grundrisses,  Fundaments 
und  Aufbaus  und  sodann  selbständig  als  Mittel  zum  weiteren  Aus- 
bau des  wissenschaftlichen  Gebäudes  zu  dienen.  In  beiderlei 
Hinsicht  ist  es  unentbehrlich  und  höchst  werthvoll.  Erst  durch 
solche  Verbindung  des  inductiven  mit  dem  deductiven  Ver- 
fahren wird  ein  haltbarer  und  ein  allen  Aufgaben  der  Wissenschaft 
entsprechender  Bau  entstehen. 

Es  ist  ein  Wahn,  zu  glauben,  nur  mit  dem  einen  oder  dem  anderen  Verfahren 
allein  einen  solchen  Bau  hersteilen  zu  können.  Gross  war  daher  der  Fehler  der 
fdteren  „abstracten"  Theorie,  welche  das  deductive  Verfahren  mehr  und  mehr  allein 
handhabte.  Aber  mindestens  ebenso  gross  ist  der  entgegengesetzte  Fehler  des  Histo- 
rismus, im  inductiven  Verfahren  allein  das  Mittel  zum  Aufbau  der  Wissenschaft  zu 
sehen.  Ja,  man  wird  diesen  Fehler  eigentlich  noch  grösser  nennen  dürfen,  weil 
er  auf  einer  Verkennung  des  psychologischen  Fundaments  der  Wissenschaft  der 
Politischen  Oekonomie  beruht  (S.  15). 

Wie  im  Uebrigen  das  deductive  und  inductive  Verfahren 
ineinander  zu  greifen,  sich  gegenseitig  zu  ergänzen  und  unter 
Umständen  zu  ersetzen  haben , das  hängt  wesentlich  von  den 
einzelnen  Aufgaben  ab,  welche  gelöst  werden  sollen. 

Hier  sind  wieder  jene  zwei  Keihen  je  dreigliedriger  theoretischer  und  prac- 
tischer  Aufgaben,  im  Ganzen  also  jene  sechs  Aufgaben  zu  unterscheiden , welche  im 
ersten  Hauptabschnitte  dieses  Kapitels  (§.  57  ff.)  aufgestelJt  und  erörtert  und  im 
Vorausgehenden  wiederholt  schon  in  Verbindung  mit  den  methodologischen  Fragen 
gebracht  wurden.  Für  vieles  Einzelne  ist  daher  auf  bereits  Gesagtes  hier  hinzuweisen. 

Es  handelt  sich  jetzt  nur  noch  um  eine  Zusammenfassung  alles  Bezüglichen. 

A.  — §.  93.  Das  inductive  Verfahren  als  Control- 
mittel (im  „Ergänzungsdienst“  anderer  Methoden). 

Als  solches,  daher  auch  als  Probe-  und  Correcti vverfahren, 
kommt  es  einmal  im  Ganzen  und  wieder  je  mittelst  seiner  vier 
Beobachtungsmethoden,  insbesondere  der  statistischen  und  histo- 
rischen, neben  der  speculativen  Deduction  in  Betracht;  sodann 
dienen  sich  die  einzelnen  Beobachtungsmethoden  aber  auch  wieder 
gegenseitig  als  Controlmittel.  /" 

IG* 


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244  1.  B.  2.  K.  1.  H.-A.  Methoden.  5.  A.  Verschied,  d.  Methoden.  §.  93,  94. 


1.  Neben  der  Deduction  bat  das  inductive  Verfahren  wieder 
eine  doppelte  Function,  einen  doppelten  Ergänzungsdienst: 

a)  Einmal  hat  es  zu  helfen,  die  angenommenen  Voraus- 
setzungen der  Deduction  auf  ihre  Richtigkeit  zu  prüfen,  sie 
danach  eventuell  zu  berichtigen,  unter  Umständen  auch  die  an- 
zunchm enden  Voraussetzungen  selbständig  festzustellen,  um  so 
wichtige  und  leicht  sich  öffnende  Fehlerquellen  des  deductiven 
Verfahrens  vermeiden  oder  verstopfen  zu  lehren,  oder  sie  wenigstens 
minder  ergiebig  laufen  zu  machen  und  Anhaltspuncte  zur  Be- 
messung der  daraus  hervorgehenden  Fehler  gewinnen  zu  lassen. 

Welche  Bedürfnisse  hier  vorliegen,  ist  früher  naher  dargelegt  worden  (besonders 
§.  74,  75,  aber  überhaupt  §.  07 — 75).  Ebenso,  wie  das  inductire  Verfahren  hier 
helfen  kann.  Dass  man  auch  bei  dieser  Function  der  Deduction,  die  Voraussetzungen 
der  Deduction  selbständig  festzustellen,  doch  noch  auf  dem  Boden  der  letzteren  ver- 
bleibt, wurde  gleichfalls  oben  schon  ausgeführt. 

b)  Sodann  hat  das  inductive  Verfahren  zur  Controle,  Probe 
und,  soweit  erforderlich,  zur  Correctur  der  Schlüsse  zu  dieneu, 
welche  deductiv  aus  angenommenen  oder  erwiesenen  Voraus- 
setzungen abgeleitet  worden  sind.  Hier  müssen  diese  Schlüsse, 
weiche  in  Bezug  auf  die  Erscheinungen  abgeleitet  wurden,  an  den 
beobachteten  wirklichen  Erscheinungen  geprüft  werden. 

Bei  allen  drei  theoretischen  Aufgaben,  daher  insbesondere  auch  bei  den  de- 
ductiv abgeleiteten  Zusammenhängen  und  Abhängigkeitsverhältnissen  und  den  deductiven 
Ermittelungen  des  Generellen,  Typischen,  der  Regelmässigkeiten,  Gesetzmässigkeiten 
und  Gesetze  (§.  73,  S7 — 90)  ist  dieser  Probedienst  des  inductiven  Verfahrens  ge- 
boten. Warum  und  wie  er  einzurichten  ist,  das  ist  ebenfalls  im  Vorausgehenden 
bereits  erörtert  worden  (vgl.  bes.  §.  73,  75,  SO  ff.).  Mit  diesem  Dienste  tritt  inan  schon 
eudgiltig  auf  den  Boden  der  Induction. 

Völlig  auszuschliessen  von  dieser  Doppelfunction  des  inductiven 
Verfahrens  neben  dem  deductiven  ist  keine  der  besprochenen 
vier  Beobachtungsmethoden,  schon  weil  mitunter  nur  eine  und 
vielleicht  nur  die  unvollkommenere,  so  die  erste  (§.  78),  überhaupt 
in  Frage  kommen  kann.  Aber  mit  dem  Werth  der  benutzten 
Beobachtungsmethode  steigt  natürlich  auch  der  Werth  der  Leistungeu 
gegenüber  der  Deduction. 

Die  Methoden  rangiren  daher  in  derjenigen  Ordnung  ihres  Werths,  welche  sich 
aus  unseren  früheren  Ausführungen  ergiebt:  die  statistische,  die  vergleichend -histo- 
rische, die  rein  historische  stehen  im  Allgemeinen  in  dieser  Reihenfolge  voran.  Ob 
die  unwissenschaftliche  tägliche  (Massen-)ßeobachtung  oder  die  wissenschaftliche 
Einzelbeobachtung  den  Vorzug  verdient,  wird  mehr  nur  nach  dem  concretcn  Fall  zu 
entscheiden  sein. 

2.  Gegenseitig  unter  einander  haben  sich  die  ver- 
schiedenen Beobachtungsmethoden  des  inductiven  Verfahrens  ferner 
ebenfalls  als  Controlmittel  zu  dienen,  und  zwar  auch  hier  in 
doppelter  Weise. 


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Das  induct.  Verfahren  als  Controlmittel. 


245 


a)  Einmal  so,  dass  die  nach  den  verschiedenen  Methoden 
beobachteten  Thatsachen  verglichen  und  Beobachtungsfehler 
so  aufgedeckt  und  berichtigt  werden. 

Hier  dienen  vornemlich  die  vollkommneren  Beobachtangsmethoden  zur  Controle 
der  Ergebnisse  der  unvollkouunuercn,  daher  die  statistischo  gegenüber  allen  anderen, 
namentlich  auch  der  vergleichend-historischen  und  der  rein  historischen,  diese  wieder 
gegenüber  der  wissenschaftlichen  Einzel-  und  der  unwissenschaftlichen  täglichen 
Massen -Beobachtung.  Vor  Allem  die  zahlreichen  Fehler  der  letzteren  bedürfen,  er- 
fahren aber  auch  so  eine  Prüfung  und  Berichtigung  (vgl.  §.  78).  Je  nach  den  Auf- 
gaben wird  dann  die  eine  oder  die  andere  Methode  wieder  spccifische  Vorzüge  oder 
Mängel  bieten  und  der  Controldienst  der  anderen  gegenüber  mehr  oder  weniger 
wichtig  und  erfolgreich  werden.  Bei  der  zweiten  theoretischen  und  bei  den  prac- 
tischen  Aufgaben  wird  die  statistischo  und  die  vergleichend  - historische  besonders 
werthvoll,  versagen  die  anderen  in  höherem  Grade.  Dass  indessen  doch  mitunter 
auch  die  übrigen  an  sich  auf  dem  Gebiete  der  wirtschaftlichen  Erscheinungen  unvoll- 
kommneren  Methoden  zwar  nicht  sowohl  Ergebnisse  der  anderen  vollkommneren 
Methoden  wirklich  berichtigen , aber  doch  Zweifel  daran  hervorrufen  können , welche 
dann  zu  erneuter  sorgfältigerer  Anwendung  der  statistischen  und  historischen  Methode 
Anlass  geben,  ist  auch  anzuerkennen  und  folgt  aus  den  früheren  Erörterungen 
(§.  78  — 80).  — In  der  Methodologie  hat  man,  nebenbei  bemerkt,  diese  und  die 
folgende  Function  eines  gegenseitigen  Control-  und  Correctivdiensts  der  Be- 
obachtungsmethoden nicht  immer  genügend  hervorgehoben  und  einen  solchen  Dienst 
nur  gegenüber  der  Deduction  angenommen. 

b)  Sodann  wird  bei  dem  Zurückgehen  von  den  beob- 
achteten Erscheinungen  auf  die  Ursachen  und  Bedingungen 
eine  solche  gegenseitige  Controle  der  Ergebnisse,  welche  nach 
den  verschiedenen  Beobachtungsmethoden  gewonnen  wurden,  und 
der  Reduction  dieser  Ergebnisse  auf  Ursachen  und  Bedingungen 
in  besonderem  Maasse  wichtig  und  nothwendig. 

Grade  hier  gilt  es.  übereilte  und  schiefe  Inductionsschhlsse,  so  den  üblichen  des 
post  hoc  ergo  propter  hoc  (S.  198)  zu  berichtigen.  Die  vollkommneren  Methoden,  die 
statistische,  dann  die  vergleichend -historische  zeigen  hier  ihre  besonderen  Vorzüge 
und  fungiren  auch  als  werthvolle  Coutrolmittel , sowohl  gegenüber  den  willkührlichen 
Inductionsschlüsscn  der  unwissenschaftlichen  täglichen  Beobachtung  in  Bezug  auf 
causale  und  conditionelle  Erklärungen,  als  gegenüber  den  falschen  Generalisationen 
der  Deduction  und  der  wissenschaftlichen  Einzelbeobachtuug.  Unsere  dritte  Auf- 
gabe, welche  vornemlich  hier  vorliegt,  ist  daher  nur  mit  Hilfe  der  vollkommneren 
Beobacbtungsmethodcn  zu  lösen.  Aber  grade  sie  wird  im  Leben  so  gern  durch  die 
unwissenschaftliche  tägliche  Beobachtung  zu  lösen  gesucht.  Und  Aehnliches  gilt  von 
den  practischen  Aufgaben,  besonders  der  sechsten  (§.  64),  der  Wahl  der  Mittel  und 
Wege  zu  einem  bestimmten  Ziele. 

B.  — §.  94.  Das  inductive  Verfahren  als  selb- 
ständiges Mittel  zum  Ausbau  der  Politischen  Oeko- 
nomie  (im  „Ersatzdienst“  statt  anderer  Methoden). 
Wo  die  Fehlerquellen  des  deductiven  Verfahrens  zu  gross  werden 
und  keine  ausreichende  Abhilfe  gestatten  (§.  74),  wo  das  den 
wirtbschaftlichen  Erscheinungen  zu  Grunde  liegende  System  von 
Ursachen  und  Bedingungen  zu  complicirt  wird,  um  durch  noch  so 
methodische  Aenderung  der  Voraussetzungen  das  deductive  Ver- 
fahren zur  Erzielung  richtiger,  mit  der  Wirklichkeit  überein- 


24(5  1*  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  5.  A.  Verbind,  d.  Methoden.  §.  94,  95. 


stimmender  Ergebnisse  genügend  leistungsfähig  zu  erhalten  (§.  70), 
— da  versagt  eben  dieses  Verfahren  den  Dienst  mehr  oder  weniger, 
eventuell  völlig.  Hier  kann  sich  nun  im  induetiven  Verfahren 

ein  Ersatz  bieten,  wenn  es  gelingt,  dieses  Verfahren  selbst 
richtig  technisch  auszubilden,  um  es  mit  Vertrauen  anwenden 
zu  können  (§.  75,  76  ff.). 

Daher  liegt  hier  die  Aufgabe  vor,  zwischen  den  verschiedenen  Bcobachtungs- 
methoden  des  induetiven  Verfahrens  wieder  richtig  zu  wählen  und  jede  derselben  so 
vollkommen  wie  möglich  auszubilden.  Principiell  und  thatsächlich  kaun  das  freilich 
nur  mit  der  statistischen  und  historischen,  namentlich  wieder  der  vergleichend-histo- 
rischen Methode,  gelingen,  welche  daher  hier  auch  wesentlich  allein  als  wissen- 
schaftliche Methoden  im  „Ersatzdienst“  statt  der  Deduction  in  Betracht  kommen.  Je 
umfassender,  systematischer,  sorgfältiger  die  das  Beobachtungsmaterial  liefernden 
statistischen  Aufnahmen,  historischen  Forschungen  werden,  je  reichlicher  und  besser 
dieses  Material  so  selbst  wird,  desto  erfolgreicher  wird  auch  das  indnetive  Ver- 
fahren mit  Hilfe  dieses  Materials  den  Ersatzdienst  statt  der  Deduction  Übernehmen 
können. 

Wie  dann  hierbei  vorzugehen  ist,  das  richtet  sich  wieder  nach 
den  verschiedenen  Aufgaben.  Besonders  die  Lösung  der  zweiten 
und  dritten,  welche  die  Lösung  der  practischen  mit  vorbereiten, 
wird  mit  Hilfe  des  statistischen  und  vergleichend -historischen  Ver- 
fahrens, in  der  in  §.  82 ff. , 84  geschilderten  Weise,  erheblich 
gefördert,  mitunter,  da  gerade  hier  die  unvollkommneren  Beob- 
achtungsmethoden und  die  Deduction  am  Leichtesten  irreführen 
oder  versagen,  überhaupt  erst  ermöglicht,  wenigstens  soweit  von 
einer  „Lösung“  geredet  werden  kann.  Die  statistische  Methode 
behauptet  aber  wegen  ihrer  quantitativen  Bestimmtheit  und  wegen 
des  bei  ihr  zumeist,  oft  allein  erreichbaren  genügenden  Grads 
systematischer  Massenhaftigkeit  der  Beobachtungen  den  Vorzug 
auch  hier,  auch  vor  der  in  diesen  beiden  entscheidenden  Puncten 
zurückstehenden  historischen  und  selbst  vergleichend -historischen 
Methode. 

Nur  sie  gestattet  die  genauere  Verfolgung  der  Erscheinungen  in  allen  Phasen 
durch  die  Katcgorieen  Kaum  und  Zeit  hindurch,  in  möglichst  kleinen  Raum-  und 
Zcittheilen  (S.  212).  daher  unter  dem  Einfluss  hier  eintretender,  mitspielender  variabler 
Bedingungen  und  Ursachen,  was  öfters  die  Voraussetzung  zur  sichereren  Ermittlung 
der  Abhängigkeitsverhältuissc  und  des  Typischen  der  Erscheinungen  ist. 

II.  Ergebnisse.  §.  95.  — A.  Ergebniss  im  Ganzen. 
Die  Weiterbildung  der  Politischen  Oekonomie  als  einer  Wissen- 
schaft, welcher  die  beiden  oft  erwähnten  Reihen  theoretischer 
und  practischer  Aufgaben  (§.  57)  zu  stellen  sind,  hängt  daher 
sicherlich,  wenn  auch  in  ungleichem  Grade  in  Betreff  der  einzelnen 
Aufgaben,  von  den  Fortschritten  der  Statistik  und  Historik  und 
von  der  immer  besseren  Verwerthung  des  von  diesen  oeiden 


k_ 


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Ergebnisse;  im  Ganzen. 


247 


Beobachtungsmethoden  gelieferten  Beobachtungsstoffs , daher  über- 
haupt vom  inductiven  Verfahren  mit  ab.  Die  deductiven  Er- 
gebnisse werden  so  gesicherter  und,  wo  sie  nicht  ausreichen  oder 
fehlen,  werden  neue  inductive  Ergebnisse  hinzu  oder  an  Stelle 
jener  treten.  Aber  freilich  wird  man  nach  der  bisherigen  Er- 
fahrung und  muthmaasslich  auch  in  Zukunft  nach  der  eigen- 
tümlichen Natur  der  Objecte  unserer  Wissenschaft  mehr  vom 
controlirenden , als  vom  selbständig  fungirenden  inductiven  Ver- 
fahren erwarten  dürfen.  Auch  nicht  sowohl  ganz  neue  Ergebnisse, 
als  hauptsächlich  nur  Berichtigungen,  Verfeinerungen,  Einzelaus- 
ftihrungen  der  deductiv  gewonnenen  Sätze  sind  schon  bisher  und 
werden  wohl  auch  weiter  dem  inductiven  Verfahren  zu  verdanken 
sein.  Auch  das  ist  sehr  wichtig  und  werthvoll  und  steigert  den 
Anspruch  der  Politischen  Ockonomie,  als  eine  wahre,  mit  guten 
Methoden  arbeitende  Wissenschaft  gelten  zu  dürfen. 

Diese  Ansiebt  über  die  Sehrankcu  der  Leistungsfähigkett  des  inductiven  Ver- 
fahrens steht  freilich  wieder  im  Widerspruch  mit  den  hohen  Prätensionen,  welche 
namentlich  der  jüngere  Historismus  zu  Gunsten  seiner  Methode  erhebt,  und  ebenso 
mit  den  grossen  Worten  desselben , wonach  die  dcductive  Methode  abgewirthsc haftet 
habe,  die  abstracto  Nationalökonomie  mit  ihrer  Schuldogmatik  ein  überwundener  Stand- 
punct,  wenn  nicht  schon  sei,  so  sicher  immer  mehr  werde,  und  die  Parole  nur  sein 
könne:  ein  voller  Neubau  auf  inductiv  gewonnener  Grundlage.  Auch 
wird  wohl  jetzt  schon  behauptet,  dass  zumal  die  „historische  Forschung“  bereits  er- 
hebliche ganz  neue  Resultate  für  die  Fortbildung  der  Wissenschaft  geliefert  habe. 
Bezügliche  Verdienste  dieser  Forschung  bestreite  ich  nicht  durchaus,  meine  aber 
doch,  dass  diese  Resultate  im  Ganzen  eben  nicht  sowohl  neue,  als  da  und  dort  be- 
richtigte, vornemlich  nur  verfeinerte  alte  deductiv  gewonnene  und  auch  recht  gut  so 
gewinnbaro  seien.  Ich  weiss.  dass  das  wohl  geläugnet  wird,  müsste  aber  um  genauen 
Beweis  bitten,  dass  ich  im  Irrthum  bin.  Für  die  Abweisung  der  zu  weit  gehenden 
Prätensionen  und  — der  Wechsel,  welche  so  gern  auf  die  zukünftigen  Leistungen  des 
Historismus,  nicht  für  concrete  Wirtschaftsgeschichte  natürlich,  wohl  aber  für  die 
Wissenschaft  der  Politischen  Oekonomie  gezogen  werden,  kann  ich  mich  nunmehr 
wohl  auf  dieses  ganze  erste  Buch  beziehen,  worin  ich  meine  Bemerkungen  in  der  Ein- 
leitung Uber  den  Historismus  zu  begründen  gesucht  habe:  negativ  im  Nachweis 
der  inhärenten  Mängel  der  Beobachtungsmethoden  und  des  inductiven  Verfahrens, 
positiv  im  Nachweis  der  Leistungsfähigkeit  der  Deduction,  wenn  sie  in  der  dar- 
gelegten Weise  gchandhabt  wird. 

B.  — §.  96.  Ergebnis  im  Einzelnen  für  das  Ver- 
hältnis der  Methoden  zu  den  Aufgaben.  Dass  sich  und 
wie  sich  die  Anwendung  der  einzelnen  Methoden  nach  den  ver- 
schiedenen Aufgaben  richtet,  wo  eine  jede  und  welche  Vorzüge 
und  Mängel  sie  zeigt  und  in  welcher  Weise  sie  sich  dann  zu 
ergänzen  und  eventuell  zu  ersetzen  haben,  das  ist  im  Voraus- 
gehenden im  Zusammenhang  der  Erörterungen  Uber  die  Aufgaben 
und  in  den  methodologischen  Ausführungen  näher  dargelegt  worden. 
In  nochmaliger  kurzer  übersichtlicher  Zusammenfassung  ergiebt 
sich  Folgendes. 


248  1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  5.  A.  Verbind,  d.  Methoden.  §.  96. 

1.  Bei  der  ersten  Aufgabe,  der  Ermittlung  des  Tbatsäch- 
lichcn  der  Erscheinungen  und  ihres  Verlaufs  (§.  57),  steht  die 
Beobachtung  der  Erscheinungen  selbst  und  zu  diesem  Zwecke  die 
statistische  und  die  historische  Methode  ganz  voran.  Aber  die 
unvollkommneren  Beobachtungsmethoden  werden  daneben  immer 
eine  gewisse  Rolle  mitspielen  und,  bei  angemessener  Vorsicht 
sowie  unter  Controle  durch  die  vollkommneren  Methoden  und 
durch  das  deductive  Verfahren  auch  mitspielen  können.  Letzteres 
Verfahren  oder  der  Schluss  aus  nach  WahrscheinlichkeitsgrUnden 
angenommenen  oder  bereits  als  vorhanden  nachgewiesenen  Voraus- 
setzungen der  wirtschaftlichen  Erscheinungen  wird  ausserdem 
allgemein  zur  Controle  und  Ergänzung  der  Ergebnisse  der  in- 
dnctiven  Beobachtungsmethoden  hinzu  kommen  (§.  59). 

2.  Bei  der  zweiten  Aufgabe,  der  Ermittlung  des  Typischen 
in  den  Erscheinungen,  der  Regel-  und  Gesetzmässigkeiten  und 
Gesetze  (§.  57,  73,  86  — 90),  ist  die  Deduction  aus  nachgewiesenen 
Leit-  und  Specialmotiven,  zumal  aus  dem  Motiv  des  Strebens  nach 
dem  wirtschaftlichen  Vorteil,  u n d die  Anwendung  des  inductiven 
Verfahrens,  insbesondere  der  systematischen  Massenbeobachtung 
der  Statistik,  aber  auch,  wenn  auch  mit  geringerem  Erfolge,  der 
vergleichend  - historischen  und,  mit  abermals  geringerem  Erfolge, 
unter  gewissen  Cautelen  auch  der  täglichen  unwissenschaftlichen 
(Massen  - Beobachtung  zulässig,  ja  geboten  und  sind  so  Deduction 
und  Induction  passend  zu  verbinden.  Beide  dienen  sich  gegen- 
seitig zur  Controle  und  Berichtigung  ihrer  Ergebnisse,  die  erstere 
den  Ergebnissen  der  letzteren  auch  mit  zur  Erklärung  und  die 
vollkommnere  inductive  Beobachtungsrnethode  dient  wieder  zur 
Controle  und  Berichtigung  der  Ergebnisse  je  der  unvollkommneren 
Methode  (§.  60). 

3.  Bei  der  dritten  Aufgabe,  der  Erklärung  der  con- 
ditionellen  und  causalen  Zusammenhänge  und  Abhängigkeitsver- 
hältnisse der  Erscheinungen , wird  zunächst  und  zumeist  das 
deductive  Verfahren  unter  Zugrundelegung  nach  der  Wahrschein- 
lichkeit entsprechend  angenommenen  Voraussetzungen  zum  Aus- 
gangspunct  genommen,  zur  gedankenmässigen  Isolirung  der  Ur- 
sachen und  Wirkungen,  der  Bedingungen  und  Folgen  benutzt. 
Darauf  tritt  aber  gerade  hier  in  sehr  bedeutsamer  Weise  das 
inductive,  vornemlich  wieder  das  statistische,  eventuell  auch  das 
vergleichend -historische  Verfahren  zur  quasi -experimentellen  Con- 
trole, Prüfung,  Berichtigung  der  Ergebnisse  des  deductiven  Ver- 


l 


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Ergcbniss  im  Einzelnen.  Aufgaben  u.  Methoden. 


249 


fabrens  hinzu.  Dieses  inductive  vergleichend-statistische  und  -histo- 
rische Verfahren  gestattet  aber  auch  weiterhin  eine  selbständige 
Anwendung  zur  Lösung  der  dritten  Aufgabe,  wobei  dann  die  Er- 
gebnisse wieder  umgekehrt  mittelst  der  Deduction  zu  controliren 
sind  (§.  61). 

4.  Bei  der  vierten  Aufgabe,  der  ersten  practischen,  wo  es 
sieb  um  Werthurtheile  über  die  wirtschaftlichen  Erscheinungen 
bandelt,  und  bei  der  eng  mit  der  vierten  zusammenhängenden 
fünften  Aufgabe,  der  zweiten  practischen,  wo  ein  Ziel  für 
die  Entwicklung  der  wirtschaftlichen  Erscheinungen  aufzustellen 
ist  (§.  62,  63),  ist  zunächst  überall  an  die  Ergebnisse  anzuknüpfen, 
welche  bei  der  Erledigung  der  drei  theoretischen  Aufgaben  ge- 
wonnen worden  sind.  Beobaehtungsmässig  constatirte  Thatsachen 
der  Wirklichkeit  hinsichtlich  der  bestehenden  Production  und 
Verteilung  und  auch  hinsichtlich  der  nach  dem  Stande  der  Technik 
möglichen  idealen  Production  bilden  den  Ausgangspunct  für  die 
Erledigung  beider  Aufgaben.  Bei  der  Aufstellung  von  Maassstäben 
und  Entwicklungszielen  idealer  Production  und  Verteilung  ist 
dann  aber  wieder  psychologische  Analyse  derjenigen  Motive  geboten, 
welche  als  vorhanden  und  wirksam  vorausgesetzt  werden  müssten, 
wenn  die  Erreichung  des  Ziels  psychologisch  möglich  erscheinen 
soll.  Hier  erfolgt  dann  umfassende  Anwendung  der  speculativen 
Deduction  unter  verschiedenen  hypothetischen  Annahmen  bezüglich 
der  Motivation  des  wirthschaftlichen  Handelns.  Bei  der  fünften 
wie  bei  der  folgenden  sechsten  Aufgabe  liegen  vor  Allem  psycho- 
logische Probleme  vor,  wobei  psychologische  Induction  und  De- 
duction in  enge  Verbindung  treten  (s.  Weiteres  in  §.  63). 

6.  Bei  der  sechsten,  der  dritten  practischen  Aufgabe,  der- 
jenigen der  Wegweisung  zu  dem  aufgestellten  Entwicklungsziel, 
sind  äussere  Beobachtungen  über  die  bisher  benutzten  Mittel  und 
Wege  wieder  mit  psychologischen  Analysen  der  Motive  und  mit 
Deductionen  aus  als  vorhanden  und  wirksam  beobachteten  und 
ans  hypothetisch  angenommenen  Motiven  zu  verbinden.  Der  psycho- 
logische Character  der  Probleme  im  Gebiete  dieser  sechsten  Auf- 
gabe ergiebt  sich  daraus,  dass  es  immer  mit  auf  Beeinflussung 
des  Willens  ankommt,  um  die  und  die  Gestaltung  der  Pro- 
duction und  Vertbeilung  herbeizuführen  (§.  64). 

So  also  überall:  eine  Verbindung  von  Deduction  und  In- 
duction. Fehlerquellen  haben  beide.  Die  Ergebnisse  der  De- 
duction sind  immer  nur  richtig,  wenn  die  Voraussetzungen  richtig 


250  1.  B.  2.  K.  2.  H.-A.  Methoden.  5.  A.  Verbind,  d.  Methoden.  §.  07. 

und  vollständig  statuirt  sind,  die  Motive  wie  angenommen  gewirkt 
haben,  die  Schlüsse  richtig  gezogen  sind;  die  Ergebnisse  der  lu- 
duction  sind  gleicher  Weise  immer  nur  richtig,  wenn  richtig  und 
allseitig  beobachtet  worden,  richtige  Zurückführung  auf  die  Ur- 
sachen und  Bedingungen  erfolgt  ist  und  dabei  alle  maassgebenden 
Factoren  richtig  gewürdigt  sind.  Die  Methoden  und  ihre  Ergeb- 
nisse haben  sich  dann  gegenseitig  zur  Controle  zu  dienen. 

C.  — §.  97.  Ergebniss  für  das  Verhältniss  der 

Methoden  bei  einzelnen  Fragen  und  in  den  einzelnen 

Theilen  des  Svstems.  Auch  auf  dem  Gebiete  der  einzelnen 

* 

Fragen  der  grundlegenden,  der  theoretischen  und  practischen  National- 
ökonomie (§.  103)  erfolgt  dieselbe  Verbindung  der  Methoden.  Und  nicht 
anders  verhält  es  sich  in  den  verschiedenen  Theilen  des 
Systems  der  Disciplin.  Auch  von  einem  allgemeinen  Vorrang  und 
einem  steten  Vorangehen  der  einen  oder  anderen  der  beiden  Haupt- 
methoden auf  Gebieten  von  Fragen  und  in  Theilen  des  Systems  lässt 
sich  kaum  sprechen.  Je  nachdem  die  eine  oder  die  andere  der  ge- 
nannten Aufgaben  vorliegt,  wird  in  diesen  Gebieten  und  Theilen 
die  eine  Methode  zuerst  benutzt  werden  und  eventuell  auch  methodo- 
logisch einen  gewissen  Vorrang  behaupten.  Aber  zur  Ergänzung 
wird  dann  erst  immer  die  andere  hinzutreten  müssen. 

1.  Man  bat  wohl  gemeint,  die  Ausbildung  der  Lehre  von  der  Production  und 
Cousumtion  in  der  theoretischen  Nationalökonomie  beruhe  mehr  auf  der  äusseren 
Beobachtung  der  Tbatsaehen  und  Vorgänge,  auf  dem  inductiren,  diejenige  der  Lehre 
von  der  Vcrtheilung  und  vom  U rnlauf  (Preis)  auf  dem  deductivcn  Verfahren. 
Wo,  wie  in  beiden  letzteren  Lehren,  Gesetze  causaler  Bewegung,  („Beweguugsgesetze“ 

90),  schärfer  hervortreten,  die  man  mittelst  Dcduction  aus  wirksamen  Motiven  ab- 
ieitet,  mag  das  ja  cinigermaassen  zutreffen.  Aber  tlicils  muss  und  kann  man  doch 
auch  hier  mit  der  Feststellung  der  Tbatsaehen  beginnen  und  vou  ihnen  aus  suchen, 
auf  die  Ursachen  (und  Bedingungen)  zurückzuschliessen,  also  inductiv  vorzugehen; 
theils  muss  wieder  zur  Controle  und  Bestätigung  der  inductiven  Ergebnisse  hinsicht- 
lich der  Bewegung  der  Erscheinungen  doch  die  Beobachtung  der  Tbatsaehen  selbst 
hinzukommen.  Es  ist  daher  doch  auch  hier  die  inductivc  Methode  kaum  die  wirk- 
lich zurilckstehende.  Und  umgekehrt,  auf  dem  Gebiete  der  Production  wird  auch  zur 
ersten  Ableitung  von  Sätzen  und  zur  Begründung  und  Erklärung  inductiv  gewonnener 
die  Deduction  mit  benutzt  werden  können  und  öfters  müssen.  Eher  könnte  man  sagen, 
dass  nach  dem  bisherigen  Entwicklungsgang  der  Wissenschaft  thats&c blich  die 
Deduction  allerdings  auf  dem  Gebiete  der  Lehren  von  Vcrtheilung  und  Umlauf,  die 
Inductiou  auf  demjenigen  der  Lehren  von  der  Production  in  grösserem  Umfang  angewendet 
worden  sei.  Auch  entspricht  das  wohl  dem  Character  der  betreffenden  Probleme  und  wird 
daher  sich  nicht  völlig  ändern , weil  das  andere  Verfahren  hier  grössere  Schwierig- 
keiten bietet  und  so  practisch  weniger  anwendbar  wird.  Allein  auch  diese  nicht  un- 
richtige Auffassung  begründet  sich  dann  doch  mehr  auf  einen  thatsächlicben , grade 
Mängel  der  Forschung  und  der  technischen  Ausbildung  der  Methoden  erweisenden 
Zustand,  als  auf  einen  principiellen  Vorzug  der  einen  vor  der  anderen  Methode. 

2.  Nicht  ganz  grade  so,  aber  doch  ähnlich  liegen  die  Verhältnisse  in  den  ver- 
schiedenen Theilen  des  Systems  der  Politischen  Oekouomie.  In  der  „theo- 
retischen“ Nationalökonomie  überwiegt  bisher  wohl  im  Ganzen  die  Deduction,  in  der 
„practischen“  die  Induction,  wieder  in  verschiedenem  Grade  und  mit  manchen  Aus- 


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Ergebniss.  Methoden  und  einzelnen  Fragen. 


251 


nahmen  in  den  Einzelgebicten  beider.  Auch  möchte  das  aus  principiellen  Gründen, 
wegen  des  Grondcharacters  der  ganzen  Probleme,  mehr  so  verbleiben,  als  die  gleiche 
Sachlage  in  den  genannten  Lehren  von  Vertheilung  und  Umlauf  einer-,  von  Produc- 
tion andererseits.  Aber  zu  einem  sehr  erheblichen  Theilo  sind  es  doch  auch  hier 
nicht  solche  principiclle.  sondern  thatsächliche  Gründe,  die  in  den  Schwierigkeiten 
der  Anwendung  und  den  Mängeln  der  Ausbildung  der  anderen  Methode  in  dem  an- 
deren Theile  des  Systems  liegen  nnd  nach  und  nach  überwunden,  wenigstens  ver- 
mindert werden  können.  Auch  die  theoretische  Nationalökonomie  wird  dann  mehr 
iuductiv,  auch  die  practische  mehr  deductiv  behandelt  werden  können. 

Man  Übersieht  auch  nicht  selten,  dass  dieselben  Probleme 
sowohl  wesentlich  deductiv  als  inductiv  untersucht  werden  können, 
dass  man  mit  beiden  Methoden  etwa  gleich  weit,  leider  noch 
öfter,  richtiger  gesagt:  gleich  wenig  weit  kommen  kann,  dass  die 
unabhängig  von  einander  gewonnenen  Ergebnisse  aber  doch  den 
gleichen  Werth  beanspruchen  dürfen  und  sich  gegenseitig  zur  Be- 
stätigung dienen. 

Es  mag  mir  erlaubt  sein,  mich  zum  Belege  dafür  auf  einige  meiner  eigenen 
Arbeiten  auf  Specialgebicten  zu  beziehen , besonders  auf  meine  grade  auch  metho- 
dologisch verschiedenen  Schriften  über  Banken  und  über  gewisse  Finanzfragen.  In 
meiner  ersten  Schrift  über  Banken  habe  ich  die  betreffenden  Fragen , so  die  Streit- 
puncte  der  „Currency-Thcoric“.  der  Gontroverse  über  Centralbanken  imd  Decentrali- 
sation  der  Notenausgabe  wesentlich  historisch -statistisch  inductiv  behandelt  (Beiträge 
zur  Lehre  von  den  Banken,  Leipzig  1857)  In  meiner  ..Geld-  und  Credittheorie  der 
Peel’schen  Acte“  (Wien  1862)  sind  grosscntheils  dieselben  Probleme  wesentlich  de- 
ductiv erörtert.  Und  wenn  mir  da  etwa  der  Einwand  begegnet:  ,.Ja,  nachträglich, 
nachdem  Tookc’s  u.  A.  m.  und  Deine  eigenen  inductiven  statistischen  Forschungen 
voran  gegangen“,  so  möchte  ich  erwidern,  allerdings,  aber  überall  glaube  ich  nach- 
weisen  zu  können,  und  habe  ich  damals  auch  die  Empfindung  gehabt,  dass  bei  sehr 
wohl  möglichem,  hinlänglisch  scharfem  Eindringen  in  die  Probleme  das  deductive 
Verfahren  auch  von  vornherein  ebenso  zulässig  und  ergiebig  gewesen  sein  würde.  In 
mehreren  meiner  Untersuchungen  über  Papiergeldwesen  (Agiotheorie,  Preisbewegungs- 
theorie). so  schon  in  meinem  Aufsatze  .,zur  Geschichte  und  Kritik  der  österreichischen 
Bancozettelperiodc“,  II  (atn  Schluss,  Tüb.  Ztsehr.  1863)  und  später  namentlich  in 
meiner  Schrift  über  die  russische  Papierwährung  (Riga  1S6S)  ist  ebenso  streng  de- 
ductiv verfahren  und  sind  so  Ergebnisse  gewonnen  worden,  welche  die  historisch- 
statistische Erforschung  bestätigen  konnte  und  ja  allerdings,  um  sie  zu  sichern  , be- 
stätigen muss.  Ich  verweise  ferner  auf  die  schon  erwähnte  Behandlung  der  Steuer- 
überwälzungslehrc  in  meiner  Finanzwissenschaft,  bcs.  II,  2.  A.,  S.  332—372),  wo  Er- 
gebnisse deductiv  erzielt  wurden,  über  die  doch  auch  die  rein  inductive  Forschung, 
wie  in  der  Arbeit  von  G.  Schanz  Uber  die  baierische  Biersteuer  (ebd.  S.  366)  eigent- 
lich nicht  hinausgekommen  ist.  Problematisch  bleibt  nach  beiden  Methoden  Vieles, 
aber  man  kann  nicht  allgemein  sagen:  in  höherem  Grade  beim  deductiven  Verfahren. 
— Ich  führe  diese  Beispiele  nur  an.  nicht  zur  besonderen  Empfehlung  der  deductiven 
vor  der  inductiven  Methode,  sondern  nur  zur  billigen  Beurtheilung  der  ersteren. 
Die  Nothwendigkeit  der  steten  Benutzung  der  anderen  Methode  zur  Ergänzung  habe 
ich  mir  nie  verhehlt  und  bestreite  ich  nicht  im  Mindesten,  habe  demgemäss,  z.  B.  in 
meinen  Bankschriften,  auch  gehandelt.  Man  vergegenwärtigt  sich  nur  nicht  immer 
die  ^tatsächlich  oft  sehr  grossen,  mitunter  kaum  überwindliehen  Schwierigkeiten,  z.  B. 
statt  oder  neben  oder  nach  der  Deduction  die  inductive  Methode  anzuwenden.  Ich 
nenne  als  ein  Beispiel  etwa  die  Ermittlung  der  Preisbewegung  unter  dem  Einfluss 
des  sich  verändernden  Geld werths,  wie  in  dem  besonderen  Falle  der  I'apiergeld- 
wirthschaft.  Wie  hierbei  methodisch-statistisch  vor/.ugehen  wäre,  legt  meine  Abh. 
„Ucber  eine  Aufgabe  der  Statistik  der  Preise“  im  Bulletin  de  statistique  international, 
1887  dar.  So  müsste  verfahren  werden,  wenn  man  einigermaassen  ,.exact“  sein 
will.  Aber  wie  schwer,  wenn  nicht  unmöglich,  so  wirklich  zu  verfahren!  Die 
, .historische  Forschung“  auch  selbst  in  der  Fortbildung  zur  vergleichend -historischen 


252  1.  ß.  2.  K.  3.H.-A.  System  etc.  1.  A.  Polit.  Oekon.  als  Wissensch.  §.  97,  9S. 


Methode  mit  ihren  paar  isolirten  Daten  stellt  sich  freilich  die  Aufgaben  nicht  so,  aber 
eben  deswegen  sind  ihre  Ergebnisse  auch  nicht  gesicherte. 

Zum  Schluss  der  methodologischen  Erörterungen  sei  auch  noch  einmal  auf  einen 
in  der  Einleitung  (§.  11)  berührten,  grade  für  die  Wahl  der  Methode  Seitens  der 
einzelnen  Autoren  wichtigen  Punct  hingewieseu.  Diese  Wahl  wird  immer  mit  beein- 
flusst werden  durch  die  individuelle  geistige  Anlage  eines  Jeden.  Es  giebt  eben 
zweierlei,  einigermaassen  typische  Verschiedenheiten  der  Veranlagung  hier,  eine  mehr 
zum  deductiven,  eine  mehr  zum  inductiven  Verfahren  hinführende.  Beide  sind  berechtigt, 
haben  ihre  spccitischen  Vorzüge  und  ihre  specifischen  Nachtheile  und  Mängel.  Die  Einen, 
die  inductiv  veranlagten  Köpfe,  neigen  zu  der  Gefahr,  um  ein  bekanntes  Sprichwort  zu 
brauchen:  „den  Wald  vor  lauter  Bäumen  nicht  zu  sehen“;  die  Anderen,  die  deductiv  ver- 
anlagten Köpfe,  umgekehrt,  wenn  man  im  Gedanken  dieses  Sprichworts  bleiben  darf, 
„die  Bäume  vor  lauter  Wald  nicht  zu  sehen“.  Jene  sind  weniger  befähigt  und  geneigt 
zum  Generalisircn , zum  abstracten  Denken,  sie  vermeiden  aber  auch  die  hiermit  ver- 
bundenen Gefahren,  um  freilich  in  die  entgegengesetzte  Gefahr  zu  verfallen,  zu  sehr  am 
Einzelnen  hängen  zu  bleiben,  sich  in  Mikrologie  zu  verlieren,  das  Kleine,  das  Diffe- 
rente in  seiner  Bedeutung  zu  überschätzen:  so  enge  naturwissenschaftliche  und  — 
historische  Specialisten.  Die  Anderen,  die  deductiv  Veranlagten,  sind  zum  abstracteu 
Denken  und  Generalisircn  befähigter  und  geneigter,  sie  haben  mehr  Sinn  und  Ver- 
ständnis für  die  grossen  Züge  der  Dinge,  für  das  Typische,  aber  sie  gencralisiren 
und  abstrahiren  auch  zu  leicht  und  zu  früh,  sie  unterschätzen  die  Bedeutung  des 
Kleinen,  des  Dilfercnten,  sie  coustruircn  zu  gern  und  werden  von  makrologischen, 
constructiven  Gesichtspuncten  oft  zu  sehr  beherrscht:  so  Philosophen,  Systematiker. 
Fehlerhaft,  zumal  in  den  Extremen,  ist  natürlich  Beides.  Wo  die  grösseren  Fehler 
liegen,  ist  nicht  allgemein  zu  sagen.  Auch  was  man  überhaupt  für  das  Fehlerhaftere 
hält,  hängt  wohl  bei  einem  Jeden  von  seiner  individuellen  geistigen  Veranlagung  und 
der  mit  dadurch  bedingten  Arbeitsweise,  Richtung  und  Neigung  wieder  mit  ab. 
Ueber  subjective  Urtheile  ist  daher  auch  hierbei  schwer  hinauszukommen.  Alles  be- 
weist wohl  von  Neuem  nur,  dass  eine  Verbindung  der  methodischen  Wege  zur 
Aufsuchung  der  wissenschaftlichen  Wahrheiten  das  Gebotene  ist,  wenn  auch  ein  Jeder 
nach  seiner  eigenen  Anlage  und  Neigung  den  einen  oder  den  anderen  Weg  bevor- 
zugen und  auch  auf  dein  für  ihn  geeigneten  gewöhnlich  am  meisten  Erfolg  erzielen 
wird.  Ich  kann  mich  im  Uebrigen  nur  auf  die  Ausführungen  in  §.  11  beziehen. 


Dritter  Hauptabschnitt. 

System  und  Verwandtes. 

1.  Abschnitt. 

Die  Politische  Oekonomie  als  Wissenschaft. 

§.  9S.  Einleitung  und  Litteratur.  In  der  Regel  wird  in  den  syste- 
matischen Werken  der  Politischen  Oekonomie,  namentlich  in  den  deutschen  Lehr-  und 
Handbüchern,  über  Begrilf,  Wesen,  Aufgaben,  Methoden,  System,  d.  h.  Einthciluug 
der  Politischen  Oekonomie,  Stellung  derselben  im  Kreise  der  Wissenschaften,  Zu- 
gehörigkeit zu  den  grossen  Wissenschaftsgruppen  (Gcsellschafts-,  Staatswissenschaften  etc.) 
im  Zusammenhang  gehandelt.  Darau  schlicssen  sich  daun  auch  wohl  noch  Aus- 
führungen über  die  „Bedeutung“  der  Wissenschaft  der  Politischen  Oekonomie  und  den 
Werth  ihres  Studiums.  Der  oder  die  betreffenden  Abschnitte  führen  verschiedene,  aber 
ähnliche  Sammelnamen. 

Hier  einige  Beispiele  dafür,  wie  wichtigere  neuere  Systematiker  in  diesen 
Dingen  formell  Vorgehen.  Rau,  I,  handelt  in  der  „Einleitung“  über  „Wesen  und 
Theile  der  Politischen  Oekonomie“,  (§.  1 — 21),  darin  über  die  Volkswirtschaftslehre 
als  Wissenschaft  in  §.  9 ff.,  über  Gesetze,  Methoden  §.  10 — 12,  über  Einteilung  §.11, 
16,  17),  alsdann  über  die  „äusseren  Verhältnisse  der  Politischen  Oekonomie  (§.  21 — 27, 
darin  über  die  Beziehung  zur  Staats  Wissenschaft,  §21,  22,  zur  bürgerlichen  Wirth- 
schaftslehre,  Staatengeschichte  und  Statistik,  §.  28 — 25,  über  den  Nutzen  der  Disciplin, 
§.  26  ff.),  woran  sich  zum  Schluss  der  Einleitung  ein  litterargeschichtlicher  Abriss  der 


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Einleitung  und  Litteratur. 


253 


Wissenschaft  der  Politischen  Oekonomie  reiht  (§.  28 — 45).  — Koscher  beginnt  den 
J . Band  seines  Systems  init  einer  Einleitung , in  welcher  er  ein  erstes  Kapitel  über 
die  Grundbegriffe  (Gut,  Werth,  Vermögen.  Reichthum,  Wirtschaft)  an  die  Spitze 
stellt,  dann  im  2.  Kapitel  die  Stellung  der  Nationalökonomie  im  Kreise  der  ver- 
wandten Wissenschaften  behandelt.  Hier  bespricht  er  die  Wissenschaften  vom  Volks- 
leben , zu  denen  er  die  Nationalökouomik  stellt,  und  erörtert  ihre  Beziehungen  zur 
Staats-  und  zur  Kechtswissenschaft,  zur  Staatswirthschaftslehre  und  Finanzwissenschaft, 
zur  Polizeiwisseuschaft,  zur  Statistik  (§.  16 — IS),  alsdann  zur  Cameralwissenschaft 
oder  Privatökonomik  (§.  19,  20)  und  handelt  darauf  ebenfalls  über  die  „Wichtigkeit 
der  Nationalökonomik“  (§.  21).  Das  3.  oder  Schlusskapitel  der  Einleitung  widmet 
Roscher  den  Methoden.  Eine  zusammenhängende  Darstellung  der  Litteraturgeschichte 
der  Wissenschaft  enthält  sein  Werk  nicht.  — Knies  fängt  seine  Politische  Oekonomie 
an  mit  einer  allgemeinen  Kennzeichnung  derselben  und  ihrer  Stellung  im  Kreise  der 
Staats-  und  Gesellschaftswissenschaften,  sowie  der  letzteren  im  Gesammtkreis  der 
Wissenschaften,  kommt  aber  auf  diese  und  verwandte  Fragen,  über  Aufgabe  und  Me- 
thode u.  s.  w.  mehrfach  im  Laufe  seines  Werks  zurück,  bes.  in  Abschn.  III,  10  u.  11, 
S.  453  ff.  — v.  Hermann  spricht  nur  am  Schluss  seines  1.  Abschnitts  der  „Grund- 
legung“, in  seinen  staatswirthsebaftlichen  Untersuchungen,  kurz  von  der  Wirthschafts- 
lchre  als  solcher  (2.  A.,  §.  32,  S.  67  ff.).  — v.  Mangold t behandelt  in  seinem 
Grundriss  die  Volkswirtschaftslehre  im  §.  7 im  Anschluss  an  den  Begriff  der  Volks- 
wirtschaft am  Ende  des  1.  Kapitels  seiner  Einleitung,  in  deren  zweitem  Kapitel  er 
das  Verhältniss  der  Volkswirtschaftslehre  zu  anderen  Wissenschaften  und  die  Methode 
ihrer  Behandlung  bespricht.  Hier  wird  gleich  zuerst  (§.  S)  eine  dreifache  wissen- 
schaftliche Behandlung  der  wirtschaftlichen  Seite  des  Völkerlebens,  eine  historische, 
dogmatische  und  practische  unterschieden , und  danach  die  Wirtschaftswissenschaft 
systematisirt.  In  der  grösseren,  aber  bei  des  Verfassers  Tode  noch  unvollendeten 
„Volkswirtschaftslehre“  von  Mangoldts  fehlt  ein  solcher  Abschnitt.  S.  sonst,  v.  Man- 
goldt’s  Aufs.  Volkswirtschaft  und  Volkswirtschaftslehre  im  Bluntschli- Bratcr’schen 
Staatswörterbuch,  B.  XI.  — Schäffle  bringt  in  der  2.  Aufl.  seines  gesellschaftlichen 
Systems  im  letzten  §.  5 der  Einleitung  einige  mehr  nur  aphoristische  Bemerkungen 
über  das  Verhältniss  der  Nationalökonomie  zu  den  übrigen  Wissenschaften.  In  der 
3.  Aufl.  dieses  Werks  wird  in  der  3.  Abth.  des  1.  Buchs  etwas  eingehender,  aber 
auch  noch  kurz  und  aphoristisch,  über  Begriff,  Aufgabe,  Methode  (§.  26 — 28)  ge- 
handelt (I,  S.  46 — 50).  woran  sich  einige  Ausführungen  zur  Geschichte  der  National- 
ökonomie und  ihrer  Litteratur  anschliessen  (§.20).  — Im  S chön berg’schen  Hand- 
buch gehört  der  1.  Abschnitt  des  v.  Schee l’schen  Aufsatzes  über  die  Politische 
Oekonomie  als  Wissenschaft  hierher,  worin  über  Aufgabe  (auch  Begriff,  Name)  und 
Umfang  der  Disciplin  (hier  auch  über  Beziehungen  zu  anderen  Wissenschaften , über 
Methoden)  gehandelt  wird  (3.  Aufl..  I,  69 — 76).  In  den  früheren  Auflagen  beschäftigte 
sich  auch  Neumann  in  seiner  Abh.  Uber  die  Grundbegriffe  mit  den  hierher  gehörigen 
Puncten,  wie  Aufgabe  der  Volkswirtschaftslehre  (2.  Aull..  I,  133  ff.)  — G.  Colin  hat 
in  der  Einleitung  seines  Systems  I ein  erstes  Kapitel  der  Methodologie,  ein  zweites 
der  „Nationalökonomie  im  Kreise  der  Wissenschaften“  gewidmet,  wo  u.  A.  die  Be- 
ziehung zu  den  Natur-,  den  Geistes-,  den  Gesellschafts-,  den  Staatswissenschaften,  zu 
den  technologischen  Fächern,  zur  Rechtswissenschaft  besprochen  und  einige  Bemer- 
kungen über  System  (Eintheilung) , u.  A.  zur  Begründung  eines  allgemeinen  Theils 
für  die  Erörterungen  der  Grundlagen  alles  wirtschaftlichen  Lebens  gemacht  werden 
(§.  62).  — Von  Fremden  bat  z.  B.  L.  Gossa  in  seinen  primi  elementi  di  econ.  polit. 
(jetzt  vol.  I in  9.  Aufl.  als  „ecouomia  sociale“  bezeichnet,  Milano  1891)  in  einem 
1.  Theile  („Vorbemerkungen“)  Begriff.  Grenzen.  Eiutheilung,  Schwierigkeit  und  Wich- 
tigkeit, Character,  Beziehungen  und  Metkodo  der  Politischen  Oekonomie  kurz  erörtert, 
worauf  ein  litterargeschichtlicker  Abriss  folgt.  Bei  der  Correctur  dieses  Bogens  geht 
mir  die  sehr  erweiterte  3.  Aufl.  von  L.  Cossa’s  introduzione  etc.  zu  (Mil.  1892).  worin 
die  genannten  Gegenstände  im  1.  Tkeil  (p.  11  — 128)  eingehend  behandolt  werden. 
Gide  leitet  seine  principes  decon.  politique  mit  Ausführungen  über  den  Gegenstand, 
die  Methode,  die  Frage  wirthschafrlicher  Naturgesetze  ein. 

In  grosser  Ausführlichkeit,  mit  zahlreichen  Citaten  aus  der  Litteratur,  worauf 
hier  für  Weiteres  verwiesen  werden  mag,  hat  Kautz  schon  in  seinem  1.  Bande 
(Nationalökonomie  als  Wissenschaft,  1858)  im  ganzen  2.  Buche  (S.  279—442)  die 
„Wissenschaft  der  Volkswirtschaft“  nach  Begriff,  Gegenstand , Untersuchungsgebiet, 


254  1-  B.  2.  K.  3.  H.-A.  System  etc.  1.  A.  Polit.  Oekon.  als  Wissen  sch.  §.  98,  99. 


Aufgabe,  Character,  ihre  Stellung:  im  System  der  Wissenschaften  vom  Volksleben,  ihre 
Methode,  Werth,  und  Bedeutung  behandelt.  Ausfahrungen,  die  noch  jetzt  manches 
Beachtenswerte,  vorneinlicli  nach  den  literarhistorischen  Seiten  der  erörterten  Fragen, 
bieten.  Aus  neuester  Zeit  sind  dann  wieder  vornemlich  K.  Me n ge r ’s  bezügliche 
Arbeiten  hervorzuheben.  Seine  „Untersuchungen“  gehören  eigentlich  ihrem  ganzen 
Inhalte  nach  hierher,  da  sic  Systcmatologio  und  Methodologie  und  Verwandtes  im 
Zusammenhang  in  eingehenden  systematischen  und  principiellen  Erörterungen  be- 
handeln. Bes.  s.  B.  1,  Kap.  1 und  die  Anhänge  1 — 0 (S.  232 — 269),  die  alle  Bezüg- 
liches erörtern  und  auch  für  die  einschlägige  Literatur  beachtenswert  sind.  Menger 
hat  dann  in  dein  inhaltreichen  Aufsätze  in  Conrad’s  Jahrbüchern,  B.  53  (N.  F.  19), 
1SS9.  S. -165 — 196,  „Grundzüge  einer  Classification  der  Wirtschaftswissenschaften“, 
seine  bezüglichen  früheren  Untersuchungen  wieder  aufgenommen , sich  mit  anderen 
Ansichten  (Neumann,  Klcinwüchter,  Brentano  n.  A.  m.)  gut  auseinandergesetzt  und  so 
die  Erörterung  der  betreffenden  systematologischen  Fragen  fortgeführt.  Im  Ganzen 
wohl  das  Beste  in  der  Fachliteratur  hierüber,  wobei  insbesondere  auch  deutlich  der 
von  mancher  Seite  unterschätzte  wissenschaftliche  Werth  solcher  Erörterungen  und 
Untersuchungen  hervortritt.  Ich  möchte  diese  Verdienste  um  so  mehr  anerkennen, 
weil  ich  grade  hier  mehr  von  Menger  abweichc.  als  in  der  Methodologie.  Andere 
hierher  gehörige  Arbeiten  sind  die  von  Fr.  Kle  in  Wächter,  die  Nationalökonomie 
als  Wissenschaft  und  ihre  Stellung  zu  den  übrigen  Disciplinen,  Berlin  1883  (aus  der 
Virchow-v.  Holtzendorff  schen  Vortragssainmlung)  und  bes.  der  Aufsatz  in  Conrad  s 
Jahrbüchern  über  Wesen.  Aufgabe  und  System  der  Nationalökonomie,  B.  52  (N.  F.  18), 
1S89,  S.  601 — 651,  worin  auch  Erörterungen  über  Methode.  Ich  kann  dem  Verfasser 
in  seinen  Ausführungen  zu  Gunsten  der  historischen  Schule,  gegen  Menger  und  in 
seiner  Systematologie  nicht  überall  beistimmen,  wofür  ich  mich  auf  die  Antworten 
Mengers  an  Kleinwächter  in  dem  oben  genannten  Aufsatze  beziehe. 

Im  Ucbrigen  werden  die  Fragen  von  Begriff,  Name,  System  u.  s.  w.  öfters  mit 
in  den  methodologischen  und  den  Erörterungen  über  wirtschaftliche  Natur  der  Men- 
schen. Aufgabe,  Gesetze  mit  behandelt  oder  wenigstens  gestreift,  weshalb  auf  die 
Litteraturangaben  oben  in  §.  21  und  54,  sowie  im  Allgemeinen  auf  die  Einleitung 
und  die  darin  angegebene  Litteratur  mit  zu  verweisen  ist. 

Ich  glaube  mich  nun  in  diesem  ganzen  Hauptabschnitt  auf  die  eingehenden 
Ausführungen  in  der  Einleitung  und  im  1.  Kapitel  dieses  ersten  Buchs  und  in  den 
vorausgehenden  Abschnitten  des  zweiten  Kapitels  über  die  wirtschaftliche  Natur  des 
Menschen,  die  Aufgaben  und  Methoden  beziehen  und  so  Uber  Manches,  was  sonst 
hier  noch  genauer  erörtert  werden  müsste,  kürzer  hinweg  gehen  zu  können. 

Der  Character,  welchen  nach  meiner  Auffassung  die  Politische  Oekonomie 
(besser:  die  Social  Ökonomie,  §.  101)  als  eigene  Wissenschaft  hat.  ihre  Stellung 
zu  anderen,  auch  den  verwandten  Wissenschaften,  folgt  aus  dem  Früheren 
implicite  schon.  Unmittelbar  ist  darüber  bereits  in  §.  57  gehandelt  worden.  Die 
Aufgaben  haben  uns  näher  in  §.  57 — 64  beschäftigt.  Nicht  eine,  sondern  eine  ganze 
Anzahl  und  nicht  generisch  dieselben,  sondern  zwei  generisch  verschiedene,  theo- 
retische und  practische  Aufgaben  wurden  oben  unterschieden  (§.  57).  Die  Gcsammt- 
aufgabe  der  Wissenschaft  der  Politischen  Oekonomie,  als  Socialökonomie,  umfasst  alle 
jene  verschiedenen  Aufgaben.  Es  kann  daher  jetzt  unter  Verweisung  auf  das  Ge- 
sagte an  einigen  weiteren  Bemerkungen  ztim  Abschluss  unten  im  2.  Abschnitt  bei  den 
Erörterungen  Uber  das  System  i§.  102  ff.)  genügen.  Besondere  Ausführungen  über 
Bedeutung,  Werth,  „Nutzen“  der  Disciplin  mögen  in  Vorlesungen  ir»  speciellcr  Be- 
zugnahme auf  ein  bestimmtes  Zuhörerpublikum  noch  am  Platze  sein,  in  Werken,  wie 
diesem,  scheinen  sic  uns  wenigstens  heutzutage  entbehrlich. 

Begriffsbestimmungen  unserer  Disciplin  als  solcher  knüpfen  nothwendig 
an  den  schwierigen  und  complicirten  Begriff  der  ,. Volkswirtschaft“  selbst  an. 
Sic  setzen  also  eigentlich  die  vorausgehende  Bestimmung  dieses  Begriffs,  die  ein- 
gehende Analyse  dessen,  was  man  „Volkswirtschaft“  nennt,  auch  Erörterungen  über 
das  Wesen  der  Einzelwirtschaft  und  über  deren  Beziehung  zur  Volkswirtschaft 
voraus,  um  so  mehr,  je  weniger  die  Ansichten  Uber  Begriff  und  Wesen  von  „Volks- 
wirtschaft“ fcststchen  und  in  diesen  Ansichten  Uebereinstimmung  vorhanden  ist.  Nur 
aus  formalen  Gründen  wird  daher  hier  bereits  eine  Begriffsbestimmung  der  Politischen 
Oekonomie  ab  Wissenschaft  gegeben  (§.  100)  und  eine  terminologische  Erörterung 
über  den  Namen  der  Disciplin  (§.  101)  hinzugefügt.  Für  die  weitere  Begründung 


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Privatökonomic  etc.  Verhältnis  zur  Polit.  Oekonomie. 


255 


der  Begriffsbestimmung  muss  auf  die  Erörterung  des  BegrilFs  „Volkswirtschaft“  ini 
dritten  Buche  verwiesen  werden. 

Die  Frage  des  Systems  ist  demnach  in  diesem  Hauptabschnitt  die  wichtigste, 
weshalb  er  auch  danach  bezeichnet  und  dieser  Frage  unten  ein  eigener  Special- 
Abschnitt,  der  zweite  (§.  102  fF.'),  gewidmet  wurde.  Sie  steht  mit  der  Frage  der  Auf- 
gaben der  Disciplin  in  näherem  Zusammenhänge,  aber,  wie  schon  in  §.  55  bemerkt 
wurde,  nach  meiner  hierin  von  der  Menger’schen  principiell  abweichenden  Auffassung 
(§.  103),  nicht  so,  dass  das  System  aus  den  verschiedenen  Aufgaben  gleich  folgt  und 
jeder  Aufgabe  etwa  ein  eigener  Theil  des  Systems  entspricht  (S.  143).  Eine  der- 
artige Ansicht  liegt  wohl  K.  Menger’s  Systeinatologie  mit  zu  Grunde.  Ich  weiche 
hier  von  ihm  ab,  doch  nicht  so  sehr  in  dem  Sinne,  dass  ich  seine  Auffassung  und 
Behandlung  ganz  verwerfe,  als  dass  ich  sie  nur  fUr  zu  einseitig  halte  und  demgemäss 
modificire  und  ergänze.  Ich  bin  durch  seine  Ausführungen  überzeugt  worden,  dass 
die  Unterscheidung  eines  „allgemeinen“  und  „speciellen“  Theils  Missverständnisse  er- 
wecken kann  und  es  insofern  besser  (nicht,  wie  er  meint,  durchaus  unrichtig)  sein 
könnte,  nicht  einen  „allgemeinen“  und  einen  „speciellen“  Theil,  sondern  einen 
..theoretischen“  und  einen  „practi sehen“  Theil  im  System  der  Politischen 
Oekonomie  zu  unterscheiden.  (S.  seine  Untersuchungen,  bes.  Anhang  111  und  IV  und 
in  Conrad’s  Jahrbüchern  in  den  Ausfuhrungen  gegen  Neumann,  B.  53,  S.  474.)  Aber 
wenn  man  sich  über  den  Sinn  der  bemängelten  Bezeichnung  verständigt,  kann  man 
sie  doch  grade  zur  Characterisirung  neben  den  beiden  anderen  (mit  diesen  durch 
ein  „und“,  nicht  durch  ein  „oder“  verbunden)  anwenden,  wie  ich  es  denn  auch  thue. 

Der  „Grundlegung“  glaube  ich  aber  nunmehr  auch  eine  besondere  Stellung 
neben,  bezw.  auch  Uber  der  theoretischen  und  practischen  Nationalökonomie  ein- 
räumen, so  also  eine  Droitheilung,  allerdings  aus  sich  nicht  coordinirten  Gliedern 
<§.  103)  vornehmenzu  sollen.  Das  lässt  sich  indessen  hierauch  noch  nicht  nach  allen 
Seiten  ausreichend  begründen.  Vielmehr  folgt  diese  Begründung  implicite  aus  dem 
ganzen  Werke.  Denn  für  die  Bildung  und  Durchführung  des  formalen  Systems  sind 
auch  wieder  materielle  volkswirtschaftliche  Fragen,  so  besonders  diejenigen,  welche 
die  Organisation  der  Volkswirtschaft  und  die  betretenden  Principien  und  Formen 
(gemeinwirtbschaftliche,  privatwirthschaftlichc  Organisation),  die  Kechtsordnung , den 
Staat  in  seiner  Stellung  zur  Volkswirtschaft  betreffen,  von  Bedeutung.  Es  ist  daher, 
wie  beim  Begriff  der  Politischen  Oekonomie,  so  bei  dem  System  derselben  , Manches 
abhängig  von  der  theoretischen  Stellung  zu  solchen  materiellen  Fragen,  weshalb  zur 
Begründung  auch  hier  wieder  auf  Späteres,  besonders  auf  Buch  5 und  6 zu  ver- 
weisen ist. 

K.  Menger’s  Untersuchungen,  S.  7,  255,  wonach  practische  Nationalökonomie 
und  Finanzwissenschaft  „Kunstlehren“  seien,  halte  ich  nicht  für  falsch,  aber  ebenfalls 
für  einseitig:  sie  sind  auch  Kunstlehren,  aber  nicht  nur  das.  Auch  in  ihnen 
handelt  es  sich  um  die  drei  theoretische  Aufgaben,  und  umgekehrt  in  der  Grundlegung 
und  in  der  theoretischen  Nationalökonomie  auch  mit  um  diese  practischen  (§.  103). 

I.  — §.  99.  Privatökonomik  und  ihr  Verhältniss 
zu  der  Politischen  Oekonomie  (Oekonomik).  Die  Wirth- 
schaftslehre  (Oekonomie,  besser  eigentlich  Oekonomik)  wurde  oben 
(§.  29)  mit  Rau  als  der  geordnete  Inbegriff  der  die  Wirtschaft 
im  dort  dargelegten  Sinne  betreffenden  Lehren  bezeichnet  und 
hervorgehoben,  dass  ihr  gegenüber  auch  die  Politische  (Natio- 
nal*, Social-)  und  die  Privatökonomik  engere  Begriffe  bildeten. 
Privat-  und  Politische  Oekonomik  haben  das  gemeinsam,  dass  sie 
Zustände  der  Arbeitstheilung  und  des  Verkehrs  voraussetzen,  durch 
welche  die  einzelnen  Wirtschaften  unter  einander  verbunden  sind. 
Auch  die  Privatükonomik  betrachtet  daher  nicht  die  einzelne  Wirth- 
schaft als  eine  völlig  isolirt  für  sich  bestehende,  wenn  auch  mehr 


256  1*  B.  2.  K.  3.  H.-A.  System  etc.  1.  A.  Polit.  Oekou.  als  Wissenschaft.  §.  99. 

oder  weniger  innerhalb  ihres  Bereichs  für  sich  allein  thätige, 
sondern  zugleich  als  ein  Glied  eines  Verkebrssystems.  Aber  sie 
beschäftigt  sich  mit  der  einzelnen  Wirtschaft  als  einer  ihre  eigenen 
wirtschaftlichen  Zwecke  nur  um  ihrer  selbst,  bezw.  um  der  ihr 
angehörigen  Personen  Willen  verfolgenden  und  demgemäss  nur 
vom  Standpunct  dieser  Wirtschaft  aus.  Sic  hat  es  daher  mit 
dieser  Wirtschaft  als  einem  Gliede  des  Verkehrssystems  nur  in- 
soweit zu  thun,  als  die  Thätigkeit  der  Wirtschaft  und  die  Erfolge 
dieser  Thätigkeit  durch  die  Stellung  eines  solchen  Glieds  beein- 
flusst werden.  Der  Verkehr,  das  grössere  Ganze  (die  Volkswirt- 
schaft), zu  dem  die  einzelne  Wirtschaft  gehört,  interessirt  die 
Privatökonomik  nur  soweit,  als  diese  Beeinflussung  geht.  Die 
Politische  Oekonomie  dagegen  hat  es  mit  der  einzelnen  Wirt- 
schaft nur  als  mit  einem  solchen  Gliede  eines  Verkehrssystems, 
als  eines  grösseren  complicirten  Ganzen,  zu  thun,  mit  einem  Gliede, 
das  sic  nur  insoweit  interessirt,  als  es  zu  diesem  Ganzen  gehört 
und  auf  dasselbe  einwirkt. 

Die  Privatökonomik  ist  demgemäss  begrifflich  zu  bestimmen 
als  der  Inbegriff  der  Lehren,  welche  sich  auf  die  einzelnen,  ihre 
wirtschaftlichen  Interessen  innerhalb  ihres  eigenen  Berufs  wie  im 
Verkehr  verfolgenden  Wirtschaften  uud  auf  die  sich  hierbei  als 
Privatangelegenheiten  ergebenden  wirtschaftlichen  Erschei- 
nungen beziehen.  Sic  bildet  eine  wesentlich  dem  practischen 
Bedürfnis  dienende  Sammlung  von  Regeln  vorwiegend  natur- 
wissenschaftlicher, technologischer  Art,  verbunden  mit  Lehnsätzen 
anderer  Disciplinen,  der  Rechtswissenschaft,  auch  der  Politischen 
Oekonomie  u.  a.  m.,  zu  dem  Zweck,  den  jeweilig  technisch  besten 
und  ökonomisch  erfolgreichsten , daher  (einzelwirthschaftlich)  rein- 
ertragsreichsten (rentabelsten)  Betrieb  der  Wirtschaft  zu  zeigen. 

Sie  gliedert  sich  nach  den  grossen  Hauptgruppen  des  Arbeit- 
teilungssystems und  nach  weiteren  Specialgruppen  innerhalb  dieser 
Hauptgruppen  mit  immer  grösserer  Spccialisirung  entsprechend 
dem  Fortschritt  der  Technik  und  der  Arbeitstheilung. 

Landwirthschafts-,  Forstwirthschaftslehre , Bergbaukunde,  Gewerkslehre  (gewerb- 
liche, mechanische,  chemische  Technologie),  Haudelslehre , Bank-,  Versichcrungs-, 
Transpor (lehre  sind  Hauptgruppen,  mit  zahlreichen  weiteren  Specialisirungcn , bis  zu 
den  Lehren  von  einzelnen  Gewerbebetrieben  (z.  B.  Branntweinbrennerei,  Rdbenzucker- 
fabrikatiou,  einzelne  Zweige  der  Textilindustrie)  hin.  Auch  eine  etwaige  Hauswirth- 
schafblehre  gehört  zur  Privatökonomik.  Im  Ganzen  ein  unermessliches  und  grade  in 
der  Neuzeit  wegen  der  ungeheuren  Entwicklung  der  Technik  extensiv  und  intensiv 
immer  grösser  werdendes  Gebiet  menschlichen  Wissens.  Aber  — doch  im  Ganzen 
uud  Einzelnen  nicht  eigentliche  Wissenschaften,  auch  nicht  sogenannte  „practische“ 


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Privatökonomik  u.  ihr  Verhältniss  zur  Polit.  Ökonomie. 


2 57 


Wissenschaften:  nicht  bloss,  weil  es  sich  darin  grossentheils  nur  um  eine  Zusammen- 
fassung von  Sätzen  verschiedener  anderer  Wissenschaften,  auch  nicht,  weil  es  sich 
um  Lehren  für  den  Zweck  des  practischen  Könnens  handelt,  sondern  weil  diese 
Lehren,  zunächst  wenigstens,  überhaupt  nurdiesom  Zweck,  d.  h.  dem  Wissen  vom  Können 
nur  um  dieses  letzteren  behufs  Verfolgung  privater  wirtschaftlicher  Interessen 
— die  freilich  auch  volkswirtschaftliche  werden  können  — , nicht  dem  Wissen  vom 
Können  um  des  Wissens  Willen  dienen. 

« 

Flir  die  Politische  Oekonoraie  hat  die  Privatökonomik  grosse 
Bedeutung,  weil  jene  aus  ihr  viele  Sätze  zu  entlehnen  hat,  welche 
sie  zur  Lösung  ihrer  Aufgaben  braucht,  welcher  sie  sich  mit  zu 
ihren  Beweisführungen  bedient  und  an  welche  sie  oftmals  ihre 
eigenen  Untersuchungen  anknüpft.  Aber  die  Privatökonomik  ist 
nur  eine  Helferin,  wenn  man  sie  eine  „Wissenschaft“  nennt,  eine 
Hilfswissenschaft  für  die  Politische  Oekonomie,  sie  bildet  keinen 
Th  eil  der  letzteren,  ihre  Forschungen  und  deren  Ergebnisse  sind 
keine  nationalökonomischen  Forschungen  und  Ergebnisse. 
Auf  eine  Trennung,  welche  in  der  älteren,  besonders  der 
deutschen  Politischen  Oekonomie,  namentlich  in  deren  Vorläufer, 
der  sogen.  Cameral Wissenschaft,  nicht  genügend  erfolgt, 
zum  Theil  gar  nicht  als  Aufgabe  angesehen  worden  ist,  muss 
daher  gedrungen  werden.  Das  ist  in  der  neueren,  auch  deutschen 
Wissenschaft  auch  jetzt  anerkannt,  worauf  die  wichtige  und 
scharfe  Unterscheidung  v.  Hermann's  zwischen  Oekonomik 
und  Technik  von  günstigem  Einfluss  gewesen  ist. 

v.  Hermann,  staatswirthsch.  Untersuch.,  2.  A.,  bes.  S.  67  ff.  S.  über  die  ältere 
Cameral  wissens  ch  aft  und  Privatökonomik  Rau,  über  Cameral  Wissenschaft,  Heidel- 
berg 1823;  Oers.,  I,  §.3.  Finanzwiss.  I.  §.5,  21;  Baumstark,  cameralist.  Ency- 
clopädie,  1835;  Roscher,  I.  §.  19,  20;  Ders.,  Geschichte  der  deutschen  Nat -Oek., 
passim,  Uber  einzelne  Autoren;  (Morhoff,  S.  33811'.;  Zincke,  S.  433 ff. ; v.  Pfeifer, 
S.  556  u.  A.  m.);  Kautz,  I,  § 92,  93;  meine  Finanzwiss.  I.  3.  A.,  §.23  ff.;  Cohn, 
I.  §.55;  auch  K.  Mcngcr.  Untersuchungen,  S.  256.  Die  Cam eral Wissenschaft 
kann  mau  einerseits  als  Vorläuferin,  anderseits  als  die  eine  Wurzel  der  neueren 
deutschen  Politischen  Oekonomie  (einschliesslich  Finanzwissenscbaft),  aber  auch  als 
Zusammenfassung  der  älteren  privatökonomischen  Lehren  ansehen.  Sie  stellt  sich  in 
ihrer  späteren  systematischen  Entwicklung  und  in  ihrer  Verbindung  mit  der  Polizei- 
wissenschaft, welche  theils  von  ihr  unterschieden,  theils  auch  als  Theil  von  ihr 
betrachtet  und  behandelt  wurde,  im  Wesentlichen  dar  als  „Inbegriff  der  für  einen 
Beamten  in  der  sogen,  inneren  Verwaltung  dienlichen  Kenntnisse“  (Rau,  Finanzwiss. 
§.  21),  daher  als  eine  diesem  practischen  Bedürfuiss  entsprechende  Vereinigung 
von  juristischen  (privat-  und  öffentlich-rechtlichen),  staatswissenschaftlichen  (privat-  und 
politisch  - ökonomischen),  finanzwissenschaftlichen , naturwissenschaftlichen,  techno- 
logischen Lehrsätzen,  Regeln,  Maximen.  Dabei  hatte  das  Bedürfniss  der  Finanz-  und 
der  wirthschaftlichcn  Landesverwaltung  (DomUncnwesen,  Forstwesen,  Staatsgewerks- 
anstalten) besondere  Berücksichtigung  gefunden.  Diese  ältere  systematische  Camcral- 
wissenschaft  war  daher  eine  Art  Encyclopädie  des  Wissens  des  Verwaltungsbeamten. 
Sic  ist  in  dieser  Weise  nicht  zu  halten  gewesen  und  hat  sich  im  19.  Jahrhundert  in 
ihre  einzelnen  Bestandtheilc  aufgelöst.  Letztere  haben  sich  dann  zum  Theil  wieder 
zu  besonderen  Wissenschaften,  wie  die  Politische  Oekonomie,  die  Finanzwissenschaft, 
die  der  früheren  Polizeiwissenscbaft  entsprechende  moderne  Verwaltungslehre  (L.  Stein) 
und  anderseits  zu  jenen  genannten  Speciallchren  für  die  Uebertragung  des  practischen 
A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Anflage.  1.  Theil.  Grundlagen.  17 


258  1.  B.  2.  K.  3.  II.-A.  System  etc.  1.  A.  Polit.  Oekon.  als  Wissen  sch.  §.  99, 100. 


Könnens  um  dieses  Könnens  selbst  Willen  ausgebildet.  Man  kann  diese  Lehren  mit 
Koscher  (I,  §.  20)  passend  mit  dem  Kamen  Privatökonomik  zusammenfassen, 
was  in  Deutschland  auch  Üblich  geworden  ist. 

Schon  die  Specialisirung  auf  diesem  Gebiete  bildet  ein  heute  unubcrsteigliches 
Hinderniss,  dass  ein  Einzelner  dieses  ganze  Gebiet  der  Privatökonomik  umfasse,  auch 
wenn  er  das  zum  Lebensberuf  machte  (gewerklicho  Technologie!).  Vollends  nebenbei 
dies  Wissensgebiet  mit  dem  des  Nationalökonomen  von  Fach,  wie  Seitens  der  älteren 
Cameralisten  des  vorigen  Jahrhunderts  und  in  unserem  noch  bis  in  die  Zeiten  Kau 's 
hinein,  oder  mit  dem  des  Juristen,  des  öffentlichen  Verwaltungsbeamten  zu  vereinigen, 
ist  schlechterdings  nicht  mehr  möglich.  Aber  es  sind  nicht  diese  doch  nur  äusser- 
lichen  Gründe,  welche  eine  Trennung  der  Privatökonomik  von  der  Politischen 
Oekonomie  nothwendig  machen,  sondern  diese  wird  principicll  bedingt  durch 
die  Verschiedenheit  der  Aufgaben  und  Standpunctc  in  der  oben  gekennzeichneten 
Weise.  Ich  kann  daher  hier  auch  K.  M enger  nicht  bestimmen,  welcher  in  seiner 
dritten  Abtheilung  der  Wirtschaftswissenschaften,  derjenigen  der  practischcn  (nach 
den  historischen  und  theoretischen),  diese  gliedert  in  Volkswirthschaftspolidk  und 
„practische  Singularwirthschaftslehre“,  letztere  wieder  in  Finanzwissenschaft  und  in 
„practische  Privatwirthschaftslehre“.  Diese  ist  für  Mcnger  ..die  Wissenschaft  von  den 
Grundsätzen,  nach  welchen  (unter  unseren  heutigen  socialen  Verhältnissen  lebende) 
Privatpersonen  (je  nach  Maassgabe  der  Verhältnisse)  ihre  Wirtschaft  am  Zweck- 
massigsten  einzurichten  vermögen“  (Untersuch.,  S.  250).  Menger  meint  sodann,  zwischen 
der  practischen  Privatwirthschaftslehre  (nemlich  in  diesem,  Mengcr’schen  Sinne, 
d.  h.  eben  im  Sinne  von  Privatökonomik,  nicht  in  dem  Sinne,  wie  wir  später  den 
Ausdruck  brauchen  werden)  und  der  practischcn  V o 1 kswirthschaftslehre  einen  prin- 
cipiellen  Gegensatz  zu  erkennen,  sei  durchaus  irrig:  auch  jene  beziehe  sich  auf  die 
Wirtschaft  social  organisirter  Menschen  und  finde  ihre  theoretische  Grundlage 
nicht  in  einer  besonderen  theoretischen  Privatwirthschaftslehre,  sondern  in  der  theo- 
retischen Nationalökonomie.  Allein  dass  es  sich  auch  in  der  Privatökonomik  um 
Wirtschaften  „social  organisirter  Menschen“  oder,  wie  ich  es  oben  bezeichne,  „im 
Verkehrssystem“  handelt,  wie  in  der  Politischen  Oekonomie,  hebt  den  principielien 
Unterschied  zwischen  beiden  in  der  oben  von  mir  angegebenen  Weise  m.  E.  nicht 
auf.  Auch  hat  doch  die  Privatwirthschaftslehre  mehr  in  anderen  Lehren  als  in 
denen  der  theoretischen  Nationalökonomie  ihre  Grundlage,  vor  allem  in  technologischen. 

In  der  heutigen  Privatökonomik  und  fast  in  allen  ihren  Theilen  überwiegt 
das  technologische  Moment  stark  und  vermutlich  immer  mehr.  Auch  das  hat 
es  mit  sich  geführt,  dass  der  Nationalökonom  der  Gegenwart  weit  weniger  als  noch 
derjenige  zu  Zeiten  Hermann's  und  Kau’s  und  vollends  als  der  alte  Oameralist  der 
Privatökonomik  ferner  steht.  Ich  habe  meiner  Zeit  (1856)  selbst  noch  bei  Rau  in 
Heidelberg  ein  Colleg  über  Lnndwirthschaftslehre  (nicht  Agrarpolitik)  gehört.  Der 
Umstand,  dass  heute  auch  bei  uns  wie  im  Auslande  die  fachmännischen,  theoretischen 
Nationalökonomen  meistens  aus  den  Geisteswissenschaften,  Jurisprudenz,  Geschichte, 
Philosophie,  Philologie  hervorgehen,  hat  freilich  weiter  eine  gewisse  Entfremdung  der 
Politischen  Oekonomie  mit  der  Privatökonomik  bewirkt.  Das  hat  auch  seine  üblen 
Folgen,  besonders  für  die  Behandlung  gewisser  Fragen  der  practischen  Nationalökonomie, 
der  Finanzwissenschaft  (indirecte  innere  Steuern),  aber  auch  für  die  Entwicklung  des 
ganzen  Fachs.  Dass  auch  vorn  privatökonomischen  Standpuncte  aus  mit  Erfolg  an 
der  Ausbildung  der  Politischen  Oekonomie  mitgearbeitet  werden  kann,  zeigen  nicht 
nur  die  v.  ThUncu,  v.  Hermann,  sondern  aus  neuerer  Zeit  auch  die  vortrefflichen, 
geistvollen  Arbeiten  Emanuel  Herrmann’s  (Wien).  Auf  einzelnen  Gebieten,  z.  B. 
in  der  Lehre  von  Geld,  Banken,  Börse,  Versicherung,  Communication  und  Transport, 
auch  von  Handel,  ist  ausserdem  auch  die  scharfe  Trennung  des  Privatökonomischen 
und  Nationalökonomischen  nicht  immer  möglich.  Beides  geht  herüber  und  hinüber  in 
einander  über.  Aber  damit  wird  das,  was  vorhin  über  die  principielle  Nothwendig- 
keit  der  Trennung  nach  Standpunct  der  Betrachtung  und  Aufgabe  gesagt  wurde, 
doch  nicht  widerlegt. 

II.  Politische  Oekonomie.  A.  — §.  100  [53].  Be- 
griff. Unter  Hinweisung  auf  die  späteren  Erörterungen  Uber 

Begriff  und  Wesen  von  Einzel-  und  von  Volkswirtschaft  und  der 


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Begriff  der  Politischen  Oekonomie. 


259 


Beziehung  von  beiden  zu  einander  (Buch  3),  Erörterungen,  durch 
welche,  wie  schon  bemerkt  (§.  98),  auch  erst  die  Begriffsbestimmung 
der  Politischen  Oekonomie  genauer  erklärt  und  begründet  wird, 
sind  hier  zunächst  nur  einige  Puncte  hervorzuheben,  welche  für 
die  Begriffsbestimmung  der  Politischen  Oekonomie  entscheidend  sind. 

Diese  Disciplin  verfolgt  die  wirtschaftlichen  Erscheinungen, 
bzw.  Thätigkeiten  der  Menschen,  wie  sich  dieselben  im  und  aus 
dem  Zusammenhang  der  Wirthschaften  zu  einander  er- 
geben und  ein  auf  Arbeitstheilung  und  Güter  Übertragung 
(Verkehr)  zwischen  den  einzelnen  Wirthschaften  be- 
ruhendes „Ganzes“  oder  ein  bezügliches  System  bilden.  Dieses 
„Ganze“,  dieses  „System“,  als  solches  ist  das,  was  wir  in  einem 
gewissen  Stadium  seiner  Entwicklung  und  unter  gewissen  recht- 
lichen Voraussetzungen,  welche  in  diesem  Stadium  regelmässig 
vorhanden  sind,  „Volkswirtschaft“  nennen.  Dieselbe  stellt  daher, 
wie  man  es  auch  ausdrücken  kann,  ein  als  abgegrenzt  gegen 
andere  gleichartige  „Ganze“  gedachtes  „gesellschaftliches 
System  menschlicher  Wirtschaft“  (Schaffte)  dar.  Sie  ist  ein 
eigenartiger  Complex  wirtbschaftlicher  Erscheinungen,  ein 
„Collectivphänomen“  (Menger).  Gerade  als  T heile  eines 
solchen  Complexes  sind  daun  die  wirtschaftlichen  (Einzel-) 
Erscheinungen  das  Untersuchungsobject  der  Politischen  Oeko- 
nomie (§.  56).  Allein  dies  nicht,  wie  in  der  Privatökonomik,  vom 
Standpunct  der  einzelnen  Wirtschaft  und  ihrer  ökonomischen 
Strebeziele,  sondern  von  demjenigen  eben  jenes  „Ganzen“,  der 
Volkswirtschaft,  zu  dem  sie  als  Theile  gehören,  und  in  ihrer 
Bedeutung  für  dieses  Ganze  aus.  Indem  die  wirtschaftlichen 
Erscheinungen  als  solche  Theile  eines  Colleetivphänomens  betrachtet 
werden,  soll  dann  auch  das  Wesen  und  die  Function  dieses 
letzteren  selbst  erforscht  werden. 

Die  Politische  Oekonomie  ist  demnach  die  Wissenschaft  von 
den  wirtschaftlichen  Erscheinungen  als  den  Theilerscheinuugen 
oder  Componcnten  des  eine  Volkswirtschaft  bildenden  Er- 
scheinungscomplexe8,  oder,  anders  ausgedrückt,  die  Wissenschaft 
von  der  Volkswirtschaft  als  einem  eigenartigen  Complex  wirt- 
schaftlicher Erscheinungen.  Ihre  Objecte  sind  daher,  wie  hier 
jetzt  zur  genaueren  als  der  in  §.  56  erfolgten  Bezeichnung  der- 
selben binzugefügt  werden  kann,  allerdings  nicht  die  wirtschaft- 
lichen Erscheinungen  schlechtweg,  sondern  die  als  solche  Th  ei  1- 


17* 


260  1.  B.  2.  3.  H.-A.  System  etc.  1.  A.  Polit.  Oekon.  als  Wisscnsch.  §.  100. 


erschein ungen  der  Volkswirtschaft  hervortretenden  und 
in  dieser  Eigenschaft  aufgefassten. 

Es  liegt  in  dieser  Hinzufügung  kein  Widerspruch  mit  der  Bezeichnung  des 
Objects  der  Politischen  Oekonomio  im  Eingang  zu  §.  56  (S.  145).  Damals  genügte 
diese  Bezeichnung  und  der  jetzige  Zusatz  wäre  noch  nicht  verständlich  gewesen.  Das 
wird  er  nunmehr  nach  den  Ausführungen  über  die  Aufgaben  und  die  Methode  sein. 
Denn  hier  sind  die  wirthschaftlichen  Erscheinungen  immer  schon  als  solche,  wie  sie 
soeben  genauer  bezeichnet  wurden,  aufgefasst  und  behandelt  worden. 

Obige  Definition  ist  eine  allgemeine  für  die  ganze  Politische  Oekonomie, 
noch  ohne  weitere  Unterscheidung  der  Aufgaben  und  beschränkt  sich  absichtlich,  ab- 
weichend von  den  unten  am  Schluss  dieses  §.  100  erwähnten  Anforderungen  Karl 
Menger’s  an  Definitionen  von  Wissenschaften  (Untersuchungen,  S.  238  ff.),  auf  die  Be- 
zeichnung des  Objects  in  der  Definition  allein. 

Die  Definition  der  Politischen  Oekonomie  wird  immer  mehr  oder  weniger  eng 
an  den  Begriff  der  Volkswirthschaft,  daher  an  die  Definition  der  letzteren  sich  an- 
schliessen.  Eben  deswegen  setzt  sie  aber  in  der  That  auch  bezügliche  Erörterungen 
über  die  Volkswirthschaft  voraus,  um  nach  allen  Seiten  verständlich  zu  sein  und  be- 
gründet zu  erscheinen.  Die  obige  Definition  weicht  von  meiner  eigenen  früheren, 
wörtlich  und  auch  im  Sinne  und  Inhalte  ab,  doch  steht  sio  in  letzterer  Hinsicht  nicht 
mit  ihr  in  Widerspruch,  sondern  hebt  nur  etwas  Anderes  als  das  Wesentliche  hervor, 
was  aber  in  der  früheren  implicite  mit  enthalten  war,  nemlich  das  Moment  „wirt- 
schaftliche Erscheinung“,  entsprechend  meiner  Betonung  und  Behandlung  grade 
dieses  Moments  in  diesem  ganzen  1.  Buche  in  der  3.  Auflage  und  weiterhin.  In 
der  2.  Auflage  (§.  53  am  Schluss,  S.  70)  definirte  ich  die  Politische  Oekonomie  im 
Anschluss  an  meine  Auffassung  der  Volkswirthschaft  (S.  68)  als:  „Die  Wissenschaft 
von  der  Volkswirthschaft  als  dem  Organismus  der  Einzelwirtschaften  staatlich  orga- 
nisirter  Völker“. 

Eine  Zusammenstellung  verschiedener  Definitionen  giebt  Kautz,  I,  289  ff.  und 

Mengor,  Untersuchungen,  S.  241  ff.,  auch  Block,  progres,  I,  70  ff.  Menger  ver- 
wirft diese  Definitionen,  wie  es  scheint,  alle,  weil  sie  seinen  Anforderungen  an  eine 

bezügliche  Definition , wofür  er  bestimmte  Grundsätze  aufstellt  (§.  237  ff),  nicht  ent- 

• sprechen.  Indessen  kommt  er  selbst  bei  seiner  Unterscheidung  von  drei  Gruppen 
Wissenschaften  auf  dem  Gebiete  der  Volkswirthschaft  (S.  8)  nicht  zu  einer  einheitlichen 
Definition,  welche  in.  E.  auch  bei  der  scharfen  Unterscheidung  der  Aufgaben,  worin 
ich  Menger  bbistimme,  möglich  und  nothwendig  ist. 

An  Beispielen  von  Definitionen  (oder  Beschreibungen  dessen,  was  der  Ein- 
zelne glaubt  unter  der  Politischen  Oekonomie,  bezw.  der  theoretischen  Nationalökonomie 
verstehen  zu  sollen)  mögen  folgende  hier  Platz  finden.  Bei  dem  engen  Zusammenhang 
dieser  Dinge  mit  der  Nomenclatur  und  mit  terminologischen  Puncten,  sowie  mit  der 
Eintheilung  (Systemisirung)  der  Disciplin  wird  hierüber  bei  einigen  Autoren  gleich 
einiges  Betreffende  hinzugefügt,  worauf  dann  unten  Bezug  genommen  wird. 

Kau,  welchor  für  allo  Fragen  der  Definitionen  und  der  Systematik  mit  seiner 
nüchternen,  aber  klaren,  wenn  auch  nicht  immer  tief  genug  dringenden  Weise  auch 
heute  noch  besonders  bcachtenswerth  bleibt,  stellt  der  „bürgerlichen  Wirth- 
schaftslehre“  oder  „Privatökonomie“  die  Politische  Oekonomi  e,  „öffent- 
liche Wirthschaftslehre“,  „Staatswirthschaftslehro“,  im  „weiteren  Wortvorstand“  gegen- 
über und  versteht  unter  ihr  „die  Wissenschaft  von  den  wirthschaftlichen  Angelegen- 
heiten des  Staats  oder  von  der  Versorgung  desselben  mittelst  sachlicher  Güter“ 
(I,  §.  3).  In  dieser  bildet  ihm  den  ersten,  theoretischen  Haupttheil  die 
„Volkswirtschaftslehre“  oder  „Nationalökonomie“,  d.  h.  „die  Wissen- 
schaft, welche  die  Wirtschaft  der  Völker  nach  ihrem  Wesen  vollständig  entwickelt, 
oder  welche  zeigt,  wie  ein  Volk  durch  die  wirthschaftlichen  Bestrebungen  seiner 
Mitglieder  fortwährend  mit  Sachgütern  versorgt  wird“  (§.  9).  Die  stete  besondere 
Bezugnahme  bei  Rau  auf  Sachgüter  ist  eine  Folge  seiner  (zu  engen)  Begriffsbestimmung 
von  Gut,  bezw.  wirtschaftlichem  Gut  (s.u.§.  120).  Als  zweiten , practischenHaupttheü 
der  Politischen  Oekonomie  unterscheidet  Kau  dann  die  „wirthscha  ft  liehe  oder 
ökonomische  Politik“,  die  er  als  „den  wissenschaftlichen  Inbegriff  der  Grund- 
sätze für  das  Verfahren  der  Regierung  in  wirthschaftlichen  Angelegenheiten“  bezeichnet 


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Begriff  der  Politischen  Oekonomie. 


261 


(§.  131.  In  der  ökonomischen  Politik  trennt  er  dann  wieder  zwei  Theilc.  die  Volks- 
wi  rthsch  aftspolitik  (Wirthschafts-,  Gewerbepolizei),  d.  h.  den  Inbegriff  der  Grund- 
sätze für  den  die  Yclkswirthschaftspflege  bildenden  Zweig  der  Kegierungsth&tigkeit, 
und  die  Finanzwissenschaft,  Finanzpolitik,  die  ihm  also  als  Abtheilung  des 
practischen  Theils  zur  Politischen  Oekonomic  gehört  (I,  §.  16,  17). 

Koscher  (I.  §.  16)  „versteht  uuter  Nationalökonomik,  Volkswirthschaftslehre 
die  Lehre  von  den  Entwicklungsgesetzen  der  Yolkswirthschaft,  des  wirthschafUichen 
Volkslebens  (.Philosophie  der  Volkswirthschaftslehre  nach  v.  Mangoldt).“  Die  „Staats- 
w irthsc b af  tsleh re“,  formell  ein  Zweig  der  Politik,  fällt  ihm  materiell  nach  ihrem 
Gegenstand  fast  gänzlich  mit  dem  der  Nationalökonomik  zusammen.  Die  Finanz- 
wissenschaft gehört  ihm  ihrem  Zwecke  nach  zur  Politik,  ihren  Mitteln  nach  zur 
Nationalökonomik  (§.  17).  Kautz,  I,  2S8,  möchte  die  Wissenschaft  der  National- 
ökonomie als  eine  „Lehre  von  den  Grundlagen,  den  Mitteln  und  den  Entwicklungs- 
gesetzen der  Volkswohlfahrt“  bezeichnen. 

v.  Hermann  (Untersuchungen,  2.  A„  S.  67  ff.)  definirt,  nach  seiner  Trennung 
von  Technik  und  Oekonomik,  die  „Wirthschaftslehre  als  die  Grössenlehre  der  Güter“ 
und  fugt  hinzu:  „Die  Darlegung  der  Gesetze  uud  Kegeln,  nach  denen  die  quantitative 
Zurathehaltung  der  Güter  zu  möglichst  wirksamer  Befriedigung  der  Bedürfnisse  in 
einem  durch  das  Recht  geordneten  Gemeinwesen  erfolgt,  ist  die  Aufgabe  der  all- 
gemeinen Wirthschaftslehre,  der  Volkswirthschaftslehre  im  engeren  Sinne  (sic)“  (S.  68). 
Er  unterscheidet  dann  ein  Eingreifen  des  Staats  auf  dreierlei  Weise  in  die  Volks- 
wirtschaft, wobei  er  bei  N.  1 auf  die  Finanz-,  bei  N.  3 auf  die  Wirthschaftspolizei 
kommt  (S.  72  ff).  Die  „reine  Wirthschaftslehre  (die  Volkswirthschaftslehre)“  sammt 
der  Lehre  von  der  Wirthschaftspolizei  werde  in  der  deutschen  Litteratur  mit  dem 
gemeinsamen  Namen  Nationalökonomie  bezeichnet,  diese,  nebst  der  Lehre  von 
den  Finanzen  zusammen  von  den  englischen  Wirthschaftslehrern  „Politische  Oekonomic“ 
genannt.  Hermann  hat  an  dem  Namen  „Staats wirthschaft“  dafür  festgehalten, 
auch  noch  in  der  2.  Aufl.  (S.  79). 

v.  Mangoldt  (Grundriss,  2.  A„  von  Kleinwächter,  §.  7,  8,  10)  definirt  die  Volks- 
wirthschaftslehre als  „die  wissenschaftliche  Darstellung  der  der  Wirtschaft  der  Völker 
zu  Grunde  liegenden  Kräfte,  der  Richtungen,  in  denen  sie  sich  äussern,  der  Gesetze 
ihrer  Wirksamkeit  und  der  Bedingungen  ihres  Erfolgs“  (S.  9);  sie  erhebe  sich  zur 
Wissenschaft  „von  den  Entwicklungsgesetzen  der  Volkswirtschaft“  (S.  11).  Für  eine 
fernere  Zukunft  wird  von  einer  „Weltwirthschaftslehre“,  d.  h.  „einer  Philosophie  der 
wirtschaftlichen  Entwicklung  der  Menschheit  mit  Darlegung  der  den  verschiedenen 
Nationen  darin  einzuräumenden  Stelle“  gesprochen“  (S.  9).  Vgl.  auch  Kapitel  1 in 
v.  Mangoldt ’s  Volkswirthschaftslehre. 

Knies  kommt  in  seinen  eindringenden  Untersuchungen  nur  zu  einer  allgemeinen 
Kennzeichnung,  nicht  zu  einer  eigentlichen  knappen  Definition  der  Politischen  Oeko- 
nomie  als  Wissenschaft,  vielleicht  absichtlich  nicht  (2.  Aull.,  S.  1 ff.). 

Schäffle  giebt  in  der  2.  Auflage  seines  gesellschaftlichen  Systems  auch  keine 
eigentliche  Definition,  sondern  nur  Erörterungen  über  W'csen  und  Aufgabe  der  „Wissen- 
schaft von  der  menschlichen  Wirthschaft“,  die  als  „Volkswirthschaftslehre“,  „Na- 
tionalökonomie“, „allgemeine  W’irthschaftstehre“  auftreten  müsse  (S.  4).  Man 
könnte  aber  nach  den  dortigen  Ausführungen  und  auf  Grund  des  von  Schäffle  für 
sein  W'erk  gewählten  characteristischen  Titels  vielleicht  sagen,  dass  ihm  die  Politische 
Oekonomie  die  „Lehre  vom  gesellschaftlichen  System  der  menschlichen  Wirth- 
schaft“ sei.  In  der  3.  Aufl.  definirt  er  dagegen  ganz  kurz:  „Die  Nationalökonomie 
ist  die  Lehre  von  der  Erscheinung  des  wirthschaftli eben  Princips  in  der 
menschlichen  Gesellschaft“  (§.  26,  S.  46),  wogegen  ich  schon  in  der  2.  Aufl.  der  Grund- 
legung (S.  70,  Note  5)  bemerkte,  dass  die  Aufgabo  in  der  Darlegung  der  Verwirk- 
lichung dieses  Princips  in  der  Volkswirtschaft  liege  und  Schäffle’s  Definition  zu  weit 
sei.  weil  sie  ebenso  für  die  Wirthschafts-,  als  für  die  Volkswirthschaftslehre  passe.  Im 
3.  Bande  des  „socialen  Körpers“,  S.  234  ff  erörtert  Schäffle  die  Volkswirthschaft  als 
„realen  Stoffwechsel“  und  Begriff  und  Aufgabe  der  Nationalökonomie.  Er  will  letztere 
hier  zu  einer  „allgemeinen  Stoffwechsellehre“  erweitern;  ihr  Gegenstand  sei  „im 
engeren  Sinne  die  wirthschaftliche  Regelung  der  Stoffwechselvorgänge  an  der  Be- 
völkerung und  an  dem  Volksvermögeu , im  weiteren  Sinne  die  Gesammtheit  der  That- 
sachen  des  Socialstoffwechscls“,  eine  Lehre,  die  „nicht  bloss  die  wirthschaftliche  Ke- 


262  1.  B.  2.  K.  3.  H.-A.  System  etc.  1.  d.  Polit  Oekon.  als  Wisseasch.  §.  100,  101. 


gulirung  des  Socialstoffwechsels,  sondern  auch  alles  Zeit-,  Kaum-,  Geschäfts-,  Kunst-, 
Staats-  und  Geistesleben,  soweit  es  dem  Socialstofi  Wechsel  angehört,  gründlich  und 
methodisch  behandelt“.  Damit  käme  man  aber  doch  ins  Grenzenlose.  Die  Begrifls- 
bestimmung,  wenn  man  das  Gesagte  dafür  gelten  lässt,  ist  nur  im  Zusammenhang  mit  den 
ganzen  Ausführungen  Schäffle’s  und  mit  seiner  eigentümlichen  Terminologie  verständlich. 

Auch  v.  Scheel  (Schönberg’s  Handbuch,  3.  A.,  I,  69  ff.)  detinirt  nicht  eigent- 
lich, sondern  bezeichnet  nur  Aufgaben  und  Gegenstand.  — Neu  mann  ist  sich  nicht 
gleich  geblieben.  In  dem  älteren  Aufsatze  in  der  Tüb.  Ztschr.,  B.  2S  (1872)  wird 
nach  einer  kritischen  Erörterung  über  die  Aufgabe  der  Volkswirtschaftslehre  und 
Uber  die  Definitionen  Anderer  definirt:  „die  Lehre  von  den  Beziehungen  einzelner 
Wirtschaften  zu  einander  und  ihrem  Verhältniss  zum  Staate,  dem  sie  angehören“, 
oder  knapper  : „die  Lehre  vom  Verhalten  der  Einzelwirtschaften  zu  einander“  (S.  266). 
In  der  2.  Aufl  des  Schönberg’schen  Handbuchs  (I,  133)  lautet  die  Begritlsbestimmung 
(unter  ausdrücklichem  Ausschluss  der  Finanzwissenschaft  aus  der  Volkswirtschafts- 
lehre): „die  Lehre  von  dem  Wesen  der  wirtschaftlichen  Dinge,  insbesondere  der  in 
diesen  sich  vollziehenden  sog.  Gesetze,  von  den  Beziehungen  jener  Dinge  zum  ge- 
meinen Wohl  und  von  den  bezüglich  eben  derselben  zu  treffenden  Öffentlichen  Maass- 
nahmen“. S.  daselbst  die  Erläuterung  hierzu  und  Neumann’s  Schrift  „Grundlagen“. 

Zu  vergleichen  sind  noch  die  allgemeineren,  aber  nicht  zu  einer  eigentlichen 
Definition  gelangenden  hierher  gehörigen  Erörterungen  von  G.  Cohn,  System  I,  Einl. 
Kap.  1,2,  auch  3 passim.  — H.  Dietzel,  Uber  das  Verhältniss  der  Volkswirt- 
schaftslehre u.  s.  w.  (Diss.  1982),  S.  9 ff.  und  in  der  Tüb.  Ztschr.,  B.  39  (1893).  S.  1 ff, 
doch  auch  ohne  eigentliche  Definitionen.  — Kleinwächter  ^Conrad’s  Jahrb.,  B.  52. 
S.  604  ff.  607  ff.);  Definition  in  Verbindung  mit  den  Aufgaben  gebracht,  welche  Klein- 
w&chter  unterscheidet  und  wobei  er  sich  wesentlich  auf  die  von  mir  sogen,  theo- 
retischen Aufgaben  beschränkt.  — L.  Cossa  geht  vom  Begriff  ricchezze  aus  (elem., 
9.  ed.,  p.  7)  und  definirt  die  economia  politica  als  „dottrina  dcll’  ordine  6ociale  dellc 
ricchczze“;  ihre  Aufgabe  sei  eine  doppelte,  Natur  und  Ursache  der  ricchezze  sociale 
zu  erforschen  und  Grundsätze  für  die  ökonomische  Thätigkeit  der  öffentlichen  Gewalt 
zu  gewinnen.  Eingehender  jetzt  in  der  3.  cd.  der  introduzione  p.  11  ff. 
— Zahlreiche  sonstige  Definitionen  deutscher  und  fremder  Nationalökonomen 
sind  nicht  sowohl  Definitionen,  als  Angaben  über  die  Aufgaben  der  Dis- 
ciplin.  Manche  sprechen  gleich  und  allein  von  den  „Gesetzen“,  welche  zu  erforschen 
seien.  Auch  die  Theilc,  in  welchen  die  theoretische  Nationalökonomie  gewöhnlich 
zerlegt  wird , hat  man  öfters  gleich  in  die  Definition  gezogen.  So  hat  noch  jüngst 
M.  Block  (progrös  I,  70)  kurzweg  die  Politische  Oekonomie  als  eine  Wissenschaft 
und  als  eine  Kunst  bezeichnet,  als  erstere  erforsche  sie  die  Gesetze,  welche  Production, 
Verthcilung  und  Verbrauch  der  Güter  regeln,  als  letztere  suche  sie  nach  der  besten 
Art.  diese  Gesetze  zur  Befriedigung  unserer  wirthschaftlichen  Bedürfnisse  anzuwenden. 

Die  Mängel  aller  dieser  Definitionen,  Um-  und  Beschreibungen  möchte  ich  so 
wenig  läugnen,  als  Menger  cs  thut  und  auf  dessen  genannte  bezügliche  Ausführungen 
(bes.  Anh.  II  in  den  Untersuchungen)  mich  trotz  mehrfacher  Meinungsverschiedenheit 
vornemlich  hier  beziehen.  Ich  kann  ihm  namentlich  in  dem  Puncte  nicht  beistimmen, 
welchen  er  als  hauptsächlichen  Mangel  der  meisten  Begriffsbestimmungen  der  theo- 
retischen Nationalökonomie  bezeichnet  (S.  239),  dass  sie  nemlich  den  formalen  Ge- 
sichtspunct,  unter  welchem  das  wissenschaftliche  Object  betrachtet  werden  solle,  nicht 
genau  angäben.  Einmal  übersieht  er,  dass  viele  Definitionen  nicht  spccicil  für  die 
theoretische,  sondern  für  die  ganze  Politische  Oekonomie  im  Allgemeinen  von  den 
betreffenden  Autoren  aufgestcllt  werden,  was  diese  eben  für  zulässig,  ja  nothwondig 
halten ; sodann  möchte  ich  ihm  gegenüber  festhalten , dass  dies  auch  meine  Meinung 
ist;  und  endlich  kann  ich  überhaupt  nicht  einräumen,  dass  Menger  hier  mit  der  For- 
derung, jener  formale  Gesichtspunct  müsse  in  der  Definition  selbst  hervor- 
gehoben werden,  durchaus  im  Rechte  ist.  Meine  eigene  obige  Definition  bat  diesen 
Gesichtspunct  allerdings  schon  deswegen  weggclassen . weil  sie  eben  eine  allgemeine 
für  dio  ganze  Politische  Oekonomie  sein  sollte.  Aber  in  die  Definition  gehört  er 
in.  E.  überhaupt  deswegen  nicht,  weil  er  sich  auf  die  Aufgabe  einer  Wissenschaft 
bezieht.  Mir  scheint  es  richtiger,  nur  nach  dem  genügend  genau  bezeichnten 
Object  die  Wissenschaft  selbst  zu  definiren , nicht  mit  nach  der  Aufgabe.  Ich  be- 
schränke mich  also  auf  das  zweite,  bezw.  das  erste  und  zweite  der  Momente,  welche 
Menger  als  für  die  Definition  einer  Wissenschaft  nothwendig  ansioht. 


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Begriff,  Name  der  Politischen  Oekonomie. 


263 


Menger  hat  in  seinen  Untersuchungen  (S.  7 lf.,  252  tf.)  für  die  Wirtschafts- 
wissenschaft — als  „die  Uesamintheit  der  auf  die  menschliche  Wirtschaft  bezüglichen 
Wissenschaften“  — entsprechend  den  drei  Hauptaufgaben,  welche  der  menschliche 
Geist  bei  der  Erforschung  der  Wirthschaftsphänomenc  sich  zu  stellen  vermöge,  drei 
grosse  Gruppen  unterschieden:  die  historischen,  die  theoretischen,  die  practischen 
(wie  allgemein  schon  von  Mangoldt  im  Grundriss.  §.8:  historische,  dogmatische, 
practiscbe).  Die  ersten  hätten  „das  individuelle  Wesen  und  den  individuellen  Zu- 
sammenhang der  wirtschaftlichen  Erscheinungen  zu  erforschen  und  darzustellen“ 
(Statistik  und  Geschichte  der  menschlichen  Wirthschaft);  d.  h.  hier  handelt  es  sich 
um  unsere  erste  Aufgabe  (§.  59),  teilweise  wohl  auch  um  unsere  dritte  (§.  61).  Die 
theoretischen  Wissenschaften  hätten  „das  generelle  Wesen  und  den  generellen  Zu- 
sammenhang der  wirtschaftlichen  Erscheinungen  zu  erforschen  und  darzustellen“; 
sie  bildeten  in  ihrer  Gesammthcit  die  Theorie  der  Volkswirtschaft;  d.  li.  hier  liegt 
unsere  zweite  Aufgabe  vor  (§.  60).  Die  practischen  Wissenschaften  endlich  sollen 
„die  Grundsätze  lehren,  nach  welchen  die  wirtschaftlichen  Absichten  der  Menschen 
(je  nach  Maassgabe  der  Verhältnisse)  am  Zweckmässigsten  erreicht  zu  werden  ver- 
mögen“ (Volkswirthschaftspolitik,  als  „Wissenschaft  von  den  Grundsätzen  zur  zweck- 
mässigen Förderung  der  Volkswirtschaft  Seitens  der  öffentlichen  Gewalten“,  dann 
praetischc  Singularwirthschaftslehre,  die  wie  schon  bemerkt  fS.  258],  in  die  Finanz- 
wissenschaft und  in  die  practiscbe  Privatwirthschaftslchre  von  Mengcr  geteilt  wird). 
In  dem  späteren  Aufsatze  in  Conrads  Jahrbüchern  (B.  53,  S.  477)  wird  noch  etwas 
anders  systematisirt  in  4 Theile,  (1)  die  historischen  Wissenschaften  von  dor  Volks- 
wirtschaft ( Wirtschaftsstatistik  und  Wirtschaftsgeschichte),  (2)  die  Morphologie  der 
Wirthschaftserscheinungen  (Classification  und  Darstellung  des  generellen  Wesens). 
(;t)  Theorie  derselben.  (4)  practiscbe  oder  angewandte  Wissenschaften.  Ich  beziehe 
mich  dem  Allen  gegenüber  auf  den  früheren  Abschnitt  von  den  Aufgaben  (§.  57  ff.) 
und  auf  meine  eigene  Systematisirung  in  §.  102  u.  ff. 

B.  — §.101.  Name  der  Wissenschaft  Auch  nicht 
einmal  dieser  steht  für  unsere  üisciplin  allgemein  und  unbestritten 
fest,  wenn  auch  der  Name  „Politische  Oekonomie “ der  bei 
den  Culturvölkern  eingebürgerte  ist  und  eben  deswegen  Anspruch  auf 
Anerkennung  hat,  trotzdem  er  kein  besonders  passender  ist. 
Jedenfalls  empfiehlt  sich  aber  gerade  für  eine  „internationale“ 
Wissenschaft  wie  die  unsere  ein  dem  neutralen,  ausserhalb  der 
Nationalitätseifersucht  liegenden  Wortschatz  der  alten  classischen 
Sprachen  entnommener  Name,  wie  „Politische  Oekonomie“,  weil 
allein  ein  solcher  allgemeinen  Curs  in  der  Culturwelt  haben  kann, 
was  immer  sehr  erwünscht  ist.  Kann  man  sich  daher  nicht  mit 
Wahrscheinlichkeit  des  practischen  Erfolgs  auf  einen  anderen, 
sachlich  passenderen  Ausdrucks  dieses  Ursprungs  einigen,  so  würde 
die  unbedingte  Beibehaltung  des  Namens  „Politische  Oekonomie“, 
der  bei  den  drei  anderen  leitenden  Culturvölkern  auch  der  üblichste, 
ja  hier  fast  allein  vorkommende  ist  und  bei  den  übrigen  Völkern 
gleichfalls  meistens  gebraucht  wird,  das  Beste  sein.  Jedenfalls 
verdient  dieser  Ausdruck  wenigstens  als  Name  für  die  ganze 
Disciplin  den  Vorzug  vor  einem  bloss  nationalen , wie  unserem 
„Volks  wirthschaft  sieh  re“,  einem  an  sich  ohnehin  nicht 
eben  schön  gebildeten  Worte,  oder  gar  wie  „ Staats wirth- 
scha fts lehre“,  welcher  Name  auch  sachlich  unangemessen  ist. 


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264  1.  B.  2.  K.  3.  H.-A.  System  etc.  1.  A.  Polit.  Üekon.  als  Wissenschaft.  §.  101. 

Eher  kann  man  den  erstgenannten  (Volkswirtschaftslehre)  dann 
in  Verbindung  mit  Adjectiven  zur  Bezeichnung  einzelner  Theile 
des  Systems  verwenden,  obwohl  auch  hier  ein  wirklich  geeigneter 
Name  antiken  Ursprungs  vorzuziehen  wäre.  Der  besonders  in 
Deutschland  eingebürgerte  Name  „Nationalökonomie“  erfüllt 
letztere  Anforderung,  aber  möchte  noch  weniger  passend  als 
„Politische  Oekonomie“  sein.  Der  dem  angedeuteten  Bedürfnis 
entsprechende  und  sachlich  angemessenste  Name  für  die  ganze 
Disciplin  und  mit  adjectivischen  Zusätzen  für  die  ersten  drei 
Haupttheile  des  Systems  ist  der  hier  und  da  von  einzelnen  Autoren 
schon  länger  gebrauchte,  aber  noch  nicht  allgemein  üblich  ge- 
wordene, wenn  auch  in  sichtbarer  Ausdehnung  begriffene:  Social- 
ökonomie oder,  allerdings  correcter  (S.  83)  Socialökonomik. 

Vgl.  Uber  die  Terminologie  Kau,  I,  3,  9,  16,  17  in  den  Noten,  Roscher,  I, 
§.  16,  Noten,  Kautz.  1,  285,  Ncumann,  Tüb.  stat.  Ztschr..  1872,  B.  28,  S.  257  ff. 
in  den  Noten,  Menger,  Untersuch.  Anhang  IV.  Cossa,  iutriduzione,  3.  ed.  p.  60  ff. 

Ueber  das  Wort  „Oekonomie“  (Oekonomik)  in  den  genannten  antiken  Aus- 
drücken besteht  keine  Meinungsverschiedenheit.  Es  ist  sprachgebräuchlich  durchaus 
geeignet  und  auch  für  sich  unserer  „Wirthschaftslehre“  vorzuziehen.  Allerdings  ist 
aber  bei  uns  die  populäre  Bezeichnung  von  gewissen  Landwirthschaftsbetrieben  als 
„Oekonomie“  ein  misslicher  Punct,  weil  er  im  grossen  Publikum  wohl  zu  Miss- 
verständnissen nicht  immer  unbedenklicher  Art  (daher  auch  für  die  Vertreter  der  Dis- 
ciplin) geführt  hat  und  mitunter  noch  führt. 

Der  Ausdruck  „Politische“  Oekonomie  ist  deswegen  zu  beanstanden,  weil 
er  nach  dem  antiken  wie  modernen  Sprachgebrauch  betreffs  des  Worts  „politisch“ 
dem  Namen  von  vornherein  einen  gewissen  tendenziösen  Sinn  geben  kann  und  auch 
oft  gegeben  hat,  so  namentlich  auch  auf  die  Beziehung  des  Staats  zur  Oekonomie 
und  Oekonomik  zu  sehr  hinweist.  Aber  die  allgemeine  Verbreitung  und  die  Ein- 
bürgerung bei  den  Culturvölkern  seit  200  Jahren  (öconomie  politiquo,  economia  poli- 
tica,  political  economy)  fällt  doch  für  den  Namen  schwer  ins  Gewicht,  der  dadurch 
auch  als  angenommener  wissenschaftlicher  Terminus  seine  mögliche  tendenziöse  Neben- 
bedeutung thatsäcldich  fast  ganz  verloren  hat.  Historisch  wird  er  in  der  Wissenschaft 
auf  den  französischen  Autor  Montchreticn  de  Watteville  zurückgeführt,  der  im 
Jahre  1615  ein  Werk  unter  diesem  Namen,  wesentlich  über  practische  Wirthschafts- 
lehre, erscheinen  liess:  traitö  deconomie  politique  (Rouen).  Er  ist  vielleicht  aber, 
wie  K.  Menger  wahrscheinlich  macht  (Unters.,  S.  10),  nicht  einmal  aus  einem  prin- 
cipiellen  Grunde  zur  Wahl  dieses  Namens  gelangt,  so  dass  Roscher’s  Bemerkung, 
der  Titel  allein  wäre  damals  ein  grosses  wissenschaftliches  Verdienst  gewesen  (Gesch. 
der  Nationalökonomio,  S.  1S5,  Note  2)  unzutreffend  wäre.  — Statt  „politische“  Oeko- 
nomie wird  mitunter  in  verschiedenen  Sprachen  im  gleichen  Sinne  auch  das  Wort 
„öffentliche“,  ital.  pubblica,  engl,  public  gebraucht,  zugleich  mehr  im  Sinne  unseres 
„Staatswirthschaft“  und  wie  dieses  dann  auch  wohl  die  Finanzwirthschaft  bezeichnend. 
Die  Briten,  immer  nach  Kürze  strebend,  brauchen  neuerdings  (Marsh all  u.  A.) 
für  political  economy  wohl  auch  das  eine  Wort  „cconomics“,  was  aber  eben  doch 
den  Fehler  hat,  zu  eindeutig  zu  sein. 

Besonders  in  Deutschland  hat  sich  fast  inehr  als  Politische  Oekonomie  der 
Name  Nationalökonomie  für  unsere  Wissenschaft  eingebürgert,  für  die  ganze  und 
mit  Adjectiven  (theoretische,  practische,  allgemeine,  specielle  u.  dgl.)  für  die  Haupttheile. 
Unbekannt  ist  er  auch  im  Auslände  nicht  durchaus  (ital.  ec.  nazionale)  und,  wie  es 
scheint,  von  Einzelner,  (in  England  von  Ferguson  1767,  in  Italien  von  Ortes  1774) 
früher  als  bei  uns  gebraucht,  wo  er  seit  Beginn  dieses  Jahrhunderts  der  übliche  Ausdruck  in 
der  Facblitteratur  und  neben  „Cameral Wissenschaft“  wird,  dieses  Wort  allmälig  ver- 
drängend (bis  auf  die  nationalökonomischen  Professuren  als  amtlich  solche  der 


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Nauie  der  Politischen  Oekonomie. 


265 


„Staats-  und  Cameralwissenschaften“  und  bis  auf  unsere  stud.  jur.  et  cam  und  stud. 
cam.),  ja  im  Sprachgebrauch  unserer  Universitäten  für  das  betreilende  Fach  fast  allein 
zur  Herrschaft  kommt  und  darin  geblieben  ist.  Allein  der  Ausdtuck  ist  bei  dem  mit 
dem  Worte  „Nation“,  „national“  einmal  sprachgebräuchiich  sonst  verbundenen, 
eigenen  engen  Sinne  noch  weniger  passend  als  „ Volks wirthschaftsleh re“,  wo  das  Wort 
„Volk“  wenigstens  dieses  Bedenken  nicht  bietet.  Man  würde  eher  unter  National- 
ökonomie verstehe»  können,  was  List  mit  „nationales“  System  der  „Politischen  Oeko- 
nomie“ meint.  Der  Ausdruck  ist  so  zu  eng,  wie  es  etwa  der  analoge  „kosmopolitische“ 
Oekonomie  in  entgegengesetzter  Richtung  wäre.  „Politische“  Oekonomie  ist  da  immer 
noch  vorzuziehen.  Und  in  Wörtern  fremden,  antiken  Ursprungs  brauchten  dann  doch 
die  einzelnen  modernen  Culturvölker  vollends  nicht  einem  besonderen  Sprachgebrauch 
zu  huldigen. 

Das  Wort  Volkswirtschaftslehre  ist  einfach  im  Anschluss  an  das  ein- 
gebürgerte Wort  „Volkswirtschaft“  gebildet  und  zuerst  mehr  in  der  Littcratur, 
neuerdings  auch  im  allgemeinen  Sprachgebrauch  üblich  geworden.  Eine  gewisse 
Neigung  zu  einheimischen  deutschen  Ausdrücken,  wenn  sich  geeignete  fänden,  statt 
fremder,  kam  dem  wohl  zu  statten.  Allein  so  sehr  man  das  ja  sonst  billigen  mag, 
gegenüber  den  concurrirendon  Wörtern  aus  dem  antiken  Sprachschatz  ist  eine  solche 
Neigung  doch  überhaupt  weniger  berechtigt  und  aus  den  schon  angedeuteten  Gründen 
grade  für  die  Wissenschaften,  wofür  jener  W'ortschatz  so  allgemein  und  auch  aus 
historischen  Gründen  die  regelmässig  und  international  gebräuchlichen  Namen  ge- 
liefert hat,  nicht  am  Platze.  Sprachpuristischc  Bestrebungen  auf  diesem  Gebiete  sind 
ja  auch  wenigstens  bei  den  leitenden  Cultumationen  glücklicher  Weise  nicht  üblich 
ln  Deutschland  wird  das  Wort  „Volkswirtschaftslehre“  jetzt  wohl  meistens  ganz 
gleichbedeutend  mit  Nationalökonomie , Politischer  Oekonomie  gebraucht.  Einzelne, 
so  Rau  (S.  2C0)  haben  damit  aber  speciell  den  ersten  theoretischen  Theil  der  Dis- 
ciplin  bezeichnet,  wofür  Rau  auch  das  Wort  „Nationalökonomie“  anwendet.  Diese 
Beschränkung  ist  jedoch  willkührlich  und  sprachlich  kaum  haltbar.  — Vollends  eine 
hässliche  Wortmissbildung  ist  „Volkswirth“  für  die  fachmännischen  Vertreter  oder 
Liebhaber  (Dilettanten)  der  „Volkswirtschaftslehre“,  eine  besonders  wohl  durch  den 
volkswirtschaftlichen  Congress  und  die  öffentliche  Presse  bei  uns  aufgekommeno 
logisch  monströse  Bezeichnung  („Schenkwirt“ , „Bierwirth“,  „Volkswirth"  u.  s.  w. !). 
Hier  möchten  doch  wirklich  Worte  wie  „Oekonomist“,  „Nationolökonom“ , „Social- 
ökonom“ den  Vorzug  verdienen.  Der  mit  Vorliebe  in  socialistischen  wissenschaftlichen 
Kreisen  gebrauchte  Ausdruck  „Oekonom“,  „Uekonomen“  („bürgerliche  Oekonomen“) 
gehört  zu  dem  Inventar  in  Deutschland  ungebräuchlicher  Kunstausdrücke,  mit  denen 
uns  die  Marx’sche  Richtung  ohnehin  mehr  als  nötig  beglückt  hat,  immer  mit  einer 
gewissen  Tendenz,  dem  deutschen  Sprachgefühl  Nachgiebigkeit  gegen  „höheres  West- 
europäisches“ unnöthiger  Weise  zuzumuthen. 

In  der  ersten  Hälfte  unseres  Jahrhunderts  ist  der  schon  im  vorigen  (so  von 
Justi)  gebrauchte  Name  „Staatswirthschaft“  für  Volkswirtschaft,  „Staats- 
wi  rth  s chaf  tsl  eh  re“  für  Volkswirtschaftslehre  oder  Politische  Oekonomie  häufiger, 
wenn  auch  niemals  allgemeiner  angewendet  worden.  Durch  v.  Hermanns  cias- 
sisches  Werk  ragt  er  in  diesem  Sinne  bis  in  unsere  Zeit  hinein,  und  Hermann  hat 
bis  zuletzt  geglaubt,  ihn  festhaltcn  zu  sollen  (Untersuch.,  2.  A.,  S.  77,  s.  o.  S.  2(jl). 
Der  Ausdruck  unterliegt  aber  mit  Recht  nach  seinem  Wortsinn  doch  überwiegenden 
Bedenken.  So  noch  im  höheren  Maasse  dem  gegen  „Politische“  Oekonomie  bestehen- 
den und  noch  speciell  dem , dass  er  für  die  Finan/.wirthschaftslehre  oder  Finanz- 
wissenschaft eher  als  für  die  Volkswirtschaftslehre  passen  würde  und  auch  gelegent- 
lich dafür  gebraucht  worden  ist.  Jetzt  wird  er  bei  uns  auch  nur  selten  noch  in  dem 
Hermann’schen  Sinne  beuutzt.  Ein  neueres  Beispiel  ist  E.  Sax’  Grundlegung  der 
theoretischen  Staatswirthschaft,  worunter  hier  indessen  nicht  die  Volkswirtschaft, 
auch  nicht  die  Finanzwirthschaft,  sondern  wesentlich  die  Gemeinwirthschaftslehre  ver- 
standen wird.  Dafür  ist  aber  der  Ausdruck  auch  nicht  recht  geeignet.  Im  Ausland 
finden  sich  analoge  Ausdrücke  selten  oder  gar  nicht.  (Roscher  erwähnt  Gavards 
princ.  d’öcon.  d’ötat,  17S6).  Doch  ist  neuerdings  in  Italien  der  Ausdruck  economia 
dei  popoli  e degli  stati  von  Lampertico  gebraucht  worden. 

Allen  diesen  Ausdrücken  würde  ich  den  der  „Socialökonomie“  vorziehen, 
welcher  in  Frankreich  nicht  feiten  ist  (iconomie  sociale),  auch  in  Deutschland  neuer- 


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266  1.  B.  2.  K.  3.  H.-A.  System  etc.  2.  A.  Systorn  d.  Pol.  Oek.  §.  101,  102 


dings  öfters  gebraucht  wird  (Dilhring  u.  A.  in.),  in  Italien  von  L.  Cossa  nunmehr 
gewählt  wurde  (economia  sociale),  auch  in  anderen  Sprachen,  bczw.  Ländern  vorkommt 
(social  economy)  und  jedenfalls  allen  Culturvölkern  leicht  verständlich  und  mund- 
gerecht ist  Er  ist  auch  kein  tendenziöser,  wie  vielleicht  hier  und  da  eingewandt 
wird,  und,  wenn  auch  etwa  wegen  der  sprachlichen  Verwandtschaft  mit  „socialistisch“ 
da  und  dort  etwas  beargwöhnt,  doch  bei  der  Einbürgerung  des  specifischen  Sinns 
des  Worts  socialistisch  keinem  derartigen  Einwand  im  Ernst  ausgesetzt.  Er  bezeichnet 
vielmehr  das,  was  neben  dem  „Oekonoinischcn“  das  Wesentliche  in  der  Disciplin  ist, 
das  gesellschaftliche,  „sociale“  Moment  und  entspricht  der  Anforderung,  den 
alten  Sprachen,  noch  dazu  beiden  classischen.  zu  entstammen  sich  so  dem  Sprach- 
schatz der  romanischen  Völker  und  der  Engländer  gut  einzufügen,  aber  auch  bei  uns 
und  den  Slawen  leicht  sich  einbürgern  zu  können.  Nicht  im  Sinuc  von  Social- 
ökonomie oder  Politischer  Oekonomie  hat  H.  Dietzel  neuerdings  den  Ausdruck 
„Socialwirthschaftslehre“  gebraucht  (Diss.,  1882,  S.  10,  Tüb.  Zeitschr.  1882). 
Er  will  diese  grade  von  der  Volkswirtschaftslehre  unterscheiden  und  zwar  nach  der 
Methode,  indem  er  für  sie  Deduction  und  absolute  Lösungen,  für  letztere  Induction 
und  relative  Lösungen  fordert.  Ganz  abgesehen  von  den  principiellen  Bedenken  hier- 
gegen möchte  die  neue  Wortbildung  grade  zur  Bezeichnung  dessen,  was  Dietzel  vor- 
schwebt, nicht  geeignet  sein. 

Nur  vereinzelt  sind  in  Deutschland  und  anderen  Ländern  noch  andere  Namen 
für  dio  Disciplin  benutzt  worden,  ohne  eino  Verbreitung  zu  erreichen,  z.  B. 
Nationalwirthschaftslebre,  Volkshaushaltskunde,  Güterlehre,  Volksgüterlehre,  economia 
civile  (u.  A.  Genovesi),  auch  zu  enge,  halb -tendenziöse  Namen,  Plutologie  (He- 
arnc),  Katallaktik  (Tauschlehre,  Whately),  u.  A.  m.  (s.  Kau,  I,  §.4,  Note),  Lehre 
oder  Theorie  vom  Volks-  oder  öffentlichen  Reichtum,  Vermögen,  vom  wealth  of 
nations,  wie  in  A.  Smith ’s  berühmtem  Werke,  richesse  sociale.  Und  an  Bezeich- 
nungen, welche  das  Gebiet  der  Disciplin  durch  Heraushebung  einzelner  Momente 
characterisiren  und  danach  etwa  den  Büchertitel  richten,  hat  es  auch  sonst  nicht  ge- 
fehlt. Alles  das  deutet  darauf  hin,  dass  die  üblichsten  Bezeichnungen  den  Autoren 
nicht  immer  als  die  geeigneten  erscheinen  und  — dass  eben  in  dieser  , jungen  Dis- 
ciplin“  noch  Vieles  gährt. 

Es  giobt  wichtigere  und  interessantere  Dinge  als  diese  Fragen  vom  Namen  einer 
Wissenschaft.  Aber  so  ganz  gleichmütig  sind  sie  nicht.  Sie  berühren  sich  doch  mit  tieferen 
Principienfragen.  Eben  deswegen  sind  sie  hier  etwas  eingehender  behandelt  worden. 

2.  Abschnitt. 

System  der  Politischen  Oekonomie. 

I.  — §.  102.  Bisherige  Entwicklung  des  Systems1). 
Bei  einem  solchen  System  handelt  es  sich  um  zweierlei,  einmal 
um  die  Haupteintheilung  der  ganzen  Wissenschaft  sei  es  in  Stoff- 
gruppen, sei  cs  — eventuell  zugleich  mit  für  diese  Stoffgruppen  — 
in  Gruppen  von  Problemen  und  Aufgaben,  nach  verschiedenen 
dafür  aufzustellenden  Gesichtspuncten ; sodann  um  die  weitere 
Eintheilung  jedes  dergestalt  gebildeten  llaupttheils. 

Hier  haben  wir  es  namentlich  nur  mit  jener  ersten  Haupteintheilung  zu  thun, 
dio  zweite  wird  nur,  soweit  es  der  Zusammenhang  mit  sich  bringt  und  erforderlich 
für  die  Frage  der  Haupteintheilung  ist,  berührt  (vgl.  §.  104).  Das  Nähere  und 
Einzelne  darüber  gehört  in  die  betreifenden  Theilo  dieses  Gesammtwerks. 

Die  bisherige  Entwicklung  unserer  Wissenschaft  war  in  Bezug 
auf  die  Haupteintheilung  im  Ganzen  in  Deutschland  anders  als 
bei  den  leitenden  übrigen  Culturvölkern,  welche  uns  in  der  Aus- 

*)  Das  Nähere  hierüber  gehört  in  die  nationalökonomische  Litteraturgeschichtc. 
Aber  die  Hauptpuuctc  der  Entwicklung  müssen  hier  hervorgehoben  werden. 


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Bisherige  Entwicklung  des  Systems. 


267 


bilduDg  der  Politischen  Oekonomie  als  einer  eigenen  Wissenschaft 
voran  gegangen  sind.  Erst  neuerdings  beginut,  wie  schon  länger 
in  der  Wissenschaft  derjenigen  Völker,  welche  unmittelbarer  von 
der  deutschen  Wissenschaft  abhängig  war  und  ist  (Osteuropa),  so 
jetzt  auch  bei  den  anderen  Hauptvölkern,  den  Italienern,  Franzosen, 
Briten,  Nordamerikanern  eine  Systeraisirung  der  Disciplin,  welche 
sich  der  deutschen  mehr  nähert  und  auch  von  hier  aus  beeinflusst 
worden  ist.  Aber  noch  ist  doch  die  deutsche  Wissenschaft  des 
Fachs  hier  in  der  Entwicklung  des  Systems  erheblich  voran  und 
zeigt  manche  bemerkenswerthe  Abweichungen  von  der  Behand- 
lungsweise im  Ausland. 

In  Deutschland  wird  seit  längerer,  in  der  Hauptsache  schon 
seit  der  Zeit,  wo  an  die  Stelle  der  alten  Cameralwissenschaft  die 
ausländische,  namentlich  britische  Oekonomik  getreten  war  und 
selbständiger  fortgebildet  wurde,  ein  System  üblich,  welches 
im  Wesentlichen  auf  eine  Dreitheilung  hinaus  kam.  Dieselbe 
wurde  übrigens  selbst  wieder  nicht  immer  in  derselben  Weise  in 
Bezug  auf  das  Verhältnis  der  drei  Theile  zu  einander  durchge- 
tührt.  Unter  verschiedenen  Namen  unterschied  man  einen  vor- 
nemlich  theoretischen  — auch  wohl  „allgemeiner“  ge- 
nannten — , einen  practischen  — ähnlich  „speciellen“  — 
Haupttheil  und  als  einen  dritten  solchen  die  Finanz  Wissen- 
schaft. Wie  die  Namen  und  die  Abscheidung  im  Einzelnen, 
besonders  zwischen  dem  ersten  und  zweiten  Theil,  so  sind  aber 
auch  die  Eintheilungsgesichtspuncte  und  Kriterien  wenigstens 
partiell  verschieden  gewesen. 

Mancherlei  Umstände  haben  zu  diesem  System  geführt.  Einmal  nachwirkende 
Traditionen  der  Cameralwissenschaft,  namentlich  das  Bedürfnis«,  practische 
ökonomische  Lehren  derselben,  welche  nicht  ganz  in  die  Privatökonomik  Ubergcgangen 
waren,  nicht  völlig  fallen  zu  lassen,  sondern  sie  in  die  neue  „Politische  Oekonomie“ 
herüber  zu  nehmen.  Hier  passen  sie  in  das  aus  dem  Ausland,  besonders  aus  Eng- 
land übernommene  System  nicht  recht  hinein,  weswegen  man  ihnen  in  einem  practischen 
Theil  der  neuen  Fachwissenschaft  einen  Platz  gab  und  sie  hier  nun , verbunden  mit 
den  neuen  Lehren,  weiterbildete.  Sodann  hat  wohl  das  Bodürfniss  des  akade- 
mischen Unterrichts  zu  dieser  Entwicklung  des  Svstems  beigetragen  und  dies 
macht  sich  noch  gegenwärtig  in  dieser  Richtung  geltend.  Weiter  möchte  die  deutsche 
wissenschaftliche  Neigung  und  Befähigung  zur  systematischen  Aus- 
bildung der  Wissenschaften  Überhaupt  auch  hier  mitgewirkt  haben  und  endlich, 
vielleicht  am  meisten,  hat  die  deutsche  wirtschaftliche  Praxis  unserer  Staaten 
gerade  dem  Staate  und  seiner  Gesetzgebung  und  Verwaltung  besondere  Aufgaben  auf 
wirthschaftlichem  Gebiete  nach  unserer  ganzen  historischen  Entwicklung  gestellt,  was 
fortdauernd,  auch  im  Zeitalter  des  theoretischen  und  praktischen  „ökonomischen 
Individualismus  und  Liberalismus“  nachgewirkt  und  auch  auf  die  Politische  Oekonomie 
als  Wissenschaft,  wie  auf  alle  Staatswissenschaft  seinen  Einfluss  ausgeübt  hat  und 
beständig  noch  ausübt. 

Unter  den  deutschen  Systematikern  des  Fachs  hat  wohl  Rau  durch  sein  be- 
rühmtes „Lchibuch  der  Politischen  Oekonomie“,  wenn  auch  an  camcralistische 


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268  1.  B.  2.  K.  3.  H.-A.  System  etc.  2.  A.  System  d.  Polit.  Oekon.  §.  102. 


Traditionen  und  an  Vorgänger  anknüpfend,  sowie  von  Zeitgenossen  begleitet,  welche 
unabhängig  von  ihm  wie  ihm  folgend  ähnliche  Wege  gingen,  den  grössten  Einfluss 
auf  jene  Drcithcilung  des  Systems  ausgeübt.  Dass  dieselbe  bei  ihm  etwas  anders  und 
kaum  in  dieser  Weise,  auch  wenn  man  seine  Eintheilungsgrundsätzc  sonst  billigt, 
ganz  richtig  vorgenommen  war  — nämlich  eigentlich  in  zwei  Haupttheile  und  der 
zweite  praktische  weiter  in  zwei  Theile  (I  und  II,  a und  b,  s.  S.  260)  — hat  diese 
Bedeutung  Rau's  für  die  Einthcilung  nicht  vermindert  (s.  u.  §.  103).  Im  akademischen 
Unterricht,  namentlich  in  Süddeutschland,  wo  das  eigene  cameralistische  Studium 
oder  die  Einrichtung  auch  des  juristischen  Studiengangs  und  der  Prüfungen . im 
Unterschied  leider  besonders  zu  Preussen,  zu  eiuem  intensiveren  Betrieb  der  Poli- 
tischen Oekonomie  führte,  neuerdings  aber  allgemeiner,  jetzt  allmälig  auch  in  Preussen  und 
Oesterreich,  hat  sich  diese  Dreitheilung  fest  eingebürgert.  Alsdann  hat  auch  wieder 
diese  Einrichtung  des  Unterrichts  auf  die  systematische  Behandlung  der  Disciplin 
rückgewirkt.  Ihr  entsprechen  die  drei  nationalökonomischen  Hauptcollegien,  an  welche 
sich  dann  die  Specialvorlesungen  ergänzend  anschliessen. 

Nicht  ohne  Einfluss  war  auch  die  übliche  Aufnahme  der  „Wirthscbafts- 
polizei“  in  die  sogen.  Polizeiwissenschaft.  Diese  Wirthschaftspolizei  fiel  im 
Stoff,  wenn  auch  nicht  durchaus  in  der  Auffassung,  Behandlung  und  den  leitenden 
Gesichtspuncten , mit  der  ..praktischen  Nationalökonomie“  oder  „Volkswirthschafts- 
politik“  grossentheils  zusammen.  Je  mehr  nun  die  ältere  Polizeiwissenschaft,  ähnlich 
wie  ihre  Schwester,  die  Cameralwissenschaft,  veraltete  und  sich  zur  Inneren  Ver- 
waltungslehre entwickelte,  was  dann  freilich  erst  endgiltig  noch  nicht  R.  v.  Mo  hl, 
sondern  L.  Stein  herbeigeführt  hat,  desto  mehr  erschien  nun  auch  der  Inhalt  der 
praktischen  Nationalökonomie  und  Wirthschaftspolizei  als  „wirtschaftliche  Vcr- 
waltungslchre“  und  damit  als  ein  Theil  dieser  Inneren  Verwaltungslehre. 
Trat  dann  auch  in  diesem  Theil  mehr  der  Character  einer  Staats-  und  selbst,  wie 
im  eigentlichen  Verwaltungsrecht  derjenige  einer  Rechtswissenschaft,  nicht  einer 
Wirtschaftswissenschaft  hervor,  so  dass  dieso  „wirtschaftliche  Verwaltungslehre“ 
nicht  ohne  Weiteres  die  Volkswirthschaftspolitik  ersetzen  konnte,  so  wirkt  doch  die 
Behandlung  desselben  Stoffs,  derselben  „Fragen“  vom  staats-  und  rechtswisscnschaft- 
lichen  Standpuncto  aus  auf  die  Behandlung  in  der  Politischen  Oekonomie  ein.  Die 
schärfere  Trennung  des  theoretischen  und  praktischen  Theils  der  letzteren  war  die 
Folge  davon. 

Allerdings  ist  auch  in  der  deutschen  systematischen  Litteratur  die  Dreitheilung 
nicht  allgemein  angenommen  und  namentlich  nicht  immer  streng  und  gleichmässig 
durchgeführt  worden.  So  nicht  in  kleineren,  in  populären  Schriften.  Aber  auch 
die  grösseren  Fachwerkc  haben  sie  nicht  alle  streng  festgehalten,  insbesondere 
Einzelnes  aus  der  praktischen  Nationalökonomie,  aus  der  Finanzwissenschaft,  mehr 
in  der  Weise  des  Auslands,  in  die  „allgemeine“,  die  „theoretische“  hincingezogen, 
oder  anhangsweise  behandelt.  So  z.  B.  Schäffle  im  gesellschaftlichen  System. 
Auch  das  grosse  Werk  von  Roscher  und  das  Schönberg’sche  Handbuch  haben 
die  übliche  Dreitheilung  nicht  genau  aufgenommen,  wenn  sie  auch  immerhin  sich  ihr 
nähern.  Roscher  s 1 . Band,  die  „Grundlagen  der  Nationalökonomie“,  entspricht  einiger- 
inaassen  dem  „theoretischen“  Theil,  wenn  auch  mit  mancherlei  Hineinziehung  von  Stoff 
und  Gesichtspuncten  aus  dem  practischen,  die  Bände  2 und  3 enthalten  in  der  Haupt- 
sache diese  letztere,  der  4.  Band  die  Finanzwissenschaft.  Im  Schönberg’schen  Hand- 
buch stellt  der  1.  Band  im  Grossen  und  Ganzen  die  „theoretische“  Nationalökonomie 
dar,  der  zweite  die  „practische“,  der  dritte  die  Finanzwissenschaft  (nebst  Innerer 
Verwaltungslehre,  welche  mindestens  einen  besonderen  Band  bilden  sollte).  Aber  im 
ersten  Bande  befinden  sich  zum  Theil  sehr  umfangreiche  Abhandlungen  über  Maass 
und  Gewicht,  Geld-  und  Münzwesen,  Credit  und  Bankwesen,  Transport-  und  Cominuni- 
cationswescn , welche  ihrem  Inhalt  nach,  soweit  sie  auf  Practisches  eingehen  (daher 
besonders  Münzwesen,  Bankwesen,  Verkehrsmittel),  in  die  practische  Nationalökonomio 
gehörten,  demnach  in  B.  2,  ebenso  wie  die  hier  stehende  Abh.  Versicherungswesen. 
In  den  ersten  theoretischen  Band  gehörte  nur  die  Theorie  des  Geldes,  Credits, 
Verkehrswesens.  Allerdings  führen  beide  Bände  den  einfachen  gemeinsamen  Namen 
„Volkwirthschaftslehre“,  ohne  dass  weiter  zwischen  theoretischer  und  practischer 
Nationalökonomie  unterschieden  wird.  Die  Vertheilung  der  Materien  scheint  der 
Tübinger  akademischen  Gewohnheit  zu  entsprechen  und  wird  auch  principiell,  so  von 
Neu  mann  gebilligt,  m.  E.  mit  Unrecht,  wie  ich  unten  zeigen  werde. 


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Bisherige  Entwicklung  des  Systems. 


269 


In  der  ausländischen,  speciell  in  der  britischen,  fran- 
zösischen, auch  italienischen  Literatur  ist  dagegen,  auch  hier  alten 
Traditionen  gemäss,  in  der  Regel  eine  „theoretische“  und  „prac- 
tische“,  eine  „allgemeine“  und  „specielle“  Politische  Oekonomie 
nicht  getrennt  und  gewöhnlich  auch  nicht  einmal  eine  eigene 
Finanzwissenschaft  ausgeschieden  worden. 

Die  Werke  über  Politische  Oekonomie  sind  im  Wesentlichen  das,  was  in  Deutsch- 
land unter  „theoretischer“  oder  „allgemeiner*  Nationalökonomie  verstanden  wird,  doch 
mit  der  Hereinziebung  einzelner  Gegenstände  der  practischen,  so  besonders  aus  dem 
Geld-  und  Bankwesen,  der  Handelspolitik,  der  Arbeiterfrage,  dem  Armenwesen  u.  A.  m., 
Materien,  die  mit  „theoretischen“  Fragen  näher  Zusammenhängen,  seltener  aus  der 
Gewerbe-  und  Agrarpolitik.  Auch  die  Behandlung  solcher  Gegenstände  bleibt  aber 
aphoristisch  und  dient  mehr  nur  als  Beispiel  und  zur  Beweisführung  oder  bildet 
Excurse.  Auch  den  Fiuanzen,  Steuern,  Staatsschulden  hat  man  eine  ähnliche 
Behandlung,  unter  Heraushebung  einzelner  Gegenstände,  zu  Thcil  werden  lassen. 
Doch  findet  sich  nicht  selten  für  die  Finanzen  der  Anfang  einer  knappen  systema- 
tischen Behandlung  des  ganzen  Gebiets,  dann  etwa  am  Schluss  des  Werks  über 
Politische  Oekonomie  oder  als  Anhang,  wofür  die  Behandlungswcise  von  A.  Smith  in 
der  englischen  Litteratur  bis  heute  maassgebend  geblieben  ist  (meine  Finanzwiss.  I. 
3.  A.,  §.  25). 

Die  Werke  der  deutschen  wie  vielfach  auch  der  fremden 
Literatur  Uber  Politische  Oekonomie,  insbesondere  in  dem  etwa 
ausgeschiedenen  theoretischen  Theile,  schicken  gewöhnlich  in  der 
Form  einer  „Einleitung“  einige  Ausführungen  allgemeiner  Art, 
über  Grandbegriffe,  über  Begriff,  Wesen,  Aufgabe,  Methode  der 
Disciplin,  über  die  in  diesem  3.  Hauptabschnitte  hier  von  uns  be- 
handelten Gegenstände,  mitunter  auch  literargeschichtliche  Abrisse 
voraus.  Bisweilen  wird  in  diesen  „Einleitungen“  auch  auf  weitere 
allgemeinere  Principienfragen,  wie  Uber  wirtschaftliche  Psychologie, 
freie  Concurrenz,  Freiheit  und  Unfreiheit,  Rechts-,  besonders  Eigen- 
thumsordnung, Organisation  der  Volkswirtschaft,  Verhältniss  von 
Volkswirtschaft  und  Staat  zu  einander,  u.  dgl.  m.  wenigstens 
kurz  und  aphoristisch,  aber  in  principieller  Erörterung  einzugehen 
begonnen.  Dadurch  entwickelt  sich  aus  der  „Einleitung“  eine 
„Grundlegung“,  ein  grundlegender  Theil  des  ganzen  Systems, 
welcher  freilich  bisher  auch  in  der  deutschen  Literatur  in  den 
Werken  der  systematischen  Nationalökonomie  noch  nicht  allgemein 
zu  der  ihm  u.  E.  gebührenden  Ausdehnung  und  Bedeutung  gelangt 
ist,  wenn  auch  ein  Streben  in  dieser  Richtung  immer  deutlicher 
wird.  Wohl  aber  liegen  monographische  bezügliche  Vorarbeiten 
schon  länger  vor. 

Vgl.  die  Angaben  betreffs  verschiedener  hervorragender  Systematiker  oben  in 
§.  98.  Aus  der  2.  Aufl.  der  v.  Herman n’schen  staatswirthschaftlichen  Unter- 
suchungen gehört  als  Beispiel  dieser  Hinübeibildnng  der  „Einleitung“  in  die  „Grund- 
legung“, die  erste  Abh.  „Grundlegung“  (S.  1 — 77)  hierher;  aus  Schäffle’s  gesell- 
schaftlichem System  in  der  zweiten  Aufl.  die  Einleitung,  aber  auch  Manches  im 


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270  1.  B.  2.  K.  3.  H.-A.  System  etc.  2.  A.  System  d.  Polit.  Oekon.  §.  102,  103. 


zweiten  und  besonders  in  den  ersten  Theilen  des  dritten  Abschnitts  (Grundelemente 
aller  Wirthschaft , gesellschaftlicher  Organismus  menschlicher  Wirthschaft).  In  der 
dritten  Auflage  dieses  Werks  wird  das  erste  Buch  auch  „Grundlegung“  genannt,  aber 
Vieles  dann  in  eine  solche  Hineingehörige  findet  sich  noch  in  den  folgenden  Büchern 
zerstreut,  v.  Mangoldt's  grössere  Volkswirtschaftslehre  enthält  in  den  ersten 
Kapiteln  „Grundlegendes“;  das  ganze  tüchtige  Werk  kommt  aber  überhaupt,  zumal 
in  der  ersten  Hälfte  bereits  auf  eine  Art  selbständiger  Grundlegung  hinaus.  In 
besonderem  Maasse  gilt  das  von  Knies'  politischer  Ockonomie  und  von  Kautz’ 
1.  Bande  seiner  Nationalökonomik,  welche  beide  Werke  am  Passendsten  den  Namen 
einer  systematischen  „Grundlegung“  führen  würden.  Auch  G.  Schinoller’s  „Grund- 
fragen“ stellen  zwar  keine  systematische,  aber  doch  eine  Art  „Grundlegung“  dar. 
Aus  neuester  Zeit  ist  das  grosso  Werk  von  E.  Sax  zu  nennen,  das  doch  mehr 
als  eine  Grundlegung  bloss  der  von  ihm  sog.  „Staatswirthscbaft“  giebt.  Besonders 
Knies  hat  am  Meisten,  wenn  auch  nicht  sofort,  so  doch  später  auf  die  allmäligc 
Erweiterung  und  Ausbildung  der  üblichen  „Einleitungen“  zu  einer  „Grundlegung“ 
hingewirkt,  wenn  die  letztere  auch  von  den  meisten  Systematikern,  zum  Theil  wohl 
schon  aus  äusseren  Gründen,  Raumrücksichten  u.  dgl.,  in  knappem  Umfang  gehalten 
wird  und  nicht  alle  zu  ihr  gehörigen  Erörterungen  aus  anderen  Abschnitten  der 
Werke  in  sie  hinein  gezogen  werden,  wie  es  in.  E.  geschehen  sollte.  Vgl.  z.  B.  die 
Bchandlungsweiso  von  G.  Cohn,  der  nach  einein  „Ueberblick  (S.  1 — 22)  die  oben 
(S.  253)  erwähnte  „Einleitung“  (S.  23 — 212)  bringt,  dann  aber  im  zweiten  Haupt- 
abschnitt seines  „Systems  der  Wirthschaft“  unter  dem  Titel  „Gestaltung  des  Wirt- 
schaftslebens“ (S.  356 — 452)  Ausführungen  giebt,  welche  nach  meiner  Terminologie 
als  „grundlegende“  zu  bezeichnen  und  in  den  mit  diesem  Namen  zu  belegenden  Tbeil 
des  Systems,  in  Verbindung  mit  der  Einleitung,  aufzuuehmen  wären.  Cohn 
nennt  übrigens  den  ganzen  1.  Band  seines  Systems  „Grundlegung“  der  National- 
ökonomie. Der  Inhalt  umfasst  auch  die  üblich  so  genannte  „theoretische“  Nationalökono- 
mie mit.  Im  1.  Bande  des  Schöuberg'schen  Handbuchs  wird  das  ganze  Werk  mit 
Schön berg’s  eigner  Abh.  „Volkswirtschaft“  (Wesen,  Wirthscliaftsstufen  in  der 
Geschichte  der  Volkswirtschaft , moderne  Volkswirtschaft)  eingeleitet,  woran  sich 
dann  die  Abhandlungen  „Die  Politische  Oekonomie  als  Wissenschaft“  und  „Socialismus 
und  Communismus“,  beide  von  v.  Scheel,  und  Uber  „wirtschaftliche Gruudbegrilfe“  von 
Neu  mann  anschlicssen.  Die  Bevölkerungslehre  von  Rümelin  steht  aber  ganz  am 
Schluss  des  Bandes  und  eine  Abh.  über  Rechtsordnung  und  Organisation  fehlt  überhaupt. 

Die  ausländische  Litteratur  hat  sich  früher  auch  meistens  auf  kurze  „Ein- 
leitungen“ beschränkt,  welche  auch  nicht  alle  die  Gegenstände  der  üblichen  deutschen 
Einleitungen  behandelt  haben.  Soweit  sic  sonst  auf  grundlegende  Principienfragen 
überhaupt  eingegangen  ist,  wie  freie  Concurrenz,  Eigenthumsordnung,  finden  sich 
bezügliche  Erörterungen  aber  meistens  in  späteren  Abschnitten,  in  Verbindung  mit 
den  Fragen  der  Production,  der  Vertheilung,  wie  ähnlich  in  Deutschland  auch  bei 
Roscher  (Unfreiheit  und  Freiheit,  Gütergemeinschaft  und  Frivateigenthum  im  ersten 
Buche  von  der  Production).  Der  hervorragendste,  nicht  nur  britische,  sondern  aus- 
ländische Systematiker  in  der  Mitte  unseres  Jalwhunderts,  J.  St.  Mill.  der  in  seinem 
mit  Recht  berühmten  Werke  doch  bereits  „Grundsätze  der  Politischen  Oekonomie“  mit 
einigen  Anwendungen  auf  die  „Gesellschaftswissenschaft“  geben  will,  schickt  nur 
eine  dürftige  allgemein  gehaltene  Einleitung  voraus,  eröffnet  dann,  das  zweite  Buch 
(Vertheilung)  mit  Kapiteln  vom  Eigenthum  und  kommt  hier  in  weiteren  Kapiteln  auf 
Concurrenz  und  Herkommen,  Sclaverei  und  in  Verbindung  hiermit  auf  ländliche 
Eigenthnms-  und  Betriebsverhältnisse  zu  sprechen.  Im  5.  Buche  behandelt  er  die 
Beziehungen  des  Staats  (der  Regierung)  zur  Volkswirtschaft,  mitten  dazwischen  aber 
die  Lehre  von  den  Steuern  nnd  den  Staatsschulden.  Sonst  ist  aus  früherer  Zeit  für 
richtige  „grundlegende“  Erörterunge,  wenn  auch  nicht  in  einem  eigenen  Theil  des 
Werks,  der  immer  noch  besonders  beachtenswerten  Schriften  Sismondi’s  zu  ge- 
denken. — Neuerdings  wächst  sich  aber  auch  in  der  fremden  systematischen  Litteratur 
die  „Einleitung“  zu  einer  Art  Grundlegung“  aus,  so  z.  B.  in  MarshaH’s  Werk 
(B.  1),  wenn  darin  auch  noch  Manches  fehlt  und  an  einer  anderen,  nicht  immer 
passenden  Stelle  (die  Bevölkerungslehre  noch  in  der  Lehre  von  der  Production  bei 
der  Erörterung  über  supply  of  labour)  behandelt  wird;  in  Nordamerika  in  Ely’s 
introduction  (part  1.) 


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Das  System  selbst. 


271 


Unbefriedigend  ist  meistens  die  Stellung  der  Bcvölkerungslehre  in  den 
Systemen  geblieben,  z.  B.  bei  Koscher  als  3.  (letztes)  Buch  seines  1.  Bandes,  bei 
Schönberg  desgleichen,  bei  anderen  in  der  Lehre  von  der  Production,  und  hier 
als  blosser  Theil  der  Lehre  vom  Productionsfactor  Arbeit. 

Auf  dem  Gedanken,  die  „Einleitung“  der  „theoretischen  Nationalökonomie“  zur 
einen  wahren  „Grundlegung“  zu  erweitern  und  systematisch  zu  entwickeln,  indem  die 
eigentlichen  allgemeinen  und  principiellen  Hauptpunctc  zusammenhängend  behandelt 
und  alles  Bezügliche  aus  den  „ausführenden“  Theilen  herausgenommen  würde,  beruhto 
auch  mein  Versuch  schon  in  der  ersten  und  noch  mehr  entwickelt  in  der  zweiten  Auf- 
lage dieses  Werks,  hier  unter  dem  demgemäss  gewählten  Titel:  „allgemeine  oder 
theoretische  Volkswirtschaftslehre,  erster  Theil  Grundlegung  (Grundlagen  der  Volks- 
wirtschaft. Volkswirtschaft  und  Recht,  besonders  Vermögensrecht)“.  Allein  hier 
fehlte  in  diesem  Bande  noch  der  ganze  Inhalt  dieses  1.  Buchs  in  dieser  3.  Auflage, 
Gegenstände,  welche  erst  am  Schluss,  im  2.  Bande  der  Grundlegung,  neben  einem 
litterargeschichtlicheu  Abschnitt  kommen  sollten,  jedoch  an  den  Beginn  der 
„Grundlegung“  gehört  hätten,  wohin  ieh  sie  nunmehr  in  dieser  neuen  Auflage  ge- 
stellt habe.  Und  gar  nicht  in  Aussicht  genommen  für  die  Grundlegung  war  eine 
eigene  zusammenhängende  Behandlung  der  Bevölkerungslehre,  wie  ich  sie  eben- 
falls erst  jetzt  aufgenommen  habe.  Erst  so  wird  die  Grundlegung  nach  Umfang  und 
Inhalt  das,  was  sie  sein  soll,  wird  dann  aber  m.  E.  auch  besser  aus  dem  „theoretischen” 
Theil  des  Systems  ganz  herausgenommen  und  zu  einem  selbständigen  eigenen, 
für  alles  Weitere  in  der  That  „den  Grund  legenden“  Theil  erhoben,  wie  ich  es  jetzt 
thue.  Die  Ausscheidung  der  Littcraturgeschichtc , für  die  allerdings  auch  äussere 
Gründe  (s.  o.  S.  2)  für  mich  mit  bestimmend  waren,  ist  doch  auch  sachlich  zu  recht- 
fertigen.  Denn  in  der  That  gehört  die  Litteraturgeschichte  als  solche  nicht  in 
die  Grundlegung,  wenn  auch  Zweckmässigkeitsgründe  für  eine  nähere  Verbindung 
mit  ihr  sprechen  können. 

II.  — §.  103.  Das  System  selbst.  A.  Bildung  des 
Systems.  (Haupteintheilung).  Die  im  vorigen  §.102  dargelegte 
Entwicklung  des  Systems  derDisciplin  speciell  in  Deutschland  ist  wohl 
die  richtige,  daher  die  Eintkeilung  in  vier  Haupttheile,  von  denen  die 
drei  letzten  wieder  zusammen  als  die  „ausfuhrenden“  im  Unter- 
schied zum  ersten  als  dem  „grundlegenden“  bezeichnet  werden 
dürfen,  woran  sich  dann  als  ein  fünfter  die  Literaturgeschichte  an- 
schliessen  kann.  Der  grundlegende  und  der  erste  ausführende 
Theil  haben  aber  wieder  vorwiegend  theoretischen,  die  beiden 
anderen  ausführenden  Theile  vorwiegend  practischen  Character 
und  stehen  sich  dadurch  unter  einander  näher.  Auch  sind  jene 
beiden  ihren  Gegenständen  nach  mehr  allgemeinen,  diese 
beiden  mehr  sp ec i eilen  Inhalts.  Andrerseits  ist  die  „Grund- 
legung“ wieder  allen  „ausführenden“  Theilen  gegenüber  eine  „all- 
gemeine“ Lehre,  das  Wort  „allgemein“  in  noch  prägnanterem 
Sinne  gewonnen. 

Allerdings  „theoretischen“  und  „practischen“  Cbaracters  sind  ja  Theil  1 und  2 
und  Theil  3 und  4 nicht  in  dem  Sinno,  dass  in  den  beiden  ersten  nur  die  früher 
besprochenen  theoretischen,  in  den  beiden  letzten  nur  die  practischen  Aufgaben  der 
Disciplin  (§.  57  ff.)  zu  behandeln  wären.  Im  Gcgcntheil,  alle  diese  Aufgaben  liegen 
in  allen  vier  Theilen  vor,  wenn  auch  nicht  immer  in  gleichem  Maasse.  Vielmehr  in 
dem  Sinne,  dass  in  den  beiden  letzten  Theilen  die  practischen,  in  den  beiden  ersten  die 
theoretischen  Aufgaben  vor  wiegen  und  auch  in  diesen  mehr  als  in  den  beiden 
ersten  u nmittel  barer  der  Praxis  des  Wirtschaftslebens  vorgearboitet  sind.  Dies  auch. 


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272  1 B.  2.  K.  3.  H.-A.  System  etc.  2.  A.  System  d.  Polit.  Oekon.  §.  103. 


weil  erst  hier  auf  die  speciellcren  Einzelfragen  näher  eingegangen  und  durch 
bezügliche  Erörterungen  sich  den  concreten  Aufgaben  der  Praxis  mehr  genähert 
wird.  Auch  in  diesem  Sinne  dürfen  daher  die  ersten  beiden  Theile  auch  wohl  als 
allgemeine,  die  beiden  letzten  als  speciellc  Politische  Oekonomie  bezeichnet 
werden,  wenngleich  in  jedem  Theil  stets  allgemeinere  und  spcciellerc  Erörterungen 
und  Abschnitte  Vorkommen,  wie  K.  M enger  mit  Recht  hervorgehoben,  aber  mit  Un- 
recht zu  einem  Grunde  der  Ablehnung  von  solchen  Bezeichnungen  für  die  Haopt- 
theile  des  Systems  gemacht  hat  ^Untersuch.,  S.  246  IT.,  Conrads  Jalirb.,  B.  53,  S.  474). 
Die  Bezeichnung:  theoretischer  oder  specieller  Theil  bedeutet  nicht,  dass  diese  beiden 
Worte  dasselbe  ausdrücken  sollen,  sondern  dass  es  sich  um  zwei  Uesichtspuncte 
(theoretisch  und  practisch)  und  zwei  Inhalte  und  Behandlungswciscn  (all- 
gemein und  spcciell)  handelt.  Die  letzteren  und  jene  Gcsichtspuncte  stehen  in  ge- 
wisser Beziehung  zu  einander,  aber  bedeuten  nicht  dasselbe.  Um  Missverständnisse 
der  Art  zu  vermeiden,  wird  man  besser  sagen:  theoretischer  und  allgemeiner  und 
practischer  und  specieller  Theil  statt  „oder“.  Die  „Grundlegung“  ist  dann  allerdings 
wieder  noch  in  einem  etwas  anderen  Sinne  ein  „allgemeiner“  Theil,  insofern  sie 
für  das  ganze  System  das  gemeinsame  Fundament  legen  soll. 

Die  vier  Theile  des  Systems  sind  sich  ferner  nicht  genau 
coordinirt.  Die  drei  ausfuhrenden  sind  vielmehr  dem  grund- 
legenden nur  als  Ganzes  coordinirt,  die  einzelnen  Theile  dann 
wieder  Glieder  dieses  Ganzen.  Auch  diese  Glieder  sind  sich  aber 
nicht  alle  coordinirt,  sondern  das  sind  nur  der  erste  und  zweite 
(in  der  ganzen  Reihe  der  zweite  und  dritte)  Theil,  während  der 
dritte  (bzw.  der  vierte),  die  Finanz  Wissenschaft,  eher  beiden  als 
subordinirt  erscheint,  im  Sinne  eines  Theils,  worin  eine  speciellere 
Ausführung  bezüglich  einer  besonders  eigenthümlichen  Einzelwirth- 
schaft,  deren  Functionen  von  grosser  Bedeutung  für  die  ganze 
Volkswirthschaft  sind,  erfolgt  Es  ist  für  das  Verständniss  des 
Systems  und  für  Manches,  was  aus  der  Systematik  folgt,  nicht 
unwichtig,  sich  hierüber  klar  zu  sein. 

Indem  man  daher  für  die  nähere  Bezeichnung  der  einzelnen  Theile  des  Systems 
Adjcctiva  wie  „theoretisch“,  „practisch“,  „allgemein“,  „spcciell“  gebraucht,  muss 
man  sich  über  den  Sinn  dieser  Worte  verständigen.  Hier  werden  sie  in  dem  an- 
gedeuteten Sinne  genommen.  Ob  man  der  Einteilung  des  Systems  eine  schärfere 
principiellc  Unterscheidung,  so  die  von  K.  Menger  verlangte,  zu  Grunde  legen  soll, 
ist  eine  Frage,  auf  welche  wir  alsbald  zurückkommen.  Ich  möchte  sie  doch  ver- 
neinen, wenn  ich  auch  den  Gesichtspunctcn  Menger’s  eine  gewisse  Berechtigung  nicht 
absprechc.  Sie  haben  m.  E.  nur  nicht  die  Tragweite  für  die  Bildung  des  ganzen 
Systems,  der  oben  (S.  266)  sogenannten  „Haupteintheilung“ , welche  ihr  Menger  bei- 
legt, sondern  nur  eine  Bedeutung  für  die  Scheidung  der  Aufgaben  in  jedem  Theil 
des  Systems. 

„Kunstlehren“  (im  Sinne  K.  Menger’s)  sind  die  einzelnen  Theile  des  Systems 
der  Politischen  Oekonomie,  soweit  sic  sich  mit  den  drei  practischen  Aufgaben,  vor 
Allem  mit  der  sechsten  (§.  57,  62,  64)  befassen.  Da  dies  nun  u.  E.  in  allen  Thcilen 
mehr  oder  weniger  geschieht,  auch  iin  grundlegenden  und  im  theoretischen  aus- 
führenden  immerhin  etwas,  so  kann  man  auch  nicht  unbedingt  diesen  Charactcr  der 
Kunstlchre  zum  durchgreifenden  Kritcrion  machen.  Dies  um  so  weniger,  da  in 
allen  Thcilen,  auch  in  dem  zweiten  und  dritten  ausfuhrenden  (practische  National- 
ökonomie und  Fiuanzwisscnschaft)  die  theoretischen  Aufgaben  (§.  57,  58  fT.)  ebenfalls 
vorliegen.  Man  kann  nur  wieder  sagen,  der  C<haracter  als  Kunstlchre  tritt  in  der 
practischen  Nationalökonomie  und  Finanzwissenschaft,  besonders  weil  es  sich  hier 
wieder  um  speciellere  Erörterungen  über  Einzelfragen  handelt,  erheblich  schärfer 


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Das  System  selbst. 


273 


hervor.  Das  würde  cs  rechtfertigen,  zu  sagen,  dieso  beiden  Theile  seien  in  beson- 
derem Maasse  Kunstlohrcn.  Aber,  um  bedenkliche  Irrthümer  und  Missverständ- 
nisse zu  verhüten,  müsste  man  sich  immer  ausdrücken:  in  besonderem  Maasse  auch 
Kunstlohrcn,  ncmlich  keineswegs  dies  allein,  weil  sie  ausserdem  eben  auch  mit  den 
theoretischen  Aufgaben  der  ganzen  Disciplin  zu  tliun  haben.  Eben  deswegen 
kann  ich  auf  die  Meuger’sche  Bezeichnung  als  „Kunstlehren“  für  die  beiden  ge- 
nannten Theile  auch  nicht  zur  principicllcn.  wie  er  will,  sondern  nur  zur  gra- 
duellen Unterscheidung  von  den  anderen  Thcilen  Werth  legen,  damit  aber  freilich 
überhaupt  weniger  Werth,  als  er  cs  thut,  ohno  sie  für  unrichtig  zu  halten. 


Hiernach  ergiebt  sich  folgendes  Schema  für  die  Eintheilung 
oder  das  System  der  Politischen  Oekonomie: 

I.  Grundlegung  oder  grund- 
legender Theil,  zugleich  allge- 
meiner Theil  im  umfassendsten  Sinne 
des  Worts. 

II.  Ausführung  oder  ausfüh- 
rende Theile,  zugleich  zusammen 
ßpecielle  Theile  im  Unterschied 
zum  ersten  „allgemeinen“  Theil. 

A.  Theoretische  Nationalöko- 
nomie (\*lkswirthschaftslehrc). 


I.  und  II.,  A. 

Theoretische  Theile  und  all- 
gemeine Theile  (in  diesem 
Sinne,  nämlich  als  vor- 
wiegend dieses  Charac- 
ters). 


11.  Practische  Nationalöko- 
nomie. 

C.  (aber  A und  B subordinirt 
im  Vcrhältniss  dieser  allge- 
meineren Theile  zu  dem  spe- 
cielleren)  Finanzwissen- 
schaft. 


II.  II  und  C. 

Practische  und  spccielle 
Theile  (wiederum  in  diesem 
Sinne,  als  vorwiegend 
dieses  Characters);  zugleich 
in  besonderem  Maasse 
aueb  Kunstlehren. 


Sieht  man  von  der  Angabe  des  Verhältnisses  der  Coordination 
und  Subordination  der  einzelnen  Theile  ab,  so  ergiebt  sich  eine 
Eintheilung  in  vier  Haupttheile  oder  Hauptabtheilungen  in  der 
Reihenfolge  des  Schemas,  woran  sieh  dann  als  fünfte  die  Litteratur- 
geschichte  der  Politischen  Oekonomie  anreihte.  Diese  Hauptein- 
theilung  ist  jetzt  diesem  Werk  zu  Grunde  gelegt  worden  (S.  2,  3). 

B.  — §.  104.  Begründung  und  Durchführung  dieses 
Systems.  Dieses  System  stimmt  im  Ganzen  mit  dem  in  der 
neueren  deutschen  Wissenschaft  entwickelten  und  auch  mit  dem 
Menger’schen  überein,  nur  dass  es  den  grundlegenden  Theil  heraus- 
hebt, weiter  ausbildet  und  ihn,  nach  der  nunmehr  in  diesem  Werke 
festgehalteuen  Behandlung,  als  das  gemeinsame  Fundament  der 
anderen  Theile  hinstellt.  In  der  principiellcn  Begründung  und 
etwas  auch  in  der  Durchführung  der  Scheidung  der  einzelnen 

A.  Wagnor,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlagen.  IS 


274  1.  B.  2.  K.  3.  H.-A.  System  ctc.  2.  A.  System  d.  Polit.  Oekon.  §.  104. 

Theile  weicht  dieses  System  dagegen  von  der  üblichen  deutschen 
und  mehr  noch  von  der  Menger’schen  ab.  Im  Uebrigen  sind  für 
uns  auch  nicht  nur  principielle  Gründe,  sondern  besonders  auch 
Erwägungen  der  Zweckmässigkeit  für  diese  Systematik  mit  maass- 
gebend. 

In  die  „Grundlegung“  sind  alle  diejenigen  Lehren  und 
Fragen  gezogen  worden,  welche  das  Ganze  der  Wissenschaft  der 
Politischen  Oekonomie  als  solches  betreffen  und  als  eigentliche 
allgemeine  Principienfragen  einer  principiellen  Be- 
handlung bedürfen,  aber  auch  zugänglich  sind.  Wir  sehen  als 
derartige  Lehren  und  Fragen  einmal  diejenigen  oben  (S.  69)  schon 
genannten  an,  welche  sich  auf  die  Gegenstände  dieses  ersten 
Buchs,  auf  die  wirthschaftliche  Natur  des  Menschen,  auf  die  Motive 
des  wirtschaftlichen  Handelns,  auf  die  Aufgaben,  die  Methoden, 
das  System  u.  s.  w.  der  Politischen  Oekonomie  beziehen,  sodann 
diejenigen,  welche  die  elementaren  Grundbegriffe  der  Disciplin,  die 
allgemeinen  Grundverhältnisse  von  Wirtschaft  und  Volkswirt- 
schaft, die  principiellen  Beziehungen  zwischen  Bevölkerung  und 
Volkswirtschaft,  die  Principien  der  Organisation  der  Volkswirt- 
schaft die  principielle  Bedeutung  des  Staats  für,  sowie  seine 
Stellung  in  der  Volkswirtschaft,  endlich  die  grossen  Principien- 
fragen der  Rechtsordnung,  persönliche  Unfreiheit  und  Freiheit, 
Vermögens-,  insbesondere  Eigentumsrecht  und  damit  weiter  Zu- 
sammenhängendes betreffen. 

Nach  der  Natur  der  einzelnen  Gegenstände  und  nach  Zweckmässigkeitsgründen 
wird  das  Eine  knapper,  das  Andere  eingehender  behandelt  werden  können,  wobei 
subjectivc  Ansichten  und  Umstände  (Neigungen,  Studien)  allerdings  mitspielen  werden. 
Wie  früher  bemerkt  (S.  2),  soll  in  dieser  3.  Auflage  die  „Grundlegung“  in  zwei  Theile 
(Bände)  zerfallen,  von  denen  der  zweite  ganz  den  Fragen  der  Rechtsordnung  („Volks- 
wirtschaft und  Recht,  besonders  Vermögensrecht  oder  Freiheit  und  Eigenthum  in 
volkswirtschaftlicher  Betrachtung“)  gewidmet  sein  und  nach  der  dort  darzulcgendcn 
Systematik  diesen  Gegenstand  behandeln  wird,  während  im  ersten  Theile  alle  die 
anderen  eben  genannten  Lehren  und  Fragen  unter  dem  Gesammtuamen  „Grundlagen 
der  Volkswirtschaft“  zusninmengcfasst  werden. 

In  der  „Ausführung“,  den  „ausführenden“  Theilen 
des  Systems  sind  dann  alle  übrigen  Lehren  und  Fragen  der  Poli- 
tischen Oekonomie  zu  behandeln.  Dieselben  stellen  doch  sammt 
und  sonders  gegenüber  den  grossen  allgemeinen  Principienfragen 
der  „Grundlegung“  theils  nur  Principienfragen  zweiter  Ordnung, 
theils  überhaupt  nicht  immer  mehr  Principienfragen  dar  und  er- 
scheinen auch,  wie  schon  bemerkt,  in  ihrer  Gesammtheit,  diejenigen 
der  sogen,  theoretischen  Nationalökonomie  inbegriffen,  als  die 


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Begründung  und  Durchführung  des  Systems. 


275 


specielleren , welche  sich  an  die  allgemeineren  der  Grundlegung 
als  deren  weitere  Specialisirung  anknüpfen. 

Die  Trennung  zwischen  „Grundlegung“  und  „Ausführung“  wird  in  Einzel- 
heiten immer  wieder  etwas  vom  subjectivcn  Ermessen  abhängen  und  eine  völlige 
Uebereinstimmuug  darüber  nicht  leicht  erzielt  werden.  Darauf  kommt  es  aber  auch 
nicht  an.  lieber  das,  was  hauptsächlich  in  die  eine  oder  andere  Abtheilung  ge- 
hört, wird  man  sich  doch  unschwer  verständigen.  Diese  Frage  liegt  auch  einfacher, 
ist  weniger  principieller  Natur  , als  wenigstens  nach  der  Ansicht  Einzelner,  wie  Karl 
Menger's,  diejenige  der  Trennung  zwischen  theoretischer  und  practischer  National- 
ökonomie im  ausführenden  Theil.  Nach  den  Aufgaben,  auch  nicht  nach  den  zwei 
principiell  verschiedenen  Katogorieen  derselben,  den  theoretischen  und  practischen 
(§.  57),  ist  die  Trennung  zwischen  Grundlegung  und  Ausführung  überhaupt  nicht  vor- 
zunehmen. Auch  in  der  Grundlegung  handelt  cs  sich  um  Aufgaben  beider  Kategorieen, 
nur  eben  mehr  in  genereller,  principieller,  wie  in  der  Ausführung  mehr  in  specieller, 
insofern  practischer  Weise  und  die  sechste  Aufgabe  wird  auch  im  Ganzen  in  der 
Grundlegung  zurücktreten,  obwohl  ebenfalls  nicht  verschwinden. 

In  der  „ Ausführung ‘‘  schliessen  wir  uns  nun  der  üblichen 
Dreitheilung  in  theoretische  (allgemeine),  practische  (specielle) 
Nationalökonomie  und  Finanzwissenschaft  an,  indem  wir  nur  das 
Coordinations-  und  Subordinationsverbältniss  dieser  Theile  zu  ein- 
ander in  der  angegebenen  Weise  (S.  272)  auffassen.  Die  princi- 
pielle  Hauptfrage  der  Systematik  ist  hier  dann  die  Trennung 
zwischen  der  theoretischen  und  practischen  Nationalökonomie,  eine 
in  der  That  schwierigere  Frage,  als  diejenige  der  Trennung 
zwischen  dem  grundlegenden  und  den  ausfübrenden  Tbeilen  des 
Systems.  Denn  hier  fragt  sich  vor  Allem,  ob  und  wie  weit  jene 
Trennung  überhaupt  principieller  Natur  oder  doch  nur 
oder  wenigstens  mit  durch  ZweckmässigkeitserwHgungen 
bestimmt  und  daher  nur  oder  zugleich  mit  gradueller,  quanti- 
tativer Natur  ist.  Im  Ganzen  neigen  wir  uns  zu  letzterer  Auf- 
fassung. 

Die  ältere  deutsche  Systematik,  einigermaasseu  auch  noch  Kau  (s.  o.  §.  102),  ist 
wohl  von  dem  Gedanken  ausgegangen,  in  der  theoretischen  Nationalökonomie  mehr 
nur  eine  Art  Naturlehre  der  auf  dem  menschlichen  Triebleben  sich  auf  bauenden 
Volkswirtschaft  zu  geben , „wo  die  Volkswirtschaft  als  etwas  vor  der  Ein- 
wirkung der  Kegierung  Bestehendes  vorausgesetzt  wird“  (Kau.  I,  13,  9),  „wo 
man  die  mannigfaltigsten  Gestaltungen  der  wirtschaftlichen  Verhältnisse  auf  un- 
wandelbare Gesetze  zurückzuführen  sucht  und  das  Besondere  hauptsächlich  wegen 
des  in  ihm  sich  bekundenden  Allgemeinen  beachtet“  (Kau,  I,  §.  13a).  Diese  An- 
sicht kommt  doch  im  Ganzen  darauf  hinaus,  in  diesem  theoretischen  Theil  die  Volks- 
wirtschaft „ohne  Kücksicht  auf  den  Staat,  wohl  gar  vor  Entstehung  des  Staats“, 
wie  Koscher  sagt,  zu  betrachten,  womit  man  aber,  wie  er  mit  Kecht  einwendet, 
auf  ein  Gebiet  gelangt,  „welches  kaum  recht  denkbar,  wahrscheinlich  ganz  unmöglich 
und  jedenfalls  der  Erfahrung  unzugänglich  ist“  (Koscher.  I,  §.  17).  Trotzdem  wird 
dabei  aber  der  Staat  und  die  von  ihm  ausgehende  und  geschützte  Kechtsordnung 
gleichwohl  stillschweigend  als  in  der  Volkswirtschaft  vorhanden  und  fungireud,  als 
„Produccnt  von  Sicherheit“  angesehen,  um  mit  deutschen  extremen  Individualisten 
(Prince-Smith  und  andere  Mitglieder  der  deutschen  Freihandelsschule)  zu  reden. 
Man  bewegt  sich  also  in  unklaren  Sclbstwidcrsprüchen , indem  man  Vorhandensein 
und  wichtigste,  auch  grade  für  Verkehr  und  Volkswirtschaft  wichtigste  Functionen 

IS* 


276  1-  B.  2.  K.  3.  H.-A.  System  etc.  2.  A.  System  d.  Polit.  Oekoa.  §.  104. 


des  Staats  doch  voraussetzt  und  voraussetzen  muss  und  nur  von  einer  specicll  sonst 
noch  in  den  „freien  Verkehr“  eingreifenden,  regulirenden  Wirtschaftspolitik,  d.  h.  von 
dem  jenen  anderen  Functionen  gegenüber  doch  nur  Secundärcn  absieht.  Man 
kann  aber  sogar  in  Specialmaterien,  welche  doch  regelmässig,  wenigstens  in  den  Grund- 
zugen  und  Hauptpuncten,  in  dem  „theoretischen“  Thcil  behandelt  werden,  z.  B.  in 
den  Lehrer»  von  Geld,  Münze,  Credit,  Banken,  von  dem  Vorhandensein  einer 
wirthschaftspolitischen  Specialgesetzgebung  und  eventuell  eigenen  wirtschaftlichen 
Thätigkoit  des  Staats  (Münzwesen!)  nicht  abschen  In  dieser  principiellen  Weise: 
Volkswirtschaft  ohne  Rücksicht  auf  den  Staat  im  theoretischen,  mit  dieser  Rücksicht 
im  practischen  Theil  kann  daher  die  Trennung  zwischen  beiden  Tbeilen  nicht  vor- 
geuommen  werden.  (Vgl.  auch  Neumann  in  Schönbcrg’s  Handbuch,  I,  2.  Auflage, 
S.  134.) 

In  jener  älteren  Systematik,  wie  sie  in  Rau  ihren  bedeutendsten  und  einfluss- 
reichsten Vertreter  hat,  wird  die  Trennung  aber  auch  noch  mit  einem  anderen  Argu- 
ment unterstützt,  welches  dort  von  dem  eben  besprochenen  nicht  immer  klar  unter- 
schieden wird,  obwohl  es  offenbar  anderer  Art  ist.  Danach  sollen  neulich  auch 
die  Aufgaben,  die  Ziele  beider  Theile  verschieden  sein,  was.  wenn  es  richtig 
wäro  und  die  angenommene  Tragweite  hätte,  dann  auch  zu  einer  anderen,  aber  vollends 
principiellen  Trennung  beider  Theile  fuhren  würde.  „Das  Ziel  (der  wirtschaftlichen 
Politik  als  Theiis  der  Wissenschaft  der  Politischen  Oekonomie)“,  meint  Rau  im  An- 
schluss an  die  vorhin  mitgctheilte  Stelle  (I,  §.  13  a),  „sei  nicht  die  Wahrheit  (wie  implicitc 
also  für  den  theoretischen  Theil),  sondern  die  Erkenntniss  der  besten  Mittel  für  den 
beabsichtigten  Erfolg“;  „für  jede  Besonderheit  von  Umständen“  habe  jene  practische 
Nationalökonomie  „das  zweckmässigste  Verfahren  zur  Erreichung  gewisser  Zwecke  an- 
zugeben“. Das  hiesse  nach  unseren  früheren  Ausführungen  und  nach  unserer  Ter- 
minologie, diese  practische  Nationalökonomie  hätte  sich  nur  mit  jenen  oben  unter- 
schiedenen practischen  Aufgaben  (§.  57,  02  ff.),  besonders  mit  der  dritten  (der  sechsten 
der  gesammten  Aufgaben,  §.64)  abzugeben,  wäre  in  Menger’s  Terminologie  ,,  Kunst  - 
lehre“  und  nur  allein  dies.  Grade  das  erscheint  uns  aber  ebenfalls  als  Inthum, 
bezw.  als  zu  einseitige  Auffassung.  Wie  mehrfach  schon  bemerkt:  die  practische 
Nationalökonomie  ist  auch,  aber  nicht  nur  Kunstlehre,  sondern  hat  es  ebenfalls  mit 
den  theoretischen  Aufgaben,  denen  des  Erkenncns  zu  thun,  auch  ihr  Ziel  ist 
„Wahrheit“,  nicht  bloss  Erkenntniss  zweckmässiger  Mittel  für  einen  beabsich- 
tigten Erfolg.  Und  anderseits:  auch  im  theoretischen  Theil  fehlen  die  practischen 
Aufgaben  und  damit  der  Character  der  „Kunstlehre“  nicht,  wenn  er  auch  mehr  zurück- 
tritt.  M.  a.  W.,  das  Unterscheidungsmerkmal  ist  nicht  das  angegebene,  nicht  ein 
„Entweder  — Oder“,  sondern  nur  ein  „Mehr  oder  Weniger“  in  Betreff  des  Characters 
als  „Kunstlehre“  liegt  hier  vor.  Damit  aber  gelangen  wir  zu  der  principiellen  Diffe- 
renz mit  K.  Menger. 

Dieser  scharfsinnige  Gelehrte  hat  auch  in  dieser  Frage  der  Systematologie  die 
wichtigste  neuere  Arbeit  geliefert.  Er  entscheidet  sich  in  seinen  Untersuchungen  und 
in  seinem  Aufsatz  im  B.  53  der  Conrad’schen  Jahrbücher  in  voller  Consequenz  seines 
methodologischen  Standpuncts  und  aller  seiner  Ausführungen  in  jenen  Arbeiten. 
Aber  trotz  meiner  Annäherung  an  Mengers  methodologischen  Standpunct  kann  ich 
mich  ihm  hier  nicht  anschliessen,  in  Folgo  der  doch  auch  in  der  Frage  der  Methode 
und  namentlich  in  Betreff  der  Aufgaben  der  Disciplin  zwischen  uns  verbleibenden 
Dilferenzpunctc. 

Menger  unterscheidet,  wie  schon  bemerkt  (s.  S.  258,  263)  historische,  theoretische 
und  practische  „Wissenschaften“  auch  innerhalb  der  Wirtschaftswissenschaft, 
nach  den  betreffenden  drei  Hauptaufgaben  des  menschlichen  Geistes  bei  der  Er- 
forschung der  Wirthschaftsphänomene  (Untersuchungen.  I.B.,  Kap.  1,  auch  Anhänge, 
bes.  I\ , S.  252).  Diese  Unterscheidung  ist  für  mich  indessen  nicht  eine  der  Wissen- 
schaften selbst,  sondern  der  Betrachtungsweisen,  Standpuncte  und  Auf- 
gaben innerhalb  Einer  Wissenschaft,  wie  der  Politischen  Oekonomie.  Bei  unserer 
ersten  Aufgabe  (§.  59)  hat  man  es  vornemlich  mit  der  historischen  Betrachtungsweise, 
bei  der  zweiten  und  dritten  mit  derjenigen  zu  thun,  welche  Menger  die  „theoretische“ 
nennt;  für  uns  sind  aber  alle  diese  drei  Aufgaben  „theoretische“  in  dem  früher  er- 
läuterten Sinne  (§.  57).  Bei  unseren  practischen  Aufgaben  (§.  62  ff.)  kommen  die 
Gcsichtspuncte  in  Betracht,  welche  Menger  diejenigen  seiner  practischen  Wissenschaften 


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Begründung  und  Durchführung  des  Systems. 


277 


oder  Kunstlehren  nennt,  aber  n.  E.  fehlen  eben  in  diesen  von  Menger  zu  eng  be- 
grenzten Wissenschaften  auch  die  theoretischen  Aufgaben  nicht.  Ebendeshalb  sind 
uns  practische  Nationalökonomie  und  Finanzwissenschaft,  auch  wenn  beide  als  besondere 
Wissenschaften,  nicht  nur  als  Theile  der  Politischen  Oekonornie  betrachtet  werden 
sollen,  nicht  nur  „Kunstlehren“,  sondern  auch  (in  Menger’s  Sinne)  theoretische  und 
historische  Wissenschaften.  Denn  sie  sollen  uns  nicht  bloss  Grundsätze  für  die  zweck- 
mässige Erreichung  wirtschaftlicher  Absichten  der  Menschen  lehren  (Menger.  Unter- 
suchungen, S.  7,  255),  sondern  in  der  That  doch  auch  (gegen  Menger’s  Meinung, 
S.  7)  lehren,  „was  ist?“  Auch  was  war,  ward,  wie  ward  es,  was  ist  neben  dem  In- 
dividuellen das  Generelle,  Typische,  was  ist  der  causale  und  conditionelle  Zusammen- 
hang der  Dinge?  M.  a.  W. , in  der  ganzen  Fülle  ergeben  sich  auch  hier  die  Frage- 
stellungen (S.  144,  145),  welche  unseren  theoretischen  Aufgaben  entsprechen,  in  dem 
Ganzen  und  in  allen  einzelnen  Theilen  der  practischcn  Nationalökonomie  und  der 
Finanzwissenschaft.  Für  letztere  habo  ich  das  in  diesem  Werke  bereits  näher  aus- 
geführt (Finanzwiss.  I,  3.  Aull.,  §.  12  IT.). 

Die  Folge  dieser  von  den  Menger’schcn  abweichenden  Auffassungen  ist  dann 
die  Annahme,  dass  zwischen  der  „theoretischen“  und  „practischcn“  Nationalökonomie 
in  der  That  nicht  ein  principicller.  generischer,  qualitativer,  sondern  nur  ein  gra- 
dueller, quantitativer  Unterschied  besteht.  In  beid  on  Theilen  kommen  historische, 
theoretische,  practische  „Aufgaben“  vor.  Diese  sind  zu  trennen,  nicht  die 
ganzen  „Wissenschaften“,  wie  Menger  es  nennt.  Seine  Vorwürfe  gegen  die  deutsche 
historische  Schule  in  der  Nationalökonomie  und  gegen  die  ganze,  insbesondere  die 
deutsche,  nationalökonomische  Wissenschaft  sind  in  gewissem  Umfang  berechtigt,  so 
weit  die  von  uns  unterschiedenen  Aufgaben  vermengt  oder  einige  davon  ganz  ab- 
gelehnt werden,  jedoch  nicht,  so  weit  sie  richtig  getrennt,  aber  in  dieser  Trennung 
dann  doch  auch  alle  in  den  verschiedenen  Theilen  des  Systems  verfolgt  werden. 

Nach  dieser  unserer  Auffassung  lässt  sich  dann  eben  auch 
(S.  272  ff.)  die  theoretische  Nationalökonomie  nur  nach  ihrem  vor- 
wiegend theoretischen,  die  practische  nach  ihrem  vorwiegend 
practischen  Character  mit  diesem  Namen  bezeichnen ; ferner  jene 
(hier  mitsammt  der  Grundlegung)  als  die  allgemeine  (besser: 
allgemeinere)  und  diese  als  die  specielle  (speciellere); 
diese  mehr,  in  besonderem  Maasse,  als  „Kunstlehre“,  die  andere 
nicht  in  demselben  Grade  als  eine  solche  betrachten  und  so  nennen. 

Di  diesem  Punctc  der  Terminologie  stimme  ich  mit  Neumann  überein  (im 
Schönberg'schcn  Handbuch,  2.  Aull.,  I,  135),  fasse  aber  die  beiden  Theile  doch  sonst 
anders  als  er  auf,  führe  die  Trennung  zwischen  dieser  „allgemeinen“  und  „spe- 
ciellen“  Nationalökonomie  etwas  anders  durch  und  begründe  sie  auch  etwas  anders  als 
Neumann.  Die  Ausdrücke  „allgemein“  und  „speciell“  haben  nur,  wie  schon  oben 
bemerkt,  nicht  immer  genau  denselben  Sinn  und  leider  liegen  andere  nach  diesem 
Sinne  wieder  unterscheidende  sprachgebräuchliche  Ausdrücke  nicht  vor.  Menger 
dat  darin  ja  Recht  (Untersuch.,  S.  246  IT.,  Conrads  Jahrb.,  B.  53,  S.  474),  dass  in  dem 
von  ihm  gemeinten  Sinne  die  theoretische  und  die  practische  Nationalökonomie  je 
eineu  allgemeinen  und  speciellen  Theil  hätten.  Aber  damit  ist  nicht  widerlegt,  dass 
man  in  einem  etwas  anderen,  wenn  auch  verwandten  Sinne  die  ganze  theoretische 
Nationalökonomie  auch  „allgemeine“,  die  ganze  practische  auch  „specielle“  nennt,  nem- 
lich  so,  dass  unter  „allgemein“  hier  verstanden  wird  das  mehr  Principielle,  Haupt- 
sächliche, das  Wichtigere,  Wesentlichere,  unter  „speciell“  dann  mehr  die  weiteren 
Ausführungen  des  „Allgemeinen“  im  Einzelnen,  in  die  Specialisirung,  daher  aber  auch 
in  das  Concrete.  Practische  hinein. 

Grade  bei  dieser  Auffassung  werden  dann  allerdings  die  Grenzen  zwischen  der 
theoretischen  und  allgemeinen  und  der  practischen  und  speciellen  Nationalökonomie 
mehr  fliessende.  Zweckmässigkeitserwägungen  mehr  wechselnder  und  mehr  subjectiver 
Art  sprechen  mit  und  fuhren  zu  etwas  verschiedenen  Entscheidungen,  von  welchen 
keine  die  kurzweg  richtige  oder  falsche,  sondern  nur  die  mehr  oder  weniger  passende  ist. 


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278  1.  B.  2.  K.  3.  H.-A.  System  etc.  2.  A.  System  d.  Polit.  Oekon.  §.  104,  105. 


Die  Unterscheidung,  welche  mir  vorschwebt  und  welche  ich  insbesondere  in 
diesem  Werke  zur  Durchführung  gebracht  sehen  möchte,  ist  an  einigen  Beispielen, 
wie  den  folgenden,  am  Besten  zu  erläutern.  In  die  „Grundlegung“  gehört  danach  die 
allgemeine  Principicnfragc  der  Eigenthumsordnung  auch  bezüglich  des  Grund  und 
Bodens,  auch  des  ländlichen,  in  die  „Ausführung“  und  zwar  in  den  theoretischen 
Theil  die  Lehre  von  dem  Boden,  auch  dem  ländlichen,  als  Naturfactor  im  Productions- 
process  (daher  z.  B.  die  Lehre  von  der  Mitwirkung  des  Bodens  bei  der  Pflanzen- 
bildung und  Ernährung,  die  Liebig’sche  Bodenerschöpfungstheorie  nach  ihrer  national- 
ökonomischen  Seite);  ferner  die  Grundrenteulehre;  in  den  practischen  Theil  (Agrar- 
wesen u.  s.  w.)  die  Lehre  von  den  landwirtschaftlichen  Feld-  und  Betriebssystemen, 
die  nähere  Ausführung  der  ländlichen  Grundeigenthumsfrage  nach  der  principicllen. 
aber  besonders  nach  der  historischen,  statistischen,  practischen,  ökonomisch-technischen 
Seite,  die  Erörterung  über  Selbstbewirthschaftung  und  Pachtwesen,  die  mehr  prac- 
tische  und  concreto  Betrachtung  der  Grundrentenverhältnisse , der  Bildung  der  Kauf- 
preise der  Grundstücke  u.  s.  w.  Für  das  Alles  sei  jetzt  auf  Buchen berger’s  Agrar- 
politik verwiesen.  In  die  Finanzwissenschaft  endlich  gehört  die  Lehre  vom  staatlichen 
ländlichen  Grundeigenthum,  daher  vom  Domänenwesen,  den  Domänenpachten  u.  s.  w., 
wiederum  nach  der  principiellen,  hier  auch  nach  der  finanziellen,  aber  auch  nach  der 
historischen , statistischen . ökonomisch-technischen  Seite.  Ich  beziehe  mich  hier  auf 
die  Domänenlehre  im  1.  Bande  meiner  Finanzwissenschaft. 

Ein  anderes  Beispiel  ist  die  Lehre  von  Geld  und  Münze.  Die  allgemeine  prin- 
cipielle  Geldlehre  gehört  in  den  theoretischen  Theil  (Wesen,  Begriff,  Functionen  von 
Geld  und  Geldarten,  Erörterungen  Uber  Edelmetallgeld,  Geldwerth,  ferner  allgemeinste 
Punctc  der  Währungs-  und  Münzlehre).  In  die  practische  Nationalökonomie  gehört 
die  „speciellerc“  historische,  statistische,  legislative,  technische  Seite  der  Geld-,  Wäh- 
rungs-, Münzfrage,  daher  namentlich  Edelmetallgeschichtc,  Productionsbedingungcn, 
Währungs-  und  Münzgeschichtc  und  Politik,  das  eigentliche  Währungsproblem  als 
Frage  de  lege  ferenda.  Die  Finanzwissenschaft  hat  wieder  die  finanzielle  Seite  des 
Munzwescns,  die  Verhältnisse  der  fiscalischen  Ausnutzung  des  Münzregals,  die  Schlag- 
schatzfrage  als  finanzielle  Frage  zu  behandeln. 

Aehnlich  würde  m.  E.  die  allgemeine  Creditlehre  in  die  theoretische  National- 
ökonomie, etwa  in  der  Weise  und  in  dem  Umfang  des  1.  Abschuitts  meiner  Abh. 
Credit  und  Bankwesen  im  Schönberg’schen  Handbuch  (3.  A.,  I,  379 — 416)  gehören: 
vom  Bankwesen  nur  weniges  Allgemeinste,  was  z.  B.  die  Stellung  desselben  im  Crcdit- 
system  betrifft,  vom  Creditrecht  nur  die  Erörterung  der  wichtigsten  Principien.  Die 
practische  Nationalökonomie  hätte  dann  die  Specialfragcn  vom  Creditrecht,  soweit  sie 
überhaupt  in  die  Politische  Ockonomie  gehören,  fast  die  ganze  Lehre  vom  Bankwesen 
nach  allen  in  Betracht  kommenden  Seiten  (meine  gen.  Abh.,  S.  416 — 496)  zu  bringen. 
In  der  Finanzwissenschaft  wäre  der  öffentliche  Credit,  die  Beziehung  der  Banken  zu 
den  Finanzen  zu  behandeln. 

Nach  Analogie  dieser  Beispiele  halte  ich  es  für  nicht  so  schwierig,  zwischen 
der  theoretischen  und  practischen  Nationalökonomie  die  Scheidung  durchzuführen. 
Man  wird  cinwcndcn,  dass  es  dann  an  Wiederholungen  nicht  ganz  fehlen  wird. 
Aber  theils  kommen  doch  bei  demselben  Gegenstand  verschiedene  Fragen,  Gesichts- 
punctc  und  Behaudlungsweisen  in  Betracht,  theils  kommt  man  eben  vom  Allgemeinen 
mehr  ins  Besondere  oder  umgekehrt,  so  dass  sich  Alles  zu  ergänzen  und  auch  — zu 
berichtigen  hat. 

Denn,  um  hiermit  auch  einem  anderen  Einwand  von  historisch-methodologischer 
Seite  zu  begegnen,  die  vier  Thcilc  des  Systems  sind  nicht  in  dem  Sinne  als  erster, 
zweiter  u.  s.  w.  in  der  angegebenen  Keihenfolgc  zu  bezeichnen,  dass  der  folgende 
immer  die  Consequenz  des  vorangehenden,  nur  Ableitung  aus  diesem  sei,  daher  z.  B. 
die  ausführenden  drei  Theilo  aus  der  Grundlegung,  die  practische  aus  der  theoretischen 
zu  „deduciren“  wäre.  Mit  der  methodologischen  Controversc  haben  wir  es  hier  in 
der  Bildung  des  Systems  gar  nicht  zu  thun.  Die  richtige  Entwicklung  und  Aus- 
bildung der  Grundlegung  und  des  theoretischen  Theils  beruht  wesentlich  mit  auf  der 
voraufgehenden  Arbeit  der  practischen  Nationalökonomie  und  der  Finanzwissen- 
schaft. Alle  Theile  haben  sich  vielmehr  gegenseitig  als  Hilfswissenschaften  zu  dienen 
und  in  allen  kommen  die  verschiedenen  Methoden  nach  Maassgabe  der  früheren  Aus- 
führungen zur  Anwendung. 


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Weiteres  zur  Systematik. 


279 


C.  — §.  105.  Weiteres  über  die  Systematik  in  der 
theoretischen  und  allgemeinen  wie  in  der  practischen 
und  speciellen  Nationalökonomie,  insbesondere  die 
Stellung  der  Lehre  vom  Verkehrswesen  im  System. 
Die  genauere  Durchführung  der  Systematik  in  diesen  Theilen,  wie 
auch  in  der  Finanzwissenschaft,  bleibt  den  betreffenden  späteren 
Bänden  Vorbehalten1),  wo  sie  auch  für  die  Finanzwisseuschaft 
bereits  erfolgt  ist.  Hier  soll  nur  noch  eine  grade  für  die  Systematik 
dieses  Gesammtwcrks  nach  dem  jetzigen  Plan  desselben  (S.  2,  3) 
nicht  unwichtige  Frage  berührt  werden , nemlich  die  Abgrenzung 
des  gegenständlichen  Umfangs  zwischen  der  theoretischen 
und  practischen  Nationalökonomie  und,  damit  zusammenhängend, 
zwischen  den  einzelnen  Haupttheilen,  in  welche  wieder  die  letztere 
zerlegt  wird. 

Es  handelt  sich  hier  vornemlich  um  die  systematische  Stellung 
derjenigen  Gegenstände,  welche  ich  unter  dem  Namen  „Verkehrs- 
wesen und  Verkehr 8 politik“  zusammenfasse  und  wofür  in 
diesem  Werke  ein  eigener  Theil  und  zwar  der  practischen  National- 
ökonomie (III,  1 auf  S.  3)  geplant  ist.  Ich  verstehe  darunter  eine 
Reihe  allgemeiner  Verhältnisse  und  Angelegenheiten  der  ganzen 
Volkswirtschaft  sowie  diesen  dienende  Einrichtungen,  insbesondere 
auf  dem  Gebiete  des  Verkehrs  und  Verkehrswesens  im  weiteren 
Sinne  der  letzteren  Ausdrücke,  im  Unterschied  von  den  speciellen 
Verhältnissen,  Angelegenheiten  der  und  Einrichtungen  für  die 
einzelnen  grossen  Productionszweige.  Zu  jenen  ersteren 
Gegenständen  gehören:  Maass-  und  Gewichtswesen,  Geld-  und 
Münzwesen,  Credit-  und  Bankwesen  (die  genannten  Zweige  auch 
wohl  zusammen  als  „Umlaufswesen“  bezeichnet,  so  von  L.  Stein), 
Versicherungswesen,  Communications-  und  Transportwesen  (letzteres 
Gebiet:  das  Verkehrswesen  im  engeren  Sinne).  Die  speciellen 
Angelegenheiten  der  grossen  Productionsgebiete  gruppiren  sich 
dagegen  zum  Agrar-,  Forst-,  Montan-,  Gewerks-,  (Gewerbe-)  und 
Handelswesen  zusammen,  wToran  sich  kleinere  Gruppen,  wie  Jagd, 
Fischerei  anschliessen. 

Jeue  allgemeinen  Verhältnisse  u.  s.  w.  berühren  sich  nun  freilich  auf  das  Viel- 
fältigste mit  den  speciellen  der  einzelnen  Prodactionsgebiete  und  specialisiren  sich 
zum  Theil  danach,  wie  besonders  diejenigen  des  Credit-,  Bank-,  Versicherung^-, 
Transportwesens.  Aber  sie  bilden  eben  wegen  ihrer  Beziehung  zu  dem  Ganzen  der 


*)  Wir  einzelnen  Bearbeiter  des  ganzen  Werks  wahren  uns  auch  hierin  aus- 
drücklich freie  Bewegung,  auch  unter  einander,  und  mir  speciell  liegt  es  ferne, 

Herren  Mitarbeitern  hier  vorgreifen  zu  wollen. 


280  !•  B.  2.  K.  3.  1I.-A.  System  etc.  2.  A.  System  d.  Polit.  Ockon.  §.  105,  100. 


Volkswirtschaft  doch  eine  enger  zusammengehörige  Hauptgruppe  von  Verhältnissen, 
Angelegenheiten  und  Einrichtungen,  haben  eine  grössere  allgemeine  Bedeutung, 
auch  Uber  das  volkswirtschaftliche  Gebiet  hinaus,  für  Gesellschaft.  Politik  und  Cultur 
(Communicationswesen!),  nehmen  geschichtlich  daher  auch  regelmässig  eine  andere 
Stellung  ein.  als  die  Angelegenheiten  der  einzelnen  Productionszweige , werden  von 
der  wirtschaftlichen  Rechtsordnung  anders  behandelt  und  haben , wie  wir  später 
sehen  w'erden,  eine  immanente  Tendenz,  vom  Staate  näher  an  sich  heran  gezogen, 
genauer  geregelt,  dem  freien  Verkehr  mehr  oder  weniger,  eventuell  vollständig  ent- 
zogen, auf  die  „öffentlichen  Gemein  wirtschaften“  zur  Ausführung  übernommen  („ver- 
staatlicht“, inonopolisirt)  zu  werden.  Gewiss  sind  manche  bezügliche  Einrichtungen, 
wie  Münz-,  gewisses  Bank-,  Communicationswesen  öfters  in  besonderem  Maasse  auch 
„Förderungsmittel  des  Handels“,  als  welche  sie  in  der  früheren  Systematik  betrachtet 
und  demgemäss  etwa  in  die  Erörterungen  Uber  Handel  eingereiht  wurden.  Aber  sie 
sind  doch  ungleich  mehr,  nicht  nur,  wie  die  eben  genannten  Gebiete,  von  ebenso 
maassgebender  Bedeutung  für  dio  übrigen  grossen  Productionszweige  (Communications- 
wesen  im  Einfluss  auf  Agrarproduction  und  gesammte  Agrarverhältnisse , Währungs- 
wesen desgleichen!),  sondern  sic  haben,  wie  gesagt,  eine  universelle  wirtschaft- 
liche und  Culturbedeutung.  Deswegen  glauben  wir  sie  in  der  angedcuteten  Weise 
herausheben  und  zusammenfassend  behandeln  zu  sollen  (Theil  III,  1 des  Werks).  Es 
ist  das  principiell  richtig  und  practisch  besser,  weil  so  allein  einseitige  Betrach- 
tungsweisen, z.  B.  bei  der  Behandlung  von  Währungs-,  Bank-,  Communicationsfragen 
aus  dem  Gesichtspuncte  bloss  des  Handels  und  seiner  Interessen  verhütet  werden. 

Das  „Verkehrswesen“  in  diesem  weiteren  Sinne  gehört  aber 
auch  in  die  practische  und  specielle  Nationalökonomie 
wenigstens  seinem  Hauptinhalte  nach,  indem  nur  gewisse  allge- 
gemeinere  Principienpuncte,  in  der  oben  (S.  274)  erwähnten  Weise, 
der  grundlegenden  sowie  theoretischen  und  allgemeinen 
Nationalökonomie  Vorbehalten  bleiben.  Denn  überall  handelt  es 
sich  hier  um  Specielleres  in  der  ebenfalls  vorhin  characterisirten 
Art  und  um  Anknüpfung  der  wirth schaftspolitischen  Fragen, 
daher  namentlich  derjenigen  über  die  bezüglichen  Einrichtungen, 
an  die  Darstellung  und  Erörterung  der  Verhältnisse  und  Angelegen- 
heiten. Oder  m.  a.  W.  das  Verkehrswesen  wird  in  Verbindung 
mit  der  Verkehrspolitik,  im  Ganzen  und  auf  den  einzelnen  ge- 
nannten Gebieten  (Währungs-,  Münz-,  Bank-,  Eisenbahnpolitik  u.  s.  w.) 
behandelt,  ebenso  wie  Agrar-,  Gewerbewesen  u.  s.  w.  mit  Agrar-, 
Gewerbepolitik.  Die  practische  Nationalökonomie  wird  demnach 
eigentlich  in  zwei  Unterabtheilungen  einzutheilen  sein,  „Verkehrs- 
wesen und  Verkehrspolitik“,  deren  weitere  Theile  dann  den 
genannten  Gebieten  entsprechen,  und  „(Wirthschafts-)Wesen 
und  Politik  der  einzelnen  Productionszweige“,  mit  der 
weiteren  Eintheilung  in  Agrar-,  Forst-,  Gewerbewesen  und  Politik  u.  s.  w. 

Demnach  eigentlich  nicht,  wie  in  unserer  Ucbersiclit  der  Eintheilung  dieses 
Gesammtwerks,  S.  3:  III,  1,  2,  8 ff.,  sondern  III  A (Verkehrswesen  u.  s.  w.),  1 (Maass 
und  Gewicht),  2 (Geld  und  Münze)  u.  s.  w.  und  B (einzelne  Productionsgebieto),  1 (Agrar- 
wesen), 2 (Forstwesen),  3 (Gewerbewesen)  u.  s.  w. 

Das  Gesagte  mache  ich  im  Besonderem  gegenüber  Neu  manu  geltend  (so  im 
Scbönberg’schen  Handbuch.  2.  A.  I.  135;  s.  auch  oben  S.  26S),  welcher  aus  einem 
ähnlichen  Erwägungsgrunde,  wegen  des  „allgemeinen“  Characters  (Beziehungen  all- 


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Stellung  d.  Polit.  Oekou.  im  Kreise  verwandter  Wissenschaften.  281 

gemeiner  Verkehrserscheinungen  zum  allgemeinen  Wohl,  öffentliche  Pflege  dieser  Dinge) 
das  von  mir  Verkehrswesen  im  weiteren  Sinne  genannte  Gebiet  in  seinen  ersten 
allgemeinen  Theil  setzt,  während  ich  es  als  eine  erste  Abtheilung  des  zweiten 
speci eilen  Theils  in  das  System  eingliedere. 

Für  die  Systematik  dieses  Werks  und  für  die  Vertheilung  der  Gegenstände  auf 
die  einzelnen  Theile  (Bände)  der  practischen  Nationalökonomie  und  auf  die  ver- 
schiedenen Mitarbeiter  ist  das  Gesagte  daher  hier  zu  beachten.  Nur  Einzelnes,  was 
sich  von  den  Angelegenheiten  und  Einrichtungen  des  Verkehrswesen  speci  eil  auf 
die  Verhältnisse  einzelner  Productionszweige  bezieht,  z.  B.  das  landwirtschaftliche 
Credit-  und  Versicherungswesen,  gehört  daher,  wenigstens  in  näherer  Ausführung,  in 
den  betreli'enden  Theil,  z.  B.  in  die  Agrarpolitik. 

Meines  Erachtens  empfiehlt  sich  diese  Systematik  auch  aus  äusseren  Gründen 
allgemein.  Nur  so  wird  jedem  Gegenstand  sein  Hecht  und  kommen  die  inaassgebonden 
Gesichtspuncte  genügend  zur  Geltung.  Auch  im  ökonomischen  Unterricht  würde  sich, 
glaube  ich,  passend  die  practische  Nationalökonomie,  soweit  sic  überhaupt  noch  eiuo 
systematische  Disciplin  bleiben  soll,  also  nicht  ganz  in  concrete  — oder  auch 
vergleichende  — Wirtschaftsgeschichte  sich  auflöst  (G.  Schmoller,  s.  seinem  Jahrb., 
XI.  [1SSSJ  S.  587)  nach  dem  augedeuteten  Gesichtspuncte  in  zwei  grössere,  einiger- 
inaassen  gegen  einander  selbständige  Vorlesungen  theilen,  was  freilich  eine  ent- 
sprechend intensivere  Entwicklung  des  ganzen  nationalökonomischen  Fachstudiums 
voraussetzte.  Versuche  in  der  Richtung  dieser  Zweiteilung  der  practischen  National- 
ökonomie habe  ich  in  Berlin  an  der  Universität  gemacht  und  mich  auch  dabei  von 
der  Zweckmässigkeit  überzeugt. 

Bergwesen  nimmt  in  mancher  Hinsicht  eine  mittlere  Stellung  zwischen  Ur- 
production  und  Gewerkswesen  ein.  Es  könnte  iu  einem  umfassenden  Werke  wohl 
einen  besonderen  Theil  der  zweiten  Abtheilung  der  practischen  Nationalökonomie 
bilden.  In  diesem  Gesammtwerke  ist  geplant,  dasselbe  mit  in  dem  Theile  vom  Ge- 
werbe und  der  Gewerbepolitik  (III,  4,  Bearbeiter  K.  Bücher)  zu  behandeln. 

III.  — §.  106.  Die  Stellung  der  Politischen  Oeko- 
nomie  im  Kreise  der  verwandten  Wissenschaften.  Die 
Politische  Ockonomie  als  Ganzes  und  die  einzelnen  Theile  ihres 
Systems  gehören  zu  der  grossen  Gruppe  der  Geistes  Wissen- 
schaften und  hier  zu  derjenigen  Abtheilung  derselben,  welche 
die  unter  sich  wieder  näher  verwandten  „Wissenschaften 
vom  Volksleben“,  wie  man  sie  wohl  zusammenfassend  ge- 
nannt hat,  d.  h.  die  Gesellschafts-,  Staats-,  Rechts-  und 
Wirth  Schaftswissenschaften  umfasst.  In  allen  diesen 
Wissenschaften  handelt  es  sich  um  Verhältnisse  des  mensch- 
lichen Zusammenlebens  — des  „gesellschaftlichen“ 
Lebens  in  diesem  Sinne  — und  in  jeder  der  vier  genannten 
Specialgruppen  um  verschiedene  Seiten  dieses  Zusammen- 
lebens und  der  dasselbe  bildenden  sowie  der  aus  ihm  hervor- 
gehenden Erscheinungen.  Diese  Seiten  hängen  aber  in  der  Wirk- 
lichkeit auf  das  Engste  zusammen  und  lassen  sich  nur  durch  die 
Abstraction  trennen.  In  jeder  der  betreffenden  Wissenschaften 
und  weiter  in  jeder  einzelnen,  welche  wieder  in  der  Specialgruppe 
unterschieden  wird,  wird  daher  auch  eigentlich  dasselbe  Object: 
das  menschliche  („gesellschaftliche“)  Zusammenleben  und  die 
einzelne  dazu  gehörige  Erscheinung,  betrachtet  und  behaudelt,  nur 


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282  1.  B.  2.  K.  3.  II.- A.  System  etc.  2.  A.  System  d.  Polit.  Oekon.  g.  106. 

von  einem  verschiedenen  Stand pu ne te  aus:  von  demjenigen 
der  Beziehungen  zwischen  verschiedenen  Individuen , welche  in 
Berührung  stehen,  überhaupt,  von  dem  der  Zusammenfassung  im 
und  Ueberwachung,  Ordnung,  Beschützuüg  durch  den  Staat,  von 
dem  der  Regelung  durch  das  Recht,  endlich  von  demjenigen  der 
Bedeutung  für  die  Wirtschaft  der  Menschen  aus.  Die  genannten 
Wissenschaften  gehören  auch  deswegen  selbst  eng  zusammen, 
ergänzen  sich  gegenseitig,  sind  einander  gegenseitig  Hilfswissen- 
schaften. Soweit  das  Object,  welches  jede  dieser  Wissenschaften 
von  ihrem  Standpuncte  aus  behandelt,  nach  anderen  Seiten  auch 
den  anderen  Wissenschaften  angehört  und,  um  es  nach  der  zu  ihr 
gehörigen  Seite  richtig  zu  behandeln,  auch  auf  diese  Behandluugs- 
weise  der  anderen  Seiten  durch  diese  anderen  Wissenschaften  in 
jeder  einzelnen  derselben  Rücksicht  genommen  werden  muss,  er- 
weist sich  die  genannte  Gruppe  von  Wissenschaften  als  ein  aus 
verschiedenen  Gliedern  bestehendes,  aber  ein  einheitliches  Ganzes 
bildendes  Wissenschaftssystem. 

Das  Glied  der  Wirtschaftswissenschaften  in  diesem  System 
wird  dann  wesentlich  dargestellt  durch  die  Politische  Oekonomie. 
Dieselbe  ist  nach  dieser  Auffassung  nicht  eigentlich  selbst  und  un- 
mittelbar, wie  sie  öfters  angesehen  und  bezeichnet  wird,  eine  Ge- 
sellschafts- oder  eine  Staatswissenschaft.  Sie  könnte  mit  kaum 
minderem  Rechte  sonst  auch  eine  Rechtswissenschaft  genannt 
werden.  Sie  ist  vielmehr  eine  Wirth  Schafts  Wissenschaft,  deren 
Object  die  im  menschlichen  Zusammenleben  hervortretende  wirt- 
schaftliche Erscheinung  ist  (§.  56,  100).  Aber  sie  berührt  sich  auf 
Schritt  und  Tritt  mit  den  Gesellschafts-,  Staats-,  und  Rechtswissen- 
schaften, weil  dies  ihr  Object  eben  stets  auch  eine  gesellschaftliche, 
eine  im  Staatsverband  vor  sich  gehende  Erscheinung  ist  und 
rechtliche  Seiten,  rechtliche  Voraussetzungen  und  Folgen  hat. 

Diese  Auffassung  möchte  dem  wirklichen  Sachverhalt  hinsichtlich  der  Beziehungen 
der  genannten  Wissenschaften  zu  einander  mehr  entsprechen,  als  wenn  man,  wie 
gewöhnlich,  die  Politische  Oekonomie  kurzweg  eine  Gesellschafts-  oder  Staatswissen- 
schaft nennt,  ohne  dass  dies  deswegen  durchaus  als  falsch  bezeichnet  werden  soll. 
Man  kann  nicht  einwenden,  dass  die  „Gesellschaft“  das  Allgemeinere,  Höhoro,  frühere 
als  die  Wirtschaft,  als  das  wirtschaftliche  Zusammenleben , die  Volkswirtschaft  sei. 
Beides  ent-  und  besteht  und  entwickelt  sich  in  enger  Beziehung  zu  und  Wechsel- 
wirkung mit  einander.  Man  kann  ebensowenig  cinwcndcn,  die  Politische  Oekonomie 
müsse  dcsshalb  von  vornherein  eine  Staatswissenschaft  genannt  werden,  um  damit 
gleich  darauf  hinzudeuten,  dass  man  es  in  der  Volkswirtschaft  immer  mit  der  Volks- 
wirtschaft im  Staate,  nicht,  nach  einer  früher  vorgekommenen  Auflassung, 
wenigstens  in  dem  theoretischen  Theile  der  Disciplin,  mit  ihr  ohne  Bezug  zum 
Staate  (§.  104,  S.  275)  zu  tun  habe.  Gewiss  ist  letztere  Auffassung  unrichtig.  Aber 
das  nötigt  nicht,  die  Politische  Oekonomie  als  Ganzes  ohne  Weiteres  unter  die 


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Stellung-  d.  Polit.  Oekon.  im  Kreise  verwandter  Wissenschaften. 


283 


Staatswissenschaften  zu  reihen.  Man  könnte  umgekehrt  mit  demselben  Rechte  sonst 
die  letzteren  unter  die  Wirtschaftswissenschaften  stellen,  weil  kein  Staat,  keine  staat- 
liche Thätigkeit  ohne  wirtschaftliche  Mittel,  Zwecke,  Wirkungen  zu  denken  ist. 

Auch  die  Grundlegung  (§.  103),  die  prac tische  Nationalökonomie  und  die 
Finanzwi  ssenschaft  sind  als  solche  und  als  Thcile  der  Politischen  Ockonomie 
,,Wirthsch afts Wissenschaften“.  Sic  stehen  nur  theilweise  gewissen  Staatswissen- 
schaften, so  der  (theoretischen)  Politik  (Staatslehre),  der  Yerwaltungslohrc,  wie  ander- 
seits auch  gewissen  Rechtswissenschaften,  so  dem  Staatsrecht,  dem  Verwaltungsrecht 
näher,  als  die  theoretische  Nationalökonomie  es  thut.  Mit  Rücksicht  darauf  mag  mau 
sie  in  formaler  Hinsicht  auch  wohl  als  Staats  Wissenschaften  bezeichnen,  wie  es 
in  diesem  Werke  mit  der  Finanzwissenschaft  auch  geschehen  ist  (1.  B. , 3.  Aull. 
§.  12,  15).  Unbedingt  geboten  ist  das  gleichwohl  nicht.  Soweit  man  es  in  diesen 
beiden  Specialtbeilen  der  Politischen  Ockonomie  und  anderseits  auch  im  grundlegenden 
und  im  theoretischen  Theile  mit  dem  positiven,  geschichtlich  überkommenen  und 
bestehenden  Wirthschafts-  und  Finanzrecht  zu  thun,  dieses  selbst  darzulegen  und  zu 
erläutern  hat.  oder  in.  a.  W.  den  Standpunct  der  Erörterung  de  lege  lata  cinnimmt, 
könnte  die  Politische  Oekonomie  ebensogut  eine  Rechtswissenschaft,  als  wegen 
ihrer  Beziehung  zum  Staate  eine  Staats  Wissenschaft  genannt  werden.  Soweit  sic 
sich  (wiederum  besonders,  aber  nicht  allein,  in  dem  practischen  Thcile  und  in  der 
Finanzwissenschaft)  mit  den  oben  (§.  57,  62  ff.)  unterschiedenen  practischen  Aufgaben, 
namentlich  mit  der  letzten  (§.  64),  beschäftigt,  daher  in  Erörterungen  de  lege  ferenda 
cingeht,  nimmt  sic  don  Character  einer  staatswissenschaftlichen  Disciplin,  wie  der 
rallgcmeincn,  inneren  u.  s.  w\)  Verwaltungslehrc  (im  Unterschied  zum  Verwaltungs- 
fecht) an,  da  es  sich  dann  bei  ihren  Problemen  vornemlich  mit  um  Kragen  der 
Staatsgesetzgebung  und  öffentlichen  Verwaltung  handelt.  Auch  das  macht  es  wohl 
zulässig,  aber  nicht  nothwendig,  sie  als  förmliche  Staat s Wissenschaft  zu  bezeichnen. 

Im  Vorausgehenden  ist  in  der  besprochenen  Gruppe  von  Gesellschafts-  und 
S taats Wissenschaften  im  Sinne  zweier  verwandter,  aber  gesonderter  Glieder  geredet 
worden.  Damit  soll  über  die  in  Deutschland  besonders  von  R.  v.  Mohl  (Gesell,  und 
Litt.  d.  Staatswisscnsch.  I,  Abh.  J)  angeregte  und  von  ihm  bejahte  Frage,  ob  diese 
Trennung  — und  vollends,  ob  die  Art,  wie  sie  Mohl  geplant  — richtig  sei,  nicht 
entschieden  worden.  Es  ist  indessen  nicht  die  Aufgabe,  auf  diese  Controvcrse,  auf 
die  Einwendungen  H.  v.  T reitschke’s  (die  Gesellschaftswissenschaft  1859)  auf 
die  durch  L.  v.  Stein  vertretene  Auffassung  an  dieser  Stelle  und  überhaupt  in  diesem 
Werke  näher  einzugehen.  Ich  will  nur  bemerken,  dass  mir  eine  Sch  eidung  zwischen 
Gescllschafts - und  Staatswissenschaften  doch  wiederum,  wenn  auch  nicht  unbedingt 
geboten,  so  zulässig  und  zweckmässig  erscheint.  Damit  wird  übrigens  dem  Postulat  einer 
einheitlichen  „Gesellschaftswissenschaft“  (im  Sinne  einer  allgemeinen  „Soci  ologie“) 
keineswegs  beigetreten,  das  ich  schon  oben  (§.  20)  abgelehnt  habe.  Ich  wäre  sonst 
geneigt,  die  Politische  Ockonomie,  wenn  ich  sie  auch  als  ein  selbständiges 
Glied  der  genannten  Wissenschaftsgruppe  bctrachto  (§.  20),  eher  noch  als  eine  Gc- 
sellschafts-,  denn  kurzweg  als  eine  Staats  Wissenschaft  zu  bezeichnen.  Der  mir 
der  passendste  scheinende  Name  „Socialökonomie“  hat  u.  A.  auch  den  Vorzug, 
auf  die  besonders  enge  Beziehung  der  Disciplin  zu  den  Gesellschaftswissenschaften 
hinzuweisen. 

Die  Stellung,  welche  die  verschiedenen  Autoren  der  Politischen  Oekonomie  im 
Kreise  der  Wissenschaften  geben,  hängt  mit  ihrer  ganzen  Disciplin  mehr  oder  weniger 
zusammen.  Rau  (I,  §.21  ff.)  stellt  z.  B.  den  theoretischen  Theil  (seiuo  „Yolks- 
wirthschaftslehre“)  ausdrücklich  ausserhalb  der  Staatswissenschaft,  während  er  in  diese 
die  Volkswirthschaftspolitik  und  die  Finanzwrissenschaft  reiht,  die  demnach  eine 
doppelte  Stellung  hätten.  Koscher  (I,  §.  16)  fasst  als  „sociale  Wissenschaften  im 
engeren  Sinne“  die  von  Recht,  Staat  und  Wirtschaft  zusammen , deren  Gegenstände 
fast  congrucnt  seien,  nur,  dass  sie  dieselben  aus  verschiedenen  Gcsichtspunctcn  be- 
trachteten. Vgl.  sonst  noch  die  Bemerkungen  von  v.  Scheel,  in  Schönbcrg’s  Hand- 
buch, I,  Abh.  2 (3.  A.,  S.  70),  §.  3;  G.  Cohn,  Grundlegung,  Einleitung,  Cap.  2. — 
Eigentümliche  Classification  L.  v.  Stcin’s,  nur  verständlich  im  Zusammenhang  mit 
seiner  ganzen  Auffassung.  Vgl.  sein  System  der  Staatswiss.  B.  1 (Stuttg.  1S52)  und 
B.  2 (eb.  1856),  seine  Volkswirthsch.  lehre,  2.  Aufl.  (Wien  1878),  bcs.  S.  55411.  Am 
Eingehendsten  Kautz,  I,  S.  341  fl.,  zugleich  für  weitere  Littcratur;  neuestens  L.  Cossa 
in  der  3.  Aufl.  seiner  introduzione,  S.  47  ff. 


284  1.  B.  2.  K.  3.  H.-A.  System  etc.  2.  A.  System  d.  Polit.  Oekon.  §.  107. 

IV.  — §.  107.  Hilfswissenschaften  der  Politischen 
Oekonomic.  Welches  dieselben  sind  und  wie  sie  in  Betracht 
kommen  und  welche  Dienste  sie  leisten,  folgt  aus  den  Ausführungen 
dieses  ganzen  ersten  Buchs,  so  dass  es  hier  an  einer  kurzen 
Uebersicht  und  wenigen  Bemerkungen  genügt. 

Vgl.  im  Allgemeinen  in  der  neuesten  (3.)  Auflage  von  L.  Cossa’s  introduzionc, 
parto  1,  Cap.  3.  Sonst  die  oben  iu  §.  9S  angegebene  Litteratur.  Uebcr  die  Hilfs- 
wissenschaften der  Finanzwissenschaft  s.  Fin.  3.  A.,  I,  §.  17 — 19. 

A.  Psychologie,  Logik,  Erkenntnisstheorie  und 
allgemeine  Methodologie. 

S.  dazu  oben  Cap.  1,  bes.  Abschn.  2 (§.  30 IF.),  Cap.  1,  H.  A.  2 (§.  65 ff.). 
Littcrarischc  Angaben  in  §.  21,  54,  86. 

B.  Die  gesammten  Gcsellschafts-,  Staats-  und  Rechts- 
wissenschaften (vgl.  vorigen  §.  106),  deren  einzelne  Theile 
wieder  in  verschiedenem  Maasse  und  für  die  verschiedenen  Theile 
des  Systems  der  Politischen  Oekonomie  Hilfswissenschaften  sind. 
Besonders  hervorzuheben  ist  die  (Staats-  und  Privat-)  Rechts- 
geschichte. 

C.  Privatökonomik,  in  allen  ihren  einzelnen  Theilen  und 
die  sogen,  angewandten  Naturwissenschaften  (vgl.  §.  99). 

D.  Geschichte  und  Statistik,  beide  hier  als  eigene 
Wissenschaften,  — daher  die  Statistik  auch  als  Staatskunde  — 
nicht  als  Methoden  genommen  (vgl.  §.  74,  80  — 85).  Und  zwar 
kommt  hier  sowohl  die  allgemeine  (politische)  Geschichte, 
Statistik  und  Staatskunde,  als  insbesondere  die  concrete  und 
die  vergleichende  Cultur-,  Wirthschafts-,  Finanzge- 
schichte (und  die  unter  B schon  hervorgehobene  bezügliche  Rechts- 
geschichte) und  Statistik  in  Betracht. 

Es  wird  genügen,  hier  auf  die  früheren  Ausführungen  an  verschiedenen  Stellen 
dieses  Buchs,  besonders  in  den  ebengenannten  §§.  (im  Abschnitt  vom  inductiveu  Ver- 
fahren) und  in  der  Einleitung  (so  §.4,  15,  10)  zu  verweisen.  Ucber  Geschichte  und 
Statistik  als  Hilfswissenschaften  und  Methoden  s.  auch  §.  18  der  Finanzwissenschaft 
I,  3.  Aufl. 

Die  vorausgehenden  Gruppen  und  Gebiete  der  Wissenschaften 
kann  man  als  die  unmittelbaren  Hilfswissenschaften  bezeichnen, 
deren  Sätzen  und  Ergebnissen  man  sich  in  der  Politischen  Oeko- 
nomie, in  verschiedener  Weise  und  in  verschiedenem  Maasse  je 
nach  den  zu  lösenden  Aufgaben  (§.  58  — 64),  häufig  zu  be- 
dienen hat.  Aber  damit  ist  der  Kreis  der  Wissenschaften,  welche 
im  weiteren  Sinne  als  Hilfswissenschaften  der  Disciplin  dienen, 
noch  bei  Weitem  nicht  erschöpft.  Es  giebt  wenige  Wissenschaften, 
auf  welche  nicht  da  und  dort,  dann  und  wann  zurückzugreifen  ist: 


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Hilfswissenschaften. 


285 


allgemeine  Philosophie,  Rechtsphilosophie  insbesondere,  beider  Ge- 
schichte, Mathematik,  Naturwissenschaften,  Theologie,  Kircbeuge- 
schichte  u.  s.  w.  Die  schwierige,  vollends  bei  der  heutigen  Entwicklung 
der  Wissenschaften  und  der  Arbeitstheilung  unerfüllbare  Forderung, 
welche  wir  oben  schon  andeuteten  (§.  7),  wenn  nicht  Alles  zu  be- 
herrschen, so  mit  Allem  Fühlung  zu  haben,  von  Allem  etwas  zu  wissen 
— nihil  humani  a se  alienum  esse  putare  — liegt  in  der  Politischen 
Oekonomie,  gerade  wenn  dieselbe,  wie  es  geboten  ist,  als  Social- 
ökonomie aufgefasst  und  behandelt  werden  soll,  vor,  in  höherem 
Grade,  als  mit  Ausnahme  der  Philosophie,  wohl  in  jeder  Wissenschaft. 
Eben  deshalb  die  schwierigen,  die  langsamen  und  die  kleinen 
Fortschritte,  die  vielen  Irrwege,  die  zahlreichen  Irrthümer  und  — 
der  „dilettantische“  Character  so  mancher  allgemeineren 
nationalökonomischen  Arbeiten  oderwenigstens  von  Abschnitten  darin. 
Ein  Dilettantismus,  welcher  freilich  auf  dem  Gebiete  einer  engen 
Specialwissenschaft  leichter  vermieden  wird,  aber  fast  mit  Noth- 
wendigkeit  aus  dem  Character  des  Objects  der  Wissenschaft 
der  Politischen  Oekonomie,  aus  der  Verbindung,  in  welcher  dies 
Object  mit  allen  Seiten  menschlichen  Lebens  und  mit  so  mancherlei 
Verhältnissen  der  äusseren  Natur  steht,  hervorgeht.  Eiuen  Vorwurf 
gegen  unsere  Wissenschaft  und  gegen  besonnene,  auch  mit  den 
allgemeinen  Problemen  der  Diseiplin  sich  beschäftigende  Vertreter 
des  Fachs  können  nur  Unverständige  aus  diesem  leicht  hervor- 
tretenden Moment  des  „Dilettantischen“  erheben,  wie  das  freilich 
mitunter  geschehen  ist. 

Gerade  bei  der  heutigen  Unmöglichkeit,  alle  Hilfswissenschaften  der  Diseiplin 
genügend  und  gleichmässig  zu  beherrschen,  erhebt  sich  wohl  die  Frage,  von  welchem 
hilfswissenschaftlichen  Gebiete  aus  man  am  Besten  zum  Fachstudium  der  Politischen 
Oekonomie  übergehe  oder  m.  a.  \V.«auf  welche  Weise  man  sich  dazu  am  Besten  vorbe- 
reitc:  eine  besonders  für  die  ganze  Einrichtung  des  Studiums,  den  Studiengang,  daher 
namentlich  für  Jüngere,  nicht  unwichtige  Frage.  Eine  allgemeine  unbedingte  Antwort 
lässt  sich  offenbar  nicht  geben.  Auch  hier  wird  Geistesanlage  (,§.  11),  sonstiger  bis- 
heriger Studiengang,  Neigung,  Specialgcgcnstaud  der  Beschäftigung,  daher  die  näher 
verfolgte  Aufgabe  (§.  57 ff.),  mit  bestimmend  sein  und  auch  in  gewissen  Grenzen  cs 
sein  dürfen,  ja  es  sein  müssen.  Vorzüge  und  Mängel  hat  jede  bestimmte  einseitige 
Vorbildung.  Im  Ganzen  möchte  eine  mehr  geistes-  als  naturwissenschaftliche  Vor- 
bildung den  Vorzug  verdienen,  nach  dem  psychologischen  Character  der  Dis- 
ciplin.  Die  juristische  möchte  ich  subjoctiv  der  rein  historischen  vorziehen 
(s.  o.  S.  190),  beide  wären  aber  zu  verbinden.  Eine  allgemeine  philosophische 
Vorbildung  ist  dabei  ausserdem  wohl  in  hohem  Maasse  erwünscht  und  eine  Er- 
gänzung durch  mathematische,  naturwissenschaftliche,  technologische  Studien  kann 
nicht  genug  empfohlen  werden.  Indessen,  — auch  hierbei  wird  Geistesanlage  und 
Richtung  mitsprechen,  bei  der  Empfehlung,  wie  bei  der  Befolgung  der  Empfehlung, 
und  die  Unmöglichkeit,  ja  die  Gefährlichkeit,  „Alles“  zu  betreiben,  nöthigt  ohnehin 
zu  Beschränkungen,  auch  in  den  hilfswissenschaftlmhen  Studien,  um  zu  grosse  Zer- 
splitterung zu  vermeiden  und  sich  in  der  gebotenen  Weise  concentriron  zu 
können.  Polihystorie  ist  auch  bei  uns  nicht  mehr  an  der  Zeit  und  unfruchtbar. 


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Zweites  Buch 


Elementare  Grundbegriffe. 

§.  1 OS.  Litteraturnach weis  und  Yr orbe merku n gen  über  die  Grund- 
begriffe. Vcrgl.  besonders  die  auch  litterargeschichtlich  reichhaltigen  verschiedenen 
Arbeiten  Fr.  J.  Neumann’s,  so  die  Beiträge  zur  Revision  der  Grundbegriffe  der 
Volkswirthschaftslehre,  Tüb.  Ztschr.  für  Staatswiss.  B.  25  (1869),  S.  493  ff.,  B.  28  (1872) 
S.  256  ff.  Der  Verf.  erörtert  in  dem  ersten  Aufsätze  die  allgemeinen  Grundsätze  für 
die  Defiuition  volkswirtschaftlicher  Begriffe  und  kommt  zu  dem  Ergebniss,  dass  der 
allgemeine  Sprachgebrauch  zu  berücksichtigen  sei.  aber  nicht  die  allein  und  endgiltig 
entscheidende  Norm  bilden  dürfe,  vielmehr  müssten  ausserdem  Gründe  der  Zweck- 
mässigkeit und  Opportunität  ins  Gewicht  fallen  (B.  25,  517).  Die  Anwendung,  welche 
der  Verf.  hier  und  in  seinen  anderen  einschlägigen  Arbeiten  von  seinen  Definitionsgrund- 
sätzen  für  die  Begriffe  Werth,  Preis  und  andre  mehr  macht,  ist  methodologisch 
und  litterarhistorisch  lehrreich,  auch  wenn  man  mit  den  Resultaten  nicht  immer  über- 
einstimmt.  S.  ferner  von  Neu  mann  den  Aufs,  über  die  Gestaltung  des  Preises,  Tüb. 
Ztschr.  B.  36  (1880)  S.  175  11'.,  und  die  Abh.  über  die  wirtschaftlichen  Grundbegriffe 
in  den  drei  Auflagen  des  I.  B.  von  Schönberg ’s  Handbuch  (3.  A.,  I,  133,  Uber  Gut, 
Werth,  Preis,  Vermögen,  Wirtschaft,  Ertrag,  Einnahme,  Einkommen)  und  Neumann's 
Grundlagen  der  Volkswirthschaftslehre,  1.  B.  1889.  Ferner  A.  Hold  in  dem  Auf- 
satz über  neuere  Versuche  zur  Revision  der  Grundbegriffe,  Jahrb.  f.  Nat.-Oek.  B.  27, 
S.  144  u.  ders.  in  s.  Grundriss.  Auch  Lindwurm,  Eigentumsrecht,  bes.  Kap.  4, 
S.  265  ff’,  und  503  ff.,  mit  teilweiser  Polemik  gegen  meiue  Behandlung.  Er  nimmt 
einen  zu  einseitigen  Standpunkt  ein,  indem  er  die  Production  durch  die  „freie  Indivi- 
dualität der  Urheberschaft*4  bedingt  sein  lässt,  was  der  Wirklichkeit  widerspricht  und 
keine  richtige  volkswirthschaftsorganisatorische  Forderung  wäre.  Schäfflc,  Soc. 
Körp.  III,  245  ff.,  307  ff.,  namentlich  wichtig  für  die  Werthlehre.  — 

Die  Grundbegriffe  der  Volkswirthschaftslehre  haben  die  eingehendste  und  scharf- 
sinnigste Erörterung  in  der  deutschen  Litteratur  des  Fachs  gefunden,  wenn  dabei 
auch  öfters  Spitzfindigkeiten  nicht  genügend  vermieden  worden  sind.  Die  fremde 
Litteratur  steht  hier  zurück.  Die  ältere  deutsche  Litteratur,  besonders  aus  der 
1.  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts,  s.  bei  Neumann  a.  a.  0.,  bes.  in  denn  Aufs,  in  der 
Tüb.  Ztschr.  1S69  u.  1872.  Hervorzuheben  und  noch  heute  beachtenswerth : G.  Hufe- 
land, neue  Grundlegung  der  Staatswirthschaftskunst.  durch  Prüfung  und  Berichtigung 
ihrer  Hauptbegriffe  von  Gut,  Werth,  Preis,  Geld  und  Volksvermögen,  2 Thle.,  Giess, 
u.  Wetzl.  1807.  1813;  J.  F.  E.  Lotz,  Revision  der  Grundbegriffe  der  Nationalwirth- 
schaftslehrc,  1811  — 14,  derselbe  Handbuch  der  Staatswirthschaftslehre,  1821,  2.  A. 
Erlangen  137 — 39.  3 Bände. 

In  der  neueren  deutschen  Litteratur  ist  für  die  Grundbegriffe  und  für  verwandte 
Puncte  der  Theorie  von  bleibender  Bedeutung  geworden:  B.  F.  W.  Herrnan  n,  staats- 
wirthschaftlichc  Untersuchungen,  1.  Aufl.  München  1832,  2.  Aufl.  München  1970 
(nach  des  Verf.  Tode  erschienen).  Die  1.  Aull,  enthält  dogmengeschichtliche  Er- 
örterungen, die  in  der  2.  fehlen,  letztere  hat  der  Verf.  nur  noch  zum  Tlieil  vermehrt 
und  verbessert.  Ich  citire  meistens  nach  der  2.  Aufl.  Ausserdem  vergl.  für  die 
Grundbegriffe  noch  besonders  H.  v.  Mangold t,  Grundriss  der  Volkswirthschaftslehre, 


It 


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Litteratur  der  Grundbegriffe. 


287 


Stuttgart  1863,  2.  Aufl.,  besorgt  v.  K lein w achter,  Stuttgart  1871  (der  beste  Grund- 
riss in  deutscher  Sprache,  scharfsinnig,  doch  hier  und  da  etwas  spintisirend);  ferner 
auch  K.  Men  ge  r,  Grundsätze  der  Volkswirtschaftslehre,  1.  Thl.  Wien  1871.  — Von 
den  grösseren  Lehrbüchern  s.:  Rau,  Grundsätze  der  Volkswirtschaftslehre,  8.  Aufl., 
Leipzig  u.  Heidelberg  1868,  §.  1 ff..  §.  46  ff.  Die  Erörterungen  über  die  Gruudbegrifle 
giebt  Rau  teils  in  der  Einleitung  §.  1 — 20,  theils  im  1.  Buch  vom  „Wesen  des  Volks- 
vermögens'4  §.  46 — 81.  W.  Roscher,  I.  (Grundlagen  der  Nationalökonomie),  § 1 bis 
29,  z.  Th.  auch  das  1.  Buch  von  der  Production  der  Güter  §.  30  ff.;  für  eiuzelne 
Abweichungen  von  principieller  Bedeutung  sind  die  früheren  Auflagen  Roscher’s  mit 
späteren  zu  vergleichen.  Schäffle,  Ges.  Syst.  3.  A.,  bes.  Buch  1,  Abschn.  2 (Wirth- 
schaft),  G.  Cohn,  Einl  Kap.  4.  Aus  der  neuesten  deutschen  Litteratur  (aus  der  Zeit 
seit  der  2.  Aufl.  dieses  Werks)  sind  für  dio  Grundbegriffe  die  genannten  N eu  m ann'scben 
Arbeiten,  und  dio  an  K.  M enger  sich  anschliessenden  bezüglichen  Arbeiten  der 
österreichischen  theoretischen  Schule,  besonders  diejenigen  von  E.  Sax.  v.  Böhm- 
Bawerk,  Wioser  u.  a.  m.  hervorzuheben  (s.  dieselben  o.  S.  64,  v.  Böhm-Bawerk 
auch:  Rechte  und  Verhältnisse  vom  Standpunctc  der  volkswirthsch.  Güterlehrc.  1881). 
Am  Wichtigsten  sind  dieselben  für  die  Wert  hl  eh  re.  wo  wir  darauf  zurückkommeu 
(§.  135).  S.  ausserdem  auch  die  o.  S.  64  gen.  Arbeiten  H.  Dietzefs. 

Aus  der  fremden  Litteratur  s.  R.  Malthus,  definitions  of  polit.  economy, 
London  1817,  Cairnes,  char.  a.  logical  method  of  polit.  econ.,  London  1874  passim. 
Keynes,  scope  a.  method,  ch.  5.  Marshall,  princ.  I.,  book  2.  — Gide,  princ. 
livre  1.  Block,  progres  I,  ch.  3 — 5.  — Cossa,  introduzione,  3.  ed.,  S.  73  ff. 
Supino,  definizione  dell’  ecom.  pol.  Mil.  1S83. 

Einige  mehr  oder  weniger  eingehende  Erörterungen  über  Grundbegriffe  haben 
fast  alle  deutschen  und  fremden  Werke  der  systematischen  und  theoretischen  National- 
ökonomie. Auch  die  socialistischen  Theoretiker,  besonders  Marx,  Rodbertus 
(in  den  oben  S.  40,  39,  genannten  Schriften)  sind  für  die  Grundbegriffe,  namentlich 
des  Werths,  der  Kosten,  des  Kapitals,  wichtig. 

Dio  Grundbegriffe  sind  von  den  meisten  vorausgehend  genannten  Schriftstellern, 
auch  von  v.  Hermann,  mehrfach  noch  zu  sehr  aus  dem  pri  vat wirtschaftlichen 
Standpuncte  erörtert  und  festgestellt  worden , und  die  dergestalt  gewonnenen  Begrifle 
dann  öfters  ohne  Weiteres  zu  volks  wirtschaftlichen  Begriffen  gemacht  oder  cs  ist 
wenigsten  zwischen  der  Bedeutung  eines  wissenschaftlichen  terminus  technicus  im 
privat-,  bez.  im  einzelwirthschaftlichen  und  im  volkswirtschaftlichem  Sinne  nicht 
immer  richtig  unterschieden  worden.  Auch  muss  das  Streben,  immer  nur  eine  Be- 
deutung eines  Begriffs  zuzulassen,  wie  auch  Neu  mann  (Tub.  Zcitschr.  B.  25,  512) 
rügt,  mitunter  als  falsch  bezeichnet  werden. 

Ebenso  ist  es  öfters  falsch,  gewisse  Kochtsbegriffe  und  Wi rthschafts begriffe 
zu  indentificircn.  wie  ich  schon  in  der  1.  A.  meiner  Finanzwissenschaft  an  dem  practischen 
Beispiele  der  Staatseinnahmearten  (Rau-Wagncr.  Fin.  6.  Aufl  , I,  §.  85  ff.)  begründete. 
Zu  der  schärferen  Scheidung  der  rein  Ökonom  i scheu  und  der  Rechts  begriffe  und 
zum  Theil  in  Folge  hiervon  zu  der  genaueren  Ausbildung  der  volks  wirtschaftlichen 
im  Unterschied  von  einzcl-  und  privat  wirtschaftlichen  Begriffen  haben  Rodbertus 
und  die  deutschen  socialistischen  Thcrotiker  am  Meisten  beigetragen.  Im  Folgenden 
wird,  wie  principiell  auch  von  Schäffle,  A.  Held  möglichst  consequent  zwischen  rein- 
ökonomischen und  historisch-rechtlichen,  allgemein  volkswirtschaftlichen  und  einer  be- 
stimmten Phase  der  Privatwirtschaft  angchörigen  Kategorieen  und  Begriffen  unter- 
schieden und  hierin  in  dieser  3.  Auflage  noch  consequenter  verfahren,  auch  dio 
Unterscheidung  noch  auf  weitere  Begriffe  ausgedehnt,  als  in  den  beiden  ersten  Auf- 
lagen. Namentlich  zum  Verständniss  der  grossen  Streitfragen  zwischen  dem  ökonomischen 
Individualismus  und  Socialismus  über  die  Rechtsgrundlagen  der  Volkswirtschaft,  be- 
sonders über  die  Eigenthumsordnung  (Gemein-  und  Privateigenthum)  ist  diese  Unter- 
scheidung von  entscheidender  Bedeutung. 

Endlich  ist  mitunter  auch  für  die  Grundbegriffe  schon  der  Standpunct  der 
Production  und  der  Vertheilung  (S.  21)  zu  unterscheiden. 


288 


2.  B.  Grund  begriffe.  1.  I(.  Güter.  §.  109  ff. 


Erstes  Kapitel. 

Die  Güter. 

I.  — §.  109  [7],  Die  Unterscheidung  rein-ökono- 
mischer und  socialer  oder  historisch -rechtlicher 
Stand puncte  der  Betrachtung  in  der  Politischen  Oeko- 
nomie.  Auf  dem  ersten  Standpuncte  stellt  man  den  Menschen 
überhaupt  (die  Menschheit  als  ein  Ganzes)  der  äusseren  Natur 
gegenüber  und  verfolgt  die  sich  so  ergebenden  wirthschaftlichen 
Beziehungen.  Auf  dem  zweiten  Standpuncte  berücksichtigt  man 
zugleich  die  Lage  der  einzelnen  Menschen,  der  Volks-,  Standes-, 
Besitze  las  sen  in  einem  Volke  zu  einander  und  weiter  auch  die 
gegenseitigen  politischen  und  Machtverhältnisse  der  verschiedenen 
Völker,  welche  irgendwie  unter  einander  verbunden  sind,  und  ver- 
folgt dann  die  sich  mit  aus  diesen  Umständen  ergebenden  wirth- 
schaftlichen Verhältnisse  der  Einzelnen,  der  Classen , der  Völker 
zu  einander  und  zur  äusseren  Natur.  Diese  Standpuncte  der  Be- 
trachtung kann  man  mit  den  Worten  des  „rein-ökonomischen“  und 
des  „socialen“  oder  „historisch  rechtlichen“  wohl  passend  bezeichnen. 
Die  Unterscheidung  dieser  Standpuncte  führt  dann  auch  zur  Unter- 
scheidung von  rein-ökonomischen  und  socialen  oder  historisch-recht- 
lichen Katcgoricen  im  Wirthschaftsleben  und  insbesondere  auch 
bereits  bei  wichtigen  Grundbegriffen. 

Die  Unterscheidung  ist  vor  Allem  auf  Kodbertus  zurilckzuführen , welcher  sie 
namentlich  für  den  Kapitalbegriff  gemacht  hat  (s.  darüber  unten  §.  127,  129).  Sie 
ist  aber  viel  allgemeiner  durchzuführen,  in  der  Weise,  wie  cs  jetzt  hier  geschieht. 
Die  von  mir  gebrauchten  Ausdrücke  sind  wohl  nicht  ganz  unzweideutig.  Aber  man 
kann  sie  kaum  durch  andere  passendere  und  weniger  zweideutige  ersetzen.  Die  Be- 
zeichnung des  ersten  Standpuncts  als  des  „natürlichen“  wäre  zulässig,  aber  zu 
undeutlich;  die  von  mir  früher  gebrauchte  „kosmopolitisch“  (2.  Aufl.  S.  13)  ist 
auch  nicht  deutlich  und  nicht  unzweideutig  genug.  Der  Ausdruck  „social“  für 
den  zweiten  Standpunct  unterliegt  auch  nach  dem  Sprachgebrauch  in  Betreff  dieses 
Wortes  einigen  Bedenken,  ist  indessen,  namentlich  in  Verbindung  mit  dem  Zusatz 
..oder  historisch- rechtlich“  doch  wohl  nicht  bloss  zulässig,  sondern  der  passendste, 
welcher  sich  finden  lässt. 

II.  — §.  110  [5],  Die  Güter  im  Allgemeinen.  A.  Be- 
griff. Unter  „Gut“  wird  in  der  Politischen  Oekonomie  jedes 
Mittel  zur  Befriedigung  eines  Bedürfnisses  des  Menschen  verstanden 
(§.  23):  es  ist  ein  rein-ökonomischer  Begriff,  der  aus  dem 
Wesen  des  Menschen  und  der  äusseren  Natur  folgt. 

Vgl.  Kau,  I,  §.  1.  2,  40,  47.  Die  Definitionen  von  „Gut“  weichen  bei  den 
Autoren  mehrfach  ab,  s.  die  Zusammenstellung  von  K.  Menger,  Volkswscb.  1.,  I,  3. 
— Kau  behandelt  nur  die  Sachgüter  (körperliche,  materielle,  stoffliche,  äussere): 
„Bestandteile  der  Sinnenwelt,  die  den  menschlichen  Absichten  entsprechen,  und  da- 
her wünschens-  und  begehrenswert  sind“  (§.  1).  Vgl.  auch  Neumann,  Tüb.  Ztscbr. 
B.  2S,  S.  23$  fl".  — Koscher  nennt  Gut  „alles  dasjenige,  was  zur  Befriedigung 


fc 


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Begriff.  Entwicklung,  Eintheilong  der  Güter. 


289 


eines  wahren  menschlichen  Bedürfnisses  anerkannt  brauchbar  ist“  (§.  1).  Der  Zu- 
satz „anerkannt“  ist  überflüssig,  weil  selbstverständlich,  da  nur  in  Beziehung  auf 
Menschen  überhaupt  von  Gütern  gesprochen  wird.  Der  Zusatz  „wahr“  bei  dem  Be- 
dürfniss  ist  falsch  und  wird  mit  Roschers  Motivirung  nicht  begründet.  Denn  auch  das, 
was  ein  unvernünftiges  und  unsittliches  Bedurfniss  befriedigt,  ist  ein  „Gut“,  sobald  eben, 
wohl  oder  übel,  das  Bedürfnis  besteht.  „Um  den  Grundbegriff  der  Volkswirtschafts- 
lehre auch  gleich  als  einen  Gegenstand  ethischer  wie  psychologischer  Untersuchung 
zu  vindiciren“,  bedarf  es  des  Zusatzes  ebensowenig.  Dies  folgt  schon  aus  dem  Um- 
stande, dass  Güter  wie  Bedürfnisse  dem  menschlichen  Triebleben  unterstehen.  — 
Neu  mann  (im  Schöuberg’schen  Handb.  I,  3.  A. , S.  136,  §.  3)  bringt  gleich  die 
Güteklassen  mit  in  die  Definition,  versteht  auch  unter  „Gütern  schlechtweg“  gleich 
„volkswirtschaftliche“  oder  „wirtschaftliche“  Güter  und  sagt:  „Güter  sind  Sachen 
und  Rechte,  i.  e.  S.,  soweit  sie  geeignet  resp.  ihrer  Natur  nach  dazu  bestimmt  scheinen, 
dem  Selbstinteresse  Jemandes  dienstbar  gemacht  zu  werden.“  Ich  glaube  doch  dem 
gegenüber  an  meiner  früheren  Auffassung  und  Behandlung  festhalten  zu  dürfen.  — 

Regelmässig  und  mit  Recht  wird  der  Begriff  „Gut“  (bez.  wirtschaftliches  Gut) 
an  die  Spitze  der  Grundbegriffe  gestellt  und  von  ihm  aus  zum  Begriff  Vermögen  und 
namentlich  Werth  fortgeschritten.  Umgekehrt  ist  G.  Cohn  vorgegangen,  der  erste 
und  secundäre  Begriffe  (I,  1S9  ff.)  unterscheidet,  unter  jenen  den  Begriff  Wirtschaft 
voranstellt,  dann  zum  Begriff  des  Werths  kommt,  und  von  diesem  Begriff  ans  erst 
zu  dem  des  Guts  gelangt,  den  er  unter  die  secundärcu  (?)  Begriffe  weist  und  als  „jeden 
Gegenstand,  der  Werth  hat“  definirt  (S.  204).  M.  E.  ist  die  übliche  Behandlungs- 
weise und  Reihenfolge  die  logisch  richtigere  und  natürlichere. 

B.  — §.  111  [5].  Entwicklung  der  Güter.  Die  Güter 
vermehren,  vervielfältigen,  verändern,  verfeinern  sich  mit  den  ent- 
sprechenden Vorgängen  bei  den  Bedürfnissen  (§.  23);  zum  Theil 
auch  umgekehrt:  so  dass  ein  Wechsel wirkungsverhältniss  besteht, 
wie  z.  B.  ein  grosser  Theil  des  Absatzes  von  Luxusartikeln  und 
neuen  Dingen  überhaupt  darauf  beruht,  erst  das  Bedürfnis  her- 
vorzulocken. Ferner  ist  die  wachsende  Einsicht  des  Menschen  in 
das  Wesen  und  in  die  Brauchbarkeit  der  Dinge  für  die  Entwick- 
lung der  Güter  von  Einfluss. 

Naturwissenschaftliche  Fortschritte,  Entwicklung  der  Technik.  Auffindung  neuer 
Naturproducte  fremder  Länder.  K.  M enger,  Volkswirtschaftslehre  S.  3,  stellt 
vier  Bedingungen  dafür  auf,  dass  ein  Ding  ein  Gut  werde. 

C.  — §.  112  [6].  Eintheilung  der  Güter.  Innere  und 
äussere  Güter.  Die  Eintheilung  knüpft  sich  zunächst  an  die- 
jenige der  Bedürfnisse  an  (§.  23),  wonach  vor  Allem,  in  der  früher 
schon  dargelegten  Weise  (§.  23),  innere  und  äussere  Güter  zu 
unterscheiden  sind,  die  erste  und  wichtigste  Eintheilung. 

1.  Ein  äusseres  Gut  ist  das,  was  Jemand  in  sich  findet  oder 
freithätig  in  seinem  eigenen  Inneren  erzeugt  (v.  Hermann), 
(Muskelkraft,  Gesundheit,  inneres  Seelenleben,  Gedankenwelt,  Gaben, 
Eigenschaften,  Kenntnisse).  Solche  Güter  können  in  persön- 
lichen Diensten  des  Besitzers  zu  äusseren  Gütern  eines  Anderen 
werden. 

2.  Ein  äusseres  Gut  ist  ein  solches,  welches  Jemandem  aus 
der  Aussenwelt  Bedürfnissbefriedigung  ermöglicht. 

A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Thoil.  Grundlagen.  19 


290 


2.  B.  Grundbegriffe.  1.  K.  Güter.  §.  112  ff. 


S.  Rau  I,  §46  ff.  Er  nennt  § 1 die  inneren  Güter  persönliche,  v.  Hermann, 
Untersuchungen,  2.  A.,  S.  103  ff.,  sehr  speciell  von  Mangold  t,  Grundriss  § 4, 
vgl.  auch  desselben  Art.  Gut  im  Staatswörterbuch  (Bluntschli-Brater)  B.  IV.,  Schäffle, 
System.  3.  Aufl.,  I.  §.  31,  32.,  S.  66.  Neumann  (in  d.  gen.  Arbeiten  im  Schönbcrg’- 
schen  Handb.  I.  3.  A.,  S.  136)  identiiicirt  gleich  den  Gutsbegriff  mit  dem  der  volks- 
wirtschaftlichen Güter  aus  mich  nicht  überzeugenden  Zweckmässigkeitsgründen.  Ebenso 
wie  Neumann  Cohn  (I,  204),  und  auch  Sax,  Staatswirthschaft  S.  114.  — Die 
lehrreich  ausgeführte  Unterscheidung  Menger’s,  Volkswirtschaft  §.  2 („über  den 
Causalzusamincnbang  der  Güter“)  von  Gütern  1.,  2..  3.  Ordnung  u.  s.  w.  ist  doch 
eigentlich  nur  eine  Umschreibung  des  anerkannten  Satzes,  dass  zur  Herstellung  von 
Gütern  Kapital  und  zwar  nicht  abstractes,  sondern  con  er  et  es  Kapital  der  und  der 
Art  notwendig  vorhanden  sein  muss. 

D.  — §.  113  [7  und  8].  Eintheilung  der  äusseren 
Güter.  Diese  sind,  je  nachdem  die  Erlangung  dem  Begehrer 
Arbeit  (Opfer)  (§.  27)  kostet  oder  nicht,  freie  oder  wirtschaft- 
liche Güter1).  Diese  Unterscheidung  gestaltet  sich  aber  wesentlich 
verschieden  nach  den  beiden  vorher  (§.  109)  unterschiedenen 
Standpuncten  der  Betrachtung,  wobei  sich  gleich  an  einem  ersten 
wichtigen  Beispiel  die  Bedeutung  dieser  Auseinanderhaltung  der 
beiden  Standpuncte  zeigt. 

1.  Rein-ökonomischer  Standpunct.  Freie  („natur- 
freie“) Güter  sind  hier  solche,  wrclche  der  Menschheit  von  der 
Natur  ohne  menschliche  Arbeit,  bezw.  wenigstens  nur  gegen  die 
bloss  occupatorische  Arbeit  des  Aneignens  in  jedem  einzelnen 
Falle  des  Bedürfnisses  (wobei  Thätigkeiten  des  Sammelns,  Suchens, 
Verfolgens  u.  s.  w.  Vorkommen  können)  geliefert  werden.  Wirt- 
schaftliche Güter  dagegen  sind  hier  diejenigen,  zu  deren 
Erlangung  behufs  der  Bedürfnissbefriedigung  irgend  eines  Men- 
schen irgendwelche  menschliche  Arbeit  die  Vorbe- 
dingung ist. 

Auch  die  freien  Güter  werden  im  einzelnen  Falle  daher  insoweit  wirtschaft- 
liche, als  sie  jene  Aneignungsarbeit  irgendwie  erfordern,  z.  B.  wild  wachsende  Früchte, 
Thiere,  Wasser  u.  dgl.  — v.  Mangoldt  nennt  dem  ersten  Standpunct  gemäss  ganz 
richtig  wirtschaftliche  Güter  dio,  welche  durch  menschliche  Arbeit  hergestellt  oder 
erworben  wurden  — nicht  werden,  d.  h.  nicht  notwendig  im  einzelnen  Fall 
werden. 

Jene  freien  Güter  bilden  wieder  zwei  (Massen: 

a)  Die  allgemeinen  Güter,  d.  h.  solche,  deren  ausschliess- 
liche Aneignung  durch  einzelne  Menschen,  durch  Vereinigungen 
von  solchen  und  selbst  durch  Völker  unmöglich  ist,  wie  die 
Luft,  das  Tageslicht,  die  Sonnenwärme,  das  Weltmeer  als  Ganzes 
und  seine  grösseren  Abtheilungen  (Oceane). 


*)  Hermann.  S.  104 ff.  — Rau.  §.  46 ff.  — Schäffle,  Syst.  §.  3:t.  — Besonders 
eingehend  und  scharf  über  die  ökonomischen  und  uichtökonomischen  Güter  und  ihr 
Verhältniss  zu  einander  Mengcr,  I.,  51  ff  — 


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Eintheilung  der  äusseren  Güter. 


291 


Wenigstens  liegt  kein  Beispiel  vor,  dass  grosse  Meere  wirklich  so  von 
einem  YTolke  allein  beherrscht  sind,  wenn  auch  theoretische  Ansprüche  dieser  Art  be- 
standen. Anders  bei  kleinen  Meeren  oder  Theilen  der  See.  (Theorien  vom  rnare 
clausum,  d.  h.  von  für  den  Verkehr  eiues  Volkes  vorbehaltenen  Meeren.) 

b)  Freie  Besitzgüter  („bedingt  freie“,  Held),  d.  h.  solche, 
welche  ihrer  Wesenheit  nach  eine  ausschliessliche  Aneignung  zwar 
zulassen  würden,  aber,  wenigstens  was  ihren  Gesammtvorrath 
anlangt,  noch  herrenlos  geblieben  sind,  weil  die  vorhandene  Menge 
den  Bedarf  übersteigt,  indem  die  Natur  sie  an  dem  Orte,  wo  sie 
gebraucht  werden  können,  in  solcher  Fülle  zur  Verfügung  stellt, 
dass  kein  Beweggrund  vorhanden  ist,  von  einem  überschüssigen 
Vorrathe  Besitz  zu  nehmen. 

(Zum  Theil  nach  Kau  I.  §.  47.)  Zu  diesen  Gütern  gehören  in  primitiven  Ver- 
hältnissen des  Volkslebens,  vor  der  festen  Ansiedlung  an  bestimmten  Orten  und  auch 
noch  in  der  ersten  Zeit  nach  derselben,  vielfach  Grundstücke  überhaupt  und  auch 
späterhin  noch  bestimmte  Arten  von  Grundstücken,  wie  Waldboden,  Weide- 
land, Heide.  Wasserstücke;  ferner  vom  Bode n abtrennbare  Naturproducte,  wie 
Wasser,  Steine,  Holz,  wildwachsende  Pflanzen,  Früchte,  Thiere.  Mit  steigender  Volks- 
dichtigkeit pflegt  indessen  eine  mehr  oder  weniger  vollständige  ausschliessliche  Besitz- 
ergreifung durch  Einzelne,  geschichtlich  anfänglich  meistens  durch  Vereinigungen  von 
Einzelnen  (als  Stamm,  Geschlecht,  Siedelungsgemeinde)  mit  diesen  freien  Besitzgütern 
vorgenommen  zu  werden.  Die  Kechtsordnung  in  ihrer  späteren  Entwickelung 
sanctionirt  dies  in  der  Gewährung  von  privaten  Eigenthums-  und  Nutzungsrechten  au 
den  freien  Besitzgütern.  Alsdann  nehmen  diese  Güter  immer  einige,  mitunter  alle 
wesentlichen  Eigenschaften  der  wirtschaftlichen  Güter  an,  d.  h.  sie  werden  ins- 
besondere besitzbare  (Kau),  d.  h.  eine  dauernde,  auch  private  Aneignung  und  beliebige 
Benutzung  durch  den  Einzelnen  gestattende  und  werden  daher  auch  verkobrsmässig 
erworben  und  fortgegeben  (§.  115). 

§.  114  [9].  2.  Socialer  oder  historisch-rechtlicher 
Standpunct  (der  Einzelnen,  der  Volksclassen,  eines 
besonderen  Volkes).  Die  eben  erörterte  Unterscheidung  zwischen 
freien  und  wirtschaftlichen  Gütern  verschiebt  sich  hier  nach  der 
socialen  Stellung  der  Einzelnen  und  der  Classen  und  nach 
der  für  die  Freiheit,  Unfreiheit,  Arbeit  des  Menschen  und  für  die 
Eigenthums-  und  Nutzungsrechte  der  Güter  (der  freien  Besitzgüter 
wie  der  eigentlich  wirtschaftlichen  Güter)  geltenden  Rechts- 
ordnung, — hier  wird  daher  der  Begriff  des  wirtbschaftlichen 
Guts  zugleich  ein  Rechts  begriff  — ; ferner  zwischen  ver- 
schiedenen Völkern  nach  der  politischen  Machtstellung  — 
wozu  auch  die  durch  die  geographische  Lage  des  Landes 
gegebenen  natürlichen  Vorzüge  und  Nachtheile  gehören  können. 

Hier  ist  zu  erwähnen : 

a)  Der  vorerwähnte  Fall,  das  freie  Besitzgtiter  durch 
Uebergang  in  das  Eigenthum  oder  Nutzungsrecht  Ein- 
zelner oder  gewisser  Classen  den  Character  wir thschaftli eher 

iu  * 


292 


2.  B.  Grundbegriffe.  1.  K.  Güter.  §.  114,  115. 

Güter  annehmen,  theils  allgemein,  auch  für  die  Besitzer,  theils 
•insbesondere  für  Dritte  (Nichtbesitzer,  Bedürfende,  Begehrer). 

So  besonders  bei  Entstehung  des  Privateigenthums  am  Grund  und  Boden 
und  an  den  darauf  frei  von  der  Natur  geschaffenen  Producten.  Diese  Auffassung  wird 
nicht  alterirt  durch  die  verschiedene  Entscheidung  der  Streitfrage,  ob  im  Tauschwerth 
des  Grund  und  Bodens  nur  die  Zuthaten  an  menschlichen  Leistungen  (Arbeit,  Kapital) 
vergolten  werden,  wie  Basti at  meint,  oder  dieser  Werth  höher  ist  oder  wenigstens 
sein  kann.  Das  Eigenthumsverhältniss  als  solches  bewirkt,  dass  der  Boden  in  die  Reihe 
der  wirtschaftlichen  Güter  tritt. 

Namentlich  bewirken  Naturmonopole  der  Lage,  so  besonders  in  städ- 
tisch en  Verhältnissen,  dann  unter  dem  Einfluss  des  Klimas  für  die  Agrarproduction 
ganzer  Länder,  ferner  Naturmonopole  der  specifischen  Bodenergiebigkeit 
z.  B.  bei  besonders  guten  Weinbergen  und  zwar  auch  zwischen  verschiedenen  Völkern, 
z.  B.  beim  Absatz  tropischer  Producte  nach  Ländern  der  gemässigten  Zone1)  — dass 
wenigstens  partiell  naturfreie  Güter  zu  rein  wirtschaftlichen,  beim  Erwerbe  höchst- 
möglich vergoltenen  werden. 

Die  Ricardo-Thünen'sche  Grundrentenlehre,  die  auch  was  Ricardo  betrifFt 
in  ihrem  Kern  m.  E.  unumstösslich  ist,  ferner  die  richtige  Erweiterung  dieser  Lehre 
durch  Hermann  und  besonders  durch  von  Mangoldt  und  Scliäffle  stimmt  hier- 
mit überein. 

b)  Umgekehrt  werden  Güter,  welche  vom  rein-ökonomischen 
Standpuncte  der  Menschheit  aus  wirtschaftliche , 
weil  nur  unter  Vermittlung  menschlicher  Arbeit  gewonnene  sind, 
für  Einzelne,  Stände,  Classen,  Völker  ganz  oder  theilweise  zu 
freien,  d.  h.  zu  unentgeltlich  erworbenen. 

Die  wichtigsten  Fälle  dieser  Art  kommen  bei  den  Rechtsinstituten  der  persön- 
lichen Unfreiheit,  bei  der  Sclavcrei,  Leibeigenschaft  und  bei  Frohnarbeit  vor. 
Diese  Fälle  haben  für  das  gesammte  Volksleben  eine  grosse  Bedeutung,  weil  die  Ver- 
fügung über  die  Producte  der  gezwungenen  Arbeit  der  Unfreien  der  herrschenden 
Classe  und  durch  sie  dem  Staate  die  Mittel  zu  besonderer  — namentlich  auch  früh- 
zeitigerer, als  sonst  möglich  — Cultur-  und  Kunstblüthe  bieten  kann.  Achulicli 
wirken  im  Völkerleben  Tribut  Verhältnisse,  in  Weltreichen  und  grösseren  Staaten 
Ausbeutung  der  Provinzen  vom  Centrum  aus  (Alt-Rom!);  vielfach  überhaupt 
schon  die  stärkere  Centralisation  der  Staatsthätigkeiten  in  der  Hauptstadt.  Die 
Cultnrgüter  des  Unterrichts,  der  Bildung,  der  feineren  Sitte  u.  s.  w.  kommen  z.  B. 
dem  Hauptstädter  bei  uns  wohlfeiler  als  dem  Provincialen,  weil  sie  eben  partiell  für 
jenen  freie  Guter  im  angegebenen  Sinne  sind.  Ausserdem  hat  aber  auch  bei  per- 
sönlicher Freiheit  die  social  gedrückte  Lage  der  unteren  Classen  Öfters 
allgemein  die  Tendenz,  jedenfalls  schafft  sie  leicht  die  Möglichkeit,  die  Güter,  welche 
für  diese  Classen  rein  wirthschaftliche  sind,  für  die  übrigen  (höheren)  Classeu  mehr 
oder  weniger  zu  freien,  d.  h.  zu  nicht  genügend  vergoltenen  zu  machen. 

Ein  Punct  von  grosser  Bedeutung  für  die  richtige  und  unbefangene  Beur- 
teilung der  heutigen  Arbeiterfrage  und  der  Bestrebungen,  den  Lohn  auf  Kosten 
des  Gewinns  der  Unternehmer  und  Kapitalisten  und  auf  Kosten  der  höhere  Preise 
zahlenden  wohlhabenderen  Consumcnten  zu  steigern.  A.  Wagner,  Rede  über  die 
sociale  Frage,  S.  23  lf.,  L,  Brentano,  zur  Lehre  v.  d.  Lohnsteigerungen,  llildebr. 
Jahrb.  XVI,  251  ff..  Lange,  Arbeiterfrage,  3.  Aufl.,  S.  190.  Solche  Verbesserung 
der  Lage  der  Arbeiter  vollzieht  sich  auf  dieselbe  Weise,  wie  diejenige,  welche  aus 
Luxuseinschränkuug  der  Wohlhabenden  hervorgeht.  Mi  11  hat  dafür  die  Schablone 
gut  aufgestellt,  Polit.  Oekon.,  Deutsch  v.  Sötbeer,  2.  Aufl.,  Hamb.  1S64,  1.  Buch. 
Kap.  5,  §.  3. 

*)  Einen  interessanten  Belegfall  bildeu  die  Ausfuhrzölle  auf  Producte  einer 
Art  Naturmonopols,  welche  in  manchen  Ländern  (Südeuropa,  tropische  Länder)  in  der 
sicheren  Voraussetzung,  sie  auf  die  fremden  Consumcnten  zu  wälzen,  aufgelegt  werden. 
Vcrgl.  hierüber  meinen  Art.  Zölle,  Staatswörterb.  XI.,  350,  353  fl. 


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Arten  der  Erwerbung  wirtschaftlicher  Güter. 


293 


Diese  „sociale“  oder  „historisch-rechtliche“  Auf- 
fassung des  Begriffs  der  freien  und  wirtschaftlichen  Güter  ist 
neben  der  erstbesprochenen  rein-ökonomischen  bisher  zu 
wenig  beachtet  worden,  obgleich  sie  grössere  Wichtigkeit  hat,  als 
die  letztere.  Es  ergiebt  sich  darnach  aus  dem  Dargelegten  das 
wichtige  Resultat,  dass  die  Unterscheidung  zwischen  diesen  Güter- 
arten keine  absolute,  sondern  eine  relative,  von  der  Rechts- 
ordnung und  der  socialen  Stellung  der  Betheiligten  mit  ab- 
hängige ist.  Der  Zusammenhang  der  Unterscheidung  mit  dem 
„Vertheilungsproblem“  ist  damit  zugleich  erwiesen. 

III.  Arten  der  Erwerbung  wirtschaftlicher  Güter. 
§.  115  [10].  A.  Uebersicht. 

Vgl.  hierzu  besonders  unten  iu  Buch  3 die  Erörterungen  über  den  Wirth- 
schaftsbetrieb  und  das  gauze  Buch  5 (Organisation  der  Volkswirtschaft).  Der  hier 
in  §.  115  ff.  behandelte  Gegenstand  wird  gewöhnlich  in  den  Systemen  an  andere 
Stelle  gebracht.  Aber  es  erscheint  passend , ihn  schon  hier  in  Kürze  zu  behandeln, 
um  zunächst  nur  die  rein  natürlichen  Möglichkeiten  bez.  die  historisch 
üblichen  Arten  eines  Güterwerbs  Seitens  des  einzelnen  Bedürftigen  zu  kategorisiren. 
Vgl.  Hermann,  S.  129 — 132. 

Die  ältere,  besonders  die  britische  Theorie  hat  hier  zwei  Fehler  begangen, 
welche  erkannt  und  vermieden  werden  müssen.  Sie  hat  einmal  die  ganze  Entwick- 
lung des  derivativen  Erwerbes  zu  mechanisch  und  zu  abstract  aus  einer  Art  natür- 
lichen „Tauschtriebes“  abgeleitet  und  dabei  regelmässig  nur  die  verkehrs- 
inässige  Erwerbung  der  Güter  beachtet  oder  wenigstens  fast  allein  betrachtet;  und 
sie  hat  zweitens  die  historische  Bedingtheit  und  Beeinflussung  der  Ent- 
wicklung der  Erwerbsarten  und  der  dafür  mit  maassgebeuden  Verhältnisse  der  Ar- 
beitstheilung  und  des  Verkehrs,  daher  insbesondere  auch  der  verkehrsuiässigen 
Erwerbung  der  Guter,  durch  die  Besitzverhältnisse  und  die  hierdurch  wieder 
bedingten  Herrschafts-  oder  Autoritäts-Verhältnisse  (Herrn.  Rösler  s.  u.)  und 
durch  die  Einrichtungen  und  Normen  des  Marktwesens  und  der  weiteren  mit  diesen 
in  Verbindung  stehenden  Einrichtungen  nicht  genügend,  häufig  gar  nicht  berück- 
sichtigt. In  diesem  Puncte  ist  der  historischen  Nationalökonomie  die  Berichtigung 
der  älteren  ganz  abstracten  Behandlungsweise  dieser  Dinge  zu  verdanken. 

Die  Erwerbung  der  wirthschaftlicben  Güter  zum  Behufe 
der  Bedürfnisbefriedigung  kann  für  den  einzelnen  Bedürf- 
tigen oder  für  das  Haupt  einer  Wirth Schaft  (das  einzel- 
wirthschaftliche  Subject  §.  147)  auf  zweierlei  Weise  erfolgen, 
von  denen  sich  die  zweite  dann  weiter  in  eine  Reihe  besonderer 
Arten,  deren  hier  vier  unterschieden  werden,  specialisirt.  Die  erste 
Hauptart  nennen  wir  die  ursprüngliche,  die  zweite  umfasst 
die  vier  Arten  des  abgeleiteten  (derivativen)  Erwerbs. 

1.  Die  ursprüngliche  Erwerbung  (Eigengewinnung, 
Selbstgewinnung,  Eigenproduction,  naturale  Ge- 
winnung) stellt  wieder  die  rein-ökonomische  Kategorie  der 
Gtitererwerbung  dar.  Sie  erfolgt  unmittelbar  durch  Arbeits- 
leistung des  oder  der  Bedürftigen  selbst,  indem  die  Arbeit 


294 


2.  B.  Grundbegrille.  1.  K.  Güter.  §.  115. 


stets  unter  Mitwirkung  der  Natur,  auf  die  erstmalige  Natural -Ge- 
winnung der  bedurften  concreten  oder  naturalen  Güter  gerichtet 
wird.  Die  menschliche  Arbeit  hat  dabei  die  Aufgabe,  die  Güter 
der  Natur  abzugewinnen  und  die  Natur  demgemäss  zu  deren  Her- 
stellung entsprechend  anzuleitcn.  Diese  Erwerbsart  ist  natürlich 
für  die  Menschheit  die  eigentliche  und  einzige. 

2.  Die  verschiedenen  Arten  des  abgeleiteten  Erwerbs  stellen 
historisch -rechtliche  Kategorien  dar,  für  welche  die  Normen 
der  Rechtsordnung  in  Bezug  auf  Unfreiheit,  Freiheit,  Besitz 
(Eigenthum),  Verträge,  und  die  öffentlichen  Einrichtungen 
und  Normen  des  Markt wesens  und  weiter  des  ganzen  Ver- 
kehrswesens mit  bestimmend,  auch  wohl  entscheidend  sind.  Daher 
auch  ein  verschiedenes  historisches  und  örtliches  Vorkommen 
der  einzelnen  hierhergehörigen  Erwerbsarten,  und  eine  verschiedene 
historische  Reihenfolge  und  Verbindung  derselben  miteinander  und 
eine  verschiedene  Ausbildung  einer  jeden  derselben.  Von  solchen 
abgeleiteten  Erwerbsarten  lassen  sich  vier  typische  unterscheiden, 
welche  hier  mit  den  Namen  Zutheilung  von  Gütern  durch 
Autoritäten,  caritativer  Erwerb,  Zwangserwerb,  ver- 
kehrsmässiger,  bzw.  vertragsmässiger  Erwerb  bezeichnet 
werden  sollen. 

Diese  Unterscheidungen  sind  namentlich  wieder  für  die  grossen  Fragen  der  Or- 
ganisation und  der  Rechtsordnung  der  Volkswirthschaft  und  für  die  historischen  Phasen 
beider  wichtig,  daher  einmal  für  die  Zustände  persönlicher  Unfreiheit  und  Freiheit, 
primitiver,  patriarchaler  und  entwickelter,  freier  Verhältnisse  der  Volkswirthschaft: 
ferner  für  die  Verhältnisse  einer  auf  Privateigenthum  an  sachlichen  Productions- 
mitteln  (Boden  und  Kapital)  und  einer  auf  gesellschaftlichem  Gemcineigeuthum  an 
diesen  Objecten  beruhenden  Volkswirthschaft,  daher  für  die  „Vertheilungsfragen“, 
welche  zwischen  dem  ökonomischen  Individualismus  und  Socialismus  spielen. 

a)  Zutheilung  der  Güter  durch  Autoritäten. 

Hierhin  gehören  die  Verhältnisse  im  Familicnverbandc  und  in  ähnlichen  Ver- 
bänden älterer  Wirthschafts-  und  Culturstufen  bis  zu  den  noch  in  die  Gegenwart  hinein- 
ragenden (südslavische  Hauscommunionsverhältnisse  u.  s.  w.);  ferner  die  Verhält- 
nisse in  der  mit  Unfreien  oder  sonst  Abhängigen  arbeitenden  Wirthschaft  (antike  Oekcn- 
wirthschaft,  mittelalterliche  Frohnhof-  und  Klostcrholwirthschaft,  neuere  Sclavereiwirth- 
schaft,  Klosterwesen  und  verwandte  Einrichtungen,  Strafanstalten  u.  dgl.)  — Ob  man 
im  „Socialstaate“  eine  andere  Form  der  Zuführung  der  Güter  an  die  Bedürftigen  würde 
überhaupt  durchführen  können,  ist  bei  der  Grundlage  einer  socialistische  Organisation 
der  Volkswirthschaft  und  bei  den  aus  dieser  Organisation  sich  noth wendig  ergebenden 
Folgen  für  die  Gestaltung  des  „Verthcilungsproblems“  mindestens  fraglich. 

b)  Caritativer  Erwerb  (bzw.  caritative  Zutheilung 
der  Güter). 

Hierher  gehört  die  freiwillige,  unentgeltliche  (bez.  die  nicht  voll  nach 
den  Grundsätzen  des  verkehrsmässigen  Erwerbs  erfolgende  Ueberlassung  von  Gütern 
seitens  der  Besitzer  oder  Verfüger  an  die  Bedürftigen:  Fall  des  Geschenks,  des  Almosens, 
überhaupt  der  werkthätigen  Menschenliebe.  Eventuell  wurde  man  einige  Fälle  der 


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Arten  des  abgeleiteten  Erwerbs. 


295 


unter  a erwähnten  Zuteilung  auch  hier  mit  cinreihen  können.  (Unterhalt  der  Familien- 
angehörigen, der  Verwandten). 

Eine  solche  Einführung  eines  neuen  Ausdrucks  wie  „caritativcr“  Erwerb 
hat  ihr  Missliches,  aber  sic  ist  ein  Bedürfniss,  um  mit  einem  Gesammtnamen 
das  Gebiet  der  nach  den  Grundsätzen  des  Gemeinsinns,  der  Liebe,  des  religiösen 
Motivs,  der  Humanität  erfolgenden  Erwerbsarten  zusammen  zu  fassen.  Einen  besseren 
Ausdruck  als  den  gewählten  und  einen  ebenso  unzweideutigen  kenne  ich  nicht. 

c)  Zwaogserwerb:  zwangsweise  unentgeltliche  bez. 
nur  generell  und  nach  Feststellung  bloss  der  ein en  betheiligten 
Partei  entgoltene  Ueberlassung. 

Hierhin  gehören: 

«)  Die  unrechtmässigen,  d.  h.  streng  wörtlich:  dem  Rechte  nicht  ge- 
rn ässen  und  gewalttätigen  Erwerbungen  wirtschaftlicher  Güter. 

Angesichts  flagranter  Thatsachen  in  jedem  Zeitalter  und  des  vorherrschenden 
Characters  der  Erwerbsart  gauzer  Völkerschaften  in  gewissen  Zeitaltern  (Seeraub,  wo- 
bei freilich  erst  ein  wahres  jus  gentium  als  bestehend  angenommen  werden  muss,  dem 
dieser  Erwerb  nicht  gemäss  ist)  kann  dieser  Fall  nicht  ausgelassen  werden. 

ß)  Die  rechtmässigen,  d.  h.  wieder  wörtlich : dem  (einerlei  wie  beschaffenen^ 
Rechte  gemässen  Erwerbungen,  bei  welchen  das  Recht  die  Unentgeltlichkeit  oder 
die  bloss  generell  und  einseitig  entgoltene  Ueberlassung  regelt,  nämlich 

aa)  die  Fälle  der  verschiedenen  Arten  der  persönlichen  Unfreiheit  eines 
Thcils  der  Bevölkerung,  wo  immer  nur  höchstens  generelle  (im  Lebensunter- 
halt und  in  der  Schutzgewähr  der  Sclavcn)  und  einseitig  vom  Herrn  be- 
stimmte speciclle  Entgeltlichkeit  (Gegenleistung  des  Herrn  an  den  Leibeigenen, 
den  Frohnarbeiter)  oder  vom  Rechte  zum  Nachtheil  des  Unfreien  festgestellte  Ent- 
geltlichkeit (im  Colonat,  Hörigkeit  u.  s.  w.)  stattfindet; 

bb)  die  Fälle  der  „öffent  liehen  Körper“  oder  der  ökonomisch  so  zu  nennen- 
den Zwangsgemeinwirthschaften,  insbesondere  des  Staats,  wo  gleichfalls 
zwischen  Besteuerung  und  Leistungen  dieser  Wirtschaften  für  die  ihnen  Angehörigen 
nur  das  Princip  genereller,  einseitig  vom  Subjccte  der  Gemeinwirthschaft  fest- 
gestellter  Entgeltlichkeit  obwaltet. 

Die  drei  genannten  Hauptfälle  der  Zwangserwerbsarten  lassen  sich  mit  einem 
technischen  Ausdrucke  als  unrechtmässige  und  rechtmässige  Ausbeutung 
fremder  Arbeit  und  fremden  Besitzes  und  als  Besteuerung  bezeichnen. 

d)  Verkehrs  massiger,  bzw.  (weil  dies  hier  die  in  Betracht 
kommende  Rechtsform  ist)  vertragsmiissiger  Erwerb.  Hier 
ist  die  Voraussetzung  persönliche  Freiheit  und  Privateigenthum 
bezüglich  der  Objecte,  um  deren  Weggebung  oder  Erwerbung  es 
sich  handelt.  Freiwillig  und  im  einzelnen  Fall  nach  einem, 
von  beiden  Parteien  vereinbarten  speci eilen  Entgelt  erfolgt  hier 
der  Uebergang  von  Gütern  von  dem  Einen  auf  den  Anderen. 

Hierher  gehören  namentlich:  Tausch,  Kauf  und  Verkauf  von  Sachgütern,  Guter- 
übergänge  in  Folge  von  Kreditverträgen  (Darlehen,  Ueberlassung  von  Gütern  zur  Nutzung 
Miete,  Pacht);  Ucbertragungen  von  Schuldurkundcn  und  Anteilscheinen  (Actien); 
Vermietung  der  Arbeitskraft  gegen  Entgelt  (Dienstmicthe,  Arbeitslohnvertrag  u.  dgl.  in.). 

B.  — §.  116  [11].  Vorkommen  und  Berechtigung 
dieser  Erwerbsarten.  Die  Wirthschaftslehre  hat  meistens  zu 
ausschliesslich  die  ursprüngliche  und  die  verkehrsmässige  Erwerbs- 
art der  wirthschaftlichen  Güter  betrachtet,  weil  man  gewöhnlich 
persönliche  Freiheit  und  Eigenthum  und  genügenden  Rechtsschutz 


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29G 


2.  B.  Grundbegriffe.  1.  K.  Guter.  §.  116,  117. 


dafür  durch  den  Staat  als  selbstverständliche  Voraussetzungen 
der  Wirtschaft  und  des  Erwerbs  ansah.1)  Die  drei  anderen  Arten 
abgeleiteten  Erwerbs  haben  in  den  verschiedensten  Phasen  der  ge- 
schichtlichen Entwicklung  der  Menschheit  und  ihrer  Theile,  der 
Völker,  aber  eine  nicht  zu  unterschätzende  Bedeutung  besessen 
und  besitzen  sie  noch,  dürfen  daher  nicht  unberücksichtigt  bleiben. 
Die  autoritativen  Zutheilungen  wenigstens  in  gewissen  Fällen 
(Familie!)  und  allgemeiner  in  gewissen  Zeitaltern  und  geschicht- 
lichen Phasen  der  Besitzverhältnisse,  die  caritativen  und  die  recht- 
mässigen ZwaDgserwerbsarten  haben  auch  ihre  principielle 
Berechtigung,  theils  dauernd  und  allgemein  und,  soweit  die  Zwangs- 
gemeinwirthschaften  in  Betracht  kommen,  heute  mehr  als  je,  theils 
selbst  was  die  persönliche  Unfreiheit  anlangt,  in  gewissen  Zeit- 
altern. 

Die  Form  der  Zutheilung  von  Gütern  durch  Autoritäten  war  in  ganzen  Zeit- 
altern und  auf  ganzen  Wirthschaftsstufen  für  die  Masse  der  Bevölkerung  die  vor- 
herrschende, ja  selbst  die  einzige  für  die  Bedürfnissbefriedigung  in  Betracht 
kommende.  Und  im  Familien  verbände  hat  sie  eine  bleibende  Stelle,  solange 
es  „Familien“  gab  und  geben  wird. 

Nicht  nur  die  religiösen  Motiven  entspringende  Wohlthätigkeit  und 
Freigebigkeit  (mittelalterliche  Kirche!),  sondern  auch  die  politischen  Zwecken 
dienenden  Bezahlungen,  ja  förmlichen  Besoldungen  der  Bürger  für  die 
Theilnahme  an  den  Staatsgeschäften,  selbst  an  den  Volksversammlungen  in  Athen, 
dio  Fälle  des  athenischen  Theorikon,  der  Speisungen,  der  Getreidespenden  in  Athen, 
Rhodos  (Buchsenschutz,  Besitz  u.  Erwerb  im  griech.  Alterth.,  Halle  1860.  S.  2S0  ff., 
Böcklx,  Staatshaush.  Athens,  2.  Aufl.,  I,  31S  11'.),  das  umfassende  S)  stein  der  römi- 
schen Getreidespenden  (Ihering,  Geist  d.  röm.  Rechts,  3.  Aufl.,  Leipz.  1874, 
II,  1.  Abth.  S.  254,  Mommsen,  röm.  Staatsrecht,  II,  1.  Abtb.,  I.eipz.  1874,  S.  472, 
Marquardt,  röm.  Staatsverwalt.,  Leipz.  1878,  II,  10G  ff.),  der  Spiele  u.  s.  w.  nicht 
zu  gedenken  (Mommsen,  eh.  S.  486  ff.,  über  die  Bewirthungen  dabei  s.  Fried - 
läuder,  Sittengesch.  Roms,  3.  Aufl.,  Leipz.  1874,  II,  285)  — dies  Alles  sind  doch 
so  wichtige  geschichtliche  Beispiele  von  BcdUrfnissbefriedigungcn  der  Einzelnen  ohne 
oder  gegen  geringen  Entgelt,  dass  sie  nicht  einfach  ignorirt  werden  können,  nur  weil 
sie  bei  uns  nicht  mehr  verkommen  oder  wie  gewisse  kirchliche  Wohlthätigkeit  ungern 
gesehen  werden.  Dazu  denke  mau  an  den  Einlluss  der  antiken  Sclaverei  (s.  Büchse  n- 
schUtz,  S.  104 — 20S,  Ihering.  a.  a.  0.  234  ff.  245  ff),  an  die  zur  Ehrensache  der 
bevorzugten  Classen  werdende  Freigebigkeit  der  Reichen  (Ihering,  eb.  S.  250),  an 
die  Anweisungen  von  Ländereien  im  ager  publicus  oder  dureh  Anlegung  von  Colonien 
(eb.  S.  253),  — lauter  Momente,  welche  die  caritative  und  zum  Theil  die  Zwaugs- 
erwerbsart  für  die  Einzelnen  eino  heute  unbekannte  Bedeutung  gewinnen  liesscu,  und 
als  geschichtliche  Thatsachen  Grunds  genug,  um  nicht  immer  nur  Eigenproduction 
und  verkeh rsmässigen  Erwerb  der  Güter  zu  berücksichtigen. 

Rein  und  ausschliesslich  kommt  kaum  je  für  die  gesammtc  Bedürfnissbefriedigung 
auch  nur  eines  Individuums  oder  einer  Familie  bloss  eine  einzige  dieser  Erwerbs- 
arten vor.  Ein  solcher  Ausnahmefall  mit  ausschliesslicher  Eigengewinnung  der  Güter 
ist  die  Robinsonnade  und  partiell  ihr  ähnelnde  Lebensverhältnisse  vereinzelt  ange- 
siedelter Ackerbauer,  herumschweifcuder  Jäger  u.  a.  m.  Davon  kann  die  Wirthschafts- 
lehre  abstrahiren  oder  sie  macht  von  der  Annahme  solcher  Fälle  nur  Gebrauch  zu 
Zwecken  der  Erläuterung  und  Analyse  wirthschafüicher  Vorgänge.  Die  abgeleiteten 

*)  S.  auch  Hermann,  S.  IS  ff.  liier  liegt  der  Gedankensprung  der  absoluten 
Freihändler. 


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Entwicklung  von  Verkehr. 


297 


Erwerbsarten  sind  die  Folge  des  gesellschaftlichen  Zusammenlebens  der 
Menschen.  Die  wissenschaftliche  Aufgabe  ist,  jeder  derselben  ihre  richtige 
Stellung  für  die  menschliche  Bed  ürfnissbe  fried  igu  ng  anzuweisen,  eine 
Frage  der  Organisation  der  Volkswirthschaft.  Von  vornherein  ist  dabei  nur  der  un- 
rechtmässige Zwangserwerb  uubediugt  auszuschliesseu, 

C.  — §.  117  1 12 , 13].  Entwicklung  der  verkehrs- 
m ässigen  Erwerbsart,  Tausch,  Arbeitsgliederung 
und  Verkehr.  Die  Eigengewinnung  der  Güter  pflegt  schon 
frühzeitig  in  den  ersten  Stufen  der  Entwicklung  des  Volkslebens 
allgemeiner  mit  der  ersten  und  dritten,  auch  wohl  mit  der  zweiten 
derivativen  Erwerbsart  der  Güter  verbunden  zu  werden,  während 
die  verkehrsmäs8ige  Gewinnung  noch  fehlt  oder  nur  sporadisch 
(Tauschhandel)  vorkommt. 

Die  historische  Erklärung  hierfür  liegt  iu  den  älteren  Zuständen  des  Volkslebens 
(Geschlechterordnung),  den  damit  verbundenen  Verhältnissen  des  Bodeneigenthums  und 
der  Bodennutzung,  der  mangelnden  persönlichen  Freiheit  oder  wenigstens  socialen 
und  wirtschaftlichen  Unabhängigkeit  von  den  natürlichen  Verbänden  und  Autoritüts- 
verhältuissen , welchen  der  Einzelne  untersteht.  Erst  mit  der  Auflösung  und  Um- 
bildung dieser  älteren  Zustände  und  Verhältnisse,  mit  der  Ausbildung  voller  persön- 
licher Freiheit  und  individualistischer  Unabhängigkeit,  mit  der  Entwicklung  des  Privat- 
eigentums an  Boden,  treten  rein  gesellschaftliche  und  (privat-)  wirtschaftliche  an 
Stelle  der  natürlichen  oder  auf  fester  Sitte  beruhenden  üemeinschaftsbezioh ungen  der 
Menschen.  Damit  werden  die  Voraussetzungen  für  die  „verkehrswirthschaftliche“ 
Erwerbung  der  Güter  erfüllt. 

S.  Rau  I,  §.  7,  11411'.,  der,  dem  Gesichtspuuctc  der  englischen,  besonders  Smith’- 
schen  Schule  gemäss,  zu  sehr  bloss  die  technische,  nicht  auch  die  allgemein-volks- 
wirtschaftliche und  dadurch  socialo  Bedeutung  der  Arbeitsteilung  beachtet.  — 
Hermann,  S.  193  11.  A.  Smith,  wealth  of  uations,  1.  B.,  1.  Kap.  — Die  Not- 
wendigkeit einer  gewissen  Arbeitsteilung  konnte  bereits  bei  der  ersten  theoretischen 
Erwägung  ökonomischer  Dinge  nicht  verkannt  werden.  Schon  Plato  hat  im  Buch 
vom  Staate  das  Princip  der  Arbeitsteilung  in  seiner  Bedeutung  für  die  Thätigkeiten, 
durch  welche  menschliche  Bedürfnisse  befriedigt  werden,  dartrelegt,  richtig  begründet 
und  erklärt.  Vgl.  Büchsenschutz,  a.  a.  0.  S.  250.  — H.  Rösler,  Vorlesungen 
S.  6,  14,  20  IT.,  hebt  richtig,  nur  etwas  zu  einseitig  hervor,  wie  der  Besitz  die  Arbeit 
grade  auch  in  den  primitiven  Verhältnissen  leite  und  wie  am  Wenigsten  von  Anfang 
an  die  Individuen  nur  im  Verhältuiss  des  Tauschs  gegenseitiger  Dienstleistungen 
ständen:  das  ursprüngliche  Verhältuiss  sei  nicht  das  der  Gegenseitigkeit,  sondern 
der  Unterwerfung.  Die  Weiterentwicklung  beruht  aber  gleichwohl  auf  der  Aus- 
bildung des  Tauschs  und  der  damit  sich  verbindenden  Arbeitsgliederung.  Nur 
vollzieht  sich  dieser  Process  völlig  erst  bei  ..freier  Concurrenz“,  wie  z.  B.  im  rö- 
mischen Alterthum  erst  mit  der  der  Concurrenz  zuzuschrcibenden  Auflösung  der  natural- 
wirthscbaftlichen  Einheit  des  Oikos.  S.  Rodbertus  in  Hildebr.  Jahrb.  a.  a.  0.  — 
Vgl.  auch  Tönnies,  Gemeinschaft  und  Gesellschaft,  bes.  §.  10  II.,  17  lf.,  19  ff. 
Ferner  G.  Scbmoller’s  stoffreiche  Aufsätze:  Thatsachen  der  Arbeitstheilung,  Jahrb. 
XIII  (1SS9),  Heft  3,  S.  57,  Wesen  der  Arbeitstheilung  und  der  socialen  Classen- 
bildung,  cb.  XIV,  Heft  1,  S.  45,  geschichtliche  Entwicklung  der  Unternehmung, 
bes.  I u.  II,  die  älteren  Arbeitsgenossenschaften  und  die  ältere  agrarische  Faxnilicn- 
wirthschaft,  eb.  XIV,  Heft  8,  S.  1 und  die  Fortsetzung  dieser  Arbeiten  (Handel, 
Handwerk,  Hausindustrie),  eb.  Heft  4.  Arbeiten  mit  einer  Fülle  richtiger  und  werth- 
voller  Gesichtspuncte  und  Aufschlüsse,  aber  mit  mehrfach  unzulänglichen  Begriffs- 
bestimmungen und  m.  E.  nicht  befriedigender,  zum  Theil  unterlassener  Vcrwerthung 
des  reichen  Stoffs  für  die  Heransschäluug  des  Typischen  der  Entwicklungen  und 
für  die  theoretisch-systematische  Aufgabe,  die  hier  doch  auch  vorlag. 

Die  verkehrsmässige  Erwerbung  der  Güter  wird  häutiger  und 
regelmässiger,  wenn  die  Möglichkeit  des  Tauschs  zur  Arheits- 


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298 


2.  B.  Grundbegriffe.  1.  K.  Guter.  §.  117,  11S. 


gliederung  (Arbeitstheilung  und  Arbeitsvereinigung)  innerhalb 
der  Ortsbewohner  oder  Naliewohnender,  schliesslich  des  Volks 
führt,  bei  etwas  grösserer  Kechtssicherheit  und  uicht  zu  starken 
natürlichen  Hindernissen  für  die  Conimunieation  der  Menschen  und 
Güter  auch  zwischen  entfernter  Wohnenden  oder  unter  umher- 
schweifender und  sesshafter  Bevölkerung  und  von  Volk  zu  Volk. 
Leicht  transportable,  daher  im  Allgemeinen  feinere  Producte  („Luxus- 
artikel“, Artikel  eines  hohen  specifischen  Werths),  bilden  dabei 
früher  einen  Gegenstand  des  Tauscbs,  als  schwer  transportable, 
gemeinere  Producte.  In  der  Arbeitsgliederung  widmen  sich  die 
verschiedenen  Wirtschaften  den  Thätigkeiten  zur  Eigengewinnung 
bestimmter  einzelner  Güter  mehr  oder  weniger  ausschliesslich, 
schon  in  der  Ab-  und  Voraussicht,  die  den  Bedarf  übersteigenden 
eigengewonnenen  Erzeugnisse  mit  denjenigen  anderer  Wirtschaften 
au szu tauschen.  Eine  solche  Gestaltung  setzt  bereits  ein  ent- 
wickelteres Vertrauen  in  das  wahrscheinliche  Gelingen  dieser 
Absicht  und  demgeraässe  Zustände  des  Volkslebens  voraus.  Die 
Eigengewinnung  der  Güter  hört  dann  auch  selbst  mehr  und  mehr 
auf,  reine  Eigengewinnung  zu  sein,  indem  sie  die  Mittel  zu  ihrer 
eigenen  Vornahme  zum  Theil  selbst  wieder  verkehrsmassig  bez. 
durch  Verträge  beschafft  (Mieten  von  Sclaven,  Dingen  von  fremden 
Arbeitskräften,  Anleihen  von  Kapital,  Pachten  von  Grundstücken, 
Mieten  von  Häusern).  Tauschen  und  Arbeitstheilung  bilden  so 
allmälig  eine  enger  und  enger  werdende  wirtschaftliche  Ver- 
bindung unter  der  Bevölkerung. 

Eine  solche  regelmässig  und  wenigstens  in  gcwisserWeise 
p 1 a n m ä s s i g gewordene,  weil  auf  fester  Arbeitsgliederung 
beruhende  Verbindung  unter  der  Bevölkerung  heisst  Verkehr 
oder  genauer:  wirtschaftlicher  Verkehr.  Das  Gebiet 
rege  1 m assi gen  Austausehs  (A bsatz es)  einer  Güterart  ist  ihr 
Markt.  Die  wirtschaftlichen  Güter,  welche  austauschbar  sind, 
heissen  als  solche  Tauschgüter  und  als  Gegenstand  des  Ver- 
kehrs Verkehrsgüter  (§.  122). 

Die  Zunahme  und  die  Innigkeit  des  Verkehre,  die  Ausdehnung  des  Markts,  die 
Arbeitsgliederung  stehen,  wie  man  leicht  einsieht,  in  enger  und  reger  Wechselwir- 
kung. I)ic  Ausbildung  des  Verkehre  wird  besonders  durch  drei  Momente  begünstigt: 

1)  durch  ein  natürliches  und  eigentlich  wirtschaftliches  Moment,  die  Vermehrung, 
Vervielfältigung  und  Verfeinerung  der  Bedürfnisse,  weil  dadurch  eine 
immer  grössere  Menge  und  Mannigfaltigkeit  von  Gütern  verlangt  wird,  zu  deren  Ge- 
winnung die  verschiedenen  natürlichen  Fähigkeiten  und  erlernten  Ucbungcn  der 
Menschen  und  die  verschiedene  Naturausstattung  der  Länder  benutzt  werden  müssen; 

2)  durch  ein  rechtliches  Moment:  die  verbesserte  Rechtssicherheit,  wofür 
der  Staat  vornehmlich  wichtig  ist,  und  die  specicUe  Gestaltung  der  den  Verkehr 


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Entwicklung  von  Verkehr. 


299 


betreffenden  Rechtsordnung;  3)  durch  ein  technis ches  Moment:  die  Entwicklung 
der  Communicationen  und  Transportmittel,  von  deren  Beschaffenheit  die  räum- 
liche Bewegung  der  Menschen  und  Güter  bedingt  und  der  Kostenbetrag  dafür  abhängig  ist 

D.  — §.  118  [14].  Ursprung  des  Tausches  und  Be- 
dingungen der  Entwicklung  von  Tausch  und  Verkehr. 
Der  Impuls  zu  Tausch  und  Verkehr  liegt  in  erster  Linie  im 
Selbstinteresse,  welches  eben  in  den  Folgen  des  Tausches 
sich  befriedigt  fühlt,  womit  schon  die  Naturgemässheit  beider 
als  einer  Folge  der  wirtschaftlichen  Natur  der  Menschen  aner- 
kannt ist.  Die  Naturgemiissheit  folgt  aber  weiter  aus  dem  socialen 
oder  gesellschaftlichen  Wesen  der  Menschen,  welches  diese 
wie  zu  allem  sonstigen,  so  auch  zum  wirtschaftlichen  Ver- 
kehr führt.  Indessen  damit  ist  weder  gesagt,  dass  der  „Tausch“ 
einem  sozusagen  eigenen  menschlichen  Triebe  („Tauschtrieb“)  ent- 
springe, ein  „Trieb“,  von  welchem  keine  Rede  sein  kann,  noch 
dass  Tausch  und  Verkehr,  wie  die  beiden  zu  Grunde  liegende 
Arbeitsgliederung,  „rein  natürliche“  Entwicklungen  in  dem 
Sinne  solcher  sein,  welche  einfach  und  gleichmässig  ohne  Weiteres 
aus  der  „wirthschaftlichen  Natur“  des  Menschen  hervorgingeu. 
Vielmehr  sind  auf  diese  Entwicklungen  regelmässig  von  bestimmen- 
dem Einfluss  die  gegebenen  Ordnungen  des  Volkslebens, 
die  Organisationen  des  Wirtschaftslebens  und  die 
Rechtsnormen  für  den  Besitz;  ferner,  sobald  einmal  eine 
gewisse  Arbeitsgliederung  und  daran  ankntipfend  ein  gewisser  Ver- 
kehr sich  zu  entwickeln  begonnen  haben,  die  Rechtsnormen 
und  die  (öffentlichen  und  sonstigen)  Ein  ri  chtu  n gen  des  Markt- 
wesens und  des  Verkehrs,  besonders  des  städtischen.  Dadurch 
wird  dem  Verkehr  und  rückwirkend  der  Arbeitsgliederung  ihr  spe- 
cielles  historisches  und  örtliches  concretes  Gepräge  gegeben.  Beide 
sind  somit  geschichtlich  nicht  „freie“  Gestaltungen  des  Trieblebens, 
sondern  durch  die  genannten  Momente  maassgebend  beeinflusst. 

Eben  das  bat  die  ältere  abstracte  Theorie  in  ihrer  Construction  von  Verkehr 
und  Arbeitsgliederung  fast  gar  nicht  beachtet.  Alles  viel  zu  einfach  und  unhisto- 
risch aus  dem  wirthschaftlichen  Wesen  des  Menschen  deducirt.  Das  Nähere  gehört 
aber  nicht  hierher,  sondern  in  andere  Theile  dieses  Werkes. 

IV.  — §.  119  [15].  Umfang  des  Begriffs  „wirt- 
schaftliches Gut“  und  Einteilung  (Arten)  der  wirth- 
schaftlichen Güter. 

Kau  I,  §.  1,  46.  46a.  Roscher,  §.  3;  Hermann,  S.  J 1 4 !T. ; Schäffle, 
System,  3.  Aull.,  S.  S,  bes.  S.  144  ff;  anders  Soc.  Körper  III,  258.  Ders..  Theorie  d. 
ausschliess.  Absatzverhältnisse,  Tüb.  1867.  A.  Held.  Grundriss,  S.  S,  U,  12.  14,  42 
u.  in  Hildebr.  Jahrb.  1876,  B.  27,  S.  162.  186.  mehrfach  abweichend  von  mir.  Er 
stellt  m.  E.  das  formal  Juristische  wieder  zu  sehr  vor  dem  Rein-Oekonotnischen  voran. 


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2.  B.  Grundbegriffe.  1.  K.  Güter.  §.  119,  120. 


Bei  Tausch  u.  s.  w.  handelt  es  sich  allerdings  juristisch  um  Ucbertragung  von  Ver- 
mögensrechten. Das  ist  aber  in  der  Nationalökonomie  nicht  das  Wesentliche,  sondern 
hier  kommt  die  L'ebertragung  von  ökonomischem  Gebrauchswerth  in  Betracht,  die  eben 
nur  in  der  und  der  Rcchtsform  erfolgt  (gegen  Held  S.  42).  Ich  kann  mich  daher  auch 
Held ’s  Begriffsbestimmungen  von  Gut,  Waare,  seiner  Classification  u.  s.  w.  nicht  an- 
scbliessen.  Ebenso  nicht  seiner  Bern.  S.  9 des  Grundrisses  in  Betr.  der  immateriellen 
Güter.  .Aus  der  neueren  Litteratur  besonders  Neu  mann ’s  oben  S.  280  gen.  Arbeiten, 
namentlich  im  Sc h ö nberg’schen  Handbuch  und  in  seinen  Grundlagen.  Erbeschränkt 
neuerdings  in  Aenderung  seiner  früheren  Ansicht  den  Begriff  des  Guts  (d.  h.  bei 
ihm:  des  wirtschaftlichen  Guts,  (o.  S.  290)  auch  nicht  mehr  auf  Sachen.  — 
v.  Böh  m-Bawerk  in  der  o.  S.  287  gen.  eigenen,  scharfsinnigen  und  beachtens- 
Schrift,  will  Rechte.  Verhältnisse,  nicht  als  besondere  Arten  Güter  anerkennen.  Ich 
halte  indessen  doch  seine  Gründe  nicht  für  durchschlagend,  in  Uebereinstimmung  mit 
Ncumann  betreffs  der  „Rechte“.  Die  Controverse  über  den  Umfang  des  Begriffs  wirt- 
schaftliche Güter  ist  in  den  theoretischen  und  systematischen  Werken  bis  in  die 
neueste  Zeit  hinein  meistens  lebhaft  behandelt  worden. 

v 

A.  Uebersicht  der  Arten.  Die  Erörterung  über  die  Unter- 
scheidung zwischen  freien  und  wirtschaftlichen  Gütern  bat  bereits 
ergeben,  dass  der  Begriff  „wirtschaftliches  Gut“  kein  rein- 
ökonomischer,  sondern  zugleich  ein  Rechtsbegriff  ist, 
sobald  man  von  dem  zweiten,  dem  socialen  Standpuncte  der 
Betrachtung  aus  die  socialen  Verschiedenheiten  in  der  Lage 
der  Individuen  und  der  Menschengruppen  berücksichtigt.  Dieser 
Character  des  genannten  Begriffs  tritt  auch  bei  der  Festsetzung 
seines  Umfangs  und  Inhalts  hervor,  d.  h.  bei  der  Frage,  welche 
Güter  überhaupt  zu  den  wirtschaftlichen  zu  zählen  sind  und 
welche  Stellung  die  hergehörigen  Güter  dann  unter  den  wirtschaft- 
lichen Gütern  einnehmeu : die  in  ihrer  Beantwortung  ebenfalls  vom 
jedesmaligen  Recht  mit  abhängige  Frage  der  Eintheilung 
(C lass ifi cation)  dieser  Güter. 

Zu  diesen  gehören  nun  drei  besondere  Arten  von  Gütern: 

1.  Personen  und  persönliche  Dienste. 

Ob  und  wie  weit  die  ersteren,  darüber  entscheidet  das  geltende  Recht.  Wo 
Sclaverei  und  Leibeigenschaft  bestehen,  gehören  Sclaven  und  Leibeigene,  wo  mildere 
Formen  unfreier  Arbeit,  z.  B.  Frohnden,  rechtlich  anerkannt  sind,  gehören  die  pflich- 
tigen Leistungen  der  Fröhner  zu  den  wirthscbaftlichcn  Gütern.  Bei  Anerkennung 
voller  persönlicher  Freiheit  sind  nur  Leistungen  bestimmter  Dienste  auf  bestimmte 
Zeit  zu  diesen  Gütern  zu  rechnen  und  stellen  die  betreffenden  Ansprüche  „Rechte“ 
dar,  die  zur  dritten  Art  (Unterart  d)  der  wirtschaftlichen  Guter  gehören. 

2.  Sachen  oder  Sachgüter:  Stoffe  der  Natur  oder  vom 
Menschen  verarbeitete  Stoffe. 

3.  Verhältnisse  zu  Personen  und  Sachen  (res  incor- 
porales),  deren  gegenständliche  Abgeschlossenheit  auf  einer  Ab- 
straction  beruht  (v.  Mangoldt)  und  daraus  eventuell  folgende 
Rechte. 


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Arten  wirtschaftlicher  Güter. 


301 


Hierhin  gehören: 

a)  aus  dem  ganz  freien  Verkehr:  die  Fälle  der  Kundschaft.  Firma  u.  dgl.  m. 
wo  vorteilhafte  Beziehungen  zu  anderen  Menschen,  welche  durch  menschliche  Tliätig- 
keit  ausgebildet  sind,  entgeltlich  überlassen  und  erworben  werden  können; 

b)  auf  Grund  gewisser  rechtlicher  Beschränkungen  des  Verkehrs: 
ausschliessliche  Gewerberechte,  Realgerechtigkeiten,  Privilegien,  Monopole,  auch 
Patente  u.  dergl.  in.; 

c)  Einrichtungen  und  Anstalten  für  die  regelmässe  Vornahme  gewisser 
persönlicher  Dienste:  insbesondere  „öffentliche  Einrichtungen“,  wie  der  Staat 
selbst,  seine  einzelnen  Anstalten,  die  Gemeinde  und  andere  ähnlichen  Veranstal- 
tungen der  menschlichen  Gesellschaft 

d)  Rechte,  ausser  dem  (Sach-)  Eigenthumsrecht,  welche  Anspruch  auf  Leistungen 
(Dienste,  Sachgüter,  Geld,  Nutzungsüberlassungen)  Dritter  gewähren;  daher  auch  be- 
zügliche vertragsmässige  Rechte. 

Die  Sachen  können  als  materielle  Güter  den  Diensten  und 
den  Verhältnissen  als  immaterielle  Güter  gegenüber  gesetzt 
werden. 

B.  — §.  120  [16  — 18].  Die  Streitfrage  über  den  Be- 
griff „wirtschaftliches  Gut“,  ln  der  Wissenschaft  be- 
steht ein  noch  heute  nicht  ganz  erledigter  Streit  darüber,  ob  der 
Begriff  der  wirtschaftlichen  Güter  auf  die  Sachgüter  zu  be- 
schränken oder,  wie  im  Obigen  geschieht,  auf  die  Dienste  und 
Verhältnisse  (einschliesslich  der  „Hechte“)  mit  auszudehnen  sei. 

Die  erstere  Ansicht  vertreten  vornehmlich  die  älteren  Lehrer  und  überhaupt 
bis  heute  am  Meisten  die  Engländer,  von  den  Deutschen  insbesondere  Rau.  Die 
neueren  Lehrer,  besonders  in  Frankreich  und  Deutschland,  haben  dagegen 
meistens  die  zweite  Ansicht  angenommen.  Es  tritt  hierin  also  auch  ein  eharacteri- 
stischcr  nationaler  und  zeitlicher  Unterschied  hervor. 

S.  Rau  I,  §.  46a;  die  Stellen  der  oben  in  §.  119  gen.  Autoren.  S.  auch 
Meng  er,  Volkswirthsch.l.  S.  5311'.  Für  die  Einreihung  der  Dienste  unter  die  wirt- 
schaftlichen Güter  mit  zuerst  Sto rch , der  sich  mit  dadurch  bestimmen  lässt,  dass  die 
Dienste  dem  Einzelnen  ein  Einkommen  gewähren , welches  von  freiwillig  gesuchter 
und  bezahlter  Arbeit  herruhrt.  Handb.  B.  II.  und  „Zur  Kritik  des  Begriffs  v.  National- 
reichth.“,  Pctersb.  1 827.  Dann  besonders  J.  B.  Say,  Handb.  I.,  133  (traitö,  cd. 
1841,  Livre  I.,  ch.  XIII.).  Hermann,  Untersuch.  1.  Aull.  S.  5.  6,  2.  Aofl.,  114  ff. 
Baumstark,  Cam.  Encycl.  S.  547,  Roscher,  I,  §.  3,  Schäffle,  System  I,  145.  — 
Von  älteren  Gegnern  dieser  Ansicht:  Malthus,  principles ch.  I.,  Senior.  Bernhardi 
(Kritik  d.  Gründe  f.  u.  s.  w.  Grundcigenth.,  Petersb.  1849,  K.  11),  Kaufmann,  aber 
auch  von  Neueren  noch  (oder  wieder)  J.  St.  Mill,  Grundsätze,  1.  B„  Kap.  3,  §.  3, 
Wolkoff,  Baudrillart,  von  deutschen  früher  Neu  mann  (Tübingen)  in  d.  Aufs, 
in  d.  Ttlb.  Zeitschr.  XXVIII.,  25S  ff.,  der  aber  mit  Recht  ebenso  wie  Rau  § 40 
Anm.  c sagt,  es  sei  bemerkenswerth,  dass  auch  diejenigen,  welche  die  Dienste  in  die 
Wirtkschaftslohrc  ziehen,  doch  fast  nur  die  Sachgüter  behandeln.  Das  ist  allerdings 
iuconsequent.  Die  Auffassung  der  Dienste  und  Verhältnisse  als  wirtschaftliche  Güter 
involvirt  vielmehr  folgerichtig  m.  E.  diejenige  Ausdehnung  der  Disciplin.  welche  ich 
ihr  in  diesem  Werke,  besonders  in  den  Erörterungen  über  die  Gemeinwirthschaften 
und  den  Staat  zu  geben  suchte.  Neu  mann  unterscheidet  weiter,  als  von  mir  geschehen, 
zwischen  Verhältnissen  und  Rechten;  letztere  reiht  er  jetzt  im  Gutsbegriff  ein;  in 
Betreff  der  Verhältnisse  entscheidet  er  sich  nicht  unbedingt  und  lässt  beide  Auf- 
fassungen (Einbeziehung  in  den  Gutsbegriff  und  Ausschliessung)  zu.  Schäffle 
hat  jetzt  (Soc.  Körper  III,  258)  die  sog.  immateriellen  Güter  aus  dem  Begriff  wirt- 
schaftliches Gut  ausgeschlossen,  entgegen  seiner  früheren  Auffassung,  aber  mit  anderer 
Motivirung  als  die  Aelteren.  Er  zieht  dagegen  die  „persönlichen  Güter“  in  ihrem 
stofflichen  oder  leiblichen  Bestand  (Nerven,  Muskeln,  vegetative  Gewebe)  in  den 
Begriff  ein.  Die  Neuerung  hängt  mit  Schäffle’s  Auffassung  der  Volkswirtschaft 


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302 


2.  B.  Grundbegriffe.  1.  K.  Güter.  §.  120. 


als  socialer  Stoffwechsel  zusammen.  Ich  habe  mich  nicht  von  ihrer  Richtigkeit  über- 
zeugen können. 

Man  bat  die  ganze  Streitfrage  gelegentlich  als  mlissig  be- 
zeichnet. Das  ist  sie  entschieden  nicht. 

Denn  von  ihrer  Beantwortung  hängt  einmal  die  Begrenzung  des  Gebiets  der 
Politischen  Oekonomie  ab,  was  ich  gegen  Neu  manu  festhalte,  und  sodann  ist  die 
Beantwortung  präjudiciell  für  die  wirtschaftliche  Beurteilung  aller  derjenigen  Classen, 
welche  bcrufsm ässig  persönliche  Dienste  ausüben,  demnach  des  Gesi u des , 
der  Angehörigen  der  liberalen  Berufe  und  folglich  auch  des  Staats.  Nur  wenn 
die  Dienste  auch  zu  den  wirtschaftlichen  Gütern  gerechnet  werden,  sind  die  genannten 
Classen  u.  s.  w.  im  wirtschaftlichen  Sinne  „productiv“.  Die  Beschränkung  des 
Begriffs  „wirtschaftliches  Gut“  auf  die  Sachgüter  hindert  die  richtige  wirtschaft- 
liche Würdigung  dieser  Classen  wie  des  Staats.  Die  einseitige  Werthleguug  auf  die 
Handarbeit  in  der  materiellen  Production  in  einigen  socialistischen  Lehren  bängt  mit 
jener  Beschränkung  ebenfalls  zusammen. 

Bei  der  Erörterung  der  Streitfrage  ist  von  beiden  Seiten  öfters 
der  Fehler  begangen  worden,  zwischen  wirtschaftlichen  und 
Tausch-  und  Verkehr sg Utern  (§.  122)  nicht  gehörig  zu  unter- 
scheiden und  den  Vermögensbegriff  unnöthiger  Weise  in  diese 
Discussion  zu  ziehen. 

Der  Ausschluss  der  immateriellen  Güter,  insbesondere  der  persönlichen  Dienste, 
von  den  wirtschaftlichen  Gütern  ist  nemlich  u.  A.  auch  deswegen  erfolgt,  weil  jene 
Dienste  nicht  oder  nicht  unbedingt  und  jedenfalls  nur  in  anderer  Weise  als  die  Sach- 
güter zu  den  Verkehrsgütern  und  dem  Vermögen  gerechnet  werden  könnten.  Allein 
diese  Folgerung  ist  unrichtig,  denn  sie  beruht  auf  der  irrigen  Annahme,  dass  sich 
die  Begriffe  wirtschaftliches  Gut  und  Verkebrsgut  decken  müssten,  und  auf  einer 
einseitigen  Auffassung  des  Vermögensbegriffs.  Dies  ist  auch  gegen  Rau  und  Andere 
einzuwenden. 

An  Rau’ 8 Lehre  lässt  sich  die  Streitfrage  gut  erörtern. 
Rau  begründet  in  der  letzten  (8.)  Auflage  seines  Werkes  seinen 
Standpunct  in  der  Frage  (I  §.  1,  2,  46,  46  a)  wörtlich  in  folgender 
Weise: 

„Alle  Bestandteile  der  Sinnenwelt,  die  den  menschlichen  Absichten  entsprechen, 
werden  körperliche,  materielle,  stoffliche,  äussere  oder  sachliche  Güter 
genannt.  Unter  ihnen  bilden  diejenigen,  welche  eine  dauernde  Aneignung  und  be- 
liebige Benutzung  durch  den  Menschen  gestatten  und  daher  diesen  zu  vielfacher 
Thätigkeit  anregen,  eine  grosse,  durch  viele  Eigentümlichkeiten  ausgezeichnete  und 
für  die  wissenschaftliche  Betrachtung  vorzüglich  wichtige  Classe  von  Gütern,  die  mau 
die  besitz  baren  nennen  kann.  Den  Sach-  oder  Stoffgütern  werden  zunächst  die 
persönlichen  Güter  entgegen  gesetzt,  welche  in  Zuständen  und  Eigenschaften  des 
Menschen  bestehen  (z.  B.  Gesundheit,  Stärke,  geistige  Fähigkeiten,  Kenntnisse)  und 
teils  ihrer  selbst  willen  (als  Zwecke),  theils  als  Mittel  zur  Erlangung  anderer  Güter 
geschätzt  werden.“  — „Um  Sachgüter  beliebig  als  Mittel  zu  gebrauchen,  muss  man  über 
dieselben  ungehindert  verfügen  können.  Die  Menge  von  Güten«,  auf  welche  sich  in 
einem  gewissen  Zeitpunctc  die  Verfügungsgewalt  einer  Person  erstreckt,  bildet  das 
Vermögen  derselben  (s.  dagegen  u.  §.  J24ff.).  — „Wie  alles  Vermögen  der  Menschen 
so  besteht  auch  das  gesammte  Volksverinögon  (s.  dagegen  u.  §.  125)  aus  einer 
Gewalt  Uber  Sachgüter  und  die  wirtschaftlichen  Thätigkeiten  sind  zunächst  nur 
auf  den  Besitz  und  Gebrauch  solcher  Güter  gerichtet.  Als  sinnlich  wahrnehmbare 
körperliche  (einen  Baum  einnehmende)  Dinge,  in  denen  der  Mensch  Mittel  zu  seinen 
Zwecken  erkennt,  unterscheiden  sich  dieselben  wesentlich  von  den  persönlichen 
Gütern,  die  mit  dem  Menschen  selbst  innig  verbunden  sind  und  sich  in  ihrer  Ent- 
stehung, Aufbewahrung,  Uebertragung  und  Zerstörung  ganz  anders  verhalten.  Sic 


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Die  Streitfrage  über  den  Begriff  wirtschaftliches  Gut. 


303 


sind  von  der  Person  des  Besitzers  nicht  zu  trennen,  die  Verfügungsgewalt  über  sie 
ist  eine  sehr  beschränkte,  sie  treten  nicht  in  den  Verkehr  und  gestatten  in  der  Regel 
keine  Bestimmung  nach  Zahl  und  Maass.  („Ausnahmen  hiervon  sind  z.  B.  die  Messung 
der  Muskelstärke  mit  dem  Dynamometer,  der  Schärfe  des  Gesichts  und  Gehörs,  — die 
Zahl  der  Sprachen,  die  Jemand  versteht  n.  dgl.“  Anm.  Kau ’s.)  Persönliche  und 
sachliche  Güter  können  einander  nicht  vertreten.  Wollte  man,  dem  Sprachgebrauche 
Zuwider,  den  Begriff  des  Vermögens  und  der  Wirtschaft  auch  auf  die  persönlichen 
Güter  ausdehnen1),  so  würde  die  Politische  Oekonomio  sich  zur  Wissenschaft  aller 
Güter  für  den  Staat,  d.  h.  zur  Staats  wissen  Schaft  ausdehnen“*),  — was  aller- 
dings in  einer  Hinsicht  die  Folge  der  hier  von  Kau  bekämpften  Ansicht  ist,  aber  m. 
E.  kein  durchschlagender  Gegengrund.  (S.  jedoch  o.  §.  lt)6.)  — „Man  würde  aber 
dennoch  nicht  umhin  können,  das  Verhalten  der  Menschen  in  Bezug  auf  die  Sachgüter, 
d.  h.  auf  die  wirthschaftlichen  Thätigkeiten , wieder  einer  abgesonderten  Betrachtung 
zu  unterwerfen,  weil  sie  von  eigentümlicher  Art  sind  und  unter  Gesetzen  stehen,  die 
auf  die  persönlichen  Güter  nicht  bezogen  werden  können.  Indess  hat  jene  Wissenschaft 
sich  dennoch  auch  mit  den  persönlichen  Gütern  zu  beschäftigen,  weil  sie  auf  mehr- 
fache Weise  in  die  wirthschaftlichen  Bestrebungen  eingreifen: 


J)  „Storch  hat  auf  die  persönlichen  Guter  die  bei  den  sachlichen  gangbaren 
Benennungen,  Begriffe  und  Einteilungen  mit  gutem  Erfolge  angewendet,  s.  dessen 
Handb.  d.  National wirthsch.  II.  — Wie  bei  den  Sachgütern,  so  kann  man  auch  bei 
den  persönlichen  den  Besitz  des  Einzelnen  und  die  Gesammthcit  der  in  einem  ganzen 
Volke  vorhandenen  Güter,  z.  B.  die  Masse  von  Wissen,  Geschicklichkeit,  Urteilskraft 
u.  s.  w.  unterscheiden.  — Es  giebt  noch  eine  dritte  Art  von  Gütern,  die  nicht  in  der 
einzelnen  Person,  sondern  im  Verhältniss  derselben  zu  anderen  Menschen  oder  zum 
Staate  liegen,  z.  B.  Ehre,  Zuneigung,  Schutz,  Freiheit;  gesellschaftliche  Güter. 
Hierher  gehören  die  von  Hermann  sogenannten  Lebensverhältnisse.  Versuche,  beide 
obengenannte  Arten  von  Gütern  in  der  wissenschaftlichen  Behandlung  zusammen  zu 
fassen,  von  Arnd  und  Gioja;  auch  Bülau,  Handbuch  der  Staatswirtschaftslehre; 
eben  dahin  neigen  sich  Hufeland,  neue  Grundlegung,  I,  S.  34.  Pölitz,  Staats- 
wissenschaft II,  §.  IS  ff.  Hasse,  Cuinam  nostri  aevi  populo  etc.  S.  12  und  manche 
Neuere.  Am  auffallendsten  erscheint  das  Zusammenwerfen  ungleichartiger  Güter  bei 
Du  M esnil-Marigny,  Cat6ch.  S.  12.  — Die  ausländischen  Schriftsteller,  welche 
den  Begriff  vou  Vermögen  und  Wirtschaft  nicht  haben,  konnten  leicht  Veranlassung 
finden,  das  Merkmal  der  Körperlichkeit  bei  den  Sachgütern  zu  übersehen  und  bloss 
an  die  Nützlichkeit  oder  die  Tauglichkeit  zur  Befriedigung  der  Bedürfnisse  zu  denken.  — 
Es  ist  bemerkenswert,  dass  auch  diejenigen,  welche  den  Begriff  des  Vermögens  über 
die  Sachgüter  hinaus  erweitern  wollen,  doch  in  dem  Verlaufe  der  Wissenschaft  sich 
nur  an  jene  Güter  halten.“  (Anm.  Kau’s,  S.  Autl.  §.  40.) 

2)  „Es  lässt  sich  desslialb  keineswegs  behaupten,  dass  die  Staatswirtschaftslehre 
durch  Ausschliessung  der  persönlichen  Güter  in  eine  fehlerhafte  Einseitigkeit  gerate, 
denn  durch  diese  Beschränkung  gewinnt  sie  ein  abgerundetes  eigentümliches  Gebiet 
und  erlangt  erst  die  volle  Gründlichkeit  und  Fruchtbarkeit.  Die  persönlichen  Güter 
erfordern  zwar  eine  Pflege  durch  den  Staat,  aber  diese  Thätigkeit,  die  man  Staats- 
erziehung, Culturpolitik . Volksbildungssorge  nennen  kann,  ist  von  der  Sorge  für  den 
Volkswohlstand  verschieden  und  verdient  in  dem  Systeme  der  Staatsverwaltung  eine 
eigene  Stelle.  „Man  hat  es  oft  den  Staatsökonomen  schwer  vorgeworfen,  dass  sie  ihre 
Aufmerksamkeit  bloss  auf  die  sachlichen  Güter  (wealth)  richten  und  alle  Beachtung 
der  Glückseligkeit  und  Tugend  verabsäumen.  — Niemand  tadelt  einen  Schriftsteller 
Uber  die  Taktik,  dass  er  seine  Aufmerksamkeit  bloss  auf  kriegerische  Angelegenheiten 
richtet,  ebensowenig  schliesst  man  aus  dieser  Handlungsweise,  dass  er  einen  immer- 
währenden Krieg  empfiehlt.  Allerdings  würde  ein  Schriftsteller,  der,  nachdem  er  ge- 
zeigt hat,  dass  ein  gewisses  Verfahren  Sachgüter  erzeugt,  dasselbe  bloss  darum  zur 
Nachahmung  empfiehlt,  den  grossen  Fehler  begehen,  Wohlfahrt  (happiness)  und  den 
Besitz  von  sachlichem  Vermögen  (wealth)  für  einerlei  zu  halten.  Aber  sein  Irrthum 
liegt  nicht  darin,  dass  er  seine  Aufmerksamkeit  auf  das  sachliche  Vermögen  beschränkt, 
sondern  in  der  Verwechslung  von  Wohlfahrt  und  Yermögensbesitz.'*  Senior,  Outl. 
S.  139.  (Anm.  Raus,  §.  46.) 


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304 


2.  B.  Grundbegriffe.  1.  K.  Güter.  §.  120,  121. 


„1.  sie  unterstützen  die  Hervorbringung  und  Erwerbung  von  Sachgütern  sosehr, 
dass  der  Wohlstand  der  Völker  wie  der  Einzelnen  grossentheils  von  dem  Beistände 
sittlicher  und  geistiger  Kräfte  bedingt  wird; 

.,2.  die  Sachgüter  sind  dazu  bestimmt,  den  Zustand  der  Menschen  zu  verbessern, 
daher  ist  das  Vermögen  nicht  für  sich  allein,  sondern  nach  seiner  Beziehung  auf  die 
menschliche  Gesellschaft,  d.  h.  in  seiner  Anwendung  zur  Erzeugung  persönlicher 
Güter,  zu  würdigen“.  (Kau.  §.  46.) 

„Auch  die  persönlichen  Dienste,  d.  h.  Arbeiten,  wodurch  der  Mensch  un- 
mittelbar dem  Menschen  einen  Vortheil  (ein  persönliches  Gut)  zu  Wege  bringt,  z.  B. 
Unterricht,  Pflege,  Beschützung,  sind  keine  Thcile  des  Vermögens,  obgleich  viele  der- 
selben gegen  eine  Vergütung  in  Sachgütern  geleistet  werden  und  daher  gleich  diesen 
einen  Preis  (Tauschwerth)  haben,  z.  B.  die  bezahlten  Thätigkeiten  des  Arztes.  Lehrers, 
Künstlers  u.  s.  w.  Wenn  jedes  Verkehrsgut.  d.  h.  jeder  Gegenstand,  der  einen  Preis 
hat  und  in  den  wirtschaftlichen  Verkehr  kommt,  als  ein  Theil  des  Vermögens  an- 
gesehen werden  sollte,  so  müsste  dies  von  sämmtlicheu  Lohnarbeiten,  nicht  bloss  von 
den  persönlichen  Diensten  gelten.  (Ein  auch  von  Neu  mann,  Schönberg’s  Handb  I, 
8.  A.  S.  137,  Note  13  gemachter  Ein  wand).  Selbst  eine  Unterlassung  wird  bis- 

weilen bezahlt,  z B.  das  Nichtbieten  bei  einer  Versteigerung,  das  Nichtbewerben  um 
eine  Gunst,  das  Nichtanzeigen  eines  Vorfalls,  das  Nichttheilnehmeu  an  einer  Wahl.“ 
(Anm.  Kau’s.)  „Diese  persönlichen  Dienste  sind  zwar  wie  die  sachlichen  Guter 
Mittel  zur  Befriedigung  menschlicher  Bedürfnisse  und  dienen  zum  Theil  als  Erwerbs- 
mittel, unterscheiden  sich  aber  wieder  von  jenen  Gütern  zu  sehr,  um  mit  Nutzen  für 
die  Wissenschaft  mit  ihnen  im  Begriff  von  Vermögen  zu sam mengefasst  werden  zu 
können,  denn  sie  sind  nicht  bcsitzbar,  kommen  nur  in  einer  Folge  von  Zeitmomenten 
zur  Erscheinung,  sind  also  nicht  in  einem  Vorrathe  vorhanden;  auch  erfordert  ihr 
Erfolg  meistens  eine  entsprechende  Mitwirkung  dessen,  für  welchen  der  Dienst  ge- 
leistet wird.  z.  B.  Aufmerksamkeit  des  Hörers,  Fleiss  des  Schülers,  Folgsamkeit  des 
Kranken“  (was  doch  ebenso  bei  der  Benutzung  eines  Sachguts  gilt).  „Die  Fähigkeit 
eines  Menschen . gewisse  Dienste  zu  leisten , bildet  dagegen  ein  persönliches  Gat, 
welches  seiner  Natur  nach  von  ungewisser  Dauer  ist.  Weder  ein  Einzelner  noch  ein 
Volk  ist  durch  eine  gewisse  Menge  möglicher  oder  bereits  begonnener  Arbeiten  selbst 
schon  reich,  sondern  nur  wenn  vermittelst  derselben  Sachgüter  erworben  worden  sind. 
Die  öfters  als  Beispiel  erwähnte  Sängerin,  die  im  Schiffbruch  ihre  Habe  verliert,  ist 
nicht  mehr  reich,  aber  sie  kann  es  wieder  wenien  und  mag  in  dieser  Wahrschein- 
lichkeit einstweilen  Credit  haben.  Indess  haben  die  Dienste  für  die  Volkswirtschaft 
aus  zwei  Ursachen  Wichtigkeit,  sowohl  wegen  ihrer  Wirkungen,  als  weil  sie  denen, 
die  sie  leisten,  einen  Antheil  an  dem  jährlichen  Erzeugnis  von  Sachgütern  ver- 
schallen“ (nach  Kau  § 46a). 

§.  121  [19,  20J.  Einbeziehung  der  Dienste  in  den 
Begriff  des  wirtschaftlichen  Gutes.  Diese  Erörterung 
Hau’s,  in  welcher  dieser  Standpunct  in  der  Streitfrage  gut  be- 
gründet wird,  beweist  indessen  doch  wohl  nur,  dass  die  Dienste 
manche  Eigent htimlichkeiten,  verglichen  mit  den  Sachgütern, 
haben  und  eben  dessbalb  eine  besondere  Art  der  wirthschaft- 
lichcn  Güter  bilden:  ferner,  dass  die  Dienste  entweder  gar  nicht 
oder  jedenfalls  nicht  in  derselben  A rt  zum  Ver  m ö gen , wie 
zu  den  wirtschaftlichen  Gütern  gehören.  Aber  sie  beweist  nicht, 
dass  die  Dienste  gar  keine  wirtschaftlichen  Güter  sind. 

Selbst  solche  Eigenschaften,  welche  besonders  gern  gegen  die  Einbeziehung  der 
Dienste  unter  die  wirthsch&ftlichcn  Güter  geltend  gemacht  werden,  wie  die  rasche  Ver- 
gänglichkeit, die  Unfähigkeit,  zu  Vorräthen  angesammelt  zu  werden,  theilen  die  per- 
sönlichen Dienste  mit  manchen  Sachgütern.  Eine  aparte  Stellung  nehmen  die  Dienste 
auch  dadurch  ein.  dass  bei  ihnen  leichter  als  beiden  meisten  Sachgütern  ein  Ueber- 
maass  droht,  theils  wegen  der  Annehmlichkeit,  welche  mit  der  Leistung  solcher 


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Tausch-  oder  Verkehrsguter. 


305 


Dienste  öfters  verbunden  ist  (liberale,  besonders  wissenschaftliche,  künstlerische,  mit 
äusserer  Ehrenstellung  verbundene  Berufe),  wobei  dann  die  Arbeit  das  ihr  characte- 
ristische  Merkmal  des  Opfers  mehr  oder  weniger  verliert,  theils  wogen  des  maass- 
gebenden Einflusses  des  Staats  auf  die  Nachfrage  nach  besonderen  Arten  der  Dienste 
(Beamtenthum,  Militärwesen). 

Wir  halten  die  Einreihung  der  Dienste  unter  die 
wirtschaftlichen  Güter  für  das  Richtige.  Rau  sagte  in 
einer  früheren  (nicht  mehr  in  der  letzten)  Auflage  (6.  A.  §.  46a 
Anm.  d.)  ganz  richtig:  „Es  hängt  von  der  Definition  des  Ver- 
mögens — und  ebenso  der  wirtschaftlichen  Güter,  so  darf  man 
hinzufügen  — ab,  ob  die  Dienste  dazu  gehören  oder  nicht“.  Das 
ist  wahr,  aber  es  folgt  daraus  nur,  dass  eine  solche  Definition 
vorgenommen  werden  muss,  welche  die  Dienste  in  die  wirtschaft- 
lichen Güter  einschliesst.  Werden  nun  unter  letzteren  diejenigen 
Bedürfnissbefriedigungsmittel  verstanden , welche  nur  gegen  Arbeit 
(Opfer)  für  die  Menschheit  zu  erlangen  sind,  so  passt  dies  auf  die 
Dienste  ebenso  wie  auf  die  Sachgüter  (selbst  bei  unfreier  Arbeit, 
wegen  der  Gewährung  des  Lebensunterhalts  und  Rechtsschutzes). 
Der  entscheidende  Grund  für  die  Einbeziehung  der  Dienste  in  die 
wirtschaftlichen  G Uter  liegt  alsdann  darin,  dass  die  B e f r i e d i g u n g s - 
mittel  eben  unmöglich  nur  in  Sachgütern  bestehen 
können,  weil  die  Bedürfnisse  sich  nicht  bloss  auf 
solche,  sondern  auf  persönliche  Dienste  Dritter 
(namentlich  auch  des  Staats,  wie  Rechtsschutz  und  Förderung 
aller  Art)  beziehen,  ja  solche  pflegende,  schützende,  fordernde 
Dienste  Anderer  gerade  für  den  Menschen  unentbehrlich, 
mindestens  in  gewissen  Lebenslagen,  sind  (§.  23). 

Mitunter  können  zur  Bedürfuissbefriedigung  überhaupt  nur  solche  Dienste  und 
Verhältnisse  wie  die  genannten  (z.  B.  gewisse  Pflegedienste),  mitunter  können 
dieselben  wenigstens  alternativ  mit  Sachgütern  dienen.  Oft  hängt  es  von  reinen 
Zufälligkeiten,  z.  B.  von  gewissen  persönlichen  Eigenschaften  des  Bedürftigen,  wie 
Bildungsstand  u.  dergl.  m. , ab,  ob  die  eine  oder  die  andre  Form  der  Bedürfniss- 
befriedigung  gewählt  wird  (z.  B.  ärzüicher  Rath  — Arznei;  Vortrag  — Buch;  Staats- 
schutz — eigener  Schutz).  Der  Unterschied  zwischen  dem  Dienste  und  dem  Sach- 
gut  liegt  daher  nur  in  dem  relativ  untergeordnetem  Momente,  dass  Jemand  beim 
Dienste  unmittelbar  (durch  die  Arbeit)  einem  Anderen  Bedurfnissbefriedigung  ver- 
schafft, beim  Sachgute  mittelbar,  durch  das  Mittel  eines  von  der  Natur  erhaltenen 
Stoffs,  an  welchem  sich  erst  seine  Arbeit  äussert. 

V.  — §.  122  [21,  22].  Tausch-  oder  Verkehrsgüter. 
1.  Bedingungen  für  das  Verkehrsgut-Sein  wirtschaft- 
licher Güter.  Die  wirtschaftlichen  Güter  müssen,  um  Tausch- 
güter oder  Verkehrsgüter  zu  werden,  ausschliesslich  an- 
geeignet und  übertragen  werden  können.  Darüber  entscheidet 
nicht  sowohl  und  nicht  nur  die  (ökonomisch-technische)  Natur  der 
betreffenden  Güter,  als  vielmehr  das  Recht.  Von  diesem  hängt 

A-  Wagner,  Grundlegung.  8.  Auflago.  1.  Thell.  Grundlagen.  20 


306 


2.  B.  Grundbegriffe.  2.  K.  Vermögen.  §.  122,  123. 


es  daher  ab,  ob  und  wie  die  wirtschaftlichen  Güter  zu  Verkehrs- 
gütern  werden.  Ob  und  wieweit  jene  zu  letzteren  weiden  sollen, 
kann  zwar  nach  rein  ökonomischen  Rücksichten  erörtert,  aber 
selten  allein  nach  ihnen  entschieden  werden.  Der  Begriff  „Ver- 
kebrsgut“  ist  demnach  wiederum  kein  rein  ökonomischer, 
sondern  immer  zuvörderst  ein  Rechtsbegriff. 

Da  die  Rechtssätze  über  die  wirtschaftlichen  wie  Uber  die  Verkehrsgüter 
wandelbar  sind  und  auch  sein  müssen,  so  folgt  daraus,  dass  die  Begriße  „wirth- 
schaftliches  Gut“  und  „Verkehrsgut“  auch  keine  absoluten,  logischen  oder 
rein  natürlichen,  sondern  geschichtlich-rechtliche  sind,  was  aoch  die 
Wissenschaft  bisher  viel  zu  wenig  zu  beachten  pflegt.  Dieses  wesentliche  Rechts- 
moment in  Begriffen  wie  Verkehrsgut,  Vermögen  u.  A.  m.  konnte  zwar  nicht  wohl 
ganz  übersehen  werden,  trat  indessen  bisher  unverhältnissmässig  stark  in  den  Hinter- 
grund, so  auch  bei  Rau,  z.  B.  in  der  cliaracteristisch  kurzen  Anm.  a des  § 2,  und 
doch  auch  noch  bei  Hermann  (s.  2.  Aufl.  S.  19  ff'.),  Roscher  und  den  Neueren. 
Anders  und  im  Princip  m.  E.  richtig  H.  Rösler,  v.  Scheel,  bes.  A.  Held  an  d. 
auf  299  S.  genannten  Stellen. 

2.  Engerer  Begriffvon  Verkehrsgut  als  von  wirt- 
schaftlichem Gut.  Das  Recht  hat  regelmässig  den  Begriff 
Verkehrsgut  enger  gefasst,  als  den  Begriff  wirthschaftliches  Gut. 

Selbst  manche  Sachgüter  sind  vom  Rechto  ausserhalb  des  Verkehrs  gestellt  und 
in  diesem  Falle  also  nicht  Verkehrsguter.  So  die  res  quarum  non  cst  commercium 
des  römischen  Rechts,  s.  Puchta,  Pandccten  §.  35,  Institut.  IT,  §.  223  (S.  552  ff.1). 
Die  Nationalökonomen  kennen  natürlich  solche  Ausnahmen , aber  ignoriren  sio  als 
zufällige  Gestaltungen  des  Rechts,  was  sie  freilich  im  Einzelnen  sind.  Aber 
es  ist  nicht  zu  übersehen,  dass  das  Gemeinwohl  und  insofern  die  Volkswirtschaft 
immer  solche  Ausnahmen  verlangen  wird,  man  also  unmöglich  sich  in  der  Politischen 
Oekonomie  nur  mit  Verkchrsgütern  beschäftigen  kann.  Der  Verkehr  in  anderen  Sach- 
gütern unterliegt  wesentlichen  Beschränkungen,  so  z.  B.  vielfach  derjenige  in  Grund- 
stücken. Auch  wo  das  Recht  persönliche  Unfreiheit  anerkennt,  ist  die  Verkehrsgnt- 
Qualität  der  Unfreien,  welche  hier  zu  den  wirthscbaftlichen  Gütern  zählen,  selten  eine 
ganz  unumschränkte.  Mit  der  Milderung  der  Unfreiheit  pflegt  sie  regelmässig  immer 
beschränkter  zu  werden,  wie  z.  B.  der  Uebergang  von  Sclaverei  zu  schollenpflichtiger 
Leibeigenschaft  zeigt.  Noch  maassgebender  ist  das  Recht  für  das  Vorhandensein 
und  den  Grad  der  Verkehrsgut-Qualität  der  „Verhältnisse“  und  „Rechte“  i.  o.  S.  (§.  119), 
z.  B.  fehlende  oder  nur  bedingte  Uebertragbarkeit  von  Privilegien  u.  dergl.  m.  Don 
oben  genannten  öffentlichen  Einrichtungen  und  Anstalten  (§.  119)  und  natürlich 
vor  Allem  dem  Staat  selbst  fehlt  diese  Qualität  gänzlich.  Aber  der  Umstand,  dass 
ein  Gut  nicht  Verkehrsgut  ist,  hindert  nicht,  es  zu  den  wirtschaftlichen  Gütern  zu 
rechnen. 


Zweites  Kapitel. 

Das  Vermögen  (und  Kapital). 

§.  123.  Vorbemerkungen  und  Litteratur. 

Die  folgende  Behandlung  des  Vermögens,  besonders  die  Unterscheidung  der 
beiden  Vermögensbegrilfe  nach  den  beiden  in  §.  109  unterschiedenen  Sfandpunctcn 
der  Betrachtung  sehe  ich  als  eine  consequente  Fortbildung  der  Bahn  brechenden  Er- 
örterungen von  Rodbertus  an  (vielfach  passim,  in  Hildebrand’s  Jahrb.  a.  a.  0.  in 
d.  Soc.  Briefen,  bes.  in  d.  Schrift  Zur  Erklär,  und  Abhilfe  der  heut.  Creditnoth  des 


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Vermögen  und  Kapital.  Vorbemerkungen.  Litteratur. 


307 


Grundbesitzes,  Jena  1869,  I,  90  ff.,  II,  2S6  ff.,  auch  Tüb.  Ztschr.  1878,  S.  224,  Ka- 
pital, S.  304)  Uber  die  nothwendige  Unterscheidung  von  Kapital  in  rein  öko- 
nomischem Sinno  als  Vorrath  naturaler  Kapitalgegenstände  und  Mittel  zur  Pro- 
duction Überhaupt  und  von  Kapital  im  h istorisch  - re chtli chen  Sinne  als 
Kapitalvermögen  oder  unzweideutiger  als  Kapital  besitz.  Diese  ßodbertus’sche 
Unterscheidung  lässt  sich  aber  noch  eine  Stufe  höher  hinauf  fuhren,  zum  Vermögen 
selbst  und  überhaupt,  wie  oben  gezeigt,  verallgemeinern  und  auf  andere  Grundbegriffe 
und  wirtschaftliche  Verhältnisse  mit  anwendeu.  Aehnliche,  gewiss  richtige  Tendenz 
verfolgt,  ohne  übrigens  an  Rodbertus  anzuknüpfen,  Knies  in  seiner  Analyse  des 
Kapitalbegriffs  (Geld  u.  Credit,  I.  d.  Geld,  1.  A.  Berl.  1873,  Kap.  I,  s.  bes.  S.  31): 
Die  Natioualökonomik  brauche  Kapital  in  einem  doppelten  Sinne,  nämlich  als  „reales 
Productiv  mittel“  (analog  dem  „Vermögen  an  sich“  im  Text)  und  als  „ein  für  den 
Besitzer  erworbener  Gutcrvorrath“  (aualog  dem  „Vermögensbesitz“).  Bei  Roscher 
fand  sich  von  einer  solchen  Unterscheidung  früher  keine  Spur  (I,  §.  7).  Er  sagt:  „Ver- 
mögen ist  die  Summe  aller  wirthschaftlichen  Güter,  welcho  sich  im  Eigenthum  einer 
physischen  oder  juristischen  Person  befinden.  Es  giebt  demnach  (?)  Privat-,  Cor- 
porations-,  Gemeinde-,  Staats-,  Volks-  und  Weltvermögen.“  Offenbar  passt  auch  auf 
letztere  beide  Vermögen  diese  Definition  des  Vermögens  nicht,  denn  „Volk“  und 
„Welt“  sind  keine  „Person“.  Auch  bei  Kau  (Vermögen:  Die  Menge  von  Sach- 
gütern, auf  welche  sich  in  einem  gewissen  Zeitpuncte  die  Verfügungsgewalt  einer 
Person  erstreckt)  kommt  der  Unterschied  nicht  zur  Geltung,  obgleich  er  Kapital 
im  volkswirtschaftlichen  und  im  Sinne  der  einzelnen  bürgerlichen 
Wirtbschaft  unterscheidet,  §.  52,  53,  S.  u.  §.  127. 

Das  Besitzmoment,  die  privatrechtliche  Seite  wird  meistens  allein  im 
Vermögensbegriff  betont,  so  von  Roscher  (der  in  seiner  Kapital-Definition  §.  42  da- 
gegen das  andre  Moment:  zur  Production  auf  bewahrtes  Product  sein,  hervorhebt). 
Rau,  auch  Hermann,  S.  21,  v.  Mangoldt,  Grundriss  §.  4;  bei  Schäffle  Syst.  I,  72, 
131  wird  die  ausschliessliche  Beziehung  des  Vermögens  auf  eine  es  besitzende  Person 
noch  besonders  scharf  hervorgehoben,  also  die  erste  Bedeutung  oben  abgewiesen. 
Ebenso  noch  im  Soc.  Körper  III,  263:  „Das  Vermögen  lässt  sich  ohne  Beziehung 
auf  Subjecte  des  wirthschaftlichen  Thuns  und  Lassens  nicht  definiren.  Es  ist 
dynamisch  gedacht  der  Inbegriff  der  effectiven  (Belastungen  aus-,  materielle  Anrechte 
einschliesseuden)  äusseren  materiellen  Macht  eines  Subjects.“  Aber  jene  erste 
Bedeutung  scheint  mir  durchaus  in  der  Sache  begründet  Natürlich  muss  jedes  Ver- 
mögen schliesslich  menschlichen  Zwecken  dienen,  ist  insofern  also  ohne  Beziehung 
zu  Personen  nicht  zu  denken,  schwebt  allerdings  nicht,  wie  Schäffle  sagt,  in  selbst- 
ständiger Bewegung  durch  das  volkswirtschaftliche  Universum.  Aber  die  geschicht- 
lichen Rechtsinhaber  des  Vermögens  lassen  sich  ohne  letzteres  und  dieses 
wieder  ohne  sie  betrachten.  (S.  auch  Schäffle,  Soc.  KörperS.  264.)  Ein  Privat- 
eigen th  ums  verhältniss,  wie  man  stillschweigend  immer  ohne  Weiteres  annimmt,  für 
alles  Vermögen  oder  für  besondere  Vermögensarten,  wie  das  Kapital,  ist  ferner 
nicht  das  allein  denkbare,  noch  das  allein  bestehende.  Die  Vermögensbesitzer  sind 
endlich  auch  nicht  immer  diejenigen,  welche  das  Vermögen  bildeten  (vom  Erbrecht 
ganz  abgesehen),  und  noch  weniger  diejenigen,  welche  cs  durch  ihre  alleinige 
Thätigkeit  bilden  können:  der  Staat,  als  „Vermögen  erzeugende  Societät“  (Stahl) 
wirkt  vielmehr  grade  hierbei  neben  den  Vermögensbesitzern  stets  direct  und  indirect 
mit  und  die  Rechtsordnung  entscheidet  ebenfalls  mit  über  die  Vertheilung  des 
Vermögensbesitzes  bezw.  der  Fähigkeit,  Vermögen  zu  bilden  (Ertragstheilung  zwischen 
Arbeitern  und  kapitalistischen  Unternehmern,  zwischen  Kapitalisten  und  Grundeigen- 
tümern, zwischen  Producenten  und  Consumenten  u.  s.  w.)  Für  das  Problem  der 
Vertheilung  des  Volkseinkommens  und  Volksvermögens,  d.  h.  für  das  zweite  Haupt- 
problem der  Nationalökonomie  ist  die  Unterscheidung  im  Texte  daher  von  grosser 
Wichtigkeit.  Vermögen  im  reinökonomischen  Sinne  und  Vermögensbesitz  schlechtweg  zu 
identificiren,  heisst  nichts  Andres,  als  die  einmal  bestehende  Rechtsordnung  des  Ver- 
mögensbesitzes für  die  allein  mögliche  in  wirtschaftlicher  Hinsicht  anzusehen, 
was  eben  petitio  principii  ist.  Auf  diesem  höchst  einseitigen  Standpuncte  stehen  ein- 
zelne Vertreter  des  radicalen  Smitianismus,  z.  B.  Prince -Smith,  wie  immer  so 
auch  hier  der  einseitigste,  aber  auch  der  rücksichtslos  conscquenteste  und  ehrlichste 
Vertreter  dieser  Richtung,  so  in  dem  Aufsatz  „Die  Socialdemocratie  auf  dem  Reichs- 
tage“ in  Faucher’s  Vicrtcljahrsschrift  1869  B.  1 (wo  die  „Besitzenden“  alles  geleistet 

20* 


308 


2.  B.  Grundbegriffe.  2.  K.  Vermögen.  §.  123,  124. 


haben,  was  uns  in  Volkswirtschaft  und  Cultur  über  den  Naturzustand  der  Armuth 
hinausbrachte,  s.  bes.  S.  152!),  ders.  im  Artikel  Handelsfreiheit  in  Rentzsch’ 
Handwörterbuch  der  Volkswirtschaftslehre  (in  nuce  das  ganze  Lehrgebäude  der  sog. 
Manchestertheorie).  Weiteres  in  der  sehr  geschickten  Zusammenstellung  radical  frei- 
händlcrischen  Aeusserungen  über  die  Grundlagen  des  Wirtschaftslebens  von  G.  Schön  - 
borg,  Tüb.  Zcitschr.  28.  (1872)  S.  404  ff. 

Vgl.  auch  Held,  Grundriss  S.  11,  33  u.  in  Hildebrands  Jahrbüchern  B.  27,  161, 
meiner  Auffassung  beistimmend  im  Wesen,  abweichend  in  der  formellen  Behandlung 
der  juristischen  Seite.  „So  einfach"  wie  Held  meint  (S.  183)  ist  die  Sache  aber 
mit  Nichten.  Die  Unterscheidung  von  „Güterarten“  und  „rechtlichen  Beziehungen 
von  Personen  zu  Gütern“  macht  die  „schwerfällige“  Unterscheidung  obiger  beider 
Standpuncte  noch  nicht  entbehrlich.  Held  übersieht,  dass  in  der  Smith’schen  National- 
Oekonomie  eben  die  historisch-rechtliche  Auffassung  allein  besteht  und  für  die 
selbstverständliche  gilt.  Grade  meine  Unterscheidung  von  Gütervorräthen  und 
Rechten  daran,  in  Rodbertus’  Weise,  die  er  mir  seltsam  genug  als  „beständige 
Verwechslung“  beider  vorwirft,  beseitigt  diesen  Irrthum  der  Schule. 

Ans  der  neuesten  Litteratur  (seit  der  2.  Aufl.  dieses  Werks)  hebe  ich  Neu- 
mann’s  Erörterungen  und  Bezügliches  aus  der  österreichischen  theoretischen 
Schule  als  besonders  beacbtenswertli  hervor.  Neu  mann  in  seinen  oben  (S.  296) 
gen.  Arbeiten  (bes.  im  Schönbcrg’schen  Handbuch,  Abh.  Grundbegriffe,  2.  A.  I,  175, 
3.  A.  I,  160)  zergliedert  mit  seinem  bekannten  Scharfsinn  auch  den  Vermögensbegriff, 
zieht  die  juristische  Auffassung  (auch  aus  der  Litteratur)  mit  hinein,  hat  übrigens 
auch  noch  neuerdings  in  seiner  Begriffsbestimmung  etwas  gewechselt.  Er  erörtert 
den  Begriff  in  der  gen.  Abh.  erst  nach  dem  von  Werth  und  Preis,  über  welche  beide 
er  nach  dem  Gutsbegriff  handelt.  In  der  2.  Auß.  unterscheidet  er  zwei  Begriffe 
(„nach  einer  mehr  äusserlichen , an  den  einzelnen  Objecten  haftenden  Erfassung“): 
1.  Der  Inbegriff  der  Jemand  um  seiner  selbst  Willen  zu  gewisser  Zeit  t hat  säch- 
lich zu  Verfügung  stehenden  Güter,  oder  2.  der  gleiche  Inbegriff  der  rechtlich 
zur  Verfügung  stehenden  Güter;  in  der  3.  A.  fasst  er  beides  zusammen:  „Das  Ver- 
mögen Jemandes“  ist  „der  Inbegriß'  der  Güter,  über  die  derselbe  in  seinem  Interesse 
verfügen  kann  und  zwar  entweder  thatsächlich  oder  rechtlich“  (doch  wohl  auch: 
thatsächlich  und  rechtlieh  ausserdem).  Jene  mir  so  wichtig  scheinende  Unterschei- 
dung des  Doppel  begrißs  findet  sich  hier  nicht 

Eine  sehr  dankenswerthe  Erörterung  hat  v.  Bölim-Bawerk  in  seinem  Werk 
„Kapital  und  Kapitalzins“  B.  II,  S.  64  ß.  der  Unterscheidung  zwischen  Social-  und 
Privatkapital  gewidmet.  Er  erkennt  ihre  Bedeutung  völlig  an,  wendet  aber  ein,  sie 
falle  nicht  mit  der  Unterscheidung  von  Kapital  als  rein-ökonomische  und  als  historisch- 
rechtliche Kategorie,  von  naturalen  Kapitalgütern  und  Kapitalbesitz  zusammen;  es 
lägen  hier  zwei  selbständige  Unterscheidungen,  jede  mit  einem  anderen  Unterschei- 
dungsgrund vor.  Social-  und  Privatkapital  stellten  auch  zwei  verschiedene  naturale 
Gütermengen  dar  (S.  66).  Ich  kann  mich  dem  doch  nicht  anschliessen  und  halte  im 
Wesentlichen  an  meiner  früheren  Behandlung  des  Problems  fest.  Zum  Theil  dreht 
sich  der  Stroit  um  die  Frage,  ob  die  „Unterhaltsraittel  der  productiven  Arbeiter4  auch 
zum  Social-(National-)Kapital  gehörten,  was  v.  Böhm  - Bawerk  mit  Rodbertus  (Ka- 
pital S.  299  ff)  u.  a.  m.  bestreiten,  ich  aber  von  einem  bestimmten  Stand- 
punctc  der  Betrachtung  aus  auch  für  die  Volkswirt  lisch  aft  (dieso  nem- 
lich  als  Productionseinrichtung  betrachtet,  was  doch  auch  zulässig  und  unter 
Umständen  geboten  ist)  festhalte.  S.  u.  §.  129.  Eingehend  und  beachtenswerth  er- 
örtert auch  E.  Sax,  Staatswirthschaft,  die  betreffenden  Fragen  (S.  308  fl’.  324),  aber 
mit  gleichfalls  falschem  Einwand  gegen  mich  wegen  der  Einbeziehung  der  Löhne 
(Subsistenzmittel)  der  Arbeiter  in  das  Kapital.  Vergl.  ferner  K.  M enger,  Volks- 
wirtschaftslehre. und  ders.  in  dem  Aufs,  zur  Theorie  des  Kapitals  in  Conrads  Jahrb., 
B.  51  tN.  F.  17),  1898,  S.  1 — 49,  und  inanchfach  passim  bezügliche  Erörterungen  in 
Menger’s  „Untersuchungen“  und  in  den  unten  in  §.  135  genannten  Arbeiten  der 
österreichischen  Schule  über  Werth.  Eine  eingehende  Auseinandersetzung  mit  den 
abweichenden  Ansichten  dieser  Autoren  über  Einzelnes  ist  indesson  hier  nicht  mög- 
lich. Jedenfalls  ergiebt  sich  aber,  welche  entscheidende  Bedeutung  der  Kapitalbegriff 
hat  und  wie  verkehrt  die  bei  historischen  Nationalökonomen  hervorgetretene  Ansicht 
ist,  dass  Erörterungen  über  Begriff  und  Wesen  des  Kapitals  (z.  B.  in  Vorlesungen  für 
Studenten)  unnöthig  seien.  S.  sonst  noch  Marshall,  principles,  book  2,  ch.  5. 


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Doppelter  Vermögensbegrift. 


309 


Aus  der  juristischen  Litteratur  ist  besondere  die  ro manistische  in  be- 
züglichen Erörterungen  über  Vermögen  hervorzuheben  (Pandectenwerke  u.  dgl.).  Eine 
Monographie  ist  Birkmeyer,  über  das  Vermögen  im  juristischen  Sinne.  Er- 
langen, J 879. 

I.  — §.  124  [23,  24],  Vermögen  im  Allgemeinen. 
A.  Doppelter  Vermögensbegriff.  Entsprechend  jenem 
Doppelstandpunct  der  Betrachtung  (§.  109)  ist  auch  ein  doppelter 
Vermögeusbegriff  zu  unterscheiden:  „Vermögen  an  sich“, 
National-,  Volks-, Social  vermögen,  bz  w.  Theile  davon  einer-, 
Vermögensbesitz,  persönliches  Vermögen  andrerseits. 

1)  Ersteres,  Vermögen  als  rein  ökonomischer  Begriff,  ist  ein 
in  einem  Zeitpuncte  vorhandener  Vorrath  wirth- 
schaftlicher  Güter  als  realer  Fonds  für  die  Bedlirf- 
nissbefriedigung. 

Hier  wird  nur  gedacht  an  die  Brauchbarkeit  der  dieses  Vermögen  bildenden 
Güter  als  Vorrath  für  menschliche  Bedürfnissbefriedigung  überhaupt,  nicht  an  die 
Art  der  Hechte,  welche  bestimmte  einzelne  Personen  in  Bezug  auf  dieses 
Vermögen  haben.  Dieses  „Vermögen  an  sich“  erscheint  demnach  als  eiue  wesentliche 
Vorbedingung  gesicherter  wirthschaftlicher  Lage,  sowohl  zur  unmittelbaren  Bedürfniss- 
befriedigung (Gebrauchs vermögen)  als  zur  mittelbaren,  nemlich  als  Mittel  zu  neuer 
Hervorbriugung  von  Gütern  (Produ ctiv vermögen  oder  Kapital,  $.  12S).  In  diesem 
Sinne  wird  der  Ausdruck  in  den  Worten  Volksvermögen,  Weltvermögen  ge- 
braucht. Alle  oben  (§.  119)  genannten  Arten  wirthschaftlicher  Güter  gehören 
zu  diesem  Vermögen,  einerlei  ob  sie  Verkehr sgütcr  (§.  122)  sind  oder  sein  können 
oder  nicht  und  einerlei,  ob  sie  eine  Schätzung  nach  dem  Tausch wertb  zulassen 
oder  nicht.  Insbesondere  sind  zum  Volksvermögeu  zwar  nur  in  Ausnahmefällen1)  die 
auf  rechtlicher  Beschränkung  des  Verkehrs  beruhenden  „Verhältnisse“  (§.  119  n.  3,  b), 
aber  unbedingt  die  übrigen  Verhältnisse  (eb.  a und  c),  namentlich  auch  der  Staat 
selbst  zu  rechnen.  Ein  tüchtiger  Staat  (Preussen!)  kann  einen  wesentlichen  Bestand- 
theil  des  Volksvermögens  bilden. 

2)  Vermögen  als  Verraögenbesitz  oder  als  geschicht- 
lich-rechtlicher Begriff  bezeichnet  dagegen  den  im  Besitz, 
bzw.  Eigenthum  einer  Person  stehenden  Vorrath  wirth- 
schaftlicher Güter:  Jedes  solches  Vermögen  ist  Einzelver- 
mögen, d.  h.  Vermögen  einer  (physischen  oder  juristischen) 
Person,  weshalb  es  auch  „persönliches“  Vermögen  genannt 
werden  kann. 

Hier  wird  in  erster  Linie  an  das  Rechtsvcrhältniss  gedacht,  welches 
zwischen  dem  Besitzer,  bez.  Eigonthümer  und  dem  Vermögen  besteht, 
erst  in  zweiter  Linie  an  das  „Gütervorrathsein“  des  Vermögens. 


Wenn  in  bestimmten  Verhältnissen  die  Gewährung  eines  ausschliesslichen 
Hechts  an  einen  Unternehmer  die  nothwendige  Voraussetzung  dafür  ist,  dass  die 
Unternehmung,  welche  eine  Gesammtheit  bedarf,  überhaupt  ins  Leben  trete,  so  wird 
ein  solches  auf  rechtlicher  Beschränkung  des  Verkehre  beruhendes  Verhältniss  in  der 
That  zum  Volks  vermögen  gehören.  So  liegt  der  Fall  aber  in  mittelalterlichen 
Wirthschaftsverhältnisscu  öftere,  z.  B.  bei  Realgerechtigkeiten,  Bannrechten,  etwa  für 
Mühlen.  S.  u.  §.  131. 


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310 


2.  B.  Grundbegriffe.  2.  K.  Vermögen.  §.  124 — 126. 


Für  das  Vermögen  in  diesem  Sinne  und  Für  seine  wirthschaft- 
liche  Function  ist  das  Recht  dann  in  dreierlei  Hinsicht  ent- 
scheidend, nemlich  hinsichtlich  der  Person,  welche  „besitzt“ 
oder  Eigenthum  hat,  der  Dinge,  welche  im  Besitz,  bez.  Eigen- 
thum  stehen,  und  der  Rechte,  welche  das  Besitz-,  bez.  Eigen- 
thumsrecht in  Bezug  auf  diese  Dinge  gewährt. 

Für  alles  Weitere  muss  ich  auf  die  Abschnitte  über  das  Vermögensrecht,  bez. 
die  Eigentliurnsordnung  im  2.  Thcil  der  Grundlegung  verweisen,  besonders  über  den 
Eigenthumsbegrilf.  Der  von  mir  schon  in  der  1.  Auflage  im  Ausdruck  „Vermögens- 
besitz“ mitgebrauchte  Ausdruck  „Besitz“,  den  ich  in  der  zweiten  anwandte,  den  auch 
Held  und  H.  Röslcr  als  „Innehaben  von  Vermögensrechten“  brauchen,  lässt  sich 
juristisch  beanstanden , entspricht  aber  dem  Sprachbrauch  besser,  als  bloss  der  Aus- 
druck „Eigcnthum“.  Ueber  eine  Polemik  A.  Held ’s  gegen  ineine  formelle  und  syste- 
matische Behaudlungsweisc  dieser  Gegenstände  s.  in  2.  Aufl.  S.  33,  Note  2. 

a)  Vom  Rechte  hängt  der  Begriff  der  Person  und  deren 
Fähigkeit,  rechtlich  zu  „besitzen“  ab. 

Wo  keine  solche,  bez.  keine  Eigenthumsfähigkeit,  da  auch  kein  Vermögen  in 
diesem  zweiten  Sinne  des  Worts,  in  welchem  man  daher  nicht  von  Volks-  und  Welt- 
vermögen sprechen  kann.  Im  Uebrigen  wird  dieser  Punct  besonders  wichtig  in  Be- 
treff der  Bildungen  des  Vereinswesens  wegen  der  Bedingungen  für  die  Erlangung  des 
Rechts  der  juristischen  Person,  bezw.  der  selbständigen  Vermögcnsfähigkeit. 

b)  Das  Recht  bestimmt  die  Dinge,  wrelche  überhaupt,  bzw. 
von  Privatpersonen  (physischen,  wie  nicht  physischen)  „besessen“ 
werden  oder  in  Eigenthum  stehen  können  (Extensität,  Umfang 
des  Eigenthums).  Nur  solche  Dinge  können  also  Vermögen  im 
historischrechtlichen  Sinne  sein. 

Personen,  persönliche  Dienste,  „Verhältnisse“  sind  nur  nach  den  Bedingungen 
der  Rechtsordnung  zum  Vermögen  zu  zählen.  Auch  bei  Sachgütern,  insbesondere  bei 
ursprünglich  freien  Besitzgütern  (§.  113)  kann  die  Fähigkeit,  im  Eigenthum  zu  stehen, 
wenigstens  für  ganze  Kategorien  von  Personen  („Private“)  vom  Rechte  ausgeschlossen 
sein.  Die  Verwirklichung  der  Postulate  des  Socialismus  würde  Grundstücke  und  Kapi- 
talien vom  Vermögensbesitz  physischer  Personen  und  sonstiger  Personen  des  Privat- 
rechts ausschlicssen : die  Periode  des  „Kapitalcigenthums“  damit  auf  hören,  wie  die 
des  „Menscheneigenthums“  nach  grundsätzlicher  Beseitigung  des  Instituts  der  persön- 
lichen Unfreiheit  aufgehört  hat  (^Rodbertus). 

c)  Das  Recht  bestimmt  endlich  auch  die  einzelnen  Rechte, 
oder  Befugnisse,  welche  es  in  Bezug  auf  die  im  Besitz  bez. 
Eigenthum  einer  Person  stehenden  Güter  gewährt  (In  ten  sität, 
Inhalt  des  Eigenthumsrechtes). 

Dieser  Inhalt  des  Eigenthums  ist  rechtsgeschichtlich  wandelbar,  er 
ändert  sich  nach  Zeit  und  Ort  und  nach  den  Gegenständen,  die  im  Eigenthum 
sich  befinden  (Personen  — Sachgüter  — Verhältnisse;  bewegliche  Sachen  — Grund- 
stücke und  Häuser;  ländliche  — städtische  Grundstücke;  Hausplätze  — landwirt- 
schaftlicher — Forstboden  — Bergwerks Wegeboden;  bewegliche  Gcnussmittol  — 

bewegliche  Mittel  zur  Erzeugung  neuer  Güter  [Productionsmittcl  oder  Kapital]  u.  s.  w.). 
Der  Eigenthumsbcgrifr  ist  demnach  selbst  wieder  kein  absoluter,  sondern  ein 
historisch-rechtlicher  relativer.  Das  Eigenthum  giebt  nur  gewisse  Ver- 
fügungsbefugnisse und  gewisse  Ausschlussbefugnisse  Anderen  gegen- 
über. Das  Maass  dieser  Befugnisse  wechselt.  Der  schroffe  römisch  - rechtliche 


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Ooffentliclies,  Privatvermögen.  Reichtum. 


311 


Eigenthumsbegriff,  welcher  allerdings  auch  im  modernen  wirtschaftlichen  Verkehr 
mehr  und  mehr  zur  Geltung  gekommen  ist,  ist  nicht  schlechtweg  „der  Eigenthuins- 
begiifT*.  Oder  wenn  eine  Beschränkung  der  Vcrfugnngs-  und  Ausschlussbefuguisse 
des  Eigentümers  als  Widerspruch  gegen  den  Eigenthumsbegriif  gilt,  so  muss  statt 
von  „Eigenthum“  eben  von  einem  „Inbegriff  gewisser  Verfilgungs-  und  Ausschluss- 
rechte“  gesprochen  werden,  wenn  dafür  auch  ein  anderer  Gesammtname  fehlt.  Auch 
filr  diese  Auffassung  ist  die  Begründung  erst  im  2.  Tlieile  der  Grundlegung  zu  geben. 
S.  bes.  v.  Ihering,  Geist  des  römischen  Rechts,  3.  A.  1S73,  I,  7 und  Zweck  im 
Recht,  I,  510,  wo  der  erste  lebende  Romanist,  in  specieller  Billigung  meiner  Ansicht, 
sagt:  „es  ist  nicht  wahr,  dass  das  Eigentum  seiner  „Idee“  nach  die  absolute  Ver- 
fügungsgewalt in  sich  schlösse“.  S.  auch  Knies,  politische  Oekonomie,  2.  Auflage, 
S.  ISO — 223  (Nachweis,  dass  wir  es  bei  dem  Eigenthum  mit  einem  historischen, 
der  Differenciruug  und  der  Wandelung  zugänglichen  Begriß  und  Verhältnis  zu  thun 
haben  und  ein  völlig  unbeschränktes  Privateigentum  nie  und  nirgends  vorhanden 
war“).  Ders.,  Geld,  1.  A.  S.  S4  ff. 

Die  Politische  Oekonomie  operirt  mit  beiden  Begriffen  des 
Vermögens.  Wo  sie  den  zweiten  Begriff  gebraucht,  ist  auch  für 
sie  die  rechtliche  Seite  desselben  von  grösster,  aber  selten  ge- 
nügend gewürdigter  Bedeutung. 

B.  — §.  125  [25].  Eintheilung  des  persönlichen 
Vermögens  in  Öffentliches  und  Privatvermögen  Das 
Einzelvermögen  zerfällt  nach  der  rechtlichen  Stellung  der  inne- 
habenden Personen  in  zwei  wesentlich  zu  unterscheidende  Arten: 
öffentliches  und  Privat  vermögen. 

Zum  öffentlichen  Vermögen  gehört  insbesondere  das  Vermögen  der  „öffent- 
lichen Körpor“,  der  später  von  mir  sogen.  Zwangsgemein w i rthschaftcn, 
also  namentlich  das  Staats-,  Kreis-,  G e m ein  de  vermögen.  Dieses  Vermögen  ist 
entweder  zur  allgemeinen  Benutzung  bestimmt  und  dem  Staate  u.  s.  w.  wird 
das  Eigenthum  daran  als  dem  rechtlichen  Vertreter  der  Gesammtheit  (Volk,  Orts- 
einwohnerschaft u.  s.  w.)  zugeschrieben  (Wege,  Flüsse  u.  dergl.)  (öffentliches 
Vermögen  im  engeren  Sinne)  oder  es  ist  eigentliches  Staats- , Gemeindevcr- 
mögen,  nemlich  entweder  V er waltungs vermögen,  das  zur  Herstellung  der  Staats- 
leistungen u.  s.  w.  mit  dient  oder  Finanzvcrmögen,  das  vom  Staate  zur  Erwerbung 
von  Einkünften,  als  den  Mitteln  für  die  Herstellung  seiner  Leistungen,  benutzt  wird. 
Zum  Privatvormögen  gehört  dasjenige  der  einzelnen  physischen  Personen,  der  juristi- 
schen Personen  des  Privatrechts,  der  Erwerbsgesellschaften,  der  freien  Vereine  u.  s.  w. 

C.  — §.  126  [26].  Der  Begriff  des  Reichthums. 

Vergl.  Rau,  §.  73  ff  Roscher,  §.  9.  Leser,  Begriff  des  Roichthums  bei 
Adam  Smith,  Heidclb.  1874.  Neumann,  im  Schönberg’schen  Handb.,  3.  A.  I,  163. 
Die  fremden  Sprachen  brauchen  diesen  Ausdruck  oder  verwandte  (richesse,  richezza, 
wealth)  vielfach,  w’o  wir  das  Wort  „Vermögen“  anwenden,  weil  sie  kein  für  unsere 
Disciplin  passeudes  Wort  für  letzteren  Begriff  haben.  Auch  unsere  Sprache  braucht 
aber,  z.  B.  im  Wort  „Volksreichthum“,  den  Ausdruck  ,, Reichthum“  wohl  mehr  im 
neutralen,  bloss  „Vermögen“,  „wirtschaftliche  Mittel“  bedeutenden  Sinne,  ohne  die 
Nebenbedeutung  von  „grossen“  Mitteln.  (In  Abänderung  einer  Bemerkung  in  der 
2.  Auf).  S.  35)  S.  auch  Neu  manu  an  der  oben  gen.  Stelle  über  Wohlstand  und 
Volkswohlstand. 

Auch  dieser  mit  dem  Begriff  des  Vermögens  zusammenhängende 
Begriff  hat  wie  jener  eine  doppelte  Bedeutung.  Reichthum  im 
rein  ökonomischen  Sinne  bezeichnet  ein  grosses  Vermögen, 
d.  h.  einen  grossen  Fonds  von  wirtschaftlichen  Gütern:  gross 


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312 


2.  B.  Grundbegriffe.  2.  K.  Vermögen.  §.  26 — 128. 


im  Verhältniss  zu  der  damit  zu  erzielenden  BedUrfnissbefriediguDg. 
Reichthum  im  geschichtlich-rechtlichen  Sinne  bezeichnet 
wieder  einen  grossen  Vermögensbesitz  und  zwar  gross  nicht 
nur  im  Verhältniss  zum  Bedarfe  des  Besitzers  und  zum  Besitze 
anderer  Personen,  sondern  auch  gross,  um  als  Kapitalfonds 
oder  Grundrentenfonds  (Grundbesitz)  ohne  Verminderung 
seines  Bestands  (Werths)  ein  ohne  oder  mit  verhältnissmässig 
sehr  weniger  eigener  Arbeit  (bloss  Verwaltungsarbeit)  erzieltes 
Einkommen  zu  reichlicher  Bedürfnisbefriedigung  seinem  Besitzer 
zu  gewähren. 

Reichtum  in  diesem  Sinne  setzt  also  eine  Rechtsordnung  voraus,  welche 
Privat eigenthum  an  Productionsmitteln  und  neben  dem  Einkommen  aus 
Arbeit  (Arbeitslohn)  Einkommen  aus  Besitz  (von  unfreien  Arbeitern,  Grundstücken, 
Kapital),  daher  Rente  und  Zins  zulässt.  In  diesem  zweiten  Sinne  des  Worts  spricht 
man  von  Privatreichthum.  Es  ist  klar,  dass  auch  ein  bedeutender  Volksreichthum, 
begrifflich  wenigstens,  nicht  nothwendig  bedingt  ist  durch  solchen  Privatreichthum 
und  praktisch  nur  insofern  von  letzterem  abhängt,  als  Privateigenthum  an  Produc- 
tionsmitteln und  Rente-  und  Zinsbezug  als  Einkommenarten  wirklich  indispen- 
sable Rechtsinstitute  sind,  um  die  Bildung  eines  grossen  Volksvcrmögens  herbei- 
zuführen. (S.  2.  Theil  der  Grundlegung.) 

II.  Eintheilung  oder  Arten  des  Vermögens,  insbe- 
sondere Kapital. 

§.  127.  Vorbemerkung.  Vergl.  die  Vorbemerkung  im  §.  123  über  den 
DoppelbegrifT  von  Vermögen  und  Kapital,  bes.  Rodbertus  a.  a.  0.  und  Knies, 
der  übrigens  nicht  dieselben  Consequenzen  aus  dem  Dualismus  des  Kapitalbegrifls  zieht. 

Die  Unterscheidung  des  volks-  und  des  einzcl-  bez.  priv at wirtschaftlichen 
Standpunctes  bei  der  Feststellung  ökonomischer  Begriffe  ist  grade  bei  dem  Kapital- 
begriff schon  älter,  doch  fällt  die  Unterscheidung  im  Text  nicht  mit  der  bei  Rau 
u.  A.  m.  vorkommenden  genau  zusammen.  Für  den  einzelnen  Autor  ist  auch  beim 
KapitalbegrifF  maassgebend  seine  Auffassung  der  wirtschaftlichen  Güter  (besonders  ob 
Dienste  oder  Verhältnisse  dazu  gerechnet  werden  oder  nicht),  der  Grundstücke  (ob 
diese  nur  als  Naturfactor  oder  ob  sie  als,  eventuell  ob  sie  allein  als  wirtschaftliche 
Güter  betrachtet  werden),  dann  seine  Stellung  zu  der  oben  behandelten  Frage  (ob 
Vermögensbesitz  schlechtweg  als  Vermögen  gilt  und  ob  die  Bildung  des  Volksver- 
mögens nur  in  der  Form  des  privaten  Vermögensbesitzes  für  möglich  oder  wenigstens 
allein  so  für  genügend  wirksam  angesehen  wird  oder  nicht).  Die  verschiedenen  For- 
mulirungcn  des  Kapitalbegriffs  und  der  verschiedene  Inhalt,  welcher  ihm  gegeben  wird 
(z.  B.  ob  Grundstücke  oder  nur  bewegliche  Güter,  oder  ob  bloss  Erwerbs-  oder  auch 
gewisse  Genussmittel,  die  auch  nur  als  solche  dienen,  darunter  gereiht  werden),  können 
daher  auch  gar  nicht  auffallen,  sondern  sind  eine  notwendige  Conscquenz  des  ver- 
schiedenen Stand-  und  Ausgangspuncts.  Das  wird  in  der  Kritik  der  Begriffe  andrer 
Autoren  so  oft  tiherschen,  selbst  von  Roscher  in  seinen  dogmengeschichtlichen  Be- 
merkungen (§.  42  Anm.  1),  wie  Knies,  d.  Geld.  1.  Auf!.,  S.  12,  richtig  einwendet. 
Man  kann  nur  den  Ausgangspunct  kritisiren  und  etwaige  folgewidrige  Schlüsse  aus 
demselben  abweisen.  Für  die  Unterscheidung  und  für  die  Erörterungen  über  die 
älteren  Autoren  (Turgot,  A.  Smith,  die  deutschen)  ist  Knies  a.  a.  0.  besonders 
zu  vergleichen.  Schade,  dass  er  Rodbertus  übersehen  hat. 

Beachtenswert  hinsichtlich  der  Unterscheidung  der  einzel-  und  volkswirtschaft- 
lichen Begriffe  ist  von  den  Früheren  namentlich  Storch,  besonders  in  der  Betrachtung 
über  die  Natur  des  Nationaleinkommens  (aus  dem  Französ.),  Halle  1825,  S.  1 ff..  42  ff., 
(hier  Scheidung  von  Einzel-  und  Volkskapital,  welches  Beides  unter  den  allgemeinen 
Begriff  vom  Kapital  falle:  Einkommen,  das  zur  Hervorbringung  eines  neuen 
Einkommens  angewandt  wird).  Vergl.  ferner  Kumpf,  wirtschaftliche  Natur  des 


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Vorbemerk.  und  Litteratur  Uber  den  Kapitalbegrilf. 


313 


Darlehens,  Ttib.  Zeitschrift  B.  11.  Sam.  Oppenheim,  Natnr  des  Kapitals  und  Credits, 
Mainz  1868,  I,  Kap.  1,  der  drei  Arten  des  Kapitals  scheidet:  National-  oder 
auch  Xaturalkapital  („ein  sich  selbst  anfrecht  haltender,  erzeugter  Güterstamm, 
der.  ohne  sich  selbst  dabei  zu  vernichten,  der  Nation  stets  ein  Gütereinkommen  ab- 
wirft und  auf  diese  Weise  ihr  als  Nahrungsquelle  dient“,  S.  9),  dann  das  Unter- 
nehmer- oder  Wcrthkapital , endlich  das  Rentner-  oder  Leihkapital,  S.  10.  — 
Rau  scheidet  I,  §.  50  ff.:  „Die  inländischen  Bestandtheile  des  Volksvermftgen“  1) 
nach  ihrer  Entstehung  und  ihrem  Verhältniss  zur  Erde  in  Grundstücke  und 
bewegliche  Stoffgüter,  2)  nach  ihrer  Bestim m ung  für  gewisse  Zwecke  in 
Genussmittel,  die  unmittelbar  dazu  dienen,  irgend  einen  Vortheil  hervorzu- 
bringen und  in  Erwerbsmittel,  die  als  Mittel,  neue  Sachgüter  in  das  Vermögen 
zu  bringen,  sei  es  durch  Erzeugung,  sei  es  durch  Verkehr,  benutzt  werden.  In  Ver- 
bindung der  beiden  Einteilungen  scheidet  er  dann:  1)  Grundstücke  (meist  Er- 
werbsmittel), und  2)  von  der  Erde  getrennte  Stoffgüter,  nemlich  a)  beweg- 
liche (oder  beweglich  gewesene)  Genussmittel  (Menge  davon:  Gebraucbsvorrath), 
b)  bewegliche  Erwerbsmittel  (Vorrath  davon:  Kapital).  Das  Kapital  sei:  „die 
übersparte  und  werbend  angelegte  Frucht  einer  früheren  Gütererzeugung“,  der  viel 
gebrauchte  Satz,  Kapital  sei  „angesammelte  Arbeit“,  sei  nur  eine  Metonymie  (§.  51). 
Diese  Erklärung  von  Kapital  entspreche  „dem  Standpunct  einer  einzelnen 
bürgerlichen  Wirthschaft,  die  neben  anderen  und  im  Verkehr  mit  denselben 
steht Man  verstand  unter  Kapital  anfänglich  nur  eine  zum  Ausleihen  be- 

stimmte. eine  Einnahme  von  Zinsen  versprechende  Geldsumme.  — Kapital,  capitale, 
ist  die  Uebcrsetzung  des  griechischen  xe<f>u).eiov , womit  man  die  Forderung  einer 
Geldsumme  im  Gegensatz  des  Zinses,  rdxog,  bezeichnete,  s.  die  Stellen  bei  Du  (Jange, 
Clossar.  s.  v.  Capitale  undMaclcod,  Dict.  I.  323.  Capitale,  caput  pecuniae  — caput 
als  Hauptsache,  Wesentliches,  Ursprüngliches  — wurde  erst  im  Mittelalter  üblich.  Im 
Deutschen  brauchte  man  das  Wort  Hauptgeld.  (Vergl.  Knies,  Geld,  S.  6 IT.)  Später 
erkannte  man,  dass  ein  beweglicher  Gütervorrath  auch  auf  andre  Weise,  in  Ver- 
bindung mit  Arbeit  oder  ohne  dieselbe,  fortdauernd  zum  Erwerb  von  Sachgütern 
dienen  könne  und  daher  zum  Kapital  im  privatwirth  schaftlichen  Sinne  zu 
rechnen  sei“  (Rau  §.  53).  Anders  aber  gestaltet  sich  nun  der  Kapitalbegriff  im 
volkswirtschaftlichen  Sinne:  Kapital  bildeten  hier  .,die  beweglichen  Mittel  zu  einem 
solchen  Erwerbo,  durch  welche  Sachgüter  neu  in  das  Vermögen  von  Staatsbürgern 
gelangten,  indem  sie  überhaupt  erst  zum  Vorschein  kommen  oder  vom  Ausland  ein- 
geführt werden“  (cb.  §.  5b).  In  der  Privatwirth  sc  haftslehre  rechne  man  des- 
halb zum  Kapitale  nicht  nur  das  wahre  volkswirtschaftliche  Kapital,  sondern  auch 
solche  Genussmittel,  die  der  Eigentümer,  statt  sie  selbst  zu  brauchen,  zu  einem  Mittel 
macht,  sich  eine  Einnahme  zu  verschaffen  (§.  54).  — Meine  Auffassung  im  Texte 
steht  derjenigen  von  Rau  also  doch  nahe,  wenn  sie  sich  auch  nicht  mit  ihr  deckt 
(nnd  zwar  abgesehen  von  der  verschiedenen  Behandlung  der  wirtschaftlichen  Güter 
und  der  Grundstücke).  Aehnlich  Neu  mann  (Tüb.),  Tüb.  Zeitschr.  B.  28,  311.  — 
S.  ferner  die  in  §.  123  angegebene  Litteratur,  besonders  die  österreichische,  auch 
den  schon  älteren  Aufsatz  von  Kleinwächter,  Beitrag  zur  Lehre  vom  Kapital, 
Hildcbrand’s  Jahrb.,  B.  9 (18G9)  S.  310,  309,  und  ders.  ira  Schönberg’schen  Hand- 
buch, Abh.  Production,  3.  Au  fl.,  I,  189  fT.  spcciell  über  die  beiden  Vermögensarten. 
Raul,  §.  48  ff.,  bes.  50—54.  Hermann,  S.  109  fl'.,  221  — 309.  Roscher 
£}.  7,  42  ff.  v.  Mangoldt  §.  4.  Schäffle,  System,  I,  10,  127,  135  ff.;  Soc. 
Körper  III,  265.  Menger,  Volks wirthschaftsl.  S.  70  ff.,  ders.,  Conrad’s  Jahrb.  B.  51, 
S.  8.  — Knies,  d.  Geld,  Kap.  1.  — Held,  Grundr.  S.  33.  — G.  Cohn  I, 
§.  145—147. 

A.  — §.  128  [27].  Die  zwei  Vermögenszwecke  und 
-arten.  Das  Vermögen  in  den  beiden  Bedeutungen  des  vorigen 
Abschnitts  zerfällt  nach  seinem  Zwecke  und  der  mit  ihm  wirk- 
lich erfolgenden  Verwendung  in  zwei  Bestandtheile:  in  Ge- 
brauchs- oder  Genu ss vermögen  und  in  Productivver- 
mögen oder  Kapital.  Die  Unterscheidung  beider  Bestandtheile 


314 


2 B.  Grundbegriffe.  2.  K.  Vermögen  und  Kapital.  §.  128,  129. 


gestaltet  sich  aber  für  das  Vermögen  in  seinen  beiden  Bedeutungen 
wieder  nicht  ganz  gleich. 

1)  Das  Gebrauch 8 vermögen  („Vermögen  im  engeren 
Sinne“)  ist  ein  Vorrath  solcher  wirtschaftlicher  Güter,  welche  zur 
unmittelbaren  Bedürfnissbefriedigung  dienen  und  zu  diesem 
Zwecke  besessen,  bzw.  erstrebt  werden.  Es  ist,  nach  der  Art 
und  der  Dauer  des  Gebrauchs  unterschieden, 

a)  Verbrauchsvermögen,  soweit  es  Güter  umfasst,  welche 
bei  der  Bedürfnissbefriedigung  sofort  gänzlich  oder  wenigstens  in 
ihrer  individuellen  Gutsform  als  Güter  untergehen,  z.  B.  Nahrungs- 
mittel ; 

b)  Nutz  vermögen,  soweit  es  Güter  umfasst,  welche  erst 
durch  eine  etwas  andauernde  Benutzung  für  die  ßedürfnissbe- 
friedigung  ihre  Gutseigenschaft  verlieren.  Ein  wesentlicher  Theil 
des  Volksvermögens  und  des  Vermögensbesitzes  der  Personen  be- 
steht aus  solchem  Nutzvermögen. 

So  Wohngebäude.  Mobiliar,  Betten.  Kleidung.  Geräthe,  — auch  Vorräthc  ohne 
sofortige  Bestimmung  der  Verwendung,  besonders  Lebensmittel-  und  Geldvorräthe 
(s.  Hermann  S.  226  If.,  mit  der  guten  Nutzanwendung  auf  den  Staatsschatz).  Ein 
Versuch  einer  Werthstatistik  des  Nutzvermögens  für  Baiern  bei  Hermann,  S.  229. 

Nutzvermögen  wird  von  Anderen  Nutzkapital  (Hermann,  221)  oder  Ge- 
brauchskapital genannt  (Koscher  §.  43),  entsprechend  den  Kapitaldelinitioncn 
dieser  Schriftsteller  (Hermann:  Güter,  welche  dauernde  Grundlage  einer  Nutzung 
sind,  die  Tauschwerth  hat).  Aehulich  Say,  Handb.  I.  220  (Gebtauchsvorrath:  capi- 
taux  productifs  d’agriments  ou  d'utilite).  M’Culloch  S.  72,  Steinlein  (Nähr-  und 
Zchrkapital)  Unters.  S.  60.  Auch  G.  Cohn  I,  §.  147  will  allen  Gütervorrath  als 
Kapital  bezeichnen  und  dann  iu  Gcbrauchskapital  und  Productivkapital  scheiden  Vergl. 
auch  Gcrstner  (Beitr.  z.  Lehre  v.  Kap.,  Erlangen  1857).  Mir  scheint  es  mit  Rau 
(§.  51,  Gebrauchsvorrath:  eine  in  irgend  einer  Beziehung  zusammengefasste  Menge 
beweglicher  Genussmittel;  Kapital,  Erwerbstamm,  worbender  Gütervorrath: 
ein  Vorrath  beweglicher  Erwerbsmittel)  zweckmässiger,  um  der  terminologischen  Klar- 
heit und  Unzweideutigkeit  willen,  das  Wort  Kapital  nicht  für  Nutzvermögen  mit  zu 
gebrauchen.  A.  Smith  nennt  das  Gebrauchsrcrmögen:  stock  which  supplies  immediate 
consomption.  II,  5 (Bas.)  und  versteht  darunter  den  Vorrath  der  mit  Hilfe  der  Arbeit 
erlangten  beweglichen  Güter. 

2)  Das  Kapital  im  Allgemeinen  („eigentliches“  Kapital, 
Productivkapital)  ist  ein  Vorrath  wirthschaftlicher  Güter,  welche 
als  Mittel  zur  Herstellung  bez.  Gewinnung  neuer  wirthschaftlicher 
Güter  dienen. 

Vergl.  über  die  Dogmonges  chichte  des  Kapitalbegriüs  die  reichhaltige  lite- 
rarische Zusammenstellung  von  Roscher,  §.  42  Anm.  1,  damit  aber  wieder  die  Er- 
örterungen von  Knies,  d.  Geld,  Kap.  1,  worin  mit  Recht  das  vergebliche  Bemühen, 
einen  einzigen,  allein  wissenschaftlichen  Begriff'  von  Kapital  aufzustelieu,  nachgewiesen 
wird.  S.  ferner  jetzt  das  Werk  von  Böhm-Ba werk,  Kapital  und  Ka^italzins  passim 
vielfach,  bes.  II,  Buch  1,  auch  den  Aufsatz  von  Mcuger  in  Conrads  Jahrb.  B.  51. 

Auch  beim  Kapital  findet  eine  der  Unterscheidung  in  Ver- 
brauchs- und  Nutzvermögen  analoge  Unterscheidung  nach  Art  und 


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Doppelgriff.  Kapital. 


315 


Dauer  der  Verwendung  in  umlaufendes  und  stehendes 
Kapital  statt. 

a)  Umlaufendes  Kapital  ist  das,  welches  ganz  auf  ein- 
mal (also  seinem  vollen  Werthe  nach,  vom  Werth  etwaiger  Ab- 
fälle abgesehen)  bei  der  Herstellung  eines  Products  verbraucht 
wird,  indem  es,  bzw.  seine  einzelnen  Bestandtheile  (Güter)  dabei 
sofort  die  Gutseigenschaft  verlieren.  Es  geht  daher  mit  seinem 
vollen  Werth  in  die  Productionskosten  des  neuen  Products  über 
und  wird  nach  erfolgtem  Absatz  des  letzteren,  die  Deckung  der 
Kosten  durch  den  Preis  vorausgesetzt,  wieder  völlig  disponibel. 

b)  Das  stehende  Kapital  dient  hei  einer  Reihe  von  Güter- 
productionen.  Nur  der  Betrag  der  Abnutzung  (Amortisation) 
geht  in  die  Kosten  des  neuen  Products  über.  Es  wird  daher  auch 
er  st  allmälig  aus  dem  Erlöse  aller  der  Producte  ersetzt,  zu 
deren  Herstellung  es  diente  und  erst  dann  wieder  ganz  disponibel. 
Roh-  und  Hilfsstoffe  sind  die  wichtigsten  Beispiele  umlaufenden, 
Werkzeuge,  Maschinen,  Gebäude  diejenigen  stehenden  Kapitals. 

B.  — §.  129  [28].  Der  Doppeibegriff  Kapital.  Für 
die  genauere  Analyse  des  Kapitalbegriffs  und  für  das  Verständniss 
der  wirthschaftlichen  Function  des  Kapitals  ist  wieder,  wie  beim 
Vermögen,  der  rein  ökonomische  und  der  geschichtlich- 
rechtliche Standpunct  der  Betrachtung  zu  unterscheiden. 

1)  Kapital  als  rein  ökonomische  Kategorie,  also  wieder 
unabhängig  betrachtet  von  den  geltenden  Rechtsverhältnissen  für 
den  Kapitalbesitz,  ist  ein  Vorrath  solcher  wirtschaftlicher,  zunächst 
beweglicher  Güter  — „naturalen  Güter“  — , welche  aus  einer 
früheren  Production  herrühren  und  als  technische  Mittel 
für  die  Herstellung  neuer  Güter  in  einer  Wirtschaft  dienen 
können  und  dafür  erforderlich  sind:  es  ist  Productionsmittel- 
Vorrath  oder  „Volks-,  National-Kapital“,  — „Social- 
kapital“, wenn  man  mit  einigen  Neueren  diesen  Ausdruck  vor- 
ziehen will  — bez.  Theil  (Partikel)  davon. 

Diese  Güter  können  auch  zur  unmittelbaren  Bedürfuissbefriodigung  — also  in- 
sofern als  tiebrauchsvermögen  — dienen,  aber  Kapital“  sind  sie  nur,  wenn  sie  für  solche 
Menschen  dienen,  welche  während  dieser  Bedürfnisbefriedigung  arbeiten,  bez.  durch 
letztere  in  denStaud  dazu  gesetzt.  So  die  Unterhaltsmittel  im  nothwendigen  Umfang  für 
alle  während  der  Dauer  der  Production  und  bis  zur  Erzielung  des  Gegenworths  der  Pro- 
ducte — Absatz  — nothwendig  zu  beschäftigenden  Arbeitskräfte,  ausführendo 
— Arbeiter  i.  e.  S., — beaufsichtigende,  leitende  (einschliesslich  Unternehmer)  Gerade 
diese  Auffassung  ist  angegriffen  und  mir  specicll  zum  Vorwurf  gemacht  worden.  So 
will  Kodbertus  zum  Nationalkapital  nur  die  Arbeitsstoffe  und  Arbeitswerkzeuge, 
nicht  den  Unterhalt  der  Producenten  rechnen.  (,,Z.  Erkcnntn.“  1.  Theorem.  S.  Tüb, 
Zcitsc.hr.  1878,  S.  226,  Kapital  S.  299  ff.)  Und  diese  Ansicht  ist  in  der  sociali- 


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316 


2.  B.  Grundbegriffe.  2.  K.  Vermögen  und  Kapital.  §.  129,  130. 


arischen  Litteratur,  aber  auch  ausserhalb  derselben  vielfach  verbreitet,  so  beiv.  Böhm- 
Bawerk  (Kapital  II,  71  ff.),  Sax,  (Staatswirthschaft  S.  324),  auch  bei  den  theo- 
retischen Gegnern  der  Lohnfondstheorie  (Thornton,  Georgo,  Brentano),  und  ihnen 
sich  anschliessend  bei  Vertretern  des  jüngeren  Historismus,  welche  dann  freilich  die 
ganze  Streitfrage  (auch  bezüglich  der  Lohnfondstbeoric)  verwirrt  haben.  Das  nichtige 
ist  doch  wohl  dieses:  Gewiss  ist  die  Kobbertus’sche  Auffassung  richtig  nach  einer  Seite 
betrachtet,  weil  der  Unterhalt  Zweck,  jeno  Stoffe  u.  s.  w.  Mittel  aller  Production  sind. 
Aber  nach  einer  andern  Seite  lässt  sich  doch  auch  die  Volkswirtschaft  als  selb- 
ständiges Ganzes  anschcn  , von  dessen  Standpunct  aus  der  Unterhalt  so  gut  als 
diese  Stoffe  Mittel  für  die  Production  sind.  So  wäre  die  Sache  doch  auch  in 
einem  ,. Socialstaat“  ohne  Privatkapital  für  mancherlei  Zwecke,  z.  B.  zur  Beurtheilung 
der  technischen  Productivität,  aufzufassen.  Insofern  fällt  der  Arbeitcrunterhalt  dann 
auch  hier  nicht  aus  dem  National-Kapital-Begriff  heraus.  Der  Einwand,  dass  die 
Löhne  u.  s.  w.  nicht  nur  für  den  Arbeiter  „Einkommen“,  sondern  anch  für  die  Volks- 
wirtschaft Theil  des  Nationaleinkommens  seien,  beweist  daher  in  dieser  Frage  auch 
nichts.  Denn  wiederum  dio  ganze  Volkswirtschaft  als  Productionseinrichtung  be- 
trachtet. erscheint  alles  das  als  Nationalkapital,  was  an  notwendig  zu  verwendenden 
Sachgütern  Bedingung  der  Production  neuer  Güter  ist,  daher  hier  jene  Löhne,  d.  h. 
die  durch  sic  vertretenen  Unterhaltsmittel,  ebensowohl  als  die  Roh-  und  Hilfsstoffe  u.  s.  w. 
Die  Auffassung  der  Löhne  als  Theil  des  Nationaleinkommens  und  als  Theil  des 
Nationalkapitals  stehen  auch  nicht  in  Widerspruch  mit  einander,  sondern  sind  beide 
richtig  von  einem  verschiedenen  Standpunct  der  Betrachtung  aus.  Für  ver- 
schiedene Probleme  sind  aber  diese  beiden  Standpuncto  zu  unterscheiden. 

Das  Nationalkapital  ist  für  die  Herstellung  von  Gütern,  wenn  auch  nicht  von  Ursprung 
an,  so  doch  sehr  bald,  einerlei  welches  sonst  die  Gestaltung  des  wirtschaftlichen  Verkehrs 
sei,  eine  indispensable  Bedingung  (einer  der  gewöhnlich  sogenannten  „Productiv- 
factoren“  neben  Natur  und  Arbeit,  aber  nur  diese  beiden  verdienen  diesen  Namen, 
sind  Ursache,  das  Kapital  ist  nur  Bedingung  der  Production).  Die  Grundstücke 
gehören  zu  dem  Kapital  in  diesem  Sinne,  soweit  sie  durch  die  menschliche 
Arbeit  wirtschaftliche  Güter  geworden  („meliorirt“.  ergiebig  gemacht)  sind, 
während  sie  als  freie  Güter  (§.  113)  vom  Standpunct  der  Menschheit  ans 
nicht  zum  Vermögen  und  demnach  auch  nicht  zum  Kapital  zählen. 

2)  Kapital  im  historisch-rechtlichen  Sinne  oder  Kapi- 
tal besitz,  „Privatkapital“,  ist  derjenige  Theil  des  zunächst  be- 
weglichen Vermögensbesitzes  einer  Person,  welcher  derselben 
als  Erwerbsmittel  zur  Erlangung  eines  Einkommens  aus 
ihm  (Rente,  Zins)  dienen  kann,  also  zu  diesem  Zwecke  von 
ihr  besessen  und  erstrebt  wird:  bestimmungmässig  ein  „Renten- 
fonds“. 

Dazu  gehören  sowohl  Vorräthe  beweglicher  Erwerbsmittel  als  auch  Grund- 
stücke und  Gebäude,  welche  durch  Verwendung  beweglicher  Erwerbsmittel  die 
Eigenschaft  als  Rentenfonds  erlangt  haben.  Doch  wird  der  Ausdruck  Kapital  mit- 
unter auf  jene  Vorräthe  beschränkt  und  letztere  als  Privatkapital  dem  privaten 
Grundeigenthum  gegenüber  gestellt  Gebäude  nehmen  dann  eine  Zwischen- 
stellung ein,  haben  characteristische  Merkmale  des  Privatkapitals  und  des  Privat- 
eigenthums, aber  in  der  Regel,  besonders  wenn  es  sich  um  grössere  stabilere  Bauten 
handelt,  mehr  Merkmale  des  letzteren. 

Die  Voraussetzung  solchen  Kapitalbesitzes  ist  mithin  in  recht- 
licher Hinsicht  dieselbe  wie  beim  Privatreichthum:  eine  Rechts- 
ordnung, welche  Privateigenthum  an  Productionsmitteln 
und  Renten-  und  Zinsbezug  daraus  anerkennt. 

ln  einem  Verkehrssystem  auf  dieser  Grundlage  nimmt  das 
Kapital  als  ökono  mische  Kategorie  od  er  als  Product  io  ns- 


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Kapital  im  rein  ökon.  und  histor.  rechtl.  Sinne. 


317 


m ittel vorrath  dann  überwiegend  die  Gestalt  des 
Kapitalbesitzes,  und  zwar  des  Besitzes  der  Privatper- 
sonen an.  Dies  bedingt  neben  der  Function  als  Rentenfonds 
die  weitere  Function  dieses  Kapitals,  als  das  Mittel  zu  dienen,  die 
Leitung  der  Production,  die  Beschäftigung  der  Arbeitskräfte  in  die 
Hände  der  Kapitalbesitzer  oder  derjenigen  Personen  zu  legen, 
welchen  diese  Besitzer  ihr  Kapital  überlassen.  Die  Kapitalbesitzer 
werden  so  zu  Functionären  derGcsammtheit  (des  Volks) 
für  die  Bildung  und  Beschäftigung  des  nationalen  Productions- 
mittelfonds:  eine  ungemein  wichtige  Folge  der  Institution  des 
Privatkapitals  gerade  für  die  volkswirtschaftliche  Würdigung 
des  letzteren. 

Möglicher,  ja  nach  geschichtlicher  Erfahrung  wahrscheinlicher  Weise  ist  das 
die  beste  Einrichtung  zur  technisch  vorzüglichsten,  reichhaltigsten  und  am  Meisten 
nach  dem  ökonomischen  Princip  (§.  28)  erfolgenden  Befriedigung  der  Bedürfnisse 
auch  eines  ganzen  Volks.  Aber  jedenfalls  ist  es  nicht  die  allein  denkbare, 
die  schlechterdings  natürliche  („logische“)  Einrichtung  hierfür,  sondern  ein 
Product  einer  bestimmten  geschichtlichen  Entwicklung,  welche  sich  damit  selbst 
schon  als  eine  veränd  erungsfähige  Gestaltung,  und  als  eine  E inrichtung, 
deren  wirtschaftliche  Wirksamkeit  auch  von  der  Beschaffenheit  der  Rechtsordnung 
des  Kapitalbesitzes  abhängt,  erweist. 

Der  Umstand,  dass  geschichtlich  das  Kapital  als  ökonomische  Kategorie 
regelmässig  in  der  Gestalt  oder  Rechtsform  des  privaten  Kapital be sitzes  erscheint, 
hat  es  bewirkt,  dass  so  selten  richtig  zwischen  beiden  Bedeutungen  unterschieden  wird. 
So  gilt  z.  B.  gegenwärtig  oft  noch  der  Angrilf  auf  den  Kapital  besi tz  als  ein  solcher 
auf  das  Kapital  an  sich,  was  die  mögliche,  aber  nicht  absolut  nothwendige  Folge 
jenes  ersten  Angriffs  ist  und  jedenfalls  als  wirkliche  Folge  erst  erwiesen  werden 
muss.  Wenn  man  daher  die  socialistische  Polemik  „gegen  das  Kapital“  einfach  als 
unsinnig  bezeichnet,  weil  so  eine  nothwendige  Wirthschaftsbedingung  zerstört  w'erde, 
so  macht  man  sich  doch  nur  durch  ein  grobes  Missverständniss  die  Widerlegung  leicht 
und  ficht  mit  Windmühlen.  Die  socialistische  Forderung  heisst  nicht:  Weg  mit  dem 
Kapital  (d.  h.  mit  dem  ökonomischen  Kapital,  dem  Productionsmittelvorrath),  son- 
dern: Her  mit  dem  Kapital  (d.  b.  mit  dem  Kapital  besitz),  verlangt  also  nicht  eine 
Vernichtung  des  Kapitals  an  sich,  sondern  eine  andre  Verthcilung  des  Kapitalbesitzcs, 
und  zwar  auch  nicht  in  dem  Sinne,  dass  an  Stelle  der  bisherigen  Privat- Kapitalbesitzer 
andere,  z.  B.  die  Arbeiter  treten,  sondern  in  dem  Sinne,  dass  das  Nationalkapital, 
welches  im  Besitze  der  Privatkapitalisten  ist,  aus  der  Rechtsform  des  Privateigeuthums 
in  diejenige  des  gesellschaftlichen  Gemeineigenthums  hinübergeführt  werden  soll. 
Auch  dies  ausdrücklich  nicht  bloss,  um  die  Function  des  Privatkapitals  als  Renten- 
fonds für  Private  zu  beseitigen,  sondern  um  auch  die  Leitung  der  nationalen  Pro- 
duction den  Händen  der  Privatkapitalisten  zu  entziehen.  Ob  dies  möglich  oder  zweck- 
mässig. ist  eine  andero  Frage,  jedenfalls  ist  aber  so  der  Angriff  des  Socialismus  auf 
das  „Kapital“,  d.  h.  eben  das  Privatkapital  zu  verstehen.  Für  das  Genauere  über  die 
im  Text  behandelte  Frage  s.  im  2.  Theil  der  Grundlegung  die  Erörterungen  Uber  das 
Privatkapital. 

C.  — §.  130  [29].  Bedingungen  für  die  Zugeh  örig- 
keit  der  Güter  zum  Kapital.  Ob  und  wie  weit  die  einzelnen 
concreten  („naturalen“)  Güter,  welche  das  Vermögen  bilden,  Ge- 
brauchsverraögen  oder  Kapital  sind,  hängt 

1)  allgemein,  d.  h.  einerlei,  ob  man  es  mit  der  rein  öko- 
nomischen oder  der  geschichtlich-rechtlichen  Bedeutung  der  Begriffe 


318  2.  B.  GrundbgriU'c.  2.  K.  Vermögen  und  Kapital.  §.  130 — 132. 

zu  thun  hat,  von  der  specifischen  Beschaffenheit  (objec- 
tiven  Brauchbarkeit)  des  einzelnen  Guts  ab. 

Insoferne  ist.  was  mitunter  unrichtiger  Weise  bestritten  wurde,  auch  die  „Kapital- 
eigeuschaft“  eine  Eigenschaft  der  Güter  an  sich  (z.  ß.  bei  Werkzeugen.  Maschinen). 
Mill  l.B.  4.  Kap.  §.  1 (Soetbeer’s  Ausg.  2.  Aufl.  S.  45):  „Der  Unterschied  zwischen 
Kapital  und  Nicht-Kapital  liegt  nicht  in  der  Art  der  Sachgüter,  sondern  in  der 
Absicht  des  Kapitalisten,  in  seinem  Willen,  dieselben  lieber  für  den  einen  als  für  den 
anderen  Zweck  zu  verwenden.“  Dieser  Satz  und  der  von  Kau  I,  §.52  ist  nicht 
falsch,  aber  zu  absolut  ausgedruckt.  Sind  dieso  Güter  nicht  Kapital,  z.  B.  weil 
sie  die  objective  Brauchbarkeit  veiloren  haben,  so  verlieren  sie  mit  ihrem  Existenzzweck 
auch  die  Gutseigenschaft  überhaupt. 

2)  Bei  vielen  anderen  Gütern  ist  die  Kapitaleigenschaft  dagegen 
keine  den  Dingen  inhärente.  Ob  ein  concretes  Gut  Kapital  oder 
Gebrauchsvermögen  ist,  hängt  hier 

a)  beim  Vermögen  im  rein  ökonomischen  Sinne  davon 
ab,  ob  die  betreffenden  Güter  noth wendige  Vorbedingung 
neuer  Gütererzeugung  sind  und  als  Mittel  zu  diesem 
Zwecke  wirklich  Anwendung  finden. 

In  einem  Zustande  der  Volkswirtschaft,  wo  nur  Arbeitseinkommen  zugelasseu 
würde,  wäre  der  weitaus  grösste  Theil  des  Volksvermögens  Kapital,  weü  er  immer 
zur  Hervorbringung  neuer  Güter  in  der  Beschäftigung  von  Arbeit  verwendet  würde. 
Nur  der  über  die  Befriedigung  der  notwendigen  Lebensbedürfnisse  hinausgehende 
Vermögensbetrag  würde  auch  hier  als  Gebrauchsvermögen  zu  charakterisiren  sein. 
Aelinlich  wirkt  eine  Gestaltung,  wo  der  Zinsfuss  und  der  Gewinnsatz,  etwa  in  Folge 
einer  tüchtigen  Organisation  der  Arbeiter  für  den  Concurrenzkampf,  sehr  herab- 
gedrückt und  daher  ein  grösserer  Theil  des  Productionsertrags  den  Arbeitern  über- 
lassen wird.  Erhöht  sich  dann  das  Lohnniveau  allgemein  und  gewöhnt  sich  die 
Bevölkerung,  es  für  unentbehrlich  zu  halteu,  so  nimmt  ein  immer  grösserer  Theil  des 
Vermögens  Kapitaleigenschaft  an,  weil  er  Vorbedingung  der  Güterzeugung  wird. 

b)  Beim  Vermögen  als  Besitz  hängt  dagegen  die  Zutheilung 
der  Güter  zum  Gebrauchsvermögen  oder  zum  Kapital  grössten- 
theils  vom  Willen  des  Besitzers  ab. 

Hier  — aber  auch  nur  hier  — gilt  die  oft  aufgestellte  Kegel,  dass  die  Kapital- 
eigenschaft eines  Guts  vom  Willen  des  Eigenthümers  bedingt  sei.  Vollständig  allein 
entscheidend  ist  dieser  Wille  aber  auch  hier  nicht,  weil  der  Umfang  der  notb- 
wendigen  Auslagen  zum  Zwecke  der  Herstellung  neuer  Güter  (z.  B.  für  Arbeitslöhne) 
für  die  Zutheilung  der  Güter  zum  Gebrauchsvermögcu  oder  zum  Kapital  des  Besitzers 
mit  von  Einfluss  ist. 

D.  — §.  131  [30].  Nicht-Identität  von  National- 
und  Privatkapital.  Aus  dem  Vorausgehenden  ergiebt  sich, 
dass  sich  Kapital  im  rein  ökonomischen  Sinne  und  Kapitalbesitz, 
National-  (Social*)  und  Privatkapital,  an  ge  wendet  auf  be- 
stimmte Gütervorräthe,  zwar  in  der  Hauptsache,  aber 
keineswegs  vollständig  decken.  Letzterer  Begriff  ist  der 
weitere,  indem  einzelne  Bestandtheile  des  Kapitalbesitzes  nicht 
Partikel  des  Nationalkapitals  sind.  Dies  zeigt  sich  besonders 
in  folgenden  drei  Fällen: 


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National-  und  Privatkapital. 


319 


1)  Verleih-  und  vermiethbares  Nutz  vermögen  kann  für  den 
Besitzer  als  Kapital  fungiren,  während  es  vielleicht  für  das 
Volk  nur  Nutzvermögen,  d.  h.  nicht  Bedingung  einer  neuen 
Glltergewinnung  ist  (z.  B.  Wohngebäude,  über  das  nothwendige 
Wohnbedürfniss  der  in  der  Gütergewinnung  thätigen  Bevölkerung 
hinaus). 

2)  „Verhältnisse“,  welche  auf  Grund  rechtlicher  Be- 
schränkungen des  Verkehrs  bestehen  (§.  119,  Nr.3b.),  lallen  unter 
den  Kapital begritf  der  zweiten  Bedeutung.  Allgemein  dagegen 
sind  sie  meistens  nicht  Kapital,  mit  Ausnahme  des  Falles,  wenn 
sie  eine  für  das  Volk  (die  Volkswirtschaft)  nothwendige  Be- 
dingung der  neuen  Gütergewinnung  bilden. 

Diese  Ausnahme  kann  allerdings  allgemeiner  Vorkommen  und  ist  geschichtlich 
mehrfach  vorhanden  gewesen,  z.  B.  insofern  Vorrechte  des  Gewerbebetriebs  die  Voraus- 
setzung eines  solchen  zu  einer  gewissen  Zeit  und  an  einem  gewissen  Orte  überhaupt  sind 
(S  a.  S.  309  Note).  Ein  noch  beute  hierher  gehöriger  Fall  eines  „Verhältnisses“,  welches 
Kapital  in  beiderlei  Bedeutnng  sein  kann,  ist  der  des  Patents.  Uebrigens  kann  sich 
ausnahmsweise  auch  der  Begriff  des  Kapitals  vom  Standpuncte  des  Volks  und  der 
Menschheit  in  Bezug  auf  solche  „Verhältnisse“  wieder  verschieden  gestalten  (vergl. 

113,  114).  Eine  Einrichtung  wie  z.  B.  der  Sundzoll  war  ein  Kapital  Dänemarks, 
sogut  wie  ein  Gewerbsprivileg  ein  Kapital  des  Gewerbetreibenden  sein  kann.  Das  Ver- 
hältniss  eines  klimatischen  Monopols  für  gewisse  Producte  eines  Landes,  welches 
z.  B.  in  Ausfuhrzöllen  ausgenutzt  wird,  ist  ebenfalls  ein  Kapital  für  das  betreffende 
Volk,  wenn  auch  nur  ein  Miteider  Einkommenübertraguug  zwischen  verschiedenen 
Völkern. 

3)  Güter,  welche  ein  Einzelner  nach  den  bestehenden 
Rechtsverhältnissen  oder  nach  den  Gestaltungen  des 
Verkehrs  zum  Zweck  der  Gewinnung  (Herstellung)  neuer  Güter 
verwenden  muss,  sind  Kapital  für  ihn,  aber  Nationalkapital 
nur  dann,  wenn  diese  Güter  indispensabel  für  die  Gewinnung 
neuer  Güter  überhaupt  sind. 

So  muss  z.  B der  Unternehmer,  welcher  Arbeiter  beschäftigt,  den  ganzen  wäh- 
rend der  Production  auszuzahlenden  Lohnbetrag  als  Kapital  betrachten  und  besitzen, 
während  nur  derjenige  Güterbetrag,  welcher  zur  Subsistenz  der  Arbeiter  ausreicht, 
Kapital  im  allgemeinen  ökonomischen  Sinne  und  für  die  Arbeiter  wieder  Gebrauchs- 
vermögen bildendes  Einkommen  ist  (§.  129). 

Vergl.  die  z.  Th.  etwas  abweichende  Ucbersicht  der  einzelnen  Kategorien  von 
Objecten,  welche  das  Social-  und  Privatkapital  bilden,  bei  v.  Böhm-Bawerk, 
Kapital  II,  69  ff. 

E.  — §.  132  [31].  Ergebnis s.  Abhängigkeit  des 
Kapitalbegriffs  von  der  Rechtsordnung.  Es  ist  demnach 
der  Kapitalbegriff  an  sich,  sein  Umfang  und  Inhalt  ganz  wesent- 
lich abhängig  von  der  Rechtsordnung  Uber  Kapital  und  über 
Eigentlium  an  Personen  und  Gütern. 

Für  die  Klarstellung  des  Einflusses  der  Kechtsordnung  nicht  nur  auf  die  Ge- 
staltungen des  Verkehrs,  sondern  sogar  auf  die  wirtschaftlichen  Begriffe,  wird  es 
immerhin  zulässig  sein,  hypothetisch  von  der  Annahme  einer  ganz  anderen  als  der 


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320 


2.  B.  (i  rund  begriffe.  3.  Ii.  Werth.  §.  133,  134. 


heute  bestehenden  Rechtsordnung  auszugehen.  Wesentliche  Modificationen  in  dem 
Eigentumsrecht  au  Personen  (Sclaven  u.  s w.),  an  an  sich  freien  natürlichen  Besitz- 
gütern (Grundstücken),  an  realen  beweglichen  Productionsinitteln  (Privatkapital,  Ar- 
beitswerkzeugen, Lohnfonds)  verschieben  die  jetzt  gelteude  Unterscheidung  zwischen 
Gebrauchsvermögens -Besitz  und  Kapitalbesitz  sofort  wesentlich.  Ebenso  können  sie 
bewirken,  dass  ein  Theil  der  heutigen  privaten  Gebrauchsvermögcnsvorräthc , freilich 
nach  vorausgehender,  aber  sehr  wohl  durchführbarer  Veränderung  der  individuellen 
Gutsform  der  einzelnen  dazu  gehörigen  Güter,  die  Function  des  Kapitals  im  ökonomi- 
schen Sinne  annimmt.  Lohnerhöhung,  Luxuseinschränkungen  wirken  derartig,  so  dass 
die  Production  von  Luxusartikeln  für  die  Wohlhabenden  abnimmt,  von  Arbeitcr- 
consumptibilien  zunimmt.  Auch  hier  hat  wieder  vor  Allen  Iiodbcrtus  mit  grosser 
Schärfe  nachgewiesen , wie  sich  der  Kapitalbegriff,  sein  Umfang  und  Inhalt  mit  der 
Veränderung  der  Rechtsordnung  verändert,  z.  B.  die  freien  Arbeiter  aus  diesem  Be- 
griff’ ausscheiden,  zu  dem  sie  als  Sclaven  selbst  gehörten,  während  jetzt  nur  die  Uuter- 
haltsmittel  der  Arbeiter  (Löhne)  zum  Kapital  des  Unternehmers  zählen.  In  prägnanter 
Kürze  Tüb.  Zeitschr.  1878.  S.  225;  eingehend  analysirt  in  der  Sehr.  „Zur  Erkennt- 
nis u.  s.  w.“  1842,  bes.  1.  Theorem;  angeweudet  auf  die  altrömischen  Verhältnisse 
in  Hildebrand’s  Jahrb.  VIII,  890.  Kapital  (4.  soc.  Brief)  in  der  ganzen  Schrift,  bes. 
in  den  Abschnitten  S.  255  fT.,  289  lf.  (Nationalkapital  in  einem  Zustande  ohne  und 
anderseits  mit  Grund-  und  Kapitaleigen thum). 

F.  — §.  133  [32J.  Todtes  Kapital.  Kapital  in  den  beiden 
besprochenen  Bedeutungen  kann  endlich  als  todtes  („schlafendes“) 
oder  ratissiges  Vorkommen,  nemlich  wenn  es  seinem  Zweck 
tbatsächlich  nicht  dient,  wie  z.  B.  bei  Stockungen  des  Absatzes, 
Krisen.  Auch  für  den  Umfang  des  todten  Kapitals  ist  die  Rechts- 
ordnung über  Kapital  insoferne  von  Einfluss,  als  von  ihr  wieder 
die  Bedingungen  von  Stockungen  und  Krisen  mit  abbängen  können, 
z.  B.  in  unserem  heutigen  Verkehrssystem  der  freien  Concurrenz 
(Buch  5). 


Drittes  K a p i t e 1. 

Der  Werth. 

§.  134.  Vorbemerkungen  und  Litteratur. 

Die  Litteratur  der  Werthlehre  ist  eine  der  weitschichtigsten,  die  Behandlung 
nicht  immer  besonders  fruchtbar,  oft  Einfaches  unnütz  durch  abstruse  Untersuchungen 
complicirend,  ein  Vorwurf,  welcher  namentlich  manchen  deutschen  Arbeiten  nicht  zu 
ersparen  sein  möchte.  Im  Folgenden  wird  die  Werthlehre  und  Preislehre,  für  welche 
auf  die  theoretische  Volkswirtschaftslehre  (2.  Hauptabtheilung  des  Gesammtwerks) 
verwiesen  wird,  thunlichst  getrennt.  Doch  kann  dies  nicht  durchaus  geschehen,  wie 
denn  auch  in  der  Litteratur  beide  Materien,  Werth  und  Preis,  vielfach  im  unmittel- 
baren Zusammenhang  behandelt  sind.  Auch  in  der  Prcislehre  muss  auf  die  Wcrth- 
lchre  zurückgegriffen  werden.  Grade  in  diesem  Abschnitt  soll  daher  auch  den  Auf- 
fassungen uud  Erörterungen  des  Bearbeiters  der  theoretischen  Volkswirtschaftslehre, 
H.  Dietzel's  , welcher  in  dieser  Lehre  von  Werth  und  Preis  eine  eigene  selbstän- 
dige Stellung  einnimmt  und  wohl  zum  Theil  von  mir  abweicht  (s.  §.  135),  nicht  prä- 
judicirt  werden.  Zur  Ergänzung  des  Folgenden  und  betreffs  der  näheren  Beziehungen 
zwischen  Werth  und  Preis  ist  überhaupt  auf  die  theoretische  Wirthschaftslehre  zu 
verweisen.  Hier  in  der  „Grundlegung“  und  in  diesem  Buche  von  den  Grundbegriffen 
handelt  es  sich  um  terminologische  Erörterungen  und  um  Darlegung  der  Werthlehre 
nur  in  den  Grundzügen. 


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Vorbemerkungen  und  Litteratur  über  Werth. 


321 


Schwierigkeiten  für  die  Lehren  von  Werth  und  Preis  macht  schon  die  un- 
sichere Terminologie,  sowohl  des  allgemeinen  Sprachgebrauchs  als  die  wissen- 
schaftliche, dann  der  Umstand,  dass  die  Ausdrücke  der  einen  modernen  Sprache  in 
bestimmten  terminis  technicis  der  anderen  (deutsch,  englisch,  französisch,  italienisch) 
wieder  gegeben  werden  sollen,  wobei  daun  vollends  Undeutlichkeiten  nicht  vermieden 
werden.  Hierüber  äusserte  sich  schon  Kau  (I,  §.  57  Note  d)  folgendermaasscn : 
„Valeur,  value  entsprechen  nicht  genau  dem  deutschen  Worte  Werth,  denn  jene  Aus- 
drücke, von  valor,  valere  abstammend,  gehen  mehr  auf  die  äussere  Anerkennung, 
das  Gelten,  also  auf  den  Preis  im  Verkehre,  während  Werth  mehr  auf  die  einem 
Gute  anhaftenden  nützlichen  Eigenschaften  bezogen  wird.  (Dictionnaire  de  l'academie: 
Valeur,  ce  que  vaut  une  chose,  suivant  la  juste  östimation  qu’on  en  peut  faire.)  Werth 
wird  auch  nicht-körperlichen  Dingen  und  Personen  beigelegt,  valeur  niemals;  merk- 
würdiger Weise  spricht  man  in  Frankreich  bei  diesen  eher  von  prix,  z.  B.  der  Freund- 
schaft , der  Zeit.  — Bei  den  Griechen  wurde  agfa  mehr  von  dem  Gebrauchswerthe, 
r x tfoj/nu  mehr  von  dem  Anschlag  des  Preises,  dem  Tauschwcrthe  gebraucht 
Die  Römer  bezogen  valere,  wenn  von  Sachgütern  die  Kede  war,  auf  den  Preis,  das 
Gelten.  (Res  ubi  plurimum  proficere  et  valere  possunt,  collocari  debent.  Cicero  pro 
Seit.)  Im  Deutschen  kommen  schon  früher  die  zwei  Bedeutungen  von  Werth  vor: 
nemlich  sowohl  Grad  von  Güte,  Vorzüglichkeit  bei  Personen  und  Sachen,  als  Schätzung 
nach  dem  Preise:  kleinot  tusend  marke  wert  (Parciv  al),  — eines  pfundes,  pfenuigs, 
eies  werth.  Mittelhochdeutsch.  (Müller  u.  Zarncke,  Mittelhochd.  Wörterb.  III.  B. 
unter  wert.)  — Die  Eigenschaftswörter  wörtlich  und  wertsam  verdienen  wieder  in  Ge- 
brauch zu  kommen.  — Um  Missverständnisse  zu  vermeiden,  ist  es  nöthig.  festzusetzen, 
was  unter  Werth  schlechthin  gemeint  sei,  und  es  ist  dem  deutschen  Sprachgebrauch 
angemessen,  hierzu  den  Gebrauchswerth  zu  wählen.  Den  Tauschwerth  im  Deut- 
schen ausschliesslich  Werth  zu  nennen,  ist  daher  eine  nicht  zu  empfehlende  ungenaue 
üebertragung  der  erwähnten  fremden  Ausdrücke,  zu  der  vielleicht  beigetragen  hat, 
dass  man  beide  Arten  des  Werthes  für  näher  verwandt  hielt,  als  es  wirklich  der  Fall 
ist.  In  den  meisten  Fällen  ist  valeur  durch  Preis  zu  übersetzen.  Das  Wort  Tausch- 
oder Verkehrswerth  kommt  im  gemeinen  Leben  nicht  vor.11  Mehrere  französische 
und  englische  Schriftsteller  nennen  den  Gebrauchswerth  Nützlichkeit  und  behalten 
das  Wort  valeur,  value  lediglich  zur  Bezeichnung  des  Tauschwertes  oder  Preises, 
(z.  B.  Torrens,  ün  the  production  of  wealth  p.  S,  Mac-Culloch,  auch  Storch, 
Natur  des  Nationaleinkommens  S.  XXXVI).  Ricardo  versteht  unter  value  meistens 
die  Productionskosten. 

Für  Litterargeschichte  vgl.  mit  die  Revision  der  Begriffe  Werth  und  Preis  von 
Fr.  J.  Neu  mann,  Tüb.  Zeitschr.,  B.  28,  S.  257  ff.  Aus  der  älteren,  nament- 
lich der  classischen  britischen  Litteratur  kommen  heute  noch  besonders  A.  S m i t h 
und  I).  Ricardo  in  Betracht.  Smith,  wealth  of  nations,  bcs.  book  I,  Schluss  von 
Kap.  4 (Unterscheidung  von  value  in  use  und  value  in  exchange)  und  noch  mehr 
Kap.  5 — 7.  Ricardo,  bes.  für  die  Begründung  der  Productionskostenthcorie,  principles, 
Kap.  1 u.  20.  S.  weitere  ältere  Litteratur  bei  Rau  I,  §.  57  und  danach  in  der 
2.  Aufl.  der  Grundlegung  S.  44,  woraus  noch  hervorgehoben  werden  mögen:  Hufe- 
land, N.  Grundlegung,  I,  118.  — Lotz,  Revision,  I,  §.  3 und  Handb.  I,  20.  — 
Storch,  I.  27,  und:  Geber  die  Natur  dos  Nationaleinkommens,  S.  XXXIV.  — Baum- 
stark, Volksw.  Erlauf.  S.  297.  — Thomas,  Die  Theorie  des  Verkehrs,  I.  Abtheil., 
Berlin  1S41,  S.  11.  — Fried länder,  Theorie  des  Werths,  Dorpat  1852,  4.  (zu- 
gleich Geschichte  dieser  Lehre  und  besondere  Gebrauchswerththeorie). 

Vgl.  sonst  Rau,  I,  §.  55 — 07.  Hermann,  S.  1 ff,  103  ff.  Roscher,  §.4 — 0. 
v.  Mangoldt,  Grundr.  §.  1.  6,  Menger,  I,  76  ff.  J.  St.  Mill,  B.  3,  Kap.  1.  Held, 
Grundr.  S.  41.  Knies,  Tüb.  Zeitschr.  1855:  ders.,  d.  Geld,  Berlin  1873,  S.  105  ff.; 
0.  Michaelis,  Vjerteljahrsschr.  f.  Volkswirthsch.  1863,  B.  1 (jetzt  in  seinen  ge- 
sammelten Schriften  B.  2);  Lindwurm  in  Hildebrand’s  Jalirb.  IV  (1865);  H. 
K ös ler,  eb.  XI  (1868),  ders.  in  s.  Vorl.  §.7,  Schäfflo  in  der  Quintess.  d.  So- 
cial.. 4.  Aufl.  S.  32,  46  ff.,  u.  eingehend  im  Soc.  Körper  III,  272  ff.,  307  fl'.;  ders.. 
Syst.,  3.  Aufl.  I,  22,  bes.  162  ff.;  ders.,  Kapitalism.  Vortr.  3.  v.  Scheel  in  Hild. 
Jahrb.  28,  S.  135.  Moll,  der  Werth,  eine  neue  Theorie  dess.,  Leipz.  1877,  nebst 
Nachtrag:  allgemeinste  Formulirung  des  Werths,  nicht  bloss  des  wirthschaftlichen 
Werths.  Neumann  in  der  gen.  Abh.,  dann  im  Schönberg  sehen  Handbuch.  Abh. 

A.  Wagner,  Grandlegung.  3.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlagen.  21 


322 


2.  B.  Grundbegriffe.  3.  K.  Werth.  §.  134,  135. 


Grundbegriffe  (3.  A.  I,  §.4  — 19.  S.  138  ff.)  und  Grundlagen;  sowie  die  Abh. 
Gestaltung  des  Preises  im  Scbönb.  Handbuch  (3.  A.  I,  241)  und  der  betreff.  Aufs,  in 
d.  Tlib.  Ztschr.  1880.  — G.  Cohn,  I,  $.  139  ff.,  §.  366  ff. 

Dnter  den  neueren  Werththeorieen  bezw.  Werth-,  Preis-  und  Kostentheorieen 
haben  drei  eine  grössere  Bedeutung  erlangt  und,  besonders  die  zweite  und  dritte, 
eine  lebhafte  litterarischc  Bewegung  hervorgerufen,  in  welcher  wir  gegenwärtig  (1892) 
in  Betreff  dieser  beiden  noch  mitten  inne  stehen.  Es  sind  dies  einmal  die  vornemlich 
an  die  Namen  von  Bastiat  und  Caroy  sich  anknüpfende  Wcrthlehre,  dann  die 
s ocial istische  Werththeoric,  endlich  die  von  verschiedenen  Seiten,  insbesondere, 
aber  unabhängig  von  anderen,  von  der  österreichischen  theoretischen  Schule  ent- 
wickelte sogen.  „Grenznutzontheoric“. 

An  Bastiat  hat  sich  in  Deutschland  besonders  Max  Wirth,  an  Carey  E. 
Dllhring  angeschlossen,  sonst  wenige  Autoren. 

S.  Bastiat,  harmonies  cconomiques  ch.  V:  le  valeur  (Tauschwerth)  c’est  le 
rapport  de  deux  Services  echangees  (ed.  von  1855,  p.  129),  M.  Wirth:  Werth  = 
Maass  der  Dienstleistung,  später  (4.  Aufl.  der  Nationalökonomie  I,  237):  Werth  ist 
die  Schätzung  des  Verhältnisses  des  Bedürfnisses  zu  den  Hindernissen,  welche  der 
Erlangung  des  Gegenstandes  zu  dessen  Befriedigung  cntgegcnstchen,  — in  welcher 
Definition  (richtiger  Umschreibung)  alle  Momente  und  Arten  des  Werths  enthalten 
sein  sollen  (?).  Bastiat  geht  hier  stets  von  der  petitio  principii  aus,  Nützlichkeit 
(utilitA)  und  Werth  (valeur)  seien  in  der  Art  zu  unterscheiden,  dass  letzterer  nur  auf 
menschliche  Leistungen  zurückzuführen  sei,  im  Tauschwerth  nur  die  mensch- 
liche Arbeit  vergolten  werde,  während  die  Leistungen  der  Natur,  die  darauf  beruhende 
Nützlichkeit,  immer  gratuits  seien  (praktische  Tendenz,  so  das  Grundeigenthum  zu 
rechtfertigen,  bei  welchem  die  Ricardo’sche  Bodenrente  geleugnet  wird).  Carey, 
princ.  of  soc.  Science.  3 vol.  Philad.  1858 — 59,  ders. , Lehrbuch  der  Volkswirthscbaft 
und  Socialwissenschaft,  deutsch  von  Adler,  München  1866,  Kap.  6 sagt:  Werth  (value) 
sei  die  Schätzung  des  Widerstands,  der  zu  überwinden  ist,  ehe  wir  in  den  Besitz  des 
begehrten  Gegenstands  gelangen  (S.  SO),  was  Kau  mit  Recht  nur  eine  „Umschreibung 
der  Kosten“  nennt  (oder  des  seit  lange  betonten  Moments : der  Schwierigkeit  der  Er- 
langung, das  die  Werth  höhe  mit  bestimmt).  Die  weitere  Hinzufügung  (Lehrbuch 
S.  80,  100):  Werth  sei  das  Maass  der  Uebermacht  der  Natur  über  den  Menschen, 
Nützlichkeit  umgekehrt  das  Maass  der  Macht  des  Menschen  über  die  Natur,  dient 
nicht  zur  Klärung.  Dühring,  krit.  Grundlcg.  d.  Volkswirthschaftslehre.  Berlin  1866, 
S.  95  ff.,  120  ff,  ders.,  Cursus  d.  Nat.-  u.  Soc.-Oekon.,  Berlin  1873  (S.  26.  Werth: 
die  Geltung,  welche  die  wirtschaftlichen  Dinge  und  Leistungen  im  Verkehr  haben. 
Und  was  ist  diese  Geltung?).  Man  kann  es  dahin  gestellt  sein  lassen,  ob  Dühring's 
Versuch,  Bastiat  des  Plagiats  an  Carey  in  der  Werthlehre  (und  gleichzeitig  der  Ver- 
ballhornung der  letzteren)  zu  beschuldigen,  gelungen  sei  (s.  das  Vorwort  zur  Ueber- 
setzung  des  Carey 'sehen  Lehrbuchs  von  Adler,  auch  Grundleg.  S.  115).  Beider  Werth- 
theorieen haben  keine  nachhaltige  Bedeutung  erlangt  und  können  jetzt  als  überwunden 
gelten,  soweit  sie  uicht  mit  der  socialistischen  sich  berühren,  was  trotz  alles  Gegen- 
satzes der  Fall  ist.  Sonst  haben  sie  nur  noch  litterargeschichtliches  Interesse. 

Ungleich  bedeutender  und  von  nachhaltigem  Einfluss  ist  die  social  istische 
Werthlehre,  welche  sich  bei  allen  socialistischen  Theoretikern  im  Kern  doch  überein- 
stimmend findet,  wenn  auch  nicht  immer  in  derselben  Formulirung  und  mit  etwas 
abweichender  Motivirung.  Sie  erscheint  im  Ganzen  als  eine  einseitige,  aber,  wenn 
man  die  zu  enge  Fassung  des  Ausgangspuucts  zugiebt,  folgerichtige  Fortbildung  der 
Ricardo’ sehen  Werth-  oder  eben  richtiger  gesagt  Kostenlohre.  In  der  Formulirung 
und  Ausführung  von  K.  Marx  hat  sie  aber  erst  ihre  grosso  wissenschaftliche  und 
practische  Bedeutung  erlangt.  Jenes  als  Eckstein  des  wissenschaftlichen  Systems  des 
Socialismns  als  einer  ökonomischen  Theorie,  dieses  als  Begründung  der  positiven 
Forderungen  der  Socialdemokratie  in  Bezug  auf  die  Rechtsordnung  für  die  sachlichen 
Productionsmittel  (Boden  und  Kapital).  Unter  den  älteren  socialistischen  Theore- 
tikern (über  die  Anton  M enger.  Recht  auf  den  vollen  Arbeitsertrag  sich  weiter  ver- 
breitet, 2.  A.,  Stuttgart  1892,  S.  41  ff.)  ist  für  die  Werthlehre  bes.  W.  Thompson 
hervorzuheben:  an  inquiry  into  the  distribution  of  wealth  etc.,  London  1824,  worin 
sich  die  Grundzüge  der  sogen.  Mehrwerththeorie  schon  finden  (s.  Meng  er,  a.  a.  0., 
S.  53  ff).  Fernerbes.  Kodbcrtus,  namentlich  in  der  Lehre  „Zur  Erkenntnis»  u.s.  w.“  von 


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Vorbemerkungen  und  Litteratur  Uber  Werth. 


323 


1842  bereits  (Abschn.  1)  und  mehrfach  später.  Vgl.  auch  Lass  alle,  Kapital  und 
Arbeit,  Kap.  3.  Ders.,  Briefe  an  Rodbertus,  S.  62.  Vornemlich  aber  doch  K.  Marx, 
bes.  B.  1 des  Kapitals.  (Wider  A.  Menger’s  Vorwürfe  des  Plagiats  gegen  Rodbertus 
und  Marx  an  Thompson  und  anderen  älteren  Autoren  habo  ich  schon  oben  S.  37 
Note  1 beide  in  Schutz  genommen).  Die  ganze  neuere  socialistische  theoretische 
Litteratur  dreht  sich  um  diese  „Mehrwerththeorie“  von  Marx. 

Marx  findet  die  gemeinsame  gesellschaftliche  Substanz  des  von  ihm 
allein  hier  gemeinten  Tausch werths  in  der  Arbeit,  das  Grössenmaass  des 
Tauschwerths  in  der  gesellschaftlich  nothwendigen  Arbeitszeit,  welche 
bei  den  vorhandenen  gesellschaftlich -normalen  Productionsbedingungen  und  dem  ge- 
sellschaftlichen Durchschnittsgrad  von  Geschick  und  Intcnsivität  der  Arbeit  zur  Her- 
stellung eines  Guts  (Gebrauchswerths)  erforderlich  ist  (S.  4 fF.  d.  1.  Aufl.h  Diese 
Theorie  ist  aber  nicht  sowohl  eine  allgemeine  Werth-  als  eine  Kostentheorie,  ange- 
knüpft an  Ricardo.  Sie  berücksichtigt  zu  einseitig  nur  dieses  eine  Werth  bestim- 
mende Moment,  die  Kosten,  nicht  das  andere,  die  Brauchbarkeit,  den  Nutzen,  das 
Bedarfsmoment.  Sie  entspricht  nicht  nur  nicht  der  Tauschwerthbildung  im  heutigen 
freien  Verkehr,  sondern  auch,  wie  Schäffle  in  der  Quintessenz  und  besonders  im 
Socialen  Körper  a.  a.  0.  vortrefflich  und  wohl  abschliessend  nachweist,  nicht  den 
Verhältnissen,  wie  sie  sich  im  Marx  sehen  hypothetischen  Socialstaat  noth wendig  ge- 
stalten müssten.  Schlagend  lässt  sich  das  namentlich  am  Beispiel  des  Getreides  u.  dgl. 
nachweisen,  dessen  Tauschwerth  wegen  des  Einflusses  der  wechselnden  Ernten  bei 
ziemlich  gleichem  Bedarf  nothwendig  auch  in  einem  System  von  „Socialtaxen“  an- 
ders als  bloss  nach  den  Kosten  regulirt  werden  müsste.  Auch  Rodbertus’  Tausch- 
wertbtheorie  leidet  an  dem  Fehler  der  einseitigen  Betonung  des  Kostenmoments.  Er 
wie  Marx  verfahren  aber  ausserdem  willkührlich,  wenn  sie  diese  Kosten  nur  auf  die 
im  engsten  Sinn  sogen.  Arbeitsleistung,  gar  die  blosse  Hand-  oder  Muskel- 
arbeitsleistung,  zurückführen.  Das  setzt  immer  erst  eine  Beweisführung  voraus, 
welche  bisher  fehlt,  nemlich  dass  der  Productionsprocess  ganz  ohne  Vermittlung  der 
Kapital  bildenden  und  verwendenden  Thätigkeit  von  Privatkapitalistcn  möglich  und 
ergiebig  sei.  So  lange  ein  solcher  Beweis  nicht  geführt  ist,  ist  in  der  That  auch 
der  Kapitalgcwinn  ein  „constitu tives“  Element  des  Werths,  nicht  nach  socia- 
listischer  Auffassung  nur  ein  Abzug  oder  „Raub“  am  Arbeiter,  ist  der  Kapital-  und 
Unternehmergewinn,  die  Rente  in  diesem  Sinne,  der  „Mehrwerth“,  den  nach  Marx 
der  Arbeiter  allein  producire,  über  das  Maass  seiner  Unterhaltskosten  hinaus,  wenig- 
stens im  Princip,  wenn  auch  nicht  ohne  Weitres  stets  dem  Maasse  nach  „ver- 
dient“, grade  auch  im  ökonomischen  Sinne.  Für  Weiteres  genügt  es,  hier  auf  den 
2.  Theil  der  Grundlegung,  Abschnitt  vom  Privatkapital,  zu  verweisen. 

§.  135.  Fortsetzung.  Die  Grenznutzen  - Theorie  und  die  sich 
daran  schliessende  neueste  Behandlung  des  Werths  in  der  Litteratur. 
Unabhängig  von  einander  haben  neuerdings  in  verschiedenen  Ländern  verschiedene 
Theoretiker  die  psychologische  Seite  des  Werthproblems  genauer  ins  Auge  gefasst 
und  sind  dabei  zu  einer  eigenthümlichen  Theorie  gekommen,  welche  nach  ihrem  charac- 
teristischen  Begriff  und  Ausdruck  „Grenznutzentheorie“  genannt  wird.  Aller- 
dings sind  es  nicht  erst  diese  Theoretiker,  wie  mitunter  angenommen  und  von  be- 
theiligter  Seite  auch  gelegentlich  wohl  behauptet  worden  ist,  welche  im  Werthproblem 
überhaupt  ein  psychologisches  Problem  gesehen  haben.  Als  ein  solches  ist  das- 
selbe kaum  je  ganz  verkannt  worden  und  diejenigen  Autoren,  welche  sich  mit  dem 
Gebrauchswerth,  mit  der  Seite  der  Nachfrage  im  sogen.  „Gesetz  von  Angebot 
und  Nachfrage“  näher  beschäftigt  haben,  konnten  auch  unmöglich  das  psychologische 
Moment  im  Werth  übersehen  und  haben  das  auch  nicht  nur  nicht  gethau,  sondern 
es  auch  wohl  besonders  hervorgehoben.  Aber  die  neueren  „Grenznutzentheoretiker“ 
haben  das  Verdienst,  diese  Seite  des  Problems  schärfer  betrachtet  und  in  einigen 
Beziehungen  die  Erkenntniss  der  hierbei  mitspielenden  Gefühle  und  deren  Zusammen- 
hänge und  Abstufungen  gefördert  zu  haben.  Das  führte  sie  zu  dem  Versuch,  für 
diese  Gefühle  und  ihre  Abstufung,  daher  für  die  Befriedigung  der  Bedürfnisse  mit 
bestimmten  Gütern,  unter  Berücksichtigung  der  Vertheilung  der  Bedürfnisse  über  die 
Zeit  und  in  Bezug  auf  die  Gütervorräthe  und  die  wechselnde  persönliche  Lage  ur- 
theilender  Subjecte  eine  „Theorie“,  eben  die  vom  „Grenznutzen“,  aufzustcllen.  Ob 
freilich  diese  Theorie  auch  sachlich  so  neu,  als  ihrer  Wortfassung  nach,  ob  sie 

21* 


324 


2.  B.  Grundbegriffe.  3.  K.  Werth.  §.  135. 


wirklich  richtig  und  vor  Allem,  ob  sie  eine  so  grosso  Tragweite  hat,  wie 
ihre  Anhänger  annehmen,  wird  von  anderer  Seite  bestritten  uud  auch  ich  hege  nament- 
lich in  Betreff  der  ersten  und  letzten  der  eben  erwähnten  Puncte  Zweifel.  Insbeson- 
dere scheint  mir  (in  theilweiser,  doch  nicht  völliger  Debereinstimmung  mit  H.  Diet- 
zel, s.  u.)  die  Grenznutzentheorie  doch  nur  anf  eine  feinere  Analyse  der  auf  der 
Nachfrage -Seite  entscheidenden  psychischen  Momente  hinauszukommen.  Hier  er- 
giebt  diese  Theorie  genauere  und  tiefere  Einblicke  in  diese  Momente  uud  damit  in 
die  Factoren,  welche  von  dieser  Seite  der  Nachfrage  aus  auf  die  Bildung  der  Höhe 
des  Werths,  auch  des  Tauschwerths  und  Preises  bestimmend  sind.  Aber  die  Trag- 
weite dieses  wissenschaftlichen  Fortschritts  ist  doch  nicht  so  gross  und  so  bedeutsam, 
wie  die  Anhänger  der  Theorie  meinen.  Die  bisherige  Werth-,  Tauschwerth-  und 
Preistheorie,  insbesondere  die  Theorie  der  Productionskosten  als  Preis  bestimmenden 
Factor’s,  sind  dadurch  nicht  umgeworfen,  sondern  nur  nach  einer  Seite  ergänzt.  Man 
könnte  das  etwa  so  ausdrücken:  in  der  Lehre  von  den  Productionskosten  (Ricardo, 
socialistischc  Theoretiker!  hat  man  es  namentlich  mit  der  Angebot-Seite  zu  thun 
und  hat  darüber,  wie  übrigens  auch  Andere,  so  namentlich  Schäffle  längst  ein- 
geschen  und  gelehrt  haben,  die  Nach  frage -Seite  zu  wenig  beachtet.  Die  Grenz- 
nutzentheorie  hat  das  Verdienst,  die  letztere  Seite  iu  zum  Theil  neuer  und  eigen- 
tümlicher Weise  zu  betrachten  und  eben  dadurch  eine  Ergänzung  für  die  ganze 
Werth-  und  Preistheorie  zu  liefern. 

Die  wichtigsten  Grundgedanken  der  Grenznutzentheorie  oder,  wie  sie  ihre  An- 
hänger, z.  B.  v.  Böhm-Bawerk  mitunter  kurzweg  nennen,  der  „modernen“  Werth- 
theorie (auch  wohl  der  „psychologischen“  Werth-Theorie),  sind  zuerst  von  Gossen 
in  seinem  Buche  „Entwicklung  dor  Gesetze  des  menschlichen  Verkehrs  und  der  daraus 
flicssenden  Regeln  für  menschliches  Handeln“  (Braunschweig,  1854)  entwickelt  worden. 
Dies  gestehen  die  neueren  Anhänger  der  Theorie  selbst  zu.  Aber  diese  Schrift  ist 
ohne  jede  Einwirkung  geblieben  und  vergessen  worden,  bis  sie  neuere  Theoretiker 
der  Richtung  (Walras,  Jevons)  erst  wieder  entdeckten.  Unabhängig  von  Gossen  und 
unabhängig  von  einander  sind  dann  drei  Gelehrte  verschiedener  Nationalitäten  wesent- 
lich auf  dieselbe  Werththcorie  gekommen.  Der  Deutsche  (Oesterreicher)  Karl  M enger, 
der  Engländer  Jevons  und  der  Franzose  (Schweizer)  Wal  ras.  Ein  Zusammentreffen 
von  Ansichten , das  wiederum  gerne  als  Beweis  für  die  Richtigkeit  der  Theorie  an- 
geführt worden  ist  (z.  B.  von  v.  Böhm-Bawerk,  Kapital  II,  139.  Note),  aber  doch 
nur  beweist,  dass  aus  gewissen  Vordersätzen,  zu  welchen  analog  (hier  streng  deductiv 
und  mathematisch)  veranlagte  Köpfe  nicht  so  unbegreiflich  kommen , dann  gleiche 
Schlüsse  gezogen  werden  (wie  man  es  z.  B.  so  deutlich  bei  völlig  unabhängig  von 
einander  stehenden  socialistischen  Theoretikern  sieht,  was  Anton  Menger  verkannt  hat). 
Vergl.  zur  Litteraturgeschichte  der  neuen  Theorie  v.  Wieser,  natürl.  Werth,  1889, 
Vorwort,  S.  VIII  ff.  S.  bes.  K.  Menger  in  s.  scharfsinnigen  Volkswirthschaftslehre 
S.  87  ff.  S.  98  daselbst  eine  freilich  etwas  schwerfällige  Formulirting  des  Gosetzes 
vom  Grenznutzen.  Jevons,  theory  of  polit.  economy,  zuerst  1871,  2.  A.,  p.  40  ff. 
(darüber  W.  Bölimert,  Jevons,  S.  24  ff.,  45).  Walras  in  verschiedenen  der  oben 
S.  176  gen.  Schriften,  so  in  den  Elements  d’6con.  pol.  pure,  1874  ff,  in  der  tht‘orie 
de  la  inonnaie  (18SG),  wo  Anhänger  genannt  werden  (p.  VIII),  in  s.  Elements  d’Econ. 
pol.  (1889)  2.  6d.,  S.  65  ff. 

An  die  hier  gegebenen  Anregungen  hat  sich  nun  in  Oesterreich  (nur  spärlich 
in  Deutschland)  und  theilweise  auch  im  Ausland  eiue  ganze  Schule  der  „Grenznutzen- 
Theorctiker“  angeknüpft.  Unter  diesen  ist  besonders  von  Böhm-Bawerk  und 
v.  Wieser  hervorzuheben.  Ersterer  namentlich  in  seinen  schönen  Aufsätzen  „Grund- 
züge der  Theorie  des  wirtschaftlichen  Güterwerths“  in  Conrad ’s  Jahrbüchern 
(N.  F.  B.  13,  1886.  S.  1 ff.,  S.  477  ff.),  in  seinem  grossen  und  bedeutenden  Werke 
„Kapital“  II,  S.  131  ff.  und  in  gelegentlichen  weiteren  Ausführungen,  so  in  Repliken 
gegen  H.  Dietzel  (s.  u.).  Auf  v.  Röhm  sei  besonders  wegen  der  Klarheit  der  Dar- 
stellung einer  nichts  weniger  als  leicht  verständlichen  Lehre  und  wegen  der  ge- 
lungenen Forinulirungen  verwiesen.  Er  hat  den  Namen  „Grenznutzen“  von  v.  Wieser 
übernommen  und  sagt  knrz:  „Der  Werth  eines  Gutes  bestimmt  sich  nach  der  Grösse 
seines  Grenznutzens“  (Kapital  II,  158)  oder  genauer:  „nach  der  Wichtigkeit  des- 
jenigen concreten  Bedürfnisses  oder  Theilbedürfnisses,  welches  unter  den  durch  den 
verfügbaren  Gesammtvorrath  von  Gütern  solcher  Art  bedeckten  Bedürfnissen  das 


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Vorbemerkungen  und  Littcratur  Über  Wertb. 


325 


mindest  wichtige  ist“;  oder  m.  a.  W.  für  den  Werth  eines  Guts  sei  maassgebend 
„der  kleinste  Nutzen,  zu  dessen  Herbeiführung  es  oder  seinesgleichen  in  der 
concreton  wirtbschafilichen  Sachlage  rationeller  Weise  noch  verwendet  werden  dürfte“ 
(eb.  S.  157).  Freilich,  wie  kaum  zu  bestreiten  sein  möchte,  immer  Formulirungen, 
welche  ohne  sehr  eingehende  Darlegung  der  ganzen  Theorie,  wie  sie  übrigens  diese 
Autoren  geben,  schwer  überhaupt  nur  zu  verstehen  sind.  Geber  die  nach  Ansicht 
dieser  Gelehrten  bestehenden  Beziehungen  des  Grenznutzengesetzes  zum  Kostengesetze 
s.  u.  A.  v.  Böhm,  a.  a.  0.,  II,  200  („Das  Kostengesetz  ist  kein  selbständiges  Werth- 
gesetz, sondern  bildet  nur  einen  Incidenzfall  innerhalb  des  wahren,  allgemeinen  Ge- 
setzes vom  Grenznutzen“  [?]).  Ausser  v.  Böhm-Bawerk  ist  namentlich  v.  Wies  er  zu 
nennen  mit  seiner  Schrift  „über  den  Ursprung  und  die  Hauptgesetze  des  wirtschaft- 
lichen Werths“,  Wien  1884,  bes.  s.  126  ff.,  146  ff.,  ders.,  der  natürliche  Werth, 
Wien,  1889,  ders.,  in  dem  kleinen  Art.  Grenznutzen  im  Handwörterb.  d.  Staats- 
wiss.,  IV,  107  (s.  auch  dess.  Verf.  Art.  Gut,  eb.  S.  225).  Hier  wird  unter  „Grenz- 
uutzen“  verstanden:  „Der  geringste  Nutzen,  zu  dem  ein  Gut,  bei  gegebener  Sachlage, 
mit  Rücksicht  auf  Bedarf  und  Vorrath  wirtschaftlicher  Weise  noch  verwendet  werden 
kann“.  Ferner  E.  Sax,  Grundlegung  der  theoret.  Staatswirthschaft , bes.  S.  250  ff., 
aber  eigentlich  das  ganze  Werk,  worin  die  „neue  Theorie“  auf  die  Lehre  von  den 
öffentlichen  Abgaben,  freilich  m.  E.  mit  zweifelhaftem  Erfolge,  angewandt  wird  (an- 
derer Meinung  darüber.  Wies  er,  natürl.  Werth,  p.  XI,  während  v.  Böhm  sich  auch 
gegenüber  Sax  etwas  verwahrt,  Kapital  II,  140.  Note).  Von  Sax  auch  ein  die  Bedeu- 
tung Jer  Theorie  m.  E.  sehr  übertreibender  Vortrag  darüber:  „die  neuesten  Fort- 
schritte der  nat.-ök.  Theorie“  (Leipzig.  1889).  S.  ferner  die  auf  den  Preis  bezüglichen 
einschlagenden  Arbeiten:  Auspitz  und  Lieben,  Untersuchungen  über  die  Theorie 
des  Preises,  Leipzig,  1889  (vgl.  darüber  L.  Lehr,  in  Conrad’s  Jabrb.,  B.  52,  N.  F.  18, 
S.  438  11'.),  Zucke rkandl,  zur  Theorie  des  Preises  mit  besonderer  Berücksich- 
tigung der  geschichtlichen  Entwicklung  der  Lehre,  Leipzig,  1889. 

In  den  letzten  Jahren  ist  dann  über  die  Greuznutzentbeorie  eine  lebhafte  Dis- 
cussion  besonders  in  Conrad’s  Jahrbüchern  zwischen  Anhängern  und  Gegnern  der 
Lehre  geführt  worden.  Hervorzuheben  ist  der  treffliche  Aufsatz  von  J.  Lehr,  Werth, 
Grenzwerth  und  Preis,  eine  kritische  Revision  der  neueren  bezüglichen  Litteratur, 
zum  Tlieil  in  mathematischer  Behandlung  des  Problems,  und  mit  billiger  Anerkennung 
der  Bedeutung  der  Theorie,  wenn  auch  nicht  mit  Ueberscbätzung  dieser  Bedeutung. 
Dann  mit  nur  bedingter  Zustimmung  Scharling,  Werththeorieen  und  Werthgesetz, 
Conrad’s  Jahrb.,  B.  50,  N.  F.  16,  1888,  S.  417  ff.,  513  ff.  (über  die  gen.  Theorie, 
S.  430,  Note),  worauf  v.  Böhm  replicirt  hat  (Kapital  II,  169,  Note).  Mit  scharfer 
Polemik,  besonders  in  Betreff  der  Beschränkung  der  Bedeutung  der  Theorie,  hat  sich 
der  sonst  der  österr.  Schule  methodologisch  verwandte  H.  Dietzel,  die  classische 
Werththeorio  und  die  Theorie  vom  Grenznutzen,  eb.  B.  54.  N.  F.  20,  1890,  S.  561  ff., 
gegen  diese  Theorie  gewandt.  In  der  Form  unnöthig  scharf,  in  der  Sache  wohl  auch 
die  Bedeutung  der  Grenznutzentheorie  für  die  Analyse  der  auf  der  Nachfrageseito 
spielenden  Motive  und  Rücksichten  doch  unterschätzend,  aber  in  seinem  Hauptergeb- 
nis in.  E.  gleichwohl  im  Ganzen  im  Rechte  (S.  605):  die  Theorie  sei  zutreffend  für  die 
Kategorie  der  nicht-rcprodueirbaren  oder  Seltcnheitsgüter,  gebe  hier  eine  ergänzende, 
genauere  Bestimmung  des  Vorganges  der  Werthschätzung,  doch  widerspreche  sie 
materiell  weder  der  Formel  Ricardos,  dass  der  Werth  der  Güter  dieser  Kategorie 
durch  „Neigung“  und  „Wohlstand“  der  Begehrenden  sich  bestimme,  nach  dem  „Ge- 
setz von  Angebot  und  Nachfrage“.  Der  Grundfehler  der  Theorie  sei,  dass  sie  die 
Scheidung  der  Kategorie  der  nicht  - reproducirbaren  von  der  der  reproducirbaren 
Guter,  die  Basis  der  classischen  Werththeorie,  möglichst  zu  verwischen  strebe.  Für 
die  reproducirbaren  Güter  sei  die  Theorie  vom  Grenznutzen  der  bisherigen  Theorie 
gegenüber  inferior;  die  Gabelung  des  Werthgesetzes  nach  den  zwei  Güterarten  sei 
unantastbar.  Repliken  hierauf  von  Lehr,  Conrad’s  Jahrb.  55  (N.  F.  21)  1890,  S.  182, 
Auspitz  eb,  S.  288,  Zuckcrkandl  S.  509,  v.  Böhm-Bawerk  S.  519.  Duplik 
von  H.  Dietzel  eb.  B.  56  (3.  Folge  B.  1)  1891,  S.  685 — 707,  mit  Festhaltung  seiner 
Ansicht.  In  einer  inhaltreichen , sehr  beachtensweithen  Abhandlung  betheiligte  sich 
dann  der  Americancr  Patten  an  dem  Streit;  eb.  B.  57  (N.  F.  B.  2)  S.  481 — 534.  Er 
sucht,  unter  Festhaltung  der  deductiven  Methode,  den  Beweis  zu  führen,  dass  in 
Consequenz  der  gesellschaftlichen  Auffassung  des  Wirtschaftslebens  die  Ricardo’schen 


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326 


2.  B.  Grundbegriffe.  3.  K.  Werth.  §.  135,  136. 


Voraussetzungen  der  Deduction  zu  berichtigen,  die  wirtschaftlichen  Erscheinungen 
mehr  als  subjective  aufzufassen  und  demgemäss  der  Theorie  vom  Grenznutzen  bei- 
zustimmen und  ihr  dieselbe  Bedeutung  wie  dem  Rentengesetz  für  das  Smith-Ricardo- 
sche  System  zuzuerkennen  sei  (?).  Doch  müsse  man  über  die  Theorie  vom  Grenz- 
nutzen hinaus  zu  weiteren  Untersuchungen  subjectiver  Thatsachcn  gehen  (S.  533,  534). 
S.  von  de  ms.  Verf.  die  methodologisch  und  zum  Theil  sachlich  einschlagenden 
Schriften:  premises  of  polit.  ccon.,  1885,  consumption  of  wealth  1889  u.  bes.  theory 
of  dynamic  economics,  1892.  v.  Böhm-Bawerk  hat  die  ganze  neuere  Werthlitteratur 
des  In-  und  Auslands  einer  eingehenden  kritischen  Besprechung  unterzogen  (Conrad’s 
Jahrb.  B.  50,  3.  F.  B.  1,  S.  S75 — 899)  und  dabei  scharf  andere  Theorieen  und  bes.  die 
Kritiker  der  Grenznutzentheorie  angegriffen,  so  Neu  mann,  sachlich  im  Ganzen  aber 
doch  nur  Einiges  zu  seiner  eigenen  Theorie  ergänzt  und  gegen  Missverständnisse 
besser  gewahrt.  Gegen  Dietzel  erwiderte  er  in  Conrads  Jahrb.  B.  58  (3.  F.  B.  3) 
1892,  S.  320 — 367.  Indessen  kann  ich  auch  hier  v.  Böhm  nicht  weiter  beistimmen, 
als  oben  geschehen,  und  vermag  ich  Dietzel  in  den  Hauptpuncten  nicht  für  widerlegt 
zu  halten.  Der  gauze  Streit  droht  auch  etwas  in  Wortstreit  auszulaufen. 

Von  sonstiger  neuerer  deutscher  Litteratur  über  Werth,  worin  regelmässig  auf 
die  Grenznutzentheorie  mehr  oder  weniger  beistimmend,  ablehnend  oder  in  der  Ten- 
denz der  Vermittlung  mit  anderen,  namentlich  der  Kostentheorie  eingegangen  wird  — 
in  den  vorausgehend  genannten  Arbeiten  werden  diese  Schriften  meistens  erwähnt 
und  kritisirt  — seien  hier  noch  genannt:  J.  Wolf,  zur  Lehre  von  Werth,  Tüb.  Ztschr. 
f.  Staatswiss.  B.  42,  1886,  S.  415,  Flatow,  Studie  über  den  Werthbegriff.  eb.  B.  45, 
1889,  S.  261,  v.  Komorzynski,  Werth  in  d.  isolirten  Wirthschaft,  1889,  0.  Ger- 
lach,  Bedingungen  wirtschaftlicher  Thätigkeit,  Jena  1890  (über  Marx,  Knies, 
Schäffle,  Wieser,  vgl.  bes.  S.  29  ff.,  57  ff.;  über  Gerlach  v.  Böhm  in  Conrad’s  Jahrb., 
3.  F.  B.  1,  S.  389  ff.)  — Uebcx  das  ganze  Werthproblcm  s.  sonst  bes.  Schäffle  in 
den  im  vor.  §.  134  gen.  Stellen  und  Neu  mann  im  Schönberg’schen  Handbuch  (die 
3 Auflagen  sind  hier  zu  vergleichen)  und  „Grundlagen“,  auch  betreils  Abweichungen 
von  der  Grenznutzentheorie.  Dass  sich  Neumann  hier  immer  nur  auf  die  Ausarbei- 
tung von  Definitionen  beschränke  und  in  seiner  neuesten  Werthdefiuition  ^Schönberg’s 
Handb.  I,  3.  A.,  S.  147:  Werth  im  subjectiven  Sinne  „die  Bedeutung  für  das  Inter- 
esse bestimmter  Personen,  welche  der  Verfügungsgewalt  über  ein  Ding  beigelegt 
wird“)  im  Grunde  die  Auffassung  der  Grenzwerth-Theorctiker  angenommen  habe,  wie 
v.  Böhm  meint  (Conrad’s  Jahrb.,  3.  F.  B.  1,  S.  891  ff.),  kann  ich  doch  nicht  zugeben. 
Die  wie  immer  feiu  zergliedernden  scharfen  Ausführungen  Neumann’s  über  die  Be- 
griffsbestimmung von  Werth  geben  doch  erheblich  mehr  als  bloss  formalistische 
Definitionen.  Aber  allerdings  kommen  sie  öfters  aus  Verclausulirungen  nicht  heraus 
und  legen  auf  Wortfassungen,  deren  nur  relative  Richtigkeit  Neumann  selbst  immer 
zugiebt,  zu  viel  Werth.  Ich  kann  ihm  in  der  Zerlegung  des  Werthbegriffs  auch  nicht 
überall  folgen  und  halte  Manches  für  Streit  um  Worte,  auch  z.  B.  was  er  über  die 
Unterscheidung  von  subjectivem  und  objectivem  Werth,  gegen  den  Ausdruck  Ge- 
brauchswerth und  die  Unterscheidung  von  Gebrauchs-  und  Tauschwerth,  gegen  Rau ’s 
Unterscheidung  von  abstractem  und  concretem  Werth,  an  der  ich  festhalte,  sagt. 
Dogmen-  und  litteraturgeschichtlich  sind  auch  diese  Arbeiten  sehr  reichhaltig  und 
zur  Denkübung  und  Schulung  gut  geeignet 

Auch  in  der  fremden  Litteratur  6pielt,  besonders  neuerdings,  mehr  noch  in 
Folge  des  Eindringens  der  „österreichischen“  Theorie,  als  in  Folge  von  Jevons  und 
Walras,  die  aber  hier  auch  schon  Wirkung  ausgeübt  haben,  die  Controverse  ebenfalls, 
und  werden  Anhänger  und  Gegner  förmlich  abgezählt  und  jede  neue  Beistimmung 
zur  „modernen  Werththeorie“  gern  gebucht  (vgl.  die  genannten  Schriften  von  Walras, 
v.  Wieser,  v.  Böhm).  Uober  die  Italiener,  untor  denen  z.  B.  Loria  ein  scharfer 
Gegner  ist  (Nuova  Antologia,  April  1S90)  s.  v.  Böhm  in  Conrads  Jahrb.  3.  F.  B.  I, 
S.  881  ff.  In  America  hallt  der  Streit  auch  wieder,  so  in  den  Spalten  des  Quarterly 
Journal  of  economics  (Harvard  Universität)  und  sonst.  S.  ferner  die  gen.  Schriften 
von  Patten.  In  England  hat  Marshall  in  seinen  principlcs  eine  Auffassung 
vertreten,  die  sich  der  meinen  darin  nähert,  dass  auch  er  die  Bedeutung  der  Theorie 
des  Grenznutzens  (marginal  oder  final  utility  im  Englischen)  für  die  Nachfrageseite 
anerkennt,  ohne  das  Productiouskostengesetz  aufzugeben  (s.  Princ.  book  3,  ch.  2). 
(Ueber  Marshall  mein  Aufsatz  im  Quart.  Journal  of  economics,  April  1891,  worin  ich 


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Werth  im  Allgemeinen.  Gebrauchswerth. 


327 


das  Werthproblem  berührte).  In  Frankreich  ist  z.  B.  Gide  Anhänger  der  Grenz- 
nutzcntheorie  (principes,  1.  livre,  2.  ch.,  valeur),  in  Holland  Pierson  (leerbook 
der  Staats-huiskundc,  Harlem  1984).  Hier  hat  mau  auch,  mit  mir  vollends  zweifel- 
haftem Erfolge,  wie  E.  Sax,  begonnen,  die  „ueue  Werththeorie“  für  das  Problem 
der  Vertheilung  der  Steuerlast,  besonders  in  der  Frage  des  progressiven  Steuerfusses, 
zu  verwertben  (Cohen  Stuart,  Beitr.  z.  Theorie  der  progr.  Einkommensteuer,  1989, 
v.  Mees  desgl.,  s.  v.  Böhm  in  Conr.  Jahrb.  3.  F..  B.  1,  S.  875).  Aehnlich  ncuestens 
E.  Sax  im  1.  Heft  der  österr.  Ztschr.  f Volkswirthschaft.  1892. 

Wie  man  nun  auch  zu  dieser  ganzen  Streitfrage  stehe:  eine  unverkennbare  be- 
deutende geistige  Denkarbeit  stell  die  umfassende  Litteratur  über  den  Grenznutzen 
ohne  Zweifel  dar.  Sie  zu  ignoriren  oder  gar  sie  missachtend  zu  behandeln,  ist  sicher 
kein  Grund  da.  Für  uns  Deutsche  ist  es  auch  besonders  erfreulich,  unter  unseren 
Landsleuten  in  Oesterreich  hier  eine  so  lebhafte  und  erfolgreiche  geistige  Thätig- 
keit  Platz  greifen  und  damit  wie  mit  der  Hochhaltung  der  deductiven  Methode  dort 
Stellung  gegen  Einseitigkeiten  der  wissenschaftlichen  Entwicklung  in  Deutschland 
nehmen  zu  sehen.  Ich  kann  daher  auch  spöttelnde  Bemerkungen,  wie  die  gelegent- 
lichen G.  Cohns,  nicht  billigen.  Die  deutsche  jüngere  historische  Schulo  hat  sich 
auf  dem  Gebiete  solcher  Fragen  völlig  passiv,  im  Grunde  impotent  erwiesen.  Wie 
hochmüthig  aburtheilend  sie  sich  aber  auch  hier  verhält,  wie  immer,  wo  es  sich  um 
Dinge  und  Probleme  aussserhalb  ihrer  Richtung  und  Neigung  handelt,  zeigen  Reccn- 
isonen  im  Schmoller’schen  Jahrbuch,  wie  die  von  W.  Sombart  über  einen  so  ge- 
diegenen, scharfen  und  gedankenvollen  Autor  wie  v.  Wiescr  (XIII,  1899,  B.  4, 
S.  288).  — Immerhin  anders  beurthcilt  ein  hervorragender  jüngerer  socialistischer 
Theoretiker,  wenn  auch  durch  seinen  Standpunkt  etwas  befangen,  Conrad  Schmidt, 
die  Theorie  (in  dem  Aufs,  die  psychologische  Richtung  der  neueren  Nationalökonomie 
in  „Neue  Zeit“  X,  2.  B.,  1892,  S.  421  ff.),  wie  denn  für  den  Socialismus  diese  Seite 
des  Problems  beachtenswerth  genug  ist. 

Im  Folgenden  habe  ich  nach  reiflicher  Oeberlegung,  wozu  mir  seit  lange  jähr- 
lich insbesondere  auch  die  Behandlung  der  Werth-  und  Preislehre  in  meinen  Vor- 
lesungen Anlass  gegeben  hat,  doch  an  meiner  früheren  sachlichen  und  formellen 
Behandlung  des  Gegenstands  in  diesem  Werke  nicht  viel  gegen  die  zweite  Auflage 
geändert  Mancherlei  sehe  ich  auch  wirklich  nur  mehr  als  Wortstreit  an,  so  auch 
Einiges  von  Neumann’s  Einwänden  in  den  Erörterungen  über  subjcctiven,  objec- 
tiven,  concreten,  abstracten  Werth.  Im  Wesentlichen  habe  ich  mich  hier,  der  Auf- 
gabe in  diesem  2.  Buche  von  den  Grundbegriffen  gemäss,  auf  Feststellung  der 
Terminologie,  Definitionen  und  die  allgemeinsten  Principienpun cte 
der  Lehre  von  der  Werth-  und  Preisgestaltung  beschränkt,  gehe  daher  an  dieser 
Stelle  auf  die  sachliche  Controverso  über  Werth,  Preis,  Kosten,  Grenznutzen  nicht 
weiter  ein,  als  es  im  Vorausgehenden  geschehen  ist,  das  absichtlich  meinem  Mit- 
arbeiter H.  Dietzel  für  die  theoretische  Nationalökonomie  überlassend.  Für  mich 
war  auch  hier,  nachdem  ich  über  die  Werthlitteratur  und  die  neueren  Streitfragen 
orientirt  habe,  das  Wichtigere,  diejenigen  socialen  Gesichtspuncte  und  Unterschei- 
dungen von  Kategoricen  auch  in  dieser  Lehre  zur  Geltung  zu  bringen,  welche  ich 
schon  in  der  2.  Aufl.  (zum  Theil  abweichend  von  der  ersten)  im  Anschluss  au  Rod- 
bertus  hervorgehoben  habe. 

I.  Werth  im  Allgemeinen.  Gebrauchswerth.  §.  136 
[33,34].  A.  Ableitung  des  Werthbegriffs.  Es  ist  ein  natür- 
liches Bestreben  des  Menschen,  insbesondere  des  wirtschaftenden, 
sich  das  Verhältnis,  in  welchem  die  inneren  und  äusseren  Güter 
zu  seinen  Bedürfnissen  stehen,  zum  deutlichen  Bewusstsein  und 
VerstUndniss  zu  bringen.  Dies  geschieht  durch  die  Schätzung 
(Werthschätzung),  wodurch  den  Gütern,  beziehungsweise  den  Dingen 
der  Aussen  weit  Werth  beigelegt  und  derselbe  gemessen  wird. 

Der  vielfach  streitige  und  durch  manche  oft  nur  scheinbar 
tiefsinnige  Untersuchungeu  noch  verdunkelte  Werthbegritf  entwickelt 


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328 


2.  B.  (i und  begriffe.  3.  K.  Werth.  §.  136,  137. 


sich  einfach,  wenn  man,  wie  bisher  geschehen,  vom  Bedürfniss 
und  von  der  wirtschaftlichen  Natur  des  Menschen  ausgeht,  dann 
zum  Gutsbegriff  gelangt  und  an  diesen  den  Werthbegriff  anknüpft. 
Die  Eigenschaft  eines  Guts,  zur  menschlichen  Bedürfnissbefriedigung 
tauglich  zu  sein  (seine  „Gutscigeuschaft“) , kann  als  Nützlich- 
keit (Brauchbarkeit)  bezeichnet  werden.  Die  Bedeutung, 
welche  vom  Menschen  dem  Gute  wegen  dieser  seiner  Nütz- 
lichkeit beigelegt  wird,  ist  im  allgemeinsten  Sinne  der  Werth 
des  Gutes.  Derselbe  ist  also  keine  Eigenschaft  der  Dinge  an 
sich,  wenn  er  auch  objectiv  die  Nützlichkeit  eines  Dinges  zur 
Voraussetzung  hat,  sondern  er  ist  eine  Eigenschaft  des  Guts, 
welche  dasselbe  dadurch  erhält,  dass  der  Mensch  es  in  bewusste 
Beziehung  zu  seiner  bedürftigen  Natur  setzt.  Dieser  Werth  ist  immer 
Werth  im  subjectiven  Sinne,  von  einer  und  für  eine  urtheilende 
Person  empfunden  und  erkannt.  Im  objectiven  Sinne  bedeutet 
„Werth“,  „Werthe“  dann  auch  die  werthhabenden  Güter  selbst, 
wo  Gut  und  Werth,  Güter  und  Werthe  im  Wesentlichen  identische 
Begriffe  werden. 

Hermann  (2.  A-  S.  5,  6,  in  einer  Hinsicht  Rau,  I,  §.  57)  gehen  in  der  Ab- 
leitung des  Werthbegriffs  ebenso  vor.  Ersterer  und  Andere  unterscheiden  nur  nicht 
weiter  zwischen  Nützlichkeit  und  Werth,  wogegen  Rau  einwendet,  dass  dann  einer 
von  beiden  Ausdrucken  überflüssig  wäre.  Das  würde  kein  durchschlagender  Gegen- 
grund sein,  aber  die  Unterscheidung  im  Texte  bringt  mit  Recht  ein  subjectives  Moment 
mit  in  die  Definition.  Aehnlich  auch  Schäffle  nationalökon.  Lehre  v.  Werth,  1862 
und  Ges.  Syst.  3.  Aufl.  S.  102,  Werth  subjectiv  betrachtet:  Die  einem  Gute  beigelegte 
Bedeutung  oder  Geltung.  Roscher  (Werth  die  Bedeutung,  welche  ein  Gut  für  das 
Zweckbewusstsein  des  wirtschaftenden  Menschen  hat),  Mangoldt  Grundr.  §.  1.  — 
Rau  hat  eine  andere  Werthdefinition  gegeben  §.  57.  Er  geht  auch  von  der  „Nütz- 
lichkeit“ aus,  glaubt  aber  dann  gleich  mehrere  Güter  in  Bezug  auf  ihre  Nützlichkeit 
vergleichen  zu  müssen  und  gelangt  darauf  zuuächst  zum  Gebrauchswerth 
oder  zum  Werth  im  engeren  Sinne:  „der  im  menschlichen  Urtheil  anerkannte  Grad 
von  Nützlichkeit  eines  Sacbguts“.  Indem  er  dann  den  Gebrauchs-  und  den 
Tausch-  oder  Verkehrswerth  unter  dem  Gattungsbegriff  Werth  zusammenfasst, 
ist  ihm  dieser  „der  Grad  der  Fähigkeit  eines  Sacbguts  zur  Förderung  mensch- 
licher Zwecke  zu  dienen“.  Hier  wird  aber  mit  Unrecht  der  zweite  Schritt  bei  der 
Schätzung  zum  ersten  gemacht.  Die  Einwendung  Rau ’s,  dass  sich  vom  Werthe  einer 
Sache  allein,  ohne  Vergleichung  anderer  Güter  oder  mehrerer  individueller  Schätzungen 
nicht  sprechen  lasse,  und  wenn  man  einer  Sache  schlechthin  Werth  zaschreibe,  ohne 
sie  mit  einer  anderen  zu  vergleichen,  darunter  ein  vergleichsweise  hoher  Werth  zu 
verstehen  sei,  scheint  mir  unrichtig  und  dem  Sprachgebrauch  auch  zuwider. 

Marx,  Kapital  a.  a.  0.  S.  2 braucht  Gebrauchswerth  und  Gut  gleichbedeutend.  — 
In  anderem  Sinne  als  im  Texte  spricht  Hermann  von  subjcctivem  und  objectivem 
Werth,  und  Andere  nehmen  die  Unterscheidung  wieder  anders,  v.  Böhm-Bawerk 
(Conrads  Jahrbuch  B.  52,  N.  F.  13,  1886,  S.  4,  auch  Kapital  II,  137)  versteht  unter 
Werth  im  subjectiven  Sinne:  die  Bedeutung,  die  ein  Gut  oder  ein  Gütercomplex  für 
die  Wohlfahrtszwecke  eines  Subjects  hat,  im  objectiven  Sinne:  „die  Kraft  oder  Tüch- 
tigkeit eines  Guts  zur  Herbeiführung  irgend  eines  objectiven  Erfolgs.“  Genauer  aber 
bestimmt  v.  Böhm  (Jahrb.  a.  a.  0.  S.  13)  den  subjectiven  Werth  als:  „diejenige  Be- 
deutung, die  ein  Gut  oder  Gütercomplex  als  erkannte  Bedingung  eines  sonst  zu  ent- 
behrenden Nutzens  für  die  Wohlfährtszwecke  eines  Menschen  erlangt“  (wie,  was 


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Werth  im  Allgemeinen.  Gebrauchswerth. 


329 


v.  Böhm  auch  bemerkt,  nicht  ganz  unähnlich  schon  von  Mangoldt  in  der  Volks- 
wirthschaftslehre  S.  132).  Neuman n (Handbuch  I,  3.  A.,  S.  139,  151),  welcher  der 
Definition  der  einzelnen  Wertliarteu  eine  allgemeine  Definition  von  Werth  voraus- 
zuscbicken  „ganz  verkehrt“  nennt  (S.  138  Note  21),  unterscheidet  durchweg  zwei 
Kategorien  von  Werthbegrill'en,  die  subjectiven  und  die  objcctiveu,  jene,  „die  sich 
auf  gewisse  Personen  und  ihre  Vermögensinteressen,  resp.  ihre  Interessen,  Wünsche, 
oder  Neigungen  überhaupt  beziehen“  oder  kurz:  nach  der  Schätzung  eines  Dings  nach 
seiner  Bedeutung  oder  Tauglichkeit  für  gewisse  Personen;  die  objectiven  nach  der 
Schätzung  von  Dingen  ohne  solche  Rücksicht,  wo  von  gewissen  Personen  abgesehen 
und  vorzugsweise  die  Tauglichkeit,  gewissen  Bedürfnissen,  Interessen,  Wünschen. 
Zwecken  u.  s.  w.  als  solchen  zu  genügen,  beachtet  wird.  Ich  kann,  trotzdem  das 
Neumann  fast  unerklärlich  nennt  (a.  a.  0.,  S.  152,  Note  62)  auch  jetzt  noch  nicht 
umhin,  in  dieser  seiner  Unterscheidung  wesentlich  dasselbe  wie  in  der  Rauschen 
von  concretem  und  abstractem  Werth  zu  sehen,  und  auch  v.  Böhms  Unterscheidung 
läuft  auf  wenig  Anderes  hinaus. 

Die  Analyse  der  psychologischen  Vorgänge  bei  der  subjectiven 
Werthschätzung  ergiebt,  dass  zuerst  die  Beilegung  von  Werth 
erfolgt,  darauf  die  Höhe  dieses  Werthes  gemessen  wird.  Ersteres 
geschieht  in  der  Weise,  dass  die  Güter  zu  den  Bedürfnissen  in 
Beziehung  gesetzt  werden;  letzteres  dann  in  doppelter  Weise: 
es  werden  die  Güter  verglichen  mit  Rücksicht  auf  ihre  Brauch- 
barkeit zur  Befriedigung  verschiedener  Bedürfnisse  und  auf 
ihre  Brauchbarkeit  zur  Befriedigung  desselben  Bedürfnisses. 
Im  ersten  Falle  hängt  für  das  schätzende  Subject  die  Höhe  des 
Werthes  der  Güter  allgemein  von  der  Rangordnung  seiner  Bedürf- 
nisse, speciell  von  der  Stärke  und  Dringlichkeit  der  von  ihm  im 
concreten  Falle  zu  befriedigenden  Bedürfnisse  ab:  es  entscheidet 
also  zugleich  die  Natur  der  Güter  und  die  jeweilige  persönliche 
Lage  des  schätzenden  Menschen  über  die  Höhe  des  Werthes:  der 
an  sich  einfache  und  richtige,  der  Grenznutzentbeorie  zu  Grunde 
liegende  Sachverhalt.  Im  zweiten  Falle  hängt  die  Werthhöhe 
wesentlich  von  dem  Grade  der  Brauchbarkeit  eines  Gutes,  demnach 
von  dessen  objectiven  Eigenschaften,  bei  derselben  Gutsart  von 
der  Qualität,  Sorte  ab.  Die  Rangordnung  der  Brauchbarkeiten  be- 
stimmt also  die  Höhe  des  Werthes  der  verschiedenen,  für  dasselbe 
Bedürfniss  dienenden  Güter. 

Die  von  Rau  und  anderen  Autoren  gegebene  Definition  des  Werths,  wonach 
dieser  den  Grad  der  Fähigkeit  eiues  Guts  (Sachguts  Rau),  zur  Förderung  mensch- 
licher Zwecke  zu  dienen,  bezeichne,  wird  nur  dem  zweiten  Vorgänge  bei  der  Schät- 
zung gerecht  und  ist  zu  eng.  Die  Vergleichung  der  Güter  unter  sich  ist  zur 
Werth messung,  nicht  zur  Werthbeilegung  erforderlich.  Meine  Bezugnahme  auf 
die  Grenznutzentheorie  in  obiger  Weise  wird  vielleicht  Widerspruch  finden,  aber  mit 
Unrecht. 

B.  — §.  137  [35,  36].  Der  Werth  als  Gebrauchswerth. 
Der  also  abgeleitete  Werth  ist  Gebrauchs werth.  „Es  giebt 
nur  Eine  Art  Werth  und  das  ist  der  Gebrauchswerth.  Dieser 
ist  entweder  individueller  Gebrauchswerth  oder  socialer  Ge- 


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330 


2.  B.  Grundbegriffe.  3.  K.  Werth.  §.  137. 


brauchswerth.  Der  erstere  bestellt  dem  Individuum  und  seinen 
Bedürfnissen  gegenüber  ohne  alle  Berücksichtigung  einer  socialen 
Organisation.  Der  zweite  ist  der  Gebrauchswerth,  den  ein  aus 
vielen  individuellen  Organismen  (bez.  Individuen)  bestehender 
socialer  Organismus  hat“  (Rodbertus).  Der  sociale  Ge- 
brauehswerth setzt  also  Arbeitstheilung  und  eine  bestimmte 
Rechtsordnung  bezüglich  der  sachlichen  Productionsmittel , damit 
die  Nothwendigkeit  einer  Organisation  derVcrthcilung  der 
arbeitstheilig  gewonnenen  Güter  voraus. 

Das  Mittel  hierzu  ist  im  freien  Verkehr  auf  der  Grundlage  der  Privateigen- 
thumsordnung und  in  der  privatwirthschaftlichen  Organisation  der  Volkswirtschaft 
die  Einrichtung  des  Tausches,  bez.  unter  Vermittlung  des  Gelds,  des  Kaufs  und  Ver- 
kaufs. wo  dann  der  Werth  als  Tauschwerth  und  Vertrags-Preis  hervortritt. 
Der  Tauschwerth  ist  daher  nicht  eine  dem  Gebrauchswerth  coordinirte  Art  des  Werths, 
kein  logischer  Gegensatz  zum  Gebrauchswert!),  sondern  er  ist  ein  historischer  Be- 
griff, der  bestimmten  geschichtlichen  Perioden  des  Verkehrs  entspricht.  Er  hat 
im  Taxwerth  und  Taxpreis  einen  anderen  historischen  W’erthbegriff  neben  sich: 
ein  durch  Autoritäten  festgesetzter  Werth  und  Preis  für  die  Güterübertragung 
zwischen  zwei  Personen.  In  einem  obrigkeitlich  oder  durch  Organe,  denen  die 
betreffende  Macht  hierzu  gewährt  ist,  geregelten  Verkehr  kommt  dieser  Taxwerth 
und  Taxpreis  auch  in  einer  Volkswirtschaft  mit  privatwirthschaftlicher  Organisation 
und  Privateigenthumsordnung  vor.  In  einer  auf  der  Rechtsgrundlage  gesellschaft- 
lichen Gemeineigenthums  an  den  sachlichen  Productionsmitteln  beruhenden  Volks- 
wirtschaft mit  ..social  istischcr“  Organisation  der  Production  und  Verteilung  müsste 
folgerichtig  der  Tauschwerth  und  Preis  des  freien  Verkehrs,  — mindestens  der  Kegel 
nach,  streng  genommen  unbedingt—  verschwinden  und  allgemein  durch  „Social- 
Taxen“  ersetzt  werden.  Die  notwendige,  aber  missliche,  weil  nicht  oder  unendlich 
schwer  auszuführende  Consequenz  des  Systems!  (S.  §§.  141,  142.) 

Vgl.  Rodbertus  in  dem  Briefe  an  mich  in  d.  Tüb.  Ztschr.  1S7S,  S.  223.  Ich 
habe  mich  dieser  Auffassung  angeschlossen,  deren  Bedeutung  ich  schon  in  der  1.  Aufl. 
einmal  hervorhob.  Rodbertus  schliesst  seine  dortige  Erörterung:  „Der  Tauschwert 
ist  nur  der  historische  Um-  und  Anhang  des  socialen  Gebrauchswerths  aus  einer  be- 
stimmten Geschichtsperiode.  Indem  man  dem  Gebrauchswerth  einen  Tauschwerth  als 
logischen  Gegensatz  ecgcnüberstellt,  stellt  man  zu  einem  logischen  BegrifF  einen  histo- 
rischen Begriff  in  logischen  Gegensatz,  was  logisch  nicht  angeht.“  Das  ist  vollkommen 
richtig  und  nötigt  zu  einer  Acnderung  der  üblichen  unlogischen  „Einteilung“  des 
Werths  in  Gebrauchs-  und  Tauschwerth,  wie  ich  sie  in  §.  35  d.  1.  Aufl.  auch  noch 
vorgenommen  hatte.  — Die  Unterscheidung  von  Gebrauchs-  und  Tauschwerth  schon 
im  Keime  (wie  Neu  mann.  Tüb.  Zeitschr.  B.  28,  275,  mit  Recht  berichtigt)  bei 
Aristoteles,  Polit.  I,  9.  Die  eigene  Benutzung,  der  Gebrauch,  die  häusliche  Ver- 
wendung (o/Vf/«  XQfjoi<;)  wird  dem  Vertauschen  gegenüber  gesetzt.  Vergl.  auch 
eb.  I,  3,  4 und  die  ganze  Theorie  des  Erwerbs  des  Aristoteles,  wovon  Büchsen- 
schutz a.  a.  0.  S.  252  ff.  eine  Ucbersicht  giebt.  — Auch  A.  Smith  I,  ch.  4 unter- 
scheidet valuc  in  use  und  in  exchange,  behandelt  aber  nur  den  letzteren.  Ebenso 
seine  meisten  Nachfolger,  Ricardo  und  überhaupt  besonders  die  Freihändler.  Von 
zwei  entgegengesetzten  Seiten  ist  denn  auch  die  Ansicht,  besonders  in  neuerer  Zeit, 
vertreten , dass  nur  der  Tauschwerth  der  in  der  Nationalökonomie  zu  betrachtende 
Werth  sei,  nemlich  von  radical  freihändlerischer  und  von  socialistischer  oder  den 
Socialisten  verwandter  Seite.  Von  ersterem  Standpunctc  aus  sollte  die  Wissenschaft 
eine  reine  Tausch-Lehre  werden,  eine  ausserordentlich  enge  und  einseitige  Auf- 
fassung. Von  der  anderen  Seite  s Marx,  1.  Kap,  II.  Rösler  in  Hirth’s  Ann.  1875 
S.  10.  Dü  bring,  Cursus  S.  33  (Gebrauchswert!)  nur  „in  der  veralteten  Tradition  der 
gemeinen  Lehrbücher“,  „wissenschaftlich  überwundener  Irrthum“).  — Ich  stelle  im 
Einklana:  mit  der  Rodbertus’schen  und  auch  der  Schäffle’schcn  Auffassung 
(Soc.  Körper  III,  272,  276)  den  Gebrauchswerth-Character  alles  Werths  voran 


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Gebrauchswert!!. 


331 


und  hebe  die  Gebrauchs werth- Schätzung  um  so  mehr  hervor,  weil  die  Tauschwerth- 
Schätzung  auf  viele  der  wichtigsten  wirtschaftlichen  Guter  schlechterdings  gar  nicht 
anwendbar  ist,  so  nicht  auf  den  Staat  und  seine  Leistungen,  noch  auf  andre  gemein- 
wirthschaftliche  Verhältnisse.  (S.  uuten  §.  139.)  Aber  auch  im  privat  wirtschaftlichen 
Verkehr  reicht  die  Tauschwert-Schätzung  nicht  aus  und  muss  namentlich  zur  Erklärung 
der  einfachsten  Tauschacte  im  Verkehr  auf  die  Schätzung  nach  dem  concreten  Werth 
zurückgegriifen  werden  (u.  §.  13S).  Kau  hat,  trotzdem  er  nur  Sachgüter  betrachtet, 
wo  der  Tausch  und  der  verkehrsmässigc  Erwerb  so  voran  stehen,  mit  Recht  doch  auch 
dem  Gebrauchswert  eine  eingehende  Betrachtung  gewidmet  (§.  58  ff.).  Die  Erweite- 
rung des  BegrilTs  der  wirtschaftlichen  Güter  auf  persönliche  Dienste  und  Verhältnisse 
macht  dies  noch  notwendiger.  Neumann  (z.  B.  Handb.  1,  3.  A.,  S.  139,  Note  23, 
S.  142)  wendet  sich  auch  gegen  die  Einteilung  des  Werths  in  Gebrauchs-  uud  Tausch- 
werth, wie  sie  bei  Kau,  Roscher,  Hermann  sich  findet,  sowie  gegen  die  Behandlung 
beider  als  coordinirte  Begriffe.  Aber  seiner  völligen  Verwerfung  jeder  bezüglichen 
Unterscheidung  vermag  ich  nicht  zu  folgen  und  finde  das,  was  Neumann  darüber  aus- 
fuhrt, auch  nicht  recht  verständlich. 

Der  Ge  brauche  werth  (Werth  im  engeren  Sinne  bei 
Rau)  lässt  sich  definiren  als  der  Werth  eines  Guts,  betrachtet 
ftir  den  Zweck  der  Bedürfnisbefriedigung  mit  ihm,  dem  Gute, 
wegen  der  specifischen  Nützlichkeit  des  Gutes  und  wegen  des 
Bedarfs,  welcher  auf  Güter  dieser  Art,  daher  aus  Gründen  der  all- 
gemein menschlichen  wie  eventuell  der  individuell  persönlichen 
Bedürftigkeit  uud  Lage  und  der  daraus  hervorgehenden  Bedürf- 
nis-Empfindung  gerichtet  ist.  Er  ist  so  die  Grundlage  jeder 
Schätzung. 

Modification  meiner  Definition  in  §.  35  d.  1.  Aufl.,  wozu  ich  mit  durch  Held, 
Grundr.  S.  41  bewogen  wurde.  „Wenn  man  den  Gebrauchswerth  einmal  erkannt  hat,  so 
bleibt  er  sich  so  lange  gleich,  als  nicht  in  den  Absichten  (und.  füge  ich  hinzu,  in  den  auf 
diese  Absichten  bestimmend  einwirkenden  Verhältnissen)  des  Menschen  oder  in  der  aner- 
kannten Brauchbarkeit  eines  Mittels  für  dieselben  ein  Wechsel  eintritt.“  (Rau,  §.  58.) 

Der  individuelle  wie  der  sociale  Gebrauchs  werth  ist  zu 
unterscheiden: 

1)  nach  dem  subjectiven  Zwecke  des  Besitzers  (Begehrers) 
und  nach  der  objectiven  Brauchbarkeit  des  Gutes:  als  Ge- 
nusswerth für  die  directe  Bedürfnissbefriedigung  mit  dem  Gute 
selbst  und  Productionswerth  (mitunter  Erwerbswerth  ge- 
nannt, so  bei  Rau,  was  aber  sprachlich  den  Tauschwerth  mit 
umfassen  würde)  für  die  Herstellung,  bez.  Gewinnung  neuer  Güter 
mit  dem  Gute.  Die  Güter  lassen  sich  mit  Rücksicht,  hierauf  in 
Genussmittel  und  Produetionsmittel  (Erwerbsmittel) 
unterscheiden. 

Ob  ein  Gut  zur  einen  oder  anderen  Classe  gehört,  hängt  allerdings  bei  manchen 
Gütern,  welche  ihrer  Beschaffenheit  nach  beide  Verwendungen  gestatten,  vom  Willen 
des  Menschen  (Besitzers)  ab.  Aber  vorherrschend  maassgebend  ist  doch  die  Be- 
schaffenheit der  Güter  selbst,  wonach  viele  Guter,  wenigstens  rein  ökonomisch  be- 
trachtet, nur  Genussmittel  (z.  B.  Nahrungsmittel,  Luxusartikel), — was  natürlich  nicht 
hindert,  dass  sie  ein  Theil  des  Kapitals  als  Productionsmittelfonds  sind,  indem  sie  von 
deu  Producenten  während  der  Production  und  um  zu  dieser  fähig  zu  werden,  ver- 


332 


2.  B.  Grundbegriffe.  2.  K.  Werth.  §.  137,  138. 


zehrt  werden  (s.  o.  §.  129)  — vielo  nur  Productionsmittcl  (z.  B.  Werkzeuge,  Ma- 
schinen. viele  Rohstoffe,  Hilfsstoffe)  sind.  Insofern  verhält  es  sich  ähnlich  mit  dieser 
Unterscheidung  wie  mit  derjenigen  zwischen  Gebrauchsvermögen  und  Kapital  (§.  130). 
Von  Wichtigkeit  ist  dieselbe  auch  bei  der  Beurtheilung  der  natürlichen  Aus- 
stattung der  Länder  mit  sogen,  freiwilligen  Naturgaben. 

a)  Die  Höhe  des  Genusswerthes  ist  zwar  vom  subjectiven 
Urtheil  des  einzelnen  Menschen,  bisweilen  selbst  von  der  Laune 
und  dem  Spiele  der  Einbildungskraft  mit  abhängig,  aber  in  der 
Hauptsache  beruht  sie  doch  auf  festen  Zwecken  der  Menschen 
und  gewissen  Eigenschaften  der  Güter  und  ist  deshalb  auch  der 
wissenschaftlichen  Betrachtung  zugänglich. 

Nach  Kau,  §.  58,  der  hier  ein  Wort  von  Shakespeare,  Troil.  u.  Cress.  II,  1, 
citirtc:  Value  dwells  not  in  particular  will  — It  holds  its  estimate  and  dignity  — 
As  well  wherin  ’tis  precious  of  itself,  — As  in  the  pricer.  Kau  fügt  hier.  §.  58, 
Abs.  2.  hinzu;  „Die  Grösse  des  Gebrauchswerths  eiuer  Sache  kann  aus  der  durch  den 
Mangel  derselben  verursachten  Beschwerde  (der  Entbehrung)  erkannt  werden“,  was 
an  v.  Mangoldt’s  Begriffsbestimmung  vom  Werth  in  der  Volkswirtschaftslehre,  die 
auch  v.  Böhm-Bawerk  anerkennt,  und  — insofern  an  den  leitenden  Gesichtspunct 
der  Grenznutzeutheoric  anklingt,  der  demnach  wieder  nicht  so  „neu“  wäre.  Die  Rang- 
ordnung der  menschlichen  Bedürfnisse,  denen  ein  Genussmittel  dienen  kann,  und  der 
Grad  der  Brauchbarkeit  eines  solchen  für  die  Befriedigung  eines  bestimmten  Bedürf- 
nisses entscheidet  spcciell  auch  über  die  Höhe  des  Genusswerths. 

b)  Die  Höhe  des  Product ionswerthes  richtet  sich  „nach 
der  Stärke  des  Beistandes,  welchen  die  Productionsmittel  zur  Her- 
stellung neuer  Güter  leisten,  daher  nach  der  mit  ihrer  Hilfe  ent- 
stehenden Werthmenge,  nach  Abzug  des  etwa  nöthigen  Kosten- 
aufwandes.“ 

Da  hierbei  die  objective  Brauchbarkeit  der  Güter  und  der  Stand  der  Technik 
entscheiden,  so  lassen  sich  durch  „fortgesetzte  Beobachtungen  in  der  Gütererzeuguug 
viele  Erfahrungssätze  zur  Bemessung  der  Höhe  des  Productionswerths  gewinnen,  be- 
sonders in  der  Sachgüterproduction , im  Gebiete  der  Landwirtschaft  und  der  Stoff- 
veredlung  (Industrie)“.  Nach  Kau,  §.  58.  — Z.  B.  Nährkraft  eines  Centners  Heu  für 
Melkthiere  oder  Mastvieh  — Düngkraft  eines  Centners  Mist  — Ertragsfähigkeit  eines 
Morgen  Acker  oder  Wald  bei  einer  gewissen  Bodenart  und  andren  gegebenen  Um- 
ständen — , Leistungen  einer  Dreschmaschine  — , Heizkraft  der  verschiedenen  Brenn- 
stoffe u.  s.  w.  (Kau.)  Der  Werth  in  diesem  Sinne  wäre  der  objective  v.  Böhrn- 
Bawerk’s  und  auch  eine  der  von  ihm  als  annehmbar  erkannten  Arten  des  Werths 
im  objectivcn  Sinn  bei  Neu  mann,  als  welche  er  noch  besonders,  in  nicht  recht  an- 
muthender  Behandlungsweise,  den  gemeinen  Werth  (gemeinen  Vermögens werth),  den 
Tausch-  oder  Kaufwerth  im  objectiven  Siune  und  den  Werth  als  Ertragswerth  desgl. 
unterscheiden  will  (Handb.  S.  152,  158,  3.  Aufl.). 

2)  Nach  der  Art  und  der  Zeitdauer  des  Gebrauchs  eines 
Gutes  ist  dessen  Gebrauchswerth  Verzehrungs  - (Verbrauchungs-) 
werth  bei  Verbrauchsvermögen,  B enutzun gs werth  bei  Nutz- 
vermögen (§.  128). 

3)  Nach  dem  inneren  Grunde  des  Gebrauchswerths  kann 
bei  Sachgütern  Stoff-,  Form-  und  Orts  werth  unterschieden 
werden. 

Nach  Knies,  Tüb.  Zcitschr.  1855.  Letztere  beiden  Arten  sind  namentlich 
wichtig  zur  Beurtheilung  der  Leistungen  der  Industrie  und  des  Handels. 


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Concreter  und  abstracter  Werth. 


333 


C.  — §.  138  [37].  Der  Gebrauchswerth  als  Mengen- 
oder Gattungs werth  oder  als  concreter  und  abstracter 
Werth:  eine  Unterscheidung,  welche  uicht  die  Bedeutung  einer 
„Eintheilung“,  sondern  zweier  von  einem  verschiedenen  Stand- 
puncte  der  Betrachtung  aus  sich  ergebenden  Auflassungen  hat. 

Nach  Rau ’s  Terminologie,  s.  bei  ihm  I,  §.  62,  62  a.  Sich  anschliessend,  aber 
nicht  ganz  ebenso  Koscher  §.  6.  Auch  dieser  Unterscheidung  ist  neuerdings  die 
Bedeutung  und  selbst  die  Richtigkeit  und  Zulässigkeit  abgesprochen  worden,  so  von 
N e um  an  n in  s.  kritisch  so  werthvollen  Untersuchungen  in  der  Tub.  Zeitschr.  B.  2S,  28S  ü'., 
und  wiederholt.  Er  will  den  Werth  nur  unterscheiden  in  subjectiven  und  o bj ectiven 
und  hält  an  der  Abweisung  des  concreten  und  abstracten  Werths  auch  in  seinen 
neuesten  Arbeiten  fest  Wie  schon  bemerkt,  scheint  mir  jedoch,  dass  sein  subjectiver 
Werth  im  Wesentlichen  Kau ’s  concreter  Werth  und  sein  objectiver  Werth  ebenso  in 
der  Hauptsache  Rau’s  abstracter  Werth  und  der  gewöhnlich  sogen.  Tanschwerth  ist, 
ohne  dass  aus  der  neuen  Nomenclatur  und  Werthcintheilung  ein  besondrer  Gewinn 
resultirt  Ich  halte  im  Ganzen  an  Kau’s  Lehre  auch  in  dieser  3.  Auflage  hier  fest  Auch  sonst 
wird  in  der  neueren  Werththeorie,  auch  in  der  Grenznutzentheorie,  die  hier  besprochene 
Unterscheidung  dem  Wortlaut  nach  meist  fallen  gelassen,  um  aber  m.  E.  im  Grunde 
unter  anderen  Namen  und  in  den  Ausführungen  sachlich,  wenn  nicht  genau  ebenso, 
so  doch  ähnlich  hervorzutreten.  Ich  sehe  nach  wiederholter  Prüfung  und  auch  nach 
dem  Studium  der  reichen  und  im  Einzelnen  manches  Gute  fördernden  neueren 
und  neuesten  Werthlitteratur  keinen  Grund,  die  alte,  m.  E.  auch  ganz  passende, 
jedenfalls  durch  keine  passendere  bisher  ersetzte  Terminologie  aufzugeben.  Ebenso 
habe  ich  in  der  sachlichen  und  formellen  Behandlung  bis  auf  einen  Punct  (bei  dem 
„Deckungsverhültniss“)  gegen  früher  nichts  Wesentliches  zu  ändern  für  nothwendig 
gefunden.  In  den  früheren  Sätzen  (2.  Aull.,  S.  5H  über  die  Abhängigkeit  der  Höhe 
des  concreten  Werths  und  Uber  dessen  Grenzen  war  auch  das,  was  ich  jetzt  etwas 
anders  fasse,  und  insofern  auch  ein  Gedanke  der  Grenznutzentheorie,  implicite  ent- 
halten. 

1.  Die  ursprüngliche  und  natürlichste  Werthschätzung  ist  die 
individuelle,  d.  h.  die  besitzende,  bez.  behalten  wollende 
oder  die  bedürfende,  bez.  begehrende,  erlangen  wollende 
Person  beurtheilt  die  Bedeutung  eines  bestimmten  Gutes  in 
bestimmter  Menge  in  einem  einzelnen  Zeitpuncte  für 
ihre  bestimmten  Bedürfnisse.  Der  hiernach  sich  ergebende 
Gebrauchswerth  dieses  Gutes  ist  sein  concreter  oder  sein  Mengen- 
werth. Er  regt  den  Willen  an  beim  Besitzer,  das  Gut  zu  be- 
halten, beim  Begehrer,  es  zu  erwerben,  und  bestimmt  die  Be- 
dingungen, daher  auch  die  Hübe  des  Entgelts  mit,  gegen 
welches  ein  Gut  fortgegeben,  bez.  erworben  werden  kann  und 
eventuell  wird.  Er  ist  daher  von  unmittelbar  practischer  Bedeutung 
für  den  Verkehr,  demnach  für  den  Tauschwerth  und  Preis. 

Seine  Höhe  ist  abhängig  einmal  vom  Bedarf,  daher  von 
der  jeweiligen  persönlichen  Lage  des  Schätzenden,  der 
davon  bedingten  Art,  Umfang,  Stärke,  Dringlichkeit  des 
zu  befriedigenden  Bedürfnisses  sowie  von  der  Brauchbarkeit 
des  Gutes  zu  der  betreffenden  Bedürfnissbefriedigung,  sodann 


334 


2.  B.  Grundbegriffe.  3.  K.  Werth.  §.  138,  131K 


von  dem  „Deckungsverhältuiss“  zwischen  dem  Bedarf  und 
dem  Vorrath,  daher  in  Bezug  auf  besessenen  Vorrath  des  Schätzenden 
von  der  Grösse  und  den  Bedingungen  der  Ergänzung,  Wiederbe- 
schaffung des  erforderlichen  Vorraths,  in  Bezug  auf  überhaupt  erst 
zu  erlangenden  Vorrath  von  solchen  Bedingungen  für  die  noth- 
wendige  Vorrathsbesehaffuug  nach  Quantum  und  Quäle  allein.  Diese 
Bedingungen  laufen  auf  die  Opfer  und  M tt  h e n für  diese 
Beschaffung  hinaus,  die  ganz  passend  sogenannten  „Sch wie rig- 
keiten  der  Erlangung“  (wie  festzuhalten  ist).  Diese  Schwierig- 
keiten der  Erlangung  hängen  bei  den  nicht  regelmässig  wieder- 
herstellbaren (irreproduciblen)  Gütern  von  dem  Maasse  der  Selten- 
heit dieser  Güter  — an  sich  oder  nach  den  für  sie  einmal 
vorhandenen  Besitz-  und  Angebotsverhältnissen  — endgiltig  ab. 
Bei  den  viel  wichtigeren  regelmässig  herstellbaren  (reproduciblen), 
der  Masse  aller  Güter,  sind  die  Schwierigkeiten  der  Erlangung  auf 
die  Kosten  der  Herstellung  und  Herbeiführung  (Productions- 
k osten)  zurückzuführen  und  diese  auch  hier  (wie  beim  Tausch- 
werth) auf  der  Seite  des  Vorraths  für  den  concreten  Fall  ent- 
scheidend. Die  Grenzen  der  Höhe  des  concreten  Werthes  sind, 
soweit  der  Bedarf  entscheidet,  für  eine  schätzende  Person  nahezu 
„Null“  und  „Unendlich“. 

Durchaus  abhängig  von  individuellen  Umständen  ist  der  concrete 
Werth  nothwendig  bei  demselben  Gute  für  verschiedene 
Personen  verschieden,  weil  eben  verschiedene  Personen  schätzen 
und  die  individuellen  Umstände  für  diese  ohnehin  in  irgend  Etwas 
immer  abweichen  werden.  Hierauf  beruht,  psychologisch  betrachtet, 
die  Möglichkeit  und  im  Verkehr  der  Antrieb  zum  Tausche 
(immer  eigener  Gebrauch  des  Gutes  als  Zweck  voraus- 
gesetzt). Güter  verschiedenen  concreten  Gebrauchswcrthes  für 
die  Tauschenden  erlangen  dabei  denselben  Tauschwerth.  Man 
strebt  regelmässig  nach  Erwerb  und  Besitz  von  Gütern  solchen 
concreten  Werthes  und  giebt  demnach  im  Verkehr  Güter  fehlenden 
oder  geringeren  gegen  solche  höheren  concreten  Werthes  hin. 

Das  Ziel  ist  also  immer,  mit  Rau  zu  sprechen,  „in  den  zum  eigenen  Gebrauche 
bestimmten  Gutem  die  grösste  Menge  von  concretem  Werthe  zu  besitzen.  Ver- 
äusserungen  der  überflüssigen  Vorräthe  und  Erwerbungen  der  noch  fehlenden  Güter 
(Sachgüter  Rau)  dienen,  den  Besitz  so  umzuändern,  dass  er  jenem  Ziele  am  Besten 
entspricht,  d.  i.  sämmtliche  Bedürfnisse  am  Vollständigsten  befriedigt“  (Rau  I,  §.  62a). 
„Der  Einfluss  des  Bedarfs  und  Besitzes  auf  die  Schätzung  des  Gebrauchswerths  ist 
vorzüglich  bei  den  Genussmitteln  ganz  entscheidend.  Lässt  sich  auch  von  man- 
chen Gütern,  die  zum  Vergnügen  dienen  (Luxusgegenstände),  nicht  genau  angeben, 
wie  viel  man  braucht,  so  giebt  es  doch  ein  Maass  derselben,  dessen  Uebcrschreitung 
als  Ueberfluss  empfunden  wird,  und  auch  innerhalb  dieses  Maasses  pflegt  der  con- 


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Concreter  und  abstracter  Werth. 


335 


crete  Werth  eines  einzelnen  Stücks  oder  Quantums  desto  kleiner  zu  werden,  je  höher 
der  ganze  Vorrath  eines  Eigenthümers  steigt.“  Ist  das  nicht  im  Grunde  — der 
Kern  der  ganzen  Grenznutzentheorie,  nur  in  einfacheren  Worten?  „Der  Grenznutzen 
steigt  mit  dem  Bedarf  und  sinkt  mit  dem  Vorrathe“  (Wieser  .Handwörterb.  d.  Staats- 
wiss..  Art.  Grenznutzen.  IV.  107).  „Der  concrete  Werth  (und  danach  Tauschwerth 
und  Preis),  Gleichbleiben  der  Bedingungen  der  Schwierigkeiten  der  Erlangung,  der 
Beschaffung  oder  Wiedcrergäuzung  der  Vorräthe  vorausgesetzt,  steigt  mit  dem  Bedarf 
und  sinkt  mit  dem  Vorrath“,  kann  man  ebensogut  sagen.  Ueber  den  concreten  Werth 
der  Productionsmittel  s.  Kau  §.  62a  u.  2.  AuÜ.  dieses  Werkes  S.  52. 

Ich  beschränke  mich  auch  hier  auf  die  kurze  Einstellung  der  Sätze  im  Text 
über  die  Werthgestaltung.  Sätze,  welche  dann  freilich  hier  mehr  nur  erst  als  Thesen 
erscheinen,  welche  durch  weitere  Ausführungen  noch  des  Beweises  bedürfen.  Nach 
der  hier  festgehaltenen  Auffassung  ist  auch  das  Kostengesetz  für  die  Gestaltung 
des  concreten  Werths,  nicht  bloss  des  Tauschwerths  mit  entscheidend.  Von  den 
Kosten  der  Wiederergänzung  von  Vorrath  oder  der  ersten  Beschaffung  von  solchem 
hängt  es  mit  ab,  wie  sich  die  Motive  zur  Fortgabe  von  Vorrath  und  zur  Beschaffung 
davon  gestalten  werden.  Diese  psychologischen  Momente  wirken  eben  zuerst 
auf  die  Schätzung  und  daher  auf  die  Höhe  des  concreten  Werths,  erst  von  da  aus  als- 
dann auf  diejenigen  des  Tausch werths  (§.  142). 

§.  139  [38  — 40].  2.  Zum  Gattungs-  oder  abstracten 

Werthe  gelangt  man  durch  eiu  blosses,  den  Willen,  ein  Gut  zu 
behalten  oder  zu  erwerben  nicht  nothwendig  anregendes  ürtheil 
des  Verstandes  des  Schätzenden,  hinsichtlich  der  Bedeutung  der 
Güter  für  die  Bedürfnissbefriedigung  des  Menschen  überhaupt 
(eines  Volkes,  grösserer  Kreise,  nach  Durchschnittspersönlichkeiten 
geschätzt).  Der  Gattungswerth  ist  daher  der  Gebrauchswerth  der 
Güterarten  für  menschliche  Bedürtnissbefriedigung  im  Allge- 
meinen nach  der  Erfahrung  und  nach  Maassgabe  der  im  Ganzen 
in  einem  Bevölkerungskreise  bestehenden  Bedürfnisse,  Befriedigungs- 
arten und  Befriedigungssitten  geschätzt. 

Seine  Höhe  hängt  ab  von  der  natürlichen  und  historisch-socialen  Rangordnung 
der  Bedürfnisse  (z.  B.  wichtige  Nahrungsmittel  stehen  vor  Luxusartikeln)  und  von 
dem  Grade  der  Brauchbarkeit  einer  Gutsart  zur  Befriedigung  eines  Bedürfnisses  (z.  B. 
Nährwerth  verschiedener  Nahrungsmittel).  Auch  hier  kommen  die  oben  bei  der  psy- 
chologischen Analyse  der  bei  der  Werthschätzung  mitspielendeu  Momente  (§.  136,  S.  329) 
daher  in  Betracht.  Wegen  des  ersten  Umstandes  ist  auch  der  Gattungswerth  der 
Güter  nicht  in  der  ganzen  Menschheit  der  gleiche,  sondern  er  wird  durch  alle 
Momente  verschieden,  welche  dio  Rangordnung  der  Bedürfnisse  eines  Volks  oder 
grösserer  Kreise  verschieden  gestalten,  wie  namentlich  Klima  und  Landesart.  Sitten, 
Culturzustand.  Selbst  bei  Nahrungsmitteln  ersten  Rangs,  wie  z.  B.  bei  Weizen  und 
Koggen,  kann  sich  das  zeigen.  Letzterer  hat  z.  B.  in  Deutschland  verglichen  mit  dem 
Roggen  einen  nicht  in  demselben  Maasse  höheren  Gattungswerth  als  in  England. 

Zwischen  dem  Gattungswertho  einer  Güterart  und  dem  concreten  Werthe  einer 
Quantität  dieser  Güterart  besteht  kein  solches  Verhältnis,  das  eine  genaue  Ver- 
gleichung ihrer  Höhe  für  dieselbe  Person  gestattete.  Man  kann  daher  nicht  wohl 
mit  Rau  sagen:  „bis  zur  Grenze  des  Bedarfs  ist  der  concrete  dem  Gattungswerthe 
gleich,  über  jenen  hinaus  ist  er  schwächer  oder  verschwindet  völlig“  (§.  62,  8.  Aufl ). 
Dagegen  kann  man  wohl  für  ein  ganzes  Volk  den  concreten  Werth  des  nationalen 
Vermögens  „nach  dem  Gattungswerthe  der  zu  letzterem  gehörigen  Güter  anschlagen, 
indem  man  annimmt,  dass  ihr  concreter  Werth  schon  bei  den  jetzigen  Besitzern  oder 
nach  beendigter  Verthcilung  dem  ersteren  gleichkommt.  Solche  Güter  aber,  die  für 
das  ganze  Volk  zur  Zeit  überflüssig  sind,  haben  für  dasselbe  keinen  concreten  Werth, 
es  kommt  ihnen  für  jetzt  nur  ein  Verkehrswerth  zu,  wenn  sic  zur  Ausfuhr  als  Mittel 
zur  Bezahlung  anderer  ins  Land  einzufuhrenden  Güter  gelangen  können“  (Kau  §.  62a). 


336 


2.  B.  Grundbegriffe.  3.  K.  Werth.  §.  139.  140. 


In  einein  ganzen  durch  Arbeitstheilung  verbundenen  Volke  ist,  vom  auswärtigen 
Verkehr  abgesehen,  das  Streben  auf  möglichst  viel  Guter  von  hohem  Gattungswerthe 
zu  richten.  Wie  weit  dies  verwirklicht  wird,  hängt  wesentlich  mit  von  der  Verthci- 
lnng  des  Volkseinkommens  ab,  welche  dann  wieder  die  Richtung  der  nationalen  Pro- 
duction bestimmt:  gleichmässigerc  Vertheilung  bedingt  mehr,  ungleichmässige  bedingt 
weniger  Güter  allgemeinen  hohen  Gattungswerths. 

Je  mehr  die  Ei  gen  ge  w in  n ung  der  Güter  vorherrscht,  daher 
regelmässig  in  primitiveren  Verhältnissen  des  Volkslebens,  bei  sog. 
Naturalwirtschaft,  desto  mehr  überwiegt  die  Gebraucbsweith- 
sehätzung  die  Verkehrswerthschätzung,  die  individuelle  die  sociale 
Gebrauehswerthscbätzung  und  die  Schätzung  nach  dem  concreten 
Gebrauchswerth  diejenige  nach  dem  abstracten.  Für  sehr  wichtige 
wirtschaftliche  Güter,  wie  namentlich  für  den  Staat  und  die  öffent- 
lichen Einrichtungen,  ist  natürlich  nur  eine  Gebrauchswertbschätzung, 
keine  Tausehwerthscbätzung  anwendbar. 

Auch  dies  beweist,  neben  vielem  Anderen,  dass  die  einseitige  Berücksichtigung 
des  Tausch-  oder  Verkehrswerths  in  der  Wirtbschaftslchre  (und  auch  in  der  Volks- 
wirthschaftslehrc)  oder  gar  die  beinahe  völlige  Verbannung  der  Betrachtungen  über 
den  Gebrauchswerth  aus  ihr  falsch  ist. 

II.  — §.  140  [41  — 43j.  Der  Tauschwertb  oder  Ver- 
kehrswerth. Je  mehr  die  Eigengewinnung  der  Güter  für  den 
persönlichen  Bedarf  der  verkehrsmässigen  Gewinnung  weicht,  desto 
mehr  tritt  der  sociale  Gebrauchs werth  der  Güter  hervor: 
es  wird  vom  Einzelnen  absichtlich  und  planmässig  für  den  Bedarf 
anderer  Mitglieder  der  Gesellschaft  gearbeitet  und  es  werden  daher 
solche  Güter  bergestellt,  die  diesem  gesellschaftlichen  Bedarf  ent- 
sprechen, d.  h.  eben  „socialen  Gebrauchswerth“  erlangen.  Die 
Entwicklung  dieses  Hervortretens  des  socialen  Gebrauchswerths 
ist  die  Begleiterscheinung  der  oben  (§.  117,  118)  skizzirten  Ent- 
wicklung von  Tausch,  Arbeitsgliederung  und  Verkehr,  geschicht- 
lich daher  von  denselben  Bedingungen  abhängig.  Je  freier  von 
Individuum  zu  Individuum  sich  der  Verkehr  gestaltet,  desto  mehr 
wird  die  regelmässige  geschichtliche  Rechtsform,  in  welcher  der 
sociale  Gebrauchswerth  der  Güter  erscheint  und  die  arbeitstheilig 
gewonnenen  Güter  den  einzelnen  Bedürftigen  und  ihrerseits  andere 
Güter  herstellenden  Personen  zugeführt  werden,  der  freie  Ver- 
tragsschluss über  die  gegenseitige  Ueberlassung  der  Güter. 
Namentlich  geschieht  letztere  mittelst  des  Tausch  Vertrags  oder, 
nach  der  Einbürgerung  des  Geldes,  des  Kaufvertrags,  eventuell 
auch  eines  C red it Vertrags  (§.  143).  Die  Voraussetzung  ist  hier 
also  eine  solche  wirtschaftliche  Rechtsordnung,  welche 
die  Einzelnen  getrennt  für  sich  Güter  herstcllen  lässt,  indem  sie 


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Tausch  werth  oder  Verkehrswerth. 


337 


ihnen  das  (Privat-)  Eigenthum  an  den  dazu  erforderlichen  sach- 
lichen Productionsmitteln  (Boden,  Kapital)  einräumt;  welche  ihnen 
dann  das  Eigenthum  an  deu  gewonnenen  Gütern  gewährt  und  sie 
rechtsgiltig  jene  Verträge  über  die  Ueberlassung  der  Güter  unter 
den  ihnen  genehmen  Bedingungen  des  Entgelts  scliliessen  lässt. 
Diese  wirtschaftliche  Rechtsordnung  wird  später  unter  dem  Namen 
des  privatwirthsehaftlichen  Systems  der  freien  Concurrenz  näher 
untersucht  werden  (Buch  5). 

Der  Werth,  welcher  einem  Gute  von  socialem  Gebrauchs werth 
wegen  dieser  allgemeinen  Möglichkeit,  Gegenstand  eines  solchen 
Vertrags,  insbesondere  des  Tauschvertrags,  zu  sein,  heigelegt  wird, 
ist  sein  Tauschwerth. 

Hau  I,  §.  56,  57,  60.  — Hermann  S.  106:  Tausch  werth:  die  Möglichkeit, 
gegen  Ueberlassung  eines  Gutes  von  anderen  Persouen  Vergeltung  zu  erlangen.  — 
Der  Tauschwerth  kann  auch  als  Verkehrswerth  bezeichnet  werden,  wenn  jene  Mög- 
lichkeit des  Austauschs  der  Güter  im  Verkehr  als  Kegel  betont  werden  soll.  Der 
Ausdruck  „Vcrkchrswerth“  erscheint  daher  besonders  passend  bei  denjenigen  Gütern, 
welche  vorherrschend  zum  Absatz  im  Verkehr,  statt  bloss  zur  eigenen  unmittelbaren 
Bedürfnissbefricdigung  erzeugt  werden.  Im  Ucbrigen  ist  die  Unterscheidung  zwischen 
beiden  Ausdrücken  nicht  von  wesentlicher  Bedeutung  und  wird  von  Hau,  welcher 
sic  etwas  anders  fasst,  wohl  überschätzt.  Rau  §.  60:  Verkehrswerth,  der  Grad  von 
Tauglichkeit  einer  Sache,  ihrem  Besitzer  zum  Erwerbe  andrer  Güter  im  Verkehr  be- 
hülflich  zu  sein.  Er  soll  ausschliesslich  dann  Tauschwerth  heissen,  „wenn  das  zu 
schätzende  Gut  selbst  als  Verkehrsgegenstand  dient,  wo  sich  sein  Verkehrswerth  aus 
dem  dafür  zu  erwartenden  Preise  nach  Abzug  der  etwa  nöthigen  Fracht-  und  Yer- 
kaufskosten  ergiebt“.  Von  diesem  Tauschwerth  unterscheidet  Hau  eine  zweite  Art 
des  Verkehrs werths,  wenn  ein  Gut  dazu  benutzt  wird,  um  andre  verkäufliche  Sach- 
güter oder  persönliche  Leistungen  zu  Stande  zu  bringen.  — Andere  Terminologie 
und  Begriffsbestimmungen  bei  seiner  Verwerfung  der  Unterscheidung  von  Gebrauchs- 
und Tauschwerth  bei  Neu  mann  a.  a.  0.  (z.  B.  Schönberg ’s  Handb.  I,  3.  A.,  S.  130  ff., 
151  ff.,  158  ff),  aber  m.  E.  keine  Verbesserung  der  üblichen  Behandlungsweise  dieser 
Pallete,  namentlich  auch  keine  vermehrte  Klärung  der  hier  vorliegenden  Probleme, 
eher  das  Gegentheil. 

Der  Tausch  werth  lässt  sich  auch  als  mittelbarer  („auf- 
geschobener“)  Gebrauchswerth  auf  fassen.  Ein  Gut  hat  nach 
seinem  Tauschwerth  für  alle  diejenigen  Verwendungen  Gebrauchs- 
werth, für  welche  die  Güter  sich  eignen’,  gegen  welche  es  sich 
austauschen  lässt. 

Der  Tauschwerth  eines  Gutes  hat  ausser  den  schon  genannten 
zwei  Voraussetzungen,  dass  das  Gut  nemlich  anerkannten  socialen 
Gebrauchswerth  habe,  d.  h.  Mehreren,  Vielen  in  einer  Verkehrs- 
gesellschaft wegen  seiner  Nützlichkeit  begehrenswerth  erscheine 
und  dass  es  rechtlich  zulässig  sei,  das  Gut  ausschliesslich  zu  be- 
sitzen und  es  an  Andere  entgeltlich  zu  übertragen,  oder  m.  a.  W. 
ein  Verkehrsgut  (§.  122)  zu  sein,  die  weitere  Voraussetzung 
der  Erlangbarkcit  des  Gutes  im  concreten  Falle  nur  durch  Auf- 

A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Tbeil.  Grundlagen,  22 


338 


2.  B.  Grundbegriffe.  3.  K.  Werth.  §.  140,  141 


Opferung  (Arbeit).  Hieraus  folgt,  dass  in  der  Regel  nur  die  wirih- 
8chaftliclien  und  von  diesen  wiederum  nur  die  Verkebrsgliter  Tauseh- 
werth oder  Verkehrs werth  haben. 

Freie  Besitzgütcr  (§.  113)  erlangen  also  gleichfalls  nur  unter  diesen  Voraus- 
setzungen Tauschwerth,  daher  z.  B.  namentlich,  insofern  sie  auch  iin  einzelnen  Falle 
der  Bedurfuissbcfriedigung  occupatorische  Arbeit  kosten  (Wasser  holen,  Früchte 
sammeln,  Thicre  jagen,  Fische  fangen  u.  s.  w.)  und  allgemein,  wenn  der  Bedarf 
den  Vorrath  übersteigt,  aber  auch  wenn  durch  Anerkennung  des  Eigenthums  (an  Grund- 
stücken u.  dergl.)  die  freie  Versorgung,  wenigstens  an  Ort  und  Stelle,  für  Dritte 
ausgeschlossen  ist.  Wenn  der  Bedarf  den  Vorrath  übersteigt,  d.  h.  m.  a.  W.,  wenn 
das  Gut  relativ  selten  ist,  relativer  Mangel  daran  besteht,  und  es  deswegen 
„schwierig  zu  erlangen“  ist.  Diese  alte  Formulirung  der  Bedingungen  des 
Werth-  auch  Tauschwerth- Habens  eines  Guts  ist  von  den  neueren  Grenznutzentbeore- 
tikern  bemängelt  und  durch  eine  andere  zu  ersetzen  gesucht.  Aber  die  betreffenden 
Ausfuhrungen  laufen  doch  in  anderen  Worten  auf  dasselbe  hinaus  und  diese  anderen 
Worte  sind  nicht  eben  besser,  noch  weniger  klarer  als  die  alten  (vgl.  z.  B.  v.  Böhm- 
Bawerk,  Kapital  II,  140  ff,  143). 

Bei  Sachgütern  kann  man  von  specifischem  Tausch- 
werth sprechen,  indem  man  den  Tausehwerth  mit  dem  Volumen 
und  Gewicht  eines  Gutes  in  Beziehung  bringt. 

Güter  von  kleinem  Volumen  oder  Gewicht  und  h oh  c m Tausch  werth  besitzen 
hohen  specifischen  Tauschwerth,  im  umgekehrten  Falle  niedrigen.  Von  der  Höhe  des 
specifischen  Tauschwerths  eines  Sachguts  hängt  unter  übrigens  gleichen  Umständen 
seine  Transporfirbarkcit,  also  seine  Fähigkeit  der  Bewegung  im  Raume,  theil- 
weise  auch  seine  Aufbewahrbarkei  t (und  Verbcrgbarkcit)  ab.  Mit  entschei- 
dend ist  die  Höhe  des  specifischen  Tauschwerths  auch  für  die  Auswahl  des  Geld- 
stoffs unter  den  an  und  für  sich  zum  Gcldstoff  geeigneten  Gütern.  Die  edlen  Metalle 
haben  in  dieser  Hinsicht  vor  den  unedlen,  Gold  vor  Silber  Vorzüge. 

Eine  andere  historische  Reehtsform  des  socialen  Gebrauchs- 
wertes als  der  besprochene  (Vertiags-)Tauschwerth  ist  der  schon 
oben  in  §.  137  erwähnte  Tax  werth : der  nach  einem  als  maass- 
gebend anerkannten  Urtheil,  von  Autoritäten,  fest- 
gestellte Tauschwert. 

III.  — §.  141  [44,  45].  Der  Preis.  A.  Begriff. 

Zum  Theil  wörtlich  nach  Rau  I,  §.  56,  Hermann  S.  106:  Preis  eines  Guts 
ist  die  Menge  der  gegen  Ccberlassung  dieses  Guts  von  anderen  Personen  zur  Ver- 
geltung empfangenen  Güter.  Vergl.  auch  Roscher  I,  §.  100.  Neu  mann, 
a.  a.  O.  in  den  verschiedenen  Arbeiten.  Im  Schönberg’schen  1 landbuche  (I,  3.  A., 
S.  150)  will  er  dreierlei,  was  mit  „Preis“  bezeichnet  werde,  unterscheiden:  I)  den 
Umstand,  dass  für  einen  Gegenstand  nach  ein-  oder  zweiseitiger  Normirung  andere 
Dinge  eingetauscht  oder  einzutauschen  sind;  2)  den  Grad,  in  dem  dies  geschieht, 
daher  den  Grad  der  in  solcher  Normirung  hervortretenden  Tausch-  oder  Kauf- 
kraft ciues  Dings;  3)  dasjenige  selber,  was  nach  solcher  Normirung  für  ein  Ding 
eingetauscht  oder  einzutauschen  ist.  Ich  halte  auch  verschiedenen  Gegenbemerkungen 
Neu  mann  s gegenüber  meine,  bezw.  grade  hier  mehrfach  die  ältere,  besonders  von 
Rau  vertretene  Auffassung  und  Fassung  fest.  Auch  die  Grenznutzentheoretiker  unter- 
scheiden ähnlich  zwischen  Tauschwerth  und  Preis,  wie  die  früheren,  v.  ßölirn- 
Bawerk  z.  B.  sagt:  beide  Begriffe  seien  keineswegs  identisch,  der  Tauschwerth  sei 
die  Fähigkeit  eines  Guts,  im  Austausch  ein  Quantum  anderer  Güter  zu  erlangen, 
der  Preis  sei  dies  Güterquantum  selbst.  Beider  Gesetze  fielen  aber  zusammen  (Ka- 
pital II,  139). 


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Preis.  Begriff. 


339 


Der  Tausehwerth  verhält  sich  zum  Preise,  wie  die  blosse  Mög- 
lichkeit für  ein  Gut,  ausgetauscht  zu  werden,  zur  Wirklichkeit  des 
Ausgetauschtwerdens.  Der  Preis  eines  Gutes  ist  „die  Meuge  anderer 
Güter,  für  welche  es  wirklich  vertauscht  wird.“  Im  freien  Ver- 
kehr ist  wieder  die  Rechtsform,  in  welcher  Güter  socialen  Ge- 
brauchswerthes  Preis  erlangen,  die  des  Vertragsschlusses, 
der  in  einem  solchen  Vertrage  wirklich  realisirte  Tauschwerth  der 
Vertragspreis  (Concu rren zp reis  „freie“  Preis)  oder  der  ge- 
wöhnlich in  diesem  Sinne  gemeinte  Preis  schlechthin. 

Es  werden  hier  also  zwei  Güterquantitäten  — ein  Ausdruck,  welcher  nicht  auf 
Sachgüter  beschränkt  ist  — iui  Tausche  eiuander  insofern  glcichgesetzt,  als  die  eine 
den  Gegen  werth  (das  Aequ  ivalent)  der  andren  bildet“,  während  ihr  concreter 
Werth  für  die  Tauschenden  grade  verschieden  ist  (S.  334).  Die  Grösse  des  Preises 
wird  in  dem  bctrelfenden  Vertrage  nach  Zahl  und  Maass  derjenigen  andren  Güter 
genau  bezeichnet  oder  in  der  Menge  dieser  andren  Güter  ausgedrückt  oder  gemessen, 
welche  für  das  Gut  im  Tausch  hingegeben  worden.  Die  oben  (vor.  §.)  genannten 
Voraussetzungen  für  den  Tauschwerth  gelten  ebenso  für  den  Preis  und  erweisen  sich 
hier  natürlich  noch  unmittelbarer  von  entscheidender  Bedeutung. 

Das  regelmässig  zum  Tausche,  daher  namentlich  zum  Ueber- 
gang  in  den  Verkehr  bestimmte,  dafür  producirte  Gut  pflegt  Waare, 
das  Gut,  gegen  welches  es  regelmässig  ausgetauscht  wird,  pflegt 
Zahl  mittel  (Tau  sch  mittel)  genannt  zu  werden. 

An  und  für  sich  kann  ein  Gut  soviel  Preise  haben,  als  es 
Güter  giebt,  gegen  welche  es  ausgetauscht  wird.  Mit  anderen 
Worten:  jedes  Verkchrsgut  kann  als  Zahlmittcl  für  jedes  andere 
Verkehrsgilt  dienen.  Der  Geldpreis  ist  nur  eine  Preisform, 
die  üblichste  (§.  143). 

Wenn  daher  „Viele,  z.  B.  A.  Smith  und  zahlreiche  seiner  Nachfolger,  unter 
Preis  nur  denjenigen  Tauschwerth  verstehen,  welcher  in  Geld  gegeben  wird,  so  ist 
dies  eine  zu  enge  Begriii'sbcstimmung  des  Preises.  Denn  der  Kauf  gegen  Geld  ist 
nur  als  eine  Art  des  Tausches,  freilich  als  die  regelmässige  in  jedem  etwas  ent- 
wickelteren Verkehr  auzuschen.  Warum  sollte  man  bei  Völkern,  die  den  Gebrauch 
des  Geldes  noch  nicht  kennen,  die  aber  tauschen,  nicht  ebenso  gut  von  Preisen  der 
vertauschten  Dinge  sprechen?“  (.Rau  I,  §.  00). 

Der  Begriff  des  Preises  ist  also  so  allgemein  zu  fassen,  dass 
jedes  Tauschäquivalent,  es  sei  Geld  oder  etwas  Anderes,  unter  ihn 
gebracht  weiden  kann. 

Die  „allgemeine  Möglichkeit“  der  Austauschbarkeit  giebt  beim  Tausch-  oder 
Verkehrswerth  eines  Guts  noch  nichts  Näheres  über  die  Bedingungen  der  Aus- 
tauschbarkeit und  daher  namentlich  über  die  ungefähre  Höhe  des  Werths  in  dem 
Falle  kund,  dass  der  Tausch  verwirklicht  werden  soll.  Darüber  ist  etwas  Bestimmteres 
nur  zu  entnehmen  aus  den  wirklich  vorgekommeuen  oder  vorkommenden  Preisen, 
nach  welchen  die  Höhe  des  Verkehrs werths  sich  bemisst.  Hierbei  berechnet 
man  dann  Mittelpreise  für  einen  vergangenen  Zeitraum  oder  bildet  Vcrmuthungspreise 
für  die  weitere  naheliegende  Zukunft,  ln  der  Praxis  dient  zur  Ermittelung  des  Ver- 
kehrswerths die  zu  einer  ausgcbildetcn  Kunst  gewordene  Taxation  oder  Werth- 
abschätzung, für  welche  sich  auch  eine  theoretische  Grundlage  gewinnen  lässt. 


340 


2.  B.  Grundbegriffe.  3.  K.  Werth.  §.  141,  142. 


Nach  den  Objecten,  um  welche  cs  sich  hier  handelt,  ergeben  sich  dann 
verschiedene  Grundsätze  dieser  Taxation  (Schätzung  von  Ertragswerth , Vormögens- 
werth,  landwirtschaftliche  Taxationslehre  u.  s.  w.).  S.  Rau  I,  §.  60  und  mancherlei 
bezügliche  Erörterungen  über  hier  noch  weiter  zu  unterscheidende  Begriffe  in  Neu- 
mann ’s  genannten  Arbeiten. 

Auch  der  Vertragspreis  ist  ein  historisch-rechtlicher 
Begriff.  Sein  Correlat  ist  ein  anderer  historisch -rechtlicher  Begriff, 
der  schon  oben  (§.  137)  ebenfalls  erwähnte  Taxpreis:  der  durch 
eine  Autorität  (Obrigkeit)  festgestellte  Preis. 

Er  hat  geschichtlich  im  polizeilichen,  gewerblichen  Taxwesen  eine  wichtige 
Rolle  gespielt,  meistens  aber  doch  eine  Ausnahme  neben  dem  vorherrschenden  reinen 
Vertragspreis  gebildet.  In  Resten  ragt  er  auch  noch  in  Perioden  sonst  wesentlich 
freien  Verkehrs,  wie  die  unsere,  hinein.  Immerhin  zeigt  sein  Vorkommen,  dass  der 
Vertragspreis  nicht  der  kurzweg  selbstverständliche  oder  natürliche  ist. 

B.  — §.  142  [4(i,  47].  Bestimmgründe  der  Höhe  von 
Tau  sch  werth  und  Preis  im  freien  Verkehr. 

Der  enge  Zusammenhang  zwischen  Tausch  werth  und  Preis  macht  es  räthlich. 
bei  der  in  unserem  Verkehrssystem  weit  vorherrschenden  practischen  Bedeutung  des 
Preises,  die  Lehren  von  den  Bestimmgründen  der  Höhe  des  Tauschwcrthes  und  der 
Höhe  des  Preises  zu  verbinden  und  sie  genauer  erst  in  der  theoretischen  Volkswirt- 
schaftslehre zu  behandeln,  wie  wir  schon  oben  Vorbehalten  haben.  Daher  hier  jetzt 
nur  folgende  Andeutungen. 

Für  den  Tausch  werth  eines  Gutes  sind  immer  zwei  Bestimm- 
gründe maassgebend,  welche  den  zwei  inhärenten  Eigenschaften 
des  wirtschaftlichen  Gutes  entsprechen.  Das  Gut  repräsentirt 
Gebrauchs  werth,  bez.  als  Gegenstand  des  Verkehrs  socialen 
Gebrauchs  werth,  und  cs  bietet  Schwierigkeiten  des  Erlangens, 
d.  h.  seine  Beschaffung  macht  Kosten.  Mit  letzterem  Grund- 
begriff werden  wir  uns  im  nächsten  Buche  näher  beschäftigen. 
Der  Tauschwert  eines  Gutes  ist  dann  im  einzelnen  Falle  um  so 
höher,  je  mehr  sein  concreter  Gebrauchswert  und  die  Schwierig- 
keiten des  Erlangens,  bez.  die  Kosten  steigen  und  umgekehrt. 
Im  freien  Verkehr  stellt  sich  demgemäss  der  Vertragspreis. 

Im  entwickelten  Verkehr  mit  regelmässiger  Production  für  den 
Absatz  sind  für  die  hier  als  Waaren  erscheinenden  Güter  bei 
allen  regelmässig  erzeugten  (reproduciblen)  Gütern  einerseits 
die  Herstellungskosten  einschliesslich  der  zur  Stellung  der 
Waaren  auf  den  Markt,  bzw.  zur  Verfügung  des  Käufers  erforder- 
lichen Kosten  auf  die  Dauer  maassgebend.  Diese  Kosten  werden 
durch  den  Aufwand  an  Arbeit  aller  Art  — einschliess- 
lich aller  indispensablen  „Thätigkeiten“  der  direct  und  in- 
dircct  betheiligten  Personen , daher  auch  derjenigen , welche  in 
ihrem  Privatkapital  das  Nationalkapital  bilden  und  verwenden 


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Bestimmgründe  der  Preishöhe. 


341 


(§.  129)  — gebildet,  der  zur  Herstellung  und  Herbeischaffung  des 
Gutes  nothwendig  ist.  Dieser  Arbeitsaufwand  richtet  sich  nach 
dem  Stande  der  Productionstechnik  und  lässt  sich,  unter  Reduction 
der  qualitativ  verschiedenen  Arbeit  auf  eine  bestimmte  Arbeitsart, 
schliesslich  als  ein  Quantum  gesellschaftlich  nothwendiger 
Arbeit,  bez.  Arbeitszeit  (Marx)  fassen. 

S.  Mari,  das  Kapital.  S.  5,  nur  dass  hier  die  „Kapitalbildungs-Arbeit“  eliminirt 
wird.  S.  unten  im  2.  Thcil  der  Grundlegung  die  Lehre  vom  Privatkapital.  An  der 
bekannten  Manschen  Formel  kann  bei  den  hier  besprochenen  Waaren  festgehalten 
werden,  sobald  man  den  Ausdruck  „gesellschaftlich  nothwendige  Menge  Arbeit,  bezw. 
Arbeitszeit“  nicht  tendenziös  eng,  unter  Beschränkung  auf  (Hand-) Arbeit  im  engren 
Sinn,  sondern  in  zulässiger  und  nothwendiger  Weise  weit  auslegt,  so  dass  eben  alle 
wirklich  in  einer  gegebenen  Epoche  erforderlichen  „Thätigkeiten“  mit  darunter  fallen. 

Im  freien  Veikehr  ist  es  die  Concurrenz,  welche  auf  eine  diesem  Moment  der 
Kosten  auf  die  Dauer  entsprechende  Stellung  der  Vertragspreise  hiuzuwirken  strebt. 
Es  ergiebt  sich  dies  auch  aus  der  Geschichte  und  Statistik  der  Preise,  namentlich 
der  Fabrikate  einerseits,  welche  wegen  der  den  Fortschritten  der  Technik  zu  ver- 
dankenden Verminderung  der  für  die  Herstellung  nothwendigen  Arbeitsmenge  eine 
sinkende  Richtung,  und  der  Preise  der  Bodenproducte  anderseits,  welche  eher  eine 
steigende  Richtung  haben,  weil  sich  die  erforderliche  Arbeitsmenge  nicht  entsprechend 
vermindert,  sondern  eher  steigt.  (Vcrgl.  Laspeyres’  Aufs,  in  der  Tub.  Zcitschr. 
1672:  Welche  Waaren  werden  theurer?) 

In  einem  durch  üesellschaftsorganc  geregelten  Verkehr  wird  die  Bestimmung 
der  Taxwert  he,  bez.  der  Taxpreise  unter  angemessener  Berücksichtigung  dieses 
Kostenmoments  erfolgen,  wie  es  in  den  früheren  obrigkeitlichen  und  gewerblichen 
Taxen  im  Princip  auch  geschah,  und  bei  einem  etwaigen  neuen  Taxsystem  wieder 
geschehen  müsste.  So  auch  in  einer  „socialistischen“  Organisation  der  Volkswirt- 
schaft. Doch  bliebe  es  bei  einem  solchen  „Social-Taxwesen“  immer  möglich  und  ist 
auch  schon  in  der  bisherigen  Praxis  bei  Taxen  vorgekommen  (Arzneien  der  Apotheken), 
andere  Momente,  als  bloss  die  Kosten  der  einzelnen  Waaren.  mit  zu  berücksichtigen, 
z.  B.  nach  Gesichtspunctcn  der  Gerechtigkeit  (oder  dessen,  was  dafür  gilt),  der  Zweck- 
mässigkeit, der  absichtlichen  Regelung  des  Consums  die  Abstufung  der  Taxpreise  ' 
der  Waaren  abweichend  von  der  Proportion  der  Kosten  zu  gestalten,  wie  etwa  in 
unseren  Verhältnissen  die  Wohlstandsverschiedenhciten  und  die  Kaufkraft  der  Con- 
sumenten  sich  berücksichtigen,  bei  Arzneien  die  Taxen  sich  so  abstufen  lassen,  dass 
die  mit  theuren  Stoffen  hergestellten  absichtlich  etwas  billiger,  zum  Ausgleich  die 
aus  wohlfeilen  Stoffen  bereiteten  absichtlich  etwas  theurer  gehalten  werden. 

Die  genannten  Kosten  sind  aber  im  freien  Verkehr  nicht 
der  ausschliessliche  Bestimmgrund  der  Taucbwerthc  und  der 
Preise  und  können  dies  in  keinem  denkbaren  gesellschaftlichen 
Zustande  seiD.  Denn  unabhängig  von  den  Kosten  müssen  stets 
Gebrauchs werth-  und  Bedarfsschwankungen  stattfinden, 
deren  Einfluss  auf  den  Tauschwerth  und  die  Preise  (Vertrags-  wie 
Taxpreise)  dann  den  Einfluss  der  Kosten  modificirt  und  modificiren 
muss.  Die  Tauschwerthe  und  Preise  der  Güter  können  daher 
nicht  beständig  den  „gesellschaftlich  nothwendigen“  Kosten  der- 
selben proportional  sein.  Sie  werden  zeitweilig  mehr  oder  weniger 
davon  abweichen,  bei  denjenigen  Gütern  steigen,  deren  Gebrauchs- 
werth grösser,  bei  denen  fallen,  deren  Gebrauchswerth  kleiner  ge- 


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342 


2.  B.  Grundbegriffe.  3.  K.  Werth.  §.  142,  143. 


worden  ist.  Kur  auf  die  Dauer  werden  sich  die  Kosten  immer 
wieder  als  entscheidender  Regulator  geltend  machen  können  und 
auch  geltend  machen. 

Die  scharfsinnige  Berichtigung  der  socialistischcn  Wcrthlchre,  bei  aller  berech- 
tigten Anerkennung  ihres  richtigen  Kerns  — der  ein  partiell  richtiges  Postulat  für 
die  Tauschwert!» -Regelung  bildet  — ist  Schüffle  a.  a.  0.  zu  verdanken.  Er  sagt 
mit  Recht,  Soc.  Körper  III,  278:  „Bei  keiner  Art  gesellschaftlichen  Beeinflussung  der  Be- 
dürfe und  der  Productionen  lässt  es  sich  vermeiden,  dass  (nicht  immer)  alle  Bedarfe 
qualitativ  und  quantitativ  je  mit  den  Productionen  im  Gleichgewicht  bleiben.  Ist  dein 
aber  so,  so  können  die  socialen  Kostenworths-Quoticnteu  nicht  zu- 
gleich proportional  als  sociale  Gcbrauchswcrths-Quoticntcn  gelten.“  — 
Daun  eb.  S.  307  ff.,  bcs.  321  ff.  Sehr  unklare  Polemik  gegen  die  Productionskostcn- 
Lehre  bei  Held,  Grundr.,  bes.  S.  42,  43,  50. 

IV.  — §.  143  [48].  Andere  Grundbegriffe.  Geld. 
Credit. 

Die  in  diesem  Buche  erörterten  Grundbegriffe  Gut,  Vermögen,  Werth  und  die 
damit  in  Ycrbiuduug  stehenden,  bezw.  daraus  abgeleiteten  bilden  die  wichtigsten 
elementaren , wobei  freilich  schon  der  Vcrmögensbcgriff  und  einige  der  im  Voraus- 
gehenden mit  erörterten  Specialbcgriffe  und  abgeleiteten,  besonders  der  Kapitalbegriff, 
nicht  mehr  als  rein  elementare  aufgefasst  werden  können,  sondern  bereits  verwickel- 
tere  sind.  So  verhält  es  sich  auch  mit  anderen  der  üblich  sogenannten  Grundbegriffe, 
wie  Wirthschaft,  Ertrag,  Kosten,  Einkommen,  deren  Erörterung  und  Fest- 
stellung uns  besser  im  Zusammenhang  mit  anderen  Puncten  im  nächsten  Buche  be- 
schäftigen wird. 

An  dieser  Stelle,  im  unmittelbaren  Anschluss  an  die  Erörterungen  über  Werth 
und  Preis,  wird  hier  jetzt  nur  eine  vorläufige  Begrilfsbcstimmung  zweier  anderer 
volkswirtschaftlich  höchst  wichtiger  Puncte,  des  Geldes  und  des  Credits  gegeben, 
um  mit  diesen  Ausdrücken  als  wissenschaftlichen  Begriffen  im  weiteren  Verlauf 
operiren  zu  können. 

1.  Das  Geld.  Die  Begriffsbestimmung  des  Geldes  wird  mit 
Recht  an  die  Functionen  des  Geldes  im  Verkehr  angeknlipft. 
Solcher  Functionen  sind  im  Wesentlichen  drei,  zwei  volkswirt- 
schaftliche, eine  rechtliche  zu  unterscheiden,  indem  die  sonst  wohl 
noch  (so  von  Knies  u.  A.)  unterschiedenen  weiteren  sich  doch 
auf  diese  drei  möchten  zurUckfUhren  lassen.  Die  beiden  volks- 
wirtschaftlichen Functionen  sind  die  des  thatsächlichen  Zahl- 
mittels (Tau  s ch  mittel  s,  Tauschäqivalcnts,  Umlaufsmittels) 
und  des Preismaasses  (Preismessers,  Werthmessers,  Werthmaass- 
stabs).  Die  rechtliche  Function  ist  die  des  gesetzlichen  (recht- 
lichen) Zahl  mittels  oder  der  Währung.  Zum  Geldbegriff 
als  rein-ökonomischem  Begriff  oder  zum  ursprünglichen 
Geldbegriff  gelangt  man , indem  mau  die  Begriffsbestimmung  an 
die  beiden  volkswirtschaftlichen,  zum  Geldbegriff  als  historisch- 
recht liebem  Begriff,  indem  man  sie  zugleich  an  die  rechtliche 
Funtion  anknlipft. 


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Geld  begriff. 


343 


Als  thatsächliches  Tauschmittel  fungirt  Geld,  indem  es  frei- 
willig im  Verkehr  auf  Grund  allgemeiner  Sitte  gegen  andere 
concrete  Güter  als  Preis  angenommen  und  hingegeben  wird,  um 
Seitens  des  Empfängers  dann  erst  wieder  gegen  das  begehrte  con- 
crete Gut  ausgetauscht  zu  werden.  Als  Preismaass  fungirt  Geld, 
indem  in  Geld  die  Preise  aller  anderen  Güter,  ebenfalls  nach  all- 
gemeiner Sitte,  ausgedrückt  und  so  darin  (bez.  daran)  gemessen 
werden.  Als  Währung  fungirt  Geld,  indem  es  kraft  der  von  der 
Rechtsordnung  (dem  Gesetz)  dem  Gelde  beigelegten  Eigen- 
schaft, als  (Geld-) Schuldlösemittel  (Solutionsmittel),  Mittel  der 
Ucbertragung  von  abstracter  Vermögensmacht  (z.  ß.  bei  Ent- 
schädigungen, Bussen),  Object  der  auf  Geld  schlechtweg  lautenden 
Contractc  (der  „Geldverträge“,  gewisser  Creditverträge  wie  im 
Darlehen)  auch  unabhängig  vom  Willen  des  Empfängers,  bez. 
des  zu  Anspruch  auf  Zahlungsempfang  Berechtigten  dient. 

Das  Geld  im  re  in- ökono  mischen  Sinne  ist  daher  ein  Ver- 
kehrsgut, welches  durch  die  Sitte  thatsäehlich  zum  allgemeinen 
Zahl  mittel  und  zugleich  zum  allgemeinen  Preismaass  ge- 
worden ist.  Geld  im  rechtlichen  Sinne  und  damit  in  Verhält- 
nissen des  entwickelten  Verkehrs  erst  im  vollen  Sinne  ist  ein 
Verkehrsgut,  welches  Währung  ist.  Damit  ist  es  regelmässig  auch 
rechtlich  zugleich  Preismaass  und  gewöhnlich  auch  that- 
sächliches Zahlmittel,  obwohl  es  gerade  in  letzterer  Function 
durch  als  Tauschmittel  dienendes  Geld,  welches  nicht  Währung 
ist,  durch  Creditumlaufsmittel  (Wechsel,  Anweisungen,  Banknoten, 
Papiergeld  u.  s.  w.)  und  Einrichtungen  des  Creditverkehrs  zur 
Zahlungsvermittlung  mehr  oder  weniger  ersetzt  werden  kann  und 
thatsäehlich  in  entwickelten  Verhältnissen  des  Creditwesens  er- 
setzt wird. 

Das  geschichtlich  wichtigste  Geld  ist  bekanntlich  das  Metallgeld,  namentlich  das 
Edelmetallgeld  aus  Gold  und  Silber.  Dasselbe  ist  aber  wiederum,  weder  historisch, 
noch  principiell  und  rechtlich,  das  ,,Geld  schlechthin“.  Auch  bei  Edelmetallgcld 
werden  Quantitäten  und  Qualitäten  eines  Sachguts  bei  der  Preisbestimmung  in  Geld 
mit  den  Quantitäten  und  Qualitäten  eines  anderen  Guts  verglichen  bozw.  gleichgesetzt. 

Geber  alles  Weitere  s.  die  theoretische  Volkswirtschaftslehre  (2.  Hauptabtei- 
lung) und  den  Band  vom  Verkehrswesen  (3.  Hauptabth.,  Theil  1).  Vcrgl.  aus  der 
Lif.  Rau  I,  §.  128  u.  II.  §.  257  fl.  (Geld:  das  allgemeine  Umlaufsmittel,  welches  im 
Güterverkehr  alle  anderen  Güter  vertritt  oder  repräsentirt).  Roscher  §.  116,  bes. 
Anm.  5 Uber  die  Dogmengeschichtc  des  Geldbegrifl's;  er  bercichnet  Geld:  als  die 
allgemein  beliebte  Waare,  die  eben  deshalb  zur  Vermittelung  der  verschiedenartigsten 
Tauschoperationen  und  zur  Messung  der  Tauschwerte  überhaupt  angewendet  wird; 
durch  hinzukommende  Anerkennung  des  Staats,  dass  dieselbe  Waare  als  stillschweigend 
verstandenes  Zahlmittel  für  alle  Verbindlichkeiten  gebraucht  werden  soll,  vollende  sich 
der  Begriff  des  Geldes.  M enger,  I,  S.  231  ff.  Marx,  Kapital,  1.  Aull.  S.  91  ff. 
(„Die  Waare.  welche  als  Werth  in  aass  und  daher  auch  persönlich  oder  durch  Stell- 


344 


2.  B.  Grundbegriffe.  3.  K.  Wcrtb.  §.  143. 


Vertreter,  als  Circu  lationsmittcl  functionirt,  ist  Geld.“)  Fr.  X.  Ncumann  (Wien), 
Volkswirthschaftsl.,  Wien  1873,  §.  58  ff.  A.  Wagner,  Beitr.  z.  Lehre  v.  d.  Banken, 
Leipz.  1857,  Kap.  II,  Absch.  3,  v.  Gcldc  (S.  34 — 40).  Ders.,  Art.  MUnzwescn  im 
Staatswörterb.  VII.  65  ff.  v.  Scheel,  Begr.  d.  Geldes  in  s.  hist.  ökon.  Entwicklung, 
in  Hildebr.  Jnhrb.  VI  (1S66).  v.  Mangoldt,  Art.  Geld  im  Staatswörterb.  IV,  93  ff. 
E.  Nasse,  Abh.  Geld-  und  Münzwesen  im  1.  B.  von  Schönbcrg’s  Handbuch,  woselbst 
weitere  Litteratur.  Er  defiuirt  Geld  „im  weiteren  rein  wirthschaftlichen  Sinne“  als 
„ein  allgemein  beliebtes  Tauschgut,  welches  die  Functionen  sowohl  eines  Werth- 
maassstabcs,  wie  die  eines  Tausch-,  Zahlungs-  und  Werthaufbewabrungsmittcls  ver- 
sieht“ (3.  Anfl.  I,  S.  315);  Geld  im  rechtlichen  Sinne  oder  das  Währungsgeld  des 
Staats  als  „das  von  der  Rechtsordnung  des  Staats  als  Zahlungs-  und  Solutionsmittel 
und  als  Werthmaassstab  gesetzlich  anerkannte  Geld.“  R.  Hild  ebran d (jun.),  Theorie 
des  Gelds,  1883  (mit  unrichtiger  Polemik  gegen  die  Bezeichnung  der  Währungseigen- 
schaft mit  „Function“).  Das  deutsche  Hauptwerk  Uber  Geld  nach  der  theoretischen 
Seite  ist  K.  Knies,  Geld,  1.  Au  fl.  1S83,  2.  Aufl.  1S85.  Aus  der  englischen 
Litteratur  s.  J.  St.  Mill,  principles,  b.  3,  Kap.  7 — 9,  19,  21.  22.  — Uebcr  die  juris- 
tische Seite:  Savigny,  Obligationenrecht  I.  Goldschmidt,  Handelsrecht, 
G.  Hartmann,  über  den  rechtl.  Begr.  des  Geldes,  Ilrauuschw.  1868. 

Die  Einbürgerung  des  Geldes  im  Verkehre  bewirkt  dann, 
dass  die  Preise  gemcinlich  als  G eld pre ise  erscheinen,  so  sehr, 
dass  späterhin  beim  Worte  Preis  meistens  nur  an  den  Geldpreis 
gedacht  wird.  Aber  letzterer  ist  nicht  schlechtweg  „der  Preis“, 
sondern  wie  schon  bemerkt,  nur  die  üblichste  Preisform. 

2.  Der  Credit.  Im  wirthschaftlichen  Verkehr  können  Ueber- 
tragungen  von  wirthschaftlichen  Gütern  zwischen  verschiedenen 
Personen  entweder  so  erfolgen,  dass  sie,  daher  Leistung  der  einen 
und  Gegenleistung  der  anderen  Person,  genau  gleichzeitig  statt- 
finden oder  so,  dass  zwischen  Leistung  und  Gegenleistung  (ab- 
sichtlich oder  unabsichtlich)  irgend  welche  Zeitdifferenz  liegt. 

Erstcres  beim  gewöhnlichen  Tausch,  Kauf-  und  Verkauf  (Knies*  Baar- Ge- 
schäfte), letzteres  wenn  eine  oder  beide  Leistungen  an  Zeitverlauf  gebunden  (Ueber- 
lassungen  zur  Nutzung,  Miethe,  Pacht,  Arbeits-,  Dienstmiethe),  oder  absichtlich  zwi- 
schen beiden  ein  solcher  eingerichtet  wird  (Darlehen,  Stundung  u.  a.  in.). 

Verkehr  der  zweiten  Art  heisst  C red it verkehr,  der  der  ersten 
Art  Tausch-,  Kauf-,  und  Verkauf-  (Baar-)  Verkehr.  Der  wesent- 
liche Unterschied  zwischen  beiden  liegt  in  der  angedeuteten  ver- 
schiedenen Beziehung  zur  Kategorie  „Zeit“.  Daraus  ergiebt  sich 
aber  auch  weiter  das  Mitspielen  eines  Moments  des  „ Vertraue n- 
Gewährens“  in  verschiedener  Weise:  beim  Tauschverkehr  u.  s.  w. 
eventuell  auf  beiden  Seiten,  ob  richtig  geleistet,  bzw.  gegen- 
geleistct  wrorden  ist,  beim  Creditvcrkehr  ausserdem  und  zunächst 
ob  überhaupt  gegen-,  bez.  rückgeleistet  werden  wird:  immer  eine 
Frage  an  die  Zukunft. 

Mit  Rücksicht  auf  dieses  Moment  der  Zeitdifferenz  und  des 
davon  bedingten  Vertrauengew?ährens,  ob  gegen-  oder  rückgeleistet 
werden  wird,  ist  der  Credit  im  wissenschaftlichen  national-öko- 


K 


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Credit  begriff. 


345 


Bosnischen  Sinne  begrifflich  zu  bestimmen  als:  „derjenige  (privat-) 
wirtschaftliche  Verkehr  oder  dasjenige  freiwillige  Geben  und 
Empfangen  wirtschaftlicher  Guter  zwischen  verschiedenen  Per- 
sonen, wo  die  Leistung  des  Einen  im  Vertrauen  auf  die  gegebene 
Zusicherung  späterer  (künftiger)  Gegenleistung  des  Anderen  erfolgt.“ 

Wörtlich  nach  meiner  Abh.  Credit  und  Bankwesen  im  Schönberg’schen  Hand- 
buch B.  I (3.  Aufl.,  S.  779);  daselbst  weitere  Litteratur  und  Begründung  der 
Definition,  sowie  Auseinandersetzung  mit  anderen  Autoren.  Die  wichtigsten  deutschen 
theoretischen  Arbeiten  Uber  Credit  sind  diejenigen  von  K.  Knies  (Tüb.  Zeitschr.  f. 
Staatswiss.  B.  15  u.  16  u.  bes.  das  eigene  Werk  „der  Credit“,  2.  Band  von  „Geld“, 
1S76,  1 STD).  Knies  hat  namentlich  das  Moment  der  Zcitdiffcrenz  für  die  Begriffs- 
bestimmung in  den  Vordergrund  geschoben,  er  definirt:  „Credit  ist  derjenige  Verkehr, 
in  welchem  die  Leistung  des  Einen  in  die  Gegenwart,  die  Gegenleistung  des  Anderen 
in  die  Zukunft  füllt“  (I,  68).  Er  bestreitet,  dass  das  Vertrancnsinomenf,  als  überflüssig, 
hinein  gehöre  und  dass  das  Moment  „freiwillig“  richtig  sei.  S.  darüber  und  dagegen 
schon  meinen  Art.  Credit  im  Kentz’schen  Handwörterbuch  d.  Volkswschlehre  und 
jetzt  meine  gen.  Abh.  im  Schönberg’schen  Handbuch.  Aus  der  Litteratur  s.  u.  A. 
Hau  I,  §.  27b  ff.,  Roscher  I,  §.  89  ff,  Schäfflc,  ges.  System,  3.  A.  II,  304  fT. 
soc.  Körper  III,  44S  ff.,  v.  Mangold f,  Grundriss,  §.  53  ff.,  G.  Cohn  I,  S.  549  ff. 
Alles  Weitere  auch  hier  im  Bande  der  theoretischen  Volkswirtschaftslehre  und  im 
Bando  vom  Verkehrswesen.  Vorläufig  beziehe  ich  mich  auf  meine  gen.  umfängliche 
Abh.  im  Schönberg’schen  Handbuch.  — Die  Begriffsbestimmung  des  Credits  fehlte 
in  den  früheren  Auflagen  an  dieser  Stelle,  eine  bezügliche  Ausführung  kam  erst 
in  §.  65,  66  in  anderem  Zusammenhang  (s.  u.  §.  158).  Die  Begriffsbestimmung 
erschien  aber  wie  die  des  Gelds  doch  schon  hier  erwünscht,  um  den  Begriff  im 
Folgenden  unbedenklich  anwenden  zu  können. 


Drittes  Buch. 


Wirthschaft  und  Volkswirthschaft. 

§.  144.  Vorbemerkung  und  Littcratur. 

Der  Begriff  der  Wirthschaft  ist  Mittel-  und  Kernpunct  der  Wirt- 
schaftsjahre (§.  29),  der  Begriff  der  Vo lks wirthschaf t (§.  149  ff)  und 
die  Organisation  der  Volkswirthschaft  (Buch  5)  Mittel-  und  Kernpunct  der 
Volks  wirt  h Schaft  sieh  re  oder  Politischen  Ockonomic  (§.  100').  Die  sach- 
liche Rechtfertigung  dieser  Auffassung  liegt  in  den  Erörterungen  im  Texte.  Der 
hier  eingenommene  Standpunct  fuhrt  aber  auch  zu  einer  wesentlich  anderen  for- 
mellen Behandlung  des  Stoffs  im  System  und  daher  besonders  zu  grossen  Abwei- 
chungen in  Inhalt,  Umfang  und  Form  der  Darstellung  im  vorliegenden  Werke  ver- 
glichen mit  früheren  Behandlungswcisen,  auch  derjenigen  Rau ’s. 

Ein  grosser  Theil  meiner  Erörterungen  in  der  Grundlegung,  theils  schon  im 
ersten  und  in  diesem  dritten  Buche,  namentlich  aber  im  5.,  G.  Buche  und  im  zweiten 
Theil  (Recht  und  Volkswirthschaft)  fehlt  bei  Rau  und  den  Früheren  gänzlich  oder 
es  finden  sich  bei  ihnen  nur  spärliche,  mehr  aphoristische  Bemerkungen,  so  Uber  die 
verschiedenen  Arten  der  Wirthschaft  und  die  sich  an  sie  schliessenden  Wirtschafts- 
wissenschaften, über  das  Vcrhältniss  des  Staats  zur  Volkswirthschaft  in  §.  3 — 10, 
13—20  von  Raus  8.  Aufl.  des  theoretischen  Theils  (vcrgl.  auch  die  Einleitung  zu 
>einer  Volkswirthschaftspolitik).  Dabei  kommt  der  Begriff  und  das  Wesen  der  Volks- 
wirthschaft, sowie  die  Organisation  der  letzteren  zu  kurz  und  die  Fragen  der  ge- 
sammten  wirtschaftlichen  Rechtsordnung.  Stellung  des  Staats  zur  Volkswirthschaft  Über- 
haupt, (persönliche  Freiheit  und  Unfreiheit,  Eigenthum  u.  s.  w.)  werden  fast  gar  nicht 
berührt,  jedenfalls  nirgends  principicll  behandelt.  Bei  Rau  liegt,  in  Uebercinstim- 
mung  mit  der  ausländischen  und  der  älteren  deutschen  volkswirtschaftlichen  Littcratur, 
der  Schwerpunct  in  den  Erörterungen  Uber  das  Wesen  des  Volksvermögens, 
wovon  bei  ihm  das  erste  Buch  des  theoretischen  Theils  (der  „Volkswirtschaftslehre“) 
handelt  (8.  Aufl.  S.  G9 — 119).  Rau  untersucht  hier  in  einem  1.  Abschnitte  die  Be- 
st and  t heile  des  Volksvcrmögens  (§.  46 — 54),  behandelt  die  Schätzung  desselben 
und  hiermit  die  Werthlehre  in  einem  2.  Abschnitte  (§.  55 — 07),  bespricht  dann  die 
Veränderungen  im  Volksvcrmögen  im  3.  Abschnitte  (§.  68 — 72)  und  die  Zu- 
stände der  Volkswirthschaft  im  4.  Abschnitte  (§.  73 — 81).  Diese  im  Einzelnen 
mustcrgiltigcn  Erörterungen,  besonders  des  1.,  2.  und  4 Abschnittes,  leiden  aber  alle 
an  dem  Mangel,  dass  keine  genauere  Untersuchung  des  Begriffs  Wirthschaft  und 
Volkswirthschaft  und  der  Organisationsprincipien  der  Volkswirthschaft,  ferner  der 
wirtschaftlichen  Rechtsordnung  erfolgt.  Im  nachstehenden  3.  Buche  finden  sich  dem 
Inhalte  nach  Kau ’s  Erörterungen  im  3.  und  4.  Abschnitte  seines  1.  Buchs,  während 
ich  die  Gegenstände  des  1.  und  2.  Abschnitts  schon  im  vorausgehenden  zweiten  Buche 
abgehandelt  habe. 

Den  erwähnten  Mangel  der  Behandlungsweise  thcilt  Rau  so  ziemlich  mit  allen 
Fachgenossen  seiner  Zeit.  Dieser  Mangel  liegt  in  letzter  Linie  wieder  in  der  zu 
einseitig  pri vat wirtschaftlichen  statt  der  eigentlich  vol k s wirtschaftlichen  und 
socialen  Auffassung  und  in  der  unvermerkten  Einschiebung  privatwirthschafdichcr 
statt  volkswirtschaftlicher  Begriffe  und  Erörterungen  in  die  Politische  Oekonomie. 
Vcrgl.  darüber  die  Bemerkungen  am  Schluss  des  § 108  (S.  2S7). 


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Wirtschaft  und  Volkswirtschaft.  Vorbemerkungen  und  Litteratur.  347 


Die  ausländische  Wissenschaft  ist  Uber  diesen  Staudpunct  überhaupt  noch 
heute  selten  hinausgekommen.  Doch  wird  von  J.  St.  Mi  11  in  seinen  „Grundsätzen  der 
Politischen  Oekonomie  nebst  einigen  Anwendungen  derselben  auf  die 
Gesellschaftswissenschaft“,  besonders  im  3.  Buche  von  der  Verthcilung 
(namentlich  Kap.  1 und  2)  und  in  B.  5 (Kap.  ],  8 — 11)  ein  wichtiger  Fortschritt  ge- 
macht. aus  dem  Mill  nur  nicht  alle  C'onsequenzen  für  die  Bcgritfe  und  Erörterungen 
der  Politischen  Oekonomie  zieht.  Eigentlich  grundlegende  Erörterungen  über  den 
Begriff  und  das  Wesen  der  Volkswirtschaft  fehlen  auch  bei  ihm.  Die  franzö- 
sische socialistischo  Litteratur  (St.  Simon,  Fourier,  L.  Blanc,  auch 
Proudhon)  hat  nur  Anregungen  gegeben  für  eine  neue  Grundlegung  der  Poli- 
tischen Oekonomie.  Die  französischen  Nationalökonomcn  der  Smith'schen  (freihänd- 
lerischen) Richtung  haben  cs  nicht  verstanden,  aus  diesen  Anregungen  das  Richtige 
und  Werthvolle  für  eine  neue  Grundlegung  herauszuziehen  und  sind,  wie  die  Eng- 
länder lange  nur  wenig  über  A.  Smith,  so  sie  wenig  über  J.  B.  Say  hinausgekommen. 
Am  Bedeutendsten  ist  immer  noch,  auch  für  Fragen  der  Grundlegung,  Sismondi 
geblieben  (s.  Simondc  de  Sismondi,  Nouv.  princ.  d’öconom.  polit.,  2 vol.  2.  öd., 
Par.  1827  und  etudes  sur  l’öcon.  polit.  2 vol.  Brux,  1837 — 38  und  über  ihn  den 
Aufsatz  von  L.  Elster  in  Conrad’s  Jahrbüchern  B.  48  (N.  F.  14),  1SS7,  S.  321). 

In  der  deutschen  systematischen  Litteratur  bezeichnet  auch  hier  W, 
Roscher  einen  wichtigen  Fortschritt.  Er  hat  dem  Begritl'e  der  Wirthschaft 
und  besonders  der  Volkswirtschaft  eingehende,  wenn  auch  jetzt  kaum  mehr 
ausreichende  Erörterungen  (§.  11—15)  und  der  Unfreiheit  und  Freiheit  und 
der  Gütergemeinschaft  und  dem  Privateigenthum  2 umfassende  Kapitel 
(4  und  5)  des  1.  Buchs  von  der  Production  gewidmet,  die  reich  an  cnlturhistorischcn 
Einzelheiten  sind,  aber  principicll  die  wirtschaftliche  Seite  dieser  grossen  Rechts- 
fragen nicht  scharf  genug  behandeln.  Die  Stellung  dieser  Kapitel  im  System,  nemlich 
"bei  Roscher  in  dem  Ruche  von  der  Production,  ist  auch  keine  ganz  richtige.  Denn 
der  persönliche  Stand  und  die  Eigenthumsordnung  sind  Fundamentalpuncte  für  die 
ganze  Volkswirtschaft  und  für  die  Verthcilung  der  Güter  ebenso  wichtig  als  für 
die  Production,  gehören  daher  systematisch  in  den  von  Roscher  als  Einleitung 
behandelten  ersten  Theil.  Die  tiefste  geschichtsphilosophische  Auffassung  der 
Volks  wirthschaft  findet  sich  in  K n ies’ Politischer  Oekonomie  (o.  S.  52),  ein  Buch, 
das  grade  für  die  von  mir  in  der  Grundlegung  erörterten  Principienfragen,  besonders 
für  den  Gegensatz  der  eigentlich  volkswirtschaftlichen  und  p riv a t wirtschaftlichen 
Auffassung,  eine  grosse  bleibende  Bedeutung  beansprucht,  wenn  cs  auch  die  formelle 
Ausbildung  der  systematischen  Volkswirthschaftstheorie  sich  nicht  direct  ange- 
legen sein  lässt  Aehnliches  gilt,  in  freilich  erheblich  geringerem  Grade,  von  Br.  Hilde- 
brand's  Nationalökonomie  der  Gegenwart  und  Zukunft  (oben  S.  52),  dagegen  mehr 
wieder  von  Fr.  List’s  genialem  „Nationalen  System  der  Politischen  Oekonomie“, 
(oben  S.  47).  Seiner  ganzen  Geistesanlage  und  wissenschaftlichen  Richtung  gemäss 
hat  für  die  Systematik  L.  Stein  gearbeitet  (besonders  in  seinem  System  der  Staats- 
wissensch.,  1.  B.  System  der  Statistik,  Populationistik  und  Volkswirtschaftslehre, 
Stuttg.  u.  Ttib.  1852,  2.  B.  Gesellschaftslehre,  185f>,  dann  im  Lehrbuch  der  Volks- 
wirtschaft, Wien  1858.  2.  Aull.  1878,  3.  Aull.  1887),  ohne  gleichwohl  hier  einen 
Erfolg  zu  erzielen,  welcher  ihm  so  vollständig  in  seinem  grossen  System  der  Ver- 
waltungsichre (Stuttg.  1865  ff.,  im  Grundriss:  Handbuch  der  Verwaltungslehre, 
1870,  2.  Aull.  1876,  3.  Aull.  1887 — 88,  bereits  selbst  wieder  3 Bände)  und  im  Ganzen 
auch  in  seinem  System  der  Finanzwissenschaft  zu  Theil  geworden  ist  (vcrgl.  darüber 
meine  Finanzwiss.  B.  2,  2 A.,  S.  9).  Auch  die  neuen  Auflagen  der  Volkswirt- 
schaftslehre werden  kaum  das  Urteil  ändern,  dass  Stein ’s  Kraft  nicht  in  seinen 
rein  volkswirtschaftlichen  Schriften  liegt.  Um  so  mehr  darf  aber  den  übrigen  Stcin’- 
schcn  Schriften,  besonders  auch  seinen  unübertroffenen  Werken  über  den  französischen 
Socialismus  und  Communismus  (Socialismus  und  Communismus  des  heutigen  Frank- 
reich, f,eipz.  1842,  dass.  Werk  2.  Aufl.  184S;  Geschichte  der  socialen  Bewegung  in 
Frankreich  von  1789  bis  auf  unsre  Tage,  3 R.,  Leipz.  1850)  das  Verdienst  zuerkannt 
werden,  dass  sie  für  die  organische  Auffassung  von  Volkswirtschaft,  Staat  und 
Gesellschaft  epochemachend  waren  und  damit  auch  für  die  principicll 6 Auf- 
fassung der  hier  in  der  Grundlegung  behandelten  Puncte  der  Theorie  der  Volks- 
wirtschaft. Vcrgl.  hinsichtlich  einer  der  Stcin’schen  ähnlichen  Auffassung  auch 
Carl  Dietzel,  die  Volkswirtschaft  und  ihr  Verhältniss  zu  Staat  und  Gesellschaft, 


348  3.  B.  Wirtschaft  und  Volkswirtschaft.  Vorbemerkungen  §.  114,  145. 


Frankf.  1804;  für  Einzelnes  von  Aelteren  auch  Schütz,  Grundsätze  der  National- 
ökonomie, Tüb.  1843. 

Für  die  Lehre  von  der  Wirtschaft  und  den  einzelnen  Wirthschaftsarten  speciell 
ist  wiederum  Hermann  in  seinen  staatswirthschaftlichen  Untersuchungen  grade  in 
der  theoretischen  Nationalökonomie  von  grossem  Einflüsse  geworden,  s.  in  der  2.  Aufl. 
überhaupt  die  Grundlegung  S.  1 — 78,  bcs.  1U,  15  ff.,  34  fT.,  dann  124 — 142.  Der 
organische  Charactcr  der  Volkswirtschaft  wird  von  Hermann  aber  noch  nicht  so 
stark  betont,  wie  früher  schon  von  Ada  in  Müller  in  seinen  , .Elementen  der  Staats- 
kunst“ (Berlin  1809,  3 B.)  und  wie  von  den  Neueren,  namentlich  auch  von  Koscher. 
Die  Volkswirtschaft  ein  Aggregat  von  Einzelwirtschaften,  sagt  Hermann,  w'enn 
auch  er  durchaus  nicht  mehr  auf  dem  atomlstischen  Standpuncte  der  eng- 
lischen Schule  oder  vollends  der  neueren  deutschen  Freihandelsschule  steht  (Prince- 
Smith  u.  a.  in). 

In  Anknüpfung  an  Hermaun  bat  dann  Schäffle  neuerdings  die  Lehre  von 
der  Wirtschaft,  Volkswirtschaft  und  besonders  von  der  Organisation  der 
Volkswirtschaft  (privatwirthschaftliches  und  gemein  wirtschaftliches  System  u.  s.  w.) 
behandelt.  Ohne  ihm,  wie  sich  unten  im  Text  ergiebt,  in  allen  Einzelheiten  bei- 
zustimmen, halte  ich  doch  seine  Arbeiten  auf  diesem  Gebiete,  besonders  hiusichflich 
der  Gemcinwirthschaften , für  Epoche  machend  und  in  der  Hauptsache  seine  Aus- 
führungen für  richtig.  Kein  Andrer  hat  Gleiches  geleistet  und  die  richtigen  Puncte 
in  den  socialistisclien  Systemen  für  die  Volkswirtschaftslehre  so  erfolgreich  ver- 
wertet, wie  hier  Schäffle.  Erst  durch  die  neue  Lehre  von  den  Gemcinwirthschaften 
ist  m.  E.  eine  wahre  Volkswirtschaftslehre  begründet  und  der  einseitig  privat  - 
wirthschaftlichc  Character  der  älteren,  besonders  englischen  Nationalökonomie  von  der 
bisher  sogenannten  Volkswirtschaftslehre  abgestreift  worden.  Die  ausländische  Wissen- 
schaft bewegt  sich,  soweit  sie  nicht  auf  ganz  socialistischer  Basis  ruht,  fast  durchaus 
noch  in  diesen  alten  Gleisen  einer  bloss  pri vat wirtschaftlichen  „Politischen“ 
Ockonomie  und  einer  reinen  Tauschlehre,  wennschon  in  einzelnen,  dann  aber 
immer  noch  mehr  gelegentlichen  und  an  verschiedenen  Stellen  des  Systems  (in  der 
Productionslehre  namentlich)  verstreuten  Erörterungen  auch  hier  sich  eine  Wendung 
vorzubereiten  beginnt  (vergl.  z.  B.  Sidgwick,  principlcs  book  3,  art  of  politieal 
economy).  In  Deutschland  bezeichnet  Schäll'le  gegen  Kau  und  in  diesen  Puncten 
auch  gegen  Koscher  (/1er  die  Gemcinwirthschaften  früher  nur  eben  erwähnte, 
§.  12)  in  dieser  Lehre  von  der  Volkswirtschaft  und  den  Gemeinwirtschaften  einen 
entscheidenden  Fortschritt  der  Wissenschaft,  Vergl.  Schäffle’s  Abhandlung  über 
Gebrauchswerth  und  Wirtschaft,  Tüb.  Zeitschr.  XXVI  (1870),  ders.,  gesellschaft- 
liches System.  2.  Aufl.,  §.  ly  If.  (S.  62  ft.)  und  bes.  §.  176  11'  (S.  331  U.),  3.  Aufl. 
§.  11  fl.,  17  ff.  (I,  S.  24  11.),  §.  186  If.  (II,  S.  1 fl'.),  §.  199  II.,  §.  227  11.,  Socialismus 
und  Kapitalismus,  S.  465  11.,  619  ff. , sowie  die  in  seinen  selbständigen  Schriften 
citirten  und  vielfach  hineinverarbeiteten  Abhandlungen  Schällle’s  in  der  Tüb.  Zeit- 
schr. Auch  die  Quintessenz  des  Socialismus  u.  bes.  das  3.  B.  vom  Socialen  Körper, 
nam.  S.  365  If.,  gehört  hierher.  — Beachtenswert  für  einzelne  Puncte  der  Lehre 
von  der  Wirtschaft,  obgleich  durchaus  nicht  so  neu,  wie  er  denkt,  ist  Lindwurm, 
Grundz.  d.  Staats-  u.  Privatwirthschaftslehrc,  Brannschw.  1866.  sowie  das  Werk  dess. 
Verf.  Das  Eigentumsrecht,  nam.  Kap.  4,  ferner  der  vortrellliche  Aufsatz  von  v.  Man- 
gold t (seine  letzte  Arbeit),  Volkswirtschaft  und  -Lehre  im  Staatswörterb.  XI,  97  ft'. 
Vgl.  auch  im  Allgemeinen  Samt  er ’s  Sociallehrc. 

An  Schäffle's  und  zum  Thcil  auch  an  meine  Grundlegung  knüpfen  dann  in 
neuester  Zeit  einzelne  deutsche  Autoren  teils  mehr  kritisch,  teils  mehr  beistimmend  und 
fortbildend  an,  so  namentlich  in  der  österreichischen  theoretischen  Schule.  S.  G. 
Gross,  Wirtschaftsformen  und  Wirthschaftsprincipien , Leipz.  18S8.  Ders..  Art. 
Gemeinwirthschaft  im  Handwörtcrb.  d.  Staatswiss.  III,  803.  G.  Cohn,  Aufsatz  Ge- 
meinbedürfniss  und  Gemeinwirthschaft,  Tüb.  Ztschr.  f.  Staatswiss,  1881.  B.  37,  S.  464, 
ders.,  System  I,  S.  187  und  überhaupt  1.  Hauptabschu.  Kap.  3 und  2.  Hauptabschn. 
Das  wichtigste  neue  Werk  ist  E.  Sax”  Grundlegung  der  theoretischen  Staatswirth- 
schaft,  das  seinem  ganzen  Inhalte  nach  wegen  des  Versuchs,  den  der  Titel  andeutet, 
als  eine  Theorie  der  Gemeinwirthschaft  hierher  und  besonders  zum  5.  Buche  unten 
gehört.  — Neu  mann  hat  nicht  ßowohl  in  seinen  grundbegrill liehen  Arbeiten  (s.  deu 
Aufs,  im  Schönberg  sehen  Ilandb.  2.  A.  I,  179,  3.  A.  I,  162).  als  in  seinen  mehr  ins 
finanzielle  Gebiet  gehörigen  Schriften  sich  mit  den  hier  behandelten  Problemen  bo- 


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Begriff  der  Wirtschaft. 


349 


schäftigt.  S.  bcs.  die  Schrift  „die  Steuer  und  das  öffentliche  Interesse“  1.  B.,  I.eipz. 
1887  und  weitere  (darüber  ineine  Finanzwiss.  II,  2.  A.,  S.  20). — G.  Schönbcrg’s 
einleitender  Aufsatz  in  seinem  Handbuch  behandelt  speciell  auch  die  Wirtschaft  und 
ihre  Arten  (3.  A.  I,  8 ff.)  und  widmet  im  Anschluss  daran  dem  Wesen  der  Volks- 
wirtschaft auch  eine  gute  Erörterung.  Eine  scharfe  kritische  Betrachtung  des  Be- 
griffs Wirtschaft  bei  verschiedenen  Autoren  hat  H.  Dietzel  gegeben  (Tüb.  Ztschrift. 
B.  39,  1883,  S.  20  ff,  (io)  mehrfach  mit  spcciellcr  Bezugnahme  auf  mich.  Ich  habe 
indessen  doch  geglaubt,  meine  frühere  Auffassung  beibehalten  zu  dürfen. 

Weiteres  über  die  bisherige  Behandlung  der  Volkswirtschaftslehre  und  not- 
wendig erscheinende  Aendcrungen  in  den  späteren  litterarischen  Vorbemerkungen, 
besonders  in  Buch  5. 


Erstes  Kapitel. 

Wesen  und  Arten  der  Wirthschaft. 

Einzel-,  Volks-  und  Wcltwirtliscliaft. 

I.  — Die  Wirthschaft  im  Allgemeinen.  §.  145  [49J. 
A.  Begriff  der  Wirthschaft.  Die  Wirthschaft  im  allgemeinen 
Sinne  des  Wortes  wurde  oben  (§.  29)  bereits  bezeichnet  als  der 
Inbegriff  der  auf  fortgesetzte  Beschaffung  und  Verwendung  von 
Gütern  zur  Bedürfnisbefriedigung  gerichteten,  planvoll  nach  dem 
ökonomischen  Princip  erfolgenden  Arbeitsthätigkeiten  in  einem  ge- 
schlossenen oder  als  geschlossen  gedachten  menschlichen  Bedürf- 
nis- und  Befriedigungskreise.  Diese  Begriffsbestimmung  nehmen 
wir  auch  für  das  Folgende  zum  Ausgangspuncte. 

Sie  weicht  etwas  von  unserer  eigenen  früheren  (2.  Aull.,  S.  00,  G3)  ab,  indem 
jetzt  absichtlich  der  Ausdruck  Arbeitsthätigkeiten  „einer  Person“  bei  diesem  ganz 
allgemeinen  Begriff  Wirthschaft  fortgelasscn  und  das  Moment  des  geschlossenen  Be- 
dürfniss-  und  Befriedigungskreises  einbezogen  ist,  wodurch  die  sonst  nicht  zu  leug- 
nende Schwierigkeit,  die  Volkswirtschaft  unter  den  Wirthschaftsbegrilf  zu  bringen, 
entfällt.  S.  bes.  Dietzel,  a.  a 0.,  S.  29,  mit  dem  Ein  wand  gegen  die  Einbeziehung  des 
Moments  des  ökonomischen  Princips  und  dagegen  schon  oben  S.  80  meine  Bemerkung. 

Die  Begriffsbestimmungen  der  Wirthschaft  unterscheiden  sich  notwendig  nach 
der  verschiedenen  Auffassung  der  wirtschaftlichen  Güter  und  des  Vermögens. 
Bau  beschränkt  folgerichtig  die  Wirthschaft  auf  den  Inbegriff  von  Verrichtungen, 
welche  zur  Versorgung  einer  Person  mit  Sachgütern  bestimmt  sind,  und  bezeichnet 
als  die  älteste  Wirthschaft  die,  welche  in  der  Familie  oder  dem  Hause  und  für  die- 
selbe geführt  wird,  die  Haushaltung.  Hauswirtschaft  (Bau  I,  §.  2).  Grade  hierbei 
zeigt  sich  jedoch,  dass  die  ausschliessliche  Betonung  der  Sachgüter  unhaltbar  ist 
(§.  120,  121).  Warum  soll  speciell  nur  die  Verrichtung  zur  Versorgung  einer  Person 
mit  Sachgütern,  nicht  auch  diejenige  zu  ihrer  Versorgung  mit  persönlichen  Diensten 
zur  Hauswirtschaft  gehören?  S.  schon  o.  S.  81  die  Definitionen  von  Bau,  Hermann  , 
Neu  mann,  Dietzel.  Bosch  er  definirt  die  Wirthschaft  S-  2:  planvolle  Thätigkeit 
eines  Menschen,  um  seinen  Bedarf  au  äusseren  Gütern  zu  befriedigen  v.  Mangoldt, 
Grundriss  §.  5:  Wirtschaft  ist  die  gesammte  Betätigung  eines  Menschen  in  der 
Dichtung,  die  äusseren  Gegenstände  und  bestehenden  Verhältnisse  seinen  Bedürfnissen 
und  Zwecken  entsprechend  zu  gestalten.  Schäffle,  System,  3.  Aufl.  I,  4:  Wirth- 
schaft eine  bewusste  planvolle  Begelung  einer  Vielheit  nützlicher  Bewegungen  und 
Kraftäusscrungcn  in  der  Dichtung  höchsten  reinen  Nutzens,  S.  10  ff.;  Soc.  Körper  III, 
284:  Wirthschaft  ist  der  Inbegriff  der  Stoffwcchselthätigkeiten  eines  Subjects,  in 


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350  3.  B.  Wirtschaft  und  Volkswirtschaft.  1.  h'.  Wirthschaft.  §.  145.  146. 

der  Richtung  mindester  Kosten  und  grösster  Xutzeffecto  geregelt.  Schönberg 
(Handb.  3.  A.  I,  S.  S)  unterscheidet  verschiedene  Bedeutungen  des  Begriffs:  in  der 
Hauptbedeutung  sei  Wirthschaft  ,.nach  dem  üblichsten  Sprachgebrauch“  der  Inbegrilf 
der  wirtschaftlichen  Thätigkeit  einer  Persönlichkeit  (Person  resp.  Personengemein- 
schaft). d.  h.  die  Gesammtheit  der  Handlungen  einer  Persönlichkeit,  welche  sich  auf 
die  Beschallung  und  Verwendung  materieller  Güter  zur  Befriedigung  ihrer  Bedürfnisse 
beziehen,  also  auch  das  Resultat  (?)  derselben,  der  dadurch  bedingte  Zustand  ihrer 
wirtschaftlichen  Bedurfnissbefriedigung  und  Lage“.  Gegen  meine  Hervorhebung  des 
Moments  des  ökonomischen  Princips  wendet  auch  er  sich,  da  es  doch  wirtschaftende 
Personen  gäbe,  die  nicht  nach  diesem  Princip  handelten  (bewusst  nicht  immer,  un- 
bewusst doch  wohl,  s.  o.  S.  SO).  Eb.  eine  Zusammenstellung  anderer  Definitionen, 
mit  kritischen  Bemerkungen.  — E.  Sax  spricht  von  Haushalt“  (Staatswirthsch.  S.  116, 
156):  ..vordenkendc  Thätigkeit,  gerichtet  auf  wechselseitige  zeitliche  Anpassung  von 
Einkommen  und  (ökonomisch  durchgefübrtem)  Verbrauch“.  S.  seine  gesammten  Aus- 
füllungen, bcs.  im  Abschnitt  III.  Weiteres  über  den  Begriff  bei  Dietzel,  a.  a.  0. 

II.  — §.  146  1 50].  Technik  und  Oekonomik.  In  jeder 
Wirthschaft  sind  nach  der  richtigen,  hierin  Bahn  brechenden  und 
Grund  legenden  Lehre  Hermann’s  (S.  257)  zwei  in  enger  Be- 
ziehung stehende,  aber  sehr  verschiedene  Seiten  zu  unterscheiden: 
die  technische  und  die  (im  engeren  Sinne)  ökonomische, 
oder  Technik  und  Oekonomik  und  dementsprechend  zweierlei 
Thätigkeiten  der  wirtschaftenden  Peison.  Die  technische  Thätig- 
keit in  der  Wiithschaft  geht  darauf  aus,  die  erforderlichen  wirt- 
schaftlichen Güter  überhaupt,  in  richtiger  Qualität  und  Menge 
(Hermann  erwähnt  dies  Moment  nicht,  es  gehört  aber  hierher), 
am  rechten  Orte,  zu  rechter  Zeit  für  die  Bedurfnissbefriedigung  zu 
beschaffen.  Die  ökonomische  Thätigkeit  erstrebt  Beschaffung  und 
Verbrauch  der  wirtschaftlichen  Guter  möglichst  nach  dem 
Principe  der  Wirtschaftlichkeit  (§.28).  Technik  und 
Oekonomik  beeinflussen  sich  gegenseitig.  Die  letztere  muss  aber 
jener  erst  Maass  und  Ziel  geben  und  ihr  Leitstern  sein.  Ohne 
Technik  freilich  keine  Wirthschaft,  aber  ohne  Oekonomik  keine 
erfolgreiche  und  heilsame  Wirthschaft.  Nur  mit  ihr  hat  sich  die 
Wirtschaftshilfe  zu  befassen,  nicht  mit  der  Technik  als  solcher. 

Bloss  zur  Darlegung  und  Erläuterung  und  daher  mitunter  auch  zur  Begründung 
ökonomischer  Verhältnisse  und  Aufgaben  der  Wirthschaft  muss  auf  die  Technik  oft 
Bezug  genommen  werden.  Es  ist  von  grösster  Wichtigkeit  für  die  wissenschaftliche 
Behandlung  der  Wirthschaftslehre  wie  der  Politischen  Oekonomie  (§.  100)  diesen  Ge- 
sichtspunct  festzuhalten,  was  fiühcr  selten  geschehen  ist  (§.  99). 

lieber  die  Scheidung  von  Technik  uud  Oekonomik  s.  v.  Hermann,  Untersuch. 
2.  A.,  S.  7 ff,  10  ff.,  30  ff..  Auch  E.  Sax,  Wesen  und  Aufgaben  (lSb4)  S.  9,  Staats- 
wirtlischaft  S.  3S,  117.  — Der  Einwand  gegen  die  in  diesem  Werke  vertretene  Behand- 
lung der  Staatsleistungen,  dass  man  alsdaun  die  ganze  Darstellung  der  Civil-  und 
Militärvei waltung  in  die  Politische  Oekonomie  ziehen  müsse,  übersohiesst  eben  des- 
halb das  Ziel,  weil  er  auf  einer  Verwechslung  von  Technik  und  Oekonomik  beruht. 
Die  Technik  der  Staatsverwaltung  gehört  so  wenig  hierher,  als  die  Technik  der 
materiellen  Production,  7.  B.  des  Landhaus.  Der  ältere  deutsche  camcralistische 
Standpunct,  der  auch  bei  Rau  noch  stark  nachklingt,  hat  freilich  auch  in  der  ma- 
teriellen Production  noch  zu  sehr  Technik  und  Oekonomik  verwechselt.  S.  Uber  Vor- 


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Arten  der  Einzelwirtschaft. 


35  L 


kehrsrecht  und  Technik  auch  bezügliche  Ausführungen  im  1.  Buche  und  später  im 
2.  Thcil  der  Grundlegung;  über  die  Technik  vom  socialwissenschaftlichen  Standpunct 
aus  Schäffle,  Soc.  Körper  III,  549  11'. 

III.  — §.  147  [51].  Die  Einzel  wirthschaft.  A.  Begriff. 
Jede  Wirthschaft,  welche  von  einem  einheitlichen  Willen  ge- 
leitet wird,  ist  eine  Einzel-  oder  Personalwirthschaft.  Sie  stellt  als 
solche  ein  selbständiges,  für  sich  abgeschlossenes  Ganzes  von 
wirtschaftlichen  Thätigkeiten  in  rechtlicher  und  wirtschaftlicher 
Beziehung  dar,  welches  seine  Einheit  in  einer  (physischen  oder 
juristischen)  Person  als  dem  Organ  der  technischen  und  öko- 
nomischen Thätigkeiten  und  der  Vertretung  der  Wirthschaft  in 
rechtlicher  Hinsicht  findet. 

Sie  ist  wieder  keine  rein  wirtschaftliche  Erscheinung,  sondern  zugleich  von 
der  Gestaltung  des  Rechts  abhängig.  Denn  dieses  bestimmt  darüber,  wer  als  Person 
gilt  und  damit  dann  wer  an  der  Spitze  einer  Wirthschaft  als  jenes  Organ  stehen  kann, 
welches  dessen  allgemeine  Rechte  und  Pllichten  hier  sind  und  welcherlei  Wirt- 
schaften es  demnach  nach  der  Art  der  rechtlich  zulässigen  Personen  giebt. 

B.  — §.  148  [52].  Arten  der  Einzel  wirthschaft. 

Rau  §.  3 unterscheidet  1)  bürgerliche  oder  Privatwirtschaften,  wo  dio 
wirtschaftliche  Gemeinschaft  unter  einem  einheitlichen  Willen  steht:  dahin  a)  häus- 
liche Wirtschaften,  nemlich  natürliche,  die  Familie,  und  künstliche,  wie 
Kranken-,  Armenhäuser  u.  s.  w.,  also  etwa  „Extrahaushaltungen“  im  Sinne  der  neuesten 
Bevölkerungsstatistik;  ferner  b)  Verbindungen  ohne  häusliche  Gemeinschaft  für 
einzelne  Zwecke  mit  Hilfe  von  Sachgütern;  dann  2)  die  Verbindung  der  in  einem 
Lande  bcisammcnwohncndcn  Menschen  zu  einem  nach  Aussen  selbständigen  Ganzen, 
einem  Staate.  Geber  dio  Volkswirtschaft  bei  Rau  s.  §.  5 u.  unten  §.  149.  Der 
Ausdruck  Privatwirtschaft  wird  von  Rau  u.  A.  m.  oft  im  Sinne  von  Einzelwirtschaft 
und  auch  von  Privatwirtschaft  in  dem  späteren  von  uns  diesem  Worte  gegebenen 
Sinne  gebraucht.  Ich  unterscheide  beide  Ausdrücke  durchweg  genau.  S.  auch  Schön- 
berg’s  Handb.  I.  3.  A„  S.  10,  wo  aber  in  der  ersten  Unterscheidung  („nach  dom 
Zustand  der  Persönlichkeit“)  Wirtschaften  wie  Familien-,  Stammes-,  Volkswirt- 
schaft als  Nr.  3 m.  E.  unzulässig  als  Correlat  mit  der  Nr.  1 (Wirtschaften  physischer 
und  juristischer  Personen)  und  mit  der  Nr.  2 (private  und  öffentliche  Wirtschaften) 
zusammcngcstellt  werden;  bei  seiner  zweiten  Unterscheidung  (nach  dem  Zustande  der 
Wirthschaft)  stellt  Schönberg  zusammen:  eine  Wirthschaft  (Einzelwirtschaft)  und 
Summe  von  Wirtschaften  in  organischer  Verbindung  (Gesammtwirthscliaft ; Stammes-, 
Volkswirtschaft.  Wirtschaften  communistischor  Gemeinden,  — was  aber  wieder  nicht 
Correlatc  sind;  die  letztgenannten  sind  Einzelwirtschaften). 

Man  kann  die  Einzelwirtschaften  unterscheiden  nach  der 
Art  der  leitenden  Wirthscliaftssu bjecte  und  nach  den  all- 
gemeinen Zwecken  der  Wirthschaft. 

1.  In  er  st  er  er  Hinsicht: 

a)  Der  typische  Normalfall  der  Einzelwirthscliaft  ist  in  der 
neueren  geschichtlichen  Entwicklung  die  Wirthschaft  des  ein- 
zelnen Individuums,  welche  in  der  Familien  wirthschaft 
eine  besondere  Erweiterung  erfährt:  Individual-  und  Familicn- 
wirthschaft. 


352  3.  B.  Wirtschaft  und  Volkswirtschaft.  1.  K.  Wirtschaft.  §.  1 4S,  14!). 


Eine  Erweiterung,  weil  in  der  Familie  das  Princip  der  Liebe  waltet  und  in 
wirtschaftlicher  Hinsicht  keine  speciclle  Entgeltlichkeit  von  Leistung  und  Gegen- 
leistung besteht,  s.  u.  Buch  5.  Schäfflc  rechnet  daher  auch  dio  Familie  schon  zu 
den  Gemeinwirthschaften,  Syst.  2.  Aufl.  §.  190  IT.;  in  der  3.  Aufl.  II,  91  bezeichnet  er 
sie  als  Grundform  freigebiger  Mittheilung  zur  Consumtion  unter  den  Formen  der 
Liberalität.  Ich  betrachte  die  Familie,  wenigstens  in  unserer  Socialepoche,  nicht  das 
Individuum  als  die  eigentliche  niedrigste  Einheit  im  Volks-  und  Wirtschaftsleben  und 
weise  sie  daher  unter  die  Einzelwirtschaften.  Gegen  diese  meine  Auffassung  S ch  äf  fl  e , 
Soc.  Körper,  III,  2S0;  über  d.  Familienwirthsch.  eb.  S.  376.  Für  ganz  andere  Cultur- 
perioden  kann  ich  SchäU'le  beistimmen;  für  die  in  der  Politischen  Oekonomie  meist 
zu  betrachtenden  neueren  nicht. 

Auch  für  diese  Einzel  Wirtschaft  ist  das  Recht  wesentlich  maassgebend  hin- 
sichtlich der  Anforderungen,  welche  cs  stellt  für  die  persönlichen  Eigenschaften 
des  Wirthschaftssubjects  (z.  B.  privatrcctliche r in  Betreff  des  Geschlechts, 
Alters  [Mündigkeit],  der  geistigen  Beschaflcnheit,  verwaltungsrechtlicher  hinsichtlich 
der  Erfüllung  gewisser  Bedingungen  und  des  Nachweises  dafür,  wie  Fähigkeitsbeweise 
u.  s.  w.),  und  für  gewisse  Rechtsverhältnisse  zwischen  den  Familien- 
gliedern und  dem  Wirthschaftssubject  (z.  B.  für  den  Anspruch  auf  Unterhalt, 
Bildung),  wie  Pflicht  der  Eltern,  dio  Kinder  in  die  Schule  zu  schicken,  und 
zwar  auch  in  dem  Fall,  dass  Schulgeld  für  sie  zu  zahlen  ist,  oder  sie  sonst  unter- 
richten zu  lassen.  Armenunterstützungspflicht  selbst  für  etwas  entferntere  Verwandte 
u.  dgl.  in.),  daher  für  den  Verbrauch  der  Güter  in  der  Wirthschaft. 

b)  Andere  Einzelwirtschaften  sind  diejenigen  nicht-phy- 
sischer Personen,  wie  der  eigentlichen  juristischen,  des 
öffentlichen  Rechts,  der  ,, öffentlichen  Körper“  (Gemeinden  u.  s.  w. 
unsere  später  so  zu  nennenden  Zwangs-Gemeinwirtlischaften),  eigent- 
licher Corporationen;  ferner  der  (sogenannten)  juristischen  Per- 
sonen des  Privatrechts  (Vereine,  Erwerbsgesellschaften,  Genossen- 
schaften u.  s.  w.) 

Der  hier  als  technischer  gebrauchte  negative  Ausdruck  „nicht-physische“  Per- 
sonen kommt  in  diesem  gleichen  Sinne  vielfach  in  der  neueren  Steuergesetzgebung 
vor  und  empfiehlt  sich  mehr  als  der  strittige  Begriff  „juristische“  Person.  Auch 
die  juristische  Auffassung  der  Erwerbsgesellschaften,  selbst  der  Actiengesellschaft 
schwankt  in  dem  Puncto,  ob  und  wie  weit  sie  überhaupt  als  „juristische“  Personen 
(„privatrechtliche“)  gelten  sollen.  Die  Bedingungen  für  die  Bildung  solcher  nicht- 
physischer Personen  und  für  dio  Befugnisse  derselben  werden  durch  das  Recht  fest- 
gestellt. S.  über  Zwischengebilde  zwischen  physischen  und  eigentlichen  juristischen 
Personen,  Genossenschaften  des  deutschen  Rechts  (nicht  zu  verwechseln  mit  unseren 
neuesten  Erwerbs-  und  Wirthschaftsgonossensehaften)  Beseler’s  System  des  deut- 
schen Privatrechts,  2.  Aufl.  §.  71  und  dessen  frühere  Lehre  von  den  Genossen- 
schaften. Hermann  s Zweck wirthschafton,  S.  31,  gehören  in  die  unter  b 
unterschiedenen  Formen  von  Einzelwirtschaften. 

2.  Nach  den  Zwecken,  denen  die  Einzelwirtkschaften  dienen, 
sind  zu  unterscheiden : 

a)  Privatwirtschaften:  Einzelwirtschaften,  welche  — bzw. 
soweit  als  sie  — die  wirtschaftlichen  Zwecke  der  an  ihnen  be- 
teiligten Personen  nach  den  aus  dem  Walten  des  wirtschaftlichen 
Selbstinteresses  sich  ergebenden  ökonomischen  Grundsätzen  verfolgen. 

b)  Gemeinwirthschaften:  Einzelwirtschaften,  welche,  und 
soweit  als  sie,  bei  der  Beschaffung  und  Verwendung  der  zur  Be- 
friedigung der  Bedürfnisse,  insbesondere  der  Gemcinbedürfnisse 


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Volkswirtschaft.  Begriff  und  Wesen. 


353 


von  Personengemeinschaften , für  die  sie  bestehen,  und  von  deren 
Mitgliedern  dienenden  Güter  (Collectivgüter)  absichtlich  nicht  nach 
diesen  eben  genannten  ökonomischen  Grundsätzen,  noch  nach 
blossen  Grundsätzen  freier  Liebesthätigkeit  („caritatives“  Princip) 
verfahren,  sondern  nach  einem  eigentümlichen , dem  sogenannten 
„gemeinwirthschaftlichen“  Princip  dabei  Vorgehen. 

An  dieser  vorläufigen  Begriffsbestimmung  muss  cs  hier  noch  genügen.  Sie  kann 
erst  verständlich  werden  und  wird  erst  ihre  Begründung  finden  durch  die  Aus- 
führungen im  5.  Buche  über  die  volkswirtschaftliche  Organisation , deren  Principicn 
und  Systeme. 

IV.  Die  V olkswirt h schaft.  — §.  149  [53].  A.  Begriff 
und  Wesen.  Ein  einheitlicher  Wille  fehlt  bei  der  Volkswirth- 
schaft,  wenigstens  wenn  dieselbe  in  ihrer  bisherigen,  sogut  wie 
ausnahmslosen  geschichtlichen  Erscheinung  betrachtet  wird,  im 
Gegensatz  zu  gewissen  socialistisch  - communistischcn  Ideen  von 
einer  „Zukunfts-Volks Wirtschaft“  mit  einheitlich  geregelter  „socia- 
listischer“  Productions-  und  Vertheilungsweise.  Die  Volkswirtschaft 
in  ihrer  geschichtlich  überkommenen  und  tatsächlich  bestehenden 
Form  entbehrt  überall  eines  leitenden  Wirtschafts-  und  Reehts- 
subjeets  an  ihrer  Spitze.  Sie  ist  der  als  abgeschlossenes  Ganzes 
gedachte  Inbegriff  der  unter  einander  durch  Arbeitsgliederung  ver- 
knüpften und  nach  Maassgabe  einer  bestimmten  wirtschaftlichen 
Rechtsordnung  (Privat-  und  Verwaltungsrechtsordnung)  verkehrenden 
selbständigen  Einzelwirtschaften  in  einem  zum  Staat  (auch  Bundes- 
staat) organisirten  oder  durch  staatliche  Wirthschaftsmaassregeln 
zu  einem  Wirtschaftsgebiete  („Zollverein“)  verbundenen  Volke: 
ein  organisches  Ineinander,  nicht  ein  mechanisches  Nebeneinander 
von  Einzelwirtschaften. 

Auch  Rau,  §.  5,  liebt  scharf  das  Fehlen  eines  einheitlichen  Willens  in  der 
Volkswirtschaft  hervor,  die  Volkswirtschaft  ist  ihm  der  Inbegriff  der  wirtschaft- 
lichen Thijtigkeiten  aller  einem  Staate  angehOrendon  Personen.  „Diese  ist  keine  ein- 
fache, von  einem  einzelnen  Willen  gelenkte  Wirtschaft,  sondern  eine  Vielheit  selb- 
ständig neben  einander  stebeuder  und  z.  Th.  in  einander  greifender  Wirtschaften, 
die  im  Begriff  als  ein  höheres  Ganzes  zusammengefasst  und  als  solches  zum  Gegen- 
stand einer  wissenschaftlichen  Betrachtung  gemacht  werden.“  Er  vergleicht  die  aus- 
gebildetere  Volkswirtschaft  auch  mit  einem  Organismus.  S.  auch  Rau,  Ttlb. 
Zeitschr.  1870,  114.  üeber  die  Entwicklung  des  Wesens  der  Volkswirtschaft  und 
ihrer  verschiedenen  Gestaltungen  s.  Rau,  Ansichten  der  Volkswirtschaft,  Leipzig 
1821.  Schönberg,  Handb.  I,  3.  A.,  S.  11  fl'.  Knies,  pol.  Oek.,  2.  A..  Absch.  II, 
S.  44  fl.  G.  Schm  oller  in  seinen  o.  S.  207  gen.  Aufsätzen  Uber  Arbeitsteilung 
u.  s.  w.  Gothein  in  seiner  Schrift  der  christlich-sociale  Staat  der  Jesuiten  in  Para- 
guay, Leipzig  1S83  (über  dessen  communistische  Wirtschaftsordnung,  S.  33  ff.):  eine 
volkswirtschaftliche  Organisation,  welche  cs  allenfalls  erlauben  würde,  diese  „Volks- 
wirtschaft“, ähnlich  wie  es  die  streng  socialistischc  sein  müsste,  eine  „Einzelwirt- 
schaft“ in  der  oben  festgestellten  Bedeutung  des  Worts  zu  nennen.  S.  sonst  die  oben 
in  §.  144  citirten  Autoren,  besonders  Hermann,  Roscher  und  Schaf  fl  e.  Dieser 
A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlagen.  23 


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354  3.  B.  Wirtschaft  und  Volkswirthschaft.  1.  K.  Wesen  und  Arten.  §.  1 49. 


bezeichnet  die  Volkswirtschaft  jetzt  im  Soc.  Körper  III,  2S6  als  „den  mit  Rück- 
sicht auf  geringste  Kosten  und  grössten  Nutzen  geregelten  Gcsamintstoll  Wechsel  aller 
socialen  Einheiten,  den  Inbegriff  der  so  geregelten  Gesammtbefriedigung  des  Gesell- 
schaftskörpers“. S.  auch  eb.  S.  351  ff.  Lind  wurm  a.  a.  0.  bes.  Kap.  1 u.  2 sagt  grade 
hier  im  Gewände  heftiger  Polemik  wenig  Neues.  In  s.  „Eigenthumsrecht“  S.  499  ff. 
kommt  er  von  Neuem  auf  diese  Puncte,  gegen  meine  Behandlung  polemisircnd.  Er 
hat,  wie  ich  schon  früher  nicht  bestritt.  Recht  darin,  dass  die  „Volkswirthschaft“ 
nicht  im  Sinne  der  „Einzelwirthschaft“  eine  „Wirtschaft“  sei.  weil  sie  subjectlos 
ist.  Sein  Bestreben,  den  Begriff  „Volkswirthschaft“  und  „Volkswirtschaftslehre“ 
als  unlogisch  zu  erweisen  und  nur  eine  „Staats wirthschaft“  (und  Lehre  davon, 
nebst  Gewerkslehren)  anzuerkennen,  ist  aber  nur  die  Folge  seiner  unhaltbaren  Prä- 
misse von  der  „freien  Individualität  der  Urheberschaft“,  die  die  Production  bedingt. 
Auch  als  Staats  wirthschaft  hat  die  Volkswirthschaft  kein  leitendes  Subject  im  Siuue 
der  Einzelwirthschaft  an  der  Spitze.  — Der  Ausdruck  Volkswirthschaft  soll  zuerst  bei 
Hufeland,  Grundl.  I.  14  Vorkommen.  Mitunter,  doch  selten  und  unpassend,  wird 
das  Wort  auch  für  Volkswirtschaft»  1 eh  r e (neucsteus  wieder  von  Sax)  gebraucht. 

Mit  Rücksicht  auf  geschichtliche  Vorgänge  wird  auch  das  Moment  „Zollverein“ 
im  Sinne  des  Tests  zu  betonen  sein.  In  Deutschland  konnte  von  einer  Volkswirt- 
schaft des  Zollvereins  gesprochen  werden. 


So  aufgefasst  beruht  die  Volkswirthschaft  zunächst  allerdings 
nur  auf  einer  Abstraction,  aber  nicht  mehr  und  nicht  weniger 
als  „das  Volk“  auf  einer  solchen  beruht.  Sie  ist  daher  auch  trotz 
ihrer  Subjectlosigkeit,  wodurch  sie  sich  von  der  Einzelwirthschaft 
unterscheidet,  ebenso  gut  wie  das  Volk  ein  reales  Ganzes,  welches 
sich  in  entscheidenden  Puncten  als  ein  Organismus  darstellt, 
dessen  nicht  bloss  Theile,  sondern  Glieder  die  Einzelwirtschaften, 
und  zwar  einschliesslich  der  vom  Staate  repräsentirteu  Ge- 
meinwirthschaft,  sind.  Denn  wie  später  dargelegt  werden  wird 
(Buch  5 u.  6),  ist  der  Staat  selbst  auch  als  eine  Wirthschaft  auf- 
zufassen. Eine  Seite  dieser  Wirthschaft  ist  wieder  die  Finanz- 
wirthschalt. 


Als  solche  Glieder  haben  die  Einzelwirthschaften , neben  ihrem  Eigenzweck, 
doch  immer  gleichzeitig  Functionen  für  den  Zweck  des  Ganzen,  der  Volks- 
wirthschaft, und  sind  insofern©  Mittel  für  die  Zwecke  der  letzteren.  Die  Bezeichnung 
der  Volkswirthschaft  als  Ganzes  weist  auf  den  Character  derselben  als  Organismus 
und  auf  die  gliedliche  Zusammengehörigkeit  und  dadurch  bewirkte  gegenseitige 
Abhängigkeit  und  Bedingtheit  der  Einzelwirthschaften  hin,  wobei  daun  von  der 
Selbständigkeit  der  letzteren  abgesehen  wird.  Arbeitsteilung  und  Verkehr,  in 
Wechsclwiikung  mit  einander  stehend,  d.  h.  wiederum  Arbeitsvereinigung,  sind 
es.  welche  aus  den  Einzelwirthschaften  des  Volks  ein  Ganzes,  eine  Volkswirt- 
schaft machen.  Geber  die  organische  Auffassung  der  Volkswirthschaft  gegenüber 
der  atomistischen  s.  auch  Roscher,  §.  12  nebst  der  litterariscben  Anmerkung.  Sis- 
mondi  und  besonders  List,  früher  schon  A.  Müller,  Elemente  der  Staatskunst 
1509  haben  diese  organische  Auffassung,  die  jetzt  die  wissenschaftlich  heirschendo 
ist.  lange  vertreten.  Die  Schutzzöllner  wie  die  älteren  mercantilistischen  Theoretiker 
konnten  bei  ihrer  Werthlegung  auf  staatliche  Wirtschaftspolitik  auch  nicht  wohl  zu 
der  Einseitigkeit  der  atomistischen  Auffassung  der  Physiokrateu  und  der  Freihändler 
(Smith  sehe  Schule)  kommen.  S.  Uber  diese  atomistische  im  Gegensatz  zu  der  hier 
vertretenen  organischen  Auffassung  der  Volkswirthschaft  besonders  unten  Buch  5. 
Lindwurm  fällt  in  der  vorerwähnten  Polemik  in  diese  atomistische  Richtung  zurück, 
die  er  doch  mit  Recht  in  der  Grundtendenz  seiner  Schrift  und  in  seiner  Annäherung 
an  socialistische  Auffassungen  ablehnt. 


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Volkswirthschaft.  Begriff  und  Wesen. 


355 


Indem  jenes  „Ganze“  gleichzeitig  ein  abgeschlossenes 
Ganze  genannt  wird,  wird  wiederum  von  dem  Verkehre  der  eine 
Volkswirthschaft  bildenden  Einzel  Wirtschaften  mit  den  zu  einer 
anderen  Volkswirthschaft  gehörenden  Einzelwirtschaften  abgesehen. 
Auch  dies  aber,  und  damit  die  Trennung  der  Weltwirt- 
schaft in  verschiedene  „selbständige“  Volks  wirt- 
schaften und  die  Unterscheidung  zwischen  Volks-  und  Welt- 
wirthschaft,  ist  mit  Rücksicht  auf  durchaus  reale  Verhältnisse 
statthaft,  ja  nothwendig. 

Denn  die  Einzelwirthschaften  in  einer  Volkswirthschaft  sind  zunächst  regelmässig 
unter  sich  durch  Arbeitstheilung  und  Verkehr  näher  verbunden  und  übernehmen  als 
Glieder  ihrer  Volkswirthschaft  bestimmte  Functionen  (in  der  Gewinnung  gewisser 
wirthschaftlicher  Güter)  gerade  für  die  Zwecke,  d.  h.  filr  die  gesammtc  verlangte  Be- 
dürfnissbefriedigung  in  ihrer  Volkswirthschaft.  Man  erkennt  dies  besonders  deutlich 
in  der  entwickelteren  Volkswirthschaft  eines  grösseren  Landes  an  der  räumlichen 
Gruppirung  der  wichtigeren  Productionszweige,  namentlich  der  industriellen.  Eine 
Industriegruppe  einer  Provinz  z.  B.  arbeitet  für  die  Versorgung  des  ganzen  Landes 
mit  ihren  Producten  uud  dafür  ist  die  Provinz  wieder  darauf  angewiesen,  aus  dem 
Lande  das  zu  beziehen,  was  sie  braucht  und  was  eben  wegen  des  Vorwaltens  des 
betreffenden  Industriezweigs  nicht  in  ihr  selbst  erzeugt  wird  (Eisass  in  seinem  früheren 
Verhältnis  zu  Frankreich).  Die  Gewerbe-  und  lland  eis  Statistik  und  die  Statistik 
der  Rohproduction  zeigen  die  räumliche  Verbreitung  der  verschiedenen  wirt- 
schaftlichen Productionszweige.  Nach  den  von  ihnen  gelieferten  Thatsaclien  lassen 
sich  Productionskarten  entwerfen,  welche  diese  räumliche  Verbreitung  am  Besten 
veranschaulichen.  Die  notwendige  gegenseitige  Bedingtheit  der  Einzelwirtschaften 
und  der  Character  derselben  als  Glieder  der  Volkswirtschaft  und  darüber  hinaus  der 
Weltwirtschaft  tritt  dabei  deutlich  hervor.  Besonders  interessant  sind  die  neuer- 
lichen Karten  der  Circulation  der  fossilen  Brennstoffe  (nach  Eisenbahn-  uud  Wasser- 
routen), mit  denen  das  organische  Wesen  der  Volkswirthschaft  sehr  hübsch  an 
eiuem  wichtigen  Beispiel  illustrirt  werden  kann  (vergl.  einen  ähnlichen  Versuch  in 
Wortschilderung  für  Deutschland  schon  in  meinem  Aufsätze  „Die  Kohlen“  u.  s.  w. 
in  der  Tüb.  Zeitschr.  1856).  Lehrreiche  und  interessante  statistische  Arbeiten  Uber 
den  Standort  der  Gewerbe  lieferte  E.  Laspeyres  für  Nordamerica  in  der  Berl. 
Vierteljahrsschrift  für  Volkswirthschaft,  1870,  II,  03 ; eb.  III,  1;  1871,  II.  1.  S. 
auch  Koscher.  Studien  über  die  Naturgesetze,  die  den  zweckmässigen  Standort 
der  Industriezweige  bestimmen,  jetzt  in  der  3.  Aufl.  s.  Ansichten  d.  Volkswirthsch., 
Leipz.  1878,  II,  1. 

Die  Natur  der  Volkswirthschaft  als  eines  Organismus  bringt 
es  dann  auch  mit  sich,  dass  zwischen  den  Einzelwirtschaften  als 
Gliedern  der  Volkswirthschaft  und  zwischen  ihren  Functionen  sowie 
zwischen  den  Berufsgruppen  von  Einzelwirthschaften  (z.  B.  Ur- 
production,  Landwirtschaft,  Industrie)  ein  notwendiges  Gleich- 
gewicht und  Ebenraaass  stattfinden  muss.  Abweichungen 
hiervon  können  nur  durch  die  Erweiterung  des  volkswirtschaft- 
lichen Verkehrs  zum  internationalen  und  weltwirtschaftlichen  er- 
folgen und  ihre  Rechtfertigung  finden,  wie  die  moderne  Entwicklung 
dieser  Verhältnisse  das  zeigt. 

Mit  der  Volkswirthschaft  in  dieser  Auffassung  hat  es  denn 

23* 


356  3.  B.  Wirtschaft  und  Volkswirtschaft.  1.  K.  Wesen  und  Arten.  §.  150, 151. 

auch,  nach  dem  Früheren  (§.  100),  die  Wissenschaft  der  Politischen 
Oekonomie  zu  thun. 

B.  — §.  150  [54],  Entwicklung  der  Volkswirtschaft 
Dafür  sind  viererlei  Momente  maassgehend:  ein  persönliches 
und  nationales,  das  im  Volk  und  seiner  geschichtlichen  Ent- 
wicklung, ein  natürliches,  geographisches,  das  im  Laude 
und  seiner  Naturbeschaffenheit,  ein  technisches,  das  in  der  Ge- 
staltung des  Product ionsbetriebs  und,  in  engem  Zusammen- 
hänge mit  dem  zweiten  Moment,  in  der  Gestaltung  der  Com- 
munications- und  Transportverhältnisse,  endlich  ein  recht- 
liches und  politisches,  das  im  Staat  und  in  der  Gestaltung 
der  wirtschaftlichen  Rechtsordnung  liegt. 

Die  Volkswirtschaft,  als  Collectivphänomen , wie  sie  oben 
(S.  259)  genannt  wurde,  ist  ein  geschichtliches  Product  aller  dieser 
Momente,  die  einzelne  concrete  Volkswirtschaft  ein  geschichtliches 
Product  der  concreten  Gestaltung  (Difl’crenzirung)  und  coucreten 
Combination  dieser  Momente. 

Die  „Volkswirtschaft“  geht  daher  von  älteren  einfacheren  Ge- 
staltungen, in  welchen  sie  noch  unentwickelt  und  selbst  nur  erst 
im  Keime  vorhanden  ist,  durch  die  verschiedenen  Phasen  hindurch, 
welche  insbesondere  die  menschlichen  Gemeinschaften  selbst  von 
Geschlecht,  Gens,  Stamm  hindurch  bis  zum  „Volke“  durchlaufen. 
Jeweilig  erhält  sie,  die  Volkswirtschaft,  oder  das,  was  in  früheren 
Phasen  als  ihr  Vorläufer  und  ihr  Analogen  bezeichnet  werden 
muss,  dann  ihr  Gepräge  durch  diejenigen  Gestaltungen  der  wirt- 
schaftlichen Productionsweise  und  Verteilung  und  durch  die  für 
diese  Gestaltungen  wieder  maassgebenden  Besitz-  und  Arbeitsver- 
hältnissc  und  deren  Ordnung  nach  Sitte  und  Recht,  welche  sich  au 
die  Gestaltungen  der  jeweilig  hervortretenden  Organisationsformen 
jener  menschlichen  Gemeinschaften  anschliessen.  Alle  diese  Ver- 
hältnisse stehen  dann  aber  in  Wechselwirkung. 

Erst  indem  und  nachdem  die  auf  engerer  Blutsverbindung  be- 
ruhenden menschlichen  Gemeinschaften  sich  lockern,  d.  h.  durch 
die  persönlichen  Gefühle  und  Ansichten  der  Angehörigen,  durch 
die  auf  diesen  Gefühlen  und  Ansichten  beruhenden  Autoritätsver- 
hältnisse und  durch  die  das  Alles  stutzende  Sitte  und  Rechtsordnung 
— soweit  hier  von  letzterer  schon  zu  reden  ist  — nicht  mehr  zusam- 
men gehalten  werden,  erst  wenn  daher  an  Stelle  solcher  Gemeinschafts- 
bcziehuugen  mehr  und  mehr  nur  „gesellschaftliche“  und  ins- 
besondere wTirthschaftliche  Beziehungen  treten,  wie  sie  durch 


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Entwicklung  der  Volkswirtschaft. 


357 


Arbeitsteilung,  Verträge,  Tausch  u.  s.  vv.  bedingt  werden,  — erst 
indem  und  nachdem  diese  Entwicklungen  vorangegangen  sind  oder 
sich  gleichzeitig  vollziehen,  entsteht  und  entwickelt  sich  das,  was 
wir  „ Volks wirthschaft“  im  eigentlichen  Sinne  nennen  (vgl. 
o.  §.  117,  118). 

Wie  sich  diese  Volkswirtschaft  alsdann  gestaltet,  hängt  wieder 
von  der  Entwicklung,  Gestaltung,  Combination  aller  jener  vier 
Momente  ab.  Danach  erhält  dann  jede  conerctc  Volkswirtschaft 
ihr  individuelles  nationales,  geographisches,  ökonomisch- 
technisches  und  politisch-rechtliches  Gepräge,  erhalten 
aber  auch  die  verschiedenen  Volkswirtschaften  wieder  einen  ge- 
meinsamen Typus,  tibereinstim mendeGrundzüge,  nach 
dem,  was  eben  in  diesen  vier  Seiten  bei  ihnen  übereinstimmt. 
Und  nach  diesem  gemeinsamen  Typus,  wie  ihn  in  etwa  gleicher 
Geschichtsperiode  die  Volkswirtschaften  von  Völkern  im  Ganzen 
gleicher  Culturentwicklung  zu  zeigen  pflegen,  kann  man  dann 
historische  Typen  (typische  Phasen)  der  „Volkswirt- 
schaft überhaupt“,  als  eines  allgemeinen  Colleetivphänomens 
menschlicher  Geschichte,  unterscheiden.  Die  Herausschälung  gerade 
dieses  Typischen  fällt  in  die  früher  unterschiedene  zweite 
(theoretische)  Aufgabe  der  Politischen  Oekonomie  (§.  60). 

Solche  typische  Phasen  sind  in  der  antiken  Welt  die  „einheitliche  Oekenwirth- 
schaft“  und  ihre  spätere  Auflösung  mit  dem  Siege  des  „freien  Verkehrs“  (Hodhertus). 
In  der  Entwicklung  der  Volkswirtschaft  der  neueren  Völker,  nach  den  Phasen  älteren 
Agrarcommunismus’  und  ihm  folgender  agrarischer  Wirthschaft  freier  Baucrschaften 
und  höriger  Hofwirthschaften,  die  frühmittelalterliche  und  spätere  grundherrschaftliche, 
königs-,  frohn-  und  klosterhoiwirthschaftliche,  die  neben  die  agrarischen  Wirthschaften 
tretende,  aber  diese  selbst  zum  Theil  in  sich  aufnehmende,  sonst  vorncmlich  Gewcrbe- 
und  Handelsbetrieb  in  corporativen  Formen  (Zunftvcrfassung'l  darstellende  „stadtwirt- 
schaftliche“ (G.  Schmoller);  darauf  die  Stadt  und  Land  mehr  zusammenfassende,  die 
städtische  Autonomie  auch  auf  wirthschaftlichem  Gebiet  beschränkende  territorial-  und 
staatswirthschaftliche  Phase  im  Zeitalter  des  Mcrcantilismus  und  der  emporsteigenden 
Staatsgewalt:  lauter  Entwicklungsstadien,  welche,  im  Einzelnen  mit  kleinen  Verschieden- 
heiten, in  den  Hauptzügen  doch  gleichmässig,  die  west-  und  mitteleuropäischen  Volks- 
wirtschaften auf  dem  Wege  zur  „modernen“  Volkswirtschaft  „freien  individualisti- 
schen“ Verkehrs  auf  der  Grundlage  des  Privateigenthums  am  Boden  und  Kapital 
durchlaufen  haben. 

§.  151  [55,  56].  Die  vier  einzelnen  Momente,  welche 
die  Entwicklung  der  Volks  wirthschaft  beherrschen. 

1.  Es  ist  auch  erst  ein  langer  und  langsamer  geschichtlicher 
Process,  welcher  das  Volk  als  Ganzes  im  Siune  der  im  Staats- 
(bzw.  staatlichen  und  vertragsmässigen  Wirthschafts -)  Verbände 
vereinigten  Personen  zum  eigentlichen  Träger  der  Volkswirtschaft 
gemacht  hat,  — ein  Process,  welcher  wieder  von  all  jenen  anderen 


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358  3.  B.  W irtschaft  and  Volkswirtschaft.  1.  K.  Wesen  und  Arten.  §.  151. 


geographischen,  technischen,  rechtlichen,  politischen  Factoren  be- 
dingt gewesen  und  dadurch  beeinflusst  worden  ist 

Die  historische  Thatsache  gemeinsamer  Abstammung,  die  gemeinsamen  geschicht- 
lichen Erlebnisse,  der  Besitz  eines  gemeinsamen  Wohngebiets,  die  Gemeinsamkeit  und 
Eigenausbildung  (die  „nationale“  Ausbildung)  wichtiger  („nationaler“)  Besitztümer, 
der  Sprache,  der  Sitte  — eigentümlicher  Weise  wird  grade  dies  so  cbaractcristische 
Moment  von  Roscher  §.  16  weggelasseu — , des  Rechts,  des  Staats,  der  Wirt- 
schaft, selbst  der  Kunst,  Wissenschaft  und  Religion,  diese  Momente  alle  sind  es, 
auf  denen  das  Volk  im  Sinne  von  Nation  beruht  Die  Volks  Wirtschaft  ist  eines 
der  genannten  nationalen  Besitztümer,  ist  Nationalökonomie  und  insoweit  ein  Natur- 
product.  Aber  wie  dio  Nation  selbst  und  die  andere  verwandte  Seite  des  Volks- 
lebens, das  Volks  recht,  erhält  auch  die  Volks  wirtli  schaft  erst  durch  den  Staat 
ihre  Gestaltung:  die  Nation  wird  „Staatsvolk“,  die  Volkswirtschaft  wird  Kunst- 
product,  der  natürliche  Organismus  wird  zum  Theil  künstlich e Organi- 
sation. Die  Volkswirtschaft  wird  hierdurch  aus  der  Nationalökonomie  die  Wirt- 
schaft des  Volks  im  staatswissenschaftlichen  oder  politischen  Sinne  des  Worts  Volk, 
also  die  Wirtschaft  der  im  Staatsverband  vereinigten  Personen:  wird  politische 
Oekonomie  (in  diesem  Sinne).  Ihr  spccifisch  nationales  Gepräge  verliert  oder  mo- 
dificirt  die  Volkswirtschaft  alsdann  in  derselben  Weise,  wie  in  den  Wechsclfälleu  der 
Geschichte  die  in  einem  concreten  Staate  vereinigte  Bevölkerung  auf  hört,  mit  der 
Nation  im  ursprünglichen  Sinne  des  Ausdrucks  identisch  zu  sein.  Dnd  wie  etwa  durch 
den  geschichtlichen  Process,  in  Folge  des  Zusammenlebens  in  einem  Wohngebiete, 
des  wirtschaftlichen  Verkehrs,  der  gemeinsamen  Rechtsordnung  und  der  staatlichen 
Zusammenfassung  die  Angehörigen  eines  Staatsverbands  wieder  zu  einer  eigenartigen, 
neuen  „Nation“  werden,  so  nimmt  die  Volkswirtschaft  in  diesem  Verbände  auch 
wieder  ein  neues  spccifisch  „nationales“  Gepräge  an.  (Vcrgl.  Neumann,  Volk  und 
Nation,  Leipz.  1SSS). 

2.  Das  innige  Verwachsen  der  Einzelwirtschaften  unter  ein- 
ander, der  agrarischen  und  städtischen  Wirtschaften  und  aller 
zur  Volkswirtschaft  wird  in  den  verschiedenen  Entwicklungs- 
phasen  und  auch  noch  heute  wesentlich  beeinflusst  durch  das 
Land  und  dessen  Natur,  insbesondere  die  geographische  Lage, 
Beschaffenheit  und  selbst  durch  die  geometrische  F o r m des  Volks- 
wirth8chaftsgebiets.  Gleiches  gilt  dann  auch  wieder  von  der  Ab- 
trennung der  einzelnen  Volkswirtschaften  von  einander. 

Die  verticale  und  horizontale  Configuration  des  Gebiets,  die  Höhe,  Richtung, 
Zugänglichkeit  der  Gebirge,  die  gesammten  orographischcn , hydrographischen,  local- 
klimatischen  Verhältnisse,  die  Seeverbindung  und  die  natürlichen  Binnen -Wasser- 
strassen, die  von  allen  diesen  Momenten  abhängige  Entwicklung  der  Communications- 
rnittel,  die  Lage  eines  Volkswirthschaftsgebiets  zu  anderen  Gebieten,  die  Lage  der 
einzelnen  Landcstheile  zu  einander  und  zum  Auslande  entscheiden  zum  Theil  maass- 
gebend Uber  die  Art  und  Innigkeit  des  Verkehrs  innerhalb  der  Volkswirtschaft  und 
zwischen  verschiedenen  Volkswirtschaften  oder  Thcilen  derselben,  z.  B.  Grenzpro- 
vinzen. Die  Bedeutung  der  geometrischen  Form  des  Gebiets  zeigt  sich  in  Verhält- 
nissen wie  Dalmatiens  Lage  zu  Oesterreich,  Tirols  jetzt,  nach  Abtretung  Lombardo- 
Venetiens,  desgl. ; Ostpreussens  Lage  zu  Deutschland  u.  dergl.  m.  Die  Gestaltung  der 
Volkswirtschaft  unter  dem  Einflüsse  dieser  räumlichen  Verhältnisse  wirkt  dann  auch 
wieder  auf  das  politische  Leben  des  Volks,  auf  das  losere  oder  engere  politische  Band 
verschiedener  nationaler  Theilc  der  Bevölkerung  bedeutungsvoll  ein. 

3.  Besondere  Beachtung  für  die  Entwicklung  der  typischen 
Phasen  der  Volkswirtschaft  verdienen  dann  die  technischen 


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Einzelne  Momente  von  Bedeut,  f.  d.  Entwickl.  der  Volkswirtlisch. 


359 


und  rechtlichen  Momente,  welche  in  näherer  Beziehung  unter 
einander  stehen  und  sich  gegenseitig  beeinflussen. 

Der  Zustand  der  Com  mu  n i catio nsinittel , welcher  ausser  von  der  Xatur- 
beschalfcnheit  des  Landes  und  der  Natur-Wege  (besonders  Wasserwege)  vor  Allem 
vom  Stande  der  Technik  — wozu  auch  der  Stand  der  Zähmung  der  Thiere  und  der 
bezüglichen  Verwendung  derselben  gehört  — und  von  den  für  Bau  und  Betrieb  von 
Communications-  und  Transportmitteln  verfügbaren  wirtschaftlichen  Mitteln  abhängt: 
der  Stand  der  Productionstochnik,  namentlich  ob,  wie  weit  und  wie  an  Stelle 
der  menschlichen  Muskelkraft  thicrischc  und  (sog.  todte)  Naturkräfte  benutzt  werden 
(Maschine);  die  vom  Stand  der  Technik  mit  bedingten  Verhältnisse  der  notwendigen 
oder  zweckmässigsten  Arbeitsteilung  und  Betriebsgestaltung  (Concentration , Gross- 
betrieb); die  Art,  die  räumliche  Ausdehnung  des  Absatzes  und  Markts;  anderseits 
die  Gestaltung  der  persönlichen  Rechtsverhältnisse  (Unfreiheit,  Freiheit, 
Ständewesen),  die  Gestaltung  der  Besitz-  und  Besitzrechtsverhältnisse,  nament- 
lich des  Grundbesitzes,  davon  abhängig  der  Arbeits-  und  Erwerbsgelegenheiten 
und  Bedingungen  im  Gebiete  des  lange  Zeit  fast  alleinigen,  fast  immer  wichtigsten 
nationalen  Prodnctionszweigs,  der  Landwirtschaft  (und  Viehzucht);  der  Zostand  der 
allgemeinen  Rechtssicherheit  von  Person  und  Eigentum,  der  Einrichtung  der 
Rechtsordnung  für  Absatz-  und  Marktwesen,  Gewerbe-  und  Handelsbetrieb,  Unter- 
nehmungsformen:  weiter  die  von  Technik  und  Recht  mit  bedingte  Vcrtheilung 
der  Bevölkerung  über  das  Land,  als  das  Volkswirthschaftsgebiet,  die  Art  der 
Ansiedlung,  der  Wohn-  und  Lebensverhältnisse  (Höfe,  Dörfer,  Städte)  — das  und 
manches  Aehnliche  weiter  sind  die  hier  für  die  Gestaltung  der  Volkswirtschaft  und 
für  die  Entwicklung  ihrer  Phasen  wirksam  werdenden  Momente. 

In  markanter  und  mehr  oder  weniger  klar  bewusster  Weise 
ist  durch  den  Staat  die  Ausbildung  besonderer  „ Volks  wirt- 
schaften“ innerhalb  der  europäisch -amerikanischen  Welt  seit  dem 
16.  und  17.  Jahrhundert  bis  in  unsere  unmittelbare  Gegenwart 
hinein  begünstigt  und  so  die  stadtwirthschaftliche,  grundberrschaft- 
licbe  in  die  staatswirthschaftliche  Phase  hinüber  geleitet  worden. 

Die  besonderen  „Staatsindividualitäten“  treten  seitdem  schärfer  hervor, 
die  straffere  Centralgewalt  vernichtete  oder  verminderte  die  provincielle,  communale 
und  ständische  Autonomie  auch  auf  wirtschaftlichem  Gebiete,  suchte  aus  dem  Staats- 
gebiete einen  grossen  einheitlichen  Markt  zu  schaffen  und  sperrte  oder  er- 
schwerte den  Verkehr  mit  dem  Auslände.  Von  grösster  Bedeutung  ward  insbesondere 
die  Ausbildung  der  Landesgrenzzollsystemc,  innerhalb  deren  zunächst  das 
Zollgebiet  die  territoriale  Basis  der  nationalen  Volkswirtschaft 
(Colbert)  wurde.  Die  Volkswirtschaft  wuchs  dann  gewissermaassen  in  das  Zoll- 
gebiet hinein  und  indem  letzteres  möglichst  auf  das  Staatsgebiet  (Frankreich.  Gross- 
britannien und  Irland.  Russland,  Oesterreich,  Italien)  oder  auf  das  N atio  n algebiet 
(Deutschland,  Zollverein)  ausgedehnt  wurde,  verwuchsen  auch  die  national  und  poli- 
tisch disparaten,  die  neuerdings  etwa  erst  mit  dem  Staate  verbundenen,  die  geogra- 
phisch abgelegeneren  Landes-  und  Volksthcile  zuerst  mit  der  Vol ks wi rt hschaf t, 
dann  mit  dem  Staate  selbst  (Eisass-Lothringen  und  andere  ostfranzösische  Grenz- 
provinzen in  ihrer  volkswirtschaftlichen  Verbindung  mit  Frankreich  seit  der  Revo- 
lution, die  russischen  westlichen  Annexionsgebietc.  Oesterreichs  Kronländer,  die  ehe- 
mals polnischen  Gebietsteile  Preussens,  die  Staaten  des  Zollvereins,  Eisass- Lothringen 
in  seiner  Verbindung  mit  dem  Deutschen  Reiche  u a.  in).  Das  Landesgrenz- 
zollsystem und  die  damit  in  enger  Verbindung  stehende  gesainmte  mercanti- 
listische  Volkswirthschafts-  (nicht  nur:  Handels-)  Politik,  beide  gewöhnlich 
viel  zu  enge  nur  aus  dem  handelspolitischen  Gesichtspunctc  beurteilt  und  oft 
genug  von  doctrinären  Freihändlern  verurteilt,  erweisen  sich  hiernach  von  grösster 
allgemein  wirtschaftlicher  und  politischer  Bedeutung  und  in  Folge  davon 
selbst  wieder  von  maassgebendem  Einllusse  auf  die  Oultur  eines  Volks.  Diese  Wir- 


360  3*  B.  Wirtschaft  und  Volkswirtschaft.  1.  K.  Wcson  und  Arten.  §.  152,  153. 


kung  ist  häufig  durch  begleitende  politische  oder  polizeiliche  Absperrungsmaassregelu 
(wie  7.  B.  das  Passwesen)  noch  gesteigert  worden.  Die  Wechselwirkung  zwischen 
volkswirtschaftlichen  und  politischen  Verhältnissen  tritt  in  den  genannten  Thatsaehen 
und  Maassrcgcln  sehr  frappant  hervor.  Erst  die  pbysiokratisch-Smith'sche  National- 
ökonomie mit  ihrer  einseitig  kosmopolitischen  Tendenz  hat  dies  wahrhaft  Staat s- 
wirthschaftliche  Moment  in  der  Volkswirtschaft  in  seiner  Bedeutung  verkannt  und 
mit  unter  dem  Einfluss  dieser  und  verwandter  Lehren  (Kant'sche  Rechts  - und  Staats- 
philosophie) ist  es  auch  in  der  Praxis  der  Wirtschaftspolitik  zurückgedrängt  worden. 
Ganz  anders  fasst  dagegen  die  Aufgabe  unserer  Zeit  ein  Rodbertus  auf:  „Die 
Volkswirtschaft  muss  wieder  mehr  Staats  Wirtschaft  werden“,  womit  man  eben 
nur  auf  das  Richtige  im  Mcrcantilismus  zurückkommt.  Demgemäss  wird  denn  auch 
wieder  eine  dem  Ge  s am  mtbedürfniss  des  Volks  entsprechende  Gestaltung  der  wirt- 
schaftlichen Rechtsordnung,  der  Besitz-  und  Erwerbsordnung  durch 
den  Staat  verlangt. 

Die  radicalen  Freihändler,  z.  B.  Basti at,  haben  diese  hohe  vo  1 ks wirtschaft- 
liche und  politische  Bedeutung  der  Landesgrenzzollsysteme  und  der  leitenden  Gesichts- 
pnncte  und  Maassregeln  des  Mercantilismus  gcwöhulich  verkannt,  in  richtiger  Conse- 
quenz  ihres  atomistischen  Standpuncts,  von  welchem  aus  die  Vol ks Wirtschaft  nur 
ein  Nebeneinander,  keine  organische  Verbindung  von  Einzelwirtschaften.  S.  die 
characteristische  Aeusscrung  Bastiat’s  über  den  deutschen  Zollverein,  bei  Berg  ins, 
Finanzwiss.,  1S65,  S.  3S‘J,  Vergl.  dagegen  Fr.  List,  nation.  Syst.,  Kap.  20  u.  27 
und  A.  Wagner,  Art.  Zölle  im  Staatswörterb.  XI,  344  ff.  Anwendung  des  Ge- 
sagten auf  die  practische  politische  Frage  der  Wiedervereinigung  Elsass-Lothringens 
mit  Deutschland  in  A.  Wagner,  Eis.  u.  Lothr.,  6.  Aull.,  1871,  S.  53  ff.,  — jetzt  schon 
mannigfach  durch  die  That  bewahrheitet.  — S.  Rodbertus,  in  der  Tüb.  Ztsclir.  l^TS, 
S.  232.  Die  Consequenz  dieser  Auffassung  ist  von  mir  in  den  folgenden  Büchern  und  in 
dem  2.  Theil  der  Grundlegung  (vom  Recht  in  der  Volkswirtschaft)  gezogen  worden, 
was  dann  freilich  eine  ganz  andere  Behandlung  der  nat.-ökonouiischcn  Grundlegung, 
als  die  übliche,  mit  sich  bringt.  Auch  im  wissenschaftlichen  Socialismus  ist  diese 
Auffassung  der  richtige  Kempunct.  Die  Schutzzöllner,  Fr.  List  inbegriffen,  ver- 
fehlen es  freilich  darin,  dass  sie  nur  ein  handelspolitisches  „nationales“  System 
der  Politischen  Ökonomie  wollen:  ein  das  ganze  Wirtschaftsleben  umfassendes  ist 
zu  verlangen.  Der  Schutzzoll  ist  kein  „System“,  sondern  nur  ein  Glied  eines  wirth- 
schaftspolitischcn  Systems,  und  nicht  für  sich,  sondern  nur  als  solches  Glied, 
daher  nur  bei  pri n ci  pi cl  1 er  Bemängelung  des  „Systems  der  freien  Concurreuz“ 
haltbar.  Die  gewöhnlichen  Schutzzöllner  sind  hier  ebenso  unzulänglich  in  ihrer  Ar- 
gumentation wie  ihre  Gegner. 

Es  muss  hier  an  diesen  wenigen  Andeutungen  über  die  erwähnten  Momente, 
welche  die  Entwicklung  der  Volkswirtschaft  beherrschen,  genügen.  Für  alles  Weitere 
ist  auf  die  Ausführungen  in  der  Practischen  Nationalökonomie  (besonders  Agrarwesen, 
wo  jetzt  bereits  der  1.  Band  von  Buch enberger’s  Werk  vieles  Hierhergehörige 
enthält,  und  Gewerbe-  und  Handelswcsen,  aber  auch  Verkehrswesen)  zu  verweisen. 

Die  ältere,  „abstracte“,  „unhistorische“  Nationalökonomie  hat  jene  Momente 
teils  gar  nicht,  teils  nicht  genügend  gewürdigt  oder,  wo  sie  darauf  einging,  hat  sie 
sich  die  geschichtliche  Entwicklung  zu  einfach  construirt,  namentlich  Arbeitsteilung, 
Verkehr,  Tausch  sich  zu  einfach  mechanisch  nach  den  Anschauungen  des  modernen 
ökonomischen  Individualismus  aus  dem  Wirken  des  Selbstintcresscs  entwickeln  lassen, 
ohne  die  Factoren  zu  erforschen,  welche  das  Wirken  dieses  Motivs  und  Arbeits- 
teilung, Verkehr  und  Tausch  selbst  wieder  beeinflusst  haben.  Hier  liegen  die  auch 
methodologisch  bedeutsamen  Verdienste  der  „historischen  Richtung“  (§.  15),  ins- 
besondere der  Arbeiten  Roscher’s,  Lamprecht’s,  v.  Inam a-Stcrn egg’s, 
Bücher ’s,  und  namentlich  G.  Schmollcr's  (specicll  über  die  prenssischen  Ver- 
hältnisse in  den  schönen  Ausführungen  über  städtischo,  territoriale,  staatliche  Wirt- 
schaftspolitik, Jahrb.  B.  8,  S.  15,  1884,  s.  auch  oben  S.  241,  Note)  u.  A.  m.,  wie 
anderseits  aber  auch  von  Rodbertus,  Marx. 

Der  Unterscheidung  von  Einzel-  und  Volkswirtschaft  ent- 
spricht in  Theorie  und  Praxis  die  wichtige  Unterscheidung  der 
Betrachtung  wirtschaftlicher  Vtrhältnisse,  Fragen,  Streitfragen, 


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Weltwirtschaft.  Wesen.  Entwicklung. 


3G1 


Interessen  u.  s.  w.  vom  Standpuncte  beider  lind  wieder  je  vom  Stand- 
puncte  der  verschiedenen  Einzel  wirtb  sc  haften  und  Gruppen  von  solchen 
aus.  Der  Betrachtungsstandpunct  der  Volkswirthschaft  muss  eben 
derjenige  der  wirthschaftlichen  und  der  weiter  davon  bedingten  Inter- 
essen des  Volksganzen  sein:  eine  ebenso  leicht  hinzustellende, 
eigentlich  selbstverständliche,  als  schwer  im  Einzelnen,  nicht  nur  in 
der  Praxis,  sondern  auch  in  der  Theorie  richtig  durchzuführendc  For- 
derung. Namentlich  liegt  immer  die  Gefahr  vor,  einzelwirthschaft- 
liche  Classeninteressen  zu  volkswirtschaftlichen  Volks-  (und  Staats-) 
Interessen  zu  machen. 

V.  Die  Weltwirtschaft.  — §.  152  [57].  A.  Begriff  und 
Wesen.  Die  Weltwirtschaft  ist  der  Inbegriff  der  miteinander 
verkehrenden  Einzelwirtschaften  vieler,  schliesslich  aller  Völker 
oder  Volkswirtschaften  der  Erde.  Innerhalb  dieser  gesammten 
Weltwirtschaft  lassen  sich  in  bestimmten  Zeiten  wieder  Volks- 
wirthschaftsgruppen  unterscheiden,  welche  sich  in  einigen  Be- 
ziehungen gegen  einander  ähnlich  abscheiden  wie  die  Volkswirt- 
schaften. Sie  werden  mitunter  ebenfalls  „Weltwirtschaften“  genannt. 

Man  kann  so  für  die  antike  Zeit  die  Weltwirtschaft  der  Völker  des  Mittelmeer- 
beckens (mit  den  Erweiterungen  im  römischen  Weltreich)  und  diejenige  der  mittel- 
und  ostasiatischen  Völker,  für  die  neuere  Zeit  und  die  Gegenwart  die  Weltwirtschaft 
der  europäisch- americanischen  Culturvölker  (incl.  Australiens)  als  occidentalischc 
der  Weltwirtschaft  der  asiatischen  Culturvölker  als  der  orientalischen  gegenüber 
stellen.  Für  manche  Wirthschaftsverhältnisse,  z.  B.  für  den  C'haracter  und  für  das 
in  der  sog.  Handelsbilanz  zum  Vorschein  kommende  Endergebniss  des  auswär- 
tigen Handels  (dauernde  Passivität  des  europäischen  Handels  gegen  Asien, 
im  Wesenüichen  seit  den  Kömerzeiten),  ferner,  zum  Thcil  in  Verbindung  damit,  für 
die  Edclmetallgeld  Verhältnisse  bilden  diese  beiden  „Weltwirtschaften“  förm- 
lich wieder  jede  ein  Ganzes,  ähnlich  wie  die  einzelnen  Volkswirtschaften  und  treten 
in  einen  gewissen  Gegensatz  zu  einander. 

B.  — §.  153  [58].  Die  Entwicklung  der  Weltwirt- 
schaft. Sie  ist  von  denselben  Factoren,  wie  diejenige  des  Ver- 
kehrs Überhaupt  (§.  117)  und  theilweise  von  den  gleichen  Factoren, 
wie  diejenige  der  Volkswirthschaft  (§.  150)  abhängig.  Man  kann  dabei 
wohl  die  mehr  die  Entwicklung  bedingenden  Momente, 
d.  b.  die,  welche  die  Weltwirtschaft  möglich  machen,  und  die 
mehr  eigentlich  verursachenden  Momente,  welche  auf  die  Ent- 
wicklung der  Weltwirtschaft  unmittelbar  hinwirken,  unterscheiden. 
Die  ersteren  sind  einmal  die  Rechtsverhältnisse,  insbesondere 
die  rechtliche  Sicherheit  (Völkerrechtszustand,  tatsächlicher 
Rechtsschutz  in  der  Fremde,  Kriegsmarine  als  Schutzanstalt)  und 
die  rechtliche  Zulässigkeit  (wirtschaftliche  „Freiheit“)  des 
Verkehrs  sowie  die  rechtlichen  Bedingungen  für  diesen,  in  der  Volks- 


362  3-  B.  Wirtschaft  und  Volkswirtschaft.  1.  K.  Wesen  und  Arten.  §.  153, 154. 


wirthschaft  und  über  dieselbe  hinaus  (wirtschaftliche  Rechtsordnung 
besonders  des  Handels  im  und  mit  dem  Auslande,  „Freihandel“); 
sodann  der  Zustand  der  Communicationsmittel.  Die  zweiten, 
die  causa  len  Momente  sind  erstens  die  verschiedene  natür- 
liche Ausstattung  der  Länder  und  (zum  Theil  davon  abhängig) 
der  Völker,  zweitens  die  Verschiedenheit  der  Entwick- 
lungsstufen der  einzelnen  Volks wirth sc  haften.  Die 
nationale  A r beitsthei  lung  erweitert  sich  in  der  Weltwirt- 
schaft zur  internationalen.  Die  beiden  ersten,  wesentlich  be- 
dingenden, Momente  sind  also  wieder  ein  rechtliches  und  ein 
technisches,  die  beiden  letzten,  wesentlich  bewirkenden,  Momente 
ein  natürliches  (geographisches)  und  ein  historisch-nationales. 

Die  Weltwirtschaft  kann  dann,  wie  die  Volkswirtschaft, 
wieder  die  Natur  eines  grossen  Organismus  annebraen,  in 
welchem  die  einzelnen  Volkswirtschaften  (oder  genauer  gesagt 
die  Einzel  wirtschaften  in  ihnen)  die  Function  von  Gliedern 
erhalten. 

Tatsächlich  neigt  sich  der  heutige  Verkehr,  unter  den  ihn  begünstigenden  Ein- 
flüssen in  der  Gegenwart,  mehr  als  in  irgend  einer  früheren  Periode  der  Weltgeschichte 
dahin,  die  Volkswirtschaften  zu  einem  die  ganze  Erde  umspannenden  welt- 
wirtschaftlichen Organismus  zu  vereinigen.  Die  Welthandelsstatistik 
ist  ein  Spiegelbild  dieser  Gestaltung.  (Vergl.  die  vortrefflichen  Berichte  von  Fr.  X. 
Neumann  [Wien]  in  Behm’s  geogr.  Jahrbüchern,  später  selbständig  u.  d.  T.  Ueber- 
sichton  über  Production.  Verkehr  u.  s.  w.  in  d.  Weltwirtschaft,  nach  Keumann’s  Tode 
fortgeführt  von  J uraschek.)  Ob  freilich  diese  Gestaltung  in  der  jetzigen  Ausdehnung 
schon  allgemein  richtig  ist  und  ob  nicht,  nach  der  Theorie  von  Fr.  List,  die  Volks- 
wirtschaften der  Cultorvölker  erst  eine  gleich  massigere  Entwicklung  erreichen  sollten, 
bevor  das  kosmopolitische  Princip  in  der  Wirtschaftspolitik , daher  die  Aufgabe  des 
Ausbaues  der  Weltwirtschaft,  für  diese  Völker  und  ihre  Staaten  so  sehr  in  den 
Vordergrund  treten  darf,  — das  kann  hier  nur  als  eine  mindestens  zu  erwägonde 
Frage  hingcstellt  werden.  Ihre  Entscheidung  hängt  von  der  gesamtnten  Auffassung 
des  Wirtschaftslebens  und  der  Wirtschaftspolitik  mit  ab.  Die  im  §.  151  hervor- 
gehobene Aufgabe,  dass  die  Volks  wirthschaft  wieder  mehr  Staats  wirthschaft  werde, 
lässt  sich  wohl  nicht  lösen,  ohne  dass  die  weltwirtschaftliche  hinter  die  volks- 
wirtschaftliche Entwicklung  zurückgestellt  wird  (s.  unten,  und  List,  nat.  System 
S.  13  11.).  Die  Wiederhinneigung  zu  stärkerem  und  für  die  Agrarproduction  zu  er- 
neutem Zollschutz,  besonders  seit  Ende  der  lSTOer  Jahre,  deutet  darauf  hin,  dass  auch 
in  der  Praxis  derartige  Erwägungen  durchgedrungen  sind. 

§.  154  [62,  59  — 611.  Die  vier  einzelnen  Momente. 

Die  Bedeutung  der  einzelnen  vier  Momente,  der  Bedingungen  und  Ursachen  der 
Verkchrsentwicklung  über  die  heimische  Volkswirtschaft  hinaus  zur  weltwirtschaft- 
lichen ist  hier  wieder  nur  anzudeuten  und  erst  in  der  practischcn  Nationalökonomie 
genauer  darzulcgen. 

1.  Für  die  ältere  Entwicklung  und  für  die  Gestaltung  dieses 
Verkehrs  unter  wilden , barbarischen  und  Halbculturvölkern  noch 
heute,  kommen  vor  Allem  die  Zustände  der  allgemeinen  Rechts- 
sicherheit und  die  Rechtsnormen  bezüglich  des  Fremd en rechts 
in  Betracht. 


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Momente  für  die  Entwicklung  der  Weltwirtschaft. 


363 


Daher  in  letzterer  Hinsicht  die  Bedingungen,  unter  welchen  in  einem  anderen 
Lande  und  Staate,  ausserhalb  der  Heimath,  dem  fremden,  insbesondere  dem  Kaufmann 
Handel  zu  treiben,  Niederlassungen  zu  errichten  und  der  einheimischen  Bevölkerung 
gestattet  wird,  an  diesem  Handel  sich  zu  betheiligen,  sowie  die  weiteren  Bedingungen 
der  wirtschaftlichen  Rechtsordnung,  die  Rechtsformen,  die  etwaigen  corporativen 
genossenschaftlichen  Gestaltungen,  unter  welchen  die  ins  Ausland  handelnden  Stadt- 
und  Staatsbürger  diesen  Handel  nur  betreiben  können  und  dürfen. 

Auch  für  die  moderne  Zeit  der  Cnlturvölker,  wo  nach  völker- 
rechtlichen Grundsätzen  der  Fremde  vollen  Rechtsschutz  für  sich, 
sein  Eigenthum,  seine  Vertragsschlüsse  geniesst,  sind  doch  noch 
die  speciellen  Normen  des  Gewerberechts  für  die  Zulassung  des 
Fremden  zum  Gewerbetrieb  im  Inland,  daher  eventuell  völker- 
rechtliche Vertrüge  (Handelsverträge,  Schiffahrtsverträge  u.  s.  w.) 
hier  auf  die  Verkehrsentwicklung  von  Einfluss.  Weiter  ist  die  den 
auswärtigen  Handel  betreffende  Zoll-  und  Handelspolitik  maass- 
gebend. Endlich  kommt  die  gesammte  Gestaltung  des  Verkehrs- 
rechts i.  e.  S.,  auch  desjenigen  für  den  inländischen  Gewerbe- 
und  Handelsbetrieb,  auch  für  die  Betheiligung  eiuer  Volkswirt- 
schaft am  Aussenhandel  und  Weltverkehr  mit  in  Betracht. 

Von  der  Gestaltung  dieser  Verhältnisse  hängt  das  Maass  der  rechtlichen 
Zulässigkeit  der  internationalen  wie  der  nationalen  Arbeitsteilung  und  des  be- 
treffenden Verkehrs  mit  ab,  in  welcher  Hinsicht  dort  das  Freihandelssystem, 
hier  das  System  der  Markt-  und  Gewerbefreiheit,  beides  Folgen  des  Princips 
der  Verkehrsfreiheit,  der  Betheiligung  am  Welthandel  günstig  sind. 

Die  grosse  Entwicklung  dos  Weltverkehrs  und  z.  B.  auch  des  britischen  Aus- 
und  Einfuhrhandels  in  neuester  Zeit  ist  von  der  Durchführung  des  Freihandelssystems 
mit  abhängig  gewesen.  Die  wichtigere,  diesem  Moment  gegenüber  nicht  immer 
gebührend  gewürdigte  Voraussetzung  dafür  lag  aber  in  der  ungeheueren  Ver- 
besserung der  Communications-  und  Transportmittel.  Diese  hat  Länder 
von  immer  grösserer  Verschiedenheit  der  natürlichen  Ausstattung  und  der  volkswirt- 
schaftlichen Entwicklung  bis  tief  ins  Binnenland  hinein  und  selbst  für  den  Aus- 
tausch von  Artikeln  niedrigen  spccifischen  Tauschwerths  sich  gegenseitig  zugänglich 
gemacht. 

Vgl.  für  frühere  Zeiten  G.  Schanz,  englische  Handelspolitik  geggn  Ende  des 
Mittelalters,  2.  B..  Leipzig.  1881.  Lexis,  Abh.  Handel  im  Schönberg’schen  Handb. 
B.  2,  8.  A.,  u.  Abschnitt  VI  und  VII  daselbst. 

Der  Identificirung  von  Ursache  und  Voraussetzung  der  Entwicklung  des  Welt- 
handels und  der  einseitigen  Betonung  des  handelspolitischen  Moments  haben  sich  die 
Freihändler  sehr  oft  schuldig  gemacht,  so  auch  in  den  emphatischen  Verherrlichungen 
der  Zunahme  des  auswärtigen  Handels  in  den  letzten  Jahrzehnten.  Diese 
Zunahme,  welche  die  Handelsstatistik  überall  unzweifelhaft  ergiebt,  ist  relativ  in 
den  Ländern  verschiedener  Handelspolitik  nicht  immer  sehr  ungleich,  was  schon  be- 
weist, dass  das  Freihandelssystem  nicht,  wie  man  angenommen  hat,  der  allein  oder 
auch  nur  der  vorzugsweise  maassgebende  Factor  sei,  wenn  auch  dadurch  einzelne 
Richtungen  des  Handels  mitunter  besonders  begünstigt  sind  (z.  B.  der  englisch- 
französische Handel).  Die  Statistik  der  inländischen  Güterbewegung,  wie  sie  be- 
sonders die  Eisenbahnstatistik  liefert,  zeigt  dann  aber  noch  genauer,  dass  der  Ein- 
fluss der  verbesserten  Communicationsmittcl  auf  den  auswärtigen  Handel  mächtiger  als 
derjenige  der  Handelspolitik  war.  Der  auf  trockenen  Strassen  (Eisenbahnen'!  erfolgende 
Getreide-,  Vieh-  und  Kohlenverkehr,  der  sich  über  Mitteleuropa  zwischen  Ungarn, 
Polen,  Russland,  Frankreich  und  Italien  bewegt,  ist  ein  significantes  Beispiel.  Vgl. 
hierüber  auch  Baxter  im  Journ.  of  the  Statist,  society  in  London  vol.  XXIX  (1866), 


3(34  3.  B.  Wirtschaft  und  Volkswirtschaft.  1.  K.  Wesen  und  Arten.  §.  154. 

p.  549,  bes.  585 — 588.  Fawcctt,  Freihandel  u.  Zollschatz,  übersetzt  von  Passow, 
Berl.  1878,  S.  14  hebt  dies  auch,  aber  noch  nicht  genügend,  hervor. 

2.  Das  Communications-  und  Transportwesen  be- 
günstigt nach  dem  ihm  innewohnenden,  auf  rein  physiealischen 
Momenten  beruhenden  Entwicklungsgesetze  den  Verkehr  zuvör- 
derst und  am  Meisten  auf  der  See,  besonders  an  den  Küsten 
und  in  kleinen  Meeren,  ferner  auf  den  natürlichen  Binnenwasser- 
strassen. Der  Land  verkehr  entwickelt  sich  nothwendig  später, 
am  Leichtesten  noch  in  ebenem  Terrain  fruchtbarer  Länder  massiger 
räumlicher  Ausdehnung. 

Vcrgl.  den  genialen  Aufsatz  E.  Engel's  über  die  Grenzen  des  Erfmdungs- 
geistes  im  Transportwesen,  Zeitschr.  d.  K.  preuss.  Stat.-Bur.  1SG4,  S.  113  ff.,  auch 
A.  Wagner.  Art.  Schill fahrt  in  Ken  tzsch’s  Handwörterb.  d.  Volkswirshschaftslehre 
(1866)  S.  726  11'.  Götz,  die  Verkehrswege  im  Dienst  des  Welthandels,  1888. 

Aus  diesen  Verhältnissen  erklärt  sich , dass  vielfach  der  internationale  Verkehr 
und  damit  die  Weltwirtschaft  sich  früher  entwickelt  als  der  Verkehr  zwischen  ver- 
schiedenen Landestheilen  einer  Volkswirtschaft,  der  „Fernverkehr  “ früher  als  der 
„Nahverkehr“,  der  Verkehr  in  Artikeln  höheren  spccifischen  Tauschwerts  (§.  140), 
in  Fabrikaten,  Kunst-  und  Luxusartikeln  und  Consumptibilien  der  Reichen  zwischen 
verschiedenen  Ländern  früher  und  bedeutender  als  der  Verkehr  in  schweren  volumi- 
nösen Massenartikeln  des  Inlauds,  welcher  vielfach  im  Binnenlande  ferne  von  Strömen 
erst  eine  Schöpfung  des  Eisenbahnzeitalters  ist,  so  namentlich  von  grösster  Bedeutung 
der  Getreide-  und  Kohlen  verkehr. 

3.  Die  verschiedene  natürliche  Ausstattung  der  Länder 
und  daher  der  Volkswirtschaften  wreist  auf  eine  gewisse  Natur- 
ge  muss  heit  der  internationalen  Arbeitsteilung  und 
daher  der  Weltwirthschalt  hin,  woraus  sich  wesentliche  Gründe 
zu  Gunsten  des  sog.  Freihandelssystems  ableiten  lassen. 

Eines  der  populärsten  und  relativ  richtigsten  Argumente  der  Freihandclstheorie, 
dein  auch  Schutzzöllner  beistimmen.  So  betont  Fr.  List  in  seinem  nationalen  System 
stets  die  Zweckmässigkeit  der  internationalen  Arbeitsteilung  und  des  Freihandels 
zwischen  den  Landein  der  gemässigten  Zone  und  der  Tropen.  Die  Möglichkeit  der 
internationalen  Aibeitstheilung  bei  Freihandel  wird  daher  auch  regelmässig  unter 
den  Vortheilen  der  Arbeitsteilung  aufgeführt.  Doch  geht  die  Behauptung  oft  zu 
weit.  Denn  einmal  zeigt  die  allmäligc  Verbreitung  von  Nutzpflanzen  und  Haus- 
sieren nach  fremden  Ländern  durch  die  menschliche  Cultur,  dass  auch  hier 
nicht  reine  Naturverhältnisse,  Klima  u.  s.  w.  entscheiden  (Verbreitung  des 
Weinbaus,  der  Seidenzucht  u.  s.  w.),  (vgl.  das  schöne  Buch  von  Hehn,  Cultur- 
pilanzen  und  Haustiere  in  ihrem  Ucbergang  aus  Asien  nach  Griechenland  und  Italien, 
sowie  in  das  übrige  Europa,  2.  Aufl.  Berl.  1874  und  seitdem  neue  Auf!.).  Sodann 
liegen  die  Verhältnisse  auch  nicht  immer  so.  wie  in  dem  beliebt  gewordenen  Beispiel 
Senior* s von  den  Kosten,  welche  es  Grossbritannicn  machen  würde,  seinen  Thec- 
bedarf  im  Innlande  selbst  zu  produciren,  statt  ihn  aus  China  zu  decken  (Folit.  ccon., 
4.  cd.  1S58,  p.  76).  Hier  ist  auch  der  v olkswirthschaftliche  Nachtheil  freilich  evident, 
in  vielen  anderen  Fallen  ist  er  aber  jedenfalls  gering,  oft  gar  nicht  oder  nur  kurz 
vorübergehend  voihanden  (Tabak,  Zucker  u.  A.  m.)  und  andre,  auch  culturliche  Vor- 
theile (Einfluss  der  Industrie  auf  Städtewesen,  bürgerliche  Freiheit,  höheres  Geistes- 
leben u.  s.  w.)  fallen  ausserdem  ins  Gewicht.  Endlich  zeigen  neuere  Erfahrungen, 
besonders  in  Indien,  dass  auch  das  im  Texte  eiwähntc  industrielle  Arbeitsmonopol 
der  nördlicheren  Ländern  kein  so  absolutes  ist,  wie  früher  öfters,  besonders  in  England, 
von  Theoretikern  und  Praktikern  angenommen  wurde.  England  fängt  bereits  an,  die 


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Momente  für  die  Entwicklung  der  Weltwirtschaft. 


365 


Concurrenz  der  billigen  asiatischen  mit  europäischer  Technik  ausgerüsteten  Arbeit  zu 
fürchten  und  hat  einigen  Grund  dazu.  Vergl.  z.  B.  Jagor,  ostindisches  Handwerk 
und  Gewerbe  mit  Rücksicht  auf  den  europäischen  Arbeitsmarkt.  Berl.  1STS  (Vortrag). 
Seitdem  sind,  wie  auch  die  Productious-  und  Handelsstatistik  zeigt,  schon  erhebliche 
Fortschritte  in  Asien,  zumal  Indien,  Japan,  in  der  Benutzung  europäischer  Technik, 
Maschinerie  in  der  Industrie  gemacht  und  die  Entwicklung  des  Eisenbahnwesens  hat 
die  Concurrenzfähigkeit  dieser  Länder  nicht  nur  für  den  Import,  sondern  auch  für 
den  Export,  freilich  immer  noch  vorncmlich  für  Agrarproducte,  gesteigert.  — Hübsche 
Darlegung,  wie  das  menschliche  Streben  nach  gewissen  Thiercn,  Pflanzen  und  Mine- 
ralien den  Weltverkehr  begünstigt  hat,  giebt  Kohl  in  „die  natürlichen  Lockmittel  des 
Völkerverkehrs“,  Bremen,  1878. 

a)  Von  besonderer  Wichtigkeit  ist  das  Klima  in  seinem  Ein- 
flüsse auf*  organische  Producte,  auf  die  Ergiebigkeit  des  Boden- 
anbaus  in  Land-,  Forstwirthsckaft  lind  auf  den  wirtschaftlichen 
Cbaracter,  besonders  auf  die  Leistungsfähigkeit  und  Arbeitsamkeit 
der  Bevölkerung.  Weiter  kommt  in  Betracht  die  natürliche  Frucht- 
barkeit des  Bodens,  die  Verbreitung  unterirdischer,  durch  Bergbau 
zu  gewinnender  Producte,  besonders  der  Metalle,  unter  denen  Gold 
und  Silber  von  jeher  den  grössten  Einfluss  auf  die  Entwicklung 
des  internationalen  Verkehrs  und  der  Colonisation  auslibten,  neuer- 
dings die  Verbreitung  der  Mineralkohlen,  das  Vorhandensein  von 
Wasserströmen,  welche  sich  als  mechanische  Triebkraft  ausnutzen 
lassen  (z.  B.  in  Gebirgsgegenden)  u.  A.  m. 

Steigende  Bedeutung  dieses  letzteren  Moments  im  neuesten  Zeitalter  der  Ent- 
wicklung der  E lc c trotc c hnik. — Sonst  war  und  ist  doch  von  durchgreifender  Be- 
deutung für  die  Entwicklung  der  Weltwirtschaft  vor  Allein  der  Productenaustausch 
zwischen  den  Ländern  wärmeren  und  kälteren  Klima’s,  daher  zwischen  den 
Tropen  ländern  einer  und  den  Gebieten  der  gemässigten  Zone  andererseits, 
also  zwischen  den  betreifenden  Theilen  Americas,  Asiens  und  Europa,  ferner  zwischen 
Mittel-,  Nord-  und  Sudeuropa.  Hier  kommen  die  Producte  des  klimatischen 
Monopols  mit  den  Producten  des  industriellen  Arbeitsmonopols  zum  Aus- 
tausch, denn  wie  die  Natur  im  Süden  die  Bodenproduction , so  begünstigt  sie  im 
Norden  mehr  die  industrielle  Arbeit  der  Bevölkerung.  Der  Handel  mit  „Golonial- 
waaren“,  „Südfrüchten“  u.  dgl.  in.,  welche  zum  Austausch  mit  Industrie- und 
M ontan  producten  kommen,  bildet  gewissermaassen  die  Axe  des  Weltverkehrs,  be- 
sonders des  transatlantischen.  Dieser  Verkehr  muss  am  Meisten  als  naturgemäss 
bezeichnet  werden.  Handelspolitische  Hemmungen  können  hier  allerdings  leicht  zu 
einem  bedenklichen  Rückschritt  der  internationalen  Arbeitstheilung  führen,  was 
doch  immerhin  auch  von  Producten  wie  Tabak,  Wein,  Zucker  etwas  gilt. 

b)  Ein  zweiter  berechtigter  Haupttbeil  des  Weltwirtbschafts- 
verkehrs  wird  durch  den  Austausch  von  M ontanprod  ucten  der 
einen  mit  Agrar-  und  Industricprod ucten  der  anderen  Länder 
gebildet. 

Doch  ist  die  „Naturgemässhcit4*  dieses  Verkehrs  insofern  nicht  so  unbedingt  als 
diejenige  des  vorerwähnten  vorhanden,  weil  die  Entwicklung  von  Bergbau  und  Montan- 
industrie nicht  nur  von  der  natürlichen  Vertbeilung  der  Kohlen,  Mineralien,  Erze. 
Metalle  im  Boden,  sondern  auch  von  der  Ausbildung  der  Technik  der  Gewin- 
nung und  Verarbeitung  und  von  der  Rechtsordnung  und  deren  Handhabung 
abhüngt.  Wie  sehr  dieses  Moment  grade  auf  den  Bergbau  von  Einfluss  ist,  lehrt 


366  Wirtschaft  und  Volkswirtschaft.  1.  K.  Wesen  uud  Arten.  §.  154. 

z.  B.  die  neuere  Geschichte  Mexicos.  Für  Californien  legte  v.  Richthofen  in 
seiner  Schrift  über  d.  Metallproduction  Californiens  (Petermaun’s  geogr.  Mitth.,  Er- 
gänzh.  14,  Gotha  1 8(54)  in  den  5üer  und  GOer  Jahren  das  Hauptgewicht  mit  auf  die 
Reform  des  Bergrechts  uud  geordnete  Rechtszustände,  damit  der  grosse  Metallreich- 
thum des  Landes  allseitig  ausgebeutet  und  das  Land  zu  diesem  Zwecke  gehörig  colo- 
nisirt  werden  könne.  Die  Q u ecksil  ber gewinnung  sank  in  Folge  von  Processen, 
welche  die  Einstellung  der  Arbeit  in  den  Hauptgruben  bewirkten,  von  24.152  Flaschen 
(Ausfuhr)  in  1S5S  auf  3399  Flaschen  in  1859,  934$  in  1$G0,  um  1S61  wieder  auf 
35,895  Flaschen  zu  steigen  (a.  a.  0.  S.  42).  Manche  Belege  ftlr  die  obige  Auffassung 
enthält  Pechar,  Kohle  u.  Eisen,  Berl.  1878. 

Oft  veranlasst  für  ein  Land  nur  das  Zurückstehen  in  Technik  und  Rechtsord- 
nung, nicht  der  Mangel  dieser  Producte  in  seinem  Boden  den  Bezug  der  betreffenden 
Artikel  aus  dem  Auslande. 

Dieser  zweite  Haupttheil  des  weltwirtschaftlichen  Verkehrs 
unterliegt  daher  viel  mehr  als  der  erste  dem  geschichtlichen 
Wandel  und  Wechsel,  im  Zusammenhänge  mit  dem  vierten 
Puncte. 

c)  Ein  dritter  ebenfalls  berechtigter  Theil  des  Weltwirtb- 
schaftsverkehrs  betritTt  die  Ausgleichung  der  Deficite  in 
der  Ernte  wichtiger  Nahrungsmittel,  namentlich  des  Ge- 
treides, zwischen  verschiedenen  Ländern , in  Folge  von  M i s s - 
wachs  u.  dgl.  Die  Länder  bilden  hier  durch  ihren  Handelsver- 
kehr einen  grossartigen  Assecu ranzverein  und  tragen  die 
Folgen  eines  solchen  Elementarereignisses  gemeinsam,  so  dass  das 
gerade  von  der  Missernte  betroffene  Land  wesentlich  erleichtert 
wird. 

Neu  mann  (Wien),  Uebersichten , Jahrg.  1S78,  S.  8.  Es  ist  diese  Seite  des 
internationalen  Getreidehandels  von  der  allgemeinen  Function  desselben  noch  zu  unter- 
scheiden, nemlich  den  normalen  Bedarf  eines  Landes  au  Getreide  mit  decken  zu 
helfen,  dessen  einheimische  Production  dazu  nicht  ausreicht. 

4.  Die  Verschiedenheit  der  wirtschaftlichen  Ent- 
wicklung der  einzelnen  Volkswirtschaften,  auch  nach 
den  oben  (§.  150)  sogenannten  typischen  Phasen,  und  überhaupt 
die  Verschiedenheit  der  CulturundBildung  der  Völker  ist  ein  Factor, 
welcher  stets  den  internationalen  Verkehr  und  somit  die  Welt- 
wirtschaft sehr  erheblich  mit  beeinflusst  hat  und  beeinflussen  wird. 
Jedoch  nur  soweit  diese  Verschiedenheit  der  Entwicklung  auf  mehr 
oder  weniger  festen  natürlichen  Grundlagen,  auf  Klima, 
Landesart,  ganz  oder  fast  ganz  unabänderlicher  Beschaffen- 
heit der  Bevölkerung  (fester  Kasseneigenthümlichkeit),  beruht, 
bewirkt  der  aus  ihr  hervorgehende  Weltverkehr  selbst  wieder  eine 
einige rmaassen  bleibende,  „n atttrlic he“  Gestaltung  der 
Weltwirtschaft.  Darüber  hinaus  unterliegt  gerade  dieser  Verkehr 
und  mit  ihm  die  jewei  1 i ge  Gestaltung  der  Weltwirtschaft  einem 
grossen  geschichtlichen  Wechsel. 


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Momente  fiir  die  Entwicklung  der  Weltwirtschaft. 


367 


Man  kann  freilich  auch  hier  von  „ Naturgemässh eit“  der  Weltwirtschaft 
reden  im  Hinblick  auf  den  natürlichen,  wirtschaftlich  richtigen  Austausch  zwischen 
Ländern  reiner  und  vorherrschender  Agrarproduction  und  Industrieländern,  zwischen 
Ländern  verschiedenartiger  industrieller  Entwicklung,  sowohl  was  Gattung  als  was 
Vollkommenheit  der  Erzeugnisse  anlangt.  Ein  solcher  Verkehr  wird  immer  bestehen 
und  in  einer  bestimmten  Periode  in  beiderseitigem  Interesse  durch  Freihandels- 
politik, d.  h.  durch  zollfreien  oder  nur  mit  massigen  Finanzzöllen  belegten  Aus- 
tausch der  sonst  bloss  die  Handels-  und  Frachtspesen  tragenden  Güter  gefördert 
werden.  Aber  wenigstens  innerhalb  einer  Gruppe  von  Ländern  und  Völkern  von 
nicht  gar  zu  grosser  Verschiedenheit  der  natürlichen  Productionsbedingungen 
und  der  Culturentwicklung,  also  z.  B.  innerhalb  der  europäischen  und  nordamerica- 
nischen  Welt,  kann  die  Stellung  als  Agrarstaat  und  Industriestaat  und  vollends  die- 
jenige als  Industriestaat  der  und  der  Art  und  Entwicklung  gar  sehr  einem  geschicht- 
lichen Wechsel  unterliegen  und  hat  sie  tliatsächlich  demselben,  sogar  mitunter 
innerhalb  nicht  sehr  langer  Zeiträume,  unterlegen.  Daher  kann  die  jeweilige  Ge- 
staltung des  Weltverkehrs  meist  nur  als  eine  Phase  der  Entwicklung  angesehen 
werden. 

Die  Weiterbildung  kann  hier  sogar  wieder  mehr  zur  Be- 
schränkung auf  den  inner- ^ volkswirtschaftlichen  Verkehr  führen, 
also  insofern  einen  Rückschritt  in  der  Weltwirtschaft  bedingen 
(Nordamerika  seit  dem  Bürgerkriege,  theilweise  der  europäische 
Continent  seit  der  Rückkehr  zu  verstärkter  Schutzzollpolitik , zu 
Agrarschutzzöllen  im  letzten  halben  Menschenalter),  ein  Rückschritt, 
der  sich  vielleicht  nur  äusserlich  mehr  verbirgt,  weil  die  Ver- 
besserung der  Communicationsmittel  die  absolute  Grösse  des  ge- 
sammten  auswärtigen  Handels  steigert. 

Jedenfalls  beachtet  dio  radicalo  Freihandelstheorie  in  ihrer  Predigt  von  der 
absoluten  Richtigkeit  der  Freihandelspolitik  für  jedes  Land  in  jeder  Zeit  die 
bloss  relative  Berechtigung  der  Weltwirthschaft,  welche  in  der  verschiedenen 
Entwicklungsstufe  der  Volkswirtschaften  liegt,  nicht  genügend,  auch  abgesehen 
davon,  dass  sie  die  Abhängigkeit  höherer  Cultur  von  weiter  gediehener  und  feinerer 
Arbeitsteilung,  wie  sie  sich  in  der  Industrie  gegenüber  dem  rohen  Ackerbau  zeigt, 
viel  zu  wenig  berücksichtigt. 

Fr.  Li  st ’s  grosses  Verdienst  ist  es.  echt  historisch  diese  bloss  relative  Be- 
rechtigung des  Freihandels  und  der  Weltwirthschaft  in  seinem  nationalen  System 
der  Politischen  Oekonomie  dem  kosmopolitischen  System  der  britischen  Schule 
gegenüber  nachgewiesen  zu  haben.  Carey  übertreibt  den  richtigen  List’schen  Ge- 
danken gleich  wieder  und  geht  in  seiner  Polemik  gegen  das  „britische  System“  eben- 
deshalb zu  weif.  Auch  übersieht  er  in  seiner  These  von  der  Nothwendigkeit,  dass 
Ackerbauer  und  Industrieeller  nebeneinander  sitzen  sollen,  um  „unproductivo“ 
Fracht-  und  Handelsspesen  zu  ersparen  und  in  den  Schlüssen,  welche  er  gegen  den 
Freihandel  und  das  kritische  nationalökonomische  System  und  damit  gegen  die  Welt- 
wirthschaft zieht,  dass  im  Inland o ein  solches  Nebeueinanderwoknen  von  Acker- 
bauern und  Industriellen  auch  nur  partiell  erfolgt  und  dass  andre  wichtige  wirt- 
schaftliche Gründe  für  die  rä  u m liehe  (provinciale.  locale)  Couccntration  der 
Industrie  sprechen,  was  dann  Fracht-  und  Handelsspesen,  wenn  auch  innerhalb  der 
heimischen  VolKswirtkschaft.  doch  unvermeidlich  macht.  Ist  vollends  das  Inland 
ein  so  grosses  Gebiet,  wie  die  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerica,  mit  grosser  Ver- 
schiedenheit der  klimatischen,  Boden-,  Bevölkerungs-  und  Culturverhältnisse  der  ein- 
zelnen Landestheile . so  tritt  auch  hier  eine  breite  räumliche  Trennung  der  vorherr- 
schenden Agrarproduction  und  Industrie  ein  (die  Staaten  an  den  grossen  Seen  — dio 
atlantischen  Küstenstaaten,  Neu-England,  Newyork).  Eine  internationale  Arbeits- 
theilung  und  ein  wel t wirthschaftlicher  Verkehr  zwischen  Eugland  und  Theilen  der 
Vereinigten  Staaten  ist,  zumal  bei  Wasserverbindung,  auch  volks  wirthschaftlich  ebenso 


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3ß8  s*  B.  Wirtschaft  und  Volkswirtschaft.  1.  K.  Wesen  und  Arten.  §.  154. 

zweckmässig,  als  eine  territoriale  Arbeitsteilung  zwischen  Massachusetts  und 
Jowa.  Die  von  der  britischen  Nationalökonomie  mitunter  überschätzten  cultur- 
lichen  und  politischen  Folgen  der  Weltwirtschaft  werden  endlich  von  Carcy 
ebenso  einseitig  unterschätzt.  Das  Napoleonische  System  der  gemässigt  liberalen 
Handelsverträge  hat  z.  B.  gewiss  für  Frankreich  England  gegenüber  auch  politisch- 
günstige Folgen  gehabt. 

Nicht  geleugnet  werden  kann  in  Betreff  der  von  ireibändlerischer  Seite  öfters 
zu  panegyrisch  behandelten  Entwicklung  der  Weltwirtschaft  freilich  auch,  dass  die 
locale  Trennung  von  Producent  uud  Consument,  die  Abhängigkeit  von  fremden  poli- 
tischen Ereignissen  (britische  „cottou  farnine“  durch  den  nordamericar.ischen  Bürger- 
krieg) und  von  fremder  egoistischer  „nationaler“  Handelspolitik  (Nordamerica,  Mac- 
Kinleybill,  Ib'Jl.  Russland  gegenüber  West-  und  Mitteleuropa),  dass  die  grössere 
Gefahr  von  Ueberproductionen  und  Handelskrisen , die  auch  politische  Gefahr,  in 
Betreff  der  Hauptnahrungsmittel  vom  Ausland  uud  vom  nicht  immer  politisch  hin-—' 
länglich  gesicherten  Bezug  über  See,  über  fremde  Länder  abhängig  zu  sein,  dass  die 
einseitige  Begünstigung  des  Händlerthums,  die  Notwendigkeit , Fabrikatenexport  zu 
erzwingen  mittelst  niedriger  Arbeitslöhne  und  damit  Niederhaltung  der  Consumtions- 
kraft  der  Massen  im  Inland,  Ruin  althistorischer  nationaler  Industrien  und  damit 
von  Cultur  im  Auslande  (Asien)  und  mittelst  mühseliger  Eröffnung  fremder  Märkte  zum 
Absatz  (Colonieen  der  Gegenwart)  — nicht  geleugnet  kann  doch  werden,  dass  dies  Alles 
missliche,  zum  Theil  recht  bedenkliche  Folgen  der  ,.weltwirthschaftlichen“  Entwick- 
lung siud,  worüber  man  nicht  so  leicht  hinweg  sehen  sollte. 

Wie  zwischen  dem  Standpuncte  der  Einzel-  und  Volkswirt- 
schaft (§.  151  am  Schluss)  ist  auch  wieder  zwischen  demjenigen 
der  Volks-  (bzw.  einer  einzelnen  bestimmten  Volks-)  und 
der  Welt  Wirtschaft,  oder  zwischen  dem  nationalen  und  kosmo- 
politischen Standpuncte  bei  den  einzelnen  Fragen,  Interessen 
u.  s.  w.  zu  unterscheiden.  Der  erstere  Standpunct  ist  — wenig- 
stens in  der  bisherigen  geschichtlichen  Entwicklung  und  wohl  noch 
für  lange,  wenn  nicht  für  immer  — voran  zu  st  eilen.  Gerade 
sehr  wichtige  Fragen  (Schutzzoll  — Freihandel,  Militärwesen, 
Arbeiterfrage,  agrarische,  gewerbliche  Frage!)  erlangen  von  diesen 
beiden  Standpunetcn  aus  eine  öfters  wesentlich  verschiedene  Ent- 
scheidung. 

Die  physiokratisch-smithische  Oekonomik  neigt  zu  sehr  zur  kosmopolitischen 
Auffassung,  die  mercantilistisch-proctectionistische  übertreibt  mitunter  die  nationale. 
Aber  principicll  und  practisck  ist  sie  doch  im  Ganzen  die  richtigere.  Auch  hier  hat 
sich  besonders  List  Verdienste  erworben,  während  Carcy  schon  wieder  zu  ein- 
seitig ist. 


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Das  Leben  der  Einzelwirtschaft  in  der  Volkswirtschaft. 


369 


Zweites  Kapitel. 

Das  Leben  der  Einzelwirthschaft  in  der 
Volkswirthschaft. 

§.  15'*.  Vorbemerkung  und  Litteratur. 

Es  ist  eine  unhaltbare  Fiction  der  Volkswirtschaftslehre,  besonders  in  der 
Smith  sehen  Schule,  dass  die  Veränderungen  im  Werte  und  zum  Theil  in  den  Ob- 
jecten selbst  im  Guterbestand  einer  Wirtschaft  und  eines  Vermögensbesitzes  immer 
auf  bestimmte  Thätigkeitcn  des  Wirthschaftssubjccts,  vollends  auf  solche  mit 
einem  bestimmt  gewollten  wirt hschaftlichen  Ergebniss,  zurückgefübrt 
werden.  Auch  die  strengere  deutsche  Wissenschaft  hat  sich  von  dieser  Fiction  nicht 
genügend  frei  gehalten.  Sie  hängt  auch  mit  der  atomistisch-individualistischeu  Auf- 
fassung der  Volkswirthschaft  auf  das  Engste  zusammen.  Einzelne  theoretische  Lehren 
sind  durch  diese  Fiction  vollständig  verkehrt  geworden,  so  namentlich  die  Lehre  von 
der  privaten  Kapitalbildung  durch  individuelle  Ersparung  der  Producte  dos  eigenen 
Arbeitsertrags  des  sparenden  Wirthschaftssubjects  (vergl.  Theil  II  der  Grundlegung). 
Die  These,  welche  die  Smith  sehe  Nationalökonomie,  besonders  die  sogen.  Manchester- 
richtung, aufgestellt  hat,  dass  ncmlich  Jedermann  vollständig  allein  „seines  eigenen 
wirtschaftlichen  Glücks  Schmied*4,  allein  für  sich  verantwortlich  sei  und  der  Staat 
sich  nicht  weiter  um  das  wirtschaftliche  Ergehen  der  Individuen  zu  kümmern  habe, 
ist  nur  eine  richtige  Consequenz  jener  Fiction.  Die  letztere  muss  nun  teils  gänz- 
lich aufgegeben,  teils  erheblich  eingeschränkt  werden.  Es  ist  zu  unterscheiden 
zwischen  denjenigen  Veränderungen  des  Wirthschafts-  und  Vermögcusbestands  einer 
Person,  welche  durch  die  spontane  Thätigkcit  der  letzteren  erfolgen,  und  den- 
jenigen Werth  Veränderungen,  insbesondere  Tau  sch  werthveränderungen,  welche  un- 
abhängig von  solcher  Thätigkeit  durch  ganz  allgemeine  Ursachen,  über 
welche  der  Einzelne  wenig  oder  gar  keine  Macht  hat,  vor  sich  gehen.  Diese  Unter- 
scheidung wird  im  Folgenden  streng  durchgefuhrt. 

Für  die  in  diesem  Werke  vertretene  organische  oder  sociale  Auffassung  der 
Volkswirthschaft  sind  die  Veränderungen  der  zweiten  Art  besonders  wichtig:  grade 
weil  die  Einzelwirtschaften  Glieder  der  Volkswirtschaft  sind,  werden  sie  von 
allgemeinen  Vorgängen  in  der  letzteren,  ohne  ihr  eigenes  Zuthun,  oft  so  maass- 
gebend berührt.  Ganz  übersehen  worden  ist  dies  natürlich  auch  früher  nicht.  So  hat 
Kau  diese  Fälle  der  zweiten  Art  wenigstens  zum  Theil  mit  erwähnt,  wo  er  von  den 
Veränderungen  der  Preise  (I,  §.  (36),  des  Geldwerths  (§■  174)  und  den  Vcrändeiungen 
im  Volksvermögen  handelt  t,§.  öS,  09).  Aber  er  zieht  daraus  fast  gar  keine  weiteren 
Consequcnzen.  Im  §.  69  heisst  es  z.  B.:  „ohne  eine  im  Stoff  der  Vermögenstheile 
vorgehende  Veränderung  kann  der  Werth  derselben  vergrössert  werden,  a)  . . . und 
b)  durch  äussere  Umstände,  welche  die  Folge  haben,  dass  ein  höherer  Werth  in  den 
Sachgütern  erscheint“.  Als  Beispiele  nennt  er  Werthvermehrung  von  Häusern  und 
Ländereien  an  einer  Eisenbahn,  einer  Strasse  in  der  Stadt  u.  s.  w.  und  fügt  nur  hinzu, 
diese  Gattung  von  Fällen  der  Werthvertnehrung  sei  von  der  Production  „in  vielen 
Hinsichten  verschieden“.  Viel  eingehender  und  mehrfach  einer  echt  socialen  Auf- 
fassung entsprungen  sind  die  Erörterungen  Hermann ’s  über  „den  Zu-  und  Abgang 
von  Gütern  durch  Wertherhöhung  und  Werth  Verminderung  derselben“  (Untersuchungen, 
2.  A.,  S.  132  ff.),  wo  Veränderungen  im  Gebrauchswerthc,  im  Tauschwerte  und  iu 
beiden  zugleich  unterschieden  und  an  dem  besonders  wichtigen  Falle  der  Getreide- 
theuerung  nach  Missernten  die  Folgen  solcher  Veränderungen  für  die  Einzelnen,  die 
Volksdassen  und  die  ganze  Volkswirthschaft  trefflich  dargelegt  werden.  S.  auch 
v.  Mangold  t,  Grundr.  §.  13,  134,  135.  Aber  eine  vollständig  principielle  Behand- 
lung der  Einflüsse  der  „Con juuctu  r‘*  ist  vornemlich  doch  erst  den  socialisti- 
schen  Theoretikern  zu  verdanken  und  Keiner  hat  darin  jeno  oben  erwähnte  Fiction 
so  scharf  und  glänzend  abgefertigt,  als  Lassalle  in  seiner  Schrift  über  Kapital  u. 
Arbeit,  besonders  Kap.  1,  u.  a.  namentlich  S.  27  ff.  Der  Kern  dieser  Argumentation 
ist  richtig  und  ein  bleibender  wissenschaftlicher  Gewinn  von  grosser  Bedeutung. 
Scbäffle  im  Kapitalismus  S.  405  ff.  suchte  dies  in  Bezug  auf  den  „fatalistischen“ 
Einfluss  der  Conjunctur  auf  den  Arbeiter  noch  zu  widerlegen.  S.  indessen  später 
Schäfflc.  Syst.  I,  182  ff.  u.  Soc.  Körper  III,  450,  II,  297,  Lange,  Arbeiterfrage  3.  A. 

A.  Waguer,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Tlioil.  Grundlagen.  21 


370  3.B.  Wirtbsch.  u.  Volkswirthsch  2.K.  Leben  d.  Ei nzelwirt lisch.  l.A.  §.  155 — 157. 

Kap.  2 und  3.  Nicht  klar  ist  Lindwurm’s  Stellung,  s.  Eigentumsrecht  S.  300  ff. 
Er  polemisirt  halb  und  halb  gegen  meine  Auffassung,  könnte  aber  grade  an  der 
„Conjunctur“  sehen,  dass  seine  These  von  dem  Bedingtsein  der  Production  durch  die 
freie  Individualität  der  Urheberschaft  partiell  eine  petitio  principii  ist  gegenüber  dem 
tatsächlichen  Zustande  der  Volkswirtschaft,  wo  grado  diese  „Zusammenhänge“  die 
Production  bedingen.  — Die  Lehre  von  der  Conjunctur  hängt  eng  mit  der  Lehre 
von  der  Entstehung  der  Wirtschaftskrisen  in  unserem  heutigen  System  der  freien 
Concurrenz  zusammen.  S.  darüber  Rodbort us,  Soc.  Briefe  N.  2 u.  Fr.  Engel’s, 
Dtihring’s  Umwälzung,  Absch.  3,  Kap.  2 u.  3.  Es  gilt  jetzt,  der  Conjunctur  im 
System  der  Volkswirtschaftslehre  ihre  richtige  Stellung  einzuräumen  und  ihre  Func- 
tion klar  zu  legen. 

Eine  allgemeinere  Annahme  hat  die  hier  vertretene  Auffassung  auch  seit  dem 
Erscheinen  der  2.  Aufl.  dieses  Werks  (1879),  soviel  ich  sehe,  bisher  in  der  theore- 
tischen Nationalökonomie  noch  nicht  gefunden.  Bei  der  Erörterung  über  ßpeculation, 
Börse  und  Börsentreiben,  Cartelle  u.  dgl.  m.  ist  man  wohl  auf  einige  Poncte,  wie  die 
hier  von  mir  behandelten,  gekommen  (G.  Cohn),  aber  ohne  zu  einer  allgemeineren 
principiellen  Behandlung  zu  gelangen,  auch  wohl  mehr  mit  Ablehnung  meiner  leitenden 
Gesichtspuncte  in  der  Frage.  Ich  habe  mich  trotzdem  nur  immer  mehr  davon  über- 
zeugt, dass  die  Lehre  von  der  Conjunctur  eine  wichtige  Stelle  schon  in  der  „Grund- 
legung“ einzunehmen  berechtigt  ist.  Mit  dem  Cohn’schen  Einwand,  dass  die  Börsen- 
speculanten  die  zukünftigen  Preise  und  Curso  allmälig  immer  richtiger  im  Zeitgeschäft, 
im  Terminhandcl  zu  treffen  lernten,  wie  man  auch  statistisch  feststellen  könne  (§.  169). 
halte  ich  meinen  Standpunct  durchaus  nicht  erschüttert,  ganz  abgesehen  von  der 
unsicheren  „inductiven“  Beweisführung  mit  dem  bisherigen  Material.  Vgl.  übrigens 
passim  Manches  in  G.  Cohn ’s  Nationalökonomie,  bes.  im  3.  Hauptabschnitt  Kap.  2 
(Verkehr)  und  dess.  Aufs,  über  Differenzgeschäfte  in  den  volkswirthsch.  Aufsätzen 
(1882,  S.  669),  sowie  die  in  §.  168  genannten  weiteren  Arbeiten. 


1.  Abschnitt. 

Der  Wirtkschaftsbetricb  und  die  selbständige  Function  oder 
die  active  Seite  der  Einzelwirthschaft. 

I.  — §.  156  [63].  Einleitung.  Das  doppelseitige 
Leben  der  Wirthschaft.  Jede  Einzelwirthschaft  „lebt“,  d.  h. 
sie  wirkt  zweckbewusst  mit  ihrem  Willen,  ihren  Handlungen  und 
Unterlassungen  auf  die  Aussenwelt  ein  und  sie  unterliegt  unab- 
hängig von  ihrem  Willen  und  ihrem  Thun  und  Lassen  dem  Ein- 
flüsse der  Aussenwelt.  Ihre  Entwicklung,  ihr  Gedeihen  wie  ihr 
Verfall  ist  stets  das  gemeinsame  Product  dieser  ihrer  Function 
einerseits  und  dieses  Abhängigkeitsverhältnisses  andrerseits.  Die 
Wirthschaft  ist  dort  activ,  hier  oft  ausschliesslich,  sonst  über- 
wiegend, immer  mehr  oder  weniger,  passiv.  Es  ist  nothwendig, 
sie  nach  dieser  activen  und  passiven  Seite  zugleich  zu  betrachten. 
Gewöhnlich  hat  man  nur  die  erstere  berücksichtigt. 

A.  Das  zweckbewusste  Einwirken  der  Wirthschaft  auf  die 
Aussenwelt  hat  zum  Ziel  die  Erwerbung  und  Verwendung  von 
wirtschaftlichen  Gütern  für  die  Aufgaben,  welche  das  Wirthschafts- 
subject  sich  stellt  oder  stellen  muss.  Dieses  Wirken  der  Wirthschaft 
führt  nothwendig  zu  einem  beständigen,  dem  natürlichen  Stoff- 


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Doppelseit.  Leben  der  Wirthsch.  Wirthschaftsbetrieb. 


371 


Wechsel  real  analogen  Wech sei  in  den  (naturalen)  Bestand- 
th eilen  der  Gütermasse,  Uber  welche  die  Wirtschaft  jeweilig 
lllr  ihre  Thätigkeit  verfügt.  Dieser  auf  den  bewussten  Willen  s. 
acten  des  Wirtlischaftssubjects,  daher  auf  seinen  bezüglichen 
Handlungen  und  Unterlassungen  beruhende  Wechsel  im  Güterbe- 
stand der  Wirtschaft  kann  Wirthschaftsbetrieb  oder  Wirt- 
schaft sprocess  genannt  werden.  Er  ist  meistens  ein  „äusserer“, 
durch  Zu-  und  Abgänge  von  Gütern,  also  mit  den  Gütern 
selbst  sich  vollziehender  Wechsel : bestimmte  einzelne  wirtschaft- 
liche Güter  gehen  zu  und  ab,  wie  es  die  Zwecke  des  Wirtschaften 
grade  mit  sich  bringen,  — „Güter-  Wechsel  “. 

B.  Der  Einfluss  der  Aussenwelt,  welcher  sich  unabhängig  vom 
Willen  und  der  Thätigkeit  der  Wirthschaftssubjecte  auf  die  Wirt- 
schaft und  ihren  Güterbestand  geltend  macht,  führt  dagegen  im 
letzteren  zu  einem  „inneren“  Wechsel:  die  Güter  selbst  bleiben, 
aber  sie  verändern  ihren  Werth,  ihren  concreten  Ge- 
brauchswert für  das  Wirthschaftssubject  oder  für  Angehörige 
desselben,  und  in  der  Volkswirtschaft  ihren  Tausch werth, 
indem  mit  ihnen  oder  mitdenBeziehungen  der  Menschen 
zu  ihnen  Veränderungen  vor  sich  gehen,  — „ We rth Wechsel“. 
Dies  ist  ein  Umstand  von  entscheidender  Bedeutung  für  die  eigent- 
lich volkswirtschaftliche  Betrachtung  des  „Lebens  der  Wirtschaft“. 

Von  diesem  inneren  oder  Werth  Wechsel  bandelt  der  folgende  2.  Abschnitt. 
§.  163  fl. 

II.  — §.  157  [64].  Wirthschaftsbetrieb  und  äusserer 
Wechsel  im  Güterbestand  der  Wirth Schaft. 

A.  Wesen  dieses  Wechsels. 

1.  Auch  ausserhalb  jedes  Verkehrs  führt  die  Einzel- 
wirtschaft, die  Individual-  und  Familienwirthschaft,  in  der  Eigen- 
gewinnung und  in  der  Verwendung  der  Güter  für  die  unmittelbare 
Bedürfnissbefriedigung  ihrer  Angehörigen  oder  zum  Eigen  co  ns  um 
der  Familie  u.  s.  w.  einen  „Betrieb“,  weicher  notwendig  mit  Ab- 
und  Zugängen  von  Gütern  den  Zwecken  und  Zielen  der  Wirt- 
schaft gemäss  verbunden  ist. 

Die  Eigengewinnung  neuer  Güter,  speciell  der  Sachgüter  macht  regelmässig  eine 
Aufopferung  vorhandener  Güter  oder  sogen.  Prod  uctionsko  sten  (§.  142) 
erforderlich,  an  Rohstoffen,  die  verarbeitet,  an  HilfsstofTen,  die  dabei  verbraucht,  an 
Werkzeugen  u.  dgl.  m.,  die  abgenutzt  werden.  An  Stelle  dieser  ab  gehenden  Güter 
treten  die  neuen  Güter  hinzu.  Die  Bedürfnissbefriedigung  mit  den  Gütern,  die  Ver- 
wendung derselben  ihrem  concretcn  Zweck  gemäss,  zur  Ernährung,  Erwärmung,  Be- 
kleidung u.  s.  w.  führt  andere  Güterabgänge  mit  sich,  ist  aber  gleichzeitig  die 
Voraussetzung  für  die  Erhaltung  und  Erneuerung  der  Arbeitskraft,  also  auch  wieder 
die  Voraussetzung  für  die  Eigengewinnung,  mithin  für  den  Zugang  neuer  Güter. 

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372  3.  B.  Wirthsch.  u.  Volkswirthsch.  2.  K.  Leben  d.  Einzelwirtlisch.  1.  A.  §.  15S. 

2.  In  der  Volkswirthsc baft  oder  m.  a.  W.  bei  den  in 
Verkehr  stehenden  Einzelwirthschaften  ändert  sich  dieser  äussere 
Güterwechsel,  welcher  in  der  Eigenproduction  und  im  Eigenconsum 
stattfindet,  an  sich  nicht.  Nur  tritt  neben  die  Eigenproduction  die 
„verkehrsmässige“  Erlangung  der  Güter,  nebst  etwaigen 
sonstigen  Erwerbsarten,  wie  sie  in  §.  115  aufgeführt  worden  sind. 

Dadurch  entsteht  dann  eine  Reihe  verschiedener  Formen  des  Zugangs  von 
Gütern,  denen  auf  der  anderen  Seite  eine  gleiche  Reihe  von  Abgängen  bei  der 
anderen  betheiligten  Wirthschaft  neben  dem  Abgang  durch  Consuin  und  durch  Ver- 
wendung bei  der  Production  entspricht.  Für  alle  diese  Zu-  und  Abgänge,  oder 
Ein-  und  Ausgänge,  durch  welche  Güter  in  die  Verfügungsgewalt  des  leitenden 
'Wirthschaftssubjects  treten  oder  aus  derselben  ausscheiden,  lässt  sich  ein  Schema  auf- 
etellen,  wie  es  in  §.  160  geschieht. 

Der  Eigenproduction  gegenüber  sind  alle  anderen  Erwerbsarten 
einer  Wirthschaft  oder  Zugänge  der  Güter  zu  ihr  abgeleitete 
oder  derivative,  welche  nothwendig  aus  der  Eigenproduction 
irgend  einer  anderen  Wirthschaft  herrühren  müssen  (§.  115  ff.). 

B.  — §.  158  [65,  66J.  Die  Verträge  für  die  verkehrs- 
mässige  Erwerbung  derGüter,  insbesondere  dieCredit- 
verträge.  Diese  abgeleitete  Erwerbung  setzt  nothwendig  eine 
bestimmte  Rechtsordnung  voraus,  auf  Grund  deren  sich  der 
Verkehr  vollzieht.  Es  muss  hier  zunächst  ein  Eigen  thums- 
recht der  Wirthschaft  an  den  von  ihr  erzeugten  Gütern  und,  in  Ver- 
bindung damit  oder  als  Consequenz  desselben,  ein  Recht  der  Wirth- 
schaft anerkannt  sein,  die  Güter  an  Andere  entgeltlich  nach  eigenem 
Ermessen  und  meistens  — so  im  „freien“  Verkehr,  bei  „freier 
Concurrenz“,  die  freie  Ueberlassung  von  Gütern  nach  irgend  welchen 
von  einer  Autorität  festgestellten  Taxpreisen  gehört  jedoch  auch 
hierher  — nach  Bedingungen,  welche  die  Betheiligten  allein  und 
frei  unter  sich  feststellten,  zu  überlassen:  das  Vertragsrecht. 

Die  nähere  Betrachtung  dieser  allgemeinen  Rechtsbasis  des  Verkehrs  erfolgt  im 
5.  Buche,  diejenige  des  Eigenthums  und  Vertragsrechts  im  zweiten  Theile  der  Grund- 
legung (Volkswirthschaft  und  Recht,  besonders  Vermögensrecht). 

Hier  ist  nur  daran  zu  erinnern,  dass  die  im  Verkehr  in  Be- 
tracht kommenden  Verträge  sich  nach  §.  143  ökonomisch  auf 
zwei  Ilauptformen  zurückführen  lassen: 

1.  Verträge,  durch  welche  die  Vertragschliessenden  gleich- 
zeitig Leistung  und  Gegenleistung  durch  Hingabe  und  Empfang 
der  Güter  vollständig  zur  Ausgleichung  bringen,  so  dass  die 
betreffenden  Gebrauchs werthe  der  Güter  vom  Empfänger  sofort 
realisirt  werden  können.  So  ist  es  bei  dem  wichtigsten  Fall  der 
bezüglichen  Verträge  im  Verkehr:  beim  Tauschvertrag  und,  in 


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Verträge  für  verkehrsmäss.  Gütererwerbung. 


373 


der  Geldwirthschaft,  beim  Ka u fvertrag,  dem  eigentlich  typischen 
oder  Normalvertrag  der  verkehrsmiissigen  Erlangung  der  Güter. 

2.  Verträge,  durch  welche  die  gegenseitige  Ueberlassung  von 
Gütern  ohne  volle  Gleichzeitigkeit  von  Leistung  und  Gegen- 
leistung festgestellt  wird,  wo  daher  wegen  des  hier  zwischen  den 
Leistungen  liegenden  — einerlei  ob  ganz  kleinen  oder  sehr  grossen 
— zeitlichen  Zwischenraums  (Intervalls)  von  der  noch  nicht 
oder  noch  nicht  voll  befriedigten  Partei  Vertrauen  auf  die  Zu- 
sicherung der  künftigen  (Gegen-)Leistung  gewährt  werden  muss: 
die  nach  der  früheren  Begriffsbestimmung  von  Credit  als  Credit- 
verträge  zu  bezeichnenden.  Die  betreffenden  Verkehrsgeschäfte, 
durch  welche  Güter  in  dieser  Weise  zwischen  zwei  Einzelwirth- 
schaften  übergehen,  sind  Creditgeschäfte. 

S.  für  alles  Weitere  vorläufig  die  oben  S.  345  genannte  Litteratur,  insbesondere 
meine  Abh.  Credit  im  Scbönberg’schcu  Handbuch  B.  I im  Abschn.  I (3.  A.  S.  374 
bis  415),  Hier  werden  jetzt  nur  einige  Puncto  noch  hervorgehoben,  an  welche  un- 
mittelbar im  Folgenden  anzuknüpfen  ist. 

Die  Gegenleistung  im  Creditgeschäft  kann  bestehen  in  der 
Rückgabe  des  übergebenen  wirtschaftlichen  Gutes  selbst  oder  in 
derjenigen  seines  Werthes.  Ausserdem  kann  sie  verbunden  sein, 
und  ist  dies  in  der  heutigen  wie  in  aller  bisherigen  Volks  Wirt- 
schaft in  der  Regel  auch,  mit  einer  Vergütung  für  die  Ueber- 
lassung der  creditirten  Güter,  d.  h.  mit  einem  Zinse  (Leih zinse). 

Im  Creditgeschäft  ist  dann  zu  unterscheiden: 

a)  Die  einer  Wirtschaft  zur  Verfügung  durch  den  Credit 
überlassenen  Güter  können  juristisch  iu  das  Eigenthum  dieser 
Wirtschaft  übergehen,  scheiden  also  aus  demjenigen  der  creditiren- 
den  Wirtschaft  juristisch  aus. 

Dies  findet  statt  mit  deu  sogen,  fungiblen  oder  vertretbaren  Gütern,  ins- 
besondere daher  auch  mit  dem  Gel  de.  Das  wichtigste  hierhergehörige  Creditgeschäft 
ist  das  Darlehn.  Hier  wird  nur  die  Rückgabe  desselben  Werths  versprochen 
und  bleibt  der  creditirenden  Wirtschaft  ein  Forderungsrecht  für  den  Betrag 
dieses  Werths. 

b)  Die  im  Wege  des  Credits  überlassenen  Güter  können  aber 
auch  im  Eigenthum  des  Creditors  bleiben  und  nur  aus  seinem 
Besitz  ausscheiden,  indem  der  letztere  und  damit  die  daraus 
fliessende  Nutzniessung  einer  anderen  Wirtschaft  überlassen 
wird. 

So  in  Mieth-  und  Pachtgeschäften,  welche  Sclaven,  Grundstücke,  Gebäude, 
bewegliche  Guter  zum  Gegenstände  haben.  Hier  wird  die  Rückgabe  desselben  Ob- 
jects (Species)  versprochen. 

Die  im  Wege  des  Credits  aus  der  unmittelbaren  Verfügung  einer  Wirtschaft 
(also  derjenigen  des  Gläubigers)  ausscheidenden  Güter  bleiben  auch  im  ersten 
Falle  (Darlehn  u.  s.  w.)  als  Rechte  auf  eine  Handlung  des  Schuldners,  nemlich  den 


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374  3.B.  Wirthsch.  u.  Volkswirthsch.  2.  K.  Leben  d.  Einzelwirthscli.  1.  A.  §.  158,  159. 


Werth  der  Guter  zurückzugeben,  — oder  als  (passiv  ausgedrückt)  Obligationen, 
(activ  ausgedrückt)  Forderungsrechte  — doch  ihrem  Werthe  nach  Bestandteile 
des  Vermögens  dieser  Wirtschaft,  bilden  daher  als  Schulden  keinen,  wenigstens 
keinen  positiven  Bestandtheil  des  Vermögens  derjenigen  Wirtschaft  (des  Schuldners), 
an  welche  die  Verfügung  über  sie  übertragen  worden  ist. 

Die  juristiche  Auffassung  des  Vermögens  anerkennt  positive  und  nega- 
tive Bestandteile  desselben,  Activa  und  Passiva,  vergl.  z.  B.  Puchta,  Pandecten 
§.  84:  die  Sache  Grundlage  des  Vermögens;  Vermögen:  „Gesammtheit  der  Rechte 
einer  Person,  die  entweder  in  der  Macht  über  eine  Sache  bestehen,  oder  in  dieser  ihr 
Aequivalent  finden“:  ..ein  Gegenstand,  den  ich  einem  Anderen  zu  leisten  verpflichtet 
bin,  hat  dadurch  specifisch  nicht  aufgehört  zu  meinem  Vermögen  zu  gehören,  aber 
er  geht  dem  Werthe  meines  Vermögens  ab“.  Deshalb  sind  die  Schulden  als 
passiver  Bestandtheil  des  Vermögens  unter  diesem  zu  begreifen,  Hiernach  existirt 
Vermögen  einer  Person,  einerlei  in  welchem  Verhältniss  die  activen  uud  passiven 
Bestandteile  desselben  stehen  mögen.  Berufung  auf  L.  49  D.  de  V.  S.  < 50,  16), 
L.  39  §.  1 eod.,  L.  8 pr.  D.  de  bonor.  possess.  (37.  1).  Vergl.  auch  ebendas.  §.  219 
Über  den  Begriff  der  Obligatio:  „die  Obligatio  enthält  für  den  Gläubiger,  der  ein 
Recht  (Forderung)  an  einer  Handlung  des  Schuldners  hat,  eine  Vermehrung  seines 
Vermögens,  nur  dass  der  spccifische  Bestandteil,  der  diese  Vermehrung  bildet,  sich 
noch  in  dem  Vermögen  eines  Anderen  befindet,  der  ihn  schuldet“,  umgekehrt  dann 
für  den  Schuldner.  Hiernach  kann  also  juristisch  ein  Sachwert  gleichzeitig 
im  Vermögen  zweier  Personen,  des  Gläubigers  und  des  Schuldners,  stehen.  Für 
die  wirthschaftliche  Betrachtung  ist  es  richtiger,  in  Abweichung  von  dieser 
juristischen,  unter  Vermögen  nur  den  Activrest,  der  nach  Abzug  der  Schulden 
bleibt,  zu  verstehen. 

Die  mittelst  eines  Creditgeschäftes  überlassenen  Güter  können 
von  der  empfangenden  Wirtschaft  zur  blossen  unmittelbaren  Be- 
dürfni8sbefriedigung  (Consumtivcredit)  oder  zur  Herstellung 
neuer  wirtschaftlicher  Güter  mit  ihrer  Hilfe  (Productiv credit) 
bestimmt  und  verwendet  werden.  Der  Consumcredit  waltet  auf 
niedrigeren  Wirthschaftsstnfen  und  später  unter  gewissen  Classen 
(untere  bedrängte,  dann  höhere  verschwenderische),  der  Productiv- 
credit  immer  mehr  auf  höheren  Wirthschaftsstufen  bei  scharfer 
Ausbildung  des  Privateigenthums  (auch  am  Boden)  und  der  Ver- 
tragsfreiheit, sowie  bei  weitgehender  Arbeitstheilung 
vor,  besonders  bei  derjenigen,  wto  sich  die  Berufe  und  Unter- 
nehmungen immer  mehr  auf  die  Herstellung  bestimmter  einzelner 
Güter  beschränken,  daher  immer  weiter  theilen.  Namentlich  erweist 
sich  sonach  der  Productiv  credit  als  ökonomischer  Factor  der 
auf  Privateigenthum  an  Grundstücken  und  beweg- 
lichen Kapitalien  basirten,  freie  Concurrenz  zulassenden 
Volkswirtschaft.  Er  knüpft  sich  an  den  Vermögensbesitz 
(§.  124),  nicht  an  das  Vermögen  als  rein  ökonomische  Kategorie 
an  und  erscheint  wie  ersterer  daher  doch  selbst  nur  als  histo- 
risch-rechtliche Kategorie. 

In  der  mo  dornen  Volkswirtschaft  überträgt  der  Credit  die  Benutzung  von 
Grundstücken,  Gebäuden  und  beweglichen  Kapitalien,  besonders  von  Geld  von  einer 
Wirtschaft  in  die  andere.  In  der  antiken  Volks  Wirtschaft  spielte  die  Vermietung 
von  Sclaven  daneben  eine  Rolle. 


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Hauptarten  des  äusseren  Güterwechsels. 


375 


S.  meinen  Artikel  Credit  im  Handwörterbuch  von  Rentzsch,  S.  193,  im  Schön- 
berg'schen  Handbuch  3.  A.  I,  382  ff.  — Ueber  die  Verschuldungsursachen  im  alten 
Rom  s.  Ihering,  Geist  d.  röm.  Rechts,  II,  2.  (3.  Aufl.)  S.  234  ff.  (.Quellen  des 
Pauperismus,  Ernteschwankungen,  Kriegsdienst,  Sclavenconcurrenz).  Ueber  Griechen- 
land: Büchsen  schütz,  Besitz  und  Erwerb  in  Griechenl.  S.  194.  — Auf  den  innigen 
Zusammenhang  von  Privateigenthum  und  Credit  und  darauf,  dass  der  Creditverkehr 
mit  allen  seinen  Folgen  wieder  eine  nothwendige  Folge  grade  nur  der  auf 
Privat-,  Grund-  und  Kapitaloigenthum  basirten  Volkswirtschaften  ist.  hat 
mit  genialen  Gedankenblitzen  Rod  bertus-Jajetzow  hingewiesen.  Vgl.  seine  Credit- 
noth  des  Grundbesitzes  II.  269  fT.  und  schon  die  ältere  Schrift:  Die  heutige  proussi- 
schc  Geldkrisis,  Anclam  1845. 

Seine  volkswirtschaftlich  nützliche  Wirkung  hat 
der  Credit  immer  dann,  aber  auch  nur  dann,  wenn  die  durch  ihn 
übertragenen  Güter  von  der  empfangenden  Wirtschaft  besser  als 
von  der  hingebenden  verwendet  werden:  der  Productivcredit  daher, 
wenn  der  Schuldner  mehr  und  bessere  Güter  mit  Hilfe  des  Credits 
berstellt,  als  es  der  Gläubiger  im  Besitze  der  überlassenen  Güter 
gethan  hätte. 

Es  ergiebt  sich  übrigens  hierbei  auch,  wenn  man  den  letzten  Zweck  aller  Volks- 
wirtschaft in3  Auge  fasst,  nemlich  die  möglichst  reichliche  und  zweckmässige  Be- 
dürfnissbefriedigung  der  gesammten  Bevölkerung,  dass  der  Consumtivcredit  wohl 
einzel-  (privat-)  wirtschaftlich,  keineswegs  aber  immer  volkswirtschaftlich  zu  ver- 
werfen ist,  namentlich  nicht  bei  einer  sehr  grossen  Ungleichheit  des  Privatver- 
mögens. Consumtivcreditbenutzungen  zur  Hebung  wirklicher  Noth  des  Schuldners 
oder  zur  Erlangung  von  Mitteln  zu  geistiger  Ausbildung  (in  welchem  Falle  der  Gon- 
sumtiveredit  wenigstens  bei  Anerkennung  der  wirtschaftlichen  Güterqualität  der  per- 
sönlichen Dienste,  §.  141,  auch  Productivcredit  würde)  oder  zur  Herstellung  der  Ge- 
sundheit sind  Beispiele, 

§.  159  [67—69].  Die  Hauptarten  des  äusseren  Güter- 
wechsels. 

Der  populäre,  der  Sprachgebrauch  der  Praxis  und  der  wissenschaftliche  sind 
hinsichtlich  der  Ausdrücke  Einnahmen  und  Ausgaben  schwankend  Die  Ein- 
gänge aus  Creditoperationen  werden  z.  B.  im  Privat-  wie  im  Staatshaushalte  gewöhn- 
lich zu  den  Einnahmen  gerechnet,  aber  als  „ausserordentliche“  von  den 
„eigentlichen“,  „ordentlichen“  unterschieden.  Aehnlich  werden  Schuldrück- 
zahlungen, Darlehcnsgcwährungen  wohl  zu  den  (ausserordentlichen)  Ausgaben 
gerechnet.  In  der  theoretischen  Volkswirtschaftslehre  ist  die  hier  gemachte  Unter- 
scheidung, deren  praktische  Bedeutung  doch  klar  ist,  meistens  gar  nicht  beachtet 
worden.  Hermann,  Untersuch.  S.  129  stellt  z.  B.  die  Formen  der  „Mehrung  und 
Minderung  der  wirtschaftlichen  Güter  in  einer  Einzel  Wirtschaft“  als  Güterzugang 
und  Güterminderung  zusammen,  ohne  die  Credit- Ein-  und  -Ausgänge  auch  nur  zu 
erwähnen.  Er  hat  also  eigentlich  nur  die  Verm  ö ge  ns  Veränderungen  in  der  Wirt- 
schaft im  Sinne,  worin  aber  die  Güterzugänge  und  Minderungen  in  der  Einzelwirt- 
schaft durchaus  nicht  aufgehen.  Auch  Rau  I,  §.  70  will  hier  wie  in  dem  ganzen 
3.  Abschnitt  §.  68  ff.  nur  von  den  Veränderungen  des  Vermögens  sprechen,  und 
braucht  in  Bezug  hierauf  die  Worte  Einnahme  und  Ausgabe,  übersieht  also  auch  die 
Bedeutung  der  fremden  Güter  im  eigenen  Wirthschaftsbetrieb  (seine  Definition 
von  Einnahmen  i.  w.  S.  als  „die  sämmtlichen  neu  in  den  Besitz  einer  Person  ge- 
langenden Werthmengen“  könnte  sich  allerdings  auf  Wirthschaft-,  nicht  nur  auf 
Vcrmögenszugänge  beziehen,  doch  denkt  Rau  hier  nur  an  letztere).  Roscher  I, 
§.  144  beschränkt  den  Begriff  Einnahme  auf  Zugänge  ins  Vermögen  („alle  Güter, 
die  innerhalb  einer  gewissen  Periode  neu  ius  Vermögen  treten“  iucL  Geschenk, 
Lotteriegewinn,  Erbschaft  u.  s.  w.)  — Es  ist  m.  E.  ein  entschiedenes  wissenschaftliches 
Bedürfniss,  um  den  realen  Verhältnissen  der  cinzelwirthschaftlichen  Processe  in  der 


376  3.  B.  Wirthscli.  u.  Volkswirthseh.  2.  K.  Lebend.  Einzelwirthscb.  1.  A.  §.  159. 

Volkswirtschaft  Rechnung  zu  tragen,  die  Ein-  und  Ausgänge  in  der  Wirthschaft 
und  im  Vermögen  zu  unterscheiden  und  dafür  empfiehlt  sich  die  im  Texte  vor- 
genommene Beschränkung  der  Begriffe  Einnahme  und  Ausgabe  auf  Vermögens- 
veränderungen. Ich  halte  diese  Terminologie  im  weiteren  Verlaufe  fest  und  bringe 
sie  auch  in  der  Finanzwissenschaft  zur  Anwendung.  Vergl.  diese.  2.  A.  I,  §.  50  ff., 
3.  A.  I,  S.  131  u.  die  Ausführungen  im  Schön  b erg’ sehen  Handbuch  B.  III,  bos.  3.  A., 
in  meiner  Abh.  Ordnung  der  Finanzwirthschaft;  hier  und  in  der  Finanzwissenschaft 
sind  auch  die  Abschnitte  über  Etats-,  Kassen-,  Kechnungs-,  Controlwesen  zu  beachten, 
wo  die  Unterscheidungen  unmittelbar  ihre  grosse  practische  Bedeutung  zeigen.  Hier 
und  für  die  practischen  Aufgaben  der  Buchführung  in  allen  Arten  von  Haushalten 
sowie  für  stati stisc h e Untersuchungen  ist  eine  solche  bestimmte  Unterscheidung  und 
feste  Terminologie  überall  nothwendig,  was  A.  Held  in  seiner  Bemerkung  in  Hilde- 
brand’s  Jahrb.  B.  26  S.  153  verkennt. 

Eingänge  (Zugänge)  sind  diejenigen  Güter,  welche  in  die 
rechtliche  und  thatsächliche  Verfügung  des  Wirthschaftssubjects 
für  die  Zwecke  des  Wirthschaftsbetriehs  neu  ein-  oder  zurtick- 
treten;  Ausgänge  (Abgänge)  umgekehrt  diejenigen,  welche 
aus  dieser  Verfügung  aus-  oder  wieder  austreteu.  Man  kann  von 
beiden  vier  Hauptarten  unterscheiden:  1)  Einnahmen  und  Aus- 
gaben, 2)  Ein-  und  Ausgänge  in  Folge  von  Creditgeschäften, 
3)  scheinbare  (nominelle)  Ein-  und  Ausgänge,  4)  Uebergänge 
zwischen  den  zwei  Abtheilungen  der  Wirthschaft. 

1.  Einnahmen  sind  Eiugänge,  welche  nicht  nur  die  zur 
Verfügung  des  Hechts-  und  Wirthschaftssubjects  stehende  Güter- 
menge, sondern  zugleich  das  Vermögen  dieser  Person  vermehren 
und  anderseits  Ausgaben  sind  Ausgänge,  welche  nicht  nur  jene 
Gütermenge,  sondern  zugleich  das  Vermögen  des  Wirthschafters 
v er  m i n d e r n. 

Die  Begriffe  „Einnahme“  und  „Ausgabe“  sind  also  enger  als  diejenigen  von 
„Ein-  und  Ausgang“,  indem  die  Einnahme  sich  nicht  mit  auf  die  durch  den  Credit 
zur  Verfügung  des  Wirthschafters  erlangten  fremden  Güter  und  die  „Ausgabe“  sich 
nicht  mit  auf  die  an  fremde  Wirtschaften  durch  den  Credit  übertragenen  eigenen 
Güter  bezieht. 

2.  Ein-  und  Ausgänge,  welche  durch  Creditgeschäfte 
des  Wirthschaftssubjects  bewerkstelligt  werden:  Eingänge  durch 
Eingehung  activer  und  Abwicklung  passiver  Creditgeschäfte  (Credit- 
aufnabme,  Crediteinziehung);  Ausgänge  durch  Eingehung  activer 
und  Abwicklung  passiver  Creditgeschäfte  (Credit gewährung,  Credit- 
ablösung,  Abzahlung). 

3.  Scheinbare  (nominelle)  Ein-  und  Ausgänge  sind 
solche,  welche  bloss  einen  Substanz  Wechsel,  einen  Wechsel 
in  den  naturalen  Bestandtbeilen  des  Vermögens  des  Wirth- 
schaftssubjects, bei  gleichbleibendem  Vermögenswerth,  bilden,  des- 
wegen keine  wahre  (wenn  auch  meistens  sogenannte)  Ein- 
nahme und  Ausgabe  sind. 


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Einteilung  der  Ein-  und  Ausgänge. 


377 


Es  findet  dies  seine  Erklärung  in  den  Verhältnissen  der  arbeitsteiligen  Volks- 
wirtschaft, wo  Guter  für  den  Absatz  erzeugt  und  nach  erfolgtem  Absätze,  ins- 
besondere gegen  Geld,  dieses  Geld  als  Einnahme  und  andrerseits,  wo  Güter  für 
den  eigenen  Bedarf  eingetauscht  und  nach  erfolgtem  Eintausche  (Kaufe),  also 
namentlich  gegen  Geld,  dieses  Geld  als  Ausgabe  bezeichnet  und  auch  weiter  so 
behandelt  wird.  Allein  genauer  betrachtet  ist  dies  offenbar  unrichtig  und  kann  nur 
mit  äusserlichen  Gründen,  z.  B.  den  Bedürfnissen  der  Buch-  und  Rechnungs- 
führung in  der  Geldwirthschaft  oder  dem  practischen  Bedürfnis«,  die  einzelnen  Ab- 
teilungen der  Wirtschaft  (namentlich  die  Haus-  und  die  Produ  ctionswirth- 
schaft.  s.  Nr.  4)  rechnungsmässig  hinsichtlich  ihres  Gütcrwechsels  zu  trennen,  gerecht- 
fertigt werden. 

a)  Die  Geldausgänge,  welche  aus  dem  Absatz  der  Pro- 
ducte  an  andere  Wirtschaften  hervorgehen,  sind  keine  eigentlichen 
(neuen)  Einnahmen,  sondern  letztere  bestehen  eben  in  den 
Producten  selbst,  soweit  dadurch  das  Vermögen  der  Wirt- 
schaft vermehrt  worden  ist. 

Nur  derjenige  Theil  des  Gcldcingangs  beim  Producteuabsatze,  welcher  den 
schliesslich  realisirten  Gewinn  darstcllt,  könnte  daher  etwa  Einnahme  genannt  werden. 
Aber  auch  dieser  Theil  steckt  doch  streng  genommen,  wenn  auch  gewissermaassen 
latent,  in  den  Producten  selbst,  bez.  in  deren  Werth. 

b)  Die  Geldeingänge,  welche  aus  dem  Ankauf  der  Pro- 
ducte  anderer  Wirtschaften  hervorgehen,  fuhren  einen  entsprechen- 
den Werth  solcher  Producte  in  die  Wirtschaft  zum  Ersatz  ein. 
Daher  liegt  auch  hier  zunächst  keine  Ausgabe,  keine  Ver- 
mögensverminderung, sondern  nur  ein  Substanz  Wechsel  im 
Vermögen  vor.  Erst  die  Verwendung  der  Producte  zur 
Bedürfnisbefriedigung  (Consumtion),  und  streng  ge- 
nommen sogar  erst  der  vollständige  Verbrauch  der  Güter 
hierbei,  ist  die  eine  Vermögensminderung  bildende  Ausgabe. 

Soll  noch  genauer  unterschieden  werden,  so  könnte  man  sagen:  derjenige  Theil 
des  im  Ankauf  erfolgenden  Gcldausganges  einer  Wirthschaft  ist  sofort  eine  Aus- 
gabe im  festgestellten  Sinne  des  Worts,  welcher  die  meistens  den  Uebergang  eines 
Products  in  die  sogen,  zweite  Hand,  auch  in  die  der  Hauswirthschaft  begleitende 
Tauschwerthverininderuug  des  Guts  darstellt.  Ein  Beispiel:  eben  neu  gekaufte  Klei- 
dungsstücke des  Consumenten.  Für  die  richtige  Behandlung  der  „Ausgaben“  bei  der 
Anschaffung  von  Nutzvermögen  z.  B.  im  Individual-  und  Familienhaushalt  — 
ein  Punct,  der  auch  für  die  richtige  Fassung  des  EinkoinmenbcgrifTs  wichtig  ist, 
§.173  — ist  diese  Unterscheidung  von  „Gcldausgang“  und  reeller  Verbrauchsausgabe 
fundamental. 

Daher  haben  diese  Unterscheidungen  auch  practische  Bedeutung  für  eine 
nach  streng  rationellen  Grundsätzen  erfolgende  Buch-  und  Rechnungsführung  der 
Wirtschaften,  namentlich  auch  der  Finanz  wirthschaft  des  Staats. 

4.  Ein-  und  Ausgänge,  welche  eigentlich  nur  Güter- Ueber- 
gänge  zwischen  den  zwei  Abtheilungen  einer  Wirthschaft  zu 
den  Verwendungszwecken  der  anderen,  nicht  wirkliche  Einnahmen 
und  Ausgaben,  Vermögensvermehrungen  und  Verminderungen  der 
Einen  Wirthschaft  sind.  Mit  der  allgemeineren  Ausbildung  der 
Arbeitsteilung  und  der  Geldwirthschaft  trennen  sich  in  den 


378  3.  B.  Wirthsch.  u.  Volks  wirthsch.  2.  K.  Leben  d.  Einzelwirthsch.  1.  A.  §.  159,  160. 


Einzelwirtschaften,  besonders  auch  in  den  Privatwirtschaften  der 
Familien,  immer  mehr  und  vollständiger  zwei  Wirth sc hafts- 
abtheilungen,  welche  in  vieler  Hinsicht  wieder  die  Natur  selb- 
ständiger Wirtschaften  annehmen:  die  Hauswirtschaft  (Wirt- 
schaft, auch  Haushalt  schlechthin  mitunter  genannt)  und  die 
Production s Wirtschaft.  Die  er stere  bezweckt  die  Verwendung 
der  der  Wirtschaft  für  die  laufende  Bedürfnissbefriedigung  der 
Wirthschaftsangehdrigen  zur  Verfügung  stehenden  Gütermenge  oder 
m.  a.  W.  die  Verzehrung  und  somit  schliesslich  die  reelle 
Verausgabung  der  Güter  im  „Haushalt“.  Man  könnte  sie 
danach  auch  Verbrauchs  - oder  Ausgabe  wirth  sc  ha  ft  nennen. 
Die  zweite  hat  die  Erwerbung  der  Güter  oder  des  Ein- 
kommens und  damit  eben  der  Mittel  für  die  Hauswirtschaft 
zum  Zwecke:  Einnahme-  oder  Erwerbs  Wirtschaft. 

Die  blossen  Güterübergänge  zwischen  diesen  beiden  Wirthschaftsabtheilungen, 
welche  doch  wieder  die  Eine  Wirthschaft  unter  Einem  Kechtssubject  und  mit  Einem 
Vermögen  bilden,  werden  nun  auch  wohl  als  Einnahmen  und  Ausgaben  be- 
zeichnet, und  im  Interesse  richtiger  Buch-  und  Rechnungsführung,  wobei  die  Wirth- 
schaftsabtheilungen personificirt  werden , besonders  im  System  der  doppelten  Buch- 
haltung. mit  Recht.  Aber  an  und  für  sich,  wenn  die  Wirtschaft  als  Einheit 
betrachtet  wird,  liegt  offenbar  auch  hier  zunächst  keine  Veränderung  des  Ver- 
mögens vor,  welche  die  Bezeichnung  als  Einnahme  und  Ausgabe  rechtfertigte. 

In  der  Gegenwart  kommen  Fälle  dieser  Art  besonders  bei  dem  Naturalverbrauch 
der  Landwirthc  vor.  Die  Abgabe  von  Naturalien  aus  der  Productionswirthschaft  des 
Gutsbesitzers  an  seine  Haushaltung  ist  mit  Recht  namentlich  auch  bei  der  Bemessung 
des  Einkommens  für  Stcuerz wecke  nicht  als  „Ausgabe“  zu  betrachten,  sondern 
bildet  einen  Bestandtheil  des  steuerpflichtigen  Einkommens.  — ein  an- 
erkannter, wenn  auch  practisch  schwer  genau  durchführbarer  Rechtsgrundsatz  in  den 
modernen  Einkommensteuergesetzen,  z.  B.  dem  prcussischen  schon  bisher  (auch  vor 
dem  neuen  Gesetz  von  1891). 

D.  — §.  lßO  [70,  71].  Schema  der  Ein-  und  Ausgänge. 
Unter  Zugrundelegung  der  so  eben  vergeführten  Hauptarten  erhält 
man  folgendes  Schema. 

Vergl.  Hermann,  Untersuch.,  2.  A.,  S.  129  ff.  (unvollständig). 

(I.)  Eingänge. 

(A.)  Eingänge,  welche  zugleich  Einnahmen  sind: 

(1)  Unmittelbareigens  erworbene  Einnahmen  der  Wiith- 
schaft,  welche  auf  die  eigene  Verwendung  der  dem  Wirth- 
scbaftssubject  zur  Verfügung  stehenden  Arbeitskräfte,  Grundstücke 
und  Kapitalien  zurückzufübren  sind. 

Und  zwar  thcils  auf  die  Verbindung  dieser  drei  h'atcgorieen  in  der  Unter- 
nehmung, theils  auf  die  Ausübung  der  eigenen  Arbeitskraft  allein,  in  der 
eigenen  Unternehmung1)  oder  im  Dienste  der  Unternehmung  eines  Anderen, 


J)  So  bei  gewissen  persönlichen  Dienstleistungen,  welche  wesentlich  nur  mit 
der  persönlichen  Arbeitskraft  selbständig  ausgeübt  worden,  z.  B.  Botendienst; 


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Schema  der  Ein-  und  Ausgänge. 


379 


d.  h.  im  Verhältniss  der  Lohnarbeit.  Diese  Einnahmen  bestehcu,  und  zwar  auch 
im  letzterwähnten  Falle1),  in  concreteu  wirtschaftlichen  Gutem  oder  Pro- 
ducten,  sind  Naturalcinnahmen.  Die  Wirtschaftstätigkeit,  durch  welche  sie  ge- 
wonnen werden,  ist  die  Naturalproduction  (Natural-Erzeugung). 

(2)  Einnahmen  einer  Wirtschaft  aus  Forderungsrechten 
in  Folge  von  C re ditgeschäften. 

Letztere  haben  ihren  Ursprung  in  Eigenthums-  und  verwandten  Kochten 
an  Unfreien,  Grundstücken  und  Kapitalien,  welche  das  Wirthscliaftssubject  nicht  selbst 
zur  Herstellung  von  Gütern  verwendet,  sondern  andren  Wirtschaften  zur  Benutzung 
überlassen  hat.  Die  Einnahmen  sind  hier  Vergütungen  für  die  Ucberlassung  der 
Nutzung  (beim  Uufreicn  eventuell  für  die  Einräumung  der  Verfügung  über  seine 
Arbeitskraft  an  ihn  selbst),  bestehen  in  Entrichtung  einer  Kente  (Abgabe  des 
Unfreien,  z.  B.  russischer  Obrok* *),  Pacht-  und  Micthzins  bei  Grundstücken  und 
Gebäuden,  Zins  bei  anderen  Kapitalien,  und  können  insgesammt  Kenteneinnahmen 
genannt  werden.  Sie  bestehen  in  Sachgütern,  Dienstleistungen  oder  Geld. 

(3)  Einnahmen  aus  Erbschaften  und  Legaten  kraft  des 
Erbrechts. 

Bei  der  eigentümlichen  rechtlichen  Stellung  des  Erbrechts  wohl  richtig  als  be- 
sondere Einnahmekategorie  hervorzuheben  (bei  Hermann  mit  N.  4 zusammen). 

(4)  Einnahmen  aus  unentgeltlich  und  freiwillig  einer 
Wirtschaft  von  anderen  überlassenen  Gütern : Geschenk,  Almosen. 

(5)  Einnahmen  in  Folge  von  spontan-natürlichen  (ohne 
menschliches  Zuthun  erfolgenden)  Zuwächsen  zu  vorhandenen 
Gütern  (Früchte  von  Pflanzen,  Thieren;  Bodenanschwemmungen). 

(6)  Einnahmen  aus  Funden  und  aus  der  Aneignung  herren- 
loser, verlorener  u.  dgl.  m.  Sachen. 

ein  kleines  Kapital  pflegt  allerdings  auch  hier  nicht  leicht  ganz  zu  fehlen  (Tasche, 
Stock  des  Boten,  Kasirzeug  des  Barbiers  u.  dergl.  in.);  davon  kann  aber  hier  ab- 
gesehen werden. 

*)  Die  Geldlohnauszahlung  scheint  mit  dieser  Auffassung  in  Widerspruch  zu 
stehen.  Indessen  ist  grade  zur  richtigen  Würdigung  derselben  und  der  Lohnarbeit  im 
Dienste  fremder  Unternehmung  überhaupt  schon  hier  zu  betonen,  dass  dio  Einnahme 
des  Arbeiters  im  Grunde  doch  immer  nur  eine  Quote  des  Productionsertrages 
der  Unternehmung  ist.  in  der  er  beschäftigt,  und,  wie  dieser  Ertrag  selbst,  in 
Producten  besteht.  Dass  er  dafür  im  Lohnvertrage,  und  zwar  gewöhnlich  in 
Geld  abgefunden  wird,  in  der  Kegel  mittelst  eines  Vorschusses  aus  dem  Kapital 
des  Unternehmers  gewissermaassen  auf  Rechnung  des  endgiltigen  Productionsergeb- 
nisses,  ändert  dieses  Grundverhältniss  nicht.  Ebenso  folgt  aus  der  hier  vertretenen  Auf- 
fassung, dass  die  Einnahme  (Einkommen  §.  173),  der  Lohn  des  Arbeiters  seine  eigen- 
erworbene, nicht  vom  Unternehmer  gegebene  sei  („Brot  des  Unternehmen  essen“). 
Vergl.  Roscher  I,  §.  144. 

*)  Gcldabgaben,  wie  eine  Art  Kopfsteuer  an  die  Herren,  mit  denen  sich  die 
Leibeigenen  ihren  Herren  gegenüber  abfanden.  Besondere  Entwicklung,  seitdem  in 
Russland  Fabrikwosen  aufgekommen.  S.  Tschitscherin,  Art.  Leibeigen- 
schaft im  Staatswörterbuch  VI,  408;  v.  Haxthausen,  ländl.  Verfassung  Russlands, 
Leipz.  1SÜ6,  S.  34.  — Aehnliche  Gestaltungen  schon  im  Alterthum;  Uber  Griechen- 
land s.  Büchsenschütz,  a.  a.  0.  S.  195  ( uvcupoQcc ).  Näheres  unten  im  2.  Theil 
im  Abschnitt  von  der  Unfreiheit  als  Arbeitssystem.  — Rodbertus  hat  mit  Recht 
öfters  darauf  hingewiesen,  dass  die  volkswirtschaftliche  Bedeutung  des  Privat-Grund- 
eigenthums  und  des  Privat-Kapitaleigenthums  durch  den  Vergleich  mit  Sclaveneigen- 
thum  erst  in  das  richtige  Licht  gestellt  werde. 


380  3.  B.  Wirthsch.  u.  Yolkswirthscb.  2.  K.  Leben  d.  Einzelwirthsch.  1.  A.  §.  160. 


Hierzu  würden  dann  (7)  Einnahmen  aus  Zuth eil ungen  (s.  o. 
§.  115),  soweit  bei  derartigen  Verhältnissen  von  einer  „eigenen“ 
Wirtschaft  und  „eigenen“  Einnahme  dessen,  welcher  die  Zu- 
theilung  empfängt,  geredet  werden  darf,  und  (8)  widerrecht- 
licher Zwangserwerb  (§.  115)  treten. 

Alle  diese  Einnahmen  sind  bei  allen  Arten  Einzelwirthschaften 
möglich,  namentlich  auch  bei  den  Gemein-  und  speciell  bei  den 
Zw  an  gs  gemein  wirtschaften.  Bei  diesen  tritt  als  neunte  Ein- 
nahmeart die  Besteuerung  hinzu. 

(B.)  Eingänge  in  Folge  von  Creditgeschäften: 

(1)  Güter,  welche  der  Wirtschaft  aus  anderen  Wirthschaften 
creditirt  werden  und  demnach  für  die  empfangende  Wirtschaft 
bezügliche  Schuldverbindlichkeiten  involviren. 

Unter  die  hieher  gehörigen  passiven  Creditgeschäfte  sind,  ökonomisch  be- 
trachtet, auch  diePacht-  und  M iethges  ch  iifte  des  Pächters  und  Miethers  zu  reihen, 
bei  Postnumerando-Zahlung  noch  in  eigentümlicher  Weise. — Die  Vermehrung 
der  Passiva  bewirkt  an  sich  keine  Verminderung  des  Vermögens  (Activvermögens), 
da  sich  dadurch  die  Activa  zunächst  ebenso  vermehren.  Erst  die  Verzehrung  der 
creditirten  Güter  hat  diese  Wirkung. 

(2)  Rückzahlungen  anderer  debitirender  Wirthschaften  an 
die  creditircnde , bez.  Rückgaben  der  vermieteten  oder  ver- 
pachteten Güter  an  sie. 

Da  diese  Güter  wohl  aus  der  unmittelbaren  Verfügung  der  creditirenden  Wirt- 
schaft. aber  nicht  aus  deren  Vermögen  ausgeschieden  noch  in  dasjenige  der  debi- 
tirenden  Wirtschaft  eingegangen  waren,  involrirt  die  Kückzahlung  oder  Rückgabe 
auch  keine  Vermögensveränderung. 

(III.)  Eingänge,  welche  nur  ein  Substanz  Wechsel  des  Ver- 
mögens und  insofern  nicht  eine  eigentliche,  neue  Einnahme  sind. 

(1)  Durch  Tausch  (oder  Kauf  in  der  Geld  Wirtschaft)  von 
einer  anderen  Wirtschaft  gegen  Hingabe  wirtschaftlicher  Güter 
(incl.  Dienstleistungen)  erlangte  Güter,  oder  Eingänge  aus  dem 
verkehrsmässigen  Erwerb  der  Güter. 

Auch  diese  können  in  Sachgütern,  Dienstleistungen  oder  Geld  bestehen  und  zum 
Zweck  der  reinen  oder  der  rcproductiven  Consumtion  erfolgen  (s.  unter  II, 
A,  1 und  II,  C,  2). 

(2)  An  die  Stelle  verwendeter  alter  Güter  bei  der  eigenen  Er- 
zeugung tretende  neue  Güter  (s.  unter  II,  C,  2). 

Z.  B.  die  fertigen  Fabrikate,  welche  an  die  Stelle  der  verbrauchten  Roh-  und 
Hilfsstolle.  Unterhaltsmittel  der  Producenten  u.  s.  w.  treten. 

(II.)  Ausgänge. 

A.  Ausgänge,  welche  zugleich  Ausgaben  sind: 

(1)  Unmittelba r eigens  behufs  der  BedUrfnissbefriedigung 


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Schema  der  Ein-  und  Ausgange. 


381 


von  den  Wirtbschaftsangehörigen  verzehrte  Güter  (Consumtion, 
reine  oder  eigentliche  Consumtion). 

Hier  erfolgt  eine  Werth  Vernichtung,  bez.  ein  Verbrauch  der  naturalen 
Güter  selbst:  N a t u r a 1 ausgabe. 

(2)  Rentenausgaben,  bestehend  in  Zahlungen  von  Renten 
aus  passiven  Creditgeschäften  Seitens  der  debitirenden  Wirtschaft. 

(3)  Ausgaben,  bestehend  in  unentgeltlicher  und  frei- 
williger Ueberlassung  von  Gütern  an  andere  Wirtschaften. 

Geschenk,  Almosen. 

(4)  Ausgaben  in  Folge  natürlicher  Zerstörung  vor- 
handener Güter  (nicht  zusamnienfallend  mit  dem  in  §.  163  er- 
wähnten natürlichen  Qualitätsverschlechterungen  der  Güter):  natür- 
liche Consumtion. 

(5)  Ausgaben  in  Folge  von  Verlieren,  De relinquiren  von 
Gütern. 

(6)  Ausgaben,  bestehend  in  zwangsweiser,  aber  vom 
Rechte  gebilligter  Ueberlassung  von  Gütern  an  andere  Wirt- 
schaften, ohne  Erlangung  speci eilen  Gegenwertes. 

Im  Gegensatz  zu  dem  generellen,  für  die  einzelne  Wirthschaft  nicht  mess- 
baren Gegenwerth , der  allerdings  auch  für  die  Steuern  in  der  allgemeinen  Staats- 
förderung ^Rechtsschutz  u.  s.  w.)  erlangt  wird. 

Hierher:  Steuern  und  zwar  eigentliche,  allgemeine 
Steuern,  während  Gebühren  (meine  Finanzwiss.  11, 2.  Aufl.,  S.  15, 
81,  83),  weil  dabei  ein  speci  eil  er  Gegenwert  erlangt  wird, 
streng  genommen  nicht  ganz  hierher  gehören. 

(7)  Ausgaben  in  Folge  der  in  §.  115  erwähnten  Zutheilungen 
und (8) in  Folge  rechtswidrigen  Zwangs  gegen  den  Hergebenden, 
bzw.  Beraubten,  Bestohlenen  u.  s.  w. 

Der  Ausgang  der  Güter  aus  einer  Wirthschaft  durch  Erbrecht  ist  hier  nicht 
mit  zu  erwähnen,  denn  er  ist  eben  Auflösung  der  Wirthschaft  selbst. 

(B.)  Ausgänge  in  Folge  von  Creditgeschäften: 

(1)  Gewährung  von  Crediten  an  andere  Wirtschaften. 

Active  Creditgeschäfte,  incl.  Vermiethungen  und  Verpachtungen  bei  Post- 
numerandozahlung noch  in  cigenthümlicher  Weise  (s.  I,  B,  1). 

(2)  Rückzahlungen,  bez.  RU ckgaben  von  Gütern  an  die 
creditirende  Wirthschaft,  oder  Abwicklung  passiver  Creditgeschäfte 
(s.  I.  B.,  2). 

C.  Ausgänge,  welche  nur  einen  Substanz  Wechsel  des  Ver- 
mögens bilden: 


382  3.  B.  Wirtlisch,  u.  Volkswirthsch.  2.  K.  Leben  d.  Einzelwirthsch.  1.  A.  §.  161,  162. 


(1)  im  Tausch  oder  Verkauf  gegen  Empfang  anderer  Güter 
fortgegebene  Güter,  — verkehrsmässiger  Ausgang. 

(2)  Verwendung  wirtschaftlicher  Güter  als  Mittel  zur  eigenen 
Herstellung  neuer  wirtschaftlicher  Güter:  reproductive  Con- 
sumtion. 

Hier  tritt  an  Stelle  des  verbrauchten  Guts  ein  neues,  erhält  sich  also  der 
Werth  im  Formwechsel  der  Guter.  Die  dergestalt  verwendeten  Güter  heissen 
Erzeugungs-(Productions-,Herstellungs-,Gewinnungs-) kosten  oder  Kosten  schlecht- 
weg (§.  142). 

E.  — §.  161  [72].  Natural-  und  Geldrechnung  bei 
dem  äusseren  Güter  - Wechsel.  Jeder  Gtiter-Wechsel  in 
der  Wirtschaft,  d.  h.  jeder  Ein-  und  Ausgang  der  Güter,  ferner 
jede  Veränderung  des  Vermögens,  d.  h.  jede  Einnahme 
und  Ausgabe  und  danach  dann  der  Güterbestand  in  einer 
Wirtschaft  und  im  Vermögen  lässt  sich  auf  zweierlei  Weise 
verfolgen : 

1.  an  den  Gütern  selbst,  insbesondere  in  der  Art,  dass 
die  einzelnen  Güter  durch  Maassbestimmungen  genau 
qualitativ  und  quantitativ  bestimmt  werden,  was  alsdann  auch  eine 
Summirung  der  qualitativ  gleichen  Gütermengen  gestattet:  sog. 
Natu  ralrechnung. 

Sie  wird  gleichzeitig  zur  „Gebrauchswerth-Rechnung“  und  kommt  im  practischen 
Leben,  z.  B.  bei  der  Aufnahme  der  Lager-Inveutare  der  Kaufleute,  in  vielen  Zweigen 
des  Staatshaushalts  u.  s.  w.  vor.  Bei  den  Sachgütern  muss  hier  die  Waaren- 
kunde  und  das  Maass-  und  Gewichtswesen  die  Hilfsmittel  zur  genauen  Na- 
turalrechnung liefern. 

2.  Am  Werthe  der  Güter,  und  zwar  am  Tauschwerthe 
und  insbesondere  am  Geld  werthe:  Geldrechnung.  Hier 
werden  die  Güter  durch  den  Werthanschlag  oder  den  Preis- 
ansatz  in  Geld  auf  einen  gleichen  Nenner  zurückgeführt,  wobei 
dann  eine  vollständige  Summirung  nach  Wertheinheiten  möglich  ist. 

Ausser  der  Waarenkunde  und  dem  Maass-  und  Gewichtswesen  bedarf  es  zum 
Werthanschlag  der  Sachgüter  und  auch  der  etwa  in  Betracht  kommenden  Dienst- 
leistungen und  „Verhältnisse“  des  Geld-  und  Münz  Wesens,  der  Preislisten 
(Preiscourante)  und  eventuell  der  Taxation  (§.  141). 

Die  am  Ende  einer  Rechnungsperiode  sich  ergebende  Diffe- 
renz zwischen  den  Einnahmen  und  Ausgaben  heisst  Bilanz.  Sie 
ergiebt  einen  „Uebcrschuss“,  wenn  die  Einnahmen,  und  einen 
„Abgang“  (in  diesem  Sinne,  Deficit),  wenn  die  Ausgaben 
grösser  waren. 

Auch  diese  in  diesem  §.  besprochenen  Verhältnisse  sind  für  die  Fiuanzwirth- 
schaft  von  besonderer  Bedeutung,  vergl.  Finanzwissensch.  I,  3.  A.  §.  133,  144 — 147. 


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Ziel  des  Wirthschaftsbetriebes. 


383 


F.  — §.  162  [73].  Das  Ziel  des  Wirthschaftsbetriebs. 
Ein  solches  lässt  sich  nicht  für  alle  Arten  der  Einzelwirtbscbaften 
gleichmässig  binstellen.  Bei  dem  typischen  Hauptfall,  der  In- 
dividual- und  Familien  wirth schaft,  hängt  es  mit  der  Lehre 
vom  Auskommen  und  dem  Bedtirfnissstand  (4.  Buch)  zusammen. 
Im  Allgemeinen  ist  hier  das  Streben  nach  Vergrösscrung  der  Ein- 
nahmen, um  richtige  und  heilsame,  die  Gesammtentwicklung 
jedes  menschlichen  Individuums  und  dadurch  wieder  der  ganzen 
bürgerlichen  Gesellschaft  förderliche  Bedürfnisse  der  Wirthschafts- 
subjecte  und  ihrer  Angehörigen  genügend  befriedigen  zu  können, 
ein  berechtigteres  Princip,  als  das  Streben  nach  Verminderung  der 
Ausgaben,  wenn  damit  eine  jene  Entwicklung  hemmende  Be- 
schränkung der  Consumtion  verbunden  ist:  so  für  die  einzelne 
Familie,  so  für  das  ganze  Volk.  Zugleich  sollte  aber  in  jeder 
Wirtschaft  nach  einem  WirthschaftsU bersch uss  gestrebt 
werden.  Derselbe  ist  nicht  nur  die  Vorbedingung  einer  weiteren 
Steigerung  der  Entwicklung,  sondern  auch  ein  Reserve-  oder 
Sicherheitsfonds  für  die  Rückschläge,  welche  der  Wirth- 
schaftsbetrieb  und  der  erreichte  Vermögensbestand  durch  ungünstige 
Einflüsse  der  Aussenwelt,  besonders  durch  die  „Conjunctur“,  un- 
abhängig vom  Willen,  Thun  und  Lassen  des  Wirthschaftssubjects, 
erleiden  kann. 

Ein  solcher  Reservefonds  ist  daher  eine  allgemeine  Forderung 
für  jede  Einzelwirtschaft. 

Vgl.  Hermann  in  d.  staatsw.  Untersuch.  S.  226.  Im  Staatshaushalt  die  Frage 
des  Staatsschatzes.  S.  darüber  meine  Fin.  I,  3.  A.  §.  75. 

Es  mag  auffallen,  dass  hier  nicht  als  Ziel  des  einzelwirthschaftlichen  Betriebs, 
zumal — wie  man  oft  sagt — der  Individual-  und  Familienwirthschaft  die  Kapital- 
bildung, insbesondere  um  dadurch  einen  Rentenfonds  und  Rentenoinkommen  für 
diese  Wirtschaft  zu  erlangen,  hingestellt  wird:  ein  Ziel,  welches  tatsächlich  in 
unserem  Wirtschaftsleben  so  allgemein  verfolgt  und  dessen  Verfolgung  Allen,  auch 
den  Angehörigen  der  unteren  Klassen  („Sparen“,  Einlegen  in  Sparkassen  u.  s.  w.)  als 
wirtschaftliche,  selbst  wohl  als  sittliche  Pflicht  vorgehalten  zu  werden  pflegt,  auch 
als  notwendig  für  die  Entwicklung  der  Volkswirtschaft,  dio  „vor  Allem  Kapital 
bedürfe“,  gilt.  Indessen  sind  das  eben  doch  durchaus  privatwirtschaftliche  An- 
schauungen, nur  gütig  für  die  privatwirthschaftliche  Organisation  der  Volkswirtschaft 
und  für  Epochen  des  individualistischen  freien  Verkehrs,  wo  der  Einzelne  auf  sich 
selbst  gestellt  wird  und  die  Bildung  des  Nationalkapitals  fast  nur  in  der  Rechtsform 
des  Privatkapitals  geschieht  und  hier  meist  auch  nur  so  geschehen  kann. 

Hier  ist  allerdings  unter  den  gegebenen  Verhältnissen  des  Wirtschaftslebens 
auch  dieses  Ziel  richtig,  ja  nothwendig.  Aber  als  allgemeines,  aus  der  Stellung 
der  Einzelwirthschaft  in  der  Volkswirtschaft  nothwendig  folgendes  Ziel  kann  man 
es  nicht  hinstellen.  W'ir  kommen  auf  diesen  Punct  im  4.  Buche  in  den  Erörterungen 
über  Bedürfnissstand  und  Verteilung  des  Volkseinkommens  und  im  2.  Thoil  der 
Grundlegung  bei  der  Erörterung  Uber  Privat-  und  Nationalkapital  zurück. 

Weiteres  zum  Gegenstand  dieses  ganzen  Abschnitts  im  3.  Kapitel  unten. 


384  3.  B.  Wirthsch.  u.  Volkswirthsch.  1.  K.  Leben  d.  Einzel wirthsch.  2.  A.  163,  164. 

2.  Abschnitt. 

Einzelwirtschaft  und  Vermögen  unter  den 
Einwirkungen  der  Aussenwclt,  besonders  unter  dem  Einfluss 
der  Conjunctur  in  der  Volkswirtschaft  oder  die  passive 
Seite  der  Einzelwirtschaft. 

I.  — §.  163  [74],  Hierher  gehörige  Fälle.  Der  jetzt 
zu  betrachtende  „innere-“  oder  Werth- Wechsel  der  Güter, 
welcher  unabhängig  vom  Willen  und  der  Thätigkeit  der  Wirth- 
schaftssubjecte  vor  sich  geht  (§.  156),  umfasst  drei  Arten  solcher 
Fälle:  1)  die  n a t Uri  i c h e V e rän  der un g der  Qualität  der 
Güter,  2)  die  veränderte  menschliche  Kenntniss  der 
Eigenschaften  derGUter,  3)  die  veränderte  Co  nj  unctur 
hinsichtlich  der  Herstellung  und  des  Begehrs  derjenigen 
Güterart,  zu  welcher  die  betreuenden  concrcten  Guter  gehören. 

Hier  gehen  mit  den  Gütern  selbst  oder  in  den  Beziehungen 
der  Menschen  zu  ihnen  Veränderungen  vor  sich,  ohne  Rücksicht 
auf  die  individuellen  wirtschaftlichen  Kosten,  welche  für  ein 
concretes  Quäle  und  Quantum  aufzuwenden  waren,  lind  ändern  in 
Folge  dessen  die  Güter  ihren  Werth  (Gebrauchswert,  Tausch- 
wert). Soweit  diese  Werthänderung  die  ökonomische  Lage  einer 
Wirtschaft,  bzw.  eines  Wirthschaftssubjects,  nach  aussen  zu, 
in  Bezug  auf  das  gliedlicke  Verhältnis  der  Wirtschaft  zur  Volks- 
wirtschaft, wegen  des  Einflusses  auf  Vermögen,  Kaufkraft  be- 
einflusst, wird  sie  zu  einer  auch  volkswirtschaftlich  und  social 
wichtigen  Thatsache,  deren  Tragweite,  einer  organischen  und 
socialen  Auffassung  der  Volkswirtschaft  gemäss,  hier  gewürdigt 
werden  muss. 

Die  beiden  ersten  Reihen  von  Füllen  sind  einfach  und  bedürfen  hier  keiner 
eingehenderen  Behandlung,  die  dritte,  die  Conjunctur,  ist  uin  so  verwickelter  und 
wichtiger  und  hier  näher  zu  verfolgen. 

A.  — §.  164  [74].  Die  Güter,  insbesondere  die  Sachgüter,  er- 
fahren durch  Natureinflüsse  Veränderungen  ihrer  Qualität, 
daher  ihrer  Brauchbarkeit  für  menschliche  Zwecke  und  des 
davon  abhängigen  Gebrauchs  wert  lies,  und  zwar  zum  Guten 
und  zum  Schlechten. 

Sie  verbessern  sich  in  einigen  Fällen,  z.  B.  manche  Güter  einfach  durch 
Zeitverlauf,  als  Bedingung  gewisser  Naturprocesse,  unter  gewissen  Voraussetzungen 
(Wein,  Cigarren  u.  A.  m.  — Geigen);  sie  verschlechtern  sich  in  der  grossen 
Mehrzahl  der  Fälle,  aller  dagegen  getroffenen  Vorkehrungen  ungeachtet:  die  Sach- 
güter lösen  sich  wieder  in  ihre  stofflichen  Bestandteile  auf,  Zufälle  aller  Art 
schädigen  sie. 


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Einfluss  der  natürlichen  Veränderung  der  Qualit.  d.  Güter. 


385 


Der  eingetretenen  Veränderung  des  Gebrauchswertes  pflegt 
eine  Aenderuug  des  Tauschwertes  in  derselben  Richtung  zu 
entsprechen.  Die  Verbesserung  der  Güter  führt  also  zu  einer 
Wertherhöhung,  die  Verschlechterung  zu  einer  Werthver- 
minderung. Daraus  ergeben  sich  dann  entsprechende  Ver- 
änderungen im  Werthe  des  Güterbestandes  der  Wirtschaft,  des 
Vermögens  einer  Person,  beider  Stellung  in  der  Volkswirtschaft. 

Wem  diese  Veränderungen  zu  Gute  kommen  oder  zur  Last 
fallen,  hat  wesentlich  wieder  das  Recht,  freilich  „nach  der  Natur 
der  Sache“,  zu  bestimmen. 

Die  allgemeine  Kegel  ist,  dass  sie  den  Eigentümer  treffen,  bei  gemietheten 
und  gepachteten  Sachen  also  nicht  das  Wirthschaftssubject,  das  im  Augenblick 
darüber  verfügt.  Jedoch  sind  Ausnahmen  von  dieser  Regel  weder  undenkbar  noch 
im  Leben  und  im  Rechte  ganz  unbekannt.  In  dem  „System  der  freien  Coutracte“ 
kann  bei  Creditgeschäften,  namentlich  bei  Mieth-  und  Pachtgeschäften  die  Last  der 
natürlichen  Werthverminderung  vom  juristischen  Eigenthümer  auf  den  Benutzer  über- 
wälzt werden  und  die  social  gedrückte  Stellung  des  einen  Contrahenten  lässt  der- 
gleichen wohl  zu : Verschiebung  des  Risicos  aus  Zufällen  z.  B.  auf  den  Miether  einer 
Wohnung. 

Casus  a nullo  praestantur  ist  bei  Obligationen  die  Rechtsregel,  Puchta,  Pan- 
decten  §.  272.  302:  Specics  perit  ei  cui  debetur.  In  den  modernen  grossstädtischen 
M ieth Verträgen,  einem  characteristischen  Beispiele  der  volkswirthscliaftlichen  und 
juristischen  Fiction  der  Gleichheit  der  Parteien  bei  der  Contractschliessung,  heisst 
es,  z.  B.  in  Berlin,  oft:  „Der  Miether  tiägt  den  durch  Hagelschlag,  Sturm  und  andre 
unabwendbare  Naturereignisse  der  Wohnung  und  insbesondere  den  Fenstern  zugefügten 
Schaden.4’  Ueber  die  Entwicklung  des  sogen.  Kemissionswescns  bei  den  land- 
wirtschaftlichen Pachtverträgen  s.  Finanzwiss.  I.  3.  A.  §.  229  und  die  dort  citirten 
Schriften  von  Ubbelohdc,  Drechsler,  Bio m eye r. 

Wo  eine  Werthverminderung  der  Güter  durch  Qualitätsver- 
änderung ohne  Schuld  des  Betroffenen  eintritt,  liegen  ähnliche 
Verhältnisse  und  Bedürfnisse,  wie  bei  einer  Zerstörung  oder 
Quantitäts Verminderung  von  Sachgütern  durch  Unfälle,  Natur- 
ereignisse u.  s.  w. , vor.  Einmal  wären  solche  Veränderungen 
überhaupt  möglichst  zu  verhüten  (Prävention),  sodann  den- 
noch eintretende  in  ihrer  nachtheiligen  Einwirkung  möglichst  zu 
beschränken  (Repression)  und  endlich  soweit  sie  ohne 
Schuld  des  Betroffenen  diesen  benachthciligen , er  mittelst  des 
Princips  der  Versicherung  schadlos  zu  halten,  ln  BetrefT  der 
beiden  ersten  Puncte  handelte  es  sich  dann  auch  hier,  wie  in  dem 
anderen  Falle,  um  technische,  polizeiliche  Einrichtungen, 
Vorschriften  und  zu  befolgende  Grundsätze  und  Regeln;  in  Betreff 
des  letzten  Punctes  um  Ausdehnung  des  Versicherungs prin- 
cips. Indessen  sind  die  bezüglichen  Schwierigkeiten  sehr  gross 
und  bisher  finden  sich  höchstens  vereinzelte  Ansätze  dazu,  in  der 
angedcuteten  Weise  einzuschreiten  und  Hilfe  zu  gewähren.  Aber 

A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlagen.  25 


4 


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3ö6  3.  B.  Wirthsch.  u.  Volkswirthsch.  2.  K Leben  d.  Einzelwirthsch.  2.  A.  §.  165,  166. 

ein  entsprechendes  Bedürfniss  besteht  eigentlich  ebenso  wie  in  dem 
anderen  Falle.  Auch  die  Frage  der  Staatshilfe  kann  bei  all- 
gemeinerer Ausdehnung  unverschuldeter  Verluste  in  Folge  von 
Qualitätsverschlechterungen  der  besessenen  Sachgüter  wohl  analog 
wie  in  dem  anderen  Falle  auftauchen. 

Die  nationalökonomische  Lehre  von  der  Versicherung  und  die  damit  zu- 
sammenhängende von  der  Vermeidung  (Verhütung)  und  Bekämpfung  bestimmter 
nachtbeiliger  Umstände  lässt  sich  auch  auf  die  hier  berührte  Frage  anwenden. 
S.  meine  Abb.  Versicherungswesen  im  Schönberg’schen  Handbuch  II,  3.  A.  S. 939  ff. 
(bes.  §.  1,  8 ff.)  und  die  daselbst  gen.  Litteratur.  namentlich  Em.  Hermann,  Theorie 
der  Versicherung  vom  wirtschaftlichen  Standpuncte,  2.  A.  1869. 

B.  — §.  165  [75].  Die  veränderte  menschliche  Kennt- 
niss  der  Eigenschaften  der  Güter,  besonders  der  Sachgüter, 
wird  „durch  die  Thätigkeit  des  Verstandes  erlangt,  der  neue 
Eigenschaften  der  Stoffe  ans  Licht  bringt  oder  eine  neue  Be- 
ziehung derselben  zu  meoschliehen  Zwecken  entdeckt.  Die  fort- 
schreitende Naturkenntniss  und  die  Geschicklichkeit  in  der  Be- 
nutzung der  Naturgebilde  ist  bei  den  geistig  entwickelten  Völkern 
eine  reichliche  Quelle  der  Vermögens  vermehr  u ng“  (Rau).  Denn 
letztere  ist  wieder  die  Folge  einer  höheren  Brauchbarkeit  der 
Güter:  Gebrauchs-  und  oft  auch  Ta usch werth  steigen.  Aber 
die  entgegengesetzte  Erscheinung,  eine  Verminderung  der  Brauch- 
barkeit, daher  des  Werthes  und  des  Vermögens,  fehlt  keineswegs, 
z.  B.  bei  der  Entdeckung  nachtheiliger  Eigenschaften  der 
Güter  (z.  B.  Trichinen  im  Schweinefleisch,  Gifttstoffe  in  Farben, 
Pflanzen  u.  dgl.  m.). 

Die  für  Wirtschaft  und  Vermögen  günstigen  und  ungünstigen 
Folgen  treffen  wie  im  vorigen  Falle  der  Regel  nach  den  Eigen- 
tümer, was  wieder  zu  besonders  wichtigen  weiteren  Folgen  für  den 
Grundeigenthüracr  führt,  wenn  au  den  Grundstücken  oder  den 
Stoßen  darin  neue  Eigenschaften  erkannt  werden  (Bergbau). 

S.  Kau  I,  §.68,  69,  v.  Hermann,  Untersuch.  S.  132,  v.  Mangoldt,  Grundr. 
§.  14.  Näheres  gehört  in  die  Technologie  und  Privatökonomik.  Einige  Beispiele  bei 
Kau,  I,  §.  68  Note  d und  darnach  in  der  2.  Aufl.  dieses  Werks  S.  97  Note  4. 

II.  Die  Conj  unctur.  — §.  166  [76 J.  A.  Wesen  und  Wirkung. 
Am  Wichtigsten  ist  der  Einfluss  der  Conj  unctur  auf  den  Werth 
der  Güter  in  der  Wirtschaft  und  des  Vermögens,  der  hier  allein 
etwas  näher  zu  betrachten  ist. 

Auch  M enger  a.  a.  0.  I,  §.  2 tiber  den  Causalzusammenhang  der  Guter  enthält 
manches  Hierhergehörige.  Vgl.  bes.  Lassalle,  Kap.  u.  Arb.  a.  a.  0.  u.  Schäffle, 
Soc.  Körper  a.  a.  0.  (s.  o.  §.  155). 


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Conjunctur.  Weseu  und  Wirkungen. 


387 


Unter  der  Conjunctur  wird  hier  die  Gesammtheit  der  tech- 
nischen, ökonomischen,  socialen  und  rechtlichen  Bedingungen  ver- 
standen, welche  in  der  auf  Arbeitstheilung  und  Privateigenthum  — 
insbesondere  Privateigenthum  an  sachlichen  Productionsmitteln 
(privatem  Grundeigenthum  und  Privatkapital)  — beruhenden  Volks- 
wirtschaft die  Herstellung  der  Guter  für  den  Verkehr,  ihren  Be- 
gehr und  Absatz  in  demselben,  daher  den  Werth,  insbesondere 
den  Tauschwerth  und  Preis  der  Güter  überhaupt  und  auch  des 
einzelnen,  schon  fertigen  Gutes  allgemein  wesentlich  mit,  im  con- 
creten  Falle  selbst  allein  bestimmen,  in  der  Regel  ganz  oder 
wenigstens  überwiegend  unabhängig  vom  Willen  und  von  den 
Leistungen  (Handlungen  und  Unterlassungen)  des  Wirthschafts- 
subjects,  bez.  des  Eigentümers,  daher  auch  von  dem  individuellen 
Kosten-  (Arbeits-)  Aufwand  für  ein  bestimmtes  Quäle  und  Quantum 
des  betreffenden  Gutes  ira  concreten  Falle. 

Die  Conjunctur  gewinnt  mit  der  feineren  Ausbildung  der  Arbeits- 
theilung und  des  Verkehrs  immer  allgemeinere  uud  grössere  Be- 
deutung und  tritt  vielfach  als  dritter  Hauptfactor,  von  welchem 
die  Tauschwerthsumme  des  Güterbestandes  in  der  Wirtschaft 
und  des  Vermögensbestandes  einer  Person  abhängt,  neben  die 
beiden  anderen  hierfür  maassgebenden  Factoren , die  indivi- 
duelle Productionsleistung  und  Consumtion.  Namentlich  gelangt 
die  Conjunctur  in  dem  System  der  freien  Concurrenz  zur 
Geltung.  Darin  liegt  die  Signatur  der  modernen  Volkswirt- 
schaft. 

% 

Lindwurm,  Eigentumsrecht  S.  301  nennt  dies  eine  petitio  principii.  Im  alten 
Griechenland  habe  es  ebenso  gut  wie  heute  Conjuncturen  gegeben.  Gewiss,  soweit 
eben  dort  (und  in  Rom)  die  Volkswirtschaft  auf  demselben  Itechtsboden  wie  heute 
stand,  aber  niemals  ist  mit  solcher  Consequenz  Volkswirtschaft  und  wirtschaftliche 
Rechtsordnung  „individualistisch“  gestaltet,  wie  heute.  Daher  auch  gegenwärtig 
der  besonders  grosse  Einfluss  der  Conjunctur. 

Dem  Einzelnen  wächst  so  durch  die  Conjunctur  kraft  des  Privat- 
eigenthumsprincips  ein  Vermögenswerth  hinzu,  den  er  nicht  oder  doch 
nicht  ganz  durch  eine  der  oben  (§.  160)  erwähnten  Einnahmearten, 
namentlich  nicht  durch  eine  eigene  Production  oder  Arbeitsleistung 
erworben,  insofern  ökonomisch  nicht  oder  nur  zum  Theil  „verdient“ 
hat.  Und  ebenso  erleidet  der  Einzelne  Einbussen  am  Werthe  seines 
Vermögens  oder  der  Güter  in  seiner  Wirthschaft,  ohne  dass  einer 
der  genannten  Fälle  der  Ausgaben  oder  Ausgänge,  ohne  dass  ins- 
besondere eine  eigentliche  Consumtion  stattgefunden  hat;  insofern 
erleidet  er  also  ökonomisch  unverschuldet  Verluste.  Wichtige  That- 

25* 


388 


3.  B.  Wirthscb.  u.  Volkswirthsch.  2.  K.  2.  A.  Conjunctur.  §.  166. 


Sachen  für  die  Theorie  vom  Wesen  und  der  Function  der  auf  diesem 
Rechtsboden  beruhenden  und  demgemäss  organisirten  Volkswirth- 
schaft,  wie  nicht  minder  für  die  Beurtheilung  der  Praxis,  des  in- 
dividualistischen Systems  der  freien  Concurrenz  (§.  167). 

So  stellt  sich  die  Sache  wenigstens  heraas,  wenn,  der  heutigen  wirthsch&ftlicheu 
Rechtsordnung  und  specicll  dem  geltenden  Privatrecht  gemäss,  das  Eigenthumsrecht 
sich  nicht  bloss  auf  die  Substanz,  oder  auf  eine  bestimmte  Werthhöho  der  Guter,  son- 
dern schlechtweg  auf  ihren  Werth  bezieht,  keinerlei  Correctur  der  günstigen  Folgen 
der  Conjunctur  durch  ein  diesen  Verhältnissen  angepasstes  Stcuerrecht  erfolgt  und 
keine  Entschädigungen  den  von  ungünstigen  Conjuncturen  Betroffenen  durch  die  Ge- 
sammtheit,  bcz.  durch  den  Staat  zu  Thcil  werden.  Die  Werthvermehrung  und  Ver- 
minderung, welche  die  Folge  bloss  des  Conjnncturenwechsels  ist,  trifft  dann  allein  und 
vollständig  den  Eigentümer  oder  das  Wirthschaftssubject. 

In  den  sogen.  Verkehrssteuern  wird  allerdings  der  Gewinn,  welcher  aus  dem 
Eigc  nthumswechsel  hervorgeht  und  damit  unter  Umständen  auch  der  Gewinn, 
welcher  einer  werthsteigernden  Conjunctur  zu  verdanken  ist  und  mittelst  Verkaufs  des 
Objects  realisirt  wird,  besonders  beim  Grundeigentum  (Grundstücke  und  Gebäude),  mit 
getroffen,  so  durch  die  in  unseren  modernen  Staaten  verbreitete  Besitzwechselsteuer 
von  Grundeigentum  (franz.  Enregistrement  u.  A.  in.).  L.  Stoin  gründete  auf  den  Ge- 
danken, die  bei  solchem  Besitzwechsel  gemachten  Gewinne,  welche  durch  die  gewöhn- 
lichen Ertrags-  und  Einkommensteuern  nicht  getroffen  werden,  zu  besteuern,  seine  ältere 
Theorie  der  Verkchrssteuern,  (Finanzwiss.  2.  Ausg.  S.  217,  466  ff  ).  Er  stellte  indessen 
dabei  die  neue  Fiction  auf,  als  ob  bei  jedem  solchen  Besitzwechscl  immer  ein  Ge- 
winn vorkomme,  der  ein  steuerbares  Object  bilde,  und  verfolgte  nicht  das  Ziel,  grade 
die  Con  juu  cture n gewin  n e durch  solche  Verkehrssteuern  zu  treffen.  Insofern  war 
Steins  Theorie  doch  nur  eine  Rechtfertigung  der  fehlerhaften  Praxis,  so  richtig  es 
auch  ist,  die  betreffenden  Abgaben  nicht  mit  den  älteren  Theoretikern  unter  den  hier 
nicht  zutreffenden  Begriff  der  Gebühr  zu  zwängen.  Die  Praxis  besteuert  ununter- 
schiedlich, ob  ein  Gewinn  beim  Bcsitzwcchsel  von  Eigenthum  realisirt  wurde  oder 
nicht,  diesen  Besitzwechsel  und  darin  liegt  das  Bedenkliche  ihrer  Verkehrssteuern, 
mögen  sie  Grundeigenthum  oder  bewegliches  Eigenthum  (Börsensteuer)  treffen.  So- 
weit sie  aber  wirklich  den  realisirten  Conjuncturengewinn  trefTen,  was  sie 
wenigstens  in  Zeiten  der  Preissteigerung  des  Grundeigenthums,  der  Waaren  und  der 
Werthpapiere  thun,  sind  sie  nicht  nur  zu  rechtfertigen,  sondern  auch  ein  Postulat 
der  vcrthcilcndcn  Gerechtigkeit  in  der  Volkswirtschaft.  Namentlich  sind  von  diesem 
Gesichtspuncte  aus  auch  Börsensteuern,  als  Correctur  der  dem  Einzelnen  kraft 
des  Privateigenthumsprincips  zufallenden  zufälligen  Gewinne,  ausdrücklich  zu  ver- 
langen. Die  bestehenden  Verkchrssteuern  müssen  nur  demgemäss  ergänzt,  möglichst 
dazu  eingerichtet  werden,  die  Conjuncturengcwinne , besonders  am  Grundeigentum, 
zu  treffen,  und  verlangen  für  diese  Gewinne  eine  starke  Erhöhung.  Steuertechnisch 
bieten  sich  für  eine  solche  Reform  der  Verkehrssteuern  freilich  erhebliche,  m.  E. 
aber  nicht  unüberwindliche  Schwierigkeiten,  wie  ich  seit  der  2.  Aufl.  dieser  Grund- 
legung mittlerweile  näher  im  2.  Bande  meiner  Finanzwissenschaft  dargelegt  habe. 
Daselbst  eine  principiclle  Behandlung  der  Frage  von  der  „Besteuerung  der  Conjunc- 
turengewinne“,  bes.  in  der  2.  Aufl.  §.  236  ff.  (S.  566  ff'.,  570  ff.,  mit  weiterer  Litteratur). 
Wie  man  ohne  Voreingenommenheit  zu  demselben  Gcsicbtspuuct  wie  ich  gelangt,  zeigt 
Ihering,  Zweck  im  Recht  I,  519  ff.  — Die  ganze  Frage  ist  keineswegs  allein  eine 
finanzwissenschaftliche,  sondern  eine  allgc  mein  -Volkswirt  h sc  haft  liehe.  Ge- 
länge eine  Steuerreform,  wie  die  angedeutete,  so  fiele  ein  Theil  der  richtigen  Be- 
denken gegen  den  Einfluss  der  Conjunctur  auf  die  wirtschaftliche  Lage  der  Einzelnen 
und  besonders  gegen  das  private  Grundeigenthum  fort. 

Gegen  die  Consequcnzen , welche  ich  aus  dem  Einfluss  der  Conjunctur  ziehe, 
A.  Held,  Grundr.  mehrfach,  u.  A.  S.  70:  immer  mit  dem  das  Ziel  überschiessenden, 
deshalb  unhaltbaren  Einwand , das  doch  eine  „volle  Gerechtigkeit  unerreichbar“  sei, 
als  ob  man  deshalb  nicht  das  Mögliche  erstreben  müsse.  Mit  solchen  Gründen 
kann  man  jeden  Versuch  nach  Reformen  auf  irgend  einem  Gebiet  widerlegen.  S. 


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Conjunctur.  Einzelne  Hauptmomente.  389 

auch  Held  in  Conrad’s  Jahrb.  1878,  B.  2,  S.  257  ff.,  Lindwurm,  Eigenthums- 
recht S.  302. 

B.  — §.  167  [81].  Die  einzelnen  Haupt- Mo  mente, 
welche  die  Conjunctur  bilden.  Sie  lassen  sich  kaum  auch 
nur  ihr  eine  Zeit,  einen  Ort,  eine  Güterart,  geschweige  ganz 
allgemein  aufzählen.  Von  besonderer  Wichtigkeit,  namentlich,  mit 
theilweiser  Ausnahme  des  ersten  Falles,  in  den  Volkswirthschaften 
unserer  heutigen  Culturwelt,  pflegen  aber  folgende  Umstände  zu  sein: 

1)  Schwankungen  in  den  Ernte-Erträgen  der  Haupt- 
nahrungsmittel unter  dem  Einfluss  der  Witterung,  mitunter 
auch  politischer  Verhältnisse  (Störungen  des  Anbaus  durch  Krieg) x). 

Dadurch  wird  die  wirtschaftliche  Lage  der  Producenten* 2 * 4 S.),  andererseits  der 
Masse  der  den  unteren  Klassen  ungehörigen  Consumenten  in  einer  oft  geradezu  ent- 
scheidenden Weise  beeinflusst8).  Allerdings  haben  es  aber  in  der  Neuzeit  die  Ver- 
besserungen der  Coinmunicationsmittel,  zugleich  die  wichtigste  Voraussetzung  eines 
die  Preise  ausglcichenden  speculativen  Korn  handeis,  auch  die  veränderten  Bodenanbau- 
methoden (Fruchtwechselwirthschaft  in  stark  bevölkerten  Ländern,  sie  bildet  z.  B.  mit- 
telst des  Anbaus  verschiedener  Producte,  welche  durch  die  verschiedenen  Witte- 
rungen verschieden  begünstigt  oder  benachteiligt  werden,  eine  Art  Selbstassecuranz), 
möglich  gemacht,  hier  den  Einfluss  der  Conjunctur  zu  beschränken.  Dies  zeigt  sich 
in  den  kleineren  Schwankungen  der  Getreidepreise  innerhalb  kurzer  Zeiträume  in  der 
Gegenwart,  verglichen  mit  dem  Mittelalter  und  Alterthum.  Eine  feststehende  That- 
sache  der  Geschichte  und  Statistik  der  Getreidepreise.  Immerhin  sind  auch  gegen- 
wärtig und  selbst  in  den  reichsten  Ländern  und  bei  hochentwickeltem  Communi- 
cationswesen  und  Getreidehandel  die  Schwankungen  von  1 : 2 innerhalb  eines  Jahres 
vorgekommen.  So  stand  z.  B.  sogar  der  wöchentliche  Durchschnittspreis  von  Weizen 
auf  den  englischen  Märkten  p.  Qu.  im  September  1846  49  sh.,  im  darauffolgenden 
Mai  1847  (Mitte)  102  sh.  6 d.,  und  Anfang  September  1847  wieder  49s  h.  6 d.  Welche 
Veränderungen  für  die  Lage  der  Masse  der  Consumenten,  der  Producenten,  der  Händler. 
Tookc,  Hist,  of  pric.  VI..  462.  S.  auch  N eumann  (Tüb.)  in  Hildebr.  Jahrb.  XVIII, 


*)  Vergl.  Ihering,  Geist  des  röm.  Rechts,  II,  2.  S.  237  ff, 

*)  Vergl.  was  die  Getreidehändler  anlangt  unten  §.  168  und  überhaupt  hinsicht- 
lich dieser  wie  der  Anbauer  selbst  To ok  e ’s  Geschichte  der  Preise  (deutsch  von  Asher. 

2.  B.  1858 — 59)  in  den  Abschnitten  über  Getreide.  Die  niedrigen  Getreidepreise  der 

20  er  Jahre  haben  auch  auf  dem  Continente  viele  Gutsbesitzer  ruinirt.  Der  Preisfall 
seit  Endo  der  1870  er  Jahre  drohte  es  wieder  zu  thun.  Daher  bekanntlich  die  Rück- 
kehr zu  agrarischen  Schutzzöllen  auf  dem  west-  und  mitteleuropäischen  Continent. 
Grade  eine  solche  wirthschaftspolitischo  Frage,  wie  diese,  erhält  auch  principiell  eine 
andere  Behandlung  vom  Standpunct  unserer  Lehre  von  der  Conjunctur  aus  betrachtet, 
als  vom  üblichen  Standpunct  der  individualistischen  Nationalökonomie  aus,  welche 
immer  nur  auf  die  bewusste  Thätigkcit  des  Individuums  Alles  zurückführt. 

8)  Eine  bekannte  Thatsache  im  Alterthum,  vgl.  für  Griechenland  Böckh, 
Staatshaushalt  der  Athener  I.,  1 § 15,  für  Rom  Ihering,  a.  a.  0.,  S.  238.  Für  die 
moderne  Zeit  lässt  sich  selbst  heute  noch  der  Zusammenhang  zwischen  der  allge- 
meinen Sterblichkeit  der  Bevölkerung,  d.  h.  eben  überwiegend  der  unteren  Classen, 
und  dem  Preise  des  Hauptnahrungsmittels  nachweisen  und  zwar  noch  Mitte  des 
19.  Jahrhunderts  ein  so  starker  Einfluss,  dass  jede  kleine  weitere  Erhöhung  des 
Preises  im  Grossen  und  Ganzen  von  einer  vermehrten  Sterblichkeit  begleitet  war.  — 
gewiss  ein  Beweis,  wie  wenig  der  Durchschnittslohn  in  der  Masse  der  arbeitenden 
Classe  den  zum  Leben  absolut  nöthigen  Betrag  übersteigt.  Vergl.  Wappäus,  Be- 
völkerungsstatistik, 2 B.,  Leipzig  1859,  I.,  197  ff..  Lange,  Arbeiterfrage,  3.  Aufl., 

S.  162,  199  ff. 


390 


3.  B.  Wirtlisch,  u.  Volkswirthsch.  2.  K.  2.  A.  Conjunctur.  §.  167. 


291,  318.  ücber  die  Function  des  internationalen  Gctreidchandels  in  der  heutigen  Zeit 
X.  v.  Neumann  (Wien),  Uebersichten  (1S71)  S.  9 fl’.  Dass  selbst  bei  heutigen  Com- 
inunicationsverhältnissen  die  Getreidepreise  in  kurzer  Zeit  stark  steigen  und  wieder 
rasch  erheblich  fallen  können,  hat  die  Preisbewegung  1890 — 92  gezeigt,  — worauf 
freilich  grade  hier  der  Einfluss  der  speculatiren  Ausbeutung  der  Conjunctur  als  stärker 
mitspielender  Factor  mit  gewirkt  haben  könnte. 

2)  Veränderungen  in  der  Technik  und  in  Folge  davon  in 
der  Oekonomik  der  Herstellung  der  Güter  (neue  Productions- 
methoden). 

Dadurch  treten  vielfach  neue  bessere  Güter  für  dasselbe  Bedürfuiss  an  die 
Stelle  alter  Güter  oder  es  werden  letztere  mit  geringeren  Kosten  erzeugt:  Beides 
drückt  den  Werth  der  alten  Güter  und  der  Kapitalien,  mit  denen  sie  hergestellt  werden, 
herab,  und  bringt,  wenigstens  zeitweise,  die  bisherigen  Producenten  (Unternehmer  wie 
Arbeiter)  leicht  in  eine  missliche  ökonomische  Lage.  Ein  Hauptbeispiel  aus  der  Neu- 
zeit ist  die  Einführung  von  Maschinen  an  Stelle  der  Handarbeit  mit  unvollkommnen 
Werkzeugen.  Vergl.  hierzu  G.  Schinoller’s  Geschichte  der  deutschen  Kleingewerbe, 
Halle  1869.  Ein  anderes  ganz  specielles  neues  Beispiel : Die  Folgen  des  Besscmer- 
Stahlerzeugungsprocesses  (und  des  Sicmens-Martin’schen  Verfahrens)  für  die 
Eisenindustrie.  Immer  weitergehende  Verdrängung  des  Eisens  durch  den  wohlfeilen 
und  viel  dauerhafteren  Stahl.  (S.  Pechar  S.  2 lf.) 

3)  Veränderungen  in  den  Communications-  und  Trans- 
portmitteln, welche  die  räumliche  Bewegung  der  Menschen 
und  Güter  beeinflussen,  — der  Regel  nach  bei  fortschreitenden 
Völkern  erleichtern. 

Dadurch  wird  namentlich  der  W’erth  des  Grund  und  Bodens  und  der  Ar- 
tikel von  niedrigem  specifischen  Werth  berührt,  ganze  Productionszweige  zu 
einem  schwierigen  Uebergang  zu  anderen  Betriebsmethoden  genöthigt.  Steigerung 
des  Bodenwerths  iu  der  Nähe  der  guten  Communicationen  wegen  besseren  Absatzes 
der  hier  gewonnenen  Erzeugnisse;  Erleichterung  starker  Bevölkerungsanhäufungen  in 
den  Städten,  in  Verbindung  mit  N.  6 und  7,  daher  enormes  Steigen  des  Werths  des 
städtischen,  besonders  grossstädtischen  Bodens  und  des  Bodens  in  der  Nähe  solcher 
Orte.  — Erleichterte  Abfu  hr  aus  Gegenden  mit  bisher  billigen  Preisen  des  Getreides 
und  anderer  land-,  forstwirtschaftlicher  Rohstoffe,  Bergbauproducte  in  Gegenden  mit 
höheren  Preisen ; dadurch  erschwerte  wirtschaftliche  Lage  aller  Bevölkcrungselemento 
mit  stabilerem  Einkommen  in  crstcrcn  Gegenden  und  besondere  Begünstigung  der 
Producenten  und  uamentlich  der  Grundbesitzer  daselbst.  Ein  sehr  characteristisches 
Beispiel  ist  die  seit  Mitte  unseres  Jahrhunderts  immer  mehr  erfolgte  Ausgleichung 
der  Getreidepreise  des  continentalen  Mitteleuropas  mit  den  französischen  und  englischen 
Preisen;  sehr  instructiv  dargestellt  in  den  schönen  statistischen  Arbeiten  von  E.  Las- 
peyres,  z.  B.  Deutsches  Handelsbl.  1874,  S.  394  über  die  ungarischen,  böhmischen, 
preussischen , französischen,  englischen  Preise.  — Umgekehrt  wirkt  die  erleichterte 
Anfuhr  von  Getreide  und  anderen  Stoffen  niedrigen  specifischen  Werths:  Begünstigung 
der  Consumenten,  Benachtheiligung  der  Producentcn  in  dem  Bezugslando.  Hier  dann 
ebenso  Nöthigung,  zu  anderen  Productionen  uberzugehen,  vom  Kornbau  mehr  zur 
Viehzucht,  wie  in  England  seit  den  40  er  Jahren,  wie  neuerdings  in  Folge  der  Con- 
currenz  des  billigen  osteuropäischen  und  überseeischen  Getreides  in  Deutschland  und 
Westeuropa.  Schwierige  Lage  für  unsere  Landwirthe  wegen  unseres  Klimas,  dann 
wegen  der  neuerlichen  starken  Lohnsteigerungen,  die  sie  nicht  so  leicht  wie  die 
Industriellen  auf  die  Producte  schlagen  können;  lauter  treffende  Beispiele,  wie  sehr 
die  Gesammthcit  der  Lebensbedingungen,  in.  a.  W.  wie  sehr  die  Conjunctur, 
nicht  die  individuelle  Thätigkeit  oftmals  das  wirtschaftliche  Ergehen  des  Ein- 
zelnen bestimmt. 


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Conjunctur.  Einzelne  Hauptmomente. 


391 


4)  Veränderungen  in  den  Anschauungen  der  Menschen  von 
der  Brauchbarkeit  der  Güter,  daher  Wechsel  in  der  concreten 
Werthschätzung,  in  Folge  dessen  im  Begehr  nach  den  Gütern. 

Geschmacksireränderungen,  Modewechsel  u.  dgl.  m.  mitunter  sich  so  rasch  voll- 
ziehend, dass  die  Produccnten  wenigstens  vorübergehend  in  preeäre  Lage  gerathen. 

5)  Veränderungen  in  denjenigen  allgemeinen  Bedingungen  der 
Production  und  des  Absatzes  der  Güter,  sodann  des  Credits, 
welche  in  den  öffentlichen  Zuständen  des  nationalen  und 
internationalen  Verkehrsgebiets,  in  dem  Vertrauen  auf  dieselben 
oder  dem  Misstrauen  gegen  sie  liegen:  ein  politisches  Moment. 

Dasselbe  wird  bei  der  steigenden  Bedeutung  der  Arbeitstheilung  im  Inlande,  bei 
der  Ausbildung  weltwirthschaftlichen  Verkehrs  (§.  152  fl.)  und  bei  dem  stärkeren  Mit- 
wirken des  Creditfactors  (§.  158),  andererseits  bei  den  ungeheuren  Dimensionen  mo- 
derner Kriegsführung  immer  wichtiger.  Sehr  lehrreiche  Mittheilungen  über  die  Eiu- 
flusse  grosser  politischer  Störungen  auf  die  Production  in  den  Handelskammer- 
be  richten  der  neueren  Zeit,  in  Deutschland  besonders  in  denjenigen  für  1866.  1870.  — 
Kothwendigkeit  auch  wegen  der  complicirten  Wirthschaftsverhältnisse  und  der  Sensibilität 
des  Credits,  die  Kriege  in  kurzen,  wuchtigen  Schlägen  zu  Eude  zu  führen,  was  wieder 
entsprechende  Präventivthätigkeiten  des  Staats  uud  stehende  Heereseinrichtungen  be- 
dingt. S.  darüber  unten  Buche.  Auch  A.  Wagner,  Keichsfinanzen  in  v.  HoltzendoriTs 
Jahrb.  d.  D.  Reichs  III,  120  tf.  Dann  Finanzwiss.  2.  Aufl.  I,  §.  108,  3.  Aufl.  §.  183. 

6)  Veränderungen  in  der  wi  rth  schaftlichen  Rechts- 
ordnung für  den  nationalen  und  internationalen  Verkehr. 

Dadurch  wird  die  Herstellung,  der  Absatz,  der  Bezug  der  Güter,  die  Wahl  der 
Productionsstelle  wesentlich  beeinflusst,  was  alsdann  auf  den  Werth  der  fertigen  Güter, 
der  Kapitalien,  mit  denen  sie  hcrgestellt  werden  und  des  Grund  und  Bodens,  wie  auf 
denjenigen  der  neu  herzustellenden  Güter  mehr  oder  weniger  maassgebend  eiuwirkt: 
Veränderungen  der  Agrar-,  Gewerbe-  und  Handelspolitik.  Ein  Beispiel  bietet 
die  Reform  der  britischen  Korngesetze,  die  in  derselben  Richtung  wirkte,  wie 
die  Erleichterung  der  Getreideeinfuhr  nach  Grossbritannien  in  Folge  der  besseren 
Communicationsmittel. 

7)  Veränderungen  in  der  räumlichen  Vertheilung  und 
in  der  ökonomischen  Ge sammtlage  der  ganzen  Bevölkerung 
eines  Volkswirthschaftsgebietes. 

Dadurch  werden  der  Werth  des  Bodens,  überhaupt  und  local,  die  Productions- 
und  Absatzbedingungen  vieler  Güter  erheblich  beeinflusst:  z.  B.  Steigen  des  Boden- 
werths bei  grösserer,  reicherer,  räumlich  stärker  concentrirtcr  Bevölkerung,  unter  dem 
Einfluss  der  Freizügigkeit,  der  Auswanderung,  vom  platten  Lande  in  die  Städte.  Die 
deutsche,  besonders  die  nordostdeutsche  Landwirthschaft  ist  auch  dadurch  in  neuester 
Zeit  in  eine  preeäre  Lage  gerathen.  S.  im  2.  Thcil  der  Grundlegung  über  Freizügig- 
keit. Am  Schärfsten  tritt  der  Einfluss  dieses  siebenten  Moments  wieder  in  den  gross- 
städtischen Bodenverhältnissen  hervor,  wo  die  ungeheuersten  „privaten  Kapital- 
bildungen“ in  grossem  Umfang  durch  Grundstückspeculatiou  uud  Steigen  des  Boden- 
werths erfolgen,  — auf  Kosten  endloser  Miethergenerationen.  Darüber  auch  in  der 
Grundlegung  Theil  II  im  Abschnitt  vom  städtischen  Wohuungsbodeu. 

8)  Veränderungen  in  der  socialen  und  ökonomischen 
Lage  der  einzelnen  Bevölkerungsc lassen , welche  durch  ihren 


392 


3.  B.  Wirthsch.  u.  Volksvirthsch.  2.  K.  2.  A.  Conjtmctur.  §.  1117,  16S. 


Einfluss  auf  Lohnhöhe  und  Zinshöhe,  auf  die  Nachfrage  nach 
Massenconsumptibilien  und  Luxusartikeln  wiederum  den  Werth  des 
Bodens,  des  Kapitals  als  Privatbesitz  und  die  ProductionsbediDgnngen 
vieler  Güter  sehr  wesentlich  mit  bestimmen. 

Z.  B.  Gewährung  voller  Coalitionsfreiheit  an  die  lohnarbeitenden  Classen  und 
staatlichen  Schutzes  derselben  gegen  Ausbeutung  mittelst  der  sogen.  Fabrik-  oder  der 
neuerdings  besser  sogen.  Arbeiterschutzgesetzgebung  u.  dgl.  m.,  wodurch  der  Lohn 
steigen,  der  Zins  der  Kapitalnutzung  fallen,  der  Werth  gewisser  Kapitalanlagen  (auch 
des  Bodens)  herabgedrückt,  das  Einkommen  der  unteren  Classen  erhöht,  der  oberen 
vermindert,  dadurch  die  Nachfrage  nach  Producten  von  gewissen  Artikeln  für  die 
Wohlhabenderen  weg  nach  Artikeln  für  die  Arbeiter  hinüber  geleitet  und  durch  dies 
Alles  die  Production  der  Volkswirtschaft  umgestaltet  werden  kann;  lauter  Verän- 
derungen, welche  den  Werth  vieler  Privatvermögen  stark  beeinflussen  müssen.  So 
giebt  es  z.  B.,  wie  in  der  Lehre  vom  Kapitalgewinn  und  Zinse  zu  zeigen  ist,  über- 
haupt kein  festes  Gewinn-  und  Zinsminimum,  dies  kann  vielmehr  auf  nahezu  Null 
herabgedrückt  werden,  und  zwar  durchaus  nach  den  Grundsätzen  des  Systems  der 
freien  Concurrenz.  Je  mehr  es  den  Arbeitern  gelingt,  einen  steigenden  Antheil  am 
Productionsertrage  für  sich  zu  erlangen,  desto  näher  kommt  man  dem  eben  erwähnten 
Falle.  Ein  Herabgehen  des  Zinses  auf  2— 2Vo%  halte  ich  mit  Schmolle r Grund- 
fragen des  Rechts  und  der  Volkswirtschaft  in  absehbarer  Zeit  bei  unseren  mittel- 
europäischen Völkern  für  sehr  wohl  möglich,  und  gewiss  im  Ganzen  für  wohltätig, 
s.  unten  §.  94  ff.  Aber  welche  ungemein  grosse  Veränderungen  in  der  ökonomischen 
Lage  vieler  Tausende,  welche  direct  bei  den  Beziehungen  zwischen  Arbeitern  und 
Kapitalisten  gar  nicht  beteiligt  sind,  werden  durch  ein  solches  volkswirtschaftliches 
Ereigniss  bewirkt! 

Ein  grossartiges  practisches  Beispiel  von  Vorgängen,  wie  den  hier  berührten, 
unter  dem  Einflüsse  eines  zufälligen  geschichtlichen  Ereignisses  liefern  die  Er- 
scheinungen, welche  in  Deutschland  1871  ff.  die  Mitfolge  der  französischen  Milliarden 
waren.  S.  darüber  A.  Wagner,  Reichsfinanzen  a.  a.  0.  III,  228  ff.,  besonders  das 
Resumts  S.  250 — 252  und  ders.  in  Hildebr.  Jahrb.  1874,  XXII,  389  ff.  über  die  Con- 
tributionslitteratur.  Der  damalige  Krieg  und  die  Milliarden  ein  neues  gutes  Beispiel 
der  bestimmenden  Macht  der  Conjunctur  in  der  Volkswirtschaft. 

C.  — §.  168  [77  — 79].  Bedenken.  Der  dargelegte  Ein- 
fluss der  Conjunctur  hat  volkswirtschaftlich  und  socialpolitisch  seine 
Bedenken.  Denn  die  Ergebnisse  des  Wirthscbaftsbetriebs  werden, 
auch  wenn  letzterer  noch  so  ökonomisch  richtig  geleitet  worden  ist, 
durch  die  Conjunctur  bei  jeder  Gelegenheit  gekreuzt.  Nicht  bloss, 
und  oft  nicht  einmal  vorwiegend  eigenes  Verdienst  und  eigene 
Schuld,  nicht  Arbeit,  Vorsicht,  Sparsamkeit,  nicht  Trägheit,  Leicht- 
sinn , Verschwendung , sondern  die  Conjunctur  bestimmt  daher 
oft  entscheidend  das  Loos  der  Wirtschaft  und  ihres  Subjects. 

Nur  unter  zwei,  leider  nicht  zutreffenden  Voraussetzungen 
würde  dies  weniger  bedenklich  sein:  einmal,  wenn  die  Chancen 
der  Conjunctur,  also  die  Aussicht  auf  eine  wertherhöhende  und 
das  Risico  einer  werthvermindernden  Conjunctur,  im  Grossen  und 
Ganzen  bei  allen  Güterarten,  in  allen  Zeiten  und  Orten  der  Volks- 
wirtschaft gleich  wären;  dann  würde  die  Wahrscheinlichkeit 
einer  Compensntion  der  Vorteile  und  Nachtheile  der  Conjunctur 


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Conjunctur.  Bedenken.  • 


39  3 


für  alle  Vermögen  und  auch  für  das  Vermögen  des  Einzelnen,  aus 
welchen  Gütern  es  immer  bestehen,  wo  immer  es  sich  befinden  mag, 
ungefähr  gleich  liegen ; sodann,  wäre  die  Conjunctur  vom  Einzelnen 
wenigstens  nur  (und  andrerseits:  aber  auch  wirklich)  durch  sorg- 
fältige Beobachtungen  und  angestrengte  Bemühung,  Fleiss,  Sorg- 
falt, mit  anderen  Worten  durch  Arbeit,  einigermaassen  sicher  zu 
berechnen,  so  läge  in  der  Benutzung  der  Conjunctur  für  die  wirt- 
schaftlichen Zwecke  des  Einzelnen  etwas  Berechtigteres  und  in 
den  dabei  durch  die  Speculation  auf  die  günstige  Conjunctur  er- 
zielten Gewinnen  doch  einigermaassen  eine  ökonomisch  verdiente 
Belohnung  für  reelle  Arbeit  und  in  dem  bezüglichen  Ansporn  für 
den  Einzelnen  etwas  auch  dem  Gesammtinteresse  Dienliches. 

Allein  erfahrungsgemäss  entspricht  die  Conjunctur,  so  sehr 
dies  und  damit  dann  die  unbedingte  Berechtigung  und  die  nicht 
nur  einzel-,  sondern  die  vo lks wirthschaftliche  Nützlichkeit  der 
Speculation  auch  gelegentlich  behauptet  worden  ist,  diesen 
zwei  Voraussetzungen  in  der  grossen  Mehrzahl  der  Fälle  nicht 
oder  nur  wenig. 

Vergl.  besonders  0.  Michaelis,  die  wirthschaftliche  Rolle  des  Speculations- 
handcls  in  der  Berl.  Vierteljahrsschr.  f.  Volkswirthsch.  1SG4,  IV,  130;  1865,  I,  196; 
1865,  II.,  77  und  dors.  die  dauernde  Frucht  der  Conjunctur,  eb.  1866,  II.,  121, 
jetzt  iui  2.  B.  seiner  volkswirtschaftlichen  Schriften.  Anderseits  hat  J.  Neuwirth, 
Speculationskriso  von  1873,  Leipzig  1874,  S.  311  ff.  sehr  gerechtfertigte  Zweifel  an 
der  „Productivität“  des  Speculationshandels  geäussert.  S.  ferner  die  Arbeiten  von 
G.  Cohn,  Zeitgeschäfte  und  Differenzgeschäfto,  in  Hildebrand’s  Jahrb.  VII  (1866), 
377  ff.,  IX,  73  ff.,  und  dessen  statistische  Untersuchungen  Uber  die  Wirksamkeit  der 
Speculation  im  Berliner  Roggenhandel  in  d.  Zeitschr.  d.  K.  Prcuss.  Stat.  BUr.  1868, 
S.  21  ff.,  und  in  Hildebr.  Jahrb.  XVI  (1871),  282  ff.,  sowie  den  oben  S.  370  gen.  Auf- 
satz in  seiner  Sammlung  Cohn  fällt  unbefangenere  Urtheile  über  den  Speculations- 
handel,  abweichend  von  Michaelis’  optimistischen,  obgleich  er  einen  nicht  uninter- 
essanten Nachweis  zu  Gunsten  der  speculativcn  Berechnungen  im  Kornhandcl  liefern 
konnte  (s.  unten).  Die  im  Gegensatz  zum  Effecten-  und  vollends  zum  Grnndstück- 
Speculationshandel  (vergl.  über  diesen  meine  Bemerkungen  auf  der  Eisenacher  Ver- 
sammlung 1872.  Verhandl.  S.  235  ff.  und  ebendas.  Engel’s  Rcf.  über  Wohnungsnoth, 
bes.  179  ff.  u.  u.  im  2.  Theil  die  Ausführungen  über  den  städtischen  Wohnungsboden) 
auch  allgemein  relativ  nützlichste  Art  des  Speculationshandels  ist  der  Handel  in  Ge- 
treide in  Zeiten  der  Missernten,  wie  dies  unter  den  Neueren  besonders  Roscher  in 
seiner  Schrift  über  den  Kornhandcl  (1847)  nachgewiesen,  vgl.  auch  sein  System  II. 
2,  Kap,  12.  Ucbersehen  wird  dabei  freilich  auch,  dass  das  Abhilfsmittel,  ncmlich 
die  rechtzeitige  genügende  Preissteigerung,  um  den  Consum  auf  (oder  unter)  das 
Minimalmaass  bei  der  Masse  der  Bevölkerung  zu  drücken  und  um  Zufuhren  möglich 
und  rentabel  zu  machen,  doch  den  Nachtheil  der  ungünstigen  Conjunctur,  der  Miss- 
ernte, grösstcnthcils  allein  auf  die  unteren  Classen  abwälzt.  Lindwurm  Eig.  S.  302 
wiederholt  nur  die  alte  Verteidigung  der  Speculation,  die  ich  ja  nicht  für  ganz  un- 
richtig, aber  für  richtig  nur  mehr  in  Ausnahmefällen  halte. 

Den  ersten  Punct  anlangend,  so  sind  die  günstigen  und  un- 
günstigen Chancen  der  Conjunctur  nach  Zeiten,  Orten  und  Ob- 
ject e n (Güterarten)  bleibend  ausserordentlich  verschieden. 


394 


8.  B.  Wirthscb.  u.  Volkswirthsch.  2.  K.  2.  A.  Conjunctur.  §.  16S. 


In  einer  an  Bevölkerung  und  Wohlstand  fortschreitenden  Volkswirtschaft  über- 
wicgen  durchschnittlich  namentlich  die  günstigen  Chancen,  wenn  auch  mit  gelegent- 
lichen zeitlichen  und  localen  Rückschlägen  und  Schwankungen,  beim  Grund  eigen  - 
tlium,  besonders  beim  städtischen  (grossstädtischen'»,  während  bei  beweglichen 
Gütern,  Theilen  des  Gebrauchsvermögens,  wie  des  Kapitals,  der  Wechsel  der  Con- 
junctur viel  häufiger  und  eingreifender  ist,  eine  Richtung  der  Conjunctur  überhaupt 
nicht  so  andauernd  vorwaltet,  weil  die  jeweilig  wechselnden  Productionsverhältnisse 
(Ernten)  einen  unmittelbareren  Eintluss  üben. 

Der  übliche  Einwand,  dass  dem  Conjuncturengewinn  eine  ebenso  grosse  Chance 
des  Conjuncturenvcrlusts  gegenüber  stehe  und  höchstens  der  wirtschaftlich  Tüchtigste 
eben  den  „verdienten“  Vortheil  ziehe,  ist  insbesondere  beim  grossstädtischen  Grund- 
eigenthum unrichtig,  obgleich  er  hier  besonders  gern  gemacht  wird.  Dies  ergiebt 
sich  aus  den  statistischen  Daten  über  den  mittleren  Miethwerth  einer  Wohnung  in 
Berlin  mit  genügender  Sicherheit.  Vergl.  die  Tabelle  bei  Bruch,  Wohnungsnot, 
im  Berl.  Stadt.  Jahrb.  VI  (1872).  S.  23,  und  die  Daten  bei  Engel,  Eisen.  Verhaudl. 
1872  S.  172,  182.  Der  Durchschnittspreis  einer  Wohnung  stieg  von  1815  bis  1S31 
von  39  06  auf  85.06,  von  da  bis  1872  auf  171.19  Thlr.  Von  1831 — 72  stieg  er  mit 
nur  3 Ausnahmen  in  den  J.  1849 — 5J,  wo  er  von  104.65  in  1848  auf  101.1  in  1849, 
98.6  in  1850  und  98.4  Thlr.  in  1851  sank,  ununterbrochen.  Jene  kleine  Vermin- 
derung war  schon  1854  wieder  eingeholt  ( 1 06.3  4).  Ob  selbst  die  ausserordentliche 
Ueberspcculation  der  J.  1871  ff.  in  neuester  Zeit  zu  einer  längeren  Periode  des  Rück- 
schlags führen  würde,  war  zur  Zeit  der  Bearbeitung  der  2.  Aull,  dieses  Werks  (1878) 
noch  nicht  zu  bestimmen,  aber  schon  damals  nicht  sicher.  Durchschnittswert  einer 
vermieteten  Wohnung  (oder  eines  sonstigen  Gelasses)  Ende  1872 — 77:  609,  717,  752, 
744,  748,  722  M.  (Berl.  Stat.  Jahrb.  1877  S.  88,  1878  S.  95.)  Seitdem  ist  er  in  Folge 
der  stärkeren  Vermehrung  der  kleineren  Wohnungen  wegen  vermehrten  Bedarfs  der 
betreffenden  Volksclassen  herabgegangen.  So  war  er  18S8  642,  1889  652  M.  (Jahrb. 
B.  15,  1888,  Berlin,  1890,  S.  140). 

Ein  Hauptbeispiel  aus  der  neuesten  Zeit  liefert  die  Conjunctur  und  die  dadurch 
geschaffene  Lage  in  der  Kohlen-  und  Eisenindustrie  (in  allen  Culturländem, 
nicht  nur  in  denen  einer  bestimmten,  freihändlerischen  oder  schutzzöllnerischen 
Handelspolitik,  in  England  wie  in  Nord-America  und  Deutschland).  Veränderungen 
der  Technik  (Besseincr-Stahlerzeugung)  steigerten  freilich  den  Rückschlag.  Vergl. 
Pechar,  Kohle  u.  Eisen  u.  die  Berichte  der  Hüttenwerke,  z.  ß.  der  Dortrn.  Gnion  f. 
1877/78.  Durchschnittspreis  für  schottisches  Roheisen  in  Glasgow  p.  Ton.  1870—77 
Maik:  55.45,  60.13,  123.97,  139.35,  89.33,  67.12.  59.67,  55.45  (Pechar  S.  39). 
Maximalpreis  für  deutsches  Qual.  - Pudeleisen  1S73  p.  1000  Kil.  180 — 192,  Mitte 
187S  54,  für  Besscmer- Roheisen  210  u.  65,  für  Bleche  480—510  u.  150 — 160  Mk. 
(Bericht  der  Union).  Seitdem  haben  .auf  diesem  Gebiete  die  „Cartellc“  immer  mehr 
zu  wirken  begonnen,  wohl  mehr  Regelmässigkeit  in  die  Preise  gebracht,  aber  auch 
selbst  auf  die  Schaltung  von  Preisgestaltungen  und  Conjuncturen  dafür  zur  besseren 
Ausbeutung  der  Consumenten  mit  hingewirkt. 

Auch  die  zahlreichen  Veränderungen  der  Technik  machen  die  Conjunctur 
wechselnder,  schaffen  aber  in  einem  fortschreitenden  Gemeinwesen  mehr  Momente, 
welche  die  bisherigen  Werthe  eines  Theils  der  Güter  (der  Industrieproducte  und  der 
Kapitalien,  z.  B.  der  Werkzeuge  und  Maschinen,  mit  denen  sie  bisher  hergestellt 
wurden)  herab  als  herauftreiben  (Sinken  der  Preise  der  Fabrikate).  So  spielt  die 
Conjunctur  doch  insbesondere  dem  Gru  ndeigenthümer  Gewinne  zu,  die  wenigstens  er 
nicht  ökonomisch  verdient,  sondern  nur  der  Institution  des  Privateigenthums  und  der 
Mitbcziehung  desselben  auf  den  Werth  der  Güter  zu  verdanken  bat,  — Gewinne, 
für  welche  Andere  und  die  ganze  Volkswirthschaft  durch  ihre  Arbeit  erst  die 
Bedingungen  geschaffen  haben. 

Schlagende  Beispiele  von  realisirten  Conjuncturcngcwinncn  aus  der  Baustellen- 
specnlation  in  Berlin  bei  Engel  a.  a.  0.  S.  180.  Aus  der  neuesten  Aera  1888  ff. 
sind  ähnliche  zu  constatiren.  Der  Einwand  von  A.  Held  a.  a.  Ü.  und  von  Andren, 
dass  die  Conjuncturengewinnc  ausserhalb  des  Grundeigenthums  nicht  zu  verfolgen 
wären,  ist  nicht  so  allgemein  richtig.  Die  ganz  aparte  ökonomische  Stellung 
des  Grundeigenthums,  besonders  des  städtischen,  wird  aber  ganz  übersehen, 
wenn  die  Conjuncturengewinne  hier  und  bei  den  beweglichen  Gütern  ohne  Weiteres 
gleichgestellt  werden. 


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. Conjunctur.  Bedenke». 


395 


Den  zweiten  Punct  betreffend,  so  sind  diese  wie  die  meisten 
anderen  Gewinne  am  Werth  aus  der  Conjunctur  aber  ausserdem 
in  der  Hauptsache  doch  nur  Spielgewinne  — denen  insofern 
wenigstens  mit  Recht  wieder  Spielverluste  entsprechen  — , 
weil  die  etwa  zu  Grunde  liegende  Speculation  weit  überwiegend 
nur  den  Character  des  Spiels  und  nicht  der  Berechnung  und 
damit  der  Arbeit  hat  und  haben  kann.  Dies  lehrt  die  Erfahrung, 
u.  A.  auch  die  Beobachtung  über  die  speculirenden  Personen  selbst, 
und  sie  bestätigt  damit  nur  das  Ergebniss  der  Analyse. 

„Die  Summe  der  nicht  wissbaren  Umstände  Uberwiegt  jederzeit  unendlich 
die  Summe  der  w iss  baren  Umstände."  „Je  richtiger  und  genauer  die  Schätzung 
der  wissbaren  Umstände  ist,  auf  welche  der  verständige  Calcül  des  Speculanten  ge- 
baut ist.  desto  grösser  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  die  unendlich  überwiegende  Summe 
der  nicht  wissbaren  Umstände  das  Resultat  verändern  wird".  (Lassalle,  Kapital  und 
Arbeit  S.  23.)  Manche  Umstände  (z.  B.  Verhältnisse  des  politischen  Lebens,  Vor- 
kommen neuer  Erfindungen)  sind  selbst  hinsichtlich  ihres  Auftretens  oder  Nichtauf- 
tretens vollständig  unberechenbar  und  doch  leicht  die  entscheidenden.  Die 
Stärke  des  Einflusses  der  einzelnen,  selbst  gekannten  Umstände  ist  ebenso  wenig 
im  Voraus  genau  zu  messen.  Es  heisst  den  Dingen  Zwang  anthun , will  man  dies 
verkennen. 

S.  die  vorgenannten  Aufsätze  von  G.  Cohn  mit  dem  Ergebniss,  dass  der  Irr- 
thnm  der  Erwartung  der  Speculation  in  Roggen  in  Berlin  im  Laufe  der  Jahre  in  der 
That  kleiner  wurde,  was  indessen  die  im  Texte  anfgestelltcn  Sätze  nicht  auf  hebt. 
Im  Getreid  chandel  kämpft  man  allerdings  mit  dem  besonders  variablen  Causalfactor, 
der  Witterung,  hat  aber  andrerseits  bei  dieser  wichtigsten  Waare  die  längsten  und 
heutzutage  die  räumlich  umfänglichsten  Beobachtungen  gesammelt  und  vermochte  die- 
selben neuerdings  in  ein  ordentliches  System  zu  bringen.  Vergl.  besonders  über  die 
Beobachtungen,  welche  die  grossen  englischen  Kornhändler  Uber  die  Ernteaussichten, 
z.  Th.  durch  besondere  Sendlinge,  anstellen  lassen,  und  Uber  die  Methoden,  practische 
ernte  - statistische  Daten  durch  Privatthätigkeit  zu  erlangen,  Tooke  a.  Newmarch. 
Hist,  of  prices.  V,  Th.  1 (Asher's  Uebersetz.  II,  1).  Wie  sehr  aber  auch  hier  oft 
alle  Berechnungen  täuschen,  das  zeigt  sich  in  den  besonders  schweren  Krisen  des 
Getreidchandels,  den  plötzlichen  Preisruckschlägen  u.  s.  w.  (z.  B.  im  J.  1S4T,  s.  meine 
Beiträge  zur  Lehre  von  den  Banken,  S.  205  ff.  und  o.  §.  107  unter  Nr.  1),  den  dann 
ausbrechenden  zahlreichen  Bankerotten.  — Jüngst  sind  Cohn’s  ältere  statistische  Unter- 
suchungen für  den  Berliner  Getreidehandel  fortgesetzt  (Kantoro wicz,  Wirksamkeit 
der  Speculation  im  Berl.  Kornhandel  1850 — 00,  in  Schmoller’s  Jahrbuch.  XV,  1801, 
S.  1183  ff.).  Danach  würde  sich  Cohffs  Ergebniss  einigermaassen  bestätigen  (S.  1195). 
Indessen  ist  hier  doch  selbst  in  der  neuesten  Zeit  (1885 — 90)  eine  Zunahme  des  Irr- 
thnms  in  der  Calculation  herausgerechnet,  was  ausdrücklich  mit  auf  Beunruhigungen 
der  Speculation  durch  politische  Maassregeln  zurückgeführt  wird  (S.  1193).  Gross 
genug  sind  die  Irrthümer  in  Betreff  der  wirklichen  Zukunftspreise  ohnedem  immer 
noch,  um  zu  zeigen,  wie  sehr  cs  sich  hier  um  unberechenbare  Momente  handelt  und 
das  Geschäft  Spielcharacter  behauptet.  Zweifel  bleiben  ausserdem  in  Betreff  der  Be- 
rechnung der  Durchschnitte  und  der  Schlüsse.  Lassalle’s  Sätze  scheinen  mir  durch 
derartige  „inductive"  Beweisführungen  nicht  im  Mindesten  erschüttert  zu  werden. 

Ja,  die  Bedenken  steigen  noch,  wenn  man  noch  andere  Puncte 
berücksichtigt,  welche  mit  der  Frage  der  Speculation  und  mit 
den  Schwankungen  der  Conjuneturen  Zusammenhängen.  Soweit 
hier  wirklich  in  der  Speculation  und  in  der  speculativen  Ausbeutung 
der  Conjuneturen  etwas  unterläuft,  was  als  ein  wirtschaftliches 


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396 


3.  B.  Wirthsch.  u.  Volkswirthsch.  2.  K.  2.  A.  Coujanctur.  §.  168,  169. 


Arbeitsmoment  angesehen  werden  darf,  soweit  daher  bei  einer 
solchen  Ausbeutung  der  wirtschaftliche  Erfolg  als  Ergebniss  be- 
wusster Willensacte,  Handlungen,  Unterlassungen,  nicht  mehr  bloss 
als  Ergebniss  des  Zufalls  und  der  Consequenzen  des  Eigenthums- 
princips,  wenigstens  in  gewissem  Umfang,  gelten  darf,  erhebt  sich 
das  Bedenken,  dass  entweder  immer  nur  eine  kleine  Minorität  an 
dieser  Ausbeutung  Theil  nimmt,  die  Uebrigen  es  nicht  können  oder 
(glücklicher  Weise)  auch  nicht  wollen,  oder  aber  sich  die  Specula- 
tionssucht  immer  weiter  verbreitet  und  dann  vollends  das  wirtschaft- 
liche Leben  den  Character  des  Spiels  und  der  Ueberlistung  annimmt. 

Wo  die  Conjoncturen  sich  dann  nicht  von  selbst  znr  Ausbeutung  bieten,  sucht 
inan  sie  künstlich  zu  schaßen  oder  zu  steigern,  was  wiederum  nur  mittelst  sittlich  be- 
denklicher, wirtschaftlich  weite  Kreise  schädigender  Practiken  und  mit  der  Folge 
abermals  gesteigerten  Spielcharacters  der  Volkswirtschaft  geschehen  kann.  Da  er- 
geben sich  denn  auch  jene  üblen  KUckwirkungcn  auf  den  ganzen  sittlichen  Zustand 
der  Gesellschaft,  von  welchen  schon  im  ersten  Buche  mehrfach  gehandelt  worden  ist 
(§.  41,  44).  Grosse  Umwälzungen  in  den  Einkommen-  und  Vermögensverhältnissen 
erfolgen,  zu  Gunsten  der  glücklichen  Spieler,  der  erfolgreichen  Speculanten,  auch  der 
Geriebensten,  Gewissenlosesten,  zu  Ungunsten  der  unglücklichen  Spieler  und  Specu- 
lanten und  zum  Nachtheil  der  übrigen.  Massenhaft  wird  arbeitsloses  Einkommen,  in 
Spiel  und  Conjuncturen -Ausbeutung  errafftes  Vermögen  auf  Kosten  Andrer,  schliess- 
lich auch,  z.  B.  mittelst  spcculativer  Preissteigerung  der  Waaren,  auf  Kosten  der 
Volksmassen  erworben.  Eine  ungünstigere  Vertheilung  des  Volkseinkommens  und 
Vermögens,  Verbitterung  und  Neid,  Geldstolz  und  maassloser  Luxus  sind  die  Folgen. 


Diesen  Verhältnissen  gegenüber  kann  man  doch  kaum  mit 
Optimisten  sagen , die  Wirkungen  der  Conjunctur  und  ihrer  Aus- 
beutung seien  unbedenklich,  sogar  für  das  Ganze  segensreich,  wreil 
auf  richtiges  wirtschaftliches  Handeln  hinwirkend,  dieses  belohnend, 
Trägheit,  unrichtiges  Handeln  strafend.  Und  ebenso  wenig  kann 
man  sich  mit  kühleren  Köpfen  einfach  dabei  beruhigen,  alles  das 
sei  notwendig  und  unabänderlich,  weil  eine  Consequenz  der  Privat- 
eigentumsordnung und  des  freien  Verkehrs  und  damit  eben  hin- 
zunehmen. Damit  geht  man  über  die  Frage,  ob  denn  dem  wirk- 
lich so  sei  und  ob  sich  gar  nichts  daran  ändern  lasse,  doch  gar 
zu  leicht  und  bequem  hinweg. 

D.  — §.  169  [80].  Wissenschaftliche  Stellungnahme 
gegenüber  der  Conjunctur.  Statt  solcher  Ansichten  wie  der 
eben  erwähnten,  ist  das  offene  Anerkenntniss,  dass  in  der  Volks- 
wirtschaft, zumal  der  modernen,  zahlreiche  persönlich  öko- 
nomisch unverdiente,  bez.  unverschuldete  Gewinne  uud 
Verluste  oder  Vermehrungen  und  Verminderungen  des  Vermögens 
einer  Person  unter  dem  Einflüsse  der  Conjunctur  Vorkommen,  und 
dass  dies  wesentliche  Bedenken  hat,  geboten.  Aber  dies  Aner- 


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Stellungnahme  gegenüber  der  Conjunctur. 


397 


kenntniss  schliesst  nicht  sofort  notwendig  die  Forderung  in  sich, 
dass  auf  die  völlige  principielle  Beseitigung  dieses  Verhältnisses 
unbedingt  hinzustreben  sei.  Diese  Forderung  setzte  die  klar  con- 
statirte  Möglichkeit  einer  solchen  Beseitigung  voraus.  Eine 
darauf  bezügliche  Frage  ist  bisher  selten  genug  .auch  nur  auf- 
geworfen worden,  jedenfalls  hat  eine  genügende  Untersuchung  nicht 
stattgefunden.  Die  socialistische  Untersuchung  ist  nicht  ge- 
nügend , weil  sie  die  Schwierigkeiten  der  principiellcn  Aenderung 
verkennt.  Die  Nationalökonomie  aber  hat  freilich  bisher  gewöhn- 
lich umgekehrt  ohne  Weiteres  das  dargelegte  Verhältnis  als  eine 
noth wendige  Folge  des  Eigenthumsprincips  anerkannt 
und  ruhig  hingenommen:  ein  ebenso  wenig  haltbarer  Standpunct. 

Was  dagegen  der  Conjunctur  gegenüber  von  der  Wissenschaft 
zu  verlangen  ist,  besteht  in  Folgendem: 

1.  Die  Misslichkeit  solcher  ökonomisch  vom  Einzelnen  nicht 
verdienten  und  nicht  verschuldeten  Vermögensveränderungen  und 
der  weiteren  Consequenzen  hiervon  darf  nicht  bestritten  werden. 

Die  Conjunctur  mit  ihren  Einflüssen  erscheint  nun  als  ein  besonders  unserer 
heutigen  „freien“  Volkswirtschaft  characteristisches  Moment.  Kann  man  letzteres 
nicht  beseitigen  oder  seine  Wirkung  ausgleichcu.  so  muss  die  Conscquenz  dieser  Sach- 
lage offen  anerkannt  werden : diese  Consequenz  ist,  dass  die  wirtschaftliche  Lage  des 
Einzelnen  oder  der  Familie  von  deren  eigenen  wirtschaftlichen  Th&tigkoit  (Arbeit, 
Sparsamkeit.  Kapitalvcrwcndung,  Bodenbenutzung)  oder  vom  „Wirthschaftsbetrieb“ 
(§.  157)  nicht  immer  vorwiegend,  geschweige  allein  abhängt,  sondern  wesentlich  mit 
ein  Product  der  Conjunctur  ist.  Das  ist  aber  ein  Umstand,  welcher  notwendig  die 
Bedeutung  der  persönlichen  wirtschaftlichen  Verantwortlichkeit  abschwächt.  Es  ist 
daher  auch  nicht  richtig,  von  unserer  Yolkswirthschaft  auszusagen,  sie  beruhe  ganz 
oder  auch  nur  überwiegend  auf  diesem  Princip  der  eigenen  Verantwortlichkeit  des 
Wirthschaftssubjcts.  Es  ist  nicht  minder  falsch,  den  Grundsatz  der  sog.  Selbsthilfe 
als  das  leitende  Princip  der  Wirtschaftspolitik  hinzustellen:  lauter  Fehler,  welche 
die  neuere  Nationalökonomie  der  britischen  Schule  begangen  hat.  Dieser  Grundsatz 
setzte  vielmehr  eine  Volkswirtschaft  voraus,  in  der  die  Conjunctur  nicht  so  mächtig 
ein  wirkte  und  der  eigene  Wirthschaftsbetrieb  über  die  wirtschaftliche  Lage  des 
Subjccts  wesentlich  allein  entschiede. 

2.  Gilt  die  heutige  Organisation  der  Volkswirtschaft 
und  die  Rechtsbasis  dafür,  daher  das  Privateigenthum  an  den 
sachlichen  Productionsmitteln  (Boden  und  Kapital),  die  Vertrags- 
freiheit, der  speculative  Privat- Unternehmungstrieb,  überhaupt 
das  sogen,  privatwirtbschaftliche  System  der  freien  Concurrenz 
(Buch  5)  für  die  in  der  Hauptsache  unabänderliche  Einrichtung 
der  Volkswirtschaft  und  der  wirtschaftlichen  Rechtsordnung,  daun 
muss  wenigstens  die  Aufgabe  für  berechtigt  erkannt  werden,  den 
misslichen  Folgen  der  Conjunctur  entgegen  zu  arbeiteu. 

Dies  kann  in  Betreff  der  ökonomisch  nicht  oder  nicht  genügend  „verdienten“ 
Conjuncturengewin ne  wohl  mit  durch  ein  rationelles  Steuersystem  der  oben 


3(J8 


3.  B.  Wirthsch.  u.  Volkswirthscb.  2.  K.  2.  A.  Conjunctur.  § 169,  170. 


angedeutetcn  Art,  welches  diese  Gewinne  zu  treffen  sucht;  in  Betreff  der  ökonomisch 
unverschuldeten  Verluste,  welche  Folge  der  Conjunctur  sind,  und  der  weitereu 
daraus  hervorgehenden  üebelstäudc,  wie  Stockung  des  Absatzes,  Krisen,  Arbeiterent- 
lassung, Lohnreductionen  u.  s.  w.,  durch  ein  rationelles,  den  Verhältnissen  augepasstes 
System  der  Versicherung  (u.  A.  auch  der  Arbeiterversicheruug)  und  durch  An- 
erkennung der  grundsätzlichen  Berechtigung  auch  von  Staatshilfe  in  geeigneten 
Fällen  einigermaassen  geschehen:  freilich  Alles  nur  Mittel  zur  Bekämpfung  der 
Symptome,  der  Folgen  des  Uebels,  nicht  der  ü rsac he n desselben,  daher  nicht 
dieses  Cebels  selbst.  Aber  deshalb  doch  weder  etwas  ganz  Unwirksames,  noch  Fal- 
sches. Namentlich  ist  das  Princip  der  Staatshilfe  als  ein  in  den  geschilderten  Verhält- 
nissen unserer  Volkswirtschaft  begründetes  anzuseheu,  während  es  die  liberal- 
individualistische  Doctrin  völlig  falsch  als  mit  diesen  Verhältnissen  in  Widerspruch 
stehend  hinzustellen  und  deshalb  zu  bekämpfen  pflegt. 

3.  Die  tiefergehende  Untersuchung  wird  sich  aber  freilich  des- 
halb doch  immer  der  Aufgabe  gegenüber  gestellt  sehen,  zu  forschen, 
ob  und  wie  weit  nicht  das  Uebel  selbst,  der  maassgebende  Einfluss 
der  Conjunctur  beseitigt  oder  wenigstens  gemindert  werden  kann. 
Das  führt  zu  der  Frage  von  der  dem  entsprechenden  Veränderung 
der  Organisation  der  Volkswirthschaft  und  der  wirtschaftlichen 
Rechtsordnung,  um  regelmässigere  Production  und  richtigere  und  ge- 
rechtere Verteilung  herbeizuführen. 

Die  principale  Frage  der  heutigen  Nationalökonomie,  die  der  wissenschaft- 
liche Socialismus  das  Verdienst  hat,  aufgestellt  zu  haben,  nur  dass  er  sie  viel  zu 
leicht  nahm  und  sie  eiuseitig  apodictisch  beantwortete.  Im  3.  bis  5.  Buche 
und  im  2.  Theil  der  Grundlegung  (von  Volkswirthschaft  und  Recht)  wird  sie  eingehend 
erörtert  werden:  durchaus  mit  in  Consequenz  der  hier  dargelegten  Anschauungen. 

In  Vorwegnahme  des  Ergebnisses  der  späteren  Erörterungen 
sei  hier  nur  bemerkt,  dass  zweierlei  in  Betracht  kommt:  soweit 
es  ökonomisch  und  technisch  zulässig  und  socialpolitisch  nicht  be- 
denklich ist,  gilt  es  die  Privatwirthschaft  durch  die  Gemeinwirth- 
schaft,  besonders  des  Staats,  der  Gemeinde  zu  ersetzen;  soweit 
das  — in  der  Masse  der  Fälle,  wenigstens  für  die  zu  übersehende 
Periode  — nicht  statthaft  ist,  muss  die  Privatwirthschaft  selbst 
mehr  geregelt  werden.  Durch  Beides  lässt  sich  der  Einfluss  der 
Conjunctur  und  ihrer  Schwankungen  beschränken , das  zufällige 
Zugutekommen  der  Vortheile  der  Conjunctur  an  oder  die  spe- 
culativc  Ausbeutung  der  Conjunctur  durch  Private  hemmen,  die 
Uebertragung  der  guten  und  üblen  Wirkungen  verbleibender  Con- 
juncturenschwaukungen  auf  die  Gemeinschaft,  als  immer  noch  das 
Beste,  herbeifuhren. 


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39y 


Drittes  Kapitel. 

Ertrag  und  Einkommen, 

oder  die  Einkommenlehre  aus  dem  Productions- 

standpunct  betrachtet. 

§.  170.  Vorbemerkung  und  Litteratur. 

Die  Lehre  vom  Ertrag  und  Einkommen  bildet  eine  weitere  Ausführung  der  im 
1.  Abschnitt  des  vorigen  Kapitels,  §.  156  ff.,  eingeleiteten  Lehre  vom  Wirthschafts- 
betrieb.  Sie  ist  hier  für  die  Einzel-  und  für  die  Volkswirtschaft  zu  unterscheiden. 
Daher  die  Einthcilung  in  die  folgenden  zwei  Abschnitte.  Dabei  ist  dann  mehrfach 
in  einzelnen  Puncten,  auch  in  der  Lehre  vom  Einzelcinkommen,  der  Doppelstand- 
punct  der  Betrachtung,  der  einzel- und  der  volks wirthschaf tlich e,  zu  trennen, 
namentlich  bezüglich  der  Kosten,  eine  besonders  wichtige  Trennung,  deren 
Nichtbeachtung  oder  falsche  Beachtung  nothwendig  zu  Irrthümern  führt,  wie  die  ältere 
Behandlung  zeigt.  Auch  die  ganze  Einkommeulehro  muss  aber  wieder  von  dem  schon 
öfters  von  uns  unterschiedenen  weiteren  doppelten  Standpuncte  aus  behandelt  wer- 
den: von  demjenigen  der  Production  der  Güter  in  der  Volkswirthschaft  und  von 
demjenigen  der  Gütervertheilung  in  derselben  aus.  Erst  durch  diese  Behandlung 
von  den  zwei  Seiten  aus,  welche  für  alle  diese  Fragen  in  Betracht  kommen,  erhält 
jene  Lehre  ihren  richtigen  theoretischen  Abschluss.  In  diesem  Kapitel  wird  die  Ein- 
kommenlehre, soweit  sie  nach  meiner  Auffassung  in  den  allgemeinen  grundlegenden 
Theil  gehört,  vom  Productionsstandpunct  aus  erörtert.  Im  folgenden  vierten  Buch 
folgt  die  ergänzende  Behandlung  vom  Vertheilungsstandpuncte.  Die  National- 
ökonomie der  Smith  scheu  Schule  hat  hier  wie  in  allen  ihren  Erörterungen  zu  einseitig 
den  ersten  Standpunct  vertreten  und  dabei  ausserdem  noch  den  Producentenstand- 
punct  des  einzel  wirtschaftlichen  Subjects  (des  Unternehmers)  öfters  mit  demjenigen 
des  ganzen  Volks  (der  Volkswirthschaft)  in  der  Productionsfrage  verwechselt. 
Uebcr  die  zu  löseude  Aufgabe  s.  unten  Weiteres  in  Buch  4 (litterarische  Vorbemer- 
kungen). 

Für  Litteratur  vgl.  die  reichen  Angaben  in  dem  Aufs.  Einkommen  von  Kob. 
Meyer,  Handwörterb.  der  Staatswiss.  III,  67  u.  dors.  in  der  Monographie  „das  Wesen 
des  Einkommens“,  Berlin  1887.  S.  Ricardo,  principles  ch.  26  u.  32.  — Bern- 
hardi.  Versuch  einer  Kritik  der  Gründe,  dio  für  kleines  und  grosses  Grundeigen- 
thum sprechen,  Petersb.  1848  §.  14  IT.  — Rau  I,  §.  70,  71,  auch  §.  165,  245  ff.  — 
Koscher  I,  §.  144  11.,  auch  t$.  106.  — Mangoldt,  Grundr.  §.  85  ff.,  ders.  Art.  Ein- 
kommen im  Staatswörterb.  III,  ders.  Volkswirtschaftslehre,  Kap.  12.  — Besonders 
v.  Hermann,  Untersuch.  Kap.  IX,  S.  582  ff.  und  G.  Schmoller,  Lehre  vom  Ein- 
kommen in  ihrem  Zusammenhänge  mit  den  Grundprincipien  der  Steuerlehre,  Tüb.  Ztschr. 
f.  Staatswiss.  XIX.  (1863)  S.  1 ff.,  auf  welche  Arbeit  auch  für  die  Dogmengeschichte 
des  Begriffs  Einkommen  mit  zu  verweisen  ist.  — Schäffle,  Syst.  3.  Aufl.  I,  §.  168  ff.  — 
Guth,  Lehre  v.  Eink.  2.  Auf!.,  Lpz.  1878.  — B.  Weisz,  Lehre  v.  Eink.  Tüb.  Ztschr. 
1877  u.  1878.  Vergl.  auch  H.  Rösler,  zur  Lehre  vom  Einkommen,  Hildebr.  Jahrb. 
1S68  I,  und  aus  der  socialistischen  Litteratur  besonders  die  Arbeiten  von  Rodbertus, 
s.  u.  und  Marx,  Kapital  II,  Kap.  19,  20.  Weitere  litterarische  Nachweise  in  der 
Vorbemerkung  Abschnitt  2 unten. 

Neu  mann  in  seinen  „Grundlagen“  und  im  Schön berg 'sehen  Handbuch  I.  Abh.  4, 
3.  A.  S.  169,  Th.  Mithoff  eb.  Abh.  11,  S.  575.  G.  Cohn,  System  I,  S.  563  ff.  — 
Das  Wichtigste  ist  jetzt  das  Buch  von  Rob.  Meyer,  mit  dem  eine  Auseinander- 
setzung über  unsre  Diffcrenzpuncte  aber  an  dieser  Stelle  zu  weit  führen  würde.  Ich 
habe  doch  an  meiner  bisherigen  Behandlung  im  Wesentlichen  festgehalten,  dio  Fas- 
sung aber  im  Einzelnen  zu  verbessern,  besonders  zu  verschärfen  gesucht. 

Von  practischer  Bedeutung  wird  die  Einkommen-,  Ertrags-  und  Kostenlehre  für 
die  Stcu  erleb  re,  besonders  auch  für  die  Fragen  in  Betreff  des  (wenn  auch  in  den 
Gesetzen  mit  Recht  öfters  nicht  speciell  formulirten,  aber  doch  nothwendig  vorschwe- 
benden) Einkommenbegriffs  und  des  Kostenbegriffs  (Abzüge  u.  s.  w.)  bei  der  (nomi- 
nellen) Einkommensteuer.  Dafür  ist  auf  die  llnanzwiss.  Litteratur  zu  verweisen.  Vgl. 
meine  Finanzwiss.  II,  2.  A.  S.  314  ff.  S.  u.  A.  meine  Abh.  über  die  Reform  der 


400  3*  B.  Wirthsch.  u.  Yolkswirthscli.  3.  K.  Ertrag  u.  Einkommen.  1.  A.  §.  171. 


directen  Steuern  in  Preuesen.  speciell  Uber  die  Einkommensteuer,  im  Schanz’schen 
Finauzarchiv  1S91  B.  2. 


1.  Abschnitt. 

Ertrag  der  Einzelwirtschaft  und  Einzeleinkommen. 

I.  Ertrag.  — §.  171  [82].  A.  Begriffsbestimmungen. 
Der  Begriff  des  Ertrags  ergiebt  sich,  wenn  die  Einnahmen  auf 
das  Object,  aus  dem  sie  hervorgeben,  zurückbezogen  oder  als 
Ausflüsse  einer  Erwerbsquelle,  d.  h.  einer  Tbätigkeit,  eines  Rechts 
oder  einer  bestimmten  Erwerbseinrichtung,  ohne  Rücksicht  auf  die 
Persou , der  sie  Zufällen , betrachtet  werden.  Ertrag  ist  dann  der 
aus  einem  solchen  Object  herrübrende  Zuwachs  von  Gütern,  daher 
vom  Werth  derselben,  in  seiner  Rückbeziehung  zu  dem  Object, 
als  seiner  Ursache  und  Bedingung,  betrachtet:  eine  naturale  Güter- 
menge, welche  ein  bestimmles  Werthquantum  (von  Gebrauchs-  und, 
eventuell,  regelmässig  auch  vom  Tauschwerth)  darstellt,  wobei 
gewöhnlich  nach  bestimmten  Zeiträumen  gerechnet  wird.  So  viel 
Einnahmearten  (§.  159,  100),  so  viel  Ertragsarten  können  Vor- 
kommen. 

Dieser  Ertrag  ist  zunächst  Roh-  oder  Bru  tto  er  trag,  indem 
er  die  zu  seiner  Gewinnung,  als  Mittel  zum  Zweck,  erforderlichen 
Aufwendungen  von  wirtschaftlichen  Gütern,  d.  h.  die  Auslagen 
oder  Kosten  ihrem  Werthe  nach  noch  in  sich  enthält.  Diese 
Kosten  werden  schliesslich  reell  aus  dem  Werthe  des  Rohertrags 
bestritten.  Nach  Abzug  derselben  ergiebt  sich  erst  der  Rein- 
oder  Nettoertrag:  das  Ziel  jeder  Einzelwirtschaft  und  allein  die 
wirkliche  Vermehrung  des  Vermögens. 

Die  Kosten  bei  den  unmittelbar  eigens  gewonnenen  Einnahmen  oder  bei 
der  Naturalproduction  können  noch  speciell  Productiouskosten  genannt 
werden.  Doch  wird  letzterer  Ausdruck  auch  fUr  die  Kosten  der  Gewinnung  aller 
Einnahmen  und  Erträge  gebraucht. 

Neu  mann  (Handbuch  I,  3.  A.  S.  169)  glaubt  beim  Ertrag,  „äusserlich  auf- 
gelasst“,  den  Inbegriff  der  Guter  selbst,  der  aus  einem  Object  hervorgeht,  dann  erst 
den  Werth  dieses  Inbegriffs  unterscheiden  zu  sollen.  Erst  bei  letztrer  Bedeutung  von 
Ertrag  spricht  er  dann  von  Koh-  und  Beinertrag.  Mithoff  (ob.  S.  574)  hebt  hervor, 
dass  bei  der  isolirten  Einzelwirtschaft  die  nationale  Gütermenge,  boi  der  im  Verkehr 
stehenden  (Verkehrswirthscliaft)  der  Erlös  aus  dem  Verkauf  der  erzeugten  Güter  den 
Bohertrag  bildet. 

B.  — §.  172  [82,  83].  Nähere  Betrachtung  der  Kosten. 
Einzel-  und  volkswirthscha  ft  liehe  Kosten. 

Geber  die  Kosten  ist  schon  oben  in  der  Werthlehre  §.  141  in  Kürze  gehandelt 
worden.  Weiteres  gehört  in  die  Lehre  vom  Preise  in  der  theoretischen  Volkswirt- 
schaftslehre. Aber  auf  die  folgenden  Hauptpuucto  ist  auch  hier  einzugehon. 


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Erörterungen  über  Kosten. 


401 


Begriff  und  Wesen  der  Kosten,  welche  zur  Gewinnung  von 
(Roh-)  Erträgen  aufgewendet  werden  müssen,  sind  verschieden 
vom  Standpuncte  der  Einzel-  und  der  V o 1 k s wirthschaft.  Auch 
vom  letzteren  Standpuncte  aus  ist  aber  wieder  zwischen  volks- 
wirthschaftlichcn  Kosten  in  zweierlei  verschiedener  Bedeutung 
des  Wortes  zu  unterscheiden : einmal,  indem  man,  wie  schon  früher 
(S.  308,  316)  als  möglich  anerkannt  wurde  und  mitunter  zweckmässig, 
ja  nothwendig  ist,  auch  die  Volkswirthschaft  als  Productions- 
cinrichtung  mit  eigenem  Zweck,  daher  als  Person  gedacht 
und  als  ein  Object  der  Ertragsgewinnung  betrachtet  und 
dann  folgerichtig  hier  dasjenige  „Kosten“  nennt,  was  an  mensch- 
lichen Leistungen  unmittelbar  und  mittelbar  (in  der  Form 
bereits  vorhandener  Arbeitsproducte)  zu  dieser  Ertragsgewinnung 
verwendet,  seinem  Werthbetrage  nach  daher  dabei  zu- 
gesetzt werden  muss,  bzw.  wird;  und  zweitens,  indem  man  die 
Volkswirthschaft  nur  als  Mittel  zum  Zweck,  nemlich  als  Pro- 
ductionseinrichtung  zur  Erzielung  von  Gütern  für  menschliche  Be- 
dürfnisbefriedigung (im  Wesentlichen:  zur  Bildung  von  Ein- 
kommen als  „Consumtionsfonds“,  Rob.  Meyer)  ins  Auge  fasst, 
wo  sich  dann  der  Begriff  „Kosten“  und  zwar  volkswirtschaftliche 
Kosten,  gegen  den  ersten  Begriff  verengt,  in  der  unten  dar- 
gelegten Weise. 

In  dieser  Art  habe  ich  zwar  schon  in  der  2.  Auflage  (S.  111  ff.)  zu  unter- 
scheiden begonnen,  aber  doch  die  Scheidung  noch  nicht  klar  und  scharf  genug  hervor- 
gehoben und  durchgeführt.  Die  Polemik  gegen  meine  Einbeziehung  der  Unterhalts- 
mittol  der  Produceuteu  (Arbeiter)  in  den  Kapitalbegriff  und  unter  die  auch  volks- 
wirtschaftlichen Kosten  (s.  o.  §.  129)  hat  mich  zu  dieser  nunmehrigen  Behandlung 
dieser  Dinge  und  Fassung  meiner  Sätze  geführt,  wodurch  mir  der  Streit  einfach  ge- 
schlichtet zu  werden  scheint.  Denn  man  verstand  sich  nicht,  weil  man  die  verschie- 
denen Standpuncte  auch  in  BetrctT  der  volkswirtschaftlichen  Kosten  nicht  trennte. 
Auch  so  scharfe  Denker  wie  Rodbertus,  und  auch  die  besten  neueren  Autoren  auf 
diesem  Gebiete,  Rob.  Meyer,  Neu  mann.  Mithoff  haben  diesen  notwendigen 
Schritt  unterlassen. 

1.  Kosten  vom  Standpuncte  der  Einzel  wirthschaft 
aus.  Mit  diesen  wird  hier  am  Besten  zu  beginnen  sein,  weil  es  sich 
dabei  um  die  einfacheren  Fragen  handelt. 

Es  sind  hier  dann  dreierlei  Kosten  zu  unterscheiden,  von 
denen  die  beiden  ersten  Kategorien  als  „ e i n z e Iwirthschaftliche“ 
der  dritten,  den  Volks  wirtschaftlichen  Kosten  in  unserem  zweiten 
Sinne,  gegenttberstehen. 

a)  Kosten,  welche  die  Einzelwirthschaft  für  die  Mitwirkung 
ihres  leitenden  Wirthschaftssubjects  mit  seiner  Arbeit  und  mit 
den  ihm  gehörigen  sachlichen  Productionsraitteln  (Grund- 

A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Tbeil.  Grundlagen.  26 


402  3.  B.  Wirthsch.  u.  Volkswirthsch.  3.  K.  Ertrag  u.  Einkommen.  1.  A.  §.  172. 

stticke,  Gebäude,  bewegliche  Kapitalien)  anzusetzen  bat.  Diese 
, Kosten  sind  v o lk s wirtschaftlich  nicht  „Kosten“,  sondern  Rein- 
ertrag des  Wirthschaftsbetriebs  oder  Einkommen  des  Wirth- 
schaftssubjects. 

Die  Begründung  dieser  Auffassung  ist  in  den  Auseinandersetzungen  unter  den 
folgenden  zwei  Puncten  mit  enthalten. 

b)  Kosten,  welche  eine  E i n z e 1 wirthschaft  aufwenden  muss, 
um  die  Mitwirkung  anderer  Wirtschaften  und  Personen  oder 
der  Arbeit  Dritter  und  diesen  Dritten  gehöriger,  bzw.  zu  deren 
rechtlicher  Verfügung  stehender  sachlicher  Productionsmittel  zur  Er- 
tragsgewinnung zu  erlangen:  demnach  wieder  in  letzter  Linie  Ver- 
gütungen aus  dem  Roh-,  aber  Antheile  an  dem  Reinertrag, 
welche  eine  Einnahme  anderer  Wirtschaften  und  Personen 
bilden:  Arbeitslöhne,  Gehalte  und  dergleichen,  Gewinnanteile, 
Kapital-,  Mieth-,  Pachtzinsen  u.  s.  w. 

Diese  „Kosten“  sind  eine  Folge  der  Selbständigkeit  der  einzelnen  Wirt- 
schaften, der  Arbeitsteilung,  der  Anerkennung  der  persönlichen  Freiheit 
der  Arbeitenden  und  des  Privateigenth ums  an  den  sachlichen  Productionsmittelu, 
der  Credit geschäfte  (§.  143,  158).  Daher  z.  B.  in  der  antiken  Productionswirthschaft 
(§.  1 59),  welche  mit  Sclaven  und  auf  eigenen  Grundstücken  (z.  Th.  als  Latifundien-  und 
Plantagenwirthschaft,  mit  Sclavenschaaren)  betrieben  wurde  und  wo  Fabrikation,  Hand- 
werk und  Landwirtschaft  noch  vielfach  verbunden  war,  eine  ganz  andere  Be- 
rechnung der  einzelwirthschaftlichen  Productionskosten  und  demnach  auch  des  Ein- 
kommens des  einzelwirthschaftlichen  Subjects  (des  Einen  Oikeneinkommens)  als  in  der 
modernen  Productionswirthschaft  mit  freien  Arbeitern  und  etwa  wie  vorherrschend  in 
England  auf  gepachteten  Grundstücken.  Auf  diese  Unterschiede  und  ihre  weittragende 
volkswirtschaftliche  und  sociale  Bedeutung  bat  besonders  Rodbertus  in  seinen  Ar- 
beiten über  Wirthscbafts-  und  Steuerverhältuisse  des  Altertums  in  Hildebrand’s 
Jahrbuch.,  in  den  Anmerkungen  zu  seiner  Creditnoth  des  Grundbesitzes  oftmals  hin- 
gewiesen, s.  z.  B.  daselbst  I,  81  ff.,  auch  II,  107  lf.,  272  fl'.,  295  ff.,  302  ff.,  und  in 
anderen  Schriften  ähnlich,  so  im  Kapital  S.  73  fl. , lüOff. . 289  ff.  Jene  Kosten 
sind  eben  deshalb  wieder  nur  einzelwirthscliaftlich  aufgefasst,  nicht  volks- 
wirtschaftlich „Kosten“,  volkswirtschaftlich  vielmehr  Antheile  am  li ein- 
ertrag. Ihre  Veränderung  involvirt  nur  eino  veränderte  Verteilung  dieses 
Reinertrags  (des  Volkseinkommens,  §.  176  ff.)  unter  den  Einzelwirthschaften  und  der 
Bevölkerung,  in  der  Praxis  unseres  heutigen  Verkehrs  vermittelst  veränderter  Löhne, 
Zinsen,  Renten,  Unternchmergewinnste.  Preise  der  Güter.  Eine  Ersparung  an  diesen 
bloss  einzelwirthschaftlichen  Kosten  einer  Wirthschaft  oder  eine  Vermehrung  dieser 
Kosten  steigert  oder  mindert  daher  nur  denjenigen  Theil  des  Rohertrags,  welcher  dem 
Subject  der  Wirthschaft  als  Reinertrag  verbleibt,  zu  Ungunsten  oder  zu  Gunsten 
fremder,  irgendwie  mit  Arbeit  oder  Rechten  (aus  Creditgeschäften , wie  Darlehen, 
Vermiethungen,  Verpachtungen  u.  s.  w.)  an  jener  Wirthschaft  Betheiligten.  Ob  und 
wie  weit  jene  Ersparung  oder  Vermehrung  dieser  Kosten  volkswirtschaftlich 
günstig  oder  ungünstig  zu  beurtheilen  ist,  lässt  sich  nicht  allgemein  sagen,  son- 
dern hängt  von  dem  Urtheil  über  die  eben  genannten  Folgen  dieser  Erscheinung  für 
die  Vertheilung  des  Einkommens  im  Volke  ab  (Buch  4). 

c)  Kosten,  welche  eine  Einzelwirtschaft  aufwenden  muss, 
ohne  dass  dieselben  irgend  einer  Wirthschaft  oder  Person 
direct  als  Einnahme,  bez.  als  Reinertrag  und  Ei n komme n , 


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Kosten  vom  Standpunct  der  Einzelwirtschaft. 


403 


zu  Gute  kommen,  welche  vielmehr  direct  ohne  eine  menschliche 
Bedürfnisbefriedigung  zu  bewirken,  „genusslos“  in  diesem  Sinne, 
verzehrt,  zugesetzt,  auch  im  volks  wirthschaftlichen  Sinne,  werden. 
Dies  sind  die  natürlichen  oder  eigentlich  und  allein  volks- 
wirthsch  aftl  ichen  Productionskosten , in  einem  speciellen 
Sinne  des  Worts,  in  unserer  zweiten  Bedeutung  volkswirtschaft- 
licher Kosten. 

Daher  in  der  Sachgütergewinnuug  der  Werth  der  verbrauchten  Stoffe  (Roh-  und 
Hilfsstoffe  u.  s.  w.)  und  der  Werthbetrag  der  Abnutzung  der  „Productions-  und  Arbeits- 
instrumente“ oder  „Werkzeuge  (i.  w.  S.) : das  unbedingt  notwendige  Mittel  zur  Er- 
tragsgewinnung, unabhängig  von  der  Gestaltung  der  Arbeitstheilung  und  der  Rechts- 
verhältnisse  in  Bezug  auf  Personen  und  Eigenthum.  Mit  diesen  Kosten  wird  die 
Mitwirkung  der  Natur  und  ihrer  Kräfte  an  der  Production  erkauft.  Eine  Ersparung 
an  ihnen  heisst  allgemein:  auch  eine  Ersparung  an  menschlicher  Arbeit,  welche  die 
verbrauchten  Stoffe  und  Werkzeuge  herzustellen  gekostet  haben;  heisst  daher  ein 
günstigeres  Vcrhältniss  zwischen  Roh-  und  Reinertrag  bei  der  Production,  mithin  eine 
grössere  Summe  aller  einzelwirthschaftlichen  Reinerträge,  des  volkswirtschaftlichen 
Reinertrags  (§.  176)  und  des  Volkseinkommens;  heisst  Möglichkeit  einer  reichlicheren 
Bedürfnissbefriedigung  Aller.  Die  Gesammtheit  gewinnt  also  bei  solcher  Ersparung 
immer,  wenn  der  Vortheil  davon  auch  nicht  Allen  gleichmässig  zu  Gute  zu  kommen 
braucht,  indem  weniger  nationale  Arbeit  zur  Herstellung  jener  Stoffe,  Werkzeuge  u.  s.  w. 
verbraucht,  daher  entbunden  wird,  sei  es  zur  Gewinnung  arbeitsfreier  oder  arbeits- 
erleichterter Zeit,  sei  es  zur  Verwendung  in  anderer  Weise,  auch  für  im  Ganzen  ver- 
mehrte Gewinnung  von  Gütern  als  Genussmitteln. 

Die  Einzelwirtschaft,  welche  diese  Kosten  zu  vermindern  weiss,  macht  sich 
daher  auch  um  das  Ganze  verdient.  Die  auf  der  Arbeitstheilung  beruhende  einzcl- 
wirthschaftliche.  namentlich  privatwirthschaftliche  Productionsweise  findet  ihre  allge- 
meine, dem  Gesammtintcresse  entsprechende  Rechtfertigung  unter  Anderem  besonders 
darin,  dass  sie  auch,  wenn  auch  zunächst  nur  im  Interesse  des  einzelwirthschaftlichen 
Subjects,  die  Ersparung  an  solchen  natürlichen  Productionskosten  zu  Wege  zu  bringen 
strebt,  in  vielen  Fällen  jedenfalls,  wenn  auch  nicht,  wie  behauptet  wurde,  stets, 
besser  als  irgend  eine  anders  organisirte,  besonders  als  die  gemeinwirthschaftlicho 
Productionsweise. 

Der  Streit  zwischen  Socialisten  und  unbedingten  Verteidigern  des  privatwirth- 
schaftlichen  Systems  lässt  sich  hier  wissenschaftlich  auf  den  einen  Hauptpunct  zurück- 
fübren,  dass  die  letzteren  das  volks wirthschaftliche  Interesse  bei  der  privatwirthschaft- 
lichen  Productionsweise  am  Besten  gewahrt  zu  sehen  glauben,  weil  hier  auch  mit 
den  geringsten  volks  wirthschaftlichen  Productionskosten  (also  am 
Meisten  nach  dem  ökonomischen  Princip)  producirt  werde,  während  ohne 
solche  maassgebende  Mitwirkung  des  privatwirthschaftlichen  Interesses  viele  Güter 
überhaupt  gar  nicht,  jedenfalls  aber  alle  schlechter  und  kostspieliger  hergestollt  würden. 
Die  Socialisten  läugnen  dies  einmal  wenigstens  für  viele  Fälle  und  betonen  die  Be- 
rechtigung und  Nothwendigkeit  des  gemcinwirthschaftlichen  Systems,  andrerseits 
behaupten  sie,  dass  im  privatwirtlischaftlichen  System,  namentlich  dem  heute  herr- 
schenden, wo  der  ..Arbeiter“  für  seine  Mitwirkung  an  der  Production  im  Lohnvertrag 
„abgefunden“  werde,  der  Unternehmer  zu  sehr  an  jenen  einzelwirthschaftlichen 
Productionskosten  sparen  könne  und  spare  bloss  auf  Kosten  der  übrigen  an  der  Pro- 
duction betheiligten  Classen,  besonders  der  Arbeiter.  Letztere  erhielten  bei  diesem 
System  also  zu  wenig,  würden  regelmässig  nur  mit  dem  unentbehrlichen  Unterhalts- 
bedarf abgefundeu  (Lassalle’s  „ehernes  Lohngesetz“),  während  der  darüber  hinaus 
von  ihnen,  den  Arbeitern  (nach  Mars:  von  den  Arbeitern  sogar  allein)  producirtc 
Mehrwerth  den  kapitalistischen,  d.  h.  kapitalbesitzenden  (s.  o.  §.  129)  Unternehmern 
ungebührlicher  Weise  verbliebe  und  auch  die  Hauptquelle  des  privaten  Kapitalbesit/.es 
sei  (vergl.  Marx.  Kapital  I,  Kap.  3 — 5,  besonders  I,  Abschn.  1,  ähnlich  schon  früher 
Rodbertus,  Zur  Erkenntniss  u.  s.  w.  1.  Theorem  und  Sociale  Briefe).  Die  Socialisten 
unterschätzen  dabei  aber  die  ökonomisch-technischen  Schwierigkeiten,  welche  der  Her- 

26* 


404  3.  B.  Wirthsch.  u.  Volkswirt  sch.  3.  K.  Ertrag  u.  Einkommen.  1.  A.  §.  172,  173 

Stellung  aller  Güter  nach  nicht-privatwirthschaftlicber  Productionsweise  entgegenstebcn, 
sowie  die  wirklich  volkswirtschaftlichen  Leistungen  der  privaten  Kapitalbildung  und 
Kapitalverwendung  (in  der  Privatuntcruehinung).  Ihre  unbedingten  Gegner  überschätzen 
jene  Schwierigkeiten  wenigstens  für  manche  Fälle,  legen  der  privaten  Kapitalbildnng 
und  Verwendung  oft  einen  zu  grossen  Werth  bei  und  übersehen  die  allerdings  zahl- 
reichen Fälle  von  A.usbeutungsvorhältnissen,  in  welchen  die  Reinerträge  nicht  richtig 
vertheilt,  die  einzelwirthscbaftlichen  Productionskosten  der  Unternehmungen  zu  sehr 
zu  Ungunsten  der  Arbeiter  (mitunter  auch  der  Leih-Kapitalistcn)  und  zu  Gunsten  der 
Arbeitgeber  vermindert  werden.  Die  richtige  Ausgleichung  der  Gegensätze  wird  am 
Ersten  durch  eine  rationelle  Ausbildung  des  gemein wirthschaftlichen  neben  dem 
privatwirthschaftlichen  System  und  richtige  Combination  beider,  sowie  durch  zweck- 
mässige Controle  des  letzteren  Seitens  des  Staats  erfolgen.  S.  darüber  das  ganze 
5.  Buch.  An  dem  angegebenen  Beispiel  lässt  sich  gut  zeigen,  wie  enge  die  einfachen 
Grund begrilfscrörterungen  im  Texte  mit  den  wichtigsten  practischen  Problemen  der 
Volkswirtschaft  Zusammenhängen,  daher  auch,  wie  wichtig  sie  selbst  sind. 

2.  Kosten  vom  Stand punct  der  Volkswirtschaft 
aus.  Hier  sind,  wie  schon  angedeutet,  zweierlei  Kosten  zu 
unterscheiden,  je  nachdem  die  Volkswirtschaft  als  Mittel  zur  Er- 
zielung von  Gütern  ihr  Menschen,  als  Productionseinrichtung  hier- 
für, oder  als  Person  mit  Selbstzweck  gedacht  (ähnlich  wie  die 
private  Unternehmung  im  Unterschied  von  Unternehmer)  zum 
Ausgang  der  Betrachtung  genommen  wird. 

a)  In  ersterer  Hinsicht  fallen  die  Kosten  im  volkswirtschaft- 
lichen Sinne  hier  mit  den  unter  No.  1,  c besprochenen  zusammen. 
Die  gleichen  Probleme  der  Organisation  der  Arbeit,  der  Volks- 
wirtschaft tauchen  hier  bezüglich  der  Frage  der  Kostenersparung  auf. 

b)  In  zweiter  Hinsicht  sind  Kosten  im  eigentlichen  und 
höchsten  volkswirtschaftlichen,  gesellschaftlichen  Sinne,  d.  h. 
eben  vom  menschlichen  Standpuncte  gesprochen,  die  Leistungen 
menschlicher  Arbeit,  directer  wie  indirecter,  materieller  wie 
geistiger,  die  Herstellung  neuer  Güter,  Erträge  (§.  171),  verur- 
sachender wie  bedingender  Arbeitsleistungen  (§.  61,  S.  152),  mit 
welchen  die  Güter,  die  Erträge  gewonnen  werden:  die  alleinigen, 
aber  die  wahren  „Kosten“  im  rein-ökonomischen  Sinne. 

Insofern  ist  der  Satz  wahr,  dass  Erträge  (.Productensummen)  wie  (einzelne)  Pro- 
ducte  „Arbeit  und  nur  Arbeit  kosten“  (Kodbertus).  Aber  zu  dieser  „Arbeit“  ge- 
hört eben  Alles,  was  nach  den  gegebenen  Verhältnissen,  daher  insbesondere 
der  volkswirtschaftlichen  Organisation  und  Rechtsordnung,  „gesellschaftlich  not- 
wendige“ menschliche  Thätigkeit  ist,  welche  stattfinden  muss,  um  Erträge,  Producte 
zu  gewinnen : die  Arbeit  des  Handarbeiters,  die  geistige  Thätigkeit  des  Leiters,  Unter- 
nehmers, wie  die  Thätigkeit,  durch  welche  das  Nationalkapital,  eventuell  in  der  Rechts- 
form des  Privatkapitals  (§.  129),  gebildet,  erhalten,  vermehrt,  verwendet  wird. 

Das  Ziel  muss  sein,  diese  „gesellschaftliche  notwendige“  Arbeit  so  zweck- 
mässig als  möglich  einzurichten , sie  daher  auf  ein  Minimum  zu  vermindern , damit 
die  so  entbundene  Arbeit  wiederum  zu  arbeitsfreier  Zeit  führt  oder  für  andere  passende 
Zwecke  verwendet  wird.  Auch  hier  tauchen  dann  wieder  die  organisatorischen  und 
die  die  Rechtsordnung  betreilenden  Probleme  auf,  welche  vorhin  berührt  wurden. 
Der  Socialismus  greift  das  geschichtlich  überkommene  rechtliche  und  wirtschaftliche 
Productionssy stem  auch  an,  weil  es  ökonomisch-technisch  nicht  Genügendes  leiste. 


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Kosten  vom  Standpunct  der  Volkswirtschaft. 


405 


keine  hinlängliche  Arbeits-,  Arbeitszeit-Verminderung,  Kostenermässigung  und  Ertrags- 
steigerung bewirke.  Es  greift  speciell  auch  die  Bildung  und  Verwendung  des  National- 
kapitals  als  Privatkapitals  und  dessen  Function  ab  Rentenfonds  an  (§.  129  ff.).  Aber 
er  fuhrt  eben  den  Beweis  für  die  Richtigkeit  seines  Ziels  nicht  nur  nicht  erfahrungs- 
mässig,  was  nicht  möglich  wäre,  sondern  auch  nicht  Wirtschaft«- psychologisch  de- 
dnetiv,  was  zu  verlangen  wäre  (§.  8S  ff.,  49).  Nur  darin  hat  er  Recht,  dass  es  aut  Ver- 
minderung der  jeweilig  gesellschaftlich  notwendigen  Menge  und  Zeit  der  Arbeit 
ankommt,  welche  Erträge  und  Producte  „kosten“  und  dass  von  dem  Fortschritt  hierin  in 
letzter  Linie  das  Ma&ss  des  eigentlichen  volkswirtschaftlichen  und  auch  des  gesell- 
schaftlichen und  Culturfortschritts  mit  abhängt,  — freilich  nur,  soweit  die  „frei 
werdende“  Zeit  würdig  verwendet  und  auch  die  so  entbundene  Arbeit  nicht  anderswo 
nur  zur  Herstellung  der  Mittel  für  bedenkliche  Genüsse  benutzt  werden  würde. 

Für  die  begrifflichen  Erörterungen  ist  aber  hervorzuheben,  dass  grade  auch  für 
die  Fragen  der  Organisation  und  Rechtsordnung,  für  den  Vergleich  des  individualisti- 
schen und  socialistischen  Productionssystems  u.  s.  w.  diese  zweite  Art  der  Be- 
trachtung „volks wirtschaftlicher“  „Kosten“  von  grosser  Bedeutung  ist.  Auch 
der  „Socialstaat“  hat  z.  B.  das  höchste  Interesse  daran,  — und  ebenso  haben  es  seine 
Gegner  — , dass  festgestellt  wird,  mit  welchem  Betrage  und  mit  welcher  Art  (auch 
nach  den  mitspielenden  Motiven  bemessen  (§  33  ff.)  von  nationaler  Arbeit,  daher  mit 
welchem  Kostenbeträge  die  personificirt  gedachte  „socialistischo  Volkswirtschaft“  eben 
schliesslich  Erträge  producirt.  Auch  da  würden  die  den  Arbeitskräften  zu  gewährenden 
Consuintionsbeträge  ab  Kosten  erscheinen  und  soweit  sie  während  des  und  für  den  Pro- 
ductionsprocess  zur  Ausübung  von  Arbeit  an  die  Individuen  überwiesen  werden  müssen, 
zum  (National-)  Kapital  gehören , sogut  wie  jetzt  die  Arbeitslöhne  zum  (Privat-) 
Kapital  (S.  316). 

II.  — §.  173  [84].  Einkommen.  A.  Der  Begriff  des- 
selben ergiebt  sich,  indem  die  Einnahmen  oder  Erträge  in  Be- 
ziehung zu  der  Person,  welche  sie  empfängt,  bezw.  zu  dem 
Wirtbschaftssubject  gebracht  werden.  Er  wird  dann  genauer  durch 
Angabe  des  Umfangs  bestimmt,  den  das  Einkommen  einer  Person 
hat,  was  eine  besondere  Formulirung  des  Begriffs  entbehrlich,  aber 
andrerseits  sie  leichter  macht.  Indessen  bestehen  gerade  Uber  den 
Umfang  des  Begriffs  Meinungsverschiedenheiten.  Einigermaassen 
einig  ist  man  Uber  Folgendes: 

Das  Einkommen  umfasst  zweierlei: 

1)  diejenige  Summe  wirtschaftlicher  Güter,  welche  einer 
Person  in  gewissen  Perioden  (Üblicher  Weise  nach  Jahren  be- 
rechnet) regelmässig  und  daher  mit  der  Fähigkeit  der  regel- 
mässigen Wiederholung  als  Reinerträge  einer  festen 
Erwerbsquelle  neu  als  Vermögen  (bezw.  zum  Vermögen) 
hinzuwaehsen. 

Dieser  Theil  des  Einkommens  einer  Person  rührt  daher  aus  der  Wirtschafts- 
führung überhaupt  (Unternehmung)  oder  aus  einzelnen  wirthschaftlichen 
Thätigkeiten  (Arbeit)  oder  aus  Eigenthums-  oder  Forderungsrechten 
insbesondere  (Sclaveneigenthum,  Grundeigenthum,  Kapitaleigenthum,  Forderungen  aus 
/Creditgeschäften)  oder  aus  regelmässigen  unentgeltlichen  Einnahmen  (Za- 
theilungcn,  Almosen,  Geschenk)  her. 

Eine  Verschiedenheit  der  Ansichten  besteht  hier  u.  A.  hinsichtlich  des  Moments 
der  Regelmässigkeit,  der  Periodicität.  Manche  nehmen  es  nicht  mit  auf, 
so  Mit  hoff  (Handb.  Schönberg’s,  I,  576),  der  dann  als  „Arten“  des  Einkommens 
ordentliches  und  ausserordentliches  nach  diesem  Moment  unterscheidet.  Eingehende 


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406  3-  B*  Wirthsch.  u.  Volkswirthsch.  3.  K.  Ertrag  u.  Einkommen.  1.  A.  §.  1T3. 


Erörterungen  über  dies  Moment  hat  Kob.  Meyer  angestellt,  er  lehnt  cs  mehr  ab 
(Einkommen  §.  2,  3,  9).  Neu  mann  hält  daran  fest  (Einkommen:  „Inbegriff  der- 
jenigen Güter,  geldwerthen  Leistungen  i.  e.  S.  und  Nutzungen  fremder  [sic!]  Sachen, 
welche  als  regelmässiges  Ergebnis«  dauernder  Bezugsquellen  in  gewisser  Zeit  Jemand 
der  Art  zu  Tbeil  werden,  dass  er  darüber  im  eigenen  Interesse  verfügen  kann“, 
Handbuch  I,  170),  Und  in  der  That  möchte  ich  cs  doch  auch,  wenn  nicht  für  unbedingt 
nothwendig,  so  doch  für  zweckmässiger  halten,  auf  das  Moment  der  Regelmässig- 
keit  wenigstens  für  die  vol ks wirtschaftliche  Betrachtung  des  Einkommens,  bei  der 
eben  dauernde  oder  Durchschnitts  Verhältnisse  das  Entscheidende  sind,  Gewicht 
zu  legen.  Zufällige,  einzeln  vorkommende  Einnahmen,  wie  gelegentliche 
Geschenke,  Erbschaften,  Legate  sind  auch  danach  nicht  zum  Einkommen  zu  rechnen, 
so  auch  Rau,  §.  70.  Kehren  solche  Einnahmen,  z.  B.  im  Palle  des  regelmässigen 
A.lmosenempfangs,  der  eine  regelmässige  Unterstützung  bildenden  Geschenke,  auch, 
wie  in  Zeiten  des  altrömischen  Kaiserthums  im  Falle  der  förmlich  zur  regelmässigen 
Einnahmequelle  der  Senatoren  werdenden  Legate  (Friedländer,  röm.  Sitten- 
gesch.  I,  253)  periodisch  wieder,  so  gehören  sie  dagegen  zum  Einkommen.  Hier- 
nach sind  auch  die  gelegentlichen  Vermögensvermehrungon  aus  der  Realisirung 
zufälliger  Conjuncturengewinne,  z.  B.  beim  Grundbesitzwechsel,  nicht  „Einkommen“ 
in  diesem  strengeren  Sinn.  Wohl  aber  können  jene  Gewinne  im  (speculativen)  Han- 
delsgeschäft zum  Einkommen  zählen,  weil  hier  nach  der  Einrichtung  des  Geschäfts 
eine  gewisse  Wiederholbarkeit  anzunchmen  ist.  Practisch  wichtig  wird  das  Alles 
besonders  wieder  für  die  Einkommensteuer.  Hier  wird  man  allerdings  auch  ge- 
wisse Kategorieen  von  Fällen  nicht  regelmässiger  Einnahmen  doch  zum  „Einkommen“ 
im  Sinn  der  Steuer  rechnen  müssen.  Vergl.  die  Arbeit  von  Burckhardt  in  Hirth’s 
Annalen  187G,  S.  24  über  Einkommensteuer  und  meine  gen.  Abh.  im  Finanzarchiv 
1891  II,  über  die  preussische  Einkommensteuer,  wo  die  Fragen  im  Einzelnen  erörtert 
werden.  Hie  und  da  fallen  einmalige  Conjuncturen  - Gewinne,  Erbschaften  unter 
den  Begriff  Einkommen  (s.  jetzt  Bremer  Einkommensteuergesetz).  Vergl.  übrigens  unten 
unter  Nr.  3. 

Derjenige  Reinertrag,  von  welchem  hier  die  Rede  ist.  versteht  sich  nach  Ab- 
zug aller,  auch  derjenigen  Kosten,  welche  für  andere  an  der  Gewinnung  des  Er- 
trags betheiligte  Personen  selbst  wieder  Einkommen  sind  (§.  172.  unter  b).  — Der 
enge  Zusammenhang  des  Einkommens  der  Person  mit  dem  Reinertrag  des  Geschäfts, 
der  Thätigkeit,  eines  Rechts  ist  bei  diesem  Haupttheil  des  Einkommens  gar  nicht  zu 
läuguen.  In  Schmoll  er’ s Ausführungen  a.  a.  0.,  denen  ich  sonst  beistimme,  findet 
sich  ein  Satz  S.  52,  der,  wörtlich  genommen,  als  Bestreitung  des  vorausgehenden  Satzes 
gelten  könnte,  mir  daher  auch  nicht  correct  erscheint  Er  sagt:  „Unter  Einkommen 
verstehen  wir  die  Summe  von  Mitteln,  welche  der  Einzelne,  ohne  in  seinem  Vermögen 
zurückzukommen , für  sich  und  seine  Familie , für  seine  geistigen  und  körperlichen 
Bedürfnisse,  für  seine  Genüsse  und  Zwecke,  kurz  für  Steigerung  (richtiger  wohl,  grade 
nach  Hermann’s  und  Schmoller’s  Standpunct:  zunächst  für  die  Erhaltung,  sodann  erst 
für  die  Steigerung)  seiner  Persönlichkeit  in  einer  Wirthschafisperiodc  verwenden  kann“. 
Einverstanden,  aber  wenn  der  Verfasser  dann  unmittelbar  fortfährt:  „Das  Einkommen, 
wie  wir  es  nach  Hermann  auffassen,  ist  also  (?)  keine  Ertragskategorie,  kein 
Product  eines  beliebigen  (?)  wirtschaftlichen  Rechnungsexempels,  sondern  ein  leben- 
diges Ganze,  wie  es  aus  dem  Begriffe  der  Persönlichkeit  und  der  Bedürfuissbcfriedi- 
gung  hervorgeht“,  — so  ist  hier  der  Umstand,  dass  der  Haupttheil  des  Einkommens 
eben  doch  als  Reinertrag  der  Wirtschaftsführung  oder  bestimmter  einzelner  Thätig- 
keiten  und  Rechte  resultirt,  zu  stark  bei  Seite  gesetzt. 

2)  Die  Genüsse  (Nutzungen)  oder  selbst  nur  die  Genuss- 
möglichkeiten,  welche  das  Nutzvermögen  (§.  128)  einer 
Person,  nach  Abrechnung  der  dabei  stattfindenden  Abnutzung  und 
Verkehrswerth-Verminderung  periodisch  fortdauernd  gestattet. 

Mit  Recht  hat  Schm  oll  er  diese  Consequenz  gezogen,  a.  a.  0.  S.  53.  Dies  ist 
u.  A.  auch  für  die  Steuertheorieen  und  für  die  Gesetze  über  Einkommensteuern  wichtig, 
wo  man  freilich  bisher  meistens  nur  den  „Miethwcrth  der  Wohnung  im  eigenen 
Hause“  demgemäss  zum  Einkommen  im  steuerlichen  Sinne  rechnet,  folgerichtig  den 


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Einkommen.  Begriffliches.  Umfang. 


407 


Nutzwerth  andren  Nutzvermögens  aber  auch  dazu  ziehen  müsste.  Neu  mann  meint, 
„in  der  Wissenschaft“  dürfte  an  diesem  Puncte  bei  eigenen  Sachen  nicht  festzu- 
halten sein  (?),  während  er  Nutzungen  fremder  Sachen  zum  Einkommen  schlägt  (?). 
Ablehnend  auch  Kob.  Meyer,  Einkommen  §.  7.  Ich  habe  inicN  aus  diesen  Er- 
örterungen nicht  überzeugen  können , dass  der  zweite  Bestandtheil  des  Einkommens, 
wie  ich  ihn  nenne,  fortzulassen  sei. 

Je  nach  der  Ansicht  Uber  das  Moment  der  „regelmässigen 
Wiederkehr“  und  der  „Herkunft  aus  festen  Erwerbs-  oder  Bezugs- 
quellen“ als  zum  Wesen  des  Einkommens  gehörig  oder  nicht, 
wird  man 

3)  einen  dritten  Bestandtheil  überhaupt  nicht  zum  „Ein- 
kommen“ im  wissenschaftlichen  Sinne,  wenn  auch  zu  den  „Ein- 
nahmen“ einer  Person,  als  Vermögenszuwächsen  für  sie,  rechnen 
oder  dies  thun.  Letzteren  Falls  möchte  es  sich  dann  empfehlen, 
immerhin  nach  dem  Moment  der  Regelmässigkeit  u.  s.  w.  zwischen 
einem  ersten  (Haupt-)  Bestandtheile,  in  der  vorhin  formulirten 
Weise,  und  diesem  „unregelmässigen“,  „unständigen“,  „wechseln- 
den“ Posten,  als  einem  dritten  Bestandtheile,  zu  unterscheiden. 

Was  dann  im  Einzelnen  zu  diesem  dritten  Bestandtheil  zu  setzen  ist,  lässt  sich 
freilich  allgemein  theoretisch  und  speciell  practisch  für  die  Steuergesetzgebung  nicht 
immer  leicht  und  sicher  beantworten.  Speculations-,  Conjuncturengewinne , letzteren- 
falls  zufällig  erlangte  (z.  B.  beim  Besitz  von  Grundeigenthum , Gebäuden,  Effecten) 
oder  bestimmt  erstrebte,  Spiel-,  Lotterie-,  Wettgowinne,  Legate.  Erbschaften  bieteu 
bei  dieser  Ausdehnung  des  Einkommen-Umfangs  und  danach  des  Einkommen begriffs 
freilich  manche  Schwierigkeiten.  Die  engere  und  die  weitere  Begrenzung  des  Umfangs 
ist  mir  doch  aber  auch  in  dieser  Hinsicht  mehr  eine  Frage  der  Zweckmässigkeit  als 
des  Princips.  Auch  bei  der,  Alles  in  Allem  wie  gesagt  mir  doch  passender  er- 
scheinenden engeren  Begrenzung  hindert  nichts,  für  die  Praxis  z.  B.  des  Steuerrechts, 
viele  einzelne  Posten,  welche  zu  der  Abtheilung  3 gehören  würden,  bei  einer  Ein- 
kommensteuer mit  zu  erfassen,  was  auch  häufig  sogar  geboten  ist.  Die  betreffende 
Steuer  ist  eben  dann  mehr  eine  „Einnahmesteuer“  als  eine  „Einkommensteuer“.  Vgl. 
z.  B.  die  Streitfrage  über  die  Trennung  zwischen  steuerpflichtigem  Einkommen  und 
nicht  einkommcnsteuerpilichtigem  Zuwachs  zum  Stammvermögen  bei  der  jüngsten 
preussischen  Steuerreform  (meine  Abh.  im  Finanzarchiv  1S91  II,  S.  210  ff.). 

Der  Einkommenbegriff  selbst  muss  sich  folgerichtig  nach  diesen 
verschiedenen  Bestimmungen  des  Umfangs  des  Einkommens  ver- 
schieden gestalten.  Nach  unserer  im  Vorausgehenden  begründeten 
Auffassung  ist  Einkommen:  der  periodische,  sich  regelmässig 
wiederholende  Reinertrag  einer  festen  Erwerbsquelle,  dessen  Bezug 
einer  Person  rechtlich  und  thatsächlich  zusteht,  einschliesslich  des 
Werthes  der  Genüsse  und  Genussmöglichkeiten  aus  dem  Nutz- 
vermögen dieser  Person.  Nach  der  anderen  Auffassung  bezüglich 
jenes  dritten  Bestandteiles  wäre  dann  noch  hinzuzufügen:  sowie 
der  weitere,  unregelmässig  der  Person  zufliessende  Güterbetrag 
und  zugutekommende  Werthbetrag,  welcher  eine  Vermügeusver- 
mehrung  dieser  Person  darstellt. 


408  3.  B.  VYirthsch.  u.  Volkswirthsch.  3.  K.  Ertrag  u.  Einkommen.  1.  A.  §.  173,  174. 


Ein  besondrer  Hinweis  auf  Absetzung  von  Gewinnungskosten  des  Einkommens 
oder  auf  das  Moment,  dass  ein  Gtlterzufluss  oder  eine  Wertherhöhung  nicht  Kapital- 
ersatz sein  dürfe,  wenn  sic  als  Einkommen  gelten  sollen  (Mit  ho  ff  a.  a.  0.  S.  576) 
ist  überflüssig,  weil  das  in  den  Ausdrücken  „Reinertrag“  und  „Vermögensvermehrung“ 
schon  enthalten  ist. 

Das  Einkommen  einer  Person  bildet  zunächst  und  vor  Allem 
den  Güterfonds  zur  Befriedigung  ihrer  Bedürfnisse.  Seine  Er- 
werbung ist  das  Mittel  zu  letzterem  Zweck.  Es  kann  in  derselben 
Periode,  wo  es  erlangt  wurde,  vollständig  verzehrt  werden, 
ohne  dass  dadurch  das  frühere  Vermögen  geschmälert  wird. 
Eben  desshalb  ist  bei  dem  zweiten  Bestandtheil  des  Einkommens 
die  Abnützung  abzurechnen.  Die  Tauschwerthhöhe  des  Ein- 
kommens einer  Person  entscheidet  dann  über  das  Maass  der 
letzterer  möglichen  dauern  den  Bedürfnissbefriedigungen  im  Ver- 
kehr, ist  doch  volkswirtschaftlich  von  grösster  Bedeutung. 

Gelegentlich  wird  wohl  noch,  wie  früher  allgemein,  zwischen  Roh  - und  Rein- 
einkommen einer  Person  ebenso  wie  zwischen  Roh-  und  Reinertrag  eines  Objects 
(z.  B.  eines  Geschäfts)  unterschieden  (so  noch  Rau,  §.  71,  aber  auch  noch  Roscher, 
§.  145).  Nach  der  obigen  Begriffsbestimmung  des  Einkommens  fällt  diese  Unter- 
scheidung mit  Recht  besser  fort:  das  Einkommen  ist  danach  nur  „Rein-Einkommen“, 
nur  dies  bildet  das  Strebeziel  des  Wirthscliaftssubjects.  So  in  Hermann’s  Ein- 
kommenlehre, 2.  Aufl.  S.  595  ff.,  auch  Schmoller  a.  a.  0.  S.  21,  53.  Doch  hat 
neuerdings  Rob.  Meyor  (Einkommen  S.  201)  die  Unterscheidung  beschränkt  aufrecht- 
gehalten  und  auch  Neu  mann  (Handbuch  S.  171)  kommt  auf  sie  zurück. 

Die  Früheren,  auch  Rau,  unterschieden  auch  noch  zwischen  ursp  rünglichem 
und  abgeleitetem  Einkommen,  indem  sie  von  jenem  nur  bei  denjenigen  Classen 
sprachen,  welche  nach  ihrer  Auffassung  allein  wirtschaftliche  Güter  hervorbringen, 
d.  h.  bei  den  direct  an  der  Sachgüterproduction  betheiligten  Classen  oder  Per- 
sonen, während  sie  das  Einkommen  aller  anderen  Personen,  also  namentlich  das 
für  persönliche  Dienste  bezogene,  abgeleitetes,  d.  h.  eben  aus  jenem  ur- 
sprünglichen Einkommen  fliessendes,  nannten.  Diese  Unterscheidung  steht  und  fällt 
mit  der  Beschränkung  des  Begriffs  „wirtschaftliches  Gut“  auf  die  Sachgüter  oder, 
was  dasselbe  sagen  wiü,  mit  der  Beschränkung  der  sog.  productiven  Leistung  auf 
Hervorbringen  von  Sachgütern.  Rau’s  Unterscheidung  war  also  von  seinem  Stand- 
punctc  aus  (§.  120)  ganz  folgerichtig , muss  aber  von  demjenigen  der  jetzigen 
Wissenschaft  aus  aufgegeben  werden  (§.  121).  Jedes,  auch  das  Einkommen  Des- 
jenigen, der  nur  persönliche  Dienste  leistet  (Gesinde,  liberale  Berufe,  Beamte,  Soldaten 
u.  s.  w.),  ist  also  ursprüngliches,  ist  sein  Einkommen. 

S.  Rau,  §.  I,  251.  Er  fügt  in  einer  Anm.  aber  selbst  schon  hinzu:  „insoferne 
die  Dienste  mittelbar  die  Erzeugung  von  Sachgütern  befördern  (was  Rau  in  §.  107 
der  8.  Aufl.  unter  Hinweis  auf  eine  Aeusserung  Moltko’s  im  norddeutschen  Reichs- 
tage auch  hinsichtlich  des  Militärdiensts  anerkennt)  ist  ihr  Lohn  ebenfalls  zum  Theil 
als  ursprüngliches  Einkommen  anzusehen,  aber  dies  lässt  sich  nicht  in  Zahlen  be- 
stimmen“. Und  in  §.  107:  „Das  Vorhandensein  einer  gewissen  Anzahl  von  Dienst- 
leistenden ist  deshalb  auch  von  volkswirtschaftlicher  Seite  vortheilhaft“.  Man 
kann  verbessern:  nicht  nur  dies,  sondern  unentbehrlich  und  eben  deshalb  ent- 
spricht einer  organischen  Auffassung  der  Volkswirtschaft  auch  nur  die  Behand- 
lung der  Dienste  mit  als  wirtschaftliche  Güter,  die  „Productivität“  der  Dienste  und 
die  Statuirung  bloss  ursprünglichen  Einkommens.  (S.  Hermann,  S.  593.)  Ueber 
die  mögliche  Benutzung  des  terminu9  „abgeleitetes  Einkommen“  in  einem  anderen 
Sinuc,  s.  folg.  Abschnitt.  — Vergl.  auch  Mithoff  a.  a.  0.  S.  577.  — Die  richtige 
Consequenz  der  einseitigen  socialistischen  Lehre  (Rodbertus,  Marz)  ist  wieder  die 
Auffassung  alles  Renteneinkommens  als  abgeleitetes  Einkommen  aus  dem  nur  durch 


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Einkommen.  Begriff.  Freies.  Gebundenes. 


409 


die  Sachgüterproduction  der  materiellen  Arbeit  gewonnenen  „Nationalproduct“,  welches 
hier  das  „ursprüngliche“  Nationaleinkommen  ist. 

B.  — §.  174  [85].  Freies  und  gebundenes  Einkommen. 

S.  Roscher  I,  §.  145.  Wenn  Nenmann  (Haudb.  I,  S.  172)  meint,  ein  er- 
heblicher Gewinn  könne  aus  solcher  Begriffsbestimmung  nicht  erwartet  werden,  weil 
die  Unterscheidung  ganz  ron  individueller  Auffassung  abhänge,  so  kano  ich  weder 
diese  Behauptung  noch  ihre  Begründung  als  richtig  gelten  lassen.  Die  Trennung 
lässt  sich  nach  hinlänglich  genau  bestimmbaren  allgemeinen  Merkmalen  durchfuhren 
und  ist  dann  in  der  That  wichtig  genug,  wie  sich  aus  dem  Folgenden  ergiebt. 

In  einem  anderen  Sinne  kann  im  Einkommen  (Gesammtein- 
kommen)  zwischen  gebundenem  und  reinem  oder  besser  freiem 
Einkommen  bei  der  typischen  Hauptform  der  Privat wirthscbaft, 
nemlich  bei  der  Wirthscbaft  des  einzelnen  Menschen  und  bei 
der  Familien  wirthscbaft,  unterschieden  werden.  Das  freie 
Einkommen  umfasst  hier  denjenigen  Th  eil  des  Einkommens, 
welcher  nach  der  Befriedigung  der  nothwendigen  Bedürfnisse  oder 
nach  der  Bestreitung  des  Unterhaltes  des  Menschen  oder  der 
Familie  frei  zu  beliebiger  anderer  Verfügung  übrig  bleibt. 
Der  andere  Theil  des  Einkommens  ist  durch  natürliche  Verhält- 
nisse, durch  Sitten  und  sociale  Momente  kein  frei  verfügbarer, 
sondern  ein  gebundener,  welcher  im  Wesentlichen  einer  be- 
stimmten Verwendung  zugeführt  werden  muss.  Man  kann  dies 
Einkommen  daher  passend  „gebundenes“  nennen. 

Das  freie  Einkommen  der  Individuen  und  Familien  lässt  sich  in  doppelter 
Weise  berechnen: 

1)  so,  dass  man  die  Höhe  des  Unterhaltsbedarfs  rein  nach  natürlichen 
Verhältnissen  und  nur  mit  Rücksicht  auf  die  Consumtionsge wohnheiten 
der  Masse  des  Volks  für  alle  Individuen  und  Familien  gleich  setzt,  also  von 
der  Verschiedenheit  der  ökonomischen  und  socialen  Verhältnisse  innerhalb  der  Be- 
völkerung absieht;  das  freie  Einkommen  giebt  alsdann  das  deutlichste  Bild  von  der 
Vermögens-  und  Einkorn  mens -VertheUung,  bcz.  von  der  ökonomischen  und  socialen 
Ungleichheit  in  der  Bevölkerung. 

2)  Oder  man  berücksichtigt  auf  Grund  von  Beobachtungen  itn  Leben  und  nach 
statistischen  Feststellungen  die  das sen  weise  Verschiedenheit  dessen,  was  nach  den 
Consumtionsgewohnheiten  der  ökonomischen  und  socialen  Bevölkcrungsclasscn  als 
„nothwendiger  Unterhalt“  gilt,  wonach  dann  das  freie  Einkommen  der  besser  Situirten 
nicht  ebenso  stark  wie  im  vorigen  Falle  dasjenige  der  schlechter  situirten  Classen 
überragt.  Hier  ist  aber  nicht  zu  übersehen,  dass  der  für  die  Wohlhabenderen 
gemachte  Abzug  an  („standesgemässem“)  Unterhaltsbedarf  vom  Einkommen 
bereits  eine  bedeutend  reichlichere  Bedürfnissbefriedigung  enthält,  welche 
insofern  eine  freiere  Verfügung  über  die  Güter  darstellt. 

Beide  Berechnungen  des  Unterhaltsbcdarfs  und  des  freien  Einkommens,  welche 
für  viele  sociale  und  wirtschaftliche  Probleme  von  grosser  Wichtigkeit  sind,  setzen 
eine  gute  Statistik  der  Privat h aushalte  voraus.  An  dieser  fehlt  es  noch  sehr, 
sie  bietet  auch  grössere  Schwierigkeiten,  als  mau  im  ersten  Augenblick  zu  meinen 
pflegt.  Besonders  wichtig  sind  für  die  Beurtheilung  der  Lage  der  unteren  arbeitenden 
Classen  Haushaltbudgets  von  Arbeiterfamilien.  Aeltere  Daten  darüber  in  Ducp6- 
tiaux  budg.  6conom.  des  classes  ouvriüres  en  Belgique,  1855,  Le  Play,  les  ouvriers 
europeens,  1855;  die  Auszüge  daraus  und  die  Bearbeitung  des  Materials  in  E.  E ng  el’s 
schöner  Arbeit  Uber  Consumtionsverhältnisse  in  d.  Zeitschr.  d.  Sächs.  Statist.  Büreaus 


410  3.  B.  Wirtlisch,  u.  Volliswirthsch.  3.  K.  Ertrag  u.  Einkommen.  1.  A.  §.  174,  175. 


1S57,  S.  153  fl.  Neueres  Material  zerstreut  in  den  Schriften  über  die  Arbeiterfrage, 
in  der  „Concordia“,  Zcitschr.  f.  d.  Arbeiterfrage,  für  landwirtschaftliche  Arbeiter 
in  der  Enquötearbeit  des  deutschen  landwirtschaftlichen  Congresses  „Die  Lage  der 
ländichcn  Arbeiter  iin  Deutschen  Reiche“,  herausgegeben  von  v.  d.  Goltz,  Berlin 

1875,  freilich  nicht  detaillirt  genug.  (S.  darüber  Laspeyres  in  d.  Tüb.  Zeitschr. 

1876. )  ln  neuester  Zeit  ist  das  bezügliche  Material  vermehrt  und  verbessert  worden. 
Vergl.  V.  Böhmert,  im  Art.  Arbeitslohn  im  Handwörterbuch  der  Staatswiss.  B.  I, 
S.  712;  daselbst  Litteratur  S.  722  Die  neueren  Schriften  über  Arbeiterverhältnisse, 
auf  Grund  realistischer  Studien,  enthalten  öfters  auch  derartige  Berechnungen.  S.  Tüb. 
Zcitschr.  1879.  B.  37  S.  147,  B.  38  S.  133  (von  Schnapper).  Bes.  Schnapper- 
Arndt,  fünf  Dorfgemeinden  auf  dem  hohen  Taunus,  Leipz.  1893.  Weiteres  darüber 
in  der  practischen  Nationalökonomie  (gewerbliche  und  landwirthschaftliche  Arbeiter- 
verhältnisse). S.  auch  meine  Finanzwiss.  I.  3.  Aufl.  S.  365.  — Für  allgemeine 
volkswirtschaftliche  Fragen  und  Steuerfragen  bedarf  es  aber  ebenso  sehr  Haushalt- 
budgets der  ü brigen  Gesellschaftsclassen,  worüber  noch  weniger  Material  vorhanden, 
was  bei  der  nicht  genügenden  Buchführung  auch  dieser  Classen  und  bei  der  Scheu, 
über  ein  solches  Gebiet  persönlicher  Verhältnisse  Mitteilungen  zu  machen,  nicht  zu 
verwundern  ist.  Einige  Beispiele  in  dem  Buche  von  0.  v.  Leixncr,  sociale  Briefe 
aus  Berlin.  Berl.  1890. — Wichtig  ist  diese  Statistik  auch  für  die  Beamtcn-Besol- 
dungsfrage,  wie  ich,  mit  Anführung  einiger  statistischer  Daten,  in  der  Finanzwiss.  I. 

з.  A.  §.  161  nachgewiesen  habe.»  Vergl.  auch  E.  Laspeyres,  Kathedersocialisten 

и.  d.  Statist.  Congresse.  Berl.  1875,  S.  22  ff. 

Ein  höheres  freies  Einkommen  ist  die  Quelle  besserer  Lebenslage, 
gewährt  daher  wesentlich  die  Möglichkeit,  die  nothwendigen  Bedürf- 
nisse (die  Existenzbedürfnisse)  reichlicher  und  besser,  die  Cultur- 
und  Bildungsbedürfnisse  überhaupt  in  etwas  beträchtlicherem  Um- 
fange befriedigen,  unentgeltliche  Hingabe  von  Gütern  in  wirksamem 
Umfange  vornehmen,  Privatkapital  mit  geringeren  persönlichen 
Opfern  und  in  bedeutenderer  Höhe  bilden,  endlich  Steuern  an  den 
Staat  und  die  Zwangsgemeinwirthschaften  leichter  entrichten  zu 
können.  Die  individuelle  und  familienweise  Steuerfähigkeit  be- 
misst  sich  wesentlich  nach  dem  freien  Einkommen.  Vom  Stand- 
puncte  der  Volkswirthschaft  aus  wird  daher  auch  bei  den  un- 
günstigst Situirten  das  Vorhandensein  und  wenigstens  eine  gewisse 
Höhe  des  freien  Einkommens  zu  wünschen  sein,  die  Gleichheit 
des  freien  Einkommens  Aller  deshalb  noch  keineswegs. 

Vgl.  unten  Buch  4 und  Finanzwissenschaft  II.  2.  A.  §.  183  ff. 

Die  Anwendung  des  Begriffs  des  freien  Einkommens  auf  andere  Einzelwirth- 
schaften,  als  die  Individual-  und  Familicnwirthschaften , hat  keinen  Sinn,  weil  hier 
(auch  beim  Staate)  der  Begriff  des  nothwendigen  Bedarfs  nicht  anwendbar  ist. 
Wohl  aber  lässt  sich  vom  freien  Einkommen  des  Volks  und  schliesslich  der  Bevöl- 
kerung der  Erde  sprechen  (s.  §.  179). 


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411 


2.  Abschnitt. 

Ertrag  der  Volkswirtschaft  und  Volkseinkommen. 

§.  175.  Vorbemerkungen  und  Litteratur. 

S.  auch  die  Litteratumach weise  in  deu  Vorbemerkungen  §.  170.  Besonders  Kau, 
§.  71a,  245 — 250.  Roscher,  §.  146,  147  (hier  besonders  Dogmengeschichtliches), 
Hermann,  S.  589  fl'.,  597,  v.  Mangoldt,  Grundr.  §.  91,  Volkswirtschaftslehre 
bcs.  S.  316  fr.  Von  der  älteren  Litteratur:  A.  Sinith,  wealth  of  nations  b.  II., 
ch.  2,  Ricardo,  principles  of  political  economy  ch.  26.  Gauilh,  syst,  d’econ.  pol. 
(Par.  1809)  I,  213,  J.  B.  Say,  traitö  decon.  polit.  I,  II,  ch.  5,  10  (6d.  1S41,  bes. 
p.  354).  Fulda,  Uber  Nationaleinkommen,  Stuttg.  1S05.  Fortschritt  bei  Sismondi, 
Nouv.  princ.  I.  1.  2,  ch.  4 pass,  ch.  5.  ch.  6 pass..  II,  I.  6 ch.  2 pass.,  Storch, 
Betrachtungen  über  die  Natur  des  Nationaleinkommens,  deutsch,  Halle  1825,  Bern- 
hardi,  Kritik  d.  Gründe  f.  gr.  u.  kl.  Grundeigenth.,  §.  14 — 16.  Schmoller  a.  a.  0. 
Abschn.  1.  — Neumann  im  Schönberg’schen  Handb.  3.  A.  I,  S.  172  (Unterschei- 
dung noch  weiter  zwischen  Bevölkerungs-  und  Volkseinkommen):  Mithoff  im  Hand- 
buch eb.  S.  579.  Besonders  jetzt  Rob.  Meyer.  Einkommen,  namentlich  §.  11 — 13. 
ders.  im  Handwörtcrb.  d.  Staatswissenschaften,  Art.  Einkommen,  B.  III,  S.  53  ff. 
(mit  Kritik  der  Berechnungsmethoden  und  Auszügen  aus  neueren  statistischen  Berech- 
nungen); eb.  S.  67.  Uebersicht  der  betreffenden  statistischen  Litteratur. 

Aoltere  statistische  Berechnungen  des  gesammten  Volkseinkommens  und  seiner 
Hauptbestandtheile  und  Quellen  nach  Moreau  de  Jonnes,  Revue  encyclop.  XXV., 
239,  549,  878;  ders.  Statist,  de  Tagricult.  de  la  France  1848;  ders.  Statist,  de  la 
Gr.-Brit.  1838,  I,  312;  deLavcrgne  essai  snr  l’öcou.  rur.  de  TAnglet  p.  77  fl'.; 
Quart.  Review,  1850  N.  170,  S.  437 ; P obrer  Hist,  financ.  etc.  de  l'ernp.  Britann. 
1S34  II.,  90;  Lowe,  England  nach  s.  gegenwärt.  Zustande;  Chaptal,  de  l’industr. 
franc.,  de  Laveleye,  essai  sur  l’t;con.  rur.  de  la  Belg.  p.  313,  Schnitzler  creat. 
de  la  rieh.  I,  19,  392,  auszugsweise  bei  Rau.  S.  Aufl.  S.  247 — 250. 

Alle  solche  Schätzungen  des  Volks-  oder  Nationaleinkommens  und  kaum 
weniger  die  noch  häufigeren  des  Volksvcrmögens  sind  durchaus  unsicher  und 
grade  in  der  Neuzeit  trotz  oder  richtiger  wegen  der  Fortschritte  der  exacten  Statistik 
immer  mehr  als  unbrauchbar  erkannt  worden.  Aus  diesem  Grunde  sind  sogar  Ver- 
suche solcher  Schätzungen  eine  Zeit  lang  seltener  geworden.  Doch  scheint  die  Nei- 
gung dazu  jetzt  wieder  stärker  zu  worden.  So  finden  sich  z.  B.  Daten  über  den  Werth 
des  Realbesitzes,  Viehstands  und  Ackergeräths  für  Oesterreich  von  v.  Czörnig 
und  in  den  amtl.  Statist.  Jalirb.,  im  Auszug  bei  Kolb,  Handb.  d.  vergleich.  Statist. 
7.  Aufi.,  Leipz.  1S75,  S.  310  ; ebendas.  S.  371  amtliche  Schätzungen  des  Bodenwerths 
und  Reinertrags  des  Grundbesitzes  in  Frankreich;  eb.  S.  451  Werth  des  ganzen 
Nationalvermögens  in  Grossbritannien  und  Irland;  eb.  S.  533  sogar  für  Russ- 
land (nach  v.  Buschen);  eb.  S.  73<>  für  Nordamerica  (nach  Berichten  des 
Schatzsecretärs).  Meistens  nur  grosse  blendende  Zahlen,  vielfach  mit  der  Unrichtig- 
keit oder  grössten  Zweifelhaftigkeit  beim  ersten  Anblick  und  zumal  bei  ein  wenig 
Kritik.  Vollends  die  Schätzungen  des  Volksvermögens  von  Staaten  früherer  Zeit, 
wie  sie  Böckh  (Staatsbausb.  der  Athener,  2.  Aufl.  I,  642)  für  Athen  augestellt 
(30— 40000  Talente  ohne  das  steuerfreie  Staatsgut),  haben  natürlich  gar  keinen  Werth 
und  würden  von  einem  Statistiker  und  Nationalökonomen,  der  die  Schwierigkeit  in  der 
Gegenwart  kennt,  schwerlich  nur  versucht  werden.  Büchsenschutz,  S.  589,  stimmt 
dem  mit  Recht  bei. 

Trotz  aller  Mängel,  — die  hier  zum  Theil  wegen  der  Umgehungstendenz  bei 
Steuern,  bezw.  der  ungenügenden  Einschätzung,  wie  z.  B.  in  Preussen  bis  1891, 
auch  nach  der  ganzen  Veranlagungsmethode  und  Einrichtung  der  Einkommensteuer, 
wie  in  Gross-Britannien,  Italien  selbstverständlich  sind  — möchten  die  Schätzungen 
des  Volkseinkommens  nach  den  Daten  der  Einkommensteuer-Schätzungen  oder 
Declarationen  immer  noch  die  relativ  weniger  unbrauchbaren,  verglichen  mit  den  Er- 
gebnissen andrer  Schätzungsmethoden  sein,  namentlich  auch  was  die  wichtigere  Frage 
der  Verthcilung  des  Volkseinkommens  anlangt,  so  die  britischen,  selbst  die 
bisherigen  Daten  der  preussischen  Classcn- und  classificirten  Einkommensteuer,  die 
auch  nach  Engel’s  Ansicht  in  seinem  Aufsätze  über  die  Classensteuer  u.  s.  w.  und 
die  Einkommenvertheilung  in  Preussen,  im  Jahrg.  1875  der  Zeitschr.  des  Preuss. 


412  3.  B.  Wirthsch.  u.  Volkswirthsch.  3.  K.  Ertrag  u.  Einkommen.  2.  A.  §.  175 — 177. 

Statist.  Büreaus,  nicht  so  unbrauchbar  sind,  als  Nasse,  Schm  oll  er  u.  A.  m.  an- 
nehmen, wenn  auch  die  neuste  Veranlagung  der  Einkommensteuer  nach  dem  neuen 
Gesetz  in  1 S92  bereits  die  Annahme  besonders  der  Unterschätzung  der  wohlhaben- 
deren Leute  in  Preussen  bestätigt,  und  ein  von  mir  seit  lange  angegriffenes  Vorgehen 
Sötbcers,  bei  den  grossen  Einkommen  znr  Richtigstellung  kleinere  (10°/o),  bei  den 
kleineren  grössere  (25  %)  Zuschläge  zur  Einschätzuugsziffer  zu  machen,  als  unhaltbar 
erwiesen  hat.  Eher  umgekehrt  wäre  es  richtig  gewesen.  Ferner  die  Daten  von  Ham- 
burg, Bremen,  besonders  vom  Königreich  Sachsen,  Hessen,  Baden,  von 
schweizer  Cantoneu  (Basel)  u.  s.  w.  S.  D.  Baxter,  nat.  income  of  the  United 
Kingdom,  Lond.  18(58.  Giffcn,  recent  accumulation  of  the  Capital  of  the  United 
Kingdom  in  dem  Journ.  of  the  Statist,  societv,  1878,  ders.  ebendas.  1883,  1SS6,  jetzt 
in  seinen  essays  in  finance.  2.  vol.  Lond.  1880  und  1886.  Wesentlich  auf  Grund  der 
Einkommensteuerdaten,  mit  gewissen  Berichtigungen  und  Ergänzungen,  wird  hier  das 
britische  Volksvcrmögen  veranschlagt:  1865  auf  0113,  1875  auf  8548  Mill. 
Pf.  St.,  p.  Kopf  204  u 260  Pf.  Auszug  in  d.  Statist.  Correspond.  v.  Engel,  1878 
N.  38.  — In  Frankreich  hat  man  neuerdings  wieder  aus  dem  Kapitalwerth  der 
Erbschaften,  nach  den  Daten  der  im  Enregistrement  mit  enthaltenen  Erbschaftssteuer 
(s.  meine  Finanzwiss.  B.  3 §.  241  ff.)  einige  Schlüsse  auf  die  stark  aufsteigende  Be- 
wegung des  Voiksvermögens  zu  ziehen  gesucht.  (L.  Say,  Bull,  de  Stat.  et  de  IcgisL 
comp.  vol.  1 u.  3,  im  Auszuge  in  d.  Stat.  Corresp.  1877  N.  5.)  Auch  nnr  unsichere 
Schlüsse,  wie  schon  aus  der  rapiden  Vermehrung  in  damaliger  Zeit  folgen  möchte. 
Kapitalwerth  der  Erbsch.  1826  1337,  1850  2025,  1870  3872.  1S74  3931,  1877  (vor- 
läuf  Berechn.)  4702  Mill.  Fr.  Einige  weitere  Daten  bei  Fr.  X.  v.  Neumann,  Ueber- 
sichten  u.  s.  w.  Jahrg.  1878,  S.  2 ff.  und  in  den  folgenden  Bänden,  so  Jahrg.  1883 — 84 
(Stuttg.  1887)  S.  10  ff.  S.  auch  Rob.  Meyer  im  Handwörterbuch,  üeber  Preussen 
besonders  Sötbeer,  Arb.freund  1875.  Auch  verschiedene  Artikel  von  ihm  über 
Preussen  und  England  im  D.  Handelsblatt.  Ferner  seine  Schrift  Umfang  und  Ver- 
theilung  des  Volkseinkommens  im  preuss.  Staate,  1879,  sowie  Aufsätze  in  Conrad’s 
Jahrb.  B.  52  (1889),  in  der  Volkswirtbsch.  Vierteljabrschr.  (auch  über  Sachsen,  Gr.- 
Britannicn)  1884  B.  81,  1887 — 88,  B.  96 — 98,  1891  B.  109.  Ueber  Sachsen  Zcit- 
schr.  des  sächs.  stat.  Bur.  mehrfach,  bes.  Jahrg.  1890.  — Heil,  Resultate  der  Ein- 
schätzung zur  Einkommensteuer  in  Hessen,  Sachsen,  Hamburg,  Jena  1888.  Material  auch 
in  d.  Preuss.  stat.  Ztschr.  (1875,  1879),  Hamburger  amtl.  Statistik  u.  s.  w.  Eine  ganz 
vorzügliche  Bearbeitung  des  steuerstatistischen  Materials  für  Basel  hat  K.  Bücher, 
Basel's  Staatseinnahmen  und  Steuervcrtheilung,  Basel  1888,  geliefert.  Vergl.  die  ver- 
schiedenen Angaben  von  Rob.  Meyer  im  Handwörterbuch.  — Zur  Kritik  s.  österr. 
stat.  Monatsschr.  B.  XIII,  und  speciell  zur  Kritik  Sötbcers  v.  Heyking  in  d.  Tüb. 
Ztschr.  B.  36,  1880,  S.  164  ff.  Vorschläge  zur  Statist.  Ermittlung  im  Compte  rendu 
des  Statist.  Congresses  im  Haag  1869. 

Eine  eigenthümliche  Stellung  nimmt  das  beachtenswerthe  Buch  von  H.  Losch, 
Volksvermögen,  Volkseinkommen  und  ihre  Vertheilung,  Leipz.  1888  (Schmoller,  For- 
schungen, VII,  I)  ein:  ein  Versuch  einer  Revision  auch  der  in  Betracht  kommenden 
theoretischen  Grundlagen  für  statistische  Berechnungen,  mit  dem  Bestreben,  die  ver- 
schiedenen Factoren  aufzusuchen,  welche  für  den  organischen  Charactcr  der  Volks- 
wirtschaft. des  Volksvermögens  und  Volkseinkommens  maassgebend  sind.  Bei  man- 
chem Guten  fehlt  aber  Klarheit  und  Schärfe  der  principiellcn  Erörterungen,  weshalb 
auch  die  Ergebnisse  nur  mit  Vorsicht  anzunehmen  sind. 

Umfassendere  Mittheilungen  statistischer  Daten,  auch  der  hier  berührten,  liegen 
nach  dem  theoretischen  Character  dieses  Werks  ausserhalb  unserer  Zwecke. 

Ueber  die  Methoden  der  Schätzung  des  Volkseinkommens  s.  § 177  und  Rob. 
Meyer  a.  a.  0.  Bis  jetzt  ist  es  wohl  richtiger,  das  offene  Zugcständniss  zu  machen, 
dass  die  Statistik  mit  ihren  gegen wärtigen  Hilfsmitteln  und  Daten  keine  hin- 
länglich brauchbare  üebersicht  des  Volkseinkommens  und  Volksvermögens,  im  Ganzen 
und  nach  den  einzelnen  Bestandtheilen  und  vollends  nach  deren  Tauschwerth,  geben 
kann.  — Vgl.  auch  über  eino  statistische  Aufgabe,  welche  mit  der  Zusammenstellung 
und  Schätzung  des  Volkseinkommens  enge  zusammenhängt  und  dabei  besondro 
Schwierigkeiten  macht,  nemlich  über  die  Berechnung  der  internationalen  Zahlungs- 
und  speciell  Handelsbilanz,  den  Aufsatz  von  Sötbeer  in  Hirth’s  Annalen,  1875, 
S.  731  11'.  (in  Anknüpfung  an  die  neue  deutsche  WeTthstatistik  des  auswärtigen  Han- 
dels). S.  besonders  den  Entwurf  zur  Aufstellung  der  internationalen  Zahlungsbilanz 


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Ertrag  der  Volkswirthsch.  Volkseinkommen. 


413 


S.  773.  Ferner  v.  Scheel,  Berechnung  der  Handelsbilanz  in  Schmoller’s  Jahrb.  XIII, 
lSb9,  S.  9S3. 

Ein  Hauptfehler  besonders  der  älteren  Theorie  war  in  der  Frage  vom  Volks- 
einkommen die  Confusion  in  Betreir  der  Kosten  im  einzel-  und  im  volkswirtschaft- 
lichen Sinne.  Alle  statistische  Ermittlung  muss  sich  auch  auf  Arten,  Sorteu, 
Qualitäten  und  Tauschwerte  und  zwar  vornemlich  von  Sachgütern  beschränken, 
während  cbon  auch  persönliche  Dienste,  „Verhältnisse“  und  Gebrauchswerthschätzung 
in  Betracht  kommen. 

I.  — §.  176  [86].  Anwendung  der  erörterten  Be- 
griffe aus  dem  Wirthschaftsbetrieb  auf  die  Volks, 
wirthsebaft.  Die  Begriffe  der  Ein-  und  Ausgänge,  Einnahmen 
und  Ausgaben,  Ertrag,  Roh-  und  Reinertrag  lassen  sieb  auch  auf 
die  als  ein  Ganzes  gedachte  Volkswirthschaft,  die  Begriffe 
Einkommen  und  freies  Einkommen  zwar  nach  dem  oben  fest- 
gestellten Sprachgebrauch  besser  nicht  auf  die  Volkswirthschaft, 
das  Ertrag  gebende  Object,  wohl  aber  auf  das  Volk,  das  den 
Reinertrag  beziehende  Subject,  anwenden. 

Welche  einzelne  Posten  von  wirtschaftlichen  Gütern  unter  die  einzelnen  ge- 
nannten Begriffe  in  der  Volkswirthschaft  sich  reihen,  bedarf  für  mehrere  der  hierher 
gehörigen  Fälle  keiner  besonderen  Darlegung.  Selbstverständlich  umfassen  die  Ein- 
und  Ausgänge  der  Volkswirthschaft  auch  die  durch  den  Credit  mit  anderen  Volks- 
wirtschaften oder  richtiger  mit  den  Einzelwirtschaften  (incL  derjenigen  des  Staats) 
in  ihnen  ausgewechselten  Güter.  Die  zwischen  inländischen  Einzelwirtschaften 
(ebenfalls  incl.  des  heimischen  Staüts)  durch  den  Credit  bewegten  Güter  compensiren 
sich  für  die  Volkswirthschaft  als  Ganzes.  Andrer  Moinung  ist  Fr.  J.  Neumann, 
Tüb.  Zeitschrift  B.  2b,  303:  es  sei  unrichtig  anzunehmen,  die  Rechtsansprüche  und 
Forderungen  der  Volksangehörigen  unter  einander  seien  für  die  Grösse  des  Volks- 
vermögens gleichgültig.  Das  allerdings  nicht,  wie  z.  B.  beim  Productivcredit  deutlich 
wird.  Aber  wie  veranschlagen? 

II.  — §.  177  [87].  Ermittlung  und  statistische  Er- 
fassung von  Roh-,  Reinertrag  der  Volkswirthschaft 
und  Volkseinkommen.  Durch  eine  hierauf  bezügliche  Er- 
örterung wird  besser  als  durch  eine  vorausgeschickte  formale  De- 
finition Wesen  und  Begriff  dieser  Thatsachencomplexe  klar  ge- 
macht. Daher  wird  das  hier  zuerst  ins  Auge  gefasst. 

Man  kann  dabei  ohne  und  mit  Rücksicht  auf  die  Einzelwirth- 
schaften,  welche  die  Erträge  erwerben  und  über  das  Einkommen  ver- 
fügen, Vorgehen  und  danach,  wie  man  es  genannt  hat,  eine  reale 
(„objecti ve“)  und  eine  personale  („subjective“)  Methode  der 
Ermittlung  und  Erfassung  unterscheiden.  Zwischen  beiden  sind 
Combinationen  verschiedener  Art  möglich,  in  der  Praxis  mit  Rück- 
sicht auf  die  nach  dem  Stand  der  amtlichen  Aufnahmen,  auch 
nach  der  Art  der  Steuergesetzgebung,  deren  Daten  zu  benutzen 
sind,  vorhandenen  Daten  öfters  allein  durchführbar,  was  daun 
„gemischte“  Methoden  giebt. 

Bei  der  realen  Methode  knüpft  die  Darstellung  an  die  Werth- 


414  8-  B.  Wirthsch.  u.  Volkswirthsch.  3.  K.  Ertrag  u.  Einkommen.  2 A.  §.  127. 

objecte  selbst  oder  an  die  G Itter m engen  an,  welche  den  Roh- 
und  Reinertrag  der  Volkswirtschaft  als  Ganzes  bilden;  bei  der 
personalen  Methode  werden  die  einzelwirthschaftlichen 
Reinerträge,  bez.  die  Einkommen  der  S u b j e c t e der  Einzel- 
wirtschaften summirt,  wo  dann  nur  die  Zusammenstellung  des 
Reinertrags  der  Volks wirthschaft  oder  des  Volkseinkommens 
stattfindet. 

Beide  Berechnungsarten  bei  Roscher  I,  §.  14G,  die  erste  bei  Rau  I,  §.  247 
die  zweite  (annähernd)  eb.  §.  248,  die  zweite  auch  bei  Hermann,  S.  590.  Nähere 
Beurtheilung  beider  Methoden  bei  v.  Mangoldt,  Volkswirtschaftslehre,  S.  316  ff. 
Roh.  Meyer,  Handwörterb.  a.  a.  0.  S.  auch  Heuschliug,  Journ.  de  Ecou.  XXVI 
(1872),  p.  575. 

A.  Erste  Art  der  Darstellung. 

1)  Der  Rohertrag  der  Volkswirtschaft  wird  in  einer  Periode 
(einem  Jahre)  gebildet: 

a)  von  der  Gesammtheit  der  in  dieser  Zeit  neu  im  Inlande 
erzeugten  wirtschaftlichen  Güter  aller  Art. 

Arten,  Sorten,  Qualitäten,  Quantitäten  dieser  Güter  müssen  daher  unterschieden 
werden  und  gekannt  sein.  Aber  auch  ..Dienste“,  Verhältnisse“,  „Einrichtungen“ 
(öffentliche,  Staat  u.  s.  w.)  in  Bezug  auf  ihre  Dienste  (§.  119)  gehören  hieher.  Da 
hier  vielfach  eine  Tausch-  oder  tieldwerthschätzung  gar  nicht  erfolgen  kann,  eine 
Gebrauchswerthschätzung  nicht  zu  vergleich-  und  messbaren  Grössen  führt,  ist  nicht 
nur  eine  Summirung  solcher  heterogenen  Werthgrössen  unmöglich,  sondern  es  ergiebt 
sich  auch , dass  das  ganze  Problem  der  Schätzung  des  Volks wirthschaftsertrags  und 
Volkseinkommens  eigentlich  practisch  unlösbar  ist.  Man  kann  nur  angeben,  welche 
Elemente  dazu  gehören.  (Vgl.  von  Heyking  a.  a.  0.,  auch  Losch’s  gen.  Buch). 

Allein  auch  bei  den  Sachgütern  ergeben  sich  überaus  grosse  Schwierigkeiten, 
die  wiederum  halbwegs  genügend  nicht  zu  lösen  sind,  weil  die  allein  anwendbare 
Methode , die  statistische , vielfach  practisch  den  Dienst  versagt.  Die  inländischen 
Rohstoffe  sind  vollständig  ihrem  Werthe  nach  einzusetzen.  Die  aus  solchen  und  aus- 
ländischen Stoffen  hergestellten  Gegenstände  (Industrieproducte,  Fabrikate),  um  einen 
volkswirtschaftlichen  Doppelansatz  der  Rohstoffe  zu  vermeiden,  nur  für  den  Betrag 
der  durch  die  Gewerksarbeit  erzielten  Wertherhöhung  (oftmaliger  Fehler  auch  der 
amtlichen  Statistik  der  Bergwerks-  und  Hüttenproduction).  Die  im  Handel  umge- 
setzten und  transportirten  Rohstoffe  und  Fabrikate  für  den  Betrag  der  dadurch  be- 
wirkten Wertherhöhung.  Aber  eben  diese  lässt  sich  zu  schwer  richtig  ermitteln. 

b)  Von  der  Einfuhr  von  Gütern  (Sachgütern,  Geld)  aus  dem 
Aus  lande  aus  dem  Titel  der  Renten  von  Forderungsrechten 
des  Inlandes  aus  Creditgeschäften  oder  der  Renten  von 
früheren  Kapitalanlagen  inländischer  Staatsangehöriger  im 
Auslande; 

c)  von  dem  mittelst  Einfuhr  ausländischer  Güter  reell  bezahlten 
Frachterwerb  der  inländischen  Rhederei  im  auswärtigen 
Handel  und  Zwischenverkehr ; 

d)  von  den  in  ßaar  und  in  Waaren  bestehenden  Ein- 
fuhren des  Auslandes  ins  Inland,  welche  als  Rimessen  für  die 
im  Inland  sich  aufhaltenden  Fremden  dienen  oder  von 


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Realo  Methode  der  Ermittelung  des  volkswirthsch.  Reinertrags.  415 

solchen  mitgebracht  werden,  — unter  heutigen  Verhältnissen~eine 
stehende  Rubrik  in  unseren  Volkswirtschaften; 

e)  von  der  gleichen  Einfuhr  aus  dem  Titel  unentgelt- 
licher Gaben,  z.  B.  Contributionen  des  Auslandes  an  das 
Inland,  Einwanderungsvermögen,  sobald  diese  Einfuhr 
einigermaassen  regelmässig  stattfindet. 

So  bei  dauernden  Tributverhältnissen  des  Auslands  an  das  Inland,  bei  dau- 
ernder Einwanderung.  Das  mitgebrachte  Vermögen  der  Einwanderer  kann  hier, 
z.  B.  im  Falle  der  nordamericanischen  Vereinigten  Staaten,  in  der  That  zu  den  regel- 
mässigen Einnahmequellen  des  Einwanderungslauds  gerechnet  werden,  eine  Quelle, 
welche  dem  Lande  deshalb  fliesst,  weil  es  durch  seine  (wirklich  oder  vermeintlich) 
günstigeren  gesammten  ökonomischen  und  socialen  Verhältnisse  den  Einwanderungs- 
strom an  sich  zieht.  Hier  werden  also  bleibende  Ursachen  der  Massenein-  und 
Auswanderung  vorausgesetzt  (vgl.  L.  Stein,  Verwaltungsrecht,  2.  Thl. , Inn.  Verw., 
S.  182  ff.  u.  im  1.  Thl.  meiner  Grundlegung  den  Abschn.  vom  Einwanderungsrecht).  — 
In  früheren  Zeiten,  z.  B.  im  griechischen  Alterthum,  später  in  einzelnen  islamitischen, 
in  asiatischen  Staaten  bildete  Seeraub,  anderswo  wieder  Kriegsbeute  eine  förm- 
lich regelmässige  Erwerbsquelle  der  heimischen  Bevölkerung.  — Einmalige 
Contributionszahlungen  des  Auslands,  z.  B.  als  Kriegsentschädigung , das  Vermögen 
vereinzelter  Einwanderer,  bilden  nur  zufällige  Einnahmen  und  Vermögensver- 
mehrungen und  sind  zum  Ertrag  der  Volkswirtschaft  nicht  zu  rechnen.  Gleiches 
gilt  von  Erbschaften  u.  dergl.  in.,  die  aus  dom  Auslande  in  concreten  Gütern  oder 
Geld  cingeheu. 

f)  Vom  etwaigen  Werthübe rschuss  der  im  internationalen 
Handel  erfolgenden  Waaren-  und  Geld  ein  fuhr  aus  dem  Aus- 
lande über  die  bezügliche  Ausfuhr. 

Wird  der  ganze  Betrag  der  Einfuhr  hier  eingesetzt,  so  muss  bei  dem  ersten 
Posten  (a)  von  dem  inländischen  Gütererzeugniss  die  daraus  stattfindende  Ausfuhr 
abgezogen  werden. 

Wenn  von  Rau,  Roscher  u.  A.  zum  Roherträge  der  Volkswirtschaft,  bez. 
wie  sie  es  nennen  zum  rohen  Volkseinkommen  die  ganze  inländische  Gütererzougung 
und  zugleich  die  Einfuhr  von  Gütern  aus  dem  Auslände  gerechnet  wird,  so  fiudot 
ein  Doppelansatz  statt,  welcher  auch  schon  bei  der  Berechnung  des  Rohertrags  un- 
richtig ist.  Es  genügt  daher  nicht,  mit  den  genannten  Autoren  den  Abzug  der  im 
Handel  erfolgenden  Güterausfuhr  erst  zur  Berechnung  des  reinen  Ertrags  oder  Ein- 
kommens vorzunebmen.  — Ueber  die  Differenzen  zwischen  dem  Werth  der  Waaren- 
ein-  und  Ausfuhr  der  Länder  und  die  besonderen  Ursachen  der  grösseren  Werthhöho 
der  Einfuhr  s.  Sötbeer  in  dem  gen.  Aufs.  Uber  Handelsbilanz;  eb.  auch  Uber  die 
ausserordentliche  Lückenhaftigkeit  unserer  früheren  deutschen  (Zollverein)  Ausfuhr- 
statisfik.  Vgl.  Uber  diesen  Gegenstand  auch  die  zahlreichen  fleissigen  und  instruc- 
tiven  Artikel  v.  E.  Laspeyres  im  Deutschen  Handelsbl.,  so  über  die  Handelsbilanz 
von  1877  im  Nov.  1878,  u.  v.  Scheel  a.  a.  0. 

g)  Vom  Werthbetrage  der  Nutzungen  des  Nutzver- 
mögens, cinzusetzen  in  Gemässheit  des  zweiten  Bestandtheils 
des  Einkommens  (§.  173). 

2)  Der  Rein  ertrag  der  Volkswirtschaft  ergiebt  sich  alsdann 
dadurch,  dass  folgende  Posten  vom  Rohertrag  abgezogen  werden: 

a)  Die  im  §.  172  unter  1,  c (S.  402)  genannten  eigentlichen  oder 
natürlichen  volkswirtschaftlichen  Productionskosten 


416  3.  B Wirthsch.  u.  Volkswirthsch.  3.  K.  Ertrag  u.  Einkommen.  2.  A.  §.  177. 

(im  ersten  dort  unterschiedenen  Sinne  des  Wortes):  die  Verwen- 
dungen für  die  Mitwirkung  der  Natur  bei  der  Production,  nicht 
aber  die  ebenfalls  in  §.  172  (unter  1,  a und  b)  besprochenen  bloss 
einzelwirthschaftlichen  Productionskosten,  welche  für  irgend  Jemand 
ein  Einkommen  bilden. 

Daher  namentlich  nicht,  wie  Kau  annahm,  „der  Lebensbedarf  der  hervor- 
bringenden Arbeiter  und  üntornehmer  mit  ihren  Familien“,  Posten,  welche  vielmehr 
durchaus  einen  Theil  (und  bei  Weitem  den  Hauptthoil)  des  Reinertrags  der 
Volkswirtschaft  oder  des  Volkseinkommens  bilden. 

Kau’ä  und  der  Aelteren,  d.  h.  insbesondere  Ricardo ’s  und  seiner  Schule 
damit  vielfach  übereinstimmende  Annahme  beruhte  auf  der  Vermengung  des  einzel- 
(privat-)  und  volkswirtschaftlichen  Gesichtspuncts  und  führte  zu  der  falschen  Con- 
struction  eines  nationalen  Reineinkommens,  das  wesentlich  nur  Uoberschuss- 
einkommen  der  besitzenden  Classen  war.  Daraus  sind  auch  für  wichtige  practische 
Kragen  falsche  Schlüsse  bervorge gangen,  besonders  im  St  euer  wesen  (Finanzwiss.  II. 
2.  A S.  314  IT.).  — S.  Ricardo ’s  übrigens  öfters  missverstandene  Lehre  in  seinen 
principles  ch.  26  Dazu  Bernhardi  a.  a.  O.  §.14  ff..  Mithoff,  a.  a.  0.  S.  579.  — 
Berichtigung  dieser  Irrthümer  erst  besonders  durch  Her  mann' s Einkommentheorie, 
a.  a.  0.  Vergl.  namentlich  den  Aufsatz  von  Schmolle r.  — Jener  Abzug,  den 
Rau  macht,  hat  nur  bei  der  Berechnung  des  freien  Volkseinkommens  stattzufinden, 
s.  u.  N.  4. 

Dagegen  sind  abzusetzen:  vom  Werth  weniger  noch  brauchbarer  Abfalle  ab- 
gesehen, der  Werth  der  Roh-  und  Hilfsstoffe  der  Production,  z.  B.  Saatkorn,  Vieh- 
futter, Streu  in  der  Landwirtschaft,  der  Verarbeitungsstoffe,  Brennstoffe,  Schmierstoffe 
in  der  Industrie,  den  Transportgewerben  (Eisenbahnen):  ferner  der  Werthbetrag  der 
Abnutzung  der  zu  mehreren  successiven  Productionen  dienenden  Kapitalien,  d.  h. 
der  sog.  stellenden  Kapitalien,  wie  Wirtschaftsgebäude , Maschinen,  Werkzeuge. 

b)  Die  Ausfuhr  von  Gütern  (Sachgütern,  Geld)  nach  dem 
Auslande,  aus  dem  Titel  der  Renten  von  Kapitalanlagen 
und  von  Forderungsrechten  des  Auslandes  aus  Credit- 
geschäften  im  Inlande. 

c)  Die  Güterausfuhr  als  Bezahlung  für  Frachterwerb  frem- 
der Rhederei. 

d)  Baar-  und  Waarensendungen  ins  Ausland  als  Rimessen 
für  dort  sich  auf  haltende  Inländer;  dgl.  von  solchen  mit  hinausge- 
nommene Güter  und  Gelder  (Reiseverkehr). 

e)  Die  Güter-  und  Geldausfuhr  aus  dem  Titel  unentgelt- 
licher, periodischer  Gaben  ans  Ausland  (Tribute;  nicht 
Auswanderung  vermögen). 

Dies  könnte  im  Widerspruch  zu  stehen  scheinen  mit  der  obigen  Einsetzung 
des  Einwanderungsvermögens  als  Posten  des  Rohertrags  der  Volkswirtschaft  des  Ein- 
w an d orerlands.  Aber  für  das  Auswanderungsland  liegt  die  Sache  auch  anders. 
Das  mitgenommene  Auswanderervermögen  ist,  zum  weituberwiegenden  Theilc  wenig- 
stens, kein  Bestandteil  des  in  der  betreffenden  Wirtschaftsperiode  gewonnenen 
Ertrags  der  Volkswirtschaft,  sondern  des  Vermögens  derselben,  muss  also  nur 
bei  einer  Volksvermögensbilanz,  nicht  bei  einer  Ertrags-  oder  Einkommensbilanz 
abgezogen  werden.  — Neben  dauernden  Tributen  sind  regelmässige  Zahlungen  an 
fremde  Untcrthancn  im  Auslande  (Bcstcchungsgehalte , wie  Seitens  Persiens 
an  Griechen,  Besoldungen  fremder  Gelehrter  unter  Ludwig  XIV. , Peterspfennige) 
zu  nennen. 


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Reale  Methode  der  Ermittelung;  des  volkswirthsch.  Keiuertrags.  417 

t)  Der  etwaige  Werthüberschuss  der  Handels-Aus- 
fuhr über  die  Einfuhr  im  auswärtigen  Verkehr. 

g)  Der  Werthbetrag  der  Abnutzung  des  Nutzvermögens. 

3)  Das  Volkseinkommen  besteht  in  diesem  Reinertrag 
der  Volkswirtschaft.  Es  lässt  sich,  nach  allem  Vorausgebenden, 
dann  begrifflich  bestimmen  als:  die  Summe  des  Werths  (Gebrauchs- 
bzw.  Tauschwerts)  aller  Art  wirtschaftlicher  Güter  (nicht  bloss: 
Sachgüter),  über  welche  ein  als  einheitliches  Ganzes  oder  als 
Person  und  insofern  als  Subject  seiner  Volkswirtschaft  ge- 
dachtes „Volk“  periodisch  regelmässig  zu  Genüssen  und  Nutzungen 
(sofortigen  oder,  wie  bei  der  Kapitalbildung  aus  dem  Einkommen, 
verschobenen)  in  einem  bestimmten  Zeitraum  (Jahr)  verfügt,  ohne 
Verminderung  des  im  Anfang  dieses  Zeitraums  vorhanden  ge- 
wesenen Werths  des  Volksvermögens,  daher  nach  Abzug  bloss  der 
volkswirtschaftlichen,  d.  h.  kein  Einkommen  einer  physischen 
Person  bildenden  Kosten  vom  Rohertrag  der  Volkswirtschaft. 

Ich  halte  diese  Auffassung  und  Begriffsbestimmung  auch  den  kritischen  Er- 
örterungen Neumann's  und  Robert  Meyer’s  gegenüber  aufrecht.  Die  Neumann’- 
sche  Unterscheidung  von  Bevölkcrungs-  und  Volkseinkommen  ist  nicht  geboten. 

4)  Das  freie  Volkseinkommen  umfasst  denjenigen  Theil  des 
Volkseinkommens  einer  Wirthschaftsperiode,  welcher  nach  Abzug 
des  nothwendigen  Unterhaltsbedarfs  — hier  berechnet 
auf  Grund  der  ersten  in  §.  174  angegebenen  Methode  — der 
ganzen  Bevölkerung,  auch  die  mit  zu  erhaltenden  nicht-erwerbenden 
Personen  inbegriffen,  — weshalb  z.  B.  Armensteuern  u.  dgl. 
hier  vom  Volkseinkommen  abzusetzen  sind  — übrig  bleibt. 

Dio  Berechnung  des  Roh-  und  Reinertrags  der  Volkswirtschaft  und  des  Volks- 
vermögeus  kann  wieder  N aturalrechnung  und  Geldrechnung  sein  (§.  161).  Die 
erstere  hat  aber  gerade  hier  grösseren  practischen  und  wissenschaftlichen  Werth. 

Die  ältere  Streitfrage,  ob  der  Rohertrag  oder  der  Reinertrag  der  Volkswirt- 
schaft der  wichtigere  sei.  kann  auf  Grund  der  neueren  berichtigten  Theorie  des  Ein- 
kommens überhaupt  und  des  Volkseinkommens  speciell  als  müssig  betrachtet  werden. 
Denn  wenn  vom  Reinertrag  der  Volkswirtschaft  nicht,  wie  früher  vielfach,  bereits 
irgendwelche  Gütcrconsuintioncn  von  Menschen  abgezogen  sind,  so  versteht  sich  von 
selbst,  dass  der  Reinertrag  das  allein  richtige  Moment  ist  Vergl.  auch  Hermann, 
S.  5Ü5  ff.,  Roscher  I,  §.147,  Schmollor,  a.  a.  0.  Die  Controverse  konnte  nur 
entstehen  bei  der  Vermengung  des  einzel-  oder  privat-  mit  dem  volkswirtschaftlichen 
Gesichtspa  ncte. 

B.  — §.  178  [88].  Zweite  Art  der  Darstellung  und 
Berechnung  des  Volkseinkommens  oder,  wieder  damit 
zusammenfallend,  des  wahren  Reinertrags  der  Volkswirtschaft. 

Sie  erfolgt  in  der  Weise,  dass  die  sämmtlichen  Einkommen 
inländischer  Einzelwirthschaften,  aus  in-  wie  aus  aus- 

A.  Wagner,  Grundlegung.  8.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlagen.  27 


418  3.  B.  Wirthscb.  u.  Volkswirtbsch.  3.  K.  Ertrag  a.  Einkommen.  2.  A.  §.  17S. 


ländischem  Erwerbe,  summirt  und  von  dieser  Summe,  um  Doppel- 
rechnung zu  vermeiden,  die  von  anderen  inländischen  Wirtschaften 
an  den  Staat  und  die  übrigen  öffentlichen  Gemeinwirthschaften 
entrichteten  Beiträge  und  Steuern  in  Abzug  gebracht  werden, 
sowie  dass  das  Einkommen,  welches  physische  Personen  aus  Er- 
werbs- und  ähnlichen  Gesellschaften  (Genossenschaften)  be- 
ziehen, nur  einmal,  entweder  nur  bei  letzteren,  als  selbständigen 
Einzelwirtschaften , oder  gleich  bei  den  physischen  Personen,  als 
deren  oder  als  Theil  ihres  Einkommens,  gerechnet  wird. 

Ueber  dio  Behandlung  der  Steuern  ebenso  Hermann,  S.  590,  wogegen 
Roscher,  §.  146,  zwar  neben  dem  „reinen  Einkommen  der  selbständigen  Privat- 
wirthschaften“  auch  nur  das  „reine  Einkommen  des  Staats,  der  Gemeinden,  Corpora - 
tionen,  Stiftungen,  welches  dem  eigentümlichen  Vermögen  entspringt“,  aufführt, 
dann  aber  doch  gleich  darauf  hinzufügt:  von  Steuern  gelte  nicht  der  Satz  wie  vou 
Schuldziuson,  dass  sie  bloss  auf  Seiten  des  Gläubigers  aufgeführt,  auf  Seiten  des 
Schuldners  aber,  um  error  dupli  zu  vermeiden,  abgezogen  würden,  „weil  die  Unter- 
thanen  des  guten  Staats,  die  Gläubigen  der  guten  Kirche  wirklich  neue  und  minde- 
stens gleichwerthe  Güter  dadurch  erkauften“.  Letzteres  ist  gewiss  ganz  richtig  und 
Roscher’s  Schluss,  wonach  die  Staats-  und  Kirchenleistungen  als  Einkommeutheile 
der  Privaten,  im  W'crthe  der  Steuerzahlung  der  letzteren,  angesetzt  werden,  erscheint 
in  einer  Hinsicht  auch  als  Consequenz  der  Einreihung  der  Leistungen  in  die  wirt- 
schaftlichen Güter.  Indessen  lässt  sich  anderseits  doch  mit  Fug  cinwenden,  dass 
schliesslich  alle  solche  Berechnungen  des  Volkseinkommens  nur  erfolgen,  um  die  Lage 
der  physischen  Personen  beurteilen  zu  können  und  für  diese  physischen  Personen, 
d.  b.  in  der  Hauptsache  für  die  Subjecte  der  Privatwirtschaften,  die  Beiträge  und 
Steuern  an  die  juristischen  Personen,  an  Staat  und  Gemeinwirthschaften,  nicht  Ein- 
kommen, sondern  Ausgaben  sind,  was  bei  der  Berechnung  des  Volkseinkommens, 
d.  h.  eben  doch  schliesslich  des  Einkommens  einer  bestimmten  Anzahl  Menschen 
(nicht  schlechtweg  „Einzelwirtschaften“)  den  im  Texte  vorgenommenen  Abzug  der 
Steuern  u.  s.  w.  bei  den  Gemeinwirthschaften  u.  s.  w.  rechtfertigt.  Man  könnte  das 
Einkommen  der  Gemeinwirthschaften , einschliesslich  des  Staats,  aus  Beiträgen  und 
Steuern  andrer  Einzelwirtschaften,  etwa  abgeleitetes  Einkommen  nennen,  in 
einem  richtigeren  Sinne,  als  dieser  Ausdruck  früher  gebraucht  wurde  (s.  §.  173  am 
Schluss).  Vgl.  übrigens  auch  Rob.  Meyer,  Einkommen,  bes.  §.  12,  S.  243  ff.  und 
im  Handwörterbuch  III,  55  (teilweise  abweichend);  ferner  Neu  mann  und  Mit- 
hoff a.  a.  0. 

Die  Bemerkung  betreffs  der  Gesellschaften  (Zusatz  gegen  die  2.  A.  S.  125) 
ist  auch  mit  durch  die  neueren  theoretischen  und  practischen  Streitigkeiten  über  die 
Behandlung  dieser  oder  bestimmter  Kategorieen  dieser  Gesellschaften  (besonders  der 
Actiengesellschaften)  in  der  Einkommensteuer  veranlasst;  ob  sie  als  „selbständige“ 
Personen  mit  „eigenem“  Einkommen  und  das,  was  von  ihnen  an  die  Berechtigten 
(z.  B.  dio  Actionäre  als  Dividende)  noch  einmal  als  eigenes  Einkommen  dieser  letz- 
teren anfzufassen  seien  oder  nur  Ein  Einkommen  angenommen  werden  könne  (vergl. 
meine  Finanzwiss.  II,  2.  A.  S.  417  ff.  und  meine  Abh.  im  Schanz’schen  Finanzarchiv 
1891,  II,  S.  179  ff.).  Die  zweite  Auffassung  ist  die  richtige  und  ihr  gemäss  bei  der 
Ermittlung  des  Volkseinkommens  wie  angegeben  zu  verfahren. 

Die  Schuldzinsen  und  ähnlicho  Zahlungen  erscheinen  hier  bei  dem  Ein- 
kommen des  Empfängers  (auch  die  aus  dem  Ausland  kommenden  beim  inländischen) 
eingesetzt,  wie  sie  ja  auch  nicht  zum  Einkommen  des  zahlenden  Schuldners  ge- 
hören. Die  an  Ausländer  gelangenden  Schuldzinscn , daher  auch  diejenigen,  welche 
der  inländische  Staat  ins  Ausland  zu  zahlen  hat,  müssen  dabei  ebenfalls  schon  nach 
dem  Einkommenbegriff  abgezogen  worden  sein.  D.  h.  also,  folgerichtiger  Weise, 
das  Einkommen  des  Staats,  der  Gemeinden,  vieler  Erwerbsgesellschaften  (Eisen- 
bahnen, Banken;  Actienbethciligung  muss  hier  der  Betheiligung  als  kapital- 
Iffihender  Gläubiger  gleichgestellt  werden)  ist  für  diesen  Zweck  der  Be- 


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Personale  Methode  der  Entwickelung  des  volkswirthsch.  Reinertrags  419 

rechnung  des  Volkseinkommens  nur  mit  dem  durch  Schuldzinsen  und 
Dividenden,  welche  ins  Ausland  gehen,  verringerten  Betrag  einzusetzen. 
Ein  nicht  unwichtiger  Punct,  um  die  Lage  stark  ans  Ausland  verschuldeter 
Staaten,  wie  Oesterreich,  Italien,  Russland,  früher  Vereinigte  Staaten  u.  a.  m., 
richtig  zu  beurtbeilen.  Bei  Privaten  ist  dies  nicht  erst  noch  besonders  hervorzu- 
heben, denn  die  von  ihnen  gezahlten  Schuldzinsen  gehören  als  einzelwirthschaftlicbe 
Productionskostcn  nicht  zu  ihrem  Einkommen  und  gelangen  bei  der  obigen  zweiten 
Berechnung  des  Volkseinkommens  ohnehin  nicht  zum  Ansatz,  wenn  sie  an  Ausländer 
im  Auslande  gezahlt  werden, 

Unserem  Einkommenbegriffe  gemäss  sind  die  Nutzungen  des  Nutzvermögens 
auch  im  Einkommen  der  Einzelnen  schon  enthalten,  brauchen  also  bei  dieser  Berech- 
nung des  Volksvermögens  nicht  mehr  besonders  aufgeführt  zu  werden. 

Die  Summe  der  Wirtb scbaftsüberschüsse  aller  in- 
ländischen Einzelwirtschaften  am  Ende  einer  Periode  ist  dann 
wieder  identisch  mit  der  dauernden  Vermehrung  dea 
Volksvermögens. 

Statistisch  lassen  sich  beiderlei  Ermittlungen  der  Erträge 
der  Volkswirtbschaft  und  des  Volkseinkommens,  die  reale  und  die 
personale  Methode,  durchfuhren,  wenn  es  möglich  ist,  die  erforder- 
lichen Daten  zu  gewinnen.  Aber  in  dieser  Hinsicht  muss  man  für 
jetzt  noch  in  erheblichem  Maasse,  wohl  für  immer  in  gewissem 
Grade  sich  resigniren  und  daher  auch  den  von  verschiedenen 
Statistikern  angestellten  Ermittlungen  mit  Skepsis  und  grosser  Re- 
serve gegenüber  treten. 

Beide  Methoden  bieten  sonst  verschiedene  Schwierigkeiten  und  ergänzen  sich 
gegenseitig.  Die  ersto  Methode  gewährt  gleichzeitig  Einblicke  in  die  Technik  der 
Production  ^Verhältniss  des  Roh-  zum  Reinertrag,  Betrag  der  volkswirtschaftlichen 
Productionskosten),  im  Ganzen  und  in  den  Hauptzweigen  der  nationalen  Arbeit  und 
liefert  Uebcrsichtcn  über  die  Gebrauchswerthmengen  der  verschiedenen  wirt- 
schaftlichen Güter,  Daten  aus  denen  ein  wenig  auch  auf  die  Vertheilung  des  Volks- 
einkommens rückgeschlossen  werden  kann.  (S.  v.  Mangoldt,  Volkswirtschaftslehre 
S.  31S.)  Die  zweite  Methode  lässt  die  Gebrauchswerte  zurücktreten,  giebt  aber  einen 
genaueren  Einblick  in  die  Vertheilung  des  Volkseinkommens  und  implicite  auch 
in  diejenige  des  Volksvermögens  und  Volkskapitals  unter  der  Bevölkerung  sowie 
zwischen  physischen  und  juristischen  Personen  (auch  betreffs  des  Einkommens  der 
„todten  Hand“). 

Vollends  Vergleiche  zwischen  verschiedenen  Ländern  und 
im  Ganzen  doch  auch  zwischen  verschiedenen  Perioden  für  das- 
selbe Land  sind  bei  der  Ungleichartigkeit  der  Grundlagen  für  die 
statistischen  Ermittlungen  nur  mit  grosser  Vorsicht  anzustellen  und 
daher  auch  Scblussziehungen  aus  solchen  Vergleichen,  zu  welchen 
man  leicht  veranlasst  wird,  skeptisch  zu  behandeln. 

Indem  man  dann  Daten  der  realen  und  personalen  Methode 
combinirt,  mag  man  bisweilen  mittelst  einer  solchen  „gemischten“ 
Methode  auf  etwas  sichereren  Boden  kommen.  Aber  Irrthümer 
sind  auch  da  nicht  ausgeschlossen,  ja  sie  werden  sich  in  mancher 

Hinsicht  noch  leichter  einstellen. 

Rob.  Meyer  a.  a.  0.  hebt  das  nicht  ausreichend  hervor. 


27* 


420  3*  B.  NVirthsch.  u.  Volkswirthscll.  4.  K.  Ertrag  u.  Einkommen.  2.  A.  §.  179,  ISO. 

C.  — §179  [87].  Bedeutung  des  freien  Volkseinkommens. 

Die  Höhe  des  freien  Einkommens  entscheidet  wesentlich 

1)  über  den  Umfang  der  Bedürfnissbefriedigungen,  welche  sich 
das  Volk,  als  Ganzes  betrachtet,  erlauben  darf,  damit  auch  Uber  Höhe 
und  Art  der  Culturentwicklung  eines  Volks,  soweit  letztere  durch 
die  Verfügung  über  wirthschaftliche,  insbesondere  auch  über  Sach- 
güter, bedingt  ist; 

2)  über  die  nachhaltige  Vermehrungsfähigkeit  der 
Bevölkerung,  soweit  dafür  die  blosse  Grösse,  nicht  auch 
die  Verthei lung  des  Volkseinkommens  maassgebend  ist,  welche 
letztere  wieder  die  Art  der  Güter  wesentlich  mit  bestimmt,  aus 
denen  dies  Volkseinkommen  besteht; 

3)  über  die  Höhe  der  Steuerfähigkeit  des  Volks,  nament- 
lich der  Steuern,  welche  es  dauernd  zahlen  kann  (falls  hierfür 
nicht  schon  ein  Betrag  im  nothwendigen  Unterhaltungsbedarf  ein- 
gesetzt ist,  was  zulässig  erscheint),  sowie  Uber  den  Steuerdruck ; 

S.  u.  in  Bach  5 Ubor  die  Zwangsgemeinwirthschaften  und  Buch  6.  Ein  gewisses 
Minimum  von  Rechtsschutz  und  Culturförderung  durch  den  Staat  gehört  zum  „noth- 
wendigen Unterhaltsbedarf“  ebenso  gut  als  ein  gewisses  Minimum  von  Sachgütern  für 
die  materieUen  Existcnzbedürfnisse. 

4)  über  die  Grösse,  um  welche  sich  periodisch  das  Volks- 
vermögen und  das  National-Kapital  — unabhängig  von 
Vermögens-  und  Kapital b esitz  betrachtet — dauernd  vermehren 
kann  vermittelst  des  Wirthschaftsüberschusses  (der  Wirtb- 
schaftsb  ilanz),  d.  h.  desjenigen  Betrags  des  Volkseinkommens, 
welcher  am  Ende  der  Wirthschaftsperiode  vom  Einkommen  übrig  ist. 

Rau  I,  §.  72,  250. 

Ein  möglichst  hohes  freies  Volksein k ommen  muss 
daher  als  Strebeziel  der  volkswirtbschaftlichen  Entwickelung  be- 
zeichnet werden.  Diejenige  Organisation  der  Volkswirtschaft, 
welche  die  Erreichung  dieses  Ziels  am  Meisten  begünstigt,  so  dass 
maximaler  Nutzen  mit  minimalen  Opfern  an  Kosten  erlangt  wird, 
ist  unter  übrigens  gleichen  Umständen,  d.  h.  vor  Allem 
unter  Voraussetzung  einer  günstigen  Verteilung  des  Volksein- 
kommens, gemäss  der  im  vierten  Buche  entwickelten  Grundsätze, 
die  vorzüglichste.  Nach  einer  solchen  Organisation  der  Volks- 
wirtschaft ist  daher  in  der  Theorie  zu  forschen,  in  der  Praxis  zu 
streben:  das  Problem  des  fünften  und  sechsten  Buches  in  diesem 
ersten  Theile  der  Grundlegung. 

Vgl.  Schäfflc,  Soc.  Körper  III,  272  fl',  u.  Abth.  6 u.  7 des  12  Hauptabschnitts 
daselbst.  „Die  Nationalökonomie  hat  auf  das  gesellschaftlich  mögliche  Minimum 
der  Durchschnittskosten  und  auf  das  gesellschaftlich  mögliche  Maximum  der  Ver- 


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Einzel-  und  volkswirtschaftliche  Werthschätzung. 


421 


nutzung  den  Hauptnachdruck  zu  legen.  Die  privatwirthschaftlichcn  Bemühungen  um 
geringste  Eigenkosten  und  höchste  Nutzeffecte  haben  nationalökonomische  und  ethi- 
sche Hauptberechtigung  als  Vermittlungsvorgängc  zur  Kegulirung  des  gesellschaftlichen 
Kostenminimums  und  Nutzmaximums*'.  Eb.  S.  274. 


Viertes  Kapitel. 

Einzel-  und  volkswirtschaftliche  Wertschätzung. 

Rau , I.  §.  63 — OS,  Roscher,  I.  §.  10.  Hermann,  Abth.  I,  bes.  III  pass.,  z.  B 
S.  111,  und  Manches  in  der  allgemeinen  Litteratur  über  Worth  (<$.  134,  135),  Wirt- 
schaft (§.  144).  ü.  A.  die  Arbeiten  Neumann’s  und  der  österreichischen 
Schule  (Meyer,  v.  Böhm-Bawerk,  Wieser  u.  s.  w.). 

§.180  [89].  Die  Werthschätzung  des  Vermögens  gestaltet 
sich  wesentlich  verschieden  vom  Standpuncte  der  im  Verkehr 
stehenden  Einzelwirtschaft  nnd  von  demjenigen  der  ganzen 
Volks  wdrtbsehaft  aus. 

Für  die  nocli  fast  ganz  ausserhalb  des  Verkehrs  stehende  Einzelwirtschaft,  na- 
mentlich für  die  Familie,  welche  ihren  Güterbedarf  fast  ganz  eigens  producirt,  erfolgt 
die  Schätzung  der  Güter  sogut  wie  nur  nach  dem  Gebrauchswert,  des  einzelnen 
Stücks  nach  seinem  concrctcn  Werth  für  den  Besitzer.  Diese  ursprüngliche  Schätzung 
nennt  Becc-aria  absoluten  Werth  im  Gegensatz  des  später  hiuzugetretenen  rela- 
tiven oder  Tauschwerts,  Eiemcnti  di  economia  publica,  in  den  Scrittori  classici  XIX, 
339  (nach  Rau  §.  63). 

I.  Einzel wirthschaftli che  Schätzung.  Die  Einzelwirt- 
schaft legt  nur  denjenigen  Gutem  in  ihrem  Vermögen  oder  in  ihrem 
Wirthschaftsbctrieb  concreten  Gebrauchs werth  bei,  deren  sie 
für  die  unmittelbare  Consumtion  (einschliesslich  der  rcproductiven 
Consumtion  §.  160)  bedarf. 

Dass  auch  für  diese  ein zel wirtschaftliche  (gewöhnlich  sogenannte  privat- 
wirthschafdiche)  Schätzung  der  Tauschwerth  nicht  ausreicht,  hat  Rau  in  I.  §.  64  noch 
besonders  nachgewiesen.  S.  auch  Torrens,  production  of  wealth,  1821,  pag.  10, 
11.  Rossi,  cours  d’econ.  polit.  1838,  I,  65,  während  Cournot,  rech,  sur  les  princ. 
matem.  de  la  theoric  des  richesses,  1838,  sogar  so  weit  geht,  die  Zerstörung  eines 
Theils  eines  Waarenvorraths , um  den  Rest  vortheilhafter , d.  h.  zu  einem  höheren 
Preise  verkaufen  zu  können,  p.  7 une  veritablc  creation  de  richesse  dans  le  sens 
commcrcial  du  inot  zu  nennen.  Vergl.  oben  §.  137  11’. 

Für  alle  übrigen  Güter  ist  der  Einzelwirtschaft  nur  der 
Tausch  werth  (eventuell  der  Taxwert),  oder  in  der  Geldwirth- 
schaft  der  Geld  werth  und  Preis  wesentlich. 

Denn  dieser  entscheidet  darüber,  ob  und  welche  Macht  diesen  Gütern  inne- 
wohnt, andere  Güter  concreten  Gebrauchswerths  eventuell  in  das  Vermögen  oder  in 
die  Wirthschaft  cinzuführen.  Da  nun  in  der  Volkswirtschaft,  welche  sich  regel- 
mässig des  Geldes  als  Verkehrsinstrument  bedient,  oder  in  der  sogenannten  Geld- 
wirthsebaft  (§.  189)  das  Geld  das  regelmässig  am  Leichtesten  in  Güter  concreten 
Gebrauchswerts  umsetzbare  Gut  ist,  so  ist  der  Einzelwirtschaft,  über  ihren  un- 
mittelbaren oder  beständigen  Bedarf  an  naturalen  Gütern  concreten  Werths 


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422  3.  B.  W irthsch.  u.  Volkswirthsch.  4.  K.  Wertschätzung.  §.  ISO,  181. 

hinaus,  auch  das  Geld  vermögen  bcz.  ein  solches,  welches  sich  sofort  nach  Bedarf 
leicht,  sicher,  verlustlos  in  Geld  umsetzen  lässt  (Geldforderungen,  Werthpapiere  u.  dgl.  in.) 
das  erwünschteste:  freilich  immer  unter  Voraussetzung  normaler  Verkehrsver- 
hältnisse in  einer  Volkswirtschaft,  in  welcher  die  Arbeitsteilung  weit  gediehen 
ist.  Denn  sobald  diese  Voraussetzung  fehlt,  sind  die  Güter  und  ist  auch  das  Geld 
nicht  beliebig  oder  nur  zu  sehr  ungünstigen  Bedingungen,  d.  h.  zu  einem  niedrigen 
Tauschwerth  und  Preis,  in  die  wichtigeren  naturalen  Güter  (also  in  diejenigen  von 
bedeutenderem  Gattungswerth),  deren  die  Einzelwirtschaft  im  concreten  Fall  bedarf, 
umzusetzen  und  nur  in  diesem  Falle  gilt  dasselbe  vom  Umsatz  von  Geldforderungen 
in  Geld  und  weiter  in  naturale  Güter.  Alsdann  zeigt  sich  erst,  wie  Besitz  und  Er- 
werb von  Geldvermögen  und  von  Vermögen,  welches  die  Einzelwirtschaft  nur  seines 
Tauschwerths  wegen  besitzt,  schliesslich  stets  nur  die  Bedeutung  eines  Mittels, 
nicht  diejenige  eines  Zwecks  der  Wirtschaft  hat. 

Lehrreich  für  diese  Verhältnisse  sind  die  Beobachtungen  im  Verkehr  abgesperrter 
Orte  und  Gegenden,  wie  namentlich  in  belagerten  Festungen.  Interessante  Fälle 
der  abnormen  Preisbildungen  besonders  im  belagerten  Paris  1ST0 — 71,  worüber  Le- 
goit  eine  Arbeit  verölTentlichte. 

§.  181  [90,  91].  Betrachtung  einiger  besonderer  Ver- 
hältnisse. Vertheilung  von  Gebrauchs  vermögen  und 
Kapital,  von  Natural-  und  Geldkapital  der  Wirtschaften. 
Eine  bemerkenswerthe  Erscheinung,  welche  mit  der  fortschreitenden 
Arbeitsteilung,  der  Verbesserung  der  Communicationen,  der  grösseren 
Rechtssicherheit,  der  gesicherten  Regelmässigkeit  des  Verkehrs  zu- 
sammenhängt, zeigt  sich  darin,  dass  die  Individual-  und  Familien- 
wirthschaften  und  zum  Theil  selbst  die  anderen  Einzelwirtschaften 
in  unserer  Culturperiode  eine  kleinere  Quote  ihres  Vermögens  in 
Gütern  concreten  Gebrauchswerths,  eine  grössere  in 
Gütern,  welche  für  sie  bloss  ihres  Tausch-  und  Geldwerts  halber 
in  Betracht  kommen,  anlegen. 

1)  Bei  der  Individual-  und  Familienwirthschaft  zeigt 
sich  dies  darin,  dass  der  Vermögensbestand,  welcher  zur  Verfügung 
der  h a u s wirtschaftlichen  Abteilung  der  Wirtschaft  (§.  159) 
steht,  relativ  kleiner,  derjenige  zur  Verfügung  der  erwerbs- 
wirtbscbaftlickcn  Abteilung  grösser,  als  in  Zeiten  weniger  ent- 
wickelten Verkehrs,  wird.  Dies  kommt  aber  einfach  darauf  hinaus, 
dass  das  Nutz  vermögen  zu  Gunsten  des  Kapitalbesitzes 
solcher  Wirtschaft  abnimmt,  also  auch  ein  grösserer  Theil  des 
Gesammtvermögens  eines  Wirthschaftssubjects  Rente  giebt. 

Beispiele:  die  früheren  Vermögensanlagen  der  wohlhabenden  Mittelstände  in 
Schmuck,  Silbergerät.  gediegenem  Mobiliar,  Betten,  Tafelgeschirr,  Kleidern,  der  wohl- 
habenden Bauern  in  Leinenzeug,  Betten,  Kleidern,  in  müssigen  Summen  gemünzten 
Geldes  („Schatz“);  neuerdings  immer  allgemeiner  knappe,  nur  dem  nothwendigsten 
Bedarf  entsprechende  Vorräthe  solchen  Nutzvermögens  und  „rentable“  Kapitalanlagen 
in  Wertpapieren , Hypotheken  u.  s.  w. , besonders  im  Zusammenhänge  mit  der  Ent- 
wicklung der  Industrie,  des  Staatsschuldenwesens  (welches  spcciell  für  die  Rentabel- 
machung  solcher  müssiger  Vermögen  gelegentlich  selbst  empfohlen  wurde),  des  Credit- 
wesens  überhaupt.  Wohlhabende  Agrarländer,  wie  Hannover,  Mecklenburg,  Schleswig- 
Holstein  haben  solche  Entwicklung  zum  Theil  erst  in  neuester  Zelt  durchgemacht 


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Einzelwirthschaftliche  Werthschätzung.  423 

(Anschluss  an  den  Zollverein).  Die  asiatischen  Culturvölkcr  sammeln  noch  immer  über- 
wiegend „Schätze“  oder  legen  das  Vermögen  in  Schmuck  u.  dgl.  an. 

In  den  grossen  Verkehrscentren  der  inoderneu  Cultur  (Gressstädten)  und  in  neuen 
Ländern  und  Orten  mit  einer  Bevölkerung  ohne  viel  altvaterische  Tradition  in  der 
Hauswirthschaft  tritt  dies  ganz  besonders  hervor.  Berlin  und  die  Vereinigten 
Staaten  von  Nordamcrica,  besonders  die  atlantischen  Küstenstaaten  bieten  da, 
wie  in  manchen  socialen  und  wirthschaftlichen  Verhältnissen,  viel  Aehnliches.  In  den 
Gressstädten  wirken  die  Knappheit  der  Wohnräume,  die  hohen  Miethen,  die  bestän- 
digen Umzüge  auch  zu  dieser  ethisch  und  socialpolitisch  keineswegs  immer  günstigen 
Beschränkung  des  Nutzvermögens  ein. 

Durch  Ausbildung  der  Technik  und  billigen  Production  von  Gegenständen  des 
Nutzvermögens  wird  diese  Entwicklung  noch  begünstigt:  Blüthe  der  „Imitations- 
industrieen“  in  unserer  Zeit,  „unechte“,  „falsche“  Dinge  in  allen  möglichen  Zweigen. 
Auch  keine  sittlich,  socialpolitisch  und  künstlerisch  oder  kunstindustriell  immer  gün- 
stige Gestaltung  der  Production  und  Consumtion!  Die  Entstehung  besonderer  Leih- 
und Miethgeschäfte  für  die  Vcrborgung  von  solchen  Gegenständen  (Bücher,  Möbel, 
Tafelgeschirr  u.  dgl.  m.,  Kleider)  führt  sogar  dazu,  dass  viele  an  und  für  sich  der 
Hauswirthschaft  unentbehrliche  Güter  gar  nicht  mehr  eigentümlich  von  ihr  be- 
sessen. sondern  immer  nur  leihweise  benutzt  werden. 

Am  Weitesten  ist  das  wieder  in  den  Gressstädten  der  Vereinigten  Staaten  ge- 
diehen. aber  auch  in  Berlin  und  anderen  europäischen  Gressstädten  bemerkbar  genug. 
— Blüthe  der  Leihbibliotheken,  von  weittragenden  Folgen  in  mehr  als  einer  Hin- 
sicht. — Wichtiger  freilich  ist  noch  das  städtische  und  besonders  grosstädtische  Mieth- 
wohnungswesen  statt  des  „eigenen  Hauses“  und  vollends  das  Chambregarni-  und  gar 
das  Schlafstellen  wesen.  Das  W oh  nbedürfniss  wieder  wie  im  alten  Rom  in  der  „Blüthe- 
zeit“  (Friedländer,  Sittengeschichte  I,  26  IT.)  das  einzige  der  materiellen  Haupt- 
bedürfnisse, das  in  unserer  arbeitstheiligen  Volkswirtschaft  gewöhnlich  n i c h t mittelst 
des  Kauf contracts,  sondern  des  Miethcontracts  befriedigt  wird, — mit  weiteren  be- 
denklichen Folgen.  (S.  im  2.  Theil,  über  städtisches  Grundeigenthum.)  Vergl.  auch 
die  schöne  moralstatistische  Arbeit  von  E.  Laspeyrcs,  der  Einfluss  der  Wohnung 
auf  die  Sittlichkeit  (nach  Pariser  Materialien),  Bc'rl.  1S69. 

Die  Wirtschaftlichkeit  gewinnt  hier  freilich  auf  der  einen 
Seite.  Aber  diese  Entwicklung  ist  auf  der  anderen  Seite  sittlich, 
culturgeschichtlieh,  socialpolitisch  und  selbst  in  artistischer  Hin- 
sicht nicht  ohne  grosse  Bedenken.  Ein  gesunder  Conservatismus 
der  hauswirthschaftlichen  Consumtion,  besonders  auf  dem  Gebiete 
des  Nutzvermügen8,  weicht  der  hastigen  Ruhelosigkeit  des  Markts, 
dem  ewigen  rast-  und  rücksichtslosen  Jagen  nach  Erwerb. 

Die  kunstgewerbliche  Seite  z.  B.  leidet  gewiss  unter  einer  Entwicklung, 
wo  die  Mobilien  und  das  Geschirr  nicht  mehr  Gegenstände  des  dauernden  Besitzes, 
sondern  nur  der  Leihe  sind.  Denn  wenn  auch  im  letzteren  Fall  vielleicht  mehr  Pracht- 
stücke hergestellt  werden,  so  ist  doch  die  ganze  Production  kleiner. 

Auch  in  dieser  Hinsicht  sind  so  manche  Gesichtspuncte  und  Bemerkungen  eines 
J.  Möser,  eines  Riehl  nur  zu  berechtigt.  Indem  z.  B.  das  moderne  Creditwesen, 
das  Staatsschulden  wesen , die  Börsenpapiere,  das  Inhaborpapicr,  die  Mobilisirung  der 
Hypothek  im  Pfandbriefe  die  Anlage  von  Kapitalien,  auch  von  kleinen  Beträgen,  er- 
leichtert, nutzen  diese  Einrichtungen  einzel-  und  volkswirtschaftlich  in  einer  Hinsicht 
gewiss  auch  dadurch,  dass  sie  der  „Nutzvermögenswirthschaft“  entgegenwirken.  Die 
letztere  war  auch  volks  wirtschaftlich  unökonomischcr  als  diese  „Kapital Wirtschaft“. 
Aber  fast  unvermeidlich  wird  bei  dieser  Art  der  Kapitalanlagen  jeder  „Eüecten- 
besitzer“  über  kurz  oder  lang  in  den  Börsenstrudel  gezogen  oder,  wenn  er  sich  wirk- 
lich fern  hält  und  nur  feste  Anlagen  sucht,  leidet  er  eben  unter  Umständen  leicht 
die  empfindlichsten  Verluste  („Dividendenpapiere“!).  Diese  sociale  Wirkung  des 
Creditwesens,  spcciell  z.  B.  des  Inhaberpapiers,  der  Actie,  ist  neben  der  reinökonomi- 
schen und  technischen  Seite  ohne  Zweifel  bisher  viel  zu  wenig  beachtet  worden  (auch 


424  3-  B.  Wirthsch.  u.  Volkswirthscb.  4.  K.  Werthschätzung.  §.  181,  182. 


in  meinen  eigenen  älteren  Arbeiten  Uber  Credit-  und  Bankwesen,  die,  besonders  die 
ersten,  noch  viel  zu  einseitig  pri vat wirtschaftlich  und  technisch  gehalten  waren 
und  diese  Behandlung  des  Stoffs,  der  herrschenden  Richtung  der  Wissenschaft  gemäss, 
ohne  Weiteres  für  volkswirtschaftlich  ansahen).  Der  Zusammenhang  dieser  Verhält- 
nisse mit  den  im  Text  berührten  Vorgängen  ist  nur  zu  klar. 

2)  In  der  Erwerbs-  oder  Productionswirthschaf't  kommt 
eine  der  eben  geschilderten  analoge  Entwicklung  in  zweierlei 
Weise  zum  Vorschein.  Einmal  darin,  dass  im  Geschäftskapital 
die  Quote,  welche  aus  den  zur  neuen  Glltererzeugung  erforderlichen 
naturalen  Gütern  seihst  besteht,  zu  Gunsten  der  in  Geld  (oder 
gcldwerthen  Papieren,  leicht  realisirbaren  Forderungsrechten)  be- 
stehenden sich  verringert,  — auch  dies  ist  keine  durchweg  günstige 
Gestaltung;  sodann  vielfach  so,  dass  auch  die  Geldquotc  durch 
Benutzung  von  Credit  ersetzt  oder  ergänzt  wird,  was  oft  nur  zu 
ungesunden  Verhältnissen  der  Productionswirthschaft  führt. 

Oder  in  der  Sprache  der  Praxis:  es  wird  in  der  Hoffnung  auf  stete  Verfügung 
über  Credit  mit  zu  wenig  eigenem  Betriebskapital  gewirthschaftct,  indem 
das  Anlagekapital  im  Vcrhaltniss  zu  dem  Gesammtvermögen  der  Wirtschaft  zu  hoch 
angesetzt  ist. 

3)  Bei  a n deren  Wirtschaften,  von  Corporationen,  juri- 
stischen Personen,  auch  in  der  Wirtschaft  des  Staats 
finden  sich  endlich  ebenfalls  analoge  Erscheinungen:  zu  knappes 
Gebrauchs-  und  Nu tz vermögen,  zu  wenig  Betriebskapital, 
und  zu  viel  Verlass  darauf,  die  erforderlichen  Güter  concreten 
Werths  jederzeit  durch  den  Credit  beschaffen  zu  können,  immer 
in  der  von  der  Theorie  zu  einseitig  begünstigten  Tendenz,  Zins- 
verluste zu  vermeiden.  Gleichfalls  eine  Gestaltung,  welche  oft  nur 
scheinbar  dem  Princip  der  Wirthschaftlichkeit  gerecht  wird  und 
auf  der  Verkennung  der  wirtschaftlichen  Function  des  Nutzver- 
mögens (und  der  Reservefonds)  beruht. 

Vergl.  die  richtigen  Bemerkungen  von  Hermann,  S.  22G  ff.  über  die  Vorräthe 
ohne  sofortige  Bestimmung  der  Verwendung,  über  Geld  als  Cassenverlag.  Mit  Recht 
tadelt  auch  er  S.  223,  dass  die  Wirthschaftslehre  zu  wenig  Rücksicht  auf  das  Nutz- 
kapitai  (Nutzvermfigon)  genommen  und  das  eigentliche  oder  Productivkapital  fast  aus- 
schliesslich ins  Auge  gefasst  habe.  Nutzanwendung  auf  die  wichtige  finanzielle  Frage 
vom  Staatsschatz  siehe  in  meiner  Finanzwissenschaft  I,  3.  A.  §.  75. 

II.  — §.  182  [92].  Volks  wirthscha  ft  liehe  Werth- 
schätzung. Vom  Standpuncte  der  Volkswirt!) schalt  oder 
des  ganzen  Volks  aus  ist  die  Werthschätzung  des  Vermögens 
folgende : 

Wesentlich  hiermit  übereinstimmend  Rau  I,  §.  G5. 

1)  Die  grosse  Masse  der  Güter,  welche  den  Ertrag  der  Volks- 
wirthschaft,  das  Einkommen  des  Volks  und  demnach  in  einem 
bestimmten  Zeitpuncte  betrachtet  das  Volksvermögen  bilden,  wurde 


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Volkswirtschaftliche  Wertschätzung. 


425 


früher  durchaus  und  wird  auch  selbst  bei  heutiger  Entwicklung  des 
auswärtigen  und  Weltverkehrs  (§.  152 ff.)  grossentheils  im  Inland 
erzeugt  und  auch  hier  zur  Befriedigung  der  Bedürfnisse  oder  zu 
neuer  Gütererzeugung  verwendet.  Für  das  Volk  ist  ebendeshalb 
bei  diesen  Gütern  der  Gebrauchs werth  entscheidend.  Der 
Tauschwerth  dieser  Güter  kommt  nur  für  die  Einzelwirthschaften 
des  Volks  und  daher  für  die  Vertheilung  des  volkswirtschaft- 
lichen Ertrags  und  Vermögens  unter  jenen  in  Betracht. 

Auch  bei  hochentwickeltem  internationalen  oder  weltwirtschaftlichen 
Verkehr  ist  die  Quote  der  mit  dem  Auslande  ansgetauschten  Guter  verglichen  mit  den 
im  Inlande  erzeugten  und  hier  verzehrten  Gutem,  wenigstens  in  allen  grösseren 
Volkswirtschaften , selbst  noch  der  britischen,  nur  eine  relativ  kleine,  wenn  sie 
auch  bei  einzelnen  wichtigen  Producten  erheblich  gestiegen  ist  und  weiter  steigt. 

Das  Verhältniss  der  Waarenein-  und  -Ausfuhr  zur  heimischen  Erzeugung  und 
Verwendung  (eigentliche  wie  reproductivc  Consumtion)  wechselt  natürlich  im  Laufe 
der  Geschichte  und  von  Land  zu  Land  vielfach.  Die  früher  erörterte  Entwicklung  der 
Weltwirtschaft  führt  jedenfalls  zu  einer  absolut  grösseren,  mitunter  wohl  auch 
zu  einer  relativ  grösseren  Bedeutung  des  auswärtigen  Handels,  d.  h.  das  Inland 
verwendet  zu  einer  wachsend  grösseren  Quote  seiner  Consumtionen  fremde,  cintre- 
fuhrte  Guter  und  umgekehrt  arbeitet  eine  wachsend  grössere  Quote  seiner  Production 
für  den  Consum  des  Auslands. 

Die  hierfür  im  Allgemeinen  maassgebenden  Factoren  sind  oben  in  §.  152  fl. 
dargelegt  worden.  Speciclle  Einflüsse  auf  die  Gestaltung  des  genannten  Verhält- 
nisses in  den  einzelnen  Ländern  sind  namentlich: 

(1)  Die  geographische  Lage  und  die  Verbindungen  mit  anderen  Ländern, 
welche  den  Austausch  erleichtern  (Grossbritannien  in  der  heutigen  Richtung  des 
Welthandels,  Italien  im  Mittelalter;  See  Verbindung;  Eisenbahnen,  welche  z.  B.  in 
neuester  Zeit  bewirkten,  dass  der  russische  Handel  in  immer  stärkerem  Betrage  über 
Deutschland  geht.  Königsberg  russischer  Theebafen  wurde  u.  s.  w.). 

(2)  Die  Volksdichtigkeit,  die  Beschaffenheit  des  heimischen  landwirt- 
schaftlichen Bodens  und  des  Klimas,  die  Entwicklung  des  heimischen  Bergbaus 
und  der  Industrie,  Momente,  welche  ein  Land  nöthigen  und  anderseits  be- 
fähigen, seinen  Bedarf  an  Nahrungsmitteln  und  Gewerkstoffen,  der  im 
Inland  nicht  mehr  ganz  oder  nur  sehr  kostspielig  aus  der  heimischen  Naturalproduc- 
tion  gedeckt  werden  kann,  in  immer  stärkerem  Maasse  aus  dem  Auslande  und  zwar 
aus  weniger  dicht  bevölkerten  Ländern  extensiverer  Landwirtschaft,  günstigeren  Bo- 
dens und  Klimas  und  weniger  entwickelten  Bergbaus  und  Fabrikwesens  mit  zu  decken. 
Hauptbeispiel  der  Gegenwart,  wo  so  ziemlich  alle  ebenerwähnten  Momente  zusammen- 
treflen,  ist  Grossbritannien,  das  nach  Fr.  X.  Nenmann  (Wien)  den  auf  t>8  bis 
70  Mill.  Hectoliter  gestiegenen  Bedarf  an  seiner  wichtigsten  Brotfrucht,  dem  Weizen, 
schon  in  den  1870er  Jahren  zu  mehr  als  der  Hälfte,  35 — 38  Mill..  im  J.  1877 
sogar  zu  43  Mill.  Hectoliter,  übrigens  bei  z.  Th.  ungünstigen  Ernten,  aus  dem  Aus- 
lande, besonders  aus  den  Vereinigten  Staaten  und  Russland  decken  musste  (,.Uebers.*‘ 
Jahrg.  1878,  S.  43),  eine  Entwicklung,  welche  in  dieser  Richtung  einstweilen  immer 
weiter  geht.  Frankreich  und  neuerdings  auch  Deutschland  kommen  nach  und 
nach  in  eine  ähnliche  Lago;  kleinere  Gebiete,  wie  Belgien,  Holland,  die 
Schweiz.  Königr.  Sachsen,  Rheinland  gleichen  England  darin  noch  mehr,  in 
Ge birgsl ändern  wirkt  besonders  der  absolute  Mangel  an  culturfähiirem  Boden  mit 
ein.  Die  Vermehrung  und  der  steigende  Wohlstand  der  Bevölkerung  in  den 
Ländern  des  Getreideimports  lassen  dieso  Entwicklung  immer  schärfer  hervortreten 
und  hängen  von  derselben  selbst  wieder  mit  ab.  Dagegen  können  in  den  Getreide- 
Export- Ländern  dieselben  Momente,  welche  grade  durch  lucrativen  Verkauf  der 
Bodenfrüchte  ans  Ausland  begünstigt  werden,  neben  dem  Aufblühen  der  heimischen 
Industrie  wieder  zu  einer  rückläufigen  Bewegung  (wenigstens  relativ,  wenn  auch 
nicht  immer  absolut)  führen,  so  z.  B.  was  in  neuerer  Zeit  Deutschland  anlangt. 


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426 


3.  B.  Wirthsch.  u.  Volkswirthsch.  4.  K.  Wertschätzung.  §.  182. 


welches  aus  der  Reihe  der  regelmässig  mehr  Getreide  exportirenden  in  die  Reihe  der 
solches  mehr  importirenden  Länder  übergegangen  ist.  Interessante  Daten  in  Neu- 
rnann’s  Debersichtcn , die  in  den  verschiedenen  Jahrgängen  grade  diese  Seite  (Ge- 
trcidehandel)  immer  genauer  verfolgt  haben. 

(3)  Endlich  ist  die  Production  von  Artikeln  eines  Quasi-Naturmonopols 
oder  eines  zur  Zeit  bestehenden  Industrie-  und  Mon tan-Monopols  des  expor- 
tirenden und  der  Bedarf  an  Artikeln  dieser  Art  in  dem  importirenden  Lande,  wel- 
ches in  diesen  Productionen  aus  natürlichen  oder  geschichtlich-volkswirthschaftlichen 
Gründen  zurücksteht,  noch  von  besonderem  Einfluss  auf  die  Relation  des  auswärtigen 
Handels  zur  heimischen  Production  und  Consumtion:  Colonialwaaren,  Baumwolle 
als  Gewcrkstoff  bei  uns,  Fabrikate  überhaupt  für  den  Bedarf  der  europäischen 
Colonialstaaten,  haben  in  der  Neuzeit  das  Verbältniss  zu  Gunsten  des  auswärtigen 
Handels  in  vielen  Ländern  sehr  verschoben. 

Es  ist  eine  interessante  Aufgabe  der  P ro ductions-,  Consumtions-  und 
Handolsstatistik,  die  Entwicklung  dieses  Verhältnisses  zeitlich  und  räumlich 
genau  zu  erforschen  und  in  Zahlen  anszudrücken:  eine  öfters  versuchte  Aufgabe, 
welche  aber  mit  den  heutigen  Hilfsmitteln  der  Statistik  doch  nur  für  wenige  einzelne 
Producte,  am  Besten  wohl  noch  für  die  Gruppe  der  Montanproducte  (freilich  nur 
theilweise  für  die  Edelmetalle)  einigermaassen  sicher  zu  lösen  ist.  Die  Statistik  des 
auswärtigen  Handels  würde  trotz  ihrer  notorischen  Lücken  und  Fehler  (bes.  bei 
der  Ausfuhr)  noch  leidlich  genügen  (s.  darüber  Sötbeer  a.  a.  0.  in  Hirth's  Ann.  1S75). 
Aber  die  Statistik  der  einheimischen  Production,  fast  nur  mit  Ausnahme  der 
B er  g bau  Statistik , die  hier  weniger  Schwierigkeiten  bietet,  liegt  selbst  in  unseren 
west-  und  mitteleuropäischen  Cultnrstaaten  noch  so  im  Argen,  dass  zuverlässige  Daten 
selbst  für  die  Agrar-,  vollends  für  die  Industrieproduction  noch  wenig  vorhanden 
sind,  wenn  sich  auch  neuerdings  die  agrarische  Productionsstatistik  erheblich  ver- 
bessert hat.  Berechnungen  wie  die  älteren  von  Moreau  de  JonnOis  (le  commerce 
au  XIX.  siede,  Par.  1825,  I,  1 1 4 ff.),  von  Rau  I.  §.  65  Anm.  a citirt,  über  das 
Verbältniss  der  jährlichen  Verzehrung  fremder  Producte  zur  ganzen  Consumtion  und 
Uber  das  Verbältniss  der  Güterausfuhr  zur  gesammten  inländischen  Erzeugung  in  Nord- 
america, Frankreich,  Grossbritannien  haben  eben  deshalb  kaum  irgend  einen  Werth. 
Denn  die  Haupt  Ziffern,  diejenige  für  die  einheimische  Production  und  Gesammt- 
Consumtion  (aller  Artikel),  sind  durchaus  unsicher.  Man  muss  sich  daher  vor- 
läufig darauf  beschränken,  für  einige  Artikel,  über  welche  zuverlässigere  Daten  vor- 
licgcn,  statistische  Berechnungen  der  Relation  des  auswärtigen  Handelsumsatzes  zur 
heimischen  Production  und  Consumtion  anzustellen.  Die  besten  Arbeiten  auf  diesem 
Gebiete  sind  die  schon  genannten  des  Oesterreichers  Fr.  X.  Neu  mann  über  Pro- 
duction, Welthandel  und  Volkswirtschaft,  zuerst  in  Behm’s  Geogr.  Jahrbüchern,  dann 
selbständig  in  den  „Uebersichten“,  jetzt  von  v.  Juraschek  fortgesetzt,  wenngleich 
auch  hier  freilich  unvermeidlich  noch  mit  vielen  Conjecturalzahlen  gerechnet  werden 
muss.  Vergl.  auch  Kolb  s Statistik,  besonders  7.  Aufl.  S.  785  ff.  Das  seinem  Plane 
nach  nicht  üble  Werk  von  0.  Hausner,  Vergleichende  Statistik  von  Europa,  Lemb. 
1865,  2.  B.,  operirt  leider  mit  ganz  unsicheren  Zahlen,  vor  Allem  auf  dem  Ge- 
biete der  volkswirtschaftlichen  Statistik  und  macht  auch  nicht  eine  Quellenangabe; 
vor  den  speciell  hierher  gehörigen  Daten  II.  132,  137  und  vollends  262  ist  nur  zu 
warnen.  — Die  Vergleichungen  hinsichtlich  der  Gcsam  mterzeugung  und  des  Han- 
dels sind  endlich  auch  noch  unsicherer,  weil  hier  eine  Umsetzung  der  mitunter  noch 
leidlicheren  statistischen  Daten  Uber  die  Menge  der  Producte  in  geldwerth- 
statistischo  Daten  erfolgen  muss,  worin  eine  neue  grosse  Fehlerquelle  (auch  beim 
Handel)  liegt.  Vergl.  Sötbeer  a.  a.  (3..  die  Vorbemerkungen  zur  Werthstatistik 
unseres  auswärtigen  Handels  in  der  „Statistik  des  Deutschen  Reichs“  und  Ilirth. 
,.die  Methoden  der  Handelsstatistik  in  England,  Frankreich,  Holland,  Hamburg,  Bremen. 
Zollverein“  in  s.  Anna).  1870  S.  407  ff.  Auch  in  dieser  Werthstatistik  des  Handels 
hat  sich,  auch  im  Deutschen  Reiche,  neuerdings  Manches  gebessert.  Aber  die  Schwierig- 
keiten liegen  in  der  Natur  des  Problems  (z.  B.  betreffs  der  Unterscheidung  der  Waaren- 
sorten  und  Qualitäten  und  der  richtigen  Preisansätze  dafür),  und  werden  sich  kaum 
genügend  beseitigen  lassen.  Vgl.  über  die  verschiedenen  Methoden  der  Bearbeitung 
der  Statistik  des  auswärtigen  Waarenvcrkehrs  in  ausserdeutschen  Staaten  B.  43  der 
Statistik  des  Deutschen  Reichs. 


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Volkswirtschaftliche  Werthschätzung. 


427 


2)  Derjenige  Theil  inländischer  Güter,  welcher  als  Ausfuhr 
iin  Handel  (ebenso  auch  in  Rentenzahlungen)  ins  Ausland  geht 
und  zur  Bezahlung  der  Gütereinfuhr  (ebenso:  zur  Tilgung  der 
Verbindlichkeiten  aus  Renten  u.  s.  w.)  dient,  kommt  dagegen  auch 
für  die  Volkswirtschaft  nach  seinem  Tausch-  oder  Geldwerth, 
nach  seinen  Verkaufspreisen  in  Betracht. 

Denn  letztere  entscheiden  über  die  Kauffähigkeit  der  Ausfuhr  im  Auslande. 
Die  eingeführten  Güter,  die  im  llaudel  oder  für  Kentenzahlungen  u.  s.  w.  ein- 
gehen,  werden  dagegen  in  der  heimischen  Volkswirtschaft  schliesslich  wieder  nur 
nach  ihrem  Gebrauchs  werte  angeschlagen. 

3)  Das  Geld  hat  die  Volkswirtschaft  zu  schätzen: 

a)  nach  dem  Tausch werthe,  soweit  es  im  Import  und 
Export  gegen  Güter  concreten  Gebrauchswerts  umgesetzt  wird; 

So  mithin  besonders  in  den  Ländern  der  grösseren  Edelmetallproduction  (America, 
besonders  Californien,  Australien,  Rnssland-Sibiricn). 

b)  das  im  Inlande  umlaufende  Geld  ebenfalls  nach  dem 
Tausch  werthe,  d.  h.  nach  dem  Durchschnittswerthverhältnisse 
welches  zwischen  dem  Gelde  und  den  übrigen  Gütern  besteht  und 
sich  daher  in  den  Durchschnittspreisen  der  letzteren  ausdrllckt. 

Denn  hiervon  hängt  die  Höhe  des  Geldbedarfs,  bei  einem  bestimmten 
Stande  der  Preise,  mithin  das  dieser  Geldsumme  entsprechende  Quantum  concretcr 
Gebranchswerthc  ab,  welches  die  Volkswirtschaft  dauernd  in  ihren  nationalen  Geld- 
fonds, als  in  das  Mittel  zur  Bewerkstelligung  der  Umsätze  im  Geldverkehr,  stecken, 
demnach  einer  anderen  Verwendung,  zur  Consumtion  oder  Production,  entziehen  muss. 
Ein  Punct,  welchen  die  einseitigen  Gegner  des  Banknotenwesens  und  unsere  im  Keichs- 
bankgesetz  von  1S75  zur  Geltung  gelangende  stark  restringirendc  Zettelbankpolitik  zu 
wenig  beachtet  haben.  S.  dagegen  A.  Wagner,  Zettelbankreform  im  Deutschen 
Reiche,  Berl.  1875,  bcs.  III,  2.  S.  2t*  ff.,  42  ff.  Vergl.  auch  Arendt,  internationale 
Zahlungsbilanz  Deutschlands  u.  s.  w.  Berl.  1878. 

c)  Im  Uebrigen  ist  dieser  nationale  Geldfonds  von  der  Volks- 
wirtschaft nach  seinen  Leistungen,  daher  nach  seinem  Ge- 
brauchswerth als  allgemeines  Verkehrsinstrument 
oder  als  Maschinerie  für  Umlauf  und  Verth eilung  der 
Güter  im  System  der  Arbeitstheilung  zu  schätzen. 

Nicht  ein  beliebig  grosser  Geldbetrag,  — der  hauptsächliche  Irrthum  vieler 
Mercantilisten  — sondern  derjenige  Betrag,  welcher  bei  einem  bestimmten  Werthver- 
hältniss  für  den  Austausch  von  Geld  und  anderen  Gütern  ausreicht,  ist  für  die  Volks- 
wirthschaft  zu  wünschen. 

III.  — §.  183  [93].  Statistik  des  Volkseinkommens 
und  Volks  Vermögens.  Aus  dem  Gesagten  ergiebt  sich,  dass 
auch  wegen  dieser  verschiedenen,  für  die  Werthschätzung  wichtigen 
Momente  statistische  Zusammenstellungen  und  Berechnungen  des 
Volksvermbgens,  Volkseinkommens  oder  des  Ertrags  der  Volks- 
wirtschaft nach  Geldwerth,  ganz  abgesehen  von  der  schon  her- 
vorgehobenen unvermeidlichen  Unzuverlässigkeit  aller  solchen  Be- 


428  3*  B.  Wirthsch.  u.  Volkswirthsch.  5.  K.  Kennzeichen  <1.  Volkswohlstands.  §.  183,  184_ 

rechnuugen,  in  volkswirthscha  ft  lieber  Hinsicht  wenig  Be- 
deutung besitzen  und  oft  nur  mit  grossen  Zahlen  blenden.  Statt 
dessen  ist  eine  Statistik  zu  verlangen,  welche  möglichst  genau  die 
Quantitäten  der  einzelnen,  möglichst  nach  Qualitäten  (Sorten 
u.  s.  w.)  unterschiedenen  G titerarten  im  Volksvcrmögen  und 
Volkseinkommen  für  eine  ganze  Volkswirtschaft  darstellt.  Daraus 
lassen  sich  dann  auch  einige,  freilich  noch  bedingte  Schlüsse  auf 
das  Wohlbefinden  und  die  ganze  ökonomische  Lage  der  Be- 
völkerung, wenn  nur  die  Zahl  der  letzteren  bekannt  ist,  ziehen, 
und  auf  den  wichtigeren  Punct,  die  Verthei  lang  des  Vermögens 
und  Einkommens  unter  der  Bevölkerung,  werden  wenigstens  Streif- 
lichter geworfen. 

S.  die  Vorbemerkungen  in  §.  175  und  das  folgende  Kapitel. 


Fünftes  Kapitel. 

Kennzeichen  des  Volks  Wohlstands. 

§.  184.  Vorbemerkungen  und  Litteratur. 

Siehe  Kau  I,  §.  SO,  81,  auch  §.25.  Koscher  I.  §.  10.  — Vergl.  Neumann 
^Tübingen)  ..Unsere  Kenntniss  von  den  socialen  Zuständen  um  uns“,  besonders  auch 
die  statistischen  Anmerkungen  dazu,  mit  guten  kritischen  Bemerkungen  Uber  die  Mängel 
des  statistischen  Materials  auf  diesem  wichtigen  Gebiete,  in  Hildebr.  Jahrb.  IS  (IST 2). 
278  ff.,  299  ff.  S.  von  Ncumann  auch  den  §.  25  seiner  Abh.  über  Grundbegriffe  im 
Schönbcrg’schen  Handbuch  I,  3.  A.  Der  um  die  volkswirtschaftliche  Privatstatistik 
(Preis©,  Industrie,  Handel  u.  s.  w.)  sehr  verdiente  E.  Laspeyres  hat  in  der  kleinen 
Schrift  „Die  Kathcdorsocialistcn  und  die  statistischen  Congresse,  Gedanken  zur  Be- 
gründung einer  nationalökonomischen  Statistik  und  einer  statistischen  Nationalökonomie“, 
Berl.  1875  (H.  52  d.  deutschen  Zeit-  u.  Streitfragen),  beachtenswerte  Vorschläge  für 
die  weitere  Ausbildung  der  volkswirtschaftlichen  Statistik  gemacht  und  zwar  direct 
für  die  Zwecke  der  Nationalökonomie.  Auch  er  nennt  die  Kenntniss  der  socialen  Zu- 
stände um  uns  „bisher  jämmerlich  bestellt“,  S.  41. 

Sonst  ist  für  ein igermaasson  verarbeitetes  geschichtliches,  cultur-  und 
wirthschaftsgeschichtlichcs  und  besonders  statistisches  Material  auf  die  allgemeinen 
Handbücher  der  Statistik  und  Staatskundc  zu  verweisen,  die  freilich  nicht 
immer  mit  genügender  Kritik  an  den  Stoff  herantreten;  ferner  auf  die  grösseren 
Werke  der  politischen  Geographie,  welche  letztere  im  Stoff  mit  der  Staats- 
kundc grossentheils  zusammcnfällt;  und  auf  die  spccicllen  Staatskunden  ein- 
zelner Länder,  welche  Werke  sammt  und  sonders  den  wirtschaftlichen  Verhält- 
nissen grössere  oder  geringere  Aufmerksamkeit  schenken , einzeln  übrigens  natürlich 
von  sehr  verschiedenem  Werthe  sind. 

Einzelne  wichtige  Seiten  der  Volkswirtschaft  finden  ihre  eingehendste  Be- 
handlung in  den  zahlreichen  Pnblicationen  der  statistischen  Bureaux  unserer 
modernen  Staaten,  besonders  der  Ackerbau,  der  Handel,  die  Communicationsmittel,  die 
Creditanstalten,  die  Finanzen,  weniger  die  gesammte  Industrie,  doch  haben  neuere  ge- 
werbe^tatistische  Aufnahmen  hier  jetzt  die  Lücken  zu  vervollständigen  begonnen  (vgl. 
bes.  Preuss.  Statistik  N.  XXXX,  Ergebniss  der  Gewerbezählung,  Berl.  1878;  Engel, 
d.  iudustr.  Enquete  u.  d.  Gewerbezähl.  u.  s.  w.  Berl.  1878).  Reich  an  schönen  mono- 
graphischen Arbeiten  im  Gebiete  der  volkswirtschaftlichen  und  Socialstatistik  sind 


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Vorbemerkungen  und  Litteratur. 


429 


besonders  die  von  Engel  begründeten  Zeitschriften  des  K.  Sächsischen  uud  K. 
Preussischen  Statist.  Bureau,  mit  ihren  neueren  Fortsetzungen  unter  Böhmert 
und  Blenck.  die  von  v.  Hermann,  später  eine  Zeit  lang  von  G.  Mayr,  jetzt  von 
Rasp  herausgegebenen  Hefte  und  Zeitschriften  des  K.  Baye rischen  Statist  Bureau, 
die  von  Czörn ig-Fickcr’schen,  jetzt  von  Ina ma-Stern egg  sehen  amtlichen  sta- 
tistischen Publicationen  in  Oesterreich,  die  italienischen  von  Bodio,  die 
belgischen  Verölfentlichungen , die  englischen  Blaubücher,  die  Vcröll'ent- 
lichungen  der  städtischen  Statist.  Bureaux  (Borlin,  Wien  u.  a.  in.),  u.  s.  w. 

Besonders  hervorzuheben  sind,  auch  zu  Zwecken  der  Vergleichung  der  periodi- 
schen Daten,  die  neuerdiugs  immer  allgemeiner  üblich  gewordenen  statistischen 
Jahrbücher,  unter  denen  dasjenige  des  Deutschen  Reichs  nach  Anlage,  Knapp- 
heit und  Vollständigkeit  eine  erste  Stelle  oinnimmt  (begründet  von  Becker,  fort- 
geführt von  v.  Scheel.  13.  Jahrgang  von  1S92).  Ferner  die  Jahrbücher  von  Preussen, 
Italien,  Frankreich  u.  a.  L.  Aehnlich  derartige  Jahrbücher  von  Städten,  unter 
welchen  das  Berliner  (begründet  von  Schwabe,  fortgeführt  von  Böckh)  hervor- 
ragt. Diese  Werke  sind  zum  Theil  als  amtliche  Schriften  an  Stelle  der  früheren 
privaten  „Staatskunden“  getreten,  die  jetzt  seltener  werden. 

Für  wirthschaftlicli  e vergl  eichende  Statistik  auch  mancher  wichtiger  Ge- 
biete sind  v.  Neumann-Spallart's  Ueborsichten  der  Weltwirtschaft  hervorzuhobeu. 
(Letzter  Jahrg.  18S3 — 84,  erschienen  ISST,  Fortsetz,  für  18S5 — 89  langsam  in  Heften 
erscheinend  von  v.  Juraschek.)  Hier  wird  auch  dem  theoretischen  Problem  der 
Messung  des  Volkswohlstands  Aufmerksamkeit  gewidmet  (Jahrg.  18S3— 84  S.  10)  uud 
eine  symptomatische  Messung  der  wirtschaftlichen  Lage  versucht,  nach  primären 
Symptomen  (Veränderungen  der  Production,  der  Consuintion,  Lebhaftigkeit  des  Ver- 
kehrs, Umfang  des  Handels),  nach  secundären  (Güterpreise  und  Arbeitslöhne,  Disconto- 
sätze,  Gründungen  und  Emissionen,  Rentabilität,  Curswerthe,  Fallimente),  und  nach 
reflectorischen  Symptomen  (Arbeiterentlassungen.  Strikes,  Ein-  und  Auswanderung, 
lleiraths-  und  Geburtenfrequenz,  andere  socialethische  Symptome). 

Wichtige  Materialien  bieten  neuere  Enqußton,  besonders  über  Agrarver- 
hältnisse (Italien.  Frankreich,  Baden),  über  Arbeiterverhältnisse;  statistische 
Aufnahmen  über  Armenwesen  (England,  jetzt  auch  Deutschland).  Bcsondres  Ver- 
dienst hat  sich  der  Verein  für  Socialpolitik  durch  seine  inhaltreichen  Sammel- 
arbeiten über  verschiedene  wichtige  wirtschaftliche  Verhältnisse  (bäuerliche  Zustände, 
Wucher,  Wohnungsverhältnisse,  Handel,  Arbeiterverhältnisse  u.  s.  w.)  erworben.  Näheres 
darüber  und  daraus  (wie  auch  in  betreff  der  Enqueten)  in  der  practLchcn  National- 
ökonomie; vgl.  Buchenberger’s  Agrarpolitik  B.  1. 

Hier  können  sonst  nur  einige  wenige  Hauptwerke  besonders  hervorgehoben 
werden.  Weiteres  gehört  in  die  Bibliographie  der  Statistik,  worüber  der  Ka- 
talog der  Hamburger  Commerzbibliothek  und  der  der  Bibliothek  des  K.  Preussischen 
Statistischen  Bureau,  ferner  fortlaufend  Conrad ’s  Jahrbücher  ziemlich  vollständige 
Angaben,  wenigstens  für  die  neuere  Litteratur  enthalten.  Auch  Neumann  (Wien) 
giebt  manche  litterarische  Nachweise  iu  seinen  Uebersichten. 

Für  das  Alterthum,  und  zwar  Griechenland  s.  Böckh,  Staatshaushalt  d. 
Athener,  2.  Auf!..  Berl.  1851,  besonders  B.  1,  daun  das  schöne  Buch  von  Büchsen- 
schütz,  Besitz  und  Erwerb  im  griechischen  Altcrthum;  für  Rom  Fricdländer’s 
Darstellungen  aus  der  Sittengesch.  Roms,  iu  d.  Zeit  v.  Augustus  bis  zum  Ausgang  der 
Antonine,  verschiedene  Aull.,  3.  B.  Auch  die  Werke  über  Staats-  und  Privat- 
alterthümer  der  alten  Welt  enthalten  manches  einzelne  Hierhergehörige  (Mar- 
quardt, Lange  u.  A.  in.). 

Unter  den  etwas  älteren  Werken  der  beschreibenden  Statistik  oder  Staats- 
kunde sind  F.  W.  Schubert’s  Handbuch  der  allgemeinen  Staatskunde  von  Europa, 
G Bände,  Königsb.  1835  11'.,  dann  v.  Malchus,  Statistik  und  Staatenkunde,  Stuttg.  u. 
Tüb.  182G  mit  die  besten  und  für  älteres  Material  noch  am  Eisten  zu  gebrauchen; 
die  späteren  zahlreichen  Schriften  von  v.  Reden  sind  sehr  ungleich  gearbeitet  und 
ungleichen  Werths.  In  der  neuesten  Litteratur  nimmt  Kolb ’s  Handbuch  der  ver- 
gleichenden Statistik,  der  Völkerzustands-  und  Staatenkunde,  7.  Aull.,  Leipz.  1875, 
8.  Aufl.  (verkürzt)  1878,  nach  dem  Reichthum  des  Materials  die  erste  Stelle  ein.  die 
politische  Tendenz  des  Verfassers  trübt  aber  mitunter  die  Darstellung.  Vor  0.  Haus- 
ner’s Statistik  von  Europa  (Lemb.  1SG5)  ist  leider  mehr  zu  warnen  (s.  o.  S.  42G). 


430  3.  B.  Wirthsch.  u.  Volkswirthsch.  5.  K.  Kennzeichen  d.  Volkswohlstands.  §.  1S4.  185. 

In  nuce  findet  inan  die  wichtigsten  Daten  über  Bevölkerung,  Finanzen,  Handel,  Schiff- 
fahrt, Comniunicationen  u.  s.  w.  für  alle  Culturländer  am  Vollständigsten,  Zuverlässigsten 
und  Neuesten  stets  in  dem  Gothaer  gencalog.  Taschenbuch,  besonders  seit 
der  Kodaction  von  Herrn.  Wagner  (bis  incL  1876),  und  seinen  Nachfolgern;  ferner 
in  M.  Block ’s  Annuairc  de  l’economio  polit.  et  de  la  Statist.,  Par.,  und  Martin's 
Statesman's  Yearbook. 

Unter  den  Werken  der  politischen  Geographie  nimmt  das  jetzt  freilich  in 
seinen  Daten  inannichfach  veraltete  grosse  Werk  von  Wappäus,  Handbuch  der 
Geographie  und  Statistik,  Leipzig  1849 — TU,  in  Verbindung  mit  anderen  Gelehrten 
(Brachelli  u.  A.  m.)  herausgegeben,  später  mit  einzelnen  Fortsetzungen  (von  Bra- 
ch eil  i Uber  Oesterreich,  Deutsches  Reich  u.  s.  w.  u.  A.)  versehen,  die  erste  Stelle  ein. 

Filr  einzelne  moderne  Staaten  sind  ausser  den  genannten  statistischen  Publi- 
cationen  aus  etwas  früherer  Zeit  etwa  zu  nennen:  Grossbritannieu,  Porter, 
progr.  of  tho  nation,  3.  cd.  Loud.  1851,  M’Culloch,  Statist,  account  of  the  Brit. 
empire,  2 vol.  1837  u.  1839,  auch  Tooke  a.  Newmarch,  Hist,  of  prices,  6.  vol, 
1S37  ff.  — 1857,  deutsch  von  Asher.  2 B.,  Drcsd.  1S58 — 59.  — Frankreich, 
ältere  Schrifteu  von  Chaptal,  de  findustr.  franc.  P.  1819  II,  Dupin,  forces  pro- 
duct.  etc.  de  la  Fr.  1827,  II,  Schnitzler,  de  la  creat.  de  la  rieh,  et  des  intßr. 
mater.  en  France  P.  1842,  II.  ders.  Statist,  gener.  de  la  Fr.  P.  1846,  II,  M.  Block, 
Statist,  de  la  France,  2.  6d.  Par.  1875,  1.  B.  — Deutschland  v.  Vicbahn.  Sta- 
tistik des  zollver.  u.  nördl.  Deutschlands,  3.  B.,  Berl.  1858 — 68  (Hauptwerk).  G.  Neu- 
mann, d.  Deutsche  Reich,  1.  B.  1874.  Preussen:  Krug,  Betracht,  überd.  National- 
reichth.  <i.  preuss.  Staats.  Berl.  1805,  II,  Dieterici,  d.  Volkswohlst.  im  preuss.  Staate, 
Berl.  1846.  ders.,  Handb.  d.  Statist,  d.  preuss.  Staats,  1861.  Meitzen,  d.  Boden  u.  d. 
landwirthsch.  Verhältn.  d.  preuss.  Staats,  4.  B. , Berl.  1868  ff  (Hauptwerk).  Keller, 
Preuss.  Staat,  2.  Aufl.,  Berl.  1873  (2.  B.  des  „Deutschen  Reichs“).  Sachsen;  ältere 
Arbeiten  von  Engel,  bes.  Jahrb.  1851.  — Oesterreich:  v.  Czörnig,  Oesterreichs 
Neugestalt.,  Stuttg.  1858,  Spicker,  Statistik  von  Oesterreich-Ungarn,  Wien  1878.  — 
Russland:  v.  Haxthausen’s  Studien  Uber  Russl.,  3 B.,  Hannover  1847,  (auch 
franz.ös.).  v.  Reden.  Russlands  Kraftelemente,  Frankf.  1854,  v.  Tögoborski,  forces 
prod.  de  la  Russie,  1854,  II,  de  Buschen,  forc.  prod.  de  la  Russie,  Par.  1S67. 
Schnitzler,  l’cmpire  des  tsars,  Par.  et  Strassb.,  3 vol.,  1862  ff.  — 66,  v.  Saurow, 
das  russische  Reich  in  s.  finanz.  ökon.  Entwickl.  seit  d.  Krimkriege,  Leipzig  1873. 
Leroy-Beaulieu,  l’empire  de  tsars  et  les  Russes.  Par.  1882.  — Schweiz: 
Emminghaus,  die  Schweiz.  Volkswirtschaft,  Leipzig  1863.  M.  Wirth,  allgem. 
Beschreib,  u.  Statist,  d.  Schweiz,  Zur.  1871  (Land,  Volk,  Verkehr,  Versicherungswesen, 
Justizstatistik).  — Belgien:  Horn,  Statist.  Gemälde  v.  Belgien,  1853  u.  v.  a.  m.  — 
Bigelow,  etats  Unis  d’Amer.  en  1863,  Paris  1863.  Straus,  les  Et.  Unis,  Paris 
1867.  — M.  Block,  ein  Wendcpunct  in  America,  Vierteljahrsschr.  f.  Volkswirthsch. 
1873,  IV,  157  ff.;  von  älteren  Werken:  K.  Andree,  Nordamerica,  Braunschw.  1851. 
— Vgl.  auch  die  oben  S.  411  gen.  Littcratur  über  Volkseinkommen  u.  s.  w.  und  die 
Arbeiten  über  Verteilung  des  Volkseinkommens  v.  Sötbeer  (Arbeiterfreund,  1S75 
S.  273  ff.  ders.  im  D.  Hand.bl.  1877,  1878  über  Preussen,  Gr.-Brit.).  Laspeyres 
eb.  1875  N.  41.  Michaelis,  Gliederung  der  Gesellschaft.  Weitere  Nachweise  hin- 
sichtlich der  einzelnen  wichtigeren  Kennzeichen  des  Voikswohlstands  s.  unten  in  den 
einzelnen  Paragraphen. 

In  neuerer  und  neuester  Zeit  tritt,  wie  bemerkt,  diese  Art  „Staatskunde“,  be- 
sonders in  Deutschland,  vor  den  amtlichen  statistischen  Werken  immer  mehr  zurück. 
Unter  letzteren  befinden  sich  aber  auch  mitunter  schildernde,  darstellende,  die  eine 
Art  Staatskunde  geben,  Kreisbeschreibungen  u.  dgl.  Hierhin  gehören  auch  Arbeiten 
in  den  Wurttemberger  Jahrbücher,  in  der  Bavaria,  Schilderungen  von  Land  und 
Leuten,  von  allgemeinen  Culturverhältnissen.  Ganz  wird  durch  das  Alles,  auch  durch 
den  reichhaltigen  Zahlenapparat  der  statistischen  Jahrbücher  indessen  die  ältere  „Staats- 
kunde“ nicht  ersetzt. 

I.  — §.  185  [110,  111],  Geschichtliche  und  statistische 
Th at Sachen  als  Kennzeichen  des  Volkswohlstands1). 

*)  Ueber  den  letzteren  Ausdruck  als  technischen  in  der  Politischen  Oekonomic 
s.  folgendes  Buch  4. 


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Thatsachen  als  Kennzeichen  des  Volkswohlstands. 


431 


Der  Wohlstand  eines  Volks,  an  und  für  sich  und  in  Vergleichung 
mit  demjenigen  einer  früheren  Zeit  und  anderer  Völker  betrachtet, 
lässt  sich  durch  mancherlei  Kennzeichen  ermitteln,  die  in  be- 
stimmten That8achen  des  Volkslebens  und  der  Volkswirtschaft 
liegen.  Diese  Thatsachen  müssen  zu  diesem  Zwecke  beobachtet, 
gesammelt,  gesichtet  und  systematisch  verarbeitet  werden.  Es  ge- 
schieht dies  tlieils  durch  die  Geschichte,  insbesondere  die 
Wi rth schafts-  und  Culturgeschichte  der  Völker,  theils  und 
im  Ganzen  genauer  und  vollständiger  in  einer  sicherere  Schlüsse 
gestattenden  Weise,  durch  die  systematische  Massenbeob- 
achtung der  Statistik  Uber  Bevölkerungs-,  ökonomische  und 
sociale  Verhältnisse.  Die  betreffenden  Thatsachen  überliefert  die 
Statistik  alsdann  der  beschreibenden  Disciplin  der  sogenannten 
Staatskun  de. 

Vgl.  1.  Buch,  Kapitel  2 von  der  Methode,  bes.  §.  70,  SO  ff. 

Um  solche  Thatsachen  für  den  hier  besprochenen  Zweck  ver- 
wenden zu  können,  müssen  sie  bestimmte  Anforderungen  erfüllen. 
Sie  müssen  nemlich  so  gewählt  werden,  dass  aus  ihnen  nicht  nur 
auf  die  Höhe  des  Volkseinkommens  und  Volksvermögens,  sondern 
auch  auf  die  Vertheilung  derselben,  daher  auf  die  Güter- 
arten oder  Gebrauchswerthmengen,  aus  denen  sie  be- 
stehen, und  besonders  auf  die  Th  ei  ln  ah  me  der  Massen  des 
Volks,  der  unteren  Classen  am  Consum  der  Güter,  und  auf 
die  Verwendung,  welche  die  reicheren  Classen  von  ihrem 
Einkommen  und  Vermögen  machen,  geschlossen  werden  kann. 

Es  kommen  hier  die  im  folgenden  Buche  in  der  Lehre  vom  Bedarf  und  Aus- 
kommen zu  erörternden  Momente  in  Betracht. 

Nach  diesen  Gesichtspuncten  lässt  sich  folgendes  Schema 
der  Kennzeichen  des  Volkswohlstands  aufstellen. 

Dasselbe  enthält  nur  Hauptrubriken.  Die  Ausfüllung  dieser  Rubriken  mit 
den  bezüglichen  Thatsachen  der  Geschichte  und  .Statistik  ist  nicht  die  Aufgabe  der 
Volkswirtschaftslehre,  sondern  der  beiden  Disciplinen,  welche  die  Thatsachen  sammeln 
und  sichten,  der  Geschichte  und  der  Staatskunde. 

II.  — §.  186  [112].  Einzelne  Kennzeichen  des  Volks- 
wohlstand s. 

A.  Die  materielle  Lage  des  Volks  im  Ganzen,  daher 
namentlich  seiner  unteren  Classen,  welche  die  grosse  Mehrzahl 
im  Volke  bilden. 

1)  Die  Bevölkerungsverhältnisse,  welche  unter  einem 
statistisch  nachweisbaren  deutlichen  Einflüsse  der  materiellen  Lage 
des  Volks  stehen. 


432  3.  B.  Wirtlisch,  und  Yolkswirthscl».  5.  K.  Kennzeichen  d.  Volkswohlstand»  §.  186. 

Hauptwerk  gerade  auch  ftlr  die  Interessen  des  Nationalökonomen:  Wappäus, 
Bevölkerungsstatistik,  Leipz.  1859 — 61,  2.  B„  an  Keichthum  des  Inhalts,  Sorgfalt  der 
Bearbeitung,  feinen  Bemerkungen  unerreicht;  jetzt  natürlich  in  den  Daten  etwas  ver- 
altet, was  aber  die  Brauchbarkeit  des  Werks  für  die  Zwecke  des  Nationalökouomeu 
wenig  beeinträchtigt.  Eine  neue  Auflago  des  vergrilfeneu  vortrefflichen  Werks  leider 
seit  des  Verfassers  Tode  nicht  in  Aussicht.  Kein  neueres  Werk  bietet  vollen  Ersatz. 
Weitere  Litteratur  ebendaselbst.  Von  Wichtigkeit  sonst  besonders  die  anthropolo- 
gische, statistische  und  moralstatistische  (incl.  crirn  inalstatis  tische) 
Litteratur  in  Anknüpfung  au  die  Bevölkerungsstatistik,  siehe  namentlich  A.  Quetelet, 
l’homme  et  de  developp.  de  ses  facultes,  Par.  1835,  deutsch  von  Kiecke,  Stuttg. 
1838,  2.  Aufl.  unter  d.  T.  Physique  sociale,  2 vol.  Bru.\  , Par.  1869  (naturalistisch- 
mechanist  Auffassung),  ferner  A.  v.  Octtingen,  Moralstatistik  l.Auff,  Erlangen  1867, 
2.  Aull.  1874,  3.  Aull.  1882  (social  - ethische  Auffassung  von  epochemachender  Be- 
deutung). (i.  Mayr,  die  Gesetzmässigkeit  im  Gesellschaftsleben,  statistische  Studien. 
(B  23  d.  „Naturkräfte**),  München  1S77.  W.  Lexis,  Aufs.  Anthropologie  und  Anthro- 
pometrie  im  Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften,  B.  I,  S.  318,  Litteratur  hierüber 
daselbst  S.  335.  S.  ferner  unten  Buch  4,  Kap.  1. 

Be8ouders  wichtig  ist: 

a)  die  u a t ti  r 1 i c h e Be  w e g u n g <1  e r B e v ö I k e r u n g , welche 
sich  iu  den  Thatsaehen  der  Statistik  der  Geburten,  Heirathen 
Todesfälle,  in  der  sehliesslichen  Bilanz  zwischen  Ge- 
hurten und  Todesfällen,  daher  in  der  Vermehrung  oder  Verminderung 
der  Volkszabl  ausdrlickt. 

« 

• 

Im  Einzelnen  ist  hier  noch  besonders  zu  beachten  die  allgemeine  Sterb- 
lichkeit, namentlich  die  Kindersterblichkeit,  das  Durchschnittsalter  der 
Gestorbenen  unter  Ausschluss  der  Kinder  (z.  B.  der  über  10-  oder  wenigstens  der 
Uber  5jährigen  Personen),  die  wahrscheinliche  und  die  mittlere  Lebensdauer, 
die  Yerthcilung  der  Altersclasse n in  der  Bevölkerung,  die  Sterblichkeit  in 
den  verschiedenen  socialen  und  ökonomischen  Classen,  die  Todesursachen, 
das  Ileirathsalter  der  Getrauten,  die  Com bination  cn  zwischen  dem  Heirathsalter 
der  Männer  und  Frauen  u.  a.  m. 

Geber  die  Methoden  der  Berechnung  der  Sterblichkeit  und  das  iu  der  prac- 
ti sehet»  Statistik  noch  ungelöste  Problem  der  Bezifferung  der  wahren  mittleren  Le- 
bensdauer s.  Wappäus  a.  a.  0.,  Hopf  in  Kolb’s  Statistik  S.  814  ff.,  7.  Aufl.,  L. 
Moser,  Gesetze  der  Lebensdauer,  Berl.  1839,  G.  Meyer,  mittlere  Lebensdauer,  iu 
Hildebr.  Jahrb.  VIII  (1867),  S.  1,  und  besonders  die  neuere  mathematisch-statistische 
Litteratur:  G.  F.  Knapp,  Ermittlung  der  Sterblichkeit  aus  den  Aufzeichnungen  der 
Bevölkerungsstatistik,  Leipz.  1867,  ders.,  Sterblichkeit  in  Sachsen.  Leipz.  1869,  ders., 
Theorie  des  BevölkerungswccbscI,  Braunschw.  1874,  Zeuncr,  Abhandlungen  aus  der 
mathematischen  Statistik,  Leipz.  1S69,  Becker,  Zur  Berechnung  von  Sterbetafeln  an 
die  Bevölkerungsstatistik  zu  stellende  Anforderungen,  Berlin  1874,  Lexis,  Einleitung 
in  die  Theorie  der  Bevölkerungsstatistik.  Strassb.  1875.  Böckh,  preussisebe  Sterb- 
lichkeitstafol,  Hildebr.  Jahrb.  1875,  B.  25,  S.  201,  Lewin,  Bericht  Uber  die  zur  Be- 
rechnung von  Sterbetafeln  an  d.  Statist,  z.  stellend.  Anforderungen,  Budapest  1876. 
Oldendorf f,  Einfluss  der  Beschäftigung  auf  die  Lebensdauer  der  Menschen,  Berl. 
1878.  Wes  te  rga ard  , Statistik  a.  a.  0.  Rümelin  im  Schönberg’schcn  Handbuch.  3. 
A.  I,  749. 

b)  Die  (räumliche)  Bewegung  („Wanderung“)  der  Be- 
völkerung, welche  durch  Ein-  und  Auswanderung,  besonders 
durch  die  gewöhnlich  tieferen  ökonomischen  und  socialen  Gründen 
zuzuschreibende  Massen-Ein-  und  Auswanderung,  ferner  durch 
Ab-  und  Zuzug  der  Bevölkerung  im  Inlande  vom  platten 
Lande  in  die  Städte  (selten  umgekehrt)  stattfindet. 


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Einzelne  Kennzeichen. 


433 


S.  im  2.  Theil  der  Grundlegung  die  Ausführungen  Uber  diese  Puncte. 

c)  Der  Gesundheitszustand  der  Bevölkerung  ini  Ganzen 
wie  bei  den  verschiedenen  Classen,  auch  bei  den  Altersclassen. 

Wichtig  sind  bes.  .amtliche  öffentliche  Berichte  Uber  den  Gesundheits- 
zustand, vornemlich  in  kritischen  wirtschaftlichen  Zeiten,  so  in  England 
während  der  Baumwollnoth.  Report  on  public  Health,  f.  1863,  Lond.  1S64,  u.  a.  in. 
Jetzt  allgemeine  periodische  Berichte  des  deutschen  Keichsgesundheitsamtes  über  Ge- 
sundheitszustand grosser  Städte.  — Hirt,  Krankheiten  der  Arbeiter,  Breslau  1877.  — 
Statist.  Jahrbuch  der  Deutschen  Reichs  1892,  S.  155. 

d)  Die  Zahl  und  Lage  der  Armen,  welche  auf  öffentliche 
oder  private  Mildthätigkeit  angewiesen  sind. 

Besonders  entwickelte  Statistik,  in  Zusammenhang  mit  der  Gesetzgebung  über 
Armenptlege,  in  England.  Statistik  des  Deutschen  Reichs,  Neue  Folge  B.  29  über 
öffentliche  Armenpflege,  Auszug,  Statist.  Jahrb.  f.  1891,  S.  193. 

e)  Zahl  und  Arten  der  im  Lande  begangenen  Verbrechen 
und  Vergehen  (Criminalstatistik);  zeitliche  und  riium- 
liehe  Veränderungen  darin. 

Vcrgl.  darüber  besonders  Quetelct,  phys.  soc.  II.  249  fl'.,  v.  Oettingen. 
2.  Auf!.,  S.  338  fT.,  A.  Wagner,  Gesetzmässigkeit  I,  26  ff.;  Uber  das  verwandte  Ge- 
biet der  Selbstmordstatistik  eb.  I,  21  fT.  u.  II,  102—295,  Oettingen,  S.  689  fl. 
(iuttstädt  in  d.  Preuss.  Stat.  Ztschr  1874,  S.  248  i;  Guerry,  stat.  morale  de 
l’Anglct.  et  de  la  France,  Par.  1864  (darüber  die  Besprechung  von  mir  in  der  Tüb. 
Zeitschr.  XXI.  (1865),  S.  273 — 291);  G.  Mayr,  Statist,  d.  Bettler  und  Vaganten  in 
Bayern,  München  1865,  vergl.  darüber  auch  v.  Scheel  in  Hildebr  Jahrb.  1866,  VI, 
455  fl'.;  Mayr,  Statistik  der  gerichtl.  Polizei  in  Bayern,  Heft  16  d.  Beitr.  d.  Statist. 
Bureaus.  1867,  u.  and.  Aufs.  dess.  Verfass.;  auch  ders.  in  s.  Gesctzmässigk.  im 
Gesellschaftslebcn,  S.  327  ff.  — Criminalstatistik  des  Deutschen  Reichs,  Statistik,  Neue 
Folge  B.  8,  13,  18,  23,  30,  37,  45,  52;  Auszüge  im  amtlichen  Jahrbuch. 

2)  Der  Arbeitslohn  für  gemeine  Handarbeit  und  für  die 
verschiedenen  Arten  der  qualifieirten  (höheren)  Arbeit. 

Er  kommt  nicht  nach  seinem  Geldbeträge,  sondern  nach  seinem  Betrage  in  ge- 
eigneten Arbciterconsumptibilien  oder  als  effectiver  oder  Rcallohu  in  Betracht.  Bei 
Geldlöhnen  müssen  also  die  Preise  der  bezüglichen  Artikel  mit  beachtet  werden. 
Besonders  wichtig  ist  die  zeitliche  und  locale  Bewegung  des  Lohns.  Sodann  sein 
Verhältniss  zur  Bewegung  des  ganzen  Volkseinkommens,  daher  nament- 
lich auch  die  Bewegung  des  Gesammtbetrags  der  Löhne  zu  derjenigen  des  Betrags  des 
Renteneinkommens  (Rodbertus’  Standpunct  zur  Frage). 

Vergl.  v.  d.  Goltz,  Ber.  über  d.  Lage  d.  ländl.  Arbeiter  im  Deutsch.  Reiche, 
Berl.  1875,  ders.,  die  ländl.  Arbeiterfrage,  2.  Aufl.  1874.  Laspeyres  in  d.  Tüb. 
Zeitschr.  1876  B.  32,  Hamburger  amtl.  Statist.  Heft  IX,  1876,  Beitr.  z.  Statist,  d. 
Löhne  u.  Preise  S.  114  ff.  (Daten  aus  d.  grossen  II.  C.  Mcyer’schen  Stockfabr.).  — 
V.  Böhmer t,  Methoden  d.  soc. -Statist.  Untersuchungen  mit  besonderer  Rücksicht  auf 
die  Statistik  der  Preise  und  Löhne,  in  d.  Zeitschr.  f.  Schweiz.  Statist.  H 3,  1874 
(reicher  Inhalt).  Englische  Enquöten  über  die  Lage  der  Industrie-Arbeiter;  in 
Deutschi.  f.  d.  J.  1875  vom  Reichskanzleramt  angeordnet  u.  Ergebnisse  veröffentlicht. 
A.  v.  Studnitz,  nordam.  Arbeiterverhältnisse,  Leipzig  1879.  Vergl.  auch  Lange, 
Arbeiterfrage,  Ncumann  a.  a.  0.,  bes.  283  ff.,  K.  Strassburger,  Statist.  Beitr.  z. 
Lehre  v Arbeitslohn.  Hildebr.  Jahrb.  XVIII,  125  ff.  (Jenaer  Sctzerlohn,  geschichtlicher 
Rückblick).  Für  die  neueste  Zeit  (seit  1879)  genügt  es,  hier  auf  den  reichhaltigen 
Aufsatz  V.  Böhmer t’s  über  Statistik  des  Arbeitslohns  im  Handwörterb.  d.  Staats- 
wiss  I,  692 — 723  für  Thatsachcn,  Erhebungsmethoden  zu  verweisen,  sowie  auf  die 
Littcraturangaben  daselbst  S.  723. 

A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlagen . 


28 


434  ■'!.  B.  Wirthsch.  und  Volks  wirthsch.  5.  K.  Kennzeichen  d.  Volkswohlstands.  §.  lSß 

3)  Die  Hauptnahrungsstoffe  der  Masse  des  Volks. 

Rangstufe  der  Brotstoffe.  Menge  des  Consums.  Unterschied  von  Stadt  und  Land. 
Preis  des  Artikels.  Mängel  der  Statistik  in  Betreff  der  inländischen  Production.  S. 

o.  S.  412  und  die  gen.  Arbeiten  des  Wiener  Neu  in  arm;  auch  Neuinan  n (TQb.) 
a.  a.  0.  S.  2S0.  L.  Levi,  history  of  british  commerce,  Lond.  1S72,  p.  497  (Consuin 

p.  Kopf  von  verschiedenen  Producten  1840 — 70). 

4)  Consuni  animalischer  Producte. 

Gattung,  Menge,  Preis,  Unterschied  von  Stadt  und  Land.  Zunahme.  Gleich- 
falls Mängel  der  Statistik.  Schin oller,  hist.  Entwickl.  d.  Fleischconsums,  sowie  d. 
Vieh-  und  Fleischpreise  in  Deutschi.,  Tilb.  Ztschr.  XXVII  (1871)  S.  284  ff.,  ders. . 
Grösse  d.  preuss.  Vichstands  v.  1802 — 07  in  d.  Neuen  landw.  Ztg..  1871.  eine  Arbeit, 
deren  ungünstige  Schlüsse  indessen  eingehend  widerlegt  werden  durch  die  trefflichen 
„agrarstatistischen  Studien"  Conrad ’s,  Hildebr.  Jahrb.  XVIII  (1872),  21  ff.  (ähn- 
lich von  G.  Haussen,  Funke).  Vergl.  auch  Neumann  (Tüb.)  a.  a.  0.  S.  2S1. 
.800,  Neumann  (Wien)'  Uebcrsichten  I,  S.  07  ff. , Lambl,  Depecoration  (Vieh- 
abnahme) in  Europa,  Leipzig  1878.  üeber  die  Consumtion  von  Getreide  und  Fleisch 
in  den  prcussischen  ehemaligen  mahl-  und  schlachtsteuerpflichtigen  Städten,  für 
die  bei  uns  allein  eine  sichere  Berechnung  möglich  war,  s.  d.  Zeitschr.  d.  Preuss. 
Statist.  Bureaus. 

5)  Consum  sogen.  Luxusnakrungsstoffe  und  Reiz- 
mittel der  Masse  des  Volks. 

Gattung  (Tabak,  Zucker,  Kaffee,  Thec,  Gewürze),  Menge.  Preis.  Consumtions- 
verhältnisse  der  Einkommenclassen.  Zuverlässigere  Daten  über  die  consumirtc  Menge 
als  bei  dem  Hauptnahrungsstoff  und  bei  Fleisch  liegen  über  diese  Artikel  vor,  weil 
diese  meistens  in  unseren  Ländern  aus  dem  Auslande  bezollt  eingehen  und  dabei  leicht 
die  Menge  ermittelt  werden  kann  und  weil  auch  die  inländischen  hierher  gehörigen 
Producte  einer  Steuer  zu  unterliegen  pflegen  (Tabak,  Zucker). 

Besonders  beliebte  Daten,  um  den  „Fortschritt“  des  Wohlstands  und  zwar  auch 
unter  der  Masse  des  Volks  nachzuweisen,  so  in  England  seit  den  liberalen  Tarif- 
und  Accisereformen  der  40er  Jahre,  deren  Einfluss  übrigens  auch  wegen  des  Bruchs 
des  britischen  Colonialmonopols  u.  der  dadurch  bewirkten  abnormen  Preisreduction 
besonders  stark  war  (Zucker!).  Für  Deutschland  mancherlei  Berechnungen  in 
Hirth’s  Annalen.  Vergleichungen  verschiedener  Länder  bei  Kolb,  S.  808,  bei 
Neu  mann  (Wien)  in  den  Uebersichtcn.  Für  das  Deutsche  Reich  im  statistischen 
Jahrbuch. 

Abgesehen  von  den  schon  erwähnten  Schwierigkeiten  der  zeitlichen  und  räum- 
lichen Vergleichung  des  Consums  dieser  Waaren  wissen  wir  eben  auch  sonst  meistens 
nur  die  Höhe  des  Durchschnittsconsums  der  Bevölkerung,  aber  nicht  diejenige 
in  den  verschiedenen  Volksclassen.  Denn  dafür  fehlen  fast  alle  Daten,  indem 
gewöhnlich  nicht  einmal  eine  Statistik  der  betreffenden  Waaren  nach  Sorten  und 
Qualitäten  vorliegt,  woraus  für  die  classenweise  Consumvcrthcilung  etwas  geschlossen 
werden  könnte,  da  bekanntlich  die  Verzollung  und  Besteuerung  dieser  Artikel  meistens 
nach  dem  Princip  des  reinen  Gewichtszolls  erfolgt.  Die  Versuche  von  Privatstatistikem 
(in  England  L.  Levi),  den  Consuin  in  den  verschiedenen  Wohlstands-  und  Bevölke- 
rungsdassen zu  ermitteln,  können  daher  nur  sehr  unsichere  Ergebnisse  haben.  Der 
Schluss  aber  aus  der  grossen  Zunahme  des  Gesammtconsums,  in  Verbindung  mit  der 
täglichen  Wahrnehmung,  dass  ncmlich  „offenbar“  diese  Zunahme  überwiegend  auf 
Betheiligung  der  Masse  des  Volks  müsse  zurückzuführen  sein  (in  Deutschland  bez. 
im  ersten  Jahre  in  Preussen  z.  B.  Kaffee  1822  1 .2  Pfund,  1836 — 40  1 .01.  1861  — 66 
1.87,  1S81— 85  2.44,  1886—90  2.38  KiL,  Zucker  1828  3.32  Pfund,  1871—76  im 
Durchschnitt  6.7,  1881 — 86  7.8,  1886 — 90  8.2  Kil.  (Rohzucker)  pr.  Kopf),  ist  zwar 
wohl  nicht  unrichtig,  jedoch  nicht  so  unbedingt  beweisend,  wie  gewöhnlich  ange- 
nommen wird.  Wenigstens  lässt  sich  daraus  m.  E.  nicht  eine  der  Gesammtsteigcrung 
proportionale  Zunahme  des  Consums  der  unteren  Classen  ablciten.  Jene  Genuss- 
mittel  werden  vielmehr  gerade  von  denen , welche  sie  schon  länger  gemessen , in 


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Einzelne  Kennzeichen. 


435 


wachsend  grösserem  betrage  genossen,  was  sich  z.  Th.  selbst  physiologisch  oder 
wenn  man  will  psychophysisch  (im  Fechn  er 'sehen  Sinn)  erklären  lassen  möchte: 
der  Reiz  muss  immer  stärker  werden,  um  denselben  Effect  hervorzurufen.  Die  wohl- 
habenderen Classen,  welche  die  Mittel  dazu  haben,  handeln  hiernach  und  cousumiren 
eben  auch  deshalb  wohl  pr.  Kopf  mehr  (Tabak,  Zucker.  Kaffee,  Thee,  — ähnlich 
Luxusgetränke). 

6)  Con8um  von  Luxusgetränken:  Spirituosen,  Hier,  Wein. 

Genauere  Statistik  aus  denselben  Gründen  wie  im  vorigen  Falle.  Vcrgl.  die 
etwas  älteren  Daten  von  v.  Czörnig,  d.  österreichische  Budg.  v.  1862  vergl.  mit 
anderen,  Wien  1862,  II,  468  1F.  Viel  Statist.  Material  in:  A.  Baer,  der  Alkoholismus, 
Berl.  1878.  Daten  (wegen  der  Besteuerung)  in  allen  amtlichen  Statistiken. 

Die  VerglcichuDg  zwischen  verschiedenen  Zeiten  und 
Völkern  wird  bei  den  Luxusnäbr-  und  Reizmitteln  und  bei  den 
Getränken  indessen  dadurch  sehr  erschwert,  dass  diese  Artikel 
Zöllen  und  Verbrauchssteuern  in  sehr  ungleicher  Höhe  zu 
unterliegen  pflegen. 

Sic  stellen  sich  daher  in  den  einzelnen  Zeiten  und  Ländern,  auch  abgesehen 
von  den  örtlich  und  zeitlich  so  verschiedenen  Productions-  und  Transportkosten , auf 
sehr  verschiedene  Preise,  so  dass  eine  gleich  starke  Consumtion,  z.  B.  auf  den 
Kopf  der  Bevölkerung,  eine  sehr  ungleiche  Belastung  dos  Einkommens  oder  eine  sehr 
ungleiche  wirtschaftliche  Leistungsfähigkeit  beweisen  kann.  Bei  Vergleichen  wird 
daher  zu  beachten  sein,  dass  ein  hoher  Consura  bei  hohen  Steuern  und  Preisen  im 
Ganzen  einen  grösseren  Wohlstand  des  Einzelnen  und  des  Volks  documentirt. 

Ausserdem  ist  aber  der  eigentümliche  Einfluss  des  Vorhandenseins  einer 
billigen  nationalen  Production,  z.  B.  bei  Wein  in  Weingegenden,  und  der  Einfluss 
der  Sitto,  vielleicht  auch  der  Dnsitte,  wie  z.  B.  bei  Branntwein,  zu  beachten,  wovon 
die  ungewöhnliche  Höhe  des  Consums  solcher  Artikel  mit  abhängt.  Auch  die  Fähig- 
keit der  Artikel,  sich  gegenseitig  zu  ersetzen,  was  z.  B.  selbst  von  Bier  und  Kaffee 
in  gewisser  Weise  gilt,  stört  die  Vergleichungen.  Neu  mann  (Tüb.)  in  Ilildebrand’s 
Jahrb.  a.  a.  0.  S.  282. 

Aus  den  angedeuteten  Gründen  ist  die  Vergleichung  des  Steuerertrags,  z.  B. 
von  Tabak,  Woin,  Bier,  Branntwein,  oft  lehrreicher,  als  diejenige  des  Consums 
in  Quantitäten  pr.  Kopf,  so  Czörnig  a.  a.  0.  Deber  die  grosse  Ungleichheit  der 
Finanzzölle  verschiedener  Länder  besonders  bei  Tabak.  Branntwein,  s.  A.  Wagner, 
Art.  Zölle,  Staatswörterb.  X,  860  ff.,  378  ff.,  z.  Th.  nach  Sötbeer,  z.  B.  Tabak  da- 
mals in  England  mit  116 — 129.  im  französischen  Monopol  mit  70 — 80,  im  öster- 
reichischen Monopol  mit  33,  in  Russland  mit  fast  20  Thalcr  besteuert,  im  Zollverein 
Kohtabak  mit  4,  Cigarren  mit  20  Thlr.  pr.  Centner.  Neuere  Daten  über  die  Steuer- 
belastung solcher  Artikel  in  verschiedenen  Ländern  bei  Gerstfcldt,  Beiträge  zur 
Kcichssteuerfrage,  Leipz.  1879.  Freilich  wirkt  auch  die  verschiedene  Finanzlage  der 
Staaten  oder  m.  a.  W.  die  verschiedene  Nothlage  auf  die  Wahl  eines  höheren  oder 
niedrigeren  Steuersatzes  mit  ein,  was  wieder  Schlüsse  aus  solchen  Daten  auf  die  Con- 
sumtionskraft  erschwert. 

Bei  Luxusnährmitteln  und  Getränken  ist  ferner  ein  Fehler 
zu  vermeiden,  welcher  freilich  bei  allen  statistischen  Vergleichungen 
nur  zu  häufig  vorkommt,  jedoch  hier  noch  mehr  wie  in  den  meisten 
anderen  Fällen  stört.  Es  dürfen  nemlich  nur  ungefähr  gleich 
grosse  und  gleich  bevölkerte  Länder,  welche  einigermaassen 
selbständige  Volkswirtschaften  oder  Abtheilungen  von 
solchen  bilden,  nicht  schlechtweg,  wie  besonders  in  der  Staats- 
kunde, „Staaten“  mit  einander  verglichen  werden. 

28* 


436  3-  B.  Wirthsch.  u.  Volkswirthsch.  5.  K.  Kennzeichen  d.  Volkswohlstand»  §.  1S6. 


Denn  kleinere  Staaten  sind  in  volkswirtschaftlicher  Hinsicht  etwa  nur  Provinzen, 
vielleicht  sehr  industrielle  Provinzen,  eines  grösseren  Gebiets.  Im  grossen  Staate 
kommen  ebenso  entwickelte  Landesthcilo  vor,  aber  bei  den  Durchschnittsbercchnungen 
der  Statistik  stellen  sich  die  „Kopfquoten“  niedriger  als  in  jenem  kleinen  Staate,  weil 
Landestheile  verschiedener  Entwicklung  und  Consums  für  die  Berechnung  zusammen- 
gezogen werden.  So  mag  man  z.  B.  Grossbritannien,  Frankreich,  Deutschland,  Oester- 
reich, Italien,  Russland  mit  einander  hinsichtlich  jener  Consumtionen  vergleichen, 
oder  Holland,  Belgien,  die  Schweiz,  nicht  aber  schlechtweg  letztere  Länder  mit  jenen 
Grossstaaten,  sondern  nur  mit  einzelnen  Provinzen  derselben,  z.  B.  mit  deutschen 
Mittelstaaten.  Wird  diese  Regel  unbeachtet  gelassen,  so  führt  die  Statistik  nur  zu 
Trugschlüssen. 

Vgl.  auch  Finanzwissenschaft  I,  3.  A.  S.  25. 

Der  Fehler  hängt  enge  mit  der  geschichtlichen  Entwicklung  der  Statistik  und 
mit  der  m.  E.  unrichtigen,  noch  heute  vielfach  festgehaltenen  Verwechslung  von 
Statistik  und  Staatskunde  zusammen,  (s.  o.  S.  204  und  meine  Abh.  Statistik  a.  a.  0). 
Er  wird  z.  B.  oft  gemacht  bei  Vergleichen  der  Volksdichtigkeit,  dann  von 
Steuern,  von  Umlaufsmitteln  (Geld,  Banknoten,  s.  mein  System  der  Zettel- 
bankpolitik, Frcib.  1875,  S.  189)  in  verschiedenen  Ländern  und  ist  sogar  gesetz- 
lich anerkannt  in  unserm  deutschen  System  der  Matricularbeiträge  nach  gleichen 
„Kopfquoten“.  Reuss  ä.  L.  und  Prcussen,  Russland  und  Lichtenstein  werden  dann 
verglichen ! 

7)  Die  Wobuungsvcrh ältnisse,  besonders  die  städtischen 
und  8pccieli  die  gross  städtischen. 

Darüber  hat  die  neuere  Statistik  in  Verbindung  mit  den  Volkszählungen  sehr 
genaue  und  interessante  Aufschlüsse  für  einige  Orte  gewährt.  Zahl,  Beschaffenheit, 
Einrichtung  der  Wohnräume  u.  s.  w. 

Vergi.  namentlich  die  schöne  Bearbeitung  des  Berliner  statistischen  Materials 
in  II.  Schwabe’s  Berl.  Volkszähl.  v.  1867,  Berl.  1869  u.  v.  1871,  Berl.  1874;  seit- 
dem von  Böckh  in  d.  amtl.  Sehr.  Bevölker.,  Gebäude-  u.  Wohn.aufn.  in  Berlin  1875, 
Berlin  18*8  Heft  2 und  in  den  gleichen  Veröffentlichungen  über  die  neueren  Volks- 
zählungen; desgl.  f.  Hamburg  in  d.  dort.  amtl.  Statist  Heft  9,  Hamb.  1878  und 
später;  desgl.  für  andere  Städte,  z.  B.  f.  Leipzig  (Knapp,  Hasse),  für  Pest  die 
Arbeiten  von  Körösi.  Alles  für  die  Frage  der  Wohlstandsgliedcrung  der  Gesellschaft 
verwerthet  in  Michaelis’  gen.  Schrift:  für  diesen  Zweck  ist  dies  Material  allein 
nicht  brauchbar  genug,  aber  es  wirft  einige  charactcristischo  Streiflichter  auf  öko- 
nomische und  sociale  Zustände.  S.  auch  Neu  mann  (Tüb.)  in  Hildebr.  Jahrb.  a.  a.  0. 
S.  314  ff.  Neueste  Litteratur  über  die  Wohnungsfrage  in  G.  Schön berg’s  Abh.  ge- 
werbliche Arbeiterfrage  in  seinem  Handbuch  (II,  3.  A.  S.  671)  zusammengestellt. 
Daselbst  Behandlung  der  ganzen  Frage  S.  670  ft.,  733  ft'.,  771. 

B.  Aufwand  für  verbreitete  feinere  Bedürfnisse. 

1)  Befriedigung  der  Existenzbedürfnisse  zweiten 
Grads:  qualitativ  bessere  Befriedigung  besonders  des  Nahrungs-, 
Wohnungs-,  Kleidungsbedürfnisses. 

Die  Schlüsse  aus  Consumverschiedenheitcn  der  Zeiten  und  Völker  auf  entspre- 
chende Unterschiede  des  Wohlstands  verlangen  freilich  wieder  Vorsicht,  weil  klima- 
tische Einflüsse,  zufällige  Volkssitten  u.  dorgl.  m.  auf  jene  Verschieden- 
heiten besonders  mit  einwirken. 

Z.  B.  beim  Gebrauch  von  Teppichen  (England,  feuchtes  Klima).  — Bessere 
Wohnungseinrichtung  in  Nord-  als  in  Süddeutschland  im  Mittelstände,  aber  geringere 
Nahrungsqualität.  — In  Berlin  in  der  letzten  Kellerwohnung  Vorhänge  (Gardinen)  an 
den  Fenstern,  in  den  russischen  Ostseeprovinzen  selbst  bei  Bemittelten  mitunter  fehlend. 

2)  Befriedigung  der  Culturbedürfnisse,  besonders  der  Ge- 
rn ei  n bedürfnisse;  der  geistigen  (wissenschaftlichen,  künstleri- 


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Einzelne  Kennzeichen. 


437 


sehen)  Bedürfnisse.  — Verbreitung  der  freien  G e m e i n wirt- 
schaften, der  Einrichtungen  des  caritativen  Systems. 

a)  Umfang,  Inhalt  und  Kosten  der  Staatsleistungen  und  der- 
jenigen der  anderen  öffentlichen  Körper  („Zwangsgemeinwirth- 
schaften“),  besonders  der  Gemeinden,  ohne  Steuerdruck,  Deficit, 
Verarmung. 

Der  Ertrag  der  verschiedenen  Arten  der  Steuern  (Gebühren,  Ein- 
kommen-, Ertrags-,  Verkehrs-,  Verbrauchs-,  Luxussteuern)  in  verschiedenen  Zeiten 
und  Ländern  darf  allerdings  bei  der  Verschiedenheit  des  Staatsbedarfs  (besonders  auch 
wegen  des  Schulderfordernisses!),  des  privatwirthschaftlichen  Staatseinkommens,  der 
Höhe  der  Steuersätze  und  besonders  der  Veranlagungs-  und  Erhebungsmethoden  der 
Steuern  auch  nur  mit  Vorsicht  zur  Schlussziehung  auf  den  relativen  Volkswohlstand 
benutzt  werden. 

Mit  das  Beste  in  vergleichender  Finanzstatistik  immer  noch  von  Czörnig  österr. 
Budget  von  1862.  S.  auch  die  vergleichenden  Finanztabcllen  im  Goth.  Alma  nach 
von  Herrn.  Wagner  (1870er  Jahre),  v.  Riecke,  internationale  Finanzstatistik, 
ihre  Ziele  und  Grenzen,  Stuttg.  1876.  GerstfeldtV  bezügliche  Arbeiten,  bes.  die 
o.  gen.  Schrift  Keichssteuerfrage  und  in  Conrads  Jahrbüchern  (1883,  B.  41 X sowie 
v.  Kaufmann’s  finanzstatistische  Vergleichungen  eb.  (1889,  B.  52). 

b)  Zahl,  Stellung,  Verbreitung  der  den  liberalen  Berufen 
au8ser-und  innerhalb  des  Staats- und  Gemei ndediensts 
Angehörigen. 

Statistik  der  Presse  und  Litteratur,  des  Bücherverkaufs  und  der  Leih- 
bibliotheken, der  Kunstproduction  u.  dergl.  m.  — Preise  der  Güter  für  geistige  und 
andere  Cultu  rbediirfnisse,  der  Leistungen  der  Personen,  welche  solche  Güter  produciren. 

Namentlich  die  Verbreitung  von  Aerzten  lehrreich,  s.  Preuss.  Statist.  Ztscbr. 
1873.  S.  351  ff.  (Vergleich  mit  der  Verbreitung  der  Apotheken,  auch  von  Interesse 
für  die  Frage  der  Gewerbefreiheit  im  Apothekergewerbe.)  Preuss.  amtl.  Statist. 
Heft  43  u.  46  (Beitr.  z.  Medic. Statist.).  Für  das  Deutsche  Reich  in  1876,  Statistik 
B.  XXV,  Sept.hcft. 

Eine  Statistik  über  den  „Bücherconsum“  insbesondere  nach  Classen  der  Bevöl- 
kerung (Berufe)  und  nach  Kategorieen  der  Litteratur,  wäre  von  grossem  Interesse  und 
müsste  sich  besonders  in  Deutschland  bei  der  hier  üblichen  Art  des  Sortimentsgeschäfts 
leidlich  vollständig  und  nicht  allzuschwer  aufstellen  lassen.  Vgl.  auch  v.  öettingen , 
Moralstatist.,  2.  Auf!.,  S.  530  ff. 

Der  Einfluss  der  Volkssitte  bei  allen  Culturbedürfnissen 
erschwert  aber  wiederum  Rückschlüsse  aus  Consumverschieden- 
heiten  auf  den  Volkswohlstand  sehr. 

C.  Aufwand  für  grosse  Unternehmungen  bedeuten- 
den Kapitalbedarfs. 

1)  Monumentale  Gebäude,  öffentliche  des  Staats  und 
der  Gemeinde,  kirchliche,  private.  Beschaffenheit  der  Privatge- 
bäude, woraus  manche  Schlüsse  auf  die  Vertheilung  des  Volksein- 
kommens zu  ziehen  sind,  so  z.  B.  auch  in  Athen  und  Rom. 

2)  Bleibende  Bodenverbcsserungen,  wie  Austrocknungen,  Fluss- 
regulirungen, Wasserableitungen,  Dränirungen. 

3)  Kunststrassen  aller  Art,  besonders  Chausseen  und 
ähnliche,  Kanäle,  Eisenbahnen. 


438  3.  B.  Wirthsch.  und  Volkswirthsch.  5.  K.  Kennzeichen  d.  Volkswohlstands.  §.  ISO. 


Letztere  das  prossartigste  Beispiel  eines  in  kurze  Zeit  zusauimongedrängten  rie- 
sigen Kapitalaufwands  für  wirtschaftliche  Zwecke,  welches  die  Geschichte  kennt. 
Bei  Vergleichen  ist  zu  beachten,  wer  das  Baukapital  stellte,  ob  das  In-  oder 
auch  das  Ausland. 

Erste  englische  Dampf  bahn  1S30,  erste  deutsche  1835  eröffnet!  Eisenbahnnetz 
der  Welt  nach  Sturmer,  Geschichte  der  Eisenbahnen,  Bromb.  1872,  und  im  Goth. 
Alm.  E.  1830  332.  1840  »591,  1850  38.022.  1800  106.986,  1870  221,980.  1873  270.071, 
1870  309,000  Kilometer.  Das  Kilometer  (steigende  Kosten  im  Lauf  der  Jahre!)  kann 
in  der  ganzen  Welt  ungefähr  mit  demselben  Kostenbetrag  wie  in  Deutschland  im 
Durchschnitt  (England,  Frankreich  bedeutend  höher)  veranschlagt  werden,  d.  b.  um 
1870  mit  ca.  210.000  Mark,  Gesammtaufwand  in  47  Jahren,  1829 — 70,  also  ca  05  Mil- 
liarden Mark.  S.  Näheres  in  meiner  Fin.wiss.  2.  Aufl.  I.  S.  592  ff.,  3.  A.  S.  042  If. 
Ende  1889  war  die  Länge  der  in  Betrieb  befindlichen  Eisenbahnen  auf  der  Erde 
595.707  Kil.,  mit  oinern  Anlagekapital  von  128.5  Milliarden  Mark  (215,030  M.  p.  Kil.) 
(Archiv  ftlr  Eisenbahnwesen  1891,  S.  428,  431).  Vor  Uebcrschätzung  unseres  heu- 
tigen Communicationswesens,  wenn  man  nur  von  den  Elisenbahnen  absieht,  hütet 
übrigens  der  Vergleich  mit  dem  Strassennetz  des  altrömischen  Kaiserreichs, 
s.  darüber  H.  Stephan  (der  deutsche  Gencralpostdircctor) , das  Verkehrswesen  im 
Altorthum  in  R&umer’s  histor.  Taschenb.  1808,  und  Friedländer,  Sittenge- 
schichte I,  1 If. 

D.  Internationale  Credit  Verhältnisse.  Die  einzelnen 
Volkswirtschaften  lassen  sich  als  ins  Ausland  Credit  gebende, 
vom  Ausland  Credit  nehmende  und  neutrale  unterscheiden. 

So  schon  Storch  I,  145.  Sehr  wichtiger  Punct  für  Fragen  der  internatio- 
nalen Zahlungsbilanz  und  des  Geld-,  Papiergeld-  und  Bank-,  namentlich  Zcttclbank- 
wesens,  worauf  mit  Recht  besonders  Seyd  in  seinen  Schriften  über  Geld-  und  Bank- 
wesen hingewiesen. 

Der  Credit  kommt  beim  Handel  (Croditfristcn  für  die  Ausfuhr,  Vor- 
schüsse für  die  Einfuhr),  bei  den  verschiedensten  Thätigkeiten  der  Production , 
welche  z.  B.  im  Iulande  mit  ausländischem  Kapital  betrieben  werden,  vor.  Neuer- 
dings spielt  die  wichtigste  Rolle  der  Besitz  internationaler  Werthpapiere 
(Staatsschuldverschreibungen,  Acticn,  Prioritätsobligationen,  Pfandbriefe  u.  s.  w).  Die 
Crcditoren- Volkswirtschaften  sind  nicht  nothwendig,  wenn  auch  gewöhnlich  die  rei- 
cheren, die  Debitoren- Volkswirtschaften  die  ärmeren.  Jene  haben  den  niedrigeren, 
diese  den  höheren  Zinsfuss.  Es  kann  aber  auch  in  crstcren  die  Vcrtheilung  des 
Volkseinkommens  und  Vermögens  eine  so  ungleiche  sein,  dass  bei  grossem  Privat- 
reiehthuin,  neben  vielleicht  nur  massigem  Durchschuittswohlstaud,  viel  Kapital  in  der 
Fremde  angelegt  wird. 

E.  Gesammtbctrag,  Art  und  Grösse  der  Zahlmitte]: 
des  Metallgelds,  Kupfer,  Silber,  Gold;  des  Papiergelds;  der  Bank- 
noten; Checks;  Wechsel  u.  s.  w. ; wobei  die  Grösse  derStticke 
(Münzstückc,  Appoints  des  Papiergelds  und  der  genannten  Geld- 
surrogate) besonders  beachtenswert  ist  und  Rückschlüsse  auf  die 
Höhe  der  Durchscbnittsumsätze  und  dann  wieder  in  Etwas  aut*  den 
Volksreicbthum  gestattet. 

Nur  kann  auch  hier  das  Vorhandensein  grossen  Privatreichthums  die  bloss 
scheinbar  günstige  Gestaltung  der  Zahlmittel,  d.  h.  das  Vorwalten  grosser  Stücke  er- 
klären. Ebenso  überwiegen  die  grossen  Stücke  in  Speeulationszciten. 

S.  meine  Zettelbankpolitik  S.  701. 

Tooke  and  Ncwmarcb,  liistory  of  prices  VI,  560  ff.;  meine  Beiträge  zur 
Lehro  von  den  Banken.  S.  132  ff.  (über  britische  Banken);  mein  Syst.  d.  Zettclbank- 
polit.,  S.  208,  701  (Preuss.  B.),  738  (Franz.  B.),  733  (nordamer.  Bauken).  Uebrigens 


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Verkehrszustände  in  der  Volkswirtschaft. 


43y 


auch  Zusammenhang  der  Bewegung  der  Noten  und  Papicrgeldstückelung  mit  dem  (lang 
der  Geschäfte  in  der  Volkswirtschaft,  s.  eb.  auch  S.  550  ü'.,  und  meine  Russische 
Papierwährung.  Rij>a  1868.  Kap.  4.  — IJcber  Statistik  der  Mefallgeldcirculation  s.  be- 
sonders die  reichhaltigen  und  sorgfältigen  Arbeiten  Sütbccr’s,  die  besten  vorhandenen. 
Zusammenfassung  in  ..Materialen  etc,  betr.  Edelmetallverhältnisse*1,  2.  Aufl.  1880 
(Fortsetzungen  in  Conrad’s  Jahrb.,  zuletzt  1891,  und  in  der  Schrift  von  Sötbeer 
Litteraturnachweis  Uber  Münz-  und  Geldwesen  u.  s.  w. . Berlin  1892);  über  Noten- 
und  Papiergeldcircul.  Paasch e,  in  Conrad’s  Jahrb.  1878,  B.  50,  S.  331  ff.  — Auch 
Neumann's  Ucbcrsichtcn. 

Bei  allen  diesen  Kennzeichen  des  Volkswohlstand«  sind  dann 
die  Veränderungen  im  Zeit  verlauf  besonders  zu  verfolgen. 
Namentlich  ist  zu  prüfen , ob  sich  daraus  eine  durchschnittliche 
Verbesserung  in  der  Lage  der  Masse  des  Volks  und  in  der 
Befriedigung  von  Culturbedtlrfnissen  ergiebt. 


Sechstes  Kapitel. 

Verkehrszustände  in  der  Volks wirthschaft. 

§.  187.  Vorbemerkung  und  Litteratur. 

Es  handelt  sich  hier,  ähnlich  wie  in  den  früheren  Bemerkungen  über  Geld, 
Credit  (§.  143)  nur  um  vorläufig  orientirende  Charactcristik  über  Natural- 
und  Geld  wirthschaft  u.  s.  w,  und  um  Feststellung  der  schwankenden  Ter- 
minologie. Die  genauere  Darstellung  und  Entwicklung  gehört  in  die  theoretische 
Volkswirtschaftslehre,  in  die  Lehre  vom  Verkehrswesen,  z.  Th.  auch  in  die  Agrar- 
und  Gewerbepolitik.  Ich  glaube  daher  hier  den  Wünschen  v.  Scheel’s  in  der  Be- 
sprechung meiner  Grundlegung  in  Hildebrand’s  Jahrb.  28,  S.  134  nicht  nachkommen 
zu  sollen. 

Rau  hat  nur  wenig  Principielles  über  diese  I’uncte  geäussert,  I,  §.  257  (F., 
282  ir.  — Roscher  I.  §.  90.  — Br.  Hildebrand,  Nationalökonomie  der  Gegen- 
wart und  Zukunft,  I,  270  ff.,  und  ders. , ArL  Natural-,  Geld-  und  Creditwirthschaft 
in  s.  Jahrb.  11,  (1864),  1—24.  Er  unterscheidet  die  beiden  Begriffe  der  Natural- 
wirtschaft nicht  genügend  und  beachtet  nicht,  dass  auch  in  der  Creditwirthschaft 
das  Geld  als  Währung  und  Preismaass  bestehen  bleibt,  nur  als  Umlaufsmittel  ersetzt 
wird.  S.  darüber  auch  Knies  in  der  Tüb.  Zeitschr  1800,  S.  154  ff.,  und  Roscher, 
90  Anm.  0 (die  Einwäude  des  letzteren  widerlegt  Hildebrand  in  seiner  Zeitschr. 
S.  23  m.  E.  nicht)  und  v.  Scheel,  der  Begriff  des  Gelds  in  s.  historisch  -ökonomi- 
schen Entwicklung.  Hildcbr.  Jahrb.  1806,  VI,  12  ff.  Jetzt  besonders  Knies,  das 
Geld  und  der  Credit,  ders.,  polit.  Oekonoinie,  2.  A.  III.  Absch.  Nr.  6 bes.  382  ff. 
u.  Credit  II.  S.  20511.  Schönberg,  in  seinem  Handbuch  I,  3.  A.  S.  43  ff. 

Vollständige  Theorie  der  Creditwirthschaft,  unter  Darlegung  ihres  Ver- 
hältnisses zur  Geldwirthschaft,  in  Anknüpfung  an  und  Fortführung  der  Lehren  von 
Tooke  und  F ullarton  (regulation  of  currencies  Lond.  1844)  über  Geld-  und  Bank- 
wesen (sog.  engl.  Banking-school,  gegenüber  der  Overston e-M’Culloch-Pcel’- 
schen  Currency-school)  in  meinen  Beiträgen  zur  Lehre  von  den  Banken,  Leipzig 
1857.  bes.  S.  35  ff.,  und  namentlich  in  meiner  Geld-  und  Crcdittheorio  der  Peel’schen 
Acte,  Wien  1862;  s.  auch  meine  Russische  Papierwährung,  bes.  Kap.  4;  Termino- 
logisches in  meinem  Art.  Papiergeld  im  Staatswörtcrb.  VII,  640  ff.  und  im  Art. 
Credit  in  Rentzsch’  Handwörterb. , woselbst  S.  202  auch  bereits  auf  die  beiden  ver- 
schiedenen Begriffe  der  Natural  wirthschaft  hingedeutet  wird,  ferner  in  meiner  Abh. 
Credit  im  Schönberg'schen  Handbuch,  I,  3.  A.  S.  379  ff.,  443  ff.  S auch  v.  Man- 
goldt,  Grundr.,  bes.  §.  58,  39  u.  ders.,  Art.  Credit  im  Staatswörterb.  VI,  Neu- 
mann (Wien).  Volkswirtschaftslehre,  §.  60  ff,  Nasse’s  einschlägige  Credit-  und 
Bankaufsätze  in  der  Tüb.  Zeitschr.  B.  15,  21,  30,  ders.,  in  dem  Bankartikel  im 


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440  3-  B-  Wirthsch.  u.  Volkswirthsch.  6.  K.  Verkehrszustände.  §.  187 — 189. 

Handwörterb.  d.  Staatswiss.  B.  II,  Hildebrand  (jun.)  Theorie  des  Gelds  1883.  Aus 
der  englischen  Litteratur  bes.  Mill,  polit.  Oekon.  3.  B.  Kap.  11.  12,  13,  24.  und 
Macleod,  theory  and  practicc  of  banking,  2 vol.,  Lond.  1855  (vgl.  darüber,  nam. 
Uber  die  Einseitigkeit  der  M.’schen  Credittheoric  meine  Anzeige  in  d.  Gött.  Gel. 
Anz.  1858,  S.  281  — 307).  und  Dictionary  of  political  cconoiny  I,  unter  den 
terminis  technicis  des  Credit-  nnd  Bankwesens.  Die  Darlegung  in  meiner  Geld- 
und  Credittheorie  der  Peel’schen  Acte  ist,  glaube  ich,  frei  von  den  Maclcod’scben 
Uebertreibungen.  Ich  halte  erhebliche  Aenderungen  daran  auch  den  Macleod’ sehen 
und  Knies  sehen  Schriften  und  derjenigen  von  R.  Hildebrand  (jun.)  gegenüber 
nicht  für  geboten.  S.  ferner  Jevons,  Geld-  und  Geldverkehr,  deutsch  1870.  Auch 
die  Schriften  von  Bagchot  (Lombard-Street),  deutsch  von  Beta,  Berl.  1874,  und  von 
Seyd,  the  Bank  of  Englands  note  issue  and  its  error.  Lond.  1874.  ders,  die  wahren 
Grundsätze  des  Banknotenwesens  u.  s.  w.,  Leipz.  1875  (und  andere  Broschüren  des- 
selben Verf.).  haben  die  in  meiner  erwähnten  Schrift  dargelegtc  Theorie  der  Credit- 
wirthschaft  nicht  wesentlich  anders  auseinandergesetzt  und  die  mit  dieser  Theorie  eng 
zusammenhängende  Polemik  gegen  die  Peel’schc  Acte  nicht  wesentlich  anders  geführt 
als  dies  in  meinen  Schriften  von  1857  und  1801  bereits  geschehen  ist.  Weitere 
Litteratur  in  meiner  Abh.  Credit  im  Handbuch  und  in  den  verschiedenen  einschlä- 
gigen Arbeiten  (von  Kasse.  Lotz,  Lcxis)  im  Handwörterbuch  der  Staatswissen- 
schaften. 

§.  188  [113].  In  der  Volkswirtschaft  lassen  sich  folgende 
Zustiinde  des  Verkehrs  unterscheiden:  einmal  Natural-  und 
Tausch wirthschaft  als  Gegensätze,  sodann  Natural-, 
Geld-  und  Creditwirthschaft  als  Formen  der  Tau  sch  wirthschaft 

I.  Natural  wirtschaftlicher  und  tausch-  oder  ver- 
kehrswirthschaftlicher  Zustand,  in  einem  gegensätzlichen 
Sinne  des  Worts.  Erstercr  bezeichnet  (in  einer  ersten  Bedeutung 
des  Ausdrucks)  hier  einen  solchen  Zustand  der  Volkswirtschaft, 
wo  die  Einzelwirtschaften  noch  mehr  isolirt  für  sich  stehen  und 
die  Eigengewinnung  (Eigenproduction)  der  Güter  für  die 
eigene  Bedürfnisbefriedigung  gegenüber  der  verkehrsmässigen 
Gewinnung  und  daher  auch  dem  Absatz  im  Verkehr  vor  waltet. 
Im  Gegensätze  dazu  ist  der  tausch  wirtschaftliche  ein  solcher 
Zustand,  wo  sich  bereits  eine  gewisse  Arbeitsgliederung,  be- 
sonders auch  der  selbständigen  einzelwirthschaftlichen  Productions- 
betriebe  („Unternehmungen“)  und  in  Folge  dessen  eben  der  Cha- 
racter  der  Einzelwirtschaften  als  Verkehrs wirthschaften 
entwickelt  hat. 

In  primitiven  Verhältnissen  des  Volkslebens  überhaupt,  zumal  unter  älteren 
menschlichen  Gemcinschaftszuständen  (§.  110 ff.),  unter  der  ländlichen  Bevölkerung  ins- 
besondere aber  bis  in  die  Zeit  der  entwickeltsten  Volkswirtschaft  hinein  tiberwiegt 
der  naturalwirthschaftliche  Zustand.  Erst  in  einem  langen  geschichtlichen  Proccss 
entwickelt  sich  die  Verkehrswirthschaft  aus  der  Naturalwirtschaft.  Das  Altertum 
ist  erst  durch  die  „Sprengung  der  agrarisch -industriellen  Wirtschaftseinheit  des 
Oikos“  (Kodbertus)  und  niemals  entfernt  gleich  der  modernen  Welt;  das  euro- 
päische Mittelalter  doch  bereits  in  höherem  Grade  aus  der  Naturalwirtschaft  heraus- 
gekommen. wegen  der  grösseren  Trennung  der  agrarischen  und  der  industriellen  Ar- 
beit in  Land  und  Stadt  — wenn  auch  in  letztrer  „ländliche“  Beschäftigung  nocli 
stark  verblieb  — und  wegen  der  selbständigen  Organisation  der  städtischen  Gewerbe 


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Natural-,  Geld-,  Creditwirthschaft. 


441 


in  den  Städten  (Zunftwesen)  und  in  Folge  des  Ausschlusses  der  meisten  dieser  Ge- 
werbe vom  platten  Lande  (besonders  den  Dörfern). 

II.  — §.  189  [114].  Nach  den  Formen,  in  welchen  sich  der 
Verkehr  im  tauschwirthschaftlichen  Zustande  der  Volks- 
wirtschaft vollzieht,  und  nach  den  Ausgleichungsmitteln, 
deren  er  sich  zur  Bewerkstelligung  der  Umsätze  bedient,  lassen 
sich  drei  Entwicklungsphasen  jenes  tauschwirthschaftlichen  Zu- 
stands unterscheiden,  nemlich  die  natural  wirthscha  ft  liehe 
(in  diesem  zweiten  Sinne  des  Worts),  die  geldwirthschaft- 
liche  und  die  credit  wirtschaftliche. 

A.  In  der  ersten  Phase,  welche  sich  keineswegs  nothwendig 
völlig,  wenn  auch  regelmässig  als  concrete  historische  Erscheinung 
in  einigen  Puncten,  mit  dem  naturalwirthschaftlichen  Zustande  der 
erstgenannten  Art  deckt,  werden  die  Güter  noch  ohne  Vermitt- 
lung des  Geldes  in  natura  gegen  einander  vertauscht: 
eigentlicher  Tauschhandel. 

So  im  Verkehr  ganz  uncultivirter  Völker  („Wilden“)  und  zwischen  ihnen  und 
Civilisirten.  Dass  hierbei  ein  irgend  lebhafteres  Tauschen  überhaupt  noch  nicht  be- 
stehen kann,  ist  natürlich.  Damit  fehlt  aber  auch  weitere  Arbeitstheiiung.  Der  Mangel 
des  Geldes,  deshalb  neben  dem  Mangel  des  Tauschmittels  auch  der  des  gemeinsamen 
Werthmaasses,  nöthigt  daher  von  selbst  zur  vorherrschenden  Eigenproductio  n 
der  wenigen  Güter,  welche  hier  für  die  Bedurfnissbefriedigung  Vorkommen  können: 
insofern  besteht  hier  Nataralwirthschaft  in  beiden  Bedeutungen  des  Worts. 

B.  Die  höheren  Formen  der  Tauschwirtschaft  sind  die 
Geld-  und  die  Creditwirthschaft:  in  jener  dient  Geld  als  Preis- 
maass  und  Tauschmittel  und  wird  durch  Geld  erst  eine  bedeutendere 
Entwicklung  der  Tauschwirtschaft,  eine  stärkere  Herausbildung 
aus  der  naturalwirthschaftlichen  Eigengewinnung  der  Güter,  eine 
grössere  und  festere  Arbeitsgliederung  möglich. 

Der  naturalwirthschafüiche  Zustand  im  ersten  Sinne  schlicsst  die  Geldwirthschaft 
nicht  nothwendig  aus,  d.  h.  die  Einzelwirtschaften  beschaffen  sich  zum  Theil  die 
Güter  schon  unter  Vermittlung  des  Gelds  im  Verkehr  und  produciren  etwas  mit 
für  den  Absatz  gegen  Geld. 

C.  ln  der  Creditwirthschaft  endlich  bleibt  zwar  Geld  als 
Währung  und  Preismaass  bestehen,  aber  es  hört  mehr  und  mehr 
auf,  unmittelbar  als  Tauschmittel  zu  dienen.  In  dieser  seiner  Eigen- 
schaft wird  es  durch  Urkunden  (Dokumente,  Papiere)  aus 
Cred itgeschä ften,  d.  h.  aus  solchen  Geschäften,  wo  zwischen 
Leistung  und  reeller  Gegenleistung  ein  zeitlicher  Zwischenraum 
liegt  (§.  143),  sowohl  durch  solche  Urkunden,  welche  absichtlich 
zum  Zweck  der  Geldfunction  geschaffen  worden  (Papiergeld,  Bank- 
noten, Checks),  als  durch  solche,  welche  aus  Creditgeschäften  zu 


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442  3.  B.  Wirthsch.  und  Volkswirthsch.  (5.  K.  Verkehrszustände.  §.  1S9,  190. 

anderen  Zwecken  hervorgegangen  sind,  aber  sich  zur  Geldfunction 
benutzen  lassen  (girirte  Anweisungen,  Wechsel,  Depositenscheine, 
Postwerthzeichen,  Coupons  u.  s.  w.),  ferner  durch  gewisse  Mecha- 
nismen des  Za h längs-  und  Abrechnungswesens  (Giro- 
einrichtungeu  von  Banken,  Clearing-Häuser)  im  Anschluss  an  jene 
Urkunden,  ersetzt. 

In  der  Creditwirthscliaft  erfolgen  daher  die  Tauschacte,  bez.  die  Käufe  und 
Verkäufe  nur  so,  dass  die  Leistung  unmittelbar  bloss  mit  Versprechen  auf 
Gegenleistung  in  Geld  vergolten  wird. 

Theorie  der  Geldverdrängung  durch  die  Creditwirthscliaft  näher  in  meinem 
Art.  Papiergeld,  Staatswörtcrb.  VII,  650  IT.,  besonders  in  der  Geld-  und  Credittheorie 
der  Peei’schen  Acte  S.  111  ff.,  Abh.  Credit  im  SchOu berg'schen  Handbuch  I.  3.  A., 
S.  143.  Art.  Check  und  Clearing-House  in  Bentzsch'  Handwörterbuch  S.  141 — 151, 
Syst.  d.  Zettclbankpolit.  S.  53,  450,  667.  730,  734  (Statistik). 

Die  Credit wirthschaft  setzt  zu  ihrer  umfassenderen  Entwicklung  selbst  wieder 
eine  grössere  Benutzung  des  Credits  voraus,  namentlich  ein  starkes  Mitspielen  des 
Credits  im  Productiousprocess,  wie  es  erst  bei  hoher  Bechtssicherlieit , weitgehender 
Berufs-Arbeitstheilung  und  grosser  Freiheit  im  Verkehr  vorkommt.  Die  Creditwirth- 
schaft  ist  daher  eine  Verkohrsgestaltung  hoher  Wirthschafts-  und  Culturstufen.  deren 
Glanz-  und  Schattenseiten  sie  besonders  scharf  zeigt.  Sie  führt  zu  einer  grossartigen 
Ersparung  au  Geld,  bez.  bei  uns  an  Edelmetall. 

Das  Verhältniss  der  drei  tauschwirthschaftlichen  Phasen  zu 
einander  ist  aber  nicht  dasselbe.  Die  Creditwirthscbaft  ist  nicht 
in  derselben  Art  eine  Fortbildung  der  Geldwirthschaft,  wie  diese 
eine  solche  der  Naturalwirthscbaft,  denn  sie  hat  selbst  den  Gcld- 
verkehr  und  die  Function  des  Gelds  als  Währung  und  Preis- 
maass  zur  bleibenden  Voraussetzung.  Geschichtlich 
bilden  die  drei  Formen  der  Tauschwirthschaft  überhaupt  nicht 
völlig  getrennte  Zustände  der  Volkswirthschaft,  lösen  sich  nicht 
förmlich  ah,  sondern  bestehen  neben  einander  fort,  nur  dass 
die  ältere  Form  immer  mehr  zurlicktritt.  Das  relative  Ueberwiegen 
in  der  geschichtlichen  Reihenfolge  von  Natural-,  Geld-  und  Credit- 
wirthschaft  giebt  dann  dem  Verkehr  sein  Gepräge  und  führt  zu 
der  Benennung. 

Auch  dabei  aber  ist  zu  beachten,  dass  in  den  verschiedenen  Gebietsteilen 
einer  Volkswirthschaft  und  besonders  in  den  verschiedenen  Gruppeu  der  wirtschaft- 
lichen Arbeit  (Stadt  — Land,  industrielle  — agrarische  Thätigkeit)  gewöhnlich  nicht 
dieselbe  Verkcbrsform  vorwaltet.  Die  Creditwirthscbaft  ist  mehr  die  Verkehrsform 
der  Städte,  der  Industrie,  während  das  platte  Land  vielleicht  noch  fast  ganz  in  der 
Geldwirthschaft  und  teilweise  etwa  auch  noch  in  der  Naturalwirtschaft  im  ersten 
Sinne  der  verwaltenden  Eigengewinnung  der  Güter  steckt. 

III.  — §.  IDO  1115].  Mit  der  Creditwirthscbaft  ist  die  Papier- 
geld wirthschaft  nicht  zu  verwechseln,  welche  ihr  nur  äuss er- 
lich in  der  Verdrängung  des  Metallgelds  als  Umlaufsmittel  gleicht. 
Die  Creditwirthscbaft  beruht,  dem  Wesen  des  Credits  entsprechend, 
auf  freier  Entwicklung,  die  Papiergeldwirthsckaft  auf  Staat- 


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Papiergeld  wirthschaft. 


443 


liebem  Zwange.  In  ihr  dient  Papiergeld  anstatt  des  Metall- 
gelds nicht  nur  als  Tausehmittel,  sondern  auch  als  Währung  und 
Preismaass:  d.  h.  das  Papiergeld  hat  den  sogen.  Zwangscurs 
und  ist  zugleich  uneinlösbar  gegen  Metallgeld,  oder  es  ist 
m.  a.  W.  Papierwährung,  nicht  nur,  wie  die  oben  genannten 
creditwirtbschaftlichen  Umlaufsmittel,  Papiercirculations mittel. 
Die  wirthschaftliche  Function  und  Wirkung  von  Creditwirthschaft 
und  Papiergeldwirthschaft  und  die  volkswirtschaftliche  Beurtheilung 
beider  sind  daher  auch  grundverschieden. 

S.  meinen  Art.  Papiergeld  im  Staatswörterbuch  S.  047,  052,  662  ff.,  meine 
Beiträge  S.  35,  38,  Credittheorie  d.  Peel’schen  Acte  S.  63  fl.,  Russ.  Papierwähr.  Kap.  4. 
Abh.  öffentlicher  Credit  im  Schönberg’scben  Handbuch  III,  3.  Aull.  S.  600  ff.  — 
v.  Mangoldt,  §.  59.  Mohl,  Polizciwiss..  3.  Aull.,  II,  §.  1S4.  Anders  noch: 
Rau  I,  §.  293  ff,  bes.  §.  295. 

Eines  der  beiden  Momente  \Zwangscurs.  Uneinlösbaikcit)  allein  für  sich 
schallt  noch  keiu  Papiergeld  im  obigen  Sinne.  So  sind  einlösbare  Banknoten  mit 
Zwangscurs  (sogen.  Legalcurs,  Englische  Bank,  legal  tender)  nicht  Papiergeld, 
sondern  Geldsurrogat  der  Creditwirthschaft;  uneinlösbares  Staatspapiergeld,  ohne 
Zwangscurs,  aber  mit  Annahme  an  den  Staatscassen,  ist  auch  noch  nicht  Papier- 
währung. 


Druckfehler. 

S.  71  Z.  11  v.  o.  1.  Litteratur  statt  Natur. 

S.  130  im  mittleren  (Petit-)Absatz  Z.  11  v.  o.  1.  dieser  st.  ihrer. 

S.  142  in  der  vorletzten  Zeile  vor  dem  Abschnitt  1.  ihm  st.  ihr. 

S.  172  Z.  1 des  Texts  v.  o.  hat  vor  §.  67  die  „I“  fortzufallen. 

S.  183  in  der  vorletzten  Zeile  des  Petit- Absatzes  in  der  Mitte  ist  hinter  ..historischen“ 
das  Wort  „Zeitaltern“  einzuschalten. 

S.  188  Z.  7 v.  o.  1.  Fragen  st.  Folgen. 

S.  194  Z.  11  v.  o.  1.  inductiv  st.  deductiv. 

S.  286  Z.  14  v.  u.  1.  dem  st.  denn. 

S.  286  Z.  8 v.  u.  1.  1837  st.  137. 


Gedruckt  bei  E.  Polz  iu  Leipzig. 


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Lehr-  und  Handbuch 

der 

politischen  Oekonomie. 


In  einzelnen  selbständigen  Abtheilungen. 


In  Verbindung  mit 

A.  Buchenberger  K.  Bücher  H.  Dietzel 

grossli.  bad.  Präsident  des  Professor  der  Statistik  und  Professor  der  Staatswissen- 
Finanzminist.  in  Karlsruhe  Nationalökonomie  in  Leipzig  schafton  in  Bonn 

und  Anderen  bearbeitet  und  herausgegeben 

von 

Adolph  Wagner 

Professor  der  Staatswissenschaften  in  Berlin. 


Erste  Hauptabtheilung: 

Grundlegung  der  politischen  Oekonomie. 

Dritte  Auflage. 

Erster  Theil. 

Grundlagen  der  Volkswirtschaft. 


Zweiter  Halb  band. 


Leipzig. 

C.  F.  V iuter  sehe  V e r 1 a g s h a n d 1 u n g. 

1 893. 


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Grundlegung: 

der 

politischen  Oekonomie. 


Von 

Adolph  Wagner. 


Dritte 

wesentlich  um-,  theilweise  ganz  neu  bearbeitete  und  stark  erweiterte  Auflage. 


Erster  Theil. 

Grundlagen  der  Volkswirthschaft. 


Zweiter  Halbband. 


Buch  4 — 6. 

(Bevölkerung  und  Volkswirthschaft.  — Organisation  der  Volkswirthschaft.  — 
Der  Staat,  volkswirtschaftlich  betrachtet.) 


Leipzig. 

C.  F.  Winter’ sehe  Verlagshandlung. 

1893. 


ä 


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Lebersetzuiigsreeht  Vorbehalten 


V orwort 

zum  zweiten  Halbband  des  ersten  Theils  der 
dritten  Auflage  der  Grundlegung. 


Wie  ich  im  Vorwort  zu  dem  im  Oetober  v.  J.  erschienenen 
ersten  Halbband  in  Aussicht  gestellt  habe,  folgt  nunmehr  der  zweite 
Halbband.  Damit  ist  der  erste  Theil  der  Grundlegung  in  der  neuen 
Bearbeitung  dieser  dritten  Auflage  beendigt. 

Durch  die  wesentlich  erst  hier  erfolgte  Aufnahme  der  Be- 
völkerungslehre ist  auch  Inhalt  und  Umfang  dessen,  was  dieser 
zweite  Halbband  im  Vergleich  mit  der  früheren  Auflage  bringt,  sehr 
erweitert  worden.  Die  Einleitung  zu  dem  4.  Buche,  Bevölkerung 
und  Volkswirtschaft,  und  das  erste  Kapitel,  volkswirtschaftliche 
Bevölkeningslehre , umfassen  221  Seiten  (S.  445  — 666)  com- 
presseren  Drucks,  an  Stelle  der  kurzen  Bemerkungen  S.  145 — 146 
in  der  2.  Auflage.  Auch  das  zweite  Kapitel  dieses  4.  Buchs  (Be- 
darf und  Vertheilungsproblem),  S.  666  — 760,  welches  an  Stelle  des 
5.  Hauptabschnittes  S.  164  — 180  der  2.  Auflage  getreten  ist,  hat 
eine  gründliche  Umarbeitung  und  Erweiterung  erfahren,  namentlich 
in  den  eingehenden  principiellen  Erörterungen  über  die  Regelung 
der  Verteilung  (2.  Abschnitt  S.  684  — 740). 

Die  beiden  Bücher  5 und  6,  Organisation  der  Volkswirtschaft 
(S.  761  — 869,  in  2.  Aufl.  Kap.  3 S.  196  — 288)  und  „der  Staat 
volkswirtschaftlich“  betrachtet  (S.  870 — 924,  in  2.  Aufl.  Kap.  4, 
S.  196  — 342),  sind  zwar  ebenfalls  überall  revidirt,  stellenweise  um- 
gearbeitet worden.  Aber  im  Wesentlichen  ist  ihr  Inhalt  doch  der- 
jenige der  zweiten  Auflage  geblieben,  so  dass  hier  dasselbe  gilt  wie 
von  Buch  2,  elementare  Grundbegriffe,  und  Buch  3,  Wirtschaft 
und  Volkswirtschaft,  im  ersten  Halbbande.  Ohne  kleinere  for- 


VI 


Vorwort  zum  zweiten  Halbband  der  dritten  Auflage. 


melle,  hie  und  da  sachliche  Aenderungen,  Zusätze  u.  s.  w.  ist  aber 
auch  in  diesen  4 Büchern  2,  3,  5,  6 kaum  ein  Paragraph  geblieben. 

Die  äussere  Veränderung  des  ganzen  Werkes  in  dieser  dritten 
Auflage  ergiebt  sich,  abgesehen  von  der  stärkeren  Anwendung  der 
compresseren  Petitschrift  , schon  aus  der  grossen  Ausdehnung  dieses 
ganzen  Theils  auf  924  gegen  342  Seiten  in  der  zweiten  und  290 
Seiten  in  der  ersten  Auflage.  Die  so  gut  wie  völlig  neu  in  diese 
dritte  Auflage  hineingezogenen  einleitenden  Erörterungen,  dann 
namentlich  die  Ausführungen  über  die  wirtschaftliche  Natur  des 
Menschen,  die  Motivation,  die  Methoden  u.  s.  w.  (Buch  1)  und 
über  die  Bevölkerung  (Kap.  1,  Buch  4)  umfassen  indessen  allein 
506  Seiten,  gegen  bloss  c.  16  Seiten  der  2.  Auflage.  Wras  dagegen  aus 
dieser  Auflage  in  die  neue,  wenn  auch  mehr  oder  weniger  um-  und 
übergearbeitet,  übergegangen  ist,  beträgt  daher  nur  418  Seiten 
gegen  c.  326  S.  in  der  vorigen  Auflage.  Das  Buch  ist  somit  freilich 
ein  inhaltlich  zum  grösseren  Theil  ganz  neues  geworden. 

Für  die  bevölkerungsstatistischen  Ausführungen  und 
die  darin  enthaltenen  zahlreichen  kleinen  Tabellen  bin  ich  be- 
sonderen Dank  der  vortrefflichen  Veröffentlichung  des  Kaiserlichen 
Statistischen  Amts  des  Deutschen  Reichs,  „Stand  und  Bewegung  der 
Bevölkerung  des  Deutschen  Reichs  und  fremder  Staaten  in  den 
Jahren  1841 — 1886“  (Neue  Folge),  schuldig.  Dieses  noch  grössten- 
tlieils  der  Initiative  des  früheren  Directors  Dr.  Becker  und  seiner 
wie  Dr.  Schumann ’s  Bearbeitung  zu  verdankende  Werk  bildet  die 
Grundlage  des  bezüglichen  statistischen  Abschnitts  dieses  Buchs. 
Aber  natürlich  konnte  und  wollte  ich  nur  dasjenige  Material  jener 
statistischen  Arbeit  benutzen,  welches  für  die  von  mir  behandelte 
Frage  in  Betracht  kam.  Ich  möchte  dem  reichsstatistischen  Amt 
und  den  Herren,  welche  an  diesem  Werke  besonders  betheiligt 
waren,  aber  wenigstens  zeigen,  dass  ich  als  „statistischer  Consument“ 
für  meine  volkswirtschaftliche  Bevölkerungslehre  den  grössten 
Nutzen  aus  ihrer  eminenten  Leistung  gezogen  habe.  Auch  der 
die  Tabellen  begleitende  vorzügliche  Text,  grossenthcils  aus  der 
Feder  Dr.  Schumann’s,  hat  mir  wesentliche  Dienste  geleistet. 

Das  Ergebniss  meiner  Lehre  von  Bevölkerung  und  Volks- 
wirtschaft ist : „R  o b e r t M a 1 th  u s behält  i n a 1 1 e m W e s ent- 
liehen Recht“  (S.  665).  Ein  Ergebniss,  auf  welches  ich  dem 
falschen  Optimismus  des  Socialismus  gegenüber  ähnlichen  Werth 
lege,  wie  auf  das  Ergebniss  im  ersten  Buche  hinsichtlich  der  Psy- 
chologie und  Motivationstheorie. 


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Vorwort  zum  zweiten  Halbband  der  dritten  Auflage. 


VII 


Die  Litteratur  habe  ich,  soweit  ich  vermochte  und  soweit  es 
mir  angemessen  schien,  bis  zum  Jahre  1892  benutzt.  Doch  Schriften, 
welche  mir  erst  wahrend  der  Bearbeitung  und  zum  Theil  während 
des  Druckes  zukamen,  meist  nicht  mehr,  von  gelegentlicher  Er- 
wähnung abgesehen.  Namentlich  grössere  und  wichtigere,  aber  erst 
in  diesem  Stadium  an  mich  gelangte  Werke,  welche  sich  auf  dem- 
selben Gebiete,  wie  das  meine,  bewegen  und  mit  welchen  daher 
mehrfach  eine  genauere  principielle  Auseinandersetzung  nothwondig 
gewesen  wäre,  habe  ich  absichtlich  nicht  mehr  mit  hereingezogen. 
Dies  gilt  insbesondere  von  J.  "Wolf ’s  System  der  Socialpolitik, 
Band  1 und  von  E.  v.  Philipp ovi ob’s  Grundriss  der  Politischen 
Oekonomie,  Band  1. 

Berlin,  Februar 


Dr.  Adolph  Wagner 


Inhaltsübersicht. 


Die  zweite  Zahl  in  Eckklammern  hinter  der  Paragraphenzahi  ist  diejenige  der 
zweiten  Anflage.  Wo  sic  fehlt,  ist  der  Gegenstand  in  dieser  dritten  Auflage  erst  neu 

aufgenommen  worden. 

Seite 

Viertes  Bach. 

Bevölkerung  und  Volkswirtschaft 445 

§.  191.  Vorbemerkungen 445 

§.  192.  Fortsetzung.  Die  Bevölkerungslehre  und  der  Socialismus  ....  447 

§.  193.  Fortsetzung.  Notwendige  Bchandlungsweise  der  Lehre  in  der  Poli- 
tischen Oekonomie 448 

§.  194.  [S.  145  — 140.)  — Litteratur,  insbesondere  Maltkus  und  seine  Lehre  451 

§.  195.  Die  Malthus’schc  Lehre  in  der  Litteratur 455 

§.  196.  Fortsetzung.  Ueberwicgend  polemische  Litteratur  (Carey.  Socialisten.)  45b 
§.  197.  Fortsetzung.  Statistische  Litteratur 463 

Erstes  Kapitel  Die  volkswirtschaftlichen  Seiten  des  Bevölke- 
ren gswesens  (volkswirtschaftliche  Bevölkerungsichre)  466 
Erster  Hauptabschnitt  Bevölkerungsstatistische  Thatsachen 


und  Untersuchungen 466 

1.  Abschnitt.  Theoretisches 466 

§.  198.  I.  — Das  volkswirtschaftliche  Productions-  und  Vertheilungsinteresse 
in  Bezug  auf  Grösse  und  Zusammensetzung  der  Bevölkerung  und 
Veränderungen  darin.  — 1.  Standpunkt  des  Productionsinteresscs  466 

§.  199.  — 2.  Standpunkt  des  Vertheilungsinteresses 468 

§.  200.  — 3.  Ergcbniss 470 

201.  — II.  Zur  Terminologie,  Technik  und  Kritik  der  Bevölkerungs- 
statistik vom  Standpunkte  volkswirtschaftlicher  Betrachtung  aus. 

..  — A.  Stand  der  Bevölkerung.  — 1.  Volkszahl 472 

§.  202.  — 2.  Volksbcschrcibung 475 

§.  203.  — 3.  Verteilung  der  Bevölkerung  über  den  Kaum  (Gebiet)  und 

Volksdichtigkeit  und  Berechnungen  dafür 477 

§.  204.  — B.  Bewegung  der  Bevölkerung.  — 1.  Besonders  die  natürliche.  480 

§.  205.  Rechnungsgrössen  aus  dem  Gebiet  der  Statistik  der  natürlichen 

Bewegung  der  Bevölkerung 483 

§.  206.  — 2.  Die  räumliche  (örtliche)  Bewegung  der  Bevölkerung  oder  die 

Wanderungen 487 


X 


Inhaltsübersicht. 


Seite 

2.  Abschnitt.  Bevölkerungsstatistische  Ergebnisse 491 

§.  207.  — I.  Die  mögliche  und  die  thatsächliche  natürliche  Bevölkerungs- 

Vermehrung  491 

20b.  — A.  Physiologisch  mögliche  Vermehrung 492 

§.  209.  Ausführungen  zu  den  einzelnen  5 maassgebenden  Puncten.  Zu  1 und  2 499 

§.  210.  Fortsetzung.  Zu  3,  Geburtsfrequenz,  und  4 494 

211.  Fortsetzung.  Zu  5,  Sterbefallfrcquenz,  bes.  Kleinkindersterblichkeit  499 

§.  212.  Fortsetzung.  Sterblichkeit  im  späteren  Kindes-  und  im  erwachsenen 

Alter 50t» 

§.  213.  Ergebniss  für  die  physiologisch  mögliche  Vermehrung  ....  509 

§.  214.  — B.  Wirkliche  Volksvermehrung 510 

?j.  215.  Einzelne  Ausführungen.  1.  Hälfte  und  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  511 
§.  216.  Fortsetzung.  Mitte  und  2.  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  . . . . 514 

§.  217.  Ergebnisse  bezüglich  der  Volksvermehrung 520 

§.  21 S.  — II.  Die  Schwankungen  in  der  natürlichen  Volksbewegung , ihre 

Bedingungen  und  Ursachen.  — A.  Allgemeines  und  Theoretisches  522 

§.  219.  — B.  Die  Förderungs-  und  Hemmungsmittel 524 

§.  220.  Schlüsse  bezüglich  der  Förderungs-  und  Hemmungsmittel  für  die 

Frage  der  Volksvennehrung 528 

§.  221.  Statistische  Belege  zum  Vorausgehenden,  namentlich  für  constaute 
Verhältnisse  und  dauernde  Verschiedenheiten  der  natürlichen  Volks- 
vermehrung   531 

§.  222.  Fortsetzung.  Statistische  Belege  für  Schwankungen  und  Beweguugs- 

richtungen  der  natürlichen  Bevölkerungsbewegung 534 

§.  223.  — III.  Ergebnisse  hinsichtlich  der  natürlichen  Volksbewegung  . . 539 

§.  224.  — IV.  Die  Wanderungen.  — A.  Die  heimischen 542 

§.  225.  — B.  Ein-  und  Auswanderung : . . . . 549 

§.  226.  Statistischer  Excurs  über  die  überseeische  europäische  Massenaus- 
wanderung und  dortige  Einwanderung' 552 

§.  227.  Fortsetzung.  Andere  statistische  Verhältnisse  der  überseeischen 

Auswanderung 560 

§.  228.  — C.  Ergebnisse  hinsichtlich  der  Wanderungen  und  der  Volksver- 
mehrung überhaupt 562 

§.  229.  — V.  Volksdichtigkeit.  — A.  Behandlung  der  ganzen  Frage  . . 568 

§.  230.  — B.  Statistik  der  Volksdichtigkeit 570 

§.  231.  Die  einzelnen  europäischen  Reiche  und  Staaten 573 

§.  232.  Volksdichte  in  kleineren  Gebietstheilen  Deutschlands 575 

§.  233.  Volksdichte  in  kleineren  Gebietstheilen  anderer  Länder,  besonders 

Europas 579 

$j.  234.  Volksdichtc  in  Nordamerica 585 

§.  235.  Volksdichte  asiatischer  Länder 586 

286.  Vergleichende  Ucbersicht  der  Volksdichtigkeitsverhältnisse  verschie- 
dener Länder 587 

§.  237.  — C.  Städte,  besonders  Gressstädte,  namentlich  Deutschlands  . . 590 

§.  238.  — D.  Ergebnisse  bezüglich  der  Volksdichtigkeit 595 

23!».  — VI.  Gcschlechtsverthcilung  in  der  Bevölkerung.  — A.  Allgemeine 

Ucbersicht 597 


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Inhaltsübersicht. 


XI 


Seite 

§.  240.  — B.  Statistische  Belege 602 

§.  24  J.  — VII.  Altcrsvertheilung  der  Bevölkerung  (Altersclassification). 

— A.  Allgemeine  üebersicht 606 

§.  242.  — B.  Statistische  Belege 010 

§.  243.  — VIII.  Die  Berufsvcrtheilung  in  der  Bevölkerung.  — A.  Behand- 
lung der  ganzen  Frage 613 

§.  244.  — B.  Bedeutung  der  Berufsvertheilung  für  das  volkswirtschaftliche 

Bevölkerungsproblem 015 

S.  245.  — C.  Berufsstatistisches.  — 1.  Statistik  der  erwerbstätigen  und 

der  übrigen  Bevölkerung 618 

§.  246.  — 2.  Statistik  der  Bcrnfsstcllung 022 

§.  247.  — 3.  Statistik  der  Berufsarten 625 

Zweiter  Hauptabschnitt.  Volkswirtschaftliche  Folgerungen  . . 632 

§.  248.  — I.  Volksvermehrung  und  Productionsinteressc 632 

§.  240.  — II.  Volksvermehrung  und  Vcrtheilungsintcresse 636 

§.  250.  — III.  Die  üebervölkerungsfragc 038 

§.  251.  — A.  Die  Uebervölkerungsfrage  und  die  volkswirtschaftlichen  Ent- 
wicklungsphasen   040 

§.  252.  Fortsetzung.  Insbesondere  die  Uebervölkerungsfrage  für  hochent- 
wickelte Industrieländer  der  Gegenwart 044 

§.  253.  Fortsetzung.  Die  Gründe,  welche  zur  Annahme  einer  Ueber- 

vülkerungsgefalir  auch  für  unsere  Culturländer  nötigen  ....  048 

§.  254.  Folgen  des  Eintritts  der  Uebervölkerungsgcfahr  auf  hohen  Entwick- 
lungsstufen   050 

§.  255.  Fortsetzung.  Verbleiben  der  Uebervölkerungsgefahr  bei  grösserer 
Beschränkung  von  Production  und  Austausch  auf  den  heimischen 

Markt.  Grund-  und  Bodengesetz 052 

§.  250.  Die  Allgemeinheit  der  Thatsache  der  Uebervölkerungsgefahr.  . . 655 

§.  257.  — B.  Absolute  und  relative  Uebervölkerong.  — I.  Absolute  . . 650 

§.  258.  — 2.  Relative 058 

§.  250.  — C.  Die  Uebervölkerungsfrage  und  das  Vertheilungsproblem  . . 001 

§.  260.  — I).  Schlusssätze  und  Tostulate 003 

Zweites  Kapitel.  Der  Bedarf  und  das  Vertheilungsproblem  oder 

die  Einko mmenlchre  vom  Verthcilungsstandpuncte  betrachtet  600 
§.  261.  [2.  Aufl.,  S.  134—136.]  Vorbemerkungen 660 

1.  Abschnitt.  Verthcilung  und  Bedarf  im  Allgemeinen 060 

§.  262.  [94.]  — I.  Bedeutung  der  Einkommenvertheilung  und  Ziel  der  volks- 
wirtschaftlichen Entwicklung 060 

§.  263.  — II.  Begriff  der  Verthcilung.  — A.  Allgemeiner  rein  ökonomischer  660 

§.  264.  — B.  Historisch- rechtlicher 671 

§.  265.  — III.  Die  methodischen  Voraussetzungen  einer  principiellen  Er- 
örterung des  Vertheilungsproblems 075 

§.  266.  — IV.  Ziele  der  volkswirtschaftlichen  Entwicklung  für  unsere 

Culturporiode 070 

§.  267.  [95.]  — V.  Das  Auskommen 681 

§.  268.  [06.]  — VI.  Bedürfnissstand  und  Classification  der  Bedürfnisse.  . 682 


a/.  ax  ca-  a«  ca.  a/-  ca-  ca.  c //„  ca.  ca.  ca.  w ca-  ecc  ca-  aa  ca-  ca.' 


XII 


Inhaltsübersicht. 


Seite 


2.  Abschnitt.  Regelung  der  Verth oilung 684 

§.  269.  — I.  Volkswirthschaftliche  Würdigung  des  Bedürfnissstands  uud 
demgemässc  Forderungen  für  die  Verthcilung  des  Volkseinkommens 
im  Allgemeinen 684 


§.  270.  Notwendige  Rücksichten  bezüglich  einer  Aendcruug  der  Vertheilung  680 
§.  271.  [97a.]  — II.  Forderungen  in  Betreff  der  Verthcilung  in  der  Be- 
ziehung zu  Bedtlrfnissstand  und  Befriedigung  der  Bedürfnisse  im 
Besonderen.  — A.  Aufstellung  des  Rechts  auf  Existenz  ....  HSlJ 


272.  — B.  Durchführung  des  Rechts  auf  Existenz.  — 1.  Schuldlose  Er- 
werbsunfähigkeit und  Mittellosigkeit 094 

273.  — 2.  Schuldloser  Mangel  an  Erwerbsgelogenheit.  Recht  auf  Arbeit. 

Ausdehnung  des  Armeurechts 696 

274.  — 3.  Selbstverschuldete  Mittellosigkeit 699 

275.  — 4.  Selbstverschuldeter  Erwerbsmangel 702 

276.  — C.  Principielle  Bedeutung  solchen  Vorgehens 704 


277.  — III.  Forderungen  bezüglich  der  besseren  materiellen  Lebensweise 

und  der  Theilnahme  der  Bevölkerung  an  Culturgütern 707 

278.  — A.  Voraussetzungen  für  die  Aufstellung  und  Durchführung 
solcher  Forderungen.  — 1.  Für  die  Möglichkeit.  Bedingungen, 
welche  in  den  Bevölkerungs-  und  in  den  Productionsverhältnissen 


liegen 709 

279.  Fortsetzung.  Bedingungen,  welche  in  den  Vertheilungsverhältnissen 

liegen 712 

2S0.  — 2.  Voraussetzungen  hinsichtlich  der  Notwendigkeit  der  Auf- 
stellung und  Durchführung  solcher  Forderungen 716 

2b  1.  Fortsetzung 719 


282.  — 3.  Voraussetzungen  für  die  Zulässigkeit  und  Räthlichkeit  der  Er- 
füllung der  Forderungen,  welche  dem  2.  Hauptgrundsatz  entsprechen  724 

283.  [104.]  — a)  Zusammenhang  der  Vertheilungsfrage  mit  der  Höhe 

des  Volkseinkommens  und  Bedingtheit  dieser  Höhe  und  des  Wachs- 
thums der  letzteren  durch  die  auf  Grund  der  bestehenden  Rechts- 
ordnung sich  ergebende  Ungleichheit  der  Vertheilung 725 

. 284.  [109 — 103,  104a.]  — b)  Abwägung  collidirender  Classcninterossen 
und  Zusammenhang  zwischen  Culturentwicklung  und  Vertheilung 

des  Volkseinkommens 730 

. 2S5.  [105—107.]  — B.  Spcciello  Zielpuncte  für  die  Gestaltung  der  Ein- 
kommenverhältnisse   736 

. 286.  — C.  Durchführung  der  aufgestellten  Forderungen  und  Mittel  und 

Wege  dafür.  — 1.  Principiellcs 741 

. 287.  — 2.  Aenderung  der  Rechtsordnung  und  Organisation  der  Volks- 
wirtschaft. — a)  Socialpolitische  Regelungen  und  Beschränkungen 

im  privatwirthschaftlichen  (..freien“)  Verkehr 743 

. 288.  — b)  Maassregeln  der  socialen  Finanz-  und  Steuerpolitik  . . . 745 

. 289.  — c)  Principielle  Aenderungen  der  Organisation  und  Rechtsordnung  746 
. 290.  — IV.  Schlussbemerkungen  über  die  Regelung  der  Vertheilung  . 748 


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Inhaltsübersicht. 


XIII 


3.  Abschnitt.  A ndere  Stau  dpuncte  dcrBctrachtung  des  Vertheiion  gs- 
problems,  besonders  im  Communisinus  und  Socialismus  . . . 

§.  291.  [108,  109]  — I.  Abreichende  Standpuncte 

§.  292.  [109  ] — II.  Abweisung  eines  Richtungsziels  in  der  historisch-national- 
ökonomischen Schule 

§.  293.  [109a.]  — III.  Standpunct  des  Communismus  und  Socialismus. 

— A.  Begriffliches.  — 1.  Communismus 

§.  294.  [109  b.  109  c.]  — 2.  Socialismus 

§.  295.  [109d.]  Partieller  Socialismus  oder  Staatssocialismus 

§.  296.  [109  c].  Standpunct  des  extremen  ökonomischen  Individualismus  . . 

Fünftes  Buch. 

Die  Organisation  der  Volkswirtschaft 

§.  297.  [S.  196 — 200.]  Vorbemerkungen  Uber  die  Behandlung  des  (iegen- 

stands  und  Literaturnachweis 

§.  29S.  Fortsetzung.  Neuere  Litteratur  zur  Kritik  der  Lehre  von  der  Organi- 
sation   

Erstes  Kapitel.  Die  verschiedenen  Organisatio  nsprincipien  und 

Wi rthschaftssysteme  in  der  Volkswirtschaft 

§ 299.  [116.]  — I.  Die  Volkswirthscbaft  als  natürlicher  Organismus  und 

künstliche  Organisation 

§.  300.  (1 16a.]  — II.  Die  drei  Organisationsprincipien  in  der  Volkswirtschaft 
§ 301.  [116,  117 — 119.]  — III.  Verbindung  der  drei  Wirtschaftssysteme 
und  Wechsel  darin.  — A.  Unzulänglichkeit  des  einzelnen  Systems 

§ 302.  [120.]  — B.  Wechselnde  Combination 

Zweites  Kapitel.  Das  privatwirthschaftlic he  System 

§.  303.  [S.  21 2 ff]  Vorbemerkungen 

1.  Abschnitt.  Das  privatwirthschaftlich e System  und  seine  Ver- 

kchrsrcchtsbasis  im  Allgemeinen 

§.  304.  [121,  122.]  — I.  Die  Privatwirtschaften 

§.  305.  [123].  — II.  Die  Rechtsbasis  im  privatwirthschaftlicheu  System. 

— A.  Ihre  Bedeutung 

§.  306.  [124.]  — B.  Die  einzelnen  Rechtsnormen 

§.  307.  [125.]  — C.  Die  Verkehrsrechtsbasis  des  privatwirthschaftlichen 
Systems  in  den  modernen  Volkswirtschaften 

2.  Abschnitt.  Das  moderno  privat  wirtschaftliche  System  der  freien 

Concurrcnz  

§.  309.  [S.  223.]  Vorbemerkungen  und  Litteratur 

§.  309.  [126.]  — I.  Das  Wesen  der  modernen  freien  Concurrenz . . . . 
§.  310.  [127.]  — II.  Die  günstigen  Folgen  der  freien  Concurrenz  . . . 

§.  311.  [127.]  — III.  Kritik  der  optimistischen  Beweisführung 

§.  312.  [129.]  — A.  Insbesondere  die  behauptete  Naturgcmässhcit  des  Systems 

§.  313.  [129.]  — B.  Falsche  Folgerungen 

§.  314.  [130.]  — C.  Unhaltbarkeit 

§.  315.  [131,  133.]  — D.  Die  moralischen  Factoren  neben  dem  Selbstinteressc 
§.  316.  [S.  240  ] — IV.  Näherer  Nachweis  der  Nachtheile.  — A.  Aus- 

gangspunctc 

$.  317.  [134.]  — B.  Die  hervortreteuden  Ucbelstände 


Seit«* 


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813 


XIV 


Inhaltsübersicht. 


Seite 

§.  318.  [135.]  — 1.  Der  Sieg  der  begabteren  Elemente 814 

§.  319.  Fortsetzung 817 

§.  320.  [13(1.]  — 2.  Der  Sieg  der  gewissenloseren  Elemente 819 

§.  321.  [137.]  — 3.  Der  Sieg  des  Grossbetriebs  über  den  Kleinbetrieb  . . 820 

§.  322.  Fortsetzung 824 

§.  323.  [138.J  — V.  Schlussergebniss 826 

Drittes  Kapitel.  Das  gemein  wirtschaftliche  System 827 

Erster  Hauptabschnitt.  Die  Geincinbodürfnissc  und  die  Fürsorge 

für  ihre  Befriedigung S27 

§.  324.  [S.  151.]  Vorbemerkungen  und  Litteratur 827 

1.  Abschnitt.  Die  Gemeinbedürfnissc 828 

§.  325.  [139.]  — I.  Individual-  und  Gemeinbedürfnisse 828 

§.  32C.  [139.]  — II.  Arten  der  Gemeinbedürfnisse S31 

§ 327.  [140.J  — A.  Das  Gemeinbedürfniss  der  Rechtsordnung  ....  832 

§.  328.  [141,  142.J  — B.  Die  speciellen  Gemeinbedürfnisse.  — 1.  Die  räum- 
lichen (örtlichen) 833 

§.  329.  [143.]  — 2.  Die  zeitlichen 835 

§.  330.  [144.]  — 3.  Gesellschaftliche  oder  Classen  - (Gruppen -)  Gemeinbe- 

dürfnisse 836 

331.  [144,145.] — III.  Fürsorge  für  die  Befriedigung  der  Gemeinbedürfnisse  S38 

2.  Abschnitt.  Pr ivatwirth sch aftli che  Fürsorge  für  Gemo in bed  ürfnisse  83S 

§.  332.  [S.  260.]  Vorbemerkungen 838 

§.  383.  [145.]  — I.  Zulässigkeit  und  Gebiet  dieser  Fürsorge  durch  eigene 

Privatwirtschaften 839 

§.  334.  [146].  — II.  Beschränkte  Anwendbarkeit  und  Bedenken  ....  840 
§.  335.  — III.  Befolgung  des  privatwirthschaftlichen  Princips  durch  Gemein- 

wirthschaften  und  caritative  Wirtschaften 842 

3.  Abschnitt.  Fürsorge  für  Gemeinbedürfnisse  durch  das  caritative 

System  und  Function  desselben  überhaupt 844 

§.  336.  [S.  164].  Vorbemerkungen 844 

§.  337.  [147.]  — I.  Zulässigkeit  und  Gebiet  dieser  Fürsorge 845 

§.  33S.  [148.]  — II.  Berechtigung  und  Notwendigkeit 847 

§.  339.  [149].  — III.  Notwendige  Beschränktheit 848 

Zweiter  Hauptabschnitt.  Das  Gebiet  und  die  Function  des  ge  m ein- 

wir thschaftlichen  Systems 849 

1.  Abschnitt.  Das  gemein wirthschaftliche  System  im  Allgemeinen. 

Insbesondere  die  freien  Gemeinwirthschaftcn 849 

§.  340  [S.  269.]  Vorbemerkungen 849 

§.  341.  [150.J  — I.  Aufgabe  des  Systems 851 

§.  342.  [151.]  — II.  Die  freien  Gemeinwirthschaften.  — A.  Wesen  . . . 852 

§.  343.  [152  ] — B.  Gebiet 854 

$$.  344.  [153.]  — C.  Juristische  Formen 855 

2.  Abschnitt.  Die  Z w a ngsgem ein wirthschaften 856 

§.  345.  [S.  276.]  Vorbemerkungen 856 

§.  346.  [154.]  — I.  Wesen 858 

§.  347.  [155.]  — II.  Arten  859 

§.  348.  [156,  157.]  — III.  Begründung  des  Zwangsmoments 860 


Inhaltsübersicht. 


XV 


Seite 


§.  349.  [158.]  — IV.  Folgerungen  für  die  Kostendeckung.  Besteuerung  . 863 

§.  350.  [159.]  — V.  Berechtigung  des  Zwangs  für  einzelne  Zwecke  . . . 866 

§.  351.  [160.]  — VI.  Postulate  für  Zwaugsgemein  Wirtschaften  und  für  An- 
wendung des  Zwangs S07 

Sechstes  Buch. 

Der  Staat,  volkswirtschaftlich  betrachtet 870 

§.  352.  [S.  288.J  Vorbemerkungen  und  Litteratur S70 

§.  353.  [S.  292.]  Fortsetzung 875 

Erstes  Kapitel.  Der  Staat  iin  Allgemeinen 877 

§.  354.  [161.]  — I.  Der  Staat  als  volkswirtschaftliche  Kategorie.  . . . 877 

§.  355.  [162.J  — II.  Zwecke  und  Leistungen  des  Staats.  — A.  Form  der 

Arbeitsteilung 879 

§.  356.  [163.]  — B.  Axiome  der  Staats-  und  Finanzpolitik 8S0 

§.  357.  [164.]  — C.  Allgemeine  Schlüsse  bez.  der  Staatszwecke  und  Leistungen  SS3 
Zweites  Kapitel.  Zwecke  und  Leistungen  des  Staats  und  Durch- 
führungsmittel dafür.  Fiu  anzwirthschaft S85 

§.  358.  [165.]  — I.  Die  beiden  organischen  Staatszwecke 885 

§.  359.  [166,  167.]  — A.  Der  Hechts-  und  Machtzweck 885 

§.  360.  [168,  169.]  — B.  Der  Cultur-  und  Wohlfahrtszweck 5S7 

§.  361.  [170.]  — II.  Die  Durchführung  der  Staatsthätigkeit 890 

Drittes  Kapitel.  Das  Gesetz  der  wachsenden  Ausdehnung  der 

öffentlichen,  bez.  der  Staatsthätigkeitcn 892 

§.  362.  [S.  308.]  Vorbemerkungen 892 

§.  363.  [171.]  — I.  Allgemeine  Wahrnehmung  der  Ausdehnung  ....  893 
§.  364.  [172  ] — II.  Gebiet  des  Hechts-  und  Machtzwecks.  — A.  Ersetzung 

anderer  Thätigkeiten  durch  staatliche S96 

§.  365.  [173.J  — B.  Vermehrte  Thätigkeit  wegen  neuer  Bedürfnisse.  . . 897 

§.  366.  [174.]  — C.  Grösserer  Staatsbedarf  als  Wirkung  und  Beleg  . . . 900 

§.  367.  [175.]  — III.  Gebiet  des  Cultur-  und  Wohlfabrtszwccks.  — A.  Im 

Allgemeinen 900 

368.  [176.]  — B.  Speciellc  Gebiete.  — 1.  Sachgüterproductiou  . . . 902 

§.  369.  [177.]  — 2.  Andere  Culturgcbiete 904 

§.  370.  [178.]  — IV.  Zeitweilige  Stabilität  in  der  Entwicklung  der  öffent- 
lichen Thätigkeiten.  Finanzielle  Hemmungen 906 

Viertes  Kapitel.  Das  Gesetz  des  Vorwal tensdesPr&vontivprincips 

im  entwickelten  Rechts-  und  Culturstaate 903 

§.  371.  [S.  325.]  Vorbemerkungen 903 


§.  372.  [179.]  — L Veränderung  in  der  Art  derDurchführung  derStaatszwecke  909 

§.  373.  [ISO.]  — II.  Prävention  und  Repression.  — A.  Im  Allgemeinen  . 909 

§.  374.  [181.]  — B.  Das  Präventivprincip  auf  den  einzelnen  Gebieten  . . 911 

§.  375.  [182,  183.]  III.  Einfluss  auf  Staatsdienst  und  Finanzbedarf  . . . 912 

Fünftes  Kapitel.  Die  Feststellung  des  Bereichs  der  Staatsthätigkeit  913 


§.  376.  [S.  332.]  Vorbemerkungen 915 

§.  377.  [184.]  — I.  Bedingungen  und  Regeln  hierfür 915 

§.  378.  [185.]  — 1.  Zeitliche  Nachhaltigkeit  und  räumliche  Ausdehnung 

der  Productionsthätigkeit 917 


XVI 


Inhaltsübersicht. 


Seite 

ij.  37 9.  [186.]  — 2.  Ausschliessliclikeit  und  Einheitlichkeit  der  Thätigkeit  919 

§.  380.  [187. J — 3.  Gemeinsamkeit  der  Consumtion 919 

3S1.  [188.]  — II.  Lösung  weiterer  Schwierigkeiten  in  der  Bestimmung 

der  Staatsthätigkeiten 920 

§.  382.  [189.]  — III.  Einfluss  des  Beamtenthums  für  die  Feststellung  des 

Staatsbereichs 921 

§.  383.  [190.]  — IV.  Die  specieilen  Aufgaben  des  Staats  als  Untersuchungs- 
gegenstand der  systematischen  Volkswirtschaftslehre 923 

Autoren -Verzeichntes 925 

Druckfehler 930 


*4 


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Viertes  Buch. 


Bevölkerung  und  Volks wirthsehaft. 

§.  191.  Vorbemerkungen. 

Die  folgenden  Erörterungen  Uber  die  Bevölkerungsfrage,  genauer  gesagt,  weil  das 
allein  hieher  gehört,  über  die  volkswirtschaftliche  Seite  dieser  Frage  einleitungs- 
weise in  diesen  Vorbemerkungen  und  in  der  Litteraturübersicht  (5$.  191 — 197)  und  so- 
dann statistisch  und  systematisch-dogmatisch  im  ersten  Kapitel  dieses  vierten  Buchs  sind 
im  Wesentlichen  in  dieser  3.  Auflage  der  „Grundlegung"  neu  hinzugekommen.  Als  ich 
die  1.  Auflage  der  letzteren  zunächst  noch  im  Anschluss  an  Kau  bearbeitete,  fasste 
ich  in  Uebereinstimmung  mit  diesem  die  Bevölkerungslehre  als  solche  nicht  als 
Theil  der  Politischen  Oekonomie  auf.  Rau  hatte  ihr,  im  Unterschied  von  Roscher, 
keine  umfassende  principielle  Erörterung  gewidmet  und  ihr  auch  keine  selbständige 
* Stellung  in  seinem  System  gegeben.  Er  behandelte  sie  nur  im  Zusammenhang  mit 
anderen  wirthschaftsthcoretischen  und  wirthschaftspolitischcn  Fragen  (s.  u.).  Ich  wollte 
damals  ähnlich  wie  Rau  verfahreu  und  der  Bevölkerungslehre  auch  in  der  Neubear- 
beitung des  Rauschen  Werks,  welche  ich  ursprünglich  plante,  ebenfalls  keine  selb- 
ständige Stellung  geben.  Wohl  aber  hielt  ich  die  Rau  sehe  Behandlungswcisc  doch 
schon  für  nicht  mehr  ausreichend  und  gedachte  die  Lehre  in  ihrer  Bedeutung  für 
die  Entwicklung  des  Productivfactors  Arbeit  und  für  Vertheilung  des  Volkseinkommens, 
besonders  für  den  Arbeitslohn,  principieller,  als  Rau  es  gethan,  zu  würdigen  (vgl.  die 
Vorrede  zur  1.  Aufl.  meiner  Grundlegung,  1876,  S.  XII).  Das  hatte  nach  meiner 
damaligen  Auffassung  aber  nur  theilweise  in  der  Grundlegung  selbst,  im  Uebrigen 
mehr  erst  in  dem  damals  beabsichtigten  2.  Theile  der  ..allgemeinen  oder  theoretischen 
Volkswirtschaftslehre“  (der  „allgemeinen  Volkswirtschaftslehre  des  privatwirthschaft- 
lichen  Systems",  s.  obige  Vorrede  S.  XIII)  zu  geschehen.  In  der  Grundlegung  selbst, 
auch  noch  in  der  2.  Aufl.,  bin  ich  daher  auch  nur  nebenbei  auf  die  Bevölkerungs- 
frage, die  Malthus’sche  Lehre  u.  s.  w.  eingegangen,  allerdings  bereits  in  scharf  prin- 
cipieller Weise,  durchaus  den  Kern  der  Malthus’schen  Lehre  vertretend  (s.  1.  Aufl. 
§.  97,  bes.  S.  123  und  Note  13  daselbst,  mehr  noch  in  der  2.  Aufl.  §.  97  a.  bes. 
S.  145  und  Note  14).  In  den  Erörterungen  über  die  „socialen  Freiheitsrechte“,  Ehe- 
schliessungsrecht, Ein-  und  Auswanderung,  Zugrecht  wurden  dann  Consequenzen  aus 
jener  principiellcn  Auffassung  gezogen  und  verschiedene  Seiten  der  Bevölkerungsfrage 
eingehend  theoretisch  und  verwaltungspolitisch  behandelt  (1.  und  2.  Aufl.,  in  letzterer 
noch  genauer  und  schärfer,  bes.  §.  225  ff.,  230  ff.,  236  ff.,  247  ü.,  s.  auch  2.  Aufl. 
S.  477  ff.).  Meine  Stellung  zu  Malthus  und  seiner  Lehre  tritt  hier  wohl  überall  bereits 
deutlich  hervor,  wie  das  auch  von  anderer  Seite  anerkannt  worden  ist  (s.  Elster’s 
u.  gen.  Aufs,  im  Handwörterb.  d.  Staatswiss.  II,  517). 

Allein  ich  habe  mich  allmälig  davon  überzeugt,  dass  diese  doch  nur  mehr  neben- 
sächliche Behandlung  des  Bevölkerungsproblems  nicht  genügt:  dass  es  auch  nicht  aus- 
reicht, in  der  vielfach  bei  den  Theoretikern  und  Systematikern  des  Fachs  (so  in  Eng- 
land bis  heute)  üblichen  Weise  über  diese  Frage  nur  bei  dem  Factor  Arbeit,  in  der 
Lehre  von  der  Production  (supply  of  labour)  und  etwa  in  der  Lehre  vom  Arbeitslohn 
im  Abschnitt  von  der  Vertheilung  zu  handeln;  dass  dieser  Bevölkerungslehre  auch 
nicht,  wie  G.  Schmoller  einmal  richtig  bemerkt,  eine  „Verlegcnheitsstelle",  z.  B.  am 
Schluss  des  theoretischen  Theils,  wie  in  Roschers  Band  I (Buch  6),  gegeben  werden 
A.  Wagnor,  Grundlegung.  3.  Auflago.  1.  Theil.  Grundlagen.  29 


446  4.  B.  Bevölkerung  u.  Volks wirthscb.  Vorbemerkungen.  §.  191,  192. 


darf,  sondern  sie  durchaus  in  den  Vordergrund  zu  schieben  ist  und  sie  zu  einem 
Grundpfeiler  der  Wissenschaft  der  Politischen  Ockonomio  gemacht  werden  muss,  daher 
auch  schon  in  den  „grundlegenden“  Theil  gehört.  Auch  Roscher  sagt  übrigens  in 
einer  Vorrede  zu  seinen  neueren  Auflagen  seines  1.  Theils,  dass  er  nur  ans  äusseren 
Gründen  an  seiner  früheren  Reihenfolge  der  Gegenstände  festhalto  und  wenn  er  jetzt 
noch  die  1.  Auflage  (statt  der  20sten,  welche  stolze  Zahl  sein  1.  Band  erreicht  hat) 
zu  veranstalten  hätte,  den  grössten  Theil  der  Bevölkerungslehre  vor  der  Productions- 
lehre  abhandeln  würde,  „um  die  Subjecte  jeder  wirthschaftlichcn  Thätigkeit  vor  die 
Objecte  zu  stellen“  (s.  „aus  den  Vorreden  zur  2. — 19.  Auflage“,  in  der  20.  Auf!., 
1892,  S.  XI). 

Es  sind  nun  freilich  nicht  solche,  doch  nur  mehr  formelle  Gründe,  als  vielmehr 
principielle  Auffassungen,  welche  mich  bestimmen,  die  Bevölkerungslehre  hier  in  die 
„Grundlegung“  hinein  zu  ziehen  und  sie  grade  an  dieser  Stelle,  zwischen  dem  voraus- 
gehenden  3.  Buche  und  dem  2.  Kapitel  dieses  4.  Buchs,  welches  den  Bedarf  und  die 
Einkommenlehrc  vom  Vertheilungsstandpunct  aus  behandelt,  zu  setzen. 

Allerdings  halte  ich  auch  jetzt  noch  Rau’s  und  meine  frühere  Ansicht  aufrecht, 
dass  die  Bevölkerungslehre  nicht  kurzweg  eine  politisch  - ökonomische  Lehre  ist  und 
daher  schon  an  sich  einen  Theil  im  System  der  Wissenschaft  der  Politischen  Oekonomie 
bilde.  Sie  ist  mehr  als  das  und  auch  in  gewissem  Sinne  eine  eigene  selbständige 
Gesellschaftswissenschaft  neben  der  Politischen  Oekonomie.  Diese  Auffassung  vertritt 
auch  Rüinelin  (Schönberg’s  Handbuch  I,  3.  A„  S.  724),  dem  ich  darin  beistimme, 
wenn  er  sagt,  „die  Bevölkerungslehre  ist  kein  Zweig  oder  Bestaudtheil  der  Volks- 
wirthschaftslehre,  sondern  ein  ihr  coordinirtes  Glied  der  Gesellschaftswissenschaften, 
das  nur  im  Verhältniss  einer  innigen  wechselseitigen  Einwirkung,  eines  unentbehr- 
lichen Hilfswissens  zu  ihr  steht.  Aber  sie  greift  zugleich  auch  über  die  wirthschaft- 
lichcn Fragen  nach  allen  Richtungen  hinaus;  sie  berührt  ebenso  auch  physiologische, 

anthropologische,  politische,  historische  Probleme “ Rümelin  möchte  an  eine 

grundlegende  und  einleitende  allgemeine  Gesellschaftslehre  als  erste  der  Zweiglehren 
die  Bevölkerungslehre,  als  zweite  die  Volkswirtschaftslehre  anschliessen.  Er  zieht 
daher  auch  den  mir  richtig  scheinenden  Schluss,  dass  diese  Lehre  im  System  der 
Politischen  Oekonomie  nicht  ein  den  übrigen  Abschnitten  gleichartiger  und  coordinirter 
Bestandteil  sei.  Nur  solche  Thatsachen  und  Regelmässigkeiten  aus  dieser  Lehre 
gehörten  in  die  Politische  Oekonomie,  welche  von  den  Gesichtspuncten  der  letzteren 
aus  bedeutsam  und  eingreifend  erschienen  (eb.  S.  724). 

Dieser  von  mir  in  der  Hauptsache  geteilten  Auffassung  gemäss  ziehe  auch  ich  bei 
Weitem  nicht  die  ganze  Bevölkerungslehre  jetzt  hierher,  sondern  nur  die  eigentlich 
volkswirtschaftlichen  Seiten  derselben.  Deren  sind  zwei,  die  eine,  welche 
mit  dem  volkswirtschaftlichen  Productionsproblem,  daher  mit  dem  menschlichen 
Arbeitsfactor,  vor  Allem  nach  dessen  quantitativer,  aber  auch  nach  dessen 
qualitativer  Seite,  zusammenhängt,  weil  in  einer  Hauptbeziehung  die  Menge  und 
theilweise  auch  die  Art  der  Arbeit  und  weiter  die  Höhe  der  Production,  demnach 
die  Grösse  des  Volkseinkommens  und  Volksvermögens,  mithin  auch  des  „Dividendus“ 
für  die  Verteilung  von  den  Bevölkerungsverhältnissen,  Zahl,  Zusammensetzung.  Eigen- 
schaften (Geschlecht,  Alter  u.  s.  w.)  der  Bevölkerung  bedingt  ist;  die  zweite  Seite 
sodann,  welche  in  ähnlicher  Weise  mit  dem  Vertheilungsproblem  zusammen- 
hängt, weil  wiederum  in  einer  Hauptbeziehung,  und  in  dieser  Hinsicht  unabhängig 
von  der  Organisation  und  Rechtsordnung  der  Volkswirtschaft,  von  den  Besitzvcrhält- 
nissen  u.  s.  w.,  die  Bevölkerungsgrössc  für  die  individuelle  Einkommen-  und  Ver- 
mögcnsvertheilung  eine  entscheidende  Bedeutung  hat.  der  „Divisor“  ist,  von  dessen 
Grösse  bei  gegebener  Productivität  der  nationalen  Arbeit  und  gegebener  Grösse  von 
Volkseinkommen  und  Volksvermögen  unvermeidlich  schliesslich  die  „Quotienten“  als 
relative  wie  als  absolute  Grössen  abhängen,  welche  den  Einzelnen,  den  Familien  als 
Einzeleinkommen  und  Vermögen  überhaupt  zufallen  können.  Für  diese  beiden  Grund- 
probleme der  Social -Oekonomie  (§.  5,  S.  21)  ist  daher  die  Bevölkerungslehre  von 
entscheidender  Bedeutung,  indem  sie  zeigt,  wie  die  Zahl,  die  Veränderung  der  Zahl, 
die  Zusammensetzung  der  Bevölkerung  aus  verschiedenartigen  Individuen,  besonders, 
aber  nicht  allein,  nach  Geschlecht  und  Alter,  die  Veränderung  in  dieser  Zusammen- 
setzung auf  wirtschaftliche  Veihältnisse . auf  Production  und  Verteilung  einwirken 
und  umgekehrt  durch  solche  Verhältnisse  selbst  beeinflusst  werden,  ja  wie  Production 
und  Verteilung  in  ihrer  Gestaltung  und  Entwicklung  mehr  oder  weniger  auf  der 


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Bevölkerungslehre  u.  Socialismus. 


447 


Gestaltung  und  Entwicklung  der  Bevölkerungsverhältnisso  und  umgekehrt  diese,  nach 
dem  hier  obwaltenden  Wechsel  wirkuugs-  und  Wechselbedingungsverhältniss,  wieder 
auf  der  Gestaltung  und  Entwicklung  der  Production  und  Verkeilung  beruhen. 

Besonders  wichtig  ist  hier  dann  die  Untersuchung  der  Fragen,  welche  wirt- 
schaftlichen Voraussetzungen  und  welche  wirthscbaftlichen  Folgen  in 
Bezug  auf  Prodnction  und  Verkeilung  Veränderungen  in  Zahl  und  Zusammen- 
setzung der  Bevölkerung  (besonders  nach  Altersclassen)  haben.  Grade  diese  Fragen 
sind  es,  welche  aus  der  Bevölkerungslehre  und  aus  den  Problemen,  mit  welchen  sich 
dieselbe  beschäftigt,  in  die  Politische  Oekonomie  und,  wenigstens  in  principieller  und 
genereller  Bebandlungsweise,  schon  in  die  „Grundlegung“  gehören.  Nach  dieser  Auf- 
fassung ist  denn  auch  die  sich  an  den  Namen  von  R.  Malthus  knüpfende  Lehre 
und  die  ganze  daraus  hervorgegangene  berühmte  Controverse  zwar  nicht  nur,  aber 
doch  auch  und  in  bevorzugtem  Maasse  grade  eine  socialökonomische  Lehre,  zu 
welcher  der  Nationalökonom  als  solcher,  nicht  bloss,  ja  nach  dieser  wirt- 
schaftlichen Seito  der  Fragen  überhaupt  nicht  unmittelbar  der  Statistiker,  Historiker, 
Politiker  Stellung  zu  nehmen  hat. 

Alle  concrete  historische  Gestaltung  von  Production  und  Verkeilung  in  der 
Volkswirtschaft  wird  nun  allerdings  wesentlich  mit  bedingt  von  der  concreten  Ge- 
staltung der  Organisation  und  der  Rechtsordnung,  namentlich  der  Rechts- 
ordnung für  „Freiheit  und  Eigenthum“,  der  Privateigenthumsordnung,  auch  in  Bezug 
auf  die  sachlichen  Productionsmittel,  Boden  und  Kapital,  der  Vertragsrechtsordnung; 
wird  mit  bedingt  von  der  unter  dem  Einfluss  dieser  Organisation  und  Rechtsordnung 
sich  vollziehenden  historischen  Gestaltung  und  Entwicklung  der  Besitz-  und  Erwerbs- 
verhältnisse (Grundeigenthumsvertheilung!).  Aber  eben  doch  nur  mit  bedingt,  nicht: 
ausschliesslich  bedingt.  Vielmehr  bildet  die  Bevölkerungsbewegung,  die  Ver- 
änderung in  Zahl  und  Zusammensetzung  der  Bevölkerung  eben  eine  andere  wesent- 
liche Bedingung  für  die  Gestaltung  von  Production  und  Verkeilung  und  einen 
Factor,  welcher  insbesondere  selbst  wieder  auf  die  Besitz-  und  Erwerbsverhältnisse 
einen  schliesslich  beherrschenden  Einfluss  ausübt,  einen  Einfluss,  welchem  gegenüber 
der  Einfluss  der  concreten  volkswirtschaftlichen  Organisation  und  Rechtsordnung  auf 
jene  Verhältnisse  zurücktritt.  „Schon  eine  mittlere  eheliche  Fruchtbarkeit  von  3 bis 
4 Kindern  sprengt  bei  gleicher  Gütertheilung  (im  Erbgang  bäuerlichen  Besitzes)  in 
alten  Culturländcrn  in  1U0  Jahren  jede  Agrarverfassung  und  kommt  bei  unhaltbaren 
Zuständen  an“  (Rümelin,  Reden  und  Aufsätze,  1881,  S.  591).  Nur  unter  Berück- 
sichtigung dieses  mit  Naturgewalt,  förmlich  mechanisch  sich  vollziehenden  Einflusses 
einer  gegebenen  (bezw.  angenommenen)  Bevölkerungsbewegung,  welche  selbst  wieder 
das  Product  wirtschaftlicher  Verhältnisse,  des  Trieblebens  und  psychischer  Factoren 
ist,  lässt  sich  daher  das  volkswirthschaftliche  Productions-  und  Vertheilungsproblem 
und  lassen  sich  auch  die  Fragen  von  Bedarf,  Auskommen  und  diejenigen  der  aus  dem 
Verthcilungsstandpuncte  erörterten  Einkommenlehre  (Kapitel  2 dieses  Buchs),  sowie 
die  weiteren  Fragen  der  volkswirthschaftlichen  Organisation  (Buch  5 und  6)  und 
Rechtsordnung  (2.  Theil  der  Grundlegung)  richtig  behandeln.  Daher  gehört  die  an- 
gedeutete volkswirthschaftliche  Seite  der  Bevölkerungslehre  in  der  That  in  die  Poli- 
tische Oekonomie  und  auch  schon  in  die  Grundlegung  und  fiudet  grade  an  dieser 
Stelle,  wo  wir  sie  hier  behandeln,  ihren  richtigen  Platz. 

§.  192.  Fortsetzung.  Die  Bevölkerungslehre  und  der  Socialismus. 
Speciell  in  dieses  Buch,  welches  nach  principieller  Behandlung  der  wirthschaft- 
lichen  Fragen  strebt  und  eine  seiner  Aufgaben  in  principieller  Auseinandersetzung 
mit  dem  Socialismus  sieht,  gehören  jene  beiden  Seiten  der  Bevölkerungslehre, 
namentlich  die  zweite,  hinsichtlich  der  Beziehung  zwischen  Bevölkerungsbewegung 
und  Verkeilung,  auch  noch  aus  einem  besonderen  Grunde.  Der  wissenschaftliche 
Socialismus  glaubt  in  seinen  Hauptvertretern,  mit  seltenen  Ausnahmen  (§.  193,  196), 
grade  in  der  Bevölkerungslehre  einen  Standpunct  einnebmen  zu  sollen,  von  welchem 
aus  die  Malthus'sche,  im  Kern  von  der  wissenschaftlichen  Nationalökonomie,  — in 
der  Sprechweise  der  Socialisten:  von  der  „vulgären  Bourgeois-Oekonomie“  — gebilligte 
Auffassung  (§.  195)  scharf  abgelebnt  wird.  Die  Thatsachen,  auf  welche  sich  die 
„Malthusianer“  stützen,  können  zwar  nicht  ganz  geleugnet  werden,  aber  sie  werden 
anders  ausgelegt.  Sie  sollen  das  Product  nicht  von  physischen  und  psychischen  Fac- 
toren sein,  welche,  wenn  auch  individuell  und  nach  Völkern,  Zeitaltern,  Klassen  ver- 
schieden, doch  im  Ganzen  dem  Menschen  als  solchem  eigenthümlich  sind,  zu  seiuer 

29* 


448  4.  B.  Bevölkerung  u.  Volkswirthsch.  Vorbemerkungen.  §.  192,  193. 


Naturausstattung  gehören,  sondern  das  Product  von  Factoren,  welche  nur  unter  unserer 
gegebenen  geschichtlichen  Gestaltung  der  Besitz-  und  Erwerbsverhältnisse,  nur  bei 
unserer  Rechtsordnung  für  die  sachlichen  Productionsmittel  und  unserer  volkswirt- 
schaftlichen Organisation  so  wirken,  wie  es  die  Erscheinungen  in  der  Bevölkerung  bei 
uns  zeigen.  In  der  Maltbus'schen  Lehre  hätte  man  es  danach  nur  mit  einer  histo- 
rischen Kategorie  von  Erscheinungen  im  Menschenleben  zu  thun  (Marx’  Standpunct. 
s.  sein  Kapital  1.  A.  I,  618,  vgl.  u.  §.  196).  Nicht  das  Bevölkerungsproblem  biete 
Schwierigkeiten  für  die  wirtschaftliche  und  weiterhin  physische,  geistige,  sittliche 
Hebung  des  Volks,  auch  der  Massen,  sondern  dies  Problem  sei  überhaupt  gar  keines 
oder  löse  sich  wenigstens  einfach,  sobald  die  socialistische  wirtschaftliche  Rechts- 
ordnung für  die  sachlichen  Productionsmittel  — Beseitigung  des  Privateigenthums 
daran , des  „Monopols“  der  Grund-  und  Kapitalbesitzer,  der  ausschliesslichen  Inhaber 
der  Arbeitsinstrumente  und  Arbeitsmittel  — und  die  socialistische  wirtschaftliche 
Organisation  für  Production  und  Veitheilung  angenommen  und  durchgefübrt  werde. 
Nur  auf  dem  Boden  unserer  heutigen  Rechtsordnung  und  Organisatiousform  biete  eine 
„zu  rasche“  oder  überhaupt  eine  grosse  Volkszunahme  Bedenken  und  sei  dieselbe 
auch  nur  zu  fürchten.  In  der  socialistischen  Ordnung  und  Organisation  werde  sie 
gar  nicht  eintreten  oder  nur  wohltätig  wirken.  „Proletariat“  sei  eine  Folge  unserer 
Rechts-  und  Wirthschaftsverhältnissc,  nicht  eine  Gefahr,  welche  das  in  der  Bevölkerungs- 
bewegung mitspielende  Triebleben  schon  an  sich  überall  und  immer  mit  sich  führe. 

Diese  durchaus  optimistische  Auffassung  halte  ich  für  die  zweite  grosse 
Irrlehre  des  Socialismus,  neben  der  früher  besprochenen  psychologischen  hin- 
sichtlich der  Motive  des  wirthschaftlichcn  Handelns  (Buch  1 , besonders  §.  30  ff.), 
von  welcher  sie  freilich  in  einer  Hinsicht  nur  eine  Consequenz  ist.  Der  Kern  von 
Malthus’  Theorie  — und  nur  um  diesen  Kern  handelt  es  sich,  nicht  um  die 
mehrfach  angreifbare  Begründung  in  allen  Einzelheiten,  noch  vollends  um  die  Fassung 
(geometrische,  arithmetische  Reihe,  s.  u.  §.  194)  — steht  und  fällt  mit  der  heutigen 
„kapitalistischen  Productionsweise“  durchaus  nicht  (gegen  K.  Marx,  Kapital  I. 
bes.  Kap.  6).  Im  Gegentheil,  wie  die  psychologische  Seite  in  Bezug  auf  die  Motivation 
im  wirthschaftlichcn  Thun  und  Lassen  der  Individuen,  wie  in  Verbindung  vor  Allem 
hiermit,  schon  die  ökonomisch  - technischen  Schwierigkeiten  der  „Organisation  der 
Arbeit“,  so  würde  grade  in  einer  socialistisch  organisirten  Volkswirtschaft  mit 
höchster  psychologischer  Wahrscheinlichkeit  und  nach  dem  Schluss  aus  allem,  was 
wir  von  den  die  Bevölkerungsbewegung  bestimmenden  Factoren  wissen,  eine  andre, 
kaum  geringere  Schwierigkeit  in  der  Notwendigkeit  der  gesetzlichen  Bevöl- 
kerungsregelung bestehen,  mehr  wie  in  jedem  anderen  Volkswirthschaftssystem,  — 
cs  müsste  denn  eben  selbst  die  physisch-sinnliche  und  die  geistig-sittliche  Natur  des 
Menschen  in  der  „neuen  Gesellschaft“  eine  nicht  nur  gradweise  verschiedene,  sondern 
specifisch-wesensandere  werden:  die  socialistischen  ütopieen,  von  denen  im  1.  Buche 
genügend  gehandelt  worden  ist. 

§.  193.  Fortsetzung.  Nothwendige  Behandlungsweise  der  Lehre 
in  der  Politischen  Oekonomie.  Die  Behandlung  der  „volkswirtschaftlichen“ 
Bevölkerungslehre  muss  gegenüber  der  bisher  in  den  nationalökonomischen  Werken 
üblichen  und  in  einem  ersten  wichtigen  Puncte  auch  gegenüber  Malthus  allerdings 
einige  nicht  unwichtige  Veränderungen  erfahren,  womit  gleichzeitig  beliebten  Ein- 
wänden von  gewissen  Gegnern,  so  den  freihändlerischen  Optimisten,  entgegen  ge- 
treten wird. 

Einmal  muss  die  Erweiterung  eines  einzelnen,  mehr  oder  weniger  abgeschlossenen 
Volkswirthschaftsgebiets  zu  einem  Theile  des  Weltwirthschaftsgcbiets  mehr 
berücksichtigt  werden,  neueren  tatsächlichen  fortschreitenden  Entwicklungen  gemäss. 
Der  internationale  Waarenaustausch,  der  Bezug  von  Landesproducten,  auch  Nahrungs- 
mitteln, voran  Brotkorn,  aus  der  Fremdo,  die  Bezahlung  derselben  mit  Producten 
feinerer  heimischer  Arbeit  (Fabrikaten),  die  nicht  nur  interlocalen,  sondern  auch  die 
internationalen  Wanderungen,  insbesondere  die  Massenauswanderung  aus  alten  Cultur- 
ländern  in  neue,  noch  schwach  bevölkerte,  zum  Tkeil  erst  noch  neu  zu  besiedelnde 
und  zu  urbarende  mit  jungfräulichem  guten  Boden,  — das  sind  nicht  nur  wichtige 
Thatsachen  im  practischcu  Leben,  sondern  auch  solche,  deren  Voraussetzungen  und 
Folgen  die  volkswirtschaftliche  Bevölkerungstheorie  mehr  Beachtung  schenken  muss, 
als  dies  namentlich  im  älteren  Malthusianismus  und  auch  von  Malthus  selbst  geschieht, 
obwohl  auch  dieser  schon  diese  Seiten  mehr  gewürdigt  hat,  als  ihm  Gegner  wohl 


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Bcvölkcrungslohre  in  d.  Polit.  Oekonomie. 


449 


nachsagen.  Bei  der  unbefangenen  Untersuchung  dieser  Seiten  des  Problems  wird 
man  aber  nicht  zu  einer  „Widerlegung“  von  Malthus,  sondern  zu  einer  bloss  vor- 
sichtigeren und  bedingteren  Fassung  seiner  Sätze  gelangen.  Im  Uebrigen  wird  grade 
der  Kern  seiner  Lehre  nur  bestätigt  werden.  Insbesondere  wird  sich  ergeben,  dass 
die  wirtschaftlichen  Voraussetzungen  einer  immer  stärkeren  Bevölkerungsvermehrung 
und  Volksdichtigkeit,  bei  starkem  Bezug  von  Agrarproducten,  Nahrungsmitteln  aus  dem 
Auslande  und  Fabrikatcnausfuhr  zur  Bezahlung,  schwierig  zu  erfüllen  und  von  einer 
Reihe  Factoren  abhängig  sind,  von  denen  jeder  selbst  wieder  eigenthümliche  Voraus- 
setzungen und  Folgen  hat;  dass  ebendeshalb  auch  dio  Folgen  einer  an  solche  Voraus- 
setzungen gebundenen,  vermeintlich  „unbedenklichen“,  oder  selbst  durchaus  er- 
wünschten Volkszunahme  ernste  Bedenken  genug  bieten.  Nur  die  Unhaltbarkcit  der 
Malthus’schen  wie  jeder  sonstigen  „mathematischen“  Fassung  (z.  B.  auch  der  Que- 
telet’schen,  s.  u.  §.  197)  des  sogen.  Bevölkerungsgesetzes,  der  Wachsthumstendenzen, 
bezw.  gar  der  Wachsthumsfähigkeiten  der  Bevölkerung  einer-,  der  Unterhalts-,  nament- 
lich auch  der  Nahrungsmittel  andrerseits  wird  sich  bei  der  Erhebung  des  volkswirt- 
schaftlichen Bevölkerungsproblems  zu  einem  weltwirtschaftlichen  noch  schärfer  heraus- 
stellen.  Indessen  ist  diese  Unhaltbarkeit  auch  von  Malthus'  meisten  Anhängern  schon 
längst  eingeräumt  worden,  ohne  dass  man  den  Schluss  von  Gegnern,  wie  Carey 
u.  a.  m.  (8.  u.  §.  196),  hätte  zuzugeben  brauchen,  dass  das  Fallenlassen  oder  die  — 
übrigens  auch  nicht  strict  mögliche  — tatsächliche  „Widerlegung“  der  bekannten  Mal- 
thus’schen Formel  von  der  Zuwachstendenz  der  Bevölkerung  in  geometrischer,  der 
Nahiungsmittel,  bezw.  der  Zuwachsmöglichkeit  der  letzteren  nur  in  arithmetrischer 
Progression  ein  Preisgeben  der  Malthus’schen  Lehre  in  ihrem  Kerne  selbst  sei. 

Sodann  muss  m.  E.  die  Beweisführung  in  der  Frage  mehr  und  tiefer  und  vor 
Allem  vielseitiger  als  es  von  Malthus  und  auch  seinen  besten  und  wissenschaftlichsten 
Anhängern  in  der  Regel  geschehen  ist,  die  in  Betracht  kommenden  psychologi- 
schen Momente,  welche  auch  liier  überall  mitspielen,  berücksichtigen  und  auf  sie 
Bezug  nehmen.  Die  das  menschliche  Triebleben  bestimmenden  Factoren  sind  auch 
hier,  ebenso  wie  auf  dem  ganzen  Wirtschaftsgebiete,  verwickelter,  mannigfaltiger, 
differenziren  sich  individuell  nach  Classen,  Berufen,  Völkern,  Zeitaltern  mehr,  als 
häufig  in  der  Beweisführung  angenommen  worden  ist.  Aus  dem  Geschlechtstrieb  kann 
hier  so  wenig  allgemein  und  sicher  immer  deducirt  werden,  wie  aus  dem  Trieb  des 
Selbstinteresses  in  wirtschaftlichen  Dingen.  Manche  Einwände  und  Gesichtspuncte 
der  Gegner  enthalten  hier  Beachtenswertes.  Die  Ausführungen  im  1.  Boche  über 
die  wirtschaftliche  Natur  des  Menschen  sind  hier  wieder  mehrfach  in  Bezug  zu 
nehmen.  Freilich  aber  trifft  auch  wieder  ein  Ergebniss  jener  obigen  Analyse  der 
Motive  zu : wie  trotz  aller  individuellen  DifFerenzirung  der  Motivation  im  Wirtschafts- 
leben der  Grundtrieb  des  wirtschaftlichen  Selbstinteresses,  wenn  auch  selbst  in 
verschiedener  Stärke,  DifFerenzirung,  Combination  mit  und  Abschwächung,  hie  und  da 
selbst  Aufhebung  durch  andere  Motive  ein  im  Ganzen  beherrschender  bleibt, 
so  nicht  minder  auf  diesem  Gebiete  des  Bevölkerungswesens,  trotz  ähnlicher  Com- 
binationen  und  Kreuzungen  mit  anderen  Motiven,  der  Geschlechts  trieb.  Das 
sollten  wiederum  radicale  Gcsellschafts-  und  Wirthschaftsreformatoren  wie  die  Socia- 
listen  am  Wenigsten  vergessen.  Denn  cs  folgt  aus  diesen  Verhältnissen  mit  Not- 
wendigkeit. dass  alle  socialen  und  wirtschaftlichen  Einrichtungen,  welche  direct  und 
indirect  durch  psychische  Medien  hindurch  auf  Verminderung  des  Verantwortlich- 
keitsgefühls  für  Kindererzeugung  hinwirken  und  alles  zu  thun  suchen,  um  die  öko- 
nomischen repressiven  Hemmnisse  der  Volksvermehrung  zu  beseitigen,  grade  das 
B e völke  r u n gsp  robl  era  zu  einem  immer  schwierigeren  für  die  Gesell- 
schaft machen:  so  doch  sicherlich  wiederum  nach  höchster  psychologischer  Wahr- 
scheinlichkeit in  einer  socialistischcn  Wirtschaftsorganisation. 

Endlich  muss  das  Bevölkerungsproblem  in  der  Beweisführung  und  ganzen  Be- 
handlung in  der  Politischen  Oekonomie  mehr  als  wie  gewöhnlich  geschieht  hier  als 
ein  wesentlich  nationalökonomisches  aufgefasst  werden,  nicht  als  ein  statisti- 
sches, psychologisches,  anthropologisches,  ethisches,  culturhistorisches,  allgemein 
historisches  u.  s.  w.  Wohl  sind  einzelne  Argumente  nur  und  andre  am  Besten  aus 
der  Bevölkerungsstatistik  zu  entnehmen,  aber  Bevölkerungsstatistik  und  volkswirtschaft- 
liche Bevölkerungslehre  decken  sich  nicht  (s.  u.  §.  197).  Jene  umfasst  ein  viel  wei- 
teres Gebiet,  hat  mit  manchen  speciellon  Erscheinungen  und  Problemen  (z.  B.  in  der 
mathematischen  Behandlung  des  Bevölkerungswechsels,  in  der  Ableitung  der  mittleren 


A 


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450  4.  3.  Bevölkerung  u.  Volkswirthseh.  Vorbemerkungen.  §.  193,  194. 


Lebensdauer,  der  Absterbeordnung  und  der  Feststellung  der  Methoden  dafür)  zu  thun, 
welche  nicht  in  die  Politische  Oekonomie  hineinzuziehen  oder  in  Betreff  deren  hier 
höchstens  Act  von  den  Ergebnissen  der  Statistik  zu  nehmen  ist.  Auch  auf  ein- 
zelnes Physiologische,  Anthropologische,  Ethische.  Culturhistorische,  allgemein  (auch 
politisch)  Historische  ist  da  und  dort  in  der  volkswirtschaftlichen  Bevölkerungslehre 
Bezug  zu  nehmen,  zur  Beweisführung  und  Erläuterung.  Aber  die  Summe  der  popu- 
lationistischen  Thatsachen  dieser  Art  gehört  wieder  nicht  in  die  Politische  Oeko- 
nomie, daher  z.  B.  die  concrote  Bevölkerungsgeschichte  einzelner  Länder,  Zeitalter, 
wie  etwa  in  den  schönen  Aufsätzen  von  v.  Inama-Sternegg  und  Ed.  Meyer 
über  mittelalterliche  und  antike  Bevölkerung  im  Handwörterbuch  der  Staatswissen- 
schaften nicht  und  ebensowenig  die  Fülle  culturhistorischer  Anecdotik  über  Bevöl- 
kerungsverhältnisse und  Erscheinungen  in  Roscher’s  darin  so  reichhaltigem  6.  Buche 
in  seinem  B.  I.  Auch  hier  ist  — zugleich  gemäss  unserem  oben  dargelegten  und  be- 
gründeten methodologischen  Standpuncte  (§.  65  ff.)  — eben  Statistik,  Geschichte, 
Cnlturgeschichte  von  Erscheinungen  und  Verhältnissen,  welche  auch  eine  volkswirt- 
schaftliche Seite  haben,  nicht  das.  was  als  solches  in  die  nationalökonomi- 
sche Betrachtung  dieser  Erscheinungen  und  Verhältnisse  gehört. 

Ja,  diese  Betrachtung  leidet  sichtbar  in  einer  Darstellung,  welche  die  Samm- 
lung und  Vorführung  des  statistischen,  des  geschichtlichen  Materials  über  Bevölkerungs- 
verhältnisse und  etwa  die  Aufsuchung  von  Regelmässigkeiten  in  den  bezüglichen  Er- 
scheinungen mit  zur  Aufgabe  von  national  ökonomischen  Werken  machte.  Die 
eigentliche  Aufgabe,  grade  nur  die  wirtschaftlich  en  Voraussetzungen  und  Folgen 
von  bestimmten  Erscheinungen  in  der  Bevölkerung  (Zunahme.  Abnahme,  Stillstand, 
rasche,  langsame  Zunahme  durch  Geburtsüberschuss,  Altersclassenvertheilung , Ein- 
und  Auswanderung  u.  s.  w.)  genauer  zu  erforschen,  zu  analysiren,  daraus  Schlüsse 
für  das  Bedenkliche,  Erfreuliche,  Wünschenswerthe,  zu  Vermeidende  einer  bestimmten 
Gestaltung  und  Entwicklung  (nach  der  Aufgabe  Nr.  4 u.  5 in  §.  62,  63)  zuziehen,  und 
soeben  die  Erkenntniss  der  volkswirthschaftlich  en  Seite  der  Bevölkerungsfrage, 
einer  Schrift  über  Politische  Oekonomie  gemäss,  soweit  als  möglich  zu  fördern.  — 
grade  diese  eigentliche  Aufgabe  kommt  dabei  zu  kurz,  wie  selbst  das  sonst  so 
reichhaltige  und  vortreffliche  sechste  Buch  Roscher’6  bestätigen  möchte.  Die  Fülle 
litterarhistorischer  und  culturhistorischer  Notizen,  die  treffliche  Characteristik  der  Be- 
völkerungserscheinungen in  verschiedenen  wirtschaftlichen  Zeitaltern  und  die  histo- 
rische Uebersicht  der  verschiedenartigen  vorgekommenen  Maassregeln  der  Bevölkerungs- 
politik bieten  eben  doch  noch  nicht  eine  eingehende  principie Ile  Untersuchung  der 
wirtschaftlichen  Voraussetzungen  und  Folgen  einer  grossen  Volksdichtigkeit, 
einer  relativen  Uebervölkerung,  des  Angewieseuseins  auf  immer  stärkeren  Import  von 
Agrarproducten  und  Export  von  Fabrikaten,  insbesondere,  worum  es  sich  doch  vor- 
nemlich  handelt,  unter  den  gegebenen  Verhältnissen  der  modernen  Culturwelt.  Unter 
den  neueren  Theoretikern  ist  es  vornemlich  Rümelin,  welcher  in  seinen  zwar  nur 
skizzenhaften,  aber  doch  hinlänglich  die  entscheidenden  Puncte  würdigenden,  scharfen 
und  geistvollen  hierhergehörigen  Aufsätzen  grade  dieser  wirtschaftlichen  Seite 
der  Bevölkerungsfrage  gerecht  wird  (s.  u.  §.  195).  Auch  die  Nationalökonomen  be- 
handeln meistens  zu  ausschliesslich  die  statistische  Seite  der  Fragen,  liefern  nichts 
beweisende  statistische  Untersuchungen  über  thatsächlichc  Zuwachsraten  der  Bevölke- 
rung und  der  Production  und  erörtern  die  Fragen  der  positiven  Bevölkerungspolitik  als 
solche  der  Verwaltungspolitik,  lauter  mit  der  wirtschaftlichen  Seite  des  Problems  zu- 
sammenhängende, aber  doch  nicht  diese  Seite  erschöpfende,  geschweige  sie  allein 
bildende  Puncte.  Im  folgenden  ersten  Kapitel  liegt  ein  Versuch  vor,  gerade  jene 
Seite  der  Frage,  die  w irthscli aftli ch en  Voraussetzungen  und  Folgen  verschieden- 
artiger Bevölkerungs-,  Volksdichtigkeits-  und  Wachsthnmsverhältnisse  der  Bevölkerung 
zum  eigentlichen  Untersuchur.gsgegenstand  nach  den  Gesichtspnncten  der  Politischen 
Oekonomie  zu  machen ; ein  Versuch,  für  welchen  die  angedeuteten  Gesichtspuncte 
wenigstens  die  leitenden  waren.  Für  diesen  Versuch  sind  aber  allerdings  eingehende 
statistische  Untersuchungen  im  1.  Abscli.  des  1.  Kap.  vorausgeschickt  worden,  dieselben 
aber  möglichst  so  geführt,  wie  es  die  „ wirtschaftliche  Bevölkerungslehre“  verlangt. 

Erst  eine  derartige  bezügliche  Arbeit  liefert  dann  auch  das  Fundament  für 
alle  weiteren  Erörterungen  in  der  Grundlegung.  So  zunächst  schon  für  die  Fragen 
des  zweiten  Kapitels  dieses  4.  Buchs,  welche  nach  meiner  jetzigen  Auffassung  ohne 
ein  solches  vorausgelegtes  Fundament  für  die  wirtschaftliche  Seite  der  Bevölkerungs- 


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Litteratur. 


451 


lehre  doch  nicht  genügend  erledigt  werden  können.  Ich  erkenne  in  dieser  Hinsicht 
einen  Mangel  in  den  früheren  Auflagen  (2.  Auf!.,  S.  134 — ISO)  an.  Sodann  aber 
sind  auch  die  gesammten  Organisations-  und  Rechtsfragen  erst  von  dem  auf  jenem 
Fundament  sich  erhebenden  Standpuncte  aus  sicherer  za  behandeln:  eine  Einsicht 
und  Ueberzeugang,  welche  ich  namentlich  wieder  durch  die  Beschäftigung  mit  den 
socialistischcn  Gedankenkreisen  und  Plänen  gewonnen  habe. 

§.  194.  Litteratur,  insbesondere  Malthus  und  seine  Lehre.  Gute 
litterarhistorische  und  bibliographische  Hilfsmittel  für  die  ganze  Bevölkerungslehre 
und  auch  für  die  wirthschaftliche  Seite  der  Frage,  insbesondere  für  die  Malthus’sche 
Controverse,  bieten  zunächst  folgende  Arbeiten.  Robert  v.  Mo  hl,  Geschichte  und 
Litteratur  der  Staatswiss.,  B.  III,  Erlangen  1838,  Abh.  14,  Geschichte  und  Litteratur 
der  Bevölkerungslehre,  S.  411 — 517,  eine  vorzügliche,  reichhaltige  und  besonnene 
Arbeit;  ferner  L.  Elster,  der  fleissige  und  sehr  gelungene  Haupttheil  der  Abh.  über 
Bevölkerungslehre  und  Bevölkerungspolitik  im  Handwörterb.  d.  Staatswissenschaften 
(II,  465),  wesentlich  eine  knapp  gehaltene,  aber  recht  vollständige  Litteraturgcschichte 
der  Lehre  (bes.  S.  469  — 528),  woneben  die  eigene  Behandlung  der  Controverse  in 
der  mir  nach  dem  Obigen  erforderlich  erscheinenden  Weise  allerdings  zu  sehr  zurück- 
tritt. Besonders  beachtenswerth  ist  in  diesen  beiden  Abh.  die  im  Ganzen  wohl  richtige 
Classification  der  Ansichten  der  Autoren  älterer  wie  neuester  Zeit.  Auf  die  Biblio- 
graphie dieser  Mohl’schen  und  Elster’schen  Arbeiten  sei  hier  besonders  hingewiesen. 
Ich  muss  mich  hier  auf  die  Characterisirung  der  Hauptrichtuugen  und  die  Hervor- 
hebung einzelner  wichtiger  Autoren  und  Schriften  beschränken.  Für  Weiteres  wäre 
eventuell  auf  die  V.  Hauptabtheilung  dieses  Werks  (die  Litteraturgeschichte  der  Polit. 
Oekonomio)  zu  verweisen.  S.  ferner  J olles,  Ansichten  d.  deutschen  nat.-ökon.  Schrift- 
steller des  16.  u.  17.  Jahrh.  über  Bevölkerungswesen  in  Conrads  Jahrb.  N.  F.  B.  13, 
1886;  H.  Sötbcer,  die  Stellung  der  Socialiston  zur  Malthus’schen  Bevölkerungslehre, 
Berl.  1S86.  Bibliographische,  littcrar-  und  dogmengeschichtliche  Notizen  finden  sich 
mehr  oder  weniger  in  allen  im  Folgenden  genannten  Schriften,  vornemlich  in  den 
reichen  Noten  zu  Wappäus’  Bevölkerungsstatistik  und  in  den  Noten  bei  Roscher, 
bes.  §.  254  (20.  Aufl.  S.  731  ff.  Note  2). 

„Die  Ansichten  der  Theoretiker  über  diesen  Gegenstand  (Bevölkerung  und  Be- 
völkerungspolitik) lassen  regelmässig  einen  Wechsel  von  Ebbe  und  Fiuth  bemerken: 
während  der  letzten  schwärmt  man  für  die  Vermehrung  des  Volks,  die  man  unbedingt 
als  eine  Wohlthat  betrachtet;  hernach  wieder  ängstigt  man  sich  vor  Uebervölkerung“ 
(Roscher  I,  S.  732).  Man  wird  dabei  aber  doch  in  der  Regel  den  Einfluss  der 
concreten  Verhältnisse  des  Bevölkerungswesens,  der  geringen  oder  grossen  Volks- 
zunahme, Volksdichtigkeit,  der  Zeit-  und  Landesverhältnisse,  auch  der  wirtschaftlichen, 
politischen  (Wehrkraft !),  welche  das  Eine  oder  Andre  wünschenswert!)  oder  bedenklich 
erscheinen  lassen,  ferner  auch  den  Einfluss  der  jeweiligen  Verwaltungspolitik  in  Bezug 
auf  die  Bevölkerung  (Ein-,  Auswanderungsrecht,  Zugrecht,  Eheschliessungsrecht,  be- 
günstigende oder  hemmende  legislative  und  administrative  Maassregelu)  auch  auf  die 
Ansichten  der  Theoretiker  nicht  verkennen  können.  Bis  zum  19.  Jahrhundert  leidet 
ausserdem  auch  alle  theoretische  Erörterung  der  Bevölkerungsfragen  an  dem  Mangel 
oder  der  Unzuverlässigkeit  der  Bevölkerungsstatistik,  besonders  in  Betretf  der  Zahl  der 
Bevölkerung  auch  sogar  in  der  unmittelbaren  Gegenwart  und  des  eigenen  Landes 
(so  noch  im  18.  Jahrhundert),  von  der  und  von  dem  man  handelt,  vollends  für  weiter 
zurückliegende  Zeiten  (Alterthum,  Mittelalter)  und  für  fremde  Länder.1) 

Eine  halbwegs  wissenschaftliche  Behandlung  der  Bevölkerungsfragen  beginnt  kaum 
vor  dem  17.  Jahrhundert  und  gelangt  erst  mit  der  Herrschaft  des  Mercantilismus  in 
Theorie  und  Praxis  zu  einer  gewissen  Bedeutung  und  methodischen  Ausbildung.  Die 
vorherrschende,  wenn  auch  nicht  ausnahmslose  Ansicht  ist  schon  im  17.  Jahrhundert, 
besonders  in  dessen  2.  Hälfte,  namentlich  in  Deutschland,  und  wird  im  18.  Jahrhundert 

*)  Controversen  Uber  die  Grösse  der  Bevölkerung  in  den  Culturstaaten  des  Alter- 
thums, über  das  Verhältniss  der  gegenwärtigen  und  ehemaligen  Bevölkerung  (z.  B.  in 
Frankreich  im  18.  Jahrhundert  und  zur  römischeu  Zeit),  über  die  wirkliche  Ab- oder 
Zunahme  und  wahre  Höhe  der  Bevölkerung  noch  im  17.,  18.  Jahrhundert  (Frankreich, 
England),  Controversen.  z.  B.  über  die  antike  Bevölkerung,  Uber  Alt-Italiens,  der  Stadt 
Rom  Bevölkerung,  sind  zwar  auch  heute  noch  nicht  erledigt  und  können  mit  dem 
spärlichen  und  unsicheren  überkommenen  Material  nicht  sicher  entschieden  werden. 


452 


4.  B.  Bevölkerung  u.  Volkswirthsch.  Litteratur.  §.  104. 


immer  mehr  eine  der  Yolksvermehrung,  grossen  Volkszahl  und  Dichtigkeit  günstige: 
im  Ganzen,  zumal  in  Deutschland,  in  Uebereinstimmung  mit  dem  Bedurfniss,  den  An- 
schauungen und  der  Verwaltungspolitik  der  Praxis,  namentlich  im  Zeitalter  des  auf- 
geklärten Absolutismus.  Die  eng  zusammenhängende  Bevölkerungs-  und  Wirthschafts- 
und  Cultorpolitik  in  der  2.  Hälfte  des  17.  und  im  18.  Jahrhundert  war  ein  noth- 
wendiges  Ergebniss  der  gegebenen  Verhältnisse  nach  den  furchtbaren  Zerrüttungen, 
des  30jährigen  und  anderer  Kriege.  In  dem  wirthschaftlichen  Musterlande  der  Zeit, 
in  den  Niederlanden,  sah  man  auch  die  wirthschaftlichen  Vortheile  grosser  und  dichter 
Bevölkerung,  wobei  freilich,  wie  in  Betreff  der  gesammten  wirthschaftlichen  Ent- 
wicklung, der  richtige  Einblick  in  den  Causalzusammenhang  zwischen  Bevölkerung 
und  Volkswirtschaft  nicht  immer  bestand.  Die  Gefahren  zu  grosser  Volkszahl,  zu 
rascher  Zunahme  wurden  indessen  zeitweise  und  von  einzelnen  Theoretikern  wie 
Praktikern  doch  schon  in  dieser  Periode  nicht  immer  verkannt,  selbst  überschätzt, 
Auswanderung,  Colouisation  als  Abhilfmittel  empfohlen  und  versucht.  Und  der  für 
jeden  ein  wenig  Nachdenkenden  doch  auf  der  Hand  liegende  Zusammenhang  zwischen 
Volkszahl,  Zunahme  derselben  und  volkswirtschaftlichen  Hilfsmitteln,  Entwicklung 
der  Production,  des  Verkehrs  wurde  doch  auch  nur  ausnahmsweise  ganz  übersehen. 
Es  fehlt  daher  auch  nicht  an  Stimmen  und  gelegentlichen  Aeusserungen  einzelner 
Autoren,  die  sonst  anders  stehen,  welche  an  Malthus'schc  Anschauungen  anklingcn 
und  mit  mehr  oder  weniger  Recht  als  „Vorläufer  von  Malthus“  bezeichnet  werden, 
so  in  Italien  im  16.  Jahrhundert  G.  Botero,  im  18.  Genovesi,  Ortes,  in  England 
Raleigh,  im  16.  und  17..  Child  im  17.,  J.  Stewart,  Young  im  18.,  in  Deutsch- 
land namentlich  J.  Möser).  Doch  sie  bildeten  die  Minderheit  (s.  Mohl,  a.  a.  0., 
S.  468  ff.,  Elster  a.  a.  0.  S.  486  ff.).  Fast  am  Einseitigsten,  aber  eben  wohl  be- 
sonders unter  dem  Einfluss  von  Anschauungen , welche  die  betreffenden  Autoren  in 
Folge  der  notorischen  Bedürfnisse  ihrer  Zeit  und  ihrer  Länder  nach  einer  grösseren 
Volkszahl  und  unter  der  herrschenden  Verwaltungspolitik  gewonnen  hatten,  stand  die 
deutsche  Cameralistik  und  Polizeiwissenschaft  der  Mitte  und  zweiten  Hälfte  des 
18.  Jahrhunderts,  so  auch  in  ihren  hervorragendsten  Vertretern,  von  Justi,  von 
Sonnenfols  u.  A.  m.  (vgl.  die  Citate  aus  mehreren  Schriften  bei  Elster  a.  a.  0. 
S.  482  ff.).  Die  „populationistische“,  der  Volksvermehrung  fast  um  jeden  Preis,  mit 
jedem  Mittel  günstige  Theorie  dieser  Männer  ist  das  Seitenstück  von  ihrer  und  ihrer 
Zeitgenossen  sonstiger  cameralistischcr  und  polizeiwissenschaftlicher,  ja  rechtsphilo- 
sophischer Theorie  (Chr.  Wolff!)  und  beide  sind  der  Reflex  der  practischen  Bedürf- 
nisse und  der  Verwaltungpraxis.  Ich  möchte  den  Satz  von  Elster,  „die  gekenn- 
zeichnete Bevölkerungspolitik  (des  17.  und  18.  Jahrhunderts)  stützte  sich  auf  die 
herrschende  Bcvölkerungslehre  jener  Zeit“  (a.  a.  0.  S.  476)  eher  umkehren,  mindestens 
ihn  auch  in  dieser  umgekehren  Fassung  für  richtig  halten.  Denn  wie  gewöhnlich 
auf  solchen  Gebieten  haben  Theorie  und  Praxis  sich  freilich  wohl  auch  hier  gegen- 
seitig beeinflusst 

Auch  die  Physiok raten  entzogen  sich  dem  Einfluss  dieser  Zeitanschauungen 
meistens  nicht  und  führten  nur,  ihrer  principiellen  Anschauung  gemäss,  zurück- 
bleibendes  Wachsthum  der  Volkszahl  und  zu  geringe  Volksdichtigkeit  gern  auf  Miss- 
stände in  der  landwirtschaftlichen  Cultur  zurück.  Die  Hebung  der  letzteren  war 
ihnen  daher  auch  ein  Mittel  zur  Vermehrung  der  Bevölkerung. 

Theologen  und  bibelgläubige  Laien  vertraten  auch  unter  der  Berufung  auf  das 
bekannte  Bibelwort  „Seid  fruchtbar  und  mehret  Euch  und  erfüllet  die  Erde“  die  der 
Volksvermehrung  günstige  Auffassung,  wofür  der  erste  Statistiker  seiner  Zeit,  der  Probst 
J.  P.  S ü s s m i 1 c h , ein  besonders  wichtiges  Beispiel  in  der  Mitte  des  1 8.  Jahrhunderts  ist 

A.  Smith  hat  die  Bevölkerungsfrage  nur  gelegentlich  gestreift  aber  noch  keine 
principielle  Stellung  zu  ihr  eingenommen.  Reichthum  und  äusserste  Armuth  hält  er 
für  gleich  ungünstig  für  die  Volksvermehrung,  erkennt  aber  die  Begrenzung  der  Be- 

aber  sie  werden  doch,  freilich  z.  Th.  schon  seit  Hume’s  Zeiten,  in  ganz  andrer 
wissenschaftlicher  Weise,  mit  viel  mehr  Kritik,  namentlich  gegen  phantastisch  über- 
triebene Zahlen,  jetzt  erörtert.  Vgl.  über  das  Alterthnm  den  gut  zusammenfasseuden 
Aufsatz  von  Ed.  Meyer  im  Handwörterb.  d.  Staatswiss.  II,  443  ff.  und  bes.  Bel  och, 
Bevölkerung  der  griech.-röm.  Welt,  1886  I;  über  die  noch  unsichereren  und  spär- 
licheren Daten  für  das  Mittelalter  v.  In ama-Sternegg,  eb.  II,  433  ff,  mit  weiteren 
Littcraturangaben  S.  442. 


M&lthus  und  seine  Lehre. 


453 


völkcrung  durch  die  Subsistenzmittel  deutlich  an  (s.  wcalth  of  nations,  B.  I,  ch.  VIII, 

4.  Lond.  Aug.  1786.  auch  ch.  IX.  p.  255:  „countries  are  populous  not  in  proportion 
to  the  numbcr  of  peoplo  whorn  their  produce  can  clooth  and  lodge,  but  in  proportion 
to  that  of  those  whorn  it  can  feed“). 

Diese  Bevölkerungslehre  des  IS.  Jahrhunderts  war  also  überwiegend  opti- 
mistisch, aber  entsprach  im  Ganzen  doch  den  Zeitverhältnissen  und  practischen 
Bedürfnissen  der  Länder  und,  wie  bemerkt,  wurde  sie  auch  nicht  von  allen  Anhängern 
kritiklos  und  ohne  jede  Rücksicht  auf  die  Frage  der  vorhandenen  Unterhaltsmittel 
und  deren  Vermehrbarkeit  vertreten.  Dieser  optimistischen  Auffassung  huldigte  u.  A. 
auch  der  socialistisch  angehauchte  englische  Schriftsteller  Godwin,  dessen  Schriften 
und  Aufsätze  dadurch  eine  gewisse  bleibende  litterarische  Bedeutung  beanspruchen, 
dass  er  es  war,  welcher  das  Auftreten  von  Th.  Robert  Malthus,  nach  dessen  eigenem 
Bekenntniss,  zuerst  veranlasst  hatte.  (Godwin  in  seinem  Enquircr  über  Geiz  und  Ver- 
schwendung, 1797,  dem  eine  Schrift  enquiry  concernig  political  justice  and  it» 
iufluence  on  general  virtue  and  happiness  1793  vorangegangen  war,  welche  später 
noch  3 Auflagen  erlebte.  Erheblich  später  erschien  mit  specieller  Polemik  gegen 
Malthus  Godwin’s  Schrift  on  population.  London  1820.  S.  über  Godwin  Mohla.  a.  0. 

5.  496,  Elster  a.  a.  0.  S.  502,  den  bibliograpb.  Artikel  „Godwin“  von  Lippert  im 
Handwörterb.  d.  Staatswiss.  III,  S.  80;  Malthus’  Vorrede  zur  2.  Aull,  seines  essay,  1803.) 

Die  grosse  bleibende  Bedeutung  von  Malthus  liegt  darin,  dass  er  jenen  opti- 
mistischen Ansichten  über  den  unbedingten  Segen  der  Volksvermehrung  entgegentrat, 
die  Kehrseite  aufdeckte,  den  nothwendigen  Zusammenhang  zwischen  Volkszahl,  Dichtig- 
keit, Vermehrung  und  Unterhalts-,  speciell  Nahrungsmittel  und  deren  Beschall  barkeit 
und  Vermehrung  nachwies,  die  Gefahren  zeigte,  welche  nothwendig  aus  einer  Ueber- 
holung  der  Nahrungsmittelvermebrung  durch  die  Bevölkerungsvermehrung  hervorgehen 
müssten  und  nach  geschichtlicher  Erfahrung  hervorgegangen  wären,  die  namentlich 
auf  den  Geschlechtstrieb  zurückzufuhrende  starke  Volksvermehrungstendenz  einerseits, 
die  Schwierigkeiten  einer  stets  damit  Schritt  haltenden  Vermehrung  der  Unterhalts- 
mittel andrerseits  hervorhob  und  eine  Lebre  von  den  Hemmungsmitteln  (checks)  der 
Volksvermchrang  entwickelte,  nach  welcher  dieselben  zweierlei  Art  seien,  repressive, 
positive,  insbesondere  Laster  und  Elend,  woraus  sich  mehr  Todesfälle  und  präventive, 
negative,  moralische  Selbst beschränkung  (moral  restraint)  in  Bezug  auf  Vcrhcirathung 
und  Kindererzeugung,  woraus  sich  weniger  Geburten  ergäben,  während  gewisse  Laster, 
Ausschweifungen  nach  beiden  Seiten  hemmend  wirkten.  Er  empfiehlt  allein  moralischo 
Selbstbescbränkung  und  sucht  zu  beweisen,  dass  ohne  diese  unter  den  starken  Antrieben 
zur  Volksvermehrung  die  letztere  stets  die  Tendenz  habe,  die  Vermehrung  der  Unter- 
haltsmittel zu  überholen,  wo  dann  nichts  Andres  eintreten  könne  und  werde,  als  eine 
Wiederverminderung  der  Bevölkerung  durch  Elend  und  in  directer  und  indirecter  Folge 
davon  durch  vermehrte  Todesfälle.  Diese  Sätze  sind  in  ihrem  Kerne,  der  das  sogen. 
Malthus’sche  Bevölkerungsgesetz  bildet,  und  in  dem  wahren  Sinne,  welchen  sie  bei 
Malthus  selbst  haben,  unumstösslich  und  von  einleuchtendster,  in  der  That  auch 
orfahrungsmässig  bestätigter  Wahrheit.  Leider  hat  sie  Malthus  selbst,  allerdings  doch 
im  Grunde  mehr  zur  Erläuterung  und  zur  knappen,  leicht  verständlichen  Fassung  seiner 
Lehre,  zu  sehr  zugespitzt,  sie  zu  absolut  formulirt  und  sich  sogar  verleiten  lassen,  für 
sie  eine  Art  mathematischer  Formel  aufzustellen : die  Bevölkerung,  wenn  sie  durch 
keinerlei  Hinderniss  aufgebalten  werde,  verdopple  sich  alle  25  Jahre  und  wachse  von 
Periode  zu  Periode  in  geometrischer  Progression.  Die  Subsistenzmittel  könnten  sich 
dagegen  niemals  rascher  als  nach  einer  arithmetischen  Progression  vermehren  (Kap.  1 
des  essay).  Diese  Formel  trifft  einmal  überhaupt  nicht  zu.  gilt  vollends  nicht  für  die 
Subsistenzmittel  und  beruht  auch  bei  der  Bevölkerung  auf  einem  statistischen  Fehler. 
Ferner  lassen  sich  aber  überhaupt  die  viel  zu  mannigfaltigen,  veränderlichen  Verhält- 
nisse und  Einflüsse,  um  welche  cs  sich  hier  bandelt,  gar  nicht  unter  eine  solche  ein- 
fache und  knappe  mathematische  Formel  bringen.  Und  endlich  liegt  hier,  wie  auf 
anderen  Gebielen  der  Politischen  Oekonomie,  bei  einem  derartigen  Versuch  wieder  die 
Verwechslung  zwischen  einem  wahren  Naturgesetz  und  einem  socialen  Gesetz  vor. 
Nur  um  ein  sociales  Gesetz  kann  cs  sich  bei  dem  Bevölkerungsgesetz  handeln.  Die 
Auffassung  desselben  als  ein  Naturgesetz  kommt  nur  der  gegnerischen  Ansicht  zu 
Gute.  Der  Haupttheil  der  Malthus  so  reichlich  gewordenen  Polemik  trifft  die  natur- 
gesetzliche Auffassung  seines  Bevölkerungsgesetzes.  Wenn  man  diese  aber  fallen  lässt, 
so  ergiebt  9ich  auch,  dass  diese  Polemik  und  die  sogen.  „Widerlegung“  von  Malthus 


454 


4.  B.  Bevölkerung  u.  Volkswirthsch.  Littcratur.  §.  194,  195. 


nur  die  Form,  nickt  den  Kern  der  Sache  treffen  und  in  keiner  Weise  durchschlagen 
(vgl.  bes.  B.  I,  ch.  1 des  unten  gen.  Hauptwerks  von  Malthus).  Immer  auch  noch 
zu  schroff  formulirt,  aber  doch  weniger  den  angedeuteten  Einwänden  ausgesetzt,  als 
die  Formel,  welche  Malthus  aufstclltc.  sind  die  Sätze,  in  welche  er  (am  Schluss  seines 
2.  Kap.  im  1.  Buche)  seine  Lehre  zusammenfasst  und  von  denen  er  alsdann  nament- 
lich den  zweiten  und  dritten  mit  Hilfe  des  von  ihm  gesammelten,  reichen,  wenn  auch 
gegenwärtig  durch  weit  mehr  und  besseres  zu  ersetzenden  und  zu  ergänzenden  histo- 
risch-statistischen Materials  in  seinem  ganzen  umfassenden  Werke  zu  beweisen  sucht: 
„1)  die  Bevölkerung  ist  nothwendig  durch  die  Subsistenzmittel  begrenzt;  2)  die  Be- 
völkerung vermehrt  sich  unveränderlich  überall,  wo  die  Subsistenzmittel  sich  ver- 
mehren, falls  sie  nicht  durch  sehr  Mächtige  und  deutliche  Hemmnisse  (checks)  daran 
gehindert  wird  ; 3)  diese  Hemmnisse  und  diejenigen,  welche  die  überwältigende  Macht 
der  Bevölkerung  zurückdräugen  und  die  Wirkungen  dieser  Macht  im  Gleichgewicht 
mit  den  Subsistenzmitteln  erhalten,  sind  alle  auf  moralische  Selbstbeschräukung,  Laster 
und  Elend  zurückzuführen.“ 

Auch  noch  in  einem  anderen  Puncte  bedarf  die  Lehre  von  Malthus  einer  Be- 
richtigung, cs  ist  der  Punct,  wo  auch  die  socialistische  und  verwandte  Polemik  nicht 
ganz  ohne  Erfolg  gegen  ihn  einsetzt,  nur  dass  dieselbe  nach  der  anderen  Seite  noch 
viel  mehr  der  Einschränkung  und  Berichtigung  bedarf.  Malthus  hat  natürlich , ähn- 
lich wie  Ricardo,  nach  dem  Stande  der  Naturwissenschaften  und  der  Productions- 
technik  seiner  Zeit  noch  zu  wenig  die  durch  naturwissenschaftlich-technische  Fort- 
schritte bedingte  und  in  gewissem  Umfang  der  Verwirklichung  fähigo  Entwicklungs- 
möglichkeit der  Productivität  der  Arbeit  (auch  auf  Boden,  im  Ackerbau)  berücksichtigt. 
Das  war  ein  begreiflicher  Fehler.  Malthus  war  aber  auch  darin  ein  Kind  seiner  Zeit, 
dass  er  die  geschichtlich  überkommene  und  gegebene  volkswirtbschaftliche  Organi- 
sation und  Rechtsordnung  zu  sehr  als  etwas  Festes  ansah  und  die  günstige  Rück- 
wirkung einer  Veränderung  derselben  auf  gesteigerte  Productivität  der  Arbeit  in  allen 
Gebieten  der  Production  zu  wenig  mit  in  Erwägung  zog,  nach  der  technischen  wie 
auch  nach  der  psychologischen  Seite.  Der  Socialismus,  einigermaassen  auch  andre 
Optimisten,  wie  Carey,  übertreiben  nur  wieder  die  Tragweite  dieser  Gesichtspuncte 
und  behandeln  Organisation  und  Rechtsordnung  der  Volkswirthschaft,  aller  Psycho- 
logie und  Erfahrung  zum  Trotz,  zu  sehr  wie  Wachs  in  den  Händen  geschickter 
Socialreformatoren. 

Trotz  dieser  und  ähnlicher  Einwände  nimmt  Malthus  durch  diese  seine  Lehre 
auf  dem  Gebiete  der  Bevölkerungslehre  eine  ähnliche  Stellung  ein,  wie  A.  Smith  auf 
demjenigen  der  ganzen  Politischen  Oekonomie.  Man  kann  das  Frühere  (S.  2)  schon 
citirte  Wort  Roschers  über  Smith  auf  Malthus  ebenfalls  anwenden : er  steht  im  Mittel- 
punct  der  litterarischen  Bewegung,  seine  beistimmenden  wie  anders  stehenden  Vor- 
läufer weisen  auf  ihn  hin,  alle  Späteren  nehmen  in  erster  Linie  Stellung  zu  ihm,  als 
Anhänger,  als  Gegner  in  mancherlei  Abstufungen,  aber  Niemand  kann  ihn  und  hat 
ihn  ignorirt.  Die  richtige  Bedeutung  seiner  Lehre  hat  wohl  R Umelin  besonders 
treffend  characterisirt:  „Die  bekannten  Sätze  von  Malthus  sind  ebenso  anfechtbar  in 
ihrer  statistischen  und  psychologischen  Begründung  im  Einzelnen  als  unumstösslich 
und  von  einleuchtendster  Wahrheit  im  Ganzen“  (Reden,  JS75,  S.  305).  Malthus  nimmt 
durch  diese  seine  Leistung  eine  bleibende  Stelle  unter  den  ersten  Meistern  des  Fachs 
ein,  wird  mit  Recht  zu  den  „classischen“  englischen  Nationalökonomen  gerechnet,  in 
einer  Reihe  mit  A.  Smith  und  Ricardo  und  verdient  es  daher  auch,  dass  die  von  ihm, 
zwar  nicht  zuerst  angedeutete,  aber  zuerst  bewusst  vertretene  und  fundamentirte  Lehre 
seinen  Namen  trägt,  dass,  wenn  man  den  Ausdruck  „Gesetz“  brauchen  will,  was  nach 
unserem  oben  (§.  89)  festgestellten  Begriff  hier  zulässig  erscheint,  dies  Bevölkerungs- 
gesetz das  „Malthus'sche“  dauernd  und  offen  genannt  wird,  auch  wenn  man 
darunter  nicht  die  unhaltbare  Malthus’sche  Formel,  sondern  den  dargelegten  Kern 
der  Lehre  vom  Zusammenhang  zwischen  Bevölkerung  und  Unterhaltsmitteln  versteht. 
Roscher  hätte  eben  deshalb,  da  er  wesentlich  dieselbe  Ansicht  über  Malthus  und 
dessen  Lehre  hegt,  wie  sie  hier  vertreten  wird,  die  Nachgiebigkeit  gegen  Vorurtheile 
und  Gegner  von  Malthus  nicht  haben  sollen,  den  Ausdruck  „Malthus’schcs“  Be- 
völkerungsgesetz aufzugeben,  „um  flüchtige  Leser  vor  dem  Wahn  zu  schützen,  als  ob 
von  ihm  etwa  das  gelehrt  würde,  was  der  grosse  Haufen  mit  dem  Wort  „Mal- 
thusianismus“ bezeichnet,  worauf  sie  vielleicht  den  ganzen  Abschnitt  überschlagen 
möchten“  (? !).  Meint  er  doch  selbst,  die  fernere  Zukunft  werde  Malthus,  wie  Ri- 


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Die  Malthus’sche  Lehre  in  der  Litteratur. 


455 


cardo,  „in  ihre  volle  Ehre  als  nationalökonomische  Forscher  and  Entdecker  vom  aller- 
ersten Rang  wieder  einsetzen“  (Vorwort  za  B.  I).  Wer  hatte  sie  denn  entsetzt,  ausser 
einige  Fachmänner  zweifelhaften  Ranges,  dio  einen  Malthus,  Ricardo  eben  nicht  ver- 
standen und  eine  Berichtigung  von  Ncbenpuncten  für  eine  Widerlegung  der  Haupt- 
sachen gehalten  haben , und  einige  Schreier  aus  dem  grossen  Haufen  ? Leute  vom 
Schlage  des  Herrn  E.  Dtlhrin g,  die  den  „Pfatfen  Malthus“  verhöhnen,  Confusionarien 
and  Phantasten  wio  Carey,  gallige  Polemiker,  wie  K.  Marx,  der  Malthus  ob  einiger 
den  seinen  ähnlicher  Gedanken  bei  Früheren  einen  „Plagiator“  nennt,  sind  hier  doch 
wohl  nicht  die  competenten  Stimmen,  mit  Rücksicht  auf  welche  man  jene  Namens- 
bezeichnung ändern  müsste. 

Das  Malthus’sche  Werk  ist  zuerst  als  Skizze  u.  d.  T.  essay  on  the  principle  of 
population,  1798,  anonym  erschienen,  dann  erweitert  in  2.  Aufl.  1803.  Bis  zu  Mal- 
thus’ Tode  (1834,  geb.  1766)  erschienen  6 Aufl.,  eine  7.  1872.  Mehrfach  Uebcr- 
setzungen  ins  Deutsche,  von  Hcgewisc h , Altona  1807  (nicht  vollständig),  neuerdings 
von  F.  Stöpel,  Berlin  1879,  ins  Französische  von  P.  u.  G.  Provost,  mit  Einleitung 
von  Rossi,  kurzer  Biographie  von  Ch.  Cointe,  Noten  der  üebersetzer  u.  J.  Gar- 
nier’s,  mehrfache  Auflagen  (ich  benutzte  dio  von  1845),  auch  als  Thoil  der  Coli, 
des  principaux  economistes.  S.  über  Malthus  fast  alle  Schriften  über  die  Bevölkerungs- 
lehre, über  nat.-ökon.  Literaturgeschichte  (Kautz,  Gesch.  II,  §.  73  fF.,  Ingram, 
deutsche  Uebersetz.  S.  151  ff,  Eisenhart,  Gesch.  2.  A.  S.  78  fl.,  Cossa,  intro- 
ducione,  3.  ed.  p.  323  ff.,  mehr  zur  Characteristik  Herrn  Düliring’s  selbst  und  seiner 
Manier  als  zur  Beurtheilung  von  Malthus  Dühring,  krit.  Gesch.  d.  Nat.-Oekon. 
2.  A.  Berl.  1875,  S.  174  ff.;  dann  insbesondre  R.  v.  Mohl  a.  a.  0.  S.  479  ff,  Elster 
a.  a.  0.  S.  484  ff.,  mit  der  bei  beiden  reichlich  angegebenen  weiteren  Litteratur  der 
verschiedenen  Richtungen  der  Anhänger  und  Gegner  von  Malthus. 

§.  195.  Fortsetzung.  Die  Malthus’sche  Lehre  in  der  Litteratur. 
In  der  oben  angegebenen  Beschränkung  auf  den  Kern  und  in  Gemässhcit  der  weiter 
im  nächsten  Kapitel  folgenden  Ausführungen  hat  die  Lehro  von  Malthus  in  der  neueren 
Nationalökonomie  weit  überwiegend  Zustimmung  gefunden,  in  England  wie  auf  dem 
Gontinente,  auch  in  Deutschland.  Berichtigt  hat  man  nur  Einzelnes,  die  Formel,  die 
Beweisführung.  Für  zahlreiche  einzelno  Schriftsteller  sei  auf  Mohl  und  Elster  ver- 
wiesen. Ich  beschränke  mich  auch  hier  auf  die  Hervorhebung  einiger  Namen. 

In  England  hat  Ricardo  nicht  die  Lehre  selbst  bohandelt,  aber  sie  gebilligt 
(Baumstark’s  Uebersetz.  2.  A.  S.  368).  J.  St  Mi  11  hält  in  seinen  principles  of  pol. 
econ.  allen  Einwänden  gegenüber  an  dem  Kern  der  Malthus’schen  Lehre  durchaus 
fest,  mit  der  richtigen  Bemerkung,  dass  es  immer  nur  ephemere,  bald  vergessene 
Theorieen  seien,  welche  dagegen  in’s  Feld  geführt  würden.  Er  behandelt  die  Lehre 
in  s.  1.  Buche,  von  der  Production,  im  Kap.  10.  vom  Gesetze  der  Arbeitsvermehrung, 
§.  2,  3.  Von  Senior  s.  seine  two  lectures  on  population,  London  1831,  mit  einem 
Briefwechsel  mit  Malthus.  Er  steht  der  Frage  optimistischer  gegenüber.  Aeltere  noch 
beachtenswerthe  englische  Werke  sind:  Sadler,  law  of  population  etc.,  Lond.  1830, 
ein  Gegner,  und  Thornton,  overpopulation  and  its  remedy,  Lond.  1846,  im  Wesent- 
lichen Anhänger.  Von  Neueren  sei  Marshall  genannt,  der  eine  gute  Behandlung 
der  Bevölkerungslehre  in  seinen  principles  of  economics  gegeben  hat,  ebenfalls  in  der 
Lehre  von  der  production  oder  supply,  book  4,  ch.  4 ff.  Er  berücksichtigt  dabei  die 
neuesten  Wirthschaftsvcrhältnissc  mehr,  meint,  die  erste  These  von  Malthus  bleibe 
bestehen,  die  beiden  anderen  seien  etwas  zu  berichtigen,  macht  mir  aber  den  neueren 
naturwissenschaftlichen  Hypothesen  — oder  Dogmen  — über  die  Beziehung  von  Ge- 
hirnthätigkeit  und  Zeugungskraft,  bezw.  Lust  schon  etwas  zu  viel  Zugeständnisse  (I.  ed. 
p.  233).  Er  (wie  auch  Sidgwick)  halten  auch  das  Gesetz  der  abnehmenden  Boden- 
erträge, welches  für  die  Bevölkerungslehre  seine  besondere  Bedeutung  hat,  fest. 
Sidgwick,  principles  of  pol.  ec.  2 ed.  Lond.  1887,  steht  ähnlich : (B.  l,ch.4,  S.  140  ff) 
Malthus*  law  of  population  (and  the  law  of  diminishing  returns  frorn  Land)  are  valid, 
when  duly  qualified,  as  abstract  Statements  of  tendencies,  also  the  concrete  Statement 
that  in  old  countries  population  is  limeted  by  the  difficulty  of  procuring  subsistence; 
but  the  lirnit  is  not  rigid,  and  the  Standard  of  comfort  that  partly  determines  it  is 
variable  (s.  Resum6  im  Inhalt). 

In  America  stehen  die  Anhänger  Carey’s  (n.  §.  196),  auch  H.  George 
anders  zur  Lehre  und  unter  den  eigenthümlichen  Verhältnissen  eines  solchen  neuen 
Landes  neigen  auch  wohl  andere  Oekonomisten  eher  zu  einem  gewissen  Optimismus. 


456 


4.  B.  Bevölkerung  u.  Volkswirthsch.  Litteratur.  §.  195. 


In  Frankreich  hat  die  liberal-individualistische  Nationalökonomie  Smith'acher 
Richtung  doch  seit  J.  B.  Say’s  Zeiten  überwiegend  Malthus’  Standpunct  eingenommen, 
so  insbesondere  Say  selbst  (cours  complet  d’6con.  pol.  p.  VI  und  trait6  d’ticon.  pol. 
livre  II,  ch.  11).  Etwas  abweichend,  namentlich,  wie  die  Socialisten  und  die  Neueren 
überhaupt  darauf  hinweisend,  dass  die  gegebene  Rechtsordnung  und  Organisation  der 
Wirtschaft,  die  Besitzverhältnisse  (Grundeigenthum)  — darauf  läuft  seine  Argumen- 
tation, principiell  aufgefasst,  hinaus  — practisch  gewöhnlich  mehr  als  der  direct© 
Mangel  an  Subsistenzmitteln  die  Bevölkerungsvermehrung  hemme  und  zu  Zuständen 
der  Uebervölkerung  führe,  steht  Sismondi  zu  der  Frage  (nouv.  princ.  d’6con.  pol., 
livre  7,  vergl.  Mohl,  a.  a.  0.  S.  510,  Elster  a.  a.  0.  S.  495  und  ders.  in  Conrads 
Jahrb.  N.  F.  B.  14,  S.  321  ff.,  345  ff.  über  Sismondi).  Ferner  haben  die  freihändlerischen 
Enthusiasten  und  Vertreter  des  Dogmas  der  volkswirtschaftlichen  „Harmonie“,  wie 
Fr.  Bastiat,  eine  mehr  principiell  gegnerische  Stellung  zu  Malthus  eingenommen,, 
aber  eben  hier,  wie  sonst,  sich  über  Thatsachen  mit  Phrasen  und  mit  der  üblichen 
petitio  principii  hinweggesetzt,  dass  Malthus  im  Ganzen  Unrecht  haben  müsse,  weil 
sonst  die  volkswirtschaftliche  Harmonie  gestört  oder  selbst  zerstört  werde  (s.  harmo- 
nies  economiques,  mehrfach,  s.  Stellen  bei  Elster  im  Handwörterb.  S.  510).  Auf 
richtigerem  Standpuncte  steht  die  Monographie  von  J.  Garnier,  du  principe  de 
Population,  2.  6d.  Paris  1885  (1.  1857).  Wesentlich  Malthusianer  ist  M.  Block. 

Frankreich  zeigt  im  Bevölkerungswesen  die  in  der  modernen  Culturwelt  (neben 
Irland,  wo  eben  noch  besondere  Umstände  obwalten)  alleinstehende  Erscheinung  einer 
im  Vergleich  zu  anderen  Ländern  ungemein  langsamen  einheimischen  Volksvermehrung, 
welche  in  neuerer  Zeit  noch  immer  langsamer  geworden  ist  und  in  den  letzten  Jahren 
gelegentlich  selbst  schon  einer  Abnahme  und  zwar  in  Folge  Uebcrwiegens  der  Todes- 
fälle über  die  Geburten  Platz  gemacht  hat,  trot/dem  bekanntlich  die  Auswanderung 
in  Frankreich  gering,  der  Zuzug  Fremder  bedeutend  ist.  Diese  Erscheinung  wird  vor- 
nemlich  mit  aus  politischen  Gründen  im  Vergleich  mit  der  raschen  Volkszunahme  in 
germanischen  und  anderen  Ländern  in  Frankreich  seit  lange  und  neuerdings  noch 
mehr  mit  einer  gewissen  Aengstlichkeit  betrachtet  Sie  ist  auch  auf  die  theoretischen 
Anschauungen  Uber  Bevölkerung  nicht  ohne  Einfluss  geblieben.  Characteristisch  für 
französische  Anschauungen  hat  man  sie  sich  wohl  mit  auf  eine  Weise  zu  erklären 
gesucht,  welche  dem  französischen  Selbstgefühl  oder  richtiger  der  nationalen  Eitelkeit 
nicht  zu  sehr  Abbruch  thut.  Die  These,  dass  mit  fortschreitender  Volksdichtigkeit, 
grösserem  Wohlstand  und  höherer  Cultur  die  Bevölkerungszunahme,  besonders  durch 
Verminderung  der  Geburten,  der  Durchschnittskinderzahl  in  der  Ehe  immer  langsamer 
werde,  also  in  gewissem  Sinne  ein  Symptom  höherer  Entwicklung  sei,  ist  grade  in 
Frankreich  seit  länger  nicht  selten  besonders  gern  vertreten  worden.  Dabei  hat  man 
freilich  ihre  relative  Richtigkeit  sehr  übertrieben,  indem  man  sich  über  die  viel  weniger 
mit  der  These  stimmenden  Thatsachen  andrer  Länder  (England,  Deutschland,  Italien)  hin- 
wegsetzte (s.  u.  §.207 — 214).  Scharf  trat  mir  selbst  schon  diese  Auffassung  auf  einem 
kleinen  statistischen  Congress  entgegen,  welcher  im  Jahre  1867  bei  Gelegenheit  der  Welt- 
ausstellung in  Paris  stattfand  und  das  Thema  behandelte  (Legoit  u.  A.  m.).  Darüber 
ein  Aufsatz  von  mir  im  Bremer  Handelsbl.  1S67  vom  21.  und  28.  Sept.  In  neueren 
Aeusserungen  P.  Lcroy-Beauli eu’s  klingen  verwandte  Anschauungen  durch  (vgl. 
die  Citate  von  Elster,  Handwörterb.  S.  519,  527):  immer  eine  gewisse  Neigung, 
sich  über  unangenehme  oder  für  unangenehm  geltende  Thatsachen  hinwegzutäuschen. 
S.  im  Uebrigcn  den  Art  population  im  nouveau  dictionn.  d'ßcon.  polit.  von  Lcvasseur, 
woselbst  II,  517  eine  Zusammenfassung  der  „experimentellen  Bevölkerungsgesetze“ 
in  17  Sätzen,  sowie  ders.  la  population  fran<;aise,  3 vol.  Par.  1889/91. 

Auch  die  italienische  Nationalökonomie  Smith’scher  Richtung  steht  wohl  im 
Ganzen  auf  Malthus’schem  Boden  in  den  angegebenen  Grenzen.  Sie  hat  aber  in  ein- 
zelnen ihrer  Vertreter  Eigenthumlichkeiten.  Hervorzuheben  ist  etwa  Messedaglia, 
della  teoria  della  populazione  etc.  vol.  I,  Verona  1858  und  besonders  aus  neuester 
Zeit  A.  Loria,  la  legge  di  populazione  ed  ll  sistema  sociale,  Siena  1882  und  ders. 
in  dem  Werke  analisi  della  proprietä  capitalista,  Torino  1889  in  den  hierhergehörigen 
Ausführungen,  bes.  vol.  I,  1.  1,  cap.  5,  p.  615  ff. 

In  Deutschland  ist  in  der  wissenschaftlichen  Nationalökonomie,  etwa  ausser- 
halb der  extrem  freihändlerischen . dem  Bastiat'schen  volkswirtschaftlichen  Harrno- 
nismus  huldigendeu  und  der  socialistischen  Kreise,  der  modiiieirte  Malthusianismus 
wohl  als  die  vorherrschende  Richtung  zu  bezeichnen,  auch  unter  den  Vertretern  der 


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Die  Maltlms'sche  Lohre  in  der  Litteratur. 


457 


neueren  socialen  Auffassungen  („Kathedcrsocialisten“,  „Staatssocialisten“,  „ethische“, 
„socialpolitische“,  „historische“  Schule),  wenn  auch  mit  mancherlei  kleineren  Ver- 
schiedenheiten unter  den  einzelnen  Autoren.  S.  die  Uebersicht  bei  Elster  a.  a.  0. 
S.  515  tT.  Hervorzuheben  ist  aus  der  schon  etwas  zurückliegenden  Litteratur  R. 
?.  Mohl’s  verständige  (nur  den  phantastischen  Carey  viel  zu  sanft  behandelnde)  Er- 
örterung der  Frage,  theils  in  seiner  genannten  Literarhistorischen  Arbeit,  theils  und 
namentlich  in  seiner  Polizeiwissenschaft,  s.  3.  Aufl.  Tub.  1866  I,  §.  12 — 20.  Ferner 
Rau,  welcher  die  Bevölkerungsfrage,  wie  schon  bemerkt,  nicht  in  systematischer 
Weise  erörtert,  aber  doch  zu  ihr  deutlich  Stellung  nimmt  und  sie  für  einzelne  national- 
ökonomische Lehren  verwerthet.  S.  seine  Grundsätze  d.  Volks wirthschaftslehrc,  8.  A., 
B.  1,  §.  196,  201,  bes.  die  Noten,  in  der  Lehre  vom  Arbeitslohn,  und  6eine  Volks- 
wirthscbaftspolitik,  5.  A..  B.  1,  §.  11  ff.,  bei  den  „Maassregeln  in  Bezug  auf  die  Zahl 
der  Arbeiter",  ein  Abschnitt,  den  Rau  im  Inhaitsverzeichniss  selbst  als  „Bevölkerungs- 
politik“ bezeichnet.  Die  eingehendste  neuere  deutsche  Behandlung  der  Bevölkerungs- 
lehre in  nationalökonomischen  Schriften  ist  das  stoflreiche«  wenn  auch  fast  mehr  die 
culturhistorische,  als  die  volkswirtschaftliche  Seite  behandelnde  6.  Buch  im  1.  Band 
von  W.  Roscher’s  System,  20.  Aufl.,  S.  662 — 771),  wo  ich  nur,  wie  schon  bemerkt, 
das  Fallenlassen  des  Namens  „Malthus'sche  Lehre“  bedauere  und  wo  nach  meiner  Auf- 
fassung, wie  es  freilich  einmal  Roscher’s  Standpunct  entspricht,  die  principielle  Be- 
handlung des  Problems  zu  sehr  zurücktritt.  Eine  verständige  Behandlung  der  Frage 
hat  Gerstner,  Grandlehrcn  der  Staatsverwaltung  II,  1.  Abth.  BeTÖlkcrungslehre, 
Würzb.  1864,  gegeben  (s.  bes.  S.  99 — 114).  Schaf fle  steht  im  Ganzen  doch  auch 
auf  Malthus’schem  Boden,  früher  nur  vielleicht  weniger  scharf  als  neuerdings.  Vgl. 
bes.  seine  „Bevölkerungslehre“  in  der  2.  Aufl.  des  Gesellschaft!.  Systems  S.  419 — 431, 
in  der  3.  Aufl.  II,  S.  566  ff..  Socialer  Körper  II,  234  ff.  („Bevölkerungsgesetz,  vom 
Standpunct  der  Entwicklungslehre“),  auch  III,  1 ff.  (Familie  als  Organ  der  Bevölkerung), 
51  ff.  (Stand  und  Bewegung  der  Gesammtbevölkerung)  und  mehrfach  passim.  Auch 
H.  v.  Mangold t (s.  bes.  seinen  treulichen  Aufs.  Bevölkerung  im  2.  B.  des  Bluntscbli- 
Brater’schen  Staatswörterbuchs),  A.  Lange  (Arbeiterfrage,  Kap.  1,  2,  auch  3,  4 und 
„Mill’s  Ansichten“  Kap.  1)  urtheilen  im  Ganzen  zu  Gunsten  von  Malthus.  Lange  hält, 
auch  Marx  gegenüber,  den  „richtigen  theoretischen  Kern  der  Malthus’schen  Lehre“ 
fest  (Arb.fr.  S.  14).  Ich  stimme  mit  seinen  Ausführungen  darüber  vollständig  tiberein, 
namentlich  auch  mit  seiner  in  der  zweitgenannten  Schrift  erfolgenden  trefflichen  Ab- 
fertigung Carey ’s.  Nicht  minder  vertreten  G.  Sch  mol  ler  (in  s.  Grundfragen  und 
sonst),  G.  Cohn  (bes.  in  seinem  System  I,  1.  H.-A.  2.  Kap.)  den  gekennzeichneten 
Standpunct.  Vornemlich  sind  in  dieser  Hinsicht  aber  verschiedene  Arbeiten  Rümelin’s, 
wie  schon  bemerkt,  rühmend  hervorzuheben:  in  seinen  „Reden  und  Aufsätzen“,  1875, 
tiber  die  Malthus’schen  Lehren,  S.  305,  über  Stadt  und  Land,  S.  333,  auch  Uber  den 
Begriff  und  die  Dauer  einer  Generation  S.  285,  über  die  menschliche  Lebensdauer  S.  356; 
dann,  mehrfach  von  bes.  Bedeutung  für  die  volkswirtschaftliche  Seite  des  Problems, 
die  „unbehaglichen  Zeitbetrachtungen“  in  der  Allgemeinen  Zeitung  (24. — 31.  Januar 
1878)  und  letztre  Aufsätze  weiter  ausführend  und  überarbeitend  der  wichtigste  und 
eingehendste  hierhergehörige  Aufsatz  Rümelin’s  über  die  Uebervölkerungsfrage  in  den 
„Reden  und  Aufsätzen“.  1881,  N.  F.  S.  568  ff,  worin  zwar  einzelne  Ausführungen  und 
auch  hie  und  da  die  statistischen  Beweisführungen  als  irrig,  auch  in  der  Aufdeckung 
von  Causalzusammenhängen  etwas  Übereilte  Schlüsse  beanstandet  werden  können,  aber 
die  Argumentation  in  ihren  Hauptpunctcn  durchaus  richtig  ist,  so  dass  das  Ganze  zum 
Besten  gehört,  was  wir  über  die  volkswirtschaftliche  Seite  der  Bevölkerungsfrage 
besitzen.  Dazu  kommt  dann  die  gen.  Abh.  Rümelin’s  im  Schönberg’schcn  Handbuch 
B.  I über  die  Bevulkerungslehre,  welche  in  B.  III,  3.  A„  durch  Geffcken’s  Abh. 
Über  Bevölkerungspolitik,  Auswanderung  und  Colonisation  noch  eine  Ergänzung  findet 
Manchfach  der  Rümelin’schen  Auffassung  verwandte  Ansichten  habe  ich  selbst  in 
einer  Artikelserie  über  Volksvermehrung  und  Auswanderung  in  der  Allgemeinen  Zei- 
tung, Beilage  Nr.  160 — 170,  Juni  1880,  vertreten,  welche  Arbeit  hier  und  im  Fol- 
genden von  mir  mehrfach  benutzt  worden  ist  S.  auch  Elster  a.  a.  0.  S.  525,  der 
sich  wesentlich  ebenso  wie  ich  hier  zur  Malthus’schen  Lehre  stellt. 

§.  196.  Fortsetzung.  Deberwiegend  polemische  Litteratur.  (Carey. 
Socialistcn.)  Ungeachtet  so  seit  länger  in  weiten  wissenschaftlichen  Kreisen  der 
Kern  der  Malthus’schen  Lehren  nicht  bestritten  war,  hat  es  doch  von  Anfang  an  und 
bis  in  die  Gegenwart  hinein  nicht  an  Gegnern  gefehlt  und  unter  dem  Einfluss  von 


458 


4.  B.  Bevölkerung  u.  Volkswirthsch.  Litteratur.  §.  196. 


solchen  und  bei  gewissen  Strömungen  im  öllentlichen  Leben  ist  sogar  Malthus  ausser- 
halb jener  wissenschaftlichen  Kreise  gelegentlich  vervehmt  und  verlästert  worden.  Der 
„Pfafio  Malthus“  und  seine  „pessimistische“  Lehre,  das  „Phantom  der  Uebervölkerung“ 
erregten  Anstoss,  ja  Erbitterung,  die  Lehre  galt  mitunter  als  eine  besonders  charac- 
teristischc  Erscheinung  in  der  „kapitalistischen  Bourgeoisökonomie“  oder  wurde  kurzweg 
verspottet.  Optimisten  der  harmonistischen  Richtung  des  Bastiat’schen  Freihändler- 
thums  wie  des  Careys’chen  Schutzzöllnerthums,  die  Socialisten  mit  wenigen  Ausnahmen 
verwarfen  die  Lehre  entweder  ganz,  ihnen  war  sie  nur  eine  „veraltete  Schuldoctrin“, 
welche  gleich  der  Ricardo’scben  Grundrentenlehre  höchstens  noch  an  den  Universitäten, 
diesen  „steten  Depositorien  des  verrottetsten  alten  Plunders“,  ein  Scheinleben  führe. 
Oder  man  gab  höchstens  zu,  wie  Seitens  Marx  u.  A„  das  Malthussche  Gesetz  gelte 
nur  unter  unserer  heutigen  privatkapitalistischen  Wirtschaftsordnung,  nicht  allgemein. 
Indessen  sind  doch  diese  ablehnenden  Meinungen  nicht  allgemeiner  durebgedrungeu. 
Die  einzelnen  Einwendungen,  auch  wo  sie  etwas  Richtiges  enthielten,  wie  in  dem 
Hinweis  der  Socialisten  auf  die  von  Malthus  und  seinen  Anhängern  zu  wenig  berück- 
sichtigte Bedeutung  der  Fragen  der  wirtschaftlichen  Organisation  und  Rechtsordnung 
für  das  ganze  Problem  oder  wie  in  dem  optimistischen  Hinweis  auf  Auswanderung, 
Colonisation , weltwirtschaftlichen  Productenaustausch , hat  man  Seitens  der  Mal- 
thusianer unbefangen  geprüft,  Manches  davon  angenommen,  aber  unschwer  nacli- 
weisen  können,  dass  damit  der  Kern  der  Lehre  nicht  widerlegt,  mitunter  gar  nicht 
berührt  oder,  bei  richtigem  Verständniss  der  Sache,  sogar  bestätigt  werde.  Seitdem 
nun  aber  in  wissenschaftlichen  und  Laienkreisen  der  Darwinismus  und  sein  „Kampf 
ums  Dasein“  mit  mehr  oder  weniger  Recht  die  Modedoctrin  des  Tages  für  die  Er- 
klärung der  Entwicklung  in  der  organischen  Welt  geworden  ist  und  Darwin  sogar 
selbst  seine  berühmte  Lehre  als  eine  Erweiterung  des  Malthus’schen  Gedankens  be- 
zeichnet hat,  wagen  auch  wieder  Kreise  und  Männer,  welche  sich  durch  eine  solche 
nicht  immer  mit  den  feinsten  Wallen  geführte  Kampfweise  wie  diejenige  der  Anti- 
Malthusianer  zu  leicht  einschüchtern  lassen,  olfeuer  den  Malthus’schen  Standpunct  zu 
vertreten,  nunmehr  auch  so  ziemlich  ohne  die  Gefahr,  darob  eines  „wissenschaftlich 
überwundenen  Irrthums“  geziehen  zu  werden.  Und  sogar  aus  socialistischem  Lager 
hat  Malthus  neuerdings  wieder  Anerkennung  erfahren. 

Die  Gegner  gehen  von  verschiedenen  Gesichtspuncten  aus,  welche  jedoch  auch  wohl 
wieder  bei  dem  und  jenem  Autor  verbunden  werden.  Sie  lassen  sich  danach  und  nach  ihrer 
sonstigen  Richtung  classificiren,  wie  es  von  Mo  hl  und  jungst  von  Elster  geschehen  ist.  Auf 
deren  Arbeiten  für  das  Einzelne  verweisend  hebe  ich  auch  hier  wieder  nur  einige  Autoren 
und  Schriften  hervor,  welche  auch  grade  noch  in  neuerer  Zeit  eine  gewisse  Bedeutung 
beanspruchen  oder  sie  wenigstens  nach  der  Ansicht  von  Anhängern  beanspruchen  dürfen. 

Dies  gilt  namentlich  von  dem  Americaner  II.  Carey,  obwohl  es  schwer  ver- 
ständlich ist,  wenn  man  grade  dieses  Autors  kaum  glaublich  oberflächliche  und  platte 
„Gegenbeweise“  und  „Widerlegung“  von  Malthus  liest,  wo  sich  vielfach  ein  völliges 
Missverständniss  des  Kerns  der  Malthus’schen  Lehre  und  eine  staunenerregende  Ver- 
kennung der  Erfordernisse  eines  Inductionsschlusses  findet,  z.  B.  in  dem  köstlichen 
Beispiel  von  der  geringen  Durchschnittskinderzahl  der  americanischen  Präsidenten 
zum  Beweis  der  Abnahme  der  Zeugungslust  bei  hervorragenden  (?)  Intelligenzen 
(Lehrbuch  S.  614)  oder  in  dem  ähnlich  zutreffenden  Beispiel  von  den  Indianern,  deren 
Vermehrungstendenz  unter  der  Anspannung  der  geistigen  Kräfte  bei  der  Jagd  leide 
(Soc.  sciencc  III,  302  ff.)!  Die  Beweisführung  Carey ’s  beruht  im  Uebrigen  theils  auf 

einer  petitio  principii,  wie  in  der  Behauptung,  dass  eine  so  disharmonische  Lehre 

wie  die  Malthussche  unmöglich  richtig  sein  könne,  weil  sie  der  Harmonie  in  der 

Welt  widerspreche;  theils  ferner  auf  Halbwahrheiten,  mit  denen  hier  nichts  zu  be- 

weisen ist.  wie  der  Annahme  nothwendig  steigender  Arbeitsproductivität  bei  grösserer 
Volksdichtigkeit,  engerem  Zusammenwohnen,  stärkerer  Reibung  der  Menschen,  wo  eben 
alle  wesentlichen  Gegenwirkungen  übersehen  werden;  endlich  auf  naturwissenschaft- 
lichen unbewiesenen  und  mit  den  augenfälligsten  Tbatsachen  in  der  Menschwelt  in 
Widerspruch  stehenden  Hypothesen  oder  selbst  blossen  Speculationen  in  Betreff  eines 
vermeintlich  allgemein  gütigen  und  feststehenden  Naturgesetzes  in  der  ganzen  organi- 
schen Welt,  einschliesslich  der  Menschheit,  wonach  mit  der  Entwicklung  des  Nerven- 
systems und  der  Gehirnthätigkeit  die  Fruchtbarkeit  regelmässig  abnehme,  daher,  auf 
die  Menschheit  angewandt,  mit  der  Entwicklung  des  geistigen  Lebens  und  der  Cultur 
von  selbst  ein  Gleichgewichtszustand  zwischen  Bevölkerung  und  Unterhaltsmitteln  und 


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Polemische  Litteratur  gegen  Malthus. 


459 


beider  Vermehrung  sich  herstelle.  Aehnliche  Auffassungen  sind  zwar  mitunter  auch 
von  Naturforschern  vertreten  (s.  u.),  aber  ermangeln  eben  bisher  des  Beweises  jeden- 
falls bei  ihrer  Anwendung  auf  die  Menschenwelt.  Bei  Carey  werden  sic  auch  nur 
durch  die  dilettantische  naturwissenschaftliche  Analogiespielerei  zu  beweisen  gesucht. 
Phantastische  Ideen  Uber  die  Entwicklungsfähigkeit  der  Technik  in  der  Production, 
über  die  Abnahme  des  Nabrungsbedarfs  bei  stärkerer  Ersetzung  der  Muskelarbeit 
durch  Maschinenthätigkeit  und  übertriebene  Anklagen  gegen  die  bestehende  wirt- 
schaftliche Organisation  und  Rechtsordnung,  z.  B.  des  Grundeigenthums,  wie  in  Irland, 
als  alleiniger  Ursache  proletarischer  Volksvermehrungsverhältnisse,  laufen  ausserdem, 
ähnlich  wie  bei  den  Socialisten,  auch  bei  Carey  mit  unter.  Sein  Gesetz  der  „sich 
selbst  regulirenden  Bevölkerungszunahme“  schwebt  daher  völlig  in  der  Luft  und  ist 
in  keiner  Weise  geeignet,  die  Malthus’sche  Lehre  zu  ersetzen.  Carey  gehört  übrigens 
auch  zu  denjenigen,  welche  sich  einbilden,  durch  Widerlegung  der  Malthus’schen 
mathematischen  Formel  die  Malthus’sche  Lehre  selbst  widerlegt  zu  haben.  S.  seine 
Ausführungen  in  seinen  principles  of  pol.  econ.  3 vol.  Philad.  1837 — 40,  III,  1 ff., 
in  den  principles  of  social  Science,  3 vol.  Philad,  1858  ff.,  bes.  III,  Kap.  46  ff.  (auch 
deutsch  von  Adler,  München  1863 — 64),  kürzer  in  seinem  von  Adler  übersetzten 
Lehrbuch  der  Volkswirtschaft  (München  1666),  Kap.  38  ff.  Ueber  ihn,  speciell  seine 
Bevölkerungslehre  u.  A.  Mohl  in  der  Litt.gesch.  S.  509  und  in  den  Noten  in  seiner 
Polizeiwissenschaft,  wo  zwar  Carey  richtig  abgewiesen  und  gelegentlich  verspottet, 
aber  er  sonst  noch  zu  glimpflich  behandelt  wird;  A.  Held,  Carey’s  Socialwissensch. 
u.  s.  w.  Würzburg  1866,  bes.  2.  B.,  2.  A„  §.  41  ff..  S.  134  ff.;  Lange  in  „Mills  An- 
sichten“; Elster  a.  a.  0.  S.  510;  Lexis,  Art.  Carey,  im  Handwörtcrb.  II.  810,  wo 
es  ebenfalls  heisst:  „die  Malthus’sche  Bevölkerungslehre  verfolgte  Carey  mit  einer 
wahren  Leidenschaft,  ohne  indessen  etwas  Stichhaltiges  gegen  den  eigentlichen  Kern 
derselben  vorzu bringen“.  — In  Deutschland  hat  auch  hier  E.  Dühring  in  seinen 
nationalökonomischen  Schriften  die  Carey’schen  Ansichten  angenommen  (Kritische 
Grundlegung.  Cursus  der  Socialökonomie,  Literaturgeschichte),  ohne  damit  mehr  Er- 
folg als  mit  seiner  sonstigen  übertreibenden  Hochschätzung  Carey’s  zu  finden,  es 
auch  nur  in  der  Verhönung  des  „Pfaffen  Malthus“  weiter  als  sein  Meister  bringend. 
Vgl.  z.  B.  die  vortreffliche  Anzeige  von  Dühring’s  krit.  Grundlegung  von  v.  Scheel 
in  Hildebr.  Jahrb.  VI,  352  ff.  So  ist  im  Ganzen  auch  diese  besonders  scharfe  Oppo- 
sition gegen  den  Kern  der  Malthus’schen  Lehren  schon  jetzt  wieder  verhallt.  Auch 
von  ihr  hat  sich  Mill’s  W'ort  in  seinen  principles  (book  I,  ch.  10  §.  1)  bestätigt. 

In  der  „naturwissenschaftlichen“  Polemik  gegen  Malthus  steht  übrigens, 
wie  bemerkt,  Carey  nicht  allein.  Nicht  ganz  dieselben,  aber  verwandte  Ansichten 
haben  schon  früher  Doubleday  (true  law  of  population  etc.,  London  1640,  und 
neuere  Aufl.,  s.  Mohl  Litt.gesch.  S.  497),  dann  namentlich  Herbert  Spencer  ver- 
treten (theory  of  population,  Lond.  1652,  auch  in  seinen  principles  of  biology,  2.  ed. 
Lond.  1867,  deutsch  von  Vetter,  Stuttg.  1876/77;  darüber  Mohl  a.  a.  0.  S.  447, 
Elster  a.  a.  0.  S.  513  ff.).  Hier  wird  aus  einem  behaupteten  Fortschritt  der  „Indi- 
viduation“ des  Menschen  mit  der  Culturentwicklung  ebenfalb,  freilich  erst  für  eine 
ohnehin  unbestimmt  ferne  Zukunft  eine  Abnahme  der  Vermehrungstendenz  und  Frucht- 
barkeit abgeleitet:  geistvolle,  vielleicht  ein  Korn  Wahrheit  enthaltende,  aber  doch  iin 
Grunde  des  festen  Bodens  der  Thatsachcu  entbehrende  luftige  „sociologische“  Specula- 
tioneu,  mit  denen  doch  in  der  Frage  nichts  bewiesen  wird.  Es  ist  cheractcristisch, 
dass  sich  an  dergleichen  vermeintlich  feste  „wissenschaftliche  Ergebnisse  auch  Socia- 
listen anklammern,  wie  z.  B.  Bebel,  um  Malthus  zu  „widerlegen“.  W;ie  wenig 
überdies  für  eine  ganze  Bevölkerung  aus  den  Carey 'sehen  und  Spencer’schcn  Sätzen 
folgen  würde,  selbst  wenn  sie  für  gewisse  Individuen  und  Classen,  dio  eigentlichen 
geistesarbeitenden,  zutreffen  sollten,  was  freilich  auch  höchst  zweifelhaft  ist.  hat  schon 
Mohl  (Litt.gesch.  S.  498)  sehr  richtig  hervorgehoben. 

Nicht  alle,  aber  grade  die  Koryphäen  des  Socialismus  sind  erklärte  Gegner 
von  Malthus’  Lehre.  S.  Einzelnes  in  der  gen.  Schrift  von  Heinr.  Sötbeer,  in  dem 
Aufs.  Elstcr’s  a.  a.  0.  S.  502  ff.,  auch  in  dem  Aufs.  Platter’s,  Marx  und  Malthus 
in  Hildebr.  Jahrb.  B.  29,  1877,  S.  321 — 341.  Fourier  wie  Proudhon,  Engels, 
Marx,  Lassalle,  Rodbertus,  Bebel  u.  a.  m.  sind  solche  Gegner.  Marx,  auch 
hier  der  wichtigste  bezügliche  Autor  (s.  bes.  Kapital  I,  Kap.  6 u.  A.  S.  603.  617  ff 
der  1.  Aufl.)  erkennt  das  Malthus’sche  Gesetz  nur  für  die  gegenwärtige  kapitalistische 
Productionsweise , nicht  allgemein  an.  Jjde  besondere  historische  Productionsweise 


460 


4.  B.  Bevölkerung  u.  Volkswirthsch.  Littcratur.  §.  196. 


habe  ihre  besondren,  historisch  gütigen  Productionsgesetze,  ein  abstractes  Populations- 
gesetz existire  nur  für  Pflanze  und  Thier,  nicht  für  den  Menschen.  Nur  unsere  volks- 
wirtschaftliche Organisation  und  kapitalistische  Accumulation  schaffe  die  Ueber- 
völkerung.  Und  ähnlich  Andere,  mit  daneben  unterlaufenden  sonstigen  Argumenten, 
wio  z.  B.  bei  Bebel  (die  Frau,  9.  Aufl , Stuttg.  1891,  im  Abschnitt  von  Bevölkerung 
und  Uebervölkerung,  S.  350  ff.),  wo  mit  der  grössten  Sicherheit  auch  die  unsichersten 
naturwissenschaftlichen  und  technischen  Behauptungen,  z.  B.  hinsichtlich  der  Ab- 
hängigkeit der  Vermehrungsfähigkeit  der  Bevölkerung  von  der  Art  der  Ernährung 
(S.  371),  hinsichtlich  der  Entwicklungsfähigkeit  der  landwirtschaftlichen  Bodenerträge 
aufgcstcllt  und  damit  die  Malthus’sche  Lehre  „widerlegt“  wird:  die  Beweisführung 
hier,  wie  in  der  ganzen  Schrift  Bebels  (z.  B.  in  dem  Abschnitt  „die  Frau  in  der 
Vergangenheit“  mit  den  prähistorischen  und  primitivhistorischen  Hypothesen  und 
Speculationen  über  früheren  Geschlechtsverkehr  u.  s.  w. !)  zugleich  ein  Beispiel  des 
anmaassendsten  autodidactischen  Dilettantismus,  der  unsicherste  Hypothesen,  Conjec- 
turen  und  wilde  Speculationen  für  feste  Ergebnisse  der  Wissenschaft  ansieht.  Immer 
noch  günstiger  ist  gegenüber  solchen  Auslassungen  die  Schrift  des  Socialisten  Scbippel, 
das  moderne  Elend  und  die  Uebervölkerung,  Leipz.  1883,  ferner  H.  George,  Fort- 
schritt und  Armuth,  Deutsch,  18S11),  zu  beurtheilen. 

Trotzdem  ist  aber,  wie  schon  angedeutet  (§.  192),  aus  der  socialistiscben  Polemik 
gegen  Malthus  ein  Punct  als  wenigstens  relativ  berechtigt  anzuerkeunen , wenn  er 
auch  schon  von  andrer  Seite  hervorgehoben  worden  ist  und  seine  Tragweite  eben  viel 
geringer  ist,  als  diejenigen,  welche  ihn  betonen,  cinräumen  wollen : es  muss,  wie  oben 
(S.  454)  bemerkt,  zugestanden  werden,  dass  allerdings  die  gegebene  Organisation 
und  Rechtsordnung  der  Volkswirtschaft,  speciell  für  die  sachlichen 
Productionsmittel  und  davon  abhängig  für  die  Gestaltung  der  Production 
und  Verteilung  ein  wesentlicher  Factor  in  der  Bevölkerungs-,  Volkszunahme  und 
Uebervölkerungsfrago  ist.  Hemmungen  der  Production,  starke  Ungleichheit  der  Ein- 
kommen- und  Vcrmögensvertheilung,  welche  aus  einer  bestimmten  Organisation  und 
Rechtsordnung  hervorgehen  (Grundbesitzvertheilung,  Kapitalconcentration),  können  hier 
erschwerend  wirken,  eine  Volkszunahme,  Volkszahl  bedenklich,  eine  gegebene  Bevöl- 
kerung, wenigstens  partiell,  local  und  zeitweilig,  als  relative  Uebervölkerung  erscheinen 
lassen , während  das  unter  anderen , günstigeren  Verhältnissen  der  Organisation  und 
Rechtsordnung  nicht  oder  nicht  in  dem  Maasse  der  Fall  sein  würde.  Eben  deshalb 
muss  diese  Seite  der  Sache  mehr  berücksichtigt  werden,  als  es  bei  deu  Malthusianern 
üblich  ist  und  namentlich  früher  üblich  war.  Selbst  Kümelin’s  Ausführungen  er- 
heischen hier  hie  und  da  mit  Bezug  auf  diese  Seite  Ergänzungen  und  Berichtigungen. 
Indessen  die  Socialisten  übersehen  hier  doch  auch  ihrerseits  wieder  Wesentliches. 
So  zunächst,  dass  eine  gegebene  Organisation  und  Rechtsordnung,  Besitzgestaltung, 
auch  wenn  man  wollte,  nicht  so  beliebig  und  vollends  nicht  rasch  und  mei- 
stens nicht  über  ein  gewisses  Maass  hinaus  umgcstaltct  werden  kann:  die 
unhistorische  und  unreale  Illusion,  in  welcher  sich  der  theoretische  und  politische 
Socialismus  bewegt.  Sodann:  ob  eben  überhaupt  eine  radicale  Umgestaltung  der  Pro- 
ductions-  und  Vertheilungsordnung,  wie  sie  der  radicale  Socialismus  plant,  möglich 
und,  wenn  selbst  dies,  Dauer  und  guten  Erf  olg  versprechend  sein  würde;  dafür 
bleibt  der  Socialismus  auch  hier  wieder  den  Beweis  schuldig.  Und  endlich:  selbst 
wenn  mehr  oder  weniger  bedeutende  organisatorische  und  wirthscbaftsrechtliche  Re- 
formen und  schliesslich  sogar  die  geplante  Hinüberführung  der  heutigen  „kapitalisti- 
schen“ in  die  socialistischc  Volkswirtschaft  gelänge,  spricht  eben,  wie  schon  früher 
hervorgehoben,  alle  psychologische  Wahrscheinlichkeit  und  alle  bisherige  Erfahrung 
in  Betreff  der  physischen  und  psychischen  Factoren,  von  welchen  die  Volkszunahme 
abhängt,  dafür,  dass  das  Schreckgespenst  der  Uebervölkerung  nicht  verschwindet,  son- 
dern grade  erst  recht  auftaucht,  d.  h.  dass  Malthus  Recht  behält.  Nicht,  wie  Marx 
will,  jede  historische  Productionsordnung  hat  ihr  eigenes  Bevölkerungsgesetz,  sondern 
nach  dem  stets  geltenden  Gesetz  nur  ihren  eigenen  Bevölkerungsspielraum, 
welcher  vielleicht  in  einer  Hinsicht  bei  einer  Volkswirtschaft  ohne  privates  Grund- 
und  Kapitalcigenthum  und  bei  gleichmässigcrcr  Verteilung  des  Einkommens  grösser, 

*)  S.  Uber  diesen  H.  Sötbeer,  a.  a.  0-  S.  101  ff.  und  meine  Recension  in  der 
Tüb.  Zeitschr.  188J,  S.  619  ff.  George’s  Polemik  gegen  Malthus  erhebt  sich  freilich 
nicht  viel  über  diejenige  Carey’s. 


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Polemische  Litteratar  gegen  Malthu9. 


461 


als  unter  unseren  heutigen  Verhältnissen  sein  kann,  aber' jedenfalls  auch  seine  enge 
Grenze  hat,  wenn  nicht  Uebervölkerung  und  in  ihrem  Gefolge  die  repressiven  Hemm- 
mittel der  Volksvermehrung  eintreten  sollen.  Da  würde  sich  denn  doch  wieder  zeigen, 
dass,  wie  Mi  11  sagt,  „die  Nothwendigkeit  des  Znrückhaltens  der  Bevölkerungszunahme 
sich  nicht  auf  einen  Zustand  der  Ungleichheit  des  Eigenthums  beschränkt“  (principles, 
B.  I,  ch.  13,  §.  2).  Ob  aber  eben  unter  den  in  einem  socialistischcn  Gemeinwesen 
obwaltenden  Verhältnissen  dieses  „Zurückhalten“  leichter  als  jetzt  und  überhaupt  ohne 
directen  Zwang  möglich  und  wirksam  sein  wird,  das  bleibt  immer  die  grosse  Frage. 
Miil’s  Satz,  dass  man  allenfalls  dem  Individuum  ein  unbedingtes  Existenzrecht,  nicht 
aber  das  Hecht,  beliebig  viel  neue  Individuen  in  Existenz  zu  setzen,  gewähren  könne, 
dürfte  grade  in  einem  socialistischen  Gemeinwesen  die  grösste  practische  Be- 
deutung gewinnen. 

Das  jedoch  möchte  zuzugestehen  sein,  dass  alle  Fragen  der  volkswirt- 
schaftlichen Organisation  und  Rechtsordnung,  insbesondere  daher 
auch  diejenigen  der  Grandbesitz-  und  der  Kapitalvertheilung  sowie 
der  Einkommen-  und  Vermögensverth eilung  überhaupt  zugleich  mit 
aus  dem  Gesichtspan cte  des  Be v ölkerungs w esens  zu  behandeln  sind, 
wie  cs  im  weiteren  Verlaufe  in  diesem  Werke  auch  geschieht.  Es  muss  gezeigt 
werden,  wie  die  und  die  Organisation  und  Rechtsordnung  auf  die  Bevölkerungsver- 
mehrung einwirkt,  an  welche  organisatorische  und  rechtliche  Voraussetzungen  letztre 
gebunden  ist  und  welche  Anforderungen  dieserhalb  in  dieser  Hinsicht  zu  stellen  sind. 
Hier  ist  eine  Lücke  in  der  Malthos’schcn  Bevölkerungslehre  und  zugleich  in  den 
nationaiökonomiscben  Lehren  von  der  Einkommen-  und  Besitzvertheilung  anzuerkennen, 
auf  welche  die  socialistische  Polemik  und  Beweisführung  zwar  einseitig,  aber  nicht 
durchaus  unrichtig  hinzeigt  und  welche  es  auszufüllen  gilt.  Es  wird  sich  dabei  aber 
auch  wieder  ergeben,  dass  der  Kern  der  Malthus’schen  Lehre  nicht  alterirt  wird. 

Mit  der  Bevölkerungslehre  steht  die  nationalökonomische  Lehre  vom  Arbeits- 
lohn in  näherem  Zusammenhang,  öfters  wird  jene  in  der  Litteratur  grade  bei  Ge- 
legenheit letztrer  erörtert.  Auch  das  von  Lassalle  sogen,  „eherne  Lohngesetz“, 
welches  er  freilich  mit  Unrecht  als  Lehre  Ricardo ’s  und  der  classischcn  britischen 
Nationalökonomie  hinstellt,  steht  in  deutlicher  Verbindung  mit  der  Bevölkerungslehre. 
Jungst  hat  die  deutsche  Socialdemokratie  dieses  eherne  Lohngesetz  fallen  lassen  und 
bezügliche  Stellen  darüber  aus  dem  Gothaer  Parteiprogramm  in  das  neue  Erfurter 
(1891)  nicht  aufgenommen.  Das  ist  auf  Anregungen  von  K.  Marx  zurückzuführen, 
für  dessen  Standpunct  in  der  Bevölkerungslehre  es  characteristisch  ist,  dass  er  in 
jenem  Lohngesetz  nur  eine  Anerkennung  der  Malthus’schen  Lehre  sieht,  weshalb  er 
das  Vorhandensein  jenes  Gosefzes  leugnet.  Sei  die  Malthus’sche  Theorie  richtig,  so 
könne  man  das  Lohngesetz  nicht  aufheben,  auch  wenn  man  die  Lohnarbeit  aufhebe, 
denn  dann  beherrsche  das  Gesetz  nicht  nur  das  System  der  Lohnarbeit,  sondern  jedes 
gesellschaftliche  System  (s.  Marx,  zur  Kritik  des  socialdemokratischen  Parteipro- 
gramms, in  der  „Neuen  Zeit",  IX,  B.  1,  S.  570).  Ein  ganz  folgerichtiger  Schluss 
von  Marx,  nur  dass  damit  nichts  für  ihn  und  seine  Polemik  gegen  die  Malthus'sche 
Lehro  bewiesen,  sondern  diese  Polemik  als  auf  einer  petitio  principii  beruhend  erwiesen 
wird.  Man  braucht  Lassalle’s  ehernes  Lohngc9ctz  nicht  anzuerkennen,  muss  aber  eben 
zugeben,  dass  in  jedem  Zustand  der  Gesellschaft,  der  volkswirtschaftlichen  Organi- 
sation und  der  Rechtsordnung  die  Volkszunahme  Gefahren  für  die  Aufrechthaltung 
hoher  Löhne  oder,  in  einem  socialistischen  Gemeinwesen,  absolut  hoher  Individual- 
anthcile  am  Volkseinkommen  mit  sich  führt,  worüber  auch  Marx  nur  mit  Behaup- 
tungen, nicht  mit  Gegenbeweisen  hinweg  kommen  kann. 

Uebrigens  fehlt  es  doch  auch  unter  den  Socialisten  nicht  an  Anhängern  der 
Malthus’schen  Lohre  (s.  Elster  a.  n.  0.  S.  507).  So  hat  Winkelblech  (Mario) 
sie  doch  im  Wesentlichen,  trotz  Abweisung  mancher  Folgerungen,  anerkannt,  zwar 
auch  von  Fortschritten  der  Production  viel  erwartet,  aber  auch  dabei  die  Nothwendig- 
keit von  legislativen  und  administrativen  Hcmmmittcln  gegen  abnorm  starke  Volks- 
zunahme nicht  verkannt  (Untersuch,  über  die  Organisation  der  Arbeit,  2.  Auf!.,  bes.  II, 
220  ff.  IV,  67  ff.  Nebenbei  hat  auch  er,  wie  Andere,  auf  Vorgänger  von  Malthus 
hingewiesen,  ohne  wie  Marx  daraus  den  Vorwurf  des  Plagiats  gegen  ihn  zu  erheben. 
Er  nennt  ihn  mit  Recht:  nicht  den  Entdecker,  sondern  den  Begründer  des  Bevölkerungs- 

fesetzes  II,  220).  Ferner  hat  sogar  einer  der  jüngeren  Theoretiker  der  deutschen 
ocialdemokratie,  K.  Kautsky,  in  einer  tüchtigen  wissenschaftlich  gehaltenen  Schrift 
A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlagen.  30 


462 


4.  B.  Bevölkerung  u.  Volks wirthschaft.  Litteratur.  §.  196,  197. 


(der  Einfluss  der  Volksvermehrung  auf  den  Fortschritt  der  Gesellschaft,  Wien,  1680) 
sich  in  gewissem  Sinne  zu  Malthus  bekannt.  Er  kritisirt  ebenfalls  die  mathematische 
Formel,  berichtigt  die  Behauptung,  dass  die  Lebensmittel  sich  bloss  in  arithmetischer 
Progression  vermehren  könnten.  Das  ..Malthus’sche  Recept“,  dass  die  Arbeiter  sich 
zum  Zweck  der  Lohnerhöhung  langsam  vermehren  müssten,  weist  auch  er  in  der 
heutigen  „kapitalistischen  Productionsweise“  ab,  weil  im  Maschinenzeitalter  daun  nur 
um  so  mehr  Maschinen  an  die  Stelle  der  vertheuerten  Handarbeit  treten  würden. 
Dagegen  erkennt  er  die  Gefahr,  welche  aus  der  starken  Tendenz  zur  Volksvermehrung 
für  die  Lage  des  Volks  hervorgehe  und  vollends  im  „Socialstaate“,  bei  einer  Schwä- 
chung der  „präventiven  Checks“  hervorgehen  müsse,  offen  an.  Er  will  seine  Partei- 
genossen zu  der  Ueberzeugung  bringen,  dass  „ohne  Berücksichtigung  des  Bevölkerungs- 
gesetzes eine  befriedigende  Lösung  der  socialen  Frage  unmöglich  sei“.  Er  gelangt 
dann  zur  Forderung  einer  absichtlichen  „Regelung  der  Bevölkerungsbewegung“,  mittelst 
präventiven  Geschlechtsverkehrs.  Wenn  Kautsky,  wie  Bebel  (Frau,  S.  357)  sagt, 
jetzt  längst  nicht  mehr  auf  dem  Boden  dieser  Schrift  stehen  sollte,  so  bewiese  das 
nichts  gegen  den  Werth  derselben,  wie  man  auch  vom  Standpuncte  der  Physiologie 
und  der  Moral  über  sein  Abhilfmittel  gegen  zu  grosse  Volkszunahme  denke. 

In  letzterer  Hinsicht  hat  sich  aber  neuerdings  eine  theoretische  und  agitatorische 
Bewegung,  besonders  in  England,  aber  auch  auf  dem  Continente,  entwickelt,  welche 
die  Malthus’sche  Lehre  anerkennt,  nur  von  „moral  restreint“  keinen  genügenden  Er- 
folg erwartet  und  sich  offen,  freilich  in  Ueberschätzung  der  Macht  des  Geschlechts- 
triebs, der  physiologischen  Nothwendigkeit  seiner  Befriedigung,  der  Gefahren  seiner 
Nicht-Befriedigung  und  in  Unterschätzung  der  physiologischen,  ästhetischen  und  ethi- 
schen und  schliesslich  auch  populationistischen  Bedenken  gegen  das  befürwortete 
Mittel,  für  den  präventiven  Geschlechtsverkehr,  mit  absichtlicher  Verhinderung  der 
Zeugung,  bezw.  künstlicher  Regelung  der  letzteren  („facultative  Sterilität“),  erklärt: 
der  sogen.  Neu- Malthusianismus.  Es  sind  namentlich  Mediciner,  aber  doch 
sie  nicht  allein,  sogar  Frauen,  welche  diesen  Standpunct  einnebinen,  ihn  offen  ver- 
treten und  besonders  im  Interesse  der  Hebung  der  unteren  Klassen  bei  diesen  dafür 
Propaganda  machen:  eine  Verallgemeinerung  des  „Zwei  - Kindersystems“,  welches 
practisch  in  Frankreich,  hier  wohl  in  Zusammenhang  mit  Erbrecht  und  besonders  auch 
unter  der  ländlichen  Bevölkerung,  verbreitet,  aber  auch  in  anderen  Ländern,  selbst  in 
Deutschland  da  und  dort  unter  bäuerlicher  Bevölkerung,  nicht  unbekannt  ist  S.  darüber 
Elster  a.  a.  0.  S.  519 — 522  und  daselbst  die  Litteratur.  Hervorzuheben:  Elements  of 
social  science  or  physical,  sexual  and  natural  religion,  by  a Dr.  of  medicine,  Lond. 
1854,  in  zahlreichen  Auflagen;  auch  deutsch:  Grundzüge  der  Gesellschaftswissenschaft, 
Berlin  2.  A.  1S76  und  seitdem  mehrfach.  Hier  und  in  anderen  ähnlichen  Schriften  zum 
Theil  unerhörte,  ja  ekelhafte  Ausführungen,  wenn  auch  ein  gewisser  wissenschaft- 
licher Ernst  nicht  bestritten  werden  soll;  auch  eben  lediglich  „medicinischer“ 
Standpunct  (wie  öfters  in  der  medicinischen  Prostitutionslitteratur).  mit  Ansichten  über 
dio  physiologische  und  schliesslich  auch  psychologische  Nothwendigkeit  und  Heilsam- 
keit der  Befriedigung  des  Geschlechtstriebs,  die  Gefahren  einer  Nicht-Befriedigung, 
welche  als  feste  wissenschaftliche  Sätze  hingestellt  werden,  wahrend  sic  mindestens 
gesagt  unbewiesen,  zum  Theil  reine  Behauptungen  sind. 

Immerhin  wird  aber  zuzugestehen  sein,  dass  hier  ein  Gebiet  vorliegt,  auf  welchem 
Manches  strittiger  sein  dürfte,  als  es  nach  den  geschichtlich  überkommenen  ethischen 
und  religiösen  Anschauungen  bei  uns,  rein  negirend,  aufgefasst  zu  werden  pflegt.  Es 
giebt  zu  denken,  wenn  Männer  wie  Rümelin  sich  in  kaum  rnisszu verstehender 
Weise  nicht  ohne  Weiteres  ablehnend  Uber  das  französische  Zweikindersystem  äussern. 
Gegenüber  der  optimistischen  deutschen  Anschauung  über  die  starke  Volkszunahme, 
welche  er  wegen  der  seiner  Ansicht  nach  unbestreitbaren  Symptome  der  Uebcr- 
völkerung  verwirft,  meint  er:  „man  möge  auf  hören,  auf  das  französische  Beispiel 
einer  langsamen  Volksvermehrung  verächtlich  herabzublicken  und  mit  dem  hoch- 
müthigen  Pharisäer  zu  sprechen:  ich  danke  Dir  Gott,  dass  ich  nicht  bin,  wie  dieser 
da,  fast  als  ob  die  französischen  Ehepaare  nicht  so  gut  wie  die  deutschen  im  Stande 
wären,  auch  5 — G Kinder  zu  erzeugen,  statt  2 — 8,  wenn  sie  dies  wollten,  und  als  ob 
sie  mit  ihrer  Sitte  schlimmer  wären  und  schlimmer  fuhren  als  wir  mit  der  unsrigen ; 
dann  soll  man  uns  diese  Sitte  nicht  als  den  „dunkeln  Punct“  wrarnend  hinstellen,  wie 
wenn  es  bei  uns  nicht  viel  dunklere  Puncte  gäbe,  wie  wenn  es  überhaupt  in  diesen 
Dingen  ohne  dunkle  Puncte  abgehen  könnte  und  blosse  Sittenpredigten  im  Stande 


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Statistische  Litteratur. 


463 


wären,  die  dämonischen  Gewalten  der  sexuellen  Naturtriebe  zu  bändigen  und  die 
furchtbaren  Gefahren,  die  der  Gesellschaft  daraus  erwachsen,  fernzuhalten“  (Reden 
und  Aufsätze,  N.  F.  1881,  S.  613  ff.).1) 

Die  Extreme  berühren  sich  auch  hier  wieder.  Der  socialistische  Optimismus 
findet  sein  Gegenstück  in  dem  freihäud lerischcn,  harmonistischen  Optimismus 
in  der  Bevölkerungsfrago,  bei  Bastiat  und  seinen  Anhängern,  und  zugleich  begegnet 
hier  eine  verwandte  Anschauung  über  die  Hilfsmittel  gegen  Uebervölkerung.  Dort 
Abschaffung  der  kapitalistischen  Productionsweise,  hier  grade  umgekehrt  völlig  freie 
sociale  und  wirtschaftliche  Rechtsordnung  und  Bewegung,  aber  mit  der  angenommenen 
Folge,  dass  dann  Alles  sich  schon  von  selber  genügend  regeln  werde:  durch  liberale 
Agrarverfassungen,  Entwicklung  der  Communicationsmittel,  Freihandel,  internationalen 
Agrarproducten-  und  Fabrikatenaustausch,  Auswanderung  und  Besiedelung  der  neuen 
Welt  und  uncultivirter  oder  wenig  cultivirter  Gegenden.  Auf  diesem  Standpuncte  steht 
im  Ganzen  die  deutsche  Freihandelsschule.  Vgl.  den  Aufs,  von  Keferstein  „Volk“ 
in  Rentzsch’  Handwörterb.  der  Volkswirtschaftslehre  (Leipz.  1866).  M.  Wirth,  in 
seiner  Nationalökonomie  z.  B.  I,  4.  A.  Köln,  1881  S.  178  ff.,  E.  Wiss  (früher  Heraus- 
geber der  Berl.  volksw.  Vierteljahrschrift)  das  Gesetz  der  Bevölkerung  und  die  Eisen- 
bahnen, Berlin  1867.  Eine  neueste  Schrift  geht  mir  während  der  Ausarbeitung  dieses 
zu:  Prof.  L.  Hoffmann,  die  Bevölkerungszunahme  ist  keine  Gefahr;  gegen  die 
Malthusianer,  Stuttg.  1S92. 

§.  197.  Fortsetzung.  Statistische  Litteratur.  Alle  Schriften  über 
Bevölkerung  beschäftigen  sich  mehr  oder  weniger  eingehend  mit  der  statistischen 
Seite  der  Fragen  und  verwertlien  statistisches  Material.  Auch  die  Fach-Statistiker, 
insbesondere  die  Bevölkerungsstatistiker,  haben  begreiflich  die  Malthus’scbe  Lehre 
berücksichtigt,  ihre  statistischen  Grundlagen  geprüft,  namentlich  die  „geometrische 
Progresssion“  untersucht  und  berichtigt,  die  thatsächlichen  Verhältnisse  der  Volkszahl, 
Veränderungen  durch  die  natürliche  Bewegung  (Geburt,  Tod)  und  durch  die  localen 
und  internationalen  Wanderungen  auf  Grund  der  amtlichen  Statistik,  der  Geburts-, 
Heiraths-,  Sterbestatistik,  der  Wanderungsstatistik,  der  Volkszählungen  festzustellen, 
auch  die  Entwicklung  der  Production  der  Güter  und  der  Steigerung  der  Productions- 
fähigkeit  zahlenmässig  zu  bestimmen  und  so  Beiträge  zur  Frago  von  der  Zuwachs- 
rate der  Production  (Malthus’  arithmetischer  Progression)  zu  liefern  gesucht  Es 
muss  dabei  aber  doch  immer  festgehalten  werden,  dass  die  Malthus'sche  Frage 
und  was  mit  ihr  zusammenhängt  nicht  eine  statistische,  sondern  eben  eine  volks- 
wirtschaftliche ist  und  die  Statistik  nur  Thatsachcn  liefen),  Causal-  und  con- 
ditionelle  Zusammenhänge  aufdecken,  falsche  deductive  Schlüsse  berichtigen  helfen 
kann,  kurz  eben  auch  hier  nur  als  Methode  (§.  80  ff.)  in  Betracht  kommt,  deren 
sich  der  Nationalökonom  mit  über  auch  hier  nicht  allein  zu  bedienen  hat  Das  wird 
zu  oft  übersehen.  Der  Statistiker  als  solcher  hat  daher  hier  auch  nicht  das  letzte, 
nicht  das  entscheidende  Wort,  was  z.  B.  Wappäus  (Bevölk.statistik,  I,  43)  auch  direct 
anerkennt:  die  tiefere  Untersuchung  Uber  die  Malthus’sche  Lehre  u.  s.  w.  komme  der 
Politischen  Oekonomie  zu.  Wenn  der  Statistiker  sich  zur  Malthus'schen  Lehre  äussert, 
wird  er  eben  Nationalökonom,  der  auch  mit  den  volkswirthschaftlichcn  und  allen  den 
übrigen,  im  Vorausgehenden  berührten  Beweisgründen  operirt.  Die  einzelnen  Statistiker 
haben  sich  übrigens  zur  Lehre  verschieden  gestellt.  Quetelet  erkennt  sie  an,  sucht 
nur  trotz  seiner  Zweifel  über  die  Anwendbarkeit  mathematischer  Formeln  auf  diesem 
Gebiete  eine  andre  Formel  für  die  Bevölkerungszunahme  aufzustellen,  die  er  auch 


*)  Guter  der  neueren  Litteratur,  welche  den  präventiven  Geschlechtsverkehr  be- 
fürwortet, befindet  sich  auch  eine  kleine  Schrift  von  „Dr.  A.  Wagner,  zur  Errettung 
des  deutschen  Volks  aus  seiner  Verarmung,  Berlin,  Breslau,  Leipzig“  (1891).  Da  es 
mir  passirt  ist,  dass  ich  in  socialdemokratischen  Volksversammlungen  und  Blättern 
(Cassel)  für  den  Verfasser  dieser  Schrift  gehalten  und  heftig  angegriffen  worden  bin, 
sei  doch  auch  hier  die  für  den  Kundigen  freilich  unnöthige  Bemerkung  gemacht,  dass 
ich  selbstverständlich  dieser  Schrift  völlig  fern  stehe,  mir  ihr  Verfasser  (es  soll  ein 
Lehrer  in  Breslau  sein  [?]),  ebenso  wie  bis  zu  jenen  Angriffen  seiue  Schrift  gänzlich 
unbekannt  waren  und  hier  nur  eine  zufällige,  allerdings  sogar  auf  den  Anfangsbuch- 
staben des  Vornamens  sich  erstreckende  Namensvetterschaft  vorliegt.  Mir  jene  Bro- 
schüre zuzuschreiben,  verrieth  nicht  oben  viel  kritische  Befähigung  bei  den  Herren 
Socialdemokraten. 


30* 


464 


4.  B.  Bevölkerung  u.  Volkswirthschaft.  Litteratur.  §.  197. 


noch  in  der  2.  Aufl.  seines  bekannten  Hauptwerks  aufrecht  erhalt,  ohne  sie  übrigens 
irgend  als  richtig  zu  beweisen:  „la  populatiou  tend  k croitre  selon  une  progression 
göomdtrique;  la  rösistance  ou  la  seinme  des  obstacles  k son  döveloppement  est  toutes 
choses  Egales  d'ailleurs,  comme  le  carr6  de  la  vitesse  avec  laquelle  la  population  tend 
k croitre“,  — ein  ebenso  vergeblicher,  als  auch  principiell  falscher  Versuch,  Ver- 
hältnisse, welche  von  so  vielen  variableu  Factoren  abhängen,  in  einer  einfachen  mathe- 
matischen Formel  zusammenzufassen  (Sur  l’bomme  et  lc  d^veloppement  de  ses  facultas, 

1.  6d.  Paris,  1835,  deutsche  Uebersetzung  von  Riecke,  Stuttg.  1835,  hier  S.  290, 

2.  6d.,  physique  sociale,  Brux.  et  Paris  1869,  hier  tom.  I,  432).  Wappäns,  überall 
den  Widerspruch  der  Thatsachcn  mit  der  Malthus’schcn  Formel,  besonders  in  Betreff 
der  Volkszunahme  in  geometrischer  Progression  und  der  Verdopplung  unter  selbst 
günstigsten  Umständen  in  25  Jahren  zeigend,  bemerkt  doch,  ohne  Bedenken  zu  äussern, 
also  doch  wohl  beistimmend,  dass  „gegenwärtig  die  Nationalökonomie  die  Grund- 
ansichten  von  Malthus  als  ein  festes  Eigenthum  der  Wissenschaft  ausieht“  und 
weist  auf  Roscher  hin  (Bevölk.stat.  I,  44).  Kein  geringerer  dagegen  als  Ernst  Engel 
hat  sich,  früher  wenigstens,  in  sehr  optimistischer  Weise,  mit  Carey  sehen  Argumenten, 
absprechend  über  die  Malthus’sche  Lehre  geäussert  (s.  das  Citat  bei  Elster  a.  a.  0. 
S.  512  aus  der  sächs.  Statist.  Zeitschr.  1855  S.  141  ff.). 

Die  grossen  Fortschritte  der  Bevölkerungsstatistik  gewähren  gegenwärtig  viel 
besseres  Material  zur  Erläuterung  und  Beweisführung  in  allen  Einzelheiten  des  Bevöl- 
kerungsproblems , soweit  dieses  sich  überhaupt  statistisch  untersuchen  lässt,  vollends 
verglichen  mit  dem  unvollkommenen  Material,  welches  Malthus  zur  Verfügung  stand. 
Die  genaueren  Volkszählungen,  auch  mit  ihrer  Altcrsstatistik,  die  sichereren  standes- 
amtlichen Aufzeichnungen  über  Geburten,  Eheschliessungen,  Todesfälle,  die  Ver- 
besserungen der  Wanderungsstatistik,  welche  freilich  immer  noch  erhebliche  Mängel 
hat,  machen  es  leicht,  manche  frühere  Annahmen  oder  Beweisführungen  mit  und 
Schlüsse  aus  statistischen  Daten,  bei  Malthus  und  vielen  Anderen,  zu  berichtigen. 
Auch  die  verbesserte  Productiousstatistik  und  wirthschaftlicho  Statistik  überhaupt  er- 
möglicht Berichtigungen  früherer  Annahmen,  wenn  sie  auch  immer  noch  in  wichtigen 
Puncten  im  Stich  lässt  oder  nur  unsichere  Schlüsse  gestattet.  Mit  allen  solchen 
Berichtigungen  wird  aber  wiederum  in  der  volkswirtschaftlichen  Seite  der  Bevöl- 
koruugsfragc  keine  principielle  Aendcrung  an  dem  Kern  der  Malthus’schcn  Lehre 
notwendig. 

Früher  waren  es  mehr  privatstatistische  Werke,  welche  das  für  die  Be- 
völkerungsfrage wichtige  statistische  Material  zusammentrugen  und  schlussberechtigend 
verarbeiteten.  Neuerdings  sind  auch  die  amtlichen  Tabellenwerke  selbst  herbei- 
zuziehen, namentlich  wo  sie,  wie  z.  B.  diejenigen  der  Deutschen  Reichsstatistik,  Auf- 
sätze in  den  amüichen  statistischen  Zeitschriften,  Vergleichungen  nicht  nur  aus 
längeren  Perioden  für  dasselbe  Gebiet  und  desseu  Theile,  sondern  auch  mit  fremden 
Ländern  anstollen.  Von  besonderem  Interesse  sind  Vergleichungen  aus  Jahren  und 
Gebieten  mit  bestimmt  wechselnden  äusseren  Verhältnissen  (Friedens-,  Kriegszeiten, 
Perioden  wirtschaftlichen  Aufschwungs  und  der  Depression,  der  Krisen,  verschie- 
dener Ernten  und  Preise  der  Lebensmittel  u.  s.  w.)  und  unter  Ländern  mit  specifisch 
verschiedener  natürlicher  und  durch  Wanderungen  vermittelter  Volksbewegung,  daher 
z.  B.  besonders  zwischen  Grossbritannien  und  seinen  Theilen,  dem  Deutschen  Reich 
und  seinen  Bestandteilen  einer-,  Frankreich  andererseits,  Europa  einer-,  Nordamerica, 
Australien  andererseits.  Im  Folgenden  werden,  bei  der  hier  nur  möglichen  spärlichen 
Hereinziehung  statistischer  Daten,  besonders  das  Deutsche  Reich  und  Frankreich  ver^ 
glichen  und  deren  Daten  zur  Illustration  und  Beweisführung  benutzt  werden.  Nament- 
lich stellen  im  Grossen  und  Ganzen  Preussen  und  Frankreich  scharfe  Gegensätze  der 
Erscheinungen  in  der  Bevölkerungsbewegung  dar,  wenn  auch  wieder  mit  mancherlei 
Verschiedenheiten  in  den  einzelnen  Gebietsteilen. 

Aus  der  Littoratur  der  Bevölkerungsstatistik  werden  hier  nur  einige 
Hauptwerke  genannt.  Die  wichtigsten  sind  immer  noch:  Quetelet’s  Schriften, 
namentlich  sein  Werk  über  den  Menschen  (S.  432  u.  vorhin),  Wappäus’  Bevölkerungs- 
statistik (S.  432).  auch  A.  v.  öettingen’s  Moralstatistik  (S.  432).  S.  ferner  G. 
Mayr ’s  Gesetzmässigkeit  im  Gescllschaftsleben,  München  1877,  und  die  Handbücher 
der  Statistik,  soweit  sio  statistische  Daten  selbst  bringen,  bes.  Kolb,  auch  Walcker. 
Von  älteren  Werken:  Bernouilli,  Handbuch  der  Populationistik , Ulm  1841,  mit 
Nachtrag  1843;  Horn,  Bevölkeruugswissenschaftliche Studien  aus  Belgien,  Leipzig  1854. 


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Statistische  Litteratur. 


465 


Hauptdaten  aller  Länder  jährlich  im  Gothaer  Jahrbuch.  Vergleichungen  im  Bulletin 
de  1 institut  de  statistique  internationale.  Sorgfältigste  Bearbeitung  des  statistischen  und 
Schätzungsmaterials  für  die  ganze  Erde  in  den  verschiedenen  Jahrgängen  der  „Be- 
völkerung der  Erde“,  von  ßehm  und  Hermann  Wagner,  neuerdings  von  letzterem 
und  Supan,  zuletzt  No.  VIII,  Gotha  1891.  Heiraths-,  Geburts-,  Ein-  und  Aus- 
wanderungsstatistik etc.  auch  in  v.  Neumann-Spallart’s  und  v.  J uraschek’s 
Uebersichten  der  Weltwirtschaft.  Zusammenstellung  einiger  wichtiger  Zahlen  in 
H.  Rauchberg’s  Aufs.  Bevölk.statistik  der  neuesten  Zeit  im  Handwörterbuch  d. 
Staatswiss.  II,  427 — 433,  auch  in  Elster’s  Aufs.  S.  523  !f.  (Eb.  die  Abh.  Bevöl- 
kerungswechsel von  Lexis  S.  456  ff.) 

Aus  der  amtlichen  Statistik  ist  besonders  auf  die  grossen  Tabellen  werke  über 
Stand.  Eigenschaft  (Zusammensetzung)  der  Bevölkerung  nach  den  jedesmaligen  Volks- 
zählungen und  auf  die  gleichen  über  die  Bewegung  der  Bevölkerung  zu  verweisen. 
Die  Hauptdaten  daraus  meistens  in  den  amtlichen  Zeitschriften  und  Jahrbüchern. 
Daselbst  daun  auch  Jahresreihen  über  die  Veränderungen  und  etwaige  Vergleiche. 
Die  statistischen  Bureaux  und  Aemter  aller  Länder  wetteifern  in  Reichthum  und 
Sorgfalt  der  bezüglichen  Publikationen  neuerdings  immer  mehr.  Für  die  Zwecke  des 
Folgenden  sei  namentlich  auch  hier  auf  die  Daten  im  Statist.  Jahrbuch  des  Deutschen 
Reichs  und  auf  die  Veröffentlichungen  des  reichsstatistischen  Amts  über  die  jährliche 
natürliche  Bewegung  der  Bevölkerung  und  über  Auswanderung  hingewiesen.  In  Be- 
treff der  natürlichen  Bewegung  werden  hier  Vergleichungen  mit  den  Daten  anderer 
Hauptstaaten  vorgenommen,  welche  ich  hier  vorncmlich  benutze.  S.  die  bezügliche 
neueste  Publikation:  Stand  und  Bewegung  der  Bevölkerung  des  Deutschen  Reichs  und 
fremder  Staaten  (alle  europäischen  ausser  Portugal,  doch  fehlen  gewisse  Daten  eben 
auch  für  einige  andere  Länder),  mit  graphischen  Darstellungen,  N.  F.  B 44  der 
Statistik  des  Deutschen  Reichs,  Berlin  1892,  mit  Einleitung  von  Becker  und  Schu- 
mann: ein  eminentes  statistisches  Werk,  dem  übrigens  andere  ähnliche  vergleichende 
(so  vom  schwedischen  Bureau,  stat.  internat.,  6tat  de  population,  Stockholm,  1875 — 76, 
vom  italienischen  Bureau,  populazione,  movimento  dello  stato  civile,  J.  1865 — 83, 
Roma  1884)  vorangegangen  sind.  Uebersicht  über  Geburten  u.  s.  w.  im  Deutschen  Reich 
J.  1890,  in  den  Vierteljahrsheften,  1892,  auch  mit  einigen  Vergleichungen  mit  anderen 
Grossstaaten.  Es  ist  ein  besonderer  Vorzug  dieser  reichsstatistischen  Arbeiten,  der  grade 
für  die  wissenschaftliche  Seite  der  Bevölkerungsstatistik  ins  Gewicht  fällt,  dass  man  nicht 
nur  nach  „Staaten“  und  administrativen  Abtheilungen  (Provinzen  u.  s.  w.),  also  nach 
grade  in  Deutschland  vielfach  rein  zufälligen  Landes-  und  Volksabthcilungen  einer  selt- 
samen geschichtlichen  Entwicklung  der  Staaten-  und  Grenzbildung,  sondern  auch  nach 
einer  Art  geographisch  - und  volkswirtschaftlich- natürlichen  gruppenweisen  Gebiets- 
einteilung die  Materialien,  so  für  die  natürliche  Bewegung  der  Bevölkerung,  verarbeitet. 
Aus  dem  Reichsgebiet  hat  man  so  15  „Gebietsgruppen“  gemacht,  wobei  man  sich 
freilich  immer  noch  stark  an  die  Staats-  und  Provinzialgrenzen  anlchnt,  aber  doch 
mancherlei  sich  näher  stehende  Theile,  auch  wenn  sie  zu  verschiedenen  „Staaten“ 
oder  Provinzen  gehören,  namentlich  die  Kleinstaaten  unter  sich  und  mit  anderen 
zusammenfasst  (z.  B.  K.  Sachsen  und  die  8 thüring.  Staaten,  Rheinpfalz  und  Eisass, 
Würtemberg,  Baden  und  Ilohenzollern).  Man  erreicht  so  auch  immerhin  ein  wenig 
mehr  Annäherung  an  die  Stammoseintheilung  der  Nation  (vgl.  das  letztgen.  Heft 
S.  18),  was  für  bevölkerungsstatistische  Fragen  von  Interesse  ist.  Die  mechanische 
französische  Departementseintheilung  und  ähnlich  die  verwandte  anderer  Länder  zer- 
reisst  willkührlich  auch  hier  dergleichen,  wie  alle  historischen  Bande,  zum  Nachtheil 
auch  für  die  Statistik. 

Uebcr  Statistik  der  Ein-  und  Auswanderung,  ferner  der  örtlichen  Ver- 
th ei  lung  der  Bevölkerung  (nach  Grössen  der  Wohnorte,  Stadt  und  Land,  auch  nach 
Geburtsorten)  ist  ebenfalls  in  erster  Linie  jetzt  auf  die  amtlichen  statistischen  Publi- 
cationen  selbst  zu  verweisen.  In  der  obigen  statistischen  und  nationalökonomischen 
Litteratur  werden  diese  Verhältnisse  regelmässig  mit  berührt.  Die  neuere  deutsche 
Colonial  bewegung  hat  natürlich  auch  auf  die  litterarische  Behandlung  der  be- 
treffenden Fragen  eingewirkt.  Für  diese  Litteratur  muss  aber  auf  die  anderen  Tbcile  dieses 
Werks  (2.  Thcil  der  Grundlegung,  in  den  Abschnitten  von  den  socialen  Freiheitsrechten, 
Practischo  Nationalökonomie)  hingewiesen  werden.  Vergl.  u.  A.  bes.  W.  Roscher 
und  Jan  nasch,  Colonicen,  Colonialpolitik  und  Auswanderung,  3.  A.,  Leipzig  1S85, 
ferner  Geffcken’s  Abh.  im  Schönberg  sehen  Handbuch  B.  III,  mit  weiterer  Litteratur. 


466  4.  B.  Bevölkerung  u.  Volkswirtlisch.  1.  K.  Bcvölk.lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  198. 


Ein  eigentümliches,  geistvolles,  auch  in  wichtigen  Poncten  wohl  das  Richtige 
treffendes,  in  anderen  freilich  doch  daneben  schiessendes  Werk  ist  endlich  auch  hier 
noch  rühmend  zu  erwähnen:  Georg  Hansen  (nicht  mit  Georg  Hanssen,  dem  Göttinger 
Altmeister,  zu  verwechseln,  übrigens  auch  Schleswig-Holsteiner),  die  drei  Bevölkerungs- 
stufen, „ein  Versuch,  die  Ursachen  für  das  Blühen  und  Altern  der  Völker  nach- 
zuweisen“, München  1889.  Die  Haupttendenz  desselben  lässt  sich  nur  mit  dem  ge- 
brauchten (und  allerdings  allein  bisher  vorhandenen)  statistischen,  geschweige  dem 
historischen  Material  vom  Verfasser  nicht  genügend  erhörten,  wenn  auch  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  wahrscheinlich  machen:  wie  beständig  ein  Austausch  zwischen  Land- 
und  Stadtbevölkerung  erfolgt  und  erfolgen  muss,  um  das  Volk  physisch  und  geistig 
in  Kraft  und  Blüthe  zu  erhalten  und  welche  heillosen  Folgen  daher  der  Untergang 
der  Landbevölkerung  auch  für  die  Gesammtheit  hat:  ein  ernstes  Memento  auch  hin- 
sichtlich der  Wirkungen  des  weltwirthscbaftlichen  Industrialismus  auf  die  Bevölkerung. 
(S.  auch  Buchen borger,  Agrarpolitik  S.  010.) 


Erstes  Kapitel. 

Die  volkswirtschaftlichen  Seiten  des 
Bevölkerungswesens. 

(T olkswirthsehaftliclic  Bevölkcrungslehrc.) 

Erster  Hauptabschnitt. 

Be völkerungs statistische  Thatsachen  und 
U nter  suchungen. 

1.  Abschnitt. 

Theoretisches. 

I.  — §.198.  Das  volkswirtschaftliche  Productions- 
und  Vertheilungsintcressc  in  Bezug  auf  Grosse  und 
Zusammensetzung  der  Bevölkerung  und  auf  Ver- 
änderungen darin. 

1.  Standpunct  des  Productionsinteresses.  Volks- 
wirtschaftlich betrachtet  ist  die  Bevölkerung  eines  Volkswirth- 
schaftsgehiets  in  ihren  arbeitsfähigen,  arbeitswilligen  und  tatsächlich 
arbeitenden  Gliedern  der  Vertreter  des  Factors  „wirtschaft- 
liche Arbeit“  in  der  Production  der  wirtschaftlichen  Güter. 
Setzt  man  übrigens  gleiche  Umstände  voraus,  d.  h.  nimmt  man 
an,  dass  die  für  den  Nutzeffect  der  nationalen  Arbeitsleistung 
mit  entscheidenden  Momente  die  gleichen  bleiben,  — wie  die  Be- 
herrschung der  Naturkräfte  für  die  Zwecke  der  Production,  der 
Stand  der  Technik,  die  Kapitalvcrfügung,  die  individuelle  Arbeits- 
fähigkeit und  Arbeitslust,  die  Einrichtung  der  Arbeitsgliederung 


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Volks  wirthsch.  Productionsinteresse  in  der  Bevölk.frage. 


467 


(Arbeitsteilung),  des  unternehmungsweisen  Betriebs  — , so  hängt 
die  Productionsfähigkeit  und  die  wirkliche  Productionsleistung  in 
einer  Volkswirtschaft  in  einem  gegebenen  Zeitpuncte  notwendig 
von  der  Grösse  und  der  Zusammensetzung  (Gliederung) 
der  Bevölkerung  aus  den  genannten  Gliedern'einer-  und  den  übrigen 
andrerseits  ab. 

Die  Zunahme  der  Production  in  Quantität  und  Qualität  ist 
dann  unter  denselben  Voraussetzungen  von  der  Zunahme  der 
Bevöl kerung  oder  von  einer  für  die  Arbeitsleistung  günstigeren 
Zusammensetzung  der  Bevölkerung  oder  von  Bei  dem  zu- 
gleich abhängig.  Insofern  bedeutet  daher  Vermehrung  und  günstigere 
Zusammensetzung  der  Bevölkerung  Vermehrung  der  nationalen 
Arbeitsfähigkeit  und,  wenn  gewisse  andre  Bedingungen  zugleich  er- 
füllt werden,  auch  regelmässig  tatsächliche  Vermehrung  der  Arbeits- 
leistung und  damit  der  Production. 

So  gelangt  man  zum  Standpunct  des  volkswirtschaftlichen 
Productionsinteresses  in  der  Bevölkerungsfrage : es  erheischt, 
wenn  man  die  Angelegenheit  zunächst  für  einen  gegebenen  Zeit- 
punct,  imRuhepunet,  betrachtet:  eine  möglichst  grosse  Be- 
völkerung, mit  möglichst  vielen  und  tüchtigen  arbeitsfähigen,  arbeits- 
willigen und  wirklich  arbeitenden  Gliedern  (Individuen),  um  Viel 
und  Tüchtiges  an  wirtschaftlichen  Gütern  produciren  zu  können; 
und  es  erheischt  ferner,  wenn  man  die  Angelegenheit  im  Fluss 
der  Bewegung  unter  Annahme  steigenden  Volksbedarfs 
an  wirtschaftlichen  Gütern  (für  eine  grössere,  aber  auch  für  eine 
besser  lebende  Bevölkerung)  betrachtet,  eine  Zunahme  und  eventuell 
eine  andre,  der  Arbeitsleistung  günstigere  Zusammensetzung 
der  Bevölkerung. 

In  Betreff  letzterer  kommt  von  natürlichen  Momenten  namentlich  die  Alters- 
classcn  vertheilung,  vor  Allem  in  ihrer  Bedeutung  für  die  Arbeitsfähigkeit  (Unter- 
scheidung nach  „productiven“  und  „u n productiven“  Jahren,  d.  h.  im  Wesent- 
lichen zwischen  ziemlich  Erwachsenen  bis  zu  einer  gewissen  Altersgrenze  — z.  B. 
über  15  bis  incl.  70  oder  auch  nur  65,  60  Jahre  — einer-  und  Kindern  und  Greisen 
andererseits),  sodann  auch  die  Geschlechtervertheilung  uuter  homogener,  der 
gleichen  Rage,  Nationalität  angehöriger  Bevölkerung  vorncmlich  in  Betracht;  weiter 
aber  sind  auch  noch  andere  Umstände  wichtig,  wie  die  körperlich-geistige  Verschieden- 
heit der  Individuen,  das  Verhältnis  der  in  dieser  Hinsicht  normalen  und  anomalen 
Menschen  (Gebrechliche,  an  organischen  Mängeln  leidende,  geistig  und  sittlich  Schwache), 
der  Gesundheitszustand,  der  Bildungsstand  u.  a.  m. 

Von  besonderer  Wichtigkeit  wird  behufs  Steigerung  der  Arbeitsleistung  und  damit 
der  Production  die  Zunahme  und  günstigere  Zusammensetzung  der  Bevölkerung  einer- 
seits, wenn  die  übrigen  für  den  Nutzeffect  der  nationalen  Arbeit  in  der  Volkswirt- 
schaft maassgebenden  Umstände  gleich  bleiben  oder  sich  nicht  so  entwickeln  lassen 
und  entwickeln,  wie  es  das  Productionsinteresse  fordern  würde,  oder  ihre  Entwick- 
lung Bedenken  bietet,  wie  z.  B.  in  gewissen  Verhältnissen  der  technischen  Arbeits-  / 


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468  4.  B.  Bevölker.  u,  Volkswirthsch.  1.  K.  Bevölk.lchre,  1.  H.-A.  Statist.  §.  199. 

tcilung,  der  Maschinenanwendung;  anderseits,  wenn  die  Entwicklung  dieser  Um- 
stände selbst  die  Vermehrung  und  andere  Zusammensetzung  der  Bevölkerung  zur 
Voraussetzung  hat. 

Von  diesem  Standpuncte  des  Productionsinteresses  aus  fragt 
sich  daher  bezüglich  der  Bevölkerung,  welches  die  thatsäch- 
lichen  erfahrungsmässigcn  und  die  etwa  abzuleitenden  mög- 
lichen Verhältnisse  der  Vermehrung  und  Zusammensetzung 
der  Bevölkerung  sind. 

Hier  ist  vor  Allem  bei  der  Statistik  in  Betreff  der  Thatsachen  und  ihrer 
conditionellen  und  causalen  Abhängigkeitsverhältnisse  von  physischen  (physiologischen), 
psychologischen , ethischen , socialen , wirthschaftlichcn , politischen  u.  s.  w.  Factoren 
Rathes  zu  erholen.  Soweit  sich  diese  Abhängigkeitsverhältnisse  feststellen  lassen,  er- 
geben sich  auch  Anhaltspuncte  zu  Schlüssen  hinsichtlich  dessen,  was  in  Betreff  der 
Grösso,  Zunahme,  Zusammensetzung  der  Bevölkerung  als  möglich  erscheint,  daher 
auch  hinsichtlich  dessen,  was  cintrcten,  bezw. , wenn  dies  möglich  und  zulässig  ist, 
was  absichtlich,  z.  B.  auch  Seitens  der  Gesetzgebung  und  Verwaltung,  geschehen 
muss,  wenn  eine  bestimmte  Veränderung  der  Bevölkerung  nach  Grösse  und  Zusammen- 
setzung im  Productionsinteresse  liegt  und  erstrebt  werden  soll. 

§.199.  — 2.  Standpunct  des  Vertheilungsinteresses. 
Von  der  Grösse  und  von  der  Zusammensetzung  der  Be- 
völkerung, hierbei  zunächst  noch  ganz  von  der  socialen  und 
ökonomischen  Klassenschichtung,  der  Vermögens-,  Einkoramensver- 
theilung  unter  einer  gegebenen  Bevölkerung  eines  Volkswirthschafts- 
gebiets  abgesehen,  hängt  aber  auch  die  Grösse  und  einigermaassen 
auch  die  Art  des  Bedarfs  an  wirthschaftlichen  Gütern  ab. 

Die  Grösse  der  Bevölkerung  ist  unmittelbar  von  Einfluss  auf  den  Bedarf,  w'enn 
man  eine  bestimmte  Lebensweise  und  Art  der  Bedürfnissbefriedigung,  daher  z.  B. 
auch,  soweit  das  hier  mit  entscheidet,  ein  bestimmtes  Klima,  bestimmte  nationale 
Eigenschaften,  als  gegeben,  die  und  die  Art  der  Bedürfnissbefriedigung  auch  als 
nothwendig  voraussetzt.  Und  zwar  kommt,  wenigstens  nach  den  sittlichen  und  recht- 
lichen Anschauungen,  Sitten  und  Rechtsnormen  unserer  Culturperiode,  die  ganze 
Bevölkerung  hier  in  Betracht,  die  nicht  arbeitsfähigen,  selbst  die  nicht  arbeitswilligen 
und  die  tbatsächlich  nicht  arbeitenden  Bestandteile  eingeschlossen,  da  dieselben  min- 
destens zu  erhalten  sind  oder  nach  den  Rechtsprincipien  unserer  Volkswirtschaften 
auch  „arbeitsloses“  Einkommen  zn  ihrer  Bedarfsdeckung  beziehen  können.  Neben  der 
Grösse  ist  aber  die  Zusammensetzung  (Gliederung)  der  Bevölkerung,  nach  Lebens- 
alter, Geschlecht,  auch  die  Arbeitsart  ebenfalls  von  Bedeutung,  weil  Umfang  und  Art  der 
regelmässigen  und  wiederum  der  notwendigen  Bedürfnissbefriedigung  einigermaassen 
auch  davon  mit  abhängen. 

Nimmt  man  dann  wieder  die  ProductionsfUhigkeit  und  wirk- 
liche Productionsleistung  bezüglich  der  Menge  und  Art  der  wirth- 
schaftlichen Güter  in  der  ganzen  Volks wirthschaft  als  gegeben  an, 
so  entscheidet  offenbar  die  Grösse  und  die  Zustimmensetzung  der 
Bevölkerung  über  die  absolute  und  relative  mögliche  Höhe  und 
auch  über  die  Art  der  Güter,  welche  als  Einkommenquote  den 
Einzelnen,  den  Familien  aus  dem  volkswirtschaftlichen  Productions- 


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Volkswirthsch.  Vertheilungsinteresse  in  der  Bevölker.frage. 


469 


ertrag  oder  dem  Volkseinkommen  im  Durchschnitt  Zufällen 
können,  daher  bei  einer  gleichen  Vertheilung  auch  zufallen 
würden. 

In  unseren  historischen,  auch  in  allen  heute  vorhandenen  Volks- 
wirtschaften besteht  nun  aber  principiell  und  praktisch  eine  Organi- 
sation und  Rechtsordnung,  welche  auf  ungleiche  Vertheilung  des 
Volkseinkommens  unter  Individuen,  Familien,  Classen  hinwirken. 
Insbesondere,  aber  durchaus  nicht  allein,  hat  das  Rechtsprincip  des 
Privateigenthums  an  sachlichen  Productionsraitteln  (Roden,  Kapital) 
unmittelbar  und  mittelbar  diese  Folge.  Für  die  Vertheilungsfrage 
ergiebt  sich  daraus,  dass  eine  Quote  des  Volkseinkommens  zur 
Gewährung  überdurchschnittlicher  Einkommen  für  gewisse 
Individuen,  Familien  und  Classen  abzusetzen  ist  und  nur  die 
Restquote  für  die  Masse  der  Bevölkerung  mit  unterdurch- 
schnittlichem Einkommen  verbleibt.  Diese  Restquote  ist  es 
dann,  in  welche  diese  Masse  der  Bevölkerung,  daher  namentlich 
die  sogenannten  unteren  „arbeitenden  Classen“  und  die  ihnen  wirt- 
schaftlich und  social  nahestehenden,  sich  theilen  müssen.  Die 
Grösse  und  die  Zusammensetzung  dieser  Volksmasse  entscheiden 
daher  wieder  darüber,  welche  absolute  und  relative  Quote  von 
diesem  Reste  des  Volkseinkommens  auf  die  Einzelnen  und  die 
Familien  im  Durchschnitte  überhaupt  fallen  können. 

Damit  gelangt  man  zum  Standpunct  des  volkswirthschaftlichen 
V ertheilungsin teresses  in  der  Bevölkerongsfrage:  es  er- 
heischt, bei  gegebener  Production,  daher  Höhe  und  Art  des  Volks- 
einkommens, eine  nicht  zu  grosse  Gesammt- Bevölkerung  und 
eine  Zusammensetzung  der  letzteren  aus  Bestandtheilen,  welche 
mit  der  Durchschnittsquote  der  Einzelnen  und  Familien  als  Ein- 
kommen zu  genügender  Bedürfnissbefriedigung  ausreichen,  also 
damit  eventuell  wenigstens  vorlieb  nehmen  können.  Dieses  Desi- 
derat tritt  bei  einer  Organisation  und  Rechtsordnung  in  der  Volks- 
wirtschaft, welche  die  Ungleichheit  der  individuellen,  der  Fami- 
lien- und  Klasseneinkommen  ermöglichen,  nur  um  so  stärker 
hervor  und  in  gesteigertem  Maasse,  je  mehr  dies  der  Fall  ist  und 
eine  je  kleinere  Quote  vom  Volkseinkommen  daher  für  die  Masse 
der  Bevölkerung  verfügbar  bleibt.  So  kann  vom  Vertheilungs- 
standpuncte  aus  auch  das  Dilemma  auftauchen,  bei  gegebener 
Productionsfähigkeit  und  Ergiebigkeit  eine  Verminderung  (und  bzw. 
andere  Zusammensetzung)  der  Bevölkerung  oder  eine  andere  Ge- 
staltung der  Organisation  und  Rechtsordnung  wünschen  zu  müssen, 


470  4.  B.  Bovölker.  u.  Volks  wirthsch.  1.  K.  BevölkJehrc.  1.  H.-A.  Statist  §.  200. 

welche  für  die  Volksmasse  eine  grössere  Quote  des  Volksein- 
kommens zur  Verfügung  bringt. 

Hinsichtlich  der  Zunahme  der  Bevölkerung  aber  erheischt 
das  Vertheilungsinteresse,  dass  dieselbe  nicht  rascher  vor  sich  gehe, 
al9  die  Zunahme  des  Volkseinkommens,  und  dass  insbesondere  die 
Masse  der  Bevölkerung,  bei  dem  Kechtsprincip  ungleicher  Ver- 
theilung  des  Volkseinkommens,  nicht  rascher  wachse,  als  der  ab- 
solute Betrag  (die  Gebrauchswerthmenge)  jener  Restquote  vom 
Volkseinkommen , welche  hier  für  diese  Volksmasse  allein  ver- 
fügbar ist. 

So  in  beiden  Fällen  unter  der  regelmässig  zutreffenden  Voraussetzung  wenig- 
stens, dass  die  ganze  Bevölkerung  oder  doch  die  untere  Volksmasse  nicht  nur  nicht 
oine  Verminderung  und  Verschlechterung  ihrer  Bedürfnisbefriedigung  ertragen  kann, 
sondern  eine  Vermehrung  und  Verbesserung  derselben  berechtigt  und  auch  im  natio- 
nalen Gcsammtintercsso  zu  wünschen  ist 

Diese  Desiderate  treten  wieder  um  so  zwingender  hervor,  je 
mehr  die  Steigerung  der  Production  die  Vermehrung  und  eventuell 
eine  bestimmte,  für  Arbeitsleistung  günstigere  Zusammensetzung 
der  Bevölkerung  selbst  zur  Voraussetzung  hat,  also  nicht  die 
übrigen,  die  Productionsfähigkeit  und  Ergiebigkeit  bestimmenden 
Momente  sich  günstiger  gestalten  lassen;  ferner  aber  auch,  je  mehr 
die  Umstände,  welche  die  Ungleichheit  der  Vertheilung  des  Volks- 
einkommens bedingen  und  bewirken,  als  feste  gegebene  Thatsachen 
anzusehen  sind,  sich  nicht  oder  nicht  wesentlich  ändern  lassen, 
vielleicht  aus  anderen  Gründen  im  gesammten  volkswirtschaft- 
lichen und  Culturinteresse,  etwa  weil  sonst  ein  nachteiliger  Ein- 
fluss aut  die  Ergiebigkeit  der  Production  droht,  unverändert  er- 
halten werden  müssen,  sodass  die  „ Klassen quoten“  — der 
„Besitzenden,  nicht  „besitzenden“  Classen  u.  8.  w.  — keine  Ver- 
schiebung zu  Gunsten  der  unteren  Volksmasse  erfahren  können 
und  dürfen. 

§.  200.  — 3.  Ergebniss.  Im  Ganzen  muss  man  daher, 
immer  unter  den  beiden  Voraussetzungen,  dass  in  allem  Uebrigen 
die  Productions-  und  Vertheilungsverhältnisse  gleich  bleiben,  sagen: 
dem  Productionsinteresse  entspricht  grössere  Bevölkerung  und 
raschere  und  stärkere  Zunahme  derselben,  soweit  diese  Zu- 
nahme die  wirtschaftlich  arbeitenden  Glieder  betrifft;  umgekehrt 
dem  Vertheilungsinteresse  entspricht  kleinere  Bevölkerung  und 
unter  Umständen  Abnahme,  jedenfalls  nur  langsamere  und 
geringere  Zunahme  derselben,  insbesondere  der  nur  ver- 
zehrenden, nicht  producircnden  Individuen  und  Classen,  aber  auch 


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Antagonismus  des  Productions-  u.  Vertheilungsinteresses.  471 

eine  Zunahme  der  wirtschaftlich  arbeitenden  Glieder  nur  dann 
und  in  dem  Maasse,  als  dieselbe  die  Voraussetzung  gesteigerter 
Production  ist. 

Hier  liegt  daher  unverkennbar  ein  Antagonismus  der 
Interessen  in  Bezug  auf  Grösse  und  Zunahme  der  Bevölkerung 
von  den  beiden  unterschiedenen  Standpuncten  aus  vor.  Dieser 
Antagonismus  bildet  den  Hauptpunct,  um  welchen  sich  die  volks- 
wirtschaftliche Betrachtung  des  Bevölkerungsproblems  dreht. 

In  der  Malth  urschen  Lehre  werden  vor  Allein  die  angedeutoten  Bedenken  be- 
tont, welche  sich  vom  Standpuuct  des  Vertheilungsintercsscs  aus  erheben,  und  au  sich 
ganz  richtig.  Aber  allerdings  wird  dabei,  wie  oben  bemerkt  (S.  447  u.  S.  400),  nicht 
immer  genügend  berücksichtigt,  dass  diese  Bedenken  bei  einer  Organisation  und  Rechts- 
ordnung, welche  in  der  hervorgehobenen  Weise  Ungleichheit  der  Vertheilung,  vollends 
starke  Ungleichheit  zur  Folge  haben,  schärfer  hervortreten,  also  in  einer  Hinsicht  bei 
einer  entsprechenden  Aenderung  dieser  Organisation  und  Rechtsordnung  mehr  zurück- 
treten könnten,  — freilich  nur,  wenn  hierdurch  nicht  eine  noch  raschere  Zunahme 
der  Bevölkerung  herbeigeführt  wird.  Die  socialistischen  Gegner  von  Malthus  und  ein- 
zelne andre  knüpfen  hier  mit  ihrer  Polemik  an.  Aber  sie  übersehen  oder  unter- 
schätzen zweierlei:  einmal,  dass  bei  einer  solchen  Aenderung  die  Bevölkerung  zu- 
nächst wenigstens  in  der  That  wahrscheinlich  noch  rascher  steigt  und  dadurch 
der  „Druck  der  Bevölkerung  auf  die  ünterhaltsmittel“  noch  grösser  wird;  sodann,  dass 
eben  die  Frage  ungelöst  bleibt,  ob  bei  einer  solchen  Aenderung  das  Productions- 
interesse  nicht  leidet.  Jedenfalls  bleibt  so  auch  hier  der  Satz  bestehen,  dass  die 
schliessliche  wirtschaftliche  Lage  des  Volks  und  seiner  einzelnen  Glieder  maassgebend 
bestimmt  wird  von  dem  Verhähniss  der  Grösse  und  Zusammensetzung  des  Volks  zur 
Höhe  und  Art  des  Volkseinkommens  und  von  dem  Vcrhältniss,  in  welchem  sich  diese 
beiden  Momente  gegen  einander  ändern,  gleichmässig  oder  ungleichmässig  und  hier 
in  welcher  Richtung  und  in  welchem  Grade.  Darüber  kommt  keine  wie  immer 
organisirte  und  rechtlich  eingerichtete  Volkswirtschaft  hinaus,  dass  die  Lage  des 
Volks  und  der  Einzelnen  sich  durchschnittlich  verschlechtert,  wenn  die  Zunahme  der 
Bevölkerung  rascher  und  grösser  als  diejenige  des  Volkseinkommens  ist,  — wenn  der 
Divisor  mehr  wächst  als  der  Dividendus.  Es  kann  sich  daher  nur  fragen,  bei  welcher 
gewesenen  oder  bestehenden  Organisation  und  Rechtsordnung  der  Volkswirtschaft 
erfahrungsmässig  der  Divisor  oder  Dividendus  mehr  gewachsen  ist  und  wächst  und 
weiter,  ob  und  welche  Entwicklung  beider  Grössen  in  Zukunft  und  etwa  auch  unter 
Voraussetzung  anderer,  als  bisheriger.  Organisation  und  Rechtsordnung  auf  Grund 
bisheriger  Erfahrungen  und  auf  Grund  psychologischer  Deductionen  wahrscheinlich 
ist  Darum  dreht  sich  das  socialistische  Bevölkerungsproblem. 

Andere  Gegner  von  Malthus,  wie  die  optimistischen  und  „harmonistisclien“  Frei- 
händler und  Schutzzöllner  (S.  448  u.  S.  458),  stimmen  mit  den  Socialisten  darin  überoin, 
dass  sie  aus  grösserer  Bevölkerung  auf  gleichem  Raum,  also  bei  höherer  Yolksdichtig- 
keit  und  namentlich  bei  stärkerer  localer  Concentration  der  Bevölkerung,  im  Ganzen 
eine  mehr  als  der  vergrösserten  Bevölkerungszahl  entsprechende  Steigerung  der  Lei- 
stungsfähigkeit als  notwendige,  fast  naturgemässo  Folge  ableiten  oder  vielmehr  ohne 
Weitrcs  und  ganz  allgemein  behaupten  und  auf  diese  Weise  den  Dividendus,  das 
Volkseinkommen,  immer  rascher  und  stärker  als  den  Divisor,  die  Bevölkerung,  steigen 
lassen:  die  eigentliche  Frage,  welche  aber  eben  umgangen  wird.  Wo  etwa  noch 
Missstände  und  Bedenken  bleiben,  werden  dieselben  auch  hier  übrigens  auf  Mängel 
der  volkswirtschaftlichen  Organisation  und  Rechtsordnung  zurückgeführt  und  ent- 
sprechende Aenderungen  in  dieser  gefordert,  wobei  man  sich  eben  gewöhnlich  nur 
schon  die  genauere  Angabe  solcher  Aenderungen  zu  leicht  macht  und  vollends  ihre 
Durchführbarkeit  für  zu  sicher  hält. 

Welche  Schwierigkeiten  hier  nun  erfahrungsmässig  und  da- 
nach sowie  nach  psychologischen  Deductionen  mit  Wahrscheinlich- 


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472  4.  B.  Be?ölker.  u.  Volkswirthsch.  1.  K.  Bevölk.lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  201. 


keit  bei  jedweder  volkswirtschaftlichen  Organisation  und  Rechts- 
ordnung für  die  richtige  Wahrnehmung  des  Vertheilungsinteressea 
in  den  Bevölkerungsverhältnissen  sich  geltend  machen,  — nach 
dem  in  diesen  mitspielenden  Triebleben,  nach  den  psychologischen 
Rückwirkungen  äusserer  Verhältnisse  und  Einflüsse  auf  dies  Trieb- 
leben und  wieder  dadurch  nach  dessen  Wirkungen  auf  die  Be- 
völkerungsbewegung — , das  ergiebt  sich  auch  mit  aus  be- 
völkerungsstatistischen Thatsachen. 

In  der  „volkswirtschaftlichen  Bevölkerungslehre“  muss  nach 
allem  Gesagten  durchweg  der  Standpunct  des  Productions-  und 
des  Vertheilungsinteresses  auseinander  gehalten  werden. 

Das  riöthigt  aber  nicht  zu  einer  formalen  Trennung  der  ganzen  Untersuchung, 
die  im  Gegentheil  bei  dem  engen  Zusammenhang  der  Sache  nicht  zweckmässig  ist 
und  nur  zu  Wiederholungen  fuhren  würde. 

II.  — §.  201.  Zur  Terminologie,  Technik  und  Kritik 
der  Bevölkerungsstatistik  vom  Standpuncte  volks- 
wirtschaftlicher Betrachtung  aus. 

Das  Nähere  gehört  in  die  Werke  über  Statistik  (s.  o.  S.  140)  und  Bevölkerungs- 
statistik (o.  S.  432,  465),  auch  über  Verwaltnngslohre  (L.  Stein,  Mo  hl  u.  A.).  Aber  auf 
Einiges  muss  auch  hier  eingejrangcn  werden,  um  die  Anforderungen  an  die  Be- 
völkerungsstatistik vom  nationalökonomischen  Standpuncte  aus  klarzustellen  und  za 
begründen : zugleich  auch  ein  methodologischer  Beitrag  hinsichtlich  der  statistischen 
Methode  auf  einem  einzelnen  statistischen  Gebieto  (§.  80  ff.)-  Vcrgl.  für  Einzelnes 
vornemlich  Wappäus,  Bevölk.statistik  und  die  Einleitung  in  der  oben  S.  465  gen. 
grossen  Arbeit  über  Stand  und  Bewegung  der  Bevölkerung  im  Deutschen  Reich  und 
fremden  Staaten. 

In  der  Bevölkerungsstatistik  wird  der  Stand  und  die  Be- 
wegung der  Bevölkerung  unterschieden,  wonach  sich  dann  auch 
die  technischen  statistischen  Operationen  in  zwei  wesentlich  ver- 
schiedene, aber  sich  ergänzende  trennen. 

Unter  dem  Stand  der  Bevölkerung  versteht  man  die  Zahl 
der  in  einem  bestimmten  Zeitpuncte  in  einem  bestimmten  Gebiete 
vorhandenen  lebenden  Menschen  (sogen,  wirkliche,  faetische,  orts- 
anwesende Bevölkerung);  unter  der  Bewegung  der  Bevölkerung 
die  Veränderungen,  welche  ira  Zeitverlanf  in  einer  Bevölkerungs- 
zahl durch  Geburt  und  Tod  („natürliche“  Bewegung)  und 
durch  Wanderungen  („örtliche“,  „räumliche“  Bewegung) 
vor  sich  gehen. 

A.  Der  Stand  der  Bevölkerung.  1.  Volkszahl. 

Sic  wurde  früher  meistens  nur  durch  Schätzungen  ermittelt,  am  Besten 
durch  Schätzungen  auf  Grund  von  Vcrhältnisszahlen,  d.  h.  von  Zahlen,  welche  man 
mittelst  partieller  Zählungen  gewonnen  hatto,  deren  Ergebnisse  man  zu  einem  be- 
stimmten, ebenfalls  gezählten  Factum  (z.  B.  Familienzahl,  Wohnhauszahl,  Wohnungs- 
zahl,  namentlich  Geburtszahl,  Sterbezahl)  in  Verhältnis  brachte  und  dann  veraü- 


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Theoretisches.  Stand  der  Bevölkerung.  Volksiabl.  473 

gemeinerte.  Dafür  lassen  sich  übrigens  bereits  gewisse  wissenschaftliche  Grundsätze 
aufstellen , welche  den  Werth  der  Schätzungen  und  der  übrigen  Operationen  wenig- 
stens erhöhen.  Die  neuere,  freilich  erst  nach  und  nach  im  19.  Jahrhuudert  selbst  in 
den  Culturstaatcn  allgemein  angenommene  allein  richtige  Methode  ist  die  wirkliche 
Volkszählung,  die  Grundlage  aller  genaueren  Bevölkerungsstatistik:  eine  grossartige, 
mühsame,  kostspielige  Verwaltungsoperation,  für  deren  Technik  sich  eine  Reihe  wissen- 
schaftlicher und  practischcr  Grundsätze  aufstcllen  lassen,  wie  das  die  neuere  Theorie 
und  Praxis  auch  getlian  haben.  Durch  Befolgung  solcher  Grundsätze  ist  es  allmälig 
gelungen,  wenigstens  im  grössten  Theil  Europas  (in  „Cultur-Europa“),  nemlich  ausser- 
halb Russlands  und  der  Türkei,  auch  in  den  meisten  amcricanischcn  Staaten,  besonders 
in  Nordamerica,  in  Australien,  in  Indien,  Japan  und  den  kleinen  unter  wirklicher 
europäischer  Herrschaft  stehenden  africanischcn  Gebieten  den  wahren  Stand  der  Be- 
völkerung periodisch  mit  einiger  Sicherheit  festzustellen.  S.  H.  Waguer-Supau, 
Bevölk.  d.  Erde.  Nr.  VIII,  Vorwort.  Für  56 — 57%  der  muthmaasslichcn  Bevölkerung 
der  Erde  liegen  jetzt  Zählungen  vor. 

Für  die  uns  hier  beschäftigenden  Fragen  und  für  deren  Er- 
örterung mittelst  bevölkerungsstatistischer  Daten  ist  in  Betreff  der 
durch  Schätzungen  und  Zählungen  gewonnenen  Zahlen  des  Stands 
der  Bevölkerung  dann  zunächst  von  zwei  wichtigen  Thatsachen 
Act  zn  nehmen: 

Einmal:  ganz  zuverlässige,  daher  genau  vergleichbare 
Zahlen  für  dasselbe  Land  aus  verschiedenen  Zeitpuncten  und  vollends 
für  verschiedene  Länder  fehlen  aus  der  Zeit  vor  dem  19.  Jahr- 
hundert, selbst  noch  aus  dem  ersten  Drittel  dieses  Jahrhunderts 
grossentheils.  Die  verschiedenen  Zahlen  sind  nach  verschiedenen 
Methoden,  von  verschiedenen  Organen  verschiedener  administrativer 
Tüchtigkeit  aufgenommen  und  auch  deswegen  nicht  immer  sicher 
vergleichbar.  Man  muss  daher  bei  Vergleichungen  älterer  Daten 
untereinander  und  mit  neueren  und  bei  Schlüssen  daraus  sehr  vor- 
sichtig vorgehen,  um  wirklich  Beweise  führen  zu  können. 

Sodann,  der  zweite  Punct:  im  Laufe  der  Zeit,  zumal  in 
diesem  Jahrhundert,  besonders  vom  zweiten  Drittel,  zum  Theil 
erst  von  der  Mitte  an  und  mitunter  noch  später  sind  die  Volks- 
zählungen auch  in  demselben  Lande  und  in  immer  mehr  Ländern 
der  Culturwelt  immer  vollkommener,  ihre  Ergebnisse  daher  immer 
zuverlässiger  geworden.  Vergleichungen  verschiedener  Perioden  und 
Länder  und  Schlüsse  daraus  werden  daher  auch  statthafter  und 
sicherer.  Aber  andrerseits  hat  gerade  diese  Verbesserung  des 
Zählungswesens  einen  Umstand  für  Vergleichungen  und  Schlüsse 
noch  störender  werden  lassen:  jede  neuere  Zählung  pflegt  gegen 
die  frühere  verbessert  zu  sein,  zählt  daher  leicht  Individuen  jetzt 
mit,  welche  in  der  früheren  Periode  schon  lebten,  aber  übergangen 
waren  und  überhaupt  jetzt  alle  Individuen  oder  fast  alle,  früher 
eine  grössere  Zahl  nicht.  Ein  Theil  der  späteren  höheren  Zahl 


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474  4.  B.  Bevölker.  u.  Volkswirthsch.  1.  K.  Bevölk.lehrc.  1.  H.-A.  Statist.  §.  201,  202. 


kann  also  eventuell  nicht  einer  wirklichen  Volkszunahme,  sondern 
nur  einer  solchen  in  den  Tabellen  der  Statistik  entsprechen. 

Es  möchte  dies  z.  B.  wahrscheinlich  selbst  in  West-  und  Mitteleuropa  in  Betreff 
der  Zahlen  aus  dem  zweiten  verglichen  mit  denen  aus  dem  ersten  Drittel  unseres  Jahr- 
hunderts, namentlich  der  Zahlen  aus  dem  2.  und  3.  Jahrzehnt  gegenüber  späteren 
gelten,  wie  wohl  mit  Recht  von  vielen  Statistikern  angenommen  wird.  Ist  das  richtig, 
so  folgt,  dass  die  besonders  starke  Zunahme  der  Bevölkerung  in  den  ersten  Zeiten 
nach  der  grossen  französischen  Kriegsperiode  in  manchen  Ländern  (auch  Deutschland, 
Frankreich)  doch  in  Wirklichkeit  etwas  kleiner  war,  was  bei  Vergleichungen  mit  der 
späteren  Zeit  und  bei  Schlüssen  dann  zu  berücksichtigen  ist.  Da  die  Fehlergrössen 
von  einer  Zählungsperiode  zur  anderen  und  in  verschiedenen  Ländern  wieder  manchfach 
verschieden  gewesen  sein  werden,  ergiebt  sich  für  Vergleichungen  und  Schlüsse  aber- 
mals eine  Schwierigkeit.  Durch  ganz  zuverlässige  Daten  der  Statistik  der  Bewegung 
der  Bevölkerung  liessen  sich  jene  Fehler  wohl  feststellcn  und  eliminiren.  Aber  solche 
Daten  fehlen  vielfach,  besonders  für  die  Wanderungen,  aus  früherer  Zeit,  auch  in 
diesem  Jahrhundert,  und  sind  nicht  mehr  genügend  zu  beschaffen. 

Für  genaue  Vergleichungen  auch  zu  unseren  Zwecken  hier 
ist  ferner  zu  beachten,  dass  die  Volkszählungen,  zum  Theil  bis  in 
unsere  Zeit  hinein,  sich  nicht  immer  auf  ganz  denselben  Umfang 
der  Bevölkerung  erstrecken,  was  wieder,  zumal  für  kleinere  Ge- 
biete, Orte  Störungen  bewirkt. 

Die  Bevölkerungsstatistik  unterscheidet  namentlich  die  fac tische  oder  orts- 
anwesendo  Bevölkerung,  zu  welcher  alle  im  Normalzeitpuncte  der  Zählung  am 
Zahlungsorte  lebende  Menschen  gehören,  einerlei  welcher  Staatsangehörigkeit,  Orts- 
angehörigkeit, welchen  dauernden  Wohnsitzes,  ob  dauernden  oder  vorübergehenden 
Aufenthalts  u.  s.  w.  Das  jetzt  meistens  angenommene  richtige  Princip  ist,  diese  Be- 
völkerung zu  zählen,  daun  etwa  unter  den  in  der  „Volksbeschreibung“  (s.  u.)  bei  der 
Zählung  zu  ermittelnden  „Eigenschaften“  festzustellen,  welches  die  Staats-,  Gemeinde-, 
Orts-,  Aufenthalts-,  Wohnortsangehörigkeit,  der  Geburtsort,  die  Aufenthaltsart  (dauernd, 
vorübergehend)  u.  s.  w.  jedes  einzelnen  Gezählten  sei.  Danach  kann  man  dann  die 
rechtliche  Bevölkerung  (Reichs-,  Staatsangehörige,  Ausländer,  Orts-,  Gemeinde- 
angehörige, Fremde),  die  für  einzelne  spcciclle  Verwaltungszwecke  festzustellende 
(z.  B.  im  Zollverein  ehemals  die  „Zollabrechnungsbevölkerung“,  nach  welcher  die 
Zolleinkünfte  vertheilt  wurden),  die  dauernde,  die  Wohn-,  die  nur  vorübergehend 
anwesende  (flottirende)  Bevölkerung  rechnungsmässig  construircn,  wie  das  für  manche 
Verwaltungszwecke  geboten  ist  und  geschieht.  Ergänzungen  erfolgen  dann  durch  die 
Mitzählung  der  zeitweise  oder  vorübergehend  Abwesenden  (z.  B.  der  im  Auslande, 
in  einem  anderen  inländischen  als  dem  Wohnorte  sich  befindenden  Inländer):  eine 
technisch  schwierige,  an  Fehlern,  Auslassungen  leidende  und  in  Verbindung  mit  der 
Zählung  der  Anwesenden  leicht  zu  Doppelzählungen  führende  Operation.  Offenbar 
bedingen  nun  alle  diese  Momente  kleinere  und  grössere  Fehler,  welche  wieder  die 
Vergleichbarkeit  stören,  besonders  abermals  zwischen  den  neueren  vollständiger  und 
sicherer  gewordenen  und  den  älteren  unvollständigeren  und  unsichereren  Zahlen  und 
auch  zwischen  Ländern  verschiedener  Zählungsmethoden  und  verschiedener  technischer 
und  administrativer  Qualität  des  Volkszählungswesens.  Indem  ferner  etwa  für  ein 
Land  oder  einen  Ort  aus  verschiedenen  Zeiten  die  Zahl  einer  verschiedenen  „Be- 
völkerung“ vorlicgt,  z.  B.  der  der  Wohn-,  der  rechtlichen,  der  factisclien  (so  aus 
Frankreich,  wo  erst  neuerdings  der  ücbergang  von  der  Wohn-  zur  factischcn  Bevöl- 
kerung in  der  Zählung  erfolgt  ist),  oder  die  Zahlen  verschiedener  Länder,  Orte  sich 
auf  solche  verschiedene  „Bevölkerungen“  beziehen,  ergeben  sich  wieder  weitere,  mehr 
oder  weniger  erhebliche  Störungen  für  Vergleichungen,  die  um  so  weniger  leicht  zu 
beseitigen  sind,  da  mitunter  vielleicht  (namentlich  aus  früherer  Zeit)  nicht  einmal 
sicher  feststeht,  auf  welche  „Bevölkerung“  sich  eine  betreffende  Volkszahl  bezieht, 
oder  es  keine  Mittel  giebt,  die  verschiedenen  Zahlen  auf  dieselbe  „Bevölkerung“ 
(rechtliche,  factische,  wohnhafte)  umzurechucn.  Lauter  Momente,  welche  zeigen,  dass 


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Theoretisches.  Stand  der  Bevölkerung.  Volksbeschrcibung.  475 

schon  ans  solchen  in  der  Beschaffenheit  des  statistischen  Materials  lie- 
genden Gründen  die  „exacte  statistische  inductive"  Beweisführung  Manches  zu  wün- 
schen übrig  lassen  muss,  selbst  ganz  abgesehen  von  den  unvermeidlichen  Kehlern  in 
allem  solchen  Material,  welche  die  Folge  der  unüberwindlichen  Schwierigkeiten  bei 
allen,  auch  den  rationellsten  und  sorgfältigsten  statistischen  Aufnahmen  sind  (§.  80  IT.). 
Ein  Hauptübelstand  bleibt  meistens,  dass  zwar  die  Fehlerquellen,  auch  die  Richtung, 
wie  sie  sich  geltend  machen,  aber  nur  selten  die  Grösse  der  wirklich  sich  ergebenden 
Fehler  festgestellt  werden  können.  Neuere  sorgfältige  Privat-  wie  amtliche  Statistiker 
müssen  sich  daher  auch  gewöhnlich  damit  begnügen , nur  auf  solche  Fehler  hin- 
zuweisen. 

§.  202.  — 2.  Volksbeschreibung.  Die  Volkszählung  er- 
giebt  zunächst  nur  den  Stand  der  Bevölkerung  in  einer  Zahl. 
Mit  ihr  wird  aber  regelmässig  die  sogenannte  Volksbeschreibung 
oder  Eigenschaftsstatistik  der  Bevölkerung  verbunden,  d.  h. 
es  werden  gleichzeitig  mit  der  Zählung  eine  Reihe  von  Merk- 
malen der  gezählten  Individuen  amtlich  statistisch  aufgenommen 
und  später  danach  dann  tabellarisch  zusammengestellt.  Grade 
diese  Volksbeschreibung,  welche  sich  früher  nur  auf  einige  Haupt- 
merkmale, wie  Geschlecht,  Kindesalter  und  Erwachsensein,  etwa 
auch  Religionsbekenntniss  zu  erstrecken  pflegte,  ist  in  den  neueren 
Zählungen  der  Culturstaaten  immer  reichhaltiger,  detaillirter,  zu- 
verlässiger geworden  und  hat  so  auch  für  die  volkswirtschaftliche 
Bevölkerungslehre  sehr  werthvolles  Material  zur  Verfügung  gestellt. 

Neben  der  Aufnahme  des  Geschlechts  bietet  die  genauo  Aufnahme  des 
Lebensalters,  bei  der  Zählung  selbst  etwa  sogar  des  Geburtstags,  in  den  Tabellen- 
werken wenigstens  des  Geburtsjahrs,  bezw.  des  danach  sich  bemessendeu  Alters  für 
unsere  Zwecke  besonders  grosses  Interesse,  indem  so  cino  ziemlich  genaue  Classifica- 
tion der  Bevölkerung  nach  Altersclassen  möglich  wird.  Die  bezügliche  Auf- 
nahme galt  noch  bis  Mitte  unseres  Jahrhunderts  für  eine  kaum  lösbare,  weil  zu 
schwierige  administrative  Aufgabe,  während  sie  jetzt  immer  allgemeiner  durchgeführt 
worden  ist. 

Freilich  liegen  auch  hier  sogar  beim  Geschlecht,  vollends  beim  Alter 
Fehlerquellen  vor,  die  wiederum  die  Daten  nicht  immer  ganz  sicher  vergleichbar 
machen,  zumal  aus  weiter  auseinander  liegenden  Perioden  desselben  Landes  und  aus 
verschiedenen  Ländern  auch  noch  in  derselben  Zeit.  Wo  z.  B.  Interessen  oder  Vor- 
urtheile  bestehen.  Seitens  der  zu  zählenden  und  zu  beschreibenden  Bevölkerung  die 
Zahlen  in  BctrelF  des  einen  oder  anderen  Geschlechts  zu  verkleinern  oder  zu  ver- 
grössern,  wie  etwa  wegen  der  Steuerverhältnisse  (männliche  Kopfsteuer),  der  Militär- 
conscriptionsrerhältnisse  die  Zahl  der  männlichen  Personen  kleiner  anzugeben,  selbst 
den  Aufnahmeorganen  gegenüber  direct  Täuschungen  vorzunehmen  (polnische  Juden 
in  Russland),  wo  der  Einblick  in  die  ehelichen  und  Familien  Verhältnisse  erschwert, 
weibliche  Personen  verborgen  oder  ignorirt  werden  (Muhamedaner,  Verhältnisse  in 
Britisch-Indien , die  wohl  noch  beim  Census  von  1881  auf  Auslassungen  von  weib- 
lichen Personen  bei  der  Zählung  hinwirkten),  da  ist  nicht  einmal  die  Geschlechts- 
statlstik  richtig.  In  der  Altersstatistik  ergeben  sich  aus  ähnlichen  Gründen  (Steuer-, 
Militärverhältnisse),  namentlich  aber  aus  der  in  den  unteren  Volksclassen , in  der 
Landbevölkerung  selbst  heute  noch  und  sogar  bei  uns,  vollends  früher  und  in  anderen 
Ländern  nicht  so  seltenen  ungenauen  Kenntniss  des  eigenen  Lebensalters,  Geburts- 
jahrs freilich  noch  viel  grössere  Fehler.  So  z.  B.  hinsichtlich  sehr  alter  Personen 
(über  90,  Uber  100  Jahre),  wie  nachträgliche  Prüfungen  der  Einzelfälle,  auch  durch 
Controle  der  Kirchenbücher,  Standesregister,  wo  sie  möglich  war,  gezeigt  haben; 
ferner  ergiebt  die  öfters  wahrgenommene  stärkere  als  der  Wahrscheinlichkeit  ent- 


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476  4.  B.  Bevölker.  u.  Volkswirthsch.  1.  K.  Bevölk.lebre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  202. 


sprechende  Besetzung  von  gerissen  Altersclassen,  so  in  den  „runden“  Jahren  der 
Jahrzehnte  des  Alters  (30,  40,  50  u.  s.  w.),  dass  offenbar  hier  uurichtige  Angaben 
zu  Grunde  liegen.  Hat  man  doch  selbst  wohl  nachwcisen  können  (Livland),  dass  bei 
solchen  Angaben  auch  hier  das  weibliche  Geschlecht  die  Neigung  hat,  das  Alter 
niedriger,  das  männliche,  es  höher  anzugeben,  als  es  wirklich  ist.  Lauter  Fehler- 
quellen, welche  wiederum  um  so  misslicher  sind,  da  man  nicht  immer  sicher  ihr 
Vorhandensein,  die  Richtung  ihrer  Wirkung,  namentlich  aber  nicht  die  Grösse  dieser 
Wirkung  angeben  kann.  Man  wird  nur  im  Ganzen  sagen  dürfen,  dass  das  neuere 
Material  immer  besser  wird.  Daher  kann  es  für  zeitliche  und  theilwoile  für  örtliche 
und  Landesvergleichungen  und  Schlüsse  daraus  immer  zuverlässiger  benutzt  werden, 
wird  aber  freilich  zum  Vergleich  mit  älterem  Material  nicht  brauchbarer.  Der 
auch  wirthschafdich  so  wichtige  „Altersaufbau“  einer  Bevölkerung  für  unsere 
Zwecke  hier  ist  indessen  doch  wohl  mit  dem  jetzigen  Material  hinlänglich  sicher 
festzustellen. 

Von  anderen  natürlichen  Thatsachen  der  Yolksbeschreibung  sind  national- 
ökonomisch die  Zahlen  über  gewisse  körperliche  und  geistige  Ge brech cn,  dann  Uber 
authropo metrische  Verhältnisse  in  der  Bevölkerung  ebenfalls  von  Interesse,  Daten, 
welche  freilich  nicht  immer  bei  der  Volkszählung  selbst  ermittelt  werden  und  werden 
können , eben  deshalb  aber  auch  weniger  vollständig  zu  sein  pflegen.  In  der  Volks- 
zählung lassen  sich  nur  solche  Thatsachen  gut  ermitteln,  welche  offenkundig  und  nicht 
penibel  von  den  Gezählten  selbst  oder  von  ihren  Angehörigen  anzugeben  sind,  daher 
z.  B.  Blindheit,  Taubstummheit,  Cretinismus  u.  dgl.  Umfassende  anthropometrische 
Untersuchungen  über  das  ganze  Volk,  besonders  die  Classen,  Berufsstände  wären 
nationalökonomisch,  vollends  bei  Vergleichen  zwischen  verschiedenen  Zeiträumen  und 
Ländern  sehr  werthvoll,  lassen  sich  aber  mit  der  Volkszählung  nicht  wohl  verbinden. 
Man  ist  daher  auf  Material  aus  der  Recrutirungsstatistik  und  aus  Specialaufnahmen 
angewiesen.  Die  zeitliche  und  örtliche  Vergleichbarkeit  des  ersteren  leidet  aber  unter 
der  Verschiedenheit  der  Hecresergänzungssysteme,  der  Prüfungsmethoden  und  der 
militärischen  Anforderungen  botreffs  der  Einstellung,  und  das  übrige  Material  ist 
■selten  umfassend  genug. 

Aus  dem  Gebiet  der  socialen  und  verwandten  Thatsachen  der  neueren  mit 
der  Zählung  verbundenen  Volksbeschroibung  sind  diejenigen  über  den  sogen.  Civil- 
stand  der  Bevölkerung  (ledig,  verheirathet,  geschieden),  besonders  für  die  erwachsene 
Bevölkerung,  jetzt  regelmässig  vorhanden  und  nationalökonomisch  sehr  wichtig.  Ferner 
bieten  auch  diejenigen  über  die  Religion  und  Confession,  über  die  Sprache, 
namentlich  die  regelmässig  in  der  Familie  gebrauchte,  ein  natürliches  und  sociales 
Merkmal,  als  das  statistisch  meist  allein  erfassbare,  wenn  auch  dafür  nicht  ausreichende 
Kennzeichen  der  Nationalität  (Juden!),  Uber  die  Verbreitung  gewisser  Bildungs- 
elcmente  (Kenntniss  von  Lesen  und  Schreiben  bei  der  Bevölkerung,  welche  ein 
gewisses  Lebensalter  überschritten  hat)  für  die  volkswirtschaftliche  Seite  des  Be- 
völkerungsproblcms  Interesse  genug,  z.  B.  um  bei  zeitlichen  und  örtlichen  Vergleichungen 
die  Verteilung  der  Religionen  (Juden,  Christen)  und  Confessionen  (Evangelische, 
Katholiken),  auch  der  Nationalitäten  und  die  Veränderungen  der  Verteilung  darin 
(z.  B.  bei  den  Juden,  ihr  „Zug  nach  Osten“,  vom  Land  in  dio  Städte,  von  kleinen  in 
grosse  Städte)  zu  rcrfolgen.  Die  Aufnahme  der  wirtschaftlichen  Stellung 
endlich  (Erwerbende  oder  Erwerbstätige,  Angehörige,  Selbständige,  Unternehmer,  in 
Dienst  Stehende,  Beamten,  Gehilfen,  Lohnarbeiter  u.  s.  w.)  und  der  Bcrufsverhält- 
nisso,  wofür  neben  oder  statt  der  Volkszählungen  auch  wohl  besondere  Berufs- 
zählungen (deutsche  von  18S2)  vorgekommen  sind,  die  Com  binationen  der  be- 
treffenden Daten  mit  anderen,  Geschlecht,  Alter,  Religion  und  Confession,  Nationalität, 
ist  natürlich  für  eine  Menge  Specialfragen  des  Bevölkerungswesens  und  der  Volks- 
wirtschaft vou  grossem  Werth,  Fragen,  auf  welche  wir  aber  in  diesem  Abschnitt 
nicht  weiter  einzugehen  haben. 

Mit  Hilfe  der  zeitlichen  und  räumlichen  (örtlichen)  Ver- 
gleichungen der  Daten  derVolkszählungen  und  V olksbeschreibungen 
aus  verschiedenen  Perioden,  Ländern  und  Orten  wird  dann  auch 
ein  Einblick  in  die  Abhängigkeitsverhältnisse  conditioneller 


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Verkeilung  der  Bevölkerung  Uber  den  Raum. 


477 


und  causaler  Art  bei  den  Bevölkerungserscheinungen  und  den  Ver- 
schiedenheiten und  Veränderungen  darin  erlangt. 

Dabei  handelt  es  sich  um  die  eigentliche  Anwendung  der  statistischen 
Methode  nach  den  im  ersten  Buche  dargeiegten  üesiclitspunctcn  und  Grundsätzen 
(§.  SO  fi’.)  Die  Mannigfaltigkeit  der  Einflüsse,  die  Wechselwirkungsverhältnisse  er- 
schweren freilich  die  Lösung  der  hier  vorliegenden  Aufgaben.  Vorsicht  in  der 
Schlussziehung  thut  daher  auch  hier  Noth.  Sie  ist  von  den  Bevölkcrungs-,  den  Moral- 
statistikern , beim  Suchen  nach  und  der  Aufstellung  von  „Gesetzmässigkeiten“  und 
„Gesetzen“  ($5.  S6  ff.)  der  Erscheinungen,  auf  diesem  Gebiet  nicht  immer  genügend 
bewiesen  worden. 

§.  203.  — 3.  Vertheilung  der  Bevölkerung  über  den 
Raum  (dasGcbiet)  und  Volksdichtigkeit  und  Berechn  ungen 
dafür.  Unter  den  Thatsachencomplexcn  und  Reihen,  welche  durch 
technische  Verarbeitung  des  Materials  der  Volkszählung  und 
Volksbeschreibung  zum  Augenschein  gebracht  und  in  Tabellen  zu- 
sammengestellt werden,  sind  auch  für  die  volkswirtschaftlichen 
Seiten  der  Bevölkerungsfragc,  namentlich  für  die  hier  in  der  „Grund- 
legung“ mit  zu  behandelnden,  die  Verhältnisse  der  Vertheilung  der 
Bevölkerung  im  Ganzen  und  in  ihren  wichtigsten  Unterscheidungen 
(so  Geschlecht,  Alter)  über  das  Gebiet  von  besonderer  Wichtigkeit. 
Einmal  die  Vertheilung  auf  die  Wohnorte,  sodann  die  Vertheilung 
über  das  Gebiet  im  Ganzen  und  in  seinen  einzelnen  Abtheilungen, 
woraus  sich  die  gesammte  und  die  locale  Volksdichtigkeit 
ergiebt. 

Die  Vertheilung  der  Bevölkerung  auf  die  Wohnorte  wurde 
früher  und  wird  doch  auch  heute  noch,  wenn  auch  in  geringerem 
Grade,  vornemlich  mit  durch  wirthscbaftliche  Umstände  und 
zwar  durch  solche  bedingt,  welche  doch  in  letzter  Linie  durch  die 
Natur  und  die  Technik  der  Productionszwcige  selbst  wieder  be- 
dingt werden:  die  landwirtschaftliche,  auch  forstwirtshchaftilche 
und  verwandte  Arbeit  einer-,  die  stoffverarbeitende,  industrielle, 
mercantile  und  fast  alle  übrigen,  auch  die  liberale,  die  politische 
Berufsarbeit  (Schutz,  Sicherheit,  Leitung,  Verwaltung,  öffentlicher 
Dienst)  andrerseits.  Jene  überwiegend,  selbst  fast  bis  zur  Aus- 
schliesslichkeit „auf  dem  (platten)  Lande“,  in  den  Dörfern,  auf 
den  Ilöfcn,  in  kleinen  (Acker-)  Städten,  diese  „in  der  Stadt“,  in 
mittleren,  grösseren,  in  Gross-  und  Weltstädten.  Daher  grade  auch 
das  volks wirthschaftlicbe  Interesse,  welches  sich  an  diese 
Statistik  der  Wohnortsbevölkerung,  an  die  statistische  Unter- 
scheidung von  „Stadt  und  Land“  und  an  die  Statistik  der 
Grössenclassen  der  Ortschaften,  sowie  an  die  Statistik 
der  nach  sich  folgenden  Volkszählungen  in  diesen  Verhältnissen 

A.  Wagner.  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlagen.  31 


478  4.  B.  Bevölker.  u.  Volkswirthsch.  1.  K.  Bevölk.lehre  2.  H.-A.  Statist.  §.  203. 


sich  ergebenden  Veränderungen  anknüpft.  Auch  hier  sind  es  dann 
wieder  zeitliche  und  räumliche  Vergleichungen,  welche 
für  die  volkswirthschaftliche  Betrachtung,  für  die  Ableitung  von 
Abhängigkeitsverhältnissen  anzustellen  sind.  Für  die  Anstellung 
solcher  Vergleichungen  und  für  die  SchlussziehuDg  daraus  bietet 
aber  das  statistische  Material  wieder  gewisse  Schwierigkeiten,  die 
beachtet  sein  wollen  und  zur  Vorsicht  mahnen. 

Der  historische  und  vcrwaltungsrechtliche  Begriff  „Stadt“  hat  gewechselt  und 
ist  auch  heute  nicht  der  gleiche  in  verschiedenen  Ländern  nach  Stadt-  und  Land- 
gemeindeverfassung. Er  ist  mitunter  als  verwaltungsrechtlicher,  wie  in  Frankreich 
und  einigen  anderen  ihm  folgenden  Läudem,  verschwunden.  Hier  kann  man  sich  also 
nicht  an  dies  Kriterion  in  der  Statistik  halten.  Die  eigentliche  Besiedlungs-,  Coloui- 
sationsgeschichtc  einzelner  Länder,  z.  B.  solcher,  wo  historisch  noch  heute  das  „Hof- 
system“ statt  des  „Dorfsystems“  (Westfalen)  oder  wo  grosse  (Ritter-)  Güter  und  Höfe 
(„Gutsbezirke“)  statt  oder  neben  Dörfern  bestehen  oder  vorherrschen  (norddeutsches 
Colonisationsgebiet  auf  früher  slawischem  Boden  östlich  der  Elbe),  bestimmt  natürlich 
auch  die  örtliche  Verkeilung  der  Bevölkerung,  die  Art  und  Grösse  der  Wohnsitze 
mehr  oder  weniger  und  dauernd,  auch  heute  noch  bei  Freizügigkeit,  Gewerbefreiheit, 
Eisenbahnen  u.  s.  w.  Da  diese  Verhältnisse  nach  Zeitaltern  und  Ländern  öfters  durch- 
greifend verschieden  sind,  auch  wenn  etwa  dieselben  Benennungen  (Stadt,  Hof,  Dorf) 
üblich  sind,  sind  auch  unmittelbare  statistische  Vergleichungen  misslich  oder  nur 
bedingt  zulässig.  Der  mit  verbliebene  Ackerstadt-Character  selbst  bedeutender  Städte 
im  Mittelalter  (Frankfurt  a.  M.,  Bücher),  der  Industriesitz-Character  älterer  und  neuerer 
hausindustrieller  Landgemeinden  und  neuerer  Fabrikorte  auf  dem  Lande  stört  wiederum 
Vergleiche  von  „Stadt“  mit  „Stadt“,  „Land“  (Landgemeinden)  mit  „Land“.  Es  ist 
daher  ein  zwar  begreifliches,  auch  kaum  durch  ein  besseres  zu  ersetzendes,  aber  doch 
ein  unvollkommenes  Aushilfsmittel , wenn  die  neuere  Bevölkerungsstatistik  nach  dem 
rein  mechanischen  Moment  der  blossen  Bevölkerungsgrösse  unterscheidet  und 
nur  danach  „Ortschafts-  und  Wohnortsclasscn“  in  ihren  Tabellen  bildet,  so  z.  B.  jetzt 
gewöhnlich  die  Orte  bis  2000  Einwohner  als  „Land“  den  grösseren  als  „Städten“ 
gegenüber  stellt.  Ausserdem  kommt  hier  noch,  wie  freilich  auch  bei  der  Unter- 
scheidung nach  vorwaltungsrechtlichen  Begriffen  und  Verwaltungseinhciten  die  weitere 
Schwierigkeit  hinzu,  richtig  zu  bestimmen,  was  als  Ortseinheit  zu  gelten  habe.  Diese 
Schwierigkeit  lässt  sich  nur  mit  einer  gewissen  W’illkühr,  genauer  bloss  nach  sorg- 
fältiger localer  Untersuchung  jedes  einzelnen  Falls  lösen,  indem  festgestellt  wird, 
welche  Vororte,  abgelegene  Häuser  u.  s.  w.  noch  zum  Orte  gerechnet  werden  sollen. 
Je  nach  der  concreten  Entscheidung  sind  aber  die  Ergebnisse  leicht  erheblich  ver- 
schieden, was  dann  wieder  bei  Vergleichungen  stört.  (Vorstädte,  Vororte  grosser 
Städte;  selbständige  Communcn  neben  einander,  wie  Hamburg-Altona,  Elberfeld- 
Barmen,  Berlin-Charlottenburg  und  andre  Vororte.)  Als  Ortseinheit  im  statistischen 
Sinne  müsste  gelten,  was  wesentlich  eine  wirtschaftliche  und  culturlicho 
locale  Gemeinschaft  darstellt.  Aber  feste  Merkmale  fehlen  dafür  eben,  und  bei 
der  heutigen  Entwicklung  des  Verkehrswesens  noch  mehr  als  früher,  weil  dabei  Vor- 
orte, „Villencolonieen“  und  dergl.  vom  Hauptort  auch  räumlich  weiter  getrennt  sein 
können.  Alles  das  will  auch  bei  der  volkswirtschaftlichen  Seite  der  Frage  von  Stadt 
und  Land,  Klein-,  Mittel-.  Gross-,  Weltstadt  berücksichtigt  sein. 


Eine  besonders  wichtige  Seite  auch  des  volkswirtschaftlichen 
Bevölkerungsproblems  betrifft  die  sogenannte  Volksdicb tigk eit. 
Da  hohe  Dichtigkeit  mitunter  fälschlich  mit  Uebervölkerung 
identifiert  wird,  während  nur  ein  Zusammenhang  zwischen  beiden 
bestehen  kann,  aber  nicht  notwendig  bestehen  muss  (s.  u.  2.  H.-A.), 


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Volksdichtigkeit. 


479 


ist  es  auch  für  unsere  Betrachtung  geboten,  die  statistische  Frage 
der  Berechnung  der  Volksdichtigkeit  richtig  zu  erledigen. 

Unter  Volksdichtigkeit  (auch  wohl  relative  Bevölkerung  ge- 
nannt) versteht  man  diejenige  Bewohnerzahl,  welche  auf  eine  be- 
stimmte Flächeneinheit  fallt,  indem  man  die  gesammte  Bevölkerung 
zum  Gebiet  in  Beziehung  setzt.  Regelmässig  wird  in  der  Be- 
völkerungsstatistik diese  Volksdichtigkeit  als  eine  aus  D urc fa- 
sch n ittsberecbnungen  hervorgehende  Zahlengrösse  behandelt, 
was  sie  auch  sein  kann  und  für  die  statistischen  Zwecke  in  der 
Regel  aus  äusseren,  auch  technischen  Gründen  sein  muss.  Aber 
zum  Begriff  der  Volksdichtigkeit  gehört  nicht  nothwendig  der 
Character  der  Durchschnittsgrösse.  Im  Gegentheil  ist  dieser  Character 
eigentlich  ein  störender  Umstand. 

Meistens  berechnet  inan,  wie  viel  Menschen  im  Durchschnitt  auf  eine  Raum- 
einheit des  ganzen  Staatsgebiets  und  seiner  Verwaltungsabtheiluugen  (Provinzen, 
Kreise  u.  s.  w.),  allenfalls  auch  der  und  der  geographischen  Gebietsabschnitte  kommen. 
Früher  wurde  hier  gewöhnlich  die  (geographische)  Quadratmeile,  neuerdings  wird  auch 
bei  uns  und  sonst  vielfach  das  Quadratkilometer  als  Kaumeinheit  genommen.  Letzteres 
hat  den  Vortheil,  dass  man  mit  kleineren,  daher  für  Gedächtniss,  Niederschrift  und 
Vergleichung  bequemeren  Zahlen  operirt;  für  alle  älteren  Relativzahlen,  und  für  alle 
älteren  Leute,  welche  noch  an  die  Quadratmeilengrundlage  gewöhnt  sind,  ergiebt  sich 
nur  die  lästige  Noth Wendigkeit  der  Umrechnung.  Das  Keductiousvcrhältniss  ist  übri- 
gens einfach,  rund  1 : 55  (1  Qu.-M.  = 55.063  □ Kil.),  also  z.  B.  2750  Einwohner 
p.  □ M.  = 50  p.  □ Kil. 

Das  Missliche  ist  aber  nun,  dass  bei  solchen  Durchscbnittsberechnungen  die 
concreten  Verhältnisse  leicht  zu  sehr  verwischt  werden  uud  zwar  um  so 
mehr,  für  je  grössere  Gebiete  man  Durchschnitte  berechnet  und  je  mehr  zufällige 
Abgrenzungsverhältnissc  ein  wirken,  z.  B.  ob  eine  grosse  Stadt,  die  vielleicht  au  der 
Grenze  zweier  Provinzen,  Bezirke,  Kreise  liegt,  zur  einen  oder  anderen  dieser  Ver- 
waltungsabtheilungen gehört  und  dazu  dann  gerechnet  hier  die  Ziffer  der  Volksdichtig- 
keit  sehr  erhöht,  während  dieselbe  dort  viel  kleiner  erscheint.  Diesem  störenden 
Umstand  lässt  sich  auch  schwer  und  völlig  genügend  überhaupt  nicht  abhelfen. 
Namentlich  die  Städtebevölkerung,  zumal  der  Grossstädte,  auch  die  hohe  Be- 
völkerung ganzer  Industrie-  und  Montanbezirke  beeinflusst  dio  Durchschnittszahlen 
auch  für  grössere  Landestheile  leicht  bedeutend.  (Brandenburg  1885  mit  Berlin  91.8, 
ohne  Berlin  58.9  Einw.  p.  Qu.-Kil.).  Wenn  etwa  in  demselben  Landestheil  schwach 
bevölkerte  rein  agrarische.  Gebirgsdistricte  sich  befinden,  entspricht  die  Durchschnitts- 
ziffer den  Verhältnissen  der  Wirklichkeit  weder  im  einen  noch  im  anderen  Falle.  Sie 
täuscht  nur.  Auch  zu  Vergleichungen  mit  anderen  Zeiten,  Gegenden  eignet  sie  sich 
wenig  und  führt  dabei  irre. 

Ein  corrcctercs  Verfahren  der  Feststellung  der  Volksdichtigkeiten  wäre  folgendes. 
Es  ist  freilich  auch  von  gewissen  störenden  Mängeln  nicht  ganz  zu  befreien  und 
macht  statistisch-technisch  grosse  Schwierigkeiten,  aber  es  lieferte  doch  erheblich 
bessere  Resultate  als  die  jetzt  übliche  Durchschnittsberechnung  und  wurde  auch  für 
das  volkswirtschaftliche  Problem  der  Volksdichtigkeit  gute  Dienste  leisten.  Man 
müsste  nemlich  für  das  ganze  Staatsgebiet  ein  Netz  kleiner  Raumquadrate  entwerfen, 
(womöglich  Quadratkilometer,  was  freilich  bei  der  Durchführung  sehr  viel  Mühe 
machte,  aber  auch  Kaumcinheiten  von  der  Grösse  der  Quadratmeile,  des  Quadrat- 
myriameters böten  schon  sehr  viel  Interesse).  Für  jedes  solche  Quadrat  wäre  dann 
die  Bevölkerung  zu  ermitteln,  was  nach  dem  heutigen  Zählungswesen  keine  zu  grossen 
Schwierigkeiten  hat  uud  darauf  wären  tabellarisch  in  absoluten  uud  rela- 
tiven Zahlen  (Procenten)  Zusammenstellungen  der  Quadrate  für  die 
grösseren  administrativen  oder  sonstigen  Gebietsabtheilungen  zu 

31* 


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480  4.  B.  Bevölk.  u.  Volkswirthsch.  1.  K.  Bcvölk.lehre.  1.  II. -A.  Statist.  §.  203,  204. 


machen.  Auf  diese  Weise  würde  man  ein  viel  richtigeres  Bild  der  wahren  Volks- 
dichtigkeitsvcrhältnisse  erhalten,  nebenbei  bemerkt  auch  für  graphische  Darstellungen 
der  Dichtigkeit  besseres  Material.  Vergleichungen  nach  solchen  Daten  würden  gleich- 
falls brauchbarer  als  diejenigen  nach  den  heutigen  rohen  Durchschnittsdaten  sein. 
Der  Mangel  auch  dieser  Methode  liegt  darin,  dass  doch  auch  hier  nicht  nur  die 
Wahl  der  Kaumgrösse,  sondern  auch  die  Entwerfung  jenes  Netzes  kleiner  Quadrate 
willkUhrlich  ist,  und  je  nachdem  die  Grenzen  eines  Quadrats  danach  so  oder  so  fallen, 
sich,  besonders  wieder  wegeu  der  Städte,  grosse  Dichtigkeitsverschiedeuheiteu  ergeben 
würden,  Städte  vielleicht  auch  verschiedenen  Quadraten  zugetheilt  werden  müssten. 
(Bei  Zugrundelegung  von  kleinen  Dreiecken  desselben  Flächeninhalts  statt  Quadraten 
würde  sich  jener  Mangel  etwas,  aber  auch  nur  ein  wenig  vermindern  lassen.)  Aber 
immer  bliebe  dies  Verfahren  dem  heutigen  erheblich  überlegen. 

Eine  Annäherung  an  dieses  Verfahren  besteht  darin,  dass  man  für  die  ad- 
ministrativen Einheiten,  fUr  welche  meistens  die  absoluten  Bevölkerungszahlen 
vorliegen,  namentlich  für  die  kleineren  (wie  unsre  Kreise  oder  wenigstens  Bezirke, 
Departements)  die  Dichtigkeitsdurchschnitte  berechnet  und  dann  feststellt,  wie  viele 
solcher  administrativen  Einheiten  von  der  Gcsammtzahl  derselben 
die  und  die  Dichtigkeitsziffern  haben.  S.  u.  Tab.  XXVIII.  Die  betrellenden 
absoluten  Zahlen  und  Quoten  lassen  sich  dann  wieder  mit  den  analogen  anderer  Länder 
vergleichen,  wobei  freilich  meist  nur  annähernd  gleich  grosse  administrative  Einheiten 
(z.  B.  preussische  Bezirke  und  französische  Departements)  und  bestimmte  administrative 
Theilo  von  solchen  aus  practischen  Gründen  werden  verglichen  werden  können , was 
ein  störender  Umstand  bleibt  Besser  als  die  blossen  rohen  Durchschnittsdichtigkcit9- 
zilTern  eignen  sich  jene  Zahlen  indessen  immer  zum  Vergleich. 

Nur  für  gewisse  gröb  o re  Vergleichungen  der  Dichtigkeit  behalten  die  üblichen 
Berechnungen  übrigens  doch  ihren  Werth.  Und  in  Ermangelung  jener  anderen  muss 
man  sich  ihrer  auch  sonst  allgemeiner  bedienen.  Auch  hier  sollten  dann  übrigens 
gewisse  Grundsätze  bei  der  Berechnung  von  Durchschnittsdichtigkeiten  gleichmässig 
befolgt  werden.  So  betreffs  der  Art  des  Gebiets,  welches  zu  Grunde  gelegt  wird, 
grössere  Landseeen,  ganz  wüste  Strecken,  Wüsten,  Steppen,  Hochgebirge  u.  dgl.  m. 
wären  eventuell  in  gewisser  gleichmässigcr  Weise  auszuscheiden , da  sic  eben  gar 
nicht  oder  so  gut  wie  gar  nicht  bewohnt  sind  und  sein  können.  Auch  in  dieser  Hin- 
sicht lassen  aber  die  Berechnungen  bisher  viel  zu  wünschen  übrig. 

Grade  für  die  volkswirtschaftliche  Seite  der  Dichtigkeitsfrage,  z.  B.  für 
die  Ermittlung  der  wirklichen  Dichtigkeit  in  rein  agrarischen  Gegenden  nach  der 
Verschiedenheit  der  Bodengüte,  Höhenlage,  des  Klimas,  des  Ackerbausystems,  wäre 
jenes  correctere  Verfahren  von  grossem  Werth.  Ueber  die  bisherigen  Versuche  in 
dieser  Kichtung  s.  u.  §.  220. 

B.  — §.  204.  Die  Bewegung  der  Bevölkerung,  be- 
sonders die  natürliche.  Sie  bietet  für  die  volkswirtschaft- 
lichen Seiten  des  Bevölkerungsproblems  in  mancher  Hinsicht  noch 
mehr  Interesse  als  Stand  und  Beschreibung  der  Bevölkerung,  weil  in 
ihr  die  dynamischen  Momente  unmittelbarer  hervortreten  und 
die  eonditiouellen  und  causalen  Abhängigkeitsverhältnisse  des  Be- 
völkerungswesens sich  an  ihr  schärfer  verfolgen  lassen. 

1.  Von  besonderer  Wichtigkeit  ist  für  die  volkswirtschaftliche 
Bevölkerungslehre  zunächst  die  durch  Geburten  und  Todes- 
fälle dargestellte  sogenannte  natürliche  Bewegung  der  Be- 
völkerung und  die  bezügliche  Statistik,  an  welche  sich  diejenige 
der  Eheschliessungen  anschliesst.  Die  letztere  bietet  als  eine 
Reflexerscheinung  grade  auch  wirtschaftlicher  Verhältnisse  eben- 
falls für  uns  besonderes  Interesse  und  steht  ausserdem  wegen  der 


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Natürliche  Bewegung  der  Bevölkerung. 


481 


beherrschenden  Bedeutung,  welche  nach  unseren  Rechtsnormen  und 
Sitten  die  Ehe  für  die  Zeugungen  und  Geburten  hat,  mit  der 
Statistik  der  Geburten  in  nächster  Beziehung. 

Die  Geburts-,  Heiraths-  und  Todcsfallstatistik  ist  in  unseren  Ländern,  namentlich 
wegen  des  Zusammenhangs  dieser  drei  Thatsachenreihen  mit  religiösen  und  kirch- 
lichen Acten  (Taufe,  Trauung,  Beerdigung)  schon  länger,  früher  als  die  Volkszählung, 
und  vollkommener  als  die  Bevölkerungsstatistik,  ausgebildet  worden,  besonders  seit  der 
Kirchenspaltung  im  Rcformationszeitaltcr  (System  der  Kirchenbücher,  das  viel 
älter  ist,  aber  seitdem  erst  regelmässiger  wird),  auch  bereits  mit  für  staatliche  Ver- 
waltuugszwecko  und  unter  staatlichen  Einflüssen  immer  mehr  im  17.  und  18.  Jahr- 
hundert, wo  dann  auch  die  statistische  Vcrwerthung  der  Daten  in  Verwaltung  und 
Theorie  beginnt.  Daher  sind  schon  aus  dieser  Periode  manchfach  leidlich  vollständige 
Statistiken  dieser  „Bewegung“  vorhanden,  deren  Daten  auch  bereits  damals,  vor  der 
genügenden  Ausbildung  der  Volkszählungen,  zur  Grundlage  rationeller  Schätzungen 
der  Bevölkerungszahlen  gedient  haben.  Mit  der  Verweltlichung  des  Srandesamtswesens 
und  der  Kegistrirung  der  Geburten,  Eheschliessungen  und  Todesfälle  (System  der 
Civilstandsregister)  seit  dem  Zeitalter  der  französischen  Revolution  und  mit  der 
genaueren  und  eindringenderen  administrativen  und  technischen  Regelung  des  etwa 
verbliebenen,  durch  Geistliche  der  Religionsgesellschaften  geführten  Kirchenbuch- 
systems sind  dann  im  19.  Jahrhundert  in  den  Culturstaaten,  namentlich  in  Europa, 
die  Aufzeichnungen  über  jene  drei  Facta  immer  vollständiger  und  zuverlässiger  ge- 
worden. Gegenwärtig  kann  man  wohl  annehmen,  dass  wenigstens  in  West-  und  Mittel- 
europa hier  eine  Vollständigkeit  und  Genauigkeit  erreicht  ist,  wie  auf  keinem  anderen 
Gebiete  der  Bevölkerungsstatistik  und  zum  Theil  aller  Statistik  (etwa  die  ölfentliche, 
auf  controlirten  Rechnungen  beruhende  Finanzstatistik  ausgenommen).  Daher  sind 
Vergleichungen  der  statistischen  Daten  und  Schlüsse  daraus  auf  diesem  Ge- 
biete für  die  votncmlich  in  Betracht  kommenden  Staaten  auch  in  besonderem  Grade 
zulässig.  Für  frühere  Zeiten  werden  die  betreffenden  zur  Verfügung  stehenden  Daten, 
ebenso  wie  für  manche  Länder  mit  mangelhafteren  bezüglichen  Einrichtungen  (Russland, 
Irland)  noch  heute,  nicht  für  ebenso  vollständig  und  richtig,  den  neueren  Daten  daher 
nicht  gleichwertig  gelten  können.  Namentlich  sind  früher  und  in  Ländern  mit  fehl- 
ender bürgerlicher  Gleichberechtigung  der  Religionen  und  Confessionen  noch  jetzt 
wohl  manche  Auslassungen  von  Daten  bezüglich  der  Bewegung  der  Bevölkerung  in 
gewissen  Kreisen,  so  denen  der  nicht  geduldeten  oder  nicht  gleichgestellten  Culte, 
anzunehmen.  Ferner  sind  die  älteren,  aus  Kirchenbüchern  construirten  Geburtslisten 
nicht  immer  lückenlos,  weil  nicht  die  Thatsache  der  Geburt,  sondern  der  Taufe  ver- 
zeichnet wurde.  Bei  Vergleichungen  zwischen  älteren  und  neueren  Daten  und  zwi- 
schen den  Daten  eines  in  verschiedenem  Grade  zuverlässigen  Registrirungssystems 
(z.  B.  zwischen  mittel-  und  westeuropäischen  mit  russischen,  irischen,  americanischen) 
ist  also  immer  Vorsicht  nothwendig.  Schlüsse  aus  sich  zeigenden  Verschiedenheiten  der 
statistischen  Daten  können  möglicher  Weise  der  Wirklichkeit  nicht  ganz  entsprechen. 

Bei  der  üeburtsstatistik  (und  in  Folge  dessen  auch  bei  der  Todesfallstatistik) 
bildet  auch  heute  noch  die  Behandlung  der  Todtgeburten  einen  störenden  Umstand. 
Ganz  vollständige  Kegistrirung,  auch  wenn  sie  gesetzlich  voi  geschrieben  ist,  wird  hier 
kaum  erreicht  werden.  Und  locale  wie  internationale  Verschiedenheiten  in  der  Re- 
gistrirung  sind  auch  wohl  schwer  ganz  zu  vermeiden,  z.  B.  zwischen  katholischen  und 
protestantischen  Ländern  und  nach  Sitten  und  Rechtsnormen  (s.  Reichsstat.  a.  a.  0. 
B.  44,  S.  13*).  Regel  ist  aber  iu  unseren  Staaten  die  Anmeldepflicht  auch  für  die 
Todtgeburten  zur  Registrirung  und  dann  meistens  die  Aufnahme  derselben  sowohl  in 
die  Geburts-  als  gleichzeitig  in  die  Sterbcfallstatistik.  Eine  wichtige  Ausnahme  bddet 
in  dieser  Beziehung  jedoch  u.  A.  England,  wo  die  Geburts-  und  Todesstatistik  die 
Todtgeburten  nicht  umfasst,  was  bei  Vergleichungen  zu  beachten  ist.  Die  Zahl  der 
Todtgeburten  ist  in  Deutschland  3.9 — 4%  der  Geborenen,  in  Frankreich  4.4.  in  anderen 
europ.  Ländern  mit  einigermaassen  zuverlässiger  Statistik  zwischen  3 und  4;  für  Eng- 
land wird  in  der  gen.  Reichsstatistik  3.6  °/0  bei  den  Geburten  hinzugeschlagen.  — 
Ob  die  Statistik  der  unehelichen  Geburten  immer  und  überall  ganz  vollständig  ist, 
könnte  a priori  auch  zweifelhaft  erscheinen.  Doch  sind  nach  Allem  bleibende  Unter- 
lassungen der  Anmeldungen  und  demnach  Auslassungen  in  der  Statistik  auch  hier 


482  4.  B.  Bcvölker.  u.  Volks  wirthsclr.  1.  K.  Bevölk.lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  2Ü4,  205. 


wenigstens  in  unseren  Ländern  wohl  nur  selten,  so  für  länger  lebende  und  nicht 
sehr  bald  nach  der  Geburt  sterbende  Kinder.  Dagegen  ist  allerdings  mit  Verheim- 
lichung von  Geburten,  ünentdecktbleibcn  derselben  und  der  etwaigen  Beiseiteschaflung 
der  Kinder  und  der  Kinderleichen  zu  rechnen,  wofür  aber  doch  kaum  erheblichere 
Zahlen  anzunehmen  sind,  wenigstens  bei  uns  nicht.  Mehr  Störung  veranlasst  das 
Findelwcsen,  namentlich  das,  wo  Kinder  auch  ohne  jede  Controle  der  Ueberb ringer 
aufgenommen  werden  (System  der  „Drchlade“).  Hier  entstehen  Unsicherheiten,  ob 
solche  Kinder  überhaupt  bereits  regisrirt  waren,  ob  sie  ehelich  oder  unehelich  sind. 
Statistische  Zweifel  bes.  in  Italien.  — Einige,  aber  wohl  noch  kleinere  Lücken 
kommen  auch  in  der  Statistik  der  Todesfälle  vor  (Vorschwundeno,  bisweilen  Fälle 
von  Selbstmord,  Mord,  gewisse  Unglücksfälle). 

Es  ist  nach  dem  Allen  auf  die  Statistik  der  natürlichen  Be- 
wegung der  Bevölkerung  für  die  Fragen  des  Bevölkerungswesens 
und  auch  für  die  volkswirthschaftlichen  Seiten  dieser  Fragen  auch 
wegen  der  guten  Beschaffenheit  dieser  Statistik  besonderer 
Werth  zu  legen.  Indem  diese  Statistik  dann  mit  derjenigen  des 
durch  die  Volkszählung  ermittelten  Standes  der  Bevölkerung  und 
mit  der  Volksbeschreibung  in  Verbindung  gebracht  wird,  ergänzen 
und  controliren  sie  die  Daten  beider  gegenseitig.  Für  die  be- 
sonders wichtige  Frage  der  Veränderung  des  Stands  der  Be- 
völkerung und  der  Verhältnisse  der  Zusammensetzung  werden  auch 
erst  durch  die  Statistik  der  natürlichen  Bewegung  der  Bevölkerung 
die  hauptsächlichsten  causalen  Momente  aufgedeckt. 

Die  genannte  Statistik  giebt  zunächst  wieder  nur  die  Zahlen 
der  drei  Facta,  auf  welche  sie  sich  bezieht,  und  gestattet  Einblicke 
in  die  Beziehung  der  Thatsachenreihen  zu  den  Kategorien  Zeit 
und  Raum  (Ort)  durch  entsprechende  Tabcllarisirung  nach  Zeit- 
und  Gehietsabschnitten.  Indem  aber  nun  auch  hier,  analog  der 
Volksbeschreibung  bei  den  Volkszählungen,  in  den  amtlichen  Re- 
gistrirungen  eine  Reihe  weiterer  Momente  oder  Merkmale, 
welche  die  registrirten  Facta  betreffen,  aufgezeichnct  und  danach 
dann  statistisch  zusammengestellt  und  tabellarisirt  werden,  gewinnt 
man  erst  ein  reiches  Material  zur  Ermittlung  wichtiger  specieller 
conditioneller  und  causaler  Einflüsse  und  Abhängigkeitsverhältuisse 
für  die  verschiedenen  Seiten  und  darunter  auch  für  die  wirt- 
schaftliche des  Bcvölkerungsproblems. 

Natürlich  hängt  hier  Alles  ab  von  dem  Umfang  und  der  Art  der  standesamt- 
lichen Aufzeichnungen  und  der  Vollständigkeit  und  Zuverlässigkeit  der  An- 
gaben der  zur  Meldung  u.  s.  w.  verpflichteten  Personen.  In  letzterer  Hinsicht  zeigen 
sich  nur  wieder  in  den  Altersangaben  (bei  den  Hcirathcn,  Todesfällen)  einige  der 
Missständc  wie  bei  den  Volkszählungen,  soweit  nicht  die  Forderung  der  Verlegung 
von  Geburtsscheinen  hier  Abhilfe  gewährt  und  überall  besteht  und  durchgesetzt  werden 
kann.  Ferner  ist  die  Angabe  der  Todesursachen  sicher  oft  sehr  unzuverlässig, 
wenn  nicht  ein  gutes  System  der  Todtenscheine,  mit  der  Vorschrift  von  Angaben 
Sachverständiger  (Aerztc)  über  die  Todesursache  besteht,  vorausgesetzt,  dass  dio  letztere 
von  solchen  Organen  richtig  angegeben  werden  kann  und  wird.  Auch  bei  uns 
(Deutschland,  Preußen)  genügen  die  betretenden  Einrichtungen  noch  nicht.  In 


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Natürliche  Bewegung  der  Bevölkerung. 


483 


ereterer  Hinsicht,  in  Bezug  auf  die  standesamtlichen  Aufzeichnungen  selbst,  werden 
aber  eben  nicht  alle  Anforderungen  gestellt,  welche  das  statistische  Iutcresse  gebietet, 
zum  Thcil  nicht,  weil  man  gewissen  Vorurtheilen  der  Bevölkerung,  mehr  noch  weil 
man  der  Arbeitslast  und  Bequemlichkeit  der  Standesbeamten  Rechnung  trägt  oder  das 
statistische  Interesse  nicht  tlborall  für  wichtig  genug  hält,  um  es  zu  berücksichtigen, 
(was  in  einigen  Puncten  auch  von  der  deutschen  Civilstandesgesetzgebung  gelten 
möchte).  Natürlich  kann  dann  auch  die  auf  den  staudesamtlicheu  Aufzeichnungen 
beruhende  Statistik  der  Bewegung  der  Bevölkerung  nicht  das  erforderliche  Material 
zur  Beantwortung  mancher  Fragen  bieten.  In  Betreff  der  Geburten  sind  z.  B.  die 
Lebensalter  der  Eltern,  das  Alter  der  Ehe,  die  Zahl  der  lebenden  und  verstorbenen 
Kinder  aus  derselben  Ehe,  auch  für  die  so  wichtige  Frage  der  durchschnittlichen 
nominellen  — iucl.  die  vor  der  Emancipation  sterbenden  — und  nachhaltigen  — exel. 
der  letzteren  — ehelichen  Fruchtbarkeit,  der  durchschnittlichen  Dauer  der  Periode 
der  Kindererzeugung  für  Mann  und  Frau,  der  Vermehrung  der  Bevölkerung  durch 
die  ehelicho  Progenitur  von  Bedeutung,  auch  grade  wieder  für  die  volkswirtschaft- 
liche Seite  der  Fragen.  Aber  die  standesamtlichen  Aufzeichnungen  Uber  solche 
Puncte  fehlen  vielfach  (so  auch  bei  uns).  Die  Statistik  lässt  uns  daher  im  Stiche. 
Mitunter  werden  auch  wohl  solche  Aufzeichnungen  gemacht,  aber  die  Daten  nicht 
oder  nicht  genügend  statistisch  zusammengestcllt  und  verarbeitet,  z.  B.  hinsichtlich 
der  Lebensalter,  der  Civilstandsverhältnisse  der  Eheschlicsscnden,  in  welchen  Ver- 
hältnissen sich  wirtschaftliche  Einflüsse  characteristisch  abspiegeln.  Namentlich  liegt 
nicht  aus  allen  Ländern,  deren  Bewegungsstatistik  sonst  brauchbar  ist,  und  nicht 
immer  lange  zurück  bezügliches  statistisches  Material  vor  oder  cs  ist  nicht  genau 
vergleichbar.  Mit  das  beste  Material  über  dergleichen  Momente  besitzen  wir.  Dank 
der  Anregung  Quotelet’s  und  anderer  dortiger  Statistiker,  schon  länger  aus  Bel- 
gien. In  Deutschland  hat  cs  nicht  bei  den  Statistischen  Bureaux,  aber  wohl 
bei  den  leitenden  Behörden  mitunter  an  dem  erforderlichen  Interesse  für  die  Sta- 
tistik gefehlt. 

§.  205.  Rechnungsgrössen  aus  dem  Gebiet  der 
Statistik  der  natürlichen  Bewegung  der  Bevölkerung. 
Auch  für  die  volkswirtschaftliche  Seite  des  Bevölkerungsprobleras 
sind  dann  wieder  gewisse  Berechnungen  wichtig,  welche  mit 
dem  Material  der  Statistik  der  natürlichen  Bewegung  der  Bevölkerung 
angestellt  werden,  weil  erst  diese  Berechnungen  Einblick  in  wichtige 
und  maassgebende  Grössen-  und  A bhängigk ei ts Verhältnisse 
gewähren.  Zum  Theil  schliessen  sich  diese  Berechnungen  zugleich 
an  Thatsaehen  der  Volkszählungsstatistik  mit  an.  Namentlich  die 
sogenannte  Geburts-,  Heiraths-,  Sterblichkeits Ziffer  oder 
Frequenz,  die  durch  das  Verhältniss  der  Geburten  zu  den  Todes- 
fällen bewirkte  absolute  und  relative  Grösse  der  Veränderung 
im  Stande  der  Bevölkerung  (Geburten-,  Todesfallüberschuss, 
Vermehrung,  Verminderung  der  Volkszahl  dadurch),  die  mittlere 
und  die  wahrscheinliche  Lebensdauer  der  Bevölkerung,  das 
Durchschnittsalter  der  Lebenden  und  Gestorbenen  und 
ähnliche  Berechnungen,  dann  besonders  die  Sch wankun gen  und 
Verschiedenheiten  nach  Zeit  und  Raum,  welche  in  diesen 
absoluten  und  relativen  Zahlen  hervortreten  und  auf  betreffende 
Abhängigkeitsverhältnisse  hindeuten  u.  A.  m.  ziehen  auch  die 
Aufmerksamkeit  des  Nationalökonomen  in  hohem  Maasse  auf  sich. 


484  4.  B.  Bevölkcr.  u.  Volkswirthsch.  1.  K.  Bevölk.lchre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  205. 


Er  sieht  sich  vor  die  Aufgabe  gestellt,  mit  Hilfe  dieser  Daten  die 
wirthschaftlichen  Voraussetzungen  und  Folgen  bestimmter  Erschei- 
nungen im  Bevölkeriiogswesen  nach  der  statistischen  Methode 
(§.  80  ff.)  zu  erforschen  oder  an  jenen  Daten  deductive  Schlüsse 
auf  diesem  Gebiete  zu  prüfen  (§.  74,  75,  93).  Wenn  dabei  das 
Ergebniss  mitunter  ein  negatives  ist,  z.  B.  dass  ein  etwa 
a priori  als  wahrscheinlich  oder  sicher  angenommener  oder  auf 
Grund  ungenügenden  Thatsachen-Materials  gezogener  Schluss  auf 
Zusammenhänge,  z.  B.  etwa  zwischen  dem  wirthschaftlichen  Beruf, 
dem  Aufenthalt  in  Stadt  oder  Land  und  der  Heiraths-,  Geburts-, 
Sterblichkeitsfrequenz  nicht  oder  nicht  so  wie  vorausgesetzt  be- 
steht, so  ist  das  natürlich  auch  ein  Gewinn  der  Erkenntniss,  auch 
wenn  ein  weiteres  positives  Ergebniss  nicht  erlangt  wird. 

Unter  der  Geburts-,  Heiraths-,  Sterblichkeitsziffer  oder  Frequenz 
wird  das  Yerhältniss  der  in  einem  bestimmten  Zeitraum  (Jahr.  Jahrestheil,  Periode 
von  Jahren)  und  Land  (Staat,  Verwaltungsabtheiluug,  Ort)  vorgekommenen  Geburten, 
Ehcschlicssungcn  und  Todesfälle  zur  Zahl  der  in  demselben  Zeitraum  und  Gebiet 
lebenden  gesammteu  Bevölkerung  oder  — und  im  Allgemeinen  besser  — zur  Zahl 
bestimmter  Theilc  und  Kategoricen  dieser  Bevölkerung  verstanden  (z.  B.  bei 
den  Geburten  zur  Zahl  der  Eiwacbscnen,  speciell  der  Frauen  im  gebärfähigen  Alter, 
bei  den  unehelichen  Geburten  zu  derjenigen  der  unveiheirathcten  Frauen  in  diesem 
Alter,  bei  den  Eheschliessonden  zur  Zahl  der  erwachsenen  Unverheiratheten  von  einem 
gewissen  Lebensalter  an,  bei  den  Todesfällen  nach  Geschlecht,  Altcrsclassen,  Civil- 
stand,  Beruf  u.  s.  w.  der  Verstorbenen  zur  Zahl  der  gleichzeitig  Lebenden  derselben 
Kategorie,  bezw'.  zu  einer  berechneten  Zahl  für  die  als  stationär  gedachte  Bevölkerung. 
Dass  es  richtiger  sei,  solche  Theilc  der  Bevölkerung  zur  Berechnung  der  Frequenzen 
zu  benutzen,  wird  mit  Kecht  in  der  Keichsstatistik  B.  7,  S.  VI,  5 ff.  und  jüngst  wieder 
im  gen.  B.  44,  S.  S*  fl.  hervorgehoben  und  statistisch  nachgewiesen).  Diese  „Fre- 
quenzen“ und  die  zeitlichen  und  örtlichen  Verschiedenheiten  und  Schwankungen  darin 
sind  für  die  Ermittlung  von  Abhängigkeitsvcrhähnissen , Voraussetzungen,  Folgen  von 
besonderer  Wichtigkeit.  Die  physiologische  und  dio  psychologische  Seite  der  Be- 
völkerungsfrage (§.  207  ff.),  die  Frage  von  den  Beförderungs-  und  Hcmmungsmittcln  der 
Volkszunahmo  (§.  219),  der  Einfluss  wirthschaftlicher,  socialer,  politischer  Factoren  wird 
durch  diese  Frequenzen  oft  in  besonders  significanter,  schlussberechtigender  Weise  be- 
leuchtet. Schwierigkeit  macht  nur  die  Feststellung  der  richtigen  Grundzahl  der  Be- 
völkerung, zu  welcher  die  Zahlen  der  Geburten  u.  s.  w.  in  Yerhältniss  gesetzt  werden. 
Ganz  streng  corrcct,  namentlich  ohne  ausserordentlichen  Iiecbnungsaufwand.  ist  diese 
Grundzahl  kaum  zu  bestimmen.  Man  findet  sie.  für  nicht  zu  lange  Perioden  und  bei 
nicht  zu  grosser  Veränderung  der  Anfangs-  und  Endzahlen,  nur  leidlich  richtig  aus  dem 
Mittel  zwischen  letzteren  beiden  (z.  B.  aus  dem  Mittel  des  ganzen  Bevölkerungs- 
stands oder  des  betreffenden  Thcils  davon  nach  zwei  Volkszählungen,  wenn  es  sich 
um  die  zwischen  dieser  liegende  Periodo  handelt).  Formell  berechnete  man  dio 
Frequenzen  früher  meistens  in  der  Form  eines  gewöhnlichen  Bruchs:  1 Geburt  u.  s.  w. 
auf  x Lebende.  Neuerlich  hat  sich  auch  hier  die  Procent-  oder  Promillcbcrcchnung, 
auf  100  oder  1000  der  mittleren  Bevölkerung  so  und  so  viel  Procent  oder  Promille 
Geburten  u.  s.  w.,  eingebürgert. 

Ans  der  Vergleichung  der  Zahlen  des  etwaigen  Geburts-  oder  Todesfall- 
Überschusses  in  der  Periode  zwischen  zwei  Volkszählungen  mit  den  Zahlen  der 
Vermehrung  oder  Verminderung  des  Stands  der  Bevölkerung  nach  diesen  Zählungen 
ergiebt  sich,  wenn  beide  Zahlenreihen  als  gleich  zuverlässig  angenommen 
werden,  die  Erklärung  dieser  Vermehrung  oder  Verminderung  der  Bevölkerung  und, 
wenn  Differenzen  verbleiben,  die  Grösse  der  Veränderung  der  Volkszahl  durch  Wan- 
derungen. Jene  Annahme  der  vollen  Gleiehwerthigkeit  der  beiden  genannten  Zahlen- 


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Rechnuugsgrössen  für  die  natürl.  Beweg,  der  Bevölker. 


485 


reiben  bedarf  indessen,  nach  dem  Früheren  (S.  4SI),  der  Einschränkung.  Die  Daten 
der  Statistik  der  natürlichen  Bewegung  bieten  vollends  früher,  aber  auch  wohl  heute 
noch  und  selbst  in  den  ersten  Staaten  der  Culturwelt  etwas  mehr  Garantie  der  Richtig- 
keit. Zur  Ziffer  lässt  sich  jedoch  der  Unterschied  nicht  wohl  bringen,  er  ist  nur  bei 
Schlüssen  aus  den  Daten  nicht  ganz  zu  vergessen.  Misslich  ist  ferner  häufig,  dass  die 
Termine  der  Volkszählungen  und  der  Perioden,  für  welche  die  Statistik  der  Bevöl- 
kerungsbewegung aufgestellt  wird,  nicht  genau  zusammcnfallen  und  hier  dann  mehr 
oder  weniger  conjecturale  Umrechnungen  erfolgen  (z.  B.  im  Deutschen  Reich  Zahlungs- 
termin 1.  December,  Periode  der  Bewegungsstatistik  das  Kalenderjahr).  Nimmt  man, 
der  Wirklichkeit  gemäss,  die  Daten  der  Bewegungsstatistik  als  annähernd  correct  an, 
und  diejenigen  der  Volkszählungen  hypothetisch  als  gleichwcrthig,  so  ergäbe  die 
Differenz  z.  B.  zwischen  dem  Geburtsuberschuss  und  der  durch  Zählung  constatirten 
Vermehrung  oder  Verminderung  der  Bevölkerung  auch  genau  den  Verlust  durch 
Wanderungen.  Nimmt  man,  wohl  ebenfalls  der  Wiiklichkeit  gemäss,  an,  dass  die 
Zählungsstatistik  die  etwas  incorrectere  ist,  so  würde  auch  die  so  abgeleitete  Ziffer  für 
den  Wanderverlust  etwas  unsicherer.  Unter  der  wahrscheinlichen  Voraussetzung  der 
Verbesserung  der  Zählungsergebnisse  bei  jeder  späteren  Zählung  stellte  die  abgeleitete 
Ziffer  des  Wandervcrlusts  nur  ein  Minimum  dar,  dessen  Abweichung  von  der  Wirk- 
lichkeit nur  auf  andre  Weise  festgestcllt  werden  könnte.  Bei  den  mehr  oder  weniger 
unvermeidlichen  Mängeln  aller  interlocalen  wie  internationalen  Wanderungsstatistik 
(§.  206)  behauptet  aber  jene  abgeleitete  Ziffer  für  den  Verlust,  wie  natürlich  um- 
gekehrt für  den  Gewinn  durch  Wanderungen,  doch  einen  grossen  Werth  (s.  224—228). 

Die  absoluto  Zahl  der  Veränderung.  Vermehrung,  Verminderung 
der  Bevölkerungsgrösse  zwischen  zwei  Zeitpuncten,  z.  B.  zweier  Volkszählungen,  pflegt 
zur  Verdeutlichung  und  zur  besseren  Vergleichbarkeit  wieder  in  eine  Relativ  zahl, 
Proceut  oder  Promille  von  der  anfänglichen  oder  einer  anderen  Bevölkerungszahl, 
umgerechnet  zu  werden.  Für  die  richtige  Berechuungsmethodo  dieser  Relativzabl 
kommt  folgende  Erwägung  in  Betracht  Man  hat  es  hier.  z.  B.  im  gewöhnlichen 
Falle  der  Volksvermehrung,  mit  einer  zunehmenden  Bcvölkerungszahl  zu  thun,  die 
durch  Einrückeu  neuer,  immer  stärker  besetzter  Jahrgänge  der  Bevölkerung  ins  Zeu- 
gungsalter und  durch  hierdurch  absolut  vermehrte  Geburten  im  Lauf  der  Periode, 
gleiche  Geburtsfrequenz  vorausgesetzt,  auch  fortschreitend  immer  mehr  wächst,  nament- 
lich stärker  als  der  Einbusse  an  Grösse  und  Wachsthum  entspricht,  welche  sie  durch 
die  Todesfälle  und  durch  Entgang  an  Geburten  in  Folge  des  Aufhörens  der  Kinder- 
zeugung in  den  aus  dem  Zeugungsalter  ausscheidenden,  aber  eben  — und  zwar  auch 
schon  von  früher  her,  in  den  noch  jüngeren  Jahreu  — schwächer  besetzten  Jahr- 
gängen der  Bevölkerung  erleidet.  Daher  ist  es  nicht  richtig,  wenn  man  einfach  das 
Vermehrungsprocent  (und  danach  z.  B.  die  Länge  der  Verdopplungsperiode)  direct 
aus  der  Vergleichung  der  Zahl  der  eingetreteneu  Vermehrung  mit  der  ursprünglichen 
Zahl  und  etwa,  zum  Behufe  der  Ermittlung  der  jahresweisen  Vermehrung,  durch  ein- 
fache Division  dieses  Vermehrungsprocents  der  ganzen  Periode  durch  die  Auzahl  der 
Jahre  berechnet.  Diese  Ziffer  würde  um  so  fehlerhafter  und  zwar  um  so  mehr  zu 
hoch,  je  länger  die  Periode  ist.  welche  man  zum  Ausgangspunct  nimmt  und  je  stärker 
in  ihr  die  Vermehrung  war.  Dio  richtige  Methode  ist  die  Anwendung  der  Zinses- 
zinsrochnung.  Das  seiner  grösseren  Einfachheit  wegen  empfohlene  Verfahren 
(dem  auch  Rümelin,  Schönbcrg’s  Handbuch  3.  A.  I.  760.  Note  bedingt  das  Wort 
redet),  die  Procentvermehrung  nach  dem  Mittel  zwischen  der  Anfangs  und  Endzahl 
der  Bevölkerung  zu  berechnen,  ist  allerdings  iin  Ergebniss  weniger  fehlerhaft,  als 
die  gleiche  Berechnung  nach  der  Anfangszahl,  aber  doch  immer  nur  einigermaassen 
statthaft,  wenn  die  Periode  nicht  sehr  lang  und  die  absolute  Vermehrung  der  Be- 
völkerung so  keine,  auch  in  den  einzelnen  Zeitabschnitten  keine  zu  ungleiche,  zu 
grosse  war. 

Das  Zuwachs- (oder  Abnahme-)Procent  der  Bevölkerung  ist  auch  für  die 
volkswirtschaftliche  Seite  der  Bevölkerungsfrage  wieder  von  besonderem  Intercsso 
und  spielt  daher  hier  eine  wichtige  Rolle  (s.  §.  214  ff,  223.  228).  Freilich  ist  mit 
wenigen  bevölkerungsstatistischen  Zahlen  so  viel  Missbrauch  getrieben  worden  wie  mit 
diesen,  z.  B.  bei  der  Anwendung  eines  bestimmten  bisherigen  (auch  grösseren)  aus 
einer  kurzen  Periode  abgeleiteten  Vermehrungsprocents  auf  diu  Zukunft,  während  man 
leicht  nach  weisen  kann,  zu  welchen  Unmöglichkeiten  man  gelangt,  wenn  man  mit 
demselben  Procentsatz  zurückrechnet.  Mit  Recht  hat  Rümelin  damit  öfters  die  Un- 


486  4.  B.  Bevöllcer.  u.  Volkswirthscli.  1.  K.  Bcvölk.lehrc.  1.  H.-A.  Statist.  §.  205. 


thunlichkcit  gezeigt,  einen  grade  in  einer  Periode  constatirten  Procentsatz  der  Ver- 
mehrung als  einen  für  lange  Zeiträume  geltenden  anzunebmen.  Nichts  bat  auf 
diesem  Gebiete,  vom  Einfluss  der  Wanderungen  selbst  abgesehen,  mehr  gewechselt 
(§.  214,  223).  Aus  solchen  Procentsätzen,  des  Geburtsüberschusses,  der  durch  die 
Volhszählung  ermittelten  Vermehrung,  wahrscheinliche  zukünftige  Verdopplungsperioden 
und  ungcheuro  Volkszahlen  abzuleiten,  wie  cs  auch  Malthusianer  wohl  gethan  haben, 
ist  daber  irreführend  und  werthlos.  Jedenfalls  lässt  sich  damit  auch  in  der  wirt- 
schaftlichen Seite  der  Bevölkerungsfrage  nichts  beweisen. 

Die  Altersclassonstatistik  der  lebenden  Bevölkerung  nach  der  Volks- 
zählung und  die  Statistik  der  Sterbefällo  in  Verbindung  mit  derjenigen  der  er- 
reichten Lebensalter  der  Gestorbenen  lassen  sich,  jede  von  beiden  allein, 
theils  in  Verbindung  mit  einander,  zu  mancherlei  verschiedenen  Berechnungen  ver- 
wenden , welche  in  der  Bevölkerungsstatistik  und  für  practische  Zwecke  (Lebensver- 
sicherungswesen) Bedeutung  haben  und  auch  das  allgemeine  nationalökonomische 
Interesse  wegen  der  Beziehung  zu  den  volkswirtschaftlichen  Seiten  des  Bevölkerungs- 
problems berühren.  Indessen  ist  grade  in  letzterer  Hinsicht  grosse  Vorsicht  bei  der 
Auswahl  und  der  Benutzung  der  ausgewählten  Berechnungen,  bei  Vergleichungen 
derselben  und  bei  Schlussziehungcn  aus  ihnen  auf  wirtschaftliche  Voraussetzungen 
und  Folgen  notwendig.  Auch  können  öftere  einfachere  Berechnungen  anderer  Art 
dieselben,  ja  bessere  Dienste  leisten,  nicht  nur,  weil  sie  einfacher  und  nach  un- 
bestritteneren Methoden  angestcllt  werden,  sondern  auch,  weil  sie  das  für  die  volks- 
wirtschaftliche Betrachtung  Wesentliche  schärfer  hervortreten  lassen  und  geringere 
Gefahr  irriger  Schlüsse  mit  sich  bringen. 

Vom  Standpunct  der  Volkswirtschaft  und  zwar  von  demjenigen  speciell  des 
Productionsinteresses  aus  wird  man  wünschen  müssen,  dass  das  Verhältnis*  zwischen 
den  sogen  productiven  und  unproductiven  Lebensjahren,  z.  B.  15/20  — 65/70 
zu  den  Jahren  bis  15/20  und  über  65/70,  in  der  Bevölkerung  ein  möglichst  günstiges 
sei.  Wie  sich  dies  Verhältniss  wirklich  im  concreten  Falle  gestaltet,  ergiebt  sich 
unmittelbar  aus  der  Altcreclassenstatistik  der  Bevölkerung  nach  der  Volkszählung  doch 
am  Sichersten  und  Einfachsten.  Man  kann  nun  freilich  auch  argnmentiron : wenn 
viele  Individuen  in  einer  Bevölkerung  ein  höheres  Alter,  weit  in  die  productive 
Lebensperiode  und  über  dieselbe  hinaus  erreichen,  so  muss  sich  das  in  einem  hohen 
Durchschnittsalter  der  Lebenden  und  auch  der  Sterbenden  ausdrücken,  z.  B.  in 
Vergleich  mit  einem  anderen  Volke,  wo  die  Verhältnisse  anders  liegen.  Das  nach 
den  Volkszählungsdaten  berechnete  Durchschnittsalter  (mittlere  Lebensalter)  der  Le- 
benden und  das  nach  den  Stcrbeliston  berechnete  Durchschnittsalter  der  Gestorbenen 
hat  man  daher  auch  wohl  benutzt,  um  für  die  ganze  Bevölkerung  die  productiven 
und  unpioductivcn  Jahre  zu  unterscheiden  und  Vergleiche  zwischen  verschiedenen 
Völkern  anzitidellen.  Allein  in  diesen  Durchschnittszahlen  wird  Alles  viel  rnohr  ver- 
wischt. als  in  der  einfachen  Altersclassenstatistik.  Die  unproductiven  Jahre  der  Kinder 
und  der  Greise,  wozwischen  doch  zu  unterscheiden  ist,  fallen  zusammen  und  compen- 
siren  sich  mehr  oder  weniger.  Jene  Durchschnittsgrössen  sind  das  Product  zu  vieler 
und  mannigfaltiger  Verschiedenheit  der  Altcreverhältnisse  der  Lebenden  und  Gestor- 
benen und  können  trotzdem  sehr  ähnlich  sein. 

Aehnliclie,  selbst  noch  grössere  Bedenken  bietet  die  Benutzung  der  für  die 
mittlere  und  für  die  wahrscheinliche  Lebensdauer  von  ganzen  Bevölkerungen 
berechneten  Zahlcngrösscn  zu  Vergleichen  und  Schlüssen  daraus  auf  volkswirtschaft- 
liche Voraussetzungen  und  Folgen  von  Verschiedenheiten  dieser  Zahlengiössen.  Bei  dem 
grossen  Einfluss  der  immer  in  dieser  Altereclasse  relativ  hohen,  wenn  auch  wieder  sehr 
verschiedenen  Kindersterblichkeit  (§.  211)  auf  die  allgemeine  Sterblichkeit  und  bei 
der  Abhängigkeit  der  absoluten  Zahl  der  Todesfälle  im  Kindesalter  von  der  so  ausser- 
ordentlich verschiedenen  Geburtszilfer  ist  auch  die  mittlere  und  die  wahrscheinliche 
Lebensdauer  der  Bevölkerung,  für  den  Zeitpunct  der  Geburt  berechnet,  wenig  brauchbar 
zu  Vergleichen  und  Schlüssen  auf  die  Beziehungen  zwischen  Bevölkerung  und  Volks- 
wirtschaft. Jedenfalls  muss  man  dann  zuvor  erst  künstlich  eine  ,.stationärc“  Be- 
völkerung (mit  Gleichheit  der  Zahl  der  Geborenen  und  Gestorbenen)  construirt  haben, 
um  eine  richtige  Bechnung-'grundlagc  für  die  Berechnung  der  Sterblichkeit  und  der 
mittleren  Lebensdauer  zu  gewinnen,  was  aber  ohne  manche  unsichere  Conjecturen 
kaum  abgeht.  Die  Wanderungen,  für  das  ganze  Staatsgebiet  die  Ein-  und  Aus- 
wanderung, für  inländische  Orte  und  Gegenden  die  interlocalen  Ab-  und  Zuzüge, (§.  224  ff.) 


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Rechnungsgrösseu  für  die  natürl.  Beweg,  der  Bevölkor. 


487 


in  welchen  Volksbewegungen  die  Altcrsclassenvertheilung  eine  von  der  durchschnittlichen 
der  Gesammt-  und  der  sesshaften  Bevölkerung  nicht  unerheblich  abweichende  ist, 
-bedingen  ferner  ebenfalls  mancherlei  Verschiebungen  und  Störungen  für  die  Berech- 
nungen z.  B.  der  mittleren  Sterblichkeit,  Lebensdauer,  des  Durchschnittsalters  der 
Lebenden  und  Gestorbenen,  so  dass  abermals  Vergleiche  solcher  Rechnungsgrössen 
und  Schlüsse  daraus  auf  jene  Beziehungen  misslich  werden,  wenn  man  nicht  wiederum 
hypothetisch  und  conjcctural  diesen  störenden  Factor  der  Wanderungen  zuvor  eliminirt 
hat  Nationalökonomische,  socialpolitische  „Beweisführungen“  mit  mittleren  Lebens- 
dauern, deren  (öfters  nur  behaupteten,  jedenfalls  unsicheren)  Verschiedenheiten  nach 
Zeiten  und  Ländern,  z.  B.  mit  der  wohl  behaupteten  Zunahme  der  mittleren  Lebens- 
dauer in  der  Neuzeit  verglichen  mit  früheren  Perioden  (für  welche  letzteren  ohnehin 
richtige,  vergleichbare  Daten  nicht  vorliegen)  sind  daher  mit  grosser  Skepsis  zu  be- 
trachten. Besser  unterbleiben  sie. 

Dies  um  so  mehr,  weil  das  wichtigste  hierher  gehörige  Verhältniss.  die  mitt- 
lere Lebensdauer  ganzer  Bevölkerungen,  aus  äusseren,  aber  kaum  zu  be- 
seitigenden Gründen,  nemlich  wegen  der  Unmöglichkeit  administrativer  Controle  aller 
Individuen  von  der  Geburt  an  während  ihrer  ganzen  Lebensdauer,  bis  zum  Tode  des 
letzten  gleichzeitig  Geborenen,  wegen  der  unbewältigbaren  Verwaltungsarbeit  hierfür, 
und  wegen  der  Wanderungen  u.  s.  w.,  vollends  in  der  Gegenwart,  für  ganze  Be- 
völkerungen sich  direct  und  daher  allein  co rrect  überhaupt  nicht  feststellen  lässt, 
sondern  nur  Näherungswortho  mittelst  unvollkommenerer  Methoden,  in  der  vorlior 
angedeuteten  Weise,  dafür  berechnet  werden  können.  Diese  Methoden,  selbst  die 
Terminologie  sind  in  der  Bevölkerungsstatistik  nicht  einmal  unbeerbten.  Die  Berech- 
nungen sind  complicirt  und  schwierig  und  die  erlangten  Zahlen  sind  ebon  wieder 
Durchschnittsgrössen,  welche  aus  sehr  verschiedenen  Componenten  hervorgehen  können. 
Unter  „mittlerer  Lebensdauer“  versteht  man  (seit  Deparcieux)  „die  Anzahl  Jahre, 
welche  der  Mensch  von  einem  gewissen  Alter  an  im  Durchschnitt  noch  zu  leben 
Aussicht  hat“  (Hopf  in  Kolb’s  Statistik,  7.  Aufl.  S.  819),  also  auf  Grund  statistischer 
Durchschnittserfahrung  (Wappäus’  „Vitalität“,  Bevölkcrangsstat.  II,  15).  Andere  (so 
Wappäus)  verstehen  unter  „mittlerer  Lebensdauer“  einer  Bevölkerung  „die  Anzahl 
von  Jahren,  welche  durchschnittlich  ein  jeder  der  innerhalb  eines  Jahres  Verstorbenen 
durchlebt  hat“  (eb.  II,  1),  eine  Zahl,  welche  natürlich  stark  von  der  Geburtsziffor  und 
der  Kindersterblichkeit  beeinflusst  wird,  also  vollends  nicht  unmittelbar  für  unsere 
Zwecke  brauchbar  ist.  Unter  „wahrscheinlicher  Lebensdauer“  wird  die  Anzahl 
Jahre  verstanden,  für  welcho  in  einem  bestimmten  Lebensalter  die  Erlebenswahrschein- 
licbkeit  */8  ist,  d.  h.  ebenso  gross,  als  die  Wahrscheinlichkeit,  alsdann  todt  zu  sein. 
Sie  ist  für  uns  hier  noch  weniger  verwendbar.  Für  alles  Weitere  über  die  Termino- 
logie, die  Berechnungsmethodeu  und  deren  Werth,  die  Streitfragen  auf  diesem  Gebiete 
ist  auf  die  fachstatistische,  namentlich  auch  die  mathematisch-statistische  Littcratur 
(s.  o.  S.  140  n.  S.  432)  zu  verweisen.  S.  auch  für  die  Lifteraturgeschichte  des  Gegen- 
stands (Stcrblichkcitstafeln  u.  s.  w.)  Karup,  Handb.  d.  Lebensversicherung,  Leipzig 
1871,  2.  A.  1885,  Populäre  Behandlungen  des  Themas:  Hopf,  in  Kolb’s  Statistik, 
so  7.  A.  S.  812— S26,  Rümelin  im  Schönberg’schen  Handb..  Abh.  Bevölkerung,  I, 
3.  A.  S.  749 — 755  (über  Sterbetafeln  u.  Lebenswahrschcinlichkoiten,  wo  aber  nicht 
allen  Ausführungen  beizustimmen  sein  möchte).  Bei  beiden  mancherlei  statistische 
Daten.  Eingehende  statistische  Erörterungen  bei  Wappäus,  Bevölkcrungsstat..  bes. 
Kap.  5 im  2.  B.,  mit  reichstem  Material  bis  Ende  der  50er  Jahre,  doch  auch  mit 
einzelnen  Ausführungen , deren  Richtigkeit  nicht  unbestritten  ist.  Westergaard, 
Lehre  von  der  Mortalität  und  Morbilität. 

§.  206.  — 2.  Die  räumliche  (örtliche)  Bewegung  der 
Bevölkerung  oder  die  Wanderungen.  Diese  zweite  Art 
der  Bevölkerungsbewegung,  durch  welche  der  Stand  und  die  Zu- 
sammensetzung der  Bevölkerungen  Aenderungen  erleidet,  ist  für 
die  volk8wirtkschaf'tlicbe  Betrachtung  deshalb  noch  wichtiger,  als 
die  natürliche  Bewegung,  weil  sie  unmittelbarer  mit  volkswirt- 
schaftlichen Verhältnissen,  als  ihren  Voraussetzungen  und  Folgen, 


488  4.  B.  Bevölk.  u.  Volkswirthsch.  1.  K.  Bevölk.lchre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  *206. 


verknüpft  ist.  Manches  in  Betreff  der  Einflüsse,  Abhäigigkeits- 
verhältnisse, Zusammenhänge  liegt  hier  auch  sichtbarer  vor  Augen 
oder  lässt  sich  wenigstens  leichter  aufdecken  und  feststellen.  Frei- 
lich aber  keineswegs  Alles.  Verwaltungspolitische  Versuche,  in 
die  Bewegung  bewusst  regelnd  einzugreifen,  sind  auf  diesem  Ge- 
biete begreiflich  zahlreicher  gewesen  und  wichtiger  geworden,  als 
auf  dem  Gebiete  der  natürlichen  Bewegung.  Freilich  deswegen 
aber  auch  noch  nicht  immer  erfolgreicher,  da  auch  hier  mächtige 
Strömungen,  wie  in  den  grossen  Massenwanderungen,  sich  geltend 
machen,  denen  gegenüber  die  regelnde,  vollends  die  kreuzende, 
hemmende  Verwaltungspolitik  nicht  immer  besondere  Erfolge  hat 
erzielen  können.  Im  zweiten  Theile  der  Grundlegung,  bei  der  Er- 
örterung der  socialen  Freiheitsrechte,  wird  dies  weiter  untersucht 
werden. 

Für  die  statistische  Controle  und  Feststellung  der  inter- 
localen wie  internationalen  Wanderungen  liegen  nun  eigentümliche 
Schwierigkeiten  vor,  wie  sie  in  dieser  Weise  nur  in  geringem 
Maasse,  meistens  gar  nicht,  bei  der  natürlichen  Bewegung  Vor- 
kommen. Sie  erklären  es,  dass  von  jeher,  aber  auch  heute  noch, 
ja  zum  Theil  gerade  heute  nach  Sitten,  Rcchtsanschauungen,  Rechts- 
normen und  nach  den  jetzigen  Communicationsverhältnissen , die 
Statistik  der  Wanderungen  unvollständig  war  und  ist. 

Diese  Schwierigkeiten  entspringen  offenbar  folgenden  Umständen:  die  öffentliche 
Gewalt  und  ihre  Verwaltung  verfolgt  bei  der  Aufnahme  Zwecke,  welche  in  der  Be- 
völkerung unpopulär,  bei  den  Betroffenen  oft  unmittelbar  missliebig  sind  (Steuer-, 
Militär-,  polizeiliche  u.  dgl.  Zwecke),  deren  Erfüllung  mindestens  lästig  und  unbequem 
ist,  wie  die  Erfüllung  der  Meldepflichten,  oder  etwa  bestenfalls  Zwecke,  deren  Nutzen 
nicht  allgemein,  jedenfalls  nicht  immer  von  den  durch  die  Controlen  Betroffenen  ein- 
gesehen, noch  weniger  als  ein  Nutzen  für  sie  selbst  empfunden  wird,  wie  doch  z.  B. 
im  Ganzen  bei  den  standesamtlichen  Meldungen  und  Acten.  Daher  spricht  hier  nicht 
nur  kein  eigenes  Interesse  für  die  regelmässige  Anmeldung  der  Wanderung  mit, 
sondern  dies  oft  oder  doch  das  vermeintliche  Interesse  dagegen.  Strafandrohungen 
für  unterlassene  An-  und  Abmeldungen  werden  zwar  nicht  immer  fehlen,  aber  theils 
müssen  sie  doch  mit  Rücksicht  auf  die  Verhältnisse  und  Anschauungen  sehr  Maass 
halten,  wirken  daher  psychologisch  nicht  erheblich,  theils  kann  man  ihrer  Verwirk- 
lichung sich  zu  leicht  entziehen,  als  dass  sie  grössere  Bedeutung  erlangen  könnten. 
Zumal  die  Grundsätze  der  persönlichen  Freiheit  und  die  daraus  abgeleiteten  Rechts- 
normen, Anschauungen  und  Sitten  bei  unseren  modernen  Culturvölkern  und  im  „Zeit- 
alter des  Dampfes“  nöthigen  auch  zum  Verzicht  auf  Controlen  und  amtliche  Auf- 
nahmen der  örtlichen  Bewegung  der  Bevölkerung,  vollends  etwa  um  bloss  statistischer 
Interessen  Willen.  Namentlich  die  Wanderungen  im  In  lande,  bei  denen  das  Gesagto 
meistens  in  besonderem  Maasse  gilt,  entziehen  sich  daher  der  fortlaufenden  Con- 
trole und  Aufnahme  auch  in  den  Ländern  strengeren  polizeilichen  Meldewesens  immer 
mehr  oder  weniger  und  sind  nur  nachträglich  in  ihrem  Ergebniss  durch  dio  Volks- 
zählungen, die  Geburtsort-Aufnahme,  sicherer  zu  constatiren.  Bei  den  Wanderungen  über 
die  Grenzen,  bei  Aus-  und  Einwanderungen  brauchen  nicht  immer  dieselben  Rück- 
sichten genommen  zu  werden  und  werden  sie  auch  nicht  genommen.  Allein  bei 
strengem  Passsystem  hat  man  dann  hier  mit  heimlicher  Grenzuberschreitung  (Russ- 


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Die  Wanderungen. 


489 


land),  mit  Bestechung  der  Controlorgane,  bei  freiem  Verkehr,  wie  im  ganzen  West- 
und  Mittel-Europa  und  America,  auch  hier  wieder  mit  Unterlassung  von  An-  und 
Abmeldungen  zu  rechnen.  Nur  der  zufällige  Umstand,  dass  die  überseeische  Massen - 
aus-  und  Einwanderung  eben  auf  Schiffsbenntzung  angewiesen  ist  uud  sich  auf  einige 
Ein-  und  AusschifFhäfen  concentrirt,  ermöglicht  eine  bessere,  wenn  auch  keine  ganz 
ausreichende  Controle  und  Aufnahme  und  daher  eine  leidliche  Vollständigkeit  der 
Daten,  wobei  sich  dann  die  europäischen  Einschilf-  und  die  amcricanischen  AusschilF- 
zahlea  gegenseitig  einigermaasseu  controliren.  Innerhalb  des  europäischen  und  ameri- 
canischen  Continents  bei  Landverkchr  bleiben  die  Controlen  immer  mangelhaft,  die 
Zahlen  deshalb  lückenhaft. 

Bei  Vergleichungen,  Schlüssen  und  Beweisführungen  mit  dem 
direct  gewonnenen  statistischen  Material  überWanderungen  ist  daher 
wegen  unvollkommener  Beschaffenheit  dieses  Materials  wiederum 
Vorsicht  geboten.  Gewöhnlich  steht  das  Material  an  Werth  und 
Verwerthbarkeit  für  statistische,  volkswirtschaftliche  Fragen  hinter 
dem  aus  den  Volkszählungen  indirect  für  Wanderungsstatistik 
abgeleiteten  zurück,  dient  aber  immerhin  zu  dessen  Ergänzung  nach 
einigen  Seiten.  Vornemlich  gilt  das  von  der  relativ  wohl  besten 
hierhergehörigen  Wanderungsstatistik , der  überseeischen  Massen- 
Aus-  und  Einwanderung. 

Dieselbe  ist  begreiflich  im  Laufe  unseres  Jahrhunderts  erst  ordentlich  organisirt 
und  erst  nach  und  nach,  mit  der  steigeuden  Bedeutung  der  Aus-  und  Einwanderung 
selbst  und  in  Verbindung  mit  (Jesichtspuncten  und  Maassregeln  der  Aus-  und  Ein- 
wanderungspolitik sowie  wegen  der  vcrhältnissmässigen  Leichtigkeit  der  Controle  an 
den  Hafen  immer  besser  geworden,  so  auch  in  Deutschland.  Neben  der  Ermittluug 
der  Zahlen  erfolgt  hier  jetzt  gewöhnlich  auch  eine  Aufnahme  gewisser  Eigen- 
schaften der  Aus-  und  Einwanderer,  Geschlecht,  Alter,  Civilstand,  Nationalität,  ört- 
liche Herkunft,  Familienverband,  Berufe  u.  dgl.,  was  für  die  Gewinnung  auch  des 
Einblicks  in  die  wirtschaftlichen  und  socialen  Voraussetzungen , Ursachen , Folgen 
des  Phänomens,  namentlich  in  Verbindung  mit  dem  Zeifpunct  der  Wanderung,  wichtig 
ist.  Die  von  derjenigen  der  Gesammtbevölkerung  abweichende,  für  das  Auswande- 
rungsland in  Betreff  des  Productionsinteresses  ungünstigere,  für  das  Einwanderungs- 
land günstigere  Geschlechts-  und  Altcrsvertheilung  nnter  den  Auswanderern  ist  z.  B. 
ein  Umstand,  welcher  für  die  volkswirtschaftliche  Beurteilung  der  Erscheinung  mit 
ins  Gewicht  fällt  (s.  §.  225 — 22T). 

Viel  unvollkommener,  weil  unvollständiger  ist  das  Material 
der  directen  inländischen  Wanderungsstatistik  auf  Grund  polizei- 
licher Meldepflichten  lind  laufender  polizeilicher  Controlen.  Viel- 
fach fehlt  es  an  diesen  Pflichten  uud  Controlen  überhaupt  ganz, 
so  im  Allgemeinen  ausserhalb  Deutschlands  in  West-  und  Mittel- 
europa. Um  so  wichtiger  wird  hier  das  Volkszählungsmaterial 
und  dessen  zweckmässige  Verarbeitung  zur  Verwerthung  für  die 
hier  vorliegenden  statistischen,  administrativen,  volkswirtschaft- 
lichen, socialpolitischen  Fragen  und  Interessen. 

In  dieser  Beziehung  liegt  vielerlei  Material  und  manche  trelTlichc  Bearbeitung 
desselben  jetzt  vor,  so  in  der  Geburtsstatistik  der  factiscbcn  Bevölkerung.  Für 
die  volkswirtschaftliche,  und  socialpolitische  Seite  der  Bevölkerungsfrage  ist  besonders 
wichtig,  zu  verfolgen,  wie  sich  unter  dem  Einfluss  der  Wanderungen,  und  zwar  hier 


490  4.  B.  Bevölker.  u.  Volkswirtlisch.  1.  K.  Bevölk.lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  206,  207^ 


doch  auch,  mit  wenigen  Ausnahmen,  wie  etwa  Irland,  Scandinavien,  weit  mehr  noch 
durch  die  inländischen  Wanderungen  als  durch  eigentliche  Auswanderung  die  Ge- 
schlechts-, Alters-,  Civilstandsvertheilung  verschoben  hat  und  beständig  ver- 
schiebt  (Städte,  Gressstädte,  Industrie-  und  Montanbezirke,  die  massenweise  vom  Land 
und  aus  kleinen  Orten  Bevölkerung  an  sich  hcranziehen , anderseits  eben  das  platte 
Land,  Dörfer,  Kleinstädte).  Die  blossen  Zahlen  der  Veränderung  der  Bevölkerung, 
der  verschieden  starken  Vermehrung,  lassen  hier  noch  gar  nicht  die  volle  Bedeutung 
dieser  Momente  erkennen.  Die  Veränderungen  und  Verschiedenheiten  der  Geschlechts-, 
Alters-  und  Civilstandsvertheilung  müssen  dazu  erst  hinzugenommen  werden.  Sie 
erklären  dann  auch  wieder  erst  manche  andere  bevölkerungsstatistische  Verschieden- 
heiten, z.  B.  die  Verschiedenheiten  der  Geburts-,  Heiraths-,  Sterbeziffern,  welche  man 
sonst  vielleicht  gar  nicht  recht  erklären  kann  oder  falsch  erklärt,  wie  das  z.  B.  Ka- 
rne lin  einmal  in  dem  hübschen  Aufsatze  Uber  Stadt  und  Land  an  einem  guten 
Beispiel  gezeigt  hat.  (S.  u.  §.  224  ff) 

Bei  allen  bevölkerungsstatistischen  Vergleichungen  nach  Raura- 
grössen  (Ländern)  ist  endlich  auch  hier  wieder  die  schon  früher 
(S.  435)  ausgesprochene  Mahnung  wichtig,  nur  einigermaassen 
homogene,  daher  eben  allein  wirklich  vergleichbare  Gebiete  zu 
vergleichen,  somit  z.  B.  grosse,  mittlere,  kleinere  Staatsgebiete  je 
untereinander,  aber  nicht  oder  nicht  ohne  Weiteres  mit  solchen  der 
anderen  Gruppe,  wohl  aber  wieder  Provinzen  eines  Grossstaats 
mit  einem  Mittelstaate,  Kreise  beider  unter  sich  und  mit  einem 
Kleinstaate  u.  dgl.  m.  Die  directe  Vergleichung  von  ganz  hete- 
rogenen Gebietsgrössen  führt  fast  nothwendig  irre. 

Trotzdem  kommt  sie  immer  noch  vor  und  dient  selbst  zu  Schlussziehungen. 
Zum  Theil  freilich,  weil  die  amtliche  Statistik  sich  eben  an  die  politische,  admini- 
strative Einteilung  für  die  practischen  Zwecke  anschliesst.  Sogar  in  der  vortreff- 
lichen genannten  neuesten  Arbeit  des  reicbsstatistischcn  Amts  werden  noch  mehrfach 
Reuss  ä.  L.,  Birkenfeld,  Lübeck  direct  mit  preussischen  Provinzen  und  Mittelstaaten 
verglichen  und  Schlüsse  aus  Verschiedenheiten  gezogen! 

Ks  ist  nach  dem  Allen  klar,  welche  grosse  Bedeutung  eine 
eorrecte  Bevölkerungsstatistik  und  die  nach  richtiger  Methode  an- 
gestellten  Vergleichungen  statistischer  Daten  und  Berechnungs- 
grössen, sowie  die  daraus  gezogenen  Schlüsse  gerade  auch  für  die 
volkswirtschaftlichen  Seiten  des  Bevölkerungsproblems  haben. 

Eine  ungemeine  Fülle  von  Einzelfragen  taucht  dann  hier  auf,  welche  sich  mit 
Hilfe  der  statistischen  Methode  mehr  oder  weniger  sicher  und  erfolgreich  behandeln 
lassen.  Das  ist  aber  natürlich  nur  in  monographischer  Ausführlichkeit  in  Werken 
über  Bevölkerungsstatistik  selbst  möglich.  Hier  müssen  wir  uns  mit  der  Heraushebung 
einiger  wichtigerer  Fragen  und  Puncte  begnügen,  welche  für  eine  grundlegende 
Untersuchung  jener  volkswirtschaftlichen  Seiten  des  Bevölkcrungsproblems  nach  den 
früher  angedeuteten  Gesichtspuncten  (§.  198  — 2001  besonders  in  Betracht  kommen. 
Da  die  statistischen  Daten,  um  welche  es  sich  hier  handelt,  aber  auch  für  viele  andere 
Fragen,  welche  in  dieser  Grundlegung  und  in  den  Theilcn  der  Praktischen  Volks- 
wirtschaftslehre und  der  Finanzwissenschaft  behandelt  oder  doch  berührt  werden, 
wichtig  sind,  ist  Manches  auch  mit  Rücksicht  darauf  in  folgendem  Abschnitt  etwas 
eingehender  behandelt  worden,  immer  aber  wesentlich  nur  das,  was  mit  der  volks- 
wirtschaftlichen Seite  zusammenhängt. 


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491 


2.  Abschnitt. 

ßeyOlkcriingsstatistische  Ergebnisse. 

I.  — §.  207.  Die  mögliche  und  die  th atsäch lieh e 
natürliche  Bevölkerungsvermehrung. 

Die  Materialien  sind  tbunlichst  aus  neuerer  und  neuester  Zeit  und  wesentlich 
nur  aus  europäischen  Ländern  genommen,  da  wir  cs  hier  doch  vorncmlich  mit  dem 
heutigen  europäischen  Bevölkerungsproblem  zu  thun  haben.  Die  meisten  stammen 
aus  der  genannten  reichhaltigen  vergleichend -statistischen  Arbeit  des  reichsstatist. 
Amts  (B.  44),  mit  Ergänzungen  aus  älteren  Arbeiten  (so  im  Juliheft  1879  der  Monats- 
hefte, Uber  die  Volkszahl  der  deutschen  Staaten  seit  1816),  auch  ans  dem  reichsstat. 
Jahrbuch  und  anderen  Jahrbüchern  und  amtlichen  Quellen  bis  in  die  letzte  Zeit 
hinein.  In  jener  rcichsstatistischen  Arbeit  sind  nicht  nur  für  die  deutschen  Staaten, 
sondern,  soweit  das  Material  vorlag,  auch  für  wichtige  fremde,  allerdings  aus- 
schliesslich europäische,  viele  Daten  bis  1841  zurück  und  bis  1885/86  hin  initgctheilt: 
besseres,  einen  längeren  Zeitraum  und  mehr  Länder  umfassendes  Material,  als  cs 
bisher  für  derartige  vergleichende  statistische  Untersuchungen  benutzt  werden  konnte. 
Für  die  Periode  bis  etwas  Uber  die  Mitte  unseres  Jahrhunderts  (in  die  oüer  Jahre 
hinein)  bildet  auch  hinsichtlich  des  Materials  Wappäus’  sorgfältiges  Werk  noch 
immer  die  beste,  wenn  auch  secundäre  Quelle,  die  hier  auch  benutzt  wurde.  Einzelno 
neueste  Daten  sind  auch  dem  zuverlässigen  Gothaer  Hofkalendcr  und  Jahrbuch  mit- 
unter entnommen  worden.  Erst  Detail  Untersuchungen  Uber  einzelne  Länder  können 
freilich  Manches  genauer  aufkläreu.  Vgl.  die  von  Neumann  (Tüb.)  herausgegebenen 
werthvollen  „Beiträge  zur  Geschichte  der  Bevölkerung  in  Deutschland  seit  Auf.  d. 
19.  Jahrhunderts“,  bes.  B.  1 von  v.  Bergmann,  B.  2 von  Markow.  Ferner  für 
Oesterreich  Hainisch,  Zukunft  der  Doutsch-Oesterreichcr,  Wieu,  1892. 

Für  die  natürliche  Vermehrung  der  Bevölkerung  sind  physio- 
logische und  sociale  Factoren  (darunter  auch  ethische,  Cultur-, 
Sitten-,  politische,  Rechts-,  wirtschaftliche  psychologisch  wirkende  in- 
begriffen) maassgebeud.  Dieersteren  entscheiden  Uber  die  mögliche 
maximale  Vermehrung,  daher  über  das  maximale  jährliche  Ver- 
mehrungsprocent  und  davon  abhängig  über  die  minimale  Länge  der 
Verdopplungsperiode  durch  Ueberschuss  der  Geborenen  über  die  Ge- 
storbenen. Die  letzteren,  die  socialen  Momente,  bestimmen  die  Ab- 
weichungen der  Vermehrung  von  jenem  physiologisch  möglichen 
Maximum  und  somit  die  tatsächliche  Vermehrung.  Wir  fassen 
zunächst  das  physiologisch  mögliche  Maximum  für  die  Menschheit 
überhaupt  ins  Auge.  Dabei  wird  allerdings,  soweit  es  sich  um  sta- 
tistische Daten  bandelt,  wesentlich  nur  mit  Erfahrungen  aus  der  euro- 
päischen Menschheit  und  deren  Abkömmlingen  operirt.  Dass 
auch  unter  dieser  und  vollends  unter  der  gesammten  Menschheit 
eine  natürliche  Differcnzirung  auch  in  Bezug  auf  „physio- 
logischmögliche“ Vermehrungsfäkigkeit,  unter  Natureinflllssen, 
wie  Klima,  Race,  Nationalität,  Stammesart,  vielleicht  auch  der 
Ernährungsweise  und  der  psychisch  geistigen  Gesammtentwicklung 
stattfinden  mag,  braucht  nicht  bestritten  zu  werden,  lässt  sich  aber 
hier  nicht  näher,  und  mit  den  vorhandenen  Erfahrungsthatsachen  über- 


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492  4.  B.  Bevölker.  u.  Volkswirthsch.  1 K.  Bevölk  lehre.  1.  II.-A.  Statist.  §.  208,  209. 

haupt  noch  nicht  genügend  sicher  verfolgen.  Der  etwaige  Einfluss 
solcher  Factoren,  so  derjenige  mir  wahrscheinliche  und  statistisch  wohl 
hervortretende  der  Nationalität,  des  Stammes  ist  von  demjenigen 
der  mancherlei  socialen  Momente  schwer  zu  trennen,  kommt  aber 
allerdings  möglicher  Weise  in  der  t hatsächlichen  Gestaltung 
der  Vermehrung  der  Bevölkerung  mit  zur  Geltung.  Das  Problem 
der  „physiologisch-möglichen“  ßevölkerungsvermebrung  bat  übrigens 
auch  noch  eine  specielle  mehr  practiscbe  Bedeutung  für  die  Be- 
völkerungsfrage innerhalb  einer  8 oci  al  istische  n Volkswirthschafts- 
organisation,  in  welcher  die  heutigen  hemmenden  socialen  Factoren 
nicht  oder  doch  weniger  wirken  würden,  während  es  fraglich  bleibt, 
ob  sie  durch  andere  genügend  ersetzt  würden. 

A.  — §.  208.  Physiologisch  mögliche  Vermehrung. 
Die  natürliche  Vermehrung  der  Bevölkerung  hängt,  rein  physio- 
logisch betrachtet,  offenbar  von  folgenden  fünf  Factoren  ab : l)von 
der  Zahl  der  Frauen  im  gebärfähigen  Alter  in  der  Bevölkerung; 
2)  von  der  Zahl  der  fruchtbaren  Frauen  hierunter;  3)  von  der 
Höbe  der  Geburtsfrequenz,  d.  h.  von  der  Zahl  der  Geburten,  welche 
eine  Frau  durchschnittlich  während  ihres  gebärfähigen  Alters 
leistet,  bzw.  nach  physiologischer  Auffassung  wahrscheinlich  leisten 
kann;  4)  vou  der  Zahl  der  Kinder,  insbesondere  der  wenigstens 
etwas  lebensfähigen,  daher  einige  Zeit  lebenden  Kinder,  welche 
auf  einen  Geburtsact  durchschnittlich  fallen;  5)  von  der  Grösse 
der  Sterblichkeit.  Je  grösser  die  Zahlen  für  No.  1,  2,  3,  4 und 
je  kleiner  die  Zahlen  für  No.  5 sind,  desto  grösser  wird  die  natür- 
liche Vermehrung.  Mit  den  vorhandenen  Materialien  lässt  sich  nun 
erfahrungsmässig  für  unsere  europäischen  und  einige  andere  Völker, 
die  von  jenen  abstammen,  statistisch  feststellen,  welche  Zahlen- 
verhältnisse für  No.  1,  3,  4,  5 sich  in  der  Wirklichkeit  und  bei 
grösseren  Bevölkerungsmengen,  die  allein  hier  statistisch  in  Be- 
tracht kommen  und  etwas  beweisen,  finden,  ln  Anknüpfung  hieran 
und  unter  Benutzung  anderer  Erfahrungsthatsacheu , zum  Theil 
auch  statistischer,  kann  man  mit  einiger  Sicherheit,  wiederum 
wenigstens  für  grössere  Hevölkerungen , ableiten,  welche  Grösse 
als  Maximum  für  No.  1,  3,  4 und  als  Minimum  für  No.  o an- 
genommen werden  darf.  Am  Wenigsten  sicher,  mangels  genügender 
statistischer  Aufnahmen  und  Daten,  ist  die  Beantwortung  der  No.  2 
betreffenden  Frage.  Einigcrmaassen  lässt  sich  aber  so  doch  er- 
mitteln, welches  das  physiologisch  mögliche  Maximum  und 
weiter  das  auch  thatsächlich  noch  für  etwas  grössere  Volks- 

"\ 


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Physiologisch  mögliche  Vermehrung. 


493 


zahlen  unter  besonders  günstigen  Umständen  mögliche  Maximum 
der  natürlichen  Volksvermehrung  sein  möchte.  Es  bewegt  sich 
muthmaasslieh  um  3 °/0  der  Bevölkerung  herum,  ich  möchte  es 
auf  Grund  der  im  Folgenden  (§.  204  — 213)  angestellten  Unter- 
suchungen auf  c.  2.8%  veranschlagen  (vgl.  hes.  §.  213). 

Die  betreffende  Frage  ist  öfters  in  der  Bevölkerungsstatistik  erörtert  worden,  s. 
schon  J.  G.  Hoffman n,  in  dem  Aufs,  über  die  Besorgnisse,  welche  die  Zunahme 
der  Bevölkerung  erregt,  in  der  Sammlung  kl.  Schriften  staatswirthsch.  Inhalts,  Bert. 
1843,  S.  30 fl.,  bes.  S.  34,  dors.  Uber  die  Grenzen  des  Wachsthums  der  Bevölkerung 
in  den  christlichen  Staaten  Europas,  im  Nachlass  kl.  Schriften,  Berl.  1847,  bes. 
S.  202.  Zum  Tlieil  im  Anschluss  an  ihn  namentlich  dann  Wappäus  I,  90 ff.  und 
dazu  die  Noten  S.  121  fl'.  Er  formulirt  die  einzelnen  Puncte  aber  etwas  anders,  über- 
sieht den  Punct  No.  2 uud  behandelt  das  ganze  Problem  auch  sonst  abweichend. 
S.  ferner  Rilmolin,  Reden,  1.  Folge  S.  31 2 IT. 

§.209.  Ausführungen  zu  den  einzelnen  fünfPuncten. 

Zu  No.  1:  Nach  Klima,  Race  u.  dgl.  schwankt  bekanntlich  An- 
fang, Ende  und  Dauer  des  gebährfähigen  Alters  der  Frauen. 
Mit  Hoffman li  und  Wappäus  u.  A.  eine  Dauer  von  29  Jahren 
(bei  uns  vom  17.  — 45.stcn  incl.)  durchschnittlich  anzunchmen, 
möchte  auch  für  das  physiologische  Maximum  zu  hoch  gegriffen 
sein.  Die  Frauen  dieses  Alters  schlagen  beide  auf  nahe  20%  der 
Bevölkerung  in  unseren  Ländern  an,  was  annähernd  mit  neueren 
Daten  stimmt.  Rümelin  u.  A.  nehmen  wohl  richtiger,  mindestens 
für  unsere  Bevölkerungen , nur  c.  22  Jahre  Dauer  der  Gebäbr- 
fähigkeit  an  (etwa  19—41);  die  Frauen  dieses  Alters  betragen  etwa 
16.5%.  Die  durchschnittliche  Dauer  der  ehelichen  Fruchtbarkeit 
bei  uns  schätzt  Rümelin  auf  nur  12 — 13  Jahre. 

In  der  gen.  reichsstatist.  Arbeit  wird,  um  Sud-  und  Nordeuropa  gleicher  Weise 
zu  berücksichtigen,  das  gebährfahige  Alter  mit  über  15  — 50  Jahre  angenommen 
(Einl.  3.  54).  Im  Deutschen  Reich  standen  im  Mittel  von  1872 — SO  iu  diesem  Alter 
von  1000  weiblichen  Personen  492.2,  in  dem  von  20 — 45  350.3,  von  15 — 45 
442.8,  was  ziemlich  jener  Annahme  von  Wappäus  entspricht.  In  Westösterreich  war 
der  Promillesatz  der  Fraucu  von  15 — 45  Jahren  1871 — 80  452.7,  in  Frankreich 
1872  — 80  448.4.  Nach  den  allerdings  nur  wenigen  vorliegenden  Daten  Uber  das 
Alter  der  Mütter  bei  der  Niederkunft  (s.  B.  44  d.  Reichsst.  S.  178  der  Tabellen)  ist 
die  Zahl  der  Geburten  von  Frauen,  insbesondere  verheiratheter , im  Alter  von  über 
45 — 50  Jahren  sehr  klein,  in  einigen  deutschen  Kleinstaaten  auf  100  letzterer  Frauen 
1.3,  in  einigen  nordischen  Ländern  1.3.  2.4,  2.7,  4.3  (Norwegen),  bei  verheiratheten 
Muttern  von  über  50  J.  ganz  verschwindend  (in  jenen  deutschen  Staaten  0.01,  Nor- 
wegen 0.06%),  bei  verheiratheten  Muttern  von  40  — 45  aber  allerdings  doch  noch 
10.2  in  deutschen,  12  — 18.7%  in  scandinavischen  Ländern.  In  der  Altersclasse 
15 — 20  sind  die  Krauen  natürlich  viel  fruchtbarer  (in  jenen  deutschen  Staaten  kommen 
auf  100  verheirathetc  Frauen  59.3,  in  Dänemark  sogar  72.9 % Niederkünfte).  Klein 
ist  nur  bei  uns  und  doch  ziemlich  überall  die  Zahl  der  in  diesem  Alter  schon  ver- 
heiratheten  Frauen  (im  Deutschen  Reich  1872 — SO,  1.7,  Max.  Prov.  Posen  4.1,  auch 
West- Oesterreich  1.9,  England,  Schottland  2.7,  selbst  in  Italien  nur  4.5,  Frankreich 
6.1,  Griechenland  10.5,  Galicien  u.  Bukowina  9.9,  Rcichsstat.  B.  44,  Tab.  S.  116, 
122),  was  natürlich  zu  beachten  ist,  wenn  cs  sich  um  die  unter  unseren  socialen 
u.  s.  w.  Verhältnissen  mögliche  ücburtszilfer  und  die  davon  abhängige  Volks- 
vermehrung handelt. 

A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlagen. 


32 


494  4.  B.  Bcvölkcr.  a.  Volkswirtlisch.  1.  K.  Bcvölks.lehrc.  1.  H.-A.  Statist.  §.  210. 

Zu  No.  2:  Genaue  statistische  Daten  über  Unfruchtbar- 
keit der  Ehen  sind  wenige  vorhanden  (u.  a.  aus  Frankreich). 
Aber  dass  für  unsere  Frage  mit  diesem  Umstand  der  Unfrucht- 
barkeit vieler  Frauen  zu  rechnen  ist,  folgt  doch  wohl  aus  der 
notorisch  nicht  unerheblichen  Zahl  kinderloser  Ehen. 

Von  diesen  steht  es  ja  freilich  dahin , wie  weit  dio  Ursache  in  der  Fran  oder 
in  dem  Manne,  bz.  in  dem  concreten  Ehemanne  in  Bczujr  auf  die  concreto  Ehefrau 
liegt,  ferner,  ob  die  bisher  kinderlose  Ehe  cs  dauernd  bleibt.  Aber  wenn  man,  wohl 
gegen  die  Wirklichkeit  und  getreu  medicinische  Ansichten,  selbst  nur  die  Hälfte  der 
Fälle  unfruchtbarer  Ehen  auf  Rechnung  der  Frau  setzt,  etwa  mit  unter  der  hier  auch 
nicht  zu  übersehenden  Annahme,  dass  man  vielleicht  einen  Thcil  der  unfruchtbaren  Ehen 
auf  zu  spätes  Heirathen  von  Frauen  in  unseren  socialen  Verhältnissen  schieben  muss,  so 
bleibt  doch  immerhin  für  die  hier  behandelte  Frage  mit  diesem  Umstand  weiblicher 
Unfruchtbarkeit  zu  rechnen.  Nimmt  man  mitHümelin  (a.  a.  0.  S.  314)  an,  dass  % 
der  gebährfähigen  Frauen  unfruchtbar  seien,  so  wurde  die  Quote  der  nach  Wappäus  für 
die  Progenitur  in  Betracht  kommenden  Frauen  von  20  sinken  auf  c.  17%,  wenn  man 
die  Fälle  alle,  auf  IS — 19,  wenn  man  sio  zur  Hälfte  auf  Rechnung  der  Frau  setzt. 
Nach  der  niedrigeren  Annahme  der  Dauer  der  Gebährfähigkeit  von  22  Jahren  ergäbe 
6ich  hiernach  aber  nur  eine  Quote  von  c.  14.1,  bzw.  von  c.  15.3%. 

§.  210.  Fortsetzung.  Näheres  über  die  Geburts- 
frequenz. 

Zu  No.  3:  Auch  bei  der  Frage  nach  der  möglichen 
durchschnittlichen  Zahl  der  Geburten  (Niederkünfte)  können  die 
vorliegenden  statistischen  Daten  nicht  unbedingt  entscheiden,  da 
die  statistisch  ermittelte  Fruchtbarkeit  der  jetzigen  gebährenden 
Frauen,  speciell  in  der  Ehe,  eben  auch  das  Ergehn  iss  unter  unseren 
socialen  Verhältnissen  ist,  so  dass  man  unvermeidlich  hier  auf 
gewisse  Conjecturcn  angewiesen  wird. 

Mit  Physiologen  und  Statistikern  wie  Wappäus  wird  mau 
es  für  möglich  halten  können,  dass  eine  gesunde  und  auch  bei 
zahlreichen  Geburten  gesund  bleibende  — eben  eine  schwer  zu 
erledigende  Frage!  — und  selbst  stillende  (daher  schwerer  con- 
cipirende)  Frau  allerdings  alle  2 Jahr  während  ihrer  Periode  der 
Gebährfähigkeit  gebähren  kann.  Darauf  hin  hat  man  auch  eine 
Geburtsfrequeez  von  10%  der  Bevölkerung  (hei  20%  Frauen  in 
dem  genannten  Alter)  als  „physiologisch  möglich“  bezeichnet,  wenn 
das  auch,  wie  Wappäus  (I,  91)  selbst  meint,  „aus  Gründen,  die 
eben  in  den  socialen  Verhältnissen  civilisii ter  Länder  liegen“, 
tbatsächlich  sicher  bei  Weitem  nicht  erreicht  werden  würde.  Mau 
muss  aber  auch  schon  behaupten,  dass  eine  solche  Frequenz  in 
irgend  etwas  grösseren  Bevölkerungen  überhaupt  nicht,  jeden- 
falls nicht  auf  irgend  einige  Dauer  und  auch  schwerlich 
bei  uncivilisirten  Völkern,  Vorkommen  kann,  vielmehr  für  Durch- 
schnittsverhältnisse auch  schon  physiologisch  uicht 


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Maximum  der  Geburtsfrequenz. 


495 


möglich  erscheint,  weil  sie  an  sanitäre,  medieinische  und 
anderweite  rein  natürliche,  physiologische  Voraussetzungen 
gebunden  wäre,  die  sich  nur  sehr  unwahrscheinlich  allgemein  er- 
füllen können.  Auch  mit  Rücksicht  auf  die  Unfruchtbarkeit  vieler 
Frauen  müsste  ohnehin  die  Zahl  10  auf  9%  und  vermuthlich  dar- 
unter, nach  der  obigen  Annahme  einer  überhaupt  kleineren  Quote 
der  gebährfähigen  Frauen  noch  erheblich  mehr,  auf  7 — 8 und 
darunter,  und  endlich  wegen  der  angedeuteten,  muthmaasslich 
auf  die  Dauer  allein  möglichen  weiblichen  Geburtsleistung  auf 
noch  ansehnlich  weniger  herabgemindert  werden.  Ich  möchte  die 
Wappäus’sche  Annahme  von  5%  Geburtsfrequenz,  die  er  nur  für 
die  „Zustände  des  Lebens  in  Cnltursstaaten“  als  Maximum  annimmt, 
auch  fast  für  das  richtigere  dauernde  physiologische  Maximum, 
wenigstens  für  Völker  unserer  Racen  und  Klimata,  anseben,  jeden- 
falls nur  wenig  mit  der  Ziffer  höher  gehen,  vielleicht  bis  auf 
6°/0  oder  ein  Geringes  darüber  allerhöchstens. 

Die  statistischen  Thatsachen  aus  neuerer  Zeit  ergeben  Folgendes  (nach  B.  44 
der  Reichsstatistik).  Die  Geburtsziffer  für  die  ganze  Bevölkerung  — allerdings  nach 
dem  Früheren  (S.  484)  kein  ganz  correcter  Vergleichuugsmaassstab  — berechnet, 
war  in  zehnjährigen  Durchschnitten  (bei  einzelnen  Ländern  in  Theilen  einer  solchen 
Periode)  (B.  44  der  Reichsstat. , Einl.  S.  11  und  dazu  gehörige  Tabellen)  auf  1000 
der  mittleren  Bevölkerung  incl.  Todtgeborene  (bei  Gr.-Britannien  und  Russland  excl.  *): 

Tab.  I.  Geburtsfrequenz  verschiedener  Länder. 


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1841—50 

37.58 

36.5 

42.5 

_ 

28.2 

32.6 

_ __ 

31.8 

31.9 

1851—60 

36.80 

36.2 

41.4 



27.8 

84,2 

31  8 

34.4 

1861—70 

38.77 

30.5 

45.2 

38.5 

27.8 

85.2 

48.9 

83.7 

32.1 

1871—80 

40.68 

37.7 

45.6 

38.U 

26.6 

35.4 

49.3 

34.1 

82.1 

1881—90 

38.18 

— 

— 

— 

— 

— 

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Maxim, s) 

42.61 

38.8 

50.2 

40.7 

29.2 

36.8 

51,8 

35.1 

36,2 

Minim. 

(33.80 

(85.94 

31.2 

82.6 

34  3 
32  0 

85.1 

25.7 

23.7 

31.5 

46.4 

28.4 

29.7 

Die  Maximaljahre  sind  beim  Deutschen  Reich  1870,  West- Oesterreich  1878, 
Galicien  1864,  Italien  (nur  aus  1868  — 80)  1876.  Frankreich  (immer  ohne  Eisass- 
Lothringen  gerechnet)  1841.  Gr.-Britannien  (ohne  Irland,  bis  1860  ohne,  dann  mit 
Schottland)  1876,  Russland  (ohne  Polen  ond  Finnland,  aber  nur  aus  1867 — 80)  1873, 
Belgien  1811  und  1874,  Norwegen  1859.  Die  Minimaljahrc  sind  beim  Deutschen 
Reich  das  ersto  1855  (niedriger  als  selbst  1847  und  1848  mit  34.61  und  84.71), 
das  zweite,  das  durch  den  Krieg  naturgemäss  einen  starken  Ausfall  gebende  J.  1871 

’)  Die  Ziffern  stimmen  übrigens  in  den  verschiedenen  Publicationen  des  reichs- 
statist.  Amts  in  den  Decimalen  nicht  immer  ganz  überein,  vgl.  B.  44  Einl.  S.  11, 
Tab.  S.  3,  Jahrb.  1S8S  S.  14. 

8)  In  einem  einzelnen  Jahre  der  ganzen  Periode. 

32  * 


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4 


496  4.  B.  Bcvölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  '210. 


(1870  40.09,  1872  41.09),  West-Oesterreich  das  erste  1855,  zweite  1848,  Galicien 
das  erste  1855,  das  zweite  1848,  Italien  1880,  Frankreich  1880  (zunächst,  zwischen 
1841 — SO,  dann  1855  mit  25.9.  1847  mit  26.2),  das  zweite,  das  Kriegsjahr  1871 
(1870  26.7,  1872  27.9,  wie  1801.  Maximum  seitdem),  Gr.-Britannien  1847,  Russland 
1878  (Türkenkrieg,  sonst  47,9  in  1868  und  1881),  Belgien  1847  (zunächst  dann  1846 
mit  28.9,  1849  mit  29.0,  1855  29.3),  Norwegen  1869. 

In  den  einzelnen  Gebietstheilen  dieser  Länder  zeigen  sich  natürlich  grosse  Ver- 
schiedenheiten der  Durchschnitte,  der  Maxima  und  Minima.  Duter  den  preussischen 
Provinzen  haben  nach  dem  lUjähr.  Durchschnitt  die  östlichen,  z.  Th.  slavischen 
Provinzen  das  Maximum,  so  Posen  1871 — SO  46.22  (Min.  1851 — 60  43.46).  Preussen 
1861—70  46.08  (wenig  geringer  iu  den  drei  anderen  Decennien),  Ostpreussen  1851  bis 
60  44.70;  dagegen  das  Minimum  Schleswig -Holstein  1841 — 50  32.3,  Hannover 
1841  — 50  32.17  (in  beiden  seitdem  Steigerung  jahrzehntweisc).  Die  Maxima  nach 
einzelnen  Jahren  und  provinzweise  finden  sich  in  Ostpreussen  mit  52.65  iu  1849 
(nach  1S4S!  und  nach  vorausgehendem  Minimum  in  der  ganzen  Periode  in  1848, 
nach  der  Theuerung  von  1847,  mit  34,75,  iu  1850  wieder  46.37),  in  Westpreussen 
ebenfalls  in  1849  mit  50.51  (in  184S  auch  nahezu  das  Minimum  der  Periode  mit 
39.79,  noch  etwas  kleiner  nur  im  Kriegsjahrc  1871  mit  39.41).  In  Posen  war  das 
Maximum  in  1845  49.19,  1849  47.87  und  wiederum  nach  dem  Kriege  in  den  70  er 
Jahren  zwischen  47 — 48  und  i.  J.  1875  48.03.  Auch  in  Berlin,  dessen  Verhältnisse 
nach  seiner  Bevölkerungsgliederung,  besonders  seiner  Alterszusammensetzung  aber 
nicht  unmittelbar  eine  Vergleichung  gestatten,  ist  in  einzelnen  Jahren  die  Geburts- 
ziller  von  40  öfters,  von  45  auch  noch  überschritten  und  ein  Maximum  von  47  05 
in  1876  vorgekommen  (Mitte  der  80  er  Jahre  dagegen  nur  c.  36).  Auch  in  Schlesien 
wird  43 — 44  erreicht,  in  Westfalen  44  einmal  überschritten,  in  Rheinland  43,  aber 
die  Durchschnitte  bleiben  niedriger,  und  die  hohen  Zahlen  bilden  hier  und  in  den 
anderen  Provinzen,  wo  40  kaum  einmal  erreicht  wird,  die  Ausnahme.  In  Bayern 
kommen  zeitweise  die  hohen  Zahlen  von  45  und  darüber  in  der  Mitte  der  70  er  Jahre 
iu  den  nicht-fränkischen  rechtsrheinischen  Provinzen , also  im  eigentlichen  Alt-  oder 
Südbayern,  vor  und  wird  1871  — 80  hier  ein  Durchschnitt  von  43.41  erreicht,  auch 
in  der  Pfalz  findet  sich  1876  das  Maximum  von  44.77.  K.  Sachsen  zeigt  hohe  und 
steigende  Decennial- Durchschnitte,  1871  — 80  mit  44.69,  Maximum  1876  mit  47.27, 
Würtemberg  ähnlich  bz.  44.76  (1S71 — 80)  und  47.16  (1875).  Niedriger,  durchschnitt- 
lich unter  40,  bleiben  Baden,  Hessen  und  die  übrigen  Mittel-  und  Kleinstaaten,  in 
denen  nur  ausnahmsweise  40  erreicht  wird  (einzelnen  thüringischen),  mehrfach  35  ein 
Maximum  bildet.  Doch  sind  die  Zahlen  dieser  Gebiete  wegen  ihrer  Kleinheit  und 
specifischcn  Verhältnisse  nicht  direct  vergleichbar.  Jedenfalls  ist  auch  in  Deutsch- 
land dem  starken  Tempo  und  der  grossen  Geburtsfrequeuz  nach  dem  französischen 
Kriege,  besonders  Mitte  der  70er  Jahre,  ziemlich  überall  wieder  eine  erhebliche 
Abnahme,  wenn  auch  mit  Schwankungen,  gefolgt  (s.  u.  §.  218  ff.). 

Die  hohen  Frequenzen  von  45  — 50  und  darüber,  wenigstens  in  den  einzelnen 
Jahren , und  in  Landestheilen  selbst  von  der  Grösse  preussischer  Provinzen  und 
deutscher  Mittelstaaten  zeigen , dass  man  osteuropäischen  (galicischen , russischen), 
slavischen  hohen  Frequenzzahlen  doch  vielleicht  nicht  ganz  mit  dem  Misstrauen  gegen 
ihre  Richtigkeit  begegnen  darf,  welches  sich  zunächst  bei  ihrem  Aublick  wohl  ein- 
stellt und  bei  der  Unzuverlässigkeit  der  Statistik  wenigstens  in  Russland  wohl  nicht 
von  vornherein  unberechtigt  ist.  Für  das  mittlere  und  das  östliche  Russland  wird  im 
Durchschnitt  von  1871  — 80  bei  den  nach  dem  Familienstand  unterschiedenen  Neu- 
geborenen sogar  eine  Frequenz  von  50.4  und  bzw\  53.4  berechnet  (Reichsstat.  B.  44. 
Tab.  I.  S.  64  und  Note  S.  70).  Finnland  zeigt  geringere  Frequenzen  (fast  immer  unter 
40),  Ungarn  (i.  w.  S.)  aber  auch  im  neueren  Durchschnitt  über  43,  mit  Jahres- 
Maximum  von  45 — 46,  Serbien  auch  40 — 41  und  44 — 45  im  längeren  Durchschnitt, 
46 — 47  in  einzelnen  Jahren,  Rumänien  und  Griechenland  dagegen  bleiben  (wenn  die 
Daten  correct  sind  , was  iu  Griechenland  und  früher  wohl  auch  in  Rumänien  zu  be- 
zweifeln ist),  jenes  mit,  dieses  ohne  Todtgcborene,  unter  30,  doch  weisen  die  letzten 
Jahre  auch  iu  Rumänien  meist  35 — 37  auf.  — Dass  die  französische  niedrige 
Geburtsfrequenz  doch  ziemlich  allein  steht,  auch  nicht  etwa  romanischen  Völkern 
heute  zu  Tage  eigcnthümlich  ist.  zeigt  schon  der  Vergleich  mit  Italien,  auch  mit  dem, 
allerdings  zu  mehr  als  der  Hälfte  germanischen  Belgien.  Aber  auch  Spanien  hat 


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Gebartsfrequenz. 


497 


eine  Durchsclinittsfrequenz  (1861 — 70)  von  38.1,  mit  Jahresschwankungen  nur  zwischen 
39.7  und  35.7,  Rumänien,  wenn  man  es  mit  als  romanisch  gelten  lassen  will,  zeigt 
jetzt,  wo  vermuthlich  die  Daten  erst  vollständiger  sind,  die  höhere,  Italien  gleich 
kommende  Frequenz.  Bloss  Irland  und  Griechenland  haben  ähnlich  niedrige  Geburts- 
frequenz wie  Frankreich,  Irland  (ohne  Todtgeboreno)  im  Durchschnitt  26.3 — 26.5,  in 
den  80  er  Jahren  nur  noch  23  — 24.  Neben  bekannten  anderen  hier  mitspielenden 
Momenten  auch  wohl  der  Alterszusammensetzung  der  Bevölkerung,  und  unter  der 
Annahme,  dass  die  irischen  Daten,  welche  für  unvollständig  gelten,  doch  nicht  gar  zu 
sehr  hinter  der  Wirklichkeit  Zurückbleiben  — keltische  Verwandtschaft  mit  Frankreich? 

Nach  allen  diesen  Daten  wird  man  eine  Geburtsfrequenz  von 
45 — 50  Promille  der  Gesammtbevölkerung  allerdings  auch  für  etwas 
längere  Perioden  im  slavischen  Osten  als  erreichbar  und  thatsäch- 
lich  erreicht  ansehen  dürfen,  in  der  continentalen  und  grossbritannischeu 
germanischen  und  in  der  romanischen  Bevölkerung  Europas,  ausser- 
halb Frankreichs,  von  35  — 40,  in  der  nordgermanischen  von 
30  — 35,  wobei  die  höhere  Grenzziffer  etwa  mit,  die  niedrigere 
ohne  Todtgeborene  anzunehmen  wäre.  Ich  bezweifle  auch  nach 
diesen  Thatsachen,  ob  eine  höhere  Geburtsfrequenz  als  50 — 60, 
höchstens  noch  ein  wenig  darüber  als  „physiologisch-mög- 
liche“ angenommen  werden  darf. 

Die  erwähnten  Thatsachen,  die  hohe  slaviscbe,  die  bei  uus  in 
günstigen  Jahren  stark  und  rasch  steigende  Frequenz,  ein  wichtiger 
Punct  in  der  Schwankungsstatistik,  auf  welchen  wir  noch  zurück- 
kommen (§.  217  ff),  zeigen  aber  auch,  wie  selbst  unter  socialen 
Verhältnissen  der  Gegenwart  — oder  gerade  hier  werden  die 
Socialisten  auf  dem  Boden  ihrer  petitio  principii  sagen  — das 
physiologische  Maximum  der  Frequenz  trotz  eines  so  bedeutenden 
Theils  lediger  und  nicht  gebührender  Frauen  gar  nicht  so  sehr 
stark  unterschritten  und  bei  gewissen  Anreizungen,  wie  in  günstigen 
Jahren,  ihm  sofort  erheblich  näher  gekommen  wird,  was  genug 
zu  denken  giebt. 

Hält  man  sich  auch  hier  an  die  an  sich  correctere  Berechnung 
der  Geburtsfrequenz  nach  der  Anzahl  der  Geburten  (Geborenen), 
welche  nicht  auf  die  ganze  Bevölkerung,  sondern  auf  die  An- 
zahl der  Fr aucn  im  gebährfähigen  Alter  fallen,  so  er- 
geben sich  nicht  ganz  dieselben,  aber  doch  ähnliche  Unterschiede 
und  Reihenfolgen  der  Geburtsfrequenzen  der  Länder  oder  Völker, 
wie  bei  der  vorausgehenden  üblichen  Berechnungsweise.  Man  ge- 
langt auch  hier  zu  einer  auf  die  ganze  Bevölkerung  berechneten 
physiologisch  möglichen  Maximal-Geburtsfrequenz,  welche  von  dem 
obigen  Anschlag,  freilich  unter  gewissen  hypothetischen  Annahmen, 
nicht  allzuviel  abweicht. 

S.  Rcichsslat.  B.  44,  Einl.,  S.  9,  10,  Tab.  S.  76,  77.  f“  ■ 


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498  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.scb.  1.  K.  Bevölk.lehre.  1.  H.-A.  Statist  §.  210. 


Die  weibliche  Bevölkerung  zwischen  15  und  50  Jahren  kann  auf  c.  25%  der 
Gesammtbevöikerung  veranschlagt  werden.  Die  Geburtsfrequenz  (incl.  Todtgeborene) 
war  im  Deutschen  Reich  1872 — SO  164  Promille,  auf  alle  diese  Frauen,  293  auf  die 
verheiratheten , 30  auf  die  unverbeiratheten  (uuehelichc  Kinder) , mit  Schwankungen 
dieser  drei  Daten  in  den  einzelnen  Jahren  zwischen  bzw.  170  und  158,  30  und  29, 
303  und  276,  und  mit  Schwankungen  nach  Provinzen.  Provinztheil- Gruppen.  Mittel- 
staaten zwischen  bzw.  204  (Rg.-Bz.  Arnsberg)  uud  145  (Hannover  und  Eisass- Lothringen, 
135  Mecklenb.-Schwerin)  von  kleineren,  nicht  genau  vergleichbaren  Gebictsthcilen  ab- 
gesehen, in  der  Gesammtfrcquenz,  38  (unehel.  Frequenz).  (Rg.-Bz.  Breslau  und  Liegnitz) 
und  9 (Rg.-Bz.  Münster  und  Minden),  351  (eheliche  Frequenz)  (Rg.-Bz.  Düsseldorf) 
und  256  (Hannover,  224  Meckl.  - Schwerin)  Die  gleichen  Quoten  eiuiger  auderer 
Länder  (meist  auch  aus  1871 — 80)  waren  im  Vergleich  mit  Deutschland  (vgl.  auch 
u.  Tab.  UI  S.  505): 


Tab.  II.  Gebährfrequenz  der  Frauen. 

Auf  1000  15 — 50  Jahre  alte  Frauen  und  zwar 


verheirathete, 

nicht  verheir., 
kommen  jährlich 

überhaupt 

ehelich 

Geborene 

unehelich 

Geborene 

im  Ganzen 

Deutschem  Reich 

293 

30 

164 

Westöstor  reich 

258 

40 

145 

Galicien,  Bukowina 

260 

47 

175 

Italien 

254 

24 

149 

Frankreich 

174 

18 

106 

Belgien 

289 

19 

142 

Norwegen 

268 

20 

129 

Schweden.  Dänemark  zeigen  ähnliche  Zahlen  wie  Norwegen,  Niederlande  wie 
Belgien  (etwas  höher  in  Col.  1 und  3).  Schweiz  wie  Italien  (in  der  ehcl.  Frequenz, 
niedriger  in  der  unehelichen  und  gesammten,  hier  125). 

Nimmt  man  die  hohe  eheliche  Geburtsfrequenz  im  Deutschen 
Reiche  mit  rund  290  oder  im  Reg.-ßez.  Düsseldorf  mit  350  Pro- 
mille als  eine  allgemein  und  dauernd  von  der  ganzen  weiblichen 
gebährfäbigcn  Bevölkerung  pbysiologich  erreichbare  und  diese 
weibliche  Bevölkerung  wieder  auf  rund  25°/0  der  gesammten  an, 
obgleich  der  Uebertragung  der  Gcburtsfrequenz  bei  den  verheiratbeten 
auf  alle  anderen  Frauen  manche  Bedenken  entgegenstehen,  so  er- 
hielte man  eine  Maximal-Geburtsfrequenz,  auf  die  ganze  Bevölkerung 
berechnet,  von  allerdings  c.  7.25%  im  ersten,  8.75%  im  zweiten 
Falle,  was,  nach  dem  Früheren,  wesentlich  zu  hoch  erscheint. 
Legt  man,  wohl  richtiger,  eine  Geburtsfrequenz  aller  gebühr- 
fähigen  Frauen  von  etwa  250  Promille  zu  Grunde,  so  würde  eine 
Maximalfrequenz  von  6.25%  auf  die  Gesammtbevölkerung  gerechnet 
herauskommen,  was  annähernd  unserer  obigen  Annahme  entspräche. 

Verglichen  mit  der  wirklichen  von  c.  3.5  — 4%  im  europäischen 
Durchschnitt  zeigte  sich  dann  freilich  auch,  welches  starke  Hemm- 
mittel (check)  für  die  thatsächliche  Geburtsfrequenz  unsere  Ehe- 
ordnung dadurch  ist,  dass  durch  sie,  namentlich  auch  wegen  der 


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Geburtsfrequenz. 


499 


Verheiratung  erst  geraume  Zeit  nach  Eintritt  der  Gebährfahigkeit, 
doch  ein  erheblicher  Theil  der  gebährfähigen  weiblichen  Bevölkerung 
vom  Gebühren  grösstenteils  mit  Erfolg  ausgeschlossen  wird , wie 
die  liberall  so  viel  geringere,  bei  uns  nur  c.  10°/0  der  ehelichen 
betragende  uneheliche  Geburtsfrequenz  der  unverheiratheten  gebühr- 
fähigen  Frauen  zeigt.  In  einer  anderen  „Gesellschaftsordnung“, 
mit  anderem  Ehe-  oder  Geschlechtsverkehrs  - Rechte  würde  das 
doch  anders  liegen  und  daher  leicht  eine  allgemein  höhere 
Geburtsfrequenz,  auf  die  ganze  Bevölkerung  berechnet,  als  die  sich 
jetzt  bei  dieser  zeigende,  eintreten  können,  wenn  — nicht  der 
„präventive  Geschlechtsverkehr“,  nach  dem  neueren  Vorschläge 
(8.  462)  Abhilfe  gewähren  soll.  Gerade  diese  Seite  der  Frage  ist 
für  die  Kritik  gewisser  socialistischer  Illusionen  über  das  volks- 
wirtschaftliche Bevölkerungsproblem  wiederum  nicht  unwichtig. 

Zu  No.  4:  Hier  handelt  es  sich  um  die  Fragen  der  sogen. 
Mehrlingsgeburten  und  deren  statistische  Bedeutung  für  die 
Bevölkerungsvermchrung  durch  die  Geburten.  Genügendes  stati- 
stisches Material  liegt  hierüber  seit  länger  vor.  Es  ergiebt  sich 
daraus,  dass  die  statistische  Bedeutung  dieses  Phänomens  für  die 
hier  erörterte  Frage  ganz  untergeordnet  ist. 

Schon  die  Zahl  der  Zwillingsgeburten  ist  klein,  c.  1 °/o  ^er  Geburten,  c.  2Vg% 
der  Geborenen,  auch  davon  kommen  schon  2 — 3 mal  soviel  todt  zur  Welt,  als  bei  den 
einfachen  Geburten.  Die  Lebensfähigkeit  und  Lebensdauer  der  Zwillinge  ist  wohl 
auch  geringer,  wenn  auch  keine  genaue  Statistik  dafür  vorliegt.  Die  Zahl  der  Drillings- 
und  sonstigen  Mehrgeburten  ist  so  minimal  und  die  Kinder  sind  gewöhnlich  so  wenig 
lebensfähig,  wenn  sie  selbst  lebendig  geboren  werden,  dass  man  von  diesen  Fällen 
ganz  absehen  kann.  Sie  haben  mehr  nur  ein  rein  physiologisches  oder  pathologisches 
Interesse.  Im  Deutschen  Reich  (e.vcl.  einige  Kleinstaaten  und  Eisass -Lothringen) 
kamen  1870  — 80  jährlich  19.1 39  Zwilliiwsgeburten , l2.3%o  von  allen  Geburten 
(darunter  9S7.56°/oo  einfache),  209  Drillingsgeburten,  und  2 Vier-,  bzw.  Fünflings- 
geburten (im  Ganzen  8 in  3 Jahren,  davon  eine  Fünflingsgebart),  oder  zus.  0.1 3%«, 
vor.  Unter  1000  Geborenen  überhaupt  waren  24.69  Mehrlingskinder.  In  anderen 
Ländern  sind  die  Zahlen  nicht  sehr  verschieden,  hier  und  da  ein  Geringes  bei  Zwillingen 
höher,  nur  Frankreich,  neben  Spanien,  Rumänien,  steht  auch  hier  mit  bloss  9.81 
Zwillingsgeburten  etwas  zuruck  (s.  B.  44  d.  Reichsstat.  Einl  S.  60,  Tab.  S.  140,  178). 
Schlägt  man  zur  Zahl  der  Geburtsacte  also  etwa  1 °/0  hinzu,  was  bei  den  durchaus 
nur  approximativen  Ziffern,  mit  welchen  wir  es  in  der  hier  erörterten  Frage  zu  tbun 
haben,  aber  nicht  ins  Gewicht  fällt,  so  hat  man  der  statistischen  Bedeutung  der 
Mehrlingsgeburten  genügend  Rechnung  getragen. 

§.  211.  Fortsetzung.  Näheres  über  die  Sterbefall- 
frequenz,  besonders  Kleinkindersterblichkeit. 

Zu  No.  5 : Für  die  Entscheidung  der  Frage  der  physiologisch 
möglichen  natürlichen  Bevölkerungsvermehrung  kommt  endlich  gegen- 
über der  maximalen  Geburtsfrequenz  die  minimale  Sterblich- 
keit in  Betracht.  Die  directe  Feststellung  ist  selbstverständlich 
nicht  möglich , die  vorliegenden  statistischen  Thatsachen  ergeben 


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500  -i-  B.  Bevölk.  u.  Volkaw.sch.  1.  K.  Bevölk.lelire.  1.  H.-A.  Statist.  §.  211. 

immer  Dur  Grössen,  welche  Functionen  unserer  socialen  Verhält- 
nisse mit  sind.  Immerhin  wird  man  auch  diese  Daten  wiederum 
mit  zur  Beweisführung  herbeiziehen  müssen  und  dürfen.  Aber  un- 
vermeidlich bleibt  hier  für  Conjectureu  ein  noch  weiterer  Spielraum 
als  bei  der  Geburtsfrequenz.  Für  solche  Conjecturen  lassen  sich 
jedoch  richtige  Anhaltspuncte  hinsichtlich  der  Verhältnisse  und 
Einflüsse,  welche  für  die  Sterblichkeit  in  Betracht  kommen,  fest- 
stellen, wozu  man  dann  auch  wieder  statistische  und  andere  Er- 
fahrungsthatsachen  benutzen  kann. 

Die  Sterblichkeit  ist  nach  allen  Erfahrungen  n atu r gemäss 
nach  den  Lebensaltern  sehr  verschieden.  Art  und  Maass  dieser 
Verschiedenheit  sind  nun  zwar  gewiss  wieder  von  den  socialen 
Verhältnissen  beeinflusst,  durch  Aenderungen  darin  also  selbst 
einer  Veränderung  Fähig,  die  Erfahrung»-,  auch  die  statistischen 
Thatsacben  der  Sterbefrequenz  in  den  Lebensaltern  also  insofern 
variable  Grössen  in  Abhängigkeit  von  den  socialen  Verhältnissen, 
so  dass  man  aus  den  einer  bestimmten  Bevölkerung  in  der  und 
der  Zeit  entnommenen  Daten  nur  wieder  mit  Vorsicht  Schlüsse 
auf  ein  noth wendiges  Maass  der  Sterblichkeit  ziehen  kann. 
Auf  dieser  Erkenntniss  der  Abhängigkeit  der  Sterblichkeit  von 
socialen  Factoren  beruht  ja  auch  alle  rationelle  Theorie  und  Ver- 
waltungspolitik zur  Verbesserung,  zur  Verminderung  der  Sterblich- 
keit. Aber  die  Grösse  der  Verschiedenheit  und  der  im  Ganzen 
regelmässige  Gang  der  Sterblichkeit,  wie  er  sich  bei  allen  kleineren 
zeitlichen  und  örtlichen  Abweichungen  unverkennbar  ergiebt,  zeigt 
doch  auch  deutlich,  dass  eine  gewisse  Eigenart  der  Sterbefrequenz 
eine  natürliche  Mitgabe  des  Lebensalters  ist,  dass  es  daher 
für  deren  hier  in  Frage  stehende  Verminderung  gewisse  natür- 
liche Grenzen  giebt , welche  zwar  nicht  unverrückbar  sind,  in- 
dessen sich  doch  nicht  über  ein  nicht  zur  Zahl  zu  bringendes,  aber 
deshalb  doch  vorhandenes  Maass  verschieben  lassen  möchten. 

Dies  gilt  von  den  drei  grossen  Abschnitten,  in  welche  man 
das  menschliche  Lebensalter  für  diese  Fragen  nach  aller  bisherigen, 
hier  aber  auch  wohl  allgemein  gütigen  Erfahrung  zerlegen  kann, 
nicht  in  gleichem  Grade,  aber  es  gilt  doch  für  alle  drei:  das  frühe, 
namentlich  das  allererste  Kindesalter  (stufenweise:  Leben 
vor  der  Geburt,  unmittelbar  nach  derselben,  erste  Wochen,  Monate, 
1.,  2.  Jahr,  etwa  noch  3. — 5.  Jahr),  das  spätere  Kindes-  und 
das  erwachsene  Alter  bis  zur  Schwelle  des  Greisenalters 
(5—10  bis  60,  65,  70  Jahre)  und  das  Greiscnalter  über  letztere 


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Sterblichkeit,  bet.  der  Kleinkinder. 


501 


Jahre  hinaus  bis  zum  Tode.  Für  den  letzten  Abschnitt  scheint  die 
Grenze  der  Sterblichkeit  und  Lebensdauer  am  Wenigsten  verrlickbar 
zu  sein.  Für  das  Kleinkindesalter  lässt  sich  durobr  Verbesserung 
der  socialen  Verhältnisse  eine  erhebliche  Verminderung  der  Durch- 
schnittssterblichkeit erreichen,  aber  gross  wird  diese  Sterblichkeit 
hier  nach  Allem  in  Vergleich  zu  den  mittleren  Altersclassen  immer 
bleiben.  Nur  für  den  mittleren  Lebensabschnitt  milchten  die  Chancen 
günstiger  liegen,  wenn  alles  geschieht,  was  „menschenmöglich4' 
zur  Verbesserung  der  Lebensverhältnisse  ist.  Dass  hier  überhaupt 
mit  N aturfactoren  zu  rechnen  ist,  ergiebt  wohl  auch  die  überall 
wahrnehmbare  Verschiedenheit  der  Sterblichkeit  zwischen  dem 
männlichen  und  weiblichen  Geschlecht  und  in  den  ver- 
schiedenen Lebensaltern  beider,  die  sicher  zwar  auch  mit,  zum 
Theil  nachweisbaren,  socialen  Factoren  zusammenhängt,  aber  sich 
daraus  nicht  allein  erklären  lässt. 

Dem  Kinde  droht  schon  vor  und  bei  der  Geburt  der  Tod, 
dem  Knaben  mehr  als  dem  Mädchen , wie  die  Statistik  der  Todt- 
geburten  zeigt. 

Im  Deutschen  Reich  (1872 — SO)  kommen  4%  Todtircborcnc  unter  den  Geborenen 
vor  mit  Jahrcsschwankungcn  von  3.9  — 4.1  und  Schwankungen  in  den  grösseren 
Gebietsgruppen  nach  mehrjährigem  Durchschnitte  von  5%  (Rp.-Bz.  Breslau  und 
Lieguitz)  und  3.1  (Oppeln,  2.9  in  Alt-Bayern,  doch  sind  die  Zahlen  gewisser  katholischer 
Gegenden  wohl  nicht  ganz  richtig,  wahrscheinlich  etwas  zu  niedrig).  Die  todtgeborenen 
Knaben  Uberwiegen  stark,  weit  mehr  als  sie  es  bei  den  lebendgeborenen  thun  (im 
Deutschen  Reich  kommen  bei  den  Geburten  auf  100  lebende  Mädchen  105.4  Knaben, 
auf  100  todtgeborene  Mädchen  12S.9)  (Reichsstat.  B.  44,  Einl.  S.  58,  Tab.  S.  170, 
Daten  f.  fremde  Länder  eb.  S.  177).  Die  localen  Unterschiede,  ebenso  der  höhere 
Procentsatz  Todfgeborener  bei  unehelichen  Geburten  (in  Deutschland  hier  5,  bei  den 
ehelichen  3.9 °/0,  eine,  wie  Schumann  a.  a.  O.  in  der  Reichsstatistik  mit  Recht  sagt, 
um  so  erheblichere  Differenz,  weil  die  unehelichen  Mütter  häufiger  in  einem  Lebens- 
alter mit  an  sich  geringerer  Frequenz  der  Todtgeburten  stehen)  und  andere  incdiciuische 
Erfahrungen  beweisen,  dass  bei  den  Todtgeburten  sociale  Factoren  mitspielen;  wie 
weit  das  eine  Geburtsstatistik  nach  Woldstandskatejrorien  u.  dgl.  noch  mehr  zeigen 
würde,  mag  dahingestellt  bleiben.  Ein  gewisser  Procentsatz  der  Todtgeburten  wird 
aber  doch  als  n o t h we n d i g aus  Nat u rve r h ä 1 1 n issen  hervorgehend,  mindestens 
bei  Culturvölkeru , anzusehen  sein.  Die  Verschiedenheit  der  Todtgeburten  nach  den 
Geschlechtern  beweist  das  wohl  mit,  wenn  auch,  wie  ich  zugebe,  doch  nicht  unbedingt. 

Die  grosse  Sterblichkeit  im  ersten  und  überhaupt  im  früheren 
Kind  es  alter,  nach  den  vorhin  angegebenen  Zeitstufen,  wird 
durch  alle  Erfahrung  und  die  Statistik  aller  Länder  bestätigt,  frei- 
lich auch  die  sehr  verschiedene  Höhe  dieser  Kleinkindersterblichkeit. 
Der  Einfluss  mannigfacher  socialer  Factoren,  Wohlstand,  Bildung, 
Gewissenhaftigkeit,  Sittlichkeit  der  Eltern,  Zustände  der  hygienischen 
Verhältnisse,  des  Sanitäts-  und  Medicinal wesens,  Auftreten  von 
Epidemien  u.  a.  dgl.  m.  lässt  sich  theilweise  auch  aus  zeitlichen 
und  örtlichen  statistischen  Vergleichungen,  theils,  wenn  auch  weniger 


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502  4.  B.  Bcvölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lcbrc.  1.  H.-A.  Statist.  §.  211. 

genau,  aus  bekannten  anderen  Erfahrungsthatsachen  nachweisen. 
Danach  hat  man  es  in  erheblichem  Maasse  gerade  in  der  Kinder- 
sterblichkeit mit  einer  variablen,  deu  socialen  Verhältnissen 
stark  unterliegenden,  bei  einer  Verbesserung  derselben  verminderungs- 
fähigen Grösse  zu  thun.  Allein  alle  weiteren  Erwägungen  in  Be- 
treff des  Phänomens,  alle  in  Betracht  kommenden  physiologischen, 
medicinischen  Erfahrungsthatsachen  und  doch  auch  wieder  zu- 
lässige Schlüsse  aus  günstigen  statistischen  Daten  über  Klein- 
kindersterbliehkeit  führen  doch  wieder  zum  Ergebniss,  dass  diese 
grosse  Sterblichkeit  wohl  sich  vermindern  lässt,  aber  eine  relativ 
starke,  besonders  im  ersten  Lebensjahre,  gegenüber  allen  übrigen 
Altersclassen,  selbst  die  hohen  (wenn  auch  nicht  die  höchsten)  ein- 
geschlossen, auch  unter  den  günstigsten  Verhältnissen 
bleiben  wird,  insofern  eben  doch  etwas  Natürliches  ist. 

Das  ist  ja  auch  von  vornherein  bei  der  physischen  Natur  des  kleinen  Kindes 
und  bei  den  unvermeidlichen  Gefahren,  denen  es  durch  und  während  seiner  Entwicklung 
unterliegt,  auch  wegen  des  Characters  der  Krankheiten,  denen  cs  besonders  leicht  aus- 
gesetzt ist,  begreiflich.  Gesundheitliche  und  sittliche  Besserung  der  Eltern,  vor  und 
nach  der  Geburt  des  Kindes,  Hebung  der  ökonomischen  Lage  und  Bildung  derselben, 
naturwissenschaftlich  - medicinische  Fortschritte,  lauter  Factoren , mit  deneu  ja  nicht 
mit  Unrecht,  aber  wie  gewöhnlich  übertreibend  der  socialistische  und  sonstige  Optimis- 
mus rechnet,  werden  das  nicht  principiell,  wenn  auch  dann  uud  wann  graduell  ändern 
können.  Selbst  ein  platonisches  Aussetz-  oder  Tödtungssystem  „schwächlicher“  Kinder 
böte  bei  der  Unbestimmtheit  der  Merkmale  uud  bei  der  Ungewissheit  späterer  Ge- 
fahren keine  genügende  Abhilfe,  während  das  drastische  Mittel  ja  selbst  nur  sofort  zu 
erhöhter  Kindersterblichkeit  führte. 

Für  die  Frage  des  Einflusses  einer  somit  als  mehr  oder 
weniger  feste  Minimalgrösse  gegebenen  Kleinkindersterb- 
liebkeit  auf  die  Volksvermehrung  kommt  nun  gerade  für  unsere 
Frage  von  der  natürlichen  Volksverraehrung  der  Zusammenhang 
dieser  Sterblichkeit  mit  der  Geburtsfrequenz  in  Be- 
tracht. Besonders  grosse,  namentlich  dauernd  besonders 
grosse  Gesammtsterblichkeit  einer  Bevölkerung  findet  sich 
meistens  bei  besonders  grosser  Geburtsziffer  und  ist  nach- 
weisbar vornemlich  darauf  zurückzuführen , dass  eben  von  der 
grossen  Kleinkinderzahl  ein  erheblicher  Theil  sehr  bald  wieder 
stirbt.  Selbst  vorübergehende  Ursachen  höherer  Gesammtsterb- 
lichkeit,  wie  wirtschaftliche  Nothstande,  Seuchen,  Epidemien  de- 
cimireti  vor  Allem  eben  auch  die  kleinen  Kinder  und  steigern  die 
allgemeine  Sterbeziffer  durch  die  grosse  Kindersterblichkeit  unter 
grosser  Kinderzahl  bei  einer  starken  Geburtsfrequenz.  Die  viel 
ungünstigere  Steiblichkcit  in  Deutschland  gegenüber  Frankreich, 
in  manchen  (nicht  allen)  unseren  geburtsreichen  Provinzen  gegen- 


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Kleiukindcrsterblichkeit. 


503 


liber  den  geburtsarmen  ist  in  erheblichem  Maasse  auf  die  grössere 
Geburtszahl  zurUckzuflihren,  indem  der  Tod  unter  den  Kindern 
wieder  eine  reiche  Ernte  hält.  Freilich  gehen  aber  Geburt«  - und 
allgemeine  Sterbeziffern  nicht  parallel  und  ebenso  wenig  wächst 
die  Kleinkindersterblichkeit  immer  proportional  der  Geburtsziffer 
oder  gar  progressiv  zu  ihr.  Auch  Länder,  z.  ß.  England,  Landes- 
theile,  z.  B.  Rheinland  und  Westfalen,  mit  ziemlich  hoher  Geburts- 
ziffer haben  eine  massige  Gesammtsterblichkcit  (s.  Tab.  III),  zeigen 
also,  dass  sich  das  vereinigen  lässt.  Aber  eine  Gefahr  ist  doch 
nicht  zu  verkennen,  dass  mit  der  Zahl  der  Geburten  die  Kinder- 
sterblichkeit eher  wächst,  als  abnimmt,  weil  die  Kinder  weniger 
gepflegt  werden,  sich  zu  rasch  folgen,  vielleicht  auch  deswegen 
schwächer  sind,  ihr  Leben  selbst  den  Eltern  weniger  Werth  hat, 
die  ökonomischen  Mittel  knapper  werden  u.  8.  w.  Die  regelmässig 
wahrnehmbare  grössere  Sterblichkeit  unter  den  unehelichen  Klein- 
kindern, auch  psychologisch  begreiflich,  zeigt  derartige  Einflüsse 
besonders  und  refleetirt  sich  dann  auch  in  der  höheren  Gcsammt- 
8terblichkeit  von  Ländern  mit  starker  Zahl  unehelicher  Geburten. 
Ungünstige  Verhältnisse  dieser  Art  zeigen  bei  uns  besonders  Alt- 
Bayern,  aber  auch  Würtemberg  und  die  östlichen  preussischen  Pro- 
vinzen, Ungarn,  Galicien.  Bei  uns,  wie  in  manchen  anderen  Ländern 
hoher  Geburtsfrequenz,  sind  so  Ilunderttausende  von  Kindern  nur 
ein  rasch  durchlaufender  Posten,  der  alsbald  wieder  in  den  Todes- 
listen erscheint.  Mit  Recht  von  Rümelin  etwas  Trauriges,  ja 
eine  Schmach  genannt,  ethisch  wie  wirtschaftlich  jedenfalls  ein 
schwerer  Uebelstand,  Aber  wenn  auch  bei  geringerer  Geburts- 
frequenz und  unter  günstigeren  Veihältnisscn  selbst  bei  grosser 
sich  ein  solches  Vcrhältniss  mildern  kann:  ein  erhebliches 
Gontingent  zum  Todtenbudget,  namentlich  im  ersten  Lebens- 
jahr, werden  die  Kleinkinder  immer  stellen  und  stellen  sie  auch 
heute  in  den  Ländern  mit  geringerer  allgemeiner  wie  Kindersterb- 
lichkeit. 

Das  ergiebt  sich  aus  jeder  bezüglichen  Statistik,  auch  aus  den  Daten  und  Be- 
rechnungen in  der  neuesten  vergleichend -statistischen  Arbeit  des  reichsstat.  Amts 
(s  bes.  Einl.  S.  6711'.,  Tab  S.  1S2;  cs  müssen  aber  für  die  Frairc  des  Zusammen- 
hangs zwbchcn  Geburtsfrequenz  und  allgemeiner  wie  Kindersterblichkeit  verschiedene 
Tabellen  und  Daten  vereinigt  werden).  Das  Material  ist  zu  umfassend,  um  hier  Auf- 
nahme finden  zu  können.  Folgende  Tabellen  Ul  und  IV  geben  wenigstens  einige 
Anhaltspuncte  (meist  für  1872 — 80).  Reihenfolge  der  Länder  nach  der  Kindersterb- 
lichkeit im  1.  Lebensjahre  (s.  gen.  Werk  Eiul.  S.  67,  Tab.  S.  182,  176). 


504  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lchre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  211. 


Tab.  III.  Sterblichkeits-  und  Gebährfrequenz  in 

deutschen  Ländern. 


Colonne 

Auf  1000 
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Auf  1000  15  bis 
50jähr.  Frauen 

Geborene 

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LC 

11. 

Sudbayern 

500 

65 

19 

34.1 

310 

50 

1 

1TG 

1 

1 

8 

wm 

t 

Berlin 

425 

108 

34 

29.9 

263 

37 

144 

2 

2 

23 

27 

Würtemberg 

410 

63 

21 

29.9  j 

325 

32 

180 

3 

2 

6 

5 

Königreich  Sachsen 

379 

75 

24 

28.9  1 

284 

48 

177  1 4 

6 

14 

6 

R.-B.  Breslau- Liegnitz 

376 

76 

21 

29.0  , 

275 

38 

157 

O 

5 

18 

18 

Baden 

300 

55 

19 

26.9 

302 

24 

159 

6 

11 

11 

16 

Franken  (Baiern) 

313 

62 

21 

27  3 

275 

41 

157 

7 

10 

18 

18 

Westpreussen 

309 

79 

35 

29.1 

334 

30 

188  1 

8 

4 

3 

2 

Brandenbg.  (ohn.  Berl.) 

306 

04 

25 

25.8 

271 

35 

102 

9 

10 

21 

14 

Pr.  Posen 

292 

78 

32 

28.4 

328 

25 

187 

10 

7 

5 

3 

Ostpreussen 

1 286 

87 

39 

28.4 

299 

32 

103 

11 

7 

12 

12 

R.-B.  Oppeln 

2S2 

96 

83 

28.2 

319 

22 

170 

12 

9 

»» 

7 

Elsass-Lothringen 

281 

05 

22 

20.0 

280 

20 

145 

i 13 

13 

15 

25 

6 Thür.  Staaten 

279 

62 

22 

25.0  1 

253 

37 

158 

14 

21 

27 

17 

Hamburg 

1 279 

87 

24 

25.9 

265 

26 

142 

15 

15 

22 

28 

Provinz  Sachsen  ||  272 

70 

20 

26.0 

277 

34 

169 

10 

13 

16 

10 

Braunschweig 

255 

73 

26 

25.5 

250 

34 

151 

17 

17 

28 

22 

Hessen 

240 

50 

19 

24.1 

272 

24 

156 

18 

24 

20 

20 

Pommern 

j 243 

54 

24 

23  4 

291 

84 

166 

19 

25 

13 

11 

Anhalt 

, 240 

61 

23 

23.2 

257 

34 

160 

20 

20 

24 

15 

Pfalz 

233 

01 

21 

24.7 

1 307 

21 

175 

21 

22 

10 

9 

Rheinld.  (ohn  Düsseid.) 

! 230 

71 

27 

25.1 

333 

11 

103 

22 

19 

4 

12 

R.-B.  Düsseldorf 

. 209 

77 

27 

25.5 

351 

10 

182 

23 

17 

1 

4 

Hessen-Nassau 

201 

58 

22 

24.4 

277 

17 

148 

24 

23 

16 

23 

Mecklenburg-Schwerin 

i 194 

40 

10 

20  9 

224 

38 

135 

25 

29 

29 

29 

R.-B.  Arnsberg 

t 190 

84 

32 

20.9 

344 

11 

204 

26 

11  2 

1 

R.-B.  Münster-Minden  | 180 

63 

22 

25.1 

312 

9 

153 

27 

19  9 

21 

Hannover  '•  180 

58 

22 

23.2 

256 

20 

145  • 28 

26 

26 

25 

Schleswig-Holstein  !l  179 

45 

16 

21.0 

257 

28 

147 

1 29 

28 

24 

24 

Tab.  IV  S.  505. 


Die  erste  Tabelle  (III)  Uber  die  deutschen  Gebietsgruppen  zeigt  iin  Ganzen  einet* 
Zusammenhang  zwischen  der  Kindersterblichkeit  und  der  allgemeinen  Sterblichkeit, 
wie  die  ziemliche  Uebereinstimmung  der  Bangordnung  in  Col.  8 und  9 ergiebt. 
Aber  einige  Verschiebungen  treten  doch  ein . worauf  die  Altersclassenvertheiiung 
mitunter  von  Einfluss  wegen  der  verschiedenen  Sterblichkeit  in  den  Lebensaltern  sein 
kann.  Zwischen  der  Geburtsfrequenz  (in  der  hier  berechneten  Weise)  (Col.  10.  u.  11) 
und  der  Kindersterblichkeit  (Col.  9)  macht  sich  aber  ein  Zusammenhang  viel  weniger 
geltend,  weder  bei  der  ehelichen  noch  der  ganzen  Geburtsfrequenz,  in  ciuigeu  Fällen 
(Berlin,  Düsseldorf,  übrige  Rhcinproviuz,  Arnsberg)  verschiebt  sich  die  Rangordnung 
sogar  ausserotdentlich , was  den  Einfluss  socialer  Factoren  auf  die  Kinder-  und  all- 
gemeine Sterblichkeit  ergiebt.  günstigere  Umstände  wie  in  Rheinland,  ungünstigere  wie 
in  Berlin.  Die  Verhältnisse  der  hohen  Kindersterblichkeit  in  Südbaiern.  Würtemberg 
erscheinen  nach  der  Verschiebung  der  Reihenzahlen  in  Col.  10,  11  verglichen  mit  8,  9 


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Sterblichkeit. 


505 


Tab.  IV.  Sterbl ichk eits-  und  Geburtsfrequenz 
europäischer  Länder. 


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9. 

Westösterreich 

323 

84 

32 

29.3 

258 

40 

145 

36.7 

1 0) 

Galiz..  Bukowina 

300 

113 

54 

37.1 

260 

47 

175 

14.6 

2 (2) 

Deutschland l) 

294 

70 

25 

26,8 

293 

80 

164 

] 39.1 

3 (3 

4 (4) 

Italien 

294- 

169 

42 

80.0 

254 

21 

1 49 

1 36.9 

Spanien 

267 

67 

30.4 

? 

? 

*? 

87.6 

5 — 

Schweiz 

238 

41 

15 

23.5 

259 

11 

125 

30.8 

6 (5) 

Niederlande 

237 

66 

2 t 

, 

24.3 

310 

10 

157 

| 36.4 

7 (6) 

Frankreich 

210 

29 

22.4 

174 

18 

106 

• 25.4 

8 (7) 

Finnland 

195 

38 

22.2 

? 

? 

1491 

37.0 

9 — 

Gr. -Britannien 

174 

66 

20 

21.4 

? 

? 

V 

35,4 

10  — 

Dänemark 

165 

36 

15 

19.5 

241 

27 

132 

31.4 

11  (8) 

Schweden 

152 

41 

20 

18.3 

248 

24 

125 

80.5 

12  (9) 

Irland 

114 

41 

15 

18.2 

? 

V 

V 

26.5 

13  — 

Norwegen 

111 

39 

16 

17.0 

268 

20 

129 

31.0 

11(10) 

Griechenland 

111 

30 

19.0: 

? 

2 

? 

27.6 

15  — 

Reihenfolge  ®) 

nach 


© 


10. 


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|5 


11.  12. 


4 (3) 
1 (1) 

5 (4) 
3 (2) 


o 


I -\ 
10  — 
12  (8) 

13  (9) 

14  (10) 

15(11) 

II  — 


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6 5 

4 1 

2 2 

7 4 


6 


10 

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9 


8 

3 

10 


er 


13. 


(5 

1 

2 

5 

5 

11 


15 

4 

8 

9 

12 

14 

10 

13 


auch  noch  bedenklicher.  Mehrfach  besondors  in  den  Gebieten  mit  niedriger  Geburts- 
zificr  (Col.  10,  combinirt  mit  11)  ist  aber  doch  auch  gleichzeitig  die  Kindersterb- 
lichkeit niedrig,  was  auf  einen  Zusammenhang  der  Erscheinungen  hier  doch  hin- 
weisen  möchte. 

In  der  2.  Tabelle  (IV),  wo  wegen  des  Fehlens  der  Daten  für  Geburtsfrequenz 
der  gebhärfähigon  Frauen  in  einigen  Ländern  noch  eine  besondere  Colonne  (8)  für  die 
Geburtsfrequenz  in  der  üblichen  Weise  (von  der  Gesammtbcvölkerung)  berechnet  ist, 
ist  die  Gesammtsterblichkeit  und  dio  Kindersterblichkeit  nach  der  Reihenfolge  der 
Länder  in  Col.  9 und  10  in  grosser  Oebereinstimmung,  nur  Westösterreich  und  Deutsch- 
land stehen  in  der  Kindersterblichkeit  noch  ungünstiger  als  in  der  gesäumten,  was 
wieder  auf  besondere  ücbelständo  in  jener  bei  uns  hinweist.  Die  eheliche  und  die 
Gesammtgeburtsfrcquenz,  und  zwar  letztere  in  beiden  Berechnungsweisen,  zeigt  auch 
hier  viel  erheblichere  Abweichungen  in  der  Reihenfolge  der  Länder  von  derjenigen 
in  der  Sterblichkeit  (Col.  11  bis  13  verglichen  mit  Col.  9 und  10).  aber  grade  in  den 
Ländern  mit  Maximis  und  Minimis  auch  einige  sehr  deutliche  Ucbercinstimmungen, 
welche  auf  den  nahen  Zusammenhang  der  Sterblichkeits-,  besonders  der  Kleinkinder- 
sterblichkeitsfrequenz mit  der  Geburtsfrequenz  hinweisen.  Die  Länder  mit  besonders 
hoher  Geburtsfrequenz  (Galizien,  Deutschland.  Spauien,  Italien,  Westösterreich)  haben, 
wenn  auch  nicht  genau  in  derselben  Reihenfolge,  eine  höhere  Kinder-  und  allgemeine 
Sterblichkeit,  die  Länder  mit  geringerer  Gebartsziffer,  besonders  Frankreich,  auch  eine 
niedrigere  Sterblichkeit.  In  dieser  Tabelle  IV  möchten  einige  der  grösseren  Ab- 


*)  Die  Zahlen  in  Col.  1 — 4 ohne  Würtemberg  und  Hamburg. 
s)  Die  eingcklammerten  Zahlen  in  Col.  9 und  10  zeigen  die  Reihenfolge  an, 
wenn  die  5 Länder,  wo  in  Col.  5 und  7 die  Daten  fehlen,  weggelassen  werden. 


506  4.  B.  Bevölk.  u.  Yolksw.sch.  1.  K.  BcvölkJchre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  212. 


weichungen  in  der  Reihenfolge  der  Geburts-  und  Sterbefallfrequenzen  besonders  bei 
den  Mittelstaaten  sich  übrigens,  wie  z.  Th.  auch  in  Tab.  III,  daraus  erklären,  dass 
in  diesen  Ländern  und  Landestheilcn  mit  kleinerer  absoluter  Gesammtbevölkerung 
zufällige  Momente  mehr  einwirken  nnd  die  Zahlen  daher  mit  denjenigen  der  grossen 
Länder  sich,  wie  oben  schon  bemerkt,  nicht  so  gut  vergleichen  lassen.  In  der  Ta- 
belle IV  fehlt  (wie  in  dem  gen.  B 44  der  Reichsstatistik,  S.  t»7,  1S2)  Belgien. 
Mit  einer  Geburtsfiequenz  der  verheirateten  gebärfähigen  Frauen  von  289,  aller 
Frauen  von  142  nähert  cs  sich  in  erstercr  Ziffer  Deutschland,  in  der  zweiten  West- 
Österreich,  seine  Geburtsfrequenz  von  der  Gcsammtbevöikerung  (lebende)  ist  32.6, 
etwas  höher  als  in  Dänemark,  seine  Sterblichkeitsfrequenz  (ohne  Todtgeborene)  22.9, 
etwa  wie  die  französische. 

Eine  etwas  andere  Berechnung  der  Kleinkindersterblichkeit  ergiebt  ähnliche 
Resultate,  nemlich  das  Verhältnis  zwischen  den  Lebendgeborenen  und 
den  im  ersten  Lebensjahre  Gestorbenen  (s.  B.  41,  Eiul.  S.  70,  71,  Tab.  S.  1S3), 
Hiernach  war  in  dem  grössten  Tbeil  des  Deutschen  Reichs  die  Sterblichkeit  iin 
1.  Lebensjahre  auf  1000  223  (eheliche  212,  uneheliche  351),  mit  Abweichungen  von 
372  in  Südbaiern  bis  155  in  Hannover  (bei  der  notwendigen  Beschränkung 
der  Vergleichung  auf  vergleichbare  annähernd  gleiche  Gebiete,  in  kleineren  Gebieten 
gehen  die  Zahlen  bis  auf  125  herab,  übrigens  je  nach  den  zu  Grunde  gelegten  Durch- 
schnittsjahren mit  kleinen  Abweichungen).  In  Russland  ist  die  Zitier  206,  im  Osten 
sogar  345,  in  Westösterreich  256,  Galizien,  Bukowina  257,  Italien  214,  Gross- Bri- 
tannien 145,  Frankreich  166,  in  Schweden  aber  nur  130,  in  Norwegen  sogar  nur  101, 
in  Irland  97.  üeberall  sind  die  Zahlen  für  die  unehelichen  Kinder  ungünstiger,  selbst 
fast  bis  zum  Doppelten  (Frankreich  300  gegen  155).  Nicht  allein,  aber  doch  vor- 
nemlich  bei  geringerer  Geburtsfrequenz  wird  die  Sterblichkeit  im  1.  Jahre  erheblich 
niedriger.  Sie  aber  wesentlich  noch  unter  10  °/0  bringen  zu  können,  das  irisch- 
norwegische  Minimum  (bei  ehelichen  Kindern  in  Norwegen  ist  sie  99,  bei  unehelichen 
auch  hier  120  %ob  erscheint  doch  nicht  sehr  wahrscheinlich.  Auch  von  deutschen 
kleineren  Gebieten  ist  es  nur  das  Grossh.  Oldenburg,  welches  solchen  Zilfcrn  näher 
kommt  (bei  ehelichen  119,  bei  unehelichen  auch  gleich  wieder  243,  i.  G.  125  %o)* 
Dass  im  üebrigen  Natu  r factoren  hier  cinwirken , ergiebt  sich  wohl  auch  wieder 
aus  der  überall  in  allen  Ländern  und  Gebietsgruppen,  allen  Jahren,  bei  ehelichen  und 
unehelichen  Kindern  grösseren  relativen  Sterblichkeit  der  Knaben  im  1.  Lebens- 
jahre verglichen  mit  den  Mädchen.  Eine  nicht  unwesentliche  Abnahme  der  Sterb- 
lichkeit im  1.  Jahre  ist  für  Deutschland  von  1872 — 80  übrigens  nachgewiesen,  von 
über  340  bis  auf  unter  270. 

§.  212.  Fortsetzung.  Sterblichkeit  im  späteren 
Kindes-  und  im  erwachsenen  Lebensalter.  Nach  Ablauf 
des  ersten  Lebensjahres  (und  schon  vorher)  nimmt  die  Sterb- 
lichkeit erheblich  ab,  wenn  sie  auch  bis  zum  sechsten  Jahre 
nicht  unbeträchtlich  bleibt.  In  die  Einzelheiten  hinein  können  wir 
das  hier  nicht  näher  verfolgen.  Eine  allgemeine  Characteristik  der 
Erscheinung  genügt  für  unsere  Zwecke. 

Vergl.  die  Tabellen  im  B.  44  der  Reicbsstatistik  S.  62  der  Einl.  u.  S.  182  der 
Tabellen,  daselbst  auch  für  grössere  Altersdassen  graphische  Darstellungen  für  das 
Deutsche  Reich. 

Der  allgemeine  Gang  der  Sterblichkeit  ist  überall  im  Ganzen 
so  gleichmässig , wenn  auch  in  den  verschiedenen  Lebensaltern, 
Zeiten  und  Ländern  wieder  mit  von  veränderlichen  socialen  Ver- 
hältnissen (Kriegsdienst,  Berufsart)  abhängig,  dass  auch  hier  der 
Einfluss  von  Naturverhältnissen  nicht  zu  verkennen  ist.  Wo 
die  Sterblichkeit  im  ersten  Lebensjahre  besonders  hoch  ist,  bleibt 


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Sterblichkeit  in  höherem  Kindesalter  und  bei  Erwachsenen. 


507 


sie,  wie  vou  vornherein  wahrscheinlich  ist,^  auch  in  den  nächsten 
Perioden  des  Kindesalters  gewöhnlich  noch  höher,  als  da,  wo  sie 
auch  zuerst  kleiner  war:  der  „Durchsiebungsprocess“  zieht  sich 
über  eine  Reihe  von  Lebensjahren  hin.  Später  tritt  dann  aber 
begreiflich  eine  gewisse  Ausgleichung  ein,  indem  die  Sterblichkeit 
in  den  mittleren  und  höheren  Altersclassen  in  Ländern  mit  solcher 
schon  früher  „durchsicbter“  Bevölkerung  auf  das  Maass  der  all- 
gemeinen Sterblichkeit  anderer,  in  den  jüngeren  Classen  günstigerer 
Länder  und  selbst  darunter  fallt.  Ein  charactcristischcs  Beispiel 
bietet  Südbayern  (s.  die  aufS.  508  folgende  Tab.  V).  Vom  ersten 
Lebensjahre  an  etwa  bis  zur  Zeit  der  Pubertät  vermindert  sich 
die  Sterblichkeit  überall  fast  regelmässig.  Das  Minimum  erreicht 
sie,  nach  Quinquennien  berechnet,  in  Europa  fast  ausnahmslos  in 
der  Periode  des  10. — 15.  Jahres.  Beinahe  ebenso  niedrig,  meist 
nur  ein  Geringes  höher,  in  weuigen  Fällen  selbst  noch  etwas 
niedriger,  ist  sie  in  der  Periode  des  15. — 20.  Jahres.  Die  grossen 
Differenzen  zwischen  verschiedenen  Ländern  im  frühen  Kindes- 
alter  fehlen  meistens,  die  Länder  nehmen  aber  mehrfach  eine 
wesentlich  andere  Rangordnung  ein. 

In  Deutschland  ist  die  Sterblichkeit  vom  10.— 15.  Jahre  auf  1000  Lebende  der 
Altcrsclasse  4.1  (Min.  Thüringen  2,9,  Würtemberg.  K.  Sachsen  3.0,  aber  auch  Sud- 
bayern mit  nur  3.1,  Max.  jetzt  K.-B.  Munster,  Minden,  Westprensscn  mit  5.5,  Grosah. 
Oldenburg  mit  5.6),  Norwegen  hier  nur  ebenfalls  4.1,  Frankreich  4.3,  Gross- Bri- 
tannien 3.0. 

Nach  der  Pubertätszeit  steigt  die  Sterblichkeit  wieder  langsam, 
aber  stetig  und  regelmässig  von  Jahr  zu  Jahr,  von  Quinqueuuium 
zu  Quinquennium,  stärker  wird  sie  nach  dem  50.  Jahre  und  von 
da  an  mit  steigend  grösser  werdenden  Zunahmedifferenzen  gegen  die 
vorausgehende  Periode  bis  ins  höchste  Alter  hinein,  obgleich  die 
Zahlenwerthe  hier  bei  der  viel  kleineren  absoluten  Zahl  der  Fälle 
weniger  sicher  werden.  In  den  mittleren  Jahren  werden  die  Sterb- 
lichkeitsverhältnisse der  einzelnen  Länder  sich  im  Ganzen  noch 
ähnlicher,  um  nur  im  höheren  und  höchsten  Alter  wieder  mehr 
Verschiedenheiten  zu  zeigen. 

Nur  an  folgenden  Beispielen  aus  Ländern  sonst  sehr  verschiedener,  zum  Theil 
hier  extreme  Gegensätze  zeigender  Bevölkerungsbewegung  mag  der  Gang  der  Sterb- 
lichkeit, nach  Lebensaltern  hier  noch  illostrirt  werden.  Deutschland:  (ohne  Wurtem- 
bergs  und  Hamburgs  Zahlen)  und  Frankreich,  Südbayern  und  Norwegen  (Keichsstat. 
B.  44,  Tab  S.  182).  S.  Tab.  V.  S.  508. 

Bei  einer  Zusammenfassung  der  Lebensalter  in  grössere  Classen  von 
Lebensjahren,  wie  sie  die  gen.  reichsstat.  Arbeit  gemacht  hat  (siehe  S 63),  erhält 
man  folgende  Ergebnisse,  mit  Heraushebung  nur  einiger  Hauptländcr  und  der  Maxima 
und  Minima  in  jeder  Classe  (Deutschland  ohne  Würtemberg,  bei  „überhaupt“  auch 


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508  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk. lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  212.  213. 

ohne  Hamburg),  bei  den  Gebietsgruppen  ganz  kleine  absichtlich  unberücksichtigt 
gelasssen.  S.  Tab.  VI. 

Tah.  V.  Sterblichkeit  nach  Lebensaltern. 

Auf  1000  Lebende  des  betreffenden  Alters  komuion  Gestorbene  (ohne  Todtgeborcne): 


Lebensalter 

Deutschland 

Frankreich 

Südbaiern 

Norwegen 

überhaupt 

26.8 

22.4 

34.1 

17.0 

0—  1 

Jahr 

294.0 

210.0 

560.0 

111.0 

1—  2 

- 

70  0 

1 

29.0 

/ 65.0 

39.0 

2—  5 

- 

25  0 

\ 19.0 

16  0 

5—10 

- 

8.7 

6.7 

7.1 

6.6 

10-15 

- 

4.1 

4.3 

3.1 

4.1 

15—20 

- 

5.1 

6.0 

4.2 

5.5 

20—25 

- 

7.5 

8.4 

6.9 

7.4 

25—30 

- 

8.8 

9.8 

8.2 

8.0 

30—35 

- 

10.0 

9.8 

9.5 

8.0 

35—40 

- 

11.8 

10.1 

10.9 

9.3 

40—45 

• 

13.4 

11.4 

11.9 

9.6 

45—50 

- 

15.9 

13.0 

14.5 

10.8 

50—55 

- 

21.0 

17.0 

19.0 

13  0 

55—60 

- 

29.0 

22.0 

26.0 

17.0 

60—65 

- 

41.0 

33  0 

38.0 

26.0 

65—70 

- 

63.0 

50.0 

62.0 

40.0 

70—75 

- 

94.0 

80.0 

97.0 

58.0 

75 — SO 

- 

145.0 

122.0 

137.0 

88.0 

Uber  80 

- 

234.0 

201.0 

279.0 

162.0 

Tab.  VI.  Sterblichkeit  nach  grösseren  Altersclassen. 


Auf  1000  Lebende  kommen  Gestorbene  im  Alter  von  Jahren 

unter  15 

15—40 

40—60 

Uber  60 

Überhaupt 

Deutschland 

I 41 

8.3 

19.0 

76.0 

26.8 

1.  Maximum  j 

69 

11.0 

23.0 

84.0 

34.1 

(Berlin) 

(Arnsberg) 

(Arnsberg) 

(Hess.-Nass.) 

(Sadbaiern) 

2. 

64 

10.0 

21.0 

82  0 

29.9 

(Südbaiern) 

(Herz.Oldenb.) 

(verschied.) 

(MUnst  Mind. 

(Berlin) 

Franken) 

1.  Minimum 

25 

7.0 

16.0 

67.0 

20.9 

(Herz.Oldenb.) 

(Anhalt) 

(Schlesw-  Hol- 

(Bcrl.  Schles- 

(M.-Schwer.) 

stein.  Schwer.) 

wig-IIolstein'l 

2.  - 

26 

7.3 

17.0 

69.0 

21.0 

(Schlw.-  Holst. 

(Pommern) 

(Pomm.  Süd- 

(Westpreuss. 

(Schleswig- 

M. -Schwerin.) 

baiem  u.a.  m.) 

Pommern) 

Holstein) 

West-Oesterr. 

47 

9.7 

19  0 

76.0 

29.3 

Italien 

50 

9.6 

18.0 

77.0 

30.0 

Frankreich 

27 

8.7 

16.0 

09.0 

22.4 

Gr. -Britannien 

27 

8.2 

18.0 

71.0 

20.9 

1.  Maximum 

60 

12.0 

31.0 

98.0 

37.1 

(Galizien) 

(Galizien) 

(Galizien) 

(Galizien) 

(Galizien) 

2. 

51 

10.0 

21.0 

85.0 

30.4 

1.  Minimum 

(Spanien! 

(Spanien) 

(Spanien) 

(Spanien) 

(Spanien) 

16 

7.3 

12.0 

60.0 

17.0 

2. 

(Irland) 

(Dänemark) 

(Norwegen) 

(Norw.  Finnl.) 

(Norwegen) 

19 

7.4 

14.0 

64.0 

18.2 

(Norwegen) 

(Norwegen) 

(Schweden) 

(Dänemark) 

(Irland, 
18.3  Schwed. 

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Ergebnis«  bez.  der  natttr).  Volksvermehrung. 


509 


Diese  letzte  U ebersicht  (VI)  zeigt  in  den  Maximis  nnd  Minimis  der  Sterblich- 
keit bemerkenswerthe  Goustanz  derselben  oder  ähnlicher  (so  der  skandinavischen) 
grösserer  Länder  in  allen  Altersclasscn,  weniger.  aber  immerhin  auch  einigermaassen, 
bes  bei  den  Minimis  in  den  deutschen  Ucbictsgruppen  (gewisse  norddeutsche  Länder, 
was  sieh  durch  Herbei/.iehcn  der  den  angegebenen  nächsten  Zahlen  noch  mehr  ergiebt). 

Eme  Sterblichkeit  der  Kinder  (bis  15  Jahre)  von  1.5  — 2,  der 
zweiten  Classc  (15 — 40  J)  von  0.75 — 1,  der  dritten  (40  — 60  J.) 
von  1.25  — 1.5,  der  vierten  (über  60)  von  6 — 7°/0  und  eine  Ge- 
sammtsterblicbkcit  (ohne  Todtgeburten)  von  1.75  — 2%  wird  inan 
nach  diesen  Tbatsachen  neuerer  europäischer  Statistik  liier  als 
Minimum  ableiten  dürfen.  Dasselbe  kann  nur  unter  besonders 
günstigen  Umständen,  namentlich  auch  wieder  nur  bei  einer,  wenn 
nicht  unbedingt  sehr  niedrigen,  so  doch  höchstens  bei  einer  mittleren 
Gebnrtsfrcqucuz,  erreicht  werden.  Ob  cs  danach  gerechtfertigt 
ist,  hypothetisch  ein  noch  niedrigeres  Minimum  als  „physiologisch 
möglich  an/.unehmen,  ist  schwer  zu  entscheiden.  Es  möchte 
kaum  zu  wagen  sein,  die  Frage  zu  bejahen,  jedenfalls  dürfte  wohl 
nur  um  Weniges,  vielleicht  noch  x/4%  für  die  Gcsammtsterblielikcit, 
herabgegangen  werden,  aber  nur  bei  gleichzeitiger  Annahme  nicht 
sehr  hoher  Geburtsfrequenz.  Ist  letztere  stärker,  so  wird  auch  das 
Minimum  um  ,/2°/0  und  mehr  zu  erhöben  sein. 

§.  213.  Das  Ergebnis 8 wäre  daher  auf  Grund  der  voraus- 
gohenden  Ausführungen  in  BctretT  des  physiologisch  mög- 
lichen Maximums  der  Bevölkerungsvermehrung  durch  Geburts- 
iiberschuss:  bei  grösster  denkbarer  Geburtsfrequenz  von  5,  viel- 
leicht von  6—6.25%  und  geringster  hierbei  noch  anzunehmender 
Minimalsterblichkeit  von  2.5  — 2.75  % ein  Zuwachs  von  2.25  — 2.5 
im  einen,  von  3.25  — 3.5  im  zweiten,  von  3.5  — 3.75  im  höchsten 
Falle,  letztere  Proportion  nach  Allem,  wenn  nicht  unmöglich,  so 
für  einige  Dauer  und  für  grössere  Bevölkerungen  mit 
regelmässiger  Altersgliederung  schon  nicht  mehr  wahr- 
scheinlich. Das  wahrscheinlichste  erreichbare  Maximum  möchte 
zwischen  der  ersten  und  zweiten  Proportion  liegen,  daher  2.75 — 3%, 
im  Mittel  c.  2.8  betragen.  Ein  Ergehniss,  zu  welchem  auch  Andere, 
so  Wappäus,  der  3%  annimmt,  gelangt  sind.  Die  Verdoppelungs- 
periode  ist  bei  e.  2.8%  c.  25.2  Jahre1).  Eine  immer  nur  unter 

J)  Nach  Wappäus  I,  112  ergeben  sich  bei  folgenden  Zunahmequoten  die  bei- 
stehenden Verdopplungsperioden : 

Zunahme  Vcrdopp.per.  Zunahme  Verdopp.per.  Zunahme  Verdopp  per. 


0 2°/0 

340.9  Jahre 

0.667 

104.3  Jahre 

2 5 

28.1  Jahre 

0.25 

277.0  - 

1.0 

69.7  - 

3.333 

21.1  - 

0.333 

208.3  - 

1.25 

55.8  - 

4.0 

17.7  - 

0.4 

173.6  - 

1.333 

52.3  - 

0.5 

139.0  - 

2.0 

35.0  - 

A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflago.  1.  Theil.  Grundlagen.  33 


510  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.214,  215. 

besonders  günstigen  Umständen  in  einem  grösseren 
Gemeinwesen  einige  Dauer  hindurch  als  möglich  erscheinende  Zu- 
nahme. 

Malthus’  Annahme  einer  regelmässigen  Verdopplungsperiode  von  25  Jahren  ist 
daher  mit  liecht  schon  lango  als  viel  zu  optimistisch,  oder  von  seinem  Staudpuncte 
aus  gesprochen,  als  viel  zu  pessimistisch  angesehen  worden. 

B.  — §.  214.  Wirkliche  Volksvermehrung. 

Die  wirklichen  Zunahmeraten  der  Bevölkerung,  soweit  man 
sie  aus  zuverlässiger  Statistik  der  Bewegung  der  Bevölkerung  und 
aus  Volkszählungen  constatiren  kann,  sind  wenigstens  in  alten, 
ganz  besiedelten  Culturländern,  wie  den  europäischen,  viel  geringer 
und  zwar  selbst  im  19.  Jahrhundert,  wjo  nach  Allem  in  vielen 
Ländern  eine  raschere  Zunahme  stattgefunden  hat,  als  vielleicht 
jemals  früher,  und  viel  geringer  sogar  in  den  in  dieser  Hinsicht 
die  stärkste  Zunahme  zeigenden  Ländern,  wie  einigen  germanischen 
und  muthmaasslich  auch  slavischen.  ln  einzelnen  Jahren  wird 
wohl  ein  Geburtsüberschuss  von  14 — 1.6  °/0  in  grösseren  Ländern, 
selbst  bis  1.8,  ja  bis  2 und  2.3  °/0  und  etwas  darüber  in  grösseren 
Landestbeileu  erreicht,  in  längeren  Perioden  ist  er  auch  hier 
um  einige  Decimalen  selbst  in  den  günstigsten  Fällen  kleiner. 
Nur  junge  überseeische  Colonialländer  mit  allseitig  günstigen 
Lebensbedingungen  haben  vielleicht  perioden weise  einen 
natürlichen  Zuwachs,  also  auch  hier  von  Einwanderung  (und  deren 
weiterem  Geburtsüberschuss)  abgesehen,  welcher  jenem  vorhin  ab- 
geleiteten Maximum  gleich  oder  nahe  kommt,  also  nicht  viel  unter 
3°/o  beträgt,  aber  wie  es  scheint,  auch  nur  vorübergehend,  so  die 
Vereinigten  Staaten  von  Nordamerica  in  den  ersten  Jahrzehnten  nach 
ihrer  Selbständigkeit,  wenn  die  Berechnungen  wenigstens  einiger- 
maassen  zuverlässig  sind.  Eine  Verlangsamung  des  natür- 
lichen Zuwachses  ist  aber  auch  hier  eingetreten  und  in  Europa 
ebenfalls  mehrfach,  wenn  auch  nicht  allgemein  und  gleichmässig, 
im  Laufe  des  19.  Jahrhunderts,  für  das  man  fast  allein  genügend 
zuverlässiges  Material  hat,  zu  constatiren,  in  Ländern  mit  rascherer 
wie  langsamerer  Vermehrung.  Grosse  periodische  Schwan- 
kungen des  Geburtsüberschusses,  durch  solche  in  der  Geburts- 
wie  auch  in  der  Sterblichkeitsziffer  verursacht,  zeigen  sich  ohnedem 
hier.  Sie  sind  namentlich  für  die  volkswirtschaftliche  Seite  der 
Frage  von  Interesse,  weil  sie  mehrfach  deutlich  unter  wirtschaft- 
lichen Einflüssen  (Erwerbsverhältnisse  im  Allgemeinen,  Preisver- 
hältnisse der  Hauptlebensmittel)  stehen  (s.  u.  §.  217). 


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Wirkliche  Volksvermehrung. 


511 


Wo  die  Statistik  der  Bewegung  der  Bevölkerung  nicht  ausreicht,  sind  die  Daten 
der  Volkszählungen  mit  zu  benutzen.  Aber  diese  sind  eben  das  Ergebniss  auch  der 
Wanderungen  und  zugleich  der  jeweiligen  Technik  uud  Qualität  des  Zäblungsweseus, 
so  dass  sie  keine  sicheren  Schlüsse  auf  die  wirkliche  Veränderung  der  Volkszahl  Über- 
haupt und  speciell  auf  das  Vcrhältuiss  zwischen  Geborenen  und  Gestorbenen  gestatten. 

§.  215.  Einzelne  Ansführungen.  Erste  Hälfte  und 
Mitte  des  19.  Jahrhunderts. 

Für  die  frühere  Zeit  des  19.  Jahrhunderts  sei  auch  hier  vornemlich  auf 
Wappäus’  Werk,  hinsichtlich  des  Deutschen  Reichs  auf  das  Juliheft  1879  der 
Statistik  des  Reichs  verwiesen.  Vornemlich  soll  hier  wieder  nur  das  letzte  halbe  Jahr- 
hundert, seit  1841,  betrachtet  werden,  für  welches  das  relativ  zuverlässigste  Material 
vorliegt  und  in  dem  gen.  B.  44  der  Reichsstatistik  gut  bearbeitet  wird.  Deber  die 
frühere  Zeit  nur  einige  Bemerkungen. 

Für  die  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerica  liegt  ein 
freilich  unvermeidlich  zum  Thcil  mit  Conjccturalzahlen  rechnender 
Versuch  vor,  die  natürliche  Zunahme  der  weissen  Bevölkerung, 
abgesehen  von  der  Einwanderung,  zu  berechnen.  Das  Maximum 
wäre  danach  anfangs  fast  3%  (2.89  °/0)  gewesen. 

S.  T ucker,  Progress  of  tho  United  States  etc.  Ncwyork  1843,  an  den  sich  nament- 
lich gute  Ausführungen  von  Wappäus  angeschlossen  haben  (I,  92  IT.,  122 — 127, 
auch  ders.  in  Stein-Wappäus  Haudb.  d.  Geogr.  I,  192,  496  ff.).  Die  betreffenden 
Durchschnittsraten  dieser  Zunahme  in  den  6 Jahrzehnten  von  1790  — 1850  wären 
danach  gewesen:  jährlich  2.s9,  2.83,  2.74,  2.64,  2 52,  2,27  °/0,  also  niemals  3% 
erreicht  und  auch  hier  eine  fortschreitende  Abnahme  des  Zuwachses.  In  Australien 
war  1887  — 90  der  mittlere  jährliche  Geburtsüberschuss  c.  1.67  % der  Bevölkerung. 

In  Europa  constatirt  man  für  das  19.  Jahrhundert  vielfach, 
in  Ländern  rascherer  (germanische)  und  langsamerer  (Frankreich) 
natürlicher  Zunahme,  eine  besonders  starke  Vermehrung  in  den 
ersten  Zeiten  nach  Abschluss  der  französischen  Kriegsperiode,  also 
seit  1815  — 20. 

Freilich  vornemlich  auf  Grund  der  Daten  der  Volkszählungen,  bei  welchen  man 
mit  dem  schon  mehrfach  hervorgehobenen  Umstande  der  allmäligen  Verbesserung 
der  Zählungen  zu  rechnen  hat,  ohne  durch  Controlo  der  theils  fehlenden,  theils  auch 
noch  unvollständigeren  Statistik  der  natürlichen  Bewegung  der  Bevölkerung  den  inuth- 
maasslichen  Fehler  der  Volkszählungsstatistik  zur  Ziffer  bringen  zu  können.  Aber  eine 
starke  Vermehrung  nach  jener  Kriegszeit,  dio  dann  später  wieder  langsamer  wurde,  — 
um  freilich  hinterher,  besonders  in  neuester  Zeit,  in  vielen  Ländern,  den  meisten 
ausser  Frankreich,  von  Neuem,  wenn  auch  meist  nicht  mehr  so  hoch,  wie  1815 — 20  11'., 
zu  steigen  — möchte  doch  richtig  bleiben,  ist  von  vornherein  wahrscheinlich  und  mit 
anderen  ähnlichen  Erfahrungen  in  Ucberciustimmung. 

Einige  Beispiele  zum  Beleg:  im  Gebiete  des  heutigen  Deutschen  Reichs 
wird  vom  reichsstat.  Amt  auf  Grund  sorgfältiger,  aber  eben  nicht  überall  mit  voll- 
ständigem uud  correctem  Material  operirender  Berechnung  die  Zunahme  folgender 
Maassen  angegeben  (s.  Juliheft  1879  S.  63,  Hauptdaten  regelmässig  im  stat.  Jahrb., 
so  £ 1892  S.  2).  S.  Tab.  VH.  S.  512. 

Hier  kommen  aber  auch  die  Wanderungen,  neuerdings  daher  die  Mehr- 
Auswanderungen,  übrigens  mit  erheblichen  Schwankungen  in  den  einzelnen  Perioden 
zum  Ausdruck.  Im  Kgr.  Preussen  (heutigen  Umfangs)  allein  wäre  die  Zunahme 
(Juliheft  1879  S.  43)  zuerst  1.67  (1816 — 19)  und  1.69  (1819 — 22)  gewesen,  um 
1828 — 37  auf  0.77  herab,  1837 — 40  wieder  auf  1.67  hinauf  zu  gehen,  seitdem  aber 
unter  diesem  Satze  zu  bleiben  (Minim.  1846 — 49  0.42,  1852 — 55  0.43,  Maxim. 
1858 — 61  1.26,  1872 — 75  1.04%,  nach  einer  mit  1875  abschliessenden  Berechnung'*. 

33  * 


512  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk. lehre.  1.  II. -A.  Statist.  §.  215. 


Tab.  VII.  Bevölkerungsvermehrung  im  Deutschen  Reich 

1816—1)0. 


Jahr 

1000  Einwohn. 

Jährl.Zunahme% 

Jahr 

1 000  Ein  wohn. 

Jährl.  Zunahme  % 

1816 

24,833 

— 

1855 

36.114 

0.40 

1820 

26,294 

1.43 

1860 

37,747 

0.88 

1825 

28,113 

l.:<4 

1865 

39.656 

0,99 

1830 

29.520 

0.98 

1870 

40.S18 

0.58 

1835 

30,938 

0.94 

1875 

42,729 

0.91 

1840 

32.7S7 

1.16 

1880 

45.236 

1.14 

1845 

34,398 

0.96 

1885 

46,858 

0.70 

1 850 

35,397 

0.57 

1 890 

49,428 

1.07 

In  Baiern  sank  die  Zunahme  von  0.96  in  1S18 — 27  mit  Schwankungen,  aber  ziemlich 
stetig  auf  0.09  in  1846 — 40  (cb.  S.  44).  In  Sachsen,  dessen  ältere  Daten  wohl 
noch  weniger  sicher,  ist  eine  Zunahme  von  1 °/0  fast  immer  überschritten,  abgesehen 
von  einer  olfenbar  falschen  höheren  Zahl  1.64  1861 — 64  erreicht  worden  (eb.  S.  44).  — 
Für  die  ganze  Periode  1816 — 75  (eb.  S.  63)  berechnet  sich  die  Zunahme  in  längereu 
Zeiträumen  für  das  Deutsche  Reich:  1816— 34  auf  1.15,  1834— 52  auf  0.88,  1852 — 67 
auf  0.75,  1867 — 75  auf  0.80  °/0.  Nach  den  statistischen  Gebietsabschnitten  der  Reichs- 
statistik war  die  Zunahme  (abgesehen  von  Berlin  und  den  Stadtstaaten)  1814 — 34  am 
Grössten,  2.22%,  im  li.-B.  Gumbinnen,  1.84  in  der  Provinz  Preussen  (grösste 
Zählnngsvcrbesserungen?),  1834 — 52  1.73  iin  R.-B.  Marienwerder,  1.58  in  der  Pro- 
vinz Brandenburg  (ohne  Berlin)  und  Pommern,  1852 — 67  1.85  im  R -B.  Arnsberg, 
1.75  im  R -B.  Düsseldorf,  1867 — 75  2.72  ebenfalls  in  Arnsberg  (eb.  S.  64),  Auch 
hier:  Einfluss  der  Wanderungen,  welche  in  neuerer  Zeit  mehr  nach  den  industriellen 
westlichen,  früher  mit  nach  den  agrarischen  östlichen  Gegenden  gingen. 

In  Frankreich  (Ann.  stat.  1888,  p 18)  wäre  nach  der  Statistik  der  Be- 
wegung der  Bevölkerung  der  Geburtenüberschuss  im  J.  1816  auf  0.81  % gestiegen, 
vorher  (seit  1806)  war  er  schon  in  einem  Jahre  auf  0,38  gesunken.  Dieser  Satz  ist 
seitdem  nicht  wieder  erreicht  worden.  Mit  Schwankungen,  aber  im  Ganzen  mit  deut- 
licher Tendenz  zum  Sinken,  ist  er  schon  vor  1848  mehrfach  unter  0.5  gewichen, 
1854 — 55  (Krimkrieg,  Theuerung)  ist  bereits  zweimal  ein  Ueberschuss  der  Todesfälle 
eingetreten,  auch  danach  die  Zunahme  nicht  wieder  auf  0.5  gestiegen  (Max.  0.49  in 
1862);  im  Kriege  von  1870 — 71  überwogen  wieder  die  Todesfälle  (um  0.28  und 
1.22  auch  danach  war  in  1872  das  Maximum  des  Geburtsübcrschnsses  nur  0.49, 
1874  0.48,  seitdem  fast  stetig  weniger,  in  neuester  Zeit  auch  im  Frieden  sogar  wieder 
inehr  Todesfälle  als  Geburten  (1890/91,  Epidemien.  Influenza). 

Die  Verlangsamung  der  Zuwachsrate  zeigt  sich  hier  uud  wie  schon  bemerkt, 
mehrfach,  aber  keineswegs  überall  und  stetig  und  bat  auch  grade  in  germanischen 
Ländern  wieder  neuerdings  öfters  einer  unter  Jabresschwankungen  doch  ziemlich  an- 
haltenden Steigerung  der  Rate  Platz  gemacht.  Sic  aber  ohne  Weiteres  zu  einem 
„statistischen  Gesetz“  zu  stempeln  und  auf  die  steigende  Yolksdichtigkcit  zurück  zu 
führen,  durch  die  sic  noth wendig  werden  soll,  ist  unzulässig,  wenn  anck  ein  nicht 
seltener  Trost  in  Frankreich  (s.  o.  S.  456  u.  folg.  $5.  216). 

Nach  einer  Berechnung  von  Hermann  Wagner,  damals  Rcdacteur  des  sta- 
tistischen Theils  des  Gothaer  Hofkalenders,  stellt  sich  für  die  Zeit  nach  den  fran- 
zösischen Kriegen  bis  in  die  60er  Jahre  in  wichtigeren  europäischen  Staaten  folgende 
Veränderung  der  Bevölkerung  nach  den  Volkszählungen  heraus  (Goth.  Jahrb.  1S69 
S.  994 , die  correcte  Bcreclinungsformel  im  Vorwort  daselbst  S.  YD.  Reihenfolge 
nach  der  Grösse  des  Zuwachses.  S.  Tab.  VIII.  S.  513. 

Für  Vergleichungen  und  Schlüsse  ans  dieser  Tabelle  ist  freilich  Manches  zu 
bedenken.  Kleine  und  grosse  Staaten  gestalten  auch  hier  wieder  keinen  unmittelbaren 
Vergleich.  Die  Zahlen  sind  wegen  der  Verschiedenheit  der  Zählungsqualität  nicht 
gleichwertig.  Well  bei  einigen  Staaten  die  früheren  Perioden,  wo  die  Zunahme 
rascher  war,  fehlen,  ist  auch  für  diese  die  Durchschnittszunahme  in  der  Hauptperiode 
im  Vergleich  mit  den  anderen  Staaten  zu  klein  (Sachsen,  Dänemark.  Niederlande, 
Belgien,  bes.  Süddeutschlaml).  Endlich  zeigt  sich  neuerdings  in  einigen  Staaten 
(Gr.-Britauuien.  Irland,  Sc&ndinavien,  Süddeutschland,  auch  Preussen)  auch  die  Aus- 


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Tab.  VIII.  Volks  zunah  me  (-Abnahme)  in  europ.  Staaten  1821 — 65. 


Wirkliche  Bcvülkerungsvermehrung, 


518 


0/ 

Io 

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1.11 

1.34 

1.33 

1.22 

1.81 

1.23 

0.59 

1.09 

0.66 

0.31 

0.70 

—0.71 

% 

Jahre 

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1.13 
1.40  | 
1.15 
1.03 
0.98 
0.93 
0.57 
0.74 
0.42 
0.2S 
0.41 
-1.26 

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41/51 

10/52 

35/45 

40/52 

40/45 

35/45 

41/51 

39/49 

41/51 

40/52 

41/91 

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Haupt] 

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(im  19. 
Jahrli.) 

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Land 

England  und  Wales 

Königr.  Sachsen 

Norwegen 

Preussen  ‘) 

Dänemark 

Schweden 

Schottland 

Niederlande 

Belgien 

Frankreich 

Süddeutschland4) 

Irland 

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Bayern,  Wfi 


514  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lohre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  210. 


Wanderung  von  Einfluss,  wenigstens  periodenweise,  wenn  sie  auch  vielleicht  auf  die 
Dauer  die  thatsächliche  Zunahme  der  Gcsammtbevölkerung  ganzer  Länder  mitunter 
nicht  wesentlich  auf  hält.  (§.  225  ff.) 

§.  216.  Fortsetzung.  Mitte  und  zweite  Hälfte  des 
19.  Jahrhunderts.  Für  das  letzte  halbe  Jahrhundert  ist  eine 
bemerkenswerthe  Erscheinung  die  mehrfache,  wenn  auch  unter 
zeitlichen  Schwankungen  sich  vollziehende,  schon  erwähnte  Wicder- 
zunahme  der  Zuwachsrate,  besonders  durch  Geburtsüber- 
schuss,  in  Europa,  unter  dem  deutlichen  Einfluss  der  Wallungen 
im  wirtschaftlichen  und  politischen  Leben  (§.  217);  ferner  trotz 
stark  steigender,  wenngleich  auch  erheblichen  Schwankungen  unter- 
liegender überseeisch  er  Massena  us  Wanderung,  die  in  der 
Regel  in  grösseren  Ländern  und  Gebieten  dennoch  verbleibende 
bedeutende  Volkszunahme,  so  dass  also  die  A us  Wanderung 
vomGeburt8Überschuss  nur  einen  Th  eil  aufzehrt.  Davon 
bilden  nur  Irland  und  kleinere  Lnndestbeile,  freilich,  unter  dem 
gleichzeitigen  Einfluss  der  inneren  Wanderungen,  in  Preussen  und 
Deutschland  doch  schon  solche  von  der  Grösse  von  Regierungs- 
bezirken und  Provinzen,  Ausnahmen.  Auch  in  diesen  Verhältnissen 
treten  wirthscha  ft  liehe  Einflüsse  besonders,  mehr  als  ehedem, 
hervor,  in  Deutschland  namentlich  die  immer  raschere  Entwicklung 
der  Industrie,  des  Bergbaus,  Städtewesens:  schon  nicht  mehr  bloss 
der  Uebergang  aus  der  „Agricultur-“  in  die  „Industrie-  und 
Mercantilperiode“,  sondern  wie  in  Grossbritannien  die  selbständigere 
und  intensivere  Entwicklung  der  letzteren.  Das  allein  abweichende 
Bild  in  den  Erscheinungen  der  europäischen  Bevölkerungsbewegung 
zeigt  ausser  Irland  Frankreich. 

Dio  folgenden  Daten,  welche  anch  für  die  Folgerungen  im  nächsten  Kapitel 
besonders  wichtig  sind , wurden  wieder  nach  den  Materialien  des  B.  44  der  Reichs- 
statistik in  der  für  unsere  Zwecke  passenden  Weiso  zusammengestellt.  Diese  vorzüg- 
liche Arbeit  des  reichsstatist.  Amts  liefert  überall  anch  die  erforderlichen  Relativzahlen, 
mit  denen  wir  hier  zu  operiren  haben.  Für  eine  Menge  einzelner  Puncto  und  Fragen 
findet  sich  daselbst  weiteres  Material,  namentlich  für  Deutschland  in  Bezug  auf  die 
einzelnen  Staaten,  Gebietsteile  und  Gruppen.  Dafür  ist  im  Wesentlichen  auf  das 
Werk  selbst  zu  verweisen.  S.  zur  Ergänzung  bis  incl.  1800  die  Viertelj.-Hefte  der 
Reichsstatistik  1802  II.  1,  S.  18.  auch  S.  5.  Hier  wird  jetzt  Einzelnes  nur  mehr  zum 
Beispiel  und  zur  Illustration  und  besseren  Characteristik  einiger  wichtiger  Thatsachen 
hervorgehoben. 

Zunächst  als  Beispiele  zweier  in  der  Bovölkcrungsbcwegu  ng  sehr  ver- 
schiedener Länder,  das  Deutsche  Reich  und  Frankreich.  S.  Tab.  IX, 
S.  515. 

Man  ersieht  aus  Tab.  IX  sofort,  dass  es  in  Deutschland  die  hohe  Geburts- 
frequenz ist.  welche  Frankreich  gegenüber  den  grossen  Geburtsüberschuss  und  die 
starke  Volksznnahme  trotz  der  bedeutenden  Mchrauswanderung  bewirkt.  Die  Geburts- 
frequenz war  fast  immer  mehr  als  10.  neuerdings  mehr  als  12.  ja  über  13%«  grösser 
als  die  französische,  die  Sterblichkeit,  welche  im  letzten  Jahrzehnt  etwas  zurück- 
gegangen ist,  überragt  die  französische  nur  um  4,  jetzt  um  8°/oo-  höchste  in  der 


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Wirkliche  Volksvcrmehrung. 


515 


Tab.  IX.  Bevölkerungsbewegung  im  Deutschen  Reich 
und  Frankreich  von  1841 — 90. 


Auf  1000  der  mittleren  Jahresbevölkerung  jährlich 


Land 

Geborene 
(incl.  Tot 

Gestorbene 

tgeborene) 

2 

Geburts- 

überschuss 

3 

Wander- 
verlust 
(+  Gewinn) 

4 

Volks- 

zunahme 

5 

Deutsches  Reich 

1841—50 

37.6 

28.2 

9.4 

1.7 

7.7 

1851—60 

36.8 

27.8 

9.0 

2.5 

6.5 

1861—70 

38  8 

28.4 

10.3 

2.2 

8.1 

1871—80 

40.7 

28.8 

11.9 

1.8 

10.1 

1881— 90 *) 

38.2 

26  5 

( 11.3 
\ 12.1 

4.3 

1.4 

7.0 

10.7 

Maximum  *) 

42.6 

32.2 

14.5 

c 5.0 

11.4 

im  Jahre 

1876 

1866 

1876 

1881 

1876—80 

Minimum2) 

33.5 

24.8 

4.25 

c.  0.5 

1.77 

im  Jahre 

1 855 

1860 

1848 

1877 

1853—55 

Frankreich3) 

1841  — 50 

28.2 

24.2 

4.0 

-j-0.4 

4.4 

1851-  60 

27.3 

25.0 

2.3 

+ 0.1 

2.4 

1861—70 

27.3 

24  8 

2.6 

+ 0.2 

2.8 

1871—80 

26.6 

24.8 

1.7 

+ 0.3 

2.0 

1881—90 

25.1 

23.3 

1.8 

00 

1.76 

Maximum 

29.2 

35.9 

6.7 

— 

— 

im  Jahre 

1841 

1871 

1845 

— 

— 

Minimum 

23.0 

21.9 

— 1 2.2 

— 

— 

im  Jahre 

1S90 

1889 

1871 

— 

— 

50 jäh r.  Periode  vorgekommene  französische  Geburtsfrequenz  ist  immer  noch  3%o 
kleiner  als  die  kleinste  deutsche.  Das  Maximum  der  französischen  Sterblichkeit  in 
einem  Jahre  ist  sogar  höher  als  das  in  Deutschland  vorgekommene,  freilich  in  dem 
Kriegsjahre  1871  (wo  sie  in  Deutschland  31.03  war,  wobei  die  Todesfälle  im  Kriege 
auf  französischem  Boden  nicht  alle  aufgenommen  zu  sein  scheinen).  Das  zweite 
französ.  Maximum  der  Todesfälle  war  mit  immerhin  nur  29.5  im  Kriegsjahr  1870, 
das  dritte  im  Kriegs-  und  Theuerungsjahr  1854  mit  28.4.  In  Deutschland  traf  das 
Maximum  der  Todesfälle  auf  das  Kriegs-  und  Cholerajahr  1860,  das  zweite  und 
dritte  Maximum  auf  die  Kriegsjahre  1871  und  1872  mit  31.03  und  30.02,  das  vierte 
Maximum  auf  das  Revolution+hr  1848,  das  unter  den  Nachwirkungen  der  Theuerung 
von  1846/47  litt,  mit  30.46.  Aber  der  Ueberschuss  der  Geburten  über  die  Todes- 
fälle ist  selbst  in  diesem  hierfür  das  Maximum  zeigenden  Jahre  1848  in  Deutschland 
mit  4.25  noch  höher  als  er  in  einem  der  5 Decennialdurchschnitte  in  Frankreich  war. 
Nur  in  11  einzelnen  von  den  50  Jahren  von  1841—90  war  er  hier  höher,  meist  nur 
ein  Weniges,  davon  noch  in  6 im  1.  Decennium  1S41 — 50,  in  3 im  2.  1851 — 60,  in 
1 im  3.  1861 — 70,  in  2 im  4.  1871 — 80,  selbst  hier  aber  nach  dem  Kriege  nur  4.8 


*)  In  Col.  3 — 5 die  erste  Reihe  für  1881 — 85,  die  zweite  für  1886—90. 

*)  Der  Wanderverlust,  bezw  Gewinn  lässt  sich  nur  durch  die  Volkszählungen 
indircct  ermitteln,  daher  nur  für  die  Perioden,  welche  zwischen  zwei  Zählungen  liegen, 
nicht  für  ein  einzelnes  Jahr.  Die  Zahlen  in  Col.  5 sind  daher  nur  geschätzt  auf 
Grund  der  überseeischen  Auswanderung  in  den  betreibenden  Jahren. 

8)  8.  über  das  Ergcbniss  der  Zählung  von  1891  den  Bericht  des  Ministers  des 
Innern  an  den  Präsidenten  der  Republik,  im  Bulletin  de  Statist.  1892,  I.  40  ff. 


510  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.scb.  1.  K.  Bevölk.lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  126. 


in  1872  lind  4.0  in  1874,  in  keiuem  Jahre  mehr  im  5.  Decenniuin  1881.— 90,  während 
der  GcburtsUberschuss  in  den  letzten  Jahrzehnten  in  Deutschland  noch  frewaehsen 
ist,  und  zwar  neuester  Zeit  erfreulicher  Weise  bei  verringerter  Geburtsziffer  durch 
Abnahme  der  Sterblichkeit.  In  Frankreich  ist  sogar  in  5 Jahren  unter  den  50  ein 
Ucbcrschuss  der  Todesfälle  gewesen,  davon  allerdings  in  den  2 Krieg sjahten  1870/71 
(2.8  und  1.22%o)  und  in  den  zwei  Krimkriegs-  und  Theucrungsjahicn  1^54  und  1855 
(2  und  0.9).  aber  auch  bereits  in  dem  ruhigen  Friedensjahro,  freilich  höherer  Preise 
des  Getreides.  1890  (und  ebenso  1891).  In  Deutschland,  dies  als  Ganzes  genommen, 
ist  ein  solcher  Fall  in  diesem  halben  Jahrhundert  nicht  vorgekommen  und  auch  nur 
selten  in  einzelnen  grösseren  Gebietsteilen  gewesen  (s.  u.).  Auch  trotz  unserer 
grossen  überseeischen  Auswanderung  hat  in  keinem  Jahre  die  Bevölkerung  im  ganzen 
Reiche  positiv  abgenommen.  Sogar  in  dem  Jahre  der  grössten  deutschen  Auswande- 
rung 1881,  wo  die  constatirtc  überseeische  211  000  Kopf  betrug,  thatsächltch  noch 
etwas  höher  war,  ca.  5°/0o-  »bsorbirte  sie  vom  damaligen  Geburtsüherschuss  von  1 1.57 
°/n0  noch  nicht  die  Hälfte  und  übertraf  nur  etwas  den  kleinsten  Geburtsüberschuss  eines 
einzelnen  Jahres  in  der  ganzen  Periode  (4.25).  Auch  nach  Abzug  jenes  grössten 
Wanderverlusts  in  einem  Jahre  verblieb  in  Deutschland  1881  noch  ein  Ueberscliuss 
von  ca.  d.  h.  soviel  wie  in  einem  einzigen,  hierin  aber  ganz  alleinstehenden 

Jahre,  1S45,  einmal  der  französische  Geburtsüberschuss  im  Maximum  betrug  (6.7°/00) 
Die  kleinste,  nach  Abzug  der  Mehrauswanderung  vorgekommene  jährliche  Volkszu- 
nahme  (1  1 /ou  in  1853 — 55)  war  immer  noch  so  gross  wie  der  neuere  französische 
Geburtsüherschuss  (1871 — 90)  und  wie  die  ganze  Volkszuuahme  in  Frankreich  im 
letzten  Jahrzehnt  1881 — 90. 

Die  Zahlen  Frankreichs  liefern  das  wichtige  statistische  Ergebniss,  dass  bei 
einer  Geburtsfrequenz  von  nur  23 — 24  (incl.  Todtgeborene,  ohne  diese  von  ca.  22 — 23). 
sogar  bei  mässiger  Sterblichkeit  die  Bevölkerung  eben  nur  in  der  Stabilität 
der  Zahl  erhalten  wird.  Jede  auch  nur  kleinere  Vermehrung  der  Todesfälle  führt 
zu  einem  positiven  Rückgang  der  Bevölkerungszahl  (so  in  1890  in  Frankreich)  und 
auch  bei  gleichbleibender  Sterblichkeit  hat  jede  kleine  weitere  Verminderung  der 
GeburtszifTer  denselben  Erfolg.  Da  sich  die  Sterblichkeit  schwer,  namentlich  nicht 
in  kurzer  Zeit  erheblich  vermindern  lässt,  zumal  nicht  allgemein  in  einem  grossem 
Lande,  so  kann  nur  durch  Steigerung  der  Geburtszillor  noch  eine  natürliche  Volks- 
vermehrung durch  Geburtsüberschuss  herbeigeführt  werden.  In  dieser  Lage  ist 
Frankreich,  dessen  neuere  Geburtsziller  von  23 — 24  (incl.  Todtgeborene,  die  hier  ca. 
1 — 1 ,2°/00  betragen)  demnach  bei  dort  gegebener,  schon  nicht  hoher  Steiblichkcit 
eben  deshalb  als  das  Minimum  bezeichnet  werden  kann,  das  zur  Erhaltung  auch  nur 
des  Gleichbleibens  der  Bevölkerungszahl  wenigstens  im  Durchschnitt  nothwendig  ist. 
(Frankreich  hatte  eine  Geburtsziller  1890  ohne  Todtgeborene  von  219°/oo«  eine 
Ziffer,  welche  die  Sterblichkeit  dort  nur  in  wenigen  Jahren  nach  unten  zu  erreicht, 
ganz  ausnahmsweise  unterschritten  hat). 

Die  mitgethcilten  Zahlen  Deutschlands  und  Frankreichs  sind  natürlich  das  End- 
ergebnis aller  der  zahlreichen  Verschiedenheiten  der  betreffender.  Daten  in  den 
einzelnen  Landesthcilen.  Wir  können  die  Untersuchung  hierauf  in  diesem  Werke 
nicht  ausdehnen,  obwohl  dadurch  erst  der  richtige  Einblick  in  dieses  Thatsachengebiet 
und  für  vielerlei  Schlüsse  das  vorhandene  statistische  Material  gewonnen  wird.  Nur 
einige  Zahlen  von  Maximis  und  Minimis  seien  noch  aus  einzelnen  Gebietsteilen 
im  Deutschen  Reich  hei  vorgehoben  und  zwar  in  Betreff  der  in  irgend  einem  etwas 
grösseren  Gebietsteil  (preuss.  Provinzen , Gebietsgruppen  der  Rcicbsstatistik)  vorge- 
kommenen  Durchschnittsmaxima  und  Minima  in  einem  der  5 Decennien  und  in 
einem  einzelnen  Jahre  in  dem  halben  Jahrhundert  1841 — 90  auf  1000  der  mittleren 
Jahresbevölkerung.  S.  Tab.  X.  S.  517. 

Die  Schwankungen  selbst  zwischen  den  10jährigen  Maximis  und  Minimis,  mehr 
noch  den  einjährigen  sind,  wie  man  sieht,  doch  recht  gross.  Die  östlichen  z.  Th. 
slavischen  Gebiete  haben  grösste  Geberts-,  aber  auch  Sterblichkeitsmaxima  und  im 
Ganzen  auch  die  grössten  Schwankungen  in  der  Bilanz  zwischen  Geborenen  und  Ge- 
sloibcnen.  Uebrigens  finden  sich  auch  noch  einzelne  grössere  Gebiete,  welche  in 
einzelnen  Jahren  einmal  einen  Ucberschuss  der  Todesfälle  oder  wenigstens  nur  einen 
ganz  kleinen  Geburtsoberschuss  hatten,  so  z.  B.  in  Ostpreußen  1852  auch  ein  Aus- 
fall von  0.21,  in  Westprcusscn  in  demselben  Jahre  von  0.08,  in  Berlin  1849  von  0.85 
(1871  unter  den  besonderen  Verhältnissen,  hricgslazarethe,  Kriegsgefangene,  3,39), 


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Wirkliche  Volksvermebrung. 


517 


Tab.  X.  Deutsche  Maxima  und  Minima  der  natürlichen 
Bevölkerungsbewegung  nach  G e b i e t s t h e i 1 e n. 


Auf  1000  der  mittleren  Jahresbevölkerung 


Geburtsfrequenz 
(incl.  Todtgcborcne) 

Sterblichkeitsfrcqu. 
(incl.  Todrgeborene) 

Gebu  rtsüberschuss 
( — Deficit) 

lOjähr.  Maximum 

40-22 

30.14 

16.3 

Gebiet 

Pr.  Posen 

Westpreussen 

Pr.  Posen 

Jahro 

1871  — 1880 

1851  — 1800 

1881  — 1890 

Einjähr.  Maximum 

52.05 

52.89 

23  77 

Gebiet 

Pr.  Ostprensson 

Pr.  Po«>en 

Ostpreussen 

Jahr 

1849 

1852 

1849 

lüjähr.  Minimum 

30.89 

21.71 

4.23 

Gebiet 

Elsass-Lothringen 

Schleswig- Holstein 

Südbaiern 

Jahre 

1851-1800 

1851  — 1880 

1851—1860 

Einjähr.  Minimum 

27  45 

19.05 

— 7.08 

Gebiet 

Elsass-Lothringen 

Schleswig-Holstein 

Pr.  Posen 

Jahr 

1855 

1850 

1852 

1S55  in  Schlesien  von  2.41,  1854  und  1855  (Krimkrieg,  Theucrung)  in  Elsass-Loth- 
ringcn  von  0.90  und  3.35  (1871  von  2.34)  %o-  Die  genauere  Analyse  zeigt  überhaupt 
deutlich  provinzielle,  wohl  mit  Stammesart  und  Sitte  zusammenhängende  Verhältnisse 
der  natürlichen  Bewegung,  bei  Geburten,  Todesfällen,  Ueberschuss,  wie  sich  u.  A.  aus 
den  ähnlichen  Zahieu  in  benachbarten  Gebieten  (so  u.  A.  besonders  deutlich  im 
ganzen  Hauptgebiet  des  niedersächsischen  Stammes,  auch  wiederum  mit  Aehnlichkeit 
mit  den  nordgcrmauischen  Verhältnissen)  ergiebt.  Die  Ueberlegenheit  der  deutschen 
Geburtsfrequenz  auch  in  jedem  grösseren  Gehietstheil  über  die  allgemeine  französische 
zeigt  Tab.  X ebenfalls.  Selbst  das  elsass- lothr.  zehn  jäh  r.  Minimum,  das  niedrigste 
in  Deutschland,  steht  noch  über  dem  französischen  Durchschnitt  der  Geburtsfrequenz, 
wenigstens  letztere  »eit  1851  genommen,  das  einjährige  ebenfalls  in  Elsass-Lothringen 
vorkommende  nur  wenig  unter  dem  ganz  im  Beginn  der  Periode,  1841,  zu  bildenden 
einjährigen  französischen  Maximum. 

Eine  Vergleichung  bloss  des  Gcburtsüberschusses  und  des  Gewinns  und  Ver- 
lusts  durch  Wanderungen  liefert  noch  die  Tab.  XI  auf  S.  518  für  eine  grössere 
Reihe  grosser  und  mittlerer  Länder  in  Europa.  In  der  germanischen . freilich  wenn 
die  Zahlen  zuverlässig  sind,  auch  in  der  slaviscli- russischen  Welt  sind  die  üeburts- 
überschüssc  meistens  über  l°/0  jährlich,  neuerdings  auch  fast  überall  gewachsen,  auf 
1.1  bis  fast  1.4u/o*  In  Oesterreich  mit  seiner  national -gemischten  Bevölkerung  sind 
sic  kleiner,  auch  schwankender,  ebenso  in  Italien,  wo  aber  in  neuester  Zeit  ein  ger- 
manischen Ziffern  nahekommender  GeburtsUbcrschuss  erreicht  wird.  Belgien , Irland, 
die  Schweiz,  stehen  etwas  zurück,  kommen  so  Frankreich  etwas  näher,  aber  immerhin 
doch  selbst  Irland,  dessen  Statistik  ohnehin  für  unvollständig  gilt,  und  sogar  noch  in 
der  neuesten  Zeit  weit  über  Frankreich,  das  auch  vom  romanischen  Spanien,  wenn 
die  wenigen  Zahlen  für  dieses  zuverlässig  sind  und  einen  Vergleich  gestatten,  bedeu- 
tend übertrolien  wird.  Frankreich  ist  dann  freilich  das  einzige  Land,  welches 
dauernd,  wenigstens  bis  18S0.  einen  kleinen  Wanderungsgewinn  durch  Mehrein- 
wanderung zeigt.  Aber  derselbe  kommt  gegenüber  der  grossen  Volkszunahme,  welcho 
selbst  die  Länder  der  Massenauswanderung,  Gr.-Britannien,  Deutschland,  Scandinavien 
dank  ihrem  starken  Geburtsuberschuss  behalten,  gar  nicht  in  Betracht.  Es  ergiebt 
sich,  wie  namentlich  die  germanischen  Länder  durch  ihre  ungemein  starke 
Geburtsziffern  in  die  Lage  gesetzt  werden . ungeheure  Menschenmassen  an  die  neue 
Welt  ab/.ugeben  und  diese  somit  der  germanischen  Völkerfamilie  definitiv  zu  gewinnen, 
ohne  selbst  eine  grosse  Einbusse  an  ihrem  Bevölkerungszuwachs  zu  erleiden.  Von 
der  romanischen  Welt  gilt  das  neuerdings  nur  einigermaassen  ähnlich  von  Italien, 
während  Russlands  Gcburtsüberschuss , wenn  er  in  der  Wirklichkeit  den  statistischen 
Zahlen  entspricht,  eine  Verbreitung  der  Bevölkerung  in  den  weiten  Räumen  des 


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518  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.seh.  1.  K.  Bcvulk.lchre.  1.  H.  -A.  Statist.  §.  2 1 G. 


Tab.  XI.  Geburtsüberschuss  und  Wandcrnngsverlust  in 

europäischen  Ländern. 


Auf  10  )0  der  mittleren  Bevölkerung  jährlich 

Verlust  (f  Gewinn)  durch 


Geburtsüberschuss 

Wanderungen 

1841 

1851 

1861 

1871 

1881 

1841 

! 1851 

1861 

1871 

1S81 

bis 

bis 

bis 

bis 

bis 

bis 

1 bis 

bis 

bis 

bis 

1850 

1S60 

1870 

1880 

1S903) 

1850 

1 

1860 

1870 

18v0 

1890 

1. 

2. 

3. 

4. 

5. 

6. 

i_  - 

t. 

8. 

9. 

10. 

Deutsches  Reich 

9.4 

9.0 

10.3 

11.9 

11.4 

1.7 

2.5 

2.2 

1.8 

2.9 

Westösterreich 

6.1 

6.9 

6.6 

7.5 

7.2 

0.6 

0 

1.0 

0 5 

— 

Galizien,  Bukowina 

1.9 

4.2 

11.0 

7.5 

10.1 

0.1 

t 3.0 

0.1 

f 0.3 

— 

Ungarn 

— 

2.3 

7.3 



— 

1 5 

— 

Frankreich  *) 

4.0 

2.3 

2.6 

1.7 

2.3 

t 0.4 

t 0.1 

t 0.2 

t 0.3 

0.0 

Grossbritannien  4) 

10.2 

11.9 

12.7 

14.1 

13.9 

f 2.0 

0.7 

0.8 

0.9 



Irland 

— 

9.7 

S.2 

6.0 

— 

— 

16.7 

12.6 

— 

Italien 

— 

— 

7.3 

7.0 

102 

— 

— 

0.5 

13 

— 

Spanien 

— 

— 

9 2 

— 

— 

— 

— 

3.7 

— 

— 

Russland 

— 

— 

12.0 

13.7 

13.6 

— 

— 

0.6 

f 0.5 

— 

Schweiz 

— 

— 

— 

7.3 

7.3 

— 

— 

— 

0.8 

— 

Belgien 

6.1 

7.8 

8.5 

9.8 

10.0 

t 12  1 

1.5 

1.1 

0 6 

— 

Niederlande 

6.9 

m»  ■* 

l . 1 

10.1 

12.1 

13.2 

0.2 

0.6 

2.0 

0 4 

— 

Dänemark 

10.1 

1 1.9 

1 0.9 

12.0 

13.8 

0.4 

t 0.8 

0.8 

2.2 

Schweden 

10.5 

11.1 

11.1 

1 2.3 

12.1 

0.1 

0.7 

3.7 

3.2 

— 

Norwegen 

12.5 

15.9 

12.9 

13.9 

13.9 

0.9 

1.9 

5.1 

4.0 

— 

Finnland 

12.0 

7.2 

7.4 

8.0 

7.1 

f 0.4 

0.7 

0.9 

t 0.6 



russischen  Reichs  in  Europa  und  Asien  ermöglicht  und  auch  cinigermaassen  zur 
Folge  zu  haben  scheint.  Darin,  dass  trotz  eines  nicht  ganz  unbeträchtlichen  Geburts- 
überschusses Irland  eben  auch  jetzt  noch  immer  durch  die  Auswanderung  (übrigens  nicht 
nur  nach  America,  sondern  auch  nach  Gros^britannien),  wie  seit  den  1840er  Jahren, 
an  Bevölkerung  verliert,  liegt  der  wesentliche  Unterschied  der  Bevölkerungsverhält- 
nisse dieses  keltisch -germanischen  Massenauswanderungslandes  gegenüber  den  ger- 
manischen und  Italien. 

Schliesslich  kommen  nun  natürlich  und  gerade  auch  für  die 
volkswirtschaftlichen  Seiten  der  Bevölkerungsfrage  die 
absoluten  Zahlen  der  Geborenen  und  Gestorbenen,  des  Ueber- 
schusses  ersterer  oder  letzterer,  des  Wanderungsverlustes  und  Ge- 
winns und  der  wirklichen  Veränderung  der  Volkszahl  und  daher, 

auf  gegebenem  Gebiete,  der  Dichtigkeit  in  Betracht. 

Letzteres  Vcrhältniss  noch  für  die  spätere  Betrachtung  in  §.  229  (f.  zurückstellend 
und  für  die  übrigen  Zahlen  auf  die  erwähnten  statistischen  Weikc  verweisend,  stelle 
ich  hier  nur  in  Tab.  XII  einige  absolute  Zahlen  des  Geburtsüberschusses  (bzw. 
Dcficits)  für  5 Hauptländer  und  in  Tab.  XIII  die  schliesslich  nach  den  Zählungen 
(bzw.  Berechnungen)  eingetretene  Veränderung  der  Bevölkerung  für  dieselben  und 
einige  weitere  europäische  Länder,  sowie  für  die  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerica 
und  für  Australien  zusammen. 

*)  Immer  ohne  Elsass-Lothringcn.  bis  1860  ohne,  seit  1861  mit  Savoyen  und  Nizza. 

*)  Bis  1860  nur  England  und  Wales,  seit  1861  auch  mit  Schottland. 

3)  Beim  Deutschen  Reich.  Frankreich,  Grossbritannien,  Irland,  Italien  tür 
1881  — 1890,  bei  den  anderen  meist  für  18S1  — 1885  oder  1886. 


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Wirkliche  Volksvermehrung. 


519 


Tab.  XII.  Absoluter  Geburtsltberschuss  in  fünf 
europäischen  Ländern. 


Gcburtsüberschuss  ( — Deficit)  in  1000  Kopf  (absolute  Zahlen) 

Jahr 

im  jährlichen  Durchschnitt 

Deutsches 

Gross- 

West- 

Italien4) 

Reich 

Frankreich 

britannien  *) 

Österreich 

1841—1850 

320 

134 

172 

77 

1851—1860 

326 

79 

226 

91 

— 

1861—1870 

408 

94 

312 

93 

183 

1871— 1SS0 

511 

64 

396 

113 

192 

18S1— 1890 

551 

67 

405 

1 1 5 3) 

317 

Maximum 

627 

223 

441*) 

150 

381 

Jahr 

1876 

1845 

1877 

1876 

1889 

Minimum 

147 

— 445 

283  8) 

— 75 

61 

Jahr 

1855 

1881 

1864 

1855 

1867 

Tab.  XIII.  Absolute  Volkszabl  einiger  Länder  im 
19.  Jahrhundert.  1000  Kopf. 


Deutsches  Reich6) 

Frankreich6) 

Grosshritannien7) 

- 

1816 

24  833  = 1000 

1816 

27.769  = 1000  j!  1 1S01 

10.501  — 

1840 

32.787  = 1323 

1841 

32.721  = 1178 

11821 

14,092  = 1000 

1870 

40.818  = 164t 

1870 

36,765  — 1324 

1841 

17,5^4  = 1244 

1890 

Zunahmo 

49,428  = li-90 

1891 

Zunahme 

38,343  = 1381 

1871 

1880 

26.072  = 1850 
33,090  = 2348 

1816—90 

24,595 

1816—91 

ohne  Savoy. 
nnd  Nizza 

10,574 

9,684  = 1349 

Zunahme 

1821—91 

18,998 

Oesterreich  ohne  Ungarn8) 

Italien 

Europäisches  Russland0) 

1818 

13.380  = 1000 

! 

— 



1840 

16.575  = 1289 

— 

— — 

— — 

1869 

20.218  = 1510 

1871 

26,801  = 1000 

1870 

65.705  = 1000 

1890 

Zunahme 

23,710  = 1772 

1 

1890 

Zunahme 

30.15S  = 1125 

1^86 

Zunahme 

85,200  = 1297 

1819—90 

10,330 

1871—90 

3.357 

i 1870-86 

19,495 

’)  Bis  I960  nur  England  und  Wales,  später  auch  Schottland. 

3)  Seit  18t>1. 

3)  Nur  in  1881— 1886. 

4)  Seit  1863,  für  1863—1871  und  1S72 — 1980,  1881—1890. 

6)  Gebiet  des  heutigen  Deutschen  Reichs  von  Anfang  an  gerechnet.  Zahlen 
nach  der  Reichsstatistik. 

6)  Ohne  Eha-NS-Lothringcn  (1816  1,281.000,  1871  1,550,000)  auch  vor  1870  und 
bis  1861  ohne,  seitdem  mit  Savoyen  und  Nizza  gerechnet,  wodurch  ein  Zuwachs  von 
Anfangs  737.000  Kopf,  die  mit  ihrer  weiteren  Vermehrung  seitdem  eigentlich  für 
1870  und  1891  zum  Vergleich  abzusetzen  wären.  Für  1816  und  1870  (Anfang  1871) 
berechnete,  für  1841  und  1891  gezählte  Bevölkerung.  Im  Mai  1S72  gab  die  Zählung 
selbst  nur  36,103  000. 

’)  England.  Wales,  Schottland,  ohne  die  Canalinseln.  Daten  der  Volkszählungen. 

*)  Mit  Galizien  und  Bukowina.  Nur  Civilbevölkerung.  S.  österr.  Jahrb.  1890,  S.  1. 

®)  Unsichere  Bevölkerungszahlen.  Hier  ohne  Polen  nnd  Finnland. 


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520  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk. lehre.  l.H.-A.  Statist.  §.217. 


Schweiz 

Niederlande 

Belgien 





— 

1829 

2.613  = 

1000 

_ 

1800 

2.507 

= 

1000 

1839 

2.860  = 

1094 

1846 

4.337  = 1000 

1870 

2,669 

= 

1064 

l 1869 

3,580  = 

1370 

1871 

5.020  = 1157 

1888 

2,933 

= 

1170 

1889 

4,511  = 

1726 

1890 

6,147  = 1417 

Zunahme 

Zunahme 

Zunahme 

1860—89 

426 

1829—89 

1.899 

1 846—90 

1,810 

Dänemark 

Schweden 

JL  > . 

Norwegen 

— 

- - 

1815 

2.465  = 

1000 

1815 

885  = 1000 

1S40 

1,283 

S= 

1000 

1840 

3.139  = 

1273 

1840 

1 264  = 1407 

1870 

1,785 

= 

1391 

1870 

4.169  = 

1691 

1870 

1,740  = 1966 

1890 

2,172 

= 

1S49 

1890 

4.785  = 

1941 

1890 

1,989  = 2259 

Zunahme 

Zunahme 

Zunahme 

1840—90 

S89 

! 1815 — 90 

2,320 

1815—90 

1,104 

Irland1) 

Vereinigte  Staaten  a) 
Nordamerica 

Britisch  - Australien 

1801 

5,216 

1790 

3,930 



1821 

6.802 

= 

1000 

1820 

9.638  = 

10001 

! 

■ — — 

1841 

8.195 

= 

12n5 

1840 

17,069  = 

1771  1 



1851 

6,572 

= 

966 

1870 

3S.926  = 

4039 

1S63 

1,331  = 1000 

1861 

5,799 

— 

852  1 

1 1 890 

62,981  — 

6533 1 

1871 

1.922  = 1307 

1871 

5.412 

== 

797  1 

Zunahme 

1891 

4,523  = 3398 

1891 

4.706 

= 

692 

1820  bis 

1 

Zunahme 

Abnahme 

1821—91 

2,096 

1 

i 

1890 

51,343 

1863—91 

3,192 

i 

Die  ältere»  Zahlen  in  Tah.  XIII  sind  nicht  so  sicher  wie  die  späteren  und 
unter  sich  nicht  so  gleichwertig,  aber  mit  diesem  Vorbehalt  doch  zu  Vergleichungen 
brauchbar.  Leider  liegen  nicht  einmal  so  sichere  Zahlen  für  alle  Länder  aus  der 
Zeit  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  vor. 

§.217.  Ergebnisse  bezüglich  der  Vol  ksvci  mehrung. 
Die  mitgetheilten  Zahlen  der  beiden  letzten  Tabellen  XII  und  XIII 
und  mehrerer  der  früheren  zeigen  für  die  volkswirtschaftlichen 
Seiten  der  Bevölkerungsfrage  zweierlei  deutlich.  Einmal  für  das 
Ver t h ei lung s problem,  welche  Bedeutung  eine  auf  grossem  Ge- 
burtsüberschuss beruhende  starke  Volksvermchrung  wogen  der 
Kosten  der  Aufer/.iehung  der  Kindergenerationen,  als  volkswirt- 
schaftlicher Belast  ungscoef  li  eie  nt,  hat,  so  in  Deutschland 
verglichen  mit  Frankreich.  Sodann , wie  nun  freilich  die  so  er- 


*)  Die  erste  für  sicherer  geltende  Zählung  ist  die  von  1821.  Kleine  Ab- 
weichungen, je  nachdem  die  Militärbevölkerung  (20  — 30,000)  mit  gezählt  oder  nicht. 
Hier  inbegriffen. 

*)  Wirkliche  Zählbcvölkcrung  auf  dem  jeweiligen  Unionsgebiet,  das  sich  freilich 
im  19.  Jahrhundert  sehr  vergrößerte , aber  doch  meist  um  zunächst  sehr  schwach 
bevölkerte  Gebiete. 


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Ergebnisse  bezüglich  der  Volksvermehrung. 


521 


reichte  Volksvermehrung,  namentlich  wenn  die  Altersclassenver- 
theilung,  die  Vertbeilung  zwischen  „productiven“  und  „unproductiven“ 
.Jahren  wenigstens  nicht  ungünstiger  wird,  auch  für  das  Pro- 
ducti o n sp ro b 1 em  absolut  die  Vermehrung  des  Factors  „Ar- 
beit“, Arbeitsfähigkeit  (wenn  auch  wegen  der  verschiedenen 
Geschlechtsvertheilang  nicht  immer  in  gleichem  Grade)  bedeutet; 
sowie  nicht  minder  für  das  ebenfalls  mit  der  Bevölkerungsfrage 
zusammenhängende  politische  und  militärische  Problem, 
die  Vermehrung  des  Factors  „Macht“,  Wehrkraft. 

Auch  in  dieser  Hinsicht  sind  die  Vergleichungen  zwischen  Deutschland  und 
Frankreich,  Nord-  und  Süddeutschland,  auch  Preussen  und  Oesterreich  ebenfalls 
belehrend.  Der  Ausgang  der  politischen  Ereignisse  von  1S66  und  1870/71  hängt 
wenigstens  auch  mit  dieser  Bevölkerungsbewegung  zusammen , wenn  auch  andere 
Factorcn , und  darunter  so  manche  Imponderabilien,  dabei  noch  mehr  eingewirkt 
haben  mögen.  Und  der  Niedergang  der  französischen  Bedeutung  in  der  grossen 
Weltpolitik,  der  Politik  der  Machtfragen , was  dann  so  manches  Andere  im  Gefolge 
hat,  ist  doch  auch  mit  eine  Folge  davon,  dass  die  Bevölkerung  Frankreichs  von  gut 
ca.  ,/7  der  europäischen  um  1815  auf  weniger  als  V9  in  der  Gegenwart  herab- 
gegangen ist,  während  ausserhalb  Europas  die  wichtigsten  Weltgebiete  den  Germanen 
gewonnen  und  von  ihnen  besiedelt  und  bevölkert  wurden,  Franzosen  aber  auch  hier 
eher  ab-  als  zugenommen  haben.  An  diesen  Thatsachen  würde  selbst  der  Rückgang 
Eisass- Lothringens  an  Frankreich,  dessen  Verlust,  wie  gesagt,  ja  wenigstens  eine 
Mitfolge  dieser  Bevölkerungsbewegungen  war,  nichts  irgend  Wesentliches  ändern. 

Das  ist  freilich  die  Glanzseite  der  germanischen,  die  trabe  Seite  der  französischen 
Bevölkerungsbewegung.  Die  ungünstige  und  günstige  Kehrseite  liegt  in  beiden  Fällen 
in  der  Einwirkung  der  Volksvermehrung  durch  Geburtsüberschuss  auf  die  Belastung 
der  Erwachsenen,  auf  die  steigende  Concurrenz  im  Leben,  welche  sich  die  Menschen 
machen,  und  auf  die  Verhältnisse  der  Vcrinögcusvermebrung  und  Verkeilung. 

Wie  begreif  lieh,  wenigstens  unter  heutigen  Rechts-  und  Verkehrs- 
verhältnissen, ja  wie  nothwendig  in  gewisser  Hinsicht  bei  solchem 
natürlichen  Bevölkerungszuwachs,  wie  ihn  die  germanischen  Völker 
zeigen,  auch  die  Auswanderung,  andrerseits  die  Erweiterung 
des  auswärtigen  Markts  für  Bezug  und  Absatz  von  Producten, 
zumal  bei  ungünstigen  Naturverhältnissen  (Scandinavien) , auch 
die  directe  Ausdehnung  des  einheimischen  Markts  durch  Zollver- 
einigungen , Colonienerwerb , Eroberung  von  passendem  Gebiet 
wird,  — das  geht  aus  den  mitgetheilten  Zahlen  wobl  auch  deutlich 
hervor.  Die  grossen  Hauptculturgebiete  der  neuen  Welt  zeigen  in 
ihrer  eigenen  raschen  Volkszunahme  mit  durch  die  Einwanderung 
aus  Europa  schliesslich  doch  auch  die  Wirkungen  der  europäischen, 
namentlich  germanischen  Volksvermehrung.  Aber  man  sieht  auch, 
wie  rasch  sich  diese  neuen  bisher  volksarmen  Gebiete,  zugleich^ 
bei  der  grossen  weiteren  natürlichen  Zunahme  ihrer  älteren  wie 
neueren  Einwanderungsbevölkerung,  anfüllen  und  so  sieh  nach 
und  nach,  wenn  auch  zunächst  nur  in  einzelnen  ihrer  Theile,  den 
Bevölkerungsverhältnisscn  der  alten  Welt  zu  nähern  beginnen,  wie 


522  4.  B.  Bevölk,  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  21 S. 


es  im  nordamerikanischen  östlichen  und  mittleren  Gebiete  immer  deut- 
licher wird  (§.234).  So  erweitert  sich  freilich  das  nationale  zu  einem 
internationalen  Bevölkerungsproblem,  das  europäische,  insbesondere 
west-  und  mitteleuropäische  zu  einem  den  Haupttbeil  der  neuen 
Welt  mit  umfassenden.  Aber  es  zeigt  sich  auch  schon  hier,  dass 
Auswanderung  und  Theilnahme  am  Weltverkehr  nur  zeitweilige 
Abhilfsmittel  gegen  die  Folgen  einer  raschen  natürlichen  Volks- 
vermehrung sein  können. 

II.  — §.  218.  Die  Schwankungen  in  der  natürlichen 
Volksbewegung,  ihre  Bedingungen  und  Ursachen. 

A.  Allgemeines  und  Theoretisches. 

Im  Vorangehenden  ist  schon  vielfach  der  zeitlichen  und  örtlichen  Verschieden- 
heiten in  der  durch  Geburten  und  Todesfälle  verurachten  natürlichen  Bewegung  der 
Bevölkerung  und  davon  abhängig  weiter  des  Standes  der  Bevölkerung  gedacht  worden. 
Zeitliche  Verschiedenheiten  zeigten  sich  in  kleineren  Zeitabschnitten,  den  Jahren,  und 
in  grösseren,  in  Perioden  von  Jahren').  Oertliche  Verschiedenheiten  traten  in  der 
Statistik  der  einzelnen  Länder  und  Völker,  sowie  in  denjenigen  der  Gebietstheile, 
ebenfalls  deutlich  mit  hervor.  Diese  Verschiedenheiten  deuten  auf  Einflüsse,  auf 
causalc  und  conditionelle  Zusammenhänge  und  Abhäigigkeitsverhältnisse  hin,  welche 
sich  zum  Theil  schon  ohne  Weiteres  ergeben,  zum  Theil  durch  eine  Untersuchung 
der  zeitlichen  und  örtlichen  Umstände  und  der  Verschiedenheiten  der  lezteren  ab- 
leiten lassen.  Auch  hier  wird  wieder  die  Vergleichung  und  mittelst  ihrer  die 
Anwendung  der  Methoden  der  experimentellen  Forschung  (§.  8011.)  Platz  zu  greifen 
haben. 

Nicht  schon  an  sich  Zeit  und  Raum  (Ort),  sondern  Ursachen  und  Bedingungen 
der  natürlichen  Bevölkerungsbewegung,  welche  nach  Zeit  und  Ort  wechseln,  können 
die  Verschiedenheiten  dieser  Bewegung  allein  erklären.  Es  ist  die  interessante  Auf- 
gabe der  vergleichenden  Bevölkerungsstatistik,  diesen  zeitlichen  und  örtlichen  Ursachen 
und  Bedingungen  nachzugehen,  ihren  directen  und  indirecten  Einfluss  festzustellen, 
womöglich  zu  messen  und  so  Einblick  in  die  und  Vcrständniss  der  Abhängigkcits- 
verhältnisse  der  Bevölkerungserscheinungen  zu  gewinnen.  Die  Verbesserungen  der 
statistischen  Technik  haben  die  Erfüllung  dieser  Aufgabe  erheblich  gefördert.  Hier 
handelt  cs  sich  für  uns  nur  darum,  aus  den  Ergebnissen  der  statististischen  Ver- 
gleichungen einige  Thatsachen  hervorzuheben  und  daraus  einige  Schlüsse  für  unseren 
Zweck , für  das  Verständnis  der  volkwirthschaftlichen  Seiten  des  Bevölkerungsproblems, 
zu  ziehen  und  zugleich  zu  begründen. 

Die  einzelnen,  auch  für  uns  hier  in  der  Socialökonomie  be- 
achtenswerthen  Thatsachen  der  natürlichen  Bevölkerungsfrequenz, 
welche  die  Statistik  ergiebt,  lassen  sich  in  zwei  Gruppen,  je 
nach  ihrer  Einwirkungstendenz  oder  ihrer  wirklichen  Einwirkung 
auf  die  Veränderung  des  Stands  und  der  Zusammensetzung  der 
Bevölkerung  bringen.  Die  eine  Gruppe  umfasst  der  Volksvermehrung 


')  Auch  innerhalb  des  Jahres,  uacli  den  Jahreszeiten,  Monaten  ergeben  sich 
characteristische  Verschiedenheiten,  in  den  Conceptionen  und  Geburten,  in  den  Todes- 
fällen, was  hier  indessen  nicht  näher  verfolgt  werden  soll,  obwohl  es  z.  B.  bei  den 
Conceptionen  mit  physiologischen  und  psychologischen  Seiten  des  Bevölkerungsproblems 
zusammenhängt  und  insofern  doch  auch  für  die  volkswirtschaftlichen  Seiten  dieses 
Problems  von  Interesse  ist.  S.  u.  A.  in  dein  gen.  B.  44  der  Reichsstatistik  die  Unter- 
suchungen über  die  „Bevölkerungsbewegung  nach  Monaten“.  Einl.  S75lf  u.Tab.  S 187  ff. 


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Schwankungen  in  der  natürl.  Volksbewegung.  — Allgemeines. 


523 


günstige,  die  andere  dieser  ungünstige  Thatsachen.  Zu  jener  ge- 
hört die  Vermehrung  der  Heirathcn,  als  der  für  die  Fortpflanzung 
in  unseren  socialen  Verhältnissen  wichtigsten  Einrichtung  des  frucht- 
baren Geschlechtsverkehrs,  die  Verringerung  des  Lebensalters,  in 
welchem  die  Heirathcnden  in  die  Ehe  treten,  die  Vergrösserung 
der  Zahl  der  stehenden  Ehen,  namentlich  derjenigen  von  Ehegatten 
im  Lebensalter  des  der  Kindererzeugung  günstigen  und  ausdrück- 
lich darauf  abzielenden  ehelichen  Geschlechtsverkehrs,  die  Ver- 
mehrung der  Geburten,  an  sich  (rein  vom  populationistischen,  nicht 
vom  socialen  und  ethischen  Standpuncte  betrachtet)  auch  der  un- 
ehelichen, endlich  die  Verminderung  der  Todesfälle,  und  hier,  was 
gleichzeitig  die  Zusammensetzung  der  Bevölkerung  berührt,  nament- 
lich die  Verminderung  der  Todesfälle  im  wirtschaftlich  productiven 
Lebensalter.  Zur  zweiten  Gruppe  gehören  die  gerade  entgegen- 
gesetzten Thatsachen,  also  insbesondere  die  Verminderung  der 
Heiraten , der  stehenden  Ehen , der  Geburten , die  Erhöhung  der 
Lebensalter  der  Ehescbliessenden,  die  Vergrösserung  der  Sterb- 
lichkeit. Alle  Umstände,  welche  auf  die  Thatsachen  der  ersten 
Gruppe  in  der  angegebenen  Richtung  steigernd  einwirken,  kann 
man  als  der  Volksvermehrung  förderliche,  alle  Umstände,  welche 
umgekehrt,  also  ebenfalls  steigernd  auf  die  Thatsachen  der  zweiten 
Gruppe,  einwirken,  kann  man  als  der  Volksvermehrung  hinder- 
liche, sie  hemmende  bezeichnen. 

Die  Verfolgung  der  zeitlichen  und  örtlichen  Veränderungen 
in  der  Statistik  der  Heiraten,  Geburten,  Todesfälle,  stehenden 
Ehen , der  Lebensalter  der  Eheschliessenden , der  Gestorbenen 
führt  nun  gerade  zur  Auffindung  solcher  förderlichen  und  hinder- 
lichen Umstände.  Die  letzteren  erscheinen  hier  als  Bedingungen, 
welche  auf  die  in  der  Bevölkerungsbewegung  mitspielendeu  phy- 
sischen und  psychischen  Factoren  als  Förderungs-  und  als 
Hemmungsmittel  einwirken  und  erst  durch  das  Medium  dieser 
Factoren,  daher  in  direct,  den  Gang  der  Bevölkerungsbewegung, 
die  Veränderungen  in  der  Zahl  und  Zusammensetzung  der  Bevölkerung 
bestimmen.  Jene  Umstände  erleichtern  oder  erschweren  die 
Eheschliessung,  die  Erhaltung  der  Familie,  der  Kinder  und  be- 
wirken so , dass  die  psychischen  und  physischen  Reize  zur  Ehe- 
schliessung, zum  Familienleben,  zum  Geschlechtsverkehr  und  zur 
Kindererzeugung  in  wie  ausser  der  Ehe  stärker  oder  schwächer 
wirksam  werden,  weil  die  etwaigen  psychischen  Bedenken  gegen- 
über jenen  Reizen  mehr  zurück-  oder  mehr  hervortreten.  Jene 


0 


524  4.  B.  Bcvölk.  u.  Volksw.scb.  1.  K.  Bevölk. lehre.  1.  II. -A.  Statist.  §219. 

Umstände  erleichtern  und  erschweren  aber  auch  die  Erhaltung  und 
Schonung  des  Lebens  und  bewirken  so,  dass  die  das  Leben  be- 
drohenden Gefahren  leichter  oder  schwerer,  mit  grösserem  oder 
geringerem  Erfolg  überwunden  werden.  Man  hat  es  daher  hier 
wieder  mit  einem  verwickelten  Gefüge  physich-psychischer  Factoren 
in  der  Bevölkerungsbewegung  zu  thun , dessen  jedesmalige  Ge- 
staltung und  Wirksamkeit  die  thatsäehliehe  natürliche  Bewegung 
der  Bevölkerung,  wie  sic  in  den  Geburten  und  Sterbefällen  sich 
zeigt,  bestimmt.  Die  Veränderungen  und  Verschiedenheiten  der 
statistischen  Zahlen  weisen  zunächst  immer  nur  auf  die  äusseren 
als  Bedingungen  fungirenden  Umstände  hin.  Erst  die  Analyse 
der  letzteren  und  die  Zurückführung  ihres  Einflusses  auf  die  direct 
einwirkenden  physischen  und  psychischen  Factoren  deckt  die  hier 
obwaltenden  Abhängigkeitsverhältnisse  in  befriedigender  Weise  auf 
und  macht  sie  verständlich. 

Die  Malthns'scltc  Theorie  von  den  präventiven,  d.  h.  zugleich,  wie  man  ca  auch 
ausdrUckcn  kann,  den  wesentlich  psychologisch  wirkenden,  und  den  repressiven,  d.  h. 
den  wesentlich  physiologisch  wirkenden  llcinmmittcln  (checks)  der  Volksvermehrung 
(S.  453)  stimmt  mit  dem  Obigen  uberein.  Nur  muss  sie  eben  zu  einer  Theorie  der 
Hemm-  u n d Förderung&mittcl  erweitert  werden.  Dine  Theorie  der  letzteren  enthält  sic 
allerdings  iinplicite  und  in  manchen  Ausführungen  von  Maltbus  und  seinen  Anhängern 
schon  mit,  aber  dieselbe  muss  doch  auch  deutlich  als  die  andere  Seite  der  Theorie 
der  Checks  heraustreten.  Ferner  sind  namentlich  in  der  ganzen  Theorie  der  Förderungs- 
und Hcmminittel  die  psychologischen  Momente,  welche  gerade  hier  mitspielen, 
schärfer  hervorzuheben  und  zu  analysiren.  Was  oben  für  die  Bevölkcrungslehre  überhaupt 
verlangt  wurde  (S.  449),  gilt  von  dieser  Theorie  in  besonderem  Maasse:  das  betreffende 
Problem  oder  die  beiden  Probleme,  welche  in  den  Einflüssen  der  Fördernngs-  und 
Hemmmittel  enthalten  sind,  stellen  eben  nicht  nur  physiologische,  sondern  immer  zu- 
gleich auch  psychologische  Probleme  dar  Das  ist  gerade  für  die  Fragen  vom  Einflüsse 
der  socialen,  der  wirthschaftlichcn  Verhältnisse,  der  bezüglichen  Organisationen,  der 
Wohlstands-  und  Bildtingsdiflcrcnzen,  daher  der  socialökonomischen  Classcnschichtung 
auf  die  natürliche  Bevölkerungsbewegung  so  wichtig  zu  beachten;  nicht  zum 
Wenigsten  auch  für  das  Bevölkerungsproblem  in  einer  socialistischen  Organisation 
der  Production  und  Vertheilung  der  wirthschaftlichcn  Güter. 

B.  — §.219.  Die  Fördernngs-  und  Hem mungs mittel 
der  natürlichen  Volksvermehrung.  Die  Statistik  zeigt 
namentlich  in  den  zeitlichen  und  örtlichen,  dauernden  und  ver- 
änderlichen Verschiedenheiten  und  Schwankungen  der  Thatsacben, 
welche  die  natürliche  Volksbewegung  betreffen,  dass  hier  über- 
haupt Einflüsse  einwirken,  welche  mächtig  genug  sind,  sich  in  der 
Masse  der  Fälle,  in  der  „grossen“  und  „grösseren“  Zahl  (S.  214) 
geltend  zu  machen  und  dadurch  den  betreffenden  Zahlen  ihrGepräge 
aufzudrUcken.  Man  kann  aus  der  Statistik  dann  auch  regelmässig 
jene  förderlichen  und  hemmenden  Einflüsse  ableiten,  'welche  für  die  je- 
weilige Volksvermehrung  bestimmend  sind.  Die  Wahrnehmungen, 
welche  man  hier  macht,  rechtfertigen  es,  auch  bei  Cullurvölkeru  von  einer 


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Förderung^-  u.  Hemmmittel  der  natürl.  Yolksvermehruug.  525 

Tendenz  zur  Volksvermehrung,  mindestens  von  einer  Tendenz 
zu  sprechen,  durch  die  Geburten  immer  wieder  Ersatz  für  die 
Todesfälle  zu  schaffen  und  so  den  Bevölkerungsstand  wenigstens 
einigermaassen  zu  erhalten.  Diese  Tendenz  tritt  bei  ver- 
schiedenen Völkern  zeitweilig  und  bleibend  und  auch  hei  demselben 
Volke  zeitlich  und  örtlich  in  verschiedenem  und  wechselndem  Grade 
hervor.  Dabei  sind  gewisse  nationale  Eigenthtimliehkeiten  kaum 
zu  verkennen.  Dieselben,  ein  Product  der  ganzen  Volksanlage  und 
Volksgeschichte,  bedingen  und  bestimmen  die  bei  allen  Schwan- 
kungen dauernden,  daher  einigermaassen  constanten  Verschieden- 
heiten in  der  natürlichen  Volksbewegung  und  machen  eine  be- 
stimmte durchschnittliche  Heiraths-,  Geburts-,  Sterbeziffer  und 
davon  abhängig  eine  bestimmte  Gestaltung  des  Stands  der  Bevölke- 
rung und  Richtung  dieser  Gestaltung  zu  einer  einigermaassen 
fest  gegebenen  Grösse.  Aber  daneben  Uussren  sich  auch 
die  jeweilig  fördernden  und  hemmenden  Einflüsse  deutlich  überall, 
wenngleich  wiederum  in  verschiedenem  und  wechselndem  Maasse. 
Deutschland,  speciell  Norddeutschland  (Preussen)  und  Frankreich 
z.  B.  mit  ihren  grossen  und  wenigstens  für  längere  Perioden  con- 
statirten  bleibenden  Verschiedenheiten  der  natürlichen  Volksbe- 
wegung, zeigen  das.  Sie  beweisen,  in  Verbindung  mit  zahlreichen 
anderen  Beispielen  aus  verschiedenen  Ländern  und  Zeitaltern,  dass 
in  der  That  jene  genannten  Einflüsse  auch  für  Culturvölker  ihre 
Bedeutung  haben  und  in  gewisser  Weise  universeller  Natur  in 
der  Menschenwelt  sind,  dass  man  daher  mit  ihnen  mindestens 
mehr  oder  weniger  allgemein  und  überall  als  mit  Förderungs-  und 
Hemmungsmittel  der  erwähnten  Wirksamkeit  im  concreten  Falle 
rechnen  muss. 

Pessimistische  Auffassung  des  Lebens,  Negation  seiner  Nothwendigkeit,  Wille, 
wenigstens  keine  neuen  Geschlechter  ins  „elende  Dasein  dieser  Welt“  zu  rufen,  wie  der- 
gleichen wohl  in  einzelnen  modernen  Köpfen  hier  und  da  spukt,  religiöse  und  sittliche 
Verwerfung  des  Geschlechtsverkehrs,  auch  des  ehelichen,  überhaupt,  wie  etwa  in  früh- 
christlicher Zeit,  mussten  eine  gewaltige  Ausdehnung  gewinnen,  bevor  sich  etwa  ein 
Einfluss  solcher  Gesinnungen  in  der  Bewegung  der  Bevölkerung  sollte  deutlicher 
zeigen  können.  Oder  anderseits  der  heutzutage  schon  hie  und  da  gepflegte  und 
empfohlene  präventive  Geschlechtsverkehr  müsste  erst  allgemein  und  dauernd  Maxime 
und  Praxis  geworden  sein,  wenn  er  einen  deutlichen  Einfluss  auf  die  Volksbewegung 
zeigen  sollte.  Die  kleinen  Geburtsziffern,  wie  in  Frankreich  (S.  515),  weisen  auf  die 
hier  vorliegende  Gefahr  hin.  Aber  gerade  die  französische  Heiraths-  und  Geburts- 
statistik ergiebt  doch,  dass  auch  hier  die  Bevölkerung  jeweilig  denselben  wechselnden 
fördenden  und  hemmenden  Einflüssen,  wenn  auch  im  Ganzen  in  geringerem  Grade, 
unterliegt,  wie  in  anderen  Ländern. 

Die  statistische  Beobachtung  zeigt  nun,  dass  g li n stige  wirth- 
sehaftliche  und  sociale  Verhältnisse  und  namentlich  solche  günstiger 

A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlagen.  34 


526  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevftlk.lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  219. 

werdende,  welche  auf  ungünstige  folgen,  regelmässig  einen 
förderlichen  Einfluss  auf  die  Bevölkerungsbewegung  und  dass 
umgekehrt  ungünstige  wirtschaftliche  und  sociale  Verhältnisse 
und  wiederum  analog  ungünstiger  werdende  den  entgegen- 
gesetzten, hemmenden  Einfluss  ausüben.  Im  ersten  Falle  ver- 
mehren sich  die  Eheschliessungen,  namentlich  auch  diejenigen 
zwischen  bisher  ledigen  und  zwischen  jüngeren  Personen,  vermindert 
sich  das  Heirathsalter,  vermehrt  sich  die  Geburtszahl,  die  eheliche, 
wie  auch  wohl  selbst  die  uneheliche,  verringert  sich  die  Zahl  der 
Todesfälle,  auch  besonders  in  den  Altersclassen  mit  regelmässig 
grösserer  Sterblichkeit,  steigt  in  der  Bevölkerung  etwas  die  Zahl 
der  verheiratbeten  Personen,  insbesondere  unter  den  Erwachsenen 
auch  relativ,  und  selbst  allgemein  in  der  ganzen  Bevölkerung  re- 
lativ, wenigstens  so  lange,  als  nicht  etwa  die  rasche  Vermehrung 
der  Geburten  hier  wieder  Verschiebungen  der  Quoten  bewirkt.  Im 
zweiten  Falle  treten  bei  allen  diesen  Thatsachen  die  entgegen- 
gesetzten Bewegungen  ein.  Dort  ist  daher  das  Ergebniss  eine 
raschere  und  stärkere,  hier  eine  langsamere  und  schwächere  natür- 
liche Volksvermehrung,  vielleicht  selbst  ein  Stillstand  oder  sogar 
eine  Abnahme  der  Bevölkerung. 

Alle  diese  Erscheinungen  sind  das  Ergebniss  von  psychischen 
und  physischen  Massenwirkungen  auf  Menschenmassen.  Die  grosse 
Masse  der  Bevölkerung  ist  es,  welche  hier  beeinflusst  wird.  Für 
sie  macht  sich  die  Gunst  oder  Ungunst  der  allgemeinen  wirt- 
schaftlichen und  socialen  Verhältnisse  unmittelbar  und  mittelbar 
geltend,  physisch,  wie  in  der  Lebensweise,  im  Gesundheitszustand, 
psychisch,  wie  in  der  frohen  oder  trüben  Auffassung  der  Lebens- 
aussichten. Diejenigen  Glieder  der  Gesellschaft,  welche  in  ihrer 
persönlichen  wirtschaftlichen  und  socialen  Lage  vom  Stande  der 
allgemeinen  Verhältnisse  nicht  oder  nur  wenig  berührt  werden, 
unterliegen  natürlich  auch  den  betreffenden  Einflüssen  wenig  oder 
gar  nicht,  obgleich  selbst  gewisse  psychische  Wirkungen,  z.  B.  von 
schwereren  allgemeinen  Notständen  (Seuchen,  Krieg)  auch  bei 
ihnen  sich  kundgeben  werden  und  in  Verminderung  der  Heiraten, 
der  Geburten  auch  in  diesen  Kreisen  sich  zeigen.  Wenn  die  Statistik 
der  Bewegung  der  Bevölkerung  deutlich  den  Einfluss  der  Gunst  und 
Ungunst  der  allgemeinen  Lage  abspiegelt,  so  ergiebt  sich  nur  wieder, 
dass  eben  für  den  grössten  Theil  der  Bevölkerung  auch  die  per- 
sönliche Lage  der  Einzelnen  wirklich  oder  der  Annahme  nach 
von  jener  allgemeinen  Lage  bestimmt  wird.  Die  Veränderungen 


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Förderuugs-  u.  Hemmmittel  der  natürl.  Volksvennehrung.  527 

in  der  Zahl  derjenigen  Thatsacben,  welche  wie  Heirathen,  Kinder- 
erzengungen direct  unter  dem  Einfluss  des  menschlichen  Willens 
und  der  Handlungen  und  Unterlassungen  stehen,  zeigen  aber 
auch  dass  die  Bevölkerung  in  ihrer  Masse  von  bestimmten  Er- 
wägungen der  Folgen  und  der  eigenen  Verantwortlichkeit  für 
die  Folgen  in  Bezug  auf  diese  Thatsacben  geleitet  wird,  „Vernunft“ 
das  blosse  Triebleben  mit  beeinflusst,  wenn  auch  nicht  ausschliess- 
lich beherrscht:  ein  wichtiger  Punct  für  die  Würdigung  der  Be- 
deutung der  socialen  und  ökonomischen  Organisation  in  der  Be- 
völkerungsfrage. Wie  mächtig  aber  eben  doch  das  geschlechtliche 
Triebleben  hier  bleibt,  zeigt  wohl  am  Deutlichsten  die  Thatsache, 
dass  jeder  durch  solche  Erwägungen  bestimmten  Verminderung, 
also  häufig  auch  Verschiebung  von  Heirathen,  jeder  Verminderung 
der  Geburten  immer  alsbald  wieder  mit  dem  Wegfall  oder  dem 
Nachlassen  der  ungünstigen  Umstände,  welche  psychisch  als  Hemm- 
mittel gewirkt  haben,  eine  rasche  Steigerung  der  Heirathen  und 
Geburten  folgt,  gewissermaassen , als  hätte  die  Bevölkerung  Ver- 
säumtes nachzuholen.  Nicht  selten  folgt  daher  einem  Minimum 
von  Heirathen  und  Geburten  ein  Maximum  beider,  wie  auch,  was 
aus  anderen,  auch  physiologischen  Gründen  begreiflich  ist  — nament- 
lich weil  die  schwächeren  Elemente  in  der  ungünstigen  Zeit  be- 
sonders stark  ausgeschieden  wurden  — wohl  ein  Minimum  von 
Todesfällen  auf  ein  Maximum  folgt. 

Die  Grösse  der  Schwankungen,  der  Extreme  ist  ein  Gradmesser 
in  mehrfacher  Hinsicht:  für  die  Grösse  der  wirklichen  oder  der 
psychisch  angenommenen  Differenz  zwischen  Gunst  und  Ungunst 
der  allgemeinen  Lage,  für  das  Maass  der  Abhängigkeit  der  per- 
sönlichen Lage  der  Einzelnen  hiervon,  aber  auch  für  das  Maass 
des  Leichtsinns,  der  Unbedachtsamkeit,  wie  eine  Bevölkerung  eine 
günstige  allgemeine  und  eine  momentan  dadurch  verbesserte  per- 
sönliche Lage  auf  sich  wirken  lässt,  und  umgekehrt  für  das  Maass 
der  Vorbedachtsamkeit,  wie  sie  sich  diesem  Einfluss  entzieht  oder 
wenigstens  nicht  gedankenlos  sanguinisch  Preis  giebt.  Dass  in 
günstiger  Lage  die  Heiraths-  und  Geburtsziffer  nicht  zu  rasch  und 
stark,  unverhältnissmässig,  über  den  Durchschnitt  steigt,  in  un- 
günstiger Lage  nicht  zu  sehr  herabgeht,  während  etwa  gleich- 
zeitig die  Todesfälle  enorm  steigen,  das  muss  als  das  Wünschens- 
werthere bezeichnet  werden.  Dass  Heirathen  und  Geburten  aber 
in  ungünstigen  Zeiten  überhaupt  herabgehen,  wird  als  Zeichen  ver- 
nünftiger Vorbedachtsamkeit  angesehen  werden  dürfen.  Es  ist 

34* 


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52b  4.  B.  Bcvölk.  u.  Yolksw.scli.  1.  K.  Bevölk.lehre.  1.  IL-A.  Statist.  §.  220. 


kaum  zu  leugnen,  dass  Frankreich  in  allen  diesen  Puncten  ein 
besseres  Bild  zeigt,  als  Deutschland  und  der  slavische  Osten, 
zumal  als  einige  deutsche  Gebiete  mit  durchschnittlich  grosser 
Geburtsziffer. 

Die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  machen  sich  in  doppelter 
Weise  hier  als  Förderungs-  und  Hemmungsmittel  geltend,  Einflüsse, 
welche  sich  dann  wieder  nach  der  Entwicklungsstufe  der  ganzen 
Volkswirtschaft,  den  vorwaltenden  Hauptberufen  der  Bevölkerung 
differenziren.  Einmal  kommen  die  Erwerbs  Verhältnisse,  sodann 
die  Consumtions-  und  demnach  die  Ausgabe  Verhältnisse  in 
Betracht. 

Bei  den  ersteren  entscheiden  daher  für  die  ländliche  selbstwirtschaftende 
Bevölkerung  (Bauern.  Pachter,  grössere  Gutsbesitzer)  die  Ernten  und  Absatzpreise,  für 
die  industrielle  Unternchmcrbcvölkerung  die  Conjuncturen  und  die  Absatzpreise, 
für  beide  auch  die  auszulegenden  Productionskosten,  die  Löhne,  Preise  der  bezogenen 
und  verarbeiteten  Producte  u.  s.  w.;  für  die  Arbeiterbevölkerung  die  Regel- 
mässigkeit der  Beschäftigung  und  die  Lohnhöhe.  Bei  den  Consumtionsverhältnissen 
kommt  es  vor  Allem  auf  die  Preise  der  nothwendigen  Unterhalts-,  besonders  der 
Nahrungsmittel,  zumal  des  hauptsächlichen,  wie  des  Brotkorus  und  Brotes,  bei  der- 
jenigen Bevölkerung  an,  welche  diese  Artikel  ein  kaufen  muss,  daher  namentlich 
bei  der  städtischen,  der  industriellen,  der  auf  Geldlohn  gesetzten  Arbeiterbevölkerung. 
Es  ist  klar,  dass  hier  das  Vorwalten  der  Natural-  und  der  Geldwirthschaft,  der  agrarisch- 
ländlichen  und  der  städtisch-industriellen  Thätigkeit,  daher  auch  die  Vertheilung  der 
Bevölkerung  auf  Landwirtschaft  und  Industrie,  Land  und  Stadt,  der  Character  der 
Industrie,  die  grössere  oder  kleinere  Abhängigkeit  von  den  Conjuncturen  des 
Wirtschaftslebens  erhebliche  Unterschiede  auch  für  die  Bedeutung  jener  in  den 
Wirthschaftsverhältnissen  liegenden  Pörderungs-  und  Hemmungsmittel  in  Bezug  auf 
die  Bevölkerungsbewegung  bedingen  muss.  Der  lange  und  schon  früh  beobachtete 
Einfluss  des  Standes  des  Preises  des  Brotkornes  macht  sich  in  der  industriellen  Phase 
der  Volkswirtschaft  nicht  mehr  ebenso  stark  als  früher,  aber  immer  doch  auch 
heute  noch  deutlich  geltend,  wie  noch  die  neueste  vergleichend  - statistische  Arbeit 
für  Deutschland  zeigen  konnte.  Aber  natürlich  ist  der  Einfluss  der  Schwankungen 
der  grossen  volks-  und  weltwirtschaftlichen  Conjuncturen  (1871  ff.  und  der  Rückschlag 
seit  Mitte  der  70  er  Jahre)  jetzt  mehr  als  ehedem  und  auch  bei  uns  zu  spüren. 
Auch  hier  sind  die  Zusammenhänge  und  Abhängigkeitsverhältnisse  übrigens  öfters 
verwickelte  und  kann  dassellbe  Ereigniss  auf  mancherlei  verschiedene  Weise  in  der- 
selben Richtung  oinwirken,  mehr  direct,  mehr  indirect.  Z.  B.  die  Missernte  kann  den 
Korn-  und  Brotpreis  steigern  und  so  direct  die  Consumentcn,  welche  Brot  kaufen  müssen, 
in  ungünstige  Lage  bringen,  aber  auch  die  Kaufmittel  der  Landwirte,  weiter  der  an 
diese  und  die  Arbeiter  absetzenden  Städter  und  Industriellen  vermindern.  Dadurch 
können  Erwerbsstockungcn . Lohn-  und  Gewinnverminderungen  bewirkt  und  auf  diese 
Weise  indirect,  durch  verschiedene  Zwischenglieder  hindurch,  auf  weite  Kreise  der 
Bevölkerung  ein  ungünstiger  Einfluss  ausgeübt  werden,  welcher  sich  in  der  Bevölkerungs- 
bewegung abspiegelt. 

§.  220.  Schlüsse  bezüglich  der  Förderungs-  und 
Hemiumittel  für  die  Frage  der  Volks  Vermehrung.  Man 
kann  dann  nach  Allem  in  Betreff  der  angedeuteten  förderlichen  und 
hemmenden  Einflüsse,  in  Erweiterung  der  Malthus'schen  Lehre  von 
den  Hemmmitteln  (Checks)  der  Volksvermehrung,  auf  Grund  der 
statistischen  Beobachtungen  und  der  Analyse  der  hier  mitspielenden 


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Förderungs-  u.  Hemmmittel  der  natürL  Volksvermehrung. 


529 


Umstände  die  folgenden  Sätze  für  die  natürliche  Bevölkerungs- 
bewegung und  den  von  ihr  abhängigen  Stand  der  Bevölkerung 
aufstellen : 

Die  Bevölkerung  hat  unter  dem  Einfluss  des  geschlechtlichen 
Trieblebens,  auch  des  Sinnes  für  Familienleben  unter  normalen 
Verhältnissen  regelmässig  eine  deutliche  starke  Tendenz  zur  Er- 
haltung ihres  Stands  mittelst  Wiedererzeugung  des  natürlichen 
Abgangs,  welchen  sie  durch  die  Todesfälle  erleidet,  durch  Ge- 
burten und  gewöhnlich  auch  eine  ebenfalls  deutliche  starke  Tendenz, 
durch  GeburtsUberschuss  ihren  Stand  zu  vermehren.  Diese  Tendenz 
ist  in  jedem  Volke  zu  gegebener  Zeit,  auch  während  längerer 
Perioden,  eine  einigermaassen  feststehende  gegebene  Grösse,  welche 
als  Product  der  physisch -psychischen,  ethischen  Constitution  und 
Eigenschaften  des  Volks  erscheint.  Jene  Tendenz  wird  aber  je- 
weilig theils  direct  und  mittelst  Zurüekdrängung  ihrer  Gegen- 
tendenzen auch  indirect  gefördert,  theils  in  ihrer  Wirksamkeit 
gesteigert  durch  wirkliche  Lebenserleichterung  und  günstigere  Lebens- 
auffassung in  der  Gegenwart  und  für  die  Zukunft  in  Zeiten,  in 
welchen  die  Bevölkerung  in  wirtschaftlicher  und  socialer  Beziehung 
günstiger  lebt  und  zu  leben  hofft,  als  für  gewöhnlich:  hier  wirken 
die  psychologisch  präventiven  Tendenzen  schwächer  oder  ver- 
wandeln sich  in  ihr  Gegentheil  und  wirken  die  physiologisch  re- 
pressiven Tendenzen  ebenfalls  schwacher;  es  vermehren  sich  die 
Ehen,  die  Geburten,  während  unter  solchen  Verhältnissen  gleich- 
zeitig die  Zahl  der  Sterbefälle  abzunehmen  pflegt.  Jene  Ver- 
mehrungs-Tendenz wird  aber  auch  umgekehrt  theils  direct  und 
durch  Stärkung  ihrer  Gegentendenzen  indirect  geschwächt,  theils 
in  ihrer  Wirksamkeit  gehemmt  durch  wirklich  erschwerte  Lebens- 
lage uud  Furcht  davor  in  Gegenwart  und  Zukunft  in  Zeiten , wo 
die  Bevölkerung  in  wirtschaftlicher  und  socialer  Beziehung  un- 
günstiger lebt  und  zu  leben  fürchtet,  als  für  gewöhnlich:  hier  zeigen 
sich  die  psychologisch  präventiven  und  die  physiologisch  repressiven 
Tendenzen  stärker;  es  vermindern  sich  die  Ehen,  die  Geburten, 
während  unter  solchen  Verhältnissen  gleichzeitig  die  Zahl  der 
Sterbefälle  zuzuuehraen  pflegt. 

Die  wirkliche  natürliche  Volksbewegung,  die  für  sie  mnass- 
gebenden  Verhältnisse  der  Eheschliessungen,  Zeugungen  und  Ge- 
burten und  Todesfälle,  demnach  weiter  der  Stand  der  Bevölkerung, 
insbesondere  Richtung  und  Maass  seiner  Veränderung  hängen  daher 
- einmal  von  einer  mehr  oder  weniger,  wenigstens  für  gewisse  Zeit- 


530  4.  B.  Bcvölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  220,  221. 


räume,  gegebenen  ziemlich  constanten  Grösse,  der  in 
einer  Bevölkerung  einmal  bestehenden  Vermebrungstendenz  und 
daraus  folgenden  tbatsächlichen  Vermehrung;  sodann  aber  von 
einer  wechselnden  Grösse  ab,  derjenigen  der  Wirksamkeit, 
welche  die  gegebene  Vermebrungstendenz  unter  dem  Einfluss  ver- 
änderlicher concreter  psychischer  und  physischer  Förderungs-  und 
Hemmungsmittel  in  bestimmter  Zeit  und  an  bestimmtem  Ort  that- 
säcblick  erlangt.  In  letzterer  Hinsicht  zeigt  sich  dann  die  Leichtig- 
keit oder  Schwierigkeit,  eine  Familie  zu  begründen  und  für  mehr 
Menschen  Unterhalt  zu  beschaffen,  sowie  die  hierüber  herrschende 
Ansicht,  oder,  kurz  gesagt,  der  wirkliche  und  der  angenommene 
Unterhaltsspielraum  von  entscheidender  Bedeutung.  Indem  aber 
eine  bestimmte  Ansicht  über  das,  was  in  Bezug  auf  den  Unter- 
halt einerseits  ausreichend,  andrerseits  nothwendig  sei,  in  einer 
Classe,  einem  Volke,  einem  Zeitalter  zur  herrschenden  wird,  kann 
diese  Ansicht  dann  auch  zu  einem  Factor  werden,  welcher  hier 
dauernd  auf  die  Heiraths-  und  Geburtsfrequenz  einwirkt,  damit 
deren  Durchschnittsgrösse  und  so  auch  jene  als  gegebene 
Grösse  anzunehmende  nationale  Vermehrungstendenz  mit  bestimmt, 
bzw.  ändert,  sie  beschleunigt,  sie  verlangsamt.  So  erklären  sich  die 
dauernden  Vermehrungsverhältnisse  und  die  Veränderungen,  welche 
darin  erfolgen,  bei  der  Bevölkerung  überhaupt  und  bei  verschiedenen 
Völkern  und  in  verschiedenen  Zeitaltern  bei  demselben  Volke. 

Ich  sehe  in  den  vorausgehenden  Sätzen  nur  eine  Erweiterung  der  Malthus’- 
schen  Lehren  von  der  starken  Vermehrungstendeuz  der  Bevölkerung  und  von  den  Checks 
dagegen,  nicht  eine  eigentliche  Umänderung;  daher  auch  mehr  nur  eine  Modificatioa 
ihrer  Fassung,  als  ihres  Inhalts.  Malthus  hat  nur  zu  sehr  verallgemeinert  und  die 
Vermehrungstendenz,  wie  die  Gegentendenzen  für  zu  gleichmässig  unter  den  Völkern 
angesehen,  während  hier  doch  dauernde  Verschiedenheiten  bestehen,  sei  es  als  Folge 
von  Verschiedenheiten  des  geschlechtlichen  Trieblebens  selbst,  sei  es  als  Folge  von 
Verschiedenheiten  in  den  Wirkungen  dieses  Trieblebens  auf  die  Volksvermehrung 
(Verbreitung  des  „moral  restraint“,  des  präventiven  Geschlechtsverkehrs  in  Völkern, 
Ständen.  Classen)  oder  sei  es  von  mehr  oder  weniger  bleibenden,  einem  Volke  eigen- 
tümlichen Verschiedenheiten  in  der  Art  und  Stärke  der  Gegentendenzen  (Furcht  vor 
Mangel,  Noth,  vor  erschwerter  Lebenslage  für  sich,  vor  Gefährdung  der  gesellschaft- 
lichen Stellung  für  sich  und  die  Nachkommen,  bestimmte  Sitten  in  Bezug  auf  Heirathen 
u.  s.  w.).  Daher  wird  man  eine  im  Ganzen  als  constantc  Grösse  gegebene  Ver- 
mehrungstendenz und  die  zeitlichen  und  örtlichen  Schwankungen  darin,  bzw.  in 
der  Verwirklichung  dieser  Tendenz,  unterscheiden  müssen.  Ferner  sind  eben 
den  Malthus’schen  Hemmmitteln  die  Förderungsmittel  der  Vermchrungstendenz 
und  ihrer  Wiik&amkeit  gegenüber  zu  stellen  und  bei  beiden  statt  directer  und  in- 
directer,  positiver,  repressiver  und  negativer,  präventiver  besser  physisch  und  psychisch 
wirkende  zu  unterscheiden,  d.  h.  solche,  wo  direct  in  Folge  besserer  oder  schlechterer 
Lebenshaltung  weniger  oder  mehr  Todesfälle  , aber  auch  indirect  weniger  oder  mehr 
menschenverheerende  Uebcl  cintreten  oder  sich  verbreiten  (Seuchen,  Krieg)  und 
anderseits  solche,  wo  aus  Furcht  vor  Verschlechterung  der  eigenen  oder  der  Angehörigen 
Lebenslage  Heirathen,  Zeugungen,  Geburten  unterbleiben,  sich  vermindern  oder 
erfolgen  und  zahlreicher  werden.  Von  besonderer  Wichtigkeit  sind  dauernde  Ver- 


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Statistische  Belege  für  die  Frage  der  Förderangsmittel  etc. 


531 


Änderungen  der  Heiraths-,  Geburts-  und  Sterbefrequenz  und  bestimmte  Richtungen, 
welche  diese  Frequenzen,  von  den  kleineren  zeitlichen  Schwankungen  abgesehen,  in 
Bezug  auf  Zunahme,  Abnahme,  Gleichbleiben  auch  im  Durchschnitt  zeigen.  Denn 
sic  weisen  darauf  hin,  dass  die  physischen  und  psychischen  Förderungs-  und  Heinm- 
rnittel  selbst  eine  gewisse  constante  Gestaltung  und  Wirksamkeit  erlangt  haben  und 
das  Volksleben  sich  ihnen  dauernd  angepasst  hat,  so  eventuell  in  den  Ansprüchen  in 
Bezug  auf  die  Lebenshaltung,  in  den  Sitten  in  Bezug  auf  Ileirathen,  Kinderzeugen, 
in  den  physisch-psychischen  Bedingungen  der  Lebensdauer  und  der  Sterblichkeit 

§.  221.  Statistische  Belege  zum  Vorausgehenden, 
namentlich  für  constante  Verhältnisse  und  dauernde 
Verschiedenheiten  der  natürlichen  Volksbewegung. 

Die  meisten  der  früheren  Tabellen  und  manche  einzelne  statistische  Daten  in 
den  Ausführungen  der  §§.  210  — 216  enthalten  auch  schon  die  Belege  für  die 
Ausführungen  im  §.  219  und  fiir  die  Schlösse  daraus  in  §.  220.  Namentlich  die 
dauernden  constanten  Verhältnisse  der  natürlichen  Bewegung  der  Bevölkerung 
und  die  gleichen  Verschiedenheiten  in  der  Geburtsfrequenz.  Sterblichkeit,  im  Geburts- 
Uberschuss  nach  Ländern,  Gebietsteilen,  Völkern,  Stämmen  (Deutschland)  ergeben 
sich  schon  zur  Genüge  aus  jenen  Tabellen  und  Dateu.  Was  dabei  die  entscheidenden 
Ursachen  und  Bedingungen  seien,  physischer,  psychischer  Volkscharacter,  vor- 
herrschende Beschäftigung  (agrarisch -ländliche,  industriell  - städtische) , gesammtc 
Lebensweise  (Landleben,  Stadtleben),  Sitten,  äussere  Verhältnisse,  wie  Klima  u.  s.  w., 
bleibt  dabei  allerdings  meistens  dahin  gestellt.  Die  bestimmte  constante  Gestaltung 
der  natürlichen  Bewegung  ist  regelmässig  das  Ergebniss  aller  dieser  Momente,  welche 
als  Ursachen  und  Bedingungen,  als  bleibende  und  beherrschende  Förderungs-  und 
Hemmungsmittel  hier  mitspiclen.  Die  vergleichend -statistische  Methode  kann  aber 
zur  Ermittelung  des  tatsächlichen  Einflusses  einzelner  solcher  Momente  und  der 
annähernden  Feststellung  der  Grösse  dieses  Einflusses  mit  einer  gewissen  Wahrschein- 
lichkeit fuhren.  Freilich  ist  bei  der  Anwendung  dieser  Methode  und  bei  Schlössen 
aus  den  verschiedenen  statistischen  Daten,  als  den  bedingten  und  bewirkten  Erschei- 
nungen. auf  die  Bedingungen  und  Ursachen,  z.  B.  auf  das  und  das  einzelne  Moment 
und  die  und  die  Abhängigkeit  einer  Erscheinung  von  demselben,  grosse  Vorsicht 
nothweudig.  Dies  gilt  u.  A.  von  der  Zurückführung  von  Verschiedenheiten  der 
Heiraths-,  Geburts-,  Sterblichkeitsfrequenz  auf  den  vorwaltenden  Beruf  und  die  gesammte 
Lebensweise  einer  Bevölkerung,  Verschiedenheiten,  wie  sie  sich  etwa  zwischen  „Stadt 
und  Land“,  Gross-  und  Kleinstadt  zeigen.  Denn  hier  muss  immer  erst  nachgewiesen 
werden,  ob  jeuo  Verschiedenheiten  uicht  etwa  nur  oder  überwiegend  Folge  einer  Ver- 
schiedenheit der  Geschlechts-,  Altersvertheilung  in  der  Bevölkerung,  davon  abhängig 
einer  Verschiedenheit  der  Zahlen  der  erwachsenen  Ledigen,  Verheiratheten,  der  Lebens- 
alter der  letzteren  sind  (vgl.  den  gen.  Aufsatz  li  ü m e 1 i u’s  Uber  Stadt  und  Land).  Das  genau 
festzustellen,  ist  aber  öfters  mit  dom  vorhandenen  statistischen  Material  nicht  möglich 
oder  setzt  eine  zumal  für  den  Privaten  nicht  zu  bewältigende  Rechenarbeit  voraus. 
Grade  für  die  volkswirthschaftliche  Seite  des  Bevölkerungsproblems  ist  der  Zusammen- 
hang zwischen  der  Bevölkerungsbewegung,  ihreu  drei  Hauptpuncten,  dem  Geburts- 
Überschuss  einer-  und  dem  vorherrschenden  wirtschaftlichen  Beruf  und  der  dadurch, 
sowie  durch  den  Wohnort  (Stadt,  Land,  Art  und  Grösse  des  Orts)  bedingten  Lebensweise 
andrerseits  von  besonderem  Interesse.  Doch  muss  ein  Eingehen  darauf  der  monographi- 
schen Behandlung  dieser  Fragen  Vorbehalten  werden.  Die  Arbeiten  auch  der  besten 
Statistiker  haben  hier  dio  vorerwähnte  notwendige  Vorsicht  bei  Vergleichen  und 
Schlüssen  nicht  immer  bewährt  und  sind  dadurch  in  BctrefF  der  Abhängigkeit  der 
Bevölkerungsbewegung  von  Beruf,  Thätigkcit,  Wohnort  und  Lebensweise  mitunter  zu 
falschen,  jedenfalls  zu  unsicheren  Ergebnissen  gelangt.  Vgl.  über  bezügliche  Ein- 
flüsse z.  B.  Wappäus,  II,  Kap.  9,  S.  476  ff..  Engel,  Bewegung  und  Bevölkerung 
in  Sachsen,  G.  Mayr,  Gesetzmässigkeit. 

Aus  den  in  den  früheren  Tabellen  für  Länder  und  Gebietsteile  enthaltenen 
Daten  lassen  sich  auch  einige  Rückschlüsse  auf  den  Einfluss  von  Volksart,  Hauptberuf, 
Lebensweise  auf  dio  Volksbewegung  machen,  z.  B.  in  Deutschland  beim  Vergleich 
wesentlich  agrarischer  östlicher  und  mittlerer  Provinzen,  wie  Ost-  und  Westprcusscn, 
Posen,  Pommern,  Mecklenburg,  Schleswig- Holstein,  Hannover  mit  dem  industriellen 


532  4.  B.  Bevölk.  n.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  221. 


Westen,  Theilen  von  Rheinland  und  Westfalen,  K.  Sachsen.  Aber  in  diesen  Zahlen 
kommen  doch  auch  andre  Factorcn,  Stammesart,  von  Beruf  unabhängige  Sitten  u.  s.  w. 
mit  zur  Geltung.  Ferner  sind  die  Zahlen  eben  das  Ergebnis»  von  Durchschnitts- 
berechnungen, worin  sich  die  Verschiedenheiten  der  einzelnen  Bestandtheilc  des  Ge- 
biets, der  Stadt-  und  Landverhältnisse,  des  Berufs  bereits  ausgleichcn  und  in  ver- 
schiedener Weise.  Bei  der  ländlichen  Bevölkerung  sind  die  agrarischen  Besitz-  und 
Wirthschaftsverhältnisse  (Klein-,  Mittel-,  Grossbesitz  und  Betrieb),  ferner  etwaige  länd- 
liche Hausindustrieverhältnisse  auch  wieder  von  einem  gewissen  Einfluss  auf  die 
Bevölkerungsverhältnisse,  die  natürliche  Volksbewegung;  ähnlich  bei  der  städtisch- 
industriellen die  Betriebsformen,  Handwerk,  Fabrik.  In  den  Landes-Durchschuitts- 
zahlen  kommt  das  wieder  zur  Ausgleichung.  Auch  hier  kann  aber  immer  erst  wieder 
richtiger  verglichen  und  aus  Vergleichen  ein  zuverlässigerer  Schluss  auf  constante 
Einflüsse  von  Beruf,  Lebensweise  u.  s.  w.  auf  die  Bevölkerungsbewegung  gemacht 
werden,  wenn  man  die  Geschlechts-,  die  Altersclassification,  die  Grösse  und  die  Lebens- 
alter der  in  der  Ehe  lebenden  Bevölkerung  mit  berücksichtigt. 

Zur  Ergänzung  der  früheren  Tabellen  und  Daten  wird  hier  nur  noch  in  der 
folgenden  Tab.  XIV  ein  Beitrag  zur  Statistik  der  Ehoschliessungen  gegeben, 
ebenfalls  vornemlich  um  die  constanten  Verhältnisse  und  Verschiedenheiten  ein- 
zelner Länder  und  Landestheile,  bezw.  Völker  und  Volksthcile,  daneben  aber  auch 
die  Schwankungen  dieser  Zahlen  unter  dem  Einfluss  variabler  zeitlicher  Einflüsse 
zu  zeigen.  Die  Eheschlicssungcn  sind  auch  für  die  volkswirtschaftliche  Seite  des 
Bevölkerungsproblems  eine  besonders  wichtige  Erscheinung,  in  deren  bleibender  Durch- 
schnittszahl constante  Eigentümlichkeiten  von  Land  und  Leuten,  von  Erwerbs-,  Besitz-, 
Sittenverhältnissen  sich  geltend  machen.  Anderseits  auch  eine  Erscheinung,  in  deren 
absoluter  und  relativer  Zahlengrösse,  Zusammensetzung  nach  Lebensaltern  und  Civilstand 
der  Heiratenden  sich  der  Einfluss  veränderlicher  Zeit-  und  Ortsverhältnisse,  des 
Erwerbslebens,  politischer  Umstände,  Hoffnung  und  Furcht,  besonders  characteristisch 
abspiegelt.  Erst  die  ganz  ins  Einzelne  gehende  Vergleichung  und  Analyse  der 
Daten  und  bedingenden  und  verursachenden  Umstände,  wiederum  unter  Berücksichti- 
gung namentlich  der  Altersgliederung  der  Bevölkerung,  gestattet  freilich  auch  hier 
sicherere  Schlüsse  auf  Art  und  Maass  der  Zusammenhänge  und  Abhängigkeitsverhält- 
nisse. Auf  die  interessante  Seite  grade  der  Eheschliessungsstatistik  als  eines  Gebiets 
der  Moralstatistik  sei  hier  nur  im  Vorbeigehen  hingewic»en  (s.  Quetelet's, 
A.  v.  Oettingen's  Schriften,  inoiue  Gesetzmässigkeit  der  scheinbar  willkührlichen 
menschlichen  Handlungen  u.  A.  in.).  Ueber  Heirathsfrequenz  im  Allgemeinen  s. 
Oettingen,  Moralstatistik.  3.  A.  1.  Abtli.  2.  Kap.  und  die  Tabellen  1 — 6 im  An- 
fang. Reichsstatistik  B.  44.  EinL  S.  8 U’.,  44  ff'. 

S.  Tab.  XIV  auf  S.  533. 

Die  Tab.  XIV  zeigt,  dass  die  Trauungsziffern  der  grossen  Staaten,  abgesehen 
von  Russland,  und  zum  Theil  auch  diejenigen  der  Mittelstaaten,  nicht  allzusehr  in 
den  Durchschnitten  von  einauder  ahweichen.  Irland  (mit  muthmaasslich  auch  unvoll- 
ständigen Zahlen)  steht  apart  da.  Der  slavischc  Osten  hat  die  höchsten  Zahlen.  Eine 
wenn  auch  nicht  regelmässige,  aber  doch  in  neuester  Zeit  deutliche,  ziemlich  all- 
gemeine kleine  Abnahme  der  Hciruthen,  auch  in  den  Decennialdurchschnitten,  ist 
unverkennbar.  Sehr  bemerkenswert!!,  zum  Beleg  des  Einflusses  äusserer  günstiger  und 
ungünstiger  Umstände  auf  die  Erwägungen  (den  ..Hang"  zur  Verheirathung  zu  schreiten), 
sind  die  Schwankungen,  die  Minima  in  wirtschaftlichen  und  politischen  Notzeiten 
(Kriege),  die  Maxima  mehrfach  danach,  nach  wiedcrerlangter  Ruhe  und  bei  Besserung 
der  Verhältnisse,  worüber  noch  im  nächsten  §.  222  mehr.  — Für  die  Zahlen  der 
Heirathsfrequenz  und  die  Veränderungen  in  letzterer  in  einzelnen  Gebietsteilen 
Deutschlands  liefert  die  gen.  reichsstatist.  Arbeit  reiches  Material. 

Eine  bessere  Berechnung  der  Heirathffrequenz  als  die  übliche,  in  Tab.  XIV 
gegebene  ist  auch  hier  diejenige,  welche  die  Frequenz  unter  dem  heiratsfähigen 
Theil  der  Bevölkerung,  daher  unter  den  unverheirateten  Erwachsenen  von  einem 
bestimmten  Lebensalter  zeigt.  Da  dieser  Theil  nach  dem  verschiedenen  Altersaufbau 
der  Bevölkerung  verschiedener  Länder  eine  ungleiche  Quote  au>macht,  ergeben  sich 
auch  andere  Reihenfolgen  und  mehr  Abweichungen  in  der  so  berechneten  Heiraths- 
frequenz. Auch  darüber  Daten  und  Berechnungen  der  Relativzahlen  in  B.  44  der 
Reichs&tatistik  (s.  bes.  Einl.  S.  8 ff.,  44  fl'.,  Tab.  S.  166  ff.).  Dauach  heirateten  z.  B. 


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Heirathstatistisches. 


533 


Tab.  XIV.  Hcirathsfrequcnz  im  Vcrhältniss  zur  ganzen 

Bevölkerung. 


Auf  1000  der  mittleren  Jahresbevölkerung  kommen  jährlich 

Eheschliessungen 


Deutsch. 

Reich 

West- 

Oesterr. 

Frank- 

reich 

Gross- 
Britanu *  2) 

Italien3) 

Europ. 

Kusslud.4 *) 

Galiz. 

Bukowina 

1841—50 

8.05 

7.70 

8.0 

8.05 

___ 



9.55 

1851—60 

7.81 

7.25 

8.0 

8.45 

— 

— 

855 

1861—70 

8.52 

8.1 

7.8 

8.15 

7.55 

9.9 

9.85 

1871—80 

8.61 

8.1 

8.0 

8.0 

7.70 

9.3 

9.15 

1881— 90  *) 

7.81 

}7.65 

7.5 

7.38 

8.00 

9.1 

8.50 

Maximum 

10.30 

9.75 

9.98 

8.95 

9.1 

10.25 

11.65 

Jahr 

1872 

1869 

1872 

1853 

1865 

1872 

1867 

Minimum 

6.99 

5.95 

6.05 

6.95 

5.65 

7.25 

9.25 

Jahr 

1 855 

1855 

1870 

1886 

1866 

1877 

1866 

V 

Irland6) 

Nieder- 

lande 

Belgien 

Schweiz6) 

Däne- 

mark 

Schwed. 

Norweg 

1841—50 

" 

7.4 

6.8 

. 

7.9 

7.45 

7.8 

1851—60 

— 

7.9 

7.4 

— 

8.85 

7.60 

7.7 

1861-70 

5.25 

8.2 

7.5 

7.45 

6.55 

6.65 

1871-80 

I 4.7 

8.1 

7.35 

7.7 

7.85 

6.80 

7.25 

1881—90 

! 4.3 

7.1 

6.95 

6.86 

7.72 

6.42 

6.62 

Maximum 

5.5 

8.9 

835 

9.0 

9.9 

8.60 

8.55 

Jahr 

1865 

1850 

1858 

1S74 

1851 

1847 

1854 

Minimum 

! 3.9 

6.3 

5.55 

6.8 

5.6 

5 2 

6.15 

Jahr 

1880 

1847 

1847 

1881 

1864 

1865 

1869 

von  1000  über  15jährigen  unverheiratheten  Personen  beiderlei  Geschlechts  jährlich  im 
Durchschnitt  (meist  von  1872—80): 


Tab.  XV.  Heirathsfrequenz  Heiraths fähiger: 


Ungarn 

81.4 

Frankreich 

50.4 

Schweiz 

42.6 

Galiz..  Bnk. 

73  l 

Nicderland 

50.3 

Griechenland 

41.8 

Deutsch. Reich 

55.7 

Dänemark 

49.4 

Belgien 

41.5 

Gross- Bri  tan  n. 

53.1 

Italien 

48.6 

Schweden 

40.S 

Finnland 

52.7 

West-Ocsterr. 

47.5 

Irland 

25.8 

Spanien 

51.8 

Norwegen 

43.2 

In  den  einzelnen  grösseren  Gebietsthcilen  des  Deutschen  Reichs  war  das  Ma- 
ximum der  Heirathsfrequenz  während  der  Periode  1872 — 80  im  Kgr.  Sachsen  mit 
65.67  (Anhalt  mit  05.92),  auch  Westpreussen . Pr.  Posen,  Pr.  Sachsen,  Thüringen 


J)  Bei  Deutschland  1881 — 90,  bei  den  anderen  Ländern  1881 — 86,  bei  einzelnen 
1881—84  oder  85. 

*)  Bis  1860  ohne,  von  1861  an  mit  Schottland. 

■)  Für  1863-71,  1872—80.  1881— S6. 

4)  Für  1867-70,  1871—80.  1881—85. 

6)  Für  1864-70,  1871—80,  1881  — 86. 

6)  Für  1871—80,  1881—86. 


534  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch,  1.  K.  BevölkJehrc.  1.  H.-A.  Statist.  §.  222. 


hatte»  eine  Frequenz  vou  63 — 64  oder  von  fast  63  (Berlin);  das  Minimum  traf  auf 
Elsass- Lothringen  mit  43.37,  Südbaiern  mit  47.02,  Baden  mit  48.11,  Rheinprovinz  und 
Franken  mit  51 — 52.  Der  wohl  von  Nationalökonomen  mitunter  behauptete  durch- 
greifende Einfluss  der  Agrarverfassung,  Grundbesitzvertheilung  auf  Heiraths-  (auf 
Geburts-)frequenz  ergiebt  sich  liier  nicht  sicher. 

§.222.  Fortsetzung.  Statistische  Belege  für  Schwan- 
kungen und  Bewegungsrichtungen  der  natürlich  en  Be- 
völkerungsbewegung. 

Für  die  mehr  wechselnden,  von  veränderlichen  Factoren  abhängigen  Ver- 
hältnisse der  natürlichen  Bevölkerungsbewegung  und  für  die  Lehre  von  den  För- 
derungs- und  llemmungsmittelu  dieser  Bewegung  sind  die  Schwankungen  und 
Schwankungsrichtungen  der  Frequenzen  in  kurzen  Zeiträumen,  nach  der  üb- 
lichen Zusammenfassung  und  Verarbeitung  des  statistischen  Materials  insbesondere  in 
einzelnen  Jahren,  und  die  Richtungen  der  Bewegung  der  Frequenzen  wieder 
in  längeren  Zeiträumen,  in  Perioden  von  Jahren,  von  besonderem  Interesse. 
Auch  dafür  geben  die  meisten  früheren  Tabellen  und  Daten  schon  mancherlei  zum 
Beleg  dienendes  Material,  uud  wurde  bei  der  Erörterung  bereits  öfters  auf  die  eben 
erwähnten  Puncte  hingewiesen.  Die  genauere  statistische  Beweisführung  ist  uns  au 
dieser  Stelle  auch  hier  nicht  möglich.  Die  gen.  reichsstatist.  Arbeit  liefert  auch  für 
diese  Verhältnisse,  besonders  für  die  jährlichen  Schwankungen,  viel  gutes  Material 
und  die  erforderlichen  Berechnungen  (vgl.  u.  A.  S.  15  lf.  uud  die  graphischen  Dar- 
stellungen bei  S.  20  für  Deutschland  in  1841 — 85). 

Die  Grösse  der  jährlichen  Schwankungen  gegenüber  dem  Mittel  einer  längeren 
Periode,  das  plötzliche  Hinabgeheu  nach  unten  oder  Hinaufschnellen  weit  über  den 
gewöhnlichen  Stand  oder  gegen  das  Vorjahr  zeigt  das  Vorhandensein  und  die  Grösse 
des  Einflusses  starker  Förderungs-  und  Hemmungsmittel,  aber  auch  die  Zugänglich- 
keit der  betreffenden  Bevölkerung  für  derartige  Einflüsse  an.  Diese  Zugänglichkeit 
kann  wieder  von  der  wirtschaftlichen  und  socialen  Lage,  aber  auch  vom  Volks- 
character  abhängen 

Auch  die  neuere  und  neueste  Statistik  zeigt  noch  deutlich  den  Einfluss  von 
Brottheuerungen , Erwerbsstockungen,  politischen  Krisen,  Kriegen  und  anderseits  von 
günstigen  Erwerbsverhältnissen,  politischer  Ruhe  und  Ruhegefühl  auf  die  Bewegung 
der  Bevölkerung,  lu  ersterer  Hinsicht  kann  z.  B.  ziemlich  allgemein  in  Europa  für 
die  Theuerungsjahre  1846 — 47,  1854 — 55  (wo  ausserdem  da  uud  dort  der  Krimkrieg 
und  Seuchen  einwirkten)  eine  deutliche  und  starke  Abnahme  der  Eheschließungen 
und  Geburten  (so  in  Deutschland),  meist  auch  eine  Zunahme  der  Todesfälle  (weniger 
in  Deutschland,  wo  andere  FactoTen  mächtiger  sind)  constatirt  werden.  Das  Minimum 
oder  eine  demselben  nahekommende  Quote  der  Trauungen  und  Geburten  und  mehr- 
fach das  Maximum  oder  eine  sich  demselben  nähernde  Quote  der  Sterbefälle  findet 
sich  in  dieser  halbhundertjährigen  Periode  meistens  in  den  genannten  Jahren.  Wo 
einzelne  Länder  in  einem  anderen  Jahre  das  Minimum  bezw.  Maximum  zeigen,  er- 
klärt sich  das  aus  besonderen  Verhältnissen,  wie  namentlich  aus  Kriegs-  u.  dgl.  Zeiten, 
aus  dem  Auftreten  von  Epidemieen,  die  aber  grade  auch  in  Zeiten  wirthschaftlicher 
Notstände  sich  leicht  am  Stärksten  verbreiten  (1854,  1866).  Schwerere,  zumal  länger 
andauernde  Kriegszeiteu  zeigen  sich  begreiflicher  W’oise  direct  von  Einfluss,  nicht 
nur  und  nicht  einmal  am  Meisten,  wenn  sich  nicht  schwere  Epidemieen  gleichzeitig 
stark  verbreiten,  bei  der  heutigen  Art  der  Kriegsführung,  die  nicht  mehr  allgemein 
verheert  und  Unterhaltsmittel  zerstört,  in  der  Steigerung  der  Todesfälle  (die  1870 — 71 
nur  in  Frankreich  unter  dem  Einfluss  ganz  abnormer  Verhältnisse,  Commune  u.  s.  w. 
sehr  bedeutend  war);  vielmehr  ebenso  sehr,  ja  noch  mehr  selbst  sofort  in  der  geringeren 
Zahl  der  Eheschliessungen  und  bald  darauf  der  Geburten,  was  aus  dem  Kriegsberuf 
eines  grossen  Theils  heiraths-  und  gcschlechtsverkehrsfähiger  Männer  sich  ja  einfach 
erklärt  (s.  1870 — 71,  bes.  in  Frankreich,  Deutschland,  1859,  1866  in  Oesterreich, 
Italien,  1877  in  Russland,  1848,  1850,  1864  in  Dänemark).  Aber  auch  indirect  sind 
schwere  Kriegs-,  Revolutionszeiten  von  Einfluss  auf  Abnahme  der  Trauungen,  Ge- 
burten in  der  nicht  unmittelbar  vom  Kriege  berührten  Bevölkerung;  psychologische, 
nicht  unverständliche  Momente  spielen  hier  mit  und  zeigen  grade  den  Einfluss  solcher 


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Belege  für  Schwankungen  der  natiirl.  Bewegung. 


535 


„präventiv"  wirkender  Factoren  (Frankreich,  Theile  von  Deutschland  1871 — 72,  mehr- 
fach grösserer  Ausfall  an  Trauungen  und  Geburten  als  zu  erwarten  gewesen  wäre, 
wenn  dieser  Ausfall  bloss  auf  die  iin  Kriege  abwesenden  Männer  zurückzuführen  wäre, 
von  G.  Mayr  näher  für  Baiern  erwiesen). 

Nicht  minder  aber  nimmt  man  wahr,  dass  günstige  Zeiten  des  Erwerbslebens, 
der  politischen  Verhältnisse  und  Aussichten  der  allgemeinen  „Hoffnungsseeligkeit" 
übereinstimmend  zu  einer  raschen  und  starken  Zunahme  der  Eheschliessungen,  Ge- 
barten, auch  wohl,  wenngleich  nicht  in  demselben  Maasse,  da  hier  mancherlei  Andres 
mit  ein  wirkt,  zu  einer  Abnahme  der  Todesfälle  führen.  Förmlich  sprungweise  zeigt 
sich  jene  Zunahme  besonders  unmittelbar  nach  schwereren  Nothzeiten,  wie  Kriegen, 
Theucrungeu,  Erwerbs.>>tockungen,  so  vielfach  in  Europa  nach  1S46 — 47  in  1848 — 41), 
nach  1854 — 55  in  1856  ff,  nach  1870 — 71  in  1872  11'.,  natürlich  vor  Allem  in  den 
Ländern,  welche  vorher  von  dem  Nothstand  am  Meisten  getroffen  waren,  vorausgesetzt, 
dass  sie  nicht  förmlich  ruinirt  worden,  wo  dann  die  Ausgleichung  länger  dauert. 
Die  wirklichen  oder  annähernd  die  Maxima  der  Trauungs-,  Geburtsfrequenz  und  zum 
Theil  auch  die  Minima  der  Sterbefrequenz  fallen  vielfach  in  die  genannten  günstigen 
Jahre  (Deutschland,  Frankreich).  Auf  das  Minimum  des  Geburtsuberschusses  oder 
selbst  auf  das  Deberwiegen  der  Todesfälle  in  der  vorausgehenden  Nothstandszeit  folgt 
daher  nicht  selten  das  Maximum  jenes  Ueberschusses  in  der  darauf  folgenden  günstigen 
Zeit:  eben  ein  statistischer  Beleg  für  die  vorhandene,  immer  wieder  wirksam  werdende 
Tendenz  der  Bevölkerung  sich  zu  vermehren  oder  wenigstens  Verluste  möglichst  aus- 
zugleichen (§.  219,  220). 

Die  früheren  Tabellen  und  die  Erläuterungen  dazu  enthalten  auch  für  die  eben 
hervorgehobenen  Thatsachen  schon  viele  Belege.  In  der  folgenden  Tab.  XVI  sind 
noch  einige  weitere  Daten  für  besonders  characteristische  Perioden  (die  Theuerungs- 
zeiten  1846 — 47  und  1854 — 55  und  die  Kriegszcit  1870 — 71)  für  Deutschland  und 
Frankreich,  unter  den  grossen  Ländern  ziemlich  die  Extreme  der  natürlichen  Volks- 
bewegung in  Westeuropa,  ferner  für  die  Periode  um  1540 — 50  für  zwei  wesentlich 
agrarische,  auch  in  den  Grundbesitzverhältnissen  nicht  die  extremsten  Gegensätze 
zeigende,  freilich  national  nicht  gleichartige  Provinzen,  Ostpreusseu  und  Hannover, 
zusammengestellt,  welche  in  den  Schwankungen  der  Frequenzen  ziemlich  scharfe 
Unterschiede  zeigen,  ersteres  grosse,  letzteres  kleine  (beide  übrigens  in  Deutschland 
hierin  nicht  die  Extreme,  s.  Reichsstatistik  ß.  44,  Einl.  S.  15).  Erst  umfassendere 
Vergleichungen  auch  mit  normaleren  Zeiten  und  mit  Ländern,  in  denen  diese  Ein- 
flüsse sich  ähnlich  zeigen  und  fehlen  oder  nicht  so  stark  waren,  liefern  aber  die 
genügenden  Belege.  Das  betreffende  Material  fordert  jedoch  zu  viel  Raum.  Für  die 
zu  vergleichenden  Länder  können  wegen  der  ungleichen  Berührung  durch  Kriogs- 
und  dergl.  Verhältnisse  nicht  immer  dieselben  Perioden  zur  Beweisführung  gewählt 
werden.  Die  Theuerungs-  und  wirtschaftlichen  Nothstandsjahre  (Krisen  u.  s.  w.)  sind 
dagegen  unter  heutigen  Verhältnissen  für  Europa  ziemlich  dieselben,  wenn  sich  auch 
gradweise  mancherlei  Verschiedenheiten  in  den  einzelnen  Ländern  zeigen. 

Für  Vergleichungen  der  Trauungs-,  Geburts-,  unehelichen  Geburtsfrcquenz  sind 
übrigens  auch  die  betreffenden  Eheschlicssungs-,  Niederlassungsgesetze  u.  dergl.  zu 
beachten.  Sind  darin  Veränderungen  erfolgt,  z.  B.  wie  in  den  letzten  Jahrzehnten  in 
deutschen  Mittelstaaten , besonders  in  Baiern,  so  äussert  das  auch  auf  jene  Fre- 
quenzen Einfluss  und  stört  die  Vergleichbarkeit  der  Zahlen  mit  denen  anderer  Zeiten 
und  Länder. 

Die  Materialien  zu  Tab.  XVI  aus  B.  44  der  Reichsstatistik. 

S.  Tab.  XVI  auf  S.  536. 

Die  deutschen  Zahlen  ergeben  meistens  eine  stärkere  Sensibilität  der  Frequenzen 
gegenüber  den  äusseren  hemmenden  und  fördernden  Einflüssen  als  die  französischen, 
ähnlich  die  ostpreussischen  als  die  hannoverschen.  Aber  alle  ergeben  doch  immerhin 
principiell  die  gleiche  Sensibilität,  in  derselben  Richtung,  was  eben  für  die  Frage  der 
Förderungs-  und  Hemmungsmittel  das  Bemerkenswerthe  ist.  Frappante  Ausgleichungs- 
tendenzen zwischen  Extremen  in  der  Bevölkerungsbewegung  zeigen  die  Verhältnisse 
in  Ostpreussen  1849  verglichen  mit  1847 — 48.  Immer  kommt  aber  nach  kürzerer  oder 
längerer  Zeit  wieder  das  ziemlich  constante  Verhältnis  der  Frequenzen  uud  der  Vor- 
mehrungstendenz zur  Geltung, 

Die  gauze  Be wegu ngsrichtung  der  drei  Frequenzen  und  ihres  Ergebnisses 
für  den  Stand  der  Bevölkerung  wird  durch  die  Daten  der  Mehrzahl  der  früheren 


536  4.  B.  Bevölk  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  222. 

Tab.  XVI.  Schwankungen  in  der  natürlichen  Bewegung 

der  Bevölkerung. 


Auf  1000  Lebende  kamen 


Jahr 

Getiaute 

Personen 

Geborene 
incl.  Todtgcb. 

tsches  R 

-Q 

© © 

C bi'. 

M -5 

c-  O 

2 H 

8 - 
o ° 

w e 

— CP' 

Unehelich  2- 

Geborene 

7) 

•Z2  2 

~ 'S 
© © 

Getränte 

Personen 

Fr 

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© 

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«5  O 
C tc 

£ 1 
o £ 

93 

© — • 

O g 

Unehelich 

Geborene 

cn 

f 93 

93  ZS 

£ 'S 
£ 

© © 
w -C 
ZS 

1845 

16.3 

38.9 

26.7 

4.14 

| 

12.0 

16.3 

28.8 

22.1 

2.1 

6.7 

184« 

15.8 

37.4 

28.6 

4.14 

8.8 

15.3 

28. 1 

24.1 

2.1 

3.9 

1847 

14.4 

34.6 

29.7 

3.72 

4.15 

14.2 

26.2 

24.8 

1.9 

1.4 

1848 

1 5.3 

34.7 

30.5 

3.51 

4.25 

16.7 

27.2 

24  4 

2.0 

2.8 

1849 

16.4 

39.7 

28.6 

4.45 

11.05 

15.7 

28.5 

28.5 

2.1 

0.1 

1850 

17.0 

38.7 

27.2 

4.54 

11.5 

16.7 

27.5 

22.3 

2.1 

5.2 

1853 

15.3 

36.0 

28.6 

3>4 

7.4 

15.5 

26.6 

22.7 

2.0 

3.9 

1854 

14.15 

35.4 

28.3 

3.68 

7.0 

15.1 

26.5 

28.4 

2.1 

- 2.0 

1855 

14.0 

33.5 

29.4 

3.52 

4.1 

15.8 

25.9 

26.8 

1.9 

-0.9 

185« 

15.05 

34.9 

26.6 

3.94 

8 3 

15.8 

27.3 

24.3 

2.0 

3.0 

1857 

16.70 

37.5 

26.7 

4.40 

8.85 

16.3 

26.9 

24.9 

2.1 

2.0 

1869 

19.0 

39.4 

28.5 

4 03 

10.8 

16.5 

27.0 

24.7 

2.1 

2.3 

1870 

15.4 

40.1 

29.0 

4.05 

11.1 

12.1 

26.7 

29.5 

2.1 

2.S 

1871 

1 6.4 

35.9 

31.0 

3.52 

4.9 

14.4 

23.7 

35.9 

1.8 

-12.2 

1872 

20.6 

41.1 

30.6 

3.66 

10.5 

19.5 

27.9 

23.2 

2.1 

4.8 

1873 

20.0 

41.3 

29.9 

3.81 

11.4 

17.7 

27.3 

24.5 

2.1 

2.8 

1874 

19.1 

4 1 .75 

28.4 

3.62 

13.4 

16.6 

27.4 

22  6 

2.1 

4.7 

Ostprcussen 

Hannover 

1844 

20.0 

43.9 

25.8 

4.07 

18.1 

14.8 

31.6 

23.5 

3.10 

S.l 

1845 

i 17.8 

38.8 

35.5 

3.76 

3.3 

15.0 

32.3 

22.7 

3.29 

9.6 

184« 

19  3 

39.9 

33.4 

3.31 

6.4 

14.7 

31.6 

27.0 

3.54 

4.6 

1847 

16.1 

39.5 

47.6 

3.42 

-8.1 

14.6 

28.6 

27.1 

3.04 

1.5 

1848 

19.4 

34.7 

47.6 

2.69 

-12.9 

16  2 

31.2 

26.1 

3.03 

5.1 

1849 

24.1 

56.6 

28.9 

4.74 

23.8 

17.2 

34.3 

23.1 

3.73 

11.1 

1850 

22.2 

46.6 

30.2 

5.03 

16.4 

17.3 

34.0 

23.0 

3.67 

11.0 

1851 

21.2 

49.1 

28.9 

4.97 

20.2 

16.8 

33.5 

22.1 

3.56 

11.4 

1852 

j 17.8 

43.4 

43.6 

4.07 

-0  2 

16.2 

32.4  i 

24.4 

3.32 

8.0 

1853 

19.2 

44.4 

42.8 

3 66 

1.6 

16.8 

32.5  ! 

24.4 

3.31 

S.l 

1854  | 

17.1 

41.6 

38.2 

3.42 

3.4 

16  1 

31.4 

24.0  1 

3.16 

7.4 

1855 

17.3 

41.6 

39.4 

3.32 

2.15 

15.8 

31.7 

25.0 

3.15 

6.6 

185« 

18.7 

40.0 

31.0 

3.61 

9.0 

16.1 

32.2 

22.0 

3.26 

9.6 

Tabellen  und  der  Tabelle  XIV  ebenfalls  beleuchtet.  Man  muss  aber  freilich  hier 
mit  Schlüssen  hinsichtlich  einer  mehr  oder  weniger  bleibenden  Tendenz  einer 
solchen  Bewegungsrichtung  noch  besonders  vorsichtig  sein.  Einmal  sind  die  Zeit- 
räume, für  welche  man  mit  einiger  Sicherheit  die  Bewegung  der  Bevölkerung  und 
die  Aenderung  der  Voiks/ahl  verfolgen  kann,  doch  viel  zu  kurz,  höchstens  einige 
Menschenalter,  meistens  noch  viel  weniger  lang.  Es  ist  von  vornherein,  auch  bei  so 
rascher  Veränderung  der  wirtschaftlichen  und  socialen  Verhältnisse  wie  in  der  Gegen- 
wart, nicht  wahrscheinlich,  dass  in  solchen  kleinen  Zeiträumen  auf  diesem  Gebiete 


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Belege  für  Schwankungen  der  natürl.  Bewegung. 


537 


grosse,  principielle  Veränderungen,  wie  es  solche  in  der  ganzen  definitiven  Beweguugs- 
ricbtung  wären,  vor  sich  gehen.  Die  unbefangen  geprüften  Daten  ergeben  solche 
auch  nur  ausnahmsweise,  wie  etwa  in  BetrelT  der  Heiraths-,  der  ehelichen  Geburts- 
frequenz eine  gewisse  Tendenz  zur  Abnahme,  so  letzteres  in  Frankreich,  ersteres 
vielleicht  neuerdings  allgemeiner  (S.  533).  Natürlich  muss  man  überhaupt  hier  nur 
mit  Durchschnitten  aus  längeren  Perioden  operiren,  wie  z.  B.  mit  5-  oder  löjährigeu 
aus  einem  grösseren  Zeitraum.  Aber  auch  diese  Durchschnitte  können  durch  zufällige 
Zeiteiuflüsse,  durch  Ausgleichung  von  Extremen  übereinstimmen  oder  in  bestimmter 
Richtung  abweichen,  ohne  dass  dadurch  sicher  eine  Aenderung  der  constanten  Ge- 
staltung und  Richtung  bewiesen  wird.  Je  nachdem  man  die  Durchschnitte  bildet, 
sie  ein  Jahr  mit,  ein  andres  nicht  mit  umfassen,  ergeben  sich  abermals  leicht  Ueber- 
einstimmungen  oder  Verschiedenheiten,  welche  nichts  beweisen.  Auch  wenn  dann 
etwa  periodische  Durchschnitte,  selbst  10jährige,  eine  gewisse  Richtung  zeigen,  z.  B. 
im  Deutschen  Reich  von  1851 — 60  durch  1861 — 70  hindurch  in  1871—80  eine  auf- 
steigende der  Heiraths-,  Geburtsfrequenz  — bezw.  7.81,  8.52,  8.61  und  3»>.S0,  38.77, 
40.68  °j'00 — , auch  des  Geburtsüberschusses  — 8.96,  10.33,  11.92°/0o  — , danebeu  die 
Sterblichkeit  eine  ebenfalls  etwas  ansteigende  — 27.84,  28.44,  28.76  °/oo  — ♦ und  Iuau 
aus  solcheu  Thatsacben  eine  constante  Tendenz,  bezw.  eine  definitive  Aenderung 
früherer  constanter  Verhältnisse  ableiten  wollte,  wie  dergleichen  gegenüber  solchen 
Zahlenreihen  wohl  geschieht  — wie  leicht  kann  eine  solche  Annahme  durch  Er- 
fahrungen aus  weiterer  Zeit  umgestossen  werden!  So  in  diesem  Beispiel:  denu  im 
folgenden  Jahrzehnt  1881 — 90  war  die  Heiraths-  und  Geburtsfrequenz  wieder  gesunken, 
jeue  auf  7.81  %o*  wie  1S51 — 60,  diese  auf  38.18,  noch  etwas  unter  1861 — 70,  der 
Geburtsüberschuss  allerdings  fast  auf  seiner  Höhe  geblieben , aber  doch  nicht  weiter 
gestiegen,  11.70,  auch  dies  nur,  weil  auch  die  Sterblichkeit  eine  absteigende  Rich- 
tung, wie  die  GeburtszilTer,  erhalten  hat,  26.48  %o-  Man  sieht  auch  aus  diesem  Bei- 
spiel. wie  aus  zahlreichen  anderen  und  wie  jedes  Nachdenken  über  die  Bildung  von 
solcheu  Durchschnittszahlen  ergiebt,  dass  eben  eine  solcho  Grösse,  welche  wie  der 
Geburtsüberschuss  noch  dazu  das  Ergebniss  zweier  Reihen  verschiedenartiger  That- 
sachen  ist,  aus  ganz  verschiedenen  Gründen  gleichgeblieben  sein  oder  sich  ge- 
ändert haben  kann  und  die  Annahme  eines  bestimmten  Grundes  immer  erst  bewiesen 
werden  muss. 

Bei  Durchschnittszahlen  der  Frequenzen,  falls  dieselben  in  der  üblichen  Weise 
für  die  Gesammtbevölkerung  berechnet  werden,  ist  aber,  w'enn  man  aus  diesen  Zahlen 
eine  bestimmte  Tendenz  ableiten  will , auch  wieder  zu  bedenken , dass  die  Zahlen 
unter  dem  Einfluss  einer  bei  demselben  Volke  verschieden  gewordenen,  bei  ver- 
schiedenen Völkern  an  sich  verschiedenen  Geschlechts-  und  Altersgliederung  der  Be- 
völkerung sich  so  und  so  gestalten  müssen.  Das  muss  auch  bei  Vergleichungen  und 
Schlüssen  daraus  gebührend  berücksichtigt  werden.  Eben  deshalb  sind  für  Trauungs- 
und Geburtsfrequenzen  Berechnungen  nicht  von  der  Gesammtbevölkerung,  sondern  von 
einem  Theil  derselben,  wie  den  Hciratbsfähigcn,  den  gebärfähigen  Frauen,  das  Rich- 
tigere. Da  die  allgemeine  Sterblichkeit  durch  die  Kindersterblichkeit  mit  beeinflusst 
wird  und  diese  letztere  bei  grosser  Geburtsfrequenz  häutig  wieder  grösser  wird,  so 
muss  eigentlich  auch  für  die  Sterbefrequenz  in  einem  bestimmten  Theil  der  Bevöl- 
kerung (z.  B.  der  über  5jährigen)  eine  Grundlage  zur  Berechnung  gesucht  werden. 
Allein  die  Annahme  der  Zahlengrcnzen  für  solche  Bovölkerungstheile  ist  wieder  mehr 
oder  weniger  willkuhrlich,  die  gleichen  Grenzen  passen  nicht  für  alle  Völker  (Ilei- 
rathsalter,  Gebärfähigkeit!)  und  für  nur  etwas  weiter  zurückliegende  Zeiten  fehlt  es 
an  der  Altersstatistik  der  Bevölkerung,  um  die  Freqaenzberechnungen  richtig  ausführen 
zu  können.  So  lassen  sich  abermals  „Bewegungsrichtuugen“  und  definitive  Aende- 
rungen  der  Frequenzen  nicht  oder  nur  unsicher  ableiten. 

Zeitliche  Veränderungen  auch  der  Durchschnittszahlen  wie  das  Gleichbleiben 
derselben  können  ohnehin  wieder  das  Ergebniss  der  verschiedensten  Veränderungen 
der  wirthscbaftlicheu  und  socialen  Verhältnisse  sein,  so  dass  die  Durchschnittszahlen 
auch  wenn  sie  eine  bestimmte  Tendenz  des  Beharrens  oder  der  Veränderung  in  der 
und  der  Richtung  zeigen,  zunächst  Uber  die  Ursachen  dieser  Tendenz  noch  gar 
nichts  ergeben. 

Nicht  selten  ist  von  Statistikern,  Nationalökonomen,  Politikern,  so  namentlich  in 
Frankreich  (S.  456),  aber  nicht  nur  hier,  die  Ansicht  vertreten  worden,  die  Statistik 


538  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.scli.  l.'K.  Bevölk.lehre.  l.H.-A.  Statist.  §.222. 


zeige  mit  fortschreitender  Bevölkerungsvermehrung:  und  Volksdicbtigkeit  eine  im 
Ganzen  regelmässige  und  wenigstens  in  längeren  Perioden  constante  Abnahme  der 
Vermehrungsquotc,  besonders  eine  Abnahme  der  (allgemeinen,  namentlich  ehelichen) 
Fruchtbarkeit,  der  Geburtsfrequenz,  auch  wohl  der  Hcirathsfrequenz.  A priori  wäre 
das  ja,  wenigstens  für  altbesiedelte,  schon  ziemlich  volksdichte  Länder  mit  allgemein 
in  Besitz  genommenem  Boden  nicht  unverständlich  und  nicht  ganz  unwahrscheinlich 
und  manche  Thatsachcn  der  Statistik,  auch  in  den  früheren  Tabellen  und  den  Er- 
örterungen dazu  enthaltene,  lassen  sich  zum  Beleg  anführen.  Aber  von  einer  der- 
artigen „statistischen  Regel“  oder  „Gesetzmässigkeit“  kann  gegenüber  so 
zahlreichen  Ausnahmen  bedeutendster  Art,  wie  sie  die  Statistik  hier  zeigt,  und  gegen- 
über der  Analyse  der  Umstände,  welche  bei  der  Trauungs-  und  Geburtsfrequenz  und 
bei  der  Volksdicbtigkeit  in  Betracht  kommen,  doch  nicht  die  Rede  sein.  Es  sind  in 
diesem  Jahrhundert  mehrfach  grade  die  Länder  mit  grösster  Volksdichtigkeit,  welche, 
wenn  auch  mit  Schwankungen,  dauernd  die  grösste  weitere  Vermehrung,  sei  es  durch 
Geburtsuberschuss,  sei  es  durch  Wanderungen,  aufweisen,  Gross-Britannien,  besonders 
England,  Theile  von  Deutschland,  Kgr.  Sachsen,  Rheinland,  auch  das  Deutsche  Reich 
im  Ganzen  und  noch  neuerdings,  wo  unsere  Volksdichtigkeit  bereits  lange  nicht  unbe- 
trächtlich die  französische  überstiegen  hat,  ferner  Italien.  Die  Trauungs-  und  Geburts- 
frequenzen dieser  Länder  sind  meist  nicht  die  höchsten  vorkommenden,  aber  durchweg 
ziemlich  hohe,  jedoch  auch  bei  steigender  Volksdichtigkeit  nicht  dauernd  abnehmende, 
mehrfach,  so  in  den  genannten  deutschen  Ländern  und  einigen  weiteren  von  ähnlichen 
Verhältnissen,  wie  die  Geburtsüberschüsse  desgleichen,  eher  steigende.  Gross-Britannien, 
auch  Deutschland  zeigen  allerdings  im  Ganzen,  die  bevölkertsten  Gegenden  aber  nicht 
in  besonderem  Maasse,  im  letzten  Decennium,  seit  1881,  eine  Abnahme  der  Trau- 
ungen, Geburten,  aber  nach  einer  ungewöhnlichen  Zunahme  in  Deutschland  im  voraus- 
gehenden. in  Gross-Britannien  im  zweitvoransgehenden  Jahrzehnt.  Ob  diese  Bewegung 
von  Dauer  ist,  steht  nach  früheren  Erfahrungen  dahin.  Auch  die  sich  an  Volkszahl 
vermehrenden,  volksdichtcr  gewordenen  wesentlich  agrarischen  Gegenden  mit  Klein- 
und  Mittclbesitz  zeigen  keine  entschiedene  Abnahme  der  Trauungs-  und  Geburts- 
frequenzen. die  Hinüberbildung  unserer  Volkswirtschaft  aus  der  agrarischen  in  die 
industriell -montanistische  Phase,  die  steigende  Entwicklung  des  Städtewesens  bat 
keinen  durchgreifenden,  vielfach  kaum  einen  sichtbaren  Einfluss  auf  jene  Frequenzen 
und  auf  den  Geburtsüberschuss  ausgeübt,  wenn  aber  einen,  so  eher  einen  etwas  stei- 
gernden, als  den  entgegengesetzten,  ohne  dass  man  von  „proletarischer  Volksvermeh- 
rung“ reden  müsste.  Tiefere  constante  Veränderungen  sind  nach  Allem  bei  Trau- 
ungen und  Geburten  nicht  eingetreten,  trotz  der  so  rasch  gewachsenen  Dichtigkeit. 
Eher  zeigt  sich  eine  Abnahme  der  Sterblichkeit 

Es  wurde  zu  weit  fuhren,  das  Alles  im  Einzelnen  mit  statistischen  Zahlen  zu 
belegen,  aber  es  Hesse  sich  thun.  Die  gen.  reichsstatistische  Arbeit  giebt  vielerlei 
Material  dafür.  Von  einem  wirklichen  „Gesetz“  der  Abnahme  der  natürlichen  Zu- 
wachsrate der  Bevölkerung  bei  steigender  Volksdichtigkeit,  besonders  einer  Abnahme 
der  Geburtsfrequenz,  zumal  der  ehelichen,  Hesse  sich  auch  nur  sprechen,  wenn  aus 
dieser  steigenden  Dichtigkeit  allgemein  als  nothwendige  Folge  eine  auf  solche  Ab- 
nahme des  Zuwachses  bewirkende  Aenderung  des  physisch-psychischen  Wesens,  des 
Trieblebens,  der  Willensrichtung  der  Menschen  abzuleiten  wäre.  In  einzelnen  Gesell- 
schaftsclassen,  den  höheren,  reicheren,  auch  wohl  in  gewissen  ländlichen  Mittelclassen 
mag  man  Spuren,  ja  deutlichere  Beweise  solcher  Aenderung  finden.  Aber  eine  ein- 
fache Function  der  wachsenden  Volksdichtigkeit  wäre  eine  solche  Aenderung  auch 
hier  nicht  und  bezügliche  Wahrnehmungen  ohne  Weiteres  zu  verallgemeinern,  bliebe 
auch  unstatthaft. 

Eher  könnte  man  denken,  dass  die  allgemeine  Zunahme  des  Wohlstands 
durch  psychologische  Medien  hindurch  hemmend  auf  die  von  Trauungs-  und  Geburts- 
frequenz abhängige  Volksvermehrnng  einwirkt,  zu  späterer  Heiratii,  geringererer 
Kinderzahl  in  der  Ehre  führe.  Wahrnehmungen  in  den  wohlhabenderen  Gassen  hat 
man  auch  wohl  zum  Beleg  für  diese  Ansicht  herangezogen,  aber  wiederum  leicht  zu 
sehr  verallgemeinert,  von  einem  Volke  auf  das  andre,  von  einer  Gasse  auf  das  ganze 
untere  Volk  zu  leicht  übertragen.  Eine  für  Frankreich  von  Tallquist  angestellte 
Untersuchung  weist  auf  einen  gewissen  Zusammenhang  zwischen  steigender  Steuer- 
kraft und  höherem  Vermögensbesitz  und  Abnahme  der  durchschnittlichen  Kinderzahl. 


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Ergebnisse  hinsicbtl.  der  natllrl.  Volksbewegung. 


539 


welche  auf  die  verheiratheten  Frauen  kommen,  hin.  S.  Tallquist,  recherches  Statist, 
sur  la  tendcnce  ä une  moindro  ftconditö  des  mariages.  Helsingfors  1886,  Tab. 
S.  88  ff.,  im  Auszug  im  Art.  population  von  Levasscur  im  dictionn.  d’6con. 
pol.  II,  521).  Aber  auch  hier  liegen  doch  zu  mancherlei  Einflüsse  vor  und  von  einem 
„Gesetz“  der  Fruchtbarkeits-Abnahme  mit  der  Wohlstands -Zunahme  wird  man  auch 
für  Frankreich  selbst,  geschweige  für  andre  Länder  nicht  reden  dürfen. 

Es  ist  wichtig,  das  Alles  zu  beachten,  weil  die  optimistischen  Anti-Malthusianer 
(§.  196)  mit  Argumenten,  welche  sich  auf  solche  vermeintlich  feststehende  „That- 
sachcn“  oder  „Gesetze“,  wie  die  besprochenen,  stützen,  gern  operiren,  utn  sich  über 
unliebsame  Malthus’sche  Bedenken  hinwegtäuschen  zu  können.  Die  in  der  Regel 
starke  Vermehrungstendenz  der  Bevölkerung  bleibt  eine  Thatsachc,  mit  welcher  einmal 
zu  rechnen  ist  und  findet  nicht  „von  selbst“  ihre  jeweilige  richtige  Beschränkung, 
es  sei  denn  durch  die  „repressive  Gegentendenz“  vermehrter  Sterblichkeit. 

III.  — §.  223.  Ergebnisse  hinsichtlich  der  natür- 
lichen Volksbewegung.  Die  vorausgehenden  statistischen 
Thatsacken  und  Untersuchungen  haben  den  Beweis  geliefert,  dass 
die  unter  dem  Einfluss  des  Geschlechtsverkehrs  und  der  natürlichen 
Sterbeordnung  stehende  Bevölkerungsbewegung  ihr  jeweiliges  und 
innerhalb  gewisser  Grenzen  auch  in  gewissem  Umfang  ihr  bleibendes 
Maass  durch  eine  Reihe  äusserer  Umstände  erhält,  welche  theils 
psychologisch  fördernd  oder  hemmend  auf  Eheschliessung,  Zeugungen 
und  Geburten,  theils  physiologisch  fördernd  oder  hemmend  auf  die 
Sterblichkeit  einwirken.  Solcher  Umstände  kann  man  vornemlich 
dreierlei  unterscheiden,  ökonomische,  ethische  und  recht- 
liche, welche  zum  Theil  wieder  unter  einander  in  Verbindung 
und  seihst  wieder  in  einem  Wechselwirkungs-  und  Wechselbe- 
dingungsverhältniss  stehen. 

Die  ökonomischen  Umstände,  ihrerseits  wieder  von  politischen  (Krieg,  Frieden) 
beeinflusst,  kommen  in  den  Erwerbs-  und  in  den  Consumtions-  bezw.  Ausgabeverhält- 
nissen zur  Geltung,  in  verschiedener  Art  und  in  verschiedenem  Maass,  je  nach  der 
Entwicklungsstufe  der  Volkswirtschaft,  nach  der  Art  des  Berufs,  der  Beschäftigung, 
des  Erwerbs,  in  der  oben  (S.  528)  angedeuteten  Weise.  Die  ethischen  Momente 
äussern  sich  in  den  Sitten  des  Geschlechtslebens,  in  Bezug  auf  Eheschlicssung.  Lebens- 
alter dafür,  auf  ausserchelichcn  und  ehelichen,  der  Zeugung  und  den  Geburten  förder- 
lichen oder  sie  hemmenden  Geschlechtsverkehr,  daher  eventuell  präventiv  hinsichtlich  der 
Heirathen  und  Geburten;  anderseits  in  Bezug  auf  die  ganze  physische  und  geistig- 
sittliche Lebensweise,  unter  wiederum  förderlichen  oder  hemmenden  Rückwirkungen 
derselben  auf  Eheschliessungen,  Zeugungen,  Geburten  und  auch  auf  die  Sterblichkeit. 
Nach  ganzen  Zeitaltern,  nach  Völkern,  Classen,  Ständen,  Berufen,  nach  Stadt  und 
Land,  nach  dem  vorherrschenden  wirtschaftlichen  und  socialen  Character  des  Wohn- 
orts treten  auch  in  diesen  Sitten  und  ethischen  Momenten  erhebliche  Verschieden- 
heiten und  Veränderungen  ein.  Aelterc  „patriarchalische“,  den  Einzelnen  mehr 
bindende,  sittenstrengere,  einfachere  Zeiten  haben  manche  Hemmungsmittel  in  Sitte 
und  sittlichen  Anschauungen  besessen,  welche  in  moderner  Zeit,  bei  individualisti- 
scherer Gestaltung  der  bezüglichen  Lebensauffassungen,  bei  grösserer  Laxheit  dor 
Geschlechtssitten  fortgefallen  oder  geschwächt  worden  sind.  Die  rechtlichen  Momente 
endlich  gelangen  namentlich  direct  im  (materiellen)  Ehescbliessungsrecht,  indirect  im 
Zug-,  Wanderungs-  und  Nicderlassungsrec.ht,  im  Erwerbs-  und  Besitzrecht  (Agrar- 
verfassung. Gewerbeordnung)  zur  Geltung,  in  Bezug  auf  die  Zahl  der  Trauungen,  die 
Lebensalter  und  Civilstandsverhältnisse  der  Eheschlicssenden,  die  eheliche  und  die 
uneheliche  Geburtsfrequenz,  dadurch,  insbesondere  in  Betrctf  der  letzteren,  auch  wieder 
hinsichtlich  der  Sterblichkeit.  Die  älteren  Rechtsordnungen,  welche  den  Einzelnen 


540  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  223. 

mehr  nach  tiesichtspunctcn  von  Gemeinschaftsintercssen  banden , wirkten  wie  die 
analogen  älteren  Sitten  und  sittlichen  Anschauungen  mehr  hemmend  auf  die  Be- 
völkerungsvermehrung. besonders  in  Bezug  auf  Verheirathung.  Die  neueren  „liberalen“ 
„individualistischen“  Rechtsordnungen  wirken  mehr  fördernd,  während  allerdings  bei 
den  ersteren  der  uneheliche,  wenigstens  der  zu  Geburten  führende  zum  Nachtheil  des 
ehelichen  Geschlechtsverkehrs  begünstigt  wurde,  wenn  nicht  Sittenstrenge  eine  besondere 
Kraft  und  damit  Memmungswirkuug  behauptete. 

Die  Verbesserung  der  materiellen  Lebensverhältnisse,  die  ver- 
mehrte naturwissenschaftliche  Einsicht  in  die  Bedingungen  von 
Gesundheit  und  Krankheit,  die  besseren  Vorkehrungen  für  das 
Gesundheitswesen  und  zur  Verhütung  und  Beschränkung  von 
Seuchen  und  Epidemien,  die  Entwicklung  der  Verkehrsmittel,  als 
der  wichtigsten  Vorbedingung  zur  Ausgleichung  von  Ernteausfällen 
der  Hauptnahrungsmittel  und  damit  zur  Verhütung  von  Hungers- 
noth  und  von  ganz  exorbitanten  Preissteigerungen,  der  grössere 
innere  und  äussere  Rechtsschutz,  die  selteneren,  kürzeren  Kriege 
und  die  humanere,  nicht  die  Productivkräfte  selbst  systematisch 
oder  wenigstens  unbedacht  zerstörende  Kriegsführnng  und  sonstige 
sociale  und  doch  auch  ethische  Fortschritte  (so  in  der  Pflege  der 
Kranken,  der  Schwachen,  der  Kinder,  der  Greise)  erklären  es, 
dass  sich  bei  Culturvülkern  die  Sterblichkeit  vermindert,  namentlich 
nicht  in  wirtschaftlichen  und  politischen  Nothzeiteu  die  „repressiven 
Tendenzen  der  Volksvermehrung“  völlig  verheerend  auftreten  und 
ganze  Bevölkerungen  decimirt  oder  vernichtet  werden.  Aber,  wie 
die  fast  überall  noch  grosse  Kleinkinder -Sterblichkeit,  zumal  die- 
jenige in  einigen  Ländern,  wozu  leider  auch  deutsche  gehören, 
zeigt,  liegen  hier  doch  auch  bei  Culturvölkern , wie  den  heutigen 
europäischen,  noch  manche  ernste  Uebelstände  vor,  welche  um  so 
schlimmer  erscheinen,  wenn  die  Kleinkindersterblichkeit  die  Be- 
gleiterin grosser  Geburtsfrequenz,  unehelicher  wie  ehelicher,  ist. 
Wo  die  allgemeine  Sterblichkeit,  z.  B.  bei  Epidemien,  in  Folge 
von  Berufskrankheiten,  und  die  Kindersterblichkeit  in  gewissen 
Volksclassen , wie  den  unteren,  arbeitenden,  dürftigeren  besonders 
stark  ist  und  bleibt,  weist  das  neben  gewiss  mitspielenden  ethischen 
und  Bildungsmängeln  — freilich  wenigstens  teilweise  wieder  eine 
Folge  von  ökonomischen  und  dadurch  bedingten  allgemeinen  Lebens- 
verhältnissen — doch  vornemlich  auf  ökonomische  Missstände  hin. 
Diese  können  aus  unzulänglicher  volkswirtschaftlicher  Production, 
zu  kleinem  Volkseinkommen  hervorgehen,  sind  möglicher  Weise 
aber  doch  auch  wenigstens  die  Mitfolge  einer  zu  ungünstigen,  zu 
ungleichmässigen  Verteilung  des  an  sich  vielleicht  für  eine  bessere 
Lebenshaltung  der  unteren  Classen  ausreichenden  Volkseinkommens. 


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Ergebnisse  hinsichtlich  der  natUrl.  Volksbewegung. 


541 


Die  vermehrte  Einsicht  in  die  Zusammenhänge  zwischen  Einzel- 
nnd  Familien-Einkommen,  Familiengrösse  und  Lebensführung,  das 
Bedürfnis  nach  Erhaltung  der  einmal  erreichten  und  gewöhnt  ge- 
wordenen und  nach  weiterer  Verbesserung  dieser  Lebensführung, 
der  Wunsch,  seine  Angehörigen,  seine  Nachkommen  wenigstens  in 
dieser  Hinsicht  nicht  wieder  in  eine  schlechtere  Lage  und  damit 
regelmässig  in  eine  tiefere  sociale  Classenschicht  herabsinken  zu 
sehen;  anderseits  freilich  auch  egoistische  Bequemlichkeit  und  Ge- 
nusssucht, mindestens  Ueberschätzung  der  materiellen  Lage  und 
Annehmlichkeiten  können  freilich  bei  Culturvölkern , zunächst  bei 
deren  höheren  Classen,  dann  aber  auch  weiter  allgemein  zu  einer 
stärkeren  Macht  der  „präventiven  Tendenzen  der  Volksvermehrung“ 
führen.  Das  tritt  in  der  Statistik  in  Verminderung  der  Heiraths-  und 
Geburtsziffer,  besonders  auch  der  ehelichen,  der  Erhöhung  der 
Lebensalter  der  Eheschliessenden , in  gewissen  Civilstandsverhält- 
nissen  der  letzteren  (Vermehrung  der  Trauungen  unter  bereits  ver- 
heiratet gewesenen),  in  Verminderung  der  Zahl  der  in  der  Ehe 
lebenden  in  der  Bevölkerung  hervor. 

Neben  Ökonomischen  spielen  auch  hier  Factoren  der  Sitte,  der  sittlichen  An- 
schauung (in  Bezug  auf  ausserehelichen  Geschlechtsverkehr,  präventiven  auch  in  der 
Ehe,  wie  anderseits  wirkliche  geschlechtliche  Enthaltsamkeit  aus  moralischen  und  aus 
Vernunft-  und  Vorsichtsgriinden),  ferner  solche  der  Rechtsordnung,  wie  wohl  nament- 
lich Gestaltung  des  Erbrechts,  insbesondere  des  agrarischen  (Frankreich  muthmaass- 
lich,  auch  deutsche  bäuerliche  Gegenden)  mit.  Die  geringere  Trauungs-  und  Geburts- 
frequenz.  die  kleineren  Schwankungen  derselben  in  günstigen  und  ungünstigen  Zeiten, 
welche  die  Statistik,  auch  die  früher  mitgetheilten  Daten , in  manchen  Ländern  und 
Landestheilen  zeigen  und  andere  statistische  Daten , so  über  die  Verhältnisse  der 
Lebensalter,  des  Civilstands.  der  Quote  der  in  Ehe  Lebenden  unter  der  Bevölkerung 
heirathsfähigen  Alters,  machen  es,  neben  den  freilich  unvollkommenen  Ergebnissen 
der  „täglichen  Beobachtung“  (J$.  78)  besonders  in  den  höheren  und  wohlhabenderen 
Ständen,  in  Betreir  deren  Trauungs-  und  ehelichen  Geburtsfrequenz  die  Statistik  noch 
kein  genügendes  Material  gesammelt  hat,  nicht  unwahrscheinlich,  dass  sich  gewisse 
Classen  und  selbst  grosse  Volkskreise  der  Culturvölker  dem  Einfluss  der  Fürdcrungs- 
mittel  der  Trauungs-  und  Geburtsfreqnenz  weniger  hingeben,  als  andere  Classen,  als 
die  Masse  der  unteren,  namentlich  der  Arbeiterbevölkerung,  und  als  ganze  Völker 
niedrigerer  Culturstufe;  sowie  dass  jene  ersteren  Classen  und  Volkskreise  psychisch 
den  Erwägungen  für  grössere  Vorsicht  in  Bezug  auf  Verheirathung  und  Kiudererzeu- 
gnng  stärkeren  Einfluss  auf  sich  gewähren,  dass  daher  die  „Prävention“  dauernd 
stärker  wirkt;  in  welcher  Form  und  mit  welchen  Mitteln  in  Bezug  auf  die  Kinder- 
erzeugung  muss  dahin  gestellt  bleiben.  Nur  zeigen  sich  doch  auch  in  dieser  Hinsicht, 
bei  Trauungen  und  Geburten  auch  unter  den  Culturvölkern,  innerhalb  desselben  Volks 
von  Land  zu  Land,  Landcstheil  zu  Landestbeil,  Zeit  zu  Zeit  und  selbst  unter  den 
höheren  Classen,  bei  welchen  jene  psychischen  Präventivtendenzen  vielleicht  schon 
allgemein  mehr,  als  unter  der  übrigen  Bevölkerung,  verbreitet  sind,  sehr  erhebliche 
Unterschiede.  Ob  man  dieselben  auf  nationale,  physische,  psychische,  ethische,  auf 
Culturverschiedenbeiten,  auf  Einflüsse  bestimmter  ökonomischer,  rechtlicher  Factoren 
im  concreten  Fall  zurückführen  kann,  muss  immer  erst  speciell  genau  untersucht 
werden,  wird  sich  aber  häulig  nur  mit  einer  gewissen  Wahrscheinlichkeit,  nicht  selten 
überhaupt  auch  nicht  einmal  mit  einer  solchen  nachweisen  lassen.  Dass  eine  stärkere 
Entwicklung  der  Präventivtendenzen  selbst  in  einer  grossen  Bevölkerung  überhaupt 
A.  Wagnor,  Grundlegung.  8.  Auflage.  1.  Thoil.  Grundlagen.  35 


542  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lehrc.  1.  H.-A.  Statist.  §.  224. 

möglich  sei,  dann  aber  freilich  auch  Gefahren  einer  das  nationale,  das  politische,  das 
volkswirtschaftliche  Interesse  schädigenden  zu  starken  Verringerung  des  natürlichen 
Zuwachses  durch  Geburtsüberschuss  mit  sich  bringen  könne,  möchte  das  Beispiel  der 
französischen  Bevölkerungsbewegung  im  19.  Jahrhundert  immerhin  beweisen. 

Jedenfalls  ergiebt  die  Statistik  aber  auch  bei  Culturvölkern, 
wie  den  heutigen  europäischen,  unter  den  hier  bestehenden  öko- 
nomischen, socialen,  sittlichen  Verhältnissen,  die  Fähigkeit  und  die 
Neigung  zu  weiterer,  je  nachdem  auch  zu  starker  Vermehrung. 
Dafür  liefern  gerade  die  doch  im  Ganzen,  in  periodischen  Durch- 
schnitten, sich  zeigende  relative  Stabilität  der  Trauungs-  und  Geburts- 
frequenz und  die  Erhöhungen  dieser  Frequenzen  in  günstigen  Zeiten 
und  selbst  darüber  hinaus,  in  mehr  oder  weniger  langen  Zeit- 
räumen, den  Beweis.  Die  Verminderung  beider  in  ungünstiger  Zeit 
zeigt  dann  jedoch,  dass  die  Bevölkerung  Erwägungen,  welche  zur 
Prävention  in  Bezug  auf  Eheschliessung  und  (fruchtbaren)  Ge- 
schlechtsverkehr führen,  zugänglich  ist.  Die  Vermehrung  der 
Todesfälle  in  solcher  Zeit,  die  grosse  Kindersterblichkeit,  die  nicht 
mehr  so  stark  wie  früher,  aber  immer  doch  noch  deutlich  hervor- 
tretende Wirkung  von  Theuerungen,  Epidemien  auf  vermehrte 
Sterblichkeit  liefert  indessen  auch  den  Beweis,  dass  auch  gegen- 
wärtig noch  mit  dem  Repressivprincip  zu  rechnen  ist,  vollends 
dann,  wenn  eben  nicht  Prävention  genügend  wirksam  war,  wie 
z.  B.  im  Falle  sehr  grosser  Kindersterblichkeit  bei  starker  Ge- 
burtsfrequenz. Soll  Repression  vermieden  werden,  sind  darauf 
hinwirkende  ökonomische  Reformen  in  Bezug  auf  die  Productions- 
und  Vertheilungsordnung  nicht  möglich  oder  nicht  durchzusetzen 
oder  haben  sie  nicht  den  erforderlichen  Einfluss,  so  muss  ver- 
mehrte Prävention  als  das  einzige  Mittel  zur  Abhilfe  bezeichnet 
werden. 

IV.  — §.  224.  Die  Wanderungen.  Der  zweite  Factor, 
welcher  für  die  Grösse  und  die  Gliederung  der  Volkszahl,  daher  für 
die  Ergebnisse  der  Volkszählung  von  Einfluss  ist,  sind  die  Wande- 
rungen, die  örtliche  Bewegung  der  Bevölkerung,  die  nationalen  oder 
heimischen,  interlocalen  Wanderungen  innerhalb  eines  Staats- 
und Volkswirthschaftsgebiets  und  die  internationalen  von  einem 
solchen  Gebiete  zum  anderen,  die  Ein-  und  Auswanderung. 

A.  Die  heimischen  Wanderungen,  deren  allgemeinere 
Bedeutung,  Ursachen,  Wirkungen  — ein  sehr  umfassendes  social- 
ökonomisches Thema  — hier  nur  kurz  berührt  werden  können, 
gehen  vor  Allem,  wenigstens  soweit  sie  massenhaft  sind  und  daher 
für  die  örtliche  Vertheilung  der  Bevölkerung  eine  grössere  Be- 


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Die  Wanderungen;  die  heimischen. 


543 


deutung  gewinnen,  aus  wirtschaftlichen  Motiven  hervor:  um 
Gelegenheit  zum  Erwerb  oder  zu  besserem  Erwerb  zu  erlangen. 
So  von  jeher,  so  vollends  in  unserer  Zeit,  unter  dem  Einfluss  so 
starker  Förderungsmittel,  wie  das  moderne  Communicationswesen, 
die  neuere,  dem  Grossbetrieb  günstige  Productionstechnik , die 
Freizügigkeit,  die  freiheitliche  Wirthschaftsordnung,  insbesondere 
auf  gewerblichem  Gebiete  (Gewerbefreiheit).  Sociale  Einflüsse 
wirken  in  derselben  Richtung:  der  Zug  nach  der  freieren  Be- 
wegung, der  individualistischen  Gestaltung  der  Lebensverhältnisse, 
der  besseren  socialen  Stellung  (auch  abgesehen  von  derjenigen, 
welche  durch  die  Rechtsstellung  und  die  ökonomische  Lage  be- 
dingt ist) , dem  genussreicheren  Leben  (Stadt  gegenüber  Land) 
u.  dgl.  mehr. 

Persönliche  und  Familienverhältnisse  machen  sich  dem  gegenüber  doch  nur  bei 
Einzelnen  geltend  und  üben  auf  die  Massenbewegungen  keinen  Einfluss.  Das  die 
ältere,  die  mittelalterliche  einheimische  Wanderung  mit  bestimmende  Momeut,  Suchen 
nach  besserem  Rechtsschutz,  höherer  Rechtsstellung,  welches  die  Landbevölkerung, 
die  ünfreien  mit  in  die  Städte  führte,  ist  dagegen  unter  der  Rechtsordnung  im  mo- 
dernen Staate  kaum  mehr  ein  wichtiger  Factor  in  den  Wanderungen,  ebenso  wenig, 
beim  Grundsatz  der  Religionsfreiheit,  religiöse  Motive.  Und  nur  in  Ländern  sehr 
grosser  Ausdehnung,  mit  wesentlichen  Verschiedenheiten  des  Klimas,  der  Boden- 
beschaffenheit  und  der  Besiedlung,  wie  etwa  in  Russland,  Nordamerica  werden 
klimatische  Momente  als  Factoren  der  heimischen  Wanderungen  mit  anzusohen 
sein,  während  die  Motive  auch  hier  doch  wesentlich  wirthschaftliche  sind.  Für 
agrarische  Gegenden  macht  sich  für  Zu-  und  Abzug  ausser  der  Rechtsordnung 
für  den  Grundbesitz  und  dessen  Vertheilung  auch  die  Fruchtbarkeit  des  Bodens  mit 
geltend.  Der  Geburtsüberschuss  findet  in  fruchtbareren  Gegenden  begreiflich  leichter 
als  in  unfruchtbaren  dauernde  Unterkunft,  muss  aus  letzteren  dagegen  bei  einer  einmal 
erreichten  Volksdichte  mehr  durch  Wanderungen  abfliessen  (s.  die  u.  gen.  Arbeit  von 
Schumann,  2.  Halbb.,  S.  524,  auch  passim  „Bäuerl.  Zustände“,  Schriften  d.  Ver. 
f.  Soc.polit.).  Auf  die  bezüglichen  Rechtsfragen.  Zugrecht  u.  s.  w.  wird  im  2.  Th. 
der  Grundlegung,  bei  der  Untersuchung  der  persönlichen  Freiheit,  eingegangen. 

Die  einheimischen  Wanderungen,  namentlich  diejenigen,  welche 
zu  bleibender  oder  wenigstens  länger  dauernder  Veränderung  des 
Wohnsitzes  führen  — im  Unterschied  zu  den  kürzeren  periodischen 
Wanderungen,  z.  B.  in  der  Arbeiterwelt,  „Sachsengängerci“  u.  dgl. 
und  zum  Reiseverkehr  — , sind  es  auch  noch  in  der  Gegenwart 
regelmässig,  welche  in  unseren  europäischen  Ländern  vornemlich 
die  grossen  örtlichen  Bevölkerungsverschiebungen  bewirken,  nicht 
die  Auswanderung  ins  Ausland  und  die  Einwanderung  von  da, 
welche  in  dieser  Hinsicht  von  geringerem  Einflüsse  ist. 

Go  mindestens  von  einzelnen  wenigen,  meistens  nur  kleineren  Gebietstheilen  und 
fast  nur  von  Irland  abgesehen,  für  welches  die  Wanderungen  nach  der  britischen 
Hauptinsel  übrigens  auch  stark  neben  der  überseeischen  Auswanderung  die  Volks- 
abnahme mit  erklären.  Nur  bei  einzelnen  Städten,  Weltstädten,  wie  London,  Paris, 
grossen  Seestädten  kommt  auch  die  Einwanderung  von  Ausländern  für  die  Volks- 
zunahme mehr  mit  in  Betracht;  dann  etwa  vorübergehend  der  periodische  ausländische 
Arbeiterzufluss  bei  grossen  Bauten  (Bahnen,  Canälen  u.  dgl.). 


35* 


544  4.  B.  Bevölk.  u.  Yolksw.scb.  1.  K.  Bevölk.lehre.  l.H.-A.  Statist.  §.224. 

Die  einheimischen  Wanderungen  haben  hier  auch  in  unseren 
Ländern  neuerdings  öfters  den  Geburtsüberschuss  des  platten  Landes, 
der  kleinen  Städte  in  die  Industrie-  und  Montanbezirke,  in  die 
grösseren,  namentlich  die  Gross-,  die  Welt-,  die  bedeutenderen 
Handelsstädte  tiberführt  und  vielfach  mehr  als  der  Geburtstiber- 
schuss die  Bevölkerung  in  den  letztgenannten  Gegenden  und  Orten 
so  stark  vermehrt,  den  etwaigen  kleinen  Geburtsüberschuss  daselbst 
ergänzt,  den  vorkommenden  Ueberschuss  der  Todesfälle,  den  Aus- 
wanderungsabfluss ersetzt.  Für  die  Fortwanderungsgegenden  und 
Orte  haben  die  einheimischen  Wanderungen  so  den  Einfluss  der 
neuerlichen,  vielfach,  wenn  auch  unter  starken  Schwankungen 
gerade  auch  aus  diesen  Gegenden  sich  recrutirenden  überseeischen 
Auswanderung  noch  gesteigert,  das  Wachsthum  der  Bevölkerung 
gehemmt,  da  und  dort  und  hie  und  da  auch  wohl  in  einzelnen 
Orten,  in  kleineren  und  mitunter  doch  auch  schon  in  grösseren 
Gebietstheilen,  bis  zur  Grösse  von  Provinzen,  wie  den  preussischen, 
selbst  einen  Rückgang  der  Bevölkerung  verursacht.  Ausserdem 
haben  die  einheimischen  Wanderungen  aber  auch  in  den  Abzugs- 
und Zuzugsgegenden  und  Orten  die  Gliederung  der  Bevölkerung 
nach  Geschlecht  und  Alter,  auch  nach  Civilstand,  Berufsstellung 
und  Beruf  mehr  oder  weniger  verschoben  und  so  von  den  natür- 
lichen , durch  die  Geburtsziffer  und  die  Sterblichkeit  bedingten 
Ordnung  abweichen  machen.  Das  wirkt  aber  dann  wieder  weiter 
auf  die  Trauungs-,  Geburts-,  Sterbefrequenz,  die  wirtschaftliche 
Productivität  dieser  nunmehr  verschieden  von  der  natürlichen 
Ordnung  und  verschieden  in  den  einzelnen  Gegenden  und  Orten 
zusammengesetzten  Bevölkerung  ein.  So  entstehen  durch  diese 
Wanderungen  auch  wieder  Einflüsse  auf  die  natürliche  Bewegung 
der  Bevölkerung  von  nachhaltiger  Bedeutung.  Soweit  die  Aenderung 
des  Wohnsitzes,  damit  vielfach  verbunden  der  Lebensweise,  des 
Berufs,  des  „gesellschaftlichen  Mediums“,  in  welchem  die  Menschen 
leben,  auch  wieder  auf  das  physische,  psychische,  ethische  Sein, 
Denken,  Wollen  Einflüsse  äussert,  sind  die  Wanderungen  natür- 
lich auch  in  dieser  Beziehung  von  wichtigem  Einflüsse.  Einige 
der  characteristischsten  Erscheinungen  auch  des  geistigen,  sittlichen, 
politischen  Lebens  der  Bevölkerung  und  Veränderungen  darin  iu 
unserer  Zeit  sind  so  mit  auf  die  heimischen  Wanderungen  znrück- 
zuführen,  welche  selbst  wieder  vornemlich  ein  Product  der  Um- 
gestaltung der  technischen  und  wirtschaftlichen  Verhältnisse  sind. 


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Die  heimischen  Wanderungen. 


545 


Die  genauere  statistische  Verfolgung  der  einheimischen  Wanderungen,  bezw., 
was  meistens  allein  möglich  ist,  ihrer  Ergebnisse,  wie  sie  dann  erst  die  Volkszählungen 
constatiren  und  die  aus  diesen  stammenden  Daten  (so  für  die  Geburtsortstatistik  der  Orts- 
anwesenden und  Wohnbevölkerung)  kundthun,  müssen  wir  uns  hier  versagen.  In  jenen 
Ergebnissen  und  Daten  hat  man  zugleich  das  Ergebniss  der  natürlichen  Bewegung  der 
Bevölkerung  und  der  Ein-  und  Auswanderung,  ohne  das  gewöhnlich  im  Einzelnen  genau, 
namentlich  was  die  Ergebnisse  der  heimischen  und  der  zwischen  In-  und  Ausland  sich 
vollgehenden  Wanderungen  anlangt,  zerlegen  zu  können.  Man  muss  sich  daher  mit 
annäherungsweiser  Abschätzung  des  Einflusses  der  einheimischen  und  der  fremd- 
ländischen Wanderungen  häufig  begnügen. 

Auch  in  Deutschland  zeigt  die  Statistik , was  von  vornherein  auzunehmen  war. 
dass  erst  mit  der  Entwicklung  der  Grossindustrie,  dem  Oebergang  aus  der  vorwaltend 
agrarischen  und  handwerklichen  in  die  mehr  industrielle  und  städtische  volkswirth- 
schaftliche  Phase,  mit  dem  neuen  Dampfcommunicationswesen  und  mit  der  durch  das 
Alles  erst  mächtig  gewordenen  Wirksamkeit  des  Freizügigkeitsprincips,  der  Gewerbe- 
freiheit, die  einheimischen  Wanderungen,  die  Vermengung  der  örtlichen  Bevölkerung, 
das  Strömen  in  die  Städte  und  Industrie-  und  Moutaugcgenden,  auch  die  periodischen 
Wanderungen  der  Feld-  und  anderer  Arbeiter,  die  Richtung  der  Wanderung  immer 
mehr  von  Osten  und  Nordosten  nach  der  Mitte  und  nach  dem  Westen  (auch  in  Betreff 
der  Juden  aus  den  preussisch-polniscbeu  Ländern,  namentlich  seit  der  rechtlichen 
Gleichstellung  der  Juden),  so  bedeutsam  geworden  sind  und  so  ausserordentliche  locale 
Verschiebungen  der  Bevölkerung,  so  grosse  Vermehrung  derselben  in  den  Zuzug- 
gegenden und  Orten  bewirkt  haben.  Die  noch  in  den  ersten  Jahrzehnten  dieses 
Jahrhunderts,  besonders  nach  der  Kriegszeit,  wahrnehmbare  Veränderung  der  Volks- 
zahl der  einzelnen  Landestheile  — wobei  man  freilich  hier  besonders  mit  älteren 
Mängeln  und  späterer  allmäliger  Verbesserung  der  Zählungen  und  mit  daraus  ent- 
springenden Störungen  der  Vergleichungen  zu  rechnen  hat  — lässt  mehrfach  auf 
einen  Zug  vom  Westeu  und  Süden  nach  dem  Norden  und  Osten,  von  den  volks- 
dichteren in  die  weniger  dichten  Gegenden,  auch  in  agrarische,  schliessen.  Seit  der 
industriellen  und  der  Eisenbahnentwicklung,  seit  den  40er  Jahren,  wird  die  Richtung 
der  Wanderungen  immer  mehr  eine  entgegengesetzte,  nach  Mitte  und  Westeu  gehende, 
in  die  Städte  und  Industriebezirke.  Aehnliches  zeigt  sich  in  anderen  Ländern. 

Materialien  zur  genaueren  Untersuchung  dieser  Einflüsse  und  Verhältnisse  bieten 
für  Deutschland  jetzt  auch  wieder  bes.  die  gen.  neueren  Publicationen  des  reichsstat. 
Amts  (s.  u.  A.  Juliheft  1879  der  Monatshefte  S.  64  ff.),  auch  die  aus  manchen  Län- 
dern vorhandenen  und  jetzt  verarbeiteten  Daten  der  Geburtsstatistik  der  Ortsbevölke- 
rung. woraus  sich  die  Zusammensetzung  einer  solchen  zu  bestimmter  Zeit  nach  der 
örtlichen  Herkunft  ihrer  Glieder  ersehen  und  Schlüsse  auf  die  Wanderungen  und  ihre 
Richtungen  mit  ziehen  lassen  (eine  Störung  machen  die  Weg-  und  Zugezogenen,  welche 
am  Zahlungstermin  bereits  gestorben  waren  und  bei  den  Weggezogenen  die  Aus- 
wanderer, die  im  Inlande  nicht  mehr  anderswo  als  Zugezogene  erscheinen).  S.  eine 
vortreffliche  Bearbeitung  des  reichsstatist.  Materials  für  1885,  mit  Untersuchung  der 
muthmaasslichen  und  nachweisbaren  Einflüsse,  in  dem  Aufs,  von  Schumann,  die 
inneren  Wanderungen  in  Deutschland,  Allgcm.  Statist.  Archiv  1890,  2.  Halbbd. 
S.  503  fT. , ein  werthvoller  Beitrag  zur  Erörterung  der  volkswirtschaftlichen  Be- 
dingungen und  Ursachen  der  Wanderungen. 

Nach  dem  gen.  Juliheft  1879  der  Reichsstatistik  ersieht  man,  dass  in  der  60jähr. 
Periode  1816 — 75,  die  hier  in  die  4 kleineren  1816  — 34,  1834  — 52,  1852' — 67 
und  1867 — 75  geteilt  wird  , die  gesummte  Volksvermehrung,  als  das  gemeinsame 
Ergebniss  der  drei  Momente,  natürliche  Bewegung,  heimische  Wanderungen  und  Ein- 
und  Auswanderung,  anfangs  mehrfach  am  Stärksten  im  agrarischen  Osten  und  Norden 
(.Ost-,  Westpreussen , R.-B.  Bromberg,  Pommern)  war  — freilich  vorbehaltlich  des 
erwähnten  Fehlers  wegen  anfangs  grösserer  Unvollständigkeit  der  Zählungen  grade 
hier  — , später  immer  mehr  die  Gegenden  mit  Grossstädten  und  mit  hochindustrieller 
und  montanistischer  Entwicklung  die  stärkste  Vermehrung,  die  rein  agrarischen 
Gegenden  die  kleinste  oder  wenigstens  nur  eine  mittlere  Vermehrung  aufweisen.  (S. 
bes.  a.  a.  0.  S.  65,  67  die  Zusammenstellung  der  Reihenfolge,  welche  die  unter- 
schiedenen 90  Gcbietstheile  des  Reichs  in  den  4 genannten  kleineren  Perioden  in 
Bezug  auf  die  Volksvermehrung  eingenommen  haben  und  unten  Tab.  XVII  u.  XVIII 


546  4.  B.  Bevülk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bcvölk.lchre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  224. 


nebst  Erläuterungen  dazu).  Die  hohen  jährlichen  Zunahmeprocente  einiger  Gegenden 
und  Orte  zeigen  schon,  dass  man  es  hier  mit  einem  starken  Mehrzufluss  durch  Wan- 
derungen zu  thun  hat.  In  agrarischen  Gegenden  giebt  sich,  wie  auch  Schumann 
nachweist,  in  Betreff  des  Festhaltens  und  des  Abflusses  des  Geburtsüberschusses  neben 
demjenigen  der  einmal  erreichten  Volksdichtigkcit  und  Fruchtbarkeit  des  Bodens  der 
Einfluss  der  Agrarverfassung,  wie  auch  für  die  Auswanderung,  kund,  wenn  auch 
nicht  immer  so  stark,  als  a priori  und  nach  politischer  Tendenz  öfters  geschlossen 
worden  ist. 

In  der  vergleichend-statistischen  Arbeit  des  reichsstat  Amts  (B.  44)  finden  sich 
für  die  einzelnen  deutschen  Staaten  und  die  großen  Verwaltungsabtheilungen  der 
grösseren  für  1841 — 85  Berechnungen  der  Zunahme  (bzw.  Abnahme)  der  Volks- 
zählungen, des  Geburtsüberschusses  (bzw.  Deficits)  nach  der  Statistik  der  Bewegung 
der  Bevölkerung  und  des  aus  dem  Vergleich  dieser  beiden  Daten  sich  ergebenden 
Wanderverlusts  und  Gewinns.  Letztere  Ziffer  wird  bei  dieser  Feststellungsweise 
natürlich  durch  die  Fehler  in  den  Zählungen  und  Geburts-  und  Sterbezahlen  beeinflusst 
und  ist  ausserdem  mit  das  Resultat  der  Ein-  und  Auswanderung.  Aber  sie  ist  doch 
auch  einigermaassen  brauchbar,  um  die  Bedeutung  der  heimischen  Wanderungen  er- 
messen und  Rückschlüsse  auf  die  hier  einwirkenden  wirtschaftlichen  Einflüsse  machen 
zu  lassen.  Für  das  ganze  Roichsgebiet  kommt  in  der  betreffenden  Ziffer  der  Aaswande- 
rungsverlust, dem  hier  nicht,  wie  in  vielen  Landestheilen  durch  die  heimischen 
Wanderungen,  ein  betreffender  Gewinn  gegenüber  steht,  noch  schärfer  zum  Ausdruck 
(s.  o.  Tab.  XI  auf  S.  518).  Die  folgenden  beiden  Tabellen  XVII  und  XVIII  auf 
S.  547  und  548  geben  für  das  ganze  Deutsche  Reich  und  für  die  wichtigeren  Staaten, 
sowie  für  die  preussischen  Provinzen  und  baierischen  Proviuzialgruppeu  für  1841 — 85, 
bzw.  90  die  Relativzahlen  für  die  genannten  3 Thatsachen  an  nnd  zeigen  so  den 
Einfluss  der  heimischen  Wanderungen  und  freilich  davon  ungetrennt  auch  der  Ein- 
und  Auswanderung.  (Nach  den  Tabellen  S.  2 ff  in  B.  44  und  den  Berechnungen  im 
ersten  Vierteljahrheft  1892  der  Reichsstatistik,  S.  6,  17  ff.). 

Bei  Vergleichungen  der  Zahlen  der  beiden  Tabellen  XVII  und  XVIII  und 
Schlüssen  daraus  muss  hier  der  vorherrschende  wirtschaftliche  Cbaracter  der  einzelnen 
Länder  und  Provinzen  und  der  einzelnen  Perioden  einigermaassen  als  bekannt  voraus- 
gesetzt werden.  Da  die  Länder  und  Provinzen  in  dieser  Hinsicht  erhebliche  Unter- 
schiede in  der  agrarischen  und  industriellen  Entwicklung,  der  Bodenbeschaffenheit 
und  geographischen  Lage,  der  Agrarverfassung  zeigen  und  da  doch  vornemlich  erst 
seit  den  1850er  Jahren  und  dann  mit  immer  mehr  Macht  die  industrielle  und  gross- 
städtische  Entwicklung  beginnt,  ist  gerade  dies  deutsche  Material  der  beiden  Tabellen 
für  Schlüsse  auf  den  Einfluss  wirtschaftlicher  Factoren  auf  die  Bevölkerungsbewegung 
überhaupt  und  auf  die  in  Wanderungen  sich  vollziehende  werthvoll.  Man  beobachtet 
leicht,  wie  die  Geburtsüberschüsse  in  den  vorwaltend  agrarischen  Gegenden,  nament- 
lich des  Ostens  und  Nordens  und  der  Gebiete  mit  viel  Grossgrundbesitz  (Ost-  und 
Westpreussen,  Posen,  Pommern,  Mecklenburg,  z.  Th.  Schlesien,  Hannover,  Schleswig- 
Holstein,  aber  doch  auch  mit  anderen  Agrarverhältnissen  Hessen -Nassau,  Hessen, 
Pfalz,  Franken,  Baden,  Württemberg)  durch  die  Wanderungen  neuerdings  immer 
mehr  abfliessen,  theils  nach  Westen,  in  die  Städte  und  Industriesitze,  teils  über  See, 
während  die  industriellen  Gegenden,  die  Grossstädte  ihren  Geburtsüberschuss  behalten 
oder  nur  wenig  vermindert  und  ihre  Volkszahl  durch  die  Zuwanderungen  wohl  noch 
gesteigert  sehen  (Berlin,  Hamburg,  Bremen,  Königr.  Sachsen,  Rheinland,  Westfalen, 
Prov.  Sachsen,  Braunschweig,  Anhalt).  Zufällige  Umstände,  wie  die  politische  Ab- 
trennung von  Hamburg,  Bremen  aus  den  Provinzen,  in  denen  sie  liegen,  von  Frank- 
furt a.  M.  aus  dem  süddeutschen  Gebiet,  lassen  das  noch  deutlicher  hervortreten.  Der 
Einfluss  von  Städten  wie  Berlin,  München  (in  den  Ziffern  Südbaierns),  macht  sich 
besonders  geltend.  Erst  bei  einer  weiteren  Zerlegung  der  Länder  in  Abteilungen 
zeigen  sich  die  Einflüsse  der  wirtschaftlichen  Verhältnisse  noch  deutlicher,  während 
die  Zahlen  Preussens  und  der  Mittelstaaten,  ebenso  diejenigen  grösserer  Provinzen 
von  sehr  verschiedenem  Wirthschaftscbaracter  in  den  einzelnen  Landestheilen,  so 
Schlesiens.  Rheinlands,  Westfalens,  eben  wieder  bereits  ausgeglichene  sind.  Industrielle, 
montanistische,  Grossstädte  enthaltende  Ländertheile,  — z.  B.  R.-B.  Oppeln  und  Brcslan 
gegenüber  R.-B.  Liegnitz  in  Schlesien,  R.-B.  Hannover  gegenüber  den  anderen 
Bezirken  der  Provinz,  R.-B.  Arnsberg  in  Westfalen  gegenüber  Minden  und  Münster, 


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Heimische  Wanderungen 


547 


Tab.  XVII.  Gewinn  und  Verlust  der  Bevölkerung  in 

deutschen  Staaten 

auf  1000  der  mittleren  Jahresbevölkerung  jährlich. 


Deutsches 

Reich 

1 

Grossherzogthum  Baden 

Sachsen -Weimar 

O /-N 

Geburts- 

überschuss 

Volkszunahm* 
( — Abnahme 

Wanderverlus 
(4-  Gewinn) 

Geburts- 

Überschuss 

Volkszunahm 
( — Abuahiue 

Wauderverlus 
(4*  Gewinn) 

Geburts- 

überschuss 

Volkszunahm 
( — Abnahme 

- - 

ii 

i± 

1841—50 

— 

9.35 

7.69 

1.66 

10.01 

5.14 

4.96 

8.96 

5.53 

3.42 

1851 — 00 

8.90 

6.50 

2.40 

7.03 

-0.05 

7.08 

9.49 

3.93 

5.56 

1861—70 

10.33 

7.13 

2.21 

9.62 

7.08 

2 01 

i 10.45 

5.04 

8.40 

1871 — 80  j 

11.92 

10  08 

1.84 

11.08 

7.33 

3.75 

! 11.79 

7.99 

3.80 

1881—85 

11.28 

7.02 

4.20 

9.93 

3.84 

6.09 

10.63 

2.74 

7.87 

1886—90  1,  «2.05 

10.07 

1.98 

— 

6.90 

— 

— 

7.00 

— 

Preussischer  Staat1) 

Grossberzogthum  Hessen 

Oldenburg*) 

1841—50 

9.90 

9.14 

0.82 

10  71 

4.98 

1 

5.73 

6.77 

2.30 

4.24 

1851—00 

9.96 

8.54 

1.43 

8.59 

0.02 

8.57 

7.48 

5 08 

2.60 

1861—70 

11.19 

9.22 

1.90 

10.12 

2.71 

7.41 

8.40 

3.48 

5.32 

1871—80 

I 12.52 

10.45 

2.08 

12  03 

9 75 

2.18 

9.00 

8.19 

1.42 

1881—85 

1 1.98 

747 

4 51 

9.81 

4 22 

5.59 

1054 

2.65 

7.88 

1896—90 

— 

1 1 .20 

— 

- 

7.40 

— 

— 

— 

— 

Baierischer  Staat 

1 

Grh.  Mecklenbg.  Schwer. 

Herzogth.  Braunschweig 

1841—50 

6.36  ! 3 73 

2.63 

10.52 

7.93 

2.59 

4.7t 

1.20 

3.46 

1851 — t'.o 

! 5.54 

2 95 

2.59 

9.83 

2.02 

7.82 

8.34 

4.60 

3.74 

1801  —70 

j 7.14 

4.82 

2.32 

9.92 

2.33 

7.59 

8.41 

10.24 

4-  L83 

1871—80 

9.51 

8.47 

1.04  I 

11.09 

3.15 

7 44 

10.39 

12.00 

4- 1-60 

1SS1—  95 

8.97 

5.02 

3.95 

9.56 

-0.66 

10.22 

10.53 

12.82 

4-2.19 

1886—90  1 

! — 

6 31 

— 1 

— 

1.10 

— 

— 

16.10 

— 

Königreich  Sachsen 

Eisass  - Lothringen 

Herzogthum  Anhalt 

1 

1841—50 

, 11.01 

J 1.99 

4-0.98 

7.76 

4.04 

3.72 

7.91 

5.53 

2 38 

1851—60 

12.0.4 

13.24 

4*M5 

5.32 

— 0.25 

5 58 

13  19 

13.38 

4-0.19 

1861—70 

12.39 

14.11 

4-  1.72 

0 62 

0.29 

6 32 

12  79 

11.56 

1.23 

1871—80 

13.79 

1 5.96 

+ 2.17 

7.32 

-0.0» 

7.36 

14.05 

14.02 

0.03 

1881— S5  t 

1 2.96 

1 3.58 

4-  0.62 

6 77 

-0.34 

7.11 

13.93 

12.96 

0.97 

18s6— 9.»  | 

— 

19.20 

— 

— 

4 9*» 

— 

— 

18.30 

— 

Königreich  Würtember«: 

Staat  Hamburg 

Staat  Bremen 

t 

1841-50 

9.72 

5.79 

3.92 

3.38 

1 2.38 

4-  9.02 

8.75 

13.13 

4-  4 39 

1851—60 

0.32 

1.71 

8.03 

4.11 

14.94 

4-  10.83 

9.23 

1697 

4-  7.74 

1861—70 

9.37 

5.56 

3.81 

7 40 

23.77 

4-  10.32 

9.39 

20.52 

4-  11.13 

1871—80  1 

12.21 

8.02 

3.58 

11.01 

30.73 

4-  19.72 

15.76 

20.66 

4-  10.90 

1881—85 

1061 

2.35 

8.26 

1 1.30 

26  54 

4-  15.18 

12.18 

1095 

1.23 

1886—90 

— 

4.10 

— 

- 

36.40 

— 

— 

17.10 

— 

*)  Preusscn  auch  vor  1860  in  jetzigem  Umfang  gerechnet. 

3)  Nur  das  Herzogthum,  daher  ohne  Fttrst.  Lübeck  und  Birkenfeld. 


548  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk  lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  224. 


Tab.  XVIII.  Gewinn  und  Verlust  in  preussischen 
Provinzen  und  baierischen  Gruppen 
auf  1000  der  mittleren  Jahresbevölkerung  jährlich. 


Berlin 

Pommern 

Hessen -Nassau 

'fi 

i « 

£ .3 

4)  . — . 

s § 

JS  5 

CS  — 
S CS 

Wanderverlust 
(4*  Gewinn) 

70 

• 22 

v 

1 1 
SS 

a 5 

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J3  E 

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'O  ja 
3 

3 -2 
J£  < 

O I 
> + 

| + 

1841—50 

6.20 

24.32 

+ 13.12 

14.70 

14.32 

0.38 

9 00 

5.23 

3.77 

1851—60 

8.87 

18.48 

+ 9.601 

14.23 

1 1 .95 

2.46 

7.60 

0.95 

0.66 

1861—70 

7.84 

40.67 

+ 32.82 1 

13.32 

4.96 

8.20  ,!  9.45 

4.12 

5 32 

1871—80 

10,73 

33.16 

4-22.441 

1523 

6.98 

8 25 

11.21 

10.57 

0.63 

1881—85 

10.01 

31.62 

4-21.61  j 

12.72 

— 4.56 

17.28  j 

I 9.62 

4. SO 

4.82 

18^ — 00 

10.80 

36.40 

4-  25.60  i 

— 

2 00 

__ 

! - 

8.80 

Ostpreussen 

Brandenbg.  (ohne  Berl.) 

Westfalen 

1841—50 

7.68 

6.00 

0.97 

13.14 

12  95 

0.19 

9.19 

6.94 

2.26 

1851 — 50 

8.82 

10.98 

4-  1-58 

11.93 

10.00 

1.94 

1 10.01 

7.92 

2.09 

1861—70 

10.51 

9.40 

1.11 

11.70 

7.46 

4.23 

10.55 

9.98 

0.57 

1871—80 

11.20 

6.32 

4.SS 

11.99 

10. *»2 

1.16 

13.71 

14.54 

+ 0.83 

1881— S5  1 

10.65 

2 55 

8.10 

| 10.93 

6.49 

4.44 

15.22 

15.21 

0.01 

1886—00  ! 

— 

— 0.10 

— 

11  46 

16.03 

4.57  ; 

— 

19.30 

— 

Westpreussen 

Provinz  Sachsen 

Rheinland 

1841—50 

12.13 

13.41 

4-1.18 

10  17 

9.18 

0.99 

10  34 

9.87 

0.48 

1851—60 

0.80 

11.03 

4-1.24 

11.66 

8.72 

2.94 

10.79 

10.90 

+ 0.12 

1861—70 

13  61 

11.05 

2 55 

1 1 .02 

7.62 

3.39 

11.42 

11  54 

+ 0.12 

1871—80 

15.06 

7.29 

7.77 

12.88 

9.57 

3.31  i 13.24 

13.12 

0.12 

1881—85 

14.47 

0.34 

14.13 

1 12.67 

9.80 

2.87  i 

12.17 

12  88 

0.71 

1886—00 

3 60 

- II  - 

12.10 

- i 

- 

16.20 

— 

Posen 

Provinz  Hannover 

I 

i 

Pfalz 

1841—50  11.13 

1851—60  " 7.44 

10.44 

|| 

0.69  7.75 

i 

3.16 

4.59 

14  07 

5.97 

8.11 

6.58 

0.85 

8.88 

4.49 

4.39 

10.03 

— 1.72 

11.75 

1861—70  ; 13.80 
1871—80  L 16.18 

7.S9 

5.91 

9.39 

4.59 

4.80 

11.85 

2.73 

9.12 

7.84 

8 34 

10.21 

7.94 

2.27 

14.93 

8.91 

6.02 

1881—85  I 

14  73 

1.42 

1331  ! 

10.82 

4.93 

5.89  | 

13.97 

5.54 

8.43 

1886—00  :!  10.02 

4.20 

15  72 

_ 

9.50 

— II  — 

9 00 

— 

Schlesien 

Schleswig  - Holstein 

Franken 

1841—50 

8.50 

8.30 

0 26  9 52 

8.14 

1.38 

6.19 

2.70 

3.49 

1851—60 

8.46 

7.87 

0.53 

11.29 

7.86 

3.4 1 

5.77 

1.99 

3. 78 

1861—70 

11  02 

9.72 

1.30 

11.19 

5.50 

5.69 

7.47 

5 09 

2.38 

1871—80  I 

11.04 

8.14 

2.90 

11.72 

7.60 

4.12 

10.23 

7.64 

2.59 

1881—85 

9.25 

5.13 

4.12 

12.23 

4.09 

8.14 

8.47 

2.40 

6.07 

1886—00 

— 

5.40 

— 1 

- 

11.30 

— 



— 

— 

*)  Diese  Zahlen  scheinen  in  den  Decimalen  einen  Fehler  zu  enthalten. 


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Heimische  Wanderungen. 


549 


Tab.  XVIII.  Gewinn  und  Verlust  in  preussischen 
Provinzen  und  baierischen  Gruppen 
auf  1000  der  mittleren  Jabresbevölkerung  jährlich. 


i 

ii 
1! 

Geburts- 

Uberschuss 

Südbaiern 

Volkszunahme 
( — Abnahme) 

Wanderverlust 
(-f-  Gewinn) 

1911—50 

4 43 

3.87 

0.57 

1951—60 

4.23 

4.92 

+ 0.59 

1861—70 

5.72 

5.15 

0.57 

1871— SO 

7.70 

8.92 

+ 1.22 

1881—85  '• 

8.08 

6 63 

1.45 

1886—90  , 

— 

— 

— 

R.-B.  Düsseldorf  im  Rheinland  gegenüber  den  anderen,  besonders  Coblenz  und  Trier 
R.-B.  Oberbaiern  gegenüber  den  anderen  baierischen,  die  k.  sächsischen  Kreishaupt- 
mannschaften Leipzig,  Dresden,  Zwickau  gegenüber  Bautzen,  der  Württemberg.  Neckar- 
kreis gegenüber  den  anderen,  der  badische  Kr.  Mannheim  desgleichen,  — halten  ihren 
Geburtsüberschuss  fest  oder  gewinnen  noch  durch  Mehreinwanderung  in  stärkerem 
Maasse,  als  das  Land  oder  die  Provinz,  zu  welcher  sie  gehören.  ELass- Lothringen 
zeigt  schon  in  der  französischen  Zeit  den  starken  Abfluss  der  Bevölkerung,  vornem- 
licb  nach  Westen,  üebrigens  werden  alle  solche  Zahlen  auch  noch  in  anderer  Weise 
von  Zufälligkeiten  beeinflusst.  So  würde  z.  B.  Brandenburg  ohne  Berlin  eine  kleinere 
Volkszunahmo  zeigen,  wenn  nicht  die  doch  schliesslich  von  Berlins  Entwicklung  ab- 
hängigen, an  Volkszahl  stark  steigenden  Vororte  administrativ  von  Berlin  getrennt 
wären,  daher  zur  Mark  gehörten;  ähnlich,  wonn  nicht  in  Schleswig-Holstein  sich  der 
Einfluss  der  Hamburger  Entwicklung,  namentlich  neuerdings,  mit  geltend  machte. 

Die  mitgetheilten  Datcu  lassen  nur  in  dem  Rest  der  Volkszu-  und  Abnahme, 
welcher  von  Gebnrtsüberschuss  bleibt,  das  Endergebnis  der  heimischen  und 
fremdländischen  Wanderungen  ersehen.  Die  Gebnrtsortstatistik  hat  den  Vorzug,  den 
wirklichen  Austausch  der  Bevölkerung  zu  zeigen,  freilich,  wie  bemerkt,  ohne 
die  mittlerweile  gestorbenen  ehemals  Fortgezogenen  und  die  Ausgewanderten  in  den  Zu- 
zugorten  berücksichtigen  zu  können.  Dadurch  wird  noch  ein  genauerer  Eiublick  in 
die  Bedeutung  der  Wanderungen  überhaupt  und  für  die  Vermischung  der  Bevölkerung 
erlangt,  auch  mehrfach  die  Erkenntniss  der  wirtschaftlichen  Einflüsse  und  die  socialen 
Folgen  der  Wanderung  gefördert,  so  u.  A.  für  das  von  Georg  Hansen  behandelte 
interessante  Problem  (s.  o.  S.  460).  Auch  hierfür  ist  der  gen.  Aufsatz  von  Schumann 
beachtenswert. 

Am  Bedeutsamsten  und  Schärfsten  tritt  das  Ergebniss  namentlich  auch  der 
heimischen  Wanderungen  schliesslich  in  der  Volkszahl  der  Städte  und  der  kleineren 
einzelnen  Landestheile  (Kreise  und  deren  Theile)  und  in  der  zeitlichen  Veränderung 
dieser  Volkszahl  hervor.  Darüber  unten  in  §.  238  und  in  den  §§.  über  Volksdichtig- 
keit, 229  ff. 

B.  — §.  225.  Ein-  und  Auswanderung. 

Ueber  die  statistische  Ermittelung  und  die  Mängel  und  Lücken  derselben  8.  o. 
§.  206.  Auch  hier  haben  wir  cs  nur  mit  der  Erscheinung  der  Massen  Wanderung,  nicht 
mit  der  Wanderung  vereinzelter  Personen  und  wesentlich  nur  mit  der  modernen 
überseeischen  Massenaus-  und  Einwanderung  zu  thun,  ferner  bloss  mit  denjenigen 
Seiten  dieses  wichtigen  Phänomens,  welche  mit  der  volkswirthschaf tlichen 
Bevölkerungsfrage  der  Gegenwart  näher  Zusammenhängen.  Eine  allge- 
meinere Betrachtung  der  mancherlei  sonstigen  Seiten  der  Erscheinung  liegt  ausserhalb  des 
Zwecks  dieser  Erörterungen.  S.  dafür  die  hübsche  reichhaltige  Abh.  von  Philippovich 
von  Philippsborg  im  Handwörterb.  der  Staatswiss.,  zugleich  auch  mit  für  die 
Statistik,  nebst  dem  Anhangsartikel  über  Italien  von  L.  Bodio,  I.,  1000—1041. 
Daselbst  auch  Litteraturübersicht  S.  1033.  Ferner  die  neuste  Publication  des  Ver.  f. 
Socialpolitik  über  Auswanderung  in  Deutschland  1892. 


550  4.  B.  Bcvölk.  u.  Volksw.scli.  1.  K.  Bcvölk.lehrc.  1.  H.-A.  Statist.  §.  225. 

Die  moderne  Massenwanderung  ans  der  alten  europäischen 
in  die  neue  überseeische  Welt  wird  ausschliesslicher  als  frühere 
ähnliche  Wanderungen,  namentlich  diejenigen  innerhalb  Europas, 
durch  wirthschaftliche  Beweggründe  bestimmt,  welche  gerade 
mit  den  verschiedenen  Bevölkerungsverhältnissen,  der  verschiedenen 
Volksdichte  in  Verbindung  stehen,  wenn  auch  dadurch  keineswegs 
allein  und  unmittelbar  hervorgerufen  werden. 

Auch  die  älteren  grossen  Wanderungen  sind  vielfach  mit  und  öfters  vornemlich 
durch  wirthschaftliche  Gründe  veranlasst  worden , so  die  grosse  germanische  Völker- 
wanderung. Aber  politische  Momente,  Eroberungssucht,  Wunsch,  einen  religiösen 
Glauben  zu  verbreiten  oder  sich  religiösen,  politischen  Verfolgungen  zu  entziehen, 
absichtliche  Vertreibung  von  Fremdnationalen,  Andersgläubigen  waren  ausserdem 
nicht  seltene  Gründe  der  Wanderungen.  Heute  spielen  solche  Gründe  selten  auch 
nur  nebenbei  in  der  Masscnaus-  und  Einwanderung  mit.  Ein  Beispiel  wäre  allen- 
falls noch  die  mormonischc  Bewegung  in  America,  die  freilich  innerhalb  desselben 
Staatsgebiets  sich  vollzog,  die  mohamedanische  Auswanderung  aus  Ländern  , welche 
unter  christliche  Herrschaft  gekommen  sind,  allenfalls  die  mennonitische  u.  dgl. 
kleinere  Wanderbewegungen.  Man  könnte  auch  an  die  beginnende  jüdische  halb 
Auswanderung,  halb  Vertreibung  aus  dem  slavischen  Osten  denken,  aber  dieselbe  hat 
keine  religiösen,  sondern  wesentlich  sociale  und  wirthschaftliche  Gründe,  bei  den 
Vertriebenen  und  Auswandemden,  wie  bei  den  Vertreibenden. 

Der  tiefe  und  letzte  entscheidende  Grund  der  europäischen 
überseeischen  Massenauswanderung  „kleiner  Leute“  — welche  doch 
die  grosse  Hauptmenge  bilden  — in  die  neue  Welt  liegt  in  den 
wirtschaftlichen  Schwierigkeiten  des  Erwerbslebens  in  der  Heimath, 
iu  der  grossentheils  wirklich  vorhandenen , anderseits  wenigstens 
vermeintlichen  Leichtigkeit,  drüben  Erwerb  zu  finden,  namentlich 
auch  billig  Land  zu  erlangen,  wozu  wohl  auch  hie  und  da  noch 
Wünsche  kommen,  sich  gewissen  öffentlichen  Lasten  daheim  zu 
entziehen  und  eine  nicht  nur  wirtschaftlich , sondern  auch  social 
bessere  Stellung  zu  erreichen.  Eigentlich  politische  Motive  (so 
etwa  in  Bezug  auf  Verfassungs-  und  Regierungsform  und  Wünsche 
eines  Wechsels  darin)  spielen  dagegen  direct  bei  der  Massenaus- 
wanderung nach  Allem  wenig  mit.  Die  wirkliche  und  ver- 
meintliche Differenz  der  wirthschaft liehen  und  doch 
vornemlich  dadurch  bedingt  der  socialen  Lage  ist  es, 
welche  den  meist  entscheidenden  Einfluss  bildet.  Diese  Differenz 
ist  nun  nicht  allein,  aber  doch  in  besonderem  Grade  direct  die 
Folge  der  verschiedenen  Bevölkerungsverhältnisse  im  Aus-  und 
Einwanderungslande,  indirect  von  solchen  Verhältnissen,  welche 
wieder  mit  denen  der  Bevölkerung  Zusammenhängen,  wie  allgemeine 
Occupation  und  erfolgter  Uebergang  des  Bodens  ins  Privateigen- 
tum, höherer  Preis  des  Bodens,  erschwerter  Erwerb  desselben, 
gesteigerte  wirthschaftliche  Concurrenz  bei  allgemein  grösserer  oder 


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Auswanderung. 


551 


doch  bei  einer  die  heimischen  Erwerbsquellen  und  Ge- 
legenheiten überschreitender  Volksdichtigkeit  (Seandinavien, 
östliches  Deutschland)  in  den  altbesiedelten,  stärker  bevölkerten 
europäischen  Ländern  in  Vergleich  zur  neuen  Welt,  wenigstens  zu 
grossen  Theilen  derselben,  welche  für  die  Auswanderer  mit  in 
Betracht  kommen.  Das  Schwergewicht  einer  alten  geschichtlichen 
Entwicklung  und  Tradition,  einer  historisch  überkommenen,  zu 
Rechte  bestehenden  Grundbesitzgestaltung  fällt  ausserdem,  wie 
auch  für  die  heimischen  Wegwanderungen  in  andere  Theilc  des 
Inlands,  mit  in  die  Wagschale. 

Die  Verbesserung  und  Verwohlfeilerung  der  Communicationen, 
der  allgemein  grössere  Rechtsschutz,  auch  im  neuen  Heimathlande, 
in  heutiger  Zeit,  die  freiere  persönliche  Bewegung  sind  nur  förder- 
liche Bedingungen,  nicht  selbst  Ursachen  der  immer  gewaltiger 
gewordenen  überseeischen  Massenauswanderung.  Nachdem  die- 
selbe aber  einmal  längere  Zeit  in  Gang  ist,  die  Einwanderer  im 
neuen  Lande  sich  eingelebt  und  günstig  wirtschaftlich  entwickelt 
haben,  kommen  dann  auch  noch  persönliche  Momente,  verwandt- 
schaftliche, bekannt8chaftliche,  landsmannschaftliche  (nationale) 
Beziehungen  zwischen  drüben  und  hüben,  neben  rein  wirtschaft- 
lichen und  socialen  mit  zur  Geltung.  Sie  führen  in  geeigneten 
günstigen  Zeiten  neue  Scbaaren  in  die  neue  Welt,  auch  mit  der 
Unterstützung  durch  materielle  Mittel  der  bereits  Vorangegangenen. 
Grade  durch  diese  Massenwanderungen  werden  aber  nun  freilich 
auch  allmählig  die  neuen  Länder  den  alten  in  den  Bevölkerungs- 
verhältnissen, dadurch  in  den  wirtschaftlichen , socialen,  in  den 
Grundbesitzgestaltungen  ähnlicher  Das  wird  Uber  kurz  oder  lang 
doch  wahrscheinlich  eine  Verminderung  der  Auswanderung,  nicht 
nur,  wie  heute  schon  oft,  in  gewissen  wirtschaftlich  ungünstigen  Peri- 
oden, sondern  dauernd  bewirken,  wenigstens  soweit  die  Massen- 
bewegung eben  durch  jene  Differenz  der  Lage  und  gerade  auch 
der  Bevölkerungsverhältuisse  in  der  alten  und  neuen  Welt  hervor- 
gerufen wird. 

Je  mehr  sich  daher  z.  B.  Nordamerica  anfallt,  desto  mehr  müssen  die  Bevölkerungs- 
Verhältnisse  zu  ähnlichen  „Maltbus’schen  Fragen**  wie  in  Europa  fahren.  Die  Excesse 
des  freien  Concurrenz-Systems,  die  Entfesselung  wilder  Bodenspeculationen 
und  Festlegung  von  Landmassen  in  Händen  von  Speculanten  bewirken  das  nicht  wohl 
unmittelbar  selbst,  wie  H.  George  annimmt,  als  dass  sie  eben  nur  diejenigen  Ent- 
wicklungsprocesse  verfrilhen,  beschleunigen  und  auch  schon  bei  noch  geringerer 
Bevölkerung  bervortreten  lassen,  welche  aus  der  natürlichen  und  durch  Einwanderung 
bewirkten  Volksvermehrung  so  wie  so  nothwendig  über  kurz  oder  lang  hervorgehen. 
Auch  die  besonders  rasche  und  grossartige  Entwicklung  der  Technik  wirkt  in 
Nordamerica  in  derselben  Kichtung,  weil  und  soweit  dadurch  der  Bedarf  an  (Hand-) 


552  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk. lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  226. 


Arbeitskräften  besonders  stark  vermindert  und  so  in  agrarischen  wie  in  Industrie- 
gebieten auch  schon  bei  geringerer  Volkszahl  und  Dichte  die  Bevölkerungs-  und 
die  Wirtbschaftsverhältnisse  für  die  Volksmasse  in  diesem  besonderen  Puncte  vielleicht 
sogar  schon  schwieriger  werden,  als  hierin  ceteris  paribus  in  Europa. 

Auf  die  fördernden  und  hemmenden  Factoren,  Ursachen  wie 
Bedingungen  der  überseeischen  Massenaus-  und  Einwanderung  wird 
durch  die  betreffende  Wanderungsstatistik  nun  auch  wieder 
Licht  geworfen.  Sie  liefert  namentlich  einen  Erklärungsschlüssel 
für  die  zeitlichen  und  örtlichen  Schwankungen  der 
Bewegung  und  damit  für  Puncte  des  Bevölkerungsproblems, 
welche  auch  die  wirtschaftlichen  Seiten  des  letzteren  betreffen. 
Sie  zeigt  ausserdem  die  dauernden  oder  zeitweiligen  Verschieden- 
heiten in  der  Betheiligung  der  einzelnen  Nationen 
und  Stämme  an  der  europäischen  Auswanderung  und  lässt  so 
das  starke  Mitspielen  eines  nationalen  Moments  in  dieser  Be- 
wegung neben  den  übrigen,  auch  den  wirtschaftlichen  Factoren 
erkennen. 

§.  226.  Statistischer  Excurs  über  die  überseeische  europäische 
Massenauswanderung  und  dortige  Einwanderung. 

S.  die  amtlichen  Daten  jährlich  in  der  Statistik  des  Deutschen  Reichs,  Monats-, 
jetzt  Vierteljahrshefte,  daraus  die  hauptsächlichen  im  Jahrbuch.  Für  Grossbritannien, 
Nordamerica  jährliche  Reports,  für  Italien  eine  eigne  statistische  Publication,  für  die 
anderen  Länder  Daten  in  ihren  sonstigen  Statist.  Werken,  Jahrbüchern  u.s.  w.  Vergleichende 
Internat.  Statistik  iu  B.  44,  N.  F.,  der  Reichsstatistik.  Eine  italienische  vergleichende 
Statist.  Arbeit  Uber  überseeische  Auswanderung  auch  im  Bulletin  de  l’institut  internst, 
de  statisL  tom.  II,  Heft  2,  tom.  III,  H.  3 und  4 (1887,  1888).  Die  Hauptdaten 
immer  für  alle  Länder  im  Gothaer  Jahrbuch.  S.  auch  v.  P hilippov ichs  und 
Bo  d io ’s  Abhandlungen  und  B.  52  der  Sehr.  d.  Ver.  f.  Socialpolit.  über  Aus- 
wanderung. — Da  wir  diese  statistischen  Daten  auch  noch  weiter  in  der  „Grund- 
legitim“,  bes.  im  2.  Theil  (bei  den  Erörterungen  über  die  socialen  Freiheitsrechte) 
mehrfach  benutzen,  ist  in  diesem  §.  226  das  statistische  Material  reichlicher  ge- 
geben worden. 

Die  überseeische  europäische  Masscuauswanderung  des  19.  Jahrhunderts  ist  in 
der  Hauptsache  eine  gewaltige  germanische,  deutsche,  britische,  scandi- 
navische  Völkerwanderung,  an  der  ausserdem  im  stärksten  Maasse  nur  noch  die 
keltisch -germanische  Bevölkerung  Irlands,  neuerdings  auch  die  italienische 
betheiligt  ist  und  in  allerjüngster  Zeit  auch  die  slavische  (und  jüdische)  Ost- 
europas etwas  mehr  Theil  zu  nehmen  beginnt.  Frankreich  namentlich  in  seinen  rein 
französischen  Theilen  (vor  1871).  auch  im  Ganzen  doch  Spanien  stehen  erheblich 
zurück.  Mehr  als  letzteres  hat  Portugal  eine  Auswanderung  (bes.  nach  Brasilien). 

Die  germanische  Auswanderung,  besonders  die  deutsche  und  scandinavischc, 
wendet  sich  weit  überwiegend,  letztere  beide  zu  90%  und  mehr  nach  den  Vereinigten 
Staaten  von  Nordamerica,  die  irische  desgleichen,  ausserdem  nach  Britisch-Nordamcrica 
und  Australien,  welche  beide  aber  nur  für  die  britische  Auswanderung  in  stärkerem 
Grade  das  Ziel  sind.  Britisch-Nordamerica  ist  jedoch  theilweise  nur  Durchgangsland 
nach  den  Vereinigten  Staaten,  wio  die  starke  Einwanderung  in  letztere  aus  Canada 
u.  s.  w.  zeigt.  70 — 80%  der  gesammten  britischen  und  irischen  Auswanderung  geht 
nach  Gesammt-Nordamerica.  Auch  nach  Südafrica  wenden  sich  etwas  germanische  Ein- 
wanderer. Das  romanische  Süd-  und  Mittelamerica  wird  von  ihnen  nur  schwächer, 
meist  ganz  schwach,  aufgesucht.  Es  ist  das  Hauptziel  der  italienischen  (bei  dieser 
zu  70 — 80%)  und  sonstigen  romanischen,  auch  mit  der  kleinen  französischen 
Auswanderung  (zu  50  — 60%),  welche  übrigens  auch  nach  einzelnen  Theilen  der 


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Uebersceische  Massenauswanderung. 


553 


Vereinigten  Staaten  und  Canada  geht.  Das  bisherige  stark  nationale  Gepräge 
der  überseeischen  Massenauswanderung  ist  so  unverkennbar  und  beweist,  dass  die 
übrigen,  auch  die  wirtschaftlichen,  die  durch  die  Massen-  oder  Dichtigkeits-  und  Zu- 
nahtnevorhältnisse  der  Bevölkerung  bedingten  Factoren  nicht  gleiclunässig,  sondern 
bisher  wenigstens  nur  in  Verbindung  mit  einem  bestimmten  nationalen  Moment, 
bzw.  auf  dasselbe  einwirken.  Allerdings  sind  die  germanischen  Auswanderungsländer 
eben  auch  diejenigen  einer  besonders  starken  natürlichen  Vermehrung  der  Bevölkerung, 
ferner  mehrfach  die  am  Weltverkehr  besonders  stark  betheiligten  und  auch  diejenigen, 
welche  in  den  überseeischen,  für  die  Einwanderung  von  Europäern  am  Besten  ge- 
eigneten Gebieten  die  sprachliche,  die  sociale,  die  politische  Herrschaft  haben  und 
wegen  der  Ansiedelung  und  Verbreitung  von  Volks-  und  Stammesgenossen  auf  die 
in  der  Heiinath  Zurückgebliebenen  die  meiste  Anziehungskraft  gerade  mit  steigender 
Einwanderung  aus  dom  Mutterlande  immer  mehr  ausüben.  Aus  den  übrigen  Theilen 
der  alten  Welt  kommt,  nach  dem  ziemlichen  Aufhören  des  Negcrsclavenimports , nur 
die  chinesische  Auswanderung  nach  der  neuen  Welt  (America,  Australien),  wie 
auch  nach  andereu  Theilen  Asiens  in  den  letzten  Jahrzehnten  in  Betracht,  ist  aber 
durch  gesetzliche  und  administrative  Maassregcln , namentlich  in  Nordamerica,  bereits 
wieder  gehemmt  worden:  ein  auch  wirthschaftspolitisch  interessanter  Fall,  über  den 
mehr  im  2.  Theile  der  Grundlegung  beim  Einwanderungsrecht,  wo  auch  andere 
Seiten  der  Ein-  und  Auswanderungsfrage  erst  behandelt  werden. 

Die  Masscnhaftigkeit  und  die  — , mit  starken  Schwankungen  in  den 
kleineren  Perioden  und  in  den  einzelnen  Jahren  (s.  u.  Tab.  XXI)  — erfolgte  Zu- 
nahme der  europäischen  Auswanderung,  sowie  die  Betheiligung  der  einzelnen  Länder 
und  Völker  daran,  lässt  sich  am  Besten  und  für  unsere  Zwecke  hier  genügend  an  der 
Einwanderung  in  die  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerica  ersehen, 
welche  zugleich  in  die  causalen  Verhältnisse  jener  Schwankungen  und  der  europäischen 
Wanderung  überhaupt  guten  Einblick  eröffnet.  Die  genauere  Registrirung  der  nord- 
americanischon  Einwanderung  erfolgt  dort  seit  Ende  1819.  Neuerdings  werden  die 
Einwanderer  auch  von  den  bloss  als  Reisende,  mit  der  Absicht  des  Wiederrückreisens 
Ankommenden  unterschieden.  Auch  der  Reiseverkehr  ist  natürlich  immer  grösser 
geworden.  Doch  verlieren  seine  Zahlen  gegenüber  denen  der  Einwanderung  ihre 
Bedeutung.  Eine  scharfe  Trennung  ist  auch  der  Natur  der  Sache  nach  nicht  mög- 
lich. Ob  die  Einwanderung  über  Land,  besonders  von  Britisch -Nordamcrica  her, 
vollständig  sicher  controlirt  wird,  steht  dahin.  Ebenso,  ob  neuerliche  Erschwerungen 
der  Einwanderung  geheime  Einwanderung,  etwa  über  Land,  begünstigen.  Doch 
kann  jedenfalls  durch  allo  solche  Umstände  keine  erhebliche  Fehlerstörung  der  amt- 
lichen Zahlen  erfolgen. 

Die  folgenden  beiden  Tabellen  XIX  und  XX  betreffen  die  nordamericanische 
Einwanderung.  Die  germanische  lässt  sich  nicht  ganz  genau  ausscheiden,  da  die 
britische,  deutsche,  österr.-ungarische,  schweizerische,  britisch-uordamerikanische,  auch 
andere  nationale  Elemente,  wenn  auch  wohl  nur  in  geringer  Zahl  (mit  Ausnahme 
der  österr.-ungarischcn)  umfasst,  und  die  „nicht  specificirte“  aus  Grossbritannien  und 
Irland  vollends.  Der  Fehler  wird  aber  nicht  allzugross,  wenn  man  diese  nicht  speci- 
ficirte und  diejenige  aus  den  genannten  Ländern  ganz  als  germanische  rechnet  und 
dafür  die  grosse  irische,  die  belgische,  französische,  russische,  auch  diejenige  anderer 
aussereuropäischen  Länder,  w'elchc  alle,  zumal  die  irische,  germanische  Elemente 
mit  enthalten , bei  der  germanischen  unberücksichtigt  lässt.  Die  „deutsche“  Ein- 
wanderung, namentlich  für  die  frühere  Zeit,  vor  1871,  wird  ausserdem  auch  in  der 
americanischcn  Statistik  nicht  genau  richtig  sein,  bzw.  früher  gewesen  sein. 

Die  rromillcberechnung  (%«  der  nordamericanischen  Einwanderung  von  der 
Bevölkerung  des  betreffenden  Herkunftslands  um  1890)  hat  nur  den  Zweck,  die 
ungefähre  Bedeutung  dieses  überseeischen  Abzugs  in  den  einzelnen  Ländern  zu 
verdeutlichen  und  vergleichbar  zu  machen.  Natürlich  sind  von  den  Einwanderern  von 
1821 — 90  viele  nicht  mehr  am  Leben,  aber  immerhin  noch  die  grosse  Mehrzahl,  da 
die  meisten  doch  erst  in  den  letzten  Jahrzehnten  angelangt  sind.  Mit  ihrem  Zuwachs 
durch  natürliche  Vermehrung  repräsentiren  die  Auswanderer  auch  einen  erheblich 
grösseren  Ausfall  für  das  Heimathland,  — freilich  nur  unter  der  Annahme,  wenn 
in  letzterem  ohne  die  Auswanderung  die  heimische  natürliche  Bevölkeruugsvermehrung 
ebenso  gro^s  gewesen  sein  würde,  was  sich  natürlich  nicht  feststellcn  lässt.  In  den 
europäischen  Ländern,  deren  Auswanderung  in  starkem  Maasse,  wie  die  britische. 


554  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lehre.  l.H.-A.  Statist.  §.226. 


und  überwiegend,  wie  die  romanische,  nach  anderen  überseeischen  Ländern  geht, 
ist  die  Promiileziffer  zum  Vergleich  mit  den  anderen  Landern  sehr  zu  erhöhen.  (Die 
Zahlen,  nach  den  aintliclieu  ainericanischcn,  aus  dem  Gothaer  Jahrbuch  1892,  S.  628.) 

Tab.  XIX.  Einwauderung  in  die  Vereinigten  Staaten  von 
Nordamerica  für  zehnjährige  Perioden. 


Absolute 
Zahl  in 
1000  Kpf. 

Steigerung 

Maximum  i 
Jahr 

n 1000  Kopf 
Kopf 

Minimum  in  1000  Kopf 
Jahr  ) Kopf 

1821—30 

143 

= 1,000 

1828 

27.4 

1823 

6.3 

1831—40 

599 

= 4,189 

1840 

84 

1831 

33 

1841—50 

1,713 

= 11,979 

1850 

362 

1843 

52 

1851—60 

2.598 

= 18.168 

1854 

428 

1859 

121 

1861—70 

2.467 

= 17,252 

1869 

385 

1861 

92 

1871—80 

2,945 

= 20.595 

1880 

593 

1877 

131 

1881—90 

5,189 

= 36,287 

1882 

730 

1885 

351 

Summe 

1 5,654 

— 

— 

— 

— 

Tab.  XX.  Einwanderung  nach  den  Vereinigten  Staaten 
aus  anderen  Ländern  von  1821  — 90. 


Absolute 
Zahl  in 
1000  Kopf 

Promille 
der  Be- 
völkerung 
des  betr. 
Landes 
um  1890 

Absolute 
Zahl  in 
1000  Kopf 

Promille 
der  Be- 
völkerung 
des  betr. 
Landes 
um  1890 

Irland 

3,508 

852 

Italien 

402 

12 

England  und  Wales 

1,682 

66 

Frankreich 

369 

10 

Schottland 

334 

106 

Spanien,  Portugal 

44 

2 

Nicht  Specificirte 

793 

— 

Belgien 

45 

7 

Grossbrit.  u.  Irland1) 

6,317 

166 

Komanische  Länder 

860 

— 

Deutschland 

4,554 

96 

Europ.  Kussland 

339 

4 

Schweden,  Norwegen 

954 

129 

And.  Europa 

13 

— 

Dänemark 

146 

68 

Europa  a) 

13,915 

c.  42 

Schweiz 

174 

59 

Westindien 

94 



Niederland 

103 

22 

Mexico 

27 



Oesterreich-Ungarn 

454 

11 

Centralamerica 

2 

Germanische  Länder 

Sudamerica 

11 

(obige  auss.  Irland) 

9,194 

— 

Atlantische  Inseln 

34 

— 

Brit.-Nordamerica 

1,047 

c.  200 

Pacif.  Inseln 

25 

— 

Germanische  Länder 

And.  Länder,  ausser 

(incl.  Br.-Nordam.) 

10,241 

Asien  u.  Africa 

199 

— 

Mittel-,  Sudamerica 

und  Inseln,  Austr. 

392 

— 

Africa 

1 

— 

China 

291 

— 

Uebriges  Asien 

8 

— 

Ges. -Einwanderung 

15,654 

— 

oder  °/oo  der  Uuions- 

bevölkerung 

i 

c.  250 

l)  Die  nicht  Specificirten  für  die  Promillcbcrcchnung  pro  rata  auf  die  3 Theilc 
yertheilt. 

*)  Die  Promilleberechnung  incl.  der  Einwanderung  über  Britisch  - Nordamcricr.. 


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Ueberseeische  Massenauswanderung. 


555 


Die  abnorme  Gestaltung  der  irischen  Auswanderung  zeigt  sich  aus  der  Pro- 
milleberechnung am  Schlagendsten,  ebenso,  dass  die  britisch-nordamericauische  Ein- 
wanderung in  die  Vereinigten  Staaten  grossentheils  Durch  Wanderung  von  Europäern 
sein  wird.  Die  Bedeutung  der  schwedisch-norwegischen  Auswanderung  tritt  ebenfalls 
in  dem  Promillesatz  scharf  hervor,  — beachtenswerth  bei  einem  so  dünn  bevölkerten 
Laude  für  die  wirthschaftliche  Seite  der  Bevölkerungsfrage.  Die  scandinavische  (iucl. 
dänische)  Auswanderung  geht  mit  verschwindenden  Ausnahmen  nach  den  Vereinigten 
Staaten,  so  dass  obige  Zahlen  ziemlich  die  ganze  darstellen.  Von  der  deutschen 
kommen  nach  der  deutschen  Auswanderungsstatistik  in  den  lSTUer  Jahren  92,  neuer- 
dings meist  noch  mehr,  95 — 98 °/0,  auf  diejenige  nach  den  Vereinigten  Staaten,  der 
Rest  geht  meist  nach  Sudamerica.  Die  überseeische  Einwauderungsstatistik,  soweit 
sie  vorhanden,  bestätigt  das  ziemlich  genau.  Die  schweizerische  Auswanderung  wendet 
sich  zu  Uber  80%  nach  den  Verein.  Staaten,  der  Rest  auch  meist  nach  Sudamerica. 
Die  irische  Auswanderung  möchte  auch  zu  85 — 90%  auf  die  Vereinigten  Staaten 
zu  rechnen  sein,  die  übrige  gebt  meist  nach  brit.  Colonieen  in  America  und  nach 
Australien.  Dagegen  geht  von  der  englischen  und  schottischen  zwar  auch  die  er- 
heblich grössere  Hälfte  direct  oder  Uber  Britisch-Nordamerica  nach  den  Vereinigten 
Staaten,  jedoch  ein  bedeutender  Theil  nach  Canada  u.  s.  w.  und  nach  Australien,  ein 
weiterer  kleiner  Theil  nach  anderen  Ländern  und  Colonieen.  Nach  der  erst  seit  1853 
die  Herkunft  der  Auswanderer  über  britische  Häfen  unterscheidenden  Statistik  macht 
die  Gcsammtauswanderung  (übrigens  incl.  Reisende)  aus  dem  Vereinigten  Königreich 
1853 — 90  7,129,000  Einheimische  aus,  wovon  4,296,000  Engländer  und  Schotten, 
2.833,000  Iren.  Von  jenen  gingen  2.398,000  oder  56 — 57%  nach  den  Vereinigten 
Staaten  direct,  von  den  Iren  2,342.000  oder  83  %.  Nach  den  brit.-aineric.  Besitzungen 
gingen  557,000  Engländer  und  Schotten  und  175,000  Iren,  aber  von  da  aus  vielfach 
weiter  nach  den  Vereinigten  Staaten.  Dies  berücksichtigend  wird  man  mit  60  bis 
65%  der  britischen,  90%  der  irischen  Auswanderer  nach  den  Vereinigten  Staaten 
kaum  zu  hoch  greifen.  Nach  Australien  gingeu  1853 — 90  1,038,000  Briten,  293,000 
Iren,  nach  anderen  Ländern  bezw.  321,000  und  23,000.  Die  Einwanderung  in 
Canada  war  von  1881 — 90  886,000,  Max.  1883  133,000,  Min.  1881  48,000.  Die 
Einwanderung  nach  Australien  ist  grösstentheils  germanischer,  namentlich  britischer, 
daneben  irischer  Nationalität.  Die  deutsche  und  scandinavische  Auswanderung  dahin 
ist  unbedeutend.  Der  starken  Einwanderung  (1S81 — 90  zus.  2,235,000,  Max.  1886 

253.000,  Min.  1881  166,000)  steht  eine  starke  Auswanderung  gegenüber,  1881 — 90 

1.622.000,  was  auf  einen  lebendigen  Wanderungswechscl,  auch  wohl  zwischen  den 
einzelnen  austral.  Colonieen,  hinweist. 

Zur  Würdigung  des  maassgebenden  Einflusses  der  nordamericanischen  Wirt- 
schaftslage und  (in  den  1860er  Jahren  besonders,  während  des  Bürgerkriegs)  der 
politischen  Lage  als  des  die  „zeitliche  Auswanderungswelle“  (Kurve)  vornemlich  bestim- 
menden Factors  (s.  u.)  ist  es  wichtig,  festzustellen,  dass  die  germanische  und  irische 
Massenauswanderung  so  ganz  überwiegend  nach  dem  Vereinigten  Staaten  sich  wendet. 

Anders  steht  es  mit  der  romanischen  und  hier  auch  namentlich  mit  der 
italienischen  Auswanderung,  welche  der  Zahl  nach  die  wichtigste  ist  und  von  der 
die  beste  Statistik  vorliegt  (jährlich  in  der  Statistica  dclla  emigrazione  italiana,  frei- 
lich nach  nicht  ausreichenden  Grundlagen,  s.  darüber  Bodio,  Handwörterbuch  der 
Staatswissensch.  I,  1035).  In  dieser  überwiegt  im  Ganzen,  übrigens  mit  erheblichen 
Schwankungen  auch  in  den  jährlichen  Quoten,  welche  von  der  überseeischen  Aus- 
wanderung auf  diejenige  nach  Nordamerica  kommen,  die  Auswanderung  nach  Süd- 
america,  besonders  nach  Argentinien  und  Brasilien.  Von  der  überseeischen  Aus- 
wanderung 'Italiens  nach  America,  ausser  Europa,  gingen  in  der  Periode  starker 
Auswanderung  von  1886  — 90  von  653,000  im  Ganzen  176,000  oder  rund  ca.  27% 
nach  Nordamerica.  Hier  ist  daher  auch  die  politisch-wirthschaftliche  Lage  in  Süd- 
amcrica  der  wesentlich  die  Höhe  der  Gesammtanswauderung  mit  bestimmende 
Factor.  1889  — 1890  sank  sie  sehr,  vornemlich  diejenige  nach  Brasilien  und 
Argentinien,  während  diejenige  nach  Nordainerica  stieg.  Das  starke  Ueberwiegcn 
der  Romanen  unter  den  Einwanderern  in  Südamerica  wird  auch  durch  die  Statistik 
der  dortigen  Einwanderungsländer  und,  wo  sie  vorlicgt,  durch  die  Nationalitätsstatistik 
bestätigt.  So  kamen  von  65,000  Einwanderren  in  Brasilien  in  1889  (1888  132,000, 
1885—89  261,000)  34,920  aus  Italien,  15,240  aus  Portugal,  8662  aus  Spanien,  584 


556  4.  B.  Bevölk.  u.  Volks  w.sch.  1.  K.  Bevölk. lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  226. 


aus  Frankreich,  387  aus  Belgien,  nur  1903  aus  Deutschland,  76  aus  England,  126  aus 
Schweden.  In  Argentinien  wanderten  1890  138,000  ein  (1889  261,000,  1886 — 90 
770,000),  davon  waren  1990  direct  nach  Bucnos-Ayres  77,815  gekommen,  worunter 
39,122  Italiener,  17,104  Franzosen,  13,560  Spanier,  nur  1271  Deutsche  und  1109 
Engländer,  der  Best  aus  andern  Ländern.  Die  Auswanderung  nach  den  africa- 
ni sehen  Ländern  am  Mittelmcer  und  nach  anderen  Welttheilen  ist  auch  von  Italien 
aus  schwach. 

Die  ungeheure  Vermehrung  der  europäischen  Massenauswanderung  in  die  neue 
Welt  im  Laufe  dieses  Jahrhunderts  seit  der  politischen  Ruhe  in  Europa  und  Nord- 
america  nach  der  französischen  Kriegszeit  tritt  in  Tab.  XIX  in  der  Progressions- 
berechnung am  Deutlichsten  hervor.  Nimmt  man  hinzu,  dass  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten auch  die  Auswanderung  nach  Australien,  im  letzten  die  nach  Südamerica 
immer  grösser  geworden  ist,  so  wrünle  sich  für  die  europäische  Gesammtauswanderung 
in  der  neueren  und  neuesten  Zeit  eine  noch  stärkere  Progression  zeigen.  Der  kleine 
Rückgang  in  den  1960er  Jahren  ist  vornemlich  auf  das  Stocken  der  Auswanderung 
nach  Nordameriea  während  des  Bürgerkriegs  zurück  zu  führen.  Auch  in  den  1870er 
Jahren  ist  der  Durchschnitt  der  50er  noch  nicht  so  sehr  viel  überholt,  erst  in  den 
80er  Jahren  steigt  die  jährliche  Einwanderung  nach  den  Vereinigten  Staaten  fast  auf 
das  Doppelte  der  vorausgehenden  Jahrzehnte.  Die  Stockung  in  den  60er  Jahren, 
andere  ähnliche  Wahrnehmungen  in  anderen  überseeischen  Einwanderungsländern,  so 
jungst  in  Argentinien,  Brasilien,  zeigen  schon,  wie  sehr  die  jeweilige  wi rthsc  haft- 
liche,  sociale  und  politische  Lage  dieser  Länder  sich  als  Förderungs-  und 
Hemmungsmittel  der  europäischen  Auswanderung  geltend  macht:  ein  wichtiger  Punct 
in  der  Frage  der  conditionellen  und  causalen  Verhältnisse  dieser  Auswanderung. 

Noch  mehr  ergiebt  sich  das,  wenn  man  die  zeitliche  Schwankung  der  Aus- 
und  Einwanderung  mehr  im  Einzelnen,  ja  h res  weise  und  für  jedes  einzelne  Ein- 
wanderungs-  wie  Auswanderungsland,  bei  beiden  dann  weiter  für  die  einzelnen  Ge- 
bietsteile (Provinzen  u.  dgl.)  verfolgt.  Letztres  kann  hier  nicht  wohl  geschehen. 
Aber  für  die  ganzen  Staatsgebiete  ist  doch  in  der  folgenden  Tabelle  XXI  einiges 
bezügliche  Material  zusammengestellt  und  in  den  Erläuterungen  dazu  einiges  weitere 
auch  für  Gebietsteile  gegeben  worden,  weil  cs  auch  für  die  uns  hier  beschäftigenden 
principiellen  populationistischen . wirthschafis-  und  socialpolitischon  Fragen  unerläss- 
lich ist,  einen  Einblick  in  die  Schwankungsursachen  der  Auswanderung  zu  erhalten 
und  dadurch  zugleich  implicite  manche  aufgetauchte  Meinung  über  diese  Ursachen 
und  über  diejenigen  der  Auswanderung  überhaupt  zu  berichtigen  und  je  nachdem  ganz 
zu  widerlegen. 

Die  Materialien  für  die  einzelnen  Länder  sind  nicht  ganz  gleichwertig,  noch 
gleichartig.  Die  deutsche  amtliche  Auswanderungsstatistik  bezieht  sich  nur  auf  die 
deutschen  Einschiflhäfen,  namentlich  Bremen  und  Hamburg,  neuerdings  (regelmässig 
seit  1871/72)  auch  auf  die  über  Antwerpen  und  über  französische  Häfen,  in  neuester 
Zeit  (seit  1885)  auch  auf  die  Uber  Rotterdam  und  Amsterdam  Auswandernden.  Die 
sonstige  Auswanderung,  über  britische  Häfen  u.  s.  w.,  fehlt  hier.  Doch  umfasst  die- 
jenige über  die  genannten  continentalcn  Häfen  die  grosse  Masse,  besonders  immer 
mehr  in  den  letzten  Jahrzehnten,  so  dass  aus  den  Zahlen  dafür  die  Gesammtbewegnng 
ersehen  werden  kann.  Ob  die  nationale  Scheidung  der  Auswanderer  immer  ganz 
genau,  namentlich  früher  und  im  Auslande  (so  zwischen  Reichsdeutschen  und  son- 
stigen Deutschen)  erfolgt  ist  und  erfolgt,  steht  dahin.  Aber  sehr  erhebliche  Fehler 
werden  kaum  vorliegen.  S.  B 41  der  Reichsstatistik,  Tab.  S.  157  IT.,  Viorteljahrs- 
hefte  1892,  N.  I.  S.  85  ff.  und  die  am  Eingang  dieses  § 226  gen.  amtlichen  Quellen, 
sowie  zur  Ergänzung  Gothaer  Jahrbuch,  v.  Neumann  - Spallart's  Uebersichten. 
v.  Philippovich’s  Aufs,  im  Handwörterb.  d.  Staatswiss.  u.  Kolb’s  Statistik,  wo- 
selbst die  Daten  vor  1870. 

S.  Tab.  XXI  auf  S.  557. 

In  den  Zahlen  der  Tab.  XXI  und  ebenso  in  denjenigen  früherer  Zeit,  soweit 
sie  sich  linden,  tritt  deutlich  der  Parallelismus  der  europäischen  über- 
seeischen M assen  au  s w a nd  e r u n g in  allen  hauptsächlich  betheiligten 
Ländern  hervor,  namentlich  den  germanischen,  auch  selbst  in  Frankreich:  der 
grosse  Aufschwung  im  Beginn  der  70er  und  wiederum  noch  stärker  im  Anfang  der 
80er  Jahre,  die  sehr  bedeutende  Verminderung  Mitte  der  70er  und  von  Neuem,  aber 


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Ueberseeischo  Massenauswanderung;. 


557 


Tab.  XXI.  Europäische  überseeische  Auswanderungs- 
bewegung von  1871  — 90  in  1000  Kopf. 


Einwai 
ind.  Ve 
Sta, 

zusam. 

derung 

reinigt. 

tten 

aus 

Europa 

Ausw  d.Ver. 
Königr.  Gros9- 
Brit.  u.  Irland  , 

Deutsche  Aus- 
wanderung üb. 
contin.  Häfen 

ß 

i> 

rD 

o 

CO 

Norwegen 

1 

Dänemark 

| 

Schweiz 

Frankreich 

Italien 

1 

1871 

347 

297 

193 

76 

17.4 

12.3 

3.9 

4.2 

_ 

_ ' 

1872 

43S 

381 

210 

128 

15.9 

13.9 

6.7 

5.5 

15.8 

— 

1873 

423 

369 

228 

110 

13.6 

10.4 

7.2 

5.5 

8.4 

— 

1874 

261 

208 

197 

48 

7.8 

4.6 

3.3 

3.0 

7.6 

— 

1875 

191 

144 

141 

32 

9.7 

4.0 

2.1 

2.0 

4.3 

— 

1876 

157 

115 

109 

30 

9.4 

4.4 

1.6 

2.0 

2.2 

19 

1877 

131 

96 

95 

23 

7.6 

3.2 

1.9 

1.9 

2.1 

21 

1878 

153 

112 

1 13 

26 

9.0 

4.9 

3.0 

2.6 

2.3 

21 

1879 

251 

184 

164 

36 

17.6 

7.6 

3.1 

4.3 

3.6 

37 

1880 

593 

442 

228 

117 

42.1 

20.2 

5 7 

7.3 

4.6 

33 

1881 

720 

600 

243 

221 

46 

26.0 

8.0 

10.9 

4 5 

41 

1882 

730 

603 

279 

204 

50 

29 

11.6 

12.0 

4.9 

60 

1883 

570 

499 

320 

174 

32 

22 

8.4 

13.5 

4.0 

64 

1884 

461 

408 

242 

149 

24 

14.8 

6.3 

9.6 

6.1 

56 

1885 

351 

327 

208 

110 

23 

14.0 

4.3 

7.6 

6.1 

74 

1886 

393 

385 

232 

83 

33 

15 

6 8 

6.3 

7.3 

83 

1887 

517 

508 

281 

1 05 

51 

21 

8.8 

7.6 

11.2 

130 

188s 

597 

537 

280 

104 

50 

21 

8.7 

8.3 

— 

205 

1889 

444 

433 

258 

96 

— 

13 

9.0 

8.4 

— 

124 

1890 

455 

443 

221 

97 

— 

11 

10.3 

7.7 

— 

115 

schwächer,  Mitte  der  SOer,  worauf  dann  länger  eine  gewisse  Gleich mässigkeit  der 
Bewegung,  jedoch  auf  einem  höheren  Zahlenniveau,  eintritt.  Maximum  und  Minimum 
fallen  fast  immer  in  dasselbe  oder  in  die  Nachbarjahrc  in  den  verschiedenen  Ländern. 
Dies  deutet  doch  unverkennbar  darauf  hin.  dass  hier  die  Schwankung  der  Be- 
wegung von  ein  und  demselben  Hauptfactor  abhängt,  vom  übereinstim- 
menden Gang  der  gesammten  wirtschaftlichen  Bewegung,  namentlich  in  dem  als 
Hauptzielpunct  wirkenden  Nordamerica,  dessen  wirtschaftlich  günstige  und  ungünstige 
Conjuncturen  in  der  auf-  und  absteigenden  Bewegung,  in  den  Maximis  und  Minimis 
der  Auswanderung  in  jeder  Periode  sich  abspiegeln,  wobei  zu  bedenken  ist,  dass  die 
europäische  wirtschaftliche  Lage,  zumal  in  den  Ländern  grösserer  industrieller  Ent- 
wicklung, mit  der  nordamericanischcn  in  Wechselwirkung  steht  und  einigermaassen 
parallel  geht.  Nur  die  italienische  Curve  bewegt  sich  anders,  hängt,  wie  schon 
bemerkt,  mehr  vom  Gang  der  wirtschaftlichen  Bewegung  in  Südamerica  ab,  zeigt 
danach  aber  auch  starke  Schwankungen,  so  eine  Abnahme  in  jüngster  Zeit. 

In  der  Periode  vor  J870  treten  in  der  nordamericanischen  Einwanderung,  der 
britischen,  irischen,  deutschen  Auswanderung  ähnliche  Erscheinungen  und  Einflüsse 
darauf  hervor.  Die  periodischen  nordamericanischcn  und  britischen  Wirtschafts- 
krisen wirken  stets  stark  vermindernd,  die  Aufschwung-  und  Speculationspcrioden 
stark  steigernd  ein,  woneben  dann  der  Einfluss  besonderer  Umstände,  wie  der  Theue- 
rung  (Kartoffelkrankheit)  1S46 — 47,  der  politischen  Ereignisse  in  Europa  1848  ff.,  der 
Goldentdeckungeu  in  Californien  1848  ff.,  in  Australien  1851  ff,  der  beginnenden 
Reaction  des  Amcricanerthums  gegen  die  Einwanderung  Mitte  der  50er  Jahre  (Know- 
nothing-Bewegung),  des  americanischen  Bürgerkriegs  1861  ff,  sich  zeigt,  in  einzelnen 
Ländern,  so  in  Irland  1846  ff.  in  besonderem  Maassc.  Aber  die  durchgängige 

l)  Incl.  der  meist  geringen  nicht- transatlantischen  Auswanderung  (einige  100rt 
jährlich). 


A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflago.  1.  Tbeil.  Grundlagen. 


558  4.  B.  Bevölk.  u.  Volks  w.sch.  1.  K.  Bcvölk.lchre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  226. 


Bewegung  wird  doch  von  der  jeweiligen  Hauptgestaltung  der  wirtschaftlichen  Lage 
und  deren  Richtung  bestimmt.  Schon  in  den  30er  Jahren  sinkt  die  Einwanderung 
in  den  Vereinigten  Staaten  vom  Maximum  von  79, UDO  in  1837  ( Krisis i auf  39,000 
in  1838,  die  Gesamrntauswanderung  (incl.  Fremde)  aus  Gr.-Britannien  und  Irland  von 

72.000  auf  33,000  (nach  den  Vereinigten  Staaten  von  37,000  auf  14.000,  diejenige 
nach  Brit.  Nordamerica  von  30.000  auf  4600),  die  deutsche  Einwanderung  nach  den 
Vereinigten  Staaten  von  24,000  in  1837  (Maximum  der  Periode)  auf  unter  12.000, 
um  dann  in  allen  Fällen  in  den  folgenden  Jahren  wieder  zu  steigen.  Nach  einem 
neuen  starken  Rückschlag  1842  auf  43  wächst  daun  die  Bewegung  eine  Reihe  vou 
Jahren  fortwährend,  bis  1854,  wo  sie  das  Maximum  erreicht  In  Europa  bcs.  in 
Gr.-Britannien  fallen  in  diesen  Zeitraum  die  Speculationsjahro  1844 — 47  („railway- 
mania"),  dann  das  Theuerungsjahr  1840 — 47  und  die  grosse  Handelskrise  von  1847, 
darauf  die  contiuentalen  politischen  Wirren  1848  lf.,  der  Rückschlag  dagegen  1850  ff., 
der  Krimkrieg  und  neue  Thouerung  1854  fH  Die  Einwanderung  in  die  Vereinigten 
Staaten  wächst  von  52,000  in  1843  in  den  folgenden  Jahren  auf  77,  114,  154,  235, 
227,  297,  362,  379,  372,  369  bis  428  Tausend  Kopf  in  1854.  Die  Auswanderung  über 
Gr.-Britannien  und  Irland  incl.  Fremde  steigt  vou  57,000  in  1843  auf  369,000  in 
1852,  diejenige  nach  den  Vereinigten  Staaten  allein  vou  28,000  auf  244.000  (1851 
267,000),  diejenige  britischer  Uuterthaneu  allein  erreicht  im  Ganzen  1853  278,000, 

1854  267,000.  In  diesem  Zeitraum  fand  auch  die  grosse  erstmalige  irische  Massen- 
auswandernng  statt:  1845  noch  78,000,  1S46  110,000,  1847  218,000,  seitdem  nur 
einmal  (1848)  etwas  unter,  fast  stets  Uber  200,000,  1853  293,000.  Auch  die  deutsche 
Einwanderung  in  die  Vereinigten  Staaten  zeigt  dieselbe  Bewegung:  sie  stieg  von 

14.000  in  1843  auf  74.000  in  1847,  erfährt  dann  1848  und  1849  einen  kleinen  Rück- 
gang (auf  58,000  und  60,000),  steigt  1850  von  Neuem  auf  79,000.  1851 — 54  ist  sie 
72,  146,  142,  215  Tausend,  womit  sie  in  diesem  Zeitraum  ihr  Maximum  erreicht, 
ein  Jahr  nach  der  britischen  und  irischen.  Darauf  erfolgt  allgemein  eine  starke  Ab- 
nahme und  eine  mit  Schwankungen  andauernde  sinkende  Richtung:  Die  Einwanderung 
nach  den  Vereinigten  Staaten  fällt  auf  die  Hälfte,  ja  auf  unter  ein  Viertel;  schon 

1855  ist  sie  nur  208  (gegen  428  in  1854),  1857  zwar  wieder  251,  nach  der  damaligen 
schweren  Welthandelskrise,  die  in  Nordamerica  entsprang  und  dort  besonders  stark 
auftrat.  1858  und  1859  nur  123  und  121,  nach  einer  kleinen  Steigerung  in  1860 
auf  154,  in  1861  und  62  im  Beginn  des  Bürgerkriegs  nur  je  92  Tausend  Kopf.  Auch 
die  ges&mmt-britische  Auswanderung  sinkt  1855  auf  150,  beträgt  von  1858  (nach  der 
Krise  von  1857!)  bis  1862  unter  100,  1861  nur  65  Tausend.  Die  deutsche  Einwande- 
rung in  die  Vereinigten  Staaten  sinkt  ebenso  1855  auf  den  dritten  Theil  von  1854, 
auf  72,000,  und  geht  unter  Schwankungen  bis  1862  auf  28,000  hetab.  Von  1863  an, 
dann  immer  mehr  mit  dem  Siege  der  Kordstaatcii  in  der  Union  und  mit  dem  Wieder- 
aufleben der  Volkswirtschaft  daselbst  nimmt  die  Bewegung  wieder  rasch  einen 
grossen  Aufschwung.  Die  Einwanderung  in  die  Union  ist  schon  1863  fast  doppelt 
so  hoch  wie  1861  und  62,  176.000,  steigt  weiter  bis  349,000  in  1866  und  hält  sich 
nach  einem  Rückgang  um  50,000  in  1867  und  68  in  die  70er  Jahre  hinein  auf  dieser 
Höhe  (1869  385,000),  um  dann  die  aus  Tab.  XXI  zu  ersehenden  Zilleru  zu  erreichen, 
d.  h.  in  den  Jahren  1872 — 73  zu  culminiren.  und  von  da  au,  wo  keine  besonderen 
politischen  Factoren  mehr  störend  eiugreifen,  sich  noch  genauer  als  früher  dem  Gang 
des  Wirtschaftslebens  in  der  geschilderten  Weise  anzupassen:  nicht  das  Maximum, 
wie  mau  a priori  dcducirt  hat,  in  Zeiten  der  Depression,  sondern  in  denjenigen  des 
wirtschaftlichen  Aufschwungs  in  Europa,  nicht  das  Minimum  in  solchen  Zeiten, 
sondern  grade  in  denen  der  Depression  zu  erreichen.  Die  Hauptperioden  des  Auf- 
schwungs (bis  1873,  1879 — 83),  des  Abschwungs  (1873 — 79,  1883  fr.),  des  gleich- 
massigeren  Geschäftsgangs  (1885  ff.)  in  der  Union  reflectiren  sich  so  in  der  euro- 
päischen Auswanderungs-,  der  nordamericanischen  Einwanderungsbewegung  deutlich. 
Auch  die  britisch-irische  nationale  Auswanderung  steigt  sofort  1863  auf  das  Doppelte, 
193,000.  und  hält  sich  mit  kleineren  Schwankungen  als  früher  (Min.  1867  und  68 
138  und  186  Tausend)  etwa  auf  dieser  Höhe  (Max.  1873).  Die  deutsche  Einwan- 
derung in  der  Union  steigt  von  1863  au  auch  alsbald  wieder,  zuuächst  jedoch  lanjr- 
samer,  stärker  erst  1866  fr.:  1863  33,  1805  83,  1866 — 70  116,  133,  123,  125, 
92  Tausend.  Mögen  die  politischen  Ereignisse  von  1 866  hier  etwas  mitgewirkt  haben, 
wie  mehrfach  behauptet  worden  ist:  die  Bewegung  der  britischen  Auswanderung  ist 


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Ueberseeische  Massenauswanderung.  559 

doch  nicht  so  sehr  verschieden , diejenige  der  schweizerischen  und  skandinavischen 
ebenfalls  nicht. 

In  Bestätigung  einer  Untersuchung  Giffen’s  für  Grossbritannien  und  — eines 
bekannten  Worts  des  Fürsten  Bismarck,  dass  die  periodische  Vermehrung  der  Aus- 
wanderung grade  auf  Verbesserung  der  wirtschaftlichen  Lage  hinweise,  — 
worüber  ihn  seine  politischen  Gegner  stark  mitgenommen  haben  — kann  mau  daher 
v.  Neumann-Spallart  darin  boistimmen,  wenn  er  sagt:  „in  Zeiten  wirtschaft- 
licher Prosperität  ist  überhaupt  die  Lebhaftigkeit  der  Wanderungen  und  des  Menschen- 
abflusses aus  Europa,  in  Zeiten  der  DeprcsMon  dagegen  die  Retardation  dieser  Er- 
scheinung als  characteristisch  anzusehen“  (üebersichten  der  Weltwirtschaft,  Jahrg. 
1 8S1/S2,  S.  6S).  Davon  ist  für  die  Erklärung  der  causalen  und  couditionellen  Ab- 
hängigkeitsverhältnisse der  Massenauswanderung  (wie  ähnlich  auch  der  heimischen 
Wandeningen)  Act  zu  nehmen.  Mit  Recht  sieht  daher  Neumann  auch  in  der  Aus- 
und  Einwanderung  reflectorische  Symptome  zur  Beurtheilung  der  wirtschaft- 
lichen Lage. 

Neben  ein  fl  üsse,  wie  sie  bei  Erörterung  der  deutschen  Auswanderung  öfters  her- 
vorgehoben worden  sind,  besonders  von  Seiten  derjenigen,  welche  in  dieser  Bewegung 
etwas  Uebles  und  ein  Symptom  politischer,  socialer,  wirthschaftsrechtlicher,  ihnen 
bedenklich  erscheinender  Momente  sehen,  z.  B.  Furcht  vor  Krieg,  vor  Militarismus 
(1S06  tf.,  1871  ff.  in  Deutschland),  politische  Auffassungen  (1850  ff.,  1860  fl.  in  einigen 
Gegenden,  z.  B.  Hannorer),  Grundbesitzverhältnisse  (preussischer  Osten),  Freihandels- 
und Schutzzollpolitik  (jene  1864  ü'.,  1871  ff.,  diese  1879  ff.),  Agentenwcrbungen  u.  s.  w., 
wirken  ja  gewiss  in  hie  und  da  auch  zahlreicheren  Fällen  mit,  aber  grade  die  grosse 
Uebereinst  iminung  der  Bewegung  in  Europa  zeigt,  dass  hier  viel 
mächtigere,  universellere  Einflüsse  entscheiden.  Wenn  es  iu  Deutsch- 
land z.  B.  1866  ff.,  1S71  ff.  Kriegsfurcht,  Militärlast  gewesen  wären,  die  die  Aus- 
wanderung so  steigerte,  wrarum  gleichzeitig  dieselbe  Erscheinung  in  Gr.-Britaunien, 
Irland,  Schweiz?! 

Für  unsere  Bevölkerungsfrage  ist  aber  nicht  minder  beachtenswert!» , dass  es 
hiernach  grade  die  Zeiten  einer  rascheren  natürlichen  Volksvermehrung,  durch  Ver- 
mehrung der  Heiraths-,  Geburtsfrequenz,  Verminderung  der  Sterbefrequenz,  sind,  in 
denen  bezw.  nach  denen  die  heutige  Massenauswanderung  als  Ventil  stärker  wirkt,  und 
dass  umgekehrt  in  und  nach  Zeiten  langsamerer  natürlicher  Vermehrung  auch  die  Aus- 
wanderung schwächer  wird.  Es  sind  dariu  nicht  direct  causalc  Abhängigkeitsverhält- 
nisse, wohl  aber  wichtige  begleitende  und  folgende  Erscheinungen  von  gegenseitig 
sich  compensirendcr  Wirkung  auf  die  Bevölkerungsbewegung  zu  sehen.  Iu  Deutsch- 
land folgte  z.  B.  auf  die  Maxima  des  Geburtsüberschusses  1844 — 45  damals  die  starke 
Auswanderung,  1845 — 47,  auf  die  neuen  Maxima  jenes  1849 — 51  dio  Steigerung  der 
Auswanderung  1852 — 54,  auf  die  anhaltende  Höhe  des  Geburtsüberschusses  1858 — 65, 
1867 — 70  die  nur  zeitweise  durch  den  nordamericanischen  Bürgerkrieg  gehemmte  neue 
Auswanderungsvcrmehrung  1865 — 69.  Der  ungeheuren  Steigerung  des  Geburtsüber- 
schusses  von  1872  ff.  ging  einigennaassen  parallel  die  zweimalige  maximale  Steigerung 
der  Auswanderung  1871 — 73,  1880 — 84,  freilich  mit  einer  starken  Unterbrechung  iu 
den  Jahren  der  Depression  1874 — 79.  So  wurde  in  der  Culminationsperiode  der  Aus- 
wanderung der  70er  Jahre  V4,  der  80er  Jahre  Vs  bis  fast  */2  des  GeburtsUberschusses 
durch  die  überseeische  Auswanderung  wenigstens  für  die  Gesammtzahl  der  Bevölkerung 
anfgewogen,  während  dann  freilich  seit  Mitte  der  80er  Jahre  der  fortwährend  hoch 
bleibende,  sich  selbst  noch  steigernde  Geburtsüberschuss  bei  der  Wiederabnahme  der 
Auswanderung  nur  noch  zu  */«  durch  diese  compensirt  wurde. 

Welche  Bedeutung  für  die  Bevölkerung  Europas  und  der  neuen  Welt,  besonders 
der  Vereinigten  Staaten,  die  Gesammtaus-  und  Einwanderung  hat,  ergiebt  sich  bereits 
aus  den  Daten  der  Tabelle  XX  und  aus  anderen,  im  Vorausgehenden  mitgetheiltcn. 
Zur  Ergänzung  sei  noch  bemerkt,  dass  die  ganze  deutsche  Auswanderu»»g  seit  An- 
fang der  1820er  Jahre  bis  1890  auf  ca.  5.4  Mill.,  d.  h.  auf  eine  hinter  der  heutigen 
Bevölkerung  des  Kgr.  Baieru  nur  wenig  zurückbleibendo  Zahl,  geschätzt  wird  (nach 
Fortführung  älterer  Schätzungen  des  reichsstatist.  Amts  bis  zur  Gegenwart,  s.  Goth. 
Jahrb.  1892  S.  499).  Das  wäre  von  der  gegenwärtigen  Bevölkerung  ca.  11%,  was 
aber  nicht  verhindert  hat,  dass  die  Bevölkerung  des  Reichs  von  1816 — 90  sich  ver- 
doppelte, von  24.8  auf  49.4  Mill.  gestiegen  ist.  Im  Jahre  1891  ist  dio  überseeische 

36* 


560  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  227. 


deutsche  Auswanderung  wieder  etwas  gestiegen  (auf  ca.  120,000,  Viertelj. hefte  1892, 
1,  S.  85).  Die  beiden  Hafen  Bremen  und  Hamburg  kommen  unter  den  deutschen 
fast  allein  in  Betracht,  von  fremden,  ausser  etwaigen  britischen,  bes.  Antwerpen.  Die 
Hamburg-Bremer  Auswanderungsstatistik  (in  den  dort,  handelsstat.  Publicationen  und 
in  der  Auswanderungsstatistik  des  reichsstat.  Amts)  spiegelt  die  zeitlichen  Schwan- 
kungen der  Bewegung  natürlich  ziemlich  ebenso  ab,  wie  andere  Statistiken  (s.  z.  B. 
Gothaer  Jahrb.  1802  S.  499).  Da  aber  auch  Fremde,  Nicht-Deutsche,  besonders  iu 
wachsender  Zahl  seit  1880  und  namentlich  seit  1886  Osteuropäer  (aus  Oesterreich, 
Ungarn,  Russland),  sich  in  Hamburg  und  Bremen  einschitfen,  d.  h.  Auswanderer,  wie 
die  aus  slawischen  Ländern,  bei  denen  die  Bewegung  erst  neuerdings  stärker  geworden 
ist  und  von  specifischen  heimischen  Factoren  mit  beeinflusst  wird,  zeigen  die  Ham- 
burg-Bremer Gesammtdaten  nicht  durchweg  den  gleichen  Parallelismus,  wie  die  bri- 
tischen, deutschen,  scandinavischen.  Iu  den  letzten  Jahren  gingen  mehr  Fremde  als 
Deutsche  über  die  deutschen  Häfen  fort  (1886 — 91)  bez. : 

100,  93,  106,  107,  168,  197  Fremde  gegen 
67,  79,  81,  74,  85,  93  Deutsche. 

Im  Ganzen  sind  von  1832 — 91  4,921.000  Personen  Über  deutsche  Häfen  ausgewandert'. 
Nur  a/3  Mill.  weniger  als  die  heutige  Bevölkerung  des  Kgr.  Baiern.  Für  das  Ver- 
einigte Königreich  ergiebt  die  amtliche  Berechnung  ebenfalls  incl  Nicht-Briten  eine 
Gcsammtauswanderung  (mit  Reisenden)  über  die  dortigen  Häfen  nach  überseeischen 
Ländern  von  1815 — 90  von  12.8  Mill.,  wovon  8.55  direct  nach  den  Vereinigten  Staaten, 
2.02  nach  brit.  Nordamerica,  1,69  nach  Australien  (und  Neuseeland),  0 54  nach  andren 
Ländern.  Früher  gingen  Continentale,  auch  Deutsche  mehr  über  britische  Häfen  als 
neuerdings.  Anderseits  gehen  Briten  und  Iren  kaum  über  continentale  Häfen  fort 
Die  Gesammtzahl  aller  einheimischen  Auswanderer  des  Ver.  Königreichs  wird  man 
für  die  Zeit  vor  1853,  wo  sie  statistich  nicht  apart  ermittelt  wurde,  von  1815 — 52 
wohl  auf  2 — 272  Mill.  (von  3,47  Mill.  aller  Auswanderer  über  brit.  Häfeu)  schätzen 
dürfen,  daher  (s.  o.  S.  555)  die  Zahl  von  1815 — 90  auf  ca.  9 — 97a  MilL  oder  auf 
ca.  25  °/o  der  gegenwärtigen  Bevölkerung  des  Ver.  Königreichs,  das  gleichwohl  da- 
neben seine  im  Inland  gebliebene  Bevölkerung  in  jener  Zeit  von  ca  19.5  auf  37.9  Mill. 
vermehrt  hat.  Allerdings  haben  die  europäischen  Auswanderuugsländer,  bes.  Gross- 
britannien, Italien,  etwas  auch  Deutschland,  auch  einige  überseeische  Rückwanderung 
und  in  Grossbritannien  ist  auch  die  Gesammteinwanderung  (bezw.  Zahl  der  Ankom- 
menden) nicht  unerheblich,  50 — 100,000  und  mehr  im  Jahre,  neuerdings  mit  steigenden 
Zahlen.  Dieselbe  Quote  von  ca.  25  %•  welche  die  brit.  Inseln,  ohne  Gegenrechnung 
letztrer  Einwanderung,  durch  Auswanderung  verloren  hätten,  beträgt  die  Gesammt- 
einwanderung in  die  nordamerican.  Union  von  1821 — 90  von  der  gegenwärtigen  dort 
lebenden  Bevölkerung.  Während  Europa,  insbesondere  die  germanischen  Länder, 
neuerdings  auch  Italien,  in  dem  Zeitraum  von  1825  — 90  etwa  42  °/00  seiner  heu- 
tigen Bevölkerung  an  die  Union  abgegeben,  dabei  aber  selbst  noch  ausserordentlich 
stark,  zumal  in  den  Ländern  der  Massenauswanderung  (ausser  Irland  und  neuerdings 
einigen  östlichen  deutschen  Ländern)  seine  einheimische  Bevölkerung  vermehrt  hat. 
hat  die  Union  also  mehr  als  das  Sechsfache  dieser  Quote  von  ihrer  heutigen  Be- 
völkerung, in  Folge  des  Geburtszuwachses  aus  der  Einwanderungsbevölkerung  natür- 
lich noch  weit  mehr,  aus  Europa  erhalten.  Der  Gesammtverlust  Europas  an  über- 
seeische Länder  durch  Auswanderung  seit  1815 — 20  bis  1890  wird  20  Millionen  kaum 
übersteigen,  d.  h.  ca.  60  Promille  der  heutigen  europäischen  Bevölkerung  erreichen. 
Mit  dieser  „Völkerübertragung“  ist  aber  auch  die  Gewinnung  der  neuen  Welt  und 
von  Thcilen  der  übrigen  Erdtheilc  für  europäische  Cultur,  die  Germauisirung,  leider 
überwiegend  die  Anglicanisirung  jener  Länder  erreicht  worden.  Und  welche  wirth- 
schaftliche  Bedeutung  hat  diese  Wanderung  nicht  sammt  ihren  Folgen!  W eiche  Be- 
deutung für  Rhederei.  Schifffahrt  und  Handel  hat  allein  das  überseeische  Transport- 
geschäft, die  „Menschen-Ausfuhr“  gehabt  und  hat  sie  heute  noch! 

§.  227.  Fortsetzung.  Andere  statistische  Verhältnisse  der  über- 
seeischen Auswanderung.  Für  die  ökonomische  und  populationistische  Seite  der 
Auswanderung  kommen  aber  ausser  den  besprochenen  Zahlenverhältnissen  noch  die 
örtliche  Herkunft,  die  Geschlechts-,  Alters-  und  Berufsvertheilung 
unter  den  Auswanderern,  für  andere  ökonomische  Seiten  der  Frage  die  Aufer- 
zie hungskosten  und  das  mitgenommene  Vermögen  der  Auswanderer  in 


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Andro  Statist.  Verhältnisse  der  Auswanderung. 


561 


Betracht.  Auf  die  beiden  letzten  Puncte  werden  wir  hier  nicht  eingehen. *)  Die 
vier  erstgenannten  lassen  sich  wenigstens  theilweise  mit  Hilfe  der  Auswanderungs- 
statistik, auch  der  deutschen,  verfolgen,  worüber  hier  aber  einige  Bemerkungen  ge- 
nügen mögen. 

Die  Statistik  der  örtlichen  Herkunft  der  Auswanderer  (so  jetzt  in  Deutsch- 
land für  den  Haupttheil  der  über  deutsche  und  die  wichtigsten  anderen  continentalen 
Häfen  gehenden  nach  Unterscheidung  der  preussischen  Provinzen  und  der  Einzelstaaten, 
genauer  für  Italien)  liefert  namentlich  das  Mittel,  gewisse  apriorische  Annahmen  und 
Vorurteile,  auch  solche  politisch  und  wirthscbaftspolitisch  tendenziöser  Art,  über  die 
besonderen  Ursachen  der  localen  Massenauswanderung  zu  berichtigen,  bezw.  sorgfältigere 
apriorische  Schlüsse  der  Deduction  zu  bestätigen.  So  ergiebt  sich,  dass  natürlich  kein 
directcr  Zusammenhang  zwischen  Volksdichtigkeit  sowie  der  mit  dieser 
etwa  verwechselten  absoluten  Uebervölkerung  und  der  Grösse  der  Auswanderung,  ihrer 
absoluten  Zahl  und  ihrer  Höhe  im  Verhältniss  der  Bevölkerung,  besteht.  Es  kommt 
vielmehr  auf  die  Erwerbsverhältnisse,  die  Erwerbs-  und  Arbeitsgelegen- 
heiten an.  Daher  leicht,  wie  grade  in  der  neueren  und  neuesten  Zeit,  die  stärkste 
Auswanderung,  wie  auch  heimische  Fortwanderung,  im  deutschen,  wesentlich  agrari- 
schen Osten  mit  geringer  Volksdichtc,  freilich  auch  mit  starkem  Geburtsüberschuss, 
die  schwächste  in  hochindustriellen,  sehr  volksdichten  Gegenden  (Rheinland,  West- 
falen, beide  Sachsen),  wohin  auch  in  Zeiten  der  wirtschaftlichen  Depression  nur  die 
heimische  Einwanderung  etwas  stockt  und  von  wo  alsdann  allenfalls  heimische  Fort- 
wanderungen, nicht  sowohl  grössere  Auswanderungen  erfolgen.  Grundbesitzver- 
theilung,  Agrarverfassung  scheinen  mehr  einen  Einfluss  zu  üben,  wie  auch 
auf  die  heimischen  Fortwanderungen,  so  vielleicht  jetzt  im  deutschen  Nordosten. 
Aber  dass  man  auch  hier  vorsichtig  urteilen  muss,  ergiebt  sich  u.  A.  daraus,  dass 
auch  in  Deutschland  die  Auswanderung  nach  ganzen  Perioden  in  verschiedenen 
Gegenden  mit  ganz  verschiedenen  Agrar-  und  Grundbesitzverhältnissen  culminirte,  in 
den  50er  Jahren  am  Rhein , in  Westfalen , z.  Th.  in  Südwestdeutschland  mit  stark 
verbreitetem,  freilich  z.  Th.  proletarischem  Kleingrundbesitz,  in  den  60er  Jahren  an 
der  Weser  und  zwischen  Weser  und  Elbe,  in  Hannover,  Hessen-Nassau,  dort  mit  viel 
mittlerem  und  bäuerlichem  Besitz,  in  den  70er  Jahren  an  der  Oder  und  östlich  davon, 
in  Pommern,  Posen,  Preussen,  in  den  Süer  Jahren  wiederum  hier  und  an  der  Weichsel, 
besonders  in  Westpreussen,  während  doch  auch  grossgrundbesitziiehe  Länder  wie  die 
Mecklenburg,  jetzt  wenigstens  kleinere  als  jene  östlichen  und  nur  etwa  dieselbe  mittel- 
grosse Auswanderung,  wie  gegenwärtig  die  Bauernländer  Hannover,  Schleswig-Holstein 
und  die  Kleinbesitzläudcr  Südwestdeutschlands,  andere  eine  noch  geringere  haben,  so 
Ostpretissen , Schlesien , rechtsrheinisches  Baiem  (z.  B.  Westpreus>en  1S85 — 91  600 
bis  1100  p.  Jahr  auf  100,000  Einw.,  das  Maximum,  Ostpreussen  nur  SG — 137,  Posen 
400  bis  Über  1000,  Schlesien  50 — 70.  Mecklenburg-Schwerin  200 — 400,  Hannover 
260 — 400  u.  s.  w.  Vgl.  die  betreflenden  Tabellen  der  Reichsstatistik,  die  letzten  Daten 
in  d.  Viertelj. heften  1S92.  I,  S.  $6,  für  Preussen  specicll  Bödiker  die  preuss.  Ein- 
und  Auswanderung  seit  1844,  Düsseldorf  1879).  Auch  die  bleibenden  Ver- 
schiedenheiten der  Auswanderungsstärke  und  zeitlichen  Bewegung  in  den  ein- 
zelnen Gegenden,  Provinzen,  Ländern  innerhalb  eines  Sprach-,  Staats-  und  Wirt- 
schaftsgebiets, wie  des  deutschen,  zeigen  wieder,  dass  hier  wohl  etwas  wie  Stammesart 
und  Sitte,  mitspielen  mag,  was.  mindestens  bisher  noch,  dem  nationalen  Moment  der 
Verschiedenheiten  der  Auswanderung  ganzer  Volksgebiete  ähnlich  ist.  Die  grosse 
Auswanderung  aus  dünn  oder  nur  mittelstark  bevölkerten  agrarischen  Gegenden  bäuer- 
lichen wie  Grossgruudbesitzes  mit  vorherrschender  Kornproduction  in  den  80er  Jahren 
weist  auch  wohl  auf  den  Einfluss  der  agrarischen  Krisis  hin.  Bei  unfruchtbarem 
Boden , fehlender  Industrie  und  stagnirendem  Städtewesen  muss  freilich  bei  jeder 
Agrarverfassung  und  Grundbesitzvertheilung  die  natürliche  Volksvermehrung  zu  Wan- 
derungen und  eventuell  aueh  zur  Auswanderung  führen.  Dafür  liegen  auch  in 

*)  S.  darüber  v.  Philippovich  a.  a.  O.  S.  1012  ff.,  Becker,  in  Schmoller’s 
Jahrb.  XI,  B.  2 (1887)  S.  1 ff.,  R.  Jannasch,  im  Export,  1887.  Auch  E.  Engel  s 
Berechnungen  über  den  „Werth  des  Menschen“.  Keine  dieser  Borechnungsweison  und 
Behandlungen  der  volkswirtschaftlichen  Seiten  des  Problems  ist  einwandfrei  und 
befriedigend. 


562  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bovölk.lehrc.  1.  H.-A.  Statist.  §.  22S. 


Deutschland  Belege  vor.  Ein  Preisdruck  auf  die  wichtigsten  Agrarproducte,  wie  ia 
den  SOer  Jahren,  wird  das  aber  früher  und  schärfer  zu  Wege  bringen. 

Das  Geschlecht  anlangend,  so  überwiegt  regelmässig  bei  der  Auswanderung 
begreiflicherweise  das  männliche  Geschlecht,  in  Deutschland  jetzt  etwa  mit  55 — 56 
gegen  43 — 44  % des  weiblichen,  anderswo,  so  in  Italien,  noch  mehr;  übrigens  etwas 
verschieden  nach  den  Altersclassen,  bei  den  Kindern  sind  beide  Geschlechter  in  der 
deutschen  Auswanderung  ziemlich  gleich , bei  den  Auswanderern  im  rüstigsten  pro- 
ductiven Alter  (21 — 40,  50  Jahren)  die  Männer  erheblich  stärker  vertreten.  Bei  der 
familienweisen  Auswanderung,  welche  in  Deutschland  früher  ca.  9/a,  in  neuester 
Zeit  weniger,  doch  meist  einige  50  °/0  von  allen  Auswanderern  beträgt,  überwiegt  das 
weibliche  Geschlecht  etwas,  bei  der  Auswanderung  von  Einzelpersonen  das  männliche 
erheblich,  bei  uns  hier  im  Verhältniss  von  2:1.  Es  ist  das  insofern  wichtig,  als 
hiernach  in  Auswanderungsländern,  wie  auch  die  Statistik  zeigt,  in  der  zurück- 
bleibenden  Gesammtbevölkerung  das  weibliche  Geschlecht  überwiegen  wird,  auch 
grade  schon  in  jüngeren  Jahren  der  Erwachsenen,  und  umgekehrt  die  Einwanderungs- 
länder mehr  kräftigsten  männlichen  Zuwachs  erhalten  (§.  239  ff.). 

Aehnliches  gilt  vom  Lebensalter  der  Auswanderer.  Schon  die  Kinder  sind, 
da  die  Einzelauswandercr  natürlich  fast  nur  den  Erwachsenen  angehören  und  Familien 
mit  grosser  Kinderzahl  bei  der  Auswanderung  besondere  Schwierigkeiten  finden,  etwas, 
wenn  auch  nicht  viel,  schwächer,  die  älteren  (schon  über  40  Jahre)  und  vollends  die 
ältesten  Altersclassen.  die  Greise  erheblich  schwächer,  dagegen  die  kräftigsten,  arbeits- 
rüstigsten. zeugungsfähigsten  Leute  zwischen  20  und  30.  auch  nach  30 — 40  Jahren 
wesentlich  stärker  unter  den  Auswanderern  als  unter  der  Gesammtbevölkerung  ver- 
treten. Der  Altersclassenaufbau  der  Bevölkerung  im  Heimathlande  wird  also  un- 
günstig, derjenige  in  der  Fremde  günstig  beeinflusst,  dem  Inlande  besonders  arbeits-. 
heiraths-,  zeugungsfähige  Elemente  entfuhrt,  dem  Auslande  zugeführt,  was  für  die 
wirtschaftliche  und  die  populationistische  Seite  der  Frage  beachtenswert  ist.  (Ge- 
nauere statistische  Daten  zum  Beleg  in  der  deutschen  Statistik,  danach  u.  A.  in 
Philippovick’s  gen.  Aufsatz).  (S.  u.  §.  241  ff.) 

Weniger  sichere  Aufschlüsse  giebt  die  Auswanderung-  und  Einwanderungs- 
Statistik  und  ergänzend  etwa  der  nordamericanische  Census  über  die  Beru  fsstell  u ng 
und  den  Beruf  der  Aus-  und  Einwanderer.  Die  Angaben  sind  meist  zu  unvoll- 
ständig und  ungenau,  die  Rubrik  „ohne  oder  ohne  bestimmte  Berufsangabe“  zu  gross, 
(so  in  Deutschland  in  der  Hamburger  Auswanderungsstatistik),  so  manche  Personen 
wechseln  freiwillig  oder  gezwungen  den  heimischen  Beruf  im  neuen  Lande.  Auch 
kann  nur  durch  einen  genauen  Vergleich  der  jedem  Beruf  und  jeder  Berufsstellung 
ungehörigen  Auswanderer  mit  der  Zahl  der  betreffenden  Genossen  im  Heimathlande 
und  hier  wieder  mit  derjenigen  in  der  Heimathsgegend  ein  sichererer  Schluss  auf 
causale  Verhältnisse  gezogen  werden.  Dass  die  grosse  Masse  der  Auswanderer 
niedrigeren  Lebens-,  Berufsstellungen  und  Berufen  angehört,  der  Schaar  der  „kleinen 
Leute“  ist  freilich  gewiss.  Die  Verkeilung  auf  agrarische  und  städtisch-industrielle 
Berufe,  auf  Lohnarbeiter  und  kleine  Handwerker,  Gewerbtreibende,  Landwirthc  ist 
schon  viel  unsicherer  nach  dem  vorhandenen  statistischen  Material  vorzunehmen. 
Einige  Thatsachen  des  americanischen  Census  und  der  deutschen  Auswanderungs- 
statistik machen  es  nicht  unwahrscheinlich,  dass  die  deutschen  Auswanderer  sich  be- 
sonders stark  aus  gewissen  besseren  städtischen  Gewerben,  Handwerken  recrutiren  oder 
wenigstens  in  America  darin  Beschäftigung  finden,  die  ländliche  Beschäftigung,  zumal 
als  ländlicher  Arbeiter,  schwächer  darin  vertreten  ist.  Aber  doch  sind  selbst  die  be- 
dingten Schlüsse,  zu  denen  z.  B.  Philippnvich  a.  a.  O.  (S.  100S,  1022)  kommt, 
nicht  unanfechtbar.  Allerdings  sind  die  Klagen  der  östlichen  Grundbesitzer  wohl 
noch  mehr  gegen  die  heimischen  Wanderungen , als  gegen  die  Auswanderung  ihrer 
Arbeiter  gerichtet. 

C.  — §.  228.  Ergebnisse  hinsichtlich  der  Wanderungen 
und  der  Volksvermehrung  überhaupt.  Unmittelbar  be- 
wirken die  Wanderungen,  wie  die  bezügliche  Statistik  näher  zeigt, 
öfters  erhebliche  Veränderungen  der  localen  Bevölkerungszahl,  der 
Geschlechts-,  Alters-,  Berufsgliederung  der  Bevölkerung.  In  den 


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Ergebnisse  hinsichtlich  der  Wanderungen  u.  s.  w. 


563 


Zuzugs-  und  Einwanderungsorten  und  Gegenden  steigern  sie  auch 
wohl  mittelbar,  genügende  wirtschaftliche  Erwerbsquellen,  Erwerbs- 
und Arbeitsgelegenheiten  vorausgesetzt,  durch  Zuführung  frischen 
Blutes,  heiraths-  und  zeugungsfähiger  und  williger  Elemente  die 
natürliche  Vermehrungsfähigkeit  und  wirkliche  Vermehrung  der 
Bevölkerung.  In  den  Fortzugs-  und  Auswanderungsorten  und  Ge- 
genden wird  aber  auch  wieder  mehr  Kaum  geschafft  und  der 
Menschenabfluss  nicht  immer,  aber  doch  öfters  durch  fortdauernden 
hohen  Geburtsüberschuss  mehr  oder  weniger  ersetzt,  daher  die 
Volkszahl  wenigstens  nicht  notwendig  dauernd  und  jedenfalls 
nicht  stets  um  den  vollen  Betrag  der  Wegziehenden  vermindert. 
Eine  danernde  positive  Abnahme  der  Bevölkerung  in  nur  etwas 
grösseren  Gebieten  ist  selbst  bei  der  heimischen  und  der  über 
See  gehenden  Massen  Wanderung  des  19.  Jahrhunderts  nur  eine 
seltene  Ausnahme,  welche,  wie  in  Irland,  auf  ganz  besondere 
Verhältnisse  zurückzuführen  ist.  Selbst  ein  annähernder  Still- 
stand der  Bevölkernngszahl  ist  in  grossen  Gebieten  eine  seltene 
Erscheinung,  wie  neuerdings  in  Frankreich,  wo  er  sich  nicht 
durch  Mehrauswanderung,  sondern  durch  eine  ungewöhnlich  niedrige 
Geburtsfrequenz  erklärt.  Nur  in  kleineren  Gebietsteilen,  von 
der  Grösse  etwa  der  preussischen  Kreise,  und  in  noch  kleineren 
Theilen,  sowie  häufiger  unter  dem  Einfluss  specieller  örtlicher  Ver- 
hältnisse, der  Lage,  der  wirtschaftlichen  Zustände,  in  einzelnen 
ländlichen  Ortschaften  und  Städten  nimmt  man  wohl  auch  für 
längere  Perioden  eine  wirkliche  Abnahme  der  Bevölkerung  in  Folge 
heimischer  Fort-  und  überseeischer  Auswanderung  wahr.  Für  die 
grösseren  Volks-  und  Staatsgebiete,  in  welchen  sich  die  heimischen 
Wanderungen  natürlich  ausgleichen  und  nur  locale  Verschiebungen 
der  Bevölkerung  darstellen,  zeigt  sich  selbst  bei  der  grössten  bis- 
herigen Massenauswanderung  ausser  Landes,  namentlich  über  den 
Ocean  in  die  neue  Welt,  mit  Ausnahme  Irlands  nirgends  in  Europa 
eine  wirkliche  Verminderung  der  Bevölkerung,  sondern  immer 
wieder  eine  baldige  Ausfüllung  der  entstandenen  Abnahme  durch  den 
Geburtsüberschuss.  Wie  die  gerade  in  den  Massenauswanderungs- 
ländern, ausser  Irland,  hervortretende  weitere,  meist  sogar  besonders 
starke  Erhöhung  der  Volkszahl  zeigt  — Gr.-Britannien , Deutsches 
Keicb,  bisher  selbst  Italien  — macht  sich  an  sich  und  im  Vergleich 
zu  den  Ländern  geringer  Auswanderung  sogar  zeitweilig  nicht 
einmal  immer  eine  erhebliche  Verringerung  der  Zuwachsrate  geltend: 
die  Tendenzen  der  natürlichen  Volksverraebrung  sind  so  anhaltend 


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564  4.  B.  Bevölk.  u.  Yolksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  22S. 


und  so  stark,  zumal  wenn  äussere  Förderungsmittel,  wie  günstigere 
wirtschaftliche  Lage,  hinzukommen,  dass  die  durch  die  Aus- 
wanderung gerissenen  Lücken  immer  bald  wieder  mehr  als  ersetzt 
sind.  Auch  deswegen  kann  man  die  Auswanderung  volkswirth- 
scbaftlich  und  populationistisch  nicht  immer  einen  Verlust  nennen, 
wenigstens,  was  die  Zahl  der  Bevölkerung  anlangt.  Etwasanders 
steht  es  hinsichtlich  der  Gliederung  nach  Geschlecht  und  Alter, 
welche  durch  die  Auswanderung  allerdings  ungünstiger  wird. 

Die  statistischen  Belege  für  das  Vorausgohende  liegen  in  den  früheren  Tabellen, 
Daten  und  Erläuterungen  dazu.  Für  eine  umfassende,  allseitig  genügende  Beweis- 
führung reichen  sie  freilich  noch  nicht  aus,  Hessen  sich  aber  aus  dem  reichen  heute 
vorliegenden  Material  leicht  vervollständigen.  Hier  nur  noch  einiges  Wenige  zur 
Ergänzung. 

Irland  zeigt  ja  allerdings,  wie  auch  in  einem  grösseren  Gebiete  durch  Aus- 
wanderung über  den  Ocean  und  freilich  auch  durch  diejenige  nach  Grossbritannien, 
welche  für  das  ganze  Vereinigte  Königreich  als  heimische  Wanderung  gelten  muss, 
die  Gesammtbevölkerung  nachhaltig  fast  ununterbrochen  und  bedeutend  vermindert 
werden  kann,  allerdings  auch  unter  Mitwirkung — wenn  die  betreffenden  Zahlen  genügend 
correct  sind,  was  zweifelhaft  ist  — einer  ungewöhnlich  kleinen  Heiratlisfrequenz.  die 
sich  noch  immer  weiter  vermindert  hat  und  neuerdings  nicht  viel  höher  als  halb  so 
gross  wie  sonst  in  Westeuropa,  auch  in  Grossbritannien,  ist,  ferner  unter  Mitwirkung 
einer  sehr  kleinen,  sich  ebenfalls  noch  vermindernden,  jetzt  sogar  hinter  der  fran- 
zösischen stehenden  Geburtsfrequenz.  Beide  Erscheinungen,  sehr  niedrige  und  sich 
verringernde  Heiraths-  und  Geburtsfrequenz,  freilich  wohl  die  Mitfolge  der  Wanderungs- 
bewegung, welche  heiraths-  und  zeugungsfähige  Elemente  in  besonderem  Maasse 
fortführt.  Jedenfalls  in  Verbindung  mit  der  niedrigen  Geburtsfrequenz  allerdings 
auch  eine  recht  niedrige  Sterblichkeit  und  so  doch  noch  nicht  gauz  unbedeutender 
Geburtsüberschnss . zwar  nicht  halb  so  hoch  wie  in  Gr. -Britannien,  aber  doch  noch 
mehr  als  doppelt  so  hoch,  wie  in  Frankreich,  jedoch  bei  Weitem  nicht  ausreichend, 
um  den  riesigen  Wanderungsverlust  zu  decken.  Daher  das  phänomenale  Endergebniss 
für  die  Volkszahl:  die  bis  1841  sehr  rasch  bis  8.179  Mill.  gestiegen,  schon  1851 
auf  6.552  gesunken  und  seitdem  in  den  folgenden  Jahrzehnten  (nach  den  Zählungen) 
weiter,  1861  auf  5.799,  1871  auf  5,412,  1881  auf  5,175,  1891  auf  4.706  Mill.  Dem 
Geburtsüberschuss  von  1864 — 70  von  0.97,  von  1871 — 80  von  0.82%  stand  ein  Wander- 
verlust von  bzw.  1.67  und  1.26%  jährlich  gegenüber  (s.  o.  S.  505,  513,  518,  520^. 

Frankreich  zeigt,  wie  trotz  geringer  Auswanderung  und  zeitweiliger  Mebr- 
einwanderung  (S.  515)  bei  neuster  Zeit  etwas  abnehender  Heiraths-,  niedriger  und 
weiter  sinkender  Geburtsfrequenz  die  Bevölkerung  auch  in  einem  grossen  Gebiete  nur 
sehr  wenig  steigt,  ja  bei  einiger  Vermehrung  der  Todesfälle  (1886 — 88)  fast  gar 
nicht  mehr,  bei  etwas  weiterer  Vermehrung  derselben  (1890)  sogar  zurückgeht,  zumal 
wenn  gleichzeitig  die  Geburtsziffer  sinkt  (Geburtsüberschuss  1886 — 89,  52.616.  56.536, 
44.772.  85.646,  Ausfall  1890  38.446,  Geburtszahl  1886-90:  912.8.  899.3,  882.6, 
880.6.  838.1,  Stcrbefälle  desgl.  860.2,  842.8,  837.9,  794.8,  876.5).  Wie  unter  dem 
Einfluss  der  heimischen  Wanderungen  sich  die  Volkszahl  in  den  einzelnen  Gebiets- 
theilen  verschiebt  und  unter  dem  zusammenwirkenden  Einfluss  derselben  und  der 
örtlichen  Verschiedenheit  der  Geburts-  und  Sterbefrequenzen,  sowie  bei  dem  Umstande, 
dass  es  doch  nur  einige  Gegenden  und  Orte  sind,  nach  denen  eine  Mehreinwanderung 
Fremder  erfolgt,  zahlreiche  und  grosse  Gcbietstheile  an  Bevölkerung  mehr  oder  weniger 
dauernd  ab-,  andere  auf  Kosten  jener  und  durch  die  fremde  Einwanderung  auch 
bei  geringem  oder  fehlendem  üeberschuss  zunehmen  können,  — dafür  liefert  Frank- 
reich auch  lehrreiche  Belege.  Von  1881 — S5  haben  nach  der  Zählung  von  S7 
Departements  29  an  Bevölkerung  ab-,  58  zugenommen , von  1886 — 91  bereits  bzw.  32 
und  nur  55.  hier  jene  tun  399.000  ab , diese  um  523.000  zu . bei  einer  Gesammt- 
zunahme  von  bloss  124,000,  während  der  Geburtsüberschuss  1886  — 90  nach  den 
Standesregistern  ca.  203.000  gewesen,  also  die  Mehrauswanderung  c.  78.000  in  fünf 


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Ergebnisse  hinsichtlich  der  Wanderungen  u.  s.  w. 


565 


Jahren  betragen  hätte.  Im  Jahre  1890  uberwogen  nur  in  27  Departements  die  Geburten, 
in  60  die  Todesfälle.  Von  56  Städten  Uber  30.000  Einwohner  hatten  9 eine  meist  nur 
kleine  (zus.  9.603  Kopf)  Abnahme,  47  eine  Zunahme  (zus.  350,026  Kopf)  in  dieser 
erstmaligen  der  französischen  fünfjährigen  Zählungsperioden  im  Frieden,  1886 — 91,  er- 
fahren, wo  die  Bevölkerung  im  Ganzen  abgenommen  hat.  Die  kleinstädtische  und  die 
ländliche  Bevölkerung  neben  der  fremden  Einwanderung  hat  also  zu  Gunsten  jener 
grösseren  Städte  einen  wirklichen  Verlust  erlitten,  die  Gesammtbevölkerung  durch 
diese  Wanderungen  muthmaasslich  an  innerer  Kraft  zu  weiterer  natürlicher  gosunder 
Vermehrung  wieder  etwas  cingebtisst.  (S.  den  Bericht  über  die  letzte  Volkszählung 
von  1891  im  Bull,  de  stat.  1891,  sowie  den  Aufs,  über  die  Ergebnisse  dieser 
Zählung  und  Uber  die  Bewegung  der  Bevölkerung  in  1890  in  Block’s  Annaire  1892). 

Wie  trotz  der  grossen  Auswanderung  sonst  auch  noch  neuerdings  überall  die 
Bevölkerung  in  den  betreffenden  Staatsgebieten  gestiegen  ist,  ergeben  die  früheren 
Daten  und  Tabellen  (s.  bes.  S.  519).  Grossbritanniens  Volkszahl  stieg  von  1871  bis 
1891  noch  von  26.07  auf  33.00  Mill.,  wobei  die  Kuck-  und  Neueiuwanderung  aller- 
dings etwas  mitgewirkt  hat.  Schweden  hat  trotz  der  relativ  enormen  Auswanderung 
zwischen  1880 — 90  seine  Bevölkerung  doch  noch  von  4.566  auf  4,784,  Norwegen 
desgleichen  bei  zeiiweise  noch  grösserer  Auswanderung  von  1.819  (Wohnbevölkerung) 
auf  1.989  (factische)  zwischen  1875  — 90  vermehrt.  Dänemarks  Bevölkerung  ist 
von  I88r — 90  von  1.969  auf  2.172.  die  der  Schweiz  (wo  auch  Einwanderungen  in 
Betracht  kommen)  von  2.846  auf  2.933  Mill.  gestiegen.  Auch  Italien  hat  vom  J. 
1881  (Zählung)  bis  J.  1890  (Berechnung)  bei  sehr  grosser  überseeischer  Auswande- 
rung im  letzten  Jahrzehnt  doch  noch  seine  Bevölkerung  von  28.46  auf  30.16  Mill. 
vermehrt. 

Ucber  die  Veränderung,  bzw.  Zunahme  der  Bevölkerung  im  heutigen  Deutschen 
Reich,  in  seinen  wichtigeren  Staaten  und  grosseren  Gebietsteilen  in  diesem  Jahr- 
hundert enthalten  die  grösseren  Tabellen  und  Daten  (S.  512,  513,  515,  518,  519)  ebenfalls 
bereits  viele  Zahlen.  Es  ist  aber  von  Interesse,  hier  noch  etwas  mehr  ins  Einzelne 
zu  gehen,  um  das  vereinigte  Ergebniss  der  natürlichen  Volksbewegung,  der  heimischen 
und  der  Aus-  und  Einwanderungen  etwas  näher  zu  verfolgen,  wofür  die  gen.  Publi- 
cationen  des  reichsstat.  Amts  (bes.  Juliheft  1879,  N.  F.  B.  44,  Vierteljahrh.  1892,  I) 
die  Zahlen,  auch  die  wünschenswerten  Relativzahlen  liefern. 

Hiernach  haben  von  den  unterschiedenen  90  Gebietstheilen  (Kleinstaaten , Reg.- 
Bezirke  in  Preussen,  Provinzen,  Kreise  und  dergl.  der  Mittelstaaten,  Schleswig, 
Elsass-Lothringen  auch  vor  der  Annexion  immer  schon  eingerechnet),  in  der  Periode 
von  1816 — 34.  bis  zur  Gründung  des  einheitlichen  Wirtschaftsgebiets  für  den  grösseren 
Theil  des  heutigen  Reichs  im  Zollverein,  in  einer  Periode,  wo  die  Auswanderung 
noch  unbedeutend,  die  heimischen  Wanderungen  noch  klein  waren , alle  zugenommen 
(Max.  jährlich  2.22 %,  R.-B.  Gumbinnen,  Min.  R -B.  Osnabrück  0,05%):  von  1834 
bis  52,  der  ersten  Aufschwungsperiode  im  Zollverein,  der  Zeit  des  Beginns  des 
Eisenbahnbaus,  aber  auch  der  Zeit  der  Theucrung  1846  — 47,  der  politischen  Be- 
wegungen 1848  1F.  haben  von  jenen  90  89  zugenommen  (Max.  jährlich  Berlin  2.73, 
Min.  Waldeck  0.10%).  nur  1 abgenommen  (R.-B.  Osnabrück  0.05°/o);  in  der  dritten 
Periode  von  1852 — 67,  wo  wiederum  Theuerungs-  und  ungünstige  Zeiten  zu  Anfang, 
die  Speculationsperiodo  1856  — 57,  die  Handelskrise  von  1857,  die  politischen  Ereignisse 
von  1859,  1864,  1866  einwirkten,  das  Eisenbahnnetz,  die  industrielle  Entwicklung, 
die  Beteiligung  am  Welthandel  aber  schon  immer  grösser  wurden,  haben  doch  immer 
noch  83  zugenommen,  freilich  davon  eine  grössere  Anzahl  sehr  wenig  (Max.  Berlin 
3.08,  12  weniger  als  %%)  und  7 haben  abgenommen  (Max.  hess.  Prov.  Oberhessen 
0.41,  R.-B.  Cassel  0.51);  von  1S67  — 75.  in  der  Periode  des  französischen  Kriegs, 
der  grossen  Speculationszeit  nach  demselben,  des  beginnenden  Rückschlags,  haben 
noch  79  zugenommen,  datunter  13  um  weniger  als  % — 1 (Max.  Berlin  3.98,  Brom. 
Staat  3.20.  Hamb.  Staat  2.99,  R.-B.  Arnsberg  2.72,  Kr.  Mannheim  2,22,  R.-B.  Düssel- 
dorf 2.02,  Kr.  Dresden  2%)  und  II  haben  abgenommen,  darunter  beide  Mecklen- 
burg, R.-B.  Stralsund,  beide  Eisass,  Lothringen,  dies  im  Max.  0.84%.  letztre  3 
unter  politischen  Einflüssen.  Eine  ähnliche  Berechnung  nur  getrennt  für  die  deutschen 
Staaten,  preuss.  ganzen  Provinzen  (und  Hohenzollern),  rechts- und  linksrheinisches 
Baiern,  für  die  4 Volkszählungsperioden  von  1871  — 90  ergiebt,  dass  nur  2 preuss. 
Provinzen  wirklich  abgenommen  haben,  Pommern  18S0 — 85  (starke  Auswanderung) 


5G6  4.  B.  Bevölk.  n.  Volksw.scb.  1.  K.  Bevölk. lehre.  l.II.-A.  Statist.  §.228. 


um  0.45%;  jährlich  Zunahme  JS71  — 75  0.53.  1875  — 80  1,04.  auch  1885 — 90 
wieder  0.20%)  und  Ostprenssen  1885 — 90  um  0.01%  (Zunahme  1S80 — 85  auch  nur 

0. 26%  jährlich);  Wcstpreussen  und  Posen  haben  1>80  — S5  sehr  wenig  mehr  zu- 
genominen,  bzw.  0.03  und  0.14%.  1885 — 90  (grösserer  Agrarschutz)  auch  sie  wieder 
mtdir,  0.86  und  0.42%.  Abgenommen  hat  ausserdem  das  Gebiet  von  Hohenzollem 
in  den  2 letzten  Zahlperioden,  um  0 27  und  0.19%*  Von  den  übrigen  deutschen  Staaten 
zeigen  nur  die  beiden  Mecklenburg  mehrmals  eine  Abnahme,  Schwerin  1871 — 75 
um  0.18  und  wieder  1880 — S5  um  0.O7  (1885 — 90  Zunahme  von  0.11)  und  Strclitz 
in  der  ersten,  dritten  und  vierten  Periode  (um  0.34.  0.38,  0.08%),  ferner  in  der 

1.  Periode  Waldeck  (0.67)  in  der  ersten  und  dritten  Eisass- Lothringen  0.29  und 
0.03%).  Klein,  unter  7 4%  gesunken,  war  die  Vermehrung  in  der  3.  Periode  in 
Württemberg  (0.24%),  ebenso  in  Oldenburg  (0  24).  in  der  ersten  in  Schwarzb.-Sonders- 
hausen.  in  der  3.  und  4.  Per.  in  Waldeck  (0.02,  0.25). 

Geht  man  auf  kleinere  Gebietseinteilungen  Prenssens  und  der  Mittelstaaten, 
Regierungsbezirke,  Kreise  ein,  so  ergeben  sich  natürlich  unter  dem  Einfluss  der 
Wanderungen  und  der  Verschiedenheit  der  natürlichen  Vermehrung  grössere  Ver- 
schiedenheiten und  auch  mehr  Fälle  einer  Abnahme  oder  einer  ganz  geringen  Zunahme. 
So  hat  nach  Regierungsbezirken  1S85 — 90  im  ostpreuss.  Gumbinnen  die  Bevölkerung 
ein  Weniges  ab-,  im  R.-B.  Königsberg  um  noch  weniger  zu-,  in  Pommern  in  den 
B.-B.  Cöslin  und  Stralsund  ab-,  nur  im  R.-B.  Stettin  zugenommen.  In  Baiern  zeigen 
in  derselben  jüngsten  Periode  3 von  8 Bezirken,  Oberfranken,  ünterfranken,  Oberpfalz 
(dies  nur  ganz  geringfügig)  eine  Abnahme,  Niederbaiera  eine  nur  sehr  kleine  Zu- 
nahme. In  Würtemberg  hat  der  Jagstkreis  abgenommen.  Die  Bevölkerungsstatistik 
der  Kreise  in  Preussen  u.  s.  w.  giebt  noch  mehr  Einblick  in  das  Detail  der  Ver- 
änderungen. ebenso  die  Statistik  der  Ortsbevölkerung,  worauf  wir  hier  nicht  weiter 
eingehen  können,  (S.  u.  A.  über  die  Orte  mit  über  2000  Einwohnern  im  Deutschen 
Reich  etc.  die  Zu-  und  Abnahme  der  Bevölkerung  daselbst  von  1885 — 90  die  Viertel- 
jahrshefto  1892,  N.  II).  Neben  zahlreichen  kleinen  Landstädten  kommen  doch  ver- 
einzelt auch  Fälle  vor,  wo  unter  ungünstigen  Conjuncturen  grössere  Städte  über  10,000. 
selbst  Uber  20.000  Einwohner  eine  Abnahme  oder  einen  relativen  Stillstand  zeigen, 
Beispiele  sind  Stralsund,  das  mehrfach  abnahm  , unter  heutigen  Verkehrsverhältnissen 
sehr  ungünstig  liegt,  1885  28.984,  1890  27.814  E. , aus  ähnlichen  Gründen  Emden. 

Die  gewaltigen  nachhaltigen  Verschiebungen  der  Bevölkerungszahl  und  der 
weiteren  Vermehrung  derselben  ergiebt  auch  die  Statistik  der  Ortschaftsbevölkerung 
nach  Grössenclassen.  Darüber  mehr  unten  in  §.  237.  So  sind  im  Deutschen  Reiche 
1907 — 85  die  jährlichen  Zunahmer)üoten  gewesen  bei 


Tab.  XXII. 

Berlin  3.36% 

allen  Städten  über  100.000  E.  2.66  „ 
.,  Orten  von  20 — 100,000  E.  2.36  „ 

5—20,000  E.  1.83  „ 

2—5,000  E.  0.99  „ 

„ solchen  Orten  überhaupt  1.85  ,. 

kleineren  Orten  (plattes  Land)  0.20  „ 

bei  der  Gesamuitbevölkcrung  0.86  „ 


(S.  für  Weiteres:  Keichsstat.  n.  F.  B.  32,  auch  B.  30.  Oct.-Heft,  mit  Rücksicht  auf 
den  Einfluss  der  Eisenbahnen  auf  die  örtliche  Bevölkerungsveränderung;  ähnliche 
Arbeiten  für  einzelne  Staaten,  so  für  Preussen,  in  der  Zeitschr.  des  Stat.  Bureaus, 
ein  Aufsatz  von  Jan  nasch). 

Nattirlich,  dass  nun  diese  Wanderungen  auch  durch  ihren 
Einfluss  auf  die  Zusammensetzung  der  Bevölkerung  nach  mancherlei 
anderen  Richtungen  weiter  wirken , was  wieder  für  die  populatio- 
nistische  wie  die  wirtschaftliche  Seite  der  Bevölkerungsfrage  wichtig 
ist.  Namentlich  die  Vermischung,  welche  sich  so  in  der  Be- 


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Ergebnisse  hinsichtlich  der  Wanderungen  u.  s.  w. 


567 


völkerung  in  Bezug  auf  Nationalität,  Stamm,  natürliche  und  er- 
worbene körperliche,  geistige,  sittliche  Eigenschaften  u.  s.  w.  voll- 
zieht, wenn  auch  erst  nach  und  nach,  da  die  landsmannschaftlichen 
Elemente,  zumal  im  fremden  Sprach-  und  Confessionsgebiet,  länger 
zusammen  zu  halten  pflegen,  wird  auf  die  Dauer  von  grosser  Be- 
deutung auch  populationistisch , für  die  natürlichen  Vermehrungs- 
verhältnisse, wie  für  Vermischung  alter,  die  Ausbildung  neuer 
körperlicher,  geistiger,  sittlicher  Eigenthtimlichkeiten  werden.  Schon 
jetzt  zeigt  sich  das  in  den  Gross-  und  Weltstädten,  in  den  Industrie- 
bezirken, in  den  Masseneinwanderungsländern  etwas.  Welches 
neue  Volksthum  wird  sich  bei  grösserer  Volksdichte  in  den  Ver- 
einigten Staaten  in  einigen  Menschenaltern,  vollends  in  einigen 
Jahrhunderten  herausgebildet  haben,  wenn  die  nicht -britischen 
Nationalitäten  amalgamirt  werden  und  die  Union  ein  einziges  poli- 
tisches Gemeinwesen  verbleiben  sollten! 

Wertbvolle  Einblicke  in  diese  aus  den  Wanderungen  hervorgehenden  Ver- 
mischungen der  Ortsbevölkerung  giebt  namentlich  dio  Geburts Statistik  der  letzteren. 
Vgl.  für  Deutschland  B.  32  der  Iieichsstat.,  Auszug  im  Jahrb.  1890,  über  Berlin 
speciell  Statist.  Jahrb.  v.  Berlin  XIII,  S.  8.  Die  Berechnungen  betreffen  daun  auch 
den  Bevölkerungsaustausch  durch  Wandeningen , insbes.  durch  die  heimischen.  So 
waren  z B.  vor  der  Berliner  ortsanwesendeu  Bevölkerung  am  1.  Dec.  1885  von  1,315,230 
(nach  Abzug  von  51  Personen  ohne  Angabe)  nur  557.220  in  Berlin  selbst 
geboren,  683,405  in  anderen  Tlieilen  des  preuss.  Staats,  davon  45.324  in  Ost-, 
41.183  in  Westpreussen , 251.646  in  M.  Brandenburg  ausserhalb  Berlin,  81,663  in 
Pommern,  58.776  in  Posen.  99.783  in  Schlesien,  69.446  in  Prov.  Sachsen,  3661  in 
Schlesw. -Holst.,  9016  in  Hannover,  6595  in  Westfahlen.  5081  in  Hess.-Nass.,  11,105 
in  Rheinland,  126  in  Hohcnzollern.  67.140  in  anderen  Staaten  des  Reichs,  davon  in 
Baiern  3479,  in  K.  Sachsen  12.821,  in  Würtemberg  1498,  in  Baden  1571,  in  Grossh. 
Hessen  1010,  in  beiden  Mecklenburg  12,450.  in  den  sächs.  HcrzogthUmern  6054,  in 
den  Hansastädten  3105,  in  Braunschweig  2308,  in  Oldenburg  716,  in  Elsass-Lothringen 
1306,  der  Rest  in  den  übrigen  Kleinstaaten;  im  Rcichsausland  und  auf  dem  Meer 
(nur  2)  geboren  waren  17.405,  davon  in  Oesterr.-üngarn  6417,  in  Russland  4163,  in 
der  Schweiz  903,  in  den  Vereinigten  Staaten  1059  u.  s.  w.  Welches  „neue  Deutsch- 
thum“, mit  Verwischung  und  Vermischung  der  Stammesart  bildet  sich  so.  Und  wie 
verwischt  in  nationaler  und  Stammes-Hinsicht  ist  erst  die  Bevölkerung  von  Orten  wie 
Wien.  London,  Paris,  Newyork  u.  s.  w!  Durch  ..Bevölkerungsaustausch  4 innerhalb  der 
reichsgebürtigen  Bevölkerung  hatte  1885  nach  der  Geburtsortstatistik  Berlin  028,066 
mehr  gewonnen  als  abgegeben  (geborene  „Berliner44  ausserhalb  Berlins  fanden  sich 
doch  auch  im  Reiche  112,479,  freilich  über  die  Hälfte  davon  in  der  Mark  Branden- 
burg, meist  in  den  Berliner  Vororten),  aber  auch  Rheinland  hatte  104,  Westfalen  45, 
Königreich  Sachsen  140,  Baden  10,  Ilerzogthum  Braunschweig  1S.6,  Anhalt  2.7,  Staat 
Lübeck  11.6,  Staat  Bremen  47,  Staat  Hamburg  188,  Elsass-Lothringen  (aus  allen 
Theilen  des  Reichs)  lu7  Tausend  gewonnen,  ein  Gewinn,  den  die  übrigen  preussischen 
Provinzen  und  deutschen  Einzelstaaten  aus  ihrer  Geburtsbevölkerung  hergegeben  hatten, 
absolut  am  Meisten  die  vorwiegend  agrarischen  Länder  (Ostpreusscu  158,  West- 
preussen 56,  Mark  Brandenburg  1 16,  Pommern  117,  Posen  119,  Schlesien  228,  Provinz 
Sachsen  168,  Schleswig-Holstein  9,  Hannover  41,  Hessen-Nassau  14,  Hohcnzollern  4, 
Baiern  40,  W'ürtemberg  62,  Grossh.  Hessen  10,  beide  Mecklenburg  69.  Oldenburg  6, 
die  kleinen  thüring,  Staaten  62,000,  den  kleinen  Rest  die  übrigen.  Bei  den  Mittel- 
staaten und  in  den  preuss.  Provinzen  erscheinen  die  Wanderungen  in  diesen  Zahlen 
zu  klein,  weil  diejenigen  innerhalb  des  Heimathsstaats,  bezw.  der  Provinz  hier 
nicht  berücksichtigt  sind). 


568  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk. lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  229. 


Wie  in  der  Fremde  doch  noch  die  nationalen  und  landsmannschaftlichen  Be- 
ziehungen auf  ein  Zusammenhalten  einwirkcn,  ergiebt  die  französische  Heiraths- 
statistik  der  nicht-staatsangebörigen  Bevölkerung  in  der  starken  ZilTer  der  Heirathen 
unter  Landsleuten  gegenüber  den  Mischlieirathen  mit  der  französischen  und  andeis- 
natiorialen  Bevölkerung,  wobei  natürlich  in  den  mehrfach  nur  kleinen  Zahlen  zufällige 
Einflüsse  mitwirken  und  zu  bedenken  ist,  dass  beide  Geschlechter  derselben  fremden 
Nationalität  überhaupt  nicht  gleich  stark  und  in  entsprechendem  Alter  und  so  nament- 
lich nicht  immer  an  demselben  Ort  vertreten  sind  (s.  die  Statistik  für  1 890  in  Blocks 
Ann.  1892,  S.  30). 

VI.  — §.  229.  Volksdichtigkeit 
A.  Behandlung  der  ganzen  Frage. 

Deber  die  Bercchnuugsmethode  und  die  Mängel  blosser  Durchschnitte  s.  o. 
§.  203.  bcs.  S.  479. 

Von  ähnlichen  Ansichten  über  diese  Mängel  ausgehend  und  ähnlichen  Gesicbts- 
puncten  folgend,  haben  namentlich  Geographen  und  geographische  Statistiker 
schon  seit  länger  beachtenswerthe  Versuche  gemacht,  die  Volksdichtigkeit  correcter, 
mehr  der  Wirklichkeit  entsprechend  statistisch  darzustellen  und  rationellere  Methoden 
dafür  und  namentlich  auch  für  die  kartographische  Behandlung  der  Volksdichte 
zu  finden.  Dieses  letztere  Problem  hat  die  neuere  wissenschaftliche  Kartographie  öfters 
beschäftigt,  in  Deutschland  namentlich  seit  H.  Berg  haus’  physik.  Atlas  (1849). 
Vgl.  auch  Petermann,  Skizze  zur  Uebersicht  der  Dichtigkeit  der  verschiedenen  Theile 
der  Erde,  in  den  Geogr.  Mittheil.  1859,  bcs.  aber  Behm  in  Behrn  und  H.  Wagner. 
Bevölkerung  der  Erde,  Nr. II,  1S74.  S.  91  ft,  Uber  die  betreffende  Methode.  G.  Mayr 
in  d.  Beitr.  z.  Statist,  v.  Baiern.  Heft  22,  Delitsch,  kartogT.  Darstellung  der  Be- 
völkernngsdichtigkeit  von  Westdeutschland,  auf  Grund  hypsometrischer  und  geognosti- 
scher  Verhältnisse,  Leipzig  1865.  Einer  der  ersten  practischeu  Versuche,  die  Mängel 
der  üblichen  Durchschnittsberechnungen  der  Voiksdichtigke.it  zu  vermeiden  und  ein 
richtigeres  Princip  auch  für  die  kartographische  Darstellung  der  Volksdichte  nament- 
lich in  kleineren  Gebietstheilen  zu  gewinnen , rührt  von  dem  Dänen  Ka  v en  her  (däu. 
stat.  Tab.werk  N.  F.  B,  12),  wo  nach  den  Materialien  der  Zählungen  von  1S45  und 
1855  das  Gebiet  Dänemarks  in  1700,  das  Schleswig-Holsteins  in  150  Theile  zerlegt 
und  dafür  die  Berechnungen  ausgeführt  wurden.  Behm  a.  a.  0.  unterscheidet  nur  3, 
aber  immerhin  doch  3 Dichtestufen  (Uber  8000,  2 — 8090  [ein  zu  grosser  Spielraum!] 
und  unter  2000  p.  Q- Meile)  für  die  Erdtheile  und  fügt  weitere  Berechnungen  hinzu. 
S.  ferner  die  Karte  der  Volksdichtigkeit  in  Deutschland  mit  Text  in  Petermann’s 
geogr.  Mittheil.  1874.  Heft  1,  auch  in  Reichsstat.  B.  30.  Märzheft  nach  der  Zählung 
von  1875,  Sydow-H.  Wagner,  method.  Schulatlas  Karte  10,  Volksdichte  auf  der 
Erde,  und  Karte  14  in  Mitteleuropa,  auch  R.  Andrce,  Handatlas,  Karte  17,  Deutsch- 
land; die  Arbeit  nebst  Karte  über  die  Volksdichiigke.it  in  Vorder- Indien  von  H. 
Wagner  in  Behm  u.  Wagner.  Bevölk.  d.  Erde  N.  IV.  1876. 

Neuerdings  sind  aus  dieser  geographisch -statistischen  Richtung,  welche  dabei 
namentlich  den  Einflüssen  der  Natur  (Höhe,  Klima,  Bodenart,  Bodenbeschaffenheit) 
auf  die  Besiedlung,  die  Volksdichte  u.  s.  w.  nachgeht,  interessante  und  höchst  fleissige 
Special-Arbeiten  hervorgegangen,  welche  auch  die  Beachtung  des  NationalöLonomen 
in  hohem  Grade  verdienen.  So  in  der  Göttinger  Diss.  von  Sprecher  von  Bernegg, 
Vertheilung  der  bodenständ.  Bevölkerung  im  rhein.  Deutschland  i.  J.  1820  (Göft.  1887), 
ferner  in  den  von  A.  Kirchhoff  herausgegebenen  „Forschungen  zur  deutschen 
Landes-  und  Volkskunde“,  u.  A.  B.  V,  N.  3,  Käsemacher,  Volksdichte  in  der 
thüring.  Triasmulde,  und  jüngst  B.  VII.  N.  1 L.  Neumann  (Prof.  d.  Geogr.  in  Frei- 
burg i.  Br.)  Volksdichte  in  Baden,  mit  einer  Höhenschichten-  nnd  Volksdichtekarte, 
eine  „anthropogeogr.  Untersuchung“  (ly92)  (daselbst  umfassende  Litteraturübersicht). 
Erst  durch  derartige,  ganz  ins  Detail  eingehende  Arbeiten  werden,  neben  anderen, 
auch  die  mit  der  volkswirtschaftlichen  Frage  der  Volksdichte  zusammenhängenden 
Seiten  statistisch  richtig  behandelt  nnd  wird  in  die  conditionellcn  und  causalen  Ab- 
häigigkeitsverhältnisse ein  sichererer  Einblick  verschafft,  als  dies  bei  der  Benutzung 
von  Durchschnittsgrössen  für  die  Dichtigkeitsmessung  grösserer  Gebietsteile,  vollends 
ganz  grosser  Länder,  wo  der  Durchschnitt  eben  alles  Verschiedene  und  Conerete  ver- 
wischt, möglich  ist. 


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Volksdichtigkeit.  Behandlung  der  Frage. 


569 


Diese  und  ähnliche  neuere  Arbeiten,  wohin  ich  auch  die  von  Levasseur 
(popul.  franc.  u.  Bull,  de  1‘inst  internat.  de  stat.  1888,  III.  H.  3,  p.  04  if.)  rechne, 
dienen  der  neueren  „anthropo geographischen“  Richtung,  wie  sie  namentlich 
Fr.  Ratzel  vertritt.  Dessen  bezügliches  geistvolles,  wenn  auch  zu  sehr  coustruirendcs 
und  inehr  nur  Probleme  andeutendes  als  lösendes  Werk  ist  für  die  hier  behandelten 
Fragen  ebenfalls  nicht  ohne  Interesse:  „Anthropogeographie“  (Anwendung  der  Erd- 
kunde auf  dio  Geschichte),  1.  B.  Stuttg.  1882,  S.  41  ff'.,  Einfluss  der  Naturbedingungen 
auf  die  Menschheit,  S.  143  ff.,  Vertheilung  der  Wohnstätten,  Zus.fassuug  S.  137  ff., 
mit  Zurückführung  der  Erscheinungen  auch  in  der  Menschen  weit  auf  Moritz  U agner’s 
„Migrationstheorie“),  B.  2,  Stuttgart  1891  (geograph.  Verbreitung  der  Menschen,  bes. 
S.  180  ff,  über  Dichtigkeit  der  Bevölkerung,  S.  255  ff,  über  Beziehungen  zwischen 
Dichte  und  Culturhöhc,  S.  201  ff.,  über  die  Bewegung  der  Bevölkerung,  und  auch 
sonst  in  diesem  Bande  mancherlei  Ausführungen,  welche  mit  dem  uns  hier  beschäfti- 
genden Problem  Zusammenhängen.) 

Auch  diese  Frage  der  Volksdichte  liegt  freilich  für  den  „Anthropogcographen“, 
den  Naturforscher,  den  Statistiker  anders  als  für  den  Nationalökonomen:  die  Höhenlage, 
die  Bodenart,  der  Mangel  an  agriculturfähigem  Boden , die  Abnahme  der  Erträge  des 
Ackerlandes  bei  ungünstigerem  Klima  werden  jene  als  mitwirkende  Ursachen  der  ge- 
ringeren Volksdichte  und  der  langsamen  oder  selbst  unmöglichen  ferneren  Volkszunabme 
nachweisen.  Allein  in  weiteren  Grenzen  ist  doch  eine  Zunahme  und  eine  stärkere 
Volksdichto  bei  in  dustrieeller  und  überhaupt  bei  jeder  Entwicklung  möglich,  wo 
die  Ortsbevölkerung  nicht  allein  oder  gar  nicht  auf  an  Ort  und  Stelle  gewonnene 
Bodenproducte,  namentlich  Nahrungsmittel  angewiesen  ist,  sondern  diese  im  Austausch 
gegen  Industrieprod ucte  und  politische  n.  s.  w.  Dienstleistungen  beziehen  kann.  Mit 
dieser  Möglichkeit  erweitert  sich  der  Spielraum  der  Volksdichte  und  der  Zunahme 
der  letzteren  ausserordentlich,  nur  dass  eben  dabei  jene  rechtlichen  und  wirtschaft- 
lichen Bedingungen  erfüllt  werden  müssen,  welche  ein  solches  Austauschsystem  zur 
Voraussetzung  hat  und  jene  Schwierigkeiten . daher  auch  jene  Bedenken  eintreten, 
welche  die  Erfüllung  dieser  Bedingungen  und  die  Folgen  eines  solchen  Austausch- 
systems begleiten.  In  diesen  Puncten  hat  man  es  wesentlich  nur  mit  der  volkswirt- 
schaftlichen Seite  der  Volksdichte  zu  thun,  welche  dann  freilich  wieder  physiologische, 
sanitäre,  sociale,  culturliche,  ethische  Puncte  des  Bevölkerungsproblems  berührt.  S. 
auch  unten  Hauptabschnitt  2 dieses  Kapitels. 

Vorbehaltlich  aller  der  soeben  wieder  und  der  in  §.  203  an- 
gedeuteten Bedenken  hinsichtlich  der  Benutzung  von  Dichtigkeits- 
grössen, welche  Durchschnittszahlen  sind,  und  mit  Ver- 
wahrung gegen  alle  voreilige  und  schiefe  Schlussziehungen  aus 
statistischen  Grössen  dieses  Characters  dienen  doch  die  so  be- 
rechneten Dichtigkeitsziffern  dazu,  gewisse  Haupt  Verschieden- 
heiten in  den  Beziehungen  zwischen  der  Volkszahl  und  dem 
Raum,  auf  welchem  dieselbe  lebt  und  wirthschaftet,  deutlicher,  auch 
in  ihren  Voraussetzungen  und  Folgen  verständlicher  zu  machen, 
als  es  der  Vergleich  bloss  der  absoluten  Volkszahlen  thut.  Man 
vergleicht  hier  passend  zunächst  die  Durchschnittsdichte  von  Länder- 
gebieten, welche  von  Natur  oder  nach  der  Culturentwicklung  homo- 
gener sind  und  so  für  die  Beziehungen  zwischen  Bewohnern  und 
Boden  unter  sich  mehr  Aebnlichkeit  haben,  daher  z.  B.  ganz  grosse, 
mittelgrosse,  kleine,  namentlich  geographisch  ähnlich  gelegene,  ähn- 
liches Klima,  ähnliche  Boden beschaffenheit  besitzende  je  unter  ein- 
ander. Hierbei  kann  man  doch  einigermaassen  zutreffend  annehmen, 


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570  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lehre.  l.H.-A.  Statist.  §.230. 

dass  solche  Gebiete  dann  hinsichtlich  der  wirthschaftlichen  Cultivir- 
barkeit  nicht  völlig  verschieden  sein  werden.  Alsdann  wird  eine 
solche  Vergleichung  immerhin  für  gewisse  Fragen  der  Bevölkerungs- 
lehre, auch  der  wirthschaftlichen,  Werth  haben  und  lehrreich  sein. 
Betrachtet  man  ferner  von  vornherein  die  Volksdichte  wenigstens  mit 
als  ein  Product  der  natürlichen  Ausstattung  der  Länder  für  die  wirth- 
schaftliche  Cultur,  so  ergiebt  eine  Vergleichung  dieser  Dichte  selbst 
von  Gebieten  natürlicher  Heterogenität  immerhin,  wie  verschieden 
wenigstens  für  den  Zeitpunct  der  Vergleichung  die  Volksdichte  als 
solches  Product  ausgefallen  ist.  Das  lässt  dann  wieder  mancherlei 
Schlüsse  nach  rückwärts  und  nach  vorwärts  zu;  so  für  die  Frage 
des  Einflusses  des  Menschen  selbst  auf  die  Schaffung  wirtschaft- 
licher Lebensbedingungen  für  sich,  für  die  Fragen  der  Wanderungen, 
des  Abflusses  aus  Ländern  hoher  Volksdichte  in  andere  geringer 
u.  dgl.  m. 

In  solchen  Erwägungen  liegt  die  Berechtigung,  doch  auch 
grosse,  nach  natürlicher  Ausstattung  und  bisheriger  Culturentwicklung 
sowohl  heterogene  als  homogenere  Länder  auf  ihre  durchschnitt- 
lich e Volksdichte  zu  prüfen  und  zu  vergleichen.  Dabei  mag  man 
passend  mit  ganz  grossen  Ländern  beginnen,  um  zunächst  einmal 
in  der  verschiedenen  Durchschnittszahl  den  llaupteharacter  in  Bezug 
auf  Volksdichte  scharf  hervortreten  zu  lassen.  Indem  man  dann 
diese  Länder  in  kleinere  und  immer  kleinere  Theile  zerlegt,  werden 
sich  schrittweise  auch  die  Durchschnittszahlen  der  Dichte  dafür 
immer  mehr  der  Wirklichkeit  annähern,  bis  man  mit  Darstellungen 
und  Vergleichungen  der  Dichtigkeit  kleinster  Gebietstheile  in  der 
oben  (§.  203)  dargelegten  Berechnuugs-  und  Behandlungsweise 
schliesst. 


B.  — §.  230.  Statistik  der  Volksdichtigkeit. 

Nach  den  Gesichtspuncten  des  vorigen  §.  229  sind  die  folgenden  Tab.  XXIII 
bis  XXVIII  entworfen  worden.  In  denselben  wird  die  Frage  der  Volksdichte  fort- 
schreitend von  den  Erdtheilen  beginnend  bis  zu  Gebietsgrössen  von  der  Art  unserer 
^preussisch-deutschcn)  Kegierungsbezirke  verfolgt.  Ein  noch  weiteres,  an  und  fUr  sich 
für  die  Erledigung  der  ganzen  Frage  erwünschtes,  ja  noihwendiges  Hinabgehen,  etwa 
bis  zu  Gebietsgrössen  von  der  Art  unserer  Kreise,  muss  der  monographischen  Be- 
handlung der  Frage  Vorbehalten  bleiben.  Hier  fehlt  dafür  auch  der  Kaum,  da  zahl- 
reiche Tabellen  und  Daten  für  die  Fortführung  der  Untersuchung  bis  in  dieses  Detail 
hinein  erforderlich  sind. 

Die  Materialien  für  die  Tabellen,  auch  die  Dichtigkeitsberechnungen  für  1 Qn.- 
Kil.  zum  Theil  nach  Nr.  VIII  der  „Bevölkerung  der  Erde“  von  II.  Wagner  und 
A.  Supan,  S.  XI  fl'.,  doch  mit  Abweichungen  in  der  Zusammenfassung  der  Länder- 
gruppen und  sonst  in  Manchem,  ferner  aus  dem  Gothaischen  Jahrbuch,  Jahrgang 
1892.  Die  übrigen  Daten  aus  den  neuesten  amtlichen  Statist.  Publicntioncn,  Jahr- 
büchern u.  s.  w.,  namentlich  den  rcichsstatistischen.  Die  Zahlen  meist  aus  der  neuesten 
Zeit,  um  1890. 


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Statistik  der  Volksdichtigkeit. 


571 


Da  die  absolute  Grösse  des  Landes  und  der  Bevölkerung  auch  für  die  Wür- 
digung der  Dichtigkeitszahl  von  Bedeutung  ist  und  au  und  für  sich  Interesse  bietet, 
ist  sie  in  Tab.  XXIII  u.  XXIV  beigefujrt  worden,  und  zwar  auch  nach  der  gen. 
Arbeit  „Bevölkerung  der  Erde“,  wo  die  Zahlen  für  die  Gebietsgrössen,  welche  nicht 
auf  genauen  Vermessungen  beruhen,  und  für  die  geschätzten  Volkszahlen  der  Länder 
ohne  eigentliche  Volkszählung  ihre  sorgfältige  Begründung  linden.  S.  ebenda  auch  für 
die  Erdiheile  und  die  Gebietsgruppen,  was  dazu  und  nicht  dazu  gerechnet  wurde  (in 
Betreff  abgelegener  Inseln,  der  Landseeeu  u.  s.  w.).  S.  Tab.  XXIII,  S.  572. 

Die  grossen  Grundunterscbiede  der  bisher  erreichten  Volks- 
dichte lässt  die  Tabelle  XXIII  frappant  hervortreten.  Bei  den  Erd- 
theilen  Asien  and  Afrika  beruhen  dabei  freilich  die  absoluten  Grund- 
zahlen grossentheils  nur  auf  mehr  oder  weniger  unsicheren  Schätzungen 
(China!  Mittelafrika!).  Da  ein  bedeutender  Theil  des  nördlichen 
Gebiets  von  Asien,  America  und  selbst  Europa  aus  klimatischen 
Gründen  wenig  oder  gar  nicht  besiedelbar  ist  und  in  den  tropischen 
Gebieten  ähnliche  Gründe  die  Besiedlung  überhaupt  oder  wenigstens 
für  die  europäischen  Völker  hindern,  ist  natürlich  bei  Vergleichungen 
der  Volksdichte  der  Erdtheile  und  der  grossen  Gebietsgruppen 
dieses  Umstands  zu  gedenken.  Die  Differenzen  der  Volksdichte 
sind  wesentlich  mit  ein  Ergebniss  dieser  Einflüsse.  Aber  auch  der 
Einfluss  der  bisherigen  gesammten  Besiedlungsgeschichte  und  Wirth- 
schafts-  und  Culturentwicklung  tritt  doch  in  den  Dichtezahlen 
deutlich  mit  hervor,  so  beim  Vergleich  von  Europa  mit  America, 
von  Central-  und  Nordwest-  mit  dem  übrigen  Europa.  Für  die 
Bevölkerungsfrage  ist  das  zu  beachten  wichtig,  im  Hinblick  auf  die 
Aussichten  von  Aus-  und  Einwanderung,  für  das  allmälige  Nach- 
rücken der  zurückgebliebenen  Länder  auf  die  Dichtigkeitsstufe 
vorangeschrittener,  so  in  den  Verhältnissen  Americas,  Australiens 
gegenüber  Europa,  Osteuropas  gegenüber  Mittel-  und  Westeuropa. 
In  historischer  Retrospectivc  betrachtet,  ist  der  Schwerpunct  der 
europäischen  Volksdichte  vom  Mittclmeergebiete  im  Alterthum  nach 
Nordwest-  und  Centraleuropa  gerückt,  wesentlich  erst  in  der  neueren 
und  neuesten  Zeit,  unter  dem  Einfluss  der  technischen  und  wirt- 
schaftlichen Entwicklung  und  der  modernen  Richtung  des  Welt- 
verkehrs. Dass  so  grosse  Verschiebungen  in  Zukunft  sich  wieder- 
holen sollten,  in  der  Richtung  nach  Ost-  und  Nordeuropa  und  Nord- 
america, ist  zwar  aus  mancherlei  Gründen,  klimatischen,  mit  der  geo- 
graphischen Lage  zusammenhängenden,  nicht  wahrscheinlich.  Aber 
eine  gewisse  Verschiebung  findet  doch  durch  die  Auswanderung 
über  See,  die  innere  Colonisation  Nordamericas  und  durch  die  starke 
natürliche  Volksvermehrung  des  slavisehen  Ostens,  die  schwächere 
des  übrigen  Europas,  zumal  Frankreichs,  schon  jetzt  statt  und 


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572  1.  B.  Bcvölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  230. 


Tab.  XXIII.  Grösse,  Bevölkerung,  Volksdichte  der  Erd- 
theile  und  ihrer  geographisch-politischen  Haupttlieile. 


Erdthcile 

Gebietsgrösse 

1000 

Quadratkilom. 

Bevölkerung 

absolut, 

Millionen  Kopf 

Dichte 

auf 

1 Qu.-Kilom. 

Europa 

9.730 

357.4 

o7 
«1  4 

Asien 

41.143 

826  0 

19 

Africa 

29.207 

164.0 

5 

America 

3S. 334 

121.7 

3 

Australien 

7.690 

3.23 

0.4 

Ocean.  Inseln 

1.899 

7.42 

4 

Polargebiete 

4.4S3 

0.08 

— 

Erde 

135.491 

1479.73 

11 

Europa: 

Central  *) 

1.328 

105.85 

80 

Nordwest*) 

315 

37.89 

124 

Nordost3') 

815 

8.96 

11 

Süd  west4)  

1.410 

90.16 

64 

Südost 5) 

526 

18.48 

35 

Ost0) 

5.336 

96.04 

IS 

Asien7): 

Sibirien 

12.4S8 

4.31 

0.3 

ßuss.Centr.-Asien  u.Turkestan 

4.342 

7.11 

1.6 

Vorder 

7.522 

38.37 

5.0 

Centr.  u.  Ost  .... 

11.717 

412.36 

35.0 

[davon  China 

4.005 

350.0 

90.0] 

[ „ Japan  

382 

40.07 

105  J 

Vorderindien 

3.942 

285.68 

73 

[davon  Brit.  Indien  . . . 

3.656 

278.58 

76  ] 

Hinterindien 

2.126 

38.68 

18 

Ostind.  Inseln 

2.004 

39.46 

20 

Africa7): 

Nord 

3.564 

21.19 

7 

Sahara  

0.180 

2.50 

0.4 

Nordtrop.  Zone 

10.303 

101.76 

10 

Südtrop.  „ 

7.842 

31.96 

4 

Aussertrop.  Sudafr 

1.317 

3.55 

3 

A me  rica7): 

Nord 

19.810 

79.66 

4 

[davon  Brit 

8.412 

5.27 

0.6] 

.,  Ver.  Staat.  . . . 

9.212 

62.98 

7 

t „ Mexico  .... 

1.947 

11.40 

6 

Central 

547 

3.23 

6 

Westindien 

244 

5.4S 

22 

Süd 

17.732 

33.34 

•> 

davon  Brasilien  .... 

8.361 

14.60 

1.7] 

„ Paraguay .... 

253 

0.33 

1.3 

Uruguay  .... 

179 

0.71 

4 

Argentinien  . . . 

2.789 

3.20 

1.2 

Chile 

776 

3.17 

4 

Noten  1 — 7 s.  S.  573. 


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Statistik  der  Volksdichtigkeit 


573 


würde  bei  einer  dauernden  Verringerung  der  wirtschaftlichen 
Hilfsmittel  Central-,  West-  und  Südeuropas  noch  schärfer  werden. 
Nur  die  Aufrechthaltung  der  Suprematie  in  Technik,  Wirt- 
schaft und  Cultur  in  den  letztgenannten  Theilen  Europas  kann 
das  verhüten.  Die  Notwendigkeit  eines  Zusammenhaltens  von 
„Cultureuropa“  gegen  den  slavischen  Osten  wie  gegen  Nordamerica, 
und  ganz  Europas,  Americas  und  Australiens  gegen  die  ungeheuren 
Bevölkerungsmassen  der  asiatischen  continentalen  Culturvölker 
springt  auch  aus  den  absoluten  und  relativen  Bevölkerungszahlen 
hervor. 

§.  231.  — Die  einzelnen  europäischen  Reiche 
und  Staaten. 

Die  Tab.  XXIV  (auf  S.  574)  enthält  die  Daten  für  die  gegenwärtigen  euro- 
päischen Staatsgebiete.  Grade  für  diese  Daten  gilt  die  mehrfach  schon  ge- 
machte Bemerkung,  dass  nur  Länder  von  ungefährer  Gleichheit  der  Grösse,  Bevöl- 
kerungsverhältnisse, wirtschaftlichen  Stellung  u.  s.  w.  verglichen  werden  können,  so 
hier  iu  Bezug  auf  die  Volksdichte.  Daher  z.  B.  die  europäischen  Grossstaaten 
nebst  Spanien  unter  einander,  wobei  nur  Russland  wegen  seiner  ungeheuren  Land- 
grösse und  geringen  Gesammtentwicklung  sich  nicht  ohne  Weitres  mit  den  anderen 
vergleichen  lässt.  Dagegen  können  nicht  wohl  diese  Grossstaaten  unmittelbar  mit 
den  Mittelstaaten  verglichen  werden,  von  denen  z.  B.  Belgien  und  HoUand  nur  ihre 
besonders  hohe  Volksdichte  ihrer  geographischen  Lago  und  ihrer  mit  dadurch  be- 
dingten Function  für  den  Weltverkehr  Deutschlands  und  Frankreichs  verdanken.  Volks- 
und — was  grade  hier  geboten  ist  — weltwirtschaftlich  betrachtet  kommt  in  der 
Grösse  der  Bevölkerung  und  der  Volksdichte  dieser  beiden  Staatsgebiete  die  central- 
und  westeuropäisch- contincntale  volkswirtschaftliche  Gesammtentwicklung  mit  zum 
Ausdruck,  wie  in  derjenigen  Sachsens  und  R.-B.  Düsseldorfs  die  deutsche,  in  der 
des  Dep.  du  Nord  die  französische,  Lancasters  die  britische.  Die  bei  den  Statistikern 
übliche  Behandlung  solcher  Fragen  im  engen  Rahmen  der  politischen  Staatsgrenzen, 
regelmässig,  wie  iu  dem  hier  besprochenen  Falle,  eines  Products  zufälliger  Geschichts- 
gestaltung, führt  auch  hier  irre  und  bedarf  nach  solchen  volkswirtschaftlichen  Ge- 
sichtspuncten  der  Berichtigung. 

Die  Vergleichung  der  Durchschnittsdichtigkeit  in  der  Gegen- 
wart vom  Deutschen  Reich  und  Frankreich  mit  91  und  71  giebt 
genug  zu  denken.  Sie  zeigt,  wie  wirtbschaftliche  Entwicklung  und 
politische  Ruhe  selbst  bei  grosser  Auswanderung  eine  natürliche 
Volksvermchrung  bei  uns  in  diesem  Jahrhundert  ermöglicht  haben, 
durch  welche  wir  in  Bezug  auf  Volksdichte  nunmehr  weit  über 

*)  Deutsches  Reich,  Oesterreich-Ungarn  (mit  Bosnien  und  Herzegowina,  Lichtcu- 
stein),  Schweiz,  Luxemburg,  Niederlande,  Belgien. 

*)  Gr.-Britannicn  und  Irland  (N.  2 u.  3 in  der  „Bevölk.  d.  Erde“  als  Nordwest- 
europa zusammengefasst,  besser  doch  zu  trennen). 

*)  Dänemark,  Schweden,  Norwegen. 

*)  Frankreich,  Spanien,  Portugal,  Italien  mit  den  kl.  selbständ.  u.  fremdländ. 
Gebieten  (Malta,  Gibraltar). 

8)  Türkei  mit  Bulgarien,  aber  ohne  Bosnien  und  Herzegowina,  ferner  Rumänien  t 
Serbien,  Montenegro,  Griechenland. 

°)  Russland  mit  Polen  und  Finnland. 

7)  S.  „Bev.  d.  Erde“  VIII,  S.  XII  die  Bestandtheile  der  Gobietsgruppen. 

A-  Wignor,  Grnndlopnnp.  3.  Anflapo.  1.  Tholl.  Grundlagan.  37 


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574  4.  B.  Bevölk.  n.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.231. 

Tab.  XXIV.  Grösse,  Bevölkerung  und  Volksdichte  der 
einzelnen  europäischen  Reiche  und  Staaten.1) 


Gebietsgrösse 

1000 

Quadratkilom. 

Bevölkerung 
absolut, 
1000  Kopf 

Dichte 

auf 

1 Quadratkilom. 

Deutsches  Reich9) 

540.4 

49,424 

91 

Oesterreich-Ungarn8) 

625.5 

41.345 

66 

davon  West-Oesterr. 

300.2 

23.896 

79 

„ Ungarn  etc. 

325  3 

17.450 

53 

Bosnien,  Herzegowina 

51.1 

1,336 

26 

Schweiz8) 

40.8 

2,  ‘»33 

72 

Luxemburg 

2.59 

211 

82 

Niederlande 

33.0 

4.558 

138 

Belgien 

29.5 

6.147 

208 

Dänemark 

38.3 

2.172 

57 

Schweden 

450.6 

4,785 

11 

Norwegen 

325.3 

1,989 

6 

Gr.-Britann.  u.  Irland 

314.6 

37.888 

124 

davon  Engl.  u.  Wales 

150.7 

29.001 

192 

.,  Schottland 

78.9 

4,033 

51 

„ Irland 

84.3 

4,706 

56 

Frankreich 

536.4 

38.343 

71 

Spanien  8) 

497.2 

17,247 

35 

Portugal 4) 

89.4 

4.307 

48 

Italien 

286.6 

30.158 

105 

Griechenland 

65.1 

2.217 

34 

Europ.  Türkei6) 

168.5 

5.600 

32 

Bulgarien,  Ostrumelien 

96.7 

3,154 

33 

Montenegro 

9.1 

200 

22 

Serbien 

48.1 

2.157 

45 

Rumänien 

131.0 

c.  5.000 

38 

Europ.  Russland 

4889. 

c.  85,4 

17 

Russ.- Polen 

111.9 

8.257 

65 

Finnland 

373.6 

2,33S 

7 

Frankreich  hinaus  gekommen  sind,  während  um  1816  Deutschland 
nur  46,  Frankreich  bereits  53  Volksdichte  auf  1 qkm  besass. 
Italien  steht  nicht  mehr  so  sehr  viel  über  Deutschland.  Gross- 
britannien und  Irland,  zumal  England  allein,  überragt  aber  freilich 
bei  Weitem  uns  und  Italien,  dank  seiner  heutigen  wirtschaftlichen 
Weltstellung.  West -Oesterreich  Ubertrifft  auch  bereits  Frankreich 
und  steht,  trotz  seiner  dünn  bevölkerten  Alpenländer,  im  Durch- 
schnitt zwischen  Deutschland  und  Frankreich  etwa  in  der  Mitte. 


*)  In  der  Reihenfolge  der  Tab.  XXIII. 

9)  Ohne  Bodensee,  Schweiz  auch  ohne  Genforseo. 

3)  Ohne  canar.  Inseln. 

4)  Ohne  Madeira  u.  Azoren. 

5)  Mit  Kreta. 


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Statistik  der  Volksdichtigkeit. 


575 


Die  Länder  der  pyrenäischen  und  der  Balkanhaibinse!,  uralte  Cultur- 
gebiete,  stehen  dagegen  beute  ungemein  zurück  hinter  den  grossen 
Gebieten  Mittel-  und  Westeuropas,  „den  transalpinen“  im  antiken 
Sinne,  Gallien,  Germanien,  Britannien : ein  Beleg  dafür,  wie  „poli- 
tische“ Factoren  freilich  auch  hier  mit  einwirken  und  wie  es  eben 
im  heutigen  Zeitalter  der  Technik  und  des  Wirthschaftslebens 
andere  Factoren,  als  Klima  und  agrarische  Bodenfruchtbarkeit  sind, 
welche  die  Bevölkerungsgrösse  und  Dichte  maassgebend  mit  be- 
stimmen. Dass  indessen  auch  rein  oder  noch  überwiegend  agrarische 
Länder  eine  gute  mittlere  und  selbst  eine  bedeutendere  Volksdichte 
sogar  im  östlichen  Mitteleuropa  erreichen  können,  zeigen  Russisch- 
Polen,  Ungarn,  Galicien  (s.  Tab.  XXVII). 

Unter  den  Mittelstaaten  Europas  ist  der  Vergleich  von 
Belgiens  und  Hollands  Dichte  mit  derjenigen  der  Schweiz,  dann 
der  Dichte  dieser  drei  Länder  mit  derjenigen  der  scandinavischen 
Staaten  und  Dänemarks,  auch  mit  derjenigen  Schottlands  und  Irlands 
beachtenswerth , zum  Beleg  wie  stark  doch  allerdings  von  Gunst 
und  Ungunst  des  Klimas,  des  Bodens,  der  geographischen  Lage 
die  ge8ammte  Entwicklung  auch  der  wirtschaftlichen  und  dadurch 
wieder  der  Bevölkerungsverhältnisse  selbst  heute  noch  bedingt  ist. 

§.  232.  — Volksdichte  in  kleineren  Gebiets- 
theilen  Deutschlands. 

In  der  folgenden  Tabelle  XXV  wird  zunächst  für  grössere,  in  der  Nr.  XXVI 
für  kleinere  Gebietstbeile  des  Deutschen  Reichs  die  Volksdichte  ersichtlich  ge- 
macht. S.  Tab.  XXV  auf  S.  576,  Tab.  XXVI  auf  S.  577. 

In  den  beiden  Tabellen  XXV  und  XXVI  ist  in  den  drei  Colonnen  Deutschland 
von  Nord  osten  nach  Sudwesten  in  drei  ost- westliche  Streifen  zerlegt  und  das  geo- 
graphische mit  dem  politischen  und  administrativen  Einthcilungsprincip  ver- 
bunden worden.  Bei  jeder  Anknüpfung  an  die  politische  und  administrative  Ein- 
theilung  zerreisst  man  freilich,  zumal  in  einem  einheitlichen  Volkswirthschaftsgebiet 
wie  hier,  mancherlei  geographisch  und  wirthschaftlich  Zusammengehöriges,  was  aber 
ohne  ein  Eingehen  auf  specicllstc  Einzelheiten,  und  auch  dabei  doch  nur  wieder  mit 
einer  gewissen  Willkühr,  nicht  zu  vermeiden  ist.  Die  Verkeilung  der  Bevölkerung 
grosser  Städte,  Weltstädte,  wie  Hamburg  und  Berliu,  deren  Gesammtentwicklung  und 
Bevölkerungsgrösse  nicht  das  Product  einer  einzigen  Landschaft,  in  der  sie  liegen  — 
auch  nicht  von  der  Grösse  einer  Provinz  — ist,  macht  dabei  natürlich  wieder  be- 
sondre  Schwierigkeiten.  Immerhin  giebt  es  ein  richtigeres  Bild,  wenn  mau  z.  B.  die 
Bevölkerung  Hamburgs  und  Lübecks  zur  schleswig-holsteinschen,  Bremens  zur  hanno- 
verschen (R.-B.  Stade).  Berlins  zu  Brandenburg  rechnet,  als  wenn  man  die  Volksdichte 
dieser  Provinzen  und  Bezirke  ohne  diese,  von  Schleswig- Holstein  ja  ganz  zufällig 
politisch  getrennten  Städte  feststellt.  Man  muss  nur  immer  bei  der  Beurteilung  der 
Zahl  daran  denken,  dass  man  in  ihr  den  Einfluss  der  betreffenden  Städte  mit  zum 
Ausdruck  gebracht  sieht.  Gebiete  wie  die  der  kleinen  deutschen  Staaten,  Anhalt, 
Braunschweig.  Oldenburg,  Lippe  u.  s.  w.,  gehören  natürlich  für  unsere  Betrachtung, 
wie  geographisch,  so  wirthschaftlich  und  populationistisch  zu  der  betreffenden  Provinz, 
in  der  sie  liegen.  Da  in  Deutschland  die  Provinzen  und  Mittelstaaten  aber  auch 
nur  annähernd  geographische,  stammesartige,  wirtschaftliche  Einheiten  innerhalb  des 

37* 


576  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  BevölkJehre.  1.  H.-A.  Statist  §.  232. 


Tab.  XXV.  Volksdichtigkeit  des  Deutschen  Reichs 
nach  geographisch  - admini strativen  Gebietstheilen 

von  Provinzialgrösse.1) 


Norddeutschland 

Auf  lQu.kil. 
: Bewohner 

Mitteldeutschland 

Auf  lQu.kil. 
Bewohner 

Süddeutschland 

= - 
3 S 

-1 

Ostpreussen 

53 

Schlesien 

105 

Südbaiern 

63 

W7estpreussen 

56 

Posen  Pr. 

61 

Bair.  Franken 

82 

Pommern 

51 

Brandenburg 

103 

[Wünemberg 

104] 

Mecklenburg 

45 

[dgl.  ohne  Berlin 

64J 

dgl.  mit  Hoh.zoll. 

102 

[Schleswig-Holstein 

65] 

[Pr.  Sachsen 

102] 

Baden 

110 

dgl.  mit  Encl. 

97 

dgl.  mit  Encl. 

104 

[Gr.  Hessen 

129 

[Hannover 

59] 

Kgr.  Sachsen 

233 

[Sudhessen  allein 

165 

dgl.  mit  Encl. 

66  | 

Thüringen 

104 

[Pfalz 

123 

[Westfalen 

120] 

[Hessen-Nassau 

106] 

Südhessen  u.  Pfalz 

141 

dgl.  mit  Encl. 

119 

dgl.  mit  Encl. 

99  Eisass- Lothringen 

111 

Rheinland 

173 

I 

Gesammtgebicts  bilden,  sind  freilich  auch  die  so  gebildeten  „provinzialen“  Ge- 
bietstheile  in  Tab.  XXV  und  vollends  die  „bezirklichen“  in  Tab.  XXVI  immer 
nur  mit  Vorbehalt  für  unsere  und  verwandte  Fragen  der  Untersuchung  zu  Gruode  zu 
legen.  In  den  anderen  Ländern  kehren  ähnliche  Bedenken  wieder.  Desgleichen  bleibt 
die  immerhin  starke  Verschiedenheit  der  Grösse  der  Gebietstheile  in  beiden 
Tabellen  ein  die  Vergleichung  und  Schlüsse  daraus  störender  Factor,  ein  Umstand, 
welcher  sich  bei  dieser  Behandlung  des  Gegenstands  nicht  beseitigen  lässt,  bei  der 
Scblussziehung  nur  wieder  beachtet  werden  muss  und  auch  einigermaassen  es 
werden  kann. 

In  den  grösseren  (provinzialen)  Theilen  der  Tab.  XXV 
gleichen  sich  natürlich  mehr  wie  in  den  kleineren  (bezirklichen) 
der  Tab.  XXVI  die  Durchschnitte  der  Volksdichte  aus,  so  in  Betreff 
der  Bevölkerungszahlen  grosser  Städte  in  sonst  dünner  bevölkerten 
Provinzen  (Schleswig-Holstein  mit  Hamburg,  Brandenburg  mit  Berlin, 
Oberbayern  mit  München)  und  zwischen  etwaigen  vorwiegend 
industriellen  und  montanistischen  stark  und  agrarischen  schwächer 

bevölkerten  Landestheilen  (Westfalen,  Rheinland,  K.  Sachsen). 

*-■  . - 

*)  Mit  möglichster  Zusammenfügung  dessen,  was  geographisch  und  volkswirth- 
schaftlich  einigermaassen  zusammen  gehört , aber  mit  Anlehnung  an  die  historisch- 
politische  und  administrative  Eintheilung:  daher  die  preuss.  Provinzen,  die  grösseren 
Mittelstaaten,  die  baier.  genannten  Provinzgruppen  in  den  durch  den  Namen  von 
Staat  oder  Provinz  bezeichnetcn  Grenzen,  nur  bei  Rheinland  incl.  das  oldenb.  Birken- 
feld. Sonst  aber:  bei  Mecklenburg  beide  zusammen;  Schleswig-Holstein  mit  Enclaven: 
Staat  Hamburg  und  Lübeck , oldenb.  Fürst  Lübeck ; bei  Hannover  mit  Enclaven : 
Herz.  Braunschweig,  Herz,  (nicht  das  ganze  Grosshz.)  Oldenburg,  Staat  Bremen;  bei 
W estfalen  mit  Enclaven ; Lippe  u.  Schaumb.-Lippe ; bei  Provinz  Sachsen  mit  EncL : 
Anhalt;  bei  Thüringen:  die  4 sächs.  Lande,  beide  Schwarzburg,  beide  Reuss;  bei 
Hessen  - Nassau  mit  Enclaven:  Waldeck  und  hess.  Prov.  Oberhessen;  bei  Südhessen 
und  Pfalz:  hess.  Prov.  Starkenburg  und  Rheinhessen  nebst  baier.  Pfalz.  Die  ein- 
geklammerten Zahlen  sind  für  die  Zusammenstellung  in  Tabelle  XXVIII  unten  nicht 
berücksichtigt,  sondern  statt  ihrer  die  betreffenden,  die  Enclaven  umfassenden. 


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Statistik  der  Volksdichte. 


577 


Tab.  XXVI.  Volksdichtigkeit  des  Deutschen  Reichs 
nach  geographisch  - administrativen  Gebietstheilen 

von  Bezirksgrösse.1) 


Norddeutschland 

Auf  lQu.kil. 
Bewohner 

Ost-westl. 

Mitteldeutschland 

23  o 
o = 
°"o 

z * 

o « 
< ® 

Suddeutschland 

Auf  lQu.kil. 
, Bewohner 

Gumbinnen 

< 

55  | 

Oppeln 

119 

Niederbaiern 

62 

Königsberg 

50 

Breslau 

119 

Oberbaiern 

66 

Marienwerder 

4S 

Liegnitz 

77 

[dgl.  ohne  München 

45] 

Danzig 

74 

Posen 

64 

Oberpfalz 

56 

Köslin 

40 

Bromberg 

65 

Schwaben 

68 

Stettin 

62 

Frankfurt  a.  O. 

59 

Oberfranken 

82 

Stralsund 

52 

Potsdam 

142  i 

Mittelfranken 

92 

Meckl.-Strelitz 

33  | 

[Potsdam  ohne  Berlin 

68]. 

Unterfranken 

74 

- Schwerin 

44 

Magdeburg 

93 

Würt.  Donaukreis 

78 

[Schleswig-  Holstein 

65] 

Anhalt 

118  ] 

[ - Schwarzw.kr. 

101] 

dgl.  mit  Encl. 

97  j 

Merseburg 

105  ! 

dgl.  mit  Hoh.zoll. 

92 

Lüneburg 

37 

Erfurt 

123  | 

Würt.  Neckarkreis 

200 

[Stade 

so] ; 

Bautzen 

150  ' 

[dgl.  ohne  Stuttgart 

158] 

Stade  mit  Bremen 

73 

Dresden 

219  I 

- Jagstkreis 

78 

Hildesheim 

90  1 

Leipzig 

243  S 

Bad.  B.  Constanz 

68 

Herz.  Braunschweig 

109  ! 

Zwickau 

284  f 

- Freiburg 

99 

Hannover 

92 

S.-Altenburg 

129  1 

- Karlsruhe 

173 

Herz.  Oldenburg 

52 

S.- Weimar 

91  ] 

- Mannheim 

128 

Osnabrück 

48 

S.-Coburg-Gotha 

106  1 

Hess.  Pr.  Starkcnb. 

139 

Aurich 

70 

S.-Meiningen 

91  ] 

- Rheinhessen 

224 

[Minden 

105] 

Beide  Reuss 

160 

Pfalz 

123 

Minden  mit  2 Lippe 

106 

Beide  Schwarzburg 

89 

Obereisass 

134 

Münster 

74  i 

[Thüringen 

104]| 

Untereisass 

130 

Arnsberg 

174 

[Cassel 

81] 

Lothringen 

82 

Düsseldorf 

361 

Cassel  mit  Waldeck 

73  1 

Köln 

208 

Wiesbaden 

150  | 

Aachen 

136 

Oberhessen 

81  { 

Coblenz 

102 

I 

Trier  mit  Birkenfeld 

99 

1 

t 

Aber  der  Einfluss  von  Lage  im  deutschen  Wirthschaftsgebiet  und 
zum  Ausland,  Klima,  Bodenart,  vorwaltender  wirtschaftlicher  Be- 
schäftigung, Agrarverfassung , Industrie-  und  Städteentwicklung 
zeigt  sich  doch  in  den  Daten  der  Tab.  XXV  noch  mehrfach  recht 
deutlich:  rein  oder  doch  überwiegend  agrarische  Gegenden,  nicht 
allzu  günstiger  Bodenart  und  Klimas,  mit  einer  den  Grossgrund- 
besitz begünstigenden  Verfassung,  nicht  besonders  vorteilhafter 
geographischer  Lage  bringen  es  auch  bei  uns,  bisher  wenigstens, 
noch  auf  keine  hohe  Volksdichte  (45 — 63,  das  ganze  Küstengebiet 
an  der  Ost-  und  Nordsee,  im  Innern  Prov.  Posen,  Brandenburg,  im 


1)  Die  preuss.  Regierungsbezirke  und  die  Provinzial-  und  Kreis-  und  ßezirks- 
eintheilung  der  Mittelstaaten  in  den  administrativen  Grenzen,  Schleswig-Holstein  mit 
den  Enclaven  wie  in  Tab.  XXV  (Hamburg,  Lübeck,  Fürst  Lübeck). 


578  4.  B.  Bevölk.lehre.  1.  K.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  H.-A.  Statist.  §.  232. 


Süden  Südbaiern,  namentlich  Hamburg,  Bremen,  Berlin,  München  ab- 
gerechnet). Allgemein  für  den  Durchschnitt  der  Provinz  höhere  Zahlen 
setzen  grosse  Städte  (Brandenburg  mit  Berlin,  Schleswig-Holstein  mit 
Hamburg),  entwickelte  grössere  Industriebezirke  (Rheinland,  West- 
falen mit  Arnsberg,  K.  Sachsen,  Schlesien,  Thüringen,  Prov.  Sachsen, 
Theile  von  Süddeutschland)  oder  besonders  günstige  Agrarver- 
hältnisse, nach  Boden,  Producten,  Agrarverfassung,  Absatz  u.  s.  w. 
(Prov.  Sachsen,  West-  und  Südwestdeutschland)  voraus.  Die  ganz 
hohen  Zahlen  (Sachsen,  Rheinland,  besonders  einige  Theile  davon) 
finden  sich  nur  unter  besonders  mächtigen  Einflüssen  hochindustrieller, 
grossstädtischer,  hochintensiv-agrarischer  Entwicklung. 

ln  den  kleineren  (bezirklichen)  Gebietstheilen  der 
Tab.  XXVI  tritt  das  Alles  noch  deutlicher  hervor,  indem  sich  hier 
die  provinzialen  Dichteziffern  der  Tab.  XXV  in  ihre  Componenten 
auflösen. 

Die  administrative  und  die  politische  Eintheilung  ist  hier  mit  den  angedeuteten 
Modificationen  in  Betreff  der  kleinen  cnclavirten  Gebietstheile  für  Preussen  and  die 
Mittelstaaten  (bis  incl.  Hessen)  zu  Grunde  gelegt.  Die  daneben  (in  der  2.  Colonne) 
gestellten  thüringischen  Kleinstaaten  bleiben  freilich,  wie  auch  Mecklenburg-Strelitz, 
hinter  der  Durchschnittsgrösse  der  Bevölkerung  eines  der  übrigen  bezirklichen  Gebiets- 
theile zum  Theil  nicht  unerheblich  zurück,  wurden  aber,  um  „Thüringen“  einmal 
aufzulösen,  hier  apart  aufgeführt.  Auch  die  preussischen  Bezirke  weichen  unter 
einander  (Düsseldorf  1,973,000,  Stralsund  20S.000!)  und  von  denen  der  Mittelstaaten 
zum  Theil  erheblich  an  Grösse  ab,  was  wieder  bei  Vergleichen  und  Schlüssen  daraus 
zu  beachten  bleibt. 

Wie  sehr  die  specifisch  hochintensive  Industrieentwicklung,  namentlich  gewisser 
Fabrikzweige,  und  damit  zusammenhängend  die  städtische  Entwicklung  die  ganz  hohen 
Zahlen  der  Volksdichte  bedingt,  ergiebt  besonders  der  Vergleich  der  5 Bezirke  der 
Rheinprovinz  (Düsseldorf.  Cöln,  Aachen,  Coblenz,  Trier),  der  3 Westfalens  (Arnsberg, 
Minden,  Münster),  der  4 des  Kgr.  Sachsen  (Zwickau,  Leipzig,  Dresden,  Bautzen)  je 
unter  einander.  Den  Einfluss  auf  starke  Erhöhung  der  Durchschuittszißer  des  Bezirks 
durch  grosse  Städte  zeigt  ß.-B.  Potsdam  mit  und  ohne  Berlin,  Oberbaiern  mit  und 
ohne  München:  zwei  Städte,  die  eben  wirtschaftliche  Mittel  und  Bevölkerung  aus 
Kreisen  weit  über  den  Bezirk  hinaus  herbeiziehen.  Rein  agrarische,  wenig  günstige 
Bezirke  sinken  auf  50,  40  und  darunter  (Ostsee-,  z.  Th.  auch  Nordseegebiet,  Ober- 
baiern), während  die  süd westdeutschen,  bes.  die  rheinischen  Gegenden  vorwaltend 
agrarischen  Characters  doch,  freilich  immer  auch  hier  mit  Hilfe  mehr  städtischer  und 
industrieller  Bevölkerung,  auf  erheblich  grössere  Ziffern  der  Dichte  kommen. 

So  wird  manches  Schlaglicht  auf  die  Bedingungen  der  Volksdichte  schon  durch 
die  verschiedenen  Daten  der  Tab.  XXVI  geworfen,  wenn  man  sie  mit  den  gegebenen 
und  als  bekannt  vorauszusetzenden  wirtschaftlichen  und  sonstigen  Verhältnissen  der 
einzelnen  Bezirke  in  Zusammenhang  bringt.  Genauer  Hesse  sich  das  aber  auch  hier  erst 
durch  Auflösung  der  Dichtigkeitszahlen  in  ihre  Componenten,  mittelst  Rückgehens  auf 
die  Ziffern  für  Kreise  und  noch  kleinere  Einheiten  verfolgen.  S.  über  die  badischen 
und  rheinländischen  Verhältnisse  die  gen.  Arbeiten  von  Neumann  (Freiburg)  und 
Sp  recher  von  Bernegg. 

Von  Interesse  für  die  ganze  Frage  der  Volksdichte  ist  auch  die  Vergleichung 
mit  den  Verhältnissen  der  Nachbarländer  ausserhalb  des  Reichs.  Die  hohen  Ziffern 
des  R.-B.  Düsseldorfs  begegnen  nur  in  einigen  niederländischen,  belgischen  und  nord- 
französischen (Depart.  du  Nord)  Bezirken  wieder,  mit  ähnlich  günstigen  Industrie-, 
Handels-,  Agrarverhältnissen,  grossen  Städten  u.  s.  w.  An  die  sächsischen  schliessen 
sich  verwandte  nordböhmische  Verhältnisse  an. 


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Statistik  der  Volksdichtigkeit. 


579 


§.  233.  — Volksdichte  in  kleineren  Gebietsteilen 
anderer  Länder,  besonders  Europas. 

In  der  folgenden  Tab.  XXVII  sind  nun  für  einen  grossen  Theil  des  übrigen 
Europa  sowie  für  Theilo  von  America  und  Asien  ähnliche  Dichtezahlen  zusammen* 
gestellt  worden. 

S.  Tab.  XXVII  auf  S.  5S0— 5S3. 

In  dieser  Tab.  XXVII  entsprechen  die  grösseren  Gebietsgruppen  und  Pro- 
vinzen u.  dgl.  den  deutschen  Provi nzialabtheilungen  der  Tab.  XXV  einigermaassen, 
ebenso  die  kleineren  den  deutschen  Bczirksabtheilungen  der  Tab.  XXVI.  Aber 
"bei  der  Verschiedenheit  der  Gesammtgrösse  der  einzelneu  Länder  und  bei  der  Ver- 
schiedenheit der  administrativen  Eiutheilung  eines  jeden  ergeben  sich  nur  Grössen, 
welche  annähernd,  immer  nur  unter  den  mehrfach  für  solche  Vergleiche  hervor- 
gehobenen Vorbehalten,  unter  einander  und  mit  den  betreffenden  deutschen  ver- 
glichen werden  können.  Für  alle  Schlüsse  aus  solchen  Vergleichen  sind  daher 
auch  wieder  Vorbehalte  geboten.  Nimmt  man  diese  und  vergisst  sie  bei  den  Ver- 
gleichungen und  Schlüssen  im  Einzelnen  nicht,  so  lassen  sich  doch  immerhin  werth- 
volle Folgerungen  aus  den  zahlreichen  Daten  über  die  Verhältnisse  der  Volksdichtig- 
keit in  Tab.  XXVII  ableiten. 

In  Oesterreich  - Dngarn  tritt  der  entscheidende  Einfluss  der  Boden- 
besch  affen  heit  und  des  Klimas,  ebenso  wie  in  der  Schweiz  in  der  niedrigen 
Dichte  der  Alpenländer  deutlich  hervor,  zumal  derer,  in  welchen  nicht  grosse  Städte 
(Wien)  und  Industriesitze  die  Dichte  erhöhen. 

Ohne  Wien  zeigen  die  gesammten  österreichischen  und  schweizerischen  Alpen- 
ländcr,  in  der  in  der  Tab.  innegehaltenen  Eiutheilung,  dieselbe  Dichte  (4S)  und  auch 
kleinere,  geographisch  ähnliche  Gebiete  ähnliche  Zahlen.  Mit  diesen  stimmen  die- 
jenigen aus  den  französischen  Alpengegenden  überein.  Die  Ziffern  bleiben  aber 
meist  doch  höher  als  in  den  nordischen  Gegenden  Russlands,  Scandinaviens  und  selbst 
Schottlands.  In  der  für  Oesterreich  hier  bloss  verfolgten  Provinzialgruppirung  sind, 
von  den  reinen  Alpenprovinzen  abgesehen,  die  Dichtedifferonzen  zwischen  den  mehr 
industriellen  Provinzen  mit  Gressstädten  und  den  mehr  rein  agrarischen  Provinzen 
nicht  so  gross  wie  in  Deutschland  und  vollends  in  Grossbritannien.  Es  zeigt  sich 
also  dort  noch  eine  gleichmässigere  Bevölkerungsverteilung.  Die  schweizer 
Verhältnisse  ergeben  grosso  Differenzen  der  Dichte  zwischen  den  einzelnen  Kantonen 
nach  Klima,  Boden,  wirtschaftlicher  Thätigkcit,  Städtewesen.  Aber  die  Kantone  sind 
zu  verschieden  in  der  Grösse,  die  Schweiz  zu  klein  im  Ganzen,  der  Einfluss  der 
Nachbarländer  herüber  und  hinüber  (Deutschland,  Frankreich)  zu  bedeutend  (Basel, 
Genf),  als  dass  man  aus  den  Schweizer  Verhältnissen  der  Dichte  sonst  vielschliessen  dürfte. 

In  Italien  fällt  bei  der  hier  auch  nur  nach  der  Provinzialeintheilung  ver- 
folgten Volksdichtigkcit  dio  relativ  hohe  Dichte  in  allen  diesen  Landest  eilen , ab- 
gesehen von  Sardinien,  auch  heute  noch  auf.  Der  Einfluss  der  Boden boschaffcnheit 
(und  nach  der  Höhenlage  auch  des  Klimas)  tritt  in  Mittel-  gegenüber  Ober-  und 
Unteritalien,  in  Umbrien,  Latium,  Abruzzen,  Basilicata  gegenüber  der  lombardischen 
Ebene,  Campanien  noch  immer  deutlich  hervor.  — Sardinien  und  Corsika  fallen  un- 
gemein  ab:  geographische  Lage,  Boden-  und  allgemeine  Cultur-  und  politische  Ein- 
flüsse machen  sich  entscheidend  goltend. 

In  den  Niederlanden  und  Belgien  sehen  wir  ungemein  hohe  Dichte  in  den 
mercantil,  bezw.  industriell  und  montanistisch  und  in  Bezug  auf  Städte,  unter  dem 
Einfluss  davon  auch  im  Ackerbau  hoch  intensiv  entwickelten  Provinzen : 8 von  20  Pro- 
vinzen mit  über  200  Bewohnern  auf  dem  Quadratkilometer!  In  solchen  Verhältnissen 
tritt  aber,  wie  schon  bemerkt,  auch  der  Einfluss  der  geographischen  Lage  am  Mün- 
dungsgebiet von  Rhein,  Maass  und  Schelde  und  damit  an  derjenigen  Stelle  hervor, 
worüber  ein  grosser  Theil  des  Weltverkehrs  des  westlichen  und  mittleren  Continents 
naturgemäss  geht.  Wie  die  abgelegeneren  und  durch  die  Bodenbeschaffenheit  weniger 
begünstigten  Gegenden  auch  in  diesen  Ländern  nur  eine  viel  niedrigere  Dichte  bisher 
erreichen  konnten,  zeigen  einige  audere  niederländische  und  belgische  Provinzen,  wo 
die  Dichte  auf  die  Zahl  Pommerns  und  Mecklenburgs  sinkt. 

In  Frankreich  macht  sich  im  Vergleich  mit  fast  allen  übrigen  hier  berück- 
sichtigten europäischen  Ländern  auch  in  den  Zahlen  der  Volksdichtigkeit  der  Depar- 

(Forts.  des  Textes  S.  583.) 


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580  1.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  BevölkJehre.  1.  H.-A.  Statist  §.  233. 


Tab.  XXVII.  Volksdichtigkeit  in  einigen  andern  Ländern 
nach  geographisch-administrativen  Gebietstbeilen. 


=3  *J 

© i 

3 <= 

C ä* 

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^4  © 

3 £ 

o-g 

3 ö 

3« 

T3  », 
© 

= = 
3 #2 

Oesterr. -Ungarn 

66 

Schweiz9)  gröss.  Kant. 

71 

Sardinien 

30 

Ganz  Ungarn 

53 

Kanton  Bern 

78 

Ung.u.  Siebenbürgen 

55 

Zürich 

197 

Corsika 

32 

Kroatien 

52 

* - Aargau 

138  | 

[Bosnien,  Herzegow. 

26] 

St.  Gallen 

114  ! 

Oder*) 

Ganz  Westöstcrr. 

79 

Waadt 

78 

Ober-Italien 

12S 

Bukowina 

61  | 

Luzern 

90 

Mittel  - 

85 

Galizien 

84  ! 

Graubünden 

13  ! 

Unter 

116 

Schlesien 

116 

Wallis 

19 

N iederlande4) 

138 

Mähren 

102 

Tessin 

45 

Groningen 

120 

Böhmen 

112  1 

Oder:  Alpen-Schweiz 

48 

Drcntbe 

49 

Nicderösterr. 

133 

üebrige  Schweiz 

143 

Friesland 

102 

[dgl.  ohne  Wien 

65] 

Italien 

105 

Oberyssel 

89 

Oberösterr. 

65 

Yenetien 

120 

Gelderland 

101 

Steiermark 

57 

Lombardei 

160 

Utrecht 

162 

Krain 

49 

Piemont 

112 

Nord-Holland 

305 

Triest,  Istr.,  Görz 

87 

Romagna 

114 

Süd 

321 

[dgl.  ohne  Triest 

68] 

Parma,  Modena 

100 

Limburg 

116 

Dalmatien 

41 

Ligurien 

181 

Nordbrabant 

99 

Kärnthen 

35 

Marken 

98 

Seeland 

112 

Salzburg 

24 

Umbrien 

61 

Oder  Nord-Ost-Niederl. 

94 

Tirol 

30 

Toscana 

94 

i Mittel- 

284 

Vorarlberg 

45 

Abruzzen  etc. 

81 

Süd-West- 

106 

Latium  (Rom) 

81 

Belgien 

Oder l * * 4) : 

Apulien 

93 

t Limburg 

93 

Alpenländer 

60 

Basilicata 

55 

! Luxemburg 

49 

dgl.  ohne  Wien 

48 

Campanien 

190 

Namur 

93 

Sudetenländer 

110 

[dgl.  ohne  Neapel 

156] 

Lüttich 

260 

Karpathen  - 

60 

Calabrien 

86 

Antwerpen 

247 

Illyrische  - 

42 

j Sicilien 

128 

| Brabant 

343 

l)  Oesterreich-Ungarn  s.  Herrn.  Wagner:  „die  Bevölkerung  der  Erde“ 
Nr.  VIII,  S.  258.  Oesterr.  Alpenländer:  Ober-,  Niedorösterreicb,  Salzburg,  Tirol  und 
Vorarlberg,  Steiermark,  Kärnthen,  Krain;  Sudetenländer:  Böhmen.  Mähren,  Schlesien; 
Karpatheniänder:  Galizien,  Bukowina,  Ungarn,  Siebenbürgen ; illyr.  Länder:  Küstenland, 
Dalmatien,  Kroatien  (mit  Fiume)  und  hier  auch  Bosnien  und  Herzegowina. 

*)  Schweiz.  Scheidung  nach  ganzen  Kantonen  zwischen  Alpenschweiz  und 
übriger  Schweiz,  daher  nur  nach  dem  vorwaltenden  Character  und  ungefährer 
Zugehörigkeit  zum  einen  oder  andren  Tbeil.  Als  Alpenschweiz  wurde  gerechnet: 
Kantone  Luzern,  beide  Appenzell  (224  u.  73  Dichte),  St  Gallen.  Schwyz,  Uri  (Dichte  16), 
beide  Unterwalden  (ob  d.  Walde  19  Dichte),  ganz  Bern,  Wallis,  Graubunden.  Tessin, 
daher  doch  neben  Hochalpengebieten  auch  niedrige  Gebiete  und  industrielle;  zur 
„übrigen  Schweiz“  alle  anderen  Kantone,  von  denen  natürlich  ganz  städtische  wie 
Baselstadt  und  Genf  sehr  hohe  Dichtigkeitsziü'ern  haben. 

8)  Italien.  Zu  Oberitalien:  Yenetien,  Lombardei,  Piemont,  Romagna,  Parma- 
Modena,  Ligurien;  zu  Mittelitalien:  Marken,  Umbrien,  Toscana,  Abruzzen  u.  Molise, 
Latium  (Rom);  zu  Unteritalien  die  übrigen  in  der  Tabelle  genannten  Landschaften 
des  Festlands. 

4)  Niederlande:  zu  Ost-Niederlanden  die  ersten  5,  zu  Mittel-  die  mittleren  3, 
zu  Südost-  die  letzten  3 Provinzen  der  Tabelle. 


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Statistik  der  Volksdichtigkeit. 


581 


u 

M 4> 

I 23  S 

.'O*o 

iä 


Hennegan 
Ostüaodern 
Westflandern 
Oder 3): 

Oestliches  Belgien 
Mittleres 


Sü  d restliche 
Max.  Gironde 

Min.  Landes 


o»> 

71» 

82 


Westliches 

274 

rankreich2); 

7 1 

Depart.  gruppen 

N ö ril  liehe 

180 

Max.  Seine  (Paris) 

6227 

- Nord 

294 

Min.  Seine-Marne 

02 

Nördliche  ohne  Paris 

128 

Nordwestliche 

76| 

Max.  Seine  inf6r. 

SO 

Min.  Eure-Loire 

48 

Nordöstlich  e 

58 

Max.  Meurtho-Mos. 

S 3 

Min.  Haute-Marne 

40 

0 östliche 

74 

Max.  Khone 

277 

Min.  Haute- Saöne 

54 

Alpendepart. 

46 

Max.  Isere 

70 

Min.  Basses  Alpes 

18 

Südöstl.  u.  Mit- 

! 

tclmeer 

70 

Max.  Khunemünd. 

119 

Min.  Var 

47 

Ob.  Centraldep. 

5Sj 

Max.  Fuy-de-Dome 

72 

Min.  Lozöre 

27 

Unt.  Centraldep. 

51 

Max.  Allier 

58 

Min.  Indre 

44 

Westliche 

84 

Max.  Finistöre 

05 

Min.  Mayenne 

66 

Mittlere  wcstl. 

59 

Max.  Char.  in&r. 

68 

Min.  Vienne 

49)| 

Min. 

Süd- 

Max. 

Min. 


Coreika 

Gr.- Britannien  nd. 

Irland1) 

E n g 1 a n d 
Gebietaabtb . , G raf- 
sr haften  n.  dg!. 

M etropoli  t(Lond.) 
Davon  Middlesex 
Snrrey 

Süd-Östiiche 
Max.  Kcnt 

Berkshire 
midi  änd. 
Bedfordsh. 
Hnntingdonsb. 

0 östlich  e 
Max.  Essex 
Min  Norfolk 
S Udwestliche 
Max.  Somersebh. 
Min.  Wilt  u.  Dorsct 
West-mitländ. 
Max.  Staffordsb. 

Min.  Herefordsh. 
Nord-mitländ. 
Max.  Nottinghamsh. 
Min.  Rutlandsh. 
Nord  westliche 
Max.  Lancash. 

Min.  Chesb. 
Yorkshire 
Max.  Westriding 
Min.  Northrid. 
Nördliche 
Max.  Dnrham 
Min.  Wcsimorelaud 
Monmouthsh. 
Wales(m.Monmouth 
86) 


129 

209 


I80ö 
4480 
882 
180 
2S8 
128! 
1U5 
185|j 
621 
121 
106 
S3| 
91 1 
114  j 
7«! 
204 
358 
54 
128. 
209 : 
54 
619 
803 
27W 
242 
341 
«7. 
134 
389 
33' 
11', s 

80i; 


3 § 

^ o 

91 

Süd-  W ales 

97 

Max.  Glamorgan 

329 

Min.  Brecknock 

31 

Nord  - Wales 

57 

Max.  Flintsh. 

118 

Min,  Montgomery 

29 

Inse  Man 

95 

Canalinseln 

471 

ch  ott  1 a n d 

51 

Nördliches 

13 

Max.  Orkneyinsaln 

29 

Min.  Sutherland 

4 

Nord-westL 

9 

Nord-östl. 

44 

Max.  Aberdeen 

55 

Min.  Naim 

IS 

Oat-M  idland 

58 

Max.  Clackmaunan 

220 

Min.  Perth 

19 

Wcst-Midland 

29 

Max.  Dumbartoa 

135 

Min.  Argyi 

9 

Südwestliches 

263 

Max.  Lanark 

454 

Min.  Ayr 

75 

Südöstliches 

127 

Max.  Edinburgh 

467 

Min.  Pecbles 

16 

Südliche 

24 

Max  Roxbonrgh 

31 

Min.  Kirkcudbr. 

16 

rland 

56 

Leinster 

61 

Max,  Dublin 

467 

Min.  Wicklow 

31 

Munster 

48 

Max.  Cork 

58 

Min.  Cläre,  Kerry 

37 

Ulster 

73 

Max,  Antrirn 

139 

Min.  Donegal 

38 

*)  Belgien:  zu  östlichem  die  ersten  8,  zu  mittlerem  die  folgenden  4,  zu  nörd- 
lichem die  letzten  2 Provinzen  der  Tabelle. 

*)  Frankreich.  Die  Eintheilung  in  geographische  Gebietsgruppen  und  die 
Yertbeilung  immer  der  ganzen  Departements  darauf  nach  Herrn.  Wagner,  in  der 
Bevölkerung  der  Erde  Nr.  VIII,  S.  17,  woselbst  die  einzelnen  Departements  mit  ihrer 
speciellcn  Yolksdichte  genannt  sind.  In  der  Tab.  XXVII  sind  nui  d e Departements 
mit  Maximal-  und  Minimaldichte  in  jeder  geographischen  Groppe  angeführt  worden. 

*)  Gr.-Britan nien  und  Irland.  S.  ebenfalls  die  Daten  für  die  einzelnen 
Grafschaften  u.  s.  w.,  von  denen  hier  nur  in  jeder  Grnppe  diejenigen  mit  Maximal- 
und  Minimaldichte  genannt  wurden,  bei  Herrn.  Wagner,  Bevölkerung  der  Erde, 
Nr.  VIII,  S.  19  u.  260. 


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582  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lehre.  1.  H.-A.  Statist  §.  233. 


T73 

3- 

" 

Gonna ught 

41 

Max.  Sligo 

63 

Min.  Galway 

34 

D ä nein  ark 

57 

Ineelämter 

94 

dgl  ohne  Kopenhagen 

70 

J UÜand 

37 

Schweden1) 

Line: 

11 

G o 1 1 a ri  d 

28 

Max.  Malmöhos 

77 

Min.Kroubg.  Ins.  Gott 

16 

Svearike 

16 

Max.  Stockholm  Geb. 

52 

Min.  Kopparberg 

7 

N orrlan  d 

1 

Max.  Westnorrland 

8 

Min.  Norbotten 

ü 

Norwegen*) 

6 

Stifter  und  Aemter: 

Ch  ristian  ia 

22 

Max.  Jarlsb.,  Laurv. 

13 

Min.  Baskerud 

7 

Christianssand 

9 

Max.  Staranger 

13 

Min.  B ratsberg 

6 

Hamar 

1 

Bergen 

8 

Drontheim 

6 

Tromaoe 

2 

Max,  Nordland 

3 

Min.  Finnland 

ö 

Finnland3) 

6 

Max.  Nyland 

20 

Min.  Uleaborg 

1. 

u. 

C 

G '* 

.i-*:  w 

~~  es 

JR  n ss  1 a n d (ohne  Pol.)4) 

17 

Gruppen  und  Gou- 
vernements, 

Nord-(Gr088-)B. 

4.2 

Max.  Wjatka 

19 

Min,  Archangel 

0 3 

Cen  tral-(Gross-) 

37 

Davon  nördl. 

29 

Max.  Jarosl. 

36 

Min.  Pskov 

22 

Bozw.  S U d 1. 

45 

Max.  Moskau 

66 

dgl.  ohne  Stadt  Mosk. 

43 

Sonst.  Max.  Kursk 

50 

Min.  Kaloga  u.  and. 

10 

Ostseepror. 

27 

Max.  Petersburg 

31  | 

dgl.  ohne  Stadt  Pet. 

15 

Min.  Estland 

20  l 

W estr  usfll,(oh.Pod.) 

29 

Max.  Kowno 

38 

Min.  Minsk 

19 

K l.rassl.  (m.Podol  ) 

51 

Max.  Podolien 

60 

Min.  Tschemigow 

42 

Sudrnssland 

21 

Max.  Bessarab. 

35 

Mio.  Don'sches  Geb. 

12 

K a s a n 

17 

Max.  Kasan 

32 

Min.  Perm 

8 

Astrachan 

9 

Max.  Saratow 

27 

Min.  Astrachan 

3.5! 

Ross.  Polen6) 

65 

Max.  Warschau 

99 

dgl,  obae  Stadt  W. 

68 

Min.  Siedlce 

47 

. 

d 5 
* 

Nordamer.  Union8) 

m 

I 

Gruppen  u.  Staaten 
Non -Engl,  St. 

2t 

Max,  Rhode- Island 

106 

Massachusetts 

104 

Min.  Haine 

8 

MittJ.  atlaut. 

46 

Max.  New- Jersey 

71 

Newyork 

47 

dgl.  ohne  Newyork 
und  Broklyn 

30 

Max.  Pennsylvanien 

45 

dgl.  ohne  Philad. 

36 

Min.  Delaware 

32 

Nord 5 s tl  Gentr. 

» 

Max.  Ohio 

34 

Min.  Wiscons.,  West- 
vtrginien 

12 

Nord  westl.  Gentr. 

1 

Max.  Missouri 

15 

Min.  Nord-Dacota 

1 

Südatlant. 

11 

Max.  Virginien 

15 

Min.  Florida 

2 

S ü d ö s t L Gent  r. 

12 

Max.  Tennessee 

16 

Min.  Alab.,  Misste. 

II 

SüdwestL  Gentr. 

4 

Max.  Louisiana 

'»  0 

Min.  Territorien 

0,7 

Felsengebirge 

0,7 

Max.  Colorado 

1.5 

Min.  Wyoming 

; 0.2 

Plateau 

0.4 

Torr.  Utah 

0,0 

Nevada 

0.2 

Pacif.  St. 

2 

Max.  Califora. 

8 

& 

gh 

O 

3 

r|“; 

O 

U 

*)  Schweden.  S.  ebendas.  S.  24  das  Einzelne. 

*)  Norwegen.  S.  eb.  S.  25,  261. 

*)  Finnland.  S.  eb.  S.  263. 

4)  Russland.  S.  eb.  das  Einzelne  S.  50.  Goth.  Jahrb.  1892  S.  1022  (unricht. 
Angabe  für  Dichte  ganz  Russlands,  ausser  Polen  und  Finnland,  mit  20,  statt  mit  17; 
auch  iucl.  Polen  nur  18). 

ö)  Russisch-Polen  s.  Bevölk.  d.  Erde  S.  51. 

6)  Nordam.  Union  s.  Supan  in  Bevölk.  d.  Erde  S.  205  ff.,  auch  mit  einigen 
anderen  Berechnungen,  so  für  die  Volksdichte  nach  Oberflächengestaltung  (Maxim, 
atlant  Ebene  29,  Gebiet  der  Vorhöhen  27,  Min.  0.3,  0.5  Felsengebirge,  Prärien, 
grosse  Ebenen),  mittlerer  Temperatur,  Höhenlage  der  Gegenden  u.  a.  m.  Die  3 Haopt- 
gruppen  der  Union  nach  der  Eintheilung  bei  Supan  S.  200.  Näheres  im  Oensusbericht. 


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Statistik  der  Yolksdicbte. 


583 


Auf  lQu.kil. 
Bewohner 

. 

Auf  lQu.kil. 
Bewohner 

— «H 

<ö 

a o 
r te 

5* 

Hauptgruppen 

Centralprov. 

39 

1 

Centralnipon 

164 

der  Union 

i 

Max.  gröss.  Distr. 

61 

Max. 

304 

Nordstaaten 

17 

Min.  - - 31—23 

- noch  3mal  üb. 

200 

Sudstaaten 

8 

Berar 

58 

Min. 

86 

Weststaaten 

i: 

Max. 

86 

Westnipon 

171 

Min. 

39 

Max. 

348 

Britisch-Indien  m. 

Haiderabad 

46 

Min. 

104 

Schutzstaaten1) 

Max. 

81 

Shikoku 

157 

Gebiete  , Divisions, 

Min.  gröss.  Distr.  38 

—27 

Max. 

203 

Districte. 

Maisu  r 

58 

Min. 

82 

Assam 

30 

Max. 

75 

Kiu-shiu 

141 

Max.  Surmathal 

129 

Min. 

35 

Max. 

258 

Min.  (Bergdistr.) 

4 

Madras 

89 

- noch  2mal  üb. 

200 

Bengalen 

139 

Max. 

225 

Min. 

54 

Max.  Presid.  Div. 

263 

- vielfach  200- 

-100 

Schätzungen  für 

mehrfach  über 

200 

Min.  gröss.  Distr.  47 — 45 

China3) 

Min.  gröss.  Distr.  37 

— 16 

- Bergst.  Distr. 

18 

Eigent!.  China 

88 

Nord  westprov. 

160 

Born  bay 

46 

Nördl.  u.  nordwest- 

Max.  Benares,  Ebene 

242 

Max.  klein.  Distr. 

193 

liehe  Provinzen 

47 

mehrfach  über 

200 

- gröss.  - 

117 

Max. 

120 

Min.  gröss.  Distr.  78 

—28 

- Präs. 

18 

Min.  9 

— 18 

Panjab  mit 

| 

Barod  a 

98 

Centr.  u.  unt.  Prov. 

146 

Kaschmir 

42 

Brit.  Barma 

17 

Max. 

210 

Max. 

197} 

Ceylon 

42 

Min. 

97 

mehrfach  über 

100 

Max. 

101 

Sudöstl.  Küst.prov. 

108 

Min.  gröss.  Distr.  63 

-18 

Min.  14—7 

Max. 

170 

Rajputanageb.üb 

30 

Japan4) 

105 

Min.  60 

-83 

Max. 

120 

Gruppen  u.  Theile: 

Südwestl.  Binn.prov. 

53 

Min.  gröss.  Distr. 

9—2 

Jeso 

44 

Max.  (?) 

112 

Ccntral-Iudia 

48. 

Nordnipon 

77 

Min.  25 

—31 

Max.  gröss.  Distr. 

75 

Max. 

136 

Min.  - - 51 

-41 

Min. 

49 

tementalgruppen  und  einzelnen  Departements  die  schwache  Volksvermehrung  geltend. 
Von  wenigen  Departements  abgesehen,  wo  sich  der  Einfluss  grosser  Städte,  hoch- 
industrieller oder  mercantiler  Entwicklung  und  heimischer  und  fremder  Zuwanderungen 
besonders  deutlich  zeigt  (Seine  mit  Paris,  Nord  mit  Lille  und  grosser  Industrie,  Rhone 
mit  Lyon,  Rhönemündungeu  mit  Marseille)  gehen  die  Dichtigkeitsziffcru  nirgends  viel 
Uber  den  Durchschnitt  des  ganzen  Staats  und  erreichen  nicht  eine  Höhe  wie  in  Gross- 
britannien, Deutschland,  Italien.  Das  erklärt  sich  mit  daraus,  dass  die  heutigen  fran- 
zösischen Zahlen  bei  der  geringen  absoluten  Volkszunahme  nicht  den  heutigen  der  anderen 
Länder,  sondern  etwa  denjenigen  entsprechen,  welche  diese  Länder  auch  in  ihren 
einzelnen  Theilen  schon  vor  einem  Menschenalter  und  länger  erreicht  hatten.  In 


*)  Britisch-In  d ien.  S.  vieles  Detail  darüber  in  Herrn.  Wagner,  Bevölk. 
d.  Erde  Nr.  IV  (1876)  und  Nr.  VIII  S.  79  ff.,  260.  Die  Zahlen  der  Tabelle  noch 
die  des  Census  von  1881.  Das  Detail  bietet  auch  hier  besondres  Interesse,  indem 
die  Beziehungen  zwischen  Dichte  und  Lage,  Bodenart,  Bodencultur  näher  verfolgt 
werden  (s.  u.). 

#)  Japan  s.  eb.  S.  117;  vgl.  auch  Rathgen,  Japans  Yolkswirthsch.  u.  Staats- 
haushalt, Leipzig  1891,  S.  135  ff. 

a)  China.  S.  Herrn.  Wagner,  Bevölk.  d.  Erde  Nr.  VIII,  S.  104  6.,  mit 
Kritik  der  Schätzungen  der  Bevölkerung. 


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584  4.  B.  Bovölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lcbrc.  1.  II.  -A.  Statist.  §.  233. 


Frankreich  erscheint  die  ganze  Bevölkerung  übrigens  so  auch  noch  gleichinässiger 
— wenigstens  nach  der  Vergleichung  nach  Departementalgruppen  und  Departements  — 
vertheilt,  als  in  Deutschland  und  vollends  in  Großbritannien.  In  einigen  Departements 
sinkt  indessen  die  Dichte  unter  dem  Einfluss  der  Bodenart,  des  Klimas,  der  Abgelegen- 
heit, der  mangelnden  Industrie  auf  so  niedrige  Zahlen,  wie  kaum  in  ähnlich  grossen 
Bezirken  Deutschlands.  Die  inneren  Wanderungen  in  die  Grossstädte  und  Industriebezirke 
haben  dazu  mit  beigetragen,  aber  auch  der  durchweg  kleine  GcburtsUberschuss, 
welcher  durch  seine  Höhe  in  Deutschland  den  gleichen  Einfluss  der  heimischen  und 
der  hier  noch  hinzutretenden  Auswanderungen  mehr  ausgleicht. 

In  Grossbritannien  und  Irland  zeigen  sich  in  Tabelle  XXVII  grössere 
Differenzen  der  Volksdichte  als  in  irgend  einem  anderen  Lande.  Die  Maxima  steigen 
viel  höher  als  in  den  dichtbevölkertsten  Provinzen  und  Bezirken  des  Continents.  Die 
Minima  sinken  viel  tiefer,  selbst  auf  das  Niveau  russischer,  scandinavischer  und  nord- 
amcricanischer  Minima  (wenigstens  wenn  man  in  letzteren  Ländern  sich  auf  den  Ver- 
gleich mit  überhaupt  noch  oder  bereits  besiedelten  Gebieten  beschränkt).  In  diesen 
eigentümlichen  Gestaltungen  der  Verteilung  der  Volksdichte  auf  das  ganze  Staats- 
gebiet tritt  allerdings  der  Einfluss  von  Wirthschaftsfactoren,  der  hochindustriellen 
und  inercantilen  Entwicklung,  der  Agrarverfassung,  der  dadurch  bedingten  inneren 
Wanderungen  (in  der  neueren  Zeit  und  schon  länger)  besonders  deutlich  hervor.  In- 
dessen wirkt  doch  auch  Andres  mit  darauf  ein,  dass  die  Unterschiede  so  gross  sind: 
klimatische  und  Factoren  der  Bodenbeschaffenheit,  wie  in  Schottland,  besonders  dem 
nördlichen,  und  in  Wales,  die  in  jeder  Hinsicht  abnorme  Lage  der  Dinge  in  Irland, 
und  ausserdem  der  Umstand,  dass  die  in  der  Tabelle  benutzte  Einteilung  des  Landes 
hier  mehrfach  Bezirke  und  Gruppen  (so  namentlich  in  Schottland  und  Wales)  von  be- 
sonders grosser  absoluter  Verschiedenheit  der  Grösse  der  betreffenden  Gebiete  und 
Bevölkerungen,  auch  namentlich  eine  Anzahl  sehr  kleiner  Bezirke  enthalt.  Bei  dieser 
treten  dann  Differenzen  auch  in  der  Dichte  schärfer  hervor.  Aber  auch  wenn  man 
das  Alles  berücksichtigt,  bleibt  der  mächtige  Einfluss  der  genannten  Wirth- 
schaftsfactoren doch  unverkennbar:  vor  Allem  die  ungeheure  Entwicklung  der 
Industrie  und  des  Handels,  die  Concentration  beider  in  einigen  Gegenden  und  Puncten, 
in  riesigen  Städten,  auch  selbst  von  London  abgesehen,  die  Verödung  des  platten 
Landes  durch  die  Fortwanderungen,  aber  doch  auch,  wie  besonders  in  Irland,  Schott- 
land mit  unter  dem  Einfluss  der  Agrarverfassung  und  der  neueren  mit  durch  die  Frei- 
handelspolitik bedingten  landwirtschaftlichen  Entwicklung,  von  der  Körner-  zur  Vieh- 
und  Weide-,  ja  — zur  Jagdwirthschaft.  Bei  einer  anderen  Volkswirthscbaftspolitik 
und  namentlich  bei  einer  anderen  Agrarverfassung  würde  die  Hypertrophie  der  In- 
dustrie- und  städtischen  Bezirke  geringer,  aber  auch  die  Atrophie  der  agrarischen 
Gegenden  schwerlich  so  gross  sein.  Grossbritannien  ist  auf  seine  heutige  ökonomische 
Politik  mit  durch  seine  geographische  Lage  hingedrängt,  aber  auch  nur  durch  diese 
letztere  ist  jene  Politik  möglich  geworden  und  — bisher  wenigstens  — ohne  sonstige, 
namentlich  für  die  Machtstellung  des  Staats  verhängnissvolle  Folgen  geblieben:  es 
nutzte  seine  günstige  Lage  im  heutigen  Weltverkehr  und  seine  insulare,  relativ  poli- 
tisch gesicherte  Lage  aus,  liess  aber  auch  seine  Wehrkraft  und  diejenigen  Volksclassen 
verkümmern,  aus  denen  sich  dieselbe  vornemlich  rccrutirt:  die  ländliche  Bevölkerung. 
Irland  hat  jetzt  bloss  56,  im  Jahre  1841  hatte  es  97  Volksdichte! 

In  Dänemark  und  ganz  Scandinavien  zeigt  sich  der  beherrschende  Einfluss 
der  nördlichen  Lage  und  Bodenbeschaffenheit  auch  heute  noch  deutlich.  Nur  in  den 
Bezirken  der  Hauptstädte,  von  denen  Kopenhagen  für  das  kleine  dänische  Volks-  und 
Staatsgebiet  unverhältnissmässig  angeschwollen  ist  (’/,  der  Staats-,  */4  der  Insel- 
bevölkerung) und  in  den  südlicheren  Theilen  werden  die  niedrigeren  Dichtigkeits- 
zahlen Mitteleuropas  erreicht,  in  allen  anderen  weit  unterschritten.  Der  Einfluss  des 
Golfstroms  macht  ja,  namentlich  in  Norwegen , noch  nördlicho  Gegenden  bewohnbar 
und  wirthschaftlich  brauchbar,  welche  in  America  dauernd  culturunfahig  sind,  aber 
der  Gcbirgscharacter  und  die  Höhenlage  kommen  als  weitere  und  definitive  Hinderung 
hinzu.  Der  grosse  Geburtsüberschuss  bleibt  daher  nicht  im  Lande,  sondern  wendet 
sich  nach  Nordamerica,  soweit  die  grösseren  Städte,  Industrie  und  Seeberuf  ihn  nicht 
aufnehmen  können. 

Bei  der  Bourtheilung  der  Daten  für  Russland  in  Tab.  XXVII  ist  daran  zu  er- 
innern, dass  die  russischen  Bevölkerungsaufnahmen  in  den  meisten  Gouvernements  den 


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Statistik  der  Volksdichtc. 


585 


Anforderungen  moderner  rationeller  Volkszählungen  nicht  entsprechen.  Daher  sind 
die  Daten  nicht  immer  ganz  sicher  und  wohl  auch  unter  einander  nicht  gleichwerthig. 
Indessen  werden  die  Zahlen  doch  zur  Berechnung  der  Volksdichte  leidlich  brauchbar 
sein.  Die  Grösse  der  Gouvernements  und  der  Gruppen  von  solchen  stört  aber  freilich 
wieder  die  Vergleichung  mit  den  Zahlen  des  übrigen,  in  allen  seinen  Dimensionen 
Russland  gegenüber  so  viel  kleineren  Europa.  In  diesen  riesigen  Gouvernements  giebt 
es  auch  nach  der  Verbreitung  und  Grösse  der  Städte,  nach  Bodenbeschaffeuheit  u.  s.  w. 
wieder  mancherlei  Verschiedenheiten  der  Volksdichte,  welche  in  den  Durchschnitts- 
zahlen verschwinden.  Wo  indessen  nicht  die  gute  und  namentlich  die  schlechte  Boden- 
beschaffenheit,  Verbreitung  von  Wald  u.  dgl.  sehr  stark  einwirkt  und  nicht  innerhalb 
eines  Gouvernements  in  dieser  Beschaffenheit  grosse  Verschiedenheiten  bestehen,  sind 
die  Dichtedifferenzen  innerhalb  eines  Gouvernements  bei  der  viel  geringeren  Ent- 
wicklung des  Städtewesens  und  der  Industrie,  der  weithin  glcichmässigen  Be- 
schaffenheit von  Boden  und  Klima,  der  Gleichheit  oder  Aehnlichkeit  der  Agrarver- 
fassung meist  nicht  so  bedeutend  und  eher  kleiner  als  grösser  wie  in  den  analogen 
Provinzialgebieten  Westeuropas.  Die  relativ  grosse  Gleichheit  der  Dichte  benachbarter 
geographisch  einigermaassen  zusammengehöriger  Gouvernements  (so  besonders  im  süd- 
lichen Central-  und  in  Kleinrussland)  orgieb^  das  auch.  Man  sicht,  dass,  abgesehen 
vom  eigentlichen  Polen,  von  grossen  Gobietsgruppen  nur  in  2,  im  südlichen  Thcile 
von  Central-  und  in  Klcinrnssland,  die  niedrigeren  mitteleuropäischen  Provinzialdichten 
(45 — 51)  erreicht,  uur  von  wenigen  einzelnen  Gouvernements  etwas  überschritten  werden 
(vgl.  auch  unten  Tab.  XX VIII).  Dies  trotz  der  notorisch  grossen  natürlichen  Volks- 
vermehrung in  unserem  Jahrhundert.  Wie  tief  die  Dichte  ohne  Einrechnung  der 
Grossstädte  Moskau  und  Petersburg  (mit  753  und  801  Tausend  Einwohner  um  1SS5) 
in  den  betreffenden  Gouvernements  gleich  wieder  sinkt,  zeigen  die  Zahlen  der  Tabelle. 
Das  Petersburger  „Gouvernement“  ohne  die  Hauptstadt,  das  alte  Ingcrmanland,  in  der 
Ecke  des  Finnischen  Meerbusens,  bis  zum  60.  Breitengrad  reichend,  auch  heute  noch 
fast  eine  Einöde,  und  Gouvernement  Moskau  ohne  die  Hauptstadt  mit  einer  nicht 
höheren  Dichte  als  das  ganze  südliche  Centralrussland.  Die  übrigen  Gouvernements 
aber  haben  Dichten  höchstens  wie  die  Alpenländer,  meist  viel  niedriger  (s.  auch  dafür 
Tabelle  XXVIII).  Die  inneren  Wanderungen,  in  die  Hauptstädte,  nach  Mittel-  und 
Sudrussland,  nach  Asien  tragen  dazu  wohl  bei.  Sie  zeigen  aber  wohl  auch,  dass 
bei  den  gegebenen  geographischen,  klimatischen,  Bodenbeschaffenheitsbedingungen  im 
grössten  Theile  selbst  des  europäischen  Russlands  hier  wohl  dauernde  starke 
Hemmnisse  einer  grössereu  Volksdichte  liegen  möchten,  mindestens,  solange  die 
Bevölkerung  vorwiegend  auf  Ackerbau  und  gewisse  primitivere  Hausindustrie  an- 
gewiesen ist  und  der  Ackerbau  sich  nicht  selbst  hebt,  vielleicht  unter  dem  Einfluss 
grossrussischer  Agrarverfassung  sich  nicht  oder  nicht  genügend  heben  kann.  Ob  und 
wie  weit  die  neuere  Ausdehnung  des  Getreideabsatzes  ins  Ausland  zur  Erweiterung 
und  Verbesserung  der  landwirtschaftlichen  Cultur  und  dadurch  indircct  zur  Ermög- 
lichung einer  grösseren  ländlichen  und  durch  die  Steigerung  der  Kaufkraft  der  letz- 
teren auch  zu  einer  grösseren  städtischen  Bevölkerung  geführt  hat  und  weiter  führen 
kann,  wage  ich  nicht  zu  beantworten. 

Russi sch -Polen  zeigt  immerhin  eine  grössere  Volksdichte  als  die  günstigsten 
Theile  des  eigentlichen  Russland.  Es  steht  im  Durchschnitt  der  Provinz  Posen  hierin 
gleich,  selbst  etwas  höher,  einzelne  Gouvernements  sinken  auf  die  Ziffer  vom  R.-B. 
Bromberg.  Gegen  Galizien  steht  es  nicht  unerheblich  zurück. 

§.  234.  — Volksdichte  in  Nordamerica. 

Gegenüber  allen  diesen  Thatsachen  in  Bezug  auf  die  Volks- 
dichte Europas  ist  es  doch  von  Interesse,  einen  Blick  auf  das 
grosse  überseeische  Haupteinwanderungsland,  die  nordamerica- 
nische  Union  zu  werfen.  Steht  dieselbe  bei  der  ungeheuren 
Grösse  ihres  Gebiets  und  der  in  grossen  Theilen  desselben  noch 
fast  fehlenden  oder  eben  erst  beginnenden  Besiedlung  auch  im 
Durchschnitt  des  ganzen  Landes  weit  hinter  Europa,  selbst  hinter 


586  4.  B.  Bevöik.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk. lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  234. 

Russland  zurück,  so  haben  die  alten  nördlichen  und  mitteren  Staaten 
der  Ostküste  doch  bereits  einzeln  die  Dichtigkeit  Mitteleuropas 
erreicht,  selbst  überschritten,  während  freilich  auch  hier  andere 
nur  die  Dichte  der  europäischen  Alpenländer  und  schwächst  be- 
völkerter Flachländer  zeigen.  Der  „Zug  nach  Westen“  in  der 
europäischen  Einwanderung  und  zum  Theil  bei  der  Bevölkerung 
der  Ostküstenstaaten  selbst  erklärt  sich  aus  diesen  Verhältnissen 
mit.  Die  grossen  mittleren  Gebiete  sind  durch  ihn  erschlossen  und 
Millionen  haben  hier  bereits  eine  bleibende  Stätte  gefunden.  Die 
Durchschnittszahlen  der  Volksdichte  in  den  freilich  meist  sehr 
grossen  inneren  Staaten,  bis  zu  einem  Umfang  von  1/8  und  mehr  des 
Deutschen  Reichs  oder  Frankreichs,  sind  aber  bisher  noch  durchweg 
sehr  niedrig  geblieben,  zumal  an  mittel-  und  westeuropäischem 
Maassstabe  gemessen.  Sie  stehen  noch  auf  und  unter  den  Ziffern 
der  schwächer  bevölkerten  Theile  Russlands.  Nur  in  einzelnen 
Gegenden  dieser  Binnenstaaten,  und  besonders  wo  grosse  Städte 
sich  gebildet  haben,  gehen  die  Zahlen  höher.  In  den  noch  weiter 
nach  Westen,  Süden,  Norden  gelegenen  Staaten  und  Territorien 
finden  sich  nur  ganz  geringe  Dicbtigkeitsziflfern.  Am  stillen  Ocean 
hat  es  auch  Californien,  freilich  für  ein  riesiges  Gebiet  (410  000  qkm) 
erst  auf  eine  Dichte  von  3 (1.21  Mill.  Einw.)  gebracht.  Sicher  finden 
in  der  Mitte  und  im  Westen  der  Vereinigten  Staaten  noch  Millionen 
und  aber  Millionen  Platz.  Indessen  Klima,  Bodcnbescbaffenheit 
hemmen  hier  doch  vielfach  wohl  definitiv  eine  starke  Dichte. 

Die  interessanten  Berechnungen  nach  den  Censusmaterialien  über  die  Yerthei- 
lung  der  Bevölkerung  nach  der  Seehöhe,  nach  der  mittleren  Jahrestemperatur  und 
anderen  ähnlichen  Momenten  (s.  Supan,  iu  der  Bevölk.  d.  Erde  Nr.  VIII  S.  210) 
zeigen,  dass  hier  gewisse  natürliche  Begünstigungen  und  Hemmungen  vorliegen,  welche 
die  Tendenz  haben,  einen  dauernden  und  entscheidenden  Einfluss  auf  die  Volksdichte 
auszuüben.  Alles  Umstände,  welche  für  die  europäische  Auswanderungsftage  und  für 
die  volkswirtschaftliche  Seite  der  Bevölkerungsfrage  zu  beachten  sind. 

§.  235.  — Volksdichte  asiatischer  Länder. 

In  der  Tab.  XXVII  sind  endlich  auch  noch  einige  Daten  für 
die  grossen  asiatischen  Reiche  enthalten.  Besonders  die  britisch- 
indischen Verhältnisse,  welche  jetzt  nach  eigentlichen  Volks- 
zählungen genauer  verfolgt  werden  können,  bieten  grosses  Interesse 
für  die  Vergleichung  mit  den  europäischen  Verhältnissen.  Be- 
merkenswerth ist  namentlich,  dass  die  Durcbschnittsdichte  nicht 
nur,  wie  iu  Europa  in  kleinen  Gebieten,  Bezirken,  Provinzen, 
sondern  in  grossen,  ja  nach  europäischem  Maassstab  gemessen, 
in  riesigen  Gebieten  eine  ausserordentliche  Höhe  erreicht. 


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Statistik  der  Volksdichte. 


587 


Z.  B.  schon  1881  in  Bengalen  139,  auf  einem  Gebiet  von  508,000  Qu.kü.,  nicht 
viel  weniger  als  Deutsches  Reich  oder  Frankreich,  mit  64.0  Mill.  Einw.,  in  Nieder- 
bengalen allein  171,  auf  einem  Gebiete  fast  so  gross  wie  Irland.  Aehnliches  zeigt 
sich  in  China,  sogar  noch  stärker:  in  den  Central-  und  unteren  Provinzen  eine  Dichte 
von  146  sogar  auf  einem  Gebiet  grösser  als  Deutsches  Reich  und  Frankreich  zusammen 
(1.144.000  Qu.kil.  mit  164.7  Mill.  Einw.),  — freilich,  wenn  die  Schätzungen  einiger- 
maassen  richtig  sind.  Aber  durch  die  Zählungen  Indiens  bekommen  sie  doch 
indirect  eine  gewisse  Bestätigung. 

Innerhalb  der  grossen  Gebiete  dann  allerdings  auch  hier  wieder 
starke  Verschiedenheiten  der  Dichte  auch  in  diesen  asiatischen 
Gebieten,  nach  Höhenlage,  Klima,  Bodenbeschaffenheit,  allgemeinen, 
auch  rechtlichen,  politischen,  Culturbedingungen.  Welche  ungeheure 
Menschenmassen  in  solchen  Ländern,  bei  günstigerem  Klima,  so 
leben  können,  freilich  in  primitiver  Einfachheit  der  Lebenshaltung, 
„proletarisch  kümmerlich“  nach  europäischem  Maassstahe,  zeigen 
diese  Verhältnisse.  — 

Japan  endlich  nähert  sich  in  seinen  Bevölkerungsverhältnissen  bei  vorherr- 
schender agrarischer  und  eigener  altindustrieller  Thätigkeit  schon  jetzt  den  Verhält- 
nissen der  entwickelsten  Länder  Westeuropas,  welche  diese  erst  in  der  Epoche  der 
maschinellen  Industrie-  und  Verkehrsentwicklung  erreicht  haben:  eine  sehr  beroerkens- 
werthe  Tbatsache,  freilich  auch  hier  eine  Bevölkerung,  welche  nach  europäischem 
Bedtlrfnissstab  eine  mehr  als  kümmerliche  Lebenshaltung  hat. 

Die  asiatischen  Verhältnisse  sind  für  das  ganze  Bevölkerungs- 
problem auch  deswegen  besonders  wichtig,  weil  sie  zeigen,  dass 
selbst  bei  einem  niedrigen  Volkseinkommen  und  bei  grossen  Reich- 
thümern  Einzelner  eine  sehr  starke  Bevölkerung  und  deren  weitere 
starke  Vermehrung  möglich  ist,  wenn  eben  die  Masse  in  kümmer- 
licher Weise  ihr  Leben  fristet. 

Die  britisch-indische  Bevölkerung  stieg  von  18S1 — 91  von  259.2  auf  285.7  Mill., 
um  10.7  °/0,  fast  so  stark,  wie  die  deutsche.  Wie  Hungersnö'the  als  „repressives 
Hemmmittel“  wirken,  zeigen  dann  solche  asiatische  Bevölkerungen  allerdings  auch  noch 
deutlich.  In  Mysore  in  Indien  ist  wesentlich  durch  die  Noth  von  1877  die  Bevöl- 
kerung von  5.055,000  auf  4,186,000  gesunken  (s.  Herrn.  Wagner  in  Bev.  d.  Erde 
Nr.  VIII  S.  86). 

§.  236.  — Vergleichende  Ueber sicht  der  Volks- 
dichtigkeitsverhältnisse verschiedener  Länder. 

In  der  folgenden  Tab.  XXVIII  werden  die  Daten  der  Volks- 
dichtigkeit nach  Gebieten  von  Bezirks-  und  von  Provinzialgrösse 
für  einige  wichtige  Länder  auf  Grund  des  Materials  der  früheren 
Tabellen  noch  einmal  übersichtlich  zusammengefasst.  Freilich  sind 
bei  Vergleichungen  und  Schlüssen  daraus  die  mehrfach  hervor- 
gehobenen Vorbehalte  hier  wieder  besonders  nothwendig,  da  eben 
die  der  Classification  zu  Grunde  liegenden  geographisch-administra- 
tiven Gebietstheile  in  den  einzelnen  Ländern  mannigfach  nach 
Grösse  und  Character  verschieden  sind. 


588  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  J.K.  Bevölk.lelire.  l.H.-A.  Statist.  §.236. 


Die  am  Ende  der  Colonnen  in  der  Tab.  XXVIII  angegebenen  Zahlen  der  Ge- 
sammtheit  der  betreffenden  Bezirke  und  Provinzen,  der  absoluten  Durchschnitts- 
grösse des  Gebiets  und  der  Bevölkerung  und  der  absoluten  Maxima  und  Minima  beider 
für  die  betreffenden  Gebietsteile  jedes  Landes  sind  daher  bei  der  Schlussziehung  mit 
zu  berücksichtigen.  Wo  z.  B.,  wie  in  Grossbritannien  in  der  Bezirksabtheilung,  die 
Zahl  der  Bezirke  grösser  ist,  zeigt  die  Tabelle  genauere  Abstufungen,  als  in  den 
Ländern  mit  kleinerer  Bezirkszahl.  Doch  stört  hier,  grade  z.  B.  in  Grossbritannien 
wieder,  die  sehr  grosse  Differenz  zwischen  Maximum  und  Minimum. 

Indessen,  cum  grano  salis  betrachtet,  giebt  die  Tab.  XXVIII  doch  auch  vor- 
zügliche Einblicke  in  die  Abstufungen  der  Volksdichte  innerhalb  der  einzelnen  Länder 
und  in  die  characteristischen  Verschiedenheiten  der  letzteren  in  Betreff  dieses  Ver- 
hältnisses. 

S.  Tab.  XXVIII  auf  S.  589. 

Es  bestätigt  sich  gleich  beim  Ueberblick  der  Tabelle  die 
Richtigkeit  der  im  Vorausgehenden  gemachten  Bemerkungen  über 
das  Eigentümliche  der  Volksdichte  der  verschiedenen  Länder. 

Die  erste  Abtheilung  der  Tabelle,  wo  kleinere  und  daher  zahl- 
reichere Gebietstheile  unterschieden  werden,  ist  besonders  lehrreich. 
Wie  sehr  Deutschland  hier  in  der  Dichte  Frankreich  überschritten 
hat,  wie  bei  uns  in  den  Grenzen  zwischen  60—125  Einw.  p.  qkm 
bereits  die  meisten  Bezirke  liegen,  volle  zwei  Drittel  (49), 
10  schon  oberhalb  dieser  Grenze,  nur  13  unterhalb,  in  Frankreich 
dagegen  nicht  die  Hälfte  (40)  innerhalb,  nur  3 oberhalb,  volle  44 
unterhalb,  das  ist  doch  in  hohem  Maasse  beachtenswerth  und  giebt 
genug  zu  denken.  So  manche  neuerliche  Wahrnehmungen  über 
wirtschaftliche  Schwierigkeiten  in  Deutschland  finden  mit  in  diesen 
Verhältnissen  ihre  Erklärung.  In  Grossbritannien  und  Irland  treten 
die  starken  Verschiedenheiten,  fast  Extreme  der  Volksdicbte,  an 
sich  und  im  Vergleich  mit  anderen  Ländern,  frappant  hervor: 
10%  der  Bezirke  riesig  bevölkert,  über  300  Einwohner  p.  qkm, 
aber  ebensoviel  nur  mit  50 — 60,  fast  doppelt  soviel  beinahe  20  °/0, 
nur  mit  30  — 40  und  eine  ganze  Anzahl  noch  viel  geringer.  Die 
hypertrophische  Bevölkerungsentwicklung  der  Niederlande  und 
Belgiens  zeigt  sich  ebenfalls  sofort  deutlich. 

In  der  zweiten  Abteilung  der  Tabelle,  welche  die  Dichten 
der  Provinzialgebiete  übersichtlich  macht,  treten  besonders  die 
grossen  Gegensätze  Mittel-  und  Westeuropas  einer-,  Russlands  und 
der  nordamericanischen  Union  andrerseits  scharf  hervor.  Ferner 
wiederum  der  Vorsprung,  welchen  Grossbritannien,  Deutschland, 
auch  Italien  vor  Frankreich  erreicht  und  auch  noch  vor  Oesterreich 
behalten  haben. 

Neben  der  industriell- montanistisch -mercantilen  Entwicklung 
mit  ihrem  Einfluss  auf  die  inneren  Wanderungen  hat  hier  in  West- 
und  Mitteleuropa  die  raschere  und  langsamere  natürliche  Volks- 


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Statistik  der  Volksdiehtigkeit 


589 


Tab.  XXVIII.  Classification  der  Volksdichtigkeits- 
verhältnisse1). 


Bezirks- u.dgl.Gcbietc;  Prorinzial-  u.  dgl.  Gebiete 


Auf  1 Qu.kil. 
Bewohner 

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80—  90 

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50 — 60 

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1 

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23 

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1 

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2 

20—  30 

— 

- ■ 

2 

5 

— 

2 

1 

— 

— 

2 

14 

3 

30—  20 

— 

— 

1 

7 

— 

— 

— 

- 

— 

1 

7 

15 

5—  10 

« — 

■ 

— 

8 

— 

_ 



— - 

— 

1 

4 

6 

Unter  5 

— 

. 

1! 

— 

— 

— 

« — 

— 

— 

4 

16 

Zahl 

72 

20 

87 

320- 

21 

15 

17 

6 

12 

25 

50 

48 

Durch  sehn.  Grösse 
Je  10  Qu.-kil.m. 

751 

312 

616 

262 

257S 

2001 

1748 

1041 

4466 

1865 

9778 

16152 

Durchschn.  Berölk. 

1000 

, 686' 

536 

439 

315 

2806 

1593 

1774 

1 

1785 

3185 

1641 

1708 

1305 

Max.  Grösse 

je  10  Qu.kil. tu. 

'2111 

513 

1072 

1102 

4696 

7838 

2935 

1670 

6011 

2455 

85893 

68834 

Max.  Berölk.  1000  j,2984 
Min  Grösse 

je  10  Qu.kü.m,  | 114 

1129 

2961 

3252 

4710! 

5959 

3907 

3660 

7966 

4988 

8026 

5998 

138 

48 

J 

1082 

261 

528 

624 

3748 

26» 

2729 

324 

Min.  Berölk.  1000  1 

171 

132 

80[ 

ßl 

677 

116 

839 

782|2327 

118! 

329! 

46 

Vermehrung  in  diesem  Jahrhundert  den  einzelnen  Ländern  die  ver- 
schiedene Stellung  in  der  Volksdichte  ihrer  Gebietstheile  wesentlich 
mit  gegeben.  Die  inneren  Wanderungen  haben  sich  auch  in  Frank- 
reich in  derselben  Richtung  der  Verschiebung  der  Volksdichten 
geltend  gemacht,  aber  wurden  in  den  Gebieten  des  Fortzugs  nicht, 
wie  in  den  anderen  Ländern,  durch  starken  Geburtsüberschuss 
einigermaassen  ausgeglichen.  Paris  und  die  französischen  Industrie- 
und  Handelsbezirke  wachsen  daher  relativ  stärker  auf  Kosten 

»)  Nach  den  Daten  der  Tab.  XXV,  XXVI,  XXVII  und  in  Betreff  der  ausscr- 
deutschen  Lander  nach  den  weiteren  erforderlichen  Daten,  welche  in  Tab.  XXVII 
i nicht  alle  Aufnahme  fanden.  Russland  hier  ohne  Polen  (und  Finnland)  gerechnet, 

l Oesterreich  ohne  Ungarn.  Die  erste,  eingeklainmerte  Ziffer  bei  Nordamcrica  bezieht 

sich  auf  den  kleinen  District  Columbia  (Washington),  und  ist  in  der  Gesammtzahl  nicht 
1 einberechnet.  S.  auch  die  Note  zu  Tab.  XXV  S.  576  am  Schluss. 

A.  Wagner,  Grundlegung.  8.  Auflage.  1.  Thefl.  Grundlagen.  38 


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5P0  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bcvölk.lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  237. 


der  übrigen  Landestheile,  als  das  von  den  betreffenden  Städten 
(Berlin)  und  Gebieten  Deutschlands  und  ähnlich  anderer  Länder  gilt. 

C.  — §.  237.  Städte,  besonders  Grossstädte,  nament- 
lich in  Deutschland. 

Das  starke  Mitspielen  der  städtischen  localen  Bevölkerunfsanhänfnngen  bei  grosser 
Volksdichtigkeit  ist  schon  im  Vorausgehenden  öfters  hervorgehoben  worden.  Diese 
Seite  der  Frage  statistisch  naher  zo  verfolgen,  ist  von  besonderem  Interesse  und  mit 
dem  jetzt  vorhandenen  statistischen  Material  und  bei  dessen  Bearbeitung  meist  schon 
in  den  statistischen  Bureau*  auch  nicht  schwierig.  Nur  in  der  richtigen  Feststellung 
des  Begriffs  „Stadt"  und  in  der  richtigen  Begrenzung  der  einzelnen  Stadt,  besonders 
der  modernen  Grossstadt,  bieten  sich,  wie  oben  (S.  47S)  bemerkt,  gewisse  Schwierig- 
keiten, welche  sich  völlig  befriedigend  nicht  lösen  lassen.  Indessen  führte  cs  in  diesem 
Werk  zu  sehr  ins  Detail  und  verlangte  zu  viel  Baum,  wenn  hier  eine  genauere,  an 
sich  erst  genügende  statistische  Behandlung  dieses  Gegenstands  erfolgen  würde.  Wir 
begnügen  uns  daher  mit  einigen  Andeutungen,  einigen  spcciclleren  Zahlen  nur  für 
das  DeuNche  Beich  und  nur  wenigen  Daten  für  die  grösseren  Städte  anderer  Länder 
zum  Vergleich.  Das  Material  für  die  letzte  Volkszählung  von  1890  im  Deutschen 
Beich  liegt  noch  nicht  vollständig  bearbeitet  vor.  Vergl.  namentlich  Vieteljahrshefte 
1892,  Heft  2,  Gemeinden  und  Wohnplätze  von  2000  Einwohner  und  mehr.  Für  die 
Volkszählung  von  1885,  B.  32,  N.  F.  (S.  20  11.  d.  Einl.)  der  Beichsstatistik , woraus 
die  hier  mitgetheiltcn  Daten. 

Für  die  Gegenden,  die  kleineren  und  grösseren  Gebietsthcile  sehr 
starker  Volksdichtigkeit,  namentlich  einer  den  Landes-  oder  Staats- 
gebietsdurchsehnitt  erheblich  übersteigenden,  übt  die  städtische, 
zumal  die  gross  städtische  locale  Concentration  der  Bevölkerung 
regelmässig  einen  besonders  bedeutenden  Einfluss  aus.  Die  Be- 
völkerung dieser  Städte  treibt  ausser  etwas  Milchwirtschaft,  Garten- 
cultur  und  gartenartigem  Feldbau  an  der  Peripherie  grösstentheils 
meist  nur  Gewerbe,  Mandel,  liberale  und  andere  persönliche  Dienste, 
in  leitenden  und  dienenden  Stellungen  (als  Unternehmer,  Arbeiter). 
Sie  ist  also  für  ihre  Versorgung  mit  Nahrungsmitteln  und  Roh- 
und  Hilfsstoffen  zur  Verarbeitung  fast  ganz  auf  den  Austausch 
ihrer  städtischen  Erzeugnisse  mit  näheren  und  heute  gewöhnlich 
mehr  noch  mit  ferneren,  in-  wie  ausländischen  Gegenden  ange- 
wiesen. Daraus  ergiebt  sich,  dass  gerade  für  die  Volkswirt- 
schaft 1 ic  h e Seite  der  ganzen  Bevölkerungsfrage  und  der  localen 
Volksdichtigkeitsfrngc  speciell  die  grossstädtische  Entwicklung  be- 
sonders wichtig  ist.  Je  mehr  sie  vorwärts  geht,  desto  mehr  entfeint 
man  sich  von  den  einfacheren  Verhältnissen  der  naturalen  Eigenpro- 
duction  der  Nahrungsmittel  und  Verarbeitungsstoffe  und  gerätb  in 
das  künstliche  System  des  Austauschs,  der  Geld-,  Credit-,  und 
Weltwirtschaft.  Die  Statistik  der  absoluten  und  relativen  Grösse 
und  Zunahme  der  grossstädtischen  Bevölkerung  liefert  einen  wichtigen 
Gradmesser  für  diese  Entwicklungen,  ähnlich,  aber  fast  noch 
besser,  als  die  Berufsstatistik  der  Bevölkerung  (§.243  ff.).  Was  sehr 


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Städtische  Bevölkerungsstatistik. 


591 


grosse  locale  Volksdichte  volkswirtschaftlich  eigentlich  bedeutet, 
tritt  dabei  in  besonders  scharfer  Weise  hervor. 

Von  Interesse  ist  daher  die  Grössenclassification  der 
Wohnorte  (Städte,  Gemeinden),  die  absolute  Volkszahl,  welche  in 
jeder  Grössenclasse  lebt,  die  Quote  dieser  Zahl  von  der  Gesammt- 
bevölkerung,  die  zeitliche  Veränderung  in  diesen  absoluten  und 
relativen  Zahlen.  Besonders  beachtenswert  ist  die  Entwicklung 
der  eigentlichen  Gross-  und  Weltstädte,  der  staatlichen  und  pro- 
vinzialen Hauptstädte,  wiederum  in  Bezug  auf  absolute  und  relative 
Zahlen.  Denn  diese  Städte  sind  die  Mittel-  und  Brennpuncte  der 
wirtschaftlichen  und  geistigen  Cultur,  liben  die  stärkste  Anziehungs- 
kraft aus  auf  die  übrige  Bevölkerung  des  Staats-,  Provincial-  und 
Wirtschaftsgebiets  und  darüber  hinaus,  setzen  sich  am  Meisten 
aus  Elementen  verschiedenster  örtlicher  (Geburts-)  Herkunft  zu- 
sammen und  äussern  durch  ihre  gesammten  Lebensverhältnisse, 
durch  die  von  ihnen  ausgehenden  Ideenströmungen,  Sitten,  sitt- 
lichen Anschauungen,  Moden,  durch  ihre  Presse  wieder  auf  die 
Bevölkerung  im  ganzen  Lande  einen  bedeutenden  Einfluss.  Sie 
und  ihre  Bevölkerungen  zumeist  schaffen  jene  ganze  geistig-sittliche 
Atmosphäre  und  bilden  sic  um,  welche  als  das  „milicu“  für 
die  „ökonomische  Psychologie“  und  die  ökonomische  Motivation 
und  damit  für  die  Gestaltung  und  Entwicklung  der  wirtschaft- 
lichen Handlungen  und  des  ganzen  Wirtschaftslebens  so  wichtig 
wird  (§.  33  fl*.). 

Für  das  Deutsche  Reich  im  heutigen  Gebietsumfang  zeigen  die  Tab.  XXIX 
und  XXX  die  neueren  Entwicklungen  dieser  städtischen  Verhältnisse  von  JS6T — 'JO, 
wobei  aber  für  1867  nicht  alle  betrelfenden  Zahlen  Vorlagen  und  für  1890  noch  nicht 
alle.  S.  auch  schon  oben  S.  500,  Tab.  XXII. 

Tab.  XXIX.  Bevölkerungvertheilung  nach  Wohnorten 
(Stadt  und  Land)  im  Deutschen  Ke  ich. 


Stadt- 

Land- 

Bevölkerung 

in  Orten 

Zus. 

Stadt- 

Land- 

über 

unter 

Bevölkerung 

2000  Einw. 

in  MiU. 

Einw. 

MiU. 

Ol 

Io 

% 

ls67 

14.64 

25.46 

40.09 

35.5 

64.5 

1871 

14.79 

26.22 

41.01 

36.1 

63.9 

1875 

10.61 

26.07 

42.73 

39.0 

61.0 

1880 

1 8.72 

26.51 

45.23 

41.4 

58.6 

1885 

20.48 

26.38 

46.86 

43.7 

56  3 

18901)  (? 

c.  23.12)  (?  c.  26  3) 

49.42 

(?  c.  46.7) 

(?  c.  53.3) 

*)  Die  eingeklammerten  Zilferu  Schätzungen. 


38* 


592  4.  B.  Bevölk.  u.  Yolksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lehrc.  1.  H.-A.  Statut.  §.  237. 

Tab.  XXX.  Grössenclassifi cation  der  Wohnorte  (Städte) 

im  Deutschen  Reich. 


Zahl 

1871 

1875 

1880 

1S85 

1 890 

Gressstädte  . . . 

8 

12 

14 

21 

26 

Mittelstädte.  . . 

75 

88 

102 

116 

124 

Kleinstädte  . . . 

529 

591 

642 

«83 

0 

Landstädte  . . . 

1716 

1 >37 

1950 

1951 

? 

Bevölkerung 
1000  Kopf 

Grossstädte  . . . 

1969 

2666 

3273 

4446 

5983* ) 

MitteLtädte  . . 

3147 

3488 

4027 

4172 

? 

Kleinstädte  . . . 

4588 

5124 

5671 

6055 

? 

Landstädte  . . . 

5087 

5379 

5749 

5806 

9 

Andere  Orte  . . 

26219 

26070 

26514 

26379 

9 

Unter  1000  Einw. 
lebten  in 

Grossstädten.  . . 

18 

62 

72 

95 

1211) 

Mittelstädten  . . 

77 

82 

SO 

S9 

9 

Kleinstädten  , . 

112 

120 

126 

129 

? 

Landstädten  . . 

124 

126 

127 

124 

? 

Anderen  Orten.  . 

639 

610 

586 

563 

(?  c.  533^ 

Als  Grossstädte  sind  hier  die  Uber  100,000,  als  Mittelstädte  die  Urte  von  über 
20,000 — 100.000,  als  Kleinstädte  diejenigen  von  Uber  5000 — 20.000,  als  Landstädte 
diejenigen  von  2 — 5000  Einwohnern  gerechnet.  Der  Begriü  „Stadt'1  und  „Ort'1  in 
diesem  statistischen  Sinne  deckt  sich  nicht  immer  (s.  o.  S.  578).  Wie  mitunter  nicht 
unwesentlich  die  Zahlen  der  Bevölkerung  und  danach  selbst  diejenigen  einer  solchen 
Ortsgrössen  - Classification  durch  die  Zufälligkeit  der  Communalgrenzeo  beeinflusst 
werden,  ergeben  grade  auch  einige  deutsche  grossstädtische  Vcrhültniss  der  neuesten 
Zeit.  In  der  Tabelle,  wie  in  der  amtlichen  Statistik  sind  hier  die  Orte  (Städte)  nach 
den  Coinm unalbezirken  und  Grenzen  gezählt,  also  z.  B.  Hamburg-Altona.  Elber- 
feld-Barmen, Berlin-Charlottenburg  als  je  2 Orte.  Wurde  man  sie,  grade  nach  der 
für  uns  hier  maassgebenden  wirtschaftlichen  Betrachtung,  vereinigen,  so  veränderten 
sich  entsprechend  die  Zahlen  der  Orte  und  die  dazugehörigen  Bcvöikcrungs  zahlen  in 
den  einzelnen  Grössenclassen.  Berlin  in  seinem  Weichbild  hat  z.  B.  (1.  I)ec.  1S90) 
1,578,794  Einw. ; die  unmittelbar  anstossenden  Vororte,  welche  jetzt  auch  meist  direct 
die  Berliner  Strassenzüge  fortsetzen,  erhöhten  diese  Zifler  um  Ilundcrttausende;  so 
wenn  man  nur  die  3 grössten  t,Charlottenburg,  Schöneberg,  Bixdorfl  mit  dazu  fugte, 
um  141,282,  auf  1,710,076  und  mit  Inbegriff  von  7 weiteren  grössten  Vororten  um 
weitere  77,000,  auf  1,787.000.  Die  sonstigen  kleineren  und  local  etwas  entfernteren, 
aber  im  Grunde  ganz  zu  Berlin,  dessen  Wirthschaftsleben  und  „wirthschaftsgeistigcr“ 
Atmosphäre  gehörenden  Vororte  mussten  aber  eigentlich  auch  noch  hinzugerechnet 
worden,  um  die  wahre  Berliner  Volkszahl  zu  erhalten,  welche  ftir  die  uns  hier  be- 
schäftigende Frage  in  Betracht  kommt.  — Wie  sehr  die  Wcichbildsbegrenzung  hier 
den  wahren  Sachverhalt  verdeckt  und  Acnderungen  in  jener  die  Bevölkorungsgrösse 
verschieben , zeigt  sich  an  den  beiden  anderen  nach  Berlin  jetzt  grössten  Städten 
Deutschlands:  Hamburg  und  Leipzig.  Jenes  nahm  1S85  auch  ohne  seine  Vororte 
noch  die  2.  Stelle  ein  (305.690  Einw.),  1890  ist  es  in  dieser  Begrenzung  trotz  seines 
Wachsthums  auf  323,923  Einw.  an  die  5.  Stelle  gerückt,  nach  Leipzig,  Müucheu. 
Breslau.  Allein  mit  seinen  10  gemeiudcselbständigcn  Vororten  (245.337  Einwohner^ 
hat  es  569.260  Einwohner  und  steht  damit  weitaus  an  2.  Stelle.  Rechnet  man  aber, 
sachgemäss  als  seinen  „bolstein’schen  Vorort  auch  Altona  mit  143,249  Einwohner 
hinzu  (von  anderen  kleinen  benachbarten  Orten  abgesehen),  so  steigt  seine  Bevölkerung 
auf  712,509,  — die  eigentlich  bevölkerungs-  und  wirtlischafta  statistisch  richtige, 

’)  Gross-Berlin,  Gross-Hamburg,  Gross-Leipzig  (dies  nach  Stand  am  1.  Jauuar  1891' 
gerechnet  gegen  V*  Million  oder  10  °/0(t  mehr  (131).  S.  Text. 


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Städtische  Bevölkerungsstatistik. 


593 


zu  benutzende  und  mit  anderen  zu  vergleichende  Zahl.  Leipzig  ist  von  1885 — 90  nur 
an  die  zweite  (oder  „Gross-Hamburg“  gerechnet,  an  die  dritte)  Stelle  gerückt,  weil 
grosse  Einverleibungen  von  Vororten  stattgefunden  haben  (ohne  diese  hatte  cs  1885 
170,310,  nach  dem  Gebietstand  vom  1.  December  1890  aber  schon  251,224  Ein- 
wohner, am  1.  December  1890  wirklich  293.525  und  mit  neuen  Einverleibungen  am 
1.  Januar  1891  353,272  Einwohner).  Auch  in  München,  in  Magdeburg  (nominell 
stieg  dessen  Bevölkerung  von  1885 — 90  von  114,291  auf  202,235  Einwohner,  aber 
auf  dem  in  diesem  Zeiträume  cinverleibten  und  dem  alten  Stadtgebiet  wohnten  1885 
auch  schon  159,520  Einwohner)  und  in  anderen  Orten  erklären  sich  neuere  Volks- 
zunahmen und  dadurch  erlangte  andere  Stellungen  in  der  Grössenreihe  aus  solchen 
Einverleibungen  mit  (so  ist  München  von  1885 — 90  dadurch  in  die  Stelle  vor  Breslau 
gerückt).  Streng  genommen  müsste  man  also  in  der  That  hier  Ort  für  Ort  erst  auf 
Grund  genauer  Localkenntniss  vornehmen  und  seine  „wahre“  Bevölkerung  feststellen 
(s.  o.  S.  478).  Das  lässt  sich  hier  und  von  Privaten  überhaupt  kaum  durchführen. 
Aber  es  ergiebt  sich,  dass  auch  derartige  Grössenclassifi cationcn  der  Statistik  ihre 
anklebenden  Mängel  haben  und  Schlüsse  daraus  immer  gewisse  Vorbehalte  voraussetzen. 

Natürlich,  dass  auch  in  anderen  Landern  dieselben  Verhältnisse  vorliegen.  Bei 
London  und  überhaupt  bei  britischen  Städten  auch  nach  der  Eigentümlichkeit  der 
Communalverfassung,  bei  italienischen  Städten  dgl.,  bei  Paris,  Wien  u.  a.  m.  ergeben 
sich  dieselben  Notwendigkeiten  der  Zahlcncorrectur.  Wien  z.  B.  ist  durch  die  Er- 
weiterung zu  „Gross-Wien“  von  ca.  806,000  Einwohner  in  lSSS  auf  ca.  1,365,000  Ein- 
wohner 1890  gestiegen. 

Legt  man  für  statistische  Untersuchungen,  wie  die  uns  hier  beschäftigenden,  die 
klein  eren  Bevölkcrungszahlen  der  Städte,  besonders  der  Grossstädte,  zu  Grunde,  so 
ergiebt  sich,  dass  die  betreffenden  Daten  die  Entwicklung  in  der  Richtung  zum  Gross- 
stadtthum schwächer  hervortreten  lassen,  als  der  Wirklichkeit  entspricht.  Das  ist 
zu  beachten,  auch  für  die  Schlussziebungen. 

Die  Daten  der  Tab.  XXIX  und  XXX  bedürfen  sonst  kaum  einer  weiteren  Er- 
läuterung, sie  sprechen  deutlich  für  sich.  Bemerkenswerth  ist  immerhin,  dass  die 
Bevölkerung  der  Wohnoite  unter  2000  Einwohner,  die  Landbevölkerung,  noch  nicht 
absolut  abgenommen  hat,  trotz  heimischer  Wanderungen  und  der  Auswanderung.  Das 
wäre  dann  dem  starken  Geburtsüberschuss  zu  verdanken  und  ergäbe  eine  günstige 
Abweichung  von  Frankreich.  Allein,  wenn  man  alle  die  kleinen  Vororte  von  Städten, 
besonders  wieder  Grossstädten,  immer  mehr  schon  städtischen  Characters,  deren  Be- 
völkerung je  unter  2000  Einwohner  zählt,  abrechnen  würde,  fragt  sich,  ob  nicht  doch 
bereits  eine  wirkliche  und  nicht  ganz  unbeträchtliche  Abnahme  sich  herausstcllte. 
Ausserdem  ist  aber  besonders  nach  dem  Altersaufbau , den  Civilstandsverhältnissen, 
vielleicht  auch  nach  der  Geschlechtsvertheilung  die  ländliche  Bevölkerung  wohl  un- 
günstiger als  ehemals  in  Folge  der  Wanderungen  zusammengesetzt. 

In  Gross britannien  ist  die  Entwicklung  ähnlich,  nur  noch  rapider  und  stärker 
zu  Gunsten  der  städtischen  Bevölkerung.  Diese  erreichte  schon  1850  hier  die  volle 
Hälfte,  schon  1871  61.8%.  Frankreich  ist  hier  dagegen  wieder  zurückgeblieben, 
wenn  es  auch  die  gleiche  Entwicklungstendenz  zeigt  (1871  31.06  % städt.  Bevölkerung 
in  Orten  über  2000  Einwohner). 

Die  folgende  Tabelle  XXXI  enthält  noch  eine  Uebersicht  der  grösseren  Städte 
einiger  Länder  nach  Grössenclasscn  für  die  letzten  Zählung&periodeu  (um  1890).  Dabei 
ist  freilich  die  genaue  Vergleichung  des  Einzelnen  nur  unter  denselben  Vorbehalten, 
wie  in  Betreff  der  Uebersicht  der  Städte  des  Deutschen  Reichs  statthaft,  was  Vororte 
von  Grossstädten,  selbständige  Zählung  von  grossen  Nachbargemeinden  (z.  B.  Newyork 
und  Broklyn)  anlangt.  Indessen  auch  so  ergiebt  sich  doch  ein  ganz  guter  Einblick 
in  diese  Verhältnisse  des  Städtewesens  und  bezüglich  der  Bedeutung  desselben  für  die 
volkswirtschaftliche  Seite  der  Bevölkerungs-  uud  der  Volksdichtigkeitsfrage. 

S.  Tab.  XXXI  auf  S.  594. 

Das  üebergewicht  der  „Grossstädto“  über  100,000  Einwohner  in  Grossbritannien, 
aber  auch  bereits  im  Deutschen  Reich  und  in  Nordamerica  ist  bemerkenswert,  auch 
wieder  Frankreich  gegenüber.  Wie  sehr  die  politischen  und  wirtschaftlichen  Central- 
puncte  regelmässig  alle  andre  Städte  ihres  Landes,  auch  die  grössten,  überragen,  tritt 
auch  deutlich  hervor,  ln  Nordamerica  würde  Newyork  (1,515.000  Einwohner)  mit 
Broklyn  (806,000  Einwohner)  vereinigt  auch  bereits  in  die  erste  Classe  mit  über 


594  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bcvölk.Ichrc.  1.  H.-A.  Statist.  §.  237. 


Tab.  XXXI.  G rüssenclassen  der  grösseren  Städte  (Orte) 

in  verschiedenen  Ländern. 


Städte 

mit 

Einwohnern 

> ...... 

Deutsches 
Reich  *) 

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15 

2 

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1 

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2 

P0 

1 

4 

11 

5 

8 

75—100.000 

6 

2 

1 

1 

— 

1 

— 

5 

2 

13 

3 

11 

50 — 75.000 

15 

2 

4 

3 

4 

2 

1 

17 

11 

29 

18 

19 

25—  50.000 

61 

11 

22 

11 

13 

4 

4 

[22] 

57 

? 

[SC] 

[16] 

üeber  100.000 
Volkzahl  derselben 

26 

5 

1 

3 

4 

4 

12 

12 

30 

12 ; 

28 

Mill.*5) 

gleich  Promille  der 

6.50 

2.95 

0.51 

0.79 

0.39 

” | 

0.87 

5.00 

3.01 

10  76 

3.48 

9.70 

Gcs.bevölk. 

131 

124 

29 

173 

151 

- 

97 

130 

100 

284 

37  ' 

155 

2 Mill.  Einwohnern  steigen,  Berlin  mit  seinen  Vororten  ist  jetzt  nahe  daran  und  wird, 
wenn  die  bisherige  Entwicklung  so  weiter  geht,  in  nicht  ferner  Zeit  Paris  (1S91 
2,448,000  Einwohner,  ganzes  Seinedepartements  3,142.000,  wovon  ein  grosser  Theil 
freilich  auch  zu  „Gross- Paris“  als  Einer  Stadt  gehört)  an  Einwohnerzahl  übertreflen. 
Freilich  bleiben  beide  hinter  London  doch  noch  immer  weit  zurück,  das  jetzt  in  den 
Grenzen  des  statistischen  Districts  4,211,000  Einwohner,  mit  allen  sonstigen  Vororten 
aber  kaum  viel  unter  5 Mill.  Einwohner  zählt. 

Man  kann  mancherlei  weitere  Rechnungscombinationen  an  diese  Grössenclassi- 
fication der  Städte  knüpfen,  z.  B.  wie  gross  absolut  und  als  Quote  von  der  Gcsammt- 
bevölkerung  die  Volkszahl  jeder  Grösscnclasse  Ist,  wie  in  den  2 letzten  Reihen  der 
Tabelle  XXXI  für  die  Grossstädte  über  100,000  Einwohner  geschehen  ist.  Gross- 
britanniens vorauseilende  Entwicklung  wird  durch  die  Thatsache,  dass  daselbst  über 
28  °/o4cr  Bevölkerung  (Irland  eingerechnet)  in  solchen  Städten  wohnen,  scharf  beleuchtet. 

Die  Bedeutung  der  Hauptstadt  und  die  Steigerung  dieser  Bedeutung  ergiebt  sich 
aus  der  Berechnung,  der  wie  vielste  Landesbewohner  Hauptstädter  ist.  in  bequemer 
ücbcrsicht.  So  war  Londoner  1801  der  17.,  1841  der  14.,  1871  der  9.8te,  1891  der 
ca.  7.6te  Brite,  Pariser  1801  der  49.,  1821  der  42.,  1841  der  37.,  1871  der  18.6te, 
1891  der  15.6tc  (bez.  ca.  13.Ste,  Vororte  mitgerechnct)  Franzose;  Berliner  1816  der 
125.  Deutsche  (auf  heutigem  Reichsgebiete)  (der  52.  Preusse),  1S40  der  100.  Deutsche 
(der  45.  Preusse),  1864  der  60.  Deutsche  (der  30.  Preusse),  1891  der  31.  Deutsche 
(der  16.  Preusse  des  vor-OG-er  Umfangs  des  Staats)  (incl.  Vororte  schon  circa  der 

*)  Hamburg  mit  Vororten  zweitgrössto  deutsche  Stadt. 

*)  Brüssel  mit  Vororten  grösste  belgische  Stadt. 

8)  Letzte  Rubrik:  Städte  von  30 — 50.000  Einwohner. 

4)  Die  Gemeinden,  die  öfters  erheblich  grösser  als  die  eigentlichen  Orte. 

6)  Letzte  Rubrik:  Städte  von  40 — 50.000  Einwohner. 

ö)  Bei  Deutschem  Reich  mit  den  Zahlen  für  Gross-Berlin.  -Hamburg,  -Leipzig, 
bei  Frankreich  mit  Zuschlag  für  Vororte  von  Paris,  bei  Grossbritannien  fallen  die 
Vororte  Londons  ohnehin  meist  unter  die  Städte  mit  über  100,000  Einwohner. 


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Ergebnisse  bezüglich  der  Volksdichtigkeit. 


595 


27.  Deutsche).  Man  sieht,  dass  trotz  der  bundesstaatlichen  Gestaltung  auch  des  heu- 
tigen Doutscheu  Reichs  sich  die  Centripetalkraft  der  jungen  Reichshauptstadt,  des 
ersten  Centralpuncts,  welchen  das  Deutsche  Volk  in  seiner  bisherigen  Geschichte  er- 
reicht hat.  in  derselben  immer  mächtigeren  Weise  geltend  macht,  wie  in  allen  Ein- 
heitsstaaten, wenn  auch  die  mittelstaatlichen  Hauptstädte  die  Entwicklung  immer  etwas 
hemmen.  Die  junge  italienische  Kapitale  ist  in  dieser  Hinsicht  noch  weit  zurück, 
noch  ist  erst  der  71.  Italiener  ein  Römer,  aber  die  neuere  Entwicklung  der  alten 
Weltstadt  geht  doch  schon  in  derselben  Richtung  wie  diejenige  andrer  moderner  Haupt- 
städto. 

D.  — §.  238.  Ergebnisse  bezüglich  der  Volks- 
dichtigkeit. Aus  den  vorausgehend  mitgetheilten  statistischen 
Thatsaehen  kann  man  für  die  causalen  und  conditionellen  Ver- 
hältnisse der  Volksdichtigkeit  und  der  Verschiedenheiten  derselben 
wenigstens  für  die  europäisch-nordamericanische  Welt  wohl  einige 
allgemeinere  Sätze  ableiten.  Ob  dieselben  ebenso  für  wärmere 
Länder,  für  die  asiatischen  Culturländer  gelten,  mag  dahin  ge- 
stellt bleiben. 

In  unseren  Ländern  der  gemässigten  Zone  findet  sich  eine 
sehr  starke  Volksdichtigkeit  und  eine  weitere  Steigerung  derselben 
durch  Geburtsübcrschuss  und  durch  Mehrzu-  und  Mehreinwanderungen 
regelmässig  nur  in  einigen,  meistens  nur  in  wenigen,  auch 
nicht  immer  sehr  ausgedehnten  Gebieten.  Es  sind  das  solche,  in 
welchen  hohe  Entwicklung  von  Industrie,  Bergbau,  Städtewesen 
auf  dem  Austausch  von  Fabrikaten  und  politischen  und  Cultur- 
leistungen  mit  den  Roh-,  namentlich  Agrarproducten  anderer,  viel 
dünner  bevölkerter  Gegenden  des  Inlands  und  des  Auslands  beruht. 
Mehr  oder  weniger  ist  daher  Fernabsatz  derProducte 
und  Leistungen  und  Fernbezug  der  Rohstoffe  und 
Nahrungsmittel  hier  Voraussetzung  der  grossen  Volks- 
dichtigkeit. 

Die  Abhängigkeit  der  letzteren  von  der  Bodenfruchtbarkeit  und  vom  agrarischen 
Bodenerträge  der  Gegenden  dieser  grossen  Dichte  selbst  tritt  hier  zurück.  Wohl 
aber  besteht  zwischen  der  hohen  Volksdichte,  dem  grossen  Bedarf  an  Agrarproducten 
für  diese  Bevölkerung,  den  lohnenden  Absatzpreisen  wenigstens  mancher  Agrarproducto 
auch  für  die  agrarischen  Gebietsteile  solcher  dicht  bevölkerten  Gegenden  ein  Ver- 
hältnis der  Wechselwirkung:  es  liegen  die  Bedingungen  für  intensivere,  auch  für 
hochintensivste  Landwirtschaft  mit  Specialculturen  vor,  welche  ihren  lohnenden  Ab- 
satz in  die  Städte  und  Industricsitze  hat,  ihrerseits  städtischen  Dünger  und  Kunst- 
dünger benutzen  kann  und  nun  auch  selbst  wieder  mehr  Menschen  beschäftigt  und 
ernährt.  So  wird  auch  dadurch  wieder  die  Bedingung  für  höhere  allgemeine  Volks- 
dichtigkeit in  solchen  Gegenden  erfüllt. 

Aber  alle  Wirtbschafts  - und  Lebensbedingungen  werden  bei 
solcher  auf  der  genannten  Voraussetzung  beruhenden  hohen  Volks- 
dichtigkeit künstlicher.  Schon  die  Erhaltung  dieser  Dichtigkeit 
ist  an  mancherlei  schwierige  ökonomische,  technische,  rechtliche, 
politische  Voraussetzungen  geknüpft,  welche  sich  nicht  immer  sicher 


596  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bcvölk.lclire.  1.  H. -A.  Statist.  §.  23S. 

verbürgen  lassen.  Daraus  entsteht  die  Gefahr,  hier  hohe  Volks- 
(lichtigkeit,  mindestens  zeitweise,  bei  Verkehrs-  und  Absatzstockungen 
u.  dgl.,  in  Uebervölkerung  libergehen  zu  sehen.  Vollends  die 
immer  weitere  Steigerung  dieser  Volksdichtigkeit  in  gewissen 
Gegenden  steigert  auch  die  Künstlichkeit  solcher  Verhältnisse  und 
macht  die  Erfüllung  ihrer  Voraussetzungen  immer  schwieriger.  Je 
mehr  volksarme  Gegenden  des  In-  und  Auslands  (so  die  Länder 
der  Masseneinwanderung)  allmälig  aber  selbst  bevölkerter  werden, 
hei  sich  Industrie,  Cultur,  Städtewesen  entwickeln,  desto  weniger 
können  sie  mehr  als  Absatzmärkte  der  Producte  und  Leistungen 
der  volksdichten  Gegenden  und  Länder  und  als  Bezugsquellen  der 
Rohproducte,  Nahrungsmittel,  sowie  als  Aufnahmeplätze  der  Zu- 
uud  Einwanderung  dienen.  Sehr  grosse  Volksdichtigkeit 
der  einen  Landestheile  und  ganzer  Länder  setzt  in- 
sofern geringere,  selbst  sehr  geringe  der  anderen, 
im  In-  und  Auslände,  mit  welchem  Austausch  von 
Producten  und  Leistungen  besteht,  voraus. 

In  diesen  Verhältnissen  der  gegenseitigen  Abhängigkeit  volks- 
dichter und  volksdünner  Gegenden  und  Länder  liegt  das  Bedenk- 
liche in  volkswirtschaftlicher  Beziehung  für  die  Gebiete  hoher, 
vollends  durch  Geburtsüberschuss  und  Mehr -Zuwanderung  noch 
immer  stärker  werdender  Volksdichtigkeit.  Diese  Erwägungen 
ergeben,  dass  hier  doch  eine  freilich  nicht  ziffermässig  zu  be- 
stimmende, nicht  leicht  absolute,  sondern  stets  eine  einigermaassen 
elastische  und  etwas  elastisch  bleibende  Grenze,  aber  eben  doch  eine 
Grenze  für  die  Volksdichtigkeit  und  für  die  Volksvermehrung 
vorliegt,  deren  Druck  deutlich  genug  empfunden  wird  und  als 
Warnung  gelten  muss.  Den  verschiedenerlei  — freibändleriscben, 
schutzzölincrischen,  socialistischen  (§.  192 ff.).  — Optimisten 
gegenüber  ist  das  durchaus  festzuhalten.  Die  erreichte  hohe  und 
selbst  noch  zunehmende  Volksdichtigkeit  gewisser  Gegenden  und 
ganzer  Länder  West-  und  Mitteleuropas  beweist  wahrlich  nichts 
gegen  Malthus. 

Wo  Industrie,  Handel,  Städtewesen  fehlen,  die  Voraussetzungen 
dafür  sich  nicht  schaffen  lassen,  wo  die  locale  Bevölkerung  daher 
wesentlich  auf  die  landwirtschaftliche  Cultur  für  den  eigenen 
Bedarf  angewiesen  ist,  da  sind  die  Grenzen  für  die  Volksdichtig- 
keit und  für  weitere  Volksvermehrung  viel  enger  gezogen.  Sie 
können  hier  leicht  als  so  gut  wie  absolute  sich  geltend  machen. 
Freilich  in  ungleichem  Grade,  später  oder  früher  je  nach  Boden- 


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Goscblechtsvertheilung. 


597 


fruchtbarkeit,  Klima,  agrarischer  Technik  und  Intelligenz  der  Land- 
leute, nach  Agrarverfassung,  Lebenshaltung  und  Lebensansprüchen 
der  Bevölkerung,  aber  immer  verhältuissmässig  bald  und  scharf 
werden  sie  sich  fühlbar  machen.  Bei  dauerndem  GebnrtsUberschuss 
werden  Fortwanderungen,  sonst  die  präventiven  und,  wenn  sie  nicht 
wirksam  genug  sind,  die  repressiven  Tendenzen  die  Ausgleichung 
herbeiführen  müssen.  Das  lehrt  in  Europa  Irland  auch  heute  noch 
und  in  Asien  Indien  und  China. 

Die  Entwicklung  landwirtschaftlicher  Specialculturen , bei  welchen  mehr 
Menschen  Beschäftigung  und  Eiwerb  finden  können,  bietet  in  rein  agrarischen  Gegenden 
kein  genügendes  Hilfsmittel,  weil  cs  eben  ohne  heimische  Industrie,  grössere  Städte 
und  Fernverkehr  an  Absatz  für  die  Producte  dieser  Specialculturen  unter  den  hier 
besprochenen  Voraussetzungen  fehlen  wurde. 

Insbesondere  an  diese  wichtigen  Ergebnisse  hinsichtlich  der 
Frage  der  Volksdichtigkeit  ist  im  2.  Hauptabschnitt  dieses  Kapitels 
näher  anzuknüpfen. 

VI.  — §.  *239.  Ge8chlechtsvertheilung  in  der  Be- 
völkerung. 

In  allen  vorausgehenden  statistischen  Thatsachcn,  Untersuchungen  und  Er- 
örterungen in  diesem  ganzen  2.  Abschnitte  (von  §.  207  an)  haben  wir  es  wesentlich 
mit  der  Bevölkerung  überhaupt  zu  thun  gehabt,  wenn  auch  dabei  ab  und  zu 
die  Unterscheidung  dieser  Bevölkerung  nach  ihrer  Gliederung  (Zusammensetzung) 
berührt  wurde.  Im  Folgenden  wenden  wir  uns  noch,  zwar  auch  nur  in  Kürze,  aber 
doch  etwas  näher,  zur  Betrachtung  der  beiden  Hauptmomente  der  natürlichen 
Gliederung  der  Bevölkerung,  derjenigen  nach  Geschlecht  und  Alter,  welche 
beide  auch  für  die  volkswirthschattlichen  Seiten  der  Bevölkerungsfrage  besonders 
wichtig  sind,  sowohl  für  die  Betrachtung  vom  Productions-  als  für  diejenige  vom 
Vertheilungsstandpuncte  aus.  Daran  soll  sich  dann  auch  noch  ein  Blick  in  die  social - 
ökonomische  Gliederung  der  Bevölkerung  nach  wirtschaftlicher  Berufs- und 
Erwerbs-Stellung  und  Art  anknüpfen  (§.  248  ff.),  eine  Seite  der  Bevölkerungs- 
statistik, welche  indessen  hier  nur  in  ihren  Hanptpuncten  und  Kategoriccn  herein- 
gezogen wird.  Denn  nur  mit  diesen  gehört  sie  in  diese  „Grundlegung“. 

A.  Allgemeine  U ebersiebt.  Die  Geschleclitsvertheilung 
in  der  Bevölkerung  beruht  natürlich  zunächst  auf  der  Verkeilung 
der  beiden  Geschlechter  unter  den  Neugeborenen,  — die  wesent- 
lich physiologische  oder  biologische,  anthropologische  Seite 
der  Frage;  sodann  auf  den  Veränderungen,  welche  diese  Ver- 
keilung hei  der  Geburt  einmal  durch  die  verschiedene  Sterb- 
lichkeit der  Geschlechter  «an  sich  und  wieder  in  den  einzelnen 
Lebensjahren  und  sodann  durch  die  Wände run’gen  erfährt. 
Die  Verschiedenheit  der  Sterblichkeit  der  Geschlechter  ist  eine, 
wie  man  nach  ihrer  Constanz  annehmen  möchte,  ebenso  feste 
Ordnung  der  Natur,  wie  die  Verkeilung  der  Geschlechter  unter 
den  Neugeborenen.  Sie  hängt  aber  ausserdem  deutlich  von  socialen 
Faetoren,  wie  Beruf,  Lebensweise  mit  ab.  Nur,  soweit  letztere 


5118  *L  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lchrc.  1.  H.-A.  Statist.  §.  239. 


wieder  durch  die  Naturordnung  selbst  mehr  oder  weniger  fest  be- 
stimmt sein  sollten  — , die  Streitfrage,  welche  meistens  von  beiden 
Seiten  nur  in  Form  der  petitio  principii  gelöst“  wird  — könnte 
man  auch  hier  von  naturgebundener  Gestaltung  der  verschiedenen 
Sterblichkeit  der  Geschlechter  reden.  In  dem  Einfluss  der  Wan- 
derungen, der  heimischen  wie  der  Aus-  und  Einwanderung,  an 
welcher  die  Geschlechter  in  verschiedenem  Maasse  betheiligt  sind 
(S.  562),  hat  mau  es  wiederum  mit  socialen  Factoren  zu  thun. 
Wegen  der  verschiedenen  Sterblichkeit  der  Geschlechter  in  den 
einzelnen  Lebensaltern  und  ebenfalls  wegen  der  verschiedenen 
Betheiligung  der  Geschlechter  an  den  Wanderungen  iu  diesen 
Lebensaltern  hat  die  Bevölkerung,  zumal  die  durch  Wanderungen 
stark  beeinflusste,  auch  einen  verschiedenen  Altersaufbau  der 
beiden  Geschlechter  (§.  241  fi.). 

Eine  allgemeinste,  mit  grösster  Constanz  in  jeder  nur  etwas 
grösseren  Bevölkerungszahl  sich  zeigende  statistische  Erfahrnngs- 
thatsachc  ist,  dass  die  Neugeborenen  sich  nicht  gleichmässig  auf 
die  beiden  Geschlechter  vertheilcn,  sondern  dass  die  Knaben 
regelmässig  Uberwiegen  und  zwar  (bei  den  Lebendgeborenen) 
ziemlich  Überall  und  constant  um  4 — 6°/0  (104  — 106  Knaben  auf 
100  Mädchen):  ein  wahres  statistisches  „Gesetz“. 

Es  ist  dieses  Ucbcrwiegen  der  männlichen  Geburten  zugleich  diejeuige  bc- 
völkeruugsstatistischc  Thatsache,  welche  „das  befriedigendste  bisher  bekannte  Beispiel 
für  die  Anwendbarkeit  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung  auf  bevölkerungsstatistische 
Beobachtungen  darbietet“  (Lexis).  Eine  Erscheinung,  in  Hinsicht  deren  in  der  That 
auch  nach  den  Anforderungen  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung  es  berechtigt  ist,  von 
einem  „Gesetz“  zu  sprechen,  weil  die  Abweichungen  von  der  Kegel  sich  innerhalb 
der  Grenzen , welche  die  Wahrscheinlichkeitsrechnung  hier  nur  zulassen  kann , halten 
und  mit  der  Annahme  eines  festen  causalcn  Abhängigkeitsverhältnisses  noch  vereinbar 
sind.  S.  Uber  diese  Seite  der  Frage  bes.  \V.  Lexis,  Geschlechtsvcrbältniss  der 
Geborenen  u.  Wahrscheinlichkeitsrechnung.  Hildebr.  Jahrb.  1876,  B.  27,  Ders.  Zur 
Theorie  der  Massenerscheinungen,  S.  64  11.  u.  Ders.  im  Art.  Geschlechtsverhältniss  iiu 
Handw.b.  d.  Staatswiss.  lll,  816,  woselbst  weitere  Litteratur.  Die  ganze  Frage  seit 
Graunt  und  SUssmilch  ein  Lieblingsobject  der  Untersuchung  der  Bevölkeruugsstatistikcr, 
das  aber  in  diesem  Werk  nicht  näher  zu  verfolgen  ist. 

Es  genüge  die  Bemerkung,  dass  die  zeitlichen  und  örtlichen  Verschiedenheiten 
und  Schwankungen  des  männlichen  Geburtsilberschusses  sehr  gering,  weun  auch 
sichtbar  sind.  Bei  den  Todtgeborencn  linden  sich  mehr  Knaben  als  bei  den  Lebend- 
geborenen im  Verhältnis  zu  den  Mädchen  (S.  501).  Ueber  die  Ursachen  und  Be- 
dingungen der  Thatsache  überhaupt  und  ihrer  kleineren  zeitlichen,  örtlichen,  nationalen 
und  sonstigen  Verschiedenheiten  sind  bisher  von  Physiologen  und  Statistikern  nur 
Hypothesen  aufgestellt.  Dieselben,  zumal  diejenigen  der  Statistiker,  aber  doch  auch 
die  bisherigen  der  Physiologen,  liefern  indessen  keine  eigentliche  Erklärung  und 
sind  auch  bisher  nicht  genügend  gesichert.  Länger  vertretene,  mit  manchem  Material 
stimmende  sind  durch  spätere  und  genauere  Untersuchungen  an  grösserem  und 
besserem  Material  und  noch  besseren  Methoden  widerlegt  oder  wenigsten  nicht  sicher 
bestätigt  worden.  So  die  (lange  verbreitete,  mit  der  allgemeinen  Thatsache  der 
männlichen  Mehrgeburten  stimmende,  aber  sonst,  namentlich  physiologisch  nichts 
erklärende)  sogen.  Holäcker- Sadler’sche  Hypothese,  dass  „die  Altersverschiedenheit 


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Geschlechtsvortbcilung. 


599 


der  Eltern  vou  wesentlichem  Einfluss  auf  das  Geschlecht  der  Geborenen  sei,  indem 
bei  überwiegendem  Alter  des  Vaters  mehr  Knaben,  anderenfalls  mehr  Mädchen  ge- 
boren wurden“  (Lcxis  II.  W.  B.  S 817),  was  neuere  Untersuchungen  nicht  bekräftigten 
(s.  eb.).  Auch  die  neuesten  physiologischen  Erklärungsversuche,  z.  Th.  nach  Ana- 
logien mit  höheren  Säugethieren  und  selbst  mit  Pflanzen,  sind  bisher  nicht  über  den 
Character  von  Hypothesen  hinausgekommeu  und  liefern  auch  wieder  nicht  eine  eigent- 
liche „Erklärung"  (Thury,  Richarz , Dtising  u.  A.).  S.  über  die  statistische  Unter- 
suchung der  Frage  bes.  Wappäus,  Bevölks.st.  II,  S.  150  1F.  u.  Oettingen,  Moral- 
statist., meine  Gesetzmässigkeit  u.  aus  der  Speciallitteratur  neuere  Arbeiten  von 
\V.  Sticda  (Geschlccbtsverh.  d.  Gehör.  1875),  I'rancke.  Schumann,  Kollmann, 
Lehr  u.  A.  (näher  angegeben  bei  Lcxis,  H.  W.  B.  S.  820),  sowie  Lexis’  Resum6 
eb.  S.  817. 


Für  unsere  Zwecke  ist  es  genügend,  constatiren  zu  können, 
dass  das  kleine  Uebergewicht  der  Knaben  bei  den  Geborenen  eine 
ganz  allgemeine  Thatsache  der  Bevölkerungsstatistik  ist.  Die- 
selbe trifft,  soweit  man  bisher  Beobachtungen  bat,  auch  für  andere 
Hassen  als  die  kaukasische,  für  andere  Völker  als  die  europäischen, 
für  andere  Culturstufen  als  die  unsrigen  im  Wesentlichen  ebenso 
zu  (u.  A.  auch  für  polygame  Völker;  die  wohl  vorgekommene  Er- 
klärung oder  Rechtfertigung  der  Polygamie  mit  einem  Ueberschuss 
weiblicher  Geburten  ist  völlig  aus  der  Luft  gegriffen).  Die  zwar 
kleinen,  aber  sehr  constanten,  insofern  zu  den  nationalen  Eigen- 
thümlichkeiten  gehörigen  nationalen,  ferner  die  Verschiedenheiten 
bei  ehelichen  und  unehelichen  Geburten  (etwas  mehr  Knabenüber- 
schuss bei  jenen),  diejenigen  in  der  Bevölkerung  verschiedener 
Berufe  und  Lebensweise  — wo  ein  etwas  stärkeres  Plus  der  Knaben- 
mehrgeburten auf  dem  Lande  gegenüber  den  Städten  sich  zu  be- 
stätigen scheint  — in  Bezug  auf  den  Knabenüberscbuss  unter  den 
Geborenen  sind  im  Uebrigcn  doch  zu  geringfügig,  um  auf  die 
geschlechtliche  Gliederung  der  Bevölkerung  eineu  etwas  stärkeren 
Einfluss  auszuüben.  Daher  sind  diese  kleinen  Differenzen  bei  den 
Geborenen  auch  für  die  volkswirtschaftliche,  die  politische  (mili- 
tärische) Seite  der  Frage  der  Gesehlechtsvcrtheilung  nicht  weiter 
besonders  wichtig. 


Nach  der  neuesten  vergleichenden  Arbeit  des  reichsstat.  Amts  (N.  F.  B.  44,  S.  176) 
kamen  im  Deutschen  Reich  1872  — 80  im  Mittel  auf  1000  Mädchen  unter  den  Ge- 
borenen 1002  Knaben  (cinjähr.  Max.  1067,  Min.  1059.  Max.  nach  den  grösseren 
Gebietsgruppen  im  Deutschen  Reich  von  1872 — 80  1069  [Pommern,  Brandenburg  ohne 
Berlin,  R.-B.  Münster  und  Minden].  Min.  1051  [Würtembcrg,  1054  Baden],  kleiuc 
Gebiete  zeigen  grössere  DiH'ercnzen.  1077 — 1017);  unter  den  ehelichen  1063.  den  un- 
ehelichen 1051,  den  Lebendgeborenen  1054,  den  Todtgeborcnen  1289.  Unter  den 
verglichenen  übrigen  enrop.  Gross-  und  Mittelstaaten,  ebenfalls  nach  mehrjährigem 
Mittel,  war  das  Max.  bei  allen  Landern  1076,  in  Galizien  und  Bukowina,  1U71  in 
Italien,  1109  (?  Rumänien),  das  Min.  1058  Belgien  und  Dänemark  (Frankreich  hatte 
1068,  bei  Lebcndgeborenen  allein  1047,  Grossbritannien  nur  bei  letzteren  1042,  Russ- 
land auch  nur  bei  diesen  1050). 


600  4.  B.  Bevölk.  u.  Voiksw.sch.  J.K.  Bevölk.lckre.  1.  H.-A.  Statist.  §.239. 

Der  Ueberschuss  der  Knaben  bei  den  Geburten  bewirkt,  dass 
in  den  jüngeren  Lebensjahren  in  der  Bevölkerung  das  männliche 
Geschlecht  etwas  Uberwiegt.  Allein  das  gleicht  sich  bald  aus, 
weil  die  Sterblichkeit  der  Knaben  von  der  Geburt  an  (ja  schon 
vor  und  bei  der  Geburt,  wie  die  viel  grössere  Anzahl  todtgcborener 
Knaben  als  Mädchen  beweist),  zumal  in  den  ersten  Lebensjahren, 
aber  im  Allgemeinen  etwa  bis  ins  höhere  Kindesalter,  doch  meist 
nicht  mehr  ganz  bis  zur  Zeit  der  Geschlechtsreife,  eine  ungünstigere 
als  diejenige  der  Mädchen  ist. 

Um  diese  Zeit  und  von  da  an  ungefähr  in  der  ganzen  Periode 
des  geschlechtlichen  Zusammenlebens,  bis  gegen  Ende  der  40er 
Lebensjahre  besteht  am  Meisten  eine  annähernde  Gleichzahl  der 
beiden  Geschlechter  in  der  Bevölkerung,  wenigstens  unter  normalen 
Verhältnissen,  d.  h.  unter  solchen,  welche  nicht  durch  Wanderungen 
und  durch  anomal  stark  das  Leben  der  Männer  mehr  gefährdende 
Berufe  der  letzteren  zu  abweichender  Verkeilung  der  Geschlechter 
führen.  In  diesen  Jahren,  zum  Tbeil  schon  vom  10— löten,  mehr 
noch  von  15 — 20  bis  40 — 45,  auch  noch  bis  45 — 50  ist  die  Sterblich- 
keit beider  Geschlechter  nicht  mehr  so  wesentlich  verschieden,  wenn 
auch  im  Ganzen  noch  etwas  günstiger  bei  den  weiblichen ; jedoch 
mit  Schwankungen  in  den  kleineren  Perioden,  hie  und  da  auch 
einmal  etwas  ungünstiger  für  die  Frauen,  namentlich  in  der  Lebens- 
periode, wto  die  Geschlechtsfunction  des  Weibes  (in  der  Zeit  der 
Entwicklung  der  Geschlechtsreife  und  in  der  Hauptzeit  der  Gebähr- 
thätigkeit)  am  Stärksten  wirksam  wrird. 

Nach  dieser  Periode  bis  ins  höhere  und  höchste  Lebensalter 
tibenviegt  im  Ganzen  normal  w ieder  das  weibliche  Geschlecht,  wiegen 
durchweg  grösserer  Sterblichkeit  der  Männer,  welche  letztere  erst 
im  Greisenalter  für  beide  Geschlechter  wieder  gleichmäs.siger  wird. 

Doch  scheinen  sich  hier  die  Verhältnisse  bei  verschiedenen  Völkern  auch  ab- 
gesehen von  dem  Einfluss  von  Berufs  Verhältnissen  etwas  verschiedener  als  im  Kindes- 
alter zu  gestalten.  Auch  bei  einzelnen  europäischen  Bevölkerungen  (in  Italien,  Spanien, 
Griechenland,  Galizien  und  Bukowina,  selbst  iu  einzelnen  deutschen  Gebieten  wie 
Westfalen)  zeigt  sich  ausnahmsweise  im  höheren  Alter  eine  ungünstigere  Sterblichkeit 
der  Frauen  (s.  u.). 

Im  Ganzen  kann  die  verschiedene  Sterblichkeit  der  Geschlechter 
in  den  einzelnen  Lebensaltern  und  besonders  den  grösseren  hier 
unterschiedenen  Perioden  derselben , in  der  dargelegten  Weise  als 
eine  statistisch  feststehende  Thatsache  gelten. 

Eine  allgemeine  physiologische  Erklärung  fehlt,  denn  die  Annahme  einer 
grösseren  passiven  Widerstandsfähigkeit  des  weiblichen  Organismus  ist  nur  ein  anderer 
Ausdruck  für  die  Thatsache  selbst.  Eher  kann  man  an  eine  stärkere  Lebensabsorption 


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Geschlochtsvertheiluug. 


601 


des  männlichen  Organismus  dnreh  ziemlich  alle  Lebensphason  hindurch  denken,  wie 
sie  durch  Geschlechtscharacter,  Thätigkeit,  Lebensweise,  Beruf  eben  auch  durch- 
schnittlich bedingt  ist.  Das  Leben  des  Knaben  und  des  Mannes  ist  im  Ganzen  direct 
und  indirect  mehr  gefähidot  als  das  des  Mädchens  und  der  Frau.  Es  bleibt  dabei 
bemerkensworth,  dass  dio  spcciüschc  Geschlechtsfunction  des  Weibes  sich  nicht  als 
durchgreifend  die  Sterblichkeit  steigernder  Factor  zeigt,  wenn  auch,  wie  bemerkt, 
in  den  Jahren  der  hauptsächlichen  Gebührthätigkeit  die  weibliche  Sterblichkeit  sich 
-der  männlichen  mehr  nähert  und  sie  hier  und  da  erreicht  und  etwas  überschreitet. 

Die  regelmässige  Sterblichkeit  des  männlichen  Geschlechts  wird 
aber  nun  unter  besonderen  Verhältnissen  durch  die  spccifischcn 
Gefahren  bestimmter  Berufe  gesteigert.  Das  kann  sich  bei  grosser 
Verbreitung  solcher  Berufe  und  bei  besonders  starker  Lebensge- 
fährdung auch  in  der  Erhöhung  der  allgemeinen  männlichen  Sterb- 
lichkeit zeigen. 

Namentlich  der  K riegs beruf  in  Kriegszeiten,  einzelne  gefährliche  Erwerbsberufe 
(Seewesen,  gewisse  bergmännische,  industrielle  Thätigkeit)  sind  hier  von  Einfluss  und 
verschieben  durch  die  grössere  Sterblichkeit  der  Männer  in  ihnen  die  natürliche  Ver- 
theilung  der  Geschlechter,  besonders  in  den  betreffenden  Lebensaltern. 

Endlich  aber  führen  die  einheimischen  und  die  internationalen 
Wanderungen  die  beiden  Geschlechter  in  ungleichem  Maasse 
überhaupt  und  besonders  in  gewissen  Lebensaltern  fort  und  herbei. 
Sie  liben  so  auf  die  wirkliche  Geschleehtsvcrthcilung  der  Bevölkerung 
im  Ganzen  und  wieder  in  bestimmten  Altcrsclassen  einen  ziemlich 
erheblichen  Einfluss  aus.  Jedenfalls  ändern  sie  die  von  der  Ge- 
schleehtsverthcilung  bei  den  Gehurten  und  von  der  verschiedenen 
Sterblichkeit  bedingte  „natürliche“  Geschlechtsvertheilung  mehr 
oder  weniger. 

Da  in  der  zurückgebliebenen  Bevölkerung  im  einen  und  in  der  durch  Zu-  und  Ein- 
wanderung vergrösserten  im  anderen  Falle  so  die  Geschlechtsvertheilung  eine  andere  wird, 
übt  auch  weiter  die  verschiedene  Sterblichkeit  der  Geschlechter  überhaupt  und  in  den  ver- 
schiedenen Alterschiassen  noch  ihren  Einfluss  aus.  Im  Ganzen  sehen  namentlich  die 
Länder  der  Mas-enauswauderung  trotz  des  Knabeuiiberschusses  bei  den  Geburten  und 
auch  dann,  wenn  nicht  jene  besonderen  Umstände,  wie  Krieg  und  andere  Berufs- 
gefahren mehr  Männer  dahinraffen,  in  ihrer  Gesammtbevölkerung  die  weibliche,  die 
Länder  der  Masseneinwanderung  die  männliche  Bevölkerung  und  zum  Tbeil  gerade 
in  den  volkswirtschaftlich  und  populationistisch  wichtigsten  mittleren  Lebensjahren 
noch  besonders  uberwiegen  (s.  u.).  Die  heimischen  Wanderungen  äussern  in  den 
"Wegzug-  und  Zuzuggegenden  vielfach  einen  ähnlichen  Einfluss,  aber  doch  nicht  immer 
und  nicht  in  demselben  Grade.  Denn  der  specilisch  weibliche  Massenberuf  der 
Dienstboten  fuhrt  auch  Weiber  in  starker  Zahl  von  der  Geburtsheimath  fort,  oft  auf 
die  Dauer.  Und  die  Beschäftigung  der  Frau  in  der  Fabrik  hat  ähnliche , wenn  auch 
dem  Grade  nach  an  sich  und  vollends  im  Vergleich  mit  den  betreffenden  Männern 
geringere  Wirkungen.  In  der  wesentlichen  Verschiedenheit  der  Geschlechts-  und  der 
geschlechtlichen  Altersclasscnvertheilung  der  Bevölkerung  nach  Stadt,  besonders  Gross- 
stadt und  Land,  industrieller  und  agrarischer  Gegend  gelangt  daher  der  Einfluss  der 
heimischen  Wanderungen  und  in  ihm  derjenige  der  wirtschaftlichen  Berufsverhältnisse 
mit  zum  Ausdruck. 

Da  doch  im  Ganzen  das  männliche  Geschlecht,  namentlich 
in  den  productivcrcn  Lebensjahren , der  Hauptträger  der  wirt- 
schaftlichen, der  politischen,  der  Culturarbeit  ist,  so  sind  Klick- 


602  4.  B.  Bevülk.  u.  Volksw.scb.  1.  K.  Bevölk.lelire.  1.  H.-A.  Statist  §.  240. 


Wirkungen  der  Gescblechtsvertheilung  überhaupt  und  derjenigen  in 
bestimmten  Altersclassen  auf  das  volkswirtschaftliche  Produetions- 
interesse  nicht  wohl  zu  bestreiten.  Dieses  wird  in  Einwanderungs- 
ländern begünstigt,  in  Auswanderungsländern  benachteiligt.  Aebnlich 
verhält  es  sich  in  einheimischen  Zuzugs-  und  Fortzugsgegenden 
öfters.  Nimmt  man,  wohl  nicht  mit  Unrecht,  an,  dass  die  durch- 
schnittliche weibliche  wirtschaftliche  Bedürftigkeit  geringer  als  die 
männliche  ist,  so  liegen  die  Dinge  vom  Standpuncte  der  volks- 
wirtschaftlichen Verteilung  betrachtet  indessen  nicht  in  demselben 
Maassc  günstiger  und  ungünstiger,  wie  vom  Standpuncte  des  Pro- 
ductionsinteresses  aus.  Aber  die  Erwerbsfähigkeit,  mindestens  die 
Erwerbsthätigkeit  der  Frauen  fehlt  vielfach  oder  ist  beschränkter 
und  sie  müssen  vom  Einkommen  der  Männer  mit  unterhalten  werden. 
Daher  wirkt  eine  grössere  Anzahl  weiblicher  Personen  in  der  Be- 
völkerung ähnlich  wie  eine  grössere  Quote  Kinder,  nemlich  doch 
wieder  als  höherer  Belastungseoetficient  für  die  männliche  erwachsene 
Bevölkerung:  d.  h.  das  Vertheilungsinteresse  wird  dadurch  un- 
günstig berührt. 

B.  — §.  240  Statistische  Belege.  S.  die  Werke  über  Bevölkerungsstatistik, 
wo  die  Gescblechtsvertheilung  mit  Vorliebe  genauer  verfolgt  wird,  so  bei  Wappäus, 
v.  Oettingcn,  G.  Mayr  u.  a.  m.1).  Auch  in  dem  gen.  B.  44  N.  F.  der  Reichs- 
statistik sind  viele  vergleichende  Daten  gegeben  worden.  S.  bes.  Eiul.  S.  21  ü'.,  24  fL, 
in  Combination  mit  Altersgliederung,  Tab.,  Verhältnisszahlen,  bcs.  S.  114  ff.,  170  ff. 
Aus  diesem  neuesten  reichen  Material,  meistens  aus  1 S7 1 oder  1872  — 80,  sind  die 
folgenden  Daten  im  Text  und  in  den  Tab.  XXXII  — XXXIV  entnommen,  mit  Er- 
gänzungen für  die  neue  Welt  aus  anderen  Quellen. 

S.  Tab.  XXXII  auf  S.  603. 

Der  Einfluss  der  Wanderungen  zeigt  sich  im  Deutschen  Reich,  Gross- 
britannien. Schweden,  Norwegen  u.  a.  als  Auswandcrungsländern,  in  den  Vereinigten 
Staaten  und  Australien  als  Ein  wanderungsländern  deutlich,  auch  gegenüber  Frankreich. 
Seit  der  neuerlichen  starken  Auswanderung  wird  auch  Italien  verinuthlich  bald  eine 
andere  Geschlechtsvertheilung  aufwei*en.  In  Nordamerica,  Südaustralien  war  fniher 
das  Uebergewicht  der  Zahl  der  Männer  noch  grösser.  Je  stärker  die  Bevölkernng 
wächst,  auch  durch  Geburtsüberschuss,  und  eine  jo  kleinere  Quote  selbst  die  neue 
Masseneinwanderung  in  kurzen  Zeiträumen  von  der  bereits  grösseren  ansässigen  Be- 
völkerung beträgt,  desto  mehr  wird  auch  in  den  grossen  Einwanderungsländern  die 
Geschlechtsvcrthcilung  in  der  Bevölkerung  eine  der  normalen  gleichkommende.  In 
den  älter  colonisirten,  den  atlantischen  Kustenstaaten  Uberwiegt  schon  jetzt  (bz.  schon 
1881)  das  weibliche  Geschlecht  (z.  B Massachusetts  fast  1080,  New-York  fast  1030); 
in  den  neueren,  den  westlichen  Staaten  ist  das  männliche  um  so  stärker  vertreten. 
Aehnlich  in  Australien,  wo  in  Ncu-Süd  Wales  1888  nur  812  weibliche  auf  1000  männ- 
liche Bewohner  kamen.  Bei  Indien  wirkt  vielleicht  frühere  Beseitigung  weiblicher 
Kinder  nach.  Die  Zahlen  der  Weiber  sind  daselbst  aber  auch  vcrmuthlich  unvollständiger, 
als  die  der  Männer  bei  der  Zählung  aufirenoinuien. 

Die  einheimischen  Wanderungen  spiegeln  sich  am  Deutlichsten  in  den  Zahlen 
der  Geschlechtsvenheilung  in  der  Bevölkerung  in  den  Maximis  und  Minimis  inuer- 

’)  Eine  jüngste  Arbeit  von  K.  Bücher  über  die  Geschlechtervertheilung  auf 
der  Erde,  in  G.  v.  Mayr’s  stat,  Arch.  1801  — 92,  2.  Halbb.,  geht  mir  leider  erst 
beim  Druck  zu. 


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Geschlechtsvcrtheilung.  Statistische  Belege. 


603 


Tab.  XXXII.  Geschlechtsvcrtheilung  unter  den  Geborenen 
und  unter  der  ganzen  Bevölkerung  nebst  Verkältn  iss  der 
Sterblichkeit  beider  Geschlechter  zu  einander. 


Auf  1000 

Auf  1000 

männl.  komm,  weibl. 

männl.  komm,  weibl. 

unter  den 

unter  den 

Geb.  Bevölk. 

Gest. 

Geb. 

Bevölk. 

Gest. 

1. 

2. 

8. 

1. 

2. 

2. 

Deutsches  Reich 

949 

1037 

SSO 

Schweden 

950 

1004 

910 

Extreme  nach 

Grossbritannien 

961 

1058 

890 

Differ.  in  Bevölk. 

Westösterreich 

946 

1052 

870 

(Col.  2) 

Irland 

947 

1051 

940 

Max.  Breslau,  Liegn. 

952 

1101 

S40 

Finnland 

953 

1049 

930 

„ Oppeln 

945 

1085 

830 

Norwegen 

950 

1047 

930 

„ Ostpreussen 

954 

1084 

840 

Schweiz 

950 

1044 

880 

Min.  Arnsberg 

947 

925 

920 

Deutsches  Reich 

949 

1037 

SSO 

„ Düsseldorf 

953 

972 

900 

Dänemark 

952 

1033 

940 

„ tlbr.  Rheinland 

950 

999 

920 

Spanien 

93S 

1026 

910 

Berlin 

955 

1012 

SCO 

Galizien.  Bukowina 

934 

1020 

910 

Ganz  Prcussen 

94H 

10:t  1 

890 

Niederlande 

951 

1025 

940 

„ Baiern 

948 

1051 

880 

Ungarn 

951 

1015 

•> 

Königr.  Sachsen 

948 

1047 

800 

Frankreich 

955 

1008 

930 

Würtembcrg 

959 

1073 

870 

Belgien 

955 

995 

? 

Baden 

955 

1051 

900 

Italien 

940 

992 

900 

Elsass-Lothringen 

917 

1 040 

880 

Griechenland 

895 

919 

980 

Ver.  Staat,  in  18S0 

__ 

965 

— 

Austr.  Col.  in  1 88S 

— 

843 

— 

Indien  in  1881 

— 

954 

— 

halb  des  Reichs  (preuss.  Bezirksgruppen)  ab.  Wenn  Orte  wie  Berlin  (auch  Hamburg) 
doch  einen  weiblichen  Ueberschuss  haben,  kommt  die  weibliche  Dienstbotenzahl,  in 
Sachsen  wohl  auch  diese  (Gressstädte)  und  die  weibliche  industrielle  Bevölkerung  mit 
in  Betracht. 

Die  Col.  1 und  3,  welche  in  beiden  Abtheilungen  der  Tab.  XXXII  die  Ge- 
schlcchtsproportion  der  Bevölkerung  flankiren,  zeigen  das  ücberwiegen  der  Knaben  bei 
den  Geburten  und  die  günstigere  weibliche  Sterblichkeit.  Die  Differenz  zwischen 
Col.  2 und  1 ergiebt,  unter  Berücksichtigung  der  Sterbliehkeitsproportion  der  Col.  3, 
das  Maass  des  Einflusses,  welchen  die  Wanderungen  auf  die  Umwandlung  der  ur- 
sprünglichen Geschlechtsproportion  bei  den  Geburten  in  dasjenige  unter  der  Gesammt- 
bevölkerung  ausüben.  natürlich  verschieden,  auch  in  der  Richtung,  je  nachdem  es 
sich  um  Ab-  oder  Zuzug  handelt. 

Die  folgende  Tab.  XXXIll  giebt  einen  Einblick  in  die  verschiedene  Sterblichkeit 
der  Geschlechter  in  den  verschiedenen  Lebensaltern. 

S.  Tab.  XXXIII  auf  S.  004. 

Es  wird  dadurch  auch  die  frühere  Uebersicht  der  allgemeinen  Sterblichkeit 
(§.  212,  bes.  Tab.  V u.  VI,  S.  500)  noch  ergänzt.  Die  Daten  nach  gen.  B.  44  der 
Reichsstat.  S.  179  fl.  Diejenigen  für  das  Deutsche  Reich  scliliessen  die  Daten  für 
Würtembcrg  und  Hamburg  z.  Th.  nicht  uiit  ein.  Ebenda  sind  auch  für  die  meisten 
übrigen  Staaten  Beobachtungen  gleicher  Art  angestellt.  Erheblichere  Verschieden- 
heiten der  relativen  Sterblichkeit  der  Geschlechter  linden  sich  wenig.  Für  die 
höchsten  Altersclassen  sind  die  absoluten  Zahlen  so  klein,  dass  die  Wert  he  der  Relatir- 
zahlon  unsicher  werden.  So  zeigt  z.  B.  eine  doppelte  Berechnung  für  das  Deutsche 
Reich,  einmal  für  1872  — 80  (excl.  Wttrtemberg,  Hamburg  und  einige  Kleinstaaten) 
und  zweitens  für  1876 — 80  (incl.  Würtembcrg)  nur  geringe  Unterschiede  bis  zum  80., 
ja  90.  Jahre,  grössere  alsdann  (a.  a.  O.  S.  179).  Nur  im  höheren  Kindesalter  (5 — 10  J.), 
mehr  noch  in  der  Periode  der  Entwicklung  der  Geschlechtsreife  (10 — 15,  auch  15 — 20  J., 
mit  kleinen  Unterschieden  zwischen  südlichen  und  nördlichen  Ländern,  die  verständlich 


604  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.scli.  1.  K.  Bevöik.lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  240. 


Tab.  XXXIII.  Sterblichkeit  der  Geschlechter  in  den 
verschiedenen  Lebensaltern. 


Auf  1UÜ0  Lebende  Gestorbene  (ohne  Todtgeboreue) 


Alter,  Jahre 


Deutsch  Reich  Westösterr. 

n 

rnänul.  weibl.  inännl.  weibl. 

> I 


Italien  Frankreich  Grossbritann. 

i 

uuinni.;  weibl  inännl.  weibl.  männl.j  weibl. 


Ueberhaupt 

2S.5  1 

25.2 

31,4 

27.2 

30.6 

29.3 

23.2  , 

21.6 

Ij 

Unter  1 321 

267 

350 

287 

300 

267 

229 

191 

i 

1—  2 

71 

60 

86 

S3 

170 

169 

■ 

1 

’ 1 

2—  3 

34 

33 

44  i 

42 

58 

59 

6S 

60 

ii 

3 — 4 

23  j 

23 

30 

28 

36 

37 

4—  5 

IS 

IS 

24 

23 

28  ! 

20 

5—  10 

8.8 

8.6 

10.7 

10-7 

12.2 

12.S 

6 5 

6.9 

10—  15 

3.0 

4.2 

: 

4-0 

5.8 

6.6 

3.0 

4.7 

\ 

15—  20 

5.3 

4 0 

6.7 

6.5 

6.6 

7.3 

5.5 

6.5 

20—  25 

l 8.1 

6.0 

10.9 

8.3 

10.5 

9.1 

9.5 

7.4 

1 

25—  30 

8.8 

8.0 

10.* 

9.6 

94 

10.5 

97 

9.8 

30—  35 

ki  9.8 

10.2 

11. 1 

10.4 

9.7 

11.1 

0.8 

9.9 

35—  40 

12 

11.6 

1 2.8 

11.5 

11.4 

12.3 

10.4 

9.9 

40—  45 

14.7 

12.2 

ii  15.0 

121 

13  6 

12.7 

12.2 

10.5 

11.9 

45 — 50 

10.5 

13.5 

1 18.1 

14.0 

16.8 

14.2 

14.2 

50 — 55 

24 

18 

24 

19 

22 

19 

19 

15 

55—  GO 

32 

26 

31 

25 

2S 

26 

24 

j 20 

GO—  05 

44 

38 

43 

30 

41 

40 

35 

31 

65 — 70 

66 

60 

59 

57 

61 

64 

53 

47 

1 

70—  75 

07 

01 

101 

147 

99 

95 

; ioi 

84 

76 

. 

75 — 80 

140 

142 

143 

131 

1 138 

130 

116 

SO — 85 

216 

1 205 

! 227 

225 

186 

199 

i IST 

1 182 

$5 — 00 

303 

279 

■ 340 

310 

255 

262 

237 

i 230 

1 

00—100 

35G 

| 331 

412 

377 

' 236 

225 

| 303 

j 270 

i 

Ucber 100 

, 360 

322 

i!  300 

300 

11  240 

j 232 

!l  433 

257 

22.7 

20.2 

193 

154 

69 

64 

28 

28 

19 

18 

14 

13 

7.0 

6.5 

3.9 

3.9 

o.5 

5.7 

7.6 

7.0 

86 

s.o 

10.4 

9.6 

12.8 

11.1 

14.8 

12.3 

18.4 

14.3 

22 

17 

31 

25 

39 

32 

61 

52 

82 

72 

128 

113 

200 

176 

294 

255 

464 

428 

467 

469 

sind)  und  in  der  folgenden  Periode  der  hauptsächlichen  Gebährthätigkeit  der  Frauen 
(20 er,  auch  wohl  mitunter  noch  30er  Jahre  des  Alters)  nähert  sich  die  weibliche 
Sterblichkeit  der  männlichen,  kommt  ihr  gleich  und  Ubertrilft  sie  öfters  etwas.  Der 
genauere  Vergleich  einzelner  Länder  verschiedenen  Klimas  und  Nationalität,  z.  B. 
Italiens,  Scandinavicns , bietet  besonderes  Interesse.  In  wiefern  die  italienischen 
Daten,  welche  einiges  Auffallende  und  Abweichende  zeigen,  völlig  correct  sind,  muss 
dahin  gestellt  bleiben. 

Auf  die  Verschiedenheit  der  Altersclassification  beider  Geschlechter  (männlicher, 
weiblicher  Altersaufbau)  kommen  wir  im  folgenden  §.  241  noch  zurück.  Wie  sich 
nach  der  Geschlechtsvcrtheilung  bei  den  Geburten  und  bei  den  Altcrsclasscn  der 
Sterbefülle  und  Wanderungen  schliesslich  das  Verhältnis  der  männlichen  zur  weib- 
lichen Bevölkerung  in  den  verschiedenen  Lebensaltern  stellt,  ist  für  die  volkswirt- 
schaftliche Seite  der  Bevölkerungsfrage  ebenfalls  von  besonderem  Interesse.  In  der 
amtlichen  und  Privatstatistik  ist  das  öfters  genauer  ermittelt  oder  berechnet  worden. 
Die  gen.  treffliche  Arbeit  Schumanns  in  B.  44  der  Reichsstatistik  liefert  auch 
hierüber  lehrreiche  Berechnungen  und  Untersuchungen  für  4 grössere  Altcrsclassen 
der  Bevölkerung.  0 — 15,  15 — 10,  40  — GO  und  über  60  Jahre  (Einl.  S.  31),  zugleich 
mit  Berücksichtigung  der  relativen  Sterblichkeit  der  Geschlechter  in  diesen  Classen. 
Für  unsere  Zwecke  wäre  cs  erwünscht,  wenn  die  3.  Classe  bis  zum  70.  oder  wenigstens 
bis  zum  05.  Jahre  ginge.  Für  das  Deutsche  Reich  liegen  die  Berechnungen  für  die 
Gebietsgruppen  vor.  Einige  dieser  Daten  sind  in  Tab.  XXXIV  zusamincngestellt 
worden.  Bei  den  Diffcrenzzahlen  der  deutschen  Gebiete  blieben  die  einzelnen  Klein- 
staaten, welche  die  gen.  reiebsstat.  Arbeit  besonders  giebt,  wieder  unberücksichtigt, 
weil  sic  aus  zu  kleinem  uud  der  zufälligen  Gebietsbegrenzung  entstammendem  Material 
herrühren. 


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Geschlechtsvertheilung.  Statistische  Belege. 


605 


Tab.  XXXIV.  Verhältniss  der  Geschlechter  zu  einander 

in  grösseren  Altersclasscn. 

Auf  1000  männliche  kommen  weibliche  Personen: 


Unter  15  Jahren 

15 — 40  Jahre 

40 — 60  Jahre 

Uber  60  Jahre 

1. 

2. 

3. 

4. 

Deutsches  Reich 
Differenzen: 

997 

1044 

1069 

1126 

1.  Maximum 

1038 

1144 

1167 

1602 

Gebiet 

Südbaiern 

B.  Oppeln 

Breslau,  Liegnitz 

Berlin 

2.  Maximum 

1036 

1135 

1126 

1292 

Gebiet 

Würtemberg 

Pr.  Posen 

Elsass-Lothringen 

Ostpreussen 

1.  Minimum 

970 

875 

918 

941 

Gebiet  Münster,  Minden 

B.  Arnsberg 

B.  Arnsberg 

Münster,  Minden 

2.  Minimum 

971 

960 

953 

1000 

Gebiet 

B.  Arnsberg 

Berlin 

B.  üüsseld.  Rhcinl.ohneDüsseld 

Westösterreich 

1006 

1055 

1111 

1079 

Galizien,  Bukow. 

1012 

1063 

1009 

894 

Ungarn 

1006 

1034 

996 

1000 

Griechenland 

901 

957 

861 

940 

Italien 

965 

1020 

992 

965 

Spanien 

976 

1065 

1030 

1029 

Frankreich 

976 

1011 

1010 

1068 

Grossbritannien 

996 

1074 

1101 

1200 

Irland 

972 

1104 

1196 

1057 

Schweiz 

1002 

1057 

1072 

1077 

Belgien 

9S4 

9S4 

992 

1087 

Niederlande 

989 

1021 

1035 

1175 

Dänemark 

980 

1042 

1039 

1189 

Schweden 

982 

1055 

1123 

1315 

Norwegen 

971 

1073 

1070 

1204 

Finnland 

994 

1029 

1108 

1330 

Es  ergiebt  sich  aus  dieser  Tabelle,  dass  im  Kindesalter  unter  dem  Einfluss  des 
männlichen  Geburtsuberschusses  und  weil  hier  sich  die  Wanderungen  noch  nicht  be- 
sonders geltend  machen,  regelmässig  auch  in  der  Bevölkerung  die  Knaben  überwiegen, 
aber  doch  nur  mit  nicht  seltenen  Ausnahmen.  Diese  sind  dann  wohl  auf  die  un- 
gewöhnlich ungünstige  Sterblichkeit  der  männlichen  Kleinkinder  mit  zurückzuführen, 
wie  in  Südbaiern,  Würtcmberg  (auch  in  Hohenzollern,  Baden  und  anderen  deutschen 
Ländern  mit  Mädchenüberschuss  im  Kindesalter),  in  Oesterreich,  Schweiz,  wo  statistisch 
eine  relativ  hohe  Sterblichkeit  der  Knaben  verglichen  mit  den  Mädchen  hervortritt 
(s.  Reichsstat.  a.  a.  0.  S.  32). 

In  der  2.  Altersclasse,  derjenigen  der  kräftigsten  Lebensjahre,  macht  sich  inner- 
halb Deutschlands  wie  ausserhalb  der  Einfluss  der  Wanderungen  und  der  wirtschaft- 
lichen Hauptberufe  der  Bevölkerung  stark  geltend,  derjenige  der  hier  auch  für  das 
männliche  Geschlecht  nicht  so  viel  ungünstigeren  Sterblichkeit  (100  : 06  in  Deutsch- 
land, gegen  100:88  im  Kindesalter)  kaum.  Die  preussischen  östlichen  Provinzen 
(ausser  Brandenburg),  Mecklenburg,  Hessen-Nassau,  Franken,  Thüringen,  Würtemborg 
Pfalz  haben  hier  alle  ein  ziemlich  starkes  Uobcrwiegen  der  Frauen  (6 — 14  %),  ein 
schwächeres  (01  bis  5 °/0  und  mehr),  haben  Westfalen  ohne  Arnsberg,  Pr.  Sachsen. 
Hannover,  Rheinland  ohne  Düsseldorf,  K.  Sachsen,  Südbaiern,  Baden.  Elsass-Lothringen, 
Hessen,  Oldenburg  und  verschiedene  Kleinstaaten.  Nur  Berlin  und  Brandenburg,  Arns- 
berg und  B.  Düsseldorf,  Braunschweig  und  (ein  Weniges)  Schleswig-Holstein  haben  hier 
einen  mäunlichen  Ueberschuss  in  der  Bevölkerung,  Hamburg  fast  ein  Gleichgewicht  (1004). 
Die  Massenauswanderungsländer,  Deutschland,  die  übrigen  germanischen,  auch  Spanien, 
Italien,  die  österr.-ungar.  Lande  (wo  Andres  mehr  mitspielon  muss)  zeigen  weniger 
Männer,  so  besonders  im  Vergleich  mit  Frankreich,  Belgien. 

In  der  3.  Classe,  von  40 — 60  Jahren  ergeben  sich  innerhalb  Deutschlands  wie 
in  den  anderen  Ländern,  wohl  unter  Nachwirkung  der  Wanderungen  in  jüngeren 
A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Tbeil.  Grundlagen.  39 


606  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  241. 


Jahren»  yielfach  ähnliche  Verhältnisse  wie  in  der  vorausgehenden  Classe,  doch  so, 
dass  der  weibliche  Ueberschuss  meistens  noch  grösser  geworden  ist,  oder  da  eintrat, 
wo  er  früher  fehlte.  Indessen  finden  sich  mehrfach  Ausnahmen,  welche,  wie  in 
Galizien,  Italien,  mit  nicht  so  günstiger  Sterblichkeit  der  Frauen  Zusammenhängen 
können. 

In  der  höchsten  Altersclasse,  von  über  60  Jahren,  überwiegt  mit  ganz  wenigen 
Ausnahmen  überall  das  weibliche  Geschlecht  und  meistens,  z.  Th.  erheblich  stärker, 
als  in  den  jüngeren  Jahren.  In  Deutschland  macht  nur  R.-B.  Minden  und  Münster 
(von  kleineren  Gebieten  Hohenzollern,  Birkenfeld),  von  fremden  Ländern  nur  Gali- 
zien u.  s.  w.,  Italien,  Griechenland  hiervon  eine  Ausnahme:  hier  überwiegt  in  dieser 
Classe  das  männliche  Geschlecht,  auch  zeigt  sich  (ausser  in  Hohenzollern)  hier  eine 
grössere  weibliche  Sterblichkeit.  Im  Ganzen  tritt  der  Einfluss  der  Sterblichkeit  auf 
die  Geschlechtsvertheilung  unter  der  Bevölkerung  in  diesen  höheren  Jahren  wieder 
stärker  hervor.  Die  auffallend  hohe  Zahl  alter  Frauen  gegenüber  alten  Männern  in 
Berlin  findet  durch  ähnlich  hohe  Zahlen  in  den  3 Hansestädten  ihre  Wiederholung.  — 
Im  Einzelnen  kann  man  für  Massenauswanderungsländer,  namentlich  für  solche,  welche 
es  schon  lange  sind,  und  für  Länder  mit  gefährlicheren  Lebensberufen  der  Männer 
mehrfach  (nicht  allgemein,  wie  Irland  zeigt)  ein  besonders  grosses  üeberwiegen  der 
Frauen  im  höheren  Lebensalter  und  eine  weitere  Steigerung  im  höchsten  Alter  nach- 
weisen,  (über  SO  und  90  Jahre,  s.  Wappäus  II,  ISO,  212,  der  für  den  Durchschnitt 
einer  Reihe  von  11  europ.  Ländern  berechnet: 

Tab.  XXXV. 


Auf  1000  Männer  Weiber: 


ü — 5 Jahre  980 

30 — 40  Jahre 

1025 

5—10 

„ 977 

40—50 

1017 

10—15 

„ 970 

50—60 

W 

1068 

15—20 

„ 984 

60—70 

1* 

1173 

20—25 

„ 1068 

70—80 

M 

1171 

25—30 

„ 1042 

80—90 

Vf 

1345 

über  90 

VI 

1552 

Für  manche  Specialfragen  der  Bevölkerungsstatistik  und  auch  für  manche  be- 
sondere Puncte  der  volkswirtschaftlichen  Seite  der  Bevölkerungsfrage  und  für  andere 
wirtschaftliche  Specialfragen,  auch  solche  der  practischen  Nationalökonomie,  z.  B.  der 
Lebensversicherung,  des  Wittwenkassen wesens,  ist  grade  diese  Verschiedenheit  der  Ver- 
teilung der  Geschlechter  in  den  Altersclassen  besonders  wichtig.  Sie  verdient  daher  auf- 
merksam beachtet  zu  werden.  In  der  gen.  reichsstatistischen  Arbeit  liegt  noch  viel 
weiteres  Material  gut  verarbeitet  vor,  um  den  interessanten  Gegenstand  ins  Einzelne 
hinein  zu  verfolgen. 

VII.  — §.  241.  Altersvertheilung  in  (1er  Bevölke- 
rung (Altcrsclassification).  A.  Allgemeine  Uebersicht. 
Wichtiger  noch  als  die  Geschlechtsvertheilung  ist  für  die  volkswirtb- 
schafi liehe  Seite  der  Bevölkerungsfrage  die  Vertheilung  der  Lebens- 
alter und  die  danach  sich  ergebende  Classification  der  Bevölkerung. 
Denn  hiervon  hängt  wieder  die  Vertheilung  der  Lebensjahre  ab, 
welche  aus  natürlichen  und  aus  socialen  Gründen  productiv  und 
unproductiv  oder  nur  theilvveise  productiv  sind  und,  soweit  bloss 
natürliche  Gründe  obwalten,  auch  nur  so  sein  können : der  wichtige 
Punct  in  dieser  Frage  für  das  volkswirtschaftliche  Production»- 
prohlem,  aber  zugleich  der  fast  noch  wichtigere  für  das  Vertheilungs- 
problem, weil  sich  danach  entscheidet,  welcher  Theil  der  Bevölkerung 


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Altersverthcilung. 


607 


naturnothwendig  oder  nach  den  einmal  in  Bezug  auf  die  Lebens- 
alter bestehenden  soeialökonomischen  Erwerbsverhältnissen  von  dem 
anderen  unterhalten  werden  muss,  also  für  diesen  den  ökonomischen 
„BelastUDgscoefficienten“  darstellt. 

Von  besonderer  Bedeutung  ist  daher  vor  Allem  die  absolute 
und  relative  Grösse  der  Bevölkerung  im  Kindesalter,  d.  h.  etwa 
bis  zum  vollendeten  löten  Lebensjahre. 

Wie  man  dieses  Alter  hier  zu  begrenzen  habe,  ist  allerdings  nicht  so  ohne 
Weiteres  zu  bestimmen.  Meistens  wird  es  auch  in  der  Altersstatistik  der  Bevölkerung 
mit  nach  einem  w irthsch aftli ch en  Gesichtspunct,  bis  zu  demjenigen  Leben-jahre 
gerechnet,  wo  regelmässig  in  der  Masse  der  Bevölkerung  die  Erwerbsarbeit  beginnt 
und  der  junge  Mensch  (beiderlei  Geschlechts)  die  Last  seiner  Erhaltung  seinen  Eltern 
oder  Angehörigen  oder  sonstigen  rechtlich  Verpflichteten  oder  thatsächlich  bisher 
Helfenden  wenigstens  theilweise  abnimmt.  Dieses  Lebensjahr  hängt  mit  der  natür- 
lichen Entwicklung  des  menschlichen  Organismus  zusammen,  bildet  daher  einiger- 
maassen  auch  die  natürliche  Grenze  des  Kindesaltcrs:  annähernd  die  Zeit  des  Ein- 
tritts der  Geschlechtsreife,  ein  Zeitpunct,  welcher  freilich  nach  Klima,  Iiace,  Nationalität, 
selbst  unter  den  europäischen  Culturvölkern,  etwas  verschieden  ist.  Es  ist  zugleich 
etwa  der  Zeitpunct,  wo  die  Schulpflicht  zu  enden  und  auch  thatsächlich  für  die  grosse 
Masse  des  Volks  der  Schulbesuch  aufzuhören,  die  kirchliche  Confirmation  stattzufinden 
pflegt.  Für  den  grossen  europäischen  Durchschnitt  kann  man  so  das  löte,  am  Besten 
das  vollendete  löte  Jahr  annehmen,  wie  es,  zum  Theil  in  Verbindung  mit  der  neuer- 
lich beliebten  Quinqueunialperiode  auch  in  der  Statistik  jetzt  meistens  geschieht  (früher 
mehr  das  vollendete  1 4te  Jahr).  Physiologisch  ist  dieses  Jahr  allerdings  für  süd- 
liche Völker  etwas  zu  hoch,  für  nördliche  noch  etwas  zu  niedrig.  Und  volkswirt- 
schaftlich bleiben  bei  einem  solchen  Ansatz  die  thatsächlichen  Verhältnisse, 
welche  bei  dem  Einzelnen  von  allgemeinen  socialen  uud  wirtschaftlichen  Umständen 
und  von  der  Zugehörigkeit  zu  einer  bestimmten  socialen  Classe  abhängen.  unberück- 
sichtigt. Denn  in  den  unteren  Classen,  wenigstens  bei  Hausindustrie  und  Fabrikwesen, 
solange  ein  allgemeines  Verbot  der  Kinderarbeit  fehlt,  auch  im  Handwerk  wenigstens 
vom  vollendeten  14.  Jahre  an,  etwas  auch  in  der  Landwirtschaft  und  im  Gesinde- 
dienst  u.  dgl.  beginnt  die  Erwerbsarbeit  und  damit  die  mindestens  theilweise  öko- 
nomische Emancipation  von  der  Familie  früher;  bei  den  höheren  Gassen  andrerseits 
bekanntermaassen  viel  später,  wenn  überhaupt  (Haustöchter!).  Mau  kann  daher  die 
Bevölkerung  im  Kindesaltcr  bis  iucl.  15  Jahro  nur  im  Grossen  und  Ganzen  und  unter 
den  angedeuteten  Vorbehalten  als  die  durch  Altersverhältnisse  unproductive 
anschen. 

Beginnt  man  dann  das  „erwachsene“  „productive“ 
Alter  vom  16ten  Lebensjahre  an,  so  kann  auch  das  in  der  volks- 
wirtschaftlichen Betrachtung  der  Altersclassitication  und  bei 
►Schlüssen  daraus  wiederum  nur  mit  Vorbehalten  geschehen. 

Denn  die  regelmässige  Erwerbsthätigkeit  und  auch , nach  den  hier  obwaltenden 
Berufen,  die  Erwcrbsfähigkeit  der  höheren  Gassen  fängt  erst  viel  später  an.  Aber 
auch  in  der  Masse  des  Volks  sind  die  Erhaltungskosten  meist  noch  einige  Jahre  lang 
von  den  Eltern  etc.  wenigstens  zu  ergänzen  und  auch  hier  tritt  manchmal  Erwerbs- 
fähigkeit  und  Thätigkeit  erst  etwas  später  ein.  Für  die  ökonomische  Betrachtung 
kann  daher  namentlich  die  Altersclasse  16 — 20  noch  nicht  allgemein,  für  die  höheren 
Schichten  kaum  die  Classe  26 — 30  Jahre  schon  als  productiv  gelten.  Bei  den  statistischen 
Zahlen  und  bei  Schlüssen  daraus  will  das  wiederum  bedacht  sein. 

Nicht  minder  macht  die  Frage  Schwierigkeit,  mit  welchem 
Lebensjahre  man  die  „productive“  Altersclasse  ab  sch  Hessen  soll. 

39* 


(508  4.  B.  Bevölk.  u.  Volks w.sch.  1.  K.  Bevölk.lehrc.  1.  H.-A.  Statist.  §.  241. 


Man  pflegt  dafür  das  vollendete  60.,  65.,  auch  70.  Jahr  anzusehen, 
kann  für  jedes  derselben  und  für  dazwischen  liegende  manche 
Gründe  geltend  machen.  Aber  allgemein  und  durchaus  passt  wieder 
nach  den  natürlichen,  den  socialen,  den  individuellen  Verhältnissen 
kein  einzelnes  bestimmtes  Jahr  immer  als  Norm  und  als  statistische 
Grenzziffer. 

Physiologisch  wird  man  sich  mehr  für  das  70.  als  für  ein  jüngeres  Jahr  ent- 
scheiden. Volkswirtschaftlich  ist  für  die  Masse  der  nnteren  und  theilweisc  auch  der 
Mittelclassen  (in  städtisch-industrieller  und  in  ländlicher  Beschäftigung)  das  65.  wohl 
richtiger,  weil  die  Arbeits-  und  Erwerbsfähigkeit  hier  früher  und  stärker  abzunehmen 
pflegt.  Man  könnte  mit  Rücksicht  darauf  wohl  auf  ein  noch  jüngeres  Jahr  zurückgehen. 
Aber  für  Durchschnittsverhältnissc  ist  doch  das  6t)ste  wohl  eine  etwas  niedrige  Grenze. 
In  den  höheren  Classen  kann  man  hier  eher  das  70sto  annehmen.  Auch  kommt  doch 
in  Betracht,  dass  die  ältere  Bevölkerung  von  dem  Doppelstandpunct  der  Production 
und  der  Vertheilung  aus  nicht  der  Bevölkerung  im  Kindesalter  gleich  gestellt  werden 
kann:  sie  ist  im  Ganzen  weder  wirtschaftlich  so  unproductiv  noch  so  ausschliesslich 
und  namentlich  nicht  so  direct  wie  diese  Bclastungscoefflcicnt  für  Dritte,  für  die 
Haoptclasse  der  Bevölkerung  im  kräftigen  productiven  Alter. 

Innerhalb  der  drei  Hauptclassen  des  Kindes-,  des  mittleren  und  des  älteren 
Lebensalters  lassen  sich  kleinere  Altersclassen,  welche  nur  einige  Jahre  (z.  B. '5 , 10) 
oder  selbst  nur  1 Jahr  umfassen , auch  für  die  volkswirthschaftliche  Auffassung  mit 
Rücksicht  auf  die  Aenderungen  in  der  Productivität  und  in  dem  Gewicht  als  Be- 
lastungscoefflcient  für  Andere  weiter  unterscheiden,  so  z.  B.  das  jüngere  (bis  5,  bis  10), 
das  höhere  (10  — 15  Jahre)  Kindes-,  das  jüngere  und  höhere  Greisenalter  (65  — 70. 
70 — 75,  über  75,  über  60  Jahre),  ln  der  mittleren  Lebensaltcrclasse  kann  man  auch 
wieder  passend  grössere  Zwischenclassen  bilden,  z.  B.  15 — 20 — 40,  die  Zeit  der  auf- 
steigenden und  für  die  Arbeitermassen  meist  productivsten  und  erwerbsgünstigsten 
Jahre.  40 — 60 — 65  die  Zeit  der  wieder  abnehmenden  Productivität  und  des  sinkenden 
Erwerbs  in  diesen  Kreisen,  freilich  umgekehrt  wohl  meistens  des  Höhcpuncts  der  höheren 
Classen  darin.  Die  4 Jahresgruppen  der  Reichsstatistik  (B.  44)  bis  15,  15 — 40, 
40 — 60,  über  60  (besser  bis  65)  können  so  hier  auch  für  unsere  Zwecke,  immer  mit  den 
geäusserten  Vorbehalten,  gut  benutzt  werden. 

Die  Vertheilung  der  Lebensalter  in  der  Bevölkerung  wird 
normal,  d.  k.  wenn  nicht  die  zu  erwähnenden  besonderen 
Umstände  einwirken,  wesentlich  bedingt  von  der  Geburtsfrequenz 
und  von  der  Sterblichkeit  in  den  verschiedenen  Lebensjahren. 
Auch  wenn  bei  hoher  Geburtsfrequenz  (gewisse  germanische,  slavische 
Länder)  eine  grössere  Quote  der  Kleinkinder  wieder  stirbt,  als  in 
Ländern  mit  geringerer  Geburtsfrequenz  (Frankreich  u.  a.  m.,  s.  o. 
§.  211),  so  bleibt  doch  regelmässig  ein  grösserer  Ueberschuss  von 
Kindern  vorhanden,  welcher  die  Quote  der  Bevölkerung  im  Kindes- 
alter bei  entsprechender  Höhe  der  Geburtsfrequenz  dauernd  erhöht, 
— den  durch  die  Kinder  für  die  erwachsene  productive,  erwerbende 
Bevölkerung  gebildeten  Belastungscoeffieienten  steigert  (Deutschland, 
Grossbritannien  gegenüber  Frankreich).  Oberhalb  des  Alters  der 
Kleinkinder  macht  sich  dann  die  relative  Sterblichkeit  der  einzelnen 
Lebensjahre  und  Jahresclassen  geltend,  wofür  auf  die  frühere  Dar- 
legung des  Sterblichkeitsverhältnisses  zu  verweisen  ist  (§.  211,  212). 


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Altersvertheilung. 


609 


Da  die  Sterblichkeit  der  beiden  Geschlechter  im  Kindes-  und  späteren  Alter 
verschieden  ist  (§.  240),  zeigt  sich  auch  die  Geschlechtsvertheilung,  als  Resultat  der 
darauf  einwirkenden  Umstände,  auf  die  durchschnittliche  Verthcilung  der  Lebens- 
alter in  der  Gesammtbevölkerung  etwas  mit  von  Einfluss.  Länder  mit  einem  Ueber- 
schuss  der  weiblichen  Personen  müssen  daher  auch  in  der  Altersvertheilung  ein  etwas 
anderes  Bild  geben,  als  Länder  mit  einem  Gleichgewicht  beider  Geschlechter  oder 
einem  Ueberechuss  des  männlichen:  die  älteren  Jahrgänge  werden  im  Ganzon  in 
ersterem  etwas  stärker  besetzt  sein. 

Diese  normale  Yertheiiung  der  Altersclassen  in  der  Bevölkerung 
wird  nun  auch  hier  wieder,  wie  diejenige  des  Geschlechts,  mehr 
oder  weniger  verschoben  durch  besondere  Umstände,  welche 
einzelne  Altersclassen  in  ungleichem  Maasse  berühren.  Dahin 
gehören  Calamitäten,  wie  Krieg,  Epidemien  (z.  B.  unter  Kindern), 
wirthsch  ältliche  Nothzeiten  (mit  höherer  Sterblichkeit  der  schwächeren 
Elemente,  Kinder,  Greise)  und  namentlich  auch  wieder  Ein-  und 
Auswanderung,  an  welcher,  nach  dem  Früheren  (§.  225 ff.),  die 
verschiedenen  Altersclassen  ungleich  betheiligt  sind. 

Die  Länder  der  Massencinwanderung  sind  daher  hier  wieder  etwas  begünstigt, 
diejenige  der  Auswanderung  benaclitheiligt , weil  die  Altersclassen  der  beginnenden 
und  der  stärksten  Productivität  mehr  als  die  übrigen  die  wandernden  sind  (S.  562). 
In  der  Altcrselasseustatistik  der  Einwanderungsländer  tritt  das  nur  nicht  so  deutlich 
hervor,  weil  hier  oft  die  grosse  Geburtsfrequenz  der  einheimischen  Bevölkerung  die 
Quote  der  Kinder  stark  erhöht.  Die  Bevölkerung  in  höherem,  im  Greisenalter  muss 
ferner  in  jungen  Einwanderungsländern,  wo  die  Einwanderung  gross  ist  und  so 
gegenüber  der  einheimischen  Bevölkerung  stark  ins  Gewicht  fällt,  wieder  ein  kleinerer  Theil 
werden,  selbst  bei  günstiger  Sterblichkeit  in  allen  Altersclassen,  denn  die  Einwanderer 
füllen  namentlich  die  jüngeren  uud  mittleren  Jahrgänge  an.  — Grosse,  andauernde 
Kriege  mit  starken  Verlusten  durch  Schlachten,  Krankheiten  und  Elend  unter  dem 
Heere  (russischer  Feldzug  von  1812!)  schwächen  natürlich  die  Jahrgänge  der  be- 
treffenden männlichen  Altersclassen,  was  sich  1 — 2 Menschenalter  lang  in  der  Gliederung 
der  Bevölkerung  nach  dem  Lebensalter  bemerkbar  machen  kann ; so  in  Frankreich 
nach  der  grossen  napoleonischen  Kriegszeit  lange  hin  später  in  der  schwächeren  Be- 
setzung derjenigen  Jahrgänge  der  männlichen  Bevölkerung,  welche  durch  die  Kriege 
früher  besonders  mitgenommen  worden  wareu.  — In  Irland  wurde  durch  die  Noth- 
zeit  des  5.  Jahrzehnts  dieses  Jahrhunderts  grade  die  Kindergeneration  besonders  ver- 
mindert. — Manche  Einflüsse,  so  diejenigen  der  Epidemien,  zumal  unter  den  Kindern, 
werden  freilich  vornemlich  nur  in  der  Altersclassitication  der  localen,  einigermaasseu 
stabilen  (namentlich  nicht  durch  Wanderungen  stark  beeinflussten)  Bevölkerung  hervor- 
treten; nicht  leicht  in  der  Bevölkerung  ganzer  Länder  oder  grösserer  Landestheile. 
Dafür  sind  sie  selten  mächtig  genug  oder  beschränken  sich  wenigstens  nicht  scharf 
auf  bestimmte  Altersclassen  oder  werden  in  ihrer  Wirkung  durch  andere  Momente 
gekreuzt  und  aufgehoben. 

Unter  allen  Einflüssen  auf  die  Gliederung  der  Bevölkerung 
nach  dem  Alter  ist  derjenige  der  Geburtsfrequenz  der  deutlichste 
und  für  die  volkswirtschaftliche  Seite  der  Frage  auch  der  wichtigste. 
Die  auf  die  grössere  Geburtsfrequenz  zurückzuführende  stärkere 
Quote  der  Bevölkerung  im  Kindesalter  macht  sich  am 
Meisten  als  höherer  Belastungscoefficient  und  verminderter  Pro- 
ductivitätscoefficient  für  die  Gesammtbevölkerung  in  der  Volks- 
wirtschaft geltend.  Hierin  liegt  der  unverkennbare  Nachteil  der 


610  4.  13.  Bevölk.  u.  Volksw .sch.  1.  K.  Bcvölk.lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  242. 


Länder  mit  starker  Geburtsfrequenz  und  hoher  Quote  der  Kinder 
gegenüber  einem  Lande  mit  ganz  entgegengesetzten  Erscheinungen 
wie  Frankreich.  Nur  die  sehliessliche  Folge  der  höheren  Geburts- 
frequenz, das  raschere  und  stärkere  Wachsthum  der  Gesammtbe- 
völkerung,  kann  hier  wieder  Ausgleichungen  herbeifuhren,  nemlich 
wenn  und  soweit  als  diese  grössere  Bevölkerung  Uber  absolut 
stärkere  Jahrgänge  im  productiven  Alter  verfugt  und  die  wirt- 
schaftliche Productivität  dieser  Bevölkerungstheile  stärker  als  deren 
Bedarf  an  wirtschaftlichen  Gütern  wächst.  Aber  Schwierigkeiten 
und  Bedenken  aller  Art  bleiben  immer. 

Wir  kommen  darauf  im  nächsten  Hauptabschnitte  dieses  Kapitels,  bei  den  volks- 
wirthscliaftlichen  Folgerungen,  zurück.  Der  ganze  Punct  hängt  eng  mit  den  „Mal- 
thus’schen  Fragen'4  zusammen  uud  ist  einer  der  wichtigsten  grade  für  die  volkswirth- 
schaftliche  Betrachtung  des  Bevölkerungsproblems. 

B.  — §.  242.  Statistische  Belege. 

S.  für  Material  aus  etwas  weiter  zurückliegender  Zeit  wieder  vornemlich 
Wappäus.  (II,  40  ff.,  126  ff.);  auch  für  die  ganze  hier  behandelte  Frage  sind  seine 
Ausführungen  besonders  beachtenswerth.  Nach  den  von  ihm  berechneten  Zahlen  aus 
den  damals  noch  unvollständigeren  Daten  der  Altersstatistik  einer  Reihe  von  Ländern 
ist  die  Tabelle  XXXVI  zusammengestellt  worden.  Die  europäischen  Länder  umfassen 
hier  Frankreich,  Grossbritannien  mit  Irland,  Niederlande,  Belgien,  Schweden.  Norwegen, 
Dänemark  mit  seinen  damaligen  deutschen  Provinzen  (Schleswig-Holstein,  Lauen  bürg), 
Sardinien  und  Kirchenstaat.  Deutschland  fehlt  hier  also  fast  ganz.  Die  americani- 
schen  Länder  sind  die  Vereinigten  Staaten  und  Canada.  Die  Zahlen  aus  Mitte  der 
40er  und  Anfang  der  50er  Jahre  (Irland  bei  den  curop.  Ländern  noch  nach  der  Zählung 
von  1841,  also  vor  der  grossen  Yolksabnahme). 


Tab.  XXXVI.  Altersclassificat  ion  der  Bevölkerung  in 
verschiedenen  Gebieten  um  Mitte  des  19.  Jahrhunderts. 


Auf  10,000  Lebende: 


Jahre 

Europ. 

Länder 

Arner. 

Länder 

Frank- 

reich 

Grossbrit. 

(ohnelrl.) 

Belgien 

Norwegen 

0 — 5 

1120 

1512 

929 

1300 

1164 

1353 

5—10 

1066 

1389 

922 

116S 

1091 

1140 

10—15 

993 

1229 

880 

1072 

978 

1000 

15—20 

941 

1095 

881 

988 

899 

855 

20—25 

887 

JlSl'ij 

832 

935 

90S 

891 

25—30 

806 

802 

817 

753 

851 

30—40 

1373 

1222 

1475 

1308 

1352 

1356 

40—50 

1107 

807 

1247 

982 

1180 

876 

50—60 

846 

488 

1017 

690 

780 

781 

60—70 

548 

265 

646 

451 

549 

569 

70— SO 

250 

113 

301 

222 

269 

246 

80 — 90 

5S 

33 

63 

56 

71 

73 

über  90 

5 

5 

5 

5 

6 

9 

Oder 

0—15 

3179 

4130 

2731 

3546 

3233 

3493 

15—40 

4007 

4159 

3990 

4048 

3912 

3953 

40—60 

1753 

1295 

2264 

1672 

1960 

1657 

über  60 

S61 

416 

1015 

734 

895 

897 

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Altersvertheilung.  Statistische  Belege. 


611 


Die  Verschiedenheiten  zwischen  europäischen  und  americanischen  Ländern, 
Grossbritannien  und  Frankreich  bestätigen  die  Bemerkungen  im  vorigen  §.  Der  Ein- 
fluss der  Massenauswanderung  kommt  damals  und  in  den  Daten  der  aufgeführten 
europäischen  Länder  (ausser  bereits  etwas  in  Grossbritannien)  aber  noch  nicht  stark 
zur  Geltung,  mehr,  aber  immerhin  auch  noch  nicht  so  stark  wie  später,  der  Einfluss 
der  Einwanderung  in  America,  Die  Daten  für  die  nordamericanische  Union  allein 
weichen  nur  wenig  von  den  in  der  Tab.  XXXVI  angegebenen  Durchschnittsdaten  für 
America  (nemlich  incl.  Canada)  ab. 

Nach  den  Daten  in  Band  44  der  Reichsstatistik  sind  die  folgenden  Tab.  XXXVII 
und  XXXVIII  zusammengestellt  worden.  S.  daselbst  bes.  Einl.  S.  24  u.  Tab.  S.  114  ff., 
wo  die  Berechnungen  auch  für  die  übrigen  europäischen  Länder.  In  der  Tabelle  sind 
die  Geschlechter  getrennt  worden,  um  die  Verschiedenheiten  im  Altersaufbau  derselben 
zu  zeigen.  Die  Daten  für  die  nordamericanische  Union  sind  von  mir  nach  dem 
Compendium  of  the  tenth  census  (1880),  part.  I,  Washington,  1883,  p.  607  be- 
rechnet worden. 

S.  Tab.  XXXVII  auf  S.  612. 

S.  Tab.  XXXVIII  auf  S.  612. 

Der  Vergleich  zwischen  dem  Deutschen  Reich  und  Grossbritannien  einer-,  Frank- 
reich andrerseits  ergiebt  namentlich,  wie  die  grosse  Geburtsfrequenz  dort  im  1.  Lebens- 
jahre auf  eine  hohe  Quoto,  ca.  3 °/0  der  Bevölkerung,  1 % mehr  als  in  Frankreich, 
einwirkt.  Schon  in  den  folgenden  Jahren  sind  wegen  der  grösseren  Sterblichkeit 
unter  den  Kleinkindern  die  Jahrgänge  nicht  mehr  in  demselben  Grade  stärker  be- 
setzt wie  in  Frankreich.  Aber  in  der  ganzen  ersten  fünfjährigen  Periode  hat  Deutsch- 
land und  Grossbritannien  doch  beiuaho  4 °/0  Kinder  mehr  in  der  Bevölkerung  als 
Frankreich.  Das  wirkt  bis  zu  Ende  der  20er  Jahre  nach.  In  der  Hauptaltersperiode 
der  Militärdienstleistung  (20 — 30,  bez.  — 35  Jahre)  hat  Deutschland  immerhin  noch 
eine  etwas  grössere  Quote  seiner  männlichen  Bevölkerung  stehen,  als  Frankreich, 
bzw.  1586  und  2281  auf  10,000  gegen  1560  und  2271  (in  der  Periode  20  — 25  allein 
ist  allerdings  Frankreich  etwas  überlegen).  Erst  in  den  30er  Jahren  steigen  dann  die 
Quoten  der  Bevölkerung  der  betreffenden  Altersclassen  und  im  Ganzen  immer  mehr 
mit  höherem  Alter  in  Frankreich  über  diejenigen  in  Deutschland  und  Grossbritannien 
weit  hinaus.  Einen  „retardirenden“,  „conservativen“  Einfluss  dieser  reicheren  Be- 
setzung der  mittleren  und  höheren  Lebensalter  auf  die  französische  „Volksseele“,  wie 
man  nach  der  Annahme  einzelner  Statistiker  vermuthen  müsste,  sucht  man  freilich 
wohl  in  Frankreich  vergebens.  Im  Gegentheil:  rerum  novarum  semper  studiosi,  wie 
ihre  alten  gallischen  Vorfahren,  sind  die  Franzosen  heute  noch  mehr  als  jedes  andro 
europäische  Volk.  Nordamerica  (Union)  zeigt  in  der  ersten  Kindesperiode  (bis  5 J.) 
ziemliche  Uebereinstimmung  mit  Grossbritannien,  im  späteren  Kindesalter  höhere 
Quoten;  hinterher  aber  nur  in  der  Periode  20 — 25  Jahre  stärkere  Besetzung  der 
Jahrgänge  und  mehrfach  abermals  grosse  Gebereinstimmung  mit  Grossbritannicu,  erst 
vom  40. — 45.  Jahre  an  werden  die  Quoten,  und  zwar  im  Ganzen  wachsend,  immer  kleiner. 

In  Tab.  XXXVIII  (nach  Reichsstat.  B.  44  Einl.  S.  25)  sind  die  Länder  nach 
der  Reihenfolge  der  Kinderquote  in  der  Bevölkerung  geordnet.  Man  sieht,  wie  doch 
in  Mittel-  und  Westeuropa  (ohne  Galizien  u.  s.  w.)  die  Unterschiede  dieser  Quote  nicht 
sehr  gross  sind,  nur  Frankreich  steht  weit  zurück.  Auch  Spanien,  Belgien,  Italien 
weit  über  ihm.  Das  Gleiche  — die  Kleinheit  der  Unterschiede  — gilt  von  der  Klasse 
der  üebcr-60-jährigen  (hier  ohne  Spanien  mit  vielleicht  nicht  ganz  richtigen  Zahlen 
und  ohne  Ungarn  und  Finnland),  während  hier  Frankreich  viel  stärker  vertreten  ist 
In  den  mittleren  Jahren  zeigt  Frankreich  mehr  Uebereinstimmung  mit  dem  übrigen 
Europa,  namentlich  in  der  ersten  Hälfte  (15 — 40  Jahre)  dieser  Periode.  Irland  weist 
hier  doch  grössere  Verschiedenheiten  von  Frankreich  als  in  der  Geburtsfrequenz  und 
mehr  Uebereinstimmung  mit  Grossbritannien  (d.  h.  England  und  Schottland)  auf. 
Nordamerica  (Union)  steht  in  der  Reihenfolge  der  Kinderquoten  hoch,  aber  nicht  an  der 
Spitze,  in  der  Classe  der  15  — 40jährigen  am  Günstigsten  (von  Spanien  mit  einer 
höheren,  aber  kaum  ganz  corrceten  Quote  abgesehen),  eine  Mitfolge  der  Einwan- 
derung, während  es  in  den  letzten  Classen  erheblich  hinter  Mitteleuropa  zurückweicht. 
Zerlegt  man  die  Kindesperiode  wieder  in  kleinere  Zeiträume  und  für  die  ersten 
5 Jahre  in  Einzeljahre  (nach  den  Berechnungen  in  B.  44  S.  118,  122  d.  Tab  ),  so 
ergeben  sich  einigo  weitere  Verschiedenheiten.  Irland  hat  die  ersten  Kinderjahrgänge 


612  4.  B.  Bevöik.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bcvölk. lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  241. 

Tab.  XXXVII.  Altersclassification  der  Bevölkerung  in  ver- 
schiedenen Ländern  um  1870 — 80.  Auf  10,000  Lebende: 


Jahre 

Deutsches  Reich 

Frankreich 

» 

Grossbritannien 
(ohne  Irland) 

Jord- 

anier. 

männl.  weibl. 

zus. 

männl.  weibl. 

zus. 

mänul. 

weibl. 

zus. 

1 zus. 

0—1 

316 

300 

— — 

308 

i 

206 

199 

203 

306 

287 

296 

2SS 

1—2  : 

277 

267 

272 

187 

181 

184  i 

270 

255 

262 

256 

2—3 

274 

264 

269 

195 

190 

193 

279 

263 

271 

2S4 

3—4 

262 

252 

257 

192 

186 

189 

272 

258 

265 

255 

4—5 

241 

232 

236 

1S7 

183 

185  1 

262 

253 

260 

279 

Zus.O — 5 

1370 

1315 

1342 

967 

939 

954 

1383 

1316 

1354 

\ 1361 

5—10 

1151 

1109 

1130 

899 

872 

886 

1257 

1170 

1203 

1292 

10—15  ' 

1054 

1010 

1032 

881 

848 

864 

1114 

1040 

1076 

1139 

15—20 

947 

926 

936 

i 864 

849 

856  { 

1000 

952 

975 

99S 

20—25 

837 

S50 

844 

850 

912 

SSI  | 

874 

906 

891 

1014 

25—30  ! 

749 

766 

757 

710 

706 

708  l 

767 

800 

784 

| S13 

30—35 

695 

702 

699 

. 711 

698 

705 

664 

685 

675 

i 673 

35—40 

624 

630 

627 

691 

676 

683 

579 

598 

589 

1 599 

40—45 

548 

555 

551 

1 649 

635 

642 

529 

547 

538 

l 492 

45—50  4S2 

493 

487 

603 

604 

603 

441 

460 

451 

I 416 

50 — 55 

440 

460 

450 

544 

549 

547 

394 

411 

403 

1 366 

55—60  | 

367 

3S5 

377 

481 

493 

487 

1 305 

320 

312 

255 

60—65 

295 

317 

306 

1 414 

419 

417 

267 

289 

279 

239 

65—70 

205 

221 

213 

311 

324 

317 

183 

205 

194 

114 

70—75 

134 

146 

140 

i 221 

234 

227 

131 

150 

140 

99 

75— SO 

6S 

75 

72 

' 130 

145 

137 

73 

87 

80 

•'  56 

über  SO 

34 

1 

40 

37 

! 74 

l 

97 

86 

47 

l 

64 

56 

i 44 

.1 

Tab.  XXXVIII.  Alte rsclassifi cation  nach  grösseren 
Altersperioden  in  verschiedenen  Ländern  um  1870—80. 

Auf  1000  Lebende  der  beiden  Geschlechter: 


Länder 

Bis  15  Jahre 

15 — 40  Jahre 

40—60  Jahre 

über  60  Jahre 

Griechenland 

387 

402 

154 

57 

Galizien,  Bukow. 

381 

401 

176 

41 

Jordanier.  Union 

379 

410 

153 

58 

Grossbritannien 

363 

391 

171 

75 

Ungarn 

355 

402 

183 

60 

Irland 

352 

375 

177 

96 

Deutsches  Reich 

350 

386 

187 

77 

Finnland 

346 

398 

188 

68 

Niederlande 

345 

375 

195 

85 

Norwegen 

344 

375 

191 

90 

Dänemark 

337 

376 

194 

93 

Schweden, 

333 

376 

203 

88 

Spanien  ') 

330 

412 

193 

65 

Belgien 

329 

376 

197 

98 

Italien 

323 

392 

202 

83 

Westösterreich 

322 

391 

203 

84 

Schweiz 

319 

384 

20H 

89 

Frankreich 

270 

383 

228 

119 

*)  Für  1 SOI— 70. 


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Altersvcrtheilung.  Statistische  Belege. 


613 


auch  schwach  besetzt,  aber  doch  immer  noch  wesentlich  stärker  als  Frankreich.  Bei 
der  Vergleichung  der  Länder  in  Tab.  XXXVIII  ist  übrigens  wieder  daran  zu  er- 
innern, dass  grosse  und  mittlere  Länder  auch  hier  nur  mit  Vorbehalt  unter  einander 
verglichen  und  Schlüsse  aus  solchen  Vergleichungen  gezogen  werden  dürfen. 

Zwischen  den  Wappaus'schen  Daten  in  Tab.  XXXVI  und  denen  der  Reichs- 
statistik in  Tab.  XXX  VIII  liegt  etwa  ein  Meuschenalter.  Grosse  Veränderungen  sind, 
z.  B.  in  Grossbritannien  und  Frankreich,  nicht  eingetreten,  aber  immerhin  bemerkbare 
und  auch  wegen  der  Richtung  beachtenswerthe.  Die  Kinderquotc  hat  sich  dort  noch 
etwas  erhöht,  hier  noch  etwas  ermässigt,  die  Quote  der  Aeltesten  ist  in  Frankreich 
nicht  unbedeutend,  in  Grossbritannicu  eiu  Geringes  gestiegen.  Die  Quote  der  15-  bis 
40 jährigen  hat  in  beiden  trotz  der  Verschiedenheit  der  Geburtsfrequenz  und  der  Aus- 
wanderung ziemlich  gleichmäßig  eiu  wenig  abgenommen.  Die  Quote  der  40 — 60jährigen 
ist  in  beiden  Staaten  fast  dieselbe  geblieben.  In  Belgien  sind  kleine  Verschiebungen 
zu  Gunsten  der  ältesten  Classe.  zu  Ungunsten  der  Kinder  und  der  jüngeren  Mittel- 
kategorie eingetreten.  In  Norwegen  hat  die  ältere  Mittelclassc,  etwas  die  Kiuder- 
quote  zu-,  die  jüngere  Mittelclassc  abgenommen,  was  wohl  auf  die  Auswanderung  zu- 
rückzuführen  ist.  In  Nordamerica  hat  besonders  die  Kinderquote,  etwas  auch  die 
Quote  der  15  — 40jährigen  bereits  gegen  die  Zeit  vor  30  Jahren  abgenommen.  Die 
beiden  anderen  sind  gewachsen,  d.  h.  die  Altersclassification  ist  derjenigen  der  alt- 
europäischen  Culturländer  bereits  ähnlicher  geworden. 

Auch  die  weiteren  Vergleichungen  der  ältern  Wappaus'schen  mit  den  neueren 
reichsstatistischen  Berechnungen  der  Quoten  der  Altersclassen  für  andere  Länder  sind 
lehrreich.  Doch  muss  ich  dafür  auf  die  Werke  selbst  verweisen.  Es  sei  nur  noch 
angeführt,  dass  in  Irland  die  Kinderquote  1841  3825  war,  neuerdings  nur  3525  auf 
10,000  ist  (von  0 — 5 J.  1260  und  bzw.  1162). 

Die  Verfolgung  der  Vertheil ung  der  Altersclassen  in  die  kleineren  Gebiete  der 
grösseren  Länder  hinein  ist  deswegen  von  Interesse,  weil  sich  dabei  mehr  der  Einlluss 
der  localen  Geburtsfrequenzen,  Sterblichkeiten  der  Lebensalter  und  der  heimischen 
neben  den  internationalen  Wanderungen  zeigt.  Die  gen.  reichstatistische  Arbeit  ge- 
stattet das  wiederum  für  das  Deutsche  Reich  genauer  und  zwar  auch  für  beide  Ge- 
schlechter getrennt  nach  den  einzelnen  Staaten,  Provinzen  und  anderen  Gebiets- 
abschnitten zu  verfolgen  (Einl.  S.  25,  Tab.  S.  114  IT.).  Es  würde  zu  weit  führeu, 
diese  Materialien  hier  hincinzuzichcn  und  specieller  zu  aualysircu.  Es  sei  nur  er- 
wähnt, dass  die  nahe  liegende  Vermuthung  in  den  hauptsächlichsten  Zuwanderungs- 
gegenden eine  Verstärkung,  in  den  Fortzugsgegenden  eine  Schwächung  besonders  der 
Quote  der  Jüngeren  in  der  Mittelclasse  (15 — 40  J.)  zu  finden,  ihre  Bestätigung  erhält. 
In  Berlin  z.  B.  steigt  diese  Quote  (.für  beide  Geschlechter  zusammen)  auf  über  die 
Hälfte  der  Bevölkerung  (518%0)  (männliche  allein  532),  auch  in  Hamburg  auf  461, 
Bremen  440,  R.-B.  Arnsberg  401,  R.-B.  Düsseldorf  403,  Königreich  Sachsen  400, 
während  sie  in  den  östlichen  und  nördlichen  und  den  sonstigen  überwiegend  agrarischen 
Gebieten  (mit  einzelnen  Ausnahmen)  unter  den  Reichsdurchschnitt  von  380,  auf 
360 — SSO  fällt.  Die  Verschiedenheit  der  Geburtsfrequenz,  welche  sich  in  der  Kinder- 
quote (bis  15  J.)  geltend  macht,  lässt  das  übrigens  in  einigen  östlichen  Gegenden 
etwas  zu  stark  hervortreten.  Aber  leicht  bewirken  die  heimischen  und  sonstigen  Fort- 
wanderungen doch,  dass  die  Bevölkerung  in  solchen  Gegenden  in  Bezug  auf  die  productivste 
Altersclassc  ungünstiger  gegliedert  und  der  Belastungscoefficient,  welcher  die  Kinder- 
und  Greisegeneration  darstellt,  grösser  wird.  In  Posen  z.  B.  ist  die  Quote  der  Kinder 
und  der  Greise  über  70  J.  414,  in  Pommern  306,  in  Berlin  nur  289,  im  Königreich 
Sachsen  374,  im  R.-B.  Düsseldorf  300.  Das  will  doch  Alles  in  den  Bevölkerungs-, 
Freizügigkeits-  und  auderen  socialökonomischen  Fragen  beachtet  sein. 

VIII.  — §.  243.  Die  Berufsverth eilung  in  der  Be- 
völkerung. 

A.  Behandlung  der  ganzen  Frage. 

Die  Bcrufsvertheilung  ist  für  eine  Menge  volkswirtschaftlicher  Fragen,  nament- 
lich solcher,  welche  in  die  Practische  Volkswirtschaftslehre  gehören,  von  grosser  Be- 
deutung. Die  neueren  Volkszählungen  oder  besondere  agrar-,  gewerbe-  und  namentlich 
eigentliche  berufsstatistische  Aufnahmen  haben  auch  viel  wichtiges  und  wertvolles 


614  4.  B.  Bcvulk.  u.  Yolksw.sch.  1.  K.  Bevölk.Iehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  243. 


Material  über  die  Berufsvertheilung  hervorgefördert.  Allein  eine  fruchtbare  Benutzung 
dieses  Materials  bedingt  ein  solches  Eingehen  in  das  Einzelne  und  namentlich  auch 
eine  vorausgehende  oder  begleitende  genauere  Erörterung  und  Verständigung  über  die 
methodische  Seite  der  Berufsstatistik,  wie  es  hier  schon  aus  Rücksichten  auf  den 
Raum  ausgeschlossen  ist.  Hier  in  die  „Grundlegung“  und  speciell  in  dieses  Kapitel 
von  der  Bevölkerung  gehört  auch  immerhin  nur  Weniges  aus  diesem  Gebiete.  Ein 
kurzer  Blick  in  dasselbe  muss  und  kann  auch  hier  unserm  Zwecke  genügen.  Auch 
dabei  handelt  es  sich  nur  um  Beispiele. 

Die  Berufsstatistik  bietet  bei  der  heutigen  weitgehenden  Arbeitsteilung,  der  Ver- 
bindung von  Nebenberufen  mit  dem  Hauptberuf,  der  Beweglichkeit  der  Berufs- 
verhältnisse, den  Wanderungen  u.  s.  w.  u.  s . w.  ungemeine  Schwierigkeiten.  Schon 
die  Beantwortung  der  Frage,  was  ermittelt  werden  soll,  ist  hier  viel  schwieriger,  als 
bei  den  meisten  sonstigen  Tbatsachcn  der  Bovölkerungstatistik.  Die  weiteren  Fragen, 
wie  ermittelt  werden  soll  (Aufnahmeverfahren),  wie,  nach  welchen  Gesichtspuncten 
das  aufgenommene  statistische  Urmaterial  zusammcngestellt  und  verarbeitet  werden  soll, 
stellen  neue  Probleme.  Die  wichtigste  Feststellung  und  Unterscheidung  von  Haupt- 
und  Nebenberuf,  von  Erwerbstätigen  und  Anderen,  von  Selbständigen  (Unter- 
nehmern u.  s.  w.)  und  im  Dienstvcrhältniss  in  deu  Productionsbetrieben  Stehenden,  von 
Hausgesinde  und  wirtschaftlichem  Arbeitspersonal,  von  Angehörigen  im  Familien- 
verband, welche  nur  unterhalten  werden  oder  mit  verdienen,  die  richtige  Berufs- 
bezeichnung und  Einschaltung  des  betreffenden  Berufs  in  die  richtige  Berufsclasse  und 
vieles  Andere  mehr  führen  bei  der  Uraufnahme  selbst  und  bei  der  Verarbeitung  des 
Urrnaterials  auf  Schritt  und  Tritt  zu  Zweifeln  und  Unsicherheiten,  welche  mit  dem  besten 
Willen  nicht  immer  genügend  gelöst  werden  können.  Auch  bei  der  Berufsaufnahme 
eines  einzelnen  Landes,  einer  besonderen,  wie  im  Deutschen  Reiche  1SS2  (5.  Juni) 
oder  einer  mit  agrar-  und  gewerbsstatistischen  Aufnahmen,  wie  bisher  gewöhnlich, 
verbundenen,  lässt  sich  eine  völlige  Gleich mässigkeit  des  Verfahrens  nicht  ver- 
bürgen. Anordnungen,  Instructionen,  nachträgliche  Revisionen  fuhren  auch  nicht  zu 
einer  solchen.  Die  localen  Verhältnisse,  Auffassungen,  Benennungen  sind  eben  zu 
verschieden,  zu  mannigfaltig.  Man  denke,  dass  im  Deutschen  Reiche  18S2  ein  Ver- 
zeichnis von  6179  Berufsbenennungen,  in  England  18S1  sogar  von  11 — 12,000 
aufgestellt  wurde  (v.  Scheel).  Selbst  die  vermuthlich  beste  bisherige  Berufsaufnahme, 
eben  die  deutsche,  welche  getrennt  von  den  periodischen  Volkszählungen  eigens  für 
den  Zweck  stattfand,  lässt  daher  doch  in  ihren  Ergebnissen  zu  wünschen  übrig.  In 
die  Unmasse  der  Schwierigkeiten  und  Zweifel  einer  derartigen  Operation  gewährt  die 
treuliche  Verarbeitung  der  Materialien  dieser  Aufnahme  im  reichsstatistischen  Amt  selbst 
den  besten  Einblick  (s.  namentlich  die  „Einleitung“  zu  den  betreffenden  reichhaltigen 
umfangreichen  Publicationen  Uber  die  Berufsstatistik,  in  B.  2 N.  F.  der  Reichsstatistik. 
1884.  Weiteres  in  B.  3 und  4;  Hauptdaten  in  B.  VI  — XII  des  statistischen 
Jahrbuchs). 

In  den  verschiedenen  Ländern  sind,  trotz  der  im  Ganzen  in  den  heutigen  Cultur- 
staaten  übereinstimmenden  technischen,  wirtschaftlichen , rechtlichen  Grundlagen  der 
Berufsverhältnisse,  die  Verschiedenheiten  der  letzteren  doch  meist  noch  grösser  als 
innerhalb  eines  einheitlichen  Wirthschafts-  und  Staatsgebiets.  Noch  mehr  Unterschiede 
zeigen  die  Methoden  und  die  Durchführung  des  Aufnahmeverfahrens  sowie  die  Zu- 
sammensetzung und  Verarbeitung  des  statistischen  Urrnaterials.  Deswegen  fehlt  den 
betreffenden  Daten  noch  mehr  das,  was  für  unsere  Zwecke  vor  Allem  in  Betracht 
kommt  und  doch  bei  der  übrigen  Bevölkerungsstatistik  im  Ganzen  genügend  vorhanden 
ist:  die  Vergleichbarkeit  in  viel  höherem  Grade.  Jede  Vergleichung  der 

statistischen  Daten  setzte  eigentlich  immer  er?t  eine  genaue  Vergleichung  und  Kritik 
der  einzelnen  Aufnahmemethoden  und  Verarbeitungsweisen  voraus,  wenn  man  sich 
vor  unrichtigen  Vergleichen  der  Daten  und  vor  falschen  Schlüssen  daraus  hüten  will. 
Auch  dafür  sei  auf  das  Werk  des  reichsstatistischen  Amts  über  die  Deutsche  Berufs- 
statistik verwiesen.  Daselbst  werden  auch  die  Aufnahmen  einiger  anderer  europäischer 
Länder  und  Nordamericas  (Union)  zum  Vergleich  mit  herangezogen  (s.  bes.  B.  2,  Einl. 
S.  28  ff.).  Mit  Vorsicht  und  Umsicht  und  doch  vielleicht  schon  in  grösserem  Umfange, 
als  es  die  Verschiedenheit  des  Materials  eigentlich  gestattet.  Jedenfalls  bleiben 
Zweifel  genug,  ob  und  was  aus  den  Daten  verschiedener  Länder  und  wie  weit  es 
vergleichbar  ist,  wie  übrigens  in  jener  Arbeit  auch  immer  hervorgehoben  wird.  In 


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Berufsvcrtheilung. 


615 


Ermangelung  anderer  besserer  vergleichbarer  Daten  können  wir  uns  hier  aber  nur 
an  die  Zusammenstellungen  des  reichsstatistischen  Amis,  unter  den  angedeuteten 
Reserven,  halten. 

Günstiger  ist,  dass  in  einem  grossen  Volkswirthschaftsgebiotc  wie  dem  deutschen, 
Provinzen.  Staaten,  Gebietsteile  sehr  verschiedener  Berufsverhältnisse  enthalten  sind. 
Freilich  bietet  gerade  dieser  Umstand  wieder  für  eine  einheitliche,  notwendig  mit 
bestimmten  Merkmalen,  Kategoriecn,  Schablonen  operirende  Aufnahme  besondere 
Schwierigkeiten.  Wie  dieselben  gelöst  sind,  das  ist  aus  dem  deutschen  amtlichen  Werke 
selbst  zu  entnehmen.  Für  uns  liegt  keine  Veranlassung  vor,  an  der  erfolgten  Lösung 
hier  Kritik  zn  üben,  was  die  Aufgabe  monographischer  Behandlung  des  gauzen 
statistischen  Problems  der  Berufsaufnahme  wäre.  Es  mag  nur  bemerkt  werden,  dass 
manche  der  hier  auftauchenden  scheinbar  lediglich  technisch -statistischen  Fragen  mit 
volkswirtschaftlichen,  mit  socialen  Principienfragen  Zusammen- 
hängen und  zwar  auch  mit  solchen,  welche  uns  hier  in  der  ,, Grundlegung“  nahe 
liegen,  z.  B.  was  den  Begriff  „Erwerbstätige“,  „Dienende“  anlangt.  Die  Erörterung 
darüber  hängt  mit  der  Lehre  von  der  „Productivität“,  die  Behandlung  z.  B.  der 
reinen  Rentiers,  der  Pensionäre  mit  der  principiellcn  Auffassung  des  Privateigenthums 
an  Boden  und  Kapital,  der  Pension  zusammen.  Die  Entscheidung  des  Statistikers 
wird  folgerichtig  eigentlich  nach  seiner  principicllen  Stellung  in  diesen  volkswirt- 
schaftlichen Fragen  stattfinden  müssen  und  danach  dann  von  anderer  Sette  Beistimmung 
oder  Widerspruch  erfahren  (vgl.  die  Bemerkungen  in  gen.  ß.  2 der  Reichsstatistik, 
Einl.  S.  13,  Uber  das  Hausgesinde,  wo  dieser  Punct  berührt  wird).  Es  liegt  sogar 
grade  für  den  Nationalökonomeu  ein  Reiz  vor,  die  Auffassungen,  die  Unter- 
scheidungsmerkmale zwischen  den  Berufen,  wie  sie  in  der  amtlichen  Berufsstatistik 
Vorkommen,  nach  seinen  Gesichtspnncten  zu  prüfen:  eine  bisher  noch  wenig  ver- 
folgte Aufgabe.  Hier  ist  das  indessen  unmöglich.  Wir  müssen  nicht  nur  die  Daten, 
sondern  auch  die  zusammenfassende  Bearbeitung  derselben  zu  Gruppen  u.  s.  w.,  wie 
sie  einmal  die  amtliche  Statistik  geliefert  hat,  von  dieser  übernehmen,  ohne  sie  des- 
halb überall  für  ganz  richtig  anzuerkennen. 

S.  Uber  die  Methodik  der  Beiufsaufnahme  und  Materialverarbeitnng  ausser  dem 
gen.  grossen  reichsstatistischen  Werke  (in  der  „Einleitung“  namentlich  in  den  „Vor- 
bemerkungen“ zu  den  einzelnen  Abschnitten)  den  sehr  knappen,  aber  gut  übersicht- 
lichen Artikel  des  jetzigen  Directors  des  reichsstatistischen  Amts,  H.  v.  Scheel,  über 
„Beruf  und  Berufsstatistik“  im  Handwörterbuch  d.  Staatswiss. , B.  II,  S.  31*5  — 403, 
auch  mit  Angaben  über  die  bezüglichen  Aufnahmen  andrer  Länder  und  einigen  ver- 
gleichend-statistischen Daten,  ferner  Rümelin  über  Berufsstatistik  im  Anhang  zu 
seiner  Abh.  Bevölkcrungslehre  im  Schönberg  sehen  Handbuch,  3.  A.  II,  774 — 783  (mit 
Daten  aus  der  Reichsstatistik). 

B.  — §.  244.  Bedeutung  der  Berufsvertheil ung  ftir 
das  volks wirthschaftlic he  Bevölkerungsproblem. 

Die  Beruf svertheilung  (Berufsgliederung)  in  der  Be- 
völkerung steht  zunächst  in  Verbindung  mit  der  natürlichen  Ge- 
schlechts- und  Altersgliederung,  ohne  derselben  genau 
parallel  zu  gehen  und  ihr  überall  und  alle  Zeit  in  derselben  Weise 
zu  entsprechen.  Klimatische,  nationale  Factoren  in  ihrem  Einfluss 
auf  die  Entwicklung  der  Kinder,  technische,  socialökonomische, 
rechtliche  und  Sittenverhältnisse  in  ihrem  Einfluss  auf  Frauen-  und 
Kinderarbeit  machen  sich  auch  hier  geltend  und  bewirken  Ver- 
schiedenheiten nach  Völkern,  Zeiten,  Berufsarten. 

Im  Uebrigen  ist  die  Berufsvertheilung  vornemlich  die  Folge 
des  technischen  und  wirtschaftlichen  Princips  der  Arbeits- 
teilung. Gleichzeitig  steht  sie  unter  dem  Einfluss  der  früheren, 


616  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lehre.  1.  II. -A.  Statist.  §.  243. 


noch  nachwirkenden  und  der  bestehenden  Rechtsordnung  in 
der  Volkswirtschaft.  In  letzterer  Beziehung  ist  namentlich  das 
Rechtsprincip  der  persönlichen  Freiheit  und  desPrivat- 
eigenthums  an  den  sachlichen  Productionsmitteln,  an 
Grundstücken , Gebäuden,  Kapitalien,  die  historisch  überkommene 
Grundbesitzvcrtheilung  und  Agrarverfassung,  die  Gewerbeverfassung 
auch  hier  von  Bedeutung.  Auch  die  geltende  Rechtsordnung  für 
den  Familien  verband  und  für  die  daraus  hervorgehenden  Rechte 
und  Püichten  zwischen  Familienhaupt  und  Familiengliedern  äussert 
ihren  Einfluss. 

Hier  in  der  „volkswirtschaftlichen  Bevölkerungslehre“  sind 
namentlich  diejenigen  Verhältnisse  der  Berufsgliederung  wichtig, 
welche  mit  dem  volkswirtschaftlichen  Productions-  und  Vertheilungs- 
problem in  Beziehung,  eigentlich  in  Wechselwirkung  stehen.  Von 
diesen  Verhältnissen  erscheinen  folgende  drei  hier  besonders  be- 
achte nsw’erth. 

1.  Das  Verhältniss  der  erwerbstätigen  und  der  ge- 
sammten  übrigen  Bevölkerung. 

Letztere  wird  direct  oder  indirect  durch  die  Thätigkeit  der  ersteren  mit  erhadteu. 
d.  b.  mit  wirthschaftlichen  Gütern,  wie  die  Familienangehörigen,  Anstaltsinsassen 
(Arme,  Gefangene),  je  nach  der  Rechtsordnung  auch  mit  eigenem  Einkommen,  wie 
Rentiers,  Pensionäre,  Hausarme  versehen.  Die  Geschlechts-  und  Altersvertheilung 
in  der  Bevölkerung  kommt  namentlich  hier  in  diesem  Puncte  mit  zur  Geltung,  wiederum 
aber  ohne  dass  die  Verschiedenheiten  in  den  Quoten  der  Geschlechter  und  der  Lebens- 
alter genau  in  den  Proportionen  von  Erwerbstätigen  und  unterhaltenen  Angehörigen 
hervortreten. 

Ceteris  paribus  bedeutet  eine  grössere  Quote  Erwerbstätiger 
in  der  Bevölkerung  eine  grössere  Productionsfäbigkeit  und  Pro- 
ductionsergiebigkeit,  ein  höheres  Nationaleinkommen,  eine  geringere 
Belastung  dieses,  in  diesem  Sinne  „productiven“  Volkstheils  mit 
der  Unterhaltung  der  Uebrigen : eine  Erhöhung  des  Productivitäts-, 
eine  Ermässigung  des  Belastungscoefficienten  in  der  Gesammtbe- 
völkerung. 

2.  Die  („sociale“)  Berufsstellung. 

I).  h.  ob  der  Einzelne  selbständig  als  Unternehmer,  Leiter,  Arbeit- 
geber, als  Besitzer  eigener  sachlicher  Productionsmittel,  als  ein  solcher,  welchem 
Andre  die  ihnen  gehörigen  derartigen  Mittel  zur  selbständigen  Benutzung  zur  Ver- 
fügung gestellt  haben,  als  Rechts-  und  Wirth schaftsobject  fungirt,  daher  auch 
mit  der  Rechtsfolge,  dass  er  zunächst  das  Privateigenthum  an  den  neu  gewonnenen 
Producten  besitzt  und  die  sonst  an  der  Production  Betheiligten  nach  Vertrag  (und 
Sitte,  Rechtsnorm)  für  ihren  Antheil  abfindet;  oder  ob  es  sich  um  Abhängige  in 
verschiedener  Dienststellung  (als  höheres,  als  niederes  Arbeitspersonal  im 
Geschäft,  im  Productionsbetrieb,  als  Hausgesinde)  handelt. 

Von  dieser  socialen  Berufsstellung  hängt  die  Art  und  die  Höhe 
der  Leistungen  des  Einzelnen  im  Productionsprocess  und  seine 


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617 


Berufsverthcilung. 

Stellung  im  Vertheilungsprocess  der  arbeitstbeilig  gewonnenen 
Producte  oder  Erträge,  deshalb  auch  mehr  oder  weniger  die  Art 
und  Höhe  seines  Antheils  (Einkommens)  vom  Gesammtertrage  ab. 
Hier  treten  daher  die  Personen  der  betreffenden  Berufsstellung  als 
sociale  Classen  der  grossen  Erwerbsgesellschaft,  welche  die 
Volks wirth8chaft  bildet,  mit  ihren  Interessengegensätzen  in 
Bezug  auf  Zuschiebung  der  Arbeitslast  in  der  Production  und  auf 
Erzielung  von  Antheilen  am  Productionsertrage,  hervor.  Hier  zeigen 
sich  zumeist  die  Folgen  des  Rechtsprincips  des  privaten  Grund- 
und  Kapitaleigenthums  und  der  sich  daran  knüpfenden  (privatwirth- 
schaftlichen)  Organisation  der  Volkswirtschaft  (siehe  Buch  5 unten 
und  Abth.  2 der  Grundlegung). 

3.  Endlich  ist  die  Berufsart  des  Einzelnen  von  Wichtigkeit. 
Davon  häDgt  sowohl  einmal  wieder  die  Art  und  Höhe  seiner  Mitwirkung 
am  gesammten  nationalen  Productionsertrage,  als  andrerseits  nament- 
lich auch  seine  Stellung  im  Volks-  und  weltwirtschaftlichen  Austausch- 
und Verkehrssystem  und  in  den  hierdurch  bedingten  Abhängigkeits- 
verhältnissen ab. 

Je  ausschliesslicher  eine  Berufsart  wirtschaftliche  Güter  (Sachgüter.  Dienst- 
leistungen) für  den  Bedarf  Dritter,  nahe,  fern  Wohnender,  In-,  Ausländer  producirt, 
daher  auf  einen  Absatz  an  sich  und  auf  einen  lohnenden  Absatz  dieser  Güter  an- 
gewiesen ist,  um  selbst  zu  gesicherter  und  genügender  Verfügung  über  die  wieder 
von  Anderen  producirten  Güter  zum  eigenen  Bedarf  zu  gelangen:  desto  mehr  er- 
scheint einzel-  und  volkswirthschaftlich  eine  solche  Berui'sart  zu  ihrer  und  ihrer  An- 
gehörigen sicherer  und  gedeihlicher  wirtschaftlicher  Existenz  an  alle  jeue  verwickelten 
Voraussetzungen  gebunden,  von  welchen  die  Sicherheit,  Regelmässigkeit  und  hinlängliche 
„Lohnendheit“  (die  richtige  Preisbildung)  des  Absatzes  und  Austauschs  der  eigenen, 
des  Bezugs  und  Eintauschs  der  fremden  Güter  abhängt. 

Für  die  Bevölkerungsfrage  ergiebt  sieb  daraus,  dass  eine 
grosse  und  steigende  Quote  der  Bevölkerung,  der  erwerbstbätigen 
Personen,  wie  der  Angehörigen  der  letzteren,  in  derartigen  Berufs- 
arten, daher  besonders  in  der  Industrie,  zumal  in  der  auf  Massen- 
und  Fernabsatz  berechneten  Gross*  und  Hausindustrie,  im  Bergbau, 
im  Handel,  in  den  öffentlichen  und  privaten  liberalen  Berufen,  im 
Gesindedienst,  aber  freilich  auch  in  der  nach  Art  und  Menge  ihrer 
Erzeugnisse  auf  Absatz  an  Dritte  (Städte,  Industriegegenden,  Aus- 
land) angewiesenen  Landwirtschaft  eben  ihre  Bedenken  hat. 
Sobald  in  dem  complicirten  und  fcingliedrigen  Absatz-  und  Bezugs- 
system, in  welchem  die  eigenen  und  fremden  Leistungen  und  Pro- 
ducte  zum  Austausch  kommen,  nicht  Alles  ordentlich  in  Gang  bleibt, 
treten  unvermeidlich  Störungen  und  Gefahren  ein.  Die  repressiven 
Tendenzen  der  Volksvermehrung  greifen  vielleicht  sofort  Platz, 
jedenfalls  ergeben  sich  Nothwendigkeiten , dass  die  präventiven 


618  4.  B.  Bcvölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  245. 


Tendenzen  hinlänglich  zur  Wirksamkeit  gelangen.  Thun  sie  das 
nicht,  so  müssen  die  repressiven  Tendenzen  um  so  stärker  wirken 
oder  wenigstens  die  Lebenslage  der  Bevölkerung,  zumal 
der  unteren  Classen,  auf  ein  niedrigeres  Maass  zurück- 
sinken  oder  darauf  verbleiben,  lieber  einer  Volkswirtb- 
schaft  mit  sehr  weiter  Zurückdrängung  der  für  den  eigenen  (Natural-) 
Bedarf  arbeitenden  agrarischen  Bevölkerungsquote  zu  Gunsten  der 
übrigen  schwebt  daher  doch  immer  mehr  oder  weniger  nahe  ein  — 
Damoklesschwert,  was  für  die  Bevölkerungsfrage  bei  „hoch  in- 
dustriellen“ Nationen  genug  zu  denken  giebt  (s.  u.  §.  251). 

C.  — §.  245.  Berufsstatistisches. 

Wir  beschränken  uns  hier  auf  diese  drei  Unterscheidungen  in  der  Berufs- 
gliederung, nehmen  dieselben  auch  in  der  Weise  der  deutschen  Berufsstatistik , be- 
trachten dabei  namentlich  nur  den  Hauptberuf  jeder  Person  und  fassen  nur  die 
grösseren  Gruppen  von  Berufsarten  bei  dem  dritten  Puncte  ins  Auge.  Vielerlei  kleinere 
weitere  Unterscheidungen  siud  freilich  möglich  und  von  Interesse,  so  die  Verfolgung 
der  Verhältnisse  der  Nebenberufe  und  der  Combinationen  mit  dem  Hauptberufe,  die 
Combinatiouen  der  drei  Unterscheidungen  mit  Geschlecht,  Alter,  Familienstand,  die 
Untersuchung  der  Verhältnisse  der  einzelnen  Berufe  in  jeder  Berufsgruppe  und  Berufs- 
art, nach  den  beiden  ersten  Unterscheidungspuncten,  die  Verhältnisse  des  Betriebs- 
umfangs (Gross-,  Mittel-,  Kleinbetrieb)  in  den  Hauptzweigen  und  den  wichtigeren 
Einzelzweigen  der  nationalen  Arbeit,  in  Verbindung  mit  den  Besitzgrössen  u.  v.  A.  m. 
Aus  dem  Gebiete  dieser  Tbatsachen  kann  hier  in  Folgendem  indessen  nur  Einzelnes 
mit  berührt  werden.  Die  deutsche  ßerufsstatistik , schon  in  der  vortrelHichen  Be- 
arbeitung des  Materials  in  der  „Einleitung“  zu  B.  2 der  Keichsstatistik  N.  F.,  vollends 
in  den  Tabellen  und  weiteren  Ausführungen,  in  den  folgenden  Bänden,  enthält  hier 
eine  Fülle  von  Material  für  zahlreiche  volkswirtschaftliche  Specialfragen,  welche  mit 
den  Berufsverhältnissen  in  Verbindung  stehen. 

1.  Statistik  der  erwerbsth ätigen  und  der  übrigen 
Bevölkerung. 

Nach  der  deutschen  Berufszählung  von  1882  (Reichsstatistik  N.  F.  B.  2,  Einl. 
S.  IG)  verthcilt  sich  die  hier  ermittelte  Gesammtbevölkerung  folgendcrmaassen  in 
absoluten  Zahlen: 


Tab.  XXXIX.  In  1000  Kopf  im  Deutschen  Reich: 


Erwerbs- 

Häusliche 

Angehörige 

Berufs- 

Gesammt- 

tätige 

Dienstboten 

lose  U.  8.  w. 

zabl 

1. 

2, 

3. 

4. 

5. 

Ueberhaupt 

17,632 

1,325 

24,911 

1,354 

45.222 

Davon  unter  15  Jahren 

460 

63,7 

15,380 

42,4 

15,940 

Männliche 

13,373 

42,5 

8.083 

652 

22.151 

Davon  unter  15  Jahren 

318 

2,4 

7,625 

26,4 

7.971 

Weibliche 

4,259 

1,282 

16,828 

702 

23,071 

Davon  unter  15  Jahren 

143 

01,2 

t ,7oo 

16 

7,975 

Die  Erwerbstätigen  nur  im  Hauptberuf.  Nebensächlich  erwerbend  waren 
in  Col.  2 230,500  (davon  männliche  8.4U0,  weibliche  228,000),  in  Col.  3 636,000 
(m.  54.500.  w.  581, OOo),  in  Col.  4 180.000  (m.  110,100,  w.  79.500),  im  Ganzen 
1,052,000  (m.  163.000,  w.  889.000).  Die  Dienstboten  in  Col.  2 sind  nur  die  im 
häuslichen  Dienste  wirkenden,  bei  der  Herrschaft  lebenden;  die  landwirtschaftlichen 
und  gewerblichen  Dienstboten  sind  in  Col.  1 bei  den  Erwerbstätigen  mit  enthalten. 
Die  Col.  4 umfasst  die  berufslosen  Selbständigen  (auch  Rentner,  Pensionäre,  von 


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Berufsvertheilung.  Erwerbstätige  und  übrige. 


619 


Unterstützung  Lebende'),  Anstaltsinsassen  aller  Art.  in  Berufsvorbercitung  Begriffene 
und  für  sich  (ausserhalb  ihrer  Familie)  Lebende  (Studenten,  Schüler  über  14  Jahre 
u.  dgl.).  Zu  den  „Angehörigen“  in  Col.  3 gehören  ausser  den  in  der  Familie  lebenden 
Kindern  namentlich  die  Hausfrauen,  welche  nicht  für  sich  einen  eigenen  Haupt- 
beruf ausüben. 

Man  sieht  schon  ans  diesen  absoluten  Zahlen,  wie  die  Scheidung 
zwischen  den  Erwerbstätigen  und  der  übrigen  Bevölkerung  von 
den  Geschlechts-  und  den  Lebensaltersverhältnissen  (Erwachsene  — 
Kinder)  vorherrschend  bestimmt  wird. 

Die  folgende  Tabelle  XL  giebt  nach  der  Reichsstatissik  B.  2,  Einl.  S.  IG  die 
Verhältnisszahlen  der  hier  besprochenen  Hauptgliedcrnng  der  Bevölkerung  für 
das  Deutsche  Reich  nach  der  Berufszählung  von  1882,  für  die  übrigen  Länder  meist 
nach  Aufnahmen  um  18S0  (Italien  1871,  Schweiz,  Schweden  1870,  Norwegen  1870). 
Wie  bemerkt,  sind  nach  der  Verschiedenheit  der  Aufuahmemetbodcn  und  der  Ver- 
arbeitung des  Urmaterials  freilich  die  Daten  und  die  danach  berechneten  Verhältniss- 
zahlen der  verschiedenen  Länder  nicht  glcichwerthig  und  nicht  ganz  gleichartig. 
Daher  entsprechen  die  sich  zeigenden  Differenzen  in  der  Verkeilung  der  Bevölkerung 
anf  die  einzelnen  Gruppen  nicht  sicher  genau  der  Wirklichkeit,  was  bei  Schlüssen  zu 
beachten  ist.  Nur  eine  annäherungsweise  Vergleichung  ist  also  statthaft.  Die 
Quellen  der  Daten  der  anderen  Länder  a.  in  der  Reichsstatistik  a.  a.  0.  In  diesem 
Werke  sind  diese  Daten  den  deutschen  soweit  als  möglich  vergleichbar  gemacht. 
Mehr  lässt  sich  eben  vorläufig  bei  der  Verschiedenartigkeit  der  Aufnahmen  und  der 
Verarbeitung  nicht  erreichen.  S.  Tabelle  XL  auf  S.  620. 

Auch  hier  tritt  deutlich  hervor,  dass  Geschlecht  und  Lebens- 
alter (Kindcsalter)  einen  beherrschenden  Einfluss  auf  die  Scheidung 
zwischen  Erwerbstätigen  und  Angehörigen  ohne  Erwerb  ausüben, 
aber  nicht  in  dem  Sinne,  wie  man  a priori  vermuten  möchte, 
dass,  wo  mehr  weibliche  Personen  und  Kinder  in  der  Bevölkerung, 
die  Quote  der  Erwerbstätigen  allgemein  und  entsprechend  niedriger 
wäre  und  umgekehrt. 

Das  müsste  sich  sonst  in  den  Zahlen  Frankreichs  gegenüber  denen  Deutschlands, 
Grossbritanniens  deutlich  zeigen  (vgl.  auch  Reichsstat.  B.  2.  S.  15).  Die  ungleiche 
Quote  der  Personen  in  höherem  Lebensalter  (S. 01 0,61 2)  i»t  allerdings  hier  auch  möglicher 
Weise  von  Einfluss.  Sonst  aber  macht  sich  eben  der  Umstand  mit  geltend,  dass  mehr 
Frauen  und  Kinder  mit  erwerbstätig  sind.  Die  höchsten  Quoten  der  Erwerbstätigen 
weist  Italien,  im  Ganzen  und  bei  jedem  der  beiden  Geschlechter,  auf,  vornemlich, 
wenn  auch  nicht  allein,  weil  hier  ungewöhnlich  viel  Kinder  (bis  15  J.  gerechnet)  unter 
die  Erwerbstätigen  (von  1000  noch  nicht  15jährigen  J27,  bei  den  männlichen  110, 
bei  den  weiblichen  150)  gerechnet  sind,  3 — 4 mal  so  viel  als  bei  einigen  anderen, 
in  diesem  Puucte  vergleichbaren  Ländern.  Auch  bei  den  Dienenden  finden  sich  in 
Italien  weit  mehr  Kinder,  als  sonst.  Auch  unter  den  Erwachsenen  ist  in  Italien 
die  Quote  der  Erwcrbsthätigen  und  Dienenden  zusammen  (bei  beiden  Geschlechtern 
zusammen  und  beim  weiblichen,  nicht  beim  männlichen  Geschlecht)  die  grösste,  aber 
die  Differenzen  sind  kleiner  (Italien  708.  Deutsches  Reich  030,  England  644  beide  Kate- 
gorien zusammen  gerechnet,  bez.  607.  5S7,  503  für  die  Erwerbsthätigen  allein).  Soweit 
diese  Verschiedenheiten  der  Wiiklichkeit  entsprechen, also  wieder  nicht  nur  Folge  ver- 
schiedenen Aufnahme-  und  Bearbeitungsverfahrens  des  Statist,  Materials  sind,  zeigen 
sich  vielleicht  gerade  in  diesen  italienischen  Daten  klimatische,  nationale  Ver- 
hältnisse neben  den  Erwerbsverhältnissen  von  Einfluss,  daher  ungünstig  für  Frauen 
und  Kinder  in  Italien  (vgl.  die  Daten  S.  18  der  Einl.  zu  B.  2 d.  Reichsstat.). 

Ob  man  sonst  aus  den  Daten  der  Tab.  XL  für  die  Hereinziehung  von  Weib 
und  Kind  in  die  Erwerbsarbeit,  für  die  Gunst  und  Ungunst  der  allgemeinen  Erwerbs- 
und Wohlstandsverhältnisse  (Rentiers  u.  dgl.  in  grösserer  Anzahl  unter  den  Berufs- 


620  4 B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  245. 

Tab.  XL.  Gliederung  der  Bevölkerung  nach  Beruf  und 
Erwerb  in  verschiedenen  Ländern.  Von  je  1000  waren: 


Gesammtbevölkerung  Männl.  Bevölkerung  Weibliche  Bevölkerung 


Länder 

1 

-£ 

1 « S 

Es  ‘2 

Dienende 

bC  t,  « 

'C  .2 

o , '/)  . , 

bO  — 

3 «CO  | 

, 1 

2 o 
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= ! 
3 

5 

Angehörige 

S 

O *] 

J2  2 

3 ; 

i— 

© 

ÖQ  - 

Erwerbs- 

tätige 

Dienende 

Ü 

IS 

!_  1 O 

’S  TU  c 

~ 's  TS 

g»  S 
< J* 

" . ” Ti 

Deutsch.  Reich 
do.  (mit  Neben- 

1 

300 

413 

29 

t 

551  | 30 

604  | 2 ’ 

r 

1 

365 

29 

185  ! 

55 

729 

31 

erwerb  *) 

24 

537  | 26 

611 

2 

362 

25 

223 

46 

704 

27 

Oesterreich 

465 

35 

480  20 

592 

19 

309 

20 

844 

51 

586 

19 

Ungarn 

427 

28 

531  14 

58 

0 

323 

13 

200 

49 

725 

16 

Italien 

do.  (ohne  gcw. 

510 

31 

453 

077 

10 

313 

i 

353 

52 

595 

Nebenerw.)1 2)  I 510 

16 

468 

677 

10 

313 

353 

23 

624 

Schweiz 

1 448 

36 

452  1 64 

619 

9 

314 

58 

284 

63 

584 

69 

Frankreich 

373 

68 

508  1 51 

540 

50 

314 

j 50  I 

206 

80 

002 

52 

Engl.  u.  Wales 

374 

55 

571 

597 

16 

387 

163 

92 

745 

Schottland 

SSO 

42 

578 

593 

13 

394 

181 

69 

750 

Irland 

i 393 

, • 

51 

556 

589 

12 

394 

205 

88 

707 

Dänemark 

370 

516  j 44 

554 

408 

1 38 

191 

760 

t 49 

Norwegen 
Norweg.  (gcw. 

361 

i 

597  l 42 

520 

i 

442 

! 38 

210 

1 

744 

| 46 

Nebenerw.)3) 

454 

504  42  i 599 

363 

I 38 

31 

i 

637 

! 46 

Schweden 

347 

570  | 82 

514 

412 

! 74 

193 

718 

! 89 

Ver.  Staaten 

32jT  | 22 

653 

573 

1 5 

422  ;!  09 

38 

893 

losen  in  Frankreich,  der  Schweiz,  günstige  Verhältnisse  in  Nordamerica),  für  den  Ein- 
fluss der  vorwiegend  agrarischen  und  industriellen  Entwicklung  auf  die  Quoten  der 
erwerbstätigen  und  der  Übrigen  Bevölkerung,  für  die  Fähigkeit  oder  Unfähigkeit 
(Frankreich,  England  gegenüber  Deutschland),  Neigung  oder  Abneigung  (Europa  gegen- 
über Nordainerica),  häusliche  Dienstboten  zu  halten,  u.  f.  a.  m.  aus  den  Daten  der 
Tabelle  Weiteres  und  Bestimmtes  mit  einiger  Sicherheit  ableiten  kann,  muss  dahin 
gestellt  bieiben.  Ich  möchte  es  nicht  ganz  verneinen,  aber  noch  weniger  es  sicher 
behaupten.  Manche  Zahlen  weichen  zu  sehr  ab,  als  dass  man  sic  als  der  Wirklichkeit 
entsprechend  ansehen  möchte  (so  die  hohe  Zahl  für  die  Dienenden,  bes.  die  männ- 
lichen. in  Frankreich,  verglichen  selbst  mit  den  britischen). 

Innerhalb  der  einzelnen  Länder  zeigen  sich  in  den  Provinzen,  Gebietsabtheilnugen. 
Orten  manche  Verschiedenheiten  der  Quoten  der  hier  unterschiedenen  Bevölkerungs- 
theiie.  Mit  der  Grösse  der  Städte  steigt  in  Deutschland  (und  ausserhalb)  im  Ganzen 
die  Quote  der  Dienstboten,  der  Rentiers,  Pensionäre  u.  dgl.  Ein  deutlicher  Einfluss 

1)  Berechnung,  wenn  die  oben  (S.  61S)  angegebenen,  lediglich  nebensächlich 
beschäftigten  Personen  bei  den  Erwerbstätigen  eingerechnet,  bei  den  andrer  Kate- 
gorien abgesetzt  werden. 

2)  Berechnung,  wenn  397,000  „mit  Hausarbeit  beschäftigte  Personen“  nicht  wie 
in  der  ersten  Reihe,  bei  den  Dienenden,  sondern  bei  den  Angehörigen  einge- 
rechnet werden. 

8)  Berechnung,  wenn  168,000  dem  Fatnilienhanpt  beim  Erwerb  helfende  Personen 
nicht,  wie  in  der  ersten  Reihe,  bei  den  Angehörigen,  sondern  bei  den  Erwerbs- 
tätigen eingerechnet  werden. 


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Berufsvertheilung.  Errerbsthätige  u.  Uebrige. 


621 


des  vorwaltenden  wirtschaftlichen  Cbaracters  eines Landestheils  (agrarischen,  industriellen) 
auf  die  Gestaltung  der  Quoten,  namentlich  auf  das  Verhältniss  der  Erwerbstätigen 
(mit  und  ohne  häuslich  Dienende  gerechnet)  zur  übrigen  Bevölkerung  macht  sich,  in 
Deutschland  wenigstens,  kaum  bemerkbar.  Yorwaltend  agrarische  Länder  haben  die 
meisten  und  die  wenigsten  Erwerbstätigen  (Max.  Südbaiern  488,  Franken  441,  Pfalz 
439.  Min.  Mecklenburg,  Schleswig-Holstein,  Ostpreussen,  Hessen-Nassau,  Wcstfahlen, 
Posen,  Pommern.  Wcstpreussen  370 — 344).  Stark  oder  vorwaltend  industrielle  Gegenden 
stehen  dem  Maximum  nabe  (Eisass- Lothringen  442,  Königreich  Sachsen  412,  Berlin 
411)  und  wieder  in  der  Mitte  oder  näher  zum  Minimum  (Rheinland  373,  ebenso  die 
3 Hansestädte).  (Vgl.  Weitores  a.  a.  0.  S.  19  11.)  Ob  man  mit  der  Reichsstatistik 
(S.  21)  hier  und  in  Betreff  der  Stellung  Deutschlands  im  Vergleich  zu  anderen 
europäischen  Ländern  einen  Einfluss  klimatisch-nationaler  oder  mit  Stammes- 
Verhältnissen  in  Verbindung  stehender  Factoren  annehmen  darf,  — „es  zeigo  sich 
mit  grosser  Bestimmtheit  die  Tendenz  einer  Zunahme  der  Erwerbstätigen  von  Norden 
nach  Süden*4,  (S.  20)  — ist  mir,  mindestens  gesagt,  zweifelhaft.  — Ergänzungen  zu 
den  Tbatsachen  in  diesem  §.  245  und  zu  den  Ausführungen  darin  finden  sich  im 
Folgenden  noch  mehrfach  in  den  §§.  246  11'. 

Als  Ergebniss  wird  man  auf  Grund  der  neueren  Berufs- 
statistik, nach  der  Tabelle  XL  und  weiteren  statistischen  Materialien, 
immerhin  etwa  Folgendes  aufstellen  können:  Die  Tabelle  XL  be- 
stätigt, was  im  Voraus  aus  der  „täglichen  Beobachtung“  (§.  78) 
und  aus  Schlüssen  daraus  sich  ergab,  dass  die  Erwerbsarbeit  der 
Nation  überall  weit  überwiegend  auf  der  erwachsenen  und, 
wenn  auch  in  geringerem  Grade,  überwiegend  auf  der  männlichen 
Bevölkerung  ruht.  Sie  gestattet  in  Verbindung  mit  anderem  vor- 
handenen Material,  das  auch  einigermaassen  zu  beziffern  und 
zugleich  das  Verhältniss  zwischen  der  erwerbsthätigen  und  der 
übrigen  Bevölkerung  annähernd  durch  eine  Durchschnittszahl  aus- 
zudrücken.  Meist  sind  über  zwei  Fünftel  der  Bevölkerung 
erwerbsthätig  (einschliesslich  der  im  häuslichen  Dienste  thätigen), 
aber  mit  Schwankungen  zwischen  einem  Drittel  (Nordamerica, 
auch  (?)  Scandinavien)  und  mehr  als  der  Hälfte  (Italien). 
Von  der  erwachsenen  (über  15 -jährigen)  Bevölkerung  sind 
nahezu  drei  Fünftel  erwerbsthätig,  mit  den  häuslich  Dienenden 
zwei  Drittel;  von  der  männlichen  Bevölkerung  ebenfalls 
etwa  drei  Fünftel,  mit  den  Dienenden  nur  ein  Geringes  mehr, 
von  der  weiblichen  in  Europa  bloss  ein  Fünftel  bis  ein 
Drittel,  mit  den  Dienenden  ein  bis  zwei  Fünftel.  Von  der 
männlichen  erwachsenen  Bevölkerung  gehören  dagegen 
neun  Zehntel  (Deutsches  Reich  921,  England  914  %„)  zu  den 
Erwerbsthätigen,  einschliesslich  der  häuslich  Dienenden,  je  nach 
der  Verbreitung  männlicher  Dienstboten,  noch  etwas  mehr  (Deutsch- 
land nur  3,  England  25  während  die  erwachsene  weib- 
liche Bevölkerung,  freilich  unter  Nichteinrechnung  der  Haus- 
frauen u.  dgl.  zu  der  Kategorie,  nur  ein  Viertel  und  darüber 

A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Tbeil.  Grundlagen.  40 


622  4.  B.  Bcvölk.  u.  Volksw.sch  1.  K.  Bevölk.lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  246. 


(Deutsches  Reich  273,  England  240,  Italien  allerdings  440)  Erwerbs- 
thätige  und  selbst  mit  Einschluss  der  Frauen  in  häuslichen  Diensten 
nur  ein  Drittel  bis  zwei  Fünftel  (Deutsches  Reich  erwachsene 
weibliche  Dienstboten  81,  England  132,  Italien  hier  nur  69)  zählt  *). 

Natürlich  ist  das  das  Ergebniss  von  socialen  Verhältnissen, 
wie  den  heute  in  der  Culturwelt  bestehenden.  Eine  völlige  sociale 
und  wirth8chaftliche  Emancipation  des  weiblichen  Geschlechts  und 
Gleichstellung  desselben  im  Erwerbsleben  mit  dem  männlicheu  würde 
auch  eine  Verschiebung  der  Quoten  zuwege  bringen,  den  Belastungs- 
coefficienten , welchen  überwiegend  die  Kinder  und  Frauen  in  der 
Bevölkerung  darstellen,  mehr  zu  Ungunsten  des  Weibes  verschieben 
müssen.  Umgekehrt  würde  natürlich  der  weitere  Ausschluss  des 
weiblichen  Geschlechts  und  der  Kinder  aus  der  regelmässigen 
Erwerbsarbeit  die  Quote  der  Erwerbsthätigen  und  Dienenden  ver- 
mindern, diejenige  der  zu  unterhaltenden  Angehörigen  und  damit 
den  Belastungscoefficienten  für  die  männlichen  Erwachsenen  erhöhen. 
Die  umfassendere  Ausbildung  und  strengere  Durchführung  des 
Arbeiterschutzrechts  auf  allen  Arbeitsgebieten,  nicht  bloss  in  der 
Fabrik,  sondern  auch  im  Kleingewerbe,  Hausindustrie,  Handel, 
Landwirtschaft,  Gesindedienst  hätte  diese  Folge2). 

Auf  die  Bedeutung,  welche  die  überwiegende  Belastung  der 
Erwachsenen  und  Männer  mit  der  nationalen  Erwerbsthätigkeit 
in  populationistischer  Beziehung  bat,  namentlich  bei  grosser  Volks- 
dichtigkeit, starker  Geburtsfrequenz  und  hohem  Geburtsüberschuss 
und  auf  Volkswirt bscbaftliche  Folgen,  welche  mit  dieser  Belastung 
in  Verbindung  stehen  , wird  im  folgenden  Hauptabschnitt  zurück- 
zukommen sein. 

§.  246.  — 2.  Statistik  der  Berufsstellung. 

Die  Bernfsstellung  wird  hier  wieder  an  der  Hand  der  Berufsstatistik  des  Reichs 
(s.  Einl.  zu  Bd.  2,  S.  63)  und  in  den  dortigen  Combinationen  mit  den  grossen  Gruppen 
der  materiellen  Berufsarten  betrachtet.  Für  die  Unterscheidungsmerkmale  ist  auf  die 


*)  Erwähnt  sei  noch,  dass  vod  allen  Erwerbsthätigen  die  Kinder  in  Deutschland 
27.6,  dio  Greise  (über  60 -jährigen)  83.5,  die  anderen  daher  888.9 °l!0n  ausmachen;  in 
Italien  die  Kinder  mehr,  70.8.  in  England  47.6  und  Nordamcrica  64.3,  auch  die  Greise 
in  England  (dio  Uber  65 -jährigen)  45.6  und  Nordamerica  57.8,  etwas  weniger.  Die 
mittlere  Kategorie  ist  nicht  viel  von  der  deutschen  verschieden  (England  906.8,  Nord- 
america  877.9%0),  (s.  v.  Scheel.  Staat'wisscnschaftl  Handwörterbuch  II.  402). 

a)  Dass  moderne  hochindustrielle  (fabrik-,  manufactur-,  hansindustrielle)  Länder 
in  dieser  Beziehung  keine  sehr  starke  (England.  Schottland  verglichen  mit  ganz 
Deutschland),  öfters  nicht  einmal  eine  deutlich  wahrnehmbare  (deutsche  Länder  unter 
einander  verglichen)  Erhöhung  der  Quote  der  Erwerbsthätigen  unter  den  Kindern  haben, 
zeigt  doch,  zumal  im  Vergleich  mit  Italien,  dass  jene  Industrie  nicht  oder,  dank  dem 
Arbeiterschutz,  nicht  mehr  so  nachteilig,  wie  vielfach  angenommen  wird,  auf  dio 
Ucberlastung  der  Kinder  mit  Erwerbsarbeit  einwirkt. 


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Stati&tik  der  Berafstellaog. 


623 


Ausführungen  in  dieser  amtlichen  Statistik  zu  verweisen.  Die  „Selbständigen“  um- 
fassen ausser  dem  Hauptcontingent  der  Eigentümer,  Unternehmer,  Arbeitgeber  u.  s.  w. 
auch  die  leitenden  Beamten  und  sonstigen  Geschäfts leiter  (Directoreu  u.  s.  w.). 
Sie  zerfallen  insbesondere  beim  Gewerbe  in  solche  Selbständige,  welche  für  eigene 
und  wolche  für  fremde  Rechnung  („zu  Hause,  in  eigener  Wohnung,  für  ein  fremdes 
Geschäft“)  arbeiten.  Zum  „höheren“  Arbeitspersonal  gehört  das  Verwaltungs-  und 
Aufsichts-,  das  Rcchnungs-,  Bureaupersonal,  Geschäfts-  und  Handlungsreisende, 
Schreiber,  überhaupt  wissenschaftlich,  technisch,  kaufmännisch  (vor-  und  aus-)ge- 
bildetes  Personal.  Zu  den  „Arbeitern“  alles  niedere  Gehilfeu-,  Arbeiter-,  Tage- 
löhnerpersonal  u.  s.  w. 

Die  folgende  Tab.  XLI  giebt  nach  der  Berufszählung  von  1682  die  wichtigsten 
Daten  für  diese  Verhältnisse  im  Deutschen  Reich,  ergänzt  zugleich  die  Daten  im 
Vorausgehenden  über  Erwerbstätige  und  Sonstige  und  enthält  die  Hauptgruppirung 
der  wirtschaftlichen  Berufe,  worauf  im  nächsten  §.  247  eingegangen  wird,  mit. 

S.  a.  a.  0.  S.  69  der  Einleitung,  woselbst  und  in  den  zugehörigen  Tabellen 
weiteres  Detail,  bes.  in  Betreff  verschiedener  Behandlung  der  in  der  Landwirtschaft 
mitthätigen  Familienglieder  und  in  Betred'  weiterer  Unterscheidung  verschiedener 
Arten  landwirtschaftlicher  Arbeiter,  wie  Knechte,  Mägde,  Tagelöhner  mit  und  ohne 
selbständigen  Landwirtschaftsbetrieb.  Je  nach  der  verschiedenen  Zusammensetzung 
der  einzelnen  Kategorieen  verschieben  sich  dann  auch  die  Proportionen,  ln  der 
Tabelle  sind  die  Daten  nach  der  Hauptberechnung  der  amtlicbeu  Statistik  gegeben, 
doch  bei  der  Landwirtschaft  u.  s.  w.  ist  in  den  eingcklammerten  Zahlen  auch  mit- 
getheilt,  wie  sich  diese  Zahlen  verändern,  wenn  die  mitarbeitenden  Familienglieder, 
statt  zum  niederen  Arbeitspersonal  und  damit  zu  den  Erwerbstätigen , zu  den  An- 
gehörigen der  selbständigen  landwirtschaftlichen  u.  s.  w.  Erwerbstätigen 
gerechnet  werden.  Die  Rubrik  Landwirtschaft  umfasst  auch  Viehzucht  u.  s.  w.,  sowie 
die  (viel  geringeren)  Zahlen  von  Forstwirtschaft.  Fischerei,  die  Rubrik  Industrie  auch 
den  Bergbau  und  das  Bauwesen,  die  Rubrik  Handel  und  Verkehr  auch  Gast-  uud 
Scbankwirthschaft  mit.  Für  dio  Quotenberechnung  in  Spalte  5 und  6 sind  die 
„Dienenden“  („für  häusliche  Dienste,  im  Haushalt  der  Herrschaft  lebend“)  iu  Spalte  2 
als  Erwerbstätige  in  die  Bcruft>abthciiung  D eingerechnet  worden.  S.  Tab.  XLI 
auf  S.  624. 

Hebt  man  die  materiellen  Berufe  A bis  C allein  heraus,  so  erhält  man  für 
diesen  Theil  der  erwerbstätigen  Bevölkerung  im  Ganzen  und  nach  den  drei  Haupt- 
gruppen der  Berufe  die  Daten  der  Tab.  XLII.  S.  dieselbe  auf  S.  625. 

Das  Ergehn  iss  für  das  ganze  Deutsche  Reich  ist,  dass  von 
den  Erwerbstätigen  der  materiellen  Berufe  beinahe  ein  Drittel 
den  Selbständigen,  über  zwei  Drittel  den  Abhängigen  angebören. 
Im  Handel  (Gast*  und  Scbankwirthschaft  u.  s.  w.)  ist  diese  Quote 
der  Selbständigen  am  Grössten,  in  der  Landwirtschaft  am  Kleinsten, 
umgekehrt  verhält  es  sich  mit  dem  Arbeits-,  besonders  dem  niederen 
Arbeitspersonal.  Das  höhere  fällt  der  Zahl  nach  nur  beim  Handel 
u.  s.  w.  etwas  stärker  ins  Gewicht. 

Diese  Verhältnisse  verschieben  sich  nun  aber  mehr  oder  weniger 
local  und  innerhalb  der  grossen  Berufsgruppen  vornemlich  nach 
der  Verteilung  und  Bewirtbschaftungsart  des  ländlichen  Grund- 
besitzes und  der  Agrarverfassung,  sowie  nach  dem  Betriebsumfang 
der  Geschäfte,  besonders  in  der  Industrie,  auch,  theils  damit  zu- 
sammenhängend, theils  unabhängig  davon,  nach  Land  und  Stadt, 
Klein-,  Mittel-,  Grossstadt,  namentlich  auch  im  Handel  u.  s.  w. 
Bei  vorwaltendem  ländlichen  Mittel-  und  Kleinbetrieb,  von  Eigen- 

40* 


624  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölkdohre.  1.  H.-A.  Statist  §.  246 


Tab.  XLI.  Berufsstellung  der  Bevölkerung  im  Deutschen 
Reiche  nach  der  Berufszählung  von  1882. 


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Summe 

Auf  je 

j,  ö ^ 
_o  o . 
a>  © a. 

5. 

10.000 

t-. 

c 

o 

£ 

w 

6. 

1 

I.  Selbständige: 

A.  Land-,  Forstwirthsch. 

! 2,288 

395 

6,310 

8,993 

1,145 

1.901 

[Einrechn,  arbeitender 
Familiengl.  als  Angh. 

! 

2,288 

395 

8,276 

10.459] 

_ 

[2,336] 

B.  Industrie  auf  eig.Rechn. 

i 1,862 

263 

4,141 

6,266 

932 

1,327 

— auf  fremde  Rechn. 

340 

3 

432 

775 

170 

171 

— zusammen 

2,202 

266 

4,573 

7.041 

1,102 

1,498 

C.  Handel  und  Verkehr 

702 

267 

1,618 

2.5S6 

351 

513 

Summe  I 

5,191 

928 

12,502 

18,620 

2,598 

3,912 

[Einrechn,  arbeitender 
Familiengl.  als  An- 
gehörige bei  A 

5,191 

928 

14,468 

20,586] 

[4.247] 

II.  Höheres  Arbeitspers. 
A.  Land-,  Forstwirthsch. 

67 

13 

128 

208 

33 

43 

B.  Industrie  etc. 

99 

14 

158 

272 

50 

57 

C.  Handel  und  Verkehr 

142 

21 

188 

351 

71 

73 

Summe  II 

307 

48 

475 

830 

154 

173 

III.  Niederes  Arbeitsp. 
A.  Land-,  Forstwirthsch. 

i 5,882 

17 

4,126 

10,025 

2,944 

2,213 

[Ansetz,  arbeitender 
Familiengl.  als  An- 

| 

gehörige  bei  I,  A 

3,947 

17 

4,095 

8,059] 

— 

[1,778] 

B.  Industrie  etc. 

I 4,096 

22 

4,627 

8,746 

2,050 

1,929 

C.  Handel  und  Verkehr 

727 

8 

859 

1.594 

364 

351 

Summe  III 

10,705 

47 

9,612 

20,365 

5,358 

4,493 

[Ansetz,  arbeitender 
Familiengl.  als  An- 

1 

gehörige  bei  I,  A 

8,771 

47 

9,580 

18,398 



[4,058] 

D.  Lohnarb,  wechs.  Art 

u.  häusl.  Dienst 

398 

2 

539 

938 

862 

500 

E.  1.  Milit  Dienst  etc. 

452 

15 

75 

542 

226 

116 

2.  Civil.  D.  Über.  Berufe 

579 

149 

952 

1 .681 

290 

339 

SummcI-IIIu.Du.E 

17,632 

1,190 

24.154 

42,976 

9.488 

9,533 

F.  Berufslose 

1.  V.  Veruiög.  Leb. 

1 

810 

134 

648 

1,593 

406 

323 

2.  V.  Unterstütz.  Leb. 

17S 

0.5 

S1 

259 

89 

57 

3.  Ohne  Berufsangabe 

. 34 

0.2 

22 

56 

n 

12 

Summe  aller  Obigen 

18,654 

1,325 

24,905 

44,884 

10,000 

- 

9,925 

In  Berufsvorber.  etc., 
Anstaltsinsassen 

332 

0.3 

5 

338 

75 

Summe  Aller 

18,986 

1,325 

24,910 

45,222 

10,000 

1 0,000 

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Statistik  der  Berufsstellung:  der  Berufsarten. 


625 


Tab.  XLII.  Quoten  der  erwerbstätigen  Bevölkerung  im 
Deutschen  Reiche  nach  der  Berufsstellung  in  den 
materiellen  Berufen  in  1000-Theilen. 


Im  Ganzen 

Landwirt- 

Industrie 

Handel 

schaft  U.  8.  w. 

u.  s.  w. 

u.  s.  w 

Selbständige 

320 

278 

344 

447 

Höheres  Arbeitspersonal 

19 

8 

16 

90 

Niederes  Arboitspersonal 

661 

714 

640 

463 

thümern,  Pächtern  steigt  die  Quote  der  Selbständigen  in  der  Land- 
wirtschaft, sinkt  diejenige  des  Arbeitspersonals;  umgekehrt  bei 
überwiegendem  ländlichen  Grossgrundbesitz  und  Betrieb.  Aehnlich 
verhält  es  sich  bei  Industrie  und  Handel  u.  s.  w.,  bei  Kleingewerbe, 
Handwerk,  Hausindustrie  einer-,  Grossindustrie,  Fabrikwesen  andrer- 
seits, bei  Klein-  und  Grossgast-  und  Schankwirtbschaft,  in  Klein- 
und  Grossstädten  beim  Detailhandel. 

Das  statistisch  näher  zu  belegen  und  zu  verfolgen,  ist  hier  nicht  der  Ort.  S. 
für  Deutschland  B.  2 der  Berufszählung  S.  79  ff.  der  Einleitung.  Die  Zahlen,  bezw. 
Quoten  der  Gebietsteile  sind  natürlich  regelmässig  ein  Ergebniss  der  combinirten 
Wirkung  der  Verhältnisse  zwischen  Selbständigen  und  Arbeitern  iu  den  verschiedenen 
hier  vertretenen  Berufen  und  zugleich  der  verschiedenen  Besitz-  und  Betriebsumfangs- 
grössen in  den  drei  grossen  materiellen  Borufsgruppen.  Die  grosse  absolute  Zahl  der 
„selbständigen“  Landwirthe  bei  stark  verbreitetem  Kleingrundbesitz  und  Kleinbetrieb 
und  die  grosse  absolute  Zahl  der  Fabrik-  und  Bergarbeiter  bei  stark  entwickelter 
Grossindustrie  und  Montanwesen  üben  dabei  auf  die  Proportionen  einen  starken  Ein- 
fluss aus. 

§.  247  — 3.  Statistik  der  Berufsarten. 

Auch  hier  mit  Beschränkung  auf  die  grossen  Hauptgruppen,  wie  sie  schon  in 
Tab.  XLI  unterschieden  wurden.  Die  weitere  Unterscheidung  in  die  einzelnen  Be- 
rufe und  in  die  Specialgruppen  innerhalb  der  Hauptgruppen  kann  hier,  braucht 
aber  auch  für  unsere  Zwecke  hier  nicht  verfolgt  zu  werden.  S.  bes.  B.  2 der  Iieichs- 
stat.  a.  a.  0.  Einl.  S.  27  ff.,  mit  den  Vergleichungen  anderer  Länder  S.  30,  auch 
für  die  Unterscheidungsmerkmale  und  die  Rubricirung  der  einzelnen  Berufe  in  die 
grossen  Gruppen,  sowie  für  die  Behandlung  der  Daten  fremder  Länder,  um  zu  einiger- 
maassen  vergleichbaren  Zahlen  zu  gelangen.  Die  folgenden  Tabellen  sind  diesen 
Materialien  entnommen.  S.  die  Tabelle  XLIII  auf  S.  626. 

Die  Tab.  XLIII  enthält  wieder  dieselben  Hauptgruppen  und  diese  in  derselben 
Begrenzung  wie  die  Tab.  XL.  Sie  dient  zugleich  zu  deren  Ergänzung  nach  einigen 
anderen  Zahlcncombinationen  und  Gesichtspunctcn.  Bei  der  Berechnung  der  Quoten 
(Spalte  5 und  6)  ist  auch  hier  wieder  die  häuslich  dienende  Bevölkerung  za  Gruppe  D 
(wechselnde  Lohnarbeit  etc.)  gestellt. 

Hiernach  kommen  — oder  kamen  wenigstens  noch  vor 
10  Jahren,  in  1882  — im  Deutschen  Reich  immer  noch  etwas  über 
zwei  Fünftel  der  Bevölkerung  überhaupt,  wie  der  erwerbsthätigen 
(Arbeitgeber  und  Arbeiter  aller  Art  zusammengerechnet  nebst  den 
selbständigen  Berufslosen,  s.  Tab.  XL)  auf  die  von  der  Landwirt- 
schaft lebende  und  von  oder  in  dieser  erwerbstätig  beschäftigte. 
Das  ist  zugleich  immer  noch  die  grösste  Quote,  welche  auf  eine 


626  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  247. 


Tab.  XLIII.  Vertretung  der  Berufsabtheilungen  in  der 
Reichsbevölkerung  ira  Deutschen  Reiche  in  1882. 

Absolute  Zahlen  in  1000  Kopf. 


Erwerbstätige 
~ und  berufslose 
Selbständige 

Häuslich 

Dienende 

Angehörige 
w (incl.  nebensächl. 
erwerbende) 

Zusammen  in 
der  Boruftsabth. 

Auf 

« . 
Js  ® a. 

5. 

1000 

Ut 

© 

2 

o 

* 
— • 

W 

6. 

A.  Landwirthschaft  etc. 

8.236 

425 

10.564 

19,225 

412 

416 

dav.  Forst«  irthsch.  etc. 

116 

14 

255 

385 

6 

8 

B.  Industrie  etc. 

6,396 

303 

9.359 

16,058 

320 

348 

C.  Handel  etc. 

1,570 

295 

2.665 

4,531 

79 

94 

D.  W'echs.  Lohnarb.  etc. 

398 

2 

539 

938 

86 

50 

E.  Milit.,  Civ.  und  freie 
Berufe 

1,031 

165 

1,027 

2,223 

52 

46 

F.  Berufslose  Selbständ. 

1,022 

135 

751 

751 

51 

39 

In  Berufsvorber.,  in  An- 
stalten etc. 

322 

0.3 

2 

5 

7 

Summe 

18,986 

1,325 

24,911 

45,222 

1000 

1000 

der  grossen  Hauptgruppen  der  Berufe  fällt.  Die  Industrie  (nebst 
Bergbau,  Bauwesen)  beschäftigt  nicht  ganz  ein  Drittel  der 
Erwerbsthätigen,  umfasst,  bzw.  ernährt  etwas  über  ein  Drittel 
der  Bevölkerung.  Beide  grosse  Gruppen  zusammen  beschäftigen 
nicht  ganz  drei  Viertel  der  Erwerbsthätigen,  umfassen  etwas 
über  drei  Viertel  der  Bevölkerung.  Nur  der  etwa  ein  Drittel 
so  grosse  Rest  der  Erwerbsthätigen  und  der  Bevölkerung  kommt 
auf  alle  übrigen  Berufe.  Jede  Gruppe  derselben  steht  weit  hinter 
den  beiden  ersten  Hauptgruppen  zurück,  wenn  auch,  wie  in  der 
Quotenberechnung,  die  sämmtlichen  im  Haushalt  Dienenden  (Dienst- 
boten) zur  Rubrik  D und  mit  dieser  als  besondere  Gruppe  gerechnet 
werden,  nicht  zu  den  einzelnen  anderen  Berufsgruppen,  in  welchen 
sie  dienen. 

Geschieht  letzteres,  so  verändert  sich  die  Gruppe  D in  den  Quoten  natürlich 
entsprechend  (auf  21°/00  in  beiden  Keihen)  und  erhöhen  sich  die  Quoten  der  anderen 
Gruppen  hingegen  demgemäss  um  Etwas,  so  bei  Landwirtschaft  etc.  auf  442  und 
445,  bei  Industrie  auf  343  und  <355,  Handel  etc.  auf  84  und  100,  bei  Abth.  E auf 
55  und  49,  bei  F auf  55  und  42. 

Stellt  man  alle  anderen  Gruppen  derjenigen  der  Landwirt- 
schaft u.  8.  w.  (A)  gegenüber,  so  kommen  diese  demnach  auf 
fast  drei  Fünftel  der  Gesammtzahl  der  Erwerbsthätigen  u.  s.  w. 
und  der  Bevölkerung,  bilden  also  immerhin  schon  im  Verhältniss 
von  c.  3:2  die  Mehrheit.  Das  ist  für  den  Character  der  heutigen 


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Statistik  der  Berufsarten. 


G27 


deutschen  Volkswirtschaft  beachtenswert  und  giebt  einen  gewissen 
Maassstab  für  den  Grad,  in  welchem  diese  Volkswirtschaft  aus 
der  agrarischen  in  die  industriell  -mercautile  Phase  sich  bereits 
hinüber  gebildet  hat.  Auch  die  Industrie  und  Handel  und  Ver- 
kehr u.  8.  w.  allein  beschäftigen  schon  fast  ebenso  viele  Menschen, 
nur  eine  noch  wenig  kleinere  Quote  als  die  Landwirtschaft  u.  s.  w. 
und  ernähren  und  versorgen  (ohne  und  vollends  mit  dem  Contingent 
häuslicher  Dienstboten  gerechnet)  schon  nicht  unerheblich  mehr 
Personen  als  die  Landwirtschaft  u.  s.  w.  Für  die  Gravitirung 
des  Schwerpuncts  der  volkswirtschaftlichen  Interessen  ist  das 
wieder  wichtig. 

Innerhalb  eines  grossen  Volkswirthschaftsgebiets,  wie  des 
deutschen,  treten  die  einzelnen  Hauptberufe  dann  freilich  in  sehr 
verschiedener  Ausdehnung  hervor.  In  Industriebezirken,  in  Städten, 
besonders  Grossstädten,  überwiegen  die  industriellen,  mercantilen, 
die  Beamten-  und  liberalen  Berufe,  in  agrarischen  Gegenden  die 
landwirtschaftlichen , in  mancherlei  verschiedenen  Abstufungen, 
je  nach  der  Entwicklung  der  Verhältnisse.  Hier  treten  daher 
örtlich  und  provincieil  dieselben  Verschiedenheiten  auf,  wie  sie 
zeitlich  die  Entwicklung  der  gesammten  Volkswirtschaft  aufweist. 

Dio  deutsche  Berufsstatistik  gestattet  diese  Verhältnisse  zilFermässig  genauer  zu 
verfolgen  (s.  bes.  Einleitung  zu  B.  2 S.  34  ff  ).  Auch  hier  üben  aber  die  Verschieden- 
heiten der  Vertheilung  und  Bewirthschaftswcise  des  ländlichen  Grundbesitzes,  der 
Agrarverfassung,  ferner  dio  Verschiedenheiten  der  Enverbsverhältnissc  (Fabrik-,  Haus- 
industrie, Handwerk)  einen  Einfluss  mit  aus.  Auch  in  hochindustriellen  Gegenden 
mit  vorherrschendem  Kleingrundbesitz  (.Itheinland)  sinkt  z.  B.  unter  den  Erwerbs- 
tätigen die  Quote  der  in  der  Landwirtschaft  Beschäftigten  und  steigt  unter  jenen 
die  Quote  der  industriell  Beschäftigten  nicht  so  hoch,  als  in  Gebieten,  wo  die  Grund- 
besitzvertheiluug  und  Verfassung  eine  andere  ist  (K.  Sachsen).  S.  für  Deutschland 
die  Quoteuberechnungen  in  B.  2,  S.  40  der  Einleitung.  Dio  folgende  Tabelle  XLIV 
hebt  daraus  die  Maxirna  und  Minima  in  den  grossen  Berufsgruppen  nach  den  Pro- 
viucial-  und  den  ähnlichen  Gebictsgruppen  der  Reichsstatistik  für  dio  erwerbstätige 
und  für  die  Gesammtbcvölkerung  hervor;  die  Zusammensetzung  der  Berufe  in  den 
Gruppen  wie  in  den  früheren  Tabellen. 

S.  Tab.  XLIV  auf  S.  628. 

Die  Verschiedenheiten  in  den  Rubriken  D und  F lassen  bezweifeln,  ob  überall 
bei  der  Aufnahme  ganz  nach  denselben  Grundsätzen  verfahren  worden  ist  Im 
Uebrigcn  entsprechen  die  Zahlen  aber  durchaus  dem,  was  auch  sonst  hinsichtlich  des 
vorwaltcnden  Wirthschaftsrharacters  der  einzelnen  Landestheile  bekannt  ist.  Natürlich, 
dass  aber  auch  hier  wieder  in  verschiedener  Weise  in  den  Zahlen  Ausgleichungen 
der  Verhältnisse  zum  Ausdruck  gelangen,  so  z.  B.  in  Rheinland  zwischen  den  hoch- 
industriellen  und  den  übrigen  Regierungsbezirken,  ebenso  in  Westfaten.  Die  rheinischen 
hocbindustriellen  Bezirke  wurden  sonst  dein  K.  Sachsen  noch  näher  stehen,  nur  dass 
die  Verschiedenheit  der  Agrarverfassung  doch  auch  hier  solche  der  Quoten  bedingt.  — 
Im  Ganzen  besteht  zwischen  den  beiden  Abteilungen  I und  II  der  Tab.  XLIV  ein 
Parallelismus  der  Daten,  aber  keine  völlige  Uebereinstimmung,  woher  auch  in  beiden 
nicht  immer  ganz  dieselben  Landestheile  erscheinen. 

Im  Ganzen  nimmt  ferner  regelmäßig  mit  der  Grösse  der  Ortsbevölkerung  die 
Quote  der  landwirtschaftlich  Erwerbsthätigen  ab  und  nehmen,  wenn  auch  nicht  völlig 


628  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  BcvölUehrc.  1.  H.-A.  Statist.  §.  247. 

Tab.  XLIV.  Maximal-  und  Minimalquoten  der  Bevölkerung 
nach  den  grossen  Berufsgruppen  in  den  Provinzial-  und 
ähnlichen  Gebieten  des  Deutschen  Reichs1). 

I.  Auf  10,000  Erwerbstätige  und  berufslose  Selbständige  kommen: 


Land- 

wirtschaft 

etc. 

A. 

Industrie 

etc. 

B. 

Handel 

etc. 

C. 

Lohnarbeit 
wechselnd. 
Art  etc. 

D. 

Oeff.  Dienst 
und  freie 
Berufe 

E 

Kj. 

i 

Ohne  Beruf 
und  ohne 
Berufs- 
angabe 

F. 

1.  Max. 

6495 

5546 

1076 

369 

913 

895 

in 

Pr.  Posen 

K.  Sachsen 

Schl.-Holst. 

Ostpreuss. 

Els.-Lothr, 

Südbaiern 

2.  Max. 

6334 

4708 

1022 

356 

764 

877 

in 

Ostprcuss. 

Westfalen*) 

H. -Nassau3) 

Mecklenbg. 

Hessen 

Franken 

1.  Min. 

2242 

1711 

552 

72 

399 

36Ü 

in 

K.  Sachsen 

Pr.  Posen 

Pr.  Posen 

Franken 

Westfalen 

Westfalen 

2.  Min. 

3403 

1718 

554 

74 

406 

397 

i»  | 

Rheinland 

Ostpreuss. 

Ostpreuss. 

Würtemb. 

Franken 

Rheinland 

II.  Auf  10,000  Einwohner  kommen  Berufszugehörige: 

1.  Max. 

6467 

5625 

1223 

363 

677 

810 

in 

Pr.  Posen 

K.  Sachsen 

Schl.-Holst. 

Mecklenbg. 

Els.-Lothr. 

Südbaiern 

2.  Max. 

6439 

4731 

1196 

359 

612 

691 

in 

i Ostpreuss. 

Rheinland 

K.  Sachsen 

Ostpreuss. 

Schl.-Holst. 

Franken 

1.  Min. 

1998 

1682 

614 

57 

357 

372 

in 

K.  Sachsen 

Ostpreuss. 

Ostpreuss. 

Würtemb. 

Westfalen 

Westfalen 

2.  Min. 

3178 

1721 

694 

63 

397 

380 

in 

Rheinland 

Pr.  Posen 

Pr.  Posen 

Franken 

Ostpreuss. 

Gr.  Hessen 

regelmässig,  die  Qooteu  der  fünf  anderen  Berufsgruppen  zu.  So  kamen  nach  den 
Berechnungen  der  Reichsstatistik  a.  a.  0.  nach  den  5 (irössenclassen  der  Ortsbevölkerung 
(unter  20U0,  2 — 5000,  5 — 20,000,  20 — 100,000,  über  100.000  E)  auf  die  landwirth- 
schaftlicho  Bevölkerung  bezw.  (von  unten  nach  oben)  0447 — 2628 — 987 — 342 — 138  E. 
auf  10.000,  für  die  Rubriken  B bis  F sind  die  Quoten  für  das  platte  Land  (d.  b.  Orte 
bis  2000  E.)  bezw.  2444  — 4S9  — 67  — 220  — 324.  Das  Max.  von  B hatten  die  Orte 
von  5 — 20,000  E. , 535S  (die  beiden  höchsten,  Classen  bezw.  5283  und  4734);  das 
Max.  von  C die  grössten  Städte,  2061.  Auch  besteht  hier  wie  auch  bei  D und  F 
eine  der  Steigerung  der  Ortsbevölkerung  genau  parallel  gehende  Steigerung  der  Quoten. 
Das  Max.  von  D hatten  ebenfalls  die  grössten  Städte.  504,  das  von  E die  zweitgrössten. 
1117  (grössten  1073),  das  von  F wieder  die  grössten,  890. 

Zwischen  der  Verbreitung  der  Hauptberufe  in  der  Be- 
völkerung und  der  Volksdichtigkeit  der  Gebietstheile  (§.230  ff, 
237,  238)  erscheint  von  vornherein  ein  Wechselwirkungsver- 

J)  Abgesehen  von  Berlin  und  den  3 Hansestädten,  deren  Verhältnisse 
hier  doch  nicht  direct  vergleichbar  sind.  Die  Quoten  sind  hier  in  der  Reihenfolge 
der  Berufe  der  Tabelle:  Berlin,  Erwerbstätige:  75 — 5690 — 2182 — 438 — 989 — 626, 
Einwohner:  77  — 5429  — 2456  — 385  — 969  — 684:  Hansastadte,  Erwerbstätige: 

700— 4414— 3012— 531— 660— 6S3,  Einwohner  643—4265—3262—459—647—725. 

*)  Drittes  Max.  mit  4605  Kheinl.  (mit  Hohcnzollern). 

8)  Drittes  Max.  mit  1002  K.  Sachsen. 


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Statistik  der  Berufsarteu. 


629 


hältniss  wahrscheinlich,  ja  nothwendig,  ebenso  zwischen  dem 
ersteren  Moment  nnd  der  Verbreitung  und  der  Grösse  der 
Städte.  Das  bestätigt  auch  die  Berufsstatistik,  speciell  die  deutsche, 
im  Allgemeinen  hinsichtlich  des  ersteren,  genauer  noch,  wie  die 
vorausgehenden  Daten  schon  ergeben,  hinsichtlich  des  zweiten 
Verhältnisses.  Ein  völliger  Parallelismus  zwischen  Volksdichtigkeit 
und  vorwaltend  agrarischen  einer-,  industriell -mercantilen  und 
sonstigen  höheren  Berufsarten  andrerseits  kann  aber  nicht  wohl 
bestehen,  weil  die  absolute  und  relative  Grösse  der  landwirtschaft- 
lichen Bevölkerung  von  Grundbesitzvertheilung,  Agrarverfassung, 
Klima,  Bodengüte  und  Art,  Betriebssystemen  u.  8.  w.  immer  mehr 
oder  weniger  mit  abhängt.  Ebenso,  weil  auf  die  Verbreitung  von 
Bergbau,  Industrie,  Handel  u.  s.  w.  gleichfalls  Naturfactoren,  wie 
Vorhandensein  von  Bergbausubstanzen,  geographische  Lage,  Wasser- 
strassen, sonstige  Communicationsmittel,  Wasserkräfte,  technische 
Bedingungen  der  Industrie  u.  s.  w.  mit  von  Einfhisss  sind.  Solche 
Umstände  verdecken  aber  den  Zusammenhang  von  Volksdichtigkeit 
und  vorherrschenden  Erwerbsberufsarten  mehr,  als  dass  sie  ihn 
widerlegten.  Im  Grossen  und  Ganzen  ist  doch  eine  durch- 
schlagende Bedeutung  des  Wechselwirkungsverhältnisses  zwischen 
beiden  Momenten  kaum  zu  verkennen. 

In  den  Erörterungen  in  B.  2 der  deutschen  Berufsstatistik  (S.  45  der  Einleitung) 
möchte  Letzteres  nicht  soweit,  wie  es  richtig  ist,  anerkannt  werden,  wenn  auch  im 
Ganzen  die  Auffassung  mit  der  im  Yorausgehenden  dargelegten  ubereinstimmt.  Hier 
wird  z.  B.  in  Bestätigung  der  Annahme,  dass  die  dichtbevölkerten  Landestheile  vor- 
wiegend starke  industrielle  und  schwache  landwirtschaftliche  Bevölkerung,  die  dünn- 
bevölkerten das  umgekehrte  Verhältniss  haben,  hinzugefugt,  „aber  es  fehlt  viel  daran, 
dass  die  Gebietstheile  nach  der  Dichtigkeit  ihrer  Bevölkerung  in  derselben  Reihe  nach 
einander  folgen,  wio  nach  der  Stärke  ihrer  industriellen  oder  in  umgekehrter  Reihe, 
wie  nach  der  Stärke  ihrer  landwirtschaftlichen  Bevölkerung“.  Ganz  richtig,  aber  aus 
den  augedeuteten  Umständen  auch  ganz  erklärlich.  Ebenso,  dass  noch  weniger  genau 
die  Handels-  und  Verkehrsbevölkerung  im  Zusammenhang  mit  der  Volksdichtigkcit 
steht.  Desgleichen,  dass  „nur  ganz  im  Allgemeinen  sich  sagen  lässt,  dass  industrielle 
oder  dem  Handel  und  Verkehr  zugehörige  und  städtische  Bevölkerung  zugleich  stark 
und  schwach  vertreten  seien;  im  Einzelnen  kämen  hiervon  bedeutende  Abweichungen 
vor.“  Einen  bestimmteren  Zusammenhang  zwischen  Art  der  Erwerbsthätigkeit  und 
Ortsgrösse,  gemäss  den  vorhin  angegebenen  Daten,  erkennt  dagegen  auch  die  amtlicho 
Erläuterung  der  Berufsstatistik  an. 

Den  besprochenen  Verschiedenheiten  der  Vertretung  der  Haupt- 
berufe in  den  einzelnen  Gebietstlieilen  eines  grossen,  einheitlichen 
Volkswirtbschaftsgebiets,  wie  des  deutschen,  begegnet  man  dann 
ähnlich  bei  der  Vergleichung  der  ganzen  Staats-  und 
Volkswirthschaftsgebiete,  welche  die  Glieder  der  Welt- 
wirtschaft sind,  wieder.  Die  Stellung,  welche  z.  B.  hochin- 
dustrielle Gebiete,  wie  K.  Sachsen  und  Theile  von  Rheinland  und 


(530  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.scli.  1.  K.  Bcvölk.lehre.  1.  H.-A.  Statist.  §.  247. 

Westfahlen,  rein  agrarische,  wie  Mecklenburg  und  die  preussischen 
Nordostprovinzen  einnehmen,  haben  hier  England,  Schottland, 
Belgien  einer-,  Ungarn,  z.  Th.  Oesterreich,  Italien,  Scandinavien 
andrerseits.  Die  übrigen  europäischen  Länder  stehen  zwischen 
diesen  Extremen. 

Die  genauere  statistische  Vergleichung  wird  hier  wieder  durch  die  mehrfach 
hervorgehobenen  verschiedenen  Methoden  der  Aufnahme  und  Verarbeitung  des  berufs- 
statistischen Materials  erschwert.  Nur  unter  Vorbehalt  und  unter  der  ausdrücklichen 
Hervorhebung,  dass  die  Vergleichung  der  Daten  verschiedener  Länder  auch  in  diesen 
Puncten  bezüglich  der  Hauptberufe  bloss  eine  ganz  annäherungsweise  sein  kann 
und  die  Schlüsse  daraus  daher  nicht  minder  nur  einen  begreuzten  Werth  haben,  ist 
es  statthaft,  einigo  Vergleichungen  anzustellen.  Das  ist  in  der  amtlichen  Erläuterung 
der  deutschen  Berufsstatistik  auch  geschehen.  Aus  den  daselbst  gegebenen  Daten  und 
Berechnungen  (s.  B.  2,  Einl.  29  fF.)  ist  die  folgende  Tabelle  zusammengestellt  worden. 
Für  die  Verhältnisse  der  fremden  Länder  sind  die  dort  gegebenen  Ausführungen  zu 
vergleichen.  Reihenfolge  nach  der  forst-  und  landwirtschaftlichen  Bevölkerung. 

S.  Tab.  XLV  auf  S.  631. 

Die  Berufsgruppen  sind  hier  wieder  wie  in  den  vorigen  Tabellen  gebildet  worden, 
bei  den  fremden  Staaten,  soweit  es  ging.  Die  starken  Abweichungen  in  Gruppe  D 
und  F (berufslose  Selbständige  u.  s.  w.  und  Anstaltsinsassen  mit  ihren  Dienenden  uud 
Angehörigen)  deuten  wohl  mehr  Differenzen  in  der  Aufnahme  und  Verarbeitung  des 
Materials,  als  in  der  Wirklichkeit  bestehende,  an.  In  geringerem  Maasse,  aber  ver- 
mutlich immer  auch  etwas  gilt  das  von  den  anderen  Gruppen,  bes.  wohl  von  C. 
Die  Unterschiede  der  Zahlen  der  einzelnen  Länder  in  C erklären  sich  aber  jedenfalls 
doch  vornehmlich  aus  der  wirklichen  Verschiedenheit  der  Verhältnisse.  Die  Gruppe 
umfasst  ausser  Handel  auch  Land-  und  Wassertransport,  Gast-  und  Schankwirthschaft. 
In  den  Daten  für  letztere  allein  (so  Frankreich  bei  den  Erwerbstätigen  31.8°/oo* 
England  19.2,  Deutsches  Reich  15.9)  mögen  auch  Aufnahmeverschiedenheiten  mehr 
mit  cinwirkcn.  Den  hohen  Zahlen  der  ganzen  Abtheilung  C entspricht  aber  die 
starke  Verbreitung  des  Handels  allein  (incl.  Versicherung)  in  Schottland , England  mit 
über  100o/oo  der  Erwerbstätigen,  in  Frankreich  mit  83.4  (?).  in  Nordamerica,  des 
Land-  und  Wassertransports  in  England,  Schottland,  Nordamerica,  des  Wassertrans- 
ports in  Norwegen  (56.6 %o  der  Einwohner  gegen  29.4  in  Dänemark,  5.2  im 
Deutschen  Reich). 

Die  Sonderstellung  Englands  und  Schottlands  in  der  heutigen  Welt- 
wirthschaft,  die  ungeheure  Zurückdrängung  der  landwirtschaftlichen 
Berufe  und  Bevölkerung  auf  unter  ein  Fünftel,  ja  auf 
ein  Siebentel,  die  ausserordentliche  Steigerung  der  industricll- 
mercautilen  auf  über  die  Hälfte  der  Erwerbstätigen  tritt  in 
Tab.  XLV  schlagend  hervor.  Die  mehrfach  angedeuteten  Gefahren 
einer  solchen  überspannten  Entwicklung  aber  nicht  minder.  Die 
Verhältnisse  der  grösseren  und  kleineren  Continentalstaaten  in  der 
Tabelle  und  Nordamericas  erscheinen  demgegenüber  doch  die 
günstigeren.  Wenn  auch  hier  in  einzelnen,  selbst  grösseren  Ge- 
bietsteilen sich  ähnliche  Berufsvertheilungsverhältnisse,  wie  in 
Grossbritannien,  finden,  so  bei  uns  in  K.  Sachsen  (mit  555  °/ou  in- 
dustrieller, 100  mercantiler  etc.  und  auch  nur  noch  224  °/00  land- 
wirtschaftlicher Erwerbstätiger) , so  sind  es  eben  doch  nur 
Th  eile  des  einheimischen  Gesammt- Volks  Wirtschaftsgebiets, 


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Statistik  der  Berufsarten. 


631 


Tab.  XLV.  Vergleichung  der  Vertheilung  der  Haupt- 
gruppen der  Berufe  in  verschiedenen  Ländern. 


I.  Auf  1000  Erwerbsfäbigo  kommen: 


i . 

3 
.3  * 

* a 

*Q  oj 

5 

<V  O 
« 

A. 

’C 

*5  d 

| * 
H 

B. 

*3 

! j 

C* 

5-^4 

w 

c. 

Wechselnde 
p Lohnarbeit 
etc. 

-a  . (2 

3 3 

m « d 
| 8«  « 
o 2 
o 

E. 

© * 

£ .5 
^ 5 o 

TZ  ’ji  «w 

g -©  « 
F. 

Ungarn 

672 

121 

28 

141 

38 

Italien 

626 

228 

60 

43 

43 

— 

Westösterreich 

55)8 

222 

42 

97 

41 

« — - 

Irland 

468 

280 

82 

146 

54 

_ 

Nordamericanische  Union 

47a 

214 

124 

115 

44 

Deutsches  Reich 

467 

363 

89 

23 

5S 

_ 

Frankreich 

463 

819 

137 

•SM*. 

61 



Schweiz 

459 

419 

76 

14 

32 

- — 

Schottland 

ISS 

54$ 

158 

62 

44 

England  und  Wales 

140 

545 

172 

81 

62 

- 

II.  Auf  1000  Einwohner  kommen: 


Norwegen 

552 

170 

122 

44 

44 

68 

Westösterreich 

551 

228 

56 

84 

41 

40 

Schweden 

548 

104 

34 

75 

61 

178 

Frankreich 

488 

249 

1*24 

— 

57 

82 

Dänemark 

452 

229 

96 

92 

67 

64 

Deutsches  Reich 

425 

355 

108 

21 

49 

50 

Schweiz 

425 

368 

88 

11 

38 

70 

nicht  der  Durchschnitt  des  Ganzen,  welche  Derartiges,  an  und 
für  sich  auch  kaum  Gesundes  zeigen.  Der  Menschenaustausch 
und  die  Verbindung  mit  den  übrigen  Theilgcbieten  des  Gesammt- 
gebietes  lassen  die  Sachlage  hier  immerhin  noch  anders  erscheinen. 

Auch  hier  sei  wieder  daran  erinnert,  dass  die  di  recte  Vergleichung  so  ungleich 
grosser  Länder  von  so  verschiedener  Stellung  in  der  Weltwirtschaft,  wie  zwischen 
den  Ländern  der  Tab.  XLV,  nur  bedingt  zulässig  ist.  Das  wird  auch  in  den  amtlichen 
Erläuterungen  der  Beichsstatistik  nicht  genügend  beachtet  Die  Lage  in  Sachsen  ist 
z.  B.  günstiger  als  diejenige  Englands  und  Schottlands,  weil  Sachsen  zunächst  Glied 
der  deutschen  Volkswirtschaft,  erst  dann  der  Weltwirtschaft,  Grossbritannien  dagegen 
dies  unmittelbar  ist.  Von  der  Lage  Bheinlands  gilt  dasselbe  wie  von  derjenigen 
Sachsens.  Diejenige  der  Schweiz,  deren  industrielle  Bevölkerung  derjenigen  Gross- 
britanniens, Sachsens,  Rheinlands  unter  den  verglichenen  Ländern  am  Nächsten  kommt, 
ist  dagegeu  wieder  ungünstiger  als  die  Lage  der  genannten  beiden  deutschen  Landes- 
theile,  ähnlich,  aber  noch  ungünstiger,  als  diejenige  Grossbritanniens  (nicht  nur  wegen 
der  geographischen  Lage,  Gebirgsformation , Mangel  an  Colonialbesitz  seitens  der 
Schweiz),  weil  die  Schweiz  eiu  kleineres  Gebiet  und  als  solches  auch  unmittelbar  auf 
Producieoaustausch  mit  dem  Auslande  angewiesen  ist,  von  dessen  handelspolitischen 
Maassregeln  u.  s.  w.  directer  getrolfen  wird.  Aehnlicbes  gilt  von  Belgien,  Niederlanden; 
die  Folge  der  politischen  and  wirtschaftlichen  Abtrennung  von  dem 
grossen  Staats-  und  W'irthschaftsgebiet,  zu  dem  alle  drei  naturgemäss  nach  Lage, 
Volksthum,  Geschichte  gehören. 


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632 


4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lehre.  2.  H.-A.  Folgerungen  §.  248. 


Hiermit  beenden  wir  die  Vorführung  bevölkerungsstatistischen 
Materials  und  die  daran  geknüpften  Untersuchungen  und  Erörterungen. 
Es  gilt  jetzt,  aus  den  statistischen  Thatsachen  Schlüsse  für  die 
volkswirtschaftliche  Auffassung  der  Bevölkerungsfrage  zu  ziehen. 
Das  ist  die  Aufgabe  des  folgenden  zweiten  Hauptabschnitts  dieses 
Kapitels. 


Zweiter  Hauptabschnitt 

Volks  wirtschaftliche  Folgerungen. 

I.  — §.  248.  Volksvermebrung  und  Productions- 
interessc. 

Wieder  anknüpfend  an  die  einleitenden  Erörterungen  zur 
volkswirtschaftlichen  Bevölkerungslehre  (§.  198  ff.)  lassen  sich 
nunmehr  folgende  Ergebnisse  feststellen. 

Die  vorausgehenden  bevölkerungsstatistischen  Thatsachen  und 
Untersuchungen  rechtfertigen  den  Schluss,  dass  die  Bevölkerung 
eines  Landes,  und  zwar  auch  eines  altbesiedelten,  bereits  dichter 
bevölkerten,  regelmässig  die  Tendenz  hat  und  auch  die  Fähigkeit 
besitzt,  sich  zu  vermehren.  Sie  vermag  sich  insoweit  im  volks- 
wirtschaftlichen Productionsinteresse  in  Bezug  auf  ihre  Zahl 
dem  etwa  wechselnden  Bedarf  an  Arbeitskräften  durch  ihre  natür- 
liche Vermehrung  innerhalb  derjenigen  Grenzen  anzupassen,  welche 
dem  Geburtsüberscbuss  naturgemäss  und  durch  die  Einwirkungen 
der  socialen  Verhältnisse  gezogen  sind,  sowie  innerhalb  derjenigen 
weiteren  Grenzen,  welche  von  den  Geschlechts-  und  den  Alters- 
verhältnissen abhängen.  Daher  kommt  hier  namentlich  die  Frist 
in  Betracht,  welche  zwischen  der  Geburt  und  der  Erlangung  der 
Arbeitsfähigkeit  notwendig  verlaufen  muss,  um  eine  Bevölkerungs- 
vermehrung durch  Geburtstiberschuss  zu  einer  dem  volkswirt- 
schaftlichen Productionsinteresse  entsprechenden  Vermehrung  der 
nationalen  Arbeitskraft  zu  machen. 

Verlangt  dieses  Interesse  die  letztere  Vermehrung,  so  wird  es 
für  die  Volkswirtschaft  wichtig,  dass  die  Förderungsmittel  der 
natürlichen  Volksvermehrung  stärker,  die  Hemmungsmittel,  die 
präventiven  und  die  repressiven  Tendenzen  (§.  219)  schwächer 
wirksam  werden.  Namentlich  muss  ein  grösserer  Theil  der  Neu- 
geborenen das  Lebensalter  der  Arbeitsfähigkeit  erreichen  und  in 
demselben  länger  verbleiben,  also  die  Sterblichkeit  entsprechend 


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Volksvennehrung  und  Productionsinteresse. 


633 


vermindert  werden. . Eine  demgemässe  Gestaltung  der  wirtschaft- 
lichen und  socialen  Lebensverhältnisse  auch  der  Masse  der  Be- 
völkerung ist  hierfür  die  Voraussetzung.  Sie  liegt  daher  auch  in 
diesem  Falle  nicht  nur  im  persönlichen  Interesse  der  unteren  Classen 
und  im  volkswirtschaftlichen  Vertheilungsinteresse,  sondern  auch 
im  volkswirthchaftlichen  Productionsinteresse. 

Reicht  die  so  herbeigeführte  natürliche  Vermehrung  der  Be- 
völkerung und  insbesondere  der  Altersclassen  der  letzteren  im 
wirtschaftlich  productiven  Alter  und  des  Hauptträgers  der  nationalen 
Arbeit,  des  männlichen  erwachsenen  Theils  der  Bevölkerung,  für 
die  Bedürfnisse  der  volkswirtschaftlichen  Production  noch  nicht 
aus,  so  tritt  die  Frage  der  Wanderungen  in  den  Gesichtspunct 
des  Interesses  der  Production.  Die  Fort-  und  Auswanderung,  zumal 
der  Erwachsenen  und  der  Männer  im  productivsten  Lebensalter 
ist  dann  gegen  dieses  Interesse,  die  Zu-  und  Einwanderung  liegt 
dagegen  in  demselben,  sei  es  vorübergehend,  sei  es  selbst  dauernd, 
wenn  der  Geburtsüberschuss  zu  schwach,  die  Vermehrung  der  Er- 
wachsenen zu  gering  und  zu  langsam  ist  oder  auch  beide,  Geburts- 
Überschuss  und  Quote  der  Erwachsenen,  ihre  natürliche  und  durch 
die  gegebenen  socialen  Verhältnisse  bedingte  Grenze  erreicht  haben. 
Sei  es  ferner  local,  provincial,  allgemein  im  ganzen  Volkswirth- 
schaftsgebiete,  wo  dann  je  nachdem  die  Gestaltung  der  heimischen 
wie  der  internationalen  Wanderungen  das  Productionsinteresse  in 
verschiedenem  Maasse  berührt. 

Zahlreiche,  im  vorigen  Abschnitt  mitgetheilte  und  besprochene 
statistische  Thatsachen  zeigen  auch,  dass  sich  in  Wirklichkeit 
vielfach,  ja  regelmässig  die  Bevölkerung  in  ihrer  natürlichen  und 
in  ihrer  Wanderungsbewegung,  innerhalb  eines  grossen  Volkswirth- 
schaftsgebiets  und  von  Land  zu  Land,  in  altbesiedelten,  bereits 
dicht  bevölkerten,  wie  in  neubesiedelten,  noch  dünn  bevölkerten 
Gebieten,  dem  volkswirtschaftlichen  Bedarf  an  Arbeitskräften, 
damit  dem  Productionsinteresse,  anzupassen  sucht  und  anpasst. 

Die  fernere  und  keineswegs  allgemein  langsamer  und  schwächer  werdende  natür- 
liche Volksvermehrung  durch  Geburtsüberschuss  selbst  noch  in  dicht  bevölkerten  und 
immer  dichter  bevölkert  werdenden  Ländern  und  Landestheilen , wie  so  vielen 
europäischen;  die  Steigerung  und  das  Hochbleiben  der  natürlichen  Zuwachsraten  auch 
sogar  hier;  die  Zu-  und  Einwanderungen  in  dicht,  wie  die  industriellen,  montanistischen, 
städtischen  Bezirke  im  In-  und  Auslande,  in  dünn,  wie  die  überseeischen  Einwanderungs- 
länder bevölkerte  Gebieto  ist  ein  Beleg  hierfür. 

Die  Gefahr  ist  aber  dabei  auch  schon  hier  nicht  zu  ver- 
kennen, dass  die  allgemeine  und  die  locale  Volksvermehrung  durch 
Geburtsüberschuss  und  durch  Wanderungen  den  Volkswirtschaft- 


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634  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lehrc.  1.  H.-A.  Folgerungen  §.  248 

liehen  Bedarf  an  Arbeitskräften  — natürlich  hier  gemeint:  an  solchen 
jeder  Art,  von  der  höchsten  geistigen,  bis  zur  niedrigsten  ge- 
meinen — übersteigt. 

Dnd  zwar  wieder  vorübergehend,  zeitweise  oder  bleibend,  allgemein,  für  alle 
oder  fast  alle  Erwerbszweige,  spcciell  für  einzelne  davon,  allgemein  im  ganzen 
Lande  oder  tbeilweise  an  einzelnen  Orten,  in  einzelnen  Gegenden.  Ferner  auch 
wieder  unbedingt,  absolut  nach  den  an  sich  überhaupt  noch  möglich  erscheinenden 
Verhältnissen  der  volkswirthscbaftlicheu  Organisation,  der  Technik  der  Production, 
der  irgend  vernünftiger  Weise  noch  denkbaren  und  ausführbaren  Gestaltung  der 
Production  und  des  Absatzes;  wie  vollends  bediugt,  relativ,  nach  den  einmal 
gegebenen  und  nicht  oder  nicht  sofort  oder  nicht  genügend  zu  verändernden  socialen, 
rechtlichen  dem  Sittenzustand  entsprechenden,  den  technischen  Verhältnissen  der 
volkswirtschaftlichen  Organisation,  des  Besitzes,  der  Productionsemricbtung.  S.  darüber 
unten  § 257  if. 

Namentlich  bedingt  die  höhere  Volksdichtigkeit,  welche  von 
natürlicher  Vermehrung  und  von  Wanderungen  herrührt,  sowie  die 
stärkere  locale  Coneentration  der  Bevölkerung  (Städte)  ver- 
wickeltere  Erwerbs  Verhältnisse,  unsichereren  Absatz 
der  eigenen  und  damit  unsichereren  Bezug  der  fremden 
Producte,  was  neue  Bedenken  hervorruft. 

Hat  sich  jene  Gefahr  bereits  verwirklicht,  dann  liegt  auch 
vom  Standpuncte  des  Volkswirt  hschaftlichen  Pro- 
ductionsinteresscs  aus  betrachtet  — Uebervölkerung 
vor,  absolute  oder  relative,  allgemeine  oder  partielle,  allgemeine 
oder  locale,  dauernde  oder  zeitweilige:  d.  h.  es  sind  mehr  Menschen 
da,  als  überhaupt  als  Arbeitskräfte  gebraucht  und  genügend  be- 
schäftigt werden  können,  es  ist  die  Volksvermehrung,  die  natür- 
liche und  die  durch  Wanderungen  bewirkte,  zu  rasch  und  zu  gross, 
es  müssen  daher  hier  Hemmungen,  vielleicht  schon  repressiver 
Art,  eintreten  (§  250—260). 

Solange  eine  derartige  Gefahr  aber  nicht  vorliegt,  sondern 
wirklich  ein  steigender  Bedarf  an  regelmässig  und  lohnend  zu  be- 
schäftigenden Arbeitskräften  aus  der  volkswirtschaftlichen  Ent- 
wicklung hervorgeht,  welcher  nur  durch  natürliche  Volksvermehrung 
und  Zu-  und  Einwanderung  gedeckt  werden  kann,  erheischt  auch 
das  volks wirtschaftliche  Productionsinteresse  eine  solche  Ver- 
mehrung und  Wanderung,  daher  auch  die  Erfüllung  der  technischen, 
ökonomischen  und  rechtlichen  Voraussetzungen  hierfür:  das  ge- 
nügende Vorhandensein,  die  nachhaltige  Sicherung  von  Unter- 
haltsmitteln, in  erforderlicher  Art,  Menge,  Güte,  sowie 
die  weitere  Vermehrung  und  qualitative  Aenderung  und  Verbesserung 
dieser  Unterhaltsmittel  für  eine  wechselnde,  vielleicht  auch  Umfang 
und  Art  ihrer  Bedürfnisse  steigernde  Bevölkerung. 


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Volksvermehrung  und  Productionsintcrcsse. 


035 


Die  Erfüllung  dieser  Voraussetzungen  kann  auf  zweierlei  Weise 
geschehen:  einmal  auf  dem  Gebiete  der  volkswirthschafilichen 
Production  durch  eine  entsprechende  volkswirthHchaftliche  Organi- 
sation, welche  die  Productivität  der  Arbeit,  die  Entwicklung  dieser 
Productivität,  der  Productionstechnik,  die  genügende  und  richtige 
Bildung  und  Verwendung  des  Nationalkapitals  (§.  129)  und  die 
zweckmässige  Benutzung  des  nationalen  Bodens  verbürgt,  und 
zwar  in  einem  mindestens  mit  der  Vermehrung  der  Bevölkerung 
Schritt  haltenden,  womöglich  in  einem  stärkeren  Maasse;  sodann 
auf  dem  Gebiete  der  Vertheilung  des  Volkseinkommens  und 
Volksvermögens  durch  eine  solche  Art  der  Vertheilung,  welche 
auch  für  die  grosse  Masse  der  Bevölkerung  eine  genügende  Be- 
dürfnissbefriedigung  nach  Umfang  und  Art  ermöglicht  und  gewährt. 
„Genügend“  heisst  aber  hier  diejenige  Bedürfnisbefriedigung,  bei 
welcher  die  physischen  und  psychischen  hier  mitspielenden  Factoren 
mächtig  genug  wirken,  um  die  vom  Interesse  der  Production  ver- 
langte nachhaltige  Vermehrung  der  Bevölkerung  und  Auferziehung 
einer  hinlänglich  starken  Quote  arbeitsfähiger  erwachsener,  ins- 
besondere männlicher  Personen  herbeizuführen. 

Dabei  ist  dann  eines  wichtigen  Umstands  zu  gedenken.  Die 
jeweilige  Art  der  Vertheilung  des  Volkseinkommens  und  Volks- 
vermögens, die  jeder  solcher  Vertheilungart  zu  Grunde  liegenden 
volkswirtschaftlichen  Organisations-  und  Reehtsordnungs-Principien 
üben  hier  wieder  einen  Einfluss  aus,  sowohl  auf  die  psychischen 
und  physischen  Bedingungen  der  (natürlichen)  Volksvermehrung, 
als  auf  die  psychischen  Motive  wirthscbaftlichen  Handelns,  in  Bezug 
auf  Wirksamkeit  der  Arbeit,  Arbeitseifer,  Gestaltung  und  Fortschritt 
von  Technik  und  Oekonomik  der  Production,  Bildung  und  Ver- 
wendung des  Nationalkapitals,  Benutzung,  Anbau  u.  s.  w.  des 
nationalen  Bodens.  Aenderungen  principieller  Art  in  der 
Organisation  und  Rechtsordnung  der  Volkswirtschaft  und  dadurch 
schliesslich  der  Vertheilung  von  Volkseinkommen  und  Volksver- 
mögen müssen  daher  immer  möglichst  nach  ihrer  erfahrungsraässigen 
oder  doch  psychologisch  wahrscheinlichen  Rückwirkung  auf  die 
Tendenzen  der  Volksvermehrung  und  auf  die  psychologische  Moti- 
vation des  wirtschaftlichen  Handelns  betrachtet  werden. 

Eine  Verbesserung  z.  B.  der  unteren  Klassen  auf  Kosten  der  oberen,  die 
Productionsmittel  besitzenden,  die  Production  leitenden  könnte  vielleicht  die  Productivität 
der  nationalen  Gesammtarbeit  schädigen , weil  diese  oberen  Klassen  dann  weniger 
leisteten,  ohne  die  Leistungsfähigkeit  und  thatsäcbliche  Leistung  der  unteren  ent- 
sprechend zu  steigern.  Was  dann  auf  der  einen  Seite  für  die  Ermöglichung  reich- 


63t)  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksvr.sch.  1.  K.  Bevölk.lehre.  2 H.-A.  Folgerungen  §.  249. 

baitiger,  die  Sammc  der  Arbeitskräfte  steigernder  natürlicher  Volksvermebrung  ge- 
wonnen würde,  drohte  auf  der  anderen  Seite  wieder  verloren  zu  geben  (§  27U). 

Hier  hängt  daher  die  Bevölkernngsfrage  auch  bei  der  Be- 
trachtung vom  Standpuncte  des  Productionsinteresses  aus  mit  den 
Problemen  der  volkswirtschaftlichen  Organisation  und  Rechtsordnung 
und  Verteilung  zusammen.  Nur  bei  einer  befriedigenden  Lösung 
dieser  Probleme  kann  auch  das  volkswirtschaftliche  Productions- 
interesse  an  Vermehrung  der  Bevölkerung,  um  vermehrter  Arbeits- 
kräfte Willen,  sicher,  nachhaltig  und  ohne  anderweite  neue  Ge- 
fahren befriedigt  werden. 

In  den  Beziehungen  zwischen  Volksvermehrung,  Productivitäts- 
steigerung  und  Vertheilungsfragen  liegt  daher  auch  der  Schwer- 
punct  des  „volkswirtschaftlichen  Bevölkerungsproblems“.  Bloss  vom 
Standpuncte  des  Productionsinteresses  aus  betrachtet  gelangt  man 
bei  gegebener  Vertheilungsordnung  nur  zu  dem  Postulat:  allein 
eine  solche  Volksvermehrung  ist  volkswirtschaftlich  heilsam  und 
erwünscht,  welche  selbst  wieder  die  Bedingungen  einer  mindestens 
ebenmässig,  wo  möglich  einer  mehr  als  verhältnissmässig 
gesteigerten  Productivität  und  wirklichen  Production  liefert.  An 
diesen  Satz  ist  im  weiteren  Verlauf  anzuknüpfen  (§  260). 

II.  — §.  249.  Volksvermehrung  und  Vertheilungs- 
interesse (vgl.  o.  §.  199,  200).  Die  im  vorigen  Abschnitt  mit- 
getheilten  bevölkerungsstatistischen  Thatsachen  und  die  dort  bereits 
daran  geknüpften  Erörterungen  rechtfertigen  nun  nicht  minder  den 
Schluss,  dass  die  regelmässig  in  der  Bevölkerung  obwaltende 
Tendenz  und  Fähigkeit  zur  natürlichen  Vermehrung  und  die  Neigung 
der  Bevölkerung,  in  heimischer  Wanderung  und  Auswanderung 
dahin  zu  strömen,  wo  es  wirklich  oder  vermeintlich  wirtschaftlich, 
social  besser  geht,  auch  für  das  volkswirtschaftliche  Vertheilungs- 
interesse ernste  Gefahren  in  sich  birgt  (§  260). 

Diese  Gefahren  treten  nach  der  Verschiedenheit  der  mit  ein- 
wirkenden concreten  Verhältnisse  in  verschiedenem  Grade  hervor. 

Ganz  fehlen  werden  sie  nicht  leicht  Sie  werden  aber  grösser  mit  der  Steigerung 
der  allgemeinen  lind  der  localen  Volksdichtigkcit;  mit  der  Notwendigkeit,  in  einem  ver- 
wickelten, feingliedrigcn  Arbcitsstheilungs-  und  Verkehrssystem,  vielleicht  in  weiter 
Ferne,  Absatz  für  die  eigenen  wirtschaftlichen  Güter,  Bezugsquellen  für  die  bedurften 
Producte  suchen,  Fabrikate  ans-,  Rohstoffe  und  Nahrungsmittel  in  die  heimische  Volks- 
wirtschaft und  nach  den  Wohn-  und  Productionsorten  einführen  zu  müssen:  mit 
einer  für  die  productive  Arbeit  der  Nation  ungünstigen  Verteilung  der  Geschlechter 
und  Altersklassen  und  einer  dadurch  bedingten  starken  Belastung  der  productiven, 
daher  besonders  der  männlichen  erwachsenen  Bevölkerung  (§.  239,  240);  mit  der  Ver- 
minderung der  Quote  der  Erwerbstätigen  (§.  245),  der  Personen  in  selbständiger 
Berufsstellung  (§.  246),  der  mit  landwirtschaftlicher  u.  s.  w.  Thätigkeit  beschäftigten 
Personen  (§.  247)  in  der  Bevölkerung  im  Vcrhältniss  zu  den  übrigen. 


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Volksyermehrang  und  Vertheilungsinteresse.  G37,: 

Jene  Gefahren  werden  ferner  auch  im  conereten  Falle  grösser 
werden  können  durch  eine  sehr  ungleich  massige  Vertheilung 
des  Volkseinkommens  und  Vermögens,  daher  durch  die  rechtlichen 
und  organisatorischen  Voraussetzungen  dafür,  wie  das  Privateigen- 
thum an  den  sachlichen  Productionsmitteln,  die  privatwirthschaftliche 
Organisation,  die  historisch  überkommene  Grundbesitzvertheilung 
und  die  bestehende  Agrarverfassung,  die  Gewerbeentwicklung,  den 
Grossbetrieb,  die  Gewerbeverfassung. 

Aber  bloss  dadurch  geschaffen  werden  diese  Gefahren 
nicht,  wie  der  Socialismus  in  seinem  populationistischen  Optimis- 
mus (§.  192,  196)  annimmt.  Auch  durch  eine  kleinere  oder  grössere, 
selbst  durch  eine  principielle,  Privateigenthum  an  Boden  und  Kapital, 
privatwirthschaftliche  Organisation  der  Production  und  Vertheilung 
ausschliessende,  Gemeineigenthnm  und  gemeinwirthschaftliche  Organi- 
sation (Buch  5)  einführende  Aenderung  dieser  Verhältnisse  werden 
diese  Gefahren  nicht  beseitigt.  Wahrscheinlich  würden  sie 
dabei  vielmehr  erhöht,  weil  die  präventiven  Tendenzen  der  natür- 
lichen Volksvermehrung  verwuthlich  geschwächt  würden,  vollends, 
wenn  die  Bedingungen  der  Productivität  der  nationalen  Arbeit 
und  die  Productivität  selbst  bei  einer  solchen  Veränderung  der 
Organisation  und  Rechtsordnung,  wegen  der  nachtheiligen  Rück- 
wirkung auf  die  Motivation  des  wirthschaftlichen  Handelns,  un- 
günstigere würden,  was  wenigstens  leicht  der  Fall  sein  könnte 
(mangelhaftere  Leitung,  Controle  der  Productionszweige,  geringerer 
technischer  Fortschritt  u.  A.  m ). 

Alle  im  vorigen  Abschnitt  mitgetbeilten  Thatsachen  rechtfertigen 
daher  auch  den  Schluss,  dass  auch  unter  unseren  heutigen  Ver- 
hältnissen der  Technik,  Oekonomik  und  Cultur  mit  der  Gefahr 
einer  Ueberholung  der  Unterhaltsmittel,  der  Höhe  und  Zunahme 
des  Volkseinkommens  durch  die  Volksvermehrung  gerechnet  werden 
muss:  m.  a.  W.,  es  droht,  vom  Vertheilungsstandpuncte  aus  be- 
trachtet, auch  für  unsere  Culturperiode  und  gerade  bei 
der  hohen  Volksdichtigkeit  und  starken  localen  Be- 
völkerungsconcentration  derselben  — Uebervölkerung,  sobald 
es  nicht  gelingt,  die  Schwierigkeiten,  welche  ein  complieirtes  Arbeits- 
theilungs-  und  Verkehrssystem  im  Nah-  und  Fernabsatz  und  Be- 
zug der  Producte  unvermeidlich  in  sich  birgt,  sicher  zu  überwinden. 
Die  hier  drohende  „Uebervölkerung‘‘  ist  anderer  Art,  als  diejenige 
auf  niedrigeren  Stufen  der  wirthschaftlichen  Entwicklung,  aber  sie 
ist  deswegen  doch  vorhanden  und  bietet  aus  manchen  Gründen 

A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlagen.  41 


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638  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lehrc.  2.  H.-A.  Folgerungen.  §.  250. 

nur  noch  mehr  Bedenken  und  ist  schwieriger  zu  vermeiden  und 
zu  heilen,  als  eine  Ucbervölkerung  früherer  Wirthschaftsperioden. 

Mit  dieser  Frage  der  Uebervölkerung  haben  wir  uns  jetzt 
zunächst  zu  beschäftigen. 

III.  — §.  250.  Die  U ebervölk  erungsfrage.  In  dieser 
wichtigsten  und  auch  für  das  theoretische  Verständniss  wie  für 
die  Bevölkerungspolitik  schwierigsten  Frage  der  Bevölkerungslehre 
ist  viel  Verwirrung  durch  irrige  Auffassungen  und  unklare  Ver- 
mengung verschiedener,  scharf  zu  unterscheidender  Seiten  des  Pro- 
blems entstanden. 

Eine  vielfach  verbreitete,  auch  heute  noch  nicht  völlig  über- 
wundene Ansicht  hat  hohe  Volksdichtigkcit  und  Ueber- 
völkerung theils  förmlich  identificirt  und  verwechselt, 
theils  nicht  richtig  unterschieden.  Auch  wo  man  in  dieser 
Hinsicht  zu  besserer  Einsicht  durcbgedrungen  ist,  hat  man  die 
Beziehungen  zwischen  Volksdichtigkeit,  niedriger,  wie 
hoher,  und  Uebervölkerung  noch  nicht  immer  richtig  er- 
fasst. Namentlich  zog  man  aus  der  erlangten  Einsicht  in  die 
technischen  und  ökonomischen  Bedingungen  höherer  und  steigender 
Volksdichtigkeit  als  einer  Folge-  und  Begleiterscheinung  der  Ent- 
wicklung von  Technik,  Oekonomik  und  Cultur  übereilt  und  ein- 
seitig optimistisch  Schlüsse. 

So  namentlich  den,  dass  nun  auch  jede  weitere  Steigerung  der  Volksdichtigkeit 
und  der  damit  regelmässig  verbundenen  stärkeren  localen  Bovölkeruugsanhäufung. 
höheren  Quote  der  in  Industrie  u.  s.  w.,  Handel,  liberalen  Berulcu  beschäftigten  Erwerbs- 
tätigen „unbedenklich“,  ja  erfreulich  und  nützlich  sei,  ohne  der  neuen  und  grossen 
Schwierigkeiten  des  Bevölkerungsproblems  grade  unter  solchen  Verhältnissen 
zu  gedenken.  Damit  gelangte  man  in  Betreff  der  Beziehungen  zwischen  Volksdichtigkeit 
und  Uebervölkerung  nur  in  das  andere  Extrem:  man  verkannte,  man  leugnete  wohl 
ausdrücklich  jede  solche  Beziehung  und  sah  die  l'ebervölkerungsgefahr  nunmehr  ein- 
seitig als  eine  Begleit-  und  Folgeerscheinung  früherer,  niedrigerer  wirtschaftlicher 
Entwicklungsstufen  an,  eine  Gefahr,  die  auf  „unserer  hohen  Stufe“  verschwunden  sei. 
Statt  dessen  hätte  man  erkennen  müssen,  dass  diese  Gefahr  nach  den  in  der  Be- 
völkerung wirksamen  Verinehrungstendenzen  immer,  auf  allen  Stufen  volkswirtschaft- 
licher Entwicklung  vorhanden  ist,  nur  nach  der  Verschiedenheit  der  technischen  und 
ökonomischen  Verhältnisse  in  verschiedener  Weise  sich  kundgiebt,  in  verschiedenen 
Formen  hervortritt.  M.  a.  W.  die  üebervölkerungsfrage  gehört  zur  Kategorie  derrein- 
ökonomischcn  Fragen,  nur  ihre  concreto  Gestaltung  zur  Kategorie  der 
historischen  Erscheinungen  und  Fragen  (s.  folg.  §.  251). 

Hier  liegt  auch  wieder  der  principielle  Hauptirrthum  in  der 
optimistischen  Bevölkerungslehrc  des  Socialismus  (Marx)  und  in 
der  schiefen  Polemik  gegen  Malthus’  Lehre  (§.  196).  Mit  diesem 
Irrthum  hängt  dann  der  weitere  schon  angedeutete  zusammen  — 
ohne  übrigens  einfach  damit  zusammenzufallen,  weshalb  er  denn 
auch  von  Gegnern  des  Socialismus  vertreten  wird  (§.  195  ff.)  — , 


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Die  Uebervölkerungsfrage. 


639 


als  ob  die  Gefahr  der  Uebervölkerung  nur  eine  Begleit-  und  Folge- 
erscheinung eines  bestimmten  wirtbschaftsrechtiichen  und  wirth- 
schaft8organisatori8chen  Productionssystems,  namentlich  auch  des 
unsrigen,  des  auf  Privateigenthum  an  den  sachlichen  Productions- 
mitteln  beruhenden,  ungleiche  Art  und  Höbe  des  Einkommens  der 
Einzelnen  bedingenden  sei,  also  mit  principieller  Aenderung  dieser 
Eigenthums-  und  Productionsordnung  entfallen  würde. 

Wie  schon  bemerkt  (S.  637),  auch  diese  unsere  Eigenthnms-  und  Productions- 
ordnung hat  ihre  specifisch e Uebervölkerungsgefahr,  ob  auch  nur  eine  grössere,  als 
die  ihr  entgegengesetzte  socialistische,  ist  mindestens  sehr  fraglich,  psychologisch 
betrachtet  unwahrscheinlich.  Die  socialistische  würde  eine  andere,  aber  jedenfalls 
auch  eine  ihr  eigene  spocifische  Uebervölkerungsgefahr  haben,  wie  eine  jede 
historische  Phase  der  Volkswirthschaft. 

Endlich  ist  noch  ein  sehr  verbreiteter  Irrthum  auf  diesem  Ge- 
biete, dass  zwischen  absoluter  und  relativer  Uebervölkerung 
nicht  oder  nicht  genügend  und  nicht  richtig  unterschieden  wird: 
weil  jene  erstere  selten  da  ist,  auch  die  letztere  geläugnet  oder  die 
Symptome  jener  auch  als  diejenigen  der  anderen  betrachtet  werden, 
und  wenn  dieselben  nicht  vorliegen,  die  Uebervölkerung  nicht  als 
vorhanden  gilt  (§.  2 57  ft.) 

Mit  diesen  verschiedenen  Irrthümern,  welche  unter  sich  mehr- 
fach, wie  man  sieht,  näher  Zusammenhängen,  ist  eine  Auseinander- 
setzung hier  geboten,  um  zur  Klarheit  in  der  Uebervölkerungsfrage, 
und  damit  zu  einem  positiven  Ergebniss  in  der  volkswirtschaft- 
lichen Bevölkerungslehre  zu  gelangen.  Erst  nach  einer  solchen 
Auseinandersetzung  wird  man  zu  einer  richtigen  Auffassung  des 
Wesens  dieser  Erscheinung  und  zu  einer  Begriffsbestimmung  auf 
Grund  der  Analyse  kommen  können. 

In  Betreff  der  Litteratur  sei  auf  die  Ausführungen  und  Citate  oben  in  §.  101 
bis  197  verwiesen.  Mit  das  Beste,  wenn  anch  mehr  nnr  sporadisch  und  skizzenhaft, 
enthalten  die  gesammten  Arbeiten  Küinelin's  auch  über  diese  Seite  der  Be- 
völkerungsfrage (S.  457).  Die  meisten  Autoren,  auch  die  neueren,  und  auch  diejenigen, 
welche  auf  Malthus’schem  Boden  stehen,  behandeln  die  Fragen  m.  E.  nicht  principieü 
und  scharf,  sowie  namentlich  nicht  casuistisch  genug,  begnügen  sich  mit 
historischen  und  statistischen  Daten,  die  allein  noch  nichts  beweisen,  und  uberzeugen 
so  diejenigen,  welche  einen  principieü  anderen  Standpunct  einnehmen,  doch  nicht. 
Auch  von  Roscher  gilt  das.  In  dem  Aufsatz  von  L.  Elster  liegt  hier  m.  E.  eine 
wesentliche  Lücke  in  der  Behandlung  der  ganzen  Bevölkerungsfrage.  Die  älteren  und 
neueren  britischen  Ökonomisten  (auch  Mars  hall),  aber  auch  neuere  deutsche 
Malthusianer,  wie  G.  Cohn,  mit  welchen  ich  im  Ganzen  wesentlich  übereinstimme, 
müssten  in.  E.  n.  auch  mehr  die  verschiedene  historische  Gestaltung  der  Be- 
völkerungs-  und  speciell  der  Uebervölkerungsfrage  in  verschiedenen  historischen 
Phasen  der  technischen  und  ökonomischen  Entwicklung  hervorheben.  Gewiss  liegt 
hier  eigentlich  nur  Ein  Problem,  aber  dies  eben  je  nach  der  Verschiedenheit  dieser 
Verhältnisse  in  immer  neuen  Formen,  weil  unter  immer  neuen  Bedingungen,  vor. 
Das  wird  zu  wenig  betont,  dadurch  aber  den  principiellen  optimistischen  Gegnern, 
den  Anti-Malthusianern  aller  Richtungen,  das  Spiel  erleichtert;  diese  halten  „Malthus 
für  widerlegt“,  weil  diejenigen  Argumente,  mit  welchen  für  eine  Geschichtsperiode 

41  * 


640  4.  B.  Bevölk.  n.  Voiksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lehrc.  2.  H.-A.  Folgerungen  §.  251. 

richtig  opcrirt  wird , für  eine  andere ' nicht  oder  nicht  ohne  Weiteres  und  etwa  nur 
mit  den  und  den  Modificationen  gelten.  Die  Duplik  muss  nachweisen,  dass  mit  solchen 
Gegengründen  Malthus  nicht  widerlegt  wird,  weil  sich  für  andere  Perioden  die  älteren 
Argumente  sehr  wohl  mit  Erfolg  modificiren  uud^mit  neuen  verbinden  und  durch  diese 
ersetzen  lassen. 

A.  — §.  251.  Die  Uebervölkerun gsfrage  und  die 
volks  wirtkschaftlichen  Entwicklungsphasen.  Hobe 
Volksdiehtigkeit  und  Uebervölkerung  sind  in  der  That  durchaus 
nicht  identisch,  weder  prineipiell,  noch  praktisch.  Im  Gegentheil : 
bei  jedem  Maassc  der  Volksdichtigkeit  kann  Uebervölkerung  vor- 
liegen, drohen  und  praktisch  findet  sich  letztere  gar  nicht  selten 
bei  sehr  kleiner  Volksdichtigkeit.  Wie  sich  aus  den  früheren  Aus- 
führungen (§.  229 ff.)  ergiebt,  steht  die  Volksdichtigkeit  mit  der 
gesammten  Technik,  Oekonomik,  Rechtsordnung  und  Cultur  einer 
Periode,  eines  Volks  Wirtschaftsgebiets  in  Wechselwirkung.  Von 
maassgebender  Bedeutung  ist  dafür  vor  Allem  das  Verhältniss  der 
Bewohner  und  Wirthschafter  zur  Beherrschung  der  Naturkräfte, 
davon  abhängig  zur  Technik  des  Werkzeug-  und  Maschinenwesens, 
zum  Boden  und  zur  Technik  seiner  Ausbeutung  und  Bearbeitung. 
Davon  hängt  die  ganze  technisch-ökonomische  Art  der 
menschlichen  Arbeit  gegenüber  der  Aufgabe  ab,  wirtschaftliche, 
insbesondere  Sachgüter,  für  die  Bedürfnissbefriedigung  zu  beschaffen. 

Nach  dieser  Arbeitsart  unterscheiden  sich  zumeist  die  grossen 
technisch-ökonomischen,  rechtlichen  und  culturhistorischen  Phasen 
oder  Stufen  der  Volkswirtschaft  liehen  Entwicklung. 

Jagd,  Fischerei,  Sammeln  wildwachsender  Nähr-  und  Nutzpflanzen,  Nomaden- 
wirthschaft;  etwas  Ackerbau  daneben  auch  schon  auf  solchen  früheren  Stufen,  aber 
noch  ohne  bleibende  Wohnsitze;  dann  Ackerbau  mit  fester  Sesshaftigkeit,  mit  Vieh- 
zucht, als  einem  regelmässigen  Glied  der  landwirthschaftlichen  Thätigkeit  verbunden: 
extensiver,  allmkhlig  intensiver  werdender  Ackerbau  mit  mannigfaltigen  Feld-  und 
Betriebssystemen,  sich  in  der  Weise  entwickelnd,  dass  immer  mehr  Theile  des 
agrarischen  Bodens  regelmässig  zur  Gewinnung  von  menschlichen  und  thierischen 
Nahrungsmitteln  und  üewerkstoflen  benutzt  und,  wenn  auch  vielfach  mit  mehr  als 
verhältnissmässig  steigenden  Kosten,  immer  grössere  Roherträge  gewonnen  werden 
(„Gesetz  der  Production  auf  Land“,  §.  255);  Verbindung  von  Gewerkthätigkeit  mit  der 
Bodenarbeit,  natural  wirtschaftliche  Herstellung  der  Gegenstände  der  Kleidung, 
Wohnung,  dos  Werkzeugs  für  den  eigenen  Bedarf,  in  der  Einen  einheitlichen  agrarisch- 
gewerklichen  Wirtschaft  — antike  Oekenwirthschaft,  bäuerliche  Wirtschaft  — , Aus- 
dehnung dieser  Productionsthätigkeit  auf  Versorgung  des  Bedarfs  vou  Arbeitsherren, 
von  Dritten  ausserhalb  der  Wirtschaft,  „für  den  Markt“  — wieder  antike  Oekenwirth- 
schal't,  mittelalterliche  Frohnhof-  und  Grundherrschaft,  bäuerliche  und  grössere,  adlige 
Gutswirtschaft  — ; Ilinzutritt  von  Handelstätigkeiten;  Abtrennung  von  Gewerk  und 
Handel  und  Entwicklung  zu  eigenen  wirtschaftlichen  Berufsthätigkeiten , auch  locale 
Abtrennung  von  Ackerbau  und  Concentration  iu  Städten,  welche  nun  selbst  sich  zu 
Mittelpuncten  von  Gewerbe,  Handel,  öffentlicher  Verwaltung^-  und  liberaler  Berufs- 
tätigkeit entwickeln;  so  schärfere  Trennung  von  Stadt  und  Land,  aber  intensivere 
Wechselwirkung  zwischen  beiden  und  Ausbildung  eines  regelmässigen  festen  Aus- 
tauschsystems zwischen  ihren  beiderseitigen  Productcn  und  Leistungen;  Entwicklung 
von  Manufactur,  Fabrik,  Grossindustrie  aus,  neben,  statt  handwerklichem  Kleingewerbe 


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Die  Ucbcrvölk. frage  u.  die  volkswirthsch.  Phasen. 


641 


und  Hausindustrie;  Fernabsatz  von  feineren,  mit  Verbesserung  der  Communications- 
mittel  auch  von  gröberen  und  für  den  Massenconsum  bestimmten  Gewerkserzeugnissen, 
Fernher-Bezug  von  Rohstoffen,  Hilfsstoüen,  Nahrungsmitteln,  so  dass  die  Abhängigkeit 
von  der  Menge,  Art,  Bcwirthschaftungsmcthode  des  nahe  gelegenen,  des  heimischen 
agrarischen  Bodens  zurücktritt;  Welthandel  und  weltwirtschaftlicher  Verkehr  und  regel- 
mässiges Austauschsystem  darin  nach  den  früher  (§.  150)  dargelegten  Gesichtspuncten. 

Diese  Phasen  oder  Stufen  der  volkswirtschaftlichen  Ent- 
wicklung sind  freilich  nicht  scharf  von  einander  getrennt,  folgen 
sich  auch  nicht  überall  und  allezeit  in  dieser  hier  dargelegten  oder 
irgend  einer  anderen  fest  bestimmten  Reihe.  Sie  gehen  vielmehr 
in  einander  über,  wie  alle  Verhältnisse  historischer  Entwicklung, 
und  zeigen  in  ihrer  Reihenfolge,  in  den  Berufsarbeitstheilungsver- 
hältnissen  und  Berufscombinationen  und  in  vielen  Einzelheiten 
manche  Verschiedenheit.  Aber  gleichwohl  stellen  sie  Typen  dar 
nach  der  Art  der  menschlichen  Arbeit,  nach  dem  Verhältuiss  der 
letzteren  zur  äusseren  Natur,  nach  den  Austausch-  und  Verkehrs- 
gestaltungen und  den  Bedingungen  dafür,  nach  der  Art,  Menge, 
den  (natürlichen,  rein  volkswirtschaftlichen,  §.  172)  Productions- 
kosten  der  gewonnenen  und  zum  Austausch,  zur  Verteilung  behufs 
des  Consums  gelangenden  Sachgüter  und  Dienstleistungen. 

Es  ist  hier  nicht  die  Aufgabe,  jene  Entwickluugsphasen  genauer  zu  betrachten 
und  im  Einzelnen  zu  schildern.  Das  gehört,  soweit  überhaupt  in  dieses  Werk,  mehr  in 
die  practischc  Volkswirtschaftslehre,  so  insbesondere,  was  die  Entwicklung  des  Boden- 
anbaus  und  der  gesammten  Agrarverhältnisse  anlaugt  (s.  darüber  Buchenberger, 
Agrarpolitik  I,  Einl.  Abschn.  1).  Hier  sei  nur  daran  erinnert,  dass  in  den  genannten 
primitiven  Stufen  rein  occupato rische  Arbeit,  Gewinnung  freier  Naturgaben  statt- 
findet, dann  die  Natur  an  geleitet  wird,  solche  gebrauchswerthige  Güter  herzustellen, 
welche  bedurft  werden,  hierin  durch  fortschreitende  Naturkenntnisse  und  Verwertung 
in  der  Technik  immer  mehr  Erfolg  erzielt  wird  und  die  menschliche  Arbeit  aus  der 
Muskelleistung  sich  mehr  zur  Gehirnleistung,  damit  aus  dem  selbst  Kraft  gebenden 
zum  nur  noch  leitenden  Factor  erhebt.  Ebenso  sei  daran  erinnert,  dass  auf  jeder  Ent- 
wicklungsstufe neue  Rechtsbed Urfnisse  entstehen,  daher  neue  Rechtsnormen, 
besonders  für  die  sachlichen  Productionsmittel,  zumal  den  Boden,  und  für  die  Arbeits- 
verhältnisse sich  ausbildcn  müssen. 

In  Verbindung  mit  dem  Allen  stehen  dann  nun  auch  die  Be- 
völkerungsverhältnisse: die  Voraussetzungen  bestimmter 
Höhe  der  Volksdichtigkeit,  bestimmter  Vertheilung  der  Altersclassen, 
(z.  Th.  auch  der  Geschlechter),  der  Erwerbstätigen  und  der  übrigen 
Bevölkerung,  der  socialen  Berufsstellungen,  der  Hauptberufsarten 
und  der  weiteren  Gliederungen  in  denselben;  stehen  die  grösseren 
und  kleineren  Schwierigkeiten,  diese  Voraussetzungen  einer 
bestimmten  Volksdichtigkeit,  einer  bestimmten  Gliederung  der  Be- 
völkerung nach  den  angedeuteten  Unterscheidungen  und  einer 
weiteren  Steigerung  dieser  Volksdichtigkeit,  einer  Veränderung 
dieser  Gliederung  zu  erfüllen;  ergiebt  sich  für  jede  Phase  der 
volkswirthschaftlichen  Entwicklung  ein  gewisses  Normalmaass 


642  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksr.sch.  1.  K.  Bcvölk.lehrc.  2.  H.-A.  Folgerungen.  §.  251. 

der  richtigen,  den  Gesammtverhältnissen  der  Technik,  Oekonomik, 
Arbeitstheilung,  des  Absatzes  und  Bezugs  der  Producte,  der  be- 
stehenden Rechtsordnung  für  Besitz,  Productionseinricbtung  und  Er- 
tragsvertheilung  entsprechenden  Volksdichtigkeit  und  — eine 
freilich  wieder  nicht  durchaus  feste,  immer  etwas  elastische,  aber 
doch  eine  Grenze  (S.  596),  wo  bei  ungenügender  Erfüllung  der 
wirtschaftlichen  Lebensbedingungen  der  Bevölkerung  die  vor- 
handene Volkszahl,  bei  weiterer  natürlicher  oder  Wanderungs- 
vermehrung der  Bevölkerung,  zumal  der  unproductiven  (Kinder), 
ohne  gleichzeitige  und  mindestens  ebenmässige  Fortschritte  in  Be- 
zug auf  die  Erfüllung  jener  Lebensbedingungen  die  steigende 
Volkszahl  in  — Uebe rvölkerung  Uberzugehen  droht  (§.  238). 

Jede  der  angedeuteten  Entwicklungsphasen,  jede  „Productions- 
ordnung“,  mit  den  socialistischen  Theoretikern  zu  sprechen,  hat 
nicht  ihr  eigenes  „Bevölkerungsgesetz“,  wohl  aber  nach 
den  wirtschaftlichen  Lebensbedingungen,  welche  in  ihr  bestehen, 
ihren  eigenen  „Bevölkerungsspielraum“,  ihre  eigene  „Be- 
völkerungs-Fassungs-  oder  Aufnahmekraft“  (Capacität).  Wird  diese 
erreicht  oder  droht  sie  überschritten  zu  werden , so  droht  in  jeder 
Phase  hei  an  und  für  sich  sehr  ungleicher  Volksdichtigkeit  Ueber - 
Völker ung,  von  der  primitivsten  Jägerphase  bis  zur  modernen 
hochindustriell-mercantilen  weltwirtschaftlichen. 

„Ungefährlich“  in  dem  Sinne,  dass  Vermehrung  der  Be- 
völkerung, Steigerung  der  Volksdichtigkeit  ja  nicht  nothwendig 
„Uebervölkerung“  bedeute,  ist  daher  unter  den  einmal  ge- 
gebenen wirthscha  ft  liehen  Lebensbedingungen  auf 
einer  volks  wirthscha  ft  liehen  Entwicklungsstufe  eine 
solche  Vermehrung  und  Steigerung  keineswegs.  Vielmehr  fuhrt 
sie  in  der  That  die  Gefahr  der  Uebervölkerung  jedesmal  näher. 
Nur  wenn  und  soweit  es  gelingt,  alsdann  die  Voraussetzungen  der 
Entwicklung  der  Wirthschaftsverhältnisse  zu  einer  höheren  Stufe 
mit  einem  grösseren  Spielraum  der  Volksdichtigkeit  zu  erfüllen, 
wird  diese  Gefahr  überwunden. 

Gewiss  ist  nun  auch  geschlechter-  und  stammesweise,  wie 
familien-  und  einzelweise  und  schliesslich  in  ganzen  Völkern  gerade 
der  durch  die  Volksvermehrung  bedingte  „Drang 
nach  Unterhaltsmitteln“,  neben  dem  Drang  nach  besserer 
Lebensweise,  ein  Hauptfactor  für  die  Entwicklung  des  Wirtschafts- 
lebens von  Phase  zu  Phase,  von  Stufe  zu  Stufe,  in  der  vorhin  an- 
gedeuteten Weise.  Gelingt  es,  die  gesammten  Voraussetzungen 


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Die  Ueberyölk. frage  u.  die  volkswirthschaftl.  Phasen. 


643 


für  eine  solche  Entwicklung  zu  erfüllen  und  bleibend  zu  verbürgen 
und  ebenso  diejenigen  für  eine  immer  weitere  Entwicklung  der 
Wirthschaftsverhältnisse,  so  verschwindet  die  vielleicht  eben  noch 
vorhandene  Gefahr  der  Uebervölkerung  oder  tritt  doch  zeitweise 
zurück.  Dann  kann  die  Bevölkerung  kürzer  oder  länger  hindurch, 
in  kleinerem  oder  grösserem  Maasse  weiter  steigen,  die  Dichte  zu- 
nehmen, wie  das  ja  auch  die  Bevölkerungsgeschichte  und  Statistik 
zeigt.  Aber  ist  das  länger  hindurch  und  in  bedeutenderem  Maasse 
geschehen  (19.  Jahrhundert,  Deutschland!),  so  wird  immer  wieder 
ein  Zeitpunct  eintreten,  wo  unter  den  nunmehr  erreichten 
und  gegebenen  Wirthschaftsverhältnissen  abermals  — 
die  Uebervölkerung  hervortritt  und  nun  erst  durch  neue 
wirtschaftliche,  technische,  rechtliche,  sociale  Fortschritte  be- 
schworen werden  kann. 

Die  Frage  ist  daher  immer  wieder  von  Neuem,  ob  für  eine 
fortdauernd  wachsende , dabei  noch  ihre  Lebensansprüche  und  Be- 
dürfnisse steigernde  Bevölkerung  sich  die  nun  wieder  erforderlich 
werdenden  wirtschaftlichen  n.  s.  w.  Voraussetzungen  erfüllen  und 
sicher  verbürgen  lassen?  Das  wird  allerdings  durch  den  erreichten 
Gesammtfortschritt  einerseits  erleichtert,  aber  andrerseits  durch  die 
grösser  und  anspruchsvoller  gewordene  Volkszahl  und  durch  die 
Complication  der  zu  erfüllenden  Bedingungen  schwieriger.  Gerade 
für  die  Phase  der  volkswirtschaftlichen  Entwicklung  in  unserer 
Zeit  möchte  sich  das  herausstellen , für  die  Verhältnisse  des  welt- 
wirtschaftlichen Verkehrs  hochindustrieller  Nationen,  trotz  aller 
„Wunder  der  Technik“  und  aller  Fortschritte  in  letzterer.  In  dieser 
Hinsicht  ist  vor  dem  leichtsinnigen  Optimismus  der  Anti-Malthusianer 
jeder  Richtung  zu  warnen  (§.  191 — 197). 

Gewiss,  wo  auf  dem  Jagdrevier  von  Jägerstämmen  lange  noch 
nicht  ein  Mensch  auf  dem  Quadratkilometer  Unterhaltsmittel  ge- 
winnen kann,  da  steigt  die  Volksdichtigkeit  von  Stufe  zu  Stufe 
mit  der  Entwicklung  der  Wirthschaftsverhältnisse  auf  10,  50,  100 
und  mehr,  bis  auf  einige  100  Kopf  in  hochindustriellen  für  den 
Fernabsatz  arbeitenden  Gegenden  und  selbst  auf  Tausende  in  gross- 
städtischen Verhältnissen.  Und  sogar  die  untersten  Kreise  der  Be- 
völkerung leben  vielleicht,  vermuthlich  selbst,  besser  als  früher  oft 
ihre  Vorfahren  auf  einer  niedrigeren  wirtschaftlichen  Entwicklungs- 
stufe. Aber  die  Bedingungen  für  die  Erwerbs-  und  damit  für 
die  Lebenssicherung  sind  unendlich  verwickelter,  und  darin  liegt 
es,  dass  man  wohl  von  einem  — Damoklesschwert,  ohne  schwarz  zu 


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644  4.  B.  Bcvölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lehre.  2.  H.-A.  Folgerangen.  §.252. 

malen,  sprechen  darf,  welches  über  unserer  modernen  Erwerbs- 
gesellschaft, insbesondere  z.  B.  Uber  der  in  unseren  Fabrikgegenden 
und  grossstädtischen  Verhältnissen  lebenden  Bevölkerung,  welches 
über  Gebieten  wie  dem  K.  Sachsen,  dem  R.-B.  Düsseldorf,  Uber 
grossen  Theilen  Belgiens,  über  ganz  England  schwebt,  das  schon 
oben  (S.  618)  von  uns  gebrauchte  Bild.  Darüber  kommt  man  mit 
aller  Schwärmerei  über  den  technischen  Fortschritt  in  Industrie 
und  Ackerbau,  im  Maschinen-,  Dampf-  und  Electricitäts -Zeitalter, 
nicht  hinweg;  ebensowenig  mit  dem  Trost,  dass  eben  eine  immer 
stärkere  Betheiligung  am  Welthandel  stattfinden  müsse  und  Hilfe 
gewähre. 

§.  252.  Fortsetzung,  insbesondere  die  Ueber- 
völkerungsfrage  für  hochentwickelte  Industrieländer 
der  Gegenwart. 

Eine  unbefangenere  Betrachtung  der  Verhältnisse  und  namentlich 
der  Bedingungen,  unter  welchen  allein  eine  grosse  Volksdichtig- 
keit und  eine  immer  weitere  Steigerung  derselben,  des  Städte- 
wesens, der  Quoten  der  industriell-mercantilen  und  sonstigen  nicbt- 
landwirthschaftlichen  Berufe  unter  der  erwerbsthätigen  Bevölkerung, 
ungefährlich,  d.  h.  ohne  „Uebervölkerung“  darzustellen,  erscheinen 
könnte,  nöthigt  zu  einer  viel  grösseren  Reserve  in  der  weit  ver- 
breiteten freudigen  Genugthuung  über  eine  solche  Entwicklung. 
Ja  mit  Recht,  wenigstens  von  einem  gewissen  Stadium  einer  der- 
artigen Entwicklung  an  und  unter  etwa  sonst  noch  ungünstigen 
Umständen,  wie  sie  u.  A.  für  Deutschland  nicht  zu  leugnen  sein 
möchten,  wird  eine  pessimistische  Ansicht,  wie  diejenige  Rümelin’s 
eher  am  Platze  sein. 

Das  mag  hier  für  die  Verhältnisse  hochentwickelter  Volks- 
wirtschaften in  der  „Fabrik-  und  Handelsperiode“,  mit  starker 
Betheiligung  am  Welthandel  und  mit  grossem  Import  von  Nahrungs- 
mitteln und  Rohstoffen,  Export  von  Fabrikaten  noch  etwas  näher 
betrachtet  werden. 

Es  gilt  in  dieser  Hinsicht,  zunächst  die  Verhältnisse  der  einzelnen 
in  Betracht  kommenden  wichtigeren  Volkswirtschaftsgebiete  sieh 
zu  vergegenwärtigen,  um  die  Chancen  im  weltwirtschaftlichen 
Concurrenzkampf  für  eine  weitere  Entwicklung  der  Bevölkerung 
danach  mit  zu  veranschlagen. 

Vgl.  auch  oben  §.  153,  154,  Ausführungen , welche  durch  das  Folgende  noch 
ihre  Ergänzung  nach  concretcn  Verhältnissen  einzelner  Länder  linden. 


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Uebervölkerungsfrago  bei  hoher  volkswirthsch.  Entwicklung. 


645 


England  (Grossbritannien)  mit  seiner  in  dieser  Richtung  bereits  am  Weitesten 
gediehenen  Entwicklung,  aber  auch  mit  seiner  politisch  gesicherteren,  eine  grosse 
agrarische  Bevölkerung,  den  Brunnquell  der  Wehrkraft,  daher  eher  entbehrlich 
machenden  und  für  den  heutigen  Welthandel  so  besonders  günstigen  geographischen 
Lago,  seinem  grossen  Colonialbesitz,  seiner  stamm-,  sprach-,  sittenverwandten  Be- 
völkerung in  einem  Theil  dieses  Besitzes  und  auch  in  seinen  ehemaligen  Colonial- 
gebieten, welche  sich  bereits  politisch  emancipirt  haben,  wie  die  Vereinigten  Staaten 
von  Nordamerica  und  in  den  noch  besessenen,  welche  cs  vielleicht  einmal  thun  werden, 
wie  Canada,  Australien,  Südafrica,  endlich  mit  seiner  enger  begabten,  aber  arbeitsamen, 
energischen  Bevölkerung,  seinen  Bodenschätzen  an  Kohle  und  Eisen,  seiner  lange 
und  mächtig  entwickelten,  dadurch  concurrenzfUhigen  Industrie,  seinem  dank  langer 
Suprematie  in  Technik,  Industrie,  Handel,  Geldgeschäft  und  langer  ungestörter  politischer 
Ruhe  entwickelten  riesigen  Kapitalreichthum  kann  hier  als  das  eine  extremste,  aber 
wegen  der  angedeuteten  Umstände  nicht  ungünstigste  Beispiel  der  angedeuteten  Ent- 
wicklung dienen. 

Deutschland,  d.  h.  das  heutige  Deutsche  Reich,  mit  seiner  erst  jung 
errungenen,  noch  nicht  als  selbstverständlich  feste  Thatsache  geltenden  politischen 
Einheit,  mit  seiner  politisch  und  volkswirtschaftlich  viel  ungünstigeren  geographischen 
Lage,  seinem  viel  dringenderen  politischen  Wehr-(bezw.  Abwehr-) Bedürfnis , daher 
auch  dem  starken  Bedürfniss.  seine  ländliche  Bevölkerung  als  Hauptgrundlage  der 
Wehrkraft  zu  erhalten,  mit  der  späteren  und  schwierigeren  Entwicklung  seiner  Industrie 
und  seiner  Betheiligung  am  Welthandel,  mit  seinem  Mangel  an  genügendem  Colonialbesitz 
und  an  fremden  Märkten  mit  stamm-,  sprach-  und  sittenverwandter  Bevölkerung  bietet 
immer  noch  ein  viel  weniger  extremes,  aber  doch  wegen  der  angedeuteten  Dmstände 
ungünstigeres  Beispiel.  Sein  im  Durchschnitt  für  Ackerbau  nur  massig  günstiges 
Klima  und  nur  mässig  fruchtbarer  Boden,  einzelne  nationale  Eigenthümlichkeiten  seiner 
Bevölkerung  (weniger  wirthschaftliche  Arbeitsenergie  als  die  angelsächsischen  Vettern 
jenseits  des  Canals  und  Oceans,  Hang  zum  Lebensgenuss  und  zur  „Gemüthlichkeit“ 
[Wirthshausleben,  Trink-  und  Rauchgenüsse!]  u.  A.  in.),  ungünstigere  politische  und 
wirthschaftliche,  dadurch  z.  Th.  auch  culturliche  Entwicklung,  ausser  im  19.  Jahr- 
hundert, seit  langer  Zeit,  geringerer  Kapitalreichthum  in  Folge  von  dem  Allen,  fallen 
als  weitere  ungünstige  Momente  mit  ins  Gewicht.  Die  verbreitete  Schulbildung,  der 
hohe  Stand  des  Unterrichtswesens,  die  militärische  Bildung  und  Kräftiguug  der  Nation, 
der  Kohlen-  und  Eisenreichthum  bieten  indessen  einige  Compensation. 

In  beiden  Ländern,  Grossbritannien  und  Deutschland,  bat  man  aber  mit  der 
ziemlich  gleich  starken  natürlichen  Bevölkerungsvermehrung  (S.  513,  518,  519)  und 
mit  dem  hohen  Belastungscoefficienten  der  grossen  Kinderquote,  von  über  einem  Drittel 
der  Gesammtbevölkerung  (S.  612),  zu  rechnen.  Dadurch  wird,  auch  bei  nebenhergehender 
grosser  überseeischer  Massenauswanderung  (S.  554,  557),  die  Lage  noch  erschwert 
und  die  Frage  der  Uebervölkerung  in  Folge  solcher  starken  Volksvermehrung  noch 
ernster,  zumal  für  Deutschland. 

In  dieser  Hinsicht  bietet  Frankreich  wegen  seiner  in  beiden  genannten 
Puncten  abweichenden  Bevölkerungsverhältnisse  ein  günstigeres  Bild.  Sein  unruhiger 
Nationalcharacter,  seine  unsteten  inneren  politischen  Verhältnisse,  sein  Chauvinismus 
in  der  auswärtigen  Politik  und  seine  „Revanche -Gesinnung“  führen  aber,  trotz  der 
politisch  und  volkswirtschaftlich  günstigen,  namentlich  in  beiden  Beziehungen,  vollends 
in  der  ersten,  günstigeren  geograpl ischen  Lage  als  Deutschland  und  trotz  seiner 
älteren  industriellen  Entwicklung,  wohl  dazu,  dass  jene  in  diesem  Puncte  in  den 
Bevölkerungsverhältnissen  liegenden  Vortheile  wieder  einigermaassen  aufgewogen 
werden. 

Italien  hat  die  alten  grossen  Vortheile  seines  Klimas,  aber  freilich  heute  nicht 
mehr  der  geographischen  Lage  für  einen  Haupttheil  des  Weltverkehrs.  Und  politisch 
günstig  ist  diese  geographische  Lage,  zumal  im  Zusammenhang  mit  der  jungen 
politischen  Einheitsentwicklung,  auch  nicht  gerade.  Hier  bieten  sich  Analogien  mit 
Deutschland,  die  auch  in  den  Bevölkerungsverhältnissen  (Dichte,  Vermehrung,  hohe 
Kinderquote)  hervortreten,  worin  Italien  Deutschland  weit  näher  als  Frankreich  steht. 
Seine  noch  jüngere  Gross-  und  noch  weniger  auf  Massenartikel  gerichteto  Industrie, 
der  Mangel  an  Kohle,  Eisen,  sind  aber  trotz  der  hohen  natürlichen  Begabung  und 
Intelligenz  — worin  die  Italiener  vielleicht  immer  noch  in  der  europäischen  Völker- 


(546  4.  B.  ßevölk.  u.  Yolksw.sch.  1.  K.  Bcvölk.lehrc.  2.  H.-A.  Folgerungen  §.  252. 


familic  am  Höchsten  stehen  — , trotz  der  Arbeitsamkeit  und  Genügsamkeit  seiner  Be- 
völkerung wieder  Momente  von  Bedeutung  für  die  uns  hier  beschäftigenden  Fragen, 
worin  Italien  ungünstiger  als  Deutschland  steht.  Daher  erscheinen  seine  Chancen  im 
w’eltwirthschaftlicben  Kampf  preeäror  und  seine  Bevölkerungsverhältnisse  der  Gefahr, 
zur  Uebervölkerung  zu  fuhren,  noch  näher  gerückt. 

Diese  vier  leitenden  europäischen  Culturvölker  der  Gegenwart  haben  aber  sämmt- 
lich  ein  relativ  kleines  heimisches  Gebiet:  klein  im  Vcrhältniss  zu  ihrer  Be- 
völkerung und  (von  Frankreich  abgesehen)  zu  deren  weiterer  Vermehrung  durch  den 
grossen  Geburtsübcrschuss  in  unserer  Zeit,  so  dass  eben  auch  ihre  Durchschnitts- 
dichte, wenn  auch  in  den  einzelnen  Theilen  des  Gebiets  sehr  ungleich,  rasch  wächst 
(S.  574,  5S9);  klein  ferner  auch  insofern,  als  schon  nach  den  klimatischen  Verhältnisen 
manche  wichtige  Bodeuproducte,  Nahrungs-,  Genussmittel,  Itoh-  und  Hilfsstoffe  der 
Industrie  nicht  oder  nicht  in  genügender  Menge  und  Güte  oder  zu  kostspielig  (nach 
natürlichen  oder  volkswirthschaftlichen  Kosten  berechnet,  §.  172)  gewonnen  werden 
können  und  Bezug  solcher  Artikel  aus  der  Fremde  daher  nothwendig  wird. 

In  d ieser  Hinsicht  steht  nur  Grossbritannien  mit  seinem  Colonialbesitz 
zusammen  („Greater  Britain“),  die  nordamericanische  Union  und  cinigermaassen  auch 
das  russische  europäisch -asiatische  Weltreich  anders  da.  Diese  umfassen  so  weite 
Gebiete,  so  verschiedenen  Klimas  und  verschiedener  Boden beschalfenheit,  Bodcninhalts, 
(Mineralsubstanzen),  dass  ein  jedes  davon  sich  so  ziemlich  innerhalb  seiner 
politisch-volkswirthschaftlicben  Grenzen  selbst  genügen  kann  oder  doch  könnte:  ein  wie 
für  alle  anderen  volkswirthschaftlichen,  besonders  — aber  durchaus  nicht  allein  — 
für  die  handelspolitischen,  so  auch  für  die  hier  in  Erörterung  stehenden  Be-  und 
Ucbervölkerungsfragen  wichtiger  Punct.  Was  schon  oben  (am  Schluss  des  §.  230, 
S.  573)  bei  der  Besprechung  der  Volksdichtigkeitsverhältnisse  hervorgehoben  wurde, 
ergiebt  sich  auch  aus  dieser  Erwägung  wieder:  nur  die  Aufrechthaltung  der  Suprematie 
in  Technik,  Wirthscbaft  und  Cultur  und  das  Zusammenhalten  West-  und  Mitteleuropas 
— denn  was  von  den  genannten  vier  Hauptländern  gesagt  wurde,  gilt  auch  von  den 
übrigen  — ermöglicht  hier  wie  die  dauernde  Führerschaft  in  der  Cultur  der  ganzen 
Welt,  so  auch  eine  weitere  Volksvcrmchrung  und  immer  grösser  werdende  Volksdichtig- 
keit. Aber  bei  letzterer  wird  es  freilich  wieder  vielfach  schwer  uud  schwerer,  diese 
Stellung  zu  behaupten  und  rückt  eben  deshalb  dabei  die  Gefahr  der  Uebervölkerung 
wieder  näher. 

Es  spielt  aber  hier  in  Bezug  auf  die  Concurrenzverbältnisse 
und  die  davon  mit  bedingte  weitere  Entwicklungsfähigkeit  der 
Volksdicbtc  „Cultureuropas“  gegenüber  dessen  Pflanzstaaten,  be- 
sonders germanischer  Nationalität  in  der  neuen  Welt,  in  Nord- 
america und  Australien,  noch  ein  anderer  Umstand  mit,  welcher 
in  der  Frage  nicht  übersehen  werden  darf:  das  Gewicht  einer 
alten  geschichtlichen  Entwicklung  aller  für  die  Frage 
wichtigen  Verhältnisse  der  gesummten  wirtschaftlichen  Rechts  - 
Ordnung  und  der  mit  dadurch  bedingten  Besitzgestaltung, 
namentlich  — übrigens  keineswegs  allein  — der  Grundbesitz- 
vertbeilung  und  der  ganzen  Agrarverfassung.  Dies  Gewicht 
macht  sich  allerdings  mitunter  als  Bleigewicht  für  den  ökonomisch- 
technischen Fortschritt  der  Production  und  als  nachtheiliger  Factor 
geltend  für  die  Verhältnisse  der  Vertheilnng  des  Productionsertrags. 
Es  ist  insofern  auch  unter  Umständen  für  die  Zunahme  der 
Volksdichte  und  für  die  Gefahr,  eine  Vermehrung  der  Bevölkerung 
zur  Uebervölkerung  werden  zu  sehen,  ein  erschwerendes  Moment. 


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Uebervölk.frage  bei  hoher  volkswirthsch.  Entwicklung. 


647 


Allerdings  besteht  ja  in  den  europäischen  Pflanzstaaten  der  neuen  Welt  im 
■Wesentlichen  dieselbe  Privateigenthumsordnung,  insbesondere  auch  für  den  Grund  und 
Boden,  wie  in  West-  und  Mitteleuropa.  Die  americanische  Landspeculatiou,  die  Fest- 
legung von  grossen  Landmassen,  agrarischen,  montanistischen,  städtischen  Bodens  in 
Händen  von  einzelnen  privaten  Speculanten  und  von  Erwerbsgesellschaften , gerade 
^uch  vielfach  von  Boden,  welcher  erst  der  Besiedlung  und  Cultivirung  entgegengefilhrt 
werden  soll,  ist  sogar  eine  eigentümliche  Frucht  des  Privatcigentbumsprincips  und 
<ler  Speculationsfreiheit  in  jenen  neuen  Gebieten , wie  sie  in  dieser  Weise  in  Europa 
sich  kaum  findet.  Aber  das  alles  greift  doch  nicht  so  tief  ein,  lässt  sich  auch 
immerhin  im  Wege  der  Gesetzgebung  uud  der  diese  unterstützenden  Reaction  der 
öffentlichen  Meinung  gegen  derartige  Missbrauche,  wie  die  angedeuteten  Landspecu- 
lationen,  leichter  beseitigen  oder  beschränken  und  reformiren,  als  die  im  Volkabewusst- 
sein,  in  Sitte  und  Rechtsanschauungen  fest  gewurzclte  alte  Privateigenthumsordnung, 
Besitz-,  namentlich  Grundbesitzvertheilnng  und  Agrarverfassung  in  Europa,  auch  speciell 
z.  B.  in  Grossbritanuien , Deutschland,  Südeuropa.  Der  Socialismus,  welcher  alle 
solche  Rechtsbildung  wie  Wachs  in  den  Händen  eines  energischen  und  geschickten 
■Gesetzgebers  ansieht  (vgl.  o.  B.  1),  weiss  freilich  leicht  mit  solchen  Schwierigkeiten 
fertig  zu  werden,  z.  B.  mit  denen,  welche  eine  historisch  überkommene,  zu  Recht 
bestehende  Besitzordnung,  namentlich  eine  Grundbesitzvcrtheilung  mit  Agrarverfassung, 
wie  in  grossen  Theilen  der  oben  genannten  Länder  (in  Deutschland  besonders  in  den 
Gebieten  ländlichen,  „ritterschaftlichen“  Grossgrundbesitzes,  bäuerlichen  Anerbenrechts 
u.  A.  m.)  mit  sich  bringt,  wenn  man  wirklich  mit  Recht  eine  bestimmte  Grund- 
besitzvertheilung  und  Agrarverfassung  als  ein  Hemmmittel  auch  dor  sonst  möglichen 
Vermehrung  der  Bevölkerung  und  Steigerung  der  Volksdichte  sollte  auseheu  können: 
auch  keineswegs  immer  eine  so  leicht  und  einfach  zu  beantwortende,  wenn  auch  mit- 
unter wohl  zu  bejahende  Frage,  da  mancherlei  Weiteres,  Klima,  Boden beschatfenheit, 
Lage,  Verkehrsmittel,  Kapitalbesitz,  Absatzverlniltniss  etc.,  ausserdem  hier  mitspricht. 

Der  Socialismus  decrctirt  hier  eben  einfach:  Aufhebung,  principiclle  Aenderung 
der  Rechtsordnung,  der  Besitzverhältnisse,  nach  der  Schablone  seines  Recepts,  un- 
bekümmert um  dessen  ökonomisch-technische  Durchführbarkeit  und  Bewährung.  Be- 
sonnenere Urtheiler,  selbst  wenn  sie  die  Möglichkeit  zugeben , dass  eine  bestimmte 
•Grundbesitzvcrtheilung  und  Agrarverfassung  (so  die  grossgrundbesitzliche)  populatio- 
uistisch  in  Bezug  auf  Vermehrung  der  Bevölkerung  und  Unterhaltung  einer  grösseren 
Yolksdichtigkeit  nachtheilig  und  eine  audre  (so  die  kleingrundbesitzliche)  günstiger 
wirke  und  selbst  wenn  sie  eine  tiefgreifende  bezügliche  Reform  der  Rechtsordnung 
und  der  Besitzverhältnisse  deshalb  und  vom  Standpuncte  des  volkswirtschaftlichen 
und  nationalen  Gesammtintoresses  aus  betrachtet  für  discutabel  halten,  z.  B. 
gegenüber  mecklenburgischen,  pommerschen,  theilweise  schlesischen,  böhmischen  Ver- 
hältnissen, — besonnenere  Urtheiler  werden  mit  Recht  gegen  die  socialistischon  (und 
hie  uud  da  auch  gegen  die  von  liberal- individualistischer  Seite,  z.  B.  in  Fragen  der 
Agrarverfassung  vertretenen)  Forderungen  einwenden:  dass  eben  solchen  Verhältnissen 
gegenüber  mit  eingewurzelten  Interessen,  Anschauungen,  Rechtsgrundsätzen  als  mit 
festen  Factorcn  gerechnet  werden  muss.  Es  bedarf  immer  eist  unvermeidlich  lauge 
dauernder  Einwirkungen  auf  die  öffentliche  Meinung,  sorgsamster  Erwägungen  jedes 
Für  und  Wider,  auch  der  billigen  Rücksicht  auf  einmal  bestehende  Privatrechte  und 
Privatinteressen,  auf  die  guten  Seiten,  welche  eventuell  mit  den  angriffenen  bestehenden 
Verhältnissen  auch  für  das  Gemeinwesen,  für  die  Gcsammtheit  verbunden  sind  (z.  B. 
in  der  Frage  des  ländlichen  Grossgrundbesitzes  der  Rücksicht  auf  die  historische 
Function  desselben  für  das  politische,  sociale  Leben,  für  öffentliche  Dienstverhältnisse 
[prenssischcs  „ Junkercrthum  “!]).  bevor  sich  solche  schwer  wiegende  Rechts-  und 
Interessenfragen  im  Wege  der  Reform  — die  allein  hier  in  Rede  steht  — in  der 
und  der  Richtung  und  so  und  so  entscheiden  lassen.  Bis  dahin  sind  einmal  bestehende 
Rechts-  und  Besitzverhältnissc  ähnlich  wie  natürliche  Umstände,  wie  technische  Factorcn, 
wie  ökonomisch -technischer  und  allgemeiner  Bildungsstand,  wie  Sitten  und  sittliche 
Anschauungen  der  Bevölkerung  in  der  Bevölkerungs-  wie  in  anderen  socialökonomischen 
Fragen  als  etwas  Gegebenes  zu  betrachten  und  zu  behandeln,  das,  wenn  überhaupt, 
so  nur  allmählig  einer  Aenderung  entgegengeführt  werden  kann. 

Mit  grundstürzenden  Doctrinen  und  Principien  kommt  man  eben  der  Macht  — 
wenn  man  so  will:  dem  Bleigewicht  — der  geschichtlichen  Erbschaft  von  Rechts- 


648  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölkdehre.  2.  H.-A.  Folgerungen.  §.  253. 

normen,  wohlerworbenen  Privatrechten,  Privatinteressen, Sitten,  Vornrtheilen,  ökonomisch- 
technischen  Gewohnheiten  gegenüber  nicht  aus.  Die  sittlich-geistige  Natur  der  „historisch 
gewordenen“  Bevölkerung  eines  Volkswirthschaftsgebiets  ist  so  wenig,  als  die  äussere 
Natur,  beliebig  und  vollends  sofort  auf  ein  Wachtwort  der  Theorie  hin  wie  Wachs 
einer  Umgestaltung  fähig.  Das  müsste  sie  sein,  wenn  auch  ökonomisch -technische 
Proceduren  und  Verhältnisse  der  Rechtsordnung  sich  jeder  idealen  Forderung  der 
Social-  und  Wirthschafts-  wie  hier  der  Bevölkerungstheorie  und  Politik  gemäss  sofort 
umändem  sollten. 

§.253.  Fortsetzung.  Die  Gründe,  welche  zur  An- 
nahme einer  Ueb ervölk eru n gsgefahr  auch  für  unsere 
Culturvölker  nöthigen.  Erwägt  man  das  Alles,  so  wird  man 
sich  auch  vor  der  Illusion  hüten,  als  wäre  für  unsere  hochent- 
wickelten Industrieländer  der  Gegenwart  eine  Gefahr  der  Ueber- 
völkerung  ein  Hirngespinst,  mit  welchem  nicht  ernstlich  zu  rechnen 
wäre. 

„Ungefährlich“  ist  eine  hohe  Volksdichtigkeit  und  deren 
weitere  Steigerung  und  sind  die  ökonomischen  Bedingungen  beider 
deswegen  nicht,  weil 

1)  Oekonomik  und  Technik  auch  in  unseren  Zeitaltern  hoher 
Blüthe  der  Technik  und  grossen  Fortschritts  der  letzteren  nicht 
beliebig  ins  Unbegrenzte,  zumal  nicht  in  kürzerer  Zeit  sich 
entwickeln,  am  Wenigsten  auf  dem  hier  vor  Allem  in  Betracht 
kommenden  Gebiete,  des  agrarischen  Bodenanbaus.  Eine  feste 
Grenze  der  Entwicklung  besteht  auch  hier  freilich  nicht,  aber  deshalb 
doch  auch  eine  jeweilig  sehr  reelle  Grenze,  welche  sich  wirksam 
genug  erweist. 

Neben  der  Beschränktheit  der  Prodoctivitftt  des  agrarischen  Bodens,  namentlich 
desjenigen  bestimmter  BodenbeschafTenheit  und  gewisser  örtlicher  Lage  und  neben  dem 
durch  menschliche  Maassregeln  nur  wenig  beschränkbaren  Einfluss  des  Klimas  auf 
das  Ackerland,  besonders  bezüglich  der  Hauptfrüchtc,  kommt  auch  Anderes  immer 
in  Betracht,  So  besonders  die  historisch  überkommene  und  eben  unvermeidlich  mehr 
oder  weniger  als  etwas  Gegebenes  hinzunehmende  Grundbesitzvertheilung,  Bewirth- 
schaftungsweise,  geistig-sittliche,  übereinen  bestimmten  ökonomisch-technischen  Bildungs- 
grad verfügende  Beschaffenheit  der  productiven  Classen,  der  Leiter,  Gehilfen,  Arbeiter 
der  Betriebe,  specieU  der  landwirtschaftlichen.  Gewiss  kann  durch  intellectuclie, 
moralische  Hebung  dieser  Classen,  ihres  technischen  Könnens,  ihres  ökonomischen 
Wollcns  eine  Steigerung  der  Productivität  der  Arbeit  erreicht,  damit  eine  Quelle  er- 
schlossen werden,  aus  welcher  mehr  Menschen  und  eventuell  selbst  besser  und  mit 
geringeren  volkswirtschaftlichen  Kosten  erhalten  werden  können,  so  namentlich  im 
Landwirtschaftsbetriebe.  Die  Aufgabe,  in  dieser  Richtung  zu  wirken,  wird  anzoer- 
kennen  sein.  Aber  der  Erfolg  hat  seine  Grenzen  und  verlangt  geraume  Zeit.  Wenn 
der  Socialismus  hier  einfach  wieder  durch  sein  Reccpt  „rationeller  Grossbetrieb“ 
glaubt  alle  Schwierigkeiten  leicht,  „spielend“  lösen  zu  können,  so  übersieht  er  eben, 
wie  gewöhnlich  die  Factoren  der  ökonomisch -psychologischen  Motivation  (§.  30  ff.), 
mit  welcher  auch  hier  in  dieser  Frage  gerechnet  werden  muss,  und  nicht  minder  die 
vorhin  angedeuteten  Schwierigkeiten , welche  eine  bestimmte  productive  Classe,  wie 
vollends  die  ländliche,  als  Product  einer  ganzen  langen  geschichüichen  Entwicklung, 
in  dieser  Hinsicht  darbietet.  Speciell  in  der  Frage  der  agrarischen  Production 
wird  ausserdem  hier  wichtiges  Natur- Gegebene  vergessen,  wie  die  locale  Decen- 
tralisation  des  Ackerbaus,  der  nur  begrenzte  Vorzug,  welchen  hier  überhaupt  ökonomisch- 


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Uebervölk.gefahr  für  unsere  Culturvölker. 


G49 


technisch  der  Grossbetrieb  hat  (vergl.  auch  meinen  Aufs.  „Die  Principienfrage  der 
wirtschaftlichen  Rechtsordnung  beim  Grundbesitz“,  als  Abschnitt  I des  Art.  Grund- 
besitz im  Handwörterb.  d.  Staats  Wissenschaften,  IV,  bes.  über  ländliches  Grundeigentum). 

Soweit  ausserdem  bei  der  Entwicklung  der  Landwirtschaft  etwa  auf  einzelne 
Specialculturen,  Handelsgewächse  u.  dgl. , als  auf  Mittel  zu  lohnender  Beschäf- 
tigung auch  grösserer  Mengen  ländlicher  Bevölkerung  gerechnet  wird,  Uborsioht  man, 
dass  solche  Culturen  nach  Bodenart,  Klima,  weiter  aber  nach  natürlichen  Productions- 
kosten  und  Absatzverhältnissen  nur  einer  beschränkten  Ausdehnung  fähig  sind.  Ob 
und  wie  weit  sich  ferner  Absatz  erzielen  lässt,  hängt  wieder  von  der  Kauffähigkeit 
der  nicht-ländlichen,  der  städtischen,  industriellen  Bevölkerung  etc.  ab,  daher  von  den 
weiteren  gesammten  Voraussetzungen  dieser  Kauffähigkeit.  Damit  geht  die  Frage  in 
die  unten  unter  No.  3 erörterte  über. 

2)  Der  zweite  Grund,  dessentwegen  eine  Uebervölkerungsgefahr 
gerade  bei  hoher  und  steigender  Volksdichtigkeit  auch  in  unserer 
Zeit  und  bei  den  höchstentwickelten  Nationen  als  vorhanden  anzu- 
nehmen ist,  liegt  in  der  wenigstens  relativ  starken  Festigkeit 
und  geringen,  zumal  nicht  raschen  Umänderungsfähig- 
keit der  historisch  überkommenen  Rechtsordnung  für  Production 
und  Verkeilung,  der  gegebenen  Besitz-,  namentlich  Grundbcsitzver- 
theilung  und  Agrarverfassung;  sowie  in  den  socialen,  ökonomischen, 
technischen  Bedenken,  welche  eine  Umänderung  dieser  Ver- 
hältnisse auch  vom  Standpunct  des  Gesammtinteresses,  nament- 
lich des  volks wirthschaftliehen  Productionsinteresses 
aus  betrachtet,  leicht  immer  und  schwerlich  jemals  ganz  ohne 
Berechtigung  bietet. 

Dafür  genügt  cs  im  Wesentlichen,  auf  das  vorhin  Gesagte  zu  verweisen.  Es  sei 
nur  etwa  noch  hinzugefügt,  übrigens  ebenfalls  schon  früheren  Bemerkungen  (so  S.  03“) 
gemäss,  dass  grade  die  Uebervölkerungsgefahr  hier  selbst  noch  steigen  würde,  wenn 
die  Productivität  der  nationalen  Gesammtarbeit  und  namentlich  der  auch  hier  aus 
ökonomisch -technischen  Gründen  die  meisten  Schwierigkeiten  bietenden  agra- 
rischen Bodenarbeit  nicht  sicher  und  alsbald  bei  einer  Umgestaltung  jener  Rechts- 
ordnung wachsen,  vollends  wenn  sie  abnehmen  sollte,  während  etwa,  nach  psycho- 
logisch z.  B.  in  einem  socialistischen  System  sehr  plausibler  Vermuthung,  die  Tendenz 
der  natürlichen  Volksvermchrung  sich  noch  verstärken,  thatsächlich  namentlich  die 
Geburtsfrequenz  zunehmen  sollte:  der  schon  früher  erwähnte  Fall,  die  Ver- 

minderung des  Dividendus,  des  Volkseinkommens,  die  Erhöhung  des  Divisors,  ein 
arithmetisches  Verhältnis,  dessen  nothwendige  Consequenz  jede  denkbare  „gesell- 
schaftliche Ordnung“  über  sich  ergehen  lassen  muss. 

3)  Der  dritte  Grund  endlich,  welcher  zur  Annahme  einer  sehr 
reellen  Uebervölkerungsgefahr,  zumal  bei  immer  weiterer  Be- 
völkerungsvermehrnng  auch  bei  unseren  ersten  Culturvölkern  nöthigt, 
liegt  in  den  preeären  Verhältnissen  des  Fernabsatzes 
der  Industriep roducte  und  des  Fernbezugs  der  Agrar- 
und  sonstigen  Roh p roducte,  in  der  fraglichen  be- 
ständigen Steigeruugsfähigkeit  dieses  Verkehrs  und  der 
nicht  minder  fraglichen  hinlänglichen  Lohnend  heit  des- 
selben, unter  den  Bedingungen,  von  welchen  er  abhängt.  Diese 


650  4.  B.  Bevölk.  ü.  Volksw.sch.  1.  K.  Bcvölk.lehre.  2.  H.-A.  Folgerungen.  §.  234. 

Bedingungen,  ohnehin  schon  meist  verwickelt' genug,  werden  aber 
eben  immer  schwerer  zu  erfüllen. 

Von  allen  rein  politischen  Momenten  und  von  handelspolitischen  Einflüssen  selbst 
abgesehen,  welche  beide  hier  thatsächlich  sehr  in  Betracht  kommen,  macht  die  ver- 
mehrte Concurrenz  der  Industrie-  und  Handelsvölker  auf  ihren  eigenen  und  auf  dritten 
Märkten,  die  eigene  industrielle  Entwicklung  der  fremden  Volker,  deren  Markt  bisher 
versorgt  werden  konnte  (Colonieen,  Nordamerica,  asiatische  Kulturländer),  den  Fern- 
absatz nicht  nur  immer  preeärer,  sondern  auch  nothwendig  immer  weniger  lohnend. 
Das  ist  es.  worunter  neuerdings  mehr  und  mehr  Grossbritannien  leidet,  seitdem  die 
continentale  Concurrenz  schärfer  geworden  ist. 

Damit  vertheuert  sich,  wenigstens  mittelbar,  — grade  nach  der  Seite  des  rein 
volkswirtschaftlichen  Kostenaufwands  betrachtet  — auch  der  Nahrungsmittel-  und 
Rohstofl'bezug  aus  der  Fremde,  sogar  wenn  letztere  Artikel  nicht  selbst  direct  teurer 
werden,  denn  ihre  Bezugskosten  werden  für  das  Inland  — Europa  — durch  die  Menge 
der  Arbeit,  welche  auf  die  zur  Bezahlung  dienenden  Exportartikel  verwendet  wird, 
repräsentirt.  Von  letzteren  Artikeln  muss  eine  immer  grössere  Menge  als  Gegenwert 
zum  Eintausch  der  fremden  Producte  überlassen  werden.  Sobald  daher  nicht  durch 
beständigen  technischen  und  ökonomischen  Productionsfortschritt  die  ..natürlichen“ 
Kosten  (§.  172)  der  exportirten  Industrieproducte  immer  weiter  ermässigt  werden 
können,  muss  nothwendig  an  den  einzelwirthschaftlichen  Kosten,  „welche  Einkommen 
bilden“,  gespart  werden,  d.  h.  es  wird  die  auf  diese  Artikel  verwendete  Arbeit  not- 
wendig immer  schlechter  reell  bezahlt:  Löhne  und  Gewinne  müssen  fallen. 
Damit  aber  hört  die  Exportindustrie  auch  auf,  die  bei  ihr  betheiligte  Bevölkerung 
ordentlich  erhalten  zu  können:  d.  h.  die  gegebene  Bevölkerung  wird  zur  Ueber- 
völkerung,  die  sich  weiter  vermehrende  vollends.  Bald  müssen  die  repressiven 
Tendenzen  Platz  greifen  oder  die  Lebensführung  der  Bevölkerung,  zumal  der  unteren 
Klassen  — aber  schliesslich  auch  des  grössten  Theils  oder  der  ganzen  übrigen  — 
muss  sinken,  kann  wenigstens  nicht  weiter  steigen,  schwerlich  auch  nur  so  hoch  wie 
bisher  bleiben,  materieller  und  Kulturfortschritt  muss  stocken,  ein  allgemeiner  Rück- 
gang ist  nicht  zu  vermeiden.  Er  wird  um  so  stärker  werden,  je  weniger  die  präventiven 
Tendenzen  der  Volksvermehrung  auch  dann  wirken,  je  schwächer  und  später  die 
repressiven  genügend  in  Function  treten. 

§.254.  Folgen  des  Eintritts  einer  Uebcrvölkerungs- 
gefahr  auf  hohen  Entwicklungsstufen.  Natürlich  ist 
unter  solchen  Umständen  die  Losung:  möglichster  Fortschritt  der 
Technik  und  Oekonomik  der  Production,  Erfüllung  aller  Bedingungen 
dafür;  Verbesserung,  Verwohlfeilerung  der  Communications-  und 
Transportmittel,  um  den  Productenaustausch  möglich  und  lohnend 
zu  machen;  Rechtssicherheit  und  politische  Ruhe,  „Frieden“  um 
jeden  Preis,  um  den  Verkehr  lebhaft  und  lohnend  zu  erhalten  oder 
zu  machen;  liberale,  „freihändlerische“  auswärtige  Handelspolitik 
zu  demselben  Zweck;  Gestaltung  der  gesammten  wirtschaftlichen 
Rechtsordnung  für  Production  und  Verteilung  so,  dass  die  erstere 
möglichst  fortschreitet,  die  letztere  die  genügende  Erhaltung  der 
Volksmassen  und  deren  weitere  Vermehrung  ermöglicht,  soweit 
das  überhaupt  von  der  Lösung  des  Vertheilungsproblems,  nicht  des 
Productionsproblems  abhängt  — daher  agrarische,  gewerbereehtliche 
Reformen  in  dieser  Richtung  — ; schliesslich,  aber  nicht  zuletzt 
und  nicht  am  Wenigsten:  Erweiterung  der  auswärtigen  Märkte, 


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Folgen  der  Uebervölkcruugsgefahr  auf  hohen  Stufen. 


651 


Erschliessung  neuer,  „Colonieen“,  „Handelsverträge“  zu  diesem 
Zweck,  um  lohnenden  Massenabsatz  von  heimischen  Fabrikaten, 
billigen  Bezug  von  Nahrungsmitteln,  Rohstoffen  zu  erzielen. 

Alles  principiell  ganz  richtig,  eine  Lebensfrage  im  wört- 
lichsten Sinne  für  die  dichte,  städtisch  concentrirte,  überwiegend 
in  nicht-landwirtbschaftlichen  Berufen  beschäftigte  erwerbstätige 
Bevölkerung;  eine  um  so  dringendere  Lebensfrage,  je  grösser  die 
unproductive,  die  Kinderquote,  die  nicht  erwerbstätige  Quote,  der 
zweifache  Belastungscoefficient,  je  höher  die  Quote  der  nicht-land- 
wirthschaftlich  arbeitenden  Personen,  je  rascher  die  weitere  natür- 
liche und  Wanderungsvermehrung,  je  schwächer  die  Auswanderung 
in  der  Bevölkerung.  Der  „Kampf  um  den  Markt“  unter  den  Cuitur- 
völkern  in  der  Gegenwart  erklärt  sich  so  sehr  einfach  — wesent- 
lich mit  aus  den  Bevölkerungsverhältnissen  des  19.  Jahrhunderts. 

Die  wirtschaftliche,  dio  Lebenslage,  auch  der  Massen,  ist  und  bleibt  auch 
leidlich,  solange  es  gelingt,  durch  technische  Fortschritte  die  Concurrenzschwierigkeiten 
zu  überwinden,  solange  die  Absatzmärkte  einigermaasseu  aufnahmefähig  bleiben.  Aber 
in  den  Zeiten  der  Krisen,  der  rückgehenden  Conjuncturen,  der  sinkenden  Nachfrage, 
der  weichenden  Preise,  der  kürzer  und  länger  — aber  eben  vielfach  und  neuerdings 
mehr  und  mehr:  immer  länger  dauernden  — Absatzstockungen  und  „flauen  Geschäfts- 
lage“ zeigen  sich  die  Uebclstände  immer  mehr,  tritt  die  Uebervölkerung,  zumal  in  den 
(jrossstädten,  den  Industriegegenden  unverkennbar  hervor.  Und  das  wirkt  daun  weiter 
auf  alle  einheimischen  Verhältnisse,  auf  alle  Bevölkerungs-  und  Berufskreise,  nicht 
am  Wenigsten  auch  auf  die  überfüllten  liberalen  und  öffeutlicheu  Berufe,  ein:  überall 
unverkennbare  Symptome  der  Uebervölkerung. 

In  den,  wie  gesagt,  immer  kürzer  werdenden  Zeiten  günstiger  Conjuncturen, 
regen  und  lohnenden  Absatzes  in»  Auslande  und  für  die  mehr  verdienende  städtisch- 
industrielle Bevölkerung  dann  auch  im  Inlande  tritt  zwar  eine  gewisse  Erholung, 
Beruhigung,  ein  gewisser  Aufschwung  ein.  Aber  einmal  wirkt  er,  wie  sich  zeigte 
(§.  219  fl.),  als  starkes  neues  Förderungsmittel  der  Volksvermehrung,  steigert  die  Heiraths-, 
Oeburtsfre<]uenz,  schwächt  die  präventiven  und  wohl  auch  zugleich  die  repressiven  Ten- 
denzen der  Volksvermehrung,  erhöht  die  Kinder<iuote,  den  Belastungcoefflcienten.  alsbald. 
Sodann  ruft  er,  bei  seiner  notorisch  kurzen  Dauer,  nun  vollends  eine  wahre  stcaple  chasc, 
ein  wildes  speculatives  Rennen  hervor,  um  möglichst  mit  von  der  günstigen  Gonjunctur 
zu  profitiren,  unterstützt  durch  die  Rechtsordnung  des  Systems  der  freien  Concurrenz, 
durch  die  sittliche  Atmosphäre,  die  sich  hier  entwickelt  (§.30,4$),  durch  das  rück- 
sichtslose Walten  des  „ersten  Leitmotivs“,  das  Streben  nach  dem  wirtschaftlichen 
Eigenvortheil  (§.  34).  Die  Folge  ist  aber  nur  ein  um  so  schnellerer  und  stärkerer 
Rückschlag  der  Gonjunctur,  wo  sich  dann  in  Erwerblosigkeit  oder  ungenügendem  Erwerb 
wiederum  die  Symptome  der  Uebervölkerung  deutlich  offenbaren. 


Natürlich  sind  es  nach  unserer  wirtschaftlichen  Rechtsordnung 
immer  noch  weniger,  wenn  auch  oft  genug  und  zumal  in  zahl- 
reichen Einzelfällen,  die  „besitzenden“  Classen,  die  Inhaber  der 
sachlichen  Productionsmittel , welche  hier  leiden,  als  hauptsächlich 
die  unteren,  „arbeitenden“,  namentlich  die  industriellen, 
diestädtischen  Arbeiterclassen,  auf  welche  der  Druck  der  Lage 
am  Schwersten  lastet.  Bei  ihnen  zeigt  sich  danD,  mindestens  local 


652  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.scb.  1.  K.  Bevölk.lchre.  2-  H.-A.  Folgerungen.  §.  255. 

und  zeitweise,  die  „Uebervölkerung“  noch  unverkennbarer.  Aber 
gleichwohl  ist  sie  doch  bereits  ein  allgemeines  Uebel. 

Kommen  dann  noch  besondere  Uebelstände,  Missernten,  grosse 
Theuerung  der  Brotfrüchte  und  Hauptnahrungsmittel,  schädigende, 
namentlich  fremde  handelspolitischeMaassregeln,  politische  Störungen, 
Krieg  und  Kriegsbefürchtungen  u.  dgl.  m.  hinzu,  so  steigert  sich 
natürlich  Gefahr  und  Noth.  Aber  geschaffen  werden  sie  nicht 
erst  dadurch. 

Das  Heilmittel  liegt  auch  nicht  in  irgend  welchen  Reformen, 
selbst  nicht  den  radicalsten,  der  wirtschaftlichen  Rechtsordnung, 
auch  wenn  dieselben  nicht,  wie  bemerkt  (S.  637  u.  S.  640),  die 
Lage  leicht  noch  schwieriger  machten. 

Solche  Reformen  mögen  unter  Umständen  immerhin  wünschenswerth  sein , vom 
volkswirtschaftlichen,  vom  populationistischen  Standpunctc,  im  Vcrtheilungsinteresse : 
ohne  wirksame  Steigerung  der  präventiven  Tendenzen  der  Volksvermehruug  wurden 
sie  doch  bestenfalls  nur  vorübergehend  wirken  können. 

Dasselbe  gilt  von  allen  Maassregeln  und  Cautelcn,  um  die  Be- 
dingungen lohnenden  Nah-  und  Fernabsatzes  der  Erzeugnisse 
besser  zu  sichern  und  günstiger  zu  gestalten,  alte  Absatzmärkte 
zu  erhalten,  neue  zu  erschliessen. 

Auch  das  wird,  wie  sich  aus  dem  Vorausgehenden  ergiebt,  zumeist  schwieriger. 
Selbst  soweit  und  solange  es  gelingt,  kann  auch  dies  Hilfsmittel  bestenfalls  nur  zeit- 
weise (oft  auch  Überhaupt  nur  local)  helfen.  Auch  hier  um  so  weniger,  je  mehr 
dabei,  wie  gewöhnlich,  die  Bevölkerungsvermehrung  nur  noch  gefördert  wird.  Auch 
hier  vielmehr  nur,  wenn  dauernd  die  präventiven  Tendenzen  der  Volksvcrraehrung 
mächtiger  wirksam  werdeu. 

Auswanderung,  auch  Massenauswanderung  ist  zwar  unter 
solchen  Bevölkerungsverhältnissen  sehr  erklärlich  und  im  Ganzen 
ein  nicht  unerwünschtes  Ventil.  Aber  wenn  sie  nicht  einen  Um- 
fang erreicht,  wie  bisher,  ausser  der  aus  besonderen  Umständen 
mit  zu  erklärenden  irischen,  noch  keine  selbst  der  riesigen  Aus- 
wanderungsbewegungen der  neuesten  Zeit,  und  wenn  sie  nicht 
Berufs-  und  Volkskreise  (auch  nach  Geschlecht  und  Alter)  umfasst, 
welche  vornemlich  „überzählig“  sind,  wirkt  auch  sie  nicht  stark  genug. 

Sie  bildet  so  wiederum  nur  ein  partielles,  wie  die  Schwankung  der  Aus- 
wanderungsbewcgnng  zeigt  (S.  557),  auch  ein  nur  zeitweilig  etwas  stärker  wirkendes 
Hilfsmittel.  Dasselbe  kommt  kaum  auch  nur  als  ein  solches  in  Betracht,  wenn  die 
zurückbleibendo  heimische  Bevölkerung  nur  um  so  mehr  und  um  so  rascher  der  Ver- 
mehrungstendenz huldigt  und  die  Lücke  der  Fortgezogonen  ausfüllt. 

Aehuliches  gilt  von  den  heimischen  Wandeningen,  welche  ohnehin  leicht 
gleich  im  Zuzugsgebiete  die  Gefahr  der  Uebervölkerung  (in  Städten,  Iudustricgegendcu) 
näher  rücken. 

§.255.  Fortsetzung.  Verbleiben  der  Uebcrvölkerungs- 
gefahr  bei  grösserer  Beschränkung  von  Production 
und  Austausch  auf  den  heimischen  Markt.  Grund- 


L 


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Uebcrvölkcrungsgefahr  und  heimischer  Markt. 


653 


und  Bodeugesetz.  Die  Unsicherheit, "auf  eine  forcirte  Export- 
industrie, welche  durch  niedrige  Löhne  — oft  beinahe  Hungerlöhne 
oder  solche,  welche  z.  B.  beim  weiblichen  Geschlecht  durch  Pro- 
stitutionserwerb ergänzt  werden  und  ergänzt  werden  müssen,  wofür 
es  leider  an  Beispielen  nicht  fehlt  — oder  durch  übermässige  Aus- 
dehnung des  Arbeitstages  und  Ueberspannung  der  Arbeitskraft  den 
Wettkampf  aushält,  die  Erhaltung  einer  grossen,  dichten,  sich  noch 
stark  vermehrenden  Bevölkerung  (K.  Sachsen !)  zu  begründen,  wird 
indessen  auch  öfters  eingestanden. 

U.  A.  geschieht  dies  auch  von  socialistischcr  Seite,  ferner  von  Seite  der 
theoretischen  und  practischen  Vertreter  einer  nicht  nur  im  Arbeiterinteresse,  sondern 
im  socialen  und  volkswirtschaftlichen  Gesamintinteresse  liegenden  Erhöhung  der 
Arbeitslöhne,  um  die  Arbeiter  consumtionsfähiger  und  damit  auch  gegenüber  den 
Producten  der  nationalen  Arbeit  kaufkräftiger  zu  machen.  Die  Socialistcn  denken 
dabei  mehr  an  die  Iteduction  der  Gewinne  (Profite)  der  kapitalistischen  Unternehmer 
und  Arbeitgeber,  die  Anderen  mindestens  ebenso  sehr  an  Ueberwälzung  der  Last 
höherer  Löhne  auf  die  Preise  der  Arbeitsproducte  und  damit  auf  die  Käufer  und 
Consumcntcn,  besonders  aus  den  wohlhabenderen  Classcu. 

Das  Hilfs-  und  Heilmittel  soll  hier  die  Steigerung  der  Kauf- 
kraft der  inländischen,  namentlich  der  Arbeiterbevölkerung  selbst 
sein.  Dadurch  soll  der  einheimische  Markt  aufnahmefähiger 
werden,  er  mehr  an  die  Stelle  des  preeären  fremden  treten,  sollen 
die  Arbeiter  mehr  für  sieh  selbst  produciren  und  ihre  Produete 
unter  sich  zum  Austausch  bringen. 

Auch  das  ist  gewiss  vielfach  erwünscht  und  in  einigem  Um- 
fang auch  wohl  ausführbar. 

Wie  weit,  insbesondere  in  Bezug  auf  ein  „Steigen  der  Löhne  auf  Kosten  der 
Profite”,  steht  freilich  nicht  nur  practisch  dahin,  es  ist  auch  ein  Punct  von  principieller 
Bedeutung,  welcher  mit  der  Privateigenthums  Grundlage  und  der  privatwirthschaftlichcn 
Organisation  der  Volkswirtschaft  zusammenhängt.  Darauf  ist  hier  jetzt  nicht  ein- 
zugehen (s.  Buch  5 unten  und  Abtheilung  2 der  Grundlegung). 

Hier  ist  nur  einzuwenden,  dass  allein  auf  diese  Weise  — und 
ebenso,  wenn  etwa  die  ganze  socialistische  Vertheilungsordnung 
durchgeführt  und  der  nationale  gesamnite  Productionsertrag,  nach 
Reservirungen  für  die  Bildung  des  Nationalkapitals,  für  die  öffent- 
lichen Bedürfnisse  u.  s.  w.,  als  Arbeitseinkommen  und  Consumtions- 
fonds  zur  Verkeilung  gelaugte  — der  Gefahr  der  Uehervölkerung 
doch  auch  noch  nicht,  namentlich  nicht  dauernd  vorgebeugt  wäre, 
ja  eher  diese  Gefahr  noch  näher  rücken  könnte. 

Denn  einmal  würde  nur  die  Richtung  der,  an  sich  eventuell 
gleichbleibenden,  Gesammtproduction  eine,  vielleicht  erfreuliche  Ver- 
änderung erleiden:  mehr  „Arbeiterconsumptibilicn“,  weniger  Genuss- 
mittel für  die  besitzenden  und  wohlhabenden  Classen  producirt 
werden.  Sodann  aber  wäre  der  Bedarf  an  Nahrungsmitteln,  gewerk- 

A.  Wagner,  Grundlegung.  S.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlagen.  42 


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054  4.  B.  Bevölk.  n.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lehre.  2.  H.-A.  Folgerungen.  §.  255. 

liehen  Roh-  und  Hilfsstoffen  unter  den  Voraussetzungen  dieses  Falles 
— d.  h.  bei  Beschränkung  von  Fabrikatenexport,  daher  auch 
von  Nahrungsmittel-  und  Rohstoffimport  — mehr  auf  heimischem 
Boden  zu  decken,  für  eine  materiell  besser  lebende,  reichlicher  ge- 
nährte, sich  weiter  vermehrende  heimische  Bevölkerung  in  steigendem 
Maasse.  Da  würde  sich  aber  bald  wieder  zeigen,  dass  das  nach 
Klima,  Bodenbeschaffenheit,  abnehmender  Productivität  des  Bodens 
nur  mit  höheren  Kosten  möglich  wäre,  — wenigstens  sobald 
der  bestgeeignete  Boden  bereits  ganz  in  Anspruch  genommen  ist 
und  nicht  immer  im  mindestens  gleichen  Verhältniss  zum  steigenden 
Bedarf  an  Bodenproducten  die  agrarische  Technik  fortschreitet  und 
die  Tendenz  der  Steigerung  der  Kosten  der  Bodenbearbeitung  auf 
demselben  Grundstück  überwindet.  Das  ist  aber  nach  aller 
Erfahrung  mit  der  Bodenbearbeitung  unwahrscheinlich. 

Das  „Grund-  und  Bodengesetz “,  das  „Gesetz  der  Pro- 
duction auf  Land“,  wie  die  britische  Oekonomik  (Senior)  es  auf- 
gestellt hat  und  nennt,  d.  h.,  dass  der  Boden,  insbesondere  der 
agrarische  die  Tendenz  hat,  von  einer  freilich  nicht  festen,  sondern 
etwas  elastischen  Grenze  an  eine  grössere  Menge  (und  bessere  Art 
und  Güte)  der  Bodenproducte  nur  unter  im  Allgemeinen  progressiv 
ungünstigeren  Bedingungen  herzugeben,  — dieses  Gesetz  ist  eben 
keine  Chimäre,  kein  blosses  Gedankenproduct  der  „abstraeteu 
deductiven  Nationalökonomie“,  sondern  beruht  auf  wichtigen  festen 
Erfahrungsthatsachen.  Es  lässt  sich  nicht  mit  dem  Hinweis 
auf  immerwährenden  technischen  Fortschritt,  der  eben  gerade 
hier  seine,  wenn  auch  nicht  durchaus  unverrückbare,  doch  praktisch 
sehr  wirksame  Grenze  hat,  widerlegen.  Bestenfalls  wird,  mit 
.1.  St.  Mi  11  zu  reden,  durch  den  technischen  Fortschritt  die  Wirk- 
samkeit des  Gesetzes  im  concreten  Falle  etwas  hiiiausgeschoben, 
das  Gesetz  aber  nicht  aufgehoben. 

Näheres  gehört  nicht  hierher,  sondern  in  die  „Theoretische  Volkswirtschafts- 
lehre“ und  in  die  Lehre  vom  Agrarwesen  und  der  Agrarpolitik,  wo  namentlich  die  Lehre 
von  den  Feldbau-  und  Betriebssystemen  mit  in  dem  Bodeugesctz  ihre  tiefere  Be- 
gründung iindet.  Ich  halte  hier  die  ältere  Senior -Mill'sche,  übrigens  schon  von 
früheren  Autoren,  auch  von  Turgot  vertretene  Lehre  für  durchaus  richtig  und  die 
Fassung  des  Gesetzes  bei  diesen  Autoren  für  die  immer  noch  beste.  S.  ber.  ior. 
polit  economy,  sein  „vierter  Elcmentarsatz“  der  Wissenschaft:  „that,  agricultural 
skill  remaining  the  same,  additional  labour  employed  on  the  land  within  a 
given  district  produccs  in  general  a less  proportional  return,  or  in  other 
words,  that  though,  witli  every  increasc  of  the  labour  bestowed,  the  Aggregate 
return  is  increased.  the  increase  of  the  return  is  not  in  proportion  of  the  incrcase 
of  the  labour“;  mit  der  weiteren  Conseqnonz:  dass  darin  ein  Hauptunterschied  zwischen 
Ackerbau  (bzw.  überhaupt  Bodenbearbeitung)  und  Industrie  liegt:  additional  labour, 
wlien  employed  in  manufactures  is  inore,  when  employed  in  agriculture  is  less 


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Grand-  und  fiodengesetz. 


655 


efficient  in  proportion  (z.  B.  4.  cd.,  1858,  p.  26,  81  ff.).  Dazu  die  vortrefflichen  Aus- 
führungen von  J.  St.  Will  in  seinen  principles.  Buch  1,  Kap.  12,  wo  auch  dem  Ein- 
wand mit  dem  technischen  Productionsfortschritt  bereits  richtig  und  völlig  genügend 
Bechnung  getragen,  aber  auch  nachgewiesen  wird,  dass  damit  das  Gesetz  nicht  wider- 
legt wird  (s.  bes.  Kap.  12  am  Schluss).  Von  neueren  britischen  Occonomisten : 
Marshall,  B.  4,  Kap.  2 und  3,  mit  guten  Erörterungen  über  das  ganze  Problem 
und  richtiger  Verwerthung  des  Gesetzes  für  die  Productionstheorie  im  Allgemeinen. 
S.  auch  Sidgwick,  princ.  B.  1,  Kap.  6.  Von  den  deutschen  Autoren  bes.  Koscher  1, 
§.  34,  in  der  neuesten  20.  Aufl.  mit  richtiger  Abweisung  der  gegnerischen  optimistischen, 
aber  thatsächlich  widerlegten  Anschauungen  der  Socialisten,  wie  Rodbertus,  G.  George 
und  der  Schwärmereien  und  Schimpfereien  eines  Bebel  („die  Frau“,  wo  u.  A.  eben 
die  Kosten  frage,  der  entscheidende  Punct.  in  den  Ideen  von  landwirthschaftlich- 
technischen  Fortschritten  und  Reformen  in  keiner  Weise  genügend  beachtet  wird). 
Aus  der  Agrarpolitik  vgl.  Koscher’s  und  Buchenberger  s Ausführungen  über  die 
Entwicklung  der  Feldbau-  und  Betriebssysteme.  Aus  der  landwirthschaftlich-technischen 
Litteratur  gehören  Mittheilungen  Uber  die  Ergebnisse  der  Düngung  verschiedener 
Art,  der  Pflügung  (Tiefpflügen  u.  dgl.)  u.  A.  m.  zur  Begründung  der  Thatsacben, 
welche  das  „Bodengesetz4’  bethätigen,  mit  hierher  (s.  einige  Daten  bei  Roscher  I, 
§.  34 , Note  3). 

Auch  auf  die  Gefahr  hin,  von  jüngeren  Fachgenossen,  die  schnell  fertig  mit  dem 
Urtheil  und  Wort  sind,  ebenfalls  der  Beweisführung  mit  einem  „alten  Ladenhüter'4 
geziehen  zu  werden,  halte  ich  an  dieser  gut  begründeten,  freilich  auch  richtig  zu 
verstehenden  und  auszulegendcn  Lehre  der  britischen  Oekonomik  vom  Bodeuiresetz 
durchaus  fest.  Blosse  Behauptungen,  missverständliche  Auslegungen,  z.  B.  als  ob  die 
Bedeutung  der  landwirtschaftlich  -technischen  Fortschritte  von  den  Vertretern  des 
Bodengesetzes  verkannt  würde,  schwärmerische  Tiraden  über  die  unbegrenzte  Fort- 
schrittsfähigkeit der  Technik  sind  keino  Widerlegung.  Solange  wir  nicht  das  chemische 
Problem,  die  Nahrungsmittel  unmittelbar,  ohne  stolfumformende  Mitwirkung  des  landwirt- 
schaftlichen Bodens,  aus  den  Grundstoffen  der  Natur  herzustelleu,  gelöst  haben  — 
wozu  es  doch  noch  eine  gute  Weile  hat!  — wird  auch  mit  dem  Bodengesetze  in  der 
Frage  zu  rechnen  sein.  Ob  selbst  dann  die  „Kosten  frage“  aufhörte,  eine  maass- 
gebende Rolle  zu  spielon  und  desshalb  immerhin  noch  ferner  wenigstens  mit  in  Be- 
tracht zu  kommen,  steht  auch  noch  dahin. 

§.256.  Die  Allgemeinheit  der  Thatsache  der  Ueber- 
völkerungsgefahr.  Nach  allen  diesen  Erwägungen  und  Er- 
örterungen wird  man  die  Gelahr  einer  Uebervölkerung  alseine 
unter  jedem  Wirtschaftssystem  und  in  jeder  Phase  der  volks- 
wirthschaftlichen  Entwicklung  zu  berücksichtigende  anerkennen 
müssen.  Sie  geht  aus  dem  menschlichen  Triehleben  hervor  und 
kann  nur  durch  dessen  Beherrschung  wirksam  überwunden  werden, 
d.  h.  durch  die  präventiven  Ilemmmittcl  der  Volksvermehrung. 
Sonst  wird  man  über  die  üblen  Folgen  der  Uebervölkerung  und 
die  Nothwendigkeit,  dass  die  Repression  die  Ausgleichung  herbei- 
führe,  nicht  hinwegkommen.  Die  letzte  Aufgabe  liegt  daher  auch 
in  dieser  Beherrschung  eines  Naturtriebs  in  der  Bevölkerung  und 
für  die  Gesellschaft  in  der  Herbeiführung  solcher  Verhältnisse, 
welche  diese  Beherrschung  begünstigen,  daher  die  präventiven 
Tendenzen  wirksamer  machen. 

Eben  deshalb  ist  noch  eines  weiteren  Bedenkens  hier  zu  er- 
wähnen : der  leicht  auf  die  Bevölkerungsvermehrung  z u fö  r de  rl  i c h e n 

42* 


(556  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lehre.  2.  H.-A.  Folgerungen.  §.  257. 

Rückwirkung  von  Verbesserungen  in  der  Lage  der  Volks- 
masse. Es  ist  wohl  möglich,  ja  es  ist,  wie  man  nach  vielfältiger 
Beobachtung,  insbesondere  nach  den  Thatsacben  der  Bevölkerungs- 
statistik bezüglich  der  Heiratbs-  und  Geburtsfrequenz  in  „günstigen“ 
Perioden  (§.  219  ff.),  sagen  muss,  erfahrungsmässig  fast  wahr- 
scheinlich, auch  wegen  der  mitspielenden  psychologischen  Momente 
verständlich,  dass  zumal  eine  plötzliche  Verbesserung  der  materiellen 
Lebenslage  der  Volksmassen  die  präventiven  Tendenzen  der  Volksver- 
mehrung abschwäche.  Hierin  liegt  auch  eine  unverkennbare 
Gefahr  der  Wirkung  aller  Verbesserungen  der  Lebenslage,  welche 
sich  von  selbst,  durch  Verkehrs  Vorgänge,  technische  Entwicklungen 
wie  durch  gesetzgeberische,  administrative,  caritative  Maassregeln 
vollziehen,  namentlich  der  Wirkung  plötzlicher,  „ruckweiser“, 
graduell  starker  Verbesserungen  auf  die  Bevölkerungsbewegung. 
Tritt  diese  Wirkung  ein,  dann  werden  auch  diese  Verbesserungen 
schwerlich  dauernd  sein  können.  Das  bleibt  auch  wieder  das 
schon  mehrfach  angedeutete  entscheidende  Bedenken  bei  einer 
socialistischen  Productions-  und  Vertheilungsordnung  unter 
völliger  Heirathsfreiheit  und  Freiheit  des  Geschlechtsverkehrs,  ver- 
bunden mit  Abnahme  der  Versorgungspflicht  bezüglich  der  Kinder 
von  den  Eltern  und  Uebertragung  dieser  Pflicht  auf  die  „Gesell- 
schaft“. 

Was  aber  ist  nun  nach  dem  Allen  das  Wesen,  welches  sind 
die  charakteristischen  Merkmale  der  socialökonomischen  Er- 
scheinung oder  des  betreffenden  Zustands,  welche  wir  hier  unter 
dem  Ausdruck  „Uebervölkerung“  behandelt  haben?  Das 
wird  sich,  wie  oben  (S.  639)  Vorbehalten  wurde,  nunmehr  be- 
stimmen lassen:  eine  Aufgabe,  welche  mit  der  folgenden  Unter- 
scheidung in  Verbindung  steht  und  im  Zusammenhang  mit  ihr 
hier  gelöst  werden  soll. 

B.  — §.  257.  Absolute  und  relative  Uebervölkerung. 
Hierzwischen  wird  in  der  ganzen  Frage  oft  nicht  genügend  unter- 
schieden. Namentlich  die  Optimisten  der  verschiedenen  Richtungen 
denken  an  Zustände  absoluter  Uebervölkerung.  Sie  glauben  dann 
leicht,  wenn  sie  diese  im  streitigen  Falle  nicht  findeu,  damit  auch 
das  Vorhandensein  von  Uebervölkerung  überhaupt,  von  relativer 
Uebervölkerung  widerlegt  zu  haben:  die  wesentlich  allein  hier  in 
Rede  stehende,  wichtigere  und  schwieriger  zu  beurtheilende  und  zu 
behandelnde  Erscheinung,  ein  verhängnisvoller  theoretischer  Irr- 
thum (§.  250). 


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Absolute  Uebervölkerung. 


657 


1.  Unter  „absoluter“  Uebervölkerung  könnte  wohl  nur  ein 
Zustand  verstanden  werden,  welcher  etwa  folgende  Merkmale  auf- 
weist: ein  Zustand  nemlich,  in  welchem  wirklich  für  einen  be- 
stimmten Zeitraum  und  für  eine  gegebene,  nothwendig  zu  versorgende 
Volkszahl  das  überhaupt  vorhandene,  in  den  erforderlichen  con- 
creten  Unterhalts-,  namentlich  Nahrungsmitteln  schon  bestehende 
oder  darin  im  gebotenen  Zeitpuncte  und  an  gebotener  Stelle  um- 
setzbare Volkseinkommen,  bzw.  auch  Volksvermögen,  schlechter- 
dings nicht  ausreicht,  diese  Volkszahl  zu  erhalten,  bzw.  zu  ernähren. 
Ein  solcher  Zustand  erscheint  möglich  und  kommt  auch  in  grösserer 
und  geringerer  localer  Ausdehnung  in  abnormen  Zeitlagen  und 
unter  besonderen  ungünstigen  Umständen  vor.  So  in  Kriegs-, 
Revolutionszeiten , dann  allgemeiner  auf  primitiveren  Stufen 
des  Wirtschaftslebens,  wo  die  Bevölkerung  auf  freie  Naturgaben 
angewiesen  ist,  einfachen  Ackerbau  treibt,  grosse  Missernten  ein- 
getreten sind  und  es  an  technischen  Mitteln,  namentlich  Communi- 
cations- und  Transportmitteln,  auch  etwa  an  Handelseinrichtungen 
zur  Herbeischaffung  des  Erforderlichen  aus  der  Ferne,  sowie  an 
ökonomischen  Mitteln  zum  Einkauf,  zur  Bezahlung  dieses  Erforder- 
lichen fehlt. 

Derartig:  sind  die  Verhältnisse  in  den  aus  Missernten,  politischen  Ereignissen 
bervorgegangenen  Hungersnöthen  früherer  Zeiten  und  heute  noch  von  Ländern,  welche 
in  dieser  Hinsicht  zurückgeblieben  sind  (Indien,  China ; auch  der  russische  üothstand 
im  Jahre  181)1 — 92  bot  noch  etwas  Analogieen  und  vor  nicht  langer  Zeit  überhaupt 
die  Hungersnötbo  in  europäischen,  namentlich  communicationsarmen  Ländern). 

Auf  höheren  Wirthschaftsstufen  wird  gerade  ein  derartiger 
allgemeiner  Zustand,  welcher  nicht  aus  vorübergehenden  poli- 
tischen, sondern  aus  technischen  und  ökonomischen  Ver- 
hältnissen entspringt,  sehr  selten  sein,  wenn  überhaupt  Vorkommen. 
Nur  in  einzelnen,  meist  auch  nur  in  kleineren  Volkskreisen  und 
mehr  sporadisch  und  vorübergehend  mag  er  hie  und  da  zu  finden  sein. 

Da  handelt  es  sich  dann  auch  um  acuto  Nothstände,  denen  nicht  mit  regel- 
mässig längere  Zeit  zu  ihrer  Wirksammachung  erheischenden  Maassregeln  auf  dem 
Productionsgebiete,  als  vielmehr  mit  solchen  auf  dem  Vertheilungsgebiete,  mittelst 
öffentlicher  und  privater  Nothstandshilfe,  entgegen  zu  wirken  ist,  — mit  Mitteln,  welche 
freilich  im  schliesslichen  Effect  von  denen,  welche  sie  noch  besitzen  und  entbehren 
können,  zu  Gunsten  der  in  Noth  befindlichen  Bevölkerung  freiwillig  oder  gezwungen 
(Steuern)  hergegeben  werden  müssen.  Die  vorher  wirksamen  repressiven  Tendenzen 
der  Volksvermehrung  lassen  es  eben  nicht  zu  allgemeinerer  absoluter  Ueber- 
völkerung kommen. 

Allein,  wenn  absolute  Uebervölkerung  nicht  vorhanden  ist, 
beweist  das,  wie  gesagt,  nichts  für  die  Frage  der  relativen  Ueber- 
völkerung. 


658  4.  B.  Bevölk.  u.  Yolksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lchrc.  2.  H.-A.  Folgerungen.  §.  258. 

§.  258.  — 2.  Diese  letztere,  wie  der  Ausdruck  andeutet,  ist 
eben  eine  nicht  für  sich  und  bloss  nach  den  Grössenbeziehungen 
zwischen  Bevölkerung  und  Volkseinkommen  (Volksvermögen)  zu 
bemessende,  sondern  eine  Erscheinung,  bei  welcher  die  ganze  in 
Betracht  kommende  Mannigfaltigkeit  der  socialen,  technischen, 
wirtschaftlichen,  rechtlichen,  der  Cultnrmomente  einer  Periode  in 
ein  Verhältniss  zur  Bevölkerung  gebracht  wird.  An  diesem  Verhält- 
niss  gemessen  ergiebt  sich  dann  für  jede  der  Stufen  der  Wirth- 
schaftsentwicklung  (§.  251)  und  für  das  ganze  Volk  wie  für  Theile 
und  Classen  desselben,  allgemein  oder  local,  einige  Dauer  hindurch 
oder  kurz  vorübergehend,  eventuell  ein  Zustand,  welcher  als  relative 
lieber völkerung  bezeichnet  werden  kann  und  muss.  Daher  treten  hier 
in  Bezug  auf  das  Maass  der  Volksdichtigkeit,  bei  welchem  Ueber- 
völkerung  besteht  oder  nicht,  und  in  Bezug  auf  das  Maass  der 
Bedürfnisbefriedigung,  bei  welchem  Uebervölkerung  anzuerkennen 
ist  oder  nicht,  namentlich  Verschiedenheiten  nach  jenen  Stufen 
der  Wirthschaftsentwicklung  ein.  Und  zwar  in  Betreff  dieser  beiden 
Puncte  in  umgekehrter  Richtung:  eine  Volksdichtigkeit,  welche  auf 
einer  niedrigeren  Stufe  als  Uebervölkerung  wirkt,  kann  auf  einer 
höheren  Stufe  ganz  normal  und  unbedenklich  sein.  Und  wo  wegen 
des  niedrigen  Ranges  der  Bedürfnisbefriedigung  auf  einer  höheren 
Stufe  Uebervölkerung  vorliegt,  braucht  das  auf  einer  niedrigeren 
Stufe,  z.  B.  bei  einem  viel  geringeren  Bedürfnissstande  und  lästigerem 
Arbeitsmaass  der  Bevölkerung,  nicht  der  Fall  zu  sein. 

Das  Wesen  und  die  specifischen  Merkmale  solcher  relativer 
Uebervölkerung  lassen  sich  daher  folgendermaassen  in  einer  Formel 
bestimmen. 

Dieselbe  passt  auf  diese  Erscheinung  in  allen  Fällen,  auf  allen  Stufen,  wenig- 
stens mit  geringen,  sich  leicht  ergebenden  Modificatiouen,  ist  hier  aber  den  Verhält- 
nissen des  hochentwickelten  Wirthschafts-  und  Culturlebens  in  unserer  Zeit  angepasst 

worden.  Sie  lautet  demnach: 

* 

Relative  Uebervölkerung  liegt  vor,  wenn  die  Bevölkerung,  ins- 
besondere ihre  sogen,  arbeitenden  Classen,  bei  aller  Fähigkeit  und 
allem  guten  Willen  zur  Erwerbsthätigkeit  nicht  sichere  und  ge- 
nügende Beschäftigung  uud  Erwerb  findet,  und  zwar  nach  Maass- 
gabe folgender  drei  Reihen  von  Umständen:  einmal  nach  den 
gegebenen  ökonomisch-technischen  Verhältnissen  der  Pro- 
duction, insbesondere  nach  den  Bedingungen  für  den  Ab- 
satz der  Arbeitserzeugnisse  und  für  die  dafür  erlösten  Preise 
sowie  nach  denjenigen  für  den  Bezug  und  die  Preise  der  be- 
durften Producte;  ferner  nach  der  gegebenen  Rechtsordnung 


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Relative  Uebervölkerung. 


659 


für  Production  und  Verkeilung;  endlich  aber  auch  nach  den  auf 
Grand  der  einmal  erreichten  Lebenshaltung  gestellten  Ansprüchen 
sowohl  in  Betreff  der  Art,  des  Maasses,  des  Lastgefühls  der  Arbeits- 
leistung, als  auch  bezüglich  der  Art,  des  Maasses,  des  Lustgefühls 
der  Entlohnung,  bzw.  der  Bedürfnissbefriedigung. 

Die  beiden  erbten  Reihen  von  Umständeu  werden  gewöhnlich  in  der  Frage 
berücksichtigt,  die  letzte  Reihe,  die  Ansprüche  dagegen  nicht.  Und  doch  ist 
grade  dieses  Moment  etwas  sehr  Wesentliches  in  der  Frage  der  relativen  Uebcr- 
völkerung.  Wenn  man  davon  nach  den  in  der  Formel  angedcuteten  Einzelheiten  ab- 
sieht, wird  man  öfters  Uebervölkerung  nicht  annehmen,  wo  sie  unverkennbar  vorliegt. 
Denn  freilich,  ein  (Arbeits-)Einkommen  weit  unter  dem  Betrage  dessen,  welches  zur 
Befriedigung  selbst  nur  der  nothwendigen  Existenzbedürfnisse  zweiten  Grads  im  volks- 
üblichen Umfange  (§.  24)  ausreicht,  und  für  eine  überlästige  Arbeitsart  und  über- 
mässige Arbeitsmenge  — z.  B.  eine  Arbeitslast  in  einem  unmässig  verlängerten  Ar- 
beitstage, — ein  solches  Einkommen  mag  vielleicht  noch  abfalien.  Aber  das  recht- 
fertigt eben  nicht,  hier  das  Vorhandensein  von  relativer  Uebervölkerung  zu  läugnen. 

Jedes  Volk,  jede  Classe,  jedes  Zeitalter,  jede  Gegend  will  nach  ihrem  Maass- 
stabe in  diesen  ihren  Ansprüchen  an  Arbeitslast  und  Befriedigungsart  und  Umfang 
gemessen,  beurtlieilt  werden.  Wird  ihnen  nach  diesen  zu  viel  an  Last  zugemuthet 
und  zu  wenig  an  Lust  gewährt,  so  werden  sie  sich  bedrückt  fühlen.  Geht  dieses 
Uebermaass  an  Last  und  Untcrmaass  an  Lust  aber  aus  den  angedeuteten  ersten 
zwei  Reihen  von  Umständen  nothwendig  hervor,  so  besteht  ebon  — relative  Ueber- 
völkerung. 

Namentlich  für  die  Beantwortung  der  Frage,  ob,  wann  und  in  wie  weit  auf 
verschiedenen  Wirthschafts-  und  Culturstufen  relative  Uebervölkerung 
vorhanden  sei.  ist  das  Moment  der  „Ansprüche“  von  entscheidender  Bedeutung.  Für 
Asiaten,  für  Chinesen  mag  ein  Arbeitsmaass  noch  erträglich  sein  und  ein  Befriedi- 
gungsmaass  noch  völlig  genügen,  welches  für  Europäer  und  deren  Abkömmlinge  in 
der  Neuen  Welt  unerträglich  uud  ungenügend  ist:  unter  jeuen  wird  cs  nicht,  unter 
diesen  sehr  wohl  auf  Uebervölkerung  hindeuten  können.  Aehnliches  gilt  theilweise 
von  Continental-Europäern  gegenüber  Briten,  von  Slaven,  Italienern  gegenüber  Deut- 
schen, ebenso  von  früheren  Verhältnissen  der  Bevölkerung,  z.  B.  in  West-  und  Mittel- 
europa, gegenüber  heutigen. 

Ein  Symptom  oder  eine  Wirkung  der  relativen  Uebervölkerung 
wird  daher  auch  nicht  nothwendig  und  in  der  That  auch  in  Wirk- 
lichkeit nur  ausnahmsweise  die  Auslösung  der  repressiven  Tendenzen 
der  Volksvermehrung,  eine  allgemein  grössere  Sterblichkeit,  nicht 
einmal  nothwendig  immer  eine  grössere  Kindersterblichkeit  sein. 
Vielmehr  wird  sich  die  Wirkung  in  einem  Druck  auf  das  Ein- 
kommen, auf  die  Löhne,  in  einer  Ausdehnung  des  Arbeits- 
tages, einer  Steigerung  des  zu  übernehmenden  Arbeits- 
maass es  zeigen.  Selbst  darin  aber  nicht  immer  direct,  sondern 
indirect:  ein  sonst  mögliches  Steigen  des  Einkommens, 
Verminderung  des  Arbeitsmaasses  wird  unterbleiben. 
M.  a.  W.  die  ganze  Lebenshaltung,  naeü  Arbeitslast  und  Umfang 
und  Art  der  Bedürfnissbefriedigung  gemessen,  wird  wieder  weiter 
herabgedrückt  oder  niedrig  gehalten:  die  eigentlich  cultur- 
f ein d liehe  Wirkung  der  Uebervölkerung,  auch  vom  Standpuncte 
des  Gesammtinteresses,  auch  selbst  von  demjenigen  des  volkswirth- 


660  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lchre.  2.  H.-A.  Folgerungen.  §.  25S. 


schaftlichen  Productionsinteresses  aus,  wenn  die  Arbeitsfähigkeit 
und  die  Arbeitslust  UDter  solchen  Verhältnissen,  wie  leicht  möglich, 
leiden. 

Wirkt  die  Repression  aber  hier  nicht,  so  bleibt  auch  die  Ur- 
sache in  Kraft,  welche  ungünstige  wirthschaftliche  Verhältnisse 
herbeiführt:  eben  das  Missverhältnis  zwischen  Bevölkerung 
und  Unterbaltsmitteln,  bzw.  sachlichen  Productions- 
mitteln,  um  Unterbaltsmittel  direct  oder  durch  Austausch  zu  ge- 
winnen. 

Besonders  schwer  wird  sich  hier  immer  eine  ungünstige  Altersc  lassen- 
vertheilnng,  namentlich  eine  hohe  Kinderquote  in  der  Bevölkerung  erweisen 
(§.  241).  Die  Auferziehung  der  neuen  Generation,  hier  noch  dazu  der  Annahme  nach 
einer  fortschreitend  grösseren,  neben  der  Erhaltung  der  sonst  nicht  Erwerbsthätig*:.. 
besonders  der  alten  Leute,  der  Berufslosen,  uöthigt  bei  einem  Zustande  der  Cebet- 
völkerung  vollends  zur  Einschränkung  der  Bedürfnisse,  sowohl  der  erwerbstätig?:, 
erwachsenen,  productiven  Bevölkerung,  als  freilich  auch  der  übrigen,  weiche,  wit 
namentlich  die  Kinder,  unmittelbar  von  jener  unterhalten  werden. 

Würde  es  sich  bei  dieser  Einschränkung  nur  um  Verminderung  oder  Aufgeba 
eines  sonst  möglichen,  unnötigen , vielleicht  sogar  schädlichen  Luxus  handeln.  * 
wäre  das  kein  durchschlagendes  Bedenken.  So  mag  hier  und  da  bei  einzelne» 
Familien  und  Ständen  die  Wirkung  der  grossen  Kinderzahl  sein  (Verhältnisse  in  ein- 
zelnen Kreisen  des  Mittelstandes).  Aber  meistens  und  namentlich  für  die  Masse  ihr 
Bevölkerung  liegt  die  Sache  ungünstiger.  Hier  erfolgt  eine  dem  Einzelnen  wie  auch 
der  Gesammtheit  schädliche  Einschränkung  der  Lebenshaltung,  eine  un- 
genügende  materielle,  sittliche,  geistige  Pflege  und  Ausbildung  der  Kinder,  cia. 
Verkümmerung  der  Eltern,  der  alten  Leute,  der  Frauen  insbesondere,  ein  unvennrid- 
licher  Verzicht  auf  Antheilnahme  an  Cultnrgütem,  welcher  auch  wieder  für  die  social? 
Gesammtentwicklung  von  Uhlen  Folgen  ist.  Ein  allgemeines  Aufsteigen  der  Nation 
auf  ein  berechtigtes  höheres  Bedürfniss-  und  damit  Culturniveau  wird  unter  diese» 
Verhältnissen  eben  gehindert,  bestenfalls  sehr  verlangsamt. 

Nicht  minder  wird  natürlich  auch  die  Bildung  des  Nation alkapit als  gehemmt. 
Diese  vollzieht  sich  in  unseren  Volkswirtschaften  einmal  grösstentheiis  durch  das 
Medium  der  Bildung  von  Privatkapital  (§.  127  ff.),  daher  durch  Erübrigungen  aas 
dem  Einkommen  der  Privatpersonen  nach  Abzug  des  Bedarfs.  Verzehrt  letzterer  mehr 
oder  weniger  notwendig  das  Einkommen,  bleibt  für  die  Volksmasse  überhaupt  wenig 
freies  Einkommen  (§.  174)  übrig,  so  kann  eben  die  private  und  damit  hier  die 
nationale  Kapitalbildung  nur  langsamer  und  schwächer  vor  sich  geben.  Oder  aber  — 
sie  erfolgt  abermals  um  den  hoben  Preis  einer  weiteren  Einschränkung  der  Lebens- 
haltung, der  Bedürfnisbefriedigung,  oft  genug  derjenigen,  welche  wie  bei  geistigen, 
culturlichen,  Bildungsbedürfnissen  im  Einzel-  wie  im  Gesammtintercsse  stattfindea 
sollte.  Auch  daher  also  wieder  nachtheilige  Folgen. 

Vergleichungen  zwischen  den  kinderreichen  und  kinderarmen  Familien  desselben 
socialökonomischen  Standes,  nicht  nur  bei  den  Arbeitern,  auch  beim  Mittelstände  bis 
weit  in  die  Kreise  der  Bevölkerung  mit  höherem  Einkommen,  freilich  vornemlich 
persönlichem  oder  Arbeitseinkommen,  hinauf,  Vergleichungen  zwischen  Gegenden  und 
Ländern  mit  grösserer  und  geringerer  Durchschnittskinderzahl  in  der  Familie,  grösserer 
und  geringerer  Kinderquoto  in  der  Bevölkerung.  Vergleichungen  ganzer  grosser  Volks- 
gebiete, so  zwischen  Deutschland  und  Frankreich,  liefern  deutliche  Belege  für  die 
vorstehenden  Sätze. 

Auch  in  den  einzelnen  Berufsk reisen,  hei  uns  vielleicht  mehr  noch  im 
Mittelstando . z.  B.  im  Beamtenstande,  bei  den  sonstigen  liberalen  Berufen,  in  den 
höheren  abhängigen  Stellungen  des  Gewerbe-  und  Kaufmannsstandes  (Commis  u.  s.  w.i, 
als  im  eigentlichen  Arbeiterstando  zeigen  sich  die  Symptome  und  die  Folgen  einer 
solchen  relativen  Gebervölkerung.  Auch  hei  Freiheit  der  Berufswahl  recrutirt  sich 
doch  die  künftige  Generation  der  Berufsangehörigen  vornemlich  aus  den  Abkömm- 


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Ucbcrvölkerungsfrago  und  Vertheilungsproblem. 


G61 


lingen  der  bisherigen  Generation,  was  ja  aus  leicht  ersichtlichen  Gründen  begreiflich 
genug  ist.  Wenn  aber  jede  solche  Generation  grösser  und  im  Laufe  von  ein  bis  zwei 
Menschenaltern  doppelt  so  gross  wird,  wenn  nach  Sitte,  nach  Vorurtheilen , nach 
Bildungsgang  u.  s.  w.  nur  wenige  Glieder  in  andero  Berufe  hinUbergehen,  umgekehrt 
aber  dio  Nachkommen  aus  anderen  Berufen,  wiederum  nach  Bildungsgang,  wegen 
gewisser  sonstiger  Vorzüge  des  betreffenden  Berufes,  wegen  Vorurtheilen  in  diesen 
einrücken,  z.  B.  aus  den  unteren  Classcn  und  unteren  Mittelclassen  in  den  Beruf  der 
höheren  Beamten,  der  Aerzte,  Anwälte,  der  Techniker,  Kaufleute,  so  muss  natürlich 
eine  Ueberfüllung  entstehen.  Dieselbe  wird,  wenn  die  Verhältnisse  bleiben,  immer 
drückender  werden.  Denn  nur  ausnahmsweise  wird  von  Menschenalter  zu  Menschen- 
alter der  nationale  Bedarf  an  Arbeitskräften  in  einzelnen  solchen  Berufen  in  dem- 
selben Vcrhältniss  wachsen.  Deuten  nicht  unverkennbare  Zeichen  in  West-  und 
Mitteleuropa,  zumal  in  Deutschland,  auf  derartige  Verhältnisse  und  Zusammenhänge 
der  Erscheinungen  bin? 

Die  „Verbreitung  der  Bildung“,  auch  höherer,  die  Ausdehnung  und  Ver- 
wohlfeilerung der  Benutzung  des  öffentlichen  Unterrichtswesens,  von  der  Volksschule 
bis  zu  Polytechnikum  und  Universität,  ist  unter  solchen  Bevölkerungsverhältnissen  nicht 
unbedingt  ein  Hebel  zur  Emporhebung  der  Bevölkerung,  eher  oft  umgekehrt  ein  Mittel 
zur  Herabdrückung  der  höheren  Stände  und  der  oberen  Mittelstände  auf  ein  niedrigeres 
Niveau  der  Bedürfnissbefriedigung  und  der  Cultur.  Die  Concnrrenz  wird  in  allen 
Kreisen  gesteigert,  mit  einigen  guten,  mit  noch  mehr  üblen  ethischen  Folgen  für  die 
Nächstbetheiligten  und  für  die  Gesammtheit  (s.  Buch  1 Kap.  1 u.  Buch  5).  Dio  Ansprüche 
an  das  Leben,  an  Lebensgenuss,  an  äussere  Stellung,  an  Bildungsmittcl  wachsen,  die 
materiellen  Mittel  nicht  in  demselben  Maassc,  wenn  sie  nicht  gar  ganz  fehlen  oder 
geringfügig  sind  (Lage  der  Berufe  mit  Universitätsbildung  bei  uns).  Das  Miss- 
verhältniss  zwischen  erlangter  formaler  Bildung,  darauf  begründeten  Lebensansprüchen 
in  materieller  und  ideeller  Richtung  einer-,  Lebensstellung,  Aussichten,  Einkommen, 
Vermögen  andrerseits  wird  grösser.  Unzufriedenes  Bildungsproletariat  ist  die  noth- 
wendigo  Folge. 

C.  — §.  259.  Die  Uebervölkerungs frage  und  das 
Vertheilungsproblern.  Gewiss  kommt  in  dem  Allen  nun  auch 
die  Frage  der  Vertheilung  des  Nationaleinkommens  und  National- 
vermögens mit  in  Betracht,  aber  nicht  in  erster  Linie,  wie  nach 
der  Meinung  so  vieler,  namentlich  der  Socialisten,  sondern  nur  als 
Nebenmoment  neben  der  Bevölkerungsbewegung  und  der  daraus 
hervorgebenden  Uebervölkerung.  Ja,  man  kann  weiter  gehen  und 
mit  Recht  behaupten:  diejenige  „Vertheilung“,  welche  sich 
auf  der  Rechtsbasis  des  Privateigenthums  an  den  sachlichen  Pro- 
ductionsmittcln  und  im  Wesentlichen  mittelst  Verträgen  im  privat- 
wirthschaftlichen  Organisationssystem  vollzieht,  fällt  eben  zwischen 
Besitzenden  und  Nicht-Besitzenden,  zwischen  „Kapital  und  Arbeit“, 
zwischen  „Grundbesitz  und  Arbeit“,  so  ungünstigftir  die  Arbeiter  aus, 
weil  sie  unter  dem  Druck  der  grossen  Bevölkerungsdichtigkeit,  der 
Vermehrung  derselben,  der  Ueberholung  des  Bedarfs  an  Arbeitskräften 
jeder  Art  durch  das  Angebot  von  solchen  steht.  Der  „Lohndruck“, 
die  Erhöhung  des  Arbeifsmaasses,  die  Verlängerung  des  Arbeits- 
tages geht  wesentlich  aus  diesen  Verhältnissen  der  Be- 
völkerungsbewegung hervor.  Die  letztere  ist  das  mechanische 


662  4.  B.  Berölk.  u.  Volksw.scb.  1.  K.  Bevölk.lehre.  2 H.-A.  Folgerungen.  §.  259. 

Moment,  das  sich  immer  wieder  mit  elementarer  Gewalt  im  Ver- 
theilungsprocess  Geltung  verschafft. 

Das  „Kapital“  findet  eben  hier  immer  wieder  Arbeitskräfte,  welche  ihm  zu  den 
ungünstigsten  Bedingungen  zu  Dicuste  sein  müssen,  um  leben,  um  Kinder  erhalten 
zu  können.  Durch  Rechtsnormen,  durch  Sitten  und  sittliche  Anschauungen,  durch 
Massenorganisationen  der  Arbeitskräfte  (Gewerkvereiusweseo)  mag  das  etwas  gemildert 
werden.  Aber  das  durch  die  Bevölkerungsbewegung  vornemlich  mit  bestimmte  Ver- 
hältniss  zwischen  Arbeitsangebot  und  Arbeitsnachfrago  gewinnt  immer  wieder  den 
wesentlich  entscheidenden  Einfluss.  Die  Ersetzung  der  menschlichen  Arbeit  durch 
die  Maschine  wirkt  ja  in  derselben  Richtung,  aber  sic  ist  nicht,  wie  der  Socialismus 
wähnt,  der  hier  allein  entscheidende  Umstand. 

Das  würde  sich  vielleicht  in  der  Form  und  etwas  im 
Maasse,  aber  nicht  nach  Princip  und  Art  ändern,  wenn  das 
socialistische  Programm  ausgeführt  würde,  das  gesellschaftliche 
Gemeineigenthum  an  den  sachlichen  Productionsmitteln,  die  gesell- 
schaftliche Ordnung  der  Production  und  der  Vertheiiung  einträte. 
Denn  das  Tempo  und  die  Stärke  der  Volksvermehrung,  des  Ge- 
burtsüberschusses — von  der  gerade  in  einem  „socialistischen“ 
Gemeinwesen  sehr  heiklen  Frage  der  Wanderungen,  der  Freizügig- 
keit, der  Ein-  und  Auswanderungsfreiheit  selbst  abgesehen  — würde 
auch  hier  jedenfalls  der  eine  bestimmende  Factor  für  den  mög- 
lichen „Anteil  des  Einzelnen  am  Gesammtproduct  der  arbeits- 
theiligen  Volkswirtschaft“  bleiben.  Darüber  kommt  keine  denk- 
bare „Organisation  der  Arbeit“  hinaus. 

Alsdann  steht  man  aber  wieder  vor  der  schon  mehrfach 
erwähnten  Hauptfrage:  ist  es  auf  Grund  aller  psychologischen  Er- 
fahrung wahrscheinlich,  dass  in  der  „socialistischen  Volkswirt- 
schaft“ die  Bevölkerung  langsamer  als  in  der  heutigen,  das  Natio- 
naleinkommen dagegen  rascher  wächst?  Wer  das  nicht  zu 
bejahen  wagt  und  eher  nach  Allem  das  Gegentheil  für  wahrschein- 
licher hält,  der  wird  wiederum  einräumen  müssen,  dass  die  Ge- 
fahr einer  durchschnittlichen  Verschlechterung  der  Lebens- 
lage eintritt,  selbst  wenn  kein  Pfennig  „Besitzeinkommen“  an 
„volkswirtschaftliche  Drohnen“  abgeht;  dass,  wie  wir  es  schon 
oben  ausdrückten,  wenn  der  Divisor,  die  Bevölkerung,  noch  rascher, 
der  Dividendus,  das  Volkseinkommen,  noch  langsamer,  als  heut- 
zutage, wächst,  der  Quotient  unvermeidlich  für  den  Einzelnen 
kleiner  werden  muss. 

Alles  das  beweist  daher  auch,  dass  die  „Bevölkerungsfrage“ 
und  die  „Uebervölkerungsgefahr“  in  der  That  vom  Socialisraus 
ebenso  ernst,  wenn  nicht  noch  ernster  beachtet  werden  muss,  als 
das  im  gegenwärtigen  und  in  jedem  früheren  System  der  wirtschaft- 
lichen Rechtsordnung  und  Organisation  und  als  es  auf  der  heutigen 


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Schlusssätze  und  Postulate. 


663 


und  auf  jeder  früheren  volkswirtschaftlichen  Entwicklungsstufe 
geboten  ist  (§.  192,  196). 

D.  — §.260.  Schlusssätze  und  Postulate.  Wir  haben 
oben  (S.  636,  Schluss  von  §.  248)  ein  Postulat  formulirt,  welches 
vom  Standpuncte  des  Productionsinteresses  aus  für  das  Maass  der 
Bevölkerungsvermehrung  aufzustellen  war.  Dasselbe  Postulat  be- 
hält nach  den  vorausgehenden  Erörterungen  auch  bei  der  Be- 
trachtung der  Bevölkerungsfrage  vom  Vertheilungsstandpuncte  aus 
seine  Geltung,  muss  aber  hierfür  dann  noch  nach  einigen  Seiten 
ergänzt  werden.  Es  kann  dann  etwa  folgendermaassen  lauten: 

Bei  gegebener  Productionstecbnik,  gegebenen  Communications-, 
Absatz-,  Bezugsverhältnissen,  gegebener  Rechtsordnung  für  Pro- 
duction und  Vertheilung,  gegebener  Lebenshaltung  der  Massen, 
daher  auch  bei  gegebenen  Ansprüchen  der  letzteren  in  Bezug  auf 
Arbeitslast,  Art,  Maass  und  auf  Bedürfnissbefriedigungslust,  Art, 
Umfang  ist  nur  eine  solche  Volks  Vermehrung  zu  wünschen,  welche 
selbst  wieder  durch  ihre  Bereitstellung  von  arbeitsfähigen  und 
arbeitswilligen  Gliedern  (Erwerbsthätigen)  die  Bedingungen  einer 
mindest  ebenmässig,  womöglich  einer  verhältnissmässig  noch  stärkeren 
Steigerung  der  Gliterproduction,  des  Volkseinkommens,  erfüllt. 

Nur  in  diesem  Maasse  ist  eine  Volksvermehrung  vom  Stand- 
puncte der  Vertheilung  betrachtet  auf  allen  Stufen  der  volkswirt- 
schaftlichen Entwicklung  und  unter  allen  Systemen  der  volkswirth- 
sehaftlichen  Rechtsordnung  und  Organisation  möglicher  Weise 
unbedenklich.  Bei  einer  stärkeren  Vermehrung  tritt  immer  wieder 
die  Gefahr  der  relativen  Uebervölkerung  mit  ihrer  notwendigen 
Folge  der  Verkleinerung  des  auf  den  Einzelnen  fallenden  Ver- 
theilungsquotienten oder  Anteils  am  Nationaleinkommen  ein.  Damit 
aber  werden  leicht  auch  die  Bedingungen  der  Culturentwicklung 
der  Gesammtheit  untergraben.  Notwendig  tritt  das  ein,  wenn 
die  Herabsetzung  der  Lebenshaltung  zu  einer  Beschränkung  in 
der  Befriedigung  notwendiger  und  berechtigter  materieller  und 
ideeller  Bedürfnisse  führt. 

In  einer  volkswirtschaftlichen  Rechtsordnung  und  Organisation, 
wie  derjenigen  der  bisherigen  geschichtlichen  Entwicklung,  der 
heute  auch  bei  den  Culturvölkern  bestehenden,  der  Privateigen thums- 
ordnung  und  der  privatwirthschaftlichen  Organisation,  ist  das  Maass 
der  nach  dem  Vorausgehenden  zulässigen  Volksvermehrung  noch 
enger  begrenzt.  Denn  von  dem  Volkseinkommen  geht  hier  eine 
mehr  oder  weniger  hohe  Quote  an  die  die  sachlichen  Productions- 


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664  4.  B.  Bcvölk.  u.  Volksw.sch.  1.  K.  Bevölk.lehre.  1.  H.-A.  Folgerungen  §.  260. 

mittel  besitzenden  und  damit  producirenden,  die  Leitung  der  natio- 
nalen Production  führenden  Classen  und  überhaupt  an  die  Berufs- 
stände, Volkskreise,  Familien  und  Einzelnen,  welche  ein  über- 
durchschnittliches Einkommen  beziehen,  vom  gesammten 
Nationaleinkommen  ab  (§.  199).  Nur  der  hiernach  verbleibende 
Rest  dieses  letzteren  und  dessen  Bewegung  und  Entwicklung 
(nach  dem  absoluten  Gebrauchswerthbetrage  bemessen)  ist  daher 
hier  die  für  die  Vertheilung  unter  die  übrige,  die  nicht-besitzende, 
die  untere,  die  Arbeiterclasse  zur  Verfügung  stehende  Werthgrösse. 
Entscheidend  sind  mithin  die  Proportionen  des  Wachsthums  dieser 
Grösse  einer-,  des  genannten  Bevölkerungstheils  andrerseits  für  die 
Höhe  des  Vertheilungsquotienten.  Dieser  Bevölkerungstheil  darf 
nicht  rascher,  womöglich  nicht  einmal  so  rasch  wachsen,  als  jener 
verfügbare  Theil  des  Nationaleinkommens.  Sonst  muss,  wenn 
auch  selbst  das  ganze  Nationaleinkommen  stärker  wüchse,  als  die 
Gesammtbevölkerung,  nothwendig  wieder  hier,  fürdieseVolks- 
t heile,  Uebervölkerung  eintreten  mit  ihren  angedeuteten  Folgen. 

Im  Interesse  dieses  Haupttheils  des  Volks  und,  soweit  dies 
Interesse  auch  ein  solches  der  ganzen  Volksgemeinschaft  ist,  in 
demjenigen  der  letzteren,  erscheint  es  erwünscht,  dass  die  Zunahme 
des  Nationaleinkommens  mehr  jenem  Volkstheil  zur  besseren  Be- 
friedigung seiner  materiellen  und  zur  Befriedigung  wahrer  be- 
rechtigter CulturbedUrfnisse  zu  Gute  komme,  daher  eventuell  — hier 
einerlei  auf  welchem  Wege,  durch  welche  Mittel  — auf  Kosten 
der  besitzenden  Classen  und  der  Kreise  und  Personen  überdurch- 
schnittlichen Einkommens,  mindestens  in  der  Art,  dass  der  weitere 
Zuwachs  des  Nationaleinkommens  nicht  diesen  letzteren,  sondern 
jener  Masse  des  Volks  ganz  oder  doch  grösstentheils  zufalle.  Die 
Privateigenthumsordnung  und  die  privatwirthschaftliche  Organisation 
erschwert  das,  ohne  es  durchaus  zu  hindern.  Es  ist  eine  principielle 
socialökonomische  Frage  der  volkswirtschaftlichen  Organisation 
(Buch  5)  und  Rechtsordnung  (Abtheilung  II  der  Grundlegung),  die 
Gestaltung  der  Vertheilung  des  Nationaleinkommens  und  National- 
vermögens und  zumal  des  weiteren  Zuwachses  beider  mehr  in  die 
angedeutete  Richtung  hinüber  zu  leiten.  S.  auch  folgendes  2.  Kapitel 
dieses  4.  Buchs  hierüber. 

Aber  der  Erfolg  selbst  der  gelungensten  bezüglichen  Ein- 
richtungen und  Maassregeln,  selbst  einer  rein  socialistischen  Pro- 
ductions-  und  Vertheilungsordnung  ohne  jedes  Besitzeinkommen, 
vorausgesetzt,  was  freilich  zu  bezweifeln  ist,  dass  dabei  das  volks- 


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Schlusssätze  und  Postulate. 


665 


wirtschaftliche  Prodnctionsproblem  genügend,  mindestens  nicht 
schlechter,  vielleicht  sogar  besser  gelöst  würde,  als  auf  dem  Boden 
der  bestehenden  Rechtsordnung  und  Organisation,  — der  Erfolg 
von  dem  Allen  ist  wiederum  durchaus  abhängig  von  dem 
Maasse  derBevülkerungsvcrmehrung.  Geht  diese  rascher 
als  diejenige  des  ganzen  Nationaleinkommens  oder  des  für  die 
Masse  verfügbaren,  wenn  auch  grösser  werdenden  Theils  desselben 
vor  sich,  wozu  eben  Tendenzen  bestehen,  so  muss  sich  der  Ver- 
theilungsquotient abermals  notwendig  verkleinern. 

Soll  das  vermieden,  soll  die  Gefahr  der  relativen  Uebervölkerung, 
welche  hier  immer,  unter  allen  wirtschaftlichen  Rechtsordnungen 
und  Organisationen,  eintritt,  beseitigt,  andrerseits  die  traurige  Even- 
tualität eiuer  Niedrigbaltung  der  Lebensführung,  der  Culturcnt- 
wicklung  oder  eines  Hervorkommens  der  repressiven  Tendenzen 
der  Volksvermehrung  verhütet  werden;  ist  auch  die  unter  solchen 
Verhältnissen  erwünschte  Auswanderung  nicht  im  erforderlichen 
Maasse  in  Gang  zu  bringen  und  darin  zu  erhalten  und  versagt 
die  Hilfe  des  technischen  Fortschritts  in  der  Production,  zumal  im 
Landbau,  und  die  Hilfe  der  Absatzerweiterung  wie  des  hinlänglich 
lohnenden  Absatzes  heimischer  Producte  und  Leistungen  auf  fremden 
Märkten,  der  Bezugserweiterung  und  des  lohnenden  Bezugs  fremder 
Producte  und  Leistungen  aus  diesen  Märkten  — wie  das  nach  den 
früheren  Ausführungen  anzunehmen  ist  — : so  giebt  es  überhaupt 
nur  ein  durchschlagendes  Hilfsmittel  auf  die  Dauer: 
die  genügende  Wirksamkeit  der  präventiven  Tendenzen 
der  Volksvermehrung,  auch,  ja  gerade  auch  in  der  hochent- 
wickelten Volkswirtschaft  der  „Agricultur-,  Manufactur-  und 
Welthandelsphase“  mit  grosser  Volksdichtigkeit;  aber  nicht  minder 
auch,  ja  vollends  auch,  in  einer  socialistisch  eingerichteten 
Volkswirtschaft  und  in  jeder  sich  einer  solchen  Einrichtung,  z.  B. 
durch  legislative  und  administrative  Maassregeln  zu  Gunsten  der 
arbeitenden  Classen  und  der  „kleinen  Leute“  überhaupt  nähernden 
(Arbeiterschutz,  Arbeiterversicherung,  Unentgeltlichkeit  oder  hinter 
der  Kostendeckung  zurückbleibende  Bezahlung  öffentlicher  Ein- 
richtungen und  Leistungen  [Volksschule],  „sociale“  Finanz-  und 
Steuerpolitik) *). 

Robert  Malthus  behält  somit  in  allem  Wesentlichen 
Recht! 

*)  Vgl.  besonders  meine  Finanzwissenschaft  I,  3.  Aufl.,  §.  27,  und  II.  2.  Auf!., 
§.  S2,  159,  160  and  die  Ausführungen  im  folgenden  Kapitel. 


666  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  2.  K.  Bedarf  u.  Verth eil.problem.  §.  261. 

Hiermit  haben  wir  die  Behandlung  der  „volkswirtschaftlichen 
Bevölkcrungslehre“,  soweit  das  für  unsere  Zwecke  geboten  war 
(§.  191  ff.),  beendigt.  Eine  Grundlage  ist  so  auch  für  alles  Folgende, 
zunächst  insbesondere  für  die  Erörterungen  im  zweiten  Kapitel 
dieses  vierten  Buchs  und  im  fünften  Buche  (Organisation  der  Volks- 
wirtschaft) gewonnen,  auf  der  wir  weiter  zu  bauen  haben. 


Zweites  Kapitel. 

Der  Bedarf  und  das  Vertheilungsproblem 
oder  die  Einkommenlehre  vom  Vertheilungs- 
standpunct  betrachtet. 

§.  261.  [2.  A.  S.  134 — 136.]  Vorbemerkungen.  Dieses  Kapitel  bringt  die 
oben  in  §.  170  angekündigte  Ergänzung  der  dort  nur  vom  Productionsstand- 
puncte  behandelten  Einkommeulehre  nunmehr  vom  Vertheilungsstaudpuncte 
und  damit  auch  vom  Standpuncte  der  Erörterung  des  Scin-sollens,  der  Auf- 
stellung eines  Richtuugsziels  aus,  zugleich  in  Gemässheit  unseres  methodologischen 
Staudpuncts  (s.  §.  57,  62  fl'.). 

Wesentlich  den  Anregungen  der  socialistisch en  Theoretiker  ist  durch  ihren 
scharfen  Hinweis  auf  die  vorwiegende  Bedeutung  des  V erth ei lun gs problems  die 
Berichtigung  der  Einseitigkeiten  der  früheren  Nationalökonomie  zu  verdanken.  Diese 
vertrat  hier  in  ihren  Untersuchungen  meist  nur  den  Prodociions-  und  selbst  nui  den 
Producentenstandpunct.  Indessen  sind  die  Conscquenzen  dieser  neueren  Auffassung 
bisher  meistens  nur  in  der  im  engeren  Sinne  sogenannten  socialen  Frage,  in  der 
„Arbeiterfrage“,  zur  Geltung  gekommen,  in  der  V ol  ks  w i rt  lisch  af  ts  le  h re, 
als  Ganzes  genommen,  namentlich  in  der  Formulirung  der  Probleme  der 
Theorie,  noch  wenig.  Diese  Aufgabe  gilt  es  jetzt  zu  lösen.  Die  folgenden  Er- 
örterungen in  diesem  Kapitel  enthalten  einen  Versuch  dazu,  für  welchen  nur  wenige 
unmittelbare  Vorarbeiten,  abgesehen  von  einem  Tbeil  der  Litteratur  über 
die  Arbeiterfrage  und  über  sociale  Organisation  im  Allgemeinen,  vorhanden  sind. 
A.  Smith.  Ricardo,  lind  ihre  englischen  Nachfolger  (mit  tbeilweiscr  Ausnahme 
von  J.  St.  Mill),  J.  B.  Say  und  die  meisten  späteren  Franzosen  (mit  tbeilweiscr 
Ausnahme  von  Sismondi),  die  Deutschen  nicht  nur  bis  auf  Rau  und  Hermann, 
sondern  selbst  (im  Wesentlichen  wenigstens)  einschliesslich  Roscher  s haben  die  in 
diesem  Kapitel  erörterten  Puucte  theils  gar  nicht,  theils  nur  nebenbei  und  nicht 
principiell  behandelt.  Wichtige  Gesicht.»puncte.  aber  nicht  systematisch-dogmatische 
Erörterungen  und  Formulirnngcn  der  einschlagenden  Probleme  enthalten  Sismondi  s. 
Hildebrand’s  und  Knies’  öfters  genannte  Schriften. 

Einige  Beispiele  für  die  ältere  Behandlungsweise.  Rau  erörtert  im  4.  Abschnitt 
des  1.  Theils  (Zustände  der  Volkswirtschaft)  §.  73 — S1  eigentlich  nur  die  formale 
Seite  dieser  Zustände  (Classification  der  Einkommenverhältnisse,  § 76  fl'.,  s.  unten  in 
diesem  Kapitel  im  zweiten  Abschnitt,  bes.  §.  2^*5)  Im  1.  Abschnitt  der  Lehre 
von  der  Verteilung  (§.  140  fl.)  betrachtet  Kau  „die  Verteilung  im  Allgemeinen“ 
nur  ganz  kurz  und  auch  bloss  von  der  formalen  Seite.  Dasselbe  gilt  von 
seinen  Erörterungen  über  „das  Volkseinkommen  im  Ganzen“  §.245 — 251,  in  welchen 
ausserdem  ausschliesslich  der  Productionsstandpunct  eingenommen  wird.  Diese  Er- 
örterungen sind  daher  schon  oben  im  3.  Kapitel  des  3.  Buchs  (S.  399  ff.)  berührt 
worden.  Nur  im  4.  Buch,  in  der  Lehre  von  der  Verzehrung,  besonders  im  1.  Ab- 
schnitt §.  319  ff.,  finden  sich  bei  Rau  sporadische  Bemerkungen  (besonders  §.  322. 
325,  326)  über  die  eigentlich  vol  ks  wirtschaftliche  Bedeutung  der  Ve  r t h e i lu  n g 


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Vorbemerkungen  zu  Kapitel  2. 


667 


des  Volkseinkommens.  Ich  führe  dies  an.  nicht  nur  um  zu  zeigen,  dass  diese  Behand- 
lungsweise nicht  mehr  genügen  kann,  sondern  weil  dieso  ganze  dürftige  Behand- 
lung des  eigentlich  bedeutsamsten  Punctes  der  Einkommenlehre  bei  Rau,  nemlich 
der  Frage  nach  den  volkswirtschaftlichen  und  culturlicben  Wirkungen  einer  be- 
stimmten Art  der  Vertheilung  des  Nationaleinkommens  und  -Vermögens  (trotz  der 
Bemerkungen  Rau 's  in  §.  140)  und,  damit  zusammenhängend,  der  Krage  nach  der 
w ünschens  wert hen  Vertheilung,  überhaupt  charakteristisch  für  die  ältere  und  fast 
noch  die  ganze  bisherige  Nationalökonomie  ist,  daher  auch  keineswegs  einen  Vorwurf 
speciell  gegen  Rau  bildet.  Hermann  in  seinen  Untersuchungen  behandelt  zwar  die 
Bedürfnisse  eingehend  genug  (2.  Auf].  Abth.  II,  S.  78 — 103),  aber  ..das  Einkommen 
in  Bezug  auf  die  Bedürfnisse“  handelt  er  in  wenigen  Sätzen,  mehr  formalen  Inhalts, 
ab  (S.  594).  Dies  entspricht  auch  dem  doch  noch  überwiegend  prir atwirthschaft- 
lichen  Standpnncte  des  Hermann’schen  Werkes.  Auffallender  ist,  dass  auch  Roscher 
eine  principielle  Erörterung  der  volkswirtschaftlichen  Wirkungen  der  Vertheilung 
des  Volkseinkommens  ebenfalls  vermissen  lässt,  denn  seine  wie  immer  reichen,  fleissig 
zusammengestellten  und  geistvoll  ausgelegten  geschichtlichen  Notizen  über  die  Ver- 
theilung können  hier  noch  weniger  als  in  anderen  Fällen  einen  Ersatz  für  eine  solche 
Erörterung  bilden  oder  eine  solche  selbst  darstellen.  Freilich  hängt  dieser  vielleicht 
absichtliche  Mangel  mit  Roscher  s Methode  und  mit  unrichtigen  Schlussfolgerungen 
hinsichtlich  der  Aufgabe  der  Volkswiithschaftslehre  zusammen  (s.  o.  §.  4 u.  1.  Buch 
Kap.  2,  bes.  §.  54 — 64).  Aber  das  Beispiel  der  Einkommen-  und  Verthcilungslchre 
ist  auch  gerade  ein  Hauptbeweisstück,  dass  Roschers  Lehrmcinung  hier  einer  ein- 
greifenden Modilication  bedarf.  Vcrgl.  Roscher  I,  §.  147,  148,  §.  203  ff.  ^7  Kap. 
des  3.  Buchs,  Vertheilung  des  Nationaleinkommens,  besonders  §.  205,  wo  er  sagt: 
,.Zur  wirtschaftlichen  Blüthe  eines  Volks  kann  eine  Harmonie  der  grossen,  mittleren 
und  kleineren  Vermögen  die  unentbehrliche  Voraussetzung  heissen“,  wo  aber  die  im 
Anschluss  an  diesen  Satz  noth wendige  principielle  Erörterung  der  Vertheilungsfrage 
ausbleibt).  Dann  4.  Buch  von  der  Consumtion.  §.  206  ff.,  mit  nur  sporadischen,  das 
Vertheilungsproblem  betreffenden  Bemerkungen,  z.  B.  §.  214,  221,  224,  330.  Auch 
in  den  neuesten  Auflagen  bringt  Roscher  zwar  einzelne  kritische  Bemerkungen  gegen 
socialistische  oder  diesen  sich  nähernde  Auffassungen,  einiges  neuere  statistische 
Material  zur  Vertheilungsfrage  aber,  treu  seinem  methodischen  Standpnncte  und 
seiner  ja  aus  anderen  Gründen  begreiflichen  Absicht,  auch  am  Texte  der  Para- 
graphen seines  berühmten  Lehrbuchs  nicht  viel  zu  ändern,  auch  jetzt  noch  keine 
eigentlich  principielle  Ausführungen.  Seine  gelegentlichen  polemischen  Wendungen, 
auch  gegen  mich,  sind  aber  eben  deswegen  m.  E.  nicht  durchschlagend,  denn  sie 
treffen  immer  höchstens  nur  Consequenzen  der  gegnerischen  Principieu,  nicht  letztere 
selbst.  Vergl.  dagegen  von  Früheren  schon  besonders  Bernhard i a.  a.  O.  §.  14 — 17. 
sonst  noch  v.  Mangoldt,  Volkswirtschaftslehre  Kap.  12  ff.  und  jetzt  G.  Cohn’s 
Grundlegung,  bes.  1.  H.  A.  Kap.  3,  2.  H A.  Kap.  3,  3.  H.  A.  Kap.  3. 

Die  ältere  Nationalökonomie,  auch  in  ihren  eben  genannten  strengwissenschaft- 
lichen Vertretern,  vollends  aber  in  den  Schriften  und  Artikeln  der  freihäudlerischen 
Publicistik,  der  Männer  des  Laisscr-faire,  hat  die  Einkommenlehre  aus  dem  Grunde 
zu  einseitig  aus  dem  Standpuncto  der  Production  behandelt,  weil  sie  die  Production 
als  das  schlechtweg,  und,  logisch  sowohl  als  wirklich,  nothwendig  vorangehende 
Moment  — das  prius  — für  die  nachfolgende  Vertheilung  betrachtete.  Daher 
der  stete,  freilich  selbstverständliche  practische  Rath  in  der  Arbeiterfrage:  „zuerst 
mehr  produciren,  dann  könnt  Ihr  auch  mehr  vertheilcn“  (s.  u.  passim  im  1.  und 
2.  Abschnitt).  Natürlich  ist  eine  vorherige  grössere  Production  immer  die  conditio  sine 
qua  non  lür  ein  zu  vertheilendes  grösseres  G esa m in tprodoct.  Aber  daraus 
folgt  nicht,  dass  die  Production  allein  die  Voraussetzung  der  Vertheilung  überhaupt 
und  einer  gewissen  Art  der  Vertheilung  ist.  Vielmehr  ist  auch  ebenso  w’olil 
umgekehrt  eine  bestimmte  Art  der  Vertheilung  des  Volkseinkommens  eine 
maassgebende  Bedingung  für  eine  bestimmte  Art  der  Production  und 
innerhalb  gewisser  Grenzen  — z.  B.  weil  die  Arbeitslust  der  arbeitenden  Classe 
einwirkt,  ein  mindestens  ebenso  wichtiges  Moment,  als  die  möglichst  im  Productions- 
interesse  zu  begünstigende  Spar-  und  Kapitalbildungstendenz  der  besitzenden  Classen 
— selbst  für  die  Höhe  der  gesammten  Production.  Production  und  Verthei- 
lung des  Volkseinkommens  stehen  also  immer  in  Wechselwirkung  und 
das  eben  muss  auch  die  Einkommenlehrc  berücksichtigen.  Es  ist  in  Folge  dessen 


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i)(>8  4,  B.  Bevölk.  u.  Volksw.scb.  2.  K.  Bedarf  u.  Vertbeil.problem.  §.  261. 


unvermeidlich,  mit  der  Lehre  vom  Einkommen  oder  von  der  Vertheilang  sogleich  die- 
jenige vom  Bedarf  oder  vom  Auskommen  und  vom  Bedtlrfnissstaud  za  ver- 
binden und  principiell  die  Fragen  zu  erörtern,  ob  und  wie  weit  eine  Ungleich- 
heit der  individuellen  Einkommen  nothwcndig  oder  zulässig  ist;  ob  und  wie  weit 
derjenigen  Gestaltung  der  Einkommenverhältnisse,  welche  sich  auf  einer  gegebenen 
Basis  des  Rechts,  besonders  im  System  der  freien  Concurrenz,  ergiebt,  entgegen  zti 
arbeiten  ist,  insbesondere  durch  den  Staat  und  durch  Reformen  des  Rechts, 
namentlich  des  Privatrechts  ( Eigen th um.  Vertragsrecht);  und  demgemäss 
auch,  welches  das  Ziel  ist.  das  für  die  Vertheilung  des  Volkseinkommens  erstrebt 
werden  soll.  Principielle  Erörterungen  hierüber  fuhren  daun  notbweudig  zu  höheren 
und  allgemeineren  Fragen  der  Rechtsphilosophie  und  der  Politik  und  müssen 
den  innigen  Zusammenhang  der  Vertheilung  des  Volkseinkommens  mit 
der  gcsamiuten  gesellschaftlichen  Rechtsordnung  Uber  Personenstand 
(Freiheit  und  Unfreiheit)  und  Eigent  hum,  sowie  den  maassgebenden  Einfluss  der 
Vertheilung  auf  die  Entwicklung  der  Cultur  und  Bildung  des  Volks  überhaupt  und 
seiner  verschiedenen  W’ohlst&ndsclassen  insbesondere  darlegen.  Die  folgende  Er- 
örterung über  die  Einkommen- Vertheilung  in  diesem  Kapitel  leitet  daher  zugleich 
zu  den  Untersuchungen  des  Buchs  5 von  der  Organisation  der  Volkswirtschaft.  6 vom 
Staate,  und  der  2.  Abtheilung  der  Grundlegung,  vou  Volkswirtschaft  und  Recht  hinüber 
und  iiudet  dort  erst  ihren  Abschluss.  Sie  hat  in  dieser  3.  Aufl.  erhebliche  Er- 
weiterungen erfahren. 

Wie  man  sieht,  hängt  die  hier  cingeschlagcne  Behandlungsweise  auch  wieder 
mit  der  Streitfrage  über  die  Aufgaben  und  die  Methoden  der  Socialökonomie 
zusammen.  Dafür  ist  jetzt  in  dieser  3.  Auflage  dieser  Grundlegung  auf  die  ein- 
gehenden Erörterungen  im  2.  Kapitel  des  1.  Buchs,  welche  in  den  beiden  ersten 
Auflagen  fehlten,  zu  verweisen.  Die  richtige  principielle  Erörterung  des  Verthei- 
lungsproblems und  der  Einkommeulehre  vom  Vertheilungsstandpuncte  aus  liefen  zu- 
gleich wieder  in.  E.  einen  Beleg  für  die  Nothwendigkeit  und  die  Richtigkeit  der  obou 
in  der  Frage  der  Aufgabe  und  Methode  erfolgten  Stellungnahme. 

Die  Warnung  vor  „Ideologie4*,  und  wenn  sie  seihst  aus  dem  Munde  eines 
Mannes  wie  W.  Roscher  kommt  (s.  Syst.  I,  §.  28  fl.),  darf  vor  solchen  Unter- 
suchungen nicht  zurückschrecken  (vgl.  auch  §.  292). 

Bei  principiellen  Erörterungen  über  die  richtige  Vertheilung  des  Volks- 
einkommens und  bei  Anerkennung  des  Erfordernisses,  wenigstens  für  jedes  Zeit- 
alter und  Volk  ein  ideales  Ziel  der  Entwicklung  der  Vertheilung  aufzustellea. 
muss  nur  stets  den  möglichen  und  auf  Grund  der  bisherigen  Erfahrung  wie  der 
psychologischen  Analyse  der  Triebe  und  Motive  wahrscheinlichen  Rückwirkungen 
auf  das  gesammte  Volksleben  und  insbesondere  auch  auf  die  Be  v ölk  eru  n gä- 
be wegung,  die  natürliche  wie  die  in  den  Wanderungen  sich  vollziehende,  thunlicbst 
Rechnung  getragen  werden.  Beides  geschah  schon  in  den  früheren  Auflagen,  jetzt 
in  dieser  dritten  geschieht  cs  in  letzterer  Hinsicht  in  besonderer  Bezugnahme  auf  da> 
vorige  Kapitel. 

Die  gegebenen  Verhältnisse  der  Bevölkerung  und  der  Bevölkerungs- 
bewegung, des  Sitten-  und  Culturstandes  und  ausserdem  diejenigen  des  Gc- 
sauimtstandes  der  technischen  Production,  des  Absatzes  und  Bezugs 
der  Producte  und  der  Entwicklungen  darin  bilden  aber  auch  zugleich  die  Be- 
dingungen für  die  Gestaltung  des  Vertheil ungsproccsses.  Sie  sind  daher  auch  nach 
dieser  Seite  bei  allen  principiellen  Erörterungen  über  Vertheilung  des  Volksein- 
kommens. Aufstellung  eines  Entwicklungsziels  dafür,  entsprechend  zu  berücksichtigen. 
In  allen  diesen  Beziehungen  ist  Manches  vom  Socialismus  zu  lernen,  aber  auch  vor 
dessen  Optimismus  und  Hyperideologie  zu  warnen.  Es  wird  nicht  nothwcndig  sein, 
darauf  jedesmal  des  Ausführlichen  zurück  zu  kommen.  Im  1.  Buche  und  im  vorigen 
Kapitel  dieses  4.  Buchs  ist  oftmals  auf  diese  Zusammenhänge  hingewiesen  worden. 

Aus  der  weiteren  Littcratur  verweise  ich  vornemlich  auf  die  vorzüglichen, 
mehrfach  schon  genannten  Schriften  A.  Lange's  (s.  o S.  44),  bcs.  die  Arbeiterfrage. 
„Mills  Ansichten  u.  s.  w.“  und  die  einschlagendcn  Abschnitte  der  Geschichte  des 
Materialismus.  S.  ferner  J.  St.  Mill,  politische  Oekonomie,  Buch  II  und  IV.  und 
wieder  besonders  Rodbertus’  (S.  87)  genannte  Arbeiten,  die  nur  leider  diese  wichtigen 
Principicnfragen  immer  bloss  aphoristisch  behandeln  und  nur  geistvolle  Streifblickc 
darauf  werfen,  sodann  S cliäf  fl  e.  Syst.  3.  Aufl.,  besonders  §.  282  ff.  (II,  378  fl’.).  §.  31 2 ff. 


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Vertheilung  und  Bedarf  im  Allgemeinen. 


669 


§.  346  IT.  (eb.  S.  562  ff.)  u.  Soc.  Körpor,  bes.  III,  2S4,  450.  491.  Schäffle  stellt 
ebenfalls  eine  ideale  Forderung  für  die  wirkliche  Einkommenvertheilung  auf  und 
nennt  sehr  schön  „die  volkswirtschaftlich  beste  Gestaltung  der  Einkommenprocesse 
in  der  menschlichen  Gesellschaft'*  diejenige  „Vertheilung  des  gesellschaftlichen  Pro- 
ductionscrtrags,  bei  wrelcher  die  sittliche  Gemeinschaft  im  Ganzen  und  in  der  Ab- 
stufung aller  ihrer  Gliederungen  (freilich  wieder  wresentlich  eine  Folge  der  Ver- 
theilung! möchte  ich  hinzufügen)  zum  höchsten  Maasse  der  Gesittung  und  hiernach  zum 
höchsten  Maasse  aller  wahrhaft  menschlichen  Befriedigungen  zu  gelangen  vermag.  Kurzer: 
der  an  Vervollkommnung  der  Gesellschaft  fruchtbarste  Einkomuienprocess 
ist  das  Ideal  volkswirtschaftlicher  Vertheilung  der  Güter  durch  die  Gesammtheit  aller 
Einkommen“.  S.  auch  G.  Sc  hm  oller,  Grundfragen,  passim,  H.  Bischof,  Nat. 
ökön.  B.  3,  S.  440  ff.  und  jetzt  manchfach  passim  G.  Cohn  a.  a.  Ü.,  sowie  Mit- 
hoff, Schönbergs  Handbuch  B.  1,  auch  Anton  Menge r.  Recht  auf  den  vollen 
Arbeitsertrag  (s.  o.  S 37  Note,  S.  46)  und  überhaupt  die  in  §.  13  u.  14  genannten 
Schriften.  Wie  übrigens  doch  schon  vor  langen  Jahren  einzelne  Männer  die  Ein- 
seitigkeit der  herrschenden  nat.-ökon.  Lehre  erkannten,  zeigen  die  Ausführungen 

R.  v.  Mohl’s,  bes.  über  die  polit.  Oekonomie  in  d.  Deutschen  Viert.j.schr.  1840,  H.  3. 

S.  darüber  E.  Meier,  Tüb.  Ztschr.  1879,  S.  4>4  ff,  501  ff 

Ueber  Statistik  der  Vertheilung  des  Volkseinkommens  u.  dgl.  in.  siehe  oben 
§.  175,  184  auch  185.  186  mit  Litteratur. 

1.  Abschnitt. 

Vertheilung  und  Bedarf  im  Allgemeinen. 

I.  — §.262  [94].  Bedeutung  der  Ein kommen-Vertheilung 
und  Ziel  der  volkswirthscbaftlichen  Entwicklung.  Erst 
die  Vertheilung,  nicht  schon  die  Grösse  des  Volkseinkommens 
und  Volksvermögens  unter  der  Bevölkerung  entscheidet  darüber, 
in  welcher  ökonomischen  Lage  sich  die  Mitglieder  des  Volks,  die 
Classen,  Berufsstände,  Familien  und  Individuen,  namentlich  die 
grosse  Masse  des  Volks  (die  sog.  unteren  Classen)  befinden.  Be- 
deutende Höhe  des  Volksvermögens  und  Einkommens  und  zu- 
gleich eine  solche  Vertheilung  desselben,  dass  auch  die  in 
ungünstigerer  ökonomischer  Lage  befindliche  Masse  der  Bevölkerung 
ihr  genügendes  Auskommen  aus  eigenem  Einkommen  zur 
vollständigen  Befriedigung  aller  nothwendigen  Bedürfnisse  und  zur 
Theilnahme  an  wichtigeren  Culturgtitern  eines  Zeitalters  fortdauernd 
gesichert  weiss,  ist  daher  das  zu  erstrebende  Ziel  der  volks- 
wirtschaftlichen Entwicklung,  — wenigstens  in  jenen 
Perioden  der  Weltgeschichte,  wo  mit  der  Erklärung  der  persön- 
lichen Freiheit  aller  Bewohner  auch  das  letzte  Individuum  aufge- 
hört hat,  nur  als  Mittel  für  die  Zwecke  Anderer  in  Betracht  zu 
kommen. 

Das  bedarf  zunächst  einer  näheren  Begründung. 

II.  — §.  263.  Begriff  der  Vertheilung. 

(Zusatz  zur  2.  Aull.  S.  137.)  Es  ist  selbst  gegenwärtig  noch,  nach  meiner 
persönlichen  Erfahrung  mit  der  Presspolemik,  nicht  überflüssig,  gegenüber  den  laien- 
A.  Wagnor,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlagen.  43 


(570  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  2.  K.  Bedarf  u.  Vcrtheil.probl.  1.  A.  Im  Allgem.  §.  263. 


haften  Missverständnissen  und  der  spiessbürgerlichcn  Angst  in  gewissen  Kreisen  des 
Publicums.  daran  zu  erinnern,  dass  „Vertheilung“  ein  allgemeines  Problem  in 
jeder  auf  Arbcitst Heilung  beruhenden  Volkswirtschaft  ist.  In  diesem  Sinne 
haben  natürlich  auch  alle  wissenschaftlichen  Nationalökonomen  seit  den  Anfängen 
einer  Theorie  der  Volkswirtschaft  den  Ausdruck  (distribuzionc,  distribution  im 
Französischen  und  Englischen)  als  technischen  Kunstausdruck  gebraucht  und 
von  einem  „Vertheilungsproblcm“  gesprochen,  dasselbe  in  ihren  Systemen  und 
Theorien  behandelt,  die  rein  individualistischen,  privatwirthschaftlichen  (Ricardo!) 
wie  alle  anderen.  Dennoch  begegnet  selbst  in  Kreisen  der  „Gebildeten“  wohl 
hie  und  da  ein  gewisser  Argwohn,  als  handle  es  sich  hier  um  ein  „teilen  wollen“, 
wie  man  es  thöricht  genug  den  extremen  Social isten  und  Communisten  nachsagt.  Denn 
dabei  missversteht  inan  ja  selbst  die  eigentlichen  bezüglichen  Ideen  uud  Pläne  dieser 
Richtungen  ganz.  Im  wissenschaftlichen  Socialismus  handelt  es  sich  z.  B.  vielmehr 
umgekehrt  in  der  Hauptforderung  der  „Vergesellschaftung  der  Productionsmittel“  um 
eine  Beseitigung  der  privatrechtlichen  und  privatwirthschaftlichen  „Thcilung“  dieser 
Productionsmittel  unter  zahlreiche  einzelne  Privateigenth Urner  und  um  eine  Zu- 
sammen fügu  n g derselben  in  der  Einen  Hand  der  Gesammtheit,  durchaus  nicht 
um  eine  „Beraubung  der  Reicheren“  zum  Zweck  der  Uebertragung  dieses  „Raubes“ 
an  die  Aermeren,  die  Nicht-Besitzenden.  Aber  Missverständnisse  und  Acngstlichkeiten 
dieser  Art  zeigen,  dass  auch  hier  begriffliche  und  principielle  Erörterungen 
geboten  siud,  was  die  „historische  Nationalökonomie“  wieder  zu  sehr  verkannt  hat. 

Dieselben  dienen  auch  dazu,  die  eigentlichen  Streitpuncte  zwischen  den 
verschiedenen,  namentlich  den  principiell  in  Betreff  der  Rechtsordnung  gegnerischen 
Richtungen  deutlich  heraus  zu  heben  und  eine  Verhandlungsbasis  zu  schaffen , auf 
der  es  wenigstens  möglich  ist,  sich  gegenseitig  zu  verstehen,  wenn  mau  sich  auch  nicht 
vereinbart. 

Für  den  Begriff  der  „Vertheilung“  ist  wieder  der  rein-öko- 
nomische und  der  geschichtlich-rechtliche  Standpunct 
zu  unterscheiden  (§.  109).  Jener  führt  zu  einem  allgemeinen 
Begriff,  von  dem  zweiten  Standpunct  aus  gestaltet  sich  dieser  Be- 
griff dann  wieder  nach  Maassgabe  der  bestehenden  geschichtlichen 
und  rechtlichen  Verhältnisse,  welche  auf  die  Gestaltung  der  Ver- 
theilung einwirken,  verschieden. 

A.  Allgemeiner,  rein  ökonomischer  Begriff.  „Ver- 
theilung“ ist  hier  derjenige  wirtschaftliche  Vorgang  (Process), 
durch  welchen  ein  in  und  von  einer  aus  verschiedenen  Personen 
und  Personenkreisen  (Classen)  gebildeten  Arbeits-  und  Guterbesitz- 
Gemeinschaft  arbeitstheilig  gewonnener  Gesammt-Rein- 
ertrag  an  die  mit  Arbeit  oder  Güterbesitz  dabei  betheiligten 
Classen  und  Personen  als  deren  Einkommen  gelangt. 

Dieser  „Reinertrag“  versteht  sich  hier  im  volkswirtschaftlichen  Sinne, 
also  nach  Abzug  der  bloss  natürlichen  oder  vo  lkswirthschaftlichon  Kosten, 
welche  ..genusslos  verzehrt“  werden,  also  kein  Einkommen  bilden  (§.  172). 

Für  die  ganze  Volkswirtschaft,  wenn  das  „Volk“,  die  gesammte  Bevölkerung  als 
die  Arbeits-  und  Guterbesitzgemeinschaft  gedacht  wird,  ist  er  das  Volks-  oder  National- 
einkommen (§.  176),  das  nationale  „Gesammtproduct“  des  Socialismus.  Er  wird  ge- 
wonnen durch  die  vereinigte  Arbeit  und  mit  Hilfo  der  vereinigten  sachlichen  Pro- 
ductionsmittel — Grundstücke,  Gebäude,  Kapitalien  — in  jener  Gemeinschaft.  Der 
Zweck  der  Vertheilung  ist,  die  neuen  Güter  an  die  einzelnen  Personenkreise  und  Per- 
souen  zur  Ermöglichung  der  Bcdürfnissbefriedigung  der  letzteren  gelangen  zu  lassen : 
als  „Consumtionsfonds“.  Wie  weit  zu  anderen  Zwecken,  das  hängt  mit  von  der 
Rechtsordnung  ab,  z.  B.  beim  Zweck  der  Kapitalbildung.  Bei  einer  die  private 


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Begriff  der  Verkeilung. 


671 


Kapitalbildung  auch  als  Form  der  Bildung  des  National-  oder  Socialkapitals  aus- 
scbliesscndeu  Rechtsordnung  und  volkswirtschaftlichen  Organisation,  wie  der  socia- 
listischen.  würde  der  Zweck  der  Verkeilung  sich  streng  auf  Verwendung  der  er- 
haltenen Portion  (die  auch  hier  „Einkommen“  genannt  werden  könnte)  zu  Gebrauchs- 
und  Nutzvermögen  (§.  1'24  fl.)  beschränken.  Was  zur  Erneuerung  und  zur  Vermehrung 
des  Nationalkapitals  aus  den  neu  gewonnenen  Gütern  bestimmt  wäre,  käme  hier  gar 
nicht  erst  „zur  Verkeilung“,  sondern  würde  davon  von  vornherein  zurückbehalteu. 

B.  — §.  264.  Historisch-rechtlicher  Begriff  der 
Vertheil  ung. 

Hier  kommen,  wie  schon  die  eben  vorangehende  Bemerkung  ergiebt,  ähnliche 
Momente  wie  bei  den  Fragen  vom  National-  und  Privatkapital  (§.  127  ff.)  und  bei 
den  Arten  des  Erwerbs  wirthschaftlicher  Güter  («$.  115  ff.)  in  Betracht.  Auf  die 
dortigen  Ausführungen  kann  daher  hier,  um  Wiederholungen  zu  vermeiden,  ver- 
wiesen werden. 

Die  Vertheilung  gestaltet  sich  hier  vor  Allem  nach  der  Rechts- 
ordnung  verschieden,  wonach  sich  dann  für  verschiedene  Rechts- 
ordnungen und  damit  zusammenhängend  und  in  Wechselbeziehung 
stehend  — bedingend  und  bedingt  — für  verschiedene  Verhältnisse 
der  volkswirtschaftlichen  Entwicklung  auch  der  allgemeine  öko- 
nomische Begriff  der  Vertheilung  historisch  differenzirt. 

Maassgebend  ist  hier  namentlich  Folgendes: 

1)  Ob  und  in  welcher  Weise  persönliche  Unfreiheit 
eines  Theils  der  Arbeitskräfte  oder  volle  persönliche  Freiheit  der 
letzteren  besteht. 

Bei  jener  nimmt  der  den  Unfreien  zur  Kräfteerhaltung  und  Erneuerung,  den 
unfreien  Kindern  zum  Aufwachsen  bis  zur  Arbeitsfähigkeit  gegebene  nothwondige 
Unteihaltsbedarf  denselben  Character  wie  das  Futter  u.  s.  w.  beim  Vieh  an.  Damit 
scheidet  er  aus  dem  Einkommenbegrilf  und  aus  der  Vertheilung  im  hier  besprochenen 
Sinne  aus,  daher  auch  aus  der  Zugehörigkeit  zu  den  „Einkommen  bildenden“  einzel- 
wiithschaftlichcn  Kosten.  Er  geht  in  die  Kategorie  der  natürlichen,  der  eigentlich 
volkswirtschaftlichen  Kosten  über  (§.  172),  — wenn  man  am  Hechtsbegriff  der  Un- 
freien streng  festhält. 

2)  Welches  Rechtsprincip  für  die  Ordnung  des  Eigen- 
thums an  den  sachlichen  Productionsmitteln  — insbesondere  Grund- 
stücken, Gebäuden,  jeder  Art  Kapital  — besteht,  namentlich  ob 
reines  und  volles  Privateigenthum,  ob  irgend  eine  Art  Colleetiv- 
eigenthum,  speciell  (socialistisches)  „gesellschaftliches  Gemein- 
eigenthum“. 

Hiernach  richtet  es  sich , ob  und  welches  Besitz-  oder  Renteneinkommen  und 
ihm  verwandtes  neben  reinem  Arbeitseinkommen  zulässig  ist,  also  aus  dem  Vcrtheilungs- 
process  hervorgeht.  Ferner  hängt  die  Form  der  Bildung  des  Nationalkapitals  hiermit 
zusammen.  Ausserhalb  der  Privateigenthumsordnung  kommt  eben  in  der,  vorhin  am 
Schluss  des  letzten  §.  erwähnten  Weise,  vom  „Gesammtproduct“  derjenige  Theil, 
welcher  als  Kapital  fungiren  soll,  gar  nicht  erst  zur  Vertheilung.  Innerhalb  jener 
Ordnung  erfolgt  dagegen  die  Kapitalbildung  erst  neu  ans  den  zur  Vertheilung  als 
Einkommen  an  die  Einzelnen  (Privaten)  gelangten  Quoten  des  Gesammtproduct». 

3)  Endlich  ist  maassgebend  das  im  Productions-  wie  im  Ver- 
theilungsproccss  obwaltende  Regulirungsprincip  und,  damit 

43* 


672  4-  B.  Bevölk.  u.  Yolksw.sch.  2.  K Bedarf  u.  VertlieU.probl.  1.  A.  Iin  Allgem.  §.  264. 

verbunden,  aber  nicht  ganz  damit  zusammenfallend,  die  Ilegu- 
lirungsform.  Beim  Productionsprocess  handelt  es  sich  um  die 
Art  der  Leitung  und  der  ganzen  Einrichtung  der  Production,  sowie 
um  die  Folgen  des  Regulirungsprincips  und  der  Regulirungsform 
im  Vertheilungsprocess  für  die  Verhältnisse  der  Production  (z.  B. 
bei  den  Entlohnungsformen  der  Arbeit).  Beim  Vertheilungsprocess 
kommt  von  den  oben  in  §.  115  ff.  besprochenen  typischen  Formen 
des  abgeleiteten  Erwerbs  insbesondere  die  Zutheilung  von 
Gütern  durch  Autoritäten  oder  die  autoritative  und  die  ver- 
kebrsmässige  oder  die  durch  Verträge  sich  vollziehende  Ge- 
staltung der  Vertheilung  in  Betracht. 

Vgl.  bes.  die  Ausführungen  in  §.  115,  116. 

a)  Bei  der  erstgenannten  Form  wird  der  Antheil  der  mit 
Arbeit  oder  Gtiterbesitz  an  der  Production  und  — sei  es  folge- 
weise hiervon,  sei  es  ihrer  Bedürftigkeit  halber  — am  Productions- 
ertrage  betheiligten  Personenkreise  und  einzelnen  Personen  durch 
eine  anerkannte  Autorität,  welche  zugleich  voranssetzungs- 
weise  die  Macht  (Zwangsgewalt)  hat,  ihren  Willen  und  ihre  Ent- 
scheidung durchzusetzen,  nach  Art,  Maass,  Zeitpunct,  Ort 
bestimmt. 

Diese  Autorität  kann  dabei  möglicherweise  ganz  nach  ihrer 
Wi  11k Uhr  verfahren.  Sie  wird  aber  regelmässig,  schon  aus 
practischen  Gründen,  aus  psychologischen  Motiven,  um  sich  selbst  nicht 
zu  schaden,  mehr  noch  aus  principiellen  Gründen,  wie  Erwägungeu 
der  Gerechtigkeit,  Billigkeit,  des  Wohlwollens,  der  Belohnungs-  oder 
der  Strafabsicht,  nach  bestimmten  Grundsätzen  vorgeben. 
Diese  Grundsätze  können  dann  aber  auch  hier  in  die  Sitte  über- 
gehen und  umgekehrt  aus  dieser  hervorgehen,  Bestandtheile  der 
sittlichen  Anschauungen  und  schliesslich  der  Rechtsnormen 
werden. 

Dabei  lassen  sich  als  leitende  Grundsätze  für  die  Vertheilung 
wohl  vornemlicb  drei  unterscheiden.  Zunächst  derjenige  der  Be- 
dürftigkeit und  derjenige  der  Leistung  des  Empfängers  in 
der  Production,  eventuell  mit  absichtlichen  Bevorzugungen  oder 
Benachteiligen,  um  zu  einem  gewissen  höheren  Maass  der  Leistung 
anzuspornen,  von  einem  gewissen  geringeren  Maass  abzuschrecken 
oder  um  auf  die  Regelung  der  Bedürfnisbefriedigungen  cinzuwirkeu. 
Manche  Modificationcn  nach  verschiedenen  Gesichtspuncten  und 
nach  Combinationen  mehrerer  sind  dabei  möglich  und  in  der 
Praxis  üblich,  auch  psychologisch,  namentlich  mit  Rücksicht  auf 


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Historisch  - rechtlicher  Begriff  der  Vertheilung. 


673 


die  Verhältnisse  der  Motivation  im  wirtschaftlichen  Handeln  und 
Unterlassen  („Sparen“,  Consum-Einschränken,  -Regeln)  richtig.  Aber 
auch  noch  ein  dritter  Grundsatz  kann  neben  oder  statt  desjenigen 
der  Bedürftigkeit  und  der  Leistung  und  in  Combination  mit  den- 
selben befolgt  werden:  die  Gewährung  von  Anteilen  in  Art  und 
Höhe,  um  eine  gewisse  ökonomische  und  dadurch  sociale 
Stellung  des  Empfängers,  etwa  zur  Auszeichnung,  zu  er- 
möglichen, eventuell,  und  vorausetzungsweise,  nicht  bloss  in  dessen 
eigenem,  sondern  in  einem  allgemeinen  Interesse,  z.  B.  auch  in 
einem  öffentlichen  (Verhältnisse  des  Besoldungswesens  im  Öffent- 
lichen Dienst). 

Die  Verhältnisse  der  „Vertheilung“  in  primitiveren  Zuständen,  bei  Geschlechts- 
verbänden u.  dgl.  bieten  manche  Belege.  Ein  typisches  Beispiel,  durch  dio  ver- 
schiedensten Zeitalter  hindurch  mit  den  gleichen  GrundzUgen,  liefert  der  Familien- 
verband (S.  2%),  wo  im  Ganzen  der  Grundsatz  des  Bedürfnisses,  aber  combinirt 
mit  und  modificirt  durch  diejenigen  der  Leistung,  der  erforderlichen  oder  für  wün- 
schenswerth  und  berechtigt  geltenden  socialen  und  ökonomischen  Stellung  des  Glieds, 
dio  „Vertheilung“  beherrscht.  Ein  anderes  Beispiel  ist  die  Regelung  der  Be- 
soldung im  öffentlichen  Dienst  (System  einer  Art  „Socialtaxen“,  daher  in  1.  Linie 
nach  Leistung,  aber  mit  Rücksicht  auf  Bedürfnis,  Ausbildungskosten,  im  allgemeinen 
Interesse  liegende  sociale  und  ökonomische  Stellung  sowie  mit  sonstigen  Gesichts- 
punctcn  der  den  psychischen  Motiven  Rechnung  tragenden  Lohnpolitik,  vcrgl.  meine 
Fin.wiss.  I,  3.  A.,  §.  152  ff.). 

In  einem  streng  socialistischen  Vertheilungssystem  würde  es  sich  ebenfalls 
um  die  Wahl  zwischen  diesen  verschiedenen  Regulirungsgrundsätzen , muthinaasslich 
aus  practiscbcn,  psychologischen  Motiven,  um  die  Combination  derselben  handeln, 
lieber  diesen  heiklen  und  in  der  That  auch  besonders  schwierigen  Punct  äussert  sich 
indessen  der  Socialismus  nicht  gern  deutlich.  Immerhin  kommt  auch  in  den  social- 
demokratischen  Programmen  und  in  der  Begründung  und  Auslegung  derselben  die 
„Vertheilungsfrage“  schon  vor,  wobei  es  sich  dann  namentlich  um  die  Wahl  zwischen 
den  beiden  genannten  Grundsätzen,  Bedürfniss  und  Leistung,  als  Vertheilungsmaass- 
stab handelt.  S.  Goth.  Programm  (1875):  (Punct  l)  ..der  Gesellschaft,  d.  h.  allen 
ihren  Gliedern  gehört  das  gesammtc  Arbeitsproduct  bei  allgemeiner  Arbeitspflicht, 
nach  gleichem  Recht.  Jedem  nach  scinon  vernunftgemässen  Bedürfnissen”, 
während  in  dem  früheren  Eisenacher  Programm  (1 9ti‘J)  (II,  3)  „unter  Abschaffung 
der  jetzigen  Productionsweisc  (Lohnsystem)“  genossenschaftliche  Arbeit  und  in  ihr 
„der  volle  Arbeitsertrag  für  jeden  Arbeiter“  erstrebt  wurde.  Also:  Princip 
der  Leistung,  aber  ohne  genügende  Andeutnng,  wie  diese  bemessen  und  ob  nach 
ihrer  Verschiedenheit  der  Antheil  des  Einzelnen  abgestuft  w’erden  solle.  Das  neueste 
Erfurter  Programm  (1891 ) schweigt  sich  Über  die  Vertheilungsfrago  aus,  was  an  sich, 
zumal  in  Verbindung  mit  der  Kritik,  welche  Marx  auch  an  diesem  Puncte  des 
Gothaer  Programms  geübt  hat.  charactcristisch  ist  (vgl.  den  schon  früher  genannten 
Brief  von  Marx  in  der  „Neuen  Zeit“,  1891  B.  IX,  1,  S.  567).  Man  speculirt  aber  über 
die  Frage:  ob  Jedem  nach  seinen  Bedürfnissen  oder  Jedem  nach  seiner  Leistung  ein 
Antheil  am  Ertrage  zu  gewähren  und  etwa  Jedem  nach  seinen  Fähigkeiten  auch  ein 
Authcil  an  der  Arbeit  zu  übertragen  sei  (vgl.  meine  Rede  über  das  Erfurter  soe.-dem. 
Programm  auf  dem  cvang.  soc.  Congress  1892,  S.  40).  — Jedenfalls  ergiebt  sich,  dass 
bei  einem  Vertheilungssystem  nach  dem  Princip  autoritativer  Zutheilung  immer  noth- 
wendig  dieselben  grundsätzlichen  Streitfragen  auftauchen,  welche  daun  auch  wie  ein 
rother  Faden  dio  ganze  socialistischc  Litteratur,  soweit  sie  sich  mit  dem  Vertheilungs- 
problem beschäftigt,  durchziehen. 

Auch  wo  irgend  wie  autoritativ,  durch  Gesetzgebung,  Verwaltung  in  die  im 
Ganzen  vertragsmässige  Reguliiung  der  Vertheilung  cingegriffen  wird,  taucheu  übrigens 
dieselben  Fragen  auf,  nach  welchen  Grundsätzen  dieses  Eingreifen  erfolgen,  welchen 


674  4 B.  Bcvulk.  u.  Volksw.scb.  1.  K.  Bedarf  u.  Vcrtlieil.probl.  1.  A.  Im  Allgern.  §.  264. 


der  genannten  man  als  Ziel  ins  Auge  fassen,  wie  inan  zwischen  ihnen  combiniren 
soll.  — Und  wenn  man  bei  dieser  vertragsinässigen  Regulirung  den  Arbeibhcrrn, 
Arbeitgeber,  Unternehmer,  als  eine  Autorität  betrachtet,  welche  nach  dem  Gcsichts- 
punct  der  Zweckmässigkeit,  der  Billigkeit  auch  die  Lohnvcrhältnissc  ihrer  Arbeiter  im 
Interesse  der  Unternehmung,  wio  in  demjenigen  der  Arbeiter  selbst  regeln  möchte, 
so  werden  auch  in  einem  solchen  Falle  jene  genannten  Grundsätze  wieder  als  Ziel- 
puncto  der  privaten  Lohnpolitik,  welche  eben  hier  zugleich  Politik  der  Ertragsvertbci- 
lung  wird,  hervortreten. 

b)  Die  Vertrags  massig  sich  vollziehende  Verkeilung  des 
arbeitstheilig  (und  „besitztheilig“)  gewonnenen  Gesamratertrags  ist 
die  Consequenz  der  auf  persönlicher  Freiheit  der  Arbeitskräfte  und 
auf  der  Rechtsordnung  des  Privateigentkums  an  den  sachlichen 
Productionsmitteln  beruhenden  Productions-  und  Vertheilungsordnung. 
Die  vornemlich  in  Betracht  kommenden  Verträge  sind  der  Arbeits- 
dienstmietbe-  oder  Lobnvertrag,  der  Pacht-,  Mieth-,  Darlehus-  (Zins-) 
Vertrag,  und  für  den  Bezug  der  in  der  Production  bedurften,  für 
den  Absatz  der  von  ihr  gelieferten  Producte,  sowie  für  den  Umsatz 
der  empfangenen  Güter,  bzw.  Geldbeträge  in  die  bedurften  Güter 
concreten  Gebrauchswerths  der  Tausch-,  in  der  Geldwirthschaft 
der  Kaufvertrag.  Bei  diesem  wird  der  Geldpreis  der  Güter 
(Waaren),  welche  für  die  aus  dem  Productionsertrag  erhaltenen 
Antheile  erworben  werden,  schliesslich  im  Effect  ein  wichtiges 
Mittelglied  der  Verkeilung. 

Nach  der  geschichtlichen  Rechtsordnung  wechselt  nun  freilich  das  Maass  der 
Frcihoit  der  Vertragsschliessung,  insbesondere  auch,  was  den  Inhalt  der  genannten 
für  die  Vcrthcilung  maassgebendsten  Verträge  anlangt.  Jede  von  Erfolg  begleitete 
Einwirkung  der  Rechtsordnung  auf  diesen  Inhalt,  z.  B.  bei  Preis-,  Zins-,  Lohntaxen, 
äussert  daher  auch  ihren  Einfluss  auf  die  endgiitige  Verthoilung  des  Productions- 
ertrags.  Hierbei  treten  dann  für  das  „ob  überhaupt“,  wenn  dies  bejaht  wird,  für  das 
Richtungsziel  und  das  Maass  dieser  Einwirkung  die  vorerwähnten  grundsätzlichen 
Fragen  hervor,  wie  namentlich  die  Geschichte  des  genannten  Taxwesens  es  deut- 
lich zeigt. 

Fernerüben  auch  bei  sonstiger  Vertragsfreiheit  Sitte, sittlic ho  Anschauung. 
Billigkcitsgcfühl  und  dgl.  m.  doch  vielfach,  allerdings  wieder  wechselnd  nach 
Zeitaltern  und  Culturverhältnisscn,  einen  grösseren  oder  kleineren  Einfluss  auf  das 
Ergcbniss  des  Vcrtragsschlusses,  auf  die  wirkliche  Bildung  von  Preis,  Pacht-,  Mieth-, 
Darlehnszins,  Lohn  aus,  d.  h.  sic  bewirken,  dass  diese  Beträge  sich  anders  stellen,  als 
wenn  sie  rein  vertragsmässig,  nach  der  Machtstellung  der  Parteien  und  nach  deren 
Willen,  normirt  würden.  Auch  das  ist  dann  wieder  für  die  endgiitige  Gestaltung  der 
Verkeilung  des  Productionscrtrags  von  Bedeutung.  Die  betreffenden  Einflüsse  dürfen 
daher  namenüich  im  concreten  Falle  bei  der  Behandlung  der  Vertheilungsfragc  nicht 
übersehen  werden.  Die  Art  ihrer  Gestaltung,  die  Richtung,  das  Maass  ihres  Sich- 
gcltend-machens  lässt  wieder  das  Mitspielen  von  mancherlei  verschiedenen  Gesichts- 
puncten  erkennen,  darunter  auch  der  vorhin  besprochenen  grundsätzlichen  (Rücksicht 
auf  Bedürfniss,  auf  sociale  und  ökonomische  Stellung  der  Betheiligten,  Beeinflussung 
der  Leistung  und  Aehnliches). 

Auch  die  Vertrags  mässige  Regulirung  der  Verkeilung  er- 
fährt daher  in  der  Wirklichkeit  mancherlei  Beeinflussungen.  Voll 
und  rein  kommt  sie  nicht  allgemein,  auch  in  der  Rechtsordnung 
der  „freien  Concurrenz“  nur  auf  einzelnen  Gebieten , zur  Geltung. 


4 


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Historisch- rechtlicher  Begriff  der  Vertheilang. 


675 


Nur  unter  den  entsprechenden  Vorbehalten  kann  man  daher  für 
unsere  modernen,  auf  dem  Princip  der  Vertragsfreiheit  im  Wesent- 
lichen beruhenden  Volkswirtschaften  den  hier  zutreffenden 
„historisch -rechtlichen“  Begriff  der  Verteilung  formuliren. 
Er  würde  hiernach  folgendermaassen  lauten: 

„ Vertheilung“  in  unseren  Verhältnissen  der  Rechtsordnung 
und  Organisation  ist  derjenige  wirtschaftliche  Vorgang  (Process), 
durch  welchen  der  in  einer  wesentlich  nur  vertragsmässig  ver- 
bundenen Arbeits-  und  Güterbesitz- Gemeinschaft  arbeitsteilig  ge- 
wonnene Gesammtreinertrag  an  die  mit  Arbeit  oder  Güterbesitz 
dabei  beteiligten  Classen  und  Personen  im  Wesentlichen  ver- 
tragsmässig als  deren  Einkommen  gelangt. 

Auch  hier  handelt  cs  sich,  wie  bei  dem  rein- ökonomischen  Begriff  der  Ver- 
theilung (S.  6T0)  um  den  Reinertrag  im  volkswirtschaftlichen  Sinne,  sowohl 
im  einzelnen  Productionsbetriebo  (Unternehmung)  als  in  der  ganzen  Volkswirtschaft 
(„Volkseinkommen“).  Die  vertragsmässig  verbundene  Gemeinschaft  wird  durch  die 
Lohnarbeiter,  Gehilfen,  Beamten  aller  Art,  als  persönlich  Freie,  durch  die  Leiter  der 
Production  und  die  Rcchtsinhaber  (Privateigentlnlmer)  der  sachlichen  Productionsmittel 
gebildet  Durch  den  Zusammentritt  dieser  Personen  kreise  und  Personen  nebst  ihren 
Productionsmitteln  entsteht  eben  ausser  der  Arbeits-  auch  eine  Besitzgemeinschaft  zu 
Zwecken  der  Production.  Der  so  gewonnene  Gesammtertrag  ist  dann  wieder  vertrags- 
mässig zu  vcrtheilen.  In  den  bezüglichen  Verträgen  liegt  also  eigentlich  zweierlei 
als  „Wille  der  Parteien“  anerkannt:  einmal  das  vertragsmässige  Zusammenwirken 
mit  Arbeit  und  Productionsmitteln,  sodann  das  vertragsmässige  Theilen  des  Ertrags. 

III.  — §.  265.  Die  methodischen  Voraussetzungen 
einer  principiellen  Erörterung  des  Vertheilungspro- 
blems. Nur  unter  bestimmten  Voraussetzungen  lässt  sieb  über- 
haupt an  eine  derartige  Erörterung  gehen.  Für  das  vorliegende 
Problem  kann  man  vier  solcher  Voraussetzungen  oder  richtiger 
Reihen  von  Voraussetzungen  aufstellen,  in  Bezug  auf  die  Bevölkerung, 
die  Technik,  die  Rechtsordnung,  auf  gewisse  gesellschaftliche 
Glaubenssätze  (Axiome). 

1.  In  Betreff  der  Bevölkerung  muss  eine  gegebene 
Grösse,  Gliederung  (natürliche,  Geschlechts-,  Alters-,  sociale  nach 
den  oben  in  §.  245  — 247  besprochenen  drei  Unterscheidungs- 
momenten) und  eine  gegebene  natürliche  und  Wanderungsbe- 
wegung, daraus  hervorgehend  eine  gegebene  Aenderung  der 
Zahl  und  der  Gliederung  der  Bevölkerung  zuvörderst  angenommen 
werden.  Hiervon  hängt  die  Gestaltung  und  Bewegung  des  „Divisors“ 
in  dem  Vertheilungsproblem  ab. 

Für  alles  auf  die  Bcvülkerurg  Bezügliche  ist  hier  jetzt  nur  auf  das  vorausgehende 
Kapitel  dieses  4.  Buchs  zu  verweisen. 

2.  Auch  der  Stand  der  Productionstechnik  (einschliesslich 
der  Technik  des  Communications-  und  Transportwesens),  die  Be- 


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676  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  2.  K.  Bedarf  u.  Verthcil.probl.  1.  A.  Im  Allgem.  §.  265. 

dingungen  und  das  Maass  des  Fortschritts  darin,  sind  als  ge- 
gebene Verhältnisse  anzunehrnen.  Davon  hängt  wesentlich  mit  die 
Gestaltung  und  Bewegung  des  „Dividendus“  in  dem  Vertheilungs- 
problem ab. 

Auch  dafür  ist  mit  auf  das  vorige  Kapitel  zu  verweisen,  ausserdem  auf  die 
Lehre  von  der  Production  in  der  „Theoretischen“  Volkswirtschaftslehre  und  auf  die 
„Practische“  Volkswirtschaftslehre. 

3.  Ebenso  ist  die  Rechtsordnung  der  Volkswirthschaft  und 
deren  Weiterentwicklung  in  bestimmter  Richtung  als 
etwas  Gegebenes  anzunehrnen.  Daher  namentlich  die  Rechts- 
ordnung für  persönliche  Unfreiheit,  Freiheit,  die  Eigenthumsordnung 
für  die  sachlichen  Productionsmittel.  ln  unseren  Volkswirtschaften 
ist  mithin  die  Voraussetzung:  volle  persönliche  Freiheit,  auch  der 
unteren  Classen,  Ausschluss  jeder  Art  rechtlicher  persönlicher  Un- 
freiheit, Institution  des  Privateigenthums  an  den  sachlichen  Pro- 
ductionsmitteln,  im  Wesentlichen  Vertragsfreiheit,  namentlich  was 
den  Inhalt  der  Verträge  anlangt,  daher  auch  vorwiegende  privatwirth- 
schaftliche  Organisation  der  Volkswirthschaft.  Die  ganze  Ein- 
richtung mit  der  auch  ökonomisch  so  wichtigen  Rechtsfolge  der 
Uebertragung  der  Leitung  der  Production  an  die  Privateigenthtimer 
der  Productionsmittel,  der  Erlangung  des  Privateigenthums  an  den 
neuen  Producten  seitens  desselben  und  des  Bezugs  von  Renten- 
oder Besitzeinkommen  durch  sie. 

Dafür  ist  auf  die  folgenden  Bücher  5 und  6 und  auf  die  2.  Abtheilung  der 
Grundlegung  von  Volkswirthschaft  und  liecht,  namentlich  Vermögensrecht  zu  verweisen. 

4.  Endlich  ist  aber  eine  vierte  Reihe  von  Voraussetzungen 
hier  zu  machen,  deren  Mitspielen  in  allen  practischen  Verhältnissen 
der  Vertheilung  und  in  jeder  theoretischen  Erörterung  des  Ver- 
theilungsproblems nicht  immer  genügend  erkannt  wird  und  doch 
durchaus  beachtet  werden  muss. 

In  jeder  Entwicklungsstufe  der  Volkswirthschaft,  der  Gesell- 
schaft und  Cultur  sind  gewisse  ,,  Annahmen“  verbreitet  Uber  das, 
was  in  Bezug  auf  die  wirtschaftliche  Rechtsordnung,  die  Organi- 
sation, die  Vertheilung  des  Productionsertrags,  damit  zusammen- 
hängend die  socialökonomische  Classenschichtung  der  Gesellschaft 
notwendig,  richtig,  zweckmässig,  gerecht  und  billig  sei,  daher 
bestehen  mtisse  und  solle,  zu  erhalten,  in  der  und  der  Weise  zu 
entwickeln  gesucht  werden  mtisse  und  solle. 

Auf  (»rund  regelmässig  der  (i  e w ö h n u n g an  das  geschichtlich  Ucberkommene  und 
Bestehende  bilden  sich  solche  Annahmen,  werden  durch  Vernunftgründe,  welche  der 
Wille  sich  zurechtlegt,  unterstützt,  gelten  dadurch  wohl  auch  für  dauernd  und  unbedingt 
richtig,  so  sehr  jede  geschichtliche  Auflassung  das  widerlegt,  werden  auch  psycho- 


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Voraussetzangen  princip.  Erörterung  des  Verthcil. problems. 


677 


logisch,  in it  Rücksicht  auf  die  menschliche  Motivation,  zu  begründen  gesucht  und  gern 
als  durch  das  Gcsainintintercsse  gefordert  angesehen.  Aber  bei  genauerer  und 
unbefangenerer  Prüfung,  bei  Berücksichtigung  des  notorischen  geschichtlichen  Wan- 
dels der  Anschauungen  in  Bezug  auf  diese  Annahmen,  muss  man  doch  zugestehen: 
rein  rational  sind  dieselben  nicht  zu  begründen.  Sie  haben  weit  mehr  die 
Natur  von  nicht  rein  vernnnftgemäss  und  erfahrungsmässig  zu  begründenden  Glau- 
benssätzen, welche  ein  Product  der  gesellschaftlichen  Gcsammtentwicklnng  sind. 
Sie  gelten  alsdann  aber  bei  ihrer  Benutzung  in  Theorie  und  Präzis  als  selbstver- 
ständliche Axiome,  die  man  gar  nicht  erst  zu  beweisen  hat  und  doch  zum  Aus- 
gangspunct  namentlich  für  alle  Erörterungen  hinsichtlich  des  „ S ei n-so Ileus“  der 
Dinge  macht.  Diese  Dinge  sollen  eben  so  sein,  wie  es  diesen  Annahmen  entspricht. 
Die  letzteren  erlangen  auf  diese  Weiso  eine  ungeheuere  Bedeutung  und  dennoch  sind 
sie,  wissenschaftlich  gesprochen,  Vorurtheile,  Ergebnisse  unvollkommener  Inductions- 
schlüssc,  verallgemeinerter  Deductioncn  und  petitiones  principii,  Annahmen  des 
erfolgten  Beweises  für  das  erst  zu  Beweisende,  freilich  mit  Vernunftgründen  meist 
nicht  ausreichend  Bcweisbaro. 

Das  gilt  von  den  grossen  rechtlichen  Grundfragen, 
welche  sieh  auf  das  Oh  und  Wie  der  persönlichen  Unfreiheit  und 
Freiheit,  der  Eigenthumsordnung,  oh  und  wie  Privat-,  ob  und  wie 
Gemeineigenthum,  auch  an  den  sachlichen  Productionsmitteln,  auf 
das  Ob  und  Wie  und  Wie  weit  der  Vertragsfreiheit,  auf  dasjenige 
der  Classenschichtung,  der  Berufsfreiheit,  der  Differenz  der  indivi- 
duellen, familienweisen,  standesweisen  ökonomischen  und  socialen 
Stellung  beziehen.  Das  gilt  auch  weiter  von  deu  Annahmen  be- 
züglich dessen,  was  — auch  im  Gesammtinteresse  — nothwendig, 
richtig,  zweckmässig,  gerecht  und  billig  sei  hinsichtlich  der  mate- 
riellen Lage,  namentlich  des  davon  abhängigen  Minimal- 
maasses der  Bedürfnisbefriedigung,  hinsichtlich  des  Bildungs- 
antheils,  der  politischen  Rechte  der  unteren  Classen. 

Es  gilt,  nebenbei  bemerkt,  ähnlich  auf  dem  rein-politischen  Gebiete,  in 
Betreff  der  Staatsformen  (Wurzeln  der  Monarchie,  der  Republik  im  „Glauben“), 
der  ständischen  Gliederung  (Aristokratie,  Adel)  u.  s.  w. 

Alle  die  bezüglichen  Annahmen  sind  etwas  erfahrungsgemäss 
mehr  oder  weniger  zeitlich  und  örtlich-historisch  Veränderliches. 
Sie  gelten  aber  für  eine  gegebene  Zeit  und  einen  gegebenen 
Ort  (Land  u.  s w.)  dennoch  für  solche  selbstverständliche  feste 
Axiome,  welche  Richtschnur  und  Maass  des  Scinsollens  liefern 
— bis  sie  in  der  geschichtlichen  Fortentwicklung  der  Kritik  er- 
liegen, um  anderen  „Glaubenssätzen“  ähnlichen  Charakters  Platz 
zu  machen.  Bis  dahin  aber  beherrschen  sie  die  öffentliche  Meinung 
und  üben  dadurch  ihren  Einfluss  aus.  So  auch  auf  dem  hier  er- 
örterten Gebiete  des  Verth eilungs problems.  Nur,  indem 
allmählig  dann  der  „Glaube“  an  die  Noth wendigkeit  und  Richtig- 
keit der  alten  Axiome  wankt,  ein  vielleicht  sogar  entgegengesetzter 
sich  verbreitet,  die  Gemüther,  die  Gewissen  zu  beherrschen  bc- 


<378  4.  B.  Bcvölk.  u.  Volksw.scb.  2.  K.  Bedarf  u.  Yerthcil.probl.  1.  A.  Im  Allgcin.  265. 


ginnt,  das  „gesellschaftliche  Gewissen“  die  Dinge  anders  auffasst, 
kommen  dann  auch  andere  „Glaubenssätze“  zur  Geltung,  schliess- 
lich zum  Siege,  die  nunmehr  dem  Sein -sollen  in  Gesellschaft, 
Volkswirtschaft,  Politik,  Cultur  Richtung  und  Maass  ertheilen  und 
sich  dann  auch  für  die  veränderte  Auffassung  unseres  Vertbeilungs- 
problems  von  Bedeutung  erweisen. 

Uns,  d.  b.  den  heutigen  Culturvölkern  der  europäischen  Gesittung  gilt  die  per- 
sönliche Freiheit  der  ganzen  Bevölkerung  als  Axiom.  Zugleich  glauben  wir  aus  dem 
Princip  derselben  möglichst  weitgehende  („individualistische“)  Folgerungen  ziehen  zu 
sollen,  so  in  Betreff  der  Vertragsfreihcit.  Noch  gilt  uns  aber  überwiegend  die  sociale 
Klassenschichtung  als  etwas  unter  menschlichen  Verhältnissen  und  auch  unter  unseren 
heute  bestehenden  technischen  und  ökonomischen  Lebensbedingungen  Natürliches. 
Gebotenes  und  vom  Gesammtintcresso  Gefordertes,  daher  auch  die  ökonomischen  und 
wirthschaftsrechtlichen  Voraussetzungen  dafür,  das  Privateigenthum  an  den  sachlichen 
Productionsmitteln,  die  Ungleichheit  von  Einkommen  und  Vermögen,  das  Erbrecht. 
Aber  die  socialistischc  Lehre  beginnt  an  diesem  Axiom  von  der  Natürlichkeit,  Noth- 
wendigkeit  und  dem  Nutzen  dieser  Classcnschichtung  zu  rütteln.  Ob  mit  durch- 
schlagendem allgemeinen  Erfolg,  das  steht  freilich  noch  dahin. 

Die  Hebung  der  unteren  Classen  in  jeder  Hinsicht  ist  aber  bereits  ein 
Glaubenssatz  der  modernen  Culturvölker  geworden,  und  das  „gesellschaftliche  Gewissen“ 
sucht  die  in  ihm  enthaltenen  Forderungen  durchzuführen,  indem  es  den  Verstand  anregt, 
auf  den  verschiedensten  Gebieten  die  Mittel  zur  Erreichung  des  Ziels  zu  erforschen:  Ver- 
minderung der  Arbeitslast,  Beschränkung  der  Arbeitszeit,  Schutz  gegen  Arbeitsgefahren 
(Arbeiterschutzwesen) : bessere  Sicherung  des  Erwerbs,  Sicherung  von  Einkommen  in 
abnormen  Zeiten  (Krankheit,  Invalidität,  Alter.  Arbeilervcrsicherungswesen);  Begünstigung 
von  Lohnerhöhungen  (Gewährung  des  Coalitionsrechts,  der  Bildung  von  Gewerkvercinen); 
Verbesserung  der  Gesundheitsverhältnisse  (Wohnungswesen,  Krankheitsbekämpfung, 
präventiv  und  repressiv);  Verbreitung  von  Elementarbildung  und  unentgeltliche  oder 
wohlfeile  Gewährung  der  Mittel  dafür  (freie  Volksschule);  Sicherung  dieser  Bil- 
dungsverbreitung  im  Interesse  der  Betheiligten  wie  im  Gesammtinteresse  (Princip  der 
Schulpflicht);  Gewährung  politischer  Wahlrechte  auch  an  die  unteren  Klassen,  um 
ihnen  die  Ausübung  eines  Einflusses,  die  Geltondmachung  ihrer  Interessen  in  der  Gesetz- 
gebung und  Verwaltung  zu  ermöglichen;  Gestaltung  des  Finanz-  und  Stcuerwesens, 
der  Zwecke  und  Arten  der  Ausgaben,  der  Arten  der  Einnahmen,  der  Einrichtung  der 
Steuern,  z.  B.  durch  stärkere  Belastung  der  Besitzenden,  der  höheres  Einkommen  Be- 
ziehenden, nach  Interessen  der  unteren  Stände;  mehr  und  mehr  auch  schon  Aenderung 
der  gesellschaftlichen,  wirtschaftlichen  und  politischen  Stellung  der  Frau:  Das  und 
Aebnliches  sind  Postulate,  welche  in  unserer  Zeit  zu  jenen  gesellschaftlichen 
Glaubenssätzen  und  Axiomen  gehören,  die  immer  mehr  als  „selbstverständlich“  gelten. 

Die  Verwirklichung  dieser  Forderungen  rcagirt  aber  unmittelbar  und  mittelbar 
auf  die  Verteilung  des  Ettrags  selbst.  Ja,  ökonomisch  gesprochen,  jene  Maassrcgeln 
sind  eben  nur  Mittel,  um  die  Verteilung  des  Volkseinkommens  für  die  unteren 
Classen  günstiger  zu  gestalten.  Ob  das  ein  durchaus  richtiges  Ziel,  ob  diese  Mittel 
die  richtigen,  ob  sie  vom  erwarteten  Erfolg  begleitet  seien,  das  steht  hier  jetzt  nicht 
zur  Frage.  Genug,  die  zu  Grunde  liegenden  „Annahmen“  bestehen  eben. 

In  einer  mittelalterlich  ständischen  Gesellschaft,  mit  ihren  privilegirten  Ständen, 
den  geschlossenen  Rechtssphären  derselben  war  das  völlig  anders.  Absichtlich  sollte 
der  Adel  durch  seinen  grösseren  Grundbesitz,  seine  Besitzvorrechtc  eine  höhere  Stel- 
lung cinnehinen  als  der  Bauer,  der  Städter.  Allgemein  erschien  der  Unterschied  der 
Stande,  der  Berufe,  der  Einkommen-  und  Vermögensvcrhältnisso,  von  „Reich  und 
Arm“,  als  eine  natürliche  oder,  was  nach  den  Anschauungen  der  Zeit  dasselbe  be- 
deutet, als  eine  göttliche  Ordnung,  die  im  Volksbewusstsein  wurzelte.  Die  auf  solchen 
Anschauungen  beruhende  Vertheilungsordnung  war  eine  aristokratische,  wie  die 
heutige  in  unserem  demokratischen  und  socialistischcn  Zeitalter  nach  dessen  An- 
schauungen eine  demokratische  zu  werden  strebt.  Mit  dieser  stehen  die  aus  den 
früheren  geschichtlichen  Rechtsordnungen  herrührenden  Reste  der  aristokratischen  — 


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Ziele  der  Volkswirtschaft!.  Entwicklung  hei  uns. 


679 


wie  z.  Th.  noch  im  ländlichen  Grundbesitz  — und  die  aus  dem  System  der  freien 
Concurrcnz  entsprungene  neue  plutokratische  Vertheilungsordnung  dem  inneren  Wesen 
nach  in  Widerspruch. 

Gewiss  ist  es  nun  für  die  Wissenschaft  und  für  eine  wirk- 
lich rationelle  Praxis  geboten,  bei  Erörterungen  Uber  das  Ver- 
theilungsproblem  und  bei  Maassregeln  zu  einer  Lösung  desselben 
solche  „gesellschaftliche  Glaubenssätze“  nicht  unbesehen  als  un- 
bedingt richtig  und  maassgebend  anzuerkennen.  Aber  jedenfalls 
müssen  beide  stets  mit  solchen  Sätzen  rechnen  und  sie  ebenso, 
wie  die  drei  anderen  Reihen  von  Voraussetzungen,  bei  der  theo- 
retischen und  practischen  Behandlung  des  Vcrtheilungsproblems 
berücksichtigen. 

IV.  — §.  266.  Ziele  der  volkswirtschaftlichen 
Entwicklung  für  unsere  Culturperiode.  Auf  Grund 
des  Vorausgehenden  lässt  sich  nun  auch  in  Anknüpfung  an  die 
vorläufigen  Bemerkungen  in  §.  262  näher  bestimmen,  welche 
Ziele  der  volkswirtschaftlichen  Entwicklung  bei  uns  heute  auf- 
zustellen sind. 

A.  Für  das  Product ionsproblem.  Entsprechend  der  bereits 
erreichten  hohen  Entwicklung  und  dem  starken  weiteren  Fortschritt 
der  modernen  Productionstechnik  auf  naturwissenschaftlicher  Grund- 
lage, der  erreichten  und  weiter  fortschreitenden  Entwicklung  der 
Arbeitsfähigkeit  der  Bevölkerung,  dem  vorhandenen  und  weiteren 
Wachstbums  fähigen  Kapitalreichthum  ist  eine  Einrichtung  der  Pro- 
duction zu  erstreben,  welche  ein  immer  grösseres  und  aus  immer 
passenderen  und  mit  geringeren  Kosten  gewonnenen  Gütern  be- 
stehendes Volkseinkommen  beschafft. 

Passendere  Güter,  d.  h.  solche,  welche  unmittelbar  für  den  nothwendigen  und 
berechtigten  Volksbedarf  geeigneter  oder,  welche  sicher  und  vorteilhaft  in  die  er- 
forderlichen Güter  umzusetzen  sind.  Mit  geringeren  Kosten  gewonnene  Güter,  d.  h. 
mit  immer  kleineren  natürlichen  Froductionskosten  erlangte  oder  m.  a.  W.  eine 
mit  minimalen  natürlichen  Kosten  maximale  Nutzcflecte  schallende  Production  ist  das 
Ziel.  (Schäfflc.) 

Das  setzt  immer  zugleich  eine  entsprechende  Organisation  und  Rechtsordnung 
der  Volkswirtschaft  voraus:  wie  schon  oben  bemerkt,  die  Probleme  des  5.  u.  G.  Buchs 
und  der  2.  Abtheilung  der  Grundlegung,  der  Productionslchre  in  der  „Theoretischen“ 
und  bezüglicher  Abschnitte  in  der  „Practischen“  Nationalökonomie,  besonders  der 
Agrar-,  Gewerbe-,  Haudclslehrc. 

B.  Für  das  Vertheilungsproblem.  Auf  Grund  der 
wesentlich  der  modernen  Technik  und  der  gesammten  Culturent- 
wicklung  der  Bevölkerung  zu  verdankenden  heutigen  und  danach 
auch  eines  weiteren  Fortschritts  fähigen  Productivität  der  nationalen 
Arbeit  und  unter  der  erforderlichen  Rücksichtnahme  auf  die  für 
unsere  Zeit  mehr  und  mehr  maassgebend  gewordenen  „gesellscbaft- 


680  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  2.  K.  Bedarf  u.  Vertheil.probl.  1.  A.  Im  Allgem.  §.  265. 

liehen  Axiome“  hinsichtlich  des  Sein-sollens  der  Vertheilung  lassen 
sich  folgende  Forderungen  aufstellen. 

Ob  und  wie  weit  dieselben  sich  verwirklichen  lassen,  hängt  aber 
stets  mit  von  der  Bevölkerungsgrösse  und  Gliederung  und 
von  Art,  Richtung  und  Maass  der  Veränderungen  darin  ab. 
Ferner,  soweit  die  geschichtlich  überkommene  und  zu  Recht  be- 
stehende Rechtsordnu  n g der  Volkswirtschaft,  namentlich  für 
die  sachlichen  Productionsmittel,  und  die  Grund-  und  K api tal- 
besitz verth  eilung  hier  etwa  hemmend  einwirken,  kommtauch 
in  Betracht,  ob  und  wie  weit  hierin  überhaupt  Aenderungen  mög- 
lich und  nicht  etwa  auch  dem  allgemeinen  Productionsinteresse  der 
Volkswirtschaft  und  dem  wahren  Culturinteresse  der  Volksgesammt- 
heit  schädlich  sind.  Nur  vorbehaltlich  der  Beschränkungen,  welche 
sich  aus  diesen  Sätzen  ergeben,  sind  daher  die  folgenden  Forderungen 
berechtigt  und  als  Zielpuncte  für  die  Vertheilung  aufzustellen: 

Erreichung  auch  für  die  Masse  der  Bevölkerung,  die  sogen, 
unteren  Classen,  eines  genügenden  Auskommens  aus  eigenem  Ein- 
kommen zur  Befriedigung  der  nothwendigen  Existenzbedürfnisse 
nach  Art  und  Umfang  der  erreichten  Lebenshaltung  des  Volks 
(s.  §.  268)  und  zur  wachsenden  Theilnahme  an  wichtigeren  Cultur- 
gtitern  des  Zeitalters.  M.  a.  W.  zur  Erreichung  einer  „menschen- 
würdigen Existenz“,  wie  sie  den  Anschauungen  des  Zeitalters 
auch  in  Betreff  des  der  Masse  der  Bevölkerung  angemessenen 
Maasses  der  Bedürfnisbefriedigung  entspricht. 

Die  Billigung  des  Ziels  scbliesst  aber  auch  die  Billigung 
derjenigen  Mittel  und  Wege  zur  Erreichung  dieses  Ziels  ein, 
welche  sich  als  unumgänglich  erweisen.  Wenn  daher  auch  an  der 
Organisation  und  Rechtsordnung  unserer  Volkswirtschaft  und  an 
der  vertragsmässigen  Regulirung  der  Vertheilung  als  Regel  festge- 
halten wird,  daher  auch  an  derjenigen  Einkommenbildung  der 
Classen  und  Einzelnen,  nach  Art  und  Höbe  des  Einkommens,  welche 
aus  diesen  Verhältnissen  hervorgeht,  so  muss  doch  principiell 
die  Berechtigung  zugestanden  werden,  in  diese  Vertheilung  und 
Einkommenbildung  regulirend  einzugreifen,  soweit  dies  not- 
wendig und  nach  obigen  beiden  Vorbehalten  zulässig  ist,  um  das 
aufgestelltc  Ziel  zu  erreichen.  D.  h.  wie  sich  zeigen  wird,  es  sind 
im  Princip  directe  und  indirecte  Zuwendungen  aus  dem  Volks- 
einkommen zu  billigen,  ja  zu  fordern,  im  Effect  daher  freilich  auf 
Kosten  derjenigen  Theile  dieses  Einkommens,  welche  durch  die 
vertragsmiissige  Vertheilung  des  Productionsertrags  den  besitzenden 


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Auskommen. 


681 


Classen  und  den  Beziehern  über -durchschnittlichen  Einkommens 
zugefallen  sind.  Welche  Folgerungen  das  für  die  Gestaltung  der 
Rechtsordnung  mit  sich  bringt,  wird  später  zu  erörtern  sein  (§.  271  fl’.). 

V.  — §.  267  [95].  Das  Auskommen.  Ein  relativer  Begriff: 
Es  bezeichnet,  auf  die  Einzelwirtschaft  oder  besser  nur  auf  die- 
jenige physischer  Personen,  auf  die  Individual-  und  Familien- 
wirthschaft  des  Menschen  angewendet,  — übrigens  auch  auf  die 
ganze  Volkswirtschaft,  als  Inbegriff  vornemlich  dieser  letzteren 
Wirtschaften,  anwendbar,  — das  Gleichgewicht  zwischen 
dem  aus  den  Bed  ü r fn  issen  bervorgehenden  Bedarf  an  wirt- 
schaftlichen Gütern  und  dem  Einkommen,  sowohl  dem 
aus  der  vertragsmässigen  Regulirung  der  Verteilung  hervorge- 
gangenen, danach  selbst  „erworbenen“,  als  dem  etwa  in  der  an- 
gedeuteten Weise  durch  Zuwendungen  ergänzten,  ohne  dass  ein 
Rückgriff  auf  das  aus  früheren  Wirthschaftsperioden  berührende 
Vermögen  stattfiuden  muss. 

Nach  dom  verschiedenen  Umfang  der  Bedürfnisse  wird  daher  auch  bei  gleicher 
Grösse  des  Einkommens  bald  Auskommen  vorhanden  sein,  bald  nicht,  und  ebenso 
bei  gleichem  Umfang  der  Bedürfnisse  die  Höhe  des  Einkommens  darüber  entscheiden, 
ob  Auskommen  besteht.  Jedenfalls  muss  aber  iu  jeder  Wirtschaft  das  Auskommen 
erstrebt  werden.  Demnach  kann  weder  iu  der  Einzel-  noch  in  der  Volkswirtschaft 
regelmässig  das  fehlende  Gleichgewicht  zwischen  den  Bedürfnissen  und  dem  Ein- 
kommen mit  durch  Verbrauch  des  Vermögens  oder  Kapitals  zur  Befriedigung  der  Be- 
dürfnisse hergestcllt  werden.  Denn  bei  der  steten  Erneuerung  der  Bedürfnisse  würde 
immer  von  Neuem  auf  das  Vermögen  oder  Kapital  zurückgegrift'en,  dies  also  allmählig 
aufgczchrt  werden  müssen.  Es  fehlte  dann  die  notwendige  Nachhaltigkeit  d^r 
Quelle,  ans  welcher  die  Befriedigung  der  Bedürfnisse  erfolgt.  Diese  Nachhaltigkeit 
besitzt  nur  das  Einkommen.  Deshalb  ist  auch  in  der  V olkswirt h schaft  zu- 
nächst auf  ein  zum  Auskommen  genügendes  Einkommen  aller  Einzelwirtschaften 
physischer  Personen  und  auf  ein  dazu  ausreichendes  Volkseinkommen  hin  zu  streben, 
erst  in  zweiter  Linie  auf  dauernde  Vermehrung  des  Vermögens  jener  Wirtschaften 
und  auf  ein  grosses  Volksvermögen. 

Nach  den  früheren  Begriffsbestimmungen  (§.  124)  gehört  jede  momentan  vor- 
handene, aus  dem  Einkommen  fliessende  Gütermenge  zum  Vermögen.  Davon  kann 
aber  der  dauernd  bleibende,  daher  zur  nachhaltigen  Vermehrung  aus  dem  Ein- 
kommen dienende  Betrag  unterschieden  werden,  der  hier  gemeint  ist:  im  Wesent- 
lichen das  Nutzvermögen  und  das  Kapital. 

VI.  — §.  268  [96].  Bedürfnissstand  und  Classification 
der  Bedürfnisse.  Die  Höhe  des  Einkommens,  welche  zum 
Auskommen  eines  Menschen  oder  einer  Familie  und  dann  wieder 
des  ganzen  Volks  erforderlich  ist,  ist  eine  relative  Grösse,  abhängig 
vom  jedesmaligen  Bedürfnissstande  oder  Bedarf.  Letzterer 
ist  im  Einzelnen  selbstverständlich  mannigfach  verschieden.  Für 
die  volkswirthschaftliche  Würdigung  des  Bedürfnissstands  kommt 
folgende  Classification  der  Bedürfnisse  in  Betracht. 

S.  schon  oben  §.  24  in  Kürze,  ltau,  §.  75,  unterscheidet  allgemein  mensch- 
liche. volksthümliche,  gesellschaftliche,  individuelle  Bedürfnisse,  Kose  her,  §.  1,  Natur-, 


682  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  2.  K.  Bedarf  u.  Vcrthcil.probl.  1.  A.  Im  Allgem.  §.  268. 


Anstands-,  Luxusbedürfnisse.  Sehr  eingehende  Untersuchung  bei  Hermann,  Abb.  II. 
S.  SÜ  fl'.  Vgl.  auch  Schäffle,  Syst.  I,  99  ff.,  Menger,  I,  35  ff.,  Samter,  Soc.lehre 
Buch  1. — Uebcr  die  wichtige,  apart  zu  behandelnde  Gattung  der  Gemeinbedurf- 
nisse  s.  u.  B.  5.  Ueber  die  für  die  volkswirthschaftliche  Frage  vom  Auskommen  und 
Bedarf  wichtige  Haushaltstatistik  s.  o.  §.  174  S.  409. 

1)  Bedürfnisse,  deren  Befriedigung  zum  Bestehen  des 
Menschen  nothwendig  ist:  Existenzbedürfnisse. 

Insbesondere  materielle,  nemlich  Nahrung,  Wohnung,  Kleidung,  künstliche 
äussere  Erwärmung  und  Beleuchtung,  Gesundheitsfürsorge,  ferner  immaterielle, 
namentlich  das  für  das  Zusammenleben  der  Menschen  und  für  jeden  Verkehr  noth- 
wendige  erste  Gomeinbedürfniss  einer  gewissen  socialen  Ordnung  und  eines 
gewissen  Rechtsschutzes. 

Hinsichtlich  der  Befriedigung  dieser  Bedürfnisse  ist  zu  unter- 
scheiden: 

a)  der  absolut  unumgängliche  Umfang,  in  welchem  die 
Befriedigung  erfolgen  muss:  Existenzbedürfnisse  ersten  Grads. 

Dieser  Umfang  hängt  bei  den  materiellen  Existenzbedürfnissen  von  der  Natur 
des  Menschen  selbst  (Minimalbedürfniss  an  Nahrung,  an  Mitteln  der  Wärme- 
bildung  und  Wärmeerhaltuug  im  Körper,  zur  Kraftcrhaltung,  Krafterneuerang. 
Körperausbildung  bei  Kindern  u.  s.  w.)  und  von  der  äusseren  Natur  des  Landes, 
in  welchem  der  Mensch  lebt  (Klima  u.  s.  w.)  ab. 

Für  die  Gesellschaft  kommt  auch  der  absolut  nothwendige  Aufwand  zur 
Auferziehuug,  bzw.  schon  zur  physischen  Gewinnung  einer  neuen  Generation  hiermit 
in  Betracht  (entsprechende  Ernährung  und  Pllegc  der  Schwangeren,  Säugenden,  der 
Kinder  bis  zur  vollen  Arbeitsfähigkeit),  ferner  der  absolut  nothwendige  Aufwand  zur 
Erhaltung  der  Kranken,  Alten,  Schwachen  u.  s.  w„  nach  den  sittlichen  Anschauungen 
und  der  Rechtsordnung  des  Zeitalters. 

Nach  den  Untersuchungen  des  englischen  Arztes  Dr.  Smith  muss  die  tätliche 
Nahrung  eines  Durchschnitts- Weibes  in  England  3900  Gran  Kohlenstoff  und  ISO  Gran 
Stickstoff,  diejenige  eines  Durchschnitts -Mannes  daselbst  bez.  4300  und  200  Gran 
mindestens  enthalten,  um  Hungerkrankheiten  zu  vcimeidcn,  d.  h.  für  das  Weib  so 
viel  Nahrungstoff  als  in  2 Pfund  gutem  Weizenbrot  enthalten  sind,  für  den  Mann  1 , 
mehr.  Nach  Marx,  Kapital  I,  042,  wo  weitere,  z.  Th.  erschreckende  Thatsachen 
über  mangelhafte  Ernährung  englischer  Arbeiter  in  der  Zeit  der  Baumwollnoth  1862 
bis  1863.  Ausführliche  Auszüge  aus  Marx  bei  Schäfflc,  Syst.  II,  422  ff.  Siehe 
auch  Lange,  Arbciterfr.  Kap.  4.  — Nach  E.  Wolff,  landwirthsch.  Füttcrungslehre 
und  Theorie  der  menschlichen  Ernähr..  Stuttg.  1801.  S.  297,  citirt  in  Graf  z.  Lippe- 
Wcissenfcld,  ration.  Ernähr,  d.  Volks,  Leipz.  1806,  braucht  ein  erwachsener  Mann 
mit  einem  Körpergewicht  von  140  Pfd.  bei  mittlerem  körperlichen  und  geistigen  Kraft- 
aufwand zur  für  fortdauernde  Gesundheit  erforderlichen  Ernährung  täglich  in 
Grammen  Kohlenstoff  331,  Stickstoff  18.75,  Proteiustoff  120,  Stärkemehl-Aequivalent 
exel.  Fett  540,  Fettstoffe  35,  Mineralstoffe  10,  Phosphorsäure  3.5.  Weiteres  Detail  in 
der  Schrift  von  Lippe.  S.  auch  G.  Jäger,  die  menschliche  Arbeitskraft  (B.  20 
u.  27  d.  ..Naturkräfte“,  naturwiss.  Volksbiblioth.).  München  1878.  Ueber  Speise  und 
Trank  daselbst  S.  130.  Nach  den  hter  mitgcthciltcn  Untersuchungen  von  Von 
braucht  ein  erwachsener  arbeitender  Mensch  täglich  118  Gramm  trockenen  Eiweisses 
und  daneben  205  Gramm  Kohlenstoff  in  Form  von  Fetten  oder  Kohlenhydraten  zur 
Nahrung.  In  welchen  Arten  lind  Mengen  einzelner  gebräuchlicher  Nahrungsmittel 
dieser  Bedarf  an  Nährstoffen  enthalten  ist,  ebenda  S.  131.  — Einfluss  des  Klimas 
übrigens  bekanntlich  nicht  nur  auf  das  Klcidungs-,  Wohnungs-,  sondern  auch  auf  Grösse 
und  Art  des  Nahrungsbcdürfnisscs  — Vergl.  auch  Engel,  Preis  der  Arbeit,  Berlin 
1860,  besonders  Uber  die  natürlichen  Selbstkosten  der  Arbeit  und  derselbe,  der  Preis 
der  Arbeit  bei  den  deutschen  Eisenbahnen,  Zeitschr.  d.  K.  Preuss.  Statist.  Büreaus  1874 
(XIV.),  93  ff. 


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Classification  der  Bedarfnisse. 


683 


b)  Der  von  Sitte  und  Gewohnheit,  von  der  „Lebens- 
haltung“, vom  „Lebensmaassstab“  des  Volks  und  der  ver- 
schiedenen Bevölkerungskreise  (Classen)  a b hä n gige  Umfang  der 
Bedürfnissbefriedigung:  Existenzbedürfnisse  zweiten  Grads. 

Standard  of  life  der  Engländer,  von  Lanire  u.  A.  in.  ..Lebenshaltung“  ver- 
deutscht: Lebensmaassstab  scheint  mir  ebenso  treffend  und  im  Deutschen  recht  wohl 
zulässig.  Eine  räumlich  und  zeitlich  oder  geschichtlich  ebenfalls  sehr  wechselnde 
Grösse.  Ktlr  jede  Zeit  und  jedes  Land  ist  jedoch  nach  einem  gewissen  billigen  Er- 
messen und  Tactgefuhl  ein  Umfang  der  Befriedigung  der  materiellen  Bedürfnisse  wohl 
festzustellen,  welcher  auch  für  die  ungünstig  situirten  Familien  und  für  die  Masse  des 
Volks  als  relativ  unentbehrlich  bezeichnet  werden  muss  und  welcher  daher  vom 
Einkommen  auskömmlich  gedeckt  werden  sollto. 

Die  materiellen  Bedürfnisse  sind  streng  genommen  quantitativ  für  den  ein- 
zelnen Menschen  beschränkt,  dagegen  qualitativ  einer  um  so  grösseren  Stei- 
gerung uud  Verfeinerung  fähig.  Hier  berührt  sich  die  Frage  mit  der  des  Luxus 
S.  Rau,  über  Luxus,  1S17,  bcs.  Roscher,  über  Luxus,  Arch.  d.  polit.  Oekon.  1843 
(Ans.  d.  Volkswirthscb.,  8.  A.  1878,  I,  103).  Syst.  I,  §.  225  ff.,  v.  Mangold t.  über 
Luxus  im  Staatswörterbuch,  Lexis,  Abh.  volkswirthscb.  Consumtion  in  Schön  bergs 
Handbuch  Bd.  1.  Die  Entwicklung  des  Luxus  wird  bei  den  begüterten  Classen 
durch  eine  grosse  Ungleichheit  der  Vertheilung  des  Volkseinkommens  und 
Volksvermögens  leicht  übermässig  entwickelt.  Es  ist  dem  gegenüber,  wie 
überhaupt  der  obwaltenden  Tendenz  der  Vermehrung,  Vervielfältigung  und  Ver- 
feinerung aller  Bedürfnisse  gegenüber,  zu  betonen,  dass  der  Bedürfnissstand  und  seine 
Entwicklung  nicht  das  Product  reiner  Naturtriebe  sind,  sondern  stets  unter  einem 
sittlichen  Urthoil  stehen  und  steben  sollen  (§.  23).  Eine  richtige  sittliche 
Beschränkung  der  Bedürfnisse  kann  und  muss  daher  häufig  grade  bei  den  Ver- 
mögenden in  Frage  kommen. 

2)  Bedürfnisse,  deren  Befriedigung  einmal  zur  Erhöhung 
des  feineren  Lebensgenusses  materieller  wie  immaterieller 
Art  (z.  B.  privater  Kunstluxus),  sodann  zur  weiteren  Ent- 
wicklung des  Menschen,  insbesondere  der  geistigen  Seite 
seines  Wesens,  dient:  Culturbedürfnisse,  zu  welchen  auch  die 
meisten  aus  dem  menschlichen  Zusammenleben  hervorgehenden 
Gemein bedlirfn isse  (Buch  5)  gehören. 

Eine  ganz  feste  Grenze  zwischen  den  Bedürfnissen  bloss  feinerer  Lebensgenusses 
und  wahren  Culturbedürfnissen  ist  nicht  zu  ziehen.  Die  letzteren  folgen  zwar  auch 
aus  dem  Wesen  des  Menschen,  aber  ein  bestimmtes  natürliches  Minimal- 
maass  und  ein  richtiges,  vom  sittlichen  Urtheil  angegebenes  Maxim  almaas  s , 
w'ic  im  Ganzen  bei  den  materiellen  Bedürfnissen,  lässt  sich  weder  für  den  Ein- 
zelnen noch  für  ein  Volk  feststellen.  Der  Bedürfnissstand  ist  hier  durchaus  ein 
Product  der  Geschichte,  zeitlich  und  räumlich  daher  völlig  verschieden.  Die  höhero 
uud  feinere  Ausbildung,  zugleich  aber  eine  vor  der  Kritik  des  Gewissens  und  der 
Vernunft  standhaltende  Gestaltung  dieses  Bedürfnissstands  darf  als  Ziel  der  mensch- 
lichen Entwicklung  betrachtet  werden.  Das  ist  freilich  auch  nur  wieder  einer  jener 
„Glaubenssätze“  in  unserer  Geschichtsepoche  (§.  263).  Auffassungen,  in  welchen  der 
Werth  des  äusseren  und  des  rein  intcllcctnellcn  Lebens  tiefer  gestellt  werden,  führen 
zu  anderen  Schlüssen,  beruhen  aber  allerdings  auch  ihrerseits  nur  wieder  auf  „Glau- 
benssätzen“. So  Diogenes'sche  Bedürfnislosigkeit,  christliche  Armuth , puritanische 
Lebensweise  als  Ziel.  Nach  der  allgemeinen  geschichtlichen  Erfahrung  erscheint 
gleichwohl  ein  endgiltigcr  Ruhepunct  im  Bedürfnissstande  wenigstens  bei  „Ent- 
wicklungs-“,  d.  h.  eben  bei  Culturvölkcrn  nicht  vorhanden. 


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f>84  4.  B.  Bovölk.  u.  Yolksw.sch.  2.  K.  Vertheil.problem.  2.  A.  Regelung.  § 26V. 


2,  Abschnitt. 

Regelung  der  Vertheilung. 

1.  — §.  269.  Volkswirt hschaftliche  Würdigung 
des  Bedürfnissstands  und  demgeraässe  Forderungen 
f U r die  Vertheilung  des  Volkseinkommens  im  Allge- 
meinen. 

Vgl.  in  der  2.  Aufl.  §.  97  ff.  Formell  und  zum  Theil  auch  sachlich  sind  diese 
Ausführungen  hier  in  der  3.  Aufl.  wesentlich  reräudort  worden,  wenn  sie  auch  auf 
demselben  principiellcn  Boden  stehen. 

Unter  Berücksichtigung  dessen,  was  nach  der  Grösse  nnd 
Gliederung  der  Bevölkerung  und  der  Vermehrungsrate  der  letzteren 
sowie  nach  der  Grösse  und  Vermehrung  des  Volkseinkommens  und 
dem  Stande  der  Productionstechnik  überhaupt  in  Betreff  der  Be- 
friedigung der  wirtschaftlichen  Bedürfnisse  in  einem  Volke  zu 
gegebener  Zeit  als  erreichbar  erscheint,  gilt  es  nun,  einen  gegebenen 
Bedürfnissstand  eines  Volks  und  seiner  Classeu  hinsichtlich  seiner 
Ausreichendbeit  und  seiner  sittlichen  Berechtigung  zu  prüfen. 

Findet  sich  hierbei,  dass  dieser  Bedürfnissstand  und  das  für 
die  Deckung  der  ihm  entspringenden  Bedürfnisse  verfügbare  Ein- 
kommen hei  gewissen  Classen,  Personenkreisen  und  einzelnen 
Personen  zu  niedrig  ist,  niedriger  als  Volkszahl  und  Höhe  des 
Volkseinkommens  es  bedingen,  so  taucht  die  Frage  auf,  ob  nun- 
mehr auf  eine  Aenderung  der  Vertheilung  des  Volksein- 
kommens zur  Abstellung  dieser  Lage  hingestrebt  werden  soll  und  darf. 

Das  setzt  das  Anerkenntniss  voraus,  dass  jene  Classen  und 
Personen  berechtigte  und  anderen  Rücksichten  vor- 
gehende Ansprüche  haben,  ihr  Einkommen  direct  und  in- 
direct  aus  anderen  Theilen  des  Volkseinkommens,  wenn  auch  auf 
Kosten  der  Bezieher  dieser  andern  Theilc,  ergänzt  zu  erhalten, 
um  ihren  Bedürfnissstand  erhöhen  zu  können  und  doch  ihr  Aus- 
kommen nicht  zu  verlieren.  Um  diesen  Ansprüchen  aber  Richtung, 
Maas  s und  G renze  zu  gehen,  muss  zunächst  nothwendig  wieder  ein 
idealer  classeu  weiser  Bedürfnissstand  aufgesucht  und  dieser  zum 
Maassstab  genommen  werden.  Dadurch  wird  dann  auch  Richtung. 
Maass  und  Grenze  für  die  zu  erzielende  Aenderung  der  Vertheilung 
des  Volkseinkommens  wenigstens  nach  der  einen  Seite  bestimmt. 

Was  in  dieser  Hinsicht  nun  der  berechtigte  und  richtige  ideale 
Bedürfnissstand  einzelner  Classen  sei,  wird  im  Einzelnen  sehr 
verschieden  beantwortet  werden  und  überhaupt  niemals  ganz  ohne 


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Volkswirthsch.  Würdigung  des  Bedürfnissstands. 


685 


subjective  Willktihr.  Aber  in  gegebener  Zeit  und  durch  den  Ver- 
gleich des  Bedtirfnis8standes  der  verschiedenen  Classen,  namentlich 
der  reicheren  und  ärmeren,  bildet  sich  doch,  bei  Culturvölkern 
wenigstens,  eine  gewisse  gemeinsame  Ansicht  über  das  Wesent- 
liche. 

Freilich , soweit  es  sicli  namentlich  um  Tbcilnahmc  an  Culturgüteru  handelt, 
auf  Grund  jener  „Glaubenssätze“  hinsichtlich  des  Richtigen  und  Nothwendigen.  Aber 
das  genügt  hier  auch.  Die  Berechtigung  gewisser  Forderungen  wird  danach  allmälig 
in  der  öffentlichen  Meinung  anerkannt,  und  so  setzen  sich  dann  diese  Forderungen 
durch  diese  nach  und  nach  durch,  in  der  Sitte  und,  soweit  diese  betheiligt,  ist  in 
der  Rech  tsord nun g.  In  der  Praxis  des  Staats  liegt  dasselbe  Problem  in  der 
Regelung  der  Besoldungen  vor  und  wird  hier  ähnlich  gelöst:  man  normirt  die 
Besoldungen  auch  ausserhalb  des  Concurrenzsystems,  mit  nach  idealen  Bedürfniss- 
ständen,  welche  man  für  die  verschiedenen  Beamtenclassen  stufenweise  aufstellt. 

Für  unsere  Zeit  handelt  es  sich  darum,  die  Folgerungen  aus 
dem  anerkannten  Hauptgrundsatz  der  Rechtsordnung,  der  persön- 
lichen Freiheit  und  der  Gleichberechtigung,  gerade  auch 
für  diese  Frage  des  berechtigten  Bedürfoissstandes  zu  ziehen. 
Zugleich  ist  dabei  von  der  erreichten  hohen  Produ cti  vität 
der  nationalen  Arbeit,  dem  Ergebuiss  der  modernen  Productions- 
tcchnik,  Act  zu  nehmen.  Der  Grundsatz  der  Freiheit  und  Gleich- 
berechtigung führt  nothwendig  auch  in  wirtschaftlicher  Beziehung 
zu  Ansprüchen  in  Bezug  auf  Bedlirfnissstand  und  Einkommen, 
welche  in  früheren  Rechtsverhältnissen  und  auf  älteren  diesen  ent- 
sprechenden Culturstufen  nicht  auftauchen  konnten.  Die  Pro- 
ductivität  der  Arbeit  aber  bietet  in  ganz  andrer  Weise  als  früher, 
wenngleich  auch  nicht  so  schrankenlos,  wie  Optimisten  meinen 
(§.  278),  die  Möglichkeit,  diese  Ansprüche,  wenigstens  in  gewissem 
Umfange,  auch  iür  die  unteren  Classen  der  Bevölkerung  zu  be- 
friedigen. Daraus  eben  ergeben  sich,  wenn  die  Vertheilung 
des  Volkseinkommens  die  Erfüllung  jener  Ansprüche  für  diese 
Classen  verhindert,  Forderungen,  diese  Vertheilung  mehr  mit  diesen 
Ansprüchen  in  Uebereinstimmung  zu  bringen,  daher  eventuell  auch 
die  Rechtsordnung  (die  Eigenthums-,  die  Vertragsordnung)  zu  ver- 
ändern, wenn  und  soweit  das  für  eine  Veränderung  der  Vertheilung 
erforderlich  ist. 

Mit  Recht  wird  besonders  auch  in  der  neueren  deutschen  social istischo n 
Litteratur,  von  Rodbertus,  Marx,  Engels  immer  darauf  hingewiesen,  wie  sehr 
die  Entwicklung  der  modernen  Productionstcchnik  und  die  darauf  beruhende  Steigerung 
der  Productivität  der  nationalen  Arbeit  die  Sachlage  in  Bezug  auf  die  Berechtigung 
und  die  Erfüllbarkeit  der  Ansprüche  der  unteren  Classen  günstig  verändert  hat.  Die 
Ucbertreibungcn , deren  sich  dabei  manche  Socialisten  zu  Schulden  kommen  lassen 
(so  Bebel),  auch  die  Thatsache,  dass  die  Fortschritte  der  Technik  weit  mehr  in  der 
Industrie  als  im  Ackerbau  zur  Geltung  kommen  (§.  255.  278).  nöthigen  nicht,  dieses 
Zugeständnis  zurückzunchmcn.  Bedenklicher  ist,  dass  die  socialistischen  Theoretiker 
A.  Wagno v,  Grundlegung.  8.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlagen.  44 


686  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  2.  K.  Vertheil.probl.  2.  A.  Regelung.  §.  270. 

die  gleich  zu  erwähnenden  Gründe  gegen  einen  Eingriff  in  die  Vertheilung  nicht  oder 
nicht  genügend  berücksichtigen.  — Auf  den  Zusammenhang  des  Princips  der  Freiheit 
und  Gleichberechtigung  mit  den  wirtschaftlichen  Ansprüchen  der  unteren  Classeo, 
mit  dem  Auftauchen  der  sogen,  socialen  Frage  hier  hat  vortrefflich  H.  v.  Scheel, 
Theorie  der  socialen  Frage  (Jena  1871)  hingewiesen. 

§.  270.  Noth wendige  Rücksichten  bei  Aufstellung 
und  Durchführung  der  Forderungen  bezüglich  einer 
Aenderung  der  Vertheilung.  In  diesen  beiderlei  Beziehungen 
ist  nun  aber  immer  der  möglichen  und  wahrscheinlichen  Rück- 
wirkungen auf  die  Bevölkerungsbewegung  und  auf  die 
Bedingungen,  von  welchen  der  Fortschritt  der  Pro- 
ductionstechnik  und  Oekonomik,  daher  die  Producti vität 
der  nationalen  Arbeit  abhängt,  zu  gedenken.  Daraus  ergiebt 
sich  auch  hier  wieder  die  Eventualität,  die  Forderungen  selbst 
oder  ihre  Durchführung  einschränken  zu  müssen,  wenn  sich 
nachtheilige  Rückwirkungen  zeigen,  welche  nicht  mit  in  den  Kauf 
genommen  werden  können  oder  dürfen. 

Aber  auch  noch  hierüber  hinaus  ist  bei  der  Entscheidung  zu 
bedenken,  dass  die  Frage  der  Vertheilung  des  Volkseinkommens, 
daher  auch  des  Ob,  Wie  und  Wie  weit  einer  ungleichmässigen 
Vertheilung  nach  den  verschiedensten  Seiten  eine  solche  des  volks- 
wirtschaftlichen und  socialen  Gesammtinteresses  ist.  Sie  muss 
daher  stets  mit,  ja  richtig  aufgefasst,  eigentlich  immer  nur 
nach  diesem  Ges  am  m tinteresse  entschieden  werden.  Nur  wenn 
daher  eine  andere  Vertheilung  als  die  vertragsraässig  auf  Grund 
der  bestehenden  Rechtsordnung  erfolgende  nicht  bloss  im  Interesse 
einzelner  Classen,  auch  der  gesammten  unteren  liegt,  sondern 
wenn  dies  Interesse  zugleich  ein  solches  der  ganzen  Volksge- 
meinschaft ist;  ferner  nur,  wenn  die  bei  einer  Aenderung  der 
Rechtsordnung  eintretende  Aenderung  der  Vertheilung  nicht  andere 
Classeninteressen  in  höherem  Grade  schädigt,  als  das  Interesse 
der  Volksgemeinschaft  dies  gestatten  darf:  nur  dann  und  nur 
insoweit  dürfen  jene  Forderungen  bezüglich  der  Veränderung 
der  Rechtsordnung,  um  die  Vertheilung  zu  ändern,  aufgestellt  und 
durchgeführt  werden. 

In  diesen  Erwägungen  liegt  nach  einer  zweiten  Seite  ein 
Maass  und  eine  Grenze  für  die  zu  erzielende  Veränderung  der 
Vertheilung  des  Volkseinkommens  (s.  o.  S.  684). 

Aus  dem  Allen  aber  ergiebt  sich,  dass  es  sich  hier  und  zwar 
auch  heutzutage  bei  unseren  Culturvölkeru,  bei  dem  heute  erreichten 
Stand  der  Productivität  der  nationalen  Arbeit  und  bei  den  heute 


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Rücksichten  bei  Forderungen  bezügl.  Aeuderung  d.  Vertheilung. 


687 


verbreiteten  oder  sich  immer  mehr  verbreitenden  „Axiomen“  hinsicht- 
lich der  Möglichkeit,  sittlichen  und  wirtschaftlichen  Notwendig- 
keit und  Zweckmässigkeit  der  Hebung  der  uuteren  Classen  — , 
(lass  es  sich  hier  doch  niemals  bloss  und  überhaupt  nicht  in 
erster  Linie  um  Classeninteressen,  selbst  nicht  der  grossen  Be- 
völkerungsmasse, der  Gesammtheit  der  sogen,  arbeitenden  und 
unteren  Classen,  um  Ansprüche  dieser  handelt,  sondern  stets 
um  Interessen  der  ganzen  Volksgemeinschaft  und  um  daraus 
abzuleitende,  damit  zu  begründende  Ansprüche  bezüglich  einer 
Veränderung  der  Vertheilung  und  der  dieser  zu  Grunde  liegenden 
Rechtsordnung. 

Aus  dieser  An-  und  Einsicht  folgt  aber  auch  des  Weiteren  be- 
züglich der  Rechtsordnung,  dass  hier  niemals  bloss  von 
Rechten  einer  Classe  gegenüber  den  anderen  Classen  und  der 
Gesammtheit,  sondern  immer  zugleich  auch  nur  mit  von  Pflichten 
die  Rede  sein  kann ; dass  auch  die  Volksgemeinschaft  niemals  bloss 
gegen  eine  Classe  Pflichten  hat,  sie  zu  unterstützen,  zu  heben, 
z.  B.  mittelst  gewisser  Maassregeln  die  unteren  Classen,  sondern 
immer  auch  Rechte,  eine  gewisse  Bescheidung  der  Classe 
zu  verlangen,  wenn  das  wegen  der  Zusammenhänge  aller  Seiten 
des  socialen,  wirtbschaftlicben  Lebens,  der  Culturentwicklung  und 
wegen  der  Rückwirkungen  des  Einzelnen  auf  Anderes  vom  Ge- 
sammtintcresse  verlangt  wird.  Stets  kann  daher  nur  ein  System 
von  correlativen  Rechten  und  Pflichten  der  Volksgemeinschaft 
gegenüber  Classen  und  Einzelnen  jeder  Classe  und  jedes  zu  ihr 
gehörigen  Einzelnen  gegenüber  der  und  den  anderen  Classen  und 
der  Gemeinschaft,  von  correlativen  Ansprüchen  und  Beschei- 
dungen oder  Verzichtleistungen  anerkannt  werden.  Ein  blosses 
Classeninteresse  und  sei  es  dasjenige  des  grössten  Theils  der  Be- 
völkerung, z.  B.  desjenigen  der  unteren  Arbeitermasse,  hat  niemals 
berechtigten  Anspruch  auf  alleinige  Berücksichtigung,  vielmehr 
steht  ihm  immer  auch  eine  correlative  Classenpflicht  der  Bescheidung 
gegenüber.  Und  nur,  soweit  es  vom  Gesammtinteresse  der  Volks- 
gemeinschaft gefordert  oder  doch  gebilligt  wird,  ist  es  selbst  wieder 
berechtigt  und  dürfen  Forderungen  in  Bezug  auf  Vertheilung  und 
Rechtsordnung  nach  ihm  aufgestellt  und  durchgeführt  werden. 

Nach  solchen  Gcsichtspuucten  ist  denn  auch  zwischen  den  verschiedenen  Classen- 
interessen in  der  Vertheilungsfrage  abzuwägen.  Das  Interesse  hier  begünstigter 
Classen  hat  grade  so  sehr  Anspruch  auf  Berücksichtigung,  wenn  cs  zugleich  im 
Gesammtinteresse  der  Volksgemeinschaft  liegt,  als  das  Interesse  der  hier  nicht  be- 
günstigten Classen  im  anderen  Falle.  Die  theoretische  und  practischo  Schwierigkeit 

44* 


608  4.  B.  Bcvölk.  u.  Volks w. sch.  2.  K.  Vertlieil.probl.  2.  A.  Regelung.  §.  270. 


liegt  auch  weniger  in  der  Feststellung  der  einzelnen  Classeninteressen , als  in  dieser 
Abwägung  und  in  der  Entscheidung  darüber,  ob,  wie,  wo,  wie  weit  ein  Classen- 
interesse  ein  Gemeinschaftsinteresse  ist,  daher  z.  B.  ein  nach  der  bisherigen  Recbts- 
und  Vertheilungsordnong  vorhandenes  erhalten  oder  eingeschränkt,  ein  bisher  nicht 
so  wahrgenommenes  ferner  zur  Bescheidung  gezwungen  oder  einer  besseren  Befriedi- 
gung zugefuhrt  werden  soll.  Hat  man  aber  nach  richtiger  Abwägung  einmal  ent- 
schieden, dann  kann  allerdings  sowohl  ein  Eingrilf  in  die  freie  Bewegung  als  in  die 
Eigonthums-  und  Besitzordnung,  in  dio  Consequenzen  des  Frcihcits-  und  des  Privat- 
eigenthumsprincips,  für  und  gegen  die  unteren,  nicht  besitzenden,  aber  auch  für  uni 
gegen  die  oberen,  besitzenden  Classen  vom  Gcsammtintcresse  gefordert  und  durch 
dasselbe  genügend  gerechtfertigt  werden. 

Das  darf  man  sich  freilich  nicht  verhehlen,  dass  man  bei 
Aenderungen  der  Vertheilung,  welche  durch  solche  der  Rechts- 
ordnung herbeigeführt  werden  sollen,  auf  Schritt  und  Tritt  zu 
Auseinandersetzungen  mit  dem  Frei  hei  ts-  und  (Privat-)  Eigen- 
thum sprincip  und  beider  Consequenzen  genöthigt  wird. 

So  mit  jenem  in  den  Verhältnissen,  welche  mit  der  Bevölkerungsbewegung 
Zusammenhängen  tz.  B.  Eheschliessuugsrccht,  Pflichten  aus  dem  Familienverband); 
oder  in  den  Verhältnissen,  welche  die  Verwendung  des  Einkommens  betreflea 
(Fragen  der  Consumregelung,  der  Benutzung  von  Besteuerungsmaassregeln  dazu,  vgl. 
meine  Fin.  I,  2.  A.  §.  250  ff.,  der  Zwangsersparungen,  z.  B.  mittelst  Zwangsbeiträgen 
der  Versicherten  für  ihre  oder  ihres  Eigenthums  Versicherung  [Arbeiterversicberung. 
Feuerversicherung]).  So  hat  man  es  ähnlich  mit  Fragen  des  Privateigen  thums- 
princips  zu  thun,  z.  B.  bei  der  Beschränkung  der  Ausnutzongsmöglichkeit  des 
Eigenthums,  bei  Beseitigung  oder  Einschränkung  wohlerworbener  Privatrechte,  bei 
üebertragung  von  Lasten  auf  das  Eigcntbum,  welche  es  bisher  nicht  oder  nicht  in 
dem  nunmehrigen  Maasse  zu  tragen  hatte,  bei  Regelung  der  Armenlasten  und  ganz 
allgemein  bei  einer  Finanz-  und  Steuerpolitik,  welche,  nach  dem  richtigen  Sinne 
des  Grundsatzes  der  Besteuerung  nach  der  Leistungsfähigkeit,  dem  höheren  Besitz  und 
dem  grösseren  Einkommen  auch  mehr  als  verhältnissmässige  öffentliche  Lasten  auflegt 
(Princip  der  Progressivsteuer;  vgl.  meine  Fin.  II,  2.  A.  §.  156  ff.). 

Für  Theorie  und  Praxis  ergiebt  sich  aus  dem  Vorausgebenden, 
dass  hier  zwischen  verschiedenen  Interessen,  Principieu  lind  deren 
Consequenzen  Com  promisse  unvermeidlich  sind.  Und  zwar  am 
so  mehr,  je  schwieriger  und  unsicherer  zu  bestimmen  ist,  ob,  wie, 
wto  und  wie  weit  ein  Classeninteresse  mit  dem  Cesammtinteresse 
sich  deckt  oder  nicht. 

Die  Erörterung  und  die  Entscheidung  wird  dabei  jene  vier  Reihen  von  Voraus- 
setzungen, in  Betreff  der  Bevölkerung,  der  Technik,  der  Rechtsordnung,  der  gesell- 
schaftlichen Axiome  oder  Glaubenssätze  hinsichtlich  des  Sein-sollens,  stets  beachten 
müssen  (§.  265).  Ebenso  dio  möglichen  und  wahrscheinlichen  Rückwirkungen  einer 
bestimmten  Entscheidung  hinsichtlich  des  Eingreifens  in  die  Rechtsordnung  und  in 
die  daraus  hervorgehende  — bei  uns  die  vertragsmässigo  — Vertheilung  auf  die  Be- 
wegung der  Bevölkerung  und  auf  die  Entwicklung  von  Technik  und  Oekonomik  des  Pro- 
ductionsbetriobs.  Endlich  ist  nicht  minder  ins  Auge  zu  fassen,  ob  die  Veränderungen 
der  Rechtsordnung,  welche  durch  eine  bestimmte  Veränderung  der  Richtung,  der  An 
und  des  Maasses  der  Vertheilung  geboten  sind,  eben  nicht  um  anderer  Rücksichten 
Willen  zu  bedenklich  erscheinen  und  daher  doch  unterbleiben  oder  nur  beschränkter 
ausgeführt  werden  müssen.  So,  weil  dio  bestehende  Rechtsordnung  anderweit 
günstige,  im  Gcsammtintcresse  liegende,  auf  andre  Weise  gar  nicht  oder  nicht  ge- 
nügend zu  sichernde  Wirkungen  bat  oder  weil  jene  Aenderungen  sonstige,  dem 
Gesammtinteresse  zu  sehr  widersprechende  Wirkungen  mit  sich  führen  wurden.  Aber- 
mals bedingt  das  Alles  — die  Nothwendigkeit  von  Compromisscn. 


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Forderungen  in  Betreff  der  Vertheilang. 


689 


Beispiele  liegen  in  agrarischen  Regulirungen,  wo  etwa  mit  Rücksicht 
auf  die  Gefährdung  des  volkswirtschaftlichen  Productionsinteresses,  des  passenden 
Bodenanbaus,  auf  die  Notwendigkeit  und  auf  die  im  Interesse  der  Volksgemeinschaft 
liegende  sociale  Function  des  Grossgrundbesitzerstands  nicht  so  weit  gegangen  wird, 
als  bloss  das  Interesse  der  gleichmässigeren  Verteilung  von  Besitz  und  Bodenerträgen 
verlangen  würde  und  als  sonst  vielleicht  zulässig  wäre.  Oder  gewerbe-,  handeis-,  bank-, 
böisenpolitische  Reformen,  wo  man  im  Interesse  der  Production,  des  Absatzes,  der 
Kapitalbildung  und  Concentration,  des  Städtewesens,  der  von  ihm  ausgehenden  oder 
vorncmlich  getragenen  Culturentwicklung  freiere  Bewegung,  ungleichmässigere  Ein- 
kommen- und  Vermögensvertheilung  zulässt,  als  andere  Rücksichten  es  bedingen 
würden.  Oder  finanz-  und  steuerpolitische  Maassrcgeln,  bei  denen  man  aus  ähnlichen 
Gesichtspuucten  in  der  Besteuerung  der  Reicheren,  der  höheren  Stände  nicht  so 
consequent  vorgeht,  als  cs  der  Grundsatz  der  Besteuerung  nach  der  Leistungsfähigkeit 
fordern  und  wiederum  auch  andere  Rücksichten  gutheissen  oder  wenigstens  zulassen 
würden. 

II.  — §.  271  [97a].  Forderungen  in  Betreff  der  Ver- 
th e i I u n g in  der  Beziehung  zu  Bedürfnissstand  und 
Befriedigung  der  Bedürfnisse  im  Besonder n.  A.  Auf- 
stellung des  Rechts  auf  Existenz.  Wir  unterscheiden  hier 
die  Befriedigung  der  Existenzbedürfnisse,  besonders  des  ersten 
Grads,  und  diejenige  der  feineren  Existenzbedürfnisse  zweiten 
Grads,  sowie  der  Culturbedürfnisse  (§.  268). 

Auch  vom  Standpunct  des  Einzelnen  aus  hat  die  Frage, 
in  welchem  Verhältniss  die  Befriedigung  dieser  verschiedenen  Be- 
dürfnisse richtiger  Weise  stehen  soll,  ihr  Interesse,  u.  A.  hier  für 
die  Beurtbeilung  des  Luxus  als  einer  individuellen  oder 
Privatangelegenheit  bezüglich  der  Verwendung  des  Einkommens. 

Man  wird  auch  für  den  Einzelnen  den  Existenzbedürfnissen  ersten  Grads  den 
Vorrang  vor  allen  anderen,  auch  vor  den  Culturbedürfnissen  einräumen  müssen,  weil 
ihre  genügende  Befriedigung  Bedingung  der  Existenz  und  der  Entwicklung  des 
Individuums  überhaupt  ist.  Dagegen  ist  ein  solcher  Vorrang  nicht  ebenso  unbedingt 
den  Existenzbedürfnissen  zweiten  Grads  vor  den  Cultnrbcdürfnisscn  zuzugestehen, 
mindestens  nicht  für  den  Einzelnen,  welcher  für  sich  allein  zu  sorgen  hat.  Anders 
kann  die  Sache  im  Familienverbande  bezüglich  der  Existenzbedürfnisse  zweiten  Grades 
bei  den  zu  unterhaltenden  Angehörigen  liegen.  Für  den  Einzelnen  allein  kann 
dagegen  wenigstens  ein  gewisser  Vorrang  für  gewisse  richtige  und  wichtige  Cultur- 
bedürfnisse anerkannt  werden,  nemlich  principiell  aus  dem  Gesichtspunctc  des  ethi- 
schen Scin-sollens  mit  Rücksicht  auf  die  geistige  und  sittliche  Seite  und  Bestimmung 
des  Menschen. 

Iudessen  hier  iu  der  Socialökonomie  handelt  es  sich  um 
die  Betrachtung  der  Frage  vom  Standpunct  der  Volksgemein- 
schaft aus.  Die  Frage  liegt  nach  Zeitaltern,  nach  ökonomisch- 
technischen Entwicklungsverhältnissen,  nach  den  geltenden  gesell- 
schaftlichen Axiomen  bezüglich  des  Sein-sollens  verschieden, 
gestattet  daher  wieder  nur  eine  historisch-rechtliche  Be- 
antwortung. Sie  beschäftigt  uns  hier  nur  für  • die  Culturvölker 
europäischer  Civilisation  in  der  Gegenwart. 


690  4.  B.  Bcvölk.  u.  Volksw.scb.  2.  K.  Vertheil .probl.  2.  A.  Regelung.  §.  271. 

1.  Erörterung  für  die  Befriedigung  der  Existenzbedürf- 
nisse ersten  Grads,  soweit  diese  Befriedigung  von  der  Ver- 
th eilung  des  Volkseinkommens  abhängt.  Recht  auf  Existenz. 

Hier  ist  als  ein  erster  leitender  Grundsatz  aufzustellen:  kein 
einzelner  Mensch  soll,  soweit  die  Ge m ein schaft  es 
hindern  kann,  bloss  aus  Mangel  an  wi rthschaftlichen 
Mitteln  z ur  Befriedigung  jener  Bedürfnisse  untergehen. 
Ja,  diese  Befriedigung  soll  sogar  in  einem  nach  Art  und  Maass 
bestimmten  Mi  ui  mal  umfang  stattfinden,  wie  er  annähernd  der 
erreichten  Lebenshaltung  der  unteren  Schichten  der  Handarbeit«- 
classen  entspricht. 

Insoweit  besteht  eine  sittliche  Pflicht  der  Gemeinschaft, 
zu  helfen,  eine  Pflicht,  welche  auch  als  Rechtsnorm  zu  fassen 
ist;  alsdann  mit  der  Rechtsfolge,  dass  in  die  vertragsmässige  Ver- 
keilung des  Volkseinkommens  auf  der  Grundlage  der  persönlichen 
Freiheit  und  des  Privateigenthums  eingegriffen,  dass  daher  insofern 
und  insoweit  als  nöthig  ein  Recht  der  Gemeinschaft  gegenüber 
den  besitzenden  Classen  und  den  Classen  und  Personen  höheren 
Einkommens,  dieselben  zur  Hilfsleistung,  bzw.  zur  Hergabe  von 
Mitteln  in  Anspruch  zu  nehmen,  anerkannt  wird. 

Flir  das  Individuum,  die  Familie  in  der  eine  solche 
Hilfe  nothwendig  machenden  Lage,  ergiebt  sich  ein  Anspruch 
auf  Hilfe,  welcher  als  Rechtsnorm  formulirt  das  Recht  auf 
Existenz,  daher  auf  Gewährung  der  hierzu  erforderlichen  wirt- 
schaftlichen Mittel  im  angedeuteten  Umfang,  genannt  werden  kann. 
Diesem  Individual-  und  Classenrecht  auf  Existenz  entspricht  aber 
als  Correlat  die  Pflicht  — lind  demgemäss  das  Recht  der 
Gemeinschaft  — sich  den  notwendigen,  wenn  auch  human 
und  nach  dem  Stand  der  Productivität  der  nationalen  Arbeit  in 
verschiedener  Weise  aufzustellenden  und  durchzuttihrenden  Be- 
dingungen zu  fügen,  welche  die  Verwirklichung  des  Rechts  auf 
Existenz  allein  möglich  machen  und  die  mit  demselben  verbundenen 
Gefahren  beseitigen.  Solche  Bedingungen  sind  eventuell:  die  An- 
erkennung von  Arbeitspflichten  bei  vorhandener  Arbeitsfähig- 
keit und  nach  Maassgabe  derselben,  eventuell  die  Ausübung  eines 
Arbeitszwangs,  die  Anerkennung  eines  Rechts  der  Gemein- 
schaft, in  die  Verwendung  des  Individual-  und  Familienein- 
kommens, daher  mittelst  Consumregelung  und  Zwang  zu  Ersparungen, 
und  endlich  nicht  minder  eines  Rechts,  regelnd,  eventuell  hemmend, 
in  die  Bevölkerungsbewegung,  insbesondere  in  die  Eheschliessungen 


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Recht  auf  Existenz. 


691 


und  in  die  Wanderungen,  einzugreifen;  namentlich  soweit  das  wegen 
des  Verhältnisses  zwischen  dem  Volkseinkommen  und  dessen  Be- 
wegung (Dividendus)  und  der  Volkszahl  und  Gliederung  und  deren 
Bewegungen  (Divisor)  geboten  ist  und  soweit  auch  wiederum 
im  Gemei  nsch aft sinter esse  berechtigte  Interessen  der  be- 
sitzenden und  der  Classen  und  Personen  höheren  Einkommens  zu 
schonen  und  zu  schützen  sind. 

In  dieser  Weise  gefasst  und  begründet,  auch  mit  den  hier  an- 
gedeuteten Beschränkungen,  stellt  das  „Hecht  auf  Existenz“ 
einen  ungeheuren  sittlichen  und  rechtlichen  Fortschritt  in  unserer 
Cnlturperiode  verglichen  mit  früheren  Zeiten  und  anderen  Ländern 
und  Völkern  dar:  einen  wahren  Fortschritt  der  Gesittung, 
welcher  sich  unter  dem  Einfluss  christlicher  Anschauung  mit 
vollzogen  hat. 

Dass  dabei  ein  solches  Recht  noch  nicht  formal  und  etwa  unter  diesem  Namen 
anerkannt  ist,  was  bisher  in  der  Praxis  allgemein  zugegeben  werden  muss,  und  dass 
auch  die  Theorie  noch  vielfach,  selbst  vielleicht  noch  überwiegend,  sich  zögernd  und 
ablehnend  dagegen  verhält,  ist  keine  Widerlegung  der  vorausgehenden  Sätze  und  kein 
Beweis  dafür,  dass  ein  solches  Recht  nicht  bestehe  und  nicht  anzunehmen  sei. 
Ebensowenig  beweist  die  Art  der  Verwirklichung  des  Rechts  in  dieser  Frage  etwas, 
z.  B.  ob  man  es,  wie  bisher  regelmässig  bei  unserem  öffentlichen  Armenrecht,  mit 
einem  Seitens  des  Einzelnen  nur  im  Beschwerdeweg  innerhalb  der  Verwaltung  geltend 
zu  machenden,  in  diesem  Sinne  nicht  mit  einem  eigentlichen  persönlichen  (Individual-) 
„Recht“  oder  wirklich  mit  einem  solchen  zu  thun  habe.  Maassgebend  für  die  hier 
vertretene  Auffassung  ist.  dass  ein  solches  „Recht“  der  sittlichen  Auffassung  der 
Gesellschaft  einem  der  erwähnten  „Glaubenssätze“  hinsichtlich  des  Sein-sollens  ent- 
spricht, und  dass  in  der  That  in  der  Rechtsordnung,  wenn  auch  eventuell  nur 
erst  im  Vcrwaltungsrccht  und  nach  dessen  Normen  und  Formen,  Einrichtungen 
bestehen,  welche  implicitc,  bei  richtiger  begrifflicher  Abstraction  und  Zurück- 
führung  des  Concreten  auf  die  ihm  zu  Grunde  liegenden  Principien , auf  ein  solches 
„Recht  auf  Existenz“  hinauskommen. 

Das  gilt  aber  schon  heute  von  dem  bei  den  meisten  Culturvölkern  bestehenden 
öffentlichen  Armen  recht  oder  wenigstens  von  der  Art,  wie  hier  vom  Gemein- 
wesen für  Arme  gesorgt  wird.  Vgl.  preuss.  Landrecht,  Th.  II,  Tit.  19  §.  1 (s.  u.  S.  098). 
Einerlei,  wie  gesagt,  in  welcher  rechtsformalen  Weise  hier  der  Anspruch  auf  Armen- 
unterstützung geltend  gemacht  wird,  er  wird  doch  anerkannt.  Namentlich  verpflichtet 
der  Staat  die  Gemeinden  und  Verbände  auch  rechtlich,  für  ihre  Armen  zu  sorgen, 
und  wacht  über  die  Erfüllung  dieser  Pflicht.  Das  hat  aber  als  Cor  re  lat  eine 
Steuerpflicht  innerhalb  der  Gemeinschaft  zur  Deckung  der  Kosten  dieser  Armen- 
unterstützung  im  Gefolge  (eigentliche  Armensteuern,  wie  die  poor  rate  in  England, 
s.  meine  Fin.wiss.  III,  §.  157  ff.  oder,  selbst  bei  einem  formellen  Verbot  solcher 
„Armensteuern“,  wie  es  in  Deutschland  vorkommt,  allgemein  höhere  Gemeinde- 
abgaben hierfür,  bzw.  die  Rechtspflicht  der  Gemeinden,  den  Bedarf  der  Arinen- 
verwaltung  in  den  Haushaltsctat  einzusetzen  und  für  dessen  Deckung  mit  zu  sorgen. 
Vergl.  Stein,  Verwaltlehre  2.  Aufl.  S.  79G  fT.,  im  Allgemeinen  Emminghaus, 
Armenwesen,  Berlin,  1870,  Aschroth.  Art.  Armenwesen  im  H.-W.-B.  d.  Staats- 
wiss.  I).  Selbst  wo,  wie  in  romanischen  Ländern,  besonders  in  Frankreich,  eine 
eigentliche  communalo  Arinenunterstützungs  - Rechtspflicht  nicht  besteh^,  läuft  die 
Sache  doch  practisch  auf  nicht  so  sehr  viel  Anderes  hinaus. 

Auch  in  dem  jetzt  sich  ausbildenden  Arbeiterversicherungsrecht  kann 
man  doch  eine  Consequenz  des  Gedankens  des  „Rechts  auf  Existenz“  sehen : nur  eben 
auch  mit  Ziehung  der  angedeuteten  Consequenzen  zu  Gunsten  der  Gemeinschaft, 


692  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  2.  K.  Vertheil.probl.  2.  A.  Regelung.  §.  271. 

nemlicb  den  Versicherten  zu  Beiträgen,  d.  h.  zu  einer  bestimmten  Venrendong 
seines  Einkommens,  zu  Zwangsersparungen  zu  nöthigen,  wie  anderseits  Dritte,  die 
Arbeitgeber,  oder  unmittelbar  die  Volksgemeinschaft  (und  in  ihr  dann  freilich 
mittelbar  die  Versicherten  als  Steuerträger,  bei  indirecten  Steuern  eventuell  mittelst 
Consumregelung,  — Reichszuschuss  bei  der  deutschen  Altersversicherung)  mit 
hierfür  zu  belasten,  d.  h.  eben  doch  in  die  „vertragsmässige  Einkorn menvertheilung“ 
einzugreifen. 

Auch  auf  dem  Gebiete  des  agrarischen  Ablösungs-  und  Pachtwesens 
(deutsche  Grundentlastung,  neuere  irische  Pachtnormen)  liegen  ähnliche  Fälle  vor. 
Hier  werden  z.  B.  die  zu  einer  selbständigen  wirthschaftlichen  Existenz  in  minimalem 
Umfange  erforderlichen  Bedinguugeu  des  Wirthschaftsbetriebes  gewährt,  die  Pacht- 
zinsen so  angesetzt,  dass  sic  einen  zur  Erhaltung  der  Pächterfamilie  ausreichenden 
Reinertrags-Authcil  für  diese  übrig  lassen,  unter  Hintansetzung  der  Rechte  und  Inter- 
essen Dritter  (vgl.  z.  B.  prouss.  Gesetz  v.  2.  Mai  1850  über  Ablösung  und  Kegulirung 
der  gutsherrl.  und  bäuerl.  Verhältnisse  §.  63:  der  Besitzer  der  Hofstclle  darf  verlangen, 
dass  ihm  nach  Abzug  der  Abfindung  des  Gutsherrn  ein  Drittel  des  Reinertrags  der 
Stelle  bleibe;  umso  viel  ist  die  Abfindung  zu  vermindern).  — Ein  Ausnahmefall  ver- 
wandter Art,  aber  immerhin  auch  ein  solcher,  welcher  auf  dem  in  Recht  auf  Existenz 
enthaltenen  Princip  beruht,  ist  die  öffentliche  Beschlagnahme  von  Nahrungsmitteln  u.  s.  w. 
in  Notbzciten  (belagerte  Orte,  Missernten). 

Welcher  Unterschied  gegen  frühere,  rohere  Zeiten ! Mit  ans 
Mangel  an  materiellen  Mitteln,  aber  doch  eben  auch,  weil  die  ent- 
sprechenden sittlichen  Anschauungen  und  Rechtsnormen  fehlten, 
da  wohl  Kinderaussetzung,  Verlassen,  Tödten  der  Greise. 

Wie  auch  der  Umfang  der  Bedürfnisbefriedigung  von  den 
dem  Recht  auf  Existenz  zu  Grunde  liegenden  Anschauungen  be- 
einflusst wird  und  sich  demgemäss  einigermaassen  nach  der  er- 
reichten Lebenshaltung  der  unteren  Volksclassen  richtet,  ergiebt 
sich  aus  der  Art  der  Verpflegung  der  öffentlichen  Armen  (englische 
Armenhäuser),  der  Strafgefangenen. 

Auf  dem  Gebiete  des  Steuerwesens  ist  in  dem  Streben,  das  sog.  Existenz- 
minimum frei  zu  lassen,  unmittelbar  bei  directcn,  namentlich  Personalstenern. 
mittelbar  durch  Ausschluss  der  nothwendigen  Nahrungsmittel  aus  der  indirecten  Ver- 
brauchshesteucrung,  auch  eine  Tendenz  sichtbar,  welche  auf  demselben  Gedanken,  wie 
die  Gewährung  des  Rechts  auf  Existenz,  beruht).  (Vgl.  meine  Fin.wiss.  II,  2.  A.  §.  167. 
auch  G.  Schanz,  im  H.w.b.  d.  Staatswiss.  III,  325  ff.). 

Das  „Recht  auf  Existenz“,  obwohl  auch  hier  nicht  immer  so 
genannt  und  gefasst,  liegt  mehr  oder  weniger  klar  gewissen  soeia- 
lis tischen  Auffassungen  zu  Grunde.  Es  hängt,  wie  sich  gleich 
zeigen  wird,  mit  dem  socialistischen  „Recht  auf  Arbeit“  zusammen, 
welches  seine  nothwendige  Consequenz  ist,  von  dem  jedoch  auch 
ein  anderes,  als  subsidiäres  auch  in  unserer  Rechtsordnung  unter- 
schieden werden  kann  (§.  273).  Aber  das  Recht  auf  Existenz 
steht  mit  einem  anderen,  in  der  socialistischen  Vertheiinngstheorie 
vorkommenden  Rechte,  dem  „Recht  auf  den  vollen  Arbeitsertrag“, 
in  einem  Widerspruch,  welcher  nur  durch  Compromiss  gelöst  werden 
kann  und  noth wendig  in  der  Praxis  so  gelöst  werden  muss. 


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Recht  auf  Existenz. 


693 


Die  schärfsten  und  besten  Ausführungen  hierüber  in  Anton  Menger’s  Schrift 
das  Recht  auf  den  vollen  Arbeitsertrag.  Es  ist  für  unsere  Zwecke  nicht  nothwendig, 
auf  die  sonstige  literarische  Behandlung  des  Rechts  auf  Existenz  hier  einzugehen. 
Sie  ist  wenig  umfangreich  und  wissenschaftlich  unbedeutend. 

Zur  socialökonomiscben  Würdigung  des  Hechts  auf  Existenz 
sind  die  Consequenzen  desselben  lür  die  Vertheil ung  des 
Volkseinkommens  und  damit  für  die  Eigenthnras  verhä  It- 
nisse  einer-  und  für  die  noth wendige  Stellung  der  Gemeinschaft, 
und  zwar  unter  jeder  denkbaren  Gestaltung  der  volkswirtschaft- 
lichen Organisation,  zur  Bevölkerungs frage  andrerseits  be- 
sonders wichtig. 

In  ersterer  Hinsicht  liegt  in  der  Anerkennung  des  genannten 
Rechts  zugleich  das  Zugestilndniss,  dass  die  Gemeinschaft  Interesse, 
Pflicht  und  Recht  hat,  in  das  Privateigenthum  einzugreifen  und 
der  Ungleichheit  der  Einkommen  eine  Schranke  zu  setzen,  wenn 
und  soweit  als  die  Verwirklichung  des  Rechts  auf  Existenz  dies 
nothwendig  macht. 

Ein  Schluss  von  zwingender  Folgerichtigkeit,  wenn  man  die  principiclle  Be- 
gründung jenes  Rechts  richtig  erfasst  und  als  richtig  zugiebt.  Es  folgt  daher  auch 
für  die  Frage  des  Privateigenthums,  dass  diesem  nur  ein  relativer,  kein  absoluter 
Anspruch  auf  Schutz  und  Schonung  zugestanden  werden  kann.  In  derThat:  zuerst 
kommt  das  Recht  des  Individuums  auf  Existenz,  soweit  die  Gemeinschaft  dies  Recht 
ökonomisch  anerkennen  kann  und  ethisch  anerkennen  muss,  dann  erst  und  soweit  cs 
mit  jenem  Rechte  nach  dieser  Pflicht  der  Gemeinschaft  vereinbar  ist,  kommt  das 
Recht  des  Individuums,  sein  Eigenthum,  sein  in  der  vertragsraässigen  Vcrtheilung 
erlangtes  Einkommen  (practisch:  sein  Uber-durchschnittliches  Einkommen)  unverkürzt 
zu  behalten.  Unsere  einseitig  den  Anschauungen  und  Interesseu  der  besitzenden 
Classen  dienende  Privatrechtsentwicklung  hat  diese  richtige  Reihenfolge  schier  um- 
gedreht. Vgl.  hierzu  Schäfflc,  System  II,  §.282.  S.  378 — 394  (trelllich,  s.  auch 
die  kurze  Formulirung  der  in  diesem  §.  282  entwickelten  Gedanken  in  der  Inhalts- 
übersicht I,  S.  XXXV).  — Die  Consequenz  des  Rechts  auf  Existenz  ist  daher  auch, 
dass  in  einem  Gemeinwesen,  welches  die  persönliche  Freiheit  und  die  Gleichberech- 
tigung (den  principicll  gleichen  „Menschenwerth“)  aller  seiner  Angehörigen  anerkennt, 
auch  keinem  noch  so  kleinen  Thcilc  des  Volks  ein  unbedingtes  Rocht  auf  ein 
grösseres  Einkommen,  folgewciso  auch  auf  Befriedigung  der  Existenzbedürfnisso 
zweiten  Grads  und  der  Cnlturbedurfnisse  zugestanden  werden  kann,  wenn  jenes  Ein- 
kommen und  diese  Befriedigung  wenigstens  indirect  einem  anderen  Volksthcil  selbst 
jene  minimale  Bedürfnisbefriedigung  entzöge  (vgl.  die  Daten  von  Marx  I,  1.  A.,  642  fl'., 
aus  dem  6.  report  on  public  health  1863). 

Der  besonders  in  der  Discussion  der  Arbeiterfrage  gemachte  Einwand,  dass 
auch  in  solchem  Falle  eine  Abhilfe  der  Noth  der  unteren  Classen  nicht  möglich  sei, 
weil  es  an  den  ihnen  allein  nöthigen  naturalen  Gütern  (Volksnahrungsmittel, 
Brot  u.  s.  w.)  fehle  und  die  etwa  für  die  Wohlhabenderen  producirten  Güter  den  Un- 
bemittelten nichts  nützen,  überschicsst  das  Ziel.  Denn  sobald  eben  Güter  letzterer  Art 
vorhanden  sind,  beweist  dies  schon,  dass  an  dem  in  unserem  Falle  angenommenen 
Nothstandc  der  unteren  Classen  nicht  oder  doch  nicht  allein  dio  Kleinheit  des  Volks- 
vermögens und  Volkseinkommens  schuld  ist.  Vielmehr  müssen  hier  Productionsmittel 
im  weiteren  Sinne  (Arbeitskräfte,  Kapitalien,  Boden)  da  sein,  die  in  diesem  Falle 
eben  nur  in  die  Herstellung  von  Gütern  des  Bedarfs  der  unteren  Classen  hinüber- 
geleitet werden  müssen.  Oder  m.  a.  W.:  nicht  die  Production  ist  an  sich  zu  klein, 
sondern  ihre  Richtung  ist  volkswirtschaftlich  nachtheilig  und  dies  kann  und  muss 
in  dem  im  Texte  angenommenen  Falle  geändert  werden.  Es  wird,  besonders  in  der 


694  4.  B Bcvölk.  u.  Volksw.sch.  2.  K.  Vertheil.probl.  2.  A.  Regelung.  §.  272. 

Lohn  frage,  so  oft  übersehen,  dass  eine  bestimmte  Vertheilung  des  Volks- 
einkommens immer  auch  bestimmte  Richtungen  und  Arten  dor  Pro- 
duction zur  Folge  hat.  Bei  grosser  Ungleichheit  des  Einkommens  geht  diese  Rich- 
tung mehr  auf  Luxusartikel  für  die  Wohlhabenden,  bei  grösserer  Gleichheit  mehr 
auf  Artikel  des  Massenconsums,  auch  bei  gleicher  Höhe  des  gesammten  Kapitals  und 
Volkseinkommens.  S.  o.  Vorbemerkungen  in  §.  261. 

Die  Verpflichtung  der  Gemeinschaft,  das  Recht  auf  Existenz 
durchzuftihren,  kann  aber  nicht  weiter  gehen,  als  die  ökonomische 
Möglichkeit  dazu.  Diese  aber  hängt  einmal  vom  Stande  der  Pro- 
ductionstechnik  und  Oekonomik  und  von  den  socialen  und  recht- 
lichen Bedingungen  dieses  Standes  und  seines  Fortschritts,  sodann 
von  der  Bevölkerungszahl  und  deren  Entwicklung  ab.  Daher  muss 
die  Gemeinschaft  auch  das  Recht  beanspruchen,  den  Classcn  und 
Individuen  diejenigen  Beschränkungen  aufzulegen,  welche  sich 
hiernach  als  nothwendig  erweisen.  Droht  die  natürliche  und  Wan- 
derungsbewegung die  Verwirklichung  des  Rechts  auf  Existenz  un- 
möglich oder  in  einer  dem  Gemeinschaftsinteresse  widersprechenden 
Weise  zu  schwierig  zu  machen,  so  sind  Beschränkungen  der 
Eheschliessung  und  damit  indircct  der  natürlichen  Volks- 
vermehrung und  ebenso  Beschränkungen  der  Wanderungen, 
namentlich  der  heimischen  Zu-  und  der  Einwanderungen 
aus  dem  Auslande,  nothwendig  und  berechtigt.  Hier  liegt  zugleich 
die  Conscquenz  der  Malthu s’schen  Bevölkerungslehre  vor,  welcher 
der  extreme  Individualismus  und  der  Socialismus  sich  in  gleicher 
Weise  mit  Unrecht  entzogen  haben. 

Für  das  Weitere  ist  hier  jetzt  in  dieser  3.  Aull,  auf  das  vorige  Kapitel  dieses 
Buchs  zu  verweisen,  welches  an  die  Stelle  der  wenigen,  aber  principioll  überein- 
stimmenden Bemerkungen  über  die  Berölkcrungsfrage  in  der  2.  Anti.  S.  145.  146 
getreten  ist.  Namentlich  bei  der  Erörterung  der  socialökonomischon  Seite  des  Ehe- 
schliessungsrechts und  des  Zugrechts  (Freizügigkeit),  worauf  in  der  2.  Abtli.  der 
Grundlegung  bei  den  socialen  Freiheitsrechten  näher  eingegangen  wird,  ist  der  an- 
gedeutete  X^unct  von  besonderer  Wichtigkeit. 

B.  — §.  272.  Durchführung  des  Rechts  auf  Existenz. 

Nar  um  Andeutungen,  um  Fingerzeige  handelt  cs  sich  hier.  Alles 
Weitere,  namentlich  zur  Begründung  des  Einzelnen,  zur  Auseinandersetzung  mit  naho 
liegenden  und  auch  da  und  dort  hervorgetretenen  Einwänden,  müsste  einem  besonderen 
„System  der  Socialpolitik“  Vorbehalten  bleiben.  Daher  das  Folgende  auch  mehr  in 
Form  von  Thesen  ohne  umfassende  Beweisführung.  Aber  cs  erschien  doch  erwünscht, 
diese  Andeutungen  hier  zu  machen.  In  der  vorigeu  Auflage  fehlten  sie,  was  ich  doch 
als  einen  Mangel  erkannt  habe. 

Für  die  Durchführung  eines  Rechts  auf  Existenz  — die  Frage 
immer  unter  den  heutigen  Verhältnissen  der  Völker  europäischer 
Civilisation  betrachtet  — sind  zunächst  die  Arten  oder  Reihen 
von  Fällen,  um  welche  es  sich  hier  handelt,  nach  ihren  cha- 
rakteristischen Merkmalen,  danach  die  Bedingungen,  welche 


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% 

Durchfuhr,  d.  Rechts  auf  Existenz.  Unvcrschnld.  Erwerbsunfähigkeit.  (395 

vorliegen,  und  die  speci eilen  Forderungen  bei  jeder  Art  von 
Fälleu  zu  unterscheiden.  Iu  Verbindung  hiermit  sind  die  Fol- 
gerungen aus  der  Aufstellung  dieser  Forderungen  zu  ziehen  und 
die  prac tischen  Mittel  und  Wege  anzugeben,  welche  zur 
Verwirklichung  dieser  Forderungen  in  Erwägung  kommen  und 
eventuell  zu  wählen  sind.  Man  hat  es  daher  hier  mit  jenen  drei 
practischen  Aufgaben  zu  thun,  welche  früher  auch  für  die 
Wissenschaft  der  Socialökonomie  aufgestellt  wurden  (Buch  1, 
§.  62-64). 

Die  Arten  von  Fällen  lassen  sich  in  folgende  vier  unter- 
scheiden: schuldlose  Erwerbsunfähigkeit  und  Mittellosigkeit,  schuld- 
loser Mangel  an  Erwerbsgelegenheit,  selbstverschuldeter  Mangel 
an  Unterhaltsmitteln,  selbstverschuldeter  Erwerbsmangel. 

1.  Zur  ersteren  Art  gehören  die  besonderen  Fälle  der  mittellosen 
Waisen,  Kranken,  auch  Geisteskranken,  Invaliden,  Altersschwachen 
und  ähnliche.  Das  gerade  hier  unmittelbar  hervortreteude  Recht 
auf  Existenz  und  die  ihm  correlativc  Pflicht  der  Gemeinschaft,  zu 
helfen,  führt  zu  der  speciellen  Forderung,  diesen  Kategorien  von 
Personen  mit  Mitteln  der  Gemeinschaft  und  zwar  auch  mit  solchen, 
welche  direct  und  indirect  den  erwerbenden  und  bemittelten  Per- 
sonen entzogen  werden,  Hilfe  zu  leisten.  Dies  geschieht  im  öffent- 
lichen Armenwesen  und  Recht,  im  Arbeiterversicherungs- 
wesen, auch  wohl  noch  auf  andere  Weise  (unentgeltliche  öffentliche 
Leistungen). 

a)  Die  wichtigste  hierher  gehörige  Einrichtung  ist  das  öffentliche  Armen- 
wesen  und  das  wichtigste  Recht,  das  (active  und  passive)  öffentliche  Armen- 
rcch  t. 

Dieser  Einrichtung  und  diesem  Rechte  kanu  zur  Seite  treten,  eventuell  in  der 
Praxis  so,  dass  beide  nur  subsidiär  in  Betracht  kommen,  die  auf  dem  caritativen 
Princip  beruhende  private,  kirchliche,  Vereinsarmenpflege.  Aber  mindestens  eine 
solche  subsidiäre  Pflicht  öffentlicher  Körper  („Zwaugsgemein Wirtschaften“)  muss 
im  Rechte  anerkannt  sein,  was  vielfach  in  unseren  Culturstaaten,  namentlich  den  ger- 
manischen. auch  der  Fall  ist,  wenn  in  Einrichtung  und  Recht  des  Armenwesens 
implicito  das  Recht  auf  Existenz  gewährt  sein  soll. 

b)  In  einer  dem  wirtschaftlichen  Princip  von  Leistung  und  Gegenleistung  mehr 
oder  weniger,  mitunter  völlig  entsprechenden  Weise  wird  in  der  Einrichtung  der  frei- 
willigen (facultativen)  wie  der  obligatorischen,  auf  dem  Zwangsprincip  beruhenden 
„Arbeiterversicherung**  das  caritative  und  das  öffentliche  Armenwesen  in  seiner 
üblichen  Gestalt  und  Durchführung  ersetzt,  in  der  Krauken-,  Unfall-,  Invaliden-  und 
Alters-,  Wittwen-  und  Waisenversicherung  (bezügliche  Einrichtungen  im  öffentlichen 
Dienst  für  die  Beamten,  s.  Fin.  I,  8.  A.  §.  164  ff.,  deutsche  und  andere  neuere  Ar- 
beiterversicherung). Völlig,  wenn  die  betreffenden  Versicherungsbeiträge  an  die  Ver- 
sicherten ausreichend  bemessen  und  ausschliesslich  aus  Beiträgen  der  Versicherten 
selbst,  bezw.  aus  Fonds,  welche  die  letzteren  allein  aufgebracht  haben,  bestritten 
werden;  t heil w eise,  wenn  andere  Privatpersonen,  wie  namentlich  die  Arbeitgeber, 
die  Kosten  einer  ausreichende  Unterstützung  gewährenden  Arbeiterversicherung  allein 
oder  zusammen  mit  den  Versicherten  und  etwaigen  Dritten  tragen  und  wenn  ein 


696  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.scli.  2.  K.  Vertheil.probl.  2.  A.  Regelung.  §.  273. 


öffentlicher  Körper  Beiträge  leistet  (Reichszuschuss  bei  der  deutschen  Alters-  und 
Invalidenversicherung).  In  beiden  letzteren  Fallen  liegt  hier  aber  nur  eine  andere 
Kegulirung  der  öffentlichen  Armenlast  vor,  wie  schon  oben  bemerkt.  Beiträge 
der  Arbeitgeber  erscheinen  zugleich  als  eine  Acnderung  der  vertragsmässigen  Ver- 
thcilung  des  Gesammtcrtrags  der  Production  zwischen  Arbeiter  und  Arbeitgeber. 
Zwangsbeiträgo  als  eine  dieser  Aendcrung  der  Vertheilung  zu  Grunde  liegende 
Aenderung  der  Rechtsordnung  zwischen  „Kapital  und  Arbeit“,  freilich,  streng  ge- 
nommen. nur  wenn  jene  Beiträge  nicht  etwa  zu  entsprechenden  Lohnverkürzungen 
führen.  Beiträge  der  Arbeiter  selbst  und  auch  öffentlicher  Körper  (aus  Steuern)  haben 
ökonomisch  und  rechtlich  die  Bedeutung  von  bestimmten  Verwendungsarten  des  Ein- 
kommens, Zwangsbeiträge  der  Arbeiter  von  zwangsweisen  Consumregelungen  und  Er- 
sparungen. Beiträge  öffentlicher  Körper  aus  solchen  Steuern,  welche  nicht  auf  die 
Versicherten  selbst  fallen,  wirken  im  Effect  wie  Verkürzungen  des  aus  der  verkehrs- 
mässigen  Regelung  hervorgegangenen  Einkommens  Andrer.  — Mit  Eingriffen  der 
Rechtsordnung  in  die  Vertheilung  des  Productionsertrags,  bzw.  in  die  Ver- 
wendung des  Einkommens  hat  man  es  hiernach  bei  der  obligatorischen  Arbeiter- 
versicherung immer  in  der  einen  oder  anderen  Weise  zu  thun.  Wer  das  nicht  er- 
kennt oder  bestreitet,  verfolgt  die  hier  obwaltenden  Priucipien  in  ihrer  ökonomischen 
Wirkung  nicht  weit  geuug  oder  unrichtig.  Es  ist  daher  auch  völlig  consequent,  wenn 
die  ökonomischen  Individualisten  und  „Freihändler“  diese,  wie  jede  andere  obliga- 
torische Versicherung  (z.  B.  bei  Brandschäden)  verwerfen  (vergl.  meinen  Aufs. 
Staat  und  Versicherungswesen  in  der  Tüb.  Ztschr.  1SS1,  auch  selbständig  erschienen, 
und  meine  Abli.  Versicherungswesen  im  Scliönberg’schen  Handbuch  B.  III). 

c)  Auch  die  Steuerfreiheiten  speciell  für  „Arme“  im  verwaltungsrecht- 
lichen Sinne,  die  unentgeltliche  Gewährung  öflcntlicher  Leistungen  für  sie 
(„Armenschulc“.  „Armenrecht“  im  Process,  bei  Beanspruchung  von  Rechtshilfe,  „freie 
oder  billigere  Fahrt“  u.  dergl.  bei  öffentlichen  Verkehrsanstalten  u.  a.  Aehnliche) 
gehören  mit  hierher,  soweit  es  sich  um  Bedürfnisse  handelt,  welche  nach  der  herr- 
schenden Auffassung  zu  den  Existenzbedürfnissen  gehören,  deren  Befriedigung  gewähr- 
leistet werden  soll.  So  ein  Minimum  von  Bildungscrlangung.  von  Rechtshilfe. 

§.  273.  — 2.  Bei  der  zweiten  Reibe  von  Fällen,  schuld- 
losem Mangel  an  Erwerbsgelegen  heit  — und  ähnlich:  an 
genügender  — kommen  vor  Allem  diejenigen  wirtschaftlichen 
Verhältnisse  in  Betracht,  wo,  bei  persönlicher  Fähigkeit  und  gutem 
Willen  zu  arbeiten,  es  nach  Lage  der  Dinge  auf  dem  ,. Arbeits- 
markte“ an  ausreichender  Nachfrage  nach  Arbeitskräften  fehlt. 

Daran  kann  freilich  wieder  mancherlei  Verschiedenes  schuld  sein:  allgemeinere 
und  partielle  Erwerbsstockungen,  welche  aus  Absatzstockungen  hervorgehen  — der 
ominöse  moderne  Fall  der  „Krisen“  im  technischen  Sinne  des  Worts  — ; zeitliche, 
locale  Ueberfüllung  des  Arbeitsmarktes  wegen  zu  starken  Zuzugs  von  Arbeitskräften 
(Freizügigkeitsfrage),  Ueberfüllung  von  einzelnen  Berufszweigen  der  nationalen  Arbeit 
wegen  zu  starken  Andrangs  des  Nachwuchses  dazu  (Uebcrvölkerungsfrage).  überhaupt 
alle  die  mannigfaltigen  Verhältnisse,  welche  auf  „rückgängige  Conjuncturen“  im 
Wirtschaftsleben  hinwirken,  Acnderungen  der  Productionstechnik,  der  Verkehrs- 
wege, Ersetzung  der  Arbeitskräfte  durch  Maschinen  u.  s.  w.  (jj.  167). 

Dauernde  Abhilfe  kann  hier  nur  entweder  die  Steigerung, 
bessere  Ordnung,  mehr  an  natürlichen  Productionskosten  sparende 
Gestaltung  der  Production  (technischer  Fortschritt),  daher  eine  dies 
Alles  möglichst  begünstigende  volkswirtschaftliche  Organisation, 
oder  die  Verminderung  und  günstigere  Gliederung  der  Bevölkerung 
(auch  durch  Wanderungen),  die  langsamere  Volksvermehrung  oder 
endlich  eine  Combination  zwischen  diesen  beiden  Momenten  bringen. 


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Durchfuhr,  d.  Rechts  auf  Existenz.  Schuldloser  Erwerbsmangel. 


697 


Ein  grosser  Theil  der  Fragen  der  Bevölkerungslehre,  der  socialen 
Freiheitsrechte  (Eheschliessungs-,.  Zug-,  Ein-  und  Auswanderungs- 
recht), der  Eigenthumsordnung  in  deren  Rückwirkung  auf  die  Pro- 
ductivität  spielt  auch  hier  mit. 

Indessen,  alles  das  kommt  für  chronische  Nothstände  und 
Schwierigkeiten  in  Betracht,  wobei  es  auf  die  tieferen  Ursachen 
einzuwirken  gilt.  Dadurch  kann  auch  bestenfalls  nur  langsam 
und  allmählig  Besserung  der  Verhältnisse  erreicht  werden.  In 
den  hier  in  Rede  stehenden  Fällen  handelt  es  sich  aber  um  acute 
Nothstände,  denen  durch  unmittelbar  wirkende  Maassregeln 
allein  abgeholfen  werden  kann. 

Als  solche  kommen  hier  in  nothwendiger  Consequcnz  des  Rechts 
auf  Existenz  in  Betracht:  das  Recht  auf  Arbeit,  als  ein  sub- 
sidiäres Recht  auch  unserer  Erwerbsordnung,  insbesondere 
die  Beschäftigung  arbeitsloser  Erwerbsfähiger,  ferner 
subsidiär  die  Ausdehnung  des  öffentlichen  Armen- 
rechts  auf  diese  Personen,  wenn  dieselben  nicht  oder  nicht 
ausreichend  oder  nur  gegen  unzulängliche  Löhne  auf  diese  Art 
beschäftigt  werden  können. 

a)  Das  hier  gemeinte  Recht  auf  Arbeit  ist  das  Recht  für  diejenigen  Personen, 
welche  nicht  auf  dem  freien  Arbeitsmarkte  Erwerbsarbeit  finden  können,  solche  von 
öffentlichen  Autoritäten  direct  oder  durch  deren  Vermittlung  bei  Privaten  zu- 
gewiesen  zu  erhalten  und  zwar  zu  einem  mindestens  die  Befriedigung  der  Existenz- 
bedürfnisse im  Umfang  der  unteren  Arbeiterschichten  gestattenden  Lohne  (gemeiner 
Arbeitslohn).  Diesem  Recht  entspricht  die  Pflicht  der  Gemeinschaft,  hierfür  die  Ein- 
richtungen zu  trefFen  und  die  Mittel  (eventuell  durch  Rückgriff  auf  die  Besteuerung) 
zu  beschaffen,  aber  als  Correlat  auch  die  Pflicht  der  betreffenden  Individuen,  die 
übertragene  Arbeit  zu  übernehmen,  das  Recht  der  Gemeinschaft,  dies  zu  verlangen 
und  dafür  die  erforderlichen  Zwangs-  und  Strafmittel  anzuwenden. 

Eine  nicht  nur  practischc,  sondern  auch  in  der  Frage  mit  vorliegende  theo- 
retische Schwierigkeit  betrifft  die  Auswahl  der  Arbeit.  Diese  wird  mit  Rück- 
sicht auf  die  Kräfte  der  Betreffenden  zu  bestimmen  und  namentlich  auch  darnach  im 
Umfang  zu  bemessen  sein.  Andernfalls  geht  die  Person  in  die  Kategorie  unter  b über. 
Aber  eine  freie  Wahl  der  zuzuweisenden  Arbeit  und  eine  Bestimmung  derselben 
genau  nach  dem  bisherigen  Beruf  des  Arbeitslosen  ist  keine  nothwendige  und 
keine  allgemein  durchführbare  Consequenz  dieses  Rechts  auf  Arbeit.  Ebensowenig 
eine  Loh  n bestimm  u ng  nach  freiem  Vertrag  zwischen  der  öffentlichen  Autorität, 
als  dem  Arbeitgeber  oder  Arbeitsvermittler,  und  dem  so  beschäftigten  Arbeitslosen. 
Wohl  aber  ist  Sicherung  geboten,  dass  der  Lohn  dem  angedeuteten  Maasse  ent- 
spreche. 

In  unserer,  auf  der  Rechtsgrundlage  der  persönlichen  Freiheit  und  des  Privat- 
eigenthums beruhenden  (wesentlich  „privatwirtschaftlich  organisirten“)  Volkswirt- 
schaft (Buch  5 u.  Abth.  2)  ist  dieses  „Recht  auf  Arbeit“  aber  nur  ein  subsidiäres, 
d.  h.  bloss  eine  unter  gewissen  Umständen  notwendig  werdende  Consequenz 
des  Rechts  auf  Existenz,  — im  Unterschied  zu  einer  socialistisch  organisirten 
Volkswirtschaft,  wo  dieses  Recht  und  die  correlativc  Arbeitspflicht  der  Eckstein 
des  persönlichen  Arbeitsrechts  sein  müsste.  Practisch  kommt  daher  bei  uns  das  Recht 
auf  Arbeit  auch  nur  in  den  angedeuteten  Ausnah  me  fällen  zur  Geltung,  vornern- 
lich  dann  und  da,  wo  nach  Lage  der  Umstände,  unter  dem  Einfluss  der  Jahreszeit 
(Winter),  plötzlicher  Erwerbsstockungen  (in  Folge  politischer  Ereignisse,  sanitärer 


698  4.  B.  Berölk.  u.  Volksw.sch.  2.  K.  Verthoii.probl.  2.  A.  Regelung-.  §.  273. 


Verhältnisse  [Seuchen,  Cholcrazeitcn],  anderer  Elcmentarereignisse,  mit  elementarer 
Gewalt  plötzlich  cinbrechender  Handels-,  Creditkrisen  u.  dgl.  m.)  Erwerbsfähige  un- 
vorhergesehen keine  Arbeit  linden.  -Hier  wird  auch  in  unseren  Culturstaaten 
bereits  regelmässig  auf  die  angedeutete  Weise  zu  helfen  gesucht 

Allerdings  wird  eine  derartige  Hilfegewährung  Seitens  öffentlicher  Autoritäten 
und  ein  correlativer  Anspruch  arbeitsloser  Erwerbsfähiger  nicht  allgemein,  bisher, 
wie  einzuräumen  ist.  nur  selten  unter  dem  technischen  Ausdruck  des  „Rechts  auf 
Arbeit“  zusammengefasst.  Im  Gegenthcil  wird  das  wohl  abgewiesen,  weil  man  in  diesem 
„Recht  auf  Arbeit'*  etwas  Gefährliches  sieht,  etwas,  was  zum  Rüstzeug  des  reinen 
Socialismus  gehöre  und  wegen  der  Consequenzen , zu  denen  cs  führe,  ausserhalb  der 
socialistisch  organisirten  Volkswirtschaft  und  Gesellschaft,  daher  bei  uns,  theoretisch 
unhaltbar  und  pradisch  undurchführbar  sei.  Auch  diese  Streitfrage  ist  hier  nicht 
auszutragen.  Es  mag  an  der  Bemerkung  genügen,  dass  hier  eben  zwischen  dem 
socialistischcn  Recht  auf  Arbeit  und  diesem  Recht  als  einem  in  der  angedeuteten 
Weise  subsidiärem  auch  in  unserer  Erwerbsordnung  zu  unterscheiden  sein  möchte. 
Hier  cs  zu  bestreiten,  scheint  mir  gegenüber  den  sittlichen  Anschauungen,  welche 
in  dieser  Beziehung  bei  uns  bereits  herrschen,  und  gegenüber  dem  unvermeidlichen 
tatsächlichen  Vorgehen  in  der  Praxis  auf  einen  Wortstreit  hinaus  zu  laufen.  In  einer 
oft  angeführten  Stelle  des  preussischeu  Landrechts  findet  sich  das  Recht  auch  bereits 
formulirt  (Thcil  II,  Tit.  19,  §.  2,  nach  dem  in  §.  1 als  Verpflichtung  des  Staats 
formulirten  Recht  auf  Existenz). 

Freilich  kommt  man  bei  der  Durchführung  dieses  Rechts  auf  Arbeit,  ab- 
gesehen von  den  Schwierigkeiten  der  Mittelbeschaflung  — wofür  eben  doch  schliess- 
lich die  sonstigen  Methoden  der  Einnahmebeschaffung  öffentlicher  Körper  in  Betracht 
kommen  — , auch  abgesehen  von  der  Wahl  der  Arbeitsarten,  vor  Allem  in  die  Zwangs- 
lage, sich  mit  dem  F reiz ügigkeitsgrutids atz  und  mit  der  wenigstens  thatsich- 
licli  etwa  gewährten  Einwauderungsfreiheit  auch  für  Ausländer  (Industrie- 
gegenden, Handels-,  andere  Grossstädte,  überseeische  Länder)  auseinander  setzen  zu 
müssen.  Ein  Ausweisungsrecht  gegenüber  arbeitslosen  Ausländern  in  Bezug  auf  das 
ganze  Inland  wird  unter  unseren  heutigen  Verhältnissen  noch  nicht  abzuweisen  sein. 
Auch  Inländern  gegenüber  wird  dasselbe  in  Bezug  auf  heimische  Orte  so  lange  müssen 
Platz  greifen  dürfen , als  die  Mittel  zur  Hilfegewährung  (wie  ähnlich  im  Falle  der 
communalen  Armcnuntcrstützungspflicht)  von  den  kleineren  öffentlichen  Körpern, 
bezw.  namentlich  von  den  Ortsgemeinden,  auf  ihre  alleinige  Rechnung  aufzubringen 
sind.  Die  Freizügigkeit  führt  hier  daher  leicht  zu  unhaltbaren  Verhältnissen,  wie 
sich  das  gegenwärtig  in  Deutschland  zeigt  Die  Ausübung  auch  nur  eines  solchen 
subsidiären  Rechts  auf  Arbeit,  ebenso  wie  des  Armenrechts  (namentlich  des  unter  b 
zu  erwähnenden  ausgedehnteren)  Seitens  der  verschiedenen  kleinen  Körper,  der  Ge- 
meinden und  dann  etwa  noch  örtlich  in  verschiedenem  Maasse  drohte  in  Verbindung 
mit  Freizügigkeit  zu  unbilliger,  auch  zu  unerträglicher  Ucberlastung  einzelner  Ge- 
meinden u.  s.  w.  zu  führen.  Daher  ist  die  noth wendige  Cousequenz:  entweder  in 
solchen  Fällen  arbeitslosen  Erwerbsfähigen  die  Freizügigkeit  zu  beschränken,  der  Ge- 
meinde ein  — jedenfalls  länger  als  z.  B.  die  2jährige  Frist  der  Erwerbung  des  Unter- 
stützungswohnsitzes — dauerndes  Ausweisungsrecht  gegenüber  Zugezogenen  zu  ge- 
währen, oder  das  Recht  auf  Arbeit,  wie  das  Armenrecht,  und  in  Conseqnenz  der 
modernen  staats  wirtschaftlichen  Gestaltung  der  Erwerbsordnung,  zu  einem,  wenn 
auch  etwa  von  der  Gemeinde  administrativ  zu  handhabenden,  doch  mit  den  Mitteln 
des  Staats  und  unter  seiner  Controle  durchzuführenden  staatlichen  Recht  aus- 
zugestalten. 

Man  sieht,  dass  hier  bekannte  wichtige  Fragen  über  die  richtige  Gestaltung  des 
Armenrechts,  des  Rechts  des  Unterstützungswohnsitzes,  des  Zugrechts  analog  auf- 
tauchen. Es  muss  aber  hier  an  diesen  Andeutungen  genügen.  Vgl.  u.  A.  die  Abh. 
Armenwesen  von  Löning  im  Schönberg’schen  Handbuch  B.  III,  den  Aufs.  Armen- 
wesen von  Aschrott  im  Handwörterb.  d.  Staatswiss.  B.  1 und  daselbst  die  Spccial- 
artikel  über  die  Arinengesetzgebung  verschiedener  Staaten.  Ueber  das  Rechtsprincip 
des  Rechts  auf  Arbeit  (im  Unterschied  zum  Recht  auf  Existenz  und  zum  Recht 
auf  den  vollen  Arbeitsertrag)  wiederum  das  Schärfste  von  Anton  Meng  er  a.  a.  0. 

b)  In  denjenigen  Fällen,  wo  aber  nicht  in  der  soeben  besprochenen  Weise  kraft 
eines  subsidiären  Rechts  auf  Arbeit  auch  in  unserer  Erwerbsordnung  für  die  arbeiis- 


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Hecht  auf  Arbeit.  Ausdehnung  des  Armenrechts. 


699 


losen  Erwerbsfähigen  gesorgt  werden  kann,  vermag  man  sich  der  ebenfalls  subsidiären 
Ausdehnung  des  öffentlichen  Armenrechts  auch  auf  diese  Personen  (und  ihre  Familien) 
nicht  zu  entziehen:  daher  Uber  die  Kategorie  der  Erwerbsunfähigen  (unter  1 in  §.  272) 
hinaus.  Allerdings  kann  — und  wird  in  der  Praxis  — auch  liier  durch  die  carita- 
tive  Hilfe  in  mancherlei  Formen  vorgesorgt  werden.  Es  ist  auch  wohl  zulässig,  wenn- 
gleich nicht  unbedingt  geboten  und  nicht  ohno  Bedenken,  diese  Art  Ililfe  voran- 
geheu,  auch  ihr  gegenüber  die  Ausdehnung  des  öffentlichen  Armenrechts  nur 
subsidiär  eintreten  zu  lassen.  Aber  subsidiär  muss  das  Armenrecht  hier  noth- 
wendig  eintreten  und  sind  demgemäss  Einrichtungen  und  Mittclbcschalfungeu  zu 
verlangen. 

Die  Nothwendigkcit  hiervon  wird  mit  durch  die  Entwicklung  der  Volkswirt- 
schaft bedingt.  Jo  mehr  letztre  in  die  industriell-mercantilc  Phase  tritt,  die  untere 
arbeitende  Bevölkerung  aus  ihrem  Geburtsort  in  andere  Orte  zur  Aufsuchung  von 
Erwerbsarbeit  übersiedelt,  je  leichter  dann  hier,  zumal  in  unserem  auf  freier  Con- 
currenz  beruhenden  Wirtschaftssystem,  Erwerbsstockungen  eintreten,  sowie  in  Folge 
der  Entwicklung  derTechnik(Maschinenwesen)  Arbeiter  überflüssig  werden. — desto  wich- 
tiger und  häufiger  wird  die  Nothwendigkcit,  auch  erwerbsfähige  Arbeitslose  als  „Arme“ 
im  verwaltungsrechtlicben  Sinne  anerkennen  und  auf  sie  das  Armenrecht  ausdehnen 
zu  müssen.  Dieser  berühmte  und  „berüchtigte“  Grundsatz  des  englischen  Armen- 
rechts war  zwar  dort  schon  vor  der  neueren  wirtschaftlichen  Entwicklung  Rechtens 
und  in  Cebung.  Er  hat  gewiss  sein  Missliches,  wie  sich  dort  auch  gezeigt  hat,  aber 
doch  auch  wieder  seine  Notwendigkeit  Es  ist  daher  auch  begreiflich,  dass  man  ihn 
nicht  auigegeben  hat.  auch  nicht  in  den  Reformen  der  neueren  Zeit  (bcs.  1834),  da 
er  grade  durch  die  neuere  Entwicklung  der  britischen  Volkswirtschaft  vollends  un- 
vermeidlich geworden  ist.  Man  hat  sich  damit  begnügen  müssen,  durch  Reformen  in 
der  praetischcn  Ausübung  der  öffentlichen  Armenpllege  nur  die  allerdings  nicht  zu 
leugnenden  Gefahren  des  Priucips  möglichst  zu  vermeiden.  Eine  Consequenz  der 
sittlichen  Anschauungen  und  der  Rechtsideen,  welche  dem  Recht  auf  Existenz  zu 
Grunde  liegen,  ist  er  jedenfalls.  Freilich  wird  es  als  Aufgabe  anzuerkennen  sein, 
diejenigen  Classen  und  Personenkreise,  welche  den  Hauptvortheil  von  der  Verwertung 
der  Arbeitskraft  der  Arbeiter,  auch  der  zugewanderton , vielleicht  absichtlich  heran- 
gezogenen, während  des  guten  Geschäftsgangs  gehabt  haben,  die  Arbeitgeber, 
Fabrikanten  u.  s>.  w„  auch  speciell  mehr  als  die  gesammte  übrige  Bevölkerung,  even- 
tuell allein  oder  doch  in  erster  Linie,  mit  den  Kosten  einer  solchen  Armenpflege  für 
arbeitsfähige  Erwerbslose  zu  belasten : ein  wichtiger  Gcsichtspunct  für  die  Frage  der 
Mitlelbeschaffung  in  dieser  Armenpflege.  — Vergl.  aus  der  neueren  Littcratur  den 
Aufsatz  von  D.  H.  Meier  Uber  Armenwesen  in  Grossbritannien  in  Emminghaus’ 
Sammelwerk  Uber  Armenwesen , bes.  jetzt  Aschrott,  das  englische  Armenwesen, 
Leipzig  1886  u.  ders.  darüber  im  H.w.b.  d.  Staatswiss.  I,  873  ff. 

Für  die  Beschallung  der  Mittel  kommen  sonst  dio  Grundsätze  des  allgemeinen 
Armenrechts  auch  hier  zur  Anwendung  (offene  oder  verhüllte  Armensteuern , Auf- 
nahme der  erforderlichen  Ausgaben  in  den  Etat  der  unterstützungspflichtigcn  Körper- 
schaft. des  Verbands  u.  s.  w.).  Hinsichtlich  der  Schwierigkeiten  der  Durchführung 
des  Princips,  der  Conflicte  mit  der  Freizügigkeit,  der  Cautelen,  der  Consequenz,  den 
Staat,  als  die  grösste  Volksgemeinschaft  im  einheitlichen  Volkswirthschaftsgebiet,  hier 
mit  den  Lasten  der  Armenpflege  zu  belegen,  ist  auf  die  Bemerkungen  unter  1 in 
§.  272  zu  verweisen. 

§.  274.  — 3.  Bei  der  dritten  Reihe  von  Fällen,  bei  selbst- 
versehuldetem  Mangel  an  Unterhaltsmitteln,  für  die 
eigene  Person  und  für  diejenigen,  welche  dieselbe  zu  unterhalten  ver- 
pflichtet ist  (Familie),  liegt  unrichtige,  zu  grosse,  falsch  auf  die 
Bedlirfnisskategorien  vertheilte,  zu  kostspielige  Consumtion  oder 
unrichtige  Verwendung  des  voraussetzungsweise  sonst  genügendes 
Auskommen  gewährenden  Einkommens  (und  Vermögens)  vor.  Auch 
das  ist  für  die  Gemeinschaft  nicht  gleichgiltig,  sobald  daraus  die 


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700  4.  B Bevölk.  u.  Volksw.sch.  2.  K.  Vertbcil.probl.  2.  A.  Regelung.  §.  274. 


Gefahr  entsteht,  mit  Unterstützungen  aus  öffentlichen  Mitteln  ein- 
treten  zu  müssen,  weil  sonst  die  Erhaltung  der  Existenz  des  Be- 
treffenden und  seiner  Angehörigen,  dem  Recht  auf  Existenz  zuwider, 
gefährdet  würde.  Daher  muss  wiederum  als  Consequenz  jenes 
Rechts  ein  Recht  und  eine  Pflicht  der  Gemeinschaft  dem  Betreffenden 
und  den  Seinen  gegenüber  abgeleitet  werden,  eventuell  präventiv 
Vorkehrungen  gegen  solche  Gefahren  zu  treffen.  Dem  entspricht 
correlativ  die  sittliche  Pflicht  des  Betreffenden,  diese  Vorkehrungen 
zu  berücksichtigen  und,  soweit  es  sich  um  Zwang  dabei  handelt, 
die  Rechtspflicht,  sich  diesem  Allen  zu  fügen. 

Mancherlei  Maassregeln  der  Praxis  und  Rechtssätze  oder 
wenigstens  Keime  zu  solchen,  Ansätze  zu  bezüglichen  Sittenhildungen 
finden  sich  auch  bereits  in  unserer  Culturperiode  in  dieser  Richtung. 
Aber  sie  sind  noch  nicht  genügend  organisch  und  systematisch 
entwickelt  und  auch  die  Theorie  hat  es  an  bezüglicher  Vorarbeit 
noch  fehlen  lassen. 

Man  kann  wohl  dreierlei  Arten  von  Maassregeln  unter- 
scheiden, solche,  welche  auf  ein  zweckmässiges  wirtschaftliches 
Handeln  anspornend  einwirken,  also  den  Willen  beeinflussen 
sollen,  solche,  welche  jenes  Handeln  lehren,  also  die  Fähig- 
keit beeinflussen  sollen,  wobei  im  Uebrigen  in  beiden  Fällen 
Freiwilligkeit  des  Handelns  vorausgesetzt  wird,  und  drittens 
solche,  welche  direct  oder  indirect  auch  hier  zum  Zwang  greifen. 
Einige  Beispiele  mögen  hier  zur  Erläuterung  genügen. 

a)  Zum  Ansporn  zu  richtigem  wirtschaftlichen  Handeln  in  Bezug  auf  die 
Verwendung  des  Einkommens  und  die  Consumtion  dient  die  Institution  eines  gut 
eingerichteten,  soliden,  hinlängliche  Gelegenheit,  Bequemlichkeit  der  Benutzung  bie- 
tenden Sparcassen wesens,  vornemlich  für  die  unteren  Classen.  Dasselbe  kommt 
hier  nicht  bloss,  ja  nicht  einmal  in  erster  Linie  als  Mittel  in  Betracht,  die  Privat- 
kapitalbildung  in  diesen  Kreisen  behufs  Rentenbezugs,  auch  nicht  auf  diese  Weise  die 
Nationalkapitalbildung  zu  befördern,  obgleich  Beides  mit  Recht  mitspielt.  Vornemlich 
dient  es  oder  kann  und  soll  es  wenigstens  mit  dazu  dienen,  Reiz  und  Gelegenheit  zu 
geben,  bei  schwankendem  Einkommen  und  schwankendem  Verbrauch  ein  mehr 
dauerndes  Gleichgewicht  zwischen  beiden , eine  dauernde  Garantie  des  Auskommens 
herbeizuführen,  indem  in  günstigeren  Zeiten  Erübrigungen  zur  Deckung  der  Ausfälle 
in  ungünstigeren  gemacht  werden  (Roservcfondsbildung,  §.  162).  Alles  um  so  noth- 
wendiger,  je  mehr  nach  der  Entwicklung  der  Volkswirtschaft,  der  Macht  der  Con- 
junctur  (§.  166  II'.)  hier  Schwankungen  in  den  Erwerbs-  und  Vcrbraucbsverh&ltnissen 
(Preisen  der  Bedarfsgegenstände)  Vorkommen.  Neben  der  Sicherheit  der  Anlage,  der 
Zinshöhe,  der  nach  Bedurfniss  möglichen,  doch  nicht  zu  leichten  Rcalisirbarkeit  der  Gut- 
haben ist  hier  bequeme  Gelegenheit  zur  An-  oder  Einlage  von  Spargeldern,  besonders 
in  kleinen  Raten,  auch  um  Ausgabeversuchungen  zu  entgehen,  von  besonderer  Wichtig- 
keit (Einrichtung  eines  regelmässigen  Abholungsdicnstes  hei  den  Einlagen  nach  A. 
Scherl ’s  Plan,  gebilligt  in  den  Gutachten  von  Roscher  sen.  und  jun.,  Evcrt,  mir 
u.  A.  1890 — 91).  — Sonst  kommt  Alles  in  Betracht,  wodurch  zweckmässige  und  spar- 
same Consumtion,  haushälterische  Einkommenverwendung  auch  bei  den  unteren  Classen 
direct  und  indirect  durch  Erweckung  bezüglicher  den  Willen  bestimmender  Motive  und 


II 


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Selbstverschuldeter  Mangel  an  Unterhaltsmittelu. 


701 


durch  Beseitigung  oder  Zurückdrängung  von  Versuchungen  zur  Verschwendung,  zu 
unpassenden  und  schädlichen  Consumtionen  begünstigt  wird:  Hebung  der  materiellen 
und  sittlichen  Lebenshaltung  dieser  Classen,  vor  Allem  Verbesserung  und  Preis- 
ermässigung  der  Wohnungen,  Beschränkung  des  Wirthshauswesens  und  des  Con- 
sums  der  Alcoholica  (daher  insofern  auch  Einflüsse  der  dritten  Reihe  von  Maassregeln, 
unter  c),  unnützen  Kleidungsluxus  der  Frauen  u.  dgl.  m.,  auch  Gewährung  von  Ge- 
legenheit zu  besseren,  edleren,  wohlfeileren  Genüssen  und  Freuden,  als  dem  Wirths- 
hauswesen,  der  Kneipe  und  dem,  was  darum  und  daran  hängt;  freilich  aber  auch 
ausreichende,  gesunde  Nahrung  ermöglichende,  dadurch  Reizmittel,  wie  Alcohol, 
Tabak,  entbehrlicher  machende  Löhnung  und  grössere  Stabilität  der  Erwerbs- 
verhältnisse, der  Preise  der  Hauptbedarfsartikel.  Auch  hier  steht  daher  immer  das 
Problem  — besserer  Regelung  von  Production  und  Vertheilung  zur  Discussion. 

b)  Belehrend,  die  Fähigkeit  richtiger  Consumregelung  und  Einkommenver- 
weudung  steigernd  wirkt  wieder  mancherlei  ein.  Alle  neueren  Untersuchungen  über 
Arbeite rverhältnisse,  besonders  der  Fabrikarbeiter,  haben  z.  B.  gezeigt,  dass  die  mangel- 
hafte wirthschaftlich-technische  Ausbildung  der  Arbeiterfrauen  Ihr  ihren  Hausfrau- 
und  Mutterberuf  nicht  unwesentlich  auch  bei  leidlich  auskömmlichen  und  regelmässigen 
Löhnen  zur  Störung  des  Gleichgewichts  zwischen  Einkommen  und  Consum  beiträgt, 
z.  B.  die  Unfähigkeit  im  Kochen,  die  Unkenntniss  der  Waaren  zu  schlechten  und 
theuren  Speisen  führt,  den  Mann  auch  deswegen  leichter  ins  Wirtbshaus  treibt;  die 
Ungeschicklichkeit  in  weiblicher  Nadelarbeit  zu  Vergeudungen,  zur  Unterlassung  recht- 
zeitiger oder  schlechter  Ausführung  nothwendiger  Flickarbeit,  zu  theurem  Einkauf  von 
mancherlei  Nöthigem  und  Unnöthigem  im  Laden,  auf  Bestellung  der  Anlass  wird,  was 
zu  Hause  besser  und  wohlfeiler  herzustellen  wäre.  Mit  Recht  wird  hier  neuerdings 
manchfach  auf  Verbreitung  der  erforderlichen  Kenntnisse  und  Fähigkeiten  hingewirkt. 
— Verbreitung  von  Hanshaltkunde,  Haushaltrechucn , Buchführung  über  Einnahmen 
und  Ausgaben  wirkt  ähnlich,  desgleichen  auch  hier  Verbreitung  der  Kenntniss  edlerer 
Genüsse.  — Einrichtungen,  welche  das  Auskommen  erleichtern,  wie  Consumvereine, 
Grosseinkäufe  von  Gebrauchsartikeln,  Hausbau-  und  Wohnungsvereine,  Einrichtungen 
zur  Ansammlung  der  Posten  für  grössere  Terminausgaben  (Wohnung!)  in  kleinen  Be- 
trägen und  Achnliches  mehr  sind  auch  hier  empfehlenswerth , selbst  wenn  sie  prin- 
cipiell,  wegen  ihrer  möglichen  Rückwirkung  auf  den  Vertheilungsprocess,  auf  die 
Einkommen bildung,  die  Löhne,  nicht  dauernd  und  durchgreifend  nutzen  sollten. 

c)  Endlich  sind  aber  auch  hier  Zwangsmaassregeln  und  regulative  Ein- 
griffe principiell  nicht  auszuschliessen , wenn  jene  freiwillig  erfolgenden  Maass- 
nahmen nicht  ausreichen,  um  die  hier  bespiochene  selbstverschuldete  Mittellosigkeit 
vermeiden  zu  helfen,  und  die  Gemeinschaft  daher  mit  ihren  Mitteln  eingreifen  müsste. 
Hierin  liegt,  wie  nicht  bestritten  werden  kann  und  soll,  ein  Moment  der  Bevor- 
mundung, welches  den  Vorurtheilen  des  Liberalismus  und  Individualismus  wider- 
spricht, aber  dem  wahren  Interesse  der  betroffenen  Volksclassen  selbst,  ihrer  durch- 
schnittlichen ethischen  Beschaffenheit,  ihrem  Mangel  an  genügender  und  richtiger 
Selbstbeherrschung  und  Voraussicht,  und  auch  dem  Gesammtinteresse  der  Volksgemein- 
schaft entspricht.  Die  Praxis  hat  daher  diesen  Gesichtspunct  auch  im  Zeitalter  des 
Liberalismus  und  Individualismus  nie  ganz  aufgegeben,  so  in  den  gleich  zu  erwähnenden 
Fällen.  Sie  ist  neuerdings,  zum  Thcil  nach  ungünstigen  Erfahrungen  mit  dem  „Gehen- 
lassen“,  mehrfach  wieder  zu  strengeren  Grundsätzen  zurückgekehrt,  in  den  freiesten 
Gemeinwesen  der  Welt  selbst  in  besonders  scharfem  Maasse  (Nordamerica).  Sie  hat 
in  anderen  Fällen  ähnliche  Grundsätze,  modificirt  nach  den  Bedürfnissen,  um  die  es 
sich  handelt,  anzunehuieu  begonnen.  Und  auch  die  Theorie  hat  ihr  Studium  den  hier 
vorliegenden  Fragen  des  Princips  und  der  Verwirklichung  eines  Princips  der  Regelung 
und  des  Zwangs  wieder  zugewandt  und  angefangen.  Manches  anzuerkennen,  was  sie 
vor  nicht  lauge  noch  verwarf.  Es  ist  aber  hier  für  theoretische  und  practische  Arbeit 
noch  viel  zu  thun  übrig. 

Wichtigere  hierher  gehörige  Fälle  sind:  die  regulirende  Wirtbshaus-  und 
namentlich  Schank wirthschafts-Politik,  nach  dem  Gesichtspunct,  die  Ver- 
suchung zum  Consum  alkoholischer  Getränke,  besonders  des  Branntweins,  zu  ver- 
mindern, die  Gelegenheit  dazu  zu  erschweren  (Ausschluss  des  Schaukgewerbes  von 
dem  Grundsatz  der  Gewerbefreiheit,  System  der  obrigkeitlichen  Schankconcessionen, 
entsprechende  Besteuerung  dafür  [LicenzsystemJ,  sonstige  Controlcn,  „Polizeistunde“ 
A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Thcil.  Grundlagen.  45 


702  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  2.  K.  Vertheil.probl.  2.  A.  Regelung.  §.  275. 


für  Schluss  der  Locale,  Ausschluss  notorischer  Säufer  u.  dgl.  von  der  Verabreichung 
von  Getränken,  besonders  Branntwein,  Verantwortlichkeit  der  Wirthe  dafür  u.  dgl.  m.; 
anderweite,  als  gewerbliche  Regelung  des  Schankwesens  [Gothenburger  System],  Verbot 
des  Ausschanks  alkoholischer  Getränke  [nordamericanische  Staaten]).  — Politik  der 
indirecten  Verbrauchsbesteuerung,  besonders  für  Branntwein,  in  der  aus- 
drücklichen Absicht,  den  Consum  zu  vertheuern  und  ihn  dadurch  einzuschränken, 
daher  nach  diesem  Gesiclitsponcte,  nicht  oder  nicht  bloss  noch  zuerst  im  fiscalischeo 
Interesse,  die  Besteuerung,  namentlich  den  Steuersatz  zu  bestimmen  (lange  ausgespro- 
chene Tendenz  in  Grossbritannien,  vgl.  meine  Fin.wiss.  III,  §.  134,  Dow  eil ’s  Won 
daselbst  S.  287,  ähnlich  in  einigen  anderen  Ländern),  — Verbot,  Beschränkung. 
Regelung,  Besteuerung  des  Glücksspiels  aus  ähnlichen  Gründen.  Aehnliche  Ten- 
denzen und  Maassregeln  bei  öffentlichen  sonstigen  Lustbarkeiten  (Tanz,  Genehmi- 
gungsrecht, Controle  der  Obrigkeit,  Besteuerung).  — Desgleichen  beginnend  solch« 
Verfahren  auf  dem  Gebiete  des  Sittlichkeitswesens,  wo  überwiegend  bisher 
indessen  noch  andere  Gesichtspuncte  (Verhütung  öffentlichen  Aergernisses,  Sittlichkeits- 
polizei aus  ethischen,  religiösen  Gründen)  vorwalten,  aber  Vieles  auch  aus  dem  hier 
besprochenen  ökonomischen  Standpunct  zu  begründen  wäre  (Wirthshaus-,  Lnst- 
barkeitspolitik  nach  dieser  Seite).  — Manches  könnte  sich  noch  anschliessen  und 
wird  sich  wohl  allmälig  anschliessen  (Regelung  des  Börsenwesens,  Börsen- 
spiels mit  aus  diesem  Gesichtspuncte.  des  Wcttwesens,  bei  Rennen,  wo  die 
Regelung  und  Besteuerung  begonnen  hat  u.  A.  m.). 

Aber  es  gehören  hierher  auch  noch  ganz  andere  Fälle,  bei  welchen  das  gleiche 
Princip,  nur  verhüllter,  zu  Grunde  liegt.  So  bei  den  schon  erwähnten  Einrichtungen 
der  Zwangsersparung,  wie  im  obligatorischen  Arbeiterversicherungs-  (ähnlich 
Feuerversicherungswesen)  mit  Zwangsbeiträgen  der  Versicherten,  wozu  auch  diejenigen 
gehören,  welche  die  Versicherten  etwa  in  der  Form  von  directen,  aber  auch  selbst 
von  indirecten  Steuern  entrichten,  wenn  aus  deren  Ertrag  Zuschüsse  zu  solchen  Ver- 
sicherungseinrichtungen geleistet  werden  (der  schon  mehrfach  daher  oben  zu  erwäh- 
nende Reicbszuschuss  zur  Altersversicherung). 

Diese  Zwangsersparungen  oder  zwangsweisen  Einkommenverwendungen  — worauf 
jene  hinauskommen  — mittelst  Besteuerungsmaassregeln  liessen  sich  zu  einem  System 
ausbilden,  indem  aus  den  Steuererträgen  nicht  die  allgemeinen  öffentlichen  Aus- 
gaben, soudern  speciell  Zwecke  und  Einrichtungen  für  die  unteren  Classen  ausgefuhrt 
würden.  (Verwendung  von  Salzsteuern,  Tabaksteuern,  Ertrag  eines  Tabak-,  Brannt- 
weinmonopols grade  hierfür,  vcrgl.  meine  Fin.wiss,  2.  A.  §.  251,  bes.  S.  607,  sowie 
meine  Abhandlung  Versicherungswesen  im  Schöuberg’schen  Handbuch  III,  3.  Aufl 
§.  24  S.  987). 

Ob,  wie,  wie  weit,  wann,  wo  ein  solches  Verfahren  richtig  wäre,  haben  wir 
hier  jetzt  nicht  zu  erörtern,  Möglich  ist  es  jedenfalls,  zweckmässig  auch  in  man- 
chen Fällen,  ja,  im  Grunde  ist  es  in  der  Praxis  eigentlich  in  alter  Uebung,  wenn 
man  sich  auch  dabei  dieser  Zusammenhänge  und  dieser  principiellen  Seite  der 
Sache  nicht  immer  bewusst  ist.  Denn  wenn  die  grosse  Masse  von  öffentlichen  Lei- 
stungen (Rechtsschutz!  öffentliche  Verwaltungsthätigkeit,  Volksschule,  Verkehrswesen 
u.  s.  w.)  doch  notorisch  auch  in  bedeutendstem  Maasse  den  untern  Classen  zu  Gute 
kommt  und  mit  allgemeinen  Steuern,  zu  denen  diese  Classen  beitragen,  bestritten 
wird,  wie  es  notorisch  ebenfalls  geschieht,  so  läuft  das  Ganze,  principiell  erfasst,  doch 
eben  auf  eine,  die  Einkommenverwendung  zwangsweise  regulirende 
Finanz-  und  Steuerpolitik  mit  hinaus:  d.  h.  auf  das,  was  hier  in  Frage  steht. 
Berücksichtigt  man,  wahrheitsgemäss,  dass  viele  dieser  öffentlichen  Leistungen  den 
unteren  Classen  etwas  gewähren,  was,  in  unserer  Culturepoche  wenigstens,  zu  den 
„Existenzbedürfnissen“,  selbst  1.  Grads,  gehört,  so  ergiebt  sich  aus  dem  Angeführten, 
dass  wir  auch  hier  bereits  weit  tiefer  im  „bevormundenden“,  consumregelnden  (in- 
sofern: „socialistischen“)  „Vertheilungssystem“  stecken,  als  wir  meistens  glauben. 

§.  275.  — 4.  Bei  der  vierten  Reihe  von  Fällen  endlich, 
denjenigen  selbstverschuldeten  Erwerbsmaugels,  hat 
man  es  mit  den  ökonomischen  Folgen  sittlicher  Schäden  auf  dem 
Arbeitsgebiete  und  in  der  ganzen  Lebensführung  zu  tliun:  Arbeits- 


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Selbstverschuldeter  Erwerbsmangel. 


703 


sehen,  Liederlichkeit,  Leichtsinn,  Vagabundenthum  u.  dgl.  m. 
Diesen  Fällen  stehen  sittlich  oder  auch  zugleich  rechtlich  verbotene 
Erwerbsarten  nahe,  Bettelei  Erwerbsfähiger  und  nur  durch  eigene 
Schuld  Arbeitsloser,  Prostitutionserwerb,  andere  verbrecherische 
Erwerbsarten  (Diebstahl  u.  s.  w.).  Hier  wird  die  Gemeinschaft 
zwar  auch  solchen  Personen  gegenüber  das  Recht  auf  Existenz 
anerkennen,  aber  unter  den  von  ihr  zu  stellenden  sittlichen  und 
rechtlichen  Bedingungen,  daher  mit  Recht  und  Pflicht  für  sich, 
gegen  die  Betreffenden  mit  Repression  der  verwerflichen  Lebens- 
weise und  Erwerbsart,  eventuell  mit  Strafe  und  Zwang  dagegen 
einzuschreiten  und  neben  pädagogischen  Besserungsmitteln  zum 
Arbeitszwang  zu  greifen.  Soweit  die  Gemeinschaft  dabei  Unter- 
halt gewährt,  wird  sie  denselben  im  eigenen  Interesse  auf  das 
zwar  auch  historisch  veränderliche,  aber  jedenfalls  dasjenige  je- 
weilige Minimalmaass  nach  Menge  und  namentlich  nach  Art  und 
Güte  der  Bedürfnisbefriedigung  beschränken  müssen,  welches  nach 
den  Lehren  der  Physiologie,  aber  doch  auch  nach  den  Anschauungen 
einer  humaneren  Zeit  zur  Erhaltung  der  Existenz  und  der  Arbeits- 
kraft ausreicht  Und  correlativ  diesen  Rechten  und  Pflichten  der 
Gemeinschaft  wird  zwar  diesen  Classen  und  Personen  wieder  das 
Existenzrecht  zu  gewähren,  aber  auch  die  Pflicht  aufzulegen  sein, 
sich  diesen  Bedingungen,  unter  welchen  es  allein  die  Gemeinschaft 
einräumen  und  durchführen  kann,  zu  fügen. 

Es  gehört  daher  hierher  das  grosse  Gebiet  der  Bettel-,  Vagabunden-,  Arbeits- 
scheu-, Prostitutionspolizei  u.  s.  w.,  die  (Zwangs-)  Erziehung  verwahrloster  Kinder 
(Rettungshäuser),  die  Gestaltung  des  Strafvollzugs  nach  der  hier  besprochenen  wirt- 
schaftlichen Seite  (Maassstab  für  die  den  Strafgefangenen  verschiedener  Art  zu  ge- 
währende Bedürfnisbefriedigung,  abgesehen  von  der  etwaigen  Abstufung  der  letzteren 
als  einer  Form  der  Strafabstufung). 

Soweit  es  sich  hier  aber  um  Verhütung  der  berührten  Fehler,  Laster  und 
Verbrechen  und  dabei  nicht  um  wirklich  individuelle  Verhältnisse,  Bedingungen  und 
Ursachen  davon,  sondern  um  allgemeinere,  in  den  gesammten  socialen,  wirtschaft- 
lichen, Bildungs-,  Sittlichkeitszuständen  u.  s.  w.  liegende,  handelt,  kommt  freilich  auch 
hier  wieder  sehr  Vieles  von  dem  in  Betracht,  was  bei  den  vorangehenden  drei  Kate- 
gorieen  von  Fällen  mitspiclt.  Denn  die  Probleme  bei  dieser  vierten  Kategorie  hängen 
zwar  keineswegs  allein,  wie  der  Socialismus  wieder  übertreibend  geneigt  ist  anzu- 
nehmen. aber  doch  auch  immer  mehr  oder  weniger  mit  den  Fragen  der  volkswirt- 
schaftlichen Organisation  und  Rechtsordnung,  der  Gestaltung  und  Entwicklung  von 
Production  und  Verteilung  zusammen.  Unverschuldete  Erwerbsstockungen,  ungenü- 
gende Fürsorge  in  Krankheit,  ungenügende  Löhne  u.  dergl.  führen  zu  Noth,  Mittel- 
losigkeit. Müssiggang  u.  s.  w.  und  damit  nur  zu  leicht  zu  Arbeitsscheu,  Vagabunden- 
tum, Verbrechen,  Prostitution.  Die  furchtbare  Verbreitung  der  letzteren  hat  doch 
nicht  allein,  im  Ganzen  wohl  weniger  in  der  Sittenlosigkeit , der  Sinnlichkeit,  selbst 
nicht  der  Genuss-,  Putzsucht  u.  s.  w.  der  Frauen,  nicht  einmal  in  der  Sinnlichkeit  und 
frivolen  Anschauung  und  Lebensweise  der  Mänuer,  als  eben  in  der  Erwerbsnoth,  in 
der  Schwierigkeit,  Beschäftigung  zu  finden,  in  den  unzureichenden  Löhnen  in  vielen 
Zweigen  der  weiblichen  Arbeit  ihren  tieferen  Grund.  Die  moderne  wirtschaftliche 
Entwicklung  hat  hier  auch  vielfach  ungünstigere  Verhältnisse  bei  den  verschiedenen 

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704  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.scb.  2.  K.  Vertheil.probl.  2.  A.  Regelung:.  §.  276. 

Fällen  dieser  4.  Kategorie  geschaffen.  Vieles  hängt  ausserdem  bei  denselben  auch 
hier  wieder  mit  der  Bevölkerungsfrage,  den  Verhältnissen  relativer  Uebervöikc- 
rung,  der  Noth  in  grossen  kinderreichen  Familien,  den  Wanderungen,  dem  Zuströmen 
in  die  Städte  mit  wenngleich  öfters  höherem,  so  doch  unsichererem  Erwerb  und  weit 
mehr  sittlichen  und  wirtschaftlichen  Versuchungen  zusammen. 

C.  — §.  276.  Principielle  Bedeutung  solchen  Vor- 
gehens. 

Bei  mancherlei  Verschiedenheiten  im  Einzelnen  in  den  hier 
unterschiedenen  vier  Reihen  von  Fällen,  in  welchen  es  sich  um 
die  Durchführung  des  Rechts  auf  Existenz  handelt,  ergiebt  sich 
doch,  dass  allen  bezüglichen  Forderungen  gewisse  gemeinsame 
„gesellschaftliche  Axiome“  oder  „Glaubenssätze“ 
(§.  265)  zu  Grunde  liegen.  Ebenso  laufen  alle  angedeuteten  practischeo 
Mittel  und  Wege  zur  Erfüllung  dieser  Forderungen,  namentlich 
soweit  es  sich  dabei  um  Anwendung  von  Zwang  handelt,  auf  ein 
gemeinsames  Princip  hinaus. 

1.  ln  ersterer  Hinsicht  liegt  die  Annahme  zu  Grunde,  dass  die 
vertrag8mässige  Vertheilung  des  Volkseinkommens  (und  Volksver- 
mögens) nicht  schon  von  selbst  dem  Einzelnen  und  ganzen  Classen 
die  Befriedigung  der  Existenzbedürfnisse  auch  nur  des  ersten  Graden 
verbürge  und  thatsächlich  gewähre,  auch  wenn  an  und  für  sich 
die  Grösse  und  Gliederung  und  die  Höhe  des  Volkseinkommens 
das  ermöglichen  würden.  Die  Einen  hätten  dabei  oft  zu  wenig,  die 
Anderen  zu  viel,  in  letzterer  Hinsicht  auch  mehr,  als  im  Interesse 
der  Volksgemeinschaft  liege.  Dazu  tritt  dann  die  weitere  Annahme, 
es  sei  Pflicht  der  Gemeinschaft  und  berechtigter  Anspruch  der  bei 
der  vertragsmässigen  Vertheilung  zu  ungünstig  fahrenden  ClasseD 
und  Personen,  dass  diese  Vertheilung  in  gewisser  Weise,  in  ge- 
wissem Umfang  durch  Eingriff  der  Rechtsordnung  ver- 
ändert werde.  Eine  Pflicht  zu  Gunsten  der  Aermeren,  aber  im 
Gemeinschaftsinteresse  selbst  liegend  und  durch  dieses  Begründung, 
Ziel  und  Maass  findend.  Diese  Annahmen,  diese  gesellschaftlichen 
Anschauungen  sind  es,  welche  zur  Aufstellung  und  Gewährung  des 
Rechts  auf  Existenz  und  zu  allen  den  einzelnen,  daraus  abzu- 
leitenden, im  Vorausgehenden  besprochenen  Forderungen,  im  Ge- 
biete des  Armenwesens,  Arbeiterversicherungswesens,  in  Bezug  auf 
das  subsidiäre  Recht  auf  Arbeit  auch  in  unserer  Erwerbsordnung 
u.  s.  w.  fuhren:  der  treibende  Factor  in  der  Bewegung 
bezüglich  der  erforderlichen  Um-  und  Weiterbildung  der  Rechts- 
ordnung, der  Schaffung  der  erforderlichen  Einrichtungen. 

Insofern  hat  man  es  doch  auch  hier  durchaus  mit  inneren 


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Principielle  Bedeutung  des  Vorgehens. 


705 


psychischen  Vorgängen,  Motiven,  Willensrichtungen,  oft  zunächst 
bei  Einzelnen,  in  kleineren  Kreisen,  dann  allmälig  in  immer  weiteren 
zu  thun,  bis  gewisse  derartige  Annahmen  ein  Gemeingut  des  Zeit- 
alters werden  und  nunmehr  die  daraus  entspringenden  Forderungen 
hinsichtlich  der  Aenderung  der  Rechtsordnung,  auch  der  Hintan- 
setzung von  anderen  Einzel-  und  Classeninteressen,  der  Aufhebung 
und  Beschränkung  wohlerworbener  Rechte  durchgesetzt  werden. 

Derartige  Fälle  zeigt  die  Geschichte  auf  dem  Wirthschafts-  und  verwandten  Ge- 
bieten vielfach  (Aufhebung  der  Sclaverei,  Leibeigenschaft,  Schutz  der  Bauern  gegen 
das  „Legen“  Seitens  des  Gutsherrn,  Beseitigung  der  bäuerlichen  Lasten,  Aufhebung 
von  Gewerbevorrechten,  Beseitigung,  Beschränkung  von  Steuerprivilegien,  u.  dgl.  m.). 
Grosse  Staatsmänner,  wirksame  Agitatoren  haben  hier  oft  vorgearbeitet,  erstere  viel- 
leicht gegen  starken  Widerstand  das  durchgesetzt,  was  bald  als  nothwendig  und  richtig 
erkannt  wurde  (agrar-,  gewerbe-,  handelspolitische  Reformen). 

Was  unserer  Geschichtsepoche  aber  wieder  besonders  eigen- 
tümlich ist,  besteht  darin,  dass  nunmehr  gerade  solche  Ideen 
und  sittliche  Anschauungen  der  Notwendigkeit  und  Berechtigung, 
aber  auch  der  ökonomischen  Möglichkeit  sich  verbreitet  haben  zu 
Gunsten  der  unteren  arbeitenden  Classen:  diese  sollen 
mindestens  in  dem  Umfang  gesichert,  gehoben  werden,  wie  es 
unseren  Ausführungen  über  das  Recht  auf  Existenz  und  dessen 
Durchführung  entspricht.  In  der  üblichen  Ausdrucksweise:  das 
neunzehnte  Jahrhundert  ist  in  seinem  letzten  Viertel  zur  Erkennt- 
nis gelangt,  dass  der  Auf-  und  Ausbau  einer  „positiven  Social- 
politik“ zu  Gunsten  der  (hand-)  arbeitenden  Classen 
die  besondere  Pflicht  und  Aufgabe  für  unsere  Culturvölker  sei,  und 
dass  zur  Durchführung  dieser  Aufgabe  auch  die  Rechtsordnung, 
soweit  nöthig,  umgeändert  werden  müsse. 

In  dieser  klaren  Erkenntniss  und  in  diesem  offenen  folgerichtigen  Zugeständnis 
liegt  insbesondere  die  hohe  principielle  Bedeutung  des  Vorgehens  des  Deutschen 
Reiches  in  dieser  Richtung.  Die  berühmten  Sätze  aus  den  Motiven  zur  Unfallver- 
sicherungs-Vorlage (Anfang  1SS1)  und  bald  darauf  aus  der  Kaiserlichen  Botschaft 
vom  17.  Mai  1SS1  an  den  Deutschen  Reichstag  sind  von  mir  schon  in  der  Finanz- 
wissenschaft (3.  A.  S.  50)  zur  Unterstützung  dortiger  Ausführungen  über  die  „sociale“ 
Phase  der  Finanz-  und  Steuerpolitik  herangezogen  worden.  Sic  fassen  das,  worauf 
es  ankommt  und  was  ich  speciell  hier  unter  den  sittlichen  Anschauungen  als  dem 
„treibenden  Factor“  für  die  Um-  und  Weiterbildung  der  Rechtsordnung  verstehe,  so 
vortrefflich  im  Lapidarstil  zusammen,  dass  ich  auch  hier  die  wichtigsten  Stellen  wört- 
lich anführen  möchte. 

„Durch  positive,  auf  die  Verbesserung  der  Lage  der  Arbeiter  ab- 
ziclende  Maassregeln“,  so  heisst  cs  in  jenen  Motiven,  müssen  die  bedenklichen  Er- 
scheinungen in  der  Arbciterwelt  bekämpft  worden.  „Es  ist  nicht  zu  verkennen,  dass 
in  der  Unsicherheit  des  lediglich  auf  der  Verwerthung  der  persönlichen  Arbeits- 
kraft beruhenden  Erwerbs  ....  Miss  stände  begründet  sind,  welche  zwar  durch 
gesetzgeberische  Maassregeln  nicht  völlig  aufzuheben  sind,  deren  allmäligc  Mil- 
derung aber  auf  dem  Wege  besondrer,  die  eigenthümlichen  Verhältnisse  der  Arbeiter 
berücksichtigender  Gesetzgebung  ernstlich  in  Angrilf  genommen  werden  muss.“  „Dass 
der  Staat  sich  iu  höherem  Maasso  als  bisher  seiner  hilfsbedürftigen  Mit- 


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706  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  2.  K.  Vertheil.probl.  2.  A.  Regelung.  §.  276. 


glieder  annehme,  ist  nicht  bloss  eine  Pflicht  der  Humanität  und  des  Christenthams. 
von  welchem  die  staatlichen  Einrichtungen  durchdrungen  sein  sollen,  sondern  auch 
eine  Aufgabe  staatserhaltcnder  Politik,  welche  das  Ziel  zu  verfolgen  hat,  auch  in  des 
besitzlosen  Classen  der  Bevölkerung,  welche  zugleich  die  zahlreichsten  und  am  We- 
nigsten unterrichteten  sind,  die  Anschauung  zu  pflegen,  dass  der  Staat  nicht  bloss 

eine  noth wendige,  sondern  eine  wohlthätige  Einrichtung  sei “ „Das  Bedenken, 

dass  in  die  Gesetzgebung,  wenn  sie  diesos  Ziel  verfolge,  ein  socialistisches  Ele- 
ment eingeführt  werde,  darf  von  der  Betretung  dieses  Wegs  nicht  abhalten.  Soweit 
dies  wirklich  der  Fall  ist,  handelt  es  sich  nicht  um  etwas  ganz  Neues,  sondern  um 
eine  Weiterentwicklung  der  aus  der  christlichen  Gesittung  erwachsenen  modernen 
Staatsidoe,  nach  welcher  dem  Staate  neben  der  defensiven,  auf  den  Schutz  bestehender 
Rechte  abzielenden,  auch  die  Aufgabe  obliegt,  durch  zweckmässige  Einrich- 
tungen und  durch  Verwendung  der  zu  seiner  Verfügung  stehenden 
Mittel  der  Gesammtheit,  das  Wohlergehen  aller  seiner  Mitglieder,  nament- 
lich der  schwachen  und  hilfsbedürftigen  positiv  zu  fördern  . . . „Auch 
die  Besorgniss,  dass  die  Gesetzgebung  auf  diesem  Wege  namhafte  Erfolge  nicht  er- 
reichen werde,  ohne  die  Mittel  des  Reichs  und  der  Einzelstaaten  in 
erheblichem  Maasse  in  Anspruch  zu  nehmen,  darf  von  der  Betretung  dieses 
Wegs  nicht  abhalten,  denn  der  Werth  von  Maassnahmen,  bei  welchen  es  sich  um  die 
Zukunft  des  gesellschaftlichen  und  staatlichen  Bestands  handelt,  darf  nicht  an  den 
Geldopfern,  welche  sie  vielleicht  erfordern,  gemessen  werden.“ 

In  demselben  Geist  und  Sinn  heisst  es  dann  in  der  Botschaft  von  ISS  1 : Die 
Ueberzeugung  des  Kaisers  ist,  „dass  die  Heilung  der  socialen  Schäden  nicht  aus- 
schliesslich im  Wege  der  Repression  socialdemokratischer  Ausschreitungen,  sondern 
gleichmässig  auf  dem  der  positiven  Förderung  des  Wohls  der  Arbeiter  zu 
suchen  sein  werde.“  ....  es  gelte,  „dem  Vaterlande  neue  und  dauernde  Bürgschaften 
seines  inneren  Friedens  und  den  Hilfsbedürftigen  grössere  Sicherheit  und 
Ergiebigkeit  des  Beistandes,  auf  den  sie  Anspruch  haben,  zu  hinterlassen“. 
In  diesem  Sinne  wird  auf  die  Vorbereitung  der  Arbeiterversicherungs-Gesetzgebunr 
hingewiesen  und  u.  A.  bezüglich  der  durch  Alter  und  Invalidität  Erwerbsunfähigen 
gesagt:  „sie  haben  der  Gesammtheit  gegenüber  einen  begründeten  An- 
spruch auf  ein  höheres  Maass  staatlicher  Fürsorge,  als  ihnen  hat  bisher 
zu  Theil  werden  können.“  „Für  diese  Fürsorge  die  rechten  Mittel  und  Wege  zu 
finden,  ist  eine  schwierige,  aber  auch  eine  der  höchsten  Aufgaben  jedes  Gemeinwesens, 
welches  auf  den  sittlichen  Fundamenten  des  christlichen  Volkslebens  steht“ 

Führt  man  das  Alles  auf  die  principiellen  Ausgangspuncte  zurück,  so  ist  eine 
völlige  üebereinstimmuug  mit  der  hier  von  uns  vertretenen  Auffassung  nicht  zn 
läugnen. 

2.  In  zweiter  Hinsicht,  bezüglich  des  gemeinsamen  Princips, 
welches  den  Mitteln  und  Wegen  zur  Erfüllung  der  gestellten 
Forderungen  zu  Grunde  liegt,  ergiebt  sich,  dass  in  der  That  doch 
schliesslich  Alles  darauf  hinauskommt,  direct  und  indirect  durch 
Umänderungen  des  Rechts,  durch  Einrichtungen  und  Maassregeln 
der  angedeuteten  Arten,  m.  e.  W.  durch  „sociale“  Volkswirth- 
schafts-  und  Finanzpolitik  regulirend  in  die  vertragsmässige 
Vertheilung  des  Einkommens  (und  Vermögens)  und  in 
die  sonst  freie  Verwendung  des  Einkommens  und  in 
die  Consumtion  einzugreifen. 

Das  Einzelne  ist  schon  aus  den  frühereu  Ausführungen  zu  entnehmen.  Auch 
die  angeführten  Stellen  aus  den  Motiven  zur  Unfallversicherungs- Vorlage  und  aus  der 
Kaiserlichen  Botschaft  von  1SS1  sind  in  dieser  Hinsicht  deutlich  genug,  selbst, 
wenn  sie  ganz  wörtlich  genommen  werden  („die  zur  Verfügung  stehenden  Mittel  der 
Gesammtheit  verwenden  zur  Förderung  des  Wohlergehens  namentlich  der  Hilfsbedürf- 
tigen und  Schwachen“,  u.  a.  m.),  vollends  wenn  man  sie  auf  ihr  Princip  zurück- 


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Weitere  Forderungen  für  Theilnahme  an  Culturgtltern.  707 

fuhrt  — bzw.,  was  leider  gegenüber  öfterem  anderen  Verfahren  auch  gesagt  werden 
muss,  die  logische  Consequenz  und  den  Muth  hat,  sie  darauf  Zurückzufuhren,  und 
ebenso,  wenn  man  an  Specialbestimmungen  der  verschiedenen  Arbeiterversicherungs- 
gesetze  (Beiträge  der  Arbeiter,  Arbeitgeber,  Reichszuschuss  (wenigstens  in  einem 
Falle])  denkt. 

„Socialpolitische“  Verwendung  von  Finanzmitteln  für  Zwecke,  welche  allein  oder 
in  besonderem  Maasse  den  unteren  Classen  zu  Gute  kommen,  ohne  dass  von  diesen 
in  Stenern  und  Gebühren  die  betreffenden  Kosten  ganz  gezahlt  werden  (unentgeltliche 
Volksschule,  sanitäre  Verhältnisse,  Arbeiterversicherung,  Armenwesen):  „sociale“  Finanz- 
politik in  Bezug  auf  die  Einnahmebeschafl'ung,  die  Besteuerung  (Renteneinkommen, 
Unteraehmergewinn  an  den  Staat,  die  Gemeinde  bei  den  „Verstaatlichungen“,  „Ver- 
communalisirungen“  von  Eisenbahnbetrieben,  Besteuerung  conscquent  nach  dem  Princip 
der  Leistungsfähigkeit);  „socialpolitische“  Behandlung  der  Fragen,  welche  sich  auf 
Handel,  Spcculation.  Börsentreiben,  Ausbeutung  der  Conjuncturen  beziehen,  um  so 
den  ökonomisch  unverdienten,  zu  leichten  Gewinn  der  Privaton  zu  hindern  oder  zu 
erschweren  und  zu  vermindern  (§.  16!)):  dies  Alles  und  manches  Aehnliche  bedeutet, 
ökonomisch  und  principiell  nach  seinem  gewollten  Eliect  betrachtet,  nichts 
Andres,  als:  regulircnder  Eingriff  in  jenen  Process  der  freien  vertragsmässigen 
Verthcilung  des  Productionsertrags , welcher  sich  auf  dem  Boden  unserer  volkswirt- 
schaftlichen Rechtsordnung  und  Organisation  vollzieht,  — ebenso  wie  im  Falle  von 
agrarischen,  gewerblichen  Regulirungen.  — Ueber  die  „sociale“  Finanz-  und  beson- 
ders Steuerpolitik,  nach  allen  Seiten  betrachtet,  verbreitet  sich  meine  Finanzwissen- 
schaft in  B.  I und  bes.  in  B.  II  eingehend. 

III.  — §.  277.  Forderungen  bezüglich  der  besseren 
materiellen  Lebensweise  und  der  Theilnahme  der 
Bevölkerung  an  Culturgütern. 

Vgl.  in  der  2.  Aufl.  §.  98  fT.  (2.  Abschn.  §.  99  tT.  S.  150  IT).  Auch  diese  Aus- 
führungen sind  in  dieser  3.  Aufl.  formell  und  in  Einzelheiten,  nicht  im  Ganzen,  sach- 
lich verändert  worden.  Der  principielle  Standpunct  und  die  dadurch  bedingte  ganze 
Behandlungsweise  ist  jedoch  auch  hier  dieselbe  geblieben. 

Die  Erfüllung  solcher  Forderungen  wurde  oben  (S.  669)  bereits 
als  das  Strebziel  der  volkswirtschaftlichen  Entwicklung  bei  den 
Culturvölkern  in  unserer  Geschichtsepoche  anerkannt.  Man  kann 
dafür  einen  zweiten  Hauptgrundsatz  in  folgender  Weise  auf- 
stellen: in  unserer  Zeit — also  ein  wichtiges  historisch- variables 
Moment!  — kann,  ja  soll  und  muss  auch  im  Gemeinschaftsinteresse 
jeder  Mensch  zu  einer  gewissen  Verbesserung  seiner  materiellen 
Lebensweise,  zu  einer  gewissen  Erhöhung  seiner  Lebenshaltung 
und  zu  einer  gewissen  Theilnahme  an  Culturgütern  möglichst  sicher 
gelangen  können,  um  dadurch  selbst  für  die  sittliche  und  intellec- 
tuelle  Culturgemeinschaft  ein  werthvolleres  Mitglied  zu  werden. 
Auch  daran  soll  er  nicht  durch  einen  Mangel  an  materiellen  Mitteln, 
welcher  nur  aus  der  vertragsmässigen  Vertheilung  des  Volksein- 
kommens (und  Vermögens)  hervorgeht,  gehindert  werden.  Inso- 
weit ist  wiederum  ein  regulativer  Eingriff  in  den  Ver- 
th ei  lungsprocess  im  Princip  zulässig,  berechtigt,  ja  auch  im 
Gemeinschaftsinteresse  geboten.  Ob,  wann,  wie,  wie  weit  in  Wirk- 
lichkeit, das  hängt  aber  von  einer  Reihe  von  Erwägungen  ab,  aus 


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708  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.scli.  2.  K.  Verth cil.problem.  2.  A.  Regelung  §.  277. 

welchen  sich  auch  Bedenken,  namentlich  wegen  der  auch  dem 
Gemeinschaftsinteresse  etwa  schädlichen  Rückwirkungen  eines  solchen 
Eingriffs  ergeben.  Diesen  Bedenken  ist,  gerade  auch  im  Ge- 
meinschaftsinteresse, gebührend  Rechnung  zu  tragen.  Es 
kann  sich  daraus  dann  die  Nothwendigkeit  einer  Einschränkung, 
unter  Umständen  eines  Verzichts  auf  diesen  Eingriff  ergeben, 
Doch  führt  die  unbefangene,  möglichst  alle  mitspielenden  Momente 
und  namentlich  als  Leitstern  stets  das  Gemeinschaftsinteresse  richtig 
betrachtende  Untersuchung  dahin,  dass  unter  unseren  heutigen 
Verhältnissen  der  Entwicklung  und  des  Fortschritts  der  Productions- 
technik  sowie  bei  dem  einmal  erreichten  Culturstand  und  bei  den 
nunmehr  für  dessen  weitere  Erhöhung  maassgebenden  Factoren 
die  Gründe  für  einen  regulativen  Eingriff  in  die  Vertheilung  schwerer 
wiegen  als  die  Bedenken.  Das  wichtigste  unter  den  letzteren 
bleibt  die  Gefahr  einer  zu  raschen  Volkszunahme. 

Die  zur  Begründung  des  Vorausgehenden  erforderliche  princi- 
pielle  Untersuchung  lässt  sich  auch  als  eine  Beantwortung  der 
Frage  bezeichnen:  welches  ist  die  socialökonomische  Be- 
rechtigung einer  ungleichen  Vertheilung  des  Volkseinkommens  und 
wo  liegen  die  nothwendigen  Schranken  in  dieser  Hinsicht? 

In  der  2.  Aafl.  wurde  so  der  2.  Abschnitt  der  hier  erörterten  Lehre  §.  99  ff. 
S.  150  fl',  bezeichnet.  Auch  hier  ist  jetzt  Manches  geändert  worden. 

Wiederum  ist  es  eine  Thatsache  von  hoher  culturhistorischer 
Bedeutung,  dass  in  unserer  Epoche  mehr  und  mehr  die  sittliche 
Nothwendigkeit  und  Berechtigung  einer  entsprechenden  Hebung 
der  unteren  Classen  anerkannt,  dies  zu  einem  jener  „gesellschaft- 
lichen Glaubenssätze“  wird,  ja  schon  geworden  ist.  Man  sieht 
diese  Entwicklung  als  eine  Consequenz  des  Princips  der  persön- 
lichen Freiheit  an,  erkennt  die  Möglichkeit,  sie  zu  erreichen,  in 
der  Steigerung  der  Productivität  der  nationalen  Arbeit,  und  scheut 
auch  nicht  mehr  die  weitere  Consequenz,  eventuell  durch  Aenderuug 
der  Rechts-  und  der  Besitzordnung  zur  Verwirklichung  jener 
Forderungen  zu  gelangen.  Man  erkennt  dabei  aber  auch  mit 
Recht,  dass  es  sich  hier  um  wichtige  Interessen  der  ganzen 
Volksgemeinschaft  handelt,  daher  in  erster  Linie  um  deren, 
um  wahrster  allgemeinster  Culturinteres sen  des  ganzen 
Volks  Willen,  das  angedeutete  Ziel  aufgestellt,  demselben  auf 
die  bezeichnete  Weise  nähergekommen,  aber  auch  danach  genauer 
Richtung,  Maass  und  Grenze  gesetzt  werden  soll. 


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Forderungen  beztlgl.  Theilnahme  an  Culturgutern. 


709 


Die  Beschränkung  übermässiger  Arbeitslast,  zu  langen  Arbeitstages  der  unteren 
Classen,  die  grössere  Sicherung  des  Erwerbs  und  die  Erhöhung  der  Löhne,  um  eine 
materiell  bessere,  gesundere,  die  Arbeitskraft  mehr  erhaltende  und  fördernde  Lebens- 
weise, in  einigem  Maasse  auch  ein  an  zulässigen  und  richtigen  Genüssen  reicheres 
Leben  auch  jenen  Classen  zu  verschaß'en,  um  eine  bessere  Auferziehung  der  heran- 
wachsenden  Generation  zu  erzielen;  die  Verbesserung  der  Wohnungs-,  der  Gesund- 
heitsverhältnisse, die  Verbreitung  der  Schulbildung,  die  Stärkung  der  sittlichen,  der 
religiösen  Bildung,  die  Gewährung  politischer  Rechte  zur  Theilnahme  an  der  Gesetz- 
gebung u.  v.  a.  m.  wird  erstrebt,  in  der  deutlichen  Erkenntniss,  dass  das  für  unsere 
Zeit  berechtigt  und  nothwendig  sei  und  grade  auch  im  Interesse  des  ganzen 
Volks  erreicht  werden  müsse  und,  unter  gewissen  Bedingungen  und  Cautelen,  nach 
dem  Stand  der  Productionstechnik  zu  erreichen  und  dann  zu  erhalten  nützlich  sei. 

Für  die  Beantwortung  der  Frage,  ob,  wie  und  in  welchem 
Maasse  ein  regulativer  Eingriff  in  die  Verthcilung  nach  obigen  Ge- 
sicbtspuncten  zulässig,  berechtigt  und  selbst  nothwendig  sei,  sind 
zunächst  die  Voraussetzungen  hierfür  zu  untersuchen,  darauf 
die  speciellen  Zielpuncte  und  die  daraus  entspringenden 
Forderungen  näher  zu  bestimmen,  und  endlich  wieder  die 
Mittel  und  Wege  anzugeben,  welche  zur  Erfüllung  dieser  For- 
derungen gewählt  werden  können  und  sollen. 

A.  — §.  278.  Voraussetzungen  für  die  Aufstellung 
und  Durchführung  solcher  Forderungen.  Dieselben  können 
nach  folgenden  drei  Gesichtspuncten  unterschieden  werden:  solche, 
welche  vorhanden  sein  müssen,  einmal  wenn  die  Erfüllung  jener 
Forderungen  möglich,  sodann,  wenn  sie  nothwendig,  endlich, 
wenn  sie  zulässig,  selbst  räthlich  und  berechtigt  sein  soll. 

1.  Hinsichtlich  der  Möglichkeit  der  Erfüllung  kommt  wieder 
dreierlei  in  Betracht,  die  Bevölkernngsverhältnisse,  die  Pro- 
duction s Verhältnisse  in  Bezug  auf  die  Bildung  des  Volksein- 
kommens, die  Ver th eil ungs Verhältnisse  des  Volkseinkommens. 

a)  Nur,  soweit  Zahl  und  Gliederung  der  Bevölkerung,  be- 
sonders das  Verhältniss  der  productiven  (erwachsenen,  namentlich 
männlichen)  zur  unproductiven  (namentlich  den  Kindern)  und  die 
Bewegung  beider,  die  natürliche,  wie  die  durch  Wanderungen  be- 
dingte, sich  entsprechend  gestalten,  daher  nicht  in  Missverhältnis 
zur  Höhe,  Entwicklung  und  Vertheilung  des  Volkseinkommens  stehen 
oder  in  ein  solches  kommen,  ist  überhaupt,  wenigstens  in  einiger 
Allgemeinheit  und  in  einigem  Betrage,  sowie  auf  einige  Dauer,  die 
Erfüllung  der  Forderungen  möglich.  Gerade  in  dieser  Beziehung 
drohen  immer  Gefahren,  Uber  welche,  wie  öfters  hervorgeboben, 
insbesondere  der  Socialismus,  aber  auch  andere  „arbeiterfreund- 
liche“ Bestrebungen  viel  zu  leicht  hinweggehen.  Es  genügt,  auf 
das  vorige  Kapitel  von  der  Bevölkerung  zu  verweisen. 


710  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  2.  K.  VcrtheiLprobl.  2.  A.  Regelung.  §.  27$. 


b)  Die  Production 8 Verhältnisse  liegen  für  die  Möglich- 
keit der  Erfüllung  jener  Forderungen  bei  den  Culturvölkern  in 
Folge  der  grossartigen  Fortschritte  in  den  Naturwissenschaften  und 
in  der  practischen  Verwerthung  der  letzteren  in  der  chemischen 
und  mechanischen  Technik  heute  in  mancher  Hinsicht  sehr  günstig, 
wohl  günstiger  als  jemals  früher. 

Von  allen  einzelnen  dieser  Fortschritte  ist  bisher  keiner  wichtiger  und  allseitig 
wirtschaftlich  und  gesellschaftlich  folgenreicher  gewesen,  als  die  Auffindung  der 
Mittel  und  Wege,  die  Dampfkraft  für  den  Menschen  nutzbar  zu  machen.  Dadurch 
ist  ein  Princip  von  wahrhaft  erstaunlicher  Productivität  für  die  Technik  und 
Oekonomik  des  Productiousprocesses,  für  die  Ersetzung  tierischer  und  menschlicher 
Muskelkraft,  anderer  todter  Naturkräfte  (Wind,  Schwerkraft),  als  bewegender,  Kraft 
gebender  Factoren,  in  gewissem  Maasse  auch  für  die  Ersetzung  der  menschlichen 
Muskelkraft  durch  Geisteskraft  (Gehirnarbeit)  gewonnen  und  dadurch  auch  die  Stei- 
gerung des  Volkseinkommens  und  Volksvermögens,  die  Ersparung  an  natürlichen 
Productionskosten  und  an  Arbeitsaufwand  in  hohem  Maasse  ermöglicht  worden,  mehr  wie 
je.  Durch  die  Maschine  wird  aber  nicht  nur  (Muskel-)  Arbeit  abgenommen,  sondern  durch 
die  nun  erst  mögliche  Concentration  riesiger  Kräfte  auf  Einen  Punct,  durch  die  Ver- 
bindung der  Bewegung  gebenden  Maschine  (Motor)  mit  Werkzeugmaschinen  werden 
überhaupt  vielfach  erst  ganz  neue,  besonders  qualificirte  Leistungen  im  Productions- 
process  technisch  ausführbar  und  ökonomisch  nicht  zu  kostspielig  (Popper).  In  der 
Verwerthung  nunmehr  aber  auch  der  Electricität,  worin  wir  durchaus  erst  im 
Beginn  stehen,  mit  dem  Princip  der  Debertragung  von  Naturkräften  (Wasser)  über 
weitere  Räumo,  ist  eine  neue,  vielleicht  noch  wirksamere  Quelle  der  steigenden  Pro- 
ductivität  der  Arbeit  erschlossen.  Vollends  in  ihrer  Gesammtheit  sind  diese  natur- 
wissenschaftlich-technischen Fortschritte  so  gewaltig,  dass  schon  gegenwärtig,  wo  wir 
in  mancher  Beziehung  erst  noch  im  Anfang  der  wirtschaftlichen  Verwerthung  der- 
selben stehen  und  täglich  neue  hinzukommen  (Electricität),  die  ökonomischen  Lebens- 
bedingungen der  Culturvölker  erheblich  und  günstig  verändert  worden  sind.  (In  der 
2.  A.  §.  104  a S.  162  ist  das  ähnlich,  aber  etwas  zu  einseitig,  ohne  die  folgenden 
Einschränkungen,  daher  auch  mit  etwas  zu  optimistischem  Schluss  dargelegt  worden: 
„von  Grund  aus  verändert",  wie  ich  es  dort  ausdrückte,  sind  die  ökonomischen 
Lebensbedingungen  der  Culturvölker  selbst  durch  die  ausserordentlichen  Fortschritte 
der  Technik  in  der  Gegenwart  nicht,  wie  sich  aus  dem  Folgenden  ergiebt). 

Es  sind  nemlich  doch  auch  wesentliche  Einschränkungen 
nicht  zu  übersehen. 

Auf  dem  Gebiete  der  unmittelbaren  Urproduction,  namentlich  in  der 
Land wirthschaft,  für  die  Gewinnung  der  wichtigsten  menschlichen  und  Hausvieh- 
Nabrungsmittel  und  vieler  der  wichtigsten  geweikÜchen  Roh-  und  Hilfstolfe,  ähnlich 
in  der  Forst  wirthschaft  sind  dio  ökonomisch -technischen  Fortschritte,  bisher 
wenigstens,  von  viel  begrenzterer  practischer  Bedeutung,  sowohl  in  Bezug  auf  die 
Menge,  Art,  Güte  der  Producto  (Rohertrag),  als  namentlich  auch  in  Bezug  auf  die  Ver- 
minderung oder  wenigstens  die  uicht-progressive,  selbst  die  nicht-proportionale  Stei- 
gerung der  natürlichen  Productionskosten  bei  quantitativer  und  qualitativer  Steigerung 
der  Roherträge  (g.  255).  Auf  heimischem  Boden,  zumal  bei  bereits  erfolgter 
Urbaruug  und  regelmässiger  Benutzung  des  meisten,  vorhandenen  oder  wenigstens 
einigermaassen  culturfähigeu,  die  Kosten  deckenden  Bodens  und  bei  bereits  erreichter, 
dem  Bedarf  entsprechender  starker  Steigerung  der  Roherträge  (intensive,  hochintensive 
Wirthschaft),  sind  daher  die  erforderlichen  Agrar-  und  Forstproducte , vollends  für 
eine  wachsende  und  besser  — auch  qualitativ  in  Betreff  der  Nahrungsmittel!  — 
lebende  Bevölkerung  allgemein  überhaupt  gar  nicht  immer,  jedenfalls  aber 
vielfach  nur  mit  wachsenden  Kosten  zu  gewinnen.  Sollen  sie  in  grösserer  Menge 
immer  mehr  aus  der  Fremde  bezogen  werden,  so  setzt  das  eine  Ueberwindung  aller 
der  Schwierigkeiten  und  Bedenken  voraus,  welche  Fernabsatz  und  Fernbezug  mit  sich 
bringen  (§.  254).  Diese  Ueberwindung  wird  nun  grade  durch  den  technischen  Fort- 


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Begrenzte  Fortschritte  in  den  Productionsverhältnissen. 


711 


schritt  auf  dem  Gebiete  der  Industrie  und  des  Communications-  und  Trans- 
portwesens. wo  die  erwähnten  günstigen  Seiten  am  Bedeutendsten  henrortreten, 
wesentlich  und  mit  diesen  Fortschritten  proportional,  hie  und  da  selbst  progressiv  er- 
leichtert. Allein  ob  auch  dabei  unter  Einwirkung  all  der  hier  mitspielendeu  Factoren 
immer  bleibend  und  genügend,  so  dass  wirklich  eine  Erhöhung  der  Gebrauchs- 
werth-Menge des  Nationaleinkommens  und  Vermögens  das  definitive  Ergebniss  ist, 
bleibt  doch  wieder  fraglich.  Zu  optimistisch  darf  man  daher  auch  in  dieser  Hinsicht 
nicht  sein. 

In  Betreff  des  dritten  Hauptzweigs  der  ürproduction , des  Bergbaus,  ist  aber 
doch  stets  auch  daran  zu  denken,  dass  wir  den  Boden  an  den  bezüglichen,  nicht 
wieder  ersetzbaren  Substanzen  (Kohle!)  in  steigendem  Maasse  erschöpfen,  also  im 
wahren  Sinn  des  Worts  „vom  Kapital  zehren“,  Raubbau  treiben.  Das  wäre  noch  un- 
bedenklicher, wenn  wir  auch  hier  practisch  es  als  völlig  gleichgiltig  bezeichnen 
könnten,  ob  die  Bergbauproducte  in  der  Heimath  oder  in  der  Fremde  für  uns  ge- 
wonnen werden.  Denn  wenn  bei  den  grossen  bauwürdigen  Vorräthen  der  Erde  an 
diesen  Producten  auch  die  Gefahr  der  Erschöpfung  practisch  weit  ferner  liegt,  ganz 
ausgeschlossen  ist  sie  eiomal  auch  hier  nicht  (Gold!),  ferner  aber  sind  wir  bei  Bezug 
aus  der  Fremde  wieder  zum  gesteigerten  Fabrikatenexport,  unter  all  den  angedeuteten 
Schwierigkeiten,  genöthigt.  Die  Kostensteigerung  im  Bergbau,  besonders  bei  wachsen- 
dem Tiefbau,  bei  Mitbenutzung  der  schlechteren  Reviere,  ist  ebenfalls  in  Erwägung 
zu  ziehen.  Auch  hier  bleibt  es  fraglich,  ob  und  wie  weit  der  technische  Fortschritt 
dieser  Steigerung  hinlänglich  entgegen  wirken  kann.  Nur,  wenn  es  sicher  wäre,  dass 
der  Bedarf  an  Montanproducten  durch  Fortschritte  der  Technik  sich  absolut  oder 
relativ  verringern,  gar  theilweise  (Kohle!)  völlig  ersetzen  Hesse,  z.  B.  durch  Benutzung 
der  natürlichen  Wasserkräfte  für  Electricität,  würden  alle  diese  Bedenken  mehr  zurück- 
treten,  zum  Theil  allerdings  verschwinden.  Aber  ob  und  was  hier  zu  erreichen  sein 
wird,  lässt  sich  doch  einstweilen  noch  nicht  irgend  genauer  übersehen.  Man  hat  es 
höchstens  mit  optimistischen  Phantasieen,  auch  allerdings  nicht  bloss  der  Laien  und 
Dilettanten  (Bebel,  Socialisten),  sondern  genialer  Techniker  (Siemens  u.  A.)  zu  thun, 
welche  eben  erst  realisirt  sein  müssten , wenn  man  in  der  uns  hier  beschäftigenden 
theoretischen  Lösung  des  Problems  auf  dergleichen  bauen  dürfte.  Auch  hier  bliebe 
ausserdem  immer  noch  die  Kostenfrage  ungelöst  (s.  schon  o.  S.  655). 

Nur  auf  dem  Gebiete  der  sogen.  Stoffveredlung,  der  Industrie  i.  e.  S., 
wird  man  schon  jetzt  dem  technischen  Fortschritt  für  die  Herstellung  von  Gütern  und 
für  die  Verminderung  vieler  Kostenelemente  dabei  eine  grössere  practische  Bedeutung 
einräumen  können;  daher  insoweit  auch  für  die  Bildung,  die  Gewinnungskosten, 
die  Höhe,  die  Zusammensetzung  des  Nationaleinkommens.  Aehnliches  gilt,  mit  ent- 
sprechender Tragweite  für  den  nahen  und  fernen  Austausch  der  Producte,  auch 
hinsichtlich  des  Communications-  und  Transportwesens.  Eine  verbesserte 
Lebenslage  in  Bezug  auf  die  Befriedigung  derjenigen  materiellen,  auch  Luxusbedürf- 
nisse, welche  unmittelbar  mit  Industrieerzeugnisson  befriedigt  werden  können,  auch 
mancher  geistiger  (Papier.  Bücher,  Presse!)  erscheint  danach  in  der  That  auch  für 
die  Volksmasse  heute  und  weiterhin  in  grösserem  Umfange  möglich.  Im  Wohnungs-, 
Wohneiurichtungs-,  Kleidungswesen  ist  das  wichtig  genug. 

Aber  auch  hier  bleibt  immer  zweierlei  zu  bedenken,  was  die  Tragweite  des 
technischen  Fortschrittes  und  den  oft  übertriebenen  Optimismus  (so  wieder  namentlich 
der  Socialisten)  hinsichtUch  dieser  Tragweite  einzuschränken  gebietet:  einmal,  auch 
für  die  Industrie  bedarf  es  doch  stets  des  dem  Boden  zu  entnehmenden  Roh-  und 
Hilfsstoffs,  der  aus  dem  heimischen  Boden  unmittelbar,  aus  dem  fremden  mittelbar, 
durch  alle  die  dabei  zu  überwindenden  Schwierigkeiten  hindurch  gewonnen  werden 
muss;  sodann,  — die  Nahrungsmittel,  die  Brennstoffe,  die  Baumaterialien 
u.  dgl.  m. , m.  a.  W.  die  eigentlichen  Bod on  prod  uc te  selbst  bleiben  eben 
doch  unter  allen  Umständen  für  die  Bedürfnisse  der  Menschenwclt  (und  der  ihr  dien- 
lichen Thierwelt)  das  Wichtigste.  Und  in  dieser  Hinsicht  kann  man,  nach  allem 
Gesagten,  auch  betreffs  des  technischen  Fortschritts  und  seiner  schliesslichen  ökono- 
mischen Wirkung  auf  das  Volkseinkommen,  nicht  so  übertrieben  optimistisch  sein. 
Hier  liegt  zugleich  das  immerhin  recht  wesentliche  Korn  Wahrheit  in  der  — phy- 
siokratischen  Doctrin. 


712  4.  B.  Bevölk.  n.  Volksw.sch.  2.  K.  Vertheil.probl.  2.  A.  Regelung.  §.  27‘j. 

Jedoch,  auch  vorbehaltlich  aller  dieser  wichtigen  und  nicht 
immer  von  den  Enthusiasten  des  technischen  Productionsfortschritts 
genügend  beachteten  Einschränkungen  hinsichtlich  der  Möglichkeit 
weiteren  und  der  Tragweite  des  erreichten  und  erreichbaren  tech- 
nischen Fortschritts,  bleibt  es  doch  wahr,  dass  im  Zeitalter  von 
Dampf  und  Electricität  in  der  That  die  ökonomischen  Lebensbe- 
dingungen der  Culturvölker  viel  günstiger  liegen,  als  ehedem.  Das 
ermöglicht  eine  Steigerung  des  Nationaleinkommens,  welche  auch 
der  grossen  Masse  der  Bevölkerung, . freilich  nur  bei  nicht  zu 
schnellem  Wachsthum  der  letzteren,  in  der  That  wenigstens  zu 
Gute  kommen  kann. 

§.  279.  — c)  Bei  gegebener  Höhe  und  Art  des  Volksein- 
kommens hängt  es  endlich  mit  von  der  jeweiligen  Vertheilung  des 
letzteren  — welche  auch  die  Art  der  im  Volkseinkommen  steckenden 
naturalen  Güter,  weil  die  Richtung  der  Production,  mit  bestimmt  (S.  693) 
— ab,  ob  und  wie  weit  die  unteren  Volksclassen  auch  feinere 
Existenz-  und  gewisse  Culturbedürfnisse  mit  befriedigen  können. 
Ist  nun  auch  bei  hohem  Volkseinkommen  die  Vertheilung  eine 
sehr  ungleiche,  die  Quote,  welche  von  jenem  in  irgend  einer  Form 
(Rente  aller  Art,  Unternehmer-,  Speculations-,  Conjuncturgewinn, 
höherer  Lohn,  besonders  Beamtengehalte  u.  dgl.)  an  die  besitzenden 
und  höheren  Classen  und  an  die  Personen  mit  erheblich  überdurch- 
schnittlichem Einkommen  gelangt,  eine  bedeutende,  so  wäre  es 
wenigstens  rein  arithmetisch  aufgefasst  möglich,  durch  eine 
gleichmässigere,  die  Einkommen  der  höheren  Classen  u.  s.  w. 
vermindernde,  den  Einkommen  der  unteren  Classen  etwas  zulegende 
Vertheilung  jene  Forderungen  hinsichtlich  der  Bedürfnissbefrie- 
digungen  dieser  letzteren  Classen  zu  erfüllen.  Auch  was  in  dieser 
Beziehung  bei  der  auf  der  Grundlage  des  Privateigenthums  an  den 
sachlichen  Productionsmittelu  und  der  privatwirthschaftlichen  Organi- 
sation der  Volkswirtschaft  beruhenden  Vertheilung  des  Volksein- 
kommens in  unseren  modernen  Volkswirthschaften  so,  wiederum 
die  Frage  rein  arithmetisch  aufgefasst,  geschehen  könnte, 
wäre  keineswegs,  wie  man  öfters  gegen  derartige  Ideen  eingewandt 
hat,  etwas  so  Unerhebliches. 

Selbst  H.  v.  Treitschke  (der  Socialismus  und  seine  Gönner,  Preussische 
Jahrbücher  1875,  I,  S.  265)  spricht  hier  Sätze  über  dio  unvermeidliche  Niedrigkeit 
des  Einkommens  der  Massen  wegen  der  Niedrigkeit  des  Gcsammteinkommens  selbst 
reicher  Völker  aus,  die  zwar  sehr  allgemein,  u.  A.  in  dem  Witzworte  von  der 
.,Tbeilung“  Rothschilds  mit  den  Arbeitern,  für  wahr  gelten,  es  aber  durchaus  nicht 
sind,  wie  grade  jede  statistische  Berechnung  selbst  nur  auf  Grund  der  Einkommen- 
steuerdateu,  die  doch  bekanntlich  bei  den  Reicheren  immer  mehr  hinter  der  Wahrheit 


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Gleichmässigere  Vcrthcilung  des  vorhandenen  Volkseinkommens.  713 

Zurückbleiben,  belegt  So  berechnet  z.  B.  Hirth,  Annal.  1S74  S.  932  ff.  nach  den 
ungemein  niedrigen  Schätzungen  der  preussischen  Classen-  und  Einkommen* 
Steuer  für  1S73  das  Gesammteinkommen  von  8.743.2S4  Personen  auf  1305.18  Mill. 
Thaler,  also  auf  1 Person  im  Durchschnitt  fast  150  Thlr.  Bei  8,395,000  Pers.  mit 
einem  Einkommen  bis  incl.  500  Thlr.  ist  das  Gesammteinkommen  S30.8  Mill.  Thlr. 
oder  für  1 Pers.  ca.  99  Thlr.,  bei  225,000  Pers.  von  500  — 1000  Thlr.  ist  es  102 
Mill.  Thlr.  oder  für  1 Pers.  720,  bei  123,284  Pers.  in  der  Einkommensteuer  (über 
1000  Thlr.  Einkommen)  312.38  Mill.  Thlr.  oder  fllr  1 Pers.  2533  Thlr.  Würde  nun 
z.  B.  durch  ein  richtiges  Progressivsteuersystem,  durch  Hebung  der  Löhne  auf  Kosten 
der  Gewinne  der  Unternehmer  und  Kapitalisten  im  freien  Verkehr,  durch  Steigen  der 
Preise  der  Consumptibilien  der  Wohlhabenderen  zu  Gunsten  der  Arbeiter  u.  s.  w.  und 
durch  die  hier  in  diesem  Abschnitt  besprochenen  regulativen  Eingriffe  in  die  Ver- 
keilung auch  nur  bewirkt,  dass  ein  Drittel  des  Gesammteineinkommens  der  Ein- 
kommensteuerpflichtigen reell  auf  die  Personen  mit  unter  500  Thlr.  Einkommen  über- 
tragen würde,  so  gestattete  dies  eine  Steigerung  des  Einkommens  der  letzteren  im 
Durchschnitt  um  ca.  12.4  Thlr.  oder  um  ca.  12.5  °/0,  eine  Steigerung,  welche  jedoch 
bei  den  Personen  mit  kleinstem  Einkommen  viel  bedeutender  werden  könnte.  Und 
dabei  sind  die  Ergebnisse  grade  der  früheren  preussischen  Einkommensteuer- 
schätzung, bes.  für  die  höheren  Einkommen,  viel  zu  niedrig.  Ich  halte  es  nicht  für 
unmöglich,  durch  Veränderungen  wie  die  erwähnten,  die  kleinsten  Einkommen  in 
Deutschland,  z.  B.  die  bis  300  Thlr.,  trotz  der  Millionen  der  Percipieuten , um  ein 
Drittel  zu  steigern,  woraus  ökonomisch  (auch  für  die  Richtung  der  Production, 
daher  für  die  Vermeidung  von  Absatzkrisen  u.  s.  w.)  und  culturlich  nur  günstige  Folgen 
resultirten,  ohne  dass  eine  der  Trcitschke’schen  Einwendungen  zuträfe.  Vergl. 
auch  schon  die  besseren  Daten  für  Hamburg,  Annal.  1875,  S.  335.  Weiteres  Ma- 
terial zur  Beurtheilung  dieser  Frage  in  Engel’s  Aufs,  über  die  Classen-  und  Ein- 
kommensteuer und  Vertheilung  des  Einkommens  in  Prcussen  in  d.  Zeitschr.  d.  Preuss. 
Stat.  Bur.  1875.  R.  Michaelis  in  der  Schrift  „Gliederung  der  Gesellschaft  nach 
dem  Wohlstando“  hat  die  Geringfügigkeit  einer  Verbesserung  der  ökonomischen  Lage 
der  unteren  Classen  durch  eine  Ausgleichung  zwischen  höheren  und  niederen  Einzel- 
einkommen mittelst  der  von  ihm  vornemlich  gebrauchten  Daten  der  neuen  deutschen 
grossstädtischen  Wohnungsstatistik  nachzuweisen  gesucht.  Er  nimmt  dabei  das  „heiz- 
bare Zimmer“  als  vergleichbare  Einheit,  obgleich  er  natürlich  selbst  die  mangelhafte 
Vergleichbarkeit  dieser  Zimmer  in  schlechten  Arbeiterwohnungen  und  reichen  Luxus- 
wohnungen nicht  übersehen  kann  (S.  71).  Trotzdem  wird  die  Berechnung  für  Berlin 
(S.  71)  u.  für  die  anderen  betrachteten  Städte  durchgeführt,  wie  sich  die  Dinge  bei  einer 
„Gütervertheilung  nach  commuuistischem  Idealo“  gestalten  würden.  Das  Ergebniss  ist 
z.  B.  für  Berlin  (und  ähnlich  für  die  andren  Städte),  dass  bei  einer  gleichen  Ver- 
theilung der  „augenblicklich  vorhandenen“  heizbaren  Zimmer  schon  die  Bewohner  der 
Wohnungen  mit  2 heizbaren  Zimmern  geschmälert  wurden.  Daher  der  „Schluss  aus 
der  exacten  Forschung“:  „eine  gleichmässigere  Gütervertheilung  kann  erst  bei  einer 
weit  grösseren  Masse  von  wirthschaftlichen  Gütern  erreicht  werden;  es  ist  also  vor 
allen  Dingen  eine  Steigerung  der  Productionsfähigkeit  der  Gesammtheit  erforderlich.“ 
(S.  72.)  Letzteres  ist  in  gewissem  Umfang  richtig.  Es  wird  aber  durch  diese  „exacte 
staatswissenschaftliche  Forschung“  nicht  bewiesen.  Denn  erstens  lässt  sich  „die 
Gesammtheit  der  heizbaren  Zimmer  nicht  als  Repräsentantin  der  Gesammtheit  der 
Güter“  fassen;  zweitens  sind  zumal  in  unseren  deutschen  Grossstädten  die  „heizbaren 
Zimmer“  in  den  verschiedenen  Kategorieen  von  Wohnungen  nicht  für  diesen  Zweck 
vergleichbare  Einheiten,  sondern  ungeheuer  verschieden,  so  dass  schon  deswegen  jedes 
Zimmer  in  den  besseren  Wohnungen  mit  irgend  einer  Zahl  multicipirt  werden  müsste, 
um  den  Zimmern  in  den  schlechten  Wohnungen  vergleichbar  zu  werden;  drittens 
kommt  es  nicht  auf  die  „augenblicklich  vorhandenen  heizbaren  Zimmer“  für  diese 
Frage  an,  sondern  auf  den  Kapitalaufwand  für  die  betreffenden  Bauten  und  Woh- 
nungen, der  bei  den  feineren  Wohnungen  ungleich  höher  ist.  Mit  dem  Gesammt- 
kapital,  das  für  die  Wohnungsbeschaffung  verfügbar  ist,  liesse  sich  daher  eine  für  die 
kleinen  und  mittleren  Leute  immerhin  nicht  unwesentlich  bessere  Befriedigung  des 
Wohnungsbedürfnisses  erzielen.  Die  Beweisführung  des  Verf.s  ist  ein  eclatantes  Bei- 
spiel, dass  eine  planlose  „exacte  Forschung“  ohne  scharfe  Formulirung  der  betreffenden 
theoretischen  Probleme  in  die  Irre  führt  — Giffen  berechnet  den  Werth  des 
britischen  Volksvermögens  1865  auf  6113,  1875  auf  8548  Mill.  Pf.  St.  So  wenig 


714  4.  ß.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  2.  K.  Vertheil.probl.  2.  A.  Regelang.  §.  279. 


sicher  solche  Berechnungen  sind  (s.  o.  S.  175),  so  ergiebt  sich  doch  auch  daraus  die 
arithmetische  Möglichkeit  einer  wesentlichen  Verbesserung  der  ökonomischen 
Lage  der  unteren  Ciassen,  während  Giffen’s  Specialisirung  der  Vermögensobjecte  eine 
absolut  nur  geringfügige  Theilnahme  dieser  Ciassen  an  dieser  Steigerung  des  Volks- 
vermögens aufweist.  S.  auch  Engels,  Dühring’s  Umwälzung  S.  235  (1.  A.). 

Seitdem  das  Vorausgehende  (wörtlich  aus  der  2.  Aufl.  S.  158 — 159  Note  16) 
geschrieben  wurde,  ist  Dank  der  verbesserten  Einkommeubesteuerung  mehr  und  besseres 
statistisches  Material  zur  Beantwortung  einer  solchen  „rein  arithmetischen“  Ver- 
theilungsfrage hinzugekommen.  Dasjenige  aus  einzelnen  grossen  Städten  (Hamburg), 
kleinen  Ländchen  (Sachsen- Weimar)  ist  wegen  dor  Besonderheit  der  Verhältnisse  aller- 
dings nicht  wohl  hierfür  brauchbar;  viel  mehr  schon  das  vorzügliche  Material  aus 
dem  K.  Sachsen,  in  der  trefflichen  Bearbeitung  von  V.  Böhmert  in  der  K.  sächs. 
stat.  Ztschr.,  namentlich  aber  nunmehr  das  Material  aus  Preussen,  also  aus  einem 
grossen  Volkswirthschaftsgebict  mit  wirklich  genügender  Mannigfaltigkeit  der  Pro- 
ductionsarten  und  der  localen,  provinziellen  Verhältnisse.  Obgleich  bisher  erst  die 
Ergebnisse  der  ersten  Einschätzung  auf  Grund  des  neuen  Gesetzes  von  1891  vorliegen, 
für  1.  April  1892 — 93,  wo  sicher  noch  manche  Mängel  und  Lücken  trotz  der  Declara- 
tionspflicht für  die  höheren  Einkommen  (über  3000  M.)  untergelaufen  sind,  hat  sich 
nicht  nur  allgemein  eine  erhebliche  Vergrösserung  des  Gesammteinkommens  der  steuer- 
pflichtigen Bevölkerung  (d.  h.  derjenigen  mit  über  900  M.  Einkommen  p.  Censit)  gegen 
die  bisherigen  Einschätzungen  nach  dem  älteren  unvollkommenen  Verfahren  ergeben, 
sondern  auch  gezeigt  tgegen  A.  Sötbeer’s  Anschlag,  wie  schon  oben  einmal  be- 
merkt ward),  dass  sich  grade  die  grösseren  Einkommen,  diejenigen  aus  den  Städten, 
aus  Industrie,  Handel,  Kapital  besonders  höher  gegen  früher  herausgestellt  haben. 
Das  bestätigt  vollends  die  hier  vertretene  arithmetische  Möglichkeit  einer  Einkommen- 
erhöhung der  untern  Ciassen  durch  eine  diesen  günstigere  Vertheilung  selbst  des 
heutigen  gesammten  Volkseinkommens.  S.  bes.  die  amtliche  Schrift:  Mittheilungen 
aus  der  Verwaltung  der  directcn  Steuern  im  preuss.  Staat,  Statistik  der  Einkommen- 
steuerveranlagung Jahr  1892/93,  Berlin  1892. 

Das  gesammte  veranlagte  Einkommen  der  physischen  Censiten  ist  in  1892/93 
gegen  1891/92  gestiegen  von  4273.7  auf  5724.3  Mill.  M.  oder  um  34.2  °/0,  die  Zahl 
der  Censiten  von  1,997,638  auf  2,435,858,  das  Gesammteinkommen  der  Censiten  mit 
einem  Einkommen  von  über  3000  M.  stieg  dagegen  von  1887.4  auf  2S12.3  Mill.  M. 
oder  um  49.0  %,  — war  also  entschieden  bisher  besonders  unterschätzt  — die  An- 
zahl dieser  Censiten  von  254,280  auf  316,889,  (a.  a.  0.  S.  II  fl'.).  Auch  diese  Zahlen 
bestätigen,  dass  die  arithmetische  Bedeutung  einer  gleichmässigeren  Einkommen- 
vertheilnng  keineswegs  geringfügig  für  die  unteren  Ciassen  wäre.  Nach  einer  Specifi- 
cation  der  Censiten  nach  Einkominenclassen  (mit  kleiner  Abweichung  der  veranlagten 
Gesammteinkommen  gegen  die  vorausgehenden  Daten  aus  rechnerischen  und  steuer- 
technischen  Gründen)  ergab  sich  Folgendes  (ebenfalls  nur  physische  Personen) 
(a.  a.  0.  S.  324): 


Gruppe,  M.  Ein- 
kommen 

Censiten 

absolut 

Censiten 

auf 

100,000 

Veranlagt. 
Einkommen 
Mül.  M. 

Dgl.  in 
Pro- 
mille 

Durchschnitts- 
eink.  des  Ceu- 
siten  M. 

900—  3.000 

2,118,969 

86,991 

2912.0 

510.9 

1,374 

3.000—  6.000 

204,714 

8,404 

832.4 

146.0 

4.664 

6,000—  9,500 

55,381 

2,274 

411.7 

72.2 

7,435 

9,500—  30,500 

46.096 

1,892 

714.6 

125.4 

15,405 

30,500—  100,000 

9,039 

371 

451.6 

79.2 

49,965 

100.000—6,750,000 

1 ,659 

68 

377.6 

66.2 

227,598 

Summa 

2,435,858 

100,000 

5700.0 

1000.0 

2,339 

über  3000  M. 

316,889 

13,009 

2788.0 

489.1 

8,800 

Würden  bei  einer  arithmetischen  Ausgleichung  alle  Einkommen  der  hier  in 
Frage  kommenden  Censiten  mit  bisher  über  900  M.  auf  den  Durchschnittsbetrag  von 
2339  M.  gebracht,  so  wTäre  das  eine  Erhöhung  des  Einkommens  von  1374  M.  der 
Censiten  der  1.  Gruppe  (900 — 3000  M.  Einkommen)  um  60.2  °/0. 

Für  die  untersten  Kategoricen  dieser  Gruppe  und  vollends  für  die  hier  nicht  mit 
inbegriffene  steuerfreie  Bevölkerung  unter  900  M.  p.  Censit  (bez.  meistens:  Familien- 


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Preußische  Einkommeu-Vertheilung. 


715 


haupt)  Einkommen  (20,945,227  physische  Personen  — nicht  Censiten  — von  einer 
Gesammtbevölkerung  von  29,895,2241)  würden  sich  natürlich  manchfach  andere  Procent- 
veränderungen ergeben,  für  die  grosse  Masse  der  steuerfreien  Bevölkerung  eine  andere, 
mitunter  auch  eine  relative  kleinere  Erhöhung  des  Einkommens,  je  nach  den  Zahlen 
der  Köpfe  (Censiten),  ihres  bisherigen  und  des  so  zu  erhöhenden  Einkommens.  Aber 
unbedeutend  wäre  der  EU’cct  auch  hier  nicht.  Würde  z.  B.  mit  dem  Einkommen  der 
Censiten  der  niedrigsten  Steuerstufe  (900 — 1050  M.,  658,811  Censiten  mit  642.54 
Mill.  M.  Gesammteinkommen)  in  der  angedeuteten  Weise  verfahren,  so  erhöhte  sich 
dasselbe  vom  jetzigen  Durchschnitt  von  c.  975  M.  um  c.  140  %• 

Für  die  gesammte  Bevölkerung  kann  man  solche  Berechnungen  nicht  ebenso  genau 
durchfuhren,  weil  man  keine  Einschätzung  der  steuerfreien  Bevölkerung  bat.  Macht 
man  für  letztere  einen  approximativen  Anschlag,  wie  cs  die  Statistiker,  Sötbeer  u.  A., 
gethan,  um  das  gesammte  Volkseinkommen  zu  ermitteln,  so  ist  natürlich  der  Werth 
einer  so  gewonnenen  Zahl  noch  unsicherer.  Ausserdem  wird  man  auch  für  das  nach 
dem  jetzigen  besseren  preussischen  Veranlagungsverfahren  stcuerveranlagte  Einkommen 
noch  eino  Quote  binzuschlagen  müssen,  für  nicht  oder  zu  niedrig  dcclarirtes,  auch 
für  die  gesetzlichen  Abzüge  vom  Einkommen  zur  Feststellung  des  steuerpflichtigen, 
welche  zum  wirklichen  Einkommen  wenigstens  theilweise  gehören.  Namentlich  bei 
den  höheren  Einkommen,  denjenigen  aus  Kapital,  Gewerbebetrieb,  Landwirthschaft 
wird  so  noch  Manches  hinzukommen.  Schlägt  man  diesen  nicht  versteuerten  Betrag 
bei  den  Censiten  von  über  900  M.  Einkommen  auch  nur  auf  10  % (m-  E.  wahr- 
scheinlich zu  niedrig)  an  und  schätzt  man  für  die  nicht  steuerpflichtige  Bevölkerung 
auf  den  Kopf  ein  Durchschnittseinkommen  von  c.  150  M.  — Sötbeer  berechnet  für 
die  Bevölkerung  mit  unter  525  M.  Einkommen  p.  Censit  199  M.  p.  Kopf,  wonach 
für  diejenige  bis  900  M.  p.  Censit  wohl  mehr  als  150  M.  anzurechnen  wäre  (?)  — , 
so  stiege  das  Einkommen  aller  Steuerpflichtigen  in  Prcussen  auf  c.  6270  Mill.  M., 
dasjenige  der  nicht  steuerpflichtigen  Bevölkerung  (unter  900  M.  Censiten-Einkommen) 
wäre  rund  c.  3150  Mill.  M.,  das  gesammte  preussische  Volkseinkommen  — immer  ab- 
gesehen von  den  principiellen  Einwendungen  gegen  jede  derartige  Berechnungs- 
weise des  Volkseinkommens,  wie  sie  oben  §.  175  ff.  gemacht  wurden  — erhöbe  sich 
auf  9420  Mill.  M.  Das  wäre  p.  Kopf  der  Bevölkerung  316  M.  (Sötbeer  berechnet 
für  1888  nach  der  alten  Einschätzung  und  nach  seinen  Zuschlägen  dazu  329).  Würde 
nun  das  Einkommen  der  steuerpflichtigen  Bevölkerung  gleichmäßig  auf  die  ganze 
Bevölkerung  vertheilt,  so  würde  immerhin  dasjenige  des  Kopfs  der  nicht-steuerpflich- 
tigen von  dem  angenommenen  Betrage  von  150  M.  auf  diese  Ziffer  von  316  M.  oder 
um  c.  105  % steigen  können,  natürlich  je  nachdem  mehr  oder  weniger,  wenn  der  hier 
angenommene  Einkommenbetrag  der  nicht  steuerpflichtigen  Bevölkerung  und  der  Zu- 
schlag zum  Einkommen  der  steuerpflichtigen  Bevölkerung  in  Wirklichkeit  niedriger 
oder  höher  anzusetzen  wäre,  womit  sich  dann  freilich  auch  das  Gesammteinkommen 
des  Volks  und  der  davon  auf  den  Kopf  fallende  Betrag  entsprechend  erniedrigte  oder 
erhöhte.  S.  für  W’eiteres  die  in  §.  171  angegebene  Litteratur,  besonders  Sötbeer’s 
Arbeiten,  die  Daten  bei  ßob.  Meyer  im  Artikel  Einkommen  im  Handwörterbuch 
d.  Staatswiss.,  den  Aufsatz  die  Zunahme  der  grossen  Einkommen  in  Hirth’s  An- 
nalen 1893. 

Also  in  der  That:  eine  gleicbmässigere  Vertheilung  des  Volks- 
einkommens würde  den  unteren  Classen  auch  heute  schon  eine 
umfassendere  Bedürfnissbefriedigung  ermöglichen.  Ob  man  darauf 
hinstreben  und  die  dazu  erforderliche  Umänderung  der  Rechts- 
ordnung in  Aussicht  nehmen  darf  und  soll,  ist  dann  freilich  eine 
ganz  andere  als  diese  bloss  aritbmethisebe  Frage.  Sie  ist  wiederum 
vom  maassgebenden  Standpunct  des  Gesammtinteresses  und 
des  auf  die  Dauer  von  dessen  Befriedigung  doch  auch  mit  ab- 
hängigen wahren  Interesses  der  unteren  Classen  zu  betrachten  und 
zu  entscheiden.  Die  Antwort  darauf  ist  mit  im  Folgenden,  nament- 


716  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  2.  K.  Yertheil.probl.  2.  A.  Regelung.  §.  280. 

lieh  in  den  Ausführungen  über  die  Zulässigkeit  und  Räthlichkeit 
der  Erfüllung  der  oben  aufgestellten  Forderungen  enthalten  (§.  282). 

§.  280.  — 2.  Voraussetzungen  hinsichtlich  der 
Noth wendigkeit  der  Aufstellung  und  Durchführung 
von  Forderungen,  welche  dem  zweiten  Hauptgrund- 
satz en tsp rechen  (S.  707  u.  S.  709).  Hier  kommt  es  auf  die 
Vergleichung  der  gesammten  ökonomischen  und  socialen  Lage 
an,  welche  die  unteren,  arbeitenden  und  die  höheren,  besitzenden 
(Hassen  und  beider  einzelne  Abtheilungen  (Berufsgruppen)  auf  dem 
Boden  der  bestehenden  volkswirtschaftlichen  Organisation  and 
Rechtsordnung  und  unter  den  hier  obwaltenden  auch  ethischen  Factoren 
(Sittlichkeit,  Sitte)  erreicht  haben.  Entscheidend  ist  hier  vor  Allem 
die  relative  Classenlage  und  deren  Entwicklung  auch  bei  stei- 
gendem Volkseinkommen,  daher  das  Antheilsverhältn  iss  ins- 
besondere der  unteren,  arbeitenden  und  der  besitzenden  Classen, 
erst  in  zweiter  Linie  die  absolute  Classenlage.  Eine  bezügliche 
Untersuchung,  um  zu  einer  Beantwortung  der  Frage  der  Noth- 
wendigkeit  der  Erfüllung  obiger  Forderungen  zu  gelangen,  bedingt 
dann  zweierlei,  einmal  die  Ermittlung  von  Thatsachen  bezüg- 
lich der  maassgebenden  Verhältnisse,  sodann  die  Ziehung  von 
Schlüssen  aus  diesen  Thatsachen  mittelst  Vergleichung  der  letzteren 
und  danach  die  Fällung  von  Urtheilen  (erste  practische  Auf- 
gabe, §.  62,  63). 

a)  Die  Thatsachen  für  die  richtige  Vergleichung  sind  mittelst 
des  inductiven  Beobachtungsverfahrens,  namentlich  des  statistischen, 
durch  Enqueten  über  die  Lage  der  einzelnen  Volksclassen,  be- 
sonders — aber  nicht  allein!  — der  unteren,  durch  persön- 
liche unmittelbare  Nachforschungen  festzustellen. 

Vergl.  oben  in  Buch  3 Kap.  5 von  den  Kennzeichen  des  Volkswohlstands,  bes. 
§.  186,  S.  433.  Hinzuzufügen  zur  Littcratur  das  Ende  1892  erschienene  grosse 
Sammelwerk  des  Vereins  für  Socialpolitik  über  die  Verhältnisse  der  Landarbeiter. 

Die  gesammte  sociale  und  ökonomische  Lage,  als  Product  der  Gesammt- 
heit  der  technischen,  ökonomischen,  rechtlichen,  ethischen  Factoren  u.  s.  w.  kommt 
in  Betracht:  Arbeitsart,  Maass,  Erwerbssicherheit,  Einkommenhöhe,  Consumtionsvcr- 
hältnissc  nach  allen  Seiten,  Lebenslage  und  Lebensweise  u.  s.  w. 

Allein  solche  Untersuchungen  müssten  sich,  m.  E.  für  alle  be- 
züglichen Fragen  (die  „Arbeiterfrage“  i.  e.  S.),  namentlich  aber 
auch  für  das  uns  hier  beschäftigende  Problem  ebenso  syste- 
matisch und  eingehend  auf  die  übrigen  Volksclassen 
und  Erwerbsgruppen  erstrecken. 

So  z.  B.  auf  die  Bauern  verschiedener  Kategorie,  die  Hausindustriellen,  die 
Handwerker,  die  kleinen  Kaufleute  (Krämer),  auf  das  mittlere  und  höhere  Arbeits- 
personal der  materiellen  Berufe,  auf  das  untere  und  mittlere  (Subaltern-)  öffentliche 


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Frage  der  Noth  Wendigkeit  der  Regelung  der  Vertheilung. 


717 


Beainteuthuin.  Aber  nothwendig  sogar,  und  grade  für  die  Entscheidung  der  hier  vor- 
liegenden Frage:  auch  auf  die  höheren  Besitz-  und  Erwerbsschichten  der  Bevöl- 
kerung, das  höhere  Beamtenthum,  die  höheren  liberalen  Berufe,  namentlich  aber  auch 
auf  die  „Spitzen  der  modernen  Erwerbsgesellschaft“,  die  grösseren 
Gutsbesitzer  und  Landwirthe  („Rittergutsbesitzer“),  die  grösseren  Fabrikanten,  Kauf- 
leutc,  Banquiers,  Börsenleute,  Speculanten  aller  Art,  Rentiers  u.  s.  w.  Denn  auch  bei 
diesen  Classen  und  Personen  liegt  immer  die  Gefahr  vor,  einzelne  Beobachtungen 
zu  sehr  zu  verallgemeinern.  Nur  systematische  und  eingehende  Erfor- 
schung der  Thatsachcn  kann  auch  hier  zu  sichereren  Ergebnissen  und  Urtheilen 
fuhren. 

Namentlich  käme  es  auch  hier  darauf  an,  Art  und  Maass 
der  „Arbeit/4  oder  dessen,  was  euphemistisch  so  genannt  wird 
(Speculantenthätigkeit,  Ausnutzung  von  Conjuncturen,  Börsentreiben 
u.  8.  w.,  §.  167,  168),  an  sich  und  im  Verhältnis  zum  Er- 
werb, zum  Einkommen,  zur  Vermögensbildung,  besonders 
bei  den  grösseren  Privatcapitalisten , ferner  auch  die  Lebens- 
weise, die  Verbrauchsarten  und  die  Höhe  des  Verbrauchs 
(Luxus  aller  Art!)  durch  ein  umfassendes  systematisches  Verfahren 
zu  ermitteln.  Nur  so  Hesse  sich  das  Material  für  die  weitere  Auf- 
gabe (unter  b)  gewinnen  und  feststellen,  ob  und  wie  weit  einzelne 
wahrgenommene  Erscheinungen  singulär  oder  Regel,  vielleicht  selbst 
typisch  sind. 

b)  Erst  durch  die  Ziehung  von  Schlüssen  aus  der  Ver- 
gleichung der  s o ermittelten  Thatsachen  und  durch  die  Be- 
gründung eines  Urtheils  darauf  gelangt  man  zu  einer  sichereren 
Antwort  auf  die  Frage,  ob  die  Erfüllung  der  erwähnten  Forderungen 
nothwendig  sei.  Die  Ermittlung  der  Thatsachen  ist  die  noth- 
wendige,  wichtige  und  oft  schwierige  Vorarbeit,  aber  immer  doch 
nur  die  Vorarbeit  hierfür.  Diese  Schlussziehung  aus  der  Ver- 
gleichung, namentlich  der  relativen  Classenlage,  des  re- 
lativen Wachsthums  der  grossen  nationalen  Einkorn  men- 
zweige, des  relativen  Classcnantheils  am  Volkseinkommen 
ist  das  schliesslich  doch  Wichtigere. 

Beschränkungen  der  Betrachtung  auf  Eine  Classe  und  auf  deren  einzelne,  freilich 
auch  zu  vergleichende  Verhältnisse,  z.  B.  zwischen  Arbeitsart  und  Maass  einer-,  Ent- 
lohnungsmaass  andrerseits  bei  den  unteren  arbeitenden  Classen,  zwischen  ihrer  Lebens- 
haltung in  verschiedenen  Gegenden,  Orten  und  Zeiten,  iu  verschiedenen  Arbeitszweigen 
und  verschiedener  Dienststellung  (z.  B.  noch  heute  bei  Landarbeitern),  Ermittlungen  Uber 
die  absolute  Gestaltung  von  Arbeitsmaass  und  Art  und  Lebenshaltung  reichen  hier 
doch  noch  nicht  aus.  Erst  durch  Vergleichung  der  analogen  Verhältnisse  bei 
anderen  Classen,  besonders  bei  den  höheren,  besitzenden,  reicheren,  grösseres  Ein- 
kommen, öfters  leichter,  für  eine  geringere  Arbeit,  vielleicht  so  gut  wie  ohne  wirth- 
schafdiche  „Arbeit“  gewinnenden  Classen,  bei  den  Arbeitgebern,  namentlich  den 
grossen  (G rossland wirthe.  Grossindustrielle,  Gross-Bergwerkbesitzern  u.  s.  w.)  ergeben 
sich  die  erforderlichen  Schlüsse  zur  Begründung  eines  Crtheiles  darüber,  ob  die  und 
die  Behauptungen  hiusichtlich  der  bestehenden  Verhältnisse  des  Erwerbs,  des  Ver- 
brauchs allgemeiner  begründet,  ob  die  und  die  Forderungen  hinsichtlich  Aenderung 
A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlagen.  46 


718  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  2.  K.  Vertheil.probl.  2.  A.  Regelung.  §.  2 SO. 


dieser  Verhältnisse  und  eventuell  der  ihnen  zu  Grunde  liegenden  volkswirtschaftlichen 
Organisation  und  Rechtsordnung  berechtigt,  ihre  Erfüllung  selbst  noth wendig  sei. 

Es  wird  auch  hier  nie  ganz  ohne  subjective  Willkühr  im 
Urtheil  abgehen.  Aber  damit  widerlegt  man  doch  nicht  das  Ge- 
sagte. Gerade  auf  diesem  Wege  und  allein  auf  ihm  gewinnt  man 
ein  Urtheil  über  Missverhältnisse  in  der  Arbeitslast,  im 
Process  der  Vertheilung,  der  privaten  Einkommens-  und  Vermögens- 
bildung und  einigermaassen  auch  über  das  Maass  dieser  Miss- 
verhältnisse. 

Z.  B.  zwischen  der  Arbeitslast  und  dem  Entlohnungsmaass  der  unteren,  der  ver- 
schiedenen Kategorieen  der  mittleren  und  schliesslich  der  höchsten  ökonomisches 
Classen,  über  die  Unterconsumtion  der  einen,  die  Ueberconsumtion  der  anderen,  nach 
Quantum,  namentlich  nach  Art  und  Quäle  bemessen,  über  das  Unbillige,  das  Un- 
verdiente der  Lage  dort  und  hier.  Daraus  entwickeln  sich  daun  wieder  Keime  zn 
neuen  gesellschaftlichen  Glaubenssätzen  hinsichtlich  des  richtigen  Sein-sollens  in 
Bezog  auf  Arbeitsart,  Maass,  Last,  Genussart,  Maass,  Lust,  m.  e.  W.  in  Bezug  auf 
Richtung  und  Gestaltung  der  Vertheilung,  wodurch  dann  bezüglichen  Aendcrangeo 
der  Rechtsordnung  vorgearbeitet,  der  Boden  dafür  vorbereitet  wird. 

Alle  diejenigen,  welche,  sei  es  an  der  Erhaltung,  sei  es  an  der  Aenderung  der 
bestehenden  Vertheilung  zunächst  und  zumeist  interessirt  sind,  sollten  objectiv  genog 
sein,  um  die  Nothwendigkeit  solcher  alle  Classen  umfassenden  Untersuchungen  ein- 
zusehen.  Die  letzteren  würden  sich  dann  allerdings  bei  den  besitzenden  Classen 
mit  auf  die  Vermögensverhältnisse  erstrecken  müssen,  daher  namentlich  auf  die 
Art,  die  Höhe,  die  Zeitdauer  für  die  Bildung,  die  Anlage  (Grundbesitz!)  des 
Vermögens.  Besonders  bei  dem  eigentlich  modernen  Privatreichthum,  der 
Fabrikanten,  Kaufleute,  Banquiers,  Speculauten,  Börsenleute  u.  s.  w.  würde  erst  eine 
umfassende  systematische  Untersuchung  dieser  Vermögensbildung  und  der  Lebensweise 
dieser  Classen  ein  begründetes  Urtheil  über  die  Art,  das  Maass  des  Erwerbs,  über 
das  Verhältniss  desselben  zum  Erwerb  der  arbeitenden  Classen  und  andrer  Erwerbs- 
stände  (Landwirthe,  liberale  Berufe,  Beamte),  über  den  directen  oder  in  Form  von 
Forderungsrechten  (Verschuldung)  sich  vollziehenden  Uebergang  von  städtischem  und 
ländlichem  Grundeigenthum  an  diese  neue  kapitalistische  Aristokratie,  über  den  Privat- 
luxus derselben  gestatten.  AuchdievielumstritteneErwerbsweisedesJudenthums  Hesse 
sich  erst  so  richtiger,  objectiver  feststellen.  Vorurtheile  und  falsche  Verallgemeinerungen 
wären  nur  so  zu  berichtigen,  Behauptungen  und  Annahmen  nur  so  zu  bestätigen. 

Die  sorgfältigsten  Enqueten  über  die  Lage  der  arbeitenden  Classen  oder  einzelner 
Gruppen  derselben  (Land-,  Bergbau-,  industrielle,  Fabrikarbeiter)  allein  reichen  für 
die  hier  vorliegende  und  für  alle  sonstigen  Fragen,  welche  sich  auf  die  Verbesserung 
der  Lage  der  Arbeiter  beziehen,  nicht  aus.  Der  Nachweis  z.  B.,  dass  die  Löhne, 
absolut  betrachtet,  „auskömmlich“  seien,  d.  h.  dass  damit  ein  gewisser  Bedürfniss- 
stand,  den  man  eben  mit  mehr  oder  weniger  Recht  als  „hinreichend“  ansieht,  gedeckt 
werden  könne,  dass  sie  sich  gegen  früher  dem  Geldbeträge  nach  und  selbst  nach 
ihrem  effectiven  Betrage  (unter  Vergleichung  der  Preise  der  Arbeiterconsumptibilien) 
gehoben  hätten,  dass  die  arbeitende  Classe  bedeutende  Summen  erspart  habe  (Spar- 
cassenstatistik)  beweist  unmittelbar  für  sich  allein  noch  nicht  viel  für  das 
Berechtigte  oder  Unberechtigte  weiterer  Forderungen  der  arbeitenden  Classen.  Wenn 
daneben  die  Arbeitgeberclassen  oder  wenigstens  zahlreiche  Gruppen  und  einzelne 
Personen  darin  (Grossfabrikanten)  ihre  Lebenslage,  ihren  Verbrauch,  besonders  quali- 
tativ (Luxus),  ihre  Vermögensbildung  in  ganz  anderer  Weise  verbessert,  gesteigert 
haben,  so  ist  eben  unbestreitbar,  dass  sic  oder  wenigstens  Theile  von  ihnen  relativ 
viel  stärker  als  die  arbeitenden  Classen  wirtschaftlich  sich  gehoben  haben,  dass  die 
Differenz  der  Classcnlagen  eine  viel  grössere  geworden,  in.  a.  W.,  dass  diese 
Classen  der  Besitzenden,  welche  die  Production  leiten,  die  Conjuncturen  ausbeuten, 
die  Speculationsgewinne  einheimsen  u.  s.  w.,  vom  Volkseinkommen  und  Volksvermögen 
eine  steigende  Quote,  vom  steigenden  Ertrag  der  nationalen  Arbeit  bei  wachsender 
Productivität  der  letzteren  einen  immer  grösser  werdenden  Antheil  erlangen. 


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Untersuchungen  über  Noth  wendigkeit  der  Regelung  der  Vertheilung.  710 


<iie  „Vertheilung“  des  Productionsertrags  daher  für  sie  immer  günstiger,  für  die 
unteren  Classen  wenigstens  relativ  ungünstiger  werde.  Und  das  eben  ist  das 
Entscheidende,  was  auch  auf  eine  Aenderung  der  Vertheilung  und  zu  diesem  Behuf 
auf  eine  Aenderung  der  Organisation  und  der  Rechtsordnung  der  Volks wirthschaft 
hindrängt,  wenn  nicht  die  eben  augezweifelte  Nothwendigkeit  und  Verdientheit 
dieses  Maasses  der  günstigeren  Einkommengestaltung  der  höheren  Classen  bewiesen 
ist.  Allein,  solange  umfassende  systematische,  sorgfältige,  ins  Einzelne  gehende 
und  namentlich  alle  Erwerbsclassen  und  Borufsstäude  einbeziehende  Untersuchungen 
über  die  genannten  ökonomischen  Puncte  fehlen,  hat  man  keinen  festen  Boden  unter  sich. 

Eine  Statistik  über  den  Besitzwechsel  des  ländlichen  und  städtischen  Grund- 
eigenthums nach  Stand  und  Beruf,  Stellung  (auch  Religion  und  Confession,  Juden- 
thum!), nach  früherem  und  jetzigem  Besitzer,  eine  ähnliche  Statistik  der  Hypo- 
thekenverschuldung nach  Schuldner  und  Gläubiger,  desgleichen  über  die 
gewerblichen  Unternehmungen,  zur  Ergänzung  Enqueten  und  Steuerdeclarationen 
(Vermögenssteuer)  zur  ungefähren  Ermittlung  des  Besitzes  an  Inhaber-  und  sonstigen 
Werthpapieren  unter  den  einzelnen  Classen.  Alles  womöglich  zurück  für  ein  bis  zwei 
Menschenalter  (was  bei  Grundbesitz  am  Ersten  ausführbar)  — das  wären  die  For- 
derungen , welche  hier  in  Betreff  der  Ermittlung  der  privaten  Vermögensverhältnisse 
zu  stellen  wären. 

Namentlich  Rodbertus  hat  das  lange  eingeschen  und  daher  auch  bezügliche 
Forderungen  vertreten,  freilich,  ohne  sich  der  technischen  Schwierigkeiten  solcher 
statistischer  u.  s.  w.  Aufnahmen . hier  wie  in  anderen  Fällen , gcuügend  bewusst  ge- 
worden zu  sein;  der  politischen,  des  offenen  und  geheimen,  mindestens  des 
instinctiven  Widerstands  der  besitzenden  Classen,  zumal  der  Interessenten  der  moderneu 
wirtschaftlichen  Entwicklung  nicht  zu  gedenken.  Vergl.  Rud.  Meyer,  Emancipa- 
tionskampf  (1.  A.)  II,  779.  Rodbertus  hat  auch  einen  Entwurf  für  die  Anstellung 
der  ihm  vorschwebenden  Enquöten  ausgearbeitet.  Vergl.  Band  II,  „Aus  dem  litter. 
Nachlass  von  Rodbertus“,  her.geg.  von  A.  Wagner  u.  Th.  Kozak,  Berl.  1885  S.  22  1F. 
In  diesem  Werke  auch  eiu  Versuch,  an  freilich  völlig  unzulänglichem  englischen 
statistischen  Material  die  Entwicklung  der  Einkommcnbildung  zu  zeigen,  S.  4G,  76,  88, 
dazu  meine  kritischen  Bedenken  eb.  im  Vorwort  S.  VIII  ff.  Das  Problem  ist  aber 
gleichwohl  von  Rodbertus  immer  scharf  und  richtig,  wenn  auch  zu  eng  und  zu  ein- 
seitig erfasst:  ihn  beschäftigte  stets  die  „sociale  Frage“  als  „Frage  vom  An- 
theilsverh ältniss  der  arbeitenden  Classen  am  gesammten  nationalen  Productions- 
ertrage.  Er  wollte  sich  in  allen  seinen  Ideen  und  Vorschlägen  darauf  beschränken, 
dies  Antheilsverhältniss,  das  er  bei  steigender  Productivität  der  nationalen 
Arbeit  im  „freien  Verkehr“  für  relativ  zurückgehend  annahm,  mindestens 
entsprechend  dieser  Steigerung  der  Productivität  selbst  mit  steigen  zu  lassen“  — 
(aus  meinem  Vorwort  eb.  XXIV).  Vgl.  dazu  u.  A.  auch  die  Fragmente  aus  unvollen- 
deten Arbeiten  von  Rodbertus  in  dem  gen.  Buche  S.  243  ff. 

Auch  die  bisher  vorliegenden  statistischen  Daten  aus  der  Einkommen- 
besteuerung (hie  und  da  auch  aus  der  Vermögensbesteuerung,  Schweiz)  einiger 
Länder  geben  noch  keine  genügenden  Anhaltspuncte  zur  Erledigung  der  hier  er- 
örterten Frage  von  den  Classenantheilen  und  von  deren  Entwicklung.  Einmal  sind 
die  Veranlagungen  zu  unsicher  (Preussen  bis  1891),  auch  reichen  sie  meist  nicht 
weit  genug  zurück  und  haben  im  Recht  oder  wenigstens  in  der  Praxis  Veränderungen 
erfahren,  welche  die  Vergleichbarkeit  älterer  und  neuerer  Daten  stören.  Sodann  er- 
strecken sie  sich  nicht  immer  auf  die  ganze  Bevölkerung  (die  niedersten  Einkommen 
sind  öfters  frei,  also  besonders  das  Arbeits-  oder  Lohneinkommen),  oder  sie  treffen 
notorisch  die  einzelnen  Einkommenkategorieen  (grosse,  kleine,  Kapital-,  Grund-,  Ge- 
werbe-, Arbeitseinkommen)  ungleich.  Und  endlich  unterscheiden  sie  nicht  genügend 
nach  den  hier  für  unsere  Frage  wichtigen  Gesichtspuncten. 

§.281.  Fortsetzung.  In  Ermangelung  solcher  umfassender 
systematischer  Untersuchungen  über  die  relative  Classenlage 
und  über  die  Entwicklung  des  relativenClassenanthcils  der 
verschiedenen  Classen  am  nationalen  Arbeitserträge,  am  Volksein- 
kommen, auch  bei  dessen  die  steigende  Productivität  der  Arbeit 

46* 


720  4.  B.  Berölk.  u.  Volksw.sch.  2.  K.  Venheil.probl.  2.  A.  Regelung.  §.  281. 

begleitendem  absoluten  Wachsthum,  ist  man  Ihr  die  Beantwortung 
der  Frage  von  der  Nothwendigkeit  der  Erfüllung  der  oben 
aufgestellten  Forderungen  auf  Schlüsse  aus  den  deductiv  abge- 
leiteten, inductiv  bestätigten  Tendenzen  der  Entwicklung  der 
Einkommen-  (und  Vermögens-)  Vertheilung  im  „freien  Verkehr “, 
ferner  auf  die  Ergebnisse  der  systematischen  Untersuchungen  der 
Lage  der  Arbeiter  und  auf  alles  das  angewiesen,  was  der  Augen- 
schein „notorisch“  ergiebt.  Letzteren  Falles  operirt  man  hier 
freilich  mit  der  unvollkommenen  Methode  der  „täglichen  Beob- 
achtung“, deren  Mängel  oben  (§.  78)  dargelegt  wurden. 

Soweit  solche  Hilfsmittel  zu  einem  Urtheil  ausreichen,  was, 
wie  gesagt,  nur  bedingt  und  in  beschränktem  Maasse  der  Fall  ist, 
möchte  doch  kaum  zu  leugnen  sein,  dass  die  Lage  der  unteren 
arbeitenden Classen,  absolut  betrachtet,  nach  Einkommensicherung, 
Einkommenhöhe,  Lebenshaltung  im  Ganzen  genommen,  auch  wo 
absolute  Verbesserungen  erfolgt  sind  — was  vielfach  der  Fall  — 
auch  heute  noch  sehr  viel  zu  wünschen  übrig  lässt,  d.  h.  mehr,  als  nach 
der  Productivität  der  nationalen  Arbeit  und  der  absoluten  Höhe 
und  Zunahme  des  Volkseinkommens  noth wendig  erscheint.  Nicht 
minder  möchte  einzuräuraen  sein,  dass  diese  Lage  trotz  steigenden 
Volkseinkommens  und  Vermögens,  relativ  nicht  entsprechend 
sich  gehoben  hat,  namentlich  verglichen  mit  derjenigen  der  grösseren 
Unternehmer,  Arbeitgeber,  der  „oberen  Zehntausend“  der  modernen 
bürgerlichen  Gesellschaft.  Insbesondere  wenn  bei  diesen  letzteren 
Personenkreisen  die  Art  des  Erwerbs,  die  Grösse  des  Einkommens, 
die  Höhe  und  Schnelligkeit  der  Vermögensbildung,  die  Art 
und  Höhe  des  Verbrauchs  (die  Arten  des  Luxus),  das  „Arbeits- 
maass“  und  das  „Genussmaass“  oder  doch  das  Maass  der  mate- 
riellen Genussmöglichkeit  unter  einander  und  mit  den  analogen 
Verhältnissen  der  unteren  arbeitenden  und  mehr  und  mehr  auch 
der  unteren  und  selbst  mittleren  Mittelclassen  (Klein-  und  Mittel- 
bauern, Handwerker,  Kleinindustrielle,  Kleinkaufleute  oder  Krämer, 
mittlere  Beamten,  gewisse  Schichten  in  den  liberalen  Berufen) 
verglichen  werden,  — wenn  man  das  Alles  berücksichtigt,  wird 
man,  zumal  bei  der  Höhe  und  dem  Wachsthum  des  heutigen 
Volkseinkommens  und  Vermögens,  kaum  zu  einem  anderen  Schluss 
gelängen  können,  als  dem,  dass  die  „Vertheilungsfrage“,  ge- 
rade als  Frage  derC  lassen  an  th  eile  betrachtet,  nicht  befriedigend 
gelöst  ist:  d.  h.  nicht  so,  wie  es  der  erreichten  Productivität 
der  nationalen  Arbeit,  den  verbreiteten  und  sich  verbreitenden 


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Nothwendigkeit  der  Vortheilungs-Regelnng. 


721 


„Glaubenssätzen“  hinsichtlich  des  richtigen  Sein-sollens  bezüglich 
der  Lebensweise  und  wie  es  dem  wahren  Gesaramtinteresse  der  Volks- 
gemeinschaft als  einer  sittlichen  und  Culturgemeinschaft  entspricht. 

Die  Niedrigkeit  des  Einkommens  der  Masse  der  Bevölkerung  wird  durch 
unmittelbare  Beobachtung  und  ziffermässig  hinlänglich  genau  auch  durch  die  Steuer- 
statistik bewiesen.  In  Preussen  z.  B.  7Ü.1  % der  Bevölkerung  steuerfrei,  weil  darunter 
kein  Ceusit  (Familienhaupt,  Einzclsteuernder)  Uber  900  M.  Einkommen!  (s.  o.  S.  714). 
Auch  wenn  man  hierbei  berücksichtigt,  dass  unter  diesen  Leuten  und  ebenso  unter 
den  Ccnsitcn  der  unteren  Steuerstufen,  zumal  auf  dem  Lande,  manche  Unterschätzung 
des  Einkommens  statttindet,  besonders  bei  der  Veranschlagung  der  Naturaleinnahmen 
und  bei  deren  Umrechnung  in  Geld,  so  ändert  sich  dadurch  an  der  Thatsache  selbst 
nicht  viel.  Die  Statistik  der  Haushaltbudgets  von  Arbeitern  und  anderen  „kleinen 
Leuten“  zeigt,  wie  trotz  der  oft  quantitativ  kaum  genügenden,  qualitativ  sehr  niedrigen 
Befriedigung  der  nothwendigen  materiellen  Bedürfnisse  kaum  etwas  als  wirklich 
„freies“  Einkommen  (§.  174)  übrig  bleibt,  d.  h.  als  ein  solches,  welches  für  die 
Befriedigung  der  hier  in  Frage  stehenden  feineren  materiellen  und  Culturbedürfnisse 
verwendbar  wäre.  Einzeluntersuchungen  über  die  Ernährungsweise,  die  Kleidung, 
die  geringfügigen  Quasi-Luxusbedürfnisse  bestätigen  das.  Namentlich  aber  die  Woh- 
nungsverhältnisse sind  notorisch  und  nach  allen  genauen  statistischen  Aufnahmen 
meist  ausserordentlich  ungenügend,  oft.  wie  in  Grossstädten,  wahrhaft  scandalös,  auch 
in  sittlicher  Hinsicht.  Und  dies  Alles  neben  vielfacher  Unsicherheit  und  Schwankend- 
heit  der  Beschäftigung,  des  Erwerbs,  des  Einkommens,  und  neben  einem  hohen  Ar- 
beitsmaass  (langer  Arbeitstag,  Sonntagsarbeit,  wenig  freie  Zeit,  oft  starke  Arbeitslast 
bei  der  Arbeit). 

Freilich  bestehen  unter  den  Arbeitern,  zumal  den  städtischen  und  industriellen, 
viele  Abstufungen  von  Arbeitsart,  Maass,  Lohn,  danach  von  Lebensweise  (qualiti- 
cirte,  gemeine  Arbeit,  mit  zahlreichen  Stufen  zwischen  höchster  und  niederster).  Wo 
erfolgreiche,  dem  Princip  der  persönlichen  Freiheit  und  der  wirtschaftlichen , der 
Vertragsfreiheit  entsprechende  Organisation  der  Arbeiter  (Coalitionsrecht, 
Gewerkvereine)  stattgefunden  hat,  findet  sich  wohl  einige  Besserung  in  allen  Ver- 
hältnissen, wenngleich  nicht  in  dem  von  einseitigen  theoretischen  und  practischen 
Parteigängern  des  Gewerkvereinswesens  (in  Deutschland  z.  B.  von  L.  Brentano  und 
seinen  Gesinnungsgenossen  bezüglich  Englands)  behaupteten  Maasse,  nicht  mit  der 
behaupteten  Bürgschaft  der  Dauer  und  der  durchgreifenden  Wirkung  (so  gegenüber 
rückgehenden  Conjuncturen,  Krisen,  technischen  Fortschritten,  im  Maschinenwesen 
u.  s.  w.,  wodurch  vorübergehend  oder  länger  und  selbst  bleibend  menschliche  Arbeits- 
kräfte entbehrlich  werden),  und  bestenfalls  wesentlich  nur  mit  der  Folge,  dass  sich 
aus  der  Masse  der  unteren  arbeitenden  Classen  ein  kleiner  Theil  als  „vierter  Stand“ 
etwas  emporhobt,  hinter  welchem  die  übrigen  Schichten  um  so  mehr  zurück  stehen 
(Fr.  Engels).  Aber  soweit  man  selbst  die  günstige  Wirkung  der  Gowerkvereinsorgani- 
sation  zugeben  mag:  die  Erlangung  des  Rechts  zu  dieser  Organisation  bildet  eventuell 
eben  vielfach  erst  eine  Errungenschaft  der  neueren  und  neuesten  Zeit,  welche  noch  nicht 
überall  erreicht  ist  und  in  einer  Hinsicht  zu  jenen  Veränderungen  der  geschichtlich 
überkommenen  Rechtsordnung  gehört,  die  hier  in  Frage  stehen. 

Diesen  im  Wesentlichen  doch  notorischen,  durch  die  neueren  Untersuchungen 
über  Arbeiterzustände  aber  auch  genauer  ermittelten  und  bestätigten  Verhältnissen 
gegenüber  nun  die  ökonomische  und  dadurch  bedingt  die  sociale  Lage  wenigstens  der 
höheren  Kreise  der  modernen  Erwerbsgesellschaft!  Die  Höhe  von  Einkommen  und 
Vermögen,  die  Art  des  Erwerbs,  die  raffinirte  Genusssucht,  die  Bildung  wahrer 
Riesenvermögen  selbst  in  einer  Generation  (Nordamerica),  oder  doch  in  1 — 2 Men- 
schenaltern! Bei  „Semiten“  und  „Ariern“  (Yankees),  aber  freilich  bei  den  Juden 
in  besonderem  Maasse. 

Gewiss  öfters  bei  persönlich  verdienten  Technikern,  Fabrikanten,  Kauf- 
leuten,  aber  doch  auch  hier  häufig,  bei  aller  Hochschätzung  der  persönlichen'  Leistung 
muss  es  betont  werden,  unter  dem  Einfluss  von  glücklicher  Speculation,  Ausbeutung 
der  Conjuncturen,  mit  Hilfe  von  Schutzzöllen  u.  dgl.  m.  und  in  einem  Missver- 
hältnis zur  Lage  der  Arbeiter,  welche,  wenn  auch  nur  als  untergeordnete  Glieder 


722  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  2.  K.  Vertheil.probl.  2.  A.  Regelung.  §.  281. 


doch  an  dem  hohen  Gewinn,  dem  grossen  Vermögen  des  Arbeitgebers  mitgewirki 
haben,  selber  aber  bei  der  „vertragsmässigen“  Regelung  der  Vertheilung  — im  Wesent- 
lichen auf  die  zeit-  und  ortsüblichen  Löhne  angewiesen  blieben. 

Cnd  neben  solchen  persönlich  verdienten  Leitern  der  Betriebe  doch  nun 
auch  die  Schaar  der  blossen  Speculanten,  Geldgeschäfte  vermittelnder  Banquiers. 
Börsenleute,  bei  welchen  von  solchem  „persönlichen  Verdienst“  wenig  oder  gar  nicht 
gesprochen  werden  kann  und  von  welchen  doch  oft  die  grössten  Vermögen  gebildet 
worden  sind!  (Jüdische  und  sonstige  Parasiten.)  Dass  diese  Kreise  auch  wieder  nicht 
selten  Verluste  erleiden,  einzelne  „Weltlirmen“  zu  Grunde  gehen,  beweist  um  so 
weniger,  weil  diese  Verluste  häufig  genug  nur  wieder  auf  Vermögensübertragungen 
an  andere  glücklichere  Speculanten  hinauslaufen  und  so  zur  noch  grösseren  Ver- 
mögcnsconcentration  hinführen:  wie  die  Bläschen  und  Blasen  auf  der  Oberfläche  ron 
Flüssigkeiten,  welche  sich  auflösen,  indem  sie  sich  mit  den  grösseren  verbinden. 

Diese  Vertreter  des  modernen  beweglichen  Kapitals  und  der  modernen 
Lebensweise  sind  es  dann  aber  auch,  welche,  ohne  grosse  und  gute  historische 
Familientraditionen,  wie  eine  alte  Grundaristokratie  sie  hat,  ohne  ein  sociales  Pflicht- 
gefühl gegenüber  Staat  und  Gesellschaft,  dem  persönlichen  Genuss,  dem  ostentativen, 
dadurch  aufreizenden  Prunk  nur  um  so  mehr  huldigen.  Von  ihnen  geht  vornemlicb 
der  üble  Einfluss  auf  andere  Gesellschaftskreise  bezüglich  der  Erwerbsweise,  Erwerbs- 
sucht, Spiclsucht,  Genusssucht,  ganzen  Lebensweise  und  Anschauung  aus,  wodurch 
die  geistig-sittliche  Atmosphäre  gebildet  wird,  welche  für  das  wirtschaftliche  Leben, 
für  die  Motivation  im  wirtschaftlichen  Handeln  so  entscheidend  ist  (s.  Buch  1,  Kap.  1 
Abschn.  2 u.  3).  Darin  mehr  noch  als  in  der  durch  den  erfolgreichen  Erwerb 
dieser  Kreise  bewirkten  ungleichmässigen  Einkommens-  und  Vermögensvertheilang, 
liegt  es  begründet,  dass  das  Gesamintinteresse  der  Volksgemeinschaft  durch 
die  Erwerbsverhältnisse  der  oberen  Kreise  unserer  Volkswirtschaften  ernstlich  ge- 
fährdet erscheint. 

Selbst  Volkswirtschaften,  wie  die  prcussisch-deutsche,  wo  alle  solche 
Entwicklungen  doch  erst  jüngeren  Datums  und  immer  noch  meist  geringerer  Inten- 
sivität  sind  und  in  einer  alüiistorischen , aristokratisch-bäuerlichen  Agrarverfassung, 
wenigstens  in  grossen  Landestheileu,  noch  ein  gewisses  Gegengewicht  finden,  zeigen 
bereits  deutlich  Symptome  der  hier  angedeuteten  Art.  Das  ergiebt  sich  unmittelbar 
aus  den  Beobachtungen  des  Lebens  schon  mit  hinlänglicher  Sicherheit,  wenn  auch 
mehr  in  allgemeinen  Eindrücken  als  in  ziffermässigen  Belegen,  z.  B.  wenn  man  die 
Entwicklung  einer  Stadt  wio  Berlin  seit  einem  Menschenalter  verfolgt,  namentlich  in 
den  Kreisen  der  Geldwelt,  in  Bezug  auf  deren  Lebensweise.  Es  lässt  sich  aber  auch 
cinigermaassen  mittelst  der  Daten  der  Einkommensteuerstatistik  zur  Ziffer  bringen. 
So  z.  B.  wenn  man  dio  oben  (S.  714)  angeführten  neuesten  Daten  aus  Preussen  nach 
Stadt  und  Land  unterscheidet.  Wenn  dabei  auch  mancherlei  Weiteres  einwirkt, 
althistorische  Vermögensverthcilung,  durchgreifende,  nicht  erst  moderne  Erwerbs- 
verschiedenheit auch  nach  Einkommenhöhe  in  städtischen  und  ländlichen  Berufen, 
verschiedene  Vertheilung  von  liberalen  Berufen,  Beamtenthum  auf  Stadt  und  Land, 
so  zeigt  sich  doch , zumal  in  dem  Vorwalten  der  grossen  und  grösseren  Einkommen 
in  den  Städten  (und  wie  erst  in  einzelnen  davon!)  der  Einfluss  der  modernen  wirth- 
schaftlichen  Entwicklung  wohl  unverkennbar.  So  war  nach  dem  gen.  amtlichen  Werk 
(S.  30S,  311)  die  Vertheilung  der  Einkommengruppen  folgende  (wieder  nur  für  die 
physischen  Personen): 


Plattes  Land  Städte 

— 


Gruppe 

Zahl 

auf 

Eink. 

auf 

Zahl 

auf 

Eink. 

auf 

Einkommen 

der 

100,000 

Mill. 

1000 

der 

100,000 

Mill. 

1000 

M. 

Gcnsiten 

M. 

M. 

M. 

Censiten 

M. 

M. 

M. 

5)00 — 3,000 

946,668 

5)2.287 

1 256.5) 

679.5 

1.172,301 

83,138 

1655,1 

429.9 

3,000—  6,000 

58,006 

5,664 

230.2 

124.4 

146,618 

10,398 

602.1 

156.4 

6,000—  0,500 

1 1 .222 

1,05)4 

82.0 

44.7 

44,155) 

3,132 

329.1 

85.5 

0,500—  30,500 

7,827 

763 

120.1 

65.0 

38,269 

2,714 

504.5 

154.4 

30,500—100,000 

1,652 

161 

85.5 

46.2 

7,387 

524 

366.1 

95.1 

üeber  100,000 

320 

31 

74.5 

40.2 

1,339 

95 

303.1 

78.7 

Summa 

1,025,785 

100,000 

1849.9 

1 000.0 

1,410,073 

100,000 

38500 

1000.0 

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Nothwendigkeit  der  Vertbeilungs-Regeluug. 


723 


Man  siebt,  wie  die  Zahl  der  Censiten  höheren  und  höchsten  Einkommens  in 
den  Städten  viel  mehr  diejenige  auf  dem  Lande  überwiegt,  als  in  der  ersten  Gruppe, 
wo  das  Verhältniss  noch  1.24  : 1,  auch  noch  in  der  zweiten  Gruppe,  wo  es  freilich 
schon  2.53  : 1 ist.  In  den  höheren  ist  es  aber  durchweg  4 — 5 : 1,  in  der  höchsten 
4.16  : 1,  wo  doch  grade  die  grossen  alten  grundaristokratischen  Einkommen  auf  dem 
Lande  ins  Gewicht  fallen.  Und  dabei  wird  man  immer  annehmen  dürfen,  dass  in 
den  Städten  und  vielleicht  wieder  besonders  bei  den  grossen  Einkommen  die  Ein- 
künfte aus  Zinsen,  Gewerbe-  und  Handelsbetrieben,  Spcculationen  auch  jetzt  noch 
weniger  vollständig  ermittelt,  bezw.  declarirt  sind,  die  Differenzen  also  in  Wirklichkeit 
leicht  noch  grösser  sein  dürften. 

Schlägt  man  das  Einkommen  auf  den  Kopf  der  steuerfreien  Bevölkerung  wie 
oben  (S.  715)  auf  150  oder  mit  Anderen  selbst  auf  200  M.  im  Durchschnitt  an,  das 
Gesammteinkommen  dieser  Bevölkerung  von  beinahe  21  Mill.  (20,945.227)  demnach 
auf  rund  3150  oder  selbst  auf  4200  Mill.  M.  vom  ganzen  preussischen  Volkseinkommen 
(mit  dem  10  % Zuschlag  für  das  versteuerte  Einkommen,  wie  oben  S.  715  an- 
genommen) vou  9420,  bezw.  (nach  dem  höheren  Anschlag  für  die  steuerfreie  Be- 
völkerung) von  10,470  Mill.  M.,  so  würde  dieser  letztere  Haupttheil  von  70.1  % der 
Bevölkerung  davon  nur  ein  Drittel  (33,4  %),  bezw.  bei  dom  höheren  Anschlag 
nur  zwei  Fünftel  (40.1%)  beziehen.  Die  10,698  Censiten,  entsprechend  etwa 
40 — 45,000  Köpfen  der  Bevölkerung,  der  zwei  obersten  Einkommengruppen  (über 
30,500  M.  p.  Censit)  im  ganzen  Staate  beziehen  dagegen  912  Mill.  M.  (829  Mill.  M. 
versteuertes  Einkommen  mit  10%  Zuschlag)  vom  Volkseinkommen,  d.  h.  p.  Censit 
85,200  M.  p.  Kopf  bezw.  c.  20,300 — 22,800  M.  und  während  sie  nur  c.  0.134  bis 
0.150  % der  Bevölkerung  ausmachen,  haben  sie  immerhin  bezw.  8.7 — 9.7  %,  fast 
ein  Zehntel  bis  ein  Neuntel  des  gesammten  Volkseinkommens. 

Das  sind  zwar  noch  immer  nicht  so  extreme  Gestaltungen  wie  z.  B.  in  Gross- 
britannien, soweit  nach  den  dortigen  Einkommensteuerdaten  überhaupt  eine  ähnliche 
Vergleichung,  namentlich  nach  der  classenweisen  Gruppirung  der  Gesammteinkommen 
der  einzelnen  Censiten,  gemacht  werden  kann.  Denn  die  Einrichtung  der  britischen 
Einkommensteuer  gestattet  das  nicht  genau,  so  dass  Schätzungen  und  Annäherungs- 
berechnungen hinzutreten  müssen.  Hier  wurde  indessen  schon  vor  einiger  Zeit  ver- 
anschlagt, dass  c.  8500  Censiten  je  über  100,000  M.  Einkommen  oder  c.  30,000  Kopf 
(mit  Familienangehörigen  gerechnet),  d.  h.  c.  0.1  % der  Bevölkerung  c.  15.4  %, 
über  ein  Siebentel  des  Nationaleinkommens  bezögen  (.Baxter,  Sötbeer),  was  frei- 
lich eine  viel  extremere  Entwicklung  wäre  (S.  noch  Näheres  unten  in  §.  322).  Allor- 
dings in  dem  Lande  der  reichsten  alten  Grundaristokratie  und  bei  einer  Agrarver- 
fassung, welche  das  Zusammenhalten  des  Bodens  begünstigt,  aber  anderseits  in  dem 
Lande  der  höchsten  modernen  industriell-mercantilcn  Entwicklung  und  einer  relativ 
günstigen  Lage  grosser  Theile  der  Arbeiterbevölkerung,  hinsichtlich  deren  man  öfters 
sogar  angenommen  hat,  sie  hätte  sich  in  ihrer  ökonomischen  Lage  absolut  und  relativ, 
selbst  den  anderen  Classen  gegenüber,  besonders  verbessert  (Giffen).  Man  sieht 
aber  immerhin,  wohin  die  Entwicklung  der  Vertheilung  des  Volkseinkommens  bereits 
gelangt  ist  und  in  welcher  Richtung  sie  geht. 

Dem  Allen  gegenüber  wird  doch  die  Gefahr  der  Pluto- 
kratie  auf  der  einen,  der  knappen  Lebenshaltung,  um  nicht 
zu  sagen  der  Verkümmerung,  der  Verproletarisirung  der 
grossen  Masse  der  Bevölkerung  auf  der  anderen  Seite  nicht  als 
Phantom  bezeichnet  werden  können.  Alles  in  Allem  scheint  uns 
das  Angeführte  dazu  auszurcicheD,  die  Frage  der  Nothwendig- 
keit einer  Aenderung  der  Vertheilung  in  der  angedeuteten  Richtung 
bejahen  zu  dürfen.  Freilich  nur  — an  und  für  sich,  nach 
der  Vergleichung  der  absoluten  und  relativen  ökonomischen  Lage 
der  unteren  und  höchsten  Classen,  ohne  Rücksicht  auf  die  etwaigen 
Gegen  bedenken.  Ob  deswegen  auf  eine  solche  Aenderung  wirklich 


724  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  2.  K.  Verthcil.probl.  2.  A.  Regelung.  §.  282. 

hingearbeitet  werden  soll,  ergiebt  sich  mit  aus  den  folgenden  Er- 
örterungen. 

§.  282.  — 3.  Die  Voraussetzungen  für  die  Zulässig- 
keit und  Räthlichkeit  der  Erfüllung  der  Forderungen, 
welche  dem  zweiten  Hauptgrundsatz  entsprechen  (S.  709). 
Hier  liegt  doch  der  Kern  des  Problems,  namentlich  weil  es  sich 
hier  um  das  eigentlich  Entscheidende  handelt:  einmal  um  die  Ab- 
wägung der  Interessen  der  verschiedenen  ökonomischen  Classen 
vom  Standpuncte  des  dauernden  Gesammtinteresses  der  Volks- 
gemeinschaft aus,  und  sodann  um  die  Beantwortung  der  Fragen,  ob 
und  in  wie  weit  eine  ungleiche,  selbst  eine  erheblich  ungleiche 
Vertheilung  des  Volkseinkommens  als  erfabrungsmässige  und  psycho- 
logisch wahrscheinliche  Voraussetzung  einer  genügenden 
ökonomisch -technischen  Gestaltung  der  Production,  eines 
befriedigenden  Fortschritts  darin  und  als  unbedingte  Voraus- 
setzung oder  wenigstens  stark  mitwirkende  Bedingung  der  gc- 
sammten  C ult urent Wicklung  der  Volksgemeinschaft  ange- 
sehen werden  muss. 

Ausser  diesen  Rücksichten  sind  auch  hier  wieder  jene  anderen, 
im  Vorausgehenden  bereits  berührten  und  erledigten  Puncte  bei 
der  Entscheidung  mit  zu  beachten,  worauf  hier  daher  jetzt  nicht 
von  Neuem  genauer  eingegangen  zu  werden  braucht.  Es  genügt 
sie  zu  erwähnen: 

Einmal  die  thatsächliche  Lage,  welche  die  unteren  Classen 
im  Concurrenzkampf  um  die  vertragsmässige  Regelung  der  Ver- 
theilung bisher  erreichen  konnten,  nach  Arbeitsart,  Maass,  Last, 
Sicherheit  des  Erwerbs,  Einkommenhöhe  und  Genussmaass. 

Die  Beobachtungen  hinsichtlich  dieser  Lage  lassen  ein  regulirendes  Eingreifen 
in  die  Vertheilung,  auch  bezügliche  Aenderungen  der  Rechtsordnung,  mindestens  in 
der  Richtung,  dass  die  unteren  Classen  durch  Organisationen,  Intercsscnverbändo 
sich  selbst  für  den  erfolgreichen  Concurrenzkampf  geeigneter  machen , nach  dem 
Obigen  schon  nothwendig,  daher  auch  hier  zulässig  erscheinen,  soweit  sich  nicht  aus 
dcu  unten  folgenden  Ausführungen  Beschränkungen  ergeben. 

Sodann  die  Ansprüche  in  Betreff  der  ganzen  Lebens- 
haltung, welche  diese  Classen  nach  den  Anschauungen  des  Zeit- 
alters und  nach  dem  Vergleich  mit  der  Lebenshaltung  der  höheren 
Classen,  auch  nach  dem  sich  bei  diesen  selbst  geltend  machenden 
Ansichten,  nach  den  Gewissensregungen  der  besseren  und 
denkenden  Elemente  dieser  höheren  Gesellschaftskreise,  zu  erheben 
berechtigt  erscheinen. 

Auch  hiernach  bcurtheilt,  wird  man  die  Zulässigkeit,  die  Räthlichkeit,  die  sitt- 
liche Nothwendigkeit  einer  den  unteren  Classen  eine  bessere  Lebenshaltung  crinfig- 


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Zulässigkeit  einer  Regelung  der  Verkeilung. 


725 


lichendcn  Verkeilung  und  regulativer  Eingriffe  in  die  bestehende  und  sich  anf  der 
gegebenen  Grundlage  vollziehende  zu  diesem  Zweck  zugcstchcn  dürfen,  — wiederum 
vorbehaltlich  der  Bedenken  und  Einschränkungen,  welche  sich  etwa  aus  dem  Fol- 
genden noch  ergeben. 

Endlich  ist  auch  hier  wieder  der  Bevölkerungsfrage  zu 
gedenken. 

Hier  bieten  sich,  nach  den  Ausführungen  im  1.  Kapitel  dieses  4.  Buchs,  stets 
wichtige  Bedenken,  ob  und  wie  weit  die  Verbesserung  der  ökonomischen  Lage  der 
unteren  Volksmasse  nicht  alsbald  zu  einer  stärkeren  natürlichen  und  Wanderungs- 
vermehrung führt,  woraus  dann  wenigstens  Gefahren  hinsichtlich  der  Wettmachung 
der  Verbesserung  der  Lage  hervorgehen  können,  unter  gewissen  Umständen  hervor- 
gehen müssen.  Maassvolle  Bevöikerungsvermchrung,  günstigere  Verkeilung  zwi- 
schen productiven  und  unproductiven  Altersclassen,  bieten  allein  die  Bürgschaft,  dass 
diese  Gefahren  vermieden  werden.  Kommt  es  dazu  nicht  schon  von  selbst,  so  wird 
eine  regulirende  Bevölkerungspolitik,  namentlich  auf  dem  Gebiete  der  Hei- 
rathen,  des  Eheschliessungsrechts,  und  der  Wanderungen,  des  Zugrechts  im  Inlande, 
des  Einwanderungsrechts  gegenüber  dem  Ausland  immer  eine  offene  Frage  bleiben. 

Freilich  hängt,  nach  den  früher  mitgetheilteu  statistischen  Thatsachen  und  daran 
geknüpften  Erörterungen  (§.  219  ff.),  manches  Ungesunde  in  der  Bevölkerungsbewegung, 
besonders  in  der  Heiraths-  und  Geburtsfrequenz,  grade  mit  den  Verhältnissen  unserer 
heutigen  Organisation  und  Rechtsordnung  der  Volkswirthschaft  zusammen,  so  die  zu 
rasche  natürliche  Vermehrung  bei  momentaner  ruckweiser  Verbesserung  der  Lage,  wie 
sic  sich  in  Zeiten  aufsteigender  Conjunctur  und  Speculation  einstellt. 

Genauer  muss  dagegen  hier  auf  die  anderen  erwähnten  Zu- 
sammenhänge eingegangen  werden,  namentlich  auf  denjenigen 
zwischen  Culturentwicklung  und  Einkommenvertheilung  und  anf 
die  hiermit  gerade  aus  dem  Geeichtspunct  des  Gesammtinteresses 
der  Volksgemeinschaft  in  Verbindung  stehende  Abwägung  der  ver- 
schiedenen Classcninteressen.  Hinsichtlich  des  Zusammenhangs 
zwischen  ökonomisch -technischem  Productionsfortschritt  und  Ver- 
keilung kann  ebenfalls  mehr  auf  Früheres,  besonders  auf  die 
Motivationstheorie  im  ersten  Kapitel  des  ersten  Buchs,  Bezug  ge- 
nommen werden. 

§.  283  [104].  — a)  Zusammenhang  der  Vertbeilungs- 
frage  mit  der  Höhe  des  Volkseinkommens  und  Be- 
dingtheit dieser  Höhe  und  des  Wachsthums  der  letzteren 
durch  die  auf  Grund  der  bestehenden  Rechtsordnung 
sich  ergebende  Ungleichheit  der  Vertheilung. 

Der  Grad,  in  welchem  die  ganze  Bevölkerung  anch  bei  relativ 
gleichmässiger  Vertheilung  des  Volkseinkommens  ihre  Existenz- 
bedürfnisse befriedigen  und  an  den  Culturgütern  des  Zeitalters  in 
der  gewünschten  Weise  Theil  nehmen  kann,  hängt  in  letzter  Linie 
nothwendig  von  der  Höhe  dieses  Volkseinkommens  ab. 

Ist  diese  Höhe  zu  gering  für  die  Erreichung  jenes  Umfangs 
der  Bedürfnisbefriedigung  der  Bevölkerung,  so  muss  unvermeidlich 


726  4.  B.  Bovölk.  u.  Volksw.scb.  2.  K.  Vertheil.probl.  2.  A.  Regelung.  §.  283. 


eine  entsprechende  Beschränkung  der  Consumtion  der  Volksmasse 
eintreten. 

So  ist  allgemein  die  Sachlage  in  niedrigeren  Stufen  der  volkswirthschaftiicbti 
Entwicklung  bei  der  hier  noch  schwachen  Ausbildung  der  Technik,  oder 
m.  a.  W.  der  geringen  menschlichen  Beherrschung  der  Naturkräfte  ftr 
die  Productionszwecke.  Auch  die  Einschränkung  des  Mehreonsums  der  reichereü 
und  höheren  Classen.  welche  gerade  hier  im  Interesse  der  Gesammtcultar  und  deren 
Entwicklung,  wie  sich  zeigen  wird  (§.  2S4),  nicht  einmal  wünschenswerth  wäre,  hätte 
hier  für  die  Verbesserung  der  Lebenslage  des  ganzen  Volks  keine  grössere  Bedeutung. 
Denn  der  absolute  Betrag  des  hierdurch  disponibel  werdenden,  von  den  besser 
Situirten  bezogenen  Theiles  des  Volkseinkommens  ist  hier  zu  unbeträchtlich.  Hier 
gilt  daher  der  oft  aufgestellte  Satz,  dass  eine  „Verstreichung“  des  Einkommens  der 
Wohlhabenden  und  Reichen  „nach  Unten  zu“  ohne  practische  Bedeutung  ist. 

Hat  das  Volkseinkommen  aber  bereits  eine  grössere  Höhe 
erreicht,  was  immer  (von  Ausbeutung  anderer  Völker  durch  Tribute 
u.  s.  w.  abgesehen)  eine  entsprechende  Entwicklung  der  Pro- 
ductionstechnik  zur  Voraussetzung  hat,  dann  ist  die  Art  der 
Vertheilung  dieses  Volkseinkommens  immer  ein  mehr  oder 
weniger  wichtiges  Moment  für  den  Umfang  der  Consumtion  im 
Volke,  daher  besonders  in  den  unteren  Classen.  Die  arith- 
metische Möglichkeit,  eine  Theil nähme  der  Massen  an  feineren 
materiellen  und  an  CulturgUtern  in  grösserem  Umfang  durch  eine 
gewisse  Ausgleichung  einer  sehr  ungleichen  Vertheilung  des  Volks- 
einkommens zu  erreichen,  ist  hier  zunächst,  wie  oben  gezeigt 
wurde  (§.  279  ff.),  nicht  zu  bestreiten. 

In  welchem  Maassc,  das  hängt  von  den  arithmetischen  Factoren  ab: 
Höhe  des  Volkseinkommens,  Grösse  der  Bevölkerung,  bisherige  Ungleichheit  der 
Vertheilung,  Höhe  der  quotativen  Verminderung  dieser  Ungleichheis  u.  s.  w. 
Gerade  in  der  Gegenwart,  mit  ihrer  der  raschen  Entwicklung  der  Technik  za  ver- 
dankenden ungemein  schnellen  Vermehrung  des  Volkseinkommens  und  Volksvermögens, 
ist  wenigstens  in  Ländern  mit  sehr  ungleicher  Vertheilung  durch  eine  solche 
Ausgleichung  eine  Hebung  der  Consumtion  der  Massen  arithmetisch  möglich, 
was.  wie  oben  nachgewiesen,  öfters  mit  Unrecht  bezweifelt  wurde  (§.  279). 

Ob  man  nun  aber  die  Verwirklichung  einer  solchen  Möglich- 
keit für  zulässig  erklären  darf,  hängt  von  Erwägungen  darüber 
ab,  ob  und  wie  weit  die  bisherige  Höbe  dieses  Volkseinkommens, 
deren  weiteres  Wachsthum  uud  die  Erfüllung  der  wuchtigsten  Voraus- 
setzung dafür,  die  Erhaltung  der  erreichten  Oekonomik  uud  Technik 
im  Productionsbetrieb  und  der  weitere  Fortschritt  darin,  gerade 
von  der  rechtlichen  Zulässigkeit  und  tatsächlichen  Möglichkeit  un- 
g lei  eher  Vertheilung  und  von  dem  bisherigen  Maasse  dafür  abhängt. 

Hier  ist  nun  mit  der  psychologischen  und  erfahrungsmässigen 
Thatsachc  zu  rechnen,  dass,  entsprechend  namentlich  dem  ersten 
Leitmotiv  wirtschaftlichen  Handelns,  dem  Streben  nach  dem  wirt- 
schaftlichen Vorteil  (§.  34  ff.),  auch  gemäss  dem  Mitwirken  des 


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Ungleiche  Vertheilung  und  Productionsinteresse. 


727 


dritten  Leitmotivs  in  gewissen  Formen  (Ehrgeiz,  Eitelkeit  u.  dgl. , 
§.39  ff.),  die  Aussicht,  ein  höheres  Einkommen,  Vermögen  zu  erzielen, 
notorisch  für  den  Einzelnen  ein  ausserordentlich  mächtigerAn- 
sporn  zu  grösserer  wirtschaftlicher  Energie,  Tüchtigkeit,  Thätig- 
keit  ist.  Das  wirthschaftliche  Selbstinteresse  wirkt  hier  freilich 
zunächst  für  das  Einkommen  des  Einzelnen,  damit  aber  auch 
mehr  oder  weniger  für  das  Ganze,  für  das  Volkseinkommen. 
Soweit  letzteres  hierdurch  stärker  steigt,  als  es  bei  einer  grösseren 
Ausgleichung  der  Einzeleinkommen  geschähe  und  soweit  die  so 
erzielte  Steigerung  des  Volkseinkommens  nicht  wieder  nur  zur 
üppigeren  Befriedigung  der  materiellen  Bedürfnisse  derjenigen  Per- 
sonen, welche  das  höhere  Einkommen  erzielen,  dient,  erscheint  die 
Ungleichheit  der  Einzeleinkommen  in  der  That  wieder 
als  nothwendig  im  G e s a m m t interesse,  wenigstens  im  Princip, 
wenn  auch  nicht  ohne  Weiteres  in  dem  jeweilig  vorhandenen  oder 
unter  jenem  Ansporn  sich  entwickelnden  Maasse.  Die  Wissenschaft 
darf  daher  damit  nicht  ohne  Weiteres  die  ganze  Frage  als  zu 
Gunsten  der  bestehenden  Rechtsordnung  entschieden  voraussetzen. 
Wohl  aber  darf  sie,  namentlich  dem  Socialismus  gegenüber,  die 
Frage  aufwerfen,  ob  dieser  Sporn  in  irgend  einer  anderen  Organi- 
sation der  Volkswirtschaft,  speciell  der  Production,  bei  irgend 
einer  anderen  Rechtsordnung  genügend  wirksam  bleiben  oder 
in  seiner  günstigen  Wirkung  für  das  Volkseinkommen  genügend 
durch  andere  Motive  und  Potenzen  ersetzt  werden  könne  und  nach 
psychologischer  Wahrscheinlichkeit  werde.  Hier  liegt  die  Schwierig- 
keit des  „Productionsproblems“,  Uber  welche  sich  der 
Socialismus  zu  leicht  hinwegsetzt  und  welche  alle  anderen,  anti- 
individualistischen ökonomischen  Richtungen  auch  gern  zu  leicht 
nehmen.  Es  genügt,  auf  die  früheren  Erörterungen  über  die  Motive 
(§.  33  ff.)  zu  verweisen. 

Practisch  spricht  hier  indessen  nun  der  Stand  der  Technik 
der  Production  wesentlich  mit.  Er  kann  einerseits  andere 
Einzelwirtschaften,  namentlich  sog.  „öffentliche“  des  Staats, 
der  Gemeinde  u.  s.  w.  neben  den  vornemlich  vom  wirthschaftlichen 
Selbstinteresse  getriebenen,  d.  h.  neben  den  sog.  Privatwirt- 
schaften, ökonomisch  und  technisch  auch  in  der  Sphäre  der 
materiellen  Production  leistungs-  oder  concurrenzfähiger; 
anderseits  die  Bedeutung  jenes  Sporns  in  diesen  letzteren  Wirt- 
schaften relativ  weniger  wirksam  machen. 


728  4.  B.  Bcvölk.  u.  Volksw.scb.  2.  K.  Vertheil.probl.  2.  A.  Regelung.  283. 

Denn  auch  diese  Wirtschaften  müssen  wegen  der  Grösse  der  erforderlicher 
Kapitalien,  des  Kisicos,  der  nothwendig  ungestörten  Fortdauer  (Erbgang  im  Privat- 
geschäft!) u.  s.  w.  in  wesentlichen  Functen  ähnliche  Formen  wie  öffentliche  Wirth- 
schaften , damit  aber  auch  deren  Schwächen , aunehmen , so  bei  der  Ersetztm? 
des  gewöhnlichen  Privatgeschäfts  durch  die  Erwerbs-,  besonders  die  Acticn- 
ges ellsch a ft:  ein  volkswirtschaftlicher  Hauptpunct  der  Frage  des  Actiengesdl- 
schaftswcsens ! 

Ist  dies  der  Fall,  dann  ist  aber  die  Höhe  und  weitere 
Vermehrung  des  Volkseinkommens  und  Volksvermögens  auch 
ökonomisch-technisch  und,  tiefer  gehend,  wirthschaftspsychologiscb. 
nicht  mehr  in  dem  früheren  Maasse  an  die  Ungleich- 
heit der  Vertheiluug  gebunden. 

Dass  dies  nun  in  der  That  in  der  Gegenwart  nach  dem  er- 
reichten Stande  der  Technik  einigermaassen  gilt,  wenngleich  mit 
mehr  Einschränkungen,  als  zu  optimistische  Auffassungen  annehmen, 
wurde  oben  schon  zugegeben  (§.  278).  Das  bedeutet  aber  ins- 
besondere auch,  dass  die  Gesellschaft  der  Culturvülker  weniger 
streng  als  jemals  eine  frühere  Gesellschaft  durch  die  gewisser- 
maassen  natürliche  ökonomische  Nothwendigkeit  an  starke  Un- 
gleichheit der  Einkommen-  und  Vermögensvertheilung  als  an 
eine  unvermeidliche  Bedingung  einer  allein  wirk  samen  Organi- 
sation der  gesellschaftlichen  Arbeit  für  den  Productionsprocess  ge- 
bunden ist. 

Damit  ist  die  ö kono mische  Möglichkeit  einer  materiellen 
culturlichen  Hebung  der  Massen  unserer  Bevölkerung  auf  doppelte 
Art  constatirt:  durch  die  in  grossem  Maasse  möglich  gewordene 
a bs o lute  Steigerung  des  Volkseinkommens  und  durch  die  gleich 
falls  möglich  gewordene  Steigerung  des  Antheils  der  unteren 
Classen  an  diesem  grösseren  Einkommen.  Die  sociale  Classen- 
schichtung,  welche  immer  in  der  Hauptsache  die  Wirkung 
der  ökonomischen  Ungleichheit  ist,  kann  ebendeshalb  jetzt  noch 
keineswegs  fortfallen,  wie  der  Socialismus  wähnt,  weil  das  Pro- 
ductionsinteresse  dabei  doch  noch  immer  bedenklich  leiden  könnte 
und  ausserdem  auch  entscheidende  aridere  Rücksichten  (§.  284)  sie 
nothwendig  machen.  Wohl  aber,  was  auch  schon  ein  grosser  Ge- 
winn ist,  kann  sie  weniger  schroffe  Ungleichheiten  der  Classen- 
lage  erhalten  und  leichtere  Uebergänge  von  einer  zur  anderen 
Classe,  dem  schon  errungenen  Recht  gemäss,  zulassen,  als  jemals 
bisher  in  der  Geschichte.  Die  ältere  Classenschichtung  hat  ihre 
Mission  gehabt,  wie  einst  die  Unfreiheit,  aber  diese  Mission  wird 
immer  mehr  beendigt. 


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Ungleiche  Vertheilung  und  Productionsinteresse. 


72H 


Genial  und  durchaus  objectiv  entwickelt  das,  wie  schon  oben  bemerkt, 
aus  den  maassgebenden  causalen  Momenten  der  Technik  Fr.  Engels,  Düliring’s 
Umwälzung,  bes.  im  3.  Abschn.;  freilich  mit  Hintansetzung  der  Gesichtspuncte,  die 
auch  jetzt  aus  ökonomischen  und  culturlichen  Grtlndeu  fUr  die  Classen- 
schichtung  der  Gesellschaft  sprechen  und  in  gewissem  Maasse  wohl  immer  gelten, 
schon  wegen  der  Verschiedenheiten  der  Begabungen.  Aber  an  Tiefe  der  Auffassung 
und  Schärfe  des  Nachweises  der  dem  socialen  Classenwesen  zu  Grunde  liegenden 
ökonomisch-technischen  causalen  Factoren  überragt  hier  Fr.  Engels  seine 
Gegner  ausserordentlich.  Man  vergleiche  etwa  mit  seiner  Darstellung  diejenige  von 
H.  v.  Treitschke  in  den  gen.  Aufsätzen  über  den  Socialismus,  wo  die  Classen- 
schichtuug  Einl.  IV  so  pathetisch  verherrlicht  wird,  ohne  genügende  Rücksicht  auf 
den  Eintluss  der  sich  vollziehenden  Umgestaltung  der  Technik. 

Wo  so  nicht  mehr  nur  die  Möglichkeit  solcher  ökonomischer 
und  in  deren  Gefolge  solcher  socialer  Veränderungen,  sondern  nach 
dem  Gesagten  bedingt  auch  die  Zulässigkeit  derselben  vor- 
liegt, da  werden  sich  diese  mit  naturgesetzlicher  Kraft  verwirk- 
lichen, wenn  auch,  wie  alles  geschichtlich  Werdende  auf  diesen 
Gebieten,  erst  allmählig,  freilich  im  rasch  lebenden  Zeitalter  des 
Dampfes  wohl  schneller  als  in  ähnlichen  Fällen  ehedem.  In  solcher 
Sachlage  wird  auch  das  ethische  und  politische  Postulat 
zu  stellen  sein,  dass  die  höheren  Classen  und  der  Staat  die  lohnende 
Aufgabe  übernehmen,  durch  ihr  beförderndes  Entgegen- 
kommen und  Eingreifen  dieser  Entwicklung  Vorschub  zu  leisten. 
Dies  Postulat  mag  in  Bezug  auf  das  Vertheilungsproblem  in  Rod- 
bertas’  Worte  gefasst  werden:  „es  muss  den  arbeitenden 
Classen  ein  mit  dem  steigenden  Nationalreichthum 
mit  steigender  Lohn  gesichert  werden“,  — es  muss 
wenigstens  verhütet  werden,  dass  die  colossale  Steigerung  der  Pro- 
ductivität  der  nationalen  Arbeit  überwiegend  oder  gar  ausschliess- 
lich den  besitzenden  Classen  zu  Gute  komme. 

Aber  gleichwohl  wird  doch  auch  hier  noch  immer  der  mög- 
lichen, wahrscheinlichen  und  thatsächlichen  Rückwirkungen 
einer  zu  weit  gehenden  Verminderung  der  Gelegenheiten,  grösseres 
Einkommen  und  Vermögen  zu  erreichen,  auf  Oekonomik  und 
Technik,  namentlich  auf  deren  weiteren  Fortschritt,  zu  ge- 
denken sein.  Denn  dabei  kann  die  Gefahr  drohen,  das  erste  Leit- 
motiv wirtschaftlichen  Handelns  zu  sehr  zu  unterbinden. 

Das  übersieht  namentlich  wiederum  der  Socialismus  in  seinen  Bestrebungen  nach 
Umgestaltung  der  Organisation  und  Rechtsordnung  der  Volkswirtschaft  viel  zu  sehr. 
Selbst  in  den  bisherigen  „Verstaatlichungen“  von  Wirthschaftsbetrieben  habeu  sich  hier 
schon  Bedenken  ergeben. 

Es  nöthigt  das  dazu,  auch  in  der  Frage  der  Zulässigkeit,  die 
unteren  Classen  durch  bessere  Vertheilung  des  Productionsertrags 
zu  heben,  selbst  bei  heutigem  Stande  der  Technik,  gerade  im  Pro- 
ductionsinteresse  nicht  sowohl  kurzweg  das  Princip  aufzu- 


730  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  2.  K.  Vertheil. probl.  2.  A.  Regelung.  §.  2S4. 

stellen,  die  privatwirthsehaftliche  Organisation  mit  ihrem  Motivation^ 
System  sei  völlig  durch  die  socialistische  zu  ersetzen,  sondern 
nur  zuzugestehen , dass  von  F a 1 1 z u Fall  oder  von  Kategorie 
von  Fällen  zu  Kategorie  von  Fällen  die  Frage  zu  entscheiden  und 
heute  allerdings  öfters  als  früher  zu  bejahen  sei,  indessen  ancb 
heute  noch  keineswegs  allgemein,  vermuthlich  niemals  völlig, 
gerade  im  Gesammtinteresse  der  Volksgemeinschaft.  Aach  der 
„private  U nternehmungsgeist“  ist  eben  doch  ein  Factor, 
von  welchem  mächtige  Fortschritte  auf  dem  Productionsgebiete 
ausgehen.  Man  braucht  ihn  deswegen  nicht  absolut  zu  entfesseln 
und  „Orgien  der  Erwerbsucht“  feiern  zu  lassen.  Aber  man  kanD 
und  darf  ihn  auch  nicht  völlig  lahm  legen. 

Auch  hier  sind  es  daher  Fragen  des  Maasses,  die  nur 
von  Zeit  zu  Zeit,  von  Land  zu  Land,  von  Fällen  zu  Fällen  richtig 
entschieden  werden  können,  um  welche  es  sich  handelt:  bei  der 
Ersetzung  der  privaten  Unternehmung  durch  öffentliche,  wie  bei 
der  Einschränkung  der  ersteren,  wo  sie  im  Gesammtinteresse 
bleiben  muss. 

Auch  das  führt  hier,  wie  immer,  wieder  zu  jenem  mittleren  Standponefc 
innerhalb  der  Extreme  des  reinen  Socialiamus  und  des  blossen  individualistischen 
Concurreuzbystems,  den  wir  in  diesem  Werke  einnehmen  zu  sollen  glauben,  wenn  auch 
unter  Berufung  auf  alles  hier  Ausgeführte  mehr  als  Andere  in  Annäherung  an  den 
Socialismus  (§.  52,  53,  296,  Buch  5 und  Abtheilung  II  der  Grundlegung). 

§.  284  [100  — 103,  104a].  — b)  Abwägung  eollidirender 
ClasseninteressenundZusam menhang  zwischen  Cultur- 
ent Wicklung  und  Vertheilung  des  Volkseinkommens. 
Hier  liegt  schliesslich  der  wichtigste  Punct  für  die  Entscheidung  der 
erörterten  Fragen.  Leiden  Culturinteressen  der  Volksgemeinschaft 
unter  einer  Aenderuug  der  Einkorn  menvertheilung?  In  wie  fern 
sind  sie  mit  der  ungleichen  Vertheilung  verknüpft?  Das  erheischt 
genauere  Prüfung. 

Die  Befriedigung  der  Existenzbedürfnisse  zweiten  Grades  kommt 
oft  vornemlich  auf  die  bessere  und  angenehmere  Befriedigung 
der  feineren  materiellen  Bedürfnisse  hinaus.  Wenn  die  un- 
gleiche Vertheilung  des  Volkseinkommens,  bei  einer  gegebenen 
Grösse  des  letzteren,  hauptsächlich  nur  zur  reichlicheren  und 
üppigeren  Befriedigung  dieser  Bedürfnisse  der  besser  situirten 
Individuen,  Familien  und  Classen  führt,  so  bildet  diese  Ungleich- 
heit des  Einzeleinkommens  leicht  einen  Schaden,  selbst  einen  tiefen 
Schaden  der  Volkswirtschaft  zum  dauernden  Nachtheil  des  ganzen 
Volks. 


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Ungleiche  Vertheilang  und  Culturinteresse. 


731 


Denn  das  üppigere  Leben  der  Bemittelten  pflegt  diesen  selbst  physisch  und 
sittlich  zu  schaden,  es  ruft  den  Neid  der  unteren  Classen  besonders  leicht  hervor, 
wenigstens  sobald  diese  zu  einem  gewissen  Bewusstsein  gekommen  sind,  es  führt  zu 
einer  ungünstigen  Richtung  der  ganzen  nationalen  Güterproduction  (Luxusartikel  der 
Reichen  statt  Massengüter  für  Alle),  und  es  fördert  in  der  Hauptsache,  von  etwaigem 
Einfluss  auf  Kunstluxus  abgesehen,  kein  Culturinteresse  des  Volks.  Nur  soweit  die 
Aussicht,  selbst  an  den  Genüssen  eines  derartigen  Lebens  Theil  zu  nehmen,  die 
wirtschaftlichen  Kräfte  der  Einzelnen  auspornt,  lässt  sich  dann  die  Ungleichheit 
des  Einkommens  in  Schutz  nehmen,  aber  nicht  so  unbedingt,  wie  dies  gewöhnlich 
geschieht  (§.  283). 

Auch  für  Kunstluxus  und  insbesondere  für  die  Entwicklung  der  bildenden 
Künste  gilt,  dass  öffentliche  Mittel  besser  und  grossartiger  als  private  die 
Blüthe  reiner  Kunst  befördern.  Der  nachtheilige  Einfluss  der  „Gründerperiode“  auf 
die  deutsche  Malerei  ist  von  den  verschiedensten  Seiten  schon  zugegeben  worden. 
Vergl.  auch  Springer’s  Bericht  Uber  die  bildenden  Künste  der  Gegenwart,  im  amt- 
lichen deutschen  Bericht  über  die  Wiener  Weltausstellung,  Braunschw.  1874,  I,  107  ff., 
114,  116.  Die  „Familienbilder“  und  Porträts  von  Parvenues  der  jüngsten  Geldaristo- 
kratie beiderlei  Geschlechts  (Damenporträts  der  neueren  Zeit!),  selbst  von  „ersten 
Künstlern“,  welche  in  ihrer  Massenhaftigkeit  unsere  Ausstellungen  füllen,  werden 
auch  späteren  Zeitaltern  charactcristisch  genug  sein.  Welche  andre  Physiognomieen 
bei  den  Dürer,  Holbein,  Tizian,  Velasquez,  van  Dyck  u.  s.  w.! 

Unter  solchen  Umständen  kann  und  muss  daher  die  Gesetz- 
gebung eine  gewisse  Ausgleichung  in  derVertheilung 
des  Volkseinkommens  ins  Auge  fassen.  Selbst  wenn  dadurch 
nur  eine  beschränkte  Theilnahme  der  Massen  des  Volks  an  der 
besseren  Befriedigung  der  materiellen  Bedürfnisse  erzielt  wird,  weil 
die  in  Betracht  kommende  Gütermenge  dem  ganzen  Volksbedarf 
gegenüber  nicht  mehr  erlaubt,  so  ist  dies  ein  Gewinn  für  das  Ganze. 

Freilich  wird  auch  hier  wieder  zu  unterscheiden  sein,  namentlich  nach  der 
Verwendung  des  Reichthums  (s.  u.).  Z.  B.  ein  Land  und  eine  Zeit,  wie  die  in  den 
deutschen  Grossstädten  erlebte  Periode  von  1871 — 73,  von  1889  1F.,  mit  Prasserei, 
Tafel-  und  Kleidungsluxus  einer  Parvcnuschaar  von  Börseumänncrn  wird  zur 
Heilung  eines  regulativen  Eingriffs  in  die  Vertheiluug  viel  mehr  bedürfen,  als,  viel- 
leicht bei  gleicher  Höhe  der  hervorragenden  Einzeleinkommen,  ein  Land  und  eine 
Zeit  mit  Kunstmäcenatenthum  und  grossartiger  Freigebigkeit  des  soliden  Privatreich- 
thums für  wichtige  öffentliche  Zwecke  der  Bildung,  Wohlthätigkeit  u.  s.  w.,  wie  etwa 
in  Basel  (§.  336  ff.).  Aus  dem  social  politisch  en  Gesichtspuuct  entscheidet  also  die 
blosse  arithmetische  Höhe  der  Privateinkommen  und  -Vermögen  wieder  nicht  allein, 
sondern  auch  die  Verwendung  und  die  Erwerbsart  des  Privateigenthums 
(Conjuncturengewinne,  §.  166  ff.,  Spielgewinne  des  Gründerthums,  der  Börse)  Uber  das 
Ob  und  Wie,  das  Maass  der  Anwendung  des  Grundsatzes  der  Vertheilungsregulirung. 

Durch  die  Entwicklung  und  Befriedigung  wirklicher  Cultur- 
bedürfnisse  Seitens  der  bemittelten  Classen  und  Einzelner  wird 
dagegen  regelmässig  auch  die  Culturhöhe  des  ganzen  Volks  mehr  oder 
weniger  gesteigert.  Auch  diejenigen  Bestandteile  des  Volks,  die 
untersten  Classen,  welche  unmittelbar  an  der  Befriedigung  dieser 
Culturbedürfnisse  vielleicht  noch  gar  nicht  theilnehmen,  sind  doch 
an  der  Steigerung  der  Gesammtcultur  bereits  interessirt.  Was 
ihnen  davon  nicht  zu  Gute  kommt,  werden  ihre  Nachkommen 
wenigstens  in  gewissem  Umfange  mit  gemessen.  Auch  hier  wird 
das  Volk  in  seiner  zeitlichen  Entwicklung  als  Ganzes  zu  be- 


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732  4.  B.  Bevölk.  n.  Volksw.sch.  2.  K.  Vertheil. prob).  2.  A.  Regelung.  §.  284. 


trachten  sein.  Die  Opferung  von  Lebenden  um  der  dauernden 
Interessen  des  ganzen  Volks  Willen  erfolgt  ja  z.  B.  auch 
im  Kriege  mit  Nothwendigkeit  und  vollständig  mit  Hecht.  Nach 
einem  analogen  Gesichtspuucte  kann  auch  für  Theile  des  Volks 
eine  ungünstige  ökonomische  und  sociale  Lage  im  dauernden 
wahren  Gesamm  tinteresse  des  Volks  gerechtfertigt  werden. 

Für  die  erste  E nt  Wicklung  der  Culturbedürfnisse  erscheint 
aber  nun  nach  allgemeinster  geschichtlicher  Erfahrung  die  un- 
gleiche Vertheilung  des  Volkseinkommens  oder  die  individuelle 
Einkommens-  und  Vermögensungleichheit  als  notli- 
wendige  allgemeine  Voraus  setz  ung,  freilich  mit  den  dabei 
nicht  zu  übersehenden  Beschränkungen. 

Diese  Beschränkungen  vernachlässigte  H.  v.  Treitschke  in  seinen 'Aufsätzen  in 
den  Preuss.  Jahrb.  über  den  Socialismus,  besonders  im  ersten.  Seine  Darlegung  machte 
öfters  den  Eindruck,  als  empfinde  er  ein  Behagen  an  der  ökonomischen  Ungleich- 
heit der  Menschen,  während  doch  nur  nothgedrungen  eine  solche  Ungleichheit 
und  vollends  ein  bedeutender  Grad  derselben  zuzugeben  sein  wird.  Zu  Aristoteles’ 
principicller  Rechtfertigung  der  Sclaverei  ist  von  Treitschke ’s  Standpunct  nur  noch 
ein  Schritt  (S.  besonders  den  1.  Aufsatz  S.  82  ff.,  89,  wo  die  doch  im  steten 
Fluss  befindliche  „Gliederung  der  Gesellschaft**  als  Schranke  für  die  Theilnahme 
Aller  an  allen  Culturgütern  hingestellt  wird,  106.  Treffende  Gegenausführungen  von 
Schm  oller,  a.  a.  0. , besonders  im  4.  und  6.  Abschnitt,  z.  B.  S.  104  (Treitschke’s 
Wiederaufnahme  der  Hall  er  sehen  Staatstheorie). 

«)  Culturbedürfnisse  entstehen  und  entwickeln  sich  bei  solchen 
Einzelnen  zunächst,  welchen  die  unmittelbare  Sorge  für  die  mate- 
rielle Existenz  wenigstens  zum  Theil  abgenommen  ist.  Diese  Per- 
sonen gewinnen  so  Zeit  für  andere  Thätigkeit  und  Geistesmusse 
für  die  Entwicklung  ihres  geistigen  Lebens:  beides  Voraussetzungen, 
dass  Culturbedürfnisse  überhaupt  empfunden  werden.  Diese  Voraus- 
setzungen sind  aber  ihrerseits  an  die  andere  Voraussetzung  ge- 
bunden, dass  Personen  und  Classen  existiren,  welche  jenen  Einzelnen 
die  Sorge  für  die  materielle  Existenz  im  Wesentlichen  abnehmen. 
Die  sociale  und  ökonomische  Ungleichheit  der  Bevölkerung 
ist  insofern  die  Vorbedingung  für  die  erste  Entstehung 
jeder  höheren  Cultur.  Die  grosse  welthistorische  Mission 
der  Sclaverei  bei  den  wirklichen  Culturvölkern,  wie  besonders 
bei  den  beiden  grössten  Völkern  des  Alterthums,  liegt  in  diesem 
Zusammenhänge  zwischen  der  social  - ökonomischen  Ungleichheit 
der  Volksclassen  und  der  Entstehung  und  Entwicklung  der  Cultur. 
Vom  weltgeschichtlichen  Standpuncte  betrachtet,  ergiebt  sich  so 
die  Rechtfertigung  des  Instituts  der  Sclaverei  als  rechts- 
geschichtliche Erscheinung,  wenigstens  solange  der  Stand  der 
Productionstechnik  noch  niedrig  ist,  bei  solchen  Cultur- 


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Ungleiche  Vertheilung  und  Culturinteresse. 


733 


Völkern,  bei  denen  das  Institut  nicht  nur  ein  Mittel  ist,  die  arbeits- 
lose üppigere  Befriedigung  der  materiellen  Bedürfnisse  einer  kleinen 
Minderzahl  zu  ermöglichen,  sondern  wahrer  Culturentwicklung  bei 
der  Herrenschicht  und  im  ganzen  freien  Staatswesen  zu  Gute  kommt. 

Soweit  stimme  ich  auch  v.  Trcitschke  bei,  der  aber  nicht  genügend  unter- 
scheidet, in  wie  fern  Sclaverei  und  gedrückte  Lage  der  unteren  Classen  wirklich 
eine  Bedingung  der  ersten  Culturentwicklung  oder  aber  nur  ein  Mittel 
üppigeren  Behagens  einer  kleinen  Minderzahl  ist  (s.  a.  a.  0.  S.  91,  mit  der  sehr 
bedenklichen  Aeusserung  über  üentz,  Heine),  — und  ein  solches  Mittel  wird  immer 
mehr  dio  fortdauernde  Sclaverei.  Vergl.  auch  Roscher,  System  I,  §.  6S.  In 
den  Bemerkungen  von  Büchsenschütz  über  den  Einfluss  der  Sclaverei  auf  die 
wirtschaftlichen  Verhältnisse  Griechenlands,  a.  a.  0.  S.  206  ff.,  wird  m.  E.  die 
günstige  Seite  etwas  zu  wenig  hervorgehoben,  s.  auch  Roscher,  §.  45.  Die  wahre 
Kehrseite  der  Sclaverei  zeigt  gut  Bücher,  die  Aufstände  der  unfreien  Arbeiter 
143  IT.  vor  Christus,  Frankf.  1874.  Jene  relative  Rechtfertigung  der  Sclaverei  wird 
selbst  von  den  wissenschaftlichen  Stimmführern  des  Socialismus  anerkannt,  so  von 
Fr.  Engels  (I)ühring’s  Umwälz.) — aber  freilich  mit  den  nöthigen  Beschränkungen, 
namentlich  mittelst  Nachweises,  wie  das  Alles  vom  Stande  der  Technik  der  Pro- 
duction bedingt  ist. 

Auch  soweit  später  und  in  gewissem  Umfange  bleibend 
Culturbedürfnisse  immer  erst  bei  Einzelnen  oder  bei  einem 
kleinen  Kreise  zur  Entstehung  und  Ausbildung  kommen,  muss 
und  darf  das  Vorhandensein  einer  grösseren  unteren  Volksschicht, 
welche  vornemlich  die  materiellen  Existenzbedingungen  des  ganzen 
Volks  schafft  und  selbst  nur  geringen  Antheil  an  den  feineren  und 
höheren  Bedürfnissen  hat,  als  noth wendig  bezeichnet  werden. 
Insoweit  ist  z.  B.  der  Satz  richtig:  „ohne  Dienstboten  keine 
Cultur“  (v.  Treitschkc). 

A.  a.  0.  S.  S2,  S3:  „Die  Millionen  müssen  ackern  und  schmieden  und  hobeln, 
damit  einige  Tausende  forschen,  malen  und  regieren  können“,  wo,  wie  in  der  ganzen 
Arbeit  Treitschke’s,  der  sociale  Gegensatz  aber  m.  E.  zu  sehr  verschoben 
wird:  als  bestände  er  grade  besonders  zwischen  unteren  Handarbeitern  und  hohen 
Geistesarbeitern,  welche  letzteren  ohnedem  der  zufälligen  Vermögens-  und  Einkommens- 
verthoilung  zumeist  ihr  geistiges  Uebcrgcwicht,  weil  ihre  höhere  Bildung,  verdanken, 
während  es  sich  um  den  Gegensatz  zwischen  kapitalistischen  Unternehmern,  Renten- 
beziehern (Grund-,  Kapitalrenten),  Conjuncturen-,  Speculations-,  Spielgewinnstbeziehcrn 
einer-  und  nichtbcsitzendcn  Hand  - und  grossentheils  auch  Kopfarbeitern  anderseits 
handelt.  Ausserdem  fragt  sich  eben  stets  noch,  ob  das  Maass  der  ökon omischon 
Ungleichheit  auch  nur  annähernd  richtig  ist,  selbst  wenn  diese  Ungleichheit  bestehen 
soll.  Von  der  Beantwortung  dieser  Frage  bängt  dann  wieder  der  zu  erstrebende 
Umfang  der  Theilnahme  der  Arbeiter,  incl.  Dienstboten,  au  den  Culturgütern  ab. 
Mit  der  Rechtfertigung  Gcntz ‘sehen  Sybaritismus  ist  für  jene  Frage  doch  noch  gar 
nichts  entschieden. 

Man  kann  auch  weiter  zugeben,  dass  überhaupt  die  Ver- 
schiedenheit der  Art  und  Höhe  von  Einkommen  und  Vermögen,  als 
Grundlage  der  Classenschichtung  der  Gesellschaft,  eine  Diffe- 
renzirung  der  socialökonomischen  Lage  bewirkt,  welche 
als  solche  wieder  Mannigfaltigkeit  der  gesamraten  Lebens- 
verhältnisse,  Bedürfnisse,  Anschauungen,  Sitten,  welche  Reibungen 

A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Thoil.  Grundlagen.  47 


734  4.  B.  Bcvölk.  u.  Volksw.sch.  2.  K.  Yertheil.problem.  2.  A.  Regelung.  §.  264. 


unter  den  Classen  und  damit  in  oft  nicht  geringem  Maasse  etwas 
dem  Culturfortschritt  Förderliches  bedingt.  Die  zu  weit  gehende 
Einkommengleichheit  führt  leicht  zu  einer  Eintönigkeit  der 
Lebensverhältnisse,  welche  wahrlich  nicht  culturförderlich  ist. 

Ein  Gesichtspunct  in  der  Frage,  welcher  nicht  selten  von  den  Vertretern  der 
grösseren  oder  gar  der  vollständigen  Gleichmachung  von  Einkommen  und  Vermögen 
und  des  blossen  Arbeitseinkommens  übersehen  oder  zu  wenig  beachtet  wird.  Eine 
Gefahr  auch  in  ultradcmokratischen  Gemeinwesen,  wo  das  etwa  vorhandene  höhere 
Einkommen  und  Vermögen  zu  wenig  sich  kund  zu  gebeu  wagt,  selbst  nicht  in 
edlen  Genüssen. 

ß)  Auch  diese  und  ähnliche  Sätze  über  die  Rechtfertigung  der 
Sclaverei,  der  Classenschichtung  und  Einkommenungleichheit  führen 
aber  zum  Missbrauch  und  zur  bedenklichen  Rechtfertigung  socialer  und 
ökonomischer  Ungleichheit,  wenn  sie  nicht  sofort  die  nötbige  princi- 
pielle  und  danach  ihre  practische  Beschränkung  erfahren. 

Sic  gelten  überhaupt  und  jedenfalls  namentlich  zunächst  nur  für  primitivere 
Zeiten  mit  einem  niedrigeren  Stande  der  Productionstechnik,  vor  Allem 
so  lange  die  menschliche  Muskelkraft  fast  alleiniger  auch  kraftgebender  Factor  (Motor) 
ist;  nicht  mehr  in  gleichem  Maasse,  theilweise  gar  nicht  mehr  (Sclaverei!),  wenn 
die  Naturkräfte,  besonders  die  todten,  technisch  in  ausreichendem  Maasse  für  viele 
wichtige  Productiouszwccke  benutzt  werden  können.  Sie  gelten  daher  ferner  nur  in 
der  angegebenen  Weise  in  Zeitaltern  eines  noch  niedrigen  gesammten  Volks- 
einkommens, welches  höchstens  ausreicht,  einer  kleinen  Anzahl  Personen  eine  bessere 
materielle  Lebensweise  und  Befriedigung  von  Culturbedürfnissen  zu  ermöglichen,  für 
eine  entsprechende  Theilnahme  der  Massen  aber  viel  zu  gering  ist.  Sie  gelten  weiter 
nur,  soweit  es  sich  um  wahre  Culturbedürfnisse,  nicht  um  üppigere  Befriedigung 
der  materiellen  Bedürfnisse  handelt  und  soweit  jene  Culturbedürfnisse  sich  wirk- 
lich nur  unter  den  angenommenen  Voraussetzungen  entwickeln,  was  häufig,  aber 
nicht  immer,  besondere  nicht  stets  bei  einem  allgemein  höheren  Cultumiveau  der 
Nation,  der  Fall  ist. 

In  dieser  Hinsicht  kommt  es  daher,  wie  schon  berührt,  wesentlich  mit  auf  die 
Verwendung  an,  welche  die  reicheren  Classen  von  ihrem  höheren  Einkommen  und 
Vermögen  machen.  Verwendungen  zu  rein  persönlichen,  üppigen  Genüssen,  an  sich 
und  für  die  Geniessenden  selbst  nicht  einmal  gut,  haben  auch  weniger  Anspruch  auf 
Schonung,  wenn  es  sich  um  die  volkswirtschaftliche  Vertheilungsfrage  handelt, 
namentlich  hier  nur  soweit,  als  wieder  die  Aussicht  auf  solche  Genüsse  ein  durch  andere 
Motive  nicht  genügend  zu  ersetzender  Ansporn  zu  höherer  Productionsleistung  ist 
(§.  263).  Verwendungen  der  Vermögenderen  zu  wahren  Culturbedürfnissen  können 
auch  der  Gesamintcultur  des  Volks  nützlich  sein  und  erscheinen  dann  in  deren  Inter* 
esse  social  gerechtfertigt,  mit  ihnen  ihre  Voraussetzung,  das  höhere  Privateinkommen 
und  Privatvermögen.  Endlich  ist  auch  die  Ar t des  Erwerbes  der  höheren  Einkommen 
hier  wieder  mit  zu  beachten.  Je  geringer  die  persönliche  Arbeitsleistung  des  Be- 
ziehers ist,  je  mehr  das  Einkommen  aus  blossem  Eigenthumsrecht  (daher  bei  Ver- 
pachtung, Vcrmiethung,  Darlehen),  nicht  aus  selbst  benutzten  und  wirt- 
schaftlich in  der  Production  verwendeten  Objecten,  je  mehr  cs  aus  Speculations-, 
Conjunctur-,  Spielgewinn  herrührt,  desto  weniger  ist  wieder  aus  volkswirtschaftlichen, 
auch  aus  ethischen  Gründen  eine  besondre  Rücksichtnahme  auf  derartiges  höheres 
Einkommen  geboten. 

Unter  den  Culturbedürfnissen  finden  sich  ausserdem  manche  ron  so  indivi- 
dueller Art  und  von  so  geringer  allgemeiner  Bedeutung  für  den  Cultur- 
stand  des  ganzen  Volks,  dass  mit  ihrer,  einer  verschwindenden  Minorität  zu  Gute 
kommenden  Befriedigung,  also  mit  den  dafür  aufzuwendenden  Mitteln  aus  dem  Volks- 
einkommen, die  Beschränkung  der  Massen  des  Volks  auf  das  unbedingt  zur  Existenz 
Notwendige  zu  teuer  erkauft  erscheint.  Vielmehr  kann  hier  sehr  wohl  ein  Fall 


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Ungleiche  Vertheilung  und  Cnltarinteresse. 


735 


vorlicgen,  in  welchem,  zwar  nicht  vom  Standpuncte  des  Einzelnen,  der  mit  Recht 
immer  jedem  von  ihm  empfundenen  Culturbedurfniss  den  Vorrang  geben  mag,  wohl 
aber  vom  Standpuncte  der  Volkswirthschaft  oder  des  Volks  ans  Cultnr- 
bedurfnissc  dieser  letztgenannten  Art  hinter  die  wichtigeren  Existenzbedtlrfnissc  zweiten 
Grads,  deren  Befriedigung  in  einem  der  berechtigten  Sitte  entsprechenden  Umfange 
bei  der  Masse  der  unteren  Classeu  vorausgesetzt,  zurücktreten  müssen.  In  allen  diesen 
Puncten  hat  v.  Treitschke  a.  a.  0.  (S.  85  ff.,  89,  91,  93)  manche  wieder  um- 
gekehrt zu  weit  gehende,  zu  sehr  verallgemeinernde  Ansichten  vertreten,  welche  mehr- 
fach von  Schmoller  a.  a.  0.  gut  berichtigt  worden  sind. 

Die  Conscq uenzen  dieser  Einschränkungen  der  Rechtfertigung  der  Ein- 
kommenungleichheit sind  wichtig  genug,  wie  sich  leicht  durch  Beispiele  zeigen 
lässt.  So  werden  gewisse  rein  specialistische  Wissenschafts-,  Kunst-  und 
Ku nstluxusbedürfnisse  (u.  A.  auf  dem  Gebiete  der  Kunstindustrie)  nicht  mit  einer 
knapp  auf  den  notbwendigen  Existenzbedarf  der  unteren  Classen  reducirten  Lebens- 
weise erkauft  werden  dürfen,  mindestens  nicht  mehr  in  einem  Zeitalter  wie  dem 
unseren,  wo  persönliche  Freiheit  aller  Individuen  besteht.  Noch  weniger  aber  werden 
solche  ganz  specielle  Culturbedürfnisse  einzelner  Classen  oder  Personen  wich- 
tigeren allgemeineren  Culturbedürfnisscn  des  ganzen  Volks,  deren  Befriedigung  gleich- 
zeitig nach  dem  Standpuncte  eines  Zeitalters  in  möglichst  weiten  Kreisen  erwünscht 
ist,  vorangehen  dürfen.  Und  am  Wenigsten  dürfen  sie  etwa  mit  Staatsmitteln, 
d.  h.  mit  zwangsweise  durch  Steuern  entnommenen  Volksmitteln  befriedigt  werden, 
solange  nicht  die  richtigen  allgemeineren  Culturbedürfnisse  des  Volks  in  einem  Zeit- 
alter diejenige  Befriedigung  finden,  welche  der  jeweilige  Stand  des  Volkseinkommens 
zulässt. 

Das  Gesagte  wird  in  unserer  Zeit  in  den  an  sich  ja  berechtigten  Klagen  Uber 
das  Zurückbleiben  der  modernen  Kuustindustrie  hinter  der  antiken  und 
z.  Th.  selbst  der  mittelalterlichen  und  über  dasjenige  der  deutschen  hinter  der  fran- 
zösischen und  z.  Th.  englischen  oft  übersehen.  Kunstiudustrie  lebt  überwiegend  vom 
Privatreichthum  (Wohnungsluxus  u.  s.  w.)  und  wird  eben  deshalb  bei  einer  gleich- 
mässigeren  Vertheilung  des  Volkseinkommens  sich  schwieriger  entwickeln.  Gegenüber 
den  antiken  Sclavenstaaten , mittelalterlichem  Grund-  und  Ilandelsreiohthum  auf  der 
Basis  von  Leibeigenschaft,  Monopolen  u.  s.  w.  sind  daher  die  wirtschaftlichen 
Bedingungen  für  die  Entwicklung  der  Kunstindustrie  jetzt  allerdings  ungünstiger,  und 
in  Deutschland  ungünstiger  als  in  England  und  Frankreich,  weil  noch  bei  uns  wohl 
eine  gleichmässigere  Vertheilung  des  Nationaleinkommens  besteht.  Treitschke's 
Worte  für  die  grossen  Privatvermögeu  (im  2.  Aufs.  S.  269  ff.)  gehen  wieder  zu  weit. 
Entwicklung  der  Exportindustrieen,  die  vielfach  für  den  Luxus  arbeiten,  mit 
Hilfe  von  Lohnreductionen,  nach  Minister  Camphausen’s  einstiger  Empfeh- 
lung, ist  m.  E.  auch  nur  bedenklich. 

Diese  allgemeinen  Grundsätze  sind  freilich  im  practisehen  Leben 
nicht  immer  leicht  anzuwenden,  weil  es  auch  nach  selbstverständlich 
erforderlicher  genauer  und  unbefangener  Prüfung  des  concreten 
Falls  zweifelhaft  bleiben  kann,  in  wie  weit  ein  wirkliches  Cultur- 
bedttrfni8S  oder  nur  ein  feineres  materielles  Bedürfniss  (z.  B.  bei  dem 
Kunstluxus  der  Privathäuser  und  der  Einrichtung  der  Wohnungen), 
ein  ganz  specielles  Culturbedürfniss  kleiner  Kreise  oder  ein 
solches  vorliegt,  das  wenigstens  im  Keim  wichtigere  allgemeine 
Culturbedürfnisse  in  sich  schliesst  (z.  B.  bei  gewissen  wissenschaft- 
lichen Bedürfnissen).  Diese  in  der  Natur  der  Sache  liegende 
Schwierigkeit  muss  eben  im  einzelnen  Falle  so  gut  wie  möglich 
durch  objective  Prüfung  überwunden  werden.  Die  Richtung,  in 
welcher  die  Entscheidung  zu  erfolgen  hat,  wird  durch  obige  An- 
deutungen wohl  hinlänglich  verständlich  bezeichnet. 

47* 


736  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  2.  K.  Yerthcil.probl.  2.  A.  Regelung.  §.  265. 


U.  A.  wird  man 'danach  das  Berechtigte  ‘und  Uebertreibende  und  Falsche  in 
unserer  modernen  Arbeiterbewegung  bestimmen  können.  Auch  practische 
Fragen  der  Finanzpolitik,  der  Verwendung  von  Staats-  und  Gemeindemitteln  far 
feinere  Culturbedürfnisse  (Wissenschaft,  Kunst,  höherer  Unterricht)  lassen  sich  danach 
mit  entscheiden,  z.  B.  die  Schulgeldfrage,  Verkeilung  öffentlicher  Mittel  zwischen  den  rer- 
schicdeneu  Kategorieen  von  Schulen,  ohne  dass  damit  irgendwie  der  innige  organische. 
Zusammenhang  des  gesammten  Schulwesens  geleugnet,  die  Bedeutung  der  Gymnasien 
und  Universitäten  für  das  ganze  Volksleben  verkannt  zu  werden  braucht.  Aber 
immer  ist  auch  hier  die  Frage,  in  welchem  Verhältniss  Öffentliche  Mittel  für  die 
verschiedenen  Arten  von  Schulen  verwenden? 

B.  — §.  285  [105  — 107].  Specielle  Zielpuncte  ftir  die 
Gestaltung  der  Einkommenvertheilung.  Nach  diesen 
Gesichtspuneten  ist  das  Ziel  der  volkswirthschaftlichen 
Entwicklung  genauer  festzustellen  und  der  Weg  zur  Erreichung 
desselben  anzugeben.  Soweit  die  volkswirtschaftliche  Entwicklung 
auf  Grund  der  bestehenden  Rechtsordnung  nicht  schon  „von 
selbst“  als  Ergebniss  des  Kampfes  entgegengesetzter  Interessen  und 
der  Wirksamkeit  gesunder  Sittlichkeit  und  Volkssitte,  also  heutzutage 
namentlich  im  System  der  freien  Concurrenz  (Buch  5,  §.  307  ff), 
auf  dieses  Ziel  in  Betreff  der  Production  und  Verteilung  der 
Güter  hinstrebt  oder  auch  nur:  nicht  den  nächsten  und  zweck- 
massigsten  Weg  dazu  einschlägt,  muss  im  Princip  die  Be- 
rechtigung und  die  Verpflichtung  des  Staats  zuge- 
standen werden,  durch  seine  Intervention  die  richtige 
Correctur  eintreten  zu  lassen. 

Ob  und  wie  weit  dies  nothwendig  ist,  muss  aus  der  Untersuchung  des  concreten 
Falles  hervorgehen.  Die  Behauptung,  dass  es  niemals  nothwendig  und  immer 
schädlich  sei,  wie  die  radical-freihändlerischo  (Manchester-)  Partei 
früher  anzunehmen  die  Neigung  hatte,  und  die  entgegengesetzte  Behauptung,  dass  es 
immer  und  im  umfassendsten  Maasse  bis  ins  kleinste  Detail  hinein  nützlich  und  ge- 
boten sei,  wie  die  extrem-socialistisch on  Parteien  meinen,  sind  beide  gleich 
weit  von  der  Wahrheit  entfernt  und  falsche  apriorische,  von  der  Erfahrung  und  Psy- 
chologie absehende  Sätze.  Vorläufig  kann  aus  den  vorausgehenden  Erörterungen  viel- 
mehr schon  die  Nothwcndigkeit  verschiedener  Organisationsprincipien  der 
Vol  kswirthschaft  abgeleitet  werden,  durch  deren  richtigo  Combination  dann 
jenem  Ziele  zuzustreben  ist  (Buch  5,  §.  301  ff.). 

Die  principielle  Bedeutung  der  Aufstellung  solcher  den 
vorausgehenden  Erörterungen  entsprechenden  Zielpuncte  besteht 
wieder  darin,  dass  eben  unser  Zeitalter  solche  Ziele  mit  klarerem 
Bewusstsein,  auch  auf  Grund  der  erlangten  wissenschaftlichen  Ein- 
sicht in  die  Tendenzen  der  Einkommens-  und  Vermögensvertheilnng 
im  freien  Verkehr  (Rententheorie,  Theorie  der  Conjuncturgewinne 
u.  s.  w.)  aufstellt,  nach  den  sich  bildenden  Anschauungen  und 
„Glaubenssätzen“  (§.  265)  bezüglich  des  sittlichen  Sein-sollens 
immer  mehr  als  berechtigt  anerkennt  und  die  Erreichung  dieser 
Ziele  im  Gesammtinteresse  der  Volksgemeinschaft  wünscht. 


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Speciclle  Zielpanctc  für  d.  Einkommenvertheilung. 


737 


Pflege  des  religiösen  Sinnes,  der  sittlichen  Cultur  u.  s.  w.  Verbreitung  von 
Elementarbildung  (Volksschulwesen,  Schulpflicht);  Theilnahme  am  geistigen,  Wissen- 
schafts-. Kunstleben  der  Nation  (Volksbildungswesen,  Volksunterhaltungswesen,  Zugäng- 
lichmachung der  naturhistorischen,  der  Kunstsammlungen  auch  für  die  Masse  der 
Bevölkerung).  Gewährung  politischer  Rechte,  activer  und  passiver  Wahlrechte  zu 
Vertretungskörpern,  was  wiederum  ein  gewisses  Maass  geistiger  Bildung  voraussetzt. 

Die  Aufstellung  specieller  Zielpuncte  für  die  Vertheilung  in 
unserer  Culturperiode  lässt  sich  dann  an  folgendes  Classifications- 
schema der  Einkommenverhältnisse  der  Individuen,  bez. 
Familien  ankntlpfen.  Dasselbe  ergiebt  sich  aus  der  Betrachtung 
des  Verhältnisses,  in  welchem  der  Bedtirfnissstand  eines  Einzelnen 
und  einer  Familie  zu  deren  Einkommen  und  Auskommen  steht, 
unter  gleichzeitiger  Berücksichtigung  der  Quellen  des  Einkommens. 

Die  Terminologie  ziemlich  nach  Rau,  §.  76  ff.  Vergl.  hierzu  auch  Kap.  5 in 
Buch  3 (Kennzeichen  des  Volkswohlstands). 

1)  Günstige  Einkommenverhältnisse. 

Wo  das  Einkommen  aus  eigenem  Erwerb  (in  der  vertragsmässigen  Vertheilung) 
einen  Bedürfnissstand  mindestens  deckt,  welcher  bereits  die  Existenzbedürfnisse  zweiten 
Grads  in  dem  dem  Lande  und  der  Zeit  üblichen  Durcbschnittsumfang  und  die  Theil- 
nahme an  den  wichtigeren  allgemeineren  Culturgütern  des  Zeitalters  in  sich  schliesst, 
wo  also  Auskommen  vorhanden  ist.  Hierher  gehören  folgende  drei  aufsteigende  Stufen: 

a)  Wohlstand. 

Wo  der  Einzelne  und  die  Familie,  wenn  auch  nur  durch  Arbeitseinkommen,  ihr 
Auskommen  bei  dem  eben  bezeichneten  Mindestumfang  des  Bedürfnissstands  haben, 
auch  das  Einkommen  ohne  pcinlicho  Beschränkung  dieses  Bedürfnissstands  noch  etwas 
zur  Reservebildung  für  abnorme  Lagen  und  zur  dauernden  Vcrmögensbildung  (Nutz- 
vermögen und  Kapitalbesitz)  übrig  lässt. 

b)  Reichtbum. 

(In  diesem  Sinne  des  Worts,  vergl.  §.  126.)  Wo  das  Einkommen  über  den  ge- 
nannten Umfang  des  Bedürfnissstands  hinausgeht,  die  Existenzbedürfnisse  zweiten 
Grads  reichlicher  befriedigt  werden  können,  eine  umfassende  Theilnahme  an  allen 
wesentlichen  Culturgütern  möglich  ist,  das  Einkommen  aber  auch  vornemlich  aus 
Renten,  also  aus  Privat -Kapitalbesitz  und  Privat -Grundbesitz  — Renteneinkommen 
dabei  aus  der  eigenen  Verwendung  sowohl,  als  aus  der  Verleihung  von  Kapitalien, 
Grundstücken,  Gebäuden  verstanden,  nur  dass  die  erstere  etwa  vorwaltet.  — herrührt, 
demnach  das  Einkommen  hoch  genug  ist,  um  doch  noch  weitere  und  grössere  Vcr- 
mögensbilduug  aus  ihm  zu  gestatten  und  genügende  freie  Zeit  für  die  Pflege  geistiger 
Culturinteresscn.  für  sociale  und  politische  (unentgeltliche)  Ehrenarbeit,  für  Ausübung 
caritativcr  Thätigkeit  u.  dgl.  m.  übrig  bleibt.  Letztres  zwar  thatsächlich  bei  den  reichen 
Classen,  wenigstens  was  die  Männer  anlangt,  bei  der  eigenen  Verwendung  des  Be- 
sitzes nicht  immer  der  Fall,  aber  bei  richtiger  Zeiteintheilung  und  besonders  bei  rich- 
tiger Beschränkung  des  Erwerbstriebs  sehr  wohl  möglich. 

c)  U eher  fl  uss. 

Eine  höhere  Stufe  des  Reichthums,  auf  welcher  das  Einkommen  so  überwiegend 
Rentencinkommen  ist,  dass  ein  Beweggrund  zu  neuer  Kapitalbildung  kaum  mehr  vor- 
handen ist,  wenn  nicht  reiner  Pleonexie  gehuldigt  wird  (was  freilich  oft  genug  der 
Fall)  und  auch  die  eigene  Verwendung  des  Kapitals  und  Bodens  in  der  Unter- 
nehmung aus  Rücksicht  auf  die  Verminderung  des  Einkommens  bei  Verleihung  der 
Kapitalien  und  Verpachtung  des  Bodens  u.  s.  w.  nicht  geboten  erscheint. 

2)  Ungünstige  Einkommenverhältnisse 

Wo  das  eigens  erworbene  Einkommen  besten  Falles  zur  knappen  Befriedigung 
der  Existenzbedürfnisse  zweiten  Grads  noch  ausreicht,  aber  zur  Reserven-  und  Ver- 


738  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  2.  K.  Vertheil.probl.  2.  A.  Regelung.  §.  2S5. 

mögensbildung,  zur  Zahlung  von  Versicherungsprämien  (Arbeiterversicherung)  nicht 
mehr  genügt  und  wo  das  Gesammteinkommen  oft  schon  nicht  aus  eigenem  Erwerbe 
(Arbeit,  Reuten)  herrührt.  Hierher  gehören  folgende  drei  absteigende  Stufen : 

a)  Dürftigkeit. 

Wo  nur  knappe  Befriedigung  der  Existenzbedürfnisse,  aber  wenigstens  noch  aus 
eigens  erworbenen  Mitteln  stattfindet,  die  Theilnahme  an  Culturgütcrn  jedoch  fast 
ganz  fehlt  oder  nur  unentgeltlich  genossen  wird,  und  Reservenbildung  und  neue  Ver- 
mögensbildung unterbleiben  muss. 

b)  Armuth. 

Wo  das  Einkommen  aus  fremden  Mitteln  unentgeltlich  ergänzt  werden  muss, 
um  die  Bedürfnissbefriedigung  auch  nur  in  dem  Umfange,  wie  auf  der  Stufe  der 
Dürftigkeit,  zu  erzielen:  Almosen,  Armenunterstützung. 

c)  Elend,  oder  Mangel  und  Notb. 

Wro  in  Ermangelung  genügenden  Einkommens  und  genügender  Armenunter- 
stützung auch  die  unentbehrlichen  ExistenzbedUrfnissc  nicht  mehr  ausreichend  be- 
friedigt werden  können. 

An  dieses  Schema  anknüpfend  darf  dann  gemäss  den  im 
Vorausgehenden  begründeten  Forderungen  und  Zielen  folgende  Ge- 
staltung der  Einkommenverhältnisse  im  Einzelnen  für  unsere  Cultur- 
periode  als  erstrebenswerth  bezeichnet  werden: 

1)  Elend  und  Armuth  im  genannten  technischen  Sinne  sind 
ais  sociale  Classenzustände  unter  allen  Umständen,  einerlei 
welches  die  Grösse  des  Volkseinkommens  sei,  möglichst  aus  der 
Volkswirtschaft  zu  verbannen,  soweit  dies  durch  eine  gleich- 
mässigere  Vertheilung  dieses  Einkommens  erreichbar  ist.  Eventuell 
sind  Ergänzungen  des  frei  erworbenen  Einkommens  durch  Zu- 
wendungen directer  und  indirecter  Art  (einschliesslich  unent- 
geltliche öffentliche  Leistungen)  geboten. 

Es  bleiben  daher  nur  die  Fälle  bestehen,  wo  wirkliche  persönliche  Ver- 
schuldung der  Einzelnen  und  der  Familien  die  Ursache  des  ungünstigen  Einkommen- 
verhältnisses und  der  Mittellosigkeit  ist.  Alsdann  kann  nur  Anspruch  auf  dürftige 
Armenunterstützung  der  nicht  erwerbsfähigen  Personen,  immerhin  aber  doch  eiuiger- 
maassen  nach  dem  Maasse  der  Lebenshaltung  der  untersten  Classcn,  gewährt  werden. 
So  lange  die  Massen  nicht  einmal  die  nothwendigen  ExistenzbedUrfnissc  ersten 
Grads  befriedigen,  müssen  daher  auch  die  Cultu rbedürfnisse  der  höheren  Gassen 
beschränkt  werden.  Vgl.  im  Uebrigen  die  Ausführungen  in  §.  272 — 275. 

2)  Dürftigkeit  der  Masse  der  Bevölkerung  als  socialer 
Classenzustand  ist  womöglich  nur  soweit  als  dauernde  Lage 
zuzulassen,  als  sonst  das  Volkseinkommen  nicht  ausreicht,  Cultur- 
bedürfnisse  entstehen  und  sich  entwickeln  zu  lassen  und  als  die 
Ungleichheit  des  Einkommens,  also  die  Möglichkeit,  ein  höheres 
Einkommen  zu  erzielen,  zugleich  als  Sporn  des  Selbstinteresses 
ein  unentbehrlicher  Factor  ist,  um  das  Volkseinkommen  auf 
eine  Höhe  zu  bringen  und  darauf  zu  erhalten,  auf  welcher  Cultur- 
bedllrfnisse  entstehen.  Directe  und  indirecte  Ergänzungen  des 

“N 


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Specielle  Zielpuncte  für  d.  Einkommenvcrtheilung. 


739 


Einkommens  durch  Zuwendungen  sind  daher  bei  der  in  Dürftigkeit 
lebenden  Volksmasse  wiederum  geboten. 

Die  Sclaverei  (auch  in  ihren  abgeschwächten  Formen,  als  Leibeigenschaft 
u.  s.  w.)  ist  daher,  wie  bemerkt,  innerhalb  der  hiernach  zu  ziehenden  Grenzen  relativ 
berechtigt  als  Mittel,  die  unteren  Classen  in  Dürftigkeit  zu  erhalten.  Sie  hört  auf, 
dies  zu  sein,  und  die  Dürftigkeit  der  Massen  ist  socialökonomisch  verwerflich,  sobald 
das  Volkseinkommen  genügend  gestiegen  ist  und  die  Ungleichheit  des  Einkommens 
den  Reichen  nur  oder  vornemlich  nur  die  Mittel  zu  üppigerem  Leben  bietet. 

Insoweit  ist  in  unserer  Culturperiode  ein  regulirendes 
Eingreifen  in  denVertheilungsprocess,  durch  legislative, 
administrative  Maassregeln  der  öffentlichen  Gewalt,  berechtigt,  ja 
vielfach  nothwendig,  wenn  die  vertragsmässige  Vertheilung  nicht 
zu  socialen  Classenzuständen  führt,  welche  den  vorausgebenden 
Zielpuncten  entsprechen. 

3)  Wohlstand  auch  der  Masse  der  Bevölkerung,  daher 
eine  demgemässe  Vertheilung  des  Volkseinkommens, 
ist  das  noth wendige  Ziel,  sobald  die  erwähnten  Voraussetzungen, 
unter  denen  die  Dürftigkeit  der  Masse  durch  die  Culturinteressen 
geboten  erscheint,  fortfallen  können. 

So  in  unserer  Zeit,  wo  die  Umgestaltung  der  Technik  die  Productivität 
der  nationalen  Arbeit  ungemein  gesteigert  hat.  Dadurch,  sowie  durch  die  relative 
Entbehrlichmachung  der  pri vatwirthschaftlichen  Productionsform  sind  auch  die  Be- 
dingungen für  eine  genügende  Höhe  und  Steigerung  und  gleichmässigere  Vertheilung 
des  Volkseinkommens  günstiger  geworden. 

4)  Darüber  hinaus  kann  und  darf  aber  privater  Reichtbum 
und  einzeln  selbst  Ueberfluss  rechtlich  zulässig  sein,  dem 
Einzelnen  als  Strebeziel  für  seine  auch  der  Gesammtheit  nützliche 
stärkere  wirthschaftliche  Thätigkeit,  als  unter  Umständen  passendes 
Mittel,  das  Nationalkapital  in  der  Rechtsform  des  Privatkapitals 
zu  bilden  und  zur  Verwendung  zu  bringen,  auch  als  Mittel  für  die 
Entwicklung  höherer  freier  Bildung  und  für  die  Möglichkeit  der 
Ausübung  von  Ehrenarbeit  aller  Art  und  der  Gewährung  der  Unter- 
stützungen des  earitativeu  Systems  (§.  336  fi.). 

Spornt  die  Aussicht  auf  Reichthum  in  dieser  Weise  wirklich  die  wirtschaft- 
lichen Leistungen  an  und  wird  der  Reichthum  in  der  angedeuteten  Richtung  ver- 
wendet, so  erscheint  er,  und  damit  die  Ungleichheit  des  Privateinkommens  und  Privat- 
vermögens, auch  volkswirtschaftlich  gerechtfertigt  und  nothwendig.  Dadurch  wird 
zugleich  von  dieser  Seite  aus,  also  in  Betreff  der  Wirkung  auf  die  Consumtion  be- 
trachtet, das  Rechtsinstitut  des  Privatkapitals  und  des  privaten  Grundeigentums  volks- 
wirtschaftlich gerechtfertigt,  wie  später  aus  dem  Gesichtspunct  der  Production  und 
aus  anderen,  bei  der  Frage  mitspielenden  Rücksichten  (2.  Abth.).  Nur  wird  in  immer 
grösserem  Umfang  in  Verbindung  mit  öffentlichen  Unternehmungen  „öffentliches“ 
Kapital-  und  Grundeigenthum  neben  dem  und  teilweise  statt  des  privaten  auch  im 
angedeuteten  Interesse  der  Consumtionsrcgelung  zu  verlangen  sein.  Im  Ucbrigen 
handelt  es  sich  dann  aber  freilich  im  concreten  Falle  immer  wieder  um  die  ethische 
Beurteilung  der  Consumtion  und  der  für  diese  stattfindenden  Production  (Luxus). 


740  4 B.  Bcvölk.  u.  Volksw.sch.  2.  K.  Vertheil. probl.  2.  A.  Regelung.  §.  2S5. 


Mit  dieser  socialökonomischen  Rechtfertigung  von  Reich- 
thum und  Ueberfluss  und  damit  von  grösserer  Ungleichheit  der 
Vertheilung  auch  noch  in  unserer  Culturperiode  ist  aber  wiederum 
noch  nicht  die  Schrankenlosigkeit  des  Wachsthums  von  Ein- 
kommen und  Vermögen  in  Einer  Hand,  quantitativ  und  qualitativ 
(letzteres  namentlich,  was  die  Vermögenslage  in  Grund  und 
Boden,  weiter  auch  in  Zins-Kapital  anlangt),  als  nothwendige 
Consequenz  anerkannt.  Diese  Schrankenlosigkeit  wird  vielmehr 
nicht  durch  das  Gesammtinteresse  verlangt,  ist  auch  keine  un- 
bedingte Folgerung  aus  der  grundsätzlichen  Zulässigkeit  von  Privat- 
reichthum und  Privateigenthum  an  Productionsmitteln,  sondern  im 
Gegentheil  mit  dem  Interesse  der  Volksgemeinschaft  unvereinbar. 
Ein  Maass  und  eine  Grenze  ist  auch  hier  Erforderniss. 

Darüber  mehr  beim  „Anhäufungsrecht**  als  einer  Consequenz  des  Privat- 
eigenthumsprincips  in  der  Lehre  vom  „Inhalt“  des  Privateigenthums  (Abtheilung  II 
der  Grundlegung).  Hinsichtlich  der  Frage  beim  Grundbesitz  siehe  die  Agrarpolitik. 
Bezüglich  der  Steuerpolitik,  als  Mittels  der  Correctur,  siehe  Band  2 meiner  Finanz- 
wissenschaft. 

Im  Laufe  einer  günstigen  volkswirtschaftlichen  Entwicklung 
mit  steigendem  Volkseinkommen  und  danach  dann  auch  mit 
steigendem  Volksvermögen  und  bei  einer  diese  Steigerung  nicht 
überholenden  Volksvermehrung  wird  sonach  eine  immer  grössere 
Verbreitung  und  zugleich  eine  Erhöhung  des  Wohlstands  in 
der  Bevölkerung  und  hiermit  verbunden  eine  umfassendere 
Theilnahme  der  unteren  Classen  an  den  Mitteln  zur  besseren 
Befriedigung  der  Existenzbedürfnisse  und  an  den  Cultur- 
gütern  des  Zeitalters  nach  dem  Vorausgehenden  zu  erstreben  und 
bei  Benutzung  der  geeigneten  Mittel  auch  zu  erreichen  sein.  Da- 
neben oder  darüber  hinaus  behält  jedoch  der  private  Reichthum 
seine  Berechtigung  und  auch  seine  volkswirtschaftliche  Function. 
Das  Ziel  für  die  Volkswirtschaft  kann  daher  im  Ganzen  wohl 
kurz  genannt  werden:  Volkswohlstand. 

In  der  Praxis  handelt  es  sich  vor  Allem  um  richtige  und  genügende 
Höhe  des  Arbeitslohns  und  bei  steigendem  Nationaleinkommen  und  Volksvermögen 
um  ein  Mitsteigen  des  Rcallohns  (in  naturalen  Gütern)  mindestens  im  Ver- 
liältniss  der  Steigerung  des  Gesammtcinkommens.  Kodbcrtus  definirt  demgemäss 
auch  die  „sociale  Frago“  einfach  so:  „Wio  ist  den  arbeitenden  Classen  ein  mit  dem 
steigenden  Nationalreichthum  mitsteigender  Lohn  zu  sichern**  (§.  279)  und  glaubt, 
wie  ich,  dass  die  Erfüllung  dieser  Forderung  „wahrscheinlich  nur  durch  Maassrcgeln 
erreicht  werden  kann,  die  vom  Staate  ausgehend  ihre  Hebel  nicht  an  den 
Einzelbetrieben  oder  auch  nur  an  den  verschiedenen  Arbeiterclasscn  je  beson- 
ders, sondern  an  dem  nationalwirthschaftlichen  Zustande  im  Ganzen 
einsetzen“  (aus  den  Motiven  des  Antrags  von  Kodbcrtus.  R.  Meyer  und  Schu- 
macher betreffend  die  Anstellung  einer  Enqufto  zur  Prüfung  der  wirtschaftlichen 
Lage  der  ländlichen  Arbeiterclasscn  auf  dem  Congress  deutscher  Landwirtho  Februar 
1872,  Bericht  über  d.  Verhandl.  d.  1.  Congr.,  Berl.  1872,  S.  93,  abgedruckt  auch  im 


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Durchführung  der  aufgcstelltcn  Forderungen. 


741 


Vorbericht  zu  v.  d.  Goltz’  Bericht  über  die  Lage  der  ländlichen  Arbeiter,  S.  VII,  wo 
hinter:  „nicht“  — [an  den  Einzelbetrieben]  aber  aus  Versehen  ein  wenigstens  für 
die  Rodbertus’sche  Lehre  sinnstörendes  „nur“  eingeschoben).  Auf  diesem  Gebiete 
sind  dio  im  Kapitel  5 des  3.  Buchs  erörterten  Aufgaben,  richtige  Kennzeichen  des 
Volkswohlstands  aufzufinden,  besonders  wichtig. 

C.  — §.  286.  Durchführung  der  aufgestellten  For- 
derungen und  Mittel  und  Wege  dafür. 

Auch  diese  Frage  gehört  nach  der  früheren  Erörterung  über  die  Aufgaben  der 
Politischen  Oekonomie,  ebenso  wie  die  analoge  Frage  bezüglich  des  Rechts  auf 
Existenz,  (§.  272)  hierher.  Sie  fällt  in  das  Gebiet  der  dritten  practischcn  Aufgabe 
(§.  64).  Doch  muss  es  hier  in  der  Grundlegung  wieder  an  einigen  Andeutungen 
genügen.  Näheres  gehört  in  die  Practische  Nationalökonomie,  in  die  Finanzwissen- 
schaft und  eventuell  in  ein  umfassendes  eigenes  System  der  Socialpolitik.  — In  der 
vorigen  Auflage  fehlten  die  folgenden  Ausführungen,  abgesehen  von  wenigen  Be- 
merkungen (so  in  §.  9‘J). 

1.  Principielles.  Die  vertragsmässige  Vertheilung  des  Volks- 
einkommens (und  danach  weiter  des  Volksverraögens)  vollzieht  sich 
auf  der  Grundlage  der  dafür  geltenden  (privatrechtlichen,  privat- 
wirthschaftlichen)  Rechtsordnung  unter  dem  Einfluss  der  hier 
spielenden  Motive,  daher  nach  deren  individueller,  classenweiser, 
Zeitalter-  und  volksweiser  Differenzirung  und  Combination  (Buch  1, 
Kap.  1).  Daraus  folgt,  dass  eine  den  obigen  Zielpuncten  gemäss 
erstrebte  Veränderung  der  Vertheilung  schliesslich  vor  Allem  durch 
Veränderung  der  Motivation  auf  wirtschaftlichem  Gebiete 
herbeizuführen  ist.  Diese  Motivation  wird  nun  aber  auch  durch 
äussere  Umstände  beeinflusst.  Um  sie  selbst  entsprechend  zu 
verändern,  müssen  daher  diese  Umstände  in  der  erforderlichen 
Weise  zu  gestalten,  bzw.  zu  verändern  gesucht  werden.  Zweierlei 
Reihen  von  Umständen  lassen  sich  dann  hier  unterscheiden,  erstens 
solche,  welche  die  nach  Aussen  zu,  auf  das  wirtschaftliche  Handeln 
einwirkenden  sittlichen  Anschauungen  bezüglich  des  Sein- 
sollens  auch  auf  wirthschaftlichem  Gebiete,  in  Hinsicht  der  Ver- 
theilung überhaupt  und  der  vertragsmässigen  insbesondere,  weiter 
welche,  in  Anknüpfung  hieran,  die  Sitten  und  Gewohnheiten 
der  im  Verkehr  stehenden,  Verträge  schlicsscnden  Menschen  be- 
treffen, zweitens  solche,  welche  sich  auf  Rechtsordnung  und 
Organisation  beziehen. 

Beides  steht  hier  wieder  in  Wechselwirkung.  Namentlich  aber, 
wie  eine  bestimmte  volkswirtschaftliche  Rechtsordnung  und  Organi- 
sation wirkt,  fungirt,  hängt  wesentlich  von  der  Art  und  Macht  der 
sittlichen  Anschauungen,  der  Sitten  und  Gewohnheiten  der  wirt- 
schaftenden Menschen  ab.  Die  erste  und  höchste  Aufgabe  zu  dem 
Zwecke  einer  besseren  Richtung  und  Gestaltung  der  Vertheilung 


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742  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  2.  K.  Yertheil.probl.  2.  A.  Regelung.  §.  286. 


nach  den  obigen  Zielpuncten  ist  daher  stets,  die  Veränderung, 
Verbesserung,  Hebung  der  sittlichen  Anschauungen, 
der  Sittlichkeit  in  allen  Kreisen  und  Classen  des  Volks,  die 
Verbreitung  dem  entsprechender  Sitten  und  Gewohnheiten, 
das  Aufkommen  und  mächtige  Ein  wirken  neuer  „gesellschaft- 
licher Glaubenssätze“  (§.  265)  hinsichtlich  eines  jenen  Ziel- 
puncten entsprechenden  nothwendigen  Sein-sollens. 

Wäre  durch  sparsame  Entwicklung  auf  ethisch  - psychischem 
Gebiete  allein  hier  alles  Erforderliche  zu  erreichen,  so  wäre  das 
freilich  das  Beste.  Allein  mit  einer  solchen  Annahme  würde  der 
Standpunct  der  Betrachtung  menschlicher,  zumal  wirthschaftlicher 
Verhältnisse  doch  zu  hoch,  zu  ideal  genommen.  Alle  Erfahrung, 
alle  innere  Prüfung  des  eigenen  Ich  spricht  dafür,  dass  indirect 
(mittelst  davon  ausgehender  äusserer  Einwirkung  auf  Motive,  sitt- 
liche Anschauungen,  Sitten)  und  direct  (und  zwar  um  so  mehr,  je 
weniger  diese  indirecte  Einwirkung  erfolgreich  ist)  durch  ange- 
messene Gestaltung  der  Organisation  und  Rechtsordnung  der  Volks- 
wirtschaft die  Annäherung  an  jene  Zielpuncte  und  die  Erfüllung 
jener  Forderungen  zu  erreichen  gesucht  werden  muss. 

Indirect  müssen  dadurch  Versuchungen  vermindert,  die  Entstehung  und  Wirk- 
samkeit richtiger  sittlicher  Grundsätze  begünstigt,  das  Hervortreten  der  besseren  Mo- 
tive und  Motivecombinationeu,  das  Zurücktreten  der  bedenklicheren  gefördert  werden. 
Direct  muss  die  Rechtsordnung  und  Organisation  so  gestaltet  werden,  dass  auch  die 
einer  besseren  Vertbeilung  gegensätzlichen  Motive  wenigstens  mehr  oder  weniger 
überwunden,  die  in  der  gewünschten  Richtung  wirkenden,  aber  zu  schwachen  gestärkt 
werden  und  so  aus  der  Rechtsordnung  uud  Organisation  eine  Verkeilung  hervorgeht, 
welche  der  erstrebten  möglichst  gleicht. 

Für  alle  einzelnen  Fragen  uud  Puncte  der  Motivation  und  die  Beeinflussung 
derselben  durch  die  Rechtsordnung  genügt  es,  auf  die  Erörterungen  hierüber  im 
1.  Kapitel  des  1.  Buchs  zu  verweisen.  Ueber  die  Bedeutung  des  Moments  der  Sitt- 
lichkeit und  Sitte  auf  dem  wirthschaftlicheD  Gebiete  s.  besonders  Schmoller,  über 
Grundfragen  des  Rechts  u.  s.  w.  Abschn.  III,  wo  u.  A.  S.  36  gewiss  sehr  richtig  betont 
wird,  dass  selbst  bei  der  Preisbildung  auf  dem  Markte  die  Quantitäten  des  Angebots 
niemals  direct,  sondern  nur  durch  das  Medium  gewisser  psychologischer  Processe 
und  gewisser  Sitten  auf  die  Käufer  wirken.  Ich  habe,  so  sehr  ich  Schmoller  in  diesen 
Ausführungen  principiell  beistimme,  eben  nur  das  Bedenken,  ob  der  Standpunct  hier 
nicht  doch  ctwa9  zu  hoch,  zu  ideal  gewählt  ist.  Eben  deshalb  lege  ich  doch 
noch  mehr  Gewicht  auf  die  Durchführung  des  Priucips  der  „vertheilenden  Gerechtig- 
keit“ (eb.  Abschn.  IV)  und  dabei  dann  auch  auf  einschneidende  Reformen  des  Rechts, 
des  Eigenthumsrechts,  des  Erbrechts,  des  Stcuerrechts  durch  dio  Gesetzgebung,  sowie 
überhaupt  auf  die  Ausbildung  des  zwangsgemeinwirthschaftlichen  Systems  neben  und 
z.  Th.  statt  des  privatwirthschaftlichen,  caritativen  und  frei-gemeinwirthschaftlichen. 
Vergl.  unten  Buch  5 u.  6 u.  Abth.  2 der  Grundlegung.  „Lasset  uns  besser  werden, 
gleich  wird  es  besser  sein“,  heisst  es  freiÜch  sicher  grade  hier  wieder.  Aller  äusserer 
und  innerer  psychologischer  Erfahrung  nach  reicht  hier  für  „Menschen“  freilich  auch 
nicht  eine  kahle  Vernunft- Ethik  aus,  mindestens  nicht  für  die  grosse  Mehrzahl  der 
Menschen.  Nur  eine  vom  religiösen  Bewusstsein  und  religiösen  Glauben  ge- 
tragene Ethik  erweist  sich  hier  noch  cinigermaassen  erfolgreich  (§.  46,  S.  120).  Das 
wird  von  der  deutschen  „ethischen“  Nationalökonomie  viel  zu  wenig  beachtet,  auch 
von  der  „historischen“  nicht,  der  grade  diese  Seite  der  Frage  sonst  nahe  liegen  sollte. 


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Aenderungen  der  Rechtsahndung  und  Organisation. 


743 


Nur  Wilhelm  Roscher  macht  in  dieser  Hinsicht  aus  seinen  auf  christlichem  Boden 
stehenden  Anschauungen  niemals  ein  Hehl. 

§.  287.  — 2.  Aenderungen  der  Rechtsordnung  und 
Organisation  der  Volkswirthschaft.  Dreierlei  verschiedene 
solche  Aenderungen  kommen  hier  nun  in  Betracht,  bei  jeder  dann 
mancherlei  Einzelnes,  wovon  hier  nur  Einiges  genannt,  nicht  näher 
behandelt  werden  soll.  Die  zweite  und  die  dritte  Art  der  Aenderungen 
stehen  unter  einander  in  näherer  Beziehung,  theils  im  Wechsel- 
wirkungsverhältniss,  theils  die  zweite  Art  als  die  Voraussetzung 
•der  dritten. 

Erstens  handelt  es  sich  um  Aenderungen  innerhalb  der 
sogenannten  (im  folgenden  Buche  näher  behandelten),  im  Uebrigen 
verbleibenden  privatwirthschaftlichen  Organisation  und  ihrer 
im  Uebrigen  gleichfalls  verbleibenden  Rechtsordnung 
für  Freiheit,  Privateigenthum,  Verträge  in  der  Richtung,  dass  die 
Aenderung  unmittelbar  zu  einer  Vertheilung  des  Volkseinkommens 
mehr  nach  den  aufgestellten  Zielpuncten  und  Forderungen  führt 
oder  mittelbar  die  Erfüllung  der  letzteren  begünstigt,  erleichtert. 
Sodann  kommen  Maassregeln  der  Finanz-  und  Steuerpolitik 
und  eine  bestimmte  Wahl  von  Verwendungszwecken  und  von  Arten 
der  Aufbringung  öffentlicher  Mittel  dafür  in  Betracht,  wodurch  in 
der  Richtung  jener  Zielpuncte  gearbeitet  wird.  Und  endlich  können 
principielle  Aenderungen  der  Organisation  und  Rechts- 
ordnung der  Volkswirtschaft  ebenfalls  zu  diesem  Zweck  erfolgen, 
indem  die  privatwirthschaftliche  Organisation  und  ihre  Rechts- 
ordnung bezüglich  der  sachlichen  Productionsmittel,  des  Privateigen- 
tums daran,  der  socialistischen  Forderung  gemäss,  durch  die  ge- 
mein-, insbesondere  die  zwangsgemeinwirthschaftliche  und  deren 
Rechtsordnung  für  das  Eigentum,  durch  das  „gesellschaftliche“, 
„öffentliche“  oder  Gemeineigenthum  au  Grundstücken  und  Kapital, 
ersetzt  wird;  aber  im  Unterschied  vom  Socialismus,  nicht  all- 
gemein und  völlig,  sondern  nur  theilweise  und  beschränkt, 
nach  dem  System  des  „Staatssocialismus“  (§.  18).  Daher 
wird  durch  diese  Ersetzung  doch  immer  nur  eine  Ergänzung 
der  privatwirthschaftlichen  Organisation  und  deren  Rechtsordnung 
herbeigeführt,  bleibt  die  althistorische  Combination  von  Privat- 
und  Gemeinwirthschaft,  Privat-  und  Gemeineigentum  bestehen, 
nur  erfolgt  sie  eben  mehr  so,  dass  die  erstere  mehr  zurück-,  die 
letztere  mehr  vorgeschoben  wird  (§.  302). 

a)  Die  Aenderungen  der  ersten  Art  lassen  sich  als  social- 


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744  4.  B.  Bcvölk.  u.  Volksw.sch.  2.  K.  Vertheil.probl.  2.  A.  Regelung.  §.  287. 


politische  Regelungen  und  Beschränkungen  im  privat- 
wirt hschaftlichen  („freien“)  Verkehr  und  seiner  Rechts- 
ordnung bezeichnen.  Sie  gehen  darauf  aus,  die  Ausbeu- 
tung der  social  und  ökonomisch  schwächeren  durch  die  stärkeren 
Elemente  im  Verkehr  zu  erschweren,  eventuell  zu  verhindern;  ferner 
die  schwächeren  Elemente  selbst  für  den  Concurrenzkampf  stärker 
zu  machen;  desgleichen  der  Ausbeutung  der  Conjuncturen  und  der 
dabei  sowie  in  der  Speculation  überhaupt  vorkommenden  Erlangung 
leichter  und  grosser  Gewinne  ohne  entsprechende  Arbeit,  daher 
der  Bildung  der  grossen  Einkommen  und  Vermögen  mehr  Schranken 
zu  ziehen.  Alles  das  setzt  Regelungen,  auch  Beschränkungen 
auf  dem  Gebiete  des  Privateigenthums,  der  Verträge,  auch  der  ge- 
sammten  wirthschaftliehen  Freiheit  voraus,  ohne  dass  damit  aber 
die  leitenden  Grundprincipien  der  Rechtsordnung  und  Organisation 
ganz  aufgegeben  werden. 

Daher  handelt  es  sich  für  die  unteren  arbeitenden  Classen  hier  um  das  grosse 
und  wichtige  Gebiet  des  sog.  Arbeiterschutzes  (Fabrikgesetzgebung  u.  s.  w.); 
ferner  allgemein  um  Regelungen,  Beschränkungen  der  V ertragsfroih eit 
wenigstens  bei  solchen  Verträgen,  wo  Ausbeutungen  der  Schwächeren  besonders  leicht 
Vorkommen,  wie  beim  Darlehens-  und  Zins-,  Micth-,  auch  unter  Umständen  beim 
Pachtvertrag,  wozu  je  nachdem  weitere  Fälle  treten  können,  und  zwar  immer  in  der 
Richtung,  den  Inhalt  der  Verträge  mehr  zu  Gunsten  der  schwächeren  Elemente  zu 
gestalten,  in  der  Einsicht  und  nach  der  Erfahrung,  dass  die  schwächeren  Elemente 
dazu  nicht  mächtig,  nicht  intelligent  und  erfahren,  nicht  willensstark  genug  sind,  das 
sonst  zu  erreichen.  Maassregeln,  Reformen  im  agrarischen,  gewerblichen  Handels- 
recht u.  s.  w.  können  auch  hier  mit  in  Betracht  kommen. 

Die  Stärkung  der  Schwächeren  für  den  Concurrenzkampf  erfolgt  bezüglich  der 
Arbeiter  durch  die  Organisationen  der  vereinzelten  zu  Verbänden,  für  einen 
einzelnen  Zweck  (z.  B.  einen  specicllcn  Fall  des  Lohnkampfes),  für  dauernde  Zwecke 
zur  Verbesserung  der  Lage,  vornemlich  zur  Lohnerhöhung  oder  zur  Verhütung  von 
Lohnherabsetzungen,  zur  Regelung  der  Arbeitszeit,  der  Arbeits-,  Lohnzahlungsart,  der 
gesammten  Bedingungen  und  Verhältnisse  des  Arbeitsvertrags.  Daher,  wenn  die 
Rechtsordnung  das  bisher  verbot,  oder  nicht  genügend  gewährte,  die  Sicherung  des 
Coaliti  onsrechts,  der  Gewerkvoreinsbildung  u.  Aehnlichcs  m.  Verwandt 
sind  Organisationen  von  vereinzelten,  schwachen  Gliedern  für  andere  wirtschaftliche 
Zwecke,  bei  deren  Erreichung  es  auf  Stärkung  der  Interessenten  ankommt,  z.  B. 
Consumvereino  u.  dgl. 

Die  Stärkung  schwacher  Berufsstände,  die  Erhaltung  der  kleinen  und 
mittleren  Unternehmungen  und  Unternehmer,  die  Verhütung  oder  doch  Erschwerung 
ihrer  Aufsaugung  durch  die  stärkeren  Elemente,  durch  Grossbetrieb,  Grosskapital, 
Grossgrundbesitz,  dient  ähnlichen  Zwecken.  Sie  hat,  ebenso  wie  die  Beschränkung 
der  zu  grossen  und  zu  leichten  Gewinne  u.  s.  w.,  wieder  durch  entsprechende  Ge- 
staltung des  agrarischen,  gewerblichen,  Handels-,  Credit-,  Actien-,  Bank-,  Börsen- 
rechts u.  s.  w.  zu  geschehen. 

Alles  in  Allem:  es  ist  der  neuerdings  sogenannte  „social- 
politische“ Gesichtspunct,  welcher  bei  der  Ordnung  des  privat- 
wirthschaftlichen  Verkehrssystems  und  seines  Rechts,  des  Privat- 
wie  Verwaltungsrechts,  hier  überall  zur  Geltung  kommen  soll. 
Dieser  socialpolitische  Gesichtspunct  bedeutet  im  Wesentlichen  nichts 


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Socialpolitische  Regelungen.  Sociale  Finanzpolitik. 


745 


Anderes,  als  unter  Erhaltung  der  Grundprincipien  der  bestehenden 
Rechtsordnung  für  Freiheit  und  Eigenthum  doch  diese  Principien 
nicht  als  absolute  zu  behandeln,  sondern  darch  einschränkende 
Rechtsnormen  missliebige  Consequenzen  derselben,  wie  sie 
gerade  im  Vertheilungsprocess  hervortreten  und  von  da  aus  weiter 
wirken  können,  zu  verhüten. 

Ob  das  genügt,  ist  hier  jetzt  nicht  zu  entscheiden.  Wie  es  im  Einzelnen  aus- 
geführt werden  soll,  wie  die  eben  erwähnten  Maassregeln  und  weitere,  hier  uner- 
wähnt gebliebene  — da  cs  sich  hier  für  uns  nur  um  die  Hauptfälle  als  Beispiele 
handelt  — zu  dem  Zweck  einzurichten  sind,  gehört  auch  nicht  hierher,  sondern  nach 
der  principiellen  Seite  in  andere  Theile  der  Grundlegung,  so  besonders  in  die  zweite 
Abtheilung  derselben,  vornemlich  aber  und  namentlich  nach  den  Einzelheiten  in  die 
verschiedenen  Theile  der  Practischen  Nationalökonomie. 

§.  288.  — b)  Die  hierhergehörigen  Maassregeln  der  „socialen“ 
Finanz-  und  Steuerpolitik  bestehen  einmal  darin,  öffentliche 
Mittel  des  Staats  und  sonstiger  öffentlicher  Körper  („Zwangsgemein- 
wirthschaften“,  s.  Buch  5,  §.  340  ff)  für  solche  Zwecke  zu  verwenden, 
welche  in  der  angedeuteten  Richtung  liegen.  Alsdann  kommen  sie 
direct  und  indirect  vornemlich  den  unteren  Classen  zu  Gute, 
und  erlangen  hier,  als  „Vortheile“,  „Genüsse“,  „Bedürfnissbefrie- 
digungen“,  bzw.  Möglichkeiten  dazu  den  Charaetcr  von  „Zu- 
wendungen“, zur  Ergänzung  des  sonstigen  Einkommens  für  die 
betreffenden  Classen  und  Personen.  Sodann  bestehen  jene  Maass- 
regeln in  der  eigcnthümlichen  Methode  der  Beschaffung  der 
hierfür  und  weiter  auch  der  für  die  gesammten  öffentlichen  Ver- 
wendungen dienenden  öffentlichen  Mittel,  nemlich  erstens  in  der 
Uebertragung  vonEigenth umsobjecten  und  wir th schäd- 
lichen Unternehmungen,  welche  als  Rentenquellen,  als 
Grundlage  von  Unternehmer-, Gewcrbs-,  Conjuncturengewinnen  dienen, 
an  den  Staat  u.  s.  w.,  sowie  zweitens  in  der  Einrichtung  der 
Besteuerung  in  der  Art,  dass  die  besitzenden  und  die  Classen 
höheren  Einkommens  einer  Mehrbelastung,  insbesondere  für  die 
allgemeinen  öffentlichen  Zwecke,  eventuell  aber  auch  für  diejenigen, 
welche  in  der  angedeuteten  Weise  den  unteren  Classen  in  höherem 
oder  alleinigem  Maasse  zu  Gute  kommen,  unterliegen,  und  weiter 
in  der  Art,  dass  die  nicht  besitzenden  und  die  Classen  niedrigeren 
Einkommens  in  einer  auf  Consumregelung  und  Sparzwang  hinaus- 
kommenden Richtung  besteuert  werden. 

Verwendungen  von  ödenUidien  Mitteln  zu  den  angedeuteten  Zwecken  sind  z.  B. 
diejenigen  für  die  (schulgeldfreie,  unentgeltliche  oder  wenigstens  durch  die  Schul- 
gelder die  Kosten  nicht  deckende)  Volksschule,  auch  für  mittlere  und  höhere 
Schulen  unter  diesen  finanziellen  Voraussetzungen,  wenn  darin  die  Angehörigen  der 
unteren  Classen  Aufnahme  finden;  ferner  die  Verwendungen  für  Sauitäts-  und 


746  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  2.  K.  Vertbeil.problem.  2.  A.  Regelung  §.  2S9. 


Medicinalangelcgenheiten  unter  den  gleichen  Bedingungen;  desgl.  die  Verwen- 
dungen für  Arbeiterversicherungswesen  und  manche  ähnliche  Fälle-  Die  Be- 
schaffung von  Mitteln  in  der  angegebenen  Weise  erfolgt  durch  „Verstaatlichungen1*, 
„Vercommunalisirungen“  von  Verkehrsanstalten  (Eisenbahnen!),  Banken,  Versicherungs- 
anstalten, gewissen  Fabriken  (Beleuchtung-,  Gas-)  (s.  Fin.wiss.  II,  2.  A.  §.  65)  u.  s.  w.. 
weiter  im  althistorischen  staatlichen  und  communalen  Domänen-,  Forst-,  Bergwesen: 
sodann  durch  Regalisimngen  und  Monopolisirungen  (wo  der  Reinertrag,  z.  B.  eines 
Tabakmonopols  doppelter  Art  zu  sein  pflegt:  Gewerbsgewinn,  den  sonst  Private 
gemacht,  und  etwaiges  Plus  durch  Ausschluss  der  Concurrenz  mittelst  Ersparung  an 
Productionskosteu  und  mittelst  höherer  Preise,  worin  die  Besteuerung  in  dieser  Form 
liegt).  Die  Besteuerung  zur  Mehrbelastung  der  höheren  Classen  und  des  Besitzes  er- 
folgt durch  directe  Steuern  mit  degressivem  und  namentlich  progressivem  Steuerlast 
wie  besonders  bei  Einkommen-,  Vermögenssteuern,  durch  höhere  Besteuerung  des 
fundirten  oder  Besitzeinkommens  in  irgend  einer  Form  (Fin.wiss.  II,  2.  A.  §.  183  ff.) 
durch  reelle  Vermögenssteuern  (eb.  §.  131  fl’.),  durch  Erbschaftssteuern.  Die  Be- 
steuerung der  unteren  Classen  zu  Zwecken  der  Consumregelung  und  des  Sparzwangs 
geschieht  vomemlich  durch  gewisse  indirecte  Verbrauchssteuern,  deren  Erträge  in 
der  angedeuteten  Weise  verwendet  werden;  aber  auch  directe  Besteuerung  (Classen-, 
Einkommen-,  Familien-,  Kopfsteuern)  kann  unter  Umständen  hierfür  mit  dienen 
(Fin.wiss.  II,  2.  A.  §.  250  ff.). 

Eine  Einrichtung  des  Finanz-  und  Steuerwesens  in  dieser 
Weise,  mit  diesen  Zwecken  und  Mitteln,  kann  wiederum  passend 
mit  dem  Namen  einer  „socialen“  (socialpolitischen)  Finanz- 
und  Steuerpolitik  bezeichnet  werden.  Dieselbe  bildet  dann  ein 
Glied  eines  allgemeinen  Systems  der  Socialpolitik  oder  der  socialen 
Wirtschaftspolitik  und  möchte  als  ein  besonders  geeignetes  Mittel, 
die  Zielpuncte  der  letzteren  auf  dem  Gebiete  der  Vertheilungsfrage 
zu  erreichen,  angesehen  werden  dürfen. 

Dies  habe  ich  an  anderen  Orten  nach  allen  bezüglichen  Seiten  näher  darzulegen 
und  zu  begründen  gesucht.  S.  bes.  Fin.wiss.  B.  I,  3.  A.  §.  27  und  die  dortigen  Aus- 
führungen über  den  Privaterwerb  im  ganzen  Bande,  sowie  ebenso  wesentlich  den 
ganzen  B.  II,  2.  A..  daraus  bes.  über  die  Stcuerprincipien,  namentlich  die  Principien 
der  Gerechtigkeit  (2.  A.  S.  372 — 461).  Ferner  meine  Aufsätze  über  Finanzwissen- 
schaft und  Staatssocialismus  in  dor  Tüb.  Ztschr.  f.  Staatswiss.  1887  und  über  sociale 
Finanz-  und  Steuerpolitik  in  Brauns  Archiv  f.  soc.  Gesetzgebung,  1891.  In  allen 
diesen  Arbeiten  ist  es  das  besondere  Bestreben,  grade  die  Benutzung  des  Finanz-  und 
Steuerwesens  für  die  Aufgaben  der  Socialpolitik  zu  begründen.  Ueber  die  Benutzung 
der  indirecten  Verbrauchsbesteuerung  als  Mittels  zur  Consumregelung  und  zum  Spar- 
zwang s.  auch  oben  S.  702. 

§.  289.  — c)  Endlich  principielle  Aenderungen  der 
Organisation  und  Rechtsordnung  der  ganzen  Volkswirt- 
schaft mehr  in  der  Richtung  der  Hinüberführung  in  die  gemein- 
wirthschaftliche  Organisationsform  und  in  eine  dementsprechende 
Rechtsordnung  für  die  sachlichen  Productionsmittel,  daher  folge- 
weise für  die  Ordnung  der  Production  und  Verteilung.  Wie  be- 
merkt, steht  diese  dritte  Reihe  von  Mitteln  und  Wegen  mit  der 
eben  besprochenen  zweiten  in  näherer  Beziehung.  Uebertragungen 
wirtschaftlicher  Unternehmungen,  Productionshetriebe  an  den 
Staat  und  die  übrigen  öffentlichen  Körper  durch  Verstaatlichungen, 


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Principielle  Aenderungcn  der  Rechtsordnung. 


747 


Vercommunalisirungen,  Regalisirungen,  Monopolisirungen  u.  dgl. 
sind  auch  hier  die  in  Betracht  kommenden  Maassregeln.  Aber  diese 
alsdann  nicht  sowohl  oder  wenigstens  nicht  nur  aus  den  erwähnten 
finanzpolitischen  Gründen,  noch  aus  bloss  solchen  Gründen,  welche 
in  den  sachlichen  Bedürfnissen  im  einzelnen  Falle  liegen,  z.  B.  bei 
der  Eisenbahnverstaatlichung  in  dem  Bedürfnis  des  Verkehrswesens, 
welches,  der  Annahme  nach,  auf  diese  Weise  am  Besten  befriedigt 
wird  — der  bisher  wesentlich  für  diese  Maassregel  bei  den  Eisen- 
bahnen maassgebende  Gesichtspunct  — ; sondern  in  der  That  aus 
principiellen,  die  Organisation  und  Rechtsordnung  der  Volks- 
wirtschaft betreffenden  Gründen:  nemlich  um  die  Production  anders 
als  privatwirthschaftlich  zu  ordnen,  eben  „ gemein  wirtschaftlich“ 
(Buch  5,  §.300  ff,  340  ff)  und  sie  dadurch  regelmässiger,  planmässiger, 
unabhängig  von  der  im  privatwirthschaftlichen  Productionssystem  ob- 
waltenden Motivation  zu  gestalten,  sowie  ebenso  die  Vertheilung 
principiell  anders  zu  regeln,  nicht  nach  den  mechanischen  Gesetzen 
des  freien  Marktverkehrs  wie  im  gewöhnlichen  Lohnwesen,  sondern 
nach  jenen  Billigkeits-  und  Zweckmässigkeits  - Gesichtspuncten 
autoritativer  Regelung  (§.  264),  wo  die  Einkommengestal- 
tung für  die  Einzelnen  nach  Bedürfniss,  Leistung  und  anderen 
für  passend  gehaltenen  Momenten,1  bzw.  nach  einer  Com- 
bination  derartiger  Rücksichten  erfolgt,  daher  nach  Analogie  der 
Verhältnisse  im  öffentlichen  Dienst  (Besoldungswesen).  Hier  wird 
mithin  in  der  That,  unbeschadet  der  Fragen  der  Ausführung  im 
Einzelnen,  das  gethan,  was  der  Socialismus  will:  Uebertragung 
der  sachlichen  Productionsmittel  an  die  Gemeinschaft,  wie  dieselbe 
durch  Staat,  Gemeinde  und  ähnliche  Körper  für  den  grössten  und 
die  kleineren  Kreise  der  Bevölkerung  im  Volkswirthschaftsgebiete 
vertreten  wird,  Ausführung  der  Production  in  „öffentlichen“  Be- 
trieben, Vertheilung  des  Productionsertrags  nach  den  zur  Richt- 
schnur genommenen,  von  der  Rechtsordnung  anerkannten,  au- 
toritativ durchgeführten  Gesichtspuncten. 

Hierdurch  nähert  sich  allerdings  die  gesammte  volkswirt- 
schaftliche Organisation  mehr  der  socialistiscben,  gemeinwirthschaft- 
lichen.  Aber  sie  fallt  damit  nicht  zusammen,  weil  nur  auf  einzelnen, 
besonders  hierfür  geeigneten  und  danach  ausgewählten  Gebieten 
so  vorgegangen  werden  soll  und,  im  Unterschied  zur  Annahme 
des  Socialismus,  so  vorgegangeu  werden  kann.  Mau  beschränkt 
sich  auf  eine  „st aatss ocialistische“  Regelung  der  Production 
und  Vertheilung. 


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748  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  2.  K.  Vcrthcil.probl.  2.  A.  Regelung.  §.  290. 

Die  weitere  Begründung  für  diese  Annäherung  an  die  socialistische  Organisation 
und  zugleich  für  diese  Beschränkung  liegt  in  den  Ausführungen  dieses  ganzen  Werks, 
besonders  des  1.  Kapitels  des  1.  Buchs  (wirthschaftliche  Natur  des  Menschen),  dieses 
ganzen  vierten  und  des  folgenden  fünften  und  sechsten  Buchs,  sowie  der  Abtheil.  II 
der  Grundlegung.  Auch  im  nächsten  (3.)  Abschnitt  dieses  Kapitels  findet  sich  einiges 
Weitere  zur  Begründung  dieses  unseres  Standpuncts,  der  auch  in  der  Einleitung 
(§.  18)  angedcutct  wurde.  Aber  auch  in  der  Finauzwissenschaft  und  in  der  Prac- 
tischen  Nationalökonomie  werden  vielfach  diese  Fragen  berührt. 

IV.  — §.  290.  Schlussbemerkungen  über  die  Regelung 
der  Vertheil ung.  Die  Ausführungen  dieses  Kapitels  und  speciell 
dieses  zweiten  Abschnitts  desselben  (§.  269  ff.)  laufen  alle  auf  die 
Erfüllung  einer  Forderung  meines  grossen  und  verehrten  social- 
ökonomischen Lehrers  Rodbertus  hinaus:  der  wirthschaftliche 
Verkehr  darf  sich  nicht  selbst  überlassen  werden,  die  Volks- 
wirthschaft  muss  mehr  Staat swirt ha chaft  werden.  Letzteres 
hier  auch  gerade  für  eine  befriedigendere  Lösung  des  Vertheilungs- 
problems, dessen  Lösung  im  freien,  sich  selbst  überlassenen  Ver- 
kehr so  wenig  befriedigend  ausfällt.  Auch  hier  wird  aber  absicht- 
lich wieder  eine  Mittelstellung  zwischen  den  Extremen  des 
reinen  ökonomischen  Individualismus  und  Concurrenzsystems  und 
des  reinen  Socialismus  und  autoritären  Systems  in  Bezug  auf  die 
Lösung  des  Vcrtheilungsproblems  eingenommen:  ein  eklektisches 
Verfahren  (§.  53,  S.  137),  wie  es  m.  E.  die  Complicirtheit  des 
menschlichen  Motivationssystems  und  der  volkswirtschaftlichen 
Vorgänge  unvermeidlich  macht  und  wie  es  aller  geschichtlichen 
Erfahrung  entspricht.  Die  Aufgabe  der  Theorie,  der  social- 
ökonomischen Grundlegung  ist  es,  die  Notwendigkeit  und  Richtig- 
keit einer  solchen  Mittelstellung  und  eines  solchen  eklektischen 
Verfahrens  zu  zeigen  und  zu  begründen.  Die  Aufgabe  der  ratio 
nellen  Praxis  ist  es,  anknüpfend  an  die  gegebene  und  nur  so' 
wenig  und  so  langsam  veränderliche  menschliche  Durchschnitts- 
natur und  an  die  gesammtc  wirthschaftsgeschichtliche  Entwicklung, 
den  von  der  Theorie  aufgestellten  Zielpuncten  gemäss,  hier  den- 
jenigen für  die  Vertheilang  des  Volkseinkommens,  die  Volkswirt- 
schaft weiter  und  soweit  als  danach  nötbig  und  — möglich  ist, 
umzubilden,  daher  in  der  Richtung  dieser  Ziele  zu  operiren  und 
sich  so  ihnen  zu  nähern  zu  suchen. 

Die  hier  vertretene  Auffassung  beruht  auf  der  Anerkennung 
der  auch  durch  alle  höhere  geschichtliche  Entwicklung  erwiesenen 
Notwendigkeit  der  socialen  Classenschichtung  im  Gesammt- 
interesse  der  Volksgemeinschaft,  als  einer  Culturgemeinschaft  selbst, 
daher  auch  auf  der  Nothwendigkeit  der  wirtschaftlichen  Haupt- 


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Schlussbemcrkuugen  über  Regelung  der  Vertheüung. 


749 


grundlage  dieser  Classenschichtung,  der  ungleichen  Vertheilung 
von  Volkseinkommen  und  Vermögen  (§.  284).  Ob  dafür  durchaus 
das  Rechtsprincip  des  Privateigenthums  an  Grundstücken  und 
Kapital  geboten  ist,  soll  hier  noch  nicht  untersucht  und  entschieden 
werden,  wird  aber  später,  allerdings  mit  Beschränkungen,  bejaht 
werden  und  ward  oben  schon  als  zu  bejahen  angenommen. 

Mit  jener  Auffassung  wird  auch  eine  ökonomische  Aristo- 
kratie als  berechtigt,  ja  nothwendig  anerkannt,  selbst  heute  noch, 
bei  hochentwickelter  Technik  der  Production  und  der  davon  be- 
dingten Möglichkeit  eines  hohen  Volkseinkommens.  Aber  freilich 
muss  diese  Aristokratie  den  socialen,  den  Cultur-,  den  politischen 
Interessen  dienen,  nicht  nur  dem  Privatinteresse  ihrer  Mitglieder. 
Es  kommt  daher  bei  ihr  auf  die  Art  des  Einkommens-  und  Ver- 
mögenser werbs  und  auf  die  Art  und  Verwendung  der  ihr 
zu  Gebote  stehenden  materiellen  Mittel  an.  Die  ökonomische 
Aristokratie  wird  nur  zu  einer  dem  Gesammtinteresse  dienenden 
Cultur -Aristokratie,  wenn  sie  in  Bezug  auf  Art  von  Erwerb  und 
Verwendung  Kritik  verträgt  und  der  wahren  Culturentwicklung  des 
Volks  dient  (§.  284).  Die  Unbegrenztheit  des  Erwerbs,  der  Ein- 
kommens- und  Vermögensconcentration  in  einer  Hand  ist  freilich 
wiederum  noch  keine  nothwendige  Consequenz  der  Anerkennung 
des  Princips  der  socialen  Classenschichtung  und  der  ökonomischen 
wie  Culturaristokratie. 

Aus  allem  hier  in  diesem  Kapitel  Entwickelten  folgt  das  Be- 
dürfniss  nach  einer  solchen  Organisation  und  Rechtsordnung  der 
Volkswirthschaft,  welche  die  Annäherung  an  die  hier  aufgestellten 
Zielpuncte  und  Forderungen  in  Bezug  auf  die  Lösung  des  Ver- 
theilungsproblems  möglichst  sichern. 

Im  folgenden  vierten  und  fünften  Buche  dieser  ersten  und  in  der  zweiten  Ab- 
theilung der  Grundlegung  werden  mit  nach  diesem  Gesichtspuncte  die  Fragen  der 
Organisation  und  Rechtsordnung  behandelt  werden. 

Zuvor  soll  aber  im  letzten  Abschnitt  dieses  Kapitels  noch  ein  Blick  auf  andere 
Standpuncte  der  Betrachtung  des  Vertheilungsproblems  geworfen  werden. 

3.  Abschnitt. 

Andere  Standpuncte  der  Betrachtung  des  Vcrtheilungs- 
probloins,  besonders  in»  Cominunismus  und  Socialismus. 

Vgl.  1.  Aufl.  dieses  Werks,  §.  109,  2.  Aufl.,  S.  168  ff.  Es  handelt  sich 
hier  jetzt  nicht  um  eine  litterarhistorische  Darstellung  und  Kritik  der  Auffassungen 
des  Ausdrucks  und  Begriffs  Cominunismus  und  Socialismus  bei  den  einzelnen  Autoren 
und  Schulen  dieser  Richtungen,  was  in  die  Litteraturgeschichte  der  Politischen  Oeko- 
nomie  gehört.  Vielmehr  soll  hier  nur  eine  kurze  Darlegung  dessen  erfolgen,  was 
A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlagen.  48 


750  4.  B.  Bevölk.  u.  Yolksw.sch.  2.  K.  Vertbeil.probl.  3.  A.  And.  Standp.  §.  291. 


rationeller  Weise  nnter  Comrounismus  nnd  Socialismus  zu  verstehen  sei,  weDn  man 
mit  diesen  Begriffen  wissenschaftlich  operiren  will.  Erst  dadurch  wird  es  möglich, 
zu  zeigen,  worin  der  hier  im  Vorausgehenden  und  in  diesem  ganzen  Werke  vertretene 
Standpunct  sich  von  demjenigen  eines  solchen,  auf  sein  Wesen  zurückgeführten  Com- 
munismus  und  Socialismus  unterscheidet  und  worin  er  damit  übereinstimmt.  Beides 
ist  Missverständnissen,  Vorurtheilen  und  Entstellungen  gegenüber,  welche  auch  meiner 
Behandlung  des  Vertheilungsproblems  nicht  gefehlt  haben,  geboten. 

I.  — §.  291  [108,  109].  Abweichende  Standpuncte. 
Das  volkswirtschaftliche  Problem  guter,  richtiger  und  gerechter 
Vertheilung  des  Volkseinkommens  ist  früher  über  dem 
Problem  grösstmöglicher  Production  der  Güter  auch  in 
der  Theorie  nicht  genügend  zur  Geltung  gekommen.  Es  wird  jetzt 
in  der  Wissenschaft  immer  allgemeiner  zugestanden,  dass  das  ein 
Fehler  gewesen  ist,  und  demgemäss  die  entscheidende  Bedeutung 
des  Vertheilungsproblems  anerkannt. 

Besonders  bat  der  ökonomische  Individualismus  der  neueren  Wissen- 
schaft seit  Ad.  Smith  das  Vertheilungsproblem  vernachlässigt  und  viel  zu  sehr  eine 
„richtige  Vertheilung“  ohne  Weiteres  als  noth wendiges  Ergebniss  des  „sich  selbst 
überlassenen  Verkehrs“  betrachtet  oder  auch  einfach  die  petitio  principii  begangen, 
grade  die  sich  hier  vollziehende  Vertheilung  und  nur  diese  als  die  „an  sich  richtige“ 
und  sogar  als  die  „an  sich  gerechte“  anzusehen.  Das  Vertheilungspioblem  darf  wohl 
gegenwärtig  fast  noch  als  das  wichtigere  dieser  beiden  Hauptprobleme  der  Volks- 
wirtschaft bezeichnet  werden.  Der  ökonomische  Socialismun  hat  das  Ver- 
dienst. es  in  den  Vordergrund  geschoben  zu  haben.  Aber  er  hat  dabei  den  innigen 
Zusammenhang  zwischen  beiden  Problemen  zu  sehr  hintangesetzt.  Dieser  ist  im 
Vorausgehendeu  demgemäss  überall  hervorgehoben  worden.  Damit  ist  zugleich  die 
Grundlage  für  die  volks wirtschaftliche  Beurteilung  des  Rcchtsinstituts  des 
Privateigenthums,  besonders  des  privaten  Kapital-  und  Grundeigen- 
thums, gewonnen  worden  (Abt.  2). 

Aber  hinsichtlich  der  Behandlung  des  Vertheilungsproblems 
gehen  die  Standpuncte  auch  jetzt  noch  auseinander.  Der  hier 
eingenommene  Standpunct,  welcher  zur  Aufstellung  eines  Ziels 
der  volkswirtschaftlichen  Entwicklung  überhaupt  und  der  Lösung 
des  Vertheilu n gs problems  insbesondere  führt,  steht  im  Wider- 
spruch mit  anderen  Standpuncten,  namentlich  mit  dem  früher  er- 
wähnten jener  Richtung  in  einem  Theil  der  deutschen  historischen 
Schule  der  Nationalökonomie,  welche  die  Aufstellung  eines 
Ziels  der  volkswirtschaftlichen  Entwicklung  überhaupt  verwirft; 
ferner  mit  dem  Standpuncte  des  sogenannten  Communismus  und 
des  extremen  Socialismus;  endlich  mit  demjenigen  des  ex- 
tremen ökonomischen  Individualismus. 

II.  — §.  292  [109].  Abweisung  eines  Richtungsziels 
in  der  bistorisch-nationalökonomischen  Schule.  Die 
Berechtigung,  ein  solches  Ziel  aufzustellen,  ist  principiell  mit 
dem  Einwand,  dass  damit  bedenkliche  Ideologie  betrieben,  nach 
falscher  „idealistischer  Methode“  verfahren  werde,  be- 


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Standpunct  der  historischen  Schule. 


751 


stritten  worden.  Sie  wurde  schon  oben  im  ersten  Buche  bei  der 
Erörterung  Uber  die  Aufgabe  der  Wissenschaft  der  Politischen  Oeko- 
nomie  als  nothwendig  und  richtig  nachzuweisen  gesucht. 

Darauf  genügt  es  jetzt,  hier  Bezug  zu  nehmen  (§.  57,  62  — 64).  Siehe 
namentlich  Roscher  I.  §.  22  ff.  Er  steht  der  von  uns  vertretenen  Ansicht 
thatsächlich  nach  Ausweis  des  Inhalts  seiner  Werke  auch  nicht  so  fern  und  kaum 
gegnerisch  gegenüber,  aber  um  so  mehr  erfolgt  dann  in  den  §.  23,  24,  besonders  26, 
die  Abweisung  des  Aufetellcns  von  volkswirtschaftlichen  Idealzuständen  zu  unbedingt. 
In  der  dritten  Aufgabe,  die  Roscher  in  §.  26  für  sein  System  steUt,  ist  eigentlich 
Alles  das  zugegeben,  was  ich  fordere.  Ein  Widerspruch  mit  den  Bemerkungen  über 
die  idealistische  Methode  ist  aber  dann  wohl  nur  um  so  unbestreitbarer.  — Die 
Frage,  was  soll  sein?  hat  auch  Schmoll  er  in  seiner  Schrift  über  Grund- 
fragen von  Recht  und  Volkswirtschaft  vomemlich  behandelt,  ebenfalls  in  einem 
gewissen  Widerspruch  mit  seinem  methodologischen  und  seinem  Standpuncte  in  der 
Frage  der  Aufgaben  der  Disciplin. 

Grade  die  vorausgehende  Behandlung  des  Vertheilungsproblems  zeigt,  dass  es 
sich  bei  der  „Ziel-Aufstellung“,  wie  überhaupt  bei  den  drei  practischen  Aufgaben 
der  Wissenschaft  (§.  62),  keineswegs  um  die  Aufstellung  unpractischer  Ideal- 
zustände, für  welche  keine  Erfahrung  vorliegt,  nicht  um  Ausmalen  von  Utopien 
handelt.  Durch  Beobachtung  muss  zunächst  nachgewiesen  werden,  wie  die  Ge- 
staltung der  Volkswirtschaft  den  Bedürfnissen  des  Volks  entspricht.  Daran  ist  dann 
eine  principielle  Untersuchung,  wie  die  vorausgehendc,  über  den  Bedürfnissstand  und 
sein  Verhältniss  zum  Einkommen  anzuknüpfen.  Durch  eine  solche  Untersuchung  soll 
ein  von  subjectiver  Willkühr  möglichst  freier  Maassstab  gewonnen  werden,  an  dem 
man  die  Zustände  prüft  und  durch  den  die  Wirtschaftspolitik  eine  Directive 
erhält.  Auf  Grund  eines  solchen  Vorgehens  wird  ein  ideales  Ziel  der  Gestaltung 
des  Bedürfnissstandes,  des  Volkseinkommens  und  der  Verteilung  des  letzteren  für 
ein  bestimmtes  Zeitalter  und  ein  bestimmtes  Volk  (auch  in  dieser  Hin- 
sicht sind  Roschers  Bemerkungen  in  §.  26  unrichtig),  bez.  für  die  Culturvölker 
unseror  Race  in  der  Gegenwart  sehr  wohl  aufzustellen  sein.  Vollends  von 
demjenigen  Standpuncte  aus,  welcher  das  System  der  freien  Concurrenz  (5.  Buch, 
§.  308  ff)  nicht  als  einzige  oder  letzte  Lösung  des  volkswirtschaftlichen  Produc- 
tions-  und  Vertheilungsproblemes  anerkeunt,  kann  eine  Aufstellung  eines  solchen  Ziels 
der  volkswirtschaftlichen  Entwicklung  nicht  nur  nicht  verurteilt,  sondern  muss  sie 
sogar  gefordert  werden. 

III.  — §.  293  [109a].  Standpunct  des  Comm unismus 
und  Socialismus.  A.  Begriffliches.  Die  Ausdrücke  „Com- 
munismus“  und  „Socialism us“  werden  so  verschieden  aufge- 
fasst und  sind  namentlich  im  populären  Sprachgebrauch  so  wenig 
mit  einem  klaren  Begriff  verbunden,  dass  es  nothwendig  ist,  hier 
erst  den  Sinn  und  Begriff  dieser  Ausdrücke  festzustellen,  um  den 
Standpunct  beider  Richtungen  gegenüber  dem  Vertheilungsproblem 
klarstellen  zu  können. 

S.  oben  in  der  Einleitung  §.  13  die  soeialistische  Litteratur,  §.  14  die  Schriften 
von  Schäffle  (bes.  Quintessenz  des  Socialismus),  von  Mario  (Winkel blech),  Anton 
Mengcr;  L.  Stein  s bezügliche  Schriften  (o.  S.  347).  A.  Held,  Socialismus, 
Socialdemokratie  u.  s.  w.,  Leipzig  1878.  G.  Cohn,  Was  ist  Socialismus?  Berl.  1878 
(Zeit-  und  Streitfragen,  Heft  1US).  Ders.  in  s.  System,  S.  133  fl'.  H.  Dietzel, 
Rodbertus  (s.  o.  S.  40);  Ders.,  Aufs.  Individualismus  im  H.  W.  B.  d.  Staatswiss., 
II.  v.  Scheel,  Abh.  Socialismus  und  Communismus  im  Schönberg’schen  Handbuch, 
B.  I.  Hier  mehrfach  andere  Auffassungen.  Ich  habe  indessen  geglaubt,  an  der  Be- 
handlung der  Frage  in  der  2.  Aufl.  (§.  109a  ff.)  formell  und  sachlich  festhalten 
zu  dürfen.  Vgl.  auch  die  verschiedenen  neueren  Programme  der  deutschen  Social- 


48* 


752  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  2.  K.  Vertheil.probl.  3.  A.  And.  Standp.  §.  293. 

demokratie  (Eisenacher,  Erfurter,  Gothaer)  und  Marx -Engels'  com  monistisches 
Manifest  (1848). 

1.  Communismus. 

a)  Wissenschaftlich  kann  unter  „Communismus“ 
nichts  Anderes  verstanden  werden  als  „Gemeinwi  rth schaft“ 
(Buch  5,  §.  300,  340ff.).  Jeder  andere  „Sinn“  des  Worts  ist  „Unsinn“. 
Soweit  Gemeinwirthschaft  und  insbesondere  Zwangsgemeinwirth- 
8chaft  besteht,  ist  daher  „Communismus“  vorhanden. 

Demnach  ist  der  Staat  „Communismus“,  soweit  er  finanziell  auf  eigent- 
lichen Ste  uern  (im  Unterschied  von  Gebühren,  vgl.  Fin.  II,  2.  A..  §.  15  fl.,  83  ff.)  beruht 
und  mit  diesen  Mitteln  Aller  für  die  Zwecke  Aller,  d.  h.  für  die  all- 
gemeinen Staatszwecke,  ohne  Anwendung  des  Princips  der  speci eilen  Ent- 
geltlichkeit von  Leistung  und  Gegenleistung  wie  im  privatwirtbschaftlichen  Verkehr 
und  im  Gebührenwesen , daher  ohne  individuelle  Abrechnung  mit  dem  Einzelnen  Uber 
dessen  Empfange  und  Leistungen,  arbeitet,  d.  h.  Leistungen  producirt;  die  Ge- 
meinde desgleichen.  Die  einzelne  Staats-  oder  Gemeindeanstalt,  welche  ganz  oder 
theilweiso  durch  allgemeine  eigentliche  Steuern  ihre  Erhaltungs-  und  Betriebskosten 
deckt,  ist  „Communismus“;  die  Staatseisenbahn,  die  Post,  die  Telegraphie 
des  Staats,  welche  zu  ihren  eigenen  Einnahmen  Zuschüsse  braucht,  ist  „Communismus“. 

Die  allgemeine  principielle  Opposition  gegen  diesen 
Communismus  hat  daher  keinen  Sinn.  Sie  ist  nur  im  speciellen 
Fall  verständlich  und  läuft  dann  auf  die  alten  beiden  Streitfragen 
hinaus:  einmal  Uber  die  richtigen  Grenzen  zwischen  Staats-, 
Gemeinde-  u.  s.  w.  Thätigkeit  einer-  und  privater  (einschliess- 
lich erwerbsgesellschaftlicher)  Thätigkeit  andererseits;  sodann  Uber 
die  fi  n an zielle  Behandlung  einer  „öffentlichen“  Thätigkeit,  nach 
dem  Princip  der  reinen  Ausgabe,  also  der  Deckung  der  Kosten 
durch  eigentliche  Steuern  oder  nach  dem  GebUbrenprincip  u.  s.  w. 
Je  mehr  die  öffentlichen  Thätigkeiten  des  Staats,  der  Gemeinde  und 
ähnlichen  Körper  sich  erweitern  und  je  mehr  das  GebUbrenprincip 
durch  dasjenige  der  reinen  Ausgabe  verdrängt  wird,  desto  mehr 
„Communismus“,  welcher  allerdings  insofern  in  steigendem 
Maasse  in  Aussicht  steht,  was  jetzt  schon  sich  verwirklicht. 

Vgl.  Fin.  I,  3.  A. , §.  201,  über  die  leitenden  Finanzprincipien  bei  Staats- 
thätigkeiten.  Näheres  im  folgenden  Buche  5,  in  den  dortigen  Erörterungen  über 
Gemeinbedürfnisse  und  Gemeinwirthschaft  §.  325 1L,  340  ff. 

Der  Gebrauch  des  Ausdrucks  „Communismus“  für  „Gemeinwirthschaft“  ist 
mir  öfters  als  „provocirend“  und  „irreführend“  zum  Vorwurf  gemacht  worden , z.  B. 
von  A.  Held.  Es  scheint  mir  indessen  richtiger,  solche  Ausdrücke  ohne  Rücksicht 
auf  die  Vorurtheile  der  Menge  anzuwenden,  um  grade  zu  zeigen,  dass  sie  gar  nicht 
die  bedenkliche  Bedeutung  haben , welche  ihnen  von  denjenigen  beigclegt  wird,  die 
sie  doch  beständig,  aber  leider  ohne  klares  Denken,  als  Schlagworte  im  Munde 
fuhren.  Vollends  in  wissenschaftlichen  Controversen  ist  nichts  bedenklicher  als  dieser 
Rospect  vor  Schlagworten,  wodurch  die  Gegensätze  oft  unnütz  verschärft  werden. 
Das  ist  ebenso  falsch,  als  die  Sucht,  die  Gegensätze  zu  vertuschen.  Vgl.  Held ’s 
Sehr,  über  Socialismus  u.  s.  Bcsprech.  d.  Litter.  d.  Communalsteuerfrage  in  Courad’s 
Jahrb.  18TS  II,  250.  Es  ist  notbwendig,  immer  darauf  hinzuweisen,  dass  es  sieb 
auch  beim  „Communismus“  dem  heutigen  W'irthschafssystem  gegenüber  nicht  um 
ein  Entweder-Oder,  sondern  um  ein  Mehr  oder  Weniger  handelt.  Nur 


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Begriff  vom  Commanismus  und  Socialismus. 


753 


so  gewinnt  man  eine  gemeinsame  Verhandlungsbasis  selbst  mit  den  extremsten  „Com- 
munisten“.  Da  man  diese  aber  wenigstens  hier  „mit  Gründen,  nicht  mit  Flinten- 
kugeln“ bekämpfen  muss,  so  ist  dies  ein  Vortheil. 

b)  In  einem  anderen  „Sinn“,  welcher  meistens  denjenigen,  die 
ihn  als  Freunde  und  Gegner  anwenden,  selbst  unklar  ist,  wird 
unter  „Communismus“  oder  wie  er  zum  Unterschiede  vom  obigen 
besser  genannt  wird,  unter  sogenanntem  (reinem)  Communismus  ein 
Gesellschaftszustand  ohne  jedes  Privateigenthum  verstanden,  daher 
nicht  nur,  wie  in  den  Forderungen  des  ökonomischen  Socialismus 
der  Gegenwart,  ohne  Privateigenthum  an  sachlichen  Productions- 
mitteln  (Boden  und  Kapital),  sondern  selbst  ohne  Privateigenthum 
am  Gebrauchs-,  mindestens  am  Nutzvermögen  (§.  128).  Der  weitere, 
auch  nur  unklar  vorschwebende  Gedanke  ist  dabei,  dass,  soweit 
man  in  einem  solchen  Zustande  überhaupt  von  individuellem  „Ein- 
kommen“ sprechen  könnte,  dies  für  alle  Individuen  oder  Familien 
völlig  gleich  oder  m.  a.  W.  die  Ökonomische  Lebenslage  und  Be- 
dtirfnis8befriedigung  die  gleiche  sei.  Es  ist  dies  ein  kaum  denk- 
barer, geschweige  practisch  möglicher  Zustand,  über  den  kein 
Wort  zu  verlieren  ist. 

Er  wird  aber  kaum  auch  nur  von  einzelnen  wirren  Phantasten  ausgemalt  und 
muss  hier  überhaupt  nur  aus  einem  äusseren  Grunde  erwähnt  und  einfach  als  thöricht 
abgewiesen  werden.  Denn  unklare  oder  tendenziöse  Gegner  des  vorhin  genannten 
Communismus  (im  allein  fassbaren  wissenschaftlichen  Sinn)  und  des  modernen 
ökonomischen  Socialismus  haben  sich  gern  in  ein  Windmühlengefecht  gegen  diesen 
sogenannten  Communismus  eingelassen  und,  ihrer  eigenen  Sache,  d.  h.  derjenigen 
der  bestehenden  Wirtschaftsordnung  dadurch  mehr  schadend  als  nützend,  sich  den 
falschen  Anschein  gegeben,  als  zögen  sie  die  vermeintlichen  Consequeuzen  dieses 
Socialismus  u.  s.  w.  und  widerlegten  dieselben  durch  die  Identificirung  des  letzteren 
mit  diesem  rein  phantastischen  Communismus.  Ein  leider  gefährlicher  Irrthum. 

§.  294  [109b,  109c].  — 2.  Socialismus.  Kaum  weniger 
unklar  sind,  besonders  bei  seinen  Gegnern,  die  Ideen,  welche  mit 
dem  Wort  „Socialismus“  verbunden  werden.  Wissenschaft- 
lich kann  es  sich  nur  um  z w e i Bedeutungen  des  Worts  handeln, 
um  eine  allgemeinere  und  eine  sp  ec  i eile  re  und  in  der  letzteren 
um  einen  extremen  oder  vollständigen  und  um  einen  partiellen 
Socialismus,  wie  den  Staatssocialismus  (§.  18).  Die  allge- 
meinere und  die  speeiellere  Bedeutung  hängen  aber  zusammen. 

Held  a.  a.  0.  bleibt  an  der  allgemeinen  Bedeutung  vom  Socialismus  hängen, 
wodurch  dann  die  richtige  Stellungnahme  gegenüber  dem  modernen  extremen 
Socialismus  unmöglich  wird.  S.  bes.  S.  37,  38.  Vgl.  schon  oben  §.  G (Individuum 
und  Gemeinschaft). 

a)  Im  allgemeineren  Sinn  ist  „Socialismus“  der  Gegen- 
satz zum  „Individualismus“,  daher  ein  Princip  der  Ordnung 
der  Gesellschaft  und  Volkswirthschaft  zunächst  nach  den  Be- 
dürfnissen dieser  als  G esammtheiten , Gemeinschafts- 


754  4.  B.  Bevölk.  a.  Volksw.sch.  2.  K.  Yertheil.probl.  3.  A.  And.  Standp.  §.  294. 


heiten,  Totalitäten,  oder  von  Gesellschafts  wegen, 
während  „Individualismus“  ein  Princip  ist,  das  in  Gesellschaft  und 
Volkswirthschaft  das  Individuum  voran  stellt,  zum  Ausgangs- 
punct  nimmt  und  dessen  Interessen  und  Wünsche  zur  Norm 
für  die  Gesellschaft  und  Volkswirthschaft  macht. 

Ganz  richtig  sagt  Held  S.  37:  „Individualismus  und  Socialismus  sind  zwei  ewig 
gleichberechtigte  Principien,  von  denen  nie  das  eine  das  andere  völlig  ausschliessen 
kann , sondern  die  nur  zu  verschiedenen  Zeiten  in  verschiedenem  Maassc  neben 
einander  bestehen  können.“  Aber  wenn  er  sagt:  Individualität,  d.  h.  Freiheit,  Socialis- 
mus d.  h.  Ordnung , so  ist  diese  Auslegung  einseitig  und  unklar.  Viel  besser  in 
dieser  Hinsicht  die  Ausführungen  von  Cohn  a.  a 0.,  S.  7 ff.,  nur  dass  hier  die  all- 
gemeinere neben  der  neueren  specielleren  Bedeutung  von  Socialismus  zu  sehr 
zurücktritt.  Vgl.  ferner,  zum  Theil  abweichend,  H.  Dietzel  in  dem  gen.  Aufsatz 
(mir  erst  während  des  Drucks  zugehend). 

Die  („liberale“)  Nationalökonomie  der  Physiokraten  und  der  Smith’schen  Schule 
ist,  wie  die  gleichzeitige  Rechts-  und  Staatsphilosophie  (Vertragstheorie),  wesentlich 
auf  dies  Princip  des  Individualismus  gebaut.  Die  historische  und  organische 
Rechts-  und  Staatslehre  hat  dies  und  die  jetzige  wissenschaftliche  Nationalökonomie 
muss  dies  als  eine  Einseitigkeit  anerkennen.  Das  in  diesem  Sinn  „socia- 
list i sehe“  oder  — um  Missdeutungen  und  Entstellungen  zu  vermeiden  — das 
„sociale“  Princip  muss  vorangestellt  werden.  Dies  ist  in  der  Staatslehre  schon 
geschehen,  in  der  Privatrechtslehre  grösstcntheils  noch  zu  thun,  beginnt  aber  auch 
hier  (Ihering,  bes.  in  der  2.  Hälfte  des  1.  Bands  des  Zwecks  im  Recht,  während 
in  der  1.  Hälfte  das  individualistische  Princip  vornan  steht),  und  ist  auch  in  der 
Nationalökonomie  noth wendig.  Der  extreme  Socialismus  hat  dies  richtig  erkannt 
und  danach  gehandelt.  Er  ist  aber  in  die  andere  Einseitigkeit  verfallen  und 
hat  das  individualistische  Princip,  statt  es  zu  modificiren,  negirt. 

Das  Richtige  ist  nicht:  Socialismus  oder  Individualismus, 
sondern  Socialismus  und  Individualismus,  nur  der  erstere  als 
leitendes  Princip  der  genannten  Art  voran  stehend : auch  hier: 
kein  Entweder-Oder,  sondern  ein  Sowohl -Als  auch  und  ein  Mehr 
oder  Weniger.  Dies  ist  auch  der  Standpunct  dieses  Werks  (§.  6, 
7,  18).  Socialismus  und  Individualismus  in  diesem  allgemeineren 
Sinne  sind  zwei  Lebensprincipien  der  Gesellschaft  und  Volkswirth- 
schaft, ihre  Verwirklichung  in  wechselndem  Maasse  durchzieht  die 
Geschichte  beider  letzteren.  Das  socialistische  Princip  ist  aber 
aus  entwicklungsgesetzlicben,  namentlich  wieder  mit  der  Productions- 
Technik  zusammenhängenden  Gründen  bei  fortschreitenden  Cultur- 
Völkern,  zumal  unserer  Periode,  im  Vordringen  begriffen.  Aus 
dem  Gesagten  folgt  auch,  dass  jede  einzelne  volkswirtschaft- 
liche Erscheinung  und  volkswirthschaftspolitische  Maassregel  not- 
wendig immer  ein  socialistisches  und  individualistisches  Moment 
enthält,  von  denen  bald  das  eine,  bald  das  andere  zu  begünstigen  ist. 

Held  S.  37 ff.,  Cohn  S.  7 ff.  ebenso. 

b)  Auf  dem  Boden  dieses  eben  erläuterten  „Socialismus“  hat 
sich  nun  in  neuerer  Zeit  eine  wesentlich  ökonomische 
Theorie  entwickelt,  welche  mit  dem  Namen  „Socialismus“ 


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Begriff  von  Socialismus. 


755 


belegt  worden  ist:  der  Socialismus  im  specielleren  Sinn.  Diese 
Theorie,  durch  Franzosen  und  Engländer  begründet,  ist  durch 
Deutsche  (einerseits  Rodbertus,  anderseits  Marx,  Engels, 
Lassalle  §.  13),  grade  in  ihrem  ökonomischen  Kern,  nach 
der  Seite  der  Kritik  der  bestehenden  Wirtschaftsordnung,  und  der 
Postulate  für  eine  Neugestaltung  der  letzteren,  wissenschaftlich  aus- 
gebildet und  zu  begründen  gesucht  worden.  Diese  deutsche  socia- 
listische  Theorie  bildet  den  „extremenSocialismus“  oder  den 
„modernen  wissenschaftlichen  ökonomischen  Socia- 
lismus“. Um  zu  ihm  in  den  wichtigsten  und  schwierigsten 
Fragen  des  volkswirtschaftlichen  Productions-  und  Vertheilungs- 
problems richtig  Stellung  zu  nehmen,  ist  es  notwendig,  gegenüber 
der  bei  vielen  Anhängern  und  bei  noch  mehr  Gegnern  desselben 
bestehenden  grossen  Unklarheit,  ihn  richtig  und  scharf  in  seiner 
„Quintessenz“  darzulegen,  so  dass  er  auch  für  das  populäre 
Verständnis  fassbar  wird. 

Meisterhaft  geschehen  in  Schaf fle’s  Quintessenz,  S.  2 ff. , womit  die  weitere 
Ausführung  im  Socialen  Körper  III,  419  ff.,  457  ff.  zu  vergleichen.  Cohn  a.  a.  0. 
legt  auf  die  bestimmte  ökonomische  Theorie  des  wissenschaftlichen  Socialismus  m.  E. 
nicht  genug  Gewicht.  Meine  Auffassung  von  mir  zuerst  formulirt  in  dem  Aufsatz  in 
der  Ztschr.  ,,Der  Staatssocialist“,  Nr.  1,  1878. 

Dieser  extreme  Socialismus  ist  ein  dem  heutigen  entgegenge- 
setztes System  der  wirtschaftlichen  Rechtsordnung,  wo  die  sach- 
lichen Productionsmittel,  d.  h.  Grund  und  Boden  und  Kapital, 
nicht,  wie  jetzt  meistens,  im  Privateigentum  einzelner  privater 
Mitglieder  (physischer  und  juristischer  privatrechtlicher  Personen, 
wie  Erwerbsgesellschaften)  der  Gesellschaft,  sondern  im  öffentlichen 
oder  Gesammteigenthum  der  Gesellschaft  oder  (Volks  ^Gemein- 
schaft selbst,  bez.  ihrer  Vertreter,  sich  befinden;  wo  daher  nicht  die 
privaten,  auf  Gewinn  (Kapital-  und  Unternehmergewinn)  berechneten 
Unternehmungen  und  nach  den  Bedingungen  des  Arbeitsvertrags 
bezahlte  Lohnarbeiter  sich  gegentiberstehen  und  je  unter  einander 
selbst  wieder  concurriren;  wo  nicht  die  Production  eine  von  den 
einzelnen  Unternehmern  nach  individuellem  Ermessen  des  Bedarfs 
bestimmte,  daher  im  Ganzen  regellose,  vom  Gang  der  Speculation 
und  dem  Einfluss  der  Conjunctur  abhängige  ist,  die  Verkeilung  des 
Productionsertrags  aber  nach  dem  Zufall  des  „Gesetzes  von  An- 
gebot und  Nachfrage“  erfolgt;  sondern  wo  die  Production  plan- 
mässig  nach  dem  vorher  ermittelten  und  veranschlagten  Bedarf 
der  Con8umenten  von  Oben  aus  geregelt,  grossentheils  in  genossen- 
schaftlicher Weise,  oder  in  Staats-,  Communalanstalten  u.  dgl.  m. 


756  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.scb.  2.  K.  Vertheil.probl.  3.  A.  And.  Standp.  §.  295. 


ausgeflihrt  und  ihr  Ertrag  in,  der  Annahme  nach  gerechterer  und 
zweckmässigerer,  Art,  als  gegenwärtig  mittelst  des  Gesetzes  von 
Angebot  und  Nachfrage  und  mittelst  der  „Lohnabfindungsverträge“, 
unter  die  Producenten  (Arbeiter)  vertheilt  wird,  „autoritativ“,  nach 
Regulirungsprincipien , über  welche  freilich  auch  im  Socialismus 
noch  keine  Einmütbigkeit  erreicht  ist  (Bedürfniss,  Leistung,  andere 
Momente,  Combination  davon,  s.  o.  §.  264). 

Dieser  extreme  Socialismus  ist  daher  ein  neues  grosses  national- 
ökonomisches  System,  welches  als  solches  dem  System  des  ökonomischen 
Individualismus,  d.  h.  der  wissenschaftlichen  Lehre  der  Physiokraten,  A.  Smiths 
und  seiner  Schule  von  der  Volkswirthschaft,  eine  Lehre,  welche  in  unserer  modernen 
wirthschaftlichen  Gesetzgebung  im  Wesentlichen  Geltung  erlangt  bat,  als  Gegenpol 
gegenüber  steht.  In  diesem  Socialismus  handelt  es  sich . wie  man  sieht,  um  eine 
grundsätzlich  durchaus  andere  als  die  heute  zu  Recht  bestehende  Lösung  des 
volkswirthschaftlichen  Productions-  und  Vertheilungsproblems.  Zu  diesem  Zweck  will 
derselbe  eine  principiclle  Umgestaltung  von  Hauptpunctcn  des  Privat- 
rechts vornehmen,  namentlich  das  Privateigenthum  an  Boden  und  Kapital,  als 
Productionsmitteln , und  den  heutigen  Arbeitsvortrag  beseitigen.  Damit 
würde  alles  Renteneinkommen  für  Private  fortfallen  und  blosses  Arbeits- 
einkommen übrig  bleiben. 

Mit  diesem  extremen  Socialismus  steht  dieses  Werk  wie 
überhaupt,  aus  psychologischen,  aus  technischen  Gründen  (s.  be- 
sonders Buch  1,  Kap.  1),  so  auch  mit  dem  oben  in  der  Behandlung 
des  Vertheilungsproblems  eingenommenen  Standpuncte  in  Wider- 
spruch. 

Die  weitere  und  eingehende  Auseinandersetzung  mit  diesem  Socialismus,  die 
gegenwärtig  eine  der  theoretisch  und  practisch  wichtigsten  Aufgaben  der  wissenschaft- 
lichen Nationalökonomie  bildet,  erfolgt  im  Verlauf  dieses  ganzen  W'erks,  so  schon  in 
den  vorausgehenden  Abschnitten  und  so  namentlich  auch  in  Buch  5 und  6 dieser  und 
in  der  ganzen  zweiten  Abtheilung,  unter  beständiger,  selbstverständlich  durchaus 
objectiver  Kritik  der  einzelnen  Lehren  und  Postulate  dieses  Socialismus  und  mit 
einem  die  wichtigsten  Postulate  wenigstens  in  ihrer  Absolutheit  ablehnenden 
Ergebniss. 

B.  — §.  295  [109d].  Partieller  Socialismus  oder  Staats- 
socialismus und  seine  Berechtigung.  Eine  solche  Behandlung  ist 
durchaus  geboten,  nicht  nur  durch  die  wissenschaftliche  Bedeutung  des 
extremen  Socialismus  in  der  Kritik  der  anderen  Theorieen  und  im 
systematischen  Aufbau  einer  neuen  ökonomischen  Theorie,  sondern 
mehr  noch,  weil  der  extreme  Socialismus  nur  eine  Uebertreib  u ng 
eines  partiellen  Socialismus  ist,  welcher  in  der  geschichtlichen 
Entwicklung  des  gesellschaftlichen  und  volkswirthschaftlichen  Lebens 
aller,  besonders  der  Culturvölker  längst  bestanden  hat  und  einen 
wesentlichen,  vielfach  in  nothwendiger  und  sichtbarer  Ausdehnung 
begriffenen  Bestandtheil  der  überall  bei  uns  vorhandenen  gesell- 
schaftlichen und  wirthschaftlichen  Rechtsordnung  bildet.  Damit 


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Partieller  oder  Staatssocialismus. 


757 


wird  aber  ein  partiell  richtiger  Kern  auch  im  extremen  Socialis- 
mus anerkannt. 

Es  handelt  sich  daher  auch  hier,  ebenso  wie  bei  dem  Socia- 
lismus in  der  obigen  allgemeineren  Bedeutung  dem  Individualismus 
gegenüber,  nicht  um  ein  Entweder-Oder,  sondern  um  ein 
Sowohl-Als  auch  und  ein  Mehr  oder  Weniger  zwischen 
diesem  extremen  ökonomischen  Socialismus  und  dem  ökonomischen 
Individualismus  der  neueren  Nationalökonomie.  Gerade  dieser 
Umstand  erschwert  die  theoretische  und  practische  Aufgabe  sehr, 
denn  damit  erweist  sich  eine  Abwägung  von  Fall  zu  Fall 
unvermeidlich. 

S.  Cohn,  S.  17  fl'. 

1.  Ganz  oder  theil weise  auf  dem  Boden  der  Productions- 
ordnung  des  Socialismus,  in  ökonomischer  und  rechtlicher  Hin- 
sicht, steht  unsere  Praxis  bereits  mit  dem  „öffentlichen“  Eigen- 
thum des  Staats,  der  Gemeinde  u.  s.  w.  an  Grund  und  Boden  und 
an  Kapitalien  und  mit  dem  Betrieb  von  materiellen  Productions- 
zweigen. 

So  durch  ihr  Staats-Domänen-,  Forst-,  Berg-  und  Hütten-,  Fabrik-,  Bank- 
wesen u.  s.  w.;  durch  ihre  grossen  Staats- Verkehrswege  und  Anstalten,  ihre  Strassen, 
Eisenbahnen,  ihre  Post,  ihre  Telegraphie;  durch  ihre  Staatsmonopolo,  wie  Salz  und 
Tabak  u.  a.  m. ; durch  ihre  öffentlichen  Versicherungsanstalten;  durch  ihre  etwaigen 
Zuschüsse  für  Productivassociationen  aus  öffentlichen  Geldern  (nach  Lassalle  und  Bis- 
marck); durch  ihre  materiell  - wirtschaftlichen  Communalanstalten , für  Gas-  und 
Electricitätsbcleuchtung.  Wasserversorgung,  Viehhöfe,  Markthallen,  Lagerhäuser  u.  s.  w., 
sowie  durch  vieles  Andre  mehr  (vgl.  Finanzwiss.  II,  2.  A.,  §.  65  und  überhaupt  hier 
über  das  Gebührenwesen  der  volkswirtschaftlichen  Verwaltung,  §.  49  IF.  und  in  B.  I, 
3.  A.  Uber  die  Privaterwerbszweige,  Buch  3,  S.  471  ü.).  Ueber  die  Berechtigung, 
in  solchen  Fällen  von  „Socialismus“  zu  sprechen,  s.  u.  §.  298,  325  ff. 

Der  extreme  Socialismus  fordert  nur,  dass  solches  öffentliches 
Eigenthum  ganz  verallgemeinert  und  daher  allein  herrschend 
werde,  ungeschichtlich  und  sich  über  die  entgegenstehenden  psycho- 
logischen, technischen,  ökonomischen  und  politischen  Bedenken 
und  Schwierigkeiten  mit  einem  abstract- absoluten  Princip  hinweg- 
setzend. Dadurch  bezeichnet  er  den  äussersten  Rückschlag 
gegen  seinen  Gegen  pol , den  ökonomischen  Individualis- 
mus, welcher  seinerseits  nicht  weniger  ungeschichtlich, 
seinem  abstract- absoluten  Princip  gemäss,  den  Staat,  die  Ge- 
meinde u.  s.  w.  ganz  aus  dem  Eigenthum  an  und  aus  dem  Wirth- 
schaftsbetrieb  mit  sachlichen  Productionsmitteln  herausdrängen  will 
oder  wollte:  vom  Standpunct  der  Gegenwart  so  „utopisch“,  wie 
das  socialistische  Postulat. 

2.  Selbst  auf  dem  Boden  der  Verth eilungsordnung  des 


758  4.  B.  Bcvölk.  u.  Volksw.sch.  2.  K.  Verthcil.probl.  3.  A.  And.  Standp.  §.  295. 


Socialismus  steht  unsere  Praxis,  namentlich  in  Deutschland,  bereits 
lange  in  Bezug  auf  eine  wichtige  Arbeiter-  oder  „Producenten4  - 
kategorie,  die  „öffentlichen  Beamten“,  namentlich  im 
Staatsdienst. 

Auch  hier  erfolgt  nicht  unmittelbar  nach  individuellor  Nachfrage  und  Angebot 
die  Lohnregelung,  sondern  auf  Grund  bestimmter  Bedarfsscalen  (BedQrfniss  als 
Princip  der  Vertheilung,  s.  o.  §.  204)  und  zugleich  bestimmter  Abmessungen  des 
gesellschaftlichen  Werths  der  betreffenden  Arbeitsart  wird  ein  Gehaltssystem,  damit 
ein  System  von  „Socialtaxen“  aufgestellt,  welches  die  Besoldungen  der  einzelnen 
„Arbeiter“  regelt.  Ein  entwickeltes  Pensionssystem  (Ruhegehalte,  Alterspensionen, 
Wittwen-  und  Waisenpensionen)  verbindet  sich  damit  (vgl.  Finanzwiss.  I,  3.  A.,  2.  Buch, 
1.  Kap.,  2.  A.,  §.  152  11'.,  wo  die  sociale  Bedeutung  dieser  Einrichtung  genauer 
gewürdigt  wird).  Die  Vorzüge  dieses  „Besoldungswesens"  gegenüber  dem  „Lohn- 
wesen" der  gewöhnlichen  Arbeiter  sind  augenscheinlich.  Man  hat  das  erkanut  und 
wegen  der  Uebelstände  im  letzteren  grade  neuerdings  nach  Einrichtungen  gestrebt, 
welche  den  Arbeiter  durch  ein  entwickeltes  Versicherungswesen  in  einiger  Hinsicht 
ähnlich  wie  den  Beamten  sicher  stellen  (Kranken*,  Alters-,  Invalidenversicherung  etc., 
s.  o.  S.  695).  Das  lässt  sich  freilich,  wie  oben  gezeigt,  nicht  ohne  grössere  Ein- 
mischung in  den  „freien  Arbeitsvertrag“  erreichen  und  führt  unvermeidlich  von  der 
Lohnregelung  des  ökonomischen  Individualismus  weiter  ab. 

So  befindet  man  sich  auch  hier  bereits  und  gelangt  immer 
mehr  in  einen  „partiellen  Socialismus“,  von  welchem  das 
staatliche  Besoldungswesen  ein  sehr  interessantes  Beispiel  ist 
Aber  überall  ist  die  vom  extremen  Socialismus  verkannte  Auf- 
gabe, an  das  geschichtlich  Gewordene  und  rechtlich  Bestehende 
anzuknüpfen,  allenfalls  Entwicklungen  in  bestimmter  Richtung, 
die  sieb  ohnehin  bereits  anbahnen,  zu  postuliren,  aber  nicht 
diese  weiteren  geschichtlichen  Entwicklungen  durch  ein  abstracto 
absolutes  Princip,  dem  sich  Alles  beugen  müsse,  anticipiren 
zu  wollen,  ohne  dass  für  die  Verwirklichung  das  Wie  und  Wo 
auch  nur  zu  ersehen  ist.  Anderseits  ergiebt  sich  auch  hier  wieder, 
dass  der  extreme  ökonomische  Individualismus  nicht  weniger 
einseitig,  seinem  abstract- absoluten  Princip  von  der  Notb- 
wendigkeit  und  Erspriesslichkeit  der  „naturgesetzlicben“  Regelung 
durch  freie  Individual -Verträge  gemäss,  bereits  bestehende 
Verhältnisse,  schon  erreichte  und  sich  fortsetzende  Ent- 
wicklungen negirt.  Die  Wahrheit  liegt  in  der  Mitte  zwischen 
beiden  Extremen. 

Nach  diesen  hier  nur  kurz  anzudeutenden  Gesichtspuncten 
sind  die  grossen  Probleme,  welche  der  wissenschaftliche  Socialis- 
mus nicht  bloss,  sondern  die  moderne,  technische,  wirt- 
schaftliche und  culturliche  Entwicklung  in  die  theo- 
retische und  prac tische  Discussion  geworfen  haben, 
schon  im  Vorausgehenden  vielfach  behandelt  ^vorden  und  im 
weiteren  Verlauf  noch  öfters  zu  erörtern. 


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Partieller  oder  Staatssocialismus. 


759 


Die  Hauptforderung,  die  grundsätzliche  Beseitigung  alles 
privaten  Kapitals  und  Bodens,  damit  alles  privaten  Renten- 
bezugs, und  die  grundsätzliche  Ausschliesslichkeit  blossen 
Arbeitseinkommens  ist  zwar  durch  die  moderne  Entwicklung  der 
Technik  mit  hervorgerufen  und  insofern  weniger  unbedingt  un- 
ausführbar geworden.  Aber  gegen  sie  spricht  nicht  nur  heute  und 
für  unabsehbare  Zeit  noch  die  ganze  bisherige  geschichtliche  Ent- 
wicklung, sondern  eine  Reihe  der  schwerwiegenden  psycho- 
logischen (Buch  1 Kap.  1),  technischen,  ökonomischen,  auch  poli- 
tischen Gründe  uud  wahrster  Volks- Culturinteressen : nicht  nur 
Opportunitäts - sondern  principielle  Rücksichten. 

Das  ist  schon  im  vorigen  Abschnitt  vom  Standpunct  der  Consumtion  aus  mit 
Bezug  auf  die  Entwicklungsbedingungen  der  materiellen  und  der  Culturbcdürfnisse 
der  Einzelnen  und  des  Volks  ausgefübrt  worden.  Die  weiteren  Argumente  sind  der 
Function  des  Privatreichthums,  des  caritativen  Systems,  der  freien  Gemeinwirth- 
schaften,  der  Rücksicht  auf  die  individuelle  Freiheit  und  auf  die  im  Gesammt- 
interesse  wirkende  Function  des  wirtschaftlichen  Selbstinteresses  der  Individuen  zu 
entnehmen,  wie  sich  dies  im  Einzelnen  in  der  Lehre  von  der  Organisation  der  Volks- 
wirtschaft (Buch  5),  von  der  persönlichen  Freiheit  und  von  der  technischen, 
ökonomischen  und  socialen  Gesammtfu  nction  der  beiden  grossen  Rechtsinstitute 
des  Privatkapitals  und  des  privaten  Grundeigentums  (Abtheil.  2)  zeigen  wird:  Unter- 
suchungen, welche  gegenwärtig  noch  zu  umgehen,  „Vogel-Strauss-Politik“  ist. 

IV.  — §.  296  [109e].  Standpunct  des  extremen  öko- 
nomischen Individualismus.  Gegen  diesen  kann,  wie  sich 
ans  dem  Vorausgehenden  ergiebt,  aber  von  unserem  Standpuncte 
aus  auch  nur  Front  gemacht  werden.  Diese  Richtung  erwartet 
von  dem  „sich  selbst  überlassenen  Verkehr“  in  einer  Volks- 
wirtschaft, welche  möglichst  wenig  Staats  Wirtschaft  ist,  die 
relativ  beste,  ökonomisch  und  technisch  richtigste  Lösung  des 
Productionsproblems  und  zugleich  die  richtigste  und  gerechteste 
Lösung  des  Vertheilungsprobleras.  Damit  setzt  sie  sich,  ebenso 
wie  der  extreme  Socialismus,  Uber  die  geschichtliche  Entwicklung 
und  die  Thatsachen  des  volkswirtschaftlichen  Lebens  blind  hinweg. 

Sie  erkennt  nicht  die  Bedenken  gegen  solche  übermässige  Ein- 
kommen- und  Vermögensungleichheiten,  welche  wesentlich  nur  zur 
üppigeren  Befriedigung  der  materiellen  Bedürfnisse  der  Reichen  und  zum  Theil  nur 
auf  Kosten  der  in  Dürftigkeit  darbenden  Masse  der  Bevölkerung  führen.  Sic  nimmt 
ohne  Weiteres  an,  als  würden  dergleichen  Extreme  in  der  Vertheilung  des  Volks- 
einkommens am  Besten  und  Sichersten  vermieden,  wenn  im  sogen.  System  der 
freien  Concurrenz  Jedermann  möglichst  ganz  auf  sich  selbst  gestellt  und  die 
volkswirtschaftliche  Entwicklung  demgemäss  „frei  gehen  gelassen“  werde.  Sie 
übersieht,  dass  gerade  daraus  bei  Anerkennung  der  vollen  persönlichen  Freiheit  der 
sich  selbst  überlassenen  Massen  und  bei  Statuirung  vollsten  Privateigen thums  an  den 
wirtschaftlichen  Gütern,  namentlich  an  den  Productionsmitteln,  bei  vollster  Vertrags- 
freiheit, eine  Tendenz  steigender  Ungleichheit  des  Einkommens  und 
Vermögens  hervorgeht  Die  Auseinandersetzung  mit  dieser  ökonomischen  Theorie 
ist  nicht  minder  wichtig,  als  diejenige  mit  dem  extremen  Socialismus.  Auch  sie 


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760  4.  B.  Bevölk.  u.  Volksw.sch.  2.  K.  Vertheil. probL  3.  A.  And.  Standp.  §.  296. 

erfolgte  daher  schon  bisher  und  erfolgt  weiter  in  den  nächsten  Büchern  dieser  und 
in  der  ganzen  zweiten  Abtheilung  der  Grundlegung. 

Weder  der  Quietismus  der  historisch-nationalökonomiseben 
Schule  — das  Seitenstück  zu  demjenigen  der  historischen  Rechts- 
sehule, wo  er  jetzt  bereits  überwunden  ist,  — noch  sogenannter 
Communismus,  noch  extremer  Socialismus  mit  seinen 
pessimistischen  Uebertreibungen,  noch  extremer  ökono- 
mischer Individualismus  mit  seinem  bequemen  Optimismus, 
sondern  ein  mittlerer  Standpunct  wird  daher  hier  vertreten.  Von 
diesem  aus  wird  auch  in  der  Theorie  schon  die  principielle 
Nothwendigkeit  von  Compromissen  zwischen  den  Forde- 
rungen verschiedener  wirthchaftlicherOrganisationsprincipien  (Buch  5, 
§.  301 , 302)  anerkannt.  Dieser  Standpunct  ist  es,  welchen  wir 
schon  in  der  Einleitung  characterisirt  haben  und  als  den  staats- 
socialistischen  am  Besten  glaubten  bezeichnen  zu  dürfen  (§.  16.) 


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Fünftes  Buch. 


Die  Organisation  der  Volkswirtschaft. 

§.  297  (2.  A.  S.  196 — 200).  Vorbemerkungen  über  die  Behandlung  des 
Gegenstands  und  Litteraturnach  weis.  Vgl.  hierzu  die  Einleitung  S.  5 ff.  und  die 
Litteraturnachweise  darin,  die  Vorbemerkungen  in  §.  108  zum  2.  Buche,  in  §.  144  zum 
3.  Buche  (S.  346),  namentlich  das,  was  dort  über  die  ungenügende  Unterscheidung 
des  privat-  und  eigentlich  volkswirtschaftlichen  Standpuncts  in  der  bisherigen 
Behandlung  der  Politischen  Oekonomie  und  über  dio  maassgebende  Bedeutung  der 
Begriffe  Wirtschaft  und  Volkswirthschaft  für  dicso  Wissenschaft  (S.  348) 
gesagt  wurde.  S.  ferner  die  Vorbemerkungen  zum  6.  Buche  und  in  der  2.  Abtheilung 
zu  den  dortigen  Büchern. 

Als  unmittelbare  Vorarbeiten  systematischer  Art  über  den  Gegenstand  dieses 
5.  Buchs  konnten  mir  für  die  beiden  ersten  Auflagen  dieses  Werks  eigentlich  nur 
Schäffle’s  Schriften,  bes.  sein  gesellschaftliches  System  der  menschlichen  Wirth- 
schaftslehre  dienen,  namentlich  in  der  Lehre  von  den  Ge meinwirthsc haften, 
besonders  in  der  2.  Aufl.,  deren  formelle  Behandlung  dieses  Gegenstands  ich  z.  Th. 
derjenigen  in  der  3.  Aufl.  vor/.iehe.  S.  2.  Aufl.  S.  62 — 64,  namentlich  S.  331  ff., 
§.  176  ff  (Allgemeinere  Characteristik  der  Gemeinwirthscbafteu,  dann  bes.  Arten  der 
Gemeinwirthschaften  S.  357  ff.,  wo  die  m.  E.  im  Wesentlichen  doch  nicht  zu  diesen 
Gemeinwirthschaften  zu  rechnende  Farn ilienwirth schaft  (s.  o.  S.  148),  dann  die 
Staats wirthschaft  S.  374  ff  in  vorzüglicher  Weise  analysirt  wird;  über  die 
Wechselwirkungen  des  privat-  und  des  gemeinwirthschaftlichen  Systems  S.  401  ff); 
ferner  3.  Aufl.,  II,  1 ff.  (wirtschaftliche  Triebfedern  in  der  menschlichen  Gesell- 
schaft) und  namentlich  der  2.  Hauptabschnitt  über  die  Organisation  der  Volkswirth- 
schaft. II,  20  ff.,  83  ff.,  69  ff„  103  ff.,  auch  I,  24.  In  der  3.  Aufl.  werden  die  drei 
Organisationsprincipien , besonders  auch  dasjenige  der  freien  Hingebung 
(Liberalität)  schärfer  auseinandergehalten  und  die  Consequenzen  daraus  gezogen,  aber 
die  Systematik  der  Behandlung  hat  in  der  3.  Aufl.  gegen  die  zweite  nicht  gewonnen. 
Ich  verdanke  diesem  Werke,  wie  einzelnen  Monographien  Schäffle’s  über  ein- 
schlägige Puncte  der  Theorie  vielfache  Förderung,  bin  indessen  unabhängig  von  ihm 
auf  die  uns  gemeinsamen  Grundanschauungen  gekommen.  Unsere  Uebereinstimmung 
hierin  hindert  übrigens  nicht,  dass  ich  auch  in  einzelnen  principiellcn  Puncten,  so 
z.  B.  in  der  Begrenzung  der  gemcinwirthschaftlicheu  Sphäre,  in  der  Ausschliessung 
der  Familienwirthschaft  daraus,  z.  Th.  auch  in  der  nationalökonomischen  Analyse  des 
Staats,  von  Schäffle  abweiche.  Letzterer  hat  diese  Probleme  später  im  „Socialen 
Körper“,  bes.  im  3.  ß„  passim  auch  in  den  andren,  wieder  aufgenommen  und  sie  in 
mehreren  Punctcn  noch  weiter  gefördert.  Vgl.  bes.  III,  365 — 398. 

In  der  übrigen  deutschen  systematischen  Litteratur,  vollends  in  der 
ausländischen  fehlte  ein  diesem  5.  Buch  entsprechender  Abschnitt  früher  fast 
noch  ganz.  Nur  sporadische  Bemerkungen  Uber  die  hier  behandelten  Gegenstände 
oder  Ausführungen  über  einzelne  Priucipienpuncte  (z.  B.  freie  Concurrenz,  Verhältniss 
der  Oekonomik  zur  Moral)  waren  zerstreut  in  anderen  Thcileu  des  Systems  der  maass- 
gebenden Autoren  zu  finden.  Am  Wenigsten,  seinem  vorwaltend  cameralistisch-privat- 
wirtbscbaftlichen  Standpuncte  gemäss,  bei  Rau,  vgl.  überhaupt  den  Abschn.  I der 
Einleitung  des  1.  Theils  (Volkswirtschaftslehre) , damit  indessen  den  unten  er- 
wähnten Aufsatz  von  1S70.  Die  nationalökonomischen  Systematiker  der 

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762 


5.  B.  Organis.  d.  Volksw.sch.  Vorbemerkungen.  §.  297. 


Smith’ sehen  Schule  haben  im  Wesentlichen  das  ganze  Lehrgebäude  der  Politischen 
Oekonomie  auf  das  wirthschaftliche  Selbstintere s so  des  Individuums 
begründet,  d.  h.  auf  diejenige  Potenz,  welche  nach  der  im  Texte  vertretenen  Auf- 
fassung nur  dem  privatwirthschaftlichen  und  theilweise  dem  frei-gemein- 
wirthschaftlichen  System  in  der  Volkswirtschaft  zu  Grunde  liegt,  und  welche  selbst 
in  jenem  nicht  so  rein  und  ausschliesslich  zur  Geltung  kommt,  wie  vielfach  angenommen 
wird.  — Das  hat  am  Besten  Knies  in  s.  Polit.  Oekouomie  1.  A.,  bes.  S.  147  fl., 
wenn  auch  vielleicht  mit  etwas  zu  scharfer  Reaction  gegen  die  herrschende  Auf- 
fassung, nachgewiesen,  s.  auch  2.  A.,  S.  223  ff.  und  die  Zusätze  zu  S.  243  ff.;  ähnlich 
Hildebrand,  Nationalöknn.,  S.  27  ff,  s.  auch  dessen  Aufs,  die  gegenwärtige  Auf- 
gabe der  Nationalökonomie  in  s.  Jahrbüchern,  1863,  B.  1;  vgl.  von  Früheren  Schütz, 
das  sittliche  Element  in  der  Volkswirtschaft,  Tüb.  Ztscbr.  1844,  und  von  Neueren 
besonders  Schmoller’s  Grundfragen  des  Rechts  und  der  Volkswirtschaft. 

Ich  nehme  nunmehr  in  dieser  3.  Aufl.  besonders  auf  die  darin  neu  enthaltenen 
Ausführungen  über  ökonomische  Psychologie  und  Motivation  im  1.  Kap.  des  1.  Buchs 
Bezug.  Erst  dadurch  wird  m.  E.  auch  für  die  Entscheidung  der  principiellen  Fragen 
in  diesem  5.  Buche  die  tiefere  und  allseitigere  Begründung  gegeben,  welche  in  den 
beiden  früheren  Auflagen  in  der  Behandlung  dieses  Gegenstands  noch  gefehlt  hat 
oder  wenigstens  nicht  ausreichend  gegeben  worden  war.  Doch  glaube  ich  im 
Uebrigcn  die  ältere  Behandlung  in  der  2.  Aufl.  sachlich  im  Ganzen  aufrecht  halten 
zu  dürfen  und  fand  auch  an  der  formellen  Bebandlungsweise  nicht  so  viel  zu  ver- 
ändern für  geboten.  Für  die  Debercinstimmung  mit  Autoren,  wio  Knies,  Hildebrand, 
Schäffle,  Schmoller,  Schönberg  und  neueren,  welche  z.  Th.  an  meine  Auffassung  an- 
geknüpft  und  daran  Kritik  geübt  haben,  wie  G.  Cohn,  Gross.  E.  Sax  (§.  298)  und  für 
die  Abweichungen  von  denselben  möchte  ich  mich  ebenfalls  jetzt  mit  auf  jenes  Kapitel 
über  die  wirthschaftliche  Natur  des  Menschen  im  1.  Buche  beziehen.  Meine  Auf- 
fassung und  Behandlung  der  Fragen  der  Organisation  der  Volkswirtschaft  hier  im 
5.  Buche  sind  wesentlich  zugleich  Consequenzen  jener  Grundauffassungen,  wie  ich  sie 
jetzt  dort  niedergelegt  habe.  Eben  deshalb,  räume  ich  eiu.  hätten  die  Ausführungen 
in  jenem  Kapitel  des  1.  Buchs  schon  in  den  früheren  Auflagen  nicht  fehlen  dürfen, 
um  diesem  5.  Buche  als  Fundament  zu  dienen,  daher  auch  ihm  vorangehen  müssen. 
Im  Folgenden  habe  ich  deshalb  auch  nur  auf  einzelno  Puncte  der  Kritik  und  Polemik 
gegen  meine  Ansichten  Rücksicht  genommen. 

Dass  neben  dem  wirtschaftlichen  Selbstinteresso  („Eigennutz“)  auch  andre 
Triebfedern  die  wirtschaftlichen  Handlungen  der  Menschen  bestimmen,  ist  zwar  auch 
früher  nicht  übersehen,  auch  oft  hinsichtlich  sittlich  guter  Potenzen  (Liebe,  Gemein- 
sinn) als  notwendig  bezeichnet  worden.  Aber  teils  wurde  die  Berücksichtigung 
dieser  Momente  (besonders  der  „Moral“,  Ethik)  wenigstens  als  ungehörig  in  der 
Theorie  der  Politischen  Oekonomie  bezeichnet:  es  bewirke  hier  nur  eine  wissen- 
schaftlich falsche  Vermengung  von  Ethik  und  Ockonomik,  wie  im  Ganzen 
namentlich  die  spätere  Smith’scho  Schule,  die  Bastiat’sche  Interessenharmonie- 
Theorie  und  die  sich  an  diese  anschliessende  sogen,  deutsche  Frei h andels- 
schule argumontirte;  teils  beschränkte  sich  die  Beachtung  von  Factoren,  wie  der 
Gemeinsiun,  auf  kurze  Berührung  in  einzelnen  mehr  practischen  Fragen,  wie  bei  der 
grossen  Mehrzahl  der  Schriftsteller;  theils  sollte  wenigstens,  nach  Hermann ’s 
bemerkenswerther  Auffassung  in  der  1.  Aufl.  s.  staatsw.  Untersuchungen  1.  Abh.,  in 
der  Theorie,  in  der  im  engeren  Sinne  sogen.  Volkwirthschaftslehre , nur  das 
Sclbstinteresse , der  Eigennutz  der  Individuen,  nicht  der  Gemeinsinn  oder  ein  der- 
artiger Factor  betrachtet  werden  und  erst  in  dem  practischen  Theile,  in  der 
Volkswirthschaftsp flöge,  die  Ergänzung  der  Theorie  durch  das  Studium  der  Function 
des  Gemeinsinns  erfolgen.  Diese  Ansicht  ist  derjenigen  Rau’s  analog,  die  theo- 
retische Volkswirtschaftslehre  und  die  ökonomische  Politik  zu  trenne n, 
d.  h.  schliesslich  doch  die  Volkswirtschaft  dort  ohne  Rücksicht  auf  den  Staat  zu 
betrachten.  (S.  darüber  jetzt  oben  §.  102  fl.,  bes.  S.  268,  275.)  In  der  2.  Aufl.  s. 
Unters,  hat  Hermann  in  der  1.  Abh.  S.  47  ff.  dem  Gemeinsinn  seine  Sphäre  in  der 
Collecti v Wirtschaft,  bei  den  öffentlichen  Aufgaben  der  Gemeinden,  Bezirke,  Pro- 
vinzen, des  Staats  im  Ganzen,  bei  den  von  ihm  sogen.  Z weck  wirtschaften  für  gewisse 
Collectivzwecke  einzelner  Gruppen  der  Bevölkerung  vindicirt.  Ich  kann  dieser  Auf- 
fassung Hermanns,  die  mehrfach  Anklang  gefunden  hat,  nicht  beistimmen.  In  der 


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Vorbemerkungen.  Littoratur. 


763 


theoretischen  Nationalökonomie  kann  nicht  nur  der  „Eigennutz“  betrachtet  werden, 
am  Wenigsten  als  ganz  gleich  bleibende  coustante  Ursache,  in  der  practischen  National- 
ökonomie oder  in  der  Volkswirtbscbaftspflege  nicht  nur  der  Gemeinsinn,  auf  welchen 
die  wichtigsten  Maassregeln,  z.  B.  des  Staats,  nur  bei  einer  durchaus  gezwungenen 
Sprechweise  zurückgefübrt  werden  würden.  Roscher  (§.  11,  Anm.)  hat  darin 
Recht,  dass  Eigennutz  und  Gemeinsinn  weder  coordinirto  noch  erschöpfende  Gegen- 
sätze bilden,  wenn  ich  dies  auch  anders  verstehe  als  er.  Auf  den  Gemeinsinu  kann 
man  jedenfalls  nur  freiwillige  Thätigkeiten  zurückführen,  also  etwa  einzelne  der 
unten  sogen,  freien  Gemeinwirthscbaften , die  meisten  davon  auch  nicht  mit  Recht, 
noch  weniger  die  viel  wichtigeren  Zwangsgemeinwirthschaften.  Der  Gemcinsinn  ferner 
stebt  dem  Selbstintcresse  nicht  nothwendig  entgegen,  sondern  verbindet  sich  mit 
diesem  oft  sehr  enge,  wie  besonders  in  manchen  freien  Gemeinwirthschaften. 

Nach  Roscher,  §.  11,  liegen  der  Wirthschaft  regelmässig  zwei  geistige  Trieb- 
federn zu  Grunde,  Eigennutz  und  die  Forderungen  der  Stimme  Gottes  in  uns,  des 
Gewissens,  worin  richtig  anerkannt  wird,  dass  jene  erste  Triebfeder  nicht  allein 
wirkt,  noch  wirken  darf  und  soll,  daher  auch  in  der  Nationalökonomie  nicht  allein 
zu  betrachten  ist  Aus  dem  harmonischen  Zusammenwirken  beider  Triebfedern  lässt 
Roscher  dann  den  Gemeinsinn  entstehen.  Damit  könnte  man  nooh  einverstanden 
sein.  Aber  wenn  es  dann  heisst:  auf  dem  Gemeinsinne  beruht  stufenweise  das  Familien-, 
Gemeinde-,  Volks-  und  Menschhcitsleben.  so  sind  hier  doch  schon  nicht  homogene 
noch  coordinirto  Elemente  neben  einander  gestellt,  in  denen  der  Gemeinsinn  eine  sehr 
ungleichartige  Rolle  spielen  müsste.  In  §.  12  heisst  es  dann  weiter:  durch  den 
Gemeinsinn  werde  das  bellum  omnium  contra  omnes,  die  Folge  gewissenlosen  Eigen- 
nutzes zwischen  den  Einzelwirtschaften,  zu  einem  höheren,  wohl  gegliederten 
Organismus  versöhnt;  auf  dem  Gemeinsinn  beruhten  die  so  verschiedenen  Formen 
und  Abstufungen  der  Gemein  wirthschaft:  die  Haus-,  Corporations-  und 
Associations- , die  Communal-,  dio  Volkswirtschaft.  Hiermit  wird  aber  doch  das 
specifisch  Verschiedenste  auf  diesen  Gemeinsinn  zurückgeführt  und  eben  deswegen 
dem  letzteren  eine  m.  E.  unmögliche  Leistungsfähigkeit  zugetraut,  welche  mit  den 
erfahrungsmässigen  Tbatsachcn  in  Widerspruch  steht.  Die  Volks  wirthschaft  kurzweg 
auf  dem  Gemeinsinn  beruhen  zu  lassen,  halte  ich  für  ebenso  einseitig,  als  sie  mit  der 
vorgeschrittenen  Smith’schcn  Schule  bloss  auf  das  Sclbstinteresse  zu  begründen.  Aehn- 
lich  wie  ich  urteilt  über  diese  Lehre  Roschers  Knies,  Pol.  Oek. , 2.  A.,  S.  250. 
Auch  in  den  neuesten  Auflagen  hat  Roscher  seine  Lehre  weder  nach  Inhalt,  noch 
nach  Form  irgend  wesentlich  geändert  und  nur  in  den  Noten  auf  die  abweichenden 
Auffassungen  neuerer  Autoren  hie  und  da  Bezug  genommen  (s.  20.  A.  von  B.  1,  §.  11  fl'.). 

A.  Smith  selbst  hat  nicht  nur  in  seiner  tbeory  of  moral  Sentiments  das 
Sy mpathieprincip  zum  leitenden  gemacht,  sondern  auch,  wie  schon  Knies,  1.  A., 
S.  14S  gegen  die  Tradition  gut  berichtigte,  das  sellintercst  der  Einzelnen  nicht  so 
unbedingt  als  mit  dem  Gesammtwohl  übereinstimmend  anerkannt,  fern  von  Bastia  t’schen 
Illusionen  über  den  Intcressenharmonismus.  Der  Ausdruck  Gemeinwirthschaft  wird 
von  Roscher  ferner  in  kaum  zulässiger  Weise  verallgemeinert,  wenn  er  damit 
einzel  w irthschaftliche  Gemeinwirthschaften,  wie  die  Hauswirthschaft  (einmal 
dazu  gerechnet)  jedenfalls  eine  sein  würde,  die  Corporations-  und  Communalwirthschaft 
eine  ist,  und  anderseits  die  Volkswirtschaft  bezeichnet,  welche  ausserhalb  eines 
streng  socialististischen  Systems  niemals  eine  Einzelwirthschaft  mit  einem  Subject  an 
der  Spitze  ist  (s.  o.  §.  147,  149). 

Mir  scheint  nun  das  Zugeständniss  nothwendig,  dass  in  der  Volkswirtschaft 
verschiedene  Organisationsprincipien  neben  einander  bestehen,  sich  er- 
gänzend und  mod ifici rend,  und  demgemäss  dann  verschiedene,  immer  vor- 
nemlich  (nicht  ausschliesslich.  §.  335)  auf  j e ei  n cm  dieser  Principien  beruhende  W' irt  h- 
schaftssysteme  oder  Kategorien  von  Einzelwirtschaften  in  Combination 
treten. 

Das  Selbstinteresse  muss  dabei  aber  auch  in  seinem  speciellen  Gebiete,  im 
pri vatwirthschaftlichen,  nicht  als  eine  immer  gleich  bleibende  noch  als  eine 
immer  gleich  wirksame  Kraft  angesehen  werden,  sondern  es  steht  selbst  wieder 
unter  dem  Einfluss  der  Sitte  und  Sittlichkeit  (des  Gewissens,  in  Roschers  Ausdrucks- 
weise): es  kann  und  soll  „moralisirt“,  allgemeiner  ausgedrückt:  zu  einem  Culturfactor 
erzogen  werden.  Diese  Möglichkeit,  bez.  Notwendigkeit  muss  bereits  in  der 
Untersuchung  des  privatwirthschaftlichen  Systems  oder  in  dem  theo- 


764 


5.  B.  Organis.  d.  Volksw.sch.  Vorbemerkungen.  §.  297. 


rctischen  Tkeile  der  Politischen  Oekonomio,  den  die  deutsche  Schule  nach  Raus 
Vorgang  von  dem  practischen  zu  trennen  sucht  (§.  103  ff.),  beachtet  werden  und 
daher  auch  bei  den  Schlüssen,  welche  man  aus  dem  Wirken  des  Selbstinteresses  ia 
den  einzelnen  Verkehrsacten  nach  der  Methode  der  Deduction  ableitet.  Die  Annahme 
eines  „reinen“,  „absoluten“,  in  allen  Personen  zu  allen  Zeiten  und  überall 
gleich  massig  wirkenden  Selbstinteresses  hat  deshalb  in  der  Hypothese  in 
der  Nationalökonomie  doch  ihre  volle  Berechtigung,  aber  nur  in  derjenigen  Be- 
schränkung, wie  dies  im  Gegensatz  zu  manchen  Anhängern  der  sogen,  historisch« 
Richtung  in -Deutschland,  aber  in  Uebereinstimmung  mit  J.  St.  Mill  (Logik),  jetzt 
in  dieser  3.  Aufl.  dieses  Werks  im  2.  Kapitel  des  1.  Buchs  (2.  H.-A.  Metbodenlebre:. 
näher  dargelegt  und  begründet  wurde.  Auch  in  der  Theorie  und  io  der  Lehrt 
vom  privat  wirtschaftlichen  System  müssen  alsdann  jedoch  die  aus  dem  Wirs« 
eines  solchen  bloss  hypothetischen  reinen  Selbstinteresses  abgeleiteten  Schlüsse 
sofort  ihre  Berichtigung  finden , indem  die  das  Selbstiuteresse  in  der  Wirklichkeit 
selbst  modificircndeu  Factoren  (andere  egoistische  und  nichtegoistische  Motive,  s.  <s. 
§.  33  !F.,  69  11'.,  gute  und  schlechte  Potenzen,  s.  u.  §.  315)  mit  in  die  Unter- 
suchung gezogen  werden.  Dieser  Forderung  redet  in  seiner  vortreff  lichen  Schrift 
über  Mill’s  Ansichten  in  der  socialen  Frage  auch  Lange  das  Wort,  indem  er  is 
der  Einleitung  mit  Recht  sagt,  dass  die  einstweilige  Berücksichtigung  der  Moral  ia 
der  angewandten  Volkswirtschaftslehre  nicht  auf  die  Dauer  genüge,  soudem  die  Moral 
wenigstens  später,  in  die  cxacte  ökonomische  Theorie  mit  aufgeuomoien  werden 
müsse  (bes.  S.  16  tf.).  Ebenso  in  voller  Zustimmung  zu  Lange,  von  dem  er  mit 
Recht  rühmt,  dass  er  „in  Bezug  auf  die  Methodik  der  Volkswirtschaftslehre  durchaus 
den  richtigen  Standpunct  vertrete“,  v.  Mango  Id  t,  in  seiner  vorzüglichen  letzten  Abh. 
„Volkswirtschaft  im  Staatswörterb.  XI,  112,  eine  Auffassung,  aus  der  v.  Mangoldt 
in  seiner  leider  durch  den  Tod  allgebrochenen  „Volkswirtschaftslehre“  (Stnttg.  186$} 
schon  manche  Consequenzen  zog,  mehr  als  in  seinem  Grundriss.  Diese  Annahme 
eines  nicht  unwandelbaren  Selbstinteresses  ist  in  dem  bedeutendsten  theoretischen 
Werke  der  historischen  Schule,  schon  in  der  1.  Aufl.  von  Knies’  „Die  Politische 
Oekonomio  vom  St&ndpuncte  der  geschichtlichen  Methode“,  auch  der  rothe  Fade«, 
welcher  die  ganze  Darstellung  durchzieht  Die  Zusätze  in  der  2.  Aufl.  haben  hier 
noch  manche  weitere  werthvolle  Ausführungen  gebracht.  Auf  dies  Werk  und  a ni 
Schmoller’s  „Grundfragen“,  bes.  S.  37  ff.  („der  Egoismus  ist  niemals  eine  feste 
Potenz,  eine  gleichmässige  Grösse“)  verweise  ich  daher  besonders.  Schmollet 
gegenüber  freilich  mit  den  Vorbehalten,  welche  sich  aus  meiner  Motivationsteorie 
und  Methodologie  oben  im  1.  Buche  ergeben  (s.  u.  A.  o.  S.  90,  Note).  S.  ferner 
Hildebrand,  Nationalökonomie  der  Gegenwart  und  Zukunft,  S.  27  ff.;  Ders.,  gegen- 
wärtige Aufgabe  der  Wissenschaft  der  Nationalökonomie,  gewissennaassen  Programm- 
aufsatz. Jahrb.  I (1863),  S.  5 fl..  137  ff.;  G.  Cohn,  Bedeutung  der  Nationalökon.  n. 
Stellung  im  Kreise  der  Wissenschaften,  Berl.  1869;  Bischof,  Grundzüge  eines 
Systems  d.  Nationalökon.,  Graz  1874,  S.  19  ff.;  Contzen,  Einl.  in  d.  staats-  und 
volksw.  Stud.,  Leipzig  1870.  — Von  besonderem  Interesse  ist  auch  die  letzte  Abh. 
Rau ’s  in  der  Tüb.  Ztschr.  1870,  XXVI,  106 — 121  „Bemerkungen  über  die  Volks- 
wirthschaftslebre  und  ihr  Verhältnis  zur  Sittenlehre“,  wo  der  verohrte  Altmeister  mit 
der  ihm  eigenen  ruhigen  Objectivität  und  Klarheit  die  Einwendungen  gegen  die  Be- 
gründung der  Volkswirtschaftslehre  auf  den  Eigennutz  auf  ihr  richtiges  Maas; 
zurückzuführen  sucht,  auch  eine  wirthscbaftlicho  Sittoulchre  statuirt  (S.  110 
und  iregenüber  dem  mehr  privatwirthscliaftlichen  Standpuncte  seines  Systems  doch 
mancherlei  Conccssioncn  macht,  freilich  mehrfach  in  der  Weise,  dass  er  meint,  die 
bisherige  Nationalökonomie  habe  die  ihr  zugeschriebene  Einseitigkeit  theils  gar  nicht 
besessen,  theils  mit  Recht  fcstgehalten.  Kau ’s  Standpunct  wird  indessen  am  Besten 
in  Verbindung  mit  seiner  Systematisirung  und  Einteilung  der  Politischen  Oekonomie 
geprüft;  s.  daher  oben  Buch  1,  S.  266  fl'.  Beachtenswert  ist  in  jener  Abhandlung 
auch  Raus  Auffassung  der  Volkswirtschaft.  Er  sagt  darüber  S.  114:  sic  ist  ein 
aus  Einzelwirtschaften  in  einem  Volke  bestehendes,  auf  der  freien  Verbindung 
derselben  beruhendes  grosses  Ganze,  eine  Vielheit,  zusammengehalten  durch  das 
Land  und  die  Unterwerfung  unter  die  uemliche  Staatsgewalt  Aber  ans 
letzterem  Zusatze  werden  die  Consequenzen  hinsichtlich  der  staatlichen  Organisation 
der  Volkswirtschaft  nicht  gezogen.  Rau  hat,  wie  sich  S.  115  fl’,  zeigt,  doch  immer 
nur  die  tauschwirthschaftliche  Seite  der  Volkswirtschaft,  also  das  privat- 


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Vorbemerkungen  und  Litteratur. 


765 


wirtschaftliche  System  vor  Augen.  Vgl.  Roscher’s  ganz  richtige  Bemerkung  über 
Rau  in  seiner  Geschichto  der  Nationalökonomio,  S.  860.  — Die  Beziehungen 
zwischen  Nationalökonomie  und  Moral  sind  mehrfach  in  der  fran- 
zösischen Litteratur  untersucht,  z.  Th.  in  Folge  der  äusseren  Anregung  durch  eine 
Preisaufgabc  der  französischen  Acad6mie  des  Sciences  mor.  et  polit.  im  J.  1857  über 
das  Thema:  „detcrmincr  les  rapports  de  la  morale  avec  l’öconomie  politique“.  S.  be- 
sonders die  preisgekrönte  Schrift  von  A.  Rondel  et,  du  spiritualisme  en  economic 
politique,  Par.  1859,  namentlich  preface  und  introduction.  Auch  Baudrillart  u.  A.  in. 
Leber  A.  Smith  speciell  mit  Rücksicht  auf  das  Verbältniss  von  Ethik  und  Oekonomik 
s.  auch  A.  Oncken,  Ad.  Smith  und  Kant,  1.  B..  Lpz.  1877,  und  v.  Skarzynski, 
A.  Smith,  Berl.  1878.  Aus  der  neuesten  Zeit  die  oben  S.  71  gen.  Schriften,  bes. 
Zeyss,  Schubert  und  namentlich  W.  Hasbach  (S.  5). 

Ein  zweites  Organisationsprincip  liegt  denjenigen  Einzelwirtschaften  zu  Grunde, 
w’elche  im  Text  mit  dem  Namen  „caritatives  System“  zusammengefasst  werden. 
Der  Ausdruck  „Gemeinsinn“  ist  hier,  wenigstens  ohne  Zwang,  nicht  allgemein 
anwendbar.  Es  handelt  sich  um  eine  Reihe  moralischer  Potenzen  und  geistiger 
Triebfedern,  durch  welche  absichtlich  und  freiwillig  das  Selbstintercsse  über- 
wunden, nicht  nur,  wie  im  privatwirthschaftlichon  Verkehr  eines  gesitteten  und 
sittlichen  Volks,  gezügelt  oder  modißeirt  wird:  daher  das  fünfte  der  von  mir  oben 
unterschiedenen  Leitmotive,  der  Trieb  des  inneren  Gebotes  zum  sittlichen  Handeln, 
(§•  45,  46),  vornemlich  cinwirkt,  eigentlich  allein  einwirken  sollte,  wenn  auch  andere 
Motive,  besonders  Formen  des  dritten  (§.  39  ff-,  Eitelkeit  u.  dgl.!)  vielfach  mit  oder 
selbst  allein  wirken.  Zwischen  dem  privatwirthschaftlichen  und  caritativen  System  ist 
daher  der  Gegensatz  ain  Meisten  ein  priucipieller,  wie  dies  u.  A.  die  vorgeschrit- 
tene Smith 'sehe  Schule  in  ihrer  Abneigung  gegen  gewisse  Arten  der  Wohlthätigkcit 
und  Unterstützung  zoigt,  — gelegentlich  selbst  in  der  principiellen  Verwerfung  aller 
Einnahmen,  die  nicht  streng  auf  dem  Princip  von  Leistung  und  Gegenleistung  be- 
ruhen, was  z.  B.  in  der  Steuerlehre  ganz  folgerichtig  zu  der  unhaltbaren  Verallge- 
meinerung des  Gebührenprincips  führt,  (s.  meine  Finanz.  I,  3.  A.  §.  201,  204,  II,  2.  A. 
§.  15  ff.,  83  ff) 

Dagegen  halte  ich  cs  mit  Knies  für  eine  Täuschung  und  für  unlogisch  und  mit 
den  Thatsachen  in  Widerspruch,  das  gemeinwirthschaftlichc  System  auf  den 
Gemeinsinn  oder  auf  eine  ihm  verwandte  geistige  Triebfeder  zurückzuführen.  In 
den  freien  Gemcinwirthschaften  waltet  doch  in  erster  Linie  ein  richtig  verstandenes, 
wenn  auch  gezügeltes  und  sich  absichtlich  freiwillig  beschränkendes  Selbstinter- 
esse vor  den  etwa  mitspielcnden  gemeinnützigen  Motiven  vor  (§.  312).  Die 
viel  wichtigere  Gruppe  der  Zwan gsgemeinwirthschaften  kann  man  aber  überhaupt 
ohne  die  unhaltbare  Fiction  eines  frei  geschlossenen  Staatsvertrags  gar  nicht  auf  einen 
freiwilliges  gemeinsames  Handeln  der  betheiligten  Individuen  voraussetzendeu 
Factor,  wie  der  Gemeinsinn,  zurückführen,  ebensowenig  als  auf  das  individuelle 
Selbstinteresse,  das  in  der  That  der  Einfügung  einer  Wirtschaft  in  eiuc  Zwangs- 
gemeinwirthschaft  oft  abgeneigt  ist  und  vom  Standpunct  des  eiuzelwirthschaftlichen  Vor- 
theils  aus  mitunter  mit  Recht  (§.  348).  Die  Zwangsgemeinwirthschaften  beruhen  vielmehr 
auf  einer  freilich  im  Gesam mtintercsse  der  Gattung  (des  Volks,  der  Ortsbewohner, 
einer  gegen  gewisse  Gefahren  zu  schützenden  Gemeinschaft  von  Personen  u.  s.  w.), 
aber  eben  deshalb  oft  mit  Hinwegsetzung  Uber  das  Interesse  des  Individuums, 
von  der  organisirten  Gewalt  im  Volke  gegebenen  Ordnung,  in  letzter  Linie 
daher  immer  auf  dem  Principe  der  organisirten  und  selbst  wieder  organisirenden 
Staatsmacht,  wenn  auch  dabei  bei  Untertanen  und  Obrigkeit  die  seelischen  Mo- 
tive, wie  sie  im  1.  Buche  dargclegt  wurden,  wieder  mitspielen  (§.  300,  346).  So  jetzt 
auch  in  Modification  seiner  früheren  Lehre,  mir  beistimmend  Schäffle  (Soc. 
Körper  III,  367).  Diese  organisirende  Thätigkeit  der  Staatsmacht  muss  in  der  Volks- 
wirtschaft im  wahren  Gesammtinteresso  in  der  Bildung  der  Zwangsgemeinwirth- 
schaften und  in  der  Feststellung  des  Bereichs  oder  der  Competcnz  einer  jeden,  ein- 
schliesslich des  Staats,  und  damit  auch  in  der  Abgrenzung  des  Bereichs  der  drei 
Wirtschaftssysteme  gegeneinander,  sich  vollziehen:  das  ist  die  schwierige  Aufgabe, 
welche  in  der  Lehre  vom  zwangsgemeinwirthschaftlichen  System  und  vom  Staate 
speciell  (Buch  6)  zu  lösen  ist.  Diese  Aufgabe  gehört  aber  in  die  Nationalökonomie, 
wie  dies  allerdings  bisher  am  Schärfsten  und  Consequentcsten  die  socialistischen 

A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlagen.  49 


766 


5.  B.  Orgauis.  d.  Volksw.scb.  Vorbemerkungen.  §.  298. 


Theoretiker  Von  St.  Simon,  Fourier  und  L.  Blanc  bis  auf  Rodbcrtus  und 
F.  Lassallc  betont  haben,  eine  Forderung,  welche  den  immer  noch  vorhandenen 
richtigen  Kern  selbst  in  den  Fourierschen  Phantastereien  bildet.  Was  Lassalle  in 
seinem  Vortrag  „Uber  Verfassungswesen4',  Berlin  1862,  über  die  entscheidende  Be- 
deutung der  realon  Machtverhältnisse  für  die  wirkliche  (im  Gegensatz  zur  papiernen) 
politische  Verfassung  sagt,  das  gilt  auch  von  der  volkswirtschaftlichen  Verfassung, 
in  welcher  dio  gcmeinwirthschaftlichc  Organisation  zu  Gunsten  der  privatwirthschaft- 
lichen  und  caritativen  eingeengt,  aber  auch  ebensogut  und  bei  fortschreitenden  Cultur- 
völkern  immer  stärker  auf  Kosten  dieser  beiden  anderen,  besonders  des  privatwirth- 
schaftlichen  Systems,  ausgedehnt  werden  kann  und  wird  (s.  schon  oben  §.  295 
und  unten  Buch  6). 

Von  diesem  Standpuncte  aus  erweitert  sich  dann  freilich  das  Gebiet  der 
V o lksw i rthschaf ts  1 eh  re  sehr.  Die  früher  nur  sogenannte  Volkswirtschafts- 
lehre ist  wenig  mehr  als  eine  Lehre  des  rein  pri vat wirtschaftlichen  Systems,  der 
man  einen  so  engen  Namen,  wie  Tauschlchre,  Katallaktik,  von  xcnaM.ctytj, 
Tausch  (Whately),  Plutologie.  von  Reichthum  Oiearne)  wohl  allen- 

falls geben  konnte  (s.  o.  S.  266).  Die  in  diesem  Werke  von  mir  vertretene  Auffassung 
ist  m.  E.  aber  auch  ciuc  notwendige  Conscquenz  der  Einbeziehung  der  persönlichen 
Dienste  und  Verhältnisse  in  die  wirtschaftlichen  Güter  (s.  o.  §.  121). 

§.  298.  Fortsetzung.  Neuere  Littcratur  zur  Kritik  der  Lehre  von 
der  Organisation.  Mehrfach  sind  meine  Auffassungen  und  Begriffsbestimmungen, 
so  über  Gcmeinbedürfniss,  gemeinwirthschaftliches  Princip  und  System,  beider  letzterer 
Unterscheidung,  Wesen  der  Gemeinwirthschaft  u.  a.  in.,  wie  sie  in  den  früheren  Auf- 
lagen, besonders  in  der  zweiten,  gegeben  waren  (S.  197  ff.),  in  der  neueren  deutschen 
Litteratur  als  Anknüpfungspunct  lür  weitere  theoretische  Untersuchungen  über  diese 
Fragen  der  Organisation  benutzt,  dabei  aber  auch  einer  mehr  oder  weniger  scharfen, 
zum  Theil  ablehnenden  Kritik  unterzogen  worden.  Ich  hebe  daraus  folgende  Arbeiten 
besonders  hervor. 

Gross  hat  in  der  beachtenswerten  und  klargedachten  wie  klar  geschrie- 
benen Schrift  Wirtschaftsformen  und  Wirthschaftsprincipicn  (Leipzig  1SS8),  später 
in  Kürze  in  dem  Art.  Gemeinwirthschaft  im  H.-W.-B.  d.  Staatswiss.  (II,  803)  nach- 
zuweisen  gesucht,  dass  schärfer,  folgerichtiger  und  klarer,  als  ich  cs  getan  hätte, 
zwischen  Wirthschaftsprincipicn,  „Grundsätzen,  nach  welchen  bei  der  Verfolgung  des 
Wirth Schaftszwecks  vorgegangen,  nach  welchen  demnach  der  Verkehr  gestaltet  werde,“ 
und  Wirtschaftsformen,  „d.  b.  der  verschiedenartigen  Gestaltung  der  Wirthschafts- 
subjectc“  unterschieden  werden  müsse.  Die  characteristischen  Merkmale  der  Wirth- 
schaftsprincipien  lägen  nicht  in  der  Gestaltung  des  die  einzelnen  Wirthschaftsactc 
vornehmenden  Subjects,  sondern  in  der  Gestaltung  der  Wirthschaftsactc  selbst  (II.- 
W.-B.  II,  804).  Ich  gebe  zu,  dass  ich  vielleicht  in  der  Wortfassung  zu  diesem  Tadel 
mitunter  Anlass  gegeben,  im  Sinne  gleichwohl  kaum.  Auch  bleibt  cs  meiner  An- 
sicht nach  eben  doch  wahr,  dass  die  „Gestaltung  des  Wirthsckaftssubjects“,  wie  bei 
den  Gemcinwirthschaften,  eine  Folge  und  anderseits  eine  Voraussetzung  der  Verwirk- 
lichung des  — nicht  ausschliesslich,  aber  vornemlich  (§.  335)  — die  Gestaltung  der 
Wirthschaftsactc  bestimmenden  Princips  ist.  In  der  Gemeinwirthschaft  wird  auch  das 
Wirthschaftssnbject  so  construirt,  dass  eine  andere  Motivation  der  wirtschaftlichen 
Handlungen,  als  die  in  der  Privatwirtschaft  wegen  der  Macht  des  wirtschaftlichen 
Selbstintercsses  vorherrschende,  erleichtert  bezw.  selbst  erst  ermöglicht  wird.  Doch 
habe  ich  jetzt  in  der  formellen  Behandlung  einigen  der  Gross’schcn  Bedenken  Rech- 
nung getragen  (s.  u.  A.  bes.  §.  300,  335). 

Einiges  in  dieser  Kritik  von  Gross  stimmt  dem  Sinne  nach  mit  kritischen  Ein- 
wendungen anderer  Autoren  gegen  mich  überein. 

G.  Cohn  hat  in  dem  Aufsatz  Gcmeinbedürfniss  und  Gemeinwirthschaft,  „ein 
Wort  zur  Terminologie  der  Volkswirtschaftslehre“  (Tüb.  Ztschr.  f.  Staatswiss.  1881, 
B.  37,  S.  464 — 495)  namentlich  meine  Aufstellung  und  Fassung  dieses  Begriffs  Gc- 
meinbedürfniss  angegriffen,  ebenso  wie  den  Umfang,  welchen  ich  diesem  Begriff  durch 
die  Einreihung  der  zu  diesen  Bedürfnissen  gerechneten  Fälle  gebe.  Er  gelangt  eigent- 
lich zur  Verwerfung  des  ganzen  Begriffs.  Zum  Theil  knüpft  er  an  die  Verwendung 
des  Regrilfs  bei  anderen  Autoren,  bes.  Hermann,  Schäfflc  an,  sowie  in  meiner  in 
demselben  Bande  der  Tüb.  Ztschr.  enthaltenen  Abh.  „der  Staat  lind  das  Versicherung?- 


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Neuere  Litteratur  zur  Kritik, 


767 


wesen“,  „principicllc  Erörterungen  über  die  Frage  der  gemeinwirthschaftlichen  oder 
privatwirthschaftlicben  Organisation  dieses  wirthschaftlichen  Gebiets  im  Allgemeinen“ 
(eb.  S.  102 — 172,  auch  selbständig  erschienen),  eine  Arbeit,  auf  die  ich  mich  auch 
für  die  Fragen  dieses  5.  Buchs  mitbeziehe  (wie  ebenfalls  auf  Weiteres  hierüber  in 
meiner  Abhandlung  über  Versicherungswesen  im  Schönberg’schen  Handbuch,  B.  II). 
Was  mir  G.  Cohn  hier  eigentlich  vorwirft,  ergiebt  sich  aus  einer  Stelle  seines  Systems 
B.  I (S.  187)  noch  deutlicher:  mein  ganzer  Begriff  „Gemein bedürfniss“  sei  nur  aus 
der  hastigen  Ungeduld  zu  erklären,  das  in  der  neueren  Nationalökonomie  betonte 
Moment  der  Gemeinschaft  in  die  ersten  Begriffe  der  Wissenschaft  hinein  zu  bringen, 
wo  dann  mit  logischer  Nothwendigkeit  alles  Weitere  aus  dem  so  festgestelltun  Begriffe 
von  selber  folget  „eines  der  schlagendsten  Beispiele  für  die  Willkühr,  mit  welcher 
aus  den  Controversen  der  practischen  Gegenwart  die  Entscheidung  für  eines  der  beiden 
Extreme  herausgenommen  und  um  grösserer  Beweiskraft  Willen  in  die  ersten  Begriffe 
der  Wissenschaft  hinein  verlegt  werde.“  M.  a.  W„  mein  Begriff  des  Gemeinbcdürf- 
nisscs,  dessen  Mängel  Cohn  in  der  gen.  Abh.  weiter  zu  zeigen  sucht,  beruht  also 
hiernach  auf  einer  petitio  principii  und  dient  nur  zur  Vorwegnahme  der  Lösung 
practischer  Probleme  der  Gegenwart.  Ich  kann  mich  diesem  Vorwurf  gegenüber 
indessen  darauf  beziehen,  dass  ich  grade  in  den  weitaus  wichtigsten  Fällen  von 
„Gemein Bedürfnissen“  mit  den  allgemeinsten  menschlichen  Gemeinschafts- 
Verhältnissen  zu  thun  habe,  welche  mit  Lösung  moderner  practischer  Fragen  nicht 
mehr  als  mit  derjenigen  von  uralten  Fragen  des  Menschengeschlechts  zu  thun  haben. 
Allerdings  aber  halte  ich  daran  fest,  dass  auch  auf  diesem  Gebiete,  und  n.  A.  in  der 
That  auch  durch  Entwicklung  der  Productionstcchnik.  neue  Fälle  von  Gemeinbedürf- 
nissen hinzutreten  (s.  auch  Sax,  Grundlegung,  S.  198 — 199).  Im  Uebrigen  möchte 
ich  mich  zur  Kritik  von  Cohn’s  Polemik  auch  mit  auf  Sax  beziehen,  der  zwar  in 
einzelnen  Puncten  Cohn  beistimmt,  aber  doch  au  dem  Begriff  Gemeinbedürfniss 
(Collectivbcdürfniss),  mehr  formell  als  sachlich  von  mir  abweichend,  festhält  und 
darauf  selbst  einen  Haupttheil  seiner  theoretischen  Staatswirthschaft  aufbaut. 

M.  E.  widerlegen  sich  Cohn’s  Einwändc  gegen  meine  Auffassung  von  Gemein- 
wirthschaft  schon  durch  mein  Zugeständniss  an  Gross.  Ich  habe  aber  auch  früher 
schon  deutlich  hervorgehoben,  dass  z.  B.  die  staatliche  Gemeinwirthschaft  nur  ihrer 
Construction  und  ihrer  Hauptaufgabe  nach  dem  gemeinwirthschaftlichen  Princip  der 
generellen  Kostendeckung  huldigen  könne  und  thatsächlich  huldige  (Herstellung  all- 
gemeiner öffentlicher  Leistungen,  die  dann  „frei  genossen“  werden,  und  Kostendeckung 
derselben  mit  allgemeinen,  nach  besonderen  Maassstäben  aufgelegten  Steuern).  Aber 
ich  habe  stets  zugleich  betont,  dass  anderseits  auch  in  der  Gemeinwirthschaft  privat- 
wirthschaftlich  verfahren  werden  könne  und  verfahren  werde  (2.  Aufl.  S.  216,  wo 
ausdrücklich  auf  Doinanialwirthschaft.  Gebührenprincip  hingewiesen  wird).  Dadurch 
erledigen  sich  daher  Cohn’s  schiefe  Fragestellungen  Tüb.  Ztschr.  S.  492. 

Cohn  confundirt  aber  eben  in  der  ganzen  Streitfrage  die  drei  Punctc,  welche 
es  rechtfertigen,  vom  Vorhandensein  von  „Gemeinwirthschaft“  zu  sprechen:  einmal, 
weun  sachliche  Productionsmittel  an  den  öffentlichen  Körper  übertragen  sind  und 
damit  unter  dessen  Leitung,  in  dessen  Auftrag  producirt  wird  („partieller  Socialismus 
auf  dem  Productionsgebiete“  §.  295  S.  757);  zweitens,  wenn  im  öffentlichen  Beamten- 
system, nach  dessen  Normen  für  das  Besoldungswescn,  jene  im  vorigen  Buche,  Kap.  2, 
mehrfach  berührte  besondere  Art  der  ., Verkeilung  des  Productionsertrags“  zwischen 
Arbeitern  (Beamten)  und  Arbeitgeber  (Staat)  erfolgt  („partieller  Socialismus  auf  dem 
Vertheilungsgebiete“  S.  758);  drittens,  wenn  die  producirtcn  Güter  (Leistungen)  nach 
dem  Princip  der  generellen  Kostendeckung  mittelst  allgemeiner  Steuern  ganz  oder 
wenigstens  theilweise  bezahlt  werden,  dem  einzelnen  Nutzuicsser  aber  dann  unent- 
geltlich oder  nach  anderen  Preisnormen,  auch  wohlfeiler,  als  nach  den  Preisen  im 
Concurrcnzsystem,  zur  Verfügung  stehen.  Nur  wenn  alle  diese  drei  Bedingungen 
erfüllt  sind,  und  zwar  auch  die  letzte  so,  dass  die  Leistungen  dem  Einzelnen  als 
„freies  Genussgut“  zustehen,  ist  volle,  wenn  eine  oder  zwei  davon  erfüllt  sind  oder 
bei  der  dritten  theilweise  Kostendeckung  nach  specieller  Entgeltlichkeit  erfolgt  (Ge- 
bührenprincip),  ist  partielle  Gemeinwirthschaft  vorhanden,  oder,  nach  meiner  fest- 
gehaltenen Terminologie  (§.  293)  voller  oder  partieller  Communismus.  Wenn  nicht 
ausdrücklich  so  gefasst,  ging  diese  meine  Ansicht  doch  implicitc  aus  den  ganzen 
Abschnitten  der  2.  Aufl.  hervor,  wo  über  diese  Fragen  gehandelt  wurde.  Was  Cohn 

49* 


768 


5.  B.  Organis.  d.  Volksw.sch.  Vorbemerkungen.  §.  298. 


(a.  a.  0.  S.  4S6)  über  Unterscheidung  eines  formellen  und  materiellen  Princips  bei 
der  Gemeinwirthschaft  sagt  (im  ersten  Fall  denke  man  an  einheitliche  Veranstaltung, 
im  zweiten  an  Ausschluss  egoistischer  Abrechnung  zwischen  Opfer  und  Genuss')  ist 
ganz  richtig,  aber  doch  wahrlich  nicht  von  mir  übersehen,  wie  schon  meine  von  Cohn 
oben  in  seiner  Polemik  unbeachtet  gelassenen  Ausführungen  in  §.  109  d (S.  171  ff.) 
der  2.  Auf!,  zeigen.  Man  muss  doch  auch  in  solcher  polemischer  Kritik  dem  Gegner 
nicht  etwas  imputiren,  was  er  vernünftiger  Weise  nicht  gemeint  haben  kann.  So  z.  B. 
wenn  man  eben  bei  in  anderer  Hinsicht  verschiedenen  Einrichtungen,  wie  altrömi- 
scher Getreidcvertheilung  und  ücbernahme  von  Verkehrsaustaltcn , Gas-  und  Wasser- 
werken auf  Staat  und  Gemeinde,  das  hier  allein  gemeinte  Aehnliche,  nemlich 
die  Entziehung  dieser  Veranstaltungen  zur  Bedürfnisbefriedigung  aus  den  Händen 
der  Privatwirtschaft  und  die  dadurch  bedingte  Möglichkeit,  andere  als  die 
rein  privatwirthschaftlichen  Entgeltlichkeitsprincipien  anzuwenden,  ignorirt  (vgl.  2.  Aufl. 
dieses  Werks  S.  206  Note  8 und  Cohn,  Tüb.  Ztschr.  S.  489  ff.).  Denselben  Einwand 
habe  ich  gegen  Cohns  Bemerkung  (eb.  S.  488)  über  meine  Auffasssung  des  fran- 
zösischen Tabakmonopols  (Tüb.  Ztschr.  1879  S.  89)  als  eines  gelungenen  Stücks  künst- 
licher Organisation  der  Arbeit  zu  machen.  „Ihr  legt  nicht  aus,  Ihr  leget  unter“,  wo 
dann  freilich  die  Kritik  leicht  wird. 

Das  Bedeutendste  und  Schärfste  zur  Kritik  meiner  Lehre  und  zur  Fortbildung 
der  Theorie  der  Gemeinbedürfnisse  und  der  Gemeinwirthschaft  hat  E.  Sax  in  seiner 
Grundlegung  der  theoretischen  Staatswirthschaft  boigetragen.  Von  diesem  Werke 
kommen  hier  grössere  Abschnitte  in  Betracht,  specicll  die  Ausführungen  im  Abschn.  IV 
über  Bedürfnis  u.  s.  w.  S.  172  ff.,  bes.  über  die  Collectivbedürfnisse  S.  179  ff.,  mit 
der  Kritik  meiner  Lehre  von  den  Gemeinbedürfnissen  S.  183  ff.  Die  übermässig 
abstracte  ßehandlungsweise  und  die  Fassung  machen  es  freilich  auch  hier,  wie  in 
dem  ganzen  Werke,  nicht  leicht,  dem  scharfsinnigen,  aber  oft  auch  spitzfindigen 
Denker  immer  genau  zu  folgen.  Seine  Polemik  gegen  mich  und  seine  ganze  Auf- 
fassung hängt  aber  auch  mit  anderen  Differenzpuncten  unter  uns,  so  über  den  Umfang 
des  Begriffs  Gut  zusammen,  wo  Sax  die  Dienste  und  Verhältnisse  ausschliesst  (S.  199  ff., 
vergl.  obeu  §.  120).  Sax  sucht  nachzuweisen,  dass  Hermanns,  auch  Kodbertus* 
(u.  A.  über  das  „Nationalbedürfniss“.  Kapital,  S.  73  ff.,  vgl.  die  Angaben  von  Sax 
S.  182,  Note)  und  ebenso  meino  Auffassung  von  Gemeinbedürfniss  unzulänglich  sei. 
Er  verwirft  meine  Begriffsbestimmung,  gesteht  indessen  zu.  dass  meine  „Liste  der 
Gemeinbedürfnissc“  objectivc  Gemeinbedürfnisse  im  richtigen  Sinne  umfasse  und 
eine  daran  geübte  Kritik  (also,  ohne  dass  Sax  ihn  neuut,  diejenige  Cohn's)  ihr  Ziel 
vollständig  vcifelile  (S.  186),  aber  ich  beginge  Irrthümer  in  Betreff  der  Unterarten, 
confundirte  Bedürfniss  und  Gut  und.  wie  alle  anderen  bisherigen  Theoretiker,  ignorirte 
auch  ich  über  dem  Begriff  Collcctivbedürfniss  im  objccton  Sinne  den  Begriff  im 
subjectivcn  Sinuc  (S.  191).  Ich  kann  dem  Allen  gegenüber  doch  nur  zugeben, 
dass  meine  Fassungen  hier  und  da  für  diese  Kritik  Anbaltspuncte  gegeben  haben 
mögen,  nicht  der  m.  E.  doch  nicht  eigentlich  misszuvcrstchende  Sinn  meiner  Aus- 
führungen. In  Betreff  dieses  letzteren  glaube  ich  mich  auch  mit  Sax  mehr  einig,  als 
er  annimmt,  kann  daher  auch  seine  eigenen  Erörterungen,  so  werthvoll  sie  inhaltlich 
sind,  doch  nicht  für  so  neu  und  eigenartig  halten.  Und  ob  sie  in  der  Fassung  wirk- 
lich so  viel  gelungener  sind?  Ich  finde  die  Fassung  auch  hier  wieder  zu  abstract. 
die  Ausdrucksweise,  wie  oft  bei  Sax,  zu  geschraubt,  was  weder  immer  auf  volle 
Klarheit  des  Gedankens  bei  einem  Autor  hindeutet,  noch  wenigstens  dem  Leser  diese 
Klarheit  Uber  das,  was  der  Autor  eigentlich  meint,  zu  gewinnen  erleichtert.  Zum 
Beispiel  S.  179  ff.:  Anknüpfend  an  „collcctivistischc  Bewusstscinserregungen“  entsteht 
bei  Sax  das  „Collcctivbedürfniss“ : „die  Bewusstscinszustände  der  Gemeinschaft  bezüg- 
lich der  Gebundenheit  der  concreten  Lebenszwecke  gegenüber  den  Dingen  der  Aussen- 
welt.  Die  einzelnen  Collcctivlebenszwcekc  in  dieser  Bedingtheit  sind  die  Gemein- 
bedürfnissc im  objcctivcn  Sinne  des  Worts,  die  entsprechenden  psychischen  Vorgänge 
in  den  collectivistisch  verbundenen  Individuen  die  Collectivbedürfuisse  im  subjectivcn 
Sinne.“  Dann  über  die  Beziehung  der  Collectivbedürfnisse  im  subjectivcn  Sinne  zu 
den  Individualbcdürfnissen  (S.  191  ff.):  „die  im  Collcctivbedürfniss  vorliegende  öko- 
nomische Bedingtheit  eines  Coilectivlebeuszweck  muss  den  von  dem  Verbände  um- 
schlossenen Individuen  als  solche  Bedingtheit  ihres  persönlichen  Zwecklebens  er- 
scheinen. insofern  die  collcctivistischc  Lebensführung  für  jeden  Einzelnen  eben  einen 
Theil  seines  Lebens  bildet“.  Richtig,  aber  einfacher  auszudrücken.  Schliesslich:  „die 


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Neuere  Litteratur  zur  Kritik. 


769 


Collectiv-  und  die  Individualbedürfnisse  finden  wir  in  der  ökonomischen  Lebens- 
führung der  Menschen  mit  einander  verwoben“  (S.  194);  ein  Unterschied  der  Art 
finde  zwischen  beiden  Gruppen  gar  nicht  statt,  vielmehr,  wie  zwischen  den  einzelnen 
Bedürfnissen  jeder  Gruppe,  nur  ein  Unterschied  der  Intensität,  woraus  dann  weitere 
Consequenzon  gezogen  werden. 

Trotz  aller  Anerkennung  des  Gedankengehalts  dieser  und  anderer  Ausführungen 
von  Sax  habe  ich  mich  nach  reiflicher  Ueberlegung  doch  nicht  zu  einer  wesentlichen 
Aenderung  meiner  Auffassung  und  meiner  Behandlungsweiso  in  diesem  Buche,  speciell 
in  den  Erörterungen  über  Gemeinbcdürfniss , Gemeinwirthschaft  bewogen  gefunden. 
Ich  kann  auch  Sax  nicht  zugeben,  dass  so  sehr  erhebliche  Meinungsverschiedenheiten 
zwischen  uns  bestehen.  Eine  Auseinandersetzung  Uber  alles  Einzelne  nöthigte  aber 
zu  einer  hier  schon  aus  Rücksichten  auf  den  Raum  ausgeschlossenen  Ausführlichkeit 
in  der  Antikritik,  denn  letztere  müsste  sich  zu  einer  solchen  des  ganzen  grossen 
Sax’schen  Werks  erweitern.  Mehr  als  ich  es  in  einigen  Puncten  der  Fassung 
glaubte  tbun  zu  können  und  zu  sollen,  habe  ich  deshalb  Sax’  Wunsch,  das  Störende 
meiner  Darstellung  zu  beseitigen  (S.  191),  nicht  erfüllen  können  (§.  300,  324  ff.). 

Meine  genannten  Kritiker  werden  daher  ihre  sachlichen  und  theilweise  ihre 
formellen  Bedenken  gegen  die  Behandlung  all’  dieser  Fragen  der  Organisation  auch 
in  dieser  3.  Aufl.  vermuthlich  aufrecht  halten,  trotz  meiner  Zugeständnisse,  welche 
ich  in  der  Abänderung  einiger  Sätze  gemacht  habe,  — auch  übrigens  mehr,  um 
Missverständnisse,  wie  sie  vorgekommen,  auch  bei  den  hier  besprochenen  Autoren,  zu 
verhüten,  als  weil  ich  es,  gegenüber  dem  m.  E.  klaren  Sinne  auch  meiner  früheren 
Fassung  für  durchaus  geboten  gehalten  hätte. 

Wesentlich  nur  referirend  in  Betreff  meiner  bezüglichen  Lehren  hat  sich 
G.  Schön berg  zu  denselben  verhalten  (in  s.  Handb.  I,  Abs.  1,  S.  10,  26  der  3.  A.). 

Mit  den  hier  in  diesem  Buche  behandelten  Frageu  hängt  auch  die  practisch 
wichtige  und  theoretisch  bedeutungsvolle  Uber  die  Principien  der  Kostendeckung 
öffentlicher  Leistungen  des  Staats  u.  s.  w.  zusammen.  Diese  Frage  führt 
einmal  in  die  Finanzwissenschaft,  insbesondere  in  die  Gebührenlehro  und  die 
Steucrlehre,  in  letzterer  in  die  Lehre  von  den  Steuervertheilungsprincipien  (Principien 
der  Gerechtigkeit)  und  in  die  Lehre  von  der  Wahl  der  Steuerarten  und  vom  Steuer- 
system hinein.  Dafür  beziehe  ich  mich  auf  den  2.  Band  meiner  Finanzwisseuschaft, 
2.  Aufl.,  worin  die  bezüglichen  Fragen  eingehend  principiell  und  mit  Rücksicht  auf 
die  Entscheidung  in  Geschichte  und  gegenwärtiger  Praxis  behandelt  sind  (s.  bes. 
a.  a.  0.  Gebührenlekre  und  eb.  allgemeine  Steucrlehre,  bes.  S.  372  ff.).  Aus  der 
Gebührenlebre  und  aus  der  verwandten  Lehre  der  Tarifregelungen  der  grossen 
Verkehrsanstalten  (Eisenbahnen),  welche  nicht  oder  noch  nicht,  wie  Post  und  Tele- 
graphie, als  Gcbührenanstalten  anzusehen  sind,  gehören  namentlich  die  Erörterungen 
über  die  Wahl  der  Tarif-,  Taxprincipi en  und  Uber  das  Maass  der  An- 
wendung der  gewählten  Principien  hierher.  S.  darüber  bes.  die  Behandlung  dieser 
Puncte  in  meiner  Finanzwiss.  B.  1,  3.  A.,  S.  760  ff.  mit  den  hier  citirten  Arbeiten 
Fr.  J.  Neumann’s,  G.  Cohn’s,  J.  Lehr’s.  Auch  für  alle  die  hierher  gehörigen 
finanz-  und  steuerwissenschaftlichen  Fragen  ist  bes.  auf  Neumann’s  bezügliche 
Arbeiten  (das  Werk  „die  Steuer“  u.  a.  m.,  8.  darüber  meine  Finanzwiss.  II,  2.  A.,  S.  20) 
zu  verweisen:  mit  das  Beste  hierüber.  Sodann  aber  führen  die  angedeuteten  Prin- 
cipienfragen  über  Kostendeckung  in  Gemeinwirthschaften  in  eine  andere  Seite  des 
allgemeinen  Werth-  und  Preisproblems  hinein,  mit  welcher  sich  die  Theorie 
neuerdings  mehrfach  zu  beschäftigen  begonnen  hat:  die  Gestaltung  dieses  Problems 
in  „Verbänden“  u.  dgl.  Auch  dafür  ist  namentlich  zu  verweisen  auf  Neumann’s 
Arbeiten  (Abh.  Preis  in  Schönberg’s  Handb.,  3.  Aufl.,  I,  S.  249,  Verbands-,  Vereins- 
und ähnliche  Preise,  bes.  2.  A. , S.  269,  Preisgestaltung  in  Fällen  der  Interessen- 
gemeinschaft), G Cohn’s  System  I,  §.  396  ff.,  E Sax’  Grundlegung.  S.  249,  Wcrth- 
erscheinung  und  ihre  collectivistische  Form).  Berührung  dieser  Seite  des  Werthproblems 
auch  in  der  neueren  sonstigen  Wcrthlitteratur  (§.  135). 


770 


5.  B.  Ürganis.  d.  Volksw.sch.  1.  K.  Princ.  u.  Syst.  §.  299. 


Erste s Kapitel. 

Die  verschiedenen  Organisationsprincipien 
und  Wirthschaftssy steme  in  der  Volks wirthschaft. 

I.  — §.  299  [116].  Die  Volkswirtschaft  als  natür- 
licher Organismus  und  als  künstliche  Organisation, 
ln  den  früheren  Erörterungen  über  Begriff,  Wesen  und  Entwicklung 
der  Volkswirtschaft  (§  149  ff.)  wurde  die  letztere  bereits  als 
Organismus  und  als  durch  den  Staat  und  die  Rechtsordnung  be- 
einflusste Organisation  betrachtet.  Auch  im  vorigen  4.  Buche  ist 
diese  Betrachtungsweise  implicite  überall  festgehalten  worden  und 
wurden  daraus  Folgerungen  gezogen.  Doch  lag  dabei  bisher  die 
atomis  tisch-mechanische  Auffassung  der  Volks  wirthschaft 
und  ihres  Aufbaus  aus  den  einzelwirthschaftlichen  Elementen  doch 
noch  vornemlich  der  Betrachtung  zu  Grunde.  Jetzt  ist  jene  Auf- 
fassung durch  eine  eigentlich  organische  zu  ergänzen, 
wie  sie  allein  dem  Character  der  Volkswirtschaft  als  Organismus 
vollständig  entspricht. 

Während  bisher  die  Betrachtung  vom  Thcil  oder  Glied  zum  Ganzen  ging  und 
verfolgte,  wie  sich  die  Vol ks wirthschaft  aus  diesen  Gliedern  heraus,  gewUsermaasscn 
in  der  Richtung  von  unten  nach  oben,  entwickelt,  muss  jetzt  umgekehrt  das  Ganze, 
die  Volkswirtschaft,  zunächst  ins  Auge  gefasst  und  ihre  organische  Structur 
untersucht  werden,  um  so  das  gl  io  d liehe  Verhältnis  der  Einzelwirtschaften  gegen- 
über der  Volkswirtschaft  richtig  festzustellen  und  die  Umgestaltung  der  Glieder 
durch  das  Ganze,  dem  sie  angehören,  kennen  zu  lerncu:  eine  Untersuchung  gewisser- 
maassen  in  der  Richtung  von  Oben  nach  Unten.  Daraus  ergiebt  sich  dann  erst  die 
wirklich  volkswirtschaftliche  (im  Gegensatz  zur  bloss  einzelwirthschaftlichen) 
Function,  welche  jeder  Gattung  von  Einzelwirtschaften  und  wieder  jeder  einzelnen 
der  letzteren  im  volkswirtschaftlichen  Organismus  übertragen  ist. 

Hinsichtlich  dieses  Organismus  ist  zuvörderst  ein  Irrthum  zu 
berichtigen,  welcher  gerade  durch  die  Bezeichnung  der  Volkswirt- 
schaft mit  diesem  Ausdrucke  leicht  erregt  werden  kann  und  auch 
erregt  worden  ist:  die  Volkswirtschaft  ist  auch  als  „Organismus“ 
keineswegs  bloss  ein  reines  Naturgebilde.  Ein  solches,  ein 
„Naturproduct“  ist  sie  allerdings  in  einer  Hinsicht,  so  gut 
als  das  „Volk“  selbst.  Sie  wird  wie  dieses  durch  „Hunger  und 
Liebe“  zusammengehalten,  verdankt  in  einer  Beziehung  wie  das 
Volk  selbst  Naturtrieben  der  Menschen,  dem  Trieb  der  Selbst- 
erhaltung, dem  Geschlechtstrieb  ihre  Existenz,  ihre  Fortdauer  und 
Weiterentwicklung.  Aber  so  wenig  als  das  „Volk“  ist  auch  die 
Volkswirtschaft  ein  reines  Naturgebilde,  sondern  sie  ist  zugleich, 


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Volksw.sch.  als  Organismus  u.  Organisation. 


771 


wiederum  ebenso  wie  jedes  staatlich  organisirte,  durch  seine  Lehens- 
geschichte erst  entwickelte,  zur  Cultur  nicht  ohne  Weiteres  im 
Laufe  der  Zeit  „von  selbst  gekommene“,  sondern  absichtlich  dazu 
erzogene  Volk,  — ein  Gebilde  bewusster  menschlicher  That,  ein 
Kunstproduct.  Menschliche,  auf  ein  bestimmtes  Ziel  gerichtete, 
planvoll  durchgeführtc  Willensacte  geben  der  Volkswirtschaft  ihre 
bestimmt  gewollte  Gestalt,  eine  künstliche  Organisation. 

In  den  schönen  Erörterungen  über  den  volkswirthschaftlichcn  Organismus 
in  s.  System  §.  13  tritt  bei  Roscher  die  Auffassung  dieses  Organismus  als  ein 
Naturgcbilde  doch  noch  zu  stark  hervor;  daher  wohl  auch  Roscber’s  Festhalten 
an  dem  irreleitenden  Ausdruck  „volkswirtschaftliche  Naturgesetze“,  den  ich  nach 
v.  Octtingen’s  u.  a.  m.  Erörterungen  Uber  statistische  Gesetze  jetzt  auch  glaube 
aufgeben  zu  müssen  (s.  o.  §.  86 — 91  über  wirtschaftliche  Gesetze). 

Preusscns  Volk  und  Preussens  Volkswirtschaft  sind  treffende  Belege, 
wie  dies  für  die  letztere  besonders  G.  Schinollerin  s.  historischen  Aufsätzen  über 
Friedr.  Wilh.  L,  Sybcl’s  Zeitschr.  1873.  über  den  preussischen  Staat  und  die  sociale 
Frage,  Preuss.  Jahrb.  1874,  in  seinen  neueren  bezüglichen  Arbeiten  über  die  Ent- 
wicklung der  preussischen  Volkswirtschaft  in  seinem  Jahrbuch  Band  VIII  ff.  und 
a.  a.  0.  dargelegt  hat.  Vergl.  auch  Roscher,  Gesell,  der  Nationalökon.,  Kap.  16, 
18,  19.  Aber  auch  an  alle  anderen  Culturstaaten , vielfach  auch  rühmend,  ist  zu 
denken.  Bei  allen  Fehlern  im  Einzelnen  wird  z.  B.  die  gesammte  Colbcrt’schc 
Wirtschaftspolitik  auch  als  Beweis  gelten  können,  wie  sehr  bewusste,  planvoll 
durchgeführtc  Willensacte  eine  Volkswirtschaft  künstlich  (im  besten  Wort- 
sinn!), wenn  auch  nicht  schaffen,  wohl  aber  zur  Blüthe  bringen,  „erziehen“, 
indem  sie  aus  dem  tauschwirthschaftlichcn  Naturgcbilde  der  Volkswirtschaft  ein 
Kunstproduct  machen.  Dies  hat  Fr.  List  in  seinem  nationalen  System  richtig  erkannt 
und  grossartig  entwickelt  und  begründet.  Vergl.  Cohn ’s  Aufs,  in  der  Tüb.  Ztschr. 
über  Colbert,  nach  den  neuern  Qucllenwerken,  B.  XXV  u.  XXVI.  Lehrreiche  Aus- 
führung obigen  Gedankens  in  der  Schrift  von  A.  Freiherrn  v.  Dumrcichor,  über  den 
französ.  Nationalwohlstand  als  Werk  der  Erziehung.  1.  Studie.  Wien,  1879,  bes.  in 
Bez.  auf  Kunst  und  Kunstindustric.  Auch  Farnham,  innere  französ.  Gewerbepolitik 
von  Colbert  bis  Turgot,  in  Schmoller’s  Forschungen  1878.  Weiteres  bes.  in  der  Prac- 
tischcn  Nationalökonomie,  namentlich  in  der  Gewerbe-  und  Handelspolitik. 

In  der  früheren  Bezeichnung  der  Volkswirtschaft  als  Inbegriff  der  Einzelwirt- 
schaften eines  staatlich  organisirten  Volks  (§.  119)  und  in  den  Bemerkungen  über 
die  Ausbildung  der  concreten  Volkswirtschaften  unter  dem  Einfluss  des  concreten 
Staats  (§.  151  S.  359)  ist  diesem  Character  der  Volkswirtschaft  als  Kunstproduct 
oder,  was  dasselbe  besagen  will,  als  „S taats Wirtschaft“  (in  diesem  Sinuc  des 
Worts)  auch  bereits  gebührend  Rechnung  getragen.  Es  geschieht  dies  noch  prin- 
cipieller,  wenn  die  Volkswirtschaft  nicht  nur  als  Organismus,  sondern  zum  Theil 
wenigstens,  als  menschlich  gewollte  und  von  Menschen  künstlich  absichtsvoll  und 
planmässig  gemachte  Organisation  zur  Bedürfnisbefriedigung  des  Volks  aufgefasst 
wird.  Die  Bezeichnung  als  Organismus  lässt  dann  mehr  die  natürliche  Seite,  im 
strengen  Sinne  des  Worts,  hervortreten,  ncmlich  das  Wesen  der  Volkswirtschaft,  ein 
aus  Naturtrieben  hervorgehendes  Naturgcbilde  zu  sein;  dasjenige  Moment,  welches 
die  physiokratisch- Smith  sehe  Nationalökonomie  fast  allein  beachtet  hat,  wobei  sie 
aber  nicht  einmal  die  Eigenschaft  der  Volkswirtschaft  als  eines  natürlichen  Orga- 
nismus gehörig  zur  Geltung  brachte,  sondern  aus  dem  organischen  Naturgebilde  ein 
blosses  äusscrlich  mechanisches  Nebeneinander  von  Einzelhaushalten  machte.  Die 
Bezeichnung  als  Organisation  berücksichtigt  anderseits  das  Moment,  welches  in 
dieses  Naturgebilde  mit  bewusster  menschlicher  Absicht  planvoll  hinein  getragen 
worden  ist:  das  Moment  selbst  organsirender  menschlicher  Thätigkeif,  durch  welches 
die  Volkswirtschaft  aus  einem  Naturproduct  des  blossen  menschlichen  Trieblebens 
ein  menschliches,  vernunftgemäss cs  Kunstproduct  wird. 


772 


5.  B.  Organis.  d.  Volksw-sch.  1.  K.  Princ.  u.  Syst.  §.  300. 


Gerade  die  Volkswirtschaften  der  eigentlichen  Culturvölker 
tragen  diesen  Charakter  einer  künstlichen  Organisation  nachweis- 
bar an  sich  und  entwickeln  ihn  im  Laufe  der  Geschichte  immer 
mehr. 

S.  schon  oben  bes.  S.  359  ff.  Die  Bildung  des  Verkehrsrechts,  die  Ent- 
stehung von  Wiithscbaften  des  caritativen  Systems  und  von  Gemein  wirth- 
schaften  aller  Art,  die  stets  mehr  oder  weniger,  immer  sehr  bedeutsam  eingreifende 
Regelung  der  Volkswirtschaft  durch  den  Staat  und  die  immer  umfassendere  und 
inhaltreichere  directc  Thätigkeit  des  Staats  in  der  Volkswirtschaft,  — alle  diese 
Momente  machen  aus  dem  Naturgebilde  „Volkswirtschaft“  mehr  und  mehr  ein 
menschliches  Kunstgebilde.  Man  muss  in  sehr  primitive  Lebensverhältnisse  der 
Culturvölker  zurückgehen  oder  bei  sehr  rohen,  wahrscheinlich  auch  wenig  entwick- 
lungsfähigen Völkern  Umschau  halten,  wenn  man  wirklich  Volkswirtschaften  finden 
will,  welche  wenigstens  ei nigo rmaassen  (wörtlich  überhaupt  kaum  je)  reine 
Naturproducte,  roino  und  blosse  Tauschverbindungen  der  Individual-  oder 
Familien  wirtschaften  sind,  wo  nur  der  „Markt“  das  Organ  der  Verknüpfung  ist 
(Prince-Smith,  s.  u.  §.  313). 

Aus  dieser  Auffassung  der  Volkswirtschaft  als  künst- 
liche Organisation  folgt  u.  A.  der  wichtige  Schluss,  dass  ein 
häufiger  Einwand  gegen  alle  sogen,  „socialistischen“  Pläne 
einer  künstlichen  Organisation  der  Volkswirtschaft  oder, 
wie  es  von  dieser  Seite  gewöhnlich  bezeichnet  wird,  einer  „Organi- 
sation der  Arbeit“  (L.  Blanc)  in  einer  Hinsiebt  wenigstens 
hinfällig  wird:  nemlich  der  Einwand,  dass  ein  derartiges  Streben 
nicht  nur  schädlich,  sondern  auch  schlechterdings  widersinnig 
sei,  weil  es  sich  auf  etwas  Unmögliches  richte.  In  vollster 
Uebereinstimmung  mit  aller  Erfahrung  muss  man  vielmehr  ein- 
räumen, dass  gerade  die  Volkswirtschaften  der  Culturvölker  stets 
mehr  oder  weniger  künstliche  Organisationen  sind. 

Auf  dem  hier  abgewiesenen  Standpunct  stehen  z.  B.  die  deutschen  Freihändler, 
wie  L.  Bamberger  in  der  Polemik  gegen  Socialismus  und  gegen  Alles,  was  sie 
damit  zusammen  werfen,  s.  dessen  Deutschland  und  der  Socialismus,  z.  B.  S.  34 : „die 
gegenwärtige  Betrachtung  geht  von  der  Voraussetzung  aus,  dass  die  communistiscbe 
Weltanschauung  auf  Unsinn  beruht.“  Der  bequemste,  aber  auch  der  flachste  Stand- 
punct. — Auch  diejenigen,  welche  sich  in  dem  überhaupt  völlig  unhaltbaren  Gegen- 
sätze zwischen  „Staatshilfo“  und  „Selbsthilfe“  in  der  socialen  oder  Arbeiter- 
frage immer  heftig  auf  die  Seite  der  alleinigen  Selbsthilfe  schlagen,  begehen  den 
Fehler,  anzunehmen,  als  ob  überhaupt  eine  einigermaassen  entwickelte  Volkswinh- 
sebaft  nicht  immer  ein  mehr  oder  weniger  künstliches  Gebilde  wäre,  d.  h.  eben  ein 
solches,  welches  durch  „Staatshilfe“  und  nicht  „von  Natur“  so  ist,  wie  es  die 
Gegner  der  Staatshilfe  gerade  im  Moment,  wo  sie  argnmentiren , vor  Augen  haben. 
(S.  schon  meine  Rede  über  die  sociale  Frage,  aus  1871,  S.  11  ff.) 

II.  — §.  300  [116a].  Die  drei  Organisationsprincipien 
in  der  Volk s wi rtb s ch aft.  — Die  Organisation  der  Volks- 
wirtschaft beruht  nun  auf  drei  verschiedenen  Principien. 
Auf  einem  jeden  derselben  beruht  wieder  je  ein  besonderes  Wirt- 
schaftssystem, in  welchem  die  dazugehörigen  Einzelwirthschaften 
vornemlich,  doch  nicht  ausschliesslich,  nach  dem  betreffenden  Princip 


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Die  drei  Organisationsprincipien. 


773 


fungiren.  Durch  zweckbewusste  menschliche  That  werden  dann 
diese  drei  Wirtschaftssysteme  zur  Gesammtorganisation  der  ganzen 
Volks  Wirtschaft  verbunden.  Diese  Principien,  bez.  Systeme,  welche 
oben  (§.  115)  bei  der  Uebersicht  der  dem  Einzelnen  zugänglichen 
Erwerbsarten  wirtschaftlicher  Güter  schon  kurz  berührt  wurden, 
sind  das  privatwirthschaftliche  oder  „indivi dualistische“ 
(„speculative“,  Schäffle),  welches  von  der  früheren  National- 
ökonomie meistens  allein  betrachtet  und  mitunter  selbst  als  das 
schlechtweg  „wirtschaftliche“  und  demnach  auch  in  der  Volks- 
wirtschaftslehre allein  zu  würdigende  aufgefasst  worden  ist, 
ferner  das  gemein-,  namentlich  zwangsgemeinwirthschaft- 
liehe  oder  „communistisch-socialistische“  und  das 
caritati  ve. 

Vergl.  Schäffle  au  den  in  den  Vorbemerkungen  §.  297  genannten  Stellen, 
worauf  ein  für  allemal  zum  Vergleich  mit  der  Darstellung  im  Texte  verwiesen  wird. 
Ich  citire  im  Folgenden  nur  einzelne  mir  wichtiger  erscheinende  Formulirungen  und 
Ausführungen  dieses  hervorragendsten  hicher  gehörigen  Autors.  S.  sein  Gesellsch.- 
System,  8.  Aufl.  I,  24:  speculative,  d.  i.  vom  Privatint ercssc  des  Kapitals 
getragene  (letztres  wohl  eine  etwas  zu  enge,  zu  einseitig  moderne  Formulirung:  das 
Privatintcresse  des  Kapitals  tritt  doch  z.  B.  im  Interesse  des  kleinen  selbständigen 
bäuerlichen  oder  industriellen  Unternehmers  sehr  wenig  hervor).  Die  anderen  beiden 
Organisationen  „wirksamster  Bedürfnisbefriedigung“  nennt  er  hier:  die  öffentliche 
oder  staatlich-corporativc,  auf  obrigkeitlicher  Gewalt  beruhende  (also  enger 
als  die  im  Text  genannte  gemeinwirthschaftlichc,  wesentlich  der  dort  ht-rvorgehobenen 
zw  an  gsgemeinwirthschaftiichen  entsprechend,  vergl.  jedoch  auch  3.  Aull.  II,  103  ff.); 
sodann  die  von  freier  Hingebung,  Liberalität  bewirkte  Organisation.  Die 
diesem  letzteren  Zweck  dienenden  Einzel  wirtschaften  reiht  Schäffle  II,  104  zu  den 
freiwillige  Verbindungen  darstellenden  Gemeinwirthschaftcn , welche  auf  ein- 
seitiger Liberalität  beruhen,  denen  er  dann  als  zweite  Abtheilung  die  auf  wechsel- 
seitiger (solidarischer)  Hingebung  der  Glieder  aneinander  beruhenden  freiwilligen 
Verbindungen  hinzufügt  (Wecbselseitigkeitsvcreine  u.  s.  w.).  Diesen  freiwilligen  Ver- 
bindungen stellt  auch  er  als  zweite  Hauptart  der  Gemeinwirthschaftcn  die  Zwangs- 
vetbindungen,  Staat,  Gemeinde,  Corporationcn  aller  Art  gegenüber.  Schäffle’s  und 
meine  Classification  stimmt  also  im  Wesentlichen,  aber  nicht  ganz  überein.  Ich  lege 
bei  der  meinigen  besondres  Gewicht  auf  das  Vorwalten  des  einen  oder  anderen  Mo- 
tivs und  der  der  Bildung  des  Systems  zu  Grunde  liegenden  Potenz.  Die  Wirt- 
schaften des  caritativen  Systems  haben  oft  gewisse  Aehnlichkeit  mit  gewissen  freien 
Gemeinwirthschaftcn  und  umgekehrt  (z.  B.  Kirchen),  aber  die  hauptsächlich  leitenden 
Principien  sind  doch  verschieden:  dort  nicht  an  sich,  sondern  zunächst  an  Andre 
denken,  hier,  bei  den  freien  Gemeinwirthschaftcn,  auch  z.  B.  bei  Wcchselseitigkeits- 
vereinen,  wie  etwa  Gegcnseitigkeits- Versicherungsanstalten,  doch  umgekehrt:  zuerst  an 
sich,  dann  an  Andre  denken.  So  gestaltet  sich  wenigstens  der  Unterschied,  wenn 
man  von  dem  freilich  nicht  fehlenden  egoistischen  Motiv,  z.  B.  in  den  caritativen 
Leistungen  nach  der  katholischen  Lehre  von  den  guten  Werken,  absieht,  was  hier 
wenigstens  zulässig  ist,  sondern  an  das  Walten  des  fünften  Leitmotivs,  Pflichtgefühl 
(§.  45)  denkt.  — Ausserdem  lege  ich  für  die  Unterscheidung  der  drei  Systeme  be- 
sondres Gewicht,  mehr  und  zum  Thcil  verschieden  von  Schäffle,  auf  die  ver- 
schiedenen Principien  der  Entgeltlichkeit  der  Leistungen.  Vgl.  jetzt  auch 
Schäffle,  Soc.  Körper  III,  365  tf. 

Die  Bezeichnung  des  privatwirthschaftlichcn  Princips  als  des  „individualistischen“, 
des  gemein-  bes.  zwangsgemcinwirthschaftlichen  als  des  „communistisch-socialistischcn“ 
entspricht  der  in  §.  293  11.  festgestcllten  Terminologie  und  hebt  den  principioll  ge- 


774 


5.  B.  Organis.  d.  Volksw.scb.  1.  K.  Princ.  u.  Syst.  §.  300. 


scllschaftswisscnscliaftlichcn,  nicht  nur  den  wirtschaftswissenschaftlichen,  Gegen- 
satz  noch  schärfer  hervor. 

Ich  glaube  trotz  aller  mir  grade  wegen  dieser  Terminologie  gewordenen  Poiemii 
an  derselben  festhalten  zu  sollen. 

Die  Fassung  im  Text  habe  ich  gegen  die  2.  Aufl.  (S.  204)  etwas  geändert, 
doch  nur  wenig,  womit,  glaube  ich,  den  Einwendungen  von  Gross  genügend  Rad- 
sicht getragen  wird.  Derselbe  spricht  statt  von  Organisationsprincipien.  von  Wirt  fa- 
se haftsprincipien  (s.  s.  oben  S.  766  gen.  Schrift,  S.  121  IF.),  denen  er  dieselben 
Namen  wie  ich  giebt,  aber  denen  er  als  ein  besonderes  Princip  noch  das  eirec- 
wirthschaftlichc  für  die  Wirtschaft  mit  blosser  Eigengewinnung  der  Güter  voranstellt 
(s.  o.  §.  115,  S.  293).  Den  Ausdruck  Wirtschaftssystem  in  dem  von  mir  gebrauchten 
Sinne  vermeidet  Gross.  Er  handelt  dafür  von  ,.Wi  rthschaftsform  en*\  — E.  Sai 
(s.  bes.  Abschn.  1 seiner  Grundlegung)  gliedert  die  Erscheinungen  in  der  Volks- 
wirtschaft durchweg  in  die  des  Individualismus  und  C ol  lec  tivismus,  in 
trelflichen,  tiefgründigen  Erörterungen,  aber  doch  im  Ergcbniss  weniger  als  in  der 
Fassung  von  mir  abweichend. 

Der  Unterschied  der  drei  Principien  ist  ein  psychologischer, 
welcher  auf  die  Verschiedenheit  der  das  wirtbschaftliche  Handeln 
bestimmenden  Motive  zurttckgeht.  Am  Deutlichsten  ist  das  bei 
dem  ersten  und  bei  dem  dritten  Princip.  Aber  auch  bei  dem 
zweiten,  dem  gemeinwirthschaftlichen,  handelt  es  sich  bei  der  Ver- 
schiedenheit von  den  beiden  anderen  mit  um  Unterschiede  der 
Motivation.  Diese  verschiedenen  Motive  führen  in  den  drei  Wirt- 
schaftssystemen, welche  sich  an  die  drei  Principien  anknüpfen, 
zu  verschiedenen  Grundsätzen  der  Entgeltlichkeit  der 
hergestellten  und  den  Bedürftigen  zugeführten  Güter  (Sachgüter, 
Dienstleistungen).  Damit  hängen  dann  wieder  verschiedene  Me- 
thoden der  Kostendeckung,  zum  Tbeil  auch  der  Her- 
stellung und  namentlich  der  Zuführung  dieser  Güter  an  die 
Bedürftigen  zusammen. 

Diese  verschiedenen  Methoden  treten  am  Schärfsten  in  denjenigen  Fällen  hervor, 
wo  jedes  der  drei  Organisationsprincipien  rein  zur  Geltung  kommt.  In  der  Wirklich- 
keit zeigen  sich  aber  Vermischungen  der  Principien,  in  Verbindung  mit  Com- 
binationen  verschiedener  Motive,  daher  namentlich  nicht  immer  rein  diejenige  Art  der 
Entgeltlichkeit  der  Leistungen  und  der  Kostendeckung  dafür,  welche  dem  einzelnen 
Princip  entspricht. 

Die  Verschiedenheit  der  Production  der  Güter  (Leistungen)  in 
den  drei  Wirtschaftssystemen,  der  Zuführung  an  die  Bedürftigen, 
der  Methoden  der  Kostendeckung  hängt  aber  teilweise  auch  mit 
der  ganzen  technischen  Natur  der  in  Frage  stehenden  Güter 
zusammen,  so  namentlich  im  gemeinwirthschaftlichen  System; 
ferner  mit  der  ökonomisch-technischen  Construction  der- 
jenigen Einzelwirtschaften,  welche  die  bezügliche  Production  und 
Zuführung  dieser  Güter  besorgen,  so  abermals  namentlich  im 
gemeinwirthschaftlichen  System. 

Das  psychologische  Diflcrenzmoment  in  der  Motivation  ist  immer  erkannt 
worden,  so  auch  von  Sc  büffle,  von  Sax,  Gross  und  den  anderen  Schriftstellern, 


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Die  drei  Organisationsprincipicn. 


775 


welche  sich  mit  dem  Problem  von  Egoismus  und  Altruismus  in  der  Nationalökonomie 
und  Sociologie  beschäftigten  (Dargun,  H.  Dietzel  u.  A.  in.).  Yorgl.  bes.  Sax, 
Wesen  und  Aufgaben  der  Nationalökonomie  und  Grundlegung,  namentlich  Abschn.  I. 
Auch  in  meiner  Behandlung  der  Frage  in  den  ersten  Auflagen  habe  ich  dieso  psy- 
chologische Seite  vornemlich  betont.  Aber  das  angeführte  ökonomisch  - technische 
Difierenzmoment  ist  von  den  anderen  Autoren  bisher  nicht  genügend,  z.  Th.  gar  nicht 
weiter  berücksichtigt,  und  auch  von  mir  früher,  obwohl  cs  mir  mit  rorschwobte  und 
ich  es  andeutete  (2.  Aufl.  S.  205),  doch  nicht  klar  und  scharf  genug  hervorgehoben 
worden. 

A.  Das  privat  wirtschaftliche  Princip  beruht  auf  dem 
ersten  Leitmotiv  wirtschaftlichen  Handelns,  dem  Streben  nach 
dem  eigenen  wirtschaftlichen  Vorteil,  der  möglichst  strengen 
Verwirklichung  des  ökonomischen  Princips  (§.  34  ff.,  28).  In  der 
Wirklichkeit  tritt  freilich  häufig  dieses  Motiv  in  Combination  mit 
anderen  Motiven  (§.30  ff.),  insbesondere  mit  den  übrigen  egoistischen 
(§.  37  ff.).  Soweit  dies  der  Fall,  kommt  auch  das  privatwirth- 
schaftliche  Princip  nicht  rein  zur  Geltung.  Wo  und  soweit  als 
es  wirkt,  erfolgt  die  specielle  Entgeltlichkeit  von  Leistung 
und  Gegenleistung  nach  einem  vereinbarten  Interessenausgleich 
zwischen  denen,  welche  Güter  austauschen,  wobei  jede  Partei  ihr 
eigenes  Interesse  soweit  als  möglich  — d.  h.  als  es  die  sittliche 
Auffassung  und  die  Rechtsordnung  zulässt  — verfolgt.  Das  Princip 
der  Regulirung  ist  die  Concurrenz,  das  ökonomische  Ge- 
setz der  Reguliruug  das  Gesetz  von  Augebot  und  Nach- 
frage im  freien  Verkehr,  die  Rechtsform  der  Regulirung  ist 
der  Vertrag,  das  Ergebniss  der  Reguliruug  ist  der  Vertrags- 
oder Concurrenz-Preis  des  Gutes. 

Einzelwirthschaften,  welche  so  und  soweit  sie  so  ver- 
kehren, Güter  producircn,  absetzen,  den  Productionsertrag  ver- 
theilen, datür  die  Güter,  den  Entgelt,  die  Kostendeckung  erzielen, 
heissen  Privatwirtschaften;  einzelwirthschaftliche  Acte,  Vor- 
gänge, welche  so  erfolgen,  sind  privatwirthschaftlichc,  daher,  im 
gegebenen  Falle,  auch  wenn  sie  von  Gemeinwirthschaftcn  und  cari- 
tativen  Wirthschaften  (im  „Privaterwerb“  beider)  ausgeben  (§.  335). 

Das  pri vatwirthschaftliche  System  in  der  Volkswirt- 
schaft ist  dasjenige,  in  welchem  die  Production  (Beschaffung),  die 
Verteilung  des  Productionsertrag»  unter  den  mit  Arbeit  und  Güter- 
besitz au  der  Production  betheiligten  Personen  (§.  263)  und  die 
Zuführung  der  Güter  an  die  Bedürftigen  nach  dem  privatwirth- 
schaftlichen  Princip  erfolgt. 

B.  Das  gemeinwirthschaftliche  Princip  ist  die  Consequenz 
von  Zwecksetzungen  in  grösseren  und  kleineren  menschlichen 


776  5.  B.  Organis.  d.  Volksw.sch.  1.  K.  Princ.  u.  Syst.  §.  300. 

Interessen-Gemeinschaften.  DieseD  Zwecksetzungen  liegen  bewusst 
und  unbewusst  die  verschiedenen,  für  das  menschliche,  auch  wirt- 
schaftliche Handeln  maassgebenden  Motive  (Buch  1,  Kap.  1)  zu 
Grunde.  Sie  erfolgen  freiwillig,  durch  Vertragsschluss  der 
interessirten  Mitglieder  der  zwecksetzenden  Gemeinschaft,  so  bei 
den  unten  sogenannten  „freien“  Gemeinwirthschaften;  zwangs- 
weise, — wenigstens  eventuell  und  soweit  als  nöthig  — durch 
eine  zwecksetzende  Autorität,  welche  durch  die  Majorität 
der  Mitglieder  oder  — der  geschichtlich  regelmässige  Fall  — durch 
die  überlegene  Einsicht,  und  Macht  auch  einer  Minorität, 
selbst  eines  Einzelnen  gebildet  sein  kann,  in  den  unten  so- 
genannten Zwangs  gemeinwirthschaften. 

Bei  der  Bildung,  Einrichtung  und  Function  dieser  Gemeinwirthschaften  wirken 
die  verschiedenen,  im  1.  Buche  analysirten  Motive  in  mancherlei  verschiedener  Weise 
und  Combination  ein,  was  zum  Verständniss  des  gemeinwirthschaftlichen  Princips 
selbst  zu  beachten  ist.  Das  Motiv  des  wirthscbaftlicheu  Vortheils,  aber  immerhin 
etwas  moditicirt  durch  sociale  Rücksichten , welche  mit  einzelnen  Seiten  und  Formen 
der  anderen  egoistischen  Motive,  und  auch  mit  dem  unegoistischen  fünften  Leitmotiv- 
Zusammenhängen,  kommt  bei  den  freien  Gemeinwirthschaften  vornemlich  zur  Geltung. 
Jenes  erste  Leitmotiv  fehlt  auch  nicht  bei  den  Zwangsgemeinwirthschaften , nur  dass 
hier  bei  den  erst  durch  Zwang  sich  fügenden  Mitgliedern  das  zweite  Leitmotiv  (Furcht 
vor  Strafe),  bei  allen  das  dritte  (Ehrgefühl  u.  s.  w.)  und  das  fünfte  (Pflichtgefühl) 
mitspielen  kann  und  meistens  wird.  Bei  den  Vertretern  der  Autorität  in  dieser 
Zwangsgemeinwirthschaft  ist  das  erste  Leitmotiv  regelmässig  mit  vorhanden,  wenn 
auch  nicht  immer  klar  bewusst  und  gefühlt,  aber  das  dritte,  vierte  und  fünfte  stehen 
eventuell  voran  oder  bilden  wenigstens  insgesammt  eine  mächtige  Triebfeder  neben 
dem  ersten  Motiv. 

Das  gemeimvirthschaftliehe  Princip  besteht  dann  darin,  dass 
auch  die  Production,  die  Verkeilung  des  Productionsertrags,  die 
Zuführung  der  Güter  an  die  Bedürftigen,  die  Kostendeckung  und 
die  Gestaltung  der  Entgeltlichkeit  nach  denjenigen  Grundsätzen, 
daher  in  derjenigen  Art  erfolgen,  welche  sich  als  Conseqtienzen  der 
angenommenen,  den  gesellschaftlichen  Glaubenssätzen 
(Axiome)  über  das  richtige  Sein-sollen  (§.  265)  ent- 
sprechenden Zwecke  der  Gemeinschaft  ergeben. 

Nicht  der  einzige,  aber  ein  Hauptzweck  der  Gemeinschaften 
ist  die  Fürsorge  für  die  Befriedigung  von  Gemeindebedürfnissen 
unter  den  Mitgliedern  der  Gemeinschatt  (§.  324  ff..  341),  daher  die 
Uebernahme  der  Production  der  für  die  Befriedigung  dieser  Bedürf- 
nisse dienenden  Güter  (der  „Gemeingüter“),  die  Regelung  der 
Vergütungen  für  die  an  dieser  Production  mit  Arbeit  Betheiligten 
und  die  Zuführung  der  Güter  an  die  Einzelnen.  Hier  kann  dann 
von  der  Richtschnur  des  privatwirthschaftliehen  Princips,  wie  auch 
der  caritativen,  mehr  oder  weniger,  eventuell  vollständig  in  Bezug 


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Die  drei  Organisationsprincipicn. 


777 


auf  die  Kostendeckung  der  Production,  die  Vergütung  der  Produ- 
centen, die  Güterzufübrung  an  die  Bedürftigen,  und  die  Entgeltlich- 
keit der  den  Bedürftigen  zugeführten  Güter  abgesehen  werden,  indem 
die  Kostendeckung,  die  Vergütung  der  Producenten,  die  Bezahlung 
der  Güter  nach  and e ren,  für  richtig,  zweckmässig,  gerecht,  billig, 
social  günstiger  wirkend  geltenden  Normen  erfolgt  (§.  335).  Ein 
solches  Absehen  und  Vorgehen  nach  solchen  anderen  Normen,  be- 
sonders bezüglich  der  Güterzuführung,  Kostendeckung  und  Ent- 
geltsregelung, muss  aber  auch  nach  der  technischen  Natur 
vieler  und  gerade  der  wichtigsten  Gemeingüter  für  Gemeinbedürf- 
nisse  (Rechtsschutz  u.  s.  w.)  und  nach  der  noth wendigen  öko- 
nomisch-technischen Construction  der  dabei  fungirenden 
Gemeinwirthschaften  erfolgen  (§.  348,  349).  Das  gerade  hier  zur 
hohen  Bedeutung  gelangende,  vorerwähnte  Moment.  Wenn  und 
soweit  als  dies  geschieht,  sprechen  wir  von  der  Regelung  dieser 
Verhältnisse  nach  „ gemein wirthscha ft liebem“  Princip. 

Vornemlich  erfolgt  hier  die  Kostendeckung  der  Production 
und  die  Bezahlung  der  Güter  durch  die  Empfänger,  bezw.  die  Be- 
dürftigen nach  Normen,  welche,  im  Unterschied  von  der  vertrags- 
mässig  festgestellten  „speciellen  Entgeltlichkeit“  im  privatwirth- 
schaftlichen  System,  wohl  als  solche  der  generellen  Entgeltlich- 
keit bezeichnet  werden  können.  D.  h.  die  Kosten  werden  nach 
autoritativ  festgestellten  Grundsätzen  auf  die  an  der  Gemein- 
wirthschaft  überhaupt  oder  an  den  betreffenden  Leistungen  als 
Empfänger  betheiligten  Mitglieder  verth eilt  oder  es  wird  ein- 
seitig durch  die  Autorität  die  Art  und  Höhe  des  Entgeltes  für 
die  Leistung  bestimmt.  Im  ersten  Falle  gelangt  man  in  den 
Zwangsgemeinwirthschafteu  zur  (allgemeinen,  eigentlichen)  Be- 
steuerung, in  freien  Gemeinwirthschaften  zur  Regelung  der  all- 
gemeinen Beiträge  (§.  349);  im  zweiten  Falle  bei  beiden  Kate- 
gorieen  zum  Gebührenwesen. 

Einzelwirtschaften,  welche,  bezw.  wenn  und  soweit  als 
sic  nach  diesem  gemeinwirthschaftlichem  Princip  verfahren,  ins- 
besondere in  den  hervorgehobenen  Fällen,  können  Gemeinwirth- 
schaften heissen. 

Das  ge  mein  wirtschaftliche  System  in  der  Volks- 
wirtschaft ist  dann  dasjenige,  in  welchem  die  Production,  Ertrags- 
vertheilung  und  Güterzuführung  an  die  Bedürftigen  nach  diesem 
gemeinwirthschaftlichen  Princip  erfolgt. 

C.  Das  caritative  Princip  endlich  ist  dasjenige,  in  welchem, 


778  5.  B.  Organis.  d.  Volksw.sch.  1.  K.  Princ.  u.  Syst.  §.  301. 

wenigstens  nach  dem  zu  Grunde  liegenden  Ideal,  die  egoistischen 
Motive  des  wirtschaftlichen  Handelns,  insbesondere  bei  den 
gebenden  Subjecten  das  erste  Leitmotiv  des  wirtschaftlichen 
Vorteils,  durch  freie  sittliche  That,  ohne  äusseren  Zwang  über- 
wunden werden  und  an  ihre  Stelle  gewisse  Formen  und  Arten  des 
fünften  Leitmotivs,  des  Triebs  des  inneren  Gebots  zum  sittlichen 
Handeln  auch  auf  wirtschaftlichem  Gebiete  treten  (§.  45). 

Die  Kostendeckung  der  Production,  der  Entgelt  für  die  Güter  (Leistungen)  bei 
den  Empfängern  erfolgt  hier  nicht  privatwirthscbaftlich,  aber  auch  nicht  gemeinwirth- 
schaftlich:  die  Kostendeckung  bei  ganz  unentgeltlich  gegebenen  Gütern  freiwillig  aus 
sonst  zur  Verwendung  stehenden  Mitteln  der  Geber,  wobei  etwaige  Regeln  und  Normen 
der  Beitragsleistung  (wie  in  Arinenverciuen)  wiederum  des  Zwangscharacters  der  Steuer 
oder  der  als  Bedingung  des  Beitritts  normirten  Beitragsloistung  bei  der  freien  Gemein- 
wirthschaft  entbehren;  die  Kostendeckung  bei  nicht  voll  von  den  Empfängern  ver- 
goltenen Gütern  erfolgt  nur  mit  durch  den  als  Gegenleistung  gegebenen  Entgelt.  Ob 
und  wie  aber  überhaupt  ein  Entgelt  von  den  Empfängern  der  Güter  verlangt  und  er- 
hoben wird,  bestimmt  sich  wesentlich  nach  Rücksichten  auf  die  wirtschaftliche  Lage, 
sittliche  Beschaffenheit  (Würdigkeit)  der  Empfänger,  wobei  das  für  richtig  gehaltene 
Bedürfnissmaass  das  Kriterion  für  die  Entscheidung  mit  abgiebt. 

Einzelwirthschaften,  daher  auch  Privat-  und  Gemeinwirth- 
schaften  in  gewissen  Fällen,  welche  und  wenn  und  soweit  als 
sie  naeh  diesem  caritativen  Princip  Vorgehen,  können  caritative 
Wirtschaften  genannt  werden.  Dabei  lassen  sich  allenfalls  active 
derartige,  die  gebenden,  und  passive,  die  empfangenden,  unter- 
scheiden. Die  Wirtschaft  der  einzelnen  physischen  Person 
wird  gewöhnlich  nur  höchstens  teilweise  eine  solche  active  carita- 
tive Wirtschaft  sein.  Dagegen  können  ad  hoc  Vereins-,  Corporations- 
wirthschaften  gebildet  werden  und  wesentlich  ganz  als  solche 
fungiren : ein  gerade  hier  practisch  wichtiger  Fall,  Stiftungs- 
wesen  u.  dergl. 

Das  caritative  Wirtschaftssystem  in  der  Volkswirt- 
schaft ist  dann  dasjenige,  wo  die  Kostendeckung,  Einkommen- 
verwendung und  Regelung,  Güterzuführung  nach  diesem  caritativen 
Princip  erfolgt. 

Im  Vorausgehenden  ist  gegenüber  der  2.  Aull.  (S.  203,  206)  eine  neue  Fassung 
erfolgt,  womit  die  im  1.  Buche  begründete  Motivationsthcoric  auch  hier  zur  Ver- 
werfung gebracht  werden  sollte.  Zugleich  wünschte  ich  so  einigen  Einwendungen 
meiner  Kritiker,  Gross,  Cohn,  Sax  die  gebührende  Rücksicht  zu  tragen. 

III.  — §.  301  [1  IG  Schluss,  117 — 119].  Verbindung  der 
drei  Wirtschaftssysteme  in  der  Volk  swirthsc  ha  ft 
und  Wechsel  in  dieser  Verbindung.  Kaum  auch  nur  denkbar, 
geschweige  geschichtlich  vorgekommen,  ist  eine  Volkswirtschaft, 
welche  ausschliesslich  auf  einem  und  selbst  nur  ausschliess- 
lich auf  zweien  dieser  Organisationsprincipien  beruht,  sondern 


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Verbindung  der  Wirtschaftssysteme. 


779 


immer  besteht  eine  C o m binati on  der  letzteren,  nur  mit  wechseln- 
der Stellung  und  Bedeutung  jedes  Princips.  Das  Ganze  der 
Volkswirtschaft  beruht  eben  auf  dieser  Combination  und  die  Volks* 
Wirtschaften  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung  und  diejenigen 
verschiedener  Völker  erhalten  durch  diese  wechselnde  Combination 
ihre  Eigenart. 

Die  blossen  Tauschverkchrsverbindungen  ganz  roher  Völker  könnten  allenfalls 
als  Beispiel  von  Volkswirtschaften  rein  privatwirthschaftlichcn  Characters 
gelten.  Aber  hier  wird  man  eben  noch  kaum  von  Volkswirthscbaft  sprechen 
können,  oder  es  wird  wenigstens  irgend  eine,  wenn  auch  noch  so  rohe  staatliche 
Organisation  vorhanden  sein  müssen.  Damit  ist  alsdann  aber  schon  der  üebergang 
aus  dem  rein  privatwirthschaftlichen  Zustande  in  den  gemciriwirthschaftlichcn  (auch 
mit  Zwangslcistungen , Diensten,  Naturalabgaben,  Steuern  an  ein  Staatsoberhaupt)  ge- 
macht. — Ein  Beispiel  eines  wesentlich  gemein  wirtschaftlichen  Zustands 
einer  Volkswirthscbaft  könnte  in  jenem  Paraguay 'sehen  Jesuitenstaate  gefunden 
werden.  — Jede  weitere  Ausdehnung  der  Staats-  und  Gemeindethätigkeit,  die  Ueber- 
nalimc  der  grossen  Anstalten  des  Verkehrswesens  auf  den  Staat,  der  Gas-  und  Wasser- 
werke u.  dgl.  in.  auf  die  Gemeinde  mit  den  Folgen  für  die  Gestaltung  der  Production, 
für  die  Ilegelung  der  Vertheilung  des  Productionscrtrags  (Besoldungswesen  im  öffent- 
lichen Dienst,  statt  Lohnwesen  nach  dem  privatwirthschaftlichcn  Marktprincip),  für 
die  Regelung  der  Preise  und  damit  der  Entgeltlichkeit  (Tax-,  Tarifwesen),  wie  ander- 
seits aber  auch  (gegen  G.  Cohn  festzuhalten)  jenes  altrömische  System  der  Getreide- 
vertbeilung  mittelst  Ausbeutung  der  Provinzen  in  Form  unentgeltlicher  Gaben  an  die 
Bürger  u.  s.  w.  kommt  auf  das  stärkere  Ilervortrcten  des  gemoinwirth- 
scha  ft  liehen  („com  m un  ist i sehe  n“)  Characters  in  der  Volkswirthscbaft  hinaus. 
— Die  umfassende  Organisation  der  kirchlichen  Armenpflege  im  Mittelalter  und 
z.  Th.  in  der  katholischen  Kirche  noch  heute  hat  den  Volkswirtschaften  ihrer 
Heimatländer  einen  stärker  caritativen  Character  gegeben. 

A.  Unzulänglichkeit  und  Beschränktheit  der  An- 
wendung und  der  Function  jedes  einzelnen  Systems 
für  sich. 

1.  Das  privatwirthschaftliche,  auf  reine  und  volle 
Wirksamkeit  des  einzelwirthsehaftlicben  Selbstinteresses  im  Verkehr 
gegründete  System,  kann  aus  sich  selbst  heraus  für  viele 
Güter  und  Bedürfnisbefriedigungen  gar  nicht  oder  nicht  genügend 
sorgen  und  fungirt  auf  seinem  Gebiete  vielfach  so,  dass  seine  Er- 
folge einer  Corrcctur  bedürfen. 

Für  eine  grosse  und  unermesslich  wichtige  Art  von  Bedürfnissen,  nemlich  für 
die  wichtigsten  Ge  in  ei  n b ed  U rf  n issc,  kann  es  teils  nur  ungenügend,  grossentheils 
jedoch  gar  nicht  die  erforderlichen,  zur  Befriedigung  dieser  Bedürfnisse  dienenden 
Guter,  die  Gemeingüter,  beschallen  (§.  352  lf).  Namentlich  vermag  cs  aus  sich 
selbst  heraus  die  ihm  selbst  unentbehrliche  Rcchtsordn ung  und  Kechtsbasis 
seines  Verkehrs  weder  ordentlich  herzustellen,  noch  zu  erhalten.  Vielmehr  ist 
die  Herstellung  und  Erhaltung  seiner  Rechtsordnung,  insbesondere  durch  den  Staat, 
erst  die  Voraussetzung  der  Entwicklung  und  des  Gedeihens  des  privatwirth- 
schaftlichcn Systems  selbst. 

Das  wird  sogar  von  den  unbedingtesten  Anhängern  des  möglichst  rein  privat- 
wirthschaftlichcn Characters  der  Volkswirthscbaft,  von  der  französischen  und  deutschen 
Bastiat sehen  Schule.  Princc-Smith  u.  A.  m.  offen  anerkannt:  der  Staat  ist  auch 
ihnen  der  nothwendige  Beschützer  ..gegen  Vergewaltigung“  (Pri  nee -Smith,  Art. 
Handelsfreiheit  in  Roitzsch’  Handwörterbuch),  und  der  Rcchtssch  utzzw  e c k der 


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4 


780 


5.  B.  Organis.  d.  Volksw.sch.  1.  K.  Princ.  u.  System.  §.  301. 


I 


Kant 'sehen  Rechtsphilosophie  und  Staatslehre  auch  von  ihnen  gebilligt:  der  Staat, 
der  „Produccnt  von  Sicherheit“.  Aber  der  Staat  (d.  h.  eben  das  gemein  wirthschaft- 
licho  System  in  seinem  wichtigsten  Vertreter,  s.  Buch  6)  erscheint  hier  doch  in  der 
That  als  deus  ex  machina  und  diese  seine  alleinige  Function  konnte  Lassalle  mit 
Fug  mit  dem  berühmten  geflügelten  Wort  vom  „Nachtwächterdienst“  verspotten  (§.  383). 

Ebensowenig  bietet  das  privatwirthscbaftliche  System  eine  Bürgschaft  dafür,  dass 
der  Verbrauch  derjenigen  Gemeingüter,  welche  es  etwa  selbst  herzustellcn  vermag, 
in  befriedigender  Weise  allen  Bedürftigen  ermöglicht  werde.  Ueberall  muss  hier  das 
gemein  wirtschaftliche  System  daher  zum  Ersatz  und  zur  Ergänzung  des  privat- 
wirthschaftlichen  cintreteu.  Auch  die  Beschaffung  und  Verkeilung  derjenigen  Güter, 
welche  im  Allgemeinen  passend  vom  privatwirthschaftlichen  System  hergestellt  werden, 
ncmlich  der  grossen  Masse  der  Sachgüter  und  immerhin  auch  vieler  persön- 
licher Dienste,  erfolgt  in  diesem  System  aber  nicht  leicht  völlig  genügend  nach 
den  Interessen  der  Gcsammthcit.  Das  gemcinwirthschaftliche  System  muss  auch  hier 
corrigirend,  Härten  und  Unbilligkeiten,  welche  das  Walten  des  wirtschaftlichen 
Selbstinteresses  hervorruft,  ausgleichend  hinzutreten:  d.  h.  namentlich  an  den  Auf- 
gaben richtiger  Regelung  der  Vertheilung  theilnchmcn,  welche  im  2.  Kapitel 
des  vorigen  Buchs  behandelt  worden  sind  (§.  269  ff.).  (S.  u.  §.  332  ff.,  341.) 

2.  Umgekehrt  kann  aber  das  gemeinwirth  Schaft  liebe 
System,  nach  der  wirthsehaftlichen  Natur  der  Menschen,  nach  der 
Motivation  des  wirthsehaftlichen  Handelns  (Buch  1,  Kap.  1),  nach 
psychologischer  Analyse  und  nach  aller  bisher  vorliegenden  Er- 
fahrung, nur  in  bestimmten  Fällen,  namentlich  den  soeben 
angedeuteten,  passend  und  erfolgreich  das  privatwirthschaftliche 
System  in  der  Volkswirthschaft  ersetzen  und  sonst  in  geeigneter 
Weise  ergänzen. 

Den  ganzen  Ilerstellu ngs-  und  Vcrtheilun gspro cess  der  wirthschaft- 
lichcn  Güter,  namentlich  auch  der  grossen  Masse  der  Sachgüter,  nach  den  Ideen  und 
Zielen  des  extremen  Socialismus  (§.  294)  gemeinwirthschaftlich  und  vorncmlich 
zwangsgemeinwirthschaftlich  von  oben  aus  durch  den  Staat  regeln  und  führen 
zu  wollen,  hiesse  unerhörte  und  wahrscheinlich  für  immer  unerfüllbare  Zumuthungen 
an  die  Intelligenz,  Gewissenhaftigkeit  und  ökonomische  und  technische  Leistungs- 
fähigkeit der  leitenden  Organe  an  der  Spitze  der  Gemeinwirthschaftcn  stellen.  Aus 
Einrichtungen,  wie  die  Staatspost  und  andere  Verkehrsanstalten,  auch  selbst  wohl 
wie  das  Militär  wesen  haben  socialistische  Stimmon  öfters  zu  weitgehende  Schlüsse 
hinsichtlich  der  Leistungsfähigkeit  einer  gemcinwirthschaftliclien  Organisation  der 
Production  gezogen.  Uebiigens  kann  man  auch  in  solchen  Auffassungen  wohl  einen 
„erdigen  Beigeschmack  der  Theoricen“  (Knies)  finden:  in  Deutschland  z.  B.  ist 
das  Vertrauen  in  die  allgemeine  Leistungsfähigkeit  des  Staats  seit  den  grossen 
Jahren  1864,  1866,  1 ST 0 ungemein  gewachsen,  was  sich  in  manchem  Urtheil  über 
volkswirthschaftspolitische  Fragen,  z.  B.  Staatsbahnen,  Staatsbanken  (Preussische  Bank!) 
deutlich  zeigt.  — Es  würde  durch  diese  maasslosc  Ausdehnung  der  Gemcinwirthschaft 
auch  die  individuelle  Freiheit  in  unerträglicher  Weise  beschränkt.  Darin  liegt 
die  Schwäche  aller  bisherigen  socialistischcn  Systeme;  man  darf  auch  wohl  sagen 
die  dem  Socialismus  inhärente  Schwäche,  welche  die  socialistischcr  Theo- 
retiker (die  practischen  Agitatoren  selbstverständlich!)  zu  wenig  beachten.  Jede 
gemein  wirtschaftliche  Organisation  hat  ein  communistisch-sociatistisches  Element  und 
bringt  daher  auch  die  hier  erwähnte  Gefahr  mit  sich.  (Freilich  darf  man  auch  hier 
nicht  übertreiben.  Vortrefflich  weist  Schäffle  (Soc.  Körper  III,  540)  die  über- 
triebenen Befürchtungen  wegen  der  individuellen  Freiheit  bei  mehr  socialistischcr  Orga- 
nisation der  Volkswirthschaft  ab).  Auch  die  berechtigte  Function  des  wirt- 
schaftlichen Selbstinteresses  als  einer  auch  im  Gesa  mmtin  tcrosse  höchst 
wirksamen  Potenz  würde  zum  Nacht  heil  der  Gesammtheit,  also  nicht  nur  der 
Einzelwirtschaften,  sondern  der  Volkswirthschaft  unwirksam  gemacht  (§.  2S3). 


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Verbindung  der  drei  Systeme. 


781 


Somit  kann  es  sich  nur  um  die  richtige  organische  Verbindung 
des  privat-  mit  dem  gemeinwirthschaftlichen  System  für  das  wahre 
Gedeihen  der  Volkswirtschaft  handeln.  Principiell  ist  nur  anzu- 
erkennen, dass  die  Art  dieser  Verbindung,  daher  der  Functionen 
beider  Systeme  in  der  Volks  Wirtschaft,  keine  ein  für  allemal 

v 7 

(„principiell“)  festgegebene,  sondern  eine  geschichtlich-wechselnde 
ist.  Auch  ist  einzuräumen,  dass  hierbei  die  practische  Bewährung 
jedes  Systems  im  concreten  Fall  eine  entscheidende  Bedeutung 
hat  und  dass  die  Technik  der  Production  hier  ein  gewichtiges 
Wort  mitspricht.  Die  moderne  Technik  (Dampf!)  und  die  Not- 
wendigkeit des  Grossbetriebs  aus  Ökonomisch -technischen  Rück- 
sichten führten  bereits  und  führen  wohl  immer  mehr  zu  einer 
absoluten  und  relativen  Ausdehnung  des  gemein-,  auch  des  zwangs- 
gemeinwirthschaftlichen  Systems  auf  Kosten  des  privatwirthschaft- 
lichen,  selbst  in  der  Sachgüter-Production. 

3.  Aber  auch  selbst  bei  der  glücklichsten,  d.  h.  bei  einer  den 
Anforderungen  der  Zeit  und  des  Ortes  am  Vollkommensten  ent- 
sprechenden Combination  des  privat-  und  gemeinwirthschaftlichen 
Systems  ist  eine  weitere  Ergänzung  dieser  beiden  Systeme  durch 
das  caritative  nicht  zu  entbehren.  Die  Begründung  der  Volks- 
wirtschaft ausschliesslich  auf  dieses  System  kann  freilich  schon 
aus  psychologischen,  aus  der  Motivation  des  wirtschaftlichen 
Handelns  entspringenden  Gründen  nicht  ernstlich  in  Frage  kommen 
und  nicht  einmal  als  ideales  Ziel  hingestellt . werden  (§.  45  ff.). 
Denn  gegen  allgemeine  unentgeltliche  Erlangung  wirtschaftlicher 
Güter  erheben  sich  auch  gewichtige  sittliche  und  ökonomische  Be- 
denken vom  Standpuncte  des  wahren  dauernden  Interesses  der 
Empfänger  aus.  Um  so  mehr  ist  zuzugeben,  dass  dem  caritativen 
System  eine  immerhin  wichtige  Function  in  der  Volkswirt- 
schaft neben  dem  privat-  und  gemeinwirthschaftlichen  System 
bleibt,  wenngleich  es  diesen  beiden  zwar  in  gewissen  Fällen  gleich- 
berechtigt, aber,  ganz  allgemein  betrachtet,  nicht  als  eoordi- 
nirtes  drittes  Glied  zur  Seite  tritt. 

Das  caritative  System  ermöglicht  einmal  eine  sittliche  Benutzung  des  privat- 
wirthschaftlich  erworbenen  Reichthums  der  Individualwirthschaften,  z.  B.  mittelst  um- 
fassender Privatwohlthätigkeit,  Stiftungen,  und  führt  dadurch  zu  einer  Rechtfertigung 
gerade  solcher  Gestaltungen  der  Volkswirthscbaft,  welche,  rein  privatwirthschaftlich 
ausgenutzt,  am  Leichtesten  eine  Schädigung  der  Gesammtinteressen  eines  Volks  ver- 
ursachen (§.  285).  Das  caritative  .System  fungirt  ferner  ebenso  nothwendig  als 
crspriesslich  zum  Heile  des  Ganzen , indem  es  die  Lücken  in  der  Bedürfniss- 
befriedigung  mancher  Individualwirthschaften.  welche  das  privatwirthschaftliche  System 
‘allein  oder  selbst  in  Verbindung  mit  dem  gemeinwirthschaftlichen  bestehen  oder  ent- 
stehen Üess,  ausfüllt  und  diejenigen  Härten  und  Disharmonieen  im  rein  privatwirth- 
A.  Wienar,  Grundlegung.  8.  Auflago.  1.  Theit.  Grundlagen.  50 


782 


5.  B.  Organis.  d.  Volksw.scb.  1.  K.  Princ.  u.  Syst.  §.  302. 


schaftlichen  Verkehr  aasgleicht,  welche  selbst  durch  das  gemeinwirthschaftliche  System 
nicht  leicht  gänzlich  zu  beseitigen  sind.  Aach  hier  ist  namentlich  an  das  grosse 
Gebiet  des  Humanitäts-  und  Armenwesens  im  umfassendsten  Sinn  zu  denken.  Es 
bleibt  somit  dem  caritativen  System  stets  ein  weiterer  oder  engerer,  geschichtlich 
freilich  stark  wechselnder  Spielraum  und  es  muss  auch  als  ein  volkswirtschaftliches 
Postulat  bezeichnet  werden,  dass  jenes  System  neben  den  beiden  anderen  wichtigeren 
fongire.  Namentlich  wird  in  Uebergangszeiten  des  volkswirtschaftlichen  Lebens,  wo 
sich  grössere  Mängel  dos  privatwirthschaftlichen  Systems  zu  zeigen  pflegen,  für 
welche  es  noch  nicht  gelungen  ist.  den  Ersatzdienst  und  Correctivdienst  des  gernein- 
wirthschaftlichen  Systems,  z.  B.  mittelst  des  Versicherungswesens,  öffentlichen  Pensions- 
wesens u.  dgl.  m.  richtig  zu  organisiren , dem  caritativen  System  mitunter  eine  be- 
sonders wichtige  Ausgleichsfunction  zufallen.  Ein  Beispiel  ist:  Organisation  von 
Hilfsvereinen  aller  Art  bei  Calamitäten,  welche  mit  dem  Wirtschaftsleben  Zusammen- 
hängen, aus  Gefahren  des  neuen  Maschinenwesens,  aus  Mittellosigkeit  der  Greise,  der 
Wittwcn  hervorgehen , bevor  durch  ein  gut  eingerichtetes  Versicherungswesen  oder 
durch  Gesetze  über  Haftpflicht  der  Unternehmer  Vorsorge  getroffen  ist.  Ebenso: 
freiwillige  Leistungen  der  Arbeitgeber  im  gemeinnützigen  Interesse  der  Arbeiter,  — 
besonders  solange  das  Recht  noch  nicht  genügende  Vorkehrungen  angeordnet  hat, 
aber  eben  auch  über  das  Maass  und  die  Katcgorieen  und  Fälle  im  Rechte  hinaus. 
Die  allerdings  oft  Wirklichkeit  gewordene  Möglichkeit  einer  falschen  („unwirtschaft- 
lichen“) Wirksamkeit  des  caritativen  Systems  (z.  B.  Missbrauche  bei  der  Armenpflege, 
nicht  genügende  Ausscheidung  des  Erwerbsfähigen  bei  der  Unterstützung:  schlechte 
Verwaltung  von  Stiftungen)  kann  gegen  die  principielle  Berechtigung  des  letzteren  in 
der  Volkswirtschaft  sowenig  geltend  gemacht  werden,  als  ähnliche  Erfahrungen  mit 
einem  der  beiden  anderen  gegen  die  Berechtigung  dieser  Systeme  (s.  u.  §.  336  fl). 

B.  — §.  302  [120].  Wechselnde  Combination  der  drei 
Systeme.  Die  Aufgabe  dieser  Combination  überhaupt  und  ins- 
besondere der  Combination  der  beiden  ersten  untereinander  wird 
unvermeidlich  dadurch  sehr  erschwert,  dass  es  keine  absolut 
richtige,  „natürliche“,  ein  für  allemal  gleichbleibende  Com- 
bination  zwischen  ihnen  giebt  und  geben  kano,  was  keines  näheren 
Nachweises  bedarf. 

Aus  dem  Wesen  oder  der  Natur  der  Dinge,  d.  h.  der  maassgebenden  Factoren, 
der  Natur  des  Menschen,  des  Staats,  folgt  eine  solche  feste  Combination  um  so 
weniger,  da  diese  Factoren,  als  ursächliche  Momente  der  Combination  der  Wirt- 
schaftssysteme aufgefasst,  selbst  wieder  nicht  gleichbleibende,  sondern  geschichtlich 
veränderliche  Potenzen  sind.  Es  gilt  dies  unzweifelhaft  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
selbst  von  der  wirtkschaftlichen  Natur  des  Menschen  und  dem  in  ihr  sich  äussernden 
angeborenen  Triebe  des  wirthschaftlichen  Selbstinteresses,  unter  dem  Einfluss  von 
Erziehung,  „Zucht“  und  Cultur,  von  Zeit  und  Ort  und  Umständen  und  nach  der  Com- 
bination  mit  anderen  Motiven  (Buch  1,  Kap.  1).  Es  gilt  ebenso  vom  Wesen  der 
einzelnen  Wirthschaftsarten,  wie  namentlich  auch  der  Gomeiuwirthschaften  und  des 
Staats  selbst,  welche  ihrerseits  wieder  Producte  von  Zeit  und  Ort  und  Umständen, 
d.  h.  eben  geschichtlich  wandelbare  Erscheinungen  sind,  bald  mehr,  bald  weniger 
ihrem  Zweck  entsprechend.  So  ist  es  z.  B.  eine  häufige  Erfahrung,  dass  zahlreiche 
Vereine  für  materiell-wirthschaftliche  (Consumvereinel),  für  Bildungs-,  Unterhaltungs- 
zwecke u.  s.  w.  nur  eine  kurze  Blüthezeit  haben,  oft  in  ihrer  Jugend,  wo  das  Interesse 
der  Betheiligten  noch  stark  genug  ist. 

Die  Combination  der  Systeme  steht  eben  im  Fluss  der  Ge- 
schichte und  kann  selbst  nur  durch  beständige  Veränderung 
eine  richtige  bleiben,  d.  h.  eine  solche,  dass  aus  dem  Zusammen- 
wirken der  drei  Systeme  die  Verfügung  über  die  höchstmögliche, 
streng  nach  dem  ökonomischen  Princip  gewonnene  Summe  ge- 


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Wechselnde  Combination  der  Systeme. 


783 


eignetster  wirtschaftlicher  Güter,  eine  quantitativ  und  qualitativ 
zu  maximalen  Nutzeffecten  führende,  mit  minimalen  (natürlichen) 
Kosten  arbeitende  Production,  eine  richtige  Steigerung  des  Volks- 
einkommens, aber  auch  die  befriedigendste  Verteilung  des  letz- 
teren unter  die  Bevölkerung  in  der  Volkswirtschaft  nach  den  oben 
in  Kapitel  2 des  4.  Buchs  dargelegten  Zielpuncten  (§.  271  ff,  277  ff.) 
hervorgeht. 

Zur  Erreichung  dieses  Ziels  werden  beständig  Verschiebungen  in  den 
Wirkungskreisen  des  privat-  und  gemeinwirthschaftliehen  Systems  sowie  auch  inner- 
halb eines  jeden  derselben,  z.  B.  zwischen  den  freien  und  Zwangsgemeiuwirthschaften 
und  zwischen  den  einzelnen  letzteren,  Staat,  Gemeinde,  Kreis  u.  s.  w.  untereinander, 
sodann  zur  richtigen  Ergänzung  auch  Veränderungen  im  Wirkungskreise  des 
caritativen  Systems  erfolgen  müssen.  Die  wichtigsten  politischen,  socialpolitischen 
und  wirtschaftlichen  Fragen  der  Organisation  der  gesammten  öffentlichen 
Verwaltung,  der  Decent ralisation  der  letzteren,  des  Selfgovernment,  der 
Provincial-,  Kreis-,  Gemeindeordnungen,  des  Vereinswesens;  die  Fragen 
der  Vertheilung  der  Leistungen  z.  B.  im  Schul-,  Verkehrswesen  (Strassen),  Armen- 
wesen u.  s.  w.  zwischen  diesen  verschiedenen  Organen;  die  Fragen  des  öffentlichen 
(Staats-,  Gemeinde-)  und  privaten  Schul-,  Verkehrswesens  u.  dergl. ; der  Uebernahme 
gewisser  materieller  Productionszweige  auf  den  Staat  (z.  B.  Forsten,  Bergbau)  und  auf 
die  Gemeinde  (z.  B.  Gas-  und  Wasserwerke)  — , dies  Alles  sind  Probleme,  welche 
mit  der  richtigen  Combination  der  genannten  Wirtschaftssysteme  auf  das  Engste 
Zusammenhängen. 

So  wenig  dies,  abstract  betrachtet,  zweifelhaft  sein  kann,  und  so  leicht  es  ist, 
für  die  Richtung  dieser  Verschiebungen  und  Veränderungen  im  Allgemeinen  obiges 
Ziel  aufzustellen,  so  schwierig  wird  die  Beantwortung  der  Frage,  ob  und  wie  eine 
solche  Verschiebung  eintreten  solle,  im  concreten  Falle.  Die  verschiedenen  volks- 
wirtschaftlichen Parteien  gehen  darin  am  Meisten  auseinander,  weil  sie,  auch  ohne 
einseitig  nur  das  eine  oder  andere  der  drei  Organisationsprincipien  gelten  zu  lassen, 
doch  dem  einen  oder  anderen  den  Vorzug  geben.  In  jedem  Parlamente,  auf  jedem 
mit  volkswirtschaftlichen  Fragen  beschäftigten  Congresse  tritt  dies  in  den  Meinungs- 
verschiedenheiten der  Redner  und  Parteien  hervor.  Jede  Verschiebung  der  genannten 
Art  aber  führt  unvermeidlich  zu  einer  Ausdehnung  oder  einer  Beschränkung  der 
Wirksamkeit  des  einen  auf  Kosten  oder  zu  Gunsten  deijenigen  der  beiden  anderen 
Principien.  Ob,  wann  und  wie  weit  dies  gut  ist,  d.  b.  dem  obigen  allgemeinen 
Ziele  näher  führt,  kann  nur  und  muss  immer  durch  möglichst  unbefangene  Unter- 
suchung des  concreten  Falls  festgestellt  werden.  Auch  nur  etwas  allgemeinere 
Regeln,  ausser  denjenigen,  welche  aus  der  Umgestaltung  der  Technik  im  Pro- 
ductionsprocess  wohl  abzuleiten  sind  (§.  301,  283),  lassen  sich  dafür  aber  bloss  durch 
näheres  Eingehen  auf  die  Natur  und  Wirksamkeit  eines  jeden  der  drei  Organisations- 
principien oder  Wirtschaftssysteme  gewinnen,  wie  dies  im  Folgenden  geschieht. 


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784 


5.  B.  Organis.  d.  Volksw.sch.  2.  K.  Priv.wirthsch.  Syst.  §.  303. 


Zweites  Kapitel. 

Das  privatwirthschaftliche  System. 

§.  303  [2.  A.  S.  212  ff.].  Vorbemerkungen.  Das  Wesen  des  privat- 
wirt h sch  aftlichcn  Systems  legen  am  Besten  die  Erörterungen  der  National- 
ökonomen  Uber  die  Bildung  der  Waarenpreise  unter  dem  Einfluss  des  ersten 
wirtschaftlichen  Leitmotivs  (des  „Eigennutzes")  unter  Voraussetzung  freier  Con- 
currenz  (des  Mitwerbens)  dar.  dann  die  verwandten  Erörterungen  Uber  den  Process 
der  Vertheilung  des  Productionsertrags  als  Einkommen  an  die  bei  der  Production 
betheiligten  Personen,  daher  über  Lohn,  Zins,  Rente,  Unternehmergewir.n  unter  dem 
gleichen  Einfluss,  wobei  im  Wesentlichen  die  allgemeinen  Preisregeln  auf  die  ver- 
dingte Arbeit,  das  verliehene  Kapital,  das  verpachtete  Grundstück  angewandt  werden. 
Hierbei  wird,  — im  Ganzen  methodologisch  auch  richtig,  sobald  man  sich  nur  bewusst 
bleibt,  dass  man  unter  Voraussetzung  bestimmter  Hypothesen  operirt. 
deren  Zutreffen  in  der  Wirklichkeit  bei  der  Anwendung  der  gefundenen  Sätze  auf 
diese  Wirklichkeit  immer  erst  geprüft  werden  muss  (§.  67  ff).  — hier  wird  mittelst 
der  Methode  der  Dcduction  aus  dem  Waltendes  sich  so  viel  als  möglich  geltend 
machenden  Selbstinteresscs  heraus  geschlossen;  das  Streben  nach  dem  grössten 
Vortheil  uud  dem  kleinsten  Opfer  ist  das  leitende  Princip. 

Da  man  es  unter  dieser  Voraussetzung  mit  einem  relativ  einfachen  Causal- 
vcrhältniss  zu  thun  hat,  so  ist  die  Anwendung  mathematischer  Formeln  und  geo- 
metrischer Figuren  nicht  besonders  schwierig  uud  öfters  versucht  worden,  um  die 
Probleme  der  Preisbildung  damit  zu  lösen,  so  von  Rau,  im  Anhänge  zu  §.  154,  164 
und  216  des  1.  Theils  (S.  Au  fl.  S.  368  U.),  besonders  umfänglich  von  v.  Maugoldt. 
Grundriss  1.  Aufl.,  §.  46  ff.,  und  überhaupt  von  den  Vertretern  der  sogen,  „inathe- 
mathischen  Methode"  in  der  Politischen  Üekonomie,  wovon  oben  in  der  Methodenlehre 
in  Buch  1,  §.  68  gehandelt  wurde  (Litteratur  daselbst  S.  176.  S.  auch  die,  übrigens 
viel  zu  weit  greifende,  Bibliographie  der  Werke  der  mathematischen  Behandlung  der 
Politischen  Oekonoinie,  zusammen  gestellt  von  Jcvons  in  Conrad’s  Jahrb.  1878.  II,  379. 
Eb.  S.  295  ein  Aufsatz  von  B.  Weisz,  die  mathematische  Methode  in  der  National- 
Oekonomie).  Diese  Versuche  sind  innerhalb  ihrer  Sphäre,  d.  h.  eben  inner- 
halb des  privatwirthschaftliche  n Systems  der  Volkswirthschaft  be- 
rechtigt. Aber  es  ist  für  die  frühere  fälschliche  Identiflcirung  der  Lehre  vom 
privatwirthschaftlichcn  System  mit  der  Volks wirthschaftsleh re  schlechtweg 
bezeichnend,  dass  man  mit  dieser  etwa  noch  mathematisch  formulirten  Preis-  und 
Einkommentheorie,  welche  in  letzter  Linie  immer  auf  das  mit  mathematischer 
Sicherheit  wirkende,  nach  der  deductiven  Methode  in  seiner  Wirksamkeit  verfolgte 
blosse  Selbstinteresse  zurückgeführt  wird,  glaubte  die  wissenschaftlichen  Aufgaben  der 
Politischen  Oekonomic,  von  der  Productionslehre  abgesehen,  gelöst  zu  haben.  Jene 
„iconomie  politique  pure“  des  rein  deductiven  Verfahrens  (S.  176)  ist  nur  eine 
hypothetische  Formulirung  des  privat  wirtschaftlichen  Systems  in  der 
Volkswirthschaft,  von  selbst  hier  schon  sehr  bedingter  Giltigkeit  in  der  Wirklichkeit, 
wie  oben  schon  bemerkt  wurde.  Denn  unvermeidlich  muss  dabei  das  Selbstinteresse, 
das  „Streben  nach  Vermögen",  wie  es  J.  St.  Mill  hier  gern  nennt,  unser  erstes 
egoistisches  Leitmotiv  (§.  34)  als  eine  constante,  selbst  ganz  gleich  bleibende 
und  immer  gleich  wirksame,  also  als  eine  absolute  Grösse  oder  Kraft  in  allen 
verkehrenden  Personen  angesehen  werden,  — eine  Annahme,  welche  zwar  hypo- 
thetisch zulässig  und  ein  wichtiges  methodologisches  Hilfsmittel  ist.  aber  in  der 
Wirklichkeit  niemals  genau  so.  wie  sie  hypothetisch  angenommen  wird,  zntrifft. 

Hier  eben  bilden,  wie  Knies,  später  besonders  Schm  oll  er  so  richtig  aus- 
gefuhrt  haben,  Sitte  und  Sittlichkeit,  herrschende  Anschauungen  u.  s.  w.,  noch 
ganz  abgesehen  von  der  Gestaltung  des  Verkehrsrechts,  ein  Medium,  durch  welches 
Angebot  und  Nachfrage  erst  hindurch  gehen,  bevor  sie  auf  Preis  und  Einkommen  cin- 
wirken  (§.  286).  Selbst  im  Grosshandcl,  für  welchen  man  mit  Recht  die  theo- 
retischen Preisregeln  am  Ersten  als  unmittelbar  auch  in  der  Wirklichkeit  zutreffende 
bezeichnet,  entzieht  sich  Angebot  und  Nachfrage,  Wirksamkeit  des  Selbstinteresses. 


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Vorbemerkungen. 


785 


„Qualität“  des  letzteren,  wenn  man  so  sagen  darf,  Art  und  Stärke  des  „Strebens 
nach  Vermögen“  u.  s.  w.  dem  Einfluss  jenes  Mediums  nicht  durchaus,  — was  z.  B. 
für  so  manche  Practiken  des  Börsenwesens  zu  beachten  ist.  Ich  darf  jetzt  in  dieser 
3.  Aufl.  im  Uebrigen  hier  wiederum  auf  das  1.  Buch  oben,  auf  die  psychologische 
Motivationstheorie  und  die  Methodologie  verweisen. 

Hierzu  kommt  nun  aber  weiter,  dass  die  Bildung  der  Preise  und  Einzeleinkommen 
von  dem  Verkehrsrecht  des  privatwirthschaftlichen  Systems  und  von  der  Mit- 
wirkung des  gemein wirthschaf tlichen  und  auch  des  caritativen  Systems 
überhaupt  sehr  maassgebend  mit  bestimmt  wird,  was  bei  jener  bloss  privatwirth- 
schaftlichen Formulirung  und  Lösung  der  Probleme  ganz  übersehen  wird  und  bei 
manchen  Untersuchungen , z.  B.  jenen  mathematischen  Formulirungen  der  Probleme, 
zunächst  auch  übersehen  werden  muss.  Die  Annahmo  einer  „absoluten“  persön- 
lichen Freiheit  und  eines  „absoluten“  Eigenthumsrechts  sind  dann  eben  nur 
weitere,  aber  principicll  eben  solche  Hypothesen,  wie  die  Annahme  einer  für  alle 
Individuen  gleichen  Motivation  der  wirtschaftlichen  Handlungen  im  Concurrenzkampf: 
Hypothesen  oder  Fictionen,  durch  welche  man  sich  jeue  verwickelten  Probleme 
der  Volks  Wirtschaft  künstlich  vereinfacht. 

Dies  Alles  ergiebt,  dass  es  ein  Irrthum  ist,  die  Volkswirthschaft  in 
diesem  privatwirthschaftlichen  Concurrenzkampf,  den  man  sich  selbst 
noch  dazu  erst  im  Widerspruch  mit  der  Wirklichkeit  so  einfach  wie  möglich  construirt, 
aufgehen  zu  lassen.  Man  kann  nur  so  viel  zugeben,  dass  dieser  Concurrenzkampf 
dem  privatwirthschaftlichen  System  vornemlich.  aber  auch  nicht  ausschliess- 
lich sein  Gepräge  giebt,  weil  andere  Motive  und  Motivccombinationcn  mit  in  Betracht 
kommen,  weil  Sitte.  Hecht  u.  s.  w.  mitwirken  und  er  überhaupt  nicht  ein  so 
reiner  Naturprocess  ist,  wie  im  Räsonnement  des  deductiven  Verfahrens  an- 
genommen wird;  ferner,  dass  dieses  privatwirthschaftliche  System  eine  Hauptseite, 
aber  eben  doch  nur  eine  Seite  der  Volkswirthschaft  darstellt.  Nur  wenn  «lies  richtig 
im  Sinn  behalten  wird,  werden  die  Erörterungen  im  Texte  des  folgenden  2.  Kapitel 
richtig  aufgefasst  werden.  Die  darin  enthaltenen  Formulirungen  sind  daher  auch  hier 
nur  der  Vereinfachung  des  Räsonnemcnts  wegen  gleichfalls  etwas  absoluter  hingestellt, 
als  den  Gestaltungen  in  der  Wirklichkeit  entspricht,  was  über  die  von  mir  durchaus 
festgehaltene  Tendenz  nicht  täuschen  darf. 

Auch  hier  bezeichnet  die  historische  Richtung  der  Nationalökonomie,  be- 
sonders mit  ihrer  wichtigen  Theorie  von  der  bloss  relativen  Giltigkeit  der  sogen, 
volkswirthschaftlichcn  Gesetze,  welche  nach  rein  deductivem  Verfahren  abgeleitet  sind 
(s.  o.  §.  73,  bes.  Knies,  Polit.  Oekon.  1.  A.  S.  2S4  ff.),  bereits  einen  grossen  wissen- 
schaftlichen Fortschritt,  namentlich  in  ihren  Lehren  vom  Preise  und  Einkommen 
gegenüber  der  mehr  naturwissenschaftlich -mechanischen  Auffassung  der  Smith’schen 
Nationalökonomie,  wie  sie  hier  in  Dcubchland  auch  Hermann  (z.  B.  in  seiner  be- 
rühmten Untersuchung  Uber  den  Gewinn,  2.  Aufl.  S.  488 — 581)  und  (zwar  weniger 
mathematisch  scharf  als  Hcrmanu,  aber  doch  schon  etwas  mehr  den  zahlreichen 
sonstigen  Einflüssen  Rechnung  tragend)  im  Ganzen  doch  auch  noch  Rau  vertritt 
Vergl.  dagegen  namentlich  Roscher's  Lehre  vom  Preise  und  Einkommen,  sowie  die 
neueren  Arbeiten  Neumann ’s  auf  diesem  Gebiete.  Noch  mehr  aber  hat  Schäffle 
gerade  durch  seine  durchgreifende  Unterscheidung  des  privat-  und  gemciuwirth- 
schaftliclien  Systems  in  diesen  Lehren  die  stets  nur  bedingte  practische  Be- 
deutung und  die  der  bisherigen  Praxis  und  dem  geltenden  Rechte  gegenüber  viel- 
fach noch  bedingtere  Berechtigung  der  privatwirthschaftlichen  Preisbildung 
nachweisen  können.  S.  sein  Ges.-System  u.  s.  Soc.  Körper  III,  bes.  an  den  in  §.  297 
genannten  Stellen.  Ferner  die  neuere  Theorie  der  „Verbandspreise“  in  der  oben 
S.  799  genannten  Litteratur. 

Die  „Deutsche  Freihandelsschule“  in  ihren  Hauptvertretern  (Prince- 
Smith,  0.  Michaelis  u.  s.  w)  ist  dagegen  ganz  auf  dem  alten  Standpuncte  stehen 
gebliebeu:  sie  untersucht  nicht  nur  diese  privatwirthschaftliche  Preisbildung  und  Ein- 
kommenvertheilung  fast  ausschliesslich,  sondern  erklärt  sogar  in  einer  seltsamen  petitio 
principii  die  daraus,  d.  h.  die  im  Kampfe  der  sich  gegenüber  stehenden  eigen- 
nützigen Interessen  bei  möglichst  freier  Concurrenz  hervorgehenden  Gestaltungen  und 
Preise  für  die  gerechtesten  oder  selbst  für  die  einzig  gerechten!  Worauf  es 
dann  freilich  leicht  ist,  jede  Beschränkung  der  freien  Concurrenz,  weil  sie  diese 


786  5.  B.  Organis.  d.  Volksw.sch.  2.  K.  Priv.w.sch.  Syst  1.  A.  Im  Allgern.  §.  304. 


„gerechte  Vertbeilung“  stört,  jede  Staatseinmischling,  jede  neue  Organisation  der 
atomisirten  privatwirthschaftlichen  Erwerbsgesollschaft  unserer  modernen  Zeit  als  nacb- 
tbeilig  zu  bekämpfen!  Siehe  darüber  unten  in  Abschn,  2 die  Vorbemerkungen  (§.  30» 
und  §.  312  ö'  die  dortigen  literarischen  Nachweise. 

Auch  hier  sind  der  socialistischen  Kritik  der  modernen  Erwerbsgesell- 
schaft und  ihres  Systems  der  freien  Concurrenz  bedeutende  wissenschaftliche  An- 
regungen und  doch  auch  viele  positive  Förderungen  zu  verdanken.  Erst  dadurck 
sind  gewisse  Ansichten  der  historisch -nationalökonomischen  Bichtang  za  grösserer 
Bestimmtheit  gebracht  worden.  Die  wahre  Bedeutung  des  Verkehrsrechts  (incL 
Eigenthumsrecht)  für  das  privatwirthschaftliche  System  und  die  hohe  Berechtieunz 
des  gemein wirthschaftlichen  Systems  in  der  Volkswirtschaft  erkannt  zu  haben, 
ist  der  grosse  Kern  positivsten  wissenschaftlichen  Verdiensts,  welch« 
in  den  Schriften  der  grossen  socialistischen  Theoretiker  von  St.  Simon  bis  auf 
Lass  alle  auch  bei  allen  Maasslosigkeiten  der  Speculatiou  und  bei  allen  gehissizea 
Uebertreibungen  der  Angriffe  gegen  die  bestehende  wirthschaftliche  Ordnung  deutlick 
genug  zu  finden  ist.  (S.  §.  13,  293  ff.) 


1.  Abschnitt. 

Das  privatwirthschaftliche  System  und  seine  Verkelirs- 
rcclitshasis  im  Allgemeinen. 

I.  — §.304  [121,  122].  Die  Privat wirthschafte  n.  Die- 
selben sind  in  ihrem  Wesen  schon  in  §.  300  genügend  characterisirt 
worden.  Hier  sind  nur  noch  einige  Bemerkungen  hinzuzufügen 
und  einige  Folgerungen  zu  ziehen.  Zu  den  Zwecken  der  Production 
werden  von  der  im  Verkehr  stehenden  Privatwirtschaft  die  ihr 
nicht  selbst  privateigenthümlich  zur  Verfügung  stehenden  sachlichen 
Pioductionsmittel  (Gruudstückc,  Gebäude,  Kapitalien)  und  die  ihr 
nicht  durch  ihr  Rechts-  und  Wirthschaftssubject  selbst  gebotenen 
und  eventuell  aus  dem  Familienverband  verfügbaren  Arbeitskräfte 
zu  der  Arbeits-  und  Besitzgemeinschaft,  welche  der  Productionsbe- 
trieb  darstellt,  durch  Verträge,  den  Tausch-,  Kauf-,  Arbeits- 
oder Dienstmiethevertrag,  die  Creditverträge,  den  Pacht-,  Mieth-, 
Leihvertrag  in  erforderlicher  Weise  vereinigt  (§.  264).  Durch  diese 
Verträge  werden  zugleich  die  Antheile  am  (volkswirtschaftlichen) 
Reinertrag  der  Production  (§.  264)  geregelt  Bei  der  für  den  Ab- 
satz der  Producte  (fertigen  Güter)  im  Verkehr  arbeitenden,  ein 
Glied  im  Arbeitsgliederungs-  und  Verkehrssystem  bildenden  Privat- 
wirtschaft werden  ebenso  Tausch-,  Verkaufverträge  über  diese 
Producte  geschlossen.  Beim  Abschluss  aller  dieser  Verträge,  speciell 
bezüglich  des  Inhalts  derselben,  folgen  nun  im  privatwirthsehaft- 
lichen  System  alle  in  Betracht  kommenden  Personen  wesentlich 
den  Bestrebungen,  welche  sieh  aus  dem  ersten  egoistischen  Leit- 
motiv, dem  Streben  nach  dem  wirtschaftlichen  Eigenvortheil 
(§.  34)  und  aus  dem  ökonomischen  Princip  (§.  28)  ergeben.  Nament- 


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Die  Privatwirtschaften. 


787 


lieh  verfuhrt  so  das  leitende  Wirthschafts-  und  Rechtssubject  der 
Privatwirtschaft  selbst,  wodurch  die  von  ihm  abgeschlossenen 
Verträge  ihren  Character  und  die  daraus  folgenden  wirtschaft- 
lichen Vorgänge  ihr  eigentümliches,  eben  „privatwirthschafdiches“ 
Gepräge  erhalten.  Insbesondere  wird  daher  hier  nach  dem  Grund- 
sätze der  speciellen,  vollständigen  und  möglichst  ge- 
nauen, d.  h.  in  jedem  einzelnen  Vertrage  der  höchst  mög- 
lichen Entgeltlichkeit  der  gewährten  Leistungen  und 
der  empfangenen  Gegenleistungen  vorgegangen. 

Dieser  Grundsatz  verwirklicht  sich  in  der  Weise,  dass  jedes  Gut  (Sachgut,  Dienst), 
seinen  bestimmten  Preis,  jedes  Einzeleinkommeu  (Lohn,  Zins,  Pacht-  und  Mieth- 
rente,  Unternehmergewinn,  Spcculationsgewiun)  seine  bestimmte  Höhe  im  Kampfe 
der  sich  gegenüberstehenden,  von  jenem  ersten  egoistischen  Motiv  geleiteten  Inter- 
essenten auf  jenem  Puncte  erhält,  wo  die  Interessen  der  Kämpfer  sich  so  weit  aus- 
gleichen,  dass  der  Vertrag  geschlossen  wird.  Dieser  Ponct  ist  der  ökonomische  Aus- 
druck für  das  Maass,  in  welchem  es  jedem  Vertragsschliessenden  möglich  geworden 
ist,  sein  wirtschaftliches  Interesse  zur  Geltung  zu  bringen.  Es  erfolgt  also,  im 
Unterschied  vom  gemeinwirthschaftlichen  System,  hier  immer  in  jedem  Vertragsscbluss 
eine  gegenseitige  Abrechnung  Uber  den  Werth  der  Güter  (Leistungen  u. s.  w.), 
die  Jeder  in  den  Interessenkampf  hineinbringt  Ein  solcher  Kampf,  wie  nicht  ver- 
kannt werden  darf,  liegt  jedem  Vertragsscbluss  zu  Grunde. 

Für  die  vorausgehende  I'ormulirung  gilt  die  in  der  Vorbemerkung  (§.  303)  ge- 
machte Bemerkung,  dass  sie  hier  der  Einfachheit  des  Räsonnements  wegen  absoluter 
erfolgt,  als  der  Wirklichkeit  entspricht.  Es  ist  z.  B.  schon  lange  üblich,  neben  der 
Concurrenz  das  Herkommen  als  mitwirkenden  Regulator  bei  der  Preisbildung  und 
Verkeilung  zu  bezeichnen  (s.  J.  St.  Mi  11,  Polit.  Oekon.  B.  2,  Kap.  4).  Dies  Her- 
kommen ist  eben  nur  ein  gemeinsamer  Ausdruck  für  die  Summe  der  Sitten  u.  s.  w., 
welche  im  Grunde  genommen  nicht  Regulator  neben  der  Concurrenz  ist,  sondern 
welche  die  Coucurreuz  selbst  neben  dem  Selbstinteresse  mit  regulirt. 
Denn  grade,  wie  in  Wirklichkeit  die  Interessen  nach  dem  ersten  Leitmotiv  in  den 
Vertragsschlüssen  sich  geltend  machen,  hängt  mit  von  der  sonstigen  Motivation,  von 
dem  Medium  der  sittlichen  Anschauungen  und  Sitten  ab,  durch  welches  sie  erst  bei 
ihrer  Verfolgung  hindurch  gehen  müssen. 

Als  Hauptarten  der  Privatwirtschaften  sind  für 
unsere  Volkswirtschaft  zu  unterscheiden  : 

1)  Die  Einzel  Wirtschaft  einer  physischen  Person, 
die  typische  Hauptform. 

In  der  Familicuwirthschaft  findet  sie  ihre  naturgemässe  Erweiterung,  aber  damit 
zugleich  schon  eine  Annäherung  an  die  Gemeiuwirthschaft  für  die  Verhältnisse 
des  Familienverbands  (anders  Schällle). 

2)  Die  Einzelwirtschaften  nicht-physischer  (sogenannter 
juristischer)  Personen  des  Privatrechts. 

Die  speculativen  Erwcrbsgcscllschaften , wie  die  olfene  Handelsgesellschaft,  die 
Coinmandit-,  die  Acticngesellschaft  und  einzelne  Arten  der  Genossenschaften,  wie  die 
ältere  Bergbaugenossenschaft  und  die  Mehrzahl  der  modernen  sogen.  Wirthschafts- 
genossenschaften , welche  freilich  den  freien  Gcmcinwirthschaften  nahestehen  oder 
selbst  überwiegend  den  Character  der  letzteren  haben  können  (§.  343).  Mancherlei 
Zwischenbildungen  gehören  theils  in  die  Kategorie  der  Privat-,  theils  in  diejenige  der 
Gemein  Wirtschaften.  Die  älteren  Corporatiouon  für  Handelsbetrieb,  Gewerbe- 
betrieb hatten  öfters  solchen  gemischten  Character.  In  der  alten  Handwerkerzunft 
liegt  ein  Element,  das  sie  als  Gemeinwirthschaft  characterisirt. 


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788  5.  B.  Organis.  d.  Volksw.sch.  2.  K.  Priv.w.scb.  Syst  1.  A.  Im  Allg.  §.  305. 

3)  Alle  Gemein wirth schäften  endlich,  auch  die  anf 
Zwang  beruhenden,  wie  besonders  Staat  und  G e m e i n d e selbst, 
können,  wie  schon  bemerkt  (§.  300),  wenigstens  theil  weise  anch 
nach  dem  privatwirthschaftlichen  System  fungiren  und  thun  dies 
auch  in  der  Regel:  insoweit  sind  auch  sie  Privatwirt h schäften. 

Z.  B.  der  Staat  hinsichtlich  seiner  sogen.  Privaterwerbsthätigkeit , wie  in  der 
eigentlichen  Domanialwirtschaft  und  annähernd  bei  manchen  Staatstätigkeiten,  deren 
finanzielle  Behandlung  nach  dem  sog.  Gebührenprincip  erfolgt.  Das  Nähere  darüber 
gehört  in  die  Finanzwissenschaft  (s.  Band  1 u.  2 derselben). 

II.  — §.  305  [123].  Die  Rechtsbasis  im  privatwirth- 
schaftlichen System.  A.  Ihre  Bedeutung.  Der  Verkehr 
und  jene  Preis-  und  Einkommenbildungen  darin  haben  zur  noth- 
wendigen  Voraussetzung  eine  Rechtsbasis,  welche  als  Be- 
dingung und  Schranke  für  die  beiden  Parteien  im  Kampfe 
um  die  ökonomischen  Bedingungen  des  Vertragsabschlusses  wirkt 
Diese  Rechtsbasis  ist  nichts  von  Natur  fest  Gegebenes,  nichts  aus 
dem  Wesen  des  Menschen  ohne  Weiteres  Folgendes,  nichts  l u- 
veränderliches,  sondern  etwas  geschichtlich  stark  Wandelbares. 
Sic  kann  nicht  vom  privatwirthschaftlichen  System  aus  sich  selbst 
heraus  geschaffen  werden,  sondern  wird  durch  die  höchste  Form 
der  Gemeinschaften,  durch  den  Staat,  wenn  auch  nicht  ur- 
sprünglich allein  gesetzt  und  auch  später  nicht  allein  von  ihm 
weitergebildet,  da,  freilich  vom  Staat  erst  anzuerkennende,  Ge- 
wohnheitsrechtsbildung voran  geht  und  immer  etwas  zur  Seite 
bleibt.  Aber  sie  wird  doch  von  ihm  allein  gesichert  gegen 
Bruch  und  vornemlich  von  ihm  weiter  gebildet.  Sie  ist  ein 
unbedingtes  Bedürfnis  für  die  Privatwirtschaften,  ohne  dessen 
genügende  Befriedigung  die  letzteren  in  der  Fürsorge  für  andere 
Bedürfnisse  im  verkehrswirthscbaftlichen  Zustand  der  Volkswirt- 
schaft (§.  188)  grossentbeils  lahm  gelegt  wären.  Das  g e me  in- 
wirt hschaftli  che  System  erweist  sich  insofern  als  eine  Voraus- 
setzung des  privatwirthschaftlichen,  wie  umgekehrt  auch  letzteres 
als  eine  solche  des  ersteren.  Darin  findet  der  frühere  Satz  (§.  302), 
dass  immer  eine  Combination  beider  Systeme  in  der  Volks- 
wirtschaft stattfinden  müsse,  eine  Bestätigung. 

Die  einmal  bestehende  Rechtsbasis,  persönliche  Freiheit,  Eigenthum,  Erbrecht. 
Vertragsrecht,  wird  von  der  Nationalökonomie  stillschweigend  oder  ausdrücklich  als 
die  Voraussetzung  ihrer  Untersuchungen  tlber  Production,  Umlauf  und  Vertheilung 
der  Guter  angenommen,  so  auch  von  Kau.  Dabei  wird  aber  der  Einfluss  der  Ver- 
schiedenheit dieser  Kechtsbasis  auf  die  Volkswirtschaft  nicht  genügend  beachtet  und 
die  Möglichkeit  ihrer  Veränderung,  sowie  die  wünschenswerte  Richtung  der  letzteren 
ebensowenig.  S.  dagegen  Roscher,  I.  1.  B.  Kap.  4 u.  5,  Schäffle  pass,  bcs.  Syst.  II. 
349  lf.,  50ü  ff.  H.  Rösler,  soc.  Vcrwaltungsrecht,  I,  §.  120  ff.,  177  ff,  183  ff.  — 


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Rechtsbasis  des  priv.wirthsch.  Systems. 


789 


Die  spätere  Smith  sehe  Schule,  die  Manchesterpartei,  geht  in  ihren  Untersuchungen 
stets  von  einer  natürlichen  absoluten  persönlichen  Freiheit  und  von  einem  natürlichen 
absoluten,  möglichst  für  alle  Sachen  (nicht  unbedingt:  Verhältnisse)  gleichen  Eigen- 
thums- und  Erbrecht  aus:  — die  zweite  Fiction  neben  dem  Dogma  von  der  Allmacht 
und  steten  Richtigkeit  des  absoluten  wirthschaftlichen  Selbstinteresses. 

Von  der  Gestaltung  der  Rechtsbasis,  auf  welcher  sich  der 
privatwirthschaftliche  Verkehr  vollzieht,  hängt  der  Character  des 
privatwirthschaftlichen  Systems  wesentlich  mit  ab.  Letzteres  unter- 
liegt daher  dem  geschichtlichen  Wechsel  in  seinen  Erscheinungs- 
formen vorzugsweise  mit  in  Folge  eines  Wechsels  dieser  Rechts- 
basis. Absolute  Sätze  für  die  letztere  giebt  es  nicht  und  kann 
es  nicht  geben,  denn  der  geschichtliche  Process,  in  welchem  sie 
steht,  ist  ununterbrochen  im  Gange  unter  dem  Einflüsse  der 
wechselnden  Bedürfnisse  und  Anschauungen  der  Menschen,  auch 
speciell  der  Productionstechnik. 

Selbst  die  maassgebenden  Hauptprincipien  der  Recbtsbasis,  neinlich  diejenigen, 
welche  sich  auf  die  verkehrenden  Menschen  und  auf  die  Güter  an  und  für  sich,  d.  i. 
auf  Personenstand  (persönliche  Freiheit  u.  s.  w.)  und  Eigenthum  beziehen , wechseln 
erfahrungsmässig  erheblich.  Zeitliche  und  örtliche  Verhältnisse,  nicht  die  sogen. 
Natur  der  Menschen  und  Dinge  allein,  welche  ohnehin  keine  einfache  fixe  Grösse  ist, 
entscheiden  wesentlich  mit.  Dies  verkannt  zu  haben,  ist  der  grosse  principielle  Fehler 
der  neueren  Volkswirthschafts-Wissenschaft  der  Schule  von  A.  Smith.  Namentlich 
wieder  in  ihren  letzten  extremsten  Ausläufern,  der  Bastiat’scben  Richtung  in  Frank- 
reich, der  Manchesterpartei  in  England,  der  „deutschen  Freihandelsschule“  in  Deutsch- 
land ; s.  bes.  den  folgenden  Abschnitt.  Man  kann  für  die  Rechtsbasis  des  privat- 
wirthschaftlichen Verkehrs  nur  Rcchtssätze  relativen  Werths  aufstellen,  welche  immer 
nur  für  ein  gewisses  Zeitalter  und  für  gewisse  Länder  und  Völker  als  die  richtigen 
gelten  können.  Dies  gilt  selbst  von  der  persönlichen  Freiheit,  vollends  vom  Privat- 
eigenthum, Erbrecht,  Vertragsrecht.  Genaueres  hierüber  erst  in  der  2.  Abth.  der 
Grundlegung  bei  der  kritischen  Erörterung  der  Fragen  von  Freiheit  uud  Eigenthum 
aus  dem  socialökonomischen  Gesichtspuncte. 

B.  — §.  306  [1241.  Die  einzelnen  Rechtsnormen, 
welche  für  die  Gestaltung  der  Rechtsbasis  des  privatwirthschaft- 
lichen Systems  und  damit  der  Volkswirtschaft  entscheidend  sind, 
betreffen  folgende  vier  Puncte. 

1)  Die  Rechtsnormen  über  den  Personenstand,  be- 
sonders die  persön liehe  Unfreiheit,  Freiheit  und  Gleich- 
berechtigun  g der  in  einer  Volkswirtschaft  verkehrenden  Menschen. 

Personenstaud , Personalstand  hier  als  Collectivbegriff  in  einem  ähnlichen,  aber 
weiteren  Sinne,  wie  der  römisch -rechtliche  Status  genommen,  der  nur  dem  Freien 
zustand.  Besonders  hervorzuheben  sind  hier  als  maassgebende  Momente:  Das  Rochts- 
institut  der  Unfreiheit  in  seinen  verschiedenen  Formen,  Sclaverei,  Leibeigenschaft  und 
Schollenpflichtigkeit  (glebae  adscriptio,  Colonat)  u.  s.  w.;  Frobnarbeit.  — Die  Unter- 
scheidung von  Ständen  mit  verschiedenem  Verkehrsrecht  unter  den  Freien.  Dahin 
können  auch  die  im  römischen  Recht  vorkommenden  Mittelzustände  zwischen 
Freiheit  und  Unfreiheit  gehören  (Puchta,  Instit.  II,  456).  Ferner  die  auch  mit 
privatrechtlichen  Folgen  verbundene  Unterscheidung  von  Patriciern  und  Plebejern, 
wenigstens  in  der  älteren  Zeit  — Unterschiede  im  Verkehrarecht  nach  der  Religion 
(Apostaten,  Häretiker.  Juden):  nach  der  Sprache  (z.  B.  im  deutschen  Handwerk, 
vergl.  Stahl,  dtsch.  Handw  , Giess.  J874,  I,  102);  nach  der  ehelichen  und  unehe- 


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790  5.  B.  Organis.  d.  Volksw.scli.  2.  K.  Priv.w.sch.  Syst  1.  A.  Im  AUgeio.  §.  306. 


liehen  Geburt  (eb.  S.  91  ff.).  — Die  Unterscheidung  von  Staatsangehörigen  und  Aus- 
ländern, so  civcs  und  peregrini,  dann  latini  im  römischen  Recht,  Bürger  und  Metökcn 
in  Athen  u.  s.  w.  (Ausschluss  vom  Erwerb  des  Grundeigcnthums).  Achuliche  Gestal- 
tungen vielfach  in  den  mittelalterlichen  Rechtssystemen  und  bis  in  die  neueste  Zeit 
hinein,  besonders  was  Grunderwerb,  Handwciksbetrieb  u.  a.  m.  anlangt.  Einzelnes 
noch  heute  bei  den  Culturvölkern  bestehend,  mehrfach,  auch  z.  B.  in  Nordameric. 
Staaten  kommt  Unfähigkeit  der  Ausländer  zum  Grunderwerb  noch  vor.  — Unter- 
scheidung von  Orts-(Gomeindc-)angehörigen  und  Ortsfremden  u.  dgl.  in.  ftlr  Grund- 
oder Hauserwerb,  für  selbständigen  Geschäftsbetrieb,  in  unseren  moderneu  Staaten  bis 
in  die  neueste  Zeit  hinein  von  Bedeutung.  Dgl.  von  Stadt-  und  Landbewohnern, 
früher  für  Gewerbebetrieb  vielfach  entscheidend;  allgemein  aufgehoben  bei  uns  erst 
in  der  deutschen  Gewerbeordnung  vom  21.  Juni  1S69,  §.  2. — Die  Gewährung  voller 
persönlicher  Freiheit  und  rechtlicher  Gleichheit  an  alle  erwachsenen,  im  Besitz  der 
normalen  Geisteskräfte  belindlichen  Staatsangehörigen  oder  selbst  schlechtweg  an  alle 
menschlichen  Individuen,  mit  der  Rechtsfolge  freier  Erwerbs-  und  Berufswahl  (..freies 
Recht  zu  arbeiten“),  wie  in  der  Hauptsache  in  unseren  europäisch -americanischeu 
Staaten  der  Gegenwart,  jetzt  Gleichstellung  der  Inländer  und  Ausländer  im  Allgemeinen 
in  der  deutschen  Gewerbeordnung  vom  21.  Juni  1969.  §.  1,  vergl.  Jacobi,  Gowerbe- 
gesetzgebung  im  Deutschen  Reiche.  Berlin  1874,  S.  20. 

2)  Die  Rechtsnormen  über  das  Eigenthum,  insbe- 
sondere das  Priva teigen th um  an  wirtschaftlichen  Gütern, 
namentlich  an  Sachgütern,  und  iu  Verbindung  mit  diesen  Rechts- 
normen diejenigen  über  das  Erbrecht. 

Maassgebend  ist  hier  vorncmlich:  ob  und  in  welcher  Art  Privateigenthum  an 
Menschen  zugelassen  wird  (Sclavcn recht).  — Sodann  die  Unterscheidung  des  Eigen- 
thumsrechts an  beweglichen  Sachen  und  Grundstücken  und  Verhältnissen  (incl.  sogen, 
geistiges  Eigenthum);  bei  ersteren  die  Unterscheidung  nach  dem  Zweck,  zwischen 
Gebrauchsvermögen  und  Kapital  (Privatvermögen,  Kapitalbesitz,  §.  129,  129);  der 
Umfang  und  der  Inhalt  der  Rechte,  welche  das  Privateigenthum  gewährt.  — Beim 
Grund  und  Boden;  ob  derselbe  gänzlich,  theil weise,  gar  nicht  vom  Privateigenthum 
der  eigentlichen  Privatwirtschaften  ausgeschlossen  und  als  eigentliches  Gemein- 
eigentum oder  als  „öffentliches“  Eigenthum  von  Zwangsgemeinwirthschaften.  nament- 
lich des  Staats  und  der  Gemeinden,  Vorbehalten  ist  (Rcgalprincip);  bei  der  Zulassung 
privaten  Grundeigenthums,  ob  dasselbe  „beschränktes“  Eigenthum  ist,  wie  im  All- 
gemeinen in  den  früheren  Stufen  des  Volkslebens  und  in  der  germanischen  Rechts- 
bildung, oder  ob  dieses  Immobiliareigenthum  möglichst  im  Umfange  und  Inhalt  der 
Rechte,  die  es  gewährt,  dem  Mobiliareigenthum  gleichgestellt  ist,  wie  unter  dem  Ein- 
fluss des  römisch-rechtlichen  Eigenthuinsbegrifrs  und  im  Interesse  der  Freiheit  des 
Verkehrs  und  der  Geltung  des  Individuums  immer  vollständiger  in  der  modernen 
Volkswirtschaft;  beiin  Grundeigenthum  ferner:  ob  und  wie  dasselbe  nach  seinem 
Verwendungszweck  als  städtisches  und  ländliches,  als  Wohnungs-,  Forst-,  Bergwerks-, 
landwirtschaftlicher,  als  Wege-Bodcn  u.  s.  w.  im  liechte  unterschieden  wird  und  wie 
in  Beziehung  zu  dem  Grundeigenthumsrecht  das  Wasser-,  Jagd-,  Fischereirecht  ge- 
regelt ist;  ob  und  wie  das  Grundeigenthum  durch  Reallasten  und  Servituten  beschränkt 
werden  kann;  endlich,  wie  sich  das  Vertrags-,  namentlich  Veräusserungs-,  Ver- 
schuldungs-,  Theilungs-,  Zusammculcgungsrecht  und  das  Erbrecht  in  Bezug  auf 
Grundeigenthum  gestaltet.  — Bei  privatem  Kapitaleigenthum : ob  und  in  welchem 
Maasse  Beschränkungen  in  der  freien  Verfügung  über  dasselbe  durch  bestimmte 
Bedingungen  in  der  eigenen  Verwendung  (z.  B.  vorgeschriebener  gewerblicher  Bildungs- 
gang). durch  Bestimmungen  über  den  Inhalt  der  Verträge,  deren  Gegenstand  Kapital 
ist.  mittelst  Lohn-,  Zins-,  Preistafel!  u.  s.  w.,  durch  öffentlich-rechtliche  Regelung 
der  Verhältnisse  der  Lohnarbeiter,  z.  B.  in  Betreff  der  Arbeitszeit  u.  A.  dgl.  m.,  wie 
im  Allgemeinen  im  Mittelalter  und  in  neuester  Zeit  wieder,  vorhanden  oder  das 
Kapitaleigenthum  wesentlich  dem  Privateigenthum  an  Gebrauchsvermögen  gleichgestellt 
und  daher  ein  möglichst  unumschränktes  ist,  wie  im  Ganzen  in  der  modernen  Volks- 
wirtschaft. — Bei  Verhältnissen;  ob  und  wie  weit  überhaupt  ein  Eigentum 
(„geistiges  Eigenthum“)  oder  ein  demselben  verwandtes  selbständiges  Recht  anerkannt 


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Die  einzelnen  Normen  der  Rechtsbasis. 


791 


wird  (Urheberrecht  an  Schriftwerken,  Kunstwerken,  Erfindungen,  Autor-,  Patent-, 
Musterschutzrecht  u.  s.  w.).  — Auch  bei  privatem  Kapitaleigenthum  und  bei  der 
Rechtsordnung  der  „Verhältnisse“  kommt  dann  wieder  die  Gestaltung  des  Erbrechts 
in  Betracht,  namentlich  diejenige  des  Intestat-  und  des  testamentarischen  Erbrechts, 
das  Pflichttheilsrecht,  der  Theilungszwang.  Auch  das  Steuerrecht  ist  bedeutsam,  das 
sich  an  das  Eigenthum  von  Gebrauchsvermögen  (Luxussteuern,  indirecte  Verbrauchs- 
steuern auf  wichtige  Consumptibilien),  von  Kapital  und  Grundstücken  nebst  Häusern 
(Ertragssteuern  als  Objectsteuern,  Vermögenssteuer)  und  an  das  Einkommen  daraus 
(Renteneinkommen),  sowie  an  das  Erbrecht  anknüpfu 

Zur  ökonomischen  Würdigung  der  Privateigenthumsinstitution 
ist  immer  zu  beachten,  dass  die  rechtliche  Zulassung  des  Privat- 
eigenthums an  Menschen,  Kapital  und  Grundstücken,  d.  h.  an 
Productionsmitteln  die  Voraussetzung  für  den  privaten  Renten  - 
bezug  ist. 

3)  Die  Normen  Uber  das  Vertragsrecht,  welche 
wesentlich  eine  Consequenz  der  Rechtsnormen  über  den  Personen- 
stand und  über  das  Privateigenthum  sind. 

Sie  wurden  daher  unter  der  vorigen  Nummer  schon  mit  erwähnt,  aber  sind  hier 
auch  noch  apart  herauszuheben.  Besonders  wichtig  sind  die  Normen  über  den  Tausch, 
Kauf  und  Verkauf,  über  die  verschiedenen  Creditverträge,  das  Darlehen  und  den 
Zins,  die  Miethe,  die  Pacht,  über  den  Dienstmiethc-  oder  Arbeits  - Lohn  vertrag. 
Namentlich  ist  zu  beachten,  ob  das  Recht  nur  über  die  Können  der  als  rcchtsgiltig 
anzusehenden,  insbesondere  der  klagbaren  Verträge  (Mündlichkeit,  Schriftlichkeit. 
Zeugen,  öllentlich«  Beurkundung,  Vorschrift  bestimmter  Formalien  u.  s.  w.)  oder  auch 
über  den  Inhalt  der  Verträge  Bestimmungen  enthält,  welche  nicht  durch  den  Willen 
der  Parteien  ausser  Kraft  gesetzt  werden  können;  ob  und  wie  weit  Verträge  wegen 
ihres  Inhalts  rechtlich  ungiltig,  selbst  strafbar,  nicht  oder  nur  bedingt  klagbar 
sind  u.  s.  w.  (Frage  des  pactum  turpe,  der  conditio  turpis  u.  dgl. , der  Wucher- 
verträge, der  lex  cogens.) 

4)  Die  Rechtsnormen  über  die  Giltigkeit  sogen, 
wohl  erworbener  (Privat-)  Rechte,  sowohl  derjenigen,  welche 
auf  einer  anderen  Rechtsbasis  (z.  B.  bei  ehemaliger  Unfreiheit), 
als  derjenigen,  welche  auf  der  bestehenden  Rechtsbasis  ent- 
standen sind. 

Es  handelt  sich  hier  vornemlich  um  die  wichtige  Principienfrage,  ob  und  wie 
weit  auch  ohne  oder  selbst  gegen  den  Willen  des  Berechtigten,  also  ausserhalb 
des  Vertragsrechts,  ein  solches  „wohlerworbenes  Recht“  aufgehoben,  be- 
seitigt, verändert,  beschränkt  werden  kann,  ob  mit  oder  ohne,  mit  voll- 
ständiger oder  theilweiser  Entschädigung,  ob  mit  vertragsmässigem  Uoberein- 
kommen  wenigstens  über  die  Art  und  Höhe  der  Entschädigung  oder  mit  Feststellung 
auch  der  letzteren  durch  obrigkeitliche  Autorität,  Gesetz  u.  s.  w.:  die  Frage  der 
Enteignung  (^Zwangsenteignung,  Expropriation;  Entwährungswesen  L.  Stein  s). 

C.  — §.  307  [125J.  Die  Verkehrs-Rechtsbasis  des 
privatwirthschaftlichen  Systems  in  den  modernen  Volks- 
wirt h s c h a ft  e n.  Dieselbe  characterisirt  sich  bei  deu  europäischen 
Culturvölkern  und  ihren  Abkömmlingen  in  anderen  Erdtheilen  in 
Bezug  auf  die  hier  allein  in  Betracht  zu  ziehende  principielle 
Gestaltung  der  eben  erörterten  vier  maassgebenden  Puncte  also: 


792  5.  B.  Organis.  d.  Volksw.sch.  2.  K.  Priv.w.sch.  Syst  1.  A.  Im  Allgem.  §.  SÖT. 


1)  Es  besteht  allgemeine  persönliche  Freiheit  und 
Gleichberechtigung  der  physischen  Personen  im  Verkehr,  mit 
gewissen  Beschränkungen  für  Unerwachsere  und  in  geringem 
Maasse  noch  für  das  weibliche  Geschlecht,  aber  als  Correlat  auch 
Selbstverantwortlichkeit,  doch  unter  Gewährung  der  Hilfs- 
leistungen Seitens  der  Gemeinschaft,  welche  oben  dargelegt  wurden 
(§.  271  ff.,  Recht  auf  Existenz  u.  s.  w.). 

Physischer  Zwang  von  Person  zu  Person  ist  daher  ausgeschlossen.  „Freie 
co ut ractliche  Vereinbarung“  ist  das  leitende  Kechtsprincip  im  privatwirtb- 
schaftlichen  Verkehr.  Die  Vortheile,  welche  für  die  eine  Partei  aus  der  ungünstigere 
ökonomischen  Lage  der  anderen  hervorgehen,  bei  Vertragsschlüssen  über  Preisbildung. 
Bildung  der  Lohn-,  Zins-,  Mieth-  und  Pachtzinssätze  u.  s.  w.  soweit  als  möglich  geltend 
zu  machen,  ist  rechtlich,  von  wenigen  Ausnahmen,  welche  freilich  im  neuesten  Hecht  wieder 
zahlreicher  und  wichtiger  werden  (Arbeitsrecht,  Ziusrecht),  abgesehen , durchaus  statt- 
haft. Als  Consequenz  der  persönlichen  Freiheit  ist  regelmässig  eine  Reihe  „socialer 
Freiheitsrechte“  gegeben:  Recht  der  freien  Eheschliessung,  des  freien  Zugs  fttr 
Inländer  (Freizügigkeit),  Auswanderungsrecht  (nicht  ebenso:  Einwanderungsrecht  fttr 
Ausländer),  freies  Reiserecht.  Im  Princip  ist  regelmässig  auch  die  Wahl  des 
wir  thschaftlichen  Berufs  frei;  werden  Bedingungen  für  die  Ausübung  eines 
solchen  gestellt  (vorgeschriebener  Lehr-  und  Bildungsgang,  Fähigkeits-  und  Keuntui»- 
nach weise.  Prüfungswesen),  so  sind  diese  für  Alle  gleich  und  der  Nachweis  ihrer 
Erfüllung  ist  Allen  (mit  gewissen  Ausnahmen  für  Frauen,  Kinder  und  junge  Leute: 
gestattet. 

2)  Es  können  immer  mehr  alle  Sachgüter  und  ein  Theil 
der  „Verhältnisse“  (§.  119).  in  das  volle,  d.  h.  möglichst 
unumschränkte  Privateigenthum  der  Privatwirtschaften 
übergehen. 

M.  a.  \V.  das  Privateigenthum  dehnt  sich  immer  weiter  auf  alle  wirt- 
schaftlichen Güter,  wenigstens  auf  alle  Sachgüter  aus,  wird  immer  gleichartiger 
für  alle  Guterarton,  einerlei,  welches  der  Verwendungszweck  derselben,  für  Gebrauchs- 
Vermögen,  Kapital,  Grundstücke  (und  selbst  z.  Th.  für  Verhältnisse),  für  Mobilien  und 
Immobilien,  und  gewährt  nach  seinem  Inhalte  immer  absolutere,  umfassendere 
Rechte.  Regale  (und  Monopole)  bestehen  wenig  mehr  und  werden  meistens  prin- 
cipicll  aus  volkswirtschaftlichen  Gründen  (freilich  nicht  immer  zureichenden)  ver- 
worfen. Nach  Analogie  des  Eigenthums  an  Sachen,  nur  mit  den  durch  die  verschiedene 
Natur  des  Rechtsobjects  gebot'':. en  Modificatiouen  wird  auch  ein  sogen,  geistiges 
Eigen  thum  an  gewissen  Verhältnissen  (Urheberrecht,  Autorrecht,  Patentrecht  u.  s.  w.) 
gesetzlich  sanctionirt.  Endlich  ist  gewöhnlich  volles  Iutestaterbrecht.  meist  bis 
zu  den  entferntesten  Verwandtschaftsgraden,  und  öfters  ein  nur  durch  das  P f 1 i c h 1 1 h e i 1 s- 
recht  mehr  oder  weniger  beschränktes  testamentarisches  Erbrecht  anerkannt, 
ohne  Unterschied  für  Mobil-  und  Immobileigenthum,  für  Gebrauchsvermögen  und  Kapital. 

3)  Das  Vertragsrecht  ist  in  Consequenz  dieser  Rechtsordnung 
der  persönlichen  Freiheit  und  des  Eigenthums  in  materieller 
Hinsicht,  d.  h.  in  Bezug  auf  den  Inhalt  der  Verträge  immer 
mehr  von  einer  Einmischung  der  allgemeinen  Rechtsordnung  und 
gewisser  Autoritäten  befreit  worden.  Der  „Wille  der  Parteien“ 
— so  ist  die  Rechtsfiction  — bestimmt  diesen  Inhalt  wesentlich, 
meist  ganz  allein.  Diese  Verträge  sind  aber  dann  unbedingt  rechts- 
giltig,  klagbar  und  nicht  strafbar.  Auch  die  Form  der  Verträge, 


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Die  moderne  priv.wirthsch.  Verkehrsrechtsbasis. 


793 


ihres  Abschlusses  und  ihrer  Aufhebung  und  Veränderung  ist  viel- 
fach möglichst  vereinfacht  („formlos“)  geworden,  ohne  Nachtheil 
für  die  Giltigkeit  und  Klagbarkeit 

Daher  fast  keinerlei  Taxsystem  mehr.  Das  Vorhandensein  des  pactum  turpe  und 
der  conditio  turpis  wird  nur  selten  angenommen.  Bei  gewissen  Crcditvcrträgen  ist 
namentlich  ausser  der  Ausstellung  der  bezüglichen  Schuldurkunden  u.  s.  w.  auch  die 
Weiterbegebung  derselben  an  Dritte  in  hohem  Grade  formell  vereinfacht  worden 
(Giro,  Indossament,  Blanco-Indossament,  Inhaberpapier). 

Auf  alle  diese  Gestaltungen  formeller  und  materieller  Art,  beim 
Vertragsrecht,  Eigenthum,  bei  der  persönlichen  Freiheit,  haben 
ökonomische  Bedürfnisse  und  Rücksichten  und  speciell  Gesichts- 
puncte  des  ökonomischen  Individualismus  mit  eingewirkt. 

4)  Die  „wohlerworbenen  Rechte“,  auch  diejenigen, 
welche  aus  der  Periode  einer  ganz  anderen  Rechtsordnung  her- 
rühren, werden  als  zu  Recht  bestehend  anerkannt,  sind  daher 
regelmässig  nur  vertragsmässig  der  Abänderung,  Einschränkung, 
Aufhebung  fähig,  und  nach  den  formellen  und  materiellen  Be- 
dingungen, über  welche  mit  den  Berechtigten  Vereinbarung  erfolgt. 
Aber  im  Falle  gewisse  „öffentliche“  Interessen  es  fordern,  wird 
eine  Zwangsenteignung  im  Princip  für  zulässig  erklärt,  je- 
doch nur  mit  grosser  Vorsicht,  mit  vielen  Cautelen  und  gegen 
volle  Entschädigung  (wenigstens  für  damnum  emergens)  in  der  Praxis 
durchgeführt. 

Auch  hierbei  wird  mitunter  freie  contractlichc  Vereinbarung  hinsichtlich  der 
Entschädigung  Vorbehalten.  Doch  kommt  auch  eine  Festsetzung  der  Entschädigung 
einseitig  durch  gesetzliche  Verfügung,  durch  Obrigkeit  vor.  Auch  im  letzteren  Falle 
pflegt  sich  die  Entschädigung  aber  einigermaassen  nach  der  Höhe  des  ökonomischen 
Werths  des  beseitigten  (oder  verminderten)  Hechts  zu  richten.  Auch  bei  der  Auf- 
hebung von  Grundlasten  u.  dgl.  m.  im  Wege  der  Reform,  wie  in  Deutschland  (im 
Gegensatz  zu  dem  französischen  revolutionären  Vorgehen),  haben  freilich  die  Zeit- 
verhältnisse ihren  Einfluss  auf  die  Höhe  der  Entschädigung  ausgeübt , z.  B.  in  der 
Normirung  der  Ablösungscoefficientcn  bei  Zehent-  und  ähnlichen  Lasten.  Unentgelt- 
liche Aufhebung  des  Jagdrechts  auf  fremdem  Grund  und  Boden  (preuss. 
Ges.  v.  31.  Oct.  1848)  u.  s.  w.  S.  Näheres  über  die  Principienfrage  im  2.  Thl.  der 
Grundlegung  (in  d.  2.  A.,  Kap.  5.  S.  787  ff.).  Bemerkenswerth  auch  für  die  all- 
gemeine Frage  ist,  dass  ökonomisch-technische  Bedürfnisse,  wie  bei  Bergbau, 
bes.  bei  Wege-,  namentlich  Eisenbahnbau,  wo  es  sich  darum  handelt,  gerade  das 
uud  das . da  und  da  gelegene , so  uud  so  beschaffene  Grundstück  zu  erhalten , die 
neueste  Entwickung  des  Zwangsenteignuugsrechts  bewirkt  haben:  gesellschaft- 
liche, volks wirthschaftliche  Interessen  mussten  dein  Privateigenthumsrecht  Vorgehen. 
Ucber  die  verwandte  Frage  der  Befreiung  des  ländlichen  Bodens  von  Lasten  siehe 
Buchenberger,  Agrarpolitik  I,  1,  Kap.  1;  über  Aufhebung  von  Gewerberechten 
s.  die  Gewerbepolitik. 

Das  privatwirtlischaftliche  System  auf  dieser  Verkehrs rechtsbasis 
nennen  wir  das  moderne  privatwirthschaftliche  System  der 
freien  Concurrenz. 

Die  „socialen  Freiheitsrechte“  in  Bezug  auf  Eheschliessung, 
Niederlassung,  Ein-  und  Auswanderung  u.  s.  w.  (Abth.  2)  nach 


794  5.  B.  Organis.  d.  Volksw.sch.  2.  K.  Priv.w.sch.  Syst.  2.  A.  Modernes.  §.  SOS. 


ihrer  ökonomischen  Seite  betrachtet;  die  materielle  Vertragsfreiheit, 
daher  namentlich  die  Freiheit  der  Preise,  der  Löhne,  der  Zinsen, 
im  Gegensatz  zu  Preis-,  Lohn-  und  Zinstaxen;  die  Gewerbefreiheit, 
der  Freihandel,  die  Freiheit  des  agrarischen  Grundeigenthums  im 
Gegensatz  zu  Zunftwesen  und  Staatsconcession  im  Gewerbe  und 
Handelsbetrieb,  zu  Schutzzoll  und  Prohibition  im  internationalen 
Handel,  zur  älteren  Agrarverfassung  mit  ihrer  vielfachen  Bindung 
des  Eigenthums,  des  Betriebs  u.  s.  w.  sind  nur  Bezeichnungen  für 
die  freie  Concurrenz  auf  einzelnen  besonderen  Gebieten  der  Volks- 
wirtschaft und  Consequenzen  des  allgemeinen  Princips  der  modernen 
freien  Concurrenz  im  privatwirthschaftlichen  System. 

Mit  diesem  allgemeinen  Princip  haben  wir  es  hier  in  der  Grundlegung  und  zum 
Theil  in  der  „Theoretischen  Volkswirtschaftslehre“  zu  tliun,  mit  jenen  Consequenzen 
in  der  „Practischen  Volkswirtschaftslehre“.  Auch  für  die  nationalökonomische  Lehre 
von  der  freien  Concurrenz  sind  die  Rechtsfragen , welche  sich  au  die  Eigenthums- 
institution, das  Privateigenthum,  das  Vertragsrecht  anschliessen , von  entscheidender 
Bedeutung.  Erst  in  der  2.  Abtheilung  der  Grundlegung  linden  daher  die  folgenden 
Erörterungen  ihren  Abschluss  und  in  Manchem  ihre  tiefere  Begründung. 


2.  Abschnitt. 

Das  moderne  privatwirtlischaftliche  System  der  freien 

Concurrenz. 

§.  308  [2.  A.,  S.223J.  Vorbemerkungen  und  Litt  er  a tu  r.  Die  hierher  gehörige 
systematische  und  monographische  Litteratur  besteht  eigentlich  in  der  gesammten 
physiokratisch-Smithischen  nationalökonomischen  Litteratur,  wofür  auf  den 
eigenen,  in  diesem  Gesammtwerk  geplanten  litterargeschichtlichen  Band  zu  verweisen 
ist.  Die  neuere  Litteratur,  der  ökonomische  Individualismus  und  Liberalismus,  in 
England  aus  der  Periode  nach  Smith-Malthus-Ricardo,  in  Frankreich  aus  der- 
jenigen nach  J.  B.  Say,  in  Deutschland  nach  Storch,  Lotz,  Rau,  Hermann, 
also  im  Allgemeinen  die  Litteratur  der  Epigoneuperiode,  ist  jedoch  für  die  hier 
erörterten  Principienpuncte  deswegen  auch  in  der  Wissenschaft  zur  Klarstellung  der 
Theorie  besonders  zu  beachten,  weil  erst  in  ihr  die  vollen  Consequenzen  der 
physiokratisch-Smithischen  Prämissen  gezogen  werden.  In  dieser  Hinsicht  sind  hervor- 
zuheben: die  Schriften  von  Senior,  political  economy  (outiines).  zuerst  1836,  und 
öfters  (Gegner  der  Fabrikgesetzgebung),  M’Culloch,  principles  of  political  economy, 
zuerst  Edinburg  1825  und  öfter,  deutsch  von  Weber,  Stuttgart  1831,  auch  J.  Mi  11 
(Vater),  Elements  of  political  economy.  Lond.  1821,  deutsch  von  Jacob,  Halle  1825; 
aus  der  französischen  Litteratur  vor  Allen  des  berühmten  Autors  der  Lehre  von  der 
natürlichen  Interossenharmonie , Fr.  Bastiat's,  harmonies  economiqucs,  Paris  1S50 
(deutsch  von  Prince-Smith.  1852),  bes.  Kap.  10  und  zahlreiche  kleinere  Schriften 
in  s.  oeuvres  complets  (mehrfache  Ausg.);  gegen  Bastiat  erscheint  z.  B.  selbst 
Ch.  Dunoy  er  in  seiner  liberte  du  travail,  3 vol.,  Paris  1845,  bes.  vol.  2.  noch  als 
nüchterner  Lobredner  der  freien  Concurrenz. 

Die  deutschen  Systematiker  von  Bedeutung  haben  sich  alle  der  freien 
Concurrenz  gegenüber,  auch  wenn  sie  sie  priucipiell,  dem  Standpunct  der  Smith  sehen 
Schule  gemäss,  vertraten,  doch  vorsichtiger,  im  Einzelnen  mitunter  skeptisch 
geäussert.  Auch  M.  Wirth,  der  verdiente  Systematiker  der  eigentlichen  „deutschen 
Freihandclsschule“,  hat  in  seinen  verbreiteten  Grundzüpen  der  Nationalökonomie, 
zuerst  1856,  1858  und  seitdem  in  öfteren  Auflagen,  nicht  immer  die  vollen  rücksichts- 
losen Consequenzen  des  Systems  der  freien  Concurrenz  gezogen  und  ist  neuerdings 


^ k. 


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Vorbemerkungen  und  Litteratur. 


795 


mehrfach  dem  Standpunct  der  sog.  socialpolitischen  deutschen  Schule  näher  getreten 
(auch  in  practischen  Fragen,  wie  Staatseisenbahnpolitik,  Zettelbankpolitik). 

Dagegen  kann  man  das  „moderno  System  der  freien  Concurrenz“  in  seiner 
theoretischen  Formulirung  wohl  am  Besten  in  den  kleineren  monographischen 
Arbeiten  theils  über  theoretische  Principienpn n cte,  theils  über  practische 
Fragen,  worin  die  verkehrsfreiheitliche  Entscheidung  theoretisch  principiell  be- 
gründet wird,  besonders  über  Gewerbefreiheit,  Freihandel,  Freiheit  des  Grund- 
eigenthums, Bankfreiheit  u.  dgl.  m.  entwickelt  finden.  Die  Form  der  Darstellung,  dio 
Nothwendigkeit  der  Pointirung  lässt  die  Schriftsteller  hier  die  Consequenzen  oft 
schärfer  ziehen.  In  dieser  Hinsicht  ist  namentlich  auf  die  Wörterbücher,  so  das 
ältere  französische  dictionnaire  de  l’äconomie  politique,  Paris  1851,  1853,  2 B..  das 
deutsche  Handwörterbuch  der  Volkswirtschaftslehre  von  Rentzsch  (besonders  die 
Artikel  von  Prince-Smith,  Böhmert,  Emminghaus,  Rentzsch  u.  A.),  auch 
auf  einzelne  Artikel  in  Rotteck-Wclcker’s  Staatslexicon  zu  verweisen  (Bluntschli- 
Bratcr's  Staatswörterb. , sowie  H.  Wagen  er ’s  Gesellschaftslexicon  stehen  auch  in 
den  volkswirtschaftlichen  Artikeln  im  Ganzen  anders'».  Prince-Smi  th ’s  Artikel 
Handelsfreiheit  in  Rentzsch’  Handwörterbuch  enthält  in  aller  Kürze  die  ganze 
Theorie  der  freien  Concurrenz.  Weitere  Ausführungen  über  die  theoretischen  Puncte 
und  practischen  Fragen  aus  dem  Standpuncte  der  Theorie  im  Journal  des  Economistes 
und  besonders  in  Faucher’s  (und  früher  0.  Michaelis’,  Berlin)  Viertelj.sch.  für 
Volkswirtschaft  und  Culturgeschichte.  namentlich  in  den  Art.  von  Prince-Smith, 
0.  Michaelis  u.  A. in.,  aber  bis  in  die  neueren  und  neuesten  Bände  hinein;  ferner  in 
den  Verhandlungen  des  Congresses  der  deutschen  Volkswirtho  seit 
1S5S  über  die  wichtigsten  practischen  volkswirtschaftlichen  Fragen  dieser  Periode, 
Anfangs  besonders  Uber  Gewerbefreiheit  und  Verwandtes,  Zolltarif.  In  der  Gesammt- 
richtung  dieses  Congresses  wie  in  derjenigen  mancher  seiner  Stimmführer  ist  freilich 
in  der  neueren  Zeit,  besonders  seit  1866.  1870,  eine  vielfach  bemerkenswerte  Mässigung, 
hier  und  da  selbst  ein  Umschwung  eingetreten,  w’oraus  sich  erklärt,  dass  bestiminto 
Postulate  und  Lehrsätze  der  Theorie  der  freien  Concurrenz  heute  auch  von  dieser 
Seite  aus  nicht  mehr  so  otfen  und  schroff  vertreten,  selbst  hier  und  da  abgelehnt 
werden.  Indessen  braucht  man  nur  in  die  früheren  Verhandlungen  des  volkswirt- 
schaftlichen Congresses  und  in  die  genannte  Vierteljahrsschrift  zu  blicken,  um  sich 
zu  überzeugen,  dass  hier  nur  eine  rückläufige  Bewegung  eingetreten  ist.  Vgl. 
namentlich  die  Blumenlcse  extrem  freihändlerischer  Aeusserungen  der  sogenannten 
..deutscheu  Freihandelsschule“  in  Schönberg’s  Aufsatz  in  der  Tub.  Ztschr.  1872, 
S.  404  ff.,  sowie  Roscher’ s auch  hier  wie  stets  von  hoher  Objectivität  zeugendes 
Urteil  in  seiner  Geschichte  der  Nationalökonomie,  S.  1014  ff.  Es  wirft  der  genannten 
Schule  in  theoretischer  Hinsicht  mit  Recht  vor:  sie  sei  zu  abstract,  zu  wenig 
historisch,  zu  optimistisch  (letzteres  wohl  vor  Allem!).  Auch  gegenwärtig  hat 
diese  extreme  deutsche  „Manchesterrichtung“ , welche  sich  politisch  z.  Th.  mit  der 
Fortschrittspartei  („Deutsch-Freisinnige**)  deckt,  in  der  Wochenschrift  „Nation“  noch 
ein  halb  wissenschaftliches,  halb  populäres  Organ  ihrer  Farbe,  worin  die  Bam- 
berger,  Barth,  Brömel,  AI.  Meyer  den  radicalen  freihändlerischen  Standpunct 
der  früheren  Zeit  nach  Möglichkeit  festhalten,  gegen  Schutzzoll,  Gewerberechtsreform, 
Staatssocialismus  u.  s.  w.  eifern.  Die  Richtung  ist  so  geblieben,  sie  wird  aber  mit 
weniger  Geist  und  logischer  Schärfe  wie  ehedem  vertreten. 

In  den  wissenschaftlichen  systematischen  Werken,  den  Lehr-  und  Handbüchern 
fehlen  zusammenfassende  Erörterungen  über  das  Priucip  und  System  der  freien  Con- 
currenz meistens  ganz.  Es  wird  davon  gewöhnlich  nur  bei  theoretischen  uud  prac- 
tischen Specialfragen  gehandelt,  was  aber  nicht  genügt.  Rau  kommt  nur  in  der 
Kurze  in  der  Preislehre  (bei  den  Bestimmgründen  des  Preises)  I,  §.  152.  und  in 
der  Lohnlehre  I,  §.  187,  l‘J5  auf  das  „Mitwerben“  zu  sprechen,  ohne  principiellc 
Würdigung.  Roscher  legt  in  der  Lehre  vom  Güterumlauf.  I,  §.  i)7,  die  wirth- 
schaftsgcschichtlichen  Bedingungen  für  die  Entwicklung  der  freien  Con- 
currenz dar  und  erachtet  letztere  doch  für  unsere  Zeit  als  überwiegend  günstig:  die 
Vermuthung  sei  für  sie  als  die  Regel , für  Ausnahmen  liege  dem  Behauptenden  die 
Beweislast  ob.  Die  beherrschende  Bedeutung,  welche  das  Concurrenzprincip  in  der 
heutigen  Theorie  und  Praxis  einnimmt,  verlangt  m.  E.  eine  principiellcr  ein- 
gehende Untersuchung.  Eine  solche  liefert  J.  St.  Mi  11  im  4.  Kap.  des  2.  B.  seiner 


796  5.  B.  Organis.  d.  Volks w.sch.  2.  K.  Priv.w.sch.  Syst.  2.  A.  Modernes.  §.  SOS. 


Polit.  Oekon.  doch  auch  noch  nicht,  trotz  der  schätzbaren  Erörterungen  dieses  Kapitels 
(es  findet  sich  hier  z.  B.  noch  der  Ausspruch:  dass  nur  mittelst  des  Prinops  der 
Concurrenz  die  Volkswirtschaftslehre  auf  den  Character  einer  Wissenschaft  Anspruch 
habe).  Aehnlich  M.  Wirth,  (jrundzüge  I,  4 Auti.,  S.  41b  tf.  Principieller  dageeea 
ist  schon  früher  Schäffle.  ges.  Syst.  2.  Aufl.,  S.  63  ff.,  3.  Aufl.,  §.  2U2  ff.,  II.  2s  i. 
336  U',  auch  S.  526  ff.  auf  die  allgemein-wirthschaftliche  Bedeutung  des  Problems  der  fmea 
Concurrenz  eingegangon.  S.  auch  Schäffle’s  allgemeine  Erörterung  über  „Wettstreit“ 
Soc.  Körper,  II,  412  ff. , und  besonders  über  den  Character  der  „modernen  Volks- 
wirtschaft der  freien  Concurrenz“  als  der  „Epoche  der  entfesselten  Geld-  und  Credit* 
wirthschaft“,  eb.  III,  417  ff.  S.  auch  Rodbertus,  Soc.  Briefe,  bes.  1 u.  2.  Knies. 
Politische  Oekonomie,  passim,  bes.  im  3.  und  4.  Abschn.  d.  Abth.  III  d.  I.  A_  tu* 

S.  197  ff.,  2.  A.,  S.  223  ff.,  Hildebrand,  Nationalökonomie,  passim,  z.  B.  S.  295. 
G.  Schmoller,  Grundfragen,  G.  Cohn,  System  I.  2.  Hauptabschn.,  Kap.  2,  S.  394. 
mit  einer  allgemeineren  principiellen  Erörterung  über  „freie  Concurrenz  und  Verbände“. 
„Privateigenthum  und  Gesammteigenthum“. 

Statt  immer  wieder  zum  Beleg  für  die  Ansichten  über  freie  Concurrenz  auf  dk 
oft  citirten  Physiokraten , besonders  Turgot,  auf  A.  Smith  und  die  „CUssikcr 
zurückgehen,  habe  ich  es  vorgezogen,  neuere  extreme  Freihändler  anzufuhrea. 
Ich  erkenne  dabei  den  Werth  der  scharfen  Logik  und  des  grossen  Abstractioas- 
vermögeus  bei  den  hervorragenderen  Anhängern  der  „deutschen  Freihandelsschute“. 
besonders  bei  Pri n ce-S mi th , Faucher,  Michaelis,  wie  anderseits  z B bei 
dem  Rechtsphilosophen  Lasson  vollkommen  an.  Diese  Schriftsteller  stellen  die  Pro- 
bleme klar  und  scharf  hin  und  beantworten  sie  ebenso,  während  die  deutsches 
historischen  Nationalökonomen  vor  lauter  „Relativität“  mitunter  zu  gar  keiner  klares 
Formulirung  und  Antwort  kommen,  auch  nicht  für  gegebene  Zeiten  und  Länder  am 
„den  Wald  vor  lauter  Bäumen  nicht  sehen“  (S.  252  oben),  — der  entgegengesetzt; 
Fehler  wie  beim  „abstracten“  Verfahren,  aber  doch  gewiss  ebenso  ein  Fehler. 

Besonders  characteristisch  ist  Pri n ce-S mith,  das  geistige  Haupt  der  sogen 
deutschen  Freihandelsschule.  S.  namentlich  Schön berg ’s  Aufs.,  Tüb.  Ztschr.  1>72. 
S.  404  ff.  und  die  Aufsätze  von  Princc-Smith,  „Handelsfreiheit“  in  Rentzsch 
Handwörterb.,  „Volkswirtschaftliche  Gerechtigkeit“  in  Eras’  Jahrb.  f.  Volkswirthsch  I 
(1868),  der  „Markt“  in  Faucher ’s  Vierteljahrsschr.  1863,  IV,  143,  die  „sogenannte 
Arbeiterfrage“,  cb.  1864.  IV,  192  („sogenannte“  — völlig  consequent,  denn  weat 
das  „Naturgesetz  von  Angebot  und  Nachfrage“  allein  Alles  richtig  und  gerecht  ent- 
scheidet, so  ist  auch  der  Arbeitslohn  und  damit  die  ökonomische  Lage  des  Arbeitet 
eine  unabänderliche  Thatsache,  über  die  es  gar  nichts  mehr  zu  „fragen“  giebr: 
ferner  „die  Socialdemokratie  auf  dem  deutschen  Reichstage“,  eb.  1869,  I.  „Herrn 
Dr.  J.  Jacoby’s  Ziel  der  Arbeiterbewegung'*,  eb.  1S70,  I,  66;  s.  auch  „über  dk 
Grenzen  der  Verpflichtung  zur  Aushilfe  bei  ausserordentlichem  Notstände“,  1869. 
II,  231.  Die  letzte  Arbeit  Prince-Smith ’s  über  den  Staat  und  Volkshaushah 
(Berl.  1S74)  zeigt  mannigfach  gemässigtere  und  richtigere  Auffassungen.  Ich  bemerke 
dies  ausdrücklich,  weil  diese  kleine  Schrift  von  seinen  volkswirtschaftlichen  Freunden 
als  Beweis  für  die  Unrichtigkeit  der  Angriffe  gegen  die  deutsche  Freihandelsschule 
benutzt  worden  ist.  und  auch  Andere,  z.  B.  A.  Held  (in  der  „Gegenwart“^  sie  des- 
halb gerühmt  haben.  Auch  auf  Princc-Smith  wie  auf  seine  Schüler  war  1S6G  and 
1870  eben  nicht  ohne  Einfluss  geblieben.  Im  Text  des  §.  313  sind  mehrfach  fa>: 
wörtlich  Sätze  aus  den  genannten  Artikeln  von  Prince-Smith  aufgenommen.  S.  diese 
Aufsätze  jetzt  z.  Th.  in  den  von  0.  Michaelis  herausgegebenen  gesammelten  Schriften 
von  Prince-Smith,  Berl.  1878.  Neben  den  Arbeiten  des  letzteren  sind  die  Aufsätze 
von  Faucher  in  d.  Viertelj.schr.,  eb.  die  von  Michaelis  (z.  B.  über  die  wirth- 
schaftiichc  Rolle  des  Spec.ulationshandels),  jetzt  in  dess.  volkswirtschaftlichen  Schriften. 
2.  ß.,  Berl.  1873,  das  wissenschaftlich  Bedeutendste  aus  dieser  Richtung.  Allgemeiner 
philosophisch  den  radiealen  ökonomischen  Individualismus  zu  begründen  bat  Lasson 
versucht,  so  in  d.  Berl.  Viertelj.schr.  f.  Volks wirthschaft  1874,  I.  Vgl.  sonst  auch 
z.  B.  im  Rentzsch  sehen  Handwörterb.  den  Art.  „Concurrenz“  von  Emminghaus, 
„Gewerbefreiheit“  von  Böhmen. 

Wie  sehr  die  Grundanschauung  über  freie  Concurrenz  schon  physio- 
kratischen,  bezw.  Turgot ’schen,  nicht  erst  Smith’schen  Ursprungs  ist,  hat  u.  A. 
v.  Scheel  richtig  hervorgehoben:  über  Turgot  Tüb.  Ztschr.  1868,  womit  zu  ver- 


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Wesen  der  modernen  freien  Concurrenz. 


797 


gleichen:  v.  Sivers,  über  Turgot,  Hildebr.  Jahrb.  1574,  I.,  auch  Leser,  Begr.  d. 
Reichth.  bei  A.  Smith  und  v.  Skarzynski,  A.  Smith.  Aus  der  neuesten  Litteratur 
gehören  die  Arbeiten  von  W.  Hasbach  über  Quesnay  und  Smith  (s.  o.  S.  5)  auch 
hierher.  Uebcr  die  Angriffe  auf  die  freie  Concurrenz  in  der  Litteratur  s. 
unten  §.  315. 

I.  — §.  309  f 126].  Das  Wesen  der  modernen  freien 
Concurrenz.  Es  besteht  darin,  dass  sieb  die  Privatwirtschaften 
im  Verkehr  in  den  Reehtsschranken  halten  müssen,  welche  durch 
die  im  vorigen  Abschnitt  formulirten  Principien  der  persönlichen 
Freiheit,  des  Privateigenthums,  des  Vertragsrechts  und  der  Sanction 
geschichtlich  überkommener  und  einmal  zu  Rechtens  bestehender 
„wohlerworbener  Rechte“  gezogen  sind.  Innerhalb  dieser  Schranken 
darf  jede  Privatwirtschaft  ihr  wirtschaftliches  Selbstinteresse  im 
Verkehr,  also  namentlich  im  Process  der  Preisbildung  für  Sachgüter 
und  Dienstleistungen  und  bei  der  vertragsmässigen  Festsetzung  der 
Arbeitslöhne,  Leihzinsen,  Pacht-  und  Mietzinsen  u.  8.  w.,  soweit 
geltend  machen,  als  es  ihr  beliebt  und  als  sie  es  vermag. 

„Die  Concurrenz  oder  Mitbewerbung  ist  das  freie  Spiel  der  wirtschaft- 
lichen Kräfte;  sie  äussert  sich  in  der  Wechselwirkung  von  Angebot  und 
Nachfrage,  welche  den  Preis  reguliren.**  M.  Wirth,  a.  a.  Ü.  Diese  Umschreibung 
ist  ungenügend , wenn  sie  sich  auch  bis  in  die  amtlichen  Documeute , die  Motive  zu 
Gesetzentwürfen  des  deutschen  Rcichskanzleramts  in  den  1870er  Jahren  verstiegen  hat. 
Man  könnte  danach  in  der  That  an  vollständige  rechtliche  Schranken- 
losigkeit der  freien  Concurrenz  denken,  weshalb  die  im  Text  gegebene  Formulirung 
richtiger  ist,  bei  welcher  die  Gefahr,  die  freie  Concurrenz,  wie  so  oft  geschehen,  für 
eine  absolute  zu  halten,  von  vornherein  fortfällt. 

Die  günstigen  Seiten  und  Folgen  dieses  Systems  nicht  bloss 
für  die  einzelne  Privat wirthschaft,  sondern  für  die  ganze  Volks- 
wirtschaft sind  von  der  modernen  Volkswirtschaftslehre  oft 
rühmend  dargeiegt  worden  und  in  der  That  auch  nicht  zu  ver- 
kennen. Nur  bat  man  dieselben  zu  allgemein,  ihren  Eintritt  zu 
sicher  angenommen,  ihre  Bedeutung  vielfach  übertrieben  und  die 
ungünstigen  Seiten  und  Folgen  nicht  hinlänglich  betrachtet. 

Man  identilicirte  Möglichkeit,  hier  und  da  Wahrscheinlichkeit  mit  Wirklichkeit 
und  Gewissheit,  urtheilte  durchweg  zu  optimistisch,  betrachtete  zu  einseitig  Alles  vom 
Standpunctc  des  Productions-,  nicht  auch  des  Vertheilungsinteresses,  fasste  das  ganze 
Concurrenzsystem  nicht  als  eine  historische,  sondern  als  eine  naturgemässc  rein-öko- 
nomische Einrichtung  auf,  zog  falsche  Schlüsse  aus  dieser  vermeintlichen  Natur- 
gemässheit  und  aus  der  angenommenen  nothwendigen  Allgemeinheit  und  Absolutheit 
dieses  Systems.  Man  hatte  weiter  eine  ganz  falsche  Auffassung  von  Wesen  und  Be- 
deutung des  wirtschaftlichen  Selbstinteresses  und  überhaupt  eine  theils  unrichtige, 
theils  durchaus  einseitige  ökonomische  Psychologie  und  Motivationstheorie,  erblickte 
im  Selbstinteresse  förmlich  eine  Naturkraft  (nicht  nur  im  Vergleich,  in  der  Hypothese 
der  Methode),  statt  einen  Trieb,  von  dem  Motive  ausgeheu.  Man  verfuhr  auch  in  der 
ganzen  Behandlung  der  hier  einschlagondcn  einzelnen  Fragen  viel  zu  apodictisch  absolut, 
nicht  historisch  relativ,  übertrieb  auch  da  die  möglichen,  vollends  die  wirklichen  guten 
Seiten  und  Folgen  und  übersah  oder  würdigte  doch  viel  zu  wenig  die  ebenso  unzweifel- 
haften ungünstigen  Seiten  und  Folgen  und  damit  die  Gefahren  für  Volkswirtschaft, 
Cultur,  Sittlichkeit 

A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Thefl.  Grundlagen. 


51 


798  5.  B.  Organis.  d.  Volksw.sch.  2.  K.  Priv.w.sch.  Syst.  2.  A.  Modernes.  §.  310. 


Für  das  Alles  kann  jetzt  in  dieser  3.  Aufl.  vornemÜch  wieder  auf  die  Aus- 
führungen iin  1.  Kap.  des  1.  Buchs  Bezug  genommen  werden,  wo  die  tiefere  Be- 
gründung der  Kritik  des  Concurreuzsystoms  nach  der  psychologischen  Seite  versucht 
wurde.  Für  unrichtig  halte  ich  es.  wenn  man  den  Vertretern  der  freien  Cocurrenz, 
der  älteren  und  neueren  Freihandelsschule  kurzweg  ihre  Methode,  die  spoculative 
Deduction,  welche  sie  mit  Vorliebe  anwenden,  vorwirft.  Nicht  diese  Methode  war 
falsch,  sondern  die  Handhabung  derselben  allerdings  öfter.  Die  Kritik  des  Systems 
lässt  sich  mit  derselben  Methode  der  Deduction  liefern,  z.  Th.  besser  und  zwingender 
als  mit  der  inductiven.  Auch  dafür  sei  auf  die  Methodologie  im  1.  Buch  verwiesen 
und  unten  auf  §.  315. 

II.  — §.  310  [127].  Die  günstigen  Folgen  der  freien 
Concurrenz.  Nach  der  Beweisführung  der  liberal-individua- 
listischen Schule  liegen  sie  vornemlich  auf  dem  Gebiete  der  Pro- 
duction der  Güter  und  treten  hier  sowohl  in  der  technischen 
als  in  der  ökonomischen  Seite  der  einzelnen,  Güter  erzeugenden 
Privatwirthschaft  und  dadurch  in  der  ganzen  Volkswirtschaft 
hervor. 

Von  allen  Anhängern  der  freien  Concurrenz  wird  das  besonders  hervorgehoben, 
auch  von  denen,  welche  Bedenken  wegen  der  Wirkungen  derselben  auf  die  Vertbeilung 
äussern.  Sie  nehmen  dann  gewöhnlich  an,  dass  jene  Vortheile  gross  genug  sind,  um 
alle  Bedenken  zu  überwiegen,  sowie,  dass  die  Vortheile  doch  mehr  oder  weniger 
Allen  zu  Gute  kommen.  In  diesem  ..Mehr  oder  Weniger“  liegt  schon  der  schwache  Punct 

Die  Concurrenz  kann  — nur  dies  darf  man  sagen,  nicht:  sie  muss  und 
und  wird,  wie  es  oft  geschehen  ist;  auch  hier,  wie  in  so  vielen  Sätzen  der  volks- 
wirtschaftlichen Theorie,  kann  nur  von  einer  Tendenz  gesprochen  werden;  — sie 
kann  die  Erzeuger  zur  bestmöglichen  Technik  neben  der  höchstmöglichen  Oekouomik 
bei  der  Herstellung  und  wiederum  auf  die  Dauer  zur  Preisansetzung  der  Güter  nach 
dem  geringsten  Kostensätze,  zu  welchem  die  Güter  jeweilig  herzustellen  sind  (.. gesell- 
schaftlich notwendige  Productionskosten“),  beim  Absätze  der  Güter  im  Verkehr 
zwingen.  Vervollkommnung  der  technischen  Produotionsmcthoden , daher  namentlich 
im  notwendigen  Interesse  der  Gesammtheit,  Ersparung  an  jenen  Niemandem 
als  Einkommen  zu  Gute  kommenden  eigentlich  volks wirtschaftlichen  oder  natür- 
lichen Productionskosten  (§.  172),  weil  die  unentgeltliche  Mitwirkung  der  Natur- 
kräfte zu  erstreben,  dafür  die  Technik  zu  gestalten,  im  hohen  Interesse  des  privat- 
wirthschaftlichen  Subjects  liegt  (Maschinenwesen)1),  Anwendung  der  höchstmöglichen 
Intelligenz  und  Thatkraft,  Lockung  dazu  durch  Extragewinne  bei  einem  hinter  dem 
Marktpreise  zurückbleibcndeu  eigenen  Kostensätze  oder  bei  grösserem  Absätze  in  Folge 
niedrigeren  Preises  („Kentenfunction“.  v.  Mangoldt,  Schäffle2)  sind  oder,  auch 
hier  richtiger  gesagt,  können  die  Folgen  der  freien  Concurrenz  sein. 


*)  Besonders  gern  hervorgehoben,  und  mit  Recht,  von  Bastiat  und  Andren. 
Die  übliche  Gestaltung  des  privatwirthschafüichcn  Productionsbetriebs,  mit  ge- 
dungenen Lohnarbeitern  zu  produciren,  deren  Löhne  zu  den  cinzelwirthschaft- 
lichen  Productionskosten  gehören,  bietet  hier  einen  besonderen  Sporn  zu  tech- 
nischen Fortschritten,  Einführung  von  Maschinen  u.  s.  w.,  um  zunächst  an  den 
Lohnauslagen  zu  sparen.  Es  ist  eine  nachweisbare  Thatsache,  dass  die  Ver- 
breitung der  Maschinen  und  die  Verbesserung  derselben  bei  starkem  Steigen  der 
Arbeitslöhne  am  Raschesten  vor  sich  geht,  so  z.  B.  auch  in  neuerer  Zeit  in  Deutsch- 
land in  der  Landwirtschaft.  Freilich  liegt  darin  auch  gerade  wieder  die  Gefahr  für 
die  Arbeiter. 

ä)  Schäffle,  ges.  Syst.  2.  Aufl.  §.  09  S.  193 ff.,  s.  auch  dess.  Theorie  d.  aus- 
schliess.  Absatzvcrh.;  Syst. 3.  Aufl.  II,  75ff.,53Slf.  Früher  schon  v. Mangoldt,  Lehre  vom 
Ünternehinergewinn.  Leipz.  1S55,  S.  105,  Art.  Gütervertheilung  im  Staatswörterbuch  IV, 
5*9  fl'.,  ders.,  Volkswirtschaftslehre  S.  4S6,  Grundr.  §.  120  ff.  Von  Hermann  ist 
die  Verallgemeinerung  des  Reiitenpriucips  bereits  angebahnt.  Vgl.  darüber  Berens, 


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Günstige  Folgen  der  freien  Concurrenz.  Kritik. 


799 


Das  Volk  oder  die  Volkswirtkschaft  erlangt  dann  dadurch 
den  Gesammtbedarf  an  wirtschaftlichen  Gütern,  welcher  sich  bei 
einem  bestimmten  Bedürfnissstande  ergiebt,  auf  das  Beste  und 
Billigste  befriedigt.  Das  „Consumenteninteresse“  ist  wahrgenommen, 
der  entscheidende  Gesichtspunct  der  Schule,  auch  der  einzelne 
Consument  wird  so  am  Besten  bedient.  Damit  ist  auch  das  Pro- 
duetionsinteresse  gesichert.  Aber  nicht  minder  ist  das  Producenten- 
und  das  Arbeiterinteresse  so,  ja  eigentlich  nur  so,  richtig  zu 
befriedigen.  Jeder  wählt  sich  die  ihm  passende  Berufstätigkeit. 
Jeder  erlangt  aber  sogar  auch  so  und  nur  so  den  richtigen,  den 
seinen  Leistungen  entsprechenden  Anteil  am  Productionsertrag, 
im  Lohn,  im  Profit,  im  Gewinn:  die  ungeheuerliche,  gleichwohl 
begangene  petitio  principii  liberaler  Theoretiker,  womit  denn  auch 
das  Vertheilungsproblem  auf  die  allein  richtige,  gerechte,  der  An- 
nahme nach  allein  mögliche  Weise  gelöst  ist. 

III.  — §.  311  [127].  Kritik  dieser  optimistischen  Be- 
weisführung. Gegen  diese  liberal-individualistische  Auffassung 
erheben  sich  nun  freilich  wesentliche  Bedenken,  sowohl  solche,  auf 
welche  die  vor-  und  umsichtigere  Anwendung  der  Deduction  und 
die  psychologische  Analyse  der  im  wirtschaftlichen  Leben  mit- 
spielenden Motive  selbst  schon  führt,  als  solche,  welche  durch 
Beobachtung  der  Thatsacben  dieses  Lebens  sich  feststellen  lassen. 

So  kann  man  naebweisen:  die  Voraussetzungen  stimmen  in 
der  Wirklichkeit  mit  denjenigen  der  Schule  nicht  überein;  die 
Folgen  sind  mancherlei  andere,  nicht  diese  günstigen,  sondern 
vielfach  ungünstige,  an  sich  und  in  Vergleich  mit  den  Verhält- 
nissen in  früheren  und  anderen  Wirtschaftsordnungen;  die  psy- 
chologische Grundlage  des  Räsonnements  ist  zu  eng  und  ein- 
seitig, zum  Thcil  schief  angenommen;  die  Rechtsgrundlagen 
des  Systems  der  freien  Concurrenz,  die  Privateigenthumsinstitution, 
die  Vertragsfreiheit,  die  Consequenzen  aus  dem  Rechtsprincip  der 
persönlichen  Freiheit  (die  socialen  Freiheitsrechte  in  liberaler  Ge- 
staltung, die  freie  Berufswahl)  wirken  gerade  hier  vielfach  be- 
denklich. 


Versuch  einer  kritischen  Dogmengeschichte  der  Grundrente,  Leipzig  1868,  S.  186  11'.; 
der  übrigens  die  Bedeutung  einer  Verallgemeinerung  des  Kentenprincips  auch  auf 
ihr  richtiges  Maass  znrückfuhrt.  In  der  Anerkennung  des  ökonomischen  Ver- 
dientseins der  Kenten  geht  mir  Schiffte  a.  a.  0.  auch  etwas  zu  weit.  Auch  hier 
spielen  Glucksfälle,  Conjuncturengewinno  doch  oft  sehr  wesentlich  mit.  Schälfle  hat 
demgemäss  auch  s.  frühero  Lehre  in  diesem  Puncto  berichtigt,  s.  Soc.  Körper  B.  III. 

51* 


800  5.  B.  Grganis.  d.  Volksw.sch.  2.  K.  Priv.w.sch.  Syst  2.  A.  Modernes.  §.  312. 


So  ist  es  eben  eine  nicht  selten  falsche,  oft  gar  nicht  zutreffende  Voraussetzung, 
dass  dio  Vertragschliessenden  sich  cinigermaassen  gleichstehen.  Damit  entfallen  sofort 
einige  der  optimistischen  Consequenzen  der  Schule  für  die  richtige,  billige  Gestaltung 
der  wirtschaftlichen  Ergebnisse  der  Verträge. 

Die  gerühmte  Kostenersparung  erfolgt  daher  z.  B.  in  der  Production  oft  mehr 
durch  Lohndruck,  als  durch  technische  Verbesserungen.  Ferner  ist  nicht  zu  übersehen, 
dass  der  Bcdürfnissstand  der  Volkswirtschaft  sich  gerade  in  dem  und  wegen  des 
Systems  der  freien  Concurrenz  eigentümlich  und  keineswegs  unbedingt  dem  Interesse 
der  Gesammtheit  gemäss  entwickelt,  weil  auch  dio  Vertheilung  der  Güter  in  der 
“Volkswirtschaft  durch  das  genannte  System  inaassgebeud  und  oft  nicht  günstig  für 
die  Volksmasse  mit  bestimmt  wird:  Die  Ungleichheit  der  individuellen  Einkommen 
bewirkt  eine  grosse  Steigerung  des  Luxus  der  Reichen  und  diesen  kommen  dann  als 
Consumenten  jene  Productionsvortheile  überwiegend  zu  Gute.  Weiter  ist  zu  beachten, 
dass  diese  an  sich  möglichen  günstigen  Folgen  der  freien  Concurrenz  in  der  Wirk- 
lichkeit nicht  immer  oder  doch  nicht  vollständig  cintreten,  weil  die  Erzeuger  statt 
der  Concurrenz  unter  sich  die  Vereinbarung  eines  Compromisses,  die  Abschliessung 
eines  Carteils,  die  Bildung  eines  Rings  vorzieheu  oder  die  schliesslichen  Sieger  in  der 
Concurrenz  eine  Art  factisches  Monopol  erlangen.  Auf  diese  beiden  Endergeb- 
nisse der  Entwicklung  strebt  aber  gerade  im  System  der  freien  Concurrenz  die  Ge- 
staltung des  Productionsprocesses  nach  dein  ihm  in  diesem  System  innewohnenden 
Entwicklungsgesetze,  wenigstens  auf  wichtigen  Productionsgebieteu,  hin.  (S.  die  Lehre 
vom  Preise  und  den  Productionskosten,  besonders  der  Fabrikate,  in  der  theorot.  National- 
ökonomie.) Ein  besonders  characteristisches  Beispiel  der  Paralysirung  der  freien 
Concurrenz  durch  Compromisse , Fusionen  und  factische  Monopole  liefert  die  Ge- 
schichte des  Privat bahuwesens  in  Nord-America,  Grossbritannien  und  Frankreich 
u,  a.  L.  (S.  Perrot,  Eisenbahnreform,  S.  81  11.,  und  G.  Cohn,  Untersuchungen  über 
englische  Eisenbahnpolitik,  Leipzig  1874 — 75,  2 Bde.). 

A.  — §.  312  [128].  Insbesondere  die  behauptete  „Natur- 
gemässheit“  des  Systems  der  freien  Concurrenz  und  des  freieu 
Waltens  des  wirtschaftlichen  Sclbstinteresses,  die  vorkommende 
Annahme,  dass  ein  derartiger  Zustand  der  volkswirtschaftlichen 
Rechtsordnung  der  allein  und  überall  naturgemässe  sei,  das 
sind  Trugschlüsse  der  schlimmsten  Art.  Ihre  Begründung 
ist  logisch,  psychologisch  und  erfahrungsmässig  unhaltbar,  die 
Folgerungen,  zu  welchen  sic  in  der  Theorie  und  Praxis  wieder 
führten,  sind  nicht  weniger  unrichtig. 

Vgl.  besonders  die  iu  der  Vorbemerkung  genannte  deutsche  publicistische  Litteratur. 
In  engem  Zusammenhang  mit  diesen  falschen  Ansichten  steht  die  Auffassung  der 
unter  dem  Impulse  des  wirthschaftlichen  Selbstinteresses  boi  freier  Concurrenz 
stehenden  „Gestaltungstendenzen“  der  volkswirthschaftlichen  Vorgänge  schlechtweg 
als  „Naturgesetze“,  — ein  Ausdruck,  der  richtig  verstanden,  wie  etwa  von 
Roscher  (§.  13),  allenfalls  noch  zulässig  wäre,  in  der  Beweisführung  der  volkswirth- 
schaftlichen Publicisten , Congressredner  u.  s.  w.  aber  zum  Missbrauch  geführt 
hat  und  deswegen  besser  zu  vermeiden  ist  (S.  oben  über  „wirtschaftliche  Gesetze“ 
§.  86 — 91.) 

Die  radicalen  Freihändler  z.  B.,  welche  jedem  Lande  jedweder  Wirth- 
schaf  tsentwicklu  ng  unbedingten  Freihandel  anrathen,  stehen  auf  dem  Standpuncte 
der  allgemeinen  Naturgemkssheit  des  Concurrcnzsystems.  List  in  seinem  natio- 
nalen System  hat  diese  Verallgemeinerung  der  Freihandelstheorie  glänzend  abgewiesen. 
Die  Auffassung  ist  übrigens  eine  notwendige  Consequenz  des  ganzen  Standpuncts, 
daher  bei  den  folgerichtigen  Physiokraten  schon  zu  finden. 

1)  Die  Begründung  der  „Naturgemässkeit“  des  Systems  der 
freien  Concurrenz  ist  zunächst  schon  deswegen  verfehlt,  weil  sie 


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Unrichtige  Ansichten  über  Naturgemässheit  der  freien  Concurrenz.  801 


auf  einer  Begriffs  Verwechslung  hinsichtlich  des  Wesens 
des  wirtbschaftlichen  Selbstinteresses  beruht. 

Dies  ist  nicht  eine  Naturkraft  im  eigentlichen  Sinne  des  Worts,  wirkt  keines- 
wegs etwa  in  der  wirthschaftlichen  wie  die  Schwerkraft  in  der  körperlichen  Welt,  wie 
wohl  gesagt  wurde,  sondern  es  ist  ein  menschlicher  T r i e b , der  als  solcher  zwar  den 
Willen  anregt  und  zu  Handlungen  bestimmen  kann  und  darf,  auch  oft,  aber  keines- 
wegs nothwendig  immer,  bestimmen  muss  und  noch  weniger  immer  bestimmen  soll. 
Denn  dieser  Trieb  wirkt  nicht  unmittelbar  als  Ursache  der  wirthschaftlichen  Hand- 
lungen des  Menschen,  sondern  er  führt  zunächst  nur  zu  Motiven  für  den  Willen  und 
kann  und  wird  auch  thatsächlich  durch  Vernunft  und  Gründe  geleitet,  gezügelt,  und 
im  einzelnen  Falle  seine  Wirkung  durch  andere  Motive  selbst  aufgehoben.  Die  sitt- 
liche Verantwortlichkeit  des  Menschen  für  seine  wirthschaftlichen  Handlungen  wird 
durch  das  Vorhandensein  des  wirthschaftlichen  Selbstinteresses  daher  auch  nicht  ver- 
ändert. S.  Buch  1,  Kap.  1,  bes.  über  das  erste  Leitmotiv,  §.  34  tf.,  aber  überhaupt 
die  ganze  Motivationstheorie  dort. 

Zu  einer  Vergleichung  des  wirthschaftlichen  Selbstinteresses  mit  der  Schwerkraft 
hat  sich  sogar  E.  Engel  in  seiner  früheren  Zeit,  wo  er  allerdings,  wie  die  Meisten 
seiner  Zeit-  und  Altersgenossen,  noch  zu  einseitig  an  der  naturwissenschaftlich- 
mechanischen Auffassung  der  Volkswirtschaft  und  anthropologischen  Statistik  hing, 
einmal  verleiten  lassen.  (S.  Zeitschr.  d.  Kgl.  Preuss.  Statist.  Bür.  1860,  S.  41.)  Nur 
hypothetisch  kann  eben,  zum  Zweck  der  Anwendung  der  Methode  der  Deduction, 
das  Selbstinteresse  mit  der  Regelmässigkeit  einer  Naturkraft  wirkend  angesehen  werden : 
ob  und  wie  weit  dies  mit  der  Wirklichkeit  stimmt,  ist  immer  erst  speciell 
zu  untersuchen  (§.60  11.),  was  so  oft  vergessen  wird,  besonders  von  der  Schule 
der  freien  Concurrenz.  Die  philosophische  Grundanschauung  rührt  von  den  Physio- 
k rate n her  und  ist  diesen  mit  ihreu  Zeitgenossen  gemeinsam.  Uebrigens  habe  auch 
ich  früher,  wie  ich  einräume,  gleich  vielen  anderen  Nationalökonomen  und  Statistikern 
ähnliche  Fehler  begangen:  bestimmte  Triebe  oder  äussere  Impulse  (wirt- 
schaftlicher Vortheil,  mancherlei  Natureinllüsse)  als  nothwendig  so  und  so  wir- 
kende Naturkräfte  anzusehen,  — womit  menschliche  Willensfreiheit  unvereinbar, 
aber  auch  jeder  Culturfortschritt  unerklärbar  wäre.  Dieser  Irrthum  hat  in  der  Theorie 
der  freien  Concurrenz  und  der  auf  diese  gestützten  Volkswirthschaftspolitik  ver- 
hängnissvollen  Schaden  gestiftet,  u.  A.  verursacht,  dass  die  nach  dem  „Naturgesetz 
von  Angebot  und  Nachfrage“  sich  ergebenden  Gestaltungen  als  das  allezeit  Rich- 
tige und  Gerechte  gelten  sollten,  — auf  welche  petitio  principii  im  Grunde  alle 
Polemik  gegen  eine  Staatsintervention  im  wirthschaftlichen  Verkehr  hinaus  läuft. 
Auch  hier  ist  die  Gedankenreihe  ganz  physiokratischen,  speciell  Turgot’- 
schen  Ursprungs. 

2)  Erfahrungsgemäss  ist  das  moderne  System  der  freien  Con- 
currenz ein  Product  jüngster  Geschichte.  Warum  es  in 
der  heutigen  Form  das  Endergebniss  der  geschichtlichen  Ent- 
wicklung sein  soll,  ist  durchaus  nicht  einzusehen. 

Als  geschichtlich  geworden,  abhängig  von  den  Kategorieen  Ort  und  Zeit,  er- 
scheint es  vielmehr  von  vornherein  nur  für  gewisse  Zustände  bestimmt  und  noth- 
wendig als  etwas  Vergängliches  oder  * mit  einem  bekannten  La ssal le’ sehen 
Ausdruck:  das  heutige  System  der  freien  Concurrenz  ist  eine  historische,  keine 
logische,  keine  natürliche  Kategorie.  Eine  in  der  Weise,  wie  es  Lassalle  (Syst.  d. 
erworb.  Rechte  u.  Kap.  u.  Arbeit)  von  grossen  rechtsgeschichtlichen  Instituten,  wie 
Eigenthum,  Erbrecht  gemeint  hat,  durchaus  aufrecht  zu  haltende  Bezeichnung.  H. 
v.  Treitschke’s  Gegenbemerkungen,  in  s.  1.  Aufs,  über  den  Socialismus  (a.  a.  0. 
S.  77  11.),  zeigen  doch  nur,  dass  mit  solcher  Auffassung,  wie  mit  Aüem,  Missbrauch 
getrieben  werden  kann.  — Schon  Knies  sagt  einmal  ganz  richtig,  man  solle  doch 
den  künftigen  Geschlechtern  nicht  immer  nur  die  Rolle  von  Affen  zumuthen. 

Namentlich  muss  die  Richtigkeit  des  (socialistischen)  Einwands  zugegeben  werden, 
dass  jene  so  häufige  Behauptung  eine  willkiihrlicho  petitio  principii  sei:  die  heutige 
Rechtsbasis  des  Systems,  d.  h.  die  heutigen  Grundsätze  der  persönlichen  Freiheit,  des 


802  5 B.  Organis.  d.  Volksw.scli.  2.  K.  Priv.w.sch.  Syst.  2.  A.  Modernes.  §.  313. 


Privateigentums,  des  Vertragsrechts,  der  Enteignung  bildeten  die  schlechtweg  natür- 
lichen, die  logisch  noth wendigen,  aber  auch  die  allein  nothwendigen  und  ausreichenden 
Schranken  der  freien  Concurrenz.  Trcitschke  (a.  a.  0.  S.  81)  sagt  selbst  mit  Recht, 
niemals  habe  ein  Volk  das  Eigenthum  als  ein  so  unumschränktes  Recht  angesehen, 
wie  es  in  den  Theorieen  des  Privatrechts,  losgetrennt  vom  Staatsrecht,  erscheine. 
Aber  er  unterlässt  es,  irgend  welche  Consequenzen  aus  dieser  richtigen  Auffassung 
zu  ziehen.  Die  Forderung  vieler  vernünftiger  Socialisten,  vollends  aber  der  von 
Treitschke  hart  angelasseuen  „Katliedersocialisten“,  geht  auf  nichts  Weiteres  hinaus, 
als  dass  „Eigenthum“,  „freie  Concurrenz“  nicht  einer  rein  individualistischen,  d.  h 
rein  privatrechtlichen  Auffassung  unterliegen,  sondern  stets  dabei,  und  im  geltenden 
Recht  bedeutend  mehr  als  jetzt,  der  gesammtheitliche,  gesellschaftliche,  m.  a.  W. 
der  öffentlich  - rechtliche  Gesichtspunct  zur  Anerkennung  kommen  soll.  (Siehe  auch 
Sc  hm  oll  er,  Grundfragen,  S.  53  ff.:  v.  Ihering,  Zweck  im  Recht  B.  1,  bes.  2.  Hälfte, 
u.  unten  Abth.  2,  in  der  2.  Aufl.-  Kap.  2 — 5.) 

ß.  — §.313  [129].  Falsche  Folgerungen.  Die  Folgerungen, 
welche  aus  der  falschen  Prämisse  der  „Naturgemässheit“  des  Systems 
der  freien  Concurrenz  gezogen  werden,  sind  nothwendig  selbst  wieder 
falsch.  Sie  zeigen  bei  den  consequentesten  Vertretern  des  Systems 
durch  die  rücksichtslose  Einseitigkeit,  in  welcher  sie  formulirt 
wurden,  ihre  eigene  Unhaltbarkeit  und  damit  von  Neuem  die- 
jenige der  Prämisse,  aus  welcher  sie  richtig  abgeleitet  worden 
sind.  Die  wichtigsten  solcher  falschen  Folgerungen  sind  wohl 
folgende: 

Die  wirthschaftlichen  Vorgänge  auf  der  genannten  Grundlage 
des  Systems  der  freien  Concurrenz  gelten  als  reine  Naturnoth- 
wendigkeit,  erscheinen  dadurch  als  an  sich  befriedigend 
oder  wenigstens  als  nicht  abzuändern,  und  als  an  sich  ge- 
rechtfertigt. 

Die  freie  Concurrenz  bewirkt  das  wirtschaftliche  Gedeihen  der  tüchtigen , also 
der  allein  ein  solches  „verdienenden“  Privatwirthscbaften  und  dadurch  eine  gerechte 
Gestaltung  der  ganzen  Volkswirtschaft,  insbesondere  auch  eine  gerechte  Verteilung 
der  wirthschaftlichen  Güter,  des  Volkseinkommens  und  Volksvermögens.  Eine  weitere 
Einmischung  des  Staats  in  den  wirthschaftlichen  Verkehr,  über  jene  Functionen  hinaus, 
welche  die  Aufrechthaltung  jener  Rechtsbasis  dieses  Verkehrs  mit  sich  bringt,  ist 
nicht  nur  naturwidrig  und  für  den  Einzelnen  und  für  die  Volkswirtschaft  schädlich, 
sondern  auch  ungerecht,  weil  sie  andere  Preisbildungen  für  Güter  und  Leistungen 
mit  sich  bringt,  als  diejenigen,  welche  bei  freier  Concurrenz  sich  gestalten  und  die 
allein  richtigen  und  allein  gerechten  sind.  Freiheit1),  ihr  eigenes  wirtschaftliches 
Wohl,  dass  jede  Privatwirtschaft  am  Besten  versteht,  — auch  eine  der  mit  tausend- 
fältiger Erfahrung  in  Widerspruch  stehenden  Fictionen  der  Schule  der  freien  Con- 
currenz! Ein  von  A.  Smith  herrührender  Satz  — nach  Kräften,  dem  Impulse  des 
wirthschaftlichen  Selbstin tcresses  gemäss  zu  fördern,  ist  daher  ein  allgemeines  Postulat. 


*)  Prince-Smith  a.  a.  0.  1863,  IV,  S.  163:  „Von  jeher  hat  eine  einsichts- 
lose Gewalt  den  Marktverkehr  Beschränkungen  unterworfen,  welche  Missgestaltungen 
erzeugten,  den  Fortschritt  des  Wohlstands  hemmten  und  Willkühr  an  die  Stelle  der 
Gerechtigkeit  setzten,  denn  im  Wirtschaftsleben  giebt  cs  für  volle  Gerechtigkeit  keine 
andere  Bürgschaft  als  die  absolute  Freiheit.“  Einen  fast  gleichlautenden  Satz  von 
Prince-Smith:  „Zwang  in  den  volkswirtschaftlichen  Verkehr  einführen  heisst 
Willkühr  an  die  Stelle  der  Gerechtigkeit  setzen“,  citirt  Rentzsch  in  s.  Wörterbuch 
S.  770  zustimmend.  Ganz  ähnlich  noch  später  K.  Braun  (Johannes  Berg)  z.  B.  in 
der  „Gegenwart“  1875  N.  13. 


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Falsche  Folgerungen  hinsichti.  des  Syst.  d.  freien  Concurrenz.  803 

Die  allein  richtige  Wirtschaftspolitik  des  Staats  ist  diejenige  des  „Laisser  faire  et 
passer“.1)  Die  Volkswirtschaft  — von  den  Vertretern  dieser  Richtung  gern  möglichst 
privatwirthschaftlich  „Volkshaushalt“  genannt  — ist  nur  ein  Nebeneinander  von  Einzel- 
haushalten, von  denen  jeder  für  sich  selbst  zu  sorgen  hat  Das  einzige  Organ,  das 
ihnen  als  Verknüpfung  dient,  ist  der  Markt,  wo  der  Austausch  der  Leistungen  und 
Güter  zwischen  den  Einzelhaushalten  erfolgt.*)  Hier  wird  nur  abgerechnet  und  aus- 
einandergesetzt. aber  keine  weitere  Gemeinschaft  gebildet.  Nach  dem  Gesetz  von 
Angebot  und  Nachfrage  erhält  hier  Jeder  seinen  richtigen  Preis  für  seine  Leistungen 
und  damit  seinen  gerechten  Ersatz.8)  Die  freie  Bewegung  auf  dem  Markte  darf  Jeder 
beanspruchen,  aber  er  ist  auch  für  sein  wirthschaftliches  Wohl  auf  sich  selbst  allein 
angewiesen.  Denn  nur  die  drohende  Noth  spornt  die  Menschen  zu  richtiger  wirt- 
schaftlicher Thätigkeit  an,  die  gern  stark  betonte  eine  Seite  des  ersten  Leitmotivs 
des  Strcbeus  nach  dem  wirtschaftlichen  Vortheil  (§.  34).4)  Schutz  gegen  Concurrenz 
(z.  B.  mittelst  weiteren  Eingreifens  des  Staats)  enthebt  der  Notwendigkeit,  ebenso 
fleissig  und  geschickt  zu  sein  als  Andre  (Mi  11).  Im  freien  Marktverkehr  des  privat- 
wirthschaftlichen  Systems  kann  aber  Keiner  den  eigenen  Nutzen  fördern,  ohne  gleich- 
zeitig denjenigen  Andrer  mit  zu  fördern.6)  Allerdings  zeigt  sich  auf  dem  Markte  eine 
ungleiche  Fähigkeit  der  Privatwirtschaften,  Güter  zu  beschaffen,  wegen  der  Ungleich- 
heit der  Hilfsvorräthe  (Kapitalien),  mit  denen  die  einzelnen  Wirtschaften  arbeiten. 
Aber  die  hierdurch  Benachteiligten  sind  daran  selbst  schuld,  weil  weder  sie  noch 
ihre  Vorgänger  (also  Erbrecht!)  etwas  angesammelt  oder  erspart  haben.8)  Nicht  die 
Ungerechtigkeit  der  Zeitgenossen,  sondern  die  Pflichtunterlassung  der  Vorgänger  ist 
also  anzuklagen.  „Es  ist  eine  unbeugsame  Bestimmung  der  Weltordnung,  dass  keine 
Familie  anders  erlöst  werde  aus  der  ursprünglichen  Nahrungsnot,  als  dadurch,  dass 
sie  wirtschaftlich  etwas  vor  sich  bringe,  haushälterisch  etwas  erübrige“  (Prince- 
Smith).7)  Die  Privatwirtschaft  (der  absolute  „Marktmensch“  dieser  Auffassung) 


l)  „Laissez  faire  et  passer,  le  monde  va  de  lui-meine!“  Die  Urheberschaft  des 
berühmten  Schlagworts  ist  nicht  ganz  unzweifelhaft.  Gewöhnlich  wird  es  auf 
Gournay,  jenen  physiokratischen  Kaufmann,  der  auf  Mal eshe r bes,  Turgotu.  A. 
bedeutenden  Einfluss  hatte  (vgl.  L.  De  Lavergne,  les  6con.  frant;.  au  XVIII.  siöcle, 
Par.  1S70,  p.  174)  zurückgeführt  und  jedenfalls  rührt  seine  agitatorische  Verwertung 
erst  von  den  Physiokraten  und  den  Smithianern  her.  Aber  es  sollen  auch  schon 
französische  Kaufleute  in  Remonstrationen  gegen  Colbert’s  Tarifpolitik  das  Wort 
gebraucht  haben.  Auch  kommt  der  Gedanke  schon  fast  ebenso  formulirt  bei 
Boisguilbert  vor. 

*;•  Dies  und  das  Folgende  fast  wörtlich  nach  Princc-Smith,  Handelsfreiheit, 
a.  a.  0.  S.  459.  Hier  heisst  es  auch:  der  Freihandel  kennzeichnet  sich  durch  eine 
radical-individualistische  Auffassung  volkswirtschaftlicher  Verhältnisse. 

8)  Eb.  Die  von  Prince-Smith  verteidigte  Lehre  der  volkswirtschaftlichen 
Freiheit  betrachtet  diese  „als  Grundbedingung  sowohl  der  möglich  grössten  Fülle  als 
auch  voller  Gerechtigkeit  im  Volkshaushalte“. 

4)  Näher  ausgeführt,  ganz  auf  der  Basis  der  im  Text  entwickelten  Theorie  von 
Lasson,  Berl.  Vierteljahrsschr.  1874,  I,  S.  34  ff.  Schmoller’s  scharfes  Urteil 
über  ihn,  Grundfragen  S.  32,  ist  zu  hart.  — Die  Behauptung,  dass  das  Schulze'- 
sche  Genossenschaftswesen  eigentlich  der  individualistischen  Anschauung  der  Lehre 
von  der  freien  Concurrenz  widerspricht,  ist  begründet  und  die  wenigstens  anfangs 
etwas  kühle  Haltung  der  deutschen  radicalen  Smithiancr  dazu,  die  später  noch  bei 
einzelnen  „Freihändlern“  etwas  zu  bemerken  war,  ist  nur  eine  Consequenz  des  Prin- 
cips  der  individualistischen  Anschauung. 

6)  S.  Prince-Smith  a.  a 0.  bes.  S.  440:  Satz  für  Satz  ein  Programm.  Der 
im  Text  angeführte  Satz  wird  dann  auch  auf  „den  verrufenen  Spekulationsgewinn“ 
angewandt. 

6)  Prince-Smith  eb.:  „das  Wesentliche  alles  Volkshaushalts  beruht  auf  an- 
gesammelten Ililfsvorräthen,  auf  Kapital Ganz  gerecht  ist  es.  dass  in  einem 

Industrievolke  diejenigen  Familien,  welche  das  meiste  Kapital  angesammelt  haben, 
auch  den  grössten  Antheil  au  dem  durch  Kapital  beschafften  Mehrbeträge  an  Be- 
friedigungsmitteln beziehen“. 

7)  Eb.  S.  441,  mit  weiterer  characteristischer  Ausführung. 


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804  5.  B.  Organis.  d.  Volksw.sch.  2.  K.  Priv.w.sch.  Syst.  2.  A.  Modernes.  §.  313. 


muss  durch  den  Staat  nur  „vor  Gewaltigung“  geschützt  werden,  und  dies  geschieht, 
indem  der  Staat  jene  Verkchrsrechtsbasis  schützt.1)  Die  freie  Concurrenz  wird  dann 
die  segen  bringen  de  Ordnungsstifterin  (V.  Bö  liniert).9)  Der  Handel  ist  bei  ihr  das 
Werkzeug  der  vertheilenden  Gerechtigkeit  (Emininghaus).8) 

Das  Endergebnis  des  Wirkens  des  Selbstinteresses  im  System 
der  freien  Concurrenz  in  der  Volkswirtschaft  ist  eine  vollständige 
„Interessenharmonie“  der  zunächst  (aber  nur  scheinbar) 
gegensätzlichen  Interessen  (Bastiat).  Wirtschaftliche  Uebelstände, 
soweit  sie  überhaupt  heilbar,  sind  daher  regelmässig  auch  nur  das 
Product  ein  er  Beschränkung  der  freien  Concurrenz. 
Das  einzige  Heilmittel  ist  also:  Gewährung  voller  freier 
Concurrenz. 

C,  — §.  314  [130],  Unhaltbarkeit  dieser  Folgerungen. 
Es  ist  leicht  zu  zeigen,  dass  diese  durchaus  optimistische  Auf- 
fassung des  Systems  der  freien  Concurrenz  einmal  auf  theils 
falschen  theils  unerwiesenen  Axiomen  beruht  und  auf  reine  peti- 
tiones  principii  hinausläuft;  sodann,  dass  dabei  rein  apriorisch 
construirt  und  die  ungünstigen  Seiten  der  freien  Concurrenz  über- 
sehen oder  mit  falschen  Gründen  beschönigt  oder  gerechtfertigt 
werden ; endlich,  dass  dem  System  der  freien  Concurrenz  noch  eine 
ganze  Reihe  weiterer  Einwendungen  entgegen  zu  stellen  sind. 

1)  Falsche  Axiome  sind  folgende  Annahmen: 

Dass  die  wirthschaftlichen  Vorgänge  sich  mit  Naturnotwendigkeit  entwickeln, 
dass  Jedermann  sein  wirtschaftliches  Interesse  am  Besten  verstehe,  dass  Jeder  allein 
selbst  Schuld  und  daher  auch  allein  verantwortlich  für  sein  wirtschaftliches  Gedeihen 
sei,  — als  ob  es  keine  „Conjuncturen“  in  der  modernen  Volkswirtschaft  gäbe! 
§.  160  ff.  — ; Jeder  mit  seinem  eigenen  Nutzen  auch  immer  denjenigen  Anderer 
fördere  (ganz  abgesehen  von  der  Frage,  in  welchem  Maasse  dies  geschehe);  dass 
Interessenharmonie  aus  der  freien  Concurrenz  hervorgehe.  Es  ist  eine  völlig  apriori- 
sche Annahme  und  unerwiesene  Behauptung,  dass  eine  weitere  Einmischung  des 
Staats  in  deu  Verkehr  immer  nachtheilig  und  ungerecht  und  nur  die  Politik  des 
Laisser  faire,  die  Gewährung  immer  grösserer  freior  Concurrenz  richtig  sei.  Es  läuft 


*)  Eb.  S.  441:  „Dem  Staate  erkennt  der  Freihändler  keine  andere  Aufgabe 
zu,  als  eben  die  eine:  Production  von  Sicherheit“.  Der  „Rechtsstaat“  in  grösster 
Leerheit!  Vergl.  u.  Buch  6,  auch  Vorbemerkung  dazu. 

4)  Im  Handwörterbuch  S.  388  sagt  Böhmert  wenigstens  fast  wörtlich  so:  „Die 
freie  Concurrenz  mit  ihren  segenstiftenden  Wirkungen  ist  der  zuverlässigste 
Regulator  des  Erwerbslebens  und  der  zwar  unsichtbare,  aber  doch  immer  gegenwärtige 
Gesetzgeber,  der  Ordnung  (?)  und  Regel  in  die  so  ausgedehnten  ....  industriellen 
Beziehungen  zu  bringen  vermag.“  Böhmert  steht  übrigens  seit  lauge  auch  nicht 
mehr  auf  diesem  einseitig  optimistischen  Standpuncte  der  Schule  und  war  immer  einer 
ihrer  besonnensten  und  gemässigtsten  Vertreter. 

8)  Eb.  S.  169.  Selbst  dieser  ebenfalls  so  gemässigte  und  durchaus  besonnene 
Anhänger  der  Freihandelsschule  sagt  hier  freilich  S.  170:  „ein  weites  Gewissen  hilft 
manche  Siege  erringen:  all  zu  grosse  Scrupulosität  ist  verdientermaassen  im  Handel 
im  Nachtheil!“  Sapicnti  sat!  Wenn  das  schon  die  graue  Theorie  sagt,  was  wird  erst 
die  grüne  Praxis  leisten!  Vielleicht  ein  lapsus  calami,  aber  kein  unbedenklicher  und 
— ein  characteristischer! 


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Falsche  Folgerungen  aus  der  freien  Concurrenz. 


805 


die  Annahme,  dass  nur  bei  freier  Concurrenz  volkswirtschaftliche  Gerechtigkeit 
bestehe,  auf  die  handgreifliche  petitio  principii  hinaus,  dass  nur  diejenigen  Preis- 
bildungen für  Güter  und  Leistungen,  daher  auch  nur  diejenigen  Lohnsätze,  Zinssätze 
u.  s.  w.  als  „gerecht“  gelten,  welche  rein  nach  dem  Gesetz  von  Angebot  und  Nachfrage 
zu  Stande  gekommen  sind. 

Man  wird  in  allen  Beweisführungen  der  Schule  der  absoluten  freien  Concurrenz. 
namentlich  auch  in  practischen  Fragen  der  volkswirthschaftlichen  Politik  und  Ge- 
setzgebung, immer  auf  diesen  eine  blosse  petitio  principii  enthaltenden  Cirkelschluss 
stossen:  eine  bestimmte  Maassregel  stört  das  „natürliche  Verhältniss“  von  Angebot 
und  Nachfrage,  dieses  Verhältniss  hat  allein  günstige  und  gerechte  wirthschaftiiche 
Folgen,  — folglich  darf  es  nicht  gestört  werden,  folglich  ist  jene  Maassregel  zu  ver- 
werfen und  die  freie  Concurrenz  von  Angebot  und  Nachfrage  allein  richtig.  — Es 
wird  dabei  auch  ganz  übersehen,  wenn  nicht  direct  geläugnet,  dass  überhaupt  doch 
noch  andre  Principien  als  dasjenige  der  Regelung  der  Preise  u.  s.  w.  durch  Angebot 
und  Nachfrage  möglich  seien,  um  überhaupt  Absatz  und  Verkehr  in  Gang  zu  bringen, 
Bedürfnisbefriedigungen  mittelst  Tausches  realisiren  zu  lassen.  Ein  solches  andres 
Princip  ist  z.  B.  das  der  Reihenfolge  verbunden  mit  einem  Taxsyste m , so  dass 
wer  zuerst  kommt,  zuerst  befriedigt  wird  nach  Taxen,  keineswegs  immer  der  zuerst, 
der  am  Meisten  zahlen  kann  (Droschken wesen  u.  dgl.  m.).  Dass  Letzteres  in  zahl- 
reichen Fällen  nicht  das  Gerechtere  ist,  kann  doch  nicht  bestritten  werden. 

Die  Beweisführung  für  diese  Gegenbehauptungen  erfolgt  in  den  §§.  315  IT. 

2)  Falsche  Anwendung  der  deductiven  Methode. 

Durchweg  ist  diese  Anschauung  von  der  freien  Concurrenz  nur  mittelst  der 
Methode  der  Deduction  aus  dem  wirtschaftlichen  Selbstinteresse  heraus  gewonnen, 
aber  dabei  übersehen,  dass  diese  Methode  zunächst  nur  hypothetische  Sätze  unter 
wenigen  bestimmten,  hypothetischen  Voraussetzungen  richtig  feststellcn  kann.  Ob 
und  wie  weit  diese  Sätze  in  der  Wirklichkeit  gelten,  muss  stets  eist  durch  weitere 
Untersuchungen,  insbesondere  durch  Beobachtungen  im  wirklichen  Verkehr,  welche 
Inductionsschlüsse  gestatten,  nachgewiesen  werden.  Dabei  köuuen  dann  auch  die 
ungünstigen  Seiten  der  freien  Concurrenz  vollends  nicht  mehr  übersehen  werden, 
obgleich  dieselben  auch  schon  durch  richtige  Deduction  aus  dem  Walten  des  Selbst- 
intcresses  im  System  der  freien  Concurrenz  abzuleiten  sind.  S.  jetzt  Uber  die  richtige 
Anwendung  der  Deduction  oben  §.  67 — 75. 

3)  Dem  System  der  freien  Concurrenz  ist  endlich  noch  ent- 
gegenzuhalten : 

a)  Das  wirthscha  ft  liehe  Selbstinteresse  bestimmt 
thatsächlich  die  Handlungen  der  Menschen  in  wirthschaftlichen 
Angelegenheiten  nicht  allein.  Vielfach  kann,  öfters  soll  es  dies 
gar  nicht  thun,  sondern  andere  Motive,  andere  Factoren  wirken 
neben  demselben  (§.  32,  33,  37—57,  315). 

b)  Das  System  der  freien  Concurrenz  schafft  selbst,  je  aus- 
schliesslicher es  herrscht,  desto  mehr  eigenthümliche  Uebelstände 
im  privatwirthschaftlichen  Verkehr,  Härten  und  Disharmonieen, 
was  sich  auch  rein  deductiv  ebenso  sicher  ableiten  lässt,  als  die 
früher  erwähnten  günstigen  Folgen,  und  durch  die  Erfahrung  be- 
stätigt wird  (s.  §.  316  ff.) 

c)  Das  privatwirthschaftliche  System  an  und  für  sich,  und  bei 
freier  Concurrenz  nur  noch  mehr,  kann  für  die  Befriedigung  vieler 
und  wichtiger  Bedürfnisse  nach  den  ihm  eigenen  Verkehrsprincipien 


806  5.  B.  Organis.  d.  Volksw.sch.  2.  K.  Priv.w. sch.  Syst  2.  A.  Modernes.  §.  315. 

gar  nicht  oder  nicht  ausreichend  sorgen,  neralich  für  die- 
jenige der  GemeinbedUrfnisse  (§  325  ff). 

D.  — §.  315  [132,  133].  Die  moralischen  Factoren 
neben  dem  Selbstinteresse  im  privat  wirtschaftlichen 
System. 

Unter  Bezugnahme  auf  die  Analyse  der  das  wirtschaftliche  Handeln  bestim- 
menden Motive  in  dieser  3.  Aufl.  (Buch  1 Kap.  1)  hätte  ich  vielleicht  die  folgenden 
Ausführungen  (2.  Aufl.  §.  132,  133,  S.  235 — 2-10)  weglassen  oder  sehr  zusammen- 
ziehen und  kurzen  können.  Ich  habe  sie  indessen  doch  grossentheils  stehen  lassen 
und  wörtlich  übernommen,  weil  sie  hier  in  der  Kritik  des  Systems  der  freien  Con- 
currenz  noch  ihre  besondere  Bedeutung  haben  und  zugleich  eine  Nutzanwendung 
jener  Motivationslehre  auch  für  die  hier  erörterten  practischeu  Fragen  enthalten. 

Nach  dem  Früheren  (Buch  1,  Kapitel  1)  ist  es  überhaupt 
ein  Irrthum,  nur  das  wirtschaftliche  Seihstinteresse,  speciell  das 
Streben  nach  dem  wirthschaftlichen  Eigenvortheil  und  die  Furcht 
vor  Noth,  unter  den  mancherlei  sonstigen  egoistischen  Motiven  des 
wirthschaftlichen  Handelns  in  Betracht  zu  ziehen  und  das  un- 
egoistische fünfte  Leitmotiv,  den  Trieb  des  inneren  Gebots  zum 
sittlichen  Handeln,  ganz  zu  vernachlässigen.  Denn  nur  aus  der 
Gesammtheit  dieser  Motive  erklärt  sich  jenes  Handeln.  Hier  haben 
wir  nur  besonders  diese  verschiedenen  Motive  als  sittlich  gut 
und  schlecht  wirkende  Factoren  oder  Potenzen  ins  Auge  zu 
fassen,  je  nachdem  sie  den  menschlichen  Willen  zu  einer  günstigen 
oder  ungünstigen  Abweichung  von  der  ihm  durch  das  wirt- 
schaftliche Selbstinteresse  des  Wirthschaftssubjects  gegebenen  Rich- 
tung bestimmen:  „sittlich  gut“  und  „schlecht“  — freilich  wieder 
nicht  völlig  absolute,  sondern  in  Etwas  historische  Begriffe,  aber 
nach  dem  ganzen  Culturzustaud  eines  Volks  in  einem  Zeitalter  doch 
solche  von  einer  hinlänglich  sicheren  Bestimmtheit,  um  hier  auf 
dem  ökonomischen  Gebiete  in  gegebener  Zeit  mit  ihnen  operiren 
zu  köunen. 

Als  gute  Potenz  in  diesem  Sinne  des  Worts  wirkt  unser 
fünftes  Leitmotiv,  Liehe  und  Pflichtgefühl  (Gewissens- 
pflicht), welche  sich  in  mancherlei  Formen,  als  Familiensinn, 
Gemeinsinn,  bestimmte  sittliche  und  religiöse  Anschauung,  Opfer- 
willigkeit u.  s.  w.,  im  Einzelnen  nach  Völkern  und  Zeiten,  nach 
dem  Culturzustand,  nach  den  Einrichtungen  des  Religionswesens 
verschieden,  im  Wesen  gleichmässig  äussern1),  ferner  Ehrgefti  h 1, 

*)  In  Koscher 's  Auffassung  I,  §.  11,  12,  bei  Hermann  S.  44  fl’,  sind  zu 
einseitig  nur  diese  Potenzen  dem  Selbstinteresse  gegenüber  gestellt.  Die  unten 
genannten  schlechten  Potenzen  sind  ebenfalls  zu  beachten.  Hier  liegt  wieder  die 
Fiction  der  Schule  der  freien  Concurrenz  vor,  bei  Jedermann  ein  richtig  ver- 
standenes und  richtig  wirksames  Selbstinteresse  anzunehmen. 


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Die  moralischen  Factoren  neben  dem  Selbstinteresse. 


807 


Drang  zum  Thätigsein,  somit  eben  überhaupt  manche  Formen 
des  dritten  und  vierten  Leitmotivs  (§  39,  42). 

Diese  Motive  fahren  dazu,  das  wirtschaftliche  Selbstinteresse  nicht  immer  soweit 
geltend  zu  machen,  als  es  möglich  und  rechtlich  erlaubt  ist.  Die  erstgenannten  sind  die 
Triebfedern  der  Geber  im  caritativen  Wirtschaftssystem.  Allerdings  bringen  solche 
Motive  auch  die  Gefahr  der  Unwirthscbaftlichkeit  in  der  Volkswirtschaft  mit  sich, 
namentlich  auf  Seite  derjenigen,  welchen  die  Vortheile  ihrer  Mitwirkung  zunächst  zu 
Gute  kommen  (Almosen,  Armenwesen).  Aber  diese  Gefahr  führt  nicht  zur  principiellen 
Verwerfung  einer  solchen  Mitwirkung,  sondern  nur  zur  Forderung,  den  an  sich  richtigen 
Motiven  nicht  blind,  sondern  mit  verständiger,  ebenfalls  sittlich  gebotener  Erwägung 
zu  folgen,  ob  und  wie  und  wie  weit  man  ihnen  im  concreteu  Fall  mit  Recht  folge, 
daher  namentlich  mit  Rücksicht  auf  die  muthmaasslichen  Wirkungen  der  von  dem 
Motiv  bestimmten  Handlungsweise.  Es  ist  die  Aufgabe  der  Erziehuug  bei  dem  Ein- 
zelnen und  der  Cultur  bei  dem  Volke,  diese  Motive  möglichst  zu  entwickeln,  aber 
auch  ihre  richtige  Anwendung  zu  sichern.  Namentlich  in  letzterer  Hinsicht  kann 
auch  die  Rechtsordnung  bezügliche  Cautelen  zu  trefTen  haben  (Armenwesen.  Bettel. 
Wohlthätigkeit).  Wird  die  Aufgabe  richtig  gelöst,  so  wird  sich  insbesondere  das 
Volksvermögen  und  Einkommen  günstiger  vertheilen,  als  es  rein  nach  privatwirth- 
schaftlichen  Principien  geschieht. 

Schlechte  Potenzen  im  genannten  Sinne  sind  vor  Allein: 
die  eigennützige  (egoistische)  Ausartung  oder  Uebertreibung  des 
wirtschaftlichen  Selbstinteresses  (z.  B.  mittelst  „Ausbeutungen“ 
im  Verkehr  — ein  schwankender  Begriff,  der  aber  nicht  aufhört, 
etwas  wirklich  Existirendes  richtig  zu  bezeichnen,  weil  die  Grenzen 
des  Begriffs  schwer  genau  zu  bestimmen  sind  — ),  ferner  Träg- 
heit, Unwissenheit  in  der  Sphäre  der  Production,  Prahlerei  und 
Genusssucht  in  derjenigen  der  Consumtion  (Luxusfrage) ’). 

Die  Bekämpfung  dieser  Potenzen  durch  Erziehuug  und  Cultur  bewirkt  eine 
grössere  Production  und  zugleich  eine  günstigere,  mehr  den  Interessen  der  Gesammt- 
heit  dienende  Richtung  der  Production  und  dadurch  indirect  eine  bessere  Vertheilang 
der  Güter  (Herstellung  von  Masscnconsumptibilien  statt  Luxusartikeln  für  eine  kleine 
Minderzahl  des  Volks). 

Das  Vorhandensein  dieser  Potenzen,  überall  und  allzeit 
mehr  oder  weniger,  so  auch  heute  hei  unseren  Culturvölkern,  ist 
eine  so  unbestreitbare  Thatsache,  dass  deren  Bedeutung  und  Be- 
rechtigung auch  die  Anhänger  des  Systems  der  freien  Concurrenz 
nicht  verkennen  können  und  nur  ausnahmsweise  verkannt  haben. 
Sie  stellen  indessen  zwei  unrichtige  Forderungen.  Sie  vindiciren 
nemlicb  in  der  Theorie  die  Würdigung  dieser  Factoren,  insbesondere 
auch  der  Liebe  und  des  Pflichtgefühls,  ausschliesslich  für  die 
Moral:  die  Wirthschaftslehre  habe  sich  damit  nicht  zu  beschäftigen. 
Sodann  verlangen  sie  für  die  Praxis  des  Wirtschaftslebens,  dass 
jene  Potenzen,  als  dem  Gebiete  der  Moral  angehörig,  nur  durch 
freie  sittliche  That  entwickelt,  beziehungsweise  unterdrückt  werden, 
nicht  durch  den  Zwang  des  Staats,  der  sich  durchaus  auf  die  mit 


*)  S.  Mill,  Logik,  deutsch  von  Schiel,  II,  519  ff. 


808  5.  B.  Organis.  d.  Volksw.sch.  2.  K.  Priv.w.sch.  Syst.  2.  A.  Modernes.  §.  315. 


der  modernen  Rechtsbasis  des  privatvvirthschaftlichen  Systems  zu- 
sammenhängenden Puncte  beschränken  müsse. 

Es  wird  dabei  gern  betont,  dass  „die  wachsende  wirtschaftliche  Einsicht1*  schon 
von  selbst  die  Ausartungen  des  wirtschaftlichen  Selbstinteresses  unterdrücken  und  die 
Correctur  der  aus  dem  Walten  des  letzteren  hervorgehenden  Schäden,  soweit  nötig, 
bewirken  werde,  während  jeder  Zwang,  als  dem  Lebensprincip  der  Moral  wider- 
sprechend, auch  das  sittliche  Verdienst  einer  Handlung  oder  Unterlassung  aufhebe. 
I)ic  „wachsende  wirtschaftliche  Einsicht“  ist  eine  Lieblingsphrasc  der  deutschen 
Anhänger  der  freien  Concurrenz  und  ein  in  practischen  Fragen  gern  gebrauchtes  Wort 
einst  auch  auf  den  deutschen  volkswirtschaftlichen  Congressen,  wenn  man  einsicht, 
dass  Nachteile  der  freien  Concurrenz  in  einem  gegebenen  Falle  unläugbar  sind, 
Abhilfe  unvermeidlich  ist,  aber  man  nicht  zu  gesetzlichen  Reformen  greifen  will, 
welche  den  Principien  der  freien  Concurrenz  widersprechen  oder  welche  man  doch 
auch  für  unwirksam,  wenn  nicht  für  schädlich  halten  zu  müssen  glaubt.  Ein  charac- 
teristisches  Beispiel  die  Beschlüsse  des  volkswirthschaftlichen  (Kongresses  in  Mainz 
(1869)  über  das  Actiengesellschaftswcsen , Vcrhandl.  (Berl.  1STÖ)  S.  13,  vergl.  auch 
mein  Referat  über  Actienwesen  in  Eisenach  1873,  Hildebr.  Jahrb.  XXI , 271  ff.  Der 
Trost  beruht  aber  nicht  nur  in  zahlreichen  einzelnen  Fällen  auf  einem  Irrtum,  son- 
dern mitunter  überhaupt  auf  einer  principicll  falschen  Voraussetzung,  so  z.  B.  wenn 
die  Hoffnung  ausgesprochen  wird,  dass  schwindelhafte  Fonds-,  Effecten-,  Waaren- 
speculation  nicht  so  leicht  wiederkehren  werde,  weil  die  „Lehren  der  Krisis“  beachtet 
werden  würden.  Grade  diejenigen,  z.  B.  viele  Private,  die  in  Deutschland  an  dem 
Effectenschwindcl  der  Jahre  1871  ff.  schliesslich  viel  verloren  haben,  werden  die 
Ersten  sein,  die  bei  einer  neuen  Speculationsära  wieder  zu  gewinnen  hoffen.  Das 
hat  sich  mittlerweile  (1889  ff.)  wieder  bewahrheitet.  Und  noch  mehr!  Solche 
Hoffnung  täuscht  factisch  nicht,  wenn  eben  nur  in  der  neuen  Aera  rechtzeitiger  die 
Geschäfte  abgewickelt  werden.  In  diesem  letzten  Punct  thut  sich  die  „wachsende 
wirtschaftliche  Einsicht“  kund,  mittelst  deren  aber  höchstens  einzelne  früher  Ge- 
schädigte diesmal  besser  durchkommen,  während  der  Schaden  im  Ganzen  derselbe 
bleibt  und  Andere  Verluste  erleiden. 

1)  Der  Irrthum  der  ersten  Ansicht  beruht  auf  einer  auch 
theoretisch  unstatthaften  vollständigen  Trennung  des  Gebiets  der 
Ethik  und  Oekonomik. 

Es  kann  wohl  erlaubt  und  für  die  theoretische  Analyse  zweckmässig,  selbst  notli- 
wendig  sein,  von  der  Hypothese  einer  solchen  Trennung  auszugehen,  um  zu  unter- 
suchen, welches  die  wirtschaftlichen  Handlungen  der  Menschen  und  danach  die 
wirtschaftlichen  Vorgänge  sein  werden,  wenn  bloss  das  Selbstinteresse  die  Menschen 
leitet.  So  verfährt  man  in  der  strengen  Deduction  (§.  67,  68).  Aber  es  ist  un- 
zulässig, den  rein  hypothetischen  Character  solcher  Untersuchungen  zu  vergessen 
und.  den  Thatsachen  des  Lebens  entgegen,  anzunehmen,  dass  wirklich  ein  solches 
Handeln  bloss  nach  dem  Triebe  des  Selbstinteresses  erfolge  oder  vollends,  dass  es  so 
erfolgen  solle.  Dieser  Schluss  läuft  immer  auf  die  schon  besprochene  unrichtige  Auf- 
fassung des  Selbstinteresses  als  Naturkraft  und  auf  diejenige  des  Menschen  nicht 
als  ein  Wesen,  welches  von  einer  Menge  verschiedener  Triebe  und  Motive  bestimmt 
wird,  sondern  welches  blind  einem  einzelnen  Triebe  mit  Notwendigkeit  folgen  muss, 
hinaus.  Die  Berücksichtigung  der  das  Selbstintercssc  tatsächlich  modificirenden 
moralischen  Potenzen  in  der  Wirthschaftslehrc  führt  daher  nicht  zu  einer  (Kon- 
fusion von  Ethik  und  Oekonomik,  sondern  ordnet  die  wirtschaftlichen  Handlungen 
nur  unter  die  ethischen  ein,  für  welche  eine  individuelle  Verantwortlichkeit  besteht. 

In  der  Methodologie  im  1.  Buche,  Kap.  2,  bcs.  im  Abschnitt  vom  deductiven 
Verfahren  (§.  67 — 75)  ist  näher  dargclegt  worden , wio  hier  methodisch  vorzugehen 
ist.  An  dieser  Stelle  mag  noch  Folgendes  hinzugefügt  werden.  Die  Auffassung  des 
Selbstinteresses  als  constaute  Ursache,  der  anderen,  dasselbe  modificirenden  oder  neben 
ihm  zur  Geltung  kommenden  Potenzen  als  zufällige,  accidentelle,  störende  (causcs 
perturbatrices).  in  Uebertragung  einer  Auffassung  und  Terminologie  der  Physik  in 
Quctclet’schcr  Weise  auf  das.  Gebiet  der  menschlichen  Handlungen  (Statistik,  National- 


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Die  moralischen  Factoren  neben  dem  Selbstinteresse. 


809 


Ökonomie)  ist  auch  nur  zulässig,  wenn  davon  für  methodologische  Zwecke,  nemlich 
für  die  Anwendung  der  Methode  der  Deduction  auf  diesem  Gebiete  Gebrauch  gemacht 
wird,  wobei  dann  die  erforderlichen  hypothetischen  Annahmen  hinsichtlich  der 
Causalverhältnisse  aufgestellt  werden.  Aber  es  darf  auch  hier  nicht  wieder  der  un- 
richtige Schluss  abgeleitet  werden,  als  ob  in  der  Wirklichkeit  das  Vcrhältniss  dioser 
Potenzen  zu  einander  dasjenige  von  constanteu  und  von  störenden  Ursachen  wäre  oder 
vollends  sein  müsse.  Ob  es  so  ist  oder  ob  es  so  sein  soll,  muss  vielmehr  immer  erst 
wieder  im  concreten  Falle  untersucht  werden.  Selbst  in  einem  Falle,  in  welchem  das 
reine  wirtschaftliche  Interesse  wirkt,  ungestört  durch  andere  Potenzen,  und  in  welchem 
auch  keine  wesentlichen  Bedenken  vorliegen,  dass  es  so  wirkt,  gestaltet  sich  das  Causal- 
verhältniss  hier  doch  immer  anders  als  in  reinen  Naturverhältnisseu  oder  m.  a.  W. 
das  wirtschaftliche  Selbstintcresse  ist  eben  niemals  eine  reine  Naturkraft,  wirkt  niemals 
blind  mit  der  Notwendigkeit  einer  solchen.  Eine  wirkliche  Naturkraft  muss  unter 
gegebenen  Umständen  stets  da  sein  und  stets  ihrem  ewig  gloichbleibenden  Wesen 
gemäss  wirken.  Das  Selbstintcresse  kann  aber  sogar  in  bestimmten  Fällen  ganz  als 
wirkende  Ursache  ausser  Spiel  gesetzt  sein,  z.  B.  durch  Furcht  oder  durch  Pflicht- 
gefühl, wenn  wirklich  beide  allgemein  wirken  (vgl.  oben  §.  89,  S.  234.  wo  an  diesem 
verschiedenen  Sachverhalt  in  Betretf  des  Causalverhältnisses  der  wahre  Unterschied  von 
reinen  Naturgesetzen  und  wirtschaftlichen  Gesetzen  nachgewiesen  wurde).  Man  denke 
etwa  an  das  bekannte  „Gesetz“  der  Geldverdrängung  bei  Doppelwährung,  bei  Papier- 
währung. Gelingt  es  hier,  was  doch  als  Möglichkeit  zugegeben  werden  muss  und 
wofür  annähernd  practischc  Beispiele  vorliegen  (z.  B.  in  England  1797  lf.  patriotische 
Haltung  des  Kaufmannsstands  gegenüber  den  unciulösbar  gewordenen  Banknoten), 
auch  nur  einigermaassen  allgemein,  Speculationsmanoeuvres,  Valutageschäfte,  Arbi- 
tragen u.  s.  w.  durch  Furcht  vor  gesetzlicher  Strafe  (deren  volle  Unwirksamkeit  in 
solchen  Fällen  auzunuhmen,  auch  eine  üebertreibung  der  Schule  und  der  freien 
Concurrenz  ist)  oder  durch  mächtigen  Patriotismus  zu  bändigen:  so  wird  sofort  das 
„Naturgesetz“  gar  nicht  existiren,  weil  die  ihm  zu  Grunde  liegeude  Ursache  gar  nicht 
existirt;  ein  Fall,  wie  er  in  reinen  Naturphänomen  nicht  denkbar  ist,  denn  hier  kann 
immer  nur  die  Wirkung  einer  Ursache  durch  diejenige  einer  anderen  paralysirt  werden, 
aber  vorhanden  und  wirkend  ist  jene  erste  Ursache  immer,  was  dagegen  in  dem 
erwähnten  volkswirtschaftlichen  Beispiel  nicht  der  Fall  ist  (s.  o.  S.  234).  Dass  im 
Herzen  vieler  Individuen  doch  die  selbstsüchtige  Neigung  nach  jenen  Speculations- 
gewinnen  bleibt,  widerspricht  dem  nicht:  in  der  Praxis  des  Verkehrs  kommt  davon 
in  uuserem  Beispiel  nichts  zum  Vorschein.  Die  Nutzanwendung  auf  andere  practische 
volkswirtschaftliche  Fragen  liegt  nahe.  S.  überhaupt  im  1.  Buche  den  Abschnitt 
von  den  wirtschaftlichen  Gesetzen,  S.  225 — 242. 

2)  Der  Einwurf  gegen  den  Zwang  des  Staats  übersebiesst 
das  Ziel. 

Er  beruht  einmal  auf  der  schon  abgewiesenen  Annahme,  als  sei  das  Gebiet  der 
staatlichen  Regelung  der  Wirthschaftsverhältnisse  naturgemäss  notwendig  auf  die 
Aufrechterhaltung  der  modernen  Verkehrsrechtsbasis  beschränkt,  — immer  die  alte 
petitio  principii.  Im  Zusammenhang  hiermit  steht  sodann  die  weitere  falsche  An- 
nahme, als  sei  in  Bezug  auf  volkswirtschaftliche  Verhältnisse  Recht  und  Moral  ein 
für  allemal  fest  geschieden , während  grade  hier  grosse  Grenzgebiete  liegen , auf 
welchen  geschichtlich  und  von  Land  zu  Land  bald  die  rechtliche  und  eventuell 
zwangsweise,  bald  die  freie,  sittliche  Regelung  vorkommt  und  richtig  ist.  Endlich 
aber  wird  hier  der  Zwang  als  geschichtlich  erprobtes  und  oft  unentbehrliches  Element 
der  Erziehung  zur  Cultur  und  damit  erst  zur  Vornahme  dessen  als  freie  sittliche  That, 
was  bisher  erzwungen  geschah,  nicht  gebührend  gewürdigt. 

S.  Weiteres  überZwang  u.  §.  345  ff.,  bes.  34S.  Die  vollständige  Vermengung 
von  Recht  und  Moral,  wie  bei  den  eudämonistischen  Philosophen  des  vorigen  Jahr- 
hunderts, besonders  bei  Cbr.  Wolff,  war  gewiss  durchaus  fehlerhaft.  Aber  eine  so 
völlige  Trennung,  wie  sie  unter  KanTschen  Einflüssen  in  der  neueren  Zeit  an- 
genommen wird,  besteht  ebensowenig.  Grade  die  Grenzen  von  Recht  und  Moral  sind 
auch  geschichtlichem  Wechsel  unterworfen.  Nordamericanische  Temperance- 
Gesetze  erscheinen  uns  als  falscher  Eingriff  in  das  Moralgebiet,  aber  ist  unsere 
Auflassung  denn  die  allein  allezeit  entscheidende?  Eine  gewisse  Wiederannäherung 


810  5.  B.  Organis.  d.  Volksw.sch.  2.  K.  Priv.w.sch.  Syst.  2.  A.  Modernes.  §.  316. 


an  jene  ältere  Auffassung  halte  ich  nicht  für  unrichtig.  Der  richtige  Kern  in  der 
eudämonistischen  Staatsauff'assung  ist  heutzutage  vielfach  bereits  wieder  zur  Geltung 
gekommen  (z.  B.  im  öffentlichen  Gesundheitswesen,  in  Maassregeln  zur  Schonung  der 
Arbeitskraft,  wo  Chr.  Wolff’s  Ideen  wieder  zu  Ehren  gelangen).  L.  Stein  in  s. 
Verwaltungslehre  sagt  ganz  mit  Recht:  den  Inhalt  hat  die  innere  Verwaltung  aus 
der  Wohlfahrtsstaatstheorie,  die  Garantieen  für  die  Grenzen  ihrer  Thätigkeit  aus  der 
Rechtstaatstheorie  zu  entnehmen.  Der  Vorwurf  einer  gewissen  eudämonistischen 
Tendenz,  den  z.  B.  II.  v.  Trcitschke  gegen  Schmoller  ausspricht  (Preuss.  Jabrb. 
1875.  Aprilheft),  ist  m.  E.  gar  kein  Vorwurf,  sobald  eben  nur  Maass  gehalten 
wird  in  allem  Eudämonismus.  Auch  hier  dreht  sich  der  berechtigte  Streit  wieder 
nur  um  dies  Maass,  um  das  „Wie  weit“,  nicht  um  das  Ob.  Sehr  gesunde  An- 
sichten Uber  Staat  und  Staatszwang  auch  bei  dem  Schweizer  H.  Esc  her,  Handb.  d. 
pract.  Politik,  Lpz.  1863,  bes.  I,  §,  1 — 19.  — Die  Auffassung  des  Zwangs  als  noth- 
wendiges  Erziehungsmittel  in  vielen  Fällen  bestimmte  mich  z.  B.  in  der  Frage  der 
Arbeiter-Invaliden-  und  Alterspensionscassen  für  Cassenzwang  zu  sein,  schon  lange, 
ehe  unsere  Gesetzgebung  dazu  schritt,  z.  Th.  in  Widerspruch  mit  „vorsichtigeren“ 
Theoretikern,  die  nunmehr  auch  dafür  sind.  (S.  Eisen,  soe.-polit.  Verhandl.  1874, 
S.  126.)  Treitschke  in  seiner  Polemik  gegen  die  Invalidencasse  „für  Millionen 
Arbeiter“  a.  a.  0.  übersah  diese  Seite  der  Frage  auch.  Und  jetzt  haben  wir  solche 
Cassen  und  sie  fungiren  ganz  leidlich. 

Die  innere,  principielle  Berechtigung  des  caritativen  und 
des  gemein  wirtschaftlichen  Systems  der  Bedürfnissbefriedigung 
in  der  Volkswirtschaft  neben  dem  p ri va t wirtschaftlichen  er- 
giebt  sich  aus  dem  Vorhergehenden  von  Neuem. 

IV.  — §.  316  [2.  A.  S.  240].  Näherer  Nachweis  der 
Nachtheile  im  System  der  freien  Concurrenz.  A.  Ans- 
gangspuncte.  Verfolgt  man  die  polemische  Kritik  dieses  Systems 
noch  genauer,  als  es  im  Vorausgehenden  (§.  311)  geschehen  ia*t, 
so  ergiebt  sich,  dass  sie  vornemlich  folgende  drei  Ausgangspuncte 
genommen  hat. 

1.  Sie  ist  einmal  die  not h wendige  Folge  einer  theils 
mehr  theologischen,  wie  bei  Adam  Müller,  theils  mehr 
ethischen  Auffassung  des  Wirthschaftslebens  überhaupt,  weil 
diese  Auffassung  dem  individuellen  Eigennutz  gar  keine,  dem 
dazu  so  leicht  ausartenden  Selbstinteresse  nur  eine  beschränkte 
Wirksamkeit,  jedenfalls  nur  eine  secundäre,  nicht  wie  im  System 
der  freien  Concurrenz  eine  primäre,  den  Verkehr,  die  Production, 
den  Absatz  beherrschende  Rolle  zusehreiben  kann. 

A.  Muller’s  Meinung  (Elemente  der  Staatskunst,  8 B..  Berlin  1809)  z.  B.,  dass 
der  Landwirth  in  erster  Linie  aus  Liebe  zur  Sache,  um  Gottes  Willen,  in  zweiter 
wegen  do.r  Frucht,  in  dritter  wegen  des  Reinertrags  arbeiten  solle,  widerspricht  dem 
Grundgedanken  des  Systems  der  freien  Concurrenz  schnurstracks.  Diese  und  ähnliche 
Auffassungen  enthalten  die  tiefste  principielle  Opposition  gegen  dies  System, 
sind  aber  weder  in  der  Litteratur,  noch  in  der  Praxis  (Gesetzgebung)  zu  besondrer 
Geltung  gelangt,  jedenfalls  bedeutend  weniger  als  die  beiden  anderen  polemischen 
Richtungen,  welche  sich  direct  gegen  die  Folgen  der  freien  Concurrenz  wenden.  — 
Sie  sind  aber  doch  bemerkenswert!!,  denn  sie  weisen  implicite  auf  die  Mängel  der 
ökonomischen  Psychologie  und  Motivationstheorie  des  ökonomischen  Individualismus 
und  auf  das  fünfte  unegoistische  Leitmotiv  hin  (§.  45.  46),  dem  sie  eine  grössere 
Wirksamkeit  geben  möchten.  Es  wird  nur  dabei  wieder  die  Macht  der  anderen,  der 


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Weitere  Polemik  gegen  freie  Concurrenz. 


811 


egoistischen  Motive  übersehen,  durch  richtige  Wirksamkeit  dieser  Motive  das  Wirt- 
schaftsleben in  die  gebotenen  Bahnen  zu  leiten. 

2.  Die  eine  der  Richtungen,  welche  sich  gegen  die  Folgen  des 
Systems  wendet,  geht  von  der  Opposition  gegen  die  Conseq uenzen 
der  freien  Concurrenz  auf  den  einzelnen  wichtigen  Pro- 
ductions  ge  bieten  aus,  wünscht  die  alten  bestehenden 
Ordnungen  möglichst  erhalten,  nur  etwas  reformirt,  nicht 
beseitigt. 

So  z.  B.  iu  Betreff  des  ländlichen  Grundeigenthums  und  der  alten  Agrar- 
verfassung die  Geschlossenheit  der  Bauergüter  statt  der  von  der  iudividualistisch- 
atomistischen  Doctriu  der  freien  Concurrenz  geforderten  freien  Theilbarkeit.  Ebenso 
wünscht  sie  mehr  von  der  alten  Gewerbeverfassung  beizubehalten  statt  der  Gewerbe- 
freiheit, ist  mehr  für  ein  rationelles  Schutzzollsystem  statt  für  internationalen  Frei- 
handel. Zu  dieser  Richtung  gehören  die  Schriften  der  älteren  und  neueren  conser- 
vativen  Agrar-  und  Gewerbepolitiker,  der  Schutzzöllner,  wie  namentlich  Fr.  List’s, 
der  neueren  agrarischen  Schutzzöllner.  Allerdings  wird  hier  die  Opposition  gegen 
das  ganze  System  der  freien  Concurrenz  nur  selten  eine  principielle,  öfters  wird 
selbst,  wie  z.  B.  bei  den  Schut/zöllnern,  grade  im  Interesse  der  Entwicklung  der 
Industrie  die  freie  Concurrenz  „im  Ucbrigen“,  nur  eben  nicht  bei  der  Ungleichheit 
der  ökonomischen  Lage  der  verschiedenen  Völker  im  internationalen  Handel,  sogar 
gefordert,  z.  B.  in  der  Gewerbepolitik  (Gewerbefreiheit).  Aber  man  kann  diese  prac- 
tisclie  Polemik  gegen  die  Postulate  des  Systems  der  freien  Concurrenz  auf  den  ein- 
zelnen Gebieten  leicht  auf  ihren  gemeinsamen  Ausgangspunot  zurückfuhren  und 
fiudet  alsdann,  dass  eben  in  jedem  solchen  Falle  die  „natürliche  Ordnung“,  die  aus 
dem  Walten  des  individuellen  Sclbstinteresscs  hervorgeht,  nicht  für  die  wünschcns- 
werthe,  sondern  eine  künstliche  Rechtsordnung,  wie  z.  B.  die  geschichtlich 
überkommene,  wenn  auch  passend  reformirte  (eben  die  Schwierigkeit!)  Agrar-  und 
Gewerbeverfassung,  für  richtiger  und  zweckmässiger  gehalten  wird:  Das  ist  die  Grund- 
anschauung, welche  principiell  derjenigen  der  Anhänger  des  Systems  der  freien 
Concurrenz  gegenubersteht.  Die  letztere  wird  insofern  vom  conservativen  Agiar-  und 
Gewerbepolitiker  und  dem  Schutz/ölluer  doch  schliesslich  selbst  angegriffen,  weil  sie 
die  (wirklich  oder  vermeintlich)  gute  überlieferte  Rechtsordnung  der  Hauptgebiete  der 
Volkswirtschaft  zerstört.  Im  practischen  Leben  sind  es  die  ökonomischen  Mittel- 
stände, die  Bauern,  Handwerker,  Krämer,  welche  diese  Polemik  aufnehmen,  weil 
sie  vom  „Kapital“,  vom  Grossbesitz  und  Grossbetrieb  immer  mehr  fürchten,  aufgesogen 
und  verdrängt  zu  werden. 

In  ähnlicher  Weise  wird  aber  auch  vom  Standpuncte  des 
Consumenteninteresses  gegen  das  moderne  System  der  Con- 
currenz polemisirt,  weil  dasselbe  hier,  was  Qualität,  Preiswürdig- 
keit  der  Waaren  anlangt,  nicht  so  befriedigend,  wie  bei  den  Ein- 
richtungen der  älteren  Wirtschaftsordnungen  (Qualitätscontrolen, 
Preistaxen)  wahrgenommen  werde. 

Daher  Hinweis  auf  die  Verschlechterung  der  Waaren,  auf  die  Fälschungen  im 
Handel  und  Wandel,  in  Qualität  und  Quantität,  auf  die  Unmöglichkeit,  vollends  bei 
heutiger  Technik  Seitens  der  Privaten  eine  ordentliche  Qualitätscontrolle  auszuüben, 
auf  die  Preisverabredungen  der  Producenten,  auf  die  widerwärtige  Reclame  mit  ihren 
unvermeidlich  schliesslich  doch  vom  Consuinenten  zu  zahlenden  hohen  Unkosten  u.  v.  a.  m. 
Dabei  wird  auch  hervorgehoben,  wie  es  grade  am  Meisten  die  „kleinen  Leute“  sind, 
welche  von  solchen  Missständen  getroffen  werden  und  sich  am  Wenigsten  dagegen 
schützen  können. 

3.  Die  letzte  oppositionelle  Richtung  und  zugleich  diejenige, 
welche  die  freie  Concurrenz  wegen  ihrer  Folgen  für  die  Volks- 


812  5.  B.  Organis.  d.  Volksw.sch.  2.  K.  Priv.w.sch.  Syst.  2.  A.  Modernes.  §.  3 1 *>. 


wirthschaft  am  Meisten  principiell  angreift  und  welche  gegen- 
wärtig aus  mancherlei  Gründen  am  Schärfsten  hervortritt,  wendet 
sich  gegen  dies  System,  weil  die  freie  Concurrenz  zu  einseitig  die 
kräftigeren,  begabteren,  vielfach  auch  die  gewissen- 
loseren Elemente  auf  Kosten  der  Schwächeren  be- 
günstigt (§.  317)  und  daher  zu  mehr  oder  weniger  schlimmen 
Ausbeut  ungs-  und  monopolistischen  Herrschafts  Ver- 
hältnissen, zu  einem  neuen  kapitalistischen  Feudalis- 
m u s , aber  einem  viel  schlimmeren,  weil  nach  Recht,  Sitte,  sitt- 
lichen Anschauungen  aller  Pflichten  haaren,  als  dem  früheren, 
mittelalterlichen,  und  damit  zu  bedenklichen  Gegensätzen  der 
ökonomischen  und  socialen  Lage  und  der  ganzen  In- 
teressen zwischen  nichtbesitzenden  und  besitzenden  Classen 
wenigstens  führen  kann  und  der  Annahme  nach  zum  Theil  wirk- 
lich führt. 

Diese  Richtung  wird  vertrete»  durch  die  Socialisten  und  durch  diejenigen 
Nationalökonomen,  welche  diesen  wenigstens  in  dieser  Auffassung  nahestehen.  Diese 
Schriftsteller  leiten  aus  der  freien  Concurrenz  nicht,  wie  die  Freihändler,  Bastiat 
u.  A.  m,,  eine  gesunde  Organisation  und  Interessenhannonie , sondern  eine  wahre 
Desorganisation  der  Volks  wirthschaft,  eine  Anarchie,  eine  unerträgliche  Regel- 
losigkeit, ein  beständiges  Schwanken  der  Production  zwischen  üeberspeculation  und 
Krise,  eine  immer  ungleichmässigere  Verkeilung  des  Nationaleinkommens  und  Ver- 
mögens zwischen  Artn  und  Reich  als  nothwendige  Folge  ab  und  suchen  dies  durch 
den  ^tatsächlichen  Nachweis  zu  begründen.  Prägnant  tritt  die  grundsätzliche  Polemik 
gegen  die  freie  Concurrenz  bei  L.  Blanc,  Organisation  du  travail,  Par.  1840,  hervor, 
der  dann  auch  positive  Gegenforderungen  aufstellt.  Aber  auch  Sismondi  in  seinen 
nouveaux  principcs  erkennt  die  tiefe  Schattenseite  der  freien  Concurrenz  durchaus, 
so  z.  B.  I.  407.  Die  principiclle  Polemik  vieler  Socialisten,  besonders  Fourier’s, 
gegen  den  Handel,  den  „legalen  Betrug“,  führt  in  ihrer  Consequenz  ebenfalls  zur 
principiellen  Polemik  gegen  die  freie  Concurrenz.  Vcrgl.  Mario  (Wink elblech). 
Syst,  d.  W'eltökou.,  Cassel  1850,  z.  B.  I,  Kap.  3 — 5.  I,  156  fT.  (Blanc  u.  Sismondi 
ganz  beigestimmt),  246  11’.,  dann  II,  Kap.  S,  S.  50  IE,  Rodbcrtus'  Schriften  (auch 
die  Aufsätze  über  altrömische  Verhältnisse),  Marx.  Kap.,  B.  I,  Engels’  Lage  der 
arbeitenden  Classen  in  England  und  Duhring’s  Umwälzung,  bes.  Abschn.  3,  überhaupt 
die  oben  §.  13  angegebene  Litteratur,  Schäffle,  Soc.  Körper  III,  417  ff.,  „zur  Kritik 
der  kapitalistischen  Periode“. 

Die  richtige  Ansicht  von  der  freien  Concurrenz  kann  man  wohl  mit  Brentano 
(Arbeitergilden,  II,  314  und  Inhalt  S.  XIV)  so  formuliren:  die  Concurrenz  ist 
nur  das  Princip  der  Starken;  die  Verbindung,  fügt  er  hinzu,  ist  das  Princip 
der  Schwachen,  — gewiss,  soweit  eben  spontane  Verbindung  der  Schwachen  aus- 
reicht, darüber  hinaus  muss  zwangsgemeinwirthschaftliche,  besonders  staatliche 
Fürsorge  ein-,  boz.  der  freien  Concurrenz  entgegentreten.  Mit  „Gewerkvereinen“, 
der  Brentano'schen  Panacee  für  alle  Nöthen  in  der  socialen  Frage,  kommt  man  auch 
nicht  aus.  Das  zeigt  sich  immer  mehr,  grade  im  classischen  Lande  dieser  „Ver- 
bindungen“, in  England,  wenn  uns  auch  Enthusiasten,  die  Alles  durch  ihre  Brille 
ansehen,  z.  B.  v.  Schulze-Gävernitz,  noch  so  sehr  versichern,  so  komme  man 
„zum  socialen  Frieden“. 

In  diesen  Fragen  in  Bezug  auf  die  Nachtheile  der  freien 
Concurrenz  ist  die  Methode  der  Deduction,  richtig  geband- 
habt,  beweiskräftig  genug  und  ist  anderseits  bei  dem  noch 


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Hervortretende  Uebelstände  bei  freier  Concurreuz.  . 813 

bestehenden  Mangel  einer  ausreichenden  und  zuverlässigen  öko- 
nomischen und  socialen  Statistik  die  freilich  unvollkommene  „täg- 
liche Beobachtung“  ein  mit  zuzulassendes  Mittel  der  Bestätigung 
der  Deduction  (§.  78). 

Die  Deducirung  der  naehtheiligen  Wirkungen  der  freien  Concurrenz  ist  um  so 
mehr  statthaft,  weil  z.  Th.  mit  den  best  erforschten  nationalökonomischen  Gesetzen, 
besonders  mit  dem  Gesetze  der  Preise  und  der  Productionskosten,  der  Beweis  für  die 
Richtigkeit  jener  Deductionen  geführt  werden  kann.  Auch  ist  zu  beachten,  dass  die 
Gestahungstendenzen,  welche  diese  Methode  zunächst  nur  sicher  abzuleiten  vermag, 
hier  besonders  in  Betracht  kommen:  man  muss  darauf  ausgehen,  sie  in  der  Wirklich- 
keit nicht  zur  Geltung  kommen  zu  lassen  und  demgemäss  nach  Gegenmitteln  forschen. 
Dass  sie  öfters  noch  nicht  so  vollständig  zur  Verwirklichung  gelangt  sind,  ist  gewiss 
richtig,  aber  kein  genügender  Einwand,  wie  die  unbedingten  Vertreter  der  freien 
Concurrenz  und  auch  manche  Vertreter  der  historisch -statistischen  Richtung  in  der 
Nationalökonomie  mitunter  annebmeu.  Wenn  sich  erst  einmal  der  ganze  Process  der 
Zersetzung  des  Wirtschaftslebens  durch  die  freie  Concurrenz  mehr  oder  weniger  voll- 
ständig vollzogen  hat,  wird  sich  das  freilich  auch  inductiv  genau  ermitteln  lassen. 
Aber  dann  wird  cs  meistens  zu  spät  zur  Abhilfe  sein. 

B.  — §.  317  [134].  Die  kervortretenden  Uebelstände. 
Im  privatwirthscbaftlicken  System  auf  der  Basis  der  freien  Con- 
ciirrenz  entstehen  mancherlei  Uebelstände  für  die  Masse  der  Be- 
völkerung, theils  in  noth wendiger  Folge  der  nicht  zu  läugnenden 
Vortheile  des  Systems  (§.  310),  theils  als  weitere  begleitende  Er- 
scheinungen und  als  mehr  zufällige,  aber  häutige  Folgen  des- 
selben. Selbst  diejenigen  Personen,  welche  durch  das  System  be- 
günstigt weiden  und  wirthschaftlich  emporkommen,  werden  leicht 
sittlich  geschädigt.  Namentlich  aber  zeigen  sich  die  ungünstigen 
Folgen  des  Systems  am  Meisten  auf  dem  Gebiete  der  Vertheilung 
der  Güter  in  der  Volkswirtschaft,  ferner  in  den  theils  hierdurch, 
theils  schon  durch  die  technische  Gestaltung  des  Productions- 
processcs  wirthschaftlich  bedingten  socialen  Abhängigkeits-  und 
Herrschaftsverhältnissen  in  der  Bevölkerung,  endlich  wieder  in 
Zusammenhang  mit  diesen  Momenten  in  den  Einflüssen  auf  die 
Sittlichkeit  des  ganzen  Volks. 

Es  lässt  sich  dies  Hervortreten  von  Härten  und  Disharmonieen  im  System  der 
freien  Concurrenz  schon  aus  dem  Wesen  und  den  natürlichen  Entwicklungstendenzen 
dieses  Systems  vermittelst  der  Methode  der  Deduction  ableiten.  Schon  jetzt  aber, 
obgleich  das  System  noch  nicht  nach  allen  Seiten  streng  durchgeführt  und  noch  nicht 
lange  in  unseren  Culturstaafcn  in  Wirksamkeit  ist,  gestattet  die  Erfahrung,  d.  h.  die 
Induction  aus  den  Beobachtungen  der  Wirklichkeit  mittelst  Statistik  und  Geschichte, 
manche  Bestätigungen  der  Deductionsschlüsse  und  zeigt  sie  ihrerseits  immer  allge- 
meiner neue  Uebelstände. 

Insbesondere  ist  mit  den  Vortheilen  des  Systems  der  freien  Con- 
enrrenz  für  die  Technik  und  Oekonomik  der  Production  nothwendig 
eine  Gestaltung  des  Productions  process  es  verbunden, 
welche  mehrere  der  genannten  Uebelstände  unvermeidlich  mit  sich 

A-  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlagen.  52 


814  «*>•  B.  Organis.  d.  Volksw.sch.  2.  K.  Priv.w.scli.  Syst.  2.  A.  Modernes.  §.  316. 

bringt.  Es  siegen  nemlich  im  Concurrenzkampf  einmal  die  für 
diesen  und  dessen  gegenwärtige  Ftibrungsart  begabteren,  dann 
aber  auch  häufig  genug  die  gewissenloseren  Elemente  unter 
den  Privatwirtschaften  über  die  schwächeren  und  scrupulöseren. 
Endlich  führt  die  Entwicklung  des  Grossbetriebs,  welcher 
gerade  unter  dem  Einfluss  moderner  Technik  (Dampf!)  zwar  nicht 
so  allgemein,  wie  der  Socialismus  behauptet,  aber  doch  auf  immer 
mehr  Gebieten,  besonders  auf  einigen  der  wuchtigsten  der  in- 
dustriellen Production,  ebenfalls  zum  Siege  oder  doch  zu 
starker  Uebermacht  gelangt,  weitere  ökonomische  und  sociale 
Gefahren  mit  sich,  für  welche  die  technischen  Vortheile  keines- 
wegs immer  eine  genügende  Compensation  bilden. 

§.  318  [135].  — 1.  Der  Sieg  der  begabteren  Elemente, 
insbesondere  der  betreffenden  Vorstände  der  Privatwirtkschaften 
führt  ohne  Zweifel  einen  grossen  Theil  der  oben  (§.  310)  schon 
zugestandenen  Vortheile  des  Concurrenzsystems  auch  für  das 
Ganze,  für  die  Volkswirtschaft,  mit  sich.  Aber  einmal  entsteht 
gerade  dadurch  so  leicht  die  dort  bereits  erwähnte  Gefahr  des 
factischen  Monopols  und  sodann  erfolgt  dieser  Sieg  vielfach  um 
den  Preis  grosser  materieller,  socialer  und  moralischer  Schädigung 
der  Masse  der  Bevölkerung.  Weiter  aber  fragt  sich  eben:  sollen 
denn  überhaupt  die  „Begabteren“  in  der  Volkswirtschaft  siegen? 
Wer  sind  die  für  diesen  Sieg  im  Concurrenzkampf  Begabteren ; sind 
es  wirklich  diejenigen  Classen,  Personenkreise,  Individuen,  Familien, 
deren  Sieg  im  Interesse  der  Volksgemeinschaft  als  sittliche  und 
Culturgemeinscbaft  liegt,  auch  wenn  das  Volk  selbst  in  seinem  zeit- 
lichen Verlauf  weit  über  die  Dauer  der  einzelnen  Generation 
hinaus  betrachtet  wird?  Endlich,  mit  welchen  Mitteln  wird  der 
Sieg  dieser  für  den  wirtschaftlichen  Concurrenzkampf  Begabteren 
erfochten?  Eine  unbefangene  Beantwortung  dieser  im  engen  Zu- 
sammenhang unter  sich  und  mit  dem  zweiten  Puncte,  dem  Siege 
der  gewissenloseren  Elemente  (§.  320),  stehenden  Fragen  ergiebt 
wesentliche  Bedenken  hinsichtlich  eines  solchen  Sieges  der  „Be- 
gabteren“. 

Man  hat  mit  Hinweis  auf  das  Darwinsche  Gesetz  des  „Kampfs 
uru’s  Dasein“  diesen  Sieg  der  Begabteren  für  eine  unvermeidliche 
Nothwendigkeit,  aber  zugleich  auch  für  einen  Vortheil  des  Ganzen 
angesehen , wenigstens  wenn  die  Krscheinung  im  grossen  welt- 
geschichtlichen Zusammenhang  betrachtet  wird,  aber  mit  Unrecht. 


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Sieg  der  begabteren  Elemente. 


815 


Denn,  abgesehen  selbst  von  dem  so  stark  bei  der  Entscheidung  dieses  Kampfes 
mitspielenden  sittlichen  Factor  der  Gewissenhaftigkeit  (§.  320),  leidet  diese  Auffassung 
wieder  an  dem  schon  mehrfach  gerügten  Fehler,  dass  die  wirtschaftlichen  Hand- 
lungen und  Erscheinungen  als  reine  Thatsachen  der  Natur  gelten.  Dies  ist  aber 
schon  hinsichtlich  der  körperlichen  Begabung  der  Menschen  (verschuldete,  ererbte 
Krankheiten !),  vollends  hinsichtlich  der  geistigen,  sittlichen  Eigenschaften,  der  Kennt- 
nisse, des  Gharacters,  des  privaten  Vermögensbesitzes  (Erbrecht!)  falsch. 

In  Anknüpfung  an  die  Darwinsche  Lehre,  in  diesem  Puncte  eine  Verall- 
gemeinerung der  Mal thus’ sehen,  hat  Lange  (in  s.  Arbeiterfrage)  diese  letztere 
und  implicite  das  Problem  der  Verteilung  und  der  freien  Concurrenz  behandelt, 
(besonders  Kap.  1,  2,  4).  Er  vertritt  denselben  Standpunct  wie  ich  hier.  Schäffle 
legt  gewisse  Puncte  dieser  Lehre,  speciell  das  Gesetz  der  „natürlichen  Auslese“  dem 
„Bau  u.  Leben  des  Soc.  Körpers“  zu  Grunde  und  gelangt  trotzdem  zu  einer  gleichen 
kritischen  Beurteilung  der  freien  Concurrenz  (s.  bes.  III.  39S  ff.).  Die  naturwissen- 
schaftlichen Darwinianer  (Hackel  gegenüber  Virchow,  Oscar  Schmid)  ver- 
wahren ihre  Lehre  sehr  dagegen,  dass  sie  sich  zur  Stützung  des  von  ihnen  freilich 
wenig  genug  gekannten  Socialismus  brauchen  lasse,  und  H.  v.  Treitschke  nimmt 
davon  a.  a.  0.  sofort  gern  Act.  Lange  und  Schäffle  und  die  Socialisten  werden  aber 
durch  diese  Einwürfe,  was  wenigstens  die  Kritik  der  freien  Concurrenz  be- 
trifft, nicht  widerlegt.  In  der  Menschenwelt  unserer  Culturperiode  wird  der  „Kampf 
urn’s  Dasein“  eben  nicht  nach  dem  rohen  und  schonungslosen  Conen rrenzprincip 
geführt  werden  dürfen. 

Allerdings  sind  die  Menschen  schon  von  Natur  nicht  gleich, 
persönliche  oder  individuelle  Ungleichheit  ist  wie  bei  allen  Orga- 
nismen einer  Gattung  oder  Art,  so  vollends  bei  der  „höchsten 
Form  des  Stoffs“  (Carey),  beim  Menschen,  das  Naturgesetz.  Daraus 
liesse  sich  überall  sonst,  aber  gerade  nicht  beim  Menschen,  der 
nothwendige  und  erwünschte  Sieg  der  schon  von  Natur  bevor- 
zugten Individuen  ableiten. 

(S.  Lange  a.  a.  0.  Kap.  2,  S.  54  ff.)  Bei  den  Menschen  ist  eine  Ausgleichung 
dieser  natürlichen  Ungleichheit  durch  Erziehung  und  Cultur  und  durch  den  Schutz, 
welchen  die  Gesaminthcit  auch  den  schwächeren  Elementen  gewähren  kann  und  jeden- 
falls nach  dem  Volksbewusstsein  unserer  Culturperiode,  mit  einem  Product  christ- 
licher Anschauung,  gewähren  soll,  wenigstens  theihveise  möglich.  Die  natürliche  Un- 
gleichheit der  Individuen  führt  vielmehr  grade  zu  der  Forderung,  dass  nicht  alle 
Elemente  in  der  gleichen  Weise  rücksichtslos  dem  Concurrcnzkampfe  ausgesetzt  und 
somit  die  schwächeren  in  demselben  geopfert  werden.  Eine  weitere  Beschränkung 
der  freien  Concurrenz  ist  gerade  hieraus  abzuleiten  und  in  der  Praxis  neuerdings 
immer  mehr  wieder  durchgeführt  worden  (Arbeiterschutz,  Einrichtungen  der  Kinder-, 
der  Altersfürsorge  u.  dgl.  in.).  Die  natürliche  Ungleichheit  der  Individuen,  selbst  in 
körperlicher  Hinsicht,  wird  aber  durch  das  System  der  freien  Concurrenz  sogar  auf 
Generationen  hinaus  gesteigert  (englische  Erfahrungen  mit  Fabrikkindern),  erscheint 
also  insofern  selbst  wieder  als  nichts  „rein  Natürliches“,  sondern  mit  als  ein  Product 
der  wirthschaftlichen  und  socialen  Verhältnisse,  insbesondere  auch  der  Bechtsbildung 
und  Gesetzgebung  über  diese  letzteren.  (Lange  eb. ; Marx,  Kapitel  I,  198  ff.  Die 
sogen.  Fabrikgesetzgebung  zum  Schutz  der  Kinderarbeit  knüpfte  z.  Th.  direct  an  die 
ungünstigen  Wahrnehmungen  hinsichtlich  der  körperlichen  Beschaffenheit  der  jungen 
Fabrikarbeiter  an,  so  in  Preusscn.  Treitschke  in  s.  Aufs.  Uber  den  Socialismus 
hat  die  Möglichkeit,  gerade  unter  den  Menschen  den  Darwinschen  Kampf  ums  Da- 
sein wesentlich  zu  beeinflussen,  übersehen  a.  a.  0.  S.  S7.  Vergl.  Lange,  a.  a.  0. 
bes.  S.  55  fU). 

Zur  natürlichen  Ungleichheit  tritt  ferner  alsdann  die  durchaus 
in  erster  Linie  auf  veränderlichen  menschlichen  Institutionen  be- 
ruhende Ungleichheit  der  Kenntnisse  und  Bildung,  des  Gharacters 

52* 


816  5.  B.  Organis.  d.  Volksw.sch.  2.  K.  Priv.w.sch.  Syst  2.  A.  Modernes.  §.  31$. 


und  des  Vermögensbesitzes  hinzu,  wodurch  die  angeborene  körper- 
liche, geistige  und  sittliche  Ungleichheit  der  Individuen  noch  ge- 
tseigert  oder  vermindert  wird. 

Die  Möglichkeit,  Kenntnisse  und  Bildung,  und  damit  wieder  vielfach  grössere 
oder  geringere  Erwerbsfähigkeit,  ferner,  abgesehen  davon,  die  Möglichkeit.  Vermögen 
zu  erlangen,  wird  durch  die  allgemeinen  wirtschaftlichen  und  socialen  Verhältnisse 
auch  für  den  Einzelnen  maassgebend  mit  bedingt:  insbesondere  auch  durch  das  Maass 
und  die  Art  des  directen  Eingreifens  des  Staats  (Unterrichtswesen!  Besteuerung!). 

Wenn  H.  v.  Treitsch  ke  die  notwendige  Class  cn ord  n u n g der  Gesellschaft 
so  besonders  stark  gegon  Sch  mol ler  betont,  so  mag  man  mit  ihm  Uber  die  Not- 
wendigkeit, ja  Naturgemässheit  einer  solchen  Classenordnung  an  und  filr  sich  ganz 
einverstanden  sein  (§.  284).  Aber  daraus  folgt  nicht  im  Mindesten,  dass  eine  be- 
stimmte, gerade  bestehende  Classenordnung  nicht  durch  menschliches  absicht- 
liches Eingreifen  in  hohem  Maasse  verändert  und  verbessert  werden  kann,  — gerade 
in  der  von  den  neueren  deutschen  Nationalökonomen  angestrebten  Richtung.  Das  er- 
weist sich  in  unserem  Zeitalter  auch  durch  den  Stand  der  Productionstechnik 
in  höherem  Maasse  möglich  als  jemals  früher  (§.  283).  (S.  auch  Lange,  Kap.  3 
über  das  Glück.) 

Der  sehr  beliebte  Einwand  in  den  gebildeten  Gesellschaftskreisen,  z.  B.  bei  den 
„Kopfarbeitern1*  der  liberalen  Professionen,  gegen  die  „Ungerechtigkeit'*  höherer  Lohn- 
forderungen der  gewöhnlichen  Handarbeit  ist  deshalb  so  wenig  zutreffend,  weil  er  die 
höhere  geistige  Bildung  u.  s.  w.  wiederum  viel  zu  sehr  als  individuelles  Verdienst 
betrachtet.  Sie  ist  aber  viel  mehr,  wenn  auch  mit  einzelnen  günstigen  Ausnahmen, 
eine  noth wendige  Folge  der  Vertheilung  des  Pritvatvermögeus  und  Einkommens. 
Jener  Einwand  läuft  also  auf  einen  Cirkelschluss  hinaus. 

U.  A.  würden  Progressi vbesteucrung  des  Einkommens,  Erbschaftssteuern, 
Besteuerung  der  Conjuncturengewinne,  besonders  am  Grundeigenthum,  und  überhaupt 
sociales  neben  dem  bloss  fiscali sehen  Steuerprincip  Einkommen-  und  Ver- 
mögensverschiebungen gegenüber  der  Gestaltung  der  Einkommen-  und  Veriuögensver- 
theilung  bei  der  bestehenden  Besteuerung  bewirken  können,  welche  auch  auf  die 
ökonomische  Möglichkeit  der  Bildungscrlangung  zurückwirken  würden.  — Selbst  so 
conservative  und  gemässigte  Iiechtsphilosophen , wie  z.  B.  A.  Trend  eien  bürg  in 
s.  „Naturrecht  auf  dem  Grunde  der  Ethik“,  2.  Autl. , Leipzig  1868,  gestehen  hier 
dem  Staate  und  der  Besteuerung  gewichtige  Aufgaben  zu,  vgl.  z.  B.  §.  158  (S.  359) 
und  §.  160. 

Soweit  aber  der  „Kampf  um’s  Dasein“  und  der  „Kampf  um 
die  bevorzugte  Stellung  und  um  deren  Erhaltung“  und  soweit  die 
„natürliche  Auslese“  auch  in  der  Menschenwelt  und  speciell  im 
wirtschaftlichen  Verkehr  zur  Geltung  gelangen,  wird  doch  nach 
der  vernünftig-geistigen  Natur  des  Menschen  ein  ungemeiner 
Unterschied  unter  allen  Umständen  anzuerkennen  sein,  auch  beim 
Vergleich  selbst  mit  den  höchst  organisirten  Thieren. 

Die  Menschen  empfinden  als  vernünftige,  der  Erinnerung  und  der  Beachtung 
der  Erfahrung  fähige  Wesen  die  Pein  dieser  Kämpfe.  Durch  Ausbildung  der  Geistes- 
kräfte, auch  der  ökonomisch  und  social  tiefstehenden  Classen  und  Individuen,  thun 
die  Culturvölker  Alles,  um  das  Bewusstsein  des  Menschenthums  in  jedem  Individuum 
zu  wecken.  Dadurch  wird  aber  Jeder  auch  empfindlicher  gegen  die  Pein  jener 
Kampfe  und  unvermeidlich  wird  sein  Verlangen  nach  ökonomischer  und  socialer  Hebung 
lebhafter.  Es  wäre  die  grösste  Grausamkeit,  dies  Bewusstsein  methodisch  zu  wecken 
(Schulwesen!)  und  dann  den  Massen  dennoch  zuzurufen:  „Lasset  jede  Hoffnung 
fahren,  „„naturgesetzlich““  können  nur  Einzelne  von  Euch  wirtschaftlich  empor 
kornmeu,“  — eine  Behauptung,  die  ohnedem  im  Zeitalter  hochentwickelter  Productions- 
technik stets  nur  in  viel  beschränkterem  Maasse  aufgestellt  werden  kann,  als  etwa 


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Sieg  der  begabteren  Elemente. 


817 


ehedem.  Auch  nach  dieser  Seite  betrachtet,  ist  mit  dem  „Siege  der  Begabteren“  die 
Krage  der  freien  Concurrcnz  nicht  endgiltig  entschieden. 

Die  hier  berührte  Seite  der  Frage  des  allgemeinen  Volksunterrichts  ist  bisher 
selten  in  ihrem  Zusammenhänge  mit  der  „socialen  Frage“  behandelt  worden.  Wir 
dürfen  nicht  vergessen . dass  auch  in  dieser  Hinsicht  unsere  Zeit  völlig  verschieden 
von  jeder  früheren  lieschichtsperiode  ist:  Elementarbildung  der  Massen,  bis  zum 
letzten  Proletarier,  die  Duclidruckerkunst  erst  so  für  das  ganze  Volk  wirksam  gemacht. 
Und  daun  wundert  man  sich,  dass  die  Massen  nicht  bei  Fibel  und  Katechismus  stehen 
bleiben,  — worüber  allein  sich  zu  verwundern  wäre!  Die  allgemeine  Schulpflicht  er- 
weist sich  hier  eben  als  ein  gewagtes  Experiment! 

§.  319.  Die  für  erfolgreichen  wirtschaftlichen  Concurrenz- 
kampf  begabteren  Elemente  der  Bevölkerung  sind  diejenigen, 
welche  Anlage,  Neigung,  Schulung  besitzen , ihre  wirtschaftlichen 
Handlungen  den  Bedingungen  dieses  Kampfes  möglichst  anzupassen. 

Namentlich  auf  denjenigen  Gebieten  des  Erwerbslebens,  wo  eine  solche  An- 
passung zum  Erfolg  am  Nothwendigsten  ist,  im  Handel,  zumal  Grosshandel,  llausir- 
handel,  Trödelhandel,  gewissen  Zweigen  des  Detailhandels,  im  Speculationsgeschäft 
der  Effecten-  und  Productenbörse,  in  der  kaufmännischen  Seite  der  industriellen  und 
landwirtschaftlichen  Unternehmungen , siegen  dann  allerdings  diejenigen  Elemente, 
welche  es  in  dieser  Anpassung  am  Weitesten  bringen.  Sie  schaffen  dann  aber  auch 
jene  wirtschaftliche  Atmosphäre,  die  von  diesen  engeren  Kreisen  aus  auf  das  ganze 
Wirtschaftsleben  schädigend  einwirkt,  die  sittlich  und  ästhetisch  hässlicheren  Formen 
und  Arten  der  egoistischen  Motive  Uber  die  besseren,  die  Erwerbsgier  über  alle 
anderen  Rücksichten  überwuchern  lässt  (§.  36  ff..  47  II'.).  Damit  berühren  wir  schon 
den  folgenden  Punct,  den  Sieg  der  gewissenloseren  Elemente.  Die  Anschauungen, 
die  Lebensweise  in  diesen  Classen  werden  dann,  um  nicht  zu  sagen  durch  Vererbung, 
so  doch  durch  Lehre  und  Beispiel  auf  die  Familienangehörigen,  die  Kinder,  die  neue 
Generation  übertragen. 

Sind  diese  so  an  die  Spitze,  wenigstens  auf  die  Höben  der 
modernen  Erwerbsgesellschaft  gelangenden  Elemente  wirklich  die 
„Begabteren“,  deren  Sieg  im  Interesse  der  Volksgemeinschaft  als 
sittliche  und  Culturgemeinsckaft  liegt?!  Der  Stoff,  aus  welchem 
eine  gute  neue  Aristokratie  gezimmert  werden  kann  ? Oder  welcher 
die  geeigneten  politischen,  wissenschaftlichen,  künstlerischen,  volks- 
wirtschaftlichen Führer  und  Kräfte  der  Nation  liefern  wird? 
Auch  wenn  ein  so  emporkommender  Volkstheil  alsdann  alle  for- 
malen Bildungselemente  der  Zeit  sich  aneignet,  seinen  Kindern 
mit  den  im  erfolgreichen  Concurrenzkampf  ergatterten  grossen 
Theilen  des  Volkseinkommens  den  besten  intellectucllen  Unter- 
richt verschafft  und  diese  so  neue  Staffeln  in  der  Sphäre  der 
höheren  Berufs-  und  Erwerbsarten  nur  um  so  leichter  ersteigen 
lässt?  Die  Antwort  kann  wohl  nicht  zweifelhaft  sein. 

Nicht  allein,  aber  überwiegend  ist  eine  derartige  Entwicklung  des  J udent  bums 
seit  seiner  Einancipation  ein  Beleg  für  die  Folgen  dieses  Siegs  der  in  diesem  Sinne  „begab- 
teren“ Elemente,  denn  eben  grade  das  Judenthum  ist  nach  seinen  guten  und  glänzenden, 
wie  nach  seinen  üblen  und  hässlichen  Seiten,  der  Naturanlage,  des  Characters.  Tempera- 
ments, der  Neigung,  — wenn  man  will:  auch  uralter  Tradition,  welche  mit  der  Geschichte  des 
Judenthums  zusammenhängt,  wenn  nur  eben  nicht  diese  Geschichte  auch  ein  Ergebniss  der 


818  5.  B.  Organis.  d.  Volks w. sch.  2.  K.  Priv.w.sch.  Syst.  2.  A.  Modernes.  §.  307. 

nationalen  Eigenschaften  von  Israel  wäre  — das  Judcntham  ist  für  die  Bedingungen 
des  Erfolgs  in  jenem  wirtschaftlichen  Concurrenzkampf  besonders  ausgestattet;  die 
Rechtsordnung  des  modernen  privatwirthschaftlichen  Concurrenzsystems  ist  ihm  wie 
auf  den  Leib  (oder  vielmehr:  auf  den  Geist  und  Character)  zugeschnitten.  Und  wenn 
dann  auch  die  errungene  Erwerbsstellung,  Einkommen-  und  Vermögenshöhe  mit  dazu 
dient,  neben  einem  Übertriebenen,  geschmackloscu  und  aufreizenden  Luxus,  Mittel  zur 
Erhöhung  der  inteliectuellen  Bildung  zu  bieten;  wenn  es  seihst  in  Preusscn  (von 
Oesterreich-Ungarn  gar  nicht  zu  reden)  schon  Mitte  der  80er  Jahre  dahin  gekommen 
war.  dass  es  9601  jüdische  neben  bloss  63,405  evangelischen  und  sogar  nur  15.971 
katholischen  Gymnasiasten  gab,  während  die  Bevölkerung  des  Staats  (in  1890) 
nur  372,000  Juden  auf  19.23  Mill.  evangelische  und  10.25  Mill.  katholische  Christen 
(97,000  sonstige)  zählte  — die  Quoten  der  Gymnasiasten  bezw.  10.8,  71.2  und  18.8, 
der  Bevölkerung  1.33,64.9  und  33.7  % waren  (s.  Statistische  Correspondenz  des  Preuss. 
Statist.  Bureaus,  Näheres  Jahrb.  Jahrg.  V,  S 609,  auch  Stat.  Handb.  I.  S.  439)  — 
wenn  mehr  und  mehr  auch  die  liberalen  Berufe,  zumal  die  dem  wirthschaftlicheu  Erwerbs- 
leben nächststehenden (Advocatur,  ärztlicherStand. Journalistik)von Juden  überfüllt  werden 
— die  getauften  immer  noch  gar  nicht  mitgezählt:  dann  giebt  eine  solche  Entwicklung  der 
Dinge  (zumal  in  dem  Zeitraum  von  zwei  Mcnschenaltern  1)  doch  zu  denken.  Aber  sic  dient 
doch  auch  zum  Beleg  dafür,  dass  der  Zweifel,  ob  der  Sieg  der  für  den  wirthschaftlicheu 
Concurrenzkampf  „begabteren“  Elemente  im  Interesse  der  Volksgemeinschaftals  sittlicher 
und  Culturgemeinschaft  liegt,  seine  Berechtigung  hat.  Gerechter  Weise  wird  freilich  hinzu- 
zufügen sein,  dass  die  „echt  germanischen“  Elemente,  welche  das  maasslose  Concurrenz- 
system  in  No  rdam  e ri  ca  an  die  Spitze  und  auf  die  Höhen  der  Erwerbsgesellschaft  führt, 
auch  nicht  eben  einen  viel  erfreulicheren  Sieg  der  „Begabten“  darstellen  und  dass  die 
Erfahrungen  anderer  moderner  Länder  (England,  Frankreich)  hinsichtlich  der  Elemente, 
welche  aus  der  eigenen  Nation  vielfach  so  emporsteigen,  zu  demselben  Unheil  führen. 

Gewiss  gelangen  non  auch  gerade  im  Coneurrenzsystem  und 
durch  dasselbe  im  guten  Sinne  des  Worts  „begabte“  Elemente 
empor,  tüchtige,  fleissige,  zur  Förderung  der  Technik  und  Oeko- 
nomik  veranlagte,  Talente  und  Genies  der  wirtschaftlichen  Praxis, 
wahre  Pioniere  des  technischen  und  wirthschaftlicheu  Fortschritts, 
grossartigen  und  segensreichen  Unternehmungsgeistes  — und  ohne 
Zweifel  deren  auch  sogar  besonders  viele  semitischer,  nicht 
bloss  „arischer“  Race,  wie  man  billig  zugestehen  muss  — ; solche 
welche  verdienen,  höhere,  auch  führende  Stellungen  im  Volks- 
leben einzunehmen  und  deren  „Sieg“  im  wahren  Interesse  der 
Volksgemeinschaft  liegt.  Gewiss  würden  manche,  selbst  viele  solche 
Elemente  bei  einer  die  freie  wirthschaftliche  Bewegung,  die  Aus- 
nutzung der  Conjuncturen , den  Speculationserwerb  mehr  be- 
schränkenden wirtschaftlichen  Rechtsordnung  gehemmt,  in  der 
Ausbildung  und  Verwertung  ihrer  Kräfte  gehindert  werden,  zn 
ihrem,  aber  auch  zum  Nachtheil  des  Ganzen. 

Sicherlich  bietet  grade  in  dieser  Hinsicht  die  gemeinwirthschaftliche  Organisation, 
die  „staatssocialistische“,  vollends  die  rein  socialistische  Bedenken  und  Gefahren,  welche 
in  der  ganzen  Organisationsfrage  ins  Gewicht  bei  der  Entscheidung  fallen.  Einige 
davon  sind  eine  alte  Erfahrung  des  „Staatsbetriebs“  von  Wirthschaftsunternehmungen, 
einige  haben  sich  auch  bereits  bei  den  netteren  „Verstaatlichungen“  (Eisenbahnen) 
etwas  zu  zeigen  begonnen.  Aber  das  Alles  beweist  doch  nur,  dass  jede  Organisation 
ihre  Gebrechen  und  Schwächen  hat,  weil  Alle  — mit  Menschen  arbeiten  müssen.  Es 
beweist  für  uns  auch  überzeugend,  dass  das  andere  Extrem  des  privatwirthschaftlichen 
Concurrenzsystems,  die  rein  socialistische  Wirthschaftsorganisation,  wie  aus  zahlreichen 


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Sieg  der  gewissenloseren  Elemente. 


819 


sonstigen,  wie  wir  sahen  vor  Allem  psychologischen,  mit  der  Motivation  zusammen- 
hängenden (Buch  1,  Kap.  1),  so  auch  aus  Gründen  der  hier  angedeuteteu  Art  ver- 
hängnisvoll wäre:  wegen  der  zu  grossen  Hemmung  von  Elementen,  welche  die  Initiative 
im  Wirtschaftsleben,  in  der  Technik  vertreten  und  welchen  deshalb  eine  führende 
Stellung  ausserhalb  einer  immer  leicht  verknöchernden  Bureaukratie  gebührt.  Und 
ohne  solche  Bureaukratie  für  die  Leitung,  Einrichtung,  Beaufsichtigung  des  ganzen 
Productionsbetriebs  käme  der  Socialismus  nicht  aus. 

Aber  im  privatwirthschaftlichen  Concurrenzsystem  wird  das 
Emporkommen  unlauterer  Elemente  zu  sehr  begünstigt,  fast 
durch  die  Bedingungen,  unter  welchen  der  wirtschaftliche  Erfolg 
erzielt  wird,  zur  Notwendigkeit  gemacht.  Das  ist  kein  „Sieg 
der  Begabten“,  auf  welchen  man  sich  zur  Rechtfertigung  jenes 
Systems  berufen  kann.  Durch  die  folgende  Erwägung  wird  dieser 
Schluss  bestätigt. 

§.  320  [136].  — 2.  Sieg  der  gewissenloseren  Ele- 
mente. In  der  freien  Concurrenz  siegen  so  nicht  allein  die 
tüchtigeren,  sondern  oft  genug  nur  die  gewissenloseren  Ele- 
mente, welche  die  ihnen  günstigen  ökonomischen  Verhältnisse  rück- 
sichtsloser ausbeuten  (Ausartung  des  Selbstinteresses  zum 
Eigennutz).  Ihnen  kommt  das  System  der  freien  Concurrenz 
dadurch  zu  Gute,  dass  es  das  Gebiet  des  älteren  Wirthsehafts- 
rechts,  welches  Ausbeutungen  von  Noth,  Leichtsinn,  Unerfahren- 
heit beschränkte,  einengt  und  viele  Entscheidungen  dem  Belieben 
des  Einzelnen,  dem  „Willen  der  Parteien“  überlässt,  z.  B.  im  Be- 
treff des  Inhalts  der  Verträge. 

Daraus  ergeben  sich  zwei  grosse  Gefahren:  einmal  werden 
die  von  vornherein  gewissenloseren  Elemente  noch  gewissen- 
loser, unsittlicher,  denn  der  wirtschaftliche  Erfolg  lockt  sie 
und  nur  zu  leicht  wird  das  Strafgesetzbuch  ihr  alleiniger  Moralcodex. 

Meine  Rede  Uber  die  sociale  Frage,  S.  6.  „Man  erwirbt  heutzutage  die 
Millionen  nicht,  ohne  mit  dem  Aermel  ans  Zuchthaus  zu  streifen“,  wie  jener  Wiener 
Börsenmann  sagte,  s.  Schmoller,  soc.  Frage,  in  den  Preuss.  Jahrb.  1S74.  Diese 
Aeusserung  ist  Schmoller  höchlich  verübelt,  auch  als  von  ihm  selbst  herrührend 
bezeichnet  worden,  während  er  sic  nur  jenem  Börsianer  entnommen  hat.  Findet  sie 
nicht  eine  volle  Bestätigung  in  folgendem  Satze  der  National zeitung?  Ein  Satz, 
von  dem  die  Zeitung  zwar  „hofft,  dass  diese  Praxis  nicht  viel  Anhänger  hat“,  selbst 
aber  durch  die  Zeilen  lesen  lassen  muss,  wie  trügerisch  diese  Hoffnung  ist:  „Wer 
überhaupt  an  der  Börse  speculirt,  muss  immer  mit  gegebenen  Verhältnissen  und 
besonders  damit  rechnen,  dass  an  derselben  jedes  Mittel,  dessen  Anwendung 
nicht  offen  mit  dem  Strafgesetzbuch  in  Conflict  bringt,  erlaubt  ist“.  (Wochcn- 
börsenber.  d.  Nationalztg.  v.  5.  Juni  1875;  das  Durchschossene  auch  im  Originaltext 
so.)  Und  wie  viel  Belege  kann  man  seitdem  hinzufügen! 

Aber  auch  die  besseren  Elemente  werden  ferner  theils  durch 
den  Erfolg  der  Anderen  in  Versuchung  geführt,  theils  unmittelbar 
durch  die  Concurrenz  gezwungen,  ähnlich  gewissenlos  zu  verfahren. 


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820  3.  B.  Organis.  d.  Volksw.sch.  2.  K.  Priv.w.sch.  Syst.  2.  A.  Modernes.  §.  321. 


Die  Lage  ist  im  allgemeinen  Verkehr  oft  ähnlich  wie  in  dem  speciellen  Falle 
des  Schmuggels:  auch  der  reelle  Kaufmann  wird  durch  die  Schmuggelconcurrenz 
gezwungen,  ebenso  zu  handeln,  oder  er  muss  das  Geschäft  aufgeben,  wo  dann  die 
Schmuggler  vollends  freies  Spiel  haben.  — In  England  gingen  Anregungen  zn 
gesetzlichem  Einschreiten  des  Staats  in  Fabriksachen  öfters  von  humanen  Fabri- 
kanten aus,  welche  durch  die  Concurrenz  an  der  freiwilligen  Einführung  von  Re- 
formen gehindert  worden  waren.  Mehrfache  Beispiele  v.  Plener,  engl.  Fabrikgesetz- 
gebung, Wien  1871. 

So  verschlechtert  sich  fast  unvermeidlich  der 
ganze  Maassstab  der  geschäftlichen  Moralität. 

Davon  liegen  z.  B.  in  Verfälschungen  der  Qualität  der  Waaren,  in  unrichtigem 
Maass  und  Gewicht  derselben,  in  Unredlichkeiten  in  den  Creditverhältnissen . in 
schleuderliaftem  „Ausverkauf4,  in  widerwärtigstem  Reclamewesen , im  Börsentreiben, 
im  „Grundungs-  und  Emissionsgeschäft“,  in  der  Verquickung  der  öffentlichen  Presse 
mit  der  Börse,  in  der  Ausdehnung  der  Corruption  auf  Parlamente,  da  und  dort  selbst 
auf  das  öllentliche  Beamtenthum  u.  s.  w.  leider  nur  zu  viele  und  zn  deutliche  Belege 
heutzutage  vor. 

Nur  ein  paar  characteristische  Einzelheiten,  grade  aus  Gebieten,  welche  weniger, 
als  z.  B.  das  grosse  Börsentreiben  u.  dgl.,  die  Aufmerksamkeit  auf  sich  ziehen,  üeber 
vieles  Derartige  wird  z.  B.  in  den  deutschen  Handelskammerberichten  seit 
Jahren  geklagt,  das  grosse  Debel  zugestanden,  die  vollständige  Rathlosigkeit  aber 
ebenso,  da  „natürlich“  nicht  von  einer  Rückkehr  zu  den  „veralteten  Beschränkungen“ 
die  Rede  sein  könne.  Aber  „die  eigene  bessere  wirtschaftliche  Einsicht“,  die  „Selbst- 
hilfe“ reicht  eben  nicht  immer  aus.  Vgl.  die  preussischen  Ilandelskammerberichte 
für  ISO!)  (Berl.  1870).  z.  B.  Magdeburg,  S.  138,  wo  über  die  Schwindeleien  im 
Geschäft  mit  baumwollenem  Strickgarn  gesprochen  wird  und  es  heisst:  „von  Seite 
der  Regierung  diesem  üebelstande  entgegenzutreten,  halten  wir  für  unausführbar, 
da  ein  Zwang  in  Handclsangelegenheitcu  wohl  kaum  noch  dem  Zeit- 
geiste entspricht“  u.  s.  w.  — Eb.  S.  555  Iler,  von  Wesel:  Klage  über  die 
„Unsitte“,  dass  man  bei  Waaren,  welche  in  Packet-  oder  anderen  Formen  verkauft 
werden,  die  das  Gewicht  eines  Pfunds  darstellen,  im  Kleinhandel  gewöhnlich  ein 
geringeres  Gewicht  erhält;  Ausführung  am  Beispiel  der  Stearinlichte  mit  „Pfunden“ 
von  28,  2ti,  24  Loth  und  anderen  Betrügereien.  „Es  ist  dies,  sagt  der  Bericht,  ein 
Uebelstand,  den  die  Ge  sch  äfts  w u t h der  Concurrenz  herbeigeführt  hat,  um  dem 
Gegner  durch  billigere  Preise  die  Kundschaft  zu  entziehen  und  dennoch  gut  ver- 
dienen zu  können“.  Wunsch  nach  einem  abhelfenden  Gesetze.  — Eb.  S.  9t;S  Ber. 
von  Hildesheim,  mit  Anführung  von  Klagen  über  das  Uebcrhandnehmen  des  Hausir- 
handels  und  die  Veranstaltung  von  Auctionen  von  Kaufmannswaaren.  Aehnliche  Be- 
richte von  Lüneburg  S.  5(17:  „mehr  oder  weniger  schwindelhafte  freiwillige 
Auctionen“.  In  den  letzten  Jahren,  besonders  seit  der  Weltkrise  von  1873  ff.,  sind 
die  Klagen  immer  allgemeiner  geworden,  nur  oft  tendenziös  übertrieben  oder  einseitig 
gewissen  Ländern  Vorwürfe  gemacht  (z.  II.  von  Rculeux  in  seinem  bekannten  Wort: 
„Schlecht  und  billig“  für  die  deutsche  Industrie),  während  wesentlich  Gleiches 
von  der  übrigen  Welt  gilt  (englischen  Baumwoll waaren,  die  ordinären  Sorten  wegen 
der  schlechten  Qualität  vom  indischen  Markte  verdrängt,  selbst  französische  Seideu- 
waaren).  Vgl.  die  Citatc  aus  englischen  Zeitungen  bei  Jagor  a.  a.  0„  die  Verhand- 
lungen über  Verfälschung  der  Lebensmittel  im  Anschluss  an  den  bezüglichen  Gesetz- 
entwurf im  Deutschen  Reichstage  1877 — 7S.  Kein  Mensch  lüugnet  die  Uebel  mehr, 
aber  auf  die  Ursachen,  die  liberale  individualistische  Wirthschaftsordnung. 
wagen  die  Wenigsten  hinzuweisen.  Man  begnügt  sich  mit  dem  Kuriren  an  den 
Symptomen  des  Ucbels.  Ist  doch  das  „socialistische“  Tabakmonopol  bei  uns  nicht 
selten  deshalb  mit  empfohlen,  um  gute  unverfälschte  Waare  zn  erhalten:  also 
das  verpönte  Recept  der  „planmässigen  Regelung  der  Production“  ausserhalb  des 
Concurrcnzsystems ! 

§.  321  [137].  — 3.  Der  Sieg  des  Grossbet riehs  über 
den  Kleinbetrieb. 


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Sieg  des  Grossbetriebs. 


821 


Vgl.  hierzu  Scbmoller’s  deutsche  Kleingewerbe,  Halle  1869,  und  überhaupt 
die  neuere  Litteratur  über  Ge  w erbe  wesen,  so  G.  Schön  bergs  Abh.  in  seinem 
Handbuch  B.  II,  zugleich  für  Speciallitteratur;  das  Buch  von  Losch,  nationale  Pro- 
duction, von  v.  S chulze-Gäve  rnitz,  Grossbetrieb  ein  wirtschaftlicher  und  socialer 
Fortschritt,  Leipz.  1892.  Aus  der  Statistik  die  Daten  den  Gewerbezählungen 
(deutsche  von  1875),  der  Berufsaufu ahmen  (deutsche  von  1882,  s.  o.  §.  243), 
E.  Engel,  die  industrielle  Enquöte,  Berlin  1 S7 S (zu  optimistisch),  die  agrar- 
statistischen Aufnahmen,  bes.  über  die  Grössenverhältnisse  der  landwirtschaft- 
lichen Besitzungen  und  Betriebe  (auch  in  der  deutschen  Berufszählung  tvou  1882). 
Buchenberger,  Agrarwesen  I,  Kap.  4.  Eine  nähere  statistische  Begründung  ist 
hier  nicht  zu  geben.  Es  ist  dafür  auf  die  Practische  Nationalökonomie  zu  verweisen. 
Einige  Daten  in  der  2.  Aufl.  S.  250.  Auch  die  nähere  theoretische  Begründung  der 
Grossbetriebstendenz  gehört  in  die  Theoretischen  Nationalökonomie  (Productiouslehre, 
Lehre  von  Productionskosten  und  Preis). 

Auch  die  Entwicklung  des  Grossbetriebs  steht  im  Causalnexus 
mit  dem  System  der  freien  Concurrenz,  wenn  sie  auch  stark  durch 
die  Entwicklung  der  Productionstechnik  bedingt  ist. 

Der  Socialismus,  welcher  mit  Vorliebe  diese  technisch  gebotene 
wUnschenswcrthe  Grossbetriebstendenz  iu  seinen  Beweisführungen 
braucht,  generalisirt  zu  sehr.  Die  Tendenz  tritt  in  den  verschiedenen 
Productionszweigen  nicht  gleichmässig  hervor,  sie  zeigt  sich  auch 
in  dem  für  die  Fragen  der  freien  Concurrenz  wichtigsten  Zweige, 
in  der  Industrie  (Stoffveredlung),  nicht  überall  in  gleicherweise, 
aber  allerdings  mehrfach  besonders  frappant. 

Denn  hier  kommen  die  ein  wirkenden  Factoren,  die  Ersparung  an  Generalkosten, 
die  Yortheile  der  Arbeitstheilung  und  des  Maschinenwesens,  die  rechtliche  Zulässigkeit 
und  tbatsächliche  Möglichkeit,  beliebig  viel  Arbeitskräfte  jeder  Art  herbeizuziehen, 
in  einer  Unternehmung  zu  vereinigen,  im  Lohnsystem  abzulinden,  ebenso  beliebig  viel 
Kapital  (Ciedit!)  zu  verwenden,  vornemlich  zur  Geltung.  Daher  hier  jetzt  eine  wesent- 
lich andere  Lage  als  im  ehemaligen  zünftigen  Handwerk  mit  seinem  vor- 
geschricbenen  technischen  Bildungsgang  des  Meisters,  mit  der  Beschränkung  der 
Lehrlings-  und  Gcsellcnzahl,  der  Beschränkung  auf  die  Gesellen  der  Zunft  u.  dgl.  in. 
(Vgl.  Schön  borg,  z.  wirthsch.  Bedeutung  d.  Zunftwesens  im  Mittelalter,  Berl.  1868 
(auch  in  Hildebr.  Jahrb.),  Gierke,  deutsches  Genossenschaftsrecht  I,  §.  38,  Stahl, 
deutsches  Handwerk  I (1874),  bes.  Sch  mol  ler,  Strassb.  Tücher-  und  Weberzunft, 
375  IT.,  453.)  Dazu  die  Zinstaxen,  öfters  Lohn-  und  Preistaxen:  Alles  eine  grund- 
verschiedene Lage  im  Vergleich  zu  heute  bewirkend.  Die  günstigen  technischen  und 
ökonomischen  Folgen  der  freien  Concurrenz  für  die  Production  zeigen  sich  deshalb 
auch  in  Hauptzweigen  der  Industrie  am  Meisten,  freilich  auch  die  erwähnten  Ge- 
fahren des  Compromisses  der  Concurrentcn  und  des  factischen  Monopols  Einzelner. 
Besonders  die  mit  grossen  Motoren  (Dampfmaschinen)  arbeitende  Industrie,  daher  die 
metall-,  namentlich  eisenverarbeitenden,  die  Maschinen-,  die  Textilindustrie  (Spinnerei, 
Weberei),  die  chemische  Industrie,  der  HütteDbetrieb,  neigen  stark  zum  Grossbetrieb. 
Weiter  der  Bergbau,  das  Geld-  und  Bankgeschäft.  Im  Gross-  und  Kleinhandel,  in  Gast- 
uud  Schaukwirthschaft  zeigt  sich  die  Tendenz  auch,  aber  doch  nicht  so  gleichmässig. 
Grade  die  Gewerbefreiheit,  in  Verbindung  mit  dem  neueren  Communicationswesen. 
mit  billigen  Posttarifen  (für  Circulare,  Kataloge.  Proben,  Packete)  hat  hier  freilich  die 
Grossbetriebe  im  Waarcnvertricb  unter  den  Consumentcn  (Bazars,  grosse  Laden- 
geschäfte mit  Filialen,  regelmässigem  Waarenvcrsandt)  begünstigt,  z.  Th.  erst  er- 
möglicht. (Factische  Monopolisirnngsbestrebungen  Seitens  einzelner  Unternehmer  durch 
Erwerbung  der  besten  Ladenstellen  in  Großstädten.)  Auch  die  iudirecte  Besteuerung, 
besonders  diejenige  Form,  welche  sich  an  den  Productiousbetrieb  anknüpft  und  hier 
namentlich  die  Form  der  RohstolFbesteuerung,  der  Besteuerung  nach  Betriebsmerkmalen 
(Zucker,  Bier,  Branntwein,  Fio.  II,  2.  A.,  §.  254)  hat  mannigfach  einseitig  den  Gross- 


822  ö.  B.  örganis.  d.  Volksw.sch.  2.  K.  Priv.w.scb.  Syst.  2 A.  Modernes.  §.  321. 


betrieb  gefördert,  weshalb  hier  die  Statistik  (z.  B.  der  durchschnittlichen  Vergrösserung 
der  betreffenden  Fabriken)  für  die  allgemeine  Frage  nicht  ohne  Weiteres  beweisend 
ist.  Viel  weniger  allgemein  lässt  sich  von  einer  Grossbetriebstendeuz  rein  aus  öko- 
nomisch-technischen Gründen  in  der  Landwirtschaft,  mehr  dagegen  wieder  iu  der 
Forstwirtschaft  sprechen,  weshalb  letztere  auch  deswegen  sich  für  öffentliche  Körper, 
wie  den  Staat,  besonders  mit  eignet  (Fin.  I,  3.  A.,  §.  236  ff). 

Der  Socialismus,  die  Socialdeinokratie  (auch  in  ihren  Programmen)  verallgemeinert 
die  Grossbetriehstendenz  auf  allen  Productionsgebieten  übermässig  und  tendenziös  („die 
ökonomische  Entwicklung  der  bürgerlichen  Gesellschaft  führt  mit  Naturnotwendigkeit 
zum  Untergang  des  Kleinbetriebs“,  erster  Satz  des  neuen  Erfurter  Parteiprogramms 
der  deutschen  socialdemokratischen  Partei,  1891).  Hier  wird  der  Einfluss  des  rein 
ökonomisch-technischen  Moments  auf  die  Entwicklung  zum  Grossbetrieb  überschätzt,  auch 
da  angenommen,  wo  er  nicht  oder  weniger  sich  geltend  macht,  werden  die  mancherlei 
anderen  Momente,  welche  mitspielen,  persönliche, sociale,  auch  einzelne  technische,  locale, 
und  dem  Mittel-  und  Kleinbetrieb  zu  Gute  kommen,  übersehen  oder  tendenziös  unbeachtet 
gelassen,  namentlich  bei  der  Frage  in  der  Landwirtschaft,  aberauch  in  wichtigen  in- 
dustriellen, handwerklichen,  mercantilen  Gebieten  (von  mir  in  meiner  Rede  „überdas  neue 
socialdemokratischc  Programm“  auf  dem  evang.  soc.  Congrcss  1892,  S.  32  ff.  gegen  die 
Uebertreibungen  und  zu  weiten  Verallgemeinerungen  des  Socialismus  geltend  gemacht 
und  mit  statistischen  Daten  aus  der  deutschen  landwirtschaftlichen  Betriebs-  und 
Gewerbestatistik  belegt).  Auch  von  anderer  Seite  ist  wohl  übersehen  worden,  dass 
bei  allen  für  den  Ortsbedarf  arbeitenden  Gewerben,  deren  immer  noch  viel  sind 
und  verbleiben  werden,  auch  bei  heutiger  Entwicklung  von  Technik,  Communicationswesen, 
Handel  und  bei  Gewerbefreiheit,  schon  die  Decentralisation  der  Bevölkerung,  die 
Verbreitung  über  das  ganze  Staatsgebiet  iu  zahlreiche  kleinere  und  grössere  Wohn- 
orte dem  Grossbetrieb  vielfach  eine  Grenze  zieht,  wo  er  rein  ökonomisch-technisch 
vielleicht  lohnend  wäre.  Das  beachtet  Losch  in  seinem  genannten  Buche  zu  wenig. 
Für  die  Frage  des  landwirtschaftlichen  Grossbetriebs  wird  cs  von  socialistischer  Seite 
auch  nicht  genügend  berücksichtigt. 

So  wird  gewiss  die  „Grossbetriebstendenz“  auch  gegenwärtig  und  in  Zukunft 
nicht  so  allgemein  sich  verwirklichen  können,  als  z.  B.  der  Socialismus  annimmt. 
(8.  auch  G.  Schmoller,  Preuss.  Jahrb.  1892,  I.)  Die  segensreichen  Folgen  bezüglich 
einer  Verminderung  des  notwendigen  Arbeitsmaasses.  der  Veränderung  der  Arbeits- 
ort u.  s.  w.  grade  im  Grossbetrieb  für  die  Arbeiter  selbst,  womit  der  Socialismus  und 
die  auf  dem  Boden  unseres  Wirthschaftsrcchts  stehenden  Anhänger  des  (besondere 
industriellen)  Grossbetriebs  gern  zu  Gunsten  des  letzteren  argumentiren,  werden  eben- 
falls mannigfach  übertrieben,  die  unvermeidlichen,  grade  in  der  Technik  be- 
gründeten üblen  Folgen  zu  wenig  gewürdigt.  Wie  aber  eben  ausser  der  rein 
ökonomisch-technischen  Seite  auch  das  Wirthschaftsrech t,  die  Gewerbefreiheit 
übermässigden  Grossbetrieb  begünstigt,  dadurch  die  ConcentrationderGeschäftsgewinne.dcs 
Kapitals , die  Aufsaugung  und  Verdrängung  der  kleineren  selbständigen  Unter- 
nehmungen, z.  B.  im  Ladengeschäft  des  Handels,  was  so  manche  social  bedenkliche 
Folge  hat,  das  darf  doch  auch  nicht  verkannt  werden. 

Unterschätzt,  wie  von  Optimisten  des  liberalen  Wirtschaftssystems,  darf  die 
Grossbetriebstendenz  so  anderseits  auch  nicht  werden.  Die  Gewerbe-  und  Berufs- 
statistik lässt  sie  doch  auf  wichtigen  Gebieten  deutlich  hervortreten,  aber  nicht  einmal 
immer  so  deutlich,  wie  cs  den  Verhältnissen  der  Wirklichkeit  entspricht.  Die  kleinen, 
auf  fremde  Rechnung,  wenn  auch  in  eigeucr  Wohnung  arbeitenden  Hausindustriellen, 
zahlreiche  Handwerker,  welche  vomemlich  oder  ausschliesslich  für  das  Magazin,  den 
Laden  des  Geschäftsmannes,  nicht  für  Privatkunden  arbeiten,  daher  fast  ganz  von 
grösseren  kapitalistischen  Unternehmern  abhängig  sind,  verhüllen  das  Grossbctriebs- 
princip  mehr  nur  noch,  als  dass  sie  die  Existenzfähigkeit  des  Kleinbetriebs  bewiesen. 
Die  mit  wenig  Gehilfen  arbeitenden,  an  sich  vielleicht  noch  sehr  zahlreichen  Gewerbe 
solcher  Art  können  daher  statistisch  dem  concentrirten  Grossbetrieb  gegenüber  noch 
stark  ins  Gewicht  fallen,  auch  nach  der  Gesammtzahl  des  Personals  aller  Art,  Unter- 
nehmer. Leiter,  Gehilfen,  welches  sie  beschäftigen,  und  dennoch  die  bereits  eingetretene 
Entwicklung  zum  Grossbetrieb  und  die  weitere  Entwicklung  in  dieser  Richtung  nicht 
widerlegen.  Auch  die  Daten  der  deutschen  Gewerbezählung  von  1875  und  der  Berufs- 


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Sieg  des  Grossbetriebs. 


823 


Zahlung  von  1882  sind  daher  für  derartige  Fragen  mit  Vorsicht  zu  benutzen. 
E.  Engel  hat  z.  B.  in  der  genannten  Schrift  mehrfach  einseitig  und  zu  optimistich 
geurtheilt  (vgl.  auch  Einleitung  zu  B.  40  der  preuss.  amtl.  Statistik  über  die  gen. 
Gewerbezählung). 

Statistisch  findet  die  Grossbetriebstendenz  in  der  Industrie  eine  gute  und  un- 
zweideutige Bestätigung  in  der  durchschnittlichen  Vergrösserung  der  Arbeiterzahl, 
der  Maschinenkräfte  (bes.  Dampf,  Wasser),  der  Zahl  der  sonstigen  Maschinen  und 
characterischcn,  technischen  Betriebsfactoren,  Apparate  u.  s.  w.,  Spindeln,  Webstühlc, 
Oefen,  Kessel,  der  Menge  der  verarbeiteten  Rohstoffe  und  gewonnenen  Producte, 
welche  auf  eine  Unternehmung,  Fabrik  u.  s.  w.  kommen.  Dabei  ist  daher  die  Ver- 
gleichung in  verschiedenen  Zeitpuncten  in  demselben  Lande  und  der  Verhältnisse  von 
Ländern  verschiedener  industrieller  Entwicklung  wichtig.  Die  raschen  und  grossen 
Veränderungen  der  Productionstechnik  stören  jedoch  hierbei  die  Vergleichungen  öfters. 
Auch  ist  zu  bedenken,  dass  selbst  die  Durchschnittszahl  der  Arbeiter  in  Einer  Unter- 
nehmung wenig  gestiegen,  vielleicht  sogar  zunickgegangen  sein  kann,  weil  die  Ersetzung 
der  Arbeitskräfte  durch  Maschinen,  die  Steigerung  der  Leistungsfähigkeit  des  einzelnen 
Arbeiters  mit  Hilfe  verbesserter  productionstechnischer  Hilfsmittel  mittlerweile  in  erheb- 
lichem Maasse  vor  sich  gegangen  ist  (Kordamerica,  Gr.-Britannien , aber  immer  mehr 
auch  die  anderen  Industrieländer).  Die  langsame  Steigerung  oder  Abnahme  der 

Durchnittszahl  der  Arbeiter  beweist  also  hier  nichts  für  langsamere  oder  stockende 
Entwicklung  in  weiterer  Richtung  des  Grossbetriebs.  Im  Gcgeutheil:  der  letztere  ist 
nur  „kapitalistischer“,  mehr  auf  Verwendung  von  Naturkräften  und  Maschinen  und 
Einrichtungen  dafür  geworden:  ein  für  die  sociale  Seite  der  Frage  wichtiger,  aber 
noch  ungünstigerer  Punct.  Denn  die  Nachfrage  nach  Arbeitskräften  wird  so  ge- 
schwächt. die  Arbeiter  gcrathen  in  eine  preeäre  Lage,  vollends  bei  starker  Volks- 
vermehrung durch  Geburtsuberschuss  und  Wanderungen. 


Das  neuerdings  mit  Recht  auch  von  der  socialen  Seite  behandelte  technische 
Problem.  Kleinkraftmaschinen  zu  erfinden  und  herzustellen  und  wohlfeile  motorische 
Kräfte  (Wasser,  Dampf,  Electricität  u.  s.  w.)  dem  Klein-  und  Mittelbetrieb  verfügbar 
zu  machen,  um  so  dessen  Concurrenzfähigkeit  zu  steigern,  ist  gewiss  für  die  hier 
erörterte  Frage  nicht  unwichtig.  (Vgl.  z.  B.  Al  brecht,  die  volkswirtschaftliche  Be- 
deutung der  Kleinkraftmaschinen,  Schmoller’s  Jahrb.  1889,  XIII,  Heft  2.)  Aber  aus 
technischen  und  aus  allgemeineren  ökonomischen  Gründen  wird  man  von  der  Lösung 
dieses  Problems,  worin  bereits  Manches  geschehen  ist,  auch  nicht  zu  viel  hinsichtlich 
der  Zurückdrängung  der  (irossbetriebstendenz  erwarten  dürfen.  Vielleicht  in  einzelnen 
Productionsbetrieben,  wo  auch  sonst  Kleinbetrieb  Vortheile  hat  (z.  B.  Kunstindustrie), 
aber  kaum  allgemein  möchte  hierdurch  eine  Abhilfe  erreicht  werden.  Die  relativ 
niedrigeren  Productionskosten  und  Preise  der  grösseren  Motoren,  Maschinen,  mancherlei 
technischer  Apparate  und  Einrichtungen,  die  ebenfalls  oft  relativ  niedrigeren  Betriebs- 
kosten dieser  Maschinen  u.  s.  w.  verglichen  mit  Herstellungs-  und  Betriebskosten  der 
kleineren  gewähren  dem  mit  den  ersteren  Maschinen  arbeitenden  Gross-  und  Grösser- 
Betrieb  eine  technisch  begründete  ökonomische  Ueberlegenheit,  welche  nicht  leicht 
überwunden  wird.  Ob  die  Elcctricitätstechnik  das  ändern  kann  und  wird,  muss  sich 
noch  zeigen.  Die  übrigen  ökonomischen  Vortheile  des  Grossbetriebs  in  Bezug  auf 
Production  mit  relativ  niedrigeren  Kosten  sind  so  maunichfach  und  durch  die  Gesammt- 
verhältnisse  des  Grossbetriebs  bedingt,  dass  man  vollends  zweifeln  kann,  ob  auch  eine 
sehr  erfolgreiche  technische  Lösung  des  Problems  der  Kleinkraftmaschinen  und  der 
Kraftzuführung  (electrischer  Strom)  die  Concurrenzbcdingungen  zwischen  Gross-  und 
Kleinbetrieb  in  Hauptzweigen  der  Industrie  erheblich  und  allgemein  zu  Gunsten  des 
Kleinbetriebs  wird  verschieben  können.  Für  einzelne  Arten  von  Fabrikanlagen  (z.  B. 
Spinnereien,  s.  Engel,  Sachs,  stat.  Ztschr.  1856,  S.  146,  danach  2.  Aull,  dieses 
Werks,  S.  250  u.  A.  m.)  liegen  schon  länger  technisch-statistische  Berechnungen 
darüber  vor,  wie  die  Productionskosten  nach  Einheiten  der  Betriebskräfte  oder  Betriebs- 
merkmale mit  der  Vergrösserung  der  Anlagen  regelmässig  abnehmen.  Jedes  Circular 
von  Maschinenfabriken  für  Motoren  u.  A.  m.  zeigt  die  relativ  niedrigeren  Preise 
der  grössereu  Maschinen,  Kessel  u s.  w.  für  die  Einheit  der  Kraftleistung.  Grösse 
(Pferdekraft). 


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824  5-  B.  Organis.  d.  Volksv.sch.  2.  K.  Priv.w.scb.  Syst.  2.  A.  Modernes.  §.  322. 

§.  322.  Indem  nun  aber  diese  ökonomisch -technischen  Vor- 
theile des  Grossbetriebs  von  der  Privatunternehmung  im  privatwirth- 
schaftlichcn  Coneurrenzsystem  nach  dem  geltenden  Wirthschafts- 
rechte  ausgenutzt  werden,  kommen  sie  eben  doch,  zunächst  wenigstens, 
dieser  Unternehmung  und  ihren  Inhabern,  und  nur  etwa  durch 
manche  Mittelglieder  und  oft  nur  langsam  und  unsicher,  wenn 
überhaupt,  sei  es  den  Arbeitern  im  Lohne,  als  einem  Antheil  an 
dem  durch  die  Verminderung  der  natürlichen  Productionskosten 
(§.  172)  sich  günstiger  gestaltenden  Reinertrag,  sei  es  den  Con- 
sumenten  im  billigeren  Preise  der  Producte  zu  Gute.  Soweit 
letztere  beiden  Folgen  nicht  oder  doch  nicht  vollständig  eintreteo, 
steigt  der  Gewinn  des  Privatunternehmers,  welcher  ohnehin  ab- 
solut durch  den  Grossbetrieb  wächst.  So  bildet  sich  aber  eben 
das  grössere  Einkommen,  Vermögen,  Privatkapital  der  Inhaber  der 
Grossbetriebe,  und  die  relative  Classenlage  der  „Privatbesitzer  der 
Productionsmittel“,  der  Leiter  der  Production  einer-,  der  Arbeiter 
anderseits  geht  immer  weiter  auseinander.  Immer  mehr  Personen 
gerathen  in  ökonomische  Abhängigkeit  vom  Inhaber  des  Grossbe- 
triebs. Im  privatwirthschaftlichen  System  wird  so  der  vielleicht 
sonst  im  Gesammtinteresse  liegende  ökonomisch -technische  Fort- 
schritt zum  Grossbetrieb  für  die  Gesellschaft  bedenklich,  während 
er  im  gemeinwirthschaftlichen , im  socialistischen  System  zum  all- 
gemeinen Vortheil  würde. 

Bei  extremerer  Entwicklung,  welche,  wie  gesagt,  auch  nach 
ökonomisch-technischer  Auffassung  freilich  lange  nicht  so  allgemein 
zu  erwarten  ist,  als  oft  behauptet  wird,  aber  doch  bei  freier  Con- 
eurrenz  auf  wichtigen  Gebieten  der  Industrie,  des  Handels  wahr- 
scheinlich ist,  droht  so  allerdings  die  Verdrängung  des  Klein- 
durch  den  Grossbetrieb  mit  der  nothwendigen  Folge,  dass  die 
Zahl  der  ökonomisch  und  social  selbständigeren  Personen  (Unter- 
nehmer, „Meister“  u.  s.  w.)  relativ  und  mitunter  selbst  absolut  ab- 
nimmt und  die  industrielle  Gesellschaft  sich  immer  mehr  in  zwei 
nur  kurz  vorübergehend  durch  den  Lohnvertrag  lose  verbundene 
Classen  der  grossen  Unternehmer  und  Privatkapitalisten  einer-  und 
der  Lohnarbeiter  anderseits  scheidet.  Uebergänge  von  letzterer 
in  die  erste  Classe,  obwohl  rechtlich  durchaus  zulässig,  finden 
thatsächlich  wegen  der  Macht  der  ökonomischen  Verhältnisse  nicht 
häufig  statt.1)  Die  weitere  Folge  ist  eine  grosse  dauernde  Un- 

*)  lieber  die  optimistischen  Ansichten  der  Schule  der  freien  Concurrenz  in  diesem 
Punctc  s.  Lause,  Arbeiterfrage.  Kap.  3 (Glück  und  Glückseligkeit.  Darlegung  der 
geringen  Wahrscheinlichkeit  der  Chancen  des  Gelingens). 


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Sieg’  des  Grossbetriebs. 


825 


gleichheit  der  ökonomischen  und  socialen  Lage,  des  Bildungsstands 
der  beiden  Schichten,  ein  schroffer  Gegensatz  der  Interessen,  eine 
feindliche  Spannung,  wie  sie  nur  jemals  in  einem  anderen  Systeme 
des  Wirthschaftsrechts  vorhanden  war. 

Die  übrigens  vielfach  auch  zu  allgemein  und  in  zu  bedeutendem  Grade  an- 
genommene absolute  Hebung  der  wirtschaftlichen  Lage,  des  Lohneinkommens  unserer 
arbeitenden  Classon  von  heute  gegen  früher  mag  man  dabei  selbst  zugeben  (s.  auch 
§.  2S4(.  Wichtiger  für  diese  Fragen  ist  eben  noch,  dass  die  Differenz  in  der 
ökonomischen  Lage  und  im  Einkommen  sich  vcrgrössert,  die  Aussicht  des  Arbeiters, 
in  die  höhere  sociale  Schicht  aufzusteigen,  sich  verringert  hat.  der  „Arbeiterstand“ 
nicht  mehr,  wie  doch  im  Grossen  und  Ganzen  im  zünftigen  Handwerk,  eine  Durch- 
gangsstufe, eine  Vorbildu ngsstufe  für  die  höhere  Stellung  war,  sondern  ein 
Lebensstand  ist,  mit  der  Aussicht,  cs  in  älteren  Tagen  (aber  selbst  schon  von  den 
40er  Jahren  an!)  noch  schlechter  zu  haben,  — m.  E.  auch  eine  Erklärung  der  viel- 
fach wahrgenommenen  Verschlechterung  der  technischen  Bildung  und  Leistung  der 
industriellen  Arbeiter,  die  nicht  so  starkes  Interesse  wie  früher  an  besserer  Aus- 
bildung haben.  Die  Behauptung,  dass  der  Arbeiter  wenigstens  nicht  das  Kisico  des 
Geschäfts  trage,  ist  daher  ebenfalls  nur  sehr  bedingt  richtig.  Jene  beständigen 
Wechsel  zwischen  Spcculation,  Ueberspeculation.  Krisis,  Flauheit,  wesentlich  mit  eine 
Folge  der  „Concurrenzwuth“  und  der  „Conjunctur“,  fallen  zu  Zeiten  mit  grösster 
Schwere  auf  den  Arbeiter,  der  dadurch  sehr  empfindlich  am  Kisico  des  Geschäfts 
Thcil  nimmt.  Dies  Alles  trägt  zur  Steigerung  der  feindlichen  Spannung  zwischen 
besitzenden  und  nichtbesitzenden  Classeu  bei.  Gegen  diese  Auffassung  z.  B.  Sötbcer 
in  dem  Aufsatz  das  Gesammteinkommen  und  dessen  Vertheilung  im  preussischen  Staat, 
im  „Arbeiterfreund“  1S75,  XIII,  2''8  if.,  mit  Anführung  eines  Worts  des  Engländers 
Harri son  über  die  social  und  ökonomisch  heilsame  und  nothwendige  Function  des 
grossen  Pri vatkapitals  in  der  Industrie,  S.  295.  Eben  nur  die  eine  Seite  der 
Frage!  Wie  man  aber  vollends  den  britischen  Verhältnissen  übermässigster  Ver- 
mögonsconcentration  gegenüber  — worauf  ja  freilich  neben  der  industriellen  Gross- 
betriebstendenz andere  Umstände,  die  Ilandelssuprcmatie,  die  Grossgrundbesitz- 
verhältnisse u.  A.  m.  mit  einwirken  — noch  dem  Optimismus  huldigen  kann,  der  „freie 
Verkehr“  schalle  die  beste  Vertheilung,  ist  mir  unverständlich.  Schon  oben  (S.  723) 
habe  ich  meine  Bedenken  über  die  Ungleichheit  der  Einkoinmenvcrtheilung,  welche 
unter  den  bisherigen  Einflüssen,  darunter  eben  auch  namentlich  in  Folge  der  Gross- 
betriebstendenz auf  vielen  Gebieten,  bereits  erreicht  ist,  geltend  gemacht.  Nach 
Baxter’s  dort  schon  einmal  in  Betreif  eines  Puncts  citirtcn.  freilich  unsicheren,  aber 
schwerlich  zu  ungünstigen  Zahlen  bezogen  85'fO  Selbstthätige  von  13,720.000  im 
Ganzen  2523  Mill.  Mark  Einkommen  von  16,282  Mill.  M.  Nationaleinkommen,  d.  li. 
0.002%  der  selbstthätigen  Bevölkerung  verfügt  über  15,4%  des  Volkseinkommens, 
über  570  Mill.  M.  mehr  als  4%  Mill.  der  Selbstthätigen  (also  meist  der  Familien)  der 
untersten  Classe.  W’ic  ungleich  soll  denn  diese  Vertheilung  noch  werden,  bis  sic 
diesem  Optimismus  „bedenklich“  erscheint!  (S.  a.  a.  O.  S.  292  selbst  die  Daten.) 

Gewiss,  die  Production  arbeitet  im  Grossbetrieb  wohlfeiler, 
öfters — freilich,  beiWeitcm  nicht  allgemein!  — auch  besser.  Sie  liefert 
dadurch  auch  den  unteren  Classen  als  Consumenten  Manches,  was 
sie  früher  entbehren  mussten,  weil  sie  es  nicht  bezahlen  konnten, 
manches  Andere  billiger  und  besser  (so  Bekleidungsstoffe,  einzelnes 
Hausgcräth,  auch  Genussmittel  [Zucker!],  gewisse  ordinärere  Luxus- 
artikel). Auch  die  Arbeitsbedingungen  stellen  sich  öfters  im  Gross- 
betrieb für  die  Arbeiter  in  Bezug  auf  Arbeitsart,  Maass,  Last  und 
auch  wohl  die  Lohnverhältnisse  günstiger  als  im  Kleinbetrieb  auf 
demselben  Gebiete  der  Production. 


826  5.  B.  Organis.  d.  Volkswsch.  2.  K.  Priv.w.sch.  Syst.  2.  A.  Modernes.  §.  323. 


Die  Vertheilung,  namentlich  des  aus  der  Industrie,  dem  Handel 
herrlihrenden  Einkommens  und  Vermögens  in  der  Volkswirtschaft 
wird  aber  ungleichmässiger,  die  Production  nimmt  auch  deswegen 
eine  ungünstigere  Richtung  an,  denn  sie  arbeitet  doch  in  grossem 
Umfang  nur  für  den  Luxus  der  Reichen.  Das  Einkommen  der 
letzteren  schwankt  aber  selbst  wieder  sehr.  Auch  deshalb  ein 
schwankenderer  Gang  der  Geschäfte,  periodischer  Wechsel  von 
Ueberspeculation  und  Ueberproduction,  Krise,  flauer  Zeit.  Der 
Gesammtbedarf  des  Volks  an  wirtschaftlichen  Gütern  wird  freilich 
gerade  in  dem  System  der  freien  Concurrcnz  vollkommener  be- 
friedigt, aber  er  gestaltet  sich  selbst  wegen  der  erwähnten  Ver- 
hältnisse weniger  den  Interessen  der  Gesammtheit  gemäss  und  oft 
in  hohem  Grade  nur  nach  den  Interessen  einer  kleinen  Minorität. 
Schlimme,  allen  Betheiligten  schädliche  sociale  Herrschaf  ts- 
und  Abhängigkeits Verhältnisse  zwischen  öffentlich 
rechtlich  gleichberechtigten  Staatsbürgern,  in  der  That 
ein  neuer  Feudalismus,  aber,  wie  schon  gesagt,  ohne  die 
guten  Seiten  des  letzteren,  ohne  sociale  und  sittliche  und  Rechts- 
pflichten gegen  die  von  ihm  abhängige  Bevölkerung,  sind  bei  dieser 
Gestaltung  der  Volkswirthschaft  unvermeidlich.  So  bilden  sich 
auch  neue  Quellen  der  Unsittlichkeit  auf  beiden  Seiten  und  ent- 
stehen tiefe  Gefahren  für  den  Bestand  von  Gesellschaft,  Staat  und 
Cultur. 

Die  vorausgebende  Darlegung  bezeichnet  wesentlich  nur  die  Gestaltungs- 
tendenzen.  Es  ist  die  Aufgabe  der  Geschichte  und  besonders  der  Statistik, 
für  das  einzelne  Land  und  Volk  und  für  eine  bestimmte  Zeit  näher  naebzuweisen. 
wie  weit  diese  Tendenzen  sich  hier  verwirklich t haben.  Verschiedenheiten 
werden  sich  hier  immer  manche  ergeben,  namentlich  auch  deshalb,  weil  das  System 
der  freien  Coucurrenz  in  verschiedenem  Umfange  durchgefuhrt  wird.  Ihre  tiefere 
theoretische  Begründung  findet  die  Grossbetriebstendenz  in  der  Industrie  besonders  in 
dem  Productionskostengesetze  für  Fabrikate  und  in  der  in  der  Industrie  zeitweise  vor- 
kommenden Bildung  von  Reuten  oder  Extragewinnen  derjenigen  Producenten,  welche 
wohlfeiler  produciren.  aber  zu  dem  dem  höheren  Kostensatz  anderer  Producenten  ent- 
sprechenden Preise  absetzen  können,  eine  Lage,  welche  dann  die  Mittel  und  Wege 
zu  einer  Ausdehnung  des  Betriebs  gewährt.  S.  oben  über  diese  Function  der  Rente 
S.  79S.  Beachtenswerte  Ausfuhrungen  hierüber  bei  Schäffle,  Soc.  Körper,  III, 
433  11'.  Weiteres  in  der  Theoretischen  Nationalökonomie. 

V.  — §.  323  [138].  Schlussergebniss.  Aus  allen  voraus- 
gehenilen  Erörterungen  folgt,  dass  das  moderne  privatwirthschaft- 
liehe  System  der  freien  Concurrcnz  einer  notbwendigen  Correetur 
und  Ergänzung  bedarf.  Alles  Dargelegte,  nicht  zum  Wenigsten 
aber  auch  die  Thatsache,  dass  die  schwächeren  Elemente  unter 
den  Privat  Wirtschaften  die  ungeheure  Mehrzahl  in  einem  Volke 
bilden,  führen  zu  dem  Schluss,  dass  die  freie  Concurrcnz  durchaus 


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Schlussergcbniss.  . ^27 

nicht  so  allgemein  und  überwiegend  günstige  Folgen  für  die  Pro- 
duction hat.  Aber  auch  wenn  das  in  weit  grösserem  Umfange, 
als  es  zugegeben  werden  kann,  der  Fall  wäre:  danach  wäre  das 
ganze  System  gar  nicht  allein  zu  beurtheilen.  Das  muss  gleich- 
zeitig auch  nach  den  Folgen  des  Systems  für  die  Verthei  In  ng 
des  Productionsertrags,  daher  für  die  sociale  Lage  der  Classen 
und  Personen  und  für  die  Sittlichkeit  des  Volks  geschehen. 
Danach  betrachtet,  ist  das  System  überwiegend  ungünstig  zu  be- 
urtheilen. Es  wird  demgemäss  am  Allerwenigsten  als  Abschluss 
der  wirthschaftlichen  Entwicklung  zu  betrachten  sein.  Das  privat- 
wirtschaftliche  System  auf  dieser  Grundlage  der  freien  Concurrenz 
verlangt  auch  wegen  dieser  notorischen  Nachtheile  theils  eine 
Correctur,  theils  eine  Ergänzung,  welche  ihm  besonders 
durch  das  ge  mein  wirtschaftliche,  daneben  auch  durch  das 
caritative  System  werden  muss. 

Vergl.  die  hiermit  vielfach  übereinstimmende  Ansicht  schon  von  Hob.  v.  Mohl, 
nach  den  Auszügen  aus  verschiedenen  Aufsätzen  sehr  gut  dargestelit  von  Ernst  Meier, 
Tub.  Ztschr.  1S7S,  S.  495  If. 

Bei  der  doch  nur  geringeren  Bedeutung  des  caritativen  neben  dem  privat-  und 
dem  gemeiuwirthschaftlichen  System  wird  dasselbe  hier  im  Zusammenhang  der  Er- 
örterungen des  folgenden  Kapitels  mit  behandelt  (§.  330 — 339).  Das  empfiehlt  sich 
auch,  weil  das  caritative  System  mit  zur  Fürsorge  für  die  Befriedigung  von  (iemein- 
bedürfnissen  dient.  An  dieser  Fürsorge  kann  auch  das  privatwirthscbaftliche  System 
noch  mit  thcilnehinen , aber  nur  in  beschränktem  Maasso  und  mit  nicht  immer  be- 
friedigendem Erfolge.  Auch  das  wird  erst  im  Kähmen  der  Erörterungen  des  folgenden 
Kapitels  gezeigt  (ij.  332  11'.),  sodass  dann  dort  die  Betrachtung  des  privatwirthschaftlichen 
Systems  erst  ihren  Abschluss  findet. 


Drittes  Kapitel. 

Das  gemeinwirthschaftliche  System. 

Erster  Hauptabschnitt. 

Die  Gemeinbedürfnisse  und  die  Fürsorge  für  ihre 

Befriedigung. 

324  [2.  A.  S.  251].  Vorbemerkungen  und  Littcratur. 

Ein  noch  wenig  untersuchtes  und  doch  hochwichtiges  Gebiet.  Von  Kau,  §.  73 
noch  ganz  unbeachtet,  von  Koscher  kaum  berührt,  dagegen  schon  etwas  naher  be- 
trachtet in  Hermann 's  staatswirthschaftlichen  Untersuchungen,  l.A.  S.  15  11’.,  und 
eingehender  in  der  2.  A.  in  der  Abh.  II  von  den  Bedürfnissen,  S.  7S  If.,  pass.,  bcs. 
94  if.,  100  If.,  auch  90,  92;  ähnlich,  aber  sehr  kurz,  in  der  Lehre  von  den  Oemein- 
wirthschaflen  mehr  nur  vorausgesetzt,  von  Schäfflc.  Syst.  3.  Aull.  I,  102.  100. 
Kau.  §.  75,  nimmt  den  Ausdruck  „individuelle  Bedürfnisse“  in  einem  anderen  engeren 
Sinne,  im  Gegensatz  zu  den  allgemein  menschlichen,  nationalen  und  gesellschafts- 
ständischcn.  Für  die  Lehre  von  den  Gemeinwirthschaften  ist  die  Untersuchung  der 


828  5.  B.  Örganis.  d.  Volksw.scb.  3.  K.  Gem.w.sch.  Syst.  1.  H.-A.  Gem.bedürfo.  |.  323 


Gemeinbedürfnisse  fundamental.  Die  Einbeziehung  der  Gemeinbedürfnisse  in  dk 
Nationalökonomie  hängt  übrigens  auch  wieder  mit  der  Anerkennung-  der  Prodactir.t»! 
der  Dienstleistungen  und  mit  der  Einreihung  derselben  und  der  „Verhältnisse“  '§  119 1. 
unter  die  wirtschaftlichen  Güter  zusammen,  weshalb  Rau ’s  StiLlscb  weig-en  ober  die* 
Bedürfnisse  und  die  für  ihre  Befriedigung  bestimmten  Güter,  die  Gemein-  o-ier 
Collectivgütcr,  bei  seinem  Standpuncte  in  der  Frage  nicht  auffallen  kann.  Hermias.' 
„Collectivbedürfnisse“  sind  mit  den  von  mir  sogenannten  Gemein  Bedürfnissen  niefc: 
identisch,  wenn  auch  der  zu  Grunde  liegende  Gedanke  ein  ähnlicher  ist.  In  d-jj 
Gemeinbedürfnissen  tritt  der  Character  des  Menschen  als  eines  cruor  rto/.tTixor  naci 
der  Aristotelischen  Auffassung  besonders  hervor.  Geber  die  Polemik  gegen  xaeicc 
Auffassung  und  Behandlung  der  Gemeinbedürfnisse  (2.  A.  S.  251  ffl)  von  G.  Coli 
(Tüb.  Ztschr.  1881,  S.  461  ff.)  und  E Sax  (Grundlegung  §.  29  ff.,  S.  179  ff.),  s.  »• 
ij.  298.  Cohn  (a.  a.  0.  S.  468  ff.)  giebt  auch  längere  Auszüge  aus  den  Erörteruagea 
von  Hermann  und  zieht  auch,  was  ich  unterlassen  hatte,  die  1.  Auti.  der  stia:.- 
wirthschaftlichen  Untersuchungen  heran.  Ich  beziehe  mich  Cohn  und  Sar  gegenüber 
auf  die  Auseinandersetzungen  mit  ihnen  in  $$.  298. 

Ueber  R.  v.  Mohl’s  Theorie  der  gesellschaftlichen  Lebenskreise  s.  u.  §.  33«. 
Vergl.  sonst  besonders  auch  Ähren  s,  Naturrecht,  6.  A..  Wien  1871,  bes.  II.  276  f, 
286  ff.,  319  ff.  und  passim. 


1.  Abschnitt. 

Die  Gcmeinheditrfiiissc. 

I.  — §.  325  [139].  Individual-  und  Gemeinbedürf- 
nisse. Die  Bedürfnisse  des  Menschen  sind  schon  oben  (§.  24. 
8.76)  vorläufig  auch  in  I ndividualhcdtirfnissc,  welche  aus  den 
physisch -geistigen  Wesen  des  Einzelnen  als  solchen  und  is 
Getneinbedürfnisse  (Collectivbedürfnisse),  welche  heim  Einzelnen 
aus  dessen  Angehörigkeit  zu  menschlichen  Gemein- 
schaften hervorgehen,  unterschieden  worden.  Die  Gemeinbe- 
dlirfnisse  sind  daher  eine  Conscquenz  der  socialen  (gesellschaft- 
lichen) Natur  des  Menschen.  Sie  ergehen  sich  aus  den  Verhältnissen 
des  menschlichen  Zusammenlebens  in  verschiedener  Weise  nach 
den  Zwecksetzungen  der  Gemeinschaften,  welchen  der  Einzelne  ah 
Glied  angehört. 

Zu  den  Individualbedürfnissen  gehören  die  materiellen  Bedürfnisse,  welche  durtt 
Sachgüter  befriedigt  werden,  fast  ganz,  nur  dass  die  Art  und  Weise  der  Befriedigan; 
(selbst  bei  der  Nahrung,  mehr  noch  bei  der  Kleidung,  Wohnung  u.  s.  w.)  auch  schoa 
durch  das  sociale  Wesen  des  Menschen  etwas  beeinflusst  wird  (Sitten,  Mode.  Ab- 
stand. übliche  Art  u.  s w.,  also  besonders  bei  den  Existenzbedürfnissen  zweiten  Grads. 
§.  268).  Die  Bedürfnisse  nach  persönlichen  Diensten  sind  zwar  auch  vielfach  no*T 
Individualbedürfnisse,  so  namentlich  bei  der  Jugend,  beim  Alter  (Ptlesre  u.  dgJA 
aber  sic  stehen  noch  mehr  als  die  materiellen  Bedürfnisse  imter  dem  Einflüsse  det 
socialen  Natur  des  Menschen.  Die  Individoalbedürfnisse  sind  selbstverständlich  bcja 
Menschen  anders  geartet  als  beim  Thiere,  aber  doch  jenem  nicht  specifisch  eigee- 
thümlich.  Sie  finden  sich  vielmehr  ähnlich  auch  bei  den  Thieren,  besonders  bei  den 
höheren  Thierarten. 

Erst  die  Gern  ein h cd ü rfnisse  sind  echt  lind  wesentlich 

« 

ausschliesslich  menschliche  Bedürfnisse,  zu  welchen  man 


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GcmeinbedUrfnisse.  Wesen. 


829 


in  der  Thierwelt  doch  nur  in  einzelnen  Fällen  entfernte  Analoga 
findet. 

In  dor  Tbierwclt  wie  in  der  Menschenwelt  wird  der  Einzelne  allerdings  in  eine 
Gemeinschaft  hinein  geboren,  welche  für  ihn  die  Verpflichtung  fühlt  und  übernimmt, 
seine  Existenz  und  seine  Entwicklung  zu  schützen  und  zu  fördern,  solange  bis  er  das 
selbst  genügend  zu  thun  vermag.  Aber  schon  in  dieser  Lebcnspcriodo  besteht  zwi- 
schen der  Menschenwelt  und  selbst  den  höchsten  Classeu  der  Thiere  doch  ein  im 
Wesentlichen  spccifischcr  Unterschied,  welcher  nach  dieser  Periode  noch  schärfer 
wird.  Die  Gemeinschaftsbeziehung  ist  bei  den  Thieren  eine  nur  physiologisch  be- 
gründete, daher  auf  das  Verhältniss  zwischen  Erzeugern  und  Erzeugten  in  der  Haupt- 
sache sich  beschränkende  und  mit  der  erreichten  genügenden  Entwicklung  der  letz- 
teren endende.  Bei  den  Menschen  dagegen  geht  die  auch  hier  zunächst  physio- 
logisch begründete  Gemeinschaftsbeziehuug  früh,  auch  in  primitiver  Stufe,  in  ethische 
über,  wird  eine  dauernde,  auch  über  die  Zeit  der  erreichten  Emancipation  hinaus, 
und  erweitert  sich  auf  diejenigen,  mit  welchen  die  Erzeuger  selbst  in  weiteren  mensch- 
lichen Gemeinschaftsbeziehungen  stehen  und  verschiedene  Gemeinschaften  bilden  (Fa- 
milie, Geschlecht,  Stamm,  Volk,  Standes-,  Wohn-,  Orts-,  Landes-,  Staatsgemeinschaft 
u.  a.  m.).  Der  Einzelne  wird  daher  liier  gleich  durch  seine  Geburt  und  dauernd  Glied 
mannigfaltigster  menschlicher  Gemeinschaften,  wozu  man  wiederum  in  der  Thierwelt 
nur  hie  und  da  einzelne  Analoga  iindet.  (Vergl.  Schäfflc,  Soc.  Körper  II,  40  ff.) 

Diese  zunächst  wesentlich  natürlichen  Gemeinschaften 
binden  den  Einzelnen,  sowie  er  zum  Bewusstsein  kommt,  auch  mit 
sittlichen  Rechten  und  Pflichten  an  sich  und  machen  ihn  eben- 
dadurch  aus  einem  isolirten  Atom,  einem  wahren  „Individuum“, 
einem  bloss  mechanischen  Theil,  zu  einem  Glied  der  Gemein- 
schaft. Er  fühlt  sich  als  solches  Glied  und  die  Gemeinschaft, 
d.  h.  natürlich,  da  diese  immer  in  einer  Hinsicht  ein  begriffliches 
Abstractum  ist,  die  anderen  Glieder  der  Gemeinschaft,  fühlen  für 
ihn  als  ein  zu  ihnen  gehöriges  Glied  mit.  Aus  diesen  Verhält- 
nissen bildet  sich  das,  was  hier  ein  Gemei nbedürfniss  genannt 
wird,  und  darin  findet  es  seine  Erklärung. 

Alle  diese  Gemeinschaften  beruhen,  unbewusst  und  bewusst,  auf  Zweck- 
setzungen, dienen  Zwecken,  welche  solche  des  Einzelnen  als  Glieds  der  Gemein- 
schaft, damit  aber  auch  der  Gemeinschaft  selbst  sind.  Diese  sieht  im  Einzelnen  ihr 
Glied  und  durch  Erhaltung,  Sicherung,  Förderang  des  Einzelnen  erhält,  sichert  und 
fördert  sie  sich  selbst.  Diesen  Zwecken  liegen  aber  eben  jene  Bedürfnisse  zu  Grunde, 
welche  aus  den  verschiedenen  Gcincinschnftsbcziehungen,  der  Folge  der  socialen  Natur 
des  Menschen  und  der  Mannigfaltigkeit  der  Verhältnisse  des  menschlichen  Zusammen- 
lebens auf  gegebenem  Rauin  in  gegebener  Zeit,  hervorgehen. 

Zu  den  ursprünglich  natürlich,  physiologisch  begründeten  Gemeinschaftsbe- 
ziehungen treten  mit  der  Entwicklung  des  Volkslebens,  der  wirtschaftlichen  Ver- 
hältnisse, der  Arbeitsteilung,  der  Technik,  der  Cultur  immer  neue.  Diese  gehen 
teils  unmittelbar  aus  den  Lebensverhältnissen  hervor,  machen  sich,  wie  die  rein 
natürlichen  (Familie,  Sippe,  Geschlecht,  Gens,  Stamm.  Volk)  „von  selbst”,  grade  je 
mehr  die  einfacheren  ursprünglicheren  dieser  natürlichen  Gemeinschaften  (wie  der- 
jenigen des  Familien-,  des  Geschlcchtsverbands)  ihre  Bedeutung  verlieren  oder  für 
die  neuen  Bedürfnisse  und  Zwecke  des  Gemeinschaftslebens  nicht  mehr  ausreichen, 
wie  in  der  engeren  durch  das  nähere  Zusammenwohnen  bedingten  Ortsgemeinschaft 
(Gemeinde).  Theils  werden  neue  Gemeinschaftsbezichungen  nun  auch  aus  Motiven 
des  Vorteils,  des  Interesses,  des  Ehr-  und  Pflichtgefühls,  der  fursorgenden  Hilfe 
und  aus  verstandesmässigen  Erwäguugcu  der  Zweckmässigkeit  künstlich  herausgebildet, 
wobei  letzterenfalls  dann  Gesichtspunctc  der  ökonomischen  und  technischen  Zweck- 
A.  Wagner,  Grundlegnng.  3.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlagen.  53 


830  5.  B.  Organis.  d.  Volksw.sch.  3.  K.  Gem.v.sch.  Syst.  1.  H.-A.  Gem.bcdilrf.  §.  325. 

mässigkeit  mitspielcn,  vielleicht  die  entscheidenden  sind.  Vgl.  hierzu  die  oben  S.  15 
besprochene  Schrift  von  F.  Tön  nies,  Gemeinschaft  und  Gesellschaft. 

Wenn  nun  auch  die  Gemeinschaft  nicht  Selbstzweck  ist, 
sondern  stets  Mittel  für  die  Zwecke  der  Einzelnen,  der  allein 
wirklich  lebenden,  bedürfenden,  fühlenden,  denkenden,  menschlichen 
Individuen,  aber  dieser  eben  nicht  als  isolirter  Atome,  sondern 
als  in  der  Gemeinschaft  begrifflich  und  thatsächlich  zu  einer  Ein- 
heit, einem  Ganzen  zusammengefasster  Personen,  so  erscheint  doch 
auch  so  die  Gemeinschaft  als  das  Höhere,  Wichtigere  und 
Dauernde  (oder  wenigstens,  verglichen  mit  dem  Individuum, 
Dauerndere)  den  Individuen,  auch  als  ihren  Gliedern,  gegenüber. 
Ihre,  der  Gemeinschaft,  Interessen  sind  — wenigstens  voraus- 
setzungsweise — auch  die  wahren  Interessen  des  Individuums.  Die- 
selben werden  dann  als  Gemeinschaftszweck  gesetzt,  welcher  so 
wieder  zu  etwas  Selbständigem  und  den  Individualzwecken  Vor- 
gehendem wird,  aber  in  sich  eben  doch  diejenigen  Zwecke  auch 
des  Individuums  birgt,  welche  dasselbe  nur  in  und  mit  Gemein- 
schaften als  deren  Glied  mit  Erfolg  erfüllen  kann. 

Damit  gelangen  wir  zur  genaueren  Darlegung  des  Wesens 
der  „Gemeinbedürfnisse“.  Es  sind  solche  Bedürfnisse,  welche 
die  Individuen  als  Glieder  menschlicher  Gemeinschaften 
empfinden , denen  sie  von  Natur  und  gezwungen  oder  nach  freier 
Wahl  angehören  — bewusst  oder  unbewusst  empfinden:  letzteren- 
falls  Dritte  bewusst  und  pflichtmässig  für  sie  (z.  B.  Erwachsene 
für  Kinder);  Bedürfnisse  ferner,  welche  sie  um  ihrer  selbst, 
wie  um  der  Anderen,  mit  ihnen  die  betreffende  Gemeinschaft 
bildenden  Individuen  und  um  dieser  Gemeinschaft  Willen  be- 
friedigt haben  wollen  und  müssen;  und  Bedürfnisse  endlich,  deren 
Befriedigung  es  allein  möglich  macht,  dass  ein  gesellschaft- 
liches Zusammenleben,  ein  wirthschaft  liebes  Zn- 
s a m m e n w i r k e n menschlicher,  mit  eigenem  Willen  begabter 
Einzelwesen,  darunter  auch  in  gewissen  Lebenszeiten  und  Lagen 
des  Individuums  der  Selbstfürsorge  ganz  oder  grosscntheils  un- 
fähiger stattfinde,  ohne  allzu  störende  Reibungen  und  feindliches 
Gegeneinanderwirken,  als  Folge  von  individuellen  Willens-  und 
Ilandlungsconflicten , und  mit  möglichst  zweckmässigem  Für- 
einander-Wirken,  als  Folge  gemeinsamer  Willens-  und  Handlungs- 
richtung auf  die  Gemcinscbaftszwecke  hin,  sodass  die  Interessen 
der  Gemeinschaften  und  ihrer  Glieder  thnnlichst  gefördert  wTcrden. 


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Wesen  der  Gemembedürfnisse. 


t>31 


Eine  Darlegung  des  Wesens,  keine  eigentliche  Begriffsbestimmung  ist  mit 
diesen  Säuen  beabsichtigt.  In  einer  knappen  Formel  wüsste  ich  keine  andere  Be- 
griffsbestimmung der  tiemeinbedürfnisse,  als  die  am  Eingang  dieses  §.  gegebene,  zu 
liefern.  Diese  Darlegung  weicht  in  der  Fassung  von  den  Ausführungen  anderer 
Autoren  (Hermann,  Schäfflc,  Sax)  mehr  ab,  als  dem  Sinne  nach,  wenn  auch  in 
letzterer  Hinsicht  Meinungsverschiedenheiten  zwischen  uns  bestehen,  besonders  Her- 
mann gegenüber,  trotzdem  dessen  Auffassung  auch  der  meinen  wieder  Verwandtes 
enthält.  Auch  er  knüpft  bei  der  Erörterung  des  Wesens  der  tiemeinbedürfnisse  an 
die  sociale  Natur  des  Menschen  an  („in  allen  Einzelnen  lebt  doch  die  Sociabilität  als 
Grundzug  ihres  Wesens“,  staatsw.  Untersuchungen  2.  A.  S.  93).  Seine  Begriffsbestim- 
mung scheint  sich  mir  mit  seinen  Ausführungen  aber  nicht  recht  zu  decken  und  ist 
mir  zu  eng:  „Gemeiubcdürfnisse , Collectivbcdürfnisse“  heissen  ihm  „Bedürfnisse 
einer  Mehrheit  von  Menschen,  als  eines  Ganzen,  deren  Befriedigung  lediglich  der 
Gesammtbcit  ohne  Bezeichnung  einzelner  Mitglieder  der  Verbindung  und  ihres  An- 
theils  dargeboten  wird“  (S.  93).  S.  dazu  G.  Cohn  's  Bemerkungen  (a.  a.  0.  S.  473  ff.), 
die  mir  aber  das  Schiefe,  Falsche  und  zu  Enge  bei  Hermann  nicht  zu  treffen 
scheinen.  Sax’  Auffassung  und  Begriffsbestimmung  (a.  a.  0.  S.  ISO,  s.  o S.  70$) 
stehen  meiner  Ansicht  näher,  mehr  als  Sax  selbst  anzunehmen  scheint.  Ich  halte 
nur  seine  Ausdrucksweise  nicht  für  deutlich  genug  und  seine  Definition  für  zu 
geschraubt. 

Alles  was  ich  hier  in  der  Darlegung  des  Wesens  der  Gemeinbedürfnisse  ent- 
wickelt habe,  lag  implicite  auch  meiner  älteren  Auffassung  in  den  früheren  Auflagen 
zu  Grunde  und  hätte  auch  von  meinen  Kritikern  als  Kern  meiner  Lehre  von  den 
Gemcinbcdürfnissen  erkannt  werden  können.  In  ihrer  Kritik  tritt  dieser  Kern  aber 
m.  E.  nicht  hervor.  Ob  ich  jetzt  nach  der  genaueren  Darlegung  meiner  Gedanken 
mehr  Zustimmung  bei  den  genannten  Autoren  finde,  muss  ich  dahin  gestellt  sein 
lassen.  Waren  ihre  Vorwürfe,  was  ich  eben  bestreite,  früher  sachlich  berechtigt,  so 
werden  sie  es  auch  jetzt  noch  sein,  da  meine  sachliche  Auffassung  im  Kern  wie 
gesagt  dieselbe  geblieben,  nur,  wie  ich  hoffe,  Missverständnissen  jetzt  weniger  aus- 
gesetzt ist.  Insbesondere  halte  ich  G.  Cohn  gegenüber  an  der  folgenden,  von  ihm 
hauptsächlich  mit  angegriffenen,  übrigens  auch  von  Hermann  angedeuteten  Auf- 
fassung fest. 

Die  Gemeinbedürfnisse  weisen  nun  auch  schon  durch  ihre 
Natur  auf  ein  anderes  Princip  der  Regelung  der  Kosten- 
deckung, der  Entgeltlichkeitsverhältnisse  und  auf  ein  anderes 
System  der  Veranstaltungen  und  Einrichtungen  zur  Beschaffung 
(Production)  der  Befriedigungsinittel,  der  sogen.  Gemeingüter, 
und  der  Zuführung  derselben  zur  Bedürfnisbefriedigung  an  die 
bedürftigen  Mitglieder  der  betreffenden  Gemeinschaften  hin:  nem- 
lich  auf  das  gemein  wirtschaftliche  Princip  und  System, 
statt  des  auf  diesem  Gebiete  nur  in  geringem  Maasse,  wenngleich 
immerhin  mit  anwendbaren  privatwirtbschaftlichen  und  earitativen. 
Das  wird  im  Folgenden  mit  seine  nähere  Darlegung  und  Begründung 
erfahren. 

II.  — §.  326  [139].  Arten  der  Gemeinbedürfnisse. 

A.  Das  allgemeine  und  principale  Gemeinbedürfniss  der 
Rechtsordnung  in  der  Volksgemeinschaft  und  Volkswirtschaft. 

B.  Specielle  Gemeinbedürfnisse,  welche  aus  bestimmten 
Gemeinschaftsverhältnissen  hervorgehen.  Theils  specia- 
lisirt  sich  danach  das  Gemeinbedürfniss  der  Rechtsordnung,  theils 

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832  5.  B.  Organis.  d.  Volksw.sch.  3.  K.  Gcm.w.sch.  Syst.  1.  H.-A.  Gem.bedürf.  §.  327. 


entwickeln  sich  solche  Gemeinbedürfnisse  auch  selbständig  unter 
dem  Einfluss  eines  anderen  Gemeinscbaftsmoments.  Hierhin  gehören: 

1)  die  „räumlichen“  oder  „örtlichen“, 

2)  die  „zeitlichen“, 

3)  die  im  engeren  Sinn  so  zu  nennenden  „gesellschaftlichen“ 
oder  „Klassen-Gemeinbedürfnisse“ ; Ausdrücke,  welche  im  Folgen- 
den ihre  Erklärung  finden. 

A.  — §.  327  [140].  Das  wichtigste,  allen  voranstehende  Ge- 
meinbedürfniss,  welches  aus  dem  menschlichen  Zusammenleben 
entspringt,  ist  dasjenige  nach  einer  festen  Rechtsordnung  im 
Volke,  sowohl  für  die  persönlichen  Beziehungen  der  Individuen 
unter  einander  und  für  die  Sicherung  der  politischen  Unab- 
hängigkeit des  Volks  und  seines  Staats  nach  Aussen,  als  nament- 
lich auch  für  den  wirtschaftlichen  Verkehr  der  Einzel- 
wirtschaften. 

Aehnlich  Hermann  S.  05,  besonders  auch  was  den  Punct  der  Selbständigkeit 
der  Nation  anlangt,  characteristisch  für  Hermann’s  nationalökonomische  Entwicklung: 
scharfes  Hervortreten  des  „nationalen  Machtzwecks“  in  allen  neueren  deutschen 
Staatswisseuschaften : Wahres  Collectivbcdürfniss:  dass  der  Landesverteidigung  und 
der  Rechtspflege.  S.  auch  v.  Holtzcndorff,  Priucipien  der  Politik,  Berlin  1S69, 
Kap.  8.  Hermann  specialisirt  indessen  die  weiteren  Gemeinbedürfnisse  {§.  32S  ff.) 
nicht  genügend. 

Die  Entwicklung  der  Persönlichkeit  der  einzelnen  Volks-  und  Staatsangehörigen, 
diejenige  des  Volks  als  Ganzen  und  die  Ausbildung  des  privatwirthschaftlichen  Ver- 
kehrssystems selbst  haben  das  Vorhandensein  und  die  Sicherung  einer  solchen  festen 
Rechtsordnung  zur  unumgänglichen  Voraussetzung.  Diese  Rechtsordnung  muss  die 
näheren  Bestimmungen  für  die  Verkehrsrechtsbasis  des  privatwirthschaftlichen  Systems, 
bei  den  modernen  Culturvölkern  also  namentlich  die  Bestimmungen  über  persönliche 
Freiheit,  Privateigenthum,  Vertragsrecht  u.  s.  w.,  über  freie  Goncurrenz  und  deren 
etwaige  weitere  Beschränkung  treffen  (§.  306).  Die  Aufstellung  und  Wahrung  dieser 
Rechtsordnung  bat  im  Wesentlichen  der  Staat  zu  übernehmen,  welchem  die  noth- 
wendigen  Macht-  und  Zwangsmittel  dafür  zur  Verfügung  stehen  müssen  (Buch  6). 

Die  Theorie  der  unbedingten  Ailgemcingiltigkeit  der  freien  Concurreuz  leidet 
an  der  Inconscquenz,  dass  sie  für  diese,  von  ihr  freilich  viel  zu  einseitig  formulirte 
Vorkehrsrechtsbasis  doch  den  Staat  nicht  entbehren  kann.  Vergl.  o.  §.  313,  bes.  die 
Ansichten  von  Prince-Smith  und  seiner  Schule,  die  eben  doch  den  Staat  wie 
einen  deus  ex  inachina  brauchen,  um  „gegen  Vergewaltigung  zu  schützen“.  Die 
neueren  Naturrechtslehrer  (Rechtsphilosophen)  und  theoretischen  Politiker  der  or- 
ganischen Staatsauffassung,  wie  z.  B.  Ahrens,  a.  a.  0.,  dann  auch  A.  Tren- 
del enburg  a.  a.  0.  §.  93  ff.,  103  ff.,  (Verkehr),  §.  150  ff.,  157  ff.,  162  ff.,  H.  Es  eher 
a.  a.  0.  haben  die  Einseitigkeit  der  nationalökonomischen  Schulo  der  freien  Concurrenz 
auch  in  dieser  Hinsicht  seit  lange  abgewiesen.  Trendelenburg  irrt  nur,  wenn  er 
die  Ansicht,  gegen  welche  er  polemisirt,  kurzweg  „die  nationalökonomische“,  statt 
„eine  nationalökonomische“  uennt. 

Die  Einrichtungen  und  Veranstaltungen  zur  Herstellung  und 
Zuführung  des  Gemeinguts  der  Rechtsordnung  in  der  Volkswirth- 
schaft  lassen  sich  auch  als  die  socialrechtlichen  Voraus- 
setzungen der  Volkswirtschaft  bezeichnen  und  sind  für 
die  Production  und  Vertheilung  des  Ertrags  der  Volkswirtschaft 


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Arten  der  Gemeinbedarfnisse. 


833 


oder  des  Volkseinkommens  und  Volksvermögens  gleich  wichtig, 
zum  Theil  gradezu  entscheidend.  Sie  hängen  natürlich  von  der 
Zeit  und  dem  Ort  wieder  wesentlich  ab,  sind  also  in  ihrer  Er- 
scheinungsform historische,  keine  absolute  Kategorieen. 

In  diesem  Werke  sollen  sie  Fornemlich  nur  für  die  moderne  Zeit  der  best- 
und mitteleuropäischen  Völker  untersucht  worden  (Buch  6,  Kap.  2 und  überhaupt 
Abtb.  2 der  Grundlegung). 

B.  — §.  328  [141,  142].  Die  speciellen  Gcmein- 
bedürfnisse. 

1.  „Räumliche“  oder  „örtliche“  Gemeinbedürfnisse  nennen 
wir  diejenigen,  welche  aus  den  Beziehungen  der  Menschen,  des 
Volks  und  seiner  grösseren  und  kleineren  Gruppen,  zum  Boden, 
als  ihrem  Wohngebiete  und  Arbeitsfelde,  oder  m.  a.  W.  aus 
der  räumlichen  Bedingtheit  und  örtlichen  Vertheilung 
der  Bevölkerung  über  das  in  Betracht  kommende  Gebiet  (Land) 
hervorgehen.  Die  Verschiedenartigkeit  dieser  örtlichen  Vertheilung 
bedingt  verschiedenerlei  örtliche  Geuieinschaftsbeziehungen,  an 
welche  sich  dann  bestimmte  Gemeinbedürfnisse  anknüpfen,  einmal 
nach  Arten  der  räumlichen  Gemeinschaft,  um  die  es 
sich  handelt,  ferner  nach  Arten  d es  Gemeinschaftsinteresses, 
welches  ein  (objectives)  Gcmeinbedürfniss  hervorruft. 

a)  In  ersterer  Hinsicht  sind  nach  den  Zusammenlebe-Verhält- 
nis8en  von  der  kleinsten  bis  zur  grössten  räumlichen  Gemeinschaft 
Unterscheidungen  zu  machen. 

Wohnung  (selbst  Zimmer,  das  verschiedenen  Interessenten,  Familien  gemeinsam 
als  Wohnraum  dient,  proletarische  Wohnungsverhältnisse),  Stockwerk,  Haus  (Gemein- 
samkeit der  Treppen,  Flure  u.  s.  w.),  der  Strasse,  des  Stadttheils,  der  Gemeinde,  des 
Kreises,  Bezirks,  der  Provinz,  des  Staates  selbst,  als  des  grössten  Kreises  räumlicher 
Gemeinschaftsbeziehungen  in  der  Volkswirtschaft,  und  darüber  noch  hinaus  der 
Staatennachbarschaft. 

Für  die  Rechtsordnung  stellt  sich  hier  die  Aufgabe,  diese  mannigfaltigen  Ge- 
meinschaftsbeziehungen zu  regeln,  um  eine  genügende  Befriedigung  der  Gemein- 
bedürfnisse zu  sichern.  Die  Fürsorge  hierfür  liegt  in  den  wichtigsten  Fällen  vor- 
ncinlich  dem  gemein  wirtschaftlichen  System  ob.  Dabei  ist  die  besonders 
schwierige  Aufgabe,  die  bezüglichen  Functionen  zwischen  den  freien  und  den 
Z wangsgemein wirtschaften  und  wieder  zwischen  den  einzelnen  Arten  der  letz- 
teren (Staat  einer-,  Selbstvcrwaltungskörper,  Provinz,  Kreis,  Gemeinde  andrerseits) 
richtig  zu  verteilen  (Fragen  der  üeccntralisation  der  Staatsverwaltung,  Selbstregicrung 
der  kleineren  räuuilicheu  Kreise). 

b)  Objcctive  Gemeinbedürfnisse  nach  Arten  des  örtlichen  Gemein- 
schaftsinteresses sind  insbesondere  folgende: 

Die  Enteignungs-  (Z  wan  gsenteignungs-)  Bedürfnisse,  betreffend  die  Mittel 
und  Wege  ausserhalb  des  Vertragsrechts  zur  Beseitigung  der  dem  allgemeinen  Inter- 
esse entgegenstehenden  Privatrechte  (Eigonthums-  und  dingliche  Rechte  überhaupt) 
am  Grund  und  Boden,  um  diesen,  bzw.  bestimmte,  da  und  da  gelegene,  so  und  so 
beschaffene  Grundstücke  derjenigen  Benutzung  zuzuführen,  welche  die  jeweilig  dem 


834  5.  B.  Organis.  d.  Volks  w.sch.  3.  K.  Gcm.w.scb.  Syst.  1.  H.-A.  Gem.bedürf.  §.  328. 

Gemeinschaftsiiitcres.se  wichtigste  und  nothwondigstc  tbzw.  die  dafür  geltende)  ist. 
S.  2.  Aufl.,  Abth.  2,  Kap.  5 darüber.  L Stein,  Vcrwaltungslehre  VII,  67;  Handb. 
1.  A.,  S.  144,  nennt  das  bezügliche  Gebiet:  Entwährung.  Er  versteht  darunter:  ,.das 
Recht  und  das  Verfahren  des  Staats,  vermöge  deren  derselbe  durch  seine  Verwaltung 
ein  wohlerworbenes  Privatrecht,  dessen  Aufhebung  als  eine  unabweisbar  gewordene 
Bedingung  der  allgemeinen  Entwicklung  anerkannt  ist,  gegen  Rückerstattung  seiues 
Werths  oder  gegen  Entschädigung  und  nach  gesetzlichen  Formen  aufhebt*.  Es  ist 
das  grosse  Verdienst  Stein’s,  hier  für  eine  Reihe  hochwichtiger  einzelner  Staats- 
eingriife  in  das  Privateigenthum  ein  oberstes  leitendes  Princip  in  der  Wissenschaft 
aufgestellt  und  begründet  zu  haben.  Vor  Stein  war  namentlich  bei  den  National- 
ökonomen die  Untersuchung  gewöhnlich  auf  die  isolirten  Fälle,  Grundcntlastung 
u.  dergl.  beschränkt.  Die  Enteignung  bezieht  sich  nach  dem  rechtsphilosophischen 
Begriff  nicht  auf  den  Boden  allein,  aber  ist  bei  diesem  vorzugsweise  wichtig.  Au 
dieser  Stelle  kommt  hier,  wo  es  sich  um  örtliche  Veihältnisse  handelt,  an  die  sich 
ein  Gemeiuschaftsinteresso  knüpft,  die  Boden-Enteignuug  auch  besonders  in  Betracht. — 
Es  ist  wieder  ein  Fehler  der  älteren  Nationalökonomie,  Fällo  wie  die  Grundentlastung 
als  ganz  cinzisr  dastehend  anzusehen.  Aehnliclies  kann  und  wird,  bald  zur  Herstellung 
wirtschaftlicher  Verkehrsfreiheit  (s.  Dietzel,  Syst.  d.  Staatsanleihen,  Heid.  1855, 
S.  106  und  passim),  bald  zur  Hiuübcrführung  der  privatwirtbschaftlichcn  Einrichtung 
für  die  Bedürfnisbefriedigung  in  die  gemein  wirtschaftliche  in  jedem  Zeitalter  eines 
fortschreitenden  Culturvolks  und  Culturstaats  Vorkommen.  Privattelegraphie,  Privat- 
eisenhahnen, Privatbergwerke,  Privatwasscrleitungen , in  Städten  u.  dgl.  in.  können  in 
einer  baldigen  Zukunft  dieselbe  Rolle  im  Enteignungswesen  spielen,  wie  Zehnten  in 
den  30er  und  40er  Jahren  in  Deutschland.  Die  Bodeuenteignong  geht  in  diesen 
Fällen,  wie  freilich  bei  allem  meliorirten  Boden,  bei  mit  Gebäuden  besetztem,  schon 
in  die  kapitalistische  Enteignung  mit  Uber.  Allgemeinere  derartige  Enteignungen 
(Fabriken.  Bank-,  Versicherungsgeschäftc)  würden  in  einer  zur  vollen  socialistischen 
Organisation  übergehenden  Volkswirtschaft  voraussetzungsweise  auch  Gemeinbedürfnisse 
geworden  bzw.  als  solche  anerkannt  worden  sein.  Jedenfalls  sind  Enteignungsbedürfnisse 
als  wahre  Gern  ein  bedürfnisse  im  eminenten  Sinne  des  Worts  zu  bezeichnen. 

Gemeinbedürfnisse,  welche  sich  an  die  geordnete  Benutzung  der  Elemente 
Wasser  und  Feuer  anknüpfen.  Auch  für  das  Folgende  ist  L.  Stein’s  Verwaltungs- 
lehre zu  vergleichen,  Handb.  S.  150  If.  Ich  habe  seine  Terminologie  zum  Theil 
adoptirt.  Übrigens  privatim  in  den  Vorlesungen  seit  lange  eine  ähnliche  Systemaük 
wie  er  in  der  sog.  Volks  Wirtschaftspolitik  oder  wirtschaftlichen  Verwaltung>lehre 
befolgt.  S.  meine  nachträglichen  Bemerkungen  zu  dem  Referat  über  Actiengesellsch. 
in  Hildebr.  Jabrb.  XXI,  335.  Neben  Stein  vgl.  auch  H.  Röslor,  soc.  Verwaltungs- 
recht I,  2.  Buch.  — Gerneinbedürfnisse  des  Versicherungswesens,  um  zufällig 
den  Einzelnen  betreffende  Schäden  von  einer  Gesammtheit  tragen  zu  lassen  (s.  über 
das  allgemeine  ökonomische  Princip  aller  Versicherung  meine  Abh.  Versicherungs- 
wesen im  Schönberg’schcn  Handbuch  B.  III,  im  Anfang).  — Gemeinbedürfnisse  des 
Verkehrswesens  (in  diesem  Sinne),  neinlich  des  Umlaufswesens  (Maass  und 
Gewicht,  Geld  und  Münze,  Credit  und  Banken)  und  des  Communications-  und 
Transportwesens  (Wege,  Transportierungen,  Verkchrsanstalten) , um  in  den 
arbeitsgegliederten  Volkswirtschaften  dem  Verkehr  die  Mittel  und  Wege,  deren  er 
zu  seiner  Entwicklung  bedarf,  zu  gewähren.  — Gemeinbcdurfnissc  der  Gesundheit 
und  Reinlichkeit  (öffentliches  Gcsundhoits-  oder  Sanitätswesen,  Reinigungswesen). 
Grade  die  neueste  Entwicklung  der  naturwissenschaftlichen  Kenntnisse  auf  diesem 
Gebiete  (Pilz-,  Bacillen-Theorie  u.  s.  w.)  hat  ad  hominem  demonstrirt,  wie  sehr  es 
sich  hier  uin  G cm  ei  n bedürfnisse,  nicht  um  blosse  Individualbcdürfnisse  handelt.  — 
Gemeinbcdurfnissc  der  Religio  nsübun g;  der  Sittlichkeit;  der  Bildung  und 
des  Unterrichts;  der  Humanität  (Ililfs- und  Armenwesen);  der  Vo  rgn  ü gu  u gen 
(z.  B.  Theater). 

Endlich  selbst  Gemcinbedürfnisso  hinsichtlich  der  gemeinsamen  Versorgung  mit 
gewissen  Sachgütern,  wenn  die  Technik  der  Production  und  Vertheilung 
dieser  Güter  dem  Individualbedürfniss  die  Natur  eines  Gemeinbedürfnissos  giebt^Gas, 
Wasser  u.  A.  m.  in  grossen  Städten).  (S.  auch  u.  §.  334  und  mein  Referat 
über  Actiengesellsch.  auf  d.  Eisen,  soc.-pol.  Versammlung  1873,  besonders  in  Hildebr. 
Jahrb.  XXI,  S.  272,  These  5 u.  C,  und  die  Widerlegung  der  Einwendungen  Engel  s, 
cb.  S.  337.  Jetzt  meine  Fin.wiss.  II,  1.  A.,  §.  314,  2.  A.,  §.  65.) 


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Arten  der  Gem.bedürfnissc.  Ocrtliclic,  zeitliche. 


$35 


Diese  Entstehung  von  Gemeinbedürfnissen  unter  dem  Einfluss  der  fortschreitenden 
Technik  wird  von  Cohn  a.  a.  0.  besonders  in  meiner  Theorie  bemängelt  und  auch 
Sa.t  (Grundlegung  S.  185,  Note)  sieht  in  dieser  Auffassung  eine  Incongruenz  mit  der, 
dass  das  sociale  Wcscu  des  Menschen  zu  Gemeinbedürfnisseu  führe.  Ich  meine,  dass 
diese  Incongruenz-  hier  doch  nicht  besteht.  Ein  Einzelner  mag  das  Bedtirfniss  nach 
Wasser,  Gas  als  Individualbedürfniss  fahlen,  aber  indem  zahlreiche  Einzelne  als  eine 
Gemeinschaft  dann  finden,  dass  sie  nur  durch  gemeinsame  Veranstaltungen  unter  sich 
überhaupt  genügend  zu  einer  Befriedigung  eines  solchen  Bedürfnisses  gelangen  können, 
daher  sich  zu  diesem  Gcineinschaftszwcck  verbinden  müssen,  entsteht  in  der  Tliat  ein 
Gemcinbedürfniss,  ähnlich  wie  in  den  anderen  Fällen  und  wie  auch  in  dem  Hauptfall 
der  Rechtsordnung  und  zwar  hier  unter  dem  Einfluss  der  Erwägungen,  welche  die 
Technik  der  erforderlichen  Veranstaltung  herrorruft,  grade  aus  den  „Verhältnissen 
des  menschlichen  Zusammenlebens“,  hier  des  örtlichen,  heraus,  mit  der  Entwicklung 
der  Technik  denn  auch  immer  mehr.  Die  regelmässige  Herstellung  der  Güter  zur 
Befriedigung  solcher  Gemeinbedürfnisse  (Gemeingüter)  verlangt  oft  besondere  grosso 
Anstalten  hierfür,  deren  Uebernahme  und  Betrieb  durch  einzelne  Arten  der  Gemcin- 
wirthschaften  statt  durch  Privatwirthschaften  dann  vielfach  wieder  durch  die  Rechts- 
ordnung geregelt  werden  muss.  (Vcrgl.  mein  gen.  Referat,  besonders  Abth.  I der 
Thesen  (1 — 7)  und  die  dazu  gehörigen  Ausführungen,  sowie  die  Debatte  über  diese 
Puncte  in  der  Eisen.  Versammlung  1873). 

§.329  [143].  — 2.  „Zeitliche“  Gemeinbedllrfnisse  nennen  wir 
solche,  welche  sich  aus  der  „zeitlichen  Vertheilung  der  Be- 
völkerung“, daher  aus  der  Gemeinschaft  gleichen  Lebens- 
alters, aus  der  Zusammengehörigkeit  zu  Generationen 
und  aus  den  in  diesen  Gruppen  sich  bildenden  Gern  ein  - 
sc  haftsinte  ressen  ergeben. 

a)  Das  Volk  setzt  sich  ja  aus  Individuen  verschiedenen 
Lebensalters  zusammen  und  zerfällt  dadurch  in  Altersgruppen 
mit  gewissen  Gemeinschaftsinteressen,  welche  aus  diesen  Alters- 
verhältnissen entspringen  und  hier  dann  zu  speciellen  Gemein- 
bedürfnissen führen. 

Von  besonderer  Bedeutung  sind  hier  diejenigen  Altersgruppen,  deren  Angehörige 
unfähig  oder  ungenügend  fähig  sind,  für  sich  selbst  in  wirtschaftlicher  Hinsicht  zu 
sorgen.  Hier  entstehen  eigentümliche  zeitliche  Gemcinbedürfnisse,  besonders  für  die 
Un erwachsenen  oder  die  Kinder  und  zum  Thcil  auch  für  die  erwerbs- 
unfähigen und  vermögenslosen  alten  Personen  oder  die  Greise. 

«)  Die  Gemeinbedürfnisse  der  Kinder  bestehen  im  Unterrichts-  und 
Bildungsbcdürfniss  (Frage  des  Schulzwangs),  in  dem  Schutz  vor  früh- 
zeitiger übertriebener  Ausbeutung  durch  die  Erwerbsarbeit  (Arbeiter- 
schutzrocht, Bestimmungen  über  Kinderarbeit),  im  Vorm  uudschafts-  und 
Pflegschaftsbedürfniss  bei  Waisen.  Für  die  Befriedigung  dieser  Bedürfnisse  allein 
die  Eltern  und  die  erwachsenen  Verwandten  sorgen  zu  lassen,  hat  sich  erfahrungs- 
gernäss  als  unzulänglich  erwiesen.  Es  muss  eben  deshalb  wieder  eine  eigentüm- 
liche gemeinwirthschafüiche,  eventuell  caritativo  Fürsorge  eintreten.  Der  ursprüngliche 
Widerstand  der  englischen  und  contiucntalen  nationalökonomischen  Theoretiker  der 
späteren  Smith’schcn  Schule,  Seniors  u.  a.  m.  gegen  Fabrikgesetzgebung  dieser  Art 
ist  jetzt  ziemlich  verstummt.  Aber  die  innere  principielle  Abneigung  z.  B.  eines  so 
ehrlich  consequenten  Mannes  wie  Prince-Smith  gegen  die  Fabrikgesetze  betr. 
Kinderarbeit  ist  ein  characteristisches  Zeichen  jener  älteren  Auffassung,  die  mit 
Unrecht  andere  deutsche  Freihändler  als  niemals  vorhanden  bezeichnet  haben.  Vgl. 
Prince-Smith  in  d.  Aufs.  Jacoby’s  Ziel  der  Arbeiterbewegung  in  der  Berliner 
Vierteljahrsschrift  1870,  I. 


83 1)  5.  B.  Organis.  d.  Volks.w.sc.h.  3.  K.  Getu.w.sch.  Syst.  1.  H.-A.  Gcm.bedürf.  §.  330. 

ß)  Bei  den  Greisen  (Witt wen)  fehlt  die  privatwirthscbaftlichc  Erwerbsfähig- 
keit  des  Alters  oder  der  Lebensstellung  wegen  (z.  B.  bei  Wittwen)  rielfach.  ohne  dass 
Rentenbezug  immer  Abhilfe  gewährt.  Insofern  liegen  hier  wieder  Gemeinbedürfnisse 
der  Altersversorgung  (Arbeits- Invaliden,  Alters-,  Wittwen -Pensionswesen  u.  s.  w.) 
vor.  für  welcho  das  privatwirthscbaftlichc  System  auf  der  Basis  der  freien  Concurrcnz 
keine  ausreichende  Fürsorge  trifft,  weshalb  abermals  das  gcmeinwirthschaftlichc.  event. 
das  caritative  System  eintreten  muss  (Fragen  des  Arbeiter- Versicherungswesens). 

Verwandte  Fälle  betreffen  Kranke  (auch  Geisteskranke). 

b)  Das  „Volk“  umfasst  nicht  nur  das  gerade  lebende  Ge- 
schlecht, sondern  seinem  Begriff  nach  auch  die  späteren  Gene- 
rationen, die  „noch  ungeborenen  Geschlechter“  mit.  Aus 
diesen  Verhältnissen  entspringen  gewisse  GemeinbedUrfnisse  „künf- 
tiger Geschlechter“  oder  des  „Volks  in  seiner  Zukunft  gedacht“: 
Bedürfnisse,  welche  auf  Wahrnehmung  der  Interessen  dieser  zu- 
künftigen Menschen  auch  in  der  Volks wirthsebaft  des  jetzt  leben- 
den Geschlechts  hinausgehen:  insbesondere  an  möglichster  Er- 
haltung und  richtiger  (schonsamer)  Benutzung  der  Natur- 
schätze des  Bodens,  der  Vorzüge  des  Klima’s. 

Das  privatwirthsckaftliche  System  bringt  hier  die  Gefahr  einer  einseitigen  Rück- 
sichtnahme auf  die  Bedürfnisse  der  Jetztlebenden  und  oft  selbst  nur  der  augenblick- 
lichen Privateigenthümcr  des  Bodens  mit  sich,  was  aus  der  Bewirthschaftung,  der 
Benutzung  zur  Vcrwirthschaftung  der  Naturschätze  des  Bodens  führen  kann.  Es  muss 
daher  wiederum  durch  die  Rechtsordnung  des  Staats  und  zum  Theil  durch  directes 
Eingreifen  des  gemeinwirthschaftlichen  Systems  (Uebernahmc  des  Eigenthums  an  den 
Staat,  an  die  Gemeinde,  Controlc  des  Staats  über  das  private  Grundeigenthum  und 
dessen  Bewirthschaftung)  diesen  Gefahren  im  Interesse  der  künftigen  Geschlechter 
vorgebeugt  werden:  so  im  Forstbau,  Bergbau,  in  der  Jagd  und  Fischerei,  vielleicht 
später  selbst  in  der  Landwirtschaft  (Gefahr  der  Erschöpfung  des  Bodens  an  Mineral- 
substanzen,  ohne  Garantie  des  Wiederersatzes).  Vgl.  auch  Es  eher,  Politik  I.  §.  3. 
der  mit  Recht  betont,  dass  auch  der  Staat  die  „noch  ungeborenen  Geschlechter“  mit 
umfasse.  — Die  Forst-  und  Berghoheit,  nicht  zu  verwechseln  mit  dem  fiscalischcn 
Bergregal,  findet  in  diesen  volkswirthschaftlic.il  durchaus  richtigen  Gesichtspuncten  ihre 
principielle  Berechtigung,  was  die  Schule  der  freien  Concurrenz  und  des  absoluten 
Privateigenthums  auch  nicht  immer  zugestanden  hat. 

Auch  diese  Kategorie  der  „zeitlichen  Gemeinbedürfnisse“  hat  vor  Kritikern 
(G.  Cohn)  keine  Gnade  gefunden.  Ich  halte  sic  gleichwohl  aufrecht,  natürlich  ohne 
mich  auf  den  Namen  zu  capriciren,  wenn  mau  einen  anderen  geeigneteren  vorzieht, 
den  ich  freilich  nicht  kenne.  Der  leitende  Gedanke  bei  dieser  Kategorie  entspricht 
durchaus  dem.  was  oben  über  das  Wesen  der  Gemeinbedürfnisse  gesagt  wurde.  Dass 
„Andere“,  „Dritte“  (die  Erwachsenen  für  die  Kinder,  die  Kräftigcu  für  die  Greise, 
die  Lebenden  für  die  Noch-Ungeborencn)  hier  das  Bedürfnis  bewusst  oder  überhaupt 
nur  empfinden  und  für  seine  Befriedigung  die  Vorkehrungen  treffen,  tritt  bei  dieser 
Kategorie  besonders  hervor,  kommt  übrigens  auch  sonst  vor  und  führt  nicht  zur  Ver- 
werfung des  Begriffs  Gemeinbedürfniss. 

§.  330  [144].  — 3.  Gesellschaftliche  oder  Classen- 
(Gruppen-)Gemeinbedürfnisse  nennen  wir  die  Gemein- 
bedürfnisse der  Gesellsc  haftskreise  und  Interessengruppen 
in  der  Bevölkerung,  welche  aus  der  Gemeinsamkeit  eines 
wichtigeren  Interesses  entstehen,  das  hier  eine  Anzahl  Per- 
sonen zu  einer  Interessengruppe  verbindet  und  dieselben  eben 


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Arten  der  Gern  bedürfnisse.  Gesellschaftliche. 


837 


dadurch  von  anderen  Gruppen  und  Einzelnen  trennt.  Die  Be- 
friedigung dieses  den  Einzelnen  als  Gliedern  der  Interessengemein- 
schaft eigenen  Bedürfnisses  führt  dann  zu  gemeinsamen  Ver- 
anstaltungen und  Einrichtungen  hierfür.  Die  mannigfachsten 
physischen,  wirtbschaftlichen,  geistigen,  sittlichen, 
religiösen  Interessen  führen  zu  einer  solchen  Gruppirung  der 
Bevölkerung  und  damit  zum  Hervortreten  solcher  gesellschaftlicher 
Gemeinbedürfnisse. 

R.  v.  Mohl’s  Theorie  der  gesellschaftlichen  Lebenskroisc,  d.  h.  „der 
einzelnen  je  aus  einem  bestimmten  Interesse  sich  entwickelnden  natürlichen  Genossen- 
schaften“ (Gescb.  u.  Litt.  d.  Staatswiss.,  Erl.  1855,  I.  101)  kann  hier  im  Wesentlichen 
mit  als  Begründung  dieser  Kategorie  von  Gemeinbedürfnissen,  theilweise  auch  der 
räumlichen  und  zeitlichen  dienen,  unbeschadet  der  von  Bluntschli,  Escher, 
v.  Treitschke  u.  A.  m.  wohl  mit  Recht  geäusserten  Bedenken,  ob  Mohl’s  aus 
dieser  Theorie  gezogene  Consequenzcn  für  die  Systematik  der  Staats-  und  Gesell- 
schaftswissenschaften nicht  unhaltbar  sind.  Vgl.  R.  v.  Mohl’s  bezügliche  Abh&ndl. 
in  d.  Tüb.  Ztschr.  f.  Staatswiss.  1351  und  bes.  d.  1.  Monographie  in  d.  Geschichte 
d.  Staatswiss.  I,  69  fl'.,  namentlich  88,  89  ff.,  auch  Dess.  Encyclopädie  d.  Staatswiss. 
§.  5.  Er  hebt  besonders  folgende  Interessen  bei  Völkern  der  Neuzeit  und  von  euro- 
päischer Gesittung  als  Mittelpuncte  gesellschaftlicher  Kreise  hervor:  Gemeinschaft  der 
Nationalität  und  der  Sprache,  gemeinschaftliche  Abstammung  von  geschichtlich  aus- 
gezeichneten oder  rechtlich  bevorzugten  Familien,  gemeinschaftliche  persönliche  Be- 
deutung, gleiche  Beschäftigung,  gemeinschaftliche  Verhältnisse  des  Besitzes  (Grösse, 
Art  desselben),  Gemeinschaft  der  Religion,  enges  räumliches  Beisammenwohnen.  Für 
die  Theorie  der  Gemeinbedürfnisse  in  der  Politischen  Oekonomie  wird  man  noch  mehr 
specialisiren  müssen,  aber  die  von  mir  aufgeführten  Gemeiubedürfnissc  fügen  sich 
wohl  alle  unter  eine  oder  die  andere  der  Mohl’schen  Gruppen  der  gesellschaftlichen 
Lebenskreise.  Vgl.  auch  Ahrnns,  Naturrecht  II,  §.  HO.  S.  319  ff 

Als  besonders  wichtigo  einzelne  Fälle  erscheinen  die  kirchlichen 
Gemcinbedürfnissc  der  Glaubensgemeinschaften,  die  Gemeinbedürfnisse  der 
wirtbschaftlichen  Berufsgemeinschaften  (mit  den  beiden  Hauptgruppen  in 
der  arbeits-  und  besitztheiligen  Volkswirtschaft,  der  Arbeiter  und  Unternehmer  (Arbeit- 
geber), wahrer  „socialer  Classengemcinschaften“  und  in  beiden  dann  nach  der 
Berufsart  mit  zahlreichsten  Spcciaiisirungen);  dio  Gemcinbedürfnissc  nach  Bil- 
dung. Unterricht  einer  speciellcn  Art  (z.  B.  Fachschulwesen);  nach  geselliger 
Erheiterung  und  Unterhaltung  (Clubs  u.  s.  w.)  und  viele  andere.  In  manchen 
Fällen  können  gesellschaftliche  und  örtliche  Gemeinbedürfnisse  in  einander  übergehen, 
z.  B.  bei  kirchlichen,  Bildungs-,  Unterhaltungsbedürfnisscn. 

Dio  Rechtsordnung  des  Staats  hat  auch  im  Gebiete  dieser  Gcmeinbedürfnisso  und 
der  Vorkehrungen  und  Anstalten  zu  ihrer  Befriedigung  wieder  wichtige  Aufgaben  zu 
erfüllen.  Der  Staat  muss  insbesondere  allen  berechtigten  Interessen  der 
Gesellschaftsgruppen  die  Möglichkeit,  sich  geltend  zu  machen,  ge- 
währen. wozu  eine  richtige  Gesetzgebung  über  V er  ei  ns  wesen  und  über  die  Erlangung 
selbständiger  Vermögeusfähigkeit  solcher  Vereine  u.  s.  w.  besonders  nöthig  ist.  (S.  u. 
§.  343  ff:  Ahrcns  II,  §.  62.)  Aber  er  muss  auch  Uber  sie  alle  seine  Sou- 
voränetät  bewahren  und  unter  den  verschiedenen,  vielfach  gegnerischen  Gruppen 
das  Princip  des  suum  cuiquc,  der  glcichmässigen  Behandlung  vertreten 
^Glaubensgemeinschaften,  wirtschaftliche  Classcnvereinel). 

Das  Gemeinbediirfniss  der  Rechtsordnung  specialisirt  sich 
mithin  auf  den  Gebieten  der  örtlichen,  zeitlichen  und  gesellschaft- 
lichen Gemeinbedürfnisse  in  der  That,  aber  es  geht  in  letzteren 
keineswegs  auf. 


838  5.  B.  Organis.  d.  Volkswsch.  3.  K.  Gem.w.sch.  Syst.  1.  H.-A.  Gem.bedürf.  §.  331. 

III.  — §.  331  [§.  144,  145].  Fürsorge  für  die  Be- 
friedigung der  Gemein  bedürfnisse.  Ob  und  wie  weit 
das  gemeinschaftliche  System  die  Fürsorge  für  die  Befriedigung 
der  Gemeiubedürfuisse  übernehmen  muss  und  ob  und  wie  weit  nur 
nach  dem  gemeinschaftlichen  Princip  oder  auch  nach  dem 
privatwirthschaftlichen  oder  caritativen,  wenn  auch  Seitens  der 
Gemeinwirthschaftcn  selbst,  lässt  sieh  erst  entscheiden,  wenn  unter- 
sucht worden  ist,  ob  und  wie  eventuell  das  privatwirthsehaft- 
liche  und  das  caritative  System  am  Platze  sind  und  die  beiden 
betreffenden  Principien  passend  in  Function  treten  können.  Es 
wird  sich  dabei  ergeben,  dass  die  Befriedigungsmittel  für  die  Ge- 
meinbedürfnisse  oder  die  „Gemeingüter“  zwar  überwiegend 
durch  das  gern  e in  wirtb  Schaft  liehe  System  beschafft  und  den 
Bedürftigen  zur  Verfügung  gestellt  werden  müssen.  Doch  kann 
in  beschränktem  Maasse  auch  das  privatwirthschaftliche 
und  das  caritative  System  interveniren,  nicht  immer  erfolglos, 
wenn  auch  insbesondere  das  erstere  mit  oft  nur  mangelhaftem  Er- 
folg. Ausserdem  kann,  ja  soll  und  muss  aber  auch  durch  Gemein- 
wirthschaften  selbst,  wenigstens  in  gewissen  Fällen,  mit  nach  dem 
privatwirthschaftlichen  Princip,  hie  und  da  auch  nach  dem  cari- 
tativen und  durch  (active)  caritative  Wirtschaften  gleichfalls  nach 
dem  privatwirthschaftlichen  Princip  gewirthschaftet  werden,  d.  h. 
Production,  Zuführung,  Entgelt  der  Gemeingüter  erfolgen.  Ge- 
schichte und  gegenwärtige  Praxis  bieten  für  alle  solche  Fälle  auch 
tatsächlich  Beispiele.  Indessen  wird  sich  zeigen,  dass  auf  solche 
Weise  doch  weder  ausreichend,  vornemlich  meist  nur  für  die  weniger 
wichtigen  Gemeinbedürfnisse  und  auch  für  diese  häufig  nur  un- 
zulänglich, die  Befriedigung  besorgt  werden  kann.  Das  wird  zu- 
nächst in  den  folgenden  beiden  Abschnitten  erwiesen  werden.  Die 
Unentbehrlichkeit  des  gemeinwirthschaftlichen  Systems  und  die 
Notwendigkeit,  bei  diesem  nach  dem  gemeinwirtschaftlichen 
Princip  vorzugehen,  wird  durch  den  Nachweis  hierüber  am  Besten 
begründet. 


2.  Abschnitt. 

Privatwirthschaftliche  Fürsorge  für  Gemcinhecliirftiisse. 

§.  332  [S.  260].  Vorbemerkungen.  Einer  solchen  Fürsorge  neigen  sich, 
nach  ihren  Grundanschauungen,  die  Anhänger  des  Systems  der  freien  Con- 
currcnz,  also  im  Grossen  und  Ganzen  die  Schule  von  Ad.  Smith  zu,  mit  der 
einzigen  principiellen  Ausnahme,  dass  für  die  Fürsorge  für  das  erste  aller  Gemein- 
bedürfuisse,  das  der  Rechtsordnung,  der  Staat,  also  die  höchste  Form  der 


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Privatwirthsch.  Fürsorge  f.  Gem.bedürfnisse. 


839 


Zwangsgemeinwirthschaft,  in  Anspruch  genommen  wird.  Die  Social isten  umgekehrt 
wollen  auch  für  alle  Gemeingüter  principicll  und  möglichst  stets  in  der  Wirklichkeit 
eine  gemein-,  besonders  zw  an  gsgemei  n wirtschaftliche  Fürsorge.  Die  Vertreter 
religiöser,  kirchlicher  Anschauungen  befürworten  in  grösserem  Umfange  die  An- 
wendung des  caritatirou  Systems.  Characteristisch  ist  gegenwärtig  besonders  die 
Stellung  der  einzelnen  wirtschaftlichen  Parteien  in  Betreff  dieses  Punctes  im  Unter- 
richts-, im  Verkehrswesen:  dort  der  Streit  über  staatliche  und  bezw.  kirchliche  und 
gemeindliche  Uebcrnahme  (.Leitung,  Einrichtung,  Führung)  und  über  die  finanzielle 
Behandlung  des  öffentlichen  Schulwesens  (Princip  der  reinen  Ausgabe,  Gcbührcn- 
princip,  Maass  desselben,  Fin.  I,  8.  A.,  §.  201,  II,  2.  A„  §.  48);  hier,  beim  Ver- 
kehrswesen, der  Streit  über  private,  resp.  actiengesellschaftsmässige  und  anderseits 
staatliche  und  gemeindliche  (provinciclle  u.  s.  w.)  Uebcrnahme , Leitung  und  Betrieb 
der  betreffenden  Anstalten  und  wieder  über  das  leitende  Finanzprincip  (volle,  teil- 
weise Kostendeckung,  genügende  Kente,  Ueberschnsswirthschaft,  s.  Fin.  I,  3.  A., 
§.  270  ff.,  II,  2.  A.,  §.  54  ff),  über  die  Tarifpolitik  (eb.  I,  §.  275.  291  ff.,  II,  §.  02). 
Hinsichtlich  des  ersteren  Gebiets  und  verwandter  Puncte  s.  die  Debatte  auf  dem  Eisen, 
soc.-polit.  Congress  1873  in  Anknüpfung  an  meine  Thesen  Uber  die  Einengung  des 
Actiengescllschaftswesens  zu  Gunsten  besonders  staatlicher  und  communaler  Anstalten, 
wo  u.  A.  Schm  oller  mehr  auf  meiner,  Engel  und  Gneist  mehr  auf  der  privat- 
wirtschaftlichen Seite  standen.  In  einzelnen  practischen  Fragen,  z.  B.  ob  Staats- 
oder Privatbahnen,  ob  Staats-  oder  Privatzettelbanken,  ob  Cassenzwang  für  Arbeiter- 
versichernngen  oder  nicht  u.  A.  m.,  welche  leitende  Finanzpriucipien  haben  sich  die 
Ansichten  auch  sonstiger  principicller  Gegner  übrigens  vielfach  genähert.  Das 
Nähere  in  meiner  Fin.  I.  8.  A..  Buch  3 vom  Privaterwerb  und  II,  2.  A.,  Buch  4 
von  den  Gebühren.  Namentlich  bei  letzteren  handelt  es  sich  um  die  Frage,  ob  und 
wie  weit  Gcmeinwirthschaftcn  nach  dem  privatwirthscbafdichen  Princip  des  speciellen 
Entgelts  von  Leistung  und  Gegenleistung  verfahren  sollen:  allgemeine  Principienfragen 
der  Politischen  Üekonomie.  namentlich  der  Organisationsbüro,  welche  womöglich 
immer  zuerst  nach  sachlichen,  dann  erst  nach  finanziellen  Rücksichten  zu  ent- 
scheiden sind. 

I.  — §.  333  [145].  Zulässigkeit  und  Gebiet  dieser  Für- 
sorge durch  eigene  Pri vatwirthschaften. 

Eine  privat wirthschaftlicke  Herstellung  von  Gemein- 
gütern kann  in  der  Weise  in  Frage  kommen,  dass  sich  eigene 
einzelne,  reine  Privatwirtschaften  dieser  Aufgabe  nach  den 
Grundsätzen  der  Arbeitsgliederung  („berufsmässig“)  und 
in  der  Absicht  des  Erwerbs  widmen  und  daher  die  Gemein- 
güter gegen  speciellen  Entgelt  den  Pedürftigen  im  Tausche 
(Verkauf)  überlassen.  So  ist  auch  thatsächlich  früher  und  wird 
noch  jetzt  für  manche  Gemeingüter  gesorgt. 

Sogar  Fälle  des  Rechtsschutzes  haben  zu  Zeiten  hierher  gezählt,  solange  der 
Staat  nicht  selbst  ausschliesslich  für  die  Rechtsordnung  sorgte,  und  werden  sich  unter 
dieser  Voraussetzung  wiederholen.  Hierher  gehörige  Fälle  von  allgemeinerer  Be- 
deutung sind  z.  B.  die  mittelalterlichen  Uebergaben  des  eigenen  Bodens  an  weltliche 
Grosse  und  an  die  Kirche,  mit  Rückempfang,  aber  unter  Beschwerdung  des  Bodens 
mit  Naturalabgaben  und  Diensten  gegen  Gewährung  von  Rechtsschutz,  Abnahme  des 
Wehrdienstes.  (S.  Kap.  1 d.  2.  Abth.  der  Grundlegung,  in  d.  2.  A.  §.  203.)  — Ab- 
findungen der  Privaten  mit  Räubern,  wie  im  alten  (Fricdländer.  Sittengesch.  II, 
42  ff)  und  wie  noch  im  neuesten  Italien.  — Tribute  an  Seeräuber  u.  dgl.  m.  — 
Aber  auch  in  geordneten  Staatsverhältnissen  ist  der  Fall  möglich  und  vorgekommen, 
z.  B.  Organisation  privater  Schutzwachen  für  Waaren  auf  Messen  u.  dgl.  Allgemeiner 
in  neuen  Colonialländern,  America,  Australien  zeitweise.  Neueste  Beispiele  in  den 
Vereinigten  Staaten  bei  Gelegenheit  von  Strikes  und  Lohnkämpfen,  eine  Folge  mangel- 
hafter Stellung  und  Leistungen  der  öffentlichen  Gewalt,  der  Obrigkeit. 


840  5.  B.  0 rganis.  d.  Volksw.sch.  3.  K.  Gem.w.sch.  SysL  1.  H.-A.  Gern. bedarf.  §.  334. 


Namentlich  aber  werden  die  Güter  zur  Befriedigung  mancher  örtlichen  und 
gesellschaftlichen  sowie  einiger  zeitlichen  Gemeinbedürfnisse  auf  diese 
Art  hergestellt.  Beispiele  sind  Privatschulwesen,  speculatives  Versicherungswesen. 
Verkehrsanstalten  als  Erwerbsunternehmungen  (Privateisenbahnen,  Dampfschifffahrt;. 
Creditanstaltcn  (Banken),  Gasanstalten  von  Erwerbsgesellschaften  betrieben,  Privat- 
theater u.  A.  m.  Namentlich  fungirt  die  Kapitalassociation,  besonders  die 
Acticngesellschaft  hier  als  Vertreterin  des  privatwirthschaftlichen  Systems,  wen» 
es  sich  um  Anstalten  eines  gewissen  Risicos  und  grösseren  Kapitalbedarfs 
handelt.  In  technischer  und  ökonomisch  er  Hinsicht  reicht  diese  privatwinh- 
schaftliche  Herstellung  von  Gemeingütern  öfters  aus,  auch  die  Actiengesellschaft  steht 
darin  nicht  immer  der  öffentlichen  Gemeinwirthschaft  nach , mitunter  voran.  Beide 
haben  häufig  gewisse  gemeinsame  Vorzüge  und  Nachtheile  gegenüber  dem  Privat- 
geschäft des  einzelnen  Menschen,  z.  B.  Staats-  und  Actiengcsellschaftsbetrieb  von 
Trausportanstalten,  weshalb  die  üblichen  ökonomisch-technischen  Einwände  der  Schule 
der  freien  Coticurrenz  gegen  Staatsbetrieb  oft  gar  nichts  beweisen,  z.  B.  in  der  Frag« 
der  Staatsbahnen,  wo  eben  ausser  dem  Staate  nur  Actiengesellschaften , nicht 
reine  Privatunternehmungen  in  Betracht  kommen  können.  S.  Finanzwiss.  1 . 3. 

§.  260  ff.  Aehnliches  Verhältniss  bei  Versicherungsanstalten,  s.  meine  Abh.  Ver- 
sicherungswesen im  Schönberg’schen  Handb.  III. 

II.  — §.  334  [146].  Beschränkte  Anwendbarkeit  and 
Bedenken  dieser  privatwirthschaftlichen  Fürsorge  für 
Gemei nbedürfnisse.  Diese  ergeben  sich  bei  jeder  unbefangenen 
Untersuchung  der  einschlagenden  Verhältnisse. 

1)  Ueberhaupt  nur  ein  beschränkter  und  nicht  der  wich- 
tigste Theil  dieser  Bedürfnisse  lässt  die  Befriedigung  durch  das 
privatwirthschaftliche  System  selbst  zu.  Namentlich  verlangt  das 
wichtigste  Gemeinhcdlirfniss,  dasjenige  der  Rechtsordnung, 
durchaus  die  Wahrnehmung  durch  den  Staat  selbst. 

Nur  dabei  besteht  die  Garantie  einer  richtigen  und  gerechten  Befriedigung 
dieses  Bedürfnisses  für  alle  Staatsangehörige.  Auch  deshalb  die  principielle  Be- 
seitigung aller  patrimonialcn  Justiz  in  neuester  Zeit,  — ein  Umstand,  der  in 
Preussen,  Oesterreich  und  anderen  Ländern  seit  1849  die  Steigerung  der  Ausgaben 
im  Justizdepartement  nicht  unwesentlich  mit  vermehrt  hat.  (Vgl.  z.  B.  über  Oester- 
reich meine  Ordnung  des  österreichischen  Staatshaushalts,  Wien  1 ^63.  S 44  ff.  und 
Blnntschli’s  Staatswörterb.  VII,  617).  Ebenso  bewährt  sich  bei  den  wichtigsten 
örtlichen  und  zeitlichen  Gemeinbedürfnissen  meistens  nur  das  gemeinwirthx'haft- 
liche  System,  das  um  so  ausschliesslicher  eintreten  muss,  je  grössere  Kreise 
der  Bevölkerung  an  dem  Gemeinbedürfniss  betheiligt  sind.  Nur  die  Gern  ein  bedurfnLse 
kleiner  räumlicher  Kreise  und  besonders  diejenigen  der  gesellschaft- 
lichen Interessengruppen,  welche  immer  nur  grössere  oder  kleinere  Theile 
oder  Classcn  der  Bevölkerung  betreffen,  werden  häufiger  ohne  Nachtheil  oder  selbst 
mit  Vortheil  vom  privatwirthschaftlichen  System  befriedigt.  Aber  auch  hier  ist  von 
Fall  zu  Fall  zu  untersuchen.  Selbst  gewisse  Veränderungen  der  Technik  der 
Production  können  z.  B.  mitunter  jeden  Vorzug  der  Privatwirtschaft  vor  der 
Gemeinwirthschaft  beseitigen  und  den  Uebcrgang  zum  gemcinwirthschaftlichen  System 
räthlich  machen  (städtische  Gas-  und  Wasserversorgung,  Omnibus-  und  Pferdebahn  wesen). 

2)  Der  beherrschende  privatwirtliscliaftliche  Erwerbsgcsiehts- 
punct  hei  eigenen  Privatwirtschaften  kann  zwar  aneh  bei  der 
Herstellung  und  dem  Gebrauch  von  Gemeingütern  Vortheile  in 
technischer  und  ökonomischer  Hinsicht  bieten.  Aber  die 
Beschaffenheit  vieler  Gemeingüter  wird  gerade  unter  diesem 


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Priv.wirthschaftl.  Fürsorge  für  Gem.bedürfnisse. 


841 


Gesichtspuncte  besonders  leicht  leiden,  weil  diese  Güter  nach 
anderen  als  rein  ökonomischen  Rücksichten  beurtheilt  werden 
müssen. 

So  z.  B.  die  Leistungen  der  Schulen,  selbst  der  Verkehrsanstalten  (Eisenbahn- 
wesen 1 S.  über  die  Frage  der  Staats-  und  Privatbahnen  Fin.wisa.  I,  3.  A.  §.  270  ff., 
über  Versicherungsanstalten  s.  meinen  Aufsatz  in  der  Tub.  Ztschr.  1881  u.  im  Schön- 
berg’schen  Handb.  III,  3.  A.,  S.  972  ff.). 

3)  Die  betreffenden  Vorkehrungen  zur  Herstellung  solcher 
Gemeingüter  verlangen  häufig  einen  grossen  Arbeits-  und 
Kapitalaufwand,  ökonomisch  und  technisch  am  Besten  con- 
centrirt  in  einer  oder  wenigen  Anstalten.  Wird  dem- 
gemäss im  privatwirtlischaftlichen  System  verfahren  (Verkehrs- 
anstalten, Banken,  Versicherungsanstalten),  so  ergiebt  sich  die  be- 
sondere Gefahr  factischer  Monopole  gerade  hier  (§.  310), 
worunter  die  Versorgung  der  Consumenten  dann  bei  diesen  Gütern 
in  noch  schlimmerer  Weise  leidet,  als  in  anderen  Fällen  der  ge- 
wöhnlichen Sachgüterproduction. 

Dieser  Umstand  spricht  namentlich  dagegen,  die  Versorgung  mit  manchen  wich- 
tigen Gütern  des  örtlichen  Gemeinbedürfnisses,  z.  B.  grosse  Verkehrsanstalten  (Eisen- 
bahnen), Anstalten  für  städtische  Gemeinbedurfnisse  u.  dgl.  m.  den  Actiengesellschaftcn 
zu  überlassen,  obgleich  letztere  technisch  und  ökonomisch  wohl  im  Stande  sind,  die 
erforderlichen  Gemeingüter  herzustellen. 

Erfolgt  keine  entsprechende  Centralisation,  um  solche  Ge- 
fahren zu  vermeiden,  so  zeigen  sich  als  nachtheilige  Folgen  Mangel 
an  Einheitlichkeit,  Gieichmässigkeit  in  der  Herstellung  und  Zu- 
führung der  Gemeingüter,  höhere  Kosten  u.  s.  w. 

4)  Ein  grosser  und  der  wichtigste  Theil  der  Gemein-  ' 
bedürfnisse  besteht  aus  Bedürfnissen  so  allgemeiner  Bedeutung 
für  die  ganze  Bevölkerung,  dass  eine  sichere  Bürgschaft 
dafür  vorhanden  sein  muss,  einem  Jeden  die  Befriedigung  zu 
ermöglichen.  Diese  Bürgschaft  fehlt  oft  bei  der  Herstellung  der 
betreffenden  Gemeingüter  durch  Privatwirthschaften. 

Dies  lässt  sich  an  folgendem  practisch  wichtigen  und  theoretisch  lehrreichen 
Beispiel  ausfuhren.  Ein  wichtiger,  gleichwohl  früher  wenig  gewürdigter  Gesichtspunct 
in  der  Frage,  ob  das  Eisenbahnwesen,  das  städtische  Pferdebahn-  und  Oinnibusweseu 
als  öffentliche  Unternehmung,  des  Staats,  der  Gemeinde  oder  als  private,  thatsächlich 
daher  meistens  der  Actieugesellschalten . eingerichtet  werden  soll,  ist  der  folgende, 
der  nahe  genug  hätte  liegen  sollen,  weil  er  im  Postwesen,  Telegraphen  wesen  schon 
lange  zur  Geltung  gelangt  war.  In  jedem  Eisenbahn-,  Omnibusliniennetze  sind  Cnrse 
von  verschiedener  Rentabilität  enthalten,  wahre  Activ-,  aber  auch  wahre  Passivcurse. 
Bei  einheitlichem  Eigenthums-  und  Betriebsverhältniss  übertragen  sich  die  finanziellen 
Resultate  dieser  Curse  gegenseitig,  so  dass  dadurch  auch  die  Fähigkeit  wächst,  un- 
günstige Curse  mit  aufzunehmen  oder  m.  a.  W.  in  entlegenere  Gegenden  schwächeren 
Verkehrs  das  Netz  auszudehuen  und  dadurch  immer  weiteren  Kreisen  die  Befriedigung 
des  betreffenden  Verkehrsbedürfuisses  zu  ermöglichen.  Darin  liegt  der  grosso  Vorzug 
eines  umfassenden  Staatseisenbahnnetzes  u.  s.  w.  Wird  ein  solches  Netz  einer  Acticn- 
gcsellschaft  übertragen,  so  entsteht  wieder  eine  nicht  leicht  zu  bekämpfende  Tendenz 


842  5.  B*  Organis.  d.  Volks v.scb.  3.  K.  Gcin.w.sch.  Syst.  1.  H.-A.  Gem.bedurf  §.  335. 


eines  factischcn  Monopols  und  anderseits  doch  eine  immer  neue  Schwierigkeit,  das 
Netz  auch  bei  hoch  rentablen  liauptcursen  auf  schlecht  rentirende  Nebenlinien  aus- 
zudehnen. Denn  es  ist  kaum  möglich,  einer  Gesellschaft  in  dieser  Beziehung  stringente 
Verpflichtungen  aufzulegen.  Die  zukünftige  Gestaltung  lässt  sich  nicht  so  weithin 
übersehen.  Das  Ergebnis  ist  dann  oft  das,  welches  wir  in  Prcussen  im  Eisenbahn- 
wesen früher  sahen:  die  guten  Activlinien  gehörten  alten,  verhältnissmässig  kleinen 
Gesellschaften,  die  schlechten  Linien  musste  der  Staat  übernehmen  oder  mit  Zins- 
garantieen  versehen.  Ist  das  Netz  einmal  etwas  mehr  ansgebaut,  so  wächst  auch  das 
Risico  bei  der  Uebcrnabme  neuer  Strecken  und  dafür  muss  dann,  gemäss  den  Grund- 
sätzen des  privatwirthschaftlichen  Systems,  wiederum  einer  Actiengesellschaft  eine 
besoudre  Vergütung  zu  Theil  werden.  Oder  m.  a.  W.  der  Ausbau  unterbleibt  oder 
wird  rertheuert  und  die  allgemeine  Bedürfnisbefriedigung  wird  erschwert , vielfach 
unmöglich  gemacht.  Vgl.  meine  Fin.wiss.  I,  3.  A.,  bes.  über  Eisenbahnen  §.  271  ff. , 
über  Post  II,  2.  A.,  §.  GO.  Seit  der  grossen  Eisenbahnverstaatlichung  in  Prcussen 
konnte  man  jährlich  erhebliche  Summen  für  Bahnen  zweiter  Ordnung  flüssig  machen, 
welche  von  dem  Gesammtnetz  finanziell  mit  getragen  wurden , obigem  Gesichts- 
punct  gemäss. 

Nach  der  ökonomischen  Lage  und  nach  dem  niedrigen  Bildtings- 
stande  uud  dem  unzulänglichen  Gefühl  der  Verantwortlichkeit  der 
Masse  der  Bevölkerung  lässt  sich  mit  Gewissheit  annebmen,  dass 
ein  Theil  des  Volks  nicht  im  Stande  oder  nicht  Willens  (Unter- 
richtswesen!) ist,  die  Kaufmittel  zu  verwenden,  durch  welche  ihnen 
die  Befriedigung  wichtiger  Gemciubedürfnisse  nach  den  privat- 
wirthschaftlich  von  der  Privatwirtschaft  anzulegenden  nothwendigen 
Kosten  oder  Preisen  ermöglicht  wird.  Eben  deshalb  muss  wieder 
das  gemeinwirthschaftliche,  insbesondere  das  zwaugsgemcinwirth- 
schaftliche.  mindestens  aber  das  caritative  System  diese  Bedürfniss- 
befriedigungen  vermitteln. 

III.  — §.  335.  Befolgung  des  privatwirthschaftlichen 
Princips  durch  Ge m ei nwirthsc haften  und  Wir th schäften 
des  earitativen  Systems.  Die  bezügliche  Frage  fällt  mit  der 
vorausgehend  erörterten  nicht  zusammen,  wird  daher  durch  die 
Erörterung  derselben  noch  nicht  erledigt.  Es  ist  nun  in  der  That 
möglich  und  in  gewissen  Fällen  und  in  gewissem  Umfange  zweck- 
mässig, ja  nothwendig,  auch  in  der  älteren  und  neueren  Praxis 
üblich,  nach  jenem  Princip  auch  Gemein wiithschaften  und  caritative 
Vorgehen  zu  lassen.  Das  geschieht  bei  jenen,  besonders  hei  den 
öffentlichen  Zwangsgemeinwirthschaften,  dem  Staate,  der  Gemeinde 
passend  da,  wo  eine  betreffende  Anstalt,  Einrichtung,  Thätigkeit 
Einzelnen  allein  oder  in  besonderem,  ungefähr  messbarem 
Grade,  mehr  als  Anderen,  als  der  Allgemeinheit,  zu  Gute  kommt 
oder  von  den  Einzelnen  in  Anspruch  genommen,  von  ihnen  noth- 
wendig gemacht  wird.  Hier  tritt  mit  Recht  ein  specieller  Ent- 
gelt ein,  für  welchen  die  Gesichtspuncte  des  privatwirthschaft- 
lichen Princips  und  seiner  Werthbemessung  mit  befolgt  werden 


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Friv. wirtschaftliches  Trincip  bei  Geincinwirthschaften. 


843 


können,  ja  eventuell  müssen.  Das  hierhergehörige  Finanzgebiet  bei 
öffentlichen  Körpern  ist  das  sogen.  G e b tih  ren  ge  b i e t.  Aehn- 
liehes  kann  auch  bei  caritativen  Wirtschaften  in  Frage  kommen. 

Aber  ein  wesentlicher  und  vorteilhafter  Unterschied  gegen- 
über der  Befolgung  des  privatwirthschaftiichen  Princips  im  privat- 
wirthschaftlichen  System  und  bei  dessen  eigentlichen  Gemeinwirtfa- 
schatten  bleibt  auch  hier:  die  Gemeinwirthschaft  (und  ähnlich  die 
active  earitative)  kann  bestimmen,  ob  und  wie  weit,  wo, 
wann,  in  welcher  Weise  das  privatwirthschaftliche  Princip 
statt  des  gemeinwirthschaftliehen  (oder  caritativen)  angewendet 
werden  soll.  Und  zwar  kann  sie  das  bestimmen  und  ent- 
scheiden nach  sachlichen  Gesichtspunctcn,  nach  der  Natur 
des  Gemeiubedürfnisses  und  Gemeinguts,  um  welches  es  sich 
handelt,  nach  dem  Interesse,  letzteres  leichter  zugänglich  zu  machen, 
nach  der  Leistungsfähigkeit  der  Bedürftigen , weil  sie  eventuell 
eine  andere  Kostendeckung  (Besteuerung,  Beitragserhebung)  anzu- 
wenden vermag.  Für  die  Gemeinwirthschaft  steht  daher  die  rein 
ökonomische,  die  finanzielle  Seite  der  Frage  in  zweiter  Linie. 
Für  die  eigentliche  Privatwirthscbaft  ist  dagegen  diese  Seite  regel- 
mässig und  auch  in  der  That  nach  der  Natur  dieser  Wirtschaft, 
die  erste  und  entscheidende,  selbst  wenn  das  leitende  Subject 
anderen  Motiven  als  dem  des  Eigenvortheils  zugänglich  ist;  denn 
schon  die  Concurrenz  verhindert  meist  ein  anderes  Verfahren. 

Die  richtige,  möglichst  nach  sachlichen  Gesichtspuncten  er- 
folgende Anwendung  des  privatwirthschaftiichen  Princips  durch  die 
Gemeinwirthschaft,  insbesondere  durch  die  öffentliche  Zwaugs- 
gemeinwirthschaft  (Staat,  Gemeinde  u.  s.  w.)  verhütet  dann  in  er- 
wünschter Weise,  dass  das  in*  jeder  solchen  Gemeinwirthschaft 
steckende  „communis tische“  Princip  nicht  in  zu  weitem 
Maasse  und  nicht  in  unrichtigen  Fällen  zur  Geltung  kommt.  Es 
bleibt  in  der  Gemeinwirthschaft  ein  Vortheil,  dass  so  zwischen 
verschiedenen  Kostendeckuugs-  und  Entgeltlichkeitsprincipien  ge- 
wählt werden  kann,  was  bei  den  eigentlichen  Privatwirtschaften 
im  Wesentlichen  ausgeschlossen  ist. 

In  der  Gewährung  von  Zuschüssen  aus  allgemeinen  Öffentlichen  Mitteln  (Steuern) 
zur  Kostendeckung  öffentlicher  Anstalten  und  Einrichtungen  (z.  B.  Schul-,  Verkehrs-, 
Justizwesen),  welche  einen  Theil  ihrer  Gcsammtkosten  nach  priratwirtbschaftlichem 
Princip  in  Gebühren  auf  die  speciellen  Nutznicsscr  legen,  wird  dann  freilich  auch 
immer  implicite  anerkannt,  dass  eine  Behandlung  dieser  Anstalten  und  Einrich- 
tungen rein  nach  privatwirthschaftiichen  Grundsätzen  nicht  für  angemessen  oder  nicht 
fUr  ausführbar  gilt. 


844  5.  B.  Organis.  d.  Volksw.sch.  3.  K.  Gcm.w.sch.  Syst.  1.  H.-A.  Gembcdurf.  §.  336. 


Dieser  §.  335  ist  in  dieser  3.  Auflage  neu  binzugefügt.  Eine  bezügliche  Aus- 
führung fehlte  in  den  früheren,  gehört  aber  hierher.  Denn  in  der  Tbat  ist,  mit 
Gross  (S.  766),  dessen  Anregungen  ich  hier  gefolgt  bin,  zwischen  der  Handlungs- 
weise der  eigentlichen  Privatwirtschaften  im  privatwirthschaftlichen  System  und  der 
Mitanwendung  des  privatwirthschaftlichen  Princips  auch  durch  Gemeinwirthschaftei». 
wie  der  Staat,  die  Gemeinde,  zn  unterscheiden.  Es  liegt  hier  die  allgemeine  Frage 
der  Kostendeckung  und  der  Werthbemessung  und  Normirung  „in  Verbänden“  vor. 
üeber  letztere  s.  oben  die  litterarischen  Angaben  S.  769.  Soweit  es  sich  um  öffent- 
liche Körper  handelt,  liegen  die  bezüglichen  Fragen  in  der  Finanz  Wissenschaft, 
insbesondere  in  der  Gebührcnle  hre  und  in  der  Lehre  von  den  Principien  der  Ver- 
theilung  der  allgemeinen  Steuern  (Gercchtigkeitsprincipien,  Besteuerung  nach  da? 
Leistungsfähigkeit  und  nach  Leistung  und  Gegenleistung).  Dafür  kann  ich  hier  as: 
meine  Finanzwissenschaft  verweisen,  wo  die  betreffenden  Principienfragen,  welche  hie: 
in  der  Grundlegung  zu  behandeln  waren , weiter  nach  den  finanziellen  Conseqoeaz«; 
verfolgt  werden.  S.  bes.  II,  2.  A.,  Buch  4 von  den  Gebühren  (u.  A.  §.  15 — 19.  761 
Zu  wenig  Gebühren,  zu  wenig  „Fiscalismus“  dabei  oft  nur  — ein  den  höheren  Classea 
zu  Gute  kommender  Communisinus,  S.  198.  Aehnlich  hat  mit  Hecht  K.  Marx 
geurtheilt,  z.  B.  in  der  Abweisung  der  früheren  socialdemokratischen  Fordemae 
unentgeltlichen  höheren  Schulunterrichts,  unentgeltlicher  Civilrechtsptlege.  Leber  dvt 
Steuerverthcilung  s.  in  Fin.  II  den  ganzen  3.  H.-A.  des  Kap.  3,  S.  372 — 460.  A 
der  sonstigen  Steuerlitteratur  bes.  Neumann’s  Arbeiten. 


3.  Abschnitt. 

Fürsorge  für  Gemeiiibediirftiisse  durch  das  caritative  System 

W V 

und  Function  desselben  überhaupt. 

336  [S.  264].  Vorbemerkungen.  In  der  systematischen  Nationalökonomie 
sind  besonders  Scliäffle’s  Erörterungen  auch  hier  hervorzuheben.  Sie  &tehen  noch 
sehr  vereinzelt  in  dieser  Littcratur.  S.  Syst.  3.  Aufl.,  I,  24,  33  ff.,  60,  II,  12,  b®. 
89  ff.,  177  ff.,  325  ff’.,  4S6.  Soc.  Körper  III,  371  ff.  Schäffle  bezeichnet  das  ganze 
Gebiet  mit  dem  technischen  Namen  „Hingebung“  und  zwar  in  der  Form  der  Ein- 
seitigkeit als  Liberalität  S.  Vorbem.  zu  folg.  Abschn.  Hermann,  Untersuch.. 
2.  A.,  S.  44  fl’.,  kurz,  aber  principiell  gut.  Es  ist  sonst  namentlich  auf  die  Liuerarr 
über  Wohlthätigkeits-  und  Armenwesen  zu  verweisen,  sowohl  auf  die  Special- 
littcratur  als  auf  die  Behandlung  dieser  Fragen  in  der  V erwal t un gs  1 e h re  oder 
Polizeiwissenschaft.  S.  bes.  L.  Stein,  Handb.  d.  Verwaltungslehre  S.  411  (L 
419  ff.,  R.  v.  Molil,  Polizeiwiss.  3.  Aufl.,  I,  3Ü7  ff.,  352  ff.,  Rau,  Volkswirthschafr?- 
politik  II,  §.  324  ff.  Bei  Rau  und  Mohl  auch  die  Spcciallitteratur.  A.  Etnminr- 
haus.  Armen  wesen,  Berlin  1869.  Aschrott,  Art.  Armen  wesen  im  H.-W.-B.  dir 
Staatswiss.  Vgl.  auch  K.  Siegel,  Uber  die  Verkeilung  der  Liebeseaben,  ein  Beitrag 
zur  freiwilligen  Armenpflege,  Heidelberg  1877.  Manche  brauchbare  Materialier 
und  wichtige  Fingerzeige  in  den  jährlichen  „Berichten  dos  vaterländischen  Frauec- 
vercins“,  Berlin. 

Auch  das  Gebiet  der  „Gemeinnützigkeit“  im  weiteren  Sinne,  über  da? 
eigentliche  Wohbhätigkoitsgebict  hinaus,  gehört  mit  hierher.  Auf  demselben  wird 
wohl  besonders  gern  vom  Wirken  des  „Gemciusinns“  gesprochen.  Auch  hier 
handelt  es  sich  im  Grunde  um  Fälle,  welche  wesentlich  auf  das  fünfte  Leitmotiv,  des 
Trieb  des  inneren  Gebots  zum  sittlichen  Handeln,  zurückgehen  (§.  45,  46)  Nur  sucht 
sich  der  Wille  nicht  oder  nicht  bloss  zu  bethätigen  in  Fällen  persönlicher  Hilfe- 
bedürftigkeit,  wie  im  Armen-,  Wohlthätigkeitswesen,  sondern  in  solchen,  wo  es  sich  mehr 
um  Interessen  eines  grösseren  Personenkreises  (Gemeinde,  District,  Land)  und  insofern 
mn  Etwas  handelt,  was  wahren  „öffentlichen“  Interessen  sich  nähert:  Verwendung«: 
von  Mitteln,  Arbeitsleistungen  auf  dem  Gebiete  des  Unterrichts-,  Bildungs-,  Kunstpflege-. 
Sauitäts-,  Erholung8-,  Kirchenwesens  u.  dgl.  m.,  Seitens  eines  reicheren  und  „gemein- 
nützig“ gesinnten  Patriciats  (Städte;  allgemeinere  Functionen  derart  in  der  Schweiz. 
Nordainorica,  Gr.-Britannien,  „Schenkungen“  bei  Lebzeiten,  Legate,  Erbschaften  Seitens 


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Caritatives  System. 


845 


reicher  Leute).  Vgl.  E.  Heitz,  Art.  Gemeinsinn  im  H.-W.-B.  d.  Staatswiss.  III,  801. 
v.  Miaskowski,  die  Gesellschaft  zur  Beförderung  des  Guten  und  Gemeinnützigen  in 
Basel.  Basel  1877. 

Zweifelhafter  kann  mau  sein,  ob  man  ein  anderes  wichtiges  Gebiet  hierher 
rechnen  soll , das  grade  neuerdings  mit  Recht  aus  socialpolitischen  Gründen  in  der 
Praxis  mehr  in  den  Vordergrund  tritt  und  auch  die  Theorie  beschäftigt:  das  Gebiet 
von  gemeinnützigen  Leistungen  der  Arbeitgeber  für  ihre  Arbeiter, 
über  die  vertragsmässigen  Verpflichtungen  hinaus.  Denn  wenn  auch  hier  die  besseren 
Leitmotive  wirthschaftlichen  Handelns  (Ehrgefühl,  Thätigkeitsdrang,  freilich  auch  — 
Eitelkeit)  und  in  der  That  auch  das  genannte  fünfte  Leitmotiv  mitwirken,  so  ist  doch 
eine  nähere  Verbindung  solcher  Thätigkeiten  mit  dem  Interesse  dos  Arbeit- 
gebers als  solchen,  also  insofern  mit  dem  ersten  Leitmotiv  wirthschaftlichen  Han- 
delns, thatsächlich  häufig  vorhanden  und  wohl  nicht  selten  dies  Interesse  der  eigent- 
liche Ansporn.  Damit  wird  das,  was  hier  geschieht  und  erstrebt  wird,  nicht 
herabgesetzt  und  nicht  für  unrichtig  noch  für  unwirksam  erklärt , sondern  nur 
psychologisch  characterisirt.  S.  hier  namentlich  die  Schriften  von  Post,  Muster- 
stätteu  persönlicher  Fürsorge  von  Arbeitgebern  für  ihre  Geschäftsangehörigeu,  2 Th., 
1889.  1892  und  die  von  demselben  Autor  herausgegebencn  Blätter  für  derartige  Be- 
strebungen (Wohlfahrtscorrespondeuz)  (1892).  Aehnliehe  Mittheilungen  in  Zeitschriften 
Uber  Arbeiterverhältnisse  aus  Arbeitgeberkreisen  (frühere  „Concordia“). 

Die  Schule  der  freien  Concurrenz  muss  natürlich  im  Humanitäts-  und  Armen- 
wesen eine  Verletzung  ihres  Hauptprincips:  Leistung  und  Gegenleistung,  sehen  und 
betont  daher  auch  mit  Recht  die  Gefahren  jeder  nicht  streng  iudividualisirenden. 
Erwerbsfähige  und  Faullenzer  nicht  unbedingt  ausschliesseuden,  öffentlichen  und  privaten, 
besonders  auch  kirchlichen  Armenpflege,  jeder  zu  willfährigen  Gemeinnützigkeit.  Aber 
sic  trägt  dabei  wieder  der  inneren  principiellen  Berechtigung  und  Nothwendigkeit  der 
liberaleren  Unterstützung  nicht  immer  vollständig  Rechnung.  Vgl.  das  gen.  Sammel- 
werk von  Emminghaus.  Die  Manchesterrichtung  und  die  kirchliche  nicht  individua- 
lisirende  Armenpflege  stellen  hier  zwei  Extreme  dar,  innerhalb  deren  das  Richtige 
wohl  in  der  Mitte  liegt.  Die  katholisch-kirchliche  Armenpflege  hat  wohl  practisch, 
wie  alle  religiöse,  öfters  gefehlt,  principiell  auch  sie  nicht. 

I.  — §.  337  [147],  Zulässigkeit  und  Gebiet  dieser 
Fürsorge.  Die  in  §.  334  angedeuteten  Mängel  und  Bedenken 
fällen  fort,  wenn  statt  des  privatwirthschaftlichen  das  earitative 
System  die  Fürsorge  für  die  Versorgung  mit  Gemeingütern  Über- 
nimmt. Dieses  System  kann  in  der  That  Bedeutendes  auf  diesem 
Gebiete  leisten,  für  zahlreiche  und  wichtige  örtliche,  gesellschaft- 
liche und  auch  selbst  für  zeitliche  Gemeinbedürfnisse,  namentlich 
solche,  welche  in  pflegenden  persönlichen  Diensten,  in  Werken  der 
Barmherzigkeit,  der  Gemeinnützigkeit,  liegen. 

Die  Erfahrung  hat  ganz  besonders  grossartige  und  erfolgreiche  Wirkungen  des 
caritativen  Systems  unter  dem  Impulse  religiöser  Tendenzen  und  in  der  Form 
kirchlicher  Veranstaltungen  aufzuweisen , vielleicht  niemals  mehr  als  in  der 
christlichen  Kirche,  besonders  katholischer  Confcssion.  Ausserordentliche 
Leistungen  für  Hilfs-,  Armen-,  Kranken-,  Waisenweseu,  für  Unterricht 
und  Bildung  u.  s.  w.  sind  hier  zu  verzeichnen.  Es  wird  dies  auch  der  Protestant 
unzweifelhaft  anerkennen  müssen.  Ob  und  wie  weit  hier  die  katholische  Lehre  von 
der  Bedeutung  der  guten  Werke  von  Einfluss  ist,  bestimmt  den  sittlichen  Werth 
dieser  Leistungen  mit,  ist  jedoch  für  die  hier  in  Betracht  kommende  Auffassung 
gleichgiltig.  — Auch  das  Juden  thurn  steht  notorisch  in  Leistungen  auf  dem  Ge- 
biete des  Hilfs-  und  Armenwesens  sehr  hoch,  freilich  deutlich  mit  im  specifischcn 
Interesse  seiner  Angehörigen  als  einer  aparten,  der  übrigen  Bevölkerung  fremden,  oft 
von  dieser  angefeindeten  nationalen  und  religiösen  Gemeinschaft.  — Auch  Leistungen 
im  Gebiete  des  Rechtsschutzes  und  selbst  in  der  materiellen  Cultur  (Strassen- 

A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlagen.  54 


846  5.  B.  Organis.  d.  Volks w sch.  3.  K.  Gem.w.scb.  Syst.  1.  H.-A.  Gem.bcdürfn.  §.  337. 

anlagen,  Rodungen.  Verbreitung  besserer  Technik  des  Ackerbaues  und  der  Gewerke) 
haben  nicht  gefehlt.  Beispiele  liefern  die  Klöster  in  den  ersten  Jahrhunderten 
nach  der  Einführung  des  Christenthums  besonders  in  Mittel-  und  Nordeuropa 
(Deutschland);  die  christlichen  Missionare  in  Africa,  America  noch  heute. 
(Vergl.  auch  Brentano,  Arb.versich.  S.  37  ir.) 

Ausser  und  neben  religiösen  und  kirchlichen  Impulsen  haben  freier  Gemein- 
sinn, Liebe  für  Wissenschaft  und  Kunst,  Liebe  zu  seinen  Orts-  und  Landsleuten, 
zu  seinem  Volke,  gemeinnützige  Tendenzen,  Humanität  im  besten  Sinne  des  Worts 
vorübergehend  und  bleibend  freiwillig  die  Arbeit  geleistet,  die  Mittel  gewährt 
und  die  Anstalten  geschaffen,  um  die  Befriedigung  von  Gemeinbedürfnissen 
nach  den  Principien  des  caritativen  Systems  den  Bedürftigen,  auch  ganzen  Bevöl- 
kerungen ohne  Unterschied  des  Wohlstands,  unentgeltlich  oder  gegen  einen  ge- 
ringeren Entgelt,  als  es  privatwirthschaftlich  oder  selbst  gcmeinwirthschaftlich 
anginge,  zu  ermöglichen  (Armen-  und  Krankenversorgung.  Kunstsammlungen,  Biblio- 
theken, Schulen  u.  s.  w).  In  einzelnen  alten  deutschen  Städten,  Frankfurt  a.  M.,  Cöln. 
Leipzig,  Hamburg  u.  A.  m.,  im  Grossen  und  Ganzen  in  der  Gegenwart  wohl  auf  dem 
Continent  am  Meisten  in  den  reichen  schweizer  Städten  (Basel!)  ist  Dergleichen 
zu  linden.  Die  republikanische  Einfachheit  des  Privatlebens  reicher  Schweizer  ver- 
bunden mit  solchen  Leistungen  sticht  hier  vortheilhaft  ab  gegen  einen  grossen  Theil 
der  reichen  Classen  der  übrigen  Welt,  üebrigens  kann  doch  auch  in  Nordamerica. 
England  an  die  Astor  (deutschen  Ursprungs),  Pcabody  (nordamericanischer  Geburt). 
Vanderbilt  jun.  u.  A.  m.  erinnert  werden.  Jener  Sinnspruch  im  Zopfstyl,  den 
Joseph  II.  1775  über  den  in  Wien  dem  Publicum  zur  Verfügung  gestellten  Au-Garten 
setzte:  „allen  Menschen  gewidmeter  Erlustigungsort  von  ihrem  Schätzer“,  bezeichnet 
das  innere  Wesen  solcher  Leistungen  recht  gut. 

Hier  treten  eben  jene  besseren  Motive  wirtschaftlichen 
Handelns  (Leitmotiv  3,  4,  besonders  5,  §.  39 — 46),  jene  sittlich 
gu ten  Potenzen,  deren  Berechtigung  oben  (§.  315)  betont  wurde, 
zur  Ueberwindung  des  wirtschaftlichen  Selbstinteresses  in  Wirk- 
samkeit. Der  Privatreichthum  erhält  eine  sittliche  Weihe 
und  damit  eine  sociale  Rechtfertigung  (§.  285). 

Soweit  es  sieb  hierbei  um  mehr  dauernde  und  von  der 
physischen  Person  des  Gehers  unabhängig  gestellte,  daher  womög- 
lich mit  dem  Rechte  der  juristischen  Person  ausgestattete  und  zu 
selbständigen  Ei nzelwirth schäften  werdende  Veranstaltungen 
zur  Fürsorge  für  Gemeinbedürfnisse  handelt,  kann  man  das  ganze 
Gebiet  der  Thätigkeit  des  caritativen  Systems  als  Widmungs- 
und S t i ftun  gs  wesen  bezeichnen. 

Es  ist  nun  von  gleicher  Wichtigkeit,  einerseits  die  allge- 
meine Berechtigung,  ja  Not  h wendigkeit  der  Function 
des  caritativen  Systems  gerade  im  Gebiete  der  Gemeinbedürfnisse 
neben  den  beiden  anderen  Systemen  und  insbesondere  auch  noch 
neben  einem  bestmöglichen,  d.  h.  der  Zeit  und  dem  Orte  gut 
entsprechenden  geiueinwirthschaftlichen  System,  zu  begründen; 
andererseits  aber  die  unvermeidlich  engen  Schranken, 
in  denen,  und  die  nothwendigen  Ca ut eien,  mit  denen  das  cari- 
tative  System  in  der  Regel  allein  durchführbar  ist  uud  in  und  mit 
denen  es  sich  allein  auf  die  Dauer  wohlthätig  bewährt,  festzustellen, 


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Caritat.  System.  Berechtigung  und  Nothwendigkeit 


847 


um  so  wiederum  die  Berechtigung  und  Nothwendigkeit  des  gemein- 
wirthschaftlichen  Systems  auch  von  dieser  Seite  aus  zu  erweisen. 

II.  — §.  338  [148].  Die  Berechtigung  und  Nothwendig- 
keit des  caritativen  Systems  liegt  darin,  dass  es  in  der  Volkswirt- 
schaft immer  Lücken  in  der  Bedürfnissbefriedigung  geben  wird, 
welche  sich  weder  privat-  noch  gemein  wirtschaftlich  genügend 
ausftillen  lassen.  Das  privatwirthschaftliche  System  reicht  nicht 
aus,  weil  oft  gar  kein,  mindestens  aber  kein  hinlänglich  starkes 
Interesse  besteht,  hier  Vorsorge  zu  treffen.  Das  gemeinwirtbschaft- 
liche  System  aber  muss  nach  bestimmten  festen  Hegeln  operiren 
und  kann  auf  die  Verschiedenheit  der  concreten  Fälle  häutig  nicht 
ausreichend  Rücksicht  nehmen. 

Gerade  hier  zeigt  sich  die  Stärke  des  caritativen  Systems: 
cs  kann  individualisiren.  Das  ist  aber  oftmals  unbedingt 
nothwendig,  um  allseitig  in  allen  berücksichtigungswertben  Fällen, 
aber  thunlickst  auch  nur  in  diesen,  für  genügende  Bedtirfnissbe- 
friedigungen  zu  sorgen. 

In  dem  grossen  Gebiete  des  Humanitäts-,  Armen-,  Hilfs-  und  Wohl- 
thätigkei ts wesens  und  in  verwandten  Zweigen  wird  daher  das  caritative  System 
schwerlich  je  zu  entbehren  sein.  Oeffentliche  auch  noch  so  gut  organisirte 
Armenpflege  z.  B.  wird  immer  der  Ergänzung  durch  Privatwohlthatigkeit  be- 
dürfen. Ein  neues  verwandtes  und  characteristisches  Beispiel  liefert  auch  in  Deutsch- 
land die  Gründung  privater  Hilfsvereino  für  die  Kriegsiuvaliden  neben  der  gross- 
artigsten  öffentlichen,  d.  h.  also  gemeinwirthschaftlichcn  Invalidenversorgung  (Kaiser 
Wilhelm-Verein);  ähnlich  die  private  Unterstützung  der  Krieger  während  der  Feldzüge 
selbst  durch  Gaben  aller  Art  („Liebesgaben“)  neben  einem  so  umfassenden  und  gut 
organisirten  öffentlichen  Verpflegungswesen,  wie  es  in  früheren  Zeiten  unerhört  war. 


Das  caritativc  System  führt  hierdurch  zu  einer  Sittlichung  des 
privaten  Vermögensbesitzes  („mit  dem  anvertrauten  Pfunde  wuchern“), 
des  Renteneinkommens  und  damit  zur  volkswirtksckaftlichen,  zur 
socialen  Rechtfertigung  dieser  Institution  von  der  Seite  der  Ver- 
mögensvcrtheilung  aus.  Es  giebt  ausserdem  den  besitzenden  Classen, 
ähnlich  wie  in  einigen  Fällen  das  gemeinwirthschaftliche  System 
(Ehrenämter,  Selbstregierung  u.  s.  w.),  Gelegenheiten  und  Anreiz, 
arbeitsfreie  Zeit  doch  passend  im  Dienste  der  Gesammtheit  zu  ver- 
wenden. Die  privatwirthschaftliche  Vermögensungleichhcit  darf  von 
diesem,  gewöhnlich  übersehenen  Gesichtspuncte  aus  als  ökonomische 
Voraussetzung  mancher  der  edelsten,  sittlichsten  und  auch  mancher 
der  Allgemeinheit  nützlichsten  menschlichen  Handlungen  bezeichnet 
werden.  Eine  völlig  communistische  oder  extrem  socialistische 
Gleichmacherei  des  Vermögensbesitzes  würde  hier  Wenig  verbessern, 
Vieles  verderben. 


848  5.  B.  Organis.  d.  Volksw.sch.  3.  K.  Gem.w.sch.  Syst.  1.  H.-A.  Gem.bedürfn.  §.  339. 

III.  — §.  339  1149].  Die  uotbwendige  Beschränktheit 
der  Function  des  caritativcn  Systems  ist  auf  der  anderen  Seite 
doch  ebensowenig  zu  verkennen. 

1)  Häufig  sind  schon  die  verfügbaren  materiellen  Mittel  zu 
klein,  fiiessen  nicht  regelmässig,  nicht  nachhaltig  genug,  nur  in 
Zeiten  tieferer  Erregung  der  Gefntither.  Schon  auf  den  erwähnten 
Gebieten  des  Hilfs wesens  u.  s.  w.,  wo  das  caritative  System 
an  und  für  sich  am  Besten  fungiren  kann,  reicht  es  so  notorisch 
vielfach  nicht  aus. 

Mancherlei  Beispiele  aus  dem  Wohlthätigkeitsvcreinswesen  Hessen  sich  dafür 
anführen.  Stärkung  der  sittlichen  Impulse.  Schatfung  eiuer  sittlich  - geistigen  Atmo- 
sphäre, wo  die  besseren  Motive  stärker  wirken  (Buch  1,  Kap.  1),  ist  hier  freilich  die 
Aufgabe,  aber  das  wirthschaftliche  Selbstinteresse  lässt  sich  dadurch  meistens  nur  in  be- 
schränktem Maasse  überwinden.  Auch  bleibt  cs  dem  gcmeinwirthscbaftlichen  Zwange 
gegenüber  ein  Nachtheil,  dass  die  Last,  welche  die  Herstellung  der  Güter  im  cari- 
tativen System  mit  sich  bringt,  sich  sehr  ungleich  auf  die  vermögenden  Privaten  ver- 
theilt, indem  die  egoistischeren  Elemente  unter  letzteren  sogar  von  der  Freigebigkeit 
der  Anderen  indirect  mit  Nutzen  ziehen. 

2)  Auch  das  caritative  System  kann  vornemlick  nur  für  die 
oben  hervorgehobeneu  Bedürfnisse  sorgen.  Selbst  hierbei  aber 
und  vollends  bei  einer  weiteren  Ausdehnung  seiner  Function  zeigt 
sich  erfahrungsgemäss  eine  Gefahr,  welche  unter  Umständen  ein 
prineipielles  Bedenken  gegen  das  ganze  System  hervorruft:  nemlich 
die  Gefahr  einer  grossen  Abhängigkeit  Derjenigen,  welchen  die 
Leistungen  des  Systems  zu  Gute  kommen,  von  Denen,  welche 
dieses  System  ausüben. 

So  von  der  Kirche,  Stiftungen,  reichen  Privaten  (Patronage,  Klientel).  Der  Vor- 
theil für  die  Bedürfnisbefriedigung  wird  dabei  leicht  durch  Nachtheile  für  die  ganz« 
sociale  Lage  und  für  die  geistige  Freiheit  des  Volks  aufgewogen.  Eiu  Punct,  welcher 
z.  B.  bei  der  Würdigung  der  caritativen  Leistungen  in  der  katholischen  Kirche  doch 
mit  ins  Gewicht  fällt. 

3)  Das  System  gereicht  keineswegs  immer  Denjenigen,  welche 
ihm  eine  unentgeltliche  Bedürfnissbefriedigung  verdanken,  zum 
wirklichen  nachhaltigen  Vortheil.  Ja,  die  Gefahr  des  Gegentheils 
liegt  öfters  vor.  Dadurch  ergeben  sich  wesentliche  ökonomische 
und  sittliche  Bedenken. 

Die  eigene  Thatkraft  und  vernünftige  Selbsthilfe  und  Vorsicht  erlahmen  (Ge- 
fahren bei  der  Armcnuuterstützung,  bei  der  caritativen  Beihilfe  in  ünglücksfalleir. 
z.  B.  Untergrabung  der  Grundlagen  richtigen  Versicherungswesens).  Ein  von  frei- 
händlerischer Seite  nicht  mit  Unrecht  öfters  hervorgehobeuer  Punct,  (so  in  Al.  Meyer'» 
Bemerkung  über  die  grossartige  private  Wohlthätigkeit  bei  Gelegenheit  des  grossen 
Meininger  Brands  von  1874,  D.  Handelsbl.  1874.)  Faules  Schmarotzen  verbreitet  sich 
(Bettelei,  Gefahren  der  kirchlichen,  klösterlichen  Unterstützungen).  Eine  Missleitung 
der  Arbeitskräfte  kann  die  Folge  sein  (Eintritt  Unbegabter  in  die  goistigen  Berufs- 
arten bei  Stipendienweseu  u.  dgl.  m.).  Der  Werth  der  frei  genossenen  Vortheile 
wird  in  den  Augen  der  Geniessenden  selbst  herabgedrückt  (Bedenken  bei  unentgelt- 
lichem Unterricht). 


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Carit.  System.  Beschränktheit  seiner  Function. 


849 


Allerdings  sind  alle  diese  Gefahren  bei  einer  richtigen 
Function  des  caritativen  Systems  zu  vermeiden,  insbesondere,  wenn 
das  Princip  der  sorgfältigen  Individualisirung  bei  der  Zu- 
lassung zu  den  Bedtirfnissbefriedigungen,  welche  das  System  ge- 
währt, streng  gewahrt  wird.  Aber  von  vorneherein  ist  es  begreiflich 
und  alle  Erfahrung  bestätigt  es,  dass  Fehler  in  dieser  Beziehung 
nicht  immer  vermieden  werden  und  im  Laufe  der  Zeit  sich  eher 
vermehren  als  vermindern. 

Z.  B.  bei  Stiftungen,  besonders,  wenn  die  selbstverwaltenden  Stifter  dahingegangen 
sind,  und  ganz  allgemein,  wenn  die  ursprünglich  leitenden  und  vielleicht  ganz  berech- 
tigten Ideen , welche  die  Anregung  gaben , sich  umgestalten  oder  verschwinden  und 
damit  an  Stelle  der  individualisireuden  Leistung  eine  mechanische  Handhabung  über- 
kommener Satzungen  tritt:  Gefahren  bei  allen  auf  religiöse  Ideen,  kirchliche  An- 
schauungen und  auf  die  gehobene  Stimmung  einer  verschwundenen  Zeit  gegründeten 
Veranstaltungen  des  caritativen  Systems.  Wer  z.  B.  die  Stiftungsverwaltuug  einer 
alten,  mit  viel  Stipendienfonds  versehenen  Universität  kennt,  wird  zugestehen,  wie 
schwer  cs  ist,  Fehler  in  der  Vertheilung  der  Stipendien  zu  vermeiden. 

4)  Das  caritative  System  bringt  endlich  besondere  Gefahren 
eines  Verstosses  gegen  das  ökonomische  Princip,  in  Bezug  auf 
Verwaltungskosten  u.  dgl.  mit  sich. 

Zumal  in  seinen  dauerhaften  Veranstaltungen;  Misswirtschaft , Verschwendung 
dann  die  Folge.  (Mängel  der  Stiftungsverwaltung.  Vgl.  z.  B.  in  Emminghaus’  Armen- 
wesen S.  386,  mit  Berichten  der  badischen  Landescommissäre  über  Ueberlingen). 


Zweiter  Hauptabschnitt. 

Das  Gebiet  und  die  Function  des  gemeinwirthschaft- 

lichen  Systems. 

1.  Abschnitt. 

Das  gemeinwirthseliaftliche  System  Im  Allgemeinen. 
Insbesondere  die  freien  Gemeinwirthschaften. 

§.  340  [S.  269],  Vorbemerkungen. 

Litteraturnachwcis  zu  diesem  Abschnitte  s.  o.  §.  297,  bes.  Schäffle,  a.  a.  0. 
Er  unterscheidet  (ges.  Syst.  II,  177  lf.,  326  ff.  uud  mehrfach)  bei  der  Hingebung  die 
Einseitigkeit  und  die  Wechselseitigkeit,  danach  Liberalität  und  Soli- 
darität. Zu  letzterer  rechnet  er  Gegenseitigkeitsvereine,  ünterstützungsgenossen- 
schaften,  Standesgenossenschaften  (Gewerkvereine  u.  a.  in.).  Alle  diese  auf  einseitiger 
und  wechselseitiger  Hingebung  beruhenden  freiwilligen  Verbindungen  bilden  bei 
Schäffle  (II.  104)  die  eine  Classc  der  Gemeinwirthschaften,  zu  denen  dann 
als  zweite  Classe  die  Z w an trs Verbindungen  (Staat,  Gemeinde,  Corporationen)  hinzu 
treten.  Die  Gruppirung  im  Text  trifft  also  nicht  ganz  mit  dieser  Schäfflc’schen 
zusammen.  Vgl.  auch  Schäffle,  Soc.  Körper  III.  365  ff'.  Die  nahe  Verwandtschaft 
der  Wirtschaften  des  caritativen  Systems  (auf  einseitiger  Hingebung  beruhend)  mit 
einigen  freien  Gemeinwirthschaften  habe  ich  im  Text  ebenfalls  hervorgehoben.  Es 
giebt  überhaupt  Ueb  er  gangsformen  und  Grenzgebiete,  die  sich  nicht  streng  in 
das  Schema  fügen.  Das  gilt  auch  wieder  von  manchen  freien  Gemeinwirthschaften 


$50  5.  B.  Organis.  d.  Yolksw.sch.  3.  K.  Gem.w.sch.  Syst  2.  H.-A.  Gebiet.  §.  340. 


und  Privatwirtschaften  (z.  B.  Gegenseitigkeitsversicherung  mit  speculativer  Versiche- 
rung verbunden),  sowie  von  freien  und  Zwangsgemeinwirthschaften. 

Für  die  freien  Gemeinwirthschaften  ist  sonst  besonders  auf  die  Speciallitteratur 
Uber  das  ältere  Gilde  wesen,  welches  ehemals  auch  Rechtsschutzdienste  mit 
leistete,  Zwecken  der  Religionsübung  mit  diente,  dann  über  das  neuere  deutsche 
Genossenschaftswesen  (Erwerbs-  und  Wirthschaftsgenossenschaften),  über  Ge- 
werkvercine  und  auch  über  das  Versicherun gswesen  auf  Gegenseitigkeit 
im  Allgemeinen  und  neuerdings  bes.  über  Arbeiterversicherungswosen  zu 
verweisen.  Die  principielle  Stellung  dieser  Formen  der  Gcmeinwirthschaft  in  der 
Organisation  der  Volkswirtschaft  wird  in  dieser  Litteratur  allerdings  nur  ausnahms- 
weise etwas  genauer  erörtert,  wie  z.  Th.  in  Hub  er’ s Schriften  und  im  2.  B.  des 
Werks  von  Brentano  Uber  Arbeitergilden.  Die  meisten  Schriften  sind  referierender, 
technischer  Natur  und  beschäftigen  sich  nur  etwa  mit  Principienfragen  in  Bezug 
auf  den  concretcn  Gegenstand,  den  sie  behandeln.  Für  nähere  Litteraturangaben  ist 
daher  auch  auf  die  bezüglichen  Abschnitte  der  Practischen  Volkswirtschaftslehre, 
bes.  Büch  er’ s Gewerbe-  und  Handelspolitik  in  diesem  Gesammtwerk  zu  verweisen. 

Vgl.  für  das  Folgende  etwa:  V.  A.  Huber,  Art.  Association  im  Bluntschli’schen 
Staatswörterb  I,  456 — 500,  ders.,  Reisebriefe  aus  Frankreich,  Belgien  und  England, 
3 B„  Hamb.  1S55.  ders.  in  seiner  Ztschr.  „Concordia“,  bes.  1.  Heft,  über  d.  all- 
gemeine volkswirtschaftliche  und  sociale  Bedeutung  des  Genossenschaftswesens,  Leipz. 
1861,  auch  H.  6 — 8.  Schulze -Delitzsch,  Associationsbuch  für  deutsche  Hand- 
werker und  Arbeiter,  Leipz.  1853  und  öfter,  ders.,  die  Entwicklung  des  Genossen- 
schaftswesens in  Deutschland  (Ausz.  aus  den  Blättern  für  Genossenschaftswesen), 
Berl.  1870,  ders.,  die  Genossenschaften  in  einzelnen  Gewerbszweigen,  Leipz.  1873, 
ders.,  Jahresberichte  über  die  auf  Selbsthilfe  gegründeten  deutschen  Erwerbs-  und 
Wirthschaftsgenossenschaften  seit  1859  jährlich. — L.  Brentano,  die  Arbcitergilden 
der  Gegenwart,  2 B.,  Leipzig  1871 — 72,  bes.  1L,  Kap.  1,  5.  Ders.,  das  Arbeits- 
verhältniss  gemäss  dem  heutigen  Recht,  Leipz.  1877  (vgl.  darüber  meine  Recens.  in 
d.  Jeu.  Lit.ztg.  1878,  No.  v.  5.  Mai);  ders.,  Arbeiterversicherung,  Lpz.  1878,  ders., 
Arbeiterversicherungszwang,  Berl.  1881.  W.  Hasbach,  engl.  Arbeiterversicheruugs- 
wesen,  Leipz.  1883,  Bärnreither,  die  engl.  Arbeiterverbände  und  ihr  Recht.  I. 
Tüb.  1886.  — G.  Schönberg,  Abh.  Gewerbe  und  gewerbliche  Arbeiterfrage  in 
B.  II,  3.  A.  seines  Handbuchs,  auch  für  Litteratur.  — Die  einschlagenden  Artikel 
im  Handwörterb.  d.  Staatswiss.  (Genossenschaft.  Gemeinwirthschaft  von  Gross  u.  A.  m.). 
G.  Cohn,  System  I,  bes  2.  H.  A.  Kap.  2,  ders.,  Ideen  und  Thatsachen  im  Genossen- 
schaftswesen, Schmoller’s  Jahrb.  1883.  — L.  Bamberger,  die  Arbeiterfrage 
unter  dem  Gesichtspunct  d.  Vereinsrechts,  Leipz.  1873.  — Die  Zeitschrift  „Mitthei- 
lungen der  öffentl.  Feuerversicherungsanstalten  Deutschlands“,  seit  1868,  mehrfach 
mit  Aufsätzen  Uber  Principienfragen  (öffentliche  oder  Actienanstalten).  Meine  Abh. 
Versicherungswesen  im  Schönberg’schen  Handb.  B.  III. 

Für  die  geschichtliche  Entwicklung  des  Genossonschaftsprincips,  aller- 
dings in  der  ihm  von  Gierke  beigelegten  ausserordentlich  weiten  Ausdehnung,  was 
jedoch  für  die  principielle  nationalökonomische  Betrachtung  der  Wirtschaftsformen 
und  Systeme  und  der  Bedeutung  des  Princips  für  die  Organisation  der  Volkswirt- 
schaft von  besonderem  Interesse  ist.  s.  das  grossartige  Werk  von  Gierke,  deutsches 
Genossenschaftsrecht,  2 B.,  Berl.  1868  u.  1873.  worin  auch  über  die  Entwicklung  des 
Gilden wesens  Näheres.  Vergl.  darüber  auch  Wilda,  Gildewesen  im  Mittelalter, 
Berl.  1838,  G.  Schönberg,  wirthschaftl.  Bedeutung  des  Zunftwesens  im  Mittelalter, 
Berl.  1868,  Brentano  I.  Gildeu,  Eiul..  Schmoller,  Strassb. Tücher-  u.  Weberzunft. 
Strassb.  1879,  bes.  S.  375  ff. , Schanz,  z.  Gesell,  d.  deutschen  Gesellenverbände, 
Leipz.  1876,  Stieda,  Entsteh,  d.  D.  Zunftwesens,  Hildebr.  Jahrb.  27,  1 u.  selbständig 
1877,  Pappenheim,  altdänische  Schutzgilden.  Berl.  1886.  K.  Hegel.  Städte  und 
Gilden  der  germanischen  Völker  im  Mittelalter,  2 B.,  Leipz.  1891.  Sohm,  d.  deutsche 
Genossenschaft,  Leipz.  1889,  Gross,  gilda  mercatoria,  Gött.  1883,  ders.,  the  gild 
merchant,  2 vol.,  Oxf.  1890.  Weitere  Litteratur  in  Schönberg’s  Handbuch  und  in 
den  regelmässig  mit  reichen  Litteraturangaben  versehenen  Specialartikelu  (Gewerbe, 
Handwerk  u.  v.  a.  iu.)  im  Handwörterbuch  der  Staatswisseuschaften.  Von  beson- 
derer Wichtigkeit  ist  die  Entwicklung  der  Principicn  der  Freiheit  („freie 
Einungen“)  uud  des  Zwangs  iu  diesem  Genossenschaftswesen  für  die  volkswirth- 


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Gemeiuwirthsch.  Syst,  im  Allgemeinen. 


851 


schaftlichc  Betrachtung  und  speciell  für  das  Verhältnis  der  freien  und  Zwangs- 
gcmeinwirthschaften  zu  einander. 

I.  — §.  341  [150].  Die  Aufgabe  des  gemein  wirt- 
schaftlichen Systems  (§.  300)  ist  nach  dem  Vorausgehenden 
einmal,  Unvollkommenheiten,  Härten,  Disharmonien 
auszugleichen,  welche  in  der  Bedürfnisbefriedigung  des  Volks 
aus  dem  Walten  des  privatwirthschaftliehen  Systems  und  insbe- 
sondere der  freien  Coneurrenz  hervorgeheu;  sodann  für  die 
Befriedigung  der  GemeinhedUrfnisse  zu  sorgen:  Beides 
weil  und  soweit  als  das  privatwirthschaftliche  uud  das  caritative 
System  nicht  ausreichen.  Es  handelt  sich  also  im  gemeinwirth- 
se haftliehen  System  um  die  Organisation  eines  richtigen  Cor- 
rectivdienstes  neben  dem  privatwirthschaftliehen  und  eines 
Ersatzdienstes  statt  dieses  und  des  caritativcn  Systems. 
Regelmässig,  aber,  wie  schon  gezeigt,  nicht  ausnahmelos  (§.  335), 
wird  dabei  nach  dem  gemein  wirthscha  ft  liehen  Princip 
in  Bezug  auf  die  Art  der  Production  der  Gemeingüter,  die 
Vertheilung  der  Erträge  (Besoldungs-  statt  Lohnsystem),  die  Kosten- 
deckung, die  Zuführung  der  Güter  an  die  Bedürftigen,  die  (generelle) 
Entgeltlichkeit  verfahren:  daher  nach  Grundsätzen,  welche  principiell 
von  dem  privatwirthschaftliehen  und  caritativen  Princip  ab  weichen, 
indem  nach  Gesichtspuncten  der  Billigkeit,  Zweckmässigkeit,  socialen 
Nothweudigkeit  u.  dgl.  ra.  und  daraus  hervorgehenden  Erwägungen 
die  Normen  für  die  Regelung  der  genannten  Verhältnisse  festge- 
stellt werden  (§.  300). 

Verwirklicht  wird  diese  Aufgabe  durch  die  einzelnen  Gemein- 
wirthschaften,  welche  wieder  in  der  Form  von  Einzelwirthschaften 
gebildet  werden,  zu  dem  Zweck,  wesentlich  nach  dem  gemein- 
wirthschaftlichen  Princip  Vorgehen  zu  können,  bzw.  die  Wahl 
zwischen  diesem  und  dem  privatwirthschaftliehen  (mitunter  auch 
dem  caritativcn)  zu  haben,  Combinatioueu  zwischen  den  Principien, 
z.  B.  in  der  Regelung  des  Entgelts,  der  Kostendeckung,  vorzu- 
nehmen (§.  335). 

Von  solchen  Gemeinwirthschafteu  sind  nach  dem  Entstehungs- 
grunde zwei  wesentlich  verschiedene  Classen  zu  unterscheiden: 
die  freien  und  die  Zwangsgemeinwirthschaften,  deren 
innere  Verwandtschaft  aber  anderseits  in  vielen  Puncten,  u.  A.  in 
der  Regelung  der  Entgeltlichkeit  und  Kostendeckung 
des  gemeinwirthschaftlichen  Productionsprocesses  hervortritt. 


852  3.  B.  Organis.  d.  Volksw.sch.  3.  K.  Gem.w.scb.  Syst.  2.  H.-A.  Gebiet  §.  342. 


II.  — §.342  [151].  Die  freien  Gemeinwirthschaften. 
A.  Wesen.  Dieselben  werden  durch  die  freie  That  der  bei 
ihnen  zunächst  interessirten  Privatwirthscbaften , bzw.  deren  Sub- 
jecte  gebildet  und  entstehen  durch  einen  Vertrag  derselben, 
welcher  die  Uebernahine  der  Verpflichtung,  der  Gemeinschaft  als 
Mitglied  beizutreten,  die  vereinbarten  Pflichten  zu  übernehmen, 
aber  auch  den  Anspruch,  die  Mitgliedsrechte  zu  erhalten,  zum  Inhalt 
hat.  Es  liegt  ihnen  demnach  ein  bewusstes  Motiv  des  Vortheils  zu 
Grunde,  oder  m.  a.  W.  sie  beruhen,  wie  die  Privatwirthscbaften,  in 
letzter  Linie  auch  auf  dem  wirtschaftlichen  Selbstinteresse,  welches 
die  Privaten  in  der  Vereinigung  Kräfte  und  damit  bessere  oder  in 
manchen  Fällen  überhaupt  erst  mögliche  Befriedigung  bestimmter 
Bedürfnisse  gewinnen  lehrt.  Das  Vorhandensein  des  Beweggrunds 
des  privaten  Vortheils  in  diesen  Gemeinwirthschaftcn  schliesst 
jedoch  nicht  das  gleichzeitige  Mitwirken  socialer  Gesichtspunete, 
anderer  egoistischer  und  gemeinnütziger  Motive  aus. 

Vergl.  oben  die  Vorbemerkungen  zu  diesem  5.  Buche  §.  297.  Grade,  weil  nach 
meiner  Auffassung  die  Potenz,  welche  zur  Bildung  freier  Gemeinwirtbschaften  führt, 
doch  eine  wesentlich  andere  als  die  in  den  Leistungen  des  caritativen  Systems  wirk- 
same ist,  schliesse  ich  mich  der  früheren  Sch äffle’ sehen  Gruppirung  nicht  ganz  an. 
Brentano’s  Untersuchungen,  a.  a.  ().,  z.  B.  Arb.gildcn  I,  12  IT.,  über  die  Entstehung 
der  alten  Gilden  und  der  neuen  englischen  Gewerkvereine  gipfeln  in  dem  llesultate,  dass 
besonders  in  Zeiten  des  Uebcrgangs,  bei  Auflösung  alter  Ordnungen,  die  schwächeren 
Elemente,  welche  unter  der  Isolirung  und  der  Desorganisation  leiden,  sich  zu  Gilden 
zusammen  thun.  Die  Gilden  können  hier  als  ein  Beispiel  freier  Gemeinwirthschaften 
gelten.  Das  Beispiel  zeigt  dann  eben,  dass  das  Interesse  des  Einzelnen  doch  der 
letzte  Entstehungsgrund  solcher  Vereinigungen  zur  Befriedigung  gewisser  Gemein- 
bedürfnisse (Schutz,  geordneter  Gewerbetricb)  ist  und,  wo  und  insoweit  als  Freiheit 
für  den  Zusammentritt  bestand,  auch  ehemals  immer  war,  wie  bei  den  ältesten  kauf- 
männischen und  ilandwerkergildcn  in  Deutschland,  und  gegenwärtig  wieder  ist,  wie 
bei  den  heutigen  facultativen  gewerblichen  Innungen,  bei  Arbeiter-  und  Arbeitgeber- 
vereinen (Gewerkvereinswesen).  Vergl.  (iierke  I,  180  und  überhaupt  daselbst  §.  2G. 
27  Uber  die  freie  Einung,  37,  38  über  die  kaufmännischen  Gilden  und  die  Hand- 
werkerzünfte verglichen  mit  §.  21  Uber  die  hofrechtlichen  Genossenschaften.  Das 
Mitwirken  des  socialen,  des  gemeinnützigen  Moments  neben  dem  Einzel-Interesse  ist 
daneben  gerade  in  der  Geschichte  der  alten  Gilden  nicht  zu  verkennen.  — Die  „Ver- 
tragstheorie“, welche  jetzt  beim  Staate  als  aufgegeben  gelten  kann,  ist  bei  den 
freien  Gemeinwirthschaften  ganz  richtig. 

1)  Dns  Sclbstinteresse  kann  sich  in  den  freien  Gemein- 
wirthschaften nicht  in  derselben  Weise , wie  im  pri vatwirth- 
scbaltlichen  Verkehr,  überhaupt  nur  eingeschränkter,  auch  in  Folge 
der  Combination  mit  anderen  Motiven,  geltend  machen. 

Insbesondere  muss  die  Privatwirtschaft,  welche  einer  solchen  Gemeinwirthschaft 
beitritt,  von  vorneherein  darauf  verzichten,  jenes  Princip  der  speciellen,  vollständigen 
und  genauen  Entgeltlichkeit  von  Leistung  und  Gegenleistung,  welches  dem  privat- 
wirthschaftlichen  Verkehr  cigenthümlich  ist  (§.  304),  in  ähnlicher  Strenge  für  die 
Beziehungen  zwischen  sich  und  der  Gemeinwirtschaft,  zu  welcher  sie  gehört,  durch- 
zuführen.  Dieses  Princip  ist  auch  meist  schon  aus  einem  technischen  Grunde,  wegen 
der  mehr  oder  weniger  sich  zeigenden  Incommensurabilität  der  gemeinwirthschaft- 


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Die  freien  Gemeinwirthschaften.  Wesen. 


853 


liehen  Leistungen  und  des  davon  auf  die  einzelno  betheiligte  Privatwirtschaft  ent- 
fallenden Vorteils  gegenüber  den  privatwirtschaftlichen  Gegenleistungen  unanwendbar. 
Auch  für  die  heutigen  Erwerbs-  und  Wirthschaftsgenossenschaften.  für  Consum-,  Roh- 
stoff-, Magazinvereine,  Volksbankcn  u.  s.  w.  gilt  dieser  Satz  immer  etwas. 

2)  Vermittelst  des  privatwirthschaftlicben  Preisregu- 
lators, An  gebot  und  Nachfrage,  lassen  sich  theils  aus  diesem 
Grunde,  theils  weil  die  Gemeingüter  für  den  Einzelnen  überhaupt 
nicht  immer  als  Vortheile  qualificirt  werden  können,  theils  weil 
ihre  Zuführung  an  die  Bedürftigen  genügend  sicher  gestellt  sein 
muss,  die  Beziehungen  zwischen  der  betreffenden  Gemein  wirth- 
schaft  und  den  zu  ihr  gehörigen  Privatwirtschaften,  und  dem- 
gemäss auch  die  Bemessung  der  Gegenleistungen  der  letzteren 
für  die  Leistungen  der  Gemeinwirthscbaft  vielfach  gar  nicht  regu- 
liren.  Es  muss  vielmehr  ein  anderes  Entgeltlichkeits-  oder  Werth- 
bestimmungsprincip  nach  der  Natur  auch  der  freien  Gemeinwirth- 
schaft  und  ihrer  Leistungen  obwalten:  es  werden  Beiträge  der 
betheiligten  Privatwirtschaften  zur  Bestreitung  der  Kosten  der 
Gemeinwirt schaft  (also  der  Herstellungskosten  ihrer  Leistungen) 
erhoben,  diese  Kosten  mithin  im  Effecte  auf  diese  Weise  repartirt 
oder  umgelegt  nach  einem  vereinbarten  Maassstabe. 

Dies  tritt  auch  ganz  äusserlich  formell  hervor  bei  gewissen  Arten  der  Vereine 
zur  Gegenseitigkeitsversicherung,  z.  B.  bei  kleineren  Hagelversicbernngsverbänden  mit 
Postnumerando-Zahlung  der  „Prämien“  nach  Maassgabe  der  wirklich  eingetretenen 
Schäden. 

Ein  solcher  Maassstab  muss  keineswegs  und  kann  oftmals,  wegen  der  Unmess- 
barkeit oder  des  thatsächlichen  Fehlens  der  Einzelvortheile , gar  nicht  der  aus  der 
Gemeinwirthscbaft  durch  die  einzelne  Privatwirtschaft  gezogene  Vortheil  sein,  und, 
wo  diese  Schwierigkeit  selbst  nicht  entgegen  steht,  ist  doch  eine  gleich  genaue 
Correspondenz  der  Einzclvortheile  aus  der  Gemeinwirthscbaft  und  der  Gegenleistung 
der  Privatwirtschaft  in  den  Beiträgen  an  die  Gemeinwirthscbaft,  in  der  Art,  wie  sie 
im  priratwirthschaftlichen  Verkehr  erstrebt  wird,  nicht  möglich.  Denn  es  wird  gar 
nicht  in  jedem  Einzelfall,  wie  bei  freier  Concurrenz,  über  das  Verh&ltniss  von  Lei- 
stung und  Gegenleistung  eine  Bestimmung  getroffen,  sondern  dies  Verh&ltniss  wird 
generell,  wie  in  einem  Pauschalverfahren,  regulirt.  Daraus  ergiebt  sich,  dass,  wenn 
auch  der  Vortheil  der  Privatwirtschaften  das  Motiv  zur  Bildung  der  Gemeinwirt- 
schaft ist,  dennoch  das  wirtschaftliche  Selbstinteressc  eine  Einschränkung  erfahren 
und  erdulden  muss,  namentlich  in  der  Hinsicht,  dass  keine  Bürgschaft  für  Gleich- 
mässigkeit  von  Vortheil  und  Leistung  oder  von  bestimmter  Proportionalität  beider  bei 
allen  Mitgliedern  besteht.  Ein  einfaches  Beispiel,  wie  ein  Leseverein  mit  festen 
Mitglicdsbeiträgen  (Kopf beitrag),  aber  tatsächlich  ganz  verschiedener  Benutzung  der 
Lesegelegenheifen  etc.  des  Vereins,  Seitens  der  einzelnen  Mitglieder,  mag  als  Er- 
läuterung des  Gesagten  dienen. 

3)  Auch  die  freie  Gemeinwirtbsehaft,  wenn  auch  nicht  in 
demselben  Grade  als  die  Zwangsgemein  Wirtschaft,  unterscheidet 
sich  von  der  Privatwirtschaft  daher  schon  durch  einen  gewissen 
„comm  unistisc  hen“  Characterzug  (§.  293):  an  die  Stelle  des 
privatwirthschaftlicben  Princips  der  speci  eilen  Entgeltlichkeit 
tritt  das  gemein  wirtschaftliche  Princip  der  generellen  Ent- 


854  3.  B.  Organis.  d.  Volksw.scn.  3.  K.  Gern.  w. sch.  Syst.  2.  H.-A.  Gebiet.  §.  343. 

geltlicbkeit  von  Leistung  und  Gegenleistung,  an  die  Stelle  des  iso- 
lirenden  Princips  des  Lin zelinteresses  tritt  das  vereinigende 
Princip  der  Solidarität. 

Hierbei  wird  nur  eine  gewisse  Ucbereinstimmung  des  Gebrauchswerths  der 
Gesammthcit  der  Leistungen  der  Geincinwirthschaft  und  der  Gesammtbeit  der  Gegen- 
leistungen der  Privatwirtschaften  in  den  Beiträgen  erstrebt.  Die  einzelne  Privat- 
wirthscbaft  aber  begnügt  sich  mit  dem  Bewusstsein,  auch  Vortheile,  wenn  auch  bei 
gleicher  Gegenleistung  (Beitrag)  vielleicht  nicht  genau  in  demselben  Maasse  wie  andre 
betheiligte  Privatwirtbscbaften,  aus  der  Geincinwirthschaft  zu  ziehen,  weil  ihr  das 
etwaige  Missverhältnis  zwischen  ihren  Vortheilen  und  Leistungen  nicht  zu  störeud, 
die  grösseren  Vortheile  der  anderen  nicht  zu  bedeutend  erscheinen.  An  den  ein- 
fachsten Beispielen,  wie  auch  hier  wieder  an  einem  Leseverein  u.  dgl.  in.,  einem 
Club  lässt  sich  die  Richtigkeit  dieser  Auseinandersetzung  sofort  leicht  beweisen. 

4)  Ausserdem  wirken  aber  in  der  Tbat  auch  andere  Motive, 
in  manchen  Fällen  mächtiges  sittliches  Pflichtgefühl,  reli- 
giöse Beweggründe,  Classen-,  Standesrücksichten,  gemeinnützige 
Erwägungen  u.  dgl.  m.  öfters  mit,  wodurch  sieh  dann,  ökonomisch 
betrachtet,  bei  der  auf  solchen  Motiven  beruhenden  Gemeinwirth- 
schaft  in  ausgeprägterer  Weise  ein  „communistiscber“  Cbaracter 
ausbildet.  Eine  solche  Gemcinwirtbschaft  gleicht  dadurch  that- 
sächlich,  wenn  auch  nicht  rechtlich,  mehr  den  Zwangsgemein- 
wirthschaften. 

Auch  geht  sie  unter  Umständen  in  die  Form  einer  Wirtschaft  des  caritativen 
Systems  über:  die  Beiträge  werden  etwa  nach  Wohlstands  Verhältnissen  auf  die  einzelnen 
Betheiligten  uingelegt,  wobei  die  Reichen  mit  ihrer  freien  Zustimmung  hoch,  die 
Aermeron  vielleicht  absichtlich  gar  nicht  getrolfen  werden,  während  auch  sie,  und  in 
gleichem  Maasse  wie  jene,  an  den  Leistungen  der  Gemeinschaft  thcilnchmen.  Dadurch 
wird  das  privatwirthschaftliche  Princip  von  Leistung  und  Gegenleistung  immer  weiter 
eingeschränkt.  Die  Berufsgenossenschaften,  die  Kirchen  als  freie  Verbände  sind  gross- 
artige Beispiele  dieser  Entwicklung. 

Alle  solche  Puncte,  wie  die  hier  behandelten , hängen  mit  den  Grundprincipien 
der  Besteuerung  eng  zusammen.  Es  zeigt  sich  dabei  aber  am  Besten,  dass  die 
Steuerprincipien  nicht  nur  eine  finanzielle,  sondern  stets  auch  eine  social- 
politische,  allgemein-?  olkswirthschaftliche  Seite  haben,  die  bisher  viel  zu 
wenig  beachtet  worden  ist.  Erörterungen  Uber  diese  Principien  gehören  deshalb  nicht 
nur  in  die  Finanzwissenschaft,  sondern  in  den  grundlegenden  Theil  der  ganzen 
Nationalökonomie , wie  andrerseits  in  die  rechtsphilosophische  (naturrechtliche) 
Analyse  des  Staats  und  seiner  principiolleu  Stellung  zum  Privateigenthum,  s.  z.  B. 
Trendelen  hu  rg,  Naturrecht,  §.  150.  — Von  diesem  Gcsichtpuncte  aus  habe  ich 
die  bezüglichen  Fragen  in  der  Finanzwisscnschaft  behandelt  (vgl.  I,  3.  A.,  §.  27  und 
bes.  ß.  II.  GebUhrenlchre  und  allgemeine  Steuerlehre).  S.  auch  Neumann,  pro- 
gressive Einkommensteuer,  S.  47  U.  und  dessen  weitere  Erörterungen  in  dem  Buch 
Uber  die  Steuer  und  in  seinen  hierher  gehörigen  wichtigen  und  werthvollen  Aufsätzen 
über  Steuerprincipien  und  Werth. 

B.  — §.  343  [152],  Das  Gebiet  der  freien  Gemeinwirtb- 
sehaften  ist: 

1)  vornemlicli  dasjenige  der  gesellschaftlichen  oder 
ClassengemeinbedUrfnisse  (§.  330). 

Die  hier  obwaltenden  Interessen  eignen  sich  in  der  Regel  nicht  für  die  Wahr- 
nehmung durch  Zwangsgemeinwirthschaften , öfters  verbieten  sie  dieselbe  sogar,  weil 


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Freie  Gemeinwirthschaften.  Gebiet. 


855 


sie  nicht  Interessen  der  ganzen  Bevölkerung  eines  Staats,  einer  Gemeinde  u.  s.  w.  sind. 
Aber  geschichtlich  haben  mehrfach,  z.  B.  in  dem  hochwichtigen  Falle  der 
Kirchen,  Zwangsgemeinwirthschaften  auch  hier  fungirt.  Die  Ersetzung  der  letzteren 
durch  freie  Gemein  Wirtschaften  kann  alsdann  das  Postulat  werden,  dessen  Verwirk- 
lichung freilich  gegenüber  altgewohnten  Verhältnissen  Schwierigkeiten  linden  und  für 
die  ganze  Gemeinwirthschaft  kritisch  werden  kann,  wie  sich  bei  den  Kirchen  zeigt. 
Auch  gewerbliche  Verbindungen,  wie  die  Zünfte,  Arbeitervereine  (Gewerkvereine) 
sind  hervorzuheben.  Uebergänge  in  Zwangsverbindungen  sind  dabei  gleichfalls  vor- 
gekommen, indem  z.  B.  der  Beitritt  eine  Bedingung  der  Befugniss  zur  Ausübung  des 
Gewerbebetriebs  wird  (Zünfte). 

2)  Ausserdem  können  auch  einige  der  oben  (§.  328,  329)  ge- 
nannten örtlichen  und  zeitlichen  Gemeinbedürfnisse,  selbst 
specielle  Rechtsschutzbedürfnisse  (z.  B.  Schutz wacheu-Organi- 
sation  für  Sonderzwecke)  durch  freie  Gemeinwirthschaften  passend 
wahrgenominnn  werden. 

Wichtigere  und  allgemeiner  vorkommende  Fälle  dieser  Art  liegen  vor  im  Gebiete 
des  Versicherungswesens  (Versicherungsvereine  auf  Gegenseitigkeit,  gegen  Feuersgefahr, 
auf  den  Todesfall,  Lebensversicherung.  Begräbnisscassen,  Wittwen-  und  Waisencasscn, 
Rentenversicherung,  Invaliden-  und  Alterspension,  freie  Arbeiterversicherungscassen), 
des  Credit-  und  Bankwesens  (Pfandbrief-Institute  des  Grundbesitzes,  sog.  Volksbanken 
nach  dem  Schulze’schcn  Muster,  RaiUeiseu’sche  Darlehnscassen),  des  Communicatious- 
und  Transportwesens  u.  dgl.  m.  (Stras^enanlagen  von  Grundbesitzervereinen;  Omnibus- 
linien von  freien  Vereinen  nächst  interessirter  Personen ; Schulvereine ; — Genossen- 
schaften für  Wohnungsbescbafftiog). 

Gemeinde,  Kreis  und  Staat,  d.  h.  eben  die  wichtigsten 
Zwangsgemein  wirthschaften  einer-,  die  sp  e cu  1 at  i ve  n 
Erwerbsgesellschaften  (Actiengesellschaften)  andrerseits  lassen 
freilich  den  freien  Gemeinwirthschaften  hier  sowie  auf  dem  Gebiete 
der  Veranstaltungen  für  wichtigere  gesellschaftliche  Gemeiubedürf- 
nisse  oft  nur  einen  kleinen  Raum  übrig. 

Ein  characteristisches  Beispiel  ist  bei  uns  gegenwärtig  die  Lage  im  Versicherungs- 
wesen auf  Gegenseitigkeit  (s.  meine  Abh.  im  3.  B.  von  Schönberg ’s  Handb.  3.  A , 
S.  972).  Das  neuerdings  sogen.  Gebiet  der  „socialen  Selbsthilfe“  gehört  im 
Uebrigen  priucipiell  vornemlich  den  freien  Gemeinwirthschaften,  nur  dass  Uebergänge 
in  Privatwirtschaften  auch  hier  Vorkommen  (§.  304). 

Nach  einer  ein  für  allemal  gütigen  Formel  lilsst  sich  die 
Sphäre  der  freien  Gemeinwirthschaften  gegenüber  derjenigen  der 
eben  genannten  beiden  anderen  Wirtschaftsformen  und  der  ge- 
wöhnlichen Privatwirtschaften  natürlich  nicht  bestimmen.  Die 
Aufgabe  in  diesem  speciellen  Falle  ist  dieselbe  wie  bei  der  Com- 
bination  der  drei  Wirtschaftssysteme  überhaupt  (§.  320).  Die 
concreten  Verhältnisse  müssen  entscheiden.  Daher  tritt  gesell  icht- 
lich  und  örtlich  auch  viel  Veränderung,  Wechsel  der  Wirt- 
schaftsformen auf  diesem  Gebiete  ein. 

C.  — §.  344  [153].  Die  juristische  Form  der  freien  Ge- 
meinwirthschaften hängt  vom  geltenden  Rechte  ab.  Sie  ptlegt  bei 
uns  gegenwärtig  theils  die  freiere  des  Vereins,  teils  die 


856  ».  B.  Organis.  d.  Yolksw.sch.  3.  K.  Gem.w.scb.  Syst.  2.  H.-A.  Gebiet.  §.  345. 


strengere  der  Corporation  zu  sein.  Es  können  aber  auch 
durch  das  Recht  ganz  besondere  juristische  Formen  für  die 
Zwecke  des  freien  Gemeinwirthschaftswesens  geschaffen  werden, 
wie  z.  B.  im  Falle  der  neuen  deutschen  Erwerbs-  und  Wirthschafts- 
genossenschal'ten,  des  Arbeitervereinswesens  (Gewerkvereine). 

In  privat  rechtlich  er  Beziehung  ist  alsdann  von  besonderer  Wichtigkeit,  ob 
die  Mitglieder  der  freien  Gemeinwirthschaft  solidarisch  für  letztere  haften,  bezw. 
bürgen,  wie  bei  den  genannten  deutschen  Genossenschaften  bis  zur  neuesten  Gesetz- 
gebung (von  1889).  oder  ob  das  Mitglied  mit  der  Zahlung  seiner  Einlage  oder  seines 
Beitrags  (Umlage),  oder  etwa  eines  Mehrfachen  davon  seiner  Verbindlichkeiten  gegen 
die  Gemeinwirthschaft.  daher  auch  eventuell  gegen  deren  Gläubiger  ledig  ist.  Diese 
und  die  übrigen  Vorschriften  des  Kechts  Uber  die  Bildung,  die  innere  Einrichtung, 
die  Vermögeusverhältnisse,  die  äussere  rechtliche  Stellung  und  die  wirtschaftliche 
Verkehrsfähigkeit  der  Vereine,  Genossenschaften,  Corporationen  sind  daher  für  das 
freie  Gemeinwirthschaftswesen  mit  entscheidend , hemmen  oder  fördern  seine  Ent- 
wicklung. begünstigen  oder  schädigen  sein  Gedeihen  und  seine  Function  in  der  Volks- 
wirtschaft. Die  Bemühungen  Sch  ulzc-Delitzsch ’s  u.  A.  um  eine  zweckmässige 
p ri v at rec ht  1 ich c Stellung  für  das  neuere  deutsche  Genossenschaftswesen  zeigen  iD 
einem  guten  Beispiel  dio  hohe  Bedeutung  dieses  rechtlichen  Moments  für  die  Bildung 
freier  Gemcinwirthschaften.  (Norddeutsches  Gesetz  über  diese  Genossenschaften  vom 

4.  Juli  18f»S.  Deutsches  Reichsgesetz  vom  1.  Mai  1889  mit  uunmehr  drei  verschie- 
denen Arten  der  Haftpflicht  eingetragener  Genossenschaften,  mit  unbeschränkter  Haft- 
pflicht. mit  unbeschränkter  Nachschusspflicht  lind  mit  beschränkter  Haftpflicht,  nach 
§.  2 des  Gesetzes.)  Schu  lzc-Dclitzsch.  Gesetzgebung  Uber  die  privatrechtliche 
Stellung  der  Erwerbs-  und  Wirthsehaftsgcnossenschaften , Berlin  1869.  — üeber  die 
englischen  Gewerkvereine  (Trade-Unions)  s.  Brentano,  a.  a.  0.  und  Jan  nasch,  in 
der  Zeitschr.  f.  Schweiz.  Statistik  ^auch  selbständig'),  1871.  Ueber  die  deutschen  Be- 
strebungen zur  Fortbildung  des  Vereinsrechts,  insbesondere  in  Betreff  von  Vereinen  der 
Arbeiter  und  Arbeitgeber  (Gesetzentwuif  im  deutschen  Reichstage  1872)  s.  die  auf  der 
Seite  der  Gegner  dieser  Gesetzgebung  stehende  in  §.  336  gen.  Schrift  von  L.  Bam  be  rge  r. 
Aehnlicho  Bestrebungen  neuerdings  (1892).  aber  noch  nicht  legislativ  erledigt. 

5.  auch  dio  Verhandlungen  des  Vereins  für  Socialpolitik  zu  Frankfurt  a.  M.  i.  J.  1890.) 

Den  freien  Gemeinwirtbschaften  eine  passende  Recbtslorm  und 
Rechtsstellung  zu  verschaffen,  ist  namentlich  auch  deshalb  von 
grosser  v o 1 k s wirtschaftlicher  Wichtigkeit,  weil  alsdann  das 
privatwirthschaftliche  System  leichter  richtig  ersetzt,  das  caritative 
passend  ergänzt  und  dadurch  Gebiet  und  Function  der  sonst  noth- 
wendigen  Zwangsgemeinwirthschaften  in  oft  erwünschter  Weise 
eingeschränkt  werden  können. 


2.  Abschnitt. 

Die  Zwangsgemeinwirthschaften. 

§.  345  fS.  276J.  Vorbemerkungen.  Es  entspricht  nur  dem  Character  der 
neueren  Volkswirtschaftslehre  der  physiokratischen  und  Smith’schen  Richtung,  wie 
anderseits  der  parallel  gehenden  und  genau  correspondirenden  Entwicklung  der 
neueren  Verwaltungslehre  unter  den  Einflüssen  der  Kant’schcn  Rechts-  und  Staats- 
philosophie, dass  es  an  principicllen  Erörterungen  über  den  Zwang  in  der  Volkswirt- 
schaft fast  ganz  fehlt,  und  zwar  nicht  allein  in  der  sog.  theoretischen,  sondern  sogar 
in  der  practischcn  Nationalökonomie  oder  in  der  sog.  Volkswirthschaftspolitik , in 


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Die  Zwangsgemeinwirthschaften.  Vorbcmerkuugeu.  $57 

welcher  doch  das  wohl  oder  übel  stattfindende  Eingreifen  des  Staats  die  Frage  nach 
der  principiellen  Berechtigung  des  Zwangs  nahe  legen  musste.  Diese  Frage  hängt  natür- 
lich auf  das  Engste  mit  derjenigen  nach  der  richtigen  Function  des  Staats  in  und  für 
die  Volkswirthschaft  und  demgemäss  mit  der  Frage  nach  den  Grenzen  der  Staats- 
thätigkeit  auf  diesem  Gebiete  zusammen.  Eingehende  Untersuchungen  darüber  fehlen 
in  der  Volkswirtschaftslehre  ebenfalls  viel  zu  sehr,  während  die  Resultate  der  rechts- 
philosophischen Forschungen  und  derjenigen  der  theoretischen  Politik  keineswegs  immer 
in  der  Nationalökonomie  einfach  anzunehmen  sind,  grade  weil  sie  die  Ökonomische 
Seite  zu  wenig  beachten.  Soweit  die  Frage  vom  Zwangsprincip  iu  der  Volkswirthschaft 
mit  derjenigen  von  der  richtigen  volkswirtschaftlichen  Stellung  und  Aufgabe  des  Staats 
überhaupt  zusammenfällt,  ist  auf  das  nächste  Buch  6 und  auf  die  litterarische  Vor- 
bemerkung dazu  zu  verweisen  (§.  352). 

Die  bedeutendsten  Erörterungen  über  das  Zwangsprincip  spcciell , nament- 
lich auch  über  die  Grenzen,  iu  welchen  auch  nur  der  Zwang  vom  Staate  in  der 
inneren  Verwaltung  angewendet  werden  darf,  sind  in  den  Werken  über  Polizei- 
wissenschaft oder , wie  diese  Disciplin  neuerdings  richtiger  genannt  wird , über 
innere  Verwaltungslehre  enthalten.  Die  ältere  Polizei  Wissenschaft  der  sogenannten 
Wohlfahrtsstaatsthcorio  oder  der  Wo  1 ff’ sehen  Rechtsphilosophie  hat  dein  Character 
dieser  Philosophie  und  demjenigen  der  mercantilistischen  Theorie  und  der  Staatspraxis 
des  Zeitalters  des  aufgeklärten  Despotismus  gemäss  nur  viel  zu  allgemein  auf  den 
Zwang  grade  auch  im  Wohlfahrts-  und  Culturinteresse , ja  selbst  zu  Zwecken  der 
individuellen  Moral  und  Religiosität  recurrirt  und  dadurch  begreiflicher,  aber  nicht 
durchaus  berechtigter  Weise  die  „Polizcithätigkeit“  in  der  inneren  und  in  der 
volkswirtschaftlichen  Verwaltung  theoretisch  und  practisch  in  Misscredit  gebracht. 
Den  Physiokratcu  und  A.  Smith  auf  dem  volkswirtschaftlichen , der  Kaut  'scheu 
Rechtsphilosophie  auf  dem  rechtsphilosophischen  und  politischen  Gebiete  ist  die  Reaction 
gegen  die  von  Chr.  Wolff  und  der  Rechtsphilosophie  und  Polizeiwissenschaft  seiner 
Zeit  gebilligte  oder  selbst  geforderte  maasslose  Ausdehnung  der  Staatsthätigkeit  und 
sogar  des  Zwangs,  zuerst  in  der  Theorie,  nach  und  nach  auch  in  der  Praxis  zu  ver- 
danken gewesen.  Aber  diese  Reaction  ist  viel  zu  weit  gegangen.  So  berechtigt  das 
Forschen  nach  Grenzen  der  Staatsthätigkeit  und  des  Zwangs  speciell  war,  so  not- 
wendig Garantieen  für  die  Innohaltung  der  jeweilig  gesetzlich  bestehenden  Grenzen 
von  der  Theorie  gefordert  werden  mussten,  so  einseitig  war  die  alleinige  Betonung 
des  Rechtsschutz-Zwecks  des  Staats  und  so  bedenklich  war  es,  eigentlich  den  ganzen 
Inhalt  der  inneren  und  volkswirtschaftlichen  Verwaltung  preis  zu  geben.  Darin  lag 
ein  unverkennbarer  Rückschritt  gegen  die  Wohlfahrtsstaatstheoric,  der  theoretisch 
und  practisch  nachteilig  genug  gewirkt  hat.  Die  physiokratisch-Smith’sche  National- 
ökonomie und  die  Kant'schc  Rechtsphilosophie  haben  vereint  hier  nur  zu  entgegen- 
gesetzten Einseitigkeiten  wie  der  Mercantilismus  und  der  politische  Eudämonismus 
geführt.  Dadurch  ging  der  Blick  für  die  Unentbehrlichkeit  des  Zwangsprincips  auch 
in  der  Volkswirthschaft  verloren. 

Die  Aufgabe,  welche  in  der  Wissenschaft  von  der  letzteren,  in  der  Politischen 
Oekonomie  vorliegt,  ist  wesentlich  dieselbe,  welche  in  der  auf  die  neuere  organische 
und  historische  Staatsauffassung  begründeten  Inneren  Vcrwaltungslehre  zu  lösen  ist 
und  welche  L.  Stein  doch  auch  R.  v.  Mohl  gegenüber  in  seinem  System  der  Ver- 
waltungslehre so  grossartig  gefördert  hat.  Aus  der  Theorie  des  Wohlfahrtsstaats  ist, 
wie  Stein  die  Aufgabe  für  die  Innere  Verwaltungslehre  formulirt,  der  Inhalt  der 
Verwaltung  zu  entnehmen  (s.  auch  oben  §.  315,  S.  S10).  Mau  kann  ähnlich  sagen, 
aus  dieser  Theorie  und  aus  der  mercantilistischen  Theorie  und  Praxis  ist  die  prin- 
cipielle  Berechtigung  der  umfassendsten  Staatsthätigkeit  in  der  Volkswirthschaft  und  die 
gleiche  principiellc  'Berechtigung  des  Zwangs  in  volkswirtschaftlichen  Verhältnissen 
zu  entnehmen:  der  Grundsatz,  dass  die  Volkswirthschaft,  zumal  fortschreitender  Cultur- 
völker,  auch  Staatswirthschaft  ist  und  immer  mehr  werden  muss  (Rodb  er  tu  s,  s.  oben 
§.  150  11.).  Aus  der  Kant’schen  Rechts-  und  Staatsphilosophie  hat  dio  Verwaltungs- 
lehre dagegen  das  Ancrkcnntniss  principieller  Not h Wendigkeit  einer  verfassungsmässig 
festgestellten  und  durch  geeignete  Organe  mittelst  eines  geeigneten  Verfahrens  (Ver- 
waltungsrechtspflege) geschützten  Grenze  zwischen  Staats-  und  Privatthätigkeit  und 
einer  Grenze  des  Zwangs  zu  holen.  Aehnlich  muss  wieder  dio  Volkswirtschaftslehre 
aus  jener  Philosophie  und  aus  der  physiokratisch-Smith’schen  Nationalökonomie  die 


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858  5.  B.  Organis.  d.  Volksw.sch.  3.  K.  Gcm.w.sch.  Syst.  2.  H.-A.  Gebiet.  §.  346. 


Lehre  von  der  principiellen  Berechtigung  der  Privattbätigkeit  und  von  der  Noth- 
wcndigkeit  einer  principiellen  Beschränkung  des  Zwangs  aufnehmen.  Zwischen  dein 
Staat  und  dem  Individuum  aber  bedarf  es  in  der  Volkswirtschaft  der  Zwischen- 
glieder, welche  theils  in  den  freien  Gemeinwirthschaften,  theils  in  den  übrigen  Arten 
der  Zwangsgcmeinwirthschaften  (neben  dem  Staate)  oder  den  politisch  sogen.  Selbst- 
verwaltungskörpcrn  zu  finden  sind.  Die  Politik,  die  Verwaltungslehre  und  die  Poli- 
tische Oekonomie  verdanken  hier  der  Gneist'scben  Lehre  von  der  Selbstverwaltung 
die  bedeutendste  Förderung.  Speciell  über  das  Zwangsprincip  in  der  inneren  Ver- 
waltung, d.  h.  eben  über  die  Polizei,  welche  das  Zwangsmoment  in  aller  Verwaltung 
darstellt,  s.  R.  v.  Mo  hl,  Polizei  wiss.,  3.  Auf!.,  Tüb.  1886.  I,  §.  7,  namentlich  aber 
L.  Stein.  Verwaltungslchre  I (1.  Aufl.),  196  fT.,  II.  62  fF.,  IV,  Einl.  1 fL,  z.  Th. 
1 — 88.  Vgl.  auch  Ahrcns,  Naturrecht  II,  §.  60,  bes.  S.  61  ff.  S.  sonst  besonders 
wieder  Sch&ffle  an  d.  in  den  Vorbemerkungen  zu  diesem  5.  Buche,  §.  297,  S.  761 
gen.  Stellen  s.  Syst,  und  im  Soc.  Körper  III,  36;  ff.  Passim  G.  Cohn.  Syst.  I, 
2.  H.-A.,  bes.  Kap.  2;  dcsgl.  passim  Sax,  Grundlegung,  bes.  Abschn.  II  (collec- 
tivistisclic  Zwecksetzungen),  v.  Ehering,  Zweck  im  Recht,  I,  Kap.  8. 

I.  — §.  346  [154].  Wesen.  Die  zweite,  ungleich  wichtigere 
Classe  der  Gemeinwirthschaften,  von  wahrhaft  fundamentaler  Be- 
deutung für  den  Aufbau  der  ganzen  Volkswirtschaft,  sind  die 
Zwangsgcmeinwirthschaften  (§.  300). 

Sie  beruhen  auf  zwangsweisem  Eingreifen  einer  mit  hin- 
länglicher Macht  ausgestatteten  Autorität,  in  letzter  Linie  immer 
des  Staats  oder  des  Inhabers  der  „öffentlichen  Gewalt“ 
in  die  Sphäre  der  übrigen  Einzelwirtschaften,  insbesondere  der 
Privatwirtschaften,  oder  m.  a.  W.  auf  der  „Bewältigung  der  Ge- 
sellschaft durch  den  Staat“,  auf  der  Beugung  des  wirtschaftlichen 
Selbstinteresses  der  Individuen,  soweit  notwendig  und  nicht  andere 
Motive  schon  hinlänglich  mächtig  dieses  Selbstinteresse  eiuschränkeu 
und  zurlickdrängen,  unter  die  Interessen  der  Gemeinschaft,  unter  die 
Zwecke  der  menschlichen  Gesammtbeiten.  Diese  Zwecke  lassen 
sich  nur  zum  Theil  unter  den  Begriff  des  Vorteils  (Interesses)  des 
Einzelnen  bringen.  Sie  betreffen  überwiegend  Existenzbedingungen 
der  Gattung  und  des  Einzelnen  als  Mitglieds  der  Gattung,  Eut- 
wicklungsbedingungen  der  ganzen  Volkswirtschaft  und  auch  des 
privatwirthschaftlichen  Systems  in  ihr,  endlich  sittliche  Zwecke 
der  Gesammtheit  wie  des  Einzelnen,  woraus  sich  für  letzteren 
Pflichten  gegen  die  Gesammtheit,  speciell  gegen  den  Staat  ergeben. 
Die  Fürsorge  für  die  wichtigsten  Gemeinbedürfnisse  (§.  327  ff.)  ist 
nur  durch  die  Zwangsgemeimvirtbschaften  zu  erlangen. 

Siehe  für  Weiteres  schon  oben  die  Ausführungen  §.  300  ff,  wo  auch  die  auf 
die  Bildung  der  Zwangsgeineinwirthschaftcn  hindrängenden  Momente  berücksichtigt 
worden  sind. 

Gncist’s  Schriften  über  englisches  Verfassungs-  und  Verwaltungsrecht,  sowie 
seine  mehr  dogmatischen  Schriften  auf  dem  Gebiete  des  öffentlichen  Rechts  sind  für 
das  leitende  Princip,  die  Bewältigung  der  Gesellschaft  durch  den  Staat,  hier  vor  allen 
zu  nennen.  Vergl.  u.  A.  Gneist,  Rechtsstaat,  Berlin  1872,  bes.  Abschn.  I,  II.  IX, 
130  ff,  2.  Aufl.  1879.  Gedanken  der  Stahlseilen  Rechtsphilosophie  kommen  übrigens 


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Die  Zwangsgemeinwirthschaften.  Wesen. 


859 


in  der  Theorie  der  Zwangsgemeinwirthschaften  auch  wieder  vielfach  zu  Ehren  („Auto- 
rität, nicht  Majorität").  — Die  Zurückführung  der  Zwangsgemeinwirthschaften , voran 
des  Staats  als  Collectivwirthschaft,  auf  den  Gemeinsinn  habe  ich  oben  schon  in 
den  Vorbemerkungen  zu  diesem  Buche,  S.  763  als  m.  E.  unhaltbar  und  nur  auf  einer 
Fiction  beruhend  bezeichnet.  Darin,  dass  die  von  ihm  sogen,  „öffentlichen“ 
Wirtschaftsorganisationen  nicht  auf  den  Gemeinsinn,  sondern  auf  die  öffentliche 
Gewalt  zu  begründen  sind,  stimmt  Schäffle  mir  jetzt  bei,  Soc.  Körper  III,  369. 
S.  auch  Knies.  Polit.  Oekon..  2.  A.,  S.  223  lf. 

Aber  im  Uebrigen  sind  es  nicht  neuere,  sondern  uralte  Gedanken  und  Principien, 
an  welche  auch  die  Politische  Oekonomie  hier  wieder  anzuknüpfen  hat:  antike 
Anschauungen,  trotz  und  wegen  unserer  modernen  atoinistisch-iudividualistischen 
Staatsauffassung  und  Voranstellung  der  Berechtigung  des  Einzelnen.  Die  Grund- 
gedanken in  Aristoteles’  Politik,  ja  selbst  in  Plato’s  Staat  hinsichtlich  der 
naturnoth wendigen  Unterordnung  des  Einzelnen  unter  und  Einordnung 
desselben  in  den  Staat  sind  in  der  That,  richtig  verstanden,  nicht  nur  berechtigt  für 
altgrichische  Verhältnisse,  sondern  unbedingt  wahr,  nicht  Sätze  von  histo- 
rischer Relativi  tät,  sondern  von  logischer  Absolutheit.  Die  Nationalökonomie 
hat  dies  viel  zu  sehr  aus  den  Augen  verloren.  Namentlich  das  I.  Buch  von  Aristoteles’ 
Politik,  bes.  Kap.  2 (ed.  Bekker)  darf  daher  auch  hier  nicht  unerwähnt  bleiben.  Jene 
berühmten  Sätze:  d/o  txuou  nokiq  <pvoti  toxiv,  f-i'ntQ  xul  ul  tiqGkcu  xoivwviat 

(paveQov  oxi  (pvoFt  i/  nokiq  £axl,  xul  oxi  ttv&Qionoq  ipvoti  Txokixixov 

£u)ov,  xul  o unokiq  ötu  ipvoiv  xul  ov  6iu  x v%f]v  i'/xoi  ipuvkig  toxiv  ij 
XQfixxiov  r)  uv&QiüTxoq,  und  endlich:  bxi  /uv  ovv  i/  7t 6kiq  xul  ipvoet  %u) 
TLQOTtQOV  ij  txuoxoq  örjkov'  £ l yug  fit/(  ovxupxr/q  txuoxoq  yuiyioiktfg,  b/toimq 
roiq  Ükkoiq  pit()toiv  t'Sti  TiQ^q  xo  okkov ' o öh  /ii/  dvvu/itvoq  xoivioveiv  fj 
/jiq&tv  Afo/ievoq  di-  avtuQXtiuv,  nvO-iv  /ttpoq  noktutq,  woxe  tj  iktjQ/ov  r]  &tb q 
(Arist.  de  re  publ.  ed.  min.  Bekker  p.  3,  4).  — diese  Sätze  sind  sämmtlich  auch 
Fundamen talp rin cipion  für  die  Volkswirtschaftslehre. 

II.  — §.  347  [255].  Unter  den  einzelnen  Arten  der 

Zwangsgemeinwirthschaften  ist 

1)  der  Staat  die  weitaus  bedeutendste. 

Er  erscheint  als  Aufstellcr,  Fortbildner  (nach  und  neben  dem  Gewohn- 
heitsrecht) und  Garant  der  Rechtsordnung,  insbesondere  auch  der  Rechts- 
basis des  privatwirt h sc haftlichen  Verkehrs  (§.  305),  er  ist  ferner  der  gröss t e 
Kreis  örtlicher  und  zeitlicher  Gcmoinschaftsbeziehungcn  und  der  daraus 
hervorgehenden  Gemcinbedürfnisse,  er  nimmt  nach  der  geschichtlichen  Entwicklung 
vielfach  Theil  an  der  Fürsorge  für  gesellschaftliche  Gemcinbedürfnisse  und 
überwacht  die  Einrichtungen  und  Maassregeln,  welche  die  freien  Gemein  wirt- 
schaften zur  Befriedigung  dieser  gesellschaftlichen  Bedürfnisse,  alle  Wirthschaften, 
auch  die  Privatwirtschaften  und  caritativcn,  zur  Befriedigung  aller  Bedürfnisse 
überhaupt  trelfen.  Die  Function  des  Staats  in  der  Volkswirtschaft  wird  im  folgenden 
Buche  noch  näher  dargelegt  werden. 

2)  Neben  dem  Staate  fnngirt  die  (Orts-)  Gemeinde. 

In  mehr  oder  weniger  selbständiger,  übrigens  geschichtlich  mannigfach  wech- 
selnder Sphäre  als  zweites  Hauptglied  der  Zwangsgemeinwirthschaften,  der  wichtigste 
Kreis  der  engeren  räumlichen  Gemeinschaftsbeziehungen. 

3)  Zwischen  der  Gemeinde  und  dem  Staate  stehen  andere 
allgemeinere  Zwangsverbände  (Selbstvervv  altungskörper 
höherer  Ordnung). 

In  vielfach  wechselnder  Form  und  Wirkungssphäre,  bald  mehr  nur  als  räumliche 
Abteilungen  der  staatlichen  Zwangsgcmeinwirthschaft.  bald  als  mehr  oder  weniger 
selbständige  räumliche  Zwangsgemeinwirthschaften : der  Kreis  (Grafschaft),  der  Bezirk, 
die  Provinz  (Herzogthum),  auch  der  Particularstaat  (Einzelstaat,  Kanton)  im 
Bundesstaat  (Reich).  Alle  diese  Körper  fuhren  als  politisch-administrative 
selbständige  Einheiten  den  Namen  „Selbstverwaltungskörper". 


#(50  5.  B.  Organis.  d.  Volk$w.sch.  3.  K.  Gem.w.sch.  Syst.  2.  H.-A.  Gebiet  §.  345. 


4)  Aber  auch  für  einzelne  bestimmteGemeinschafts- 
zwecke  aus  der  Kategorie  der  örtlichen  und  der  gesellschaft- 
lichen Gemeinbedlirfnisse  bat  die  geschichtliche  Entwicklung 
Zw  an  gs  gemein  Wirtschaften  gebildet  und  bestehen  deren  gegen- 
wärtig mitunter  noch  in  den  Culturstaaten  oder  treten  neue  Formen 
solcher  Gemeinwirthschaften  hervor. 

Das  grossartigste  schon  erwähnte  geschichtliche  Beispiel  sind  die  Kirchen 
deren  Umbildung  von  der  Zwangs-  in  die  freie  Gemeinwirthschaft  seit  Jahrhunderte» 
eines  der  grössten  Probleme  der  Culturvölker  ist.  Auf  dem  Gebiete  des  Ver- 
sicherungswesens, des  Bankwesens  liegen  in  den  Assecuranzvereinen  aut 
Zwangsbeitritt  (ältere  Immobiliarfeuerassecuranz:  Pensiouscasseu ; Wittweucasaen  ftr 
bestimmte  Stände,  Beamte;  manche  Arbeiterkranken-  und  Invalidencassen ; Knapy- 
schaftscasscn  im  Bergbau;  neuestes  obligatorisches  Arboitervcrsicherungs wesen  — 
Kranken-,  Unfall-,  Alters- und  Invaliditätsversicherung);  ferner  in  den  öffentliche; 
Banken,  deren  Benutzung  zur  Zahlungsvcrmittlung  für  die  Kaufleute  eines  Orte; 
obligatorisch  war  (ältere  Girobanken),  Beispiele  von  Zwangsgemeinwirthsckafte' 
vor,  welche  bis  in  unsere  Gegenwart  hineinragen  oder  neu  hinzugekomnien  sind.  Die 
mittelalterlichen  Hand wcrkerzUufto  und  kaufmännischen  Gilden  trugen  eben- 
falls wesentliche  Merkmale  solcher  Gemeinwirthschaften  an  sich.  (Siehe  Gierke. 
Geoosscuschaftsrecht  I,  38,  bes.  Abschn.  III,  die  Zunft  als  Gemeinwesen  im  Kleine:.. 
S.  383  ff.;  eine  Menge  dieser  Functionen  der  Zunft  gestatten  es,  ihr  den  Charactei 
einer  Gemein-  und  Zwangsgemeinwirthschaft  im  Sinne  des  Textes  beizulegen.  Vergl 
auch  Schönberg  und  Sch  mol  ler  über  Zunftwesen  a.  a.  0.)  Weiter  bilde; 
I)  ei  c h bau  verbände  und  mancherlei  ältere  und  neuere  Vereine  für  landwirt- 
schaftliche Meliorationen  (Ent-  und  Bewässerungsanlagen  u.  dgl.  in.)  Beispiele 
von  Zwangsgcmeinwirthschaften  für  specielle  Zwecke,  welche  heutzutage  eine  gro*e 
practische  Bedeutung  haben.  Auch  die  älteren  Agrarverhältnisse,  besonders  bei 
den  germanischen  Völkern,  wie  sie  sich  aus  dem  Gemeiueigenthum  am  Boden  in 
Feldgemeinschaft  und  Flurzwang  entwickelten,  haben  mancherlei  Gestaltungen  mit  sich 
gebracht,  welche  mitunter  Merkmale  von  Zwangsgemeinwirthschaftei»  wahrnehatets 
lassen.  Beispiele  vou  Zweckverbänden  für  einzelne  örtliche  Gemeinbedürfnisse  sied 
endlich  Wege-,  Armen-,  Sch  ul  verbände  u.  a.  m. 

III.  — §.  348  [156,  157],  Begründung  des  Zwangs- 
nioments.  Die  wichtigste  und  schwierigste  Frage,  sowohl  des 
Princips  als  der  practischen  Anwendung  und  Durchführung.  Man 
wird  dahei  unterscheiden  müssen:  einmal  den  Zwang  als  absolute 
Kategorie,  allgemein  oder  wenigstens  in  den  Hauptlallen,  sodann 
den  Zwang  als  histori  sch  -rechtliche  Kategorie  und  datnii 
als  ein  Erziehungsmittel,  eventuell  mit  der  Tendenz,  jeden- 
falls mit  der  Möglichkeit,  sich  als  solches  durch  seine  Einwirkung 
auf  Sitte,  Gewohnheit,  Motivation  der  Bevölkerung  oder  der  Kreise, 
auf  welche  er  angeweudet  wird,  allmählig  unnöthig  zu  machen. 

1)  Staat  und  Gemeinde,  dann  Kreis,  Bezirk,  und  Provinz 
sind  diejenigen  Zwangsgcmeinwirthschaften,  bei  welchen  für  irgend 
absehbare  Zeit  und  unter  allen  in  Betracht  kommenden  Verhält- 
nissen der  Zwang  unentbehrlich  erscheint.  Der  Zwang  ist  bei 
ihnen  also  ein  absolutes  Existenzmoment,  die  Zwangsgemein- 
wirthschaft mit  Rücksicht  auf  sie  eine  absolute  („natürliche“) 


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Begründung  des  Zwangsmoments.  göl 

ökonomische  und  rechtliche  Kategorie  der  Wirthscbaften  in  der 
Volkswirtschaft. 

Aber  so  doch  auch  nur  im  Ganzen,  auf  den  Hauptge- 
bieten der  Function  dieser  Körper,  nicht  auf  jedem  einzelnen, 
von  ihnen  etwa  in  ihre  Thätigkeitssphäre  gezogenen  Gebiet,  wo 
vielmehr,  soweit  überhaupt  Zwang,  derselbe  eventuell  recht  wohl 
zu  der  zweiten,  der  historisch  rechtlichen  Kategorie  gehören  kann. 

Ausserhalb  der  Doctrin  des  Anarchismus  wird  diese  Auffassung  wohl  kaum 
ernstlich  bestritten,  wenn  auch  im  Socialismus  Opposition  gegen  den  Zwang  im  heutigen 
„Classenstaat",  gegen  einzelne  Zwangseinrichtungen  desselben  vorkommt.  Dass  in 
einem  socialistischen  Volkswirthschaftssystera  (im  „Socialstaat“,  ein  freilich  von 
den  Doctrinären  des  neuesten  Socialismus  verpönter  Ausdruck)  der  Zwang  vollends 
eine  Rolle  und  eine  viel  grössere  und  peinlichere  als  im  heutigen  Volkswirthschafts- 
system  und  Staat  spielen  müsste,  möchte  zum  Gewissesten  dessen  gehören,  was  man 
psychologisch  vom  socialistischen  System  als  einer  „Zukunftssache“  vermuthen  muss, 
vgl.  auch  oben  §.  38. 

2)  Bei  der  vorgenannten  vierten  Gruppe  der  Zwangsgemeinwirth- 
schaften erscheint  der  Zwang  dagegen  nicht  in  demselben  Maasse 
als  Existenz-  und  Gedeihensbedingung.  Der  Uebergang  dieser 
Wirthscbaften  in  freie  Gemein wirthschaften  und  umgekehrt  letzterer 
in  Zwangsgemein wirthschaften  ist  geschichtlich  vielfach  vorgekommen. 
Die  Hauptfrage  ist  daher  hier  immer,  ob  und  inwieweit  über- 
haupt Zwang  platzgreifen  soll:  eine  niemals  allgemein,  sondern 
nur  nach  den  concreten  Umständen  zu  entscheidende,  also  eine 
örtlich  und  geschichtlich  relativ  zu  beantwortende  Frage. 
Die  Zwangsgemeinwirthschaften  der  vierten  Gruppe,  das  Zwangs- 
moment bei  ihnen,  sind  daher  nur  historische  Kategorieen  des 
Wirtschaftslebens : das  Zwangsmoment  ist  bei  ihnen  nicht  all- 
gemein, sondern  nur  bedingungsweise  notwendig,  berechtigt 
und  zweckmässig  und  zwar  dann,  wenn  die  Bedingungen  wesent- 
lich bei  ihnen  ebenso  liegen,  wie  in  den  Hauptfallen  bei  den  natür- 
lichen und  notwendigen  Zwangsgemeinwirthschaften  des  Staats, 
der  Gemeinde  u.  s.  w.  (§.  350). 

Im  Weiteren  möchten  folgende  drei  Kategorieen  von  Fällen 
zu  unterscheiden  sein: 

a)  Historisch  relativ,  als  Erziehungsmaassregel  erscheint 
der  Zwang  namentlich  da  und  dann  begründet,  wenn  das  privat- 
wirthschaftliche  Selbstinteresse  noch  zu  mächtig  ist,  aber  einer 
allmähligen  Einschränkung  durch  Erziehung,  Gewöhnung,  Sitte 
muthmaasslich  entgegengeführt  werden  kann;  ferner  wenn  es  den 
Privatwirtschaften  noch  an  einem  richtigen  Verständniss  ihres 
durch  Vereinigung  am  Besten  zu  wahrenden  eigenen  Interesses 

A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlagen.  55 


862  5.  B.  Organis.  d.  Volks w.soh.  3.  K.  Gem.w.sch.  Syst  2.  H.-A.  Gebiet.  §.  348. 

fehlt,  dies  Verständnis  aber  gewonnen  werden  kann;  endlich  wenn 
auch  der  erforderliche  sittliche  Gemeinsinn  fehlt,  aber  auch  dessen 
Ausbildung  und  überhaupt  die  Erweckung  und  Wirksamkeit  anderer 
richtigerer  und  besserer  Motive  für  erreichbar  gelten  kann.  Nur 
solange  und  in  dem  Maasse  als  in  allen  diesen  Beziehungen  hemmende 
Missstände  bestehen,  so  dass  ohne  Zwang  die  Bildung  der  unent- 
behrlichen Gemeinwirtbschaften  unterbleiben  oder  letztere  nicht  ge- 
nügend fungiren  würden,  wird  hier  mit  Recht  zum  Zwang  ge- 
griffen werden. 

b)  Schwieriger  ist  die  Entscheidung  darüber,  ob  man  den 
Zwang  als  historisch-relativ  oder  als  nach  der  menschlichen  Natur 
wahrscheinlich  stets  nothwendig  bezeichnen  soll,  in  folgenden, 
practisch  wichtigen  Fällen.  Die  Natur  jeder  und  vollends  der  ge- 
nannten, auf  Zwang  beruhenden  Gemeinwirthschaften  bringt  es 
unvermeidlich  mit  sich,  dass  die  einer  Gemeinwirthscbaft  ange- 
hörende Privatwirtschaft  vielfach  ihr  specielles  Interesse  theils 
gar  nicht,  theils  wenigstens  nicht  in  gleicher  Weise  wie  im  privat- 
wirthschaftlichen  Verkehr  gewahrt  sieht.  Was  hierüber  im  vorigen 
Abschnitt  (§.  342)  hinsichtlich  der  freien  Gemeinwirthschaften  ge- 
sagt wurde,  gilt  noch  in  verstärktem  Maasse  von  den  Zwangsge- 
meinw’irthschaften.  Insbesondere  kann  bei  diesen  der  Regel  nach 
noch  weniger  eine  genaue  Deckung  der  Vortheile,  welche  die  bei- 
tretende Privatwirtschaft  etwa  erlangt,  und  der  Gegenleistungen 
derselben  an  die  Gemeinwirtschaft  stattfinden.  Ueberbaupt  aber 
handelt  es  sich  gerade  in  den  Zwangsgemeinwirtlscbaften  vielfach 
gar  nicht  um  individuelle  Vortheile  der  Betheiligten,  sondern  um 
Pflichten  der  letzteren  gegen  die  Gesammtheit.  Der  privatwirth- 
scbaftliche  Gesichtspunct  reicht  eben  deswegen  für  die  Beziehungen 
zwischen  den  Privat-  und  den  Gemeinwirthschaften  nicht  aus. 

Das  hat  u.  A.  wichtige  Conscquenzen  für  die  Stcuerlehrc,  insbesondere  für 
die  Anwendung  der  Steuerprincipien  der  Gerechtigkeit  (s.  Neu  mann,  progressive 
Einkommensteuer  S.  47  ff.,  58  ff.  u.  meine  Fin.  II.  2.  A.  S.  372  ff,  428—400). 

Aus  dieser  Sachlage  darf  man  wohl  ableiten,  dass  hier  ohne 
Zwang  der  Gemeinwirthscbaft  gegenüber  den  Privatwirtschaften 
nur  in  dem  unwahrscheinlichen  Falle  einer  nicht  bloss  gradweiseu, 
sondern  einer  grundsätzlichen  Aenderung  der  menschlichen 
Motivation  auszukommen  ist.  Dafür  ist  auf  die  Erörterungen  im 
1.  Kap.  des  1.  Buchs  zu  verweisen.  Der  Zwang  wird  daher  hier 
doch  wohl  als  unbedingte  und  dauernde  Notwendigkeit,  als  ab- 
solute Kategorie  anzusehen  sein. 


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Begründung  des  Zwangsmoments. 


863 


c)  Vollends  wird  man  so  urtheilen  müssen,  wenn  man  sich 
die  technische  Natur  und  die  Beschaffenheit  derjenigen 
Gerne  in bedtirfnisse  und  Gemeingüter,  um  welche  es  sich  bei 
den  wichtigsten  Zwangsgemeinwirthschaften , Staat  und  Gemeinde, 
handelt  (ähnlich  indessen  auch  bei  den  übrigen),  vergegenwärtigt. 
Diese  Natur  und  Beschaffenheit  sind  derartig,  dass,  solange  Menschen 
„Menschen“  bleiben,  ohne  entsprechenden  Zwang  in  den  genannten 
Gemeinwirthschaften  nichts  zu  erreichen  ist.  An  dem  Beispiel  des 
staatlichen  Rechtschutzes  und  der  Machtentfaltung  im  Innern  und 
nach  Aussen,  der  Hauptfunction  des  Staats,  ist  dies  am  Besten 
nachzuweisen. 

Gute  Erörterungen  hierüber  und  über  verwandte  Punctc,  besonders  der  Steuer- 
theorie, in  E.  Laspeyres’  Aufs.  Staatswirthschaft  im  Staatswörterb.  B.  X.  S.  bes. 
S.  77  ff.  Vergl  auch  Esc  h er,  Politik  I,  1.  B.,  Trend  eien  bürg,  Naturrecht,  §.  150  If., 
Gneist,  Rechtsstaat.  1.  A.  N.  IX,  v.  Ihering,  Zweck  I.  1.  A.,  S.  310  if. 

Der  Rechtsschutz  und  die  wichtigsten  übrigen  Leistungen  der  vornehmsten  Zwangs- 
gemeinwirthschaften sind  immaterieller  Art.  An  einem  Maassstabc  ihres  ökonomischen 
Werths  und  desjenigen  Vortheils,  welchen  der  Einzelne  etwa  von  diesen  Leistungen 
hat,  fehlt  es  durchaus.  Die  letzteren  können  ferner  ihrem  inneren  Wesen  nach,  dem 
Zwecke  des  Staats  und  der  übrigen  Zwangsgemeinwirthschaften  gemäss,  meistens  nicht 
speciell  verkäuflich  sein,  also  dem  privatwirtbschaftlichen  Preisregulator  von  Angebot 
und  Nachfrage  überhaupt  gar  nicht  unterstellt  werden.  Zahlreiche  und  wichtige 
Leistungen  des  Staats  lassen  sich  endlich,  wie  gesagt,  auch  nicht,  oder  nnr  durchaus 
gezwungen,  als  Vortbeile  für  den  Einzelnen  hinstelleu,  z.  B.  die  grossen  und  kost- 
spieligen Leistungen  „zur  Durchführung  des  nationalen  Machtzwecks".  Ja,  für  den 
Einzelnen  werden  diese  Leistungen  und  deren  Voraussetzungen  nicht  selten  zu  Nach- 
theilen oder  gelten  ihm  wenigstens  dafür  (Militärpflicht,  Steuerpflicht!)  Diese  Lei- 
stungen sind  jedoch  insgesammt,  die  Rechtsschutzlcistungen  voran,  unentbehrliche 
Bedingungen  des  socialen  Zusammenlebens  der  Menschen  und  damit  auch  jedweden 
wirtschaftlichen  Verkehrs.  Ihre  Herstellung  oder  auch  nur  den  Beitritt  zu  derjenigen 
Gemeinwirthschaft,  welche  diese  Herstellung  übernimmt,  dem  freien  Ermessen  und 
damit  der  Willkühr  der  Individuen  zu  überlassen,  hicsse  die  Bedingungen  des  socialen 
und  volkswirthschaftlichen  Organismus  dem  Zufall  preisgeben  und  practisch  oft  genug: 
diese  Bedingungen  gar  nicht  erfüllen. 

Eben  deshalb  muss  eine  mit  der  nöthigen  Zwangsgewalt 
ausgerüstete  Autorität  bei  der  Bildung  und  Einrichtung  der 
Zwangsgemeinwirthschaften,  voran  des  Staats,  bei  der  Herstellung 
und  Verbürgung  der  materiellen  Voraussetzungen  daflir(Besteuerung!) 
und  bei  der  Durchführung  der  wichtigsten  einzelnen  Leistungen 
hier  stets  vorhanden  und  thätig  sein:  d.  h.  das  Zwangsmoment 
ist  absolute  Kategorie. 

IV.  — §.  349  [158],  Folgerungen  für  die  Kosten- 
deckung. Besteuerung  im  zwangsgemein  wirtschaft- 
lichen System.  Der  Staat,  die  Gemeinde  und  mehr  oder 
weniger  jede  andere  Zwangsgemeinwirthschaft  erlangt  so  freilich 
jenen  „communistischen“  Grundzug,  welcher  den  Gemein- 

55* 


i 


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8ß4  5.  B.  ürganis.  d.  Volksw,sch.  3.  K.  Gem.w.sch.  Syst.  2.  H.-A.  Gebiet.  §.  349. 

wirthschaften  anklebt  (§.  342,  293),  in  noch  viel  stärkerem  Maasse 
und  ganz  unvermeidlich. 

Der  privatwirthschaftliche  Widerstand  gegen  den  Staat  und  die  übrigen  Zwangs- 
gebilde der  Volkswirthschaft  und  die  Abneigung  der  Anhänger  des  Systems  der  frei« 
Concurrenz  oder  der  Vertreter  der  „Gesellschaft“  im  St  ein -Gneist’ sehen  Sinne 
gegen  Einmischung  des  Staats  in  die  Volkswirthschaft  finden  in  diesem  communisn- 
schen  Character  ihre  Erklärung. 

Namentlich  ergiebt  sich  Folgendes: 

1)  Das  Princip  der  speciellen  Entgeltlichkeit  von 
Leistung  und  Gegenleistung  ist  in  der  Zwangsgemeinwirthschaft 
selbst  in  den  Fällen,  wo  noch  ein  Sondervortheil  für  den  Einzelnen 
naebgewiesen  werden  kann,  noch  weniger  anwendbar,  als  in  den 
meisten  freien  Gemeinwirthschaften.  Die  Unmöglichkeit  aber,  einen 
solchen  Sondervortheil  irgend  genau  nach  seinem  ökonomischen 
Werthe  zu  messen,  bringt  es  mit  sich,  bei  der  Kostendeckung  der 
zwangsgemeinwirthschaftlichen  Leistungen  von  dem  Principe  gleicher 
Leistung  und  Gegenleistung  grossentheils  abzusehen. 

Daher  die  zwar  durchaus  nothwendige  und  heilsame  (§.  335),  aber  unvermeindlicfc 
doch  nur  beschränkte  Anwendbarkeit  des  sog.  Gebührcnprincips  in  der  Finanzverwal- 
tung des  Staats,  der  Gemeinden  und  des  (privatwiithschaftlichen)  Grundsatzes  der 
Besteuerung  „nach  dem  Interesso“  (nach  Leistung  und  Gegenleistung)  neben 
oder  gar  statt  des  (staatswirthschaftlichen)  Grundsatzes  der  Besteuerung  „nach  der 
Leistungsfähigkeit  im  öffentlichen,  zumal  im  Staatshaushalt.  S.  darüber  die  ein- 
gehenden Erörterungen  im  2.  Bande.  2.  Aull.,  meiner  Fin.wiss.,  bes.  Buch  4,  Ge- 
bührenlehre, und  § 178 — 188  über  die  genannten  beiden  Steuerprincipien ; aus  der 
finanzwissenschaftlichen  Litteratur  bes.  Neuinann’s  eindringende  Erörterungen. 

2)  Bei  denjenigen  Leistungen  der  Zwangsgemeinwirthschaften, 
welche  sich  gar  nicht  als  Einzelvortheile  qualificiren  lassen,  muss 
natürlich  von  dem  Principe  gleicher  Leistung  und  Gegenleistung 
vollständig  abgesehen  werden.  Die  Kostendeckung  des  Staats  u.  s.  w 
hat  daher  hier  durch  Zwangsbeiträge  (Steuern)  der  zwangsweise  im 
Verbände  der  betreffenden  Gemein wirtbschaft  stehenden  Einzel  wirth- 
schaften  zu  geschehen,  und  zwar  wesentlich  durch  Steuern,  welche 
nach  dem  Grundsatz  der  Besteuerung  nach  der  Leistungsfähig- 
keit aufgelegt  oder  vertheilt  werden.  Diese  Natur  der  Zwangs- 
gemeinwirthschaften und  der  hier  erwähnten  Leistungen,  die  un- 
bedingte Nothwendigkeit  derselben  und  der  Umstand,  dass  die 
Verwirklichung  dieser  Gemeinwirthschaften  und  dieser  Leistungen 
ohne  die  Besteuerung  — voraussetzungsweisc,  d.  b.  wenn  nicht 
andere  finanzielle  Deckungsmittel,  insbesondere  aus  Privaterwerb, 
verfügbar  sind  — unmöglich  ist,  bilden  auch  den  tieferen,  inneren 
Rechtsgrund  der  allgemeinen  Steuerpflicht  im  Staate  u.  s.  w. 

Daher  die  auch  priucipiell  theoretische  Bedeutung  dieser  Lehre  von  den  Zwaag?- 
gemeinwirthsebaften  für  die  Lehre  von  der  Besteuerung.  Hier  hegt  einer  der  wich- 


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Folgerungen  für  die  Kostendeckung.  Besteuerung. 


865 


tigsten  Berührungspuncte  der  socialökonomischen  Grundlegung  mit  der  Finanzwissen- 
schaft. S.  daher  Weiteres  bes.  in  der  zweiten  Aufl.  meiner  Fin.wiss.  B.  II,  §.  85  ff. 

3)  Die  Summe  dieser  Zwangsbeiträge  lässt  sich  ökonomisch 
als  Gesammtgegenlei stung  für  die  Gesammtheit  der  Leistungen 
der  Zwangsgemeinwirthschaft  auffassen.  Hier  wird  daher  auch 
wieder  mit  Rücksicht  auf  die  möglichste  ökonomische  Werth- 
corrcspondenz  eine  Vergleichung  stattfinden  dürfen  und  müssen, 
z.  B.  der  Leistungen  des  Staats  mit  der  Summe  der  Steuern  über- 
haupt, freilich  nur  nach  gewissen  „Abwägungen“  der  Werthe  und 
Opfer,  wie  in  bestimmten  Fällen  in  der  „constitutionellen  Budget- 
wirthschaft“. 

S.  auch  hier  Fiu.wiss.  I,  3.  Aufl.,  §.  34,  35.  Diese  Ansicht  kommt  durchaus 
nicht  wieder  einfach  auf  die  alte  Auffassung  der  Steuer  als  „Tausch“  hinaus,  gegen 
welche  sich  z.  B.  A.  Held,  Einkommensteuer,  Bonn  1S72,  S.  25  ff..  31.  wendet.  Sie 
hält  aber  den  richtigen  Kern  in  dieser  Auffassung  fest,  was  Held  nicht  thut  und 
was  man  vom  volkswirtschaftlichen  Standpuncte  aus  thun  darf  und  muss,  ohne  die 
„tiefer  gedachte,  vom  wahrhaft  historischen  Geiste  getragene“  Anschauung  vom  Staate 
preis  zu  geben.  Es  müssen  und  dürfen  freilich  nur  die  Gesammth  eiten  der  Steuern 
und  der  Leistungen  des  Staats  unter  den  ökonomischen  Gesichtspunct  von  Leistung 
und  Gegenleistung  gebracht  werden,  niemals  die  Steuer  des  Einzelnen  und  die 
ihm  zu  Gute  kommende  Staatsleistung.  Ohno  den  ersteren  Gesichtspunct  ist  eine 
geordnete  Finanzwirthschaft  nicht  denkbar.  Die  rechtsphilosophischen  Vertreter  der 
organischen  Staatsauffassung  gehen  ähnlich  wie  hier  Held  öfters  wieder  zu  weit  in 
der  Reaction.  S.  meine  Fin.  II,  2.  Aufl.  §.  86. 

4)  Aber  dem  Einzelnen  gegenüber  kann  von  solcher 
Werthcorrespondenz  der  Leistungen  desselben  an  die  Gemein- 
wirthschaft  und  der  von  letzterer  ausgehenden  Leistungen  für  Gc- 
sammtheiten  (und  für  den  Einzelnen  als  Mitglieds  davon)  nicht 
die  Rede  sein,  daher  nicht  bei  dem  Haupttheil  aller  Besteuerung, 
dem  nach  dem  Princip  der  Leistungsfähigkeit  aufzulegen- 
den. Die  Kosten  der  Zwangsgemeinwirthschaft  können  vielmehr 
bei  diesen  Steuern  nur  auf  die  Einzelnen  an  ihr  Betheiligten  nach 
allg  e meinen  Maassstäben  gleich mässig  umgelegt  werden. 
Dieser  Maassstab  kann  aber  nicht  in  dem  Werthe,  Genüsse 
und  Vorth  eil,  welchen  die  Verbindung  mit  der  Gemeinwirth- 
schaft  dem  Einzelnen  bietet,  liegen,  denn  theils  ist  dieser  Werth, 
wie  gesagt,  im  Einzelfall  unmessbar,  theils  fehlt  er  hier  voll- 
ständig und  ist  nur  eine  Pflicht,  kein  Vortheil  des  Einzelnen 
gegenüber  der  Gemeinwirthschaft  anzuerkennen  oder  doch  zu  be- 
achten. Der  „com  m unis tische“  Character  der  Zwangsgemein- 
wirthschaft und  besonders  des  Staats  erscheint  bei  einer  solchen 
naturgemä8S  gebotenen  Besteuerung  daher  selbst  wieder  natürlich 
begründet. 


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866  5.  B.  Organis.  d.  Volks.w.sch.  3.  K.  Getn.w.sch.  Syst.  2.  H.-A.  Gebiet.  §.  350. 

S.  auch  hierzu  wieder  die  Ausführungen  in  meiner  Fin.wiss.  im  2.  Bande  der 
zweiten  Auflage  a.  a.  0.  und  Neumann’s  Arbeiten.  Aehnlich  wie  im  Teit 
Tren delen bürg.  a.  a.  0.  §.  159  (S.  3t>0:  Besteuerung  Aufgabe  der  distribunrea 
Gerechtigkeit;  ihr  Maass  zuerst  die  Leistungsfähigkeit  des  Einzelnen:  freilich  mit 
zu  unsicherer  Ableitung  von  Consequenzen  und  zu  allgemein  bleibenden  Sitzes). 
Auch  Laspeyres,  Staatswörterb.,  a.  a.  0.  X,  106  fF.  Anders  besonders  E.  Nasse, 
Gutachten  Uber  Personalbesteuerung,  1S73,  S.  3 ff.,  und  im  Ganzen  anch  A.  Held. 
Einkommensteuer  und  Gutachten  über  Personalbesteuerung,  1873.  Vergl.  ferner  die 
principiellen  Erörterungen  über  diese  Fragen  der  Kostendeckung  und  Besteuerung  in 
Verbindung  mit  dem  allgemeinen  Werthproblem  in  E.  Sax’  Grundlegung  der  Staats- 
wirthschaft,  bes.  Abschn.  VI;  auch  G.  Cohn,  Syst.  I,  S.  525  ff.  und  Fin.vriss. 

V.  — §.  350  [159].  Die  Berechtigung  des  Zwanges  auch 
für  bestimmte  einzelne  Gemeinschaftszwecke  und  die  Bildung 
von  Zwangs-  statt  freier  Gemeinwirthsehaften  hierfür  ist  hier- 
nach unter  folgenden  Bedingungen  vorhanden : 

1)  Wenn  das  Widerstreben  der  Einzelnen  den  vom 
Wohl  einer  Gesammtbeit  (Gruppe)  geforderten  Gemein- 
schaftszweck vereiteln  würde. 

So  zumal  in  dem  Falle,  dass  das  Wohl  des  Einzelnen  durch  den  Zwangsbeitrirt 
nicht  irgend  wesentlich  verletzt,  vielleicht  sogar  selbst  gefördert  würde;  aber  auch, 
wenn  das  Wohl  des  Einzelnen  nicht  gefördert,  vielleicht  selbst  gefährdet  wird : Wehr- 
wesen; Steuerwesen;  Impfwesen;  Schulwesen;  Deichbauwesen;  einzelne  Fälle  von 
Zwang  in  Agrarsachen,  dcsgl.  in  Versicherungsangelegenheilen.  Näheres  in  der 
Practischen  Nationalökonomie,  theoretischen  Politik  und  Inneren  Verw altungslehre 
(Polizeiwissenschaft). 

2)  Wenn  die  Theilnahme  des  Einzelnen  an  den 
Leistungen  (Vortheilen)  der  Gemeinschaft  nach  der  Natur  der 
betreffenden  Gemeingüter  nicht  wohl  behindert  werden  kann. 

Daher  erscheint  cs  billig,  den  Einzelnen  auch  zwangsweise  zum  Beitritt  und  zur 
Mittragung  der  Kosten  der  Gemcinwirthschaft  zu  nöthigen.  Wiederum  besonders  Fälle 
in  Agrarsachen,  bei  Deichbau,  bei  „Beiträgen“  im  finanztechnischen  Sinne  statt  indi- 
vidueller Gebühren  (meine  Fin.  II,  3.  A , §.  74).  Aber  auch:  ganz  allgemein  beim 
staatlichen  Rechtsschutz,  welcher  der  Idee  des  Rechts  gemäss  nicht  willkührlich 
von  Dissentirenden  abgelehnt  werden  kann,  mit  der  Folge,  dass  dann  die  öffentliche 
Gewalt  etwa  diese  Personen  von  der  Gewährung  des  Schutzes  ausschliesst. 

3)  Mindestens  bedingt  erscheint  der  Zwang  zulässig,  wenn  es 
sich  bei  einer  Gemeinschaftsbildung  und  Leistung  zwar  um  Ge- 
währung von  speciellen  Vorth  eilen  an  gewisse  Mitglieder 
handelt,  aber  diese  Gewährung  gerade  auch  im  Gesammtinte  resse 
liegt  und  deswegen  mit  erfolgt. 

Z.  B.  in  Fällen  des  Versicherungswesens  tBrandvereicherung,  um  auch  der  Ge- 
meinschaft schädlicho  Verarmung  des  Brandschaden  Erleidenden  zu  verhüten : Ar- 
beiterversicherung, um  der  Gemeinschaft  erwünschte  Sicherung  der  Arbeiter  in  ge- 
wissen Fällen,  um  für  sic,  die  Gemeinschaft,  wichtige  Verhütung  von  Erbitterung 
der  Arbeiter  zu  erreichen;  Pensionscassenzwang  für  Beamte  fWittwencassenj,  um 
Beamtenproletariat  auch  im  Staatsiuteresse  zu  vermeiden). 

4)  Auch  wenn  durch  eine  grössere  Betheiligung  von 
Personen , Benutzern , der  Zweck  einer  Gemeinschaftseinrichtung 
technisch  besser,  ökonomisch  wohlfeiler  erreicht  wird. 


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Postulate  für  Zwangsgemeinwirthschafton. 


867 


ohne  dass  für  die  eventuell  ungern  Beitretenden  sich  bemerkens- 
werthe  Nachtheile  ergeben,  wird  der  Zwang  bedingt  zulässig. 

Z.  B.  ist  so  das  Postregal  in  gewissem  Umfang  noch  heuto  zu  begründen; 
ähnlich  der  Zwang  bei  Versicherungsanstalten  (Brandcassen)  und  bei  manchen  son- 
stigen gemeinnützigen  Anstalten  und  Einrichtungen.  — Für  alle  derartigen  Fragen 
sei  auf  die  Polizeiwissenschaft  (auch  deren  allgemeinere  Erörterungen)  ver- 
wiesen. S.  Mohl  (I,  3.  A.  §.  7). 

Nach  diesen  Gesichtspnncten  wird  die  Zulässigkeit  des  Zwangs 
besonders  auch  in  den  oben  (§  330)  erwähnten  Fällen  von  Classen- 
Geraeinbedürfni8sen  zu  entscheiden  sein. 

VI.  — §.351  [160].  Postulate  für  Zwangsgemein  - 
wir thschaften  überhaupt  und  für  die  Anwendung  des 
Zwangs  speciell.  Die  Natur  des  Zwangsprincips,  das  psycho- 
logisch Lästige  dabei,  bringt  es  mit  sich,  dass  an  alle  Zwangs- 
gemeinwirthschaften,  insbesondere  hinsichtlich  der  Ausdehnung  und 
Art  und  Weise  ihrer  Thätigkeiten  auch  an  den  Staat  und  die  Ge- 
meinde und  in  Betreff  der  Anwendung  von  Zwang  auf  einzelnen  Ge- 
bieten, folgende  Anforderungen  zu  stellen  sind: 

1)  Die  Nothwendigkeit  und  Gemeinnützigkeit  des 
Zwangs,  seiner  Stärke,  seines  Umfangs,  seiner  Anwendung  auf 
den  einzelnen  Gebieten,  muss  möglichst  objectiv  festgestellt 
werden. 

Das  Ziel  ist.  den  Zwang  nur  da  und  nur  soweit  eintreten  zu  lassen,  wo  und 
wie  die  einsichtige,  ihr  eigenes  Bcsto  richtig  vorstehende,  aber  auch  vom  richtigen 
sittlichen  Gcmcin&inu  und  Pflichtgefühl  getragene  Privatwirtschaft  freiwillig  der 
Gemeinwirthschaft  sich  anschliessen  und  alle  Lasten  derselben  mit  tragen  würde.  Der 
Zwang  muss  daher  möglichst  immer,  auch  wo  er  als  absolute  Kategorie  wird  gelten 
müssen,  als  ein  Erziehungsmittel  betrachtet  werden  und  als  solches  angewandt 
selbst  darauf  hinwirken,  sich  allmählig  entbehrlicher  zu  machen  (Zwang  im  Schul- 
wesen, Schulpflicht,  Versicherungswesen,  bei  wirtschaftlichen  Meliorationen). 

2)  Zu  diesem  Behufe  ist  auch  die  möglichste  Entwicklung 
des  Gemeinsinns  und  des  sittlichen  Pflichtgefühls  sowie 
des  Verständnisses  des  richtigen  eigenen  Interesses  und  der 
Wirksamkeit  der  übrigen  günstig  zu  beurtheilenden  Motive,  welche 
neben  dem  ersten  Leitmotiv,  dem  Streben  nach  dem  Eigenvortheil, 
mitspielen  können  (Buch  1,  Kap.  1),  geboten,  um  so  den  Zwang  ent- 
behrlich machen,  ihn  wenigstens  thunlicbst  beschränken  zu  können. 

Dadurch  wird  es  namentlich  möglich,  das  caritative  System  an  Stelle  des  gemein- 
wirthschaftlichen , z.  B.  im  Humanitäts-  und  Armenwesen,  und  die  freien  Gemein- 
wirthschaften  an  Stelle  der  Zwangsgemcinwirthschaften , z.  B.  im  Schul-,  Ver- 
sicherungswesen, in  grösserem  Umfange  treten  zu  lassen,  den  Zwang  durch  den 
Rath,  die  Empfehlung  zu  ersetzen  und  auch  die  Staatsthätigkeit  unter  Umstünden 
überhaupt  zu  beschränken. 

3)  Einen  natürlichen,  aus  dem  „Wesen“  der  Zwangs- 
gemein wiithschaft,  besonders  auch  xles  Staats  und  der  Gemeinde 


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868  5*  B.  Organis.  d.  Volksw.sch.  3.  K.  Gciu.w.scli.  Syst.  2.  H.-A.  Gebiet.  §.  351. 

abzuleitenden  oder  einen  auf  endgiltigeErfahrnng  gegründeten 
schlechtweg  „richtigen“  Bereich  der  Thätigkeit  der  ZwaDgs- 
geraein8chaften  giebt  es  nicht.  Subjective  Urtheile  wirken  vielmehr 
hier  immer  mit  ein,  auch  unvermeidlich  bei  den  Inhabern  der 
Zwangsgewalt,  bei  welchen  ohnehin  durch  die  Verfügung  über 
letztere  und  damit  auch  über  die  materiellen  Durclifübrungsmittel 
(Steuern!)  die  Gefahr  eines  unrichtigen  Vorgehens  psychologisch 
besonders  nahe  liegt.  Daher  müssen  besondere  Organe  in 
solchen  Wirtschaften  geschaffen  werden,  welche  diesen  Bereich 
im  concreten  Falle  möglichst  richtig  bestimmen  und  Notwendigkeit, 
Umfang  und  Art  des  Zwangs  objectiv  feststellen,  eventuell  darüber 
mit  den  Inhabern  der  Zwangsgewalt  (Regierung)  verhandeln.  So 
ergiebt  sich  auch  vom  volkswirtschaftlichen  Stand puncte  aus  die 
politische  Forderung  einer  Vertretung  der  bei  einer  Zwangs- 
gemeinwirthscbaft,  wie  Staat  und  Gemeinde,  beteiligten  Privaten 
(Volksvertretungen). 

4)  Eine  Hauptaufgabe  ist  stets,  den  wechselnden  Bedürfnissen 
gemäss  in  wechselnder  Weise,  die  zwangsgemeinwirthsehaftlicben 
Functionen  zwischen  dem  Staate  einer-  und  den  Selbstver- 
waltungskörpern andrerseits  und  wieder  unter  den  letzteren 
richtig  zu  vertheilen:  zugleich  eine  Voraussetzung  für  die  mög- 
lichst richtige  Erfüllung  des  folgenden  fünften  Postulats.  Be- 
sonders wichtig  ist  eine  solche  Theilung  der  Functionen  in  Bezug 
auf  die  Anstalten  der  Fürsorge  für  örtliche  Genieinbedürfnisse 
(§.  328).  Die  politischen  Fragen  der  Decentralisation  der  Staats- 
und der  Einrichtung  der  localen  Selbstverwaltung  müssen  dem 
gemäss  auch  socialökonomisch  als  bedeutungsvoll  bezeichnet  werden. 

Die  Verfass u n gs fragen  in  Staat,  Provinz,  Kreis,  Gemeinde,  die  „Ordnungen" 
dieser  drei  Gruppen  autonomer  Glieder  des  Staats  werden  daher  auch  für  die  Volki- 
wirthschaft  in  doppelter  Weise  wichtig:  einmal,  weil  erst  durch  diese  Ordnungen  di« 
richtigen  Gcmeinwirthscbaften  orgauisirt  werden,  sodann  weil  die  Organisirung  der 
Vertretungen  die  Garantie  für  möglichst  richtige  Bestimmung  und  Ausführung  der 
diesen  Wirthschaften  zu  übertragenden  Leistungen  zur  Bedürfnisbefriedigung  oder 
m.  a.  W.  für  die  beste  Production  der  betreffenden  Güter  liefert. 

5)  Jede  Zwangsgememwirthscbaft  muss  als  Einzelwirt- 
schaft möglichst  richtig  ökonomisch  und  technisch  geleitet  und 
eingerichtet  werden.  Namentlich  ist  auch  in  ihr  dasPrincip  der 
Wirtschaftlichkeit  (§.  28)  streng  durchzuftibren.  Da  das 
Steuerrecht  der  Zwangsgcmeinwirthschaft  hier  besondere  Ge- 
fahren in  sich  birgt,  so  ist  wiederum  eineControle  des  Subjects 
der  Wirtschaft  (z.  B.  der  Regierung  des  Staats)  durch  die  Vertretung 


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Postulate  für  Zwangsgcmcinwirthschaften. 


869 


der  Betheiligten  ein  nothw en diges,  auch  volkswirtschaft- 
liches Postulat. 

Errichtung  unabhängiger  Finanzcontrolorgane,  System  der  constitutionellen  Budget- 
wirtbschaft  im  Staate.  S.  darüber  auch  Schäfflc,  gescllsch.  Syst.  2.  Aufl.  §.  205, 
216,  3.  Aufl.  II,  371  ff. 

Durch  die  Erfüllung  dieser  Forderungen  wird  dann  auch,  so- 
weit dies  überhaupt  erreichbar  ist,  eine  Garantie  geschaffen, 
dass  in  ökonomischer  Hinsicht  zwischen  dem  Werth e der  ge- 
sammten  Leistungen  der  Zwangsgemeinwirthschaft  und  der  Gegen- 
leistungen der  Privaten  in  Beiträgen  und  Steuern  ein  möglichst 
richtiges  Verhältnis  bestehe. 

S.  o.  §.  349  unter  3.  Auch  hier  zeigt  sich  freilich  wieder  die  Tauschwerth- 
schätzung  als  unzureichend:  die  Gebrau chs werth Schätzung  ist  die  allgemeinere 
und  die  in  vielen  Fällen  allein  anwendbare.  (S.  o.  §.  13S,  139.) 

Welche  Postulate  an  die  Entwicklung  des  zwangsgemeiu- 
wirthschaftlichen  Systems,  an  sich  und  mit  Rücksicht  auf  die  Be- 
dürfnisse und  auf  die  Productionstechnik  der  modernen  Cultur- 
völker,  sowie  dem  privatwirthschaftlichen  System  gegenüber,  zu 
stellen  sind,  das  wird  in  Anknüpfung  an  den  Hauptvertreter  aller 
Zwangsgemeinwirthschaft,  den  Staat,  im  nächsten  Buche,  u.  A. 
namentlich  im  3.  Kapitel,  von  der  wachsenden  Ausdehnung 
der  öffentlichen  Thätigkeiten,  erörtert. 

In  der  zweiten  Abtheilung,  von  Volkswirthschaft  und  Recht,  haben  diese  Unter- 
suchungen dann  ihren  Abschluss  zu  finden.  Dadurch  wird  zugleich  die  Aufgabe, 
welche  in  §.  169  der  Conjunctur  gegenüber  und  im  2.  Kapitel  des  vorigen  4 Buchs 
in  Bezug  auf  das  Vertheilungsproblem,  bes.  im  2.  Abschn.  hinsichtlich  der  Regelung 
der  Vertheilung,  hervorgehober.  wurde,  ihrer  Lösung  entgegenzuführon  gesucht. 


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Sechstes  Buch 


Der  Staat,  volkswirthschaftlich  betrachtet. 

§.  352  [S.  2SS].  Vorbemerkung  und  Literaturnachweis.  Vergl.  die 
Vorbemerkungen  zum  vorigen  Buche  oben  S.  761  und  die  Vorbemerkungen  zum  letzten 
Abschnitt  des  vorigen  Kapitels  S.  856. 

Die  beste  unmittelbare  Vorarbeit  aus  der  systematischen  nationale kono- 
mischcn  Litteratur,  fast  die  einzige,  welche  den  Namen  einer  nationalökono- 
mischen  Vorarbeit  über  den  Staat  als  Ganzes  verdient,  rührt  wieder  vou 
Schäffle  her,  s.  namentlich  dessen  nationalökonomische  Analyse  des  Staats  in  s. 
gescllscbaftl.  System,  2.  Aufl.,  Kap.  31 — 34,  3.  Aufl.  I,  28  IT.,  II,  83  ff.  („öffent- 
liche Organisation  der  Volkswirtschaft“).  Dazu  Soc.  Körper  III,  365  IT.,  457  ff. 
bes.  IV,  216  ff.,  passim  auch  vielfach  in  B.  I u.  II,  s.  Index. 

Aus  den  mehr  erörterten  Gründen  konnte  die  Nationalökonomie  der  physiokratisch- 
Smith’schen  Schule  nicht  zu  einer  principiellcn  volkswirtschaftlichen  Würdigung  des 
Staats  kommen.  Die  Auffassung  des  Staats  als  blossen  „Rechtsschutzproducenten“  ist 
gerade  auch  volkswirthschaftlich  viel  zu  enge.  Vergl.  über  diese  Auffassung  und  die 
Consequenzen  daraus  besonders  den  Abschnitt  des  vorigen  Buchs  über  freie  Con- 
currenz,  §.  310,  313  ff.,  und  die  dort  aufgeführtc  Litteratur.  S.  dazu  auch  noch 
Gon  sei,  Art.  Staat  in  Rontzsch’  Handwörterbuch,  wo  es  bei  aller  Mässigung 
dieses  Schriftstellers  doch  noch  heisst:  Der  moderne  Staat  soll  anerkennen,  dass  die 
(wirtschaftlichen)  Dinge  „durch  dio  eigene  Einsicht  der  Betheiligten  und  durch  das 
lebendige,  im  freien  Verkehr  waltende  Naturgesetz  sicherer  und  besser  geregelt  werden, 
als  durch  seine  (des  Staats)  Einmischung  und  Bevormundung  mit  ihrer  menschlichen 
Kurzsichtigkeit“  (S.  827).  Für  das  Nähere  verweist  Gensei  auf  das  genannte  Wörter- 
buch, das  in  der  That  in  den  meisten  Artikeln  ein  charactcristischer  Beleg  der  Stellung 
der  „deutschen  Freihandelsschule“  zu  der  Frage  vom  volkswirtschaftlichen  Berufe  des 
Staats  ist.  (Meine  schon  damals  abweichende  Stellung  ergiebt  sich  aus  meinem  Art.  Staats- 
haushalt und  Staatsschulden  in  diesem  Wörterbuch.)  S.  auch  Rentzsch,  Staat  und 
Volkswirtschaft,  Lcipz.  1863,  besonders  N.  II,  Competcnz  des  Staats,  ein  ganz  guter 
Abriss  der  Lehre  der  Freihandelsschule  über  die  Stellung  des  Staats  in  und  zu  der 
Volkswirtschaft,  übrigens  in  einzelnen  Punctcn,  z.  B.  in  der  Staatswaldfrage,  wo  ein 
Bcrgius  noch  den  reinsten  Manchcsterstandpunct  vertritt  und  den  klimatologischen 
Gesichtspunct  ganz  vernachlässigt,  doch  für  die  Jetztzeit  wenigstens  für  Beibehal- 
tung der  Staatswälder  als  „der  Uebol  kleinstes“  (S.  200). 

Vergl.  sonst  für  die  Smith’sche  Schule:  A.  Smith,  wealth  of  nations,  B.  5,  I.  Kap. 
(Ausgaben  des  Staats),  worüber  die  Späteren  im  Grunde  wenig  binausgckoinmen  sind. 
J.  St.  Mill,  polit.  Oekon.,  B.  5,  Kap.  1,  8 — 11,  und  ders.,  on  liberty,  deutsch  von 
Gomperz  (Leipz.  1860),  besonders  Kap.  1,4,  5.  Carricatnr  des  Appells  an  deu  „Staat“ 
in  der  Volkswirtschaft  von  Bastiat,  Oeuvres  IV,  p.  327  ff.  (petits  pamphlets:  l’ötat). 
Weitere  Litteratur  s.  bei  Kautz,  Nationalökon.  I,  249. 

Besonders  bemerkenswert  ist  die  Stellung  der  deutschen  nationalökonomi- 
schen Systematiker  zum  Staate.  Rau  geht  nirgends  principiell  auf  die  Betrach- 
tung des  Staats  aus  dem  volkswirtschaftlichen  Gesichtspuncto  ein.  Bezeichnend  dafür 
ist,  dass  in  dem  ausführlichen  Index  zum  ganzen  System  (Finanzwiss.  5.  Aufl.,  II,  521) 
zwar  auf  alle  möglichen  einzelnen  Staats  thätigkeiten  und  Staats  an  st  alten 


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Der  Staat,  volkswirthsch.  betrachtet.  Vorbemerkungen. 


871 


verwiesen  wird,  nirgends  aber  auf  den  Staat  als  solchen  oder  als  Ganzes,  In  der 
That  kommt  Rau  auf  ihn  auch  vornemlich  nur  bei  den  einzelnen  Maassregeln 
des  Finanzwesens  und  der  Volkswirthschaftspolitik  zu  sprechen.  In  der  Einleitung 
zum  theoretischen  Theile,  §.  3 fT.,  wird  der  Staat  nur  eben  kurz  als  Thatsache 
berührt.  Aus  diesem  Mangel  einer  principiollcn  Erörterung  ist  Rau  indessen  kein 
Vorwurf  zu  machen.  Denn  seine  Behandlung  ist  wieder  eine  nothwendige  Folge  seiner 
zu  engen  Begriffsbestimmung  der  wirtschaftlichen  Güter  und  des  Ausschlusses  der 
Dienstleistungen  aus  letzteren. — Hermann,  der  kein  vollständiges  System  in  seinen 
staatswirthschaftlichcn  Untersuchungen  giebt,  hat  doch  wenigstens  in  der  Kürze  den 
Staat  in  seiner  principiellen  Bedeutung  und  Unoutbehrlichkeit  für  die  Volkswirt- 
schaft gewürdigt,  sowohl  in  seiner  Lehre  von  den  Collectivbedürfnissen  (2.  A.,  S.  47  ff., 
lüu  ff.,  oben  S.  831),  als  in  einer  kurzen  Erörterung  Uber  die  Aufgabo  des  Staats 
(S.  71 — 77).  — Roschor  kommt  auch  nur  nebenbei  ganz  kurz  auf  den  Staat  zu 
sprechen  (I,  §.  42.  II,  §.  1,  vergl.  übrigens  I,  §.  84'),  obwohl  seine  Einbeziehung  der 
Dienstleistungen  unter  die  wirtschaftlichen  Güter  m.  E.  eine  eingehende  principielle 
Erörterung  mit  sich  fuhren  müsste.  Roscher  stellt  den  Staat  unter  die  unkörperlichen 
Kapitalien  als  das  bedeutendste  davon  (I,  §.42).  — Knies  spricht  vom  Staat  im  Zu- 
sammenhang mit  allgemeinen  Ausführungen  über  die  Volkswirtschaft  unter  der  Ein- 
wirkung der  gesetzgebenden  und  verwaltenden  Thätigkeit  der  allgemeinen  Staats- 
gewalt. (Pol.  Oek  , 2 A„  S.  106  ff.,  s.  auch  S.  254  ff.) 

Factisch  kommt  diese  nebensächliche  Berührung  des  Staats  in  den  volkswirt- 
schaftlichen Systemen  doch  auf  ein  Ignoriren  desselben  zu  leicht  hinaus.  Erörterungen 
wie  diejenigen  von  Dupont- White,  l’individu  et  l'6tat,  Par.  1857  (vergl.  z.  B.  das 
Rosume  p.  341  ff,  der  Staat  „le  geraut  des  intörets  collectifs“  p.  345),  und  von  Karl 
Dietzel  in  seinem  System  der  Staatsanleihen,  Heid.  1855  (z.  B.  S.  13  ff,  18.,  der 
Staat  als  Organ  der  Gesammtwirthschaft,  welche  „die  allgemeinste  Grundlage  und 
Form  menschlicher  Culturentwicklung“  ist),  ferner  (in  Krause-Ahrens’scher  Richtung) 
von  Kautz,  a.  a.  0 Kap  9 blieben  in  der  neueren  Nationalökonomie  der  mächtigen 
vorherrschenden  Strömung  in  der  Wissenschaft  gegenüber  so  isolirt  und  ohne  nach- 
haltigen Einfluss,  wie  in  der  älteren  etwa  die  sehr  richtigen  und,  bei  mancher  Ueber- 
schwänglichkeit,  doch  an  guten  volkswirthschaftlichen  Gesichtspuncten  reichen  Elemente 
der  Staatskunst  von  Ad.  Müller  (1809),  der  dem  Staate  in  seiner  volkswirthschaft- 
lichen Function  die  grösste  Bedeutung  zuschreibt.  Unter  den  neuesten  deutschen 
Systematikern  hat  G.  Cohn  sehr  kurze,  zu  aphoristische  Erörterungen  über  den 
Staat  in  seinem  System  gebracht,  bes.  §.  302,  in  dem  Abschnitt  über  freie  und  öffent- 
liche Verbände.  Im  Schönberg’schen  Handbuch  sollten  m.  E.  eine  oder  zwei  eigene 
grössere  Abhandlungen  Uber  die  Principienfragen  der  volkswirthschaftlichen  Organi- 
sation und  Uber  Staat  und  Volkswirtschaft  nach  der  Anlage  des  ganzen  Werks  im 
grossen  Styl  enthalten  sein.  G.  Schönberg  selbst  hat  aber  nur  in  seiner  einleitenden 
Abh.  Volkswirtschaft  im  1.  B.  seines  Handbuchs  am  Schluss  (3.  A.  I,  S.  58 — 68)  in 
Kürze,  aber  gut,  über  „Staat  und  Volkswirtschaft1*  gehandelt.  E.  Sax,  Grundlegung 
der  theoretischen  Staatswirthschaft . gehört  seinem  Gesammtinhalt  nach  auch  hierher, 
wenn  darin  auch  über  den  Staat  als  solchen  nicht  näher  gehandelt  wird.  Im  Aus- 
lande hat  auch  die  neueste  systematische  Wissenschaft  principiell  über  den  Staat 
in  Beziehung  zur  Volkswirtschaft  noch  wenig  gehandelt  ( Marshai  1 nicht,  mehr 
schon  Sidgwick,  polit.  econ.  book  3,  bes.  ch.  3,  Gide,  princ.  S.  590  ff.  dürftig). 

Seine  Erklärung  findet  dieser  Mangel  principiellcr  volkswirtschaftlicher 
Erörterungen  über  den  Staat  — ausser  in  der  Engheit  und  Schiefe  der  physiokratisch- 
Smith'schen  Lehre,  besonders  in  deren  moderner  Gestalt  in  der  Schule  der  freien 
Concurrenz,  — in  der  gleichzeitigen  und  parallel  gehenden  Entwicklung 
des  Naturrechts  oder  der  Rechts-  und  Staatsphilosophie  auf  Rousseau'- 
schcr  und  Kant’scher  Grundlage.  Erst  die  neuere  historische  und  organische 
Auffassung  von  Recht  und  Staat  hat  in  dieser  Rechtsphilosophie  einen  Umschwung 
bewirkt,  der  wenigstens  in  einzelnen  principiellen  Hauptpuncten,  z.  B.  in  dem  völligen 
Aufgeben  der  Lehre  von  der  Begründung  des  Staats  auf  den  Staatsvertrag  (contrat 
social),  ein  vollständiger  ist,  — jener  Staatsvertrag,  der,  wie  Ah  re  ns  mit  Recht  sagt, 
zwar  ein  möglicher,  geschichtlich  auch  öfters  vorgekommener  Entstehuugsgrund  eines 
concreten  Staats  ist,  aber  nicht  der  innere  rechtlich-sittliche  Grund  des  Staats  über- 
haupt, (Naturrecht  II,  274).  Aus  diesem  Umschwung  gilt  es  für  Recht  und  Staat 


»72 


0.  B.  Der  Staat.  Vorbeineikungcn.  §.  352. 


und  Volkswirtschaft  jetzt  wieder  die  Consequenzen  nach  allen  Seiten  zu  ziehen,  was 
allerdings  auch  in  der  Rechtsphilosophie  noch  keineswegs  allgemein  geschehen,  in  der 
Nationalökonomie  aber  bisher  kaum  auch  nur  versucht  worden  ist. 

Erschwerend  für  die  nationalökonomische  Betrachtung  des  Staats  ist  cs,  dass  unter 
den  neueren  rechtsphilosophischen  Systemen  keines  mehr  entfernt  zu  so  allgemeiner 
Ausbildung  und  Giltigkeit  gelangt  ist.  als  s.  Z.  die  Kant'sche  Lehre,  was  mit  der 
ganzen  Entwicklung  der  neueren  Philosophie  zusammenhängt.  So  erfreuen  sich 
z.  B.  die  für  den  N atio n al ökon om e u besonders  beachtenswerthen  Be- 
strebungen der  Krause’schen  Schule  (Ahrens,  Köder,  v.  Leonhardi,  u.  A.) 
keineswegs  einer  nur  cinigcrmaassen  allseitigen  Zustimmung  unter  den  Philosophen, 
wenigstens  in  Deutschland  nicht.  Der  Erfolg  dieser  Philosophie  in  Spanien,  Italien, 
z.  Th.  in  Frankreich,  den  ihre  Anhänger  rühmen  (vergl.  z.  B.  v.  Leonhardi,  die 
hoho  Bedeutung  d.  neueren  Rechtsphilosophie  im  Allgem.  u.  bes.  für  den  Rechtsstaat, 
Separatabdruck  aus  der  „Neuen  Zeit“  H.  9,  Prag  187-1,  und  vielfach  Ahrens  im 
Naturrecht  passim,  z.  B.  II,  270  Anm.),  hat  nicht  verhindert,  dass  deutsche  Philo- 
sophen, wie  z.  B.  Zeller  (Gesell,  d.  deutsch.  Philos.,  München  1873,  S.  905),  von 
einer  „fast  sectenartig  zu  nennenden  Geschlossenheit  und  Solidarität4*  der  Männer  der 
Krause’scheu  Schule  sprechen  und  bemerken,  dass  die  Verbreitung  dieser  Lehre  im 
Auslände  z.  Th.  wenigstens  darin  ihre  Erklärung  linde,  dass  die  Ausländer  Krause 
Vieles  zuschreiben,  was  er  von  anderen  deutschen  Philosophen  entlehnt,  wenn  auch 
vielfach  selbständig  weiter  geführt  habe.  Für  die  Nationalökonomie  ist  eine  ge- 
läuterte Rechtsphilosophie,  welche  für  das  Staats-,  Rechts-  und  Wirtschafts- 
leben die  Consequenzen  aus  der  organ  ischen  Auffassung  des  Staats  und  der  Volks- 
wirtschaft zieht,  ein  wesentliches  Bedürfnis. 

Nationalökonomie  und  Rechtsphilosophie  müssen  sich  dabei  aber 
gegenseitig  als  Hilfswissenschaften  betrachten. 

Wir  bedürfen  der  Rechtsphilosophie  besonders  in  den  Fragen  über  die  prin- 
cipielle  Notwendigkeit  des  Staats  für  das  Zusammenleben  der  Menschen ; über  die 
Competcnz  des  Staats  oder  über  seine  Zwecke  und  die  Grenzen  seiner  Wirksamkeit 
gegenüber  der  Sphäre  des  Individuums  und  der  Vereine;  über  die  Berechtigung  des 
Zwangs  (§.  350)  gegenüber  dem  Einzelwillcn ; über  die  Ordnung  der  persönlichen 
Freiheit,  des  Eigentums,  des  Vertrags-  und  Erbrechts  durch  den  Staat;  über  die 
Durchführung  des  Princips  der  vertheilenden  Gerechtigkeit  in  der  Verteilung  des 
Volkseinkommens  (Einkommen-  und  Auskommenlehre,  Buch  4,  Kap.  2)  und  in  der 
Besteuerung.  In  den  Rechtsphilosophieen  aller  Zeiten  von  Plato’s  Staat  uud  Ari- 
stoteles’ Politik  an  bis  auf  die  neueste  Littcratur  findet  der  Nationalökonom  für 
seine  eigene  Disciplin  daher  eine  Reihe  der  wichtigsten  grundlegenden  Erörterungen. 
Das  wird  wenigstens  in  der  heutigen  deutschen  Wissenschaft,  die  sich  von  Einseitig- 
keiten der  späteren  physiokratisch-Smith’schen  Schule  zu  emancipiren  sucht.  Niemand 
mehr  verkennen  (s.  auch  o.  S.  859).  Die  endlosen  theoretischen  Discussioncn  über 
und  Controversen  in  der  sogen,  „socialen44  und  spcciell  in  der  „Arbeiterfrage“  liefern 
für  dies  rechtsphilosophische  Bedürfniss  der  Nationalökonomie  einen  neuesten  zu- 
treffenden Beleg;  zeigen  auch  wieder,  dass  die  aus  der  blossen  „Detailforschung“  ab- 
geleiteten Specialforderungen  ohne  principielle  und  zusammenfassende  Behandlung 
der  allgemeinen  Probleme  (z.  B.  in  Bezug  auf  die  Berechtigung  eines  staatlichen 
Eingreifens  in  die  Verkeilung)  der  sicheren  Begründung  entbehren. 

Aber  wie  die  Nationalökonomie  der  Fühlung  mit  der  Rechtsphilosophie,  so  be- 
darf umgekehrt  gewiss  in  demselben  Maasse  um  ihrer  selbst  willen  die 
Uechtsphilosophie  der  Fühlung  wie  mit  dem  positiven  Rechte  so  auch  mit 
der  Nationalökonomie. 

In  dieser  Hinsicht  erscheinen  die  bezüglichen  Bestrebungen  der  Krause’schen 
Schule  von  unserem  Standpuucte  aus  besonders  erfreulich.  Bisher  bewegt  sich  aber 
auch  diese  Rechtsphilosophie  in  der  nationalökonomischeu  Seite  ihrer  Untersuchungen 
doch  noch  sehr  in  vagen  Allgemeinheiten,  aus  welchen  der  Mangel  tieferen  n&tion.il- 
ökonomischen  Verständnisses  ebenso  unverkennbar  hervortritt,  als  der  Mangel  an  Be- 
herrschung des  rechtsgcschichtlichen  und  des  positivrechtlichen  Stofls.  Eine  solche 
Rechtsphilosophie  kann  den  Nationalökonomen  noch  zu  wenig  als  Leiterin  dienen,  weil 
sie  die  eigentlichen  Schwierigkeiten  der  Probleme  meistens  ungelöst  lässt,  ja  sie  oft 
gar  nicht  empfindet  und  formulirt. 


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Vorbemerkungen. 


873 


Freilich  gilt  dies  von  anderen  philosophischen  Richtungen  noch  ungleich  mehr. 
Hegelianer,  wie  Mich  eiet  in  seinem  Naturrecht,  kommen  dabei  kaum  noch  zu  etwas 
Anderem  als  zu  einer  Rechtsphilosophie  für  den  reinen,  atomistischen  Smithianismus 
mit  ihrem  Princip  der  ,, Freiheit  der  Persönlichkeit  im  sittlichen  Bunde*4  (I,  86)  und 
ihrer  Construction  eines  immer  noch  fast  absoluten  Eigenthumsrechts  und  Vertrags- 
rechts (I,  172  ff.,  210  ff.,  vcrgl.  auch  über  die  Volkswirtschaft  II,  5 — 58). 

Aber  auch  Autoren,  wie  A.  Trcndelcnburg,  der  in  seinen  Grundanschau- 
ungen,  in  seinem  Aufbau  des  Naturrechts  „auf  dem  Grunde  der  Ethik“  und  in  man- 
chen schönen  principiellen  Erörterungen  über  Person,  Eigenthum,  Staat,  Verhältniss 
des  Staats  zum  Eigenthum,  Regiment,  Besteuerung  sich  nahe  berührt  mit  der  deutschen 
„ethischen“  und  socialpolitischen  Schule  der  Nationalökonomie,  gelangt  doch  in 
Hauptpuncten  und  Controverson  mehr  nationalökonomischer  Art  über  eine  vage  All- 
gemeinheit und  Scbematisirung  auch  noch  nicht  hinaus.  Was  nützt  cs  z.  B.,  stets 
„den  Menschen“,  „den  menschlichen  Willen“  schlechtweg  der  „Sache“  gegenüber  zu 
stellen  und  dann  das  Eigenthum  einer  Person  zu  bestimmen  „als  Dasjenige  ausser 
ihr,  was  als  Werkzeug  ihres  Willens  anerkannt  wird“  (S.  205),  wahrend  in  der 
Wirklichkeit  eben  „die  Menschen“  in  dieser  Abstraction  gar  nicht  existiren,  sondern 
die  Angehörigkeit  zu  einem  wirtschaftlichen  Stande,  die  „gesellschaftlichen  Verhält- 
nisse** auch  entscheiden  über  die  Möglichkeit,  solche  „Werkzeuge  des  Willens“  zu 
erwerben  und  zu  benutzen?  Wie  lässt  sich  überhaupt  auch  rechtsphilosophisch  die 
Eigcnthumslehrc  und  die  Stellung  des  Staats  zum  Eigentum  erörtern,  ohne  auf  die 
verschiedenen  wirtschaftlichen  Zwecke  und  demnach  auf  die  grundverschiedenen 
wirtschaftlichen  Folgen  der  Eigenthumsarten  einzugehen:  Grundeigenthum,  getheilt 
wieder  nach  seinen  Special-Zwecken,  wo  etwa  nur  das  Bergrecht  in  seiner  prin- 
cipicllcn  Sonderart  einige  Beachtung  findet,  aber  nicht  nur  bei  Michelet,  sondern 
auch  bei  Trcndelcnburg  (S.  370)  doch  keine  tieferen  Erörterungen  über  die  Not- 
wendigkeit einer  principielien  Unterscheidung  der  Arten  des  Grundeigenthums  nach 
Arten  seinerZwccke  gepflogen  werden:  — Kapi  tal  eigenthum  und  Ge  brauchs- 
vermögen-Eigenthum,  wo  die  wirtschaftliche  Function  als  „Werkzeug  des  Willens** 
sich  so  vollständig  verschieden  gestaltet?!  Was  bedeutet  die  eingehende  Er- 
örterung über  die  Begründung  des  Eigenthums  auf  Occupation,  eine  nur  in  primi- 
tiven Verhältnissen  wichtige  Erwerbsart  des  Eigenthums,  während  sich  Alles  dreht 
um  die  Begründung  des  Eigentums  an  den  um  ge  formten  Stoffen,  wo  daun  ohne 
Weiteres  mittelst  des  Lohnvertrags  der  Arbeiter  als  abgefunden  und  nach  der  römisch- 
rechtlichen Auflassung,  in  Widerspruch  mit  der  Behandlung  der  Spccification  (wenig- 
stens in  dem  practiseh  wichtigsten  Falle)  in  diesem  Rechte,  der  Eigentümer  des  ver- 
arbeiteten Stoffs  auch  als  solcher  des  umgeformten  StofTs  betrachtet  wird  (Michelet, 
Naturrecht,  I.  191,  ähnlich  wieder  Treitschkc  in  s.  Aufs.  Uber  Socialismus)?  — 
jener  „Eigentümer“,  der  sich  dann  den  vollen  „Mehr werth“  des  umgeformten 
Stoffs  über  die  verausgabten  Kosten  incl.  Löhne  aneignet?!  Wenn  aber  alle  solche 
Sätze,  weil  sie  in  dem  positiven  Rechte  enthalten  sind,  wenn  weiter  z.  B.  die  in 
letzterem  stets  unterlaufende  Fiction  von  der  „Freiheit“  der  Vertragsschliessung, 
unter  ganz  unzulässiger  Gleichsetzuug  der  rein  formalen  (jetzigen  juristischen) 
und  der  realen  (ökonomischen  und  socialen)  Freiheit,  einfach  von  der  Rechts- 
philosophie ohne  nähere  Prüfung  als  Axiome  für  ihre  Deductionen  übernommen 
werden.  — wozu  braucht  es  dann  noch  einer  besonderen  „Rechtsphilosophie“, 
eines  „Naturrechts“,  in  dem  Sinne,  wie  auch  die  neueren  Vertreter  der  organi- 
schen Staats-  und  Rechtsauffassung  diese  Disciplin  sonst  mit  Recht  noch  aufrecht 
erhalten? 

Nur  eine  national ökono mische  Vertiefung  der  Rechtsphilosophie,  wie  sie 
wenigstens  von  der  Krause  sehen  Schule  in  der  Gonsequenz  ihrer  Grundanschauungen  über 
Individuum.  Gesellschaft  und  Staat  erstrebt  werden  muss  und  von  Ah  re  ns  u.  A.  erstrebt 
wurde,  wird  hier  von  der  immer  noch  zu  abstracten,  zu  formalistischen  Behandlung 
der  Lehren  vom  Staate  und  Rechte  zu  einer  wahrhaft  fruchtbaren  und  der  National- 
ökonomie zur  Ergänzung  und  zur  Leitung  dienendon  Rechtsphilosophie  hinüberfuhren. 
Eine  Rechtsphilosophie  freilich,  welche  in  der  Lehre  vom  Eigenthum  die  ökonomische 
Seite  der  Eigenthumsfragen  unberührt  lässt,  kann  nur  etwa  mit  einer  Theorie  der 
schneidenden  Werkzeuge,  Messer  u.  s.  w.  verglichen  werden,  in  welcher  von  der 
Klinge  nicht  geredet  wird.  Aus  der  Krause’schen  Schule  ist  der  Nationalökonom  auf 


874 


6.  B.  Der  Staat.  Vorbemerkungen.  §.  352. 


Ahrens’  „organische  Staatslehre“  und  auf  Dess.  Naturrecht,  6.  AufL,  2 B.,  Wien 
1870,  vorläufig  noch  vornemlich  angewiesen,  was  die  rechtsphilosophische  Betrachtung 
des  Staats  und  der  „socialen  Bedingungen  der  Volkswirtschaft“  (Verkebrsrecht,  Eigen- 
thum u.  s.  w.)  anlangt.  S.  auch  Abrens’  Abh.  über  Recht  u.  Kechtswisscnsch.  im 
Allgem.  in  v.  Holtz  endorff’s  Encyclop.  d.  Rechtswissensch.  B.  1. 

Bei  voller  Anerkennung  der  Verdienste,  welche  sich  Ah  re  ns  auch  um  die 
tiefere  Begründung  uationalökonomischer  Priucipienfragen  durch  seine  Rechtsphilosophie 
erworben,  muss  aber  grade  gegen  seine  volkswirtschaftlichen  Consequenzen 
manches  Bedenken  erhoben  werden.  Ausser  den  Abschnitten  Uber  das  Sachgüterrecht  und 
Forderungsrecht  (II,  09  ff.,  188  ff.)  Lommt  hier  namentlich  seine  Staatslehre  in  Betracht 
(Naturrecht  II,  203  ff.).  Hier  bieten  die  Erörterungen  über  den  Staatszweck  §.  105 ff. 
Vorzügliches,  aber  die  Auffassung  der  Aufgabe  des  Staats  im  gesellschaftlichen  und 
volkswirtschaftlichen  Leben  (II,  287  ff,  auch  319  ff.,  465,  510  oder  §.  135,  148) 
genügt  nicht,  trotz  der  berechtigtsten  Reaction  gegen  die  abstract- individualistische 
Freiheitslehre  der  radicalcn  Smithiauer  (II,  291),  wie  nach  der  viel  zu  weit  gehenden 
Zustimmung,  welche  Ahrens  den  Bastiat 'sehen  und  ähnlichen  „Widerlegungen“ 
der  Socialistcn  zu  Thcil  werden  lässt  (bes.  I,  §.  27,  bes.  S.  206,  auch  II.  278,  bei 
sehr  guten  Bemerkungen  I,  198  ff),  allerdings  auch  nicht  so  sehr  auffallen  kann. 
Ahrens  knüpft  hier,  um  die  Aufgabe  des  Staats  gegenüber  den  anderen  gesellschaft- 
lichen Lebenskreisen  zu  bestimmen,  an  seine  sonst  ganz  brauchbare  Formulinmg  des 
Bogrifls  Bedingung  im  Unterschied  von  Causalität  an  (II,  287,  I,  270):  „durch  eine 
Ursache  wird  etwas  unmittelbar  wirklich , durch  eine  Bedingung  dagegen  wird  es 
möglich  gemacht,  dass  etwas  Anderes  durch  eine  innere  oder  äussere  Ursache  wirk- 
lich weide.“  (S.  auch  oben  S.  152.)  Der  Staat  soll  demnach  nur  die  Bedingungen 
der  wirtschaftlichen  Entwicklung  schaffen,  seine  Aufgabe  sei  auch  hier  nur  eine 
formell  ordnende,  nicht  eine  sachlich  schaffende,  materiell  productive.  Mau  kann 
höchstens  zugeben,  dass  damit  unter  bestimmten  geschichtlichen  Verhältnissen  ein 
richtiges  Ziel  für  die  Gestaltung  und  Begrenzung  der  Staatsthätigkeit  aufgestellt  wird, 
so  im  Ganzen  etwa  in  den  Verhältnissen  eines  volkswirtschaftlich  schon  entwickelten 
Culturvolks  der  Gegenwart.  Aber  das  obige  Princip  ist  nicht  für  alle  Verhältnisse 
des  Volkslebens  richtig,  kein  absolutes,  sondern  doch  auch  nur  ein  historisch-relatives. 
Es  lässt  ferner  wegen  der  Schwierigkeit,  ja  oft  der  Unmöglichkeit,  im  conreten  Falle 
des  volkswirtschaftlichen  Lebens  Bedingung  und  Ursache  in  der  erwähnten  Art  zu 
unterscheiden,  vielfach  ganz  im  Stich.  Ahrens’  Verwertung  seines  leitenden  Prin- 
cips  zur  Feststellung  der  richtigen  Staatsthätigkeit  und  zugleich  der  Grenzen  dafür, 
II,  288  ff,  510  11'.,  liefert  dafür  selbst  den  Beweis.  Manche  Thätigkeiteu  werden  hier, 
zwar  ganz  richtig,  aber  kaum  in  voller  Uebereinstimmung  mit  jenem  Princip,  dem 
Staate  zugesprochen,  z.  B.  das  Strassen  wesen  (S.  289),  selbst  das  Postwesen  (S.  513), 
während  Ahrens  in  seiner  Polemik  gegen  die  Socialisten  den  einmal  bei  uns  be- 
stehenden Bereich  der  Staatsthätigkeit  doch  noch  viel  zu  sehr  als  den  ohne  Weiteres 
richtigen  anerkennt.  Grade  hier  liegen  ohne  Zweifel  wichtige  Grenzgebiete,  auf 
welchen  bald  die  staatliche,  d.  i.  zwangsgemeinwirthschaftliche , bald  die  privatwirth- 
schal'tliche  Herstellung  und  Verthcilung  der  betreffenden  Güter  angezeigt  ist.  in  unserer 
Zeit  aber  die  erstere  mit  Recht  mehr  hervortritt,  d.  h.  m.  a.  W.  gewisse  Ideen  des 
Socialismus  sich  realisiren,  Ahrens’  Princip  zeigt  sich  auch  hierbei  als  ein  zu 
absolutes.  Vgl  auch  II,  § 60,  62.  Meine  Stellung  zu  der  Frage  s u.  in  §.  360. 
Neben  Ahrens  verweise  ich  auch  auf  Röder,  Grundzüge  des  Naturrechts  oder  der 
Rechtsphilosophie.  2.  A.,  2.  Abth.,  Lpz.  1860,  1863,  bes.  d.  2.  Abth.  (Bes  Theil, 
Anwendung  des  Rechtsprincips  auf  die  Lebensverhältnisse,  u.  A.  über  das  Eigenthum. 
S.  236  ff.).  Die  vielfach  zutrellendc  Erörterung  über  den  Staat  in  der  1.  Abth.. 
S.  213  ff.  leidet  doch  in  nationalökonomischer  Beziehung  ebenfalls  darunter,  dass 
gewisse,  durchaus  nur  relativ  richtige  Postulate  in  Betreff  der  Beschränkung  des  Staats 
in  Eingriffen  in  das  wirtschaftliche  Leben  als  allgemein  giltige  Sätze  hingestellt 
werden,  vergl.  z.  B.  I,  232.  — S.  ferner  v.  Ihering,  Zweck  im  Recht  I,  Kap.  8, 
bes.  305  ff.  („Die  sociale  Organisation  des  Zwanges  ist  gleichbedeutend  init  Staat  und 
Recht“,  S.  306.)  Zum  Vergleich  einer  in  einigen  Punctcn  von  der  meinen  ebenso 
abweichenden,  wie  in  anderen  übereinstimmenden  Auffassung  vom  Staate  siebe 
A.  Lasson,  von  der  Natur  des  Staats,  philos.  Monatshefte  VI,  105,  sowie  jetzt 
Dcss.  System  der  Rechtsphilosophie,  Berl.  1S82,  bes.  §.  29  ff.  Lasson’s  verschrobene, 
auf  extrem- individualistischem  Boden  stehen  gebliebene  volkswirtschaftliche  Auffassungen 


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Vorbemerkungen. 


875 


präjudiciren  leider  überall  auch  seinen  Ansichten  über  Staat  und  Volks wirthschaft  in 
Beziehung  zu  einander.  Sonst  ist  in  der  neueren  italienischen  rechtsphilosophiscben 
Litteratur  eine  oder  die  andere  Erörterung  über  den  Staat  enthalten,  die  hier  mit 
erwähnt  werden  kann.  Vergl.  z.  B.  D.  Lioy,  Philosophie  des  Rechts,  übersetzt  von 
Di  Martiuo,  Berl.  1885,  bes.  S.  323  ff.,  aus  der  neueren  deutschen  Litteratur 
bes.  Paulsen's  Ethik  (S.  71). 

Brauchbare  Gcsichtspuncte  für  Einzelnes  finden  sich  auch  in  Stahl’s 
Rechtsphilosophie  (vgl.  z.  B.  II,  2,  2.  Aufl.,  2.  Abschn.,  1.  Kap.,  4.  Abschn.,  2.  Kap., 
Finanzen,  so  die  trefflichen  Erörterungen  über  das  eine  der  beiden  Besteueruugs- 
principien,  welches  in  dem  „Verhältnis  der  Vermögen  erzeugenden  Sociotät  als  eines 
organischen  Ganzen“  liegt,  S.  420). 

Mancherlei  Bausteine  für  eine  volkswirtschaftlich  Probe  haltende  Rechts- 
philosophie hat  Lange  geliefert,  besonders  in  seinen  „Ansichten  Mills“  (namentlich 
Kap.  2),  in  seiner  „Arbeiterfrage“  (bes.  Kap.  6).  Aber  die  principielle  Hauptfrage 
über  den  „Staat  und  die  Volkswirtschaft“  erfährt  hier  noch  keine  ein- 
gehende Betrachtung. 

Unter  den  Schriften,  die  mehr  vom  politischen,  als  vom  rechtsphilosophischen 
Standpuncte,  aber  doch  auch  von  diesem  aus  die  Stellung  des  Staats  auch  zur  Volks- 
wirtschaft erörtern,  verweise  ich  für  die  Gesammtauffassung  besonders  auf 
H.  Escher’s  Politik  I,  1.  B.,  Staatsmetaphysik.  Neuere  französische  Litteratur 
s.  bei  Ahrens,  Naturrecht  II,  277,  Anm.,  so  Pascal  Duprat,  de  l'6tat,  sa  place  et 
son  röle  dans  la  vie  des  societ^s,  1852,  E.  Laboulayc,  l’etat  et  ses  limites,  Rev. 
internat.,  Nov.  1860,  Ducpetiaux,  mission  de  l’etat,  ses  rögles  et  ses  limites,  1862. 
Klöppel,  Staat  und  Gesellschaft,  Gotha  1887,  Aus  neuester  Zeit  auch  die  Litteratur 
über  Staatssocialismus  (s.  o.  §.  18);  dazu  noch  H.  Spencer,  man  versus  state, 
„von  der  Freiheit  zur  Gebundenheit“  (Berl.  1891). 

§.353  [S.  292].  Fortsetzung.  Für  die  in  diesem  Buche  angcstellte  national- 
ökonomische  Aualysc  des  Staats  kann  die  alte  Frage  über  den  Entstehungs- 
grund des  Staats  als  solchen  bei  Seite  gelassen  werden.  Dagegen  treten  die  beiden 
anderen  eng  zusammengehörigen  Haup tf ra ge n über  den  oder  die  Zwecke  und 
über  die  Grenzen  oder  den  Bereich  der  Staatsthätigkcit  auch  für  die  national- 
ökonomische Betrachtung  besonders  hervor. 

Der  neueren  organischen  Auffassung  des  Staats  widerspricht  die  äusser- 
liche  Trennung  verschiedener  Staatszweckc  ebenso  sehr  als  die  Annahme  des 
alleinigen  Rechtsschutzzwecks  der  Kant’schen  und  der  Smith’schen  Schule  oder  als 
die  gewaltsame  Subsumption  aller  im  concreten  Staate  vorkommenden  Thätigkeitcn 
unter  den  Begriff  dieses  „Rechtszwecks“,  wie  er  auch  genannt  wird.  Es  handelt  sich 
aber  auch  nicht  um  eine  äusserlichc  Trennung  des  einen  einheitlichen  Staats- 
zwecks, sondern  um  eine  Gliederung  desselben  und  hier  wird  die  Unterscheidung 
des  Rechts-  und  Machtzwecks  einer-  und  des  Cultur-  oder  Gnltur-  und 
Wohl  fall  rtsz  wecks  anderseits  aufrecht  erhalten  werden  dürfen,  ganz  in  der 
Weise,  wie  es  neuere  Rechtsphilosophen  und  theoretische  Politiker  der  organischen 
Staatsauffassung  ebenfalls  noch  thun:  s.  z.  B.  v.  Leon  har  di  (a.  a.  0.  S.  10)  und 
Ahrens  (II,  303),  wenn  er  sagt,  der  Staat  ist  nicht  abstracter  Rechtsstaat,  sondern 
ein  Cultur-  und  Humanitätsrechtsstaat.  (Vgl.  auch  Röder  1,  214  ff,  223  ff.) 
Im  Grunde  ist  alles  Wesentliche,  auch  für  die  nationalökonomische  Auffassung  des 
Staats  schon  in  dem  Satze  des  Aristoteles  enthalten:  f / n6kig  ytvofXkvt)  zov 
t'vexev,  ovaa  rov  er  (de  re  publ.  I.  2,  ed.  Bekkcr,  p.  3).  Gute  Erörterungen 
darüber  von  II.  Es  eher  (1,  §.  7 — 11,  bes.  10). 

Für  die  nationalökouomischc  Betrachtung  werden  aus  dem  Zweck  und 
Bereich  des  Staats  dann  nur  die  speciell  ökonomischen  und  finanziellen 
Consequenzen  genauer  abzuleiten  sein,  w’ie  dies  im  Texte  bes.  im  3.  und  4.  Kapitel 
dieses  Buchs  geschieht.  In  den  Systemen  der  Finanzwissenschaft  und  hier  in 
der  Lehre  von  den  Staatsausgaben,  pflegen  sich  auch  gewöhnlich  theils  Be- 
schreibungen der  Staatsthätigkeiten.  theils  Erörterungen  principieller  Art  über  Zweck 
und  Bereich  des  Staats  zu  finden,  so  schon  bei  A.  Smith  a.  a.  0.,  vergl.  Rau, 
Finanzwiss.  5.  Aufl.,  I,  §.  44  und  meine  Finanzwiss.  I,  3.  A.,  §.  1 ff.,  7 ff,  32  ff. 
Für  diese  Erörterungen,  ebenso  wie  für  die  Principien  der  Besteuerung  gilt  jedoch 
der  Satz,  dass  sic,  grade  soweit  es  sich  dabei  um  principielle  Untersuchungen 


876 


6.  B.  Der  Staat.  Vorbemerkungen.  §.  352. 


handelt,  mehr  in  den  grundlegenden  Thcil  der  ganzen  Politischen  Oekonomie. 
als  speciell  in  die  Finanzwissenschaft  (oder  auch  als  nach  Stein  u.  A.  m.  in  die 
Verwaltungslehre)  gehören.  In  diesen  letzteren  Disciplincn  ist  die  Bestimmung  der 
Staatszwecke  und  die  Festsetzung  des  Bereichs  der  Staatsthätigkeit  und  der  obersten 
Steuerprincipien  dann  als  schon  erfolgt  vorauszusetzen  und  sind  nur  speciell  die 
finanziellen  u.  s.  w.  Consequonzen  daraus  zu  ziehen.  Nach  diesem  Gesicht*punct 
bin  ich  auch  in  der  2.  Aufl.  (§.  3Ü  tf)  und  3.  Autl.  (§.  32  tf.)  des  1.  Bauds  meiner 
Finanzwissenschaft  verfahren. 

Die  Erörterung  Uber  die  richtige  Bestimmung  des  Bereichs  oder  der 
Grenzen  der  Staatsthätigkeit  gehört  anderseits  auch  in  die  theoretische  Politik 
und  in  die  allgemeine  Staatslehre.  Die  Autoren  entscheiden  dann,  je  nachdem 
sie  mehr  abstract  dogmatisch  oder  concret  historisch  und  statistisch  ihren  Gegenstand 
behandeln,  die  Fragen  auf  Grund  eines  bestimmten  rechtsphilosophischen  Systems  oder 
nach  einem  ihnen  vorschwebenden  Ideal  eines  bestimmten  geschichtlichen  Staat 
Hierher  gehören  als  noch  heute  besonders  beachtcnswerth  W.  v.  Humboldt’s  Ideen 
zu  einem  Versuch,  die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats  zu  bestimmen,  zuerst  1792 
(neue  Aull.,  Brest.  1851),  eine  Schrift  auf  dem  ganz  individualistischen  Standpunete 
des  Kant’schen  reinen  Rechtsstaats,  und  insofern  auch  auf  jenem  A.  Smith  scheu 
Standpuncte,  wie  er  etwa  von  späten  volkswirtschaftlichen  Nachläufern,  z.  B.  einem 
Princc-Smith  (§.313)  vertreten  wird.  Mit  dieser  Schrift  Humboldt's  ist  besonder; 
Mill  s Schrift  Uber  die  Freiheit  zu  vergleichen,  ebenso  J.  Simon’s  libert6.  jetzt 
H.  Spencer's  vorhin  genannte  Schrift.  Aus  der  neueren  Litteratur  siehe:  G.  Waitr, 
Politik,  Kiel  1862,  bes.  Abschn.  1 und  6,  v.  Holtzendorff,  Politik,  Berl.  1969. 
bes.  B.  3,  auch  für  Gesamm  taufgaben  des  Staats  v.  Roch  au,  Grundsätze  der  Real- 
politik. 2.  Th.,  Heid.  1869;  besonders  aber  R.  v.  Mohl,  Encyclopädie  der  Staats- 
wissenschaft. namentlich  §.  11  u.  12.  und  Ders.,  Staatsrecbt,  Völkerrecht  u.  Politik. 
1860  fT.,  vielfach,  besonders  im  3.  B.,  Ausführungen  des  Rechtsstaatsideals  Mohl's. 
Bluutschli,  Lehre  vom  modernen  Staat.  1.  Th.  Allgemeine  Staatslehre.  5.  A.. 
Stuttg.  1875,  bes.  B.  1 über  den  Staatsbegriff,  ß.  5 über  den  Staatszweck,  auch 
Th.  3,  Politik  passim.  Bedeutender  und  für  die  nationalökonomische  Betrachtung 
brauchbarer  als  diese  Werke  der  Juristen  ist  Schäffle,  Soc.  Körper  B.  4.  S.  jetzt 
auch  W.  Roscher,  Politik,  Stuttg.  1892.  Sidgwick,  elemcnts  of  politics,  London 
1891,  sowie  Dess.  polit.  econ.  book  III.  Wie  wenig  unter  den  älteren  Autoren  der 
Politik  u.  s.  w.  R.  v.  Mohl  auf  dem  einseitigen  Standpunct  der  Smith’schen  Schale 
in  nationalökonomischen  und  socialpolitischen  Fragen  in  Bezug  auf  Staatsinterrentioa 
stand,  ergiebt  sich  aus  den  neuerdings  von  E.  Meier  in  s.  schönen  Aufsatz  über 

R.  v.  Mohl  (Tüb.  Ztschr.  1878,  B.  34)  wieder  hervorgezogeneu  Aufsätzen  Mohl's  über 
Fabrikwesen  (Rau’s  Arcli.  d.  Pol.  Oek.  1835,  II,  141  tf. , Rotteck  und  Welckers 
Staatlsex.  1.  A.,  VI,  775)  und  über  d.  Pol.  Oek.  in  d.  D.  Viertelj.schr.  1840.  II.  3. 

S.  1 Cf.  Vgl.  Meier  a.  a.  0.  S.  494  CT.  — Vgl.  ferner  das  vorhin  genannte  Werl 
von  Escher  uud  die  französischen  Schriften,  sowie  Kautz  a.  a.  0.  I,  249,  261; 
ausserdem  die  oben  S.  S5S  schon  genannto  polizeiwissenschaftliche  und  Ver- 
w altungslitteratur. 


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877 


Erstes  Kapitel. 

Der  Staat  im  Allgemeinen. 

I.  — §•  354  [161].  Der  Staat  als  volkswirtschaftliche 
Kategorie.  Der  Staat  ist  in  neuerer  Zeit  von  den  National- 
ökonomen öfters  unter  die  Kapitalarten  gereiht  und  als  das 
wichtigste  (stehende)  Immaterialkapital  der  Volkswirthschaft 
bezeichnet  worden. 

S.  Roscher,  I,  § 42  und  besonders  die  guten  Erörterungen  von  K.  Dietzel, 
System  der  Staatsanleihen,  Heid.  1855,  S.  11  ff.,  16  ff.,  bes.  71  ff.  und  passim. 

Diese  Auffassung  ist  nicht  unrichtig  und  entspricht  der  Ein- 
reihung des  Staats  als  wirtschaftliches  Gut  in  die  Classe  der 
„Verhältnisse“  (§.  119)  und  unter  die  Bestandteile  des  Volks- 
vermögens (§.  124).  Aber  der  universalen  Bedeutung  des  Staats 
an  und  für  sich  und  speciell  wieder  für  die  Volkswirthschaft  wird 
nur  die  Auffassung  des  Staats  als  höchste  Form  der  Zwangs- 
gemein wirthschaften  in  der  Volkswirthschaft,  als  wahre  Ge- 
sammtwirthschaft  des  staatlich  organisirten  Volks  (§.  149  ff., 
299)  gerecht. 

Die  Bezeichnung  „Wirthschaft“  für  den  Staat  ist  im  bisherigen  Verlauf  schon 
oft  gebraucht  worden.  Da  cs  dem  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  widerspricht,  Staat, 
Kirche  u.  s.  w.  „Wirthschaften“  zu  nennen  und  zwar  in  dem  Sinne,  dass  sie  regel- 
mässig gewisse  Leistungen  „produciren“,  welche  man  oft  ganz  ohne  Rücksicht  auf 
den  sogen,  wirtschaftlichen  Gesichtspunct  behandelt,  so  mag  hier  daran  erinnert 
werden,  dass  die  Ausdehnung  des  Begriffs  Wirthschaft  selbst  auf  Staat  und  Kirche 
eine  notwendige  Consequenz  der  Einbeziehung  aller  Arten  Dienstleistungen  in  die 
wirtschaftlichen  Güter  ist.  Auch  Staat  und  Kirche  sind  als  „Veranstaltungen  für  die 
regelmässige  Herstellung  von  (meist  immateriellen)  Leistungen  aller  Art‘‘  für  gewisse 
Bedürfnisse  vom  volkswirtschaftlichen  Standpuncte  aus  „Wirthschaften“,  worin  aber 
in  keiner  Weise  eine  Herabziehüüg  ihrer  Leistungen  in  die  Sphäre  des  materiellen 
Interesses  gefunden  werden  kann.  S.  §.  361. 

Der  so  aufgefasste  Staat  lungirt  alsdann  auf  den  beiden 
grossen  Gebieten,  in  der  Production  und  in  der  Vertheilung. 

1)  Im  volkswirtschaftlichen  Productionsprocess  erscheint 
er  neben  den  „natürlichen“  Ursachen  und  Bedingungen  aller 
Production,  den  sogenannten  Producti vfactoren  Natur  und 
Arbeit,  Kapital  und  Unternehmung,  deren  Zusammenwirken 
für  die  Production  der  Güter  erforderlich  ist,  als  eigener,  als  der 
die  Rechtsordnung  schaffende  und  sichernde  Factor.  Durch 
diese  seine  Wirksamkeit  erst  schafft  und  sichert  er  die  socialen 
und  rechtlichen  Bedingungen  dafür,  dass  die  Production,  ins- 
besondere auch  im  privatwirtbschaftlichen  System,  theils  überhaupt, 

A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlagen.  56 


878 


6.  B.  Staat.  1.  K.  Im  Allgemeinen.  §.  374. 


theils  befriedigend  vor  sich  gehen,  jenes  Zusammenwirken  der 
natürlichen  Ursachen  und  Bedingungen  erfolgreich  stattfinden  kann. 
Diese  Mitwirkung  des  Staats  in  und  an  der  Production  als  „Ver- 
mögen erzeugende  Societät“  (Stahl)  findet  in  der  Ueberweisung 
materieller  Finanzmittel  an  ihn,  insbesondere  daher  in  den  Steuern, 
welche  somit  einen  Theil  der  nothwendigen  Productionskosten 
bilden,  ihren  ökonomischen  Entgelt.  Es  kommt  darin  das  Princip 
der  Heproductivität  dieser  Finanzmittel,  bezw.  Steuern  in  den 
Staatsleistungen  zur  Geltung,  worin  auch  der  ökonomische  Er- 
klärungs-  und  Rechtfertigungsgrund  der  Besteuerung  liegt. 

S.  Fin.  II,  zweite  Aufl.,  §.  87.  Der  ökonomische  Grand  der  Besteuerung  ist 
mit  dem  Rcchtsgrund  der  Steuerpflicht  nicht  zu  verwechseln  (eb.  §.  S5  ff.,  s.  auch 
oben  §.  349  ff.). 

Unter  dem  Ausdruck  „Productivfactor“  kann  sowohl  das  bedingende,  als  das 
ursächliche  Moment  in  der  Production  verstanden  werden.  Natur  und  Arbeit 
lassen  sich  als  die  ursächlichen,  Kapital  und  Unternehmung  — letztere  als  rein 
ökonomische,  nicht  bloss  als  historisch  - rechtlic he  Kategorie  eines  be- 
stimmten Volkswirthschaftssystcms  betrachtet  — als  die  bedingenden  Momente  im 
Productionsproccss  anschcn,  wenngleich  auch  hier  Ursache  und  Bedingung  sich  nicht 
immer  scharf  unterscheiden  (s.  o.  S.  152  u.  S.  894).  Dasselbe  gilt  vom  Staate,  welcher 
in  der  Production  zwar  überwiegend  als  Bedingung,  besonders  gegenüber  dem 
privatwirthschaftlichcn  System,  aber  doch  auch  zugleich  als  Ursache  fungirt.  Er 
schafft  die  Einrichtungen,  Anstalten,  Leistungen  auf  immateriellem  wie  materiellem 
Gebiete,  welche  seiner  jeweiligen  Aufgabebcstimmung  und  Thätigkeitssphäre  ent- 
sprechen, ist  hier  „Productions wirtbschaft“  (S.  378)  und  er  wird  dadurch 
Bedingung  aller  Productionsthätigkeit  anderer  Wirtschaften.  Ich  halte  daher  an 
der  Bezeichnung  des  Staats  als  „Productivfactor“  fest.  Coordinirt  ist  er  den 
anderen  vier  Momenten  allerdings  nicht,  aber  auch  diese  sind  sich  nicht  coordinirt, 
insbesondere  ist  das  Kapital  den  Factoren  Natur  und  Arbeit  subordinirt,  eist  ein 
Product  beider,  wie  der  Staat  auch.  Auch  die  Unternehmung  ist  wieder  nicht  dem 
Kapital,  auch  nicht  der  Arbeit  coordinirt,  sondern  selbst  nur  eine  specifische  Art  der 
Einrichtung  des  Zusammenwirkens  von  specifischer  Arbeit  und  Kapital.  (Gegen  die 
Identificirung  von  „Unternehmung  überhaupt“,  als  allgemeine  ökonomische  Kategorie, 
mit  der  modernen  Form  der  Unternehmung,  wio  sie  sich  bei  den  Socialisten,  aber 
auch  in  einer  unklaren  Begriffsbestimmung  der  Unternehmung  bei  G.  Sch  mol  ler 
findet,  möchte  ich  hier  nur  Einspruch  erheben,  ohne  meine  Auffassung  an  diesem 
Orte  näher  zu  begründen.)  — Einwendungen  gegeu  diese  Auffassung  des  Staats  als 
Productivfactor  von  v.  Scheel  in  s.  Anzeige  d.  1.  Aufl.  d.  Grundlegung  in  Hildebr. 
Jahrb.  1876.  B.  26,  S.  49  (s.  darüber  schon  in  d.  1.  Aufl.  S.  474,  Note)  u.  Polemik 
dagegen  von  v.  Skarzynski,  Ad.  Smith,  Berl.  1878.  Die  Betrachtung  des  Staats 
als  Productivfactor,  wenn  auch  nicht  immer  in  dieser  bestimmten  Formulirnng, 
ist  doch  schon  häufiger  zu  finden  und  entspricht  der  gleich  zu  erwähnenden  Auf- 
fassung Müller’s  und  Stahl’s.  Aber  nicht  minder  wesentlich  ist  die  Auffassung 
des  Staats  als  Verth eilungsregulator.  eiu  wenigstens  in  der  Theorie  bisher  zu 
wenig  beachteter  Punct.  — Stahl’s  Auffassung  s.  in  seiner  Rechtsphilosophie. 
2.  Aufl.,  II,  2,  S.  420.  Die  Conscquenz  dieser  Auffassung  für  die  Würdigung  der 
Steuern  ist  eine  weittragende:  der  Staat  nimmt  eben,  die  Volkswirtschaft  als  Ganzes 
aufgefasst,  den  besteuerten  Einzelnen  gar  nicht  etwas  ihnen  Gehöriges,  nur  von 
ihnen  Erworbenes,  sondern  er  nimmt  in  den  Steuern  seinen  Antheil  am  Pro 
ductionsertrage  der  Einzelwirtschaften,  ebenso  wie  ein  stiller  Gesellschafter,  nach  der 
schönen  Ad.  Mül  ler  sehen  Auffassung  (Eiern,  d.  Staatskunst  III,  75)  gleichsam  als 
„Zinsen  des  unsichtbaren  und  doch  schlechterdings  nothwendigen  geistigen  National- 
kapitals“, welches  der  Staat  repr&sentirt. 


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Der  Staat  als  Volks  wirthsch.  Kategorie. 


879 


2)  Im  volkswirtschaftlichen  Vertheilung  sprocess  ist  der 
Staat  gleichfalls  ein  nothwendig  raitwirkender  Vertheilungs- 
regulator, vermittelst  dieser  von  ihm  ausgehenden  und  von  ihm 
garantirten  Rechtsordnung  des  Verkehrs,  vermittelst  seiner 
Politik  der  Einnahmebeschaffung,  besonders  seiner  Steuerpolitik, 
und  vermittelst  seiner  directen  Theilnahme  an  der  Production 
anderer,  auch  materiell-wirthschaftlicher  Leistungen. 

Insbesondere  giebt  der  Staat  in  der  wirtschaftlichen  Rechtsordnung  dorch  seine 
Bestimmungen  über  persönliche  Freiheit,  Eigenthum,  Erbrecht,  Vcrtragsrecbt  und 
Giltigkeit  erworbener  Rechte  dem  Princip  der  Concurrenz  erst  seinen  genaueren  Inhalt 
und  Umfang  (§.  306,  307)  und  greift  dadurch  wesentlich  in  die  Vertheilung  ein. 
Der  Bezug  von  Reinerträgen  aus  seinen  Privaterwerbs-  und  Gebühreneinrichtungen 
hat  für  die  Vertheilung  des  Volkseinkommens  tiefe  Wirkungen,  nicht  minder  die  von 
ihm  befolgte  Politik  des  Entgelts  und  der  Kostendeckung  seiner  Leistungen , sowie 
seine  Besoldungspolitik  im  ötlentlichen  Dienst. 

II.  — §.  355  [162].  Zwecke  und  Leistungen  des  Staats. 
Um  die  Bedeutung,  welche  der  Staat  hiernach  für  die  Volkswirt- 
schaft hat,  richtig  zu  würdigen,  ist  es  auch  in  der  Politischen 
Oekonomie  nothwendig,  wenigstens  in  der  Kürze  orieutirend  auf 
die  Zwecke  und  Leistungen  des  Staats  überhaupt  einzugehen. 

A.  Die  Leistungen  des  Staats  lassen  sich  volkswirt- 
schaftlich unter  dem  Gesichtspunct  der  Arbeitstheilung  be- 
trachten. 

Der  Staat  führt  als  Zwangsgemeinwirthschaft  eine  Arbeitstheilung  durch,  indem 
er,  ausschliesslich  oder  neben  anderen  Einzelwirthschaften , die  Fürsorge  für  gewisse 
Bedürfnisse,  insbesondere  für  Gemeinbedürfnisse  übernimmt,  dadurch  anderen  Eiuzel- 
wirthschaften  die  sonst  hierfür  nothwendige  Thätigkeit  (Arbeits-  und  Kapitalaufwand) 
abnimmt,  diese  Thätigkeit  also  für  andere  Zwecke  frei  macht  und.  nach  den  ihm  als 
Zwangsgemeinwirthschaft  zur  Wahl  stehenden,  insbesondere  nach  dem  eigenthümlichen 
Princip  der  Kostendeckung  mittelst  Steuern  (§.  34'.)),  den  Einzelwirthschaften  oder  der 
ganzen  Volkswirtschaft  Steuern  auflegt  und  seine  Leistungen  dafür  zur  Verfügung 
stellt.  Je  nach  der  Art  und  Beschaifenheit,  nach  dem  Umfang  und  Inhalt  dieser  Lei- 
stungen gestaltet  sich  dann  auch  das  Arbeitstheilungsverhältniss  zwischen  dem  Staat 
und  den  übrigen  Einzelwirthschaften  verschieden. 

In  dieser  Hinsicht  zeigt  nun  der  geschichtliche  Staat 
nach  Zeit  und  Land  grosse  Verschiedenheiten,  je  nach  der  Auf- 
fassung und  der  Durchführung  der  Staatszwecke  überhaupt  und 
der  einzelnen  Staatsleistungen  insbesondere.  Diese  durch 
Beobachtung  sicher  constatirte  Thatsache  beweist  schon,  dass  es 
ein  müssiges  und  nothwendig  verfehltes  Beginnen  ist,  den  Be- 
reich der  Staatsthätigkeit  oder  die  Grenzen  der  letzteren 
und  damit,  volkswirtschaftlich  ausgedrückt,  die  Arbeitstheilung 
zwischen  dem  Staate  und  den  anderen  Einzelwirthschaften,  sei  es 
der  Privaten,  der  Erwerbsgesellschaften,  der  freien  oder  der  übrigen 
Zwangsgemeinwirthschaften  (Selbstverwaltungskörper) , besonders 

56* 


380  6-  R-  Staat.  1.  K.  Im  Allgemeinen.  §.  355,  356. 

der  Gemeinde,  principiell  ein  für  allemal  feststellen  zu 
wollen. 

A priori , aus  dem  „Wesen“  des  Staats  , lässt  sich  ein  Princip  hierfür  nicht 
ableiten,  denn  dieses  „Wesen“  ist  selbst  wieder  ein  Product  der  Geschichte.  Ebenso 
wenig  lässt  sich  aus  dem  Wesen  der  Einzelfrcibcit  ein  für  allemal  eine  unUberschreit- 
bare  Grenze  der  Staatsthätigkeit  bestimmen,  da  eben  auch  hier  das  Individuum 
durchaus  im  Fluss  der  Geschichte  steht.  Die  Bestrebungen  der  Rechtsphilosophen  und 
Politiker,  z.  B.  wieder  von  W.  v.  Humboldt  bis  auf  J.  St.  Mill,  liefern  einen 
Beleg  für  diese  Sätze.  Es  wird  daher  auch  jedem  neuen  Versuch,  mit  dem  eine  neue 
philosophische  und  politische  Schule,  wie  z.  B.  diejenige  von  Krause  und  Ah  re  ns 
(s.  o.  S.  672)  debütirt,  hierüber  etwas  endgiltig  Abschliessendes  zu  sagen, 
nur  die  grösste  Skepsis  entgegen  zu  stellen  sein.  Die  Widersprüche  selbst  zwischen 
Philosophen  und  Politikern  verwandter  Richtung  sind  bezeichnend  genug  und  auch 
unvermeidlich,  weil  hier  ein  Gebiet  immer  zugleich  mehr  oder  weniger  subjectiver 
Ansicht  vorliegt  und  anderseits  die  schliesslich  im  einzelnen  Zeitalter  und  Staat 
jedesmal  entscheidenden  religiösen,  sittlichen  und  rechtlichen  Anschauungen  („der 
Wille  der  erhabenen  Autoritäten“,  wie  v.  Kirchmann  es  formulirt)  so  ausserordent- 
lich wechseln.  Die  nationalen  Verhältnisse  äussern  zudem  noch  ihren  besonders 
berechtigten  Einfluss.  (S.  Eschcr,  Politik  I,  71.)  In  den  Fragen  der  Decentralisation 
der  Verwaltung  und  des  Selfgovernments  wird  dies  oft  zu  sehr  vergesssen.  Ähre  ns 
(Naturrecht  II,  §.  60,  105 — 107,  62,  110)  ist  ein  neuer  Beleg  für  die  Richtigkeit  der 
Behauptung  im  Texte,  bei  aller  Zustimmung,  die  ich  ihm  gebe.  Aelinliches  gilt  von 
den  Ausfuhrungen  von  Röder  (II,  1 ff.). 

A posteriori,  aus  den  Beobachtungen  der  wirklichen  Staaten,  sind 
wohl  Merkmale  für  einen  Minim  albereich  und  für  gewisse  Merkmale  von  Thätig- 
keiten  zu  gewinnen,  dessen  und  deren  Vorhandensein  die  Voraussetzung  für  das 
Vorhandensein  jener  Form  menschlicher  Gemeinschaften  ist , welche  mit  dem  Namen 
„Staat“  bezeichnet  werden  soll.  Aber  für  die  über  diesen  Minimalbereich  hinaus- 
gehenden Leistungen  und  für  die  den  letzteren  zu  ziehende  Grenze  ist  aus  den 
Beobachtungen  der  Vergangenheit  und  Gegenwart  nichts  Endgiltiges  zu  entnehmen. 
Man  kann  daraus  nur  gewisse  Hauptzwecke  des  Staats  und  Grundformen  staatlicher 
Leistungen  und  hieraus  wieder  allgemeinere  Regeln  für  muthmaasslich  in  bestimmten 
geschichtlichen  Verhältnissen  richtige  Staatsthätigkeiteu  abstrahiren. 

So  wird  es  der  Wirklichkeit  immer  Vorbehalten  bleiben 
müssen,  durch  die  That  zu  beweisen,  dass  eine  weitere  Aus- 
dehnung des  Bereichs  der  Staatsthätigkeit,  vielleicht  auf  ganz  neue 
Gebiete,  zulässig  ist  und  anderseits  auch,  dass  unter  Umständen 
eine  Beschränkung  dieses  Bereiches  unter  das  vielleicht  schon 
übliche  Maass  ebenfalls  richtig  oder  nach  den  gegebenen  geschicht- 
lichen Verhältnissen  nothwendig  sein  kann. 

B.  — §.  356  [163].  Für  die  volkswirtschaftliche  Betrach- 
tung des  Staats  lassen  sich  hieraus  folgende  wichtige  Sätze  ab- 
leiten, welche  in  der  Praxis  die  Bedeutung  von  Axiomen  der 
Staatspolitik  und  folgeweise  speciell  auch  der  Finanzpolitik 
erlangen : 

1)  Es  ist  nicht  begrifflich  noch  durch  Erfahrung  endgiltig 
festzustellen,  welche  einzelne  Leistung  allein  Sache  des 
Staats  und  ebenso  wenig,  welche  nicht  Sache  des  Staats 
sein  soll. 


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Zwecke  und  Leistungen  des  Staats. 


881 


Ein  Satz,  welcher  z.  B.  mit  vielen  verbreiteten  Anschauungen  in  der  modernen 
Volkswirtschaft  in  Widerspruch  steht  (Staatshilfe  — Selbsthilfe,  in  der  Arbeiterfrage; 
Staats-  oder  Privatihätigkcit  im  Verkehrswesen  u.  dgl.  in.).  Dies  ist  von  den  Publi- 
cisten  und  Rednern  der  deutschen  Freihandelsschule,  von  den  Secrctären  der  Handels- 
kammern u.  A.  m.  z.  B.  in  dem  Streite  zwischen  Schulze-Delitzsch  und  Lassalle 
so  oft  gänzlich  übersehen  worden.  Mit  dem  Schlagwort  „Staatshilfe*1  wurden  ohne 
jede  weitere  Prüfung  die  besten  Bestrebungen  verurteilt.  (S.  meine  Rede  über  die 
sociale  Frage  S.  11.)  Vergl.  auch  Ahrens,  Naturrecht  II,  293.  Selbst  Ah  re  ns, 
Röder,  Bluntschli  und  die  meisten  theoretischen  Politiker  der  organischen  Staats- 
auffassung versehen  es  hierin  immer  noch,  indem  sie  z.  B.  in  ihren  Erörterungen 
über  die  Stellung  des  Staats  zur  Volkswirtschaft  eine  gewisse  vermittelnde  Auffassung, 
einen  „gemässigten  Smithiauismus“  vertreten:  in  gegebenen  Fällen  oft  ganz  richtig, 
aber  mit  Unrecht  wird  diese  Auffassung  wieder  als  eine  „endgiltige“  hingestellt, 
auch  in  Widerspruch  mit  der  wahrhaft  historischen  Auffassung.  Dies  gilt  z.  B. 
von  Röder  (I,  232>.  Freier  ist  auch  hier  R.  v.  Mohl  in  den  oben  S.  876  gen, 
Abhandlungen.  Die  Grenzen  zwischen  Staat  und  „Gesellschaft4’ , die  u.  A.  Röder 
besonders  betont,  sind  auch  fliessende,  nicht  principielle.  — Ein  cbaracteristisches 
Beispiel,  wie  aus  willktlhrlichcn  Annahmen  Uber  die  „richtige“  Bestimmung  der  Auf- 
gabe und  Thätigkeit  des  Staats  zu  Gunsten  bestimmter  practischer  Maassnahmen 
deducirt  wird,  war  es,  dass  s.  Z.  im  italienischen  Parlament  die  Verstaatlichung  der 
Eisenbahnen  damit  angefochten  wurde,  „Gewerbetrieb“  sei  keine  Aufgabe  des  Staats, 
also  die  Verstaatlichung  falsch.  Wobei  ausserdem  noch  die  willkührliche  Auffassung 
des  Eisenbahnwesens  als  „Gewerbe“,  des  Eisenbahnbetriebs  als  „Gewerbetrieb“  unterlief. 

2 ) Die  Ausdehnung  der  Staatsthätigkeit  ohne  Wahl, 
„aus  Princip“,  auf  Kosten  der  privatwirthschaftlichen  und  zum 
Thcil  auch  der  caritativen  und  übrigen  gemeinwirtlischaftlichen 
Thätigkeit  ist  theoretisch  falsch  und  practisch  verwerflich. 

Daher  ist  gegen  die  Wohlfahrtsstaatstheorie  des  vorigen  Jahrhunderts,  gegen  die 
Praxis  der  Staatsomnipotenz  des  aufgeklärten  Despotismus  und  des  reinen  Polizei- 
staats, aber  auch  gegen  den  rein  socialistisch-communistischen  Character  des  Staats 
(.§.  293)  Stellung  zu  nehmen.  — Gute  Darstellung  der  Wohlfahrtsstaatstheorie  in 
Funks  Aufs,  über  Auffassung  und  Begriff  der  Polizei  im  vorigen  Jahrhundert,  Tüb. 
Ztschr.  B.  19  u.  20.  Besonders  beachtenswerth  ist  Chr.  Wolff’s  Theorie,  die  sich 
in  ihren  practischen  Conscqucnzen  so  merkwürdig  mit  den  modernsten  Forderungen 
unserer  extremen  Arbeiterparteien  in  characteristischen  Details  berührt.  Les  extremes 
se  touchent!  Roscher  in  der  Geschichte  der  Nationalökonomie  (S.  347  ff.)  wird  m.  E. 
der  Bedeutung  Wolffs  nicht  durchweg  gerecht.  Vgl.  auch  Zeller,  Geschichte  der 
deutschen  Philosophie,  S.  211  ff.,  bes.  237  ff.  264,  267  und  Bluntschli,  Geschichte 
des  Staatsrechts  und  der  Politik,  München  1864,  S.  213  ff. 

3)  Die  principielle  Beschränkung  des  Staats  auf  einen 
einzigen,  mehr  oder  weniger  eng  und  willkührlich  gefassten 
Zweck,  z.  B.  auf  den  Rechtsschutzzweck  des  abstracten 
Rechtsstaats,  und  demgemäss  die  Proclamirung  des  Laisser  faire 
et  passer  in  allen)  Uebrigen  für  den  Staat  ist  ebenso  theoretisch 
falsch  und  practisch  unzulässig. 

Daher  ist  dio  sog.  Manchcstcrtheorio  der  extremen  Smith’schen  volkwirthschaft- 
lichen  Schule  mit  ihren  Postulaten  für  die  Staatspolitik  grundsätzlich  zu  verwerfen. 
Die  nahe  Verwandtschaft  der  S mit h sehen  volkswirtschaftlichen  und  der  Kant'scheu 
politischen  Doctrin  tritt  hier  wie  überall  hervor.  — S.  Röder  I,  214. 

4)  In  die  Thätigkeiten  zur  Beschaffung  der  Güter  für  die  Be- 
dürfnisbefriedigung und  zur  Herstellung  der  Einrichtungen  und 
Anstalten  für  letztere  haben  sich  nach  dem  Früheren  (§.  302)  die 


882 


G.  B.  Staat.  1.  K.  Im  Allgemeinen.  §.  356,  357. 


Einzelwirtschaften  des  privatwirthschaftlichen,  des  caritativen  und 
des  gemeinwirthschaftlichen  Systems,  also  einschliesslich  des  Staats 
und  der  Selbstverwaltungskörper,  passend  zu  t hei  len.  Die  hierzu 
nothwendige  Combination  ist  aber  wieder  einem  beständigen 
Wechsel  unterworfen  (§.  302).  Der  Staat,  welcher  kraft  seiner 
Souveränetät  zwangsweise  eingreifen  kann,  wird  gerade  hier- 
bei und  deshalb  leicht  Fehlgriffe  begehen.  Daher  ist  die  möglichst 
unbefangene  Prüfung  von  Fall  zu  Fall  zu  verlangen  und  diese 
durch  die  Einrichtung  von  Volksvertretungen  und  Finanz- 
controlorganen der  Regierung  gegenüber  (§.  351)  zu  garantiren. 

Eine  principiclle  Forderung,  zumal  für  unsere  Culturperiode  absolut  und 
relativ  (u.  A.  auch  aus  technischen  Gründen)  steigender  Ausdehnung  der  , .öffent- 
lichen“ Thätigkeitcn  (§.  3G2  ff). 

5)  Der  Staat  muss  namentlich  seinen  eigenen  Thätigkeits- 
bereich  nach  den  eoncreten  Verhältnissen  und  Bedürfnissen  richtig 
gegenüber  demjenigen  der  anderen  Zwangsgemeinwirthschalten 
oder  der  Selbstverwaltungskörper  (§.  351  Nr.  4),  die  Sphäre 
aller  Zwangs-  gegenüber  den  freien,  und  diejenige  aller 
freien  Gemein wirthsebaften  gegenüber  den  privatwirth- 
schaftlichen  und  caritativen  Wirthsebaften  und  Thätigkeiten 
bestimmen. 

Aufgaben  der  Deccntralisatiou  der  Verwaltung,  der  Selbstregierung  der  kleineren 
räumlichen  Kreise,  der  Gestaltung  des  Vercinswesens  und  seines  Kcchts,  insbesondere 
auch  des  Erwerbsgesellschafts-  (Actiengesellschafts-),  Genossenschaftswesens  und  Kcchts. 
überhaupt  der  Grenzziehung  zwischen  den  gewöhnlichen  Erwerbsthätigkeiten  des  Staats 
und  der  Privaten.  Die  früher  (§.  334,  343,  34S)  berührten  Fragen  über  etwaige  Ein- 
engung des  Gebiets  der  Actiengesellschaften  mittelst  Ausdehnung  der  öffentlichen  Unter- 
nehmungen gehören  auch  hierher  wieder. 

6)  In  finanzieller  Hinsicht  kann  der  Grundsatz  der  Spar- 
samkeit niemals  für  den  Staat  (ebenso  wenig  für  andere 
Zwangsgemeinwirthschaften)  eine  absolute,  sondern  nur  eine 
relative,  überhaupt  nur  die  Bedeutung  einer  Klugheitsregel, 
aber  nicht  die  Bedeutung  haben,  dass  eine  Ausgabe  unbedingt 
unterbleiben  müsste. 

Donu  das  hängt  immer  von  dem  Zweck  derselben,  dahor  von  der  mit  ihr  herzu- 
stellenden Staatsleistung  ab.  Die  „Sparsamkeit“  kann  mithin  niemals  ein  leitender 
Grundsatz  des  Staatshaushalts  werden,  sondern  bedeutet  bloss  die  Anerkennung  und 
möglichste  Durchführung  des  ökonomischen  Princips  im  Staatshaushalte,  wie  in  jeder 
Einzelwirthschaft.  v.  Male  hu  8,  Finanzwiss.,  Stuttgart  und  Augsburg  1S30,  II,  13, 
A.  Wagner,  Ordn.  d.  österr.  Staatshaushalts,  Wien  1 863,  S.  6,  meine  Fin.wiss.  I, 
3.  A.  §.  34. 

7)  In  finanzieller  Beziehung  ist  wreiter  nach  der  Natur 
des  Staats  als  Wirthschaft  eine  grundsätzliche  Stabilität  der 
Einnahmen  und  die  Anweisung  des  Staats  bloss  auf 


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Sätze  für  die  Staatspolitik. 


883 


solche  Einnahmearten  unzulässig,  welche  wie  die  privat- 
wirthschaftlichen  und  wie  stabile  Steuern  dem  veränderlichen 
und  in  Culturstaaten  im  Ganzen  steigenden,  von  der  Ver- 
änderung und  der  Ausdehnung  des  Bereichs  der  Staats- 
thätigkcit  abhängigen  Bedarf  (§.  362  ff.)  des  Staats  sich  nicht  an- 
schmiegen können. 

8)  In  Betreff  der  Frage  der  Kostendeckung  der  Staats- 
leistungen, der  Regelung  des  Entgelts  fUr  die  letzteren  bleibt 
dem  Staate  immer  die  ausschliessliche  Anwendung  des  gemein- 
wirthschaftlichen  Princips  möglich  (generelle  Kostendeckung  aus 
allgemeinen  Einnahmen,  aus  Steuern,  unentgeltliche  Zuführung 
an  und  Bereitstellung  der  Leistungen  für  die  Einzelnen).  Aber  es 
kann  und  soll  unter  Umständen  hier  auch  das  privat  wirt- 
schaftliche, das  Gebührenprincip  Anwendung  finden,  mög- 
lichst in  erster  Linie  nach  sachlichen,  erst  daneben  und  danach 
nach  finanziellen  Gesichtspuncten  und  Rücksichten  und  in  der 
hierdurch  bedingten  Weise  und  dem  hiernach  passend  zu  er- 
achtenden Maassc  (§.  335). 

C.  — §.  357  [164].  Allgemeine  Schlüsse  in  Bezug 
auf  Staatszwecke  und  Leistungen.  Giebt  es  nach  dem 
Vorausgehenden  thatsächlich  und  principiell  keinen  ein  für  allemal 
feststehenden  Bereich  der  Staatsthätigkeit,  so  lassen  sich  doch: 

1)  bei  aller  nach  Zeit  und  Ort  wahrnehmbaren  Ver- 
schiedenheit der  letzteren  überall  und  allzeit  zwei  eigent- 
liche organische  Staats  zw  ecke  und  demgemäss  zwei 
Hauptgruppen  von  Leistungen  des  Staats  erkennen.  Min- 
destens Ansätze  zu  solchen  Leistungen  mltssen  vorhanden  sein, 
wenn  überhaupt  die  Zwangsgemeinschaft  „Staat“  nach  den  für 
diesen  Begriff  unentbehrlichen  Merkmalen  vorhanden  sein  soll. 
(Folgendes  Kapitel  2.) 

2)  Ferner  kann  erfahruugsgemäss  aus  der  Geschichte  fort- 
schreitender Culturvölker,  also  aus  zeitlichen  Vergleichen  so- 
wohl als  auch  aus  der  Vergleichung  der  Staaten  und  Volkswirt- 
schaften auf  verschiedenen  Entwicklungsstufen,  mithin  aus  räum- 
lichen Vergleichen1),  eine  bestimmte  Entwicklungstendenz 

Es  wird  Seitens  der  sogen,  historischen  Schule  oft  zu  wenig  beachtet, 
wie  die  räumliche  Vcrgleichang  der  zeitlichen  in  methodologischer  Hinsicht 
verwandt,  aus  äusseren  Gründen  aber  oft  vorzuziehen  ist,  weil  nemlich  das  Material 
reichlicher  vorhanden,  die  Einfluss  übenden  Factoren  leichter  zu  ermitteln  sind. 
S.  die  Vorrede  zu  meinem  System  der  Zettelbankpolitik,  Freiburg  1S7.!1,  S.  XI,  u. 
oben  §.  80  ff. 


884 


6.  B.  Staat.  1.  K.  Im  Allgemeinen.  §.  357,  358. 


oder  ein  sogen.  „Gesetz“  der  Entwicklung  der  Staatsthätigkeiten 
für  Culturvölker  abgeleitet  werden:  das  Gesetz  der  wachsen- 
den Ausdehnung  der  „öffentlichen“,  bez.  der  Staats- 
thätigkeiten bei  fortschreitenden  Culturvölkern.  (Kap.  3). 

Dieses  Gesetz  — das  Wort  im  allein,  aber  auch  im  zulässigen  Sinne  bei  „volks- 
wirthschaftlichen  Gesetzen“  genommen,  §.  89,  — giebt  wenigstens  die  Richtung  an, 
in  welcher  sich  im  concreten  Falle  muthmaasslich  ebenfalls  und  mit  Recht  die  Staats- 
thätigkeit  bewegen,  daher  namentlich  die  staatliche  Gesammtwirthschaft  gegenüber  den 
anderen  Wirtschaften  ausdehnen  wird. 

3)  Ebenso  lässt  sich  durch  solche  Beobachtungen  ein  Gesetz 
für  die  Entwicklung  und  Umbildung  der  Art  und  Weise  fest- 
stellen, in  welcher  der  Staat  seine  Thätigkeitcn  aus  führt,  ein 
Punct,  welcher  für  die  volkswirthschaftliche  Betrachtung  des  Staats 
von  besonderer  Wichtigkeit  ist:  das  Gesetz  des  Vorwaltens 
des  Präventivprincips  im  entwickelten  Rechts-  und  Cultnr- 
staat,  statt  des  blossen  Repressivprincips,  namentlich  auf  dem  Ge- 
biete der  Thätigkeiten  zur  Verwirklichung  des  Rechts-  und  Macht- 
zwecks. (Kap.  4). 

4)  Endlich  kann  man  aus  der  Erfahrung  auch  die  Bedin- 
gungen ableiten,  welche  muthmaasslich  vorhanden  sein  müssen, 
um  eine  Staatsthätigkeit  statt  einer  Privat-  oder  eine  ThUtigkeit 
andrer  Wirthschaften,  auch  anderer  öffentlicher  Zwangsgemein- 
wirthschaften  (Provinz,  Kreis,  Gemeinde)  überhaupt  passend  er- 
scheinen zu  lassen.  Daraus  kann  man  einige  allgemeine  Regeln 
für  die  Feststellung  des  Bereichs  der  Staatsthätigkeit  bei  unseren 
Culturvölkern  ableiten,  woraus  sich  dann  wieder  eine  Richtschnur 
für  den  einzelnen  Fall  ergiebt.  (Kap.  5). 

Da  von  dem  Umfange,  dem  Inhalte  und  der  Ausftlhru ngsart  der  Staats- 
leistungen der  Bedarf  des  Staats  an  materiellen  Mitteln  oder  der  Finanzbedarf 
abhängt,  so  haben  die  folgenden  Erörterungen  namentlich  auch  für  das  Finanzwesen 
und  für  die  Wissenschaft  von  demselben,  die  Finanzwissenschaft,  ihre  principielle 
Bedeutung.  S.  meine  Fin.wiss.  I,  3.  A.,  §.  32 — 37. 


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885 


Zweites  Kapitel. 

Zwecke  und  Leistungen  des  Staats 
und  Durchführungsmittel  dafür.  Finanzwirthschaft. 

S.  die  littcrariscben  Angaben  in  den  Vorbemerkungen  zu  diesem  Buche  §.  352, 
358.  Bes.  zu  vergleichen:  R.  v.  Mohl.  Encycl.  d.  Staatswiss.  §.  11,  12.  Waitz, 
Polit.,  Abschn.  1,  Kap.  2,  und  Abschn.  5,  v.  Holtzendorff,  Principien  der  Politik,  3.  B., 
s.  bes.  Kap.  7 u.  S (nationaler  Machtzweck),  namentlich  aber  Es  eher,  Polit.  §.  7 — 12. 
Bluntsclili  I,  B.  5.  S.  345.  — Trondclenburg,  Naturrccht  §.  151,  152,  154, 
155,  Ahrens,  Naturrecht  §.  105 — 107  (II,  276  ff.),  auch  §.  60,  v.  Lconhardi 
a.  a.  0.  S.  10,  Röder  I,  213  ff.,  Iherin g Zweck  I,  1.  A.,  305  ff  — Hermann, 
staatsw\  Untersuch.,  2.  A.,  S.  47  ff,  72  ff,  93  ff.,  Schaffte  an  d.  in  den  Vorbemer- 
kungen S.  870  gen.  Stellen.  — Meine  Fin.  2.  A.  I,  §.  31 — 35,  3.  A.  §.  32 — 87, 
Sax,  Grundlegung,  §.  63  ff 

I.  — §.  358  [165].  Die  eigentlichen  organischen  Zwecke 
der  Zwangsgemeinschaft  „Staat“  sind: 

A.  Der  Rechts-  und  damit  verbunden  der  Macht  zweck. 

B.  Der  Cultur-  und  Wohlfahrtszweck. 

Beide  Zwecke  sind  nicht  äusserlich  zu  trennen,  auch  hei 
ihrer  Verwirklichung  erscheinen  sie  häufig  mit  einander  verbunden 
in  der  einzelnen  Leistung,  z.  B.  vielfach  in  der  Polizeithätigkeit, 
so  im  Gesundheitswesen.  Sie  bedingen  sich  auch  gegenseitig  und 
sind  der  Ausfluss  der  sittlichen  Aufgabe  des  Staats  als  der 
höchsten  Form  menschlicher  Gemeinschaften.  Aber  gerade  für 
die  volks  wirth  schalt  liehe  Betrachtung  des  Staats  (und  für  die 
finanzwissenschaftliche  seines  Bedarfs)  empfiehlt  sich 
die  Unterscheidung  der  beiden  Zwecke. 

A.  — §.  359  [166,  167 J.  Der  Rechtszweck  des  Staats 
besteht  in  der  Fürsorge  für  das  erste  aller  Ge  mein!)  edUrf- 
nisse  des  menschlichen,  völkerweisen  Zusammenlebens,  für  die 
Rechtsordnung  im  Inneren  des  Staats,  des  Volks  und  der 
Volkswirtschaft  und  nach  Aussen  zu  gegen  andre  Staaten, 
Völker  und  Volkswirtschaften.  Nach  beiden  Seiten,  vor  Allem 
aber  nach  Aussen  zu  gerichtet  erscheint  der  Rechtszweck  als 
(nationaler)  Machtzweck:  Aufrecht altung  der  Unabhängigkeit 
oder  der  eigenen  Souveränetät  von  Staat  und  Volk. 

In  Deutschland  braucht  man  nach  der  Erfahrung  von  Jahrhunderten  trüber 
Geschichte  die  Bedeutung  des  nationalen  Macht/.wccks  auch  für  die  materielle, 
die  Sachgüterproduction  nicht  mehr  besonders  zu  erweisen.  Der  Vergleich  mit 
Grossbritaunien  liegt  nahe.  S.  besonders  von  Holtzendorff  und  Hermann 
a.  a.  0.,  auch  die  von  den  üblichen  schweizerischen  Illusionen  ganz  freien  treffenden 
Erörterungen  von  Esc  her,  I,  §.  12,  13. 


886 


0.  B.  Staat.  2.  K.  Zwecke  u.  Leistungen.  §.  359,  3G0. 


Im  Einzelnen  handelt  es  sich  bei  dem  Rechtszweck  um 
die  hei  dem  principalen  Gemeinbedürfniss  der  Rechtsordnung  in 
§.  327  bereits  angeführten  Puncte. 

1)  Im  Inneren  muss  die  Rechtsordnung  für  die  Beziehungen 
der  Privaten  zum  Staate,  für  die  persönlichen  Beziehungen  der- 
selben unter  einander  und  für  den  wirthschaftlichcn  Verkehr  (§.  306) 
festgestellt,  gegen  Bruch  gesichert,  bei  erfolgten  Bruch  wieder  her- 
gestellt, aber  auch  nach  den  als  berechtigt  erkannten  Bedürf- 
nissen, welche  die  Weiterentwicklung  des  Volks  und  der  Volks- 
wirtschaft mit  sich  bringt,  fortgebildet  und  reformirt  werden: 
daher  in  ,,  socialrechtlich  er“,  nicht  bloss  in  individualrecht- 
licher Richtung,  mit  dem  Ziele  der  Lösung  der  socialen  Aufgaben 
zunächst  innerhalb  des  nationalen  Staats. 

S.  B.  4 Kap.  2 oben  und  2.  Abtheilung  der  Grundlegung.  Zur  Verwirklichung 
dieser  Aufgabe  dient  theils  die  gesetzgeberische  Thätigkeit  des  Staats  überhaupt, 
thcils  von  den  grossen  Vcnvaltungsabthcilungen  des  entwickelten  Staats  (den  „Mini- 
sterien“) das  Justizwesen,  namentlich  die  Rechtspflege,  gewisse  Thcile  des  sogen. 
Inneren  Departements  und  der  Polizei.  Die  Macht-  und  Zwangsmittel  zur 
Durchführung  des.  Staatswillens  auf  dem  Gebiete  der  inneren  Rechtsordnung  stellen 
die  Organe  der  Justiz  und  der  Inneren  Verwaltung,  insbesondere  aber  die 
Polizei,  nötigenfalls  auch  die  bewaffnete  Macht,  das  Militär. 

2)  Nach  Aussen  zu  handelt  es  sich  um  den  Schutz  der 
Staatsangehörigen,  in  Betreff  ihrer  Personen,  ihres  Eigenthums 
und  besonders  auch  ihrer  wirtschaftlichen  Interessen,  daher  nament- 
lich um  die  Sicherung  des  volkswirtschaftlichen  Marktgebiets  fiir 
Absatz  und  Bezug  von  Producten  im  Auslande. 

Hierzu  dienen  Staats  Verträge,  diplomatische  und  consularischc  Thätig- 
keit, eventuell  die  bewaffnete  Macht.  Sodann  kommt  hier  die  Erfüllung  jenes 
nationalen  Machtzwecks  in  Betracht,  der  vorneinlich  durch  die  bewaffnete  Macht 
oder  die  Kriegsmacht  i^Hecr  und  Flotte)  präventiv  und  repressiv  gesichert  wird. 

Der  Rechts-  und  Machtzweck  darl  als  erster  und  Haupt- 
zweck des  Staats  betrachtet  werden.  Seine  richtige  Verwirk- 
lichung gewährt  aber  zugleich  die  bedeutendste  Förderung 
aller  Cultur-  und  Wo  hl  fahrt  sinteressen  und  ist  die  Voraus- 
setzung für  die  Erfüllung  des  Culturzwecks  des  Staats 
und  für  die  Entwicklung  selbst  des  privatwirthschaftlichen  Systems 
in  der  Volkswirtschaft. 

Wichtig  gerade  auch  für  die  volkswirtschaftliche  und 
finanzielle  Betrachtung  des  Staats  ist  die  Wahrnehmung,  dass 
alle  Thätigkeiten  zur  Verwirklichung  des  Rechts-  und  Machtzwecks, 
welche  der  Staat  früher  vielfach  mit  den  Privaten  (Selbsthilfe)  und 
mit  kleineren  autonomen  Organen,  d.  h.,  volkswirtschaftlich  aus- 
gedrückt,  mit  anderen  örtlichen  Zwangsgemeinwirthscbaften  (Ge- 


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Rechts-  und  Machtzweck. 


887 


meinde,  Grafschaft),  mit  freien  Vereinen  (Corporationen)  und  be- 
vorrechteten Privaten  (Grundherrschaften)  tbeilte,  principiell  und 
immer  consequenter  auch  thatsächlich  ausschliesslich  dem 
Staate  Vorbehalten  werden  und  von  Anderen  nur  in  beschränk- 
tem Maasse  im  besonderen  Aufträge  des  Staats  („übertragen“) 
ausgeübt  werden  dürfen:  der  Staat  allein  Wehr-  und  Kriegs-, 
Gerichts-,  Polizeiherr,  Friedensbewahrer,  Gesetzgeber  auf  allen 
Hechtsgebieten. 

Die  Nothwcndigkcit  der  einheitlichen  Gestaltung  und  Leitung  dieser  Thätig- 
keiten  und  der  Concentratiou  der  Kräfte  eines  ganzen  Staatsgebiets  zur  Durch- 
führung dieser  Thätigkeiten  trägt  dazu  wesentlich  bei.  Entscheidend  aber  ist,  dass 
das  Recht  ein  eines  sein  und  einheitlich  gehandhabt  werden  muss.  Remcrkcns- 
werth  der  Rückbildungsprocess  in  den  deutschen  Particularsonvcränetäten  gerade  im 
Kriegswesen  in  unserem  nenen  Deutschen  Reiche.  Auch  die  Vorgänge  in  unserer 
deutschen  Gesetzgebung  über  Gerichtsorganisation,  Process  uud  gesammtes  bürgerliches 
Recht,  über  Arbeiterrecht,  wie  früher  schon  im  Wechsel-  und  Handelsrecht,  daher 
die  bezügliche  Ausdehnung  der  Reichscompetenz  durch  Verfassungsänderungen,  sind 
charactcristisch. 

Im  Rechts-  und  Machtzweck  kommt  das  eigentliche  Wesen 
der  als  „Staat“  bezeiebneten  Zwangsgemeinwirthschaft  am  Schärf- 
sten zum  Vorschein. 

Der  Cnltur-  und  Wohlfahrtszweck  kann  erfahre ngsgemäss  auf  ein  Minimum  in 
der  Praxis  reducirt  sein.  Der  Rechts-  und  Machtzweck  muss  immer,  bei  aller  Ver- 
schiedenheit seiner  Durchführung  und  bei  aller  Theilung  der  dazu  gehörigen  Lei- 
stungen mit  Anderen,  in  wichtigeren  Einrichtungen,  Anstalten  und  Thätigkeiten  her- 
vortreten. Etwas  dahin  Gehöriges  gehört  daher  zu  den  nothwendigen  Merkmalen 
dessen,  was  wir  „Staat“  nennen.  Daraus  erklärt  sich,  dass  weder  zeitlich  noch  räum- 
lich die  Leistungen  des  Staats  auf  diesem  Gebiete  ebenso  grosse  Verschiedenheiten  in 
ürnfang,  Inhalt  und  Form  zeigen,  als  auf  dem  Gebiete  des  Culturzwecks. 

B.  — 8.  360  [168,  169].  Der  Cultur-  uud  Wohlfahrts- 
zweck des  Staats  besteht  in  der  Förderung  der  Staats- 
angehörigen in  der  Verfolgung  ihrer  Lebensaufgaben,  der  physischen, 
wirthschaftlichen,  sittlichen,  geistigen,  religiösen  Interessen,  nament- 
lich soweit  dabei  Gerne  i n bedürfnisse,  örtliche  und  zeitliche,  mit- 
unter auch  gesellschaftliche  (§.  328  ff.),  ins  Spiel  kommen. 

Das  Ziel  des  modernen  Culturstaats  der  europäischen 
Civilisation  wird  dabei  sein  müssen:  möglichst  nur  die  all- 
gemeinen Bedingungen  tUr  die  Entwicklung  des  selbst- 
tätigen Individuums  Seitens  des  Staats  zu  erfüllen  und  da- 
durch unter  Erhaltung  der  „Eigenthümlichkeit  der  Kraft  und  der 
Bildung“  (W.  v.  Humboldt)  des  Einzelnen  einen  immer  grösseren 
Theil  der  Bevölkerung  zum  Mitgenuss  an  denCulturgütcrn 
zu  erheben.  Die  Beschränkung,  welche  sich  der  Staat  hier- 
nach auferlegen  soll,  lässt  sich  aber  freilich  nur  als  ideales  Ziel 
bezeichnen,  im  wirklichen  Leben  nicht  immer  festhalten.  Jede 


888 


0.  B.  Staat.  2.  K.  Kochte  u.  Leistungen.  §.  300. 


Staatsthätigkeit  soll  aber  bei  uns  darauf  binausgehen,  es  immer 
mehr  zu  ermöglichen,  dass  der  Staat  sich  derartig  beschränken 
könne. 

W.  v.  Humboldt’s  Satz,  den  Mi  11  zum  Motto  für  seine  „liberty“  macht,  kann 
hier  auch  von  einer  anderen  Staatsauffassung  aus  als  Leitstern  dienen:  „Das.  worauf 
die  ganze  Grösse  des  Menschen  zuletzt  beruht,  wonach  der  einzelne  Mensch  ewig 
ringen  muss  und  was  der,  welcher  auf  Menschen  wirken  will,  nie  aus  den  Augeu 
verlieren  darf,  ist  Eigen  tli  Um  lieh  keit  der  Kraft  und  der  Bildung“.  Geber 
die  Formulirung  des  Princips  für  die  Grbnzen  der  Staatsthätigkeit  hei  Ahrens, 
Naturrecht  II,  280  11.,  auch  61  fl'.,  s.  o.  Vorbemerk,  zu  diesem  Buch  S.  874.  Die 
Formulirung  im  Texte  rührt  aus  einer  Zeit  her.  wo  ich  von  Ahrens’  Formulirung 
noch  keine  Kenntniss  genommen  hatte.  Der  dargelegte  Standpunct  ist  auch  von 
Sch mo Her  berechtigtermaassen  in  seinem  Sendschreiben  an  H.  v.  Treitschke  ver- 
treten worden. 

Die  Leistungen  des  Staats  sind  hier  dann  doppelter  Art: 

1)  sie  fördern  indirect  die  genannten  Interessen,  indem  sie 
Hindernisse  beseitigen  oder  beseitigen  helfen,  welche  die  Kräfte 
andrer  betheiligter  Wirthschaften  übersteigen. 

Z.  B.  Wasserbauten,  Strassenanlagen,  um  eine  Gegend  besiedlungsfähig  zu  machen, 
sanitäre  Vorkehrungen. 

2)  Die  Leistungeu  des  Staats  bestehen  ferner  in  der  Her- 
stellung von  Einrichtungen  und  Anstalten,  welche  von 
den  Staatsangehörigen  unter  bestimmten  Bedingungen  unmittel- 
bar zur  Bedürfnissbefriedigung  benutzt  werden  können. 

Z.  B.  Schulen,  Vcrkehrsanstalten. 

Die  „allgemeinen  Bedingungen“  für  die  Entwicklung  der  Persönlichkeit  werden 
im  Ganzen  mehr  durch  die  erste  Art  der  Staatsleistungen  gescharten.  Aber  auch  viele 
Leistungen  zweiter  Art  verstossen  nicht  gegen  dieses  Princip  für  die  Beschränkung 
der  Staatsthätigkeit.  Ahrens’  ünterscheidung  zwischen  Bedingung  und  Cansalität 
(s.  o.  Vorbem.  S.  874)  berührt  sich  mit  derjenigen  im  Texte,  fällt  aber  nicht  ganz 
damit  zusammen. 

Die  Gesammtlieit  dieser  Leistungen  zur  Verwirklichung  dieses 
zweiten  Staatszwecks  steht  an  universaler  Bedeutung  den  Leistungen 
im  Gebiete  des  ersten  Zwecks  nach,  schwankt  auch,  zeitlich  und 
räumlich  verglichen,  im  geschichtlichen  Staate  stärker  als  letztere 
Leistungen.  Ansätze  selbst  zu  allen  einzelnen  Hauptkategorieeu 
pflegen  sich  aber  schon  in  sehr  primitiven  Verhältnissen  des 
Volkslebens  und  der  staatlichen  Verbindung  zu  finden.  Und  der 
Staat  fortschreitender  culturfähiger  Völker,  so  namentlich 
der  modernen,  hört  immer  mehr  auf,  einseitig  Rechtsstaat,  im 
Sinne  der  möglichst  alleinigen  Verwirklichung  des  Rechts-  und 
Machtzwecks,  zu  sein  und  wird  immer  mehr  Cnltur-  und  Wohl- 
fahrtsstaat, in  dem  Sinne,  dass  gerade  seine  Leistungen  auf  dem 
Gebiete  des  Cultur-  und  Wohlfahrtszwecks  sich  beständig  mehr 
ausdehnen  und  einen  reicheren  und  mannigfaltigeren  Inhalt  ge- 
winnen (§.  365).  Dadurch  erlangt  der  Staat  jenen  „commu- 


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Cultur-  und  Wohlfahrtszweck. 


889 


nistischen“  Character,  welcher  ihm  noch  vor  den  übrigen  Ge- 
meinwirthschaften  besonders  zu  eigen  ist  (§.  349),  in  immer  aus- 
geprägterer Weise. 

Auch  die  naturwissenschaftlichen  und  productionstecbnischcn  Fort- 
schritte tragen  dazu  mächtig  bei , z.  B.  in  Betreff  der  erlangten  Kountuiss  der  all- 
gemeinen Bedingungen  der  öffentlichen  Gesundheit,  der  hier  erforderlichen  Gautelen, 
der  gebotenen,  nur  von  der  öffentlichen  Gewalt  direct  oder  von  Anderen  nach  ihrer 
Vorschrift  unter  ihrer  Controle  richtig  zu  treüenden  präventiven  und  repressiven 
Einrichtungen. 

Die  Staatshaltungen  zur  Durchführung  des  Cultur-  und 
Wohlfahrtszwecks  bilden  im  entwickelten  Staate  das  grosse  Gebiet 
der  Inneren  Verwaltung  (i.  w.  S.). 

Einzelne  hierher  gehörige  Thätigkeitcn  lassen  sich  von  Thätigkeiten  zur  Ver- 
wirklichung des  Rechtszwecks  nicht  immer  trennen,  so  mannigfach  im  Gebiete  der 
Polizei  (Gesundheits  , Wirthschaftspolizci  u.  a.  in.)  und  der  im  engeren  Sinue  sog. 
volkswirtschaftlichen  Verwaltung  (wirthschaftliche  Rechtsordnung  überhaupt. 
Agrargesetzgebung.  Gewerbeordnung,  Handelspolitik,  Geld-,  Bank-,  Verkehrs-,  Ver- 
sicherung>politik  u.  s.  w.>.  Ein  absolutes  Princip  für  die  Eintheilung  der  Leistungen 
des  Staats  auf  dem  Culturgebiet  giebt  cs  nicht.  Wechsel  nach  Zeit  und  Ort  ist  natur- 
gemäss.  Eben  deshalb  gehören  auch  in  den  modernen  Culturstaaton  die  einzelnen 
Leistungen  oft  zu  verschiedenen  Verwaltungsabtheilungen  (Ministerien  mit  verschie- 
denen Ressorts).  Vergl.  auch  L.  Stein 's  Verwaltungslehre  und  Handbuch,  beson- 
ders 1.  A.  S.  140  fl.  Ahrens,  Naturrecht  II,  287  ff.,  510  ff.  Meine  Fin.  2.  A.  I, 
§.  32,  3.  A.  §.  38  ff. 

Die  Eintheilung  in  folgende  drei  Hauptgruppen  entspricht  im 
Ganzen  den  modernen  Verhältnissen,  namentlich  Mitteleuropas: 

1)  Innere  Verwaltung  im  engeren  Sinne. 

Mit  den  Thätigkeiten  der  amtlichen  Statistik,  des  öffentlichen  Gesundheitswesens, 
des  Hilfs-  und  Armen wesens  u.  s.  w.,  und  mit  der  gesammten  sogen,  inneren  Ver- 
waltung, welche  freilich  grossentheils  zum  Gebiet  des  Rechts-  und  Machtzwecks  ge- 
hört, in  den  Ministerien  des  „Inneren“,  der  Polizei. 

2)  Volkswirtschaftliche  Verwaltung  im  engeren  Sinne. 

Mit  der  Handhabung  der  wirtschaftlichen  Rechtsordnung  im  Allgemeinen,  was, 
wie  auch  die  Feststellung  dieser  Ordnung,  wieder  mit  zum  Rechtszwecke  gehört,  mit 
der  gänzlichen  oder  theilweison  Uebernahme  gewisser  allgemeiner,  die  ganze 
Volkswirtschaft  angehenden  Angelegenheiten  auf  den  Staat:  „Verkehrswesen“ 
(Maass  und  Gewicht,  Münze,  Banken,  Vcrsicherungs-,  Communications-  und  Trausport- 
wesen), endlich  mit  der  „Volkswirthschaftspflege“  im  Gebiete  der  privat- 
wirthschaftlichen  Thätigkeit  (Ackerbau,  Gewerbe,  Handel),  — in  den  Ministerien  des 
„Inneren“,  der  „Volkswirthschaft“,  des  „Handels,  der  Gewerbe  und 
öffentlichen  Arbeiten“,  der  Bauten,  der  „Landwirtschaft“,  der  Vor- 
kehrsanstalten (Eisenbahnen,  Post,  Telegraphie). 

3)  Verwaltung  des  Unterrichts-  und  Bildu ngs wesens, 
sowie  des  öffentlichen  Cultus. 

Es  handelt  sich  hier  öfters  um  gesellschaftliche  Gemeinbedürfnisse,  wo  dem  Staat 
mehr  nur  die  Regelung  der  Thätigkeiten  der  betreuenden  andren  Gemeinwirth- 
schaften  als  die  directe  Uebernahme  zufällt,  ln  der  Hauptsache  gehören  die  bezüg- 
lichen Staatsthätigkeiten  zudem  Unterrichts-  und  Cultusministcriuin  mit 
seinem  üblichen  Ressort  in  den  modernen  Staaten.  Einzelne  Thätigkeiten  sind  aber 
öfters  auch  andren  Ministerien  übertragen,  z.  B.  bestimmte  Arten  Fachschulen,  Kunst- 
pflege u.  A.  in.  Ueber  die  finanzielle  Seite  der  einzelnen  Zweige  s.  meine  Fin.  I, 


890 


6.  B.  Staat.  2.  K.  Zweck  und  Leistungen.  §.  361. 


3.  A.,  Buch  2,  Kap.  2 (einzelne  Gegenstände  des  eigentlichen  Finanzbedarfs)  und  Buch  3 
(Privaterwerbszweige),  ferner  II,  2.  A.,  B.  4 (Gebühren). 

II.  — §.  361  [170].  Die  Durchfllhru ogsmittel  der 
Staats thätigkeit.  Den  unmittelbaren  Thätigkeiten  zur  Durch- 
führung der  beiden  organischen  Staatszwecke  stehen  diejenigen 
Thätigkeiten  gegenüber,  welche  hierbei  als  Durchführnngs- 
mittcl  dienen:  einmal  die  oberste  Handhabung  der  Staats- 
gewalt und  die  Centralleitung,  sodann  die  Finanz  Ver- 
waltung mit  dem  Staatshaushalte. 

A.  Die  Centralleitung  fällt  der  Regierung,  welche  als 
das  Rechts-  und  Wirthschaftssubject  der  staatlichen  Zwangsgemein- 
wirthschaft  fungirt,  zu,  unter  eventueller  verfassungsmässiger  Theil- 
nahme  der  Volksvertretung,  insbesondere  an  der  Gesetzgebung  und 
Controle  und  der  finanzwirthschaftlichen  Einrichtungen  und  Ge- 
bahrungen. In  der  Centralleitung  vereinigt  sich  der  Rechts-  und 
Culturzweck  des  Staats  vollständig. 

B.  Zur  Herstellung  der  von  ihm  verlangten,  der  Centralleitung 
und  der  Durchführung  der  beiden  organischen  Staatszwecke  die- 
nenden Staatsthätigkeiten  muss  der  Staat  eine  eigene  Pro- 
ducti o ns-  oder  Er  wer  bs  wirth  schaft  führen  (§.  159),  welche 
ihm  die  für  jene  Zwecke  und  Thätigkeiten  nothwendigen  wirt- 
schaftlichen Güter,  insbesondere  Sachgüter,  zur  Verfügung  stellt. 
Diese  Wirtschaft  heisst  Finanz wirthschaft  oder  Staatshaus- 
halt und  wird  im  modernen,  insbesondere  grösseren  Staate  regel- 
mässig von  einer  eigenen  obersten  Staatsbehörde,  von  der  Finanz- 
Verwaltung  geführt. 

Näheres  über  sie  gehört  in  die  specielle  Lehre  von  ihr,  in  die  Finanzwissen- 
schaft. S.  Fin.wiss.  I,  dritte  AuÜ.  (die  in  diesen  Abschnitten  gegen  die  früheren 
sehr  erweitert  und  uingestaltet  ist),  1.  Buch,  Ordnung  der  Finanzwirthschaft,  besonders 
Kap.  4,  formelle  Ordnung.  Dazu  zu  vergleichen  meine  Abbandl.  die  Ordnung  der 
Finanzwirthschaft  im  Schönberg  sehen  Handbuch  B.  III,  ebenfalls  bes.  die  neueste 
dritte  Auflage. 

Hier  muss  nur  das  Verhältnis»  der  Finanzwirthschaft 
zu  dem  selbst  wieder  als  Wirthschaftsart  aufgefassten 
Staate  richtig  verstanden  werden.  Zu  diesem  Zwecke  sind,  wie 
in  §.  159  bei  den  Privatwirtschaften,  in  der  staatlichen  Gesammt- 
wirthschaft  verschiedene  Abtheilungen  zu  unterscheiden, 
weiche  in  vieler  Hinsicht  wieder  die  Natur  selbständiger  Wirth- 
schaft en  annehmen. 

1)  Der  Staat  in  seiner  eigentlichen  Function,  d.  h. 
in  der  Handhabung  der  Staatsgewalt  und  in  der  Ausführung  der 
Staatszwecke  mittelst  der  bezüglichen  Leistungen  begriffen,  ist  in 


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Durchführungsinittel  der  Staatsthiitigkeit 


891 


Rücksicht  auf  die  Herstellung  dieser  LeistungenPro- 
ductionswirth schaft  (§.  354).  Die  Mittel,  welche  er  dazu 
verwendet,  werden,  — soweit  es  sich  nicht  um  gewisse  persön- 
liche, theils  zwangsweise  requirirte  (Heer),  theils  unentgeltlich  er- 
langte (Ehrendienst)  Dienstleistungen  handelt  (Fin.  1,  §.  1),  — von 
der  Finanzverwaltung  beschafft,  sind  sachliche  Mittel  (Sachgüter, 
Geld),  erscheinen  in  der  Finanzwirtbschaft  als  Ausgaben,  in 
der  von  ihr  getrennt  gedachten  Staatsverwaltung  als 
Einnahmen,  bez.  Eingänge  und  wieder  als  Ausgaben  zur  Her- 
stellung der  Staatsthätigkeiten  oder  als  deren  Productionskosten. 
Dies  tritt  deutlich  in  dein  Begriff  der  Dotation  der  einzelnen 
Verwaltungsabtheilungen  hervor,  daher  auch  in  den  Special - 
rechnungen  der  letzteren.  Der  Staat  in  seiner  eigentlichen  Function 
ist  mithin  auch  Ausgabewirthschaft,  mit  Rücksicht  auf  die 
Verwendung  der  ihm  von  der  Finanzverwaltung  überwiesenen 
Mittel  zur  Herstellung  seiner  Leistungeu. 

2)  Der  Staat  als  Ganzes  und  zwar  als  Wirthsch afts - 
Ganzes  betrachtet,  in  welcher  Eigenschaft  er  auch  die  Finanz- 
verwaltung in  sich  begreift,  ist  aber  noch  in  einem  zweiten  Sinne 
Productions-  oder  Erwerbs wirthschaft,  insofern  er  durch 
seine  Wirthsehaftsabtbeilung,  die  Finanzwirthschaft,  Güter  für  die 
Verwendung  zu  seinen  eigentlichen  Staatszwecken  erwirbt. 

3)  Die  vom  Staate  getrennt  gedachte  Finanzwirth- 
schaft hat  endlich  ebenfalls  wieder  die  beiden  Abtheilungen:  die 
E rw er b s wirthschaft,  soweit  Güter  eingehen,  die  Ausgabe- 
wirthschaft, soweit  Güter  für  Staatszwecke  und  Leistungen  aus- 
gehen. Die  Gestaltung  der  Ausgabewirthschaft  hängt  natürlich 
von  letzteren  Leistungen  ab  und  ist  deshalb  das  finanzielle  Spiegel- 
bild der  Productionswirthschaft  des  Staats  in  dem  ersten  (unter  1 
festgestellten)  Begriff:  das  System  der  Staatsleistungen  wird  zugleich 
zum  System  der  Ausgabewirthschaft  oder  des  Finanzbedarfs. 

v.  Mango  Id  t verwechselt  diese  verschiedenen  Abtheilungen  oder  Seiten,  welche 
der  Staat  als  Wirthschaft  hat,  wenn  er  die  Finanzwissenschaft  nennt:  die  Lehre 
von  der  Production  der  öffentlichen  Dienstleistungen  (Staatswörterb.  XI.  1181.  Das 
ist  die  Verwaltungslehre,  wahrend  die  Finanzwissenschaft  die  Lehre  von  der  Be- 
schallung und  Verwendung  der  sachlichen  Mittel  für  die  Zwecke  dieser  Verwaltung 
oder  dieser  Production  der  öffentlichen  Dienstleistungen  ist.  S.  jetzt  meine  Fin.wiss. 
I,  3.  A.,  §.  1—6. 


892 


6.  B.  Staat.  3.  K.  Ausdehn.  d.  ölF.  Thätigkeiten.  §.  362. 


Drittes  Kapitel. 

Das  Gesetz  der  wachsenden  Ausdehnung  der 
öffentlichen,  bez.  der  Staatsthätigkeiten. 

§.  362  [S.  309].  Vorbemerkungen. 

Vergl.  Schäffle,  Syst.  2.  Aufl.  §.  221,  222,  178,  ISO,  welcher  jedoch  mehr- 
fach die  abnehmende  Tendenz  der  Staatstbätigkcit  in  der  Sphäre  des  privatwirth- 
schaftlichen  Erwerbs  in.  E.  noch  etwas  zu  stark  betont. 

Vom  finanziellen  Gosichtspuncto  aus  ist  die  Erscheinung  seit  längerer  Zeit 
allgemeiner  beachtet  und  hier  auch  frappant  genug  und  ziffermäsaig  zu  belegen. 
Man  hat  daher,  wie  ich  selbst  cs  früher  gethan.  ein  Gesetz  des  wachsenden 
Staatsbedarfs  bei  fortschreitenden  Völkern  aufgestcllt.  Dies  ist  jedoch  nur  die 
finanzielle  Formulirung  des  allgemeineren  Gesetzes  der  Ausdehnung  der  Staats- 
thätigkeiten. Letzteies  ist  die  ürsachc,  jenes  die  Wirkung.  S.  ümpfenbach, 
Finanzwiss.,  1.  A.,  Erl.  1859,  I,  25,  meine  Ordn.  d.  österr.  Staatshaushalts,  Wien  1863. 
S.  2 if'.,  wo  die  im  Texte  aufgcstcllte  Theorie  bereits  im  Kern  vollständig  gegeben  ist, 
in  ein  Art.  Staatshaushalt  in  ltentzsch'  llaudwörterb.,  Rau- Wagner,  Fin.  1,  §.  1, 
Anm.  a.,  2.  A,  I.  §.  36,  3.  A.,  §.  36.  Schmoller  verwahrt  sich  gegen  die  Auf- 
stellung eines  solchen  finanziellen  Entwicklungsgesetzes,  ohne  indessen  etwas  Sachliches 
dagegen  vorzu bringen  (Jahrb.  d.  D.  Reichs  1877,  S.  110). 

Vergl.  die  Daten  für  Oesterreich  in  meiner  Ordn.  d.  österr.  Staatshaushalts, 
passim,  v.  Czörnig,  österr.  Budg.  vergl.  mit  demjenigen  anderer  europ.  Staaten  II, 
555,  ferner  die  Daten  in  verschiedenen  Jahrgängen  des  Goth  Almanachs  und  über- 
haupt in  den  statistischen  Handbüchern,  für  die  einzelnen  Staaten  in  deren  Statisti- 
schen Jahrbüchern ; die  neueren  Arbeiten  auf  dem  Gebiete  der  vergleichenden  Finanz- 
statistik von  Gers tf cid t (Beiträge  zur  Reichsstcuerfrage,  Leipz.  1879,  vergleichende 
Zahlen  und  Bilder  zur  Reichssteuerfrage,  cb.  1881),  von  R.  v.  Kaufmann  in  Conrads 
Jahrbüchern  B.  49  und  B.  52.  Mancherlei  Materialien  im  Schanz’schen  Finanz- 
archiv, auch  im  1.  Bande  meiner  Fin. wisseusch.  Eine  finanzstatistischc  Beweisführung 
gehört  indessen  nicht  hierher.  Sic  setzt  auch  ein  grosses  Material  voraus,  welches 
sich  hier  nicht  wohl  einreihen  lässt.  Einige  Daten  in  der  2.  Aufl.  der  Grundlegung, 
S.  309,  die  ich  hier  nicht  wieder  aufnehmen  und  nicht  erneuern  w'ollte. 

Eine  umfassende  Verarbeitung  des  Materials  zur  vergleichenden  Finanz- 
statistik (räumliche  und  zeitliche  Vergleiche)  fehlt  leider,  wäre  aber  ein  grosses 
Bcdürfniss.  Erschwert  wird  eine  solche  Arbeit  durch  die  Verschiedenheit  der 
Ressorts  der  einzelnen  Verwaltungsabtheilungeu  (Ministerien)  in  den  verschie- 
denen Staaten  und  durch  die  Veränderungen,  welche  auch  in  einem  und 
demselben  Staate  im  Lauf  der  Zeit  mitunter  in  den  Ressorts  vorgelien.  Bei  räum- 
lichen und  zeitlichen  Vergleichen  muss  daher  besondre  Vorsicht  angewandt  werden. 
Oft  sind  sehr  detaillirtc  Vorarbeiten,  bei  welchen  die  Ausgabeposten  der  Ministerien 
und  grösseren  Ministerialdepartemonts  in  ihre  einzelnen  Bestandteile  aufgelöst  werden, 
nöthig.  — Dass  keineswegs  etwa  nur.  wie  oft  behauptet  wird,  die  Ausgaben  für  Heer 
und  Flotte  und  für  die  Staatsschuld  in  den  letzten  Jahrzehnten  gestiegen  sind, 
sondern  auch  und  in  einzelnen  Fällen  relativ  noch  stärker  diejenigen  für  die  wich- 
tigsten sonstigen  Gebiete  der  („friedlichen“,  „productivon“)  Staatstbätigkcit,  ergiebt 
jede  unbefangene  genauere  Untersuchung  auch,  z.  B.  für  Preussen,  Baicrn  und 
anderen  Staaten.  Finanzstatistik  Preusscns  für  1860 — 69  im  3.  B.  d.  Jahrb.  d.  amtl. 
Statist.  (1869).  Blenck  in  d.  Zeitschr.  d.  Statist.  Bur.  1871  S.  156  (Vergleich  der 
Ausgabegruppen  1849,  55,  67,  69.  Statist.  Handbuch  I,  1988,  S.  502  (18S2 — $9), 
Communallinanzen  eb.  S.  516  (1869 — 88). 

Ebenso  zeigt  ein  Vergleich  mit  Grossbritannien,  Nord- Ameri c» , der 
Schweiz,  dass  nicht  nur  in  den  continentalen  Militärmonarchieen  und  bureaukra- 
tischcn  Staaten,  wie  man  gleichfalls  gern  behaupten  hört,  eine  starke  Zunahme  aller, 
der  Kriegs-  und  Friedcusausgaben , erfolgt,  sondern  dass  überall  auf  fast  allen 
Gebieten  eine  Zunahme  der  Staatsthätigkeiten  eingetreten  ist.  Die  Verminderung 


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Wahrnehmungen  Uber  Ausdehn.  d.  öffeut.  Thätigkeiten. 


893 


des  Goldwerths,  welche  allerdings  zurErhöhung  dcrAusgaben  filr  dieselben  Thätig- 
keiten  fast  überall  mit  geführt,  erklärt  dieSteigerung  des  Bedarfs  doch  nur  zum  keinen  Theil. 

Zum  Theil  noch  schärfer  tritt  die  Ausdehnung  der  öffentlichen  Thätigkeiten 
bes.  neuerdings  in  Deutschland  in  der  Steigerung  der  C o in m u n a 1 budgets  und 
der  Commu n aisteuer n finanzstatistisch  hervor.  (VergL  für  Preusson  die  Zu- 
sammenstellungen von  Blcnck  in  d.  Ztschr.  d.  preuss.  stat.  Bur.  1S71,  S,  160  über 
die  Beiträge  aller  Art  zu  Provinzial-,  Kreis-,  örtlichen  Gemeinde-,  Pfarr-  und  Schul- 
zwecken 1 S49 — (»7.  Handbuch  I,  a.  a.  0.,  sowie  die  neueren  preussischen  communal- 
finanzstatistisehen  Arbeiten  von  Herrfurth  u.  A.  m.  in  den  Ergänzungsheften  der 
Ztschr.  des  preuss.  Statist.  Bureaus.)  Alle  weiteren  Fortschritte  auf  der  Bahn  der 
Decentralisation  der  Verwaltung  und  der  Selbstregierung,  wie  sie 
durch  die  Kreis-  und  Provinzialordnungen  gemacht  werden,  bewirken  eine  Weiter- 
bewegung in  der  eben  angedeuteten  Richtung,  d.  h.  eine  vielleicht  noch  grössere  Zu- 
nahme der  Gemeinde-,  Kreis-  und  Provinzialthätigkeit  als  der  directen  Staatsthätigkeit, 
aber  anderseits  im  Ganzen  eine  immer  stärkere  Zunahme  der  gemein-,  besonders 
der  zwangs gcmeinwirthschaftlichen  Sphäre. 

Die  hier  besprochene  Entwicklungstendenz  des  Finanzbedarfs,  dio  W'irkung  wie 
gesagt,  der  Ausdehnung  und  Steigerung  der  öffentlichen  Thätigkeiten,  wird  von  keinem 
neueren  Finanztheoretiker  und  vernünftigen  Politiker  übersehen,  geschweige  bestritten. 
Auch  W.  Roscher  hebt  sie  hervor  (Fin.  §.  110).  Die  Praxis  hat  nur  noch  nicht 
immer  die  richtige  Consequenz  zu  ziehen  gewagt:  dass  der  Staat,  die  Gemeinde  aus- 
dehnungsfähige Einnahmen,  vor  Allem  auch  solcho  Steuern  braucht,  den  von  mir 
für  die  Besteuerung  aufgestellten  und  mit  Absicht  an  die  Spitze  aller  Steuergrundsätze 
gesetzten  „finanzpolitischen“  Principien  der  „Ausreichendheit“  und  „Beweglichkeit“ 
gemäss.  Vergl.  meine  Fin.  II,  2.  A.,  §.  129  if.  und  die  Abweisung  einer  gegneri- 
schen Auffassung  Vocke’s  daselbst  §.  123. 

I.  — §.  363  [171].  Allgemeine  Wahrnehmung  der 
Ausdehnung  der  Staatsth  ätigkeiten.  Geschichtliche 
(zeitliche)  und  räumliche,  verschiedene  Länder  umfassende 
Vergleiche  zeigen,  dass  bei  fortschreitenden  Culturvölkern,  mit  denen 
wir  es  hier  allein  zu  thun  haben,  regelmässig  eine  Ausdehnung 
der  Staatsthätigkeiten  und  der  gesammten  öffentlichen,  durch  die 
Selbstverwaltungskörper  neben  dem  Staate  ausgeführten  Thätig- 
keiten erfolgt.  Dies  offenbart  sich  in  extensiver  und  intensiver 
Hinsicht:  der  Staat  und  diese  Körper  übernehmen  immer  mehr 
Thätigkeiten  und  sie  führen  die  alten  und  neuen  Thätigkeiten 
immer  reichlicher  und  vollkommener  aus.  Es  werden 
auf  diese  Weise  immer  mehr  wirtschaftliche  Bedürfnisse  der  Be- 
völkerung, namentlich  Gern  ein  bedürfnisse,  zugleich  stets  besser 
durch  den  Staat  und  jene  Körper  befriedigt.  Der  deutliche  Beweis 
dafür  liegt  ziffermässig  in  der  Steigerung  des  finanziellen  Staats- 
und Communalbedarfs  vor. 

Der  Staat  speciell,  als  Wirtschaft  zur  Fürsorge  der  Be- 
völkerung mit  gewissen  Gütern,  besonders  Gemeingütern  für  ge- 
wisse Bedürfnisse  aufgefasst,  wird  dabei  absolut  immer  wichtiger 
für  die  Volkswirtschaft  und  für  die  Einzelnen.  Aber  auch  seine 
relative  Bedeutung  steigt,  d.  h.  eine  immer  grössere  und 
wichtigere  Quote  der  Gesammtbedürfnisse  eines  fortschreitenden 

A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlagen.  57 


394 


6.  B.  Staat.  3.  K.  Ausdehn.  d.  öff.  Thätigkeiten.  §.  363. 


Culturvolks  wird  durch  den  Staat  statt  durch  andere  Gemein- 
und  Privatwirthscbaften  befriedigt,  — ein  Satz,  der  nur  den  übrigen 
Zwangsgemeinwirthschaften  (Gemeinde,  Kreis,  Provinz)  gegenüber 
in  Folge  der  Decentralisation  der  öffentlichen  Verwaltung  und  der 
Organisation  der  Selbstverwaltung  mehrfach  eine  wirkliche,  sonst 
meist  nur  scheinbare  Ausnahmen  erleidet.  Fasst  man  aber  den 
Staat  mit  diesen  anderen,  seine  Thätigkeit  ergänzenden  Zwangs- 
gemeinwirthschaften zusammen,  was  für  mancherlei  Zwecke  noth- 
wendig  ist,  so  ergicbt  sich  auch  eine  Zunahme  der  gesammten 
zwangsgemein  wirtschaftlichen  oder  „öffentlichen“, 
besonders  der  staatlichen  und  communalen,  auf  Kosten 
der  übrigen  gemein-  und  privatwirtbschaftlichen  Thätigkeit.  Sow-eit 
hier  die  Kostendeckung  der  öffentlichen  Thätigkeit  nach  dem  ge- 
mein wirthschaftlichen  Princip  erfolgt,  ergiebt  sich  so  auch  eine 
Steigerung  des  „communistischen“  Charakters  der 
ganzen  Vo  lks  wirthschaft.  Aber,  wenn  auch  nicht  in  ganz 
demselben  Maasse  und  derselben  Art,  ist  schon  die  blosse  Ueber- 
nahme  wirtschaftlicher  Thätigkeiten  auf  die  öffentlichen  Körper, 
selbst  wenn  dann  ganz  oder  theilweise  das  privatwirthschaftliche, 
das  Gebührenprincip  bei  der  Kostendeckung  und  der  Regelung  des 
Eutgelts  platzgreift,  doch  von  einer  solchen  Wirkung  begleitet  (§.  300). 

S.  auch  Koscher,  I,  §.  84,  u.  ders.  Fin.  §.  110.  Vgl.  oben  §.  293. 

Die  typische  Einheit  des  Wirtschaftslebens,  die  Familie,  be- 
friedigt so  wachsend  einen  grösseren  Theil  ihrer  Bedürfnisse 
nicht  mehr  nach  dem  privatwirtbschaftlichen  Princip  der  speciellen, 
sondern  nach  dem  gemeinwirthschaftlichen,  mehr  oder  weniger 
„communistischen“  Princip  der  generellen  Entgeltlichkeit  von 
Leistung  und  Gegenleistung.  Oder  m.  a.  W.  eine  grössere  Quote 
der  Ausgaben  des  Familienbudgets  entfällt  auf  Steuern,  besonders 
an  Gemeinde  und  Staat,  auch  auf  Gebühren  an  sie,  auf  Beiträge 
an  freie  Gemeinwirthschaften,  Vereine  u.  s.  w.  Wo  aber  auch, 
wie  bei  Anwendung  des  Gebtihrenprineips,  das  Princip  der  speciellen 
Entgeltlichkeit  bleibt,  erfolgt  die  Preisnormirung  doch  immerhin 
anders,  nach  Taxen  (§.  137 ff.).  Nicht  minder  wird  die  Pro- 
duct ionsweise  aus  der  regellosen  privatwirtbschaftlichen  eine 
geregelte,  welche  nach  autoritativer  Bedarfsbemessung  erfolgt,  und 
im  öffentlichen  Dienst  mit  seinem  Besoldungswesen  tritt  auch  flir 
die  Vertheiluug  der  Productionserträgc  zwischen  dem  Rechts-  und 
Wirthschaftssubjeet  und  den  „Arbeitskräften“  (Beamten)  ein  System 
socialer  Lohntaxen  an  Stelle  der  privatwirtbschaftlichen  Lohnregelung : 


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Wahrnehmungen  über  Ausdehn.  d.  ölf.  Thätigkeiten. 


895 


Alles  Gestaltungen  in  der  Richtung  einer  mehr  socialistischeo, 
von  der  individualistischen  abführenden  Organisation  der  Volks- 
wirtschaft, ihrer  Productions-,  Vertheilungseinrichtung  und  Be- 
darfsdeckung (§.  295,  300  ff.). 

Es  ergiebt  sich  auch  hieraus  wieder,  wie  ungenügend  die  Tauschwerth- 
schätzung  iu  der  üblichen  theoretischen  Behandlung  ist.  Sie  ist  in  sehr  vielen  Fällen 
in  der  That  keine  stets  nothwendig  vorkommende , sondern  eine  historische  Er- 
scheinung, an  deren  Stelle  in  einer  anderen  Gestaltung  der  Volkswirthscbaft  die  Ge- 
brauchswerth- und  Kosten werthschätzung  tritt.  In  welchem  Umfange,  — 
das  ist  nur  durch  die  spätere  Erfahrung  selbst  zu  beantworten.  Jede  Erwei- 
terung des  gemein-,  besonders  zwangsgemeinwirthschaftlichen  Systems  verengt  aber 
die  Sphäre  der  Tauschwcrthschätzung.  (S.  oben  in  §.  187  meine  Auffassung  des 
W'erths,  nach  Rodbertus’  Vorgang). 

Die  Ausdehnung  der  öffentlichen  Thätigkeiten  zeigt  sich  auf 
den  Gebieten  beider  Staatszwecke,  im  Grossen  und  Ganzen  gleich- 
massig.  Productionstechnische  Gründe  führen  dabei  immer 
mehr  zu  einer  gesteigerten  Thätigkeit  des  Staats,  der  Gemeinde 
u.  s.  w.  selbst  in  der  Sphäre  der  materiellen  und  der  Indivi- 
dual bedürfnisse  (§.  334,  343). 

Gas-  und  Wasseranlagen  der  Städte  u.  s.  w.  Gerade  in  solchen  Beispielen  zeigt 
sich,  dass  das  Ahrcns’sche  Priucip  der  Feststellung  der  Staatsthätigkeit  auch  für  unsere 
heutigen  Culturstaatcn  nicht  ausreicht,  siehe  Vorbemerkungen  zu  Buch  6.  Seite  S74. 

Die  inneren  Gründe  für  diese  Ausdehnung  der  Staats-  und 
der  zwangsgemeinwirthschaftlichen  oder  „Öffentlichen“  Thätigkeiten 
überhaupt  lassen  sich  zum  Theil  aus  dem  erfahrungsmässig  fest- 
stehenden Wesen  des  Staats,  der  Gemeinde  bei  fortschreitenden 
Culturvölkern  (a  priori)  ableiten,  zum  Theil  ergeben  sie  sich  in- 
ductiv  aus  den  einzelnen  Thatsachen , in  welchen  die  Ausdehnung 
jener  Thätigkeiten  hervortritt.  Ihre  Kenntniss  berechtigt  uns,  von 
einem  (volkswirthschaftlichen)  Gesetze  der  wachsenden  Ausdehnung 
der  öffentlichen  und  spcciell  der  Staatsthätigkciten  zu  sprechen, 
ein  Gesetz,  welches  für  die  Finanzwirthschaft  als  Gesetz  des 
wachsenden  öffentlichen  Finanzbedarfs  des  Staats  und  der  Selbst- 
verwaltungskörper zu  formuliren  ist. 

In  causaler  Verbindung  mit  der  Entwicklung,  welche  dieses 
Gesetz  veranschaulicht  und  in  Begleitung  von  ihr  geht  in  der 
Volkswirthscbaft  und  dann  wieder  speciell  im  Staate  eine  gewisse 
centralistische  Richtung. 

Diese  ist  bis  zu  ciucm  bestimmten  Grade  unvermeidlich  und  berechtigt,  erat 
darüber  hinaus  wird  sic  bedenklich,  ist  aber  auch  über  ein  solches  richtiges  Maass 
hinaus  nicht  durch  die  an  und  für  sich  richtige  Ausdehnung  des  zwangsgemein- 
wirthschaftlicheu  Systems  geboten.  Insofern  gilt  es,  durch  Decentralisation,  namentlich 
in  der  Richtung  vom  Staate  zu  den  kleineren  räumlichen  Zwangsgcmcinwirthschaften 
bis  zu  den  Gemeinden  hin,  und  durch  Selbstregierung  und  Ehrenamtssystem,  ferner 
durch  Erleichterung  und  Begünstigung  der  freien  Gern  ein  wirthschaften,  des  Vereins- 
wesous,  der  Veranstaltungen  des  caritativen  Systems  u.  s.  w.  hier  gewissen  Gefahren 

57* 


£96  6.  B.  Staat.  3.  K.  Ausdehn.  d.  öff.  Thätigkeiten.  §.  364. 

möglichst  zu  steuern.  Die  gemeinwirthschaftliche  Bedürfnisbefriedigung  bleibt  dabei 
aber  meist  bestehen  und  nimmt  nur  mannigfaltigere  Formen  an.  Im  Folgenden  wird 
die  Ausdehnung  der  öffentlichen  Thätigkeiten  speciell  beim  Staate  näher  verfolgt. 
Die  Ergänzung  in  Bezug  auf  die  anderen  öffentlichen  Körper,  besonders  die  Gemeinde, 
ergicbt  sich  leicht.  S.  über  das  Commuualleben  Schäfflc,  Soc.  Körper  IV,  203  fl. 
Auch  Bluntschli  11  (Staatsrecht),  B.  8. 

II.  — §.  364  [172].  Die  Ausdehnung  der  Staatsleistungen 
auf  dem  Gebiete  des  Rechts-  und  Machtzwecks  zeigt  sich 
einmal  in  der  Ersetzung  anderer  Thätigkeiten  durch  diejenigen 
des  Staats,  sodann  in  vermehrter  Staatsthätigkeit  wegen 
neuer  Bedürfnisse.  Im  wachsenden  Finanzbedarf  liegt  die 
Wirkung  dieser  Entwicklung  und  der  Beleg  dafür.  Ihre  Er- 
klärung und  Begründung  finden  diese  Vorgänge  auf  folgende  Weise: 

A.  Ersetzung  von  Privat-  und  sonstiger  gemein- 
wirthschaftlicher  durch  Staats-Thätigkeit  bei  gleich- 
bleibendem Bedürfnissstand.  Es  wird  immer  mehr  Princip, 
die  bezüglichen  Leistungen  allein  dem  Staate  zu  übertragen 
und  sie  nur  in  einzelnen  Fällen  in  seinen»  Aufträge  und 
unter  seiner  obersten  Leitung  und  Controle  von  anderen 
Gemeinwirthschaften  oder  Einzelnen  ausüben  zu  lassen. 

Diese  Entwicklung  erklärt  und  rechtfertigt  sich  dadurch,  dass 
nach  der  Idee  vom  entwickelten  Staate  gerade  in  diesen  Leistungen 
das  Wesen  des  Staates  liegt  und  dass  die  gute  Qualität  der 
Leistungen  von  ihrer  ausschliesslichen  Ucbertragung  auf  den 
Staat  bedingt  erkannt  wird  (§.  359). 

1)  Die  Uebertragung  von  Staatsaufgaben  auf  diesem 
Gebiete  an  kleinere,  in  beschränkter  Sphäre  autonome  Organe 
(Provinz,  Kreis,  Gemeinde)  ist  nur  in  begrenztem  Maasse 
(Polizei)  zulässig,  in  den  wichtigsten  Fällen  (Justiz,  Heer) 
unterbleibt  sie  durchaus.  Aber  soweit  sie  auch  mit  Recht  im 
Interesse  der  Decentralisation  der  Staatsverwaltung  und  der  Organi- 
sation der  Selbstverwaltung  stattfindet,  bewirkt  sie  doch  nur  den 
Uebergang  gewisser  Thätigkeiten  von  einer  auf  andere  Zwaugs- 
gemeinwirthschaften.  Eine  Einschränkung  des  gemeinwirthschaft- 
licheu  Systems  im  Ganzen  erfolgt  also  nicht.  Dies  ist  auch  für 
die  finanzielle  Seite  der  Decentralisationsfrage  nicht  zu  übersehen. 

2)  Das  System  ganz  oder  grösstentheils  unentgeltlicher  Ehren- 
ämter im  „Selfgovernment“  nimmt  zwar  in  einer  Beziehung 
der  Zwangsgemeinwirthschaft  etwas  von  ihren  cbaracteristischen 
Eigenthümlichkeiten,  nemlich  in  Betreff  der  Kostendeckung  der 
Leistungen  dieser  Wirthschaft  mittelst  Steuern  (§.  349).  Aber  diese» 


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Aasdehnung  der  Thätigkeiten  beim  Rechtszweck. 


897 


System  ist  hier  wie  auf  anderen  Gebieten  nur  einer  begrenzten 
Anwendung  fähig. 

Denn  die  steigenden  Anforderungen  an  die  Qualität  der  Staatsleistungen  verlangen 
immer  mehr  qualificirtc  Arbeit,  d.  h.  die  Arbeit  berufsmässig  gebildeter 
Kräfte,  für  die  Herstellung  dieser  Leistungen.  Ein  andrer  Thcil  der  nothwendigen 
Arbeit  ist  so  mechanischer  Art,  dass  er  wiederum  nur  von  berufsmässigen,  allein 
hinlänglich  geübten  Organen  ordentlich  geleistet  werden  kann  oder  wenigstens  frei- 
willige Ehrenamtsdiener  sich  dafür  nicht  in  genügender  Menge  finden.  Das  neuere 
deutsche -System,  freiwillige  Zählagcnten  bei  der  Volkszählung  zu  benutzen, 
liefert  einen  neuen  Beleg.  Man  kann  solche  Personen  wohl  finden  und  brauchen  für 
dio  Austragung  und  Einsammlung  und  für  die  Ausfüllung  der  Listen  und  Karten, 
nicht  aber  für  die  Verarbeitung  dieses  Materials  zu  den  Zwecken  der  Statistik.  Im 
Ehrenamtssystem  liegt  weiter  eine  an  sich  sehr  wohl  zu  rechtfertigende  Steuer- 
prägravation  für  die  Ehrenamtsdiener:  zu  den  Geldsteucrn  treten  Steuern  in  der 
Form  von  Dienstleistungen,  eine  partielle  Verwirklichung  von  Progrcssivsteucrprincipien. 
Von  den  Vertretern  des  Selfgovernment  hat  dies  in  Deutschland  besonders  K.  Walcker 
in  seinen  zahlreichen  Schriften  auf  (ineist’scher  Grundanschauung  geltend  gemacht 
Aber  gerade  in  dieser  Wirkung  des  Systems  liegt  auch  wieder  eine  wesentliche 
Schranke  seiner  Anwendbarkeit.  Für  die  volks wirtschaftliche  Betrachtung  ist  end- 
lich nicht  zu  übersehen,  dass  die  Ehrenamtsarbeit  doch  eben  auch  Kosten  macht 
Nemlich  stets  dann,  wenn  die  Arbeitszeit  des  Ehrenamtsarbeiters  sonst  nicht  einfach 
müssig  verlaufen  ist.  War  dies  aber  der  Fall,  so  wird  die  Arbeit  einer  solchen 
Person  im  Ehrenamtsdienst  auch  leicht  nur  wenig  werth  sein.  — lieber  das  Ver- 
hältniss  des  Ehrenamtsdiensts  zum  besoldeten  Staatsdienerthum  s.  auch  meine  Fin.  I. 
2.  A.  §.  71,  72,  3.  A.  §.  152,  153. 

B.  — §.  365  [173].  Auftreten  neuer  Bedürfnisse,  welche 
vermehrte  Staatsth  ä tigkeit  nöthig  oder  zweckmässig 
machen.  Dasselbe  pflegt  in  grösserem  Umfange  zu  erfolgen  als 
Wegfall  von  solchen  Bedürfnissen  einer  niedrigeren  Entwicklungs- 
stufe auf  einer  höheren.  Als  die  noth wendige  Folge  fortschreitender 
Cultur  ist  zwar  nicht  selten  gerade  eine  vermin  der te  Thätigkeit 
des  Staats  auf  dem  Gebiete  des  R e c h t s zwecks  a priori  hin- 
gestellt worden.  Die  in  dieser  Thätigkeit  mit  enthaltene  „civi- 
lisatorische“  Tendenz,  als  Erziehungsmittel  zu  wirken, 
solle  und  müsse  auch  eine  solche  Folge  haben.  Auch  die  Er- 
fahrung ist  zur  Bestätigung  der  Richtigkeit  dieser  Annahme  be- 
nutzt worden:  offene  gewaltsame  Störungen  der  Rechtsordnung  im 
Inneren,  gcwaltthätige  Verbrechen,  nach  Aussen  zu  die  Kriege 
würden  seltener  mit  der  Erhöhung  der  Gesittung.  Diese  Auf- 
fassung ist  nicht  schlechtweg  falsch,  aber  einseitig  und  zu  opti- 
mistisch, auch  verkennt  sie  die  wichtigste  Ursache  der  etwaigen 
wirklichen  Verbesserungen.  Die  entgegengesetzte  Entwicklungs- 
tendenz in  vielen  hierher  gehörigen  Erscheinungen  bleibt  dabei 
ganz  unbeachtet. 

1)  Die  Gesittung  der  Bevölkerung  und  die  Störungen  der 
inneren  Rechtsordnung  lassen  sich  durch  die  Culturgeschichte 
und  genauer  und  vollständiger  durch  die  Moralstatistik,  u.  A. 


898 


6.  B.  Staat.  3.  K.  Ausdehn.  d.  öff.  Thätigkciten.  §.  365. 


namentlich  durch  die  C r i m i n a 1 Statistik  und  die  Statistik  der 
Cmiprocesse,  in  ihrer  Entwicklung  verfolgen.  Das  vorliegende 
und  verarbeitete  Material  ist  aber  zu  dürftig,  zu  wenig  zuverlässig 
und  vergleichbar,  das  genannte  statistische  vor  Allem  noch  zu  jung, 
um  zu  sicheren  Schlüssen  hinsichtlich  auch  nur  der  wichtigeren 
Momente  der  Gesittung  zu  gelangen. 

Die  Beobachtungen  der  Moralstatistik  reichen  dazu  schon  deshalb  nicht  ans, 
weil  sic  erst  ganz  kleine  Zeiträume  und  zu  kleino  Tbcilc  der  Welt  umfassen,  ab- 
gesehen davon,  dass  sic  doch  nur  einzelne  frappante  Thatsachcn  betreffen.  Die  ur- 
sächlichen Momente,  welche  in  den  Thatsachen  zur  Geltung  kommen,  bieten  dabei 
noch  besondere  Schwierigkeit  für  die  Beantwortung  der  Frage  nach  der  Verbesserung 
oder  Verschlechterung  der  Gesittung. 

Immerhin  aber  haben  es  culturhistorische  und  moralstatistische 
Untersuchungen  wahrscheinlich  gemacht,  was  auch  a priori  zu  ver- 
mutben  war,  dass  z.  B.  die  Verbrechen  mehr  nur  eine  Form- 
veränderung als  eine  wirkliche  Abnahme  oder  vollends 
als  eine  sittlich  weniger  bedenkliche  Qualität  zeigen:  weniger 
gewaltthätige,  aber  mehr  feine,  listige,  tückische,  geheime  Ver- 
brechen. Auf  eine  durchschnittliche  Verbesserung  der  sittlichen 
Lebensanschauungen  und  der  davon  bedingten  Handlungen  der 
Menschen,  auch  der  Bevölkerung  in  unseren  sogen,  „civilisirten“ 
Ländern,  weist  leider  wenig  hin.  Ebensowenig  freilich  lässt  sich 
das  Gegentheil  sicher  nachweisen. 

S.  die  litterarischen  Nachweise  oben  §.  112,  S.  432.  Wappäus,  Bevölkerungs- 
statistik, besonders  II.  415  ff.,  445,  meine  Gesetzmässigk.  I,  28.  Die  beste,  voll- 
ständigste und  am  Weitesten  (d.  h.  doch  nur  bis  1S26I)  zurttckreichende  Crimiual- 
Statistik  ist  im  Ganzen  immer  noch  die  französische  mit  ihren  jährlichen  Comptcs 
rendus  (ebenso  auch  für  die  Civilproccsse).  Eine  entschiedene  Abnahme  der  Ver- 
brechen selbst  im  Durchschnitt  längerer  Perioden  zeigt  sich  nicht,  wenn  man  nur 
die  ministeriellen,  unter  Napoleon  III.  sehr  schönfärbenden  Berichte  genauer  kritisirt 
nach  den  Details  der  Zahlenstatistik.  Die  Qualitätsveränderung  ist  überwiegend  die 
vorbezeichncte  ungünstige.  Ein  günstiger  Einfluss  der  vermehrten  intellectucllen 
Bildung,  wie  sich  letztere  etwa  in  der  vermehrten  Elementarkenntniss  (Lesen  und 
Schreiben)  zeigt,  ist  kaum  wahrzunchmen,  was  schon  Wappäus  mit  Recht  hervorhob. 
Das  ist  auch  nicht  zu  verwundern.  Weit  wichtiger  muss  gerade  hier  die  Verbesserung 
der  sittlichen  Bildung  und  der  Religiosität  wirken.  Die  Thatsache,  dass  unter 
den  Verbrechern  Personen  der  höher  gebildeten  Stände  nur  schwach  vertreten 
sind,  ist  allerdings  richtig.  Aber  einmal  fallen  hier  wegen  durchschnittlich  besserer 
ökonomischer  Lage  viele  Versuchungen  fort,  sodann  gestattet  die  Unvollkommenheit 
der  Berufsstatistik  noch  nicht  immer  sichere  Vergleiche  zwischen  der  nicht  genügend 
bekannten  Zahl  der  Angehörigen  der  höheren  Berufe  und  der  Zahl  der  unter  den- 
selben vorkommenden  Verbrechen  mit  den  Erscheinungen  unter  der  übrigen  Be- 
völkerung. Eine  neuere  vorzügliche  Behandlung  der  Frage  der  Veränderung  der 
Criminalität  s.  bei  v.  Oettingon,  Moralstatistik,  2.  Aufl.,  §.  48,  bes.  579  (auch  in 
der  3.  Aufl.);  wesentliche  Uebereinstimmung  mit  Wappäus  und  meiner  älteren 
Schrift.  Manches  spricht  dafür,  bei  Völkern  mit  steigender  wirthschaftlicher  Cultur 
eine  ähnliche  Aenderung  (aber  keineswegs  Verbesserung!)  der  Criminalität  für 
wahrscheinlich  zu  halten,  wie  sic  Quetelet  in  seiner  berühmten  Darstellung  der 
Veränderung  des  penchant  au  crime  mit  steigendem  Lebensalter  der  Verbrecher  nach- 
gowiesen  hat,  — eine  Darstellung,  deren  Richtigkeit  alle  späteren  Untersuchungen  nur 


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Ausdehnung  der  Thätigkeiten  heim  Wohlf.zwecke. 


899 


bestätigen  konnten.  Quetolet,  Über  den  Menschen,  1.  Ausg.,  deutsch  von  Riocko, 
S.  547,  meine  Gesetzmässigkeit  I,  36.  Vgl.  dazu  auch  G.  Mayr,  Gesetzmässigkeit, 
S.  327  ff.  — Bedenklichste  Zunahme  der  sogen.  Sittlichkeitsverbrechen  bei  dem  altern- 
den Menschen  und  in  unserer  heutigen  Zeitl  — Grosse  Zunahme  der  Verbrechen  und 
Vergehen  im  Deutschen  Reich.  Preusscu,  Baiern  in  den  siebziger  Jahren.  Wohl  über- 
wiegend verursacht  durch  den  Rückgang  der  Erwerbsverhältnisso.  nach  den  speculativen 
Excessen  von  1871 — 73.  Hinterher  wieder  günstigere  Gestaltung.  Auch  vom  Deutschen 
Reich  erscheint  jetzt  jährlich  eine  umfassende  Criminalstatistik  seit  1882. 

2)  Im  Uebrigen  aber  sind  die  etwaigen  günstigeren  Er- 
scheinungen im  Gebiete  der  inneren  Recbtsstörungen,  ebenso  wie 
die  grössere  Seltenheit  von  Kriegen  nicht  immer  auf  höhere 
Gesittung,  also  namentlich  auf  sittlicheren  Willen  zurück- 
zuführen,  obgleich  es  gewiss  das  grosse  erhabene  Ziel  der  Civi- 
lisation  ist,  dies  zu  erreichen  und  damit  den  Staatszwang  entbehr- 
lich zu  machen,  das  Rechtsgebiet  zu  Gunsten  des  Gebiets  der 
Sitte  und  Sittlichkeit  einzuengen.  Thatsächlich  ist  leider  nicht  zu 
verkennen,  dass  vielfach  nur  die  vermehrte,  verfeinerte,  grossartig 
organisirte  Prä  ve  nti  v thätigkeit  des  Staats,  in  der  Polizei,  in 
dem  Organismus  der  Justizbehörden,  in  der  bewaffneten 
Macht  eine  Verminderung  der  Rechtsstörungen  bewirkt,  — ein 
System,  welches  eine  intensiv  ausserordentlich  gesteigerte 
Staatsthätigkeit  bedingt  (§.  371  ff.)  und  darstellt. 

S.  auch  v.  Oettingen,  2.  A.  a.  a.  0.,  S.  578,  mit  dem  sehr  zutreffenden  Citat 
aus  E.  v.  Hartmann ’s  Philosophie  des  Unbewussten  (3.  Aufl.,  S.  714). 

3)  Die  Entwicklung  der  Volkswirtschaft,  so  nament- 
lich die  immer  weiter  gehende  nationale  und  internationale  Arbeits- 
teilung, ferner  das  System  der  freien  Concurrenz  schaffen 
immer  complicirtere  Verkehrs-  und  Rechtsverhält- 
nisse (Creditwesen !).  Daraus  ergeben  sich  wieder  leicht  ver- 
mehrte Rechtsstreitigkeiten  und  Rechtsstörungen,  sowie  Interessen- 
gegensätze von  Einzelnen  und  Gesellschaftsgruppen  oder  Classen 
und  demgemäss  grössere  Anforderungen  an  die  repressive  und 
präventive  Thätigkeit  des  Staats  zur  Verwirklichung  des  Rechts- 
zwecks, an  seine  gesetzgeberische,  die  Gegensätze  ausgleichende 
oder  versöhnende,  wie  an  seine  richterliche  Wirksamkeit.  Die 
vermehrte  Reibung,  die  andrerseits  wohl  nicht  mit  Unrecht 
als  besonders  günstige  culturliche  und  wirtschaftliche  Folge  der 
grösseren  Bevölkerung  und  Volksdichtigkeit  bezeichnet  wird,  hat 
sicher  doch  vor  Allem  auch  diese  Wirkung. 

Die  extensive  und  intensive  Steigerung  der  Staatsthätigkeit 
auf  dem  Gebiete  des  Rechts-  und  Machtzwecks  ist  bei  Cultur- 
völkern  daher  eine  begreifliche,  ja  notwendige. 


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900  6.  B.  Staat.  3.  K.  Ausdehn.  d.  öff.  Thätigkeiten.  §.  366,  367. 

C.  — §.  366  [174].  Grösserer  Staatsbedarf  als  Wirkung 
und  Beleg.  In  der  im  längeren  Jahresdurchschnitt  überall  fast 
ununterbrochenen  V er m eh run g des  finanziellen  Staatsbe- 
darfs für  die  grossen  Verwaltungsabtheilungen  der  Justiz,  des 
Inneren,  der  Polizei,  des  Heers,  der  Flotte,  des  diplomatischen 
Dienstes  findet  diese  Entwicklung,  auf  den  Generalnenner  „Geld1* 
zurlickgeführt,  ihren  ziffermässigen  Ausdruck  und  damit  ihr  Maas s, 
wenn  die  durch  Veränderung  des  Geldwerths  und  bessere  Bezahlung 
der  Staatsdiener  bewirkte  Erhöhung  des  Bedarfs  in  Abzug  gebracht 
wird.  Diese  Vermehrung  des  Staatsbedarfs  erlangt  umgekehrt 
aber  auch  durch  diese  in  der  Vermehrung  der  Staatsthätigkeit 
liegende  Ursache  ihre  Begründung  und  ihre  oft  angezweifelte 
Rechtfertigung. 

(§.  362.)  Man  wird  daher  mit  dieser  Tendenz  der  Steigerung  des  Finauzbedarfs 
auch  in  der  Theorie  und  Praxis  des  Finanzwesens,  hier  namentlich  des  Staatshaus- 
halts, rechnen  und  die  EinnahmebeschafTung,  namentlich  die  Besteuerung,  darauf  mit 
einrichten  müssen:  nicht  nur  um  der  dauernden  Ordnung  der  Finanzen  Willen,  son- 
dern auch  im  sachlichen  Interesse,  um  für  eine  innerlich  gebotene  Entwicklung  der 
Staatsthätigkeit  die  materiellen  Voraussetzungen  zu  erfüllen. 

III.  — §.  367  [175].  Die  Ausdehnung  der  Staatsthätig- 
keiten  auf  dem  Gebiete  des  Cultur-  und  Wohlfahrtszwecks. 
A.  Im  Allgemeinen.  Auch  sie  ist  im  Grossen  und  Ganzen  bei 
fortschreitenden  Völkern  eine  ebenso  regelmässige,  wenn 
auch  im  Einzelnen  hier  mehr  Aender ungen  auf  diesem  Gebiete, 
daher  mitunter  auch  wieder  Einschränkungen  öfters  Vor- 
kommen und  die  zeitlichen  und  örtlichen  Verschieden- 
heiten bedeutender  sind.  Auch  theilt  gerade  hier  der  Staat  die 
„öffentlichen**  Functionen  thatsächlich  und  durchaus  passend  mit  den 
Selbstverwaltungskörpern. 

Der  Grund  für  diese  Gestaltung  der  Dinge  liegt  darin,  dass 
es  sich  im  Einzelnen  hier  nicht  um  so  durchaus  wesentliche 
Staatszwecke,  wie  im  ersten  Falle  handelt  und  von  der  aus- 
schliesslichen Uebertragung  aller  bezüglichen  Leistungen 
auf  den  Staat  ähnlich  wie  bei  den  Hauptfällen  des  Gebiets  des 
Rechts-  und  Machtzwecks  niemals  ernstlich  die  Rede  sein  kann. 
Die  Aufgabe  ist  vielmehr  gerade  hier  nach  aller  historischen  Er- 
fahrung und  aller  psychologischen  Analyse  der  mitspielenden  Motive 
wirtschaftlichen  Handelns  die  richtige  Combination  der  drei 
Systeme,  des  privat-,  des  gcmeinwirthschaftlicben  und  des  caritativen 
(§.  302),  und  die  Einräumung  der  richtigen  Stellung  an  den  Staat 
innerhalb  (nicht  wie  bei  dem  Rechts- und  Machtzweck  ausser- 


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Aasdehn,  d.  Thätigk.  beim  Cultur-  u.  Wohlf.zweck.  901 

und  oberhalb)  der  bezüglichen  Thätigkeiten  der  anderen  Wirth- 
schaften. 

Im  einzelnen  Falle  wird  daher  nicht  nur  die  Auffassung  mehr  darüber  aus- 
einandergehen, ob  und  wieweit  eine  Leistung  grade  rom  Staate  übernommen 
werden  soll,  — was  bei  dem  Rechts-  und  Machtzweck  schon  dadurch  principiell  ent- 
schieden wird,  dass  die  einzelne  Leistung  nothwendig  zu  dessen  Verwirklichung 
gehört,  — sondern  cs  ist  auch  einzuräumen,  dass  nach  Zeit  und  Ort  und  Umständen 
eine  Leistung  bald  besser  vom  Staate,  bald  von  einer  anderen  Zwangs-  oder  von  einer 
freien  Gemeinwirthschaft  oder  von  einer  Privatwirtschaft,  und  hier  wieder  bald  nach 
dem  privatwirthscbaftlichen , bald  nach  dem  caritativcn  Princip  übernommen  werden 
kann.  M.  a.  W.  die  Frage,  ob.  wann  und  wie  grade  der  Staat  eine  Thätigkcit  über- 
nehmen soll,  ist  hier  doch  gewöhnlich  mehr  eine  Opportunitäts-,  eine  Zweck- 
mässi gkeitsfrage,  im  anderen  Falle  eine  Principienfrage.  Selbst  die  Fälle  sind 
sicht  selten,  dass  unter  übrigens  gleichen  Umständen  eiuo  Leistung  in  der  That  ebenso 
gut  von  einer  anderen  Wirtschaft  als  vom  Staate  ausgeübt  werden  kann.  Namentlich 
kann  sich  etwa  der  Staat  in  dieser  Hinsicht  ökonomisch  und  technisch  nicht  mehr 
und  nicht  weniger  zur  Uebcrnahme  einer  Leistung  eignen,  als  eine  einzelne  andere 
Wirtschaft,  nicht  nur  als  eine  Gemeinde,  sondern  als  z.  B.  auch  eine  Erwerbs-,  eine 
Actiengesellschaft,  und  es  wird  zweifelhaft  bleiben,  ob  andre  Rücksichten,  politische, 
sociale,  die  Entscheidung  für  oder  wider  mit  Sicherheit  räthlich  machen  (z.  B.  Ueber- 
nahme  grosser  Central-Zettelbanken,  Eisenbahnen). 

Es  kommt  daher  bei  der  Frage,  ob,  wann,  wie  und  inwieweit 
eine  einzelne  Thätigkeit  im  Gebiete  der  Cultur  und  Wohlfahrt  vom 
Staate  übernommen  werden  soll,  auf  die  möglichst  unbefangene 
Prüfung  des  concreten  Falles  an.  Zu  diesem  Zwecke  muss  wieder 
die  Noth wendigkeit  einer  Controle  der  Regierung, 
welche  letztere  meistens  leichter  zur  Ausdehnung  als  zur  Ein- 
schränkung der  StaatsthUtigkcit  geneigt  ist,  durch  eine  schon  aus 
finanziellen  Rücksichten  gewöhnlich  mehr  zum  Gegentheil  neigende 
Volksvertretung  betont  werden  (§.  351). 

Bei  dem  bedeutsamen  Mitspielcn  des  finanziellen  Moments  müssen  alle  diese 
Fragen  auch  in  der  Finanzwissenschaft,  besonders  in  der  Lehro  vom  Privaterworb 
und  von  den  Gebühren  berührt  werden.  Es  ergiebt  sich,  dass  dann  regelmässig 
vier  Reihen  von  Fragen  auftauchen:  ob  überhaupt  auf  den  Staat  (oder  auf  einen 
anderen  öffentlichen  Körper)  etwas  übernehmen,  in  ,, öffentliches  Eigenthum'*  („Eigen- 
thumsfrage“); im  Bejahungsfälle:  ob  ausschliesslich  so  übernehmen  („Regali- 
sirung“  in  diesem  Sinne);  weun  so  übernehmen:  wie  verwalten,  ob  durch  den 
Staat,  bezw.  eine  Behörde  desselben  selbst  (Eigenverwaltung  oder  Eigenbewirth- 
schaftung),  ob  durch  Delegirte,  ob  verpachten  („  Verwaltungswege“) ; endlich,  nach 
welchem  leitenden  Fi n an zpri n ci p verwalten:  Princip  der  reinen  Ausgabe, 
Kostendeckung  durch  andere  Einnahmen,  allgemeine  Steuern,  unentgeltliche  Zu- 
führung an,  Benutzung  durch  die  Bedürftigen  (z.  B.  öffentliche  Wege);  Gebühren- 
princip  in  verschiedenem  Maasse,  also  ganz  oder  theilwcisc  Kostendeckung  dadurch, 
demgemässe  specicllo  Entgeltlichkeit  (z.  B.  Post);  Princip  des  privatwirthschaftlichcn 
Erwerbs  mit  Reinertragserstrebung  eventuell  Uber  die  Kosten  (incl.  Zins  des  Kapitals) 
hinaus  (z.  B.  Staatsbahnen);  endlich  unter  Umständen  selbst  besteuerungsartige  finan- 
zielle Ausnutzung  durch  entsprechende  Regelung  der  Benutzungstarife  (z.  B.  älteres 
Postwesen,  ältere  Finanzrcgale,  heutige  Monopole,  wie  Tabak,  „Finanzielle  Frage“). 
Nach  diesen  Gesichtspunctcn  sind  die  allgemeinen  und  specicllen  Fragen  auch  von 
mir  in  der  Finanzwissenschaft  in  den  hierher  gehörigen  Abschnitten  von  dem  Privat- 
erwerb und  den  Gebühren  behandelt  worden.  S.  bes.  Fin.  I,  3.  A..  §.  201,  21S, 
II,  2.  A.,  §.  49,  und  daselbst  weiter  bei  den  einzelnen  Zweigen  die  Erörterung  der 
vier  Fragen. 


902 


G.  B.  Staat  3.  K.  Ausdehn.  d.  öff.  Thätigkeiten.  §.  368. 


Eine  allgemeine  Entwicklungstendenz  der  Staats- 
und  der  gesammten  „öffentlichen“  Thätigkeit  auf  dem  Gebiete  des 
zweiten  Staatszwecks  lässt  sich  indessen  gleichwohl  durch  Beob- 
achtung constatiren  und  aus  den  Verhältnissen  des  Volkslebens 
auf  höheren  Culturstufcn  auch  erklären  und  begründen,  und  diese 
Tendenz  ist  wie  gesagt  im  Ganzen  auch  hier  die  einer  stetigen 
Ausdehnung  der  öffentlichen  Thätigkeit. 

B.  — §.  368  [176].  Specielle  Gebiete.  1.  Sachgtiter- 
production.  Am  Wenigsten  trat  dies  bisher  in  den  modernen 
Staaten  (ebenso  wie  im  Alterthum  und  Mittelalter)  in  der  gewöhn- 
lichen Sachgüter  production  hervor.  Hier  ist  vielmehr 
mannigfach  eine  gerade  entgegengesetzte  Entwicklungstendenz 
wahrzunehmen. 

Der  Grund  und  Boden  ist  immer  mehr,  und  zum  Theil  aus  inneren,  mit 
der  Steigerung  der  Intcnsivität  der  Landwirtschaft  zusammenhängenden  Gründen  in 
Privathände  und  bei  diesen  in  volles  Privateigenthum  Ubergegangen.  (Siehe 
Abth.  II  in  der  2.  Aull.  Kap.  4,  vom  Grundeigenthum.)  Handwerke,  Fabriken, 
Handelsgeschäfte  wurdeu  stets  und  werden  vollends  beute  fast  ausschliesslich  von 
den  Privatwirtschaften  betrieben.  Auch  die  Fi nan  zv  erwaltung  erwirbt  ihr  Ein- 
kommen immer  weniger  privat  wirtschaftlich,  immer  mehr  steuerwirth- 
schaftlich  (Fin.  I,  3.  A.,  §.  217).  Der  Realbedarf  des  Staats  an  gewissen 
naturalen  Gütern,  z.  B.  selbst  derjenige  für  die  Kriegsmacht,  wird  auch  vielfach  nicht 
mehr  eigens  producirt,  sondern  mittelst  der  Steuereinnahmen  von  anderen  Producenten 
eingekauft  (Fin.  I,  §.  16S).  Man  hat  aus  solchen  Wahrnehmungen  mitunter  selbst  ein 
Gesetz  abnehmender  Staatsthätigkeit  im  entwickelteren  Volke  abgeleitet.  So 
wiederum  sehr  allgemein  in  der  späteren  Smith’schen  Schule,  besonders  auch  in 
der  Finanzwissenschaft  derselben.  Vgl.  z.  B.  Pfeiffer’s  Staatseinnahmen  I, 
94  ff.:  principiello  Forderung  der  Beseitigung  aller  privatwirthschaftlichen  Einnahmen 
des  Staats.  S.  dagegen  meine  Fin.  I,  2.  A.,  §.  275,  3.  A.,  §.  300.  Aber  selbst  bei 
Schäffle  findet  sich  der  kaum  haltbare  Satz  in  der  2.  Aull,  seines  Systems  noch: 
„im  Allgemeinen  ist  zu  bemerken,  dass  das  privatwirthschaftlichc  System  in  steigendem 
Grade  fähig  wird,  immer  mehr  Aufgaben  wirtschaftlich  zu  lösen,  als  es  bisher  für 
dieselbe  Aufgabe  durch  Gemcinwirthschaften  geschah“  (§.  178,  S.  335). 

Allein  man  darf  solche  Fälle  auch  auf  diesem  Gebiete  nicht 
unrichtig  verallgemeinern.  Selbst  jetzt  schon  sind  viele  andere 
entgegengesetzte  Erscheinungen  zu  verzeichnen  und  eine  weitere 
Entwicklung  in  dieser  Richtung  einer  Ausdehnung  der  Staats- 
oder wenigstens  der  Thätigkeit  öffentlicher  Körper  auch  auf  dem 
Gebiete  der  Sachgüterproduction  lässt  sich  aus  triftigen  Gründen 
als  wahrscheinlich  bezeichnen. 

Ein  entscheidendes  Hauptmoment  dafür  ist  die  Um- 
gestaltung der  Production  stechni  k (Dampf!  u.  a.  m., 
§.  283),  welche  „öffentliches“  Grund-  und  Kapitaleigenthnm 
und  „öffentliche“  Sachgüterproduction  mit  demselben  bereits 
gegenwärtig  vielfach  möglich  gemacht  und  thatsächlich  herbeige- 
führt hat,  auch  dies  muthmaasslich  weiter  thun  wird.  Denn  mit 


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Specielle  Gebiete.  Sacbgüterproduction. 


903 


diesem  Wechsel  der  Productionstechnik  wird  der  öffentliche  Staats-, 
Communalbetrieb  ökonomisch -technisch  leichter  möglich,  hat  er 
in  dieser  Hinsicht  weniger  Bedenken  und  specifische  Vorzüge  und 
umgekehrt  der  Betrieb  durch  Privatwirthschaften,  öfters  durch  die 
allein  hier  zweckmässigen  grossen  Erwerbs-  (Acticn-)  Gesellschaften, 
wird  ökonomisch-technisch  nicht  leistungsfähiger  und  socialpolitisch 
ungünstiger  als  jener  öffentliche.  Die  etwaigen  politischen  Be- 
denken solcher  Entwicklung  werden  durch  politische  und  ander- 
weite  Vortheile  ausgeglichen. 

Die  Privatwirthschaften  werden  auch  bereits  mehrfach  durch  diese  Betriebe 
verdrängt  (Verkehrsanstalten!).  Sie  zeigen  sich  in  vieler  Hinsicht  unfähig,  die  un- 
geheuren Kapitalien  des  modernen  Productionsprocesses  ri ch tig  zu  verwalten:  Zeuge 
des,  die  spcculative  Vergeudung  und  Missleitung  der  Kapitalien  in  den  Perioden  der 
Ueberspeculation,  die  furchtbaren  Rückschläge  in  den  Absatz-  uud  Creditkrisen  hinterher, 
die  Wechselfälle  der  Conjunctur  — lauter  Momente,  welche  der  Staats-  und  Com- 
munalthätigkeit,  d.  h.  der  g emei n wirtschaftlichen  Productionsweisc  indirect  Vor- 
schub leisten  (S.  o.  §.  283,  295,  Fin.  I.  Buch  3 vom  Privaterwerb.  Fin.  II,  2.  A., 
Buch  4 von  den  Gebühren,  wo  Belege). 

Der  entwickelte  Staat  wählt  nur  mit  Hecht  sorgfältiger 
diejenigen  Saehgüterproductionszweige  aus,  für  welche  der  Staats- 
betrieb in  technisch-ökonomischer  Hinsicht  sich  am  Meisten 
eignet,  gewisse  Vorzüge  besitzt,  gewisse  Nachtbeile,  verglichen  mit 
anderen  Wirtschaften  nicht  besitzt. 

So  sehen  wir  den  Staat  allerdings  bis  in  die  neueste  Zeit  vom  Landwirth- 
schafts-,  Fabrik-  und  Handelsbetrieb  immer  mehr  zurücktreten.  Aberden 
Forstbetrieb  zieht  er  um  so  mehr  an  sich  (Fin.  I,  3.  A.,  §.  236  ff.),  einzelne 
Arten  des  Bergbaus  behält  er  wenigstens  mitunter  (eb.  §.  249,  250),  manche  Bank- 
geschäfte (ob.  §.  259  ff.),  welche  sich  an  den  Handel  anschlicssen,  übernimmt  er. 
Versicherungsgeschäfte  könnten  sich  anreihen.  Seinen  Finanzbedauf  deckt 
der  Staat  allerdings  mit  Recht  immer  mehrdurchStcuern,  aber  dicUeberschüsse 
der  Forsten,  Staatseisenbahnen  und  anderen  Vorkehrsanstalten  (Post), 
des  Bergbaus  sind  und  bleiben  ein  wichtiger  Einnahmeposten.  Die  Erhebung  von 
Verbrauchssteuern  in  der  Form  eines  Monopols  (Salz,  Tabak)  bewirkt  weitere  um- 
fassende Thätigkeiten  des  Staats  in  der  Sachgüterproduction,  ja  die  Einrichtung 
moderner  Tabakregalverwaltungcn,  wie  z.  B.  der  französischen,  stellt  förmlich  ein  Stück 
gelungener  „socialistischer  Organisation  der  Arbeit“  dar  (vgl.  Fin.  II.  2.  A.,  §.  108). 
Der  Bedarf  an  Sachgütern  wird  für  viele  Verwaitungs/.weige  allerdings  durch  Einkauf 
bei  Privatwirthschaften  gedeckt,  aber  in  grossem  Umfange  immer  noch  durch  Eigen- 
production,  so  in  der  Verwaltung  des  Heers  und  der  Flotte  noch  vielfach,  in  neuen 
Zweigen,  z.  B.  dem  Eisenbahnwesen,  aus  Zweckmässigkeitsgründen  öfters  ebenfalls 
(Maschinenfabriken  für  einzelne  Gegenstände  des  Bahnbedarfs,  Reparaturwerkstätten). 

So  möchte  im  Ganzen,  namentlich  unter  Berücksichtigung 
der  Gebiete  der  Verkehrsanstalten,  des  Wegebaus,  Eisen- 
bahn baus,  im  entwickelten  modernen  Staate  schon  jetzt  eine 
grössere  Staatsthätigkeit  in  der  Sphäre  der  materiellen 
Production  stattfinden,  als  früher. 

Es  ist  dios  u.  A.  auch  deshalb  noch  besonders  wichtig  und  beaebtenswerth, 
weü  hiernach  der  Staat  auch  als  der  weitaus  grösste  Arbeitgeber  im  Gebiete 
der  materiellen,  physischen  Arbeit  in  der  Volkswirtschaft  erscheint,  nicht  nur 


904 


0.  B.  Staat.  3.  K.  Ausdehn.  d.  öff.  Thätigkeiten.  §.  369. 


in  demjenigen  der  geistigen  Arbeit,  wo  er  oft  für  bestimmte  Arbeitsarten  der 
einzige  oder  fast  einzige  Arbeitgeber  ist  (Beamtenthum),  ciue  Thatsache  vou  nicht  zu 
unterschätzender  Bedeutung  für  die  sog.  Arbeiterfrage,  besonders  die  Lohnfrage.  (Vgl. 
E.  Laspeyres  im  Staatswörterb.  X,  77.  Kud.  Meyer  in  seinem  Emancipations- 
kampf  I,  387.)  In  Kaiser  Wilhelm’»  II.  Botschaft  vom  Februar  1890  war  einer  der 
schönen  Gesichtspunctc : die  staatlichen  Bergbauunternchinungen  zu  wahren  Moster- 
anstalten  zu  machen,  grade  auch  bezüglich  der  Fürsorge  für  die  Arbeiter.  Cnd 
viel  ist  z.  B.  grade  im  prcussischen  Saar  - Kohlenbergbau  in  dieser  Hinsicht  ge- 
leistet worden. 

Je  mehr  aber  jene  productionsteehniscben  Momente  zur  Geltung 
kommen  und  je  weniger  sich  ökonomisch,  technisch  und  social- 
politisch das  privatwirthschaftliche  System  bewährt,  desto  mehr 
werden  Zweige  der  Sachgüterproduction  in  den  dann  immer 
häufigeren  geeigneten  Fällen  an  den  Staat  und  wohl  besonders  an 
die  Commune  übergehen.  Bezügliche  Bestrebungen  treten  neuer- 
dings immer  öfter  hervor. 

ünd  keineswegs  nur  in  socialistischen  Kreisen.  Beispiele  sind:  Einrichtung  der 
Apotheken  als  öffentlicher  Anstalten,  womit  mau  der  ausserordentlich  schwierigen 
Regelung  der  Frage  der  Apotheken  als  privatwirthschaftlichcr  Unternehmungen  ent- 
hoben wurde,  selbst  bei  einem  System  der  Verzeitpachtung ; locale  Vcrkehrsanstalten 
(Pferdebahnen)  an  die  Gemeinde;  Sach-  und  Arbeiter- Versicherungswesen  an  den 
Staat  und  Verbände  u.  a.  in.,  Beleuchtungsunternehmungen  (Gas,  Electricitit)  an 
die  Gemeinde. 

§.  309  [177].  — 2.  Andere  Cnlturgebiete.  Auf  allen 
anderen  Gebieten  des  Cultur-  und  Wohlfahrtszwecks  tritt  die 
Tendenz  einer  extensiven  und  intensiven  Steigerung  der 
Staatsthätigkeiten  vollends  unzweifelhaft  hervor. 

1)  Eine  äussere  Ausdehnung  erfolgt  in  grossem  Umfange 
auf  eine  doppelte  Weise:  es  werden  bisherige  Thätigkeiten 
der  Privatwirtschaften  oder  andrer  Gemein  wirthschaften 
vom  Staate  übernommen  und  es  entstehen  ganz  ueue  Bedürf- 
nisse, für  welche  der  Staat  allein  oder  vorzugsweise  die  Für- 
sorge trägt  So  nimmt  die  zwangsgemeinwirthschaftliche  Be- 
dürfnisbefriedigung durch  die  Vermittlung  des  Staats  absolut 
und  oft  auch  relativ  in  der  Volkswirtschaft  zu. 

Beide  genannte  Fälle  treten  besonders  dann  ein,  wenn  eine  grosse  räumliche 
und  zeitliche  Concentration  und  systematische  Einheitlichkeit  erforderlich  ist 
(§.  378,  379).  Dazu  eignet  sich  thcils  allein  der  Staat,  thcils  hat  die  üebertragung 
solcher  Thätigkeiten  an  die  Privatwirthschaften.  z.  B.  an  Erwerbsgcsellschaften.  ihre 
Bedenken,  weil  leicht  laotische  Monopole  entstehen,  z.  B.  im  Bereiche  der  Vcrkehrs- 
anstalten. 

Die  Ausdehnung  der  Staatsthätigkeit  hängt  auch  öfters  mit 
dem  Bedürfuiss  nach  höheren,  vollkommneren,  feineren 
Leistungen  zusammen,  als  sie  Private  und  andre  Gemeinwirth- 
schaften  liefern  können,  und  mit  der  Notwendigkeit,  den  Er- 
werb sgesichtspu  net  in  der  betreffenden  Thätigkeit  im  sach- 


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Andere  Culturgebiete. 


905 


liehen  Interesse  hinsichtlich  der  Qualität  der  Leistung  oder  mit 
Rücksicht  auf  die  grosse  allgemeine  culturliche  Bedeutung  der 
Thätigkeit  zurticktreten,  mindestens  ihn  nicht  zum  beherr- 
schenden werden  zu  lassen,  daher  zwischen  der  Verwaltung 
nach  privatwirthschaftliehem , Gebühren  -,  gemeinwirthschaftliehem 
Princip,  zwischen  voller  und  theil weiser,  speciellcr  und  genereller 
Entgeltlichkeit  und  Kostendeckung  wählen,  darunter  richtig  com- 
biniren  zu  können,  was  bei  den  eigentlichen  Privatwirthschaften 
theils  gar  nicht  möglich,  theils  sehr  schwierig  ist  (§.  335). 

Z.  B.  im  Gebiete  des  Unterrichts-  und  Bildungswesens,  der  Verkehrsanstalten, 
wo  statt  des  rein  privatwirthschaftlichen  Verwaltungsprincips  nun  das  sog.  Gcbühren- 
princip  angewendet  wird. 

Auch  der  Umstand,  dass  ein  grosser  Kapitalaufwand  für 
die  Einrichtungen  und  Vorkehrungen  zur  Vornahme  der  betreffen- 
den Leistungen  erforderlich  ist  und  dass  hierdurch,  sowie  durch 
die  ganze  Technik  des  Betriebs  die  Ausführung  der  Leistungen 
durch  die  gewöhnlichen  Privatwirthschaften  der  Einzelnen  mehr 
oder  weniger  ausgeschlossen  wird  und  etwa  neben  Staat  und  Ge- 
meinde nur  oder  fast  nur  die  Erwerbs-,  besonders  die  Actien- 
gesellschaft  überhaupt  als  Concurrentin  in  Betracht  kommt,  führt 
im  Interesse  der  Sache  und  um  den  sonst  dominirendeu  Einfluss 
solcher  Gesellschaften  zu  beseitigen,  zur  Uebernahme  der  Leistungen 
auf  den  Staat,  z.  B.  bei  den  grossen  modernen  Verkehrsanstalten, 
oder  wenigstens  auf  die  Provinz,  den  Kreis,  die  Gemeinde.  Darauf 
drängt  auch  die  Wahrnehmung  hin,  dass  das  spcculative  Privat- 
kapital, besonders,  aber  nicht  allein,  in  der  Form  der  Kapital- 
association (Actienwesen),  oftmals  selbst  zu  Vergeudungen,  gewöhn- 
lich aber  wenigstens  zur  örtlichen  und  zeitlichen  Deplacirung  der 
Kapitalien,  damit  zu  grosser  Regellosigkeit  der  Production 
zu  führen  droht.  Die  Kapitalbewegung  wird  von  der  Börse  und 
von  der  momentanen  Conjunctur  ganz  abhängig,  wendet  sich  Ver- 
wendungen zu,  die  überhaupt  nicht  oder  nieht  in  diesem  Umfange 
wahrhaft  volkswirtschaftlich  productiv  sind  und  ist  zeitlich  ausser- 
ordentlich ungleichmäs8ig , eine  Zeit  lang  fieberhaft  erregt,  um 
hinterher  ganz  zu  erschlaffen:  lauter  höchst  nachtheilige  Verhält- 
nisse für  den  Gang  der  Production  und  des  Erwerbs. 

Auf  diese  viel  zu  wenig  beachtete  Seite  der  Frage  der  „öffentlichen“  Unter- 
nehmungsform komme  ich  in  der  2.  Abth.,  u.  A.  auch  bei  den  „socialen  Freiheits- 
rechten“ weiter  zu  sprechen.  Besonders  wichtig  ist  der  Punct  beim  Eisenbahnwesen. 
S.  Fiu.  2.  A.,  I,  §.  233,  236,  256,  3.  A.,  §.  272,  276. 

Wichtigere  einzelne  Beispiele  sowohl  für  die  Uebertragung  bisheriger  Prirat- 
thätigkeiten  auf  den  Staat,  die  Gemeinde  u.  s.  w.  als  für  die  gleich  anfängliche 


906 


6.  B.  Staat.  3.  K.  Ausdehn.  d.  öffentl.  Thätigkeiten.  §.  370. 


üebernahme  von  Leistungen  für  neue  Bedürfnisse  auf  den  Staat,  in  welchem  Falle 
öfters  die  Analogio  der  erforderlichen  neuen  zu  alten  bestehenden  Einrichtungen 
maassgebend  ist,  sind:  Schulen,  besonders  höhere  oder  Specialschulen,  technische. 
Real-,  neben  classischen  Schulen  und  Universitäten;  Telegraphen  (sehr  charac- 
teristisches  Beispiel:  die  Cebcrnahme  der  Telegraphie  mittelst  Abkaufs  der  Privat- 
gesellschaften auf  den  Staat  sogar  in  Grossbritauuien  1869)  und  Eisenbahnen 
neben  Posten;  städtische  Verkehrsanstalten  (Pferdebahnen  und  locale  Dampf-, 
clectrische  Bahnen);  Gas-  und  Wasserwerke  (so  in  Berlin  mittelst  Auskaufs  der 
betreffenden  Gesellschaft,  Fin.  II,  1.  A,  §.  314);  Banken  (Zeftelbanken,  Sparcassen, 
Hypotheken-  und  Grundcrcditbanken) ; Versicherungswesen  (Peusionscassen, 
Lebens-,  Feuerversicherung)  und  viele  andro  mehr. 

2)  Eine  intensive  Steigerung  der  Staatsthätigkeiten  auf 
diesem  Gebiete  liegt  noch  mehr  in  der  nothwendigen  Entwicklung 
auf  der  einmal  betretenen  Bahn,  als  die  äussere  Ausdehnung  jener 
Thätigkeiten.  Denn  der  Civilisirungsprocess  bewirkt  immer  steigende 
Anforderungen  hinsichtlich  der  Befriedigung  der  bezüglichen  Ge- 
mein- und  Culturbedürfnisse:  dieselben  müssen  allgemeiner, 
reichlicher,  vollkommener  befriedigt,  leichter  zugänglich,  die 
Befriedigung  dem  Einzelnen  wohlfeiler,  wenn  nicht  unentgeltlich 
möglich  werden. 

Daher  z.  B.  mehr  Schulen,  mehr  und  gleichzeitig  schwächer  besetzte  Classen 
darin , mehr  wissenschaftliche  Arbeitsteilung  unter  den  Lehrkräften ; feinere  Aus- 
bildung der  Verkchrsanstaltcn,  mehr  Post-  und  Telegraphen  bureaux,  häufigere  Be- 
förderungsgelegenheiten, raschere  und  sicherere  Beförderung;  sorgfältigere  Wahr- 
nehmung aller  Gcsundheitsintcrcssen  der  Bevölkerung,  namentlich  der  unteren  Classen, 
welche  sich  nicht  allein  schützen  können  (öffentliches  Gesundheitswesen,  Fabrikaufsicht); 
wachsende  Theilnahme  der  Masse  der  Bevölkerung  an  wichtigen  Culturgutern  (Unter- 
richt, Bildungsmittel)  u.  s.  w. 

IV.  — §.  370  [178],  Zeitweilige  Stabilität  in  der 
Entwicklung  der  öffentlichen  Thätigkeiten.  Finanzielle 
Hemmungen.  Auch  in  den  modernen  Staaten  kommen  Zeiten 
grösserer  Stabilität  der  Staatsthätigkeiten,  besonders  auf  dem 
Cultur-  und  Wohlfahrtsgebiete,  vor.  Daran  pflegen  politische, 
sodann  namentlich  finanzielle  Verhältnisse  Schuld  zu  sein. 

Eine  schwierige  Finanzlage  hemmt  natürlich  einen  Entwicklungsprocess,  welcher 
gewöhnlich  nothwendig  mit  dem  stärkeren  Hervortreten  der  Stcuerwirthscbaft  ver- 
bunden ist,  soweit  nicht  Gebührenerträge  und  Privaterwerbs- Uebcrschüsse  sichere 
Kostendeckung  verheissen.  Aber  auf  solche  Perioden  der  Stabilität  pflegen  Zeiten 
eine.r  um  so  rastloseren  Ausdehnung  der  Staatsthätigkcit  zu  folgen  (in  West-  und 
Mitteleuropa  184$  ff.  verglichen  mit  1815 — 1848).  — Nicht  selten  wird  von  ihren  Geg- 
nern der  sogen,  constitutioneilen  gegenüber  der  älteren  absolutistischen  Aera  unserer 
modernen  Staaten  der  Vorwurf  grösserer  Kostspieligkeit,  d.  h.  stark  steigenden  Staats- 
bedarfs und  daher  zunehmender  Steuerbelastung  gemacht.  Die  bezüglichen  That- 
saclien  sind  nicht  falsch,  aber  die  Erklärung  ist  unrichtig  und  tendenziös:  die  con- 
stitutionellc  Aera  begünstigt  und  ermöglicht  die  nothwendige  und  im  Gesammtinteresse 
liegende  Entwicklung  der  staatlichen  Gemeinwirthscbaft  und  darf  die  Beschaffung  der 
Mittel  dafür  durch  Steuern  leichter  als  die  absolutistische  Zeit  wagen.  Aehnliches 
gilt  vom  Einfluss  der  neueren  Gemeinde-,  Kreis-,  Provinzialordnungen.  Wie  sofort 
finanzielle  Hemmungen  einen  momentanen  Stillstand  oder  ein  langsameres  Tempo  der 
dargestellten  Bewegung  bewirken,  zeigte  z.  13.  die  Lage  Ende  der  1870er  Jahre  in 
Deutschland,  spcciell  in  Prcusscn,  r.jd  wiederum  1892  ff. 


■a. 


i 


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Zeitweilige  Stabilität  Finanzielle  Hemmungen. 


907 


Umgestaltungen  der  wirtschaftlichen  Rechtsordnung  mitUeber- 
nahme  bisheriger  Privatthätigkeiten  durch  den  Staat  (die  Gemeinde 
u.  s.  w.)  sind  ferner  öfters  mit  bedeutendem  einmaligen,  in  kurzer 
Zeit  sich  zusammendrängenden  Finanzbedarf  verbunden,  weil 
wohlerworbene  Privatrechte  gegen  Entschädigung  abgelöst 
werden. 

S.  o.  §.  32S  und  2.  Abtb.  der  Grundlegung  (in  der  2.  Aull.,  Kap.  5).  Fälle 
dieser  Art  sind  in  unseren  Tagen  in  besonders  grossem  Umfange  vorgekomtnon  zur 
Herstellung  volkswirtschaftlicher  Verkehrsfreiheit  (s.  Dietzel,  Syst, 
der  Staatsanleihen,  S.  106;  meine  Ordnung  des  österr.  Staatshaushalts,  S.  5),  wobei 
dann  immer  neben  finanziellen  Leistungen  umfassende  Thätigkeitcn  des  Staats  im 
Gebiete  der  Gesetzgebung  und  Verwaltung  zur  Durchführung  der  erforderlichen 
Maassregeln  zeitweilig  oder  bleibend  geboten  sind , z.  B.  Einrichtung  von  Com- 
missionen für  die  Regelung  der  gutsherrlich-bäuerlichen  Lasten,  für  Zehntablösung, 
für  „Auseinandersetzung“,  für  Gemeinheitstheilung  und  Zusammenlegung  der  Grund- 
stücke u.  dgl.  m.  Wichtigere  Beispiele  sind:  Ablösung  von  Feudallasten,  bäuerlichen 
Grundlasten,  Zehnten,  Realgerechtsamen,  Monopolen;  von  Zollrcchtcn  u.  s.  w.  (z. B.  Ab- 
lösung der  Sund-,  Stade-,  Scheldezölle  mittelst  internationaler  Verträge ; Entschädigung 
Mecklenburgs  für  die  Aufhebung  der  Elbezölle  auf  Kosten  des  Norddeutschen  Bunds); 
von  Sclavereiaufhebung  nicht  zu  reden  (Verwendung  von  20  Mül.  Pfd.  St.  Seitens 
Englands  zur  Entschädigung  der  Sclavenbesitzer  in  seinen  westindischen  Colonien  für 
die  Aufhebung  der  Sclavcrei  im  Jahre  1833).  Die  Uebernahmc  von  Privatposten 
(Ablösung  der  Thum-  undTaxis’schcn  Postrechto  inTheilen  des  Gebiets  der  Norddeutschen 
Bunds  mit  3 Mill.  Tblr.  durch  Gesetz  vom  16.  Februar  1867),  von  Privat -Telegraphen 
(England),  -Eisenbahnen  (Deutschland),  (s.  Fin.  I,  3.  A.,  §.  279,  mit  vielen  Einzel- 
heiten^, -Canälen,  -Dampfschifffahrten  (z.  B.  Auskauf  der  Bodensee- Dampfschiflfahrts- 
Gesellschaften  durch  süddeutsche  Staaten)  u.  s.  w.  bewirkt  dann  auf  einmal  eine 
grosse  Ausdehnung  der  Staatsthätigkcit  und  Steigerung  des  Finanzbedarfs. 

Aeknliche  Ereignisse  werden  immer  wieder  von  Neuem  Vor- 
kommen, wenn  bestimmte  Arten  des  Privateigentbums, 
besonders  des  G ru ndeigenthums,  und  gewisse  privatwirth- 
schaftlicbe  Unternehmungen  in  der  Fortentwicklung  der 
Volkswirtschaft  mit  dem  öffentlichen  Interesse  (wozu  auch  das 
staatliche  Finanzinteresse,  z.  B.  in  der  Monopolfrage  [Tabak]  ge- 
hören kann)  in  Conflict  kommen  und  die  genügende  RechtsregeluDg 
der  Objecte  und  Betriebe  in  Privathänden  zu  viel  Schwierigkeiten 
macht  oder  ganz  unmöglich  ist.  Solche  Verhältnisse  werden  aber 
durch  die  Consequenzen  des  absoluten  Privateigenthums  und  der 
rücksichtslosen  freien  Concurrenz  stets  von  Neuem  in  wichtigen 
Fällen  heraufbeschworen  (Eisenbahnen ! Auch  bei  grossstädtischem 
Grundeigenthum,  Kohlenbergwerken,  z.  B.  England,  kann  die  Frage 
hervortreten). 

Die  augenblickliche  Finanzlage  mag  den  Process  des  Ucber- 
gangs  des  betreffenden  Eigenthums  auf  den  Staat  (und  die  Ge- 
meinde) vorübergehend  hemmen , wie  sich  z.  B.  längere  Zeit 
in  der  verschiedenen  Eisenbabnpolitik  finanziell  günstig,  wie  Deutsch- 
land, und  ungünstig,  wie  Oesterreich  und  Italien,  situirtcr  Staaten, 


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908 


6.  B.  Staat.  4.  K.  Prävcntivprincip.  §.  371. 


Mitte  der  siebziger  Jahre  auch  in  dem  Stocken  der  „Verstaat- 
lichung“ der  Privatbahnen  selbst  in  Preussen  zeigte,  aber  auf  die 
Dauer  gewiss  nicht.  Deshalb  wird  immer  wieder,  unter  Voraus- 
setzung dauernder  Fortschritte  der  Cultur  und  Volks wirthschaft 
eines  Volks,  das  Gesetz  der  wachsenden  Ausdehnung 
der  Staats-  und  andrer  z wangsgemeinwirthschaftlichen 
Thätigkeit  Geltung  erlangen. 


Viertes  Kapitel. 

Das  Gesetz  des  Vorwaltens  des  Präventivprincips 
im  entwickelten  Rechts-  und  Culturstaate. 

§.  371  [S.  325].  Vorbemerkungen.  Audi  hier  handelt  es  sich  um  eine 
eminent  politische  Frage,  die  vom  volkswirtschaftlichen  und  finanziellen  Gesichts- 
punct  noch  viel  zu  wenig  erörtert  ist.  Einzelne  Bemerkungen  passim  bei  Schaf  fl  e, 
L.  Stein  und  in  Realpolitiken , wie  derjenigen  von  II.  Esch  er.  Für  den  llaupt- 
punct,  das  Heerwesen,  s.  L.  Stein,  Lehre  vom  Heerwesen,  als  Theil  der  Staats- 
wirthschaft,  Stuttg.  1874,  wo  aber  die  mir  wesentlich  erscheinenden  volkswirtschaft- 
lichen Gesichtspuncte  dieses  Kap.  4 fehlen.  Die  Verwaltung  des  Heerwesens  wird 
von  Stein  hier  doch  überwiegend  von  ihrer  formellen,  nicht  von  ihrer  materiellen  Seite 
behandelt.  Die  Erörterungen  aber  „Nationalökonomie  und  Militärwirthschaft“  S.  215  ff. 
sind  viel  zu  einseitig,  — wenn  z.  B.  das  Heer  „nothwendig  und  immer  uur  ein 
consuinirender  Körper”  genannt  und  gesagt  wird,  es  gebe  „keine  Nationalökonomie 
des  Heerwesens“  (S.  210).  Das  Heer  als  wesentlichster  Garant  der  Sicherheit  und 
Unabhängigkeit  des  Volks,  des  Staats  und  der  Volkswirtschaft  ist  im  eminenten  Sinne 
ein  productiver  Körper.  Vgl.  dagegen  meine  Fin.  1,  3.  A.,  §.  182  ff.,  auch  über 
die  eigentümliche  zeitliche  Verteilung  des  Heeresaufwands  bei  dem  Präventiv- 
princip.  Lehrreich  als  grossartiges  Beispiel  der  Praxis  für  einige  der  wichtigsten 
Gesichtspuncte  dieses  Kapitels  ist  das  eigentliche  Kriegsfinanzwesen,  in  derZeit 
der  Kriegsführung  und  der  Wiederherstellung  der  Kriegsmacht  nach  dem  Frieden. 
Eine  eingehende  qucllenmässigo  Darstellung  des  deutschen  Kriegsfinanzwesens  im 
letzten  deutsch-französischen  Kriege  von  1870 — 71  liefert  der  betrelfendo  Abschnitt  in 
meiner  Abh.  Reichsfinanzwesen  iu  v.  Holtzendorff’s  Jahrbuch  des  Deutschen 
Reichs  III,  1S74,  S.  02 — 160.  Vgl.  hier  u.  A.  die  Erörterung  über  Prävention  und 
Repression  im  Heerwesen.  S.  120 — 123.  Das  legislative  und  Verordnungsmatcrial  für 
das  deutsche  Heer  stellt  übersichtlich  zusammen:  v.  Briesen,  das  Reichskriegswesen 
und  die  preussische  Militärgesetzgebung,  Düsseldorf  1872. 

Heerwesen  und  militärische  Leistungen  sind  der  wichtigste  Fall, 
welcher  zur  Erläuterung  der  hier  aufgestellten  Grundsätze  und  Regeln  dienen  kann. 
Bei  J ustiz,  Polizei,  anderseits  bei  Gebieten  wie  dem  öffentlichen  Gesundheits- 
wesen liegt  aber  im  Princip  dieselbe  Entwicklung  vor  Namentlich  die  neueren 
naturwissenschaftlichen  Fortschritte  auf  dem  Gebiete  der  Erkenntniss  von  Krankheits- 
ursachen und  Bedingungen  führen  hier  nothwendig  neben  oder  vor  Repressiv  maassregeln 
zu  grossen  zusammenhängenden  Präveutiveinricbtungen , um  Verbreitung  von  Krank- 
heiten zu  verhüten  (Bekämpfung  des  Choletabacillus,  der  Reblaus,  des  Colorado- 
käfers u.  s.  wX  Im  öffentlichen  Gesundheitswesen  wird  so  das  Sanitätswesen 
als  Einrichtung  zur  Verhütung  der  Krankheiten  oder  als  voraemlich  Prkvcntiv- 
veranstaltung  auch  hier  vor  das  Med  icinal  wesen  als  Einrichtung  der  Heilung 
der  Krankheiten  und  Rcprcssivvcranstaltung  treten  und  immer  wichtiger  (vergl. 


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Veränderung  in  der  Art  der  Durchfuhr,  d.  Staatszwecke. 


909 


L.  Stein 's  Verwaltungslohre,  Gesundheitswesen).  Wichtig  sind  für  die  liier  be- 
handelten Fragen  auch  die  Beziehungen  zwischen  Prävention,  Repression  und  Ver- 
sicherung. S.  darüber  Em.  Herrmann,  Principien  der  Versicherung,  und  meine 
Abh.  Versicherungswesen  im  Schönberg  sehen  Handbuch,  B.  III.  S.  jetzt  auch  Fiu., 
2.  und  3.  A.,  I,  §.  37. 

I.  — §.  372  [179].  Veränderung  in  der  Art  der  Durch- 
führung der  Staatszwecke.  In  der  Art  und  Weise,  in 
welcher  der  Staat  seine  Thätigkeiten  ausführt,  zeigt  sich  der  Be- 
obachtung dasselbe,  wesentlich  unter  dem  Einfluss  der  fort- 
schreitenden Technik  stehende  Gesetz  wie  im  Productions- 
process  der  ganzen  Volkswirtschaft  überhaupt:  der  Kapital- 
factor,  besonders  das  stehende  Kapital,  hier  in  dauernden 
festen  Einrichtungen  und  Veranstaltungen  bestehend,  und  die 
qualificirte  Arbeit  treten  immer  mehr  hervor.  Die  steigen- 
den Anforderungen  an  die  Qualität  der  Leistungen  bedingen 
dies  mit. 

Bei  den  Thätigkeiten  des  Staats  im  Gebiete  der  SachgUterproduction  bedarf  dies 
keiner  weiteren  Erklärung.  Schon  die  gewöhnlich  zugelassene  Concurrenz  der  Privat- 
wirthschaften  nöthigt  hier  zur  gleichen  Entwicklung  der  Technik.  Die  Leistungen 
zur  Durchführung  des  Cultur-  und  Wohlfahrtszwecks  erfordern  aber  gleichfalls  vielfach 
grosse,  kapitalbedürftige  Veranstaltungen  (Verkehrswesen,  Unterrichtsweseu , Sanitäts- 
wesen, Medicinalwescn),  wobei  dieselbe  Entwicklung  nöthig  wird. 

Besondre  Beachtung  verdient  indessen  der  Entwicklungsgang 
der  Production  derjenigen  Leistungen,  welche  den  Rechts-  und 
Machtzweck  durchführen.  Hierbei  waltet  aus  zwingenden  wirt- 
schaftlichen und  diesem  Zweck  entspringenden  Gründen  im  fort- 
schreitenden Volke  und  Staate  immer  mehr  das  Präventiv-  statt 
und  neben  dem  blossen  Repressivprincip  ob.  Die  Verwirk- 
lichung des  Präventivprincips  aber  führt  nothwendig  wieder  zu 
vorwaltender  Wirthschaft  mit  Kapital,  stehendem  Kapital 
und  qualif  icirter  (berufsmässiger)  Ar  beit  (Beamtenthum, 
stehendes  Heer).  Der  Erklärungsgrund  für  das  Hervortreten  der 
Prävention  liegt  in  der  Dringlichkeit  des  Bedürfnisses  im  ent- 
wickelten Volks-  und  Staatsleben,  dass  Rechtsstörungen  überhaupt 
möglichst  vermieden,  nicht  erst  hinterher  durch  Repression  wieder 
beseitigt  werden. 

II.  — §.373  [180].  Prävention  und  Repression.  A.  Im 
Allgemeinen.  Die  Idee  des  Rechts  und  der  Rechtsordnung 
stellt  das  Abhandensein  von  Rechtsstörungen  und  der 
Furcht  davor  im  Inneren,  wie  nach  Aussen  zu,  zwischen  den 
Völkern  und  Staaten,  als  das  nothwendige  Ziel  der  Entwicklung 
hin.  Dieses  Ziel  wird  am  Vollkommensten  durch  die  Gesittung 
erreicht,  indem  der  freie  Wille  der  einzelnen  Menschen  rechts- 

A.  Wagner,  Grundlegung.  3.  Auflage.  1.  Theil.  Grundlagen.  55> 


/ 


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910 


G.  B.  Staat.  4.  K.  Präventivprincip.  §.  373. 


störende  Handlungen  unterlässt.  Soweit  aber  die  Gesittung  (Sitt- 
lichkeit, Sitte)  hierzu  nicht  ausreicht,  ist  das  Zwangsprincip 
des  Rechts,  in  der  Staatsmacht  verwirklicht,  unentbehrlich,  um 
sich  dem  Ziele  soweit  als  möglich  zu  nähern. 

Der  Staatszwang  kann  nun  indirect  und  direct  einwirken. 
Jenes,  indem  der  Staat  Vorkehrungen,  Einrichtungen  und  An- 
stalten schafft,  um  Rechtsstörungen  von  vornherein  zu  verhüten: 
der  auf  solche  gerichtete  Wille  der  Menschen  schreitet  aus  Furcht 
oder  aus  der  Ueberzeugung  der  Aussichtslosigkeit  des  Ge- 
lingens gerade  wegen  der  Maassnahmen  des  Staats  nicht  zu  den 
rechtsstörenden  Handlungen  selbst.  (Mitunter  handelt  es  sich  auch 
um  den  Fall,  dass  bedenkliche  Unterlassungen  auf  diese  Weise 
unterbleiben.)  Der  Staat  kommt  hier  den  Rechtsstörungen  zuvor 
und  handelt  nach  dem  Präventivprincip.  Im  Gegensatz  dazu 
wirkt  der  Staatszwang  direct  ein  mittelst  der  Repression, 
indem  er  die  ein  getretenen  Rechtsstörungen  wieder  gut  macht, 
sühnt,  bestraft,  die  Rechtsordnung  wieder  herstellt. 

Die  Prävention  ist  vom  Standpuncte  des  Rechts  aus  das 
höhere,  vom  Standpuncte  der  Nützlichkeit  und  des  practischen 
Interesses  der  Einzelnen  und  der  ganzen  Volkswirthschaft  aus 
gleichfalls  das  richtigere  und  wichtigere  Ziel.  Das  Streben  muss 
darauf  hinausgehen,  die  Prävention  möglichst  richtig  und  aus- 
reichend zu  machen,  damit  die  Repression  gar  nicht  nöthig  werde. 
Je  höher  die  Volkswirthschaft  und  die  Cultur  entwickelt  sind,  je 
weiter  namentlich  auch  die  Arbeitstheilung,  national  und  inter- 
national, gediehen,  je  complicirter  die  Verhältnisse  und  Formen 
des  Verkehrs  werden  (Creditwirthschaft ! §.  189,  Weltwirthschafts- 
verkehr!  §.  152  ff),  desto  nothwendiger  wird  nun  die  Prävention, 
weil  die  einmal  eingetretene  Rechtsstörung  viel  schädlicher  wirkt. 
Das  Bedürfniss  nach  umfassendster  Präventivthätigkeit 
des  Staats  wird  daher  mit  dem  Fortschritte  des  Volks  und 
seiner  Wirthschaft  immer  dringlicher  (störender  Einfluss 
von  Kriegen  auf  die  ausgebildete  Volkswirthschaft,  auf  ihre  Function 
in  der  Weltwirtschaft!). 

Die  Bedingungen  dafür,  dass  die  Prävention  zweckmässiger 
und  auch  allgemein  ökonomisch  räthlicher,  als  die  Beschränkung 
auf  Repression  werde,  treten  aber  erst  bei  höherer  Entwicklung 
des  Volks  und  der  Volkswirthschaft  ein.  Dann  wird  auch  die  Er- 
füllung der  Anforderungen,  welche  die  Prävention  stellt,  erst  raög- 


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Prävention  und  Repression  im  Allgemeinen. 


911 


lieh.  Zugleich  bietet  die  Einrichtung  der  Prävention  jedoch  grössere 
Schwierigkeiten  als  diejenige  der  blossen  Repression. 

Die  Prävention  erheischt  ein  umfassendes  System  von  Einrichtungen  und  Ver- 
anstaltungen. Schon  die  Entwerfung,  vollends  die  Ausführung  des  Plans  dafür  setzt 
eine  grössere  Entwicklung  der  Bildung  voraus,  theils  der  intellectuellen  Bildung  über- 
haupt, theils  der  technischen  insbesondere.  Jenes  System  muss  einheitlich  möglichst 
weit  räumlich  und  zeitlich  ausgedehnt  werden,  über  das  ganze  Gebiet  der  Volkswirth- 
sehaft  und  über  die  aufeinander  folgenden  Altersclasson  und  Generationen  der  Be- 
völkerung (z.  B.  im  Heerwesen).  Demgemäss  müssen  die  Einzelnen,  die  kleineren 
autonomen  Organe  (Gemeinden),  die  „kleinen  Herren“  und  Herrschaften  erst  dauernd 
und  ausreichend  dem  Staatswillcn,  der  Gesetzgebung  und  der  Zwangsgewalt  des  Staats 
unterworfen  sein,  bevor  ein  solches  System  einheitlicher  Präventiv  maassregeln  mög- 
lich wird.  Der  Sieg  der  Präventivpolitik  auf  dem  Gebiete  des  Rechts-  und  Macht- 
zwecks fällt  daher  in  der  neueren  Geschichte  zeitlich  mit  dem  Siege  der  absoluten 
Fürstengewalt  (17.  Jahrhundert)  zusammen,  wenn  auch  hier  eine  längere  Entwicklung 
in  dieser  Richtung  vorangegangen  ist  (Heeresverfassung).  Mit  der  Fortentwicklung 
des  Volkslebens  und  der  Volks wirthschaft  speciell  wachsen  die  Schwierigkeiten  für 
die  Prävention  aber  wieder,  weil  die  Verhältnisse,  welche  geregelt  und  überwacht 
werden  müssen,  immer  complicirter  werden,  während  gleichzeitig  die  Anforderungen 
an  die  Leistungen  der  Prävention  steigen.  Das  System  von  Maassregeln  und  Ein- 
richtungen zum  Zweck  der  Prävention  wird  dadurch  selbst  immer  grossartiger,  com- 
plicirter, künstlicher,  braucht  immer  mehr  und  bessere  Arbeitskräfte  und  Kapitalien, 
erheischt  deswegen  einen  immer  grösseren  regelmässigen  Finanzbedarf  und  eine  diesen 
beschaffende  umfänglichere  Anwendung  der  Besteuerung,  setzt  daher  auch  stärkeres 
Volkseinkommen  und  Volksvermögen  voraus.  Endlich  muss  aber  das  Präventivsystem 
auch  so  eingerichtet  sein,  dass  der  Uebergang  zur  kräftigsten  Repression,  wenn  er 
etwa  doch  noch  nöthig  werden  sollte,  möglichst  rasch,  ohne  Störungen  und  sicheren 
Erfolg  verheissend.  eintreten  kann.  Die  Repressivthätigkeit  muss  daher  organisch  an 
die  Präventivthätigkeit  sich  anschliessen , aus  ihr  herauswachsen.  Sie  wird  dadurch 
selbst  wieder  ganz  anders  gestaltet,  als  auf  früheren  Stufen  des  Volkslebens,  wo  die 
Prävention  noch  wenig  ausgebildet  ist.  Für  die  ökonomischen  Voraussetzungen  der 
Bevorzugung  der  Prävention  vor  der  blossen  Repression  sind  die  Verhältnisse  lehr- 
reich, welche  auf  dem  Gebiete  des  Sachgüterschutzes  die  Wahl  zwischen  Prä- 
vention und  Repression  bedingen.  S.  darüber  meine  Abh.  Versicherungswesen  im 
Schönberg’schen  Handb.  III,  3.  A„  §.  8 ff.  (S.  951  ff.). 

B.  — §.  374  [181].  Das  Präventivsystem  auf  den 

einzelnen  Gebieten.  Das  grossartigste  Beispiel  für  eine 

rationelle  Entwicklung  in  der  dargelegten  Richtung  liefert  das 
moderne  Heerwesen  der  allgemeinen  Wehrpflicht  über- 
haupt, die  preussisch-deutsche  Wehrverfassung  insbesondere. 
Das  Gesagte  gilt  daher  vorzüglich  von  der  Durchführung  des 
nationalen  Machtzwecks,  wozu  das  Heerwesen  das  Mittel 
ist,  aber  es  ist  principiell  ebenso  richtig  auf  den  anderen  Ge- 
bieten des  Rechtszwecks  und  eine  Menge  Analogien  auf  den  ver- 
schiedenen einzelnen  Gebieten  treten  hervor.  Gleichmässig  zeigt 
sich  Überall,  dass  der  Staat  bei  der  geschichtlich  vorausgehenden 
vorherrschenden  Repression  mehr  nur  sporadisch  von  Fall 
zu  Fall,  wenn  Rechtsstörungen  bereits  wirklich  erfolgt  sind  oder 
wenigstens  unmittelbar  drohen,  Thätigkeiten  zum  Schutze  der 
inneren  Rechtsordnung  und  zur  Sicherung  der  Unabhängigkeit  des 

58* 


912 


6.  B.  Staat  4.  K.  Präventivprincip.  §.  375. 


Volks  nach  Aussen  zu  ergreift.  Bei  (1er  später  vorwaltenden  Prä- 
vention dagegen  schafft  er  feste  stehende  Einrichtungen 
und  Anstalten  für  alle  auch  nur  möglichen  Fälle  von 
Rechtsstörungen,  — Einrichtungen,  welche  einerseits  solche  Störungen 
verhüten,  anderseits  sie  sofort  im  Keim  erdrücken  und  bei  weiterer 
Entwicklung  sie  niederschlagen  sollen. 

Solche  Einrichtungen  sind:  die  gesammte  Justizorganisation  im  Inneren, 
mit  ihren  stehenden  Gerichtshöfen  verschiedener  Instanzen,  statt  der  gelegentlichen, 
höchstens  periodischen  richterlichen  Functionen  früher;  die  Präventiv-  und  Repressiv- 
organisation der  Po  liz  ei  (Behörden,  Gensdarmerie,  Polizeicorps)  statt  der  doch  mehr 
vereinzelten  Th&tigkeiten  zur  Friedensbewahrung  in  älteren  Zeiten  (obwohl  grade  hier 
mit  am  Frühesten  Keime  zu  regelmässiger  Präventivorgauisation  sich  finden):  das 
Gefängnisssystem  mit  seinem  grossen  Gebäudekapital,  seinen  Abstufungen  der 
Strafarten  statt  der  freilich  „viel  einfacheren“  Abstrafung  der  Diebe  und  andrer  Ver- 
brecher durch  die  rasch  wirksame  Repressiou  des  Galgens;  der  stehende  diplo- 
matische und  Consulardienst  statt  der  einzelnen  Gesandtschaftsseudungen;  end- 
lich namentlich  die  grossartige  Präventiv-  und  Repressivorganisation  der  stehenden 
Heere  (mindestens  Cadres)  und  Flotten,  in  Verbindung  mit  grossen  bleibenden 
Befestigungen,  Lagern,  Arsenalen,  Kriegshäfen,  Kriegsschiffen,  und  mit  Einrichtungen 
zur  vorherigen  kriegerischen  Einübung  und  eventuellen  Einberufung  einer  Reihe 
von  Altersclassen  der  militärisch  geschulten  männlichen  Bevölkerung  zum  wirklichen 
Kriegsdienst,  — statt  der  technisch  unvollkommeneren,  nicht  für  die  vorherige  krie- 
gerische Einübung  sorgenden  älteren  militärischen  Einrichtungen  (Heerbann-Aufruf, 
lehensstaatliche  Wehrverfassung  u.  s.  w.),  statt  der  Requisition  der  Kauffahrteischiffe 
zum  Kriegsdienste  wie  im  Mittelalter  und  statt  der  Fürsorge  für  die  Ausrüstung  (Be- 
waffnung), Verpflegung  der  Mannschaft  nicht  aus  öffentlichen,  sondern  ganz  oder 
grösstentheils  aus  den  Privatmitteln  der  dienstpflichtigen  Leute  selbst.  Die  Analogieen 
auf  dem  Gebiete  des  Sanitäts-  und  Medicinal-,  des  Armen-  und  Wohl- 
t hä tigk ei ts wesens  u.  a.  m.  bieten  sich  leicht. 

III.  — §.  375  [182,  183].  In  volkswirtschaftlicher  und 
damit  eng  zusammenhängend  in  finanzieller  Beziehung  hat  dieses 
Vorwalten  der  Prävention  noch  einige  besonders  beachtenswerthe 
Folgen.  Es  muss 

1)  eine  förmliche  Organisation  des  Staatsdiensts  und 
damit  verbunden  ein  eigenthümlicbes  System  des  Besoldungs- 
wesens, nach  Bedarfs-  und  socialen  Werthtaxirungsscalen,  ein- 
treten,  was  von  der  privatwirthschaftlichen  Regelung  dieser  Ver- 
hältnisse ab  und  in  eine  Art  socialistischer  Ordnung  hinüber 
führt  (§.  300). 

Eine  Reihe  von  Personen  widmet  sich  nach  dem  Grundsätze  fester  Berufsarbeits- 
theilung  ausschliesslich  dem  Staatsdienste,  bildet  sich  für  denselben  eigens  kostspielig 
aus,  damit  sie  den  hohen  Anforderungen  an  die  Qualität  der  Staatsleistungen  ent- 
sprechen können.  Die  Anzahl  dieser  Personen  wächst  mit  der  Ausdehnung  der 
Staatsthätigkeiten  und  mit  der  Einbürgerung  der  Prävention  beständig.  Die  An- 
forderungen an  die  specifische  Ausbildung  steigen  gleichfalls  fortwährend,  besonders 
auch  mit  der  Benutzung  jener  grossen  kapitalistischen  Einrichtungen  und  Anstalten, 
des  Systems  der  Angrifls-  und  Vertheidigungsmittel  (Fernwaffen)  in  Heer  und  Flotte, 
welche  wieder  eigens  qualificirte  Arbeiter  zu  ihrer  Leitung  und  Benutzung  voraus- 
setzen. Der  Staatsaufwand  an  Löhnen  (Gehalten)  wächst  ebenso  relativ  und  absolut, 
zumal  je  ausschliesslicher  die  Arbeiter  im  Dienste  des  Staats  sich  diesem  Dienste 
widmen  müssen.  Der  Staat  wird  „B eamten Staat“,  arbeitet  mit  fest  angestellten. 


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Volkswirthsch.  u.  finanz.  Folgen  des  Präventivprincips. 


013 


berufsmässig  gebildeten,  besoldeten,  pensionsberechtigten  Beamten,  — eine  Entwick- 
lung, welche  grade  durch  die  Präventivthätigkeit  am  Meisten  nothwendig , (Heer, 
Justiz,  Polizei),  und  durch  die  Ausbildung  des  Ehrenamtsdiensts  und  Self- 
governments doch  nur  in  beschränktem  Maasse  aufgehaltcn,  kaum  positiv  zurück- 
gedrängt  wird,  S.  auch  u.  §.  382.  Näheres  über  den  modernen  Staatsdienst, 
mit  besonderer  Rücksicht  auf  die  Besoldungspolitik,  in  Fin.  I,  §.  53  fl'.,  2.  A.,  §.  71  ff,, 
bes,  3,  A.,  §.  152 — 167  von  mir  entwickelt.  Vgl.  namentlich  auch  die  schönen  Er- 
örterungen von  R.  v.  Mohl,  Politik,  in  der  Monographie  „der  Staatsdienst41  II,  347  ff. 
Auch  Laspcyres,  Art.  Staatswirthschaft  im  Staatswörterb.  X,  passim.  Schäffle, 
gesellschaftliches  System,  2.  Aufl.,  II,  209  ff.  Stein,  Ycrwaltungslehre,  Gneist, 
Verwaltung,  Justiz  und  Rechtsweg  (Berl.  1869),  passim.  — Auch  der  „Beamtenstaat44 
ist  daher  in  viel  höherem  Maasse  nothwendiges  Entwicklungsproduct,  als  früher  oft 
angenommen  wurde,  wenn  auch  die  Verfassungs  form  auf  Maass  und  Art  dieser  Ent- 
wicklung ihren  Einfluss  ausübt. 

2)  Ebenso  muss  der  Staat  mit  immer  grösseren,  kostspieligeren, 
technisch  vollkommeneren,  künstlicheren  und  öfters  erst  durch 
Uebung  ordentlich  zu  handhabenden  Kapitalien,  besonders 
stehenden,  wirthschaften , und  zwar  wiederum  zumeist  wegen 
des  Vorwaltens  der  Prävention. 

Hier  handelt  es  sich  theils  um  Grundstücke  (Truppenübungsplätze,  Schiess- 
plätze) und  besonders  um  Gebäude  und  deren  Invontare  für  die  mannigfaltigsten 
Einzelzwecko  der  Staatsverwaltung  (u.  A.  Kasernen  statt  des  früheren  Privatquartiers); 
theils  und  namentlich  um  Werkzeuge  und  Maschinen,  mittelst  deren  auch  der 
Staat  die  Kräfte  seiner  Arbeiter  und  der  Natur  auf  den  bestimmten  Zweck  hinleitet. 
Am  Wichtigsten  ist  wiederum  das  System  der  Kriegsmaschinen,  Werkzeuge 
und  Vorkehrungen  in  den  Angriffs-  und  Verthcidigungsmitteln  des  Land-  und 
Seekriegs  (Vorwalten  der  Fern waffen,  der  Artillerie,  anderseits  die  Vertheidigungs- 
mittcl  im  Festungsbau,  in  der  Panzerung  u.  s.  w.).  Geübtes,  specifisch  ausgebildetes 
Personal  ist  dann  besonders  wieder  für  die  Handhabung  dieses  Kriegsmaterials 
erforderlich. 

Werden  nun  auch  die  Kriege  seltener  und  kürzer,  so  werden 
sie  doch  viel  wuchtiger,  intensiver  geführt  und  verlangen  einen 
ungeheueren  Aufwand  an  Menschenkräften  und  Kapital  (Geld)  für 
die  Führung  selbst  und  hinterher  zum  Wiederersatz  der  zerstörten 
Kapitalien  und  zur  Wiedergutmachung  der  geschädigten  mensch- 
lichen Existenzen  („Retablissement“,  Invalidenpensionswesen). 

Vgl.  Beispiele  iu  meiner  Abh.  Reichsfinanzwesen,  Holtzendorff ’s  Jahrb. 
B.  3 a.  a.  0.,  S.  121,  125  ff.,  141  ff. 

Auch  in  Bezug  auf  das  Vorwalten  der  Prävention  und  auf 
die  damit  verbundene  „Kapital wirthschaft“  und  „Wirthscbaft 
mit  qualificirter  Arbeit“  ist  der  Einfluss  der  fortschreitenden 
Naturerkenntniss  (u.  A.,  wie  gesagt,  auch  im  Gesundheitswesen, 
wo  man  die  Einflüsse  der  „elementaren  Lebensbedingungen“ 
(Stein)  der  Bevölkerung,  Luft,  Licht,  Wasser,  kleinste  Lebewesen, 
Bacillen,  Pilze  u.  s.  w.  immer  mehr  kennen  lernt  und  alsdann  an- 
gemessen das  „Prävenire“  zu  spielen  sucht),  und  der  Einfluss  der 
fortschreitenden  Technik  augenscheinlich  von  entscheidender  Be- 
deutung. Man  muss  dies  erkennen,  um  unbefangen  grossen  ge- 


914 


6.  B.  Staat.  4.  K.  Präventivprincip.  §.  373  ö. 


schichtlichen  Erscheinungen,  z.  B.  dem  System  der  stehenden 
Heere*  und  ihrer  technischen  Einrichtung,  gerecht  zu  werden  und 
den  mitwirkenden  Einfluss  persönlicher  Verhältnisse  in  diesen 
Dingen  nicht  zu  überschätzen,  z.  B.  den  „Machthabern  und  Re- 
gierungen“ nicht  eine  Schuld  am  „Militarismus“  zuzuwälzen, 
welche  sie  nicht  haben.  Hier  und  in  anderen  ähnlichen  Fällen, 
überhaupt  im  „bureaukratischen“  Staate  der  Neuzeit  handelt  es 
sich  um  mächtige  entwicklungsgesetzliche  Erscheinungen,  denen 
gegenüber  der  Wille  der  Einzelnen  ein  Factor  von  untergeordneter 
Bedeutung  ist. 

S.  ineiDen  Aufs,  in  d.  Tüb.  Ztschr.  1879,  S.  75,  S2 , wo  aus  dieser  Auffassung 
die  Folgerungen  für  die  Finanzen  gezogen  werden.  — Auch  Engels,  Dühring's 
Umwälzung,  hat  diese  Frage  ganz  richtig  beurtheilt,  nur  dass  er  zu  früh  eine  Ueber- 
spannung,  z.  B.  des  Militarismus,  annimmt,  worauf  dann  wieder  der  Rückschlag  ein- 
treten  würde.  Den  entscheidenden  Einfluss  der  Technik  entwickelt  er  auch  hier 
meisterhaft,  S.  140  ff. 

3)  Die  wichtige  Folge  des  Präventivprincips  für  die  Höhe  und 
besonders  für  die  zeitliche  Vertheilung  des  Finanzbedarfs 
besteht  dann  im  Unterschied  von  der  Repression  darin,  dass 
dauernd,  hinsichtlich  der  bewaffneten  Macht  auch  im  Frieden, 
ein  verhältnissmässig  hoher,  im  Ganzen  gleichbleibender 
Bedarf  Jahr  für  Jahr  wiederkehrt,  welcher  auch  in  Zeiten  grös- 
serer Rechtsstörungen  (bürgerliche  Unruhen,  Kriege  u.  s.  w.)  doch 
nur  mässig  durch  die  alsdann  stärker  eintretende  Repression 
gesteigert  wird.  Bei  vorwaltender  Repression  ist  dagegen  der 
laufende  Bedarf  geringer,  ungewöhnliche  Störungen  der 
Rechtsordnung  treten  aber  leichter  ein  und  steigern  sodann  direct 
und  indirect  den  Bedarf  ausserordentlich. 

S.  Fin.  I,  3.  A.,  §.  183,  184,  der  Vergleich  zwischen  Preusseu  und  Nord- 
america. Die  Prävention  führt,  weü  sie  in  ruhiger  Zeit  systematisch  eingerichtet 
wird,  auch  zu  viel  grösserer  Sparsamkeit  in  der  Beschaffung  und  Verwendung 
der  Mittel  (Gambetta’s  Kriegsführung  1870 — 71!  Nordamerica  im  Bürgerkrieg. 
S.  v.  Hock,  Fin.  Nordamericas,  Stuttgart  1866,  S.  442  ff.).  Ebenso  ermöglicht  sie 
leichter  eine  geordnete  Besteuerung  und  damit  die  beste  organische  Verbindung 
zwischen  der  staatlichen  Gemeinwirthschaft  und  den  Privatwirthschaften.  L.  Stein, 
Heerwesen.  S.  26  fl'.,  ist  etwas  zu  leicht  über  die  Schwierigkeiten  der  Militärfinanzen 
hingegangen.  Daher  wohl  auch  das  mangelnde  Verständniss  für  eine  grade  kriegs- 
finanziell so  wichtige  Function  einer  (so  sparsamen)  Einrichtung  wie  der  Staats- 
schatz (Finanzwissensch.  3.  Aufl.,  S.  194b  Vgl.  dagegen  meine  Fin.  2.  A.,  §.  66, 
106  ff.,  3.  A.,  §.  75. 

So  verdient  die  Prävention  volkswirtschaftlich,  trotz  der  nicht 
zu  läugnenden  Gefahr  für  die  Volksfreiheit  und  einer  über- 
triebenen Ausdehnung  in  einzelnen  Fällen,  wie  z.  B.  im  Militär- 
wesen , den  Vorzug  und  entspricht  den  Bedürfnissen  der  höher 
entwickelten  Volkswirtschaft.  Jene  Gefahren  aber  müssen  vor- 


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Feststellung  des  Bereichs  der  Staatstbätigkeiten. 


915 


nemlich  wieder  durch  eine  ordentliche  constitutioneile  Budgetwirth- 
schaft  und  mehr  noch  durch  ein  richtiges  Erziehungs-  und  Unter- 
richtssystem beschworen  werden. 

Das,  was  Plato  so  tiefsiunig  durch  die  sorgfältige  Erziehung  der  „Wächter“ 
in  seinem  „Staate“  erreichen  wollte,  ist  heute  eben  wegen  des  Präventivsystcms  und 
der  stehenden  Heere  ein  grösseres  practisches  Bedürfuiss  als  jemals.  Sein  System 
(II,  Kap.  14  ir.)  ist  auch  ein  System  geregelter  Prävention  grade  gegenüber  auswärtigen 
Kriegen.  Bei  aller  üeberspanntheit  des  socratisch-platonischen  Staudpuncts  im  „Staate“ 
sind  die  Anschauungen  in  diesem  Puncte  wieder  von  ewigem  Werthe. 


Fünftes  K ap i t e 1. 

Die  Feststellung  des  Bereichs  der  Staatsthätigkeit. 

§.  370  [S.  332].  Vorbemerkungen.  Die  Ansichten  hiertiber  gehen  noth- 
wendig  nach  dem  rechtsphilosophischen,  politischen  und  volkswirtschaftlichen  Stand- 
punct  auseinander.  Insofern  ist  auf  die  allgemeine  Litteratur  Uber  den  Staat, 
namentlich  Uber  den  Staatszweck  zu  verweisen,  s.  o.  die  Vorbemerk,  zu  Buch  0, 
S.  870IF.  Vgl.  besonders  Ahrens  a.  a.  0.  Auf  jedem  Standpuncte  ergeben  sich  aber 
Streitfragen  hinsichtlich  der  Grenzziehung  für  die  Staatsthätigkeit  im  concreten 
Falle,  wenn  an  und  für  sich  (,4m  Princip“)  die  Staatsthätigkeit  für  berechtigt  an- 
erkannt wird.  Für  die  richtige  objective  Entscheidung  solcher  Streitfragen  lassen  sich 
Kegeln  aufstellen,  wie  dies  im  folgenden  Kapitel  geschieht:  ein  Punct,  welcher  grade 
fUr  die  volks wirthschaftliche  (und  finanzwissenschafliche)  Betrachtung 
des  Staats  wichtig  ist  und  bisher  in  der  deutschen  volkswirtschaftlichen  Litteratur 
wohl  am  Besten  von  Schäffle  behandelt  wurde.  Ahrens  a.  a.  Ü.  enthält  im  Ein- 
zelnen trotz  seines  m.  E.  nicht  durchweg  ausreichenden  leitenden  Princips  (s.  o.)  viel 
Vorzügliches  (besonders  II,  284  (F.).  Sein  Versuch,  den  Staatszweck  qualitativ, 
nicht,  wie  auch  im  Texte  von  mir  geschieht,  qualitativ  und  quantitativ  zu 
bestimmen,  ist  beachtcnswerth , aber  doch  nicht  ganz  gelungen  (s.  II,  284  vgl.  mit 
301).  Für  das  Ausland  (England,  Frankreich)  ist  in  der  Theorie  der  Standpunct 
W.  v.  Humboldt ’s  noch  heute  ziemlich  maassgebend,  wie  z.  B.  J.  St.  Mi  11  zeigt. 

S.  sonst  vornemlich  Schäffle,  gesellscb.  Syst.  2.  Auf.  bcs.  Kap.  29,  31  fL, 
namentlich  §.  135,  190,  mit  mehrfach  m.  E.  recht  glücklichen  Formulirungen  der 
Grundsätze , an  welche  ich  mich  im  Texte  in  einigen  Puncten  unmittelbar  ange- 
schlossen habe.  Auch  Soc.  Körper  IV,  327  fF.  ß.  v.  Mohl,  Polizeiwiss.  3.  Aufl.  I., 
§.  3 IF.  Für  Einzelnes  Laspcyres,  Art.  Staatswirthschaft  im  Staatswörterbuch  X.  — 
Für  vieles  Einzelne  u.  für  die  finanzielle  Seite  der  Specialfragen  s.  wieder  die  Fin.wiss., 
bes.  d.  Lehren  v.  Finanzbedarf  und  Privaterwerb  im  1.  B.  und  von  den  Gebühren  im  2.  B. 

I.  — §.  377  [184].  Bedingungen  und  Regeln  für  die 
Feststellung  des  Bereichs  der  Staatsthätigkeit.  Aus  der 
principiellen  ausschliesslichen  Uebertragung  des  Rechts-  und  Macht- 
zwecks auf  den  Staat  und  aus  den  Erfahrungen  hierüber  und  über 
die  Thätigkeiten  des  Staats  zur  Durchführung  des  Cultur-  und 
Wohlfahrtszwecks  lassen  sich  für  die  Feststellung  des  jeweilig 
richtigen  Bereichs  der  Staatsthätigkeit  folgende  Bedingungen 
und  Erfahrungsregeln  ableiten.  Um  die  Formulirung  derselben, 


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916  6.  B.  Staat.  5.  K.  Bereich  der  Staatstbätigkeit.  §.  377,  37$. 

wie  um  die  ganze  nationalökonomische  Analyse  des  Staats,  bat 
sich  namentlich  Schaf  fl  e wesentliche  Verdienste  erworben. 

A.  Die  allgemeine  Regel  lautet:  der  Staat  hat  diejenigen 
Thätigkciten  zur  Befriedigung  der  Bedürfnisse  seiner  Angehörigen 
selbst  zu  übernehmen,  welche  weder  die  Privatwirtschaften, 
noch  freie,  noch  andere  Zwangsgemein  wirthschaften 
(Selbstverwaltungskörper)  überhaupt  oder  welche  alle  diese  nur 
weniger  gut  oder  nur  kostspieliger  ausüben  können. 

Die  Leistungen  im  Gebiete  des  Rechts-  und  Machtzwecks  sind 
auch  hiernach  wieder  principiell  dem  Staate  zu  übertragen.  Dieser 
kann  hier  allein  nach  dem  Erforderniss  der  Einheit  und  der  ein- 
heitlichen Handhabung  von  Recht  und  Macht  das  Nothwendige 
leisten.  Im  Einzelnen  ist  es  aber  auch  hier  mitunter  zweifelhaft, 
theils  ob  eine  bestimmte  Leistung  gerade  allein  zum  Gebiete  dieses 
Rechtszwecks  gehört,  theils  ob  der  Staat  direct  und  allein  sie  aus- 
üben oder  die  Ausübung  etwa  anderen  Wirthschaften,  namentlich 
den  Selbstverwaltungskörpern  übertragen  soll.  Noch  schwieriger 
wird  die  Entscheidung  bei  Leistungen,  welche  zur  Durchführung 
des  Cultur-  und  Wohlfahrtszwecks  gehören.  Bei  diesen  muss  ge- 
wöhnlich ein  Zusammenwirken  der  verschiedenen  Wirthschaftsarteu 
eintreten. 

B.  Für  die  Staatsthätigkeit  spricht  nun  in  solchen  einzelnen 
Fällen  die  Vermuthung,  wenn  besonders  folgende  vier  Be- 
dingungen vorliegen,  von  denen  die  ersten  drei  die  Verhältnisse 
der  Production,  die  vierte  diejenigen  der  Consumtion  betreffen: 
neralieh  wenn  die  tüchtige  Herstellung  (Production)  der  betreffenden 
Leistung  von  der  möglichsten  zeitlichen  Nachhaltigkeit,  räumlichen 
Ausdehnung  und  Einheitlichkeit  oder  selbst  Ausschliesslichkeit  der 
erforderlichen  Thätigkeiten  in  einer  Hand  abhängt,  und  wenn  die 
Benutzung  (Consumtion)  der  Leistung  entweder  unvermeidlich,  nach 
der  Natur  der  letzteren,  eine  gemeinsame  ist,  oder  ohne  besondere 
Schwierigkeiten  zum  Vortheil  Vieler  und  mit  wenig  oder  gar  nicht 
vergrösserten  Kosten  eine  gemeinsame  werden  kann:  die  Leistung 
auch  so  beschaffen  ist,  dass  sie  einer  Mehrzahl  Einzelner,  jedem 
in  unmessbarem  Grade,  zu  Gute  kommt. 

Zum  Thcil  wörtlich  nach  Schäffle,  besonders  §.  1S5,  199.  Er  kommt  zu 
der  Erörterung  nur  von  einem  etwas  anderen  Gesicbtsponcte  aus ; er  will  nemlich  die 
Umstände  nachweisen,  „unter  welchen  die  Tauschconcurrenz  nicht  durchaus  der 
höchsten  Wirtschaftlichkeit  dient,  also  ökonomisch  oder  auch  natürlich  ausge- 
schlossen ist“,  S.  345. 


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Bedingungen  f.  Festeil.  des  Bereichs  d.  Staatsthätigk. 


917 


§.  378  [185].  — 1)  Die  zeitliche  Nachhaltigkeit  und 
die  räumliche  Ausdehnung  einer  (Productions-)  Thätigkeit 
ins  Auge  zu  fassen,  ist  recht  eigentlich  Sache  des  Staats. 

Er  ist  für  unbegrenzte  Dauer  berechnet  und  souverän  in  seinem  Gebiete, 
er  umfasst  nicht  nur  die  jetzt  lebende  und  wirkende  Generation,  sondern  das  Volk 
in  seiner  geschic  htlichen  Entwicklung,  nicht  nur  die  hier  und  dort,  sondern 
die  überall  in  seinem  Gebiete  lebenden  Menschen.  Daher  ist  der  Staat  auch  der 
geborene  Vertreter  aller  Derjenigen,  welche  sich  nicht  selbst  zu  schützen,  ihre  Interessen 
nicht  wahrzunehmen  vermögen  (§.  329):  der  unerwachsenen  und  der  greisen  Generation, 
der  zukünftigen  Geschlechter,  der  abseits  vom  grossen  Verkehr,  in  unentwickelteren 
privatwirthscbaftlichen  Verhältnissen  Lebenden,  der  im  Concurrenzkampf  Schwächeren, 
— ein  wichtiger  Punct  im  Grossstaat,  wo  mit  vollem  Hecht  öfters  mit  Staatsmitteln, 
d.  h.  mit  den  Mitteln  der  Gesammtheit  und  daher  mit  einem  verhältnissmässig  be- 
deutenderen Beitrag  der  reicheren,  steuerfähigeren  Landestbeile  die  Hebung  von 
ärmeren,  in  der  Entwicklung  zurückgebliebenen  Theilen  des  Gebiets  erfolgt.  Ein  in 
Preussen  mehrfach  zwischen  den  politischen  Parteien  und  den  Vertretern  des  Westens 
und  Ostens  erörterter  Punct. 

Der  Staat  wird  mithin  besonders  passend  da  eintreten,  wo 
eine  einzel-,  namentlich  privatwirthschaftliche  Productionsart  ein- 
seitig bloss  das,  oft  nur  augenblickliche,  Interesse  des  Wirtbschafts- 
subjects  wahrnimmt,  auf  Kosten  dauernder  allgemeiner  Interessen 
und  zum  Schaden  der  eben  genannten  Elemente  des  Volks.  Er 
wird  theils  die  Leistung  ganz  auf  sich  nehmen,  theUs  die  bezüg- 
liche Thätigkeit  der  anderen  Wirtschaften  regeln  und  controlireu, 
um  diese  nachtheiligen  Folgen  zu  verhüten.  Am  Notwendigsten 
ist  dies  in  jenen  besonders  wichtigen  Fällen,  wo  eine  syste- 
matische zeitliche  Aneinanderreihung  und  räumliche  Ausdehnung 
der  organischen  Einrichtungen  zur  Productionsthätigkeit  die  Vor- 
bedingung des  Erfolges  dieser  letzteren  überhaupt  oder  doch  ihres 
grösseren  Erfolges  ist. 

Die  Herstellung  und  Wahrung  der  Rechtsordnung,  die 
Gewährung  von  Rechtsschutz,  besonders  nach  dem  Präventiv* 
princip,  erweist  sich  auch  nach  diesen  Gesichtspuncten  wieder  als 
das  Hauptgebiet  unmittelbarer  und  ausschliesslicher 
Staatsthätigk  eit. 

Daher  z.  B.  beim  Uebergang  vom  Staatenbund  zum  Bundesstaat,  wie  jüngst 
bei  uns,  vor  Allem  das  Militär  wesen  Reichssache.  So  werden  im  präventiven 
Wehrsystem  die  Bewohner  des  ganzen  Staatsgebiets  und  die  ganze  Reihe  ge- 
wisser Altersclassen  systematisch  für  den  sonst  nicht  zu  erreichenden  grossen  Zweck 
verbunden.  So  dehnt  sich  die  Justiz-  und  P o 1 i z e i Organisation  über  das  ganze 
Land  aus  und  gewährt  dadurch  erst  die  Bürgschaft  für  ihre  durch  den  Zweck  der 
Institution  verlangte  genügende  präventive  und  repressive  Leistung  (Gegensatz  zu  Asyl- 
rechten  u.  dgl.).  So  verhütet  der  Staat  mit  der  Beschränkung  oder  dem  Verbote  der 
Kinderarbeit  in  den  Fabriken,  mit  den  Vorschriften  über  gewisse  Vorkehrungen  gegen 
Gefahren  (sanitäre  Maassregeln  u.  s.  w.)  die  Ausbeutung  der  Arbeitskraft  zu  Gunsten 
des  momentanen  Vortheils  der  Arbeitgeber,  aber  auf  Kosten  des  physischen,  sittlichen 
und  geistigen  Wohls  der  schutzlosen  unteren  Classen  und  der  Heranwachsenden  und 
zukünftigen  Generationen  des  Volks. 


918 


6.  B.  Staat.  5.  K.  Bereich  der  Staatsthätigkeit.  §.  379,  3&0. 


Aber  auch  viele  wichtige  Fälle  der  Staatsthätigkeit  im 
Gebiete  der  Cultur-  und  Wohlfahrtsförderung  sind  mit 
Rücksicht  auf  die  nöthjge  zeitliche  Nachhaltigkeit  und  räumliche 
Ausdehnung  der  Leistungen  geboten. 

So  erfolgt  in  der  Uebernahme  der  Forsten  in  Eigenthum  und  Verwaltung  des 
Staats  und  in  der  Gesetzgebung  und  Controle  über  Privatforsten  (Schutzwaldungen 
u.  s.  w.)  und  Gewässer  sowie  in  derjenigen  über  den  Bergbau,  die  Jagd,  die 
Fischerei  die  Wahrnehmung  der  Interessen  der  künftigen  Geschlechter.  So  werden 
in  der  staatlichen  Fürsorge  für  die  systematische  räumliche  Ausdehnung  des  Strassen - 
nctzes,  der  Verkehrsanstalten,  der  Schulen,  der  Einrichtungen  im  Gebiete 
des  Humanitäts-,  Armen-,  öffentlichen  Sanitäts-,  M ed i cinal wesens 
u.  s.  w.  die  Interessen  der  Bewohner  aller  Theile  des  Staatsgebiets  und  aller  socialen 
Classcn  gleich  massiger  wahrgenommen. 

Es  ist  bezeichnend,  wie  daher  gerade  auf  diesen  Gebieten  der  moderne  Staat 
Thätigkeitcn  immer  mehr  an  sich  zieht,  welche  früher  etwa  den  Gemeinden  und 
Privaten  mehr  überlassen  waren.  Neben  dem  Militärwesen , der  obersten  Gerichts- 
organisation, sind  es  gleichfalls  die  genannten  Gebiete,  wo  die  Centralgewalt  des 
Bundesstaats  gegenüber  den  Particularstaaten  mannigfach  ihre  Competenz  be- 
gründet: Deutsches  Reich,  z.  Th.  auch  Schweiz.  Wahrscheinlich  führen  die  neueren 
naturwissenschaftlichen  Fortschritte  auf  dem  Gebiete  des  öffentlichen  Gesundheitswesens 
auch  zu  grösserer  Reichs-  und  Staats-  statt  blosser  Communalthätigkeit  (selbst  in 
England  Tendenz  hierzu).  (Vergl.  meine  Pin.  2.  A.  und  3.  A.  I.  §.  40.) 

§.  379  [186].  — 2)  Viele  Leistungen  für  die  Befriedigung  der 
Bedürfnisse  des  Volks  erheischen  ferner  eine  einheitliche  oder  selbst 
eine  ausschliessliche  Leitung  durch  ein  Wirthschaftssubject,  teils, 
weil  nur  so  das  betreffende  Gut  ordentlich  herzustellen  ist,  — der 
Hauptfall  ist  wieder  die  Rechtsordnung  — , tbeils  weil  gleichfalls 
nur  so  oder  doch  so  am  Besten  für  die  erforderliche  Nachhaltig- 
keit und  Ausdehnung  der  hergehörigen  Thätigkeiten , auch  für 
Ermässigung  der  Kosten  gesorgt  werden  kann,  wie  in  vielen 
der  vorher  genannten  Fälle.  Zur  ausschliesslichen  Uebernahme 
einer  Leistung  in  der  Volkswirtschaft  erscheint  der  Staat  allein 
berechtigt,  zur  einheitlichen  Leitung  er  am  Besten  berufen. 

Demgemäss  ergiebt  sich  wiederum  nach  diesem  Gesichtspunete 
eine  wuchtige  Regel  für  die  Bestimmung  des  Bereichs  der  Staats- 
thätigkeit: wTo  durch  die  Natur  der  Leistung  eine  ausschliessliche 
oder  einheitliche  Leitung  von  einer  Hand  aus  geboten  oder  sehr 
zweckmässig  ist,  gleichzeitig  aber  die  Ueberlassung  dieser  Leitung 
an  Andere  besonders  an  Privatwirtschaften,  wesentliche  Bedenken 
bietet,  wTeil  leicht  ein  Gewaltmissbrauch,  ein  factische6  Monopol 
eintritt  oder  ein  rechtliches  nötig  wird,  und  andrerseits  die  Staats- 
controle  die  daraus  hervorgehenden  Gefahren  nicht  genügend  aus- 
schliesst,  da  wird  die  Staatsthätigkeit  am  Platze  sein. 

So  wiederum  vor  Allem  im  Gebiete  des  Roch ts Schutzes  im  Zusammenhang 
mit  der  Verwirklichung  der  Rechtsidce  überhaupt.  So  aber  auch  öfters  im  Verkehrs- 
wesen: bei  Eisenbahnen,  Posten,  Telegraphen;  im  Geld-  und  Münzwesen:  z.  Th.  im 


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Bedingungen  f.  Feststen,  des  Bereichs  der  Staatsthätigk.  919 

Bankwesen,  besonders  im  Zettelbankwesen,  im  Versicherungswesen ; im  Schulwesen: 
Staats-  statt  Kirchenschulen  u.  dgl.  m..  keine  kirchlichen  Universitäten,  öffentliche 
statt  Privatschulen. 

Aus  dieser  Regel  sind  auch  Folgerungen  für  „öffentliches“  und  gegen  P rivat- 
eigenthum  an  gewissen  Grundstücken  und  gewissen  Kapitalien  zu  ziehen,  Puncte,  auf 
welche  in  der  2.  Abthoilung  zurück  zu  kommen  ist. 

§.  380  [187].  — 3)  Gemeinsamkeit  der  Consumtion. 
Die  Natur  der  Leistungen  für  manche  Arten  der  Bedürfnisbe- 
friedigung bringt  es  mit  sich,  dass  Einzelnen  die  Theilnahme  an 
dem  betreffenden  Vortheil  oder  Genuss  (die  Consumtion)  nicht  vor- 
zuenthalten ist,  wenn  die  Leistung  überhaupt  einmal  erfolgt.  Die 
Herstellung  der  Leistung  macht  hier  ferner  öfters  Kosten,  welche 
wenig  oder  gar  nicht,  jedenfalls  nicht  im  Verhältnis  des  grösseren 
Umfangs  der  Theilnahme  an  den  Vortheilen  der  Leistung  wachsen. 
Die  Vortheile  lassen  sich  für  den  Einzelnen  auch  nicht  genau 
messen,  ein  Tauschwerthanschlag  dafür  erscheint  unausführbar. 
Hier  ist  demgemäss  das  gemeinwirthschaftliche  Princip  der  Bedürf- 
nisbefriedigung angebracht:  gemeinsamer  Consum,  bez.  freie  (im 
speciellen  Fall  unentgeltliche)  Consumtion  für  den  Einzelnen,  aber 
gemeinwirthschaftliche  Production  der  Leistungen  und  Kosten- 
deckung mittelst  Beiträgen  oder  Steuern  (§.  301,  341  ff.,  349). 
Der  Staat  selbst  wird  aber  hier  wieder  besonders  passend  solche 
Leistungen  von  allgemeiner  Bedeutung  für  die  Bevölkerung  über- 
nehmen, bei  welchen  gleichzeitig  jene  drei  anderen,  vorher  er- 
örterten Bedingungen  vorliegen. 

Das  Gebiet  des  Rechtsschutzes  erscheint  auch  hiernach  als  wahre  Staatsangelegen- 
heit, denn  nach  der  Idee  des  Rechts  muss  Allen  der  Vortheil  des  Rechtsschutzes  zu 
Theil  werden.  Dieselbe  judicielle,  polizeiliche,  militärische,  volkswirtschaftliche 
Thätigkeit  vermag  dann  aber  auch  ohne  oüer  nur  mit  relativ  kleiner  Kostensteigerung 
innerhalb  gewisser  Grenzen  einer  grösseren  Anzahl  Personen  zu  Gute  zu  kommen. 
Hier  liegt  auch  ein  bekannter  wichtiger  ökonomischer  Vortheil  der  Arbeitsteilung 
vor:  indem  sich  eine  kleinere  Anzahl  Personen  berufsmässig  ausschliesslich  und  voll- 
ständig einer  Arbeit  (z.  B.  dem  Militärdienst  das  Heer,  dem  Postdienst  die  Post- 
beamtenschaft u.  dgl.  m.)  widmet,  producirt  sie  das  betreffende  Gut  oder  die  Dienst- 
leistung im  erforderlichen  Umfang  und  möglichst  gut  und  ökonomisch  und  nimmt 
gleichzeitig  allen  Anderen  die  bezügliche  Arbeit  ganz  ab,  so  dass  eine  grossartige 
Oekonomie  der  Kräfte  und  eine  allseitig  bessere  Ausnutzung  der  Kräfte  im  höchsten 
volkswirtschaftlichen  Interesse  vom  Productionsstandpuncte  aus  erfolgt.  Man  denke 
etwa  ati  die  7,  sage  sieben  selbständigen  Postverwaltungen  in  Hamburg,  an  deren 
Stelle  erst  im  Norddeutschen  Bunde  die  eine  deutsche  Verwaltung  trat! 

Es  ist  hier  auch  zu  beachten,  dass  auch  die  für  Repression  bestimmten  Einrich- 
tungen, wie  Justiz  und  Polizei,  nicht  bloss  Demjenigen  nützen,  welcher  zu  seinen 
Gunsten  eine  Repressiv  thätigkeit  des  Staats  erlangt,  sondern  indirect  allen  Anderen, 
welchen  dies  Bcdürfniss  wegen  der  präventiven  Wirkung  jener  Einrichtungen  erspart 
bleibt.  Ein  wichtiger  Gesichtspunct  für  die  Frage,  ob  und  wie  weit  die  Kosten  der 
Civiljustiz  von  den  Justizgebühren  gedeckt  werden  oder  die  Justiz  unentgeltlich  fun- 
giren  soll.  (Vergl.  in  Fin.  II  d.  Gebührcnlehre,  1.  A.,  §.  291  ff..  2 A.,  §.  39  11'.. 
bes.  §.  45.) 


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920 


6.  B.  Staat.  5.  K.  Bereich  d.  Staatsthätigkeit.  §.  881,  382. 


Auch  andre  Leistungen,  wie  die  Herstellung  und  der  Betrieb  von  Schulen, 
Verkchrsanstalten,  sanitären  Vorkehrungen  eignen  sich  wegen  der  Vortheile, 
an  denen  ausser  den  Benutzern  mehr  oder  weniger  die  ganze  Bevölkerung  Theil  nimmt, 
besonders  für  die  Uebemahme  durch  den  Staat.  Für  die  Frage  der  Unentgeltlich- 
keit und  anderseits  der  Höhe  des  Schulgelds  der  öffentlichen,  besonders  der 
niederen  Schulen  gilt  dasselbe  wie  für  die  Frage  der  Deckung  der  Justizkosten.  (S. 
Fin.  II,  §.  206,  2.  A.,  §.  48.) 

II.  — §.  381  [188].  Lösung  weiterer  Schwierigkeiten 
in  der  Bestimmung  der  Staatsthätigkeiten.  Die  richtige 
Entscheidung,  ob  Staats-  ob  Thätigkeit  einer  anderen  Wirthscbaft, 
besonders  einer  Privatwirthschaft.  eintreten  soll,  wird  freilich  durch 
die  Natur  des  Staats  selbst  und  seiner  Leistungen  auch  im  einzelnen 
Falle  erschwert.  Denn  der  Staat  steht  kraft  seiner  Souveränetät 
hinsichtlich  der  Bestimmung  seiner  Leistungen  und  kraft  seiner 
Finanzhoheit  hinsichtlich  der  Mittelbeschaffung  zur  Kostendeckung 
ausserhalb  der  freien  Concurrenz. 

Er  kann  also  auch  unpassende  Thätigkeiten  Übernehmen  und  festhalten  oder  über- 
mässige Kosten  dafür  verwenden,  ohne,  wie  die  Privatwirthschaft,  durch  Absatzmangel 
oder  zu  theure  Production  und  zu  hohe  Preise  zur  Einstellung  seiner  Thätigkeit  ge- 
zwungen zu  werden.  Die  Regierung,  als  Wirthscliaftssubject,  wird  ferner  leicht  geneigt 
sein,  die  Bedeutung  oder  den  Werth  ihrer  Leistungen  zu  überschätzen,  ihre  Thätig- 
keiten zu  weit  auszudehnen,  zu  sehr  nach  alter  Schablone  auszuführen,  unpassend  alte 
Thätigkeiten  beizubehalten,  statt  sie  ganz  einzustellcn  oder  sie  andren  Wirtschaften 
zu  überlassen.  Die  Eigentümlichkeit  der  meisten  Staatsleistungen,  um  die  es  sich 
handelt,  die  Immaterialität,  die  spccielle  Unverkäuflichkeit,  die  Art  der  Herstellung 
vermittelst  eines  grossen  Aemterorganismus  erschwert  immer  und  hindert  oft  gänzlich, 
Werth  und  Kosten  einer  einzelnen  Leistung  genau  zu  bestimmen.  Berechnung  nach 
dem  Tausch-  oder  Goldwert  ist  gewöhnlich  ganz  ausgeschlossen.  Vergl.  Laspeyres. 
Art.  Staatswirthsch.,  Staatswörterb.  X,  76  ff.  und  passim. 

Die  vollständige  Ueberwindung  aller  dieser  Schwierigkeiten 
für  die  richtige  Feststellung  des  Bereichs  der  Staatsthätigkeit  kann 
auch  durch  Befolgung  der  obigen  Regeln  natürlich  nicht  immer 
gelingen  und  in  einzelnen  Fällen  werden  Fehler  hinsichtlich  der 
Bestimmung  der  Competenz  des  Staats  stets  Vorkommen.  Die  zweck- 
mässige Organisation  der  constitutionellcn  Budgetwirthschaft  muss 
in  dieser  Beziehung  auch  wieder,  nicht  als  das  stets  ausreichende, 
aber  als  ein  principiell  richtiges  und  relativ  bewährtes  Hilfs- 
mittel zur  Lösung  der  Aufgabe  bezeichnet  werden. 

Schäffle,  ges.  Syst.  2.  Aufl.  §.  205,  216. 

Günstig  ist  dabei  der  Umstand,  dass  es  sich  bei  der  Fest- 
stellung des  Bereichs  der  Staatsthätigkeit  und  der  Einrichtung  des 
Verwaltungssystems,  nach  welchem  diese  Thätigkeit  ausgeführt, 
die  Staatszwecke  verwirklicht  werden,  nicht  um  einen  vollständigen 
Neubau,  sondern  höchstens  um  einen  Um-  und  Weiterbau  zu 
handeln  pflegt. 


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Lösung  and.  Schwierigkeiten.  Beamtenthum. 


921 


Bei  diesem  ist  die  Masse  der  altüberkommenen  Staatsleistungen  gar  nicht  in  Frage. 
{Darin  liegt  die  principielle  Begründung  der  Forderung  einer  Trennung  oines  stabilen 
und  wandelbaren  Budgets  und  der  Ausscheidung  der  erstereu  aus  der  jährlichen 
parlamentarischen  Bewilligung,  nach  englischem  Vorgänge.  S.  Fin.  I,  2.  A.  §.  56, 
3.  A.  §.  64  und  die  dort  citirte  Litteratur,  besonders  Gneist.)  Die  Einschränkung 
oder  Ausdehnung  der  Staatsthätigkeit  und  die  Acnderung  des  Verwaltungssystems  im 
einzelnen  Falle  wird  dann  doch  immer  bei  einiger  Fähigkeit,  Tact  und  gutem  Willen 
der  Regierung  und  der  Volksvertretung  leichter  richtig  entschieden  werden. 

Die  geordnete  Herbeizieh nng  der  übrigen  autonomen 
räumlichen  Zwangsgemeinwirthschaften , der  Provinz,  des  Kreises, 
der  Gemeinde,  zur  Mitwirkung  und  die  Ausbildung  der  Selbst- 
regierung und  des  Ehrenamtssystems,  soweit  es  sich  be- 
währt, ferner  die  gute  Einrichtung  des  Vereinswesens,  der 
Gesetzgebung  über  Erwerbs-,  besonders  Actiengesellschaften  hebt 
weitere  Schwierigkeiten.  Die  Sphäre  der  Privatwirthschaften  wird 
dann  auch  im  Grossen  und  Ganzen  richtig  bestimmt,  nicht  zu 
sehr  eingeschränkt,  nicht  zu  weit  ausgedehnt  werden,  aber  noth- 
wendig  immer  wieder  von  Zeit  zu  Zeit  Veränderungen  unter- 
liegen. 

III.  — §.  382  [189].  Einfluss  des  Beamtenthums  für 
die  Feststellung  des  Staatsbereichs.  Die  Thätigkeiten 
des  Staats  müssen  durch  eine  besondere  Art  von  Arbeitern,  durch 
das  Beamtenthum  ausgeführt  werden.  Die  Leistungsfähig- 
keit dieses  Beamtenthums  ist  daher  schliesslich  auch  noch  ein 
hochwichtiger  Punct,  welcher  bei  der  Feststellung  des  Bereichs 
der  Staatsthätigkeit  und  bei  der  Einrichtung  des  Verwaltungssystems 
mit  berücksichtigt  werden  muss.  Diese  Leistungsfähigkeit  hängt 
zum  Thcil  von  dem  System  der  Besetzung  der  Staatsämter, 
besonders  im  sogen.  Civildienst,  selbst  wieder  ab,  zum  Theil 
ist  sie  auch  bei  ein  und  demselben  Beamtensystem  vom  Stande 
der  Cultur  und  der  Sittlichkeit  und  Sitte  des  ganzen 
Volks  und  Zeitalters  mit  abhängig.  Je  mehr  es  gelingt,  ein 
den  Verhältnissen  einer  Zeit  und  eines  Landes  besonders  richtig 
angepasstes  Beamtensystem  auszubilden  und  je  tüchtiger  dieses 
unter  dem  Einfluss  richtiger  Erziehung  und  günstiger  Cultur-  und 
Sittenzustände  fungirt,  desto  grösser  ist  natürlich  die  Leistungs- 
fähigkeit des  Beamtenthums  und  desto  mehr  Aufgaben  können 
ihm  und  somit  dem  Staate  gestellt  werden. 

Hebung  des  Beamtenthums  in  technischer  und  geistiger 
Fähigkeit,  in  sittlicher  Integrität,  in  unabhängiger 
Gesinnung  neben  voller,  vom  Staatsdienst  geforderter  Sub- 
ordination wird  damit  zu  einer  weiteren  wichtigen  Voraus- 


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922 


0.  B.  Staat.  5.  K.  Bereich  <1.  Staatsthätigkeit.  §.  3S2,  3S3. 


Setzung  der  erfolgreichen  extensiv  und  intensiv  gesteigerten  Staats- 
thätigkeit. 

Auch  in  dieser  Frage  muss  wohl  wieder  mehr  an  antike  Ideeu,  wie  in  Plato's 
„Staat",  angekuüpft  werden.  Der  Punct  der  richtigen  Staatsdienererziehung  ist  bei 
uns  noch  nicht  genügend  untersucht  worden,  was  Civil-  und  was  Militärdienst  anlangt 
(Frage  der  Cadettenhäuser). 

Die  Einrichtung  des  Systems  der  Besetzung  öffent- 
licher A ernte r erhebt  sich  dadurch  zu  einer  hochwichtigen 
Aufgabe  für  das  Staatsleben  und  für  die  Volkswirtschaft  und 
ist  nicht  nur,  was  oft  zu  einseitig  angenommen  wird,  von  Bedeutung 
für  die  im  engeren  Sinne  politische  (d.  h.  formal- politische)  Seite 
des  Staatslebens  und  für  die  persönliche  Stellung  der  Beamten. 

Unter  den  Hauptsystemen  der  Besetzung  öffentlicher  Aemter 
in  den  modernen  Staaten  zeichnet  sich  das  in  Deutschland  ge- 
schichtlich eingebürgerte,  auch  in  anderen  Ländern  bemerkens- 
werter Weise  gerade  für  Richter  gleichfalls  übliche,  besonders 
durch  die  Leistungsfähigkeit  des  Beamtentums  aus. 

Es  besteht  darin,  dass  berufsmässige  Organe  nach  Erfüllung  gesetzlicher 
Vorbedingungen,  durch  welche  die  Geeignetheit  zur  Bekleidung  eines  Staatsamts  nach- 
gewiesen werden  soll,  in  systematischer  Ordnung  vom  Inhaber  der  Staatsgewalt  zu 
besoldeten  Acmtern  ernannt  werden.  Die  Ernennung  giebt,  sofort  oder  nach 
einer  Probezeit,  einen  Rechtsanspruch  auf  das  klaglos  verwaltete  Amt,  bez.  aaf 
dessen  Besoldung  (Gehalt),  theils  für  die  Lebenszeit,  thcils  für  bestimmte  längre 
Perioden,  worauf  alsdann  Anspruch  auf  Ruhegehalt  (Pension)  eintritt.  (S.  Fin.  I. 
3.  A.  §.  152  ff.) 

Die  Kostspieligkeit  dieses  Systems  ist  nur  ein  schein- 
barer Nachtheil  verglichen  mit  anderen  Systemen. 

Solche  sind:  besoldete  Berufsbeamte  ohne  Recht  auf  das  Amt  (Frankreich); 
für  kürzere  Zeit  durch  Volkswahl  (direct  oder  indirect)  ernannte  besoldete,  nicht 
nothwendig  berufsmässig  gebildete  Beamte  (Schweiz,  Nordamerica);  frei- 
willig und  ganz  oder  fast  ganz  unentgeltlich  dienende,  gleichfalls  nicht  immer 
berufsmässig  ausgebildete  Beamte  wenigstens  für  gewisse  Aemter,  meist  auf  Zeit: 
System  der  Ehrenämter. 

Die  Verbindung  des  Ehrenamtssystems,  soweit  es  geht,  mit 
dem  deutschen  System  der  Aemterbesetzung,  welches  aber  noth- 
wendig v o r w i e g t , bietet  wohl  in  unserer  Zeit  die  beste  Bürg- 
schaft für  ein  leistungsfähiges  Beamtenthum,  welchem  immer  mehr 
und  grössere  Aufgaben  des  Staats  zur  Ausführung  übertragen 
werden  können. 

Wir  Deutschen  werden  mit  Recht  doch  auch  an  die  Ehren-Beamten  höhere 
Anforderungen  hinsichtlich  der  Berufsbildung  stellen.  (Vergl.  Königs,  zur  Ausbildung 
und  Stellung  der  Beamten  in  Preusseu,  Berl.  1875.)  Eine  enge  Grenze  dieses  Ehren- 
amtssystems liegt  u.  A.  schon  in  dem  unentbehrlichen  und  stets  steigenden  Bedarf 
technisch  gebildeter  Beamten,  „die  selbstredend  am  Wenigsten  durch  die  Selbst- 
verwaltung ersetzt  werden  können"  (Königs  a.  a.  0.  S.  8). 


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Sta&tsaufgaben  und  Volkswirtschaftslehre. 


923 


IV.  — §.  383  [190].  Die  speciellen  Aufgaben  des 
Staats  als  Untersuehungsgegenstand  der  systematischen 
Volkswirtschaftslehre.  Im  Vorausgehenden  ist  der  Staat 
in  seiner  universalen  Bedeutung  für  die  Volkswirtschaft  betrachtet 
worden,  jenem  Standpuncte  gemäss,  wonach  wir  es  in  der  Volks- 
wirtschaftslehre zu  thun  haben  mit  der  Volkswirtschaft  staat- 
lich organisirter  Völker  (§.  149,  299).  Nach  dieser  allgemeinen 
Würdigung  des  Staats  und  der  generellen  Feststellung  seines  Be- 
reichs müssen  in  der  systematischen  Volkswirtschaftslehre  folgende 
vier  vom  Staate  zu  lösende  Aufgaben  noch  specieller  untersucht 
werden : 

1)  Die  Aufgabe  des  Staats  in  Bezug  auf  die  Gestaltung  des 
allgemeinen  wirtschaftlichen  Verkehrsrechts. 

D.  h.  auf  die  Regelung  der  grossen  Rechtsinstitute  der  persönlichen  Freiheit 
(nach  principiellcr  Beseitigung  aller  Zustände  der  persönlichen  Unfreiheit)  und  des 
Eigentums,  bez.  der  gesammten  Eigenthumsordnung,  einschliesslich  des  Vertrags- 
rechts, des  Erbrechts  und  der  Behandlung  wohlerworbener  Rechte  (Euteignungswesen), 
(§.  305  ff.):  jener  Verhältnisse  des  öffentlichen  und  des  Privatrechts,  welche  die 
Rechtsbasis  auch  des  privatwirthschaftlichcn  Verkehrs  bilden.  Die  Untersuchung  der 
dem  Staate  auf  diesem  Gebiete  gerade  nach  dem  volkswirtschaftlichen  Uesichtspuncte 
obliegenden  Aufgabe  erfolgt  in  der  zweiten  Abtheilung  der  Grundlegung:  von  „Volks- 
wirtschaft und  Recht,  besonders  Vermögensrecht  oder  von  „Freiheit  und  Eigenthum 
in  volkswirtschaftlicher  Betrachtung“. 

2)  Die  Aufgabe  des  Staats  in  Bezug  auf  die  Gestaltung  des 
speciellen  wirthschaftlichen  Verkehrsrechts. 

D.  h.  auf  die  Regelung  der  Rechtsordnung  der  einzelnen  grossen  Zweige  ins- 
besondere der  materiellen  Production  oder  auf  die  Normirung  der  speciellen 
wirthschaftlichen  Berufsordnung,  des  hierauf  bezüglichen  Verwaltungsrechts. 
Das  ist  näher  zu  untersuchen  in  dem  dritten  Haupttheil  des  Systems  der  Politischen 
Oekonomie,  d.  h.  in  der  sogenannten  speciellen  und  practischen  Volkswirt- 
schaftslehre. 

3)  Mehrfach  ist  im  bisherigen  Verlauf  bereits  generell  die 
Frage  erörtert  worden,  ob  und  inwieweit,  wo  und  wann  theils 
Zwangsgemcinwirtbschaften  überhaupt,  theils  insbe- 
sondere der  Staat  selbst,  als  wichtigste  Form  derselben,  direct 
die  Fürsorge  für  die  Herstellung  und  Vertheilung  von  Gütern 
neben  oder  auch  ausschliesslich  anstatt  anderer  Wirt- 
schaften, namentlich  der  Privatwirtschaften  und  freier  Gemein- 
wirtschaften, in  volkswirtschaftlich  zweckmässiger  Weise  über- 
nehmen sollen;  ferner  ob  sie  auf  den  übernommenen  Gebieten  stets 
nach  dem  gemeinwirtbscbaftlichen  Princip  oder  auch  unter  Um- 
ständen nach  dem  privatwirthschaftlichen , dem  Gebührenprincip 
(§.  335)  zu  verfahren  haben. 


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924 


6.  B.  Staat.  5.  K.  Bereich  d.  Staatsthätigkcit.  §.  383. 


Diese  Frage  ist  speciell  flir  die  einzelnen  in  Betracht  kommenden  Fälle 
vornemlich  ebenfalls  in  dem  dritten  oder  speciellen  und  practischen  Tbeile 
der  Volkswirtschaftslehre  genauer  zu  untersuchen.  Sie  muss  aber  nach  ihrer  prin- 
cipi eilen  Seite,  namentlich  nach  ihren  Folgen  filr  die  Eigonthumsordnung, 
auch  in  der  zweiten  Abtheilung  der  Grundlegung  noch  mehrfach  berührt  und  nach 
ihrer  finanziellen  Seite  in  der  Finanzwissenschaft,  besonders  in  der  Lehre 
vom  Privaterwerb  und  vou  den  Gebühren  (Fin.  I,  3.  A.  Buch  3,  II,  2.  A.  Buch  4). 
erörtert  werden. 

4)  Die  Aufgabe  des  Staats  in  Bezug  auf  die  Führung  seiner 
eigenen  Productions-  und  Erwerbswirthschaft,  d.  h.  der  Finanz- 
wirthschaft  oder  des  Staatshaushalts  (§.  361). 

Damit  hat  sich  der  vierte  Theil  der  Politischen  Oekonomie,  die  Finanz  Wissen- 
schaft, näher  zu  beschäftigen  (Fin.  I,  3.  A.,  Einleitung  und  Buch  1). 


Ende  des  ersten  Theiles  der  Grundlegung. 


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Verzeichniss 

der  im  L Theile  der  „Grundlegung“  erwähnten 
Schriftsteller  und  sonstigen  Personen. 

(Die  Zahlen  bedeuten  die  Seiten.  Oefters  ist  derselbe  Autor  auf  einer  Seite  mehrfach 
genannt.  Stellenweise  kommt  der  Name  eines  Autors  fast  Seite  für  Seite  vor.  Das  wird 
in  diesem  Verzeichniss  mit  einem  schrägen  Strich  zwischen  zwei  Zahlen  [z.  B.  S.  5/15] 
bezeichnet,  ohne  dass  jede  einzelne  Seite  besonders  angegeben  wird.) 


Adler,  Carl  459 
Adler,  Georg  41) 

Adler,  K.  140 

Ahrens  152  828  832  837  85$ 
871/S75  SSO  881  885  888 
889  893  915 
Albrecht  813 
Andree,  K.  130 
Andree,  R.  5P>8 
Aristoteles  330  132  818  859 
812  815 
Arnd  303 

Aschrott  691  698  099  844 
Asher  389  430 
Astor  846 
Auspitz  325 

Bacr  435 
Baernreither  850 
Bagehot  440 
Baltzer  45 

Bainberger  62  63  112  795 
850  856 

Baron  45 
Barth  62  195 
Bastian  66 

Bastiat  10  73  79  292  322 
360  456  494  798  870  871 
814 

Baudrillart  12  301  165 
Baumstarck  251  301  321 
Baxter  363  412  123  825 
Bebel  39  41  72  459  460  654 
685 

Beccaria  421 

Becker  2.  H.-B.  VI.  429  432 
465 

Behm  465  568 
Bcllamy  12  110 
Beloch  452 
Bendixen  U 

A.  Wajjnor,  Grundlegung.  3. 


Berens  198 
Berghoff-Ising  65 
Bergius  360  810 
Berghaus  568 
v.  Bergmann  491 
Bcrnhardi  301  399  411  416 
669 

Bernheim  140  142  146  204 
205  217  224 
Bernouilli  464 
Bernstein  41 
Bescler  352 
Beta  440 
Bigelow  430 
Binding  30 
Birkmeycr  309 
Bischolf,  H,  669  764 
Bismarck,  Fürst  v.  199  559 
Blanc,  Louis  341  429  166 
112  812 
Blenck  892  893 
Block,  Mor.  30  55  12  139 
140  142  204  224  221  260 
262  430  456 
Biomeyer  385 

Bluntschli  29  195  831  816 
881  885  894 
Bodio  429  549  552  555 
Boeckh,  A.  296  389  411  429 
Boeckh,  R.  429  432  436 
Bödiker  561 

v.  Böhm-Bawerk  64  190  281 
300  308  314  316  319 
324/332  338  421 
Böhmcrt,  Vict.  410  433  114 
195  196  804 
Böhmcrt,  Willi.  116  324 
Bonar,  221 
Botero  452 
Bracbelli  430 
Brandes,  A.  41 

Auflage.  I.  Tlieil.  Grundlagen. 


Braun,  K.  802 

Brentano  44  55  51  139  292 
316  121  812  846  850  852 
856 

v.  Briesen  908 
Brömel  62  445  795 
Bruch  394 

Buchenberger  3 91  146  218 
360  429  466  01 1 654  793 
821 

Bücher,  Loth.  41 
Bucle  142 

Bücher  3 51  51  205  241  360 
412  418  602  133 
Büchsenschutz  296  291  330 
375  319  411  429  733 

Bülau  303 
Burckhardt  406 
v.  Buschen  411  430 

Carey  322  361  368  449 
454/459 

Cairnes  139  190  281 
Challey  30 
Chaptal  411  430 
Child  452 
Cicero  321 
Clifle-Leslie  55  56 
Cohn,  Gust.  13  29  55/61  12 
139  146  227  253  257  262 
270  283/290  313  314  322 

321  345  348  370  393  395 

399  451  639  661  669 
751/764  766  ff.  771  796 

800  828  835  836  S50  858 

866 

Cohen-Stuart  321 
Colbcrt  359 

Comtc,  A.  18  66  138  140 
Conrad  30  55  51  434 
Contzen  164 
59 


926 


Autorenregister. 


Cornwall-Lewis  140 
Cossa  29  55  72  139  140  25S 
202/266  283/287  435 
Cournot  116  42 1 
v.  Czörnig  LU  420  430  435 
437  892 


l>argun  64  775 
Darwin  458  815 
Dawson  63 

De  Lavergne  s.  Lavergne 
Delitzsch  568 
Delatour  14 
Depareieux  481 
Dieterici  430 

Dietzel,  Hein r.  2 40  54  56 
64  12  13  SO  81  139  188 
224  262  264  520  324/327 
340  350  751  754  775 
Dietzel,  K.  3 17  834  874  874 
Dilthey  54  67  138  140  240 
Di  Martino  815 
Dowell  702 
Drechsler  385 
Drobisch  144 
Droysen  142 
Ducange  343 
Ducati  12 

Ducpetiaux  300  815 
Dühring  266  322  330  455 
450 

Du  fau  140  144 
Dumesnil-Marigny  303 
v.  Duniroicher  114 
Dunoyer  704 
Dupin  430 

Dupont  (de  Nemours)  S 
Dupont-Whitc  871 
Duprat.  Pascal  815 

Eheberg  II 

Eisenhart  440  146  160  455 
Elisscn  44 

Elster  30  347  445  451/465 
630 

Ely,  R.  12  430  210 
Emele  63 

Emminghaus  4 3 0 604  105 
706  804  844 

Engel,  Ernst  35  438  144  243 
•224  364  303  301  100  411 
428/430  464  534  561  682 
Hol  821  823  830 
Engels,  Fr.  12  35  38  40  41 
66  3X0  450  685  714  721 
720  733  S12  014 
Escher,  1L  810  S32  836  831 
863  815  87ß  880  885  008 
Evcrt  700 


Farnham  114 

Fauchcr  ^Berlin)  187  105  706 
Fawcett  364 
Fechner  435 
Ferguson  264 
Ficker  (Statist)  420 
Flatow  326 

Fourier  12  80  140  347  453 
166 

Foyot  30 
Fraucke  500 
Frank  (Theol.)  14 1 
Friedländcr  (Königsb.  Hist.) 

206  406  123  420  438  830 
Friedländer  (Dorpat)  321 
Fulda  4U 
Fullarton  430 
Funk  881 
Funke  434 

Gabaglio  142 
Gambetta  014 
Ganilh  4U 

Garnier,  Jos.  455  456 
Gavard  265 
Gelfcken  457  465 
Gcuovesi  266  452 
Gcnsel  870 

George,  4L  316  455  450  551 
Gcrlach,  0.  72  326 
Gerstfeldt  435  437  802 
Gerstner  314  451 
Gide  55  72  130  251  287  326 
811 

Gierke  41  45  821  850  852 
860 

Giffen  412  550  713 
Gioja  303 
v.  Gizycki  12 

v.  Gneist  830  858  863  SOI  013 

Godwin  453 
Götz  364 
Goldschmidt  344 
v.  d.  Goltz  410  433  141 
Gompcrtz  140 
Gothein  61  353 
Gossen  64  H 116  187  324 
Gournay  803 
Gregorovius  13 
Gross  (Engl.)  850 
Gross,  G.  (Wien)  40  64  348 
162  166  114  SSO 
Gucrry  141  226  432 
Gumplowicz  67 
Guth  300 

Haeckel  815 
Haini8ch  40J 
Ilaldanc  74 
v.  Haller  132 


Haussen,  Georg  51  434  46C 
Hansen,  Georg  466 
Harrison  825 
v.  Hartmann  800 
Hartmann  344 
Haslcr  U 

Hassbach  5 8 15  54  56  71 
130  165  101  850 
Hasse  303 
Hasse  (Leipzig)  436 
Haushofer,  M.  144  201 
Hausner  426 
v.  Haxthausen  370  430 
Hearne  266  766 
Hegel,  K.  850 
Hegewisch  455 
Hehn  364 
Heil  412 
Heitz  845 

Held,  A.  36  80  286  281  230 
300  306  308  310  313  321 
342  316  388  389  304  450 
751/754  796  865  866 
v.  Helferich  14J 
v.  Hermann,  F.  B.  W.  U 55 
66  71/31  130  187  100 
253/260  2S0/314  324  328 
331  338  34V-153  360  375 
383  3S6  300  1Q>  411 

414/429  666  667  682  162 
166  785  704  708  $06 

S27/832  844  871  S$5 
Ilerrfurth  803 

lierrmaun,  Em.  258  386  008 
Heuscbling  444 
v.  Heyking  442  444 
Hildebrand,  Br.  46  52  167 
347  430  066  162  764  796 
Hildebrand,  Rieh.  344  440 
Hirt  433 
Hirth  426  113 
v.  Hock  014 
Höfi'ding  7 1 16 
Höniger  205 
Hollmann,  J.  G.  493 
Hoffmann,  L.  463 
v.  HoltzendorfT  30  832  816 
885 

Hopf  432  487 
Horn  430  464 
van  Honten  221 
Haber,  G.  140 
Huber,  V.  A.  850 
Hufeland  286  303  321  334 
v.  Humboldt  Wilh.  876  SSO 
888  045 
Hurnc  6 452 

Jacobi  700 
Jäger  682 


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Autorenregister. 


927 


Jagor  365  Sil) 

Januasch  465  56 1 566  856 
Jastrow  205 

Jcvons  130  140  176  100  324 
326  440  7*4 

v.  Ihering  41  45  71  206  311 

375  3SS  3S9  S02  858  S63 
S74  8S5 

v.  Inama  - Sternegg  51  205 
360  420  450  452 
Ingram  7 S 16  47  55  MO 
455 

John  140  204  221 
J olles  451 

v.  Jurasclick  362  420  465 
v.  Justi  6 265  452 


Käscinachcr  508 
Kant,  J.  780  SÜÜ  S56  S57 
871/875  SSI 
Kantorowitz  305 
Karup  4SI 
Kathrein  13 

v.  Kaufmann,  R.  437  802 
Kaufmann  301 

Kautz  131*  16S  227  253/264 
270  283  455  S70  871  S76 
Kautsky  40  41  461 
Keferstein  463 
Keller  430 

Keynes  55  56  71  72  13S 
130  116  224  227  287 
KirchhofT  568 
v.  Kirchmann  30  8Sü 
Kleinwächter  12  130  146  227 
254  262  2S2  313 
Klöppel  875 

Knapp  55  138  141  142  210 
432  436 

Knies  12  10  35  46/52  11  16 
81  138/140  146  160  164 
168  172  176  ISS  204  227 
253  261  270  307  311/314 
321  332  342/345  353  430 
466  762/764  780  784  7S5 
106  801  850  871 
Königs  022 
Kohl  365 
Köhler  66 

Kolb  411  426  420  434  464 
556 

Kollmann  500 
Komorzynski  326 
Körösi  436 
Kozak  30  40 
Krause  872/875  880 
Kries  214  215 
Krug  430 
Kumpf  312 


JLabouloye  875 
Lambl  434 
Lampertico  72  265 
Lamprecht  51  205  360 
Lange,  A.  10  41  44  72  1 10 
202  360  380  420  433  457 
450  66S  682  683  764  815 
816  824  875 
Langjallcy  30 

Laspeyres  341  355  300  410 
415  423  428  430  433  863 
866  064  013  015 
Lassalle,  F.  35  38  41  323 
360  386  305  403  450  461 
766  787  SOI  881 
Lasson  406  SÜ3 
de  Lav6leye,  E.  55  411 
de  Lavergne,  L.  411  803 
Launhardt  176 
Lcgoit  456 

Lehr  176  325  400  760 
v.  Lcixner  410 
v.  Leonhardi  872  875  885 
Leplay  400 

Leroy-Beaulieu  430  456 
Leser  311  701 
Lcvasseur  456  530  560 
Levi  434 
Lewin  432 

Lexis  30  56  56  138  142  116 
214  215  226  363  432  440 
450  465  508  500  683 
Lieben  325 
Liebknecht  41 
Li  esse  130 
v.  Lilienfeld  44 
Lindwurm  46  73  S1  286  321 
348  354  370  387  380  303 
Lioy  875 

Lippcrt  (Culturhist.)  66 
Lippert  (Berl.)  455 
v.  Lippe- \Veis3enfeld,Graf6S2 
v.  Littrow  214 
List,  Fr.  35  46  47  265  347 
354  360  362  364  367  368 
771  SOI 
Löning  30  608 
Lorenz,  Ott.  146 
Loria  72  326  456 
Losch  liü  412  414  821  822 
Lotz,  sen.  286  321  704 
Lotz,  jun,  440 
Lowe  411 


Mac-Culloch  314  321  430 
439  794 

Macleod  313  440 
Maier,  Willi.  63 
Maine  66 


v.  Malchus  420  882 
Malesherbcs  803 
Malthus  2.  H.-B.  VI.  287  301 

445/458  471  510  524  530 
630  665 

v.  Maugoldt  71  70  100  253 
261  263  270  2S6  290  292 

300  307  313  321  328  320 
344/340  360  386  300  411 
414  410  430  443  457  667 
683  764  784  798  SOI 

Markow  401 

Mario  (Winkelblech)  44  461 

751  817 

Marquardt  206  420 
Marquardsen  30 
Marshall  40  55  56  72  130 
176/179  100  227  264  270 
287  326  455  630  654  871 
Martin  430 

Marx,  K.  12  35/38  41  fF. 
128  130  163  187  240  287 
322  323  328  330  341  343 
360  300  403  448  455/461 
673  682  685  693 
v.  Mayr,  Georg  142  204  420 
432  433  464  531  568  602 
809 

van  Mees  327 
Meier,  D.  1L  600 
v.  Meier,  Ernst  660  876 
Meitzen,  A.  51  142  430 
Menger,  Anton  37  39  41  46 
322  660  603  608  753 
Menger,  L H.-B.  VII.  Karl  35 
54  55  63  fl*.  72  138  130 
142/151  175  188  100  224 
227  233  254/264  273/277 
287/290  301  308  313  314 
321  343  336  682 
Messedaglia  456 
Meyer,  Alex.  705  848 
Meyer.  Ed.  450  452  660 
Meyer,  Roh.  300  401  406/410 
Meyer,  Rud.  40  710  740  004 
v.  Miaskowski  55  845 
Michaelis,  Otto  80  321  303 
785  705  706 
Mich  eiet  873 

Michelis,  R.  430  436  713 
Mill,  J.  Stuart  17  138  140 
111  100  213  214  270  202 

301  3 IS  321  341  317  440 
455  461  654  668  764  784 
787  704  705  803  807  870 
876  881  888  015 

Minghetti  72 

Mithoff  390/101  405  408  411 
416  418  660 
Möser,  Justus  423  452 

59* 


928 


Autorenregister. 


v.  Molil,  Robert  72  208  283 
443  451 /45S  4 72  (Witt  S2S 
S37  M4  857  S5S  807  hiß 
889  SSä  tJl  3 4115 
Mohrhof  257 
Moll  321 

v.  Moltke,  Graf  408 
Mommsen,  Theod.  290 
Montchretien  doWatcvillc  204 
Moormeister  72  129 
Morgan  00 

Morreau  de  Jonnes  411  420 
Morus,  Th.  12 
Moser,  L.  432 
Müller,  Adam  117  348  354 
S10  Ml  878 

Xasse  1 55  51  71  344  412 
439  440  S00 

Neumann,  Fr.  Jul.  (Tüb.) 
] . H.-B.  VII.  35  55  50  72 
75  81  141  151  ISS  191) 
226/236  253  202  204  26S 
276/290  300/311  321  320/ 
33 s 34S  349  358  389  100 
401  406/421  125  433/436 
491  709  7s j S44  S55  s02 
504  866 

Neumann,  G.  430 
Neumann  (Freib.  Geogr.)  568 

578 

v.  Neumann-Spallart  341  362 
300  390  412  425  420  429 
430  439  405  550  559 
Neurath  71  72  139 
Neuwirth  393 

Newmarch,  \V.  31*5  49,0  43S 

v.  Oettingcn,  Al.  141  220 
432  433  437  464  532  599 
000  771  898  599 
Oldendorf!'  432 
Onckcn  11  705 
Oppenheim,  Sal.  313 
Ortes  304  452 
Ovcrstone  439 
Owen  72 

Paasch  c 439 
Pappenheim  MO 
Paszkowski  71 
Patten  325  320 
Paulsen  II  515 
Peabody  546 
Pebrer  411 
Pechar  300  390  394 
Peel,  Sir  Kob.  439 
Perrot  500 
Petermann  505 
v.  Pfeifer  257 
Pfeiffer  902 


v.  Philippovich  (v.  Philipps- 
berg) 2 II.-B.  VII.  05  139 
519  552  501  502 
Pickford  139  167  224 
Pierson  327 

Plato  327  297  559  872  915 

Platter  459 

v.  Plcucr  41  520 

Pölitz  363 

Porter  430 

Porter,  N.  71 

Post  845 

Princc-Smith  i8l  275  307 
30  s 34  s 772  779  7 s;, 

794,  790  502  fl.  532  535  576 
Proudhon  37  347  459 
Provost,  G.  u.  P.  455 
Puchta  306  374  355  759 

Quesnay  7 8 

Quetelet  135  110  214  215 
225  432  433  449  403  404 
453  532  595 

Rae  63 
Kaleigh  452 
Kathgcn  553 
Ratzel  569 
Ratzinger  71 

Rau  1 2!)  35  51  II  73  79 
51  139  264  252  257/268 
275  276  253/291  297 

299/307  31 1/31 S 315  321 
322  328/358  369  315  356 
399  166  465  lü  414/416 
421  424  426  425  439 

413/440  457  006  607  651 
653  761/704  754/795  827 
825  844  570  571  575 
Rauchberg  405 
Raveu  568 
v.  Reden  429  430 
Kentzsch  794  502  570 
Rhenisch  141 

Ricardo  7 10  II  34  35  50 
167  190  292  321/323  330 
411  416  454  458  461  660 
794 

Richter,  Eugen  73 
v.  Richthofen  300 
v.  Riecko  437 
Riccko  110  132  104 
Riehl  -123 
Rochau  870 

Rodbertus  1.  H.-B.  VII.  12  26 
35  37  38  39 1L  157  257  297 
300/308  312  315  320/323 
336  306  370  315  379  399 
402/104  440  459  005  080 
7 1 9 740  700  790  h\2  M7 
Röder  574  575  556  852  885 


Rösler,  Herrn.  41  44  11  297 

306  310  321  330  399  755 
834 

Rogers  55 
Roudclct  765 
Roscher,  K.  jun.  700 
Roscher,  Wilh.  5 II  8 12  29 
35  40  47  51  521173  79 
51  139  140  140  160  103 
168  176  264  240  253/275 
283  2S7  285  299  301  366 

307  311/314  321  328  333 

338  343/349  353/355  355 
360  375  399  408/421  42s 
439  445/457  465  654 

666/668  651  653  766  133 
743  751  763  765  771  785 
785  795  506  827  811  576 

877  893 
Roschlau  7 
Rossi  421 
Rotteck  29  795 
Rousseau  874 
Royer,  Clem.  67 

Rümelin  111  142  165  197 
261  264  214  226  227  432 
446/462  485/494  531  615 
639 

Sadlcr  155 
Samter  46  348  682 
Saurow  436 
v.  Savigny  344 
Sav,  J.  B.  301  311  411  456 
666  194 

Say,  Leon  30  63  442 
Sax.Em.64  72  77  1 39  1 90  265 
270  287  290  308  316  325 
327  348  350  354  762  107  fT. 
774  828  534  858  876  571 
Schäfer,  W.  73 
Schäfile  1.  II.-B.  Vn.  19  30 
35/42  ff.  54  57  01  71  73  76 
79/81  139  163  253  259/262 
268  269  286/292  301  307 
321/328  342  353  369  356 
457  668  669  682  693  151 
755  161  762  705  766  773 
714  750  785  788  796/799 
512  815  826/829  544^849 
852  858  839  SOO  510  876 
855  892  894  902  905  913 
915  916  920 
Schanz  180  363  692  550 
Scharling  325 

x.  Scheel  30  41  44  139  142 
204  253  202  210  283  300 
321  344  413  415  429  433 
439  459  615  022  6S6  751 

878 


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Autorenregister. 


<)29 


Scherl  700 
Scbippel  41  460 
Schmidt,  Cour.  327 
Schmidt,  Osc.  815 
Schmoller,  1.  H.-B.VII.  6 35 
36  45/57  61  64  65  71  90 
139  141  175  216  240  241 
270  297  353  357  390  392 
399  406  408  411  445  457 
669  732  735  742  751  762 
764  771  784  796  802  803 
810  816  819/822  839  850 
860  878  888  892 
Schnapper- Arndt  410 
Schnitzler  411  430 
v.  Schönberg  30  51/57  01 
72  78  205  268  271  308 
349/353  436  439  762  769 
795  796  821  850  860  871 
Schubert,  F.  W.  429 
Schubert,  Dr.  71  765 
Schütz  71  348  762 
Schumacher  740 
Schumann,  2.  H.-B.VII.  465 
501  543  545  599  604 
Schulze-Delitsch  803  850  856 
881 

v.  Schulze-Gävernitz  812  821 
Schwabe  429  436 
Senior  17  167  187  190  301 
303  364  455  654  794 
Seyd  438  440 
Shakespeare  332 
Sidgwick  55  72  139  348  455 
654  871  876 
Siegel  844 

Siegwart  138  140  213  214 
Simon.  Jules  876 
Sismondi  270  347  354  411 
456  666  812 
v.  Sivers  797 

v.  Skarzynski  71  765  797  878 
Smith,  Adam  5/10  17  18  35 
51  71  187  266  297  312 
314  321  330  339  347  411 
452  454  666  750  763  765 
794  796  802  838  857  870 
875  881 

Sötbeer,  Ad.  292  412  415 
426  430  435  439  714  715 
723  825 

Sötbeer,  Heinr.  451  459  460 
Sohm  850 
Sombart,  W.  327 
v.  Sonnenfels  452 


Spencer.  Herb.  03  66  71  140 
459  875  876 
Spicker  430 

Sprecher  von  Bernegg  568 
578 

Springer  731 

Stahl,  Jul.  (Bcrl.)  307  858 
875  878 

Stahl  (Nat.-ök.)  821 
v.  Stein,  Lorenz  29  35  63 

257  268  283  347  388  415 
472  691  751  810  834  844 
857  858  876  889  908  909 
913  914 

Steinlein  314 
Steinthal  71 
Stephan  438 
Stuart,  S.  6 452 
Stieda,  W.  599  850 
Stöpel  455 

Storch  301  303  312  321  411 
438  794 

Strassburger  433 
Strauss  430 
Ströll  63 

St.  Simon  12  347  766  7S6 

v.  Studnitz  433 

Stürmer  437 

Süssmilch  138  452 

Supan  465  473  570  582  586 

Supino  287 

Sydow  568 

Tallquist  538 
v.  Tongoborski  450 
Thomas  321 
Thompson  322  323 
Thornton  316  455 
v.  Thünen  35  176  1S7  190 

258  292 

Tönnics  41  45  397  830 
Tooko  389  395  430  138  439 
Torrcns  321  421 
v.  Treitschke,  H.  52  283  712 
729  732  733  801  802  810 
815  816  837 

Trendelenburg  816  832  854 
Tschitschcrin  379 
Tacker  511 

Turgot  6 312  654  796  801 
803 

Ubbelohde  385 
Uhdc  81 

Umpfcnbach  63  S92 


Vanderbilt  846 
Vetter  459 
Vicbahn  430 
Virchow  815 
Vocke  893 
Voit  682 
Vorländer  141 

Wagencr,  Herrn.  795 
Wagner,  Dr.  A.  463 
Wagner,  Herrn.  430  437  465 
473  512  568  570  580/584 
Wagner,  Moritz  569 
Waitz,  Georg  876  885 
Walcker,  K.  464  894 
Walras  176  324  326 
Wappäus  141  389  430  432 
451  463  464  487  491/494 
509  511  531  599  602  610 
898 

Weber,  Wilh.  77 
Wciss,  Bela  399  784 
Welcker  795 

Westergaard  138  14!  201 
211  215  216  432  487 
Whately  266  766 
Wieser  64  287  324/327  335 
421 

Wilhelm  I (ßotsch.  von  1881) 
705 

Wilhelm  II  (Botsch.  von  1890) 
904 

Winkelblech  s.  Mario 
Wirth,  Max  75  322  430  463 
794  796  797 
Wirth,  Moritz  39  40 
Wiss  463 
Wittstein  142 
WolkofF  301 

WolfT,  Chr.  452  682  809  857 

gg  1 

Wolf.  J.  2.  H.-B.  VII  326 
Wundt  71  76  77  138  140 
171  172  176  184  224 

Young  452 

Zarncke  320 
Zeller,  Ed.  872  881 
Zeller,  J.  39 
Zeoner  142  432 
Zeyss  71  465 
Ziegler  71  73 
Zinckc  257 
Zuckcrkandl  64  325 


Druckfehler. 

Seite  482  Zeile  19  von  oben  lies  sich  statt  sie. 

484  Zeile  12  von  unten  lies  diesen  statt  dieser. 

504  Zeile  7 von  unten  lies  Col.  8 statt  9. 

519  Tab.  XII  in  Col.  Frankreich  letzte  Zahl  (Jahr)  lies  1871  statt  1881. 

- 519  Tab.  XIII.  bei  Gross- Britannien  Jahreszahl  lies  1891  statt  1880. 

5G5  Zeile  5 von  oben  ist  hinter  „im  Ganzen'1  einzuschaltcn : in  den  einzelnen 
Jahren. 

568  Abschnittziil'er  lies  V statt  VI. 

581  Note  1 lies  westlichen  statt  nördlichen. 

705  Zeile  IG  von  unten  lies  17.  November  statt  17.  Mai. 

736  Ueberschrift  lies  §.  285  statt  265. 

760  letzte  Zeile  lies  §.  18  statt  16. 


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Gedruckt  bei  E.  Polz  in  Leipzig. 


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